Fakten der NS-Illusion

Fakten der NS-Illusion

Produkte und Projekte der deutschen Rüstungswirtschaft am Ende des zweiten Weltkrieges

von Manfred Grieger

Die Bestimmung der Spezifika eines komplexen Phänomens gehört zu den Königsdisziplinen der Wissenschaft. Ulrich Albrecht hat einige Thesen zur NS-Spezifik der Technologieentwicklung in der Endphase des Dritten Reiches formuliert, die geeignet sein können, den populär- bzw. reaktionärwissenschaftlichen Mainstream der Technikgeschichtsschreibung der NS-Rüstung aufzustauen oder gar umzuleiten, der immer noch das technizistische Faszinosum der deutschen Rüstung bestaunt und preist.1

Albrechts rüstungskritische Gedanken zur Initiierung eines „Historikerstreits der Technikgeschichtler“ (22) sind in der Tat bestechend, pointiert und verlockend. Er kennzeichnet am Beispiel der Flugzeugentwicklung die im internationalen Vergleich einzigartige liegende Anordnung des Piloten als das „nationalsozialistische Konzept, durch Überbeanspruchung menschlicher Piloten taktische Vorteile zu erzielen“ (23). In diese spezifisch „nationalsozialistische Technikgestaltung“ (ebd.) ordnet Albrecht auch die Einbeziehung von Halbwüchsigen in den Luftkrieg (deren Vorläufer wohl in dem massenhaften Einsatz der Luftwaffen- und Marinehelfer zu sehen sind) ein, was in der Entwicklung von ausdrücklichen „Selbstopferwaffen“ (25f.) oder faktisch chancenlosen „Kampfgleitern“ (27f.) gipfelte, die erst durch den nazistisch „Beseelten“ im Cockpit ihren Aufopferungsgang erfüllen konnten.

So horizonteweisend die abschließenden Formeln des von Jeffrey Herf eingeführten „reaktionären Modernismus“ oder der reaktionären Zielen dienenden „technischen Progressivität“ auch sind, momentan bietet der eingeschlagene Weg noch keine umfassende Analyse der Grundbeziehungen von NS-System und Wirtschaft bei der Fortentwicklung der Kriegstechnologie. Klassisch dichotome Fragestellungen nach einem vermeintlichen Befehlsnotstand der deutschen Industrie bei der dienenden Ausführung von „absurden Projekten“ (22) bzw. nach dem „eigenständigen Beitrag zum Fanatismus der letzten Tage des Dritten Reiches“ (ebd.) engen die Wahrnehmung vorschnell ein, zumal viele Belege eindeutig in die zweite Richtung deuten. Auch die Charakterisierungen des NS-Spezifik der Technologieentwicklung (Überbeanspruchung des Menschen, Senkung des Lebensalters der Soldaten, Selbstopferwaffen, Hypertrophie der Verzweiflungstechnologie) vermag nicht restlos zu überzeugen. Aufgrund der ökonomisch vermittelten Bewegungsgesetze der Technik bietet wahrscheinlich erst die Einbindung der technologischen Projektierung und Entwicklung in eine Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Auflösungsphase der NS-Herrschaft eine realistische Chance, die dynamisierenden Faktoren der Technik- und Rüstungsentwicklung in den letzten Kriegsmonaten durch die Analyse der faktischen Beziehungen zwischen Militärwesen (Wehrmachtsteile, SS) und Industrie zu benennen und in ihrem Verhältnis zu definieren.2

Zunächst muß die Frage gestellt werden, ob für die eingeleitete Offensivphase des technikgeschichtlichen Historikerstreites mit dem ausgiebig herangezogenen Populärautoren Heinz J. Nowarra ein angemessener Kontrahent benannt ist. Über die wissenschaftliche Exaktheit oder die postfaschistische Grundorientierung seiner deutschtümelnden Technikbegeisterung große Worte zu verlieren, ist zwar ehrenhaft, aber m.E. gleichfalls wenig nutzbringend. Denn der inzwischen 78jährige Nowarra bedient als freischaffender Publizist das Klientel der ob der selbstbeschworenen deutschen technologischen Überlegenheit schlußendlich überraschend Besiegten, die mit der Lektüre solch peinlicher Erzeugnisse des Verlagswesens ihre Träume einer deutschen Me 262-Hegemonie am deutschen Himmel perpetuieren, die im phantastischerweise massenhaft produzierten »Königstiger« endlich der »russischen Dampfwalze« trotzen können und mit der A 4-Raketenutopie doch noch den »Tommy kleinkriegen«. Der notorisch bekannte Vielschreiber Nowarra wird sich von der Wissenschaftlichkeit des Albrecht-Ansatzes nicht sonderlich beeindruckt zeigen. Seine den Zielen der Aufklärung eher abgeneigten Leser werden wohl kaum vorliegenden Informationsdienst zu ihrer Lektürequelle der von ihnen gesuchten »Erfolge« der deutschen Luftwaffe, Panzerwaffe etc. machen. Deshalb erscheint die fundierte Kritik der vielbändigen offiziösen Entwicklungsgeschichte der deutschen Luftfahrttechnik, die in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Museum, dem Bundesverband der deutschen Luftfahrt-, Raumfahrt- und Ausrüstungsindustrie und der Deutschen Gesellschaft für Luft- und Raumfahrt ersteht und die Herausforderung der erfahrenen Industriereiniger vom Schlage eines Treue und seiner jüngeren Nachfahren aus dem Umfeld der sogenannt unternehmensnahen »Gesellschaft für Unternehmensgeschichte« als gewichtigere und aufwendigere Aufgabe.3

Zu diesem Behufe sind auf Seiten der Rüstungskritiker noch ausdrücklichere empirische Exaktheit, angemessene rüstungswirtschaftliche Differenzierung und stärkere Einbindung in die NS-Entwicklungsgeschichte zu leisten. Denn bei Albrecht haben sich einige, von böswilligen Lesern gern zur Disqualifizierung der Gesamtaussage herangezogene Fehlinformationen eingeschlichen: Die Panzerwände des 188-Tonnen-Panzers »Maus« sollten an der Stirnseite allenfalls 24 cm (und nicht 35 cm) Dicke aufweisen.4 Die He 162 sollte zwar im monatlichen Umfang von 1000 Exemplaren auch in dem berüchtigten Untertage-KZ-Betrieb der »Mittelwerke GmbH« gefertigt werden; dieses befand sich allerdings nicht im Besitz der Organisation Todt sondern im Rahmen der Reichsbeteiligungsgesellschaft »Rüstungskontor« in der Hand des Deutschen Reiches.5 Die Georg-Fieseler-Werke waren zwar im Jahre 1943 Entwicklungsfirma der Flugbombe Fi 103; hergestellt wurden diese unter der Bezeichnung V-1 geläufigeren Flugbomben vornehmlich vom Volkswagenwerk und im bereits angesprochenen KZ Dora-Mittelbau;6 etc.

Um diese randständigen Besserwissereien geht es nur nebenbei. Bedeutsamer erscheint, daß sich die technikgeschichtlichen Aussagen Albrechts recht unbeeindruckt von der wirtschaftshistorischen Diskussion um die Differenzierung der ökonomischen wie der militärischen Interessenlage ausgangs des Zweiten Weltkrieges zeigen, ganz zu schweigen von den anzumerkenden Schattierungen innerhalb der NSDAP oder des Militärwesens. Die Analyse der Technologieentwicklung muß zunächst beachten, daß diese in die verstärkte Differenzierung der Regulierungsinstanzen der NS-Kriegswirtschaft in Form von Sonderstäben und Generalbevollmächtigten eingebettet war. Denn Karl-Otto Saur, dieser „Untergebene Speers“ (23), hatte als Staatssekretär im Reichsministerium für Rüstung und Kriegsproduktion am 1. August 1944 auch beim Generalluftzeugmeister, der bis zum 1. März 1944 die Luftrüstung eigenständig bearbeitet hatte, das Kommando übernommen. Ihm beigeordnet, strebte SS-Gruppenführer Dr.Ing. Kammler, der seit dem 1. März 1944 für die mit Arbeitssklaven der SS bewerkstelligte Untertageverlagerung großer Teile der Flugzeugindustrie verantwortlich zeichnete und zwischenzeitlich auch zum Generalbevollmächtigten für den Strahlflugzeugbau (Me 262, Ar 234, He 162 u.a.m.) ernannt worden war, nach einer Ausdehnung des Einflusses der SS in Militär und Rüstung.7

Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, erscheint die rasante Entwicklung der Verzweiflungstechnologie zunächst als Ausdruck eines letzten ungläubigen Aufbäumens der Ideologen der NS-Bewegung. Gleichzeitig darf keineswegs das längerfristige zweckrationale SS-Streben nach Hochtechnologien (Kooperation SS-BMW bei der Triebwerksentwicklung, SS-Volkswagenwerk bei der Motorisierung u.a.m.) übersehen werden. Diesem SS-Engagement zeigten sich alle diejenigen Unternehmungen zugeneigt, die bereits über enge SS-Anbindungen verfügten, was am Beispiel der Heinkel-Werke deutlich hervortritt. Dieses Flugzeugunternehmen benutzte spätestens seit dem Sommer 1943 in seinem Hauptwerk Oranienburg, aber auch in Wien-Schwechat und im polnischen Budzyn SS-Arbeitssklaven im Rahmen der Flugzeugproduktion. Die im Jahre 1944 intensivierte Zusammenarbeit mit der SS erwies sich in einer Situation, in der sich der schwere Bomber He 177 als Fehlschlag herausstellte und Entwicklungs- wie Fabrikationskapazitäten ungenutzt blieben, als Möglichkeit zur Unternehmenskonsolidierung.8 Aus diesem Grunde muß die Teilnahme an hybriden Projektausschreibungen auch als technokratischer Akt der Kapazitätsauslastung und Arbeitskräftebindung aufgefaßt werden. Die angestellten Techniker und Konstrukteure flohen angesichts der dem Bombenkrieg geschuldeten Verlagerungen und möglicher Einberufung zu den bewaffneten Militäreinheiten in einen unreflektierten Professionalismus, der ihre Partizipation an der mörderischen Agonie des Systems im atomisierten Bewußtsein zur bloßen Diensterfüllung schrumpfen ließ.9 Auf der anderen Seite sprangen kleine Außenseiterunternehmungen, wie die Bachem-Werke GmbH, auf den von der SS mit Finanz-, Rohstoff- und Arbeitskräfteressourcen ausgestatteten Zug auf. Sei es, um ihrem ideologischen Fanatismus Ausdruck zu geben oder aber auch, um in den letzten Kriegsmonaten den für den Nachkrieg erforderlichen technologischen und materiellen Schub zu tanken, den die Zusammenarbeit mit der SS bot. Wie die meisten anderen Autoren übersieht Albrecht, daß Bachem, – wie es in Unterlagen des SS-Führungsamtes heißt, – „im Auftrage des RF-SS und Befehlshabers d. Ersatzheeres an einer Sonderaufgabe arbeitet und sämtliche Dienststellen und Behörden ihm Unterstützung angedeihen lassen müssen“.10

Hier zeigt sich der Übergang zu den SS-Bemühungen zur Schaffung einer SS-Luftwaffe, die sich endlich im labilen Kräfteverhältnis zwischen den Waffenteilen des deutschen Militärwesens durchzusetzen trachtete.11 Albrecht vermerkt zwar die anfänglichen Widerstände Hitlers, leitet daraus jedoch keine Binnendifferenzierung der Nazi-Bewegung ab. Aus der Kooperation der SS mit bestimmten Teilen der deutschen Flugzeugindustrie erwächst wohl auch der spezifisch selbstzerstörerische Moment in der Technologieentwicklung. Was kämpfend nicht zu siegen vermag, sei – so das späte Diktum Hitlers und anderer NS-Protagonisten der letzten Wochen des Regimes – dem Untergang verfallen.12 Interessanterweise spiegelt die liegende Anordnung des Piloten eben diese zu Kriegsende hervorgekramten Fanatismusideologeme. Im Zentrum der NS-Technik liegt mit einem Male der fanatisierte Nationalsozialist: mithin eine typische Rückbindung der Selbstmotivierung der nazistischen Untergangshelden an die ideologische Bewegungsphase der NSDAP – in der alles noch eine Frage der »Haltung« schien –, wie sie Speer, Milch, Ley und Saur in ihren mannigfachen Reden der zweiten Jahreshälfte 1944 vorführten.13

Zudem sind auch gewisse Beurteilungen der NS-Technologieentwicklung nicht uneingeschränkt zu unterstützen. So sieht Albrecht in der Gemischtbauweise bzw. der Holzbauweise von Düsenjägern eine Widerspiegelung der „Technologieentwicklung des Dritten Reiches in seinem Abgang“ (25). Die Verwendung von Holz stellt m.E. keineswegs ein untrügliches Zeichen für NS-Technologie dar und muß nicht unbedingt als Kennzeichen der „höchsten Not“ (24) gewertet werden.14 Vorbild all dieser Versuche bildete die in Gemischtbauweise erstellte und von den westalliierten Luftwaffen erfolgreich als Langstreckenaufklärer, Höhenjäger und Jagdbomber verwendete DeHaviland »Mosquito«, deren Bauweise keineswegs Rohstoffmangel o.ä. entsprang.15 Zwar scheiterte die Focke-Wulf-Adaption des Baumusters Ta 154, nicht zuletzt auch an der Unfähigkeit der IG-Farben-Werke, belastungssichere Kaltleimverfahren zu entwickeln. Inwieweit mit der Gemischtbauweise ein originäres NS-Phänomen angesprochen ist, muß dem noch ausstehenden internationalen Vergleich vorbehalten bleiben.

Gleichfalls bildet die innerhalb von drei Monaten erfolgte He 162-Entwicklung nur den Endpunkt eines Prozesses, in dem die Baumusterentwicklung im Rahmen der Serienproduktion erfolgte.16 Dieses Verfahren kürzte die Entwicklungszeit um mehrere Monate ab, wenngleich durch die Inkaufnahme eventueller Modelländerungen Ressorcenvernichtungen (Lehren, Rohstoffe, Maschinenstunden etc.) einkalkuliert werden mußten. Diese fielen angesichts der materiellen Potenzen im Deutschen Reich gänzlich anders zu Buche; das Scheitern der XP-75 konnte durch die Forcierung der P 38 Ligthning bzw. des Langstreckenbegleitjäger »Mustang« auf Kosten des Army Air Force-Haushaltes kompensiert werden. Bedenkt man den Einbau eines Schleudersitzes zur Rettung des Piloten und die Nutzung gewisser Konstruktionsmerkmale, wie obenliegende Strahlturbine oder auch herabgezogene Tragflächenkappen, beim heutigen Panzerbekämpfungsflugzeug A-10 Thunderbolt II fällt es schwer, diesen Flugzeugtyp uneingeschränkt der Technologietypologie des NS-Fanatismus zuzuordnen.

Die vorstehenden Ausführungen drücken existierende Vorbehalte gegenüber der Zuweisung einer technologischen NS-Spezifik aus, die allein die obskuren, selbstzerstörerischen und aussichtslosen Modelle und Projekte dieser Kategorie subsumieren. Vielmehr erscheinen auch diejenigen Modelle und Baumuster, die bis zum letzten Kriegstag von den Industrieunternehmen unter billigender Inkaufnahme des Todes von Häftlings- und anderen Zwangsarbeitern gefertigt wurden bzw. deren Technologiestränge durch Know-How-Transfer bzw. Unternehmensneugründung in den Nachkrieg hineingerettet werden konnten, als Folgekosten der nationalsozialistischen Herrschaft. Deren Spezifik gründet sich vor allem in der eklektischen Kombination von nationalsozialistischem Fanatismus und industrieller Rationalität, die zu jener effektiven Kriegsmaschinerie transformierte, die kein Ende mehr fand.17 Die dynamische Einbindung von ökonomischer Rationalität in die Entwicklungslinien einer rassistischen Kriegsgesellschaft ermöglichte ausgangs des zweiten Weltkrieges die Koexistenz einer den Umständen geschuldeten, nach den Märkten der Zukunft schielenden Nachkriegsorientierung mit einem faktischen Durchhalteverhalten, das bis zum schlechten Ende die gewinnträchtigen Gewaltmittel für den vermeintlichen NS-Endsieg bereitstellte. Die Reißbrettstudien und Erprobungsträger des NS-Fanatismus hatten realistischerweise keine Verwirklichungsmöglichkeit mehr. Die in Bunkerfabriken, Höhlen und Bergwerksstollen gefertigten FW 190 oder Me 262 verdeutlichen allerdings gleichfalls den umfassenden Wahrnehmungsverlust der ökonomischen, militärischen und technokratischen Eliten, die der gebotenen rüstungswirtschaftlichen Komplexität nicht mehr entsprachen: Auch den erprobten Baumustern fehlte das Benzin, um in den Himmel aufzusteigen und die Piloten, allein um sie von den Endmontagebetrieben zu den Luftwaffeneinheiten zu überführen. Die Illusion schuf die kruden Fakten des Untergangsszenarios.18 Denn es wäre überaus unangemessen, diejenigen Unternehmen und Techniker, deren Erzeugnisse in Form der »Cruise Missile«, der Interkontinentalrakete oder des »Leopard« in die NATO-Heroenliste Eingang fanden, also keinen Aspekt des NS-Fanatismus in sich zu bergen scheinen, von der historischen Verantwortung freizumachen.

Anmerkungen

1) Ulrich Albrecht: Artefakte des Fanatismus. Technik und nationalsozialistische Ideologie in der Endphase des Dritten Reiches. In: Informationsdienst Wissenschaft & Frieden 7 (1989), Heft 4, S. 21-28. Zurück

2) Exemplarisch Michael Geyer: Deutsche Rüstungspolitik 1860 – 1980. Frankfurt/M. 1983, S. 154ff; Joachim Radkau: Technik in Deutschland. Vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Frankfurt/M. 1989, S. 239ff. Unternehmensgeschichtliche Studien sind zu diesem Themenkomplex bisher eine Seltenheit, vgl. etwa das DaimlerBenzBuch. Ein Rüstungskonzern im »tausendjährigen Reich«. Nördlingen 1987; KlausJörg Siegfried: Rüstungsproduktion und Zwangsarbeit im Volkswagenwerk 1939 – 1945. Frankfurt/M.; New York 1986; ders.: Das Leben der Zwangsarbeiter im Volkswagenwerk. Frankfurt/M.; New York 1988. Zurück

3) Vgl. die Auseinandersetzungen um die Unternehmensgeschichte der DaimlerBenz AG.: Hans Pohl, Stephanie Habeth, Beate Brüninghaus: Die Daimler Benz AG in den Jahren 1933 – 1945. Eine Dokumentation. Stuttgart 1986; Das DaimlerBenzBuch, a.a.O.; die kontroverse Aufnahme beider Bücher belegen Hans Mommsen: Bündnis zwischen Dreizack und Hakenkreuz. In: Der SPIEGEL vom 11.5.1987, S. 118-129; Volker Hentschel: Daimler-Benz im Dritten Reich. Zu Inhalt und Methode zweier Bücher zum gleichen Thema. In: Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 75 (1988), Heft 1, S. 74-100. Zurück

4) Walther J. Spielberger: Spezial-Panzer-Fahrzeuge des deutschen Heeres. Stuttgart 1987. Zurück

5) Bundesarchiv Koblenz (BA), Bestand R 121/ 309; Manfred Bornemann: Geheimprojekt Mittelbau. Die Geschichte der V-Waffen-Werke. München 1971. Zurück

6) Dieter Hölsken: Die V-Waffen. Stuttgart 1983; der Verfasser bereitet eine umfangreiche Studie zur betrieblichen Rüstungsproduktion des Volkswagenwerkes vor. Zurück

7) Vgl. zum Machtzuwachs der SS im Rahmen der Untertageverlagerung der deutschen Flugzeug- und Raketenindustrie etwa Rainer Fröbe: „Wie bei den alten Ägyptern.“ Die Verlegung des Daimler-Benz-Flugmotorenwerks Genshagen nach Obrigheim am Neckar 1944/45. In: Das Daimler-Benz-Buch, a.a.O., S.392-470 oder auch Florian Freund: Arbeitslager Zement. Das Konzentrationslager Ebensee und die Raketenrüstung. Wien 1989. Zurück

8) Zum KZ-Häftlingseinsatz bei Heinkel siehe etwa BA, NS 19/68 oder auch Hans Marsalek: Das Konzentrationslager Mauthausen. Wien 1980, passim. Die gewichtigen Strukturveränderungen innerhalb der deutschen Flugzeugindustrie sind bislang ohne besondere Beachtung geblieben. Zurück

9) Zum Verhalten der technokratischen Funktionseliten siehe Mommsen, Bündnis, a.a.O. Den gesellschaftlichen Zerfall beschreibt anschaulich Herfried Münkler: Machtzerfall. Die letzten Tage des Dritten Reiches dargestellt am Beispiel der hessischen Kreisstadt Friedberg. Berlin 1985; allgemeiner auch Bernd A. Rusinek: „Maskenlose Zeit“. Der Zerfall der Gesellschaft im Krieg. In: ÜberLeben im Krieg. Kriegserfahrung in einer Industrieregion 1939 – 1945. Hrsg. von Ulrich Borsdorf und Mathilde Jamin. Reinbek bei Hamburg 1989, S.180-194. Zurück

10) BA, NS 33/36, Fol. 10RS. Zurück

11) Zur militärischen Expansion der SS Bernd Wagner: Hitlers Politische Soldaten: Die Waffen-SS 1933 – 1945. Paderborn 1988, S. 307ff.; BA, NS 19/3192 und 3620. Zurück

12) Zur faschistischen Untergangsmetaphorik siehe etwa Herfried Münkler: Siegfrieden. Politik mit einem deutschen Mythos. Berlin 1988. Zurück

13) Manfred Messerschmidt: Krieg in der Trümmerlandschaft. Pflichterfüllung wofür? In: ÜberLeben im Krieg, a.a.O., S. 169-178. Siehe auch die Protokolle des Jäger- bzw. Rüstungsstabes im Bundesarchiv-Militärarchiv (BA-MA), RL 3/ 1-46; BA R 3/3034. Zurück

14) Vor der Tendenz, aus komplexen Hochtechnologien den Beurteilungsmaßstab des technologischen Fortschritts abzuleiten, warnt etwa Radkau, Technik, a.a.O., S. 46ff. Zurück

15) Irving Brinton Holley: Buying Aircraft: Materiell Procurement for the Army Air Forces. Washington, D.C. 1964; C. Martin Sharp; Michael J.F. Bowyer: Mosquito. London 1967. Zurück

16) Vgl. zur He 162 auch die vielfach problematische Darstellung bei Alfred Hiller: Heinkel He 162 »Volksjäger«. Entwicklung – Produktion – Einsatz. Wien 1984, S. 28ff. Die Parallelentwicklung, die beispielsweise im Falle der Fi 103 zur Verschrottung von 2000 Exemplaren im Volkswagenwerk führte, findet in dem Desaster des von General Motors entwickelten Langstreckenbegleitjägers XP-75 ihr amerikanisches Gegenstück; Irving Brinton Holley jr.: A Detroit Dream of Mass-produced Fighter Aircraft: The XP-75 Fiasco. In: Technology and Culture 28 (1987), S. 578-593. Zurück

17) Hans Mommsen: Nationalsozialismus als vorgetäuschte Modernisierung. In: Walter H. Pehle (Hrsg.): Der historische Ort des Nationalsozialismus. Frankfurt/M. 1990, S. 31-46. Zurück

18) Manfred Messerschmidt: Die Wehrmacht in der Endphase. Realität und Perzeption. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 32-33/89 vom 4.8.1989, S. 33-46; Gerd R. Ueberschär und Rolf-Dieter Müller: Deutschland am Abgrund. Zusammenbruch und Untergang des Dritten Reiches 1945. Konstanz 1986. Zurück

Manfred Grieger, arbeitet in einem Projekt der VW-Stiftung an der Fakultät für Geschichtswissenschaft der Ruhr-Universität Bochum.

Hilfloser Antimilitarismus?

Hilfloser Antimilitarismus?

Deserteure in der Literatur

von Norbert Mecklenburg

In allen zu Krieg gerüsteten Staaten mit Strafe bedroht und von der jeweils herrschenden Moral verurteilt, in römischer Zeit als »desertores«, die das »sacramentum militiae« gebrochen haben, mit dem Tod bestraft, in christlichen Zeiten auch mit Exkommunikation, geköpft, gehängt, für vogelfrei erklärt, in den feudalabsolutistischen Macht- und Militärstaaten, mit ihren Zwangswerbungen, barbarischen Drillmethoden und Soldatenverkäufen, systematisch gejagt, mit Alarmschüssen, Glockenläuten und Kopfprämien, wenn sie eingefangen wurden, wie die Hunde mit Prügeln traktiert, zum »Gassenlaufen« gezwungen, durch die Spießruten, oft mehrmals, Kleider abgerissen, drauflosgehauen, bis Fetzen geronnenen Blutes herunterhingen, in den modernen Nationalstaaten und ihren ideologisch verbrämten imperialistischen Kriegen als Feiglinge, Vaterlandsverräter, unterm Faschismus als entartete Volksfeinde abgestempelt, im zweiten Weltkrieg von furchtbaren Juristen immer massenhafter verurteilt und exekutiert, öffentlich aufgehängt mit schmähenden Pappschildern um den Hals: “Ich bin ein fahnenflüchtiger Feigling“, nach 1945 aufs gründlichste vergessen, verdrängt, keine Rehabilitation, keine materielle Entschädigung, keine kollektive Erinnerungs- und Trauerarbeit für sie.

So steht es um die Deserteure, so stand es lange Zeit um sie. Erst seit kurzem hat sich das, in Westdeutschland, geändert. Aufgrund der Forschungs- und Öffentlichkeitsarbeit von einzelnen und Gruppen sind die Deserteure des zweiten Weltkrieges wiederentdeckt und zu symbolischen Figuren des diskursiven Feldes aktualisiert worden, auf dem heute über Krieg und Frieden, Militarismus und Abrüstung debattiert wird. Das ist, wie gesagt, erst seit kurzem so. Nur auf einem Gebiet ist das Thema Desertion von Anfang an, kontinuierlicher, auf vielfältige Weise und wiederholt mit großer öffentlicher Wirkung behandelt worden: auf dem Gebiet der Literatur. Aus diesem Grund sei hier ein Versuch gemacht, die literarischen Gestaltungen des Themas Desertion und der Figur des Deserteurs in einem Überblick vorzustellen, kritisch zu anlysieren und im Licht des gegenwärtigen Friedensdenkens zu fragen, was ihre Aneigung zu ihm beitragen könnte.

Es versteht sich, daß solch ein Thema interdisziplinäre Arbeit erfordert. Militärgeschichtliche Fakten, rechtliche und ethische Normen sind zu berücksichtigen. Eine spezifisch literaturwissenschaftliche Untersuchung zu dem Thema stellt gleichwohl ihre eigenen Fragen: wie verhalten sich hier die drei Ebenen der geschichtlichen Wirklichkeit, der gesellschaftlichen Diskurse, der literarischen Werke zueinander? Was leisten dichterische Gestaltungen des Themas Desertion gegenüber anderen Medien, z.B. historischen Dokumentationen und Studien, Ausstellungen, Kino- und Fernsehfilmen, Podiumsdiskussionen? Worin besteht die poetische Differenz dieser Texte, ihr spezifisches Sinn- und Wirkunspotential? Ich lasse mich in diesem Versuch von der Annahme leiten, es bestehe neben erinnernder Vergegenwärtigung einer vergessenen Menschengruppe unserer jüngsten Vergangenheit in einer eigentümlichen Übertragung und Verallgemeinerung, die das begrenzte historische Phänomen in weiterreichende Bedeutungszusammenhänge zu stellen vermag. Mein Interesse richtet sich auf die mögliche Gegenwärtigkeit der Texte. Als betont literaturkritisches ist es einem Arbeitsprogramm komplementär, das sich auf literarische Texte über Krieg und Frieden als historische »Dokumente und Zeitzeugen« bezieht.1

Fahnenflüchtige, Ausreißer

Meinen Versuch möchte ich beginnen mit einer Skizze zur Entwicklung des Diskurses über Desertion und Deserteure. Unter Diskurs2 verstehe ich dabei nicht einen bloßen Hintergrund, einen ideologischen Reflex der Gesellschaft, sondern eine reale, die Texte, seine Bestandteile, wie die Gesellschaft selbst formierende Macht. An dieser Macht haben die Wörter teil und die Art, wie sie benutzt werden. Gewiß ist es eher kurios als belangvoll, daß sich das Wort »Desertion«, ehe es im 17. Jahrhundert als neues Lehnwort aus dem Französischen kam, nicht auf den Krieg, sondern auf den Ehekrieg bezog und »böswilliges Verlassen des Ehepartners«3 meinte. Es ist aber vielleicht nicht ganz belanglos, wenn heute in den west- und ostdeutschen Militärstrafgesetzen für den gleichen Straftatbestand auch das gleiche Wort »Fahnenflucht« steht wie im gemeinsamen Vorgängerstaat, in Österreich dagegen »Desertion« und in der Schweiz »Ausreißen«. Alles andere als belanglos war es einst, daß der Kirchenvater Tertullian die Unvereinbarkeit von Christsein und Soldatsein rhetorisch höchst wirkungsvoll als Unversöhnlichkeit von göttlichem und menschlichem Fahneneid, Feldzeichen Christi und Feldzeichen des Teufels, Lager des Lichts und Lager der Finsternis darstellte.4 Denn als die Kirche später, mit dem größten Verrat ihrer Geschichte, von solcher Militia Christi desertierte und zur Staatskirche verkam, ließ sich der metaphorische Diskurs über Desertion auf doppelte Weise wörtlich nehmen: indem man die Ketzer, als geistliche Deserteure, unter Zuhilfenahme der römischen Militärsstrafgesetze verfolgte5 und indem man die militärischen Deserteure mit der ganzen Unerbittlichkeit des religiösen Fanatismus aburteilte.6

Bis heute wecken die Wörter »Desertion« und »Deserteur« Mißtrauen, nicht nur weil die gemeinte Sache je nach Relation und Position negativ oder positiv bewertet werden kann – Desertion von der bösen Armee ist gut, von der guten dagegen böse, sondern auch weil die Ausdrücke leicht übertragene oder erweiterte Bedeutungen an sich ziehen: Desertion von einer Armee, einer Ideologie, einem Staate usw.7a So versucht man sie unter Kontrolle zu halten, und sei es nur lexikographisch. In der Neubearbeitung des Grimmschen Wörterbuches sind aus modernem Sprachgebrauch sorgfältig Belegstellen ausgewählt, die sich auf Deserteure der US-Armee während des Vietnamkrieges beziehen.7b Eine Gedenktafel am Berliner Bahnhof Friedrichstraße teilt mit, dort seien „zwei junge deutsche Soldaten von entmenschten SS-Banditen erhängt“ worden8„zwei junge deutsche Soldaten“, als seien Deserteure schlafende Hunde.

Tabu Desertion

In der BRD hat das Thema Desertion lange Zeit geradezu unter einem diskursiven Tabu gestanden. Nach 1945 bildete sich kein öffentliches Bewußtsein vom Schicksal der Deserteure des zweiten Weltkrieges. Geltendes Recht und öffentliche Moral grenzten sie aus. Das Stigma der Feigheit und des Verrats hinderte überlebende Deserteure, sich in der Öffentlichkeit eines Staates zu Wort zu melden, der nur allzubald von Restauration und Remilitarisierung geprägt wurde.9 Allein den Schriftstellern ist es zweimal gelungen, das Diskursverbot über Desertion nachhaltig zu brechen: Alfred Andersch, als er 1952 den Bericht über seine eigene Desertion »Die Kirschen der Freiheit« veröffentlichte, ein „Trompetenstoß in schwüle Stille“, wie Heinrich Böll damals sagte10, gefolgt von einer heftigen, sehr kontroversen, aber bald wieder verstummenden Diskussion; Rolf Hochhuth, als er 1979/80, in der Zeit einer erneuten restaurativ-autoritäten Wende in der politischen Kultur der BRD, mit seinem Theaterstück »Juristen«11 das verdrängte Thema der Militärjustiz im »Dritten Reich« öffentlich machte und dabei den Ministerpräsidenten und ehemaligen Marinestabsrichter Filbinger politisch zu Fall brachte, der neben anderen Heldentaten eines furchtbaren Juristen ein Todesurteil über den Deserteur Walter Gröger erwirkt und auch vollstreckt hatte.12 Der Fall Gröger wurde durch Hochhuth zum Paradigma. Während Andersch' Bericht den damaligen Diskurs über Desertion nicht wesentlich hatte verändern können, aufgrund seiner poetischen Qualität jedoch weiterhin mit einem Wirkungspotential präsent ist, das ich noch näher bestimmen möchte, hat Hochhuths künstlerisch kaum lange lebensfähiges Stück eine öffentliche, bis in die Gegenwart anhaltende Diskussion initiiert, die das diskursive Feld, auf dem über Desertion und Deserteure geredet und gedacht wird, entscheidend verschoben und erweitert hat. Das Tabu ist in der Bundesrepublik seitdem gebrochen.

Im Gegenzug zu ideologischen Tendenzen eines gefährlichen Neonationalismus, einer „Entsorgung der Vergangenheit“ und Aufwertung »soldatischer Tugenden« und in enger Tuchfühlung mit der westdeutschen Friedensbewegung hat sich eine breite öffentliche Debatte über die Deserteure des zweiten Weltkrieges entfaltet, die auf historische Aufklärung, Nachholen von Trauerarbeit und Veränderung des bisher herrschenden Deserteursbildes zielt. Mittlerweile sind, als überfällige Antworten auf apologetisch geschichtsklitternde Darstellungen ehemaliger Kriegsrichter13, mehrere materialreiche historiographische Arbeiten erschienen, die das Schicksal der Deserteure in statistischer Breite und anschaulichen Fallstudien gleichermaßen erschütternd vor Augen stellen.14 Um den Männern, die sich illegal der Mordgemeinschaft entzogen und dafür vieltausendfach ihrerseits legal – und bis heute rechtsgültig – ermordet wurden, das gebührende Gedenken zu widmen, haben sich in den achtziger Jahren quer durch die BRD zahlreiche Initiativen zur Errichtung von Denkmälern für Deserteure gebildet, die zwar mit dieser engeren Zielsetzung bisher meist ohne Erfolg geblieben – in Bremen gibt es ein Denkmal, in Kassel eine Gedenktafel, desto erfolgreicher jedoch im vielfachen Anstoßen öffentlicher Diskussionen sind.15 Insgesamt zeigt die öffentliche Resonanz der Aktionen, daß auf dem engeren Feld des Diskurses über Deserteure eine beachtliche Verschiebung zu deren Gunsten stattgefunden hat.

»Ethik der Verweigerung« statt »Fahnenflucht«

Die Deserteure sind, unabhängig von den historischen Konstellationen und individuellen Motiven, zu symbolischen Leitfiguren eines neuen, radikalen Antimilitarismus geworden, der nicht das Stigma der Fahnenflucht in das Verdienst des Widerstands umdefiniert, sondern auch eine herkömmliche Sortierung wie Aggressions-/Verteidigungskrieg, guter/schlechter Deserteur16 hinter sich läßt. Auf dem Feld des gegenwärtigen Diskurses über Krieg und Frieden bewirkt der Symbolwert der Desertion, daß auch die »horizontale« ideologische Opposition Imperialismus vs. Sozialismus17 durchkreuzt wird von der »vertikalen« Unterscheidung eines staatshörigen und eines staatskritischen Diskurses.18 Die ethische Problematik der Desertion, die aufbricht, wenn es nicht um Deserteure aus der Nazi-Wehrmacht geht – sie konnten und können nur von einer Pseudo-Ethik verurteilt werden, sondern aus einer gegnerischen Armee, z.B. der Roten, erhält im Licht gegenwärtiger Einsichten über das Destruktivpotential von Rüstung, Armeen und Militärmacht als solcher und in allen politischen Lagern eine neue Dimension. Der Deserteur, egal aus welcher Armee, gerade mit seiner unheroischen, zivilistischen, plebejischen, kreatürlichen Todesfurcht und Lebensliebe, wird zur Leitfigur einer anderen Ethik, einer Ethik der Verweigerung, des Sich-Entziehens und Nicht-mehr-Mitmachens, des Aussteigens und Weggehens. Christa Wolfs Kassandra liebt einen Aineias, der sich bei Trojas Ende mit seinen Leuten absetzt und so davonkommt, überlebt, nicht jedoch den, der später ein Held sein muß.19 Das heroische Ideal, das noch dort nicht überwunden ist, wo, an sich plausibel, vom Pseudo-Heroismus des Wehrmachtsoldaten und vom bescheidenen Heldentum des Überläufers aus der NS-Armee der »wahre Heroismus« des Kämpfers gegen die Faschisten abgehoben wird,20 wo Klassenkampf weiterhin in militärischen Kategorien gedacht wird, wo Disziplin und andere »soldatische Tugenden« mehr gelten als Liebe zum Leben21 – dieses Ideal wird durch das neue Gegen-Leitbild des Deserteurs nachhaltig irritiert. Gegen den Militärzynismus staatlicher Machtapparate wird eine »kynische« Haltung gesetzt,22 die plebejische Optik des Sancho Pansa, des Schwejk und des Brechtschen Sokrates, der ein Held der Wahrheit, nicht des Krieges ist und darum in die richtige Richtung läuft: nach hinten.23 Das »Prinzip Desertion«, in provozierender Verallgemeinerung und Metaphorisierung von Gerhard Zwerenz24 und anderen als Inbegriff eines modernen Antimilitarismus verstanden, zielt nicht auf bestimmte Militärkomplexe, sondern auf radikale Abkehr von der „destruktiven Logik militärischen Denkens“ überhaupt25 und auf Abbau von »Staatsloyalität« zugunsten einer – wie Dorothee Sölle sagt – „Loyalität dem Leben gegenüber“.26

Poetische Spuren

Natürlich finden sich auch in älterer deutscher Literatur schon Deserteure. Den Anfang machte die Lyrik, das Volkslied, das klagende und anklagende, plebejische und rebellische Soldatenlied des 18. Jahrhunderts. Elf Deserteurslieder hat Wolfgang Steinitz gesammelt,27 darunter »Nun ade, jetzt reis' ich fort«, damals das beliebteste von allen, »Es wollt ein Soldate desertieren«, »Von einem preußischen Deserteur«, »Zu Straßburg auf der Schanz«, weitbekannt in der Vertonung Silchers und der sentimental verharmlosten Textfassung aus »Des Knaben Wunderhorn«.

Ich will mich aber im wesentlichen auf die Zeit konzentrieren, wo das Deserteursmotiv wohl am häufigsten literarisch behandelt worden ist: die beiden Jahrzehnte nach 1945.

Entfernung von der Truppe

Nach Alfred Andersch, dessen – noch zu behandelnder – Bericht »Die Kirschen der Freiheit« meiner Einschätzung nach der alle anderen überragende Text über Desertion geblieben ist, haben noch drei weitere bedeutende westdeutsche Autoren das Thema erzählerisch behandelt. Arno Schmidts frühe Erzählung »Aus dem Leben eines Fauns« verfremdet das Thema durch Historisierung: Ein alternder Beamter im Nazi-Deutschland, mit seiner hitlerhörigen Umgebung immer mehr hadernd, kommt bei Archivstudien aud die Spuren eines Deserteurs der Napoleonzeit, entdeckt sogar die Reste von dessen Unterschlupf im Wald und richtet sich dort selber, mitten im Weltkrieg, ein heimliches Liebesdidyll ein, sein Ehefrau »böswillig verlassend«.28 Heinrich Böll, in dessen früher Kriegsprosa die – wenn auch tödlich vereitelte – Desertion wiederholt zum erzählerischen und ideellen Fluchtpunkt gemacht ist (»Der Zug war pünktlich«, »Wo warst du, Adam?«) und der an anderer Stelle von seiner eigenen Desertion berichtet hat, bemüht in seiner Erzählung »Entfernung von der Truppe« einen allzu großen Aufwand von oft recht gezwungener Ironie, um seinen Ich-Erzähler Wilhelm Schmölder nach umständlichem Anlauf sein eigenes, durch gespielte Harmlosigkeit zersetzendes, zivilistisches, echt Böllsches Bekenntnis vorbringen zu lassen, daß Menschwerdung dann beginne, „wenn einer sich von der jeweiligen Truppe entfernt“.29

Heimatlose Revolutionäre

Heinar Kipphardt hat seine späte Erzählung »Der Deserteur«30 aus dem Material für ein von ihm nicht mehr realisiertes Romanprojekt mit dem für sein Schreiben charakteristischen Verfahren der Dokumentarmontage erarbeitet.31a Sie ist das desillusionierende Gegenstück zu jenen sozialistischen Wandlungsromanen, in denen die Desertion letztlich immer als Übergang von der falschen auf die richtige Seite dargestellt ist. Jakob Hartel, politischer Häftling im Konzentrationslager M., wird nach dem gescheiterten Versuch eines SS-Führers, das Lager in einen Wirtschaftsbetrieb nach modernen kapitalistischen Prinzipien umzuwandeln, in die berüchtigte Brigade Dirlewanger gesteckt und zur »Frontbewährung« beim Warschauer Aufstand eingesetzt. In der Altstadt tötet er seinen Vorgesetzten und desertiert in die Gefangenschaft der nahen, aber auf Stalins zynische Weisung nicht in die Kämpfe eingreifenden Roten Armee. Selber kommunistischer Widerstandskämpfer, wird er von einem stalinistischen deutschen Parteibürokraten mißtrauisch verhört. Wie sich auf der einen Seite im Terrorsystem des SS-Staates kapitalistisches Denken entwickelt, pervertiert auf der andern das revolutionäre zu Hörigkeit gegenüber einem anderen Diktator. Macht- und Funktionärszynismus auf beiden Seiten, der Deserteur als ortlos gewordener Revolutionär – das ist die bittere Botschaft von Kipphardts Erzählung.31b

Das Prinzip Leben

Die kritische Sichtung literarischer Gestaltungen von Desertion und Deserteuren in deutschprachiger Nachkriegsliteratur fördert wenig von bleibendem Gewicht zutage. Die meisten der Text haben nicht genügend poetische Kraft, die Spannung von Historizität und Aktualität zu bestehen. Ich möchte darum im letzten Teil meines Versuchs zwei Prosawerke miteinander konfrontieren, und zwar unter einem Gesichtspunkt, der auch in den meisten übrigen literarischen Arbeiten über Deserteure wenigstens anklingt und der für den gegenwärtigen und zukünftigen Diskurs über Frieden m.E. große Bedeutung hat. Ich nenne ihn, abgekürzt, das Prinzip Leben. Die plötzliche Erfahrung der Verbundenheit mit dem Leben und des eigenen Lebendigseins, bei noch drohender oder gerade abgewendeter Todesgefahr – das ist ein Element, das in den Deserteursdarstellungen immer wiederkehrt. Und immer wieder sind es Naturmotive, in denen sich diese Erfahrung poetisch spiegelt.

Das Bild des Wildkirschenbaums und seiner reifen Früchte, mit dem die Erzählung von Alfred Andersch schließt und auf das sich ihr einprägsamer Titel bezieht, hat mancherlei Parallelen in anderen Texten. Das Deserteursstück von Hacks beginnt, indem es die plebejische Lebenszugewandtheit des Helden und ein glückliches Ende symbolisiert, mit dem Bild des unter einem Pflaumenbaum sitzenden und dessen Früchte essenden Braeker. Hartungs Deserteursnovelle gipfelt im Bild eines blühenden Apfelbaums mit Amselgesang, das den Entronnenen die „Gnade des Lebens“ und die „heitere Lust des Daseins“ innewerden läßt.32 In anderen Werken tritt dieses kreatürliche Naturgefühl mit Liebeserfahrung zusammen in Gestalt einer vorübergehenden, inselhaften Idylle – so bei Friedrich Wolf und Albrecht Goes. Mit solchen und verwandten Motiven bezeugen die literarischen Deserteursdarstellungen, ob gezielt oder nebenbei, ob tragisch ausgehend oder glücklich, das Prinzip Leben. Sie berühren damit eine Dimension von Friedensfähigkeit, die elementarer ist als alle ideologischen und ethischen Probleme, die das Thema Desertion auch in sich birgt, eine Dimension, die im Unterschied zu diesen im literarischen Medium nur auf genuin poetische Weise darstellbar ist.

So weit das Buch »Die Kirschen der Freiheit« von Alfred Andersch auch z.B. hinter den Werken der russischen Literaten Tschingis Aitmatov (»Aug in Auge«)33a und Valentin Rasputin (»Leb und vergiß nicht«)33b künstlerisch zurücksteht, so weit überragt es seinerseite die anderen deutschen Texte auf diesem thematischen Feld. Meine These ist nun, daß ein spezifischer und aktuell bleibender Wert diese Buches eben in einer poetischen Vergegenwärtigung des Prinzips Leben bestehe. Um diese Einschätzung zu verdeutlichen, möchte ich das Buch von Andersch mit einem weiteren poetischen Deserteursbuch konfrontieren, in dem dieses Prinzip, als Verbundenheit mit der Natur, geradezu programmatisch ins Zentrum gerückt ist. Ich meine Wilhelm Lehmann Roman »Der Überläufer«, der, gleichfalls autobiographisch fundiert, eine Desertion nicht im zweiten, sondern im ersten Weltkrieg darstellt.34 Ende der zwanziger Jahre geschrieben, in der großen Zeit der Kriegs- und Antikriegsliteratur also, konnte das Werk, in gekürzter Fassung, erst 1962 veröffentlicht werden, zehn Jahre später als der Bericht von Andersch und mit ungleich geringerer Wirkung.

Metaphysisches Überlaufen zur Natur

Im Zentrum der Kriegsdarstellung bei Lehmann, die sich auf Militärdienst, Fronteinsatz und Gefangenschaft erstreckt, steht wie der Titel andeutet, die Desertion. Doch die Kriegsdarstellung wiederum – in der gekürzten Spätfassung füllt sie leider nur ein Fünftel des Romans – wird eingerahmt von der Lebensgeschichte des Helden, einer merkwürdigen Mischung aus Bildungsroman und Legende. Dieser Deserteur Hanswilli Nuch ist Überläufer in einem umfassenderen, in einem metaphorischen und metaphysischen Sinn: er läuft, als radikaler »Aussteiger«35, zur Natur über. Von früh auf ihr permanenter poetischer Beobachter, wird er nach dem Krieg, der nicht nur die europäischen Völker, sondern die ganze Welt, die Erde, den Kosmos, die Schöpfung, mit dem „schrecklichsten Zwang“ 36 heimgesucht hat, ihr Adept, ihr Verkünder, ihr Heiliger. Denn ohne Versöhnung mit der Natur – so lautet Nuch/Lehmanns Evangelium – läßt sich auch die gesellschaftliche Entzweiung nicht aufheben, die den modernen Krieg hervorbringt.

So lesenwert nun Lehmanns mutige, unbestechlich nüchterne, antiideologische Abrechnung mit Militärwesen und Krieg noch heute ist – dieser Teil des Romans hätte verdient, für sich publiziert zu werden, so eindringlich die Vorführung einer mimetischen Naturbeziehung in sensibler poetischer Prosa – »Der Überläufer« bleibt als ganzes ein problematisches Buch. Die Sensibilität für Natur wird erkauft mit Harthörigkeit für das Menschlich-Soziale. Dem trivial-soldatischen wird ein elitär-naturmystischer Männlichkeitskult – gut vereinbar mit dem Kult der Mutter Erde – entgegen gestellt. Das scheinbar zeitlose Naturevangelium hat teil am trüben Diskurs des Kulturpessimismus, an den Ideologemen der zwanziger Jahre. Die poetische Vergegenwärtigung des gegen die Todeswelt des Krieges gesetzten Prinzips Leben reduziert sich bei Lehmann, polemisch gesagt, auf Botanisieren plus Mythologie. Das Prinzip Desertion wird so sehr ins Metaphysische hinein überdehnt, daß als seine Kehrseite ein hilfloser Antimilitarismus erscheint, der letztlich alles beläßt, wie es ist – Naturkult als »innere Emigration«.

Die Kirschen der Freiheit

Auch in »Die Kirschen der Freiheit« ist die Desertion nicht einfach Desertion. Die autobiographische Erzählung von Alfred Andersch über sein Leben bis zur Desertion von der NS-Wehrmacht im Juni 1944 an der italienischen Front gibt sich zugleich als philosophisches Bekenntnis zum Freiheitsbegriff des Existentialismus. Die Desertion wird damit auch von Andersch ins Metaphysische überhöht: als augenblickhafter »Akt der Feiheit«, den es zwischen Gefangenschaft und Gefangenschaft als existentielle Entscheidung zur Rebellion gegen das Schicksal zu vollziehen gelte.37 Diese exemplarische Stilisierung einer vergleichsweise undramatischen Desertion ist, rezeptionsästhetisch gesehen, eine provozierende Verfremdung des Themas – gewesen. Welche Funktion hat diese Verfremdung? Vergleicht man »Die Kirschen der Freiheit« mit der Vorstufe »Flucht in Etrurien«, so wird deutlich, in welcher Weise sich Intention und poetische Organisation des Stoffes verschoben haben. »Flucht in Etrurien« erzählt fiktionalisierend in der dritten Person von dem Soldaten Werner Rott und zwei Kameraden, die verschiedene Haltungen gegenüber seinem Entschluß zur Desertion einnehmen. Die narrative Umsetzung der Alternative „Der eine, der da blieb, und der andere, der fort ging“ 38 ist auch noch in »Die Kirschen der Freiheit« als Textelement erhalten. Dreierlei kam in der neuen Version hinzu: erstens die Überhöhung der Desertion in Anlehnung vor allem an die Philosophie Sartres, für die Andersch damals vehement eintrat, nach der Basisformel einer Arbeitsnotiz: „Klammerung von Desertionsproblem + Existenzphilosophie“;39 zweitens ein langer erster Teil, der in rückblickender Selbstdeutung die Lebensgeschichte des Ich-Erzählers und ihre Leitmotive, ihren „unsichtbaren Kurs“, vorstellt, wobei das Hauptthema dieses Teils, die Abkehr von der Kommunistischen Partei, in eine den Leser wiederum herausfordernde antithetische Analogie zur späteren Desertion gerückt wird; und drittens ausführliche Reflexionen über Soldateneid, Wehrpflicht und zukünftige Armeeformen.

An diesen drei neuen Textkomponenten, die den publizistischen Reizwert, die öffentliche Resonanz und die zeitgeschichtliche Aktualität des Buches, im Unterschied zu der kaum beachteten Publikation der Vorstufe, bewirkt haben, läßt sich sein Eingriffs- und Projektcharakter ablesen: als antimilitaristisches Bekenntnis in der Zeit beginnender Remilitarisierung, nicht jedoch als direkte politische Stellungnahme, als Versuch, andere zu überzeugen, sondern als Rechenschaftsbericht über eine „ganz private und subjektive Wahrheit“. Gleichwohl zeichnet sich deutlich die Positionsnahme des Autors auf dem diskursiven Feld in dem Kapitel »Fahnenflucht« ab, das seine Reflexionen über Eid und Wehrpflicht enthält, die damals heftige Kontroversen auslösten.40 So gewiß die existentialistische Stilisierung der Desertion, die theologischen Denkmotive im Text, die Abrechnung mit der Kommunistischen Partei das Buch für bürgerliche Intellektuelle zustimmungsfähig machten, so gewiß hat Andersch hierin nicht nur taktisch operiert. Seine Kritik an der KP als Organisation, übrigens bei gleichzeitigem Bekenntnis der »Treue« zu den vom Faschismus verfolgten und ermordeten »Genossen«, eine Kritik, die weder dort ernstgenommen ist, wo man den Autor zum politischen Deserteur, zum Renegaten abstempelte,41 noch dort, wo man sie auf ein ungenaues Wissen von der richtigen marxistischen Lehre über Determination und Willensfreiheit herunterspielt42 – diese Kritik bleibt bedenkenswert, auch wenn sich die philosophische Position, von der aus sie formuliert ist, von heute aus gesehen, als Ausdruck einer aporetisch, ortlos gewordenen linken Intelligenz erweist – aus triftigen Gründen aporetisch angesichts von Faschismus, kapitalistischer Restauration und Stalinismus.

Dennoch ist die diskursive Weise, in der Andersch seine Desertion aus der NS-Wehrmacht literarisch verallgemeinert und aktualisiert hat, inzwischen ihrerseit historisch geworden. Als indirektes Zeugnis gegen die westdeutsche Remilitarisierung ist das Buch von der Geschichte ebenso überholt worden wie als Rechtfertigung der Fahnenflucht aus einem Krieg, den nicht als verbrecherisch zu verurteilen, nur Unbelehrbaren vorbehalten bleibt. Historisch obsolet ist das Moment der Überkompensation, das den »Kirschen der Freiheit«, bei allen sonstigen Unterschieden, ebenso wie Wilhelm Lehmanns »Überläufer« anhaftet. Desertion als Naturreligion, Desertion als existentialistischer Akt – in beiden Fällen wird ein diskriminierender Druck kompensiert, der in den zwanziger und fünfziger Jahren wohl ähnlich groß war, der heute jedoch, in der Bundesrepublik, erheblich geschwunden sein dürfte.

Um einer Aktualität, die das Buch von Andersch gleichwohl im Rahmen des gegenwärtigen Friedensdenkens gewinnen könnte, auf die Spur zu kommen, muß man es in der Vielfalt seiner Widersprüche und offenen Fragen wahrnehmen. Ich denke an die Widersprüche von Erzählung und Essay, Erlebnis und Diskurs, poetischem Titel und sachlichem Untertitel, Nüchternheit und Pathos, stilistischer Gewähltheit und burschikoser Lässigkeit, Ernst Jünger und Jean-Paul Sartre als Vorbildern, philosophischem Traktat und manchmal fast jungenhaft erlebter und erzählter Abenteuergeschichte. Solche Widersprüche verhindern jede Einschüchterung durch die Geschlossenheit eines vollendeten Kunstwerks. Sie erhalten das Buch, Erstling eines jungen Autors, bis heute lebendig und seine Lektüre produktiv.

Das wilde Aroma von Leben

Der markanteste Widerspruch besteht in einer den ganzen Text durchziehenden Spannung von Darstellung und Reflexion, ideologischem Überbau und sinnlicher Materialität und Vielfalt der Erfahrungen. Doch wäre es wiederum eine Reduktion, diese Ebene erzählerisch vergegenwärtigter Erfahrung als typischen Ausdruck einer desorientierten Generation zu dechiffrieren, die keinen „Anschluß an progressive geschichtliche Bewegungen gefunden“ habe.43 Wenn man die Themenbereiche und semantischen Felder des ganzen Textes sorgfältig analysiert, d.h. die gesamte textuelle Einbettung des Motivs der Desertion, auf das die Erzählung als ihren Fluchtpunkt hinläuft, dann wird man den beiden Bereichen besondere Aufmerksamkeit widmen müssen, die neben denen der politischen Arbeit und des Krieges den breitesten Raum einnehmen: Landschaft und Kunst. Kunst und »Kampf des Menschen gegen das Schicksal«, für den die Desertion als Exempel erscheint, werden unter dem Polysem »Freiheit« – einer »verantwortungslosen« – vom Autor parallelgesetzt. Das ist ein Fingerzeig dafür, das ästhetische Prinzip als mindestens gleichwertig neben dem ethischen zu sehen, das sich auf der Diskursebene des Textes sonst dominierend gibt. „Glücklicherweise“ sind »Die Kirschen der Freiheit« – so heißt es bezeichnenderweise nicht in einer deutschen, sondern einer französichen Rezension 1954 – kein „moralischer Traktat“.44 In der Kunsterfahrung des Erzählers vollzieht sich eine nicht weiter von ihm analysierte, aber deutlich benannte Entwicklung von einer Ästhetik der »Introversion«, der »Emigration aus der Geschichte«, die als politische Resignation angesichts des totalen Staates kritisch dargestellt ist, zu einer anderen Ästhetik, welcher der ganze Text mit seinen vielen liebevollen und nuancierten Bezugnahmen auf Kunst- und Naturschönes Ausdruck gibt, einer Ästhetik, die manches mit dem Weiss'schen Konzept einer »Ästhetik des Widerstands« gemein hat, die man zutreffender aber wohl eher als eine »Ästhetik des Lebens« bezeichnet. Die scheinbare Bindungslosigkeit der ästhetischen Erfahrung führt der Text auf poetische Weise als Bindung ans Leben vor: als liebevolle Hingabe an Welt, als Offenheit für alles Lebendige in Natur und Gesellschaft und als Innewerden des eigenen Lebendigseins.

Das „wilde Aroma von Leben“ ist im „Aroma der Kunst“, im revolutionären Kampf, im grenzüberschreitenden Reisen, im Glück mimetischer Hingabe an Landschaft gleichermaßen zu erfahren. Das Prinzip Leben, für das »Die Kirschen der Freiheit« werben, ist mehr als ein Überlebensprinzip im faschistischen Krieg, mehr auch als eine abstrakte Freiheitsideologie. Weniger auf der diskursiven als auf der poetischen Ebene des Textes angesiedelt, begrifflich also schwer zu fixieren, ist es am ehesten als kritisches Prinzip greifbar: wo vom „Sterben einer Partei“ an Bürokratie, Macht und Terror gesprochen wird, einer Partei, die man für „spontan, frei, lebendig und revolutionär“ gehalten hatte und die immer mehr „die Lebendigen“ in ihr unterdrückt. In den Widersprüchen des individuellen und gesellschaftlichen Lebens, selbst angesichts von Desillusionierungen und Katastrophen, nicht erstarren, sondern „lebendig bleiben“ durch Offenheit für alle Quellen von Gegenkraft, exemplarisch verkörpert im Erlebnis von Kunst und Landschaft, darin besteht m.E. eine fortgeltende Botschaft der »Kirschen der Freiheit«.

Provozierendes »Prinzip Desertion«

Diese Botschaft entspricht recht genau denjenigen Stimmen innerhalb der produktiven Vielfalt des gegenwärtigen Friedensdenkens, die gleichfalls an der Figur des Deserteurs das Prinzip Leben verdeutlicht sehen. Das historische Faktum der Desertionen im zweiten Weltkrieg wird in beiden Fällen, einmal poetisch, einmal diskursiv, in kühner Weise generalisiert. In solcher Verallgemeinerung liegt immer ein Moment des Riskanten, Provozierenden, Entgrenzenden. Boris Vian hatte sein berühmtes Lied »Le Deserteur«45, das von Wolf Biermann sehr schön nachgedichtet worden ist,46 nach dem Indochinakrieg geschrieben. Gesungen aber wurde es auch mit Blick auf den Algerien-, Vietnam-, den Afghanistan-Krieg. Die jeweils Herrschenden verboten es oder hörten es sehr ungern an, den Linken war es zu »pazifistisch«, trat es doch ebenso wie gegen den Krieg für das Leben ein. Daß die deutschen Deserteure des zweiten Weltkrieges ein ehrendes Andenken verdienen, auch die, welche nur leben wollten, sieht man heute vielleicht mehr als früher ein, eine Herausforderung aber bleibt das gezielt verallgemeinernde Prinzip Desertion. Für die »Flucht von den Fahnen« wird kein Orden verliehen, nur – wie es in einem Gedicht Ingeborg Bachmanns heißt – der „Stern der Hoffnung“.47 Hoffen wir, daß unsere im Umgang mit lebendiger Dichtung aktivierte „Loyalität dem Leben gegenüber“ (Dorothee Sölle) dazu beitrage, einen Krieg zu verhindern, aus dem es keine Desertion gäbe!

Anmerkungen

1) Ursula Heukenkamp: Fahnenflucht und Vaterlandsverrat? Erwiderung auf Günter Hartung, in: Z.f.Germ. 10 (1989), S. 470-476; hier S. 472; dies.: Vorschläge zur Friedensforschung, in : WB 34 (1988), H. 1, S. 7-16.Zurück

2) Vgl. Jürgen Erfurt/Reinhard Hopfer: Sprache und Frieden. Aufgaben der Linguistik aus der Sicht der Diskursanalyse, in Z.f.Germ. 10 (1989), S. 309-324. Zurück

3) Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Neubearb. Bd.6, Leipzig 1983, Sp. 751 ff. Zurück

4) Adolf von Harnack: Militia Christi, Tübingen 1905 (Tertullian: De idolatria, c. 19). Zurück

5) W. Seston: Artikel „Fahnenflucht“, in: Reallexikon f. Antike u. Christentum, Bd. 7, Stuttgart 1969, Sp. 286. Zurück

6) Karlheinz Deschner: Kriminalgeschichte des Christentums, Bd. 1, Reinbek 1986, S. 253, 261 f. Zurück

7a) Thomas Mann: Gesammelte Werke in zwölf Bänden, Frankfurt/Main 1960, Bd. 3, S. 595, vgl. S. 578 u. 633. Zurück

7b) Deutsches Wörterbuch (Anm. 3), Sp. 751 ff. Zurück

8) Norbert Haase: Deutsche Deserteure, Berlin 1987, S. 66. Zurück

9) Ebd., S. 14 f., 91 f. Zurück

10) Heinrich Böll: Trompetenschoß in schwüle Stille, in: Welt der Arbeit (Köln) v. 28.11.1952; abgedr. in: Über Alfred Andersch; hrsg.v. G. Haffmanns, Zürich 1974, S. 48 f. Zurück

11) Rolf Hochhuth: Juristen. Drei Akte für sieben Spieler, Reinbek 1979. Zurück

12) In Sachen Filbinger gegen Hochhuth. Die Geschichte einer Vergangenheitsbewältigung, hrsg.v. R. von dem Knesebeck, Reinbek 1980. Zurück

13) Otto Peter Schweling/Erich Schwinge: Die deutsche Militärjustiz in der Zeit des Nationalsozialismus, Marburg 1977. Zurück

14) Haase: Deutsche Deserteure (Anm. 8); Jörg Kammler: Ich habe die Metzelei satt und lange über. Kasseler Soldaten zwischen Verweigerung und Widerstand (1939-1945). Eine Dokumentation, Fuldabrück 1985;
Manfred Messerschmidt: Deutsche Militärgerichtsbarkeit im Zweiten Weltkrieg, in: Die Freiheit des Anderen. Festschrift für Martin Hirsch, hrsg.v. H.J. Vogel (u.a.), Baden-Baden 1981, S. 111-142;
ders./Fritz Wüllner: Die Wehrmachtjustiz im Dienste des Nationalsozialismus, Baden-Baden 1987, S. 90-131;
Alexander-Seitz Geschichtswerkstatt Marbach und Umgebung e.V.: »Für mich ist der Krieg aus«. Fahnenflucht, Verurteilung und Exekution des Erwin Kreetz in Kleinbottwar im April 1945, Marbach a.N. 1987.Zurück

15) Vgl. u.a. Stefan Reineke (Marburg): Der Oberstleutnant und die Deserteure, in: taz v. 3.8.1988, S, 5; Petra Heilingbrunner: Du schweigst oder fliegst. Ein Denkmal für Deserteure?, in: Die Zeit v. 2.9.1988, S. 17; Stefan Koldehoff: Schießausbildung in Wuppertal. Hunderte von Deserteuren im März 45 in der Wuppertaler Sagan-Kaserne hingerichtet?, in taz v. 11.3.1989, S. 12. Zurück

16) Militärlexikon (Autorenkollektiv), 2Bde., Berlin 1971, S. 188 f. Zurück

17) Ebd., S. 189 Zurück

18) Vgl. Ekkehart Krippendorff: Staat und Krieg. Die historische Logik politischer Unvernunft, Frankfurt/Main 1985. Zurück

19) Christa Wolf: Kassandra, Darmstadt 1983, S. 7, 36, 156. Zurück

20) Hermann Kant/Frank Wagner: Die große Abrechnung, in: NDL 5 (1957) H. 12, S. 124-139; hier S. 135. Zurück

21) Haase: Deutsche Deserteure (Anm. 8), S. 106 f. Zurück

22) Peter Sloterdijk: Kritik der zynischen Vernunft, Bd. 1 u. 2, Frankfurt/Main 1983, Bd. 2, S. 403 ff. Zurück

23) Der verwundete Sokrates, in: Bertolt Brecht: Gesammelte Werke (werkausgabe edition suhrkamp), Frankfurt/Main 1967, Bd. 11, S. 286-303;
vgl. Klaus-Detlef Müller: Brecht-Kommentar zur erzählenden Prosa, München 1980, S. 327-330.Zurück

24) Gerhard Zwerenz: „Soldaten sind Mörder“. Die Deutschen und der Krieg, München 1988, S. 417-424. Zurück

25) »Die Kirschen der Freiheit«. Eine Ausstellung im Museum Gelsenkirchen-Buer, hrsg.v. Aktion gegen den Krieg Gelsenkirchen 1988. Zurück

26) Dorothee Sölle: Für die unbekannten Deserteure. Rede in Bonn am 1.9.1989 (Manuskript), in: Denk-mal für die Unbekannten Deserteure, S. 42 f. Zurück

27) Wolfgang Steinitz: Deutsche Volkslieder demokratischen Charakters aus sechs Jahrhunderten, Bd. 1 u. 2, Berlin 1955 u. 1962, Bd. 1, S. 463-499. Zurück

28) Arno Schmidt: Aus dem Leben eines Fauns, Frankfurt/Main 1973 (Erstveröffentl.: 1953). Zurück

29) In: Heinrich Böll: Als der Krieg ausbrach. Erzählungen, München 1965, S. 199-261 (Erstveröffentl.: 1964). Zurück

30) Heinar Kipphardt: Der Mann des Tages und andere Erzählungen, Müncehn 1977, S. 163-220. Zurück

31a) Adolf Stock: Heinar Kipphardt, Reinbek 1987, S. 118. Zurück

31b) Es wäre interessant, in Hinblick auf die Darstellung des Warschauer Aufstandes den Tatsachenroman »Unternehmen Thunderstorm« (Berlin 1954) von Wolfgang Schreyer zum Vergleich heranzuziehen. Zurück

32) Hugo Hartung: Der Deserteur oder Die große belmontische Musik, München 1948, S. 48, 50, 53. Zurück

33a) Tschingis Aitmatow: Aug in Auge, aus d. Russischen übers.v. H. Herboth, Zürich 1989. Zurück

33b) Russische Originalausgabe 1974. Zurück

34) Wilhelm Lehmann: Gesammelte Werke in acht Bänden, Bd. 3: Romane I, hrsg.v. U. Pörsken, Stuttgart 1989. Zurück

35) Walter Hinck: Berührung mit Brennesseln. Die späte Entdeckung eines frühen Romans von Wilhelm Lehmann, in: FAZ v. 19.5.1989;
Norbert Mecklenburg: Vom Deserteur zum Naturheiligen. Wilhelm Lehmanns Roman »Der Überläufer« in der neuen Werkausgabe, in: NZZ.Zurück

36) Lehmann (Anm. 34), S. 120. Zurück

37) Alfred Andersch: Die Kirschen der Freiheit. Ein Bericht, Zürich 1971 (Erstveröffentl.: 1952), S. 81. Zurück

38) Alfred Andersch: Flucht in Etrurien. Zwei Erzählungen und ein Bericht, Zürich 1981, S. 142. Zurück

39) Vgl. Wilfried Barner: Alfred Andersch: »Die Kirschen der Freiheit«. Zeitsignatur, Form, Resonanz, in : Zeit der Moderne, hrsg. v. H.-H. Krummacher (u.a.), Stuttgart 1984, S. 1-23; hier S. 9. Zurück

40) Gut analysiert hat dieses diskursive Feld Ursula Reinhold: Alfred Andersch. Politisches Engagement und literarische Wirksamkeit, Berlin 1988, S. 76 ff. Zurück

41) Arno Hochmuth: Literatur und Dekadenz, Berlin 1963, S. 101. Zurück

42) Reinhold: Alfred Andersch (Anm. 40), S. 79 f. Zurück

43) Reinhold: Alfred Andersch (Anm. 40), S. 83. Zurück

44) Zitiert bei Barner (Anm. 39), S. 11, – Zwei weitere wichtige Arbeiten zu den »Kirschen der Freiheit« sind: Gerhard Hay: Die Kirsche Etruriens in der Faszination von Sartres Appell zur Entscheidung, in: Zu Alfred Andersch, hrsg. v. V. Wehdeking, Stuttgart 1983, S. 13-21; Volker Wehdeking: Alfred Andersch, Stuttgart 1983, S. 48-57. Zurück

45) Boris Vian: Textes et chansons, Paris 1969, S. 171 f. Zurück

46) Wolf Biermann: Affenfels und Barrikade. Gedichte, Lieder, Balladen, Köln 1986, S. 154 f. Zurück

47) Ingeborg Bachmann: Alle Tage. Zurück

Dr. Norbert Mecklenburg ist Privatdozend am Institut für deutsche Sprache und Literatur an der Universität zu Köln

Artefakte des Fanatismus

Artefakte des Fanatismus

Technik und nationalsozialistische Ideologie in der Endphase des Dritten Reiches

von Ulrich Albrecht

Ziel dieses Beitrages ist es, das spezifisch »Nationalsozialistische« in der Technikentwicklung des Dritten Reiches herauszuarbeiten. Um die Stoßrichtung deutlicher zu umreißen: Die mit der Entwicklung von Technik im Zweiten Weltkrieg befaßten deutschen Naturwissenschaftler und Ingenieure sind möglicherweise nicht nur Nazis gewesen, indem sie als Privatpersonen der NS-Partei oder einer ihrer Gliederungen angehörten, oder auch nur aus Überzeugung für die NS-Ideologie eintraten. Die These lautet vielmehr, daß diese Naturwissenschaftler und Ingenieure auf die besonders in der Endphase des Dritten Reiches extremen Technikanforderungen nicht nur mit vehementem Engagement, sondern auch mit Technikbeiträgen antworteten, die ungewöhnlich bleiben, die sich von Rüstungstechnik, wie sie auch anderswo forciert wurde, erheblich unterscheiden. Diese im Dritten Reich vorgelegten Technikbeiträge, so die Fortführung der These, stellen Artefakte dar, die nationalsozialistische Auffassungen widerspiegeln. Mit anderen Worten: Die hier zu erörternden Projekte bleiben nicht nur deswegen bemerkenswert, weil sie in einer phänomenalen Anspannung der Kräfte, zumeist unter absurden Arbeitsbedingungen, in unterirdischen Notquartieren unter dem Bombenhagel der Alliierten ausgeführt wurden. Vielmehr lassen sich an der so erzeugten Hochtechnologie Merkmale von Nationalsozialismus studieren.

Diese exponierte These soll an drei Technologielinien aus der Schlußphase des Dritten Reiches erörtert werden, dem »Volksjägerprogramm« vom Herbst 1944, den bald folgenden Selbstopfer-Objektschutzjägern für nationalsozialistische Elite-Verbände, sowie dem letzten Aufgebot, antriebslosen Kampfgleitern als Jagdflugzeugen. Letzter Akt der Reichsregierung waren noch ambitiösere Technologieprogramme wie Nurflügeljäger von Horten in dem von Göring am 12. März 1945 verkündeten »Neue Abwehrprogramm des Führers«. – Die Kernthese dieses Beitrages ließe sich auch an anderen Technologielinien aus jener Zeit erörtern wie dem Bau von superschweren Panzern (Ferdinand Porsches »Maus« von 1944 mit bis zu 200 Tonnen Gefechtsgewicht und Panzerwänden bis 35cm Stärke), den »Vergeltungswaffen« V-1 und V-2 oder anderen »Wunderwaffen«.1 Die Erörterung hier beansprucht mithin, exemplarisch allgemeine Aussagen zu treffen.

Der technologiepolitische Hintergrund der Endphase des Dritten Reiches ist wenig bekannt. Der Erlaß Hitlers zur Bildung des Volkssturms vom 25.9.1944 war begleitet von einem letzten verzweifelten Technologieprogramm. Gegen die alliierten Bomberströme sollten mit dem sogenannten »Jäger-Notprogramm« von Hitlerjungen zu steuernde, vereinfachte Kampfflugzeuge aus – so die amtliche Ausdrucksweise – »Sparstoffen«, das war vor allem Holz, eingesetzt werden. Mit ihren Düsentriebwerken stellten diese Projekte durchaus Hochtechnologieprogramme dar.- Als die Umsetzung des »Volksjägerprogramms« Ende 1944 erkennbar zu Verzögerungen führte, wurden im Jäger-Notprogramm raketengetriebene Selbstopferflugzeuge gefordert, die in Sichtweite alliierter Bomber starten und am Ende durch Rammstöße kämpfen sollten. Schließlich, als es kaum mehr Treibstoff gab, wurden gar antriebslose Kampfflugzeuge konzipiert.

Die Erörterung dieser Wahnprojekte erfordert zugleich kritische Nacharbeit zur einschlägigen Technikhistorie. Diese verdrängt solche Konzepte keineswegs, sondern verteidigt sie als außerordentliche technische Leistung der Konstrukteure unter schwierigsten Bedingungen. Diese Literatur verweist auf die Ingenuität deutscher Ingenieure bei der Wahl ungewöhnlicher technischer Lösungen, mit bitteren Attacken gegen die wenigen kritischen Analytiker, die sich in diesen Bereich der Technikhistorie vorwagen.2 Einzufordern ist ein eigener Historikerstreit der Technikgeschichtler – hat die deutsche Industrie lediglich absurde Projekte dienend ausgeführt, oder hat sie einen eigenständigen Beitrag zum Fanatismus der letzten Tage des Dritten Reiches beigesteuert?

Eingrenzungen

Zunächst sind Abgrenzungen erforderlich. Die angeführten »Sonder«-Technologien geben nicht die Breite der Versuche des NS-Regimes wieder, durch extreme Technologieforcierung eine Überhöhung, eine größere Chance in der militärischen Auseinandersetzung mit der Anti-Hitler-Koalition zu gewinnen. Anzuführen bleibt eine Vielzahl weiterer Konzepte, die durchaus überambitioniert oder gigantomanisch ausfielen, die aber nicht besonders als nationalsozialistisch geprägt zu werten sind. Vertikalstartflugzeuge von Heinkel etwa, die Projekte »Wespe« und »Lerche« vom März 1945, erscheinen als Vorwegnahme etwa französischer Versuchsentwicklungen wie des »Coléoptère« der Firma SNECMA aus dem Jahre 1958 – und zunächst eben nicht als von NS-Vorstellungen beeinflußt. Auch die »Schnellstbomberprojekte« von Daimler-Benz aus der Endphase des Krieges verraten allenfalls einen gewissen Technikwahn. Ab März 1944 meldete Daimler-Benz mehrere Patente für solche Schnellbomberprojekt an. Das Konzept stammte von keinem geringeren als dem nachmalig in der Bundesrepublik sehr bekannt werdenden technischen Direktor des Unternehmens, Dipl.-Ing. Fritz Nallinger. Am 19. Januar 1945 trug Nallinger das fertig durchgerechnete Projekt als „Betrachtung über die Entwicklung eines Schnellstbombenträgers“ dem RLM vor. Das Einsatzkonzept für dieses Daimler-Produkt klingt heute einigermaßen abenteuerlich:

„Das Trägerflugzeug startet mit dem untergehängten Bomber und fliegt bis zur äußersten Grenze seiner Reichweite, bei der es gleichzeitig seine Gipfelhöhe erreicht. An diesem Punkt schaltet der Bomber seine Triebwerke ein und wird abgesprengt. Das Trägerflugzeug kehrt hierauf zum Einsatzhafen zurück, während der Bomber mit seinen unverbrauchten Brennstoffreserven sein fernes Ziel anfliegt. Nach Erfüllung des Langstreckenauftrages landet die Besatzung den Bomber an einen vorher bestimmten Punkt der feindlichen Küste, wo sie von einem U-Boot übernommen wird. Für diese Einsatzart war der Bomber als reines Verlustgerät konstruiert und besaß nicht einmal ein Fahrwerk oder wertvolle Ausrüstungsgegenstände. Ebenfalls war keine Abwehrbewaffnung vorgesehen.“ 3

An diesem in vier verschiedenen Varianten offerierten Bomberprojekt mag manches dubios erscheinen (auch die Sprache, mit der es noch heute vorgestellt wird), spezifische NS-Technologie stellt es nicht dar. – Auch engagiert sich 1944 das zweite Großunternehmen im deutschen Flugmotorenbau, die Bayrischen Motorenwerke, im Flugzeugsektor, und konkurrierte bei Bomberentwürfen (die Truppenreife war für 1950 vorgesehen) mit Daimler-Benz. An den im November 1944 vorgeschlagenen Düsenjägerprojekten mag zunächst nichts auffallen. Eine Variante enthält jedoch einen Aspekt, der als erster spezifisch nationalsozialistisch zu werten ist – die liegende Anordnung des Piloten. Während Jetpiloten sitzend (bis heute die Standardposition) beim Kurvenkampf bis zum neunfachen der Erdbeschleunigung ohne »black-out«, den Verlust des Bewußtseins, auszuhalten vermögen, kann man den menschlichen Körper bis zur vierzehnfachen Erdbeschleunigung überbeanspruchen, wenn der Pilot liegt. In liegender Anordnung ist ein kämpfender Flugzeugführer zwar weniger handlungsfähig (weswegen niemand außer den Nationalsozialisten diese Lösung je wählte), er mag aber hoffen, durch engere Kurvenradien eher in eine Abschußposition zu geraten als der Gegner.

Mit der liegenden Anordnung von Piloten hofften mehrere deutsche Flugzeugfirmen, einen entscheidenden Kampfvorteil zu realisieren. Die erwähnten Senkrechtstarter »Wespe« und »Lerche« von Heinkel erscheinen so in einem neuen, spezifisch nationalsozialistischen Licht. Außer BMW und Heinkel offerierten weitere deutsche Unternehmen das nationalsozialistische Konzept, durch Überbeanspruchung menschlicher Piloten taktische Vorteile zu erzielen, etwa die um eine eigene Rolle in der NS-Rüstung ringende Gothaer Waggonfabrik A.G. oder die Firma Arado mit einem Kleinstjägerprojekt aus dem Jahre 1944. Selbst die Forschungsanstalt Zeppelin meldete sich mit einer »Fliegenden Panzerfaust« mit liegendem Piloten. Bei Kriegsende regte sich auch die ansonsten in der NS-Luftrüstung nicht sonderlich erfolgreiche Henschel Flugzeugwerke A.G. in Berlin-Schönefeld mit der Entwicklung eines Sturzkampfbombers, Tragflächen aus Holz, mit liegender Anordnung des Flugzeugführers, „der in dieser Stellung wesentlich höhere Beschleunigungskräfte beim Abfangen und engen Kurven ertragen konnte.“ 4 Im März 1945 befanden sich vier Mustermaschinen im Bau.

Die Wahl der liegenden Anordnung von Piloten zwecks Steigerung der Leistungsgrenzen von Soldaten verdeutlicht einen ersten Aspekt spezifisch nationalsozialistischer Technikgestaltung. Ein weiterer Schritt besteht in der Senkung des Lebensalters, mit dem Halbwüchsige in Kampfhandlungen einbezogen werden. Parallel zum Einzug von Hitlerjungs in den »Volkssturm« wurden bei der Luftwaffe »Volksjäger« für den Einsatz durch Jugendliche konzipiert und von der Industrie konstruiert (Abschnitt 2). Einen dritten Schritt sehe ich darin, von der Hoffnung kämpfender Soldaten auf ihr Überleben abzugehen und Selbstopferwaffen vorzusehen (Abschnitt 3). Die Verzweiflungstechnologie der nationalsozialistischen Luftrüstung ist damit noch nicht am Ende. In der Schlußphase (Abschnitt 4) des Dritten Reiches werden Waffen konzipiert wie antrieblose Jäger oder »Kampfgleiter«, die eine faire Chance der Waffengleichheit nicht mehr vorsehen, bei denen alle Kampffähigkeit auf die hochmotivierten Übernaturen in den Cockpits konzentriert wird. So wird die Doppelnatur nationalsozialistischer Rüstungstechnologie mit Händen greifbar: dem Todesmythos, dem absehbaren Untergang im heroischen Kampfe, steht zur Seite (und nicht: entgegen) die Anspannung aller Kräfte, die übermäßige Leistung, beides mündend in den Mythos von Vergehen und Werden.

Der Volksjäger

Das Volksjägerprogramm zeigt weitreichende nationalsozialistische Versuche an, gegen die professionellen Programme der Luftwaffe eigene Akzente zu setzen. „Im Winter 1941/42, nachdem sich gezeigt hatte, daß das RLM unfähig war, einen genügenden Nachschub und eine entsprechende Entwicklung sicherzustellen, wurde die Steuerung des Luftwaffennachschubs dem Minister für Rüstung und Kriegsproduktion Speer übertragen“, heißt es bemerkenswert parteiisch in einer neueren Darstellung.5 Dem (NS-) Hauptdienstleiter Dipl.-Ing. Karl-Otto Saur6, einem Untergebenen Speers, wurde das Jäger-Programm übertragen, „dessen Ziel unter anderem die schnellste Schaffung eines sogenannten »Volksjägers« sein sollte, eines Baumusters, das nicht nur mit geringstem Material- und Zeitaufwand zu bauen, sondern auch leicht zu fliegen sein sollte. Hitler-Jungen sollten diesen »Volksjäger« im Masseneinsatz gegen die alliierten Bomberströme fliegen.“ Ernst Heinkel will in seinen Erinnerungen diesen Sachverhalt nicht so ganz wahrhaben:

„Saurs Vorstellungen, daß dieses Flugzeug sozusagen ein »Volksjäger« werden müsse, in dem Hitlerjungen nach ganz kurzer Schulung zur »Verteidigung Deutschlands« aufsteigen könnten, ging selbstverständlich weit über die Realitäten hinaus und entsprach dem fehlgeleiteten Fanatismus jener Tage.“ 7

Daß das Volksjägerprojekt „selbstverständlich weit über die Realitäten“ hinweggehe, hat Heinkel allerdings 1944 nicht gesagt, sondern das Flugzeug gebaut. Es handelt sich auch nicht um „sozusagen einen Volksjäger“, sondern so wurde das Projekt amtlich benannt.

Am 8.9.1944 wurde die »Volksjäger«-Ausschreibung den Firmen Arado, Blohm + Voss, Focke-Wulf, Heinkel und Junkers übermittelt. Das geforderte Entwicklungstempo blieb atemberaubend, allen Standards im Flugzeugbau Hohn sprechend: am 20. September 1944, zwölf Tage nach der Ausschreibung, mußten die Zeichnungen für die neuen »Volksjäger« beim RLM eingereicht werden. Am 23. September 1944 „fand im Hauptquartier des Reichsmarschalls eine entscheidende »Volksjäger-Beprechung« statt“, konstatiert „Das Buch der deutschen Fluggeschichte“.8 Der Anlauf des Serienbaus wurde mit dem 1. Januar 1945 terminiert.

Der damalige Entwicklungschef der Firma Arado erinnert sich an die Umstände der »Volksjäger«-Entwicklung:

„Bei der Firma Arado vollzog sich das so, daß eines Tages, Mitte September 1944, ohne vorherige Ankündigung in der nach Landeshut in Schlesien verlagerten Entwicklungsabteilung ein Referent des Technischen Amtes erschien, der innerhalb weniger Tage das Projekt eines leichten Jägers mit einem BMW 003-Triebwerk erstellt haben wollte. Er schien ganz genau zu wissen, was herauskommen sollte. Zwei Tage wich er nicht aus dem Entwurfsbüro und versuchte, das Projekt in eine von ihm gewünschte Richtung zu lenken… Einige Tage danach wurden die Projekte von der Industrie beim Jägerstab vorgetragen. Es müssen, meiner Erinnerung nach, nahezu ein Dutzend gewesen sein, denn die meisten Firmen, besonders die, deren Flugzeuge in der großen Typenreinigungsaktion vom 1. Juli gestrichen waren, bemühten sich um einen Auftrag im Jägersektor mit mehr als einem Entwurf. Einige waren erst in letzter Stunde, nach Diskussion anderer Entwürfe, in den Gewichts- und Leistungsangaben überarbeitet worden.“ 9

Vor allem die an einer Wiederbeteiligung an modernsten Projekten interessierte Firma Heinkel vermochte Schritt zu halten. Nach Eingang der Ausschreibung am 8. September 1944 und der Vorlage von ersten Entwürfen erhielt Heinkel eine Woche später, am 15. September, den Bauauftrag. Der Erstflug der ersten Versuchsmaschine He 162 »Salamander« erfolgte am 6. Dezember 1944, genau 69 Tage nach der Auftragserteilung. Blohm + Voss, zunächst mit dem Projekt P. 211 gleichauf im Rennen, war bald abgeschlagen, und Heinkel erhielt den Großserienauftrag. Die Firma Heinkel sollte ab 1.1.1945 1000 Volksjäger fertigen, die Firma Junkers im Unterauftrag in mehreren Werken ebenfalls 1000 Exemplare, die von der »Organisation Todt« mit Häftlingen betriebenen »Mittelwerke GmbH« sollten gar 2000 Exemplare auflegen. Später war ein monatlicher Ausstoß von 1000 »Volksjägern« geplant.10

Das Volksjägerprojekt verdeutlicht neben dem inhumanen Ziel, Jugendliche als Piloten einzusetzen, weitere Dimensionen nationalsozialistischer Technikerzeugung. Diese liegen zum einen in dem irrsinnigen Tempo, mit dem im Furioso immer anspruchsvollere Projekte vorgelegt werden. Zum anderen werden in der Produktion mehr und mehr anstelle der angestammten Fertigungsstätten Betriebe eingespannt, die mit Häftlingen statt Facharbeitern produzieren. Die gemäß dem »Alberich«-Konzept unterirdisch angelegten »Mittelwerke« im Harz bezogen ihre Arbeitskräfte aus dem KZ Buchenwald.11

Die Formulierung des Bauauftrages vom 29. September 1944 an die Firma Heinkel für den »einsitzige(n) Einstrahltrieb-Kleinstjäger« bestimmt, daß „bei der Härte der Verhältnisse eine kompomißlose Erfüllung der Aufgabe nur dann möglich ist, wenn auf jede zusätzliche Ausrüstung und Veränderung verzichtet wird. Es besteht ferner dahingehend Klarheit, daß bei der Methode, aus dem ersten Entwurf heraus bereits die Serienfertigung zu beschließen, das bis jetzt noch nicht zu übersehende Risiko eines etwaigen Fehlschlages in Kauf genommen werden muß“, heißt es markig weiter.

Technisch betrachtet stellt der Heinkel-„Volksjäger« ein Produkt höchster Not dar. Das Flugzeug wurde in Gemischtbauweise ausgeführt. Der Rumpf bestand aus Metall, Flügel und Leitwerke wurden aus Holz gefertigt. Zur Herstellung der Holzteile wurden zwei »Fertigungsringe« mit den Schwerpunkten Erfurt und Stuttgart gebildet, denen zahlreiche Handwerksfirmen angeschlossen waren. Ernst Heinkel beschreibt anschaulich die Fertigungsbedingungen im Winter 1944/45:

„Die Produktion war in zahlreiche Betriebe und Betriebchen über und unter der Erde verzettelt. Anstelle der durch Luftangriffe immer mehr zerschlagenen Eisenbahn brachten Lastwagenkolonnen die Einzelteile zu den Fertigmontagestellen. Kleinere Teile wurden durch Kuriere mit Rucksäcken befördert.“ 12

Angeblich infolge schlechter Verleimung platzte bei einem Demonstrationsflug des »Volksjägers« vor Nazigrößen am 10. Dezember 1944 die Beplankung der rechten Flügelnase ab, was zum Absturz und dem Tod des Piloten führte. Die technikhistorische Literatur kapriziert sich auf diesen Vorgang als ärgerliche Bagatelle – ohne das geringste Gespür dafür, daß eine schlecht ausgeführte Verleimung, oder aber ungenügender Klebstoff, oder aber die Holzbauweise von Düsenjägern überhaupt geradezu symbolisch die Hypertrophie der Technologieentwicklung des Dritten Reiches in seinem Abgang widerspiegeln.

Vom Volksjäger heißt es obendrein in einer neueren Darstellung – ein reineres Nazideutsch ist nicht möglich – die Heinkel-Maschine „hatte noch einen kleinen Schönheitsfehler: Sie setzte einen erfahrenen Piloten voraus oder zumindest speziell ausgebildetes Flugpersonal.“ 13 Der Rekurs auf die Anforderung gemäß der Volkssturmideologie bleibt ungebrochen: anstelle eines „erfahrenen Piloten“ ist „zumindest speziell ausgebildetes Flugpersonal“ (was könnte dieses anderes als Berufspiloten sein?) vonnöten – und dies wird mit Blick auf das Volkssturmkonzept in mißlingender Ironisierung als „kleiner Schönheitsfehler“ apostrophiert.

In anderen technikhistorischen Darstellungen setzt sich die Ideosynkrasie fort. In Bezug auf den Heinkelschen »Volksjäger« heißt es etwa ohne Umschweife: „Mit einem modernen Begriff: Es wurde ein »Verschleißgerät« verlangt“ (Rückfrage: Wieso gilt der Ruf nach »Verschleißgeräten« als modern?), auch seien die „Terminvorstellungen des RLM … an sich schon fast irreal zu nennen“ gewesen (wieso nur: fast?).14

Selbstopferflugzeuge

Den Höhepunkt erlebte die nationalsozialistische Technikgestaltung in der Rüstung mit dem Ansatz, vom kämpfenden, auch um sein eigenes Leben kämpfenden Soldaten abzugehen, und den Tod des Kriegers bewußt in die Konzeption von Waffen aufzunehmen. Human ist solche Technikgestaltung nicht mehr zu nennen. Sie fügt sich ein in den reinen Vernichtungswillen der spätnationalsozialistischen Phase.

Angesichts der drohenden Invasion der Alliierten auf dem Festland hatte der Luftwaffenoffizier und überzeugte Nationalsozialist Heinrich Lange „eine kleine Gruppe von Luftwaffenangehörigen gegründet, die Anhänger des SO-(Selbstopferungs-)Einsatzes waren. Nach der genau ausgearbeiteten Theorie sollte jeweils mit einem SO-Flugzeug ein Landeschiff der Invasionsflotte versenkt werden. Der SO-Pilot hatte das als Verlustgerät gedachte SO-Flugzeug bis zum Auftreffen ins Ziel zu lenken und fand dabei den Tod.“ 15

Die NS-Führung reagierte zunächst keinesfalls begeistert (das RLM lehnte ab; Hanna Reitsch trug am 28.2.1944 Hitler den Plan vor, „der ihn ebenfalls ablehnte, jedoch ein Weiterarbeiten in dieser Richtung gestattete“ 16). „Inzwischen waren Tausende von Freiwilligenmeldungen eingegangen“, heißt es in der gleichen Quelle weiter. „Zuerst wurde aber nur eine Gruppe von 70 Mann ausgewählt, während die anderen nach der Erstellung des Fluggerätes eingezogen werden sollten.“ 17

Zunächst wurde mit einer bemannten Version der »Vergeltungswaffe 1« (V-1) experimentiert (Abb. 8). Die Aktion erhielt die Tarnbezeichnung »Reichenberg« (nach der Hauptstadt des »Reichsgaues Sudetenland«), die bemannten Flugbomben hießen »Reichenberg-Geräte«. In einer Fluggeschichte heißt es lapidar:

„Gegen Kriegsende wurden Versuche mit bemannten V 1 für den Einsatz als Rammjäger gegen alliierte Bomberverbände durchgeführt.“ 18

Auffälligstes Kennzeichen der SO-Jäger war das Fehlen von Landefahrwerken – Räder zum Landen würden diese Maschinen ja nicht benötigen.

Im Herbst 1944 gab das Reichsluftfahrtministerium im sogenannten »Jäger-Notprogramm« eine Entwicklungsausschreibung für einen einfachen Abfangjäger heraus, der leicht und billig herzustellen sein sollte. Da die Bomberverbände der Alliierten zu diesem Zeitpunkt nur noch kurze Anflugstrecken zu ihren Zielen zu bewältigen hatten, mußten die Jäger in der Lage sein, in Sichtweite der Angreifer zu starten und diese noch vor deren Ziel abzufangen. Das ging nur mit einem Raketenantrieb – einer gefährlich zu handhabenden, kaum erprobten Antriebsart. Am Ende gerieten diese Jäger zu Selbstopfergeräten, obwohl zunächst die Rettung des Piloten vorgesehen war.

An der Ausschreibung beteiligten sich die drei größten deutschen Luftfahrtkonzerne. Messerschmitt präsentierte das in Holz ausgeführte Projekt P 1104, Junkers das Modell EF 127 »Walli« und Heinkel das Muster P 1077 »Julia«. Das Rennen machte ein Außenseiter, Dipl.-Ing. Erich Bachem, zuvor Direktor der Fieseler-Werke (des Herstellers der V-1). Bachem machte sich mit seinem Projekt BP-20 im letzten Kriegsjahr kommerziell selbständig und gründete die Bachem-Werke GmbH im württembergischen Waldsee.

Die etablierten Konzerne gaben sich nicht geschlagen, sondern suchten durch forcierte Zugaben in der Technologie den Neuling aus dem Rennen um den erwarteten Großauftrag zu werfen. Junkers hatte sich nach eigener Einschätzung mit dem Konzept EF 126 für den Geschmack des RLM zu sehr am »Reichenberg-Gerät« angelehnt (Holzbauweise, Argus-Schubrohr auf dem Rücken). So legte die Firma den Neuentwurf EF 127 nach, mit einer Flüssigkeitsrakete der Firma Walter statt des leistungsschwächeren Schubrohres. Auch Heinkel besserte das Modell »Julia«, „eine Zwischenlösung zwischen einer bemannten Flakrakete und einem billigen Schnellst-Kleinjäger“ 19 verschiedentlich nach. Die liegende Anordnung des Piloten wurde variiert, auch experimentierte man mit verschiedenen Antrieben. Bei Kriegsende waren die Prototypen der Heinkel-Baureihe fast fertiggestellt, von der Junkers-Maschine wurde ein Exemplar nach Kriegsende unter sowjetischer Anleitung zu Ende gefertigt und erprobt. Der Junkers-Versuchspilot Mathies fand dabei den Tod.

Der siegreiche Entwurf von Bachem vereinigte in sich am konsequentesten Grundsätze von nationalsozialistischer Technikideologie in der Untergangsphase des Dritten Reiches. „Bei den Projektarbeiten hatte man sich für eine Kombination zwischen Flugzeug und Geschoß als Verlustgerät entschieden“, heißt es cool in einem neueren Bericht.20 Dieser Satz verdient es, schrittweise nachvollzogen zu werden. Man weiß nicht, wie der Zweck dieser Technik direkter und zynischer hätte formuliert werden können.

Der gesamte Rumpfbug der »Natter« war als Raketenträger ausgebildet. Für die zunächst angestrebte Rettung des Piloten ergaben sich jedoch Probleme: „Nach Abschuß der Raketen verschob sich der Schwerpunkt der Maschine derart, daß sie nicht mehr flugfähig war.“ 21 In aerodynamischer Hinsicht war hiermit schon das Todesurteil über dieses Fluggerät gesprochen. In dem angeführten Bericht heißt es jedoch weiter, Illusionen fortschreibend:

„Besondere Probleme brachte die Rettung des Piloten bei den hohen Geschwindigkeiten mit sich. Um zu einer realisierbaren Lösung zu kommen, wurde eine Trennung des Bugstückes vorgesehen. Nach dem Trennen sollte der Hauptfallschirm den Sitz des Piloten nach hinten wegziehen und gleichzeitig auch die wertvollsten Geräte im Führersitz mit bergen. Da im Zeichen des totalen Krieges auch die »Natter« nicht restlos als Verlustgerät eingesetzt werden konnte, wurde auch das Rumpfhinterteil mit Triebwerk und Steuerorganen trennbar angeordnet. Die Rettung dieser wertvollen Teile sollte ebenfalls durch einen Fallschirm geschehen.“ 22

Es fällt schwer, sich eine Steigerung dieser weiterhin dem NS-Jargon verfallenen Sprache vorzustellen. „Im Zeichen des totalen Krieges“ (lediglich »im totalen Krieg« langt nicht, es muß schon das »Zeichen« her), als eine solche Verzweiflungswaffe „nicht restlos als Verlustgerät eingesetzt werden konnte“ (aber warum denn nicht, oder bekennt sich der Schreiber der zitierten Zeilen zu damaligen Zwängen?) sollte „die Rettung dieser wertvollen Teile“ (gerettet werden sollten wohlgemerkt Maschinen als „wertvolle Teile“ neben den menschlichen Piloten) mit Vorrang ermöglicht werden. „Da das Rumpfheck mit dem Triebwerk und den Steuerorganen komplett in eine neue Maschine eingebaut werden konnten“ (korrektes Deutsch schreiben diese Herrschaften leider nicht), „war der Verlust der Restteile nicht schwerwiegend.“

Am 25. Februar 1945 erfolgte der erste Start der Bachem-Maschine, bei dem mit Attrappen alle Funktionen getestet wurden. Hernach „verlangte das RLM sofort einen Start mit einem bemannten Gerät.“ 23 Das Ministerium stellte hierfür einen eigenen Piloten, einen Oberleutnant Lothar Siebert, zur Verfügung. Der wurde beim ersten Start Ende Februar 1945 getötet:

„Der Kopf des Piloten muß nach hinten gerissen worden sein, wodurch er entweder bewußtlos wurde oder sofort einen Genickbruch erlitt … Die Maschine ging auf den Rücken und verschwand in schnellstem Horizontalflug. Etwa eine Minute später explodierte sie.“ 24

Dennoch gingen die Versuche mit dem Selbstopferjäger »Natter« bis April 1945 weiter. Es fanden weitere 22 Starts statt, davon vier mit Piloten. – Immerhin zeigen einzelne Autoren aus der technischen Literatur heute Bedenken gegen das »Natter«-Projekt. Der Entwicklungschef der Firma Arado spricht in Bezug auf die Konzeption von „unklaren Gedankengängen“ und berichtet:

„Die Erprobung der Ba 349 verlief wegen der mangelhaften Vorbereitung und der Hast, mit der sie durchgeführt wurde, unter vielen unliebsamen Unterbrechungen.“ 25

Dieser Autor wundert sich auch über organisatorisches Durcheinander bei Kriegsende: „Warum die Arbeiten bis zum Eintreffen der gegnerischen Truppen weitergeführt wurden, obwohl die Ba 349 bereits am 5. Januar 1945 vom Rüstungsstab gestrichen war, ist wohl nur aus der mit dem nahen Kriegsende verbundenen Psychose zu verstehen.“ 26

Antriebslose Kampfgleiter

Letzte Verzweiflungsprojekte zur Bekämpfung der alliierten Bomberflotten waren, als gegen Kriegsende der Treibstoff extrem knapp wurde, schwerbewaffnete und gepanzerte Kampfsegler ohne Motoren.

Das erste Projekt dieser Art stammte von der renommierten Jägerfirma Messerschmitt. Diese hatte in bemerkenswerter Voraussicht mit ihrem Typ Me 328, in Kooperation mit der Deutschen Forschungsanstalt für Segelflug, einen „einsitzige(n) Jäger projektiert, der ohne eigenen Antrieb im Mistelschlepp an den feindlichen Bomberverband herangetragen und dann im Gleitflug seine Angriffe durchführen sollte“. Die Erprobungsversuche von Hanna Reitsch und anderen erbrachten freilich mäßige Ergebnisse: „Die Flugeigenschaften waren nicht besonders, reichten aber für den vorgesehenen SO-Zweck vollkommen aus.“ Der aus zahlreichen Holzteilen gefertigte Jagd-Gleiter hielt den Belastungen nicht stand, „so daß die Erprobung nach dem ersten Todessturz abgebrochen wurde.“ 27

Über das Parallelprojekt von Heinkel heißt es, es ginge um ein „bemanntes Verschleißgerät“ – erneut eine Formel, die Reflexion provoziert. Bei Heinkel sah man von Anbeginn (im Gegensatz etwa zu der neugegründeten Firma Bachem), daß „der Pilot offenbar nicht den hohen Startbeschleunigungen gewachsen war.“ 28

Besonders die Hamburger Firma Blohm + Voß trat bei Kriegsende mit Kombinationen von Kampfgleitern mit Selbstopferflugzeugen hervor. Die Beschreibung des Projektes P. 214 aus dem Jahre 1944 spricht für sich selber:

„Offiziell als »Bemannte Fla.-Bombe« bezeichnet, war dies ein Flugzeug, das durch einen Flugzeugführer gesteuert, eine starke Sprengladung an den feindlichen Bomberverband heranbringen sollte. In genügender Nähe des Verbandes sollte der Pilot abspringen und die nunmehr unbemannte Maschine mit ihrer Sprengladung zur Explosion bringen. Da das Abspringen im Anflug zwar theoretisch möglich, aber praktisch wahrscheinlich ausgeschlossen war, konnte man dies als eine »Selbstmordbombe« bezeichnen.“ 29

Nach umfangreichen Versuchen mit Gleitflugzeugen entschloß sich Blohm + Voß zu einem letzten Projekt, dem – wie das Gerät benannt wurde – »Kampf-Segler BV 40«. Das Flugzeug „wurde als relativ kleiner Jäger ohne Eigenantrieb ausgelegt, das mit einem Minimum an Herstellungskosten und Arbeitsaufwand in Großserie gebaut und gegen die alliierten Bomberverbände eingesetzt werden sollte. Das „Buch der deutschen Fluggeschichte“ beschreibt das Einsatzkonzept:

„Nach dem Ausklinken sollte der in der BV 40 liegende Flugzeugführer in einem Gleitflug von etwa 20 Grad mit einer Geschwindigkeit von 400 bis 500 Stundenkilometern den Bomberverband mit einem einzigen Feuerstoß angreifen, durchstoßen, und dann irgendwo landen.“ 30

Verständlicherweise gab es Mischkonzepte zwischen dem antrieblosen Kampfgleiter und den raketengetriebenen Selbstopferjäger. Die Forschungsanstalt Zeppelin etwa offerierte eine bemannte »Fliegende Panzerfaust«, die über einen »Bedarfsantrieb« von Pulverraketen verfügte. Diese Konstruktion sollte im Schlepp „von beliebigen zur Bomberabwehr startenden Flugzeugen mitgenommen werden und bei günstiger Gelegenheit vom Schleppflugzeug … gelöst werden. Geschützt hinter einem Panzerspant konnte der Pilot seine Raketengeschosse nahe am Ziel auslösen.“ 31 Sehr viel auszulösen hatte der Pilot nicht – vorgesehen waren ganze zwei ungelenkte Raketen (Typ RZ 65).

Ein neuer Historikerstreit?

Die Bewertung der vorgestellten Projekte nationalsozialistischer Rüstung bleibt schroff kontrovers. Dem mainstream von Technikhistorikern stehen wenige couragierte Autoren gegenüber, die es wagen, diese Projekte kritisch zu betrachten. Karl-Heinz Ludwig zitiert etwa in Bezug auf den »Volksjäger« den Brief eines Fritz Hahn, was ihm bittere Polemiken einbringt:

„Für den kritischen Fachmann war der »Sperrholzvogel He 162« als Kampfmittel schlechthin »ein Witz«, und »nicht einmal erfahrene Piloten beherrschten diese Maschine.“ 32

Allgemeiner gefaßt läßt sich dieser Gegensatz benennen in der Polemik zwichen dem verstorbenen Peter Brückner und Wilhelm Treue.33

Es steht eine steife Fehde an um die angemessene Bewertung der technologischen Hinterlassenschaft des Dritten Reiches. Diejenigen Branchenschreiber, die nach wie vor allein technischen Höchstleistungen und nichts anderes in Volksjägern, Selbstopferwaffen und Kampfseglern erkennen, sollten des Kontextes gewahr sein, in welchem sie ihre Hochglanztexte vorlegen. Die vorherrschende Technikgeschichtsschreibung forderte sie bislang nicht heraus (zu nennen wären Conrad Matschoß, Franz Maria Feldhaus, Friedrich Klemm, vor allem aber Wilhelm Treue und Armin Herrmann).

Inhaltlich gewendet geht es weniger um die politische Haltung von Ingenieuren, wie sie Hortleder und Kogon hinreichend differenziert untersucht haben.34 Zentrales Ergebnis dieser Studien war, daß deutsche Ingenieure ihre politische Rolle allenfalls abstrakt wiedergeben, und daß sie im Zweifelsfall reaktionäre (und eben nicht progressive, entsprechend ihrem Selbstbild als Innovatoren) Positionen beziehen.

Dieses Ergebnis verweist auf einen allgemeineren Kontext, in welchem analytisch vertieft das Engagement der technischen Eliten beim Untergang des Dritten Reiches zu erörtern wäre. Besonders angelsächsische Autoren erweisen sich als beeindruckt von der Hingabe deutscher Technologieproduzenten an NS-Konzepte in der Niedergangsphase des Nazi-Reiches – als der Druchschnittbüger, der berühmte Mann auf der Straße, das Dritte Reich längst abgeschrieben hatte, und sich entsprechend auf pures Überleben einrichtete. Jeffrey Herf35 hat vorgeschlagen, unter der Formel eines »reaktionären Modernismus« die blindwütige high-tech Orientierung der Nazis zu fassen. Er rekurriert damit auf eine breitere, gar nicht auf Rüstung bezogene Debatte, über »fortschrittliche Reaktion«. Diese wurde ausgelöst und wirkte stilbildend zunächst in der bildenden Kunst (etwa Hamann/Hermand).36 Es könnte sein, daß die Formel von der technischen Progressivität, die denn doch reaktionären Zielen dient, für vertiefte Untersuchungen des Themas Technikideologien und Nationalsozialismus weiterhilft.

Anmerkungen

1) Vergl. als neuere Darstellung: Theodor Benecke et al., Flugkörper und Lenkraketen, Koblenz 1987. Zurück

2) Vergl. die Polemik gegen eine kurze Passage über den »Volksjäger« Heinkel 162 bei Karl-Heinz Ludwig, Technik und Ingenieure im Dritten Reich, Königstein/Ts. u.a. 1979 bei H. Dieter Köhler, Ernst Heinkel, Pionier der Schnellflugzeuge, Koblenz 1983, S. 210f. Zurück

3) Heinz J. Nowarra, Die deutsche Luftrüstung 1933-1945, Bd. 1, Koblenz 1985, S. 157 (dieses mehrbändige Werk wird im folgenden als »Nowarra« mit der Angabe des Bandes zitiert. Es handelt sich um eine im Textkern kaum veränderte Neuauflage der in der folgenden Fußnote angegebenen über 20 Jahre älteren Quelle. Textgleiche Passagen mit exponierten Aussagen werden in beiden Quellen nachgewiesen). Zurück

4) Karlheinz Kens/Heinz J. Nowarra, Die deutschen Flugzeuge 1933-1945, München 1961, S. 323 (im Folgenden zitiert als »Kens/Nowarra«). – Die Aussage wortgleich wiederholt Nowarra, Bd. 3, S. 33f. Zurück

5) Kens/Nowarra, S. 283. Zurück

6) Zu Saurs Karriere ausführlich Ludwig, a.a.O. Zurück

7) Ernst Heinkel, Stürmisches Leben, 5. Aufl., Preetz 1963, S. 509. – »Der Spiegel« gibt 1989 (Nr. 32, S. 156) das Volksjägerkonzept wie folgt wieder: „Rüstungsminister Albert Speer wollte jetzt einen Mini-Düsenjäger, ohne viel Firlefanz, billig und unkompliziert in der Bauweise. Zudem sollte jeder Hitlerjunge das Gerät nach einer Kurzausbildung beherrschen können.“ Zurück

8) Georg Brütting, Das Buch der deutschen Fluggeschichte, S. 292. Vergl. auch Köhler, a.a.O., S. 205-212. Zurück

9) Rüdiger Kosin, Die Entwicklung der deutschen Jagdflugzeuge, Koblenz 1983, S. 194f. Zurück

10) Heinkel, a.a.O., S. 511. Zurück

11) „Knapp einen Monat nach den ersten Besprechungen über die Untertageverlagerung der Produktion wurde die »Mittelwerke GmbH« gegründet. Als Tochtergesellschaft des staatlichen »Rüstungskontors« unterstand sie verwaltungsmäßig der Zentralabteilung für Wirtschaft und Finanzen im Ministerium Speer … In unterirdischen Höhlen bei Niedersachswerfen im Südharz sollte das neue Mittelwerk die Fertigung der Fernraketen vorbereiten und aufnehmen. Die erste Planung (erfolgte) für eine »Gefolgschaft« von 16.000 »Häftlingen« und 2.000 »Deutschen““ Ludwig, a.a.O., S. 486f. Zurück

12) Heinkel, a.a.O., S. 508. – Der erwähnte »Spiegel«-Bericht ergänzt: „Die Holzteile des Mini-Jägers hobelten Schreiner in Thüringen und Württemberg. Radfahrer transportierten die fertigen Teile in Rucksäcken durchs zerbombte Reichsgebiet“ (Nr. 32/1989, S. 156). Zurück

13) Nowarra, Bd. 3, S. 252. Zurück

14) Köhler, a.a.O., S. 206. Zurück

15) Kens/Nowarra, a.a.O., S. 468ff; wortgleich Nowarra, Bd. 3, 1987, S. 239. Zurück

16) Kens/Nowarra, S. 469; Nowarra, Bd. 3, S. 239. Zurück

17) Ebd. Zurück

18) Nowarra, Bd. 4, 1988, S.56. Zurück

19) Köhler, a.a.O., S.220. Bei Nowarra, Bd. 2, S. 252, wird »Julia« als „Zwischenlösung einer bemannten Flakrakete …und eines vereinfachten schnellen Kleinjägers“ bezeichnet. Zurück

20) Kens/Nowarra, S. 79. Dieser Text findet sich gleichfalls unverändert in der Neufassung, Nowarra, Bd. 1, S.88. Zurück

21) Nowarra, Bd. 2, S. 253. Zurück

22) Kens/Nowarra, S. 80; Nowarra, Bd. 1, S. 88. Zurück

23) Kens/Nowarra, S. 81; Nowarra, S. 89. Zurück

24) Kens/Nowarra, S. 81/82; Nowarra, S. 89. Zurück

25) Kosin, a.a.O., S.202. Zurück

26) Ebd., S. 203. Zurück

27) Alle Zitate Kens/Nowarra, S. 469. Zurück

28) Nowarra, Bd. 2, S. 253. Zurück

29) Nowarra, Bd. 1, S. 142. Zurück

30) Brütting, a.a.O., S. 224f. Zurück

31) Nowarra, a.a.O., Bd. 4, S.48. Zurück

32) Ludwig, a.a.O., S.456. Zurück

33) W.Treue, Entwurf zu einem Nekrolog oder Materialien für eine gute wissenschaftliche Nachrede, in: Kurt Manel, Hg., Wege zur Wissenschaftsgeschichte, Wiesbaden 1982. Zurück

34) Gerd Hortleder, Das Gesellschaftsbild des Ingenieurs, Frankfurt a.M. 1970; Eugen Kogon, Die Stunde der Ingenieure, Düsseldorf 1976. Zurück

35) Jeffrey Herf, Reactionary Modernism: Technology, Culture, and Politics in Weimar and the Third Reich, Cambridge 1984. Zurück

36) Richard Hamann/Jost Hermand, Stilkunst um 1900, Berlin 1967. Zurück

Dr. Ulrich Albrecht ist Hochschullehrer für Politische Wissenschaften an der FU Berlin.

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Kriegerdenkmale nach beiden Weltkriegen

von Susanne Behrenbeck

Das Ende des Zweiten Weltkrieges liegt bereits 44 Jahre zurück, und noch immer werden Denkmale zur Erinnerung an seine Toten errichtet. Der andauernde Bau solcher Gedenkzeichen beschränkt sich nicht nur auf Personengruppen, die bisher vernachlässigt wurden oder auf ältere Denkmale, die durch zeitgemäße ersetzt werden sollen, sondern er hat noch tiefer liegende Gründe. Horst Baier nannte diese in seinem Beitrag zum Volkstrauertag 1987 das „Brandmal der Republik“, das weiter schwärt und keine Ruhe läßt: Es sei der Geburtsmakel unseres Staatswesens, daß jede Erinnerung an seinen Ursprung, jedes Jubiläum wie das diesjährige, zugleich Trauer um Tod und Schuld sein muß. Echte Versöhnung, „die immer auch Vergeben und Vergessen einschließt, eine solche Versöhnung der Deutschen mit ihren ehemaligen Gegner ist bis heute … nicht Wirklichkeit geworden. Die Geschichte vergißt nur, wenn die Wunden ihrer Taten und Untaten geschlossen sind.“ 1 Dies sei aber weder bei uns noch bei den Opfern und früheren Gegner der Fall.

Das Gedächtnis an die Opfer des Krieges in Form von dauerhaften Gedenkzeichen kann demnach auch als eine Art und Weise verstanden werden, wie dieser Staat und seine Bürger versuchen, ihre moralische Selbstverantwortung für die Vergangenheit zu übernehmen. Zwar kann der Geburtsmakel dadurch nicht behoben werden, womöglich aber „in die Helle des Gedächtnisses und in die Klarheit eines Bekenntnisses“ erhoben werden. „So könnte sich Mittat der Voreltern und Mitleid der Nachfolgenden versöhnen, zuerst bei und und dann zusammen mit den Nachbarn“.2

Kriegerdenkmale als Mittel der Versöhnung und gegen die Verdrängung – das klingt fast zu schön, um wahr zu sein. Die Geschichte dieser Kunstgattung zeichnet ein anderes Bild. Ein Vergleich der Kriegerdenkmale im ersten Jahrzehnt nach beiden Weltkriegen soll zeigen, welche gesellschaftlichen Bedürfnisse sie erfüllen.

In den Kriegerdenkmalen kommen breite Gesellschaftsgruppen zur Sprache, denn die Stifter solcher Gedenkzeichen stammen sowohl aus Soldatenverbänden und Stadtparlamenten wie aus Krichen und Arbeiterschaft. Zu den Spendenaktionen war die Gesamtbevölkerung aufgerufen und fühlte sich – wie die Sammelergebnisse belegen – offenbar auch angesprochen. Von den beauftragten Künstlern wurde verlangt, möglichst präzise dem Empfinden der Stifter, ihrer Einstellung zum Kriegstod Ausdruck zu verleihen; das Gesamtspektrum der Kriegerdenkmale ergibt daher ein recht aussagekräftiges Bild von der versuchten Bewältigung des Kriegstodes in der Nachkriegsgesellschaft.

Zeichen der Trauer und nicht des Triumphes

Zwei zeitgenössische Beobachter sollen den Einstieg ins Thema vermitteln. So äußerte sich Bruno Taut, ein politisch und sozial engagierter Architekt, in seiner Zeitschrift „Frühlicht“ 1922 zur Situation der Kriegerehrung:

„Die Denkmalbewegung für die Gefallenen des großen Krieges scheint sich unaufhaltsam überallhin zu verbreiten. Bei Autofahrten findet man schon in den meisten Dörfern irgendeinen Stein oder ein steinähnliches Gebilde, sei es nun, daß es eine Figur darstellt, der nur noch die Engelsfittiche fehlen, oder daß ein Findlingsblock unmittelbar von den Eisbergen angeschwemmt ist. Ja, es soll sogar Firmen geben, welche »eisenarmierte Betongranithohlfindlinge« offerieren und bei der sentimentalen Bevölkerung Erfolg damit haben. Viel anders verhält es sich aber mit den werkbundgerechten Versuchen auch nicht, die Kriegerdenksteine in eine »geschmackvolle« Form zu bringen, eine Form, die gewöhnlich einem Briefbeschwerer ähnlich sieht …“ 3

Taut weist in diesem Zusammenhang auf die gesellschaftliche Zerrissenheit seiner Zeit und deren Auswirkungen auf die Kriegerdenkmale hin:

„Ein Denkmal kann möglich sein, wenn es sich um eine Idee handelt, deren Symbol restlos und klar allgemeine Gültigkeit hat … Die Einstellung des deutschen Volkes zum vergangenen Kriege ist aber eine so verschiedenartige, daß man eine Allgemeingültigkeit irgendeines Symbols dafür nicht entfernt feststellen kann. Die einen wünschen eine Heroisierung der grausigen Vorgänge und die Vergöttlichung ihrer Opfer, die anderen grausige Zeichen zur Erinnerung an dieses Geschehen, Zeichen, welche die Erinnerung an seine Furchtbarkeit niemals erlöschen lassen sollen. Künstlerisch wäre diese Aufgabe als solche lösbar, wenn eine dieser beiden Anschauungen zweifelsfrei überwiegen würde. Das ist aber nicht der Fall …“ 4

Nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich die Einstellung zum Kriegstod offensichtlich verändert. Adolf Rieth, als Berater für Kriegerdenkmale in Baden-Württemberg tätig, faßt Anfang der 60er Jahre im Rückblick den Unterschied zu früheren Zeiten zusammen:

„Wir lehnen heute die falsch verstandene Gefallenenehrung nach 1918 weitgehend ab, weil sie vielfach … patriotische Stimmungsmache war, die selbst mit den Zeichen des Christentums Mißbrauch trieb und damit ungewollt das Verhängnis des zweiten Weltkriegs vorbereiten half.“ 5

„Während die Gefallenendenkmale des ersten Weltkriegs weitgehend auf das Kriegserlebnis Bezug nahmen, verkörpern die neuen Male die Kriegsfolgen. War in den früheren Malen Trotz und Auflehnung zu spüren, so weisen die heutigen auf die Opfer und das tragische Geschehen des letzten Krieges hin … Der Infantrist aus Bronze oder Stein, … dieser Kämpfer ist endgültig weggetreten … und wäre bei uns, auch ohne den Einfluß der Denkmalpflege, wohl nicht wiedergekommen. Das neue Denkmal … ist ein Zeichen der Trauer und nicht des Triumphes. … War das Gefallenendenkmal früher ein Ort der nationalen Sammlung, so ist es heute ein Ort der inneren Sammlung geworden, ein Zeichen, daß der Versöhnung zwischen den Völkern dient.“ 6

Es scheint also, als sei die Einstellung zu Krieg und Kriegstod nach 1918 von Gegensätzen geprägt gewesen, während sich in der zweiten Nachkriegszeit eine einheitliche Haltung durchgesetzt habe. Ob Taut die Befürworter von »grausigen« Gedenkzeichen für zu zahlreich hielt, ob Rieth mit seiner optimistischen Beurteilung der neuen Denkmale recht hat, soll in diesem Beitrag geprüft werden.

Helden oder Opfer?

Auch die Namen, mit denen die Denkmale in beiden Nachkriegszeiten bezeichnet wurden, spiegeln deutliche Unterschiede. Sie leiten sich meist von den in der Widmungsinschrift benutzten Vokabeln ab. In beiden untersuchten Nachkriegsjahrzehnten waren zwar verschiedene Benennungen nebeneinander gebräuchlich, jedoch lassen sich eindeutige »Trends« feststellen:

Nach dem Ersten Weltkrieg hießen die Monumente meist Helden-, Gefallenen- oder Kriegerdenkmal, oft mit dem Zusatz »Ehrenmal« versehen.7 Durch den steinernen Dank der Heimat sollte die Ehre der gefallenen Helden wiederhergestellt werden. Die Dolchstoßlegende wurde in solchen Widmungen bekräftigt und die militärische Niederlage geleugnet. Nicht der Tod der Soldaten, sondern ihre Bewährung im Kampf stand dabei im Zentrum.8 Dem entsprach die häufige Darstellung von kämpferischen, leiblich unversehrten und korrekt uniformierten Soldatengestalten auf dem Denkmalsockel.9

In der zweiten Nachkriegszeit wurden andere Begriffe gebildet, wobei an erster Stelle »Mahnmal« und »Kriegsopfermal« rangierten.10 Es wurden mit diesem Gedenkzeichen zunächst v.a. die zivilen Opfer des Krieges beklagt, zumal die Opfer des NS-Regimes. Ihrem Sterben konnte keine heldenhafte Entscheidung, kein freiwilliges Opfern mehr unterstellt werden, allenfalls eine Art Martyrium. Die an sie erinnernden Denkmale sollten den Betrachter mahnen im Sinne von: vor einer Wiederhohlung warnen.11 Die Darstellung schmerzerfüllter Hinterbliebener und ausgemergelter Leiber gehört zu diesem Denkmaltypus.

Die Frage ist nun, ob es sich bei den Namensänderungen um eine Art »Etikettenschwindel« handelt, oder ob sie den formalen wie inhaltlichen Veränderungen der Denkmale entsprechen.

Bewältigung der Niederlage

Nach einem verlorenen Krieg mit steinernen Denkmalen dauerhaft an die Niederlage zu erinnern, widerspricht zunächst der Grundintention des Denkmals und steht dem menschlichen Verlangen entgegen, unangenehme Erinnerungen zu verdrängen. Diese Ambivalenz, der offenbar unbewußte Zwang, das Schreckliche dennoch im Gedächtnis zu bewahren, bestimmt die Gestaltung vieler Monumente nach beiden Weltkriegen, als die Kriegsdenkmale nicht länger zugleich Siegeszeichen sind.

Ihre Funktion ist in erster Linie, das Rechtfertigungsbedürfnis der Überlebenden zu befriedigen und den gewaltsamen Tod so vieler Menschen zu erklären, wenn möglich mit einem Sinn zu versehen.12

Nach 1918 zeigten die Kriegerdenkmale eine andere Haltung zum Kriegstod als im 19. Jahrhundert. Linse stellt als Ergebnis eine gesteigerte Heroisierung und Sakralisierung der Kriegstoten fest. Ihr Ziel sei es, die Wirklichkeit des Sterbens zu verdrängen oder – wie Mosse es ausdrückt – den Tod der Gefallenen zu leugnen. Das bedeutet: die Gedächtniszeichen des Ersten Weltkrieges sollten v.a. die »wahre« Erinnerung zugunsten einer erträglicheren verdrängen.13

Enorm war der Aufwand, mit dem der Bau solcher Monumente betrieben wurde – sie waren manchmal imposanter als die Nationaldenkmale des 19. Jahrhunderts14. Darin spiegeln sich die Verzweiflung und Radikalität, welche hinter diesem Verdrängungswunsch wirksam war, aber auch die Befürchtungen, die mit einer wahrheitsgemäßen Erinnerung verbunden gewesen sein müssen. Die Kriegsniederlage sollte eben nichts an der traditionellen Einstellung zu Krieg und Kriegstod ändern, die alten Werte, für welche die Soldaten in den Krieg und in den Tod gezogen waren, sollten wegen ihrer vermeintlich staatstragenden Funktion um fast jeden Preis bewahrt werden.15 Diesen Werten, Idealen und Tugenden wurden die Denkmale gesetzt, die Gefallenen verkörperten deren Verwirklichung unter den extremen Bedingungen eines Krieges.

Koselleck sieht die Funktion der Kriegerdenkmale nach 1918 ebenfalls v.a. in der moralischen Verarbeitung der Niederlage und nicht etwa der Kriegsschuld. Kraft einer »Inversionslogik« fordern sie zur Identifikation mit dem Vaterland auf, für das zu sterben trotz der Niederlage lohnt, wie die Millionen Toten »beweisen«. Andernfalls wären diese ja umsonst, d.h. sinnlos gestorben.16

Die Gedenkstätten konnten auch zur Bewältigung der negativen Kriegserlebnisse dienen, gerade indem sie diese verschwiegen und statt dessen dem Mythos von den „im Stahlbad geläuterten Helden“, von der Frontkameradschaft und der Apotheose des Krieges konkret und anschaulich Ausdruck verliehen, wodurch sie teilweise zum Gegenstand kollektiver Verehrung wurden.17 Die ehemaligen Frontsoldaten, von der Nachkriegszeit meist frustriert, stärkten so ihr Selbstwertgefühl. Die ab 1925 immer häufiger werdenden revanchistischen Denkmale drücken auch die gewünschte Revision der innerdeutschen Verhältnisse aus.

Die Eingliederungsprobleme der Kriegsheimkehrer konnten durch ihre bildlich dargestellte Teilhabe am Heldentum der toten Kameraden gemildert werden. Entsprechend oft ist ein trauernder Soldat mit dem Gefallenen auf dem Denkmalsockel zu finden.18 Außerdem bildeten die Denkmale vor Ort einen Ersatz für die an der Front gelegenen Gräber, sie wurden zum Mittelpunkt der Trauergefühle der einzelnen Hinterbliebenen und stifteten so Gemeinschaftserlebnisse. Indem die Überlebenden sich materielle Opfer auferlegten, um mit aufwendigen Denkmalen die Gefallenen zu ehren, sollte der durch Niederlage und Dolchstoßlegende entstandene »Schuldkomplex« der Heimatfront abgetragen werden. So formuliert Probst: „Das Denkmal wurde also nicht nur den Gefallenen errichtet. Die Überlebenden setzten es sich auch selbst unter Aufopferung ihrer Kräfte.“ 19 Damit erklärt sich die häufige Darstellung von trauernden Hinterbliebenen, oft in das überzeitliche Motiv der Pietà gekleidet.

Die so präsentierte Tugendhaftigkeit von Soldaten und Überlebenden stand für die innere Unversehrtheit des Reiches, die der politischen Niederlage gegenübergestellt wurde. Diese Geschichtsmanipulation ist laut Probst „als Teil der mentalen Überlebensstrategie … zu verstehen.“ 20

Der neue Opfer-Begriff

Im Vergleich zu diesen Ergebnissen der ersten Nachkriegszeit bescheinigen alle Autoren den Denkmalen nach dem Zweiten Weltkrieg eine insgesamt veränderte Haltung zum Krieg. Ihr wichtigstes Merkmal sei, daß sie keine patriotischen Leidenschaften mehr wecken. Kritisiert wird dagegen vielfach die »Sprachlosigkeit« der Denkmale, die über Pfichtübungen nicht hinauskämen21. Dies wird auf unterschiedliche Ursachen zurückgeführt.

Durch die Änderung der Staatsform und die Ablösung des alten Regimes ergab sich nach beiden Weltkriegen die Situation, daß die Denkmale ex post den Soldatentod legitimieren mußten, nachdem und obwohl sich die moralische Bewertung seiner Voraussetzungern verändert hatten. Nachträglich galt es, andere Rechtfertigungen für das Sterben zu finden, als die Soldaten im Fahneneid auf Kaiser oder Führer jeweils antizipiert hatten. Zugleich sollten die Ziele der Gefallenen jedoch nicht völlig desavouiert werden.

Die Denkmale beider Nachkriegszeiten spiegeln die Überforderung ihrer Stifter mit dieser Situation wider. Meist wird ein direkter Bezug auf das vergangene Regime vermieden, der Tod der Soldaten auf Heimat, Vaterland und Angehörige statt auf Monarchie und Drittes Reich bezogen.

Doch durch diese allgemein spürbare Verunsicherung kommt es zögernd zu einer veränderten moralischen Bewertung des Sterbens im Krieg. Nach 1945 galt „der Kriegstod nicht mehr überwiegend als vorbildlich. Statt des Appells zur Nachfolge trat Trauer in den Vordergrund. Damit geriet die soziale Rolle der Toten als Vorbilder in Frage“, so lautet das erfreuliche Urteil von Lurz.22

Der Schuldkomplex, der sich nach 1918 im sofortigen Bau von Gefallenendenkmalen äußerte, bezieht sich nun auf die in deutscher Verantwortung begangenen Verbrechen und hat zum Teil den raschen Bau von KZ-Opfermalen zur Folge.

Solche Mahnmale, die von befreiten Häftlingen und Siegermächten initiiert worden sind, werden zu Anfang der 50er Jahre in die Obhut von Ländern und Gemeinden übernommen und ausgebaut.23

Die anfängliche Bestürzung und Scham über die aufgedeckten NS-Verbrechen und die sicher vorhandene spontane Solidarisierung mit den Opfern weicht im Zuge des Kalten Krieges und des wirtschaftlichen Aufschwungs anderen Gefühlen: Die Deutschen beginnen, sich selbst als Opfer von Teilung, Vertreibung, Besatzung und schließlich des Nationalsozialismus zu sehen. Dem entspricht, daß seit Ende der 40er Jahre Mahnmale für die deutschen Opfer von Flucht und Vertreibung sowie der Kriegsgefangenschaft in Angriff genommen werden. Parallel zu einer Schuldabtragung in den KZ-Gedenkstätten läuft also eine Beschuldigung bwz. Aufrechnung von Schuld gegnüber dem einzigen Gegner, der von den alliierten Siegermächten für die westdeutsche Seite noch ins alte Feindbild paßt, der Sowjetunion. Die Denkmale für die eigenen Opfer lenken ab von den Opfern, die man zu verantworten hat. Der im Schatten des Kalten Krieges entstandene neue Mythos vom gemeinsamen Kampf der westlichen Welt gegen den Kommunismus als Wurzel allen Übels hilft in der Bundesrepublik, die Verbrechen der NS-Zeit zu exorzieren.24 Er kann dazu dienen, die unangenehme und beschämende Erinnerung in eine akzeptable Vergangenheit zu verwandeln – ein Vorgang, der auch in der ersten Nachkriegszeit zu beobachten war, allerdings mit anderen äußeren Konsequenzen.

Hinzu kommt, daß schon seit dem Ersten Weltkrieg die Denkmale zusehends aus dem Ortskern an die Peripherie gedrängt wurden, ein Trend, der sich nach 1945 deutlich verstärkt.25 Offenbar sollen die Denkmale für die Kriegstoten weniger öffentliches Aufsehen erregen und der politischen Erziehung dienen als vielmehr dem stillen Gedenken und der persönlichen Besinnung des einzelnen. Es ist also eine deutliche Privatisierung bzw. Individualisierung des Gefallenengedächtnisses zu beobachten, die sich von der früheren Kollektivierung und Nationalisierung weit entfernt hat.

Der stark zusammenfassende Opfer-Begriff nach dem Zweiten Weltkrieg geht einher mit der Verlegung der Gedenkzeichen auf den örtlichen Friedhof. Der Unterschied zwischen Kriegstod und zivilem bzw. natürlichem Tod wird dadurch stark nivelliert.26

Die neuen Helden

Einen Gefallenenkult wie 1918 gibt es nach 1945 nicht mehr. Die neuen Helden der Denkmale sind nicht mehr die toten Soldaten, sondern eindeutig die Verfolgten und Widerstandskämpfer,27 wobei diese Personengruppen sich oft nur in ihrer Gegnerschaft einig waren, nicht aber in den angestrebten Zielen. Die Bildersprache der Gedenkzeichen in der Bundesrepublik thematisiert meist keine positiven Werte, die Widmungsinschriften erschöpfen sich in hilflosem oder lyrischem Pathos. Auch den Festredner gelingt es kaum einmal, eine inhaltliche Alternative zum Nationalsozialismus zu konkretisieren.28 Der Krieg wird zum Unglücksfall, tragischen Schicksal, zur Naturkatastrophe erklärt; die soldatischen Tugenden werden dadurch nicht außer Kraft gesetzt und können gerade für die Helden des militärischen Widerstands in Anspruch genommen werden.

Die militärische und politische Niederlage, die 1945 viel größere Dimensionen hatte als 1918, taucht in den Denkmalen nicht mehr als trotziges »Dennoch« auf wie nach dem Ersten Weltkrieg, sie wird zwar nicht geleugnet, aber auch nicht thematisiert. Der völlige Zusammenbruch auf allen gesellschaftlichen Ebenen fördert die Illusion eines möglichen Neuanfangs. Zu der nationalsozialistischen Vergangenheit als Kriegsursache begeben sich die Denkmalstifter auf Distanz.

Die Verarbeitung der Niederlage und der NS-Verbrechen wird in Westdeutschland durch Verdrängung der Schuldgefühle und eine allzu rasche Identifizierung mit den Siegermächten im Zuge des Kalten Krieges verhindert. Dieser psychosoziale Vorgang zeigt sich besonders eindrücklich am Denkmal für die Widerstandskämpfer vom 20. Juli 1944 in Berlin29. Die Bundesrepublik will damit nicht nur ihre eindeutige Abkehr von der nationalsozialistischen Vergangenheit und ihre ungeteilte Solidarität mit dem Widerstand bekunden. Wie die Einweihungsreden zeigen, soll mit dem Gedenkzeichen zugleich das Geschehen vom 17. Juni 1953 in der DDR mitverurteilt werden. Die Männer vom 20. Juli bieten außerdem der neu gegründeten Bundeswehr die Möglichkeit, an positive Traditionen anzuknüpfen. Sie sind schließlich die einzigen, die noch den »Tod fürs Vaterland« gestorben sein dürften. Nur bei den Denkmalen für die Widerstandskämpfer findet eine eindeutige Verurteilung des NS-Regimes statt.30 Gleichzeitig wird jedoch auf den Gefallenendenkmalen auch die Treue und Tapferkeit der deutschen Soldaten gelobt ohne Hinweis darauf, daß diese für ein verbrecherisches Regime kämpften und durch ihre gerühmte Pflichterfüllung die Ausrottung von Millionen Menschen in den Todeslagern ermöglichten. Dieses Paradoxon zeigt das Ausmaß der Tabuisierung und Verdrängung, das in den Kriegsdenkmalen aufgebaut wurde.

Doch die Frage nach dem Sinn von Gedenkzeichen ist damit nicht obsolet geworden, denn wiederum ein Denkmal, wenn auch ganz anderer Art, soll helfen, solche Verdrängung aufzubrechen. Ausgerechnet im Jubeljahr 1989 wurde im 2000jährigen Bonn der Antrag gestellt, ein Denkmal für den unbekannten Deserteur auf dem Friedensplatz aufzustellen. Die enorme Provokation, die von diesen Plänen ausging, hat gezeigt, wie sehr prosoldatische Werte noch immer als staatstragend gelten, wie wenig sich eine pazifistische Grundhaltung durchgesetzt hat und wie offen die Wunden der Vergangenheit noch sind. Eine wirkliche Auseinandersetzung mit dem »Stein des Anstoßes« als Kunstwerk oder mit der Desertion eines auf Hitler vereidigten Soldaten fand nicht statt. Die einseitige Verehrung der Männer vom 20. Juli zeigt, daß Tyrannenmord als einzig legitimes Verhalten in einem Unrechtsstaat gilt, sich zu verweigern, als verabscheuungswürdige Handlung.

Vergleicht man das von Richard Scheibe für die Widerstandskämpfer gestaltete Denkmal – die Symbolfigur eines nackten, klassizistischen Jünglings, der sich die lose geschlungenen Handfesseln abstreift – mit dem von Mehmet Azoy geschaffenen Deserteurdenkmal – ein großer Marmorbrocken, in dem ein weicher menschlicher Körper seinen Abdruck hinterließ, bevor er durch ein Loch in die Freiheit entkam – so wird der Unterschied zwischen den zugrundeliegenden Handlungen, das Identifikationsangebot für den Betrachter deutlich. Das Hamburger Gegen-Denkmal von Alfred Hrdlicka (1983-86) macht den Kontrast sogar im direkten Gegenüber zum heroisierenden 36er Denkmal nachvollziehbar.

Man kann unterschiedliche Einstellungen zur realistischen Formensprache dieser Künstler einnehmen, ihr unbestreitbarer Vorteil ist jedoch, daß sie auch für künstlerisch ungeschulte Menschen leicht verständlich ist und ihnen eine Auseinandersetzung mit den Inhalten eröffnet.

Es gibt in Deutschland im Gegensatz zu vielen anderen Staaten kein symbolisches Denkmal für den unbekannten Soldaten, um das sich ein Gefallenenkult entfalten könnte. Auch das im Geiste des Kalten Krieges initiierte Denkmal für den unbekannten politischen Häftling ist gescheitert. Das nun in Bonn gegen große Widerstände zumindest provisorisch installierte Denkmal für den unbekannten Deserteur gehört zu den wenigen, die man Anti-Kriegsdenkmale nennen kann, weil sie abschreckende Wahrheiten über den Krieg ins öffentliche Gedächtnis gebracht haben.

Was die Formensprache solcher Gedenkzeichen angeht, so teilen sie das Los vieler anderer Kriegsdenkmale nach dem 2. Weltkrieg: sie sind von viel gutem Willen und ehrlichem Bemühen beseelt, scheitern aber oft (wie das Deserteurdenkmal in Bremen) an Hilflosigkeit, an der schier unüberwindlichen Diskrepanz zwischen Denkmalanlaß und Denkmalgestalt. Die Aufgabe ist wohl als solche nicht ohne weiteres künstlerisch lösbar, wie Taut 1922 voraussetzte.

Müssen Kriegsdenkmale und besonders ihre Stifter deswegen grundsätzlich verdächtig erscheinen, wie eine Untersuchung der Fachhochschule Dortmund schlußfolgert? Ihre Autoren kommen nämlich zu einer viel drastischeren Einschätzung als der eingangs zitierte Denkmalpfleger Rieth: „Der Denkmalskult ist offenkundig unfähig zur Trauer, Mahnung, Demut oder gar zur Verhinderung von Kriegen. Friedenskultur und Friedenserziehung lassen sich nicht monumentalisieren.“ 31 Sind Kriegerdenkmale demnach als Gattung gefährlich und sollten abgeschafft werden? Brauchen wir heute überhaupt noch solche Zeichen? Wenn ja, wie ließe sich eine Gestaltungsform finden, die tatsächlich erinnert, ohne zu verdrängen und die dennoch nicht auf spontane, allgemeine Ablehnung träfe? Wie müßten Anti-Kriegsdenkmale aussehen, die zum Friedenshandeln auffordern, die neben dem Sterben auch das Töten im Krieg thematisieren? Und wie müßte der Umgang mit den alten Gedenkstätten gestaltet werden, damit deren unfriedliche Wirkung gebrochen wird? Gerade im Hinblick auf die Debatte um ein zentrales Mahnmal der Bundesrepublik scheint mir die Auseinandersetzung mit solchen Fagen von aktueller Bedeutung zu sein.

Es handelt sich um die leicht veränderte Fassung eines Vortrags den Sabine Behrenbeck auf der Tagung »Nachkriegszeiten im Vergleich« des Arbeitskreises Historische Friedensforschung (27-29.10.1989, Bonn) gehalten hat.

Anmerkungen

1) Baier, Horst, Totentrauer – die Frömmigkeit unserer Republik, über Sühne, Wiedergutmachung und Selbstverantwortlichkeit, in: FAZ v. 14.11.1987 Zurück

2) Ebenda Zurück

3) Taut, Bruno, Gefallenendenkmal für Magdeburg, in: Ders (Hg), Frühlicht 1920-1922, Eine Folge für die Verwirklichung des neuen Baugedankens, Nachdruck hg. v. Ulrich Conrads, Frankfurt/Berlin 1963, H.2, 1921/22, S. 109-113, hier 109 Zurück

4) Ebenda, S. 110 Zurück

5) Rieth, Adolf, Neue Gefallenendenkmale in Süd-Württemberg, in: Bewahren und Gestalten, Festschrift für G. Grundmann, Hamburg 1962, S. 109-114, hier 109 Zurück

6) Ders., Denkmal ohne Pathos, Totenmale des zweiten Weltkriegs in Südwürttemberg-Hohenzollern, mit einer geschichtlichen Einleitung, Tübingen 1967, S. 27 Zurück

7) Kurz, Meinhold, Kriegerdenkmäler in Deutschland, Bd. IV, Weimarer Republik, Heidelberg 1985, S. 342 Zurück

8) Rieth, A. Denkmal ohne Pathos, S. 12 Zurück

9) Probst, Volker G., Bilder vom Tode, eine Studie zum deutschen Kriegerdenkmal in der Weimarer Republik, Hamburg 1986, S. 20f. Zurück

10) Kurz, M., Kriegerdenkmäler in Deutschland, Bd. VI, Bundesrepublik Deutschland, Heidelberg 1986, S. 272f., 304 u. 331 ff. Zurück

11) Ebenda, S. 350; vgl. a. Mosse, l. George, Two World Wars and the Myth of War Experience, in: Journal of Contemporary History, Vol. 21 (1986), S. 491-513, hier 503 Zurück

12) Koselleck, Reinhart, Kriegerdenkmale als Identitätsstiftungen der Überlebenden, in: Identität, hg. von Odo Marquart u. Karl-Heinz Stierle, Münschen 1979, S. 255-276, hier 256 f. Zurück

13) Linse, Ulrich, „Saatfrüchte sollen nicht vermahlen werden!“, Zur Resymbolisierung des Soldatentods, in: Kriegserlebnis, Der erste Weltkrieg in der literischen Gestaltung und symbolischen Deutung der Nationen, hg. v. Klaus Vondung, Göttingen 1980, S. 262-274, hier 262f. Zurück

14) Mosse, L. George, Soldatenfriedhöfe und nationale Wiedergeburt, Der Gefallenenkult in Deutschland, in: Kriegserlebnis, S. 240-261, hier 258 Zurück

15) So auch V.G. Probst, S. 95 Zurück

16) Koselleck, R., S. 262f. Zurück

17) Mosse, G.l., Soldatenfriedhöfe, S. 244 und Ders., Two World Wars, S. 500 ff. Zurück

18) Vgl. dazu die Studie von V.G. Probst pas. Zurück

19) Ebenda, S. 3, 73f. u. 80ff. Zurück

20) Ebenda, s. 87 Zurück

21) Plagemann, Volker, „Vaterstadt, Vaterland …“, Denkmäler in Hamburg, Hamburg 1986, S.156 Zurück

22) Kurz, M., Bd. VI, S. 40 Zurück

23) Rieth, A., Denkmal ohne Pathos, S. 29 Zurück

24) Mosse, G.L. Two World Wars, S. 498-500 Zurück

25) Seegert, Siegfried, Wandlungen in der Einstellung zum Krieg, dagestellt an den westfälischen Ehrenmalen für die Kriegstoten, (Diss. phil.) Münster 1962, S. 90-93. Seeger führt dies auf die allgemeine Verdrängung des Todes in unserer Gesellschaft zurück. Zurück

26) So die Kritik von Lurz, M., Bd. VI, S. 352 ff. Zurück

27) Ebenda, S. 183 u. 370 Zurück

28) Ebenda, S. 182 u. 500 Zurück

29) Dazu ausführlich ebenda, S. 202 sowie der Aufsatz von Damus, Martin, Die Vergegeständlichung bürgerlicher Wertvorstellungen in der Denkmalplastik, Das Denkmal zur Erinnerung an den 20 Juli 1944 von Richard Scheibe in Berlin – Der nackte Jüngling als Symbolfigur für den Widerstand, in: Kunst und Unterricht, Sonderheft, Weinheim 1974, S. 69-80 Zurück

30) Kurz, M. S. 318, 370 u. 375. Die anklagenden Mahnmale der VVN sind von dieser Kritik nicht betroffen. Zurück

31) „Unseren tapferen Helden … “, Kriegs- und Kriegerdenkmäler und politische Ehrenmale, Dortmunder Beispiele, hg. v. der Fachhochschule Dortmund, Fachbereich Design, Dortmund 1987, S. 16 Zurück

Sabine Behrenbeck ist Historikerin und promoviert über den „Kult um die toten Helden im Nationalsozialismus“.

1989 – fünfzig Jahre nach Kriegsbeginn

1989 – fünfzig Jahre nach Kriegsbeginn

von Till Bastian

Das Jahr 1989 hatte noch gar nicht begonnen, da wurde es schon mit höchsten Erwartungen befrachtet. Theo Sommer, um globale Perspektiven und welthistorische Dimensionen selten verlegen, schrieb in der letzten Ausgabe der Zeit im Jahr 1988, unsere Generation habe „ein Rendezvous mit der Geschichte“. Für eine solche Feststellung – Sommer hatte sie einer Rede des US-Präsidenten Franklin Delano Roosevelt entlehnt – gibt es allerdings allen Anlaß. Vor fünfzig Jahren, am 1. September 1939, wurde um 5 Uhr 45 »zurückgeschossen« – mit dem Angriff des Schlachtschiffs »Schleswig-Holstein« auf die polnische Westerplatte begann der Zweite Weltkrieg: Hitlers Versuch, die Karten von 1914 neu zu mischen und einen nächsten Waffengang zu wagen; ein Krieg, an dessen Ende nicht nur die Zerstörung ganzer Länder und millionenfacher Tod standen, sondern auch die Atombombenexplosionen von Hiroshima und Nagasaki, die mahnenden Fanale eines neuen Atomkriegszeitalters. Auch in dieser Hinsicht ist 1939 ein Schicksalsjahr gewesen. Der von Th. Sommer zitierte 32. US. Präsident Roosevelt hatte – das erkennen wir heute, aus der Perspektive des 50-Jahres-Abstandes deutlicher als die damaligen Zeitgenossen – in jenem Jahr sein ganz persönliches Stelldichein mit Klio, der Muse der Historiker: Aufgerüttelt durch Einsteins Brief über den mittlerweile möglichen Bau einer »Superbombe« (August 1939) leitete der Politiker kaum ein Jahr nach der ersten Kernspaltung durch Hahn, Meitner und Straßmann das Atomprogramm seines Landes in die Wege: 1942 wurde der Kernreaktor angefahren, am 16. Juli 1945 in der Wüste von New-Mexiko die erste Atombombe gezündet – die nächsten Explosionen verwüsteten japanische Städte.

In Anbetracht dieser historischen Verwicklungen und Reminiszenzen kann ein auch nur halbwegs sensibler Chronist kaum anderes empfinden als ein Gefühl der Peinlichkeit, ja der Scham, wenn er Zustand und Entwicklung der offiziellen Bonner Politik betrachtet. Nicht nur, daß ein Besuch des Staatsoberhauptes zum 1. September in der Volksrepublik Polen – im Grunde eine selbstverständliche Geste des politischen Anstandes und des Versöhnungswillens – von der »Stahlhelm«-Fraktion in der CDU/CSU erfolgreich verhindert ist; nicht allein, daß auch der Bundeskanzler seine Polenreise mit einer fragwürdigen Begründung verschoben hat – als wolle er deutschem Wahn und deutscher Hybris noch die Krone des schlechten Gechmacks aufsetzen, hat ein hochkarätiger Politiker in Ministerrang, auf die rechtsradikalen Wähler schielend, just fünfzig Jahre nach Beginn jenes Krieges, in dem deutsche Schergen ein Viertel der polnischen Bevölkerung ausgerottet haben, die polnische Westgrenze in Frage gestellt und kaum verhüllt den Anspruch auf deutsche Wiederinbesitznahme der Gebiete östlich der Oder-Neiße-Linie angemeldet. Wenn sich ein Rendezvous mit der Geschichte so anbahnt – dann ist es offenbar von Selbsttäuschung, Verleugnung und Verdrängung überschattet. Mit einem glücklichen Ausgang kann so kaum gerechnet werden.

Die Welt vor hundert Jahren

Empörung, sie sei so berechtigt, wie sie wolle, ist ein unzureichender Nährboden für die Antwort auf die Frage, was zu tun sei. Welchen Gebrauchswert kann die historische Rückbesinnung denn haben für all jene, die dabei mit mehr Furcht und Zweifel zu Werke gehen als die Herren Kohl und Waigel? Betrachten wir die Welt vor hundert Jahren, 1889: Damals wie heute sehen wir eine Fülle vielfältiger friedenspolitischer Aktivitäten, beobachten wir Versuche, mit den traditionellen Verhaltensweisen der Machtpolitik radikal zu brechen, hören wir die Forderung nach einem neuen Denken und Handeln, nach dem Bau eines tragfähigen Fundamentes für den Weltfrieden. In Paris tritt 1889 der erste Weltfriedenskongreß zusammen; Frédéric Passy, Vorsitzender der »Französischen Gesellschaft der Friedensfreunde«, begrüßt die Delegierten von hundert verschiedenen Friedensgesellschaften und gründet mit seinem Freundeskreis die rasch bekannt werdende Zeitschrift »Revue de la Paix«(zunächst unter dem Titel »Arbitrage entre Nations«). Im selben Jahr 1889 entsteht auf Initiative des britischen Arbeiterführers, Unterhausabgeordneten und Pazifisten William Randal Cremer die »Interparlamentarische Union für Schiedsgerichtbarkeit und Frieden«, ein Verein, in dem sich friedenspolitisch engagierte Parlamentarier aus 9 Ländern zusammengefunden hatten (1890 traten ihr auch die deutschen Abgeordneten Barth, Broemel und Dorn bei). 1889 – ein Jahr vielfältiger friedenspolitischer Aktivitäten, auch auf publizistischem Gebiet. Friedrich Engels, fast siebzig Jahre alt, brütet über Manuskripten, aus denen später der programmatische Essay „Kann Europa abrüsten?“ (1893) hervorgehen wird, ein Aufsatz, der erstmalig erörtert, ob die Frage von Krieg oder Frieden nicht unter bestimmten Bedingungen als den Erfordernissen des Klassenkampfes übergeordnet betrachtet werden muß – ein Gedanke, der bekanntlich hundert Jahre später in der politischen Philosophie des Michael Gorbatschow voll zum Tragen kommt. Den unbestrittenen Höhepunkt der zahllosen friedenspolitischen Veröffentlichungen jener Tage bildet freilich der just 1889 erschienene Roman „Die Waffen nieder!“ der am 9. Juni 1843 zu Prag geborenen Adligen Bertha von Suttner, die im Jahr 1905 als erste Frau den Friedensnobelpreis erhielt. Doch die internationale Friedensbewegung, für die der Name von Suttner prototypisch stehen mag, ist trotz bestem Willen und großem Engagement letzten Endes machtlos gegen den aufblühenden, auf Krieg und Kolonialbesitz setzenden Imperialismus. Mag sein, daß diese Bewegung allzu philosophisch-philanthropisch orientiert gewesen ist – ein deutlicher Fingerzeig für uns Gegenwärtige, wo doch heute der Satz „Der Friede beginnt in den Köpfen“ auf Friedenskongressen und Kirchentagen wieder in aller Munde ist. Unstreitig ist die Sentenz richtig, doch umfaßt sie nur die halbe Wahrheit – denn wenn das, was in den Köpfen beginnt, sich in Waffenfabriken, Generalstäben und Ministerien nicht praktisch durchsetzt, also institutionell-organisatorisch abgesichert wird, droht der Frieden allemal in seinen Ansätzen stecken zu bleiben. So geschah es auch in der Zeit der Jahrhundertwende. „Der ewige Friede ist ein Traum, und nicht einmal ein schöner, und der Krieg ein Glied in Gottes Weltordnung“, so schrieb Generalfeldmarschall Helmuth von Moltke 1880 an den Heidelberger Völkerrechtsgelehrten Bluntschli: „In ihm entfalten sich die edelsten Tugenden des Menschen, Mut, Entsagung, Pflichttreue und Opferwilligkeit mit Einsetzung des Lebens. Ohne ihn würde die Welt im Materialismus versumpfen.“ Die Furcht des Generalissimus erwies sich freilich als unbegründet; die Welt »versumpfte« nicht. Schon im August 1914, Frau von Suttner war soeben zu Grabe getragen worden, donnerten die Kanonen. Kaiser Wilhelm II., der oberste Kriegsherr aller Deutschen, hatte seine Reichstagsrede zur Kriegserklärung mit den Worten beendet: „Nun wollen wir sie aber dreschen!“

Eine zeitgenössische Photographie zeigt eine gewaltige Menschenmenge, die sich vor der Münchener Feldherrenhalle versammelt hat, um der Verkündigung des Mobilmachungsbeschlusses zu lauschen. Unter den begeisterten Zuhörern ein enthusiastisch jubelnder junger Mann; die Ausschnittvergrößerung beweist, daß es sich um keinen anderen als Adolf Hitler handelt, geboren 1889, in eben jenem Jahr, als „Die Waffen nieder!“ erschien. Jetzt ist er fünfundzwanzig – als Fünfzigjähriger wird er, getragen von einer breiten Wille der Zustimmung unter seinen »Volksgenossen« als Rache für den verlorenen ersten einen zweiten, noch ungleich blutigeren Weltkrieg entfesseln….

Die Epoche des zweiten »dreißigjährigen Krieges«

Vielleicht werden Historiographen späterer Zeiten die Jahre 1914 bis 1945 als die Epoche des zweiten »dreißigjährigen Krieges« bezeichnen. Auf jeden Fall aber war diese erste Hälfte unseres bluttriefenden 20. Jahrunderts eine Epoche nicht nur exzessiver Machtentfaltung, sondern auch der Machtverherrlichung expressis verbis. Vom Kaiser Wilhelm II., der seine Feinde »dreschen« wollte, haben wir bereits berichtet – fünfundzwanzig Jahre später, im August 1939, verkündete Adolf Hitler, der einst der kaiserlichen Mobilmachungsorder so begeistert zugehört hatte: „Wer Macht nicht besitzt, verliert das Recht zum Leben.“ Der Krieg, den Hitler 25 Jahre nach der wilhelminischen Kriegserklärung begann, sechs Jahre, nachdem er selber von einer Woge der Sympathie und Begeisterung an die Macht getragen worden war – dieser Krieg muß in der Tat als der Versuch gewertet werden, sich am machtpolitischen Ziel von 1914 noch einmal, aber noch brutaler, noch rücksichtsloser, zu versuchen. Insoweit hatte Philipp Jenninger in seiner verunfallten Gedenkrede durchaus recht, als er, von seinem Unbewußten zum gar zu einfühlsamen Umgang mit dem Nationalsozialismus verführt, die rhetorische Frage stellte: „Machte nicht Hitler wahr, was Wilhelm II. nur versprochen hatte, nämlich die Deutschen herrlichen Zeiten entgegenzuführen?“

Schon 1935 hat Bertrand Russell, zu Zeiten des Ersten Weltkrieges wegen des Aufrufs zur Wehrdienstverweigerung mit Gefängnis bestraft, nach dem zweiten Weltkrieg mit dem Nobelpreis ausgezeichnet, hellsichtig geschrieben:

„Der Hitlerische Wahnsinn unserer Tage ist ein aus Götter- und Heldensagen gewobener Mantel, in den sich das deutsche Ich einhüllt, um nicht im eisigen Wind von Versailles zu erstarren…. Thyssen glaubt, mit Hilfe der Nazi-Bewegung sowohl den Sozialismus vernichten als auch seinen Umsatz gewaltig steigern zu können. Die Annahme, daß er recht hat, scheint jedoch ebenso unbegründet zu sein, wie zu glauben, daß seine Vorgänger im Jahre 1914 recht hatten. Für ihn ist es unumgänglich, das deutsche Selbstvertrauen bis zu einem gefährlichen Grad aufzupeitschen; das Ergebnis ist wahrscheinlich ein Krieg mit unglücklichem Ausgang. Selbst große Anfangserfolge würden nicht zu einem endgültigen Sieg führen; heute wie vor zwanzig Jahren vergißt die deutsche Regierung, daß es Amerika gibt.“

Die Friedensbewegung von 1889 hat sich nicht durchsetzen können; 1914 taumelte die Welt in einen Krieg, nach dessen Ende die Schaffung einer stabilen Weltfriedensordnung mißlang; der nächste Weltkrieg folgte rund zwanzig Jahre nach dem ersten. Es läßt sich lange darüber philosophieren, warum dem so gewesen ist – aber ein Grund kann wohl doch darin gesehen werden, daß sich die meisten Staatsmänner nach 1919 den künftigen Frieden als auf Machtpolitik gegründet dachten; daß sie nicht begriffen, daß die Politik bewaffneter Abschreckung schon das erste große Völkerringen nicht hatte verhindern können – wie sie sich später auch gegen einen zum Äußersten entschlossenen Hasardeur vom Schlage Hitlers als weitgehend wirkungslos erwies. Die Welt fuhr nach 1919 fort in jenem schon von Bertha von Suttner beklagten Wechselgesang der Großmächte:

Meine Rüstung ist die defensive.

Deine Rüstung ist die offensive,

Ich muß rüsten, weil du rüstest,

weil du rüstest,rüste ich

Also rüsten wir,

Rüsten wir nur immer zu…. (Aus: „Die Waffen nieder“,1889)

Eine radikale politische Wende blieb 1919 aus – die Gedanken und Ideen der Friedensbewegung am Ende des 19. Jahrhunderts zerstoben in der blutigen »Realpolitik« des beginnenden zwanzigsten Saeculums. Ausnahmen hat es freilich gegeben: Als die USA am 6. April 1917 in den Krieg eintraten, wurden sie von ihrem achtundzwanzigsten Präsidenten, Thomas Woodrow Wilson, regiert (er war 1912 gewählt, 1916 wiedergewählt worden). Wilson, der 1919 den Friedensnobelpreis erhielt, ist in der Folgezeit oft wegen seiner »idealistischen« Außenpolitik geschmäht worden (unter anderem in einem Buch, das Sigmund Freud gemeinsam mit dem ehemaligen US-Sonderbeauftragten in Moskau, William Christian Bullitt, verfaßt hat). Daran ist zumindest richtig, daß Wilson, insofern eine Ausnahmeerscheinung unter den Staatsmännern seiner Zeit, der damals üblichen »Real« – und das heißt Machtpolitik äußerst skeptisch gegenüberstand. In seiner mit großem Jubel aufgenommenen Kriegsbotschaft an den Kongreß (2.4.1917) prägte er den berühmten Satz „That the world must be made safe for Democracy“, und am 8. Januar 1918 trug er eben diesem Kongreß seine bekannten »Vierzehn Punkte« vor, die insgesamt „das Programm des Weltfriedens“ bilden sollten. Den letzten Punkt – er lag Wilson besonders am Herzen und sollte sozusagen dramaturgisch den Schlußakkord des Konzeptes bilden – stellte die Idee des Völkerbundes dar: „Es muß eine allgemeine Vereinigung der Nationen mit bestimmten Vertragsbedingungen gebildet werden, zum Zwecke gegenseitiger Garantieleistung für die politische Unabhängigkeit und Unverletzlichkeit der großen sowie kleinen Nationen…“

Daß Wilsons Gegner, der Hohenzollernkaiser in Berlin, in dieser Frage anders dachte, bedarf wohl kaum der Betonung. Wilhelm II., der es liebte, den Rand der von ihm durchgesehenen Gazetten mit Bemerkungen und Kommentaren zu versehen, hat noch am 10. März 1918, also kurz nach der Veröffentlichung der »Vierzehn Punkte« neben einem Artikel der »Münchener Allgemeinen Zeitung« vermerkt: „Der kommende Frieden wird unseren Feinden, so Gott will, aufgezwungen werden müssen. Sie werden erst zum Frieden schreiten, wenn sie so geschlagen sind, daß sie genug haben …. Also ein echter, rechter hausbackener Friede, wie er bisher immer nach jedem siegreichen Kriege geschlossen wurde. Volksbeglückende Weltbürgerschaftsgedanken finden darin keinen Platz. Nur das nackte eigene Interesse und die Garantien für die eigene Sicherheit und Größe dürfen maßgebend sein!“

Die Redewendung vom „nackten eigenen Interesse“, das allein maßgeblich sein dürfe, gemahnt schon fast an den »böhmischen Gefreiten«, der alsbald dem Hohenzollern als oberster deutscher Schlachtenlenker nachfolgen sollte – man ist versucht, zu seufzen: Wer hat uns Deutsche nicht schon regiert…! Dem Kaiser blieb allerdings nicht mehr viel Zeit zum Schwadronieren. Acht Monate nach seiner auf den Erzwidersacher Wilson gezielten Tirade über die „volksbeglückenden Weltbürgerschaftsgedanken“ flüchtet er ins holländische Exil, und am selben 10. November unterzeichnet der Abgeordnete Erzberger das Waffenstillstandsabkommen, aus dem der Versailler Vertrag hervorgehen sollte, dessen Teil I die Völkerbundsatzung bildete.

Vom Völkerbund zur UNO

Die Friedensbewegung von 1889 hat den ersten, der Völkerbund von 1919 den zweiten Weltkrieg nicht verhindern können – in beiden Fällen bewahrte ein gnädiges Geschick Bertha von Suttner und Thomas Woodrow Wilson davor, das Scheitern ihrer Ideale und Pläne noch erleben zu müssen. Für Wilson (er starb 1924) mag es bitter genug gewesen sein, daß er – seit dem 2. Oktober 1919 durch einen Schlaganfall linksseitig gelähmt und ans Krankenlager gefesselt – noch mitansehen mußte, daß der Senat in zwei Abstimmungen vom 19.11.1919 und vom 19.03.1920 den Eintritt in den Völkerbund ablehnte und daß sein Nachfolger im Präsidialamt, Warren Harding, nicht zögerte, den eigenen überwältigenden Wahlsieg von 1920 als gegen den Völkerbund gerichtetes Plebiszit darzustellen. Es kann hier nicht der Ort sein, das Scheitern des Völkerbundes nachzuzeichnen – seine letzte Sitzung fand übrigens vor fünfzig Jahren, kurz nach Kriegsbeginn, am 14. Dezember 1939 statt. Doch schon vier Jahre später vereinbarten Emissäre der USA, der UdSSR, Großbritanniens und Chinas auf einem Treffen in Moskau die Neubelebung des Völkerbundgedankens; treibende Kraft dieser Entwicklung war der Amerikaner Cordell Hull, geboren 1871 und von 1933 bis 1944 US-Außenminister, ein begeisterter Anhänger der politischen Philosophie Wilsons, für dessen demokratische Partei er seit 1907 dem Kongreß angehörte. 1955 hat Hull, von Roosevelt als „Vater der Vereinten Nationen“ bezeichnet, für seinen Verdienst den Friedensnobelpreis erhalten. Auf der sogenannten Dumbarton-Oaks-Konferenz 1944 wurden die Grundzüge einer UN-Charta entwickelt und am 26. Juni 1945 unterzeichneten die USA und 49 andere Nationen diese Charta der Vereinten Nationen. Während der Völkerbund keine zwanzig Jahre überdauerte, können die Vereinten Nationen bald ihr fünfzigjähriges Bestehen feiern. Das Ansehen dieser Organisation war nicht immer groß, ihr Prestige oft glanzlos – vielen galt die UN über Jahre als teure und ineffektive, von Bürokraten übervölkerte Schwatzbude, deren Resolutionen kaum größerer praktischer Nutzwert zukam als jenem Beschluß, mit dem das Laterankonzil 1139 das Verbot der Armbrust (als einer »unritterlichen“Waffe, die gegen »Ungläubige« freilich weiterhin gebraucht werden durfte) durchsetzen wollte….

Heute, 1989, fünfzig Jahre nach Kriegsbeginn, wird diese Ansicht allerdings immer weniger Anhänger finden – zu deutlich haben die Vereinten Nationen, dieser »Völkerbund im zweiten Anlauf«, sich in den letzten zwei Jahren als weltpolitischer Stabilitätsfaktor von hohem Wert erwiesen: zum Waffenstillstand am persischen Golf, zu Abkommen in Afghanistan, Angola und Namibia haben sie ganz entschieden beigetragen, und der Wunsch, mehr Einfluß, Kreativität und Kompetenz auf supranationalen Ebenen zu übertragen, wird immer häufiger vernommen. Ist Präsident Wilson also gescheitert? Der Gang der Ereignisse zeigt deutlich, daß historische »Momentaufnahmen« untauglich zur Beantwortung dieser Frage sind. Schon 1919, erst recht aber 1939 – nach Kriegsausbruch und Auflösung des Völkerbundes – hätten wohl viele Menschen mit einem klaren Ja geantwortet; die Situation im Jahre 1989 jedoch beweist, daß ein solches Ja recht vorschnell gewesen wäre.

Diese Betrachtung gibt uns Anlaß, die Frage von Mißerfolg und Scheitern in der Politik – und speziell bei den Bemühungen um Abrüstung und Weltfrieden – neu zu überdenken. Gerade ein solches Nachsinnen stellt einen überaus wichtigen Beitrag zur Selbstreflexion im Gedenkjahr 1989 dar. Denn der von Richard von Weizsäcker auf die nationalsozialistische Vergangenheit der Deutschen gemünzte Satz gilt im Grunde uneingeschränkt: „Wer vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart.“ Und wer gegenwartsblind ist, wird kaum je die Zukunft gestalten können.

Die unterirdischen Wasseradern der Geschichte

Man muß nicht gleich den etwas pathetischen Satz vom „Rendezvous mit der Geschichte“ bemühen, um festzustellen, daß gerade in einem so betrüblichen Gedenkjahr wie 1989 das Nachdenken über den Gang der Weltgeschichte eine wichtige Ressource für eine planvolle Gestaltung der Zukunft darstellt. Viele, die sich diesem Bemühen widmen, werden sich wohl mit der Frage plagen, ob denn im Verlauf der geschichtlichen Ereignisse Kontinuitätslinien erkennbar sind oder aber ob es gerade die Brüche, die Diskontinuitäten sind, die Geschichte machen. Und in beiden Fällen stellt sich die zweite Frage, wo wir kontinuierliche Entwicklungslinien einerseits, wo wir Ein- und Umbrüche andererseits zu vermuten haben. Ein Essay von dieser Kürze darf sich nicht erfrechen, eine Antwort auf solche Fragen zu versuchen, er darf aber dem Verdacht Ausdruck geben, ob die Frage nicht eventuell falsch gestellt ist – ob Brüche und Kontinuitäten nicht zwei Seiten einer Medaille darstellen.

Eine solche Auffassung wird insbesondere durch die Betrachtung »zweiseitiger« Ereignisse nahegelegt – prototypisch hierfür mag die Geschichte des Völkerbundes bzw. der Vereinten Nationen sein: Als Idee 1918/19 häufig verlacht und verspottet, im ersten Realisierungsversuch 1939 recht kläglich gescheitert, hat sich das Konzept des supranationalen Staatenverbandes dann eben doch – vielleicht gar endgültig – durchgesetzt; auch wenn Wilson sich zunächst für gescheitert gehalten haben mag, so hat er doch in Cordell Hull einen höchst wirkungsvollen Testamentvollstrecker gefunden. Sieht man das Werk der Friedensnobelpreisträger von 1919 und 1945 im kontinuierlichen Zusammenhang, so muß es dann doch als erfolgreiches, weltveränderndes Trachten gewertet werden, trotz des blutigen Unterbruches im Jahr 1939. Im übrigen könnte man durchaus noch weiter ausholen und das Konzept von Völkerbund und Vereinten Nationen bis zu Immanuel Kants Traktat „Zum ewigen Frieden“(1795) zurückverfolgen – eine Schrift, die damals sicher von vielen Zeitgenossen als typisch philosophische, weltfremde Spintisiererei abgetan worden ist (Kant selber hatte schon 1793 geklagt, daß alle Philosophie, die „auf den Zustand eines ewigen, auf einen Völkerbund als Weltrepublik gegründeten Frieden hofft….als Schwärmerei allgemein verlacht wird“). Auch Bertha von Suttner, auch die Friedensbewegung ihrer Zeit ist allgemein verlacht worden – und was könnte, so scheint es, deutlicher ihr Scheitern markieren als die beiden blutigen Weltkriege? Doch hier ist abermals, das konnten wir schon an Person und Philosophie des Thomas Woodrow Wilson zeigen, Vorsicht am Platz. Die Menschheitsgeschichte ist weder ein gradliniger Prozeß, noch vollziehen sich entscheidende Veränderungen in kurzen Fristen. Und darüber hinaus: Was meinen wir eigentlich mit »Realität«, wenn wir eine Idee, ein Konzept, eine These als »realitätsfern« oder gar als »weltfremd« bezeichnen? Könnte nicht Immanuel Kant, wenn er als Revenant zum 50sten Jahrestag der UN-Gründung 1995 auf diese Welt wiederkehrte, mit Recht sagen, daß, wer zuletzt lacht, am besten lacht – mag er zuvor auch noch so arg verspottet worden sein? Wenn ein Feldherr Tausende abschlachten läßt, ist das für uns grausige Realität, neben der das Traktat des Philosophen zu grauer, abgehobener Theorie verblaßt. Aber diese Sicht der Dinge ist einseitig und verzerrt. Es muß doch nachdenklich machen, daß das Verdikt »weltfremd«, ausgesprochen von Männern wie General Moltke, Kaiser Wilhelm II. oder Generalsekretär Wörner stets die Pläne für ein friedliches Zusammenleben der Völker betrifft – von der „Klage des Friedens“ des Erasmus von Rotterdam (1517) bis zu Wilhelm Penns „Essay zum gegenwärtigen und zukünftigen Frieden in Europa“(1693); von der Bergpredigt bis zu Frau von Suttners „Die Waffen nieder!“; von Kants Friedenstraktat bis zu Wilsons vierzehn Punkten. Die Konzeptionen der Rüstungsbefürworter und Militärplaner, der Realpolitiker und Gewaltstrategen werden demgegenüber erstaunlich milde beurteilt – vom »Schlieffen-Plan« des preußischen Generalstabs bis zu Ronald Reagans »Krieg der Sterne«-Projekt…. Als der Philosoph Leibniz 1671 nach Paris reiste, um den »Sonnenkönig« Ludwig XIV vom Angriff auf seine Nachbarn abzuhalten, scheiterte er, denn der Monarch weigerte sich, den Besucher zu empfangen. Aber der Feldzug des ehrgeizigen Königs scheiterte auch – und war dieser Plan nicht viel verwegener als das Bemühen des Philosophen?

Wir kommen zum Ende unserer Betrachtungen. Ein amerikanischer Leser könnte jetzt vielleicht fragen:„ Where is the beef?“ – Wo ist der praktische Nutzeffekt für die um ihr Selbstverständnis ringende Friedensbewegung im historischen Gedenkjahr 1989?

Nun, gerade das sollte gezeigt werden: Daß es falsch ist, sich in einem verkürzten Geschichtsverständnis gar zu eng an die Vordergründigkeit der vermeintlichen Realität zu klammern; daß es in die Irre führt, in fehlgeleitetem Pragmatismus auf allzu kurzfristige Effekte und Wirkungen zu hoffen…..

Es gibt Traditionslinien von eigener Kraft, die wie unterirdische Wasseradern unsichtbar unter dem Urgestein der »historischen Tatsachen« verlaufen und die, wenn wir sie nur ernst nehmen, durchaus zum Kraftquell werden können: die Friedensdichtungen des Novalis, des Jean Paul und der Bertha von Suttner; die kosmopolitische Humanität eines Lessing und eines Wieland; die politischen Visionen von Immanuel Kant. Wie erbärmlich wirkt es demgegenüber, wenn ein Herr Mayer-Vorfelder auf alle drei Strophen des Deutschlandliedes, wenn ein Herr Waigel auf die Grenzen von 1937 setzt…..

Die Gründung der Vereinten Nationen und die Nürnberger Prozesse von 1945; beides Versuche, die Weltordnung auf eine neue, gerechte Grundlage zu stellen. Diese Versuche mußten halbherzig bleiben. Solange sie im Schatten der Atombombe, im Rahmen einer Politik der nuklearen Abschreckung erfolgten – denn diese Politik macht Völkermord zum legitimen Mittel der zwischenstaatlichen Auseinandersetzung. Aber vielleicht vollzieht sich auch der durch den Kriegsbeginn 1939 ausgelöste Neuaufbruch zu einer anderen Politik »zweizeitig«. Vielleicht können gerade wir Deutschen fünfzig Jahre nach dem Beginn des Zweiten Weltkriegs entscheidend dazu beitragen. Politische Visionen, die sich selbst als langfristig wirksam verstehen und bewußt abseits der Tagespolitik halten – wie die Idee einer atomwaffenfreien Welt, zu der eine atomwaffenfreie BRD gewiß einen großen Schritt beisteuern könnte – sind dafür unabdingbar.

„Prognosen sind immer schwierig, besonders, wenn sie die Zukunft betreffen“ hat Niels Bohr einmal gesagt. Die Zukunft ist in jeder Hinsicht offen, wir können nichts Verläßliches über sie aussagen. Aber es mag ein Trost sein, daß wir immerhin hoffen dürfen – aber nur, wenn wir auch tun.

Dr. Till Bastian, Arzt und Schriftsteller, lebt in Isny.

Friedensärzte

Friedensärzte

Felix Boenheim (1890 – 1960) und das Internationale ärztliche Engagement gegen Krieg und Faschismus

von Thomas M. Ruprecht

“Du, Arzt am Krankenbett, wenn sie Dir morgen befehlen, Du sollst die Männer kriegstauglich schreiben, dann gibt es nur eins: Sag nein!“ (Wolfgang Borchert)

„… Wir Ärzte kennen die Schrecken des Krieges am besten, weil wir noch heute die irreparablen Gesundheitsschäden des letzten Krieges täglich sehen. Der nächste Krieg kennt keinen Unterschied zwischen Front und Hinterland. Giftgase, Brandbomben und Bakterien werden alles Lebendige vernichten. Im Weltkriege wurden fast 10 Millionen Menschen auf den Schlachtfeldern getötet, 17 Millionen verwundet und verstümmelt. … Die Massenarbeitslosigkeit hat zur Massenverelendung geführt. Der Abbau der Leistungen der sozialen Versicherungen, der Mittel zur Bekämpfung der Krankheiten führt zu immer neuen und schwereren Schädigungen der Gesundheit des Einzelnen. Chronische Unterernährung und Wohnungselend lassen Volksseuchen wie die Tuberkolose wieder ansteigen. Die Zahl der Nervenerkrankungen nimmt ständig zu und mit ihnen die Zahl der Selbstmorde.

Trotz der fortdauernden Vernichtung von Kulturwerten durch Krieg und Nachfolgen, trotzdem die Schreckensbilder des Weltkrieges nicht unvergessen bleiben, sind schon wieder Kräfte am Werk, die den Ausweg aus der Wirtschaftskrise in einem neuen Krieg sehen wollen. … Bedroht ist in erster Linie Sowjet-Rußland. Ein Angriff auf dieses Land, das den friedlichen Aufbau will, bedeutet einen neuen Weltkrieg. Deshalb rufen wir unterzeichneten Ärzte aller Länder auf, gegen den Krieg zu kämpfen … Als Hüter der Volksgesundheit erheben wir unsere warnende Stimmen gegen ein neues internationales Blutbad, in das die Völker planmäßig hineingetrieben und dessen Folgen unabsehbare sein werden.“ 1

So endete der »Aufruf an die Ärzte aller Länder«, den Felix Boenheim, Chefarzt der inneren Abteilung des Berliner Hufeland-Hospitals, im Frühjahr 1932 an Kolleginnen und Kollegen in aller Welt verschickte. Über 200 unterzeichneten ihn, unter ihnen Sigmund Freud und Carl Gustav Jung. Sie unterstützten damit den Appell der französischen Schriftsteller Henri Barbusse (1873-1935) und Romain Rolland (1866-1944) für den »Weltkongreß gegen Krieg und Faschismus« 1932 in Amsterdam.

Spätestens seit Beginn des japanisch-chinesischen Krieges 1931 stand den politisch engagierten Zeitgenossen ein neuer Weltkrieg als drohende Gefahr vor Augen. Faschismus und Nationalsozialismus waren scheinbar unaufhaltsam auf dem Vormarsch. Die erste deutsche Republik lag in Agonie, ihre potentiellen Verteidiger zermürbten sich in unversöhnlichen Flügelkämpfen, Aufrüstung und Kriegsvorbereitungen wurden immer unverblümter propagiert und durchgesetzt, trotz Massenelend und- Arbeitslosigkeit. Bereits seit 1928 hatte der »Verein Sozialistischer Ärzte« in Berlin Front gegen die Aufrüstungspolitik bezogen, vor allem gegen die umfangreichen »Zivilschutz«-Maßnahmen für einen B- und C-Waffen-Krieg. Boenheim, langjähriges Mitglied des Vereins und renommierter Endokrinologe in Berlin, setzte schließlich Impulse jener »Gaskriegsdebatte« um, als ihn Henri Barbusse 1932 fragte, ob er für den Amsterdamer Kongreß Leiter der deutschen Delegation werden und im Reich Vorbereitungen koordinieren würde.

Felix Boenheim, 1890 in Berlin geboren, stammte ursprünglich aus einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie jüdischer Herkunft. Er hatte Medizin in München, Freiburg und Berlin studiert und war politisch stark von seinem Onkel Hugo Haase (1863-1919) beeinflußt, Fraktionsvorsitzender der SPD-Reichstagsfraktion, Mitglied des Parteivorstandes und 1917 Gründer der USPD.

1. Weltkrieg und Novemberrevolution

Bereits während des 1. Weltkrieges hatte Boenheim die Mitwirkung am Krieg abgelehnt: Schon wenige Monate nach Kriegsbeginn bekundete er als landsturmpflichtiger Arzt im ostpreußischen Graudenz offen seine Ablehnung. Obendrein befreundete er sich mit dem damals berühmten Berliner Kardiologen Georg Friedrich Nicolai (1874-1964), ab 1917 der international bekannteste deutsche Kriegsgegner aufgrund seiner »Biologie des Krieges«, jenem „Kultbuch des internationalen Pazifismus“ 2. Beide kamen schließlich mit den Militärbehörden in Konflikt. Boenheim wurde bereits 1915 vor ein Kriegsgericht gestellt, wegen „fahrlässiger Gerüchteverbreitung“ und „Beleidigung“ des Kriegsministers von Falkenhayn (1861-1922). Ohne das Urteil abzuwarten, degradierte man ihn, und zog ihn in Aberkennung seines Sonderstatus als Mediziner als gemeinen Soldaten zur aktiven Truppe ein; damals ein Präzedenzfall. Wegen Krankheit schließlich entlassen, begann er 1916 eine vielversprechende wissenschaftliche Karriere an der Universitätsklinik Rostock. Als er sich jedoch politisch für die neugegründete USPD engagierte, konnte er sich nicht mehr habilitieren und wechselte ans Städtische Krankenhaus nach Nürnberg.

Dort spielte er in der Novemberrevolution als Arbeiter- und Soldatenrat der USPD eine bedeutende Rolle, radikalisierte sich aber im Laufe der SPD-geführten Restauration. Als libertärer Kommunist wurde er mit 29 Jahren führende Persönlichkeit der Nürnberger Spartakisten. Als im April 1919 in München die Räterepublik ausgerufen werden sollte, schlug ihn Erich Mühsam (1878-1934) für das Amt des Bayrischen Justizministers vor. Boenheim jedoch lehnte zusammen mit der KPD eine Beteiligung an der revolutionären Umwälzung ab, da sie in seinen Augen basisdemokratischer Legitimation und ausreichenden Rückhalts in der Bevölkerung entbehrte.

1921-1932

Nach Assistenzjahren am Stuttgarter Katharinenhospital ließ er sich 1921 als Internist in Berlin nieder. Seine politische Tätigkeit orientierte sich weiterhin an der KPD, obwohl er nie Parteimitglied wurde. Er gehörte zum Kreis um Willi Münzenberg (1889-1940), den er in Stuttgart als Vorsitzenden der württembergischen Kommunisten kennengelernt hatte. Boenheims Schwerpunkte waren das soziale Engagement für die Arbeiterschaft Berlins und die Interessen der deutschen und internationalen Arbeiterbewegung, für gesundheitliche Aufklärung breitester Schichten und eine Sozialisierung des Gesundheitswesens. Er war Mitglied der »Deutschen Liga für Menschenrechte«, engagierte sich in einem überparteilichen »Verein Sozialistischer Ärzte« und in der Ärztesektion der »Internationalen Arbeiterhilfe«(IAH), war Mitinitiator der »Gesellschaft der Freunde des neuen Rußland« (1923), zu der zahlreiche prominente Künstler, Schriftsteller und Wissenschaftler wie die Brüder Mann und Albert Einstein gehörten und trat 1927 der »Liga gegen Imperialismus und für die nationale Unabhängigkeit« bei, aus der ein Jahr später die »Weltliga gegen Imperialismus und koloniale Unterdrückung, für nationale Freiheit« wurde. In Wieland Herzfeldes »Malik« und Münzenbergs »Neuem Deutschen Verlag« veröffentlichte er populärwissenschaftliche Schriften, verkehrte mit Ernst Thälmann (1886-1944) und Wilhelm Pieck (1876-1960) und pflegte Freundschaften zu Ernst Toller (1893-1939) und dem pazifistischen Schriftsteller Leonhard Frank (1882-1961). Beruflich war er trotz gebrochener akademischer Karriere sehr erfolgreich, arbeitete wissenschaftlich in den Labors der Charité, publizierte im In- und Ausland und gewann einen hervorragenden Ruf als Endokrinologe, besonders auf dem Gebiet der Schilddrüsenerkrankungen.

1931 – inzwischen Chefarzt am Berliner Hufeland-Hospital – verlor er wegen seines gesundheitspolitischen Engagements seine Kassenzulassung durch Ausschluß aus dem Hartmann-Bund. Nur wenig später erreichte ihn die Bitte von Henri Barbusse zur Vorbereitung des Amsterdamer Kongresses. Boenheim gründete daraufhin einen eigenen Initiativausschuß. Mitglieder waren Käte Kollwitz (1867-1945), die Literaten Bert Brecht, Bernhard von Brentano (1901-1964), Ricarda Huch (1864-1947) Anna Seghers (1900-1983) und Ernst Toller, der Arzt und Sexualreformer Max Hodann (1894-1946) und der Psychoanalytiker und Freud-Schüler Wilhelm Reich (1897-1957). Gleichzeitig rief er auch ein international besetztes Ärztekomitee ins Leben, besetzt vor allem mit renommierten Hochschullehrern: Der Königsberger Ludwig Pick3, der Prager Endokrinologe Arthur Biedl (1869-?), der Bonner Zahnmediziner Alfed Kantorowicz (1880-1962), der Berliner Internist Georg Zülzer (1870-1949) und schließlich der Züricher Arbeiterarzt und Anarcho-Syndikalist Fritz Brupbacher (1874-1944). Sie waren auch die Erstunterzeichner des anfangs zitierten Aufrufs aus Boenheims Feder.

Der Amsterdamer Kongreß 1932

Der Amsterdamer Kongreß entwickelte sich zur größten Antikriegskundgebung, die bis dahin je stattgefunden hatte. Am 27. August 1932 versammelten sich über 4000 Teilnehmer, davon 2200 Delegierte aus 35 verschiedenen Ländern4. Er sollte ein Signal setzen zur Bildung einer parteiübergreifenden Volksfront gegen den um sich greifenden kriegerischen Faschismus und Nationalsozialismus. Parallel zum Plenum tagte die erste internationale Ärztekonferenz unter dem Motto »Arzt und Arbeiterklasse verbündet im Kampf gegen Imperialismus und Kriegsgefahr«. Das Hauptreferat vor den ca. 50 Teilnehmern aus ganz Europa hielt Felix Boenheim: „Die gesundheitlichen Folgen des letzten Krieges und die drohenden Folgen des kommenden, insbesondere des Gaskrieges“ Am darauffolgenden Tag, den 28. August 1932, beschloß die zweite ärztliche Sonderkonferenz auf Initiative Boenheims die Gründung der »Internationalen Gesellschaft der Ärzte gegen Krieg und Faschismus« und wählte ihn zum Präsidenten. Folgende Erklärung wurde verabschiedet:

„Die auf dem Antikriegskongreß vertretenen Ärzte aus allen europäischen Ländern appellieren angesichts der wachsenden Gefahr eines neuen Weltkrieges an alle Ärzte, die nicht dulden wollen, daß die Fortschritte der Wissenschaft und Technik in den Dienst der planmäßigen Massenvernichtung gestellt werden…. Verheerend war die Wirkung des Krieges auf Frauen und Kinder. Die Gesundheit der unterernährten, blutarmen Frauen wurde durch die Fabrikarbeit, besonders auch in den Munitionsfabriken vollends untergraben. Die im Kriege geborenen Kinder der werktätigen Bevölkerung erlitten irreparable, noch heute nachweisbare Schädigungen. … Die am Kriege interessierten Kräfte aller Länder, insbesondere der Rüstungsindustrie, bemühten sich, die Ärzte in die Front der Vorbereitung des Krieges einzureihen. Im Weltkriege wurde der Arzt dazu degradiert, den letzten Mann kriegsverwendungsfähig zu schreiben und die verhängnisvollen Folgen von Hunger und Unterernährung zu verschweigen. Heute soll er durch seine Gutachten beitragen zu weiterem Abbau der kümmerlichen Renten der Kriegs- und Arbeitsopfer. Die in allen Ländern in letzter Zeit mit äußerster Intensität betriebene Agitation für den Gas- und Luftschutz zeigt, daß man den kommenden Krieg als nahe bevorstehend erwartet, Ärzte stehen an führender Stelle bei der Organisierung des Gas- und Luftschutzes. Dieser ist um so gefährlicher, als er sich unter dem Schein defensiver Maßnahmen abspielt. Eine besondere Rolle hierbei spielen die einzelnen Sektionen des »Internationalen Roten Kreuzes« deren Tätigkeit die Massen im Kampf gegen den Krieg lähmt. Wir Ärzte, die wir uns für die Verhinderung eines neuen Weltgemetzels einsetzen, verpflichten uns, folgende dringliche Aufgaben durchzuführen:

  1. Aufklärung über die Greuel- und Vernichtungsmethoden des Krieges, insbesondere des alles Leben unterschiedslos vernichtenden Gaskrieges, unter den Ärzten und in den breiten Massen der Bevölkerung.
  2. Aufklärung über die tatsächliche Unmöglichkeit eines wirksamen Gasschutzes. Der einzig wirksame Gasschutz ist der siegreiche Kampf gegen den Krieg.
  3. Aufzeigen der katastrophalen Folgen von Krieg und Nachkriegskrise auf die Volksgesundheit in den einzelnen Ländern. Durchführung von Massenuntersuchungen in Elendsgebieten, wie sie in Deutschland, in der Tschechoslowakei mit erschütternden Ergebnissen durchgeführt werden. Veranstaltungen von Referaten, Schulungskursen und Kundgebungen über diese Themen in allen Kreisen der Bevölkerung.
  4. Schaffung eines internationalen Ärztebüros, das systematisch die Tatsachen der gesundheitlichen Schädigungen in den einzelnen Ländern sammelt und wissenschaftlich verarbeitet, sowie Direktiven gibt für den Kampf der Ärzte gegen den Krieg. Wirksame Arbeit zur Verhütung eines neuen Krieges können die Ärzte nur Hand in Hand mit den Organisationen leisten, die einen aktiven Kampf gegen den Krieg führen“ 5

Boenheim und die internationale Ärztegesellschaft knüpften damit an oppositionelle Strömungen an, die es innerhalb der europäischen Ärzteschaft schon während des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts gegeben hatte6.Ihr bedeutenster Vertreter war zunächst Rudolf Virchow (1821-1902). Als einer der schärfsten Gegner Bismarcks hatte er am 21. Oktober 1869 großes Aufsehen erregt mit einem Abrüstungsantrag im Preußischen Abgeordnetenhaus7. 1895 sah er für Europa nur zwei Möglichkeiten: „Abrüsten oder Untergehen“ 8.

Die erste spezifisch ärztliche Friedensorganisation war jedoch 1905 in Frankreich entstanden, auf Initiative des damals berühmten Internisten und Pioniers der Radiologie und physikalischen Medizin Dr. Joseph Alexandre Rivière (1860-1946): Die „Association internationale médicale contre la Guerre“. Der Nobelpreisträger Charles Richet (1860-1933)9, ihr prominentestes Mitglied hatte damals bereits gefordert: „… diese Idee des Friedens, des heiligen Friedens, ist es wert, durch jeden Arzt, der seine Aufgabe verstanden hat, verteidigt zu werden. Todgeweihte ins Leben zurückzuholen, Versehrten beizustehen, behindertes Leben zu verlängern: das ist ganz sicher die Pflicht des Arztes. Warum aber sollte ihm veboten sein, kräftige, gesunde und lebensdurstige junge Menschen zu retten, die die Mächtigen dieser Welt in ihrem Wahn ins Gemetzel der Schlachtfelder kommandieren?… Ist es nicht eine grausame Ironie, seine Fürsoge einem armen Tuberkulosekranken zuzuwenden, dessen Leiden nur mit größter Mühe lindern zu können, während der Moloch des Krieges mit einem einzigen Schlag hunderttausende gesunde, vitale junge Menschen vernichtet?… Wir Ärzte sind Anwälte der Menschlichkeit. Lassen sie uns diese Aufgabe mit aller Entschiedenheit vertreten. Begrenzen wir unsere Humanität nicht auf hingebungsvolle Krankenpflege! Gehen wir weiter!“ 10

Neben der »Association«, die über 700 Mitglieder in 21 europäischen, 18 mittel- und südamerikanischen Staaten, aber auch in Kanada und den USA hatte, waren noch weitere Mediziner mit der Gründung antimilitaristischer und pazifistischer Organisationen hervorgetreten: Fritz Brupbacher – ebenfalls 1905 – mit der Schweizer »antimilitaristischen Liga«11, 1914 der britische Internist und Quäker Henry Hodgkin (1877-1933)12 mit der bis heute bestehenden pazifistischen »Fellowship of Reconciliation« (»Internationaler Versöhnungsbund) und 1919 der Berliner Sexualforscher Magnus Hirschfeld (1868-1935) und der Züricher Psychiater August Forel (1848-1931) mit der »Arbeitsgemeinschaft für die Abschaffung der Kriege«13.

Die »Internationale Gesellschaft der Ärzte gegen Krieg und Faschismus«

Boenheims »Internationale Gesellschaft der Ärzte gegen Krieg und Faschismus« nahm auch Thesen auf, die bereits 1929 vor allem der »Verein Sozialistischer Ärzte« in der »Gaskriegsdebatte« propagiert hatte. Besonders erwähnenswert sind hier die marxistisch orientierten Psychoanalytiker Otto Fenichel (1887-1946) und Ernst Simmel (1882-1974), aber auch die sozialistische Berliner Stadträtin und Neuköllner Bezirksärztin Käte Frankenthal (1889-1976). Unter dem Pseudonym »Kenta« geißelte sie auch nach ihrer Flucht aus Deutschland in zahlreichen Artikeln die Aufrüstung Hitlers, speziell im Gesundheitswesen. In ihrem Beitrag „Deutsche Ärzte bereiten den Krieg vor“ von 1933 schreibt sie über den »Zivilschutz«:

„Diese ganze Aktion, in deren Dienst sich auch die Deutsche Ärzteschaft mit Begeisterung stellt, dient nicht der Abwehr von Angriffen, sondern sie dient der Vorbereitung zum Krieg … Es wird in Deutschland kein Auto angeschafft, kein Amt errichtet, kein Mensch ausgebildet, ohne auf das eine große Ziel hin zu visieren: Krieg! Wie hypnotisiert muß der ganze Heerhaufen, den man aus dem deutschen Volk bildet, auf dieses eine Ziel schauen: Krieg!“ 14

Noch im Herbst 1932 entstanden in Europa 11 nationale Sektionen der internationalen Ärztegesellschaft. Die deutsche hatte im Frühjahr 1933 fast 300 Mitglieder. Boenheim gründete nach seiner Rückkehr aus Amsterdam zusätzlich das »Deutsche Kampfkomitee gegen den imperialistischen Krieg«, ein Versuch, in letzter Minute die bisher verfeindeten Strömungen innerhalb des antimilitaristisch-pazifistischen Lagers wieder an einen Tisch zu bringen und zu gemeinsamer Aktion zu motivieren. Unter den 60 Mitgliedern waren neben Arbeitern aus Rüstungsbetrieben auch Albert Einstein, die Feministin Helene Stöcker (1869-1943), Heinrich Mann und die Pazifisten der »Deutschen Friedensgesellschaft« Otto Lehmann-Rußbüldt (1873-1964) und General a.D. Paul Freiherr von Schönaich (1866-1954). Neben zahlreichen Veranstaltungen gegen die Kriegsvorbereitungen überall in Deutschland initiierte es die Gründung innerbetrieblicher Komitees in Rüstungsfabriken, um so die Waffenproduktion zu verhindern und wenn möglich durch Streiks lahmzulegen.

Die »Internationale Gesellschaft der Ärzte gegen Krieg und Faschismus« inspirierte schließlich die Arbeit des »Komitees für Kriegsprophylaxe«, einer Arbeitsgemeinschaft der holländischen Medizinischen Gesellschaft15, und zahlreiche Ärzte in Großbritannien. Diese publizierten noch 1938 ein Buch mit dem Titel »The Doctor's View of War«. Im Vorwort schreibt John A. Ryle, Professor in Cambridge, wie eine Verweigerung ärztlicher Mitarbeit Kriege undurchführbar machen könnte16.

Die Boenheim'sche Gesellschaft markiert einen vorläufigen Höhepunkt ärztlichen Engagements gegen Krieg und Faschismus – in Deutschland jedoch nur für kurze Zeit. Bereits fünf Monate nach ihrer Gründung bereitete die Wahl Hitlers zum Reichskanzler der deutschen Sektion ein jähes Ende. Sie wurde zerschlagen, Boenheim am 28. Februar 1933 verhaftet (in der Nacht des Reichsbrandes). An der ersten Nachfolgekonferenz der Gesellschaft in London konnte kein deutscher Vertreter mehr teilnehmen.

Exil und Nachkriegszeit

Nur durch glückliche Umstände wurde Boenheim nach sechs Monaten aus der Spandauer Haft entlassen. Er emigrierte sofort nach Frankreich. Es folgte eine zweijährige Odyssee über Großbritannien, Palästina und Paris nach New York. Dort entwickelte er sich schon bald zu einem der führenden Akteure des politischen Exils. In zahlreichen Organisationen arbeitete er an leitender Position für eine Einheitsfront aller Deutsch-Amerikaner und Emigranten gegen Hitler – zuletzt im »Council for a Democratic Germany«, einer Allparteienkoalition zur Entwicklung politischer Programme für den demokratischen Wiederaufbau in Deutschland, unter Leitung des religiösen Sozialisten und Theologieprofessors Paul Tillich.

1949 kehrt Boenheim nach Deutschland zurück und folgte einem Ruf als Leiter der Universitäts-Poliklinik in Leipzig. Er bleibt trotz angeschlagener Gesundheit (friedens-)politisch aktiv und gründet zusammen mit dem Sozialhygieniker Wolfgang Oerter(*1920) – in Anlehnung an Amsterdam – die erste ärztliche Friedensgruppe der DDR, die »Friedensgemeinschaft Deutscher Ärzte«. Nach der Emeritierung leitete er während seiner letzten Lebensjahre das einst weltberühmte »Karl-Sudhoff-Institut für Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften«.

Boenheim und die mit ihm international engagierten Ärzte des sozialistischen Spektrums formulierten wesentlich eindeutiger als alle Vorgänger eine berufsspezifische, letztlich medizinethisch begründete Verpflichtung aller im Gesundheitswesen Tätigen, sich ihrer Rolle in der Kriegsmaschinerie bewußt zu werden und die Mitarbeit radikal zu verweigern – als Anwalt aller tatsächlich und potentiell Geschädigten. Nicolai hatte 1918 anläßlich seiner schließlich erfolgten Strafversetzung und Degradierung noch geschrieben: „Ich bin der Meinung, daß ich durch die Tatsache meiner Approbation das moralische und juristische Recht erworben habe, dem Staate während eines Krieges nicht mit der Waffe, sondern mit ärztlichem Wissen zu dienen“, und „daß es entweder ein Zeichen von Pflichtvergessnheit oder aber ein Zeichen von Dummheit ist, in Zeiten, in denen man die Ärzte so bitter nötig braucht,…, einem Arzt die Ausübung seines Berufes unmöglich zu machen“ 17.

Obwohl er sich geweigert hatte, den Fahneneid zu schwören und sich damit einer vollständigen Unterordnung entzog, kritisierte er die Behörden ausschließlich auf dem Boden militärischer Logik, die Hindenburg in seinen Lebenserinnerungen deutlich umreißt:

„Würde unser Sanitätsdienst nicht auf der Höhe gestanden haben, auf der er sich tatsächlich befand, so hätten wir schon aus diesem Grunde den Krieg nicht so lange durchhalten können. die Leistungen der Feldsanitäter werden sich dereinst … als ein besonderes Ruhmesblatt deutscher Geistesarbeit und Hingabe für einen großen Zweck erweisen …“ 18.

Nicolai sah nicht das Dilemma ärztlicher Ethik zwischen Bewahrungspflicht gegenüber seinen Patienten und den Verwertungsinteressen der Armee.

Das minoritäre ärztliche Engagement der späten 20-er und 30-er Jahre hingegen gründete sich angesichts weiter perfektionierter Massenvernichtungsmittel auf die Überzeugung, ein moderner Krieg könne auch durch noch so gut organisierte medizinische Hilfe nicht humaner gemacht werden, im Gegenteil: Die Instrumentalisierung des Gesundheitswesens und die Tätigkeit des Roten Kreuzes nährten die Illusion von der Beherrschbarkeit der Folgen und senkten die Hemmschwelle zum Losschlagen. Wären im 2. Weltkrieg die reichlich vorhandenen C-Waffen wie ursprünglich vorgesehen zum Einsatz gekommen, hätte sich die Hilflosigkeit der Helfer schon damals offenbart. Nach Hiroshima und Nagasaki tritt sie jedoch noch offener zutage und mit ihr die zwingende Notwendigkeit wirksamer Prävention statt hilfloser Therapie.

Literatur

1) Association médicale internationale contre la Guerre (Hrsg.) (1910): Actes et manifestations diverses (1905-1910; Paris.
2)<~>Bleker, Johanna/Schmiedebach, Heinz-Peter (Hrsg.)(1987): Medizin und Krieg. Vom Dilemma der Heilberufe 1865 bis 1985. Frankfurt/M.
3) Brocke, Bernhard vom (1984): Wissenschaft versus Materialismus: Nicolai, Einstein und die »Biologie des Krieges«. Mit einer Dokumentation von Rektor und Senat der Universität Berlin (»Wissenschaft und Militarismus“II); in: Annali dell'Instituto storico italo-germanico in Trento X 1984, 405-508.
4) Frankenthal, Käte (1981): Der dreifache Fluch: Jüdin, Intellektuelle, Sozialistin. Lebenserinnerungen einer Ärztin in Deutschland und im Exil (Hrsg.: Kathleen M. Pearle/ Stefan Leibfried); Frankfurt/M. – New York.
5) Kenta (d.i. Käte Frankenthal) (1933): Deutsche Ärzte bereiten den Krieg vor; in: Sozialärztliche Rundschau 4(1933), 115/116.
6) Hindenburg, Paul von (1920): Aus meinem Leben. Briefe Reden und Berichte (Hrsg: F. Endres, 1934); Leipzig.
7) Joules, H. (Ed.)(1938): The Doctor's View of War; London.
8) Lang, Karl (1983): Kritiker, Ketzer, Kämpfer. Das Leben des Arbeiterarztes Fritz Brupbacher; Zürich (1917): Die Biologie des Krieges. Betrachtungen eines deutschen Naturforschers; Zürich.
9) ders. (1918): Warum ich aus Deutschland ging. Offener Brief an denjenigen Unbekannten, der die Macht in Deutschland hat; Bümplitz b.Bern.
10) Roorda, J.(Hrsg.)(O.J.[1939]): Medical Opinions on War (Published on behalf of the Netherlands Medical Association (Committee for war-prophylaxis)); Amsterdam.
11) Ruprecht, Thomas M. (1986): Einzelgänger und Außenseiter. Tradition und Beispiel frühen Engagements von Ärzten für den Frieden; in: Beck, Winfried/ Elsner, Gine/ Mausbach, Hans (Hrsg.)(1986): Pax Medica. Stationen ärztlichen Friedensengagements und Verirrungen ärztlichen Militarismus; Hamburg.
12) Schabel, Elmer (1987): Zwischen den Weltkriegen: Kritik des imperialistischen Krieges und die Gaskriegsdebatte im Verein Sozialistischer Ärzte 1924 – 1936; in Bleker, Johanna/ Schmiedebach, Heinz-Peter (Hrsg.)(1987), 173-190.
13)Schumann, Rosemarie (1985): Amsterdam 1932. Der Weltkongreß gegen den imperialistischen Krieg; Berlin (DDR).
14) Stenographische Berichte über die Verhandlungen der durch die Allerhöchste Verordnung vom 15. Oktober 1868 einberufenen beiden Häuser des Landtags. Haus der Abgeordneten, Band 1; Berlin 1869.

Anmerkungen

1) Sigmund-Freud-Museum Wien, Dokument Nr. 11.125(1); Zurück

2) vom Brocke (1985), 419; Zurück

3) nicht zu verwechseln mit Arnold Pick (1851-1924), Erstbeschreiber der Pick'schen Krankheit; Zurück

4) vgl. Schumann (1985); Zurück

5) InPreKorr, 2505 (20.09.1932); Zurück

6) vgl. Ruprecht (1986); Zurück

7) Stenographische Berichte … (1869), 87; Zurück

8) Apôtre de la paix; in: Le Matin (Paris), 6.07.1895, S.1/2; Zurück

9) er erhielt den Nobelpreis für Medizin 1913 für die Erforschung der Überempfindlichkeitsreaktionen; von ihm stammt der Begriff »Anaphylaxie«; Zurück

10) Association …(1910), 56-58 (Übersetzung T.R.); Zurück

11) vgl. Lang (1983); Zurück

12) nicht zu verwechseln mit Thomas H. Hodgkin (1798-1866), nachdem der »Morbus Hodgkin« benannt ist; Zurück

13) vgl. Ruprecht (1986), 15; Zurück

14) Kenta (1933), 116; zit. bei Schnabel (1987), 183; Zurück

15) Roorda (o.J.[1939]); Zurück

16) Joules (1938); Zurück

17) Nicolai (1918), 24 bzw. 20; Zurück

18) Hindenburg (1920), 136; Zurück

Thomas M. Ruprecht ist Arzt und arbeitet am Institut für Geschichte der Medizin an der Universität Freiburg

Eirene und Pax – Friedensgedanken in antiker Mythologie und Dichtung

Eirene und Pax – Friedensgedanken in antiker Mythologie und Dichtung

von Peter Wülfing

Die griechisch-römische Antike ist, nicht anders als andere geschichtliche Epochen, markiert durch Kriege und Kriegertum. Es bedarf einer besonderen Anstrengung, wenn ein Altphilologe aus seinem Gebiet etwas zur heutigen Diskussion um die Möglichkeit das Friedens beitragen will. Meine Auswahl ist auf einige mythische Aussagen, die wir bei Hesiod finden, gefallen, auf die imaginäre Welt der Komödie des Aristophanes und auf den Kontrast, der sich einstellt, wo die Römer griechische Vorstellungen aufgenommen und oft tiefgreifend umgestaltet haben.

Einen Mythos vom „Goldenen Menschengeschlecht“ finden wir in Hesiods „Werken und Tagen“. Dieses Epos hat mit bäuerlicher Arbeit zu tun, aber mehr noch mit einer Ethik, wie sie für den Landmann unabdingbar ist.

Hesiod, vielleicht um 700 v. Chr. lebend, hat viel ganz Persönliches in dieses Gedicht eingebracht: Sein Bruder Perses hatte ihn bei der Erbteilung übervorteilt und bei dem anschließenden Gerichtsverfahren durch Bestechungen obsiegt. So wollte Hesiod hier seine Grundvorstellungen von Gerechtigkeit verkünden, welche durch die Herrschaft des Gottes Zeus über die anderen Götter und über die Menschen geschaffen worden sei.

In mehreren Absätzen wird erzählt, wie das Böse in die Welt kam. Eine dieser Erzählungen handelt von den fünf Geschlechtern, die nach Metallen benannt sind: Es folgt auf ein goldenes das silberne, das bronzene und nach dem Zwischenzeitalter der Heroen das jetzige, das eiserne Geschlecht. Ein jedes Glied wird schlechter sein als das vorangehende. Das goldene war also der Höhepunkt, von dem der Abstieg ausgegangen war. Es lebte vor der Herrschaft des Zeus, unter Kronos. Im Zusammenhang mit Hesiods Anschauung von der Gerechtigkeit des Zeus muß das bedeuten, daß es einer Rechtspflege damals noch nicht bedurfte.

Das Goldene Geschlecht lebte den Göttern gleich, hatte den Sinn ohne Sorgen, lebte fern von Mühe und Not. Kein elendes Alter:

Füße und Hände blieben sich immer gleich. „Man erfreute sich des Wohlstandes, fern von allem Bösen. Die Menschen starben vom Schlaf überwältigt. Frucht trug der fruchtbare Acker von selbst, viel und großzügig. Die Bauern lebten, nach ihrem Willen, ruhig, vom Ertrag ihrer Felder, mit vielen Gütern ausgestattet (Verse 108-119). Es fällt auf, daß hier der Friede nicht ausdrücklich genannt wird, aber er ist unzweifelhaft eingeschlossen in die Prädikate des Fehlens von Sorgen, Not und Bösem, in das Sterben im Schlaf, und – jetzt kommt der entscheidende Zug – der Gewaltlosigkeit des Lebens auf und aus dem Lande. Es ist eines der beständigsten Elemente des goldenen Zeitalters, daß die Früchte von selbst kommen. Im Grunde handelt es sich um das Empfinden des Landmannes, daß er Gewalt anwendet, wenn er Pflanzen und Tiere zum „Liefern“ zwingt. Der mythische Friede hatte den Naturfrieden eingeschlossen. Der Mensch war in paradiesischer Natur nicht auf Gewalt angewiesen, die Ausgangspunkt für seine tiefverwurzelte Unfriedlichkeit ist.

Hesiod hat das Thema noch einmal aufgenommen. 100 Verse weiter stellt er seinem ungerechten Bruder einen harmonischen Zustand der Welt vor Augen, in dem Gerechtigkeit sich durchgesetzt hat, nunmehr unter der Herrschaft des Zeus. Dieser Zustand fügt noch weitere Elemente in das Bild: Einheimischen wie Fremden (!) werden korrekte Richtersprüche zuteil, die Stadt blüht deshalb im Wohlstand, ebenso das Volk. Friede breitet sich über das Land aus; Eirene ist Nachwuchs ernährend wie eine Amme, und Zeus regt niemals mehr Krieg als Lösung von Problemen an. Hunger gibt es bei gerechten Menschen nicht (da sie richtig teilen. – Wohin sind wir gekommen!). Und dann kommen wieder die Hinweise auf den reichen Ertrag der Felder, des Viehs, der Menschen an Nachkommenschaft, mit einem auffallenden Zug: es gibt keine Seefahrt!

Hier ist das archaisch-bäuerliche Mißtrauen gegen das Nicht-Bodenständige wirksam, konkret auch die Furcht vor den Störungen, die Import und Export im Fernhandel in das stets prekäre Preisgefüge für den Bauern bringen. Die Seefahrt ist Merkmal des Handels, des Städtischen, des Unfriedlichen. Transportmittel sind ja immer auch Mittel der Herrschaft, der Ausbeutung, der Kolonialisierung. Es zeigt sich hier die Furcht vor technischen Errungenschaften, welche die mühsam bewahrten Gleichgewichte zerstören.

In der ersten Stelle fassen wir einen mythischen Urzustand, „noch unter Kronos“, sozusagen vor den Problemen, die sich die Menschen gegenseitig bereiten, bevor Güter verteilt werden müssen und so weiter, wodurch dann die schlechteren Arten von Menschen entstehen.

Die 2. Stelle, in welcher Eirene und Polemos, der Krieg, wirklich genannt werden, gehört nun in eine Situation, in der die Probleme bereits aufgebrochen sind, Gerechtigkeit ist die einzige Lösung für sie. Ihre Möglichkeit wird nicht als sicher, sondern als utopisch beschrieben, bis hin zum Verzicht auf Seefahrt. Ein Goldenes Zeitalter, das vorher als Urzustand beschrieben war, ist nun Lohn für Gerechtigkeit.

Hesiods Ausmalung ist sehr knapp: 24 Hexameter für beide Passagen, das ist kein langer Text. In der nachfolgenden Zeit, in der griechischen Klassik, und bei den Römern sind mehr Elemente hinzugekommen, die z.T. ebenfalls ein hohes Alter besitzen dürften. Hier soll es genügen, das Inventar von Vorstellungen zusammenzustellen. Das friedliche, goldene Menschengeschlecht:

  • lebt mit den Göttern zusammen,
  • erhält seinen Lebensunterhalt von einer freiwillig spendenden Pflanzenwelt,
  • einer ebensolchen Tierwelt,
  • es herrscht Überfluß,
  • Quellen oder Flüsse fließen von Wein, Milch, Honig, Nektar,
  • es herrscht gemäßigtes Klima,
  • ewiger Frühling.
  • Zur Gewaltlosigkeit des Daseins gehört auch der Tierfriede: d.h. Raubtiere existieren nicht oder reißen nicht,
  • dem entspricht bei den Menschen zuweilen Vegetarismus.

Und was hat das Goldene Geschlecht nicht? Es gibt keine Krankheiten, kein Alter, keine Schiffe, keinen Privatbesitz, besonders nicht an Grund und Boden, keine Sklaven, und vor allem keinen Krieg.

Im folgenden Beispiel zeigt sich der Friedensgedanke nicht mehr in der Form des „Es war einmal…“ oder des „Einst wird kommen…“, sondern vor dem düsteren Hintergrund des peloponnesischen Krieges, jenes fatalen Kampfes am Ende des 5. Jahrhunderts v. Chr. zwischen dem demokratischen Athen und Sparta, das die kriegerischen Tugenden für sich gepachtet hatte. Da gab es in Athen die scharfe und vor Imaginationskraft sich manchmal überschlagende Stimme des Aristophanes. Der dachte sich konkrete und zugleich illusionistische Szenen aus, die mit der Stimmung des Volkes zu tun hatten, mit dessen Träumen von großen Siegen, aber auch mit der Besorgnis, der Friede könnte für immer verloren sein.

Ich will zwei solche Szenen erwähnen:

1.) In dem frühesten erhaltenen Stück des Aristophanes, den Acharnern, 425 v. Chr. aufgeführt, ist folgende Situation vorauszusetzen: Athen befindet sich seit sechs Jahren im Krieg, zwei Pestepidemien hat es überstanden, vier Invasionen der Spartaner bis vor die Mauern der Stadt. Die Bevölkerung Attikas ist hinter den Stadtmauern zusammengepfercht. Ihr Land ist verbrannte Erde, gefällte Bäume, meist Oliven (die erst nach vielen Jahren Früchte tragen). In der Stadt die Etappe, Drückeberger, Kriegsgewinnler, egoistische Politiker, gewissenlose Kriegspropagandisten. Dazu erfand Aristophanes den Einzelnen, der „spinnt“ und der eigentlich der einzige Vernünftige ist: Dikaiopolis („rechtschaffener Bürger“) macht nicht mehr mit. Er schließt einen Separatfrieden und erklärt seinen Hof zum Friedensgebiet und zur Freihandelszone. Sofort stellt sich großer Wohlstand ein. Es geht dem „spinnerten“ Dikaiopolis und seiner Familie prächtig, und die Auseinandersetzung mit kriegsbereiten Köhlern, den Acharnern des Titels, gewinnt er ebenso wie die mit dem General Lamachos, der von den prallen Vorräten des Dikaiopolis angelockt wird.

Die illusionistische Welt dieser Komödie gibt dem Friedensgedanken Raum, wo die Machtverhältnisse alle Bewegungsfreiheit des Individuums abgeschnitten haben. Der Gedanke bleibt noch frei, und das wird ausgeschöpft. So schöpfen auch heutige Friedensfreunde wenigstens den Denkraum aus, ihre Straße, ihr Viertel, ihre Stadt atomwaffenfrei zu erklären. Aristophanes hat das schon einmal vorgedacht und sich dabei auch noch erlaubt, die offizielle Kriegsschuldthese „Die Spartaner (immer ist es der jeweilige Gegner) tragen die alleinige Kriegsschuld“ in Zweifel zu ziehen.

2.) Eine verbreitete Illusion wird in dem berühmtesten Stück des Aristophanes in Szene gesetzt, der Lysistrate: die Illusion, die Frauen könnten mit den Mitteln des Ehestreiks erreichen, was Männer offenbar zu bewerkstelligen unfähig sind. Aristophanes Szenario ist aber etwas mehr als nur ein Spaß mit einem undurchführbaren und deshalb ungefährlichen Einfall. Aristophanes gibt seiner Utopie einige ganz realistische Züge: An der Durchführung wird von Anfang an eine Frau des gegnerischen Lagers, die Spartanerin Lampito, beteiligt. Auch wird sehr umsichtig als erster Schritt der Parthenon und damit die Staats- und Kriegskasse besetzt. Den Witz bezieht die Komödie aus zahlreichen Nebenhandlungen: Männer, die versuchen, an ihre Frauen auf der Burg heranzukommen. Frauen, die unter hanebüchenen Vorwänden versuchen, Urlaub nach Hause zu bekommen. Am Ende stehen aber ganz vernünftige, sachliche Verhandlungen, die den Friedensschluß herbeiführen. Also kein folgenloser Illusionismus, sondern ein sich Aufbäumen des gesunden Menschenverstandes gegen sture, zerstörerische, militaristische Rechthaberei. Die Wirklichkeit nahm natürlich den anderen Weg: Wenige Monate nach der Lysistrate übernahm, 411 v. Chr., eine terroristische Junta die Macht in Athen, die Demokratie wurde durch eine Diktatur von 400 anerkannten Bürgern ersetzt und, obwohl dies in der Tendenz ein spartafreundlicher Akt war, kam es nicht zum Friedensschluß. Der Peloponnesische Krieg schleppte sich über weitere sieben Jahre hin.

Fazit: Es ist eine Illusion, von denjenigen die befreienden Handlungen zu erwarten, die bisher besonders rechtlos waren. Die Frauen damals hatten nämlich nicht viel mehr Persönlichkeitsrechte als Sklaven. Weder von diesen noch von jenen sind nachhaltige Impulse zur Änderung der Verhältnisse ausgegangen. Heute ist die Friedensproblematik sicher auch nicht von den Frauen allein zu lösen, aber ohne die Frauen ist sie noch nicht einmal ernst anzugehen. Aristophanes vor fast 2500 Jahren hat da etwas vorausentworfen.

Die helle, gescheite, vitale, auch etwas verzweifelte Komik eines Aristophanes treffen wir bei den Römern nicht wieder. Vielmehr treffen wir ein neues Wort: pax. Die Etymologie, die für Eirene unbekannt ist, ist hier deutlich Pango und paciscor heißen „ein Abkommen schließen“; Perfektform ist pactum, was wir im Fremdwort Pakt benutzen.

Im lateinischen Wort steht also eine Bedeutung des Friedens im Vordergrund: der Frieden als Abkommen, wodurch kriegerische Konflikte beendet und Besitzveränderungen besiegelt werden. Es meint also den Frieden nach dem Sieg, und die Aktion, die dorthin führt, heißt pacare. So haben noch jüngst die Amerikaner ihre Operationen in Vietnam pacification genannt.

Die Gegner oder Opfer Roms haben diesen Sprachgebrauch durchschaut. Berühmt ist der Aufschrei des Britannierfürsten Calgacus in Tacitus Agricola: „Plündern, Morden, Rauben nennen sie mit gefälschtem Wort imperium und, wo sie Wüstenei schaffen, da sprechen sie von pax!“

Die personifizierte Pax als Friedensgöttin wird auf römischen Münzen übrigens auch mit den Symbolen der Victoria, der Göttin des Sieges, ausgestattet: Lorbeer, Lanze, Helm, Schild.

Diese römische Friedensauffassung erscheint bedrückend. Sie ist zunächst einmal eindeutig. Der griechische und unser Friedensbegriff sind dagegen vieldeutig. Daß „Friede“ als „Umfriedung“ den umhegten, geschützten Raum gemeint hat, ist längst vergessen. Er umfaßt – darüber dürfen wir uns nicht täuschen – auch den römischen mit, den „Siegfrieden“, von dem man im 1. Weltkrieg sprach.

Was ist aus dem griechischen Mythos vom goldenen Menschengeschlecht geworden? – Er ist von römischen Dichtern mit leidenschaftlichem Interesse aufgegriffen und umgestaltet worden. Zunächst waren es Römer, die an die Stelle der vier Menschengeschlechter den Zeitbegriff setzten. Sie erst reden vom goldenen Zeitalter, dem andere Zeitalter folgen oder vorausgehen. Diese Tendenz hat sicherlich mit der römischen Geschichtsauffassung zu tun, die eine starke Komponente des Intentionalen hat: Geschichte hat ein Ziel, Vergangenheit ist Vorgeschichte, es gibt einen Plan der Geschichte. Deshalb versuchen die Römer, die zyklischen Zeitalter in der linearen Geschichte wiederzufinden, was unmythisch gedacht ist; aber das ist die europäische Leistung der Römer, das Utopische ans Mögliche heranzuführen. Es stören uns zwar die Verbiegungen und Leugnungen der Realität, die damit verbunden sind, aber daß davon ungeheure Antriebe ausgegangen sind, ist unzweifelhaft.

Die Römer verwandelten seit den ersten Anfängen der Kaiserzeit, also unter sehr speziellen Umständen, das goldene Zeitalter in eine unmittelbar bevorstehende oder sogar bereits eingetretene Epoche. Seitdem ist diese unmittelbare Erwartung des aetas aurea immer wieder formuliert worden. Sie wurde zum Cliché der Kaiserpanegyrik. Augustus mitgezählt, ist von 16 (!) verschiedenen römischen Kaisern behauptet worden – und das sorgfältig vor ihren Ohren -, daß sie die Wiederkehr des Goldenen Zeitalters bringen würden.

Einen entscheidenden Anteil an der beschriebenen römischen Entwicklung hat Vergil. An mehreren Stellen seines großen Werkes, von den sogenannten Hirtengedichten oder Eklogen über das Lehrgedicht Georgica bis zur Aeneis finden sich Aussagen über den Frieden des goldenen Zeitalters. Sie lassen sich auf 3 Kernaussagen konzentrieren:

1. Der Friede ist ein paradiesischer Zustand (Eklogen I und IV), er wird beschrieben als Wiederkehr der in den Anfängen der Menschheit unter Saturn herrschenden Goldenen Zeit.

Das ist eine klare Aufnahme des Mythos, der von Hesiod her tradiert ist.

2. Spuren dieser Goldenen paradiesischen Zeit finden sich noch heute, und zwar im Leben der italischen Bauern! (Georgica II, 136–176; 458-542)

Hesiod hätte das auch von seinen böotischen Landsleuten sicher nicht gesagt; aber auch er hatte einen Grund für das Ende der goldenen Generation im Eindringen des antiagrarischen Fernhandels gesehen, der nun für den italischen Landbau so katastrophale Folgen hatte.

3. Diese Goldene paradiesische Zeit wird als Erfüllung der Zeiten kommen nach der Geburt eines wunderbaren Kindes (Ekloge IV); ja diese Goldene Zeit ist da (!) als Werk des Augustus (Aeneis I 278 f., 286-96; VI 1, 791-807; VIII 313-327).

Zur eben erwähnten 4. Ekloge Vergils noch eine Beobachtung, die dem Theologen Jürgen Ebach verdankt wird: Der paradiesische Friedenszustand ist, wie in anderen Zeugnissen, illustriert durch den Tierfrieden. Zwischen den Tieren herrscht Harmonie sowie zwischen Tieren und Menschen. Die Ausmalung des Bildes stimmt in erstaunlichem Maß mit derjenigen überein, die beim Propheten Jesaia im Alten Testament gegeben wird, cap.11.

Das hat schon immer die Gemüter bewegt. Philologen haben daran die Hypothese geknüpft, Vergil habe Jesaia gekannt und die Aussagen von dort übernommen (was übrigens nicht so unwahrscheinlich ist, wie es sich anhört). Dabei wurden allerdings feine, aber bedeutende Unterschiede übersehen. Der Tierfriede bei Jesaia ist so geschildert:

„Da wird Gast sein der Wolf beim Lamm und der Leopard wird beim Böcklein lagern, Kalb und Löwe werden zusammen fett werden und ein kleiner Junge kann sie miteinander zur Weide führen … Der Löwe wird wie das Vieh Stroh fressen. Da wird der Säugling vergnügt an der Höhe der Schlange spielen und nach der Viper hat schon das Kleinkind die Hand ausgestreckt.“

Wichtige Beteiligte sind also die Kinder (dreimal erwähnt), an sich wehrlos, sind sie in Harmonie mit den gefährlichsten Tieren vereint.

Bei Vergil gibt es Anklänge daran auch, aber, um nur diese beiden Äußerungen herauszustellen: der neugeborene Knabe ist deshalb sicher, weil es Löwen nicht oder nicht mehr gibt und weil die Schlange eingehen wird!

In dieser Einzelheit verrät sich eine Friedensauffassung, die auf Sicherheitsstreben reduziert ist, und die ist nur durch die Ausschaltung des gefährlichen Gegners zu garantieren. Friede kann eben auch Vernichtungsfriede sein.

Wir haben jedoch von den Römern nicht nur eine offizielle, staatstragende Friedensideologie. Das schönste Beispiel ganz privater Friedenssehnsucht bietet Tibulls Elegie 110. Dort steht der Friede in Verbindung mit menschlicher, jugendlicher Liebe, entsprechend der heutigen Formel „make love – not war“.

Was kann uns die Antike also lehren? – Z.B., daß man sich unter Frieden, Eirene und pax sehr verschiedene Dinge vorstellen kann, insbesondere, daß es eine römisch-lateinisch-westeuropäischee Tradition gibt, in welcher Friede ein Zustand nach dem Kriege ist, gesehen vom Überlegenen als eine Friedensordnung, vom Unterlegenen als Stillhalteverpflichtung: „Sei friedlich“, d.h. „halt den Mund und gehorche!“

Wir müssen erkennen, daß immer, meist unausgesprochen, ein Preis für den Frieden festgesetzt wird und daß sich auch die Friedensbewegung zu diesem Preis nur ungern äußert; ebensowenig wie der militärisch denkende und handelnde Teil der Menschheit: Er will ihn nur unter schwierig zu erfüllenden Bedingungen gewähren.

Ist darauf „Frieden um jeden Preis“ eine Antwort? Kann man bei weitgehender Ungeklärtheit stehen bleiben? Unsere lateinisch bestimmten Nachbarn, deren Wörter für Frieden sich von pax herleiten, betrachten das verständnislos bis mißtrauisch!

Wir sollten aus dieser zwiespältigen europäischen Tradition lernen, daß uns eine doppelte Aufgabe gestellt ist:

Wir müssen ebenso bereit sein, das augenblicklich Machbare für den Frieden zu tun, wie uns an fundamentalen utopischen Denkmodellen orientieren. Wir haben kein Recht, um eines absoluten Ziels willen den prekären Frieden von Menschenhand, d.i. in der Regel der von der Hand der Machthaber, zurückzuweisen. Wir haben die Zeit nicht, auf den „Gerechten Menschen“ zu warten, oder auf den Aufstand der Frauen, oder der Armen, oder auf eine neue, zum Frieden erzogene Generation von Kindern (als ob es Erziehung von der tabula rasa aus gäbe).

Zugleich aber ist der Blick ständig auf das utopische Modell zu halten. Sonst bleiben Einzelhandlungen ziellos und bleiben letztlich folgenlos.

Aus der mythischen Überlieferung kommen dafür die Elemente. Radikaler gedacht bei Jesaia als bei Vergil. Mehr interessenfrei bei Hesiod und Aristophanes als bei den Römern. Dafür bei den Römern auf irdisches Maß gebracht und mit der Tendenz und den Instrumenten zur Humanisierung ausgestattet.

Das sind die Denkmuster, welche die Antike anbietet.

Dr. Peter Wülfing ist Professor für Klassische Philologie an der Universität zu Köln.

Von Galilei bis Hiroshima. Über Sittlichkeit und Naturwissenschaft

Von Galilei bis Hiroshima. Über Sittlichkeit und Naturwissenschaft

von Harald Böhme

Preis oder Verdammnis des Galilei? „Die Atombombe ist sowohl als technisches als auch soziales Phänomen das klassische Endprodukt seiner wissenschaftlichen Leistung und seines sozialen Versagens“1

Die Legende von Galilei erzählt, er habe widerrufen, um seine Mechanik zu vollenden, so daß die Discorsi dieser seiner Klugheit zu verdanken wären. Doch was ist eine Wissenschaft wert, wenn sie auf Unterwerfung angewiesen ist? Hiroshima gibt die Antwort; Wissenschaft im Dienste der Staatsmacht ermöglichen ihr den Massenmord. Allerdings hat Galilei das nicht getan, insofern beinhaltet seine Wissenschaft nicht an sich die Entartung der Wissenschaft. Doch gerade sie bietet die Möglichkeit dazu, daß die Erkenntnis über die Natur mißbraucht und gegen die Gesellschaft gewendet wird. Zu zeigen ist, inwiefern Galilei auf diese Möglichkeit verweist, und welche Bedingungen zu ihrer Realisierung notwendig sind.

Galileis wesentliche Entdeckung ist die analytische Methode. Sein Anspruch auf Wahrheit gründet sich auf diese Methode welche den Unterschied ausmacht von seiner neuen Wissenschaft zur Wissenschaft der Alten. Mittels des Experiments will er das Verhalten der Natur erforschen. Dies bedeutet nicht nur die Beobachtung der Natur, sondern die wirkliche Erzeugung des Naturzusammenhangs, den die Analytik als möglichen Zusammenhang erkannt hat. Z.B. „über die natürliche beschleunigte Bewegung“; darin stellt Galilei zunächst den abstrakten Zusammenhang von Zeit und Geschwindigkeit auf, leitet daraus das „Fallgesetz“ ab und versucht, dieses konkret nachzuweisen.2

Das Gesetz behauptet jedoch mehr als die Gültigkeit bestimmter Werte, es stellt die abstrakte Möglichkeit für alle Werte dar, als ein Zusammenhang unbestimmter Werte bzw. variabler Größen. Damit wird die Bewegung in Variablen bestimmt, deren Bedeutung ihre Unbestimmtheit ist; ihr gesetzmäßiger Zusammenhang ist daher als Gleichung von Unbestimmten ein funktionaler Zusammenhang.3

Die durch die Analyse gefundene Gleichung eines Prozesses ist dann am Naturprozeß selbst nachzuweisen. Dabei ist die Messung bestimmter Größen natürlich mit Meßfehlern behaftet, so daß die angenommene Identität dieser Größen zugleich eine Nichtidentität ist und die Gleichheit der Größen zugleich ihre Verschiedenheit. Doch dies erscheint als zufällige Abweichung von der Gleichheit, die in deren Gesetzmäßigkeit wieder aufgehoben ist. Insofern kann Galilei von Meßfehlern absehen und behaupten, daß seine zahlreichen Beobachtungen bzgl. des Fallgesetzes „niemals merklich voneinander abwichen“.4 Ganz anders stellt sich die Gesetzmäßigkeit jedoch dar, wenn wir sie nicht als Gleichheit bestimmter Größen, sondern als funktionalen Zusammenhang von Unbestimmten auffassen. Die Variablen sind dann als identische sich selbst gleich, aber zugleich als Variable veränderlich, also nichtidentisch und ungleich. Dieser Widerspruch kann nicht auf die prinzipielle Identität der Größen zurückgeführt werden, denn er macht den Inhalt des Prozesses aus, der analysiert wird. Vielmehr überführt die Analyse diesen Widerspruch in eine höhere Identität, die Gleichung der Variablen, wodurch der Prozeß als Bewegung identifiziert ist. Aber erst das Experiment zeigt, ob die analytische Lösung als abstrakte Möglichkeit tatsächlich eine konkrete Möglichkeit ist, indem die Bedingungen ihrer Wirklichkeit hergestellt werden.

Das Experiment ist keine an sich beobachtete Natur, sondern bedeutet die Produktion einer zweiten Natur. Die Gleichung eines Prozesses identifiziert einen Zusammenhang, der nur in einer künstlichen Identität real besteht. In dieser Identität besteht die Notwendigkeit des Zusammenhanges, indem aus den Anfangsbedingungen das Endresultat analytisch abzuleiten ist. Doch ebensowenig wie die bloße Beobachtung diese innere Notwendigkeit beweisen kann, kann sie die Identität des Prozesses beweisen, sondern käme nur per Induktion auf eine äußerliche, verständige Abstraktion. Die analytische Methode, welche die Wahrheit als innere Gesetzmäßigkeit behauptet, kann daher nicht davon abstrahieren, daß diese Wahrheit auf die Produktion einer entsprechenden Gegenständlichkeit angewiesen ist. Dies bedeutet die Fixierung eines gegenständlichen Zusammenhangs als sich identischen, so daß die Produktion in der Ausschließung des Nichtidentischen besteht, des Unendlichen der Materie, die gleichwohl aller Produktion zugrunde liegt. Daher stellt z.B. Galilei eine glatte Fläche her und läßt eine runde Messingkugel laufen, wodurch erst die Bedingungen der Identität gegeben sind. Die Herstellung dieser Bedingungen bedeutet aber den Umgang mit einer unbedingten, materiell gegebenen Nichtidentität.

In der Nichtidentität des Prozesses hat die analytische Methode schließlich ihren wesentlichen Widerspruch. Die Identität löst den Widerspruch insofern, wie er analytisch erscheint, als ein Widerspruch der analytischen Bestimmungen des Prozesses, der aber ein Widerstreit der materiellen Bedingungen des Prozesses ist. Die analytische Methode ist also letztlich die Wissenschaft davon, diesen Widerstreit theoretisch und praktisch zu bestimmen. Als „reine“ Analytik jedoch schließt sie diesen Widerstreit methodisch aus, indem sie den erscheinenden Widerspruch in der Identität aufhebt. Die Realität erscheint dann als Resultat dieser Abstraktion, was nach Marx die Verselbständigung der Abstraktion bedeutet.5 In dieser „Mystifikation“ der Analytik besteht ihre Metaphysik, ihr Zweck ist nicht mehr die Aneignung der Natur als zweite Natur, sondern die Beherrschung der Natur unter reiner Zweckmäßigkeit.(5a)

Doch inwiefern bedeutet Galilei, der die analytische Methode in der Physik entdeckt hat, zugleich ihre metaphysische Verselbständigung? Sicher nicht, weil seine Wissenschaft zunächst ohne Einfluß blieb auf die Entwicklung der Produktivkraft; denn dies liegt im Charakter der Wissenschaft, Modelle zur Produktion zu erstellen (mögliche und wirkliche), die an sich keine gesellschaftliche Reproduktion darstellen. Ebensowenig ist die Analytik deswegen Metaphysik, weil darin die Mathematik in der Natur angewendet wird, denn dies hieße den abstrakt möglichen Charakter der mathematischen Analysis zu verwechseln mit dem konkret möglichen Experiment, also die Vorwegnahme der Metaphysik, gegen die Intention der Galileischen Physik.6 Der Verrat, den Galilei an der Wissenschaft verübt hat, besteht vielmehr in seinem Widerruf, durch den er die Wissenschaft der herrschenden Macht ausgeliefert hat. Diese Macht entschied über die Wahrheit, und Galilei mußte die von ihm vertretene Lehre (das kopernikanische System) zur „falschen Meinung“ erklären.7 Damit war aber von der Kirche die Analytik insgesamt zur bloßen Hypothese erklärt, ihre Wahrheiten zu spekulativen Möglichkeiten, denen an sich keine Wirklichkeit zukommt. In der Form war die Wissenschaft zu vereinbaren mit dem Glauben, heute erhält sie diese Form im Kritizismus.

Darüber hinaus demonstriert Galileis Unterwerfung das Ungenügen einer Moral, deren Verantwortung allein im Gewissen gegeben ist. Entsprechend beschreibt Hegel das Gewissen als gehaltlos, ohne objektive Bedeutung; daher kann „die Sehnsucht nach einer Objektivität entstehen, in welcher sich der Mensch lieber zum Knecht und zur vollendeten Abhängigkeit erniedrigt“.8 Diese Erniedrigung betrifft jedoch nicht nur Galilei als Person, sondern bedeutet zugleich die Erniedrigung seiner Wissenschaft. Sie wird zur verfügbaren Wissenschaft, die ebenso gebraucht wie mißbraucht werden kann, je nach den Zwecken der Macht, der sie unterworfen ist. In Brechts Stück erkennt dies Galilei selbst, und er nennt davon die Ursache: „Hätte ich widerstanden, hätten die Naturwissenschaftler etwas wie den hippokratischen Eid der Ärzte entwickeln können, das Gelöbnis, ihr Wissen einzig zum Wohle der Menschheit anzuwenden!“9 Dieser Eid stellt für Galilei jedoch nur eine abstrakte Möglichkeit dar, die er in der konkreten Wirklichkeit bereits hintergangen hat. Somit betreibt Galilei am Ende seine Wissenschaft wie ein Laster, „heimlich, wahrscheinlich mit Gewissensbissen“.10 Bei Brecht ebenso wie bei Hegel scheitert Galilei am Gewissen, weil dieses keine konkrete Handlungsmöglichkeit bedeutet. Damit ist die Lage der Wissenschaft jedoch nur an ihrem Anfang charakterisiert, als eine Wissenschaft, die noch kein wesentlicher Faktor der Gesellschaft ist. Erst in der bürgerlichen Gesellschaft wird sie zum konkreten Moment der Reproduktion, so daß die Wissenschaft keine Frage mehr der Moral und des Gewissens ist, sondern der Sittlichkeit, die mit dieser Gesellschaft gegeben ist.

II

Hegel bestimmt die Sittlichkeit als die konkrete Identität des Guten und der Freiheit.11 Als „Idee der Freiheit“12 ist sie das Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft, ihre Wirklichkeit ist der Staat.13 Die Sittlichkeit wird dabei als Inhalt einer Form gedacht, welche durch die Organisation des Staates gegeben ist. Entscheidend ist, daß dieser Staat der Form nach mit der Wissenschaft übereinstimmt. Für den Staat ist „das Prinzip seiner Form als Allgemeines wesentlich der Gedanke“;14 die Wissenschaft „hat den Zweck des Erkennens, und zwar der gedachten objektiven Wahrheit und Vernünftigkeit“.15 Indem der Staat aber die Wirklichkeit der konkreten Freiheit ist, so ist „von seiner Seite die Freiheit des Denkens und der Wissenschaft ausgegangen“.16 Genau dadurch unterscheidet sich der Staat von der Kirche, die Giordano Bruno verbrannt und Galilei hat Abbitte tun lassen. Die Objektivität des Staates steht hier gegen die subjektive Gestalt der Wahrheit, wie sie der Autorität der Kirche entspringt. Diese Autorität beruht allein auf Glauben und Versicherung, wenn sie nicht mit Zwang durchgesetzt wird. Der Staat hingegen weiß sich als Allgemeines, gerade weil dieses für ihn die Form der Wissenschaft hat. Insofern ist er die Notwendigkeit ihrer Freiheit, und umgekehrt wird die Freiheit der Wissenschaft für den Staat zur Notwendigkeit. Doch daraus geht auch hervor, daß dies keine Freiheit um der Freiheit der Wissenschaft willen ist, sondern eine um der Freiheit des Staates, in dessen Willen die Wissenschaft gegeben ist. Demgemäß werden die Staatsbeamten und die Intelligenz in der Organisation des Staates in einem Mittelstand zusammengefaßt.17 Was als Widerspruch erscheint, einerseits Hierarchie und Bürokratie, andererseits die Freiheit der Wissenschaft, bedingt sich gegenseitig. Aus diesem Einssein ergibt sich schließlich die Verantwortung des Wissenschaftlers; es ist die Verantwortlichkeit des Beamten.18

Das äußere Staatsrecht zeigt dann die Bedeutung der Freiheit im Verhältnis der Staaten, das „ihre Souveränität zum Prinzip hat“.19 Die Freiheit des einzelnen Staates steht dabei im Widerspruch zur Freiheit der anderen Staaten, was die gegenseitige Anerkennung der Staaten bewirkt. Dies bedeutet einerseits den Krieg der Staaten,20 andererseits die Einschränkung dieses Krieges auf ein „Vorübergehensollendes“,21 so daß die Möglichkeit des Friedens erhalten bleibt, d.h. die Fähigkeit zur Reproduktion der Gattung. Darin ist aber auch die Äußerlichkeit des Staats gegenüber der Gattung ausgedrückt; dies wird bei Hegel deutlich, wenn er die Erhaltung des Familien- und Privatlebens als Bedingung des Krieges setzt. Jedoch bleibt dies bei Hegel ein Sollen, eine moralische Forderung, die auf den Sitten beruht und daher als Voraussetzung der Sittlichkeit von dieser aufgehoben wird. 22

Daraus, daß das Völkerrecht allein im Willen der Staaten seine Wirklichkeit hat, ergibt sich nunmehr die Bedeutung der Wissenschaft als Grundlage dieses Willens. Dies bedeutet nicht nur den friedlichen wissenschaftlichen Wettbewerb zwischen den Staaten, worin die technologischen Möglichkeiten zur kriegerischen Nutzung geschaffen werden, sondern dies bedeutet auch den wirklichen Einsatz der Wissenschaft für den Krieg. Entsprechend gehört in der Jenaer Realphilosophie die Wissenschaft zum öffentlichen Stand, der für den Staat arbeitet. Dieser besteht aus dem Geschäftsmann, der zugleich Gelehrter ist, und dem Soldatenstand. Dessen Tätigkeit beschreibt Hegel wie folgt: „im Krieg ist es ihm gewährt: es ist Verbrechen für das Allgemeine, der Zweck der Erhaltung des Ganzen gegen den Feind, der auf die Zerstörung desselben geht. Diese Entäußerung muß eben diese abstrakte Form haben, individualitätslos sein, der Tod kalt empfangen und gegeben werden (…) -, unpersönlich aus dem Pulverdampf.“23

III

In Hiroshima starben 100.000 Menschen den unpersönlichen Tod an der Atomexplosion.24 Am Projekt zur Herstellung der Bombe waren mehr als 10.000 Wissenschaftler beteiligt. Vier der prominentesten Physiker des Projekts bildeten das „scientific panel“,25 welches gefragt wurde, wie die Bombe benutzt werden sollte 26. Sie wurden allerdings nicht gefragt, ob die Bombe benutzt werden sollte, hatten also nur Bedingungen für einen möglichen Einsatz anzugeben, während die Entscheidung über den wirklichen Einsatz dem Präsidenten vorbehalten war. Vor diesem Einsatz und seinen Konsequenzen warnte eindringlich der Franck-Report,27 der ersten Initiative von Atomphysikern gegen den Atomkrieg. Er wurde dem Kriegsminister übersandt und von diesem dem „scientific panel“ vorgelegt, welches sich auch hierbei an seine Aufgabe hielt. Nach R. Oppenheimer: „Wir sagten, wir glaubten nicht, daß unsere Eigenschaft als Wissenschaftler uns speziell dazu befähige, die Frage zu beantworten, ob die Bomben angewendet werden sollten oder nicht.“28 Damit war der Report abgelehnt, indem die Physiker dafür allein den offiziellen Weg wählten, überließen sie auch allein dem Staat die Entscheidung. Sie dachten einerseits gesellschaftlich verantwortlich, verhielten sich aber nur formal sittlich, indem sie nicht vor die Öffentlichkeit traten, um die Welt vor der atomaren Zerstörung zu warnen.

Das staatliche Interesse am Einsatz der Atombomben entsprach auch dem unmittelbar wissenschaftlichen Interesse. Die Gegner des Einsatzes hatten zu weit gedacht, als sie sich um die Zukunft besorgt zeigten. Zunächst galt es, die atomaren Möglichkeiten zu beweisen, die Zerstörung der Städte als Demonstration militärischer Macht sollte den Wissenschaftlern auch ihre faktische Macht demonstrieren, bei gleichzeitiger politischer Ohnmacht. Ihnen ging es um die Funktion der „Trinity“ von Atombomben, von denen „erst“ eine Plutonium-Bombe explodiert war. Hiroshima war dann das erste Experiment, daß eine Uran-Bombe explodierte und man ihre Folgen studierte. Doch dies Experiment war keines mehr, wodurch Naturkräfte erkannt wurden, sondern eines, in dem sie als Destruktionskräfte nicht mehr gebannt waren. Insofern hat die Wissenschaft dabei keine Macht gewonnen, sondern verloren, anstatt die Natur zu beherrschen, wurde sie deren Opfer. Für die beteiligten Wissenschaftler gilt das allerdings nicht, in der Laboratoriumsstadt Los Alamos, die zur Kriegsfront geworden war, feierte man den „Sieg“.29

Die Atombombe ist jedoch nicht nur als Ausdruck der formalen Verfügung des Staates über die Wissenschaft zu begreifen, sie ist ebenso ein Resultat der Entwicklung der Produktivkräfte auf der Basis der von der Wissenschaft entdeckten Naturkräfte. So wurde mit der Entdeckung der Uranspaltung sogleich die Möglichkeit der Atombombe erkannt; zu ihrem Bau bedurfte es allerdings der riesigen technischen und finanziellen Mittel, welche die USA dafür zur Verfügung stellten. Insofern entschied der Staat als die Organisation der Produktionsverhältnisse über die Wirklichkeit der Atombombe. Hegels Idee des Staates als Form der Sittlichkeit widerspricht nicht einer solchen Wirklichkeit. Diese Form der Sittlichkeit, das wissen wir heute, widerspricht nicht einmal einer Option, die zur Vernichtung der menschlichen Gattung führen kann. Dies ist m.E. das nicht zu hintergehende Problem der Sittlichkeit. Seine Lösung liegt sicher nicht im Zurück zur zweckfreien, analytischen Wissenschaft. Denn die Wissenschaft ist heute mindestens durch einen Zweck bestimmt, den der Erhaltung der menschlichen Gattung. Deren Lebensprozeß hat aber als Erhaltungsbedingung seine Entwicklung, dies bedeutet sowohl die Entwicklung ihres gesellschaftlichen Verhältnisses als auch ihres Naturverhältnisses. Für die Naturwissenschaft bedeutet diese Entwicklung ihre reale Sittlichkeit. Dies schließt aber jede Entwicklung aus, die zur Vernichtung des Naturverhältnisses der Gattung und damit des Gattungslebens überhaupt führen kann. Oder anders gesagt, die Naturwissenschaft trägt erst dann reale Verantwortung, wenn sie das Telos der Freiheit negiert;30 positiv ausgedrückt, wenn ihr einziges Telos, als Tendenz der Entwicklung, die freie Zeit ist.31

Anmerkungen

1 Brecht, B.: Gesammelte Werke (Ed. Suhrkamp). Frankturt a. M. 1967; Bd. 17, S. 1109. Zum wissenschaftlichen Zusammenhang siehe Kuznecov, B. G.: Von Galilei bis Einstein. Berlin 1970.Zurück

2 Siehe Galilei, G.: Unterredungen und mathematische Demonstrationen über zwei neue Wissenszweige, die Mechanik und die Fallgesetze betrettend. Darmstadt 1973, S. 146 f.Zurück

3 Galileis Darstellung des funktionalen Zusammenhanges ist noch die geometrische Darstellung des Oresme. Jedoch entsteht fast zeitgleich mit den „Discorsi“ die algebraische Geometrie des Descartes, in der Linien durch Gleichungen in Unbestimmten ausgedruckt werden. Erst mit dieser algebraischen Darstellung vollendet sich die analytische Methode; insofern ist es historisch nicht ganz korrekt, allein Galilei als ihren Entdecker anzusehen.Zurück

4 A.a.O., S. 163.Zurück

5 Siehe Marx, K., Engels, F.: Werke (MEW), Bd. 1, S. 213.Zurück

5a Zusatz: Der Super-GAU von Tschernobyl demonstriert in erschreckender Weise die reale Gefahr, die von solcher Metaphysik ausgeht. Siehe Traube, K. u.a.: Nach dem Super-GAU, Hamburg 1986.Zurück

6 Siehe Strong, E. W.: Procedures and Metaphysics. Berkeley 1936.Zurück

7 Siehe Galilei, G.: Dialog über die beiden hauptsachlichsten Weltsysteme. Übers. u. Erl. E. Strauß. Stuttgart 1982, S. LXXIV.Zurück

8 Hegel, G. W. F.: Werke (Suhrkamp). Frankfurt a. M. 1970 f., Bd. 7, S. 290.Zurück

9 Brecht Werke, Bd. 3, S. 1341. Siehe auch Bd. 17, S. 1129 f.Zurück

10 Brecht Werke, Bd. 17, S. 1109.Zurück

11 Hegel Werke, Bd. 7, § 141, S. 286.Zurück

12 A.a.O., § 142, S. 292.Zurück

13 A.a.O., § 257, S. 398.Zurück

14 A.a.O., § 270, S. 426.Zurück

15 Ebenda.Zurück

16 Ebenda.Zurück

17 Siehe a.a.O., § 297, S. 464.Zurück

18 Siehe MEW, Bd. 1, S. 246 f.Zurück

19 Hegel Werke, Bd.7, § 333, S. 499.Zurück

20 Siehe a.a.O., §§ 330-334.Zurück

21 A.a.O., § 338, S. 502.Zurück

22 A.a.O., § 339, S. 502. – Es ist das unbestreitbare Verdienst der Hegelschen Rechtsphilosophie, den Antagonismus der bürgerlichen Staaten erkannt zu haben. Hegels Idealismus besteht allerdings darin, die Weltgeschichte dieses Antagonismus als Weltgeist zu begreifen, worin die Illusion einer Vernunft in der Geschichte ausgedruckt ist. Diese übernimmt Holz, wenn er meint, mit Leibniz´ Begriff der Kompossibilitat eine den Antagonismus übergreifende logische Gattung gefunden zu haben. Siehe Holz, H. H.: Zur Logik der Koexistenz. In: Dialektik, Bd. 4, Köln 1982, S. 65-74. Jedoch lassen sich logisch nur erscheinende Widersprüche vermitteln, während wesentliche Widersprüche (die Antinomie des politischen Staates und der bürgerlichen Gesellschaft) als wirkliche Extreme nicht miteinander vermittelt werden können (MEW 1, S. 292-296). Holz nennt weiter als Bedingung der Koexistenz „das Zugleichsein von Gegensätzlichem“ (S. 67), so daß die Veränderung unter Erhaltung der Gegensätze möglich ist. Das Modell dafür ist die kontinuierliche Bewegung, die in der mathematischen Gleichung als Funktion (y = f(x)) ausgedruckt ist. Holz, der die mathematische Gleichung nur als Modell des statischen Gleichgewichts begreift (S. 66), plädiert nun implizit für eine solche Funktion als Modell des dynamischen Gleichgewichts der Gesellschaftssysteme (S. 69), z.B. als „Verhältnis von second (y) und first (x) Strike capacity“ (S. 70). Damit beruht sein Konzept der friedlichen Koexistenz auf „Abschreckung“ (ebenda), was jedoch kein Frieden ist. Siehe Furth, P.: Logik der Abschreckung – eine Kritik. Informationsdienst Wissenschaft und Frieden, H. 2, 1984, S. 28 f. Zusatz: Im atomaren Abschreckungsfrieden ist keine friedliche Nutzung der Kernenergie möglich, im wirklichen Frieden konnte man auf sie verzichten. Zurück

23 Hegel, G. W. F.: Jenaer Realphilosophie 1805/06. Hamburg 1969, S. 261.Zurück

24 Die eindringlichste Darstellung der Geschichte der Atombombe ist m.E. diejenige von Jungk, R.: Heller als tausend Sonnen. Hamburg 1964. Eine neuere Zusammenfassung gibt Scherer, W.: Physikalische Grundlagen und Geschichte des Baus der ersten Nuklearwaffen. In: Physik & Rüstung. Universität Marburg 1983, S. 66-115.Zurück

25 J. Robert Oppenheimer, Enrico Fermi, Arthur H. Compton und Ernest O. Lawrence (Jungk, S. 168).Zurück

26 Bereits Galilei ließ bei seiner Untersuchung der Bewegung die Frage nach dem „warum“ fallen, um zunächst das „wie“ zu bestimmen. Siehe Mach, E.: Die Mechanik, Leipzig 1933, S. 119. Diese Beschränkung auf die Kinematik war sinnvoll, solange keine analytische Theorie der Dynamik vorlag. Ist diese aber gegeben, bedeutet die Beschränkung auf das „wie“, daß die Physik lediglich Möglichkeiten bestimmt und von den Konsequenzen für die Wirklichkeit absieht. Dies war der Inhalt von Galileis Unterwerfung, ebenso bedeutet diese Beschränkung der Physik heute die Unterwerfung des Physikers.Zurück

27 Text in: Jungk, S. 324 f. Zurück

28 Jungk, S. 173.Zurück

29 Jungk, S. 210 f. Kriegsopfer waren im Laboratorium erst später zu beklagen: H. Dagnian und L. Slotin (S. 180, 213).Zurück

30 Siehe Furth, P.: Arbeit, Teleologie, Hegelianismus. In: Dialektik, Bd. 2, Köln 1981, S. 99-121.Zurück

31 Dies wird von Galilei ausgesprochen: „Wofür arbeitet Ihr? Ich halte dafür, daß das einzige Ziel der Wissenschaft darin besteht, die Mühseligkeit der menschlichen Existenz zu erleichtern.“ Brecht Werke, Bd. 3, S. 1340. Zur Entwicklung der Produktivkraft als Ökonomie der Zeit siehe Marx, K.: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, S. 599. „Ersparung von Arbeitszeit gleich Vermehrung der freien Zeit“ (ebenda) bedeutet in den charakteristischen Großen der politischen Ökonomie die Verminderung von (v + m).Zurück

Dr. Harald Böhme ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fachbereich Mathematik/Informatik an der Universität Bremen. Bei dem vorstehenden Aufsatz handelt es sich um einen Vortrag, den H. Böhme beim XVI. Internationalen Hegel-Kongreß zum Thema „Moralität und Sittlichkeit“ in Zürich 1986 gehalten hat. Er wird auch im Hegel-Jahrbuch 1988 erscheinen.

Forschen für den Frieden: Im Geiste des Humboldtschen Erbes

Forschen für den Frieden: Im Geiste des Humboldtschen Erbes

von Günther Rose, Bernd P. Löwe

Die friedenswissenschaftlichen Arbeiten an der Humboldt-Universität zu Berlin tragen ein unverwechselbar eigenes Gesicht. An mehr als zehn Sektionen wurden in den letzten Jahren Projekte einer fachspezifischen Friedensforschung bearbeitet. Die neue historische Dimension der Friedensfrage wurde dabei ebenso behandelt wie die Rolle regionaler Konflikte für das System internationaler Beziehungen, das Verhältnis von Arbeiter- und Friedensbewegung und die Entwicklung der Konzeption der friedlichen Koexistenz. Speziellere Themen waren: Beiträge des Völkerrechts zur Durchsetzung des Gewaltverbots in den zwischenstaatlichen Beziehungen; Kriegsdeutung, Kriegsanalyse und Friedensstrategie in der Literatur der DDR und anderen Ländern, Dietrich Bonhoeffers Erbe von der Friedensverantwortung der Christen, die Aktualität des Friedensgedankens in der deutschen Klassik etc.

Neben diesen vor allem gesellschaftswissenschaftlich geprägten Arbeiten wurden auch naturwissenschaftliche Dimensionen der Friedensforschung erschlossen und entwickelt: Die Bedrohung des Friedens durch Kernwaffen der neuen Generation, physikalische Aspekte eines umfassenden Atomteststopps und nuklearer Abrüstung, Modellierungen zum Komplex „nuklearer Winter“, die Verantwortung des Naturwissenschaftlers im Nuklearzeitalter, die IPPNW und das Friedensengagement der Mediziner der DDR.

Resultate dessen sind in einem Sammelband „Friedensforschung an der Humboldt-Universität zu Berlin“ (1985) zu finden. Eine nicht weniger umfangreiche Palette bringt das „Humboldt-Journal zur Friedensforschung“ (1986), mit dem jährlich Forschungsergebnisse, Entwicklungstendenzen und wissenschaftliches Leben vorgestellt und internationale Trends reflektiert werden. In der jüngst erschienenen Nummer sind – neben Aufsätzen aus den eben erwähnten Forschungslinien und Lehrveranstaltungen – auch Beiträge der Psychologie zur Friedensforschung, der Pädagogik zur Friedenserziehung, der Philosophie zum Clausewitzschen Denken und seiner Bedeutung für die aktuelle Theoriebildung, der Politökonomie zur Relation von Weltwirtschaft und Weltfrieden, der Theologie zum Problem „Theologie der Befreiung“ in Lateinamerika, der Anglistik bzw. Amerikanistik zum Friedensdenken und Friedensengagement an US-amerikanischen Universitäten und Hochschulen enthalten. Das Journal wird auch weiterhin primär Leistungen bilanzieren, die disziplinär, multi- und vor allem interdisziplinär an der Humboldt-Universität erbracht wurden und werden. Zugleich wird berichtet über Ergebnisse der Arbeit mit den Kooperationspartnern in der DDR sowie im Ausland. Das wird bereits der Fall sein, wenn der 87er Band des „Humboldt-Journals zur Friedensforschung“ vorliegt, in dem Beiträge des im November 1986 stattgefundenen 3. Humboldt-Kolloquiums zur Friedensforschung enthalten sind, das mit breiter internationaler Beteiligung unter dem Thema durchgeführt wurde „Sicherheitstheorie und Sicherheitspolitik im Dialog marxistischer und nichtmarxistischer Friedensforscher“.

Einen besonderen Stellenwert für die Entwicklung der Friedensforschung an der Humboldt-Universität besitzt das „Internationale wissenschaftliche Seminar – Verantwortung und Wirken der Universität für Frieden und sozialen Fortschritt“, das am 23./24. Oktober 1985 anläßlich des 175. Gründungsjubiläums der Alma mater berolinensis und des 275. Gründungsjubiläums der Berliner Charité entstand.49 Rektoren, Präsidenten und führende Repräsentanten von 45 Partneruniversitäten aus 30 Ländern Europas, Asiens und Amerikas hatten sich auf diesem bisher einzigartigen Forum ungeachtet unterschiedlicher Auffassungen in anderen Fragen einmütig zur besonderen Verantwortung des Wissenschaftlers für den Frieden und den sozialen Fortschritt bekannt. „In Erwägung dessen, daß es in einem Nuklearkrieg weder Sieger noch Besiegte geben kann und daß ein solcher Krieg zur Selbstvernichtung der Menschheit führen würde, erblicken wir im Frieden die Ultima ratio, die Grundbedingung menschlicher Existenz“, heißt es in der einmütig gebilligten abschließenden Erklärung. Beachtung verdient auch die einhellige Ablehnung der mit dem SDI-Projekt verbundenen Militarisierung des Weltraums und der damit angestrebten militärstrategischen Überlegenheit. (Der Protokollband erschien 1986 in der Wissenschaftlichen Schriftenreihe der Humboldt-Universität zu Berlin.)

Mit der Reihe „Humboldt-Vorträge zur Friedensforschung“, in der vor allem international bekannte Friedensforscher aus ihrer Tätigkeit berichten sollen, Wissen und Erfahrungen ausgetauscht werden sollen, wollen wir einen eigenen Beitrag leisten zur Koalition der Vernunft und des Realismus, die der außenpolitischen Linie des XI. Parteitages der SED entspricht. Wir sind überzeugt, daß die Wissenschaften ein gleichsam unerschöpfliches Problemlösungspotential enthalten, um für alle Menschheitsfragen gangbare Lösungen zu finden. Das gilt auch für die Abwendung der Gefahren eines nuklearen Infernos und die Begründung eines dauerhaften Friedensprozesses. Dies mit Rationalität und Redlichkeit als Teil intellektueller Verantwortung und mit nimmermüdem Engagement als Teil der politischen Verantwortung anzugehen, macht heute die Pflicht zur Vernunft aus. Ein akademischer Imperativ dieser Art und Qualität sollte die scientific community in unserem Zeitalter prägen.

In diesem Bewußtsein realisierte sich auch unsere Beteiligung an Aktivitäten der internationalen Friedensforschung. Dazu zählen die Teilnahme des Rektors der Humboldt-Universität an der „Internationalen Konsultation“ der UNESCO „Bildung und Frieden“ im Januar 1986 in Athen bzw. am Internationalen Symposium zur Friedenserziehung in Genf, das von der Weltorganisation der Universitäten veranstaltet wird; in diese Reihe gehört auch die aktive Beteiligung am Inter University Centre Dubrovnik, die Teilnahme an der Begegnung „Appell von der Akropolis“ im August dieses Jahres in Athen, die Beteiligung an der IPRA-Arbeit und die Beteiligung am UNESCO-Projekt „Friedenserziehung an Universitäten“.

Schließlich möchten wir den besonderen Platz der „Humboldt-Kolloquia zur Friedensforschung“ hervorheben. Nachdem zunächst auf dem ersten dieser Art im November 1985 politikwissenschaftliche Aspekte der Friedensforschung behandelt wurden, auf dem folgenden politökonomische Aspekte bzw. wirtschaftswissenschaftliche Beiträge zur Friedensforschung im Mittelpunkt standen, steht das dritte – mit nunmehr internationaler Beteiligung – unter dem Schwerpunkt „Sicherheit“ (s.o.) und dient vor allem dem internationalen Dialog und der Kooperation. Mit dem Blick auf Reykjavik im UNO-Jahr des Friedens ist dies unser spezifischer Beitrag, mitzuhelfen, die Kunst zu beherrschen und die Wissenschaft zu entwickeln, daß die Völker trotz unterschiedlicher Gesellschaftsordnungen vernünftig miteinander leben können (M. Gorbatschow). Dies zu befördern wird im Jahr 1987 mit besonderen Vorzeichen versehen – die fortschrittliche Menschheit begeht den 70sten Jahrestag der Oktoberrevolution und damit auch den von Lenins „Dekret über den Frieden“; internationalen Charakter tragen auch die Festlichkeiten zum 750. Jahrestag der ersten urkundlichen Erwähnung der Stadt Berlin. Die von der Humboldt-Universität durchgeführten internationalen Seminare und Kurse für Studenten und Graduierte werden fortgesetzt. Die vielfältigen politischen Standpunkte, wissenschaftlichen Thesen und Weltbilder, die dabei vertreten werden, sind eine gute Grundlage für wissenschaftlichen Meinungsstreit – dabei dient die sachliche Austragung von Kontroversen dem common sense in der substantiellen Zwecksetzung. Das soll so bleiben und noch ergebnisreicher gestaltet werden. Im Oktober 1985 wurde der Zentrale Arbeitskreis Friedensforschung der Humboldt-Universität konstituiert. Ihm gehören unter Leitung von Günther Rose die Leiter der entsprechenden Projekte und Maßnahmen sowie weitere führende Wissenschaftler der Universität an. Die Hauptfunktion besteht in der konzeptionellen Führung und koordinierenden Tätigkeit, damit jede Disziplin aus den Gesellschafts-, Natur- und Agrarwissenschaften ebenso wie aus der Medizin, den Technik- und Informationswissenschaften und last but not least der Theologie ihren arteigenen Beitrag zu leisten und in wachsendem Maße in den Dienst einer interdisziplinären Qualifizierung von Lehre und Forschung zu stellen vermögen. Natürlich werden hier auch die internationalen Verbindungen und Kooperationen konzentriert, die für die Friedensforschung und ihr Wirksamwerden für die Friedensbewegung relevant sind.

Einen nicht geringen Stellenwert besitzen die seit 1984 durchgeführten intersektionellen und demzufolge multidisziplinären Friedensvorlesungen, zu denen auch die Berliner Öffentlichkeit eingeladen ist. Schließlich erfüllen Studentenzirkel, Forschungskollektive vor allem der Nachwuchswissenschaftler und größere Forschungskreise – wie z.B. der speziell für Friedensforschung an der Sektion Marxismus-Leninismus – eine wichtige Funktion bei der Entwicklung einer Wissenschaft vom Frieden. Die Breite der Aktivitäten widerspiegelt eine Seite der Sensibilisierung für das Menschheitsproblem Nr. 1, von dem auch unsere Universität positiv beherrscht wird.

Günther Rose, Bernd P. Löwe: Zentraler Arbeitskreis Friedensforschung der Humboldt-Universität zu Berlin, Unter den Linden 6, 1086 Berlin/DDR

Nachkriegsbilder Vorkriegsbilder.

Nachkriegsbilder Vorkriegsbilder.

Zum Verhältnis von Erinnerung und Antizipation in der Kunst nach 1945

von Annegret Jürgens-Kirchhoff

Das Nachkriegsbilder in der Zeit eines drohenden neuen Krieges zu Vorkriegsbildern werden kennen, ließe sich an zahlreichen Beispielen zeigen. Ebenso konnten in Bildern vom kommenden Krieg vergangene Kriegserfahrungen verarbeitet werden. Erinnerung und Antizipation verschränkten sich in Bildern gegen den Krieg in oft kompilierter Weise und erhellten wechselseitig ihren schwierigen Gegenstand.1 Viel spricht dafür, daß dieser Zusammenhang im Hinblick auf den drohenden 3. Weltkrieg so nicht mehr besteht. Die Möglichkeit von Vorkriegsbildern erscheint ebenso wie die Rezeption von Nachkriegsbildern unter heutigen Bedingungen gründlich verändere Dazu gehört die wiederholt geäußerte Befürchtung, daß es nach dem nächsten Krieg, der ein nuklearer wäre, niemanden mehr geben werde, der sich noch ein Bild von ihm machen könnte.2 Die Unvorstellbarkeit eines atomaren Krieges hat aber nicht nur zur Folge, daß sich Viele Künstler die Antizipation der drohenden Schrecken nicht mehr zutrauen – die bildenden Künstler noch weniger als die Schriftsteller. Sie läßt auch den Versuch, in Bildern Der atomaren Vernichtung die Erfahrungen vergangener Kriege zu reflektieren, leichtfertig erscheinen, wo er der Besonderheit den Krieges im atomaren Zeitalter nicht gerecht wird. Unbrauchbar erscheinen die Erinnerungen, überholt die Erfahrungen, harmlos die Bilder vom letzten Krieg.3

Diesem problematischen Verhältnis von Erinnerung und Antizipation in Antikriegsbildern nach 1945 gelten die folgenden Überlegungen. Welcher Zusammenhang besteht zwischen der Vorstellungskraft der Künstler und ihrer Fähigkeit, sich zu erinnern oder auch zu vergessen? Ist die Erinnerung an vergangene Kriege geeignet, den Malern die Augen zu öffnen, oder verstellt sie eher den Blick auf die heute drohenden Gefahren? Da unsere Zukunft von der Verarbeitung der Vergangenheit abhängt, stellt sich die Frage, was mit dem Blick in eine katastrophal vorgestellte Zukunft zugleich erinnert, assoziiert, bedacht wird, ob und wie sich die bildenden Künstler nach dem 2. Weltkrieg, nach dem Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki an der lebenswichtigen Erinnerungsarbeit beteiligt haben und heute noch beteiligen.

Es ist bekannt, daß diese Erinnerungsarbeit in der BRD von den meisten über lange Zeit verweigert wurde. Zur Rede von Neubeginn und Stunde Null gehörte das Schweigen über die Vergangenheit. Das Verstummen nach der Erfahrung von Faschismus und Krieg war noch sprachloser als das Verstummen der Generation, die, wie Walter Benjamin schrieb, „1914-1918 eine der ungeheuersten Erfahrungen der Weltgeschichte gemacht hat.“4 Benjamin hat dieses Verstummen als „Erfahrungsarmut“, d.h. als Unfähigkeit, sich auf Erfahrungen zu berufen und diese der jungen Generation zu vermitteln, problematisiert. Er hat diese Erfahrungsarmut – „Armut nicht nur an privaten sondern an Menschheitserfahrungen überhaupt“ – als „eine Art von neuem Barbarentum“ bezeichnet in der Absicht, „einen neuen positiven Begriff des Barbarentums einzuführen.“5 Benjamin sah in der Erfahrungsarmut der Überlebenden des 1. Weltkriegs die Chance des Neubeginns, des Vonvornbeginnens. Er beobachtete ein illusionsloses und rückhaltloses Bekenntnis zu einem Zeitalter, in dem die großen schöpferischen Kräfte bereit und in der Lage seien, „erst einmal reinen Tisch“ zu machen, das Neue „aus Wenigem heraus zu konstruieren“.6

Benjamin hat, als er dies 1933 schrieb, den 2. Weltkrieg kommen sehen. Gleichwohl hat er dem „neuen Barbarentum“ seiner Zeit Menschlichkeit zugetraut 7 und wohl auch die Fähigkeit, den faschistischen Barbaren zu widerstehen. Es wurde jedoch nur zu bald deutlich, daß sich die vielen nicht an die hielten, die das gründlich Neue zu ihrer Sache gemacht hatten, in der Politik wie in der Kunst. Mit dem Blick nach vorn, von Erfahrungen entblößt und ohne Rücksicht auf das Vergangene, waren vor allem die kleinbürgerlichen Massen nicht in der Lage, in der Selbstdarstellung des Faschismus als „neue“, „revolutionäre“, gar „sozialistische“ Bewegung die alten imperialistischen Herrschaftsinteressen zu erkennen, deren Durchsetzung ihnen bereits im 1. Weltkrieg die Sprache verschlagen hatte. Die Erfahrung dieses Krieges, von der sich viele nur abgestoßen hatten, ohne daß sie zur mitteilbaren und vermittelbaren Erfahrung geworden war, hatte sie nicht klug gemacht und nicht menschlicher. Es wiederholten sich die ungeheuren Erfahrungen eines imperialistischen Weltkriegs, es wiederholten sich das Verstummen und die Erfahrungsarmut bei den Überlebenden. Wieder war die Rede von Neuanfang und Stunde Null. Inzwischen wurde ein 3. Weltkrieg machbar. Viele sehen ihn heute kommen.

Es fällt schwer, in dem Verstummen und der Erfahrungsarmut der Generation, die aus dem 2. Weltkrieg „heimkehrte“, noch positive Momente wahrzunehmen. Die Rede von der Stunde Null geriet zu Recht in den Verdacht der Selbsttäuschung und Verdrängung. Wie verständlich auch immer das Bedürfnis nach Neuanfang sein mochte, als eines ohne Rücksicht auf Verluste war es zukunftsorientiert in einem schlimmen Sinne. Gut zwanzig Jahre nach Kriegsende, 1967, versuchten Alexander und Margarete Mitscherlich in ihrem Buch „Die Unfähigkeit zu trauern“ auf die in der Bundesrepublik verbreitete „hartnäckig aufrechterhaltene Abwehr von Erinnerungen“8 aufmerksam zu machen und auf die politisch verhängnisvollen Konsequenzen einer Haltung, die mit Hilfe von Verleugnung, Verdrängung und Projektion auf die unzähligen Kriegstoten, den millionenfachen Mord an Juden, Polen, Russen, den Mord an politischen Gegnern aus den eigenen Reihen reagierte.

Ein scheinbar harmloses Beispiel für die sprachlose und zuweilen blindwütige Abrechnung mit der Vergangenheit ist der „Bildersturm“, dem eine Ausstellung von Gemälden Franz Radziwills 1946 in einem Hamburger Kaufhaus ausgesetzt war. Die stark besuchte Ausstellung erregte das Publikum derart, daß es schließlich sieben der ausgestellten Gemälde zerstörte.9 Nach zwölf Jahren Faschismus und sechs Jahren Krieg erschienen Radziwills Bilder einer aus den Fugen geratenen Welt unerträglich. Geschlagene eines Weltkriegs, schlugen die Besucher nun auf die Bilder ein, die sie daran erinnerten. Mochten solche extremen Reaktionen auf Künstler, die ihre Erfahrungen und Erinnerungen an den 2. Weltkrieg zu verarbeiten suchten, auch die Ausnahme sein, sie erscheinen doch symptomatisch für die aufgeregte und sprachlose Abwehr von Schuld, Scham und Angst. „Böswillig“ erschienen nicht selten die, die nicht vergessen wollten.

Die Abwehr von Erinnerung bestimmte nach 1945 nicht nur die Rezeption der Nachkriegskunst; sie prägte auch die Bilder, die sich in dieser Zeit mit Krieg und Faschismus auseinanderzusetzen versuchten. Es handelt sich in aller Regel um Werke, die das Leiden, die Trauer, Ohnmacht, Resignation und Verzweiflung der Überlebenden thematisieren. Deutlich ist eine starke Tendenz zur Verallgemeinerung des Einzelschicksals, zur symbolischen Darstellung, zu metaphorischen, mythischen, religiösen Formulierungen. Hiob, der verlorene Sohn, Christus stehen für den bedrängten, ohnmächtigen, leidgeprüften Menschen dieser Zeit. Neben Motiven aus der Totentanz-Ikonographie sind es häufig christliche Themen, Höllenfahrtszenen und Visionen der Apokalypse, in denen die schockierende Erfahrung einer beispiellosen Katastrophe beschworen wird.10 Die Zerstörung, auf die Radziwills Gemälde verweisen, bedroht Erde und Himmel. Der Riß, der in vielen seiner Bilder durch die Welt geht, spaltet den Boden und läßt den Himmel auseinanderklaffen. Er wird zum Zeichen drohenden Unheils, das keinen Stein auf dem anderen lassen wird. Ähnlich werden in den zahlreichen Ruinenbildern dieser Zeit eingestürzte Mauern, Gebäudereste, Fensterhöhlen, ausgebrannte Häuser zu Symbolen der Zerstörung und der „Unbehaustheit“ des Menschen.

In Wilhelm Lachnits Gemälde „Der Tod von Dresden“ aus dem Jahr 1945 ist die zerstörte Stadt nur angedeutet in einem stark vereinfachten, stilisierten Gefüge von ineinandergestürzten, verkohlten Balken. In den abstrakten Trümmern sitzt der allegorische Knochenmann, der selbst von Trauer übernmannte Tod – ihm zur Seite im Vordergrund in ähnlicher Haltung mit gebeugtem Oberkörper und gesenktem Kopf, das Gesicht in der offenen Hand verborgen, eine Frau mit einem Kind. Es hat die Arme über den Schoß der Mutter gelegt und blickt mit ernstem Gesicht aus dem Bild heraus. Vor den symbolischen Trümmern und der Figur eines in Trauer und Scham versunkenen Todes erscheint das auf die Mutter sich stützende, von ihrem rechten Arm umfangene Kind als Verkörperung der Hoffnung auf Überleben. Wie ein Versprechen auf Zukunft ist das tränenlose Gesicht des noch unerfahrenen Kindes dem Betrachter zugewandt. Derart symbolisch aufgefaßte Szenen, in denen nach traditionellem Muster allegorische Figuren auf Tod und Leben verweisen, sind charakteristisch für viele Bilder dieser Zeit.

Ein Gemälde von Karl Hofer aus dem Jahr 1947 trägt den bemerkenswerten Titel „Atomserenade“, bemerkenswert, weil in der Kunst der ersten Nachkriegsjahre Hiroshima und Nagasaki eigentlich kein Thema sind. Außer diesem Bild Hofers ist mir bis in die 50er Jahre hinein kein Gemälde bekannt, das sich nachweislich auf die atomare Vernichtung der beiden japanischen Städte bezieht. Auch hier wurde Erinnerung verweigert und behindert, und zwar auf der Ebene offizieller Politik: Die USA verhängten über die Berichterstattung zu den Folgen des Atombombenabwurfs eine jahrelange, bis 1952 andauernde Zensur. Damit, d. h. mit dem Mangel an Information, mag es, neben der in dieser Zeit ohnehin starken Tendenz zu metaphorischen Formulierungen, zu tun haben, daß auch Hofers Gemälde von der Realität, der erstmals praktizierten atomaren Massenvernichtung, weitgehend abstrahiert. Während Hofer sich mit anderen Bildern in bekannte ikonographische Zusammenhänge stellt, das Vergangene als „Höllenfahrt“ und „Totentanz“ thematisiert, versucht er hier, in der ungewöhnlichen Darstellung einer symbolisch bedeutsamen Situation mit dem Blick auf menschliche Befindlichkeit ein Bild der atomaren Katastrophe zu geben: In den abendlichen Frieden einer kleinen Gruppe von Menschen, die am weit geöffneten Fenster dem Gesang und dem Lautenspiel eines Musikanten in ihrer Mitte lauschen, fällt die Atombombe. Die Menschen sind bleich und starr vor Entsetzen; sie sehen einander nicht an; kein Blick geht hinaus; am dunklen, von Blitzen zerrissenen Himmel steht der Mond als große zerbrochene Scheibe.

Die künstlerische Reflexion von Erfahrung und Geschichte in den verallgemeinernden, unbestimmten und reduzierten Formen einer metaphorischen Malerei begriff Vergangenheit weithin als grausames, übermächtiges Schicksal, dem der Mensch schuldlos-schuldig unterworfen ist. In diesem Zusammenhang stellten sich auch die zuweilen nüchtern registrierten Kriegsfolgen als schicksalhaft über die Menschen verhängte, nicht als von Menschen gemachte dar, als Folgen einer Naturkatastrophe oder eines göttlichen Strafgerichts. Mag man in dieser fatalistischen Auffassung von Geschichte, die mit ihrem apokalyptischen Pathos kaum geeignet war, die Realität von Faschismus und Krieg zu durchdringen auch eine Form der Abwehr von konkreter Erinnerung und Erfahrung erblicken – die intensive und immer erneute Thematisierung der subjektiven, emotionalen Folgen der erlebten Schrecken macht doch deutlich, daß es in diesen Nachkriegsbildern durchaus darum ging, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Die künstlerische Arbeit war hier – wie auch immer – an dem Verarbeitungsprozeß, den die Psychoanalyse „Trauerarbeit“ nennt, beteiligt. Nicht verstummt zu sein in einer Situation, in der viele sehr bald schon von der Vergangenheit nicht mehr reden und nichts mehr hören wollten, gehört zu den produktivsten Anstrengungen der Künstler, die in Nachkriegsbildern – wie erfahrungsarm und sprachlos auch immer – von den Folgen der Vergangenheit zu sprechen versuchten.

Sie haben dazu nur wenige Jahre Gelegenheit. Die Unfähigkeit, sich auf Erfahrungen zu berufen, und die Weigerung, diese der jungen Generation zu vermitteln, isolierte zunehmend auch die Künstler, die dies versuchten. Endgültig entmutigt wurden sie allerdings erst, als nach der Gründung der Bundesrepublik die rehabilitierte abstrakte Kunst als die zeitgemäße Form einer angeblich autonomen, modernen Kunst verabsolutiert wurde. Die Etablierung der westlichen Kunstszene hatte zur Folge, daß viele gegenständlich arbeitende Künstler über lange Zeit regelrecht „vergessen“ wurden. Inzwischen haben manche, die zu dieser Entwicklung beigetragen haben, ihre eigene Verdrängungsleistung vergessen. Werner Haftmann, einer der einflußreichsten Befürworter der abstrakten Moderne nach 1949, schrieb 1984 in der FAZ: „Ich habe mich oft gefragt, warum der große Krieg, den meine Generation zu durchleben hatte, in den künstlerischen Rängen so antwortlos blieb: ein paar mehr anekdotisch als gleichnishaft wirkende Bücher von amerikanischen Schriftstellern – und sonst das Schweigen! – Auch die Malerei brachte keine verzeichnenswerten Verbildlichungen hervor. Wie anders nach dem ersten Krieg!“11 Dieser scheinheiligen Klage ist es offensichtlich entgangen, daß es das Schweigen, von dem Haftmann spricht, jedenfalls in den ersten Nachkriegsjahren von 1945 bis 1949 nicht gab.12

Die Generation, die sich so schlecht erinnert, hat ihre Erfahrungsarmut und ihr ramponiertes historisches Bewußtsein der Nachkriegsgeneration vererbt. Statt ihr mit Erfahrungen zur Hilfe zu kommen, „befreite“ man sie und sich selbst von Erinnerungen, nicht nur hierzulande. Noch 1980 mußte ein Bild des japanischen Malerpaares Toshi und Iri Maruki, das seit über dreißig Jahren seine Erinnerungen an Hiroshima malt, aus einem Schulbuch verschwinden, weil es – so das japanische Erziehungsministerium – einen „schädlichen, deprimierenden Einfluß“13 ausübe. Vor etwa einem Jahr konnte man in mehreren Pressenotizen nachlesen, daß man in einem englischen Archiv umfangreiches Material für einen Film „entdeckt“ habe, den der für seine Krimis bekannte Regisseur Alfred Hitchcock in Auschwitz gedreht hat. Mit Rücksicht auf die Gefühle der mit dem Wiederaufbau beschäftigten Deutschen sei dies Material nicht veröffentlicht worden. Anschließend hat man es dann, so scheint es, vergessen. Für die Versuche, uns so durch Zensur, Verbot und Geheimhaltung von Bildern vor Trauer, Zorn und Erkenntnis zu „schützen“, ließen sich weitere Beispiele finden.

Es bleibt jedoch die Frage wie weit die subjektive Abwehr von Erinnerung und ihre Entsprechung auf der Ebene offizieller Politik dazu beigetragen haben, daß es in der Kunst nach 1945 kaum Werke einer Antikriegskunst gibt, die ähnliche Bedeutung erlangt hätten wie die Bilder eines Picasso oder Dix. Der Krieg, insbesondere der machbar gewordene atomare Krieg ist in der Kunst der 50er Jahre, die die abstrakte Moderne als Befreiung von der Fessel des Gegenständlichen und als künstlerische Weltsprache feierte, kaum ein Thema; dies gilt auch noch, als Ende der 50er Jahre die „Kampf dem Atomtod“-Bewegung ein Bewußtsein von den Gefahren des atomaren Zeitalters zu entwickeln versuchte. Zu den wenigen Ausnahmen gehören Arbeiten des niederländischen Malers Constant, der 1950/51, vermutlich unter dem Eindruck des Koreakrieges, in der Sprache der abstrakten Kunst den Krieg thematisiert. In der an realistische Traditionen anknüpfenden Kunst der DDR ist ab etwa Mitte der 50er Jahre erstmals eine Auseinandersetzung mit der atomaren Bedrohung zu beobachten.14 Die USA geben Anlaß, sich an Hiroshima zu erinnern: Am 1. November 1952 zündeten sie die erste Wasserstoffbombe; 1954 führten sie auf den Marshallinseln Wasserstoffbombentests durch. – Im Jahr 1958 malt Werner Tübke unter dem Titel „Hiroshima“ drei Gemälde; sie gehören zu den wenigen Bildern, die konkret auf die atomare Zerstörung der japanischen Stadt Bezug nehmen. Erst in den 60er und 70er Jahren entstehen in der Folge der Politisierung durch die Studentenbewegung sowie der Proteste gegen den Vietnamkrieg in größerem Umfang Arbeiten, die sich mit Krieg, Gewalt und Faschismus auseinandersetzen. Die Abwendung der westlichen Kunstszene von der abstrakten Moderne und ihr zunehmendes Interesse an neuer Gegenständlichkeit werden dazu beigetragen haben, daß sich die Aufmerksamkeit für eine politisch engagierte Antikriegskunst schärfte. Die Beiträge zum Thema von Renato Guttuso, Duane Hanson, der Equipo Cronica, Peter Sorge, Rudolph Schoofs, Alfred Hrdlicka, Bernhard Heisig, Jochen Hiltmann – die Reihe ließe sich fortsetzen – sind zahlreich und zeigen ein großes inhaltliches und formales Spektrum. In einem Teil dieser Antikriegsbilder wurde die Erinnerungsarbeit nachgeholt, zu der sich die meisten Künstler in den ersten Nachkriegsjahren nicht oder nur selten in der Lage sahen.

Der 2. Weltkrieg wurde in diesen späten Nachkriegsbildern nicht auf der Ebene symbolischer Verallgemeinerung beschworen, sondern in der Regel sehr konkret im Hinblick auf bestimmte Ereignisse problematisiert. Bekannt wurde vor allem „Das transportable Kriegerdenkmal“ von Edward Kienholz aus dem Jahr 1968. Kienholz erinnert in diesem großen Tableau an die Flaggenhissung auf dem Suribachi, dem höchsten Berg der japanischen Insel Iwo Jima, die von amerikanischen Truppen am 23. Februar 1945 nach einem der blutigsten Tage des 2. Weltkriegs erobert wurde – bei der Erstürmung der Insel wurden allein 6821 Amerikaner getötet. Das heroische Bild erschien auf 3 Cent Briefmarken; es wurde in Papiermache nachgebildet, in Hamburgers, in Butter, in Eiscreme, und es wurde nachgegossen für ein hundert Tonnen schweres Bronze-Memorial auf dem Soldatenfriedhof von Arlington. Kienhole macht daraus den ironisch-bösen Vorschlag eines „transportablen Kriegerdenkmals“ für den Vietnamkrieg und die folgenden Kriege, ein mobiles Gerät, das immer und überall zur Verfügung steht, abstellbar bis auf weiteres im „friedlichen“ Alltag neben „Hot dogs“ und Coca Cola.15

Alle diese Werke rechnen, wie indirekt und vermittelt auch immer, mit der Möglichkeit neuer Kriege. Sie tun dies allerdings nur selten in der Antizipation eines letzten, atomaren. Erst in der Kunst der 80er Jahre nehmen unter dem Druck der sogenannten Nachrüstung mit der Zunahme endzeitlicher Vorstellungen auch die Bilder vom atomaren Holocaust zu.1982 entstehen Arnulf Rainers Zyklus „Hiroshima“ und Robert Morris „Feuersturmserie“, 1983 Joseph Beuys „Ende des 20. Jahrhunderts“, 1984 Armans in Bronze gegossenes Ensemble verbrannter Möbel „The day after“. Auch die „Jungen Wilden“ entdecken die Bombe, das Ende der Menschheit, die Apokalypse.16 In diesen und anderen Versuchen, sich ein Bild zu machen von der drohenden atomaren Katastrophe und in den sie begleitenden Analysen und Interpretationen hat das apokalyptische Denken Konjunktur.17 Es beherrscht nicht nur die Köpfe einiger Künstler und Kunsthistoriker. Wie ein letztes Zerfallsprodukt von Aufklärung greift es um sich. Selbst der amerikanische Präsident ist davon überzeugt, in einer Zeit zu leben, in der sich Armageddon, der letzte Kampf zwischen Gut und Böse ankündigt. Er hat es Thomas Dine, dem Chef eines Komitees, das sich für gute Beziehungen zwischen den USA und Israel einsetzt, verraten: „Wie Sie wissen, gehe ich immer wieder auf eure alten Propheten im Alten Testament und auf die Anzeichen zurück, die Armageddon ankündigen. Ich ertappe mich dabei, daß ich mich frage, ob wir die Generation sind, die erlebt, wie das auf uns zukommt. Ich weiß nicht, ob Sie in letzter Zeit eine dieser Prophezeiungen wahrgenommen haben. Aber glauben Sie mir, sie beschreiben ganz gewiß die Zeit, die wir jetzt erleben.“18 Ronald Reagan hat seine Verstärker: Eine in den letzten Jahren in den USA entstandene Popkultur verbreitet in Abenteuerromanen, Musikvideos, Filmen, Comic Strips und nicht zuletzt – über die christlichen Fernsehsender die Botschaft, daß die Apokalypse, die als Atomkrieg kommen und unvermeidbar sein werde nicht das absolute Ende darstelle, sondern eher den rettenden Durchgang zu einem besseren Leben in Frieden, Freiheit und ohne die Russen.19

„Apokalypse. Ein Prinzip Hoffnung?“20

Welche Möglichkeiten haben Künstler, mit diesen herrschenden Untergangsphantasien und Endzeitvisionen umzugehen und den auf Einverständnis und Gewöhnung zielenden Armageddonbotschaften zu widersprechen? Es wird vermutlich nicht ausreichen, in der Darstellung der verheerenden Wirkungen eines Atomkriegs diesen als heillosen und hoffnungslosen vor Augen zu führen, oder gar, wie Robert Morris dies mit den Großformatigen, ganze Räume ausfüllenden Kohlezeichnungen seiner „Feuersturmserie“ versuchte, den Betrachter in das Zentrum solch eines atomaren Szenarios zu stellen. Es wird wahrscheinlich auch nicht ausreichen, was Gerda Dassing in einem Poster „The last photo“ von 1981 versucht, aus der entgegengesetzten Perspektive des himmelweit Entfernten ein letztes Bild von der atomaren Zerstörung der Erde zu vermitteln. In der langen Geschichte der Kriegsdarstellungen waren die Bilder, Symbole, Visionen der Apokalypse immer wieder eine Möglichkeit, Vorstellungen von der Ungeheuerlichkeit erlebter Schrecken, von unerträglichen Leiden, von Bedrohung und Untergang zu vermitteln, dies auch dann noch, als eine Säkularisierung der einst biblischen Thematik einsetzte. Die atomare Situation legt es heute offenbar weiterhin nahe, in apokalyptischen Bildern von Gefahren und Ängsten zu sprechen bzw. Bilder entsprechend zu deuten.

So richtig die Feststellung des qualitativ Neuen eines Atomkriegs ist, so fragwürdig erscheint es aber, wenn die Vorstellung von der großen Katastrophe als dem schlechthin Beispiellosen, noch nie Dagewesenen sich Bilder des Schreckens schafft, die in dem Maße, wie sie dem Neuen des nuklearen Krieges zu entsprechen suchen, sich von der Realität, in der wir (noch) leben, entfernen: von Rüstungsmaßnahmen, militärischen Konzepten, technologischen Entwicklungen, ökonomischen Strategien, politischen Entscheidungen. In der finsteren apokalyptischen Zukunftsperspektive ist jedes Bewußtsein von Geschichte gelöscht und jeder politisch-gesellschaftliche Handlungshorizont ausgeblendet.21 Vom ganz Anderen führt kein Weg mehr zurück. „Das apokalyptische Denken, das ja in Wirklichkeit ein parareligiöses ist, hat jedoch nicht nur unsere politischen Wünsche, Ansprüche und Utopien auf ein Minimum zurückgeschraubt, es hat auch das politische Unterscheidungs- und Differenzierungsvermögen nachhaltig beeinträchtigt.“ 22 Es hat den Anschein, als gelte dies heute in besonderem Maße für die bildende Kunst. Hier wird mehr noch als anderswo die akute Bedrohung unserer Gattung weithin nicht mehr als ein konkretes politisch-ökonomisch-militärisches Problem behandelt, sondern als ein anthropologisches, ethisches bzw. religiöses. Das apokalyptische Denken, das sich das Schlimmste vorzustellen versucht, erspart sich in aller Regel den Blick auf das, was dieses Unvorstellbare möglicher und wahrscheinlicher machen wird. Es erspart sich auch den Blick auf vergangene Kriege und die Bilder, die wir von ihnen haben. Sie erscheinen konventionell und nicht zu vergleichen, Kriege (und Bilder), die man vergessen kann. Der Versuch, derart der Unvorstellbarkeit atomarer Vernichtung gerecht zu werden, gehört wohl auch zu den von manchen Künstlern verinnerlichten Strategien der Abwehr von Erinnerung und Erfahrung. Dies hat zur Folge, daß sich die antizipatorischen Anstrengungen der Künstler vielfach auf die manifesten und bekannten Erscheinungsformen des nuklearen Krieges fixieren, auf die charakteristische Pilzform, den schwarzen Regen, die Schatten verglühter Menschen, den Feuersturm. Die apokalyptische Zuspitzung bleibt in der Nähe der Effekte. Sie ist damit allerdings noch realitätsnäher als die apokalyptische Spekulation so mancher Interpreten, die in solchen Bildern nur noch Endzeitliches vermuten, nur noch Gefühle des Untergangs und des Todes. Daß z.B. Arnulf Rainers Hiroshima-Zyklus auch die Verarbeitung einer bestimmten historischen Erfahrung, eines konkreten Ereignisses ist und sich mit Dokumenten dieses Ereignisses auseinandersetzt, hat dann mit der „eigentlichen“ Bedeutung der Blätter wenig zu tun.23 Ohne die Einsicht in vergangene Schrecken, ohne den Versuch, sich über deren Zustandekommen und deren Folgen Klarheit zu verschaffen, ohne die Erkenntnis, daß das Vergangene nichts war als „Menschenwerk“, bleibt die Antizipation drohenden Unheils ohnmächtig, resignativ und melancholisch ihren eigenen apokalyptischen Phantasien unterworfen.

Die Rückgewinnung von Erinnerung und die Überwindung der verbreiteten Erfahrungsarmut erscheinen als wichtige, vielleicht einzige Möglichkeit zu verhindern, daß Phantasie und Vorstellungskraft sich zunehmend von der Realität entfernen, um schließlich in den apokalyptischen Bildern eines Kriegs der Sterne die Schrecken vergangener Kriege endgültig zu vergessen und den kommenden Krieg als ein vielleicht schreckliches, aber vor allem großartiges und überwältigendes Ereignis zu imaginieren. Diese abgehobene Phantasie hat Günther Anders nicht gemeint, als er immer wieder eindringlich für eine Erweiterung unserer Vorstellungskraft plädierte.24 In dem „Land der Phantasie“, von dem er sich noch realistische Perspektiven erhofft, „beflügelt“ die Erinnerung die Antizipation dessen, was da angeblich auf uns zukommt, als sei dies nicht unsere eigene selbstzerstörerische Bewegung auf einen Krieg hin, der wie alle vorausgegangenen mit bestimmten Interessen geplant und geführt werden wird. Ausgerechnet vor dem Imperial War Museum in London hing im Februar dieses Jahres ein großes Transparent, das mit der Aufschrift „Give your past a future“ für den Erhalt und Ausbau des Museums warb. – Dabei wären die apokalyptischen Bilder nicht zu verdrängen. Es ginge vielmehr darum, die in ihren Motiven enthaltenen Ängste, Wünsche, Bedürfnisse, Interessen zu dechiffrieren und zu ermitteln, was sie eigentlich meinen, woher sie kommen und worauf sie zielen und warum ihr konkreter Zusammenhang „vergessen“ wurde. Auch dies wäre ein Teil notwendiger Erinnerungsarbeit.

Im März dieses Jahres war im Fernsehen in einer vierteiligen Folge ein Film zu sehen, der sich mit dem Problem des Vergessens und der Notwendigkeit des Sich-Erinnerns befaßt: „Shoah“ von dem Journalisten und Filmemacher Claude Lanzmann. („Shoah“ ist ein hebräisches Wort und bedeutet großes Unglück, Katastrophe.) Lanzmann hat in diesem Film Überlebende aus deutschen KZs befragt, aber auch die Täter, ehemalige Nazis und Beteiligte des damaligen Bürokratie – und Verwaltungsapparates. Mehr als zehn Jahre hat Lanzmann an diesem Film gearbeitet, ein zäher und mühseliger Versuch das Vergessen aufzuhalten. Lanzmann ruft die Opfer als Zeugen auf, nötigt sie, in das eigene Vergessen einzudringen und zu berichten. Deutlich wird, wie schwer, wie schmerzlich die Erinnerung ist; es ist in der Tat eine Arbeit. Es kommt vor, daß die Befragten nicht mehr weitersprechen können, nicht mehr wollen. Lanzmann läßt nicht los, sagt: „Sprechen Sie weiter. (…) Sie müssen. Es ist notwendig. (…) Ich bitte Sie. Wir müssen das machen. Sie wissen das. (…) Ich weiß, daß es hart ist, ich weiß, verzeihen Sie mir. (…) Ich bitte Sie, fahren Sie fort.“25

Anmerkungen

1 Dies ließe sich besonders deutlich am Beispiel von Otto Dix zeigen, der in seinen Bildern fast zwanzig Jahre lang seine Erfahrung des 1. Weltkriegs thematisiert hat. Das letzte große Gemälde „Das Schlachtfeld in Flandern“, das Dix in den ersten Jahren des Faschismus 1934-36 man, steht neben anderen Werken, die, wie z. B. Lea Grundigs Radierfolge „Krieg droht!“ von 1936, auf die Konsequenzen faschistischer Politik hinweisen. In diesem Zusammenhang der Antizipation eines neuen Krieges wird Dix spätes Nachkriegsbild zu einem Bild vom kommenden Krieg, zum Vorkriegsbild. Zurück

2 Jonathan Schell: Das Schicksal der Erde, in: Peter Keckeis (Hrsg.): Wacht auf! Eure Träume sind schleht! Wo Friede beginnt. Stuttgart 1983, S. 153. Zurück

3 Vgl. Arnulf Rainer: Hiroshima, in: A. Rainer, Hiroshima Werkgruppe aus 57 Bildern. Ausst. Kat. Bochum 1982. Zurück

4 Walter Benjamin: Erfahrung und Armut, in: W. Benjamin: Gesammelte Schriften, Bd. II,1., hrsg. von R. Tiedemann und H. Schweppenhäuser. Frankfurt/M. 1977, S. 214. Zurück

5 Ebd., S. 215. Zurück

6 Ebd. Zurück

7 Ebd., S. 219. Zurück

8 Alexander und Margarethe Mitscherlich: Die Unfähigkeit zu treuem. Grundlagen kollektiven Verhaltens. München 1967, S. 9. Zurück

9  Vgl. Wolfgang Freiherr von Löhneysen: Franz Radziwill, in: Die Kunst und das schöne Heim, H. 4, Jan. 1957, S. 128.Zurück

10 Vgl. Jutta Held: Kunst und Kunstpolitik in Deutschland 1945-49. Kulturaufbau in Deutschland nach dem 2. Weltkrieg. Berlin (West) 1981, bes. S. 53 ff. Zurück

11 Werner Haftmann: Lachende Totenköpfe. Zum Radierzyklus „Der Krieg“ von Otto Dix, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 90 vom 14. April 1984. Zurück

12 Vgl. Anm.10; Zwischen Krieg und Frieden. Buch zur Ausst. Hrsg. vom Frankfurter Kunstverein. Berlin (West) 1980; Hermann Raum: Die bildenden Künste der BRD und Westberlins. Leipzig 1977. Zurück

13 Zit. nach Peter Crome: Bilder aus der Hölle, die Hiroshima hieß, in: Frankfurter Rundschau Nr. 181 vom 8. Aug.1983, S. 11.Zurück

14 Vgl. Lothar Lang: Malerei und Graphik in der DDR. Leipzig 1983, S.58 f. Zurück

15 Vgl. Rainer Fabian (Text) und Hans Christian Adam: Bilder vom Krieg.130 Jahre Kriegsfotografie – eine Anklage. Hamburg 1983, S. 264 f. Zurück

16 Vgl. Apokalypse. Ein Prinzip Hoffnung? Ernst Bloch zum 100. Geburtstag. Ausst. Kat. Hrsg. von Richard W. Gassen und Bernhard Holeczek. Wilhelm-Hack-Museum Ludwigshafen am Rhein 1985. Zurück

17 Vgl. Michael Schneider: Bomben-Existenzialismus, in: Debatte, H. 1, Sept.1984, S. 47-53. Zurück

18 Zit. n. Klaus Christian Wanninger: Predigt für Ronald Reagan. Der Präsident und die Apokalypse. Düsseldorf 1984, S. 6. Zurück

19 Vgl. Konrad Ege: I love the bomb, in: Konkret, H. 4, April 1986, S. 52-55. Zurück

20 Titel des in Anm.16 genannten Katalogs. Zurück

21 Vgl. Peter Furth: Troja hört nicht auf zu brennen. Über die Bewirtschaftung der Toten, in: Debatte, H. 2, Febr.1986, S. 6-25. Zurück

22 Michael Schneider: Das Gespenst der Apokalypse und die Lebemänner des Untergangs, in: Apokalypse (Anm. 16), S. 359. Zurück

23  Vgl. Arnulf Rainer, Hiroshima. Werkgruppe aus 57 Bildern. Ausst. Kat. Bochum 1982, s. p., Klappentext.Zurück

24 Günther Anders: Thesen zum Atomzeitalter, in: Das Argument 17, 2. Jg. Okt. 1960, S. 226-234, bes. S. 228 f. Zurück

25 Claude Lanzmann: Shoah. Düsseldorf 1986, S. 158. Zurück

Dr. Annegret Jürgens-Kirchhoff ist Kunstwissenschaftlerin, z. Zt Vertretungsprofessur an der Univ. Osnabrück.