Der Chemiker Fritz Haber

Der Chemiker Fritz Haber

Anerkannte Wissenschaft – und Etablierung eines Massenvernichtungsmittels

von Dieter Wöhrle und Wolfram Thiemann

Das Deutsche Kaiserreich (gegründet 1871) entwickelte sich Anfang des 20. Jahrhunderts zu dem in Europa wirtschaftlich führenden modernen Industriestaat. Die Leistungsfähigkeit der deutschen chemischen Industrie lag vor dem Ersten Weltkrieg mit 86% der Weltproduktion weit über der seiner Kriegsgegner. Für Deutschland war es auch eine Epoche stärkster geistiger Dynamik der Wissenschaften. Seit Beginn der Verleihung der Nobelpreise 1901 wurden bis 1933 allein 14 Nobelpreise für Chemie und elf Nobelpreise für Physik an deutsche Wissenschaftler verliehen. Den Chemie-Nobelpreis des Jahres 1918 erhielt Fritz Haber (1868-1934) für seine wissenschaftlichen Arbeiten zur Synthese von Ammoniak. Besonders wird aber sein Name bei der Entwicklung und dem Einsatz von Chemikalien als erstes Massenvernichtungsmittel der Menschheitsgeschichte im Ersten Weltkrieg genannt. Wie konnte sich diese Ambivalenz der Extreme von Ehre durch wissenschaftliche Leistung und Schuld an der Etablierung eines grausamen Kriegsmittels in einer Person überhaupt vereinen? Dieser Frage versuchen die beiden Autoren nachzugehen, und weisen dabei auch auf einige wichtige Punkte in seinem Privatleben hin.

Fritz Haber wurde 1868 in der Zeit der Gründung des Deutschen Reiches in Breslau (dem heutigen Wroclaw) geboren (Szöllösi-Janze, 1998; Stoltzenberg, 1994). Er stammte aus einer liberalen jüdischen Familie. Schulbesuch, Studium und Militärzeit des jungen F. Haber unterscheiden sich nicht wesentlich von den frühen Lebensgeschichten vieler deutscher Wissenschaftler. Nach dem Chemiestudium erfolgte 1891 die Promotion in der organischen Chemie an der Berliner Friedrich-Wilhelm-Universität (heute Humboldt-Universität).

Erste Erfahrungen mit dem Militär sammelte F. Haber 1888/89 als Einjährig-Freiwilliger bei seinem Militärdienst in Breslau. Der Militärdienst gehörte im Kaiserreich zu den wichtigsten Voraussetzungen für eine Karriere (Szöllösi-Janze, 1998, S.45). F. Haber wäre sehr gerne Reserveoffizier geworden, scheiterte aber u.a. daran, dass jüdische Bewerber mit Ausnahme des Sanitätswesens nicht das Reserveoffizierspatent erwerben konnten. Die Reichsgründung bedeutete zwar die gesetzlich festgelegte staatsbürgerliche Gleichstellung von Juden, der gesellschaftliche Antisemitismus war damit aber keineswegs aus der Welt geschafft. So wurden bei der Besetzung von Hochschullehrerstellen die christlich Getauften gegenüber den Nichtgetauften bevorzugt (Szöllösi-Janze, 1998, S.146). F. Haber entschloss sich daher 1892, zum evangelischen Glauben zu konvertieren.

Die Karlsruher Zeit bis 1911

1894 trat F. Haber eine Stelle an der Technischen Hochschule Karlsruhe in der physikalischen Chemie und Elektrochemie an, wurde bereits 1898 außerordentlicher Professor und 1906 im Alter von nur 38 Jahren auf einen neu zu besetzenden Lehrstuhl berufen. F. Haber führte u.a. ab1903 auch wissenschaftliche Arbeiten zur katalytischen Synthese von Ammoniak aus den Elementen Stickstoff und Wasserstoff durch, die 1909 zum Erfolg führten. Er sah in dieser Arbeit die Möglichkeit, zum angestrebten Weltruhm zu gelangen, und erhielt dafür 1918 den Nobelpreis für Chemie. Zusammen mit der von Ostwald (1853-1932, Nobelpreis für Chemie 1909) realisierten Oxidation des Ammoniaks zu Salpetersäure standen damit die beiden Grundchemikalien für die Herstellung von Düngemitteln, aber auch Sprengstoffen zur Verfügung.

Von 1908 bis 1933 war F. Haber vertraglich an die BASF (Badische Anilin- und Sodafabrik) gebunden, welche 1913 mit Hilfe von Carl Bosch (1874-1940, Nobelpreis für Chemie 1931) erstmalig die großtechnische und damit industrielle Synthese von Ammoniak realisierte, was für die Fortführung des Ersten Weltkrieges die größte Bedeutung hatte. Die Ammoniaksynthese zeigte in der damaligen Zeit den Erfolg einer systematischen Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Industrie, zwischen Chemie und Ingenieurwissenschaften.

Eine außerordentliche wissenschaftliche Begabung, ein immenser Arbeitseifer, die Auswahl zukunftsträchtiger fachlicher Arbeitsgebiete, die große politische und fachliche Loyalität und letztlich auch die Konversion zum christlichen Glauben waren die Bausteine, die F. Haber den Weg zum wissenschaftlichen Erfolg öffneten. Was noch fehlte war die weitere gesellschaftliche Anerkennung durch Gründung einer Familie und die politische Einflussnahme bei gesellschaftlich relevanten Themen. Und hier beging F. Haber die entscheidenden Fehler seiner Laufbahn. In seiner Sucht nach Ruhm und Anerkennung war er insbesondere in seiner Berliner Zeit nicht mehr in der Lage, Geborgenheit in der Familie zu finden und Verantwortung für seine Wissenschaft zu erkennen und zu übernehmen.

Die Ehe mit der verantwortungsbewussten Clara Immerwahr

F. Haber war in seiner ersten Ehe seit 1901 mit der überdurchschnittlich begabten promovierten Chemikerin Clara Immerwahr (1870-1915) verheiratet (Leitner, 1993; Friedrich, 2007; Szöllösi-Janze, 1998). Auch sie stammte aus einer liberalen jüdischen Familie in Breslau. Dem Antrag von F. Haber an C. Immerwahr, ihn zu heiraten gab sie erst nach einigem Zögern nach, was verständlich war. Eine eigene – außerhäusliche – Erwerbstätigkeit, auch als Assistentin, war als treu sorgende Professorengattin damals kaum vorstellbar. Damit wollte sich C. Immerwahr nicht abfinden. Und bald zeigte sich, dass die Ehe durch den Gegensatz des von Anerkennung und Erfolg getriebenen F. Haber und der selbst- und verantwortungsbewussten C. Immerwahr-Haber letztlich zum Scheitern verurteilt war und mit Claras spektakulären Freitod 1915 endete (Wöhrle, 2010).

Die Berliner Zeit von 1911 bis zum Ende des Ersten Weltkrieges

Vor dem Hintergrund des Zusammenspiels von Staat, Wirtschaft und Wissenschaft wurde 1911 in Berlin die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (KWG; ab 1948 Max-Planck-Gesellschaft, MPG) gegründet. Ein Problem war allerdings die Finanzierung der Institute, die zum Teil von privater Seite erfolgte. Hier ist u.a. der jüdische Berliner Bankier L. Koppel (1854-1933) zu nennen, der sich privat in der Wissenschaftspflege engagierte (Szöllösi-Janze, 1998, S.212). Er wollte in Berlin Dahlem in der KWG ein separates Institut für physikalische Chemie und Elektrochemie finanzieren mit F. Haber als Direktor. F. Haber siedelte 1911 mit seiner Familie nach Berlin und war bis 1933 Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Physikalische Chemie und Elektrochemie (ab 1953 Fritz-Haber-Institut der MPG). Die Laufbahn von F. Haber als Leiter des neuen, bedeutenden Instituts, das 1913 arbeitsfähig wurde, entwickelte sich zuerst wie erwartet weiter. Dabei machte er den Schritt vom Wissenschaftler zum Wissenschaftsorganisator, wo er zunehmend an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft, chemischer Großindustrie und dann auch dem politisch-militärischen Bereich an Einfluss gewann.

Chemische Waffen

Land Menge Kampfstoffe in Tonnen
Deutschland 52.000
Frankreich 26.000
Großbritannien 14.000
Österreich/Ungarn 7.900
Italien 6.300
Russland 4.700
USA 1.000
Gesamt 113.000
Tabelle 1: Mengen der im Ersten Weltkrieg von den kriegsführenden Staaten eingesetzten chemischen Kampfstoffe (nach SIPRI)

Im Ersten Weltkrieg stellte F. Haber seine Erfahrungen und auch seine Arbeitskraft bedingungslos der deutschen Kriegsführung zur Verfügung. Was waren seine Motive? In Szöllösi-Janze (1998) wird auf S.260 ausgeführt „Seine Haltung war preußisch: Im Vordergrund stand der Staat, dem er diente, dem er unbedingte Loyalität entgegenbrachte und für dessen Ziele er sich rückhaltlos einsetzte […]“. Archimedes diente ihm als Leitfigur „[…] der im Frieden […] dem Fortschritt der Menschheit diente, im Krieg aber seiner Heimat […]“. Der Krieg eröffnete dem in Breslau an seiner jüdischen Herkunft gescheiterten Reserveoffizier eine Chance auf gesellschaftliche Anerkennung. Die Niederlage des Deutschen Reiches im Ersten Weltkrieg wurde für den Wissenschaftler F. Haber aber nicht zuletzt durch den Freitod seiner Frau Clara 1915 zur seelisch und körperlich empfundenen Niederlage.

F. Haber ist – gemeinsam mit anderen – zunächst im Zusammenhang mit der Sicherung des Munitionsbedarfs (und damit auch für die Verlängerung des Krieges) durch die erfolgreiche Salpeterversorgung über die bereits erwähnte Ammoniaksynthese zu sehen. Die Blockade der Entente-Mächte führte dazu, dass die begrenzten Vorräte an Chilesalpeter ein großes Hindernis für die Fortführung des Krieges darstellten. F. Haber war zunächst als Berater und dann als Leiter der Zentralstelle für Chemie in der zivilen und militärischen Rohstoffversorgung tätig.

Besondere Erwähnung findet F. Habers Name aber im Zusammenhang mit der Entwicklung und dem Einsatz von Chemikalien als erstes Massenvernichtungsmittel der Menschheitsgeschichte (Martinetz, 1996; Gartz, 2003; Wietzker, 2008). Dabei war F. Haber nicht der Erste, der Chemikalien (»chemische Kampfstoffe« bzw. munitioniert als »chemische Waffen« bezeichnet) in militärischen Auseinandersetzungen einsetzte. Die Verwendung von erstickendem Rauch oder Reizkampfstoffen gab es bereits vor dem Ersten Weltkrieg. Von französischer Seite wurden bereits im Herbst 1914 Gewehrmunition und Granaten mit geringen Mengen des Reizkampstoffes Bromessigester gefüllt und eingesetzt – um den Gegner aus Stellungen zu treiben –, aber wegen geringen Erfolges wieder aufgegeben. Auch auf der deutschen Seite blieb die Verwendung von Dianisidinsalz (reizendes Niespulver), Xylylbromid (Augenreizstoff) und anderen Reizstoffen ohne Erfolg. Erst F. Haber allerdings etablierte todbringende Chemikalien in der Kriegsführung als Massenvernichtungsmittel. Die Haager Landkriegsordnung von 1899 und 1907 als Teil des humanitären Völkerrechts untersagte den Vertragsstaaten u.a. die Verwendung von „Giften oder vergifteten Waffen“ sowie den „Gebrauch von Waffen, Geschossen oder Stoffen, die geeignet sind, unnötigerweise Leiden zu verursachen“. Das Deutsche Reich hatte das Abkommen unterzeichnet und verstieß, unterstützt von F. Haber, mit dem Einsatz chemischer Waffen gegen geltendes Völkerrecht.

Was waren die Ursachen für eine neue Methode der Kriegsführung? Zum einen die Erstarrung der deutschen Westoffensive im Herbst 1914 zu einem Stellungskrieg und zum anderen die drohende Munitionskrise. Generalstabschef E. von Falkenhayn (1861-1922) wandte sich an F. Haber und andere Chemiker mit der Aufforderung, nach Giften zu suchen, die den Gegner aus den Gräben treiben und seine Kampfkraft dauerhaft schädigen könnten. Alles soll verseucht werden, Luft, Boden, Wasser, Nahrung…

Dazu schlug F. Haber Ende 1914 vor, das in großen Mengen aus der Natriumchlorid-Elektrolyse zur Verfügung stehende Chlor im Blasverfahren aus Stahlflaschen an der Front zu verwenden. Am 22. April 1915 führte das deutsche Militär im belgischen Ypern mit rund 150 Tonnen Chlor aus über 5.000 Stahlflaschen den ersten Gasangriff der Militärgeschichte durch. Die Konsequenz waren über 1.000 Tote und an die 10.000 Verletzte. Der Erfolg dieses Gaseinsatzes bescherte F. Haber Tage danach die von ihm angestrebte Beförderung in den Hauptmannsrang.

Eine persönliche Tragödie

Clara Immerwahr-Haber erkennt die Perversion der Wissenschaft, warum ihr Mann nicht? „Wenn Du wirklich ein glücklicher Mensch wärst, könntest du das nicht machen“ (Leitner, 1993, S.196), konfrontierte ihn seine Frau. Dennoch vollzog F. Haber den militärisch gewünschten Schritt vom Reizkampfstoff zum tödlich wirkenden Kampfstoff. C. Immerwahr-Haber hingegen wandte sich mit verschiedenen Argumenten energisch gegen den Gaseinsatz. Ihr Mann soll seiner Frau sogar Landesverrat vorgeworfen haben. Es traf sie besonders, dass er ihr vorwarf, ihm und Deutschland in der größten Not in den Rücken zu fallen.

In dieser aus ihrer Sicht aussichtslosen Situation erschoss sie sich kurz nach der gefeierten Rückkehr ihres Mannes aus Ypern in der Nacht vom 1. auf den 2.5.1915 mit seiner Dienstpistole. Sie wollte nicht Mittäterin sein. In Szöllösi-Janze (1998, S.393) wird dazu ausgeführt: „Ihr Tod wird zum Protest der Friedenskämpferin gegen die zerstörerischen Konsequenzen der modernen Massenvernichtungsmittel erklärt, an deren Entwicklung ihr Mann maßgeblich beteiligt war“.1 Wahrscheinlich spielten ihre gescheiterte Ehe und daraus resultierende psychische Belastungen ebenfalls eine Rolle.

F. Haber reiste noch am Tage des Todes seiner Frau zurück an die Front und ließ seinen 13-jährigen Sohn Hermann zurück. Ob dies nur Pflichterfüllung gegenüber seiner militärischen Aufgabe oder auch Flucht vor seinem Versagen im persönlichen Bereich war, ist nur schwer einzuschätzen.

Etablierung als Massenvernichtungsmittel

Mit dem deutschen Chlorgaseinsatz waren nun alle Hemmnisse, auch seitens der Kriegsgegner, zur Ausweitung des Einsatzes von Chemikalien im Krieg beseitigt. Zunächst übernahm F. Haber im Herbst 1915 die Leitung der »Zentralstelle für Fragen der Chemie«, die ein Jahr später zu einer selbstständigen Abteilung im Allgemeinen Kriegsdepartement ausgebaut wurde. F. Haber war damit der erste Wissenschaftler, der eine Abteilung im Kriegsministerium leitete. Er war für den Einsatz von Chemikalien als Kriegsmittel verantwortlich. Seit 1916 bearbeitete das von ihm geleitete Kaiser-Wilhelm- Institut ausschließlich militärische Projekte (Gasproduktion, Entwicklung/Prüfung neuer chemischer Kampfstoffe, Gasmaskenproduktion, Gasgeschossproduktion etc.), was die Verflechtung von Wissenschaft, Heeresverwaltung und chemischer Industrie verdeutlicht.

Der chemische Krieg wurde auch bei den Entente-Mächten Bestandteil der Kriegsführung. Von einigen Hundert getesteten Verbindungen wurden im Ersten Weltkrieg 18 »mehr tödlich« und 27 »mehr reizend« wirkende Chemikalien eingesetzt (Martinetz, 1996) (siehe Abb. 1). Am Ende des Ersten Weltkrieges hatten etwa ein Drittel der Artilleriegeschosse bereits Füllungen mit toxischen Chemikalien: Etwa 113.000 Tonen Kampfstoffe, eingesetzt davon allein 52.000 von deutscher Seite (siehe Tab. 1)! Die Zahl der durch toxische Chemikalien Betroffenen wird etwas unterschiedlich angegeben, aber man kann etwa von 90.000 »Gastoten« und über einer Million »Gasvergifteten« ausgehen. Durch chronische Erkrankung Betroffene und Opfer mit Spätfolgen sind in den Zahlen nicht enthalten.

Dabei ist hervorzuheben, dass es auch im Ersten Weltkrieg durchaus Möglichkeiten gab, sich gegen den Krieg zu engagieren und als Wissenschaftler kritisch Stellung zu beziehen. Der Bund Neues Vaterland, gegründet 1914 und 1922 umbenannt in Deutsche Liga für Menschenrechte, war wohl die bedeutendste deutsche pazifistische Vereinigung im Ersten Weltkrieg. Mitglieder waren u.a. Albert Einstein, Stefan Zweig, Ludwig Quidde, Helene Stöcker, Clara Zetkin, Alfred Hermann Fried. Der Bund versuchte, durch vielfältige Kontakte zu Regierungsvertretern und internationalen Friedensorganisationen auf ein schnelles Ende des Krieges hinzuwirken. Auch F. Haber hätte sich hier engagieren können. Von verschiedenen bekannten Wissenschaftlern gab es während und nach dem Ersten Weltkrieg klare Stellungnahmen gegen den Einsatz von Chemikalien als Massenvernichtungsmittel. Beispiele sind die Nobelpreisträger Albert Einstein (1879-1955), Max Born (1882-1970), Otto Hahn (1879-1968) und Hermann Staudinger (1881-1965) (Martinetz, 1996, S.105; zur Kontroverse von Haber und Staudinger siehe Szöllösi-Janze (1998) S.447 ff). Man kann jedoch davon ausgehen, dass der größte Teil der deutschen Naturwissenschaftler zur Mitarbeit am chemischen Krieg bereit war und den Krieg als „Wettbewerb des Forscher- und Erfindergeistes“ wertete. An besonders verantwortlicher Stelle dabei stand F. Haber.

Die Zeit nach dem ersten Weltkrieg

F. Haber (kurzfristig als Kriegsverbrecher geführt) erhielt 1919, wie bereits erwähnt, den Nobelpreis für Chemie 1918, was zu internationalen Protesten auch von verschiedenen prominenten Wissenschaftlern führte. Die entscheidende Frage ist, ob F. Haber aus dem Desaster und den Leiden des Ersten Weltkrieges gelernt hatte. Die Antwort lautet eindeutig Nein: Dafür steht exemplarisch seine Aussage: „Die Menschheit hat nicht die Möglichkeit gelehrt, wirksame Kriegsmittel aus der Kriegsführung auszuschließen“ (Martinetz, 1996).

Zum Umgang mit chemischen Waffen äußerte sich F. Haber vor dem parlamentarischen Untersuchungsausschuss des Deutschen Reichstages 1923 uneinsichtig „Die Geschichte der Kriegskunst rechnet den Beginn des Gaskampfes am 22.4.1915, weil an diesem Tage zum ersten Male ein unbestrittener militärischer Erfolg durch die Verwendung von Gaswaffen erzielt worden ist […] dass es zum militärischen Erfolg auf dem Schlachtfelde einer Massenwirkung von Gaskampfmittel bedarf“ (Martinetz,1996, S.26).

Im Versailler Friedensvertrag von 1919 wurde Deutschland in Artikel 171 der Gebrauch, die Herstellung und die Einfuhr von chemischen Kampfstoffen verboten. Das Genfer Giftgasprotokoll von 1925, welches den Unterzeichnerstaaten u.a. den Gebrauch von erstickenden, giftigen oder ähnlichen Stoffen verbot, ist Folge der schrecklichen Auswirkungen im Ersten Weltkrieg. Trotz dieser beiden Verträge setzten in Deutschland – basierend auf den Erfahrungen im Ersten Weltkrieg –, Politik, Militär (Reichswehr) und Wissenschaft die Forschung über chemische Kampfstoffe fort – nur jetzt geheim. F. Haber half auch bei der Übertragung in den zivilen Bereich, z.B. bei der Verwendung von Cyanwasserstoff für Schädlingsbekämpfung, aus dem dann bereits 1922 das berüchtigte Zyklon B entwickelt wurde, das im Dritten Reich seine bekannte todbringende Karriere machte (Kogon, 1983). In diesem Kontext äußerte er in zynischer Weise, dass man „nicht angenehmer als durch Einatmung von Blausäure sterben“ könnte (Martinetz, 1996, S.133). In geheimen Missionen war F. Haber wahrscheinlich bis etwa 1926 für die militärischen Nutzungen toxischer Verbindungen aktiv (Stoltzenberg, 1994; Szöllösi-Janze, 1998; Schweer, 2008). Die nun in verschiedenen Ländern vorangetriebene chemische Aufrüstung, die Herstellung der phosphororganischen Kampfstoffe in Vorbereitung des Zweiten Weltkrieges, die Entwicklung der sog. Binärtechnologie in den USA und verschiedene Einsätze von chemischen Kampfstoffen verdeutlichten, dass die geltenden Verträge zahnlos blieben. Erst 1997 sollte eine neue UN-Konvention über das Verbot chemischer Waffen entscheidende Abhilfe schaffen.

F. Haber heiratete 1917 zum zweien Male, diesmal die fröhliche und lebensbejahende Jüdin Charlotte Nathan. Bereits 1918 bekannte sie in einem Brief an ihren Schwiegervater die Wahrnehmung der „Unterdrückung der eigenen Persönlichkeit“ durch Habers „Wucht“. Auch diese zweite Ehe endete nicht glücklich und wurde 1927 geschieden. F. Haber empfand dies als persönliches Scheitern vor sich selbst. Tragisch ist das Ende seines Sohnes Hermann aus erster Ehe: Er soll sich nach seiner Emigration in die USA 1946 das Leben genommen haben.2

Am 5. März 1933 ergriffen die Nationalsozialisten die Macht in Deutschland. Kurz danach trat das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums in Kraft, um zunächst jüdische und andere missliebige Staatsdiener zu entlassen oder in den Ruhestand zu versetzen. F. Haber versuchte, sich für seine Mitarbeiter einzusetzen. Dann kam er seiner eigenen Entlassung zuvor, indem er seinen Abschied einreichte. Seine körperliche Verfassung verschlechterte sich dramatisch, begleitet von tiefster Depression. Verbittert – auch im Stich gelassen von der I.G. Farbenindustrie AG (gegründet 1925) – verließ er Deutschland im Herbst 1933, um einem Ruf nach Cambridge zu folgen. Am 29.1.1934 verstarb F. Haber an Herzversagen.3 Das Kaiser-Wilhelm-Instituts für Physikalische Chemie und Elektrochemie wurde am 1.7.1953 der Max-Planck-Gesellschaft eingegliedert und in «Fritz-Haber-Institut der MPG» umbenannt.4

Haben wir nun etwas aus der Geschichte gelernt?

Der dunkelste Punkt im Leben von F. Haber ist die Etablierung von chemischen Kampfstoffen/Waffen als Massenvernichtungsmittel. Heute sind wegen der grausamen Folgen deutliche Fortschritte hinsichtlich der Ächtung chemischer Waffen zu beobachten, und F. Haber könnte so heutzutage nicht mehr handeln. Der Verhaltenskodex der Gesellschaft Deutscher Chemiker (GdCh) verpflichtet seine Mitglieder u.a. „[…] Sie beachten die für ihre Arbeit und deren Ergebnisse und Wirkungen geltenden Gesetze und internationalen Konventionen und stellen sich gegen den Missbrauch der Chemie, z. B. zur Herstellung von Chemiewaffen. […]“ (www.gdch.de). Für Chemiewaffen trat das sehr umfassende und von 188 Staaten unterzeichnete »Übereinkommen über das Verbot der Entwicklung, Herstellung, Lagerung und des Einsatzes chemischer Waffen und über die Vernichtung solcher Waffen« (Chemiewaffenübereinkommen) 1997 in Kraft (www.opcw.org). Die Einhaltung dieser Konvention wird durch die »Organisation für das Verbot chemischer Waffen« (OPCW) in Den Haag durch umfangreiche Verifikationsmaßnahmen überwacht. Wir müssen uns in der Verantwortung für unsere Wissenschaft eindeutig und klar zur Ächtung von Massenvernichtungsmitteln bekennen und gegen jeden möglicherweise auftretenden Missbrauch öffentlich auftreten.

Aus der Wissenschaftsgeschichte Chemie haben wir gelernt, dass sich bei F. Haber wie bei kaum einer anderen Persönlichkeit der Weltgeschichte in hohem Maß der Nutzen einer für die Menschheit bedeutenden Erfindung und der Missbrauch der Chemie für eine der schrecklichsten Methoden der Kriegsführung vereinen. Tragisch ist, dass er auch in seinem privaten Bereich versagte.

Initiative zur Änderung des Namens »Fritz-Haber-Institut«
der Max-Planck-Gesellschaft, Berlin

2011 sind einhundert Jahre seit der Gründung des ehemaligen »Kaiser-Wilhelm-Instituts für physikalische Chemie und Elektrochemie« und jetzigen »Fritz-Haber-Instituts« der Max-Planck-Gesellschaft (MPG) in Berlin vergangen. Dies ist Grund genug für eine Würdigung, aber auch für eine kritische Bestandsaufnahme. Den Anlass für diese Initiative bildet die 1953 mit der Eingliederung des Instituts in die MPG erfolgte Umbenennung in »Fritz-Haber-Institut«, die wir aus heutiger Sicht für dieses renommierte Instituts für nicht (mehr) gerechtfertigt halten.

Wir würdigen die Bedeutung des Instituts und die wissenschaftlichen Leistungen der Mitarbeiter/innen, die für Ihre Arbeiten mit zahlreichen renommierten Preisen wie z.B. durch Nobelpreise (zuletzt 2007 G. Ertl Nobelpreis für Chemie) geehrt wurden. Wir schätzen die gegenwärtigen hinreichend und kritisch überdachten Schwerpunktsetzungen in der Grenzflächenforschung, die ein sehr guter Ausgangspunkt für weitere bedeutende wissenschaftliche Erkenntnisse sind.

Allerdings: Bei kaum einer anderen Person der Wissenschaftsgeschichte vereinen sich in so hohem Maße der Nutzen einer für die Menschheit bedeutenden Erfindung (Ammoniaksynthese für Düngemittel) und der Missbrauch der Chemie für eines der schrecklichsten Kapitel der Kriegsführung (Anwendung chemischer Waffen) wie bei Fritz Haber (siehe nebenstehenden Artikel).

Daraus müssen wir in der Verantwortung als Wissenschaftler Konsequenzen bei der Aufarbeitung der Wissenschaftsgeschichte ziehen. Zwangsläufig ergibt sich für uns, dass der Name des »Fritz-Haber-Instituts« heute u.a. wegen des Chemiewaffenübereinkommens von 1997 und des Verhaltenskodex der Gesellschaft Deutscher Chemiker nicht mehr vertretbar ist. Als Konsequenz bleibt nur die Umbenennung des Instituts. Damit täte sich das renommierte Institut einen guten Dienst anlässlich des einhundertjährigen Jubiläums.

Wenn Sie unsere Initiative zur Umbenennung des »Fritz-Haber-Instituts« unterstützten wollen, wenden Sie sich an: Dieter Wöhrle, Tel. 0421-218-63135, E-mail: woehrle@uni-bremen.de oder Wolfram Thiemann, Tel. 0421-218-63211, E-mail: thiemann@uni-bremen.de.

Literatur

Friedrich, Sabine (2007): Immerwahr. München: dtv.

Gartz, Jochen (2003): Chemische Kampfstoffe. Der Tod kam aus Deutschland. Löhrbach: The Grüne Kraft , Der Grüne Zweig 243.

Kogon, Eugen (Hrsg.) (1983): Nationalsozialistische Massentötungen durch Giftgas. Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch.

Leitner von, Gerit (1993): Der Fall Clara Immerwahr. München: C.H. Beck.

Martinetz, Dieter (1996): Der Gaskrieg 1914-1918. Bonn: Bernhard & Graefe.

Stoltzenberg, Dietrich (1994): Fritz Haber. Chemiker, Nobelpreisträger, Jude. Weinheim: VCH.

Szöllösi-Janze, Margit (1998): Fritz Haber 1868-1934. München: C.H. Beck.

Wietzker, Wolfgang (2008): Giftgas im Ersten Weltkrieg. Saarbrücken: VDM Verlag.

Schweer, Henning (2008): Die Geschichte der Chemischen Fabrik Stoltzenberg bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. Diepholz: GNT-Verlag, Diepholz.

Wöhrle, Dieter (2010): Fritz Haber und Clara Immerwahr. In: Chemie in unserer Zeit, 44, S.30-39.

Anmerkungen

1) Die IPPNW Deutschland verleiht seit 1991 die »Clara-Immerwahr-Auszeichnung«, um Personen zu würdigen, die sich in ihrem Beruf, an ihrem Arbeitsplatz ungeachtet persönlicher Nachteile aktiv gegen Krieg, Rüstung und gegen die anderen Bedrohungen für die Grundlagen menschlichen Lebens eingesetzt haben.

2) „Hermann, born in 1902, would later also commit suicide because of his shame over his father’s chemical warfare work.“; http://en.wikipedia. org/wiki/Fritz_Haber.

3) Über den Rücktritt von Fritz Haber, seinen Tod, Gedächtnisfeiern und späte Ehren: Deichmann, Ute (1996): Dem Vaterlande – solange er dies wünscht. In: Chemie in unserer Zeit, 30, S.141-149.

4) Zur Geschichte des Fritz-Haber-Instituts siehe www.fhi-berlin.mpg.de.

Dieter Wöhrle ist Hochschullehrer für Organische und Makromolekulare Chemie an der Universität Bremen. Er engagiert sich seit längerer Zeit gegen chemische Waffen. Wolfram Thiemann ist Hochschullehrer für Physikalische Chemie an der Universität Bremen. Er befasst sich auch mit Umweltchemie.

Visions of Peace: The West and Asia

Visions of Peace: The West and Asia

10.-12. Dezember 2009 – Otago Museum in Dunedin, Neuseeland

von Takashi Shogimen

Vom 10. bis 12. Dezember 2009 fand das international Symposium »Visions of Peace: The West and Asia« im Otago Museum im neuseeländischen Dunedin statt. Die Veranstaltung – finanziert von der Japan-Stiftung und der Fakultät für Geschichte und Kunstgeschichte der Universität von Otago – widmete sich als multi-disziplinäres Symposium der Untersuchung der verschiedenen traditionellen Konzeptionen des Friedens in den Geschichten der asiatischen und der westlichen Welt.

Angeregt durch 9/11 fokussiert die gegenwärtige Literatur auf die Rechtsvorschriften und die Ethik »gerechter Kriege«. Die Ideen und Ideale des Friedens wie sie in der Vergangenheit von asiatischen und westlichen Denkern konzeptualisiert worden waren, scheinen der Aufmerksamkeit der Wissenschaftler entrückt zu sein. Das Symposium beabsichtigte, diese Lücke zu füllen und bisher übersehene oder unterschätzte Friedensvisionen der historischen Betrachtung ins Licht zu rücken.

Die Veranstaltung orientierte sich an den folgenden kulturellen Einheiten und Traditionen: islamisch, jüdisch, indianisch, chinesisch, japanisch und europäisch. Dabei wurde die Mannigfaltigkeit der globalen Traditionen der Idee des Friedens an den Schnittstellen Religion, Philosophie und politische Ideenwelt betrachtet. Der zentrale, jedoch nicht exklusive zeitliche Fokus lag auf der Vormoderne. Zu den allgemeinen theoretischen und historischen Fragen, die aufgeworfen wurden, gehörten etwa: Was bedeutete »Frieden« in einer gegebenen Tradition? War er vor allem politisch bestimmt? War Frieden das Ziel oder das Mittel für etwas anderes? Ist Frieden in dieser Welt erreichbar? Was sind die Bedingungen für Frieden? Welches sind die Kontexte, in denen Frieden bewertet wird? Welche Beziehung besteht zwischen Krieg und Frieden? Wie wird die Legitimität von Gewaltanwendung in den verschiedenen Traditionen gesehen?

Dr. Takashi Shogimen, Senior Lecturer für die Geschichte des Mittelalters an der University von Otago, hatte die Veranstaltung organisiert und fünf Sprecher für die Plenarveranstaltungen und dreizehn Referenten aus verschiedenen Teilen der Erde einschließlich Jerusalem, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Indien, China, Japan, Kanada, den USA und Neuseeland versammeln können. Den Eröffnungsbeitrag über die ghandische Synthese buddhistischer, hinduistischer, christlicher und liberaldemokratischer Friedensvorstellungen und ihren Einfluss auf westliche pazifistische Ideen und Bewegungen hielt Dr. David Cortright, Direktor des Kroc Institute for International Peace Studies, University of Notre Dame, USA. Einige der pazifistischen Ideen, die von der japanischen und anderen ostasiatischen Nationen geteilt werden, wurden von Professor Shin Chiba von der International Christian University in Tokio vorgestellt. Er verdeutlichte auch die aktuelle Bedeutung des konstitutionellen Pazifismus' Japans.

Dr. Kaushik Roy von der Visva-Bharati University in Indiaen und dem International Peace Research Centre (PRIO) stellte die Idee von Krieg und Frieden im Hinduismus vor der pazifistischen Reinterpretation durch Gandhi vor. Der an der Tufts University, Massachusetts, USA, lehrende Dr. Malik Mufti untersuchte die Gegensätze zwischen der »modernistischen« Schule islamischen Denkens zu internationalen Beziehungen – wie sie durch Autoren wie Muhammand Shaltut, Muhammad Abu Zahra und Wahaba al-Zuhayli repräsentiert werden – und der »klassischen« Doktrin vertreten durch die Juristen der Ära der Abbasiden. Dabei hob er die unterschätzte intellektuelle Tradition, wie sie vor allem durch Ibn Khaldun vertreten worden sei, hervor. Schließlich schloß die Veranstaltung mit einer fesselnden Analyse von Dr. Kamp-por Yu von der Hong Kong Polytechnic University, der sich der konfuzianischen Vorstellung des Friedens aus vergleichender Perspektive widmete und dabei die zentrale chinesische Art des Denkens über Konflikte und Konfliktregelungen hervorhob.

Neben diesen Plenarvorträgen gab es sechs Panels, in denen dreizehn Paper vorgestellt wurden: Dr. Patricia Hannah von der University of Otago befasste sich mit der Idee der eirene, während Associate Professor Murray Rae, ebenfalls von der Universität in Otago, frühen christlichen Pazifismus als dissidente Tradition zeigte. Dr. Vanessa Ward porträtierte Cho Takeda Kiyo (1917-) als eine japanische Friedensstifterin, die in einzigartiger Weise zum japanischen Pazifismus beigetragen habe. Dr. Erica Baffelli, auch sie aus Otago, befasste sich mit dem Pazifismus verschiedener Neuer Religionen, um den charakteristischen japanischen Traditionen nachzugehen, und Tadashi Iwami vom International Pacific College, Palmerston North, New Zealand, stellte – insbesondere im japanischen Kontext – die Zulässigkeit von Vokabeln wie »Zivilisation« und »zivilisatorischer Standard« in Frage, mit denen sich potentiell Antagonismen schaffen ließen. Dr. Vicki Spencer von der University of Otago analysierte Johann Gottfried Herders „eingebetteten Kosmopolitanismus als Alternative zu einem institutionalisierten staatlichen Kosmopolitanismus“ und kontrastierte so seine Vorstellung von Frieden mit der Kants. Dr. Katherine Smits von der University of Auckland stellte eine weitere Alternative zum Kant'schen Friedensplan vor, indem sie Jeremy Benthams unterschätzte Vision des Friedens darlegte und deren aktueller Relevanz nachging. Rajimohan Ramanathalillai vom Gettysburg College, USA, untersuchte anhand von Beispielen wie Al Qaida, den Tamil Tigers und weiteren , wie und warum die US-amerikanischen, indischen und sri-lankischen Regierungen damit scheiterten, eine Ursachenanalyse des Terrorismus vorzunehmen. Nalini Rewadikar vom Madhya Pradesh Institute of Social Sciences Research, Indien, und Uri Zur vom Ariel University Center of Samaria, Israel, stellten eine umfassende Bestandsaufnahme der antiken indianischen und jüdischen Vorstellungen des Friedens vor. Scott Morrison von der Zayed University, Dubai, UAE, bot eine empfindsame Analyse der Friedensidee bei Hasan al-Banna. Bernard Jervis von der Massey University, New Zealand, untersuchte den ethnischen Konflikt zwischen den serbischen, kroatischen und muslimischen Gemeinschaften im Zeitraum 1992 bis 1995 unter dem Gesichtspunkt, was getan wurde, um nach der Gewalt den Frieden wieder herzustellen. Schließlich war es Emily Spencer von der University of Northern British Columbia, die die Bedeutung kultureller Intelligenz (cultural intelligence = CQ) im Rahmen ihrer Untersuchung der neuen Rolle des Militärs in »friedenschaffenden Operationen« hervorhob.

Insgesamt gelang es dem Symposium erfolgreich, die historische und kulturelle Vielfalt der Konzeptualisierung von Frieden und friedensstiftendem Handeln aufzuzeigen und auf einige bisher übersehene traditionelle Friedenskonzeptionen hinzuweisen.

Die Veranstaltung war für die allgemeine Öffentlichkeit zugänglich und zog sowohl lokales als auch landesweites Interesse auf sich. David Cortright wurde von Radio New Zealand und der Otago Daily Times, der Zeitung Dunedins, interviewt. Takashi Shogimen und Vicki Spencer werden eine Sammlung von einschlägigen Aufsätzen herausgeben, die voraussichtlich in naher Zukunft bei einem führenden Wissenschaftsverlag erscheinen werden.

Takashi Shogimen

Der Überfall auf Polen – 70 Jahre danach

Der Überfall auf Polen – 70 Jahre danach

von Jost Dülffer

Die zeithistorischen Gedenkjahre häufen sich in diesem Jahr – 1939, 1949 und 1989; Versailles 1919 blieb im Hintergrund. Das öffnet jedem Datum nur begrenzte Fenster der medialen Aufmerksamkeit, regt jedoch Verknüpfungen an. Es hätte nahe gelegen, die Spaltung in zwei deutsche Staaten 1949 als Folge von 1939 anzusehen, doch das unterblieb weitgehend.

Die Erinnerungskonkurrenz gab dennoch dem 1.9.1939 kurzzeitig breiten Raum. Eindrucksvoll im Vorfeld war eine Ausstellung im Deutschen Historischen Museum, »Deutsche und Polen. Abgründe und Hoffnungen«, die die »schwierige Geschichte« der beiden Nationen über die letzten 200 Jahre thematisierte, mit dem Zweiten Weltkrieg und den Folgen des Zweiten Weltkriegs bis in die Gegenwart, aber differenziert das Spannungsverhältnis des Untertitels unterstrich.

Ein solcher Akkord wurde durchweg angeschlagen. Die großen Zeitungen, Rundfunkanstalten und Fernsehen widmeten dem Thema Gedenkartikel und Kommentare. Es waren nicht nur die relativ kleinen Einsatzgruppen von SD und SS, welche gleich zu Beginn des Krieges im September 1939 vorbereitete Mordaktionen starteten. Es war auch nicht erst die Besatzungspolitik in den offiziell annektierten Reichsgauen und dem Generalgouvernement: mit dem deutschen Überfall fingen Tötungsaktionen aller deutschen Behörden, auch der Wehrmacht, an. Sie trafen von den ersten Tagen an Juden und die polnische Intelligenz. Diese Sachverhalte hatte erst vor wenigen Jahren Jochen Böhler mit »Auftakt zum Vernichtungskrieg« thematisiert, jetzt konnte er dazu auch einen populären Band »Der Überfall« vorlegen. Das wurde der meist gebrauchte Terminus. Alle Ansätze, auch polnische Politik wegen eines sicher wenig glücklichen, da die eigenen Kräfte stark überschätzenden Auftretens mit verantwortlich zu machen, unterblieben in diesem Jahr. Die »Entfesselung« (so Walther Hofer schon 1954) eines Krieges, auf den die deutsche Politik hin gearbeitet hatte, blieb die zutreffende Einschätzung.

Konnte man vor einem Jahrzehnt noch annehmen, eine gemeinsame deutsch-polnische Erinnerung sei vor dem Hintergrund der deutschen Verbrechen nun auch für die Erinnerung an Flucht und Vertreibung danach möglich, so wurden durch das Bestreben nach einem europäischen Zentrum gegen Vertreibungen durch die Vertriebenen einerseits, durch eine stark von Ängsten vor Deutschland und dessen Rolle in der EU bestimmte Politik der Brüder Kaczynski andererseits die deutschen Verbrechen wieder direkte Fragen der Gegenwart.

Das änderte sich mit dem Amtsantritt von Ministerpräsident Donald Tusk vor zwei Jahren. So sind wir dennoch wieder bei 1939 angelangt und der Rückblick lohnte sich. Die Gedenkfeier in Danzig auf der Westerplatte am 1.9.2009 wurde zum zentralen Erinnerungspunkt und -ort. Tusk legte an diesem Tag den Grundstein zu einem Museum des Zweiten Weltkrieges, ohne dass das deutsche Vertreibungsthema zur Sprache kam. Vielmehr traf die deutsche Bundeskanzlerin mit ihrem Eingangssatz in Danzig auch die europäische Stimmung: „Heute vor 70 Jahren begann mit dem deutschen Überfall auf Polen das tragischste Kapitel in der Geschichte Europas. Der von Deutschland entfesselte Krieg brachte unermessliches Leid über viele Völker – Jahre der Entrechtung, der Erniedrigung und der Zerstörung.“ Sie gedachte auch des Leids der Juden, Widerstandskämpfer, der 60 Millionen Toten des Weltkrieges und erntete damit auch bei uns Zustimmung. Mir ist keine politische oder historische Stimme bekannt geworden, die das anders oder gegensätzlich gesagt hätte.

Die Gedenkstunde geriet insgesamt zu einer historisch rückblickenden europäischen Feier, auf der neben drei Polen in unterschiedlichen Ämtern auch der französische und schwedische Ministerpräsident sprachen. Durch Pressepolemik zuvor belastet trat auch Wladimir Putin auf und erinnerte immerhin auch an den Hitler-Stalin-Pakt und die Ermordung polnischer Offiziere 1940 bei Katýn. Das war vielen Polen zu wenig, da ja auch die ganze Nachkriegsgeschichte Polens als sowjetische Unterdrückung erinnert wurde; hier stellt man den 17. September 1939, als die Rote Armee arbeitsteilig mit der Wehrmacht in Ostpolen mit Folgen bis heute einmarschierte, gern an die Seite des 1. September; angesichts russischen Geschichtsrevisionismus in der Gegenwart war dies jedoch viel.

Eine bemerkenswerte Einordnung des 1.9.1939 nahm Putin bereits zuvor in einer polnischen Zeitung und später nochmals vor: der Versailler Vertrag sei an allem Schuld, er habe durch die „Demütigung einer großen Nation“ den Aufstieg des Nationalsozialismus begünstigt, der deren Weg aus der Staatengesellschaft heraus bestimmte und die Sowjetunion zum Pakt mit Hitler gleichsam zwang. „Demütigung einer großen Nation“: Das zielt auch auf die russische Gegenwart. Zugleich knüpfte er damit an einen üblen, bis in die Gegenwart bei uns wirkenden Geschichtsmythos an: die Deutschen hätten ja nur bedingt Schuld an Hitler und seinen Folgen, die Alliierten hätten mit dem 1919 als unannehmbar gesehenen Frieden die weitere Entwicklung programmiert. Dabei hatte das Deutsche Reich den Ersten Weltkrieg verloren und die Politiker stilisierten diesen Vorgang in kollektiver Realitätsverweigerung nur zur schlimmen Demütigung um.

Mit dem 1. September begann in Europa der Zweite Weltkrieg, der in unserer aller Köpfe in seinen Folgen noch längst nicht abgeschlossen ist – oder doch sein sollte. »Danzig 1939« folgt jedoch nicht aus »Versailles 1919«.

Dr. Jost Dülffer ist emerierter Professor für Neuere Geschichte

Vorzeiten

Vorzeiten

Mutterrecht und Friedfertigkeit – revisited

von Monika Nehr

Schon einmal bewegte ich mich auf den Spuren femininer Vorzeiten – und ich bewegte mich nicht allein. Das Thema »weibliche Friedfertigkeit und patriarchaler Rüstungswahn« – zusammengefasst in der einfachen Frage: Sind Frauen friedlicher? – bewegte seinerzeit viele von uns, als das Inhalts- wie Sprachungetüm »NATO-Doppelbeschluss« vom 12. Dezember 1979 die weltweit wohl größte Friedensbewegung auslöste. Ende 1983 steuerte sie nach der zweiten Ungeheuerlichkeit, die »Nachrüstungsbeschluss« hieß, auch in der Bundesrepublik Deutschland auf ihren Höhepunkt zu und verebbte erst nach der Stationierung atomarer Raketen auf west- und ostdeutschem Territorium.

Mit dem Ende der großen Friedensbewegung, in der Frauengruppen eine wichtige Rolle inne hatten, begann unsere Arbeitsgruppe. Wir – drei Frauen1 – trafen uns regelmäßig Sonnabend nachmittags und studierten die FrauenFriedensFrage bei den Klassikern August Bebel und Friedrich Engels, bei dem Rechtshistoriker und Mythenforscher Jakob Bachofen, später noch »das Patriarchat« des Sexualforschers Ernest Bornemann … immer entlang der Frage: Wie verhielt es sich denn mit Krieg und Frieden, mit Mann und Frau und den Machtverhältnissen zwischen ihnen vor unserer Zeit? Ein Fazit lautete: Frauen sind nicht von Natur aus friedlicher, doch ist die Friedfertigkeit historisch in den Urgesellschaften verankert; nachweislich in den vorpatriarchalen Stammesgesellschaften der Jungsteinzeit, deren Siedlungen zum Beispiel ohne Befestigungsanlagen auskamen.2

Archäologische Befunde

Mein heutiges Augenmerk gilt Ausgrabungen und archäologischen Funden aus fast dreißigtausend Jahren prähistorischer Kunst, insbesondere den zahlreichen Frauenfigurinen und der von der »männlichen« Archäologie vernachlässigten Frage, was diese über die Friedfertigkeit urgesellschaftlicher Kulturen aussagen. Passt die »Fat Lady« von Saliágos ebenso zu Engels Evolutionstheorie wie die »Sleeping Lady« von Malta oder die Irokesin? Hat die neolithische Revolution der Männer die Goldenen Zeiten beendet?

Aus der Altsteinzeit, dem Paläolithikum, sind ungefähr 1000 vollständige oder fragmentarische weibliche Bildnisse erhalten, darunter Skulpturen, Reliefs und Holzschnitte. Die frühesten entstanden während der letzten Phase der Altsteinzeit ungefähr ab dem 30. Jahrtausend vor Christus. Zahllos sind jedoch die bei Ausgrabungen entdeckten weiblichen Ton- und Marmorfiguren vorwiegend aus der neolithischen Periode etwa zwischen 7.000 und 3.000 v. unserer Zeitrechnung. Einige von ihnen möchte ich vorstellen.

Eine der ältesten Figurinen, die berühmte Venus von Willendorf, stammt noch aus der Altsteinzeit. Etwa 23 Tausend Jahre vor unserer Zeitrechnung wurde sie aus Kalkstein gefertigt. Diese nur 10,5 cm hohe, stehende, nackte, üppig beleibte Frauenfigur mit dünnen, über die großen Brüste abgewinkelten Unterarmen und dem gesichtslosen, einer Brombeere gleichenden Kopf, fand man 1908 in einer Höhle im heutigen Österreich. Sehr ähnlich sieht ihr die 13 cm hohe, sogenannte Venus von Malta, eine stehende, ebenfalls nackte, jedoch kopflose Figurine aus gebranntem Ton (Werkstoff seit der Jungsteinzeit), die aber ungefähr 20.000 Jahre später im Neolithikum, ca. 3.300 Jahre vor Christus entstand und erst in den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts in einem megalithischen Tempel auf Malta gefunden wurde.

Einer der jüngsten Funde ist die nur ca. 6 cm hohe Keramikfigurine, genannt Fat Lady von Saliágos, eine üppig beleibte kopflose Figur mit untergeschlagenen Beinen. In der Vitrine in dem kleinen Archäologischen Museum von Paros spiegelt sie ihr rundes Hinterteil in einem kleinen runden Taschenspiegel. Die Fundstätte, die winzige nur 100 auf 50m messende Insel Saliágos zwischen den Kykladeninseln Paros und Antiparos, beherbergte eine der ältesten neolithischen Siedlungen der Ägäis.

Andere Figurinen sind bekleidet, wie die Sleeping Lady genannte kostbare Tonstatuette, etwa 3.300 v.u.Z., aus einem unterirdischen neolithischen Tempel von Malta; diese seitlich liegende rundliche Frauenfigur, nicht länger als 12 cm, bekleidet mit einem langen, gemusterten, körpernahen Gewand, scheint auf einer Art Liege zu schlafen. Der auf dem abgewinkelten Unterarm ruhende kleine Kopf und die aus dem Rock herragenden, kleinen spitz zulaufenden Füße stehen in auffallendem Kontrast zu dem runden Körper und den wulstigen Armen.

Die prähistorischen weiblichen Figuren werden häufig als Venusstatuetten, Idole, Votivfiguren oder Fruchtbarkeitssymbole bezeichnet. Für Marija Gimbutas, eine der seltenen Frauen in der Archäologie, stellen sie weibliche Gottheiten dar. Die auch in Anthropologie, Religionsgeschichte und alten Sprachen ausgewiesene Wissenschaftlerin, nennt diese Frauendarstellungen einfach Göttin von Malta, Göttin von Willendorf; die Mère von Catal Hüyük genannte Figur bezeichnet sie als eine majestätisch thronende Göttin beim Geburtsakt, die Sleeping Lady als schlafende Göttin, und männliche Figuren, deren Anzahl weitaus geringer ist, stellt sie ihnen als Götter an die Seite.

Apropos Götter: Im Archäologischen Museums in Athen stößt man auf eine mit etwa 50 cm relativ große sitzende nackte männliche Tonfigur aus Thessalien des späten Neolithikum. Die rechte Faust stützt den kantigen Kopf, während die linke Hand den auffallend großen, zum Teil abgebrochenen erigierten Penis hält. Diese »The Thinker« betitelte Figur wird im Museumsführer „zum frühesten Symbol männlicher Natur und männlichen Denkens“ emporgehoben. In meinen Notizen frage ich: beginnt mit dem »Thinker« der prähistorische Männlichkeitswahn? Doch in Gimbutas Systematik repräsentiert er nicht mehr und nicht weniger als irgend eine männliche Gottheit.

Symbolsprache

Bis zu ihrer Emeritierung 1989 lehrte die gebürtige Litauerin Archäologie zuerst in Harvard, später an der Universität von Kalifornien und leitete selbst umfangreiche Ausgrabungen in Jugoslawien, Italien, Mazedonien und Griechenland. Gimbutas Name ist untrennbar mit der systematischen Erforschung der prähistorischen Göttin verbunden. Ihre beiden wichtigsten Bücher »Die Sprache der Göttin« und »Die Zivilisation der Göttin« erschienen Mitte der 1990er Jahre auch auf deutsch.

Marija Gimbutas entzifferte die Symbolsprache der prähistorischen Kunst. Sie entdeckte verschiedene, sich wiederholende Zeichen und entschlüsselte den Code, der sich hinter den scheinbar nur dekorativen Elementen der prähistorischen Weiblichkeitsdarstellungen verbirgt. So stellte sie eine verblüffende Ähnlichkeit zwischen den Darstellungen der Göttin aus der Steinzeit und denjenigen von diversen Tieren und vor allem Wasservögeln fest. Diese Ähnlichkeiten gibt es bei den nahezu 30.000 Jahre alten Figuren ebenso wie auf neolithischen Abbildungen und Töpferarbeiten bis hinein in das bronzezeitliche Kreta, ca. 1.450 v. Christus. Gimbutas verglich auch die Symbole auf Rücken oder Beinen von Göttinnendarstellungen mit den Eigenschaften von Flüssigkeiten: Ein Doppel-V bedeutet fließendes Wasser, die senkrechten Linien auf den Göttinnen-Krügen und -Ikonen stellen Regen dar. Ähnliche Symbole auf den Brüsten bedeuten Milch, auf der Rückseite der Schenkel Fruchtwasser. Damit verband Gimbutas die prähistorische Göttin mit dem Urelement Wasser und legte den Grundstein zu ihrer Theorie einer paläolithischen Schöpferin, die sich selbst und die Welt aus der Urflüssigkeit erschuf.

Die Ähnlichkeit vieler paläolithischer Figurinen und Tierdarstellungen mit solchen aus dem Neolithikum verweise ihrer Ansicht nach auf die Möglichkeit eines religiösen Zusammenhangs und auf einen mehrere Jahrtausende währenden Göttinnenkult, zumindest im »alten Europa«, wie Gimbutas das Gebiet der Ägäis, Kreta, den Balkan und das östliche Zentraleuropa, die Mittelmeerländer und Westeuropa bezeichnet.

Mutterrecht

Die Vorstellung einer solchen prähistorischen weiblichen Gottheit als verbindendes religiöses Element über Jahrtausende hinweg wäre durchaus nach dem Geschmack von Johann Jakob Bachofen gewesen, der als Altertumswissenschaftler und Jurist zunächst Jurisprudenz in Basel lehrte und später seinen bis heute populären und kontroversen Forschungen zum sogenannten Mutterrecht nachging. Bachofen suchte und fand die Spuren eines matriarchalen oder mutterrechtlichen Urzustandes in den Mythen der antiken geschichtlichen und religiösen Überlieferungen. Für ihn bedeutete Mutterrecht Gynaikokratie, das ist das griechische Wort für Matriarchat oder Herrschaft der Frauen. Von den späteren archäologischen Entdeckungen ahnte er noch nichts, denn die eventuell seine Theorie unterstützenden Ausgrabungen begannen erst nach seiner Lebenszeit, die 1887 endete.

Einen anderen Zugang zum sogenannten Mutterrecht fand ein Zeitgenosse Bachofens, der amerikanische Ethnologe Henry Morgan, der eine Zeit lang bei den indianischen Irokesenstämmen im Staat New York lebte. Er entdeckte bei ihnen die matrilineare, matrilokale und matrifokale Gentilgesellschaft, deren Keimzelle die mütterliche Verwandtschaftsgruppe oder matrilokale Gens ist. Nach der Fachterminologie bedeutet matrilinear, matrilokal und matrifokal, dass sich Abstammung und das Erbrecht der Kinder sowie der Familienort nach der Mutter richteten und Frauen insgesamt sehr geachtet wurden. Es gibt noch den Sammelbegriff matristisch, der alle drei Aspekte beinhalten kann und auch synonym zu mutterrechtlich verwendet wird.

Nun glaubte Morgan ein allgemeingültiges historisches Entwicklungsgesetz gefunden zu haben, welches von den mutterrechtlichen Ordnungen der Urgesellschaften zu den vaterrechtlichen oder patriarchalen Strukturen der späteren Gesellschaften führt. Bis dahin kannte man nur die patrilinearen und patrilokalen, griechischen und römischen Gentilgesellschaften.

Während bei den Irokesen in Nordamerika die gesellschaftlichen Triebkräfte zum Umsturz des Mutterrechts fehlten und sie bis heute mehr oder weniger mutterrechtlich geblieben sind, konnten die im Neolithikum sesshaft gewordenen einstigen Jäger- und Sammlergesellschaften in der Alten Welt mit Ackerbau und Viehzucht zum ersten Mal Vorräte und Überschuss produzieren. So begannen die für die Züchtung von Viehherden zuständigen Männer mit dem Zuwachs an Vieh auch Besitz anzusammeln, den sie nicht mehr kollektiv verteilen, sondern sich privat aneignen wollten. Über diese neuen Reichtümer konnte der Mann als Besitzer bisher nicht verfügen und ihn auch nicht an seine Kinder vererben. Das war Grund genug, das Mutterrecht umzustoßen und Vaterrecht in der gesellschaftlichen Gemeinschaft einzuführen. Das bedeutete Patrilokalität und die Möglichkeit, den Reichtum an die eigenen Kinder zu vererben. Die weibliche Abstammungslinie war zugunsten der väterlichen abgesetzt.

Von der vaterrechtlichen Gens zum patriarchalischen und kriegerischen Staat war es dann nur noch ein verhältnismäßig kurzer Weg, schreibt Friedrich Engels in seinem 1884 erschienen Werk über den »Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates«. Engels, der wesentlich auf Bachofens und Morgans Forschungen gründet, spricht von Umsturz des Mutterrechts, und nennt diesen Umsturz eine der einschneidensten Revolutionen der Menschheit und die weltgeschichtliche Niederlage des weiblichen Geschlechts.

Bachofen hat indes nicht wie Engels oder Morgan den mutterrechtlichen Urgesellschaften nachgetrauert – im Gegenteil: er begrüßt den Umsturz als Fortschritt und formulierte es philosophisch: „Die Seele steigt aus den Niederungen des Stoffs empor zum Licht, zur Unsterblichkeit. Das ist der Weg vom Mutterrecht zum Vaterrecht.“ Mit den „Niederungen des Stoffs“ ist das Weibliche gemeint; „Unsterblichkeit“ verweist auf die griechische Götterwelt und den Umsturz der Großen-Göttin-Religion.

Den Umsturztheorien wurde jedoch heftig widersprochen. Uwe Wesel, der bekannte Rechtshistoriker, präsentierte 1980 in seinem Buch »Der Mythos vom Matriarchat« die internationale Diskussion zu Bachofen, Engels und Morgan bis zum Ende der 1970er Jahre. Nach dieser Forschungslage habe es in der vorzeitlichen Entwicklung keine allgemeine Kulturstufe des Mutterrechts gegeben und entsprechend auch keinen Umsturz zum Vatererrecht. Es habe auch nirgendwo Matriarchate im Sinne von Frauenherrschaft existiert, sondern einige wenige Stammesgesellschaften, in denen sich die Abstammung und das Erbrecht der Kinder sowie der Familienort nach der Mutter richteten und Frauen auch geachtet wurden. Eben die Gesellschaften, die von den »Klassikern« beschrieben wurden, und vielleicht noch ein paar andere; wie die Ethnologie auch heute noch etwa einhundert matrilineare Völker in Nord- und Südamerika, in Afrika, in Asien und in der Südsee kennt, von denen einige auch matrilokal leben. Die mutterrechtlichen Gentilgesellschaften der Vorzeit sollen synchron mit den vielen patriarchalen Stämmen existiert haben.

Der Einfluss Gimbutas

Als um 2.500 v.Chr. die ersten griechischen Stämme aus dem Norden nach Theassalien einströmten, fanden sie auch dort eine ausgebildete Kultur vor, doch trafen sie mit diesen Menschen offenbar nicht friedlich zusammen, so formuliert es vorsichtig die Herausgeberin des Museumsführers vom Athener Nationalmuseum. Marija Gimbutas drückt es drastischer aus und spricht von den indogermanischen und patriarchalen Stämmen aus Griechenland, die die friedfertigen, egalitär und mutterrechtlich geprägten Kulturen der Alten Welt unterwarfen.

Welchen Einfluss haben heute Marija Gimbutas 30jährige Feldforschung und ihre zahlreichen Veröffentlichungen auf Archäologie und Vorgeschichte? Schauen wir zum Beispiel nach Malta, dessen vorzeitliche megalithische oder großsteinige Tempelkultur noch gar nicht lange bekannt ist. Erst seit wenigen Jahren gibt es Gewissheit: Die sieben Haupttempel, die in den 1980er Jahren ins Weltkulturerbe aufgenommen wurden, sind die ältesten freistehenden Steinbauten der Welt, mehr als 1000 Jahre älter als die Pyramiden Ägyptens.

Nicht zufällig tagte daher im Jahr 1985 in Malta die erste Konferenz über Archäologie und Fruchtbarkeitskult im Alten Mittelmeerraum, zu der auch Marija Gimbutas mit einem Vortrag über »Frauenfigurinen in der Vorgeschichte« eingeladen war; und sie wird vermutlich auch eine ihrer Entdeckungen erwähnt haben, nach der die Tempelgrundrisse augenscheinlich die voluminösen Körper der Göttinnendarstellungen repräsentieren. Ein Teilnehmer dieser Konferenz wundert sich jedenfalls 14 Jahre später, dass der interessante Vortrag Gimbutas nicht in dem von Anthony Bonanno 1986 edierten Tagungsband erschien (vgl. Mifsud & Ventura 1999).

Bei meinem Aufenthalt auf Malta im Oktober 2000 erzählte mir Stephen Cini, der noch junge Leiter des kleinen archäologischen Museums in der Zitadelle von Victoria auf Gozo, von der ablehnenden Haltung des auch für die Museen maßgeblichen maltesischen Archäologen Anthony Bonanno gegenüber allen Deutungen in Richtung femininer Kulturhoheit des Tempelvolkes und diktierte mir unter vorgehaltener Hand den Namen Marija Gimbutas und den Titel ihres Buch »The Language of the Goddess« in den Block – eine fast konspirative Empfehlung. Im archäologischen Museum von La Valetta auf Malta wohnte ich zufällig einer Schulklassenführung maltesischer Schüler bei. Der Lehrer zeigt den etwa 14jährigen Schülern die vielen Frauenfigurinen in den Vitrinen und nennt sie Zeuginnen einer femininen Kultur; Bonannos Verdikt scheint subversive Reaktionen hervorzubringen!

Maltas Archäologie und Prähistorie wird sich einer Neuinterpretation der künstlerischen Darstellungen wie der gesamten Tempelkultur auf Dauer nicht verschließen können. Die Friedlichkeit der mehrere Tausend Jahre währenden Tempelperiode ist unbestritten; die archäologischen Evidenzen sind eindeutig; nirgendwo fand man Festungsmauern oder Waffen; auch keine Ansammlungen von Skeletten mit Spuren gewaltsamer Todesarten.

Ähnliches gilt zum Beispiel auch für die neolithische Siedlung von Catal Hüyük in der heutigen Türkei, dem Fundort der majestätisch thronenden Göttin beim Geburtsakt oder für das wesentliche spätere minoische Kreta. Doch die unstrittige Friedfertigkeit dieser Kulturen befindet sich keineswegs im Fokus der prähistorischen Forschung. Joseph Magro Conti ist eine der wenigen Ausnahmen: „Eine Kultur manifestiert sich nicht einfach durch Bauwerke und künstlerische Darstellungen, sondern auch in ihrer Einstellung zu Gewalt und Aggression.“ 3 Doch woher kam die Friedfertigkeit? War sie eine natürliche Eigenschaft der Vorzeit-Menschen, wie Conti vermutet: „Krieg ist unnatürlich, denn er ist ein Ergebnis der Zivilisation. Die Menschen des Neolithikum und das Tempelvolk waren wahrscheinlich von Natur aus friedlich… doch die Menschen des Bronzezeitalters waren zweifellos an Krieg und Aggression gewöhnt.“

Über die Herrschaft und Kriege seit der Bronzezeit wissen wir in der Tat fast alles, denn mit dem patriarchalischen Griechenland beginnt auch bald die geschriebene Geschichte und Literatur. Homers Epen geben erste Zeugnisse dieser Kriege. Aus der Vorzeit gibt es keine schriftlichen Zeugnisse. Frauenfigurinen und andere Weiblichkeitsdarstellungen werden bisher noch nicht als Zeugnisse gesellschaftlicher Lebensformen und einer besonderen Rolle der Frauen in Betracht gezogen. Sie werden bewundert, beschrieben und in Museen ausgestellt; doch fallen plausible Theorien für egalitäre und gewaltfreie Gesellschaften mit einer möglichen Kulturhoheit der Frauen meistens unter einen Konsens des Verschweigens.

Über das warum darf spekuliert werden: Handelt es sich nur um die übliche männliche Ignoranz in den verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen gegenüber abweichenden Erkenntnissen aus weiblichen Quellen? Geht es um die Vermeidung von Diskursen über egalitäre und nicht- hierarchische, gar urkommunistische Gesellschaften, wie es auch die jüngste internationale Irokesenforschung4 nahe legt? Ist es gar die Sorge vor einer neuen feministischen Matriarchats-Debatte? Immerhin fand 2003 der erste Weltkongress für Matriarchatsforschung statt. Oder bangen die monotheistischen Religionen um ihre männliche Vorherrschaft? Für letztere gibt Gimbutas teilweise Entwarnung. Obwohl Männer in der prähistorischen Kunst weitaus seltener dargestellt sind, waren die Urgesellschaften keine Frauenkulturen, in denen es nur Göttinnen und keine Götter gab. In allen Mythologien findet man neben der Mutter- oder Erdgöttin ihren göttlichen Begleiter. Auch im politischen Leben besteht eine egalitäre Situation: An der Seite der Königin, die auch gleichzeitig die Hohe Priesterin ist, sitzt gleichberechtigt entweder ihr Ehepartner, Bruder oder Onkel.

Gimbutas Überzeugungen gründen auf ihrem Lebenswerk: „Der Ursprung Europas war eine kooperative und friedliche neolithische Göttin-Kultur.“ Das klingt nach »Goldenen Vorzeiten«! Simone de Beauvoir, die noch nichts über Gimbutas Erkenntnisse wissen konnte, schrieb 1949, dass in Wirklichkeit das Goldene Zeitalter der Frau nur ein Mythos sei.

Pazifismus und FrauenFriedensFrage heute

Auf dem Europäischen Sozialforum im Jahr 2006 in Athen ist die Friedensfrage in der Feministischen Sektion nicht präsent. Andere, alte Probleme stehen wieder neu auf der Agenda. Die bekannte ehemalige schwedische Linkspolitikerin Gudrun Schymann vermittelte zum Beispiel ein düsteres Bild über die reale Stellung der Frau in Schweden und forderte die Frauen auf, für Geschlechtergerechtigkeit in der Politik zu kämpfen. Männliche Strukturen verhinderten die Gleichberechtigung der Frauen in allen Bereichen der Gesellschaft. Und mit Verweis auf den Tagungsort Athen erinnerte sie daran, dass die berühmte griechische Demokratie eine Männerdemokratie war, die vollständig ohne Frauen auskam; abgesehen davon war die Unterdrückung der Frauen in der damaligen Antike ohne Beispiel, besonders in Athen. Weltweit soll die Frauenfriedensfrage durch die UN-Resolution 1325 des Weltsicherheitsrates vom 8. März (!) 2000 verankert werden. Erinnern wir uns: Die UNO ruft das Jahr 1975 zum Internationalen Jahr der Frau aus. Auf der ersten Weltfrauenkonferenz, die noch im selben Jahr in Mexico City stattfindet, wird ein Welt-Aktionsplan verabschiedet und die UNO-Dekade der Frau unter dem Motto »Gleichheit – Entwicklung und Frieden« eingeleitet. Die letzte und größte der vier Weltfrauenkonferenz findet 1995 in Peking statt. Mit der UN-Resolution 1325 sollte eine Art Ersatz institutionalisiert werden.

Im Wesentlichen geht es in der Resolution jedoch wohl darum, die Auswirkungen von Kriegshandlungen für die Frauen vor Ort zu mildern, auch wenn als vorrangiges Ziel die Verhinderung von Kriegen genannt wird. In Deutschland hat sich daraufhin im Jahr 2003 ein sogenannter Frauensicherheitsrat gegründet, der von Einzelpersonen und Vertreterinnen einiger Frauenorganisationen, darunter die altehrwürdige pazifistische Internationale Frauenliga Frieden und Freiheit (IFFF), getragen wird. Die Vertreterin der Internationalen Frauenliga nennt es in einem Interview schon einen Erfolg, wenn zum Beispiel statt eines Mannes ein weiblicher Offizier der Bundeswehr in einem Krisengebiet wie Sudan oder Afghanistan die Frauen vor Ort schützen kann. Nationale Aktionspläne für die Umsetzung der Resolution gibt es bisher nur in England und den skandinavischen Ländern Dänemark, Schweden und Norwegen. Die Bundesregierung verweigert bis heute strikt einen solchen Aktionsplan. Auch deswegen hat eine Organisation wie der Frauensicherheitsrat kaum Einfluss und Beratungsmöglichkeiten.

Das eigene Selbstverständnis dieses Frauengremiums lässt zudem alle Fragen nach frauen- und friedenspolitischer Standortbestimmung offen. Auch historische Orientierungen sind nicht auszumachen. Wo bleiben die großen Vordenkerinnen und Friedensaktivistinnen, die schon vor dem Ersten Weltkrieg gewarnt haben. Ich denke an Pazifistinnen wie Lyda Gustava Heymann, eine der deutschen Gründerinnen der Internationalen Frauenliga, an Bertha von Suttner, die vor 100 Jahren den Friedensnobelpreis bekam und im vergangenen Jahr immerhin mit einer Briefmarke geehrt wurde. Und wo bleiben die Sozialistinnen und Kriegsgegnerinnen Clara Zetkin oder Rosa Luxemburg, ebenso wie Margarete Mitscherlichs Bücher »Die friedfertige Frau« oder »Die Zukunft ist weiblich« und Christa Wolfs Roman »Kassandra«? In der Friedensbewegung der 1980er Jahre waren sie nicht nur in aller Frauen Munde! – Alles vergessen? Da wage ich es kaum, noch an unsere »Goldenen Vorzeiten« zu erinnern…

Literatur

Bonanno, Anthony (2000): Malta – ein archäologisches Paradies. Valletta.

Bachofen. J.J. (1975): Das Mutterrecht. Frankfurt/Main.

Bornemann, Ernest (1981): Das Patriarchat. Frankfurt/Main.

Bebel, August (1974): Die Frau und der Sozialismus. Berlin.

Engels, Friedrich (1970): Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates. Berlin.

Gimbutas Marija (2001): The Language of the Goddess. London.

Mifsud, Anton & Ventura, Charles Savona (Eds.) (1999): Facets of Maltese Prehistory. Valletta.

Wesel, Uwe (1980): Der Mythos vom Matriarchat. Frankfurt/Main.

Wesel, Uwe (1997): Geschichte des Rechts. München.

Anmerkungen

1) mit Dr. Eva Förster und – in memoriam – Dr. Claudia Hoffmann.

2) Vgl. Nehr, Monika (1985): Mutterrecht und Friedfertigkeit. Informationsdienst Wissenschaft und Frieden 3/1985, S.18-19.

3) Conti, Joseph Magro (1999): Aggression and Defence in Prehistoric Malta; in: Mifsud & Ventura, S.191-205.

4) Vgl. Wagner, Thomas (2004): Irokesen und Demokratie. Münster.

Dr.phil Monika Nehr ist Linguistin, leitete bis 2005 bilinguale Schulprojekte in Berlin und forscht derzeit zur Biographie der Antifaschistin Johanna Weitz.

Gastkommentar: 150 Jahre 48er Revolution

Gastkommentar: 150 Jahre 48er Revolution

von Manfred Messerschmidt

Eine Revolution, jahrzehntelang vergessen, der man sich im Kaiserreich geradezu geschämt hat, was hat sie gewollt, warum fand sie überhaupt statt, was ist geblieben?

Sicher gehen die meisten jetzt inszenierten Jubiläumsveranstaltungen mit ihrer Thematik Freiheit, Demokratie und der Klage über das Scheitern der 48er Revolution an den wichtigsten Fragestellungen vorbei. Es wurde von den Kritikern schon früh von der »Revolution der Intellektuellen« gesprochen. In der Tat saßen in der Paulskirche zahlreiche Professoren und Juristen, Dichter und Journalisten. Wer aber kann glauben, daß deutsche Akademiker eine Revolution veranstaltet haben? Sie brachten, als sie von Frankreich importiert war, in unendlichen Debatten ihre Ideen ein, zerredeten viel, verpaßten Chancen, aber sie brachten – im März 1848 endlich – eine Reichsverfassung liberalen Zuschnitts zustande und ein Reichswahlgesetz, das auf der Grundlage allgemeiner und geheimer Wahlen allerdings nur knappe Mehrheiten gefunden hatte. Sie wollten ein einig Vaterland, es sollte groß und stark sein, deutsches Wesen und Kultur bis weit über die Grenzen ausstrahlen lassen, deutsche Interessen bis in die ferne Türkei anmelden. Der Liberalismus der Intellektuellen trug in seinem Gepäck ein beträchtliches nationalistisches Gewicht, akkumuliert infolge lang angestauter Enttäuschungen darüber, daß die Befreiungskriege leider keine Freiheitskriege gewesen waren und angesichts der österreichisch-preußischen Regie so etwas wie die Revolution von 1830 in Frankreich oder die belgische Verfassung im deutschen Raum nicht möglich war. Liberale Sehnsüchte deutscher Intellektueller träumten deshalb von Geschlossenheit und Stärke. Daß Polen und Tschechen ein national geeintes Deutschland als glückliches Anhängsel zu verschönern hatten, stand außer Frage. Nichts hat die Gemüter der bürgerlichen »Revolutionäre« in Frankfurt so erhitzen können, wie der Friedensschluß Preußens mit Dänemark. War das nicht Verrat an der deutschen Sache? Was scherte sie überdies der Druck anderer Mächte! Nationale Euphorie und die sich drängend anmeldenden Interessen von Wirtschaft und Industrie ließen wenig Raum für die Beschäftigung mit viel drängenderen sozialen Fragen: Schutz der Arbeit, Recht auf Arbeit, Festsetzung des Lohnminimums und andere Vorschläge fanden keine Mehrheit.

Die bürgerlichen »Revolutionäre« wollten keine Republik. Sie wollten nicht mit den Monarchien brechen. Die Chancen dafür standen allerdings auch schlecht. Obwohl Preußen und Österreich von der Märzwelle der Revolution überrollt wurden, ihre Hauptstädte in der Hand der Aufständischen waren, stellte sich bald heraus, daß der Sieg, vor allem in Preußen, ein bloßer Kompromiß war. Zwar hatten die Truppen auf Befehl Berlin verlassen, besiegt waren sie aber nicht. In Potsdam warteten die Offiziere nur auf das königliche Signal zum Losschlagen. Friedrich Wilhelm IV. wußte aber zunächst nicht recht, was zu tun sei: sich an die Spitze der nationalen Bewegung stellen? Ja, aber auch an die Spitze der liberalen Kräfte? Das nicht. Sein Zögern schaffte bis zum Herbst ein Moratorium, das trügerische Hoffnungen begünstigte.

Wie die Revolution durch Anstoß von außen ausgelöst und damit eher ein Geschenk für liberale Intelligenz und Besitzbürger wurde, so erhielt sie auch von außen ihren Gnadenstoß. Im Paris wurden schon im Sommer 1848 sozialrevolutionäre Aufstände brachial beendet. General Cavaignac triumphierte auf dem städtischen Schlachtfeld mit 10.000 Toten. Schließlich ging aus allen Kämpfen und Forderungen das politische System Napoleon III. hervor. In Ungarn besorgte der Zar die Wiederherstellung von »Ruhe und Ordnung«. Ende Oktober schlug Fürst Windischgrätz mit Hilfe kroatischer Truppen die Revolution in Wien nieder. Es gab also einen europäischen Takt im Auf und Ab der Revolution. Diesem gehorchte auch Preußen, das ja die kleindeutsche Mehrheit der Paulskirche zum Machtträger ihrer Illusionen erkoren hatte. Im November vertrieben Wrangels Soldaten die Nationalversammlung aus Berlin. 80.000 Mann und 170 Kanonen zählte die Streitmacht. Der König kündigte die Oktroyierung einer Verfassung an. Hier hatte das souveräne Volk nichts zu bestellen. Und es war schon bezeichnend, daß die Paulskirchen-Revolutionäre dem preußischen König die Kaiserkrone antrugen, die er aus den Händen des Volkes nicht entgegenzunehmen bereit war.

Was hatten die propreußischen Liberalen an Preußen nicht alles vorbildlich gefunden: vor allem die preußische Armee mit ihrer allgemeinen Wehrpflicht. Diese Armee rückte unter dem Prinzen von Preußen, dem »Kartätschenprinz« und späteren Kaiser Wilhelm I, mit 50.000 Mann im Juni 1849 in die Pfalz und in Baden ein, herbeigerufen von dem geflüchteten Großherzog. Hier stand die von der Revolutionsregierung auf die Reichsverfassung vereidigte Revolutionsarmee unter dem taktisch versierten Ludwig von Mieroslawski. Zu ihr gehörten aufständische badische und desertierte bayrisch-pfälzische Soldaten, Zivilisten und Idealisten. Freiheit in einer deutschen Republik und ein starkes Reich hätten sie alle gern gehabt.

Nun mußten sie gegen die preußischen Soldaten der allgemeinen Wehrpflicht kämpfen, die eine Armee des Königs war und bis 1918 geblieben ist, mit einem Offizierskorps, dem Liberalismus, Parlament und Revolution ein Greuel waren. Die Soldaten, kaserniert, fest im Griff der Unteroffiziere und Offiziere, den Sachwaltern unbedingten Gehorsams, hatten bis dahin wenig Gelegenheit gehabt, sich über die Ziele der Revolution und die Hoffnungen und Sorgen der Menschen im deutschen Südwesten kundig zu machen. Hier hatten schon im März 1848 starke sozialrevolutionäre Proteste der Landbevölkerung die Situation gekennzeichnet. Hier und in Sachsen hatte sich auch der stärkste republikanische Geist gezeigt. Aber nicht nur Preußen, sondern auch die Frankfurter Zentralregierung schickte Truppen zur Bekämpfung der unerwünschten Ausuferungen der Revolution, die unter dem Befehl des Reichskriegsministers von Peucker, eines preußischen Generals, standen. So kämpften Frankfurt und Berlin in allerdings nicht problemfreier Gemeinsamkeit gegen Soldaten der Südwestdeutschen Demokraten, die auf die Frankfurter Reichsverfassung eingeschworen waren. Dies war der Kampf der Feinde der Revolution und der halben Revolution gegen die ganze Revolution: Eine Situation, die im deutschen Gedächtnis vielfach als Konfrontation von Gut und Böse haften geblieben ist. Bismarck hatte schließlich bewiesen, daß die deutsche Einheit ohne eine demokratisch eingefärbte Revolution erreicht werden konnte: auf eine Weise, die dem Machtgedanken besonders dienlich gewesen ist. Dies haben die Liberalen geschätzt und respektiert und sich dann als Nationalliberale gemütlich im preußisch-deutschen Machtstaat niedergelassen, wo sie vereint mit den Konservativen die Sozialdemokratie zu bändigen versuchten und wo sie stolz auf ihre Söhne sein konnten, die als Reserveoffiziere die richtige Staatsgesinnung repräsentierten.

Seither spätestens ist in Deutschland erwiesen, daß der südwestdeutsche liberale Kritiker der stehenden Heere, Karl von Rotteck, im Unrecht war, und daß die preußische allgemeine Wehrpflicht, jenes Kampfinstrument gegen die Demokratie im Südwesten wie gegen soziale Unruhen in Preußen, die eigentliche deutsche Form einer demokratischen Armee darstellt. Das Bürgertum war stolz darauf, gehorchen gelernt zu haben.

Wichtige Seiten der Geschichte der 48er Revolution sind aufgrund der Entwicklung seit 1866/71 aus dem Gedächtnis verschwunden, vor allem die republikanisch-demokratischen Aspekte. Mit Recht hat Veit Valentin, der bedeutende Historiker der 48er Revolution, von der Brandmarkung des Revolutionsgedankens gesprochen.

Der Nationalismus, viel früher erwacht, aber von der Revolution weitergetrieben, hat sich dagegen kräftig weiterentwickelt und schließlich im Ersten Weltkrieg in Aufrufen von Professoren, in politischen Verbänden und Gruppierungen, wie etwa den Gegnern eines Verständigungsfriedens, insbesondere den Alldeutschen, einen Höhepunkt erreicht, der nur noch im Zweiten Weltkrieg überboten werden konnte. Erbträger waren in hohem Maße Vertreter jenes bourgeoisen Militarismus, der so liberal im Revolutionsfrühling aufgekeimt war und schließlich, von der »Blut- und Eisen-Politik« kräftig genährt, die Macht anzubeten gelernt hatte: die stärkste Armee der Welt, die Flotte auf den Weltmeeren, die Weltpolitik.

Nach 1918 reichten die Beschwörungen der Reformen von 1848/49 durch einige geschichtsbewußte Historiker und Politiker nicht aus, um die zweite deutsche Revolution wirklich erfolgreich sein zu lassen. Man wußte dank des politischen Klimas in der Kaiserzeit nicht mehr allzuviel Gründe, die zum Vergessen der ersten Revolution geführt hatten. Veit Valentin, ihr Chronist und Interpret, ist in der Weimarer Republik heftig anfeindet worden. Die Alldeutschen hatten schon während des Ersten Weltkrieges dafür gesorgt, daß ein Mann mit seinen Ansichten seine Lehrtätigkeit in Freiburg aufgeben mußte. Rechte Parteien, in denen sich viele Intellektuelle und andere Vertreter des Bürgertums sammelten, hielten nichts von den Symbolen der Republik. Schwarz-Rot-Gold war bei ihnen verpönt wie bei zahlreichen Offizieren, die die neuen Symbole verschmähten und lieber gegen die Republik zu Felde zogen. Es war so einfach, die Revolution mit der Niederlage im Krieg in Verbindung zu bringen. Damit wurde das Bild des gefährlichen Revolutionärs in starker Vergrößerung und heller Belichtung gezeichnet und dem Geschichtsbewußtsein von Millionen eingeprägt.

Nach 1945 ist begreiflicherweise nicht an den Kultur- und Sprachnationalismus und an die Machtträume der gebildeten »Revolutionäre« der Paulskirche erinnert worden. Es waren vornehmlich englische Historiker, die uns den Spiegel vorgehalten haben. Manche von ihnen hielten sogar die von der Macht träumenden Paulskirchenprofessoren für gefährlicher als die preußischen Militaristen. Aber weil sie ihre Pointen zu scharf gesetzt hatten, erkannten sich die Deutschen in diesen Bildern nicht wieder. Im Kalten Krieg legten sie Wert auf ihre demokratische Vergangenheit, die vielleicht helfen konnte, besser über die Rolle der deutschen Eliten zwischen 1933 und 1945 hinweg zu kommen. Das Jubiläum von 1848 hat viele Fragen offen gelassen. Es gibt noch vieles zu bedenken zum 15ojährigen.

Prof. Dr. Manfred Messerschmidt, Historiker und Jurist, war von 1970-1988 Leitender Historiker des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes und von 1973-1988 Präsident der historischen Sektion der internationalen Gesellschaft für Militärrecht.

Das weltweite Kriegsgeschehen seit 1945

Das weltweite Kriegsgeschehen seit 1945

Statistisch-empirischer Überblick

von Patricia Schneider, Wolfgang Schreiber und Boris Wilke

Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges und bis Ende 1992 ist eine fast stetige Zunahme der weltweiten Kriegsbelastung von etwa einem laufenden Krieg pro Jahr zu beobachten.1 Bestimmte historische Ereignisse oder Perioden wie z.B. der Ost-West-Konflikt und die Dekolonisation übten nicht den ihnen oft unterstellten Einfluß auf diesen Trend aus. Anscheinend wirken sich hier längerfristige und tiefergehende Prozesse aus.

Kriegsschauplätze / Akteure

Bei einer näheren Betrachtung der Kriege fällt zunächst auf, daß die Zentren der bürgerlich-kapitalistischen Welt weitgehend pazifiziert sind. Über 90 Prozent der Kriege nach 1945 fanden in Regionen der Dritten und ehemaligen Zweiten Welt statt, kriegerische Auseinandersetzungen verlagerten sich also fast vollständig in die Peripherien.

Allerdings steht der Befriedung innerhalb der industriegesellschaftlichen Welt nach 1945 ein relativ hohes Maß an kriegerischem Eingreifen einiger Industriestaaten in der Dritten Welt gegenüber. Bei der Häufigkeit der Kriegsbeteiligungen liegen Großbritannien (19 Beteiligungen), die USA (13) und Frankreich (12) (neben Indien (16), Irak (12) und China (10)) in der Spitzengruppe. Die nähere Betrachtung zeigt jedoch, daß hierbei spezifische historische Umstände wie die Stellung als (ehemalige) Kolonialmächte oder der Versuch der USA, ihren Hegemonieanspruch militärisch durchzusetzen, eine Rolle spielten, die aber an Einfluß verlieren. Insgesamt ergibt sich ein Rückgang von industriestaatlichen Kriegsbeteiligungen.

Zu Anfang der 90er Jahre deuteten Interventionen der UNO bzw. im Auftrag oder zumindest mit ausdrücklicher Billigung des UN-Sicherheitsrates »weltpolizeiliche« Lösungen an. Diese Tendenz ist jedoch nicht sicher. Überdies haben sich die wenigen UN-gestützten Interventionen als nicht sonderlich erfolgreich erwiesen, insbesondere wenn man eine politische Lösung als Maßstab anlegt. Die Bilanz der Interventionen von Einzelstaaten oder Staatengruppen ohne UN-Autorisierung sieht nicht besser aus. Auch diese scheiterten überwiegend entweder bereits militärisch, oder es konnte keine politische Lösung erzielt werden. Insgesamt ist zu beobachten, daß die Beteiligung Dritter an innerstaatlichen Kriegen2 seit den 80er Jahren merklich zurückging. Dies läßt sich wohl auf die Erfahrung zurückführen, daß parteiisches Mitkämpfen in Kriegen anderer sich nicht »auszahlt«.

Als Fazit der Betrachtung von Kriegsregionen und Akteuren kann man festhalten: „Die Dritte Welt liegt mehr und mehr mit sich selbst im Krieg“ (Gantzel / Schwinghammer 1995: 107).

Innerstaatliche Kriege

Zwei Drittel aller Kriege seit 1945 sind innerstaatliche Kriege gewesen und nur ein knappes Viertel internationale Kriege, einschließlich der Dekolonisationskriege.3 Das fast stetige Wachstum der jährlichen Kriegsbelastung nach dem Zweiten Weltkrieg resultiert eindeutig aus der Zunahme der innerstaatlichen Kriege. Daß das Kriegsgeschehen nach dem Zweiten Weltkrieg von diesen dominiert wird, stellt eine qualitative historische Veränderung gegenüber früheren Perioden dar.

Bei den Kriegstypen sticht der hohe Anteil der »Antiregimekriege« hervor. Dieses sind Kriege, in denen um den Sturz der Regierenden oder um die Veränderung oder den Erhalt des politischen Systems oder gar der Gesellschaftsordnung gekämpft wird. Diese machen fast die Hälfte aller innerstaatlichen Kriege aus, so daß der Kampf um Gesellschaftsform und Macht im Staate das Kriegsgeschehen seit 1945 am stärksten bestimmte. Vielen Machthabern in Ländern der Dritten Welt fehlt Legitimität. Prinzipien, Regeln und institutionelle Formen, nach denen Systemwandel und Machtzuteilung bzw. Machtwechsel gewaltlos erfolgen können, sind nicht vorhanden. Der gesellschaftliche Grundkonsens fehlt.

Beim Typ der sonstigen innerstaatlichen Kriege dominieren eindeutig Kriege, in denen eine der beiden Kriegsparteien um größere (Autonomie) oder völlige (Sezession oder Anschluß an einen Nachbarstaat) Unabhängigkeit von der Zentralregierung kämpft. Auch dies ist ein Hinweis auf eine nur mangelhaft erfolgte gesellschaftliche Integration.

Ein erheblicher Teil der innerstaatlichen Kriege resultiert aus noch nicht erfolgter oder gescheiterter gesellschaftlicher Integration in einem häufig nur formal vorhandenen Staat. Dieses Scheitern wiederum ist Folge wirtschaftlicher Strukturschwächen, krasser Ungleichheiten in der Einkommensverteilung und der willkürlichen politischen Privilegierung bestimmter Gruppen.

Kriegsbeendigungen

Bei der Untersuchung, wie und mit welchen Ergebnissen Kriege enden, stellt sich heraus, daß nur ein knappes Fünftel aller Kriege durch einen militärischen Sieg der angreifenden Seite entschieden wurde. Wesentlich öfter – bei einem knappen Drittel der Kriege – behauptet sich die militärisch angegriffene Seite. In einem Zehntel der Fälle endeten Kriege einfach durch einen Abbruch der Kämpfe, und nur geringfügig häufiger stand am Ende eine Vereinbarung, sei es durch einen Waffenstillstand oder durch einen Kompromiß.

Mit etwa einem Drittel ist der Anteil der Kriegsbeendigung durch Vermittlung von dritter Seite überraschend hoch. Die Vermittlung durch Dritte ist offenbar zur Institution der Weltgesellschaft geworden. Auch wenn keine Daten zur Anzahl gescheiterter Vermittlungsbemühungen vorliegen, läßt sich feststellen, daß Vermittlungen weit häufiger zur Kriegsbeendigung beitragen, als es gemeinhin den Anschein hat. In den erfolgreichen Fällen agierten in beachtlichen 40 Prozent die Vereinten Nationen als Vermittler. Auch wenn dies nur 12 Prozent der Gesamtzahl der beendeten Kriege sind, so ist die UNO offensichtlich besser als ihr Ruf.

Bemerkenswert ist auch, daß über zwei Drittel der zwischenstaatlichen Kriege im politischen Ergebnis unentschieden endeten bzw. der Status quo ante erhalten blieb oder wiederhergestellt wurde. Bei keinem Typ der innerstaatlichen Kriege hat die angreifende Seite eine deutliche Erfolgschance.

Das gegenwärtige Kriegsgeschehen

Die 90er Jahre waren zu Beginn durch einen starken Anstieg der Zahl der Kriege gekennzeichnet. Hier haben vor allem die Kriege im Gefolge der Auflösung der Sowjetunion und Jugoslawiens ihren Niederschlag gefunden. Seit 1992 läßt sich aber eine stark gegenläufige Tendenz feststellen. So sank die Zahl der Kriege von 51 im Jahr 1992, dem höchsten Stand seit Ende des Zweiten Weltkriegs überhaupt, auf 28 im Jahr 1996. Die Erklärungen für dieses Phänomen sind derzeit noch unzureichend. Zwar gab es auch in früheren Perioden kurzfristige Rückgänge, allerdings bislang keine, die so ausgeprägt waren wie in den letzten Jahren.

Wie der Grafik zu entnehmen ist, weist die Zahl der pro Jahr neu begonnenen Kriege keine Besonderheiten gegenüber der Zeit vor 1992 auf. Auffallend ist dagegen das Aufeinanderfolgen von mehreren Jahren mit hohen Zahlen von beendeten Kriegen. Die betreffenden Kriege lassen allerdings, was die Art ihrer Beendigung angeht, keine einheitliche Erklärung zu. Weder Vermittlungen Dritter noch militärische Erfolge oder ein Abbruch der Kämpfe stechen besonders hervor. Eine Differenzierung nach Regionen läßt zwar durchaus gewisse Unterschiede bei der quantitativen Rückläufigkeit erkennen (s. Tabelle), diese haben aber insgesamt keinen erklärenden Charakter.

Der starke Abfall der jährlich geführten Kriege von 46 Prozent im Zeitraum von 1992 bis 1996 sollte allerdings nicht zu übermäßigem Optimismus veranlassen. Denn der Rückgang erweist sich als weniger drastisch, wenn man die von der AKUF seit 1993 erfaßten »bewaffneten Konflikte«4 zu der Zahl der Kriege addiert.

Das gegenwärtige Kriegsgeschehen stellt sich wie folgt dar: Nachdem der Krieg im ehemaligen Jugoslawien beendet wurde, fanden wieder alle im Jahr 1996 geführten Kriege ausschließlich in der Dritten Welt statt. Von den weltweit 28 Kriegen und 21 bewaffneten Konflikten (siehe Kasten) lag nur 1 bewaffneter Konflikt (Nordirland) in Europa. Afrika war am stärksten betroffen mit insgesamt 10 Kriegen und 9 bewaffneten Konflikten, gefolgt von Asien mit 7 Kriegen und 6 bewaffneten Konflikten, dem Vorderen und Mittleren Orient mit 6 Kriegen und 3 bewaffneten Konflikten und Lateinamerika mit 5 Kriegen und 2 bewaffneten Konflikten.

Allein die gegenwärtig noch andauernden Gewaltkonflikte forderten nach vorsichtigen Schätzungen bisher mehr als 6,7 Millionen Todesopfer und noch mehr Verwundete. Dabei läßt sich feststellen, daß der Anteil der getöteten Zivilpersonen im Verhältnis zu den gefallenen Soldaten immer mehr angewachsen ist. Beim Einsatz vieler Waffen, wie z.B. Landminen, kann nicht mehr zwischen Militär und Zivilisten unterschieden werden. Zudem zielen manche Strategien gerade auf die Zivilbevölkerung ab, um die Kampfmoral der Gegner zu schwächen.

Zu den Opfern von Gewaltkonflikten sind auch ein Großteil der Mitte der 90er Jahre weltweit über 18 Millionen Flüchtlinge und 24 Millionen, die als Vertriebene im eigenen Land leben, zu zählen.

Der »Hamburger Ansatz«

Schon die Bezeichnung »Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung« deutet den Anspruch an, Kriege nicht nur zu beschreiben und statistisch zu dokumentieren, sondern auch einen Beitrag zur vergleichenden Erforschung von Kriegsursachen leisten zu wollen. Der Hamburger Ansatz erhebt den Anspruch, einen gesellschaftstheoretischen Erklärungsrahmen für das weltweite Kriegsgeschehen im Grundsatz skizziert zu haben. Theoretische Prämisse und Ausgangspunkt des Hamburger Ansatzes5 ist der Prozeß globaler Vergesellschaftung und die »Leitdifferenz« zwischen traditionalen und modernen Formen der Vergesellschaftung. Mit der sukzessiven Ausbreitung bürgerlich-kapitalistischer Verhältnisse über den Globus und der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft zur Weltgesellschaft ergibt sich ein analytischer Bezugsrahmen, der eine allgemeine Theorie zur vergleichenden Erforschung kriegsursächlicher Prozesse prinzipiell ermöglicht. Der Prozeß globaler Vergesellschaftung erhebt die bürgerliche Gesellschaft weltweit zum Vergleichsmaßstab, auch für die Kriegsursachenforschung. Dabei ist der kapitalistische Transformationsprozeß keineswegs auf die ökonomische Sphäre oder den Weltmarkt beschränkt. Er umfaßt ebenso die formale Durchstaatlichung der Welt6 und die Ausbreitung bürgerlicher Ideale und Lebensstile.

Die Kernthese des Hamburger Ansatzes lautet nun, daß das Kriegsgeschehen seit den Anfängen genuin kapitalistischer Entwicklung im 16. Jahrhundert entlang dem Ausbreitungsmuster bürgerlich-kapitalistischer Vergesellschaftung zu verfolgen ist und in dem unabgeschlossenen Transformationsprozeß von vorkapitalistischen zu kapitalistischen Verhältnissen seine zentrale, strukturelle Konfliktursache hat (Siegelberg 1994: 41). Die kapitalistisch induzierte Modernisierung bewirkt vor allem in der Dritten Welt zunächst Heterogenität und Fragmentierung, führt also nicht bruchlos zur Verstetigung bürgerlicher Verhältnisse. Mit ihrer Ausbreitung geht der konfliktive Zerfall traditionaler Vergesellschaftungsformen einher. Während in den entwickelten Staaten des Nordens nach dem Zweiten Weltkrieg eine innergesellschaftliche (wenn auch prekäre und stets unsichere) Pazifizierung, ein Wandel von personalen zu »subjektlosen« (Gerstenberger 1990) Gewaltverhältnissen stattgefunden hat, wird die potentiell pazifizierende Kraft des bürgerlich entwickelten Kapitalismus in den Staaten der Dritten Welt noch durch vielfältige traditionale, nichtkapitalistische Elemente gebrochen. Auch nach der (teilweise kriegerischen) Dekolonisation bleibt die Pazifizierung der gesellschaftlichen Verhältnisse zunächst auf die entwickelten Staaten begrenzt, die auch untereinander keine Kriege mehr führen. Die postkolonialen Gesellschaften sind dagegen durch den Gegensatz zwischen kapitalistischen und nichtkapitalistischen Vergesellschaftungsformen widersprüchlich bestimmt. Insgesamt sind dort drei strukturelle Konfliktlinien erkennbar:

  • Konflikte, die sich aus den Widersprüchen traditionaler und bürgerlich-kapitalistischer Vergesellschaftung ergeben (insbesondere Konflikte um die Grenzziehung zwischen weltlichem und religiösem Geltungsbereich),
  • Konflikte, die aus traditionalen und vorkolonialen Verhältnissen mitgeschleppt werden und
  • Konflikte, die aus immanenten Widersprüchen kapitalistischer Vergesellschaftung selbst folgen.

Für das Kriegsgeschehen in der Dritten Welt und in den ehemals staatssozialistischen Gesellschaften ist die erste Konfliktlinie mit Abstand von größter Bedeutung. Die Regulierung der Konflikte wird dadurch erschwert, daß Staat und Gesellschaft selten zur Deckung kommen. Das bürgerlich-kapitalistische Staatsmodell wurde den postkolonialen Gesellschaften als Beteiligungsbedingung an den Formen und Institutionen der Weltgesellschaft von außen auferlegt (vgl. Diner 1985: 336). Oftmals stellt der postkoloniale Staat der Dritten Welt nur eine formale Hülle dar. Der Prozeß der nachholenden Konsolidierung vorausgesetzter Staatlichkeit bildet daher die allgemeinste Bedingung der gewaltsamen Konflikte in der Dritten Welt. Da viele traditionale Institutionen durch die kapitalistisch induzierte Modernisierung zersetzt werden, ohne durch moderne substituiert zu werden, bewegen sich die Widersprüche und Konflikte in einem Vakuum gesellschaftlicher Regulierung. Phänomene wie die Diffusion von Gewalt oder die Privatisierung des staatlichen Gewaltmonopols zur Aneignung von Ressourcen, etwa durch charismatische Führer oder warlords, sind ebenso kennzeichnend für den konfliktiven Transformationsprozeß wie die Politisierung substaatlicher Integrationseinheiten, seien es nun Kultur- , Religions- und Abstammungsgemeinschaften oder Ethnien. Hinter diesen auch unter dem Schlagwort Fundamentalismus firmierenden Erscheinungen verbergen sich häufig Konflikte um die Grenzziehung zwischen religiösem und säkularem Geltungsbereich, die darauf zurückzuführen sind, daß traditionale Ordnungs- und Symbolsysteme durch das Übergreifen moderner Herrschaftsformen und Ordnungsvorstellungen als gefährdet wahrgenommen werden. Das konfliktive In- und Nebeneinander moderner und traditionaler Vergesellschaftungsformen stellt sich innerhalb der Gesellschaften der Dritten Welt als »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen« dar.

Der gesellschaftliche Transformationsprozeß und die nachholende Konsolidierung vorausgesetzter Staatlichkeit als strukturelle Bedingungen kriegerischer Konflikte sind als Erklärungsmuster jedoch nicht ausreichend. Denn sie geben noch keinen Aufschluß über die subjektiven Gründe des konfliktiven Handelns der Akteure. Diese Kernfrage der Kriegsursachenforschung, wie nämlich die im globalen Vergesellschaftungsprozeß induzierten Widersprüche auf seiten der Akteure mit Ideen und Weltbildern verknüpft werden, kann nur auf der Grundlage des Analysekonzeptes »Grammatik des Krieges« beantwortet werden (vgl. Siegelberg 1994: 179-193). Die »Grammatik des Krieges«zerlegt den kriegsursächlichen Prozeß in die vier systematischen Analyseebenen: Widerspruch – Krise – Konflikt – Krieg. Auf der Widerspruchsebene finden sich alle gegensätzlichen oder widersprüchlichen gesellschaftlichen Verhältnisse, die allerdings nur dann kriegsursächlich werden, wenn sie auf der Ebene Krise einen Anknüpfungspunkt in den Weltbildern und Ideen der Akteure finden und ein Umschlag von Objektivität in Subjektivität erfolgt. Auf der Ebene Konflikt erfolgt dann der doppelte „Umschlag der Verhältnisse in Verhalten“ (Siegelberg 1994: 190): „von passivem Wahrnehmen zu aktivem Handeln und von friedlichem zu kriegerischem Konfliktaustrag“ (Jung 1995: 236). Auf der Kriegsebene schließlich verselbständigt sich die Gewalt sukzessive von ihren Ursachen und wird selbst zur Ursache von Gewalt.

Für eine kausale Rekonstruktion kriegerischer Prozesse ist der Hamburger Ansatz inzwischen über seine allgemeinen Bestimmungen wie die »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen« und die »nachholende Konsolidierung vorausgesetzter Staatlichkeit« hinaus begrifflich ausdifferenziert worden (Jung 1995; Schlichte 1996). Dabei steht die Operationalisierung und idealtypische Präzisierung der »Leitdifferenz« zwischen traditionalen und bürgerlich-kapitalistischen Formen der Vergesellschaftung entlang der drei sozialen Funktionsbereiche materielle Reproduktion, politische Herrschaft und (über Ideen und Weltbilder vermittelte) symbolische Ordnung im Vordergrund. Für vergleichende Fallstudien bietet die Grammatik des Krieges den geeigneten Analyserahmen und die Differenzierung nach Funktionsbereichen die notwendigen Untersuchungsfelder. Damit wird die erklärungsnotwendige Verknüpfung von strukturellen Ursachen und subjektiven Gründen des Akteurshandelns möglich.

Als Einheit von gesellschaftstheoretischer Erklärung und Analyserahmen für die Kriege der Gegenwart läßt sich der Hamburger Ansatz auch in der Praxis nutzen. Er liefert Ansatzpunkte für Verhandlungs- oder Vermittlungsversuche genauso wie für präventive Maßnahmen.

Kriege und bewaffnete Konflikte 1996
Kriege Bewaffnete Konflikte
Afghanistan Ägypten
Algerien Angola (Cabinda)
Birma (Myanmar) Angola (Unita)
Burundi Äthiopien
Guatemala Bangladesch
Indien (Kashmir) Indien (Assam)
Irak (Kurdistan) Indien (Bodos)
Kambodscha Indien (Nagas)
Kolumbien (ELN) Indien (Naxaliten)
Kolumbien (FARC) Irak (Shiiten)
Libanon Iran (Kurdistan)
Liberia Israel
Mali Kenia
Mexiko (Chiapas) Mexiko (EPR)
Pakistan Niger (FDR)
Papua Neuguinea (Bougainville) Niger (Tuareg)
Peru (Sendero Luminoso) Nordirland
Philippinen (Mindanao) Peru (MRTA)
Russische Föderation (Tschetschenien) Philippinen (NPA)
Sudan Ruanda
Sierra Leone Senegal
Somalia
Sri Lanka
Tadschikistan
Tschad
Türkei (Kurdistan)
Uganda
Zaire
Quelle: Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung,, Universität Hamburg
Rückgang der Zahl der Kriege und bewaffneten Konflikte von 1993 bis 1996
Kriege Kriege u. bewaffnete Konflikte
1993* 1996 Rückgang 1993 1996 Rückgang
Europa 3 100 % 3 1 67 %
Afrika 13 10 23 % 22 19 14 %
Vorderer u. mittlerer Orient 11 6 45 % 13 9 31 %
Asien 13 7 46 % 15 13 13 %
Lateinamerika u. Karibik 5 5 0 % 7 7 0 %
Gesamt 45 28 38% 60 49 18 %
*) Der Rückgang der Kriege von 1992 auf 1993 verteilt sich auf die einzelnen Regionen wie folgt: Asien drei Kriege,, alle anderen je einen.
Quelle: Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung, Universität Hamburg

Literatur:

Diner, Dan 1985: Imperialismus, Universalismus, Hegemonie. Zum Verhältnis von Politik und Ökonomie in der Weltgesellschaft, in: Fetscher, Iring / Münkler, Herfried (Hrsg.): Politikwissenschaft. Begriffe – Analysen – Theorien. Ein Grundkurs, Reinbek, S. 36-360.

Gantzel, Klaus Jürgen / Schwinghammer, Torsten 1995: Die Kriege nach dem Zweiten Weltkrieg bis 1992. Daten und Tendenzen, Münster – Hamburg.

Gerstenberger, Heide 1990: Die subjektlose Gewalt. Theorie der Entstehung bürgerlicher Staatsgewalt. Münster.

Jung, Dietrich 1995: Tradition – Moderne – Krieg. Grundlagen einer Methode zur Erforschung kriegsursächlicher Prozesse im Kontext globaler Vergesellschaftung, Münster – Hamburg.

Rabehl, Thomas / Trines, Stefan (Red.) 1997: Das Kriegsgeschehen 1996. Arbeitspapier Nr. 3/1997 der Forschungsstelle Kriege, Rüstung und Entwicklung, Institut für Politische Wissenschaft, Universität Hamburg.

Schlichte, Klaus 1996: Vergesellschaftung und Krieg in Afrika. Ein Beitrag zur Theorie des Krieges. Münster – Hamburg.

Siegelberg, Jens 1994: Kapitalismus und Krieg. Eine Theorie des Krieges in der Weltgesellschaft, Münster – Hamburg.

Anmerkungen

1) Die Daten bis 1992 und die darauf basierenden statistischen Auswertungen sind Gantzel/ Schwinghammer (1995) entnommen. Daten für die Zeit nach 1992 stammen aus der AKUF-Kriegedatenbank bzw. den jährlichen Veröffentlichungen der AKUF zum aktuellen Kriegsgeschehen. Zurück

Die AutorInnen danken dem Betreuer der AKUF-Kriegedatenbank, Wilhelm Nolte, für die Unterstützung bei der Erstellung der Tabellen und Grafiken.

2) Bei der AKUF wird der Ausdruck »Bürgerkrieg« nicht verwendet. Erstens weckt dieser falsche Assoziationen, da in der Regel nicht Bürger gemeint sind, die gegen andere Teile der Bevölkerung kämpfen, sondern bewaffnete Gruppen, die gegen staatliche Streitkräfte Krieg führen. Zweitens fehlt gerade in Gesellschaften der Dritten Welt oftmals das Zugehörigkeitsgefühl zu dem Staat und damit auch ein staatsbürgerliches Bewußtsein. Drittens ist es problematisch, innerstaatliche Kriege, die um Sezession geführt werden, als Bürgerkriege zu bezeichnen, da diese ja anstreben, eben nicht mehr Bürger des Staates zu sein. Daher wird der Begriff »innerstaatliche Kriege« vorgezogen. Zurück

3) Die AKUF klassifiziert Kriege derzeit nach vier Typen: A (Antiregimekriege), B (sonstige innerstaatliche Kriege), C (zwischenstaatliche Kriege) und D (Dekolonisationskriege). Mischtypen sind dabei möglich. Zurück

4) Im Unterschied zum Krieg wird ein bewaffneter Konflikt als eine gewaltsame Auseinandersetzung definiert, bei der die Kriterien der Kriegsdefinition, insbesondere die Kontinuierlichkeit der bewaffneten Operationen, nicht in vollem Umfang erfüllt sind bzw. die Informationslage eine zweifelsfreie Einordnung als Krieg nicht zuläßt. Zurück

5) Dazu vgl. insbesondere Siegelberg 1994, Jung 1995, Schlichte 1996 Zurück

6) Die gegenwärtig zu beobachtenden entgegengesetzten Phänomene von Staatszerfall widersprechen diesem Trend nicht. Da Staatszerfall häufig im Gefolge von kriegerischer Gewalt auftritt, ist er eher ein Beleg für den konfliktiven, von Widersprüchen geprägten Charakter des Prozesses der globalen Vergesellschaftung. Zurück

Patricia Schneider, Wolfgang Schreiber und Boris Wilke sind Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung (AKUF)

Gernika und die deutsche Schuld

Gernika und die deutsche Schuld

von Juan Gutierrez

Vor 60 Jahren, am 26. April 1937, bombardierten Flugzeuge des faschistischen Deutschlands, der Legion Condor, die nordspanische Stadt Gernika. Fast Dreiviertel der Häuser wurden zerstört, über 1.000 Einwohner – alles Zivilisten – starben. Gernika war seit Jahrhunderten Symbol der Basken und »ihrer Freiheiten«, ihr politisch-kulturelles Zentrum. Mit der Bombardierung dieses Identitätssymbols meinten Franco und Hitler einen wichtigen Zug zu machen zur Terrorisierung und Unterwerfung des Feindes. Daß es sich dabei um ein geplantes Massaker handelte, beweist die Tatsache, daß drei Tage nach Gernika dieselben Flugzeuge die benachbarte Großstadt Bilbao bombardierten, diesmal mit Flugblättern: „Was Deinen Nachbarn geschah, wird Dir morgen geschehen, wenn Du Dich nicht ergibst.“

Doch die Rechnung Francos und Hitlers ging nicht auf. Schon am Tage nach der Bombardierung berichtete »The Times« und mit ihr die Weltpresse ausführlich über den Terrorangriff. Seitdem weiß man, daß man Symbolorte nicht bombardieren darf. Als die USA den ersten Abwurf der A-Bombe planten, stand auf der Zielliste Kyoto, eine heilige Stadt Japans. Experten warnten: „So etwas geht nicht, das weiß man seit Gernika.“ Die Wahl fiel auf die Stadt Hiroshima, die damals keinen Symbolwert hatte.

Da ihre Rechnung nicht aufging, griffen Franco und Hitler zur Lüge. „Gernika ist von den flüchtenden Basken und Republikanern in Brand gesteckt worden“, war die aufgezwungene Version der Sieger während ihrer vierzigjährigen Herrschaft in Spanien. Den überlebenden Zeugen blieb nur Raum für eine »Kultur des Schweigens«. Und doch war es ein spanischer Künstler, der weltweit dauerhaft an Gernika erinnerte: Pablo Picasso mit seinem Guernica-Bild, das entstand, nachdem er kurz vorher eine Art Comic mit dem Titel „Lüge und Größenwahn Francos“ gezeichnet hatte.

Deutschland hat den Nationalsozialismus überwunden und Spanien die Diktatur Francos. Beide sind heute demokratische Staaten, die in der EU zusammenarbeiten. Gernika ist zu einem weltweiten Symbol des Friedens geworden. Trotzdem wurde die Vergangenheit Gernikas in der Bundesrepublik Deutschland lange geleugnet. Die offizielle Politik und Historiker der BRD sahen jahrzehntelang in den Aussagen der deutschen Piloten und den angeblichen Plänen ihrer Kommandeure die einzige Wahrheitsquelle. Danach war das Massaker in Gernika lediglich der »Nebeneffekt« einer normalen Kriegshandlung.

Erst 1987 – 50 Jahre nach dem Massaker – erklärte ein Mitglied des Deutschen Bundestages in Gernika: „Heute stehe ich hier als Deutsche, beschämt … die Bomben der Legion Condor töteten viele, viele Menschen, ein großes Verbrechen wurde hier begangen.“ Es war Petra Kelly, die bald darauf im Bundestag den Antrag auf eine Geste der Versöhnung stellte und vorschlug, ein Friedensforschungszentrum in Gernika zu finanzieren. Ein Antrag, der vergangenheits- und zukunftsbezogen war.

Das Zentrum, für das sich Petra Kelly eingesetzt hat, heißt Gernika Gogoratuz und entstand ohne irgendeine deutsche Hilfe. Über eine Forschungsgruppe sammelte es Lebensberichte von Zeugen und gab das Buch »Kollektives Gedächtnis der Bombardierung Gernikas« heraus. Dadurch erhielten die Überlebenden eine Stimme, und es entstanden Kontakte, die es Gernika Gogoratuz ermöglichten, das erste Treffen der Überlebenden zum 60. Jahrestag der Bombardierung am 27. April 1997 in ihrem Auftrag einzuberufen.

Der Deutsche Bundestag hat im November 1988 – nach der Initiative Petra Kellys – beschlossen, in Gernika als »Geste der Versöhnung« ein »angemessenes Projekt« zu finanzieren. Ein Beschluß, dessen Realisierung immer wieder blockiert und vertagt wurde. Im Oktober 1996 wurde schließlich im deutschen Parlament beschlossen, bis 1999 drei Millionen DM für die Teilfinanzierung einer Sporthalle in Gernika zur Verfügung zu stellen.

Wenn der Wahrheit ausgewichen wird – und dieses Empfinden hatten nicht nur die Überlebenden von Gernika, ist jede Reparationsleistung viel zu viel für den Geber und viel zu wenig für den Empfänger. In diesem Sinne hat das, was die Überlebenden von Deutschland erwarten, mehr mit Würde als mit der Tasche zu tun. Deshalb wandte sich Gernika Gogoturez mit einem Brief und dem Buch »Kollektive Erinnerungen« im Februar an den deutschen Bundespräsidenten. Dr. Roman Herzog griff den Vorschlag des Forschungszentrums auf. Beim Treffen der Überlebenden ließ er durch den deutschen Botschafter in Madrid einen Brief überreichen, in dem er klare Worte findet zur deutschen Schuld bei der Bombardierung, Trauer zeigt über das damit verursachte unsägliche Leiden und die Hand reicht mit der Bitte um Versöhnung.

Damit ist die geschichtliche Wahrheit nicht mehr hinter einem offiziellen Schweigen ausgesperrt. In der Vergangenheit liegt kein Hindernis mehr, für ein zukunftsorientiertes Friedensengagement. Diesem Friedensengagement diente auch die erste Jahresversammlung eines internationalen Netzwerkes zur Förderung von versöhnungsorientierten Prozessen, die einen Tag nach dem Treffen der Überlebenden von Gernika Gogoratuz einberufen wurde.

Organisationen und Personen aus 59 Ländern, darunter viele Deutsche, haben sich im »Netzwerk Gernika« – so der einstimmig beschlossene Name – zusammengeschlossen, um eine zukunfts- und versöhnungsorientierte Arbeit aufzubauen.

Gernika, baskische Schreibweise von Guernica.

Prof. Dr. Juan Gutierrez ist Leiter des Forschungszentrums Gernika Gogoratuz.

Bilder einer Ausstellung

Bilder einer Ausstellung

»Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 – 1944«

von Klaus Naumann

Nirgendwo ist die Diskussion über Macht und Militär so eng mit der spezifischen Geschichte dieses Jahrhunderts verquickt wie in Deutschland. Über Deutschlands Stellung in der Welt läßt sich in der Tat schlecht diskutieren, wenn dieser historische Zusammenhang ausgeblendet wird. Die aktuellen Auseinandersetzungen um die Rolle der Wehrmacht und der Militärjustiz, ausgelöst durch die Hamburger Ausstellung »Vernichtungskrieg«, aber auch die Bundestagsdebatten über die Rehabilitierung der Wehrmachtsdeserteure, haben diesen unlösbaren Kontext einmal mehr verdeutlicht. Es ging dabei auch um die Frage, ob eine »Herabsetzung« der Institution des Soldatentums nicht geeignet sei, auch heute die »Wehrkraft zu zersetzen«. Oder ob nicht Schuldgefühle evoziert würden, die der Wahrnehmung »normaler« deutscher Interessen- und Machtpolitik im Wege stünden. Ein Schlaglicht auf die Facetten dieser öffentlichen Aueinandersetzung wirft Klaus Naumann, der die Reaktionen auf die Wehrmachtsausstellung untersucht hat.

Die Ausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung »Vernichtungskrieg – Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944«1 hat seit dem Tag ihrer Eröffnung im März 1995 für Aufsehen und Diskussionen gesorgt. Der Umgang mit dem Thema ist wie kaum ein anderes geeignet, Aufschlüsse über eine der brisantesten Fragen der Zeitgeschichte zu gewähren: Wie stand es um die Verschränkung von »Volksgemeinschaft« und »Wehrgemeinschaft« im NS-Regime, und wie sehr waren die Millionen Soldaten direkt oder indirekt in die Völkermordaktionen des Vernichtungskrieges einbezogen. Die Diskussion berührt damit jene Frage, die kürzlich durch das Buch des amerikanischen Historikers Daniel Goldhagen erneut aufgeworfen wurde: Waren die Deutschen, zumal in ihrer Mehrheit, »Hitlers willige Vollstrecker«? Die Antwort auf diese Frage ist weder nur von historischem, geschweige denn nur von akademischem Interesse.

Jeder Versuch, die Geschichte der deutschen Wehrmacht und des deutschen Vernichtungskrieges zu thematisieren, mußte mit einer dreifachen Problematik rechnen.2 Zum einen gibt es einen Forschungsvorlauf, der jedoch öffentlich wenig rezipiert worden ist. Zum anderen ist das Thema noch immer von politischen Tabus umstellt und reicht vielfach in die bundesdeutsche Gegenwart hinein; sowohl Traditionsfragen der Bundeswehr, Militär-Missionen in Bosnien oder die Rehabilitierung der Wehrmacht-Deserteure stehen damit in engem Zusammenhang. Und schließlich bindet sich daran die Lebenserfahrung einer Generation, die nicht nur als Kriegsteilnehmer, sondern auch als »Aufbaugeneration« die Fundamente der Gegenwart gelegt hat. Das Thema berührt somit den „Nerv einer Generation“ (Erhard Eppler). Eine hochverdichtete Materie. Die Wander-Ausstellung mußte also auf heftige Reaktionen gefaßt sein. Doch die Ausstellung führte, anders als in Österreich,3 nicht zu einer politischen Skandalisierung.

Gespaltene Resonanzen

Die Verarbeitungsformen bundesdeutscher »politics of memory« sind differenzierter geworden. Die Wirkung der Ausstellung, die inzwischen an neun Orten gezeigt worden und noch bis 1998 ausgebucht ist, gleicht einem tektonischen Beben, nicht einer explosionsartigen Verpuffung. Erst ein Jahr nach Beginn der Schau liegen die ersten – sieht man einmal von den kampagnenorientierten und auf Denunziation berechneten Zirkularen à la Rüdiger Proske ab – inhaltlichen Auseinandersetzungen der Öffentlichkeit vor.4 Bis dahin, und noch immer, konzentrierte sich die Presseberichterstattung auf zustimmende Beiträge, lobende Erwähnungen oder neutrale Berichte. Daß mit der Ausstellung mehr in Gang gesetzt war, als kurzer Hand ein »letztes Tabu zu brechen«, signalisierten jedoch eine Vielzahl von Leserbriefen, die fast durchweg dem Tenor der offiziellen Medienberichte widersprachen. Doch dabei blieb es nicht. Auch auf politischer Ebene gab es – unterhalb der Skandal-Schwelle – widersprüchliche Reaktionen, die anzeigten, wie sehr die »hoheitliche« Wahrnehmung der Wehrmacht (als Korporation des »Reichs« und nicht des »Regimes«) noch die Maßstäbe staatspolitischer Repräsentation bestimmt. So wurde die Vergabe von Ausstellungsflächen in den Parlamentsgebäuden von Stuttgart und Wiesbaden verweigert. In Thüringen lehnte es der Parlamentspräsident ab, die Schirmherrschaft über die Erfurter Präsentation zu übernehmen, während der Kultusminister bei der Eröffnung zugegen war. Die Potsdamer Stadtverwaltung hielt es für »nicht opportun«, die Ausstellung ausgerechnet am 8.Mai 1995 zu eröffnen und setzte ein unverfängliches Datum durch, doch zur Eröffnung erschien der stellvertretende Kultusminister Brandenburgs.

Traditionsprobleme der Bundeswehr – ein Hintergrundgefecht um die Innere Führung

Ein besonderes Kapitel war die Reaktion der Bundeswehr. Die Thematisierung der Rolle der Wehrmacht im Vernichtungskrieg aktualisierte hier einen seit der »Wende« von 1982 (und länger) schwelenden Traditionsstreit. Zur Umsetzung des Traditionserlasses des letzten sozialdemokratischen Verteidigungsministers Hans Apel (September 1982) war es infolge des damaligen Regierungswechsels nicht mehr gekommen. Der Erlaß, der an die Stelle des mißglückten Traditionspapiers von 1965 treten sollte, verschwand in Manfred Wörners Ablage. Und selbst das Wörnersche Versprechen, den Apel-Erlaß zu überarbeiten, wurde nicht eingelöst. Die Reformer in der Bundeswehr, und indirekt auch die kritischen Militärhistoriker des bundeswehreigenen Militärgeschichtlichen Forschungsamtes (MGFA) in Freiburg (jetzt Potsdam), blieben auf einsamem Posten. Die Hamburger Ausstellung knüpfte an die Forschungsleistungen dieser Historiker an, radikalisierte aber deren Fragestellung und Methodik, indem sie das systematische und organisierte Zusammenwirken von Wehrmachtsführung und Truppe bei den Vernichtungsaktionen sowie den spezifischen Typus des »Vernichtungskrieges« in den Mittelpunkt stellte.5

Die Reaktion des Führungsstabs Streitkräfte (I 3) fiel differenziert aus. Ein Hintergrundmaterial informierte über Ausstellung und Forschungsstand. Die Thesen der Ausstellung fanden eine zwar kritische („pauschalisierende, radikale Sicht“), aber nicht frontal ablehnende Aufnahme („an den … aufgeführten Quellen ist wohl kaum zu zweifeln“ ). Aufschlußreich war eine indirekte Wirkung der Thematisierung. Die Auseinandersetzung mit der Ausstellung wurde seitens des Führungsstabs genutzt, gerade auch die kritischen Forschungsergebnisse des – in seinen Positionen gemischten – MGFA gegenüber der Truppe zu profilieren. Dieser Impuls fand im November 1995 in den Ausführungen des Verteidigungsministers Volker Rühe auf der Münchener Wehrkunde-Tagung zur Wehrmacht („als Institution kann sie .. keine Tradition begründen.“ ) einen Niederschlag.

Es zeugte jedoch nicht vom Rückhalt dieser Position innerhalb der Bundeswehr, wenn die Hardthöhe in der Folgezeit Bundeswehrangehörigen untersagte, in ihrer dienstlichen Funktion an Veranstaltungen im Zusammenhang der Wehrmacht-Ausstellung teilzunehmen.6 Wie widersprüchlich die Positionen die Truppe zur Traditionsrolle der Wehrmacht immer noch sind, belegte kürzlich eine Rede von Generalmajor Jürgen Reinhardt7, der den „kriegerischen Geist“ der deutschen Fallschirmjäger des Weltkriegs hervorhob, aber über die Belobigung militärischer Sekundärtugenden hinaus kein Wort zum historisch-politischen Kontext dieser militärischen »Glanzleistungen« zu finden vermochte. Deutlicher konnte nicht demonstriert werden, welches Gewicht die nachgewachsenen »Traditionalisten« und Kritiker der Inneren Führung immer noch haben.8

Perspektivwechsel der Forschung

Die Auseinandersetzungen um den systematischen Platz der Wehrmacht in der NS-Vernichtungspolitik spiegeln einen Perspektivwechsel in der Holocaustforschung, der sich seit einigen Jahren angebahnt hat. Abgesehen von den großen Arbeiten eines Raul Hilberg oder anderer Holocaust-Historiker konnte man bis in die letzten Jahre eine verkürzende Wahrnehmung der NS-Vernichtungspolitik beobachten. Die Differenziertheit der Vernichtungsprozesse, der Opfer- und vor allem der gesamtgesellschaftlichen Tätergruppen, wurde angesichts der starken Konzentration von Forschung und Öffentlichkeit auf den mit »Auschwitz« symbolhaft bezeichneten Kernprozeß in den Hintergrund gedrängt. Noch im Historikerstreit der Jahre 1986/87 war die von Andreas Hillgruber so emphatisch angesprochene Rolle der Wehrmacht im Osten in der Folgediskussion praktisch ausgeklammert oder auf ihre bloß gewährende Funktion reduziert worden.9

Erst in den letzten Jahren sind Arbeiten vorgelegt worden, die die Komplexität und Kontexte der Vernichtungspolitik (Dokumentationen zum »Generalplan Ost«; Götz Aly; Ulrich Herbert), die beteiligten Instutionen (z.B. Chirstopher Brownings Studie über das Polizeibatallion 101), die verschiedenen »Methoden« (z.B. Walter Manoschek über Geisel- und Massenerschießungen in Serbien) und damit auch die Vielfalt der beteiligten gesellschaftlichen Organisationen und Tätergruppen in den Blick nehmen. In diesem Kontext ist die Rolle der Wehrmacht – nach der wegweisenden Arbeit von Manfred Messerschmidt (1969) – wieder verstärkt beachtet worden. Nach den Debatten um den »Dämon Hitler«, den »Führerstaat«, um funktionalistische und intentionalistische Deutungsansätze steht nun über kurz oder lang eine neue Gesamtschau des NS-Regimes und seiner verbrecherischen Potentiale ins Haus. Eines zeichnet sich dabei ab, mag die Beweisführung eines Goldhagen auch zu holzschnittartig ausgefallen sein – die deutsche Bevölkerung war enger mit Regime und Vernichtung liiert als es die bisherige Sicht wahrhaben wollte. Die Massenorganisation Wehrmacht mit ihren 19 Millionen Angehörigen ist eine – und nicht die unwichtigste – Facette zu diesem Gesamtbild.

„Am Nerv einer Generation“ (Eppler)

Umso heftiger waren die Reaktionen aus den Reihen der Kriegsteilnehmer. Denn zur Debatte steht nicht nur die Überprüfung der lebengeschichtlichen Erfahrung und ihrer oft in unzähligen Privatgeschichten geronnenen Deutungen; zur Überprüfung stehen auch Fragen von Schuld und Verantwortung. Eben das brachte der Ausstellung seitens der FAZ den Vorwurf ein, hier sei ein „vagabundierendes Schuldempfinden“ am Werke. Nimmt man dieses polemische Diktum zu seinem Nennwert, ergibt sich eine der zentralen Problemstellungen jeglicher Aufarbeitung von NS-Vergangenheit: Wie sollen Schuld und Verantwortung in einem arbeitsteilig organisierten, zeitlich wie räumlich hochdifferenzierten Gesamtprozeß von Krieg, Raub und Vernichtung zurechenbar sein? Nicht die schnelle Zuweisung des Prädikats einer »verbrecherischen Organisation«, die der Ausstellung immer wieder fälschlich unterstellt wurde, führt aus dem Problembündel der »Makrokriminalität« (Herbert Jäger) hinaus, sondern nur die Frage danach, wie das Zusammenwirken von Individuen und Kollektiven im Rahmen von »Organisationsverbrechen« zu bewerten ist. Reinhart Koselleck hat diese allgemeine Fragestellung auf den individuellen Horizont zurückprojiziert, um die Differenz von Zeitzeugenschaft und Erfahrungsverarbeitung herauszuarbeiten: „Es gibt Kriegserinnerungen, die immer wieder neu gemacht werden müssen, weil die Primärerfahrungen nicht hinreichen, um die ganze Wahrheit zu verbürgen. Und immer neue Wahrheiten kommen hinzu: Insofern geht für meine Generation der Krieg nie zu Ende oder fängt immer wieder an, soweit sich alte Erfahrungen aufs neue abarbeiten müssen.“ 10

Genau dies war der kritische Punkt der breiten öffentlichen Resonanz auf die Ausstellung. Im Lichte der Leserbriefe, Eintragungen in die Gästebücher oder erregten Kontroversen zeichnete sich eine »gespaltene Erinnerung« (Elisabeth Domansky) ab. Während in den offiziellen Berichten die routinierte Rezeptionshaltung des deutschen »Gedächtnistheaters«11 (»Ende eines Tabus«) vorherrschte, verschaffte sich in den individuellen, privaten Reaktionen jenseits der Schlagzeilen eine andere Gefühlswelt Luft. Diese Reaktionen lassen sich in vier Aspekten zusammenfassen:12

  • Einen nach wie vor hohen Rang genießt das Argument, es sei nun endlich genug mit der »Nestbeschmutzung«, sei es aus grundsätzlichen Erwägungen, aus Gründen des zeitlichen Abstandes („wann machen wir endlich Schluß…? “ ), aus politischen Motiven („gerade jetzt, wo die Bundeswehr…“ ).
  • Eine prominente Form der Abwehr findet sich in Projektionen, die der Ausstellung eine verfehlte »Gewichtung« der – an sich offenbar unbestreitbaren – Tatsachen vorwerfen. Sie verweisen auf die »andere Seite« oder auf den »Krieg an sich«.
  • Ausgewichen wird in aller Regel dem Problem der »Organisationsverbrechen« und damit der anhängigen Frage kollektiver Tat, Haftung oder Verantwortung. Daß es dennoch so etwas gibt wie ein Bewußtsein von Täterkollektiven und Kollektivttaten, kommt in Zuweisungen zum Ausdruck, die zwischen verschiedenen Truppengattungen usw. differenzieren: SS kontra Wehrmacht, Front kontra Etappe, Führung kontra Mannschaften, Regelhandlungen kontra Ausnahmesituationen usw.
  • Auf der persönlichen Ebene dominieren starke Emotionen – Kränkung, Wut, Beleidigung, Verletzung, Vorwurf und Selbstmitleid. Der Generationsfaden zu den Nachgeborenen, die »nicht dabei« waren, aber »alles besser wissen«, scheint abgerissen.13 Der Kampf um die Erinnerung geht für die Kriegsteilnehmer in seine letzte Runde und gewinnt gerade deshalb seine besondere Schärfe: Was wird sein, wenn »wir« nicht mehr sind?

Tabubruch?

Wurde ein Tabu gebrochen? Die Antwort kann nicht eindeutig ausfallen. Eine vielfach gespaltene Erinnerung(spolitik) prägt die offiziellen, die öffentlichen und die privaten Reaktionen auf die Wehrmacht-Ausstellung. Die Thematisierungsschwelle ist deutlich abgesenkt worden. Politische Folgerungen, wie sie sich etwa in der Frage der Wehrmachtsjustiz bzw. der Wehrmacht-Deserteure symbolhaft zusammenfassen, lassen noch immer auf sich warten.

Anmerkungen

1) Vgl. als Begleitband Hannes Heer/Klaus Naumann (Hrsg.), Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944. Hamburg 2. Aufl. 1995; als Katalogband: Hamburger Institut für Sozialforschung (Hrsg.), Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944. Hamburg 1996. Zurück

2) Vgl. zum folgenden auch Klaus Naumann, Wenn ein Tabu bricht. Die Wehrmacht-Ausstellung in der Bundesrepublik, in: »Mittelweg 36«, 1/1996. Zurück

3) Vgl. Walter Manoschek, Die Wehrmachtsausstellung in Österreich. Ein Bericht, in: ebd. Zurück

4) Günther Gillessen, Zeugnisse eines vagabundierenden Schuldempfindens, in: FAZ, 6. Februar 1996, dazu kritisch Manfred Messerschmidt, Die Abwiegler, in: Süddeutsche Zeitung, 16. Februar 1996; ein Jahr zuvor hatte übrigens Wolfram Wette die Ausstellung positiv für die FAZ, 6. April 1995, besprochen; Marion Gräfin Dönhoff, Wider die Selbstgerechtigkeit der Nachgeborenen, in: Die Zeit, 8. März 1996, dazu die Zuschrift von Jan Philipp Reemtsma, ebd., 29. März 1996; Gerhard Kaiser, Aufklärung oder Denunziation?, in: Merkur 566, Mai 1996. Zurück

5) Vgl. den kritischen Forschungsbericht von Omer Bartov, Wem gehört die Geschichte? Wehrmacht und Geschichtswissenschaft, in: Heer/Naumann, a.a.O. Zurück

6) Betroffen war zunächst v.a. Brigadegeneral Winfried Vogel vom Streitkräfteamt Bonn, dem untersagt wurde, in dienstlicher Funktion die Einführungsrede zur Ausstellungseröffnung in Mönchengladbach zu halten. Vogel tat dies daraufhin als Privatperson. Zum Vorgang vgl. Michael J. Inacker, Proteste gegen »Horrorbild« einer verbrecherischen Wehrmacht. Eine Ausstellung zu »Verbrechen der Wehrmacht 1941-1944« beschäftigt nun auch Bundestag und Hardthöhe, in: Die Welt, 18. Februar 1996. Zurück

7) Vgl. Leistungen erbringen, die als unmöglich gelten. Eine bemerkenswerte Rede über Bundeswehr-Tradition, Elite und Fallschirmjäger, in: Welt am Sonntag, 14.April 1996. Zurück

8) Vgl. generell Detlef Bald, Militär und Gesellschaft. Die Bundeswehr in der Bonner Republik. Baden-Baden 1992. Zurück

9) Ausnahmen bildeten die Repliken von Micha Brumlik und Omer Bartov. Zurück

10) Reinhart Koselleck, Glühende Lava, zur Erinnerung geronnen. Vielerlei Abschied vom Kriegerfahrungen, die nicht austauschbar sind, in: FAZ, 6. Mai 1995. Zurück

11) Vgl. Elisabeth Domansky, Die gespaltene Erinnerung, in: Manuel Koeppen (Hrsg.), Kunst und Literatur nach Auschwitz. Berlin 1992, bes. S. 191f.; mit dem Modell des »Gedächtnistheaters« arbeitet auch das gleichnamige Buch von Y. Michael Bodesmann, Hamburg 1996. Zurück

12) Vgl. zum folgenden Naumann a.a.O., S.19ff. Zurück

13) Es ist freilich darauf hinzuweisen, daß sich in den begleitenden Interviews, die an vier Veranstaltungsorten (Berlin, Potsdam, Stuttgart und Wien) durchgeführt wurden, ein großes, oftmals geradezu erleichtertes Mitteilungsbedürfnis über lange beschwiegene Kriegserfahrungen äußerte. Zurück

Dr. Klaus Naumann, Historiker, Mitarbeiter des Hamburger Instituts für Sozialforschung

Sich an Auschwitz erinnern

Sich an Auschwitz erinnern

Gedanken eines Überlebenden

von Yaacov Ben-Chanan

Was Auschwitz – der Name steht im folgenden für alle Vernichtungsstätten im Hitlerreich – so einzigartig und so furchtbar machte, war der dort angestellte Versuch, den Menschen im Juden zu zerstören. Der Mensch sollte zur Laus gemacht werden. Und mit einem Gas gegen Läuse tötete man ihn dann auch. Nicht Hunger, nicht Zwangsarbeit, nicht Angst vor dem Tod war typisch für Auschwitz – es war dieser systematische Seelenmord.

Was konnten wir so tief Beschädigten mit der Freiheit anfangen, die 1945 endlich kam? Viele, die keinerlei Lebenskraft mehr hatten, sind in den ersten Wochen und Monaten nach der Befreiung einfach erloschen. Wir anderen, die diese erste Gefahrenzone durchstehen konnten, haben versucht, aus dem neu geschenkten Leben etwas zu machen. Den einen gelang es, andere blieben auf der Strecke, noch andere – nicht wenige! – haben sich, Jahrzehnte nach der Befreiung aus dem Lager, noch das Leben genommen.

Aber auch wenn man, allmählich und mit Hilfe vieler anderer Menschen, das Leben in den Griff bekam: aus dem Bannkreis von Auschwitz kam man damit nicht heraus. Denn unter all der äußeren Normalität, hinter aller bürgerlichen Ordnung und wirtschaftlichen Sicherheit, die man erreichen konnte, wenn man es nur richtig hatte anpacken können, blieben die eigentlichen Beschädigungen unberührt. Eines hatte mit dem anderen nichts zu tun. Die meisten von uns verblieben, der eine mehr, der andere weniger, in einem Doppelleben: ein Teil war hier, der andere immer noch in Auschwitz.

Das heißt aber: eine Gesundung im vollen Sinn war nicht möglich. Wer Auschwitz in sich weiterträgt, muß sich immerzu anstrengen, um die beiden Teile, die sein Selbst ausmachen, den Alltagsteil und den Auschwitzteil, soweit zusammenzuhalten, daß er sich selbst nicht zerreißt, nicht verrückt wird. Viel Kraft fließt dabei nutzlos ab; sie muß zur Balance des bestehenden Zustands verwendet werden, ohne daß man sie produktiv einsetzen kann.

Die gestörte Integrität des Menschen, der zu diesem Doppelleben gezwungen ist, weil die Erinnerung an Auschwitz ihn nicht losläßt, zeigt sich in vielen Störungen der Gesundheit von Körper und Seele, die ja ein Ganzes sind. Vor allem anderen steht die Angst; durch ein Objekt, durch menschliche Gesichter, durch Stimmen oder Geräusche ausgelöste und spontane Angst, die aus dem eigenen Inneren kommt. Die Angst geht in die Träume ein, Bilder von real Erlebtem und auch ganz verzerrte Angstbilder stören den Schlaf. Am Tage löst die Angst Konzentrationsstörungen aus, rasche Ermüdbarkeit und anhaltende innere Unruhe. Andauernde Angst und schlechter Schlaf bewirken wiederum körperliche Erkrankungen: Herzgefäßverkrampfungen, Muskelverspannungen, Rückenschäden, chronische Kopfschmerzen.

Das ist, für sehr viele Juden und Jüdinnen, bis heute die nach außen unsichtbare Innenseite des Lebens nach der Befreiung. Im Alter wird das keineswegs immer besser, es „wächst sich nicht aus“. Im Gegenteil: so lange ein Mensch jung und vital ist, hat er die Kraft, die er zum Verdrängen von quälenden Gefühlen oder Erinnerungen braucht. Mit den biologisch bedingten Rückbildungsprozessen im höheren Lebensalter aber läßt diese Energie normalerweise nach. Dann kann die Auschwitzseite des jüdischen Doppellebens die Übermacht gewinnen, und ein neues, Krankheitsbild entsteht, mit gesteigerter Angst und vertiefter Depression, mit erhöhter Selbstmordgefahr.

Ein Ausbruch aus dem Doppelleben könnte nur gelingen, wenn der aus Auschwitz gekommene und doch immer noch dort festgehaltene Mensch darüber sprechen könnte. Doch dazu würde ein außerordentlich großes Maß an Vertrauen zu einem Gesprächspartner gehören. Gerade die Fähigkeit, zu vertrauen, sich gar einem anderen anzuvertrauen, wurde jedoch in Auschwitz tief beschädigt, wenn nicht zerstört. So bleibt, auch in jeder Liebe oder Freundschaft, eine unsichtbare, aber spürbare Wand. Sie hält den Auschwitz-Menschen in einer unaufhebbaren Einsamkeit. Die Partner können nicht deuten, warum der geliebte Mensch sich so verhält; sie sehen nur die Symptome, nicht die Ursachen. Die eigenen Kinder können nicht deuten, was mit dem Vater oder der Mutter oder mit beiden los ist, sie spüren nur, daß da eine tiefe Störung ist, und diese ver-stört auch sie. Mit solchen Eltern kann man sich nicht streiten, nicht aggressiv gegen sie sein, d.h. aber: wichtige Reifungsprozesse nicht durchmachen. So beschädigt das Doppelleben des Nach-Auschwitz-Menschen alle Beteiligten – mehr oder weniger, ich wiederhole es immer wieder! – aber immer in einem Maße, das volle Freiheit fast unmöglich macht und oft nur ein eher seltenes und kurzes Glück erlaubt.

Wir Juden müssen alles daran setzen, Auschwitz hinter uns zu lassen, Auschwitz zu vergessen. Wir müssen die Herrschaft von Auschwitz über unsere Seelen zumindest so weit eingrenzen, daß es unser Leben und Denken so wenig wie möglich bestimmt. Wir müssen Auschwitz seelisch und intellektuell in den Griff bekommen, anstatt daß es uns im Griff behält und fortfährt, uns zu zerstören. Seelisch bekommen wir Auschwitz – wenn überhaupt – nur in den Griff, indem wir therapeutisch bearbeiten, was wir erlebt haben. Intellektuell bekommen wir es in den Griff, indem wir Auschwitz relativieren, d.h. einordnen in den geschichtlichen Zusammenhang, in den es gehört, und ihm damit seine mythologische Gewalt nehmen. Dazu gehört vor allem, daß wir, wenn wir aus einer assimilierten Tradition kommen, wie die meisten von uns, hinter die Barriere von Auschwitz zurückgehen und uns unser gesamtes jüdisches Erbe, 3000 Jahre einer großartigen Kultur, wieder anzueignen beginnen. Geistig aufrecht gehen kann nur, wer sich von einer langen und großen geistigen Tradition gehalten weiß.

Sich von Auschwitz her als Jude zu definieren, bedeutet, sich vom Tode her, vom ganz und gar Sinnlosen her zu definieren. Alles, was wir denken, träumen und als Juden tun, steht dann unter dem einzigen Motto: „Nie wieder Auschwitz!“ Der Wunsch ist natürlich berechtigt, aber er darf uns nicht beherrschen.

Verharren wir vor dieser ungeheuren Barriere der Erinnerung, verstellen wir uns nicht nur den Blick auf das Ganze unserer jüdischen Geschichte und Kultur, auf Freude und Glück des Jüdischsein. Auch die psychischen Konsequenzen sind dann verheerend. Das Verharren bei der Erinnerung an Auschwitz macht uns nicht nur krank, es macht uns auch friedensunfähig. Wir können dann auch politisch keinen Frieden finden, vor allem in Israel mit den Menschen, die dort mit uns auf dem gleichen Mutterboden wohnen und ein Recht auf ihn haben, wie wir auch. Wenn wir nicht in diesem Sinne Auschwitz zu vergessen lernen, bleibt uns nur die Alternative zwischen der totalen Assimilierung an die Umwelt und damit dem Untergang als Juden und einer ständigen Instrumentalisierung von Auschwitz, mit der wir auf andere bedrohlich werden und unsere Isolierung verewigen.

Dr. Yaacov Ben-Chanan ist Professor für jüdische Geschichte und Kultur an der Universität/GHS Kassel.

Gaskrieg, Völkerrecht, Geheimrüstung

Gaskrieg, Völkerrecht, Geheimrüstung

Zur Frage der Beschränkung von bakteriologischen und chemischen Waffen in der Zwischenkriegszeit

von Hartmut Stiller

Trotz der Haager Landkriegsordnung von 1899, in der sich einige Staaten dem Verbot unterwarfen, „Geschosse zu verwenden, deren einziger Zweck ist, erstickende oder giftige Gase zu verbreiten“1, kam es am 22. April 1915 an der deutsch-französischen Grenze zur Anwendung einer neuen, folgenreichen Waffe. Dieser Ersteinsatz der Gaswaffe von deutscher Seite setzte einen Rüstungswettlauf in Gang, dem fortan kein Einhalt mehr zu bieten war.

Die Kampfstoffe boten den Militärs, vor allem in ihrer Kombination mit der Luftwaffe, ungeahnte neue Möglichkeiten. Erstmals ließ sich wirksam die Zivilbevölkerung in das unmittelbare Kriegsgeschehen miteinbeziehen. Der Kriegsschauplatz verschob sich von der Front bis ins Hinterland hinein, dorthin, wo man das gegnerische Gebiet bislang nur mäßig anzugreifen in der Lage war.Bedenken aus humanitären Gründen wurden aus den militärischen Kreisen zerstreut. Gegenteilig bezeichnete man die neue Waffe als „human“, konnte man durch sie einen Krieg schneller beenden und somit unzählige Menschenleben retten. Man sah die Verletzungen durch Giftgase als weitaus weniger grausam an, als jene von Granaten, wodurch schließlich ganze Körperteile »abgerissen« würden. „Die Einatmung der Blausäure belästigt in keiner Weise. Man kann nicht angenehmer sterben.“2

Zudem räumte die Kriegsnotwendigkeit die letzten Zweifel an dem Einsatz chemischer Kampfstoffe vom Tisch. So schrieb Berthold von Deimling, in dessen Frontabschnitt bei Ypern das Kampfmittel erstmals auf dem Schlachtfeld erprobt wurde, rückblickend: „Aber durch das Giftgas konnte vielleicht Ypern zu Fall gebracht werden, konnte ein feldentscheidener Sieg errungen werden. Vor solch hohem Ziel mußten alle inneren Bedenken schweigen.“ 3

Doch auch die Schrecken dieser neuen Waffe steckten nach dem Weltkrieg noch allzusehr in den Köpfen der Menschen fest. So suchten die Politiker nach Kriegsende Möglichkeiten, die Gefahr eines Giftgaseinsatzes zu reduzieren.

Die Einschränkung des Einsatzes chemischer und bakteriologischer Waffen

Der Versailler Vertrag (1919)

Der am 28. Juni 1919 unterzeichnete Versailler Vertrag war u.a. ein Versuch der Siegermächte, die deutsche Aggressivität und Kriegsbereitschaft bis auf ein Minimum zu bändigen. Hierfür diktierten die Siegermächte dem »Kriegsschuldigen« ein Verbot der Luftwaffe, der Panzer, der schweren Artillerie und – der Gaswaffe. Der Artikel 171 geht darauf ausdrücklich ein: „Mit Rücksicht darauf, daß der Gebrauch von erstickenden, giftigen oder ähnlichen Gasen, sowie von allen derartigen Flüssigkeiten, Stoffen oder Verfahrensarten verboten ist, wird ihre Herstellung in Deutschland und ihre Einfuhr streng untersagt.

Dasselbe gilt für alles Material, das eigens für die Herstellung, die Aufbewahrung oder den Gebrauch der genannten Erzeugnisse oder Verfahrensarten bestimmt ist.“4

Im Unterschied zu der Haager Landkriegsordnung von 1899 strebte man nun eine Beschränkung des Bestandes in Form eines Verbotes der Herstellung und der Einfuhr chemischer Waffen sowie deren Voraussetzungen an, nicht nur deren Anwendung. Aber dieser neue Gedanke blieb ein auf Deutschland beschränkter Einzelfall.

Diese Bestimmung war das einzige rechtskräftige völkerrechtliche Übereinkommen, das ein Verbot der Herstellung von C-Waffen beinhaltete. Doch das einseitige Abrüstungsdiktat blieb nicht problemlos, es forderte den Widerstand der militärischen Kreise Deutschlands heraus.

Der Vertrag von Washington (1922)5

1922 rangen sich Frankreich, Italien, Japan, Großbritannien und die USA auf der Washingtoner Konferenz dazu durch, den Gebrauch erstickender, giftiger oder anderer Gase sowie aller ähnlichen Flüssigkeiten zu verbieten. Jedoch waren deren Herstellung sowie der Handel mit chemischen Waffen nicht in dieses Verbot einbezogen, ein Faktum, welches den Washingtoner Vertrag als einen Rückschritt ins Jahr 1899 degradierte.

Dieses Abkommen wurde zwar von den genannten Staaten unterschrieben, jedoch verweigerten die Franzosen die notwendige Ratifizierung. Damit scheiterte dieser Versuch, den Giftwaffeneinsatz einzuschränken.

Das Genfer Protokoll (1925)

Unterschrieben und ratifiziert wurde dagegen das sogenannte Genfer Gaskriegsprotokoll, dessen Unterzeichnung am 17. Juni 1925 auf amerikanische Initiative hin erfolgte. Das Deutsche Reich beteiligte sich ebenso wie Frankreich, Italien, Spanien und Großbritannien, um nur einige Staaten zu nennen.

Auszugsweise seien hier einige Stellen des Vertrages zitiert: „Die Hohen vertragsschließenden Parteien erkennen, soweit sie nicht schon Verträge geschlossen haben, die diese Verwendung untersagen, dieses Verbot an. Sie sind einverstanden, daß dieses Verbot auch auf die bakteriologischen Kampfmittel ausgedehnt wird, und kommen überein, sich untereinander an die Bestimmungen dieser Erklärung gebunden zu betrachten.“ 6

Ziel des Genfer Protokolls war es zudem, möglichst viele Staaten von der Notwendigkeit des Unterzeichnens zu überzeugen, was ihnen bis heute auch gelang.7

Erstmals wurden hier auch die B-Waffen in das Verbot mit einbezogen. B-Waffen teilen sich in biologische und bakteriologische Waffen auf. Biologische Stoffe werden zur Schädlingsbekämpfung eingesetzt und sind daher auch weitgehend erlaubt.

Das Genfer Gaskriegsprotokoll hatte aber wiederum den Nachteil, daß es die Herstellung entsprechender Stoffe nicht verbot, lediglich deren Ersteinsatz ächtete. Eine »defensive Vorbereitung« blieb also weiterhin möglich.

Erst durch die Abkopplung von den C-Waffen konnten die Staaten am 16. Dezember 1971 eine Übereinstimmung über ein Verbot der Entwicklung, Herstellung und Lagerung bakteriologischer (biologischer) Waffen (sowie deren Vernichtung) erzielen.

Die Geheimrüstung in der Weimarer Republik (1919 – 1933)

In einem Schreiben vom 6. Dezember 1926 an den Reichswehrminister Geßler sprachen die sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten Hermann Müller-Franken und Otto Wels bedenkliche Aktionen der Reichswehr an: Die »Gefu« (Gesellschaft zur Förderung gewerblicher Unternehmungen m.b.H.8) habe „der chemischen Fabrik Dr. Hugo Stoltzenberg (…) den Auftrag gegeben, in Trozk, Gouvernement Samara (Rußland) eine Fabrik zur Erzeugung von Kriegsgiftgasen einzurichten. Diese Einrichtung erfolgte in den Jahren 1923 bis 1926. Die Fabrik gliedert sich in folgende Abteilungen: Chlorerzeugung, CO-Erzeugung, Phosgen-Erzeugung und Lost-Erzeugung.“ 9

Diese bedenklichen Betätigungen der Reichswehr reichten bis in das Jahr 1919 zurück. Allgemeine Empörung über die strengen Bestimmungen des Versailler Vertrages, vor allem über das Diktat der einseitigen Abrüstung, die »Verlockungen« der »neuen Waffe« und schließlich der Einzug der Franzosen in das Ruhrgebiet (1923) bekräftigten die unzufriedenen Kreise im Deutschen Reich darin, daß man das Hintergehen der Vorschriften als legitime Notwehr ansehen könnte. Da die Siegermächte nicht zur eigenen chemischen Abrüstung bereit waren, spukte die eigene Machtlosigkeit bei einem feindlichem Angriff um so heftiger in den Köpfen des Militärs herum. Die daraus gezogene Rechtfertigung, sich schützen zu dürfen, beinhaltete bald die Legitimation, dies auch mit eigenen Waffen zu tun. Die Militärs strebten daher nach einer engeren Zusammenarbeit mit der Wissenschaft. Durch die Fortentwicklung der chemischen Waffe erhoffte sich die Reichswehr zudem, den Mangel an konventioneller Rüstung ausgleichen zu können.

Durch taktisches Geschick gelang es, beachtliche Bestände aus dem Ersten Weltkrieg zu retten. In Breloh bei Munster, wo die Restbestände von fertigen und halbfertigen Gaskampfstoffen unter Aufsicht der Alliierten zusammengetragen wurden, kam es am 24. Oktober 1919 zu einer folgenreichen Explosion in einer der drei Breloher Fabriken. In den darauffolgenden Jahren mußten Aufräumarbeiten angeordnet werden, von denen man die alliierten Kontrollkommissionen mit dem Hinweis auf den hohen Zerstörungsgrad und den Gefahren vor Ort gezielt fernzuhalten verstand.

Langjähriger Leiter der Aufräumungsarbeiten in Breloh war Dr. Hugo Stoltzenberg, der in den folgenden Jahren darum bemüht war, mit der bereitwilligen Unterstützung der militärischen Stellen einen erneuten Aufbau einer fabrikatorischen Basis für Gaskampfstoffe zu erreichen. Dieser Neuaufbau wurde notwendig, da der ehemalige Produzent, der IG-Farben-Konzern, unter internationaler Kontrolle stand und die alten Anlagen hauptsächlich im entmilitarisierten Rheinland angesiedelt waren.

Während die Bemühungen der US-Regierung 1925 zur Unterzeichnung des Genfer Gaskriegsprotokolls führten, zwang die reale Politik dem Ganzen groteske Züge ab: In Marokko tobte der erste aero-chemische Krieg der Spanier gegen die Rif-Kabylen.10 Seit 1921 nahmen dort die Aufstände der Einwohner kriegerische Ausmaße an. Da die Spanier, die sich mit Frankreich das Protektorat teilten, gegen die engagierte Kampfkraft der Aufständischen kaum über wirksame Mittel verfügten, griffen sie schon bald mit der »neuen Wunderwaffe« an. Zunächst ließen sie sich »harmlosere« Kampfstoffe wie Tränengas und Nasenreizstoffe aus Frankreich liefern, doch hatte Frankreich bei der Produktion vom weitaus stärker wirkendem Lost erhebliche Probleme. Daher war Spanien auf der Suche nach einem neuen Handelspartner und fand diesen sehr bereitwillig im Deutschen Reich. Stoltzenbergs Fabrik wurde am 10. Juni 1922 dazu verpflichtet, in Spanien eine Fabrik zu bauen, die täglich mindestens eine Tonne Lost, 1,5 Tonnen Phosgen und 1,25 Tonnen Dick produzieren sollte. Bis die Fabrik fertiggestellt war, überbrückte Stoltzenberg den Giftgasbedarf durch umfangreiche Lieferungen aus eigener Herstellung.

Als weiteren ausländischen Partner fand die Reichswehr die sowjetische Regierung. Da eine Kampfstoffproduktion im Reich stets die Gefahr beinhaltete, daß die alliierten Kontrollkommissionen davon Wind bekämen, gleichzeitig auch ein erneuter Vorstoß nach Mitteldeutschland spätestens seit der Ruhrbesetzung nicht mehr auszuschließen war, versuchte man die deutsche Kampfstofferprobung und -herstellung den Eingriffsmöglichkeiten der Entente zu entziehen. Die Russen waren der ideale Partner, da sie nur über ein geringes technisches »Know-how« in der Waffentechnik verfügten, dafür aber genügend Naturschätze besaßen. Hier konnte man sich hervorragend ergänzen, besaß man in Deutschland schließlich ausreichend viele Wissenschaftler und technische Geräte. Allein durch diese Aktivitäten wäre die Reichswehr im Kriegsfalle in der Lage gewesen, ihren legalen Bestand konventioneller Artilleriemunition um mehr als das Doppelte mit Giftgasgranaten aus russischer Fabrikation vermehren zu können.

Trotz vieler Schwierigkeiten, die an dieser Stelle nicht näher erläutern werden können, blieb diese »Beziehung« mit Rußland bis ins Jahr 1933 bestehen; erst Hitler kündigte aus politisch-ideologischen Beweggründen die russisch-deutsche Zusammenarbeit.

Diese lange Zusammenarbeit ist deshalb interessant, da Stoltzenbergs Aktivitäten in Rußland 1926 in einer großangelegten Pressekampagne bloßgelegt wurden, was sogar den Sturz der Regierung Marx mitauslöste. Die Reichswehr trennte sich zwar von Stoltzenberg, setzte aber in enger Kooperation mit der Großchemie ihre Aktivitäten in Rußland fort.

Anfang der 30er Jahre erschien eine große Anzahl von Texten und Materialien im Deutschen Reich, die den Gaskrieg vermehrt in das Bewußtsein der Bevölkerung bringen sollte. Eines der wesentlichen Ziele war es, die Bevölkerung über einen potentiell bevorstehenden Gaskrieg zu informieren und entsprechende Rettungsmaßnahmen vorzubereiten (z.B. Ausbildung von Sanitätern etc.). Dabei wurde dem Bürger das Bild eines völlig wehrlosen Deutschland vermittelt, welches ohne Gasschutz kaum einen feindlichen Angriff mit Kampfstoffen überstehen könne. Dadurch erreichte man taktisch geschickt eine allgemeine Besorgnis und daraus folgend das Einverständnis der Menschen, sich verstärkt um Schutzmöglichkeiten zu bemühen. Im Zuge des staatlich geförderten Ausbaus des Luftschutzes, der nach dem Luftfahrtsabkommen vom 24.5.1926 auch den Deutschen erlaubt war, wurde zu diesem Zweck die »Deutsche Luftschutzliga e.V.« gegründet.

Der erfolglose Kampf der Gaskriegsgegner

Ich sah im Traum von Militär-
flugzeugen ein dichtes Gewimmel.
Sie stiegen auf, mehr, mehr, immer mehr.
Sie verfinsterten Sonne und Himmel.
Sie führten mit sich, in meinem Traum,
Giftbomben und ähnlichen Segen.
Mit denen wollten im feindlichen Raum
Sie eine Großstadt belegen.
Sie ordneten sich, die todbringende Schar,
In schwierigstem Wenden und Drehen.
Der Giftangriff sollte offenbar
In kunstvollster Form geschehen.
Und sieh, als endlich die ganze Wehr
Aufstieg zur Abendröte.
Erschien, gebildet aus Militär-
flugzeugen, am Himmel Goethe.

Dieses Gedicht »Deutschland 1932« von Lion Feuchtwanger, das einen Gasangriff aus der Luft auf eine Großstadt behandelt, erschien 1932 in der Zeitschrift »Die Weltbühne«. Es spiegelt die Angst vor einem neuen Zukunftskrieg wieder, einem Zukunftskrieg, der vorwiegend aus Gasangriffen aus Flugzeugen auf die Zivilbevölkerung bestehen sollte. Diese Vorstellung bewegte den »Mann auf der Straße« auf das heftigste, schließlich waren den meisten Menschen noch die Schrecken des Ersten Weltkrieges präsent.

Noch unter den direkten Erfahrungen aus den Kriegsjahren erklärte der Völkerbund 1920, daß die Anwendung von Kampfgasen der Haager Landkriegsordnung und damit auch dem Völkerrecht widerspreche. Eifrig wurde daher geprüft, ob ein Appell an die Wissenschaftler aller Länder, ihre Forschungen über giftige Gase und ähnliche Fragen zu veröffentlichen, um die Möglichkeiten des Gebrauchs solcher Waffen in einem zukünftigen Krieg zu vermindern, Erfolg versprechen würde.

Bereits 1922 kam man wieder davon ab und errichtete statt dessen einen Spezialausschuß, der sich über die möglichen Folgen eines Einsatzes chemischer Waffen informieren sollte.

Dessen Bericht wurde Gegenstand der Debatten in der Versammlung des Jahres 1924. „Die Versammlung forderte den Rat auf, für eine möglichst große Verbreitung und Publizität dieses Berichtes zu sorgen. Der Rat hat sich jedoch weiterer Maßnahmen zu dieser Frage enthalten, weil er der Auffassung war, daß die feierliche Resolution der Versammlung schon Publizität genug bedeute.“ 11

Nach 1924 wurde dieses Problem nicht mehr oder nur am Rande auf den offiziellen Sitzungen des Völkerbundes behandelt.

Erst in den 30er Jahren wurde er anläßlich einiger Verletzungen der Verbote wieder damit konfrontiert, z.B. während des japanisch-chinesischen Krieges (1932-1938). Auch Italien wendete während seines Krieges gegen Äthiopien Giftwaffen an (1936).

Seit dem Weltkrieg richteten sich dagegen viele Organisationen gegen die chemischen Waffen. Das Internationale Rote Kreuz appellierte schon während des Krieges an die kriegführenden Parteien und später an den Völkerbund, den Einsatz von erstickenden Gasen zu verbieten.

Am 10. bis 15. Dezember 1922 fand in Haag ein Weltfriedenskongreß statt, der gemeinsam vom Internationalen Gewerkschaftsbund und einigen pazifistischen Gruppen organisiert wurde und in dessem Verlauf der Beschluß gefaßt wurde, daß man alles tun müsse, um die Fabrikation und den Transport von Kriegspotential zu verhindern. Edo Flimmen, der damalige Sekretär der Amsterdamer Internationale, erklärt später: „Die Mobilmachung gegen einen Krieg muß mit derselben Präzision organisiert werden können wie die Mobilmachung, die 1914 die Länder in Heerlager verwandelte. (…) Wenn die Regierungen mit Krieg drohen, müssen die Arbeiter die chemischen Fabriken, in denen die tödlichen modernen Waffen hergestellt werden, verlassen; die Eisenbahner müssen den Transport der Truppen verweigern, die Bergleute keine Kohlen für die Rüstungsindustrie liefern. Die Führer in jedem Lande müssen sich über die konkreten Maßnahmen Klarheit verschaffen, die im Falle eines drohenden Krieges zu ergreifen sind, sie müssen verstehen, daß die Träger des Widerstandes gegen den Krieg nicht die Parlamente sein können, sondern die organisierte Masse selbst. (…)“ 12

Die Widerstandsorganisationen forderten also eine öffentliche Kontrolle der Rüstungsindustrie. Wenngleich diese Ideen Illusionen waren, da die Arbeiter unter einem zu großen Druck standen, um einen derartigen Generalstreik durchzuführen, und die breite Masse der hochqualifizierten Wissenschaftler und Ingenieure kaum für die Friedensbewegung zu gewinnen waren, wenngleich diese Forderungen also kaum durchführbar waren, so wurden hier erstmals die Kampfmittel der Arbeiterschaft, die Arbeitsverweigerung und der Generalstreik, in die Überlegungen der Friedensbewegung einbezogen.

Ein Beispiel für besonderes Engagement auf Seiten der Giftgasgegner war Gertrud Woker13, eine Schweizer Chemikerin, die dazu überging, zahlreiche eindrucksvolle Initiativen zur systematischen Aufklärung über die Gefahren von chemischen Kriegswaffen ins Leben zu rufen. In vielen Aufsätzen, mit Flugzetteln, Büchern und Vorträgen trat sie den allzu durchsichtigen Argumenten der Giftgaspropagandisten entgegen und bewies mit Hilfe ihrer fachlichen Kompetenz, daß Gasverletzungen nicht so harmlos seien, wie oft behauptet, sondern im Gegenteil recht qualvoll.

Ihr Ziel beschrieb sie einmal selbst folgendermaßen: „Ein kleines Buch – Onkel Toms Hütte – hat einmal Tausenden von Negersklaven die Freiheit gegeben. Warum sollte es nicht auch möglich sein, die Sklaven des Militarismus zu befreien durch weiter nichts als der Darstellung von Tatsachen – ganz alltägliche Tatsachen aus der modernen Kriegsführung.“ 14

Gertrud Woker war Mitvorsitzende des schweizer Zweiges der »Internationalen Frauenliga für Forschung und Freiheit«, einer Initiative, welche international zu einer systematischen Aufklärung über die Gefahren der chemischen Kriegswaffen beitragen wollte.

Als die Reichsregierung15 zusammen mit dem »Reichsverband Deutscher Industrieller« 1926 die »Deutsche Luftschutzliga e.V.« gründete, bildete sich als deren Gegenpol die pazifistisch ausgerichtete Anti-Gaskriegsbewegung. Sie glaubte an keine Schutzmöglichkeiten in einem zukünftigen Krieg und kämpfte daher für eine Abrüstung und ein generelles Verbot von Kriegen. Das Desinteresse in der Bevölkerung aber wuchs immer mehr, je weiter die schrecklichen Erlebnisse des Weltkrieges zurücklagen. Die Friedensbewegungen erreichten nur einen Teil der Bevölkerung und hatten kaum Rückhalt in ihr.

Hinzu kam, daß ihre Argumente oft wirklichkeitsfremd waren. Es war kaum möglich, Chemiker und Ingenieure für die Friedensbewegung zu gewinnen. Die ausführenden Arbeiter ihrerseits standen unter einem zu großen Druck, als daß sie gegen ihre Vorgesetzten Stellung beziehen konnten. Kritiklos übernahm man Kriegsbilder von den Gaskriegsbefürwortern, wie zum Beispiel die Theorie, daß in zukünftigen Konflikten die großen Massenheere aufgelöst würden.16 Zwischen den einzelnen Organisationen mangelte es an ausreichender Koordination und somit an Effektivität. Selbst große Kongresse konnten keine bleibenden Erfolge verbuchen.

Die offizielle Propaganda hatte zudem den Vorteil, über größere finanzielle Mittel verfügen zu können, was nicht gerade unerheblich zu deren Erfolg beitrug.

Außerdem brachte die Panikmache der Friedensbewegung ein weiteres Problem mit sich: das allzu extreme Schildern grauenhafter Giftgasangriffe und sonstiger Kriegsbilder konnte die Bevölkerung dermaßen verunsichern, daß sie erst recht der schutzanbietenden »Luftschutzliga« in die Arme flüchteten. Somit spielte die Friedensbewegung dem Militär sogar ungewollt die Trümpfe zu.

Schluss

Spanien, die Sowjetunion, Italien, Jugoslawien, Japan, China, die Türkei, Rumänien, Schweden, Brasilien … – die Liste der Staaten, die allein von Deutschland nach 1923 mit chemischen Kampfstoffen beliefert wurden, ließe sich noch unschwer fortsetzen. All dies geschah selbstverständlich »geheim« und trotz alliierter Kontrolle. Waren die Auflagen gegenüber dem Deutschen Reich nicht umfassend genug oder zeigten die Siegermächte sich tolerant gegen die Verstöße? Bestraft wurde das Deutsche Reich nicht, obwohl die Aktivitäten auf verbotenem Gebiet spätestens 1923 und 1926 durch Enthüllungen und Skandale, welche in den Medien verbreitet wurden, an die Öffentlichkeit drangen.

War England als Vertreter der »Balance-of-Power-Politik« in Sorge, daß Frankreich nach der Ruhrbesetzung weiter seine Macht ausbauen könnte? Tolerierte es die Tätigkeiten der Reichswehr, damit Deutschland nicht von seinem Nachbarn »zerdrückt« würde und eine Verschiebung des internationalen Kräftegleichgewichtes entstünde?

Da Frankreich sich mit Spanien das Protektorat in Marokko teilte, liegt es nahe, daß es über die deutschen Giftgaslieferungen informiert war. Nach den Locarner Verträgen herrschte jedoch eine Entspannungsphase zwischen Frankreich und seinem östlichen Nachbarn. Man fing an, das Deutsche Reich zumindest zu akzeptieren und genoß die Aussöhnung mit dem ehemaligen Erzfeind. Wollte man daher einen erneuten Bruch mit Deutschland vermeiden, indem man schwieg?

Ein Problem war sicherlich, daß man, im eigenen Land selbst Kampfstoffe produzierend, den Deutschen gestatten mußte, Schutzmaßnahmen gegen Gaswaffen durchzuführen, was im Pariser Luftfahrtsabkommen 1926 auch geschah. Wenn man sich schützen möchte, muß man jedoch wissen, welche Gefahr drohen könnte. Daraus folgt, daß eine Forschung nach Kampfstoffen durchgeführt werden muß. Von dieser Überlegung aus fehlt nur ein kleiner Schritt, um als mögliches Abwehrmittel die Abschreckung durch genügend Angriffspotential anzusehen – ein verzwickter Teufelskreis, der die Grenze zwischen Schutz und Angriff verschwimmen läßt.

Die Frage nach dem WARUM muß jedoch auch nach innen gelenkt werden, denn auch die deutschen Politiker zogen kaum Konsequenzen aus den Enthüllungen und Skandalen. Es folgte keine verstärkte Kontrolle über die Reichswehr, man fühlte eher mit dem eigenen Militär als mit Staaten, die selber aufrüsteten. Die deutschen Politiker, über die Bestimmungen des Versailler Vertrages nicht gerade glücklich, strebten zum großen Teil nach einer Gleichberechtigung mit den anderen Staaten.

Die Anti-Gaskriegsbewegung kämpfte unerbittlich gegen die Gefahr eines Gaskrieges, jedoch wenig effektiv. Das Militär verstand es sogar, deren Horrorbilder und Schreckensszenarien sich zunutze zu machen.

Die Gaswaffe schien in den Köpfen der Menschen weithin akzeptiert zu sein. Zu große Möglichkeiten boten sich durch deren Besitz. Es fiel den Militärs sehr schwer, eine bereits vorhandene Waffe wieder verschwinden zu lassen.

Gegen die starke Lobby der für die Wirtschaft eines Landes notwendigen Industrie und der Militärs, welche die Gaswaffen für strategisch bedeutsam erklärten, konnten sich die Gegner kaum durchsetzen.

Ein Beispiel bildet die USA: Dort sprachen sich alle Präsidenten, von Wilson, Harding, über Hoover bis Roosevelt gegen die Vorbereitungen auf einen eventuellen Gaskrieg aus. Die Kritik und der Druck der Befürworter wuchs aber dermaßen (schon 1922 bei der Washingtoner Konferenz), daß die Präsidenten und der Senat dem nicht standhielten. So ratifizierte man das Genfer Gaskriegsprotokoll nicht und gestand den Gaswaffenbefürwortern zu, zumindest für die »defensive« Rüstung produzieren zu dürfen.

Ein erneuter Versuch wurde am 13. Januar 1993 durch die Unterzeichnung einer internationalen Giftwaffen-Konvention in Den Haag unternommen. Jedoch muß sich die Wirksamkeit der »Organisation für das Verbot chemischer Waffen« erst noch erweisen. Allein die Ratifizierung des Vertrages, an dem sich 159 Staaten beteiligten (nicht aber der Irak!), erweist sich als schwierig. Chemische Offensivwaffen dürfen nicht produziert werden, eine »defensive« Forschung bleibt aber erlaubt. Als Problem stellt sich auch die Tatsache dar, daß viele Substanzen sowohl für den militärischen Gebrauch als auch für zivile Gebrauchsgüter notwendig sind. Die umfangreichen Kontrollen lassen hoffen, jedoch wird uns erst die Zeit zeigen können, inwieweit sie effektiv genug sind.

Literatur

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Bothe, Michael, Das völkerrechtliche Verbot des Einsatzes chemischer und bakteriologischer Waffen. Köln/Bonn 1973.

Brauch, Hans Günter, Der chemische Alptraum oder gibt es einen C-Waffen-Krieg in Europa. Berlin/Bonn 1982.

Brauch, Hans Günter, Müller, Rolf-Dieter, Chemische Kriegsführung – Chemische Abrüstung. Dokumente und Kommentare. Berlin 1985.

Delbrück, Jost (Hrsg.), Friedensdokumente aus fünf Jahrhunderten. Abrüstung. Kriegsverhütung. Rüstungskontrolle. 2. Bd., Kehl, Straßburg, Arlington 1984.

Feuchtwanger, Lion, Deutschland 1932, in: Die Weltbühne, 1932, S. 960.

Groehler, Olaf, Der lautlose Tod. Einsatz und Entwicklung deutscher Giftgase von 1914 bis 1945. (Ost-) Berlin 1978.

Haber, Fritz, Aus Leben und Beruf. Aufsätze. Reden. Vorträge. Berlin 1927.

Haber, Fritz, Fünf Vorträge aus den Jahren 1920 – 1923. Berlin 1924.

Harris, Robert, Paxmann, Leremy, Eine höhere Form des Tötens. Die geheime Geschichte der B- und C-Waffen (engl. Titel: A Higher Form of Killing). Aus dem engl. übersetzt von Gernot Barschke. Düsseldorf/Wien 1983.

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Messerschmidt, Manfred, Kriegstechnologie und humanitäres Völkerrecht in der Zeit der Weltkriege, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 41, 1987.

Müller, Rolf-Dieter, Die chemische Geheimrüstung in der Weimarer Republik, in: Lehren aus der Geschichte? Historische Friedensforschung. Frankfurt/M. 1990, S. 232-249.

Müller, Rolf-Dieter, Die deutschen Gaskriegsvorbereitungen 1919-1945. Mit Giftgas zur Weltmacht? in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 1, 1980.

Müller, Rolf-Dieter, Das Tor zur Weltmacht. Die Bedeutung der Sowjetunion für die deutsche Wirtschafts- und Rüstungspolitik zwischen den Weltkriegen. Herausgegeben vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt durch Othmar Hackl und Manfred Messerschmidt. Boppard a.R. 1984.

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Riesenberger, Dieter, Der Kampf gegen den Gaskrieg, in: Lehren aus der Geschichte? Historische Friedensforschung. Frankfurt/M. 1990, S. 250-275.

Schütz, Hans-Joachim, Beschränkung von B- und C-Waffen und anderen Massenvernichtungsmitteln, in: Jost Delbrück (Hrsg.), Friedensdokumente aus fünf Jahrhunderten. Abrüstung, Kriegsverhütung, Rüstungskontrolle. 2. Bd., Kehl, Straßburg, Arlington 1984, S. 829-844.

Sondernummer: Gas, in: Die Weltbühne 1931, S. 439f.

Woker, Gertrud, Ihre autobiographische Skizze in: Elga Kern (Hrsg.), Die führenden Frauen Europas. München 1928, S. 138-169.

Woker, Gertrud, Der kommende Giftgaskrieg (= Kultur- und Zeitfragen. Eine Schriftenreihe herausgegeben von Louis Satow. Heft 18). Im Auftrage der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit. Leipzig 1925.

Anmerkungen

1) Die Übersetzung des französischen Textes findet sich auszugsweise bei: Hans-Joachim Schütz, Beschränkung von B- und C-Waffen und anderen Massenvernichtungsmitteln, in: Jost Delbrück (Hrsg.), Friedensdokumente aus fünf Jahrhunderten. Abrüstung, Kriegsverhütung, Rüstungskontrolle. 2. Bd., Kehl, Straßburg, Arlington 1984, S. 845. Zurück

2) Zitiert nach Fritz Haber, Zur Geschichte des Gaskrieges. Vortrag, gehalten vor dem parlamentarischen Untersuchungsausschuß des Deutschen Reichstages am 1. Oktober 1923, in: Fritz Haber, Fünf Vorträge aus den Jahren 1920-1923, Berlin 1924, S. 81. Zurück

3) Vgl. Berthold von Deimling, Aus der alten in die neue Zeit. Berlin 1930, S. 201, in: Hans Günter Brauch, Rolf Dieter Müller, Chemische Kriegsführung – Chemische Abrüstung. Dokumente und Kommentare. Berlin 1985, S. 84. General der Infanterie Bertold von Deimling (1853-1944) wurde später zu einem entschiedenen Gegner des Krieges und Repräsentanten der pazifistischen Bewegung in der Weimarer Republik. Zurück

4) Zitiert nach: Rudibert Kunz, Rolf-Dieter Müller, Giftgas gegen Abd el Krim. Deutschland, Spanien und der Gaskrieg in Spanisch-Marokko 1922-1927. Freiburg 1990. Zurück

5) Vgl. zu diesem Kapitel auch: Hans-Joachim Schütz, Beschränkung von B- und C-Waffen und anderen Massenvernichtungsmitteln, in: Jost Delbrück (Hrsg.), Friedensdokumente aus fünf Jahrhunderten. Abrüstung, Kriegsverhütung. Rüstungskontrolle. 2. Bd., S. 829-844. Zurück

6) Zitiert nach: Jost Delbrück (s. vorhergehende Anm.), S. 845 f. Zurück

7) Hans-Joachim Schütz zählt allein bis 1984 110 Staaten auf (Hans-Joachim Schütz, Beschränkung, S. 849f.). Zurück

8) Ihre Betätigung bestand in der Einrichtung von „Rüstungsindustrie in Rußland, indem deutsche Firmen dieser Branche zur Einrichtung derartiger Unternehmungen in Rußland veranlaßt“ wurden. Zurück

9) Vgl. Akten der Reichskanzlei. Weimarer Republik. KAB. Marx III und IV Dok. Nr. 138. Zurück

10) Vgl. Rudibert Kunz und Rolf-Dieter Müller, Giftgas gegen Abd el Krim. Deutschland, Spanien und der Gaskrieg in Spanisch-Marokko 1922-1927, Freiburg 1990. Zurück

11) Michael Bothe, Das völkerrechtliche Verbot des …, S. 96. Zurück

12) zitiert nach: Resolution – und nicht mehr? in: Die Weltbühne, 1. Hj., 1927, S. 931 f. Zurück

13) Vgl. Elga Kern (Hrsg.), Führende Frauen Europas, S. 138-169. Zurück

14) Ebda. S. 168. Zurück

15) Reichswehr und Innenministerium Zurück

16) Vgl. hierzu Riesenberger, Der Kampf gegen…, S. 268f. Zurück

Hartmut Stiller studiert Geschichte und Germanistik in Freiburg.