Gernika und die deutsche Schuld

Gernika und die deutsche Schuld

von Juan Gutierrez

Vor 60 Jahren, am 26. April 1937, bombardierten Flugzeuge des faschistischen Deutschlands, der Legion Condor, die nordspanische Stadt Gernika. Fast Dreiviertel der Häuser wurden zerstört, über 1.000 Einwohner – alles Zivilisten – starben. Gernika war seit Jahrhunderten Symbol der Basken und »ihrer Freiheiten«, ihr politisch-kulturelles Zentrum. Mit der Bombardierung dieses Identitätssymbols meinten Franco und Hitler einen wichtigen Zug zu machen zur Terrorisierung und Unterwerfung des Feindes. Daß es sich dabei um ein geplantes Massaker handelte, beweist die Tatsache, daß drei Tage nach Gernika dieselben Flugzeuge die benachbarte Großstadt Bilbao bombardierten, diesmal mit Flugblättern: „Was Deinen Nachbarn geschah, wird Dir morgen geschehen, wenn Du Dich nicht ergibst.“

Doch die Rechnung Francos und Hitlers ging nicht auf. Schon am Tage nach der Bombardierung berichtete »The Times« und mit ihr die Weltpresse ausführlich über den Terrorangriff. Seitdem weiß man, daß man Symbolorte nicht bombardieren darf. Als die USA den ersten Abwurf der A-Bombe planten, stand auf der Zielliste Kyoto, eine heilige Stadt Japans. Experten warnten: „So etwas geht nicht, das weiß man seit Gernika.“ Die Wahl fiel auf die Stadt Hiroshima, die damals keinen Symbolwert hatte.

Da ihre Rechnung nicht aufging, griffen Franco und Hitler zur Lüge. „Gernika ist von den flüchtenden Basken und Republikanern in Brand gesteckt worden“, war die aufgezwungene Version der Sieger während ihrer vierzigjährigen Herrschaft in Spanien. Den überlebenden Zeugen blieb nur Raum für eine »Kultur des Schweigens«. Und doch war es ein spanischer Künstler, der weltweit dauerhaft an Gernika erinnerte: Pablo Picasso mit seinem Guernica-Bild, das entstand, nachdem er kurz vorher eine Art Comic mit dem Titel „Lüge und Größenwahn Francos“ gezeichnet hatte.

Deutschland hat den Nationalsozialismus überwunden und Spanien die Diktatur Francos. Beide sind heute demokratische Staaten, die in der EU zusammenarbeiten. Gernika ist zu einem weltweiten Symbol des Friedens geworden. Trotzdem wurde die Vergangenheit Gernikas in der Bundesrepublik Deutschland lange geleugnet. Die offizielle Politik und Historiker der BRD sahen jahrzehntelang in den Aussagen der deutschen Piloten und den angeblichen Plänen ihrer Kommandeure die einzige Wahrheitsquelle. Danach war das Massaker in Gernika lediglich der »Nebeneffekt« einer normalen Kriegshandlung.

Erst 1987 – 50 Jahre nach dem Massaker – erklärte ein Mitglied des Deutschen Bundestages in Gernika: „Heute stehe ich hier als Deutsche, beschämt … die Bomben der Legion Condor töteten viele, viele Menschen, ein großes Verbrechen wurde hier begangen.“ Es war Petra Kelly, die bald darauf im Bundestag den Antrag auf eine Geste der Versöhnung stellte und vorschlug, ein Friedensforschungszentrum in Gernika zu finanzieren. Ein Antrag, der vergangenheits- und zukunftsbezogen war.

Das Zentrum, für das sich Petra Kelly eingesetzt hat, heißt Gernika Gogoratuz und entstand ohne irgendeine deutsche Hilfe. Über eine Forschungsgruppe sammelte es Lebensberichte von Zeugen und gab das Buch »Kollektives Gedächtnis der Bombardierung Gernikas« heraus. Dadurch erhielten die Überlebenden eine Stimme, und es entstanden Kontakte, die es Gernika Gogoratuz ermöglichten, das erste Treffen der Überlebenden zum 60. Jahrestag der Bombardierung am 27. April 1997 in ihrem Auftrag einzuberufen.

Der Deutsche Bundestag hat im November 1988 – nach der Initiative Petra Kellys – beschlossen, in Gernika als »Geste der Versöhnung« ein »angemessenes Projekt« zu finanzieren. Ein Beschluß, dessen Realisierung immer wieder blockiert und vertagt wurde. Im Oktober 1996 wurde schließlich im deutschen Parlament beschlossen, bis 1999 drei Millionen DM für die Teilfinanzierung einer Sporthalle in Gernika zur Verfügung zu stellen.

Wenn der Wahrheit ausgewichen wird – und dieses Empfinden hatten nicht nur die Überlebenden von Gernika, ist jede Reparationsleistung viel zu viel für den Geber und viel zu wenig für den Empfänger. In diesem Sinne hat das, was die Überlebenden von Deutschland erwarten, mehr mit Würde als mit der Tasche zu tun. Deshalb wandte sich Gernika Gogoturez mit einem Brief und dem Buch »Kollektive Erinnerungen« im Februar an den deutschen Bundespräsidenten. Dr. Roman Herzog griff den Vorschlag des Forschungszentrums auf. Beim Treffen der Überlebenden ließ er durch den deutschen Botschafter in Madrid einen Brief überreichen, in dem er klare Worte findet zur deutschen Schuld bei der Bombardierung, Trauer zeigt über das damit verursachte unsägliche Leiden und die Hand reicht mit der Bitte um Versöhnung.

Damit ist die geschichtliche Wahrheit nicht mehr hinter einem offiziellen Schweigen ausgesperrt. In der Vergangenheit liegt kein Hindernis mehr, für ein zukunftsorientiertes Friedensengagement. Diesem Friedensengagement diente auch die erste Jahresversammlung eines internationalen Netzwerkes zur Förderung von versöhnungsorientierten Prozessen, die einen Tag nach dem Treffen der Überlebenden von Gernika Gogoratuz einberufen wurde.

Organisationen und Personen aus 59 Ländern, darunter viele Deutsche, haben sich im »Netzwerk Gernika« – so der einstimmig beschlossene Name – zusammengeschlossen, um eine zukunfts- und versöhnungsorientierte Arbeit aufzubauen.

Gernika, baskische Schreibweise von Guernica.

Prof. Dr. Juan Gutierrez ist Leiter des Forschungszentrums Gernika Gogoratuz.

Bilder einer Ausstellung

Bilder einer Ausstellung

»Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 – 1944«

von Klaus Naumann

Nirgendwo ist die Diskussion über Macht und Militär so eng mit der spezifischen Geschichte dieses Jahrhunderts verquickt wie in Deutschland. Über Deutschlands Stellung in der Welt läßt sich in der Tat schlecht diskutieren, wenn dieser historische Zusammenhang ausgeblendet wird. Die aktuellen Auseinandersetzungen um die Rolle der Wehrmacht und der Militärjustiz, ausgelöst durch die Hamburger Ausstellung »Vernichtungskrieg«, aber auch die Bundestagsdebatten über die Rehabilitierung der Wehrmachtsdeserteure, haben diesen unlösbaren Kontext einmal mehr verdeutlicht. Es ging dabei auch um die Frage, ob eine »Herabsetzung« der Institution des Soldatentums nicht geeignet sei, auch heute die »Wehrkraft zu zersetzen«. Oder ob nicht Schuldgefühle evoziert würden, die der Wahrnehmung »normaler« deutscher Interessen- und Machtpolitik im Wege stünden. Ein Schlaglicht auf die Facetten dieser öffentlichen Aueinandersetzung wirft Klaus Naumann, der die Reaktionen auf die Wehrmachtsausstellung untersucht hat.

Die Ausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung »Vernichtungskrieg – Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944«1 hat seit dem Tag ihrer Eröffnung im März 1995 für Aufsehen und Diskussionen gesorgt. Der Umgang mit dem Thema ist wie kaum ein anderes geeignet, Aufschlüsse über eine der brisantesten Fragen der Zeitgeschichte zu gewähren: Wie stand es um die Verschränkung von »Volksgemeinschaft« und »Wehrgemeinschaft« im NS-Regime, und wie sehr waren die Millionen Soldaten direkt oder indirekt in die Völkermordaktionen des Vernichtungskrieges einbezogen. Die Diskussion berührt damit jene Frage, die kürzlich durch das Buch des amerikanischen Historikers Daniel Goldhagen erneut aufgeworfen wurde: Waren die Deutschen, zumal in ihrer Mehrheit, »Hitlers willige Vollstrecker«? Die Antwort auf diese Frage ist weder nur von historischem, geschweige denn nur von akademischem Interesse.

Jeder Versuch, die Geschichte der deutschen Wehrmacht und des deutschen Vernichtungskrieges zu thematisieren, mußte mit einer dreifachen Problematik rechnen.2 Zum einen gibt es einen Forschungsvorlauf, der jedoch öffentlich wenig rezipiert worden ist. Zum anderen ist das Thema noch immer von politischen Tabus umstellt und reicht vielfach in die bundesdeutsche Gegenwart hinein; sowohl Traditionsfragen der Bundeswehr, Militär-Missionen in Bosnien oder die Rehabilitierung der Wehrmacht-Deserteure stehen damit in engem Zusammenhang. Und schließlich bindet sich daran die Lebenserfahrung einer Generation, die nicht nur als Kriegsteilnehmer, sondern auch als »Aufbaugeneration« die Fundamente der Gegenwart gelegt hat. Das Thema berührt somit den „Nerv einer Generation“ (Erhard Eppler). Eine hochverdichtete Materie. Die Wander-Ausstellung mußte also auf heftige Reaktionen gefaßt sein. Doch die Ausstellung führte, anders als in Österreich,3 nicht zu einer politischen Skandalisierung.

Gespaltene Resonanzen

Die Verarbeitungsformen bundesdeutscher »politics of memory« sind differenzierter geworden. Die Wirkung der Ausstellung, die inzwischen an neun Orten gezeigt worden und noch bis 1998 ausgebucht ist, gleicht einem tektonischen Beben, nicht einer explosionsartigen Verpuffung. Erst ein Jahr nach Beginn der Schau liegen die ersten – sieht man einmal von den kampagnenorientierten und auf Denunziation berechneten Zirkularen à la Rüdiger Proske ab – inhaltlichen Auseinandersetzungen der Öffentlichkeit vor.4 Bis dahin, und noch immer, konzentrierte sich die Presseberichterstattung auf zustimmende Beiträge, lobende Erwähnungen oder neutrale Berichte. Daß mit der Ausstellung mehr in Gang gesetzt war, als kurzer Hand ein »letztes Tabu zu brechen«, signalisierten jedoch eine Vielzahl von Leserbriefen, die fast durchweg dem Tenor der offiziellen Medienberichte widersprachen. Doch dabei blieb es nicht. Auch auf politischer Ebene gab es – unterhalb der Skandal-Schwelle – widersprüchliche Reaktionen, die anzeigten, wie sehr die »hoheitliche« Wahrnehmung der Wehrmacht (als Korporation des »Reichs« und nicht des »Regimes«) noch die Maßstäbe staatspolitischer Repräsentation bestimmt. So wurde die Vergabe von Ausstellungsflächen in den Parlamentsgebäuden von Stuttgart und Wiesbaden verweigert. In Thüringen lehnte es der Parlamentspräsident ab, die Schirmherrschaft über die Erfurter Präsentation zu übernehmen, während der Kultusminister bei der Eröffnung zugegen war. Die Potsdamer Stadtverwaltung hielt es für »nicht opportun«, die Ausstellung ausgerechnet am 8.Mai 1995 zu eröffnen und setzte ein unverfängliches Datum durch, doch zur Eröffnung erschien der stellvertretende Kultusminister Brandenburgs.

Traditionsprobleme der Bundeswehr – ein Hintergrundgefecht um die Innere Führung

Ein besonderes Kapitel war die Reaktion der Bundeswehr. Die Thematisierung der Rolle der Wehrmacht im Vernichtungskrieg aktualisierte hier einen seit der »Wende« von 1982 (und länger) schwelenden Traditionsstreit. Zur Umsetzung des Traditionserlasses des letzten sozialdemokratischen Verteidigungsministers Hans Apel (September 1982) war es infolge des damaligen Regierungswechsels nicht mehr gekommen. Der Erlaß, der an die Stelle des mißglückten Traditionspapiers von 1965 treten sollte, verschwand in Manfred Wörners Ablage. Und selbst das Wörnersche Versprechen, den Apel-Erlaß zu überarbeiten, wurde nicht eingelöst. Die Reformer in der Bundeswehr, und indirekt auch die kritischen Militärhistoriker des bundeswehreigenen Militärgeschichtlichen Forschungsamtes (MGFA) in Freiburg (jetzt Potsdam), blieben auf einsamem Posten. Die Hamburger Ausstellung knüpfte an die Forschungsleistungen dieser Historiker an, radikalisierte aber deren Fragestellung und Methodik, indem sie das systematische und organisierte Zusammenwirken von Wehrmachtsführung und Truppe bei den Vernichtungsaktionen sowie den spezifischen Typus des »Vernichtungskrieges« in den Mittelpunkt stellte.5

Die Reaktion des Führungsstabs Streitkräfte (I 3) fiel differenziert aus. Ein Hintergrundmaterial informierte über Ausstellung und Forschungsstand. Die Thesen der Ausstellung fanden eine zwar kritische („pauschalisierende, radikale Sicht“), aber nicht frontal ablehnende Aufnahme („an den … aufgeführten Quellen ist wohl kaum zu zweifeln“ ). Aufschlußreich war eine indirekte Wirkung der Thematisierung. Die Auseinandersetzung mit der Ausstellung wurde seitens des Führungsstabs genutzt, gerade auch die kritischen Forschungsergebnisse des – in seinen Positionen gemischten – MGFA gegenüber der Truppe zu profilieren. Dieser Impuls fand im November 1995 in den Ausführungen des Verteidigungsministers Volker Rühe auf der Münchener Wehrkunde-Tagung zur Wehrmacht („als Institution kann sie .. keine Tradition begründen.“ ) einen Niederschlag.

Es zeugte jedoch nicht vom Rückhalt dieser Position innerhalb der Bundeswehr, wenn die Hardthöhe in der Folgezeit Bundeswehrangehörigen untersagte, in ihrer dienstlichen Funktion an Veranstaltungen im Zusammenhang der Wehrmacht-Ausstellung teilzunehmen.6 Wie widersprüchlich die Positionen die Truppe zur Traditionsrolle der Wehrmacht immer noch sind, belegte kürzlich eine Rede von Generalmajor Jürgen Reinhardt7, der den „kriegerischen Geist“ der deutschen Fallschirmjäger des Weltkriegs hervorhob, aber über die Belobigung militärischer Sekundärtugenden hinaus kein Wort zum historisch-politischen Kontext dieser militärischen »Glanzleistungen« zu finden vermochte. Deutlicher konnte nicht demonstriert werden, welches Gewicht die nachgewachsenen »Traditionalisten« und Kritiker der Inneren Führung immer noch haben.8

Perspektivwechsel der Forschung

Die Auseinandersetzungen um den systematischen Platz der Wehrmacht in der NS-Vernichtungspolitik spiegeln einen Perspektivwechsel in der Holocaustforschung, der sich seit einigen Jahren angebahnt hat. Abgesehen von den großen Arbeiten eines Raul Hilberg oder anderer Holocaust-Historiker konnte man bis in die letzten Jahre eine verkürzende Wahrnehmung der NS-Vernichtungspolitik beobachten. Die Differenziertheit der Vernichtungsprozesse, der Opfer- und vor allem der gesamtgesellschaftlichen Tätergruppen, wurde angesichts der starken Konzentration von Forschung und Öffentlichkeit auf den mit »Auschwitz« symbolhaft bezeichneten Kernprozeß in den Hintergrund gedrängt. Noch im Historikerstreit der Jahre 1986/87 war die von Andreas Hillgruber so emphatisch angesprochene Rolle der Wehrmacht im Osten in der Folgediskussion praktisch ausgeklammert oder auf ihre bloß gewährende Funktion reduziert worden.9

Erst in den letzten Jahren sind Arbeiten vorgelegt worden, die die Komplexität und Kontexte der Vernichtungspolitik (Dokumentationen zum »Generalplan Ost«; Götz Aly; Ulrich Herbert), die beteiligten Instutionen (z.B. Chirstopher Brownings Studie über das Polizeibatallion 101), die verschiedenen »Methoden« (z.B. Walter Manoschek über Geisel- und Massenerschießungen in Serbien) und damit auch die Vielfalt der beteiligten gesellschaftlichen Organisationen und Tätergruppen in den Blick nehmen. In diesem Kontext ist die Rolle der Wehrmacht – nach der wegweisenden Arbeit von Manfred Messerschmidt (1969) – wieder verstärkt beachtet worden. Nach den Debatten um den »Dämon Hitler«, den »Führerstaat«, um funktionalistische und intentionalistische Deutungsansätze steht nun über kurz oder lang eine neue Gesamtschau des NS-Regimes und seiner verbrecherischen Potentiale ins Haus. Eines zeichnet sich dabei ab, mag die Beweisführung eines Goldhagen auch zu holzschnittartig ausgefallen sein – die deutsche Bevölkerung war enger mit Regime und Vernichtung liiert als es die bisherige Sicht wahrhaben wollte. Die Massenorganisation Wehrmacht mit ihren 19 Millionen Angehörigen ist eine – und nicht die unwichtigste – Facette zu diesem Gesamtbild.

„Am Nerv einer Generation“ (Eppler)

Umso heftiger waren die Reaktionen aus den Reihen der Kriegsteilnehmer. Denn zur Debatte steht nicht nur die Überprüfung der lebengeschichtlichen Erfahrung und ihrer oft in unzähligen Privatgeschichten geronnenen Deutungen; zur Überprüfung stehen auch Fragen von Schuld und Verantwortung. Eben das brachte der Ausstellung seitens der FAZ den Vorwurf ein, hier sei ein „vagabundierendes Schuldempfinden“ am Werke. Nimmt man dieses polemische Diktum zu seinem Nennwert, ergibt sich eine der zentralen Problemstellungen jeglicher Aufarbeitung von NS-Vergangenheit: Wie sollen Schuld und Verantwortung in einem arbeitsteilig organisierten, zeitlich wie räumlich hochdifferenzierten Gesamtprozeß von Krieg, Raub und Vernichtung zurechenbar sein? Nicht die schnelle Zuweisung des Prädikats einer »verbrecherischen Organisation«, die der Ausstellung immer wieder fälschlich unterstellt wurde, führt aus dem Problembündel der »Makrokriminalität« (Herbert Jäger) hinaus, sondern nur die Frage danach, wie das Zusammenwirken von Individuen und Kollektiven im Rahmen von »Organisationsverbrechen« zu bewerten ist. Reinhart Koselleck hat diese allgemeine Fragestellung auf den individuellen Horizont zurückprojiziert, um die Differenz von Zeitzeugenschaft und Erfahrungsverarbeitung herauszuarbeiten: „Es gibt Kriegserinnerungen, die immer wieder neu gemacht werden müssen, weil die Primärerfahrungen nicht hinreichen, um die ganze Wahrheit zu verbürgen. Und immer neue Wahrheiten kommen hinzu: Insofern geht für meine Generation der Krieg nie zu Ende oder fängt immer wieder an, soweit sich alte Erfahrungen aufs neue abarbeiten müssen.“ 10

Genau dies war der kritische Punkt der breiten öffentlichen Resonanz auf die Ausstellung. Im Lichte der Leserbriefe, Eintragungen in die Gästebücher oder erregten Kontroversen zeichnete sich eine »gespaltene Erinnerung« (Elisabeth Domansky) ab. Während in den offiziellen Berichten die routinierte Rezeptionshaltung des deutschen »Gedächtnistheaters«11 (»Ende eines Tabus«) vorherrschte, verschaffte sich in den individuellen, privaten Reaktionen jenseits der Schlagzeilen eine andere Gefühlswelt Luft. Diese Reaktionen lassen sich in vier Aspekten zusammenfassen:12

  • Einen nach wie vor hohen Rang genießt das Argument, es sei nun endlich genug mit der »Nestbeschmutzung«, sei es aus grundsätzlichen Erwägungen, aus Gründen des zeitlichen Abstandes („wann machen wir endlich Schluß…? “ ), aus politischen Motiven („gerade jetzt, wo die Bundeswehr…“ ).
  • Eine prominente Form der Abwehr findet sich in Projektionen, die der Ausstellung eine verfehlte »Gewichtung« der – an sich offenbar unbestreitbaren – Tatsachen vorwerfen. Sie verweisen auf die »andere Seite« oder auf den »Krieg an sich«.
  • Ausgewichen wird in aller Regel dem Problem der »Organisationsverbrechen« und damit der anhängigen Frage kollektiver Tat, Haftung oder Verantwortung. Daß es dennoch so etwas gibt wie ein Bewußtsein von Täterkollektiven und Kollektivttaten, kommt in Zuweisungen zum Ausdruck, die zwischen verschiedenen Truppengattungen usw. differenzieren: SS kontra Wehrmacht, Front kontra Etappe, Führung kontra Mannschaften, Regelhandlungen kontra Ausnahmesituationen usw.
  • Auf der persönlichen Ebene dominieren starke Emotionen – Kränkung, Wut, Beleidigung, Verletzung, Vorwurf und Selbstmitleid. Der Generationsfaden zu den Nachgeborenen, die »nicht dabei« waren, aber »alles besser wissen«, scheint abgerissen.13 Der Kampf um die Erinnerung geht für die Kriegsteilnehmer in seine letzte Runde und gewinnt gerade deshalb seine besondere Schärfe: Was wird sein, wenn »wir« nicht mehr sind?

Tabubruch?

Wurde ein Tabu gebrochen? Die Antwort kann nicht eindeutig ausfallen. Eine vielfach gespaltene Erinnerung(spolitik) prägt die offiziellen, die öffentlichen und die privaten Reaktionen auf die Wehrmacht-Ausstellung. Die Thematisierungsschwelle ist deutlich abgesenkt worden. Politische Folgerungen, wie sie sich etwa in der Frage der Wehrmachtsjustiz bzw. der Wehrmacht-Deserteure symbolhaft zusammenfassen, lassen noch immer auf sich warten.

Anmerkungen

1) Vgl. als Begleitband Hannes Heer/Klaus Naumann (Hrsg.), Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944. Hamburg 2. Aufl. 1995; als Katalogband: Hamburger Institut für Sozialforschung (Hrsg.), Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944. Hamburg 1996. Zurück

2) Vgl. zum folgenden auch Klaus Naumann, Wenn ein Tabu bricht. Die Wehrmacht-Ausstellung in der Bundesrepublik, in: »Mittelweg 36«, 1/1996. Zurück

3) Vgl. Walter Manoschek, Die Wehrmachtsausstellung in Österreich. Ein Bericht, in: ebd. Zurück

4) Günther Gillessen, Zeugnisse eines vagabundierenden Schuldempfindens, in: FAZ, 6. Februar 1996, dazu kritisch Manfred Messerschmidt, Die Abwiegler, in: Süddeutsche Zeitung, 16. Februar 1996; ein Jahr zuvor hatte übrigens Wolfram Wette die Ausstellung positiv für die FAZ, 6. April 1995, besprochen; Marion Gräfin Dönhoff, Wider die Selbstgerechtigkeit der Nachgeborenen, in: Die Zeit, 8. März 1996, dazu die Zuschrift von Jan Philipp Reemtsma, ebd., 29. März 1996; Gerhard Kaiser, Aufklärung oder Denunziation?, in: Merkur 566, Mai 1996. Zurück

5) Vgl. den kritischen Forschungsbericht von Omer Bartov, Wem gehört die Geschichte? Wehrmacht und Geschichtswissenschaft, in: Heer/Naumann, a.a.O. Zurück

6) Betroffen war zunächst v.a. Brigadegeneral Winfried Vogel vom Streitkräfteamt Bonn, dem untersagt wurde, in dienstlicher Funktion die Einführungsrede zur Ausstellungseröffnung in Mönchengladbach zu halten. Vogel tat dies daraufhin als Privatperson. Zum Vorgang vgl. Michael J. Inacker, Proteste gegen »Horrorbild« einer verbrecherischen Wehrmacht. Eine Ausstellung zu »Verbrechen der Wehrmacht 1941-1944« beschäftigt nun auch Bundestag und Hardthöhe, in: Die Welt, 18. Februar 1996. Zurück

7) Vgl. Leistungen erbringen, die als unmöglich gelten. Eine bemerkenswerte Rede über Bundeswehr-Tradition, Elite und Fallschirmjäger, in: Welt am Sonntag, 14.April 1996. Zurück

8) Vgl. generell Detlef Bald, Militär und Gesellschaft. Die Bundeswehr in der Bonner Republik. Baden-Baden 1992. Zurück

9) Ausnahmen bildeten die Repliken von Micha Brumlik und Omer Bartov. Zurück

10) Reinhart Koselleck, Glühende Lava, zur Erinnerung geronnen. Vielerlei Abschied vom Kriegerfahrungen, die nicht austauschbar sind, in: FAZ, 6. Mai 1995. Zurück

11) Vgl. Elisabeth Domansky, Die gespaltene Erinnerung, in: Manuel Koeppen (Hrsg.), Kunst und Literatur nach Auschwitz. Berlin 1992, bes. S. 191f.; mit dem Modell des »Gedächtnistheaters« arbeitet auch das gleichnamige Buch von Y. Michael Bodesmann, Hamburg 1996. Zurück

12) Vgl. zum folgenden Naumann a.a.O., S.19ff. Zurück

13) Es ist freilich darauf hinzuweisen, daß sich in den begleitenden Interviews, die an vier Veranstaltungsorten (Berlin, Potsdam, Stuttgart und Wien) durchgeführt wurden, ein großes, oftmals geradezu erleichtertes Mitteilungsbedürfnis über lange beschwiegene Kriegserfahrungen äußerte. Zurück

Dr. Klaus Naumann, Historiker, Mitarbeiter des Hamburger Instituts für Sozialforschung

Sich an Auschwitz erinnern

Sich an Auschwitz erinnern

Gedanken eines Überlebenden

von Yaacov Ben-Chanan

Was Auschwitz – der Name steht im folgenden für alle Vernichtungsstätten im Hitlerreich – so einzigartig und so furchtbar machte, war der dort angestellte Versuch, den Menschen im Juden zu zerstören. Der Mensch sollte zur Laus gemacht werden. Und mit einem Gas gegen Läuse tötete man ihn dann auch. Nicht Hunger, nicht Zwangsarbeit, nicht Angst vor dem Tod war typisch für Auschwitz – es war dieser systematische Seelenmord.

Was konnten wir so tief Beschädigten mit der Freiheit anfangen, die 1945 endlich kam? Viele, die keinerlei Lebenskraft mehr hatten, sind in den ersten Wochen und Monaten nach der Befreiung einfach erloschen. Wir anderen, die diese erste Gefahrenzone durchstehen konnten, haben versucht, aus dem neu geschenkten Leben etwas zu machen. Den einen gelang es, andere blieben auf der Strecke, noch andere – nicht wenige! – haben sich, Jahrzehnte nach der Befreiung aus dem Lager, noch das Leben genommen.

Aber auch wenn man, allmählich und mit Hilfe vieler anderer Menschen, das Leben in den Griff bekam: aus dem Bannkreis von Auschwitz kam man damit nicht heraus. Denn unter all der äußeren Normalität, hinter aller bürgerlichen Ordnung und wirtschaftlichen Sicherheit, die man erreichen konnte, wenn man es nur richtig hatte anpacken können, blieben die eigentlichen Beschädigungen unberührt. Eines hatte mit dem anderen nichts zu tun. Die meisten von uns verblieben, der eine mehr, der andere weniger, in einem Doppelleben: ein Teil war hier, der andere immer noch in Auschwitz.

Das heißt aber: eine Gesundung im vollen Sinn war nicht möglich. Wer Auschwitz in sich weiterträgt, muß sich immerzu anstrengen, um die beiden Teile, die sein Selbst ausmachen, den Alltagsteil und den Auschwitzteil, soweit zusammenzuhalten, daß er sich selbst nicht zerreißt, nicht verrückt wird. Viel Kraft fließt dabei nutzlos ab; sie muß zur Balance des bestehenden Zustands verwendet werden, ohne daß man sie produktiv einsetzen kann.

Die gestörte Integrität des Menschen, der zu diesem Doppelleben gezwungen ist, weil die Erinnerung an Auschwitz ihn nicht losläßt, zeigt sich in vielen Störungen der Gesundheit von Körper und Seele, die ja ein Ganzes sind. Vor allem anderen steht die Angst; durch ein Objekt, durch menschliche Gesichter, durch Stimmen oder Geräusche ausgelöste und spontane Angst, die aus dem eigenen Inneren kommt. Die Angst geht in die Träume ein, Bilder von real Erlebtem und auch ganz verzerrte Angstbilder stören den Schlaf. Am Tage löst die Angst Konzentrationsstörungen aus, rasche Ermüdbarkeit und anhaltende innere Unruhe. Andauernde Angst und schlechter Schlaf bewirken wiederum körperliche Erkrankungen: Herzgefäßverkrampfungen, Muskelverspannungen, Rückenschäden, chronische Kopfschmerzen.

Das ist, für sehr viele Juden und Jüdinnen, bis heute die nach außen unsichtbare Innenseite des Lebens nach der Befreiung. Im Alter wird das keineswegs immer besser, es „wächst sich nicht aus“. Im Gegenteil: so lange ein Mensch jung und vital ist, hat er die Kraft, die er zum Verdrängen von quälenden Gefühlen oder Erinnerungen braucht. Mit den biologisch bedingten Rückbildungsprozessen im höheren Lebensalter aber läßt diese Energie normalerweise nach. Dann kann die Auschwitzseite des jüdischen Doppellebens die Übermacht gewinnen, und ein neues, Krankheitsbild entsteht, mit gesteigerter Angst und vertiefter Depression, mit erhöhter Selbstmordgefahr.

Ein Ausbruch aus dem Doppelleben könnte nur gelingen, wenn der aus Auschwitz gekommene und doch immer noch dort festgehaltene Mensch darüber sprechen könnte. Doch dazu würde ein außerordentlich großes Maß an Vertrauen zu einem Gesprächspartner gehören. Gerade die Fähigkeit, zu vertrauen, sich gar einem anderen anzuvertrauen, wurde jedoch in Auschwitz tief beschädigt, wenn nicht zerstört. So bleibt, auch in jeder Liebe oder Freundschaft, eine unsichtbare, aber spürbare Wand. Sie hält den Auschwitz-Menschen in einer unaufhebbaren Einsamkeit. Die Partner können nicht deuten, warum der geliebte Mensch sich so verhält; sie sehen nur die Symptome, nicht die Ursachen. Die eigenen Kinder können nicht deuten, was mit dem Vater oder der Mutter oder mit beiden los ist, sie spüren nur, daß da eine tiefe Störung ist, und diese ver-stört auch sie. Mit solchen Eltern kann man sich nicht streiten, nicht aggressiv gegen sie sein, d.h. aber: wichtige Reifungsprozesse nicht durchmachen. So beschädigt das Doppelleben des Nach-Auschwitz-Menschen alle Beteiligten – mehr oder weniger, ich wiederhole es immer wieder! – aber immer in einem Maße, das volle Freiheit fast unmöglich macht und oft nur ein eher seltenes und kurzes Glück erlaubt.

Wir Juden müssen alles daran setzen, Auschwitz hinter uns zu lassen, Auschwitz zu vergessen. Wir müssen die Herrschaft von Auschwitz über unsere Seelen zumindest so weit eingrenzen, daß es unser Leben und Denken so wenig wie möglich bestimmt. Wir müssen Auschwitz seelisch und intellektuell in den Griff bekommen, anstatt daß es uns im Griff behält und fortfährt, uns zu zerstören. Seelisch bekommen wir Auschwitz – wenn überhaupt – nur in den Griff, indem wir therapeutisch bearbeiten, was wir erlebt haben. Intellektuell bekommen wir es in den Griff, indem wir Auschwitz relativieren, d.h. einordnen in den geschichtlichen Zusammenhang, in den es gehört, und ihm damit seine mythologische Gewalt nehmen. Dazu gehört vor allem, daß wir, wenn wir aus einer assimilierten Tradition kommen, wie die meisten von uns, hinter die Barriere von Auschwitz zurückgehen und uns unser gesamtes jüdisches Erbe, 3000 Jahre einer großartigen Kultur, wieder anzueignen beginnen. Geistig aufrecht gehen kann nur, wer sich von einer langen und großen geistigen Tradition gehalten weiß.

Sich von Auschwitz her als Jude zu definieren, bedeutet, sich vom Tode her, vom ganz und gar Sinnlosen her zu definieren. Alles, was wir denken, träumen und als Juden tun, steht dann unter dem einzigen Motto: „Nie wieder Auschwitz!“ Der Wunsch ist natürlich berechtigt, aber er darf uns nicht beherrschen.

Verharren wir vor dieser ungeheuren Barriere der Erinnerung, verstellen wir uns nicht nur den Blick auf das Ganze unserer jüdischen Geschichte und Kultur, auf Freude und Glück des Jüdischsein. Auch die psychischen Konsequenzen sind dann verheerend. Das Verharren bei der Erinnerung an Auschwitz macht uns nicht nur krank, es macht uns auch friedensunfähig. Wir können dann auch politisch keinen Frieden finden, vor allem in Israel mit den Menschen, die dort mit uns auf dem gleichen Mutterboden wohnen und ein Recht auf ihn haben, wie wir auch. Wenn wir nicht in diesem Sinne Auschwitz zu vergessen lernen, bleibt uns nur die Alternative zwischen der totalen Assimilierung an die Umwelt und damit dem Untergang als Juden und einer ständigen Instrumentalisierung von Auschwitz, mit der wir auf andere bedrohlich werden und unsere Isolierung verewigen.

Dr. Yaacov Ben-Chanan ist Professor für jüdische Geschichte und Kultur an der Universität/GHS Kassel.

Gaskrieg, Völkerrecht, Geheimrüstung

Gaskrieg, Völkerrecht, Geheimrüstung

Zur Frage der Beschränkung von bakteriologischen und chemischen Waffen in der Zwischenkriegszeit

von Hartmut Stiller

Trotz der Haager Landkriegsordnung von 1899, in der sich einige Staaten dem Verbot unterwarfen, „Geschosse zu verwenden, deren einziger Zweck ist, erstickende oder giftige Gase zu verbreiten“1, kam es am 22. April 1915 an der deutsch-französischen Grenze zur Anwendung einer neuen, folgenreichen Waffe. Dieser Ersteinsatz der Gaswaffe von deutscher Seite setzte einen Rüstungswettlauf in Gang, dem fortan kein Einhalt mehr zu bieten war.

Die Kampfstoffe boten den Militärs, vor allem in ihrer Kombination mit der Luftwaffe, ungeahnte neue Möglichkeiten. Erstmals ließ sich wirksam die Zivilbevölkerung in das unmittelbare Kriegsgeschehen miteinbeziehen. Der Kriegsschauplatz verschob sich von der Front bis ins Hinterland hinein, dorthin, wo man das gegnerische Gebiet bislang nur mäßig anzugreifen in der Lage war.Bedenken aus humanitären Gründen wurden aus den militärischen Kreisen zerstreut. Gegenteilig bezeichnete man die neue Waffe als „human“, konnte man durch sie einen Krieg schneller beenden und somit unzählige Menschenleben retten. Man sah die Verletzungen durch Giftgase als weitaus weniger grausam an, als jene von Granaten, wodurch schließlich ganze Körperteile »abgerissen« würden. „Die Einatmung der Blausäure belästigt in keiner Weise. Man kann nicht angenehmer sterben.“2

Zudem räumte die Kriegsnotwendigkeit die letzten Zweifel an dem Einsatz chemischer Kampfstoffe vom Tisch. So schrieb Berthold von Deimling, in dessen Frontabschnitt bei Ypern das Kampfmittel erstmals auf dem Schlachtfeld erprobt wurde, rückblickend: „Aber durch das Giftgas konnte vielleicht Ypern zu Fall gebracht werden, konnte ein feldentscheidener Sieg errungen werden. Vor solch hohem Ziel mußten alle inneren Bedenken schweigen.“ 3

Doch auch die Schrecken dieser neuen Waffe steckten nach dem Weltkrieg noch allzusehr in den Köpfen der Menschen fest. So suchten die Politiker nach Kriegsende Möglichkeiten, die Gefahr eines Giftgaseinsatzes zu reduzieren.

Die Einschränkung des Einsatzes chemischer und bakteriologischer Waffen

Der Versailler Vertrag (1919)

Der am 28. Juni 1919 unterzeichnete Versailler Vertrag war u.a. ein Versuch der Siegermächte, die deutsche Aggressivität und Kriegsbereitschaft bis auf ein Minimum zu bändigen. Hierfür diktierten die Siegermächte dem »Kriegsschuldigen« ein Verbot der Luftwaffe, der Panzer, der schweren Artillerie und – der Gaswaffe. Der Artikel 171 geht darauf ausdrücklich ein: „Mit Rücksicht darauf, daß der Gebrauch von erstickenden, giftigen oder ähnlichen Gasen, sowie von allen derartigen Flüssigkeiten, Stoffen oder Verfahrensarten verboten ist, wird ihre Herstellung in Deutschland und ihre Einfuhr streng untersagt.

Dasselbe gilt für alles Material, das eigens für die Herstellung, die Aufbewahrung oder den Gebrauch der genannten Erzeugnisse oder Verfahrensarten bestimmt ist.“4

Im Unterschied zu der Haager Landkriegsordnung von 1899 strebte man nun eine Beschränkung des Bestandes in Form eines Verbotes der Herstellung und der Einfuhr chemischer Waffen sowie deren Voraussetzungen an, nicht nur deren Anwendung. Aber dieser neue Gedanke blieb ein auf Deutschland beschränkter Einzelfall.

Diese Bestimmung war das einzige rechtskräftige völkerrechtliche Übereinkommen, das ein Verbot der Herstellung von C-Waffen beinhaltete. Doch das einseitige Abrüstungsdiktat blieb nicht problemlos, es forderte den Widerstand der militärischen Kreise Deutschlands heraus.

Der Vertrag von Washington (1922)5

1922 rangen sich Frankreich, Italien, Japan, Großbritannien und die USA auf der Washingtoner Konferenz dazu durch, den Gebrauch erstickender, giftiger oder anderer Gase sowie aller ähnlichen Flüssigkeiten zu verbieten. Jedoch waren deren Herstellung sowie der Handel mit chemischen Waffen nicht in dieses Verbot einbezogen, ein Faktum, welches den Washingtoner Vertrag als einen Rückschritt ins Jahr 1899 degradierte.

Dieses Abkommen wurde zwar von den genannten Staaten unterschrieben, jedoch verweigerten die Franzosen die notwendige Ratifizierung. Damit scheiterte dieser Versuch, den Giftwaffeneinsatz einzuschränken.

Das Genfer Protokoll (1925)

Unterschrieben und ratifiziert wurde dagegen das sogenannte Genfer Gaskriegsprotokoll, dessen Unterzeichnung am 17. Juni 1925 auf amerikanische Initiative hin erfolgte. Das Deutsche Reich beteiligte sich ebenso wie Frankreich, Italien, Spanien und Großbritannien, um nur einige Staaten zu nennen.

Auszugsweise seien hier einige Stellen des Vertrages zitiert: „Die Hohen vertragsschließenden Parteien erkennen, soweit sie nicht schon Verträge geschlossen haben, die diese Verwendung untersagen, dieses Verbot an. Sie sind einverstanden, daß dieses Verbot auch auf die bakteriologischen Kampfmittel ausgedehnt wird, und kommen überein, sich untereinander an die Bestimmungen dieser Erklärung gebunden zu betrachten.“ 6

Ziel des Genfer Protokolls war es zudem, möglichst viele Staaten von der Notwendigkeit des Unterzeichnens zu überzeugen, was ihnen bis heute auch gelang.7

Erstmals wurden hier auch die B-Waffen in das Verbot mit einbezogen. B-Waffen teilen sich in biologische und bakteriologische Waffen auf. Biologische Stoffe werden zur Schädlingsbekämpfung eingesetzt und sind daher auch weitgehend erlaubt.

Das Genfer Gaskriegsprotokoll hatte aber wiederum den Nachteil, daß es die Herstellung entsprechender Stoffe nicht verbot, lediglich deren Ersteinsatz ächtete. Eine »defensive Vorbereitung« blieb also weiterhin möglich.

Erst durch die Abkopplung von den C-Waffen konnten die Staaten am 16. Dezember 1971 eine Übereinstimmung über ein Verbot der Entwicklung, Herstellung und Lagerung bakteriologischer (biologischer) Waffen (sowie deren Vernichtung) erzielen.

Die Geheimrüstung in der Weimarer Republik (1919 – 1933)

In einem Schreiben vom 6. Dezember 1926 an den Reichswehrminister Geßler sprachen die sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten Hermann Müller-Franken und Otto Wels bedenkliche Aktionen der Reichswehr an: Die »Gefu« (Gesellschaft zur Förderung gewerblicher Unternehmungen m.b.H.8) habe „der chemischen Fabrik Dr. Hugo Stoltzenberg (…) den Auftrag gegeben, in Trozk, Gouvernement Samara (Rußland) eine Fabrik zur Erzeugung von Kriegsgiftgasen einzurichten. Diese Einrichtung erfolgte in den Jahren 1923 bis 1926. Die Fabrik gliedert sich in folgende Abteilungen: Chlorerzeugung, CO-Erzeugung, Phosgen-Erzeugung und Lost-Erzeugung.“ 9

Diese bedenklichen Betätigungen der Reichswehr reichten bis in das Jahr 1919 zurück. Allgemeine Empörung über die strengen Bestimmungen des Versailler Vertrages, vor allem über das Diktat der einseitigen Abrüstung, die »Verlockungen« der »neuen Waffe« und schließlich der Einzug der Franzosen in das Ruhrgebiet (1923) bekräftigten die unzufriedenen Kreise im Deutschen Reich darin, daß man das Hintergehen der Vorschriften als legitime Notwehr ansehen könnte. Da die Siegermächte nicht zur eigenen chemischen Abrüstung bereit waren, spukte die eigene Machtlosigkeit bei einem feindlichem Angriff um so heftiger in den Köpfen des Militärs herum. Die daraus gezogene Rechtfertigung, sich schützen zu dürfen, beinhaltete bald die Legitimation, dies auch mit eigenen Waffen zu tun. Die Militärs strebten daher nach einer engeren Zusammenarbeit mit der Wissenschaft. Durch die Fortentwicklung der chemischen Waffe erhoffte sich die Reichswehr zudem, den Mangel an konventioneller Rüstung ausgleichen zu können.

Durch taktisches Geschick gelang es, beachtliche Bestände aus dem Ersten Weltkrieg zu retten. In Breloh bei Munster, wo die Restbestände von fertigen und halbfertigen Gaskampfstoffen unter Aufsicht der Alliierten zusammengetragen wurden, kam es am 24. Oktober 1919 zu einer folgenreichen Explosion in einer der drei Breloher Fabriken. In den darauffolgenden Jahren mußten Aufräumarbeiten angeordnet werden, von denen man die alliierten Kontrollkommissionen mit dem Hinweis auf den hohen Zerstörungsgrad und den Gefahren vor Ort gezielt fernzuhalten verstand.

Langjähriger Leiter der Aufräumungsarbeiten in Breloh war Dr. Hugo Stoltzenberg, der in den folgenden Jahren darum bemüht war, mit der bereitwilligen Unterstützung der militärischen Stellen einen erneuten Aufbau einer fabrikatorischen Basis für Gaskampfstoffe zu erreichen. Dieser Neuaufbau wurde notwendig, da der ehemalige Produzent, der IG-Farben-Konzern, unter internationaler Kontrolle stand und die alten Anlagen hauptsächlich im entmilitarisierten Rheinland angesiedelt waren.

Während die Bemühungen der US-Regierung 1925 zur Unterzeichnung des Genfer Gaskriegsprotokolls führten, zwang die reale Politik dem Ganzen groteske Züge ab: In Marokko tobte der erste aero-chemische Krieg der Spanier gegen die Rif-Kabylen.10 Seit 1921 nahmen dort die Aufstände der Einwohner kriegerische Ausmaße an. Da die Spanier, die sich mit Frankreich das Protektorat teilten, gegen die engagierte Kampfkraft der Aufständischen kaum über wirksame Mittel verfügten, griffen sie schon bald mit der »neuen Wunderwaffe« an. Zunächst ließen sie sich »harmlosere« Kampfstoffe wie Tränengas und Nasenreizstoffe aus Frankreich liefern, doch hatte Frankreich bei der Produktion vom weitaus stärker wirkendem Lost erhebliche Probleme. Daher war Spanien auf der Suche nach einem neuen Handelspartner und fand diesen sehr bereitwillig im Deutschen Reich. Stoltzenbergs Fabrik wurde am 10. Juni 1922 dazu verpflichtet, in Spanien eine Fabrik zu bauen, die täglich mindestens eine Tonne Lost, 1,5 Tonnen Phosgen und 1,25 Tonnen Dick produzieren sollte. Bis die Fabrik fertiggestellt war, überbrückte Stoltzenberg den Giftgasbedarf durch umfangreiche Lieferungen aus eigener Herstellung.

Als weiteren ausländischen Partner fand die Reichswehr die sowjetische Regierung. Da eine Kampfstoffproduktion im Reich stets die Gefahr beinhaltete, daß die alliierten Kontrollkommissionen davon Wind bekämen, gleichzeitig auch ein erneuter Vorstoß nach Mitteldeutschland spätestens seit der Ruhrbesetzung nicht mehr auszuschließen war, versuchte man die deutsche Kampfstofferprobung und -herstellung den Eingriffsmöglichkeiten der Entente zu entziehen. Die Russen waren der ideale Partner, da sie nur über ein geringes technisches »Know-how« in der Waffentechnik verfügten, dafür aber genügend Naturschätze besaßen. Hier konnte man sich hervorragend ergänzen, besaß man in Deutschland schließlich ausreichend viele Wissenschaftler und technische Geräte. Allein durch diese Aktivitäten wäre die Reichswehr im Kriegsfalle in der Lage gewesen, ihren legalen Bestand konventioneller Artilleriemunition um mehr als das Doppelte mit Giftgasgranaten aus russischer Fabrikation vermehren zu können.

Trotz vieler Schwierigkeiten, die an dieser Stelle nicht näher erläutern werden können, blieb diese »Beziehung« mit Rußland bis ins Jahr 1933 bestehen; erst Hitler kündigte aus politisch-ideologischen Beweggründen die russisch-deutsche Zusammenarbeit.

Diese lange Zusammenarbeit ist deshalb interessant, da Stoltzenbergs Aktivitäten in Rußland 1926 in einer großangelegten Pressekampagne bloßgelegt wurden, was sogar den Sturz der Regierung Marx mitauslöste. Die Reichswehr trennte sich zwar von Stoltzenberg, setzte aber in enger Kooperation mit der Großchemie ihre Aktivitäten in Rußland fort.

Anfang der 30er Jahre erschien eine große Anzahl von Texten und Materialien im Deutschen Reich, die den Gaskrieg vermehrt in das Bewußtsein der Bevölkerung bringen sollte. Eines der wesentlichen Ziele war es, die Bevölkerung über einen potentiell bevorstehenden Gaskrieg zu informieren und entsprechende Rettungsmaßnahmen vorzubereiten (z.B. Ausbildung von Sanitätern etc.). Dabei wurde dem Bürger das Bild eines völlig wehrlosen Deutschland vermittelt, welches ohne Gasschutz kaum einen feindlichen Angriff mit Kampfstoffen überstehen könne. Dadurch erreichte man taktisch geschickt eine allgemeine Besorgnis und daraus folgend das Einverständnis der Menschen, sich verstärkt um Schutzmöglichkeiten zu bemühen. Im Zuge des staatlich geförderten Ausbaus des Luftschutzes, der nach dem Luftfahrtsabkommen vom 24.5.1926 auch den Deutschen erlaubt war, wurde zu diesem Zweck die »Deutsche Luftschutzliga e.V.« gegründet.

Der erfolglose Kampf der Gaskriegsgegner

Ich sah im Traum von Militär-
flugzeugen ein dichtes Gewimmel.
Sie stiegen auf, mehr, mehr, immer mehr.
Sie verfinsterten Sonne und Himmel.
Sie führten mit sich, in meinem Traum,
Giftbomben und ähnlichen Segen.
Mit denen wollten im feindlichen Raum
Sie eine Großstadt belegen.
Sie ordneten sich, die todbringende Schar,
In schwierigstem Wenden und Drehen.
Der Giftangriff sollte offenbar
In kunstvollster Form geschehen.
Und sieh, als endlich die ganze Wehr
Aufstieg zur Abendröte.
Erschien, gebildet aus Militär-
flugzeugen, am Himmel Goethe.

Dieses Gedicht »Deutschland 1932« von Lion Feuchtwanger, das einen Gasangriff aus der Luft auf eine Großstadt behandelt, erschien 1932 in der Zeitschrift »Die Weltbühne«. Es spiegelt die Angst vor einem neuen Zukunftskrieg wieder, einem Zukunftskrieg, der vorwiegend aus Gasangriffen aus Flugzeugen auf die Zivilbevölkerung bestehen sollte. Diese Vorstellung bewegte den »Mann auf der Straße« auf das heftigste, schließlich waren den meisten Menschen noch die Schrecken des Ersten Weltkrieges präsent.

Noch unter den direkten Erfahrungen aus den Kriegsjahren erklärte der Völkerbund 1920, daß die Anwendung von Kampfgasen der Haager Landkriegsordnung und damit auch dem Völkerrecht widerspreche. Eifrig wurde daher geprüft, ob ein Appell an die Wissenschaftler aller Länder, ihre Forschungen über giftige Gase und ähnliche Fragen zu veröffentlichen, um die Möglichkeiten des Gebrauchs solcher Waffen in einem zukünftigen Krieg zu vermindern, Erfolg versprechen würde.

Bereits 1922 kam man wieder davon ab und errichtete statt dessen einen Spezialausschuß, der sich über die möglichen Folgen eines Einsatzes chemischer Waffen informieren sollte.

Dessen Bericht wurde Gegenstand der Debatten in der Versammlung des Jahres 1924. „Die Versammlung forderte den Rat auf, für eine möglichst große Verbreitung und Publizität dieses Berichtes zu sorgen. Der Rat hat sich jedoch weiterer Maßnahmen zu dieser Frage enthalten, weil er der Auffassung war, daß die feierliche Resolution der Versammlung schon Publizität genug bedeute.“ 11

Nach 1924 wurde dieses Problem nicht mehr oder nur am Rande auf den offiziellen Sitzungen des Völkerbundes behandelt.

Erst in den 30er Jahren wurde er anläßlich einiger Verletzungen der Verbote wieder damit konfrontiert, z.B. während des japanisch-chinesischen Krieges (1932-1938). Auch Italien wendete während seines Krieges gegen Äthiopien Giftwaffen an (1936).

Seit dem Weltkrieg richteten sich dagegen viele Organisationen gegen die chemischen Waffen. Das Internationale Rote Kreuz appellierte schon während des Krieges an die kriegführenden Parteien und später an den Völkerbund, den Einsatz von erstickenden Gasen zu verbieten.

Am 10. bis 15. Dezember 1922 fand in Haag ein Weltfriedenskongreß statt, der gemeinsam vom Internationalen Gewerkschaftsbund und einigen pazifistischen Gruppen organisiert wurde und in dessem Verlauf der Beschluß gefaßt wurde, daß man alles tun müsse, um die Fabrikation und den Transport von Kriegspotential zu verhindern. Edo Flimmen, der damalige Sekretär der Amsterdamer Internationale, erklärt später: „Die Mobilmachung gegen einen Krieg muß mit derselben Präzision organisiert werden können wie die Mobilmachung, die 1914 die Länder in Heerlager verwandelte. (…) Wenn die Regierungen mit Krieg drohen, müssen die Arbeiter die chemischen Fabriken, in denen die tödlichen modernen Waffen hergestellt werden, verlassen; die Eisenbahner müssen den Transport der Truppen verweigern, die Bergleute keine Kohlen für die Rüstungsindustrie liefern. Die Führer in jedem Lande müssen sich über die konkreten Maßnahmen Klarheit verschaffen, die im Falle eines drohenden Krieges zu ergreifen sind, sie müssen verstehen, daß die Träger des Widerstandes gegen den Krieg nicht die Parlamente sein können, sondern die organisierte Masse selbst. (…)“ 12

Die Widerstandsorganisationen forderten also eine öffentliche Kontrolle der Rüstungsindustrie. Wenngleich diese Ideen Illusionen waren, da die Arbeiter unter einem zu großen Druck standen, um einen derartigen Generalstreik durchzuführen, und die breite Masse der hochqualifizierten Wissenschaftler und Ingenieure kaum für die Friedensbewegung zu gewinnen waren, wenngleich diese Forderungen also kaum durchführbar waren, so wurden hier erstmals die Kampfmittel der Arbeiterschaft, die Arbeitsverweigerung und der Generalstreik, in die Überlegungen der Friedensbewegung einbezogen.

Ein Beispiel für besonderes Engagement auf Seiten der Giftgasgegner war Gertrud Woker13, eine Schweizer Chemikerin, die dazu überging, zahlreiche eindrucksvolle Initiativen zur systematischen Aufklärung über die Gefahren von chemischen Kriegswaffen ins Leben zu rufen. In vielen Aufsätzen, mit Flugzetteln, Büchern und Vorträgen trat sie den allzu durchsichtigen Argumenten der Giftgaspropagandisten entgegen und bewies mit Hilfe ihrer fachlichen Kompetenz, daß Gasverletzungen nicht so harmlos seien, wie oft behauptet, sondern im Gegenteil recht qualvoll.

Ihr Ziel beschrieb sie einmal selbst folgendermaßen: „Ein kleines Buch – Onkel Toms Hütte – hat einmal Tausenden von Negersklaven die Freiheit gegeben. Warum sollte es nicht auch möglich sein, die Sklaven des Militarismus zu befreien durch weiter nichts als der Darstellung von Tatsachen – ganz alltägliche Tatsachen aus der modernen Kriegsführung.“ 14

Gertrud Woker war Mitvorsitzende des schweizer Zweiges der »Internationalen Frauenliga für Forschung und Freiheit«, einer Initiative, welche international zu einer systematischen Aufklärung über die Gefahren der chemischen Kriegswaffen beitragen wollte.

Als die Reichsregierung15 zusammen mit dem »Reichsverband Deutscher Industrieller« 1926 die »Deutsche Luftschutzliga e.V.« gründete, bildete sich als deren Gegenpol die pazifistisch ausgerichtete Anti-Gaskriegsbewegung. Sie glaubte an keine Schutzmöglichkeiten in einem zukünftigen Krieg und kämpfte daher für eine Abrüstung und ein generelles Verbot von Kriegen. Das Desinteresse in der Bevölkerung aber wuchs immer mehr, je weiter die schrecklichen Erlebnisse des Weltkrieges zurücklagen. Die Friedensbewegungen erreichten nur einen Teil der Bevölkerung und hatten kaum Rückhalt in ihr.

Hinzu kam, daß ihre Argumente oft wirklichkeitsfremd waren. Es war kaum möglich, Chemiker und Ingenieure für die Friedensbewegung zu gewinnen. Die ausführenden Arbeiter ihrerseits standen unter einem zu großen Druck, als daß sie gegen ihre Vorgesetzten Stellung beziehen konnten. Kritiklos übernahm man Kriegsbilder von den Gaskriegsbefürwortern, wie zum Beispiel die Theorie, daß in zukünftigen Konflikten die großen Massenheere aufgelöst würden.16 Zwischen den einzelnen Organisationen mangelte es an ausreichender Koordination und somit an Effektivität. Selbst große Kongresse konnten keine bleibenden Erfolge verbuchen.

Die offizielle Propaganda hatte zudem den Vorteil, über größere finanzielle Mittel verfügen zu können, was nicht gerade unerheblich zu deren Erfolg beitrug.

Außerdem brachte die Panikmache der Friedensbewegung ein weiteres Problem mit sich: das allzu extreme Schildern grauenhafter Giftgasangriffe und sonstiger Kriegsbilder konnte die Bevölkerung dermaßen verunsichern, daß sie erst recht der schutzanbietenden »Luftschutzliga« in die Arme flüchteten. Somit spielte die Friedensbewegung dem Militär sogar ungewollt die Trümpfe zu.

Schluss

Spanien, die Sowjetunion, Italien, Jugoslawien, Japan, China, die Türkei, Rumänien, Schweden, Brasilien … – die Liste der Staaten, die allein von Deutschland nach 1923 mit chemischen Kampfstoffen beliefert wurden, ließe sich noch unschwer fortsetzen. All dies geschah selbstverständlich »geheim« und trotz alliierter Kontrolle. Waren die Auflagen gegenüber dem Deutschen Reich nicht umfassend genug oder zeigten die Siegermächte sich tolerant gegen die Verstöße? Bestraft wurde das Deutsche Reich nicht, obwohl die Aktivitäten auf verbotenem Gebiet spätestens 1923 und 1926 durch Enthüllungen und Skandale, welche in den Medien verbreitet wurden, an die Öffentlichkeit drangen.

War England als Vertreter der »Balance-of-Power-Politik« in Sorge, daß Frankreich nach der Ruhrbesetzung weiter seine Macht ausbauen könnte? Tolerierte es die Tätigkeiten der Reichswehr, damit Deutschland nicht von seinem Nachbarn »zerdrückt« würde und eine Verschiebung des internationalen Kräftegleichgewichtes entstünde?

Da Frankreich sich mit Spanien das Protektorat in Marokko teilte, liegt es nahe, daß es über die deutschen Giftgaslieferungen informiert war. Nach den Locarner Verträgen herrschte jedoch eine Entspannungsphase zwischen Frankreich und seinem östlichen Nachbarn. Man fing an, das Deutsche Reich zumindest zu akzeptieren und genoß die Aussöhnung mit dem ehemaligen Erzfeind. Wollte man daher einen erneuten Bruch mit Deutschland vermeiden, indem man schwieg?

Ein Problem war sicherlich, daß man, im eigenen Land selbst Kampfstoffe produzierend, den Deutschen gestatten mußte, Schutzmaßnahmen gegen Gaswaffen durchzuführen, was im Pariser Luftfahrtsabkommen 1926 auch geschah. Wenn man sich schützen möchte, muß man jedoch wissen, welche Gefahr drohen könnte. Daraus folgt, daß eine Forschung nach Kampfstoffen durchgeführt werden muß. Von dieser Überlegung aus fehlt nur ein kleiner Schritt, um als mögliches Abwehrmittel die Abschreckung durch genügend Angriffspotential anzusehen – ein verzwickter Teufelskreis, der die Grenze zwischen Schutz und Angriff verschwimmen läßt.

Die Frage nach dem WARUM muß jedoch auch nach innen gelenkt werden, denn auch die deutschen Politiker zogen kaum Konsequenzen aus den Enthüllungen und Skandalen. Es folgte keine verstärkte Kontrolle über die Reichswehr, man fühlte eher mit dem eigenen Militär als mit Staaten, die selber aufrüsteten. Die deutschen Politiker, über die Bestimmungen des Versailler Vertrages nicht gerade glücklich, strebten zum großen Teil nach einer Gleichberechtigung mit den anderen Staaten.

Die Anti-Gaskriegsbewegung kämpfte unerbittlich gegen die Gefahr eines Gaskrieges, jedoch wenig effektiv. Das Militär verstand es sogar, deren Horrorbilder und Schreckensszenarien sich zunutze zu machen.

Die Gaswaffe schien in den Köpfen der Menschen weithin akzeptiert zu sein. Zu große Möglichkeiten boten sich durch deren Besitz. Es fiel den Militärs sehr schwer, eine bereits vorhandene Waffe wieder verschwinden zu lassen.

Gegen die starke Lobby der für die Wirtschaft eines Landes notwendigen Industrie und der Militärs, welche die Gaswaffen für strategisch bedeutsam erklärten, konnten sich die Gegner kaum durchsetzen.

Ein Beispiel bildet die USA: Dort sprachen sich alle Präsidenten, von Wilson, Harding, über Hoover bis Roosevelt gegen die Vorbereitungen auf einen eventuellen Gaskrieg aus. Die Kritik und der Druck der Befürworter wuchs aber dermaßen (schon 1922 bei der Washingtoner Konferenz), daß die Präsidenten und der Senat dem nicht standhielten. So ratifizierte man das Genfer Gaskriegsprotokoll nicht und gestand den Gaswaffenbefürwortern zu, zumindest für die »defensive« Rüstung produzieren zu dürfen.

Ein erneuter Versuch wurde am 13. Januar 1993 durch die Unterzeichnung einer internationalen Giftwaffen-Konvention in Den Haag unternommen. Jedoch muß sich die Wirksamkeit der »Organisation für das Verbot chemischer Waffen« erst noch erweisen. Allein die Ratifizierung des Vertrages, an dem sich 159 Staaten beteiligten (nicht aber der Irak!), erweist sich als schwierig. Chemische Offensivwaffen dürfen nicht produziert werden, eine »defensive« Forschung bleibt aber erlaubt. Als Problem stellt sich auch die Tatsache dar, daß viele Substanzen sowohl für den militärischen Gebrauch als auch für zivile Gebrauchsgüter notwendig sind. Die umfangreichen Kontrollen lassen hoffen, jedoch wird uns erst die Zeit zeigen können, inwieweit sie effektiv genug sind.

Literatur

AKTEN der Reichskanzlei. Weimarer Republik. Kab. Marx III. und IV.

Bothe, Michael, Das völkerrechtliche Verbot des Einsatzes chemischer und bakteriologischer Waffen. Köln/Bonn 1973.

Brauch, Hans Günter, Der chemische Alptraum oder gibt es einen C-Waffen-Krieg in Europa. Berlin/Bonn 1982.

Brauch, Hans Günter, Müller, Rolf-Dieter, Chemische Kriegsführung – Chemische Abrüstung. Dokumente und Kommentare. Berlin 1985.

Delbrück, Jost (Hrsg.), Friedensdokumente aus fünf Jahrhunderten. Abrüstung. Kriegsverhütung. Rüstungskontrolle. 2. Bd., Kehl, Straßburg, Arlington 1984.

Feuchtwanger, Lion, Deutschland 1932, in: Die Weltbühne, 1932, S. 960.

Groehler, Olaf, Der lautlose Tod. Einsatz und Entwicklung deutscher Giftgase von 1914 bis 1945. (Ost-) Berlin 1978.

Haber, Fritz, Aus Leben und Beruf. Aufsätze. Reden. Vorträge. Berlin 1927.

Haber, Fritz, Fünf Vorträge aus den Jahren 1920 – 1923. Berlin 1924.

Harris, Robert, Paxmann, Leremy, Eine höhere Form des Tötens. Die geheime Geschichte der B- und C-Waffen (engl. Titel: A Higher Form of Killing). Aus dem engl. übersetzt von Gernot Barschke. Düsseldorf/Wien 1983.

Kunz, Rudibert, Müller, Rolf-Dieter, Giftgas gegen Abd el Krim. Deutschland, Spanien und der Gaskrieg in Spanisch-Marokko 1922-1927. Freiburg 1990.

Messerschmidt, Manfred, Kriegstechnologie und humanitäres Völkerrecht in der Zeit der Weltkriege, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 41, 1987.

Müller, Rolf-Dieter, Die chemische Geheimrüstung in der Weimarer Republik, in: Lehren aus der Geschichte? Historische Friedensforschung. Frankfurt/M. 1990, S. 232-249.

Müller, Rolf-Dieter, Die deutschen Gaskriegsvorbereitungen 1919-1945. Mit Giftgas zur Weltmacht? in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 1, 1980.

Müller, Rolf-Dieter, Das Tor zur Weltmacht. Die Bedeutung der Sowjetunion für die deutsche Wirtschafts- und Rüstungspolitik zwischen den Weltkriegen. Herausgegeben vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt durch Othmar Hackl und Manfred Messerschmidt. Boppard a.R. 1984.

Resolution – und nicht mehr? in: Die Weltbühne, 1. Hj. 1927, S. 931f.

Riesenberger, Dieter, Der Kampf gegen den Gaskrieg, in: Lehren aus der Geschichte? Historische Friedensforschung. Frankfurt/M. 1990, S. 250-275.

Schütz, Hans-Joachim, Beschränkung von B- und C-Waffen und anderen Massenvernichtungsmitteln, in: Jost Delbrück (Hrsg.), Friedensdokumente aus fünf Jahrhunderten. Abrüstung, Kriegsverhütung, Rüstungskontrolle. 2. Bd., Kehl, Straßburg, Arlington 1984, S. 829-844.

Sondernummer: Gas, in: Die Weltbühne 1931, S. 439f.

Woker, Gertrud, Ihre autobiographische Skizze in: Elga Kern (Hrsg.), Die führenden Frauen Europas. München 1928, S. 138-169.

Woker, Gertrud, Der kommende Giftgaskrieg (= Kultur- und Zeitfragen. Eine Schriftenreihe herausgegeben von Louis Satow. Heft 18). Im Auftrage der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit. Leipzig 1925.

Anmerkungen

1) Die Übersetzung des französischen Textes findet sich auszugsweise bei: Hans-Joachim Schütz, Beschränkung von B- und C-Waffen und anderen Massenvernichtungsmitteln, in: Jost Delbrück (Hrsg.), Friedensdokumente aus fünf Jahrhunderten. Abrüstung, Kriegsverhütung, Rüstungskontrolle. 2. Bd., Kehl, Straßburg, Arlington 1984, S. 845. Zurück

2) Zitiert nach Fritz Haber, Zur Geschichte des Gaskrieges. Vortrag, gehalten vor dem parlamentarischen Untersuchungsausschuß des Deutschen Reichstages am 1. Oktober 1923, in: Fritz Haber, Fünf Vorträge aus den Jahren 1920-1923, Berlin 1924, S. 81. Zurück

3) Vgl. Berthold von Deimling, Aus der alten in die neue Zeit. Berlin 1930, S. 201, in: Hans Günter Brauch, Rolf Dieter Müller, Chemische Kriegsführung – Chemische Abrüstung. Dokumente und Kommentare. Berlin 1985, S. 84. General der Infanterie Bertold von Deimling (1853-1944) wurde später zu einem entschiedenen Gegner des Krieges und Repräsentanten der pazifistischen Bewegung in der Weimarer Republik. Zurück

4) Zitiert nach: Rudibert Kunz, Rolf-Dieter Müller, Giftgas gegen Abd el Krim. Deutschland, Spanien und der Gaskrieg in Spanisch-Marokko 1922-1927. Freiburg 1990. Zurück

5) Vgl. zu diesem Kapitel auch: Hans-Joachim Schütz, Beschränkung von B- und C-Waffen und anderen Massenvernichtungsmitteln, in: Jost Delbrück (Hrsg.), Friedensdokumente aus fünf Jahrhunderten. Abrüstung, Kriegsverhütung. Rüstungskontrolle. 2. Bd., S. 829-844. Zurück

6) Zitiert nach: Jost Delbrück (s. vorhergehende Anm.), S. 845 f. Zurück

7) Hans-Joachim Schütz zählt allein bis 1984 110 Staaten auf (Hans-Joachim Schütz, Beschränkung, S. 849f.). Zurück

8) Ihre Betätigung bestand in der Einrichtung von „Rüstungsindustrie in Rußland, indem deutsche Firmen dieser Branche zur Einrichtung derartiger Unternehmungen in Rußland veranlaßt“ wurden. Zurück

9) Vgl. Akten der Reichskanzlei. Weimarer Republik. KAB. Marx III und IV Dok. Nr. 138. Zurück

10) Vgl. Rudibert Kunz und Rolf-Dieter Müller, Giftgas gegen Abd el Krim. Deutschland, Spanien und der Gaskrieg in Spanisch-Marokko 1922-1927, Freiburg 1990. Zurück

11) Michael Bothe, Das völkerrechtliche Verbot des …, S. 96. Zurück

12) zitiert nach: Resolution – und nicht mehr? in: Die Weltbühne, 1. Hj., 1927, S. 931 f. Zurück

13) Vgl. Elga Kern (Hrsg.), Führende Frauen Europas, S. 138-169. Zurück

14) Ebda. S. 168. Zurück

15) Reichswehr und Innenministerium Zurück

16) Vgl. hierzu Riesenberger, Der Kampf gegen…, S. 268f. Zurück

Hartmut Stiller studiert Geschichte und Germanistik in Freiburg.

Zukunft der Atomrüstung

Zukunft der Atomrüstung

Vor 50 Jahren sprengte sich die Atomwaffe in das Bewußtsein der Welt

von Richard L. Garwin

Der 8. Mai, an dem sich das Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa zum 50. Mal jährte, liegt gerade hinter uns, doch ich werde hier sprechen, weil das Jahr 1945 auch der Beginn des militärischen Atomzeitalters gewesen ist. Der erste der beiden einzigen Atomsprengsätze, die bisher in einem Krieg eingesetzt wurden, sprengte sich am 6. August 1945 mit einer Explosivkraft von 20.000 Tonnen TNT in das Bewußtsein der Welt. Er tötete mindestens 50.000 Menschen. Drei Tage später vernichtete eine Atombombe von vergleichbarer Stärke Nagasaki. Abgesehen von ein paar Hundert Mitarbeitern des Manhattan-Projekts, hatte zu diesem Zeitpunkt niemand in den USA erfahren, daß wenige Wochen zuvor, am 16. Juli, der Zwilling der Nagasaki-Bombe beim »Trinity«-Test in der Wüste von New Mexico gezündet worden war. Nach Nagasaki gab es vorerst keine einzige Atomwaffe mehr auf der Welt.

Am 14. August, weniger als eine Woche nach der Zerstörung von Nagasaki, verkündete der Kaiser von Japan in einer Radioansprache seine Entscheidung zu kapitulieren. Damit war der Zweite Weltkrieg endgültig zu Ende.

Noch im gleichen Monat erschien der vom Kommandanten des Manhattan-Projekts, General Leslie C. Groves, in Auftrag gegebene »Smyth Report«, der zahlreiche Informationen über die Konstruktion und die technischen Voraussetzungen von Atomwaffen enthielt. Das Plutonium für die »Trinity«- und die Nagasaki-Bombe sei in Kernreaktoren erzeugt worden.

Das amerikanische Atomwaffenprojekt hatte außerordentlichen Nutzen aus jenen Analysen gezogen, die in Großbritannien über die Möglichkeit von Waffen angestellt worden waren, die sich die Kernspaltung zunutze machen sollten. Ebenso aus der Mitarbeit britischer Wissenschaftler. Die amerikanischen Naturwissenschaften befanden sich damals nicht auf Weltklasseniveau, und das Manhattan-Projekts profitierte ungemein von jenen Wissenschaftlern, die wie Hans Bethe, Enrico Fermi, Leo Szilard und Edward Teller (um nur ein paar der prominentesten zu nennen) vor faschistischen Regimes aus Europa hatten fliehen müssen. In der Tat hätte keiner von ihnen angesichts der Tatsache, daß sie selber oder ihre Ehefrauen jüdischer Herkunft waren, in Europa bleiben können.

In Cleveland im amerikanischen Mittelwesten geboren und aufgewachsen, war ich 1945 17 Jahre alt. Die hohe Politik in Washington und die Hochfinanz in New York waren weit von unserer Familie entfernt. Doch der Kriegsausbruch in Europa und die offenkundig unersättlichen Ziele Hitlers beunruhigten uns sehr.

Ich muß gestehen, daß wir bis zum 8. Mai 1945 von den Vernichtungslagern in Europa keine Ahnung gehabt hatten, und ich nehme an, daß es sich mit den emigrierten Wissenschaftlern, die im Manhattan-Projekt arbeiteten, ähnlich verhielt. Tatsächlich hatte die US-Regierung alles vor den Menschen in den USA geheimgehalten, was sie darüber wußte. Ich glaube, die Motivation der Wissenschaftler des Manhattan-Projekts rührte von der Furcht her, daß Deutschland sich in den Besitz einer Atomwaffe bringen und mit dieser die Welt erobern könnte. Sie wollten weitere deutsche Eroberungen verhindern und wieder eine zivile Rechtsordnung in Europa herstellen. Seit wenigen Monaten erst ist die Behauptung zu lesen, daß von Anfang an die Absicht bestanden hätte, die Atombombe gegen Japan einzusetzen, doch meines Wissens war kein einziger von denen, die am Manhattan-Projekt mitarbeiteten, dieser Meinung. All ihre Anstrengungen galten dem Bau einer Atombombe, damit Deutschland diese nicht zuerst bekam.

Und für mich besteht kein Zweifel, daß man sie über einer deutschen Stadt und deren Rüstungsfabriken abgeworfen hätte, wenn sie schon 1944 fertig gewesen wäre.

In der Tat hatten die Alliierten die Lektion der deutschen Angriffe auf die Zivilbevölkerung nur zu gut gelernt, und die Skrupel davor, auf diese mit Gleichem zu antworten, waren gegen Kriegsende verschwunden. Die Zerstörung Dresdens durch Brandbomben ist ein Beispiel.

Ein Blick zurück: Meine Position im Jahre 1977

In einem 1977 veröffentlichten Buch1 habe ich versucht, eine realistische politische Strategie zu beschreiben, die es den Atommächten ermöglichen sollte:

  1. wirksame Maßnahmen zur Verhinderung der Weiterverbreitung von Kernwaffen zu treffen;
  2. die Ausgaben für strategische Atomarsenale auf ein Minimum zu begrenzen und gleichzeitig eine hinreichende Sicherheit zu gewährleisten;
  3. eine Überbewertung strategischer Bedrohungen zu vermeiden (die zur Vernachlässigung realer und wichtiger Probleme führt, die auch eine gesellschaftliche Existenzbedrohung auf nationaler und globaler Ebene darstellen) und dadurch das Problem der Atomrüstung (zu einem gewissen Grad) von dem Prozedere der Weltpolitik trennen zu können, d.h. ihre Bedeutung als machtpolitisches Instrument zu verringern;
  4. dem Einzelnen das Gefühl zu geben, daß die internationale Staatenwelt durchschaubar und kontrollierbar ist und seine eigene Situation besser wird;
  5. eine stabile Ausgangsbasis zu erarbeiten, von der aus ein internationales Regime ohne Atomwaffen entwickelt werden kann (aber nicht muß).

Dieser Aufsatz empfahl eine Atomdoktrin, die auf der Abschreckung von Angriffen und nicht auf atomarer Verteidigung basieren sollte. Sie strebte die Abschaffung der »taktischen« oder atomaren Gefechtsfeldwaffen der USA und eine Strategie an, die sich statt dessen auf konventionell bewaffnete und von einem Global Positioning System (GPS) gelenkte Cruise Missiles stützen sollte.

Auf der politischen Seite empfahl ich eine internationale Vereinbarung, in der auf den Ersteinsatz von Atomwaffen gegen Staaten ohne Atomwaffen verzichtet wird, nicht aber eine generelle »No-first-use«-Übereinkunft. „Die USA“, so schrieb ich damals, „können ihre Absicht kundtun, Atomwaffen nur als Antwort auf die Atomwaffen anderer einzusetzen, ohne deswegen eine formelle Vereinbarung unterzeichnen zu müssen, die den Ersteinsatz von Atomwaffen als Extremoption ausschließt, und daher ohne auf die Unsicherheit der Sowjetunion hinsichtlich der amerikanischen Strategie verzichten zu müssen, die diese vor konventionellen Angriffen in Europa zurückschrecken läßt.“

Außerdem schlug ich für die landgestützte Raketenstreitmacht ein »deMIRVing« vor, also die Zahl von Gefechtsköpfen pro Rakete auf einen zu reduzieren.

Rüstungskontrollergebnisse

Wir haben im Augenblick in Rußland eine sehr anfällige Demokratie und eine Art von Banditenkapitalismus, der eine freie wirtschaftliche Aktivität in der Industrie und im Transportwesen kaum kennt, wohl aber im Handel mit im Westen erzeugten Gütern.

Es gibt kein kohärentes Rechtssystem, und eben aus diesem Grund scheuen sich westliche Unternehmen sehr häufig davor, in Rußland zu investieren.

Trotzdem besitzt das gleiche Rußland mindestens 20.000 Kernsprengköpfe.

Ich denke, die Clinton-Administration hat sich gute Noten für ihr Problembewußtsein (doch wesentlich schlechtere für ihr politisches Handeln) verdient, was die Bedrohung der internationalen Sicherheit durch die Auflösung der UdSSR betrifft. Das Problem von »vagabundierenden Atomwaffen« (»loose nukes«) haben Verteidigungsminister William J. Perry und sein (für atomare Sicherheit und Atomproliferation zuständiger) Stellvertreter Ashton B. Carter (der vor seiner Ernennung in Harvard lehrte) klar erkannt.

Den Senatoren Sam Nunn (aus Georgia) und Richard G. Lugar (Indiana) ist es hoch anzurechnen, daß sie angeregt haben, von den Mitteln des Pentagon jährlich 600 Millionen Dollar für »kooperativen Bedrohungsabbau« in der ehemaligen Sowjetunion zu verwenden.

Bereits ein Jahr zuvor hatte der damalige Vorsitzende des Streitkräfteausschusses im Repräsentantenhaus (und spätere Verteidigungsminister) Les Aspin vorgeschlagen, eine Milliarde Dollar des Verteidigungshaushalts für einen ähnlichen Zweck aufzuwenden. Doch seine Initiative ist nie vom Kongreß verabschiedet worden.

Die USA und die Ukraine haben sich darauf geeinigt, daß bis 1996 alle Atomsprengköpfe aus der Ukraine nach Rußland überführt werden. Von den ehemaligen Sowjetrepubliken der UdSSR besitzen nur die Ukraine, Belarus und Kasachstan Atomwaffen. Belarus hat sich noch vor der Ukraine dazu verpflichtet, all seine Atomwaffen Rußland zu übergeben, und wir können zuversichtlich sein, daß Kasachstan das gleiche tun wird, so daß Rußland als einziger atomarer Nachfolgestaat der Sowjetunion übrigbleibt.

In START-II ist die Abschaffung von Mehrfachsprengköpfen (MIRVs – Multiple Independently Targetable Reentry Vehicles) auf landgestützten Interkontinentalraketen vereinbart worden; der Vertrag beseitigt damit einen Faktor, der zum Anwachsen der strategischen Raketenstreitkräfte beigetragen hat. Der ABM-Vertrag von 1972 sollte dem Prinzip nach einen anderen Faktor, die Abwehrwaffen, einschränken. Allerdings habe ich noch nicht erwähnt, daß offiziell drei weitere Atommächte (Großbritannien, Frankreich und China) auf der Welt existieren, die alle zwischen 300 bis 1.000 Atomsprengköpfe besitzen.

Der Atomwaffensperrvertrag (NPT) ist gerade eben von der New Yorker Überprüfungskonferenz auf unbegrenzte Zeit verlängert worden. Doch es besteht keine bindende Verpflichtung der fünf offiziellen Atommächte (die ja nur bezogen auf den NPT »offizielle« sind), ihre Atomarsenale zu verkleinern oder abzuschaffen.

Südafrika gehört nicht zu den fünf offiziellen Atommächten des NPT, und es hat erklärt, sechs Bomben vom Hiroshima-Typ gebaut zu haben. Das dazu erforderliche U-235 sei in selbständig entwickelten Anlagen angereichert worden. Diese Waffen und das verwendete waffenfähige Material seien wieder vernichtet worden, und man habe dies der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) nachgewiesen.

Es gibt jedoch drei weitere Staaten, von denen man gemeinhin annimmt, daß sie ein Atomwaffenpotential besitzen: Israel, Indien und Pakistan.

Der »Club« der Atomwaffenstaaten hat sich wesentlich langsamer vergrößert, als in den sechziger Jahren erwartet wurde. Doch in den letzten zehn Jahren hat sich die Struktur von Staaten und nicht-staatlichen Gruppierungen beträchtlich verändert.

Das Plutonium-Problem

Zwar ist es wichtig, auch weiterhin das Ziel des NPT im Auge zu behalten, daß Nicht-Atomwaffenstaaten ihre Sicherheit durch den Verzicht auf Atomwaffen verbessert sehen und sich auf Sicherheitsgarantien verlassen können und daß die Atomwaffenstaaten ihre Arsenale abbauen und sie vielleicht schließlich ganz verschrotten oder dem Kommando der UNO unterstellen. Doch ebenso wichtig ist es heute zu verhindern, daß Atomwaffenpotentiale in die Hände von isolierten Staaten außerhalb des NPT, von NPT-Unterzeichnerstaaten, die sich an ihre Verpflichtungen nicht halten, oder von nichtstaatlichen Verbänden (z.B. der »Milizen« in den USA oder militanter religiöser Gruppen usw.) geraten.

Ich sollte hier anmerken, daß ich mich seit langem dafür ausspreche, daß die USA und Rußland die Anzahl ihrer Atomsprengköpfe um 95% oder mehr reduzieren sollten, so daß beide noch jeweils 1.000 (einschließlich der Reservesprengköpfe) besitzen würden. Gleichzeitig sollten Großbritannien, China und Frankreich ihre Arsenale freiwillig auf jeweils 300 Sprengköpfe begrenzen, und die Welt sollte die Notwendigkeit ernst nehmen, daß die Unterzeichnerstaaten des NPT ohne Atomwaffen sowohl positive als auch negative Sicherheitsgarantien erhalten.

Doch unter anderem infolge der erfolgreich ausgehandelten Schritte zur (80-, 90- oder sogar 95%igen) Reduzierung der amerikanischen und russischen Atomwaffenbestände stehen wir vor dem neuen Problem, daß in den USA und in der ehemaligen UdSSR Atomwaffen von hochgeschätzten Rüstungsgütern zu einem heiklen Abfall geworden sind.

Infolge der Verträge START-I und START-II und zahlreicher unilateraler, aber abgestimmter Erklärungen und Maßnahmen von Bill Clinton und Boris Jelzin werden in den USA und in Rußland Atomsprengköpfe außer Dienst gestellt und verschrottet. In den USA geschieht dies zur Zeit mit einer Geschwindigkeit von etwa 1.800 Sprengköpfen pro Jahr, wobei die atomaren Komponenten des primären Waffenmaterials (der versiegelte Kern) in Einzelbehältern in einfachen »Iglus« auf einem Gelände der texanischen Fabrikationsanlage Pantex des amerikanischen Energieministeriums gelagert werden. Wie berichtet wird, findet in vier russischen Anlagen eine entsprechende Zerlegung statt.

Plutonium ist nicht nur ein Material, aus dem Atomwaffen gebaut werden können, es ist überdies hoch radioaktiv und äußerst gefährlich für Leben und Gesundheit (vor allem wenn kleine Partikel dieses Metalls oder einer Pu-haltigen Verbindung eingeatmet werden). Dagegen besteht bei den aus hochangereichertem Uran (HEU) bestehenden Atomwaffenkomponenten nur das Risiko der Proliferation oder der Wiederverwendung, sie stellen keine radiologische Gefährdung dar. In den USA werden die HEU-Komponenten nach Oak Ridge geschafft, wo sie weiter behandelt und schließlich mit normalem oder abgereichertem Uran zu Brennstäben für kommerzielle Stromreaktoren verarbeitet werden.

Mehr als 50 Tonnen überschüssiges Waffenplutonium werden in den USA bis zum Jahr 2003 bei der Verschrottung von Atomwaffen anfallen, in Rußland wird die Menge sogar noch größer sein. Außerdem werden 500 Tonnen HEU zurückgewonnen. Man führe sich das Ausmaß des dadurch entstehenden Problems vor Augen, daß dieses Material und damit Atomwaffen in die Hände von terroristischen Regierungen oder Gruppen gelangen könnten. Aus der etwas willkürlich bezifferten Menge von »50 Tonnen« waffenfähigem Plutonium können mehr als 8.000 Nagasaki-Bomben hergestellt werden, und die 500 Tonnen HEU reichen aus, um etwa 30.000 Bomben vom implosionsgezündeten Typ zu bauen, aus dem die ersten chinesischen Atombomben bestanden.

Dieses waffenfähige Material stellt ein enormes Risiko dar, dem zumindest seit 1991 in den USA zahlreiche Studien und Aktivitäten gewidmet worden sind. Die Clinton-Administration hat das Problem in seiner ganzen Tragweite erkannt, und ein Ausschuß der National Academy of Sciences (CISAC) hat im Januar letzten Jahres unter dem Titel „Management and Disposition of Excess Weapons Plutonium“ eine wichtige Untersuchung zu dem Thema veröffentlicht.

Der Studie ging es um die Verringerung der drei Gefahren, die von überschüssigem Atomwaffenmaterial in Rußland ausgehen – »Breakup«, »Breakout« und »Breakdown«.

Mit Breakup bezeichnete sie das (nicht eingetretene) Problem, daß die UdSSR in noch mehr kleinere staatliche Einheiten auseinanderbrechen könnte, die sich alle im Besitz von Atomwaffen befinden. Tatsächlich konnten dank aktiver Diplomatie, und wohl auch dank guten Willens, auf beiden Seiten alle ehemals sowjetischen taktischen Atomwaffen nach Rußland zurückgebracht werden. Außerdem wurden die in Belarus stationierten strategischen Waffen nach Rußland geschafft, mit denen in der Ukraine und in Kasachstan wird dies in den nächsten Jahren geschehen.

Breakout meinte die Möglichkeit, daß Rußland mit dem waffenfähigen Material seiner zerlegten Waffen irgendwann sein gewaltiges Atomarsenal rasch wieder aufbauen könnte. Wir hoffen, mit den Russen in der Frage der Nutzung oder der Entsorgung von spaltbarem Material zusammenarbeiten zu können, so daß es nicht so einfach wieder für Waffen verwendet werden kann. Z.B. hat Rußland mit den USA vereinbart, ihnen in den nächsten 20 Jahren 500 Tonnen HEU zu verkaufen, das so gemischt wird, daß aus ihm Brennelemente aus schwach angereichertem Uran für Stromreaktoren hergestellt werden können. Für dieses Material wird Rußland zwölf Milliarden Dollar erhalten.

Breakdown bezieht sich auf die Transformation der russischen Gesellschaft. Die Zunahme der Kriminalität und die inflationsbedingt niedrigen Löhne vergrößern die Gefahr, daß Atommaterial gestohlen wird, das (womöglich über eine Kette von Zwischenhändlern) schließlich in die Hände einer Regierung oder einer nicht-staatlichen Gruppe geraten könnte, die daraus Atomwaffen herstellt und damit droht, von diesen auf terroristische Weise Gebrauch zu machen.

Diesen Gefahren sollen Programme zur Verbesserung der »Sicherung, Kontrolle und Erfassung von Atommaterial« (Material Protection, Control and Accountancy – MPC&A) und auch die Vorschläge für seine weitere Verwendung begegnen. Deutschland könnte in dieser Hinsicht eine wichtige Rolle spielen. Ich habe im Februar in Bonn an dem Treffen eines Projekts des German-American Academic Council teilgenommen, das sich mit Deutschlands Beitrag zur Lösung dieses Problems befaßt – vor allem, was sein Know-how in der Herstellung von Reaktorbrennelementen anbelangt.

Unsere CISAC-Analysen haben gezeigt, daß es insgesamt teurer wäre, das »freigewordene« Waffenplutonium für die Herstellung von Brennelementen für Stromreaktoren zu verwenden, als wenn man das Geld für den Kauf von schwach angereichertem Reaktorbrennstoff ausgeben würde. Doch egal wie man Waffenplutonium entsorgt – Geld wird es immer kosten. Und das Verbrennen von Waffenplutonium in kommerziellen Stromreaktoren scheint ein grundvernünftiges Vorgehen zu sein, das mit staatlichen Subventionen in der Größenordnung von einer Milliarde Dollar für 50 Tonnen Waffenplutonium kommerziell machbar wäre.

Der umfassende Teststoppvertrag

Dem »Comprehensive Test Ban Treaty« CTBT erging es ähnlich wie Waffen, die oft auf eine Weise am wirksamsten eingesetzt werden, die ihre Konstrukteure überhaupt nicht im Sinn hatten. Ursprünglich bestand das Ziel, das mit einem umfassenden Teststopp erreicht werden sollte, darin, das Wettrüsten zwischen den Supermächten dadurch zu verlangsamen, daß die Entwicklung von moderneren Atomwaffen unterbunden wird.

Später erkannte und betonte man, daß ein CTBT die Weiterverbreitung von Atomwaffen bedeutend erschweren würde. Allerdings haben die Beispiele von Südafrika und wahrscheinlich von Israel und Pakistan (und natürlich das der Hiroshima-Bombe, die im Kampf eingesetzt wurde, ohne jemals zuvor getestet worden zu sein) gezeigt, daß Tests nicht notwendig sind, um ein gewisses Vertrauen in die Zuverlässigkeit eines einfach konstruierten Atomwaffensystems zu haben.

Meines Erachtens würde der größte Nutzen eines CTBT heute und in Zukunft darin liegen, daß er dem Besitz von Atomwaffen durch verhältnismäßig wenige Staaten eine gewisse Legitimität verleihen und gleichzeitig demonstrieren würde, daß der allgemeine Trend in der Atomrüstung auf die Verringerung der Stückzahl von Waffen zielt, die nicht mehr qualitativ verbessert werden.

Die Agenda für die Zukunft

Meiner Ansicht nach sind folgende Punkte von entscheidender Bedeutung:

Die Vereinbarungen, die wir eingegangen sind, müssen umgesetzt und die Atomwaffen außer Dienst gestellt und demontiert werden.

Das dabei anfallende waffenfähige Plutonium und Uran muß sicher gelagert werden.

Staaten mit und ohne Atomwaffen sollten ihre Verantwortung ernst nehmen, die sie am 11. Mai dieses Jahres mit der unbegrenzten Verlängerung des NPT eingegangen sind. Das heißt vor allem, daß die Bedeutung positiver und negativer Sicherheitsgarantien gegen einen Atomangriff begriffen werden muß und daß diese Garantien gegeben werden müssen.

Die Atommächte sollten spätestens 1996 einen Vertrag über das Verbot sämtlicher Atomwaffenversuche unterzeichnen, wie sie es in den Begleitdokumenten zur NPT-Verlängerung versprochen haben. Dieser CTBT sollte auch jene Tests mit sehr kleiner Spaltkomponente verbieten, die als »hydronukleare Experimente« bezeichnet werden. Außerdem sollte der CTBT keine Ausnahmen für »Atomexplosionen zu friedlichen Zwecken« zulassen. Eventuell könnte zehn Jahre nach dem Inkrafttreten des CTBT eine internationale Konferenz stattfinden, auf der der mögliche Nutzen, die Kosten und die Probleme von solchen Atomexplosionen erörtert werden, um gegebenenfalls einen separaten Vertrag auszuhandeln, falls zwingende Gründe dafür sprechen sollten.

Die G-7-Staaten sollten nicht die Investitionen und die harte Arbeit scheuen, die nötig sind, damit das atomwaffenfähige Material in Rußland auch weiterhin unter Kontrolle gehalten wird.

Außerdem muß die Welt dauerhafte Regelungen treffen, welche die Abzweigung von Plutonium aus aufgebrauchtem Reaktorbrennstoff für den Bau von Atomwaffen verhindern. Denn entgegen der seit Jahrzehnten weitverbreiteten Annahme können auch aus solchem Plutonium Atomwaffen hergestellt werden.

Wenn die Demilitarisierung und die Entsorgung von atomwaffenfähigem Material voranschreiten, ist es wichtig, daß die nächste Sprosse beim Abstieg von der atomaren Rüstungsleiter in Angriff genommen wird, auf der die USA und Rußland noch ein Arsenal von jeweils 1.000 Atomsprengköpfen behalten dürften (aber ohne Reservegefechtsköpfe). Gleichzeitig sollten die Bestände Großbritanniens, Chinas und Frankreichs auf je 300 Atomsprengköpfe reduziert bzw. begrenzt werden.

Die Gefahr von Raketenangriffen muß durch Rüstungskontrolle vermindert werden. Es sollte ein Verbot von Waffen im Weltraum ausgehandelt werden; es müßte auch das Verbot beinhalten, Antisatelliten-Waffen (ASAT) zu testen und einzusetzen.

Über Richard L. Garwin

Dr. Richard L. Garwin, 1928 geboren, hat zwar nicht am Manhattan-Projekt der USA mitgearbeitet, ist aber am Bau der Wasserstoffbombe mitbeteiligt gewesen. Von den Atombombenabwürfen erfuhr er als Siebzehnjähriger aus der Zeitung. Er hält sie, wie er in der Diskussionsrunde nach seinem Vortrag in Frankfurt einfließen ließ, damals wie heute mit den gängigen Argumenten der Befürworter für gerechtfertigt.

Garwin wird vielfach als »Wunderkind« der amerikanischen Physik bezeichnet. Mit 21 Jahren promovierte er bereits in diesem Fach. 41 Jahre lang war er von 1952 bis zu seiner Pensionierung im Jahre 1993 als Forscher am Watson Research Center der IBM Corporation in Yorktown Heights, N.Y., tätig. Seine Liste der Erfindungen im zivilen und militärischen Bereich ist lang; 41 Patente haben sie ihm eingebracht.

Neben seinen Forschungen für IBM hat er einen Teil seiner Arbeitszeit beständig als Berater von US-Präsidenten und verschiedenen Ministerien verwandt. Kongreßausschüsse suchen regelmäßig seinen Rat. Diese Doppelgleisigkeit als Forscher und militär- und rüstungskontrollpolitischer Berater ist selbst für amerikanische Maßstäbe einzigartig, in der Bundesrepublik ist sie undenkbar. Die Arbeit für die Regierungen hat ihn nicht davon abgehalten, sich gegen bestimmte Programme auszusprechen. Hierzulande ist er vor allem als Kritiker der Strategischen Verteidigungsinitiative von Präsident Reagan bekannt geworden. Den Kritikern der Raketenabwehr hat er mit die besten Argumente geliefert. Richard Garwin hat mehrere Auszeichnungen erhalten, die seine wissenschaftlichen und wissenschaftspolitischen Leistungen würdigen (1983 den Wright Prize, 1988 die AAAS Scientific Freedom and Responsibility Award, 1991 den Erice Science for Peace Prize).
Am 17. Mai hielt er im Rahmen des Vortragszyklus` »Hiroshima und Nagasaki« den hier abgedruckten Vortrag.

(B.W.K.)

Anmerkungen

1) Richard Garwin: Reducing Dependence on Nuclear Weapons. In: David C. Gompert u.a.: Nuclear Weapons and World Politics. Alternatives for the Future. New York u.a. 1977, S.84ff. Zurück

Richard L. Garwin

Schuld in Ost und West

Schuld in Ost und West

Während die Deutschen sich ihrer Kriegsverbrechen schuldig fühlten, empfänden die Japaner Scham: Wie zutreffend ist diese Formel?

von Ian Buruma

„Seit 1945 hat sich Japan darauf konzentriert, reich zu werden.“

Japanische Politiker geben manchmal die merkwürdigsten Dinge von sich. So hat etwa Takeshita Noboru, der damals noch Premierminister war, öffentlich behauptet, es sei überhaupt nicht geklärt, ob Hitler wirklich einen Angriffskrieg geführt habe. Er sagte auch, daß erst zukünftige Historikergenerationen darüber entscheiden könnten, ob Japans Krieg in Asien gerecht gewesen sei oder nicht. Und mehrere japanische Konservative mußten von ihren Ministerposten entfernt werden, weil sie erklärt hatten, das Nanking-Massaker von 1937 sei eine chinesische Erfindung.

Äußerungen wie diese haben natürlich außenpolitische Folgen. Solange es in Japan Politiker gibt, die so etwas von sich geben, werden die anderen Länder Asiens Japan nicht zutrauen, über Angelegenheiten von Krieg und Frieden souverän entscheiden zu können – übrigens haben auch viele Japaner dieses Vertrauen nicht. Seit 1945 hat sich Japan darauf konzentriert, reich zu werden, während die Vereinigten Staaten für die Sicherheit des Landes sorgen. Die japanische Verfassung wurde nach dem Krieg von amerikanischen Anwälten formuliert. Sie verbietet es den Japanern, eigene Streitkräfte aufzustellen oder gar Soldaten in andere Länder zu schicken. Dieser Vorbehalt ist zwar nicht mehr angemessen, aber niemand scheint derzeit in der Lage, eine Änderung herbeizuführen, es sei denn auf improvisierte Art – unter Umgehung der Verfassung oder mittels vage formulierter Verfassungszusätze. Auf legale Weise jedenfalls kann sich Japan an internationalen Militäraktionen nicht beteiligen. Das ist eine Folge des Krieges und hat damit zu tun, daß die Japaner als ein gefährliches Volk gelten.

In der Bundesrepublik Deutschland ist die Situation wohl etwas anders. Selbst jemandem wie Franz Josef Strauß wäre es nicht im Traum eingefallen, zu bezweifeln, daß Hitler den Krieg begonnen hat, oder zu behaupten, die Todeslager seien Propagandamärchen der Juden. Trotz der Barbarei, die Deutschland vor über 50 Jahren entfesselt hat und die in mancher Hinsicht schlimmer war als die Untaten der Japaner in Asien, findet Deutschland bei seinen Nachbarn mehr Vertrauen als Japan bei den seinen. Natürlich sind in ehemals besetzten Ländern wie den Niederlanden oder Polen noch antideutsche Ressentiments erhalten, im großen und ganzen jedoch findet man, daß West-Deutschland für seine Sünden gebüßt hat, Japan dagegen nicht.

Wie läßt sich das erklären? Warum stellen sich so viele japanische Konservative gegenüber den Fakten anscheinend blind, während Deutsche mit ähnlichen blinden Flecken sich nur am äußersten Rand des politisch-gesellschaftlichen Lebens finden lassen? Zwischen Japan und Europa liegt eine große Distanz, und die japanische Kultur ist den Europäern so fremd, daß es verführerisch naheliegt, die Erklärung in kulturellen Differenzen zu suchen. Dabei wird man rasch auf die Theorien von Ruth Benedict stoßen.

Die amerikanische Anthropologin wurde während des Zweiten Weltkriegs von DSS, dem amerikanischen Nachrichtendienst, mit einer Analyse der japanischen Kultur beauftragt. Sie war selbst nie in Japan gewesen, die Quellen ihrer Untersuchung waren japanische Romane und Filme. Die Studie erschien unter dem Titel »The Chrysantheum and The Sword« und wurde zu einem Klassiker. Die für das Buch zentrale Unterscheidung zwischen der (japanischen) »Kultur der Scham« und der (westlichen) »Kultur der Schuld« ging in die allgemeine Diskussion ein. Schuldkulturen, so führte die Autorin aus, sind monotheistisch, also jüdisch-christlich geprägt. Die Menschen des westlichen Kulturkreises – und dazu gehören auch die Deutschen – empfänden Schuld, denn ihre Sünden können der Allwissenheit Gottes selbst dann nicht entgehen, wenn sie ihren Mitmenschen verborgen blieben. In Schamkulturen wie Japan oder China dagegen, in denen es statt des einen Gottes viele Götter gibt, empfänden die Menschen nur dann Scham, wenn ihre Sünden öffentlich bekannt würden. Mit anderen Worten: in diesen Kulturen sei »Sünde« kein religiöser, sondern ein gesellschaftlicher Begriff.

Damit könnte man erklären, warum deutsche Sünder sich von ihren Schuldgefühlen dadurch entlasten, daß sie ihre Verfehlungen bekennen: in unzähligen Fernsehsendungen, mit der Errichtung von Holocaust-Mahnmalen, mit einem Kniefall im Warschauer Ghetto. Solche Bekenntnisse können sie vor Gott von Schuld befreien. Ruth Benedicts Unterscheidung vermöchte auch zu erklären, warum viele Japaner genau das Gegenteil tun, nämlich die Verfehlungen, die sie sich haben zuschulden kommen lassen, abstreiten oder verschweigen: in Japan kann die öffentliche Darstellung japanischer Verbrechen nur Gefühle der Scham hervorrufen.

Das klingt plausibel, und doch paßt es einfach zu gut. Warum hatten denn viele Deutsche, vor allem in den ersten zehn Jahren nach dem Krieg, überhaupt kein Bedürfnis danach, sich mit ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen? Und auch für das Verhalten von japanischen Historikern, Journalisten und anderen, die sich engagiert dafür einsetzen, daß die japanischen Kriegsverbrechen allgemein bekannt werden, liefert Ruth Benedicts Unterscheidung keine Erklärung. Natürlich könnte man das als die sprichwörtlichen Ausnahmen ansehen, die die Regel bestätigen. Doch überzeugt es nicht. Darum wäre es wohl zweckmäßiger, vor weiteren Tiefenanalysen der Kulturdifferenzen nach konkreten, nach historischen und politischen Erklärungen dieser nationalen Unterschiede zu suchen.

Wenn Deutsche über Schuld sprechen, dann beziehen sie sich nicht auf Kriegsgeschehen und Militär. Deutsche Schulkinder werden nicht dazu angehalten, sich über den U-Boot-Krieg, den deutschen Einfall in Frankreich oder den Blitzkrieg Gedanken zu machen. Die deutschen Schuldgefühle beziehen sich nur auf eines: auf den Holocaust, symbolisiert durch Auschwitz. Gerade so, wie auch Günter Grass Auschwitz zum zentralen Argument seines Einspruchs gegen die deutsche Vereinigung gemacht hat, nicht Coventry und nicht Stalingrad. Der Holocaust war tatsächlich ein eigener Feldzug, der neben dem militärischen lief; ein Feldzug gegen Zivilisten, denen das Recht auf Leben abgesprochen wurde. Ein ideologischer Krieg, der offiziell bereits 1933 erklärt worden war und der 1945 zusammen mit der Naziherrschaft endete.

Ganz gleich, wie weit man die Wurzeln des Nationalsozialismus in die Geschichte Deutschlands zurückverfolgt, die Zeit von 1933 bis 1945 bleibt eine einzigartige Epoche. Natürlich hat es in Deutschland Antisemitismus auch vor 1933 gegeben, aber auf eine merkwürdige Weise waren es gerade die barbarische NS-Ideologie, der groteske Führerkult und das verbrecherische NS-Regime, die 1945 einen Neubeginn mit einer »Stunde Null« erleichtert haben. Denn gerade ihr Extremismus hebt die Zeit des Nationalsozialismus aus allen anderen Epochen heraus. Die Männer auf der Anklagebank von Nürnberg waren nicht irgendwelche deutschen Politiker, sondern Nationalsozialisten, verantwortlich für furchtbare Verbrechen. Unabhängig davon, wo sie politisch stehen, würden fast alle Deutschen diesem Urteil zustimmen. In ernst zu nehmenden Kreisen der Bundesrepublik gibt es keine Sympathisanten des Nationalsozialismus.

In Japan liegt der Fall komplizierter. Dort gab es weder einen deutlichen Bruch in der historischen Kontinuität noch ein Äquivalent für 1933, das Datum, an dem ein verbrecherisches Regime an die Macht kam. Und es gab weder eine Bewegung mit derart mörderischen Zielen, wie den Nationalsozialismus, noch gab es einen Führer. Die japanischen Truppen haben in Asien den Tod von Millionen von Menschen verursacht, doch stand dahinter keine Ideologie der Rassenvernichtung. Was in Japan stattfand, war die schrittweise Übernahme der politischen Macht durch rivalisierende Teile von Armee und Flotte. Die gleiche Clique von Bürokraten und Parteipolitikern, die Japan vor dem Krieg regiert hatte, regierte im Krieg; und sie regierten – zumindest taten es einige aus dieser Clique – auch noch nach dem Krieg. Etwa Kishi Noboru, der während des Krieges Rüstungsminister war und in den sechziger Jahren Premierminister wurde. Die japanische Spielart des Führerkults war die Kaiserverehrung, doch verfügte Hirohito im Unterschied zu Hitler nur über sehr begrenzte politische Macht. Gewiss hat der japanische Kaiserkult rassistische Züge, insofern, als er die Japaner lehrt, sich selbst als Menschen von göttlicher Abkunft zu betrachten. Und im Namen des Kaisers wurde den »minderwertigen« Völkern Asiens Grauenvolles angetan. Doch ist dies nicht das gleiche wie eine staatliche Politik der Vernichtung. Jedenfalls wurde Kaiser Hirohito von der Kriegsschuld ausgenommen, und zwar durch keinen Geringeren als General MacArthur, den Oberkommandierenden der Alliierten Pazifikstreitkräfte (SCAP). Damit wurde es aber für die Menschen schwierig, sich für Taten schuldig zu fühlen, die sie im Namen des Kaisers vollbracht hatten. Denn wenn er nicht schuldig war, wie sollten seine Untertanen dann schuldig sein?

Woran sich die Japaner heute erinnern, ist nicht ein Holocaust, sondern ein militärischer Konflikt. So erinnerten sich die meisten Europäer an den Ersten Weltkrieg. Keine Einigkeit herrscht unter den Japanern allein schon über die Frage, wann dieser Krieg begonnen hat, denn tatsächlich gab es mehrere Kriege: den in China, den gegen die europäischen Kolonialmächte in Südostasien und den gegen die USA. Auf wann man den Beginn dieser Kriege datiert, ob man sie voneinander unabhängig oder als einen zusammenhängenden Konflikt betrachtet, ist eine Frage des jeweiligen politischen Standpunkts. Manche Japaner, meist Angehörige der pazifistischen Linken, nennen als Kriegsbeginn das Jahr 1931, das Jahr, in dem Japan die Mandschurai in einen Marionettenstaat verwandelte. Das, so glauben japanische Linke, sei der Beginn der japanischen Politik imperialistischer Aggression gewesen, die dann 1937 zum Einfall in China und 1941 zum Angriff auf Pearl Harbor geführt habe. Diese Japaner sprechen also von einem fünfzehnjährigen Krieg.

Rechte Nationalisten sehen das anders. Für sie sind die Ereignisse im China der dreißiger Jahre kein Krieg, sondern mehr oder weniger bedauerliche »Zwischenfälle«, die sich aus dem legitimen Interesse Japans ergaben, sich gegen den sowjetischen und den chinesischen Kommunismus zu verteidigen. Den Angriff auf Pearl Harbor sehen sie als unvermeidlichen Akt der Selbstverteidigung gegen den Versuch der USA und anderer Kolonialmächte, Japan zu zerschmettern. Der Südostasienkrieg schließlich sei ein Feldzug zur Befreiung Asiens gewesen. Der Krieg in China heißt in diesem politischen Kontext der »China-Zwischenfall«, der gegen den Westen der »Großostasiatische Krieg«. Diese Sicht der Dinge haben keinesfalls nur extreme Randgruppen. Tatsächlich neigen viele prominente Politiker der konservativen Liberaldemokratischen Partei zu solchen Auffassungen.

Weil die japanische Linke antiimperialistische und antimilitaristische Standpunkte vertritt, sind die Linken Japans – trotz Ruth Benedicts Kulturtheorie – nicht weniger aktiv als ihre deutschen Gesinnungsgenossen, wenn es darum geht, die Kriegsverbrechen anzuprangern, die ihre Landsleute verübt haben. Linksgerichtete japanische Journalisten und Historiker haben sehr viel über Geschehnisse wie das Nanking-Massaker geschrieben, in dessen Verlauf japanische Soldaten zahllose Menschen vergewaltigt und getötet hatten (buchstäblich zahllos, denn niemand kennt genaue Zahlen; die Chinesen sprechen von 300.000 Toten, doch ist das vermutlich eine Übertreibung). Die nationalistische Rechte dagegen leugnete beharrlich, daß Japan irgend etwas getan habe, worüber die Japaner sich besonders schämen müßten (mit Ausnahme vielleicht der Tatsache, daß Japan den Krieg verloren hat). Je mehr die Linke über japanische Kriegsverbrechen sprach, desto hartnäckiger leugnete Japans Rechte, daß es überhaupt welche gegeben habe. Nur über eines ließ sich zwischen rechten Nationalisten und linken Pazifisten Einigkeit herstellen: darüber, daß Hiroshima die grausamste und kaltblütigste aller militärischen Aktionen des gesamten Krieges war.

All dies ist jedoch kein Zeichen für die angeblich unergründliche japanische Mentalität. Die Polarisierung der öffentlichen Meinung über den Zweiten Weltkrieg war das Ergebnis besonderer politischer Umstände. Die Linken waren glücklich über die von den Amerikanern diktierte »Friedensverfassung«, denn sie sahen im Pazifismus die einzig mögliche Antwort auf Nanking und Hiroshima. Die gemäßigten Konservativen waren zufrieden, solange sie an der Macht bleiben und vom wachsenden Wohlstand profitieren konnten. Nur die nationalistische Rechte war niemals zufrieden. Den Nationalisten ist es zuwider, daß Japan in Sicherheitsfragen von den USA abhängig ist. Sie glauben, daß die USA der japanischen Nation ihre unverwechselbare Identität geraubt haben. Sie beschwören die »nationale Seele« und den »Geist Japans«. Aber trotz ihrer fixen Idee von der Einzigartigkeit der japanischen Kultur wollen sie, daß Japan zu einem »normalen« Land wird, zu einem Land mit eigener Verfassung und autonomer Verteidigungspolitik. Und weil sie darauf bestehen, daß Japan stets »normal« gewesen sei, müssen sie zurückweisen, was die Linke immer wieder behauptet hat, nämlich daß Japan einen verbrecherischen Krieg geführt habe. Das Nanking-Massaker leugnen die Nationalisten aus dem gleichen Grund.

Auch deutsche Konservative sprechen davon, daß ihr Land wieder »normal« werden müsse. Aber der Fall Deutschland liegt wirklich einfacher. Denn der abnormale Zustand Deutschlands wurde von den Nationalsozialisten repräsentiert. Sie waren Deutschlands Problem und nicht so sehr der Krieg. Und selbst wenn sich die Wehrmacht an der Ostfront scheußlich benommen hat: Die Streitkräfte wurden für das Dritte Reich nicht verantwortlich gemacht. So waren denn auch in der Bundesrepublik, obwohl es auch dort viele Pazifisten gab, Wiederbewaffnung und Integration der neuen Streitkräfte in die NATO relativ unproblematisch durchzusetzen.

In Japan dagegen waren die Streitkräfte das Krebsgeschwür; sie waren es, die das Land auf seinen blutigen Kurs getrieben hatten. Japan hatte durchaus ein Problem mit seinem Militarismus. So wäre eine Verfassungsänderung, die Japan die Souveränität über seine Streitkräfte einräumen würde, für viele Menschen, und nicht nur für Japaner, etwa das gleiche, als würde ein ehemaliger Alkoholiker sich ein Glas Reiswein einschenken. Darum bestanden nur die rechten Nationalisten Japans auf Verfassungsänderung. Sie konnten also gar nicht anders, als immer wieder zu beteuern, Japan habe niemals ein Alkoholproblem gehabt.

Es ist ein Zeichen des Wandels, wenn viele Menschen in Japan, vor allem jüngere, einzusehen beginnen, daß ihr Land wohl doch in der Lage sein müßte, eine andere Rolle in der asiatischen Sicherheitspolitik zu übernehmen, ohne gleich in einen Rausch zu verfallen. Und es ist ein gutes Zeichen, daß sie nicht unbedingt der nationalistischen Rechten zuzurechnen sind. Dieser Wechsel fiel mehr oder weniger mit dem Regierungswechsel zu Beginn der neunziger Jahre zusammen, als die Liberaldemokraten ihr Machtmonopol verloren. Die gegenwärtige Regierung wird geführt von einem sozialdemokratischen Premierminister, der niemals bestritten hat, daß die japanischen Kriegszüge in Asien Angriffsaktionen waren. Und zum erstenmal seit dem Krieg konnte die sozialdemokratische Partei unter seiner Führung die japanischen Selbstverteidigungskräfte – de facto Armee – als legitime Einrichtung bezeichnen.

Natürlich würden einige mehr der Rechten zuneigenden Kollegen des Premierministers gerne einen Schritt weiter gehen und Japan mit einer Verfassungsänderung das Recht zuerkennen, sich an militärischen Aktionen im Ausland zu beteiligen. Es ist gut möglich, daß dieser Punkt die politischen Debatten in Japan in den nächsten Jahren beherrschen wird. Darum wird sich das Interesse von selbst auf die jüngste Vergangenheit Japans konzentrieren. Und das kann der japanischen Demokratie nur zugute kommen. Die vollständige Unabhängigkeit der japanischen Sicherheitspolitik von den USA hat die politischen Auseinandersetzungen in Japan blockiert, denn es gab außenpolitisch nicht viel zu diskutieren. Hier meldeten sich nur die linken Moralisten und die rechten Nationalisten zu Wort.

Wenn jemand allerdings wie Ruth Benedict davon ausgeht, daß es im japanischen Bewußtsein einen blinden Fleck gibt, daß in jeder japanischen Brust das Herz eines Samurai schlägt, für den das Gewissen wenig, die Kriegerehre dafür um so mehr zählt, dann wird er die Dinge lieber so lassen wollen, wie sie sind. Dann haben die USA auch weiterhin für die japanische Sicherheit zu sorgen, selbst dann, wenn das handelspolitische Ungleichgewicht noch zunimmt. Für den, der der Überzeugung ist, die Nanking-Leugner und andere Nationalisten des rechten Flügels widerspiegelten einen dunklen unveränderlichen Zug der japanischen Seele und sie sei einfach eine von den politischen Umständen geprägte politische Meinung unter anderen, für den darf sich an den herrschenden Verhältnissen in der Tat nichts ändern. Er sollte sich dann aber auch über eines im klaren sein: Wer findet, die Japaner seien anders als andere Menschen, der stellt sich auf die Seite genau der Nationalisten, die vom »Geist Japans« und von Japans Einzigartigkeit sprechen und die für die Demokratie nie etwas anderes als Verachtung übrig hatten.

Ian Buruma, geboren in Den Haag, ist Journalist. Zuletzt von ihm erschienen ist bei Hanser »Die Erbschaft der Schuld. Vergangenheitsbewältigung in Deutschland und Japan«, München 1994.

Schuld ohne Scham?

Jan Niemöllers Kommentar zu »Schuld in Ost und West« von Ian Buruma

Ich habe Schwierigkeiten mit dem Gegenüber von »Schuld« und »Scham«. Gibt es Schuldgefühle ohne Scham?

Bei den Ausführungen Burumas selbst erscheint mir zunächst fraglich, ob die Feststellung wirklich zutrifft, daß sich in Deutschland die Blindheit gegenüber historischen Fakten – wohlgemerkt im Unterschied zu Japan – „nur am äußersten Rand des politisch-gesellschaftlichen Lebens“ finden läßt. Dieser Zweifel beruht nicht allein darauf, daß – so Buruma zutreffend – viele Deutsche in den ersten zehn Jahren nach dem Kriegsende überhaupt kein Bedürfnis hatten, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen, sieht man einmal davon ab, daß ausgelöst durch die Stuttgarter »Schulderklärung« der evangelischen Kirche die vordergründige Diskussion sich auf die Frage der »Kollektivschuld« beschränkte.

Der Zweifel ist vielmehr neu belebt und ganz erheblich verstärkt worden durch das Aufkommen rechtsextremer Gruppierungen und Parteien, wie wir es seit der Wiedervereinigung beobachten. Und wenn auch die Welle der Wahlerfolge rechtsextremer Parteien wieder abgeebbt ist, die geistig-politische Strömung gegenüber historischen Fakten die Augen zu verschließen oder gar zu erblinden, ist ungebrochen; denn das Erblinden gegenüber historischen Vorgängen geschieht nicht allein durch visuelles Abschalten. Eine raffiniertere, bei redlicher Beobachtung aber deutlich erkennbare Form der Erblindung besteht darin, daß man die Fakten durch das Überblenden mit anderen Erscheinungen – meist mit Folgeerscheinungen – unkenntlich macht. Diese Methode wurde zuletzt bei dem durchsichtigen Aufruf »Wider das Vergessen« angewandt, der ausgerechnet zum 8.5.1995 von Nationalkonservativen aller Parteien verfaßt und vertreten wurde.

Jan Niemöller (Vorsitzender Richter i.R.)

Fehlende »Vergangenheitsbewältigung« in Japan

Fehlende »Vergangenheitsbewältigung« in Japan

Der Versuch einer Erklärung

von Kenichi Mishima

Die Japaner – wie viele meinen – sind rätselhaft und unzugänglich. Ihr Verhältnis zum grauenhaften Kapitel unseres Jahrhunderts ist schlicht unverständlich. Sie versuchen auf bilateraler Ebene, ohne Gegenleistung die Versöhnung zu erzwingen. Ihr Auftreten in der internationalen Politik kann man auch nicht unbedingt als versöhnlich bezeichnen. Von ihrem Anspruch auf die Rückgabe von vier Kurileninseln wollen sie keinen Zentimeter abrücken. Möglicherweise sind sie der Ansicht, sie seien eine auserwählte Nation. Was ihr Verhalten in Ostasien betrifft, so glauben sie anscheinend an ihre Unfehlbarkeit und betrachten ihre Führungsrolle dort als gottgegeben und gottgewollt. Daher rührt auch die ständig praktizierte Täter-Opfer-Vermischung. So sieht nach meiner Einschätzung das gängige Bild Japans aus, das vor unserem geistigen Auge entsteht, wenn es um »Erbschaft der Schuld« geht. Und dieses Bild ist im großen und ganzen richtig. Dieses Bild kann aber zu einer undifferenzierten Wahrnehmung führen und ein kritisches Verständnis erschweren.

Natürlich ist Japan wie jede Nation keine dumpfe Masse. Auch auf dem kleinen Inselstaat gibt es vielfältige intellektuelle Landschaften, verschiedenste Diskussionsrichtungen, politische Oppositionen unterschiedlichster Couleur. Damit Sie sich ein Bild machen können: es gibt in der japanischen intellektuellen Szene durchaus Entsprechungen für Herren wie Nolte, Walser, Grass, Habermas usw. in Hülle und Fülle (vielleicht erlebt man dort oft Diskussionen in einer für Mitteleuropäer nicht sofort einleuchtenden, interessanten Mischung von Argumentationstypen). Es finden erbitterte öffentliche Diskussionen statt. Außerdem haben die Anhänger der verschiedenen intellektuellen Lager z.B. in Deutschland oft untereinander Berührungsängste. Dies alles ist hier kaum bekannt. Und doch sollte man – ohne über Einzelheiten unterrichtet zu sein – sich zumindest vorstellen können, daß in einer modernen Industrienation alles so anders nicht sein kann.

Warum aber entsteht so ein Bild, wie ich es vorhin kurz angedeutet habe? Weil unsere politische und wirtschaftliche Elite, und ein Teil der kulturellen Elite auch, dazu neigte und heute noch dazu neigt, in Konkurrenz gegen den Westen geschlossen aufzutreten, um zumindest subjektiv, d.h. nach ihrem Selbstverständnis, die Nation vor der Bedrohung durch den Westen zu schützen, um aber objektiv gesehen ihre herrschende Stellung innerhalb der Nation abzusichern. Und an dieser mentalen Struktur hat sich in den letzten 130 Jahren nicht so viel geändert. Diese These kann befremdend sein. Ich möchte sie kurz erläutern.

Der seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts in die Seelen der nationalen Elite tief eingeprägte Slogan lautet: den Westen imitieren, ihn einholen und überholen. Japan öffnete sich gerade zu der Zeit, als der europäische Kolonialismus seinen Höhepunkt erreichte. Leitartikel repräsentativer Zeitungen aus der Meiji-Zeit sind voll von mahnenden Stimmen gegen die „heimtückischen Europäer“. Tatsächlich mußten die Japaner bei der Öffnung des Landes durch den Abschluß sogenannter ungleicher Verträge viele Konzessionen machen: Abtretung der Zollhoheit an die Westmächte und Exterritorialität der Handelspartner in Sachen Justiz. Den Mangel an Souveränität aufzuheben, galt bis Ende des vorigen Jahrhunderts als oberstes Staatsziel, das für die Eliteschicht mentalitätsbildend wirkte. Hier gilt die Regel der historischen Erinnerung: Kolonialisierte und Beinahe-Kolonialisierte haben ein viel besseres Gedächtnis als Kolonialherren; eine Regel, die die Japaner in ihrem Verhältnis zum »western challenge« beherzigt, die sie aber in ihrem Verhältnis zu den Opfern der japanischen Kolonialisierung schnell vergessen haben. Das geschah durch das Ausscheren Japans aus dem westlichen Club des »inoffiziellen Imperialismus«, mit dem man gemeinsam und unter gegenseitiger Achtung von Interessensphären China ständig ausquetschte. Mit diesem Ausscheren wurde die Voraussetzung für die Entfesselung der Brutalität geschaffen.

Das anhaltende Trauma, das die Nation seit Commodore Pery durch die »Bedrohung von Westen« mehrmals erlitten hat, hat einerseits die Folge, daß sich die Führungsschicht, wie angedeutet, an den Stil der stärkeren Nationen anzugleichen versuchte, nicht nur im Alltagsleben, sondern auch in der Außenpolitik, daß also im eigenen Vorgarten (genauer in der Region von Manshu bis Indochina und Indonesien) eine Hegemonie angestrebt wurde. In der Verhandlung nach dem Sieg im chinesisch-japanischen Krieg 1894/5 haben die Japaner gegenüber den Chinesen für sich selbst günstigere Konzessionen durchgesetzt als die Westmächte.

Das Trauma hat andererseits die Folge, daß die kulturelle Elite Japans, hin- und hergerissen zwischen dem Minderwertigkeitskomplex gegenüber dem Westen einerseits und dem Glauben an die Überlegenheit der eigenen Lebenswelt andererseits, hartnäckig die Besonderheit ihrer Kultur behauptete und um die dementsprechende Inszenierung der eigenen Tradition bemüht war und heute noch ist. Wurde früher, d.h. bis Ende des Zweiten Weltkrieges und vielleicht noch weiter in die sechziger Jahre hinein, in der traditionellen Ästhetik der Grund für die eigene kulturelle Singularität gesehen, so wird im Zuge des Prosperitätszuwachses in den letzten drei Jahrzehnten immer mehr in der sogenannten gruppenorientierten Flexibilität und Loyalität etwas Einzigartiges gesehen, etwas, was nach Meinung der kulturellen Elite unsere Tradition auszeichnet, was deswegen aus ihrer Sicht die rationalen Europäer bei aller Anstrengung nicht einmal annähernd verstehen, geschweige denn nachahmen können. Beides zusammen heißt: im Kampf um die Hegemonie den Westen überholen und zwar aufgrund der eigenen kulturellen Überlegenheit.

Und nur mit Hilfe dieser Strategie war die Selbsterhaltung der kleinen Schar, die die politische Elite bildete, möglich. Denn sie war bei der Meiji-Restauration nicht durch einen demokratischen Legitimationsprozeß an die Macht gekommen. Mit ihr hat sich auch die neue wirtschaftliche Elite schnell amalgamiert. Das Gefälle zwischen Armut und Reichtum war vor dem Krieg unvorstellbar groß.

Um dies alles zu rechtfertigen, braucht der weltoffene Ethnozentrismus der Eliteschicht mindestens zwei Bündel wirksamer Praktiken und Diskurse. Erstens eine Inszenierung des »public memory«, zweitens die Verschleierung des Entscheidungsprozesses.

Zur Steuerung bzw. Inszenierung von »public memory“gehörte vor dem Zweiten Weltkrieg z.B. der Mythos der Staatsgründung und der 2600-jährigen Kontinuität des Kaiserhauses; dazu gehörte die Heroisierung einer kleinen Gruppe wichtiger Akteure der Meiji-Restauration und großer Politiker und Generäle aus der Meiji-Zeit (neulich hat das Kultusministerium angeordnet, mehr Unterrichtszeit für die Behandlung von solchen »Männern« zu verwenden als bisher), dazu gehörte die para-religiöse Glorifizierung der gefallenen Soldaten in dem früher staatshintoistischen Yasukuni-Schrein (als »lieu de mémoire«); dazu gehörte auch der Diskurs über Kirschblüten als quasinationale Symbole, obwohl die Kirschbaumsorten, an deren Schönheit man sich heute erfreuen kann, erst im 18. Jahrhundert von einem Gärtner künstlich geschaffen worden sind. Die Liste könnte ich noch beliebig verlängern. Eines muß ich noch hinzufügen: Früher wurde sogar die Geschichte gefälscht. Nach der Version der altjapanischen Geschichte, die man vor dem Krieg in der Schule zu hören bekam, die ich auch in den fünfziger Jahren lernen mußte, war die japanische Armee schon im 6. und 7. Jahrhundert bis zum Festland vorgedrungen, bis zur heutigen koreanisch-chinesischen Grenze. Und damals habe Japan in Südkorea eine Kolonie unterhalten. Dieses »Wissen« legitimierte den japanischen Anspruch auf die koreanische Halbinsel. Die Wirklichkeit sah so aus: Die Inschrift auf einer aus dem 6. Jahrhundert stammenden großen Steinplatte an der Grenze von Korea zu China wurde in der ersten Meiji-Zeit von einem japanischen Stabsoffizier so gefälscht, als ob eine große Gruppe von japanischen Kriegern schon am Beginn unserer Geschichte dort gestanden hätte.

Die zugunsten des Ethnozentrismus veranstaltete Inszenierung von »public memory« geschah auch in bezug auf den Zweiten Weltkrieg. Das legendäre Schicksal der beiden damals weltgrößten Kriegsschiffe in der Seeschlacht wurde in verschiedenen Verpackungen x-mal weiter erzählt, verfilmt, für Comics verarbeitet, in Form einer Dokumentarliteratur fixiert; es wurden Hunderte von Legenden – der Richthofenlegende ähnlich – fabriziert, sogar so etwas wie die Kyffhäuserlegende, wonach eine verschwundene Staffel von japanischen Fliegern mit ihren »zero-fightern« in einer Höhle auf einer Südseeinsel auf den nächsten Befehl warten. Es wurden auch Legenden von großen Admiralen und Generälen erzählt, die, im vollen Bewußtsein der Aussichtslosigkeit ihrer Operationen, nur im Vertrauen auf die Regeneration des japanischen Volkes, gegen die an Kriegsmaterial überlegene amerikanische Flotte gekämpft hätten und schicksalsergeben in den Tod gegangen wären. Moralische Dignität strahlen in solchen Geschichten immer nur die japanischen Admirale und Generäle aus, nicht aber die Amerikaner, die, ihren Kaugummi im Mund, als bloße Kampfmaschinen dargestellt werden.

Zu einer solchen selektiven Inszenierung von »public memory« gehört auch der Diskurs über die Kriegsursachen. Man war sich nach 1945 schnell einig, wer die Schurken waren. Das sind chauvinistische Führer im Militär, die, losgelöst von der Kontrolle durch die Regierungszentrale, ihre expansiven Operationen durchgeführt haben. Das sind aber auch einige Bosse der Industrie, die sich durch Aufträge in der Rüstungsindustrie kurzfristige Profite erhofften. Merkwürdigerweise wurde die Beamtenschaft, abgesehen von einigen Kriegsverbrechern, als ganze nicht an den Pranger gestellt. Und für viele war der Zweite Weltkrieg eine bedauerliche, aber unvermeidliche Reaktion auf die weltweit vom heimtückischen Westen organisierte wirtschaftliche Repression. Für sie war der Krieg ein zwar mit falschen Mitteln geführter, aber in der Intention durchaus legitimierbarer Kampf gegen die westliche Hegemonie, ein Kampf, der bereits mit den sogenannten ungleichen Verträgen angefangen hätte. Die japanische Linke hat sich bis zu einem gewissen Grad an dieser selektiven Gestaltung von »public memory« auch beteiligt. Sie hob neben Militär und Industrie das Tenno-System als Ursache für jegliches Unheil hervor. Über die selbstdestruktiven Strukturen im Vorkriegsjapan, über die Mentalität, die die hegemoniale Politik unterstützte, wird – außer in Fachkreisen der Historiker – kaum analytisch diskutiert.

Dies ist der Nährboden für das Selbstverständnis des Volkes als Opfer des von Militär und Industrie eigenwillig angezettelten Krieges. In ihrem Verständnis haben die einfachen Japaner, die kleinen Leute auf der Straße, die größten Leiden erlitten; und zwar nicht nur als Opfer der Atombomben, sondern auch als Soldaten, die im Schlamm des Südseedschungels buchstäblich »krepierten« oder im brennenden Motorraum eines Kriegsschiffes auf den Meeresgrund gezogen wurden; als Frauen, die ihre Männer verloren und mit den niedrigsten Löhnen ihre Kinder allein erziehen mußten. Das sind Geschichten, die meine Generation immer wieder zu hören bekam. Die Opfer werden als unschuldig heroisiert. Der Abwurf der Atombomben auf die beiden Städte und die unzähligen Opfer, ihre unbeschreiblichen Leiden – dies alles bekam bald eine Alibifunktion. Das Selbstverständnis des Volkes als Opfer der Staatshandlung ermöglichte eine schnelle Identifikation mit den Atomopfern, erkauft durch Ignoranz gegenüber den Opfern der japanischen Invasion. Natürlich hat diese eigenartige Selbststilisierung in weiten Kreisen der Bevölkerung zur Herausbildung einer neuen Mentalität beigetragen, nämlich der des unnachgiebigen und totalen Pazifismus. Der Slogen „Nie wieder Krieg, nie wieder Waffengang“, der vielleicht nur egoistisch gedacht war, fand nach 1945 lange Zeit große Unterstützung.

Man sieht hier sofort: Der Selbsterhaltungsdiskurs der ethnozentrisch denkenden, sich weltoffen zeigenden Elite verseucht damit auf doppelte Weise die Masse. Diese betrachtet sich selbst als Opfer des japanischen Systems. Sie identifizieren sich aber auch nach bekannter Logik mit den Diskursen der politischen und kulturellen Elite. Den einen Satz, den der französische Präsident Mitterrand am 8. Mai dieses Jahres in Berlin gesagt hat, die deutschen Soldaten hätten „den Verlust ihres Lebens für eine schlechte Sache hingenommen“, würde, wenn ein japanischer Politiker ihn auf unsere Geschichte übertragen würde, die Volksseele zum Kochen bringen. Natürlich haben sich einzelne Diskurse und Praktiken verändert. Aber in allen diesen Prozessen hatte die nationale Elite, sowohl die wirtschaftliche als auch die politische, wozu sich immer auch ein Teil der kulturellen hinzugesellte, die Macht inne.

Der zweite Komplex von Diskursen und Praktiken ist ein verschleierter Entscheidungsprozeß. In den westlichen Ländern gilt die Transparenz im Entscheidungsprozeß als eine der unerläßlichen Bedingungen für Demokratie. Das heißt natürlich nicht, daß diese Bedingung immer erfüllt worden wäre. Zumindest dem Prinzip nach aber wird sie anerkannt. Dagegen hat sich in Japan im Laufe von Jahrzehnten nach der Meiji-Restauration der Praxis der ungleichmäßigen Partizipation am Entscheidungsprozeß und ein Versteckspiel der Entscheidungs- und Verantwortungsträger ergeben. Die Folgen sind bekannt: Paternalismus und autoritäre Expertokratie, aber auch Lethargie und Verantwortungslosigkeit gegenüber dem Geschehenen.

Was ich in Ermangelung eines besseren Ausdrucks »Versteckspiel der Entscheidungsträger« nannte, bedarf einer Erläuterung. Im Vordergrund steht eine Marionette und der eigentlich Mächtige steht unsichtbar im Hintergrund – so etwas gab und gibt es auch anderswo. Der Ausdruck »Graue Eminenz« in der deutschen Sprache kommt nicht von ungefähr. Die politische und militärische Entscheidungskette Japans seit spätestens 1931 läßt sich ohne diese Praktiken kaum erklären. In bezug auf den Führungsstil besteht ein großer Unterschied zum Nationalsozialismus. Das Militär gewann in den dreißiger Jahren im Namen des Kaisers immer mehr Einfluß und dehnte seinen Operationsradius im Alleingang aus. Und die Regierung, deren Ministerpräsident oft nach nur 3-5 Monaten »durchbrannte«, versuchte vergeblich, diesen Alleingang unter Kontrolle zu bringen. Der nächste Ministerpräsident gab dann der vollendeten Tatsache ihr Plazet. Kein Akteur wußte, wo, wie und was wirklich entschieden wurde.

Diese Doppelstruktur von Autorität und Macht gibt es überall. Aber im modernen Japan wurde sie sehr raffiniert eingesetzt. Denn hinter dieser Doppelstruktur wurde – Historiker wissen das schon längst – innerhalb der Elite eine relativ klare Expansionsstrategie unaufhaltsam in die Tat umgesetzt. Die beiden Pole können sich stets ändern. Für viele ist der Autoritätspol noch der Tenno, der Kaiser. Dazu äußerte sich später der Ministerpräsident Nakasone am 29.8.1987 in einer Klausurtagung der LDP (Liberal-Demokratische Partei Japans): „Der Tenno hat eine Stellung wie die Sonne, die an der höchsten Höhe des Himmels leuchtet. … Wir können deswegen ruhig unserem irdischen Geschäft nachgehen, manchmal auch unerfreuliche Dinge tun und miteinander streiten; über allem ruht die leuchtende Sonne. Die irdische Welt ist unsere Partei. Das irdische Geschäft übernimmt die LDP. Wir haben dieses Zwei-Welten-System.“ Kein Wunder, daß nach 1945 nicht nur die Alliierten, sondern auch die (wieder)hergestellte demokratische Öffentlichkeit sich schwer tat, die Träger individueller Schuld zu identifizieren. Vor allem die bis heute andauernde Diskussion über die Kriegsschuld des Kaisers zeigt diesen Sachverhalt.

Zwar wurde nach 1945 dank der amerikanischen Besatzungspolitik ein umfangreiches Reformprogramm in Angriff genommen. Teilweise wurde es konsequent durchgeführt, z.B. in Form von Agrarreform und Entflechtung der Holding-Gesellschaft. Beides erwies sich als geeignet für den zweiten wirtschaftlichen take-off. Der Rest blieb auf der Strecke, vor allem die Demokratisierung der Beamtenschaft und die Stellung des Tennos. In Deutschland dankte der Kaiser im November 1918 ab, es blieben aber die Generäle. Bei uns wurden nach 1945 die Militärs abgesetzt. Der alte Staatsapparat und dessen Selektionsmechanismus, vor allem der Tenno blieb aber unberührt. Unangetastet blieb damit auch die Möglichkeit einer Inszenierung von »public memory« und einer weiteren Verschleierung des Entscheidungsprozesses.

Ein Beispiel: Das ehemalige Sowjetrußland hatte in Japan ein ausgesprochen schlechtes Image. Oft wurde dafür die Erklärung angeführt, Stalin habe den Nichtangriffspakt gebrochen. Es folgten die üblichen Klagen über Vergewaltigung und Plünderung durch die Rote Armee. Es wurde dabei verschwiegen, daß das Gebiet, in das Sowjetrußland eindrang, keineswegs ein international anerkanntes japanisches Territorium war. Es war eine Art Schutzzone als Produkt des japanischen Imperialismus, erobert mit Hilfe der Verschleierungsmethoden.

Das zweite Beispiel: Die Dramatisierung des sogenannten nördlichen Territoriums. Über die Rechtslage kann man streiten. Aber politisch wird diese Frage immer wieder dramatisiert, und obwohl mit diesen vier Inseln überhaupt kein kulturelles Vermächtis, keine Erinnerung an irgendeine kulturelle Leistung der Japaner verbunden ist, sind sie inzwischen ein wichtiger Bestandteil von »public memory«.

Das dritte Beispiel: Die Gleichung Ausschwitz-Hiroshima. Daß es sich um eine nicht vertretbare Gleichung handelt, dazu brauche ich nicht viele Worte zu verlieren. Die Strukturen, aus denen die Opfermentalität entstanden ist, habe ich bereits erwähnt. Viele meiner Landsleute, vor allem die Intellektuellen, glauben, die Japaner seien besonders privilegiert, sich mit dem Appell für die Abschaffung von Atombomben an die Weltöffentlichkeit zu wenden.

Die imperialistischen Strukturen, die der Westen geschaffen hat, haben die Japaner eifrig imitiert. Peter Duus, Professor in Stanford, spricht davon, daß bei den Japanern die Verehrung des Westens die Form der Imitation angenommen hat. Vielleicht hat er recht. Aber es fand nicht nur eine Imitation statt, sondern auch die Absicherung der Eliteschicht durch eine Politik der Selbstbehauptung. Sie fand ab und zu unter dem Namen der Befreiung Asiens von den europäischen Mächten statt. In Wirklichkeit ging es aber um die Aufrechterhaltung ihrer Position innerhalb der Nation. Und diese Struktur ist heute noch präsent. Nur eine funktionierende demokratische Öffentlichkeit kann die »public memory« umstrukturieren, und zwar so, daß als erste an die asiatischen Opfer der japanischen Kriege erinnert wird. An die Opfer des europäischen Imperialismus zu erinnern, oder daran zu erinnern, daß auch Japan vielleicht durch einen »inoffiziellen Imperialismus« hätte beherrscht werden können, ist nicht die Aufgabe unserer demokratischen Öffentlichkeit. Die Rückkehr zur Normalität, die die nationale Elite jetzt mit allen Kräften vorantreibt, kann dieser demokratischen Öffentlichkeit nur im Wege stehen.

Dr. Kenichi Mishima ist Professor für Philosophie und arbeitet an der Fakultät der Humanwissenschaften der Universität Osaka. Er hat dort einen Lehrstuhl für Vergleichende Kulturwissenschaft und Sozialphilosophie inne.

Clara Immerwahr und Fritz Haber

Clara Immerwahr und Fritz Haber

Ein verdrängtes Kapitel männlicher Wissenschaftsgeschichte

von Jörn Heher

Der Name Clara Immerwahr führt an den Beginn der Geschichte von Massenvernichtungsmitteln und in eine damals neue Dimension der Frage nach Verantwortung von Wissenschaftlerlnnen und Technikern. Das Leben von Clara Immerwahr entzieht sich in besonderem Maße plakativer Darstellung.

Geboren am 21. Juni 1870, wird Clara Immerwahr eine begeisterte und talentierte Forscherin. Sie promoviert 1900 als erste Frau an der Universität Breslau; »magna cum laude« im Fach Physikalische Chemie. In dieser Zeit als Frau studiert zu haben, verrät Zivilcourage. Viele Professoren sind Gegner des Frauenstudiums, das Verbindungswesen bestimmt das Leben der Studenten. Bei ihrer Arbeit über elektrische Messungen an Schwermetallsalzen zeigt sich Claras hohe Begabung. Ihr Selbstbewußtsein als Naturwissenschaftlerin wächst. Fachliche Dispute mit höhergestellten Kollegen, die nicht selten autoritär statt wissenschaftlich argumentieren (und gleichwohl große Karrieren machen werden), bleiben nicht aus. Claras Umgang damit ist elegant und kollegial. Eine Reihe ihrer Arbeiten erscheint in Fachzeitschriften.

Als sie 1901 mit Fritz Haber die Ehe eingeht, trachtet sie, Ehe und Forschung miteinander zu vereinbaren. Ihre eigene wissenschaftliche Arbeit wird jedoch weitgehend verhindert.

Rückblickend (1909) schreibt sie: „Es war stets meine Auffassung vom Leben, daß es nur dann wert gewesen sei, gelebt worden zu sein, wenn man alle seine Fähigkeiten zur Höhe entwickelt und möglichst alles durchlebt habe, was ein Menschenleben an Erlebnissen bieten kann. Und so habe ich damals schließlich auch mit unter dem Impuls mich zur Ehe entschlossen, daß sonst eine entscheidende Seite im Buch meines Lebens und eine Seite meiner Seele brachliegenbleiben würde. Der Aufschwung, den ich davon gehabt, ist aber sehr kurz gewesen

Gegen Ende 1901: „Ich arbeite jetzt jeden Nachmittag im Institut und lese Manuskripte und mache Zeichnungen dazu. Jetzt geht es mir wieder viel besser“.

„Darin haben Herr Professor wohl recht, daß ich eine unglückselige Weichheit besitze, die mir alles schwerer macht als es anderen Leuten fällt. Mir scheint aber, daß ich das nicht ändern kann, und Sentimentalität ist es jedenfalls nicht, weil ich jederzeit innerlich noch tiefer fühle, als ich es öffentlich zu erkennen gebe“, schreibt Clara Immerwahr 1900 über sich. Ihre große Sensibilität wird ihr in den Auseinandersetzungen mit Fritz Haber jedoch zum Verhängnis und von der Nachwelt als Lebensuntüchtigkeit mißdeutet. Sie versucht, der Frauenrolle gerecht zu werden und ihrem Mann »den Weg zu ebnen«. Dazu gehört das Ausrichten der zahlreichen Tischgesellschaften ihres Mannes, die sein Ansehen und seine Kontakte fördern. Zu den wissenschaftlichen Arbeiten Habers trägt sie fachlich bei, ohne darin erwähnt zu werden. Am 1. Juni 1902 kommt nach schwerer Schwangerschaft Sohn Hermann zur Welt.

Fritz Haber, Hilfsassistent für Gasanalyse, steigt derweil langsam, dann immer steiler auf. Er wird zum »Vater des Gaskrieges«. Nach einem Jahr als ordentlicher Professor an der Technischen Hochschule in Karlsruhe macht er 1907 seine Entdeckung zum Ammoniakgleichgewicht (für die er 1918 den Nobelpreis erhält). Er festigt in der Folgezeit die gesuchte Nähe zur chemischen Industrie, welche schon damals beginnt, Forschung mehr und mehr zu ihrem Monopol zu machen.1911 wird er Direktor des Instituts für Physikalische Chemie und Elektrochemie der Kaiser Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaft (Vorläufer der heutigen Max Planck-Gesellschaft) in Berlin und erhält den Titel »Geheimrat«.

Zwischen 1909 und 1912 entwickelt Carl Bosch bei BASF die großtechnische Ammoniaksynthese aus der Luft (Haber-Bosch Verfahren), Grundlage der deutschen Produktion sowohl für Düngemittel als auch für Sprengstoff, die bis dahin von Salpeter aus Chile abhängig ist. Bereits 1913 läuft die erste Anlage in Oppau/Ludwigshafen an. Später folgen weitere bei Leuna, wo auch die Buna-Werke zur Herstellung synthetischen Kautschuks angesiedelt werden. Schon im Herbst 1914 hatte die deutsche Sprengstoffindustrie keinen Chile-Salpeter mehr und hätte vor der Kapitulation gestanden.

Clara versucht eigene Wege zu gehen: Sie benutzt abweichend von dem, was von einer Frau Geheimrat erwartet wird, eigenes Briefpapier und vernachlässigt hin und wieder die Tischgesellschaften ihres Mannes. Sie hält Vorträge über „Chemie und Physik im Haushalt“ vor Frauen in Arbeiterbildungsvereinen, Vorläufern der heutigen Volkshochschulen. In Briefen äußert sie sich deutlich antimilitaristisch.

„Die Wehrkraft und die Wissenschaft sind die beiden starken Pfeiler der Größe Deutschlands, mit diesen Worten in einer Denkschrift an den Kaiser hatte Adolf von Harnack, dann langjähriger Präsident der Kaiser Wilhelm-Gesellschaft, deren Gründung vorgeschlagen. Mit Beginn des Ersten Weltkriegs stellt sich das von Haber geleitete Institut mit überschwenglichem Patriotismus in den Dienst des Vaterlandes. Habers Sohn aus zweiter Ehe schreibt später:

„In Haber fand die Oberste Heeresleitung einen brillanten Geist und einen extrem energischen, entschlossenen und vielleicht auch skrupellosen Organisator… Er verkörperte den romantischen, quasi-heroischen Aspekt des deutschen Chemikers, wo Nationalstolz mit purem Wissenschaftsfortschritt und dem utilitaristischen Fortschritt der Technik vermischt wurden… Er war Preuße mit unkritischer Akzeptanz der Staatsweisheit…, ehrgeizig, erfolgssüchtig“.

Obwohl er Kriegsfreiwilliger war und bereits mit zwanzig gegen den Willen seines Vaters (die Mutter war bei der Geburt gestorben) zum Protestantismus konvertiert hatte, war Haber als Jude der Aufstieg zum Offizier verwehrt. Erst sein Einsatz für Chemie in der Kriegsführung bringt ihn schließlich in den Rang eines Hauptmanns. Er stellt seine Forschungen vollkommen auf die Suche nach neuen Kampfgasen um und übernimmt im Laufe des Krieges als Abteilungsleiter im Kriegsministerium die wissenschaftliche Verantwortung für das gesamte Gaskampfwesen. In endlosen Tierversuchen werden Giftgase wie Chlor, Phosgen, Gelbkreuz, Blaukreuz, Grünkreuz erprobt. Eine Explosion, die Habers Assistenten Prof. Sackur tötet, macht beinahe die strenge Geheimhaltung zunichte.

Clara nimmt sehr deutlich Stellung und bezeichnet das ganze Unternehmen als „eine Perversion der Wissenschaft“. Im Januar 1915 begleitet sie Haber nach Köln, wo – nahe der Westfront – freiwillige Soldaten (meist Abiturienten) für den Gaskrieg ausgebildet werden. In Anwesenheit der Vertreter von Wissenschaft, Industrie und Militär wendet sie sich scharf gegen die Absichten ihres Mannes.

Deutschland gehörte zwar zu den 24 Nationen, die mit Unterzeichnung der Haager Konvention auf chemische Kampfstoffe verzichtet hatten. Aber die Aussichten auf einen Erfolg waren wohl zu verlockend, als daß man sich von der Konvention hätte zurückhalten lassen. Haber: „Mit der völkerrechtlichen Zulassung von Gaswaffen bin ich niemals befaßt worden.“

Ende Januar 1915 sind die Laboruntersuchungen abgeschlossen; Haber treibt Anwendungstechnik und Logistik voran. Dazu wird die Zusammenarbeit verschiedener Werke organisiert. Chlorgas ist in der chemischen Industrie Ausgangsprodukt bei zahlreichen Produktionsprozessen. Es war vor dem Krieg in großen Mengen exportiert worden. Da diese Möglichkeit nun entfällt, ist der Industrie, deren Lage nach dem Exportausfall ohnehin durch Überkapazität gekennzeichnet ist, eine neue Verwendung in jedem Fall hochwillkommen. Das finanzielle Risiko läßt sie sich dennoch vom Staat mehrfach absichern. Im Frühling sind schließlich alle Voraussetzungen geschaffen, um eine Offensive zu wagen. Haber ist sicher, daß der Angriff vernichtende Folgen beim Feind haben werde, und drängt die Oberste Heeresleitung, die Gelegenheit für einen Frontdurchbruch zu nutzen. Diese weigert sich jedoch, in dem Vorhaben mehr als ein Experiment zu sehen, und beordert nur eine Kompanie zur Unterstützung des Unternehmens.

Ein Offizier über Haber: „In glühendem Patriotismus bewies er bei der Erprobung der chemischen Massenvernichtungsmittel Kaltblütigkeit, Unerschrockenheit und Todesverachtung. Die organisatorische Tätigkeit des Hauptmanns Haber umfaßte die Prüfung und Auswahl der für den chemischen Krieg in Betracht gezogenen Gase, Gifte und Reizstoffe, die Bestellung und namentlich die Ermöglichung der Fabrikationen durch die Firmen der chemischen Großindustrie, die Verteilung und Transporte, die Anpassung und Entwicklung der Kampftechnik. Er vermochte sich persönlich den Traditionen des Offizierskorps und des Heeres so einzufügen, daß die Anwendung neuer und traditionswidriger Kampfmethoden sich in größerem Maßstab durchzusetzen vermochte. Die Gaskampfstoffüllung der Artilleriegeschosse entwickelte sich zu solcher Bedeutung, daß sie auf deutscher Seite am Kriegsende mehr als ein Viertel der Artilleriemunition ausmachte.“

An einem Abschnitt der Westfront bei Ypres in Belgien befehligt Fritz Haber persönlich am Nachmittag des 22. April 1915 den Einsatz des Chlorgases. Es wird aus 5000 Stahlzylindern in die Luft geblasen, flankiert von 15-Zentimeter-Gasgranaten. Die Wirkung ist verheerend. 15000 Engländer und Franzosen bei Langemarck werden fast schutzlos überrascht, 5000 sterben. Haber ist verbittert, daß die Heeresleitung den Erfolg nicht nutzt: Auf sechs Kilometern steht nichts mehr zwischen den deutschen Truppen und den ungeschützen französischen Kanalhäfen direkt gegenüber von England.

Die deutsche Presse ist begeistert. So berichtet die Zeitschrift Die Hilfe in ihrer »Kriegschronik« unter Freitag, 23. April: „Großer Sturm in der Nähe von Ypern… Mindestens 1600 Franzosen und Engländer gefangen. 30 Geschütze, darunter vier schwere englische, fielen in deutsche Hände. Das ist doch einmal ein richtiger Bissen!“ Unter Sonnabend, 24. April: „Der Erfolg des Sturmes bei Ypern ist noch etwas größer geworden: 2470 Gefangene und 35 Geschütze. Die Gegner beschweren sich sehr über deutsche Rauchgeschosse, als ob sie nicht selbst jedes Mittel benutzten, das sie erlangen können. Chemisch freilich werden wir ihnen wohl über sein.“ Und unter Montag, 26. April: „Das Tagesgespräch sind die »deutschen Dämpfe« bei Ypern. Es soll sich also um Chlordampf handeln; genauere Analyse fehlt, bis sie von den armen Opfern des Schnupfenqualms selber gemacht wird. Soviel wir hören, geschieht gar nichts Lebensgefährliches, sondern nur ein häßlicher Zustand von etwa 4 Stunden… Die Engländer sind rührende Gesellen: setzen alles daran, uns in den scheußlichsten Tod der Heimatbevölkerung hineinzutreiben, und lamentieren nun über etwas geschwollene Schleimhäute. Und nachdem sie die Völkerrechtsbeschlüsse nicht unterschrieben haben, verlangen sie, daß wir sie halten sollen. Gut Dampf!“

Haber eilt jedoch zu neuen Taten an die Ostfront, um einen noch größeren Giftgaseinsatz vorzubereiten.

Clara möchte ihn davon abhalten. Am 2. Mai 1915, dem Morgen des Tages seiner Abreise dorthin, nimmt sich Clara mit der Dienstwaffe ihres Mannes das Leben. Sie setzt damit ein Fanal; ihr Tod ist Gipfelpunkt einer langjährigen Auseinandersetzung und eines Streits, in dem Fritz Haber seiner Frau Landesverrat und ihre antimilitaristische Einstellung vorwarf. Haber läßt sich dennoch nicht von seinem Vorhaben an der Front abhalten, obwohl ihm durchaus Fronturlaub zugestanden hätte. Er läßt den zwölfährigen Sohn in der Situation zurück.

Der damals in der Schweiz lebende Chemiker Prof. Hermann Staudinger (Nobelpreisträger 1953) äußert sich zur gesellschaftlichen Verantwortung der Naturwissenschaftler. Er wirft Haber moralische Verantwortungslosigkeit vor. Haber entgegnet mit dem Vorwurf schweren Vaterlandsverrats.

Clara Immerwahrs Selbstmord wird in der Folgezeit als depressive Verzweiflungstat einer erblich vorbelasteten Frau hingestellt. Eine Reihe von Informationen werden offenbar von langem Arm zurückgehalten oder vernichtet: Es gibt keine Meldung in den Tageszeitungen, es findet sich kein Sektionsprotokoll. Ihr Leben und ihr Tod werden der Verdrängung unterworfen.

Der zweite Gasangriff in Galizien bei Kowno fordert 6000 Tote. Haber treibt die Gaseinsätze voran und fordert in geheimen Besprechungen vermehrte Anstrengungen von den Industrieunternehmen wie BASF und Bayer. 1917 heiratet er seine zweite Frau Charlotte. Die medizinische Fakultät der Universität Halle-Wittenberg verleiht Fritz Haber die Ehrendoktorwürde „wegen der hohen Wertschätzung seiner Leistungen“. 1918 flüchtet er aus begründeter Furcht, als Kriegsverbrecher verurteilt zu werden, für einige Zeit in die Schweiz und erhält im selben Jahr den Nobelpreis zugesprochen, den er 1919 entgegennimmt. Es folgen u.a. Versuche, die im Meerwasser gelösten Spuren von Gold großtechnisch zu gewinnen, um Deutschland in den Stand zu versetzen, seine Reparationszahlungen zu leisten. Das Kaiser Wilhelm-Institut in Berlin leitet er bis 1933, ein Jahr vor seinem Tode. In seinem Abschiedsbrief an die Mitarbeiter schreibt er:

„Das Institut ist unter meiner Leitung 22 Jahre bemüht gewesen, im Frieden der Menschheit und im Kriege dem Vaterland zu dienen. Soweit ich das Ergebnis beurteilen kann, ist es günstig gewesen und hat dem Vaterland wie der Landesverteidigung Nutzen gebracht.“

Clara Immerwahr ist weder eine Heldin noch Friedenskämpferin im heutigen Sinn. Mit der ihr eigenen Sanftmut stand sie dem erdrückend nationalen Zeitgeist und dem militärisch-patriarchalen Selbstverständnis im wilhelminischen Kaiserreich fast wehrlos gegenüber. Als die zerstörerischen und menschenverachtenden Konsequenzen unter Kriegsbedingungen immer offenbarer wurden, blieb ihr nur der eigene Tod als persönliche Verweigerung und als verzweifelter Versuch, einzugreifen. Die extreme Isolation, in der sie sich befand, die Unmöglichkeit, über die Probleme ihrer Situation zu sprechen, lassen sich aus den vertrauensvollen brieflichen Mitteilungen an ihren Doktorvater Prof. Richard Abegg erschließen, der sich freilich häufiger zur Teilnahme an Militärübungen begibt und 1910 mit einem Gasballon aus großer Höhe abstürzt.

Passagen von 1909 mit einer Kritik am Wissenschaftlertum, die allzu aktuell geblieben ist, beschreiben ihr eigenes Verständnis davon: „Was Fritz in diesen 8 Jahren gewonnen hat, das – und mehr – habe ich verloren, und was von mir übriggeblieben ist, erfüllt mich selbst mit der tiefsten Unzufriedenheit… Und ich frage mich, ob denn die überlegene Intelligenz genügt, den einen Menschen wertvoller als den anderen zu machen… Mein Verhältnis zu dem Kinde steht auf einem andren Blatt, und wenn es auch durch die Quälerei mit der anstrengenden Pflege immerfort beschattet wird, so ist das wesentliche daran doch sehr in Ordnung… Wollte ich selbst noch mehr von dem bißchen Lebensrecht opfern, das mir hier in Karlsruhe geblieben ist, so würde ich Fritz zum einseitigsten, wenn auch bedeutendsten Forscher eintrocknen lassen, den man sich denken kann. Fritzens sämtliche menschliche Qualitäten außer dieser einen sind nahe am Einschrumpfen und er ist sozusagen vor der Zeit alt …“

Daß Clara Immerwahr selbst unter Frauen isoliert war, wird aus folgendem verständlich: Ein internationaler Frauenkongreß in Den Haag mit 2000 Teilnehmerinnen, darunter u.a. bekannte Namen aus Deutschland (Anita Augspurg, Gustava Heymann, Ida Jans, Helene Stöcker), beschließt am 28. April 1915 Resolutionen gegen den Krieg und gegen Waffenlieferungen, für Völkerversöhnung und Kindererziehung im pazifistischen Sinn. Eine Stellungnahme, daß in Zukunft alle Völkerstreitigkeiten „schiedlich-friedlich geschlichtet“ werden müßten (Frau Schwimmer aus Ungarn: „Fort mit den Armeen und der Marine!“) scheitert am Protest der deutschen Delegation: Sie hätten „nichts gegen Heer und Flotte sagen“ wollen.

Schon im Vorfeld des Kongresses hatte freilich der »Bund deutscher Frauenvereine« seine Teilnahme „selbstverständlich in entschiedener Form“ abgelehnt: „Sollen die Frauen den Männern, die ihre nationale Pflicht tun, in den Rücken fallen mit pathetischen Erklärungen über den »Wahnsinn«, in dem sie befangen sind? Nur eine unbegreifliche Gefühlsverwirrung kann eine solche innere Loslösung der Frauen von der Aufgabe ihres Vaterlandes vollziehen.“

»Fritz-Haber-Institut«, diesen Titel trägt u.a. eine Forschungsstelle der Max-Planck-Gesellschaft in Berlin. Nach Clara Immerwahr war bisher nichts benannt.

Anmerkungen

  1. Gewissenhafte Arbeit des Archiv zur Geschichte der Max-Planck-Gesellschaft, Berlin, hat ermöglicht, daß dieses Kapitel der Vergangenheit nicht für alle Zeit verdrängt bleibt.
    Dem Physiologen Prof. Dr. Adolf Henning Frucht und dem Historiker und Journalisten Joachim Zepelin möchte ich für ihre Arbeit zum Thema sehr danken, besonders aber der Historikerin Dr. Gerit Kokula, Berlin. Ohne ihre intensive Beratung hätte ich von Vorstehendem wenig und recht fern von Wahrheit berichten können. Sie schreibt eine Biografie über Clara Immerwahr.
    Mit Verstand und wachem Blick redigiert hat Ulrike Pfeil.
  2. Die deutsche Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges hat 1991 erstmalig die Clara-Immerwahr-Auszeichnung verliehen. Ausgezeichnet wurde Dipl.-Ing. Heinz Friedrich, der bei der Firma Dornier in Friedrichshafen arbeitet. Friedrich ist lange Zeit auch mit Rüstungsprojekten befasst gewesen, hält aber seit mehr als einem Jahrzehnt Vorträge über Aufrüstung, über die weltweite Militarisierung und über Rüstungskonversion.

* Anläßlich der Preisverleihung veröffentlichte die IPPNW eine Broschüre der dieser Text entnommen ist.

Jörn Heher ist Arzt in Tübingen und Mitglied der IPPNW.

Vor den Karren der Kriegsforschung gespannt

Vor den Karren der Kriegsforschung gespannt

Naturwissenschaftlich-technische Wehr- und Kriegsforschung und -entwicklung an der Technischen Hochschule Braunschweig in der NS-Zeit

von Helmut Maier

In der Wissenschafts- und Hochschulgeschichtsschreibung ist die Einbindung von Natur- und Ingenieurwissenschaftlern an Universitäten und Technischen Hochschulen (TH) in die Wehr- und Kriegsforschung1 zwischen 1933 und 1945 bislang allenfalls an besonders bedeutenden Beispielen dokumentiert worden. Dies gilt gleichermaßen für die Carolo-Wilhelmina zu Braunschweig2 . Was aber »Professor Normalverbraucher« auf seinem Gebiet leistete und welche Bedeutung sein Engagement innerhalb der ganz speziellen Wissenschaftswelt im Nationalsozialismus erlangte, ist nach wie vor offen. Dies hat sicher auch mit der personellen Situation der deutschen Wissenschaftsgeschichte zu tun.

Eine ganz durchschnittliche TH auf dem flachen Lande wie die Carolo-Wilhelmina kann, wie im folgenden gezeigt, exemplarisch einen Umriß der Wehr- und Kriegsforschung an Technischen Hochschulen des Deutschen Reiches liefern, wobei es sich sicher um ein vorläufiges Ergebnis handelt. In Diskussionen über die Beteiligung von Naturwissenschaftlern und Ingenieuren an kriegswichtigen Projekten stößt man häufig auf die Ansicht, die Naturwissenschaftler seien ja für die reine Grundlagenforschung zuständig gewesen, während die Ingenieure die kriegswichtigen Entwicklungen in Hochschulen, staatlichen Forschungseinrichtungen und Rüstungsindustrie durchgeführt hätten. Meine These für die ns-Zeit – und dies verstärkt für die Kriegszeit – ist, daß Natur- und Technikwissenschaften von den Nationalsozialisten gleichermaßen vor den Karren der Wehr- und Kriegsforschung gespannt wurden.

Die Frage, inwieweit an einer Hochschule Wehr- und Kriegsforschung betrieben wurde und welche Bedeutung sie erlangte, läßt sich natürlich nur beantworten und das ist banal, wenn man weiß, wer eigentlich was und in wessen Auftrag forschte und entwickelte. Erst dann wird erkennbar, ob Kriegsforschung als Überlebensstrategie im totalen Krieg verstanden wurde. D.h., ob ein Institut durch Übernahme angeblich kriegswichtiger Projekte zum Schein seine Gefolgschaft vor dem Fronterlebnis bewahren konnte. Oder ob andererseits die Kriegsfähigkeit des Deutschen Reiches durch Forschung und Entwicklung nicht gesteigert worden ist. Der Blick auf die Auftraggeber läßt außerdem erkennen, wie das einzelne Hochschulinstitut in ein ganz bestimmtes Forschungs- und Entwicklungskonzept eingebunden war. Dessen Zielrichtung wiederum dokumentiert, daß hier an den entscheidenden Problempunkten der deutschen Rüstungs- und Waffentechnik gearbeitet wurde, wie später deutlich werden wird.

Kooperation zwischen Hochschule und Wehrmacht

In der Festschrift der TH Berlin von 19793 wurde das Thema der Wehr- und Kriegsforschung in den Kapiteln Naturwissenschaften und Nationalsozialismus 4 sowie Technische Wissenschaft und Rüstungspolitik 5 aufgegriffen. Mehrtens sowie Ebert und Rupieper mußten sich jedoch auf die Betrachtung forschungspolitischer Strukturen und Maßnahmen jener Zeit beschränken. Mehrtens wünschte sich zwar in seinem Beitrag über die Naturwissenschaften einen Überblick über die Forschungsaktivitäten der verschiedenen Institutionen. Aber, wie er formulierte, sei die Literatur so spärlich, daß dieser Überblick nicht zu liefern gewesen sei.6 Ebert und Rupieper beschränkten sich bei ihrem Beitrag über die Wehrtechnische Fakultät der TH Charlottenburg auf den Hinweis:

„Die militärische Bedeutung dieser Forschungsergebnisse für Wehrmacht und Rüstungswirtschaft ist nur schwer einzuschätzen, da jegliche Unterlagen über die Verwendung … in der Praxis fehlen. Andererseits ist davon auszugehen, daß … nur Dissertationsprojekte gefördert wurden, die entweder zur Grundlagenforschung beitrugen, … , oder konkrete Auftragsforschung für das Heereswaffenamt sowie anderer Wehrmachtsteile beinhalteten.“ 7

Trotz der fehlenden Übersicht, was an naturwissenschaftlichen Instituten geforscht wurde, und der Unmöglichkeit, die praktische Relevanz von Forschungen und Entwicklungen abzuschätzen, kamen Ebert und Rupieper zu der klaren Aussage:

„Die Entwicklung der Wehrtechnischen Fakultät der TH als Forschungsanstalt des Heereswaffenamtes verdeutlicht nicht nur das Eindringen militärisch-technischer Rüstungsforschung in die Hochschulen …, sondern sie zeigt auch die Kooperation zwischen Hochschule, Ministerialbürokratie und Wehrmacht zur militärischen Vorbereitung und Durchsetzung nationalsozialistischer Weltmachtpläne und die kritiklose Unterordnung der Forschung unter die Anforderungen nationalsozialistischer Herrschaft.“ 8

Dieses Ergebnis deutet sich auch für die Geschichte der Carolo-Wilhelmina in der ns-Zeit an, wobei speziell zur Braunschweiger Hochschulgeschichte umfangreiches Aktenmaterial vorhanden ist. Offensichtlich konnte man 1979 in Berlin noch nicht auf Akten des Reichsforschungsrates (RFR) zurückgreifen, die bis 1985 aus den USA nach Koblenz gekommen sind. Diese Akten geben zumindest bruchstückhaft einen Überblick über die Kriegsforschung im Deutschen Reich von Mitte 1943 bis Anfang 1945.9

Die folgenden Bemerkungen zu Gleichschaltung und Berufungspraxis seit 1933, die für das Verständnis der Situation der Carolo-Wilhelmina im Nationalsozialismus wichtig sind, beruhen im wesentlichen auf einem Vortrag von Thomas Stolle, Braunschweig.10

Die Gleichschaltung der TU Braunschweig

Die Machtergreifung erfolgte an der Carolo-Wilhelmina durch die Ernennung eines ns-Rektors durch das Volksbildungsministerium und die Einführung des Führerprinzips. Der Rektor ernannte die Dekane, die bis dahin gewählt worden waren. In Senat und Konzil fanden keine Abstimmungen mehr statt. Bis spätestens 1935 war die Länderhoheit in der Hochschulpolitik beseitigt, alle Hochschulen unterstanden direkt dem Reichsministerium für Wissenschaft, Volksbildung und Erziehung in Berlin, dem sog. »Ministerium Rust«. Die personelle Gleichschaltung sollte durch das »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« erreicht werden, das nichts weiter als die Handhabe gegen politisch mißliebige und jüdische Hochschulangehörige darstellte. Auf Grund dieses Gesetzes wurden von der TH Braunschweig insgesamt 22 Hochschullehrer entlassen. Dies entsprach etwa 20% des Lehrkörpers.11 An der TH Charlottenburg waren es knapp 25%.12

Wie veränderte sich die Berufungspraxis? Das Beispiel der TH Braunschweig zeigt, daß das Kriterium der geeigneten Gesinnung der Bewerber am stärksten in den Geistes- und Sozialwissenschaften, dann in den Naturwissenschaften war. Am geringsten scheint die politische Anforderung bei den Ingenieurwissenschaften gewesen zu sein. Gerade aber die Ingenieure waren eine Berufsgruppe, die sich selbst ganz unpolitisch verstand und sich eher dem Prinzip des Gemeinwohls verpflichtet sah. Insofern hatten sie eben doch ein politisches Selbstverständnis, was, wie Karl-Heinz Ludwig gezeigt hat13, von den Nationalsozialisten geschickt genutzt wurde. Auf jeden Fall hatten bei Berufungen neben dem Volksbildungsministerium und dem Reichsminister zahlreiche Stellen ein Mitspracherecht wie:

  • der lokale Dozentenbundsführer,
  • die Reichsleitung des NS-Dozentenbundes,
  • der Gauleiter,
  • diverse Führer von Parteigliederungen
  • bis zum Stellvertreter des Führers.

Ein wesentlicher Einschnitt für Forschung und Entwicklung für alle deutschen Hochschulen war die Gleichschaltung der Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft, der zunächst noch wichtigsten Institution zur Förderung der deutschen Hochschulforschung. Neuer Präsident wurde 1934 der Nationalsozialist Johannes Stark. Stark war als ausgewiesener Gegner der theoretischen Physik bekannt und verfolgte diese Gegnerschaft in seiner Förderungspraxis.14 Die Notgemeinschaft bezeichnete sich seit Mitte der 30er Jahre wieder als Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG). Spätestens 1937 schlugen die ns-Interessen voll auf die DFG durch. Sie wurde zum Instrument der Autarkie- und Rüstungspolitik degradiert. Der gesamte Bereich der naturwissenschaftlich-technischen Forschung und Entwicklung wurde aus der DFG herausgenommen und dem neu gebildeten RFR unterstellt. Die Einsetzung des RFR durch das Ministerium Rust15 stand in Zusammenhang mit dem Vierjahresplan von 1936, mit dem Hitler Wehrmacht und Wirtschaft kriegsfähig machen wollte. Naturwissenschaft und Technik waren dabei für die Wehrmachtrüstung und in besonderem Maße für die Autarkiesierungspläne von Bedeutung, weil riesige Industrien geplant waren, die mit naturwissenschaftlich-technischen Methoden die Abhängigkeit Deutschlands bei bestimmten Rohstoffen beseitigen sollten. Die deutsche Wissenschaft sollte für Autarkisierung und Aufrüstung, so der Erlaß des Wissenschaftsministers, „einheitlich zusammengefaßt und planmäßig eingesetzt werden.“ 16 Der RFR war in sog. »Fachgliederungen« – später »Fachsparten« – gegliedert und nach dem Führerprinzip organisiert. D.h., „die Leiter der Fachgliederungen entschieden über alle Anträge souverän.“ 17

Die Bedeutung der NS-Mitgliedschaft

An dieser Stelle ist eine Aussage von Kurt Zierold zumindest in Frage zu stellen, die in der Hochschulgeschichtsschreibung immer wieder übernommen wurde18: Die Leiter der Fachgliederungen seien, so Zierold sinngemäß, ohne Bekenntnis zum Nationalsozialismus berufen worden. Insofern stimmen auch Stolle und Zierold überein. Betrachtet man dagegen die Liste der Fachspartenleiter, kann man schon allein ohne größere Recherchen feststellen, daß zum Zeitpunkt der Berufung mindestens vier von 13 (Thiessen, Chemie und organische Werkstoffe; Marx, Elektrotechnik; Meyer, Landbauwissenschaft und allg. Biologie; Sauerbruch, Medizin;) ns-Organisationen angehörten oder bekanntermaßen nahestanden. Führt man sich weiterhin vor Augen, daß schon auf Hochschulebene bei Berufungen Zugehörigkeit und Engagement in Organisationen der NSDAP in vielen Fällen entscheidend waren, ist nicht einsichtig, daß ausgerechnet das Instrument der Forschungslenkung des ns-Wissenschaftsministers ohne Blick auf die Parteizugehörigkeit berufen wurde. Ich möchte folgende These formulieren: Auf jeden Fall war die Parteinähe ein Auswahlkriterium, nur ging man bei diesem wichtigen Lenkungsinstrument nicht die Gefahr ein, einen in seiner Disziplin zweitklassigen Wissenschaftler zu berufen. Diese Frage ließe sich möglicherweise mit Hilfe der RFR-Akten klären, die bis Mitte der 80er Jahre nach Koblenz gekommen sind.

Der erste Präsident des RFR war der Dekan der »Wehrtechnischen Fakultät« der TH Charlottenburg, General Karl Becker19, der kurze Zeit später auch Chef des Heereswaffenamtes wurde. Damit war die Verbindung zwischen Wehrmacht und RFR eindeutig hergestellt und seine Intention offensichtlich. Bei einer Befragung während der Nürnberger Prozesse charakterisierte Hermann Göring dementsprechend die Aufgabe des 1942 neu organisierten RFR mit den Worten: „Im Vordergrund stand selbstverständlich bei sämtlichen Forschungen die Anwendung für die Kriegsnotwendigkeiten. … hierfür waren besondere Männer berufen.“ 20

Die TH Braunschweig war im RFR durch den Fachspartenleiter für Elektrotechnik Prof. Erwin Marx vertreten. In einem programmatischen Vortrag von 1938 mit dem Titel „Die Hochschule im Dienste der Forschung“ stellte auch Marx den Zusammenhang der Aufgaben des RFR mit der Wehrmacht her. Die Forschungen im Rahmen des Vierjahresplans dienten, so Marx,

  • der Erzeugung deutscher Roh- und Werkstoffe,
  • Ersparnis oder Ersatz fremder Rohstoffe durch deutsche
  • und der landwirtschaftlichen Erzeugung. Schließlich gebe es „sehr umfangreiche und vielfältige Forschungen im Zusammenhange mit den Bedürfnissen der Wehrmacht.“ 21 Der RFR erreichte jedoch aus verschiedenen Gründen, die der einschlägigen Literatur zu entnehmen sind, das Ziel der Erfassung und Koordination der naturwissenschaftlich-technischen Forschung und Entwicklung nicht22. Vielmehr existierten etliche Institutionen nebeneinander, die ihre eigene Forschungspolitik verfolgten und dabei u.a. auch Hochschulinstitute für ihre Zwecke beauftragten.

Die Ausrichtung auf die Kriegsbedürfnisse

Forschung und Entwicklung wurden nun in immer stärkerem Maße auf Vierjahresplan und Wehrmachtbedürfnisse ausgerichtet. Beispiele aus Braunschweig zeigen, wie die neue Maxime der Forschungsförderung bereits vor Kriegsbeginn auf die Praxis der naturwissenschaftlich-technischen Forschung und Entwicklung durchschlug: 1. der Aufbau des „ersten und einzigen Luftfahrt-Lehrzentrums“ 23 Deutschlands seit Mitte der 30er Jahre. Es wurden vier Lehrstühle errichtet, die nicht nur den Ingenieur-Nachwuchs für die vehement expandierende Flugzeugindustrie auszubilden hatten. Vielmehr sollte auch zusammen mit der Braunschweiger Luftfahrtforschungsanstalt »Hermann Göring« der deutsche Rückstand auf dem Gebiet der Luftfahrttechnik aufgeholt werden. Wichtigste Auftraggeber waren hier das Reichsluftfahrtministerium (RLM) und die Luftfahrtindustrie, die wiederum weitgehend vom RLM abhängig war;

2. die Forschungen und Entwicklungen von Prof. Marx am Hochspannungsinstitut über die Gleichstromübertragung, die aus »wehrtechnischen« Gründen mit umfangreichen Reichsmitteln vom RFR und mit Rückendeckung des RLM gefördert wurden. Diese Arbeiten, die »Wehrhaftmachung« der Elektrizitätsversorgung zum Ziel hatten, standen bereits seit 1935 unter Geheimhaltung24;

3. das Physikalische Institut unter Prof. Cario war vor Kriegsbeginn für die Braunschweiger Luftfahrtforschungsanstalt »Hermann Göring« tätig25, die wiederum eine Forschungs- und Entwicklungsstätte des RLM war;

4. die Arbeiten im Institut für Chemische Technologie von Prof. Schultze waren im Oktober 1939 durch General Becker für „kriegs- und staatswichtig“ erklärt worden26, ebenso wie die Arbeiten von Prof. Marx27. Inwieweit andere Braunschweiger Institute bis Kriegsbeginn bereits mit Waffen- bzw. Rüstungsforschung beschäftigt waren, muß noch untersucht werden.

Auch mit Kriegsbeginn kam keine einheitliche Forschungsführung für die Natur- und Ingenieurwissenschaften zustande. Der RFR selbst verfügte über verhältnismäßig bescheidene Mittel, mit der eine Großforschung gar nicht zu unterhalten war. Der Wissenschaftsminister galt als der schwächste Minister in Hitlers Kabinett. Die Luftfahrtforschung dagegen war in drei bedeutenden Institutionen organisiert, der Lilienthal-Gesellschaft, der Deutschen Akademie für Luftfahrt-Forschung und der Deutschen Versuchsanstalt für Luftfahrt.

Eine andere große Reichsinstitution förderte besonders Forschung und Entwicklung in der Chemie und chemischen Technologie. Es war das Reichsamt für Wirtschaftsausbau (RWA) unter dem Beauftragten für den Vierjahresplan Hermann Göring. Göring wiederum berief einen ganz erfahrenen Industrie-Manager zum Generalbevollmächtigten für die chemische Erzeugung, den IG-Farben-Vorstandsvorsitzenden und Chemiker Prof. Krauch. Planung, Aufbau und Produktion der deutschen Rohstoffindustrie wurden eben durch das RWA sehr erfolgreich organisiert. Das RWA errichtete u.a. die umfangreichen Industrien zur Produktion von synthetischem Benzin und Gummi, Leichtmetallen und Sprengstoffen. In erheblichem Maße wurden darüberhinaus die naturwissenschaftlich-technische Forschung und Entwicklung gefördert, die der Sicherstellung der deutschen Chemieproduktion diente. Hierfür wurden eigene Institute aufgebaut, außerdem zahlreiche Hochschulinstitute mit Forschungsarbeiten auch außerhalb der Chemie beauftragt. 1938 arbeiteten rund 150 Hochschulprofessoren in Deutschland für das RWA.28 Das RWA konkurrierte damit bei der Forschungsförderung mit dem RLM und den Oberkommandos von Marine und Heer. Während die Wehrmachtsteile direkt Waffen- oder Rüstungsforschung betreiben ließen, sorgte das RWA für die Weiterentwicklung der ebenso kriegswichtigen materiellen Basis der Kriegsführung. Die Institute, die für das RWA arbeiteten, betrieben also ebenso Wehr- und Kriegsforschung, wie Institute mit direkten Wehrmachtsaufträgen.

Im Laufe des Krieges wurden die Hochschulinstitute, wenn sie nicht überhaupt schon für Wehrmacht, RFR und RWA arbeiteten, immer mehr für die Kriegsforschung eingespannt. Mit dem Ende der Blitzkriege zur Jahreswende 1941/42 wurde deutlich, daß man sich auf einen längeren Krieg einzustellen hatte. Hier stellte sich auch die Frage, ob man mit den vorhandenen Waffensystemen und Produktionsverfahren in der Rüstungswirtschaft den Krieg weiter durchstehen könnte. Zwar war die Wehrmacht Auftraggeber in der Hochschulforschung, zog indes aber zahlreiche Naturwissenschaftler und Ingenieure zum Kriegsdienst ein. Erst im Dezember 1943 gestattete das Oberkommando der Wehrmacht die Rückbeorderung von rund 5000 Wissenschaftlern aus der Wehrmacht29, was das ambivalente Verhältnis von Wehrmacht und Staat zu Wissenschaft und Forschung verdeutlicht. Indes erreichte im Januar 1943 ein Schnellbrief des Wissenschaftsministers die TH Braunschweig, in dem die Hochschule zum Nachweis der Kriegswichtigkeit der Lehre, aber auch ihrer Forschung und Entwicklung aufgerufen wurden. Hochschulen, die nicht kriegswichtig arbeiteten, seien sogar von der Schließung bedroht:

„Auch im Bereich der wissenschaftlichen Forschung sollen weitere Einschränkungen erfolgen, soweit es sich nicht um unbedingt kriegswichtige Aufgaben handelt. Andererseits muß die kriegswichtige Forschung unter allen Umständen aufrecht erhalten werden und – wo nötig – noch verstärkt werden.“ 30

Der Vorgang hatte zur Folge, daß alle Braunschweiger Hochschulinstitute im Januar und Februar 1943 über ihre Tätigkeiten einen Bericht abzuliefern hatten. Diese Berichte, die im Archiv der TU Braunschweig vorhanden sind, stellen für die Geschichtsschreibung der Carolo-Wilhelmina eine einmalige Quelle dar. Die einzelnen Institute waren nämlich aufgefordert, ganz schematisch u.a. Auftraggeber und Forschungsgegenstand anzugeben. Damit bietet diese Akte einen Querschnitt durch die naturwissenschaftlich-technische Forschung und Entwicklung an der Hochschule, die auf andere Weise nur sehr mühsam zu erforschen wäre, wie ja am Beispiel der TH Charlottenburg deutlich wurde.

Das Ergebnis der Befragung ist im Anhang wiedergegeben. Betrachtet man die Aufgabenstellungen, erkennt man verschiedene Schwerpunkte in den einzelnen Abteilungen, die natürlich disziplinenspezifisch sind. Die Aufgabenstellungen zeigen aber eindeutig, daß die Institute von ihren Auftraggebern genau dort angesetzt waren, wo Vierjahresplandurchführung, Rüstungstechnik und -produktion ihre Probleme hatten, z.B.:

  • Cordes, Physikalische Chemie, in der Fett- und Seifenversorgung;
  • Hartmann, Anorganische Chemie, für die Kautschukindustrie;
  • Kritzler, Metallographisches Versuchsfeld, bei der Kupfereinsparung;
  • Pahlitzsch, Werkzeugmaschinen, für die Standzeiterhöhung von Schneidwerkzeugen;
  • Schultze, Chemische Technologie, in der Mineralölchemie;
  • Unger, elektrische Maschinen, bei der Einführung von Aluminium in der Elektrotechnik;

usw.

Ein Beispiel für den Einsatz eines Hochschulinstituts auf einem Problemfeld der deutschen Rüstungsindustrie aus den Aufträgen der Luftwaffe sei hier näher betrachtet. Schon seit etwa 1940, als gigantische Luftrüstungsprogramme geplant wurden, war Aluminium knapp gewesen. Um dieser Situation zu begegnen, beschloß das RLM im Flugzeugbau wo möglich auf Stahl und Holz auszuweichen. Zu diesem Zweck war eigens ein besonderer Umstellausschuß gegründet worden.31 Die Umstellung auf Holz bedeutete für die Luftfahrtforschung in Braunschweig wiederum ein breites Arbeitsfeld, wie die Forschungstitel im Anhang bei Prof. Winter vom Institut für Flugzeugbau dokumentieren. Dabei ging es sowohl um die Materialentwicklung und -erprobung als auch die Konstruktion von Holzflugzeugen. Dies ist ein besonders trauriges Kapitel der Kriegsforschung, denn die Flugzeugtype Me 328, an der im Auftrag der Firma Jacobs-Schweyer gearbeitet wurde, war vom RLM als Selbstopferungsflugzeug vorgesehen. Bei der erwarteten alliierten Invasion sollte mit je einer Me 328 je ein Landungsboot versenkt werden. Das Projekt mußte aus konstruktiven Gründen abgebrochen werden. Freiwillige hatte man bereits genug gefunden.32

Größter Auftraggeber: das Luftfahrtministerium

Größter Auftraggeber der TH Braunschweig war auf dem Stand von Anfang 1943 eindeutig das RLM mit 40 Aufträgen. Dann folgen das RWA mit 15, das Oberkommando der Marine mit 8, das Oberkommando des Heeres mit 6 Aufträgen. Ganze 2 Aufträge sind durch den RFR erteilt, was die Bedeutungslosigkeit dieser Organisation dokumentiert. Dieses Ergebnis deckt sich mit den Aussagen von Ludwig bzw. Zierold, wonach der RFR zusammen mit der DFG 1942 ganze 9 Mio. RM zur Verfügung hatte, nur eine Million mehr als die Notgemeinschaft 1929.33 Natürlich ist die Zahl der Aufträge allein nur bedingt aussagefähig, weil Umfang und Bedeutung nicht ersichtlich werden. Über die Frage der praktischen Relevanz der einzelnen Ergebnisse können vorerst nur Vermutungen angestellt werden. Hier müßte jeder Auftrag im Rahmen der disziplinspezifischen Bedingungen betrachtet und eingeschätzt werden. Dies muß eine Aufgabe der weiteren Hochschulgeschichtsschreibung sein, die dann neben den institutionellen eben auch naturwissenschaftlich-technische Zusammenhänge zu analysieren hätte.

Zierold formulierte, daß besonders geschickte Forscher wie Marx verstanden, sich von zwei Institutionen gleichzeitig fördern zu lassen.34 Im Fall von Marx waren dies von 1940 bis 1945 RFR und RWA. Marx war jedoch als Fachspartenleiter insofern in einer besonderen Situation, als er selbst einer Institution angehörte, die für die Mittelbewilligung verantwortlich war. Für die TH Braunschweig kann aber trotzdem formuliert werden, daß immerhin die Hälfte der betrachteten Wissenschaftler von zwei oder mehr verschiedenen Institutionen – auch in Zusammenarbeit mit der Industrie – gefördert wurde. Die Mehrfachförderung erscheint also als durchgängiges Phänomen.

„…mit kriegswichtigen Aufgaben betraut…“

Zusammenfassend kann festgestellt werden, daß sich die These der Berliner Ebert und Rupieper für die TH Braunschweig bestätigt: die Rüstungsforschung und -entwicklung hielt nicht nur Einzug in die Hochschulen, sondern die natur- und ingenieurwissenschaftlichen Forschungs- und Entwicklungskapazitäten wurden ganz den Anforderungen der ns-Herrschaft untergeordnet. Dies wird aus dem Schreiben des Braunschweiger Rektors Herzig an den Braunschweigischen Minister für Volksbildung, in dem die Anfrage auf die Kriegswichtigkeit der Arbeit der Hochschule beantwortet wurde, besonders deutlich:

„… von den 45 Instituten der TH (sind) 33 mit kriegswichtigen Aufgaben betraut … . Ungefähr 90% derselben sind zu W.-Betrieben erklärt und werden durch das Rüstungskommando betreut. Die weitaus größte Anzahl der in den Instituten Beschäftigten sind Schlüsselkräfte. Zwischen diesen Instituten und der … Luftfahrtforschungsanstalt »Hermann Göring« … und den hiesigen großen kriegswichtigen Firmen, wie … Miag, Voigtländer, Lutherwerke, Vereinigte Eisenbahn-Signalwerke …, Büssing-NAG und Wilke-Werke, bestehen intensive wissenschaftliche Verpflichtungen, welche … die Wichtigkeit und Notwendigkeit der Weiterarbeit der Institute … klar nachweisen.“ 35

Naturwissenschaftlich-technische
Kriegsforschung an der TH Braunschweig Januar 1943 nach: Archiv der TU Braunschweig,
AI:1491
Forscher Institution
Auftraggeber: Forschungs- bzw. Entwicklungsauftrag
Bruchhausen Staatliche Lebensmitteluntersuchungsanstalt und
Laboratorium für Lebensmittelchemie
an sich kriegswichtig, weil Hauptanstalt des Bezirks Braunschweig für die Untersuchung
von Kampfstoffen;
Cario Physikalisches Institut
RLM über LFA: 3 Aufträge, keine Angaben;
Cordes Institut für Physikalische Chemie
RWA: Reaktionskinetik der Aliphate in Hinsicht auf die Fett- und Seifenversorgung;
Föppl Wöhler-Institut, Prüfstelle für Werkstoffe
RLM/Focke-Wulf: Dauerhaltbarkeit von Schrauben;
OKH/Hoesch: Drücken von Drehstäben für Panzerwagen;
Friese Institut für Organische Chemie
RLM: Grundlagen für flugzeugtechnische Zwecke;
Forschungsdienst der Landbauwissenschaften: zu Inhaltstoffen von Getreidekeimen;
RWA: unleserlich;
RWA: Schädlingsbekämpfung;
Grundmann Lehrstuhl für Meteorologische Meßtechnik und
angewandte Meteorologie
RLM: 3 Aufträge, keine Angaben;
Hartmann Institut für Anorganische Chemie
RWA: Carbid Zwei- und Mehrstoffsysteme und deren Hydrolyseprodukte;
RWA/Fachgruppe Kautschukindustrie: Gewinnung von Tonerdehydrat als Bunafüllstoff aus
Schlacken und Nutzung anfallender Metallverbindungen (Mn, Ti, Vd); Versuchsanlage für
1000 kg in Betrieb;
Heinemann Institut für Landwirtschaftliche Technologie
RWA: Energiewirtschaft/Kohleeinsparung;
RMEuL: Ernährung betr. Zucker;
RLM/DAF: Technischer Luftschutz;
Iglisch Mathematisches Institut
RLM/LFA/Aerodynamisches Institut: keine Angaben;
Jaretzky Pharmakognostisch-Botanisches Institut
RWA: laxierend wirkende Extrakte heimischer Pflanzen;
Kangro Versuchsanlage Kangro
RWA/RFR: »Versuchsanlage«;
RWA: geheim;
DAF: streng geheim;
Kern Institut für Angewandte Pharmazie
RWA: Bearbeitung der galenischen Präparate der Heilpflanzen mit abführender Wirkung;
Koeßler Versuchsfeld für Fahrzeugtechnik
OKH,RLM,RMB,RVM: keine Angaben, vermutlich Versuche mit Bremsen;
Koppe Institut für Luftfahrtmeßtechnik
RLM: Überprüfung von Bordgeräten für kriegswichtigen Einsatz;
RLM: Höhenprüfraum für Bordgeräte;
RLM: Bildung von nichttragfähigem Eis im Hinblick auf Winterfeldzug im Osten;
RLM: Kälteempfindlichkeit von Flakvisieren mit Oberst-Ingenieur Kuhlenkamp; besonders
wichtig für den Winterfeldzug im Osten;
OKM: Hypsometer für U-Boote;
Junkers: desgleichen für große Höhen;
Kristen Institut für Baustoffkunde und Materialprüfung
verbunden mit dem Institut für baulichen Luftschutz
RLM/OKH/RMBuM: Wehrbetontechnische Untersuchungen;37
Kritzler Metallographisches Versuchsfeld und Versuchsfeld
f.Schweißtechnik
OKM: Kesselschäden bei Kriegsschiffen;
OKM: Kupfereinsparung;
RMBuM: Beratungsauftrag für Kupfereinsparung;
Leist Institut für Triebwerke der Luftfahrtzeuge
RLM/Daimler Benz: Entwicklungsarbeiten an Flugmotoren;
Löhner Institut für Verbrennungskraftmaschinen
RLM/BMW: Forschungen an luftgekühlten Flugmotoren;
Lübcke Akustisches Laboratorium
RLM: keine Angaben;
Marx Institut für elektrische Meßkunde und
Hochspannungstechnik
RWA: 3 Großversuchsanlagen zur Hochspannungs-Gleichstromübertragung;
Niemann Versuchsfeld für Maschinenelemente
OKM: Strahlsand-Schaltkupplung für Kriegsschiffe;
DVL/Blohm&Voss: 2x Schneckentrieb für Torpedos und Flugzeuge;
OKM/Kugelfischer: Längswälzlager für Schiffswellen;
Pahlitzsch Institut für Werkzeugmaschinen und
Fabrikbetrieb/Versuchsfeld für Schleif- und Poliertechnik
OKM: Ermittlung von geeigneten Prüfverfahren für Ziehschleifsteine;
OKH/RWA: Einsparung von Industriediamanten beim Abrichten von Schleifsteinen;
RLM/RMBuM: Standzeiterhöhung von Schneidwerkzeugen zur Leistungssteigerung;
RWA: Bearbeitung von synthetischen Lagersteinen für Uhren;
Pfleiderer Institut für Strömungsmaschinen und Dampferzeuger
RLM: Entwicklung von Flugmotorenladern;
RLM/LFA: Untersuchung einer neuen Ladertype;
Pungs Institut für Fermelde- und Hochfrequenztechnik
OKM: Arbeiten im Rahmen des F.u.M.-Programms des Nachrichtenmittelversuchskommandos der
Kriegsmarine;
Raven Versuchsanstalt für Bauingenieurwesen und
Forschungsstelle für Straßenbau
RLM/OKH: in 1942 275 kriegswichtige Aufträge;
Rehbock Institut für angewandte Mathematik und darstellende
Geometrie
RLM/LFA: Auftrag steht kurz bevor;
Schaefer Institut für Technische Mechanik
RLM/Focke-Wulf: keine Angaben;
Schlichting Aerodynamisches Institut
RLM/LFA: Profiluntersuchungen am Modell P-51 Mustang;
RLM/LFA: desgleichen an Original-Flügel;
RLM: Druckmessung beim Schieben von Flugzeugen;
RLM: Seitenwindeinfluß;RLM: 6-Komponentenmessungen an pfeilförmigen Flugzeugen;
RLM: desgleichen beim Schieben;
RLM: Widerstand und Druck an Laminarprofilen;
RLM: Grenzschichtuntersuchungen mit Anblasen und Absaugen;
Schultze Institut für Chemische Technologie
Bevollmächtigter für die Förderung der Erdölgewinnung:
Steigerung der Ölproduktion;
RWA: Mineralölchemie, Schmieröl- und Butadiensythese;
DVL: Störungen im Flugmotorenbetrieb;
OKH: Güteprüfung von Schmiermitteln;
RFR/Fachsparte Treibstoffe: Kohlenwasserstoffchemie;
Unger Institut für Elektromaschinenbau
RWA: Aluminium in elektrischen Maschinen;
OKM: 6 Aufträge zum U-Programm;
Winter Institut für Flugzeugbau
RLM: Untersuchung an kunstharzgeleimten Schichtholzschalen für den Flugzeugbau;
RLM: Preßschichthölzer im Flugzeugbau;
RLM: Konstruktion und Berechnung von Holzflugzeugen;
RLM: Holz- und Metallschichtstoffe;
Junkers: Versuche an Buchenschichtholz;
Jacobs-Schweyer: Versuchsholm mit Presschichtwerkstoff für Me 328;
DVL: Tragflügelbau für Überschallflug;
Focke-Wulf: Höhenflossenberechnung und Bau;
Wittig Forschungsinstitut für Naturasphalt
RLM: Isolierungen aus Naturasphalt;
HGW: desgleichen säurefest
Abkürzungen:
DAF Deutsche Arbeitsfront
DVL Deutsche Versuchsanstalt für Luftfahrt
HGW Reichswerke AG für Erzbergbau und Hüttenwesen
»Hermann Göring«
LFA Luftfahrtforschungsanstalt »Hermann Göring«
OKH Oberkommando des Heeres
OKM Oberkommando der Kriegsmarine
RFR Reichsforschungsrat
RLM Reichsluftfahrtministerium
RMB (wahrscheinlich verkürzt RMBuM)
RMBuM Reichsminister für Bewaffnung und Munition
RMEuL Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft
RVM Reichsverkehrsminister
RWA Reichsamt für Wirtschaftausbau

Dr. Helmut Maier ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Technischen Universität Braunschweig.

„Ein zusammengebrochenes Volk aufrichten“ oder: wie in der Weimarer Republik die Wehrfähigkeit wiederhergestellt wurde

„Ein zusammengebrochenes Volk aufrichten“ oder: wie in der Weimarer Republik die Wehrfähigkeit wiederhergestellt wurde

von Bernd Ulrich

Bereits während des Ersten Weltkrieges wurde die Perspektive des Soldaten an der Front, wie sie sich in ausgesuchten Feldpostbriefen, Tagebüchern oder Betrachtungen über den Krieg dokumentierte, exzessiv genutzt. In den Zeitungen, den militärisch gelenkten Periodika für die Schützengräben und in unzähligen Verlagspublikationen bediente man sich des „Blickes von unten“, um Front und Heimat zum „Durchhalten“ zu motivieren. Unmittelbar nach dem Krieg stellte sich das Problem neu, auf welche Weise die Nutzung und Inanspruchnahme des subjektiven, individuellen „Blicks von unten“ zu bewerkstelligen war. Und zwar vor dem Hintergrund des zentralen Ereignisses: der Niederlage. Es galt nun, sich der so authentischen wie suggestiven Wirkung individueller, subjektiver Kriegserlebnisse für die „nationale Erziehungsarbeit“ der Zukunft zu vergewissern. Wie konnte der verlorene Krieg der Nachwelt überliefert werden, ohne die Wehrfähigkeit zu gefährden? Das war die entscheidende Frage vor allem für die Führung der geschlagenen kaiserlichen Armee.

Anklage der Feldgrauen

Eine schnelle Antwort tat not. Denn neben den mehr oder weniger rechtfertigenden, sofort nach Kriegsende veröffentlichten Memoiren hoher Stabsoffiziere und Generäle und den ebenfalls aus der Froschperspektive urteilenden Schilderungen junger, im Kriege zu Leutnants beförderter Frontoffiziere wie Schauwecker oder Jünger, erschienen in den Tagen der Revolution und darüber hinaus, oft schon während des Krieges entstandene Texte, die den Zeitgenossen wie „die klassische Chronik der Niederträchtigkeit, der Schweinerei, der Ausbeutung, der Korruption und des Verbrechens“ erschienen.1 Es waren Denkschriften darunter, wie die seit 1916 vorliegende, freilich während des Krieges ignorierte und unterdrückte des Rechtsgelehrten Hermann Kantorowicz über den Offiziershaß im deutschen Heer (1919), oder das, offensichtlich Ludendorff auch zugestellte Memorandum Otto Lehmann-Russbüldts, in dem es darum geht, „wie der deutsche Soldat denkt und fühlt“ (1919). Karl Vetter, Redakteur der »Berliner Volks-Zeitung« und ehemaliger Frontsoldat, wurde dagegen erst durch das große Interesse der Leser einer im März 1919 begonnenen Artikelserie über seine „Eindrücke aus den entscheidenden Tagen der Westfrontkämpfe“ zur Herausgabe einer Flugschrift angeregt, die unter dem Titel „Ludendorff ist schuld!“ der „Anklage der Feldgrauen“ Stimme und Gewicht verlieh.2 Nahezu jeder militärisch-soziale Bereich des vergangenen Krieges wurde kritisch, aus der Sicht der Beteiligten beleuchtet. Der im Krieg als einfacher Soldat gediente Stadtschulrat Wilhelm Appens berichtete über „Dunkle Punkte aus dem Etappenleben“ (1920); Martin Beradt, vor dem Krieg ein erfolgreicher Autor des Fischer-Verlages, brachte 1919 seine, im Krieg von der Zensur unterdrückten „Aufzeichnungen eines Schanzsoldaten“ heraus, die auf seinen Erfahrungen als Bausoldat an der Westfront beruhen; der ehemalige Leutnant Otto Dietz schildert die»militärischen Ursachen« des Desasters und sprach Stabsoffizieren, die nie oder selten an der Front waren, jegliche Legitimation ab, darüber zu berichten (1919); ein anonym bleibender Sanitäts-Feldwebel veröffentlichte Auszüge aus seinen Tagebüchern, die tiefe Einblicke in die unmenschliche „Geschichte eines Feldlazaretts“ erlaubten.3

All diesen Schriften gemeinsam war die anklagende Diktion, die – wie es in einem Feldpostbrief hieß – „Herabsetzung der Soldaten unter das Vieh“ ihr Thema. Vor dem Hintergrund der Dolchstoßlüge galt es, die Verantwortung des deutschen Militarismus für die innere Zersetzung in Heer und Marine aufzuzeigen. Die Autoren – unterschiedlichster Herkunft und politischer Zugehörigkeit – berichteten aus eigener Anschauung oder unter Rückgriff auf ihnen zugegangenes Material wie Feldpostbriefe oder Tagebücher. Ihre Flugschriften, Broschüren, Denkschriften und Romane illustrierten aufs Deutlichste, daß die Sicht auf die historische Realität durch den Weltkrieg zwar keine qualitativ neue, quantitativ in dieser Breite aber doch entscheidende Erweiterung erfahren hatte: die Stimmen der Augenzeugen vor Ort konnten nicht mehr überhört werden. Ihr Blick von unten entfaltete nun, nach den Jahren seiner Instrumentalisierung im kriegsverlängernden Sinn, seine aufklärende, demaskierende Kraft, die während des Krieges in anonymen Eingaben und Klagen verpufften oder in Milliarden von Feldpostbriefen, sofern sie ihre Empfänger unzensiert erreichten, mehr oder weniger private Ernüchterung hervorrief. Es war dies, nach einem Wort des liberalen, bayerischen Offiziers Franz Carl Endres, die „kurze Spanne Zeit der Erkenntnis von 1918 – 1922“.4

Gefährdung der Wehrfähigkeit?

Angesichts solcher Entwicklungen gewann die Frage natürlich an Brisanz, wie das Bild des Weltkrieges der Nachkriegsgeneration überliefert werden konnte, ohne die Wehrfähigkeit zu gefährden. In dieser Situation war es auf der personellen Ebene unter anderem George Soldan, der dafür der richtige Mann zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein schien. Soldan, Hauptmann, später Major im Generalstab und schließlich Archivdirektor, verfaßte 1919 und 1925 zwei Texte, in denen es (mehr oder weniger direkt) immer auch um die Bedeutung und Nutzung der Sicht von unten ging. Seine Schriften und sein Wirken innerhalb des Reichsarchivs verstand er als Beitrag zur Schaffung eines „national geschlossenen Volkes“ und dessen „voller Wehrfähigkeit“; vorbereitet werden sollte jener „Tag, an welchem die Geschichte den Weltkrieg als lebenserweckenden deutschen Sieg kündet!“ 5

Das »Reichsarchiv«

Im Zuge der Versailler Vertragsbestimmungen mußte auch der deutsche Generalstab mit all seinen Abteilungen aufgelöst werden. Das geschah nicht. Unter Umgehung der Bestimmungen erweiterte die Oberste Heeresleitung unmittelbar nach Kriegsende sogar noch die kriegsgeschichtliche Abteilung des Generalstabes, um sie im Februar 1919 in einem Dienstbereich Oberquartiermeister Kriegsgeschichte zu konzentrieren. Dieser Dienstbereich wurde am 1. Oktober 1919 in »Reichsarchiv« umbenannt. Es sollte sich in der Folgezeit, obwohl administrativ dem Innenministerium unterstellt, „dem Wesen und dem Auftrag nach“ als „eine direkte Nachfolgeeinrichtung des Dienstbereiches Oberquartiermeister Kriegsgeschichte des Generalstabes“ betätigen.6

Das hatte immense Auswirkungen auf den Charakter der amtlichen Geschichtsschreibung über den Weltkrieg. Die Darstellungen konnten – institutionell abgesichert, denn das Reichsarchiv verfügte über alle wesentlichen Aktenbestände, und personell unter Rückgriff auf das alte (Berufs-)Offizierskorps – völlig in den Dienst der angestrebten Remilitarisierung gestellt werden.

Um die ganze Zielgerichtetheit dieses Vorgangs zu ermessen, muß man sich vergegenwärtigen, daß mit Beginn des Jahres 1919 und nach den Novembertagen 1918, neuerliche revolutionäre Erhebungen das Land und die Menschen in Atem hielten. Die dabei erhobenen Forderungen richteten sich unter anderem gegen eine Änderung der Militärpolitik, wurden von Regierungsseite jedoch insgesamt als Versuch gewertet, nach dem Vorbild der russischen Revolution »bolschewistische Umsturzpolitik« zu betreiben. Während die mit ihrer Hilfe aufgebauten Freikorps und Truppen der Reichswehr Proteste unterdrückten und lokale, räterepublikanische Versuche blutig zerschlugen, wurden zugleich auf der personellen und institutionellen Ebene die Weichen für die historische Überlieferung des Weltkrieges gestellt.

Die Denkschrift Soldans

Im Mai 1919 lag dem Oberquartiermeister Kriegsgeschichte eine „für die Zukunft der Kriegsgeschichtlichen Abteilung besonders zu beachtende Ausarbeitung des Hauptmann Soldan“ vor. Es handelte sich um Soldans Denkschrift zur „Deutschen Geschichtsschreibung des Weltkrieges als nationale Aufgabe“.7 Aus heutiger Sicht entrollt sich hier ein detaillierter, Fragen der Produktion ebenso wie der beabsichtigten Rezeption minutiös behandelnder Plan zur Durchsetzung geschichtspolitischer Ziele. Soldan faßte die Aufgaben wie folgt zusammen:

„Ein zusammengebrochenes Volk aufrichten, ihm den Glauben an sich selber wiedergeben, aus gemeinsam ertragenem Glück und Unglück deutschnationales Empfinden erwachsen lassen, das die dunkelste Gegenwart durchstrahlt, den Weg zum neuen Aufstieg weist; den großen erzieherischen Wert der Geschichte ausnützen, um ein unpolitisch denkendes und empfindendes Volk zur Reife zu führen“.8

Diese generellen Zielvorgaben waren „bewußt in die Geschichtsschreibung hineinzulegen“ und sollten sich zugleich „unbewußt … dem Leser eingraben“. Zwar sei das deutsche Volk „in seinem augenblicklichen Zustand (…) keiner ernsthaften Beeinflussung zugänglich“, doch in naher Zukunft schon werde der Blick wieder „liebevoll und stolz … an dem Eisernen Kreuze haften und gerne werden die Gedanken bei dem Schönen und Erhebenden weilen, das der Krieg reichlich neben den schneller dem Gedächtnis entschwindenden Schattenseiten geboten hat. (…) Gleichzeitig wird dann allgemein das Verlangen kommen, zu lesen, das Gedächtnis aufzufrischen und zu ergänzen.“ 9

Genau in dieser, mit Hellsichtigkeit prognostizierten, veränderten Rezeptionssituation kommt bei Soldan die Nutzung der Perspektive von unten ins Spiel. Die strenge Unterscheidung zwischen dem »gebildeten Teil des Volkes«, den es nach »rein wissenschaftlichen Darstellungen« verlange und den »unteren Bildungsschichten« legte es nach Soldan nahe, für letztere „die zu schaffende Arbeit populär zu gestalten.“ 10

Unter inhaltlicher Ausblendung der „langen Kampfpausen, in denen nur der Stellungskampf ein ermüdendes Bild bietet“, Konzentration auf den »erhebenden« Bewegungskrieg und die großen Materialschlachten, sollten die volkstümlichen Schilderungen allerdings mit der ganzen Seriosität einer amtlich-offiziellen Stelle an den Leser gebracht werden, da sonst ein Nachlassen des »erzieherischen Wertes« zu befürchten wäre.11

Das Referat »Volkstümliche Schriften«

Die Überlegungen Soldans entpuppten sich als wichtiger Beitrag für die Gründung eines Referates »Volkstümliche Schriften», das 1920 innerhalb des Reichsarchivs geschaffen wurde. Soldan, mittlerweile zum Major a.D. avanciert, übernahm als Archivdirektor die Leitung. Die Herausgabe einer »Schlachten des Weltkrieges« betitelten Reihe und die kontrollierende Betreuung der „Erinnerungsblätter deutscher Regimenter“ waren in den folgenden Jahren die wichtigsten Aufgaben.

Der Perspektive von unten kam in jedem Band der Reihe »Schlachten des Weltkrieges« – als Ergänzung der rein militär-taktischen Abhandlungen – eine wichtige Bedeutung zu. Extensiv genutzt wurde die »ungeheure Erlebniswucht der Mitkämpfer« vor allem in den von Werner Beumelburg verfaßten Darstellungen. „Derartige naturalistische Schilderungen“, so Soldan in einer Vorbemerkung, „sind unentbehrlich, um das Verständnis für das Wesen der modernen Schlacht zu fördern und vor allem auch kommenden Geschlechtern einen Begriff davon zu geben, welche gewaltigen Anforderungen der Krieg unserer Zeit an den Menschen stellt.“ 12

In den Jahren der Konsolidierung der Weimarer Republik, in denen das Interesse an Darstellungen des Krieges gering zu sein schien, waren es in erster Linie die »Schlachten des Weltkrieges« und die bis 1928 auf 250 Bände angewachsene Reihe der Regimentsgeschichten, die weiter rezipiert wurden. Allein die Bände der »Schlachten des Weltkrieges» kamen pro Heft auf Absatzzahlen von 40.000 bis 50.000 Exemplare.

Eine ideale Ergänzung fanden diese Publikationen in den ab Mitte der 20er Jahre edierten Fotobänden und den Weltkriegsfilmen. Auch hier war Soldan maßgeblich beteiligt. Mehr noch als die ausgesuchten, schriftlichen Zeugnisse der »Mitkämpfer«, suggerierten Fotografien und ihre Bildunterschriften „den wirklichen, den lebendigen Krieg“, kurz: „Tatsachen“.13 Vermitteln sollte dies auch der 1927/28 in zwei Teilen aufgeführte Dokumentarfilm „Der Weltkrieg“. Um die Authentizität der „Originalaufnahmen“ zu verstärken, wurden – meist ununterscheidbar von den während des Krieges gemachten Aufnahmen – ganze Szenen mit Soldaten der Reichswehr und auf deren Manövergelände nachgestellt.14

»Kämpfer« und »Führer«

1925 präzisierte Soldan – im Rahmen seiner Vorstellungen über den „Menschen und die Schlacht der Zukunft“ – die Modalitäten für die Schilderung aufgrund eigenen Erlebens und die damit beabsichtigten Wirkungen. Die durch den Blick des »Mitkämpfers« gefilterten, realistisch beschriebenen Kämpfe des »Menschen mit dem Material« gaben dem Leser eine Anschauung von der Nichtigkeit des Einzelnen. Der Ausweg aus diesem Dilemma – denn vor dieser düsteren Perspektive durfte die Schilderung nicht kapitulieren – bestand darin, sich im Kampfkollektiv einem »Führer« freiwillig unterzuordnen; einem »Führer«, der unter der Wucht des Materialkrieges nicht zusammengebrochen war. Die Darstellung der Sinnlosigkeit, des eigenen Versagens, der Ängste und des tagtäglichen Terrors – die weder in den von Soldan betreuten populären Reihen fehlten noch in den frühen und späten Texten der soldatischen Nationalisten – ergab das authentisch wirkende Kolorit, vor dessem grellen Hintergrund sich der neue Typus des »Kämpfers« umso wirkungsvoller abhob. So wenig der Blick dabei auf die enormen sozialen Mißstände in der Armee gerichtet wurde – die in den unmittelbar nach Kriegsende erschienenen Publikationen noch einen breiten Raum einnahmen bzw. die eigentliche Motivation für die Aufzeichnung eigener Erlebnisse bildeten – so sehr wandte er sich nun dem »seelischen Erleben« der am Materialkrieg gewachsenen »Führernaturen« zu.

„Nicht physische Verluste“, so Soldan, „brechen den Widerstand des Feindes. Seelische Imponderabilien entscheiden über Sieg oder Niederlage.“ Die in diesen Sinne adäquate seelische Verfassung zeigte nur eine kleine „Elite der Kämpfer“, in deren Reihen sich der „Frontkämpfergeist“ entwickelte.15 Sie waren der „Kern jeder Truppe“, rissen die anderen mit oder führten den Kampf allein. In ihrem Selbstverständnis richteten sie sich sowohl gegen das »Massenheer«, das gegen Ende des Krieges »versagt« habe, als auch gegen das der Tradition verpflichtete kaiserliche Militär und dessen Führungsstruktur. Beispielhaft führte Soldan hier eine Kritik des Fachblattes »Wehr und Wissen« an, in der Jünger „fehlende Manneszucht“ vorgeworfen wurde, weil er – wie in den „Stahlgewittern“ geschildert – als Leutnant im Graben einen Befehl von oben verweigert und nach eigener Einschätzung der Lage gehandelt hatte.16

Erziehung zur kriegerischen Persönlichkeit

Die Perspektive von unten gewann an Gewicht, da mit ihrer Hilfe die im Krieg angeblich vollzogene Wandlung vom „demokratischen Massenheer“ zum „aristokratischen Qualitätsheer“ anschaulich illustriert werden konnte. Eine Entsprechung fanden solche Formulierungen in den Schriften der zu dieser Zeit (1925) primär mit kurzen, theoretischen Abrissen zum Kriegserlebnis beschäftigten soldatischen Nationalisten. „Erziehung zur kriegerischen Persönlichkeit – das war der Sinn der Materialschlacht“, hieß es 1924 bei Franz Schauwecker. Und ein Jahr später sprach Ernst Jünger von der „neuen Aristokratie (…), die der Krieg geschaffen hat, eine Auslese der Kühnsten, deren Geist kein Material der Welt zerbrechen konnte (…).“ 17

Der durch den Weltkrieg forcierte Perspektivenwandel und seine Nutzung in populären Reihen wurde in den weitergehenden Reflexionen Soldans gekoppelt an die Propagierung eines neuen Soldatentypus, für den der »Stahlhelm« das Symbol und die Formel »Mann ohne Nerven« das eingängige Schlagwort war. „Es ist gerade so“, stellte Franz Carl Endres 1927 resigniert fest, „als wenn man die Zeiten der Pest verherrlichen würde, weil sich in ihnen eine Reihe von Menschen heldenhaft betragen haben.“ 18

Anmerkungen

1) A. Zickler in seinem Vorwort zu: Anonym. Anklage der Gepeinigten! Geschichte eines Feldlazarettes. Aus den Tagebüchern eines Sanitäts-Feldwebels (1914-1918). Berlin 1919, 6; s.a. A. Zickler. Im Tollhause. Berlin o.J. (1921).  Zurück

2) H. Kantorowicz. Der Offiziershaß im deutschen Heer. Freiburg i.Br. 1919; O. Lehmann-Rußbüldt. Warum erfolgte der Zusammenbruch an der Westfront? Berlin 1919; K. Vetter. Ludendorff ist schuld! Die Anklage der Feldgrauen. Berlin o.J. (1919).  Zurück

3) W. Appens. Charleville. Dunkle Punkte aus dem Etappenleben. Dortmund o.J. (1920); M. Beradt. Erdarbeiter. Aufzeichnungen eines Schanzsoldaten Berlin 1919; O. Dietz. Der Todesgang der deutschen Armee. Militärische Ursachen. Berlin 1919; Anonym. Anklage der Gepeinigten!   Zurück

4) F.C. Endres. Die Tragödie Deutschlands. Im Banne des Machtgedankens bis zum Zusammenbruch des Reiches. Von einem Deutschen. Stuttgart 1924, S. 369. Zurück

5) G. Soldan. Der Mensch und die Schlacht der Zukunft. Oldenburg i.O. 1925, 107/108. Zurück

6) R. Brühl. Militärgeschichte und Kriegspolitik. Zur Militärgeschichtsschreibung des preußisch-deutschen Generalstabes 1916-1945, Berlin (DDR) 1973, S. 247, 233ff. Zurück

7) Zentrales Staatsarchiv Potsdam/DDR: Reichsarchiv Nr 41, Bl.44-48, Bl.44 (Brief Jochim/Kriegsgeschichtliche Abteilung 4 an Oberquartiermeister Kriegsgeschichte v. 22.5.1919) und Reichsarchiv, Nr. 41, Bl.49-89 (G. Soldan, Die deutsche Geschichtsschreibung des Weltkrieges – Eine nationale Aufgabe/1919). Zurück

8) G. Soldan. Geschichtsschreibung, Bl.64. Zurück

9) Ebd., Bl.64/65. Zurück

10) Ebd., Bl.65/69. Zurück

11) Ebd., Bl.71. Zurück

12) Schlachten des Weltkrieges – Bd. 10, bearb. v. W. Beumelburg. Ypern 1914. Oldenburg i.O./Berlin 1928 (2. Aufl.), Vorbemerkung der Schriftleitung (Soldan). Zurück

13) G. Soldan, Geleitwort zu: Der Weltkrieg im Bild – Originalaufnahmen des Kriegs-Bild- und Filmamtes aus der modernen Materialschlacht, Berlin/Oldenburg 1926. Zurück

14) G. Montgomery, »Realistic« War Films in Weimar Germany: entertainment as education, in: Historical Journal of Film, Radio, and Television, Vol.9, No.2/1989, p.115-133; H. Barkhausen. Filmpropaganda für Deutschland im Ersten und Zweiten Weltkrieg. Hildesheim u.a. 1982, 185ff. Zurück

15) G. Soldan, Der Mensch und die Schlacht der Zukunft, S. 64, S. 82. Zurück

16) G. Soldan, Der Mensch, S. 83. Zurück

17) F. Schauwecker. „Vom Sinn der Materialschlacht“. Stahlhelm-Jahrbuch 1925, Magdeburg 1924, S. 96-99, 99; E. Jünger. „Vom absolut Kühnen“. Standarte Jg. 1, 20 (1926), S. 460 – 463, S. 462.  Zurück

18) F. C. Endres, Tragödie, S. 289. Zurück

Bernd Ulrich ist Historiker und promoviert in Berlin