Der unmögliche Krieg

Der unmögliche Krieg

Jan Bloch und die Mechanik des Ersten Weltkriegs

von Jürgen Scheffran

Im Ersten Weltkrieg kulminierte eine rüstungstechnische Entwicklung, die auf der klassischen Physik basierte, vor allem der Mechanik. Mit neuen Waffensystemen und motorisierten Transportmitteln konnte Gewalt zielgenauer, über größere Distanzen und mit höherer Geschwindigkeit eingesetzt werden. Schon vorher zeichnete sich ab, dass der Abnutzungskrieg zu gewaltigen Verlusten führen und die Industriekapazität der europäischen Großmächte aufzehren werde. Dennoch folgten Politiker und Militärs unter Missachtung der komplexen Lage weiter dem Konstrukt nationaler Machtpolitik und liefen so in eine Mechanik des Krieges, die in die vorhersehbare Katastrophe führte.

Bertha von Suttner schrieb in ihrem Buch »Die Waffen nieder!« 1889, 25 Jahre vor dem Ersten Weltkrieg: „Bei der Furchtbarkeit der gegenwärtig erreichten und noch immer steigenden Waffentechnik, bei der Massenhaftigkeit der Streitkräfte wird der nächste Krieg wahrlich kein »ernster«, sondern ein – es gibt gar kein Wort dafür – ein Riesenjammer-Fall sein … Hilfe und Verpflegung unmöglich … Die Sanitätsvorkehrungen und Proviantvorkehrungen werden den Anforderungen gegenüber als die reine Ironie sich erweisen; der nächste Krieg, von welchem die Leute so geläufig und gleichmütig reden, der wird nicht Gewinn für die einen und Verlust für die anderen bedeuten, sondern Untergang für alle.“ (von Suttner 1889)

Mit ihren Befürchtungen war sie nicht alleine. Friedrich Engels hatte 1888 prognostiziert, in einem künftigen Krieg würden sich „acht bis zehn Millionen Soldaten untereinander abwürgen“. 1893 warnte der deutsche Sozialdemokrat August Bebel im Reichstag vor den Massenschlächtereien auf den Schlachtfeldern des kommenden Krieges (Tanner 2014).

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert verbreitete sich nicht nur in Pazifisten- und Sozialistenkreisen die Ansicht, Europa steuere auf einen Krieg zu, der angesichts der enorm gesteigerten technischen und industriellen Fähigkeiten nicht mehr führbar sei. Sichtbar wurde dies etwa im amerikanischen Bürgerkrieg 1861-1865, als der Norden seine überlegenen industriellen Kapazitäten gegen den agrarischen Süden ausspielte, auf Kosten von mehr als 600.000 Toten. Wie erst würde ein großer Krieg auf dem europäischen Kontinent aussehen?

Das Mögliche hatte der polnisch-russische Eisenbahn-Industrielle Jan Bloch (auch bekannt als Ivan Bloch, Jean de Bloch oder Johann von Bloch) 1898 in Sankt Petersburg in seinem monumentalen sechsbändigen Werk »Der zukünftige Krieg in seiner technischen, volkswirtschaftlichen und politischen Bedeutung« auf mehreren tausend Seiten ausgemalt. Mit wissenschaftlicher Akribie zeigte er die Konsequenzen der industriell-technologischen Dynamik für einen Krieg der Zukunft. Die moderne Technik und Taktik werde dem Verteidiger derartige Vorteile verschaffen, dass mit einem Sieg nicht zu rechnen sei: „Der Krieg ist jetzt in Folge der außerordentlichen Fortschritte der Waffentechnik, der hoch gesteigerten Präzision der Feuerwaffen und ihres enormen Vernichtungsvermögens furchtbarer geworden.“ (Bloch 1899, Band 1, S.XV). Große Kriege zwischen den Industrienationen könnten nur noch „um den Preis des Selbstmords“ geführt werden (Leonhard 2014).

Mechanisierung und Industrialisierung des Krieges

Möglich geworden war dies durch den Siegeszug der Mechanik, neben Optik, Thermodynamik und Elektrodynamik dem Kernstück der klassischen Physik. Ausgehend von Newtons Axiomen und dem Begriff der Energie wurde ein mathematisches Instrumentarium geschaffen, das aufgrund physikalischer Messungen eine Berechenbarkeit der Entwicklung der Materie nahe legte. Durch das Wechselspiel aus Theorie und Experiment war eine Voraussetzung für immer neue technische Instrumente zum gezielten Einsatz der Naturkräfte gegeben. Mit der Erfindung der Dampfmaschine gelang es, Wärmeenergie in geordnete Bewegungsenergie umzuwandeln und die Maschinerie der industriellen Revolution mithilfe von Kohle anzutreiben. Mit kraftstoffgetriebenen Motoren wurde es zu Land, zur See und später auch in der Luft möglich, den globalen Handel zu beschleunigen und Macht- und Gewaltprojektionen zu forcieren (Singer 2008). Die Entwicklung der Feuerwaffen erlaubte es Europa, im Zuge von Kolonialismus und Imperialismus die Erde gewaltsam zu beherrschen und ihre Ressourcen auszubeuten.

Dass die neuen Produktivkräfte auch Destruktivkräfte freisetzen würden, die das Kriegsbild verändern, war abzusehen. Über große Teile lesen sich die ersten Bände Blochs wie eine Einführung in die Mechanik. Akribisch erläutert er die Funktionsweise der neuen Waffensysteme und zeigt, wie Manöver im offenen Gelände mit herkömmlichen Bajonett- und Kavallerieattacken unmöglich werden: „Der zukünftige Krieg wird sich vor den früheren nicht nur durch ein vervollkommnetes Gewehr, rauchloses Pulver und verschiedene neue Hilfsmittel auszeichnen, sondern auch durch die Rolle, welche hier der Deckung durch Erdaufwürfe zufallen wird und welche eben durch die Fortschritte in der Technik der Geschütze und Gewehre bedingt ist.“ (Band 1, S.253)

Ausgiebig widmet er sich der gesteigerten Wirkung moderner Feuerwaffen und der Artillerie, die sich durch nicht „dagewesene Durchschlagskraft der Geschosse, ungeheure Schnelligkeit und beinahe mathematische Treffsicherheit“ auszeichnen (Bd. 1, S.427). Aufgrund der Erfahrungen im Krieg von 1870 kam eine Kommission zu dem Schluss, „dass der Angriff gegen eine in fester Stellung stehende Infanterie in der Zukunft erfolglos bleiben kann, […] auch wenn sie nur über halb soviel Gewehre verfügt wie der Angreifer“ (Bd. 1, S.355). Seitdem hatten alle Armeen die neue Technik des rauchlosen Pulvers in Repetiergewehren eingeführt, die mehr Geschosse über erheblich größere Distanz von bis zu 1.500 Metern treffsicher ins Ziel bringen konnten. Damit habe „sich die Kraft des Artilleriefeuers seit 1870 um das Zwölf- bis Fünfzehnfache gesteigert“ (Bd. 1, S.386). Es erscheinen immer neue Geschützsysteme, welche die früheren an Treffweite, Treffsicherheit und Geschossgeschwindigkeit weit hinter sich lassen. Die Wirkung der Maxim-Schnellfeuerkanone (Maschinengewehr), die mehrere hundert Schuss pro Minute abfeuern könne, bezeichnete Bloch als „eine im höchsten Grade mörderische“ (Bd. 1, S.133). Neue Sprengstoffe wie Nitroglycerin würden die Vernichtungskraft immer weiter steigern. „Geschütze wie Geschosse haben sich […] gegen früher so radikal vervollkommnet, dass die durch Artillerie verursachten Verluste ungeheuer gross sein werden, weshalb es sich fragen dürfte, ob die jetzigen Volksheere im Stande sein werden, das heutige Artilleriefeuer zu ertragen.“ (Bd. 1, S.358) In den zukünftigen Schlachten würden die Gegner „sich aus der Ferne vernichten, ohne einander zu sehen […] Mehr als je wird der Ausdruck »Kanonenfutter« zur Wahrheit werden.“ (Bd. 6, S.311)

Mit der zunehmenden Zahl und Größe von Geschützen stellte sich das Problem ihres Transports. Die beiden Bedingungen, „genügende Beweglichkeit, um den Feldtruppen folgen zu können, genügend grosses Kaliber, um grosse Projektile zu schleudern, schienen sich schwer vereinigen zu lassen“, wurden aber letztlich durch die Eisenbahn und andere motorisierte Transportmittel praktikabel gelöst (Bd. 1, S.422). Bloch wies darauf hin „dass der Dampfmotor weit hinter dem Gasolinmotor zurückbleibt. […] Die Apparate werden jeden Tag vollkommener, Dank der Erfahrung, die man macht, die Unbequemlichkeiten und Hindernisse schwinden, die Mechanismen vereinfachen sich und der Petroleumwagen geht all’ der Vervollkommnung rasch entgegen, deren er überhaupt fähig.“ (Bd. 1, S.237)

Aufgrund der Tatsachen kommt Bloch zu dem Schluss, „dass in künftigen Kriegen […] Vernichtungsmittel von solcher Kraft in Anwendung kommen werden, dass Konzentration der Truppen im offenen Felde oder unter dem Schutz von Deckungen und Befestigungen unmöglich und dadurch auch der ganze gegenwärtig für den Krieg vorbereitete Apparat untauglich werden wird“ (Bd. 1, S.17). Durch die Vernichtungswirkung würden gegnerische Armeen sich entlang der Frontlinien eingraben und in einem auszehrenden Grabenkrieg gegenüberstehen. Ein Krieg dieser Art, der einen „mehr mechanischen als ritterlichen Charakter“ habe, könne nicht schnell gelöst werden, der „Geist der Initiative, des Angriffs“ verfehle sein Ziel. Der Versuch, das Patt zu überwinden, führe zu einem fortwährend gesteigerten Mitteleinsatz, der ökonomisch in keinem Verhältnis zum Ergebnis stehe: „[N]iemals haben sich die Staaten zu einem Kriege so gründlich vorbereitet wie jetzt, niemals wurde eine solche Masse von Mitteln beschafft, um dem Feinde Verluste an Mannschaft und Vermögen zuzufügen. Überall werden gleichartige Vorbereitungen getroffen, dabei wird das Gleichgewicht unter ihnen aufrecht erhalten; so ergibt sich kein Vorzug für irgend eine Seite, und gleichzeitig wächst die Vernichtungsfähigkeit des Krieges für alle in gleicher Weise.“ (Bd. 1, S.238)

Gesellschaftliche Folgen

Besonders bemerkenswert waren Blochs Betrachtungen über die Auswirkung der neuen Waffentechnologien auf die Heimatgesellschaften: Aufgrund der Unfähigkeit, Kriege mit militär-technischen Mitteln zu entscheiden, werde der Krieg vorwiegend eine Frage wirtschaftlicher Macht. Im Gegensatz zu vorangegangenen Kriegen, in denen Zehntausende, gelegentlich Hunderttausende von Soldaten zum Einsatz kamen, könnten Industriegesellschaften Massenheere mit Millionen von Menschen mobilisieren, was nicht nur ein kompliziertes logistisches Versorgungsproblem sei:„Der so komplizierten Maschine der heutigen Gesellschaftsordnung plötzlich massenhafte Arbeitskräfte zu entziehen, erscheint eigentlich ganz unmöglich. Eine plötzliche Einberufung könnte bedenkliche Folgen nach sich ziehen.“ (Bd. 1, S.451) Krieg erscheint so ökonomisch und sozial kaum vorstellbar, weil die Gesellschaften ausbluten und politisch zusammenbrechen könnten: „[W]enn ganze Völker, alles, was für die produktive Arbeit fähig ist, dem tödlichen Feuer geweiht werden, erregt der Militarismus die Abneigung gegen sich.“ (Bd. 5, S.5) Hier zeigen sich politische Grenzen, die die „Vorstellungen von der Unvermeidlichkeit des Krieges“ in Frage stellen: „Liegt nicht ein innerer Widerspruch in der Vorbereitung immer gewaltigerer Vernichtungsmittel und der Einziehung fast der ganzen Bevölkerung zu den Fahnen, gegenüber dem Zeitgeist, der sich in vielen Staaten energisch gegen den Militarismus auflehnt?!“ (Bd. 6, S.35)

Damit bestehe für die herrschenden Kreise das Risiko, dass eine absehbare Niederlage im Krieg zu „gewaltsamen revolutionären Umwälzungen zur Schaffung neuer politischer Formen oder einer neuen Gesellschaftsordnung“ führen könne (Bd. 6, S.91). Insbesondere könne „der innere Verfall der Monarchie mit schnellen Schritten vor sich gehen“ (Bd. 6, S.277). Dies habe auch Folgen für die Zeit nach dem Krieg, darunter wirtschaftliche Verwerfungen, Hungersnöte, Krankheiten und Epidemien: „Die Verwüstungen […] wären so ungeheuer, die Erschütterungen der Produktionsfähigkeit und ihres Kredits so stark, dass es einfach unmöglich werden dürfte, diesen Ländern Kontributionen aufzuerlegen, die dem Sieger seine Ausgaben ersetzen könnten.“ (Bd. 6, S.215)

Technische Rüstungsdynamik

Erstmals nimmt Bloch eine umfassende Untersuchung des Krieges vor, der militärisch-technischen ebenso wie der ökonomischen, sozialen und politischen Faktoren. Für die wesentlichen Erkenntnisse sei „nur der allgemein menschliche Verstand nötig“ (Bd. 1, S. XXIX). Suspekt war den Militärtheoretikern seiner Zeit Blochs Versuch, eine „Bresche in das System des Militarismus“ zu legen (Band 6, S.359). Sie warfen ihm Unkenntnis und fehlende Erfahrung in militärischen Dingen vor. Seine Mathematik möge korrekt sein, die militärischen Schlüsse seien aber angreifbar (Welch 2000). Er habe die Situation um die Jahrhundertwende beschrieben, nicht aber neuere Entwicklungen. Dies geht am Kern seiner Analyse vorbei und ist auch nicht ganz korrekt. Bloch erwähnt neue Technologien wie motorisierte Fahrzeuge, Panzer und Flugkörper, die im Ersten Weltkrieg zum Einsatz kommen sollten. Sie bestimmten zwar die Rüstungsdynamik nach dem Krieg, führten zu neuen Offensivkonzepten und prägten das Gesicht des Zweiten Weltkriegs, änderten aber nichts daran, dass letztlich die industriellen Kapazitäten der Kriegsparteien den Ausschlag gaben.

Mit dem Kampfpanzer wurde im Ersten Weltkrieg ein Instrument geschaffen, das Masse, Feuerkraft, Panzerung und Beweglichkeit miteinander verknüpfte (Unterseher 2014). Er stärkte die Offensive, kam aber zu spät, um kriegsentscheidend zu sein. Bloch widmete dem Thema „Schild und Panzer“ ein ganzes Kapitel: „Die Erfindung des Schiesspulvers machte Panzer, Harnische u. dgl. unnütz, allein seine weitere Vervollkommnung regte von Neuem die alte Idee an, dem Geschützfeuer eine Panzerbedeckung entgegen zu stellen.“ (Bd. 1, S.249) Auch wenn ihm die fahrbare Panzerlafette mit Schnellfeuerkanone als eine furchtbare Waffe erschien, werde bald „eine neue Entdeckung in der Chemie, in Art eines neuen verhältnismässig stärkeren Pulvers, jede Bedeutung des Panzers vernichten“ (ibid.).

Hier zeigt sich Blochs dynamische Sicht auf die rüstungstechnische Entwicklung, die militärische Vorteile schaffe und wieder in Frage stelle: „In allen Ländern arbeitet der menschliche Verstand unermüdlich an solchen Erfindungen, welche behufs Erhöhung militärischer Leistungsfähigkeit den Gebrauch aller Naturkräfte, Fähigkeiten der Menschen und Tiere, Eigenheiten der Pflanzen und Metalle ermöglichen.“ (Bd. 1, S.238) Aufgrund der technischen Erfindungen werden bald „die Widerstandskraft des Panzers verstärkt, bald wird die Durchschlagskraft der Granaten erhöht oder die Tragweite des Infanteriegewehrs und der Feldgeschütze verstärkt, und auf diese Weise verwandeln sich die neuen Erfolge der Technik in ungeheure Ausgaben“ (Bd. 6, S.215). Wenn „Nachbarstaaten bei neuen Entwicklungen unverzüglich nachfolgen, vielleicht sogar noch weitergehende Vervollkommnungen einführen“ (Bd. 1, S.383), würden bei gleichem Stand der Technik trotz Geheimhaltung zeitweilige Vorsprünge wieder zunichte gemacht: „Früher oder später jedoch wird es glücken, den Vorhang zu lüften und alsdann wird der Wetteifer von Neuem beginnen.“ (Bd. 1, S.383) Da „mit jedem Tage neue, immer mehr Vernichtung schaffende Erfindungen gemacht“ werden, könne niemand vorhersagen, wie „der wirkliche Stand der Dinge in einem zukünftigen Kriege sein wird“ (Bd. 1, S.427). Angesichts der rasanten technischen Entwicklung erfordert der Umgang mit dem „komplizierten modernen Kriegsmechanismus […] um so intelligentere Menschenkräfte, je komplizierter er ist“ (Bd. 1, S.353). Diese Kompliziertheit stehe in Widerspruch zu etablierten militärischen Strategien, die auf Ergebnissen früherer Kriege beruhen.

Der Weg in den „unmöglichen Krieg“

Angesichts der Ablehnung durch die „militärische Kaste“ wandte Bloch sich mit seinen Erkenntnissen an die internationale Öffentlichkeit und die Politik. In der Friedensbewegung fielen seine Ansichten auf fruchtbaren Boden. Der russische Zar Nikolaus II setzte sich mit dem Werk Blochs auseinander und traf sich mehrfach mit ihm. Dies war einer der Anlässe, 1899 die Haager Friedenskonferenz auf den Weg zu bringen, die jedoch keine großen Fortschritte bei der Abrüstung brachte. Bloch wurde für den ersten Friedensnobelpreis 1901 nominiert, den dann Henri Dunant erhielt. Nach seinem Tod ein Jahr später wurde das nach ihm benannte erste Museum für Krieg und Frieden in Luzern gegründet (Thomas 1903, Troxler et al. 2010). Der 1905 mit dem Nobelpreis ausgezeichneten Bertha von Suttner wird diese Aussage über Bloch zugewiesen: „De Bloch war nicht mehr ein Apostel des Friedens als Newton ein Apostel des Gravitationsgesetzes war oder Darwin ein Apostel der Evolution der Arten. Er war ein Suchender und ein Gelehrter im Feld der Sozialwissenschaften.“ (Thomas 1903, S.258, übersetzt aus dem Englischen nach Welch 2000, S.275) Für Thomas war Blochs Werk „die Erklärung eines Wissenschaftlers, der die Entdeckung eines bestehenden, bislang unbekannten Gesetzes verkündet“ (Welch 2000, S.275).

Dabei wollte Bloch nicht nur beschreiben, er wollte den Gang der Geschichte auch beeinflussen. Geradezu ambivalent ist sein Unterfangen, die destruktiven Möglichkeiten des Krieges rational und empirisch aufzuzeigen, zugleich aber seine Sinnlosigkeit zu belegen und ihn politisch unmöglich zu machen: „Daraus, dass die Kräfte der Völker begrenzt sind, die Fortschritte der Technik aber keine Grenzen kennen, folgt, dass die Schwere der Rüstungen unausbleiblich irgend einmal positiv unerträglich werden muss, und die furchtbaren Menschenhekatomben und die ökonomische Katastrophe als Folgen des Krieges bedingen die allgemeine Erkenntnis, dass es unmöglich ist, den Krieg zuzulassen, weil es unmöglich ist, ihn und seine Folgen zu ertragen.“ (Bd. 6, S.348) Dies sei ein erster Versuch, „diesen Weg zum Ausgang aus dem wahren circulus vitiosus, in welchem sich Europa befindet und in dem es noch lange Zeit hindurch zum grössten Schaden für sein Wohl stecken bleiben kann, zu kennzeichnen. […] Wenn klargelegt wird, dass die äussersten Anstrengungen zur Steigerung der Kriegsmittel nur die Wahrscheinlichkeit der politischen Resultatlosigkeit eines Krieges vergrössern, so wird in diesem Falle wirklich der Gedanke der Notwendigkeit einer allgemeinen Abrüstung endgültig in dem Bewusstsein der Völker seine Herrschaft auszuüben beginnen.“ (Bd. 6, S.359) Unverzüglich sei die Frage nach der Vermeidung des Krieges auf den „Boden einer praktischen Erörterung unter Mitwirkung und Kontrolle seitens der Regierungen zu stellen“ (Bd.6, S.348). Engagiert beschrieb er eine neue, auf Gerechtigkeit und wirksamen Schlichtungsinstanzen gründende internationale Ordnung.

Damit versuchte er wie andere auch, sich dem Fatalismus der scheinbar unausweichlichen Katastrophe entgegen zu stellen. „Kriege entladen sich nicht wie Gewitter aus Spannungen elementarer Kräfte“, erklärte der französische Sozialistenführer Jean Jaurès 1906 auf einem Parteitag in Limoges, „sie entspringen einem Willensakt und sind daher nicht unabwendbar“ (zit. nach Wette 2012). Sechs Jahre später schreibt dagegen August Bebel: „Ich bin schon seit längerer Zeit […] zu der Ansicht gekommen, daß das nächste Jahr uns wahrscheinlich den europäischen Krieg auf den Hals bringt […] Die Dinge haben ihre eigene Logik, und es ist zu viel Zündstoff vorhanden; man wird wider Willen weitergetrieben.“ (zit. nach Wette 2012).

Die Zukunftsbilder werden immer düsterer. 1912 zeichnete Wilhelm Lamszus mit seinem populären Roman »Das Menschenschlachthaus« eine erschreckende Vision vom kommenden industrialisierten Krieg, der mit einer nie da gewesenen Gewalteskalation verbunden sein würde. Kapitalistische Großfabriken würden zu „grossen Schwungmaschinen“ einer Massendestruktion: „Von Technikern, von Maschinisten werden wir vom Leben zum Tode befördert.“ (zit. nach Tanner 2000)

Solche Bilder gehen konform mit der Vorstellung einer systemischen und unaufhaltsamen Eigendynamik, die als kollektive Erwartung der Katastrophe zur selbst-erfüllenden Prophezeiung wurde (Münkler 2014). Blochs Versuch, den herrschenden Kräften vor Augen zu führen, was sie mit ihrer „auf Vernichtung gerichteten Macht“ anrichten, die ihnen selbst ebenso schade, liefen da ins Leere. In dem Bemühen, die von ihnen angestrebten Realitäten zu konstruieren, verschlossen sie die Augen vor den tatsächlichen Realitäten und lehnten die Friedensbemühungen ab. Vordergründig agierten sie wie „Schlafwandler“ (Clarke 2013), so als ob sie aufgrund ihrer Bewegungsrichtung wie Teilchen mechanisch in den Zusammenprall mit anderen Teilchen hineinliefen und dabei nur den Naturgesetzen und dem Zufall unterworfen wären. Schlafwandler waren die Akteure allerdings nur, wenn sie sich gemäß der Devise »Augen zu und durch« in Sachzwänge begaben, die das Ergebnis ihrer eigenen Macht- und Gewaltlogik waren. Während sie im Sinne des linear-mechanistischen Weltbilds glaubten, durch den Einsatz geschickt eingesetzter Kräfte den Krieg zu ihren Gunsten entscheiden zu können (Beispiel Schlieffen-Plan), negierten sie ihre eigene Verantwortung und drängten sich selbst in eine Opferrolle, die dem Gegner alle Verantwortung zuschob. Überholtes militärisches Denken gepaart mit einer Verkennung der technischen und industriellen Gegebenheiten wurde den Komplexitäten der damaligen Weltlage nicht gerecht. Die Eskalationsdynamik und die vernetzten Allianzstrukturen trugen dazu bei, dass die politischen und militärischen Führer sich gründlich verrechneten und die Entwicklung ihrer Kontrolle entglitt (Vasquez et al. 2011, Chi et al. 2014).

Heutige Bedeutung

Die Analysen Blochs wurden mit geradezu unerbittlicher Präzision im Ersten Weltkrieg bestätigt. Viele Überlegungen zum Krieg wie zum Frieden bleiben bis heute aktuell. Die Vernichtungswirkung der Waffentechnik wurde gegenüber dem Ersten Weltkrieg ins Unermessliche gesteigert und führte zum Totalen Krieg, der ganze Gesellschaften erfasste (Scheffran 2005). Eine Folge war die riskante Abschreckungsstrategie im Kalten Krieg, die den Nuklearkrieg für möglich hielt, um ihn unmöglich zu machen. Unterhalb der Nuklearschwelle sehen sich die Militärmächte bis heute zur Zurückhaltung veranlasst, zum einen, weil das Risiko der Vernichtung im Krieg weiterhin gegeben ist, zum anderen aufgrund der Bestrebung, den Krieg politisch und rechtlich einzugrenzen. Dies schließt Gewaltkonflikte mit und zwischen kleineren Mächten allerdings nicht aus.

Damit Krieg unmöglich wird, gilt es auch weiterhin, die zum Kriege drängenden Sachzwänge zu vermeiden und alternative Entscheidungsspielräume zu schaffen. Hierzu gehört, den Bedingungen für einen neuen großen Krieg entgegen zu wirken, wie sie etwa im Gefolge der NATO-Expansion und russischer Reaktionen, der kapitalistischen Globalisierung oder einer Zerstörung menschlicher Existenzgrundlagen durch den Klimawandel denkbar sind (Scheffran 2000, Boeing 2009).

Gerade angesichts der aktuellen Krise in der Ukraine mutet es seltsam an, wie Bloch die unterschiedlichen Einstellungen von Russland und dem Westen beleuchtete. Dabei nahm er wiederholt auf den Krim-Krieg von 1853-1856 Bezug, in dem Russland gegenüber der Allianz aus Frankreich, Großbritannien, Sardinien und dem Osmanischen Reich isoliert war, während Preußen neutral blieb und Österreich sich zwischen die Stühle setzte. Der wichtigste europäische Krieg zwischen den Napoleonischen Kriegen und dem Ersten Weltkrieg war als erster der modernen Stellungskriege nicht nur besonders verlustreich, sondern brachte auch das Lazarettwesen, die Telegrafie, das Feldtelefon und die Kriegsberichterstattung mit sich, ebenso eine Erhöhung des russischen Bevölkerungsanteils auf der Krim. Bemerkenswert ist hier Blochs Schlussfolgerung: „Ohne Zweifel muss die Gefahr innerer Bewegungen, die eine Krisis hervorrufen würde, auf die Regierungen derart einwirken, dass sie von dem Kriegsunternehmen zurückschrecken.“ (Bd. 6, S.90) Auch in diesem Sinne bleibt Bloch bis heute aktuell.

Literatur

Bloch, J. von (1899): Der Krieg. Der zukünftige Krieg in seiner technischen, volkswirthschaftlichen und politischen Bedeutung. 6 Bde. Berlin: Puttkammer & Mühlbrecht; online unter archive.org/details/derkrieg05blocgoog.

Boeing, N. (2009): Das Negativmodell ist die Welt vor dem Ersten Weltkrieg. Technology Review, 18.11.2009; heise.de.

Chi, S.H., Flint, C., Diehl, P., Vasquez, J. Scheffran, J., Radil, S.M. & Rider, T.J. (2014): The Spatial Diffusion of War: The Case of World War I. Journal of the Korean Geographical Society, 49 (1), S.57-76.

Clark, C. (2013): Die Schlafwandler: Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog. München: Deutsche Verlags-Anstalt.

Leonhard, J.(2014): Die Büchse der Pandora: Geschichte des Ersten Weltkrieges. München: Beck.

Münkler, H. (2014): Der Große Krieg: Die Welt 1914 bis 1918. Reinbek: Rowohlt.

Scheffran, J. (2000): Zurück zum Kalten Krieg? W&F 2-2000.

Scheffran, J. (2005): Wissenschaft, Rüstungstechnik und totaler Krieg. W&F 1-2005.

Singer, C.E. (2008): Energy and International War. Singapur: World Scientific Press.

Tanner, J. (2014): Erster Weltkrieg: Der erste totale Krieg. Die Wochenzeitung Nr. 12/2014 vom 20.3.2014.

Thomas, G.G. (1903): The Bloch Museum of Peace and War. Chambers journal LXXX, S.258.

Troxler, W., Walker, D., Furrer, M. (Hrsg.) (2010): Jan Bloch und das internationale Kriegs- und Friedensmuseum in Luzern. Münster: LIT.

Unterseher, L. (2014): Der Erste Weltkrieg. Berlin: Springer.

Vasquez, J.A., Diehl, P.F., Flint, C. & Scheffran, J. (eds.) (2011): Forum on the Spread of War, 1914-1917. Foreign Policy Analysis (Special Issue) 7, S.139-141.

von Suttner, B. (1889): Die Waffen nieder! Dresden: Edgar Pierson.

Welch, M. (2000): The Centenary of the British Publication of Jean de Bloch’s Is War Now Impossible? (1899-1999). War in History, Vol. 7, No. 3, S.273-294.

Wette, W. (2012): Erster Weltkrieg – Letzter Appell an Europa. DIE ZEIT, 48/2012, S.29.

Jürgen Scheffran ist Professor am Institut für Geographie der Universität Hamburg, Leiter der Forschungsgruppe Klimawandel und Sicherheit am KlimaCampus Hamburg und Mitglied der Redaktion von W&F.

Chemiewaffen

Chemiewaffen

Vom Ersten Weltkrieg zur weltweiten Abschaffung

von Paul F. Walker

Tödliche Chemikalien wurden schon vor Jahrhunderten für Straftaten oder in Kriegen eingesetzt. Der jüngste Einsatz von Chemiewaffen erfolgte im aktuellen Syrienkonflikt und führte Berichten zufolge zum Tod von etwa 1.400 Zivilisten, darunter einige hundert Kinder. Insbesondere dieser Vorfall lenkte die öffentliche Aufmerksamkeit jetzt wieder auf diese alte, inhumane und unterschiedslose Art, zu töten und Krieg zu führen.

Demnächst jährt sich der Beginn des Ersten Weltkriegs zum 100. Mal. Das sollte uns Anlass sein, des tödlichsten Einsatzes von Chemiewaffen auf den Schlachtfeldern dieses Krieges zu gedenken. Dem Giftgas fielen in diesem furchtbaren Krieg etwa 90.000 Soldaten zum Opfer, rund eine Million Soldaten wurde davon verletzt. (Die hohe Zahl an Verletzten hatte für die Angreifer deshalb große Bedeutung, weil sie nicht nur selbst als Kämpfer ausfielen, sondern an und hinter der Front zur Bergung und anschließenden, oft Wochen und Monate dauernden, medizinischen Versorgung sehr viele Kräfte banden.) Zum Glück wurde inzwischen eine Reihe völkerrechtlicher Rüstungskontroll- und Abrüstungsverträge vereinbart, die sich mit diesen im Kriegsvölkerrecht als »inhuman« bezeichneten Massenvernichtungswaffen befassen.

Die Geschichte solcher Vereinbarungen reicht weit zurück, bis ins Jahr 1675, als die kaiserlichen und die französischen Truppen in Straßburg ein bilaterales Abkommen zum Verbot vergifteter Kugeln trafen. 200 Jahre später verbot die Brüsseler »Deklaration über die Gesetze und Gebräuche des Krieges« von 1874 inhumane Waffen, die unnötiges Leiden verursachen. Dies schloss ein Verbot von Gift und vergifteten Waffen ein. Auf dieser Grundlage wurde 1899 auf der Ersten Friedenskonferenz in Den Haag neben dem »Haager Abkommen« u.a. eine Erklärung verabschiedet, die verbietet „solche Geschosse zu verwenden, deren einziger Zweck ist, erstickende oder giftige Gase zu verbreiten“. Acht Jahre später wurde das Verbot von Giftwaffen auf der Zweiten Haager Friedenskonferenz ausdrücklich bestätigt.

Giftgaseinsätze trotz Verbots

Bei den Kämpfen im Ersten Weltkrieg erwiesen sich die Rüstungskontrollanstrengungen der vergangenen 200 Jahre leider als vollkommen untauglich. Die französische Armee experimentierte im August 1914 als erste mit dem Einsatz von Reizgas; die deutschen Truppen zogen im Oktober nach. Diese noch begrenzten Angriffe waren nicht sehr folgenreich, es gab nur wenige Opfer. Deutschland setzte Giftgas am 31. Januar 1915 auch in der Schlacht von Bolimów nahe Warschau ein, wo deutsche Truppen ungefähr 18.000 Reizstoffgranaten gegen die russischen Truppen abschossen; die Wirkung blieb allerdings aufgrund der kalten Witterung äußerst begrenzt.

Zum ersten folgenreichen Großeinsatz tödlicher chemischer Wirkstoffe kam es auf den zum Synonym für Giftgas gewordenen Schlachtfeldern von Ypern. Die Stadt im Nordwesten Belgiens, unweit der Grenze zu Frankreich, wurde in ihrer 2.000-jährigen Geschichte immer wieder von Krieg überzogen und zerstört. 1914 wurde Ypern beim Vorstoß der deutschen Truppen Richtung Frankreich gemäß dem Schlieffen-Plan eingenommen. Im Herbst des Jahres eroberten britische, französische und alliierte Streitkräfte die Stadt mit ihren 40.000 Einwohnern von den Deutschen zurück, und Deutschland versuchte in der zweiten Flandernschlacht, das verlorene Terrain wieder einzunehmen.

Um den festgefahrenen Grabenkrieg um Ypern aufzubrechen, befahl der kommandierende General am 22. April 1915 den Einsatz von Chlorgas gegen die alliierten Kräfte. Mehr als 5.700 große Druckflaschen waren bereits an die Front verbracht worden, und am frühen Abend, als der Wind günstig stand, wurde das Chlorgas abgeblasen. Gelb-grüne Chlorwolken trieben auf die alliierten Schützengräben zu, und die französischen, britischen, kanadischen, algerischen, marokkanischen und senegalesischen Soldaten, die die alliierten Linien verteidigten, mussten zwischen zwei Übeln wählen: Entweder sie verließen die Schützengräben und setzten sich dem Maschinengewehrfeuer der Deutschen aus, oder sie blieben im Graben und hofften, diese mysteriöse Gaswolke zu überleben.

Das chemische Element Chlor wird in flüssiger Form zwar häufig für industrielle Zwecke eingesetzt, z.B. zum Bleichen, in seiner gasförmigen Elementarform ist es aber ein Kampfstoff, der in hoher Konzentration binnen weniger Minuten zum Ersticken seiner Opfer führt. 1915 gab es in den alliierten Truppen nur vereinzelte Gasmasken. Der einzige Schutz für die Soldaten bestand also darin, auf Stoff zu urinieren und sich die uringetränkten Lappen dann vor die Nase zu halten. Tausende alliierter Soldaten kamen bei dem Gasangriff der »Schlacht von Gravenstafel« um. Die Weltöffentlichkeit musste zur Kenntnis nehmen, dass die bis dato abgeschlossenen Verbote die Kriegsführung mit den inhumanen chemischen Waffen nicht verhindert hatten.

Die deutschen Truppen setzten in den Schlachten bei Ypern noch mindestens viermal Chlorgas ein, insbesondere bei der Schlacht von Bellewaarde am 24. Mai 1915, dem vierten großen Waffengang um Ypern in diesem Frühjahr. Dieses Mal waren die alliierten Truppen besser darauf vorbereitet, sich gegen überraschende Gasangriffe zu schützen, dennoch wurden viele Tote und Verletzte verzeichnet. Im weiteren Verlauf des Ersten Weltkriegs bedienten sich sowohl die deutschen als auch die alliierten Streitkräfte noch weitaus tödlicherer Kampfgase, darunter Phosgen, Phosgen-Chlor-Verbindungen und Senfgas – neu entwickelte Lungen- und Kontaktkampfstoffe mit einer erheblich höheren Letalität als Chlorgas. Der erste britische Gasangriff fand am 25. September 1915 in der Schlacht von Loos in Frankreich statt; das Chlorgas entfaltete aufgrund wechselnder Winde aber kaum Wirkung. Insgesamt wurden während des Ersten Weltkriegs von Deutschland, Großbritannien, Frankreich und den Vereinigten Staaten ungefähr 190.000 Tonnen Giftgase hergestellt. Mit Abstand die meisten Todesfälle wurden durch den Kampfstoff Phosgen verursacht.

Den Schrecken des Giftgaskrieges wird in und um Ypern bis heute an mehreren Orten gedacht: auf dem Deutschen Soldatenfriedhof Langemark und dem Soldatenfriedhof »Tyne Cott Commonwealth«, in der anglikanischen »Saint George’s Memorial Church«, dem »In Flanders Fields Museum« und dem »Menin Gate Memorial to the Missing«. Mit Ausnahme der deutschen Besatzungszeit während des Zweiten Weltkriegs wird am Menin Gate seit 1928 jeden Abend eine Gedenkzeremonie für die Kriegstoten abgehalten. Viele DiplomatInnen, FachexpertInnen und BürgerInnen (einschließlich des Autors dieses Artikels) besuchten diese bewegenden Gedenkstätten von Ypern in Belgien. Unser Engagement für die wirksame Umsetzung eines globalen Verbots dieser kompletten Waffengattung wird durch dieses Gedenken gestärkt.

Neue Anläufe zur Kontrolle chemischer Waffen

Die internationale Gemeinschaft war vom Einsatz chemischer Waffen und Agenzien im Ersten Weltkrieg so verschreckt, dass sie sich 1925 auf das Genfer »Protokoll über das Verbot der Verwendung von erstickenden, giftigen oder ähnlichen Gasen sowie von bakteriologischen Mitteln im Kriege« einigte. Dieser völkerrechtliche Vertrag verbot zwar den Einsatz chemischer und biologischer Waffen im Krieg, untersagte aber nicht die Forschung, Entwicklung, Herstellung und Lagerung solcher Waffen. Dem Genfer Protokoll traten zahlreiche Länder bei, viele von ihnen aber nur unter dem Vorbehalt, dass sie sich offen halten, auf einen Angriff mit chemischen oder biologischen Waffen auch mit solchen Waffen zu antworten bzw. solche Waffen gegen Nicht-Vertragsstaaten einzusetzen.

Die meisten Industriestaaten setzten in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg die Entwicklung und Lagerung chemischer Waffen fort. Sie führten neue und noch tödlichere Wirkstoffe ein, wie Lewisit, und schließlich auch eine ganz neue Gruppe von Nervengasen, wie Sarin, Soman, VX und andere. Diese Agenzien greifen das Nervensystem an und führen innerhalb weniger Minuten zum Tod.

In Europa kam es im Zweiten Weltkrieg zu keinen größeren Giftgaseinsätzen, obwohl die Großmächte zehntausende Tonnen in ihren Arsenalen vorhielten. Im asiatisch-pazifischen Raum war dies anders. Dort setzte Japan 1943 – zwei Jahre nach seinem Überraschungsangriff auf Pearl Harbor und sieben Jahre nach seiner Invasion in China – in der Schlacht nahe der chinesischen Stadt Changde Senfgas und Lewisit ein, möglicherweise auch an anderen Orten. Heute kooperieren Japan und China, um Tausende mit Chemiewaffen gefüllte Geschosse, die vom Zweiten Japanisch-Chinesischen Krieg übrig sind, auszugraben und zu sichern.

Auch nach dem Zweiten Weltkrieg kam es wiederholt zu Chemiewaffenangriffen: Im Jemenkrieg (1962-67) setzte Ägypten bei mehreren Luftangriffen auf den Jemen Fliegerbomben mit chemischen Agenzien – vor allem Senfgas und Phosgen – ein. Dabei starben etwa 1.500 Menschen, weitere 1.500 wurden verletzt. In den 1960er Jahren versprühten die USA im Vietnamkrieg riesige Mengen des äußerst gefährlichen Entlaubungsmittels Agent Orange über gegnerischen Gebieten.

In den 1970er Jahren kamen die Vereinigten Staaten, die Sowjetunion und weitere Länder jedoch mitten im Kalten Krieg zu der Erkenntnis, dass ihre Lagerbestände weitaus mehr Risiken und Kosten als Sicherheitsgewinn verursachten. Daher richteten die beiden Supermächte 1978 eine Arbeitsgruppe zu Chemiewaffen ein – 15 Jahre später wurde das Chemiewaffenübereinkommen (CWÜ) zur Unterzeichnung ausgelegt. Die Genfer Verhandlungen für diesen völkerrechtlichen Vertrag hatten in den 1980er Jahren an Dringlichkeit gewonnen, als Irak im Ersten Golfkrieg Chemiewaffen gegen Iran einsetzte, insbesondere, als der irakische Präsident Saddam Hussein 1988 den Einsatz von Chemiewaffen gegen die Stadt Halabja in Irakisch Kurdistan befahl, bei dem Tausende irakischer BürgerInnen umkamen. Der Terroranschlag im Jahr 1995, als die japanische Sekte Aum Shinrikyo in der Tokioter U-Bahn Sarin ausbrachte und mehrere Dutzend Menschen umkamen sowie Tausende verletzt wurden, verlieh den Argumenten für das CWÜ zusätzliche Kraft.

Das Übereinkommen trat 1997 in Kraft und hatte zu Beginn 87 Vertragsparteien. Das CWÜ verbietet Entwicklung, Herstellung, Lagerung und Einsatz von Chemiewaffen im Krieg. Die Mitgliedsstaaten verpflichten sich, jegliche Chemiewaffen, -programme und –einrichtungen zu deklarieren, die Verifikation zuzulassen und die Waffen und Einrichtungen auf sichere Weise zu vernichten bzw. zu beseitigen. Inzwischen sind dem CWÜ 190 Staaten beigetreten, davon haben acht Chemiewaffenarsenale deklariert. Insgesamt meldeten Albanien, Indien, Irak, Libyen, Russland, Südkorea, Syrien und die Vereinigten Staaten mehr als 72.000 t Chemiewaffen an, die meisten davon, 68.000 t, in den USA und Russland.

Erfreulicherweise haben drei Staaten mit Chemiewaffenarsenalen – Albanien, Indien und Südkorea – die verifizierte Vernichtung ihrer Vorräte unter Leitung der »Organisation für das Verbot chemischer Waffen« (OVCW, engl. OPCW, Sitz in Den Haag) bereits abgeschlossen. Die übrigen fünf Chemiewaffenländer setzen die vereinbarten Abrüstungsprogramme weiterhin um, wobei die meisten Chemiewaffen immer noch in Russland (etwa 10.000 t) und den USA (ca. 2.800 t) vorrätig sind. In Syrien, der jüngsten, 190. Vertragspartei des CWÜ, wird die Vernichtung der etwa 1.300 t Chemiewaffenvorräte momentan nach Plan abgewickelt und soll Mitte 2014 abgeschlossen sein. Wenn alles gut geht, sind in spätestens zehn Jahren weltweit sämtliche Vorräte dieser Waffengattung beseitigt.

Von einer kriegsgeplagten Welt mit einem massiven Einsatz tödlicher Chemiewaffen haben wir uns in den vergangenen 100 Jahren zu einer Weltgemeinschaft entwickelt, die sich auf die verifizierte Abrüstung dieser Waffen verpflichtet hat. Noch sind sechs Länder –Ägypten, Angola, Israel, Myanmar, Nordkorea und Südsudan – dem CWÜ nicht beigetreten, aber es bestehen kaum Zweifel, dass sich dies in den nächsten Jahren ändern wird. Dieses Abrüstungsregime taugt gut als Vorbild für ähnliche Abrüstungsregime, u.a. für biologische, nukleare und konventionelle Waffen:

  • Es ist nicht-diskriminierend (d.h. sämtliche Mitgliedsstaaten haben die gleichen Rechte und Pflichten).
  • Es verpflichtet alle Mitgliedstaaten dazu, ihre Chemiewaffen zu vernichten.
  • Jegliche einschlägigen Anlagen – nicht nur die des Militärs, sondern auch die der Industrie – stehen der OVCW für Vor-Ort-Inspektionen und andere Verifikationsmaßnahmen offen.

Gedenken – und für Abrüstung kämpfen

Wir sollten also im Jahr 2014 beides tun: der vielen Toten gedenken, die in den vergangenen 100 Jahren der chemischen Kriegsführung zum Opfer gefallen sind, aber auch die Fortschritte feiern, die wir vor allem in den vergangenen drei Jahrzehnten auf dem Weg in eine chemiewaffenfreie Welt verzeichnen konnten. ForscherInnen und WissenschaftlerInnen, PolitikerInnen und DiplomatInnen und die gesamte Zivilgesellschaft müssen darauf drängen und dafür arbeiten, dass das Chemiewaffenübereinkommen universelle Geltung erlangt und vergleichbare Abrüstungsregime auch für alle anderen unmenschlichen und unterschiedslos tötenden Waffengattungen durchgesetzt werden.

Paul F. Walker promovierte am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Internationaler Sicherheit. Er leitet den Bereich Umweltsicherheit und Nachhaltigkeit bei Green Cross International und wurde 2013 für seinen unermüdlichen Einsatz für eine chemiewaffenfreie Welt mit dem Right Livelihood Award (Alternativer Nobelpreis) ausgezeichnet.
Übersetzt von Regina Hagen.

Forschen für den Krieg

Forschen für den Krieg

Psychologische Aspekte der Rüstungsforschung im Nationalsozialismus

von Marianne Müller-Brettel

In allen kriegführenden Gesellschaften stellten Gelehrte, Handwerker und Techniker ihr Wissen und ihre Fähigkeiten den jeweiligen Herrschern für die Entwicklung von Waffen und die Planung von Kriegen zur Verfügung. Ohne Wissenschaftler und Ingenieure, ohne die Kooperationsbereitschaft der Forschungsinstitutionen hätte die Wehrmacht nicht aufrüsten und der deutsche Faschismus den Eroberungskrieg nicht führen können. Heute verurteilen wir das Verhalten der akademischen Elite im Nationalsozialismus. Doch die Frage bleibt, wie konnte es dazu kommen?

Wir haben nicht nur eine individuelle, sondern auch eine kollektive Identität. Wir sind eingebunden in ein soziales System, das uns prägt und das zu verlassen uns Angst macht. Sozialpsychologische Experimente wie das Milgram-Experiment oder das Stanford-Prison-Experiment1 zeigen, dass Loyalitäten und soziale Rollen das konkrete Handeln stärker bestimmen als individuelle Persönlichkeitseigenschaften und Wertvorstellungen. Die »Macht der Situation« bringt ganz normale Menschen dazu, sich grausam zu verhalten.

Dazuzugehören ist ein Grundbedürfnis des Menschen. Der soziale Konsens ist ein entscheidender Faktor dafür, was als recht und unrecht empfunden wird (Morris & Donald 1995). Denn weiche ich zu sehr von den Werten meiner jeweiligen Bezugsgruppen ab, so werde ich ausgeschlossen, was Verlust bedeutet und im schlimmsten Fall tödlich sein kann. Intellektuelle sind in doppelter Weise in das meist von Eliten bestimmte gesellschaftliche Wertesystem eingebunden: Sie formulieren und kommunizieren die jeweils gültigen Normen und Werte, die wiederum ihre eigenen Wertvorstellungen prägen. Das Verhalten der Wissenschaftler im Nationalsozialismus ist ohne das damals herrschende Wertesystem (Zeitgeist), dessen Wurzeln im 19. Jahrhundert liegen, nicht zu verstehen.

Der Zeitgeist oder die Macht der Situation

Durch die Industrialisierung und die damit einhergehende Säkularisierung verloren Christentum und Kirche an gesellschaftlicher Bedeutung. Nation und Nationalismus sollten ihre Funktionen übernehmen. Die nationale Idee sollte die Sehnsucht nach Erlösung befriedigen, während der Nationalstaat eine über alle Stände hinweg geltende Wertegemeinschaft bilden und damit den gesellschaftlichen Zusammenhalt garantieren sollte. In gesellschaftlichen Umbruchsituationen, die mit Verunsicherung für jede Bürgerin und jeden Bürger einhergehen, wird häufig Sicherheit in der kollektiven Gewalt gesucht. Entsprechend spielten und spielen bis heute Militär und Krieg bis hin zum Völkermord bei der Nationenbildung eine wesentliche Rolle. „Es scheint, als ob der moderne Staat, der sich als ein homogenes »Selbst«, als ein politisch, ethnisch und/oder religiös begründetes imaginäres »Wir« begreift, immer dazu neigt, sich gegen einen Anderen herauszubilden, den es zu vertreiben, ja zu vernichten gilt.“ (Sémelin 2004, S.368)

In Preußen wurden die Kriege gegen Napoleon von Gelehrten und Literaten zum großen Befreiungskrieg, zur „bellizistischen Gründungstat“ der Nation, stilisiert (Haase 2009, S.93). Das Militär wurde zur wertsetzenden Instanz. Entsprechend wurden militärische Tugenden wie Opferbereitschaft, Tapferkeit und Kameradschaft als herrschende Werte proklamiert. Der Militarismus erfasste alle Bereiche der Gesellschaft, disziplinierte und strukturierte sie (Reichherzer 2012). Militär und Krieg sollten nationale Einheit und Erlösung bringen. Der Glaube an die nationale Idee, an das Vaterland, trat neben den Glauben an Gott, was in der Kriegseuphorie von 1914 gipfelte, die auch die Mehrheit der Intellektuellen erfasste.2

Die Niederlage im Ersten Weltkrieg und die Demütigung durch den Versailler Vertrag verstärkten den Gelehrten-Nationalismus. Die Mehrheit der Wissenschaftler lehnte die Demokratie ab. Vielmehr sollten Wissenschaft und Militär Hand in Hand die Niederlage wettmachen. So schwärmte Friedrich Körber, Direktor des Kaiser-Wilhelm-Institus (KWI) für Eisenforschung, 1939 vom „Titan Deutschland“, der es nun im zweiten Anlauf der Welt zeigen werde (zit. nach Hachtmann 2009, S.40). Nicht zuletzt galt es, »den Bolschewismus« zu bekämpfen.

Seit Mitte der 1920er Jahre kooperierten die führenden Forschungsinstitute mit der Reichswehr, die einen neuen Krieg plante. Das Ziel des KWI-Direktors und Entwicklers der Giftgastechnologie, Fritz Haber, war es, die während des Ersten Weltkrieges erfolgreiche Kooperation zwischen Militärs, Naturwissenschaftlern, Technikern und der Großchemie im Frieden fortzusetzen (Szöllösi-Janze 2000). Dies bekräftigte 1934 der Verwaltungsausschuss der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (KWG): Es herrschte „Einmütigkeit darüber, dass die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft es als ihre vornehmste Aufgabe betrachte, ihre wissenschaftlichen Interessen mit den militärischen Interessen, die zur Zeit für unser Vaterland besonders wichtig seien, zu verbinden“ (Niederschrift über die Sitzung des Verwaltungsausschusses der KWG, 6.3.1934, zit. nach Deichmann 2000, S.240).

Die Kapitulation und Entmilitarisierung führten 1945 – anders als 1918 – zu einem Bruch im Wertesystem. Das Militär war diskreditiert, entsprechend auch die Zusammenarbeit von Wissenschaft und Militär. Die Wertfreiheit der Wissenschaft wurde verkündet, wodurch die Wissenschaftler sich selbst entlasteten, denn eine wertfreie Wissenschaft konnte nicht für die Verbrechen des Nationalsozialismus verantwortlich gemacht werden. Wie stark diese Sichtweise die Wahrnehmung in der Bundesrepublik prägte und die Leugnung der Forschungstätigkeit im Dienste des Faschismus möglich machte, zeigt das Beispiel von Adolf Butenandt, Nobelpreisträger und von 1960 bis 1972 Präsident der Max-Planck-Gesellschaft (MPG): Er ließ 1974 die Behauptung, dass Institute der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Rahmen der Euthanasie Hirnforschung betrieben hätten, gerichtlich verbieten (Heim 2000).3

Die Legende von der Wertfreiheit der Wissenschaft und der Unschuld der Forscher an den Verbrechen des Nazi-Regimes war zum einen möglich, weil Professoren und Historiker die Deutungshoheit über die Geschichte haben (Heim 2000, S.77f.). Zum anderen wurde die Leugnung erleichtert durch den Rückschaufehler oder »Hindsight Bias« (Hoffrage & Pohl 2003). Das heißt, wir erinnern ein Ereignis nicht dadurch, dass wir die damalige Situation eins zu eins aus unserem Gedächtnis abrufen, sondern dadurch, dass wir das Ereignis rekonstruieren, wobei neue Informationen und Bewertungen mit einfließen. Das Sterben von KZ-Häftlingen bei ihrem Arbeitseinsatz oder in einem Experiment war mit dem nationalsozialistischen Wertesystem vereinbar – es handelte sich ja um »minderwertiges Leben«. Spätestens nach den Nürnberger Prozessen aber wurde es auch in Deutschland als Verbrechen gewertet. Da die Mehrheit der Wissenschaftler sich bemühte, nicht gegen das herrschenden Wertesystem zu verstoßen, rekonstruierten sie ihre Erinnerungen automatisch vor dem Hintergrund der nach 1945 geltenden Normen.

Charakteristisch sind die Gespräche der in Farm Hall4 internierten Atomwissenschaftler, beispielsweise von Erich Bagge: „[W]enn wir während des Krieges Menschen in Konzentrationslager [steckten] – ich habe das nicht getan, ich wusste nichts davon und ich habe das immer verurteilt, wenn ich davon hörte.“ Oder Otto Hahn: „[W]as hat Laue alles gegen den Nationalsozialismus unternommen, und auch ich glaube, dagegen gekämpft zu haben.“ (Hoffmann 1993, S.121f.) Die Verfälschung der Erinnerungen geht bis zur Leugnung objektiver Tatsachen. So behaupteten Wissenschaftler, die in Peenemünde am Raketenbau beteiligt waren, es habe in den Werkstätten und Labors keine KZ-Häftlinge gegeben (Eisfeld 1996, S.98). »Hindsight Bias« entlastet uns von der Auseinandersetzung mit dem eigenen Fehlverhalten. Nicht anders als der Mehrheit der deutschen Bevölkerung erlaubte dieser Gedächtnismechanismus den Wissenschaftlern, ihre Beteiligung an dem nationalsozialistischen System zu verdrängen. Mit der Leugnung der aktiven Zusammenarbeit mit dem Hitlerregime befanden sich die Wissenschaftler in der Nachkriegszeit wieder im Einklang mit dem Zeitgeist.

Sozialer Status und Gehorsam

Neben den allgemeinen gesellschaftlichen Wertvorstellungen wird unser Verhalten auch durch unsere Sozialisation und gesellschaftliche Stellung beeinflusst. Die Klassenlage der Intellektuellen bestimmt sie historisch eher zum Diener der herrschenden Klasse als zum Oppositionellen (Wellmann & Spielvogel 1990). Professoren und Wissenschaftler sind als Beamte eine Stütze des Staates. Eine akademische Laufbahn kann jedermann unabhängig von seiner Herkunft einschlagen. Voraussetzung ist weder Grundbesitz noch Kapitalvermögen, sondern das Bestehen der entsprechenden Prüfungen wie Abitur, Promotion und Habilitation. Die Bereitschaft, sich einer solch reglementierten Laufbahn zu unterwerfen, macht die Mehrheit der Forschenden und Lehrenden zu loyalen Staatsdienern, die die Regierung beraten, notfalls kritisieren, nicht aber das bestehende System in Frage stellen.

Nach Harrell & Stahl (1981) ähneln Wissenschaftler in ihrer Persönlichkeitsstruktur stärker Offizieren als Managern. Wie bei den Angehörigen der Wehrmacht war für die Mehrheit der Akademiker die Loyalität gegenüber der faschistischen Regierung wichtiger als die persönliche Meinung. So wie ein Offizier, der von der Unsinnigkeit der Weiterführung eines Krieges überzeugt ist, glaubt sich moralisch zu verhalten, wenn er aus Loyalität gegenüber der ihm anvertrauten Truppe weiterkämpft (Hartmann & Herz 1991), so hielten auch Forscher, die dem Nationalsozialismus skeptisch gegenüber standen, die Zusammenarbeit mit Hitler für ihre Pflicht. So wie Gehorsam für einen Offizier selbstverständlich ist, so führten auch die von ihrer politischen Einstellung und wissenschaftlichen Reputation her unterschiedlichen KWI-Direktoren Richard Kuhn, Peter Adolf Thiessen und Wilhelm Rudorf jede Anordnung (wie Entlassungen von Juden) des Regimes widerspruchslos aus, obgleich ein KWI-Direktor auch unter Hitler relativ große Freiheiten besaß (Deichmann 2000). Der Physiker Walther Gerlach sah sich 1945 „selbst in der Position eines geschlagenen Generals“ (Hoffmann 1993, S.60ff.). Auch die meisten Physiker, Chemiker und Ingenieure des US-amerikanischen Atomwaffenprogramms in Los Alomos fühlten sich als Militärangehörige. Widerstandslos akzeptierten sie die damit einhergehende Unterordnung der eigenen Urteilsfähigkeit unter die militärische Order (Dyson 1984).

Macht und Karrieren

Machtstreben passt nicht zum Selbstbild von Wissenschaft, und doch ist Macht ein wesentliches Motiv, Rüstungsforschung zu betreiben. Zum einen haben auch Wissenschaftler Allmachtsphantasien. Carl Friedrich von Weizsäcker gesteht am Ende seines Lebens: „Es war der träumerische Wunsch, wenn ich einer der wenigen Menschen bin, die verstehen, wie man eine Bombe macht, dann werden die obersten Autoritäten mit mir reden müssen.“ (Hoffmann 1993, S.338) Der Atomphysiker Walter Gerlach hatte zwar Angst, „an die Bombe zu denken“, stellte sich aber vor, „derjenige, der mit dem Einsatz der Bombe drohen konnte, würde alles erreichen können“ (ebd. S.158). Inwieweit die Faszination der Macht beim Bau der Atombombe ein Rolle spielte, sei dahin gestellt. Fakt ist, dass Idee und Anstoß zum Bau der Bombe aus der Wissenschaft kamen.5 Moore & Moore (1958) analysierten anhand von Sitzungsprotokollen den Entscheidungsprozess, der im August 1945 zum Abwurf der Atombomben auf Japan führte. Danach gab das Votum der »leading scientists« den Ausschlag für Präsident Trumans Entscheidung, die Bomben über Hiroschima und Nagasaki abzuwerfen.6 Denn wie Robert Oppenheimer bekannte: „Wir wollten, dass es geschah, ehe der Krieg vorüber war und keine Gelegenheit mehr dazu sein würde.“ (zit. nach Hochhuth 2006, S.24)

Zum anderen geht es um das Ansehen eines Faches, um den Einfluss der Wissenschaft in der Gesellschaft, um Forschungsgelder und nicht zuletzt um individuelle Karrieren. Viele Disziplinen, auch sozialwissenschaftliche,7 haben von Faschismus und Krieg profitiert. Der Nationalsozialismus befreite Anthropologen und Mediziner von ethischen Schranken und schuf neue Aufgabengebiete für die Eugenik, Rassenhygiene, Volkstumsforschung und Lebensraumpolitik (Heim 2000). Eugen Fischer, Direktor des KWI für Anthropologie, schrieb in der Deutschen Allgemeinen Zeitung vom 28.3.1943: „Es ist ein besonderes und seltenes Glück für eine an sich theoretische Forschung, wenn sie in eine Zeit fällt, wo die allgemeine Weltanschauung ihr anerkennend entgegenkommt, ja wo sogar ihre praktischen Ergebnisse sofort als Unterlagen staatlicher Maßnahmen willkommen sind.“ (zit. nach Müller-Hill 2000, S.223)

Eine »Uranmaschine«, eine Atombombe oder eine Weltraumrakete konnten nur in Großforschungseinrichtungen gebaut werden. Die Regierungen aber finanzierten Großforschung nur, wenn sie rüstungsrelevant war, wie der Raketenbau in Deutschland oder die Entwicklung der Atombombe in den USA. Generalmajor Walter Dornberger, der im Heereswaffenamt für das Raketenwaffenprogramm zuständig war, legitimierte nachträglich die Rüstungsforschung mit den Worten: „Die „Entwicklung großer Flüssigkeitsraketen musste […] zwangsläufig zunächst den Weg über die Waffenentwicklung nehmen“, denn es „gab keinen Geldgeber, der willens war, Millionen, selbst Milliarden von Mark in ein Unternehmen zu stecken, […] das auf Jahre hinaus noch keinen Verdienst abwerfen konnte.“ (Dornberger 1963, S.7)

Die Initiative für neue Rüstungsprojekte ging in den meisten Fällen von den Forschern aus. Nicht selten mussten Wissenschaftler, wie der Vorsitzende der Deutschen Mathematiker-Vereinigung Süss, die entsprechenden NS-Stellen erst von der Kriegsrelevanz ihres Faches überzeugen (Epple & Remmert 2000).8 Auch die Kontaktaufnahme zur SS für die Rekrutierung von KZ-Häftlingen ging von Ingenieuren (Eisfeld 1996) und Medizinern (Klee 1997) aus. Dank der Bereitschaft der Wissenschaftler, für den Krieg zu forschen, stieg der Etat des Reichswissenschaftsministeriums von 22 Millionen RM 1938 auf 97 Millionen RM 1942 (Fahlbusch 2000, S.470).

Nicht nur Forschungsgelder, auch Privilegien und die gesellschaftliche Aufwertung („zum ersten Mal wurden Wissenschaftler zum vollwertigen und verantwortlichen Partner bei der Kriegsführung“; Roth 1989, S.22) machten die Zusammenarbeit mit dem Heereswaffenamt und anderen Regierungsstellen attraktiv. Neben Vergünstigungen wie der Befreiung vom Fronteinsatz, Karrierechancen und materiellem Wohlstand bot die Rüstungsforschung die Möglichkeit, Forschungsträume zu verwirklichen, die in der zivilen Forschung aus ethischen – wie die Menschenexperimente an KZ-Häftlingen – oder aus finanziellen – wie das deutsche Raketen- oder das US-amerikanische Manhattan-Projekt – Gründen unmöglich gewesen wären. Allerdings trug die Realisierung dieser Träume im Verhältnis zum Aufwand nur wenig zum wissenschaftlichen Fortschritt bei und erbrachte keinen gesellschaftlichen Nutzen.

Ähnlich wie die Loyalität eines Offiziers seiner Truppe und dem Oberbefehlshaber gilt, unabhängig davon, ob es sich um einen Diktator oder eine demokratische Regierung handelt, galt die Loyalität der deutschen Raketenbauer und Atomwissenschaftler primär ihren Projekten und den sie finanzierenden Regierungen. Entsprechend hatten weder die Physiker und Ingenieure von Peenemünde noch die Wissenschaftler und Techniker des »Uranprojektes« nach Kriegsende Skrupel, für die USA oder die Sowjetunion zu arbeiten (Albrecht et al. 1992). Charakteristisch sind die in Farm Hall protokollierten Überlegungen Werner Heisenbergs: „Wenn mir die Engländer also sagen: ‚Sie dürfen allerhöchstens mit minderwertigen Apparaturen arbeiten’ und die Russen sagen: ‚Sie bekommen ein Institut mit einem Jahresetat von einer halben Million’, dann würde ich mir überlegen, ob ich nicht doch zu den Russen gehe.“ (Hoffmann 1993, S.254)

Walker, der die Geschichte der Atombombe rekonstruierte, kommt zu dem Schluss, dass sich Wissenschaftler unter Hitler, Stalin und in den USA im Kalten Krieg ähnlich verhielten. Sie nahmen die Geheimhaltung, das Arbeiten unter einem Diktator und die Entwicklung von Atomwaffen als Kriegsnotwendigkeit hin. „Moderne Wissenschaft, insbesondere was heute als »Big Science« bezeichnet wird, hängt von staatlichen Stellen ab. In Kriegszeiten wird der Staat immer noch mächtiger. Ein Wissenschaftler kann entweder emigrieren (oder fliehen) oder aus dem Beruf aussteigen oder innerhalb des politischen und damit ideologischen Systems arbeiten. Die meisten wählen Letzteres […].“ (Walker 2000, S.327)

Es gab Ausnahmen wie Max Planck, der 1914 noch kriegsbegeistert war, sich aber seit Mitte der 1930er für Frieden und Aussöhnung mit Frankreich einsetzte. Nach dem Scheitern seiner Bemühungen ging er „in die Stille Resistenz“ (Hachtmann 2009, S.44). Dieses Beispiel zeigt, dass es auch im Nationalsozialismus möglich war, sich dem System und seinen Rüstungsambitionen zu verweigern, denn in jeder Diktatur gibt es Nischen. Doch für die meisten Wissenschaftler überwog das Bedürfnis, dazuzugehören, an bedeutenden Projekten zu arbeiten, einen gesicherten Arbeitsplatz und gesellschaftliches Ansehen zu besitzen.

Anmerkungen

1) Milgram-Experiment: Nur sehr wenige Versuchspersonen weigerten sich, auf Anweisung des Versuchsleiters Probanden schmerzhafte Stromstöße zu versetzen (Milgram 1974). Stanford-Prison-Experment: Studenten wurde per Zufall die Rolle eines Gefangenen oder eines Wärters zugewiesen. Die Gefangenen verbrachten 24 Stunden, die Wärter acht Stunden am Tag in einer simulierten Gefängnissituation. Die zuvor gesunden und friedlichen Studenten verhielten sich als Wärter aggressiv, zum Teil sadistisch, und als Gefangene pathologisch. Das Experiment musste vorzeitig abgebrochen werden (Haney & Zimbardo 1977).

2) Nationalismus und Kriegsbegeisterung waren kein deutsches Phänomen, sondern erfassten Intellektuelle aus allen am Ersten Weltkrieg beteiligten Nationen (Müller-Brettel 1994).

3) Erst in den 1990er Jahren bekannte sich die MPG zu der »braunen« Vergangenheit ihrer Vorgängerin, der KWG, und setzte eine HistorikerInnenkommission ein, die die Geschichte der KWG aufarbeitete.

4) 1945 internierten die Alliierten für mehrere Monate zehn deutsche Atomphysiker des »Uranprojektes« auf dem Landsitz Farm Hall in England; dort hörte der britische Geheimdienst ihre Gespräche ohne ihr Wissen ab, protokollierte sie und übermittelte sie an die USA. Die Protokolle wurden 1991 veröffentlicht.

5) In einem Brief an Roosevelt beschrieb Einstein 1939 die Möglichkeit, eine Atombombe zu bauen, und schlug vor, die entsprechenden Forschungsarbeiten in den USA zu intensivieren. Er vermutete, dass auch in Deutschland an der Bombe gearbeitet wurde (hypertextbook.com/eworld/einstein.shtml).

6) Hohe US-Offiziere lehnten den Abwurf der Atombombe ab. Truman zögerte und veranlasste eine Befragung von Physikern an den Universitäten Chicago und Berkeley sowie in Los Alamos. Mehrheitlich sprachen sich die Physiker gegen eine Demonstration der Bombe über unbewohntem Gebiet aus und befürworteten den militärischen Einsatz, d.h. den Abwurf über bewohnten Städten des Feindes.

7) In den USA fristete die Psychologie ein Nischendasein, bis es Psychologen im Ersten Weltkrieg mit Hilfe von Eignungstests gelang, innerhalb kürzester Zeit 1,75 Millionen Wehrpflichtige entsprechend ihren Fähigkeiten den jeweiligen Truppen zuzuordnen. In Deutschland verdankt die Psychologie ihre Diplomprüfungsordnung von 1941 dem Einsatz für die Wehrmacht (Riedesser & Verderber 1985). Während des Zweiten Weltkrieges entstand in den USA die Disziplin »American Studies« (Harders 2009) und in Deutschland florierten die Wehrwissenschaften (Reichherzer 2012).

8) Schon im Ersten Weltkrieg fuhr Fritz Haber persönlich an die Front, um die Offiziere zu überzeugen, sein Giftgas einzusetzen.

Literatur

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Dr. Marianne Müller-Brettel ist Psychologin und war von 1972 bis 2003 wissenschaftliche Mitarbeiterin des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung in Berlin.

Die Friedensnobelpreise 1926 und 1927

Die Friedensnobelpreise 1926 und 1927

von Karlheinz Lipp

Der Friedensnobelpreis ist ein politischer Preis. Das wird deutlich in der Ehrung von Persönlichkeiten und Bewegungen, die sich besonders für Frieden und Verständigung, gegen Massenvernichtungswaffen und Menschenrechtsverletzungen eingesetzt haben. Das wird aber auch sichtbar, wenn Politiker ehemals verfeindeter Länder oder Konfliktparteien für Schritte zur Lösung der Probleme gemeinsam den Nobelpreis bekommen, z. B. Henry Kissinger und Le Duc Tho nach dem Vietnamkrieg, Jitzchak Rabin, Schimon Perez und Jassir Arafat nach der Vereinbarung von Oslo, John Hume und David Trimble nach dem Nordirland-Abkommen. Unser Autor behandelt eine Besonderheit in der Nobelpreisgeschichte. In zwei aufeinander folgenden Jahren wurden Politiker und Friedensaktivisten für ihre Arbeit am selben Projekt – der »Überwindung der so genannten deutsch-französischen Erbfeindschaft« – ausgezeichnet: 1926 die Außenminister Frankreichs und Deutschlands, Aristide Briand und Gustav Stresemann, und nur ein Jahr später der französische Friedensaktivist Ferdinand Buisson und der deutsche Pazifist Ludwig Quidde.

Der Krieg von 1870/71 und der Erste Weltkrieg 1914-18 waren der militärische Ausdruck der permanenten Rivalität und der sich verschärfenden Spannungen zwischen den beiden Nachbarstaaten Deutschland und Frankreich. Der Versailler-Vertrag, die Besetzung des Ruhrgebiets 1923 und der darauf folgende gewaltfreie deutsche Widerstand belasteten auch nach 1918 das deutsch-französische Verhältnis.

Einen Wendepunkt brachte das Jahr 1924. Die Konferenz von London läutete mit der vorläufigen Regelung der Reparationen eine Periode der Entspannung ein. Nur ein Jahr später brachte der Vertrag von Locarno – mit dem endgültigen Verzicht Deutschlands auf Elsass-Lothringen – einen weiteren, bedeutenden Schritt in Richtung Versöhnung. Am 10. September 1926 trat Deutschland dem Völkerbund bei. Bereits am 19. September kam es in Thoiry am Genfer See zu einem psychologisch wichtigen Gedankenaustausch der beiden Außenminister Aristide Briand und Gustav Stresemann, allerdings ohne konkrete politische Folgen. Das Friedensnobelpreiskomitee würdigte die Entspannungspolitik dieser beiden Politiker mit dem Friedensnobelpreis 1926.

Auch auf der außerparlamentarischen Ebene zeigte sich eine positive Entwicklung. So kam es, ebenfalls 1924, zu einem Redneraustausch zwischen französischen und deutschen Pazifisten. Damit sollte eine „Brücke über den Abgrund“ (so der französische Pazifist und Menschenrechtler Victor Basch) gebaut werden.

Im Jahre 1927 setzte das norwegische Friedensnobelpreis-Komitee einen weiteren politischen Akzent für die deutsch-französische Entspannungspolitik, indem es den Friedensnobelpreis den Friedensaktivisten Ferdinand Buisson und Ludwig Quidde zuerkannte.

In seiner Laudatio sagte der Vorsitzende des Komitees, Professor Dr. Frederik Stang, u.a.: „Wir werden nicht nur vonseiten von Staaten, vonseiten ihrer Organe und durch ihre Politik mit Krieg bedroht; die Psyche der Menschen, die Instinkte der Massen bergen ebenfalls dauernde Kriegsgefahren in sich. Aus diesem Grunde muss, ehe große Zahlen von Menschen für den Pazifismus gewonnen werden können, eine volksnahe Aufklärungsarbeit vorausgehen, eine Werbetätigkeit, die sich bemüht, die Massen von der Vorstellung abzubringen, der Krieg sei das einzige Mittel zur Lösung von Konflikten.

Diese Bemühungen setzten sich eines der höchsten Ziele: den friedlichen Wettbewerb der Völker und die Schaffung einer internationalen Organisation, die es ermöglicht, die Streitigkeiten zwischen Nationen zu bereinigen.

An solchen volksnahen Bemühungen für den Frieden haben Ferdinand Buisson und Ludwig Quidde einen hervorragenden Anteil. Sie haben an der vordersten Linie dafür gekämpft; sie haben die Friedensbewegungen in den beiden Ländern geleitet, wo diese Bewegung sich den größten Schwierigkeiten gegenüber sah, wo sie andererseits aber eine ganz besonders hohe Mission hatte: Frankreich und Deutschland.

Wenn das Nobelkomitee den diesjährigen Friedenspreis an Herrn Buisson und an Herrn Quidde verleiht, will es dadurch auf eine Zuversicht erweckende Tatsache aufmerksam machen: die Tatsache, dass in Frankreich und Deutschland eine öffentliche Meinung geschaffen worden ist, die für die friedliche Zusammenarbeit der Völker günstig ist; erst diese hat die Verständigung von Deutschland und Frankreich ermöglicht, welche durch die mit den Friedenspreisen von 1925 und 1926 gekrönten Verträge von Locarno besiegelt wurde.“ (Harttung, S.57-59)

Ludwig Quidde hielt am 12. Dezember 1927 seinen Nobelvortrag in Oslo über »Abrüstung und Sicherheit«, Ferdinand Buisson sprach nicht zum Auditorium, reichte aber im Frühjahr 1928 einige Thesen seiner Friedensarbeit ein.

Am 11. März 1928 traten Buisson und Quidde gemeinsam in Freiburg (Breisgau) auf. Auch vertreten waren das Auswärtige Amt, die Badische Staatsregierung und die Stadt Freiburg. Einen Tag später sprach Quidde in Köln allein, da der 87-jährige Buisson wegen einer Erkrankung nicht dabei sein konnte. Dieser Auftritt eines Pazifisten wurde von der NSDAP gestört und konnte erst nach einem Polizeieinsatz stattfinden. Auch bei der Abreise pöbelten Rechtsradikale Quidde auf dem Kölner Hauptbahnhof an.

Ein Vergleich von Buisson und Quidde zeigt einige Gemeinsamkeiten der beiden Friedensnobelpreisträger: Beide traten für die Versöhnung zwischen Frankreich und Deutschland ein, beide äußerten sich als Pazifisten kritisch zu Rüstung und Krieg, beide beriefen sich auf den Friedenstheoretiker Immanuel Kant, beide verbanden Pazifismus mit menschenrechtlichem Engagement, so etwa der deutlichen Ablehnung des Antisemitismus.

Geschichtspolitik

Ganz vergessen sind die Friedensnobelpreisträger von 1927 in ihren jeweiligen Ländern nicht. In Frankreich sind Straßen u.a. in Arras, Begles, Bordeaux, Clichy, Courcelles-Les-Lens, Lyon, Marseille, St.Étienne und Paris nach Buisson benannt. Ferner gibt es Schulen u.a. in Antony, Brest, Clermont-Ferrand, Montauban, Niort, Rouen und Versailles, die seinen Namen tragen.

In Deutschland trägt (noch) keine Schule den Namen von Ludwig Quidde. Allerdings sind Straßen und Plätze nach ihm benannt, so in Bergisch Gladbach, Bingen, Bremen, Dortmund, Frankfurt/Main, Göttingen, Kassel, Köln, München (auch eine U-Bahnstation), Oelde und Osnabrück. Die Deutsche Bahn jedoch strich bereits vor einigen Jahren den ICE Ludwig Quidde, der Bremen und München verband.

Als besonders gelungen muss die Straßenbenennung im Berliner Bezirk Pankow angesehen werden. Nach Auskunft des dortigen Bezirksamts erfolgte 1994 die Umbenennung der Straße 64 in Ludwig-Quidde-Straße. Im Jahre 2006 beschloss der Bezirk die Umbenennung der Straße 49, die sich mit der Ludwig-Quidde-Str. kreuzt, in Ferdinand-Buisson-Straße. So sind die beiden Friedensnobelpreisträger auch per Straßennamen eng und höchst sinnvoll verknüpft.

„Abrüstung des Hasses“ Kurzbiographie Ferdinand Buisson

Geboren wurde Buisson am 20. Dezember 1841 in Paris als Sohn eines Richters und einer frommen, sozial-karitativen Mutter. Nach der Gymnasialzeit in St.Étienne und dem Studium an der Sorbonne verweigerte er den Loyalitätseid auf Kaiser Napoleon III. Daraufhin bekam er in Frankreich keine Anstellung und arbeitete daher als Lehrer in Neuchâtel in der Schweiz. Durch die Teilnahme am ersten internationalen Friedenskongress überhaupt, in Genf 1867, erfuhr der Lehrer die entscheidende politische Prägung. Er propagierte schon in dieser Zeit die Vereinigten Staaten von Europa, und zwei Jahre später auf dem nächsten Kongress in Lausanne forderte Buisson die Abschaffung der „Armeen, dieser Götter der Cäsaren und Napoleone“.

Nach dem Sturz Napoleons III. 1870 ernannte Unterrichtsminister Jules Ferry Ende der 1870er Jahre Buisson zum Generalinspektor des französischen Bildungswesens. Es gelang dem Protestanten, Philosophen und Pädagogen, den großen Einfluss des Klerus auf das Schulwesen zurück zu drängen. Damit zählte Buisson zu den Wegbereitern der Trennung von Staat und Kirche, die in Frankreich 1905 offiziell vollzogen wurde.

Als Mitglied der Radikalsozialistischen Partei setzte sich Buisson für die Menschenrechte ein, besonders für die Rechte der Frauen und für den Frieden. Sehr früh verlangte er, wie Émile Zola, eine Neubewertung des Prozesses gegen Dreyfus. Buisson gehörte zu den Mitbegründern der Ligue des Droits de l’Homme (Menschenrechtsliga), die noch heute existiert, und fungierte von 1913 bis 1926 als ihr Präsident. Ferner engagierte er sich für verfolgte Minderheiten (Polen, russische Revolutionäre, Juden). Von 1902 bis 1914 und von 1919 bis 1924 arbeitete Buisson als Abgeordneter seiner Partei im Parlament.

Ab 1896 lehrte Buisson als Professor der Pädagogik an der Sorbonne und setzte friedenspädagogische Impulse im Sinne einer Erziehung, die im Geiste der Aufklärung und der Toleranz stand. Hier folgte er seinem philosophischen Vorbild Immanuel Kant. So forderte Buisson bereits 1905 einen Abschied von dem weit verbreiten nationalistischen Geschichtsunterricht. Ferner sollten den Kindern und Jugendlichen Alternativen zu Gewalt, Krieg und Militär aufgezeigt werden, so etwa die internationale Schiedsgerichtsbarkeit.

Im Ersten Weltkrieg befürwortete Buisson den Verteidigungskrieg und setzte sich als Mitglied der französischen Völkerbundvereinigung für den Aufbau dieser neuen, internationalen Organisation ein. Nach 1918 engagierte sich der Pazifist und Menschenrechtler für die Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund. Ferner kritisierte Buisson den Versailler Vertrag als Hindernis zum Frieden. Im Jahre 1924 bereiste der Friedensaktivist mehrfach Deutschland und hielt Reden für die deutsch-französischen Versöhnung, so u.a. vor 1.500 Arbeitern der Firma Krupp in Essen und vor dem Reichstag in Berlin.

Seinen finanziellen Anteil des Friedensnobelpreises ließ Buisson Organisationen zukommen, die für den Frieden zwischen den Völkern eintraten. Er starb am 16. Februar 1932.

„Aufbau einer internationalen Rechtsordnung“ Kurzbiographie Ludwig Quidde

Ludwig Quidde wurde am 23. März 1858 in Bremen geboren und entstammte einer bürgerlich-konservativen Handelsfamilie. Er studierte Geschichte, Philosophie und Volkswirtschaft in Straßburg und Göttingen. Bereits 1881 engagierte sich Quidde politisch, indem er sich gegen den Antisemitismus der deutschen Studentenschaft wandte. Es folgte die Heirat mit einer so genannten Halbjüdin. Beruflich arbeitete der Historiker an der Herausgabe der Deutschen Reichstagsakten mit. Im Jahre 1887 wurde er zum außerordentlichen Mitglied der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften berufen. 1892 erfolgte die Berufung zum außerordentlichen Mitglied der Akademie selbst. Die sich abzeichnende akademische Karriere wurde 1894 jäh gestoppt, als der Historiker mit seiner Schrift »Caligula« eine geniale und treffsichere Satire auf Kaiser Wilhelm II. publizierte. Die von Quidde herausgegebene Zeitschrift für Geschichtswissenschaft wurde boykottiert, die Chance auf einen Lehrstuhl war abrupt blockiert. Zwei Jahre später agitierte der deutsche Pazifist gegen eine posthume Ehrung für Kaiser Wilhelm I. und musste dafür eine dreimonatige Haftstrafe antreten.

Ludwig Quidde entwickelte sich nun immer entschiedener zum Pazifisten. 1894 gründete er die Münchner Friedensvereinigung und erreichte durch seine Aufrufe zur Beendigung des Burenkrieges reichsweites Aufsehen. 1902 trat er in das Präsidium der Deutschen Friedensgesellschaft ein, 1914 wurde er zum Vorsitzenden gewählt. In der nationalen und internationalen Friedensarbeit wirkte Quidde sehr vielfältig. Ein wichtiger Aspekt bildete für ihn dabei die deutsch-französische Verständigung. Als Abgeordneter der liberalen Fortschrittlichen Volkspartei gehörte Quidde von 1907 bis 1918 dem Bayerischen Landtag an. Im Jahre 1919 erfolgte die Wahl Quiddes als Abgeordneter der Deutschen Demokratischen Partei in die Nationalversammlung.

Während und nach dem Ersten Weltkrieg wurde Quidde innerhalb der deutschen Friedensbewegung von radikalen Kräften zunehmend als zu kompromissbereit und bürgerlich kritisiert. Er blieb zunächst Präsident der pazifistischen Dachorganisation Deutsches Friedenskartell, wurde jedoch im Jahre 1929 als Vorsitzender der Deutschen Friedensgesellschaft abgelöst.

Der Machtantritt der NSDAP vertrieb den nunmehr mittellosen 75-Jährigen ins Exil nach Genf. Quidde unterstützte von der Schweiz aus andere Flüchtlinge, gehörte immer noch dem Internationalen Friedensbüro an und verfasste im Auftrag des Nobelinstituts eine Geschichte der deutschen Friedensbewegung während des Ersten Weltkriegs. Er starb am 5. März 1941.

Quellen und Literatur:

Zeitschrift »Das Andere Deutschland«. März 1928.

Francois Beilecke/Hans Manfred Bock (Hrsg.): Demokratie, Menschenrechte, Völkerverständigung – Die Ligue des Droits de l’Homme und die deutsch-französischen Beziehungen von der Jahrhundertwende bis zum Zweiten Weltkrieg. In: lendemains, Nr.89/1998, S.7-102.

Ilde Gorguet (1999): Les mouvements pacifistes et la réconciliation franco-allemande dans les années vingt (1919-1931). Bern: Peter Lang.

Arnold Harttung (Hrsg.) (1971): Der Friedens-Nobelpreis. Stiftung und Verleihung. Die Reden der vier deutschen Preisträger. Gustav Stresemann, Ludwig Quidde, Carl von Ossietzky, Willy Brandt. Berlin: Berlin-Verlag.

Albert S. Hill (1985): Ferdinand Edouard Buisson. In: Biographical Dictionary of Modern Peace Leaders. Hrsg. von Harold Josephson. Westport/Connecticut und London: Greenwood Press. 1985, S.123f.

Karl Holl (2007): Ludwig Quidde (1958-1941). Eine Biographie. Düsseldorf: Droste.

Norman Ingram (1991): The Politics of Dissent. Pacifism in France 1919-1939. Oxford: Clarendon Press.

Otmar Jung (1990): Unterschiedliche politische Kulturen: Der Redneraustausch zwischen französischen und deutschen Pazifisten 1924. In: Detlef Lehnert/Klaus Megerle (Hrsg.): Politische Teilkulturen zwischen Integration und Polarisierung. Zur politischen Kultur in der Weimarer Republik. Opladen: VS Verlag für Sozialwissenschaften. 1990, S.250-292.

Bernhard Kupfer (2001): Lexikon der Nobelpreisträger. Düsseldorf: Parmos.

Karlheinz Lipp, Reinhold Lütgemeier-Davin, Holger Nehring (Hrsg.) (2010): Frieden und Friedensbewegungen in Deutschland 1892-1992. Ein Lesebuch. Essen: Klartext

Michael Neumann (Hrsg.) (1989): Der Friedensnobelpreis von 1901 bis heute. Bd.4. Der Friedensnobelpreis von 1926 bis 1932. Zug: Edition Pacis.

Dr. Karlheinz Lipp ist Historiker und Mitglied im Arbeitskreis Historische Friedensforschung.

Der Chemiker Fritz Haber

Der Chemiker Fritz Haber

Anerkannte Wissenschaft – und Etablierung eines Massenvernichtungsmittels

von Dieter Wöhrle und Wolfram Thiemann

Das Deutsche Kaiserreich (gegründet 1871) entwickelte sich Anfang des 20. Jahrhunderts zu dem in Europa wirtschaftlich führenden modernen Industriestaat. Die Leistungsfähigkeit der deutschen chemischen Industrie lag vor dem Ersten Weltkrieg mit 86% der Weltproduktion weit über der seiner Kriegsgegner. Für Deutschland war es auch eine Epoche stärkster geistiger Dynamik der Wissenschaften. Seit Beginn der Verleihung der Nobelpreise 1901 wurden bis 1933 allein 14 Nobelpreise für Chemie und elf Nobelpreise für Physik an deutsche Wissenschaftler verliehen. Den Chemie-Nobelpreis des Jahres 1918 erhielt Fritz Haber (1868-1934) für seine wissenschaftlichen Arbeiten zur Synthese von Ammoniak. Besonders wird aber sein Name bei der Entwicklung und dem Einsatz von Chemikalien als erstes Massenvernichtungsmittel der Menschheitsgeschichte im Ersten Weltkrieg genannt. Wie konnte sich diese Ambivalenz der Extreme von Ehre durch wissenschaftliche Leistung und Schuld an der Etablierung eines grausamen Kriegsmittels in einer Person überhaupt vereinen? Dieser Frage versuchen die beiden Autoren nachzugehen, und weisen dabei auch auf einige wichtige Punkte in seinem Privatleben hin.

Fritz Haber wurde 1868 in der Zeit der Gründung des Deutschen Reiches in Breslau (dem heutigen Wroclaw) geboren (Szöllösi-Janze, 1998; Stoltzenberg, 1994). Er stammte aus einer liberalen jüdischen Familie. Schulbesuch, Studium und Militärzeit des jungen F. Haber unterscheiden sich nicht wesentlich von den frühen Lebensgeschichten vieler deutscher Wissenschaftler. Nach dem Chemiestudium erfolgte 1891 die Promotion in der organischen Chemie an der Berliner Friedrich-Wilhelm-Universität (heute Humboldt-Universität).

Erste Erfahrungen mit dem Militär sammelte F. Haber 1888/89 als Einjährig-Freiwilliger bei seinem Militärdienst in Breslau. Der Militärdienst gehörte im Kaiserreich zu den wichtigsten Voraussetzungen für eine Karriere (Szöllösi-Janze, 1998, S.45). F. Haber wäre sehr gerne Reserveoffizier geworden, scheiterte aber u.a. daran, dass jüdische Bewerber mit Ausnahme des Sanitätswesens nicht das Reserveoffizierspatent erwerben konnten. Die Reichsgründung bedeutete zwar die gesetzlich festgelegte staatsbürgerliche Gleichstellung von Juden, der gesellschaftliche Antisemitismus war damit aber keineswegs aus der Welt geschafft. So wurden bei der Besetzung von Hochschullehrerstellen die christlich Getauften gegenüber den Nichtgetauften bevorzugt (Szöllösi-Janze, 1998, S.146). F. Haber entschloss sich daher 1892, zum evangelischen Glauben zu konvertieren.

Die Karlsruher Zeit bis 1911

1894 trat F. Haber eine Stelle an der Technischen Hochschule Karlsruhe in der physikalischen Chemie und Elektrochemie an, wurde bereits 1898 außerordentlicher Professor und 1906 im Alter von nur 38 Jahren auf einen neu zu besetzenden Lehrstuhl berufen. F. Haber führte u.a. ab1903 auch wissenschaftliche Arbeiten zur katalytischen Synthese von Ammoniak aus den Elementen Stickstoff und Wasserstoff durch, die 1909 zum Erfolg führten. Er sah in dieser Arbeit die Möglichkeit, zum angestrebten Weltruhm zu gelangen, und erhielt dafür 1918 den Nobelpreis für Chemie. Zusammen mit der von Ostwald (1853-1932, Nobelpreis für Chemie 1909) realisierten Oxidation des Ammoniaks zu Salpetersäure standen damit die beiden Grundchemikalien für die Herstellung von Düngemitteln, aber auch Sprengstoffen zur Verfügung.

Von 1908 bis 1933 war F. Haber vertraglich an die BASF (Badische Anilin- und Sodafabrik) gebunden, welche 1913 mit Hilfe von Carl Bosch (1874-1940, Nobelpreis für Chemie 1931) erstmalig die großtechnische und damit industrielle Synthese von Ammoniak realisierte, was für die Fortführung des Ersten Weltkrieges die größte Bedeutung hatte. Die Ammoniaksynthese zeigte in der damaligen Zeit den Erfolg einer systematischen Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Industrie, zwischen Chemie und Ingenieurwissenschaften.

Eine außerordentliche wissenschaftliche Begabung, ein immenser Arbeitseifer, die Auswahl zukunftsträchtiger fachlicher Arbeitsgebiete, die große politische und fachliche Loyalität und letztlich auch die Konversion zum christlichen Glauben waren die Bausteine, die F. Haber den Weg zum wissenschaftlichen Erfolg öffneten. Was noch fehlte war die weitere gesellschaftliche Anerkennung durch Gründung einer Familie und die politische Einflussnahme bei gesellschaftlich relevanten Themen. Und hier beging F. Haber die entscheidenden Fehler seiner Laufbahn. In seiner Sucht nach Ruhm und Anerkennung war er insbesondere in seiner Berliner Zeit nicht mehr in der Lage, Geborgenheit in der Familie zu finden und Verantwortung für seine Wissenschaft zu erkennen und zu übernehmen.

Die Ehe mit der verantwortungsbewussten Clara Immerwahr

F. Haber war in seiner ersten Ehe seit 1901 mit der überdurchschnittlich begabten promovierten Chemikerin Clara Immerwahr (1870-1915) verheiratet (Leitner, 1993; Friedrich, 2007; Szöllösi-Janze, 1998). Auch sie stammte aus einer liberalen jüdischen Familie in Breslau. Dem Antrag von F. Haber an C. Immerwahr, ihn zu heiraten gab sie erst nach einigem Zögern nach, was verständlich war. Eine eigene – außerhäusliche – Erwerbstätigkeit, auch als Assistentin, war als treu sorgende Professorengattin damals kaum vorstellbar. Damit wollte sich C. Immerwahr nicht abfinden. Und bald zeigte sich, dass die Ehe durch den Gegensatz des von Anerkennung und Erfolg getriebenen F. Haber und der selbst- und verantwortungsbewussten C. Immerwahr-Haber letztlich zum Scheitern verurteilt war und mit Claras spektakulären Freitod 1915 endete (Wöhrle, 2010).

Die Berliner Zeit von 1911 bis zum Ende des Ersten Weltkrieges

Vor dem Hintergrund des Zusammenspiels von Staat, Wirtschaft und Wissenschaft wurde 1911 in Berlin die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (KWG; ab 1948 Max-Planck-Gesellschaft, MPG) gegründet. Ein Problem war allerdings die Finanzierung der Institute, die zum Teil von privater Seite erfolgte. Hier ist u.a. der jüdische Berliner Bankier L. Koppel (1854-1933) zu nennen, der sich privat in der Wissenschaftspflege engagierte (Szöllösi-Janze, 1998, S.212). Er wollte in Berlin Dahlem in der KWG ein separates Institut für physikalische Chemie und Elektrochemie finanzieren mit F. Haber als Direktor. F. Haber siedelte 1911 mit seiner Familie nach Berlin und war bis 1933 Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Physikalische Chemie und Elektrochemie (ab 1953 Fritz-Haber-Institut der MPG). Die Laufbahn von F. Haber als Leiter des neuen, bedeutenden Instituts, das 1913 arbeitsfähig wurde, entwickelte sich zuerst wie erwartet weiter. Dabei machte er den Schritt vom Wissenschaftler zum Wissenschaftsorganisator, wo er zunehmend an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft, chemischer Großindustrie und dann auch dem politisch-militärischen Bereich an Einfluss gewann.

Chemische Waffen

Land Menge Kampfstoffe in Tonnen
Deutschland 52.000
Frankreich 26.000
Großbritannien 14.000
Österreich/Ungarn 7.900
Italien 6.300
Russland 4.700
USA 1.000
Gesamt 113.000
Tabelle 1: Mengen der im Ersten Weltkrieg von den kriegsführenden Staaten eingesetzten chemischen Kampfstoffe (nach SIPRI)

Im Ersten Weltkrieg stellte F. Haber seine Erfahrungen und auch seine Arbeitskraft bedingungslos der deutschen Kriegsführung zur Verfügung. Was waren seine Motive? In Szöllösi-Janze (1998) wird auf S.260 ausgeführt „Seine Haltung war preußisch: Im Vordergrund stand der Staat, dem er diente, dem er unbedingte Loyalität entgegenbrachte und für dessen Ziele er sich rückhaltlos einsetzte […]“. Archimedes diente ihm als Leitfigur „[…] der im Frieden […] dem Fortschritt der Menschheit diente, im Krieg aber seiner Heimat […]“. Der Krieg eröffnete dem in Breslau an seiner jüdischen Herkunft gescheiterten Reserveoffizier eine Chance auf gesellschaftliche Anerkennung. Die Niederlage des Deutschen Reiches im Ersten Weltkrieg wurde für den Wissenschaftler F. Haber aber nicht zuletzt durch den Freitod seiner Frau Clara 1915 zur seelisch und körperlich empfundenen Niederlage.

F. Haber ist – gemeinsam mit anderen – zunächst im Zusammenhang mit der Sicherung des Munitionsbedarfs (und damit auch für die Verlängerung des Krieges) durch die erfolgreiche Salpeterversorgung über die bereits erwähnte Ammoniaksynthese zu sehen. Die Blockade der Entente-Mächte führte dazu, dass die begrenzten Vorräte an Chilesalpeter ein großes Hindernis für die Fortführung des Krieges darstellten. F. Haber war zunächst als Berater und dann als Leiter der Zentralstelle für Chemie in der zivilen und militärischen Rohstoffversorgung tätig.

Besondere Erwähnung findet F. Habers Name aber im Zusammenhang mit der Entwicklung und dem Einsatz von Chemikalien als erstes Massenvernichtungsmittel der Menschheitsgeschichte (Martinetz, 1996; Gartz, 2003; Wietzker, 2008). Dabei war F. Haber nicht der Erste, der Chemikalien (»chemische Kampfstoffe« bzw. munitioniert als »chemische Waffen« bezeichnet) in militärischen Auseinandersetzungen einsetzte. Die Verwendung von erstickendem Rauch oder Reizkampfstoffen gab es bereits vor dem Ersten Weltkrieg. Von französischer Seite wurden bereits im Herbst 1914 Gewehrmunition und Granaten mit geringen Mengen des Reizkampstoffes Bromessigester gefüllt und eingesetzt – um den Gegner aus Stellungen zu treiben –, aber wegen geringen Erfolges wieder aufgegeben. Auch auf der deutschen Seite blieb die Verwendung von Dianisidinsalz (reizendes Niespulver), Xylylbromid (Augenreizstoff) und anderen Reizstoffen ohne Erfolg. Erst F. Haber allerdings etablierte todbringende Chemikalien in der Kriegsführung als Massenvernichtungsmittel. Die Haager Landkriegsordnung von 1899 und 1907 als Teil des humanitären Völkerrechts untersagte den Vertragsstaaten u.a. die Verwendung von „Giften oder vergifteten Waffen“ sowie den „Gebrauch von Waffen, Geschossen oder Stoffen, die geeignet sind, unnötigerweise Leiden zu verursachen“. Das Deutsche Reich hatte das Abkommen unterzeichnet und verstieß, unterstützt von F. Haber, mit dem Einsatz chemischer Waffen gegen geltendes Völkerrecht.

Was waren die Ursachen für eine neue Methode der Kriegsführung? Zum einen die Erstarrung der deutschen Westoffensive im Herbst 1914 zu einem Stellungskrieg und zum anderen die drohende Munitionskrise. Generalstabschef E. von Falkenhayn (1861-1922) wandte sich an F. Haber und andere Chemiker mit der Aufforderung, nach Giften zu suchen, die den Gegner aus den Gräben treiben und seine Kampfkraft dauerhaft schädigen könnten. Alles soll verseucht werden, Luft, Boden, Wasser, Nahrung…

Dazu schlug F. Haber Ende 1914 vor, das in großen Mengen aus der Natriumchlorid-Elektrolyse zur Verfügung stehende Chlor im Blasverfahren aus Stahlflaschen an der Front zu verwenden. Am 22. April 1915 führte das deutsche Militär im belgischen Ypern mit rund 150 Tonnen Chlor aus über 5.000 Stahlflaschen den ersten Gasangriff der Militärgeschichte durch. Die Konsequenz waren über 1.000 Tote und an die 10.000 Verletzte. Der Erfolg dieses Gaseinsatzes bescherte F. Haber Tage danach die von ihm angestrebte Beförderung in den Hauptmannsrang.

Eine persönliche Tragödie

Clara Immerwahr-Haber erkennt die Perversion der Wissenschaft, warum ihr Mann nicht? „Wenn Du wirklich ein glücklicher Mensch wärst, könntest du das nicht machen“ (Leitner, 1993, S.196), konfrontierte ihn seine Frau. Dennoch vollzog F. Haber den militärisch gewünschten Schritt vom Reizkampfstoff zum tödlich wirkenden Kampfstoff. C. Immerwahr-Haber hingegen wandte sich mit verschiedenen Argumenten energisch gegen den Gaseinsatz. Ihr Mann soll seiner Frau sogar Landesverrat vorgeworfen haben. Es traf sie besonders, dass er ihr vorwarf, ihm und Deutschland in der größten Not in den Rücken zu fallen.

In dieser aus ihrer Sicht aussichtslosen Situation erschoss sie sich kurz nach der gefeierten Rückkehr ihres Mannes aus Ypern in der Nacht vom 1. auf den 2.5.1915 mit seiner Dienstpistole. Sie wollte nicht Mittäterin sein. In Szöllösi-Janze (1998, S.393) wird dazu ausgeführt: „Ihr Tod wird zum Protest der Friedenskämpferin gegen die zerstörerischen Konsequenzen der modernen Massenvernichtungsmittel erklärt, an deren Entwicklung ihr Mann maßgeblich beteiligt war“.1 Wahrscheinlich spielten ihre gescheiterte Ehe und daraus resultierende psychische Belastungen ebenfalls eine Rolle.

F. Haber reiste noch am Tage des Todes seiner Frau zurück an die Front und ließ seinen 13-jährigen Sohn Hermann zurück. Ob dies nur Pflichterfüllung gegenüber seiner militärischen Aufgabe oder auch Flucht vor seinem Versagen im persönlichen Bereich war, ist nur schwer einzuschätzen.

Etablierung als Massenvernichtungsmittel

Mit dem deutschen Chlorgaseinsatz waren nun alle Hemmnisse, auch seitens der Kriegsgegner, zur Ausweitung des Einsatzes von Chemikalien im Krieg beseitigt. Zunächst übernahm F. Haber im Herbst 1915 die Leitung der »Zentralstelle für Fragen der Chemie«, die ein Jahr später zu einer selbstständigen Abteilung im Allgemeinen Kriegsdepartement ausgebaut wurde. F. Haber war damit der erste Wissenschaftler, der eine Abteilung im Kriegsministerium leitete. Er war für den Einsatz von Chemikalien als Kriegsmittel verantwortlich. Seit 1916 bearbeitete das von ihm geleitete Kaiser-Wilhelm- Institut ausschließlich militärische Projekte (Gasproduktion, Entwicklung/Prüfung neuer chemischer Kampfstoffe, Gasmaskenproduktion, Gasgeschossproduktion etc.), was die Verflechtung von Wissenschaft, Heeresverwaltung und chemischer Industrie verdeutlicht.

Der chemische Krieg wurde auch bei den Entente-Mächten Bestandteil der Kriegsführung. Von einigen Hundert getesteten Verbindungen wurden im Ersten Weltkrieg 18 »mehr tödlich« und 27 »mehr reizend« wirkende Chemikalien eingesetzt (Martinetz, 1996) (siehe Abb. 1). Am Ende des Ersten Weltkrieges hatten etwa ein Drittel der Artilleriegeschosse bereits Füllungen mit toxischen Chemikalien: Etwa 113.000 Tonen Kampfstoffe, eingesetzt davon allein 52.000 von deutscher Seite (siehe Tab. 1)! Die Zahl der durch toxische Chemikalien Betroffenen wird etwas unterschiedlich angegeben, aber man kann etwa von 90.000 »Gastoten« und über einer Million »Gasvergifteten« ausgehen. Durch chronische Erkrankung Betroffene und Opfer mit Spätfolgen sind in den Zahlen nicht enthalten.

Dabei ist hervorzuheben, dass es auch im Ersten Weltkrieg durchaus Möglichkeiten gab, sich gegen den Krieg zu engagieren und als Wissenschaftler kritisch Stellung zu beziehen. Der Bund Neues Vaterland, gegründet 1914 und 1922 umbenannt in Deutsche Liga für Menschenrechte, war wohl die bedeutendste deutsche pazifistische Vereinigung im Ersten Weltkrieg. Mitglieder waren u.a. Albert Einstein, Stefan Zweig, Ludwig Quidde, Helene Stöcker, Clara Zetkin, Alfred Hermann Fried. Der Bund versuchte, durch vielfältige Kontakte zu Regierungsvertretern und internationalen Friedensorganisationen auf ein schnelles Ende des Krieges hinzuwirken. Auch F. Haber hätte sich hier engagieren können. Von verschiedenen bekannten Wissenschaftlern gab es während und nach dem Ersten Weltkrieg klare Stellungnahmen gegen den Einsatz von Chemikalien als Massenvernichtungsmittel. Beispiele sind die Nobelpreisträger Albert Einstein (1879-1955), Max Born (1882-1970), Otto Hahn (1879-1968) und Hermann Staudinger (1881-1965) (Martinetz, 1996, S.105; zur Kontroverse von Haber und Staudinger siehe Szöllösi-Janze (1998) S.447 ff). Man kann jedoch davon ausgehen, dass der größte Teil der deutschen Naturwissenschaftler zur Mitarbeit am chemischen Krieg bereit war und den Krieg als „Wettbewerb des Forscher- und Erfindergeistes“ wertete. An besonders verantwortlicher Stelle dabei stand F. Haber.

Die Zeit nach dem ersten Weltkrieg

F. Haber (kurzfristig als Kriegsverbrecher geführt) erhielt 1919, wie bereits erwähnt, den Nobelpreis für Chemie 1918, was zu internationalen Protesten auch von verschiedenen prominenten Wissenschaftlern führte. Die entscheidende Frage ist, ob F. Haber aus dem Desaster und den Leiden des Ersten Weltkrieges gelernt hatte. Die Antwort lautet eindeutig Nein: Dafür steht exemplarisch seine Aussage: „Die Menschheit hat nicht die Möglichkeit gelehrt, wirksame Kriegsmittel aus der Kriegsführung auszuschließen“ (Martinetz, 1996).

Zum Umgang mit chemischen Waffen äußerte sich F. Haber vor dem parlamentarischen Untersuchungsausschuss des Deutschen Reichstages 1923 uneinsichtig „Die Geschichte der Kriegskunst rechnet den Beginn des Gaskampfes am 22.4.1915, weil an diesem Tage zum ersten Male ein unbestrittener militärischer Erfolg durch die Verwendung von Gaswaffen erzielt worden ist […] dass es zum militärischen Erfolg auf dem Schlachtfelde einer Massenwirkung von Gaskampfmittel bedarf“ (Martinetz,1996, S.26).

Im Versailler Friedensvertrag von 1919 wurde Deutschland in Artikel 171 der Gebrauch, die Herstellung und die Einfuhr von chemischen Kampfstoffen verboten. Das Genfer Giftgasprotokoll von 1925, welches den Unterzeichnerstaaten u.a. den Gebrauch von erstickenden, giftigen oder ähnlichen Stoffen verbot, ist Folge der schrecklichen Auswirkungen im Ersten Weltkrieg. Trotz dieser beiden Verträge setzten in Deutschland – basierend auf den Erfahrungen im Ersten Weltkrieg –, Politik, Militär (Reichswehr) und Wissenschaft die Forschung über chemische Kampfstoffe fort – nur jetzt geheim. F. Haber half auch bei der Übertragung in den zivilen Bereich, z.B. bei der Verwendung von Cyanwasserstoff für Schädlingsbekämpfung, aus dem dann bereits 1922 das berüchtigte Zyklon B entwickelt wurde, das im Dritten Reich seine bekannte todbringende Karriere machte (Kogon, 1983). In diesem Kontext äußerte er in zynischer Weise, dass man „nicht angenehmer als durch Einatmung von Blausäure sterben“ könnte (Martinetz, 1996, S.133). In geheimen Missionen war F. Haber wahrscheinlich bis etwa 1926 für die militärischen Nutzungen toxischer Verbindungen aktiv (Stoltzenberg, 1994; Szöllösi-Janze, 1998; Schweer, 2008). Die nun in verschiedenen Ländern vorangetriebene chemische Aufrüstung, die Herstellung der phosphororganischen Kampfstoffe in Vorbereitung des Zweiten Weltkrieges, die Entwicklung der sog. Binärtechnologie in den USA und verschiedene Einsätze von chemischen Kampfstoffen verdeutlichten, dass die geltenden Verträge zahnlos blieben. Erst 1997 sollte eine neue UN-Konvention über das Verbot chemischer Waffen entscheidende Abhilfe schaffen.

F. Haber heiratete 1917 zum zweien Male, diesmal die fröhliche und lebensbejahende Jüdin Charlotte Nathan. Bereits 1918 bekannte sie in einem Brief an ihren Schwiegervater die Wahrnehmung der „Unterdrückung der eigenen Persönlichkeit“ durch Habers „Wucht“. Auch diese zweite Ehe endete nicht glücklich und wurde 1927 geschieden. F. Haber empfand dies als persönliches Scheitern vor sich selbst. Tragisch ist das Ende seines Sohnes Hermann aus erster Ehe: Er soll sich nach seiner Emigration in die USA 1946 das Leben genommen haben.2

Am 5. März 1933 ergriffen die Nationalsozialisten die Macht in Deutschland. Kurz danach trat das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums in Kraft, um zunächst jüdische und andere missliebige Staatsdiener zu entlassen oder in den Ruhestand zu versetzen. F. Haber versuchte, sich für seine Mitarbeiter einzusetzen. Dann kam er seiner eigenen Entlassung zuvor, indem er seinen Abschied einreichte. Seine körperliche Verfassung verschlechterte sich dramatisch, begleitet von tiefster Depression. Verbittert – auch im Stich gelassen von der I.G. Farbenindustrie AG (gegründet 1925) – verließ er Deutschland im Herbst 1933, um einem Ruf nach Cambridge zu folgen. Am 29.1.1934 verstarb F. Haber an Herzversagen.3 Das Kaiser-Wilhelm-Instituts für Physikalische Chemie und Elektrochemie wurde am 1.7.1953 der Max-Planck-Gesellschaft eingegliedert und in «Fritz-Haber-Institut der MPG» umbenannt.4

Haben wir nun etwas aus der Geschichte gelernt?

Der dunkelste Punkt im Leben von F. Haber ist die Etablierung von chemischen Kampfstoffen/Waffen als Massenvernichtungsmittel. Heute sind wegen der grausamen Folgen deutliche Fortschritte hinsichtlich der Ächtung chemischer Waffen zu beobachten, und F. Haber könnte so heutzutage nicht mehr handeln. Der Verhaltenskodex der Gesellschaft Deutscher Chemiker (GdCh) verpflichtet seine Mitglieder u.a. „[…] Sie beachten die für ihre Arbeit und deren Ergebnisse und Wirkungen geltenden Gesetze und internationalen Konventionen und stellen sich gegen den Missbrauch der Chemie, z. B. zur Herstellung von Chemiewaffen. […]“ (www.gdch.de). Für Chemiewaffen trat das sehr umfassende und von 188 Staaten unterzeichnete »Übereinkommen über das Verbot der Entwicklung, Herstellung, Lagerung und des Einsatzes chemischer Waffen und über die Vernichtung solcher Waffen« (Chemiewaffenübereinkommen) 1997 in Kraft (www.opcw.org). Die Einhaltung dieser Konvention wird durch die »Organisation für das Verbot chemischer Waffen« (OPCW) in Den Haag durch umfangreiche Verifikationsmaßnahmen überwacht. Wir müssen uns in der Verantwortung für unsere Wissenschaft eindeutig und klar zur Ächtung von Massenvernichtungsmitteln bekennen und gegen jeden möglicherweise auftretenden Missbrauch öffentlich auftreten.

Aus der Wissenschaftsgeschichte Chemie haben wir gelernt, dass sich bei F. Haber wie bei kaum einer anderen Persönlichkeit der Weltgeschichte in hohem Maß der Nutzen einer für die Menschheit bedeutenden Erfindung und der Missbrauch der Chemie für eine der schrecklichsten Methoden der Kriegsführung vereinen. Tragisch ist, dass er auch in seinem privaten Bereich versagte.

Initiative zur Änderung des Namens »Fritz-Haber-Institut«
der Max-Planck-Gesellschaft, Berlin

2011 sind einhundert Jahre seit der Gründung des ehemaligen »Kaiser-Wilhelm-Instituts für physikalische Chemie und Elektrochemie« und jetzigen »Fritz-Haber-Instituts« der Max-Planck-Gesellschaft (MPG) in Berlin vergangen. Dies ist Grund genug für eine Würdigung, aber auch für eine kritische Bestandsaufnahme. Den Anlass für diese Initiative bildet die 1953 mit der Eingliederung des Instituts in die MPG erfolgte Umbenennung in »Fritz-Haber-Institut«, die wir aus heutiger Sicht für dieses renommierte Instituts für nicht (mehr) gerechtfertigt halten.

Wir würdigen die Bedeutung des Instituts und die wissenschaftlichen Leistungen der Mitarbeiter/innen, die für Ihre Arbeiten mit zahlreichen renommierten Preisen wie z.B. durch Nobelpreise (zuletzt 2007 G. Ertl Nobelpreis für Chemie) geehrt wurden. Wir schätzen die gegenwärtigen hinreichend und kritisch überdachten Schwerpunktsetzungen in der Grenzflächenforschung, die ein sehr guter Ausgangspunkt für weitere bedeutende wissenschaftliche Erkenntnisse sind.

Allerdings: Bei kaum einer anderen Person der Wissenschaftsgeschichte vereinen sich in so hohem Maße der Nutzen einer für die Menschheit bedeutenden Erfindung (Ammoniaksynthese für Düngemittel) und der Missbrauch der Chemie für eines der schrecklichsten Kapitel der Kriegsführung (Anwendung chemischer Waffen) wie bei Fritz Haber (siehe nebenstehenden Artikel).

Daraus müssen wir in der Verantwortung als Wissenschaftler Konsequenzen bei der Aufarbeitung der Wissenschaftsgeschichte ziehen. Zwangsläufig ergibt sich für uns, dass der Name des »Fritz-Haber-Instituts« heute u.a. wegen des Chemiewaffenübereinkommens von 1997 und des Verhaltenskodex der Gesellschaft Deutscher Chemiker nicht mehr vertretbar ist. Als Konsequenz bleibt nur die Umbenennung des Instituts. Damit täte sich das renommierte Institut einen guten Dienst anlässlich des einhundertjährigen Jubiläums.

Wenn Sie unsere Initiative zur Umbenennung des »Fritz-Haber-Instituts« unterstützten wollen, wenden Sie sich an: Dieter Wöhrle, Tel. 0421-218-63135, E-mail: woehrle@uni-bremen.de oder Wolfram Thiemann, Tel. 0421-218-63211, E-mail: thiemann@uni-bremen.de.

Literatur

Friedrich, Sabine (2007): Immerwahr. München: dtv.

Gartz, Jochen (2003): Chemische Kampfstoffe. Der Tod kam aus Deutschland. Löhrbach: The Grüne Kraft , Der Grüne Zweig 243.

Kogon, Eugen (Hrsg.) (1983): Nationalsozialistische Massentötungen durch Giftgas. Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch.

Leitner von, Gerit (1993): Der Fall Clara Immerwahr. München: C.H. Beck.

Martinetz, Dieter (1996): Der Gaskrieg 1914-1918. Bonn: Bernhard & Graefe.

Stoltzenberg, Dietrich (1994): Fritz Haber. Chemiker, Nobelpreisträger, Jude. Weinheim: VCH.

Szöllösi-Janze, Margit (1998): Fritz Haber 1868-1934. München: C.H. Beck.

Wietzker, Wolfgang (2008): Giftgas im Ersten Weltkrieg. Saarbrücken: VDM Verlag.

Schweer, Henning (2008): Die Geschichte der Chemischen Fabrik Stoltzenberg bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. Diepholz: GNT-Verlag, Diepholz.

Wöhrle, Dieter (2010): Fritz Haber und Clara Immerwahr. In: Chemie in unserer Zeit, 44, S.30-39.

Anmerkungen

1) Die IPPNW Deutschland verleiht seit 1991 die »Clara-Immerwahr-Auszeichnung«, um Personen zu würdigen, die sich in ihrem Beruf, an ihrem Arbeitsplatz ungeachtet persönlicher Nachteile aktiv gegen Krieg, Rüstung und gegen die anderen Bedrohungen für die Grundlagen menschlichen Lebens eingesetzt haben.

2) „Hermann, born in 1902, would later also commit suicide because of his shame over his father’s chemical warfare work.“; http://en.wikipedia. org/wiki/Fritz_Haber.

3) Über den Rücktritt von Fritz Haber, seinen Tod, Gedächtnisfeiern und späte Ehren: Deichmann, Ute (1996): Dem Vaterlande – solange er dies wünscht. In: Chemie in unserer Zeit, 30, S.141-149.

4) Zur Geschichte des Fritz-Haber-Instituts siehe www.fhi-berlin.mpg.de.

Dieter Wöhrle ist Hochschullehrer für Organische und Makromolekulare Chemie an der Universität Bremen. Er engagiert sich seit längerer Zeit gegen chemische Waffen. Wolfram Thiemann ist Hochschullehrer für Physikalische Chemie an der Universität Bremen. Er befasst sich auch mit Umweltchemie.

Visions of Peace: The West and Asia

Visions of Peace: The West and Asia

10.-12. Dezember 2009 – Otago Museum in Dunedin, Neuseeland

von Takashi Shogimen

Vom 10. bis 12. Dezember 2009 fand das international Symposium »Visions of Peace: The West and Asia« im Otago Museum im neuseeländischen Dunedin statt. Die Veranstaltung – finanziert von der Japan-Stiftung und der Fakultät für Geschichte und Kunstgeschichte der Universität von Otago – widmete sich als multi-disziplinäres Symposium der Untersuchung der verschiedenen traditionellen Konzeptionen des Friedens in den Geschichten der asiatischen und der westlichen Welt.

Angeregt durch 9/11 fokussiert die gegenwärtige Literatur auf die Rechtsvorschriften und die Ethik »gerechter Kriege«. Die Ideen und Ideale des Friedens wie sie in der Vergangenheit von asiatischen und westlichen Denkern konzeptualisiert worden waren, scheinen der Aufmerksamkeit der Wissenschaftler entrückt zu sein. Das Symposium beabsichtigte, diese Lücke zu füllen und bisher übersehene oder unterschätzte Friedensvisionen der historischen Betrachtung ins Licht zu rücken.

Die Veranstaltung orientierte sich an den folgenden kulturellen Einheiten und Traditionen: islamisch, jüdisch, indianisch, chinesisch, japanisch und europäisch. Dabei wurde die Mannigfaltigkeit der globalen Traditionen der Idee des Friedens an den Schnittstellen Religion, Philosophie und politische Ideenwelt betrachtet. Der zentrale, jedoch nicht exklusive zeitliche Fokus lag auf der Vormoderne. Zu den allgemeinen theoretischen und historischen Fragen, die aufgeworfen wurden, gehörten etwa: Was bedeutete »Frieden« in einer gegebenen Tradition? War er vor allem politisch bestimmt? War Frieden das Ziel oder das Mittel für etwas anderes? Ist Frieden in dieser Welt erreichbar? Was sind die Bedingungen für Frieden? Welches sind die Kontexte, in denen Frieden bewertet wird? Welche Beziehung besteht zwischen Krieg und Frieden? Wie wird die Legitimität von Gewaltanwendung in den verschiedenen Traditionen gesehen?

Dr. Takashi Shogimen, Senior Lecturer für die Geschichte des Mittelalters an der University von Otago, hatte die Veranstaltung organisiert und fünf Sprecher für die Plenarveranstaltungen und dreizehn Referenten aus verschiedenen Teilen der Erde einschließlich Jerusalem, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Indien, China, Japan, Kanada, den USA und Neuseeland versammeln können. Den Eröffnungsbeitrag über die ghandische Synthese buddhistischer, hinduistischer, christlicher und liberaldemokratischer Friedensvorstellungen und ihren Einfluss auf westliche pazifistische Ideen und Bewegungen hielt Dr. David Cortright, Direktor des Kroc Institute for International Peace Studies, University of Notre Dame, USA. Einige der pazifistischen Ideen, die von der japanischen und anderen ostasiatischen Nationen geteilt werden, wurden von Professor Shin Chiba von der International Christian University in Tokio vorgestellt. Er verdeutlichte auch die aktuelle Bedeutung des konstitutionellen Pazifismus' Japans.

Dr. Kaushik Roy von der Visva-Bharati University in Indiaen und dem International Peace Research Centre (PRIO) stellte die Idee von Krieg und Frieden im Hinduismus vor der pazifistischen Reinterpretation durch Gandhi vor. Der an der Tufts University, Massachusetts, USA, lehrende Dr. Malik Mufti untersuchte die Gegensätze zwischen der »modernistischen« Schule islamischen Denkens zu internationalen Beziehungen – wie sie durch Autoren wie Muhammand Shaltut, Muhammad Abu Zahra und Wahaba al-Zuhayli repräsentiert werden – und der »klassischen« Doktrin vertreten durch die Juristen der Ära der Abbasiden. Dabei hob er die unterschätzte intellektuelle Tradition, wie sie vor allem durch Ibn Khaldun vertreten worden sei, hervor. Schließlich schloß die Veranstaltung mit einer fesselnden Analyse von Dr. Kamp-por Yu von der Hong Kong Polytechnic University, der sich der konfuzianischen Vorstellung des Friedens aus vergleichender Perspektive widmete und dabei die zentrale chinesische Art des Denkens über Konflikte und Konfliktregelungen hervorhob.

Neben diesen Plenarvorträgen gab es sechs Panels, in denen dreizehn Paper vorgestellt wurden: Dr. Patricia Hannah von der University of Otago befasste sich mit der Idee der eirene, während Associate Professor Murray Rae, ebenfalls von der Universität in Otago, frühen christlichen Pazifismus als dissidente Tradition zeigte. Dr. Vanessa Ward porträtierte Cho Takeda Kiyo (1917-) als eine japanische Friedensstifterin, die in einzigartiger Weise zum japanischen Pazifismus beigetragen habe. Dr. Erica Baffelli, auch sie aus Otago, befasste sich mit dem Pazifismus verschiedener Neuer Religionen, um den charakteristischen japanischen Traditionen nachzugehen, und Tadashi Iwami vom International Pacific College, Palmerston North, New Zealand, stellte – insbesondere im japanischen Kontext – die Zulässigkeit von Vokabeln wie »Zivilisation« und »zivilisatorischer Standard« in Frage, mit denen sich potentiell Antagonismen schaffen ließen. Dr. Vicki Spencer von der University of Otago analysierte Johann Gottfried Herders „eingebetteten Kosmopolitanismus als Alternative zu einem institutionalisierten staatlichen Kosmopolitanismus“ und kontrastierte so seine Vorstellung von Frieden mit der Kants. Dr. Katherine Smits von der University of Auckland stellte eine weitere Alternative zum Kant'schen Friedensplan vor, indem sie Jeremy Benthams unterschätzte Vision des Friedens darlegte und deren aktueller Relevanz nachging. Rajimohan Ramanathalillai vom Gettysburg College, USA, untersuchte anhand von Beispielen wie Al Qaida, den Tamil Tigers und weiteren , wie und warum die US-amerikanischen, indischen und sri-lankischen Regierungen damit scheiterten, eine Ursachenanalyse des Terrorismus vorzunehmen. Nalini Rewadikar vom Madhya Pradesh Institute of Social Sciences Research, Indien, und Uri Zur vom Ariel University Center of Samaria, Israel, stellten eine umfassende Bestandsaufnahme der antiken indianischen und jüdischen Vorstellungen des Friedens vor. Scott Morrison von der Zayed University, Dubai, UAE, bot eine empfindsame Analyse der Friedensidee bei Hasan al-Banna. Bernard Jervis von der Massey University, New Zealand, untersuchte den ethnischen Konflikt zwischen den serbischen, kroatischen und muslimischen Gemeinschaften im Zeitraum 1992 bis 1995 unter dem Gesichtspunkt, was getan wurde, um nach der Gewalt den Frieden wieder herzustellen. Schließlich war es Emily Spencer von der University of Northern British Columbia, die die Bedeutung kultureller Intelligenz (cultural intelligence = CQ) im Rahmen ihrer Untersuchung der neuen Rolle des Militärs in »friedenschaffenden Operationen« hervorhob.

Insgesamt gelang es dem Symposium erfolgreich, die historische und kulturelle Vielfalt der Konzeptualisierung von Frieden und friedensstiftendem Handeln aufzuzeigen und auf einige bisher übersehene traditionelle Friedenskonzeptionen hinzuweisen.

Die Veranstaltung war für die allgemeine Öffentlichkeit zugänglich und zog sowohl lokales als auch landesweites Interesse auf sich. David Cortright wurde von Radio New Zealand und der Otago Daily Times, der Zeitung Dunedins, interviewt. Takashi Shogimen und Vicki Spencer werden eine Sammlung von einschlägigen Aufsätzen herausgeben, die voraussichtlich in naher Zukunft bei einem führenden Wissenschaftsverlag erscheinen werden.

Takashi Shogimen

Der Überfall auf Polen – 70 Jahre danach

Der Überfall auf Polen – 70 Jahre danach

von Jost Dülffer

Die zeithistorischen Gedenkjahre häufen sich in diesem Jahr – 1939, 1949 und 1989; Versailles 1919 blieb im Hintergrund. Das öffnet jedem Datum nur begrenzte Fenster der medialen Aufmerksamkeit, regt jedoch Verknüpfungen an. Es hätte nahe gelegen, die Spaltung in zwei deutsche Staaten 1949 als Folge von 1939 anzusehen, doch das unterblieb weitgehend.

Die Erinnerungskonkurrenz gab dennoch dem 1.9.1939 kurzzeitig breiten Raum. Eindrucksvoll im Vorfeld war eine Ausstellung im Deutschen Historischen Museum, »Deutsche und Polen. Abgründe und Hoffnungen«, die die »schwierige Geschichte« der beiden Nationen über die letzten 200 Jahre thematisierte, mit dem Zweiten Weltkrieg und den Folgen des Zweiten Weltkriegs bis in die Gegenwart, aber differenziert das Spannungsverhältnis des Untertitels unterstrich.

Ein solcher Akkord wurde durchweg angeschlagen. Die großen Zeitungen, Rundfunkanstalten und Fernsehen widmeten dem Thema Gedenkartikel und Kommentare. Es waren nicht nur die relativ kleinen Einsatzgruppen von SD und SS, welche gleich zu Beginn des Krieges im September 1939 vorbereitete Mordaktionen starteten. Es war auch nicht erst die Besatzungspolitik in den offiziell annektierten Reichsgauen und dem Generalgouvernement: mit dem deutschen Überfall fingen Tötungsaktionen aller deutschen Behörden, auch der Wehrmacht, an. Sie trafen von den ersten Tagen an Juden und die polnische Intelligenz. Diese Sachverhalte hatte erst vor wenigen Jahren Jochen Böhler mit »Auftakt zum Vernichtungskrieg« thematisiert, jetzt konnte er dazu auch einen populären Band »Der Überfall« vorlegen. Das wurde der meist gebrauchte Terminus. Alle Ansätze, auch polnische Politik wegen eines sicher wenig glücklichen, da die eigenen Kräfte stark überschätzenden Auftretens mit verantwortlich zu machen, unterblieben in diesem Jahr. Die »Entfesselung« (so Walther Hofer schon 1954) eines Krieges, auf den die deutsche Politik hin gearbeitet hatte, blieb die zutreffende Einschätzung.

Konnte man vor einem Jahrzehnt noch annehmen, eine gemeinsame deutsch-polnische Erinnerung sei vor dem Hintergrund der deutschen Verbrechen nun auch für die Erinnerung an Flucht und Vertreibung danach möglich, so wurden durch das Bestreben nach einem europäischen Zentrum gegen Vertreibungen durch die Vertriebenen einerseits, durch eine stark von Ängsten vor Deutschland und dessen Rolle in der EU bestimmte Politik der Brüder Kaczynski andererseits die deutschen Verbrechen wieder direkte Fragen der Gegenwart.

Das änderte sich mit dem Amtsantritt von Ministerpräsident Donald Tusk vor zwei Jahren. So sind wir dennoch wieder bei 1939 angelangt und der Rückblick lohnte sich. Die Gedenkfeier in Danzig auf der Westerplatte am 1.9.2009 wurde zum zentralen Erinnerungspunkt und -ort. Tusk legte an diesem Tag den Grundstein zu einem Museum des Zweiten Weltkrieges, ohne dass das deutsche Vertreibungsthema zur Sprache kam. Vielmehr traf die deutsche Bundeskanzlerin mit ihrem Eingangssatz in Danzig auch die europäische Stimmung: „Heute vor 70 Jahren begann mit dem deutschen Überfall auf Polen das tragischste Kapitel in der Geschichte Europas. Der von Deutschland entfesselte Krieg brachte unermessliches Leid über viele Völker – Jahre der Entrechtung, der Erniedrigung und der Zerstörung.“ Sie gedachte auch des Leids der Juden, Widerstandskämpfer, der 60 Millionen Toten des Weltkrieges und erntete damit auch bei uns Zustimmung. Mir ist keine politische oder historische Stimme bekannt geworden, die das anders oder gegensätzlich gesagt hätte.

Die Gedenkstunde geriet insgesamt zu einer historisch rückblickenden europäischen Feier, auf der neben drei Polen in unterschiedlichen Ämtern auch der französische und schwedische Ministerpräsident sprachen. Durch Pressepolemik zuvor belastet trat auch Wladimir Putin auf und erinnerte immerhin auch an den Hitler-Stalin-Pakt und die Ermordung polnischer Offiziere 1940 bei Katýn. Das war vielen Polen zu wenig, da ja auch die ganze Nachkriegsgeschichte Polens als sowjetische Unterdrückung erinnert wurde; hier stellt man den 17. September 1939, als die Rote Armee arbeitsteilig mit der Wehrmacht in Ostpolen mit Folgen bis heute einmarschierte, gern an die Seite des 1. September; angesichts russischen Geschichtsrevisionismus in der Gegenwart war dies jedoch viel.

Eine bemerkenswerte Einordnung des 1.9.1939 nahm Putin bereits zuvor in einer polnischen Zeitung und später nochmals vor: der Versailler Vertrag sei an allem Schuld, er habe durch die „Demütigung einer großen Nation“ den Aufstieg des Nationalsozialismus begünstigt, der deren Weg aus der Staatengesellschaft heraus bestimmte und die Sowjetunion zum Pakt mit Hitler gleichsam zwang. „Demütigung einer großen Nation“: Das zielt auch auf die russische Gegenwart. Zugleich knüpfte er damit an einen üblen, bis in die Gegenwart bei uns wirkenden Geschichtsmythos an: die Deutschen hätten ja nur bedingt Schuld an Hitler und seinen Folgen, die Alliierten hätten mit dem 1919 als unannehmbar gesehenen Frieden die weitere Entwicklung programmiert. Dabei hatte das Deutsche Reich den Ersten Weltkrieg verloren und die Politiker stilisierten diesen Vorgang in kollektiver Realitätsverweigerung nur zur schlimmen Demütigung um.

Mit dem 1. September begann in Europa der Zweite Weltkrieg, der in unserer aller Köpfe in seinen Folgen noch längst nicht abgeschlossen ist – oder doch sein sollte. »Danzig 1939« folgt jedoch nicht aus »Versailles 1919«.

Dr. Jost Dülffer ist emerierter Professor für Neuere Geschichte

Vorzeiten

Vorzeiten

Mutterrecht und Friedfertigkeit – revisited

von Monika Nehr

Schon einmal bewegte ich mich auf den Spuren femininer Vorzeiten – und ich bewegte mich nicht allein. Das Thema »weibliche Friedfertigkeit und patriarchaler Rüstungswahn« – zusammengefasst in der einfachen Frage: Sind Frauen friedlicher? – bewegte seinerzeit viele von uns, als das Inhalts- wie Sprachungetüm »NATO-Doppelbeschluss« vom 12. Dezember 1979 die weltweit wohl größte Friedensbewegung auslöste. Ende 1983 steuerte sie nach der zweiten Ungeheuerlichkeit, die »Nachrüstungsbeschluss« hieß, auch in der Bundesrepublik Deutschland auf ihren Höhepunkt zu und verebbte erst nach der Stationierung atomarer Raketen auf west- und ostdeutschem Territorium.

Mit dem Ende der großen Friedensbewegung, in der Frauengruppen eine wichtige Rolle inne hatten, begann unsere Arbeitsgruppe. Wir – drei Frauen1 – trafen uns regelmäßig Sonnabend nachmittags und studierten die FrauenFriedensFrage bei den Klassikern August Bebel und Friedrich Engels, bei dem Rechtshistoriker und Mythenforscher Jakob Bachofen, später noch »das Patriarchat« des Sexualforschers Ernest Bornemann … immer entlang der Frage: Wie verhielt es sich denn mit Krieg und Frieden, mit Mann und Frau und den Machtverhältnissen zwischen ihnen vor unserer Zeit? Ein Fazit lautete: Frauen sind nicht von Natur aus friedlicher, doch ist die Friedfertigkeit historisch in den Urgesellschaften verankert; nachweislich in den vorpatriarchalen Stammesgesellschaften der Jungsteinzeit, deren Siedlungen zum Beispiel ohne Befestigungsanlagen auskamen.2

Archäologische Befunde

Mein heutiges Augenmerk gilt Ausgrabungen und archäologischen Funden aus fast dreißigtausend Jahren prähistorischer Kunst, insbesondere den zahlreichen Frauenfigurinen und der von der »männlichen« Archäologie vernachlässigten Frage, was diese über die Friedfertigkeit urgesellschaftlicher Kulturen aussagen. Passt die »Fat Lady« von Saliágos ebenso zu Engels Evolutionstheorie wie die »Sleeping Lady« von Malta oder die Irokesin? Hat die neolithische Revolution der Männer die Goldenen Zeiten beendet?

Aus der Altsteinzeit, dem Paläolithikum, sind ungefähr 1000 vollständige oder fragmentarische weibliche Bildnisse erhalten, darunter Skulpturen, Reliefs und Holzschnitte. Die frühesten entstanden während der letzten Phase der Altsteinzeit ungefähr ab dem 30. Jahrtausend vor Christus. Zahllos sind jedoch die bei Ausgrabungen entdeckten weiblichen Ton- und Marmorfiguren vorwiegend aus der neolithischen Periode etwa zwischen 7.000 und 3.000 v. unserer Zeitrechnung. Einige von ihnen möchte ich vorstellen.

Eine der ältesten Figurinen, die berühmte Venus von Willendorf, stammt noch aus der Altsteinzeit. Etwa 23 Tausend Jahre vor unserer Zeitrechnung wurde sie aus Kalkstein gefertigt. Diese nur 10,5 cm hohe, stehende, nackte, üppig beleibte Frauenfigur mit dünnen, über die großen Brüste abgewinkelten Unterarmen und dem gesichtslosen, einer Brombeere gleichenden Kopf, fand man 1908 in einer Höhle im heutigen Österreich. Sehr ähnlich sieht ihr die 13 cm hohe, sogenannte Venus von Malta, eine stehende, ebenfalls nackte, jedoch kopflose Figurine aus gebranntem Ton (Werkstoff seit der Jungsteinzeit), die aber ungefähr 20.000 Jahre später im Neolithikum, ca. 3.300 Jahre vor Christus entstand und erst in den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts in einem megalithischen Tempel auf Malta gefunden wurde.

Einer der jüngsten Funde ist die nur ca. 6 cm hohe Keramikfigurine, genannt Fat Lady von Saliágos, eine üppig beleibte kopflose Figur mit untergeschlagenen Beinen. In der Vitrine in dem kleinen Archäologischen Museum von Paros spiegelt sie ihr rundes Hinterteil in einem kleinen runden Taschenspiegel. Die Fundstätte, die winzige nur 100 auf 50m messende Insel Saliágos zwischen den Kykladeninseln Paros und Antiparos, beherbergte eine der ältesten neolithischen Siedlungen der Ägäis.

Andere Figurinen sind bekleidet, wie die Sleeping Lady genannte kostbare Tonstatuette, etwa 3.300 v.u.Z., aus einem unterirdischen neolithischen Tempel von Malta; diese seitlich liegende rundliche Frauenfigur, nicht länger als 12 cm, bekleidet mit einem langen, gemusterten, körpernahen Gewand, scheint auf einer Art Liege zu schlafen. Der auf dem abgewinkelten Unterarm ruhende kleine Kopf und die aus dem Rock herragenden, kleinen spitz zulaufenden Füße stehen in auffallendem Kontrast zu dem runden Körper und den wulstigen Armen.

Die prähistorischen weiblichen Figuren werden häufig als Venusstatuetten, Idole, Votivfiguren oder Fruchtbarkeitssymbole bezeichnet. Für Marija Gimbutas, eine der seltenen Frauen in der Archäologie, stellen sie weibliche Gottheiten dar. Die auch in Anthropologie, Religionsgeschichte und alten Sprachen ausgewiesene Wissenschaftlerin, nennt diese Frauendarstellungen einfach Göttin von Malta, Göttin von Willendorf; die Mère von Catal Hüyük genannte Figur bezeichnet sie als eine majestätisch thronende Göttin beim Geburtsakt, die Sleeping Lady als schlafende Göttin, und männliche Figuren, deren Anzahl weitaus geringer ist, stellt sie ihnen als Götter an die Seite.

Apropos Götter: Im Archäologischen Museums in Athen stößt man auf eine mit etwa 50 cm relativ große sitzende nackte männliche Tonfigur aus Thessalien des späten Neolithikum. Die rechte Faust stützt den kantigen Kopf, während die linke Hand den auffallend großen, zum Teil abgebrochenen erigierten Penis hält. Diese »The Thinker« betitelte Figur wird im Museumsführer „zum frühesten Symbol männlicher Natur und männlichen Denkens“ emporgehoben. In meinen Notizen frage ich: beginnt mit dem »Thinker« der prähistorische Männlichkeitswahn? Doch in Gimbutas Systematik repräsentiert er nicht mehr und nicht weniger als irgend eine männliche Gottheit.

Symbolsprache

Bis zu ihrer Emeritierung 1989 lehrte die gebürtige Litauerin Archäologie zuerst in Harvard, später an der Universität von Kalifornien und leitete selbst umfangreiche Ausgrabungen in Jugoslawien, Italien, Mazedonien und Griechenland. Gimbutas Name ist untrennbar mit der systematischen Erforschung der prähistorischen Göttin verbunden. Ihre beiden wichtigsten Bücher »Die Sprache der Göttin« und »Die Zivilisation der Göttin« erschienen Mitte der 1990er Jahre auch auf deutsch.

Marija Gimbutas entzifferte die Symbolsprache der prähistorischen Kunst. Sie entdeckte verschiedene, sich wiederholende Zeichen und entschlüsselte den Code, der sich hinter den scheinbar nur dekorativen Elementen der prähistorischen Weiblichkeitsdarstellungen verbirgt. So stellte sie eine verblüffende Ähnlichkeit zwischen den Darstellungen der Göttin aus der Steinzeit und denjenigen von diversen Tieren und vor allem Wasservögeln fest. Diese Ähnlichkeiten gibt es bei den nahezu 30.000 Jahre alten Figuren ebenso wie auf neolithischen Abbildungen und Töpferarbeiten bis hinein in das bronzezeitliche Kreta, ca. 1.450 v. Christus. Gimbutas verglich auch die Symbole auf Rücken oder Beinen von Göttinnendarstellungen mit den Eigenschaften von Flüssigkeiten: Ein Doppel-V bedeutet fließendes Wasser, die senkrechten Linien auf den Göttinnen-Krügen und -Ikonen stellen Regen dar. Ähnliche Symbole auf den Brüsten bedeuten Milch, auf der Rückseite der Schenkel Fruchtwasser. Damit verband Gimbutas die prähistorische Göttin mit dem Urelement Wasser und legte den Grundstein zu ihrer Theorie einer paläolithischen Schöpferin, die sich selbst und die Welt aus der Urflüssigkeit erschuf.

Die Ähnlichkeit vieler paläolithischer Figurinen und Tierdarstellungen mit solchen aus dem Neolithikum verweise ihrer Ansicht nach auf die Möglichkeit eines religiösen Zusammenhangs und auf einen mehrere Jahrtausende währenden Göttinnenkult, zumindest im »alten Europa«, wie Gimbutas das Gebiet der Ägäis, Kreta, den Balkan und das östliche Zentraleuropa, die Mittelmeerländer und Westeuropa bezeichnet.

Mutterrecht

Die Vorstellung einer solchen prähistorischen weiblichen Gottheit als verbindendes religiöses Element über Jahrtausende hinweg wäre durchaus nach dem Geschmack von Johann Jakob Bachofen gewesen, der als Altertumswissenschaftler und Jurist zunächst Jurisprudenz in Basel lehrte und später seinen bis heute populären und kontroversen Forschungen zum sogenannten Mutterrecht nachging. Bachofen suchte und fand die Spuren eines matriarchalen oder mutterrechtlichen Urzustandes in den Mythen der antiken geschichtlichen und religiösen Überlieferungen. Für ihn bedeutete Mutterrecht Gynaikokratie, das ist das griechische Wort für Matriarchat oder Herrschaft der Frauen. Von den späteren archäologischen Entdeckungen ahnte er noch nichts, denn die eventuell seine Theorie unterstützenden Ausgrabungen begannen erst nach seiner Lebenszeit, die 1887 endete.

Einen anderen Zugang zum sogenannten Mutterrecht fand ein Zeitgenosse Bachofens, der amerikanische Ethnologe Henry Morgan, der eine Zeit lang bei den indianischen Irokesenstämmen im Staat New York lebte. Er entdeckte bei ihnen die matrilineare, matrilokale und matrifokale Gentilgesellschaft, deren Keimzelle die mütterliche Verwandtschaftsgruppe oder matrilokale Gens ist. Nach der Fachterminologie bedeutet matrilinear, matrilokal und matrifokal, dass sich Abstammung und das Erbrecht der Kinder sowie der Familienort nach der Mutter richteten und Frauen insgesamt sehr geachtet wurden. Es gibt noch den Sammelbegriff matristisch, der alle drei Aspekte beinhalten kann und auch synonym zu mutterrechtlich verwendet wird.

Nun glaubte Morgan ein allgemeingültiges historisches Entwicklungsgesetz gefunden zu haben, welches von den mutterrechtlichen Ordnungen der Urgesellschaften zu den vaterrechtlichen oder patriarchalen Strukturen der späteren Gesellschaften führt. Bis dahin kannte man nur die patrilinearen und patrilokalen, griechischen und römischen Gentilgesellschaften.

Während bei den Irokesen in Nordamerika die gesellschaftlichen Triebkräfte zum Umsturz des Mutterrechts fehlten und sie bis heute mehr oder weniger mutterrechtlich geblieben sind, konnten die im Neolithikum sesshaft gewordenen einstigen Jäger- und Sammlergesellschaften in der Alten Welt mit Ackerbau und Viehzucht zum ersten Mal Vorräte und Überschuss produzieren. So begannen die für die Züchtung von Viehherden zuständigen Männer mit dem Zuwachs an Vieh auch Besitz anzusammeln, den sie nicht mehr kollektiv verteilen, sondern sich privat aneignen wollten. Über diese neuen Reichtümer konnte der Mann als Besitzer bisher nicht verfügen und ihn auch nicht an seine Kinder vererben. Das war Grund genug, das Mutterrecht umzustoßen und Vaterrecht in der gesellschaftlichen Gemeinschaft einzuführen. Das bedeutete Patrilokalität und die Möglichkeit, den Reichtum an die eigenen Kinder zu vererben. Die weibliche Abstammungslinie war zugunsten der väterlichen abgesetzt.

Von der vaterrechtlichen Gens zum patriarchalischen und kriegerischen Staat war es dann nur noch ein verhältnismäßig kurzer Weg, schreibt Friedrich Engels in seinem 1884 erschienen Werk über den »Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates«. Engels, der wesentlich auf Bachofens und Morgans Forschungen gründet, spricht von Umsturz des Mutterrechts, und nennt diesen Umsturz eine der einschneidensten Revolutionen der Menschheit und die weltgeschichtliche Niederlage des weiblichen Geschlechts.

Bachofen hat indes nicht wie Engels oder Morgan den mutterrechtlichen Urgesellschaften nachgetrauert – im Gegenteil: er begrüßt den Umsturz als Fortschritt und formulierte es philosophisch: „Die Seele steigt aus den Niederungen des Stoffs empor zum Licht, zur Unsterblichkeit. Das ist der Weg vom Mutterrecht zum Vaterrecht.“ Mit den „Niederungen des Stoffs“ ist das Weibliche gemeint; „Unsterblichkeit“ verweist auf die griechische Götterwelt und den Umsturz der Großen-Göttin-Religion.

Den Umsturztheorien wurde jedoch heftig widersprochen. Uwe Wesel, der bekannte Rechtshistoriker, präsentierte 1980 in seinem Buch »Der Mythos vom Matriarchat« die internationale Diskussion zu Bachofen, Engels und Morgan bis zum Ende der 1970er Jahre. Nach dieser Forschungslage habe es in der vorzeitlichen Entwicklung keine allgemeine Kulturstufe des Mutterrechts gegeben und entsprechend auch keinen Umsturz zum Vatererrecht. Es habe auch nirgendwo Matriarchate im Sinne von Frauenherrschaft existiert, sondern einige wenige Stammesgesellschaften, in denen sich die Abstammung und das Erbrecht der Kinder sowie der Familienort nach der Mutter richteten und Frauen auch geachtet wurden. Eben die Gesellschaften, die von den »Klassikern« beschrieben wurden, und vielleicht noch ein paar andere; wie die Ethnologie auch heute noch etwa einhundert matrilineare Völker in Nord- und Südamerika, in Afrika, in Asien und in der Südsee kennt, von denen einige auch matrilokal leben. Die mutterrechtlichen Gentilgesellschaften der Vorzeit sollen synchron mit den vielen patriarchalen Stämmen existiert haben.

Der Einfluss Gimbutas

Als um 2.500 v.Chr. die ersten griechischen Stämme aus dem Norden nach Theassalien einströmten, fanden sie auch dort eine ausgebildete Kultur vor, doch trafen sie mit diesen Menschen offenbar nicht friedlich zusammen, so formuliert es vorsichtig die Herausgeberin des Museumsführers vom Athener Nationalmuseum. Marija Gimbutas drückt es drastischer aus und spricht von den indogermanischen und patriarchalen Stämmen aus Griechenland, die die friedfertigen, egalitär und mutterrechtlich geprägten Kulturen der Alten Welt unterwarfen.

Welchen Einfluss haben heute Marija Gimbutas 30jährige Feldforschung und ihre zahlreichen Veröffentlichungen auf Archäologie und Vorgeschichte? Schauen wir zum Beispiel nach Malta, dessen vorzeitliche megalithische oder großsteinige Tempelkultur noch gar nicht lange bekannt ist. Erst seit wenigen Jahren gibt es Gewissheit: Die sieben Haupttempel, die in den 1980er Jahren ins Weltkulturerbe aufgenommen wurden, sind die ältesten freistehenden Steinbauten der Welt, mehr als 1000 Jahre älter als die Pyramiden Ägyptens.

Nicht zufällig tagte daher im Jahr 1985 in Malta die erste Konferenz über Archäologie und Fruchtbarkeitskult im Alten Mittelmeerraum, zu der auch Marija Gimbutas mit einem Vortrag über »Frauenfigurinen in der Vorgeschichte« eingeladen war; und sie wird vermutlich auch eine ihrer Entdeckungen erwähnt haben, nach der die Tempelgrundrisse augenscheinlich die voluminösen Körper der Göttinnendarstellungen repräsentieren. Ein Teilnehmer dieser Konferenz wundert sich jedenfalls 14 Jahre später, dass der interessante Vortrag Gimbutas nicht in dem von Anthony Bonanno 1986 edierten Tagungsband erschien (vgl. Mifsud & Ventura 1999).

Bei meinem Aufenthalt auf Malta im Oktober 2000 erzählte mir Stephen Cini, der noch junge Leiter des kleinen archäologischen Museums in der Zitadelle von Victoria auf Gozo, von der ablehnenden Haltung des auch für die Museen maßgeblichen maltesischen Archäologen Anthony Bonanno gegenüber allen Deutungen in Richtung femininer Kulturhoheit des Tempelvolkes und diktierte mir unter vorgehaltener Hand den Namen Marija Gimbutas und den Titel ihres Buch »The Language of the Goddess« in den Block – eine fast konspirative Empfehlung. Im archäologischen Museum von La Valetta auf Malta wohnte ich zufällig einer Schulklassenführung maltesischer Schüler bei. Der Lehrer zeigt den etwa 14jährigen Schülern die vielen Frauenfigurinen in den Vitrinen und nennt sie Zeuginnen einer femininen Kultur; Bonannos Verdikt scheint subversive Reaktionen hervorzubringen!

Maltas Archäologie und Prähistorie wird sich einer Neuinterpretation der künstlerischen Darstellungen wie der gesamten Tempelkultur auf Dauer nicht verschließen können. Die Friedlichkeit der mehrere Tausend Jahre währenden Tempelperiode ist unbestritten; die archäologischen Evidenzen sind eindeutig; nirgendwo fand man Festungsmauern oder Waffen; auch keine Ansammlungen von Skeletten mit Spuren gewaltsamer Todesarten.

Ähnliches gilt zum Beispiel auch für die neolithische Siedlung von Catal Hüyük in der heutigen Türkei, dem Fundort der majestätisch thronenden Göttin beim Geburtsakt oder für das wesentliche spätere minoische Kreta. Doch die unstrittige Friedfertigkeit dieser Kulturen befindet sich keineswegs im Fokus der prähistorischen Forschung. Joseph Magro Conti ist eine der wenigen Ausnahmen: „Eine Kultur manifestiert sich nicht einfach durch Bauwerke und künstlerische Darstellungen, sondern auch in ihrer Einstellung zu Gewalt und Aggression.“ 3 Doch woher kam die Friedfertigkeit? War sie eine natürliche Eigenschaft der Vorzeit-Menschen, wie Conti vermutet: „Krieg ist unnatürlich, denn er ist ein Ergebnis der Zivilisation. Die Menschen des Neolithikum und das Tempelvolk waren wahrscheinlich von Natur aus friedlich… doch die Menschen des Bronzezeitalters waren zweifellos an Krieg und Aggression gewöhnt.“

Über die Herrschaft und Kriege seit der Bronzezeit wissen wir in der Tat fast alles, denn mit dem patriarchalischen Griechenland beginnt auch bald die geschriebene Geschichte und Literatur. Homers Epen geben erste Zeugnisse dieser Kriege. Aus der Vorzeit gibt es keine schriftlichen Zeugnisse. Frauenfigurinen und andere Weiblichkeitsdarstellungen werden bisher noch nicht als Zeugnisse gesellschaftlicher Lebensformen und einer besonderen Rolle der Frauen in Betracht gezogen. Sie werden bewundert, beschrieben und in Museen ausgestellt; doch fallen plausible Theorien für egalitäre und gewaltfreie Gesellschaften mit einer möglichen Kulturhoheit der Frauen meistens unter einen Konsens des Verschweigens.

Über das warum darf spekuliert werden: Handelt es sich nur um die übliche männliche Ignoranz in den verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen gegenüber abweichenden Erkenntnissen aus weiblichen Quellen? Geht es um die Vermeidung von Diskursen über egalitäre und nicht- hierarchische, gar urkommunistische Gesellschaften, wie es auch die jüngste internationale Irokesenforschung4 nahe legt? Ist es gar die Sorge vor einer neuen feministischen Matriarchats-Debatte? Immerhin fand 2003 der erste Weltkongress für Matriarchatsforschung statt. Oder bangen die monotheistischen Religionen um ihre männliche Vorherrschaft? Für letztere gibt Gimbutas teilweise Entwarnung. Obwohl Männer in der prähistorischen Kunst weitaus seltener dargestellt sind, waren die Urgesellschaften keine Frauenkulturen, in denen es nur Göttinnen und keine Götter gab. In allen Mythologien findet man neben der Mutter- oder Erdgöttin ihren göttlichen Begleiter. Auch im politischen Leben besteht eine egalitäre Situation: An der Seite der Königin, die auch gleichzeitig die Hohe Priesterin ist, sitzt gleichberechtigt entweder ihr Ehepartner, Bruder oder Onkel.

Gimbutas Überzeugungen gründen auf ihrem Lebenswerk: „Der Ursprung Europas war eine kooperative und friedliche neolithische Göttin-Kultur.“ Das klingt nach »Goldenen Vorzeiten«! Simone de Beauvoir, die noch nichts über Gimbutas Erkenntnisse wissen konnte, schrieb 1949, dass in Wirklichkeit das Goldene Zeitalter der Frau nur ein Mythos sei.

Pazifismus und FrauenFriedensFrage heute

Auf dem Europäischen Sozialforum im Jahr 2006 in Athen ist die Friedensfrage in der Feministischen Sektion nicht präsent. Andere, alte Probleme stehen wieder neu auf der Agenda. Die bekannte ehemalige schwedische Linkspolitikerin Gudrun Schymann vermittelte zum Beispiel ein düsteres Bild über die reale Stellung der Frau in Schweden und forderte die Frauen auf, für Geschlechtergerechtigkeit in der Politik zu kämpfen. Männliche Strukturen verhinderten die Gleichberechtigung der Frauen in allen Bereichen der Gesellschaft. Und mit Verweis auf den Tagungsort Athen erinnerte sie daran, dass die berühmte griechische Demokratie eine Männerdemokratie war, die vollständig ohne Frauen auskam; abgesehen davon war die Unterdrückung der Frauen in der damaligen Antike ohne Beispiel, besonders in Athen. Weltweit soll die Frauenfriedensfrage durch die UN-Resolution 1325 des Weltsicherheitsrates vom 8. März (!) 2000 verankert werden. Erinnern wir uns: Die UNO ruft das Jahr 1975 zum Internationalen Jahr der Frau aus. Auf der ersten Weltfrauenkonferenz, die noch im selben Jahr in Mexico City stattfindet, wird ein Welt-Aktionsplan verabschiedet und die UNO-Dekade der Frau unter dem Motto »Gleichheit – Entwicklung und Frieden« eingeleitet. Die letzte und größte der vier Weltfrauenkonferenz findet 1995 in Peking statt. Mit der UN-Resolution 1325 sollte eine Art Ersatz institutionalisiert werden.

Im Wesentlichen geht es in der Resolution jedoch wohl darum, die Auswirkungen von Kriegshandlungen für die Frauen vor Ort zu mildern, auch wenn als vorrangiges Ziel die Verhinderung von Kriegen genannt wird. In Deutschland hat sich daraufhin im Jahr 2003 ein sogenannter Frauensicherheitsrat gegründet, der von Einzelpersonen und Vertreterinnen einiger Frauenorganisationen, darunter die altehrwürdige pazifistische Internationale Frauenliga Frieden und Freiheit (IFFF), getragen wird. Die Vertreterin der Internationalen Frauenliga nennt es in einem Interview schon einen Erfolg, wenn zum Beispiel statt eines Mannes ein weiblicher Offizier der Bundeswehr in einem Krisengebiet wie Sudan oder Afghanistan die Frauen vor Ort schützen kann. Nationale Aktionspläne für die Umsetzung der Resolution gibt es bisher nur in England und den skandinavischen Ländern Dänemark, Schweden und Norwegen. Die Bundesregierung verweigert bis heute strikt einen solchen Aktionsplan. Auch deswegen hat eine Organisation wie der Frauensicherheitsrat kaum Einfluss und Beratungsmöglichkeiten.

Das eigene Selbstverständnis dieses Frauengremiums lässt zudem alle Fragen nach frauen- und friedenspolitischer Standortbestimmung offen. Auch historische Orientierungen sind nicht auszumachen. Wo bleiben die großen Vordenkerinnen und Friedensaktivistinnen, die schon vor dem Ersten Weltkrieg gewarnt haben. Ich denke an Pazifistinnen wie Lyda Gustava Heymann, eine der deutschen Gründerinnen der Internationalen Frauenliga, an Bertha von Suttner, die vor 100 Jahren den Friedensnobelpreis bekam und im vergangenen Jahr immerhin mit einer Briefmarke geehrt wurde. Und wo bleiben die Sozialistinnen und Kriegsgegnerinnen Clara Zetkin oder Rosa Luxemburg, ebenso wie Margarete Mitscherlichs Bücher »Die friedfertige Frau« oder »Die Zukunft ist weiblich« und Christa Wolfs Roman »Kassandra«? In der Friedensbewegung der 1980er Jahre waren sie nicht nur in aller Frauen Munde! – Alles vergessen? Da wage ich es kaum, noch an unsere »Goldenen Vorzeiten« zu erinnern…

Literatur

Bonanno, Anthony (2000): Malta – ein archäologisches Paradies. Valletta.

Bachofen. J.J. (1975): Das Mutterrecht. Frankfurt/Main.

Bornemann, Ernest (1981): Das Patriarchat. Frankfurt/Main.

Bebel, August (1974): Die Frau und der Sozialismus. Berlin.

Engels, Friedrich (1970): Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates. Berlin.

Gimbutas Marija (2001): The Language of the Goddess. London.

Mifsud, Anton & Ventura, Charles Savona (Eds.) (1999): Facets of Maltese Prehistory. Valletta.

Wesel, Uwe (1980): Der Mythos vom Matriarchat. Frankfurt/Main.

Wesel, Uwe (1997): Geschichte des Rechts. München.

Anmerkungen

1) mit Dr. Eva Förster und – in memoriam – Dr. Claudia Hoffmann.

2) Vgl. Nehr, Monika (1985): Mutterrecht und Friedfertigkeit. Informationsdienst Wissenschaft und Frieden 3/1985, S.18-19.

3) Conti, Joseph Magro (1999): Aggression and Defence in Prehistoric Malta; in: Mifsud & Ventura, S.191-205.

4) Vgl. Wagner, Thomas (2004): Irokesen und Demokratie. Münster.

Dr.phil Monika Nehr ist Linguistin, leitete bis 2005 bilinguale Schulprojekte in Berlin und forscht derzeit zur Biographie der Antifaschistin Johanna Weitz.

Gastkommentar: 150 Jahre 48er Revolution

Gastkommentar: 150 Jahre 48er Revolution

von Manfred Messerschmidt

Eine Revolution, jahrzehntelang vergessen, der man sich im Kaiserreich geradezu geschämt hat, was hat sie gewollt, warum fand sie überhaupt statt, was ist geblieben?

Sicher gehen die meisten jetzt inszenierten Jubiläumsveranstaltungen mit ihrer Thematik Freiheit, Demokratie und der Klage über das Scheitern der 48er Revolution an den wichtigsten Fragestellungen vorbei. Es wurde von den Kritikern schon früh von der »Revolution der Intellektuellen« gesprochen. In der Tat saßen in der Paulskirche zahlreiche Professoren und Juristen, Dichter und Journalisten. Wer aber kann glauben, daß deutsche Akademiker eine Revolution veranstaltet haben? Sie brachten, als sie von Frankreich importiert war, in unendlichen Debatten ihre Ideen ein, zerredeten viel, verpaßten Chancen, aber sie brachten – im März 1848 endlich – eine Reichsverfassung liberalen Zuschnitts zustande und ein Reichswahlgesetz, das auf der Grundlage allgemeiner und geheimer Wahlen allerdings nur knappe Mehrheiten gefunden hatte. Sie wollten ein einig Vaterland, es sollte groß und stark sein, deutsches Wesen und Kultur bis weit über die Grenzen ausstrahlen lassen, deutsche Interessen bis in die ferne Türkei anmelden. Der Liberalismus der Intellektuellen trug in seinem Gepäck ein beträchtliches nationalistisches Gewicht, akkumuliert infolge lang angestauter Enttäuschungen darüber, daß die Befreiungskriege leider keine Freiheitskriege gewesen waren und angesichts der österreichisch-preußischen Regie so etwas wie die Revolution von 1830 in Frankreich oder die belgische Verfassung im deutschen Raum nicht möglich war. Liberale Sehnsüchte deutscher Intellektueller träumten deshalb von Geschlossenheit und Stärke. Daß Polen und Tschechen ein national geeintes Deutschland als glückliches Anhängsel zu verschönern hatten, stand außer Frage. Nichts hat die Gemüter der bürgerlichen »Revolutionäre« in Frankfurt so erhitzen können, wie der Friedensschluß Preußens mit Dänemark. War das nicht Verrat an der deutschen Sache? Was scherte sie überdies der Druck anderer Mächte! Nationale Euphorie und die sich drängend anmeldenden Interessen von Wirtschaft und Industrie ließen wenig Raum für die Beschäftigung mit viel drängenderen sozialen Fragen: Schutz der Arbeit, Recht auf Arbeit, Festsetzung des Lohnminimums und andere Vorschläge fanden keine Mehrheit.

Die bürgerlichen »Revolutionäre« wollten keine Republik. Sie wollten nicht mit den Monarchien brechen. Die Chancen dafür standen allerdings auch schlecht. Obwohl Preußen und Österreich von der Märzwelle der Revolution überrollt wurden, ihre Hauptstädte in der Hand der Aufständischen waren, stellte sich bald heraus, daß der Sieg, vor allem in Preußen, ein bloßer Kompromiß war. Zwar hatten die Truppen auf Befehl Berlin verlassen, besiegt waren sie aber nicht. In Potsdam warteten die Offiziere nur auf das königliche Signal zum Losschlagen. Friedrich Wilhelm IV. wußte aber zunächst nicht recht, was zu tun sei: sich an die Spitze der nationalen Bewegung stellen? Ja, aber auch an die Spitze der liberalen Kräfte? Das nicht. Sein Zögern schaffte bis zum Herbst ein Moratorium, das trügerische Hoffnungen begünstigte.

Wie die Revolution durch Anstoß von außen ausgelöst und damit eher ein Geschenk für liberale Intelligenz und Besitzbürger wurde, so erhielt sie auch von außen ihren Gnadenstoß. Im Paris wurden schon im Sommer 1848 sozialrevolutionäre Aufstände brachial beendet. General Cavaignac triumphierte auf dem städtischen Schlachtfeld mit 10.000 Toten. Schließlich ging aus allen Kämpfen und Forderungen das politische System Napoleon III. hervor. In Ungarn besorgte der Zar die Wiederherstellung von »Ruhe und Ordnung«. Ende Oktober schlug Fürst Windischgrätz mit Hilfe kroatischer Truppen die Revolution in Wien nieder. Es gab also einen europäischen Takt im Auf und Ab der Revolution. Diesem gehorchte auch Preußen, das ja die kleindeutsche Mehrheit der Paulskirche zum Machtträger ihrer Illusionen erkoren hatte. Im November vertrieben Wrangels Soldaten die Nationalversammlung aus Berlin. 80.000 Mann und 170 Kanonen zählte die Streitmacht. Der König kündigte die Oktroyierung einer Verfassung an. Hier hatte das souveräne Volk nichts zu bestellen. Und es war schon bezeichnend, daß die Paulskirchen-Revolutionäre dem preußischen König die Kaiserkrone antrugen, die er aus den Händen des Volkes nicht entgegenzunehmen bereit war.

Was hatten die propreußischen Liberalen an Preußen nicht alles vorbildlich gefunden: vor allem die preußische Armee mit ihrer allgemeinen Wehrpflicht. Diese Armee rückte unter dem Prinzen von Preußen, dem »Kartätschenprinz« und späteren Kaiser Wilhelm I, mit 50.000 Mann im Juni 1849 in die Pfalz und in Baden ein, herbeigerufen von dem geflüchteten Großherzog. Hier stand die von der Revolutionsregierung auf die Reichsverfassung vereidigte Revolutionsarmee unter dem taktisch versierten Ludwig von Mieroslawski. Zu ihr gehörten aufständische badische und desertierte bayrisch-pfälzische Soldaten, Zivilisten und Idealisten. Freiheit in einer deutschen Republik und ein starkes Reich hätten sie alle gern gehabt.

Nun mußten sie gegen die preußischen Soldaten der allgemeinen Wehrpflicht kämpfen, die eine Armee des Königs war und bis 1918 geblieben ist, mit einem Offizierskorps, dem Liberalismus, Parlament und Revolution ein Greuel waren. Die Soldaten, kaserniert, fest im Griff der Unteroffiziere und Offiziere, den Sachwaltern unbedingten Gehorsams, hatten bis dahin wenig Gelegenheit gehabt, sich über die Ziele der Revolution und die Hoffnungen und Sorgen der Menschen im deutschen Südwesten kundig zu machen. Hier hatten schon im März 1848 starke sozialrevolutionäre Proteste der Landbevölkerung die Situation gekennzeichnet. Hier und in Sachsen hatte sich auch der stärkste republikanische Geist gezeigt. Aber nicht nur Preußen, sondern auch die Frankfurter Zentralregierung schickte Truppen zur Bekämpfung der unerwünschten Ausuferungen der Revolution, die unter dem Befehl des Reichskriegsministers von Peucker, eines preußischen Generals, standen. So kämpften Frankfurt und Berlin in allerdings nicht problemfreier Gemeinsamkeit gegen Soldaten der Südwestdeutschen Demokraten, die auf die Frankfurter Reichsverfassung eingeschworen waren. Dies war der Kampf der Feinde der Revolution und der halben Revolution gegen die ganze Revolution: Eine Situation, die im deutschen Gedächtnis vielfach als Konfrontation von Gut und Böse haften geblieben ist. Bismarck hatte schließlich bewiesen, daß die deutsche Einheit ohne eine demokratisch eingefärbte Revolution erreicht werden konnte: auf eine Weise, die dem Machtgedanken besonders dienlich gewesen ist. Dies haben die Liberalen geschätzt und respektiert und sich dann als Nationalliberale gemütlich im preußisch-deutschen Machtstaat niedergelassen, wo sie vereint mit den Konservativen die Sozialdemokratie zu bändigen versuchten und wo sie stolz auf ihre Söhne sein konnten, die als Reserveoffiziere die richtige Staatsgesinnung repräsentierten.

Seither spätestens ist in Deutschland erwiesen, daß der südwestdeutsche liberale Kritiker der stehenden Heere, Karl von Rotteck, im Unrecht war, und daß die preußische allgemeine Wehrpflicht, jenes Kampfinstrument gegen die Demokratie im Südwesten wie gegen soziale Unruhen in Preußen, die eigentliche deutsche Form einer demokratischen Armee darstellt. Das Bürgertum war stolz darauf, gehorchen gelernt zu haben.

Wichtige Seiten der Geschichte der 48er Revolution sind aufgrund der Entwicklung seit 1866/71 aus dem Gedächtnis verschwunden, vor allem die republikanisch-demokratischen Aspekte. Mit Recht hat Veit Valentin, der bedeutende Historiker der 48er Revolution, von der Brandmarkung des Revolutionsgedankens gesprochen.

Der Nationalismus, viel früher erwacht, aber von der Revolution weitergetrieben, hat sich dagegen kräftig weiterentwickelt und schließlich im Ersten Weltkrieg in Aufrufen von Professoren, in politischen Verbänden und Gruppierungen, wie etwa den Gegnern eines Verständigungsfriedens, insbesondere den Alldeutschen, einen Höhepunkt erreicht, der nur noch im Zweiten Weltkrieg überboten werden konnte. Erbträger waren in hohem Maße Vertreter jenes bourgeoisen Militarismus, der so liberal im Revolutionsfrühling aufgekeimt war und schließlich, von der »Blut- und Eisen-Politik« kräftig genährt, die Macht anzubeten gelernt hatte: die stärkste Armee der Welt, die Flotte auf den Weltmeeren, die Weltpolitik.

Nach 1918 reichten die Beschwörungen der Reformen von 1848/49 durch einige geschichtsbewußte Historiker und Politiker nicht aus, um die zweite deutsche Revolution wirklich erfolgreich sein zu lassen. Man wußte dank des politischen Klimas in der Kaiserzeit nicht mehr allzuviel Gründe, die zum Vergessen der ersten Revolution geführt hatten. Veit Valentin, ihr Chronist und Interpret, ist in der Weimarer Republik heftig anfeindet worden. Die Alldeutschen hatten schon während des Ersten Weltkrieges dafür gesorgt, daß ein Mann mit seinen Ansichten seine Lehrtätigkeit in Freiburg aufgeben mußte. Rechte Parteien, in denen sich viele Intellektuelle und andere Vertreter des Bürgertums sammelten, hielten nichts von den Symbolen der Republik. Schwarz-Rot-Gold war bei ihnen verpönt wie bei zahlreichen Offizieren, die die neuen Symbole verschmähten und lieber gegen die Republik zu Felde zogen. Es war so einfach, die Revolution mit der Niederlage im Krieg in Verbindung zu bringen. Damit wurde das Bild des gefährlichen Revolutionärs in starker Vergrößerung und heller Belichtung gezeichnet und dem Geschichtsbewußtsein von Millionen eingeprägt.

Nach 1945 ist begreiflicherweise nicht an den Kultur- und Sprachnationalismus und an die Machtträume der gebildeten »Revolutionäre« der Paulskirche erinnert worden. Es waren vornehmlich englische Historiker, die uns den Spiegel vorgehalten haben. Manche von ihnen hielten sogar die von der Macht träumenden Paulskirchenprofessoren für gefährlicher als die preußischen Militaristen. Aber weil sie ihre Pointen zu scharf gesetzt hatten, erkannten sich die Deutschen in diesen Bildern nicht wieder. Im Kalten Krieg legten sie Wert auf ihre demokratische Vergangenheit, die vielleicht helfen konnte, besser über die Rolle der deutschen Eliten zwischen 1933 und 1945 hinweg zu kommen. Das Jubiläum von 1848 hat viele Fragen offen gelassen. Es gibt noch vieles zu bedenken zum 15ojährigen.

Prof. Dr. Manfred Messerschmidt, Historiker und Jurist, war von 1970-1988 Leitender Historiker des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes und von 1973-1988 Präsident der historischen Sektion der internationalen Gesellschaft für Militärrecht.

Das weltweite Kriegsgeschehen seit 1945

Das weltweite Kriegsgeschehen seit 1945

Statistisch-empirischer Überblick

von Patricia Schneider, Wolfgang Schreiber und Boris Wilke

Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges und bis Ende 1992 ist eine fast stetige Zunahme der weltweiten Kriegsbelastung von etwa einem laufenden Krieg pro Jahr zu beobachten.1 Bestimmte historische Ereignisse oder Perioden wie z.B. der Ost-West-Konflikt und die Dekolonisation übten nicht den ihnen oft unterstellten Einfluß auf diesen Trend aus. Anscheinend wirken sich hier längerfristige und tiefergehende Prozesse aus.

Kriegsschauplätze / Akteure

Bei einer näheren Betrachtung der Kriege fällt zunächst auf, daß die Zentren der bürgerlich-kapitalistischen Welt weitgehend pazifiziert sind. Über 90 Prozent der Kriege nach 1945 fanden in Regionen der Dritten und ehemaligen Zweiten Welt statt, kriegerische Auseinandersetzungen verlagerten sich also fast vollständig in die Peripherien.

Allerdings steht der Befriedung innerhalb der industriegesellschaftlichen Welt nach 1945 ein relativ hohes Maß an kriegerischem Eingreifen einiger Industriestaaten in der Dritten Welt gegenüber. Bei der Häufigkeit der Kriegsbeteiligungen liegen Großbritannien (19 Beteiligungen), die USA (13) und Frankreich (12) (neben Indien (16), Irak (12) und China (10)) in der Spitzengruppe. Die nähere Betrachtung zeigt jedoch, daß hierbei spezifische historische Umstände wie die Stellung als (ehemalige) Kolonialmächte oder der Versuch der USA, ihren Hegemonieanspruch militärisch durchzusetzen, eine Rolle spielten, die aber an Einfluß verlieren. Insgesamt ergibt sich ein Rückgang von industriestaatlichen Kriegsbeteiligungen.

Zu Anfang der 90er Jahre deuteten Interventionen der UNO bzw. im Auftrag oder zumindest mit ausdrücklicher Billigung des UN-Sicherheitsrates »weltpolizeiliche« Lösungen an. Diese Tendenz ist jedoch nicht sicher. Überdies haben sich die wenigen UN-gestützten Interventionen als nicht sonderlich erfolgreich erwiesen, insbesondere wenn man eine politische Lösung als Maßstab anlegt. Die Bilanz der Interventionen von Einzelstaaten oder Staatengruppen ohne UN-Autorisierung sieht nicht besser aus. Auch diese scheiterten überwiegend entweder bereits militärisch, oder es konnte keine politische Lösung erzielt werden. Insgesamt ist zu beobachten, daß die Beteiligung Dritter an innerstaatlichen Kriegen2 seit den 80er Jahren merklich zurückging. Dies läßt sich wohl auf die Erfahrung zurückführen, daß parteiisches Mitkämpfen in Kriegen anderer sich nicht »auszahlt«.

Als Fazit der Betrachtung von Kriegsregionen und Akteuren kann man festhalten: „Die Dritte Welt liegt mehr und mehr mit sich selbst im Krieg“ (Gantzel / Schwinghammer 1995: 107).

Innerstaatliche Kriege

Zwei Drittel aller Kriege seit 1945 sind innerstaatliche Kriege gewesen und nur ein knappes Viertel internationale Kriege, einschließlich der Dekolonisationskriege.3 Das fast stetige Wachstum der jährlichen Kriegsbelastung nach dem Zweiten Weltkrieg resultiert eindeutig aus der Zunahme der innerstaatlichen Kriege. Daß das Kriegsgeschehen nach dem Zweiten Weltkrieg von diesen dominiert wird, stellt eine qualitative historische Veränderung gegenüber früheren Perioden dar.

Bei den Kriegstypen sticht der hohe Anteil der »Antiregimekriege« hervor. Dieses sind Kriege, in denen um den Sturz der Regierenden oder um die Veränderung oder den Erhalt des politischen Systems oder gar der Gesellschaftsordnung gekämpft wird. Diese machen fast die Hälfte aller innerstaatlichen Kriege aus, so daß der Kampf um Gesellschaftsform und Macht im Staate das Kriegsgeschehen seit 1945 am stärksten bestimmte. Vielen Machthabern in Ländern der Dritten Welt fehlt Legitimität. Prinzipien, Regeln und institutionelle Formen, nach denen Systemwandel und Machtzuteilung bzw. Machtwechsel gewaltlos erfolgen können, sind nicht vorhanden. Der gesellschaftliche Grundkonsens fehlt.

Beim Typ der sonstigen innerstaatlichen Kriege dominieren eindeutig Kriege, in denen eine der beiden Kriegsparteien um größere (Autonomie) oder völlige (Sezession oder Anschluß an einen Nachbarstaat) Unabhängigkeit von der Zentralregierung kämpft. Auch dies ist ein Hinweis auf eine nur mangelhaft erfolgte gesellschaftliche Integration.

Ein erheblicher Teil der innerstaatlichen Kriege resultiert aus noch nicht erfolgter oder gescheiterter gesellschaftlicher Integration in einem häufig nur formal vorhandenen Staat. Dieses Scheitern wiederum ist Folge wirtschaftlicher Strukturschwächen, krasser Ungleichheiten in der Einkommensverteilung und der willkürlichen politischen Privilegierung bestimmter Gruppen.

Kriegsbeendigungen

Bei der Untersuchung, wie und mit welchen Ergebnissen Kriege enden, stellt sich heraus, daß nur ein knappes Fünftel aller Kriege durch einen militärischen Sieg der angreifenden Seite entschieden wurde. Wesentlich öfter – bei einem knappen Drittel der Kriege – behauptet sich die militärisch angegriffene Seite. In einem Zehntel der Fälle endeten Kriege einfach durch einen Abbruch der Kämpfe, und nur geringfügig häufiger stand am Ende eine Vereinbarung, sei es durch einen Waffenstillstand oder durch einen Kompromiß.

Mit etwa einem Drittel ist der Anteil der Kriegsbeendigung durch Vermittlung von dritter Seite überraschend hoch. Die Vermittlung durch Dritte ist offenbar zur Institution der Weltgesellschaft geworden. Auch wenn keine Daten zur Anzahl gescheiterter Vermittlungsbemühungen vorliegen, läßt sich feststellen, daß Vermittlungen weit häufiger zur Kriegsbeendigung beitragen, als es gemeinhin den Anschein hat. In den erfolgreichen Fällen agierten in beachtlichen 40 Prozent die Vereinten Nationen als Vermittler. Auch wenn dies nur 12 Prozent der Gesamtzahl der beendeten Kriege sind, so ist die UNO offensichtlich besser als ihr Ruf.

Bemerkenswert ist auch, daß über zwei Drittel der zwischenstaatlichen Kriege im politischen Ergebnis unentschieden endeten bzw. der Status quo ante erhalten blieb oder wiederhergestellt wurde. Bei keinem Typ der innerstaatlichen Kriege hat die angreifende Seite eine deutliche Erfolgschance.

Das gegenwärtige Kriegsgeschehen

Die 90er Jahre waren zu Beginn durch einen starken Anstieg der Zahl der Kriege gekennzeichnet. Hier haben vor allem die Kriege im Gefolge der Auflösung der Sowjetunion und Jugoslawiens ihren Niederschlag gefunden. Seit 1992 läßt sich aber eine stark gegenläufige Tendenz feststellen. So sank die Zahl der Kriege von 51 im Jahr 1992, dem höchsten Stand seit Ende des Zweiten Weltkriegs überhaupt, auf 28 im Jahr 1996. Die Erklärungen für dieses Phänomen sind derzeit noch unzureichend. Zwar gab es auch in früheren Perioden kurzfristige Rückgänge, allerdings bislang keine, die so ausgeprägt waren wie in den letzten Jahren.

Wie der Grafik zu entnehmen ist, weist die Zahl der pro Jahr neu begonnenen Kriege keine Besonderheiten gegenüber der Zeit vor 1992 auf. Auffallend ist dagegen das Aufeinanderfolgen von mehreren Jahren mit hohen Zahlen von beendeten Kriegen. Die betreffenden Kriege lassen allerdings, was die Art ihrer Beendigung angeht, keine einheitliche Erklärung zu. Weder Vermittlungen Dritter noch militärische Erfolge oder ein Abbruch der Kämpfe stechen besonders hervor. Eine Differenzierung nach Regionen läßt zwar durchaus gewisse Unterschiede bei der quantitativen Rückläufigkeit erkennen (s. Tabelle), diese haben aber insgesamt keinen erklärenden Charakter.

Der starke Abfall der jährlich geführten Kriege von 46 Prozent im Zeitraum von 1992 bis 1996 sollte allerdings nicht zu übermäßigem Optimismus veranlassen. Denn der Rückgang erweist sich als weniger drastisch, wenn man die von der AKUF seit 1993 erfaßten »bewaffneten Konflikte«4 zu der Zahl der Kriege addiert.

Das gegenwärtige Kriegsgeschehen stellt sich wie folgt dar: Nachdem der Krieg im ehemaligen Jugoslawien beendet wurde, fanden wieder alle im Jahr 1996 geführten Kriege ausschließlich in der Dritten Welt statt. Von den weltweit 28 Kriegen und 21 bewaffneten Konflikten (siehe Kasten) lag nur 1 bewaffneter Konflikt (Nordirland) in Europa. Afrika war am stärksten betroffen mit insgesamt 10 Kriegen und 9 bewaffneten Konflikten, gefolgt von Asien mit 7 Kriegen und 6 bewaffneten Konflikten, dem Vorderen und Mittleren Orient mit 6 Kriegen und 3 bewaffneten Konflikten und Lateinamerika mit 5 Kriegen und 2 bewaffneten Konflikten.

Allein die gegenwärtig noch andauernden Gewaltkonflikte forderten nach vorsichtigen Schätzungen bisher mehr als 6,7 Millionen Todesopfer und noch mehr Verwundete. Dabei läßt sich feststellen, daß der Anteil der getöteten Zivilpersonen im Verhältnis zu den gefallenen Soldaten immer mehr angewachsen ist. Beim Einsatz vieler Waffen, wie z.B. Landminen, kann nicht mehr zwischen Militär und Zivilisten unterschieden werden. Zudem zielen manche Strategien gerade auf die Zivilbevölkerung ab, um die Kampfmoral der Gegner zu schwächen.

Zu den Opfern von Gewaltkonflikten sind auch ein Großteil der Mitte der 90er Jahre weltweit über 18 Millionen Flüchtlinge und 24 Millionen, die als Vertriebene im eigenen Land leben, zu zählen.

Der »Hamburger Ansatz«

Schon die Bezeichnung »Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung« deutet den Anspruch an, Kriege nicht nur zu beschreiben und statistisch zu dokumentieren, sondern auch einen Beitrag zur vergleichenden Erforschung von Kriegsursachen leisten zu wollen. Der Hamburger Ansatz erhebt den Anspruch, einen gesellschaftstheoretischen Erklärungsrahmen für das weltweite Kriegsgeschehen im Grundsatz skizziert zu haben. Theoretische Prämisse und Ausgangspunkt des Hamburger Ansatzes5 ist der Prozeß globaler Vergesellschaftung und die »Leitdifferenz« zwischen traditionalen und modernen Formen der Vergesellschaftung. Mit der sukzessiven Ausbreitung bürgerlich-kapitalistischer Verhältnisse über den Globus und der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft zur Weltgesellschaft ergibt sich ein analytischer Bezugsrahmen, der eine allgemeine Theorie zur vergleichenden Erforschung kriegsursächlicher Prozesse prinzipiell ermöglicht. Der Prozeß globaler Vergesellschaftung erhebt die bürgerliche Gesellschaft weltweit zum Vergleichsmaßstab, auch für die Kriegsursachenforschung. Dabei ist der kapitalistische Transformationsprozeß keineswegs auf die ökonomische Sphäre oder den Weltmarkt beschränkt. Er umfaßt ebenso die formale Durchstaatlichung der Welt6 und die Ausbreitung bürgerlicher Ideale und Lebensstile.

Die Kernthese des Hamburger Ansatzes lautet nun, daß das Kriegsgeschehen seit den Anfängen genuin kapitalistischer Entwicklung im 16. Jahrhundert entlang dem Ausbreitungsmuster bürgerlich-kapitalistischer Vergesellschaftung zu verfolgen ist und in dem unabgeschlossenen Transformationsprozeß von vorkapitalistischen zu kapitalistischen Verhältnissen seine zentrale, strukturelle Konfliktursache hat (Siegelberg 1994: 41). Die kapitalistisch induzierte Modernisierung bewirkt vor allem in der Dritten Welt zunächst Heterogenität und Fragmentierung, führt also nicht bruchlos zur Verstetigung bürgerlicher Verhältnisse. Mit ihrer Ausbreitung geht der konfliktive Zerfall traditionaler Vergesellschaftungsformen einher. Während in den entwickelten Staaten des Nordens nach dem Zweiten Weltkrieg eine innergesellschaftliche (wenn auch prekäre und stets unsichere) Pazifizierung, ein Wandel von personalen zu »subjektlosen« (Gerstenberger 1990) Gewaltverhältnissen stattgefunden hat, wird die potentiell pazifizierende Kraft des bürgerlich entwickelten Kapitalismus in den Staaten der Dritten Welt noch durch vielfältige traditionale, nichtkapitalistische Elemente gebrochen. Auch nach der (teilweise kriegerischen) Dekolonisation bleibt die Pazifizierung der gesellschaftlichen Verhältnisse zunächst auf die entwickelten Staaten begrenzt, die auch untereinander keine Kriege mehr führen. Die postkolonialen Gesellschaften sind dagegen durch den Gegensatz zwischen kapitalistischen und nichtkapitalistischen Vergesellschaftungsformen widersprüchlich bestimmt. Insgesamt sind dort drei strukturelle Konfliktlinien erkennbar:

  • Konflikte, die sich aus den Widersprüchen traditionaler und bürgerlich-kapitalistischer Vergesellschaftung ergeben (insbesondere Konflikte um die Grenzziehung zwischen weltlichem und religiösem Geltungsbereich),
  • Konflikte, die aus traditionalen und vorkolonialen Verhältnissen mitgeschleppt werden und
  • Konflikte, die aus immanenten Widersprüchen kapitalistischer Vergesellschaftung selbst folgen.

Für das Kriegsgeschehen in der Dritten Welt und in den ehemals staatssozialistischen Gesellschaften ist die erste Konfliktlinie mit Abstand von größter Bedeutung. Die Regulierung der Konflikte wird dadurch erschwert, daß Staat und Gesellschaft selten zur Deckung kommen. Das bürgerlich-kapitalistische Staatsmodell wurde den postkolonialen Gesellschaften als Beteiligungsbedingung an den Formen und Institutionen der Weltgesellschaft von außen auferlegt (vgl. Diner 1985: 336). Oftmals stellt der postkoloniale Staat der Dritten Welt nur eine formale Hülle dar. Der Prozeß der nachholenden Konsolidierung vorausgesetzter Staatlichkeit bildet daher die allgemeinste Bedingung der gewaltsamen Konflikte in der Dritten Welt. Da viele traditionale Institutionen durch die kapitalistisch induzierte Modernisierung zersetzt werden, ohne durch moderne substituiert zu werden, bewegen sich die Widersprüche und Konflikte in einem Vakuum gesellschaftlicher Regulierung. Phänomene wie die Diffusion von Gewalt oder die Privatisierung des staatlichen Gewaltmonopols zur Aneignung von Ressourcen, etwa durch charismatische Führer oder warlords, sind ebenso kennzeichnend für den konfliktiven Transformationsprozeß wie die Politisierung substaatlicher Integrationseinheiten, seien es nun Kultur- , Religions- und Abstammungsgemeinschaften oder Ethnien. Hinter diesen auch unter dem Schlagwort Fundamentalismus firmierenden Erscheinungen verbergen sich häufig Konflikte um die Grenzziehung zwischen religiösem und säkularem Geltungsbereich, die darauf zurückzuführen sind, daß traditionale Ordnungs- und Symbolsysteme durch das Übergreifen moderner Herrschaftsformen und Ordnungsvorstellungen als gefährdet wahrgenommen werden. Das konfliktive In- und Nebeneinander moderner und traditionaler Vergesellschaftungsformen stellt sich innerhalb der Gesellschaften der Dritten Welt als »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen« dar.

Der gesellschaftliche Transformationsprozeß und die nachholende Konsolidierung vorausgesetzter Staatlichkeit als strukturelle Bedingungen kriegerischer Konflikte sind als Erklärungsmuster jedoch nicht ausreichend. Denn sie geben noch keinen Aufschluß über die subjektiven Gründe des konfliktiven Handelns der Akteure. Diese Kernfrage der Kriegsursachenforschung, wie nämlich die im globalen Vergesellschaftungsprozeß induzierten Widersprüche auf seiten der Akteure mit Ideen und Weltbildern verknüpft werden, kann nur auf der Grundlage des Analysekonzeptes »Grammatik des Krieges« beantwortet werden (vgl. Siegelberg 1994: 179-193). Die »Grammatik des Krieges«zerlegt den kriegsursächlichen Prozeß in die vier systematischen Analyseebenen: Widerspruch – Krise – Konflikt – Krieg. Auf der Widerspruchsebene finden sich alle gegensätzlichen oder widersprüchlichen gesellschaftlichen Verhältnisse, die allerdings nur dann kriegsursächlich werden, wenn sie auf der Ebene Krise einen Anknüpfungspunkt in den Weltbildern und Ideen der Akteure finden und ein Umschlag von Objektivität in Subjektivität erfolgt. Auf der Ebene Konflikt erfolgt dann der doppelte „Umschlag der Verhältnisse in Verhalten“ (Siegelberg 1994: 190): „von passivem Wahrnehmen zu aktivem Handeln und von friedlichem zu kriegerischem Konfliktaustrag“ (Jung 1995: 236). Auf der Kriegsebene schließlich verselbständigt sich die Gewalt sukzessive von ihren Ursachen und wird selbst zur Ursache von Gewalt.

Für eine kausale Rekonstruktion kriegerischer Prozesse ist der Hamburger Ansatz inzwischen über seine allgemeinen Bestimmungen wie die »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen« und die »nachholende Konsolidierung vorausgesetzter Staatlichkeit« hinaus begrifflich ausdifferenziert worden (Jung 1995; Schlichte 1996). Dabei steht die Operationalisierung und idealtypische Präzisierung der »Leitdifferenz« zwischen traditionalen und bürgerlich-kapitalistischen Formen der Vergesellschaftung entlang der drei sozialen Funktionsbereiche materielle Reproduktion, politische Herrschaft und (über Ideen und Weltbilder vermittelte) symbolische Ordnung im Vordergrund. Für vergleichende Fallstudien bietet die Grammatik des Krieges den geeigneten Analyserahmen und die Differenzierung nach Funktionsbereichen die notwendigen Untersuchungsfelder. Damit wird die erklärungsnotwendige Verknüpfung von strukturellen Ursachen und subjektiven Gründen des Akteurshandelns möglich.

Als Einheit von gesellschaftstheoretischer Erklärung und Analyserahmen für die Kriege der Gegenwart läßt sich der Hamburger Ansatz auch in der Praxis nutzen. Er liefert Ansatzpunkte für Verhandlungs- oder Vermittlungsversuche genauso wie für präventive Maßnahmen.

Kriege und bewaffnete Konflikte 1996
Kriege Bewaffnete Konflikte
Afghanistan Ägypten
Algerien Angola (Cabinda)
Birma (Myanmar) Angola (Unita)
Burundi Äthiopien
Guatemala Bangladesch
Indien (Kashmir) Indien (Assam)
Irak (Kurdistan) Indien (Bodos)
Kambodscha Indien (Nagas)
Kolumbien (ELN) Indien (Naxaliten)
Kolumbien (FARC) Irak (Shiiten)
Libanon Iran (Kurdistan)
Liberia Israel
Mali Kenia
Mexiko (Chiapas) Mexiko (EPR)
Pakistan Niger (FDR)
Papua Neuguinea (Bougainville) Niger (Tuareg)
Peru (Sendero Luminoso) Nordirland
Philippinen (Mindanao) Peru (MRTA)
Russische Föderation (Tschetschenien) Philippinen (NPA)
Sudan Ruanda
Sierra Leone Senegal
Somalia
Sri Lanka
Tadschikistan
Tschad
Türkei (Kurdistan)
Uganda
Zaire
Quelle: Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung,, Universität Hamburg
Rückgang der Zahl der Kriege und bewaffneten Konflikte von 1993 bis 1996
Kriege Kriege u. bewaffnete Konflikte
1993* 1996 Rückgang 1993 1996 Rückgang
Europa 3 100 % 3 1 67 %
Afrika 13 10 23 % 22 19 14 %
Vorderer u. mittlerer Orient 11 6 45 % 13 9 31 %
Asien 13 7 46 % 15 13 13 %
Lateinamerika u. Karibik 5 5 0 % 7 7 0 %
Gesamt 45 28 38% 60 49 18 %
*) Der Rückgang der Kriege von 1992 auf 1993 verteilt sich auf die einzelnen Regionen wie folgt: Asien drei Kriege,, alle anderen je einen.
Quelle: Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung, Universität Hamburg

Literatur:

Diner, Dan 1985: Imperialismus, Universalismus, Hegemonie. Zum Verhältnis von Politik und Ökonomie in der Weltgesellschaft, in: Fetscher, Iring / Münkler, Herfried (Hrsg.): Politikwissenschaft. Begriffe – Analysen – Theorien. Ein Grundkurs, Reinbek, S. 36-360.

Gantzel, Klaus Jürgen / Schwinghammer, Torsten 1995: Die Kriege nach dem Zweiten Weltkrieg bis 1992. Daten und Tendenzen, Münster – Hamburg.

Gerstenberger, Heide 1990: Die subjektlose Gewalt. Theorie der Entstehung bürgerlicher Staatsgewalt. Münster.

Jung, Dietrich 1995: Tradition – Moderne – Krieg. Grundlagen einer Methode zur Erforschung kriegsursächlicher Prozesse im Kontext globaler Vergesellschaftung, Münster – Hamburg.

Rabehl, Thomas / Trines, Stefan (Red.) 1997: Das Kriegsgeschehen 1996. Arbeitspapier Nr. 3/1997 der Forschungsstelle Kriege, Rüstung und Entwicklung, Institut für Politische Wissenschaft, Universität Hamburg.

Schlichte, Klaus 1996: Vergesellschaftung und Krieg in Afrika. Ein Beitrag zur Theorie des Krieges. Münster – Hamburg.

Siegelberg, Jens 1994: Kapitalismus und Krieg. Eine Theorie des Krieges in der Weltgesellschaft, Münster – Hamburg.

Anmerkungen

1) Die Daten bis 1992 und die darauf basierenden statistischen Auswertungen sind Gantzel/ Schwinghammer (1995) entnommen. Daten für die Zeit nach 1992 stammen aus der AKUF-Kriegedatenbank bzw. den jährlichen Veröffentlichungen der AKUF zum aktuellen Kriegsgeschehen. Zurück

Die AutorInnen danken dem Betreuer der AKUF-Kriegedatenbank, Wilhelm Nolte, für die Unterstützung bei der Erstellung der Tabellen und Grafiken.

2) Bei der AKUF wird der Ausdruck »Bürgerkrieg« nicht verwendet. Erstens weckt dieser falsche Assoziationen, da in der Regel nicht Bürger gemeint sind, die gegen andere Teile der Bevölkerung kämpfen, sondern bewaffnete Gruppen, die gegen staatliche Streitkräfte Krieg führen. Zweitens fehlt gerade in Gesellschaften der Dritten Welt oftmals das Zugehörigkeitsgefühl zu dem Staat und damit auch ein staatsbürgerliches Bewußtsein. Drittens ist es problematisch, innerstaatliche Kriege, die um Sezession geführt werden, als Bürgerkriege zu bezeichnen, da diese ja anstreben, eben nicht mehr Bürger des Staates zu sein. Daher wird der Begriff »innerstaatliche Kriege« vorgezogen. Zurück

3) Die AKUF klassifiziert Kriege derzeit nach vier Typen: A (Antiregimekriege), B (sonstige innerstaatliche Kriege), C (zwischenstaatliche Kriege) und D (Dekolonisationskriege). Mischtypen sind dabei möglich. Zurück

4) Im Unterschied zum Krieg wird ein bewaffneter Konflikt als eine gewaltsame Auseinandersetzung definiert, bei der die Kriterien der Kriegsdefinition, insbesondere die Kontinuierlichkeit der bewaffneten Operationen, nicht in vollem Umfang erfüllt sind bzw. die Informationslage eine zweifelsfreie Einordnung als Krieg nicht zuläßt. Zurück

5) Dazu vgl. insbesondere Siegelberg 1994, Jung 1995, Schlichte 1996 Zurück

6) Die gegenwärtig zu beobachtenden entgegengesetzten Phänomene von Staatszerfall widersprechen diesem Trend nicht. Da Staatszerfall häufig im Gefolge von kriegerischer Gewalt auftritt, ist er eher ein Beleg für den konfliktiven, von Widersprüchen geprägten Charakter des Prozesses der globalen Vergesellschaftung. Zurück

Patricia Schneider, Wolfgang Schreiber und Boris Wilke sind Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung (AKUF)