Der Chemiker Fritz Haber
Der Chemiker Fritz Haber
Anerkannte Wissenschaft – und Etablierung eines Massenvernichtungsmittels
von Dieter Wöhrle und Wolfram Thiemann
Das Deutsche Kaiserreich (gegründet 1871) entwickelte sich Anfang des 20. Jahrhunderts zu dem in Europa wirtschaftlich führenden modernen Industriestaat. Die Leistungsfähigkeit der deutschen chemischen Industrie lag vor dem Ersten Weltkrieg mit 86% der Weltproduktion weit über der seiner Kriegsgegner. Für Deutschland war es auch eine Epoche stärkster geistiger Dynamik der Wissenschaften. Seit Beginn der Verleihung der Nobelpreise 1901 wurden bis 1933 allein 14 Nobelpreise für Chemie und elf Nobelpreise für Physik an deutsche Wissenschaftler verliehen. Den Chemie-Nobelpreis des Jahres 1918 erhielt Fritz Haber (1868-1934) für seine wissenschaftlichen Arbeiten zur Synthese von Ammoniak. Besonders wird aber sein Name bei der Entwicklung und dem Einsatz von Chemikalien als erstes Massenvernichtungsmittel der Menschheitsgeschichte im Ersten Weltkrieg genannt. Wie konnte sich diese Ambivalenz der Extreme von Ehre durch wissenschaftliche Leistung und Schuld an der Etablierung eines grausamen Kriegsmittels in einer Person überhaupt vereinen? Dieser Frage versuchen die beiden Autoren nachzugehen, und weisen dabei auch auf einige wichtige Punkte in seinem Privatleben hin.
Fritz Haber wurde 1868 in der Zeit der Gründung des Deutschen Reiches in Breslau (dem heutigen Wroclaw) geboren (Szöllösi-Janze, 1998; Stoltzenberg, 1994). Er stammte aus einer liberalen jüdischen Familie. Schulbesuch, Studium und Militärzeit des jungen F. Haber unterscheiden sich nicht wesentlich von den frühen Lebensgeschichten vieler deutscher Wissenschaftler. Nach dem Chemiestudium erfolgte 1891 die Promotion in der organischen Chemie an der Berliner Friedrich-Wilhelm-Universität (heute Humboldt-Universität).
Erste Erfahrungen mit dem Militär sammelte F. Haber 1888/89 als Einjährig-Freiwilliger bei seinem Militärdienst in Breslau. Der Militärdienst gehörte im Kaiserreich zu den wichtigsten Voraussetzungen für eine Karriere (Szöllösi-Janze, 1998, S.45). F. Haber wäre sehr gerne Reserveoffizier geworden, scheiterte aber u.a. daran, dass jüdische Bewerber mit Ausnahme des Sanitätswesens nicht das Reserveoffizierspatent erwerben konnten. Die Reichsgründung bedeutete zwar die gesetzlich festgelegte staatsbürgerliche Gleichstellung von Juden, der gesellschaftliche Antisemitismus war damit aber keineswegs aus der Welt geschafft. So wurden bei der Besetzung von Hochschullehrerstellen die christlich Getauften gegenüber den Nichtgetauften bevorzugt (Szöllösi-Janze, 1998, S.146). F. Haber entschloss sich daher 1892, zum evangelischen Glauben zu konvertieren.
Die Karlsruher Zeit bis 1911
1894 trat F. Haber eine Stelle an der Technischen Hochschule Karlsruhe in der physikalischen Chemie und Elektrochemie an, wurde bereits 1898 außerordentlicher Professor und 1906 im Alter von nur 38 Jahren auf einen neu zu besetzenden Lehrstuhl berufen. F. Haber führte u.a. ab1903 auch wissenschaftliche Arbeiten zur katalytischen Synthese von Ammoniak aus den Elementen Stickstoff und Wasserstoff durch, die 1909 zum Erfolg führten. Er sah in dieser Arbeit die Möglichkeit, zum angestrebten Weltruhm zu gelangen, und erhielt dafür 1918 den Nobelpreis für Chemie. Zusammen mit der von Ostwald (1853-1932, Nobelpreis für Chemie 1909) realisierten Oxidation des Ammoniaks zu Salpetersäure standen damit die beiden Grundchemikalien für die Herstellung von Düngemitteln, aber auch Sprengstoffen zur Verfügung.
Von 1908 bis 1933 war F. Haber vertraglich an die BASF (Badische Anilin- und Sodafabrik) gebunden, welche 1913 mit Hilfe von Carl Bosch (1874-1940, Nobelpreis für Chemie 1931) erstmalig die großtechnische und damit industrielle Synthese von Ammoniak realisierte, was für die Fortführung des Ersten Weltkrieges die größte Bedeutung hatte. Die Ammoniaksynthese zeigte in der damaligen Zeit den Erfolg einer systematischen Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Industrie, zwischen Chemie und Ingenieurwissenschaften.
Eine außerordentliche wissenschaftliche Begabung, ein immenser Arbeitseifer, die Auswahl zukunftsträchtiger fachlicher Arbeitsgebiete, die große politische und fachliche Loyalität und letztlich auch die Konversion zum christlichen Glauben waren die Bausteine, die F. Haber den Weg zum wissenschaftlichen Erfolg öffneten. Was noch fehlte war die weitere gesellschaftliche Anerkennung durch Gründung einer Familie und die politische Einflussnahme bei gesellschaftlich relevanten Themen. Und hier beging F. Haber die entscheidenden Fehler seiner Laufbahn. In seiner Sucht nach Ruhm und Anerkennung war er insbesondere in seiner Berliner Zeit nicht mehr in der Lage, Geborgenheit in der Familie zu finden und Verantwortung für seine Wissenschaft zu erkennen und zu übernehmen.
Die Ehe mit der verantwortungsbewussten Clara Immerwahr
F. Haber war in seiner ersten Ehe seit 1901 mit der überdurchschnittlich begabten promovierten Chemikerin Clara Immerwahr (1870-1915) verheiratet (Leitner, 1993; Friedrich, 2007; Szöllösi-Janze, 1998). Auch sie stammte aus einer liberalen jüdischen Familie in Breslau. Dem Antrag von F. Haber an C. Immerwahr, ihn zu heiraten gab sie erst nach einigem Zögern nach, was verständlich war. Eine eigene – außerhäusliche – Erwerbstätigkeit, auch als Assistentin, war als treu sorgende Professorengattin damals kaum vorstellbar. Damit wollte sich C. Immerwahr nicht abfinden. Und bald zeigte sich, dass die Ehe durch den Gegensatz des von Anerkennung und Erfolg getriebenen F. Haber und der selbst- und verantwortungsbewussten C. Immerwahr-Haber letztlich zum Scheitern verurteilt war und mit Claras spektakulären Freitod 1915 endete (Wöhrle, 2010).
Die Berliner Zeit von 1911 bis zum Ende des Ersten Weltkrieges
Vor dem Hintergrund des Zusammenspiels von Staat, Wirtschaft und Wissenschaft wurde 1911 in Berlin die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (KWG; ab 1948 Max-Planck-Gesellschaft, MPG) gegründet. Ein Problem war allerdings die Finanzierung der Institute, die zum Teil von privater Seite erfolgte. Hier ist u.a. der jüdische Berliner Bankier L. Koppel (1854-1933) zu nennen, der sich privat in der Wissenschaftspflege engagierte (Szöllösi-Janze, 1998, S.212). Er wollte in Berlin Dahlem in der KWG ein separates Institut für physikalische Chemie und Elektrochemie finanzieren mit F. Haber als Direktor. F. Haber siedelte 1911 mit seiner Familie nach Berlin und war bis 1933 Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Physikalische Chemie und Elektrochemie (ab 1953 Fritz-Haber-Institut der MPG). Die Laufbahn von F. Haber als Leiter des neuen, bedeutenden Instituts, das 1913 arbeitsfähig wurde, entwickelte sich zuerst wie erwartet weiter. Dabei machte er den Schritt vom Wissenschaftler zum Wissenschaftsorganisator, wo er zunehmend an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft, chemischer Großindustrie und dann auch dem politisch-militärischen Bereich an Einfluss gewann.
Chemische Waffen
Land | Menge Kampfstoffe in Tonnen |
---|---|
Deutschland | 52.000 |
Frankreich | 26.000 |
Großbritannien | 14.000 |
Österreich/Ungarn | 7.900 |
Italien | 6.300 |
Russland | 4.700 |
USA | 1.000 |
Gesamt | 113.000 |
Tabelle 1: Mengen der im Ersten Weltkrieg von den kriegsführenden Staaten eingesetzten chemischen Kampfstoffe (nach SIPRI) |
Im Ersten Weltkrieg stellte F. Haber seine Erfahrungen und auch seine Arbeitskraft bedingungslos der deutschen Kriegsführung zur Verfügung. Was waren seine Motive? In Szöllösi-Janze (1998) wird auf S.260 ausgeführt „Seine Haltung war preußisch: Im Vordergrund stand der Staat, dem er diente, dem er unbedingte Loyalität entgegenbrachte und für dessen Ziele er sich rückhaltlos einsetzte […]“. Archimedes diente ihm als Leitfigur „[…] der im Frieden […] dem Fortschritt der Menschheit diente, im Krieg aber seiner Heimat […]“. Der Krieg eröffnete dem in Breslau an seiner jüdischen Herkunft gescheiterten Reserveoffizier eine Chance auf gesellschaftliche Anerkennung. Die Niederlage des Deutschen Reiches im Ersten Weltkrieg wurde für den Wissenschaftler F. Haber aber nicht zuletzt durch den Freitod seiner Frau Clara 1915 zur seelisch und körperlich empfundenen Niederlage.
F. Haber ist – gemeinsam mit anderen – zunächst im Zusammenhang mit der Sicherung des Munitionsbedarfs (und damit auch für die Verlängerung des Krieges) durch die erfolgreiche Salpeterversorgung über die bereits erwähnte Ammoniaksynthese zu sehen. Die Blockade der Entente-Mächte führte dazu, dass die begrenzten Vorräte an Chilesalpeter ein großes Hindernis für die Fortführung des Krieges darstellten. F. Haber war zunächst als Berater und dann als Leiter der Zentralstelle für Chemie in der zivilen und militärischen Rohstoffversorgung tätig.
Besondere Erwähnung findet F. Habers Name aber im Zusammenhang mit der Entwicklung und dem Einsatz von Chemikalien als erstes Massenvernichtungsmittel der Menschheitsgeschichte (Martinetz, 1996; Gartz, 2003; Wietzker, 2008). Dabei war F. Haber nicht der Erste, der Chemikalien (»chemische Kampfstoffe« bzw. munitioniert als »chemische Waffen« bezeichnet) in militärischen Auseinandersetzungen einsetzte. Die Verwendung von erstickendem Rauch oder Reizkampfstoffen gab es bereits vor dem Ersten Weltkrieg. Von französischer Seite wurden bereits im Herbst 1914 Gewehrmunition und Granaten mit geringen Mengen des Reizkampstoffes Bromessigester gefüllt und eingesetzt – um den Gegner aus Stellungen zu treiben –, aber wegen geringen Erfolges wieder aufgegeben. Auch auf der deutschen Seite blieb die Verwendung von Dianisidinsalz (reizendes Niespulver), Xylylbromid (Augenreizstoff) und anderen Reizstoffen ohne Erfolg. Erst F. Haber allerdings etablierte todbringende Chemikalien in der Kriegsführung als Massenvernichtungsmittel. Die Haager Landkriegsordnung von 1899 und 1907 als Teil des humanitären Völkerrechts untersagte den Vertragsstaaten u.a. die Verwendung von „Giften oder vergifteten Waffen“ sowie den „Gebrauch von Waffen, Geschossen oder Stoffen, die geeignet sind, unnötigerweise Leiden zu verursachen“. Das Deutsche Reich hatte das Abkommen unterzeichnet und verstieß, unterstützt von F. Haber, mit dem Einsatz chemischer Waffen gegen geltendes Völkerrecht.
Was waren die Ursachen für eine neue Methode der Kriegsführung? Zum einen die Erstarrung der deutschen Westoffensive im Herbst 1914 zu einem Stellungskrieg und zum anderen die drohende Munitionskrise. Generalstabschef E. von Falkenhayn (1861-1922) wandte sich an F. Haber und andere Chemiker mit der Aufforderung, nach Giften zu suchen, die den Gegner aus den Gräben treiben und seine Kampfkraft dauerhaft schädigen könnten. Alles soll verseucht werden, Luft, Boden, Wasser, Nahrung…
Dazu schlug F. Haber Ende 1914 vor, das in großen Mengen aus der Natriumchlorid-Elektrolyse zur Verfügung stehende Chlor im Blasverfahren aus Stahlflaschen an der Front zu verwenden. Am 22. April 1915 führte das deutsche Militär im belgischen Ypern mit rund 150 Tonnen Chlor aus über 5.000 Stahlflaschen den ersten Gasangriff der Militärgeschichte durch. Die Konsequenz waren über 1.000 Tote und an die 10.000 Verletzte. Der Erfolg dieses Gaseinsatzes bescherte F. Haber Tage danach die von ihm angestrebte Beförderung in den Hauptmannsrang.
Eine persönliche Tragödie
Clara Immerwahr-Haber erkennt die Perversion der Wissenschaft, warum ihr Mann nicht? „Wenn Du wirklich ein glücklicher Mensch wärst, könntest du das nicht machen“ (Leitner, 1993, S.196), konfrontierte ihn seine Frau. Dennoch vollzog F. Haber den militärisch gewünschten Schritt vom Reizkampfstoff zum tödlich wirkenden Kampfstoff. C. Immerwahr-Haber hingegen wandte sich mit verschiedenen Argumenten energisch gegen den Gaseinsatz. Ihr Mann soll seiner Frau sogar Landesverrat vorgeworfen haben. Es traf sie besonders, dass er ihr vorwarf, ihm und Deutschland in der größten Not in den Rücken zu fallen.
In dieser aus ihrer Sicht aussichtslosen Situation erschoss sie sich kurz nach der gefeierten Rückkehr ihres Mannes aus Ypern in der Nacht vom 1. auf den 2.5.1915 mit seiner Dienstpistole. Sie wollte nicht Mittäterin sein. In Szöllösi-Janze (1998, S.393) wird dazu ausgeführt: „Ihr Tod wird zum Protest der Friedenskämpferin gegen die zerstörerischen Konsequenzen der modernen Massenvernichtungsmittel erklärt, an deren Entwicklung ihr Mann maßgeblich beteiligt war“.1 Wahrscheinlich spielten ihre gescheiterte Ehe und daraus resultierende psychische Belastungen ebenfalls eine Rolle.
F. Haber reiste noch am Tage des Todes seiner Frau zurück an die Front und ließ seinen 13-jährigen Sohn Hermann zurück. Ob dies nur Pflichterfüllung gegenüber seiner militärischen Aufgabe oder auch Flucht vor seinem Versagen im persönlichen Bereich war, ist nur schwer einzuschätzen.
Etablierung als Massenvernichtungsmittel
Mit dem deutschen Chlorgaseinsatz waren nun alle Hemmnisse, auch seitens der Kriegsgegner, zur Ausweitung des Einsatzes von Chemikalien im Krieg beseitigt. Zunächst übernahm F. Haber im Herbst 1915 die Leitung der »Zentralstelle für Fragen der Chemie«, die ein Jahr später zu einer selbstständigen Abteilung im Allgemeinen Kriegsdepartement ausgebaut wurde. F. Haber war damit der erste Wissenschaftler, der eine Abteilung im Kriegsministerium leitete. Er war für den Einsatz von Chemikalien als Kriegsmittel verantwortlich. Seit 1916 bearbeitete das von ihm geleitete Kaiser-Wilhelm- Institut ausschließlich militärische Projekte (Gasproduktion, Entwicklung/Prüfung neuer chemischer Kampfstoffe, Gasmaskenproduktion, Gasgeschossproduktion etc.), was die Verflechtung von Wissenschaft, Heeresverwaltung und chemischer Industrie verdeutlicht.
Der chemische Krieg wurde auch bei den Entente-Mächten Bestandteil der Kriegsführung. Von einigen Hundert getesteten Verbindungen wurden im Ersten Weltkrieg 18 »mehr tödlich« und 27 »mehr reizend« wirkende Chemikalien eingesetzt (Martinetz, 1996) (siehe Abb. 1). Am Ende des Ersten Weltkrieges hatten etwa ein Drittel der Artilleriegeschosse bereits Füllungen mit toxischen Chemikalien: Etwa 113.000 Tonen Kampfstoffe, eingesetzt davon allein 52.000 von deutscher Seite (siehe Tab. 1)! Die Zahl der durch toxische Chemikalien Betroffenen wird etwas unterschiedlich angegeben, aber man kann etwa von 90.000 »Gastoten« und über einer Million »Gasvergifteten« ausgehen. Durch chronische Erkrankung Betroffene und Opfer mit Spätfolgen sind in den Zahlen nicht enthalten.
Dabei ist hervorzuheben, dass es auch im Ersten Weltkrieg durchaus Möglichkeiten gab, sich gegen den Krieg zu engagieren und als Wissenschaftler kritisch Stellung zu beziehen. Der Bund Neues Vaterland, gegründet 1914 und 1922 umbenannt in Deutsche Liga für Menschenrechte, war wohl die bedeutendste deutsche pazifistische Vereinigung im Ersten Weltkrieg. Mitglieder waren u.a. Albert Einstein, Stefan Zweig, Ludwig Quidde, Helene Stöcker, Clara Zetkin, Alfred Hermann Fried. Der Bund versuchte, durch vielfältige Kontakte zu Regierungsvertretern und internationalen Friedensorganisationen auf ein schnelles Ende des Krieges hinzuwirken. Auch F. Haber hätte sich hier engagieren können. Von verschiedenen bekannten Wissenschaftlern gab es während und nach dem Ersten Weltkrieg klare Stellungnahmen gegen den Einsatz von Chemikalien als Massenvernichtungsmittel. Beispiele sind die Nobelpreisträger Albert Einstein (1879-1955), Max Born (1882-1970), Otto Hahn (1879-1968) und Hermann Staudinger (1881-1965) (Martinetz, 1996, S.105; zur Kontroverse von Haber und Staudinger siehe Szöllösi-Janze (1998) S.447 ff). Man kann jedoch davon ausgehen, dass der größte Teil der deutschen Naturwissenschaftler zur Mitarbeit am chemischen Krieg bereit war und den Krieg als „Wettbewerb des Forscher- und Erfindergeistes“ wertete. An besonders verantwortlicher Stelle dabei stand F. Haber.
Die Zeit nach dem ersten Weltkrieg
F. Haber (kurzfristig als Kriegsverbrecher geführt) erhielt 1919, wie bereits erwähnt, den Nobelpreis für Chemie 1918, was zu internationalen Protesten auch von verschiedenen prominenten Wissenschaftlern führte. Die entscheidende Frage ist, ob F. Haber aus dem Desaster und den Leiden des Ersten Weltkrieges gelernt hatte. Die Antwort lautet eindeutig Nein: Dafür steht exemplarisch seine Aussage: „Die Menschheit hat nicht die Möglichkeit gelehrt, wirksame Kriegsmittel aus der Kriegsführung auszuschließen“ (Martinetz, 1996).
Zum Umgang mit chemischen Waffen äußerte sich F. Haber vor dem parlamentarischen Untersuchungsausschuss des Deutschen Reichstages 1923 uneinsichtig „Die Geschichte der Kriegskunst rechnet den Beginn des Gaskampfes am 22.4.1915, weil an diesem Tage zum ersten Male ein unbestrittener militärischer Erfolg durch die Verwendung von Gaswaffen erzielt worden ist […] dass es zum militärischen Erfolg auf dem Schlachtfelde einer Massenwirkung von Gaskampfmittel bedarf“ (Martinetz,1996, S.26).
Im Versailler Friedensvertrag von 1919 wurde Deutschland in Artikel 171 der Gebrauch, die Herstellung und die Einfuhr von chemischen Kampfstoffen verboten. Das Genfer Giftgasprotokoll von 1925, welches den Unterzeichnerstaaten u.a. den Gebrauch von erstickenden, giftigen oder ähnlichen Stoffen verbot, ist Folge der schrecklichen Auswirkungen im Ersten Weltkrieg. Trotz dieser beiden Verträge setzten in Deutschland – basierend auf den Erfahrungen im Ersten Weltkrieg –, Politik, Militär (Reichswehr) und Wissenschaft die Forschung über chemische Kampfstoffe fort – nur jetzt geheim. F. Haber half auch bei der Übertragung in den zivilen Bereich, z.B. bei der Verwendung von Cyanwasserstoff für Schädlingsbekämpfung, aus dem dann bereits 1922 das berüchtigte Zyklon B entwickelt wurde, das im Dritten Reich seine bekannte todbringende Karriere machte (Kogon, 1983). In diesem Kontext äußerte er in zynischer Weise, dass man „nicht angenehmer als durch Einatmung von Blausäure sterben“ könnte (Martinetz, 1996, S.133). In geheimen Missionen war F. Haber wahrscheinlich bis etwa 1926 für die militärischen Nutzungen toxischer Verbindungen aktiv (Stoltzenberg, 1994; Szöllösi-Janze, 1998; Schweer, 2008). Die nun in verschiedenen Ländern vorangetriebene chemische Aufrüstung, die Herstellung der phosphororganischen Kampfstoffe in Vorbereitung des Zweiten Weltkrieges, die Entwicklung der sog. Binärtechnologie in den USA und verschiedene Einsätze von chemischen Kampfstoffen verdeutlichten, dass die geltenden Verträge zahnlos blieben. Erst 1997 sollte eine neue UN-Konvention über das Verbot chemischer Waffen entscheidende Abhilfe schaffen.
F. Haber heiratete 1917 zum zweien Male, diesmal die fröhliche und lebensbejahende Jüdin Charlotte Nathan. Bereits 1918 bekannte sie in einem Brief an ihren Schwiegervater die Wahrnehmung der „Unterdrückung der eigenen Persönlichkeit“ durch Habers „Wucht“. Auch diese zweite Ehe endete nicht glücklich und wurde 1927 geschieden. F. Haber empfand dies als persönliches Scheitern vor sich selbst. Tragisch ist das Ende seines Sohnes Hermann aus erster Ehe: Er soll sich nach seiner Emigration in die USA 1946 das Leben genommen haben.2
Am 5. März 1933 ergriffen die Nationalsozialisten die Macht in Deutschland. Kurz danach trat das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums in Kraft, um zunächst jüdische und andere missliebige Staatsdiener zu entlassen oder in den Ruhestand zu versetzen. F. Haber versuchte, sich für seine Mitarbeiter einzusetzen. Dann kam er seiner eigenen Entlassung zuvor, indem er seinen Abschied einreichte. Seine körperliche Verfassung verschlechterte sich dramatisch, begleitet von tiefster Depression. Verbittert – auch im Stich gelassen von der I.G. Farbenindustrie AG (gegründet 1925) – verließ er Deutschland im Herbst 1933, um einem Ruf nach Cambridge zu folgen. Am 29.1.1934 verstarb F. Haber an Herzversagen.3 Das Kaiser-Wilhelm-Instituts für Physikalische Chemie und Elektrochemie wurde am 1.7.1953 der Max-Planck-Gesellschaft eingegliedert und in «Fritz-Haber-Institut der MPG» umbenannt.4
Haben wir nun etwas aus der Geschichte gelernt?
Der dunkelste Punkt im Leben von F. Haber ist die Etablierung von chemischen Kampfstoffen/Waffen als Massenvernichtungsmittel. Heute sind wegen der grausamen Folgen deutliche Fortschritte hinsichtlich der Ächtung chemischer Waffen zu beobachten, und F. Haber könnte so heutzutage nicht mehr handeln. Der Verhaltenskodex der Gesellschaft Deutscher Chemiker (GdCh) verpflichtet seine Mitglieder u.a. „[…] Sie beachten die für ihre Arbeit und deren Ergebnisse und Wirkungen geltenden Gesetze und internationalen Konventionen und stellen sich gegen den Missbrauch der Chemie, z. B. zur Herstellung von Chemiewaffen. […]“ (www.gdch.de). Für Chemiewaffen trat das sehr umfassende und von 188 Staaten unterzeichnete »Übereinkommen über das Verbot der Entwicklung, Herstellung, Lagerung und des Einsatzes chemischer Waffen und über die Vernichtung solcher Waffen« (Chemiewaffenübereinkommen) 1997 in Kraft (www.opcw.org). Die Einhaltung dieser Konvention wird durch die »Organisation für das Verbot chemischer Waffen« (OPCW) in Den Haag durch umfangreiche Verifikationsmaßnahmen überwacht. Wir müssen uns in der Verantwortung für unsere Wissenschaft eindeutig und klar zur Ächtung von Massenvernichtungsmitteln bekennen und gegen jeden möglicherweise auftretenden Missbrauch öffentlich auftreten.
Aus der Wissenschaftsgeschichte Chemie haben wir gelernt, dass sich bei F. Haber wie bei kaum einer anderen Persönlichkeit der Weltgeschichte in hohem Maß der Nutzen einer für die Menschheit bedeutenden Erfindung und der Missbrauch der Chemie für eine der schrecklichsten Methoden der Kriegsführung vereinen. Tragisch ist, dass er auch in seinem privaten Bereich versagte.
Initiative zur Änderung des Namens »Fritz-Haber-Institut«
der Max-Planck-Gesellschaft, Berlin
2011 sind einhundert Jahre seit der Gründung des ehemaligen »Kaiser-Wilhelm-Instituts für physikalische Chemie und Elektrochemie« und jetzigen »Fritz-Haber-Instituts« der Max-Planck-Gesellschaft (MPG) in Berlin vergangen. Dies ist Grund genug für eine Würdigung, aber auch für eine kritische Bestandsaufnahme. Den Anlass für diese Initiative bildet die 1953 mit der Eingliederung des Instituts in die MPG erfolgte Umbenennung in »Fritz-Haber-Institut«, die wir aus heutiger Sicht für dieses renommierte Instituts für nicht (mehr) gerechtfertigt halten.
Wir würdigen die Bedeutung des Instituts und die wissenschaftlichen Leistungen der Mitarbeiter/innen, die für Ihre Arbeiten mit zahlreichen renommierten Preisen wie z.B. durch Nobelpreise (zuletzt 2007 G. Ertl Nobelpreis für Chemie) geehrt wurden. Wir schätzen die gegenwärtigen hinreichend und kritisch überdachten Schwerpunktsetzungen in der Grenzflächenforschung, die ein sehr guter Ausgangspunkt für weitere bedeutende wissenschaftliche Erkenntnisse sind.
Allerdings: Bei kaum einer anderen Person der Wissenschaftsgeschichte vereinen sich in so hohem Maße der Nutzen einer für die Menschheit bedeutenden Erfindung (Ammoniaksynthese für Düngemittel) und der Missbrauch der Chemie für eines der schrecklichsten Kapitel der Kriegsführung (Anwendung chemischer Waffen) wie bei Fritz Haber (siehe nebenstehenden Artikel).
Daraus müssen wir in der Verantwortung als Wissenschaftler Konsequenzen bei der Aufarbeitung der Wissenschaftsgeschichte ziehen. Zwangsläufig ergibt sich für uns, dass der Name des »Fritz-Haber-Instituts« heute u.a. wegen des Chemiewaffenübereinkommens von 1997 und des Verhaltenskodex der Gesellschaft Deutscher Chemiker nicht mehr vertretbar ist. Als Konsequenz bleibt nur die Umbenennung des Instituts. Damit täte sich das renommierte Institut einen guten Dienst anlässlich des einhundertjährigen Jubiläums.
Wenn Sie unsere Initiative zur Umbenennung des »Fritz-Haber-Instituts« unterstützten wollen, wenden Sie sich an: Dieter Wöhrle, Tel. 0421-218-63135, E-mail: woehrle@uni-bremen.de oder Wolfram Thiemann, Tel. 0421-218-63211, E-mail: thiemann@uni-bremen.de.
Literatur
Friedrich, Sabine (2007): Immerwahr. München: dtv.
Gartz, Jochen (2003): Chemische Kampfstoffe. Der Tod kam aus Deutschland. Löhrbach: The Grüne Kraft , Der Grüne Zweig 243.
Kogon, Eugen (Hrsg.) (1983): Nationalsozialistische Massentötungen durch Giftgas. Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch.
Leitner von, Gerit (1993): Der Fall Clara Immerwahr. München: C.H. Beck.
Martinetz, Dieter (1996): Der Gaskrieg 1914-1918. Bonn: Bernhard & Graefe.
Stoltzenberg, Dietrich (1994): Fritz Haber. Chemiker, Nobelpreisträger, Jude. Weinheim: VCH.
Szöllösi-Janze, Margit (1998): Fritz Haber 1868-1934. München: C.H. Beck.
Wietzker, Wolfgang (2008): Giftgas im Ersten Weltkrieg. Saarbrücken: VDM Verlag.
Schweer, Henning (2008): Die Geschichte der Chemischen Fabrik Stoltzenberg bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. Diepholz: GNT-Verlag, Diepholz.
Wöhrle, Dieter (2010): Fritz Haber und Clara Immerwahr. In: Chemie in unserer Zeit, 44, S.30-39.
Anmerkungen
1) Die IPPNW Deutschland verleiht seit 1991 die »Clara-Immerwahr-Auszeichnung«, um Personen zu würdigen, die sich in ihrem Beruf, an ihrem Arbeitsplatz ungeachtet persönlicher Nachteile aktiv gegen Krieg, Rüstung und gegen die anderen Bedrohungen für die Grundlagen menschlichen Lebens eingesetzt haben.
2) „Hermann, born in 1902, would later also commit suicide because of his shame over his father’s chemical warfare work.“; http://en.wikipedia. org/wiki/Fritz_Haber.
3) Über den Rücktritt von Fritz Haber, seinen Tod, Gedächtnisfeiern und späte Ehren: Deichmann, Ute (1996): Dem Vaterlande – solange er dies wünscht. In: Chemie in unserer Zeit, 30, S.141-149.
4) Zur Geschichte des Fritz-Haber-Instituts siehe www.fhi-berlin.mpg.de.
Dieter Wöhrle ist Hochschullehrer für Organische und Makromolekulare Chemie an der Universität Bremen. Er engagiert sich seit längerer Zeit gegen chemische Waffen. Wolfram Thiemann ist Hochschullehrer für Physikalische Chemie an der Universität Bremen. Er befasst sich auch mit Umweltchemie.