Zukunft der Atomrüstung

Zukunft der Atomrüstung

Vor 50 Jahren sprengte sich die Atomwaffe in das Bewußtsein der Welt

von Richard L. Garwin

Der 8. Mai, an dem sich das Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa zum 50. Mal jährte, liegt gerade hinter uns, doch ich werde hier sprechen, weil das Jahr 1945 auch der Beginn des militärischen Atomzeitalters gewesen ist. Der erste der beiden einzigen Atomsprengsätze, die bisher in einem Krieg eingesetzt wurden, sprengte sich am 6. August 1945 mit einer Explosivkraft von 20.000 Tonnen TNT in das Bewußtsein der Welt. Er tötete mindestens 50.000 Menschen. Drei Tage später vernichtete eine Atombombe von vergleichbarer Stärke Nagasaki. Abgesehen von ein paar Hundert Mitarbeitern des Manhattan-Projekts, hatte zu diesem Zeitpunkt niemand in den USA erfahren, daß wenige Wochen zuvor, am 16. Juli, der Zwilling der Nagasaki-Bombe beim »Trinity«-Test in der Wüste von New Mexico gezündet worden war. Nach Nagasaki gab es vorerst keine einzige Atomwaffe mehr auf der Welt.

Am 14. August, weniger als eine Woche nach der Zerstörung von Nagasaki, verkündete der Kaiser von Japan in einer Radioansprache seine Entscheidung zu kapitulieren. Damit war der Zweite Weltkrieg endgültig zu Ende.

Noch im gleichen Monat erschien der vom Kommandanten des Manhattan-Projekts, General Leslie C. Groves, in Auftrag gegebene »Smyth Report«, der zahlreiche Informationen über die Konstruktion und die technischen Voraussetzungen von Atomwaffen enthielt. Das Plutonium für die »Trinity«- und die Nagasaki-Bombe sei in Kernreaktoren erzeugt worden.

Das amerikanische Atomwaffenprojekt hatte außerordentlichen Nutzen aus jenen Analysen gezogen, die in Großbritannien über die Möglichkeit von Waffen angestellt worden waren, die sich die Kernspaltung zunutze machen sollten. Ebenso aus der Mitarbeit britischer Wissenschaftler. Die amerikanischen Naturwissenschaften befanden sich damals nicht auf Weltklasseniveau, und das Manhattan-Projekts profitierte ungemein von jenen Wissenschaftlern, die wie Hans Bethe, Enrico Fermi, Leo Szilard und Edward Teller (um nur ein paar der prominentesten zu nennen) vor faschistischen Regimes aus Europa hatten fliehen müssen. In der Tat hätte keiner von ihnen angesichts der Tatsache, daß sie selber oder ihre Ehefrauen jüdischer Herkunft waren, in Europa bleiben können.

In Cleveland im amerikanischen Mittelwesten geboren und aufgewachsen, war ich 1945 17 Jahre alt. Die hohe Politik in Washington und die Hochfinanz in New York waren weit von unserer Familie entfernt. Doch der Kriegsausbruch in Europa und die offenkundig unersättlichen Ziele Hitlers beunruhigten uns sehr.

Ich muß gestehen, daß wir bis zum 8. Mai 1945 von den Vernichtungslagern in Europa keine Ahnung gehabt hatten, und ich nehme an, daß es sich mit den emigrierten Wissenschaftlern, die im Manhattan-Projekt arbeiteten, ähnlich verhielt. Tatsächlich hatte die US-Regierung alles vor den Menschen in den USA geheimgehalten, was sie darüber wußte. Ich glaube, die Motivation der Wissenschaftler des Manhattan-Projekts rührte von der Furcht her, daß Deutschland sich in den Besitz einer Atomwaffe bringen und mit dieser die Welt erobern könnte. Sie wollten weitere deutsche Eroberungen verhindern und wieder eine zivile Rechtsordnung in Europa herstellen. Seit wenigen Monaten erst ist die Behauptung zu lesen, daß von Anfang an die Absicht bestanden hätte, die Atombombe gegen Japan einzusetzen, doch meines Wissens war kein einziger von denen, die am Manhattan-Projekt mitarbeiteten, dieser Meinung. All ihre Anstrengungen galten dem Bau einer Atombombe, damit Deutschland diese nicht zuerst bekam.

Und für mich besteht kein Zweifel, daß man sie über einer deutschen Stadt und deren Rüstungsfabriken abgeworfen hätte, wenn sie schon 1944 fertig gewesen wäre.

In der Tat hatten die Alliierten die Lektion der deutschen Angriffe auf die Zivilbevölkerung nur zu gut gelernt, und die Skrupel davor, auf diese mit Gleichem zu antworten, waren gegen Kriegsende verschwunden. Die Zerstörung Dresdens durch Brandbomben ist ein Beispiel.

Ein Blick zurück: Meine Position im Jahre 1977

In einem 1977 veröffentlichten Buch1 habe ich versucht, eine realistische politische Strategie zu beschreiben, die es den Atommächten ermöglichen sollte:

  1. wirksame Maßnahmen zur Verhinderung der Weiterverbreitung von Kernwaffen zu treffen;
  2. die Ausgaben für strategische Atomarsenale auf ein Minimum zu begrenzen und gleichzeitig eine hinreichende Sicherheit zu gewährleisten;
  3. eine Überbewertung strategischer Bedrohungen zu vermeiden (die zur Vernachlässigung realer und wichtiger Probleme führt, die auch eine gesellschaftliche Existenzbedrohung auf nationaler und globaler Ebene darstellen) und dadurch das Problem der Atomrüstung (zu einem gewissen Grad) von dem Prozedere der Weltpolitik trennen zu können, d.h. ihre Bedeutung als machtpolitisches Instrument zu verringern;
  4. dem Einzelnen das Gefühl zu geben, daß die internationale Staatenwelt durchschaubar und kontrollierbar ist und seine eigene Situation besser wird;
  5. eine stabile Ausgangsbasis zu erarbeiten, von der aus ein internationales Regime ohne Atomwaffen entwickelt werden kann (aber nicht muß).

Dieser Aufsatz empfahl eine Atomdoktrin, die auf der Abschreckung von Angriffen und nicht auf atomarer Verteidigung basieren sollte. Sie strebte die Abschaffung der »taktischen« oder atomaren Gefechtsfeldwaffen der USA und eine Strategie an, die sich statt dessen auf konventionell bewaffnete und von einem Global Positioning System (GPS) gelenkte Cruise Missiles stützen sollte.

Auf der politischen Seite empfahl ich eine internationale Vereinbarung, in der auf den Ersteinsatz von Atomwaffen gegen Staaten ohne Atomwaffen verzichtet wird, nicht aber eine generelle »No-first-use«-Übereinkunft. „Die USA“, so schrieb ich damals, „können ihre Absicht kundtun, Atomwaffen nur als Antwort auf die Atomwaffen anderer einzusetzen, ohne deswegen eine formelle Vereinbarung unterzeichnen zu müssen, die den Ersteinsatz von Atomwaffen als Extremoption ausschließt, und daher ohne auf die Unsicherheit der Sowjetunion hinsichtlich der amerikanischen Strategie verzichten zu müssen, die diese vor konventionellen Angriffen in Europa zurückschrecken läßt.“

Außerdem schlug ich für die landgestützte Raketenstreitmacht ein »deMIRVing« vor, also die Zahl von Gefechtsköpfen pro Rakete auf einen zu reduzieren.

Rüstungskontrollergebnisse

Wir haben im Augenblick in Rußland eine sehr anfällige Demokratie und eine Art von Banditenkapitalismus, der eine freie wirtschaftliche Aktivität in der Industrie und im Transportwesen kaum kennt, wohl aber im Handel mit im Westen erzeugten Gütern.

Es gibt kein kohärentes Rechtssystem, und eben aus diesem Grund scheuen sich westliche Unternehmen sehr häufig davor, in Rußland zu investieren.

Trotzdem besitzt das gleiche Rußland mindestens 20.000 Kernsprengköpfe.

Ich denke, die Clinton-Administration hat sich gute Noten für ihr Problembewußtsein (doch wesentlich schlechtere für ihr politisches Handeln) verdient, was die Bedrohung der internationalen Sicherheit durch die Auflösung der UdSSR betrifft. Das Problem von »vagabundierenden Atomwaffen« (»loose nukes«) haben Verteidigungsminister William J. Perry und sein (für atomare Sicherheit und Atomproliferation zuständiger) Stellvertreter Ashton B. Carter (der vor seiner Ernennung in Harvard lehrte) klar erkannt.

Den Senatoren Sam Nunn (aus Georgia) und Richard G. Lugar (Indiana) ist es hoch anzurechnen, daß sie angeregt haben, von den Mitteln des Pentagon jährlich 600 Millionen Dollar für »kooperativen Bedrohungsabbau« in der ehemaligen Sowjetunion zu verwenden.

Bereits ein Jahr zuvor hatte der damalige Vorsitzende des Streitkräfteausschusses im Repräsentantenhaus (und spätere Verteidigungsminister) Les Aspin vorgeschlagen, eine Milliarde Dollar des Verteidigungshaushalts für einen ähnlichen Zweck aufzuwenden. Doch seine Initiative ist nie vom Kongreß verabschiedet worden.

Die USA und die Ukraine haben sich darauf geeinigt, daß bis 1996 alle Atomsprengköpfe aus der Ukraine nach Rußland überführt werden. Von den ehemaligen Sowjetrepubliken der UdSSR besitzen nur die Ukraine, Belarus und Kasachstan Atomwaffen. Belarus hat sich noch vor der Ukraine dazu verpflichtet, all seine Atomwaffen Rußland zu übergeben, und wir können zuversichtlich sein, daß Kasachstan das gleiche tun wird, so daß Rußland als einziger atomarer Nachfolgestaat der Sowjetunion übrigbleibt.

In START-II ist die Abschaffung von Mehrfachsprengköpfen (MIRVs – Multiple Independently Targetable Reentry Vehicles) auf landgestützten Interkontinentalraketen vereinbart worden; der Vertrag beseitigt damit einen Faktor, der zum Anwachsen der strategischen Raketenstreitkräfte beigetragen hat. Der ABM-Vertrag von 1972 sollte dem Prinzip nach einen anderen Faktor, die Abwehrwaffen, einschränken. Allerdings habe ich noch nicht erwähnt, daß offiziell drei weitere Atommächte (Großbritannien, Frankreich und China) auf der Welt existieren, die alle zwischen 300 bis 1.000 Atomsprengköpfe besitzen.

Der Atomwaffensperrvertrag (NPT) ist gerade eben von der New Yorker Überprüfungskonferenz auf unbegrenzte Zeit verlängert worden. Doch es besteht keine bindende Verpflichtung der fünf offiziellen Atommächte (die ja nur bezogen auf den NPT »offizielle« sind), ihre Atomarsenale zu verkleinern oder abzuschaffen.

Südafrika gehört nicht zu den fünf offiziellen Atommächten des NPT, und es hat erklärt, sechs Bomben vom Hiroshima-Typ gebaut zu haben. Das dazu erforderliche U-235 sei in selbständig entwickelten Anlagen angereichert worden. Diese Waffen und das verwendete waffenfähige Material seien wieder vernichtet worden, und man habe dies der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) nachgewiesen.

Es gibt jedoch drei weitere Staaten, von denen man gemeinhin annimmt, daß sie ein Atomwaffenpotential besitzen: Israel, Indien und Pakistan.

Der »Club« der Atomwaffenstaaten hat sich wesentlich langsamer vergrößert, als in den sechziger Jahren erwartet wurde. Doch in den letzten zehn Jahren hat sich die Struktur von Staaten und nicht-staatlichen Gruppierungen beträchtlich verändert.

Das Plutonium-Problem

Zwar ist es wichtig, auch weiterhin das Ziel des NPT im Auge zu behalten, daß Nicht-Atomwaffenstaaten ihre Sicherheit durch den Verzicht auf Atomwaffen verbessert sehen und sich auf Sicherheitsgarantien verlassen können und daß die Atomwaffenstaaten ihre Arsenale abbauen und sie vielleicht schließlich ganz verschrotten oder dem Kommando der UNO unterstellen. Doch ebenso wichtig ist es heute zu verhindern, daß Atomwaffenpotentiale in die Hände von isolierten Staaten außerhalb des NPT, von NPT-Unterzeichnerstaaten, die sich an ihre Verpflichtungen nicht halten, oder von nichtstaatlichen Verbänden (z.B. der »Milizen« in den USA oder militanter religiöser Gruppen usw.) geraten.

Ich sollte hier anmerken, daß ich mich seit langem dafür ausspreche, daß die USA und Rußland die Anzahl ihrer Atomsprengköpfe um 95% oder mehr reduzieren sollten, so daß beide noch jeweils 1.000 (einschließlich der Reservesprengköpfe) besitzen würden. Gleichzeitig sollten Großbritannien, China und Frankreich ihre Arsenale freiwillig auf jeweils 300 Sprengköpfe begrenzen, und die Welt sollte die Notwendigkeit ernst nehmen, daß die Unterzeichnerstaaten des NPT ohne Atomwaffen sowohl positive als auch negative Sicherheitsgarantien erhalten.

Doch unter anderem infolge der erfolgreich ausgehandelten Schritte zur (80-, 90- oder sogar 95%igen) Reduzierung der amerikanischen und russischen Atomwaffenbestände stehen wir vor dem neuen Problem, daß in den USA und in der ehemaligen UdSSR Atomwaffen von hochgeschätzten Rüstungsgütern zu einem heiklen Abfall geworden sind.

Infolge der Verträge START-I und START-II und zahlreicher unilateraler, aber abgestimmter Erklärungen und Maßnahmen von Bill Clinton und Boris Jelzin werden in den USA und in Rußland Atomsprengköpfe außer Dienst gestellt und verschrottet. In den USA geschieht dies zur Zeit mit einer Geschwindigkeit von etwa 1.800 Sprengköpfen pro Jahr, wobei die atomaren Komponenten des primären Waffenmaterials (der versiegelte Kern) in Einzelbehältern in einfachen »Iglus« auf einem Gelände der texanischen Fabrikationsanlage Pantex des amerikanischen Energieministeriums gelagert werden. Wie berichtet wird, findet in vier russischen Anlagen eine entsprechende Zerlegung statt.

Plutonium ist nicht nur ein Material, aus dem Atomwaffen gebaut werden können, es ist überdies hoch radioaktiv und äußerst gefährlich für Leben und Gesundheit (vor allem wenn kleine Partikel dieses Metalls oder einer Pu-haltigen Verbindung eingeatmet werden). Dagegen besteht bei den aus hochangereichertem Uran (HEU) bestehenden Atomwaffenkomponenten nur das Risiko der Proliferation oder der Wiederverwendung, sie stellen keine radiologische Gefährdung dar. In den USA werden die HEU-Komponenten nach Oak Ridge geschafft, wo sie weiter behandelt und schließlich mit normalem oder abgereichertem Uran zu Brennstäben für kommerzielle Stromreaktoren verarbeitet werden.

Mehr als 50 Tonnen überschüssiges Waffenplutonium werden in den USA bis zum Jahr 2003 bei der Verschrottung von Atomwaffen anfallen, in Rußland wird die Menge sogar noch größer sein. Außerdem werden 500 Tonnen HEU zurückgewonnen. Man führe sich das Ausmaß des dadurch entstehenden Problems vor Augen, daß dieses Material und damit Atomwaffen in die Hände von terroristischen Regierungen oder Gruppen gelangen könnten. Aus der etwas willkürlich bezifferten Menge von »50 Tonnen« waffenfähigem Plutonium können mehr als 8.000 Nagasaki-Bomben hergestellt werden, und die 500 Tonnen HEU reichen aus, um etwa 30.000 Bomben vom implosionsgezündeten Typ zu bauen, aus dem die ersten chinesischen Atombomben bestanden.

Dieses waffenfähige Material stellt ein enormes Risiko dar, dem zumindest seit 1991 in den USA zahlreiche Studien und Aktivitäten gewidmet worden sind. Die Clinton-Administration hat das Problem in seiner ganzen Tragweite erkannt, und ein Ausschuß der National Academy of Sciences (CISAC) hat im Januar letzten Jahres unter dem Titel „Management and Disposition of Excess Weapons Plutonium“ eine wichtige Untersuchung zu dem Thema veröffentlicht.

Der Studie ging es um die Verringerung der drei Gefahren, die von überschüssigem Atomwaffenmaterial in Rußland ausgehen – »Breakup«, »Breakout« und »Breakdown«.

Mit Breakup bezeichnete sie das (nicht eingetretene) Problem, daß die UdSSR in noch mehr kleinere staatliche Einheiten auseinanderbrechen könnte, die sich alle im Besitz von Atomwaffen befinden. Tatsächlich konnten dank aktiver Diplomatie, und wohl auch dank guten Willens, auf beiden Seiten alle ehemals sowjetischen taktischen Atomwaffen nach Rußland zurückgebracht werden. Außerdem wurden die in Belarus stationierten strategischen Waffen nach Rußland geschafft, mit denen in der Ukraine und in Kasachstan wird dies in den nächsten Jahren geschehen.

Breakout meinte die Möglichkeit, daß Rußland mit dem waffenfähigen Material seiner zerlegten Waffen irgendwann sein gewaltiges Atomarsenal rasch wieder aufbauen könnte. Wir hoffen, mit den Russen in der Frage der Nutzung oder der Entsorgung von spaltbarem Material zusammenarbeiten zu können, so daß es nicht so einfach wieder für Waffen verwendet werden kann. Z.B. hat Rußland mit den USA vereinbart, ihnen in den nächsten 20 Jahren 500 Tonnen HEU zu verkaufen, das so gemischt wird, daß aus ihm Brennelemente aus schwach angereichertem Uran für Stromreaktoren hergestellt werden können. Für dieses Material wird Rußland zwölf Milliarden Dollar erhalten.

Breakdown bezieht sich auf die Transformation der russischen Gesellschaft. Die Zunahme der Kriminalität und die inflationsbedingt niedrigen Löhne vergrößern die Gefahr, daß Atommaterial gestohlen wird, das (womöglich über eine Kette von Zwischenhändlern) schließlich in die Hände einer Regierung oder einer nicht-staatlichen Gruppe geraten könnte, die daraus Atomwaffen herstellt und damit droht, von diesen auf terroristische Weise Gebrauch zu machen.

Diesen Gefahren sollen Programme zur Verbesserung der »Sicherung, Kontrolle und Erfassung von Atommaterial« (Material Protection, Control and Accountancy – MPC&A) und auch die Vorschläge für seine weitere Verwendung begegnen. Deutschland könnte in dieser Hinsicht eine wichtige Rolle spielen. Ich habe im Februar in Bonn an dem Treffen eines Projekts des German-American Academic Council teilgenommen, das sich mit Deutschlands Beitrag zur Lösung dieses Problems befaßt – vor allem, was sein Know-how in der Herstellung von Reaktorbrennelementen anbelangt.

Unsere CISAC-Analysen haben gezeigt, daß es insgesamt teurer wäre, das »freigewordene« Waffenplutonium für die Herstellung von Brennelementen für Stromreaktoren zu verwenden, als wenn man das Geld für den Kauf von schwach angereichertem Reaktorbrennstoff ausgeben würde. Doch egal wie man Waffenplutonium entsorgt – Geld wird es immer kosten. Und das Verbrennen von Waffenplutonium in kommerziellen Stromreaktoren scheint ein grundvernünftiges Vorgehen zu sein, das mit staatlichen Subventionen in der Größenordnung von einer Milliarde Dollar für 50 Tonnen Waffenplutonium kommerziell machbar wäre.

Der umfassende Teststoppvertrag

Dem »Comprehensive Test Ban Treaty« CTBT erging es ähnlich wie Waffen, die oft auf eine Weise am wirksamsten eingesetzt werden, die ihre Konstrukteure überhaupt nicht im Sinn hatten. Ursprünglich bestand das Ziel, das mit einem umfassenden Teststopp erreicht werden sollte, darin, das Wettrüsten zwischen den Supermächten dadurch zu verlangsamen, daß die Entwicklung von moderneren Atomwaffen unterbunden wird.

Später erkannte und betonte man, daß ein CTBT die Weiterverbreitung von Atomwaffen bedeutend erschweren würde. Allerdings haben die Beispiele von Südafrika und wahrscheinlich von Israel und Pakistan (und natürlich das der Hiroshima-Bombe, die im Kampf eingesetzt wurde, ohne jemals zuvor getestet worden zu sein) gezeigt, daß Tests nicht notwendig sind, um ein gewisses Vertrauen in die Zuverlässigkeit eines einfach konstruierten Atomwaffensystems zu haben.

Meines Erachtens würde der größte Nutzen eines CTBT heute und in Zukunft darin liegen, daß er dem Besitz von Atomwaffen durch verhältnismäßig wenige Staaten eine gewisse Legitimität verleihen und gleichzeitig demonstrieren würde, daß der allgemeine Trend in der Atomrüstung auf die Verringerung der Stückzahl von Waffen zielt, die nicht mehr qualitativ verbessert werden.

Die Agenda für die Zukunft

Meiner Ansicht nach sind folgende Punkte von entscheidender Bedeutung:

Die Vereinbarungen, die wir eingegangen sind, müssen umgesetzt und die Atomwaffen außer Dienst gestellt und demontiert werden.

Das dabei anfallende waffenfähige Plutonium und Uran muß sicher gelagert werden.

Staaten mit und ohne Atomwaffen sollten ihre Verantwortung ernst nehmen, die sie am 11. Mai dieses Jahres mit der unbegrenzten Verlängerung des NPT eingegangen sind. Das heißt vor allem, daß die Bedeutung positiver und negativer Sicherheitsgarantien gegen einen Atomangriff begriffen werden muß und daß diese Garantien gegeben werden müssen.

Die Atommächte sollten spätestens 1996 einen Vertrag über das Verbot sämtlicher Atomwaffenversuche unterzeichnen, wie sie es in den Begleitdokumenten zur NPT-Verlängerung versprochen haben. Dieser CTBT sollte auch jene Tests mit sehr kleiner Spaltkomponente verbieten, die als »hydronukleare Experimente« bezeichnet werden. Außerdem sollte der CTBT keine Ausnahmen für »Atomexplosionen zu friedlichen Zwecken« zulassen. Eventuell könnte zehn Jahre nach dem Inkrafttreten des CTBT eine internationale Konferenz stattfinden, auf der der mögliche Nutzen, die Kosten und die Probleme von solchen Atomexplosionen erörtert werden, um gegebenenfalls einen separaten Vertrag auszuhandeln, falls zwingende Gründe dafür sprechen sollten.

Die G-7-Staaten sollten nicht die Investitionen und die harte Arbeit scheuen, die nötig sind, damit das atomwaffenfähige Material in Rußland auch weiterhin unter Kontrolle gehalten wird.

Außerdem muß die Welt dauerhafte Regelungen treffen, welche die Abzweigung von Plutonium aus aufgebrauchtem Reaktorbrennstoff für den Bau von Atomwaffen verhindern. Denn entgegen der seit Jahrzehnten weitverbreiteten Annahme können auch aus solchem Plutonium Atomwaffen hergestellt werden.

Wenn die Demilitarisierung und die Entsorgung von atomwaffenfähigem Material voranschreiten, ist es wichtig, daß die nächste Sprosse beim Abstieg von der atomaren Rüstungsleiter in Angriff genommen wird, auf der die USA und Rußland noch ein Arsenal von jeweils 1.000 Atomsprengköpfen behalten dürften (aber ohne Reservegefechtsköpfe). Gleichzeitig sollten die Bestände Großbritanniens, Chinas und Frankreichs auf je 300 Atomsprengköpfe reduziert bzw. begrenzt werden.

Die Gefahr von Raketenangriffen muß durch Rüstungskontrolle vermindert werden. Es sollte ein Verbot von Waffen im Weltraum ausgehandelt werden; es müßte auch das Verbot beinhalten, Antisatelliten-Waffen (ASAT) zu testen und einzusetzen.

Über Richard L. Garwin

Dr. Richard L. Garwin, 1928 geboren, hat zwar nicht am Manhattan-Projekt der USA mitgearbeitet, ist aber am Bau der Wasserstoffbombe mitbeteiligt gewesen. Von den Atombombenabwürfen erfuhr er als Siebzehnjähriger aus der Zeitung. Er hält sie, wie er in der Diskussionsrunde nach seinem Vortrag in Frankfurt einfließen ließ, damals wie heute mit den gängigen Argumenten der Befürworter für gerechtfertigt.

Garwin wird vielfach als »Wunderkind« der amerikanischen Physik bezeichnet. Mit 21 Jahren promovierte er bereits in diesem Fach. 41 Jahre lang war er von 1952 bis zu seiner Pensionierung im Jahre 1993 als Forscher am Watson Research Center der IBM Corporation in Yorktown Heights, N.Y., tätig. Seine Liste der Erfindungen im zivilen und militärischen Bereich ist lang; 41 Patente haben sie ihm eingebracht.

Neben seinen Forschungen für IBM hat er einen Teil seiner Arbeitszeit beständig als Berater von US-Präsidenten und verschiedenen Ministerien verwandt. Kongreßausschüsse suchen regelmäßig seinen Rat. Diese Doppelgleisigkeit als Forscher und militär- und rüstungskontrollpolitischer Berater ist selbst für amerikanische Maßstäbe einzigartig, in der Bundesrepublik ist sie undenkbar. Die Arbeit für die Regierungen hat ihn nicht davon abgehalten, sich gegen bestimmte Programme auszusprechen. Hierzulande ist er vor allem als Kritiker der Strategischen Verteidigungsinitiative von Präsident Reagan bekannt geworden. Den Kritikern der Raketenabwehr hat er mit die besten Argumente geliefert. Richard Garwin hat mehrere Auszeichnungen erhalten, die seine wissenschaftlichen und wissenschaftspolitischen Leistungen würdigen (1983 den Wright Prize, 1988 die AAAS Scientific Freedom and Responsibility Award, 1991 den Erice Science for Peace Prize).
Am 17. Mai hielt er im Rahmen des Vortragszyklus` »Hiroshima und Nagasaki« den hier abgedruckten Vortrag.

(B.W.K.)

Anmerkungen

1) Richard Garwin: Reducing Dependence on Nuclear Weapons. In: David C. Gompert u.a.: Nuclear Weapons and World Politics. Alternatives for the Future. New York u.a. 1977, S.84ff. Zurück

Richard L. Garwin

Schuld in Ost und West

Schuld in Ost und West

Während die Deutschen sich ihrer Kriegsverbrechen schuldig fühlten, empfänden die Japaner Scham: Wie zutreffend ist diese Formel?

von Ian Buruma

„Seit 1945 hat sich Japan darauf konzentriert, reich zu werden.“

Japanische Politiker geben manchmal die merkwürdigsten Dinge von sich. So hat etwa Takeshita Noboru, der damals noch Premierminister war, öffentlich behauptet, es sei überhaupt nicht geklärt, ob Hitler wirklich einen Angriffskrieg geführt habe. Er sagte auch, daß erst zukünftige Historikergenerationen darüber entscheiden könnten, ob Japans Krieg in Asien gerecht gewesen sei oder nicht. Und mehrere japanische Konservative mußten von ihren Ministerposten entfernt werden, weil sie erklärt hatten, das Nanking-Massaker von 1937 sei eine chinesische Erfindung.

Äußerungen wie diese haben natürlich außenpolitische Folgen. Solange es in Japan Politiker gibt, die so etwas von sich geben, werden die anderen Länder Asiens Japan nicht zutrauen, über Angelegenheiten von Krieg und Frieden souverän entscheiden zu können – übrigens haben auch viele Japaner dieses Vertrauen nicht. Seit 1945 hat sich Japan darauf konzentriert, reich zu werden, während die Vereinigten Staaten für die Sicherheit des Landes sorgen. Die japanische Verfassung wurde nach dem Krieg von amerikanischen Anwälten formuliert. Sie verbietet es den Japanern, eigene Streitkräfte aufzustellen oder gar Soldaten in andere Länder zu schicken. Dieser Vorbehalt ist zwar nicht mehr angemessen, aber niemand scheint derzeit in der Lage, eine Änderung herbeizuführen, es sei denn auf improvisierte Art – unter Umgehung der Verfassung oder mittels vage formulierter Verfassungszusätze. Auf legale Weise jedenfalls kann sich Japan an internationalen Militäraktionen nicht beteiligen. Das ist eine Folge des Krieges und hat damit zu tun, daß die Japaner als ein gefährliches Volk gelten.

In der Bundesrepublik Deutschland ist die Situation wohl etwas anders. Selbst jemandem wie Franz Josef Strauß wäre es nicht im Traum eingefallen, zu bezweifeln, daß Hitler den Krieg begonnen hat, oder zu behaupten, die Todeslager seien Propagandamärchen der Juden. Trotz der Barbarei, die Deutschland vor über 50 Jahren entfesselt hat und die in mancher Hinsicht schlimmer war als die Untaten der Japaner in Asien, findet Deutschland bei seinen Nachbarn mehr Vertrauen als Japan bei den seinen. Natürlich sind in ehemals besetzten Ländern wie den Niederlanden oder Polen noch antideutsche Ressentiments erhalten, im großen und ganzen jedoch findet man, daß West-Deutschland für seine Sünden gebüßt hat, Japan dagegen nicht.

Wie läßt sich das erklären? Warum stellen sich so viele japanische Konservative gegenüber den Fakten anscheinend blind, während Deutsche mit ähnlichen blinden Flecken sich nur am äußersten Rand des politisch-gesellschaftlichen Lebens finden lassen? Zwischen Japan und Europa liegt eine große Distanz, und die japanische Kultur ist den Europäern so fremd, daß es verführerisch naheliegt, die Erklärung in kulturellen Differenzen zu suchen. Dabei wird man rasch auf die Theorien von Ruth Benedict stoßen.

Die amerikanische Anthropologin wurde während des Zweiten Weltkriegs von DSS, dem amerikanischen Nachrichtendienst, mit einer Analyse der japanischen Kultur beauftragt. Sie war selbst nie in Japan gewesen, die Quellen ihrer Untersuchung waren japanische Romane und Filme. Die Studie erschien unter dem Titel »The Chrysantheum and The Sword« und wurde zu einem Klassiker. Die für das Buch zentrale Unterscheidung zwischen der (japanischen) »Kultur der Scham« und der (westlichen) »Kultur der Schuld« ging in die allgemeine Diskussion ein. Schuldkulturen, so führte die Autorin aus, sind monotheistisch, also jüdisch-christlich geprägt. Die Menschen des westlichen Kulturkreises – und dazu gehören auch die Deutschen – empfänden Schuld, denn ihre Sünden können der Allwissenheit Gottes selbst dann nicht entgehen, wenn sie ihren Mitmenschen verborgen blieben. In Schamkulturen wie Japan oder China dagegen, in denen es statt des einen Gottes viele Götter gibt, empfänden die Menschen nur dann Scham, wenn ihre Sünden öffentlich bekannt würden. Mit anderen Worten: in diesen Kulturen sei »Sünde« kein religiöser, sondern ein gesellschaftlicher Begriff.

Damit könnte man erklären, warum deutsche Sünder sich von ihren Schuldgefühlen dadurch entlasten, daß sie ihre Verfehlungen bekennen: in unzähligen Fernsehsendungen, mit der Errichtung von Holocaust-Mahnmalen, mit einem Kniefall im Warschauer Ghetto. Solche Bekenntnisse können sie vor Gott von Schuld befreien. Ruth Benedicts Unterscheidung vermöchte auch zu erklären, warum viele Japaner genau das Gegenteil tun, nämlich die Verfehlungen, die sie sich haben zuschulden kommen lassen, abstreiten oder verschweigen: in Japan kann die öffentliche Darstellung japanischer Verbrechen nur Gefühle der Scham hervorrufen.

Das klingt plausibel, und doch paßt es einfach zu gut. Warum hatten denn viele Deutsche, vor allem in den ersten zehn Jahren nach dem Krieg, überhaupt kein Bedürfnis danach, sich mit ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen? Und auch für das Verhalten von japanischen Historikern, Journalisten und anderen, die sich engagiert dafür einsetzen, daß die japanischen Kriegsverbrechen allgemein bekannt werden, liefert Ruth Benedicts Unterscheidung keine Erklärung. Natürlich könnte man das als die sprichwörtlichen Ausnahmen ansehen, die die Regel bestätigen. Doch überzeugt es nicht. Darum wäre es wohl zweckmäßiger, vor weiteren Tiefenanalysen der Kulturdifferenzen nach konkreten, nach historischen und politischen Erklärungen dieser nationalen Unterschiede zu suchen.

Wenn Deutsche über Schuld sprechen, dann beziehen sie sich nicht auf Kriegsgeschehen und Militär. Deutsche Schulkinder werden nicht dazu angehalten, sich über den U-Boot-Krieg, den deutschen Einfall in Frankreich oder den Blitzkrieg Gedanken zu machen. Die deutschen Schuldgefühle beziehen sich nur auf eines: auf den Holocaust, symbolisiert durch Auschwitz. Gerade so, wie auch Günter Grass Auschwitz zum zentralen Argument seines Einspruchs gegen die deutsche Vereinigung gemacht hat, nicht Coventry und nicht Stalingrad. Der Holocaust war tatsächlich ein eigener Feldzug, der neben dem militärischen lief; ein Feldzug gegen Zivilisten, denen das Recht auf Leben abgesprochen wurde. Ein ideologischer Krieg, der offiziell bereits 1933 erklärt worden war und der 1945 zusammen mit der Naziherrschaft endete.

Ganz gleich, wie weit man die Wurzeln des Nationalsozialismus in die Geschichte Deutschlands zurückverfolgt, die Zeit von 1933 bis 1945 bleibt eine einzigartige Epoche. Natürlich hat es in Deutschland Antisemitismus auch vor 1933 gegeben, aber auf eine merkwürdige Weise waren es gerade die barbarische NS-Ideologie, der groteske Führerkult und das verbrecherische NS-Regime, die 1945 einen Neubeginn mit einer »Stunde Null« erleichtert haben. Denn gerade ihr Extremismus hebt die Zeit des Nationalsozialismus aus allen anderen Epochen heraus. Die Männer auf der Anklagebank von Nürnberg waren nicht irgendwelche deutschen Politiker, sondern Nationalsozialisten, verantwortlich für furchtbare Verbrechen. Unabhängig davon, wo sie politisch stehen, würden fast alle Deutschen diesem Urteil zustimmen. In ernst zu nehmenden Kreisen der Bundesrepublik gibt es keine Sympathisanten des Nationalsozialismus.

In Japan liegt der Fall komplizierter. Dort gab es weder einen deutlichen Bruch in der historischen Kontinuität noch ein Äquivalent für 1933, das Datum, an dem ein verbrecherisches Regime an die Macht kam. Und es gab weder eine Bewegung mit derart mörderischen Zielen, wie den Nationalsozialismus, noch gab es einen Führer. Die japanischen Truppen haben in Asien den Tod von Millionen von Menschen verursacht, doch stand dahinter keine Ideologie der Rassenvernichtung. Was in Japan stattfand, war die schrittweise Übernahme der politischen Macht durch rivalisierende Teile von Armee und Flotte. Die gleiche Clique von Bürokraten und Parteipolitikern, die Japan vor dem Krieg regiert hatte, regierte im Krieg; und sie regierten – zumindest taten es einige aus dieser Clique – auch noch nach dem Krieg. Etwa Kishi Noboru, der während des Krieges Rüstungsminister war und in den sechziger Jahren Premierminister wurde. Die japanische Spielart des Führerkults war die Kaiserverehrung, doch verfügte Hirohito im Unterschied zu Hitler nur über sehr begrenzte politische Macht. Gewiss hat der japanische Kaiserkult rassistische Züge, insofern, als er die Japaner lehrt, sich selbst als Menschen von göttlicher Abkunft zu betrachten. Und im Namen des Kaisers wurde den »minderwertigen« Völkern Asiens Grauenvolles angetan. Doch ist dies nicht das gleiche wie eine staatliche Politik der Vernichtung. Jedenfalls wurde Kaiser Hirohito von der Kriegsschuld ausgenommen, und zwar durch keinen Geringeren als General MacArthur, den Oberkommandierenden der Alliierten Pazifikstreitkräfte (SCAP). Damit wurde es aber für die Menschen schwierig, sich für Taten schuldig zu fühlen, die sie im Namen des Kaisers vollbracht hatten. Denn wenn er nicht schuldig war, wie sollten seine Untertanen dann schuldig sein?

Woran sich die Japaner heute erinnern, ist nicht ein Holocaust, sondern ein militärischer Konflikt. So erinnerten sich die meisten Europäer an den Ersten Weltkrieg. Keine Einigkeit herrscht unter den Japanern allein schon über die Frage, wann dieser Krieg begonnen hat, denn tatsächlich gab es mehrere Kriege: den in China, den gegen die europäischen Kolonialmächte in Südostasien und den gegen die USA. Auf wann man den Beginn dieser Kriege datiert, ob man sie voneinander unabhängig oder als einen zusammenhängenden Konflikt betrachtet, ist eine Frage des jeweiligen politischen Standpunkts. Manche Japaner, meist Angehörige der pazifistischen Linken, nennen als Kriegsbeginn das Jahr 1931, das Jahr, in dem Japan die Mandschurai in einen Marionettenstaat verwandelte. Das, so glauben japanische Linke, sei der Beginn der japanischen Politik imperialistischer Aggression gewesen, die dann 1937 zum Einfall in China und 1941 zum Angriff auf Pearl Harbor geführt habe. Diese Japaner sprechen also von einem fünfzehnjährigen Krieg.

Rechte Nationalisten sehen das anders. Für sie sind die Ereignisse im China der dreißiger Jahre kein Krieg, sondern mehr oder weniger bedauerliche »Zwischenfälle«, die sich aus dem legitimen Interesse Japans ergaben, sich gegen den sowjetischen und den chinesischen Kommunismus zu verteidigen. Den Angriff auf Pearl Harbor sehen sie als unvermeidlichen Akt der Selbstverteidigung gegen den Versuch der USA und anderer Kolonialmächte, Japan zu zerschmettern. Der Südostasienkrieg schließlich sei ein Feldzug zur Befreiung Asiens gewesen. Der Krieg in China heißt in diesem politischen Kontext der »China-Zwischenfall«, der gegen den Westen der »Großostasiatische Krieg«. Diese Sicht der Dinge haben keinesfalls nur extreme Randgruppen. Tatsächlich neigen viele prominente Politiker der konservativen Liberaldemokratischen Partei zu solchen Auffassungen.

Weil die japanische Linke antiimperialistische und antimilitaristische Standpunkte vertritt, sind die Linken Japans – trotz Ruth Benedicts Kulturtheorie – nicht weniger aktiv als ihre deutschen Gesinnungsgenossen, wenn es darum geht, die Kriegsverbrechen anzuprangern, die ihre Landsleute verübt haben. Linksgerichtete japanische Journalisten und Historiker haben sehr viel über Geschehnisse wie das Nanking-Massaker geschrieben, in dessen Verlauf japanische Soldaten zahllose Menschen vergewaltigt und getötet hatten (buchstäblich zahllos, denn niemand kennt genaue Zahlen; die Chinesen sprechen von 300.000 Toten, doch ist das vermutlich eine Übertreibung). Die nationalistische Rechte dagegen leugnete beharrlich, daß Japan irgend etwas getan habe, worüber die Japaner sich besonders schämen müßten (mit Ausnahme vielleicht der Tatsache, daß Japan den Krieg verloren hat). Je mehr die Linke über japanische Kriegsverbrechen sprach, desto hartnäckiger leugnete Japans Rechte, daß es überhaupt welche gegeben habe. Nur über eines ließ sich zwischen rechten Nationalisten und linken Pazifisten Einigkeit herstellen: darüber, daß Hiroshima die grausamste und kaltblütigste aller militärischen Aktionen des gesamten Krieges war.

All dies ist jedoch kein Zeichen für die angeblich unergründliche japanische Mentalität. Die Polarisierung der öffentlichen Meinung über den Zweiten Weltkrieg war das Ergebnis besonderer politischer Umstände. Die Linken waren glücklich über die von den Amerikanern diktierte »Friedensverfassung«, denn sie sahen im Pazifismus die einzig mögliche Antwort auf Nanking und Hiroshima. Die gemäßigten Konservativen waren zufrieden, solange sie an der Macht bleiben und vom wachsenden Wohlstand profitieren konnten. Nur die nationalistische Rechte war niemals zufrieden. Den Nationalisten ist es zuwider, daß Japan in Sicherheitsfragen von den USA abhängig ist. Sie glauben, daß die USA der japanischen Nation ihre unverwechselbare Identität geraubt haben. Sie beschwören die »nationale Seele« und den »Geist Japans«. Aber trotz ihrer fixen Idee von der Einzigartigkeit der japanischen Kultur wollen sie, daß Japan zu einem »normalen« Land wird, zu einem Land mit eigener Verfassung und autonomer Verteidigungspolitik. Und weil sie darauf bestehen, daß Japan stets »normal« gewesen sei, müssen sie zurückweisen, was die Linke immer wieder behauptet hat, nämlich daß Japan einen verbrecherischen Krieg geführt habe. Das Nanking-Massaker leugnen die Nationalisten aus dem gleichen Grund.

Auch deutsche Konservative sprechen davon, daß ihr Land wieder »normal« werden müsse. Aber der Fall Deutschland liegt wirklich einfacher. Denn der abnormale Zustand Deutschlands wurde von den Nationalsozialisten repräsentiert. Sie waren Deutschlands Problem und nicht so sehr der Krieg. Und selbst wenn sich die Wehrmacht an der Ostfront scheußlich benommen hat: Die Streitkräfte wurden für das Dritte Reich nicht verantwortlich gemacht. So waren denn auch in der Bundesrepublik, obwohl es auch dort viele Pazifisten gab, Wiederbewaffnung und Integration der neuen Streitkräfte in die NATO relativ unproblematisch durchzusetzen.

In Japan dagegen waren die Streitkräfte das Krebsgeschwür; sie waren es, die das Land auf seinen blutigen Kurs getrieben hatten. Japan hatte durchaus ein Problem mit seinem Militarismus. So wäre eine Verfassungsänderung, die Japan die Souveränität über seine Streitkräfte einräumen würde, für viele Menschen, und nicht nur für Japaner, etwa das gleiche, als würde ein ehemaliger Alkoholiker sich ein Glas Reiswein einschenken. Darum bestanden nur die rechten Nationalisten Japans auf Verfassungsänderung. Sie konnten also gar nicht anders, als immer wieder zu beteuern, Japan habe niemals ein Alkoholproblem gehabt.

Es ist ein Zeichen des Wandels, wenn viele Menschen in Japan, vor allem jüngere, einzusehen beginnen, daß ihr Land wohl doch in der Lage sein müßte, eine andere Rolle in der asiatischen Sicherheitspolitik zu übernehmen, ohne gleich in einen Rausch zu verfallen. Und es ist ein gutes Zeichen, daß sie nicht unbedingt der nationalistischen Rechten zuzurechnen sind. Dieser Wechsel fiel mehr oder weniger mit dem Regierungswechsel zu Beginn der neunziger Jahre zusammen, als die Liberaldemokraten ihr Machtmonopol verloren. Die gegenwärtige Regierung wird geführt von einem sozialdemokratischen Premierminister, der niemals bestritten hat, daß die japanischen Kriegszüge in Asien Angriffsaktionen waren. Und zum erstenmal seit dem Krieg konnte die sozialdemokratische Partei unter seiner Führung die japanischen Selbstverteidigungskräfte – de facto Armee – als legitime Einrichtung bezeichnen.

Natürlich würden einige mehr der Rechten zuneigenden Kollegen des Premierministers gerne einen Schritt weiter gehen und Japan mit einer Verfassungsänderung das Recht zuerkennen, sich an militärischen Aktionen im Ausland zu beteiligen. Es ist gut möglich, daß dieser Punkt die politischen Debatten in Japan in den nächsten Jahren beherrschen wird. Darum wird sich das Interesse von selbst auf die jüngste Vergangenheit Japans konzentrieren. Und das kann der japanischen Demokratie nur zugute kommen. Die vollständige Unabhängigkeit der japanischen Sicherheitspolitik von den USA hat die politischen Auseinandersetzungen in Japan blockiert, denn es gab außenpolitisch nicht viel zu diskutieren. Hier meldeten sich nur die linken Moralisten und die rechten Nationalisten zu Wort.

Wenn jemand allerdings wie Ruth Benedict davon ausgeht, daß es im japanischen Bewußtsein einen blinden Fleck gibt, daß in jeder japanischen Brust das Herz eines Samurai schlägt, für den das Gewissen wenig, die Kriegerehre dafür um so mehr zählt, dann wird er die Dinge lieber so lassen wollen, wie sie sind. Dann haben die USA auch weiterhin für die japanische Sicherheit zu sorgen, selbst dann, wenn das handelspolitische Ungleichgewicht noch zunimmt. Für den, der der Überzeugung ist, die Nanking-Leugner und andere Nationalisten des rechten Flügels widerspiegelten einen dunklen unveränderlichen Zug der japanischen Seele und sie sei einfach eine von den politischen Umständen geprägte politische Meinung unter anderen, für den darf sich an den herrschenden Verhältnissen in der Tat nichts ändern. Er sollte sich dann aber auch über eines im klaren sein: Wer findet, die Japaner seien anders als andere Menschen, der stellt sich auf die Seite genau der Nationalisten, die vom »Geist Japans« und von Japans Einzigartigkeit sprechen und die für die Demokratie nie etwas anderes als Verachtung übrig hatten.

Ian Buruma, geboren in Den Haag, ist Journalist. Zuletzt von ihm erschienen ist bei Hanser »Die Erbschaft der Schuld. Vergangenheitsbewältigung in Deutschland und Japan«, München 1994.

Schuld ohne Scham?

Jan Niemöllers Kommentar zu »Schuld in Ost und West« von Ian Buruma

Ich habe Schwierigkeiten mit dem Gegenüber von »Schuld« und »Scham«. Gibt es Schuldgefühle ohne Scham?

Bei den Ausführungen Burumas selbst erscheint mir zunächst fraglich, ob die Feststellung wirklich zutrifft, daß sich in Deutschland die Blindheit gegenüber historischen Fakten – wohlgemerkt im Unterschied zu Japan – „nur am äußersten Rand des politisch-gesellschaftlichen Lebens“ finden läßt. Dieser Zweifel beruht nicht allein darauf, daß – so Buruma zutreffend – viele Deutsche in den ersten zehn Jahren nach dem Kriegsende überhaupt kein Bedürfnis hatten, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen, sieht man einmal davon ab, daß ausgelöst durch die Stuttgarter »Schulderklärung« der evangelischen Kirche die vordergründige Diskussion sich auf die Frage der »Kollektivschuld« beschränkte.

Der Zweifel ist vielmehr neu belebt und ganz erheblich verstärkt worden durch das Aufkommen rechtsextremer Gruppierungen und Parteien, wie wir es seit der Wiedervereinigung beobachten. Und wenn auch die Welle der Wahlerfolge rechtsextremer Parteien wieder abgeebbt ist, die geistig-politische Strömung gegenüber historischen Fakten die Augen zu verschließen oder gar zu erblinden, ist ungebrochen; denn das Erblinden gegenüber historischen Vorgängen geschieht nicht allein durch visuelles Abschalten. Eine raffiniertere, bei redlicher Beobachtung aber deutlich erkennbare Form der Erblindung besteht darin, daß man die Fakten durch das Überblenden mit anderen Erscheinungen – meist mit Folgeerscheinungen – unkenntlich macht. Diese Methode wurde zuletzt bei dem durchsichtigen Aufruf »Wider das Vergessen« angewandt, der ausgerechnet zum 8.5.1995 von Nationalkonservativen aller Parteien verfaßt und vertreten wurde.

Jan Niemöller (Vorsitzender Richter i.R.)

Fehlende »Vergangenheitsbewältigung« in Japan

Fehlende »Vergangenheitsbewältigung« in Japan

Der Versuch einer Erklärung

von Kenichi Mishima

Die Japaner – wie viele meinen – sind rätselhaft und unzugänglich. Ihr Verhältnis zum grauenhaften Kapitel unseres Jahrhunderts ist schlicht unverständlich. Sie versuchen auf bilateraler Ebene, ohne Gegenleistung die Versöhnung zu erzwingen. Ihr Auftreten in der internationalen Politik kann man auch nicht unbedingt als versöhnlich bezeichnen. Von ihrem Anspruch auf die Rückgabe von vier Kurileninseln wollen sie keinen Zentimeter abrücken. Möglicherweise sind sie der Ansicht, sie seien eine auserwählte Nation. Was ihr Verhalten in Ostasien betrifft, so glauben sie anscheinend an ihre Unfehlbarkeit und betrachten ihre Führungsrolle dort als gottgegeben und gottgewollt. Daher rührt auch die ständig praktizierte Täter-Opfer-Vermischung. So sieht nach meiner Einschätzung das gängige Bild Japans aus, das vor unserem geistigen Auge entsteht, wenn es um »Erbschaft der Schuld« geht. Und dieses Bild ist im großen und ganzen richtig. Dieses Bild kann aber zu einer undifferenzierten Wahrnehmung führen und ein kritisches Verständnis erschweren.

Natürlich ist Japan wie jede Nation keine dumpfe Masse. Auch auf dem kleinen Inselstaat gibt es vielfältige intellektuelle Landschaften, verschiedenste Diskussionsrichtungen, politische Oppositionen unterschiedlichster Couleur. Damit Sie sich ein Bild machen können: es gibt in der japanischen intellektuellen Szene durchaus Entsprechungen für Herren wie Nolte, Walser, Grass, Habermas usw. in Hülle und Fülle (vielleicht erlebt man dort oft Diskussionen in einer für Mitteleuropäer nicht sofort einleuchtenden, interessanten Mischung von Argumentationstypen). Es finden erbitterte öffentliche Diskussionen statt. Außerdem haben die Anhänger der verschiedenen intellektuellen Lager z.B. in Deutschland oft untereinander Berührungsängste. Dies alles ist hier kaum bekannt. Und doch sollte man – ohne über Einzelheiten unterrichtet zu sein – sich zumindest vorstellen können, daß in einer modernen Industrienation alles so anders nicht sein kann.

Warum aber entsteht so ein Bild, wie ich es vorhin kurz angedeutet habe? Weil unsere politische und wirtschaftliche Elite, und ein Teil der kulturellen Elite auch, dazu neigte und heute noch dazu neigt, in Konkurrenz gegen den Westen geschlossen aufzutreten, um zumindest subjektiv, d.h. nach ihrem Selbstverständnis, die Nation vor der Bedrohung durch den Westen zu schützen, um aber objektiv gesehen ihre herrschende Stellung innerhalb der Nation abzusichern. Und an dieser mentalen Struktur hat sich in den letzten 130 Jahren nicht so viel geändert. Diese These kann befremdend sein. Ich möchte sie kurz erläutern.

Der seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts in die Seelen der nationalen Elite tief eingeprägte Slogan lautet: den Westen imitieren, ihn einholen und überholen. Japan öffnete sich gerade zu der Zeit, als der europäische Kolonialismus seinen Höhepunkt erreichte. Leitartikel repräsentativer Zeitungen aus der Meiji-Zeit sind voll von mahnenden Stimmen gegen die „heimtückischen Europäer“. Tatsächlich mußten die Japaner bei der Öffnung des Landes durch den Abschluß sogenannter ungleicher Verträge viele Konzessionen machen: Abtretung der Zollhoheit an die Westmächte und Exterritorialität der Handelspartner in Sachen Justiz. Den Mangel an Souveränität aufzuheben, galt bis Ende des vorigen Jahrhunderts als oberstes Staatsziel, das für die Eliteschicht mentalitätsbildend wirkte. Hier gilt die Regel der historischen Erinnerung: Kolonialisierte und Beinahe-Kolonialisierte haben ein viel besseres Gedächtnis als Kolonialherren; eine Regel, die die Japaner in ihrem Verhältnis zum »western challenge« beherzigt, die sie aber in ihrem Verhältnis zu den Opfern der japanischen Kolonialisierung schnell vergessen haben. Das geschah durch das Ausscheren Japans aus dem westlichen Club des »inoffiziellen Imperialismus«, mit dem man gemeinsam und unter gegenseitiger Achtung von Interessensphären China ständig ausquetschte. Mit diesem Ausscheren wurde die Voraussetzung für die Entfesselung der Brutalität geschaffen.

Das anhaltende Trauma, das die Nation seit Commodore Pery durch die »Bedrohung von Westen« mehrmals erlitten hat, hat einerseits die Folge, daß sich die Führungsschicht, wie angedeutet, an den Stil der stärkeren Nationen anzugleichen versuchte, nicht nur im Alltagsleben, sondern auch in der Außenpolitik, daß also im eigenen Vorgarten (genauer in der Region von Manshu bis Indochina und Indonesien) eine Hegemonie angestrebt wurde. In der Verhandlung nach dem Sieg im chinesisch-japanischen Krieg 1894/5 haben die Japaner gegenüber den Chinesen für sich selbst günstigere Konzessionen durchgesetzt als die Westmächte.

Das Trauma hat andererseits die Folge, daß die kulturelle Elite Japans, hin- und hergerissen zwischen dem Minderwertigkeitskomplex gegenüber dem Westen einerseits und dem Glauben an die Überlegenheit der eigenen Lebenswelt andererseits, hartnäckig die Besonderheit ihrer Kultur behauptete und um die dementsprechende Inszenierung der eigenen Tradition bemüht war und heute noch ist. Wurde früher, d.h. bis Ende des Zweiten Weltkrieges und vielleicht noch weiter in die sechziger Jahre hinein, in der traditionellen Ästhetik der Grund für die eigene kulturelle Singularität gesehen, so wird im Zuge des Prosperitätszuwachses in den letzten drei Jahrzehnten immer mehr in der sogenannten gruppenorientierten Flexibilität und Loyalität etwas Einzigartiges gesehen, etwas, was nach Meinung der kulturellen Elite unsere Tradition auszeichnet, was deswegen aus ihrer Sicht die rationalen Europäer bei aller Anstrengung nicht einmal annähernd verstehen, geschweige denn nachahmen können. Beides zusammen heißt: im Kampf um die Hegemonie den Westen überholen und zwar aufgrund der eigenen kulturellen Überlegenheit.

Und nur mit Hilfe dieser Strategie war die Selbsterhaltung der kleinen Schar, die die politische Elite bildete, möglich. Denn sie war bei der Meiji-Restauration nicht durch einen demokratischen Legitimationsprozeß an die Macht gekommen. Mit ihr hat sich auch die neue wirtschaftliche Elite schnell amalgamiert. Das Gefälle zwischen Armut und Reichtum war vor dem Krieg unvorstellbar groß.

Um dies alles zu rechtfertigen, braucht der weltoffene Ethnozentrismus der Eliteschicht mindestens zwei Bündel wirksamer Praktiken und Diskurse. Erstens eine Inszenierung des »public memory«, zweitens die Verschleierung des Entscheidungsprozesses.

Zur Steuerung bzw. Inszenierung von »public memory“gehörte vor dem Zweiten Weltkrieg z.B. der Mythos der Staatsgründung und der 2600-jährigen Kontinuität des Kaiserhauses; dazu gehörte die Heroisierung einer kleinen Gruppe wichtiger Akteure der Meiji-Restauration und großer Politiker und Generäle aus der Meiji-Zeit (neulich hat das Kultusministerium angeordnet, mehr Unterrichtszeit für die Behandlung von solchen »Männern« zu verwenden als bisher), dazu gehörte die para-religiöse Glorifizierung der gefallenen Soldaten in dem früher staatshintoistischen Yasukuni-Schrein (als »lieu de mémoire«); dazu gehörte auch der Diskurs über Kirschblüten als quasinationale Symbole, obwohl die Kirschbaumsorten, an deren Schönheit man sich heute erfreuen kann, erst im 18. Jahrhundert von einem Gärtner künstlich geschaffen worden sind. Die Liste könnte ich noch beliebig verlängern. Eines muß ich noch hinzufügen: Früher wurde sogar die Geschichte gefälscht. Nach der Version der altjapanischen Geschichte, die man vor dem Krieg in der Schule zu hören bekam, die ich auch in den fünfziger Jahren lernen mußte, war die japanische Armee schon im 6. und 7. Jahrhundert bis zum Festland vorgedrungen, bis zur heutigen koreanisch-chinesischen Grenze. Und damals habe Japan in Südkorea eine Kolonie unterhalten. Dieses »Wissen« legitimierte den japanischen Anspruch auf die koreanische Halbinsel. Die Wirklichkeit sah so aus: Die Inschrift auf einer aus dem 6. Jahrhundert stammenden großen Steinplatte an der Grenze von Korea zu China wurde in der ersten Meiji-Zeit von einem japanischen Stabsoffizier so gefälscht, als ob eine große Gruppe von japanischen Kriegern schon am Beginn unserer Geschichte dort gestanden hätte.

Die zugunsten des Ethnozentrismus veranstaltete Inszenierung von »public memory« geschah auch in bezug auf den Zweiten Weltkrieg. Das legendäre Schicksal der beiden damals weltgrößten Kriegsschiffe in der Seeschlacht wurde in verschiedenen Verpackungen x-mal weiter erzählt, verfilmt, für Comics verarbeitet, in Form einer Dokumentarliteratur fixiert; es wurden Hunderte von Legenden – der Richthofenlegende ähnlich – fabriziert, sogar so etwas wie die Kyffhäuserlegende, wonach eine verschwundene Staffel von japanischen Fliegern mit ihren »zero-fightern« in einer Höhle auf einer Südseeinsel auf den nächsten Befehl warten. Es wurden auch Legenden von großen Admiralen und Generälen erzählt, die, im vollen Bewußtsein der Aussichtslosigkeit ihrer Operationen, nur im Vertrauen auf die Regeneration des japanischen Volkes, gegen die an Kriegsmaterial überlegene amerikanische Flotte gekämpft hätten und schicksalsergeben in den Tod gegangen wären. Moralische Dignität strahlen in solchen Geschichten immer nur die japanischen Admirale und Generäle aus, nicht aber die Amerikaner, die, ihren Kaugummi im Mund, als bloße Kampfmaschinen dargestellt werden.

Zu einer solchen selektiven Inszenierung von »public memory« gehört auch der Diskurs über die Kriegsursachen. Man war sich nach 1945 schnell einig, wer die Schurken waren. Das sind chauvinistische Führer im Militär, die, losgelöst von der Kontrolle durch die Regierungszentrale, ihre expansiven Operationen durchgeführt haben. Das sind aber auch einige Bosse der Industrie, die sich durch Aufträge in der Rüstungsindustrie kurzfristige Profite erhofften. Merkwürdigerweise wurde die Beamtenschaft, abgesehen von einigen Kriegsverbrechern, als ganze nicht an den Pranger gestellt. Und für viele war der Zweite Weltkrieg eine bedauerliche, aber unvermeidliche Reaktion auf die weltweit vom heimtückischen Westen organisierte wirtschaftliche Repression. Für sie war der Krieg ein zwar mit falschen Mitteln geführter, aber in der Intention durchaus legitimierbarer Kampf gegen die westliche Hegemonie, ein Kampf, der bereits mit den sogenannten ungleichen Verträgen angefangen hätte. Die japanische Linke hat sich bis zu einem gewissen Grad an dieser selektiven Gestaltung von »public memory« auch beteiligt. Sie hob neben Militär und Industrie das Tenno-System als Ursache für jegliches Unheil hervor. Über die selbstdestruktiven Strukturen im Vorkriegsjapan, über die Mentalität, die die hegemoniale Politik unterstützte, wird – außer in Fachkreisen der Historiker – kaum analytisch diskutiert.

Dies ist der Nährboden für das Selbstverständnis des Volkes als Opfer des von Militär und Industrie eigenwillig angezettelten Krieges. In ihrem Verständnis haben die einfachen Japaner, die kleinen Leute auf der Straße, die größten Leiden erlitten; und zwar nicht nur als Opfer der Atombomben, sondern auch als Soldaten, die im Schlamm des Südseedschungels buchstäblich »krepierten« oder im brennenden Motorraum eines Kriegsschiffes auf den Meeresgrund gezogen wurden; als Frauen, die ihre Männer verloren und mit den niedrigsten Löhnen ihre Kinder allein erziehen mußten. Das sind Geschichten, die meine Generation immer wieder zu hören bekam. Die Opfer werden als unschuldig heroisiert. Der Abwurf der Atombomben auf die beiden Städte und die unzähligen Opfer, ihre unbeschreiblichen Leiden – dies alles bekam bald eine Alibifunktion. Das Selbstverständnis des Volkes als Opfer der Staatshandlung ermöglichte eine schnelle Identifikation mit den Atomopfern, erkauft durch Ignoranz gegenüber den Opfern der japanischen Invasion. Natürlich hat diese eigenartige Selbststilisierung in weiten Kreisen der Bevölkerung zur Herausbildung einer neuen Mentalität beigetragen, nämlich der des unnachgiebigen und totalen Pazifismus. Der Slogen „Nie wieder Krieg, nie wieder Waffengang“, der vielleicht nur egoistisch gedacht war, fand nach 1945 lange Zeit große Unterstützung.

Man sieht hier sofort: Der Selbsterhaltungsdiskurs der ethnozentrisch denkenden, sich weltoffen zeigenden Elite verseucht damit auf doppelte Weise die Masse. Diese betrachtet sich selbst als Opfer des japanischen Systems. Sie identifizieren sich aber auch nach bekannter Logik mit den Diskursen der politischen und kulturellen Elite. Den einen Satz, den der französische Präsident Mitterrand am 8. Mai dieses Jahres in Berlin gesagt hat, die deutschen Soldaten hätten „den Verlust ihres Lebens für eine schlechte Sache hingenommen“, würde, wenn ein japanischer Politiker ihn auf unsere Geschichte übertragen würde, die Volksseele zum Kochen bringen. Natürlich haben sich einzelne Diskurse und Praktiken verändert. Aber in allen diesen Prozessen hatte die nationale Elite, sowohl die wirtschaftliche als auch die politische, wozu sich immer auch ein Teil der kulturellen hinzugesellte, die Macht inne.

Der zweite Komplex von Diskursen und Praktiken ist ein verschleierter Entscheidungsprozeß. In den westlichen Ländern gilt die Transparenz im Entscheidungsprozeß als eine der unerläßlichen Bedingungen für Demokratie. Das heißt natürlich nicht, daß diese Bedingung immer erfüllt worden wäre. Zumindest dem Prinzip nach aber wird sie anerkannt. Dagegen hat sich in Japan im Laufe von Jahrzehnten nach der Meiji-Restauration der Praxis der ungleichmäßigen Partizipation am Entscheidungsprozeß und ein Versteckspiel der Entscheidungs- und Verantwortungsträger ergeben. Die Folgen sind bekannt: Paternalismus und autoritäre Expertokratie, aber auch Lethargie und Verantwortungslosigkeit gegenüber dem Geschehenen.

Was ich in Ermangelung eines besseren Ausdrucks »Versteckspiel der Entscheidungsträger« nannte, bedarf einer Erläuterung. Im Vordergrund steht eine Marionette und der eigentlich Mächtige steht unsichtbar im Hintergrund – so etwas gab und gibt es auch anderswo. Der Ausdruck »Graue Eminenz« in der deutschen Sprache kommt nicht von ungefähr. Die politische und militärische Entscheidungskette Japans seit spätestens 1931 läßt sich ohne diese Praktiken kaum erklären. In bezug auf den Führungsstil besteht ein großer Unterschied zum Nationalsozialismus. Das Militär gewann in den dreißiger Jahren im Namen des Kaisers immer mehr Einfluß und dehnte seinen Operationsradius im Alleingang aus. Und die Regierung, deren Ministerpräsident oft nach nur 3-5 Monaten »durchbrannte«, versuchte vergeblich, diesen Alleingang unter Kontrolle zu bringen. Der nächste Ministerpräsident gab dann der vollendeten Tatsache ihr Plazet. Kein Akteur wußte, wo, wie und was wirklich entschieden wurde.

Diese Doppelstruktur von Autorität und Macht gibt es überall. Aber im modernen Japan wurde sie sehr raffiniert eingesetzt. Denn hinter dieser Doppelstruktur wurde – Historiker wissen das schon längst – innerhalb der Elite eine relativ klare Expansionsstrategie unaufhaltsam in die Tat umgesetzt. Die beiden Pole können sich stets ändern. Für viele ist der Autoritätspol noch der Tenno, der Kaiser. Dazu äußerte sich später der Ministerpräsident Nakasone am 29.8.1987 in einer Klausurtagung der LDP (Liberal-Demokratische Partei Japans): „Der Tenno hat eine Stellung wie die Sonne, die an der höchsten Höhe des Himmels leuchtet. … Wir können deswegen ruhig unserem irdischen Geschäft nachgehen, manchmal auch unerfreuliche Dinge tun und miteinander streiten; über allem ruht die leuchtende Sonne. Die irdische Welt ist unsere Partei. Das irdische Geschäft übernimmt die LDP. Wir haben dieses Zwei-Welten-System.“ Kein Wunder, daß nach 1945 nicht nur die Alliierten, sondern auch die (wieder)hergestellte demokratische Öffentlichkeit sich schwer tat, die Träger individueller Schuld zu identifizieren. Vor allem die bis heute andauernde Diskussion über die Kriegsschuld des Kaisers zeigt diesen Sachverhalt.

Zwar wurde nach 1945 dank der amerikanischen Besatzungspolitik ein umfangreiches Reformprogramm in Angriff genommen. Teilweise wurde es konsequent durchgeführt, z.B. in Form von Agrarreform und Entflechtung der Holding-Gesellschaft. Beides erwies sich als geeignet für den zweiten wirtschaftlichen take-off. Der Rest blieb auf der Strecke, vor allem die Demokratisierung der Beamtenschaft und die Stellung des Tennos. In Deutschland dankte der Kaiser im November 1918 ab, es blieben aber die Generäle. Bei uns wurden nach 1945 die Militärs abgesetzt. Der alte Staatsapparat und dessen Selektionsmechanismus, vor allem der Tenno blieb aber unberührt. Unangetastet blieb damit auch die Möglichkeit einer Inszenierung von »public memory« und einer weiteren Verschleierung des Entscheidungsprozesses.

Ein Beispiel: Das ehemalige Sowjetrußland hatte in Japan ein ausgesprochen schlechtes Image. Oft wurde dafür die Erklärung angeführt, Stalin habe den Nichtangriffspakt gebrochen. Es folgten die üblichen Klagen über Vergewaltigung und Plünderung durch die Rote Armee. Es wurde dabei verschwiegen, daß das Gebiet, in das Sowjetrußland eindrang, keineswegs ein international anerkanntes japanisches Territorium war. Es war eine Art Schutzzone als Produkt des japanischen Imperialismus, erobert mit Hilfe der Verschleierungsmethoden.

Das zweite Beispiel: Die Dramatisierung des sogenannten nördlichen Territoriums. Über die Rechtslage kann man streiten. Aber politisch wird diese Frage immer wieder dramatisiert, und obwohl mit diesen vier Inseln überhaupt kein kulturelles Vermächtis, keine Erinnerung an irgendeine kulturelle Leistung der Japaner verbunden ist, sind sie inzwischen ein wichtiger Bestandteil von »public memory«.

Das dritte Beispiel: Die Gleichung Ausschwitz-Hiroshima. Daß es sich um eine nicht vertretbare Gleichung handelt, dazu brauche ich nicht viele Worte zu verlieren. Die Strukturen, aus denen die Opfermentalität entstanden ist, habe ich bereits erwähnt. Viele meiner Landsleute, vor allem die Intellektuellen, glauben, die Japaner seien besonders privilegiert, sich mit dem Appell für die Abschaffung von Atombomben an die Weltöffentlichkeit zu wenden.

Die imperialistischen Strukturen, die der Westen geschaffen hat, haben die Japaner eifrig imitiert. Peter Duus, Professor in Stanford, spricht davon, daß bei den Japanern die Verehrung des Westens die Form der Imitation angenommen hat. Vielleicht hat er recht. Aber es fand nicht nur eine Imitation statt, sondern auch die Absicherung der Eliteschicht durch eine Politik der Selbstbehauptung. Sie fand ab und zu unter dem Namen der Befreiung Asiens von den europäischen Mächten statt. In Wirklichkeit ging es aber um die Aufrechterhaltung ihrer Position innerhalb der Nation. Und diese Struktur ist heute noch präsent. Nur eine funktionierende demokratische Öffentlichkeit kann die »public memory« umstrukturieren, und zwar so, daß als erste an die asiatischen Opfer der japanischen Kriege erinnert wird. An die Opfer des europäischen Imperialismus zu erinnern, oder daran zu erinnern, daß auch Japan vielleicht durch einen »inoffiziellen Imperialismus« hätte beherrscht werden können, ist nicht die Aufgabe unserer demokratischen Öffentlichkeit. Die Rückkehr zur Normalität, die die nationale Elite jetzt mit allen Kräften vorantreibt, kann dieser demokratischen Öffentlichkeit nur im Wege stehen.

Dr. Kenichi Mishima ist Professor für Philosophie und arbeitet an der Fakultät der Humanwissenschaften der Universität Osaka. Er hat dort einen Lehrstuhl für Vergleichende Kulturwissenschaft und Sozialphilosophie inne.

Clara Immerwahr und Fritz Haber

Clara Immerwahr und Fritz Haber

Ein verdrängtes Kapitel männlicher Wissenschaftsgeschichte

von Jörn Heher

Der Name Clara Immerwahr führt an den Beginn der Geschichte von Massenvernichtungsmitteln und in eine damals neue Dimension der Frage nach Verantwortung von Wissenschaftlerlnnen und Technikern. Das Leben von Clara Immerwahr entzieht sich in besonderem Maße plakativer Darstellung.

Geboren am 21. Juni 1870, wird Clara Immerwahr eine begeisterte und talentierte Forscherin. Sie promoviert 1900 als erste Frau an der Universität Breslau; »magna cum laude« im Fach Physikalische Chemie. In dieser Zeit als Frau studiert zu haben, verrät Zivilcourage. Viele Professoren sind Gegner des Frauenstudiums, das Verbindungswesen bestimmt das Leben der Studenten. Bei ihrer Arbeit über elektrische Messungen an Schwermetallsalzen zeigt sich Claras hohe Begabung. Ihr Selbstbewußtsein als Naturwissenschaftlerin wächst. Fachliche Dispute mit höhergestellten Kollegen, die nicht selten autoritär statt wissenschaftlich argumentieren (und gleichwohl große Karrieren machen werden), bleiben nicht aus. Claras Umgang damit ist elegant und kollegial. Eine Reihe ihrer Arbeiten erscheint in Fachzeitschriften.

Als sie 1901 mit Fritz Haber die Ehe eingeht, trachtet sie, Ehe und Forschung miteinander zu vereinbaren. Ihre eigene wissenschaftliche Arbeit wird jedoch weitgehend verhindert.

Rückblickend (1909) schreibt sie: „Es war stets meine Auffassung vom Leben, daß es nur dann wert gewesen sei, gelebt worden zu sein, wenn man alle seine Fähigkeiten zur Höhe entwickelt und möglichst alles durchlebt habe, was ein Menschenleben an Erlebnissen bieten kann. Und so habe ich damals schließlich auch mit unter dem Impuls mich zur Ehe entschlossen, daß sonst eine entscheidende Seite im Buch meines Lebens und eine Seite meiner Seele brachliegenbleiben würde. Der Aufschwung, den ich davon gehabt, ist aber sehr kurz gewesen

Gegen Ende 1901: „Ich arbeite jetzt jeden Nachmittag im Institut und lese Manuskripte und mache Zeichnungen dazu. Jetzt geht es mir wieder viel besser“.

„Darin haben Herr Professor wohl recht, daß ich eine unglückselige Weichheit besitze, die mir alles schwerer macht als es anderen Leuten fällt. Mir scheint aber, daß ich das nicht ändern kann, und Sentimentalität ist es jedenfalls nicht, weil ich jederzeit innerlich noch tiefer fühle, als ich es öffentlich zu erkennen gebe“, schreibt Clara Immerwahr 1900 über sich. Ihre große Sensibilität wird ihr in den Auseinandersetzungen mit Fritz Haber jedoch zum Verhängnis und von der Nachwelt als Lebensuntüchtigkeit mißdeutet. Sie versucht, der Frauenrolle gerecht zu werden und ihrem Mann »den Weg zu ebnen«. Dazu gehört das Ausrichten der zahlreichen Tischgesellschaften ihres Mannes, die sein Ansehen und seine Kontakte fördern. Zu den wissenschaftlichen Arbeiten Habers trägt sie fachlich bei, ohne darin erwähnt zu werden. Am 1. Juni 1902 kommt nach schwerer Schwangerschaft Sohn Hermann zur Welt.

Fritz Haber, Hilfsassistent für Gasanalyse, steigt derweil langsam, dann immer steiler auf. Er wird zum »Vater des Gaskrieges«. Nach einem Jahr als ordentlicher Professor an der Technischen Hochschule in Karlsruhe macht er 1907 seine Entdeckung zum Ammoniakgleichgewicht (für die er 1918 den Nobelpreis erhält). Er festigt in der Folgezeit die gesuchte Nähe zur chemischen Industrie, welche schon damals beginnt, Forschung mehr und mehr zu ihrem Monopol zu machen.1911 wird er Direktor des Instituts für Physikalische Chemie und Elektrochemie der Kaiser Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaft (Vorläufer der heutigen Max Planck-Gesellschaft) in Berlin und erhält den Titel »Geheimrat«.

Zwischen 1909 und 1912 entwickelt Carl Bosch bei BASF die großtechnische Ammoniaksynthese aus der Luft (Haber-Bosch Verfahren), Grundlage der deutschen Produktion sowohl für Düngemittel als auch für Sprengstoff, die bis dahin von Salpeter aus Chile abhängig ist. Bereits 1913 läuft die erste Anlage in Oppau/Ludwigshafen an. Später folgen weitere bei Leuna, wo auch die Buna-Werke zur Herstellung synthetischen Kautschuks angesiedelt werden. Schon im Herbst 1914 hatte die deutsche Sprengstoffindustrie keinen Chile-Salpeter mehr und hätte vor der Kapitulation gestanden.

Clara versucht eigene Wege zu gehen: Sie benutzt abweichend von dem, was von einer Frau Geheimrat erwartet wird, eigenes Briefpapier und vernachlässigt hin und wieder die Tischgesellschaften ihres Mannes. Sie hält Vorträge über „Chemie und Physik im Haushalt“ vor Frauen in Arbeiterbildungsvereinen, Vorläufern der heutigen Volkshochschulen. In Briefen äußert sie sich deutlich antimilitaristisch.

„Die Wehrkraft und die Wissenschaft sind die beiden starken Pfeiler der Größe Deutschlands, mit diesen Worten in einer Denkschrift an den Kaiser hatte Adolf von Harnack, dann langjähriger Präsident der Kaiser Wilhelm-Gesellschaft, deren Gründung vorgeschlagen. Mit Beginn des Ersten Weltkriegs stellt sich das von Haber geleitete Institut mit überschwenglichem Patriotismus in den Dienst des Vaterlandes. Habers Sohn aus zweiter Ehe schreibt später:

„In Haber fand die Oberste Heeresleitung einen brillanten Geist und einen extrem energischen, entschlossenen und vielleicht auch skrupellosen Organisator… Er verkörperte den romantischen, quasi-heroischen Aspekt des deutschen Chemikers, wo Nationalstolz mit purem Wissenschaftsfortschritt und dem utilitaristischen Fortschritt der Technik vermischt wurden… Er war Preuße mit unkritischer Akzeptanz der Staatsweisheit…, ehrgeizig, erfolgssüchtig“.

Obwohl er Kriegsfreiwilliger war und bereits mit zwanzig gegen den Willen seines Vaters (die Mutter war bei der Geburt gestorben) zum Protestantismus konvertiert hatte, war Haber als Jude der Aufstieg zum Offizier verwehrt. Erst sein Einsatz für Chemie in der Kriegsführung bringt ihn schließlich in den Rang eines Hauptmanns. Er stellt seine Forschungen vollkommen auf die Suche nach neuen Kampfgasen um und übernimmt im Laufe des Krieges als Abteilungsleiter im Kriegsministerium die wissenschaftliche Verantwortung für das gesamte Gaskampfwesen. In endlosen Tierversuchen werden Giftgase wie Chlor, Phosgen, Gelbkreuz, Blaukreuz, Grünkreuz erprobt. Eine Explosion, die Habers Assistenten Prof. Sackur tötet, macht beinahe die strenge Geheimhaltung zunichte.

Clara nimmt sehr deutlich Stellung und bezeichnet das ganze Unternehmen als „eine Perversion der Wissenschaft“. Im Januar 1915 begleitet sie Haber nach Köln, wo – nahe der Westfront – freiwillige Soldaten (meist Abiturienten) für den Gaskrieg ausgebildet werden. In Anwesenheit der Vertreter von Wissenschaft, Industrie und Militär wendet sie sich scharf gegen die Absichten ihres Mannes.

Deutschland gehörte zwar zu den 24 Nationen, die mit Unterzeichnung der Haager Konvention auf chemische Kampfstoffe verzichtet hatten. Aber die Aussichten auf einen Erfolg waren wohl zu verlockend, als daß man sich von der Konvention hätte zurückhalten lassen. Haber: „Mit der völkerrechtlichen Zulassung von Gaswaffen bin ich niemals befaßt worden.“

Ende Januar 1915 sind die Laboruntersuchungen abgeschlossen; Haber treibt Anwendungstechnik und Logistik voran. Dazu wird die Zusammenarbeit verschiedener Werke organisiert. Chlorgas ist in der chemischen Industrie Ausgangsprodukt bei zahlreichen Produktionsprozessen. Es war vor dem Krieg in großen Mengen exportiert worden. Da diese Möglichkeit nun entfällt, ist der Industrie, deren Lage nach dem Exportausfall ohnehin durch Überkapazität gekennzeichnet ist, eine neue Verwendung in jedem Fall hochwillkommen. Das finanzielle Risiko läßt sie sich dennoch vom Staat mehrfach absichern. Im Frühling sind schließlich alle Voraussetzungen geschaffen, um eine Offensive zu wagen. Haber ist sicher, daß der Angriff vernichtende Folgen beim Feind haben werde, und drängt die Oberste Heeresleitung, die Gelegenheit für einen Frontdurchbruch zu nutzen. Diese weigert sich jedoch, in dem Vorhaben mehr als ein Experiment zu sehen, und beordert nur eine Kompanie zur Unterstützung des Unternehmens.

Ein Offizier über Haber: „In glühendem Patriotismus bewies er bei der Erprobung der chemischen Massenvernichtungsmittel Kaltblütigkeit, Unerschrockenheit und Todesverachtung. Die organisatorische Tätigkeit des Hauptmanns Haber umfaßte die Prüfung und Auswahl der für den chemischen Krieg in Betracht gezogenen Gase, Gifte und Reizstoffe, die Bestellung und namentlich die Ermöglichung der Fabrikationen durch die Firmen der chemischen Großindustrie, die Verteilung und Transporte, die Anpassung und Entwicklung der Kampftechnik. Er vermochte sich persönlich den Traditionen des Offizierskorps und des Heeres so einzufügen, daß die Anwendung neuer und traditionswidriger Kampfmethoden sich in größerem Maßstab durchzusetzen vermochte. Die Gaskampfstoffüllung der Artilleriegeschosse entwickelte sich zu solcher Bedeutung, daß sie auf deutscher Seite am Kriegsende mehr als ein Viertel der Artilleriemunition ausmachte.“

An einem Abschnitt der Westfront bei Ypres in Belgien befehligt Fritz Haber persönlich am Nachmittag des 22. April 1915 den Einsatz des Chlorgases. Es wird aus 5000 Stahlzylindern in die Luft geblasen, flankiert von 15-Zentimeter-Gasgranaten. Die Wirkung ist verheerend. 15000 Engländer und Franzosen bei Langemarck werden fast schutzlos überrascht, 5000 sterben. Haber ist verbittert, daß die Heeresleitung den Erfolg nicht nutzt: Auf sechs Kilometern steht nichts mehr zwischen den deutschen Truppen und den ungeschützen französischen Kanalhäfen direkt gegenüber von England.

Die deutsche Presse ist begeistert. So berichtet die Zeitschrift Die Hilfe in ihrer »Kriegschronik« unter Freitag, 23. April: „Großer Sturm in der Nähe von Ypern… Mindestens 1600 Franzosen und Engländer gefangen. 30 Geschütze, darunter vier schwere englische, fielen in deutsche Hände. Das ist doch einmal ein richtiger Bissen!“ Unter Sonnabend, 24. April: „Der Erfolg des Sturmes bei Ypern ist noch etwas größer geworden: 2470 Gefangene und 35 Geschütze. Die Gegner beschweren sich sehr über deutsche Rauchgeschosse, als ob sie nicht selbst jedes Mittel benutzten, das sie erlangen können. Chemisch freilich werden wir ihnen wohl über sein.“ Und unter Montag, 26. April: „Das Tagesgespräch sind die »deutschen Dämpfe« bei Ypern. Es soll sich also um Chlordampf handeln; genauere Analyse fehlt, bis sie von den armen Opfern des Schnupfenqualms selber gemacht wird. Soviel wir hören, geschieht gar nichts Lebensgefährliches, sondern nur ein häßlicher Zustand von etwa 4 Stunden… Die Engländer sind rührende Gesellen: setzen alles daran, uns in den scheußlichsten Tod der Heimatbevölkerung hineinzutreiben, und lamentieren nun über etwas geschwollene Schleimhäute. Und nachdem sie die Völkerrechtsbeschlüsse nicht unterschrieben haben, verlangen sie, daß wir sie halten sollen. Gut Dampf!“

Haber eilt jedoch zu neuen Taten an die Ostfront, um einen noch größeren Giftgaseinsatz vorzubereiten.

Clara möchte ihn davon abhalten. Am 2. Mai 1915, dem Morgen des Tages seiner Abreise dorthin, nimmt sich Clara mit der Dienstwaffe ihres Mannes das Leben. Sie setzt damit ein Fanal; ihr Tod ist Gipfelpunkt einer langjährigen Auseinandersetzung und eines Streits, in dem Fritz Haber seiner Frau Landesverrat und ihre antimilitaristische Einstellung vorwarf. Haber läßt sich dennoch nicht von seinem Vorhaben an der Front abhalten, obwohl ihm durchaus Fronturlaub zugestanden hätte. Er läßt den zwölfährigen Sohn in der Situation zurück.

Der damals in der Schweiz lebende Chemiker Prof. Hermann Staudinger (Nobelpreisträger 1953) äußert sich zur gesellschaftlichen Verantwortung der Naturwissenschaftler. Er wirft Haber moralische Verantwortungslosigkeit vor. Haber entgegnet mit dem Vorwurf schweren Vaterlandsverrats.

Clara Immerwahrs Selbstmord wird in der Folgezeit als depressive Verzweiflungstat einer erblich vorbelasteten Frau hingestellt. Eine Reihe von Informationen werden offenbar von langem Arm zurückgehalten oder vernichtet: Es gibt keine Meldung in den Tageszeitungen, es findet sich kein Sektionsprotokoll. Ihr Leben und ihr Tod werden der Verdrängung unterworfen.

Der zweite Gasangriff in Galizien bei Kowno fordert 6000 Tote. Haber treibt die Gaseinsätze voran und fordert in geheimen Besprechungen vermehrte Anstrengungen von den Industrieunternehmen wie BASF und Bayer. 1917 heiratet er seine zweite Frau Charlotte. Die medizinische Fakultät der Universität Halle-Wittenberg verleiht Fritz Haber die Ehrendoktorwürde „wegen der hohen Wertschätzung seiner Leistungen“. 1918 flüchtet er aus begründeter Furcht, als Kriegsverbrecher verurteilt zu werden, für einige Zeit in die Schweiz und erhält im selben Jahr den Nobelpreis zugesprochen, den er 1919 entgegennimmt. Es folgen u.a. Versuche, die im Meerwasser gelösten Spuren von Gold großtechnisch zu gewinnen, um Deutschland in den Stand zu versetzen, seine Reparationszahlungen zu leisten. Das Kaiser Wilhelm-Institut in Berlin leitet er bis 1933, ein Jahr vor seinem Tode. In seinem Abschiedsbrief an die Mitarbeiter schreibt er:

„Das Institut ist unter meiner Leitung 22 Jahre bemüht gewesen, im Frieden der Menschheit und im Kriege dem Vaterland zu dienen. Soweit ich das Ergebnis beurteilen kann, ist es günstig gewesen und hat dem Vaterland wie der Landesverteidigung Nutzen gebracht.“

Clara Immerwahr ist weder eine Heldin noch Friedenskämpferin im heutigen Sinn. Mit der ihr eigenen Sanftmut stand sie dem erdrückend nationalen Zeitgeist und dem militärisch-patriarchalen Selbstverständnis im wilhelminischen Kaiserreich fast wehrlos gegenüber. Als die zerstörerischen und menschenverachtenden Konsequenzen unter Kriegsbedingungen immer offenbarer wurden, blieb ihr nur der eigene Tod als persönliche Verweigerung und als verzweifelter Versuch, einzugreifen. Die extreme Isolation, in der sie sich befand, die Unmöglichkeit, über die Probleme ihrer Situation zu sprechen, lassen sich aus den vertrauensvollen brieflichen Mitteilungen an ihren Doktorvater Prof. Richard Abegg erschließen, der sich freilich häufiger zur Teilnahme an Militärübungen begibt und 1910 mit einem Gasballon aus großer Höhe abstürzt.

Passagen von 1909 mit einer Kritik am Wissenschaftlertum, die allzu aktuell geblieben ist, beschreiben ihr eigenes Verständnis davon: „Was Fritz in diesen 8 Jahren gewonnen hat, das – und mehr – habe ich verloren, und was von mir übriggeblieben ist, erfüllt mich selbst mit der tiefsten Unzufriedenheit… Und ich frage mich, ob denn die überlegene Intelligenz genügt, den einen Menschen wertvoller als den anderen zu machen… Mein Verhältnis zu dem Kinde steht auf einem andren Blatt, und wenn es auch durch die Quälerei mit der anstrengenden Pflege immerfort beschattet wird, so ist das wesentliche daran doch sehr in Ordnung… Wollte ich selbst noch mehr von dem bißchen Lebensrecht opfern, das mir hier in Karlsruhe geblieben ist, so würde ich Fritz zum einseitigsten, wenn auch bedeutendsten Forscher eintrocknen lassen, den man sich denken kann. Fritzens sämtliche menschliche Qualitäten außer dieser einen sind nahe am Einschrumpfen und er ist sozusagen vor der Zeit alt …“

Daß Clara Immerwahr selbst unter Frauen isoliert war, wird aus folgendem verständlich: Ein internationaler Frauenkongreß in Den Haag mit 2000 Teilnehmerinnen, darunter u.a. bekannte Namen aus Deutschland (Anita Augspurg, Gustava Heymann, Ida Jans, Helene Stöcker), beschließt am 28. April 1915 Resolutionen gegen den Krieg und gegen Waffenlieferungen, für Völkerversöhnung und Kindererziehung im pazifistischen Sinn. Eine Stellungnahme, daß in Zukunft alle Völkerstreitigkeiten „schiedlich-friedlich geschlichtet“ werden müßten (Frau Schwimmer aus Ungarn: „Fort mit den Armeen und der Marine!“) scheitert am Protest der deutschen Delegation: Sie hätten „nichts gegen Heer und Flotte sagen“ wollen.

Schon im Vorfeld des Kongresses hatte freilich der »Bund deutscher Frauenvereine« seine Teilnahme „selbstverständlich in entschiedener Form“ abgelehnt: „Sollen die Frauen den Männern, die ihre nationale Pflicht tun, in den Rücken fallen mit pathetischen Erklärungen über den »Wahnsinn«, in dem sie befangen sind? Nur eine unbegreifliche Gefühlsverwirrung kann eine solche innere Loslösung der Frauen von der Aufgabe ihres Vaterlandes vollziehen.“

»Fritz-Haber-Institut«, diesen Titel trägt u.a. eine Forschungsstelle der Max-Planck-Gesellschaft in Berlin. Nach Clara Immerwahr war bisher nichts benannt.

Anmerkungen

  1. Gewissenhafte Arbeit des Archiv zur Geschichte der Max-Planck-Gesellschaft, Berlin, hat ermöglicht, daß dieses Kapitel der Vergangenheit nicht für alle Zeit verdrängt bleibt.
    Dem Physiologen Prof. Dr. Adolf Henning Frucht und dem Historiker und Journalisten Joachim Zepelin möchte ich für ihre Arbeit zum Thema sehr danken, besonders aber der Historikerin Dr. Gerit Kokula, Berlin. Ohne ihre intensive Beratung hätte ich von Vorstehendem wenig und recht fern von Wahrheit berichten können. Sie schreibt eine Biografie über Clara Immerwahr.
    Mit Verstand und wachem Blick redigiert hat Ulrike Pfeil.
  2. Die deutsche Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges hat 1991 erstmalig die Clara-Immerwahr-Auszeichnung verliehen. Ausgezeichnet wurde Dipl.-Ing. Heinz Friedrich, der bei der Firma Dornier in Friedrichshafen arbeitet. Friedrich ist lange Zeit auch mit Rüstungsprojekten befasst gewesen, hält aber seit mehr als einem Jahrzehnt Vorträge über Aufrüstung, über die weltweite Militarisierung und über Rüstungskonversion.

* Anläßlich der Preisverleihung veröffentlichte die IPPNW eine Broschüre der dieser Text entnommen ist.

Jörn Heher ist Arzt in Tübingen und Mitglied der IPPNW.

Vor den Karren der Kriegsforschung gespannt

Vor den Karren der Kriegsforschung gespannt

Naturwissenschaftlich-technische Wehr- und Kriegsforschung und -entwicklung an der Technischen Hochschule Braunschweig in der NS-Zeit

von Helmut Maier

In der Wissenschafts- und Hochschulgeschichtsschreibung ist die Einbindung von Natur- und Ingenieurwissenschaftlern an Universitäten und Technischen Hochschulen (TH) in die Wehr- und Kriegsforschung1 zwischen 1933 und 1945 bislang allenfalls an besonders bedeutenden Beispielen dokumentiert worden. Dies gilt gleichermaßen für die Carolo-Wilhelmina zu Braunschweig2 . Was aber »Professor Normalverbraucher« auf seinem Gebiet leistete und welche Bedeutung sein Engagement innerhalb der ganz speziellen Wissenschaftswelt im Nationalsozialismus erlangte, ist nach wie vor offen. Dies hat sicher auch mit der personellen Situation der deutschen Wissenschaftsgeschichte zu tun.

Eine ganz durchschnittliche TH auf dem flachen Lande wie die Carolo-Wilhelmina kann, wie im folgenden gezeigt, exemplarisch einen Umriß der Wehr- und Kriegsforschung an Technischen Hochschulen des Deutschen Reiches liefern, wobei es sich sicher um ein vorläufiges Ergebnis handelt. In Diskussionen über die Beteiligung von Naturwissenschaftlern und Ingenieuren an kriegswichtigen Projekten stößt man häufig auf die Ansicht, die Naturwissenschaftler seien ja für die reine Grundlagenforschung zuständig gewesen, während die Ingenieure die kriegswichtigen Entwicklungen in Hochschulen, staatlichen Forschungseinrichtungen und Rüstungsindustrie durchgeführt hätten. Meine These für die ns-Zeit – und dies verstärkt für die Kriegszeit – ist, daß Natur- und Technikwissenschaften von den Nationalsozialisten gleichermaßen vor den Karren der Wehr- und Kriegsforschung gespannt wurden.

Die Frage, inwieweit an einer Hochschule Wehr- und Kriegsforschung betrieben wurde und welche Bedeutung sie erlangte, läßt sich natürlich nur beantworten und das ist banal, wenn man weiß, wer eigentlich was und in wessen Auftrag forschte und entwickelte. Erst dann wird erkennbar, ob Kriegsforschung als Überlebensstrategie im totalen Krieg verstanden wurde. D.h., ob ein Institut durch Übernahme angeblich kriegswichtiger Projekte zum Schein seine Gefolgschaft vor dem Fronterlebnis bewahren konnte. Oder ob andererseits die Kriegsfähigkeit des Deutschen Reiches durch Forschung und Entwicklung nicht gesteigert worden ist. Der Blick auf die Auftraggeber läßt außerdem erkennen, wie das einzelne Hochschulinstitut in ein ganz bestimmtes Forschungs- und Entwicklungskonzept eingebunden war. Dessen Zielrichtung wiederum dokumentiert, daß hier an den entscheidenden Problempunkten der deutschen Rüstungs- und Waffentechnik gearbeitet wurde, wie später deutlich werden wird.

Kooperation zwischen Hochschule und Wehrmacht

In der Festschrift der TH Berlin von 19793 wurde das Thema der Wehr- und Kriegsforschung in den Kapiteln Naturwissenschaften und Nationalsozialismus 4 sowie Technische Wissenschaft und Rüstungspolitik 5 aufgegriffen. Mehrtens sowie Ebert und Rupieper mußten sich jedoch auf die Betrachtung forschungspolitischer Strukturen und Maßnahmen jener Zeit beschränken. Mehrtens wünschte sich zwar in seinem Beitrag über die Naturwissenschaften einen Überblick über die Forschungsaktivitäten der verschiedenen Institutionen. Aber, wie er formulierte, sei die Literatur so spärlich, daß dieser Überblick nicht zu liefern gewesen sei.6 Ebert und Rupieper beschränkten sich bei ihrem Beitrag über die Wehrtechnische Fakultät der TH Charlottenburg auf den Hinweis:

„Die militärische Bedeutung dieser Forschungsergebnisse für Wehrmacht und Rüstungswirtschaft ist nur schwer einzuschätzen, da jegliche Unterlagen über die Verwendung … in der Praxis fehlen. Andererseits ist davon auszugehen, daß … nur Dissertationsprojekte gefördert wurden, die entweder zur Grundlagenforschung beitrugen, … , oder konkrete Auftragsforschung für das Heereswaffenamt sowie anderer Wehrmachtsteile beinhalteten.“ 7

Trotz der fehlenden Übersicht, was an naturwissenschaftlichen Instituten geforscht wurde, und der Unmöglichkeit, die praktische Relevanz von Forschungen und Entwicklungen abzuschätzen, kamen Ebert und Rupieper zu der klaren Aussage:

„Die Entwicklung der Wehrtechnischen Fakultät der TH als Forschungsanstalt des Heereswaffenamtes verdeutlicht nicht nur das Eindringen militärisch-technischer Rüstungsforschung in die Hochschulen …, sondern sie zeigt auch die Kooperation zwischen Hochschule, Ministerialbürokratie und Wehrmacht zur militärischen Vorbereitung und Durchsetzung nationalsozialistischer Weltmachtpläne und die kritiklose Unterordnung der Forschung unter die Anforderungen nationalsozialistischer Herrschaft.“ 8

Dieses Ergebnis deutet sich auch für die Geschichte der Carolo-Wilhelmina in der ns-Zeit an, wobei speziell zur Braunschweiger Hochschulgeschichte umfangreiches Aktenmaterial vorhanden ist. Offensichtlich konnte man 1979 in Berlin noch nicht auf Akten des Reichsforschungsrates (RFR) zurückgreifen, die bis 1985 aus den USA nach Koblenz gekommen sind. Diese Akten geben zumindest bruchstückhaft einen Überblick über die Kriegsforschung im Deutschen Reich von Mitte 1943 bis Anfang 1945.9

Die folgenden Bemerkungen zu Gleichschaltung und Berufungspraxis seit 1933, die für das Verständnis der Situation der Carolo-Wilhelmina im Nationalsozialismus wichtig sind, beruhen im wesentlichen auf einem Vortrag von Thomas Stolle, Braunschweig.10

Die Gleichschaltung der TU Braunschweig

Die Machtergreifung erfolgte an der Carolo-Wilhelmina durch die Ernennung eines ns-Rektors durch das Volksbildungsministerium und die Einführung des Führerprinzips. Der Rektor ernannte die Dekane, die bis dahin gewählt worden waren. In Senat und Konzil fanden keine Abstimmungen mehr statt. Bis spätestens 1935 war die Länderhoheit in der Hochschulpolitik beseitigt, alle Hochschulen unterstanden direkt dem Reichsministerium für Wissenschaft, Volksbildung und Erziehung in Berlin, dem sog. »Ministerium Rust«. Die personelle Gleichschaltung sollte durch das »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« erreicht werden, das nichts weiter als die Handhabe gegen politisch mißliebige und jüdische Hochschulangehörige darstellte. Auf Grund dieses Gesetzes wurden von der TH Braunschweig insgesamt 22 Hochschullehrer entlassen. Dies entsprach etwa 20% des Lehrkörpers.11 An der TH Charlottenburg waren es knapp 25%.12

Wie veränderte sich die Berufungspraxis? Das Beispiel der TH Braunschweig zeigt, daß das Kriterium der geeigneten Gesinnung der Bewerber am stärksten in den Geistes- und Sozialwissenschaften, dann in den Naturwissenschaften war. Am geringsten scheint die politische Anforderung bei den Ingenieurwissenschaften gewesen zu sein. Gerade aber die Ingenieure waren eine Berufsgruppe, die sich selbst ganz unpolitisch verstand und sich eher dem Prinzip des Gemeinwohls verpflichtet sah. Insofern hatten sie eben doch ein politisches Selbstverständnis, was, wie Karl-Heinz Ludwig gezeigt hat13, von den Nationalsozialisten geschickt genutzt wurde. Auf jeden Fall hatten bei Berufungen neben dem Volksbildungsministerium und dem Reichsminister zahlreiche Stellen ein Mitspracherecht wie:

  • der lokale Dozentenbundsführer,
  • die Reichsleitung des NS-Dozentenbundes,
  • der Gauleiter,
  • diverse Führer von Parteigliederungen
  • bis zum Stellvertreter des Führers.

Ein wesentlicher Einschnitt für Forschung und Entwicklung für alle deutschen Hochschulen war die Gleichschaltung der Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft, der zunächst noch wichtigsten Institution zur Förderung der deutschen Hochschulforschung. Neuer Präsident wurde 1934 der Nationalsozialist Johannes Stark. Stark war als ausgewiesener Gegner der theoretischen Physik bekannt und verfolgte diese Gegnerschaft in seiner Förderungspraxis.14 Die Notgemeinschaft bezeichnete sich seit Mitte der 30er Jahre wieder als Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG). Spätestens 1937 schlugen die ns-Interessen voll auf die DFG durch. Sie wurde zum Instrument der Autarkie- und Rüstungspolitik degradiert. Der gesamte Bereich der naturwissenschaftlich-technischen Forschung und Entwicklung wurde aus der DFG herausgenommen und dem neu gebildeten RFR unterstellt. Die Einsetzung des RFR durch das Ministerium Rust15 stand in Zusammenhang mit dem Vierjahresplan von 1936, mit dem Hitler Wehrmacht und Wirtschaft kriegsfähig machen wollte. Naturwissenschaft und Technik waren dabei für die Wehrmachtrüstung und in besonderem Maße für die Autarkiesierungspläne von Bedeutung, weil riesige Industrien geplant waren, die mit naturwissenschaftlich-technischen Methoden die Abhängigkeit Deutschlands bei bestimmten Rohstoffen beseitigen sollten. Die deutsche Wissenschaft sollte für Autarkisierung und Aufrüstung, so der Erlaß des Wissenschaftsministers, „einheitlich zusammengefaßt und planmäßig eingesetzt werden.“ 16 Der RFR war in sog. »Fachgliederungen« – später »Fachsparten« – gegliedert und nach dem Führerprinzip organisiert. D.h., „die Leiter der Fachgliederungen entschieden über alle Anträge souverän.“ 17

Die Bedeutung der NS-Mitgliedschaft

An dieser Stelle ist eine Aussage von Kurt Zierold zumindest in Frage zu stellen, die in der Hochschulgeschichtsschreibung immer wieder übernommen wurde18: Die Leiter der Fachgliederungen seien, so Zierold sinngemäß, ohne Bekenntnis zum Nationalsozialismus berufen worden. Insofern stimmen auch Stolle und Zierold überein. Betrachtet man dagegen die Liste der Fachspartenleiter, kann man schon allein ohne größere Recherchen feststellen, daß zum Zeitpunkt der Berufung mindestens vier von 13 (Thiessen, Chemie und organische Werkstoffe; Marx, Elektrotechnik; Meyer, Landbauwissenschaft und allg. Biologie; Sauerbruch, Medizin;) ns-Organisationen angehörten oder bekanntermaßen nahestanden. Führt man sich weiterhin vor Augen, daß schon auf Hochschulebene bei Berufungen Zugehörigkeit und Engagement in Organisationen der NSDAP in vielen Fällen entscheidend waren, ist nicht einsichtig, daß ausgerechnet das Instrument der Forschungslenkung des ns-Wissenschaftsministers ohne Blick auf die Parteizugehörigkeit berufen wurde. Ich möchte folgende These formulieren: Auf jeden Fall war die Parteinähe ein Auswahlkriterium, nur ging man bei diesem wichtigen Lenkungsinstrument nicht die Gefahr ein, einen in seiner Disziplin zweitklassigen Wissenschaftler zu berufen. Diese Frage ließe sich möglicherweise mit Hilfe der RFR-Akten klären, die bis Mitte der 80er Jahre nach Koblenz gekommen sind.

Der erste Präsident des RFR war der Dekan der »Wehrtechnischen Fakultät« der TH Charlottenburg, General Karl Becker19, der kurze Zeit später auch Chef des Heereswaffenamtes wurde. Damit war die Verbindung zwischen Wehrmacht und RFR eindeutig hergestellt und seine Intention offensichtlich. Bei einer Befragung während der Nürnberger Prozesse charakterisierte Hermann Göring dementsprechend die Aufgabe des 1942 neu organisierten RFR mit den Worten: „Im Vordergrund stand selbstverständlich bei sämtlichen Forschungen die Anwendung für die Kriegsnotwendigkeiten. … hierfür waren besondere Männer berufen.“ 20

Die TH Braunschweig war im RFR durch den Fachspartenleiter für Elektrotechnik Prof. Erwin Marx vertreten. In einem programmatischen Vortrag von 1938 mit dem Titel „Die Hochschule im Dienste der Forschung“ stellte auch Marx den Zusammenhang der Aufgaben des RFR mit der Wehrmacht her. Die Forschungen im Rahmen des Vierjahresplans dienten, so Marx,

  • der Erzeugung deutscher Roh- und Werkstoffe,
  • Ersparnis oder Ersatz fremder Rohstoffe durch deutsche
  • und der landwirtschaftlichen Erzeugung. Schließlich gebe es „sehr umfangreiche und vielfältige Forschungen im Zusammenhange mit den Bedürfnissen der Wehrmacht.“ 21 Der RFR erreichte jedoch aus verschiedenen Gründen, die der einschlägigen Literatur zu entnehmen sind, das Ziel der Erfassung und Koordination der naturwissenschaftlich-technischen Forschung und Entwicklung nicht22. Vielmehr existierten etliche Institutionen nebeneinander, die ihre eigene Forschungspolitik verfolgten und dabei u.a. auch Hochschulinstitute für ihre Zwecke beauftragten.

Die Ausrichtung auf die Kriegsbedürfnisse

Forschung und Entwicklung wurden nun in immer stärkerem Maße auf Vierjahresplan und Wehrmachtbedürfnisse ausgerichtet. Beispiele aus Braunschweig zeigen, wie die neue Maxime der Forschungsförderung bereits vor Kriegsbeginn auf die Praxis der naturwissenschaftlich-technischen Forschung und Entwicklung durchschlug: 1. der Aufbau des „ersten und einzigen Luftfahrt-Lehrzentrums“ 23 Deutschlands seit Mitte der 30er Jahre. Es wurden vier Lehrstühle errichtet, die nicht nur den Ingenieur-Nachwuchs für die vehement expandierende Flugzeugindustrie auszubilden hatten. Vielmehr sollte auch zusammen mit der Braunschweiger Luftfahrtforschungsanstalt »Hermann Göring« der deutsche Rückstand auf dem Gebiet der Luftfahrttechnik aufgeholt werden. Wichtigste Auftraggeber waren hier das Reichsluftfahrtministerium (RLM) und die Luftfahrtindustrie, die wiederum weitgehend vom RLM abhängig war;

2. die Forschungen und Entwicklungen von Prof. Marx am Hochspannungsinstitut über die Gleichstromübertragung, die aus »wehrtechnischen« Gründen mit umfangreichen Reichsmitteln vom RFR und mit Rückendeckung des RLM gefördert wurden. Diese Arbeiten, die »Wehrhaftmachung« der Elektrizitätsversorgung zum Ziel hatten, standen bereits seit 1935 unter Geheimhaltung24;

3. das Physikalische Institut unter Prof. Cario war vor Kriegsbeginn für die Braunschweiger Luftfahrtforschungsanstalt »Hermann Göring« tätig25, die wiederum eine Forschungs- und Entwicklungsstätte des RLM war;

4. die Arbeiten im Institut für Chemische Technologie von Prof. Schultze waren im Oktober 1939 durch General Becker für „kriegs- und staatswichtig“ erklärt worden26, ebenso wie die Arbeiten von Prof. Marx27. Inwieweit andere Braunschweiger Institute bis Kriegsbeginn bereits mit Waffen- bzw. Rüstungsforschung beschäftigt waren, muß noch untersucht werden.

Auch mit Kriegsbeginn kam keine einheitliche Forschungsführung für die Natur- und Ingenieurwissenschaften zustande. Der RFR selbst verfügte über verhältnismäßig bescheidene Mittel, mit der eine Großforschung gar nicht zu unterhalten war. Der Wissenschaftsminister galt als der schwächste Minister in Hitlers Kabinett. Die Luftfahrtforschung dagegen war in drei bedeutenden Institutionen organisiert, der Lilienthal-Gesellschaft, der Deutschen Akademie für Luftfahrt-Forschung und der Deutschen Versuchsanstalt für Luftfahrt.

Eine andere große Reichsinstitution förderte besonders Forschung und Entwicklung in der Chemie und chemischen Technologie. Es war das Reichsamt für Wirtschaftsausbau (RWA) unter dem Beauftragten für den Vierjahresplan Hermann Göring. Göring wiederum berief einen ganz erfahrenen Industrie-Manager zum Generalbevollmächtigten für die chemische Erzeugung, den IG-Farben-Vorstandsvorsitzenden und Chemiker Prof. Krauch. Planung, Aufbau und Produktion der deutschen Rohstoffindustrie wurden eben durch das RWA sehr erfolgreich organisiert. Das RWA errichtete u.a. die umfangreichen Industrien zur Produktion von synthetischem Benzin und Gummi, Leichtmetallen und Sprengstoffen. In erheblichem Maße wurden darüberhinaus die naturwissenschaftlich-technische Forschung und Entwicklung gefördert, die der Sicherstellung der deutschen Chemieproduktion diente. Hierfür wurden eigene Institute aufgebaut, außerdem zahlreiche Hochschulinstitute mit Forschungsarbeiten auch außerhalb der Chemie beauftragt. 1938 arbeiteten rund 150 Hochschulprofessoren in Deutschland für das RWA.28 Das RWA konkurrierte damit bei der Forschungsförderung mit dem RLM und den Oberkommandos von Marine und Heer. Während die Wehrmachtsteile direkt Waffen- oder Rüstungsforschung betreiben ließen, sorgte das RWA für die Weiterentwicklung der ebenso kriegswichtigen materiellen Basis der Kriegsführung. Die Institute, die für das RWA arbeiteten, betrieben also ebenso Wehr- und Kriegsforschung, wie Institute mit direkten Wehrmachtsaufträgen.

Im Laufe des Krieges wurden die Hochschulinstitute, wenn sie nicht überhaupt schon für Wehrmacht, RFR und RWA arbeiteten, immer mehr für die Kriegsforschung eingespannt. Mit dem Ende der Blitzkriege zur Jahreswende 1941/42 wurde deutlich, daß man sich auf einen längeren Krieg einzustellen hatte. Hier stellte sich auch die Frage, ob man mit den vorhandenen Waffensystemen und Produktionsverfahren in der Rüstungswirtschaft den Krieg weiter durchstehen könnte. Zwar war die Wehrmacht Auftraggeber in der Hochschulforschung, zog indes aber zahlreiche Naturwissenschaftler und Ingenieure zum Kriegsdienst ein. Erst im Dezember 1943 gestattete das Oberkommando der Wehrmacht die Rückbeorderung von rund 5000 Wissenschaftlern aus der Wehrmacht29, was das ambivalente Verhältnis von Wehrmacht und Staat zu Wissenschaft und Forschung verdeutlicht. Indes erreichte im Januar 1943 ein Schnellbrief des Wissenschaftsministers die TH Braunschweig, in dem die Hochschule zum Nachweis der Kriegswichtigkeit der Lehre, aber auch ihrer Forschung und Entwicklung aufgerufen wurden. Hochschulen, die nicht kriegswichtig arbeiteten, seien sogar von der Schließung bedroht:

„Auch im Bereich der wissenschaftlichen Forschung sollen weitere Einschränkungen erfolgen, soweit es sich nicht um unbedingt kriegswichtige Aufgaben handelt. Andererseits muß die kriegswichtige Forschung unter allen Umständen aufrecht erhalten werden und – wo nötig – noch verstärkt werden.“ 30

Der Vorgang hatte zur Folge, daß alle Braunschweiger Hochschulinstitute im Januar und Februar 1943 über ihre Tätigkeiten einen Bericht abzuliefern hatten. Diese Berichte, die im Archiv der TU Braunschweig vorhanden sind, stellen für die Geschichtsschreibung der Carolo-Wilhelmina eine einmalige Quelle dar. Die einzelnen Institute waren nämlich aufgefordert, ganz schematisch u.a. Auftraggeber und Forschungsgegenstand anzugeben. Damit bietet diese Akte einen Querschnitt durch die naturwissenschaftlich-technische Forschung und Entwicklung an der Hochschule, die auf andere Weise nur sehr mühsam zu erforschen wäre, wie ja am Beispiel der TH Charlottenburg deutlich wurde.

Das Ergebnis der Befragung ist im Anhang wiedergegeben. Betrachtet man die Aufgabenstellungen, erkennt man verschiedene Schwerpunkte in den einzelnen Abteilungen, die natürlich disziplinenspezifisch sind. Die Aufgabenstellungen zeigen aber eindeutig, daß die Institute von ihren Auftraggebern genau dort angesetzt waren, wo Vierjahresplandurchführung, Rüstungstechnik und -produktion ihre Probleme hatten, z.B.:

  • Cordes, Physikalische Chemie, in der Fett- und Seifenversorgung;
  • Hartmann, Anorganische Chemie, für die Kautschukindustrie;
  • Kritzler, Metallographisches Versuchsfeld, bei der Kupfereinsparung;
  • Pahlitzsch, Werkzeugmaschinen, für die Standzeiterhöhung von Schneidwerkzeugen;
  • Schultze, Chemische Technologie, in der Mineralölchemie;
  • Unger, elektrische Maschinen, bei der Einführung von Aluminium in der Elektrotechnik;

usw.

Ein Beispiel für den Einsatz eines Hochschulinstituts auf einem Problemfeld der deutschen Rüstungsindustrie aus den Aufträgen der Luftwaffe sei hier näher betrachtet. Schon seit etwa 1940, als gigantische Luftrüstungsprogramme geplant wurden, war Aluminium knapp gewesen. Um dieser Situation zu begegnen, beschloß das RLM im Flugzeugbau wo möglich auf Stahl und Holz auszuweichen. Zu diesem Zweck war eigens ein besonderer Umstellausschuß gegründet worden.31 Die Umstellung auf Holz bedeutete für die Luftfahrtforschung in Braunschweig wiederum ein breites Arbeitsfeld, wie die Forschungstitel im Anhang bei Prof. Winter vom Institut für Flugzeugbau dokumentieren. Dabei ging es sowohl um die Materialentwicklung und -erprobung als auch die Konstruktion von Holzflugzeugen. Dies ist ein besonders trauriges Kapitel der Kriegsforschung, denn die Flugzeugtype Me 328, an der im Auftrag der Firma Jacobs-Schweyer gearbeitet wurde, war vom RLM als Selbstopferungsflugzeug vorgesehen. Bei der erwarteten alliierten Invasion sollte mit je einer Me 328 je ein Landungsboot versenkt werden. Das Projekt mußte aus konstruktiven Gründen abgebrochen werden. Freiwillige hatte man bereits genug gefunden.32

Größter Auftraggeber: das Luftfahrtministerium

Größter Auftraggeber der TH Braunschweig war auf dem Stand von Anfang 1943 eindeutig das RLM mit 40 Aufträgen. Dann folgen das RWA mit 15, das Oberkommando der Marine mit 8, das Oberkommando des Heeres mit 6 Aufträgen. Ganze 2 Aufträge sind durch den RFR erteilt, was die Bedeutungslosigkeit dieser Organisation dokumentiert. Dieses Ergebnis deckt sich mit den Aussagen von Ludwig bzw. Zierold, wonach der RFR zusammen mit der DFG 1942 ganze 9 Mio. RM zur Verfügung hatte, nur eine Million mehr als die Notgemeinschaft 1929.33 Natürlich ist die Zahl der Aufträge allein nur bedingt aussagefähig, weil Umfang und Bedeutung nicht ersichtlich werden. Über die Frage der praktischen Relevanz der einzelnen Ergebnisse können vorerst nur Vermutungen angestellt werden. Hier müßte jeder Auftrag im Rahmen der disziplinspezifischen Bedingungen betrachtet und eingeschätzt werden. Dies muß eine Aufgabe der weiteren Hochschulgeschichtsschreibung sein, die dann neben den institutionellen eben auch naturwissenschaftlich-technische Zusammenhänge zu analysieren hätte.

Zierold formulierte, daß besonders geschickte Forscher wie Marx verstanden, sich von zwei Institutionen gleichzeitig fördern zu lassen.34 Im Fall von Marx waren dies von 1940 bis 1945 RFR und RWA. Marx war jedoch als Fachspartenleiter insofern in einer besonderen Situation, als er selbst einer Institution angehörte, die für die Mittelbewilligung verantwortlich war. Für die TH Braunschweig kann aber trotzdem formuliert werden, daß immerhin die Hälfte der betrachteten Wissenschaftler von zwei oder mehr verschiedenen Institutionen – auch in Zusammenarbeit mit der Industrie – gefördert wurde. Die Mehrfachförderung erscheint also als durchgängiges Phänomen.

„…mit kriegswichtigen Aufgaben betraut…“

Zusammenfassend kann festgestellt werden, daß sich die These der Berliner Ebert und Rupieper für die TH Braunschweig bestätigt: die Rüstungsforschung und -entwicklung hielt nicht nur Einzug in die Hochschulen, sondern die natur- und ingenieurwissenschaftlichen Forschungs- und Entwicklungskapazitäten wurden ganz den Anforderungen der ns-Herrschaft untergeordnet. Dies wird aus dem Schreiben des Braunschweiger Rektors Herzig an den Braunschweigischen Minister für Volksbildung, in dem die Anfrage auf die Kriegswichtigkeit der Arbeit der Hochschule beantwortet wurde, besonders deutlich:

„… von den 45 Instituten der TH (sind) 33 mit kriegswichtigen Aufgaben betraut … . Ungefähr 90% derselben sind zu W.-Betrieben erklärt und werden durch das Rüstungskommando betreut. Die weitaus größte Anzahl der in den Instituten Beschäftigten sind Schlüsselkräfte. Zwischen diesen Instituten und der … Luftfahrtforschungsanstalt »Hermann Göring« … und den hiesigen großen kriegswichtigen Firmen, wie … Miag, Voigtländer, Lutherwerke, Vereinigte Eisenbahn-Signalwerke …, Büssing-NAG und Wilke-Werke, bestehen intensive wissenschaftliche Verpflichtungen, welche … die Wichtigkeit und Notwendigkeit der Weiterarbeit der Institute … klar nachweisen.“ 35

Naturwissenschaftlich-technische
Kriegsforschung an der TH Braunschweig Januar 1943 nach: Archiv der TU Braunschweig,
AI:1491
Forscher Institution
Auftraggeber: Forschungs- bzw. Entwicklungsauftrag
Bruchhausen Staatliche Lebensmitteluntersuchungsanstalt und
Laboratorium für Lebensmittelchemie
an sich kriegswichtig, weil Hauptanstalt des Bezirks Braunschweig für die Untersuchung
von Kampfstoffen;
Cario Physikalisches Institut
RLM über LFA: 3 Aufträge, keine Angaben;
Cordes Institut für Physikalische Chemie
RWA: Reaktionskinetik der Aliphate in Hinsicht auf die Fett- und Seifenversorgung;
Föppl Wöhler-Institut, Prüfstelle für Werkstoffe
RLM/Focke-Wulf: Dauerhaltbarkeit von Schrauben;
OKH/Hoesch: Drücken von Drehstäben für Panzerwagen;
Friese Institut für Organische Chemie
RLM: Grundlagen für flugzeugtechnische Zwecke;
Forschungsdienst der Landbauwissenschaften: zu Inhaltstoffen von Getreidekeimen;
RWA: unleserlich;
RWA: Schädlingsbekämpfung;
Grundmann Lehrstuhl für Meteorologische Meßtechnik und
angewandte Meteorologie
RLM: 3 Aufträge, keine Angaben;
Hartmann Institut für Anorganische Chemie
RWA: Carbid Zwei- und Mehrstoffsysteme und deren Hydrolyseprodukte;
RWA/Fachgruppe Kautschukindustrie: Gewinnung von Tonerdehydrat als Bunafüllstoff aus
Schlacken und Nutzung anfallender Metallverbindungen (Mn, Ti, Vd); Versuchsanlage für
1000 kg in Betrieb;
Heinemann Institut für Landwirtschaftliche Technologie
RWA: Energiewirtschaft/Kohleeinsparung;
RMEuL: Ernährung betr. Zucker;
RLM/DAF: Technischer Luftschutz;
Iglisch Mathematisches Institut
RLM/LFA/Aerodynamisches Institut: keine Angaben;
Jaretzky Pharmakognostisch-Botanisches Institut
RWA: laxierend wirkende Extrakte heimischer Pflanzen;
Kangro Versuchsanlage Kangro
RWA/RFR: »Versuchsanlage«;
RWA: geheim;
DAF: streng geheim;
Kern Institut für Angewandte Pharmazie
RWA: Bearbeitung der galenischen Präparate der Heilpflanzen mit abführender Wirkung;
Koeßler Versuchsfeld für Fahrzeugtechnik
OKH,RLM,RMB,RVM: keine Angaben, vermutlich Versuche mit Bremsen;
Koppe Institut für Luftfahrtmeßtechnik
RLM: Überprüfung von Bordgeräten für kriegswichtigen Einsatz;
RLM: Höhenprüfraum für Bordgeräte;
RLM: Bildung von nichttragfähigem Eis im Hinblick auf Winterfeldzug im Osten;
RLM: Kälteempfindlichkeit von Flakvisieren mit Oberst-Ingenieur Kuhlenkamp; besonders
wichtig für den Winterfeldzug im Osten;
OKM: Hypsometer für U-Boote;
Junkers: desgleichen für große Höhen;
Kristen Institut für Baustoffkunde und Materialprüfung
verbunden mit dem Institut für baulichen Luftschutz
RLM/OKH/RMBuM: Wehrbetontechnische Untersuchungen;37
Kritzler Metallographisches Versuchsfeld und Versuchsfeld
f.Schweißtechnik
OKM: Kesselschäden bei Kriegsschiffen;
OKM: Kupfereinsparung;
RMBuM: Beratungsauftrag für Kupfereinsparung;
Leist Institut für Triebwerke der Luftfahrtzeuge
RLM/Daimler Benz: Entwicklungsarbeiten an Flugmotoren;
Löhner Institut für Verbrennungskraftmaschinen
RLM/BMW: Forschungen an luftgekühlten Flugmotoren;
Lübcke Akustisches Laboratorium
RLM: keine Angaben;
Marx Institut für elektrische Meßkunde und
Hochspannungstechnik
RWA: 3 Großversuchsanlagen zur Hochspannungs-Gleichstromübertragung;
Niemann Versuchsfeld für Maschinenelemente
OKM: Strahlsand-Schaltkupplung für Kriegsschiffe;
DVL/Blohm&Voss: 2x Schneckentrieb für Torpedos und Flugzeuge;
OKM/Kugelfischer: Längswälzlager für Schiffswellen;
Pahlitzsch Institut für Werkzeugmaschinen und
Fabrikbetrieb/Versuchsfeld für Schleif- und Poliertechnik
OKM: Ermittlung von geeigneten Prüfverfahren für Ziehschleifsteine;
OKH/RWA: Einsparung von Industriediamanten beim Abrichten von Schleifsteinen;
RLM/RMBuM: Standzeiterhöhung von Schneidwerkzeugen zur Leistungssteigerung;
RWA: Bearbeitung von synthetischen Lagersteinen für Uhren;
Pfleiderer Institut für Strömungsmaschinen und Dampferzeuger
RLM: Entwicklung von Flugmotorenladern;
RLM/LFA: Untersuchung einer neuen Ladertype;
Pungs Institut für Fermelde- und Hochfrequenztechnik
OKM: Arbeiten im Rahmen des F.u.M.-Programms des Nachrichtenmittelversuchskommandos der
Kriegsmarine;
Raven Versuchsanstalt für Bauingenieurwesen und
Forschungsstelle für Straßenbau
RLM/OKH: in 1942 275 kriegswichtige Aufträge;
Rehbock Institut für angewandte Mathematik und darstellende
Geometrie
RLM/LFA: Auftrag steht kurz bevor;
Schaefer Institut für Technische Mechanik
RLM/Focke-Wulf: keine Angaben;
Schlichting Aerodynamisches Institut
RLM/LFA: Profiluntersuchungen am Modell P-51 Mustang;
RLM/LFA: desgleichen an Original-Flügel;
RLM: Druckmessung beim Schieben von Flugzeugen;
RLM: Seitenwindeinfluß;RLM: 6-Komponentenmessungen an pfeilförmigen Flugzeugen;
RLM: desgleichen beim Schieben;
RLM: Widerstand und Druck an Laminarprofilen;
RLM: Grenzschichtuntersuchungen mit Anblasen und Absaugen;
Schultze Institut für Chemische Technologie
Bevollmächtigter für die Förderung der Erdölgewinnung:
Steigerung der Ölproduktion;
RWA: Mineralölchemie, Schmieröl- und Butadiensythese;
DVL: Störungen im Flugmotorenbetrieb;
OKH: Güteprüfung von Schmiermitteln;
RFR/Fachsparte Treibstoffe: Kohlenwasserstoffchemie;
Unger Institut für Elektromaschinenbau
RWA: Aluminium in elektrischen Maschinen;
OKM: 6 Aufträge zum U-Programm;
Winter Institut für Flugzeugbau
RLM: Untersuchung an kunstharzgeleimten Schichtholzschalen für den Flugzeugbau;
RLM: Preßschichthölzer im Flugzeugbau;
RLM: Konstruktion und Berechnung von Holzflugzeugen;
RLM: Holz- und Metallschichtstoffe;
Junkers: Versuche an Buchenschichtholz;
Jacobs-Schweyer: Versuchsholm mit Presschichtwerkstoff für Me 328;
DVL: Tragflügelbau für Überschallflug;
Focke-Wulf: Höhenflossenberechnung und Bau;
Wittig Forschungsinstitut für Naturasphalt
RLM: Isolierungen aus Naturasphalt;
HGW: desgleichen säurefest
Abkürzungen:
DAF Deutsche Arbeitsfront
DVL Deutsche Versuchsanstalt für Luftfahrt
HGW Reichswerke AG für Erzbergbau und Hüttenwesen
»Hermann Göring«
LFA Luftfahrtforschungsanstalt »Hermann Göring«
OKH Oberkommando des Heeres
OKM Oberkommando der Kriegsmarine
RFR Reichsforschungsrat
RLM Reichsluftfahrtministerium
RMB (wahrscheinlich verkürzt RMBuM)
RMBuM Reichsminister für Bewaffnung und Munition
RMEuL Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft
RVM Reichsverkehrsminister
RWA Reichsamt für Wirtschaftausbau

Dr. Helmut Maier ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Technischen Universität Braunschweig.

„Ein zusammengebrochenes Volk aufrichten“ oder: wie in der Weimarer Republik die Wehrfähigkeit wiederhergestellt wurde

„Ein zusammengebrochenes Volk aufrichten“ oder: wie in der Weimarer Republik die Wehrfähigkeit wiederhergestellt wurde

von Bernd Ulrich

Bereits während des Ersten Weltkrieges wurde die Perspektive des Soldaten an der Front, wie sie sich in ausgesuchten Feldpostbriefen, Tagebüchern oder Betrachtungen über den Krieg dokumentierte, exzessiv genutzt. In den Zeitungen, den militärisch gelenkten Periodika für die Schützengräben und in unzähligen Verlagspublikationen bediente man sich des „Blickes von unten“, um Front und Heimat zum „Durchhalten“ zu motivieren. Unmittelbar nach dem Krieg stellte sich das Problem neu, auf welche Weise die Nutzung und Inanspruchnahme des subjektiven, individuellen „Blicks von unten“ zu bewerkstelligen war. Und zwar vor dem Hintergrund des zentralen Ereignisses: der Niederlage. Es galt nun, sich der so authentischen wie suggestiven Wirkung individueller, subjektiver Kriegserlebnisse für die „nationale Erziehungsarbeit“ der Zukunft zu vergewissern. Wie konnte der verlorene Krieg der Nachwelt überliefert werden, ohne die Wehrfähigkeit zu gefährden? Das war die entscheidende Frage vor allem für die Führung der geschlagenen kaiserlichen Armee.

Anklage der Feldgrauen

Eine schnelle Antwort tat not. Denn neben den mehr oder weniger rechtfertigenden, sofort nach Kriegsende veröffentlichten Memoiren hoher Stabsoffiziere und Generäle und den ebenfalls aus der Froschperspektive urteilenden Schilderungen junger, im Kriege zu Leutnants beförderter Frontoffiziere wie Schauwecker oder Jünger, erschienen in den Tagen der Revolution und darüber hinaus, oft schon während des Krieges entstandene Texte, die den Zeitgenossen wie „die klassische Chronik der Niederträchtigkeit, der Schweinerei, der Ausbeutung, der Korruption und des Verbrechens“ erschienen.1 Es waren Denkschriften darunter, wie die seit 1916 vorliegende, freilich während des Krieges ignorierte und unterdrückte des Rechtsgelehrten Hermann Kantorowicz über den Offiziershaß im deutschen Heer (1919), oder das, offensichtlich Ludendorff auch zugestellte Memorandum Otto Lehmann-Russbüldts, in dem es darum geht, „wie der deutsche Soldat denkt und fühlt“ (1919). Karl Vetter, Redakteur der »Berliner Volks-Zeitung« und ehemaliger Frontsoldat, wurde dagegen erst durch das große Interesse der Leser einer im März 1919 begonnenen Artikelserie über seine „Eindrücke aus den entscheidenden Tagen der Westfrontkämpfe“ zur Herausgabe einer Flugschrift angeregt, die unter dem Titel „Ludendorff ist schuld!“ der „Anklage der Feldgrauen“ Stimme und Gewicht verlieh.2 Nahezu jeder militärisch-soziale Bereich des vergangenen Krieges wurde kritisch, aus der Sicht der Beteiligten beleuchtet. Der im Krieg als einfacher Soldat gediente Stadtschulrat Wilhelm Appens berichtete über „Dunkle Punkte aus dem Etappenleben“ (1920); Martin Beradt, vor dem Krieg ein erfolgreicher Autor des Fischer-Verlages, brachte 1919 seine, im Krieg von der Zensur unterdrückten „Aufzeichnungen eines Schanzsoldaten“ heraus, die auf seinen Erfahrungen als Bausoldat an der Westfront beruhen; der ehemalige Leutnant Otto Dietz schildert die»militärischen Ursachen« des Desasters und sprach Stabsoffizieren, die nie oder selten an der Front waren, jegliche Legitimation ab, darüber zu berichten (1919); ein anonym bleibender Sanitäts-Feldwebel veröffentlichte Auszüge aus seinen Tagebüchern, die tiefe Einblicke in die unmenschliche „Geschichte eines Feldlazaretts“ erlaubten.3

All diesen Schriften gemeinsam war die anklagende Diktion, die – wie es in einem Feldpostbrief hieß – „Herabsetzung der Soldaten unter das Vieh“ ihr Thema. Vor dem Hintergrund der Dolchstoßlüge galt es, die Verantwortung des deutschen Militarismus für die innere Zersetzung in Heer und Marine aufzuzeigen. Die Autoren – unterschiedlichster Herkunft und politischer Zugehörigkeit – berichteten aus eigener Anschauung oder unter Rückgriff auf ihnen zugegangenes Material wie Feldpostbriefe oder Tagebücher. Ihre Flugschriften, Broschüren, Denkschriften und Romane illustrierten aufs Deutlichste, daß die Sicht auf die historische Realität durch den Weltkrieg zwar keine qualitativ neue, quantitativ in dieser Breite aber doch entscheidende Erweiterung erfahren hatte: die Stimmen der Augenzeugen vor Ort konnten nicht mehr überhört werden. Ihr Blick von unten entfaltete nun, nach den Jahren seiner Instrumentalisierung im kriegsverlängernden Sinn, seine aufklärende, demaskierende Kraft, die während des Krieges in anonymen Eingaben und Klagen verpufften oder in Milliarden von Feldpostbriefen, sofern sie ihre Empfänger unzensiert erreichten, mehr oder weniger private Ernüchterung hervorrief. Es war dies, nach einem Wort des liberalen, bayerischen Offiziers Franz Carl Endres, die „kurze Spanne Zeit der Erkenntnis von 1918 – 1922“.4

Gefährdung der Wehrfähigkeit?

Angesichts solcher Entwicklungen gewann die Frage natürlich an Brisanz, wie das Bild des Weltkrieges der Nachkriegsgeneration überliefert werden konnte, ohne die Wehrfähigkeit zu gefährden. In dieser Situation war es auf der personellen Ebene unter anderem George Soldan, der dafür der richtige Mann zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein schien. Soldan, Hauptmann, später Major im Generalstab und schließlich Archivdirektor, verfaßte 1919 und 1925 zwei Texte, in denen es (mehr oder weniger direkt) immer auch um die Bedeutung und Nutzung der Sicht von unten ging. Seine Schriften und sein Wirken innerhalb des Reichsarchivs verstand er als Beitrag zur Schaffung eines „national geschlossenen Volkes“ und dessen „voller Wehrfähigkeit“; vorbereitet werden sollte jener „Tag, an welchem die Geschichte den Weltkrieg als lebenserweckenden deutschen Sieg kündet!“ 5

Das »Reichsarchiv«

Im Zuge der Versailler Vertragsbestimmungen mußte auch der deutsche Generalstab mit all seinen Abteilungen aufgelöst werden. Das geschah nicht. Unter Umgehung der Bestimmungen erweiterte die Oberste Heeresleitung unmittelbar nach Kriegsende sogar noch die kriegsgeschichtliche Abteilung des Generalstabes, um sie im Februar 1919 in einem Dienstbereich Oberquartiermeister Kriegsgeschichte zu konzentrieren. Dieser Dienstbereich wurde am 1. Oktober 1919 in »Reichsarchiv« umbenannt. Es sollte sich in der Folgezeit, obwohl administrativ dem Innenministerium unterstellt, „dem Wesen und dem Auftrag nach“ als „eine direkte Nachfolgeeinrichtung des Dienstbereiches Oberquartiermeister Kriegsgeschichte des Generalstabes“ betätigen.6

Das hatte immense Auswirkungen auf den Charakter der amtlichen Geschichtsschreibung über den Weltkrieg. Die Darstellungen konnten – institutionell abgesichert, denn das Reichsarchiv verfügte über alle wesentlichen Aktenbestände, und personell unter Rückgriff auf das alte (Berufs-)Offizierskorps – völlig in den Dienst der angestrebten Remilitarisierung gestellt werden.

Um die ganze Zielgerichtetheit dieses Vorgangs zu ermessen, muß man sich vergegenwärtigen, daß mit Beginn des Jahres 1919 und nach den Novembertagen 1918, neuerliche revolutionäre Erhebungen das Land und die Menschen in Atem hielten. Die dabei erhobenen Forderungen richteten sich unter anderem gegen eine Änderung der Militärpolitik, wurden von Regierungsseite jedoch insgesamt als Versuch gewertet, nach dem Vorbild der russischen Revolution »bolschewistische Umsturzpolitik« zu betreiben. Während die mit ihrer Hilfe aufgebauten Freikorps und Truppen der Reichswehr Proteste unterdrückten und lokale, räterepublikanische Versuche blutig zerschlugen, wurden zugleich auf der personellen und institutionellen Ebene die Weichen für die historische Überlieferung des Weltkrieges gestellt.

Die Denkschrift Soldans

Im Mai 1919 lag dem Oberquartiermeister Kriegsgeschichte eine „für die Zukunft der Kriegsgeschichtlichen Abteilung besonders zu beachtende Ausarbeitung des Hauptmann Soldan“ vor. Es handelte sich um Soldans Denkschrift zur „Deutschen Geschichtsschreibung des Weltkrieges als nationale Aufgabe“.7 Aus heutiger Sicht entrollt sich hier ein detaillierter, Fragen der Produktion ebenso wie der beabsichtigten Rezeption minutiös behandelnder Plan zur Durchsetzung geschichtspolitischer Ziele. Soldan faßte die Aufgaben wie folgt zusammen:

„Ein zusammengebrochenes Volk aufrichten, ihm den Glauben an sich selber wiedergeben, aus gemeinsam ertragenem Glück und Unglück deutschnationales Empfinden erwachsen lassen, das die dunkelste Gegenwart durchstrahlt, den Weg zum neuen Aufstieg weist; den großen erzieherischen Wert der Geschichte ausnützen, um ein unpolitisch denkendes und empfindendes Volk zur Reife zu führen“.8

Diese generellen Zielvorgaben waren „bewußt in die Geschichtsschreibung hineinzulegen“ und sollten sich zugleich „unbewußt … dem Leser eingraben“. Zwar sei das deutsche Volk „in seinem augenblicklichen Zustand (…) keiner ernsthaften Beeinflussung zugänglich“, doch in naher Zukunft schon werde der Blick wieder „liebevoll und stolz … an dem Eisernen Kreuze haften und gerne werden die Gedanken bei dem Schönen und Erhebenden weilen, das der Krieg reichlich neben den schneller dem Gedächtnis entschwindenden Schattenseiten geboten hat. (…) Gleichzeitig wird dann allgemein das Verlangen kommen, zu lesen, das Gedächtnis aufzufrischen und zu ergänzen.“ 9

Genau in dieser, mit Hellsichtigkeit prognostizierten, veränderten Rezeptionssituation kommt bei Soldan die Nutzung der Perspektive von unten ins Spiel. Die strenge Unterscheidung zwischen dem »gebildeten Teil des Volkes«, den es nach »rein wissenschaftlichen Darstellungen« verlange und den »unteren Bildungsschichten« legte es nach Soldan nahe, für letztere „die zu schaffende Arbeit populär zu gestalten.“ 10

Unter inhaltlicher Ausblendung der „langen Kampfpausen, in denen nur der Stellungskampf ein ermüdendes Bild bietet“, Konzentration auf den »erhebenden« Bewegungskrieg und die großen Materialschlachten, sollten die volkstümlichen Schilderungen allerdings mit der ganzen Seriosität einer amtlich-offiziellen Stelle an den Leser gebracht werden, da sonst ein Nachlassen des »erzieherischen Wertes« zu befürchten wäre.11

Das Referat »Volkstümliche Schriften«

Die Überlegungen Soldans entpuppten sich als wichtiger Beitrag für die Gründung eines Referates »Volkstümliche Schriften», das 1920 innerhalb des Reichsarchivs geschaffen wurde. Soldan, mittlerweile zum Major a.D. avanciert, übernahm als Archivdirektor die Leitung. Die Herausgabe einer »Schlachten des Weltkrieges« betitelten Reihe und die kontrollierende Betreuung der „Erinnerungsblätter deutscher Regimenter“ waren in den folgenden Jahren die wichtigsten Aufgaben.

Der Perspektive von unten kam in jedem Band der Reihe »Schlachten des Weltkrieges« – als Ergänzung der rein militär-taktischen Abhandlungen – eine wichtige Bedeutung zu. Extensiv genutzt wurde die »ungeheure Erlebniswucht der Mitkämpfer« vor allem in den von Werner Beumelburg verfaßten Darstellungen. „Derartige naturalistische Schilderungen“, so Soldan in einer Vorbemerkung, „sind unentbehrlich, um das Verständnis für das Wesen der modernen Schlacht zu fördern und vor allem auch kommenden Geschlechtern einen Begriff davon zu geben, welche gewaltigen Anforderungen der Krieg unserer Zeit an den Menschen stellt.“ 12

In den Jahren der Konsolidierung der Weimarer Republik, in denen das Interesse an Darstellungen des Krieges gering zu sein schien, waren es in erster Linie die »Schlachten des Weltkrieges« und die bis 1928 auf 250 Bände angewachsene Reihe der Regimentsgeschichten, die weiter rezipiert wurden. Allein die Bände der »Schlachten des Weltkrieges» kamen pro Heft auf Absatzzahlen von 40.000 bis 50.000 Exemplare.

Eine ideale Ergänzung fanden diese Publikationen in den ab Mitte der 20er Jahre edierten Fotobänden und den Weltkriegsfilmen. Auch hier war Soldan maßgeblich beteiligt. Mehr noch als die ausgesuchten, schriftlichen Zeugnisse der »Mitkämpfer«, suggerierten Fotografien und ihre Bildunterschriften „den wirklichen, den lebendigen Krieg“, kurz: „Tatsachen“.13 Vermitteln sollte dies auch der 1927/28 in zwei Teilen aufgeführte Dokumentarfilm „Der Weltkrieg“. Um die Authentizität der „Originalaufnahmen“ zu verstärken, wurden – meist ununterscheidbar von den während des Krieges gemachten Aufnahmen – ganze Szenen mit Soldaten der Reichswehr und auf deren Manövergelände nachgestellt.14

»Kämpfer« und »Führer«

1925 präzisierte Soldan – im Rahmen seiner Vorstellungen über den „Menschen und die Schlacht der Zukunft“ – die Modalitäten für die Schilderung aufgrund eigenen Erlebens und die damit beabsichtigten Wirkungen. Die durch den Blick des »Mitkämpfers« gefilterten, realistisch beschriebenen Kämpfe des »Menschen mit dem Material« gaben dem Leser eine Anschauung von der Nichtigkeit des Einzelnen. Der Ausweg aus diesem Dilemma – denn vor dieser düsteren Perspektive durfte die Schilderung nicht kapitulieren – bestand darin, sich im Kampfkollektiv einem »Führer« freiwillig unterzuordnen; einem »Führer«, der unter der Wucht des Materialkrieges nicht zusammengebrochen war. Die Darstellung der Sinnlosigkeit, des eigenen Versagens, der Ängste und des tagtäglichen Terrors – die weder in den von Soldan betreuten populären Reihen fehlten noch in den frühen und späten Texten der soldatischen Nationalisten – ergab das authentisch wirkende Kolorit, vor dessem grellen Hintergrund sich der neue Typus des »Kämpfers« umso wirkungsvoller abhob. So wenig der Blick dabei auf die enormen sozialen Mißstände in der Armee gerichtet wurde – die in den unmittelbar nach Kriegsende erschienenen Publikationen noch einen breiten Raum einnahmen bzw. die eigentliche Motivation für die Aufzeichnung eigener Erlebnisse bildeten – so sehr wandte er sich nun dem »seelischen Erleben« der am Materialkrieg gewachsenen »Führernaturen« zu.

„Nicht physische Verluste“, so Soldan, „brechen den Widerstand des Feindes. Seelische Imponderabilien entscheiden über Sieg oder Niederlage.“ Die in diesen Sinne adäquate seelische Verfassung zeigte nur eine kleine „Elite der Kämpfer“, in deren Reihen sich der „Frontkämpfergeist“ entwickelte.15 Sie waren der „Kern jeder Truppe“, rissen die anderen mit oder führten den Kampf allein. In ihrem Selbstverständnis richteten sie sich sowohl gegen das »Massenheer«, das gegen Ende des Krieges »versagt« habe, als auch gegen das der Tradition verpflichtete kaiserliche Militär und dessen Führungsstruktur. Beispielhaft führte Soldan hier eine Kritik des Fachblattes »Wehr und Wissen« an, in der Jünger „fehlende Manneszucht“ vorgeworfen wurde, weil er – wie in den „Stahlgewittern“ geschildert – als Leutnant im Graben einen Befehl von oben verweigert und nach eigener Einschätzung der Lage gehandelt hatte.16

Erziehung zur kriegerischen Persönlichkeit

Die Perspektive von unten gewann an Gewicht, da mit ihrer Hilfe die im Krieg angeblich vollzogene Wandlung vom „demokratischen Massenheer“ zum „aristokratischen Qualitätsheer“ anschaulich illustriert werden konnte. Eine Entsprechung fanden solche Formulierungen in den Schriften der zu dieser Zeit (1925) primär mit kurzen, theoretischen Abrissen zum Kriegserlebnis beschäftigten soldatischen Nationalisten. „Erziehung zur kriegerischen Persönlichkeit – das war der Sinn der Materialschlacht“, hieß es 1924 bei Franz Schauwecker. Und ein Jahr später sprach Ernst Jünger von der „neuen Aristokratie (…), die der Krieg geschaffen hat, eine Auslese der Kühnsten, deren Geist kein Material der Welt zerbrechen konnte (…).“ 17

Der durch den Weltkrieg forcierte Perspektivenwandel und seine Nutzung in populären Reihen wurde in den weitergehenden Reflexionen Soldans gekoppelt an die Propagierung eines neuen Soldatentypus, für den der »Stahlhelm« das Symbol und die Formel »Mann ohne Nerven« das eingängige Schlagwort war. „Es ist gerade so“, stellte Franz Carl Endres 1927 resigniert fest, „als wenn man die Zeiten der Pest verherrlichen würde, weil sich in ihnen eine Reihe von Menschen heldenhaft betragen haben.“ 18

Anmerkungen

1) A. Zickler in seinem Vorwort zu: Anonym. Anklage der Gepeinigten! Geschichte eines Feldlazarettes. Aus den Tagebüchern eines Sanitäts-Feldwebels (1914-1918). Berlin 1919, 6; s.a. A. Zickler. Im Tollhause. Berlin o.J. (1921).  Zurück

2) H. Kantorowicz. Der Offiziershaß im deutschen Heer. Freiburg i.Br. 1919; O. Lehmann-Rußbüldt. Warum erfolgte der Zusammenbruch an der Westfront? Berlin 1919; K. Vetter. Ludendorff ist schuld! Die Anklage der Feldgrauen. Berlin o.J. (1919).  Zurück

3) W. Appens. Charleville. Dunkle Punkte aus dem Etappenleben. Dortmund o.J. (1920); M. Beradt. Erdarbeiter. Aufzeichnungen eines Schanzsoldaten Berlin 1919; O. Dietz. Der Todesgang der deutschen Armee. Militärische Ursachen. Berlin 1919; Anonym. Anklage der Gepeinigten!   Zurück

4) F.C. Endres. Die Tragödie Deutschlands. Im Banne des Machtgedankens bis zum Zusammenbruch des Reiches. Von einem Deutschen. Stuttgart 1924, S. 369. Zurück

5) G. Soldan. Der Mensch und die Schlacht der Zukunft. Oldenburg i.O. 1925, 107/108. Zurück

6) R. Brühl. Militärgeschichte und Kriegspolitik. Zur Militärgeschichtsschreibung des preußisch-deutschen Generalstabes 1916-1945, Berlin (DDR) 1973, S. 247, 233ff. Zurück

7) Zentrales Staatsarchiv Potsdam/DDR: Reichsarchiv Nr 41, Bl.44-48, Bl.44 (Brief Jochim/Kriegsgeschichtliche Abteilung 4 an Oberquartiermeister Kriegsgeschichte v. 22.5.1919) und Reichsarchiv, Nr. 41, Bl.49-89 (G. Soldan, Die deutsche Geschichtsschreibung des Weltkrieges – Eine nationale Aufgabe/1919). Zurück

8) G. Soldan. Geschichtsschreibung, Bl.64. Zurück

9) Ebd., Bl.64/65. Zurück

10) Ebd., Bl.65/69. Zurück

11) Ebd., Bl.71. Zurück

12) Schlachten des Weltkrieges – Bd. 10, bearb. v. W. Beumelburg. Ypern 1914. Oldenburg i.O./Berlin 1928 (2. Aufl.), Vorbemerkung der Schriftleitung (Soldan). Zurück

13) G. Soldan, Geleitwort zu: Der Weltkrieg im Bild – Originalaufnahmen des Kriegs-Bild- und Filmamtes aus der modernen Materialschlacht, Berlin/Oldenburg 1926. Zurück

14) G. Montgomery, »Realistic« War Films in Weimar Germany: entertainment as education, in: Historical Journal of Film, Radio, and Television, Vol.9, No.2/1989, p.115-133; H. Barkhausen. Filmpropaganda für Deutschland im Ersten und Zweiten Weltkrieg. Hildesheim u.a. 1982, 185ff. Zurück

15) G. Soldan, Der Mensch und die Schlacht der Zukunft, S. 64, S. 82. Zurück

16) G. Soldan, Der Mensch, S. 83. Zurück

17) F. Schauwecker. „Vom Sinn der Materialschlacht“. Stahlhelm-Jahrbuch 1925, Magdeburg 1924, S. 96-99, 99; E. Jünger. „Vom absolut Kühnen“. Standarte Jg. 1, 20 (1926), S. 460 – 463, S. 462.  Zurück

18) F. C. Endres, Tragödie, S. 289. Zurück

Bernd Ulrich ist Historiker und promoviert in Berlin

Fakten der NS-Illusion

Fakten der NS-Illusion

Produkte und Projekte der deutschen Rüstungswirtschaft am Ende des zweiten Weltkrieges

von Manfred Grieger

Die Bestimmung der Spezifika eines komplexen Phänomens gehört zu den Königsdisziplinen der Wissenschaft. Ulrich Albrecht hat einige Thesen zur NS-Spezifik der Technologieentwicklung in der Endphase des Dritten Reiches formuliert, die geeignet sein können, den populär- bzw. reaktionärwissenschaftlichen Mainstream der Technikgeschichtsschreibung der NS-Rüstung aufzustauen oder gar umzuleiten, der immer noch das technizistische Faszinosum der deutschen Rüstung bestaunt und preist.1

Albrechts rüstungskritische Gedanken zur Initiierung eines „Historikerstreits der Technikgeschichtler“ (22) sind in der Tat bestechend, pointiert und verlockend. Er kennzeichnet am Beispiel der Flugzeugentwicklung die im internationalen Vergleich einzigartige liegende Anordnung des Piloten als das „nationalsozialistische Konzept, durch Überbeanspruchung menschlicher Piloten taktische Vorteile zu erzielen“ (23). In diese spezifisch „nationalsozialistische Technikgestaltung“ (ebd.) ordnet Albrecht auch die Einbeziehung von Halbwüchsigen in den Luftkrieg (deren Vorläufer wohl in dem massenhaften Einsatz der Luftwaffen- und Marinehelfer zu sehen sind) ein, was in der Entwicklung von ausdrücklichen „Selbstopferwaffen“ (25f.) oder faktisch chancenlosen „Kampfgleitern“ (27f.) gipfelte, die erst durch den nazistisch „Beseelten“ im Cockpit ihren Aufopferungsgang erfüllen konnten.

So horizonteweisend die abschließenden Formeln des von Jeffrey Herf eingeführten „reaktionären Modernismus“ oder der reaktionären Zielen dienenden „technischen Progressivität“ auch sind, momentan bietet der eingeschlagene Weg noch keine umfassende Analyse der Grundbeziehungen von NS-System und Wirtschaft bei der Fortentwicklung der Kriegstechnologie. Klassisch dichotome Fragestellungen nach einem vermeintlichen Befehlsnotstand der deutschen Industrie bei der dienenden Ausführung von „absurden Projekten“ (22) bzw. nach dem „eigenständigen Beitrag zum Fanatismus der letzten Tage des Dritten Reiches“ (ebd.) engen die Wahrnehmung vorschnell ein, zumal viele Belege eindeutig in die zweite Richtung deuten. Auch die Charakterisierungen des NS-Spezifik der Technologieentwicklung (Überbeanspruchung des Menschen, Senkung des Lebensalters der Soldaten, Selbstopferwaffen, Hypertrophie der Verzweiflungstechnologie) vermag nicht restlos zu überzeugen. Aufgrund der ökonomisch vermittelten Bewegungsgesetze der Technik bietet wahrscheinlich erst die Einbindung der technologischen Projektierung und Entwicklung in eine Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Auflösungsphase der NS-Herrschaft eine realistische Chance, die dynamisierenden Faktoren der Technik- und Rüstungsentwicklung in den letzten Kriegsmonaten durch die Analyse der faktischen Beziehungen zwischen Militärwesen (Wehrmachtsteile, SS) und Industrie zu benennen und in ihrem Verhältnis zu definieren.2

Zunächst muß die Frage gestellt werden, ob für die eingeleitete Offensivphase des technikgeschichtlichen Historikerstreites mit dem ausgiebig herangezogenen Populärautoren Heinz J. Nowarra ein angemessener Kontrahent benannt ist. Über die wissenschaftliche Exaktheit oder die postfaschistische Grundorientierung seiner deutschtümelnden Technikbegeisterung große Worte zu verlieren, ist zwar ehrenhaft, aber m.E. gleichfalls wenig nutzbringend. Denn der inzwischen 78jährige Nowarra bedient als freischaffender Publizist das Klientel der ob der selbstbeschworenen deutschen technologischen Überlegenheit schlußendlich überraschend Besiegten, die mit der Lektüre solch peinlicher Erzeugnisse des Verlagswesens ihre Träume einer deutschen Me 262-Hegemonie am deutschen Himmel perpetuieren, die im phantastischerweise massenhaft produzierten »Königstiger« endlich der »russischen Dampfwalze« trotzen können und mit der A 4-Raketenutopie doch noch den »Tommy kleinkriegen«. Der notorisch bekannte Vielschreiber Nowarra wird sich von der Wissenschaftlichkeit des Albrecht-Ansatzes nicht sonderlich beeindruckt zeigen. Seine den Zielen der Aufklärung eher abgeneigten Leser werden wohl kaum vorliegenden Informationsdienst zu ihrer Lektürequelle der von ihnen gesuchten »Erfolge« der deutschen Luftwaffe, Panzerwaffe etc. machen. Deshalb erscheint die fundierte Kritik der vielbändigen offiziösen Entwicklungsgeschichte der deutschen Luftfahrttechnik, die in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Museum, dem Bundesverband der deutschen Luftfahrt-, Raumfahrt- und Ausrüstungsindustrie und der Deutschen Gesellschaft für Luft- und Raumfahrt ersteht und die Herausforderung der erfahrenen Industriereiniger vom Schlage eines Treue und seiner jüngeren Nachfahren aus dem Umfeld der sogenannt unternehmensnahen »Gesellschaft für Unternehmensgeschichte« als gewichtigere und aufwendigere Aufgabe.3

Zu diesem Behufe sind auf Seiten der Rüstungskritiker noch ausdrücklichere empirische Exaktheit, angemessene rüstungswirtschaftliche Differenzierung und stärkere Einbindung in die NS-Entwicklungsgeschichte zu leisten. Denn bei Albrecht haben sich einige, von böswilligen Lesern gern zur Disqualifizierung der Gesamtaussage herangezogene Fehlinformationen eingeschlichen: Die Panzerwände des 188-Tonnen-Panzers »Maus« sollten an der Stirnseite allenfalls 24 cm (und nicht 35 cm) Dicke aufweisen.4 Die He 162 sollte zwar im monatlichen Umfang von 1000 Exemplaren auch in dem berüchtigten Untertage-KZ-Betrieb der »Mittelwerke GmbH« gefertigt werden; dieses befand sich allerdings nicht im Besitz der Organisation Todt sondern im Rahmen der Reichsbeteiligungsgesellschaft »Rüstungskontor« in der Hand des Deutschen Reiches.5 Die Georg-Fieseler-Werke waren zwar im Jahre 1943 Entwicklungsfirma der Flugbombe Fi 103; hergestellt wurden diese unter der Bezeichnung V-1 geläufigeren Flugbomben vornehmlich vom Volkswagenwerk und im bereits angesprochenen KZ Dora-Mittelbau;6 etc.

Um diese randständigen Besserwissereien geht es nur nebenbei. Bedeutsamer erscheint, daß sich die technikgeschichtlichen Aussagen Albrechts recht unbeeindruckt von der wirtschaftshistorischen Diskussion um die Differenzierung der ökonomischen wie der militärischen Interessenlage ausgangs des Zweiten Weltkrieges zeigen, ganz zu schweigen von den anzumerkenden Schattierungen innerhalb der NSDAP oder des Militärwesens. Die Analyse der Technologieentwicklung muß zunächst beachten, daß diese in die verstärkte Differenzierung der Regulierungsinstanzen der NS-Kriegswirtschaft in Form von Sonderstäben und Generalbevollmächtigten eingebettet war. Denn Karl-Otto Saur, dieser „Untergebene Speers“ (23), hatte als Staatssekretär im Reichsministerium für Rüstung und Kriegsproduktion am 1. August 1944 auch beim Generalluftzeugmeister, der bis zum 1. März 1944 die Luftrüstung eigenständig bearbeitet hatte, das Kommando übernommen. Ihm beigeordnet, strebte SS-Gruppenführer Dr.Ing. Kammler, der seit dem 1. März 1944 für die mit Arbeitssklaven der SS bewerkstelligte Untertageverlagerung großer Teile der Flugzeugindustrie verantwortlich zeichnete und zwischenzeitlich auch zum Generalbevollmächtigten für den Strahlflugzeugbau (Me 262, Ar 234, He 162 u.a.m.) ernannt worden war, nach einer Ausdehnung des Einflusses der SS in Militär und Rüstung.7

Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, erscheint die rasante Entwicklung der Verzweiflungstechnologie zunächst als Ausdruck eines letzten ungläubigen Aufbäumens der Ideologen der NS-Bewegung. Gleichzeitig darf keineswegs das längerfristige zweckrationale SS-Streben nach Hochtechnologien (Kooperation SS-BMW bei der Triebwerksentwicklung, SS-Volkswagenwerk bei der Motorisierung u.a.m.) übersehen werden. Diesem SS-Engagement zeigten sich alle diejenigen Unternehmungen zugeneigt, die bereits über enge SS-Anbindungen verfügten, was am Beispiel der Heinkel-Werke deutlich hervortritt. Dieses Flugzeugunternehmen benutzte spätestens seit dem Sommer 1943 in seinem Hauptwerk Oranienburg, aber auch in Wien-Schwechat und im polnischen Budzyn SS-Arbeitssklaven im Rahmen der Flugzeugproduktion. Die im Jahre 1944 intensivierte Zusammenarbeit mit der SS erwies sich in einer Situation, in der sich der schwere Bomber He 177 als Fehlschlag herausstellte und Entwicklungs- wie Fabrikationskapazitäten ungenutzt blieben, als Möglichkeit zur Unternehmenskonsolidierung.8 Aus diesem Grunde muß die Teilnahme an hybriden Projektausschreibungen auch als technokratischer Akt der Kapazitätsauslastung und Arbeitskräftebindung aufgefaßt werden. Die angestellten Techniker und Konstrukteure flohen angesichts der dem Bombenkrieg geschuldeten Verlagerungen und möglicher Einberufung zu den bewaffneten Militäreinheiten in einen unreflektierten Professionalismus, der ihre Partizipation an der mörderischen Agonie des Systems im atomisierten Bewußtsein zur bloßen Diensterfüllung schrumpfen ließ.9 Auf der anderen Seite sprangen kleine Außenseiterunternehmungen, wie die Bachem-Werke GmbH, auf den von der SS mit Finanz-, Rohstoff- und Arbeitskräfteressourcen ausgestatteten Zug auf. Sei es, um ihrem ideologischen Fanatismus Ausdruck zu geben oder aber auch, um in den letzten Kriegsmonaten den für den Nachkrieg erforderlichen technologischen und materiellen Schub zu tanken, den die Zusammenarbeit mit der SS bot. Wie die meisten anderen Autoren übersieht Albrecht, daß Bachem, – wie es in Unterlagen des SS-Führungsamtes heißt, – „im Auftrage des RF-SS und Befehlshabers d. Ersatzheeres an einer Sonderaufgabe arbeitet und sämtliche Dienststellen und Behörden ihm Unterstützung angedeihen lassen müssen“.10

Hier zeigt sich der Übergang zu den SS-Bemühungen zur Schaffung einer SS-Luftwaffe, die sich endlich im labilen Kräfteverhältnis zwischen den Waffenteilen des deutschen Militärwesens durchzusetzen trachtete.11 Albrecht vermerkt zwar die anfänglichen Widerstände Hitlers, leitet daraus jedoch keine Binnendifferenzierung der Nazi-Bewegung ab. Aus der Kooperation der SS mit bestimmten Teilen der deutschen Flugzeugindustrie erwächst wohl auch der spezifisch selbstzerstörerische Moment in der Technologieentwicklung. Was kämpfend nicht zu siegen vermag, sei – so das späte Diktum Hitlers und anderer NS-Protagonisten der letzten Wochen des Regimes – dem Untergang verfallen.12 Interessanterweise spiegelt die liegende Anordnung des Piloten eben diese zu Kriegsende hervorgekramten Fanatismusideologeme. Im Zentrum der NS-Technik liegt mit einem Male der fanatisierte Nationalsozialist: mithin eine typische Rückbindung der Selbstmotivierung der nazistischen Untergangshelden an die ideologische Bewegungsphase der NSDAP – in der alles noch eine Frage der »Haltung« schien –, wie sie Speer, Milch, Ley und Saur in ihren mannigfachen Reden der zweiten Jahreshälfte 1944 vorführten.13

Zudem sind auch gewisse Beurteilungen der NS-Technologieentwicklung nicht uneingeschränkt zu unterstützen. So sieht Albrecht in der Gemischtbauweise bzw. der Holzbauweise von Düsenjägern eine Widerspiegelung der „Technologieentwicklung des Dritten Reiches in seinem Abgang“ (25). Die Verwendung von Holz stellt m.E. keineswegs ein untrügliches Zeichen für NS-Technologie dar und muß nicht unbedingt als Kennzeichen der „höchsten Not“ (24) gewertet werden.14 Vorbild all dieser Versuche bildete die in Gemischtbauweise erstellte und von den westalliierten Luftwaffen erfolgreich als Langstreckenaufklärer, Höhenjäger und Jagdbomber verwendete DeHaviland »Mosquito«, deren Bauweise keineswegs Rohstoffmangel o.ä. entsprang.15 Zwar scheiterte die Focke-Wulf-Adaption des Baumusters Ta 154, nicht zuletzt auch an der Unfähigkeit der IG-Farben-Werke, belastungssichere Kaltleimverfahren zu entwickeln. Inwieweit mit der Gemischtbauweise ein originäres NS-Phänomen angesprochen ist, muß dem noch ausstehenden internationalen Vergleich vorbehalten bleiben.

Gleichfalls bildet die innerhalb von drei Monaten erfolgte He 162-Entwicklung nur den Endpunkt eines Prozesses, in dem die Baumusterentwicklung im Rahmen der Serienproduktion erfolgte.16 Dieses Verfahren kürzte die Entwicklungszeit um mehrere Monate ab, wenngleich durch die Inkaufnahme eventueller Modelländerungen Ressorcenvernichtungen (Lehren, Rohstoffe, Maschinenstunden etc.) einkalkuliert werden mußten. Diese fielen angesichts der materiellen Potenzen im Deutschen Reich gänzlich anders zu Buche; das Scheitern der XP-75 konnte durch die Forcierung der P 38 Ligthning bzw. des Langstreckenbegleitjäger »Mustang« auf Kosten des Army Air Force-Haushaltes kompensiert werden. Bedenkt man den Einbau eines Schleudersitzes zur Rettung des Piloten und die Nutzung gewisser Konstruktionsmerkmale, wie obenliegende Strahlturbine oder auch herabgezogene Tragflächenkappen, beim heutigen Panzerbekämpfungsflugzeug A-10 Thunderbolt II fällt es schwer, diesen Flugzeugtyp uneingeschränkt der Technologietypologie des NS-Fanatismus zuzuordnen.

Die vorstehenden Ausführungen drücken existierende Vorbehalte gegenüber der Zuweisung einer technologischen NS-Spezifik aus, die allein die obskuren, selbstzerstörerischen und aussichtslosen Modelle und Projekte dieser Kategorie subsumieren. Vielmehr erscheinen auch diejenigen Modelle und Baumuster, die bis zum letzten Kriegstag von den Industrieunternehmen unter billigender Inkaufnahme des Todes von Häftlings- und anderen Zwangsarbeitern gefertigt wurden bzw. deren Technologiestränge durch Know-How-Transfer bzw. Unternehmensneugründung in den Nachkrieg hineingerettet werden konnten, als Folgekosten der nationalsozialistischen Herrschaft. Deren Spezifik gründet sich vor allem in der eklektischen Kombination von nationalsozialistischem Fanatismus und industrieller Rationalität, die zu jener effektiven Kriegsmaschinerie transformierte, die kein Ende mehr fand.17 Die dynamische Einbindung von ökonomischer Rationalität in die Entwicklungslinien einer rassistischen Kriegsgesellschaft ermöglichte ausgangs des zweiten Weltkrieges die Koexistenz einer den Umständen geschuldeten, nach den Märkten der Zukunft schielenden Nachkriegsorientierung mit einem faktischen Durchhalteverhalten, das bis zum schlechten Ende die gewinnträchtigen Gewaltmittel für den vermeintlichen NS-Endsieg bereitstellte. Die Reißbrettstudien und Erprobungsträger des NS-Fanatismus hatten realistischerweise keine Verwirklichungsmöglichkeit mehr. Die in Bunkerfabriken, Höhlen und Bergwerksstollen gefertigten FW 190 oder Me 262 verdeutlichen allerdings gleichfalls den umfassenden Wahrnehmungsverlust der ökonomischen, militärischen und technokratischen Eliten, die der gebotenen rüstungswirtschaftlichen Komplexität nicht mehr entsprachen: Auch den erprobten Baumustern fehlte das Benzin, um in den Himmel aufzusteigen und die Piloten, allein um sie von den Endmontagebetrieben zu den Luftwaffeneinheiten zu überführen. Die Illusion schuf die kruden Fakten des Untergangsszenarios.18 Denn es wäre überaus unangemessen, diejenigen Unternehmen und Techniker, deren Erzeugnisse in Form der »Cruise Missile«, der Interkontinentalrakete oder des »Leopard« in die NATO-Heroenliste Eingang fanden, also keinen Aspekt des NS-Fanatismus in sich zu bergen scheinen, von der historischen Verantwortung freizumachen.

Anmerkungen

1) Ulrich Albrecht: Artefakte des Fanatismus. Technik und nationalsozialistische Ideologie in der Endphase des Dritten Reiches. In: Informationsdienst Wissenschaft & Frieden 7 (1989), Heft 4, S. 21-28. Zurück

2) Exemplarisch Michael Geyer: Deutsche Rüstungspolitik 1860 – 1980. Frankfurt/M. 1983, S. 154ff; Joachim Radkau: Technik in Deutschland. Vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Frankfurt/M. 1989, S. 239ff. Unternehmensgeschichtliche Studien sind zu diesem Themenkomplex bisher eine Seltenheit, vgl. etwa das DaimlerBenzBuch. Ein Rüstungskonzern im »tausendjährigen Reich«. Nördlingen 1987; KlausJörg Siegfried: Rüstungsproduktion und Zwangsarbeit im Volkswagenwerk 1939 – 1945. Frankfurt/M.; New York 1986; ders.: Das Leben der Zwangsarbeiter im Volkswagenwerk. Frankfurt/M.; New York 1988. Zurück

3) Vgl. die Auseinandersetzungen um die Unternehmensgeschichte der DaimlerBenz AG.: Hans Pohl, Stephanie Habeth, Beate Brüninghaus: Die Daimler Benz AG in den Jahren 1933 – 1945. Eine Dokumentation. Stuttgart 1986; Das DaimlerBenzBuch, a.a.O.; die kontroverse Aufnahme beider Bücher belegen Hans Mommsen: Bündnis zwischen Dreizack und Hakenkreuz. In: Der SPIEGEL vom 11.5.1987, S. 118-129; Volker Hentschel: Daimler-Benz im Dritten Reich. Zu Inhalt und Methode zweier Bücher zum gleichen Thema. In: Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 75 (1988), Heft 1, S. 74-100. Zurück

4) Walther J. Spielberger: Spezial-Panzer-Fahrzeuge des deutschen Heeres. Stuttgart 1987. Zurück

5) Bundesarchiv Koblenz (BA), Bestand R 121/ 309; Manfred Bornemann: Geheimprojekt Mittelbau. Die Geschichte der V-Waffen-Werke. München 1971. Zurück

6) Dieter Hölsken: Die V-Waffen. Stuttgart 1983; der Verfasser bereitet eine umfangreiche Studie zur betrieblichen Rüstungsproduktion des Volkswagenwerkes vor. Zurück

7) Vgl. zum Machtzuwachs der SS im Rahmen der Untertageverlagerung der deutschen Flugzeug- und Raketenindustrie etwa Rainer Fröbe: „Wie bei den alten Ägyptern.“ Die Verlegung des Daimler-Benz-Flugmotorenwerks Genshagen nach Obrigheim am Neckar 1944/45. In: Das Daimler-Benz-Buch, a.a.O., S.392-470 oder auch Florian Freund: Arbeitslager Zement. Das Konzentrationslager Ebensee und die Raketenrüstung. Wien 1989. Zurück

8) Zum KZ-Häftlingseinsatz bei Heinkel siehe etwa BA, NS 19/68 oder auch Hans Marsalek: Das Konzentrationslager Mauthausen. Wien 1980, passim. Die gewichtigen Strukturveränderungen innerhalb der deutschen Flugzeugindustrie sind bislang ohne besondere Beachtung geblieben. Zurück

9) Zum Verhalten der technokratischen Funktionseliten siehe Mommsen, Bündnis, a.a.O. Den gesellschaftlichen Zerfall beschreibt anschaulich Herfried Münkler: Machtzerfall. Die letzten Tage des Dritten Reiches dargestellt am Beispiel der hessischen Kreisstadt Friedberg. Berlin 1985; allgemeiner auch Bernd A. Rusinek: „Maskenlose Zeit“. Der Zerfall der Gesellschaft im Krieg. In: ÜberLeben im Krieg. Kriegserfahrung in einer Industrieregion 1939 – 1945. Hrsg. von Ulrich Borsdorf und Mathilde Jamin. Reinbek bei Hamburg 1989, S.180-194. Zurück

10) BA, NS 33/36, Fol. 10RS. Zurück

11) Zur militärischen Expansion der SS Bernd Wagner: Hitlers Politische Soldaten: Die Waffen-SS 1933 – 1945. Paderborn 1988, S. 307ff.; BA, NS 19/3192 und 3620. Zurück

12) Zur faschistischen Untergangsmetaphorik siehe etwa Herfried Münkler: Siegfrieden. Politik mit einem deutschen Mythos. Berlin 1988. Zurück

13) Manfred Messerschmidt: Krieg in der Trümmerlandschaft. Pflichterfüllung wofür? In: ÜberLeben im Krieg, a.a.O., S. 169-178. Siehe auch die Protokolle des Jäger- bzw. Rüstungsstabes im Bundesarchiv-Militärarchiv (BA-MA), RL 3/ 1-46; BA R 3/3034. Zurück

14) Vor der Tendenz, aus komplexen Hochtechnologien den Beurteilungsmaßstab des technologischen Fortschritts abzuleiten, warnt etwa Radkau, Technik, a.a.O., S. 46ff. Zurück

15) Irving Brinton Holley: Buying Aircraft: Materiell Procurement for the Army Air Forces. Washington, D.C. 1964; C. Martin Sharp; Michael J.F. Bowyer: Mosquito. London 1967. Zurück

16) Vgl. zur He 162 auch die vielfach problematische Darstellung bei Alfred Hiller: Heinkel He 162 »Volksjäger«. Entwicklung – Produktion – Einsatz. Wien 1984, S. 28ff. Die Parallelentwicklung, die beispielsweise im Falle der Fi 103 zur Verschrottung von 2000 Exemplaren im Volkswagenwerk führte, findet in dem Desaster des von General Motors entwickelten Langstreckenbegleitjägers XP-75 ihr amerikanisches Gegenstück; Irving Brinton Holley jr.: A Detroit Dream of Mass-produced Fighter Aircraft: The XP-75 Fiasco. In: Technology and Culture 28 (1987), S. 578-593. Zurück

17) Hans Mommsen: Nationalsozialismus als vorgetäuschte Modernisierung. In: Walter H. Pehle (Hrsg.): Der historische Ort des Nationalsozialismus. Frankfurt/M. 1990, S. 31-46. Zurück

18) Manfred Messerschmidt: Die Wehrmacht in der Endphase. Realität und Perzeption. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 32-33/89 vom 4.8.1989, S. 33-46; Gerd R. Ueberschär und Rolf-Dieter Müller: Deutschland am Abgrund. Zusammenbruch und Untergang des Dritten Reiches 1945. Konstanz 1986. Zurück

Manfred Grieger, arbeitet in einem Projekt der VW-Stiftung an der Fakultät für Geschichtswissenschaft der Ruhr-Universität Bochum.

Hilfloser Antimilitarismus?

Hilfloser Antimilitarismus?

Deserteure in der Literatur

von Norbert Mecklenburg

In allen zu Krieg gerüsteten Staaten mit Strafe bedroht und von der jeweils herrschenden Moral verurteilt, in römischer Zeit als »desertores«, die das »sacramentum militiae« gebrochen haben, mit dem Tod bestraft, in christlichen Zeiten auch mit Exkommunikation, geköpft, gehängt, für vogelfrei erklärt, in den feudalabsolutistischen Macht- und Militärstaaten, mit ihren Zwangswerbungen, barbarischen Drillmethoden und Soldatenverkäufen, systematisch gejagt, mit Alarmschüssen, Glockenläuten und Kopfprämien, wenn sie eingefangen wurden, wie die Hunde mit Prügeln traktiert, zum »Gassenlaufen« gezwungen, durch die Spießruten, oft mehrmals, Kleider abgerissen, drauflosgehauen, bis Fetzen geronnenen Blutes herunterhingen, in den modernen Nationalstaaten und ihren ideologisch verbrämten imperialistischen Kriegen als Feiglinge, Vaterlandsverräter, unterm Faschismus als entartete Volksfeinde abgestempelt, im zweiten Weltkrieg von furchtbaren Juristen immer massenhafter verurteilt und exekutiert, öffentlich aufgehängt mit schmähenden Pappschildern um den Hals: “Ich bin ein fahnenflüchtiger Feigling“, nach 1945 aufs gründlichste vergessen, verdrängt, keine Rehabilitation, keine materielle Entschädigung, keine kollektive Erinnerungs- und Trauerarbeit für sie.

So steht es um die Deserteure, so stand es lange Zeit um sie. Erst seit kurzem hat sich das, in Westdeutschland, geändert. Aufgrund der Forschungs- und Öffentlichkeitsarbeit von einzelnen und Gruppen sind die Deserteure des zweiten Weltkrieges wiederentdeckt und zu symbolischen Figuren des diskursiven Feldes aktualisiert worden, auf dem heute über Krieg und Frieden, Militarismus und Abrüstung debattiert wird. Das ist, wie gesagt, erst seit kurzem so. Nur auf einem Gebiet ist das Thema Desertion von Anfang an, kontinuierlicher, auf vielfältige Weise und wiederholt mit großer öffentlicher Wirkung behandelt worden: auf dem Gebiet der Literatur. Aus diesem Grund sei hier ein Versuch gemacht, die literarischen Gestaltungen des Themas Desertion und der Figur des Deserteurs in einem Überblick vorzustellen, kritisch zu anlysieren und im Licht des gegenwärtigen Friedensdenkens zu fragen, was ihre Aneigung zu ihm beitragen könnte.

Es versteht sich, daß solch ein Thema interdisziplinäre Arbeit erfordert. Militärgeschichtliche Fakten, rechtliche und ethische Normen sind zu berücksichtigen. Eine spezifisch literaturwissenschaftliche Untersuchung zu dem Thema stellt gleichwohl ihre eigenen Fragen: wie verhalten sich hier die drei Ebenen der geschichtlichen Wirklichkeit, der gesellschaftlichen Diskurse, der literarischen Werke zueinander? Was leisten dichterische Gestaltungen des Themas Desertion gegenüber anderen Medien, z.B. historischen Dokumentationen und Studien, Ausstellungen, Kino- und Fernsehfilmen, Podiumsdiskussionen? Worin besteht die poetische Differenz dieser Texte, ihr spezifisches Sinn- und Wirkunspotential? Ich lasse mich in diesem Versuch von der Annahme leiten, es bestehe neben erinnernder Vergegenwärtigung einer vergessenen Menschengruppe unserer jüngsten Vergangenheit in einer eigentümlichen Übertragung und Verallgemeinerung, die das begrenzte historische Phänomen in weiterreichende Bedeutungszusammenhänge zu stellen vermag. Mein Interesse richtet sich auf die mögliche Gegenwärtigkeit der Texte. Als betont literaturkritisches ist es einem Arbeitsprogramm komplementär, das sich auf literarische Texte über Krieg und Frieden als historische »Dokumente und Zeitzeugen« bezieht.1

Fahnenflüchtige, Ausreißer

Meinen Versuch möchte ich beginnen mit einer Skizze zur Entwicklung des Diskurses über Desertion und Deserteure. Unter Diskurs2 verstehe ich dabei nicht einen bloßen Hintergrund, einen ideologischen Reflex der Gesellschaft, sondern eine reale, die Texte, seine Bestandteile, wie die Gesellschaft selbst formierende Macht. An dieser Macht haben die Wörter teil und die Art, wie sie benutzt werden. Gewiß ist es eher kurios als belangvoll, daß sich das Wort »Desertion«, ehe es im 17. Jahrhundert als neues Lehnwort aus dem Französischen kam, nicht auf den Krieg, sondern auf den Ehekrieg bezog und »böswilliges Verlassen des Ehepartners«3 meinte. Es ist aber vielleicht nicht ganz belanglos, wenn heute in den west- und ostdeutschen Militärstrafgesetzen für den gleichen Straftatbestand auch das gleiche Wort »Fahnenflucht« steht wie im gemeinsamen Vorgängerstaat, in Österreich dagegen »Desertion« und in der Schweiz »Ausreißen«. Alles andere als belanglos war es einst, daß der Kirchenvater Tertullian die Unvereinbarkeit von Christsein und Soldatsein rhetorisch höchst wirkungsvoll als Unversöhnlichkeit von göttlichem und menschlichem Fahneneid, Feldzeichen Christi und Feldzeichen des Teufels, Lager des Lichts und Lager der Finsternis darstellte.4 Denn als die Kirche später, mit dem größten Verrat ihrer Geschichte, von solcher Militia Christi desertierte und zur Staatskirche verkam, ließ sich der metaphorische Diskurs über Desertion auf doppelte Weise wörtlich nehmen: indem man die Ketzer, als geistliche Deserteure, unter Zuhilfenahme der römischen Militärsstrafgesetze verfolgte5 und indem man die militärischen Deserteure mit der ganzen Unerbittlichkeit des religiösen Fanatismus aburteilte.6

Bis heute wecken die Wörter »Desertion« und »Deserteur« Mißtrauen, nicht nur weil die gemeinte Sache je nach Relation und Position negativ oder positiv bewertet werden kann – Desertion von der bösen Armee ist gut, von der guten dagegen böse, sondern auch weil die Ausdrücke leicht übertragene oder erweiterte Bedeutungen an sich ziehen: Desertion von einer Armee, einer Ideologie, einem Staate usw.7a So versucht man sie unter Kontrolle zu halten, und sei es nur lexikographisch. In der Neubearbeitung des Grimmschen Wörterbuches sind aus modernem Sprachgebrauch sorgfältig Belegstellen ausgewählt, die sich auf Deserteure der US-Armee während des Vietnamkrieges beziehen.7b Eine Gedenktafel am Berliner Bahnhof Friedrichstraße teilt mit, dort seien „zwei junge deutsche Soldaten von entmenschten SS-Banditen erhängt“ worden8„zwei junge deutsche Soldaten“, als seien Deserteure schlafende Hunde.

Tabu Desertion

In der BRD hat das Thema Desertion lange Zeit geradezu unter einem diskursiven Tabu gestanden. Nach 1945 bildete sich kein öffentliches Bewußtsein vom Schicksal der Deserteure des zweiten Weltkrieges. Geltendes Recht und öffentliche Moral grenzten sie aus. Das Stigma der Feigheit und des Verrats hinderte überlebende Deserteure, sich in der Öffentlichkeit eines Staates zu Wort zu melden, der nur allzubald von Restauration und Remilitarisierung geprägt wurde.9 Allein den Schriftstellern ist es zweimal gelungen, das Diskursverbot über Desertion nachhaltig zu brechen: Alfred Andersch, als er 1952 den Bericht über seine eigene Desertion »Die Kirschen der Freiheit« veröffentlichte, ein „Trompetenstoß in schwüle Stille“, wie Heinrich Böll damals sagte10, gefolgt von einer heftigen, sehr kontroversen, aber bald wieder verstummenden Diskussion; Rolf Hochhuth, als er 1979/80, in der Zeit einer erneuten restaurativ-autoritäten Wende in der politischen Kultur der BRD, mit seinem Theaterstück »Juristen«11 das verdrängte Thema der Militärjustiz im »Dritten Reich« öffentlich machte und dabei den Ministerpräsidenten und ehemaligen Marinestabsrichter Filbinger politisch zu Fall brachte, der neben anderen Heldentaten eines furchtbaren Juristen ein Todesurteil über den Deserteur Walter Gröger erwirkt und auch vollstreckt hatte.12 Der Fall Gröger wurde durch Hochhuth zum Paradigma. Während Andersch' Bericht den damaligen Diskurs über Desertion nicht wesentlich hatte verändern können, aufgrund seiner poetischen Qualität jedoch weiterhin mit einem Wirkungspotential präsent ist, das ich noch näher bestimmen möchte, hat Hochhuths künstlerisch kaum lange lebensfähiges Stück eine öffentliche, bis in die Gegenwart anhaltende Diskussion initiiert, die das diskursive Feld, auf dem über Desertion und Deserteure geredet und gedacht wird, entscheidend verschoben und erweitert hat. Das Tabu ist in der Bundesrepublik seitdem gebrochen.

Im Gegenzug zu ideologischen Tendenzen eines gefährlichen Neonationalismus, einer „Entsorgung der Vergangenheit“ und Aufwertung »soldatischer Tugenden« und in enger Tuchfühlung mit der westdeutschen Friedensbewegung hat sich eine breite öffentliche Debatte über die Deserteure des zweiten Weltkrieges entfaltet, die auf historische Aufklärung, Nachholen von Trauerarbeit und Veränderung des bisher herrschenden Deserteursbildes zielt. Mittlerweile sind, als überfällige Antworten auf apologetisch geschichtsklitternde Darstellungen ehemaliger Kriegsrichter13, mehrere materialreiche historiographische Arbeiten erschienen, die das Schicksal der Deserteure in statistischer Breite und anschaulichen Fallstudien gleichermaßen erschütternd vor Augen stellen.14 Um den Männern, die sich illegal der Mordgemeinschaft entzogen und dafür vieltausendfach ihrerseits legal – und bis heute rechtsgültig – ermordet wurden, das gebührende Gedenken zu widmen, haben sich in den achtziger Jahren quer durch die BRD zahlreiche Initiativen zur Errichtung von Denkmälern für Deserteure gebildet, die zwar mit dieser engeren Zielsetzung bisher meist ohne Erfolg geblieben – in Bremen gibt es ein Denkmal, in Kassel eine Gedenktafel, desto erfolgreicher jedoch im vielfachen Anstoßen öffentlicher Diskussionen sind.15 Insgesamt zeigt die öffentliche Resonanz der Aktionen, daß auf dem engeren Feld des Diskurses über Deserteure eine beachtliche Verschiebung zu deren Gunsten stattgefunden hat.

»Ethik der Verweigerung« statt »Fahnenflucht«

Die Deserteure sind, unabhängig von den historischen Konstellationen und individuellen Motiven, zu symbolischen Leitfiguren eines neuen, radikalen Antimilitarismus geworden, der nicht das Stigma der Fahnenflucht in das Verdienst des Widerstands umdefiniert, sondern auch eine herkömmliche Sortierung wie Aggressions-/Verteidigungskrieg, guter/schlechter Deserteur16 hinter sich läßt. Auf dem Feld des gegenwärtigen Diskurses über Krieg und Frieden bewirkt der Symbolwert der Desertion, daß auch die »horizontale« ideologische Opposition Imperialismus vs. Sozialismus17 durchkreuzt wird von der »vertikalen« Unterscheidung eines staatshörigen und eines staatskritischen Diskurses.18 Die ethische Problematik der Desertion, die aufbricht, wenn es nicht um Deserteure aus der Nazi-Wehrmacht geht – sie konnten und können nur von einer Pseudo-Ethik verurteilt werden, sondern aus einer gegnerischen Armee, z.B. der Roten, erhält im Licht gegenwärtiger Einsichten über das Destruktivpotential von Rüstung, Armeen und Militärmacht als solcher und in allen politischen Lagern eine neue Dimension. Der Deserteur, egal aus welcher Armee, gerade mit seiner unheroischen, zivilistischen, plebejischen, kreatürlichen Todesfurcht und Lebensliebe, wird zur Leitfigur einer anderen Ethik, einer Ethik der Verweigerung, des Sich-Entziehens und Nicht-mehr-Mitmachens, des Aussteigens und Weggehens. Christa Wolfs Kassandra liebt einen Aineias, der sich bei Trojas Ende mit seinen Leuten absetzt und so davonkommt, überlebt, nicht jedoch den, der später ein Held sein muß.19 Das heroische Ideal, das noch dort nicht überwunden ist, wo, an sich plausibel, vom Pseudo-Heroismus des Wehrmachtsoldaten und vom bescheidenen Heldentum des Überläufers aus der NS-Armee der »wahre Heroismus« des Kämpfers gegen die Faschisten abgehoben wird,20 wo Klassenkampf weiterhin in militärischen Kategorien gedacht wird, wo Disziplin und andere »soldatische Tugenden« mehr gelten als Liebe zum Leben21 – dieses Ideal wird durch das neue Gegen-Leitbild des Deserteurs nachhaltig irritiert. Gegen den Militärzynismus staatlicher Machtapparate wird eine »kynische« Haltung gesetzt,22 die plebejische Optik des Sancho Pansa, des Schwejk und des Brechtschen Sokrates, der ein Held der Wahrheit, nicht des Krieges ist und darum in die richtige Richtung läuft: nach hinten.23 Das »Prinzip Desertion«, in provozierender Verallgemeinerung und Metaphorisierung von Gerhard Zwerenz24 und anderen als Inbegriff eines modernen Antimilitarismus verstanden, zielt nicht auf bestimmte Militärkomplexe, sondern auf radikale Abkehr von der „destruktiven Logik militärischen Denkens“ überhaupt25 und auf Abbau von »Staatsloyalität« zugunsten einer – wie Dorothee Sölle sagt – „Loyalität dem Leben gegenüber“.26

Poetische Spuren

Natürlich finden sich auch in älterer deutscher Literatur schon Deserteure. Den Anfang machte die Lyrik, das Volkslied, das klagende und anklagende, plebejische und rebellische Soldatenlied des 18. Jahrhunderts. Elf Deserteurslieder hat Wolfgang Steinitz gesammelt,27 darunter »Nun ade, jetzt reis' ich fort«, damals das beliebteste von allen, »Es wollt ein Soldate desertieren«, »Von einem preußischen Deserteur«, »Zu Straßburg auf der Schanz«, weitbekannt in der Vertonung Silchers und der sentimental verharmlosten Textfassung aus »Des Knaben Wunderhorn«.

Ich will mich aber im wesentlichen auf die Zeit konzentrieren, wo das Deserteursmotiv wohl am häufigsten literarisch behandelt worden ist: die beiden Jahrzehnte nach 1945.

Entfernung von der Truppe

Nach Alfred Andersch, dessen – noch zu behandelnder – Bericht »Die Kirschen der Freiheit« meiner Einschätzung nach der alle anderen überragende Text über Desertion geblieben ist, haben noch drei weitere bedeutende westdeutsche Autoren das Thema erzählerisch behandelt. Arno Schmidts frühe Erzählung »Aus dem Leben eines Fauns« verfremdet das Thema durch Historisierung: Ein alternder Beamter im Nazi-Deutschland, mit seiner hitlerhörigen Umgebung immer mehr hadernd, kommt bei Archivstudien aud die Spuren eines Deserteurs der Napoleonzeit, entdeckt sogar die Reste von dessen Unterschlupf im Wald und richtet sich dort selber, mitten im Weltkrieg, ein heimliches Liebesdidyll ein, sein Ehefrau »böswillig verlassend«.28 Heinrich Böll, in dessen früher Kriegsprosa die – wenn auch tödlich vereitelte – Desertion wiederholt zum erzählerischen und ideellen Fluchtpunkt gemacht ist (»Der Zug war pünktlich«, »Wo warst du, Adam?«) und der an anderer Stelle von seiner eigenen Desertion berichtet hat, bemüht in seiner Erzählung »Entfernung von der Truppe« einen allzu großen Aufwand von oft recht gezwungener Ironie, um seinen Ich-Erzähler Wilhelm Schmölder nach umständlichem Anlauf sein eigenes, durch gespielte Harmlosigkeit zersetzendes, zivilistisches, echt Böllsches Bekenntnis vorbringen zu lassen, daß Menschwerdung dann beginne, „wenn einer sich von der jeweiligen Truppe entfernt“.29

Heimatlose Revolutionäre

Heinar Kipphardt hat seine späte Erzählung »Der Deserteur«30 aus dem Material für ein von ihm nicht mehr realisiertes Romanprojekt mit dem für sein Schreiben charakteristischen Verfahren der Dokumentarmontage erarbeitet.31a Sie ist das desillusionierende Gegenstück zu jenen sozialistischen Wandlungsromanen, in denen die Desertion letztlich immer als Übergang von der falschen auf die richtige Seite dargestellt ist. Jakob Hartel, politischer Häftling im Konzentrationslager M., wird nach dem gescheiterten Versuch eines SS-Führers, das Lager in einen Wirtschaftsbetrieb nach modernen kapitalistischen Prinzipien umzuwandeln, in die berüchtigte Brigade Dirlewanger gesteckt und zur »Frontbewährung« beim Warschauer Aufstand eingesetzt. In der Altstadt tötet er seinen Vorgesetzten und desertiert in die Gefangenschaft der nahen, aber auf Stalins zynische Weisung nicht in die Kämpfe eingreifenden Roten Armee. Selber kommunistischer Widerstandskämpfer, wird er von einem stalinistischen deutschen Parteibürokraten mißtrauisch verhört. Wie sich auf der einen Seite im Terrorsystem des SS-Staates kapitalistisches Denken entwickelt, pervertiert auf der andern das revolutionäre zu Hörigkeit gegenüber einem anderen Diktator. Macht- und Funktionärszynismus auf beiden Seiten, der Deserteur als ortlos gewordener Revolutionär – das ist die bittere Botschaft von Kipphardts Erzählung.31b

Das Prinzip Leben

Die kritische Sichtung literarischer Gestaltungen von Desertion und Deserteuren in deutschprachiger Nachkriegsliteratur fördert wenig von bleibendem Gewicht zutage. Die meisten der Text haben nicht genügend poetische Kraft, die Spannung von Historizität und Aktualität zu bestehen. Ich möchte darum im letzten Teil meines Versuchs zwei Prosawerke miteinander konfrontieren, und zwar unter einem Gesichtspunkt, der auch in den meisten übrigen literarischen Arbeiten über Deserteure wenigstens anklingt und der für den gegenwärtigen und zukünftigen Diskurs über Frieden m.E. große Bedeutung hat. Ich nenne ihn, abgekürzt, das Prinzip Leben. Die plötzliche Erfahrung der Verbundenheit mit dem Leben und des eigenen Lebendigseins, bei noch drohender oder gerade abgewendeter Todesgefahr – das ist ein Element, das in den Deserteursdarstellungen immer wiederkehrt. Und immer wieder sind es Naturmotive, in denen sich diese Erfahrung poetisch spiegelt.

Das Bild des Wildkirschenbaums und seiner reifen Früchte, mit dem die Erzählung von Alfred Andersch schließt und auf das sich ihr einprägsamer Titel bezieht, hat mancherlei Parallelen in anderen Texten. Das Deserteursstück von Hacks beginnt, indem es die plebejische Lebenszugewandtheit des Helden und ein glückliches Ende symbolisiert, mit dem Bild des unter einem Pflaumenbaum sitzenden und dessen Früchte essenden Braeker. Hartungs Deserteursnovelle gipfelt im Bild eines blühenden Apfelbaums mit Amselgesang, das den Entronnenen die „Gnade des Lebens“ und die „heitere Lust des Daseins“ innewerden läßt.32 In anderen Werken tritt dieses kreatürliche Naturgefühl mit Liebeserfahrung zusammen in Gestalt einer vorübergehenden, inselhaften Idylle – so bei Friedrich Wolf und Albrecht Goes. Mit solchen und verwandten Motiven bezeugen die literarischen Deserteursdarstellungen, ob gezielt oder nebenbei, ob tragisch ausgehend oder glücklich, das Prinzip Leben. Sie berühren damit eine Dimension von Friedensfähigkeit, die elementarer ist als alle ideologischen und ethischen Probleme, die das Thema Desertion auch in sich birgt, eine Dimension, die im Unterschied zu diesen im literarischen Medium nur auf genuin poetische Weise darstellbar ist.

So weit das Buch »Die Kirschen der Freiheit« von Alfred Andersch auch z.B. hinter den Werken der russischen Literaten Tschingis Aitmatov (»Aug in Auge«)33a und Valentin Rasputin (»Leb und vergiß nicht«)33b künstlerisch zurücksteht, so weit überragt es seinerseite die anderen deutschen Texte auf diesem thematischen Feld. Meine These ist nun, daß ein spezifischer und aktuell bleibender Wert diese Buches eben in einer poetischen Vergegenwärtigung des Prinzips Leben bestehe. Um diese Einschätzung zu verdeutlichen, möchte ich das Buch von Andersch mit einem weiteren poetischen Deserteursbuch konfrontieren, in dem dieses Prinzip, als Verbundenheit mit der Natur, geradezu programmatisch ins Zentrum gerückt ist. Ich meine Wilhelm Lehmann Roman »Der Überläufer«, der, gleichfalls autobiographisch fundiert, eine Desertion nicht im zweiten, sondern im ersten Weltkrieg darstellt.34 Ende der zwanziger Jahre geschrieben, in der großen Zeit der Kriegs- und Antikriegsliteratur also, konnte das Werk, in gekürzter Fassung, erst 1962 veröffentlicht werden, zehn Jahre später als der Bericht von Andersch und mit ungleich geringerer Wirkung.

Metaphysisches Überlaufen zur Natur

Im Zentrum der Kriegsdarstellung bei Lehmann, die sich auf Militärdienst, Fronteinsatz und Gefangenschaft erstreckt, steht wie der Titel andeutet, die Desertion. Doch die Kriegsdarstellung wiederum – in der gekürzten Spätfassung füllt sie leider nur ein Fünftel des Romans – wird eingerahmt von der Lebensgeschichte des Helden, einer merkwürdigen Mischung aus Bildungsroman und Legende. Dieser Deserteur Hanswilli Nuch ist Überläufer in einem umfassenderen, in einem metaphorischen und metaphysischen Sinn: er läuft, als radikaler »Aussteiger«35, zur Natur über. Von früh auf ihr permanenter poetischer Beobachter, wird er nach dem Krieg, der nicht nur die europäischen Völker, sondern die ganze Welt, die Erde, den Kosmos, die Schöpfung, mit dem „schrecklichsten Zwang“ 36 heimgesucht hat, ihr Adept, ihr Verkünder, ihr Heiliger. Denn ohne Versöhnung mit der Natur – so lautet Nuch/Lehmanns Evangelium – läßt sich auch die gesellschaftliche Entzweiung nicht aufheben, die den modernen Krieg hervorbringt.

So lesenwert nun Lehmanns mutige, unbestechlich nüchterne, antiideologische Abrechnung mit Militärwesen und Krieg noch heute ist – dieser Teil des Romans hätte verdient, für sich publiziert zu werden, so eindringlich die Vorführung einer mimetischen Naturbeziehung in sensibler poetischer Prosa – »Der Überläufer« bleibt als ganzes ein problematisches Buch. Die Sensibilität für Natur wird erkauft mit Harthörigkeit für das Menschlich-Soziale. Dem trivial-soldatischen wird ein elitär-naturmystischer Männlichkeitskult – gut vereinbar mit dem Kult der Mutter Erde – entgegen gestellt. Das scheinbar zeitlose Naturevangelium hat teil am trüben Diskurs des Kulturpessimismus, an den Ideologemen der zwanziger Jahre. Die poetische Vergegenwärtigung des gegen die Todeswelt des Krieges gesetzten Prinzips Leben reduziert sich bei Lehmann, polemisch gesagt, auf Botanisieren plus Mythologie. Das Prinzip Desertion wird so sehr ins Metaphysische hinein überdehnt, daß als seine Kehrseite ein hilfloser Antimilitarismus erscheint, der letztlich alles beläßt, wie es ist – Naturkult als »innere Emigration«.

Die Kirschen der Freiheit

Auch in »Die Kirschen der Freiheit« ist die Desertion nicht einfach Desertion. Die autobiographische Erzählung von Alfred Andersch über sein Leben bis zur Desertion von der NS-Wehrmacht im Juni 1944 an der italienischen Front gibt sich zugleich als philosophisches Bekenntnis zum Freiheitsbegriff des Existentialismus. Die Desertion wird damit auch von Andersch ins Metaphysische überhöht: als augenblickhafter »Akt der Feiheit«, den es zwischen Gefangenschaft und Gefangenschaft als existentielle Entscheidung zur Rebellion gegen das Schicksal zu vollziehen gelte.37 Diese exemplarische Stilisierung einer vergleichsweise undramatischen Desertion ist, rezeptionsästhetisch gesehen, eine provozierende Verfremdung des Themas – gewesen. Welche Funktion hat diese Verfremdung? Vergleicht man »Die Kirschen der Freiheit« mit der Vorstufe »Flucht in Etrurien«, so wird deutlich, in welcher Weise sich Intention und poetische Organisation des Stoffes verschoben haben. »Flucht in Etrurien« erzählt fiktionalisierend in der dritten Person von dem Soldaten Werner Rott und zwei Kameraden, die verschiedene Haltungen gegenüber seinem Entschluß zur Desertion einnehmen. Die narrative Umsetzung der Alternative „Der eine, der da blieb, und der andere, der fort ging“ 38 ist auch noch in »Die Kirschen der Freiheit« als Textelement erhalten. Dreierlei kam in der neuen Version hinzu: erstens die Überhöhung der Desertion in Anlehnung vor allem an die Philosophie Sartres, für die Andersch damals vehement eintrat, nach der Basisformel einer Arbeitsnotiz: „Klammerung von Desertionsproblem + Existenzphilosophie“;39 zweitens ein langer erster Teil, der in rückblickender Selbstdeutung die Lebensgeschichte des Ich-Erzählers und ihre Leitmotive, ihren „unsichtbaren Kurs“, vorstellt, wobei das Hauptthema dieses Teils, die Abkehr von der Kommunistischen Partei, in eine den Leser wiederum herausfordernde antithetische Analogie zur späteren Desertion gerückt wird; und drittens ausführliche Reflexionen über Soldateneid, Wehrpflicht und zukünftige Armeeformen.

An diesen drei neuen Textkomponenten, die den publizistischen Reizwert, die öffentliche Resonanz und die zeitgeschichtliche Aktualität des Buches, im Unterschied zu der kaum beachteten Publikation der Vorstufe, bewirkt haben, läßt sich sein Eingriffs- und Projektcharakter ablesen: als antimilitaristisches Bekenntnis in der Zeit beginnender Remilitarisierung, nicht jedoch als direkte politische Stellungnahme, als Versuch, andere zu überzeugen, sondern als Rechenschaftsbericht über eine „ganz private und subjektive Wahrheit“. Gleichwohl zeichnet sich deutlich die Positionsnahme des Autors auf dem diskursiven Feld in dem Kapitel »Fahnenflucht« ab, das seine Reflexionen über Eid und Wehrpflicht enthält, die damals heftige Kontroversen auslösten.40 So gewiß die existentialistische Stilisierung der Desertion, die theologischen Denkmotive im Text, die Abrechnung mit der Kommunistischen Partei das Buch für bürgerliche Intellektuelle zustimmungsfähig machten, so gewiß hat Andersch hierin nicht nur taktisch operiert. Seine Kritik an der KP als Organisation, übrigens bei gleichzeitigem Bekenntnis der »Treue« zu den vom Faschismus verfolgten und ermordeten »Genossen«, eine Kritik, die weder dort ernstgenommen ist, wo man den Autor zum politischen Deserteur, zum Renegaten abstempelte,41 noch dort, wo man sie auf ein ungenaues Wissen von der richtigen marxistischen Lehre über Determination und Willensfreiheit herunterspielt42 – diese Kritik bleibt bedenkenswert, auch wenn sich die philosophische Position, von der aus sie formuliert ist, von heute aus gesehen, als Ausdruck einer aporetisch, ortlos gewordenen linken Intelligenz erweist – aus triftigen Gründen aporetisch angesichts von Faschismus, kapitalistischer Restauration und Stalinismus.

Dennoch ist die diskursive Weise, in der Andersch seine Desertion aus der NS-Wehrmacht literarisch verallgemeinert und aktualisiert hat, inzwischen ihrerseit historisch geworden. Als indirektes Zeugnis gegen die westdeutsche Remilitarisierung ist das Buch von der Geschichte ebenso überholt worden wie als Rechtfertigung der Fahnenflucht aus einem Krieg, den nicht als verbrecherisch zu verurteilen, nur Unbelehrbaren vorbehalten bleibt. Historisch obsolet ist das Moment der Überkompensation, das den »Kirschen der Freiheit«, bei allen sonstigen Unterschieden, ebenso wie Wilhelm Lehmanns »Überläufer« anhaftet. Desertion als Naturreligion, Desertion als existentialistischer Akt – in beiden Fällen wird ein diskriminierender Druck kompensiert, der in den zwanziger und fünfziger Jahren wohl ähnlich groß war, der heute jedoch, in der Bundesrepublik, erheblich geschwunden sein dürfte.

Um einer Aktualität, die das Buch von Andersch gleichwohl im Rahmen des gegenwärtigen Friedensdenkens gewinnen könnte, auf die Spur zu kommen, muß man es in der Vielfalt seiner Widersprüche und offenen Fragen wahrnehmen. Ich denke an die Widersprüche von Erzählung und Essay, Erlebnis und Diskurs, poetischem Titel und sachlichem Untertitel, Nüchternheit und Pathos, stilistischer Gewähltheit und burschikoser Lässigkeit, Ernst Jünger und Jean-Paul Sartre als Vorbildern, philosophischem Traktat und manchmal fast jungenhaft erlebter und erzählter Abenteuergeschichte. Solche Widersprüche verhindern jede Einschüchterung durch die Geschlossenheit eines vollendeten Kunstwerks. Sie erhalten das Buch, Erstling eines jungen Autors, bis heute lebendig und seine Lektüre produktiv.

Das wilde Aroma von Leben

Der markanteste Widerspruch besteht in einer den ganzen Text durchziehenden Spannung von Darstellung und Reflexion, ideologischem Überbau und sinnlicher Materialität und Vielfalt der Erfahrungen. Doch wäre es wiederum eine Reduktion, diese Ebene erzählerisch vergegenwärtigter Erfahrung als typischen Ausdruck einer desorientierten Generation zu dechiffrieren, die keinen „Anschluß an progressive geschichtliche Bewegungen gefunden“ habe.43 Wenn man die Themenbereiche und semantischen Felder des ganzen Textes sorgfältig analysiert, d.h. die gesamte textuelle Einbettung des Motivs der Desertion, auf das die Erzählung als ihren Fluchtpunkt hinläuft, dann wird man den beiden Bereichen besondere Aufmerksamkeit widmen müssen, die neben denen der politischen Arbeit und des Krieges den breitesten Raum einnehmen: Landschaft und Kunst. Kunst und »Kampf des Menschen gegen das Schicksal«, für den die Desertion als Exempel erscheint, werden unter dem Polysem »Freiheit« – einer »verantwortungslosen« – vom Autor parallelgesetzt. Das ist ein Fingerzeig dafür, das ästhetische Prinzip als mindestens gleichwertig neben dem ethischen zu sehen, das sich auf der Diskursebene des Textes sonst dominierend gibt. „Glücklicherweise“ sind »Die Kirschen der Freiheit« – so heißt es bezeichnenderweise nicht in einer deutschen, sondern einer französichen Rezension 1954 – kein „moralischer Traktat“.44 In der Kunsterfahrung des Erzählers vollzieht sich eine nicht weiter von ihm analysierte, aber deutlich benannte Entwicklung von einer Ästhetik der »Introversion«, der »Emigration aus der Geschichte«, die als politische Resignation angesichts des totalen Staates kritisch dargestellt ist, zu einer anderen Ästhetik, welcher der ganze Text mit seinen vielen liebevollen und nuancierten Bezugnahmen auf Kunst- und Naturschönes Ausdruck gibt, einer Ästhetik, die manches mit dem Weiss'schen Konzept einer »Ästhetik des Widerstands« gemein hat, die man zutreffender aber wohl eher als eine »Ästhetik des Lebens« bezeichnet. Die scheinbare Bindungslosigkeit der ästhetischen Erfahrung führt der Text auf poetische Weise als Bindung ans Leben vor: als liebevolle Hingabe an Welt, als Offenheit für alles Lebendige in Natur und Gesellschaft und als Innewerden des eigenen Lebendigseins.

Das „wilde Aroma von Leben“ ist im „Aroma der Kunst“, im revolutionären Kampf, im grenzüberschreitenden Reisen, im Glück mimetischer Hingabe an Landschaft gleichermaßen zu erfahren. Das Prinzip Leben, für das »Die Kirschen der Freiheit« werben, ist mehr als ein Überlebensprinzip im faschistischen Krieg, mehr auch als eine abstrakte Freiheitsideologie. Weniger auf der diskursiven als auf der poetischen Ebene des Textes angesiedelt, begrifflich also schwer zu fixieren, ist es am ehesten als kritisches Prinzip greifbar: wo vom „Sterben einer Partei“ an Bürokratie, Macht und Terror gesprochen wird, einer Partei, die man für „spontan, frei, lebendig und revolutionär“ gehalten hatte und die immer mehr „die Lebendigen“ in ihr unterdrückt. In den Widersprüchen des individuellen und gesellschaftlichen Lebens, selbst angesichts von Desillusionierungen und Katastrophen, nicht erstarren, sondern „lebendig bleiben“ durch Offenheit für alle Quellen von Gegenkraft, exemplarisch verkörpert im Erlebnis von Kunst und Landschaft, darin besteht m.E. eine fortgeltende Botschaft der »Kirschen der Freiheit«.

Provozierendes »Prinzip Desertion«

Diese Botschaft entspricht recht genau denjenigen Stimmen innerhalb der produktiven Vielfalt des gegenwärtigen Friedensdenkens, die gleichfalls an der Figur des Deserteurs das Prinzip Leben verdeutlicht sehen. Das historische Faktum der Desertionen im zweiten Weltkrieg wird in beiden Fällen, einmal poetisch, einmal diskursiv, in kühner Weise generalisiert. In solcher Verallgemeinerung liegt immer ein Moment des Riskanten, Provozierenden, Entgrenzenden. Boris Vian hatte sein berühmtes Lied »Le Deserteur«45, das von Wolf Biermann sehr schön nachgedichtet worden ist,46 nach dem Indochinakrieg geschrieben. Gesungen aber wurde es auch mit Blick auf den Algerien-, Vietnam-, den Afghanistan-Krieg. Die jeweils Herrschenden verboten es oder hörten es sehr ungern an, den Linken war es zu »pazifistisch«, trat es doch ebenso wie gegen den Krieg für das Leben ein. Daß die deutschen Deserteure des zweiten Weltkrieges ein ehrendes Andenken verdienen, auch die, welche nur leben wollten, sieht man heute vielleicht mehr als früher ein, eine Herausforderung aber bleibt das gezielt verallgemeinernde Prinzip Desertion. Für die »Flucht von den Fahnen« wird kein Orden verliehen, nur – wie es in einem Gedicht Ingeborg Bachmanns heißt – der „Stern der Hoffnung“.47 Hoffen wir, daß unsere im Umgang mit lebendiger Dichtung aktivierte „Loyalität dem Leben gegenüber“ (Dorothee Sölle) dazu beitrage, einen Krieg zu verhindern, aus dem es keine Desertion gäbe!

Anmerkungen

1) Ursula Heukenkamp: Fahnenflucht und Vaterlandsverrat? Erwiderung auf Günter Hartung, in: Z.f.Germ. 10 (1989), S. 470-476; hier S. 472; dies.: Vorschläge zur Friedensforschung, in : WB 34 (1988), H. 1, S. 7-16.Zurück

2) Vgl. Jürgen Erfurt/Reinhard Hopfer: Sprache und Frieden. Aufgaben der Linguistik aus der Sicht der Diskursanalyse, in Z.f.Germ. 10 (1989), S. 309-324. Zurück

3) Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Neubearb. Bd.6, Leipzig 1983, Sp. 751 ff. Zurück

4) Adolf von Harnack: Militia Christi, Tübingen 1905 (Tertullian: De idolatria, c. 19). Zurück

5) W. Seston: Artikel „Fahnenflucht“, in: Reallexikon f. Antike u. Christentum, Bd. 7, Stuttgart 1969, Sp. 286. Zurück

6) Karlheinz Deschner: Kriminalgeschichte des Christentums, Bd. 1, Reinbek 1986, S. 253, 261 f. Zurück

7a) Thomas Mann: Gesammelte Werke in zwölf Bänden, Frankfurt/Main 1960, Bd. 3, S. 595, vgl. S. 578 u. 633. Zurück

7b) Deutsches Wörterbuch (Anm. 3), Sp. 751 ff. Zurück

8) Norbert Haase: Deutsche Deserteure, Berlin 1987, S. 66. Zurück

9) Ebd., S. 14 f., 91 f. Zurück

10) Heinrich Böll: Trompetenschoß in schwüle Stille, in: Welt der Arbeit (Köln) v. 28.11.1952; abgedr. in: Über Alfred Andersch; hrsg.v. G. Haffmanns, Zürich 1974, S. 48 f. Zurück

11) Rolf Hochhuth: Juristen. Drei Akte für sieben Spieler, Reinbek 1979. Zurück

12) In Sachen Filbinger gegen Hochhuth. Die Geschichte einer Vergangenheitsbewältigung, hrsg.v. R. von dem Knesebeck, Reinbek 1980. Zurück

13) Otto Peter Schweling/Erich Schwinge: Die deutsche Militärjustiz in der Zeit des Nationalsozialismus, Marburg 1977. Zurück

14) Haase: Deutsche Deserteure (Anm. 8); Jörg Kammler: Ich habe die Metzelei satt und lange über. Kasseler Soldaten zwischen Verweigerung und Widerstand (1939-1945). Eine Dokumentation, Fuldabrück 1985;
Manfred Messerschmidt: Deutsche Militärgerichtsbarkeit im Zweiten Weltkrieg, in: Die Freiheit des Anderen. Festschrift für Martin Hirsch, hrsg.v. H.J. Vogel (u.a.), Baden-Baden 1981, S. 111-142;
ders./Fritz Wüllner: Die Wehrmachtjustiz im Dienste des Nationalsozialismus, Baden-Baden 1987, S. 90-131;
Alexander-Seitz Geschichtswerkstatt Marbach und Umgebung e.V.: »Für mich ist der Krieg aus«. Fahnenflucht, Verurteilung und Exekution des Erwin Kreetz in Kleinbottwar im April 1945, Marbach a.N. 1987.Zurück

15) Vgl. u.a. Stefan Reineke (Marburg): Der Oberstleutnant und die Deserteure, in: taz v. 3.8.1988, S, 5; Petra Heilingbrunner: Du schweigst oder fliegst. Ein Denkmal für Deserteure?, in: Die Zeit v. 2.9.1988, S. 17; Stefan Koldehoff: Schießausbildung in Wuppertal. Hunderte von Deserteuren im März 45 in der Wuppertaler Sagan-Kaserne hingerichtet?, in taz v. 11.3.1989, S. 12. Zurück

16) Militärlexikon (Autorenkollektiv), 2Bde., Berlin 1971, S. 188 f. Zurück

17) Ebd., S. 189 Zurück

18) Vgl. Ekkehart Krippendorff: Staat und Krieg. Die historische Logik politischer Unvernunft, Frankfurt/Main 1985. Zurück

19) Christa Wolf: Kassandra, Darmstadt 1983, S. 7, 36, 156. Zurück

20) Hermann Kant/Frank Wagner: Die große Abrechnung, in: NDL 5 (1957) H. 12, S. 124-139; hier S. 135. Zurück

21) Haase: Deutsche Deserteure (Anm. 8), S. 106 f. Zurück

22) Peter Sloterdijk: Kritik der zynischen Vernunft, Bd. 1 u. 2, Frankfurt/Main 1983, Bd. 2, S. 403 ff. Zurück

23) Der verwundete Sokrates, in: Bertolt Brecht: Gesammelte Werke (werkausgabe edition suhrkamp), Frankfurt/Main 1967, Bd. 11, S. 286-303;
vgl. Klaus-Detlef Müller: Brecht-Kommentar zur erzählenden Prosa, München 1980, S. 327-330.Zurück

24) Gerhard Zwerenz: „Soldaten sind Mörder“. Die Deutschen und der Krieg, München 1988, S. 417-424. Zurück

25) »Die Kirschen der Freiheit«. Eine Ausstellung im Museum Gelsenkirchen-Buer, hrsg.v. Aktion gegen den Krieg Gelsenkirchen 1988. Zurück

26) Dorothee Sölle: Für die unbekannten Deserteure. Rede in Bonn am 1.9.1989 (Manuskript), in: Denk-mal für die Unbekannten Deserteure, S. 42 f. Zurück

27) Wolfgang Steinitz: Deutsche Volkslieder demokratischen Charakters aus sechs Jahrhunderten, Bd. 1 u. 2, Berlin 1955 u. 1962, Bd. 1, S. 463-499. Zurück

28) Arno Schmidt: Aus dem Leben eines Fauns, Frankfurt/Main 1973 (Erstveröffentl.: 1953). Zurück

29) In: Heinrich Böll: Als der Krieg ausbrach. Erzählungen, München 1965, S. 199-261 (Erstveröffentl.: 1964). Zurück

30) Heinar Kipphardt: Der Mann des Tages und andere Erzählungen, Müncehn 1977, S. 163-220. Zurück

31a) Adolf Stock: Heinar Kipphardt, Reinbek 1987, S. 118. Zurück

31b) Es wäre interessant, in Hinblick auf die Darstellung des Warschauer Aufstandes den Tatsachenroman »Unternehmen Thunderstorm« (Berlin 1954) von Wolfgang Schreyer zum Vergleich heranzuziehen. Zurück

32) Hugo Hartung: Der Deserteur oder Die große belmontische Musik, München 1948, S. 48, 50, 53. Zurück

33a) Tschingis Aitmatow: Aug in Auge, aus d. Russischen übers.v. H. Herboth, Zürich 1989. Zurück

33b) Russische Originalausgabe 1974. Zurück

34) Wilhelm Lehmann: Gesammelte Werke in acht Bänden, Bd. 3: Romane I, hrsg.v. U. Pörsken, Stuttgart 1989. Zurück

35) Walter Hinck: Berührung mit Brennesseln. Die späte Entdeckung eines frühen Romans von Wilhelm Lehmann, in: FAZ v. 19.5.1989;
Norbert Mecklenburg: Vom Deserteur zum Naturheiligen. Wilhelm Lehmanns Roman »Der Überläufer« in der neuen Werkausgabe, in: NZZ.Zurück

36) Lehmann (Anm. 34), S. 120. Zurück

37) Alfred Andersch: Die Kirschen der Freiheit. Ein Bericht, Zürich 1971 (Erstveröffentl.: 1952), S. 81. Zurück

38) Alfred Andersch: Flucht in Etrurien. Zwei Erzählungen und ein Bericht, Zürich 1981, S. 142. Zurück

39) Vgl. Wilfried Barner: Alfred Andersch: »Die Kirschen der Freiheit«. Zeitsignatur, Form, Resonanz, in : Zeit der Moderne, hrsg. v. H.-H. Krummacher (u.a.), Stuttgart 1984, S. 1-23; hier S. 9. Zurück

40) Gut analysiert hat dieses diskursive Feld Ursula Reinhold: Alfred Andersch. Politisches Engagement und literarische Wirksamkeit, Berlin 1988, S. 76 ff. Zurück

41) Arno Hochmuth: Literatur und Dekadenz, Berlin 1963, S. 101. Zurück

42) Reinhold: Alfred Andersch (Anm. 40), S. 79 f. Zurück

43) Reinhold: Alfred Andersch (Anm. 40), S. 83. Zurück

44) Zitiert bei Barner (Anm. 39), S. 11, – Zwei weitere wichtige Arbeiten zu den »Kirschen der Freiheit« sind: Gerhard Hay: Die Kirsche Etruriens in der Faszination von Sartres Appell zur Entscheidung, in: Zu Alfred Andersch, hrsg. v. V. Wehdeking, Stuttgart 1983, S. 13-21; Volker Wehdeking: Alfred Andersch, Stuttgart 1983, S. 48-57. Zurück

45) Boris Vian: Textes et chansons, Paris 1969, S. 171 f. Zurück

46) Wolf Biermann: Affenfels und Barrikade. Gedichte, Lieder, Balladen, Köln 1986, S. 154 f. Zurück

47) Ingeborg Bachmann: Alle Tage. Zurück

Dr. Norbert Mecklenburg ist Privatdozend am Institut für deutsche Sprache und Literatur an der Universität zu Köln

Artefakte des Fanatismus

Artefakte des Fanatismus

Technik und nationalsozialistische Ideologie in der Endphase des Dritten Reiches

von Ulrich Albrecht

Ziel dieses Beitrages ist es, das spezifisch »Nationalsozialistische« in der Technikentwicklung des Dritten Reiches herauszuarbeiten. Um die Stoßrichtung deutlicher zu umreißen: Die mit der Entwicklung von Technik im Zweiten Weltkrieg befaßten deutschen Naturwissenschaftler und Ingenieure sind möglicherweise nicht nur Nazis gewesen, indem sie als Privatpersonen der NS-Partei oder einer ihrer Gliederungen angehörten, oder auch nur aus Überzeugung für die NS-Ideologie eintraten. Die These lautet vielmehr, daß diese Naturwissenschaftler und Ingenieure auf die besonders in der Endphase des Dritten Reiches extremen Technikanforderungen nicht nur mit vehementem Engagement, sondern auch mit Technikbeiträgen antworteten, die ungewöhnlich bleiben, die sich von Rüstungstechnik, wie sie auch anderswo forciert wurde, erheblich unterscheiden. Diese im Dritten Reich vorgelegten Technikbeiträge, so die Fortführung der These, stellen Artefakte dar, die nationalsozialistische Auffassungen widerspiegeln. Mit anderen Worten: Die hier zu erörternden Projekte bleiben nicht nur deswegen bemerkenswert, weil sie in einer phänomenalen Anspannung der Kräfte, zumeist unter absurden Arbeitsbedingungen, in unterirdischen Notquartieren unter dem Bombenhagel der Alliierten ausgeführt wurden. Vielmehr lassen sich an der so erzeugten Hochtechnologie Merkmale von Nationalsozialismus studieren.

Diese exponierte These soll an drei Technologielinien aus der Schlußphase des Dritten Reiches erörtert werden, dem »Volksjägerprogramm« vom Herbst 1944, den bald folgenden Selbstopfer-Objektschutzjägern für nationalsozialistische Elite-Verbände, sowie dem letzten Aufgebot, antriebslosen Kampfgleitern als Jagdflugzeugen. Letzter Akt der Reichsregierung waren noch ambitiösere Technologieprogramme wie Nurflügeljäger von Horten in dem von Göring am 12. März 1945 verkündeten »Neue Abwehrprogramm des Führers«. – Die Kernthese dieses Beitrages ließe sich auch an anderen Technologielinien aus jener Zeit erörtern wie dem Bau von superschweren Panzern (Ferdinand Porsches »Maus« von 1944 mit bis zu 200 Tonnen Gefechtsgewicht und Panzerwänden bis 35cm Stärke), den »Vergeltungswaffen« V-1 und V-2 oder anderen »Wunderwaffen«.1 Die Erörterung hier beansprucht mithin, exemplarisch allgemeine Aussagen zu treffen.

Der technologiepolitische Hintergrund der Endphase des Dritten Reiches ist wenig bekannt. Der Erlaß Hitlers zur Bildung des Volkssturms vom 25.9.1944 war begleitet von einem letzten verzweifelten Technologieprogramm. Gegen die alliierten Bomberströme sollten mit dem sogenannten »Jäger-Notprogramm« von Hitlerjungen zu steuernde, vereinfachte Kampfflugzeuge aus – so die amtliche Ausdrucksweise – »Sparstoffen«, das war vor allem Holz, eingesetzt werden. Mit ihren Düsentriebwerken stellten diese Projekte durchaus Hochtechnologieprogramme dar.- Als die Umsetzung des »Volksjägerprogramms« Ende 1944 erkennbar zu Verzögerungen führte, wurden im Jäger-Notprogramm raketengetriebene Selbstopferflugzeuge gefordert, die in Sichtweite alliierter Bomber starten und am Ende durch Rammstöße kämpfen sollten. Schließlich, als es kaum mehr Treibstoff gab, wurden gar antriebslose Kampfflugzeuge konzipiert.

Die Erörterung dieser Wahnprojekte erfordert zugleich kritische Nacharbeit zur einschlägigen Technikhistorie. Diese verdrängt solche Konzepte keineswegs, sondern verteidigt sie als außerordentliche technische Leistung der Konstrukteure unter schwierigsten Bedingungen. Diese Literatur verweist auf die Ingenuität deutscher Ingenieure bei der Wahl ungewöhnlicher technischer Lösungen, mit bitteren Attacken gegen die wenigen kritischen Analytiker, die sich in diesen Bereich der Technikhistorie vorwagen.2 Einzufordern ist ein eigener Historikerstreit der Technikgeschichtler – hat die deutsche Industrie lediglich absurde Projekte dienend ausgeführt, oder hat sie einen eigenständigen Beitrag zum Fanatismus der letzten Tage des Dritten Reiches beigesteuert?

Eingrenzungen

Zunächst sind Abgrenzungen erforderlich. Die angeführten »Sonder«-Technologien geben nicht die Breite der Versuche des NS-Regimes wieder, durch extreme Technologieforcierung eine Überhöhung, eine größere Chance in der militärischen Auseinandersetzung mit der Anti-Hitler-Koalition zu gewinnen. Anzuführen bleibt eine Vielzahl weiterer Konzepte, die durchaus überambitioniert oder gigantomanisch ausfielen, die aber nicht besonders als nationalsozialistisch geprägt zu werten sind. Vertikalstartflugzeuge von Heinkel etwa, die Projekte »Wespe« und »Lerche« vom März 1945, erscheinen als Vorwegnahme etwa französischer Versuchsentwicklungen wie des »Coléoptère« der Firma SNECMA aus dem Jahre 1958 – und zunächst eben nicht als von NS-Vorstellungen beeinflußt. Auch die »Schnellstbomberprojekte« von Daimler-Benz aus der Endphase des Krieges verraten allenfalls einen gewissen Technikwahn. Ab März 1944 meldete Daimler-Benz mehrere Patente für solche Schnellbomberprojekt an. Das Konzept stammte von keinem geringeren als dem nachmalig in der Bundesrepublik sehr bekannt werdenden technischen Direktor des Unternehmens, Dipl.-Ing. Fritz Nallinger. Am 19. Januar 1945 trug Nallinger das fertig durchgerechnete Projekt als „Betrachtung über die Entwicklung eines Schnellstbombenträgers“ dem RLM vor. Das Einsatzkonzept für dieses Daimler-Produkt klingt heute einigermaßen abenteuerlich:

„Das Trägerflugzeug startet mit dem untergehängten Bomber und fliegt bis zur äußersten Grenze seiner Reichweite, bei der es gleichzeitig seine Gipfelhöhe erreicht. An diesem Punkt schaltet der Bomber seine Triebwerke ein und wird abgesprengt. Das Trägerflugzeug kehrt hierauf zum Einsatzhafen zurück, während der Bomber mit seinen unverbrauchten Brennstoffreserven sein fernes Ziel anfliegt. Nach Erfüllung des Langstreckenauftrages landet die Besatzung den Bomber an einen vorher bestimmten Punkt der feindlichen Küste, wo sie von einem U-Boot übernommen wird. Für diese Einsatzart war der Bomber als reines Verlustgerät konstruiert und besaß nicht einmal ein Fahrwerk oder wertvolle Ausrüstungsgegenstände. Ebenfalls war keine Abwehrbewaffnung vorgesehen.“ 3

An diesem in vier verschiedenen Varianten offerierten Bomberprojekt mag manches dubios erscheinen (auch die Sprache, mit der es noch heute vorgestellt wird), spezifische NS-Technologie stellt es nicht dar. – Auch engagiert sich 1944 das zweite Großunternehmen im deutschen Flugmotorenbau, die Bayrischen Motorenwerke, im Flugzeugsektor, und konkurrierte bei Bomberentwürfen (die Truppenreife war für 1950 vorgesehen) mit Daimler-Benz. An den im November 1944 vorgeschlagenen Düsenjägerprojekten mag zunächst nichts auffallen. Eine Variante enthält jedoch einen Aspekt, der als erster spezifisch nationalsozialistisch zu werten ist – die liegende Anordnung des Piloten. Während Jetpiloten sitzend (bis heute die Standardposition) beim Kurvenkampf bis zum neunfachen der Erdbeschleunigung ohne »black-out«, den Verlust des Bewußtseins, auszuhalten vermögen, kann man den menschlichen Körper bis zur vierzehnfachen Erdbeschleunigung überbeanspruchen, wenn der Pilot liegt. In liegender Anordnung ist ein kämpfender Flugzeugführer zwar weniger handlungsfähig (weswegen niemand außer den Nationalsozialisten diese Lösung je wählte), er mag aber hoffen, durch engere Kurvenradien eher in eine Abschußposition zu geraten als der Gegner.

Mit der liegenden Anordnung von Piloten hofften mehrere deutsche Flugzeugfirmen, einen entscheidenden Kampfvorteil zu realisieren. Die erwähnten Senkrechtstarter »Wespe« und »Lerche« von Heinkel erscheinen so in einem neuen, spezifisch nationalsozialistischen Licht. Außer BMW und Heinkel offerierten weitere deutsche Unternehmen das nationalsozialistische Konzept, durch Überbeanspruchung menschlicher Piloten taktische Vorteile zu erzielen, etwa die um eine eigene Rolle in der NS-Rüstung ringende Gothaer Waggonfabrik A.G. oder die Firma Arado mit einem Kleinstjägerprojekt aus dem Jahre 1944. Selbst die Forschungsanstalt Zeppelin meldete sich mit einer »Fliegenden Panzerfaust« mit liegendem Piloten. Bei Kriegsende regte sich auch die ansonsten in der NS-Luftrüstung nicht sonderlich erfolgreiche Henschel Flugzeugwerke A.G. in Berlin-Schönefeld mit der Entwicklung eines Sturzkampfbombers, Tragflächen aus Holz, mit liegender Anordnung des Flugzeugführers, „der in dieser Stellung wesentlich höhere Beschleunigungskräfte beim Abfangen und engen Kurven ertragen konnte.“ 4 Im März 1945 befanden sich vier Mustermaschinen im Bau.

Die Wahl der liegenden Anordnung von Piloten zwecks Steigerung der Leistungsgrenzen von Soldaten verdeutlicht einen ersten Aspekt spezifisch nationalsozialistischer Technikgestaltung. Ein weiterer Schritt besteht in der Senkung des Lebensalters, mit dem Halbwüchsige in Kampfhandlungen einbezogen werden. Parallel zum Einzug von Hitlerjungs in den »Volkssturm« wurden bei der Luftwaffe »Volksjäger« für den Einsatz durch Jugendliche konzipiert und von der Industrie konstruiert (Abschnitt 2). Einen dritten Schritt sehe ich darin, von der Hoffnung kämpfender Soldaten auf ihr Überleben abzugehen und Selbstopferwaffen vorzusehen (Abschnitt 3). Die Verzweiflungstechnologie der nationalsozialistischen Luftrüstung ist damit noch nicht am Ende. In der Schlußphase (Abschnitt 4) des Dritten Reiches werden Waffen konzipiert wie antrieblose Jäger oder »Kampfgleiter«, die eine faire Chance der Waffengleichheit nicht mehr vorsehen, bei denen alle Kampffähigkeit auf die hochmotivierten Übernaturen in den Cockpits konzentriert wird. So wird die Doppelnatur nationalsozialistischer Rüstungstechnologie mit Händen greifbar: dem Todesmythos, dem absehbaren Untergang im heroischen Kampfe, steht zur Seite (und nicht: entgegen) die Anspannung aller Kräfte, die übermäßige Leistung, beides mündend in den Mythos von Vergehen und Werden.

Der Volksjäger

Das Volksjägerprogramm zeigt weitreichende nationalsozialistische Versuche an, gegen die professionellen Programme der Luftwaffe eigene Akzente zu setzen. „Im Winter 1941/42, nachdem sich gezeigt hatte, daß das RLM unfähig war, einen genügenden Nachschub und eine entsprechende Entwicklung sicherzustellen, wurde die Steuerung des Luftwaffennachschubs dem Minister für Rüstung und Kriegsproduktion Speer übertragen“, heißt es bemerkenswert parteiisch in einer neueren Darstellung.5 Dem (NS-) Hauptdienstleiter Dipl.-Ing. Karl-Otto Saur6, einem Untergebenen Speers, wurde das Jäger-Programm übertragen, „dessen Ziel unter anderem die schnellste Schaffung eines sogenannten »Volksjägers« sein sollte, eines Baumusters, das nicht nur mit geringstem Material- und Zeitaufwand zu bauen, sondern auch leicht zu fliegen sein sollte. Hitler-Jungen sollten diesen »Volksjäger« im Masseneinsatz gegen die alliierten Bomberströme fliegen.“ Ernst Heinkel will in seinen Erinnerungen diesen Sachverhalt nicht so ganz wahrhaben:

„Saurs Vorstellungen, daß dieses Flugzeug sozusagen ein »Volksjäger« werden müsse, in dem Hitlerjungen nach ganz kurzer Schulung zur »Verteidigung Deutschlands« aufsteigen könnten, ging selbstverständlich weit über die Realitäten hinaus und entsprach dem fehlgeleiteten Fanatismus jener Tage.“ 7

Daß das Volksjägerprojekt „selbstverständlich weit über die Realitäten“ hinweggehe, hat Heinkel allerdings 1944 nicht gesagt, sondern das Flugzeug gebaut. Es handelt sich auch nicht um „sozusagen einen Volksjäger“, sondern so wurde das Projekt amtlich benannt.

Am 8.9.1944 wurde die »Volksjäger«-Ausschreibung den Firmen Arado, Blohm + Voss, Focke-Wulf, Heinkel und Junkers übermittelt. Das geforderte Entwicklungstempo blieb atemberaubend, allen Standards im Flugzeugbau Hohn sprechend: am 20. September 1944, zwölf Tage nach der Ausschreibung, mußten die Zeichnungen für die neuen »Volksjäger« beim RLM eingereicht werden. Am 23. September 1944 „fand im Hauptquartier des Reichsmarschalls eine entscheidende »Volksjäger-Beprechung« statt“, konstatiert „Das Buch der deutschen Fluggeschichte“.8 Der Anlauf des Serienbaus wurde mit dem 1. Januar 1945 terminiert.

Der damalige Entwicklungschef der Firma Arado erinnert sich an die Umstände der »Volksjäger«-Entwicklung:

„Bei der Firma Arado vollzog sich das so, daß eines Tages, Mitte September 1944, ohne vorherige Ankündigung in der nach Landeshut in Schlesien verlagerten Entwicklungsabteilung ein Referent des Technischen Amtes erschien, der innerhalb weniger Tage das Projekt eines leichten Jägers mit einem BMW 003-Triebwerk erstellt haben wollte. Er schien ganz genau zu wissen, was herauskommen sollte. Zwei Tage wich er nicht aus dem Entwurfsbüro und versuchte, das Projekt in eine von ihm gewünschte Richtung zu lenken… Einige Tage danach wurden die Projekte von der Industrie beim Jägerstab vorgetragen. Es müssen, meiner Erinnerung nach, nahezu ein Dutzend gewesen sein, denn die meisten Firmen, besonders die, deren Flugzeuge in der großen Typenreinigungsaktion vom 1. Juli gestrichen waren, bemühten sich um einen Auftrag im Jägersektor mit mehr als einem Entwurf. Einige waren erst in letzter Stunde, nach Diskussion anderer Entwürfe, in den Gewichts- und Leistungsangaben überarbeitet worden.“ 9

Vor allem die an einer Wiederbeteiligung an modernsten Projekten interessierte Firma Heinkel vermochte Schritt zu halten. Nach Eingang der Ausschreibung am 8. September 1944 und der Vorlage von ersten Entwürfen erhielt Heinkel eine Woche später, am 15. September, den Bauauftrag. Der Erstflug der ersten Versuchsmaschine He 162 »Salamander« erfolgte am 6. Dezember 1944, genau 69 Tage nach der Auftragserteilung. Blohm + Voss, zunächst mit dem Projekt P. 211 gleichauf im Rennen, war bald abgeschlagen, und Heinkel erhielt den Großserienauftrag. Die Firma Heinkel sollte ab 1.1.1945 1000 Volksjäger fertigen, die Firma Junkers im Unterauftrag in mehreren Werken ebenfalls 1000 Exemplare, die von der »Organisation Todt« mit Häftlingen betriebenen »Mittelwerke GmbH« sollten gar 2000 Exemplare auflegen. Später war ein monatlicher Ausstoß von 1000 »Volksjägern« geplant.10

Das Volksjägerprojekt verdeutlicht neben dem inhumanen Ziel, Jugendliche als Piloten einzusetzen, weitere Dimensionen nationalsozialistischer Technikerzeugung. Diese liegen zum einen in dem irrsinnigen Tempo, mit dem im Furioso immer anspruchsvollere Projekte vorgelegt werden. Zum anderen werden in der Produktion mehr und mehr anstelle der angestammten Fertigungsstätten Betriebe eingespannt, die mit Häftlingen statt Facharbeitern produzieren. Die gemäß dem »Alberich«-Konzept unterirdisch angelegten »Mittelwerke« im Harz bezogen ihre Arbeitskräfte aus dem KZ Buchenwald.11

Die Formulierung des Bauauftrages vom 29. September 1944 an die Firma Heinkel für den »einsitzige(n) Einstrahltrieb-Kleinstjäger« bestimmt, daß „bei der Härte der Verhältnisse eine kompomißlose Erfüllung der Aufgabe nur dann möglich ist, wenn auf jede zusätzliche Ausrüstung und Veränderung verzichtet wird. Es besteht ferner dahingehend Klarheit, daß bei der Methode, aus dem ersten Entwurf heraus bereits die Serienfertigung zu beschließen, das bis jetzt noch nicht zu übersehende Risiko eines etwaigen Fehlschlages in Kauf genommen werden muß“, heißt es markig weiter.

Technisch betrachtet stellt der Heinkel-„Volksjäger« ein Produkt höchster Not dar. Das Flugzeug wurde in Gemischtbauweise ausgeführt. Der Rumpf bestand aus Metall, Flügel und Leitwerke wurden aus Holz gefertigt. Zur Herstellung der Holzteile wurden zwei »Fertigungsringe« mit den Schwerpunkten Erfurt und Stuttgart gebildet, denen zahlreiche Handwerksfirmen angeschlossen waren. Ernst Heinkel beschreibt anschaulich die Fertigungsbedingungen im Winter 1944/45:

„Die Produktion war in zahlreiche Betriebe und Betriebchen über und unter der Erde verzettelt. Anstelle der durch Luftangriffe immer mehr zerschlagenen Eisenbahn brachten Lastwagenkolonnen die Einzelteile zu den Fertigmontagestellen. Kleinere Teile wurden durch Kuriere mit Rucksäcken befördert.“ 12

Angeblich infolge schlechter Verleimung platzte bei einem Demonstrationsflug des »Volksjägers« vor Nazigrößen am 10. Dezember 1944 die Beplankung der rechten Flügelnase ab, was zum Absturz und dem Tod des Piloten führte. Die technikhistorische Literatur kapriziert sich auf diesen Vorgang als ärgerliche Bagatelle – ohne das geringste Gespür dafür, daß eine schlecht ausgeführte Verleimung, oder aber ungenügender Klebstoff, oder aber die Holzbauweise von Düsenjägern überhaupt geradezu symbolisch die Hypertrophie der Technologieentwicklung des Dritten Reiches in seinem Abgang widerspiegeln.

Vom Volksjäger heißt es obendrein in einer neueren Darstellung – ein reineres Nazideutsch ist nicht möglich – die Heinkel-Maschine „hatte noch einen kleinen Schönheitsfehler: Sie setzte einen erfahrenen Piloten voraus oder zumindest speziell ausgebildetes Flugpersonal.“ 13 Der Rekurs auf die Anforderung gemäß der Volkssturmideologie bleibt ungebrochen: anstelle eines „erfahrenen Piloten“ ist „zumindest speziell ausgebildetes Flugpersonal“ (was könnte dieses anderes als Berufspiloten sein?) vonnöten – und dies wird mit Blick auf das Volkssturmkonzept in mißlingender Ironisierung als „kleiner Schönheitsfehler“ apostrophiert.

In anderen technikhistorischen Darstellungen setzt sich die Ideosynkrasie fort. In Bezug auf den Heinkelschen »Volksjäger« heißt es etwa ohne Umschweife: „Mit einem modernen Begriff: Es wurde ein »Verschleißgerät« verlangt“ (Rückfrage: Wieso gilt der Ruf nach »Verschleißgeräten« als modern?), auch seien die „Terminvorstellungen des RLM … an sich schon fast irreal zu nennen“ gewesen (wieso nur: fast?).14

Selbstopferflugzeuge

Den Höhepunkt erlebte die nationalsozialistische Technikgestaltung in der Rüstung mit dem Ansatz, vom kämpfenden, auch um sein eigenes Leben kämpfenden Soldaten abzugehen, und den Tod des Kriegers bewußt in die Konzeption von Waffen aufzunehmen. Human ist solche Technikgestaltung nicht mehr zu nennen. Sie fügt sich ein in den reinen Vernichtungswillen der spätnationalsozialistischen Phase.

Angesichts der drohenden Invasion der Alliierten auf dem Festland hatte der Luftwaffenoffizier und überzeugte Nationalsozialist Heinrich Lange „eine kleine Gruppe von Luftwaffenangehörigen gegründet, die Anhänger des SO-(Selbstopferungs-)Einsatzes waren. Nach der genau ausgearbeiteten Theorie sollte jeweils mit einem SO-Flugzeug ein Landeschiff der Invasionsflotte versenkt werden. Der SO-Pilot hatte das als Verlustgerät gedachte SO-Flugzeug bis zum Auftreffen ins Ziel zu lenken und fand dabei den Tod.“ 15

Die NS-Führung reagierte zunächst keinesfalls begeistert (das RLM lehnte ab; Hanna Reitsch trug am 28.2.1944 Hitler den Plan vor, „der ihn ebenfalls ablehnte, jedoch ein Weiterarbeiten in dieser Richtung gestattete“ 16). „Inzwischen waren Tausende von Freiwilligenmeldungen eingegangen“, heißt es in der gleichen Quelle weiter. „Zuerst wurde aber nur eine Gruppe von 70 Mann ausgewählt, während die anderen nach der Erstellung des Fluggerätes eingezogen werden sollten.“ 17

Zunächst wurde mit einer bemannten Version der »Vergeltungswaffe 1« (V-1) experimentiert (Abb. 8). Die Aktion erhielt die Tarnbezeichnung »Reichenberg« (nach der Hauptstadt des »Reichsgaues Sudetenland«), die bemannten Flugbomben hießen »Reichenberg-Geräte«. In einer Fluggeschichte heißt es lapidar:

„Gegen Kriegsende wurden Versuche mit bemannten V 1 für den Einsatz als Rammjäger gegen alliierte Bomberverbände durchgeführt.“ 18

Auffälligstes Kennzeichen der SO-Jäger war das Fehlen von Landefahrwerken – Räder zum Landen würden diese Maschinen ja nicht benötigen.

Im Herbst 1944 gab das Reichsluftfahrtministerium im sogenannten »Jäger-Notprogramm« eine Entwicklungsausschreibung für einen einfachen Abfangjäger heraus, der leicht und billig herzustellen sein sollte. Da die Bomberverbände der Alliierten zu diesem Zeitpunkt nur noch kurze Anflugstrecken zu ihren Zielen zu bewältigen hatten, mußten die Jäger in der Lage sein, in Sichtweite der Angreifer zu starten und diese noch vor deren Ziel abzufangen. Das ging nur mit einem Raketenantrieb – einer gefährlich zu handhabenden, kaum erprobten Antriebsart. Am Ende gerieten diese Jäger zu Selbstopfergeräten, obwohl zunächst die Rettung des Piloten vorgesehen war.

An der Ausschreibung beteiligten sich die drei größten deutschen Luftfahrtkonzerne. Messerschmitt präsentierte das in Holz ausgeführte Projekt P 1104, Junkers das Modell EF 127 »Walli« und Heinkel das Muster P 1077 »Julia«. Das Rennen machte ein Außenseiter, Dipl.-Ing. Erich Bachem, zuvor Direktor der Fieseler-Werke (des Herstellers der V-1). Bachem machte sich mit seinem Projekt BP-20 im letzten Kriegsjahr kommerziell selbständig und gründete die Bachem-Werke GmbH im württembergischen Waldsee.

Die etablierten Konzerne gaben sich nicht geschlagen, sondern suchten durch forcierte Zugaben in der Technologie den Neuling aus dem Rennen um den erwarteten Großauftrag zu werfen. Junkers hatte sich nach eigener Einschätzung mit dem Konzept EF 126 für den Geschmack des RLM zu sehr am »Reichenberg-Gerät« angelehnt (Holzbauweise, Argus-Schubrohr auf dem Rücken). So legte die Firma den Neuentwurf EF 127 nach, mit einer Flüssigkeitsrakete der Firma Walter statt des leistungsschwächeren Schubrohres. Auch Heinkel besserte das Modell »Julia«, „eine Zwischenlösung zwischen einer bemannten Flakrakete und einem billigen Schnellst-Kleinjäger“ 19 verschiedentlich nach. Die liegende Anordnung des Piloten wurde variiert, auch experimentierte man mit verschiedenen Antrieben. Bei Kriegsende waren die Prototypen der Heinkel-Baureihe fast fertiggestellt, von der Junkers-Maschine wurde ein Exemplar nach Kriegsende unter sowjetischer Anleitung zu Ende gefertigt und erprobt. Der Junkers-Versuchspilot Mathies fand dabei den Tod.

Der siegreiche Entwurf von Bachem vereinigte in sich am konsequentesten Grundsätze von nationalsozialistischer Technikideologie in der Untergangsphase des Dritten Reiches. „Bei den Projektarbeiten hatte man sich für eine Kombination zwischen Flugzeug und Geschoß als Verlustgerät entschieden“, heißt es cool in einem neueren Bericht.20 Dieser Satz verdient es, schrittweise nachvollzogen zu werden. Man weiß nicht, wie der Zweck dieser Technik direkter und zynischer hätte formuliert werden können.

Der gesamte Rumpfbug der »Natter« war als Raketenträger ausgebildet. Für die zunächst angestrebte Rettung des Piloten ergaben sich jedoch Probleme: „Nach Abschuß der Raketen verschob sich der Schwerpunkt der Maschine derart, daß sie nicht mehr flugfähig war.“ 21 In aerodynamischer Hinsicht war hiermit schon das Todesurteil über dieses Fluggerät gesprochen. In dem angeführten Bericht heißt es jedoch weiter, Illusionen fortschreibend:

„Besondere Probleme brachte die Rettung des Piloten bei den hohen Geschwindigkeiten mit sich. Um zu einer realisierbaren Lösung zu kommen, wurde eine Trennung des Bugstückes vorgesehen. Nach dem Trennen sollte der Hauptfallschirm den Sitz des Piloten nach hinten wegziehen und gleichzeitig auch die wertvollsten Geräte im Führersitz mit bergen. Da im Zeichen des totalen Krieges auch die »Natter« nicht restlos als Verlustgerät eingesetzt werden konnte, wurde auch das Rumpfhinterteil mit Triebwerk und Steuerorganen trennbar angeordnet. Die Rettung dieser wertvollen Teile sollte ebenfalls durch einen Fallschirm geschehen.“ 22

Es fällt schwer, sich eine Steigerung dieser weiterhin dem NS-Jargon verfallenen Sprache vorzustellen. „Im Zeichen des totalen Krieges“ (lediglich »im totalen Krieg« langt nicht, es muß schon das »Zeichen« her), als eine solche Verzweiflungswaffe „nicht restlos als Verlustgerät eingesetzt werden konnte“ (aber warum denn nicht, oder bekennt sich der Schreiber der zitierten Zeilen zu damaligen Zwängen?) sollte „die Rettung dieser wertvollen Teile“ (gerettet werden sollten wohlgemerkt Maschinen als „wertvolle Teile“ neben den menschlichen Piloten) mit Vorrang ermöglicht werden. „Da das Rumpfheck mit dem Triebwerk und den Steuerorganen komplett in eine neue Maschine eingebaut werden konnten“ (korrektes Deutsch schreiben diese Herrschaften leider nicht), „war der Verlust der Restteile nicht schwerwiegend.“

Am 25. Februar 1945 erfolgte der erste Start der Bachem-Maschine, bei dem mit Attrappen alle Funktionen getestet wurden. Hernach „verlangte das RLM sofort einen Start mit einem bemannten Gerät.“ 23 Das Ministerium stellte hierfür einen eigenen Piloten, einen Oberleutnant Lothar Siebert, zur Verfügung. Der wurde beim ersten Start Ende Februar 1945 getötet:

„Der Kopf des Piloten muß nach hinten gerissen worden sein, wodurch er entweder bewußtlos wurde oder sofort einen Genickbruch erlitt … Die Maschine ging auf den Rücken und verschwand in schnellstem Horizontalflug. Etwa eine Minute später explodierte sie.“ 24

Dennoch gingen die Versuche mit dem Selbstopferjäger »Natter« bis April 1945 weiter. Es fanden weitere 22 Starts statt, davon vier mit Piloten. – Immerhin zeigen einzelne Autoren aus der technischen Literatur heute Bedenken gegen das »Natter«-Projekt. Der Entwicklungschef der Firma Arado spricht in Bezug auf die Konzeption von „unklaren Gedankengängen“ und berichtet:

„Die Erprobung der Ba 349 verlief wegen der mangelhaften Vorbereitung und der Hast, mit der sie durchgeführt wurde, unter vielen unliebsamen Unterbrechungen.“ 25

Dieser Autor wundert sich auch über organisatorisches Durcheinander bei Kriegsende: „Warum die Arbeiten bis zum Eintreffen der gegnerischen Truppen weitergeführt wurden, obwohl die Ba 349 bereits am 5. Januar 1945 vom Rüstungsstab gestrichen war, ist wohl nur aus der mit dem nahen Kriegsende verbundenen Psychose zu verstehen.“ 26

Antriebslose Kampfgleiter

Letzte Verzweiflungsprojekte zur Bekämpfung der alliierten Bomberflotten waren, als gegen Kriegsende der Treibstoff extrem knapp wurde, schwerbewaffnete und gepanzerte Kampfsegler ohne Motoren.

Das erste Projekt dieser Art stammte von der renommierten Jägerfirma Messerschmitt. Diese hatte in bemerkenswerter Voraussicht mit ihrem Typ Me 328, in Kooperation mit der Deutschen Forschungsanstalt für Segelflug, einen „einsitzige(n) Jäger projektiert, der ohne eigenen Antrieb im Mistelschlepp an den feindlichen Bomberverband herangetragen und dann im Gleitflug seine Angriffe durchführen sollte“. Die Erprobungsversuche von Hanna Reitsch und anderen erbrachten freilich mäßige Ergebnisse: „Die Flugeigenschaften waren nicht besonders, reichten aber für den vorgesehenen SO-Zweck vollkommen aus.“ Der aus zahlreichen Holzteilen gefertigte Jagd-Gleiter hielt den Belastungen nicht stand, „so daß die Erprobung nach dem ersten Todessturz abgebrochen wurde.“ 27

Über das Parallelprojekt von Heinkel heißt es, es ginge um ein „bemanntes Verschleißgerät“ – erneut eine Formel, die Reflexion provoziert. Bei Heinkel sah man von Anbeginn (im Gegensatz etwa zu der neugegründeten Firma Bachem), daß „der Pilot offenbar nicht den hohen Startbeschleunigungen gewachsen war.“ 28

Besonders die Hamburger Firma Blohm + Voß trat bei Kriegsende mit Kombinationen von Kampfgleitern mit Selbstopferflugzeugen hervor. Die Beschreibung des Projektes P. 214 aus dem Jahre 1944 spricht für sich selber:

„Offiziell als »Bemannte Fla.-Bombe« bezeichnet, war dies ein Flugzeug, das durch einen Flugzeugführer gesteuert, eine starke Sprengladung an den feindlichen Bomberverband heranbringen sollte. In genügender Nähe des Verbandes sollte der Pilot abspringen und die nunmehr unbemannte Maschine mit ihrer Sprengladung zur Explosion bringen. Da das Abspringen im Anflug zwar theoretisch möglich, aber praktisch wahrscheinlich ausgeschlossen war, konnte man dies als eine »Selbstmordbombe« bezeichnen.“ 29

Nach umfangreichen Versuchen mit Gleitflugzeugen entschloß sich Blohm + Voß zu einem letzten Projekt, dem – wie das Gerät benannt wurde – »Kampf-Segler BV 40«. Das Flugzeug „wurde als relativ kleiner Jäger ohne Eigenantrieb ausgelegt, das mit einem Minimum an Herstellungskosten und Arbeitsaufwand in Großserie gebaut und gegen die alliierten Bomberverbände eingesetzt werden sollte. Das „Buch der deutschen Fluggeschichte“ beschreibt das Einsatzkonzept:

„Nach dem Ausklinken sollte der in der BV 40 liegende Flugzeugführer in einem Gleitflug von etwa 20 Grad mit einer Geschwindigkeit von 400 bis 500 Stundenkilometern den Bomberverband mit einem einzigen Feuerstoß angreifen, durchstoßen, und dann irgendwo landen.“ 30

Verständlicherweise gab es Mischkonzepte zwischen dem antrieblosen Kampfgleiter und den raketengetriebenen Selbstopferjäger. Die Forschungsanstalt Zeppelin etwa offerierte eine bemannte »Fliegende Panzerfaust«, die über einen »Bedarfsantrieb« von Pulverraketen verfügte. Diese Konstruktion sollte im Schlepp „von beliebigen zur Bomberabwehr startenden Flugzeugen mitgenommen werden und bei günstiger Gelegenheit vom Schleppflugzeug … gelöst werden. Geschützt hinter einem Panzerspant konnte der Pilot seine Raketengeschosse nahe am Ziel auslösen.“ 31 Sehr viel auszulösen hatte der Pilot nicht – vorgesehen waren ganze zwei ungelenkte Raketen (Typ RZ 65).

Ein neuer Historikerstreit?

Die Bewertung der vorgestellten Projekte nationalsozialistischer Rüstung bleibt schroff kontrovers. Dem mainstream von Technikhistorikern stehen wenige couragierte Autoren gegenüber, die es wagen, diese Projekte kritisch zu betrachten. Karl-Heinz Ludwig zitiert etwa in Bezug auf den »Volksjäger« den Brief eines Fritz Hahn, was ihm bittere Polemiken einbringt:

„Für den kritischen Fachmann war der »Sperrholzvogel He 162« als Kampfmittel schlechthin »ein Witz«, und »nicht einmal erfahrene Piloten beherrschten diese Maschine.“ 32

Allgemeiner gefaßt läßt sich dieser Gegensatz benennen in der Polemik zwichen dem verstorbenen Peter Brückner und Wilhelm Treue.33

Es steht eine steife Fehde an um die angemessene Bewertung der technologischen Hinterlassenschaft des Dritten Reiches. Diejenigen Branchenschreiber, die nach wie vor allein technischen Höchstleistungen und nichts anderes in Volksjägern, Selbstopferwaffen und Kampfseglern erkennen, sollten des Kontextes gewahr sein, in welchem sie ihre Hochglanztexte vorlegen. Die vorherrschende Technikgeschichtsschreibung forderte sie bislang nicht heraus (zu nennen wären Conrad Matschoß, Franz Maria Feldhaus, Friedrich Klemm, vor allem aber Wilhelm Treue und Armin Herrmann).

Inhaltlich gewendet geht es weniger um die politische Haltung von Ingenieuren, wie sie Hortleder und Kogon hinreichend differenziert untersucht haben.34 Zentrales Ergebnis dieser Studien war, daß deutsche Ingenieure ihre politische Rolle allenfalls abstrakt wiedergeben, und daß sie im Zweifelsfall reaktionäre (und eben nicht progressive, entsprechend ihrem Selbstbild als Innovatoren) Positionen beziehen.

Dieses Ergebnis verweist auf einen allgemeineren Kontext, in welchem analytisch vertieft das Engagement der technischen Eliten beim Untergang des Dritten Reiches zu erörtern wäre. Besonders angelsächsische Autoren erweisen sich als beeindruckt von der Hingabe deutscher Technologieproduzenten an NS-Konzepte in der Niedergangsphase des Nazi-Reiches – als der Druchschnittbüger, der berühmte Mann auf der Straße, das Dritte Reich längst abgeschrieben hatte, und sich entsprechend auf pures Überleben einrichtete. Jeffrey Herf35 hat vorgeschlagen, unter der Formel eines »reaktionären Modernismus« die blindwütige high-tech Orientierung der Nazis zu fassen. Er rekurriert damit auf eine breitere, gar nicht auf Rüstung bezogene Debatte, über »fortschrittliche Reaktion«. Diese wurde ausgelöst und wirkte stilbildend zunächst in der bildenden Kunst (etwa Hamann/Hermand).36 Es könnte sein, daß die Formel von der technischen Progressivität, die denn doch reaktionären Zielen dient, für vertiefte Untersuchungen des Themas Technikideologien und Nationalsozialismus weiterhilft.

Anmerkungen

1) Vergl. als neuere Darstellung: Theodor Benecke et al., Flugkörper und Lenkraketen, Koblenz 1987. Zurück

2) Vergl. die Polemik gegen eine kurze Passage über den »Volksjäger« Heinkel 162 bei Karl-Heinz Ludwig, Technik und Ingenieure im Dritten Reich, Königstein/Ts. u.a. 1979 bei H. Dieter Köhler, Ernst Heinkel, Pionier der Schnellflugzeuge, Koblenz 1983, S. 210f. Zurück

3) Heinz J. Nowarra, Die deutsche Luftrüstung 1933-1945, Bd. 1, Koblenz 1985, S. 157 (dieses mehrbändige Werk wird im folgenden als »Nowarra« mit der Angabe des Bandes zitiert. Es handelt sich um eine im Textkern kaum veränderte Neuauflage der in der folgenden Fußnote angegebenen über 20 Jahre älteren Quelle. Textgleiche Passagen mit exponierten Aussagen werden in beiden Quellen nachgewiesen). Zurück

4) Karlheinz Kens/Heinz J. Nowarra, Die deutschen Flugzeuge 1933-1945, München 1961, S. 323 (im Folgenden zitiert als »Kens/Nowarra«). – Die Aussage wortgleich wiederholt Nowarra, Bd. 3, S. 33f. Zurück

5) Kens/Nowarra, S. 283. Zurück

6) Zu Saurs Karriere ausführlich Ludwig, a.a.O. Zurück

7) Ernst Heinkel, Stürmisches Leben, 5. Aufl., Preetz 1963, S. 509. – »Der Spiegel« gibt 1989 (Nr. 32, S. 156) das Volksjägerkonzept wie folgt wieder: „Rüstungsminister Albert Speer wollte jetzt einen Mini-Düsenjäger, ohne viel Firlefanz, billig und unkompliziert in der Bauweise. Zudem sollte jeder Hitlerjunge das Gerät nach einer Kurzausbildung beherrschen können.“ Zurück

8) Georg Brütting, Das Buch der deutschen Fluggeschichte, S. 292. Vergl. auch Köhler, a.a.O., S. 205-212. Zurück

9) Rüdiger Kosin, Die Entwicklung der deutschen Jagdflugzeuge, Koblenz 1983, S. 194f. Zurück

10) Heinkel, a.a.O., S. 511. Zurück

11) „Knapp einen Monat nach den ersten Besprechungen über die Untertageverlagerung der Produktion wurde die »Mittelwerke GmbH« gegründet. Als Tochtergesellschaft des staatlichen »Rüstungskontors« unterstand sie verwaltungsmäßig der Zentralabteilung für Wirtschaft und Finanzen im Ministerium Speer … In unterirdischen Höhlen bei Niedersachswerfen im Südharz sollte das neue Mittelwerk die Fertigung der Fernraketen vorbereiten und aufnehmen. Die erste Planung (erfolgte) für eine »Gefolgschaft« von 16.000 »Häftlingen« und 2.000 »Deutschen““ Ludwig, a.a.O., S. 486f. Zurück

12) Heinkel, a.a.O., S. 508. – Der erwähnte »Spiegel«-Bericht ergänzt: „Die Holzteile des Mini-Jägers hobelten Schreiner in Thüringen und Württemberg. Radfahrer transportierten die fertigen Teile in Rucksäcken durchs zerbombte Reichsgebiet“ (Nr. 32/1989, S. 156). Zurück

13) Nowarra, Bd. 3, S. 252. Zurück

14) Köhler, a.a.O., S. 206. Zurück

15) Kens/Nowarra, a.a.O., S. 468ff; wortgleich Nowarra, Bd. 3, 1987, S. 239. Zurück

16) Kens/Nowarra, S. 469; Nowarra, Bd. 3, S. 239. Zurück

17) Ebd. Zurück

18) Nowarra, Bd. 4, 1988, S.56. Zurück

19) Köhler, a.a.O., S.220. Bei Nowarra, Bd. 2, S. 252, wird »Julia« als „Zwischenlösung einer bemannten Flakrakete …und eines vereinfachten schnellen Kleinjägers“ bezeichnet. Zurück

20) Kens/Nowarra, S. 79. Dieser Text findet sich gleichfalls unverändert in der Neufassung, Nowarra, Bd. 1, S.88. Zurück

21) Nowarra, Bd. 2, S. 253. Zurück

22) Kens/Nowarra, S. 80; Nowarra, Bd. 1, S. 88. Zurück

23) Kens/Nowarra, S. 81; Nowarra, S. 89. Zurück

24) Kens/Nowarra, S. 81/82; Nowarra, S. 89. Zurück

25) Kosin, a.a.O., S.202. Zurück

26) Ebd., S. 203. Zurück

27) Alle Zitate Kens/Nowarra, S. 469. Zurück

28) Nowarra, Bd. 2, S. 253. Zurück

29) Nowarra, Bd. 1, S. 142. Zurück

30) Brütting, a.a.O., S. 224f. Zurück

31) Nowarra, a.a.O., Bd. 4, S.48. Zurück

32) Ludwig, a.a.O., S.456. Zurück

33) W.Treue, Entwurf zu einem Nekrolog oder Materialien für eine gute wissenschaftliche Nachrede, in: Kurt Manel, Hg., Wege zur Wissenschaftsgeschichte, Wiesbaden 1982. Zurück

34) Gerd Hortleder, Das Gesellschaftsbild des Ingenieurs, Frankfurt a.M. 1970; Eugen Kogon, Die Stunde der Ingenieure, Düsseldorf 1976. Zurück

35) Jeffrey Herf, Reactionary Modernism: Technology, Culture, and Politics in Weimar and the Third Reich, Cambridge 1984. Zurück

36) Richard Hamann/Jost Hermand, Stilkunst um 1900, Berlin 1967. Zurück

Dr. Ulrich Albrecht ist Hochschullehrer für Politische Wissenschaften an der FU Berlin.

Heldenkult oder Friedensmahnung?

Heldenkult oder Friedensmahnung?

Kriegerdenkmale nach beiden Weltkriegen

von Susanne Behrenbeck

Das Ende des Zweiten Weltkrieges liegt bereits 44 Jahre zurück, und noch immer werden Denkmale zur Erinnerung an seine Toten errichtet. Der andauernde Bau solcher Gedenkzeichen beschränkt sich nicht nur auf Personengruppen, die bisher vernachlässigt wurden oder auf ältere Denkmale, die durch zeitgemäße ersetzt werden sollen, sondern er hat noch tiefer liegende Gründe. Horst Baier nannte diese in seinem Beitrag zum Volkstrauertag 1987 das „Brandmal der Republik“, das weiter schwärt und keine Ruhe läßt: Es sei der Geburtsmakel unseres Staatswesens, daß jede Erinnerung an seinen Ursprung, jedes Jubiläum wie das diesjährige, zugleich Trauer um Tod und Schuld sein muß. Echte Versöhnung, „die immer auch Vergeben und Vergessen einschließt, eine solche Versöhnung der Deutschen mit ihren ehemaligen Gegner ist bis heute … nicht Wirklichkeit geworden. Die Geschichte vergißt nur, wenn die Wunden ihrer Taten und Untaten geschlossen sind.“ 1 Dies sei aber weder bei uns noch bei den Opfern und früheren Gegner der Fall.

Das Gedächtnis an die Opfer des Krieges in Form von dauerhaften Gedenkzeichen kann demnach auch als eine Art und Weise verstanden werden, wie dieser Staat und seine Bürger versuchen, ihre moralische Selbstverantwortung für die Vergangenheit zu übernehmen. Zwar kann der Geburtsmakel dadurch nicht behoben werden, womöglich aber „in die Helle des Gedächtnisses und in die Klarheit eines Bekenntnisses“ erhoben werden. „So könnte sich Mittat der Voreltern und Mitleid der Nachfolgenden versöhnen, zuerst bei und und dann zusammen mit den Nachbarn“.2

Kriegerdenkmale als Mittel der Versöhnung und gegen die Verdrängung – das klingt fast zu schön, um wahr zu sein. Die Geschichte dieser Kunstgattung zeichnet ein anderes Bild. Ein Vergleich der Kriegerdenkmale im ersten Jahrzehnt nach beiden Weltkriegen soll zeigen, welche gesellschaftlichen Bedürfnisse sie erfüllen.

In den Kriegerdenkmalen kommen breite Gesellschaftsgruppen zur Sprache, denn die Stifter solcher Gedenkzeichen stammen sowohl aus Soldatenverbänden und Stadtparlamenten wie aus Krichen und Arbeiterschaft. Zu den Spendenaktionen war die Gesamtbevölkerung aufgerufen und fühlte sich – wie die Sammelergebnisse belegen – offenbar auch angesprochen. Von den beauftragten Künstlern wurde verlangt, möglichst präzise dem Empfinden der Stifter, ihrer Einstellung zum Kriegstod Ausdruck zu verleihen; das Gesamtspektrum der Kriegerdenkmale ergibt daher ein recht aussagekräftiges Bild von der versuchten Bewältigung des Kriegstodes in der Nachkriegsgesellschaft.

Zeichen der Trauer und nicht des Triumphes

Zwei zeitgenössische Beobachter sollen den Einstieg ins Thema vermitteln. So äußerte sich Bruno Taut, ein politisch und sozial engagierter Architekt, in seiner Zeitschrift „Frühlicht“ 1922 zur Situation der Kriegerehrung:

„Die Denkmalbewegung für die Gefallenen des großen Krieges scheint sich unaufhaltsam überallhin zu verbreiten. Bei Autofahrten findet man schon in den meisten Dörfern irgendeinen Stein oder ein steinähnliches Gebilde, sei es nun, daß es eine Figur darstellt, der nur noch die Engelsfittiche fehlen, oder daß ein Findlingsblock unmittelbar von den Eisbergen angeschwemmt ist. Ja, es soll sogar Firmen geben, welche »eisenarmierte Betongranithohlfindlinge« offerieren und bei der sentimentalen Bevölkerung Erfolg damit haben. Viel anders verhält es sich aber mit den werkbundgerechten Versuchen auch nicht, die Kriegerdenksteine in eine »geschmackvolle« Form zu bringen, eine Form, die gewöhnlich einem Briefbeschwerer ähnlich sieht …“ 3

Taut weist in diesem Zusammenhang auf die gesellschaftliche Zerrissenheit seiner Zeit und deren Auswirkungen auf die Kriegerdenkmale hin:

„Ein Denkmal kann möglich sein, wenn es sich um eine Idee handelt, deren Symbol restlos und klar allgemeine Gültigkeit hat … Die Einstellung des deutschen Volkes zum vergangenen Kriege ist aber eine so verschiedenartige, daß man eine Allgemeingültigkeit irgendeines Symbols dafür nicht entfernt feststellen kann. Die einen wünschen eine Heroisierung der grausigen Vorgänge und die Vergöttlichung ihrer Opfer, die anderen grausige Zeichen zur Erinnerung an dieses Geschehen, Zeichen, welche die Erinnerung an seine Furchtbarkeit niemals erlöschen lassen sollen. Künstlerisch wäre diese Aufgabe als solche lösbar, wenn eine dieser beiden Anschauungen zweifelsfrei überwiegen würde. Das ist aber nicht der Fall …“ 4

Nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich die Einstellung zum Kriegstod offensichtlich verändert. Adolf Rieth, als Berater für Kriegerdenkmale in Baden-Württemberg tätig, faßt Anfang der 60er Jahre im Rückblick den Unterschied zu früheren Zeiten zusammen:

„Wir lehnen heute die falsch verstandene Gefallenenehrung nach 1918 weitgehend ab, weil sie vielfach … patriotische Stimmungsmache war, die selbst mit den Zeichen des Christentums Mißbrauch trieb und damit ungewollt das Verhängnis des zweiten Weltkriegs vorbereiten half.“ 5

„Während die Gefallenendenkmale des ersten Weltkriegs weitgehend auf das Kriegserlebnis Bezug nahmen, verkörpern die neuen Male die Kriegsfolgen. War in den früheren Malen Trotz und Auflehnung zu spüren, so weisen die heutigen auf die Opfer und das tragische Geschehen des letzten Krieges hin … Der Infantrist aus Bronze oder Stein, … dieser Kämpfer ist endgültig weggetreten … und wäre bei uns, auch ohne den Einfluß der Denkmalpflege, wohl nicht wiedergekommen. Das neue Denkmal … ist ein Zeichen der Trauer und nicht des Triumphes. … War das Gefallenendenkmal früher ein Ort der nationalen Sammlung, so ist es heute ein Ort der inneren Sammlung geworden, ein Zeichen, daß der Versöhnung zwischen den Völkern dient.“ 6

Es scheint also, als sei die Einstellung zu Krieg und Kriegstod nach 1918 von Gegensätzen geprägt gewesen, während sich in der zweiten Nachkriegszeit eine einheitliche Haltung durchgesetzt habe. Ob Taut die Befürworter von »grausigen« Gedenkzeichen für zu zahlreich hielt, ob Rieth mit seiner optimistischen Beurteilung der neuen Denkmale recht hat, soll in diesem Beitrag geprüft werden.

Helden oder Opfer?

Auch die Namen, mit denen die Denkmale in beiden Nachkriegszeiten bezeichnet wurden, spiegeln deutliche Unterschiede. Sie leiten sich meist von den in der Widmungsinschrift benutzten Vokabeln ab. In beiden untersuchten Nachkriegsjahrzehnten waren zwar verschiedene Benennungen nebeneinander gebräuchlich, jedoch lassen sich eindeutige »Trends« feststellen:

Nach dem Ersten Weltkrieg hießen die Monumente meist Helden-, Gefallenen- oder Kriegerdenkmal, oft mit dem Zusatz »Ehrenmal« versehen.7 Durch den steinernen Dank der Heimat sollte die Ehre der gefallenen Helden wiederhergestellt werden. Die Dolchstoßlegende wurde in solchen Widmungen bekräftigt und die militärische Niederlage geleugnet. Nicht der Tod der Soldaten, sondern ihre Bewährung im Kampf stand dabei im Zentrum.8 Dem entsprach die häufige Darstellung von kämpferischen, leiblich unversehrten und korrekt uniformierten Soldatengestalten auf dem Denkmalsockel.9

In der zweiten Nachkriegszeit wurden andere Begriffe gebildet, wobei an erster Stelle »Mahnmal« und »Kriegsopfermal« rangierten.10 Es wurden mit diesem Gedenkzeichen zunächst v.a. die zivilen Opfer des Krieges beklagt, zumal die Opfer des NS-Regimes. Ihrem Sterben konnte keine heldenhafte Entscheidung, kein freiwilliges Opfern mehr unterstellt werden, allenfalls eine Art Martyrium. Die an sie erinnernden Denkmale sollten den Betrachter mahnen im Sinne von: vor einer Wiederhohlung warnen.11 Die Darstellung schmerzerfüllter Hinterbliebener und ausgemergelter Leiber gehört zu diesem Denkmaltypus.

Die Frage ist nun, ob es sich bei den Namensänderungen um eine Art »Etikettenschwindel« handelt, oder ob sie den formalen wie inhaltlichen Veränderungen der Denkmale entsprechen.

Bewältigung der Niederlage

Nach einem verlorenen Krieg mit steinernen Denkmalen dauerhaft an die Niederlage zu erinnern, widerspricht zunächst der Grundintention des Denkmals und steht dem menschlichen Verlangen entgegen, unangenehme Erinnerungen zu verdrängen. Diese Ambivalenz, der offenbar unbewußte Zwang, das Schreckliche dennoch im Gedächtnis zu bewahren, bestimmt die Gestaltung vieler Monumente nach beiden Weltkriegen, als die Kriegsdenkmale nicht länger zugleich Siegeszeichen sind.

Ihre Funktion ist in erster Linie, das Rechtfertigungsbedürfnis der Überlebenden zu befriedigen und den gewaltsamen Tod so vieler Menschen zu erklären, wenn möglich mit einem Sinn zu versehen.12

Nach 1918 zeigten die Kriegerdenkmale eine andere Haltung zum Kriegstod als im 19. Jahrhundert. Linse stellt als Ergebnis eine gesteigerte Heroisierung und Sakralisierung der Kriegstoten fest. Ihr Ziel sei es, die Wirklichkeit des Sterbens zu verdrängen oder – wie Mosse es ausdrückt – den Tod der Gefallenen zu leugnen. Das bedeutet: die Gedächtniszeichen des Ersten Weltkrieges sollten v.a. die »wahre« Erinnerung zugunsten einer erträglicheren verdrängen.13

Enorm war der Aufwand, mit dem der Bau solcher Monumente betrieben wurde – sie waren manchmal imposanter als die Nationaldenkmale des 19. Jahrhunderts14. Darin spiegeln sich die Verzweiflung und Radikalität, welche hinter diesem Verdrängungswunsch wirksam war, aber auch die Befürchtungen, die mit einer wahrheitsgemäßen Erinnerung verbunden gewesen sein müssen. Die Kriegsniederlage sollte eben nichts an der traditionellen Einstellung zu Krieg und Kriegstod ändern, die alten Werte, für welche die Soldaten in den Krieg und in den Tod gezogen waren, sollten wegen ihrer vermeintlich staatstragenden Funktion um fast jeden Preis bewahrt werden.15 Diesen Werten, Idealen und Tugenden wurden die Denkmale gesetzt, die Gefallenen verkörperten deren Verwirklichung unter den extremen Bedingungen eines Krieges.

Koselleck sieht die Funktion der Kriegerdenkmale nach 1918 ebenfalls v.a. in der moralischen Verarbeitung der Niederlage und nicht etwa der Kriegsschuld. Kraft einer »Inversionslogik« fordern sie zur Identifikation mit dem Vaterland auf, für das zu sterben trotz der Niederlage lohnt, wie die Millionen Toten »beweisen«. Andernfalls wären diese ja umsonst, d.h. sinnlos gestorben.16

Die Gedenkstätten konnten auch zur Bewältigung der negativen Kriegserlebnisse dienen, gerade indem sie diese verschwiegen und statt dessen dem Mythos von den „im Stahlbad geläuterten Helden“, von der Frontkameradschaft und der Apotheose des Krieges konkret und anschaulich Ausdruck verliehen, wodurch sie teilweise zum Gegenstand kollektiver Verehrung wurden.17 Die ehemaligen Frontsoldaten, von der Nachkriegszeit meist frustriert, stärkten so ihr Selbstwertgefühl. Die ab 1925 immer häufiger werdenden revanchistischen Denkmale drücken auch die gewünschte Revision der innerdeutschen Verhältnisse aus.

Die Eingliederungsprobleme der Kriegsheimkehrer konnten durch ihre bildlich dargestellte Teilhabe am Heldentum der toten Kameraden gemildert werden. Entsprechend oft ist ein trauernder Soldat mit dem Gefallenen auf dem Denkmalsockel zu finden.18 Außerdem bildeten die Denkmale vor Ort einen Ersatz für die an der Front gelegenen Gräber, sie wurden zum Mittelpunkt der Trauergefühle der einzelnen Hinterbliebenen und stifteten so Gemeinschaftserlebnisse. Indem die Überlebenden sich materielle Opfer auferlegten, um mit aufwendigen Denkmalen die Gefallenen zu ehren, sollte der durch Niederlage und Dolchstoßlegende entstandene »Schuldkomplex« der Heimatfront abgetragen werden. So formuliert Probst: „Das Denkmal wurde also nicht nur den Gefallenen errichtet. Die Überlebenden setzten es sich auch selbst unter Aufopferung ihrer Kräfte.“ 19 Damit erklärt sich die häufige Darstellung von trauernden Hinterbliebenen, oft in das überzeitliche Motiv der Pietà gekleidet.

Die so präsentierte Tugendhaftigkeit von Soldaten und Überlebenden stand für die innere Unversehrtheit des Reiches, die der politischen Niederlage gegenübergestellt wurde. Diese Geschichtsmanipulation ist laut Probst „als Teil der mentalen Überlebensstrategie … zu verstehen.“ 20

Der neue Opfer-Begriff

Im Vergleich zu diesen Ergebnissen der ersten Nachkriegszeit bescheinigen alle Autoren den Denkmalen nach dem Zweiten Weltkrieg eine insgesamt veränderte Haltung zum Krieg. Ihr wichtigstes Merkmal sei, daß sie keine patriotischen Leidenschaften mehr wecken. Kritisiert wird dagegen vielfach die »Sprachlosigkeit« der Denkmale, die über Pfichtübungen nicht hinauskämen21. Dies wird auf unterschiedliche Ursachen zurückgeführt.

Durch die Änderung der Staatsform und die Ablösung des alten Regimes ergab sich nach beiden Weltkriegen die Situation, daß die Denkmale ex post den Soldatentod legitimieren mußten, nachdem und obwohl sich die moralische Bewertung seiner Voraussetzungern verändert hatten. Nachträglich galt es, andere Rechtfertigungen für das Sterben zu finden, als die Soldaten im Fahneneid auf Kaiser oder Führer jeweils antizipiert hatten. Zugleich sollten die Ziele der Gefallenen jedoch nicht völlig desavouiert werden.

Die Denkmale beider Nachkriegszeiten spiegeln die Überforderung ihrer Stifter mit dieser Situation wider. Meist wird ein direkter Bezug auf das vergangene Regime vermieden, der Tod der Soldaten auf Heimat, Vaterland und Angehörige statt auf Monarchie und Drittes Reich bezogen.

Doch durch diese allgemein spürbare Verunsicherung kommt es zögernd zu einer veränderten moralischen Bewertung des Sterbens im Krieg. Nach 1945 galt „der Kriegstod nicht mehr überwiegend als vorbildlich. Statt des Appells zur Nachfolge trat Trauer in den Vordergrund. Damit geriet die soziale Rolle der Toten als Vorbilder in Frage“, so lautet das erfreuliche Urteil von Lurz.22

Der Schuldkomplex, der sich nach 1918 im sofortigen Bau von Gefallenendenkmalen äußerte, bezieht sich nun auf die in deutscher Verantwortung begangenen Verbrechen und hat zum Teil den raschen Bau von KZ-Opfermalen zur Folge.

Solche Mahnmale, die von befreiten Häftlingen und Siegermächten initiiert worden sind, werden zu Anfang der 50er Jahre in die Obhut von Ländern und Gemeinden übernommen und ausgebaut.23

Die anfängliche Bestürzung und Scham über die aufgedeckten NS-Verbrechen und die sicher vorhandene spontane Solidarisierung mit den Opfern weicht im Zuge des Kalten Krieges und des wirtschaftlichen Aufschwungs anderen Gefühlen: Die Deutschen beginnen, sich selbst als Opfer von Teilung, Vertreibung, Besatzung und schließlich des Nationalsozialismus zu sehen. Dem entspricht, daß seit Ende der 40er Jahre Mahnmale für die deutschen Opfer von Flucht und Vertreibung sowie der Kriegsgefangenschaft in Angriff genommen werden. Parallel zu einer Schuldabtragung in den KZ-Gedenkstätten läuft also eine Beschuldigung bwz. Aufrechnung von Schuld gegnüber dem einzigen Gegner, der von den alliierten Siegermächten für die westdeutsche Seite noch ins alte Feindbild paßt, der Sowjetunion. Die Denkmale für die eigenen Opfer lenken ab von den Opfern, die man zu verantworten hat. Der im Schatten des Kalten Krieges entstandene neue Mythos vom gemeinsamen Kampf der westlichen Welt gegen den Kommunismus als Wurzel allen Übels hilft in der Bundesrepublik, die Verbrechen der NS-Zeit zu exorzieren.24 Er kann dazu dienen, die unangenehme und beschämende Erinnerung in eine akzeptable Vergangenheit zu verwandeln – ein Vorgang, der auch in der ersten Nachkriegszeit zu beobachten war, allerdings mit anderen äußeren Konsequenzen.

Hinzu kommt, daß schon seit dem Ersten Weltkrieg die Denkmale zusehends aus dem Ortskern an die Peripherie gedrängt wurden, ein Trend, der sich nach 1945 deutlich verstärkt.25 Offenbar sollen die Denkmale für die Kriegstoten weniger öffentliches Aufsehen erregen und der politischen Erziehung dienen als vielmehr dem stillen Gedenken und der persönlichen Besinnung des einzelnen. Es ist also eine deutliche Privatisierung bzw. Individualisierung des Gefallenengedächtnisses zu beobachten, die sich von der früheren Kollektivierung und Nationalisierung weit entfernt hat.

Der stark zusammenfassende Opfer-Begriff nach dem Zweiten Weltkrieg geht einher mit der Verlegung der Gedenkzeichen auf den örtlichen Friedhof. Der Unterschied zwischen Kriegstod und zivilem bzw. natürlichem Tod wird dadurch stark nivelliert.26

Die neuen Helden

Einen Gefallenenkult wie 1918 gibt es nach 1945 nicht mehr. Die neuen Helden der Denkmale sind nicht mehr die toten Soldaten, sondern eindeutig die Verfolgten und Widerstandskämpfer,27 wobei diese Personengruppen sich oft nur in ihrer Gegnerschaft einig waren, nicht aber in den angestrebten Zielen. Die Bildersprache der Gedenkzeichen in der Bundesrepublik thematisiert meist keine positiven Werte, die Widmungsinschriften erschöpfen sich in hilflosem oder lyrischem Pathos. Auch den Festredner gelingt es kaum einmal, eine inhaltliche Alternative zum Nationalsozialismus zu konkretisieren.28 Der Krieg wird zum Unglücksfall, tragischen Schicksal, zur Naturkatastrophe erklärt; die soldatischen Tugenden werden dadurch nicht außer Kraft gesetzt und können gerade für die Helden des militärischen Widerstands in Anspruch genommen werden.

Die militärische und politische Niederlage, die 1945 viel größere Dimensionen hatte als 1918, taucht in den Denkmalen nicht mehr als trotziges »Dennoch« auf wie nach dem Ersten Weltkrieg, sie wird zwar nicht geleugnet, aber auch nicht thematisiert. Der völlige Zusammenbruch auf allen gesellschaftlichen Ebenen fördert die Illusion eines möglichen Neuanfangs. Zu der nationalsozialistischen Vergangenheit als Kriegsursache begeben sich die Denkmalstifter auf Distanz.

Die Verarbeitung der Niederlage und der NS-Verbrechen wird in Westdeutschland durch Verdrängung der Schuldgefühle und eine allzu rasche Identifizierung mit den Siegermächten im Zuge des Kalten Krieges verhindert. Dieser psychosoziale Vorgang zeigt sich besonders eindrücklich am Denkmal für die Widerstandskämpfer vom 20. Juli 1944 in Berlin29. Die Bundesrepublik will damit nicht nur ihre eindeutige Abkehr von der nationalsozialistischen Vergangenheit und ihre ungeteilte Solidarität mit dem Widerstand bekunden. Wie die Einweihungsreden zeigen, soll mit dem Gedenkzeichen zugleich das Geschehen vom 17. Juni 1953 in der DDR mitverurteilt werden. Die Männer vom 20. Juli bieten außerdem der neu gegründeten Bundeswehr die Möglichkeit, an positive Traditionen anzuknüpfen. Sie sind schließlich die einzigen, die noch den »Tod fürs Vaterland« gestorben sein dürften. Nur bei den Denkmalen für die Widerstandskämpfer findet eine eindeutige Verurteilung des NS-Regimes statt.30 Gleichzeitig wird jedoch auf den Gefallenendenkmalen auch die Treue und Tapferkeit der deutschen Soldaten gelobt ohne Hinweis darauf, daß diese für ein verbrecherisches Regime kämpften und durch ihre gerühmte Pflichterfüllung die Ausrottung von Millionen Menschen in den Todeslagern ermöglichten. Dieses Paradoxon zeigt das Ausmaß der Tabuisierung und Verdrängung, das in den Kriegsdenkmalen aufgebaut wurde.

Doch die Frage nach dem Sinn von Gedenkzeichen ist damit nicht obsolet geworden, denn wiederum ein Denkmal, wenn auch ganz anderer Art, soll helfen, solche Verdrängung aufzubrechen. Ausgerechnet im Jubeljahr 1989 wurde im 2000jährigen Bonn der Antrag gestellt, ein Denkmal für den unbekannten Deserteur auf dem Friedensplatz aufzustellen. Die enorme Provokation, die von diesen Plänen ausging, hat gezeigt, wie sehr prosoldatische Werte noch immer als staatstragend gelten, wie wenig sich eine pazifistische Grundhaltung durchgesetzt hat und wie offen die Wunden der Vergangenheit noch sind. Eine wirkliche Auseinandersetzung mit dem »Stein des Anstoßes« als Kunstwerk oder mit der Desertion eines auf Hitler vereidigten Soldaten fand nicht statt. Die einseitige Verehrung der Männer vom 20. Juli zeigt, daß Tyrannenmord als einzig legitimes Verhalten in einem Unrechtsstaat gilt, sich zu verweigern, als verabscheuungswürdige Handlung.

Vergleicht man das von Richard Scheibe für die Widerstandskämpfer gestaltete Denkmal – die Symbolfigur eines nackten, klassizistischen Jünglings, der sich die lose geschlungenen Handfesseln abstreift – mit dem von Mehmet Azoy geschaffenen Deserteurdenkmal – ein großer Marmorbrocken, in dem ein weicher menschlicher Körper seinen Abdruck hinterließ, bevor er durch ein Loch in die Freiheit entkam – so wird der Unterschied zwischen den zugrundeliegenden Handlungen, das Identifikationsangebot für den Betrachter deutlich. Das Hamburger Gegen-Denkmal von Alfred Hrdlicka (1983-86) macht den Kontrast sogar im direkten Gegenüber zum heroisierenden 36er Denkmal nachvollziehbar.

Man kann unterschiedliche Einstellungen zur realistischen Formensprache dieser Künstler einnehmen, ihr unbestreitbarer Vorteil ist jedoch, daß sie auch für künstlerisch ungeschulte Menschen leicht verständlich ist und ihnen eine Auseinandersetzung mit den Inhalten eröffnet.

Es gibt in Deutschland im Gegensatz zu vielen anderen Staaten kein symbolisches Denkmal für den unbekannten Soldaten, um das sich ein Gefallenenkult entfalten könnte. Auch das im Geiste des Kalten Krieges initiierte Denkmal für den unbekannten politischen Häftling ist gescheitert. Das nun in Bonn gegen große Widerstände zumindest provisorisch installierte Denkmal für den unbekannten Deserteur gehört zu den wenigen, die man Anti-Kriegsdenkmale nennen kann, weil sie abschreckende Wahrheiten über den Krieg ins öffentliche Gedächtnis gebracht haben.

Was die Formensprache solcher Gedenkzeichen angeht, so teilen sie das Los vieler anderer Kriegsdenkmale nach dem 2. Weltkrieg: sie sind von viel gutem Willen und ehrlichem Bemühen beseelt, scheitern aber oft (wie das Deserteurdenkmal in Bremen) an Hilflosigkeit, an der schier unüberwindlichen Diskrepanz zwischen Denkmalanlaß und Denkmalgestalt. Die Aufgabe ist wohl als solche nicht ohne weiteres künstlerisch lösbar, wie Taut 1922 voraussetzte.

Müssen Kriegsdenkmale und besonders ihre Stifter deswegen grundsätzlich verdächtig erscheinen, wie eine Untersuchung der Fachhochschule Dortmund schlußfolgert? Ihre Autoren kommen nämlich zu einer viel drastischeren Einschätzung als der eingangs zitierte Denkmalpfleger Rieth: „Der Denkmalskult ist offenkundig unfähig zur Trauer, Mahnung, Demut oder gar zur Verhinderung von Kriegen. Friedenskultur und Friedenserziehung lassen sich nicht monumentalisieren.“ 31 Sind Kriegerdenkmale demnach als Gattung gefährlich und sollten abgeschafft werden? Brauchen wir heute überhaupt noch solche Zeichen? Wenn ja, wie ließe sich eine Gestaltungsform finden, die tatsächlich erinnert, ohne zu verdrängen und die dennoch nicht auf spontane, allgemeine Ablehnung träfe? Wie müßten Anti-Kriegsdenkmale aussehen, die zum Friedenshandeln auffordern, die neben dem Sterben auch das Töten im Krieg thematisieren? Und wie müßte der Umgang mit den alten Gedenkstätten gestaltet werden, damit deren unfriedliche Wirkung gebrochen wird? Gerade im Hinblick auf die Debatte um ein zentrales Mahnmal der Bundesrepublik scheint mir die Auseinandersetzung mit solchen Fagen von aktueller Bedeutung zu sein.

Es handelt sich um die leicht veränderte Fassung eines Vortrags den Sabine Behrenbeck auf der Tagung »Nachkriegszeiten im Vergleich« des Arbeitskreises Historische Friedensforschung (27-29.10.1989, Bonn) gehalten hat.

Anmerkungen

1) Baier, Horst, Totentrauer – die Frömmigkeit unserer Republik, über Sühne, Wiedergutmachung und Selbstverantwortlichkeit, in: FAZ v. 14.11.1987 Zurück

2) Ebenda Zurück

3) Taut, Bruno, Gefallenendenkmal für Magdeburg, in: Ders (Hg), Frühlicht 1920-1922, Eine Folge für die Verwirklichung des neuen Baugedankens, Nachdruck hg. v. Ulrich Conrads, Frankfurt/Berlin 1963, H.2, 1921/22, S. 109-113, hier 109 Zurück

4) Ebenda, S. 110 Zurück

5) Rieth, Adolf, Neue Gefallenendenkmale in Süd-Württemberg, in: Bewahren und Gestalten, Festschrift für G. Grundmann, Hamburg 1962, S. 109-114, hier 109 Zurück

6) Ders., Denkmal ohne Pathos, Totenmale des zweiten Weltkriegs in Südwürttemberg-Hohenzollern, mit einer geschichtlichen Einleitung, Tübingen 1967, S. 27 Zurück

7) Kurz, Meinhold, Kriegerdenkmäler in Deutschland, Bd. IV, Weimarer Republik, Heidelberg 1985, S. 342 Zurück

8) Rieth, A. Denkmal ohne Pathos, S. 12 Zurück

9) Probst, Volker G., Bilder vom Tode, eine Studie zum deutschen Kriegerdenkmal in der Weimarer Republik, Hamburg 1986, S. 20f. Zurück

10) Kurz, M., Kriegerdenkmäler in Deutschland, Bd. VI, Bundesrepublik Deutschland, Heidelberg 1986, S. 272f., 304 u. 331 ff. Zurück

11) Ebenda, S. 350; vgl. a. Mosse, l. George, Two World Wars and the Myth of War Experience, in: Journal of Contemporary History, Vol. 21 (1986), S. 491-513, hier 503 Zurück

12) Koselleck, Reinhart, Kriegerdenkmale als Identitätsstiftungen der Überlebenden, in: Identität, hg. von Odo Marquart u. Karl-Heinz Stierle, Münschen 1979, S. 255-276, hier 256 f. Zurück

13) Linse, Ulrich, „Saatfrüchte sollen nicht vermahlen werden!“, Zur Resymbolisierung des Soldatentods, in: Kriegserlebnis, Der erste Weltkrieg in der literischen Gestaltung und symbolischen Deutung der Nationen, hg. v. Klaus Vondung, Göttingen 1980, S. 262-274, hier 262f. Zurück

14) Mosse, L. George, Soldatenfriedhöfe und nationale Wiedergeburt, Der Gefallenenkult in Deutschland, in: Kriegserlebnis, S. 240-261, hier 258 Zurück

15) So auch V.G. Probst, S. 95 Zurück

16) Koselleck, R., S. 262f. Zurück

17) Mosse, G.l., Soldatenfriedhöfe, S. 244 und Ders., Two World Wars, S. 500 ff. Zurück

18) Vgl. dazu die Studie von V.G. Probst pas. Zurück

19) Ebenda, S. 3, 73f. u. 80ff. Zurück

20) Ebenda, s. 87 Zurück

21) Plagemann, Volker, „Vaterstadt, Vaterland …“, Denkmäler in Hamburg, Hamburg 1986, S.156 Zurück

22) Kurz, M., Bd. VI, S. 40 Zurück

23) Rieth, A., Denkmal ohne Pathos, S. 29 Zurück

24) Mosse, G.L. Two World Wars, S. 498-500 Zurück

25) Seegert, Siegfried, Wandlungen in der Einstellung zum Krieg, dagestellt an den westfälischen Ehrenmalen für die Kriegstoten, (Diss. phil.) Münster 1962, S. 90-93. Seeger führt dies auf die allgemeine Verdrängung des Todes in unserer Gesellschaft zurück. Zurück

26) So die Kritik von Lurz, M., Bd. VI, S. 352 ff. Zurück

27) Ebenda, S. 183 u. 370 Zurück

28) Ebenda, S. 182 u. 500 Zurück

29) Dazu ausführlich ebenda, S. 202 sowie der Aufsatz von Damus, Martin, Die Vergegeständlichung bürgerlicher Wertvorstellungen in der Denkmalplastik, Das Denkmal zur Erinnerung an den 20 Juli 1944 von Richard Scheibe in Berlin – Der nackte Jüngling als Symbolfigur für den Widerstand, in: Kunst und Unterricht, Sonderheft, Weinheim 1974, S. 69-80 Zurück

30) Kurz, M. S. 318, 370 u. 375. Die anklagenden Mahnmale der VVN sind von dieser Kritik nicht betroffen. Zurück

31) „Unseren tapferen Helden … “, Kriegs- und Kriegerdenkmäler und politische Ehrenmale, Dortmunder Beispiele, hg. v. der Fachhochschule Dortmund, Fachbereich Design, Dortmund 1987, S. 16 Zurück

Sabine Behrenbeck ist Historikerin und promoviert über den „Kult um die toten Helden im Nationalsozialismus“.