Rüstung für deutsche Weltmachtpolitik

Rüstung für deutsche Weltmachtpolitik

von Michael Gaigalat

Die Jahre zwischen 1890 und 1914 gelten als eine der massivsten Hochrüstungsphasen der deutschen Geschichte. In dieser Zeit wurden die rüstungswirtschaftlichen und waffentechnischen Voraussetzungen geschaffen, die den Ersten Weltkrieg als industrialisierten Krieg erst möglich machten. Großen Anteil an dieser Entwicklung hatte das von den Montankonzernen dominierte rheinisch-westfälische Industriegebiet, das vor dem Ersten Weltkrieg das Zentrum der deutschen Rüstungsindustrie war. Auch im Ersten Weltkrieg wurde die Rhein-Ruhr-Region ihrem Ruf als Waffenschmiede des Deutschen Reiches mehr als gerecht.

In der rüstungspolitischen Planung des deutschen Reiches spielte lange Zeit eine personell gut ausgestattete Armee die wichtigste Rolle. Wie gut oder schlecht hingegen der Soldat technisch ausgerüstet war, ob er mit veralteten oder modernen Waffen in den Krieg zog, wurde in den Militärreformen bis Anfang der 1890er Jahre weitgehend ignoriert. Dies hatte unterschiedliche Gründe: Zum einen fehlten die finanziellen Mittel, um für die Armee stets die neuesten Waffen im nötigen Umfang zu beschaffen. Zum andern begriff sich das überwiegend aristokratisch geprägte Militär als »Staat im Staat«, der sich gegen die privatwirtschaftlichen Einflüsse der modernen kapitalistischen Gesellschaft abschirmen musste. Demzufolge ließ die preußische Armee bis Ende des 19. Jahrhunderts die laufend benötigten Ersatzbeschaffungen in staatlichen Heereswerkstätten produzieren, die noch überwiegend handwerklich organisiert waren.

Trotz der Bedenken gegen die meist sehr viel leistungsfähigere private Rüstungsindustrie bahnten sich in diesem Zeitraum erste Geschäftsbeziehungen zwischen der Militärverwaltung und einzelnen Firmen an. Gerade aus den von Preußen in den 1860er Jahren geführten Einigungskriegen ergab sich ein deutlich höherer Bedarf an Kriegsmaterial, als die staatlichen Rüstungsbetriebe liefern konnten. Deshalb war die preußische Armee gezwungen, Rüstungsaufträge zunehmend an Privatfirmen zu vergeben, um den außer- und überplanmäßigen Bedarf zu decken. Die kriegsbedingte Nachfrage nach Waffen und Munition stärkte langfristig das Ansehen und das Gewicht der privaten Rüstungsunternehmen, allen voran das der Firma Krupp in Essen.

Noch größer wurde die Bedeutung privater Rüstungsunternehmen für die nationale Waffenproduktion, als der preußische Kriegsminister von Verdy und Reichskanzler Caprivi mit den Militärgesetzen von 1890 und 1893 die preußisch-deutsche Armee materiell deutlich verstärkten. Das Heer wurde stark vergrößert und zugleich mit neuen Waffen ausgestattet. Dies geschah vor dem Hintergrund einer veränderten deutschen Außenpolitik nach der Entlassung Bismarcks. Die neue Reichsregierung war nicht mehr an der bisherigen Stabilisierungspolitik bismarckscher Prägung interessiert, sondern ging zu den europäischen Nachbarn auf Konfrontationskurs.

Neue Waffentechnologie, Kaiser und Krupp

Neben diesen politisch-militärischen Motiven gaben grundlegende Neuerungen in der Waffentechnologie den Ausschlag für eine rüstungspolitische Neuorientierung. Von herausragender Bedeutung war das praktisch rauchfreie Nitrocellulosepulver, welches das Schwarzpulver ablöste und die Wirkung von Geschossen enorm steigerte. 1891 brachte die Firma Krupp das Nickelstahlrohr für Geschütze auf den Markt; erst dieser neue Stahl war zäh und fest genug, den Druck des wirksameren Nitropulvers auszuhalten.

Infolge dieser Veränderungen wurden private Unternehmen allmählich stärker in das laufende Rüstungsgeschäft eingebunden und zu festen Partnern der Militärbürokratie. Bis zur Jahrhundertwende konnte die Privatindustrie ihren Anteil an der gesamten Heeresrüstung derart steigern, dass sie um 1900 erstmals mehr produzierte als die staatlichen Heereswerkstätten. Auch wenn viele Militärs noch immer die Verlagerung der Rüstungsproduktion in den privatwirtschaftlichen Sektor missbilligten, war ihnen doch bewusst, dass allein der industrielle Großbetrieb in der Lage war, die rasante waffentechnologische Entwicklung im großen Stil produktionstechnisch umzusetzen.

Von der rüstungspolitischen Wende Anfang der 1890er Jahre profitierte vor allem die Firma Krupp in Essen. Schon in den beiden vorangegangenen Jahrzehnten hatte sie sich stets als verlässlicher Rüstungspartner des Deutschen Reiches erwiesen, wenn die staatlichen Heereswerkstätten mit der Waffen- und Munitionsproduktion nicht nachkamen. Trotz der schwankenden Nachfrage hatte sich bereits unter der Ägide von Alfred Krupp eine Art politisch-industrielle Symbiose zwischen der Essener Gussstahlfabrik, dem Kaiser und den Militärbehörden herausgebildet.

Die Firma Krupp genoss das besondere Wohlwollen des Kaisers, der von der Qualität des kruppschen Kanonenstahls fest überzeugt war. Gleichgültig, ob es um Geschützbestellungen, Artillerievorführungen oder finanzielle Probleme ging, Krupp konnte jederzeit auf die Fürsprache des Monarchen hoffen. In finanziellen Nöten forderten Alfred Krupp und seine Nachfolger selbstbewusst ihr Recht auf gewaltige staatliche Finanzspritzen ein. Im Gegenzug rühmte sich die Firma Krupp, stets im vaterländischen Interesse zu handeln und dem Deutschen Reich die modernsten Waffen zu liefern.

Vor allem Alfred Krupps Sohn, Friedrich Alfred Krupp, wusste gut auf der Klaviatur persönlicher Beziehungen zum Kaiser und zu hohen Militärs zu spielen. Die neue Anforderung an die Firma Krupp, künftig regelmäßig für das Um- und Aufrüstungsprogramm der preußischen Armee zu produzieren, machte Krupp für das Deutsche Reich unentbehrlich. Dies bedeutet aber nicht, dass es sich nach 1890 um eine konfliktfreie Partnerschaft zwischen Staat und Militär sowie Krupp gehandelt hätte. Streitpunkte gab es viele: Krupps Exklusivanspruch als alleiniger Geschützhersteller und die entsprechend hohen Preise für Waffen wurden immer wieder öffentlich kritisiert.

Das persönliche Verhältnis zwischen Friedrich A. Krupp und Kaiser Wilhelm II., das den Geschäftsbeziehungen zwischen dem Essener Unternehmen und dem Deutschen Reich eine besondere Qualität verlieh, war der Grund dafür, dass Krupp bis etwa zur Jahrhundertwende unliebsame Konkurrenten vom nationalen Rüstungsmarkt fernhalten konnte. Dies änderte sich mit dem Aufstieg der Firma Rheinische Metallwaaren- und Maschinenfabrik-Actiengesellschaft, kurz Rheinmetall, die 1889 von dem Ingenieur Heinrich Ehrhardt in Düsseldorf gegründet worden war und binnen weniger Jahre Krupp im Geschützbau technologisch überholte. Ihre Gründung verdankte sie einem staatlichen Geschossauftrag. Wenig später produzierte das junge Unternehmen mit großem Erfolg Stahlhüllen für das Feldschrapnell C/91, die nach dem patentierten ehrhardtschen Press- und Ziehverfahren als nahtlose Hohlkörper hergestellt wurden.

In direkte Konkurrenz zu Krupp trat Rheinmetall mit der Entwicklung des Rohrrücklaufgeschützes. Dieser damals modernste Typ eines Schnellfeuergeschützes war den kruppschen Geschützen deutlich überlegen. Mit der hydropneumatischen Brems- und Vorholvorrichtung für das Geschützrohr sprang das Geschütz nicht mehr wie früher durch den Rückstoß zurück, sondern blieb beim Abschuss ruhig stehen. Damit entfiel das ständige Neuausrichten des Geschützes, und die Feuergeschwindigkeit stieg erheblich.

Trotz dieses waffentechnischen Quantensprungs entschied sich die deutsche Militärverwaltung 1896 für die Einführung des Federsporngeschützes kruppscher Bauart: ein Geschütz, in dem das Rohr nach wie vor starr in der Lafette gelagert war, und das sich trotz eines ausklappbaren Sporns am hinteren Ende des Lafettenschwanzes bei jedem Schuss aufbäumte und aus der Richtung geriet. Aufgrund der engen Geschäftsbeziehungen mit Krupp lehnten die deutschen Militärbehörden die Beschaffung des ehrhardtschen Rohrrücklaufgeschützes zunächst noch ab. Im Ausland aber konnte Rheinmetall seine neuartigen Feldgeschütze in großer Zahl verkaufen. Unterdessen arbeitete auch die Firma Krupp an der Entwicklung von Feldkanonen mit langem Rohrrücklauf und bot ab 1902 solche Geschütze an. Das Deutsche Reich kaufte bei der nächsten großen Heeresumrüstung 1905 Geschütze mit hydraulischer Rücklaufbremse zu gleichen Teilen in Essen und Düsseldorf. Den Markt für leichte und mittlere Artilleriewaffen mussten sich die beiden Konkurrenten künftig teilen. Nur die schwere Artillerie blieb weiterhin eine Domäne der Essener Waffenschmiede.

Die meisten Waffengeschäfte wurden auch damals schon auf dem internationalen Markt getätigt. Selbst Krupp verdiente sein Geld vor allem mit Exportgeschäften. Von 1875 bi 1891 setzte Krupp nur 18 Prozent seiner Rüstungsproduktion im Inland ab, 82 Prozent waren Bestellungen ausländischer Militärverwaltungen. Nur durch diese Aufträge gelang es, die vorhandenen Produktionsanlagen voll auszulasten, da der eigene Staat häufig zu wenig Kriegsmaterial orderte. Das Deutsche Reich wiederum duldete die Ausfuhr von Waffen, um die Leistungsfähigkeit der privaten Rüstungsindustrie zu erhalten und die waffentechnische Entwicklung zu fördern.

Trotz seiner großen Bedeutung für den nationalen und internationalen Waffenmarkt war Krupp – anders als die englischen und französischen Hersteller Vickers, Armstrong und Schneider-Creusot – nie ein reiner Rüstungskonzern. Außer in Hochrüstungsjahren machte die Herstellung von Kriegsmaterial bei Krupp in aller Regel nicht mehr als 40 Prozent des Gesamtumsatzes aus.

»Krieg der Fabriken« – der industrialisierte Krieg

„Das ist das Material. […] Ja, dort hinten wird es gefügt und geschmiedet in den peinlich geregelten Arbeitsgängen einer riesenhaften Produktion, und dann rollt es auf den großen Verkehrswegen an die Front als eine Summe von Leistung, als gespeicherte Kraft, die sich vernichtend gegen den Menschen entlädt. Die Schlacht ist ein furchtbares Messen der Industrien und der Sieg der Erfolg einer Konkurrenz, die schneller und rücksichtsloser zu arbeiten versteht. Hier deckt das Zeitalter, aus dem wir stammen, seine Karten auf.“ 1

Was Ernst Jünger nach dem Ersten Weltkrieg beschrieb, war der »Krieg der Fabriken«, in dem sich Produktionsanlagen in Kampfstätten verwandelt hatten. Sowohl die Zunahme technisch hoch entwickelter Waffen als auch die großindustriellen Produktionsbedingungen hatten diese Entwicklung stark befördert. Über Sieg und Niederlage entschied zunehmend eine gut funktionierende »Kriegsmaschinerie«.

Dieses sich gegenseitig bedingende Verhältnis von technischem Fortschritt und Kriegführung hatten im August 1914 weder die deutschen Politiker und Militärs noch die Industriellen in seiner vollen Tragweite erkannt. In der Überzeugung eines schnellen deutschen Sieges wurde ein kurzer, rein militärisch geführter Krieg erwartet. Von vornherein schloss die deutsche Reichsführung die Möglichkeit eines lang anhaltenden Wirtschaftskrieges ebenso aus wie eine auf den Bedarf von Materialschlachten ausgerichtete Kriegswirtschaft. Die Mobilmachungspläne sahen lediglich vor, dass die private Rüstungsindustrie die Ausrüstung des planmäßig auszuhebenden Kriegsheeres sicherstellen sollte. Daher war nur ein auf wenige Wochen berechneter Vorrat für den Nachschub an Waffen und Munition angelegt worden. Infolgedessen griff der Staat nach Kriegsbeginn zunächst auch nur in geringem Maße in die bestehenden wirtschaftlichen Verhältnisse und Strukturen ein. Die Reichsregierung verzichtete auf staatsdirigistische Maßnahmen, fest davon überzeugt, die deutsche Friedenswirtschaft sei leistungsfähig genug, sich den Erfordernissen des Krieges anzupassen.

Doch bereits mit der Marneschlacht im Herbst 1914 wurde offenkundig, dass der Krieg nicht nur wenigen Wochen dauern würde. Der Einsatz der vor 1914 neu entwickelten, modernen Vernichtungswaffen ließ die Fronten schnell erstarren. Der Stellungs- und Grabenkrieg, der von nun an das Kampfgeschehen beherrschte, verlangte ständig und massenhaft nach neuen Waffen und vor allem nach neuer Munition. Binnen weniger Wochen wurden die etablierten und bedeutenden Rüstungsfirmen, allen voran Krupp und Rheinmetall, zu reinen »Weltkriegs«-Konzernen umgewandelt. In der Essener Gussstahlfabrik wurden die ohnehin schon sehr großen Werkstätten für Kriegsmaterial auf das Zweieinhalbfache ausgebaut. Krupp lieferte während des Ersten Weltkriegs etwa ein Drittel aller in Deutschland hergestellten Geschütze und zehn Prozent der Munition.

Da selbst Rüstungsfirmen wie Krupp und Rheinmetall nicht einmal unter äußerster Anspannung ihrer Produktionskapazitäten den notwendigen Nachschub an Waffen und Munition sicherstellen konnten, leisteten nach und nach die meisten schwerindustriellen Unternehmen in der Rhein-Ruhr-Region ihren Beitrag zum Krieg. So stellte einer der größten Montankonzerne jener Jahre, die Gutehoffnungshütte in Oberhausen, ihre zivile Produktion ab Ende 1914 teilweise auf die Fertigung von Kriegsmaterial um.

Dahinter steckte freilich mehr als das gerne öffentlich zur Schau gestellte Bekenntnis, ganz im Sinne des vaterländischen Interesses zu handeln. Spätestens seit der Jahrhundertwende hatten führende Ruhrindustrielle Pläne entwickelt, den europäischen Wirtschaftsraum neu zu ordnen. Nach Kriegsbeginn sahen sie sich dem Ziel ein Stück näher, ihre handfesten ökonomischen Interessen an neuen Rohstoffbasen und Absatzmärkten auch gewaltsam durchsetzen zu können. In mehreren Denkschriften formulierten vor allem die Industriellen an Rhein und Ruhr weitreichende Gebietsansprüche: ganz Belgien, im Westen das gesamte lothringische Eisenerzbecken und im Osten Polen und die baltischen Staaten. Russland sollte politisch und wirtschaftlich dauerhaft geschwächt werden. Und schließlich machten die wirtschaftlichen »Allmachtsphantasien« der Ruhrindustriellen auch nicht vor Teilen des kolonialen Afrikas halt.

Der Kriegsverlauf ließ solche imperialen Träume in weite Ferne rücken. Die großen Materialschlachten des Sommers 1916 in Verdun und an der Somme hatten in aller Schärfe gezeigt, dass dieser Krieg nur noch mit Hilfe einer nationalen, die gesamte Wirtschaft und Gesellschaft erfassenden Rüstungsproduktion zu gewinnen war. Anders formuliert: Die Bedingungen des »neuen«, materialintensiven Maschinenkrieges, wie er sich seit Ende 1914 herausgebildet hatte, erforderten ein gewaltig gesteigertes Beschaffungsprogramm für Munition und Waffen und erzwangen eine bis dahin unbekannte Industrialisierung der Kriegführung.

Um die Pattsituation auf dem Schlachtfeld doch noch siegreich zu überwinden, stellte die Oberste Heeresleitung unter Hindenburg und Ludendorff im September 1916 ein ehrgeiziges Waffen- und Munitionsprogramm auf, das so genannte Hindenburg-Programm. In enger Zusammenarbeit mit Vertretern der Eisen- und Stahlindustrie entstanden, sah das Programm vor, die Produktion von Munition und Minenwerfern in einem halben Jahr – rechtzeitig zur nächsten Frühjahrsoffensive – zu verdoppeln, diejenige von Geschützen und Maschinengewehren gar zu verdreifachen. Unter diesem Druck einer materialintensiven Kriegführung stellte die rheinisch-westfälische Eisen- und Stahlindustrie ihre Produktionsanlagen nahezu vollständig auf die Herstellung von »hartem« Kriegsmaterial um und teilte sich fortan den heimischen Rüstungsmarkt mit den bis dahin privilegierten Rüstungsfirmen. So errichtete beispielsweise die August Thyssen AG Ende 1916 eine eigene Geschossfabrik und begann neben der Kohle- und Stahlproduktion mit der Herstellung von Waffen und Munition.

Die Bereitschaft der Eisen- und Stahlunternehmen an Rhein und Ruhr, ihre Produktionsanlagen für die Herstellung von Rüstungsgütern umzustellen, hatte jedoch ihren Preis. Sie beanspruchten und erhielten schließlich auch die privatwirtschaftliche Kontrolle über die Kriegsproduktion, und dies trotz des Anspruchs der verschiedenen Kriegswirtschaftsorganisationen, von staatlicher Seite lenkend einzugreifen. Dafür sicherte die Industrie dem Generalstab zu, soviel Kriegsmaterial wie irgend möglich herzustellen und zu liefern. So löste die kriegsbedingte Aufrüstung eine Hochkonjunktur aus und sorgte bei den Unternehmen für hohe Kriegsgewinne. Diese investierten sie in die Modernisierung und den Ausbau ihrer Betriebe, um ihre wirtschaftliche Ausgangslage nach dem Krieg zu verbessern.

Anmerkungen

1) Ernst Jünger (1925/1978-1983): Feuer und Blut – Ein kleiner Ausschnitt aus einer großen Schlacht. Stuttgart: Cotta’sche Buchhandlung, Sämtliche Werke in 18 Bänden, ergänzt durch vier Supplement-Bände; hier Band 1, S . 449.

Literatur

Heinz-J. Bontrup und Norbert Zdrowomyslaw (1988): Die deutsche Rüstungsindustrie – Vom Kaiserreich bis zur Bundesrepublik. Ein Handbuch. Heilbronn: Distel Literaturverlag.

Günter Bouwer (1985): Rüstungsproduktion und Rüstungskonversion in Deutschland, 1883–1956. In: Reiner Steinweg (Red.): Rüstung und Soziale Sicherheit. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, Friedensanalysen Bd. 20, S.193-226.

Gerald D. Feldman (1985): Armee, Industrie und Arbeiterschaft in Deutschland 1914 bis 1918. Berlin: J.H.W. Dietz Nachf.

Michael Geyer (1984): Deutsche Rüstungspolitik 1860-1980. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Zdençk Jindra (1986): Der Rüstungskonzern Fried. Krupp AG – Die Kriegsmateriallieferungen für das deutsche Heer und die deutsche Marine. Prag: Univerzita Karlova Praha.

Stefanie van de Kerkhof (2006): Von der Friedens- zur Kriegswirtschaft – Unternehmensstrategien der deutschen Eisen- und Stahlindustrie vom Kaiserreich bis zum Ende des Ersten Weltkrieges. Essen: Klartext.

Joachim Schaier und Daniel Stemmrich (Red.) (1997): Schwerindustrie. Ausstellungskatalog. Essen: Landschaftsverband Rheinland, Rheinisches Industriemuseum Oberhausen Schriften Bd. 13.

Michael Gaigalat leitet die Abteilung Sammlungsdienste im LVR-Industriemuseum des Landschaftsverbandes Rheinland in Oberhausen.

Panzer

Panzer

Im Ersten Weltkrieg und heute

von Lutz Unterseher

Die Geschichte des modernen Kampfpanzers, hier einfach »Panzer«, beginnt 1911 mit dem Entwurf eines »Motorgeschützes«, den das Kriegsministerium in Wien aus Unverständnis ablehnte. Der Designer: Günther Burstyn, Oberleutnant im k.u.k.-Eisenbahnregiment. Es ging um ein geschütztes Kettenfahrzeug mit einer Kanone in einem Drehturm – also das, was auch heute den Panzer noch wesentlich ausmacht. Wenige Jahre später hielt der Panzer dennoch seinen Einzug auf dem Schlachtfeld und spielt in militärischen Kalkülen bis heute eine – wechselnde – Rolle.

Der erste große Auftritt kam im Großen Krieg, nachdem das Geschehen an der französischen Front erstarrt war. Zu stark war die Defensive durch die Feuerkraft der Maschinengewehre und der neuartigen Feldgeschütze mit hoher Schussfolge (Rapidgeschütze), als dass die übliche Angriffsmethode der Infanterie (Vorgehen auf breiter Front nach Artillerievorbereitung) größere Durchbrüche hätte erbringen können. So entstand die Idee eines Vehikels, das sich auch über Gräben hinweg bewegen und seiner Mannschaft unter Panzerschutz den Waffengebrauch ermöglichen würde.

Anfang 1915 wurde in England das »landships committee« gegründet und ein Prototyp entwickelt: noch unbewaffnet, klobig, aber funktionstauglich. Er wurde »Little Willie« getauft, was eigentlich »kleiner Penis« bedeutet und damals auch der Spottname für den deutschen Kronprinzen war.

Auf »Little Willie« folgte der bereits für die Feldverwendung vorgesehene »Mark I«, genannt »mother«, der im Sommer 1916 an die Front kam. Zur Täuschung feindlicher Spionage wurde er als »tank« bezeichnet – der Begriff setzte sich im englisch- und russischsprachigen Raum durch. Das Fahrzeug war viel größer als sein Vorgänger und nicht kastenförmig, sondern rhomboid. Mit seiner langen Basis und der vorderen, schrägen Führung der Ketten schien es für das Überwinden von Gräben gut geeignet. »Mark I« hatte keinen Drehturm. Deswegen wurde er – nicht sonderlich rationell – mit »doppelter« Bewaffnung ausgestattet: mit Maschinengewehren und leichten Kanonen, die in beiden Flanken installiert waren.

Das Fahrzeug galt mit 30 Tonnen als schwer, wog aber – obwohl größeren Volumens – nur etwa halb so viel wie heutige Panzer. Schutz bot »Mark I« nur gegen Infanteriewaffen; mit der Entwicklung spezieller Panzerabwehrwaffen wurde nicht unmittelbar gerechnet. Im Zuge der Serienproduktion wurde dieser Panzer bis 1918 mehrmals verbessert.

In Frankreich hatte es mittlerweile ähnliche Bemühungen gegeben. Die beiden ersten französischen Produkte fielen in die Kategorie »mittelschwer« und erschienen etwas später auf dem Gefechtsfeld, da technische Anfangsschwierigkeiten die Serienproduktion verzögert hatten. Diese beiden Typen besaßen ebenfalls keinen Drehturm. Ihre Geländegängigkeit war geringer als die des britischen Modells.

Bald wurde die Fertigung der mittelschweren französischen Typen aufgegeben, denn es kam zu einer Arbeitsteilung: Die Briten sollten weiterhin die »Mark«-Reihe bauen (später noch den neuen, mittelschweren »Whippet«), während die Franzosen sich auf die Produktion leichter Panzer konzentrierten. 1917 war nämlich der leichte Panzer »Renault FT-17« serienreif geworden. Dieser besaß einen Drehturm mit Kanone und ähnelte einer späten Realisierung des Entwurfs von Burstyn.

Von der »Mark«-Reihe wurden bis Ende 1918 ca. 1.300 Fahrzeuge gebaut, von den »Whippets« einige Hundert. Die mittelschweren französischen Modelle kamen auf je 400 Exemplare, und die Zahl der Renaults lag bei 3.000 (Zetschwitz 1938). Zum Vergleich: Deutschland produzierte nur 20 turmlose, schwere Panzer des Typs »A7V«, die sich für den Einsatz im Übrigen als zu kompliziert erwiesen (Unterseher 2014, S.75 ff.).

Überwindung des Stellungskrieges

Frankreich und Großbritannien bauten also in guter Arbeitsteilung etwa 5.500 Panzer, Deutschland eine kaum nennenswerte Zahl. Das ist erklärungsbedürftig.

Nicht befriedigen kann der Hinweis, Deutschland sei damals am Ende seiner Ressourcen gewesen und sein Heer hätte sich deshalb keine Panzerrüstung leisten können. Das Ressourcenproblem bestand nämlich vor allem, weil die Kriegsmarine enorme Mittel beanspruchte: für den Weiterbau von Großkampfschiffen (mit denen die Durchbrechung der britischen Seeblockade letztlich auch nicht gelang) und für den unsinnigen Ausbau der U-Boot-Flotte (deren Aktivitäten die USA schließlich zum Kriegseintritt bewegten). Konkret: Mit dem für ein einziges Großkampfschiff benötigten Stahl hätten sich über 3.000 leichte Panzer bauen lassen.

Neben der falschen strategischen Ausrichtung führte auch die Geisteshaltung der Heeresführung zur Entscheidung, nicht auf Panzer zu setzen. Beide gegnerische Seiten standen in Frankreich vor dem Problem, den Stellungskrieg zu überwinden, um sich wieder Siegeschancen zu verschaffen. Doch wie ließ sich der Krieg am besten »in Bewegung setzen«? Die deutsche Seite entschied sich für die Kombination der Wunderwaffe »Gas«, eines zur eigenen Hybris passenden »Götterwindes«, mit neuen Taktiken. Mit ihrer Hilfe sollte der Durchbruch in die Tiefe der gegnerischen Verteidigung gelingen.

Bei den Taktiken ging es um zweierlei: ein neues Verfahren, die Artillerie aller Kaliber schlagartig auf die vorgesehene Durchbruchsstelle zu konzentrieren und dann der angreifenden Infanterie mit ihrem Feuer zügig voranzurollen, sowie das Sturmtruppenkonzept, das den Frontalangriff von Fußsoldaten durch fluide Bewegungen von Elitetrupps ersetzte: auf einen Durchbruchspunkt konzentriert, Schwachstellen des Verteidigers nutzend, in die gegnerische Tiefe zielend, etwaiger Flankenbedrohung nicht achtend und aus der eigenen Tiefe fortlaufend durch Reserven genährt.

Diese Fokussierung auf Taktik wurzelte in der Doppelnatur des preußisch-deutschen Militärs: einerseits hochprofessionell, andererseits zutiefst antibürgerlich. Zwar wurde manch technische Neuerung in ihrer Wirksamkeit durchaus anerkannt, dennoch blieb die Heeresleitung gegenüber der »bürgerlich« konnotierten Welt der Maschinen auf Distanz: Eine Maschine sollte keine taktischen Probleme lösen.

Ganz anders die auch im Hinblick auf ihre Heere eher bürgerlich geprägten Entente-Mächte Frankreich und Großbritannien. Dort wurde die Maschine, der »tank«, wesentliches Vehikel für die geplanten Durchbruchsoperationen. Die gelangen aber auch nicht im gewünschten Sinne. Die Entente-Mächte setzten Panzer zwar in immer größerer Zahl ein (1916 an der Somme waren es 50, 1917 bei Cambrai bereits 500), blieben aber der alten Taktik des schematischen Frontalangriffes verhaftet. Dennoch: Panzeroperationen kamen in Serie, und ihre Abwehr trug zur Auszehrung des Deutschen Heeres und damit zu dessen Niederlage erheblich bei.

Ironie der Geschichte: Das deutsche Militär hatte im Frühjahr 1918 einen letzten groß angelegten Durchbruchsversuch gemacht. Die neue Taktik schien gut zu funktionieren – es kam dennoch bald das Ende: Koordinations- und Führungsfehler sowie die Zähigkeit der Verteidigung waren die Gründe. Zwischen den beiden Weltkriegen dann entwickelten »fortschrittliche« Militärkreise einiger europäischer Länder die Idee, Panzertruppen nach dem Muster der neuen deutschen Infanterietaktik zu führen, womit das Konzept weitreichender, offensiver Operationen schwerer Verbände geboren war. Exemplarisch ist hier ein Mann zu nennen, der diese Entwicklung in seinem Soldatenleben widerspiegelt: Erwin Rommel, Führer von Sturmtruppen im Ersten und von Panzerverbänden im Zweiten Weltkrieg (Rommel 1990).

Ein zählebiges Ding

Der Panzer ist ein seltsames Ding. Schon bald nach der Premiere auf dem Gefechtsfeld wurde ihm eine eher kurze Lebensdauer prognostiziert. In der Zeit nach dem »Großen Krieg« gab es nämlich konzeptionelle Unsicherheit und frustrierende Debatten über den optimalen Einsatz der neuen Waffe, außerdem traten die durch die Neuerung in ihrer Bedeutung geschmälerten Truppengattungen zum bürokratischen sowie publizistischen Gegenangriff an. Hinzu kam die Entwicklung spezialisierter Panzerabwehrmittel, die das neue Gerät verletzlich werden ließen. So breitete sich Skepsis aus, ob dem Panzer überhaupt eine Zukunft beschieden sei.

Doch im Zweiten Weltkrieg kam der Durchbruch der neuen Waffe. Der europäische Schauplatz war wesentlich vom Panzerkampf geprägt. Den Anfang machte Nazideutschland. Dieses verdankte seine frühen Erfolge vor allem der Tatsache, dass sich dort eher als anderswo die Auffassung durchgesetzt hatte, dass Panzer dann ein gutes Mittel für weitreichende Angriffsoperationen sind, wenn sie »artgemäß« eingesetzt werden: nach dem Muster der Sturmtruppen des Ersten Weltkrieges. Im Übrigen war auch erkannt worden, dass Panzertruppen, wenn sie vorankommen wollen, der unmittelbaren Unterstützung durch Jagdbomber, bewegliche Infanterie und Artillerie bedürfen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Panzer und die von Panzern geprägten Großverbände zur harten Währung der Ost-West-Konfrontation. So gehörte es zu den NATO-Stereotypen, aus der großen Zahl an Panzern und gepanzerten Divisionen, über die der Warschauer Pakt verfügte, auf dessen konventionelle Überlegenheit zu schließen. Dies wiederum schien eine besondere Rolle für taktische Atomwaffen in der Defensive nahe zu legen. Ausgeblendet wurden dabei die qualitativen Vorteile des Westens sowie die großen Schwierigkeiten der Sowjetunion, ihre Panzerreserven aus der Tiefe des Raumes zeitgerecht in Mitteleuropa wirksam werden zu lassen (Chalmers/Unterseher1987).

In den 1990er Jahren, nach dem Ende des Kalten Krieges, schien sich für die Länder des westlichen Bündnisses eine neue Welt aufzutun: die Verflüchtigung der (angeblichen) Bedrohung aus dem Osten und eine mutmaßliche Zunahme von Turbulenzen an der Peripherie Europas sowie in der »Dritten« Welt. Die politischen Eliten etlicher europäischer Staaten sahen nun ihr Militär, im Verbund mit Nachbararmeen, als Ordnungsfaktor. Die Idee multinationaler Interventionstruppen blühte, und die gewichtigeren Staaten wollten – schon aus Statusgründen – dabei sein. Es kam zu einer veritablen »Interventionitis« und zu einem Neuzuschnitt der Heere.

Die Verwendung großer Panzerverbände, wie sie noch im Zweiten und Dritten Golfkrieg wirkungsvoll geschah, erschien bald kaum mehr erforderlich. Hatten jene Kriege noch den Charakter konventioneller zwischenstaatlicher Zusammenstöße, schienen nun eher Truppenkontingente für stabilisierende Eingriffe in unkonventionelle innerstaatliche Konflikte erforderlich. Dazu aber wollten Panzer nicht so recht passen. So schafften die Niederlande ihre Panzertruppe ganz ab. Und das Deutsche Heer, das 1990 noch über mehr als 5.000 Panzer verfügt hatte, reduzierte die Zahl schrittweise auf ca. 350. Der Schwerpunkt liegt nun auf leichteren Kräften, die zügig über lange Strecken verlegbar und vor Ort für effektive, weiträumige Kontrollfunktionen einsetzbar sind.

Geht damit das Leben dieses seltsamen Dings schließlich doch zu Ende? Wohl kaum.

Die große Mehrzahl der Streitkräfte dieser Welt verfügt weiterhin über Panzer. In 19 Ländern sind es jeweils über 1.000 Stück. Dabei stechen Russland, die USA, China, Indien, die Türkei, Ägypten, Israel und Nordkorea hervor: Diese besitzen jeweils über 3.000 Panzer, einige sogar erheblich mehr (IISS 2012/13). Die Panzerflotten von gut der Hälfte der erwähnten 19 Länder sind zwar tendenziell veraltet, gleichwohl werden sie beibehalten, für alle Fälle. Doch es gibt auch modernes oder modernisiertes Gerät: Army-technology.com listet 29 Modelle auf, die weltweit relevant sind. Wird diese Liste um bloße Modellvarianten bereinigt, bleiben immer noch 15 Typen übrig.

Überdies wurden seit dem Jahr 2000 in folgenden Ländern Neuentwicklungen bzw. »Totalrenovierungen« von Panzern realisiert oder begonnen: China, Indien, Iran, Israel, Japan, Polen, Südkorea, Türkei. Auch von russischen Bemühungen wurde in der Fachpresse berichtet, diese sind freilich nicht belegt. In den USA fährt man nach Fehlschlägen mit großem Aufwand fort, Fahrzeuge zu entwickeln, die die üblichen Panzer an Schutz, Beweglichkeit und Kampfkraft übertreffen, aber signifikant leichter sein sollen und sich dadurch für die rasche Machtprojektion besser eignen würden.

Rund um die Welt, mit Ausahme von Südamerika, sind viele politische Eliten nicht der europäischen Linie gefolgt. Sie denken nach wie vor in den Kategorien des herkömmlichen zwischenstaatlichen Krieges, manchmal sogar aus gutem Grund. Oder es soll schlicht der große »Knüppel« disziplinierender Machtprojektion nicht aufgegeben werden. Ein weiteres – mitunter wohl ausschlaggebendes – Motiv, Panzerflotten beizubehalten, ja sogar neue Typen zu entwickeln, mag darin liegen, dass die rasselnden Ungetüme als einprägsame Symbole staatlicher Souveränität gesehen werden und ein neuer »nationaler« Panzer als Ausweis für die Leistungsfähigkeit der Industrie des Landes gilt.

Panzer als Gespenster

Frühjahr 2014: Deutsche Medien berichteten, russische Söldner, womöglich sogar »Reguläre«, seien in die Ostukraine eingefallen, hätten Kämpfer angeheuert, die sich als »Separatisten« bezeichnen. Und es gebe üppige Unterstützung: an Logistik, Waffen und anderem Gerät. Vor allem auch Panzer neueren, russischen Typs sollen in erklecklicher Zahl geliefert worden sein. Es wird spekuliert, Russland könnte auch mit größeren, regulären Verbänden nach einem Teil der Ukraine greifen, und man fragt, was denn die NATO, die als Nothelfer Kiews imaginiert wird, militärisch zu bieten hätte. Und schon landet man wieder beim Vergleich der Panzerflotten und ihrer numerischen Stärke. Und kommt zum Ergebnis, dass Russland gar viel, die europäischen NATO-Mitglieder aber kläglich wenig zu bieten hätten. Die Vergangenheit wirft also ihren Schatten.

Literatur

Malcolm Chalmers and Lutz Unterseher (1987): Is there a Tank Gap? A Comparative Assessment of the Tank Fleets of NATO and the Warsaw Pact. Bradford: School of Peace Studies, University of Bradford, Peace Research Report Nr. 19.

International Institute for Strategic Studies (IISS) (2012/13): The Military Balance. London: IISS.

Erwin Rommel (1990): Infantry Attacks (engl. Übersetzung der dt. Erstausgabe von 1937, »Infanterie greift an«). London: Greenhill.

Gerhard Peter von Zetschwitz (1938): Heigl's Taschenbuch der Tanks, Teil II (Panzererkennungsdienst G-Z, Panzerzüge und Panzerdraisinen) und III (Der Panzerkampf). München: J.P. Lehmanns.

Lutz Unterseher (2014): Der Erste Weltkrieg. Wiesbaden: Springer Fachmedien.

Lutz Unterseher, Dr. habil., Soziologe, Organisations- und Politikwissenschaftler, lehrt an der Universität Münster Internationale Beziehungen und ist unabhängiger Berater in Verteidigungsfragen.

Physiker im Ersten Weltkrieg

Physiker im Ersten Weltkrieg

Die Verlobung von moderner Wissenschaft, Industrie und Militär

von Götz Neuneck

Der Erste Weltkrieg 1914-1918 war der erste große »industrialisierte Krieg«. Er wurde nicht nur mit Massenarmeen geführt, sondern auch mit den Mitteln der damaligen Wissenschaft. Nobelpreisträger und Wissenschaftler beider Seiten wurden mobilisiert oder meldeten sich freiwillig, um ihr Wissen zur Verfügung zu stellen. Daher wird der Erste Weltkrieg als »Krieg der Ingenieure und Chemiker« bezeichnet, aber auch Physiker und andere Naturwissenschaftler nahmen teilweise aktiv an dem Geschehen teil. Was taten sie insbesondere in Deutschland, Frankreich, Großbritannien und den USA vor und während des Krieges, welche Beiträge haben sie geleistet?

Der Beginn des 20. Jahrhunderts war von großem Fortschrittsoptimismus, industriellem Aufbruch und einem fundamentalen Umbruch des physikalischen Weltbildes gekennzeichnet. Die klassische Physik wurde zwischen 1895 und 1914 revolutioniert: 1895 entdeckte W.C. Röntgen die X-Strahlung, M. Planck führte 1900 das Quantenkonzept ein, E. Rutherford präsentierte 1911 das Planetenmodell des Atoms, und A. Einstein veröffentlichte 1905 seine spezielle Relativitätstheorie. Die Industrie entwickelte neue Transportmittel, Automobile, Eisenbahnen und Flugzeuge. Telegraphie und Transatlantikkabel sorgten für weltweite Kommunikation. Vor dem Ersten Weltkrieg fand parallel auch ein Wettrüsten zwischen der Entente und den Mittelmächten statt, das später von L.F. Richardson, Quäker und Vater der quantitativen Friedensforschung, mathematisch beschrieben wurde.

Die Gruppe der Naturforscher und -wissenschaftler war zu der Zeit nicht groß und kooperierte kollegial wie international. Der Physiologe E. du Bois-Reymond sagte 1878 in der Preußischen Akademie der Wissenschaften anlässlich des Geburtstags des Kaisers: „Allein die Wissenschaft ist ihrem Wesen nach weltbürgerlich […] Am Ausbau der Wissenschaft beteiligen sich alle Kulturvölker in dem Maße wie sie diesen Namen verdienen.“ (zit. nach Wolff 2001, S.4) Die Wissenschaft wurde in diesem »Zeitalter der Extreme« aber auch ein Instrument im Wettstreit der Nationen. Bis heute werden die Nobelpreise den jeweiligen Ursprungsländern zugeordnet. Es ist kaum verwunderlich, dass der Geist von Kooperation, Freundschaft und Internationalität mit Beginn des Ersten Weltkrieges abrupt endete.

Die Mobilisierung der Wissenschaft kann grob in vier Phasen eingeteilt werden (MacLeod 2009, S.39ff): Zwischen 1914 und 1915 führt das von 93 deutschen Intellektuellen verfasste nationalistische Manifest »An die Kulturwelt« zum Bruch zwischen deutschen und alliierten Wissenschaftlern. Ab Frühling 1915 werden Wissenschaftler für kriegswichtige Arbeiten mobilisiert oder melden sich freiwillig, um ihre Kenntnisse einzubringen. Ab 1917 beginnen auch US-Wissenschaftler, mit Kollegen anderer alliierter Länder zusammenzuarbeiten. Und nach Kriegsende schließlich werden deutsche Wissenschaftler fast zehn Jahre von internationalen wissenschaftlichen Organisationen ausgeschlossen bleiben (MacLeod 2009, S.39ff).

Der »Krieg der Geister« und das Ende des »Goldenen Zeitalters«

Noch am 1. August 1914 veröffentlichten neun englische Professoren, darunter der Physiker J.J. Thomson und der Chemiker W. Ramsey, eine Erklärung, in der sie vor einem Kriegseintritt Großbritanniens warnten. Sie hoben dabei „Deutschlands Führungsrolle in Kunst und Wissenschaft“ hervor (Wollff 2001, S.6). Als das Kaiserreich völkerrechtswidrig die territoriale Integrität Belgiens verletzte und England am 4. August in den Krieg eintrat, zerfiel die Welt der befreundeten Wissenschaftler schnell in verfeindete Lager. Angesichts der nationalen Kriegsaufwallungen vergaßen viele Wissenschaftler ihre Bekenntnisse zu Internationalität und Zusammenarbeit. Mit Kriegseintritt Englands gaben einige deutsche Wissenschaftler sogar ihre englischen Auszeichnungen zurück.

Mit nahezu religiöser Inbrunst wurden zu Kriegsbeginn an vielen deutschen Universitäten Kundgebungen organisiert, und Professoren wurden zu Kriegstreibern. Es gab aber auch Ausnahmen. A. Einstein war im Frühjahr 1914 nach Berlin gekommen und schrieb angesichts der Kriegsbegeisterung in Berlin am 1. August an H.A. Lorentz: „Wenn ein Haufen Menschen an einem Kollektivwahn erkrankt ist, so soll man diese Menschen jeglichen Einflusses berauben; aber Hass und Erbitterung können große und sehende Menschen für die Dauer nicht beherrschen, sie seien denn selbst krank.“ (Pais 1995, S.218) Seinem Freund P. Ehrenfest schrieb er: „Unglaubliches hat nun in Europa in seinem Wahn begonnen. In solcher Zeit sieht man, welch trauriger Viehgattung man angehört.“ (Nathan/Norden 2004, S.20) Der Erste Weltkrieg bestärkte Einstein in seiner Ablehnung des Kriegs – seine wissenschaftlich fruchtbarsten Jahre hatte er aber in seiner Berliner Zeit.

In der sonstigen Wissenschaftswelt verschärften sich die Spannungen, als am 4. Oktober 1914 der Aufruf »An die Kulturwelt« 93 führender deutscher Gelehrter und Künstler veröffentlicht wurde, darunter 15 Naturwissenschaftler, sechs gar Nobelpreisträger: M. Planck, W.C. Röntgen, W. Ostwald, W. Wien, E. Fischer und A. von Baeyer. Die »Erklärung der 93« war, obwohl als „Protest gegen die Lügen und Verleumdungen“ von „Deutschlands Feinden“ gedacht, ein Schlüsseldokument arroganter deutscher Überheblichkeit (Rüdiger vom Bruch 2005).Die Unterzeichner, von denen einige nicht einmal den genauen Text kannten, handelten nicht nur außerordentlich pathetisch, sondern politisch naiv, uninformiert und offensiv. Im Wesentlichen übernahm das Manifest die Position des deutschen Militärs und sprach von einem Defensivkrieg, einem „aufgezwungenen, schweren Daseinskampf“.

Die Wirkung im Ausland war verheerend und kontraproduktiv. Insbesondere kleine und neutrale Staaten waren nach der Völkerrechtsverletzung aufgrund des deutschen Einmarschs ins neutrale Belgien und der Zerstörung der Bibliothek der alten Universitätsstadt Leiden durch deutsche Truppen alarmiert. 117 englische Gelehrte, darunter W.H. Bragg, Lord Raleigh und J.J. Thomson, reagierten am 21. Oktober mit einer Gegenerklärung, die den Kampf gegen das „militaristische Deutschland“ nun als notwendig und den englischen Kriegseintritt als „Verteidigungskrieg, ein Krieg für Freiheit und Frieden“ deklarierte. Während einige Physiker, wie J. Stark, dankbar gegen England polemisierten („überflüssige Engländerei“), versuchte M. Planck mit den englischen Kollegen Kontakt zu halten und auszugleichen (Wolff 2001, S.15). Der Physiker W. Wien hingegen entwarf eine „Aufforderung“ an 21 prominente Kollegen, meist Lehrstuhlinhaber, das Zitieren englischer Kollegen einzuschränken, nicht in englischen Zeitschriften und nur in deutscher Sprache zu publizieren (Wolff 2001, S.17).

Nun ging es auch um die Vorherrschaft in der Wissenschaft. Der Historiker S. Wolff folgerte: „Im einzelnen ging es darum, den deutschen Physikern im Wettbewerb mit England Prestige und gesellschaftliche Anerkennung zu sichern.“ (Wolff 2001, S.34) Die wissenschaftliche Gemeinschaft zerfiel in kurzer Zeit in verfeindete Lager. Der US-Physiker M. Pupin schrieb an den Astronomen G.E. Hale: „Wissenschaft ist der höchste Ausdruck einer Zivilisation. Die Wissenschaft der Alliierten unterscheidet sich daher grundlegend von der Wissenschaft der Teutonen.“ (Cornwell 2003, S.59) Die anderen Kriegsmächte standen der deutschen Polemik und Hetze kaum nach. Die französischen Akademien machten ebenso mobil wie die Royal Society. Der Philosoph H. Bergson sagte bereits am 8. August 1914 auf der Sitzung der Académie des Sciences Morales et Politique: „Der engagierte Kampf gegen Deutschland ist gleichermaßen ein Kampf der Zivilisation gegen die Barbarei.“ (von Ungern-Sternberg 1996, S.55) Nach dem ersten deutschen Giftgasangriff im April 1915 schlossen die französischen und belgischen Akademien deutsche Mitglieder aus. Die Berliner Akademie stimmte mit knapper Stimmenmehrheit gegen eine Vergeltung. Auch in der Royal Society konnten sich die Scharfmacher nicht durchsetzen. Hermann Hesse kommentierte dennoch scharfsichtig, dass nun „der Krieg in die Studierstuben“ getragen worden sei. Die Wissenschaftler begannen, ihr Wissen dem Militär aktiv zur Verfügung zu stellen: „Der Krieg wurde nun zu einem Wettstreit der Köpfe genauso wie der Maschinen.“ (MacLeod 2014) Die Royal Society in London und die Académie des Sciences in Paris gründeten in verschiedenen Fachbereichen »War Committees«, um symbolisch ihre Unterstützung zu zeigen und die Kriegsforschung aufzunehmen.

»Soldaten der Wissenschaft« und »kriegsphysikalische Arbeiten«

Das kaiserliche Deutschland setzte nach Kriegsbeginn zunächst auf seine industrielle Stärke und gab der Kriegsproduktion den Vorrang. In der Folge wurden zunehmend Ingenieure und Chemiker in die industrielle Kriegsproduktion einbezogen. Aber auch zahlreiche Physiker beteiligten sich aktiv an konkreten Projekten. Insbesondere der erstarrte Stellungskrieg veranlasste manche berühmte Köpfe, dem Militär neue Ideen und Technologien zu präsentieren. Ein bekanntes Beispiel ist F. Haber, der zunächst mit dem Haber-Bosch-Verfahren die Herstellung von Ammoniak für Kunstdünger und Sprengstoff ermöglichte und schließlich mit der Herstellung und dem Einsatz der tödlichen Kampfgase Phosgen und Chlor im Jahre 1915 den Gaskrieg etablierte (Walker 2014). Haber (privat ein enger Freund des Pazifisten Einstein) machte aus seiner patriotischen Gesinnung keinen Hehl: „Der Gelehrte gehört im Kriege wie jedermann dem Vaterland, im Frieden aber gehört er der Menschheit.“ (Kammasch 2009, S.1).

Fritz Habers Gruppe war direkt am Kaiser-Wilhelm-Institut für Physikalische Chemie in Berlin angesiedelt, das zu einer „Gaskampfforschungsanstalt“ umfunktioniert wurde (Rasch 1991). Dort wurden u.a. Giftgas und Gasmasken entwickelt und getestet. Beim Chlorgaseinsatz in Ypern waren neben Haber auch die jungen Wissenschaftler O. Hahn und J. Franck beteiligt. Zu den Berliner Wissenschaftlern gehörten auch G. Hertz, H. Geiger und W. Westphal. Lise Meitner war als Röntgenschwester im Kriegseinsatz.

Der Physikochemiker W. Nernst, Initiator der bis heute durchgeführten Solvay-Konferenzen für Physik und Chemie, posierte noch 1913 mit E. Rutherford und J.J. Thomson für ein gemeinsames Photo. Nach Kriegsbeginn stellte er begeistert sein Automobil zu Verfügung, meldete sich als 50-Jähriger freiwillig zum Kriegsdienst (Bartel 2014) und nahm als Meldefahrer des Kaiserlichen Freiwilligen Automobil-Corps am Vormarsch auf Paris und an der Marne-Schlacht teil. Der preußische Kriegsminister von Falkenhayn hatte angesichts des Stellungskriegs neue offensive Chemiewaffen und Reizstoffe gefordert, um den Gegner kampfunfähig zu machen. Zur Lösung des Problems wurde Nernst im Oktober1914 der Artillerieprüfkommission und später dem Minenwerfer-Bataillon I zugeordnet. Nernst stellte den Kontakt zu C. Duisberg her, dem Generaldirektor der F. Bayer & Co. aus Leverkusen, und unternahm Schießversuche in Köln-Wahn. Das Ergebnis der »Nernst-Duisberg-Kommission« war eine Granate mit einer so genannten Ni-Pulvermischung, die Augen und Atemwege reizte. Sie wurde am 27. Oktober 1914 in Neuve-Chapelle eingesetzt (Details siehe Bartel 2014). Aufgrund des ausbleibenden Erfolges wurden die Chemiker E. Fischer und F. Haber einbezogen, und Falkenhayn forderte Chemiewaffen mit anhaltender und tödlicher Wirkung. Nernst arbeitete nun an der Prüfung von ballistischen Geschossen, Gasgranaten und pneumatischen Minenwerfern und nahm am Gaskrieg in leitender Stellung teil. Ab 1916 bemühte er sich erfolglos um eine Kriegsbeendigung. Er verlor zwei seiner Söhne im Krieg. Einstein attestierte in seinem Nachruf, Nernst sei weder ein Nationalist noch ein Militarist gewesen (Bartel 2014:53).

R. Ladenburg machte im Rahmen der Artillerieprüfkommission den Vorschlag, in Berlin eine Gruppe von Physikern zur Schallortung gegnerischer Artillerie einzurichten, zu der später M. Born, A. Landé, F. Reiche und E. Madelung stießen. Mittels optischer, akustischer und seismischer Messungen sollte die Position eines feuernden Geschützes bestimmt werden (Details siehe Schirrmacher 2014, S.44).

In Göttingen wurde der Physiker L. Prandtl bereits 1909 Leiter der Aerodynamischen Versuchsanstalt, die sich mit Strömungsforschung beschäftigte. Sie wurde zum »Forschungsinstitut für Heer und Marine« umgewandelt und beschäftigte sich neben ballistischen Experimenten u.a. mit dem Abwurf von Bomben aus Flugzeugen. Für Studenten und Wissenschaftler war hier die Möglichkeit gegeben, dem Fronteinsatz zu entkommen und weiter Wissenschaft zu betreiben (Schirrmacher 2014, S.45). Einige Wissenschaftler habilitierten sich während der Kriegszeit. M. Born wird die Aussage zugeschrieben, dass „die Physik nicht für den Krieg arbeiten muss, sondern der Krieg muss für die Physik arbeiten“. Zusätzliche Gelder und Unterstützung für die Physik waren also willkommen.

Um eine zentrale Instanz für die deutsche Kriegsforschung zu etablieren, wurde bereits 1911 die Kaiser-Wilhelm-Stiftung für kriegstechnische Wissenschaft gegründet, die mit einer Privatspende des jüdischen Bankiers L. Koppel zustande kam (Details Rasch 1991) Die Gemeinschaftsinitiative der chemischen Industrie, einiger Bürokraten, der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft und Fritz Habers etablierte Ende 1916 sechs Fachausschüsse mit prominenten Leitern aus den Naturwissenschaften: E. Fischer (Rohstoffe), W. Nernst (Ballistik, Telegraphie), F. Haber (Spreng- und Kampfstoffe). Drei weitere technische Ausschüsse widmeten sich dem „Landverkehr, der Luftfahrt und dem Metall“. A. Sommerfeld arbeitete u.a. an der Kreiseltheorie und „günstigen Antennenformen“, A. Wehnelt an „drahtloser Verständigung in Schützengräben“ (Schirrmacher 2014).

Physiker an der Front: Erdtelegraphie, Schallortung im Schützengraben und der Tod

Die anfängliche Kriegsbegeisterung erfasste auch junge Studenten und Professoren. M. Born, der bei J.J. Thomson studiert hatte und gerade eine Professur an der Berliner Universität erhalten hatte, schrieb im November 1914 an seinen Freund R. Ladenburg: „Wie jämmerlich komme ich mir vor, der ich noch immer zu Hause sitze. Ich denke mir, es muss doch noch ein anderes, stolzes Gefühl sein, als wissenschaftliche Entdeckungen zu machen, wenn man durch einen kühnen Ritt der Armee einen Dienst leistet.“ (Schirrmacher 2014, S.43) Der »Physikerrekrut« Born war als Asthmatiker nicht fronttauglich und stieß zur Gruppe von M. Wien, einem Spezialisten für Hochfrequenztechnik. W. Gerlach, der im April 1916 habilitiert wurde, kam ebenfalls zu den Funktruppen und entwickelte zusammen mit dem im Krieg verwundeten G. Hertz Funk- und Radiogeräte. Er kämpfte in Flandern, im Artois und in der Champagne. Der Göttinger Mathematiker R. Courant kämpfte in Belgien. Die Hälfte seiner Kameraden starben bei einem Angriff der Engländer, als die Funkverbindung zum Hinterland abbrach – es wird angenommen, dass rund 20 Prozent des deutschen Physikernachwuchses im Krieg an der Front starben. Nach einer Verwundung aus dem Kriegsdienst entlassen, begann Courant in Göttingen an der so genannten Erdtelegraphie zu arbeiten. Er rekrutierte C. Runge, P. Debye und P. Scherer, die das Verfahren an der Front ausprobierten. Es kam bei der Schlacht an der Somme zum Einsatz.

In Frankreich, das durch den deutschen Angriff wichtige Industrieanlagen verloren hatte, begannen die Pariser Laboratorien ihre Kriegsarbeiten zu koordinieren. Ab 1915 wurden Absolventen der naturwissenschaftlichen Studiengänge von der Front abgezogen und in der Munitionsproduktion beschäftigt (MacLeod 2009). Schon der Untergang der Titanic 1912 hatte Wissenschaftler weltweit animiert, an der Seekommunikation und der Unterwasserortung zu arbeiten. M. de Broglie arbeitete für die Marine an drahtloser Nachrichtenübertragung und sein Bruder L. als Nachrichtenoffizier in der telegraphischen Station auf dem Eiffelturm. Insbesondere das Aufkommen der U-Boote ab 1905 machte diese Verfahren auch attraktiv für die Seekriegführung. Der französische Physiker P. Langevin entwickelte mit C. Chilowsky 1916 das erste Echolot für die französische Marine, fußend auf der Pieoelektrizität. Der Mathematiker P. Painlevé, der dem Kabinett Briand angehörte, gründete in Toulon die »Direction des inventions«, die von J. Perrin geleitet wurde. In der Folge entwickelte man Hydrophone zur Unterwasserortung (Juhel 2005).

Dabei kam es zu einer intensiven Zusammenarbeit mit den englischen Alliierten. Anders als Deutschland präferierte die britische Regierung von Kriegsbeginn an die Einbindung der Wissenschaft in die Kriegsforschung. Die Admiralität gründete das Board of Inventions and Research, das von W. Bragg geleitet wurde und dem auch E. Rutherford angehörte. 1916 wurde für die naturwissenschaftliche Grundlagen- und Industrieforschung das Department of Scientific and Industrial Research geschaffen. Premier Llyod George leitete die Gründung des Allied Submarine Detection Investigation Committee ein (Juhel 2005).Das War Office vergab Verträge auch an britische Universitäten. Nach MacLeod (2009, S.42) arbeitete die Hälfte aller zivil beschäftigten britischen Wissenschaftler an kriegsrelevanten Projekten, und er folgert: „Großbritannien wurde zu einem gigantischen militärisch-akademisch-industriellen Komplex.“ 1918 hob der Munitionsminister Winston Churchill ausdrücklich den Beitrag der Wissenschaftler hervor. Er sollte dies im Zweiten Weltkrieg erneut aufgreifen.

Obgleich die Vereinigten Staaten erst am 6. April 1917 offiziell in den Krieg eintraten, wurde die US-Wissenschaft aufgrund des U-Boot Krieges schon frühzeitig für Kriegszwecke mobilisiert. Es wurden das War Industries Board und der National Research Council geschaffen. Als der britische Passagierdampfer Lusitania im Mai 1915 durch ein U-Boot der kaiserlichen Marine versenkt wurde, beauftragte Marineminister Daniels den berühmten Th. Edison, die „schärfsten und einfallsreichsten Köpfe“ zusammenzubringen, um eine Verteidigungsmöglichkeit gegen U-Boote auszuarbeiten. Der Astrophysiker G.E. Hale bot US-Präsident Wilson die Hilfe der National Academy of Science an. Ihm ging es im Wesentlichen darum, die seiner Ansicht nach in den USA recht unterentwickelte physikalische Forschung zu beschleunigen. Berühmte Wissenschaftler wie K. Compton, J. Conant und A. Trowbridge forcierten mit eigenen Beiträgen die alliierte Zusammenarbeit. Bemerkenswert ist die Reise einer Gruppe von US-Wissenschaftlern in das kriegsgeschüttelte Europa. Sie trafen nicht nur alliierte Kollegen, sondern besuchten auch die Front. Der Physiker J. Ames hebt in seinem Bericht »Science at the Front« hervor, es gäbe keinen Bereich der Wissenschaft, der nicht für den Krieg nutzbar gemacht wurde (Ames 1918, S.93). Kevles zufolge erbrachten diese Arbeiten erstmalig eine „beispiellose und fruchtbare Zusammenarbeit“ zwischen Wissenschaftlern aus Universitäten und der amerikanischen Industrie mit dem Militär. Er resümiert: „Die Wissenschaftler des Rates entwickelten unzählige Waffen, Geräte und Technologien für das Militär.“ (Kevles 1968, S.431) Der Waffenstillstand 1918 enttäuschte die Wissenschaftler fast etwas, denn so konnten sie nicht mehr zeigen, wie wichtig die US-Wissenschaft für den Krieg sein könnte.

Nach Kriegsende wurden deutsche Wissenschaftler zehn Jahre lang von internationalen Tagungen ausgeschlossen. Auf englisches und französisches Betreiben wurden die deutschen Akademien für mehrere Jahre boykottiert (von Ungern-Sternberg 1996, S.97). Die Wissenschaftssprache Deutsch wurde durch das Englische ersetzt. Damit gehörte die deutsche Wissenschaft ebenfalls zu den Verlierern des Ersten Weltkriegs.

Die Wissenschaft nach dem Krieg: Ächtung – und Fortsetzung folgt

Der »Große Krieg« brachte eine bisher nicht gekannte Mobilisierung und damit Militarisierung der gerade entstehenden modernen Wissenschaft mit sich. Die Wissenschaftler hatten vielfältige Motive, sich an den Kriegsanstrengungen zu beteiligen: Patriotismus und Nationalismus, das Einbringen eigener Fähigkeiten in den Krieg oder die Flucht vor dem Einsatz an der Front, politische Naivität und der Versuch, zusätzliche Forschungsmittel zu bekommen. Bemerkenswert ist, dass manche Initiativen im Rahmen patriotischer Pflichterfüllung von Wissenschaftlern selbst ausgegangen sind, denn das Militär war zunächst an den Wissenschaftlern nicht sehr interessiert.

Der Erste Weltkrieg gilt als erster moderner industrieller Krieg, in dem Grundlagen- und angewandte Forschung eine größere Rolle spielten als je zuvor. Insbesondere bei der Kommunikation, der Schallortung, der Ballistik, aber auch bei der Munition, der medizinischen Versorgung und der Industrieproduktion kamen neue Erkenntnisse zur Anwendung. Die Nutzung der Kenntnisse ziviler Wissenschaftler für den Krieg hat die Kriegsführung verändert, den Krieg aber eher verlängert und fürchterlicher gemacht (MacLeod 2014, S.3). Herfried Münkler resümiert: „Der Erste Weltkrieg war der Brutkasten, in dem fast alle Technologien, Strategien und Ideologien entwickelt wurden, die sich seitdem im Arsenal politischer Akteure befinden.“ (Münkler 1913, S.9)

Damit wurde insbesondere in den USA, Großbritannien und Deutschland die Grundlage für die weitere Zusammenarbeit von Wissenschaft, Industrie und Militär gelegt, der im Zweiten Weltkrieg in Form von Großprojekten (Atomwaffenentwicklung im Manhattan-Projekt, Raketenentwicklung in Peenemünde, Kryptographie etc.) eine noch weitaus größere Bedeutung zukommen sollte. Der Erste Weltkrieg wird daher auch als Präludium zum Zweiten Weltkrieg gesehen, der das Ausmaß an Zerstörung und Leid ins Unermeßliche steigern sollte. Wissenschaft und Technik, insbesondere die Physik, sollten daran entscheidenden Anteil haben. (Neuneck 2011)

Literatur

Joseph S. Ames: Science at the Front. The Atlantic Monthly, January 1918, S.90-100.

Lawrence Badash: British and American Views of the German Menace in World War One. Notes and Records of the Royal Society of London, Vol. 34, No. 1, July 1979, S.91-121.

Hans-Georg Bartel: Ein Geheimrat im Militärdienst. Walther Nernst im Spannungsfeld von Kriegsforschung und Friedensbemühungen – aus Anlass seines 150. Geburtstags am 25. Juni 2014. Physik Journal 13 (2014), Nr.7, S.49.

John Cornwell (2003): Hitler’s Scientists. Science, War, and the Devil’s Pact. New York: Viking.

Rudolf Heinrich und Hans-Reinhard Bachmann (Hrsg.) (1989): Walter Gerlach. Physiker – Lehrer – Organisator. Dokumente aus seinem Nachlaß. München: Deutsches Museum.

Pierre Juhel (2005): Histoire de L’Acoustique Sous-Marine. Paris: Vuibert.

Daniel J. Kevles (1977): The Physicists. The History of a Scientific Community in Modern America: Cambridge/Mass.: Harvard University Press.

Daniel J. Kevles: George Ellery Hale, the First World War, and the Advancement of Science in America, ISIS, Vol. 59, No. 4, Winter 1968, S.427-437.

Roy MacLeod: The Scientists Go to War. Revisiting Precept and Practice, 1914-1919. Journal of War and Culture Studies, 2(1), 2009, S.37-51.

Roy MacLeod: Mobilmachung der Forscher. Physik Journal 13 (2014) Nr. 7, S.3.

Herfried Münkler (2013): Der Grosse Krieg. Die Welt 1914-1918. Berlin: Rowohlt.

Otto Nathan, Heinz Norden (Hrsg.) (2004): Frieden – Weltordnung oder Weltuntergang. Dokumentation aller erreichbaren und erhalten gebliebenen Schriften Einsteins zum Thema Frieden und Abschaffung des Krieges. Köln: Parkland Verlag.

Götz Neuneck: Frieden und Naturwissenschaft. In: Hans J. Gießmann und Bernhard Rinke (Hrsg.) (2011): Handbuch Frieden. Wiesbaden:VS Verlag für Sozialwissenschaften, S.459-474.

Manfred Rasch: Wissenschaft und Militär. Die Kaiser Wilhelm Stiftung für kriegstechnische Wissenschaft. In: Militärgeschichtliche Mitteilungen Nr.49, 1991, Militärgeschichtliches Forschungsamt, S.73-120.

Arne Schirrmacher: Die Physik im Großen Krieg. Physik Journal 13 (2014) Nr. 7, S.43.

Rüdiger vom Bruch (2006): Geistige Kriegspropaganda. Der Aufruf von Wissenschaftlern und Künstlern an die Kulturwelt. In: Clio Online – Themenportal Europäische Geschichte.

Rüdiger vom Bruch: Professoren als Kriegstreiber. Der Tagespiegel, 4. Juni 2014.

Jürgen von Ungern-Sternberg und Wolfgang von Ungern-Sternberg (1996): Der Aufruf an die Kulturwelt! Das Manifest der 93 und die Anfänge der Kriegspropaganda im Ersten Weltkrieg. Stuttgart: Franz-Steiner Verlag, Historische Mitteilungen – Beiheft Bd. 18.

Paul F. Walker: Chemiewaffen – Vom Ersten Weltkrieg zur weltweiten Abschaffung. W&F 1-2013, S.30-32.

Stefan L. Wolff (2001): Physiker im »Krieg der Geister«. München: Deutsches Museum, Arbeitspapier, Münchner Zentrum für Wissenschafts- und Technikgeschichte.

Prof. Dr. Götz Neuneck ist Leiter der Interdisziplinären Forschungsgruppe Abrüstung, Rüstungskontrolle und Risikotechnologien am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg.

Pazifismus vor 1914

Pazifismus vor 1914

Die Vorläufer der Zukunft als Quelle der Inspiration

von Peter van den Dungen

Der folgende Text ist ein Auszug aus einem Referat, das der Autor bei der 11. Strategiekonferenz der Kooperation für den Frieden, «1914-2014: 100 Jahre Krieg, 100 Jahre Pazifismus und Friedensbewegung«, im Februar 2014 hielt. In seinem Referat fokussierte er vor allem darauf, wie und mit welchen Themen die Friedensbewegung die zahlreichen Gedenkveranstaltungen in Europa und der übrigen Welt nutzen könne, um für ihre Agenda zu werben und diese voranzubringen. Die Dokumentation der Strategiekonferenz steht unter koop-frieden.de.

Bisher wurde weitgehend ignoriert, dass es eine Antikriegs- und Friedensbewegung schon vor 1914 gab. Die Friedensbewegung setzte sich damals zusammen aus Individuen, anderen politischen und sozialen Bewegungen sowie Organisationen und Institutionen, die die vorherrschenden Ansichten über Krieg und Frieden nicht teilten. Sie strebten ein System an, in dem Krieg kein akzeptables Instrument zur Lösung von Konflikten zwischen Staaten mehr ist.

Eigentlich begehen wir 2014 nicht nur den 100. Jahrestag des Beginns des Ersten Weltkrieges, sondern auch den 200. der Friedensbewegung. Mit anderen Worten: Schon 100 Jahre vor Kriegsbeginn hatte sich die Friedensbewegung dafür eingesetzt, die Menschen über die Gefahren und Leiden des Kriegs aufzuklären und ihnen die Vorteile und Möglichkeiten des Friedens vor Augen zu führen. In ihrem ersten Jahrhundert, vom Ende der Napoleonischen Kriege bis zum Ersten Weltkrieg, war die Friedensbewegung – anders als gemeinhin behauptet – durchaus erfolgreich. Zwar konnte sie die Katastrophe des »Großen Krieges« nicht abwenden, das mindert aber in keinster Weise ihre Bedeutung und ihre Verdienste. Bislang wurde dieses 200. Jubiläum nirgendwo erwähnt – als hätte die Bewegung gar nicht existiert oder verdiene es nicht, ihrer zu gedenken.

Die Friedensbewegung entstand in der Zeit unmittelbar nach den Napoleonischen Kriegen, sowohl in Großbritannien, als auch in den USA. Die Bewegung verbreitete sich nach und nach über ganz Europa und darüber hinaus. Sie legte den Grundstein für viele Institutionen und Innovationen der internationalen Diplomatie, die sich erst später im Jahrhundert, teilweise erst nach dem Ersten Weltkrieg, entfalten konnten, darunter die Idee von Schiedsgerichtsverfahren als gerechtere und rationalere Alternative zur brachialen Gewalt. Weitere Vorschläge der Friedensbewegung waren Abrüstung, föderale Union, Europäische Union, Völkerrecht, internationale Organisationen, Dekolonisierung und Frauenemanzipation. Viele dieser Vorschläge wurden im Nachgang der beiden Weltkriege im 20. Jahrhundert wieder aufgegriffen, und manche wurden auch verwirklicht, zumindest zum Teil.

Philanthrop Andrew Carnegie

Die Friedensbewegung war in den zwei Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg besonders produktiv, als ihre Agenda auf höchster Regierungsebene aufgegriffen wurde, was u.a. zu den Haager Friedenskonferenzen von 1899 und 1907 führte. Diesen beispiellosen Konferenzen war der Appell Zar Nikolaus’ II. vorausgegangen, das Wettrüsten zu stoppen und den Krieg durch friedliche Schlichtung zu ersetzen. Als direktes Ergebnis der Konferenzen wurde 1913 in Den Haag der Friedenspalast eröffnet, der seit 1946 Sitz des Internationalen Gerichtshofes der Vereinten Nationen ist. Den Friedenspalast verdankt die Welt der Großzügigkeit von Andrew Carnegie, dem schottisch-amerikanischen Stahlmagnaten, der zum Pionier der modernen Philanthropie wurde und leidenschaftlicher Gegner des Krieges war. Wie kein anderer unterstütze er großzügig Institutionen, die sich dem Streben nach Weltfrieden widmeten – viele von ihnen existieren bis heute.

Während der Friedenspalast mit dem Internationalen Gerichtshof seine wichtige Aufgabe, nämlich den Krieg durch den Rechtsweg zu ersetzen, weiterhin treu erfüllt, hat sich Carnegies großzügigstes Vermächtnis für den Frieden, die Stiftung »Carnegie Endowment for International Peace«, ausdrücklich vom Credo seines Gründers, der Abschaffung des Krieges, abgewandt. Dadurch wurde die Friedensbewegung um dringend benötigte Finanzmittel gebracht. Das ist vielleicht eine Erklärung dafür, dass die Bewegung nie zu einer Massenbewegung wurde, die wirksamen Druck auf Regierungen ausüben kann. Es lohnt sich, kurz darüber nachzudenken: Im Jahr 1910 gründete Carnegie, damals der berühmteste Friedensaktivist der USA und der reichste Mann der Welt, seine Friedensstiftung und stattete sie mit zehn Millionen US$ aus. Diese Summe entspricht heute 3,5 Milliarden US$. Stellen Sie sich mal vor, wie die Friedensbewegung bzw. die Bewegung für die Abschaffung des Krieges heute aussehen würde, wenn sie Zugang zu einer solchen Summe gehabt hätte, oder auch nur zu einem Bruchteil davon. Carnegie wollte mit seiner Stiftung eine Interessensvertretung und Aktivismus fördern, die Treuhänder seiner Stiftung legten den Schwerpunkt aber leider auf die Forschung. Schon 1916, mitten im Ersten Weltkrieg, schlug einer der Treuhänder sogar vor, die Stiftung in »Carnegie Endowment for International Justice« umzubenennen.

Als die Stiftung kürzlich ihr 100. Jubiläum feierte, sprach die Stiftungspräsidentin, Jessica T. Mathews, vom „ältesten Think-Tank für internationale Angelegenheiten in den USA“. Ziel der Stiftung sei es in den Worten ihres Gründers, „die Abschaffung des Krieges, des widerlichsten Schandflecks unserer Zivilisation, zu beschleunigen“. Dann fügte sie aber hinzu: „[D]ieses Ziel war schon immer unerreichbar“.1 Eigentlich wiederholte sie damit nur das, was der damalige Stiftungspräsident in den 1950er und 1960er Jahren bereits sagte. Ein kürzlich von der Stiftung selbst veröffentlichter historischer Rückblick auf die Stiftungstätigkeit beschreibt, dass Joseph E. Johnson, zuvor Beamter im US-Außenministerium, als Präsident „den Schwerpunkt der Stiftung verschob, weg von ihrer unbeirrbaren Unterstützung für die Vereinten Nationen und weitere internationale Instanzen“. Weiter heißt es dort: „[…] zum ersten Mal bezeichnete ein Präsident des Carnegie Endowment die Friedensvision Andrew Carnegies mehr als Artefakt eines vergangenen Zeitalters denn als Inspiration für die Gegenwart. Jede Hoffnung auf dauerhaften Frieden sei eine Illusion“.2 Der Erste Weltkrieg zwang Carnegie zwar, seinen optimistischen Glauben zu überdenken, dass der Krieg „in naher Zeit als für den zivilisierten Menschen beschämend verworfen“ werden würde, es ist aber kaum anzunehmen, dass er die Vision der Abschaffung des Krieges komplett aufgab. Enthusiastisch unterstützte er US-Präsident Woodrow Wilsons Konzept für eine internationale Organisation und war hocherfreut, als der Präsident den von ihm vorgeschlagenen Namen »Völkerbund« akzeptierte. Er war voll Hoffnung, als er 1919 starb. Was würde er heute wohl über diejenigen sagen, die seine großartige Friedensstiftung auf einen ganz anderen Weg brachten, weit entfernt von seiner Hoffnung und seiner Überzeugung, dass der Krieg abgeschafft werden kann und muss? Und die damit auch der Friedensbewegung entscheidende Mittel für die Verwirklichung ihres großen Ziels entzogen haben? UN-Generalsekretär Ban Ki-moon hat Recht, wenn er immer wieder betont: „Die Welt ist überbewaffnet, und der Frieden ist unterfinanziert.“ Der weltweite Aktionstag gegen Militärausgaben, der ursprünglich vom Internationalen Friedensbüro vorgeschlagen wurde und am 14. April dieses Jahres zum vierten Mal begangen wird, beschäftigt sich genau mit dieser Thematik.3

Bertha von Suttner und Alfred Nobel

Ein weiteres Vermächtnis der internationalen Friedensbewegung aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg ist mit dem Namen eines erfolgreichen Geschäftsmannes, Friedensaktivisten und Philanthropen verbunden, der zugleich ein bemerkenswerter Wissenschaftler war: der schwedische Erfinder Alfred Nobel. Der Friedensnobelpreis, erstmals verliehen im Jahr 1901, ist vor allem seiner engen Zusammenarbeit mit Bertha von Suttner zu verdanken. Die österreichische Baronin war sogar einmal seine Sekretärin in Paris – allerdings nur eine Woche lang.

Von Suttner wurde, als 1889 ihr Bestseller »Die Waffen nieder!« erschien, zur unangefochtenen Anführerin der Friedensbewegung. Sie blieb es bis zu ihrem Tod 25 Jahre später, am 21. Juni 1914, eine Woche vor den Schüssen von Sarajevo. Dieses Jahr gedenken wir ihres hundertsten Todestages und des 125. Jahrestages der Veröffentlichung ihres berühmten Romans. Lew Tolstoi. Autor des Romans »Krieg und Frieden«, schrieb ihr im Oktober 1891: „Ich schätze ihr Werk sehr hoch, und ich glaube, dass die Veröffentlichung Ihres Romans ein glückliches Vorzeichen ist. Die Abschaffung der Sklaverei wurde durch das berühmte Buch einer Frau, Mme. Beecher-Stowe, vorbereitet. Gebe Gott, dass die Abschaffung des Krieges durch das Ihre bewirkt wird!“.4 Keine Frau hat wohl mehr zur Verhinderung von Krieg getan als Bertha von Suttner.5

Man kann wohl behaupten, dass »Die Waffen nieder!« das Buch hinter der Stiftung des Friedensnobelpreises ist. Bertha von Suttner wurde selbst im Jahr 1905 als erste Frau mit dem Preis ausgezeichnet. Dieser Preis war im Wesentlichen ein Preis für die gesamte Friedensbewegung, wie sie von Bertha von Suttner vertreten wurde. Dass der Friedensnobelpreis in Zukunft wieder für entsprechende Aktivitäten und für Abrüstung vergeben wird, dafür setzt sich seit Jahren nachdrücklich der norwegische Rechtsanwalt und Friedensaktivist Fredrik Heffermehl ein.6

Weitsichtige Prognosen: Norman Angell und Jan Bloch

Einige führende Köpfe der Friedenskampagnen aus der Zeit vor 1914 versuchten alles Menschenmögliche, um ihre Mitbürger vor der Gefahr eines künftigen Weltkrieges zu warnen, und drängten darauf, dass dieser um jeden Preis verhindert werden müsse. Der britische Journalist Norman Angell argumentierte in seinem 1910 erschienenen Bestseller»The Great Illusion. A Study of the Relation of Military Power in Nations to their Economic and Social Advantage «,7 aufgrund der komplexen ökonomischen und finanziellen Verflechtungen sei Krieg zwischen den kapitalistischen Staaten irrational und kontraproduktiv, er würde zu großen wirtschaftlichen und sozialen Umbrüchen führen. Sowohl während als auch nach dem Krieg war »Desillusionierung« das vorherrschende Gefühl bezüglich des Krieges – eine klare Bestätigung für Angells These. Die Art der Kriegsführung und die Konsequenzen des Krieges unterschieden sich deutlich von dem, was allgemein erwartet worden war, nämlich ein »war as usual«. Dies spiegelte sich im kurz nach Kriegsbeginn beliebten Spruch wider: „Bis Weihnachten sind die Jungs wieder aus den Schützengräben und zu Hause.“ Gemeint war natürlich Weihnachten 1914. Es kam aber anders: Diejenigen, die die Massenschlächtereien überlebten, kamen erst vier Jahre später tatsächlich nach Hause zurück.

Einer der Hauptgründe für die Fehleinschätzungen und falschen Vorstellungen über den Krieg war die mangelnde Vorstellungskraft derjenigen, die den Krieg planten und führten.8 Sie sahen nicht voraus, dass durch die Fortschritte in der Waffentechnik – insbesondere die Erhöhung der Feuerkraft durch das Maschinengewehr – traditionelle Infanteriegefechte hinfällig und Geländegewinne auf dem Schlachtfeld dadurch fast unmöglich wurden. Vielmehr verschanzten sich die Truppen in Schützengräben, es kam zum Patt. Wie Krieg sich zum industrialisierten Massenmord entwickelte, wurde erst im Verlauf des Krieges erkannt (und selbst dann lernten die Feldherren nur langsam, wie im Falle des britischen Oberbefehlshabers, General Douglas Haig, gut dokumentiert ist).

Dabei hatte der polnisch-russische Unternehmer und Pionier der modernen Friedensforschung, Jan Bloch (auch Johann von Bloch, 1836-1902), bereits im Jahr 1898, also schon 15 Jahre vor Beginn des Ersten Weltkrieges, in seiner prophetischen sechsbändigen Studie über den Krieg der Zukunft erklärt, dass dieser Krieg vollkommen anders sein würde. „Vom nächsten großen Krieg kann man als von einem Rendez-vous des Todes sprechen!“, schrieb er im Vorwort zur deutschen Ausgabe seines Mammutwerks »Der Krieg«.9 Er begründete und bewies, warum ein solcher Krieg „unmöglich“ geworden sei – unmöglich, es sei denn um den Preis des Selbstmords. Und als genau das erwies sich der Krieg dann auch: als Selbstmord der europäischen Zivilisation, der zum Zerfall des Österreichisch-Ungarischen, des Osmanischen, des Romanovschen und des Wilhelminischen Reiches führte. Das Kriegsende brachte auch das Ende der Welt, die die Menschen bis dahin kannten. Das brachte der Titel der erschütternden Memoiren eines Autors, der „über dem Kampf stand“, auf den Punkt: Stefan Zweigs »Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers« (postum 1942 in Stockholm erschienen).

Diese Pazifisten, (zu denen Zweig gehörte, auch wenn er sich nie aktiv an der Friedensbewegung beteiligte), die die Zerstörung ihrer Länder durch einen Krieg verhindern wollten, waren echte Patrioten. Sie wurden aber häufig verhöhnt und als naive Idealisten, Utopisten, Feiglinge und sogar Verräter abgestempelt. Das waren sie aber keineswegs. Zu Recht nannte Sandi E. Cooper ihre Studie zur Friedensbewegung vor dem Ersten Weltkrieg »Patriotic Pacifism: Waging War on War in Europe, 1815-1914« (1991, Oxford University Press). Hätte die Welt besser zugehört, was diese Menschen zu sagen hatten, wäre die große Katastrophe vermutlich vermeidbar gewesen. Karl Holl, der Doyen der deutschen Friedenshistoriker, beschrieb das im Vorwort zu seinem grandiosen Handbuch über die Friedensbewegung im deutschsprachigen Europa so: „[…] den Skeptikern mag manche Information über die historische Friedensbewegung vor Augen führen, wieviel Leid Europa erspart geblieben wäre, wären die Warnungen der Pazifisten auf weniger taube Ohren gestoßen und hätten praktische Initiativen und Vorschläge des organisierten Pazifismus Eingang in die offizielle Politik und Diplomatie gefunden“.10

Die Vorläufer der Zukunft als Quelle der Inspiration

Wenn einerseits, wie Holl wohl zu Recht behauptet, die Erkenntnis über die Existenz und die Arbeit der organisierten Friedensbewegung vor dem Ersten Weltkrieg deren Kritiker mit einem gewissen Maß an Demut erfüllen sollte, so sollte sie zugleich den heutigen Nachfolgern dieser Bewegung als Ermutigung dienen. Um noch einmal Holl zu zitieren: „Die Gewissheit, auf den Schultern von Vorgängern zu stehen, die ungeachtet der Feindseligkeit oder der Gleichgültigkeit ihrer Zeitgenossen unbeirrbar an ihrer pazifistischen Überzeugung festhielten, mag die Friedensbewegung von heute manche Anfechtung von Mutlosigkeit besser bestehen lassen.“ 11 Doch diesen „Vorläufern der Zukunft“ (wie es Romain Rolland treffend ausdrückte) wurde nie der ihnen gebührenden Respekt zuteil. Wir erinnern uns nicht an sie; sie sind nicht Teil unserer Geschichte, wie sie in den Lehrbüchern steht; es gibt keine Denkmäler für sie, und es sind auch keine Straßen nach ihnen benannt. Was für eine einseitige Sicht auf Geschichte vermitteln wir den nächsten Generationen! Es ist hauptsächlich den Bemühungen von Historikern wie Karl Holl und seinen Kollegen aus dem Arbeitskreis Historische Friedensforschung zu verdanken, dass in jüngerer Zeit das ganz »andere Deutschland« offengelegt wurde.

In diesem Kontext möchte ich gerne dem vom Bremer Friedenshistoriker Helmut Donat gegründeten Verlag meine Hochachtung aussprechen. Ihm ist es zu verdanken, dass wir heute über eine stetig wachsende Sammlung von Biographien und weiteren Studien über die Geschichte der deutschen Friedensbewegung aus der Zeit vor 1914 und der Zwischenkriegszeit verfügen.12

Auch anderswo, vor allem in den USA, schlossen sich Friedenshistoriker (mobilisiert durch den Vietnamkrieg) in den letzten 50 Jahren zusammen, sodass die Geschichte der Friedensbewegung zunehmend besser dokumentiert ist. So wird nicht nur die Geschichte von Krieg und Frieden präziser, ausgewogener und wahrheitsgemäßer dargestellt, sondern sie dient den heutigen Friedens- und Antikriegsaktivisten zugleich als Quelle der Inspiration. Ein Meilenstein in diesem Unterfangen ist das »Biographical Dictionary of Modern Peace Leaders«.13, das Friedenspersönlichkeiten von 1800 bis 1980 aus der ganzen Welt vorstellt.

Gedenken und Kriegsgegner ehren

Aus dem oben Gesagten ergibt sich, dass wir uns bei den Gedenkveranstaltungen zum Ersten Weltkrieg auch derjenigen erinnern und sie ehren sollten, die sich in den Jahrzehnten vor 1914 intensiv bemühten, eine Welt zu schaffen, aus der die Institution Krieg verbannt wäre. Mehr Bewusstsein und Unterricht in Friedensgeschichte sind nicht nur wünschenswert, ja, sogar unerlässlich, für Schüler, Studierende und andere junge Menschen, sondern für die Gesellschaft insgesamt. Daher darf bei den Gedenkveranstaltungen für die Kriegsopfer auf den zahllosen Schlachtfeldern Europas und weltweit die Möglichkeit zur ausgewogeneren Darstellung der Geschichte – und insbesondere zur Ehrung der Kriegsgegner – nicht fehlen.

„Niemand beging einen größeren Fehler als jener, der nichts tat, nur weil er nur wenig tun konnte“. (Edmund Burke)

Anmerkungen

1) Siehe ihr Vorwort in: David Adesnik (2011): 100 Years of Impact – Essays on the Carnegie Endowment for International Peace. Washington, D.C.: Carnegie Endowment for International Peace, S.5.

2) David Adesnik (2011), op.cit.

3) Siehe demilitarize.org.

4) Bertha von Suttner (1965): Memoiren. Bremen: Verlag C. Schünemann.

5) Siehe dazu Caroline E. Playne (1936): Bertha von Suttner and the struggle to avert the World War. London: George Allen & Unwin. Siehe insbesondere auch: Bertha von Suttner (1917): Der Kampf um die Vermeidung des Weltkriegs. Randglossen aus zwei Jahrzehnten zu den Zeitereignissen vor der Katastrophe. (1892-1900, 1907-1914). Zwei Bänder, herausgegeben von Dr. A.H. Fried. Zürich: Orell Fuessli.

6) Fredrik Heffermehl (2010): The Nobel Peace Prize: What Nobel Really Wanted. Santa Barbara, CA: Praeger-ABC-CLIO.

7) Norman Angell (1910): The Great Illusion. A Study of the Relation of Military Power in Nations to their Economic and Social Advantage. London: William Heinemann. Das Buch wurde mehr als eine Million Mal verkauft und in 25 Sprachen übersetzt. Auf deutsch erschienen 1911 unter dem Titel »Die falsche Rechnung. Was bringt der Krieg ein?«. Berlin: Vita Deutsches Verlagshaus.

8) Siehe z.B. Paul Fussell (1975): The Great War and Modern Memory. New York: Oxford University Press, S.12-13.

9) Johann von Bloch (1899): Der Krieg. Übersetzung des russischen Werkes des Autors: Der zukünftige Krieg in seiner technischen, volkswirtschaftlichen und politischen Bedeutung«. Berlin: Puttkammer und Mühlbrecht, hier Band I, S. XV; online unter archive.org/details/derkrieg05blocgoog. Siehe dazu Jürgen Scheffran: Der unmögliche Krieg. Jan Bloch und die Mechanik des Ersten Weltkriegs. W&F 2-2014, S.38-42.

10) Helmut Donat und Karl Holl (Hrsg.) (1983): Die Friedensbewegung: Organisierter Pazifismus in Deutschland, Österreich und in der Schweiz. Hermes Handlexikon. Düsseldorf: ECON Taschenbuchverlag, S.14.

11) Ibid.

12) Die Geschichte von »Donat Verlag und Antiquariat« ist interessant. Helmut Donat konnte in den 1980er Jahren keinen Verleger für seine Biographie über Hans Paasche finden – einem bemerkenswerten Marine- und Kolonialoffizier, der zu einem vehementen Kritiker der deutschen Kultur der Gewalt wurde und 1920 von nationalistischen Soldaten ermordet wurde. Also gründete Donat seinen eigenen Verlag und brachte das Buch dort heraus.

13) Harold Josephson (1985) (ed.): Biographical Dictionary of Modern Peace Leaders . Westport, Connecticut: Greenwood Pub Group.

Dr. Peter van den Dungen ist Visiting Fellow am Department of Peace Studies der University of Bradford (UK). Der Friedenshistoriker ist Gründer und seit 1992 General Coordinator ehrenhalber des International Network of Museums for Peace (inmp.net), dessen Sekretariat im Bertha-von-Suttner-Haus in Den Haag angesiedelt ist.

Engagement im Lied

Engagement im Lied

Liedermacher und die Friedensbewegung

von Jürgen Nieth

Das politische Lied ist in Deutschland seit den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts eng mit der deutschen Friedensbewegung verbunden: Singend wurde auf der Straße und von der Bühne Solidarität gefordert und postuliert; die politischen Zustände wurden kritisiert und Alternativen formuliert. Und es wurde – manchmal agitatorisch, manchmal mit eher verschlüsselten Texten – zum Nachdenken und Handeln aufgefordert. Ein Rückblick.

Parallel zu der Bewegung gegen die Wiederbewaffnung der 50er, den Ostermärschen der 60er und dem Protest gegen die »Nach«-Rüstung der 80er Jahre wurden zu allen relevanten friedens- oder gesellschaftspolitischen Themen Lieder gedichtet, vertont, umgetextet oder wieder neu entdeckt. Beispiele sind die »auf der Straße zu singenden Lieder« von Gerd Semmer, Fasia Jansen und Hannes Stütz, die »agitatorischen« Chansons von Dieter Süverkrüp, die nachdenklichen Balladen von Franz Josef Degenhardt, die (so Pressestimmen) „brachial-sinnlichen“ Songs von Konstantin Wecker. Zum Repertoire von Hannes Wader gehörten neben seinen gesellschaftskritischen Liedern auch zahlreiche Übersetzungen sowie zwischendurch vergessene antifaschistische, Arbeiter- und Revolutionslieder.

Bewegung gegen die Remilitarisierung

Die Friedensbewegung,die sich seit den frühen 50er Jahren gegen die Remilitarisierung und die Gründung der Bundewehr formte, wurde in der BRD trotz staatlicher Repression zur Massenbewegung. Zu ihren Aktionsformen gehörten Unterschriftensammlungen und Massendemonstrationen genauso wie Aktionen des Zivilen Ungehorsams. Proteste, Blockaden und Besetzungsaktionen richteten sich u.a. gegen die Nutzung Helgolands als Bombenabwurfplatz der britischen Luftwaffe, gegen Truppenübungsplätze der USA und Großbritanniens, gegen die Nutzung deutscher Häfen für Waffentransporte und gegen die Anlage von Sprengschächten an Autobahnen oder dem Loreleyfelsen.

Das Liedgut dieser Bewegung knüpfte vor allem an die 20er Jahre an. Es dominierten Lieder für eine bessere, gerechtere Gesellschaftsordnung, Lieder des spanischen Bürgerkriegs und des antifaschistischen Widerstands oder auch alte Freiheitslieder, wie »Die Gedanken sind frei«. Neue Texte und Melodien wurden von der westdeutsche Friedensbewegung (oder für sie) in dieser Zeit nicht geschrieben. Ganz anders in der DDR, wo die Künstler an die Tradition der 20er Jahre anknüpften. Kein Zufall also, dass auch das bekannteste Lied, das sich auf konkrete Protestaktionen bezieht, von einem Ostberliner geschrieben wurde.

Anlässlich einer Protestaktion an der Loreley und vor dem Hintergrund des Koreakrieges schrieb Ernst Busch 1950:

Was ist unser Leben wert,
wenn allein regiert das Schwert
und die ganze Welt zerfällt in toten Sand?
Aber dies wird nicht gescheh’n,
denn wir wolln nicht untergeh’n,
und so rufen wir durch unser deutsches Land:

Refrain:
Go home, Ami, Ami go home!
Spalte für den Frieden dein Atom!
Sag’ »good bye« dem Vater Rhein,
rühr’ nicht an sein Töchterlein,
Loreley, solang du siegst, wird Deutschland sein.

Clay und Cloy aus USA
sind für die Etappe da:
»Soll’n die German Boys verrecken in dem Sand!«
Noch sind hier die Waffen kalt,
doch der Friede wird nicht alt,
hält nicht jeder schützend über ihn die Hand!
Go home, Ami, Ami go home […]

Kampf dem Atomtod

Mit der »Ohne-mich«-Bewegung nach Einführung der Wehrpflicht und der Bewegung gegen den Atomtod bekam ein Lied der Sozialistischen Jugend aus den 20er Jahren neue Aktualität:

Nie, nie woll‘n wir Waffen tragen,
nie, nie woll‘n wir wieder Krieg.
Lasst die hohen Herrn sich selber schlagen,
wir machen einfach nicht mehr mit.

Erst die Ostermärsche der 60er Jahre setzten starke Impulse für neue politische Lieder in der BRD.

Unüberhörbar ist zu Beginn die Inspiration durch die Anti-Atombewegung in Großbritannien und durch »Folksinger« aus den USA. »We shall overcome« war wohl das meistgesungene Lied der Ostermärsche. Unter den deutschen LiedermacherInnen war eine Stimme nicht zu überhören: die von Fasia Jansen. Sie machte die von Gerd Semmer bearbeitete Fassung des englischen Aldermaston-Songs populär.

Hörst du nicht H-Bombendonner?
Denkst du dir denn nichts dabei?
Menschen müssen langsam sterben,
ist es dir denn einerlei?
Willst du, dass die kleinen Kinder
elend dran zugrunde gehen,
und die Nachbarn und die Freunde –
willst du sie verbrennen seh’n?

Refrain:
Bombe weg für alle Zeiten
ist jetzt oberstes Gebot.
Einig sein in diesem Ziele,
oder wir sind morgen tot.

[…]
Nur an deiner Stimme liegt es,
ob die Welt zu Asche wird.
Nur an deinem Handeln sieht man,
ob Vernunft dein Herz regiert.
Darum musst du mit uns gehen,
denn es ist noch nicht zu spät.
Dein Gewissen muss jetzt sprechen,
dass die Erde fortbesteht.

Inhaltlich ging es bei den neuen deutschen Protestsongs zu Beginn der 60er Jahre vor allem um den Kampf gegen die Atombombe. Dafür stehen Lieder wie der »Weltuntergangsblues«, »Die Höllenbombe« und »Strontium 90« (Semmer/Dallas):

Jeder neue H-Bombenversuch
ist ein Fetzen mehr für dein Leichentuch.
Komm, sei nicht müde, du musst etwas tun,
es geht um die kommende Generation:
Strontium 90, Strontium 90
fällt auf die ganze Welt.
Strontium 90, Strontium 90
vergiftet Flur und Feld.

Zum Ostermarsch 1964 schrieb Hannes Stütz mit »Unser Marsch ist eine gute Sache« auch eine Antwort auf die Verleumdungskampagne der Regierenden, nach der die Bewegung »vom Osten« gesteuert sei.

Unser Marsch ist eine gute Sache
weil er für eine gute Sache geht.
Wir marschieren nicht aus Haß und Rache
wir erobern kein fremdes Gebiet.
Unsre Hände sind leer,
die Vernunft ist das Gewehr,
und die Leute versteh’n uns’re Sprache:

Refrain:
Marschieren wir gegen den Osten? Nein!
Marschieren wir gegen den Westen? Nein!
Wir marschieren für die Welt
die von Waffen nichts mehr hält.
Denn das ist für uns am besten.

[…]
Du deutsches Volk, du bist fast immer
für falsche Ziele marschiert,
am Ende waren nur Trümmer.
Weißt du heute, wohin man dich führt?
Nimm dein Schicksal in die Hand,
steck den Kopf nicht in den Sand
und laßt euch nicht mehr verführen!

Vor allem Gerd Semmer bezieht sich in diesen Jahren in seinen Texten immer wieder auf die aktuelle politische Entwicklung in der BRD. Als 1963/64 die Bundesregierung eine Luftschutzkampagne startete, die von einer großen Mehrheit der deutschen Bevölkerung als Verharmlosung der wirklichen Kriegsgefahren abgelehnt wurde, karikiert er diese Politik in seinem »Luftschutzlied« (Musik Dieter Süverkrüp):

Leute greift zur Feuerpatsche,
stellt den Tütensand bereit,
ohne dass ihr es beachtet,
ist schon wieder Luftschutzzeit.

Wieder müsst ihr Vorrat hamstern:
Selterswasser, Haferschleim,
Luftmatratzengruft mit Kerzen –
schmückt den Keller wie das Heim.

Mut in Pillen, Luft in Dosen,
schlau bedacht ist alles hier.
Wenn die Luft euch aber wegbleibt,
dann seid doch die Dummen ihr.

Schwarze Herrenschokolade,
wenn ihr reinbeisst, wenn es kracht,
sollt ihr wissen: schwarze Herren
haben dies für euch vollbracht.

Wieder müsst ihr euch luftschützen:
Himmel blau – und plötzlich rot;
ohne dass sie es beachten,
sind schon zehn Millionen tot.

Mitte der 60er Jahre wurden Pläne bekannt, einen Atomminengürtel entlang der Grenze zur DDR zu legen. Es entstand »Verbrannte Erde in Deutschland« (Semmer/Jansen):

Feuer, Vorsicht, man legt Feuer,
ein Atomminengürtel wird geplant.
Geht auf die Straße und schreit Feuer!
Feuer, unsere Erde wird verbrannt.

Annemarie Stern schrieb in einem Vorwort zu »Politische Lieder ’67« über die Texte dieser Zeit: „Es sind politische Lieder und keine Protestschnulzen. Das Argument überwiegt die Emotion, die Verständlichkeit die so genannte Poesie. Reines kulinarisches Kunstvergnügen ist also nicht beabsichtigt, weil dann die Argumentation in die Binsen ginge.“

Neue Schwerpunkte der Ostermärsche

Mitte der 60er Jahre änderten sich die politischen Schwerpunkte der Ostermärsche. Zum Protest gegen die Bombe kam der Widerstand gegen den Vietnamkrieg und die Notstandsgesetze. Das spiegelte sich auch in den Liedern wider. Dieter Süverkrüp agitierte gegen die Zustimmung der SPD zu den Notstandsgesetzen mit seinem »An alle schon jetzt – oder demnächst – enttäuschten SPD Wähler; nach der Verabschiedung der Notstandsgesetze zu singen«. Fast alle LiedermacherInnen schrieben gegen den Vietnamkrieg. Unvergessen bleibt Degenhardts »P. T. aus Arizona«, gewidmet einem amerikanischen »GI«, der sich in Kaiserslautern seinem Vietnameinsatz entzog und nach Frankreich desertierte. Dieter Süverkrüp verfasste einen ganzen Vietnamzyklus, und Fasia Jansen textete »An meinen amerikanischen Brieffreund Jonny«. Von der Düsseldorfer Skiffle-Gruppe »Die Conrads« stammt »Für Vietnam«:

Vielleicht wird die Bombe schon scharf gemacht.
Vielleicht, doch was ist schon dabei?
Und ein Reisbauer wird wieder umgebracht –
denn so macht man Reisbauern frei.

Vielleicht schreit ein Kind jetzt, von Phosphor verbrannt.
Vielleicht predigt ein Pfarrer von Gott,
Und der Mörder des Kindes bleibt ungenannt,
denn ein Christ kennt genau sein Gebot.

Und sie brennen im Namen des Abendlands
einem Volk ihren Stempel ins Fleisch.
Und sie liefern der Freiheit den Totenkranz,
doch einst zahlen sie dafür den Preis.

Die Entwicklung des politischen Liedes wurde von vielen Faktoren bestimmt. Bei den Ostermärschen traten u.a. Joan Baez und der Kanadier Perry Friedmann auf. Beide knüpften an die Tradition nordamerikanischer Arbeiterlieder à la Woody Guthrie und Pete Seeger an. Von 1964 bis 1968 trafen sich auf der Burg Waldeck Tausende zum jährlichen Songfestival »Chansons, Folklore International«. Prägend dabei: Franz Josef Degenhardt, Hans Dieter Hüsch, Fasia Jansen, Hein und Oss Kröher, Reinhard Mey, Walter Moosmann, Dieter Süverkrüp und Hannes Wader. Der Einfluss des französischen Chanson und des politischen Kabarett ist bei Degenhardt und Süverkrüp nicht zu überhören, Hüsch war selbst politischer Kabarettist. Dementsprechend zeichnen sich viele Werke der drei durch einen beißenden Spott aus.

Auch musikalisch gab es eine Weiterentwicklung. In den 50er und 60er Jahren dominierte die Gitarre, bei den Ostermärschen manchmal ergänzt durch Banjo, Mundharmonika und Rhythmusinstrumente. Ende der 60er trat Dieter Süverkrüp zusammen mit der Kölner Rockband »Floh de Cologne« auf, Franz Josef Degenhardt spielte ebenfalls mit Band. Zu Konstantin Wecker, der in den 70ern dazu kommt, gehört das Klavier. Dazu kommen »Ton, Steine, Scherben«, »Die Schmetterlinge«, »Lokomotive Kreuzberg« und andere Rockgruppen mit linken politischen Texten.

Die 80er Jahre

Degenhardt, Hüsch, Süverkrüp, Wader und Wecker – sie alle liehen ihre Ideen und ihre Stimme auch der Friedensbewegung der 80er Jahre, traten insbesondere bei Protesten gegen die nukleare »Nach«-Rüstung vor Hunderttausenden auf. An den vier Konzerten der »Künstler für den Frieden« zwischen 1981 und 1983 beteiligten sich hunderte KünstlerInnen. Zu den fast 200 Mitwirkenden bei dem größten dieser vier Konzerte, 1982 in Bochum, zählte neben den oben genannten viel internationale »Prominenz«, darunter auch deutsche KünstlerInnen, die bis dahin nicht für politisches Engagement bekannt waren, wie Bill Ramsey, Gitte und Katja Ebstein.

Das war eine Ausnahmesituation: Nie zuvor war der Einfluss des politischen Liedes so groß, wie in diesen Jahren, und nie zuvor hatte die BRD eine solche Massenbewegung für den Frieden erlebt.

In dieser Zeit entstanden auch viele unmittelbar aktionsbezogene Lieder. So wandte sich Gerda Heuer gegen »Frauen in die Bundeswehr«:

Schon seit vielen Jahren
gibt’s die Bundeswehr
und nun soll’n auch Frauen
in das Männerheer.

Jetzt soll’n auch Frauen kämpfen
für Macht und Militär
wir lassen uns nicht knechten
wir setzen uns zur Wehr.

Die Frauen in unserem Staate
hab’n nichts damit im Sinn,
sie halten ihre Köpfe nicht
für solchen Unsinn hin.

Ekkes Frank protestierte gegen die öffentlichen Gelöbnisse der Bundeswehr mit einer Neufassung von »Wenn die Soldaten«:

Wenn die Soldaten durch die Stadt marschieren,
schließen Demokraten Fenster und Türen,
Ei warum? Ei darum!
Ei, schon mal wegen dem Dschingdarassa
Dschingdarassa Bumm.

Wenn die Demokraten dagegen protestieren,
dann darf die Polizei ihnen die Fresse polieren.
Ei warum? Ei darum!
Ei, nur wegen dem Dschingdarassa
Dschingdarassa Bumm.

Wenn man mich fragt, ob mir denn nicht klar ist,
wozu die Bundeswehr denn eigentlich da ist,
dann frag ich: Ei warum?
Dann sag ich: Ei warum?
Wohl nur wegen dem Dschingdarassa
Dschingdarassa Bumm.

Denn wenn eines Tages, dann wirklich ein Krieg kommt,
dann ist heute schon klar, dass da keiner zum Sieg kommt.
Ei warum? Ei darum!
Da hilft dann auch kein Dschingdarassa,
da macht es nur noch – – – Bumm.

Zu einer Art Hymne der Friedensbewegung wurde in den 80er Jahren das Lied »Aufstehn« der niederländischern Gruppe »Bots«, das in Variation auch bei vielen anderen emanzipatorischen Aktionen gesungen wurde:

Alle die nicht gerne Instant-Brühe trinken, sollen aufstehn
Alle, die nicht schon im Hirn nach Deo-Spray stinken, sollen aufstehn
Alle, die noch wissen, was Liebe ist
Alle, die noch wissen, was Hass ist
und was wir kriegen sollen, nicht das ist, was wir wollen,
sollen aufstehn […]

Alle, die gegen Atomwaffen sind […]
Alle Frauen für den Frieden sollen aufstehn […]
Alle Menschen, die ein besseres Leben wollen, sollen aufstehn […]

Die Stimmung der Straße erfasste ein anderes Lied, das die »Bots« populär machten: »Das weiche Wasser« (frei nach Brecht von Lerryn/Sanders):

Europa hatte zweimal Krieg
der dritte wird der letzte sein
gib bloß nicht auf, gib nicht klein bei
das weiche Wasser bricht den Stein

Die Bombe, die kein Leben schont
Maschinen nur und Stahlbeton
hat uns zu einem Lied vereint
das weiche Wasser bricht den Stein

Refrain:
Es reißt die schwersten Mauern ein
und sind wir schwach und sind wir klein
wir wollen wie das Wasser sein
das weiche Wasser bricht den Stein

Raketen steh’n vor unsrer Tür
die soll’n zu unserm Schutz hier sein
auf solchen Schutz verzichten wir
das weiche Wasser bricht den Stein

Refrain
Die Rüstung sitzt am Tisch der Welt
und Kinder, die vor Hunger schrei’n
für Waffen fließt das große Geld
doch weiches Wasser bricht den Stein

Refrain
Komm feiern wir ein Friedensfest
und zeigen, wie sich‘s leben läßt
Mensch! Menschen können Menschen sein
das weiche Wasser bricht den Stein

Refrain

Und heute?

Der Aufschwung des politischen Liedes in den 60ern war sehr zeitspezifisch. Er hing zusammen mit der unmittelbaren Bedrohungssituation und der Aufbruchstimmung in der Gesellschaft, die schließlich zu »68« führten. Die LiedermacherInnen der 80er Jahre wiederum hatten ihren Resonanzboden in einer bis dahin beispiellosen Massenbewegung gegen nukleare Rüstung.

Und heute? Hannes Wader und Konstantin Wecker gehen noch regelmäßig auf Tournee, ihre Texte sind nach wie vor aktuell. Aber nur wenige »Jüngere«, wie Kai Degenhardt, widmen sich den (neuen) friedenspolitischen Themen. Ihre Zuhörerzahlen gehen selten in den vierstelligen Bereich – am Mangel an Themen liegt das sicherlich nicht. 1986 warb die Friedensbewegung zu ihrer letzten großen Demonstration gegen die Stationierung nuklearer Mittelstreckenraketen in den Hunsrück; die Losung lautete »Frieden braucht Bewegung«. Ohne (Massen-) Bewegung bleibt auch für das politische Lied nur die Nische.

Nachbemerkung

Ich habe hier aus Platzgründen nur wenige Lieder im vollen Wortlaut zitiert und dafür Lieder ausgewählt, die damals mitgesungen wurden, die politische Schwerpunkte der Bewegung spiegeln und die inzwischen drohen, in Vergessenheit zu geraten. Franz Josef Degenhardt, Hans Dieter Hüsch, Dieter Süverkrüp, Hannes Wader, Konstantin Wecker u.a. wurden nur sparsam zitiert, weil bei ihnen reinhören möglich ist – und sehr empfehlenswert.

Konstantin Weckers Lieder liegen alle auf CD vor, und von Hannes Wader kommen jetzt auch die »Pläne Jahre 1979-2007«, die es bisher nur auf Platte gab, auf CD heraus (Universal). »Süverkrüps Liederjahre, 1963 bis 1985 ff« sind in einer Box mit vier CDs versammelt (Conträr, 2002) sowie als Textbuch (Grupello, 2002). Von Franz Josef Degenhardt sind »Gehen unsere Träume durch mein Lied. Ausgewählte Lieder 1963 bis 2008« ebenfalls auf vier CDs erhältlich (Koch Universal Music, 2011).

Unter dem Titel »Fasia – geliebte Rebellin« ist von Marina Achenbach et. al. eine Biographie über Fasia Jansen erschienen, der auch eine CD mit 22 Songs beiliegt (Asso Verlag, 2004).

Jürgen Nieth ist Vorstandsmitglied von W&F. Er ist seit der Anti-Atombewegung Ende der 1950er Jahre in der Friedensbewegung aktiv.

Kunst und Krieg 1914-18

Kunst und Krieg 1914-18

von Steffen Bruendel

Es gehört zu den bis heute verstörenden Phänomenen des Ersten Weltkrieges, dass die damalige kulturelle Elite – Maler, Bildhauer und Dichter1 – bei Kriegsbeginn 1914 in Jubel ausbrach: anerkannte Repräsentanten der etablierten Kunstrichtungen ebenso wie hervorragende Vertreter der künstlerischen und literarischen Avantgarden. Sie verewigten das Erlebte mit Pinsel und Feder, porträtierten sich in Uniform, formulierten ihre »Gedanken im Kriege« (Thomas Mann) und verfassten patriotische Gedichte. Viele meldeten sich sogar freiwillig. Was bewog sie dazu? Wie erlebten sie den Krieg? Wie wirkte er sich auf ihren künstlerischen Ausdruck aus? Dieser Beitrag beleuchtet die damalige Ideenwelt sowie die Erwartungen, die mit dem Krieg verbunden wurden und schon nach kurzer Zeit bitter enttäuscht werden sollten. Was als apokalyptische Neuerung von vielen ersehnt worden war, entpuppte sich in der Realität als so zerstörerisch, dass Künstler und Dichter um einen angemessenen Ausdruck rangen.

Käthe Kollwitz schrieb am 13. August 1914 folgende Worte in ihr Tagebuch: „Die Männer[,] die in den Krieg gehn, hinterlassen meist Frau und Kinder, ihr Herz ist geteilt. Die Jungen sind in ihrem Herzen ungeteilt. Sie geben sich mit Jauchzen. Sie geben sich wie eine reine schlackenlose Flamme, die steil zum Himmel steigt.“ 2

Kurz zuvor hatte sie ihren Mann gebeten, der freiwilligen Gestellung ihres 18-jährigen Sohnes Peter zuzustimmen. Das war ihr nicht leicht gefallen, aber es war der sehnlichste Wunsch ihres Jüngsten gewesen, noch vor seiner Einberufung dabei zu sein. „Das Vaterland braucht dich noch nicht, sonst hätte es dich schon gerufen“, so Karl Kollwitz zu Peter, woraufhin dieser entgegnet habe: „Das Vaterland braucht meinen Jahrgang noch nicht, aber mich braucht es.“ Diese unbedingte Vaterlandsliebe beeindruckte Käthe Kollwitz, obgleich sie, der Sozialdemokratie nahe stehend, zwiespältige Gefühle hegte. Wie viele andere hatte aber auch sie den Kriegsbeginn als „ein Neu-Werden“ empfunden: „Als ob nichts der alten Werteinschätzungen noch standhielte, alles neu geprüft werden müsste.“ Sie erlebte, wie sie ihrem Tagebuch anvertraute, „die Möglichkeit des freien Opfers“.3

Jener Mischung aus Opferbereitschaft und Vaterlandsliebe, welche zahlreiche junge Männer dazu bewog, sich im Sommer 1914 freiwillig zum Kriegseinsatz zu melden, hat der Dichter Heinrich Lersch nach Kriegsbeginn besonders prägnant Ausdruck verliehen:

„Laß mich gehn, Mutter, laß mich gehn! All das Weinen kann uns nichts mehr nützen, denn wir gehn das Vaterland zu schützen! Laß mich gehn, Mutter, laß mich gehn. Deinen letzten Gruß will ich vom Mund dir küssen: Deutschland muß leben, und wenn wir sterben müssen!“ 4

Mit diesen Zeilen beginnt sein Gedicht »Soldatenabschied«. Als Schriftsteller war der Kesselschmied Lersch Autodidakt. Wie Käthe Kollwitz stand er sozialistischen Gedanken nahe und ließ sich wie sie in seinem Werk von der Arbeitswelt inspirieren. Bei Kriegsbeginn 25 Jahre alt, meldete er sich freiwillig. Auch der bis dato noch unbekannte Dichter Ernst Lissauer strebte an die Front, wurde aber aus gesundheitlichen Gründen abgewiesen. Mit seinem wenig später veröffentlichten »Haßgesang gegen England« sollte er über Nacht berühmt werden. Aber selbst arrivierte Künstler engagierten sich. In München meldete sich mit 36 Jahren der Maler Albert Weisgerber freiwillig und schrieb seiner Frau, er hoffe, die Landung in England als „Höhepunkt des Krieges“ mitzuerleben. Und auch den 51-jährigen Richard Dehmel, damals einer der bedeutendsten deutschsprachigen Lyriker, zog es an die Front.5

Wie ist diese Stimmung zu erklären? Wie erlebten die Dichter und Künstler den Krieg, und wie wirkte er sich auf ihr Werk aus? Um Antworten zu finden, wird zunächst die politisch-soziale Ausgangslage dargestellt und dann die Ideenwelt der Künstler und Dichter skizziert. Anschließend wird das so genannte »Augusterlebnis« beschrieben und mit der Desillusionierung kontrastiert, die aufgrund der Fronterfahrungen einsetzte.

Wohlstand, Reformstau und Krisen

Seit der Jahrhundertwende erfuhr das Deutsche Reich einen rasanten wirtschaftlichen Aufstieg. Die Zeit von 1895 bis 1913 gilt als erstes deutsches Wirtschaftswunder, durch das Deutschland zu den führenden Industrienationen aufstieg. 1913 wurden das 25-jährige Thronjubiläum Kaiser Wilhelms II. sowie das 100-jährige Jubiläum der siegreichen Befreiungskriege gegen Napoleon gefeiert. Mittlerweile war Deutschland die drittgrößte europäische Kolonialmacht und besaß die zweitstärkste Flotte der Welt. Das Wissenschaftssystem genoss höchstes Ansehen. Zwischen 1901 und 1918 erhielten 21 Deutsche den Nobelpreis.6 Diese glanzvolle Entwicklung war aber nur eine Seite des Reichs.

Die andere Seite war durch vielfältige Defizite der politisch-sozialen Entwicklung gekennzeichnet. So gab es in Preußen und anderen deutschen Staaten restriktive Klassenwahlrechte sowie Wahlkreiszuschnitte, welche die Arbeiter benachteiligten. Zwar war das Reichstagswahlrecht demokratisch, aber der Reichskanzler nicht dem Parlament, sondern dem Kaiser verantwortlich. Der Ausschluss der Parteien von einer verantwortlichen Mitbestimmung führte dazu, dass sie in parteipolitischen Streitereien verharrten. Konservative Kreise, Unternehmer und die Regierung diskriminierten die Sozialdemokraten als Klassen- und Reichsfeinde. Zwar war die SPD bei den Reichstagswahlen 1912 stärkste Partei geworden, aber es gelang ihr kaum, Wähler außerhalb des Arbeitermilieus zu gewinnen. Sie hielt am Marxismus fest, war aber institutionell in das politische System integriert. Allerdings war die politische Kultur durch eine ideologische Polarisierung gekennzeichnet: Dem transnationalen Sozialismus der Arbeiterschaft stand ein übersteigerter bürgerlicher Nationalismus gegenüber.7 Es kennzeichnet das Kaiserreich, dass es fortschrittliche Elemente ebenso aufwies wie rückständige.

Neben dem Zwiespalt zwischen sozialem Wohlstand und politischem Reformstau prägten auch außenpolitische Krisen die Wahrnehmung der Künstler und Dichter, zumal sich die Mächtekonstellation zu Ungunsten Deutschlands verschob. Die für Deutschland unbefriedigenden Ergebnisse der beiden Marokkokrisen von 1905/06 und 1911 zeigten, wie isoliert das Reich war. Allerdings wurden diese Krisen ebenso wie der 1908 durch die österreichische Annexion Bosniens provozierte Konflikt friedlich beigelegt. Bis 1914 gab es keine kriegerische Auseinandersetzung unter den europäischen Großmächten, wohl aber zwei lokal begrenzte Kriege auf dem Balkan 1912/13. Dass die latente Kriegsgefahr künstlerisch verarbeitet wurde, veranschaulichen z.B. Georg Heyms Gedicht »Der Krieg« von 1911 sowie Franz Marcs 1913 gemaltes Gemälde »Die Wölfe (Balkankrieg)«.8

Fortschrittsoptimismus und Kulturpessimismus

Die Ideenwelt der Vorkriegszeit war durch das paradoxe Nebeneinander von Fortschrittsoptimismus und Kulturpessimismus gekennzeichnet. Die auf die Industrialisierung folgende Elektrifizierung und der zunehmende Verkehr vermittelten ein Gefühl des Aufbruchs und der Beschleunigung. Nervosität war ein Charakteristikum der Zeit. Zugleich wurde die Euphorie gebremst durch Naturkatastrophen wie die Erdbeben von San Francisco 1906 und Messina 1908 sowie durch technische Katastrophen wie den Untergang der Titanic 1912. Sie führten zu einem Gefühl des Niedergangs von Zivilisation und Kultur. Neue Wissenschaftszweige wie die Soziologie, die Kriminologie und die Psychoanalyse verstärkten das Krisenbewusstsein, weil ihre Forschungsfelder – Kriminalität, Sexualität, Prostitution und Neurosen – als Ausdruck gesellschaftlicher Dekadenz galten. Beeinflusst vom Darwinismus glaubte man, dass auch Nationen im Überlebenskampf stünden und sich die stärkere, gesündere durchsetze. Rassehygiene und Eugenik sollten der vermeintlichen Degeneration des Volkes vorbeugen.9

Das kulturelle Unbehagen führte zur Modernitätskritik. Statt der individualistischen Gesellschaft erstrebte man eine tiefere Gemeinschaft. Materialismus, Kommerzialisierung und Verweltlichung galten als negative Begleiterscheinungen der Moderne, deren Inbegriff die Großstadt war. Laut, hektisch, überfüllt, schmutzig und unhygienisch verkörperte sie mit ihren Warenhäusern und Amüsiertempeln, dem Straßenverkehr und den Menschenmassen das Gegenteil all dessen, was als gesund, rein und fromm galt. Die Lebensreform-, die Freikörperkultur- und die Jugendbewegung wollten Zivilisationsschäden durch Naturnähe heilen. Tier- und Landschaftsbilder illustrierten die Stadtflucht der künstlerischen Avantgarde. Künstlergruppen wie die »Brücke« (1905) und »Der Blaue Reiter« (1912) verhalfen dem Expressionismus zum Durchbruch, der das subjektive Empfinden des Künstlers in den Mittelpunkt rückte und sich durch einen freien Umgang mit Farbe und Form auszeichnete.10

Insgesamt herrschten apokalyptische Vorstellungen vor, die aus einem Überdruss an der bürgerlichen Gesellschaft resultierten: Mit dem Untergang der alten, verdorbenen Welt werde eine neue, vollkommene entstehen. So notierte Georg Heym 1910, es sei „so langweilig, langweilig, langweilig. Es geschieht nichts, nichts, nichts […] Dieser Friede ist so faul, ölig und schmierig wie eine Leimpolitur auf alten Möbeln.“ Es solle endlich etwas passieren, und sei es, „dass man einen Krieg begänne, er kann auch ungerecht sein“. Die Auffassung vom Krieg als Reinigung und Neubeginn beruhte auch darauf, dass keiner der Künstler und Dichter eine realistische Vorstellung davon hatte, was ein moderner Krieg bedeuten sollte. Otto Dix betonte rückblickend, er habe in den Krieg ziehen müssen, um „alles ganz genau [zu] erleben“. Der Begriff des Erlebnisses war seit der Jahrhundertwende populär und bezeichnete ein unmittelbares Erfassen der Wirklichkeit sowie eine Sehnsucht nach Tiefe und Ganzheit. Das Erlebnis, so war man überzeugt, verhelfe zu besonderer Erkenntnis.11

Kriegsbeginn und Augusterlebnis

Im Kriegsbeginn erblickten Künstler und Dichter das ersehnte Erlebnis. „Da mich’s nicht länger zu Hause hält“, schrieb der junge Maler Hermann Stenner seinen Eltern am 7. August 1914, „habe ich mich heute als Kriegsfreiwilliger gestellt“. Max Beckmann, als freiwilliger Krankenpfleger in Ostpreußen dienend, schrieb seiner Frau am 14. September, er hoffe, „noch viel zu erleben“. Und Oskar Kokoschka notierte im September, dass er sich freiwillig melden wolle, weil es eine „ewige Schande“ wäre, „zu Hause gesessen zu haben“. Die Zustimmung der SPD zu den Kriegskrediten am 4. August vermittelte ein Gefühl kollektiver Vergemeinschaftung und begründete einen politischen »Burgfrieden«, das heißt die Zurückstellung innenpolitischer Konflikte für die Kriegszeit. Diese neue Einstellung wurde als »Geist von 1914« bezeichnet und trug zur – als »Augusterlebnis« verklärten und später als gesamtgesellschaftliche »Kriegsbegeisterung« fehlgedeuteten – Mobilisierungseuphorie bei.12

Diese Euphorie spiegelte sich in vielen Werken der Kunst und der Literatur. Liebermann, Beckmann und Barlach skizzierten die Stimmung zu Kriegsbeginn, Dix posierte in Uniform als Kriegsgott Mars, und Richard Dehmel schrieb in seinem »Lied an alle«: „Sei gesegnet, ernste Stunde, die endlich stählern eint.“ Bis Ende 1914 wurden 235 Kriegslyrikbände großer und kleinerer Talente registriert. Dieser Produktivität lag nicht nur Patriotismus zugrunde, sondern auch wirtschaftliches Kalkül: Patriotische Werke verkauften sich gut. Außerdem erblickten gerade avantgardistische Dichter im Krieg die Gelegenheit, sich durch die Erschließung neuer Leserkreise besser im literarischen Feld zu positionieren und zugleich ihre gesellschaftliche Außenseiterposition zu überwinden. Das galt analog für die künstlerische Avantgarde. So war Kollwitz, Lersch und Lissauer gemeinsam, dass sie den politisch marginalisierten Gruppen angehörten: als Frau, als Arbeiter, als Jude. Der Krieg suggerierte die Möglichkeit, durch Engagement gesellschaftliche Anerkennung zu finden.13

Wer den Enthusiasmus nicht teilte, schwieg – nicht zuletzt auch wegen der Zensur. So stellte Erich Mühsam seine pazifistische Zeitschrift »Kain« am 1. August 1914 ein, weil er nur sagen könne, was zur Zeit niemand hören wolle, wie er seinen Lesern mitteilte. Und Heinrich Manns »Untertan«, seit Januar 1914 als Fortsetzungsroman vorab publiziert, wurde am 13. August gestoppt, weil sich satirische Kritik an Deutschland im Kriege verböte. Der schwierigen Lage, als bikulturell geprägte Elsass-Lothringer gegen Frankreich kämpfen zu müssen, entzogen sich die jungen Expressionisten Hans Arp und Iwan Goll durch Emigration in die Schweiz. Anders als sein Bruder mochte Thomas Mann nicht schweigen. Mit ärztlichem Attest vom Kriegsdienst befreit, wollte er „[s]oldatisch leben, aber nicht als Soldat“ und zur geistigen Mobilmachung beitragen. Seine patriotisch-kriegsbejahenden »Gedanken im Kriege« vom November 1914 führten zum Bruch mit dem Bruder.14

Fronterlebnis und Desillusionierung

Wer an den Fronten zum Einsatz kam, wurde rasch mit der brutalen Wirklichkeit des Krieges konfrontiert. „Ich war ja von vornherein auf das Schlimmste gefasst“, schrieb Hermann Stenner seinen Eltern schon am 30. September 1914, „aber alles das ist nichts gegen die furchtbare Wirklichkeit“. Am 5. Dezember fiel er in Polen. Georg Trakl erlebte als Sanitätsleutnant die besonders brutale Schlacht bei Gródek in Galizien. Nach ihr benannte er sein erschütterndes Gedicht »Grodek«, das die berühmte Zeile enthält: „Alle Straßen münden in schwarze Verwesung.“ Es wurde sein letztes lyrisches Werk. Trakl starb im November 1914 in einem Krakauer Garnisonsspital nach einem Selbstmordversuch.15

Die psychische Belastung war enorm. 1915 wurden Max Beckmann, Ernst Ludwig Kirchner und Heinrich Lersch aus gesundheitlichen Gründen aus dem Militärdienst entlassen. Immerhin überlebten sie, was vielen ihrer Kameraden – darunter Franz Marc, August Macke und Albert Weisgerber – nicht vergönnt war. Das Erlebte künstlerisch auszudrücken, schien kaum möglich. „Entsetzlich. Ich habe kein Wort“, vermerkte der Dichter August Stramm nach seinen ersten Fronterfahrungen an der Westfront im Frühjahr 1915, wenige Monate vor seinem Tod. Verschlug es den literarischen Expressionisten die Sprache, vermochte die bildende Kunst noch eher, das Erlebte abzubilden. So verewigte Otto Dix die Kriegsrealität in rund 600 Zeichnungen und Gouachen, seinem eigentlichen expressionistischen Werk. Wilhelm Lehmbruck, seit 1914 in einem Berliner Lazarett eingesetzt und zunehmend depressiv, veranschaulichte die gewandelte Einstellung zum Krieg mit seiner 1916 vollendeten Bronzeplastik »Der Gestürzte«, die einen nackten, sterbenden Mann darstellt. Hans Arp und andere Exilanten suchten in Zürich nach neuen Ausdrucksformen und begründeten 1916 die Stilrichtung »Dada«. Die Dekonstruktion der Sprache durch sinnlose Wortkompositionen sowie die neuen Techniken der Collage und Montage spiegelten die unfassbaren Zerstörungen wider.16

Resümee und Ausblick

Das trotz allgemeinen Wohlstands verbreitete Krisenbewusstsein, das Nebeneinander von Fortschrittsoptimismus und Kulturpessimismus sowie anachronistische Vorstellungen vom Krieg prägten die Ideenwelt der Künstler und Dichter, die im Kampf eine apokalyptische Erneuerung erblickten. Das als Gemeinschaft stiftend wahrgenommene »Augusterlebnis« 1914 suggerierte gerade der Avantgarde die Möglichkeit, durch persönlichen und künstlerischen Kriegseinsatz gesellschaftliche Anerkennung zu erlangen. Überdies verkauften sich patriotische Werke im Krieg gut, was einen zusätzlichen Anreiz darstellte, sich mit Pinsel oder Feder entsprechend auszudrücken. Viele Künstler und Dichter strebten sogar an die Front. Aber ob sie im Sanitätsdienst eingesetzt wurden oder kämpften: Die meisten von ihnen wurden desillusioniert. Im Ringen um die angemessene Darstellung des Erlebten entstanden neue Kunstrichtungen. Denn nun blickte die Avantgarde entweder mit einem erneuerten Realismus auf das Kriegsgeschehen – in den 1920er Jahren als »Neue Sachlichkeit« bezeichnet – oder führte es dadaistisch ad absurdum.

Allerdings sollten viele Frontkämpfer fallen. Unter ihnen war auch Peter Kollwitz. Schon am 30. Oktober 1914 erhielt seine Mutter die offizielle Benachrichtigung. Zutiefst erschüttert beschloss Käthe Kollwitz, Peter ein Denkmal zu errichten. Sie sollte 18 Jahre daran arbeiten, weil es ihr schwer fiel, den richtigen Ausdruck zu finden. Schließlich schuf sie zwei Steinfiguren aus hellem Granit: die trauernden »Eltern«. Aufgestellt wurden sie 1932 auf einem deutschen Soldatenfriedhof in Flandern. Als Stein gewordene Trauer um die Toten des Weltkriegs gelten sie bis heute als beeindruckendes Mahnmal gegen den Krieg.17

Anmerkungen

1) Im Fokus dieses Beitrags stehen die wehrpflichtigen, also männlichen Repräsentanten der Kunst.

2) Käthe Kollwitz (2012): Die Tagebücher 1908-1943. Berlin: Siedler, S.153f.

3) Ebd., S.151f. Vgl. auch: Dietrich Schubert (2013): Künstler im Trommelfeuer des Krieges 1914-18. Heidelberg: Verlag Das Wunderhorn, S.39ff.

4) Heinrich Lersch (1965): Gedichte. Düsseldorf, Köln: Eugen Diederichs, S.56f.

5) Steffen Bruendel, Steffen (2014a): Zeitenwende 1914. Künstler, Dichter und Denker im Ersten Weltkrieg. München: Herbig, S.63f. (Weisgerber-Zitat 63.), 70f.

6) Hans-Ulrich Wehler (1995): Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 2, München: Beck, S.493ff., 610ff.

7) Ebd., S.1045–1050, 1063–1085.

8) Steffen Bruendel (2014b): „Deutschland muss leben, und wenn wir sterben müssen“. Künstler und Dichter zwischen Kulturpessimismus und Erlebnissehnsucht. In: Vurcu Dogramaci und Friederike Weimar (Hrsg.): Sie starben jung! Künstler und Dichter, Ideen und Ideale vor dem Ersten Weltkrieg. Berlin: Gebr. Mann, S.15-25, hier 16f.

9) Ebd., S.18ff. Barbara Beßlich (2000): Wege in den Kulturkrieg. Zivilisationskritik in Deutschland 1890–1914. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S.16. Hermann Glaser (2002): Kleine Kulturgeschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert. München: Beck, S.34ff. Käthe Springer (22011): Eine Romantik der Nerven – Das literarische Fin de Siècle. In: Christian Brandstätter (Hrsg.): Wien 1900. Kunst und Kultur. Fokus der europäischen Moderne. München: DTV, S.321-333.

10) Glaser (2002), S.48–56. Uwe M. Schneede (2010): Die Geschichte der Kunst im 20. Jahrhundert. Von der Avantgarde bis zur Gegenwart. München: C.H. Beck, S.37-41. Kathrin Klingsöhr-Leroy (2014): „Die Welt aber will rein werden“. Kunst und Krieg im Spiegel des Almanachs »Der Blaue Reiter«. In: Dogramaci/Weimar (2014), S.27-38. Franz Marc Museumsgesellschaft (Hrsg.) (2013): 1913. Bilder vor der Apokalypse. München: Sieveking, S.42-59. Wolfgang J. Mommsen (1994): Bürgerliche Kultur und künstlerische Avantgarde. Kultur und Politik im deutschen Kaiserreich 1870 bis 1918. Frankfurt/M.: Ullstein.

11) Beßlich (2000), S.17. Bruendel (2014a), S.40 (Heym-Zitat), 42 (Dix-Zitat). Manfred Hettling (2003): Kriegserlebnis. In: Enzyklopädie Erster Weltkrieg, hrsg. von Gerhard Hirschfeld, Gerd Krumeich und Irina Renz. Paderborn u. a.: Schöningh, S.638–639, hier 638.

12) David Riedel (2014): „Noch einen Sommer intensives Schaffen …“. Hermann Stenners Werk vor dem Ersten Weltkrieg. In: Dogramaci/Weimar (2014), S.47-58, hier 52f.. Schubert (2013), S.280ff. Bruendel (2014a), S.63-68 (Zitate 63, 65, 68). Matthias Schöning (2009): Versprengte Gemeinschaft. Kriegsroman und intellektuelle Mobilmachung in Deutschland 1914–33. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht, S.39-48.

13) Schubert (2013), S.47f.. Bruendel (2014a), S.7, 77ff. (Dehmel-Zitat 78), 81. Helmut Fries (1995): Die große Katharsis. Der Erste Weltkrieg in der Sicht deutscher Dichter und Gelehrter, Bd. 2. Konstanz: Verlag am Hockgraben, S.20-23.

14) Bruendel (2014a), S.62, 83ff. (Mann-Zitat 84).

15) Riedel (2014), S.53ff. Schubert (2013), S.463 (Zitat ebd.). Bruendel (2014a), S.114 (Stenner-Zitat), 112f.. Frank Krause (2014): „Über zerbrochenem Männergebein/Die stille Mönchin“. Krieger und Kriege im lyrischen Werk Georg Trakls. In: Dogramaci/Weimar (2014), S.59-67, hier 63ff.

16) Schubert (2013), S.295-301, 364-368, 456, 463f.. Bruendel (2014a), S.113f., 124-129. Andreas Kramer (2014): „Alles so widersprüchig“. Kriegserlebnis und Sprache bei August Stramm. In: Dogramaci/Weimar (2014), S.93-101, hier 94-99 (Zitat 96).

17) Schubert (2013), S.41-44.

Dr. Steffen Bruendel ist Forschungsdirektor des Forschungszentrums für Historische Geisteswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Geschichte der politischen Ideen im 20. Jahrhundert sowie die Geschichte des Ersten Weltkrieges und der europäischen Nachkriegsordnung unter besonderer Berücksichtigung der Künstler und Intellektuellen. Wichtigste Veröffentlichungen: Volksgemeinschaft oder Volksstaat. Die »Ideen von 1914« und die Neuordnung Deutschlands im Ersten Weltkrieg. Berlin: Oldenburg Akademieverlag (2003) und Zeitenwende 1914. Künstler, Dichter und Denker im Ersten Weltkrieg. München: Herbig (2014).

Der unmögliche Krieg

Der unmögliche Krieg

Jan Bloch und die Mechanik des Ersten Weltkriegs

von Jürgen Scheffran

Im Ersten Weltkrieg kulminierte eine rüstungstechnische Entwicklung, die auf der klassischen Physik basierte, vor allem der Mechanik. Mit neuen Waffensystemen und motorisierten Transportmitteln konnte Gewalt zielgenauer, über größere Distanzen und mit höherer Geschwindigkeit eingesetzt werden. Schon vorher zeichnete sich ab, dass der Abnutzungskrieg zu gewaltigen Verlusten führen und die Industriekapazität der europäischen Großmächte aufzehren werde. Dennoch folgten Politiker und Militärs unter Missachtung der komplexen Lage weiter dem Konstrukt nationaler Machtpolitik und liefen so in eine Mechanik des Krieges, die in die vorhersehbare Katastrophe führte.

Bertha von Suttner schrieb in ihrem Buch »Die Waffen nieder!« 1889, 25 Jahre vor dem Ersten Weltkrieg: „Bei der Furchtbarkeit der gegenwärtig erreichten und noch immer steigenden Waffentechnik, bei der Massenhaftigkeit der Streitkräfte wird der nächste Krieg wahrlich kein »ernster«, sondern ein – es gibt gar kein Wort dafür – ein Riesenjammer-Fall sein … Hilfe und Verpflegung unmöglich … Die Sanitätsvorkehrungen und Proviantvorkehrungen werden den Anforderungen gegenüber als die reine Ironie sich erweisen; der nächste Krieg, von welchem die Leute so geläufig und gleichmütig reden, der wird nicht Gewinn für die einen und Verlust für die anderen bedeuten, sondern Untergang für alle.“ (von Suttner 1889)

Mit ihren Befürchtungen war sie nicht alleine. Friedrich Engels hatte 1888 prognostiziert, in einem künftigen Krieg würden sich „acht bis zehn Millionen Soldaten untereinander abwürgen“. 1893 warnte der deutsche Sozialdemokrat August Bebel im Reichstag vor den Massenschlächtereien auf den Schlachtfeldern des kommenden Krieges (Tanner 2014).

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert verbreitete sich nicht nur in Pazifisten- und Sozialistenkreisen die Ansicht, Europa steuere auf einen Krieg zu, der angesichts der enorm gesteigerten technischen und industriellen Fähigkeiten nicht mehr führbar sei. Sichtbar wurde dies etwa im amerikanischen Bürgerkrieg 1861-1865, als der Norden seine überlegenen industriellen Kapazitäten gegen den agrarischen Süden ausspielte, auf Kosten von mehr als 600.000 Toten. Wie erst würde ein großer Krieg auf dem europäischen Kontinent aussehen?

Das Mögliche hatte der polnisch-russische Eisenbahn-Industrielle Jan Bloch (auch bekannt als Ivan Bloch, Jean de Bloch oder Johann von Bloch) 1898 in Sankt Petersburg in seinem monumentalen sechsbändigen Werk »Der zukünftige Krieg in seiner technischen, volkswirtschaftlichen und politischen Bedeutung« auf mehreren tausend Seiten ausgemalt. Mit wissenschaftlicher Akribie zeigte er die Konsequenzen der industriell-technologischen Dynamik für einen Krieg der Zukunft. Die moderne Technik und Taktik werde dem Verteidiger derartige Vorteile verschaffen, dass mit einem Sieg nicht zu rechnen sei: „Der Krieg ist jetzt in Folge der außerordentlichen Fortschritte der Waffentechnik, der hoch gesteigerten Präzision der Feuerwaffen und ihres enormen Vernichtungsvermögens furchtbarer geworden.“ (Bloch 1899, Band 1, S.XV). Große Kriege zwischen den Industrienationen könnten nur noch „um den Preis des Selbstmords“ geführt werden (Leonhard 2014).

Mechanisierung und Industrialisierung des Krieges

Möglich geworden war dies durch den Siegeszug der Mechanik, neben Optik, Thermodynamik und Elektrodynamik dem Kernstück der klassischen Physik. Ausgehend von Newtons Axiomen und dem Begriff der Energie wurde ein mathematisches Instrumentarium geschaffen, das aufgrund physikalischer Messungen eine Berechenbarkeit der Entwicklung der Materie nahe legte. Durch das Wechselspiel aus Theorie und Experiment war eine Voraussetzung für immer neue technische Instrumente zum gezielten Einsatz der Naturkräfte gegeben. Mit der Erfindung der Dampfmaschine gelang es, Wärmeenergie in geordnete Bewegungsenergie umzuwandeln und die Maschinerie der industriellen Revolution mithilfe von Kohle anzutreiben. Mit kraftstoffgetriebenen Motoren wurde es zu Land, zur See und später auch in der Luft möglich, den globalen Handel zu beschleunigen und Macht- und Gewaltprojektionen zu forcieren (Singer 2008). Die Entwicklung der Feuerwaffen erlaubte es Europa, im Zuge von Kolonialismus und Imperialismus die Erde gewaltsam zu beherrschen und ihre Ressourcen auszubeuten.

Dass die neuen Produktivkräfte auch Destruktivkräfte freisetzen würden, die das Kriegsbild verändern, war abzusehen. Über große Teile lesen sich die ersten Bände Blochs wie eine Einführung in die Mechanik. Akribisch erläutert er die Funktionsweise der neuen Waffensysteme und zeigt, wie Manöver im offenen Gelände mit herkömmlichen Bajonett- und Kavallerieattacken unmöglich werden: „Der zukünftige Krieg wird sich vor den früheren nicht nur durch ein vervollkommnetes Gewehr, rauchloses Pulver und verschiedene neue Hilfsmittel auszeichnen, sondern auch durch die Rolle, welche hier der Deckung durch Erdaufwürfe zufallen wird und welche eben durch die Fortschritte in der Technik der Geschütze und Gewehre bedingt ist.“ (Band 1, S.253)

Ausgiebig widmet er sich der gesteigerten Wirkung moderner Feuerwaffen und der Artillerie, die sich durch nicht „dagewesene Durchschlagskraft der Geschosse, ungeheure Schnelligkeit und beinahe mathematische Treffsicherheit“ auszeichnen (Bd. 1, S.427). Aufgrund der Erfahrungen im Krieg von 1870 kam eine Kommission zu dem Schluss, „dass der Angriff gegen eine in fester Stellung stehende Infanterie in der Zukunft erfolglos bleiben kann, […] auch wenn sie nur über halb soviel Gewehre verfügt wie der Angreifer“ (Bd. 1, S.355). Seitdem hatten alle Armeen die neue Technik des rauchlosen Pulvers in Repetiergewehren eingeführt, die mehr Geschosse über erheblich größere Distanz von bis zu 1.500 Metern treffsicher ins Ziel bringen konnten. Damit habe „sich die Kraft des Artilleriefeuers seit 1870 um das Zwölf- bis Fünfzehnfache gesteigert“ (Bd. 1, S.386). Es erscheinen immer neue Geschützsysteme, welche die früheren an Treffweite, Treffsicherheit und Geschossgeschwindigkeit weit hinter sich lassen. Die Wirkung der Maxim-Schnellfeuerkanone (Maschinengewehr), die mehrere hundert Schuss pro Minute abfeuern könne, bezeichnete Bloch als „eine im höchsten Grade mörderische“ (Bd. 1, S.133). Neue Sprengstoffe wie Nitroglycerin würden die Vernichtungskraft immer weiter steigern. „Geschütze wie Geschosse haben sich […] gegen früher so radikal vervollkommnet, dass die durch Artillerie verursachten Verluste ungeheuer gross sein werden, weshalb es sich fragen dürfte, ob die jetzigen Volksheere im Stande sein werden, das heutige Artilleriefeuer zu ertragen.“ (Bd. 1, S.358) In den zukünftigen Schlachten würden die Gegner „sich aus der Ferne vernichten, ohne einander zu sehen […] Mehr als je wird der Ausdruck »Kanonenfutter« zur Wahrheit werden.“ (Bd. 6, S.311)

Mit der zunehmenden Zahl und Größe von Geschützen stellte sich das Problem ihres Transports. Die beiden Bedingungen, „genügende Beweglichkeit, um den Feldtruppen folgen zu können, genügend grosses Kaliber, um grosse Projektile zu schleudern, schienen sich schwer vereinigen zu lassen“, wurden aber letztlich durch die Eisenbahn und andere motorisierte Transportmittel praktikabel gelöst (Bd. 1, S.422). Bloch wies darauf hin „dass der Dampfmotor weit hinter dem Gasolinmotor zurückbleibt. […] Die Apparate werden jeden Tag vollkommener, Dank der Erfahrung, die man macht, die Unbequemlichkeiten und Hindernisse schwinden, die Mechanismen vereinfachen sich und der Petroleumwagen geht all’ der Vervollkommnung rasch entgegen, deren er überhaupt fähig.“ (Bd. 1, S.237)

Aufgrund der Tatsachen kommt Bloch zu dem Schluss, „dass in künftigen Kriegen […] Vernichtungsmittel von solcher Kraft in Anwendung kommen werden, dass Konzentration der Truppen im offenen Felde oder unter dem Schutz von Deckungen und Befestigungen unmöglich und dadurch auch der ganze gegenwärtig für den Krieg vorbereitete Apparat untauglich werden wird“ (Bd. 1, S.17). Durch die Vernichtungswirkung würden gegnerische Armeen sich entlang der Frontlinien eingraben und in einem auszehrenden Grabenkrieg gegenüberstehen. Ein Krieg dieser Art, der einen „mehr mechanischen als ritterlichen Charakter“ habe, könne nicht schnell gelöst werden, der „Geist der Initiative, des Angriffs“ verfehle sein Ziel. Der Versuch, das Patt zu überwinden, führe zu einem fortwährend gesteigerten Mitteleinsatz, der ökonomisch in keinem Verhältnis zum Ergebnis stehe: „[N]iemals haben sich die Staaten zu einem Kriege so gründlich vorbereitet wie jetzt, niemals wurde eine solche Masse von Mitteln beschafft, um dem Feinde Verluste an Mannschaft und Vermögen zuzufügen. Überall werden gleichartige Vorbereitungen getroffen, dabei wird das Gleichgewicht unter ihnen aufrecht erhalten; so ergibt sich kein Vorzug für irgend eine Seite, und gleichzeitig wächst die Vernichtungsfähigkeit des Krieges für alle in gleicher Weise.“ (Bd. 1, S.238)

Gesellschaftliche Folgen

Besonders bemerkenswert waren Blochs Betrachtungen über die Auswirkung der neuen Waffentechnologien auf die Heimatgesellschaften: Aufgrund der Unfähigkeit, Kriege mit militär-technischen Mitteln zu entscheiden, werde der Krieg vorwiegend eine Frage wirtschaftlicher Macht. Im Gegensatz zu vorangegangenen Kriegen, in denen Zehntausende, gelegentlich Hunderttausende von Soldaten zum Einsatz kamen, könnten Industriegesellschaften Massenheere mit Millionen von Menschen mobilisieren, was nicht nur ein kompliziertes logistisches Versorgungsproblem sei:„Der so komplizierten Maschine der heutigen Gesellschaftsordnung plötzlich massenhafte Arbeitskräfte zu entziehen, erscheint eigentlich ganz unmöglich. Eine plötzliche Einberufung könnte bedenkliche Folgen nach sich ziehen.“ (Bd. 1, S.451) Krieg erscheint so ökonomisch und sozial kaum vorstellbar, weil die Gesellschaften ausbluten und politisch zusammenbrechen könnten: „[W]enn ganze Völker, alles, was für die produktive Arbeit fähig ist, dem tödlichen Feuer geweiht werden, erregt der Militarismus die Abneigung gegen sich.“ (Bd. 5, S.5) Hier zeigen sich politische Grenzen, die die „Vorstellungen von der Unvermeidlichkeit des Krieges“ in Frage stellen: „Liegt nicht ein innerer Widerspruch in der Vorbereitung immer gewaltigerer Vernichtungsmittel und der Einziehung fast der ganzen Bevölkerung zu den Fahnen, gegenüber dem Zeitgeist, der sich in vielen Staaten energisch gegen den Militarismus auflehnt?!“ (Bd. 6, S.35)

Damit bestehe für die herrschenden Kreise das Risiko, dass eine absehbare Niederlage im Krieg zu „gewaltsamen revolutionären Umwälzungen zur Schaffung neuer politischer Formen oder einer neuen Gesellschaftsordnung“ führen könne (Bd. 6, S.91). Insbesondere könne „der innere Verfall der Monarchie mit schnellen Schritten vor sich gehen“ (Bd. 6, S.277). Dies habe auch Folgen für die Zeit nach dem Krieg, darunter wirtschaftliche Verwerfungen, Hungersnöte, Krankheiten und Epidemien: „Die Verwüstungen […] wären so ungeheuer, die Erschütterungen der Produktionsfähigkeit und ihres Kredits so stark, dass es einfach unmöglich werden dürfte, diesen Ländern Kontributionen aufzuerlegen, die dem Sieger seine Ausgaben ersetzen könnten.“ (Bd. 6, S.215)

Technische Rüstungsdynamik

Erstmals nimmt Bloch eine umfassende Untersuchung des Krieges vor, der militärisch-technischen ebenso wie der ökonomischen, sozialen und politischen Faktoren. Für die wesentlichen Erkenntnisse sei „nur der allgemein menschliche Verstand nötig“ (Bd. 1, S. XXIX). Suspekt war den Militärtheoretikern seiner Zeit Blochs Versuch, eine „Bresche in das System des Militarismus“ zu legen (Band 6, S.359). Sie warfen ihm Unkenntnis und fehlende Erfahrung in militärischen Dingen vor. Seine Mathematik möge korrekt sein, die militärischen Schlüsse seien aber angreifbar (Welch 2000). Er habe die Situation um die Jahrhundertwende beschrieben, nicht aber neuere Entwicklungen. Dies geht am Kern seiner Analyse vorbei und ist auch nicht ganz korrekt. Bloch erwähnt neue Technologien wie motorisierte Fahrzeuge, Panzer und Flugkörper, die im Ersten Weltkrieg zum Einsatz kommen sollten. Sie bestimmten zwar die Rüstungsdynamik nach dem Krieg, führten zu neuen Offensivkonzepten und prägten das Gesicht des Zweiten Weltkriegs, änderten aber nichts daran, dass letztlich die industriellen Kapazitäten der Kriegsparteien den Ausschlag gaben.

Mit dem Kampfpanzer wurde im Ersten Weltkrieg ein Instrument geschaffen, das Masse, Feuerkraft, Panzerung und Beweglichkeit miteinander verknüpfte (Unterseher 2014). Er stärkte die Offensive, kam aber zu spät, um kriegsentscheidend zu sein. Bloch widmete dem Thema „Schild und Panzer“ ein ganzes Kapitel: „Die Erfindung des Schiesspulvers machte Panzer, Harnische u. dgl. unnütz, allein seine weitere Vervollkommnung regte von Neuem die alte Idee an, dem Geschützfeuer eine Panzerbedeckung entgegen zu stellen.“ (Bd. 1, S.249) Auch wenn ihm die fahrbare Panzerlafette mit Schnellfeuerkanone als eine furchtbare Waffe erschien, werde bald „eine neue Entdeckung in der Chemie, in Art eines neuen verhältnismässig stärkeren Pulvers, jede Bedeutung des Panzers vernichten“ (ibid.).

Hier zeigt sich Blochs dynamische Sicht auf die rüstungstechnische Entwicklung, die militärische Vorteile schaffe und wieder in Frage stelle: „In allen Ländern arbeitet der menschliche Verstand unermüdlich an solchen Erfindungen, welche behufs Erhöhung militärischer Leistungsfähigkeit den Gebrauch aller Naturkräfte, Fähigkeiten der Menschen und Tiere, Eigenheiten der Pflanzen und Metalle ermöglichen.“ (Bd. 1, S.238) Aufgrund der technischen Erfindungen werden bald „die Widerstandskraft des Panzers verstärkt, bald wird die Durchschlagskraft der Granaten erhöht oder die Tragweite des Infanteriegewehrs und der Feldgeschütze verstärkt, und auf diese Weise verwandeln sich die neuen Erfolge der Technik in ungeheure Ausgaben“ (Bd. 6, S.215). Wenn „Nachbarstaaten bei neuen Entwicklungen unverzüglich nachfolgen, vielleicht sogar noch weitergehende Vervollkommnungen einführen“ (Bd. 1, S.383), würden bei gleichem Stand der Technik trotz Geheimhaltung zeitweilige Vorsprünge wieder zunichte gemacht: „Früher oder später jedoch wird es glücken, den Vorhang zu lüften und alsdann wird der Wetteifer von Neuem beginnen.“ (Bd. 1, S.383) Da „mit jedem Tage neue, immer mehr Vernichtung schaffende Erfindungen gemacht“ werden, könne niemand vorhersagen, wie „der wirkliche Stand der Dinge in einem zukünftigen Kriege sein wird“ (Bd. 1, S.427). Angesichts der rasanten technischen Entwicklung erfordert der Umgang mit dem „komplizierten modernen Kriegsmechanismus […] um so intelligentere Menschenkräfte, je komplizierter er ist“ (Bd. 1, S.353). Diese Kompliziertheit stehe in Widerspruch zu etablierten militärischen Strategien, die auf Ergebnissen früherer Kriege beruhen.

Der Weg in den „unmöglichen Krieg“

Angesichts der Ablehnung durch die „militärische Kaste“ wandte Bloch sich mit seinen Erkenntnissen an die internationale Öffentlichkeit und die Politik. In der Friedensbewegung fielen seine Ansichten auf fruchtbaren Boden. Der russische Zar Nikolaus II setzte sich mit dem Werk Blochs auseinander und traf sich mehrfach mit ihm. Dies war einer der Anlässe, 1899 die Haager Friedenskonferenz auf den Weg zu bringen, die jedoch keine großen Fortschritte bei der Abrüstung brachte. Bloch wurde für den ersten Friedensnobelpreis 1901 nominiert, den dann Henri Dunant erhielt. Nach seinem Tod ein Jahr später wurde das nach ihm benannte erste Museum für Krieg und Frieden in Luzern gegründet (Thomas 1903, Troxler et al. 2010). Der 1905 mit dem Nobelpreis ausgezeichneten Bertha von Suttner wird diese Aussage über Bloch zugewiesen: „De Bloch war nicht mehr ein Apostel des Friedens als Newton ein Apostel des Gravitationsgesetzes war oder Darwin ein Apostel der Evolution der Arten. Er war ein Suchender und ein Gelehrter im Feld der Sozialwissenschaften.“ (Thomas 1903, S.258, übersetzt aus dem Englischen nach Welch 2000, S.275) Für Thomas war Blochs Werk „die Erklärung eines Wissenschaftlers, der die Entdeckung eines bestehenden, bislang unbekannten Gesetzes verkündet“ (Welch 2000, S.275).

Dabei wollte Bloch nicht nur beschreiben, er wollte den Gang der Geschichte auch beeinflussen. Geradezu ambivalent ist sein Unterfangen, die destruktiven Möglichkeiten des Krieges rational und empirisch aufzuzeigen, zugleich aber seine Sinnlosigkeit zu belegen und ihn politisch unmöglich zu machen: „Daraus, dass die Kräfte der Völker begrenzt sind, die Fortschritte der Technik aber keine Grenzen kennen, folgt, dass die Schwere der Rüstungen unausbleiblich irgend einmal positiv unerträglich werden muss, und die furchtbaren Menschenhekatomben und die ökonomische Katastrophe als Folgen des Krieges bedingen die allgemeine Erkenntnis, dass es unmöglich ist, den Krieg zuzulassen, weil es unmöglich ist, ihn und seine Folgen zu ertragen.“ (Bd. 6, S.348) Dies sei ein erster Versuch, „diesen Weg zum Ausgang aus dem wahren circulus vitiosus, in welchem sich Europa befindet und in dem es noch lange Zeit hindurch zum grössten Schaden für sein Wohl stecken bleiben kann, zu kennzeichnen. […] Wenn klargelegt wird, dass die äussersten Anstrengungen zur Steigerung der Kriegsmittel nur die Wahrscheinlichkeit der politischen Resultatlosigkeit eines Krieges vergrössern, so wird in diesem Falle wirklich der Gedanke der Notwendigkeit einer allgemeinen Abrüstung endgültig in dem Bewusstsein der Völker seine Herrschaft auszuüben beginnen.“ (Bd. 6, S.359) Unverzüglich sei die Frage nach der Vermeidung des Krieges auf den „Boden einer praktischen Erörterung unter Mitwirkung und Kontrolle seitens der Regierungen zu stellen“ (Bd.6, S.348). Engagiert beschrieb er eine neue, auf Gerechtigkeit und wirksamen Schlichtungsinstanzen gründende internationale Ordnung.

Damit versuchte er wie andere auch, sich dem Fatalismus der scheinbar unausweichlichen Katastrophe entgegen zu stellen. „Kriege entladen sich nicht wie Gewitter aus Spannungen elementarer Kräfte“, erklärte der französische Sozialistenführer Jean Jaurès 1906 auf einem Parteitag in Limoges, „sie entspringen einem Willensakt und sind daher nicht unabwendbar“ (zit. nach Wette 2012). Sechs Jahre später schreibt dagegen August Bebel: „Ich bin schon seit längerer Zeit […] zu der Ansicht gekommen, daß das nächste Jahr uns wahrscheinlich den europäischen Krieg auf den Hals bringt […] Die Dinge haben ihre eigene Logik, und es ist zu viel Zündstoff vorhanden; man wird wider Willen weitergetrieben.“ (zit. nach Wette 2012).

Die Zukunftsbilder werden immer düsterer. 1912 zeichnete Wilhelm Lamszus mit seinem populären Roman »Das Menschenschlachthaus« eine erschreckende Vision vom kommenden industrialisierten Krieg, der mit einer nie da gewesenen Gewalteskalation verbunden sein würde. Kapitalistische Großfabriken würden zu „grossen Schwungmaschinen“ einer Massendestruktion: „Von Technikern, von Maschinisten werden wir vom Leben zum Tode befördert.“ (zit. nach Tanner 2000)

Solche Bilder gehen konform mit der Vorstellung einer systemischen und unaufhaltsamen Eigendynamik, die als kollektive Erwartung der Katastrophe zur selbst-erfüllenden Prophezeiung wurde (Münkler 2014). Blochs Versuch, den herrschenden Kräften vor Augen zu führen, was sie mit ihrer „auf Vernichtung gerichteten Macht“ anrichten, die ihnen selbst ebenso schade, liefen da ins Leere. In dem Bemühen, die von ihnen angestrebten Realitäten zu konstruieren, verschlossen sie die Augen vor den tatsächlichen Realitäten und lehnten die Friedensbemühungen ab. Vordergründig agierten sie wie „Schlafwandler“ (Clarke 2013), so als ob sie aufgrund ihrer Bewegungsrichtung wie Teilchen mechanisch in den Zusammenprall mit anderen Teilchen hineinliefen und dabei nur den Naturgesetzen und dem Zufall unterworfen wären. Schlafwandler waren die Akteure allerdings nur, wenn sie sich gemäß der Devise »Augen zu und durch« in Sachzwänge begaben, die das Ergebnis ihrer eigenen Macht- und Gewaltlogik waren. Während sie im Sinne des linear-mechanistischen Weltbilds glaubten, durch den Einsatz geschickt eingesetzter Kräfte den Krieg zu ihren Gunsten entscheiden zu können (Beispiel Schlieffen-Plan), negierten sie ihre eigene Verantwortung und drängten sich selbst in eine Opferrolle, die dem Gegner alle Verantwortung zuschob. Überholtes militärisches Denken gepaart mit einer Verkennung der technischen und industriellen Gegebenheiten wurde den Komplexitäten der damaligen Weltlage nicht gerecht. Die Eskalationsdynamik und die vernetzten Allianzstrukturen trugen dazu bei, dass die politischen und militärischen Führer sich gründlich verrechneten und die Entwicklung ihrer Kontrolle entglitt (Vasquez et al. 2011, Chi et al. 2014).

Heutige Bedeutung

Die Analysen Blochs wurden mit geradezu unerbittlicher Präzision im Ersten Weltkrieg bestätigt. Viele Überlegungen zum Krieg wie zum Frieden bleiben bis heute aktuell. Die Vernichtungswirkung der Waffentechnik wurde gegenüber dem Ersten Weltkrieg ins Unermessliche gesteigert und führte zum Totalen Krieg, der ganze Gesellschaften erfasste (Scheffran 2005). Eine Folge war die riskante Abschreckungsstrategie im Kalten Krieg, die den Nuklearkrieg für möglich hielt, um ihn unmöglich zu machen. Unterhalb der Nuklearschwelle sehen sich die Militärmächte bis heute zur Zurückhaltung veranlasst, zum einen, weil das Risiko der Vernichtung im Krieg weiterhin gegeben ist, zum anderen aufgrund der Bestrebung, den Krieg politisch und rechtlich einzugrenzen. Dies schließt Gewaltkonflikte mit und zwischen kleineren Mächten allerdings nicht aus.

Damit Krieg unmöglich wird, gilt es auch weiterhin, die zum Kriege drängenden Sachzwänge zu vermeiden und alternative Entscheidungsspielräume zu schaffen. Hierzu gehört, den Bedingungen für einen neuen großen Krieg entgegen zu wirken, wie sie etwa im Gefolge der NATO-Expansion und russischer Reaktionen, der kapitalistischen Globalisierung oder einer Zerstörung menschlicher Existenzgrundlagen durch den Klimawandel denkbar sind (Scheffran 2000, Boeing 2009).

Gerade angesichts der aktuellen Krise in der Ukraine mutet es seltsam an, wie Bloch die unterschiedlichen Einstellungen von Russland und dem Westen beleuchtete. Dabei nahm er wiederholt auf den Krim-Krieg von 1853-1856 Bezug, in dem Russland gegenüber der Allianz aus Frankreich, Großbritannien, Sardinien und dem Osmanischen Reich isoliert war, während Preußen neutral blieb und Österreich sich zwischen die Stühle setzte. Der wichtigste europäische Krieg zwischen den Napoleonischen Kriegen und dem Ersten Weltkrieg war als erster der modernen Stellungskriege nicht nur besonders verlustreich, sondern brachte auch das Lazarettwesen, die Telegrafie, das Feldtelefon und die Kriegsberichterstattung mit sich, ebenso eine Erhöhung des russischen Bevölkerungsanteils auf der Krim. Bemerkenswert ist hier Blochs Schlussfolgerung: „Ohne Zweifel muss die Gefahr innerer Bewegungen, die eine Krisis hervorrufen würde, auf die Regierungen derart einwirken, dass sie von dem Kriegsunternehmen zurückschrecken.“ (Bd. 6, S.90) Auch in diesem Sinne bleibt Bloch bis heute aktuell.

Literatur

Bloch, J. von (1899): Der Krieg. Der zukünftige Krieg in seiner technischen, volkswirthschaftlichen und politischen Bedeutung. 6 Bde. Berlin: Puttkammer & Mühlbrecht; online unter archive.org/details/derkrieg05blocgoog.

Boeing, N. (2009): Das Negativmodell ist die Welt vor dem Ersten Weltkrieg. Technology Review, 18.11.2009; heise.de.

Chi, S.H., Flint, C., Diehl, P., Vasquez, J. Scheffran, J., Radil, S.M. & Rider, T.J. (2014): The Spatial Diffusion of War: The Case of World War I. Journal of the Korean Geographical Society, 49 (1), S.57-76.

Clark, C. (2013): Die Schlafwandler: Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog. München: Deutsche Verlags-Anstalt.

Leonhard, J.(2014): Die Büchse der Pandora: Geschichte des Ersten Weltkrieges. München: Beck.

Münkler, H. (2014): Der Große Krieg: Die Welt 1914 bis 1918. Reinbek: Rowohlt.

Scheffran, J. (2000): Zurück zum Kalten Krieg? W&F 2-2000.

Scheffran, J. (2005): Wissenschaft, Rüstungstechnik und totaler Krieg. W&F 1-2005.

Singer, C.E. (2008): Energy and International War. Singapur: World Scientific Press.

Tanner, J. (2014): Erster Weltkrieg: Der erste totale Krieg. Die Wochenzeitung Nr. 12/2014 vom 20.3.2014.

Thomas, G.G. (1903): The Bloch Museum of Peace and War. Chambers journal LXXX, S.258.

Troxler, W., Walker, D., Furrer, M. (Hrsg.) (2010): Jan Bloch und das internationale Kriegs- und Friedensmuseum in Luzern. Münster: LIT.

Unterseher, L. (2014): Der Erste Weltkrieg. Berlin: Springer.

Vasquez, J.A., Diehl, P.F., Flint, C. & Scheffran, J. (eds.) (2011): Forum on the Spread of War, 1914-1917. Foreign Policy Analysis (Special Issue) 7, S.139-141.

von Suttner, B. (1889): Die Waffen nieder! Dresden: Edgar Pierson.

Welch, M. (2000): The Centenary of the British Publication of Jean de Bloch’s Is War Now Impossible? (1899-1999). War in History, Vol. 7, No. 3, S.273-294.

Wette, W. (2012): Erster Weltkrieg – Letzter Appell an Europa. DIE ZEIT, 48/2012, S.29.

Jürgen Scheffran ist Professor am Institut für Geographie der Universität Hamburg, Leiter der Forschungsgruppe Klimawandel und Sicherheit am KlimaCampus Hamburg und Mitglied der Redaktion von W&F.

Chemiewaffen

Chemiewaffen

Vom Ersten Weltkrieg zur weltweiten Abschaffung

von Paul F. Walker

Tödliche Chemikalien wurden schon vor Jahrhunderten für Straftaten oder in Kriegen eingesetzt. Der jüngste Einsatz von Chemiewaffen erfolgte im aktuellen Syrienkonflikt und führte Berichten zufolge zum Tod von etwa 1.400 Zivilisten, darunter einige hundert Kinder. Insbesondere dieser Vorfall lenkte die öffentliche Aufmerksamkeit jetzt wieder auf diese alte, inhumane und unterschiedslose Art, zu töten und Krieg zu führen.

Demnächst jährt sich der Beginn des Ersten Weltkriegs zum 100. Mal. Das sollte uns Anlass sein, des tödlichsten Einsatzes von Chemiewaffen auf den Schlachtfeldern dieses Krieges zu gedenken. Dem Giftgas fielen in diesem furchtbaren Krieg etwa 90.000 Soldaten zum Opfer, rund eine Million Soldaten wurde davon verletzt. (Die hohe Zahl an Verletzten hatte für die Angreifer deshalb große Bedeutung, weil sie nicht nur selbst als Kämpfer ausfielen, sondern an und hinter der Front zur Bergung und anschließenden, oft Wochen und Monate dauernden, medizinischen Versorgung sehr viele Kräfte banden.) Zum Glück wurde inzwischen eine Reihe völkerrechtlicher Rüstungskontroll- und Abrüstungsverträge vereinbart, die sich mit diesen im Kriegsvölkerrecht als »inhuman« bezeichneten Massenvernichtungswaffen befassen.

Die Geschichte solcher Vereinbarungen reicht weit zurück, bis ins Jahr 1675, als die kaiserlichen und die französischen Truppen in Straßburg ein bilaterales Abkommen zum Verbot vergifteter Kugeln trafen. 200 Jahre später verbot die Brüsseler »Deklaration über die Gesetze und Gebräuche des Krieges« von 1874 inhumane Waffen, die unnötiges Leiden verursachen. Dies schloss ein Verbot von Gift und vergifteten Waffen ein. Auf dieser Grundlage wurde 1899 auf der Ersten Friedenskonferenz in Den Haag neben dem »Haager Abkommen« u.a. eine Erklärung verabschiedet, die verbietet „solche Geschosse zu verwenden, deren einziger Zweck ist, erstickende oder giftige Gase zu verbreiten“. Acht Jahre später wurde das Verbot von Giftwaffen auf der Zweiten Haager Friedenskonferenz ausdrücklich bestätigt.

Giftgaseinsätze trotz Verbots

Bei den Kämpfen im Ersten Weltkrieg erwiesen sich die Rüstungskontrollanstrengungen der vergangenen 200 Jahre leider als vollkommen untauglich. Die französische Armee experimentierte im August 1914 als erste mit dem Einsatz von Reizgas; die deutschen Truppen zogen im Oktober nach. Diese noch begrenzten Angriffe waren nicht sehr folgenreich, es gab nur wenige Opfer. Deutschland setzte Giftgas am 31. Januar 1915 auch in der Schlacht von Bolimów nahe Warschau ein, wo deutsche Truppen ungefähr 18.000 Reizstoffgranaten gegen die russischen Truppen abschossen; die Wirkung blieb allerdings aufgrund der kalten Witterung äußerst begrenzt.

Zum ersten folgenreichen Großeinsatz tödlicher chemischer Wirkstoffe kam es auf den zum Synonym für Giftgas gewordenen Schlachtfeldern von Ypern. Die Stadt im Nordwesten Belgiens, unweit der Grenze zu Frankreich, wurde in ihrer 2.000-jährigen Geschichte immer wieder von Krieg überzogen und zerstört. 1914 wurde Ypern beim Vorstoß der deutschen Truppen Richtung Frankreich gemäß dem Schlieffen-Plan eingenommen. Im Herbst des Jahres eroberten britische, französische und alliierte Streitkräfte die Stadt mit ihren 40.000 Einwohnern von den Deutschen zurück, und Deutschland versuchte in der zweiten Flandernschlacht, das verlorene Terrain wieder einzunehmen.

Um den festgefahrenen Grabenkrieg um Ypern aufzubrechen, befahl der kommandierende General am 22. April 1915 den Einsatz von Chlorgas gegen die alliierten Kräfte. Mehr als 5.700 große Druckflaschen waren bereits an die Front verbracht worden, und am frühen Abend, als der Wind günstig stand, wurde das Chlorgas abgeblasen. Gelb-grüne Chlorwolken trieben auf die alliierten Schützengräben zu, und die französischen, britischen, kanadischen, algerischen, marokkanischen und senegalesischen Soldaten, die die alliierten Linien verteidigten, mussten zwischen zwei Übeln wählen: Entweder sie verließen die Schützengräben und setzten sich dem Maschinengewehrfeuer der Deutschen aus, oder sie blieben im Graben und hofften, diese mysteriöse Gaswolke zu überleben.

Das chemische Element Chlor wird in flüssiger Form zwar häufig für industrielle Zwecke eingesetzt, z.B. zum Bleichen, in seiner gasförmigen Elementarform ist es aber ein Kampfstoff, der in hoher Konzentration binnen weniger Minuten zum Ersticken seiner Opfer führt. 1915 gab es in den alliierten Truppen nur vereinzelte Gasmasken. Der einzige Schutz für die Soldaten bestand also darin, auf Stoff zu urinieren und sich die uringetränkten Lappen dann vor die Nase zu halten. Tausende alliierter Soldaten kamen bei dem Gasangriff der »Schlacht von Gravenstafel« um. Die Weltöffentlichkeit musste zur Kenntnis nehmen, dass die bis dato abgeschlossenen Verbote die Kriegsführung mit den inhumanen chemischen Waffen nicht verhindert hatten.

Die deutschen Truppen setzten in den Schlachten bei Ypern noch mindestens viermal Chlorgas ein, insbesondere bei der Schlacht von Bellewaarde am 24. Mai 1915, dem vierten großen Waffengang um Ypern in diesem Frühjahr. Dieses Mal waren die alliierten Truppen besser darauf vorbereitet, sich gegen überraschende Gasangriffe zu schützen, dennoch wurden viele Tote und Verletzte verzeichnet. Im weiteren Verlauf des Ersten Weltkriegs bedienten sich sowohl die deutschen als auch die alliierten Streitkräfte noch weitaus tödlicherer Kampfgase, darunter Phosgen, Phosgen-Chlor-Verbindungen und Senfgas – neu entwickelte Lungen- und Kontaktkampfstoffe mit einer erheblich höheren Letalität als Chlorgas. Der erste britische Gasangriff fand am 25. September 1915 in der Schlacht von Loos in Frankreich statt; das Chlorgas entfaltete aufgrund wechselnder Winde aber kaum Wirkung. Insgesamt wurden während des Ersten Weltkriegs von Deutschland, Großbritannien, Frankreich und den Vereinigten Staaten ungefähr 190.000 Tonnen Giftgase hergestellt. Mit Abstand die meisten Todesfälle wurden durch den Kampfstoff Phosgen verursacht.

Den Schrecken des Giftgaskrieges wird in und um Ypern bis heute an mehreren Orten gedacht: auf dem Deutschen Soldatenfriedhof Langemark und dem Soldatenfriedhof »Tyne Cott Commonwealth«, in der anglikanischen »Saint George’s Memorial Church«, dem »In Flanders Fields Museum« und dem »Menin Gate Memorial to the Missing«. Mit Ausnahme der deutschen Besatzungszeit während des Zweiten Weltkriegs wird am Menin Gate seit 1928 jeden Abend eine Gedenkzeremonie für die Kriegstoten abgehalten. Viele DiplomatInnen, FachexpertInnen und BürgerInnen (einschließlich des Autors dieses Artikels) besuchten diese bewegenden Gedenkstätten von Ypern in Belgien. Unser Engagement für die wirksame Umsetzung eines globalen Verbots dieser kompletten Waffengattung wird durch dieses Gedenken gestärkt.

Neue Anläufe zur Kontrolle chemischer Waffen

Die internationale Gemeinschaft war vom Einsatz chemischer Waffen und Agenzien im Ersten Weltkrieg so verschreckt, dass sie sich 1925 auf das Genfer »Protokoll über das Verbot der Verwendung von erstickenden, giftigen oder ähnlichen Gasen sowie von bakteriologischen Mitteln im Kriege« einigte. Dieser völkerrechtliche Vertrag verbot zwar den Einsatz chemischer und biologischer Waffen im Krieg, untersagte aber nicht die Forschung, Entwicklung, Herstellung und Lagerung solcher Waffen. Dem Genfer Protokoll traten zahlreiche Länder bei, viele von ihnen aber nur unter dem Vorbehalt, dass sie sich offen halten, auf einen Angriff mit chemischen oder biologischen Waffen auch mit solchen Waffen zu antworten bzw. solche Waffen gegen Nicht-Vertragsstaaten einzusetzen.

Die meisten Industriestaaten setzten in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg die Entwicklung und Lagerung chemischer Waffen fort. Sie führten neue und noch tödlichere Wirkstoffe ein, wie Lewisit, und schließlich auch eine ganz neue Gruppe von Nervengasen, wie Sarin, Soman, VX und andere. Diese Agenzien greifen das Nervensystem an und führen innerhalb weniger Minuten zum Tod.

In Europa kam es im Zweiten Weltkrieg zu keinen größeren Giftgaseinsätzen, obwohl die Großmächte zehntausende Tonnen in ihren Arsenalen vorhielten. Im asiatisch-pazifischen Raum war dies anders. Dort setzte Japan 1943 – zwei Jahre nach seinem Überraschungsangriff auf Pearl Harbor und sieben Jahre nach seiner Invasion in China – in der Schlacht nahe der chinesischen Stadt Changde Senfgas und Lewisit ein, möglicherweise auch an anderen Orten. Heute kooperieren Japan und China, um Tausende mit Chemiewaffen gefüllte Geschosse, die vom Zweiten Japanisch-Chinesischen Krieg übrig sind, auszugraben und zu sichern.

Auch nach dem Zweiten Weltkrieg kam es wiederholt zu Chemiewaffenangriffen: Im Jemenkrieg (1962-67) setzte Ägypten bei mehreren Luftangriffen auf den Jemen Fliegerbomben mit chemischen Agenzien – vor allem Senfgas und Phosgen – ein. Dabei starben etwa 1.500 Menschen, weitere 1.500 wurden verletzt. In den 1960er Jahren versprühten die USA im Vietnamkrieg riesige Mengen des äußerst gefährlichen Entlaubungsmittels Agent Orange über gegnerischen Gebieten.

In den 1970er Jahren kamen die Vereinigten Staaten, die Sowjetunion und weitere Länder jedoch mitten im Kalten Krieg zu der Erkenntnis, dass ihre Lagerbestände weitaus mehr Risiken und Kosten als Sicherheitsgewinn verursachten. Daher richteten die beiden Supermächte 1978 eine Arbeitsgruppe zu Chemiewaffen ein – 15 Jahre später wurde das Chemiewaffenübereinkommen (CWÜ) zur Unterzeichnung ausgelegt. Die Genfer Verhandlungen für diesen völkerrechtlichen Vertrag hatten in den 1980er Jahren an Dringlichkeit gewonnen, als Irak im Ersten Golfkrieg Chemiewaffen gegen Iran einsetzte, insbesondere, als der irakische Präsident Saddam Hussein 1988 den Einsatz von Chemiewaffen gegen die Stadt Halabja in Irakisch Kurdistan befahl, bei dem Tausende irakischer BürgerInnen umkamen. Der Terroranschlag im Jahr 1995, als die japanische Sekte Aum Shinrikyo in der Tokioter U-Bahn Sarin ausbrachte und mehrere Dutzend Menschen umkamen sowie Tausende verletzt wurden, verlieh den Argumenten für das CWÜ zusätzliche Kraft.

Das Übereinkommen trat 1997 in Kraft und hatte zu Beginn 87 Vertragsparteien. Das CWÜ verbietet Entwicklung, Herstellung, Lagerung und Einsatz von Chemiewaffen im Krieg. Die Mitgliedsstaaten verpflichten sich, jegliche Chemiewaffen, -programme und –einrichtungen zu deklarieren, die Verifikation zuzulassen und die Waffen und Einrichtungen auf sichere Weise zu vernichten bzw. zu beseitigen. Inzwischen sind dem CWÜ 190 Staaten beigetreten, davon haben acht Chemiewaffenarsenale deklariert. Insgesamt meldeten Albanien, Indien, Irak, Libyen, Russland, Südkorea, Syrien und die Vereinigten Staaten mehr als 72.000 t Chemiewaffen an, die meisten davon, 68.000 t, in den USA und Russland.

Erfreulicherweise haben drei Staaten mit Chemiewaffenarsenalen – Albanien, Indien und Südkorea – die verifizierte Vernichtung ihrer Vorräte unter Leitung der »Organisation für das Verbot chemischer Waffen« (OVCW, engl. OPCW, Sitz in Den Haag) bereits abgeschlossen. Die übrigen fünf Chemiewaffenländer setzen die vereinbarten Abrüstungsprogramme weiterhin um, wobei die meisten Chemiewaffen immer noch in Russland (etwa 10.000 t) und den USA (ca. 2.800 t) vorrätig sind. In Syrien, der jüngsten, 190. Vertragspartei des CWÜ, wird die Vernichtung der etwa 1.300 t Chemiewaffenvorräte momentan nach Plan abgewickelt und soll Mitte 2014 abgeschlossen sein. Wenn alles gut geht, sind in spätestens zehn Jahren weltweit sämtliche Vorräte dieser Waffengattung beseitigt.

Von einer kriegsgeplagten Welt mit einem massiven Einsatz tödlicher Chemiewaffen haben wir uns in den vergangenen 100 Jahren zu einer Weltgemeinschaft entwickelt, die sich auf die verifizierte Abrüstung dieser Waffen verpflichtet hat. Noch sind sechs Länder –Ägypten, Angola, Israel, Myanmar, Nordkorea und Südsudan – dem CWÜ nicht beigetreten, aber es bestehen kaum Zweifel, dass sich dies in den nächsten Jahren ändern wird. Dieses Abrüstungsregime taugt gut als Vorbild für ähnliche Abrüstungsregime, u.a. für biologische, nukleare und konventionelle Waffen:

  • Es ist nicht-diskriminierend (d.h. sämtliche Mitgliedsstaaten haben die gleichen Rechte und Pflichten).
  • Es verpflichtet alle Mitgliedstaaten dazu, ihre Chemiewaffen zu vernichten.
  • Jegliche einschlägigen Anlagen – nicht nur die des Militärs, sondern auch die der Industrie – stehen der OVCW für Vor-Ort-Inspektionen und andere Verifikationsmaßnahmen offen.

Gedenken – und für Abrüstung kämpfen

Wir sollten also im Jahr 2014 beides tun: der vielen Toten gedenken, die in den vergangenen 100 Jahren der chemischen Kriegsführung zum Opfer gefallen sind, aber auch die Fortschritte feiern, die wir vor allem in den vergangenen drei Jahrzehnten auf dem Weg in eine chemiewaffenfreie Welt verzeichnen konnten. ForscherInnen und WissenschaftlerInnen, PolitikerInnen und DiplomatInnen und die gesamte Zivilgesellschaft müssen darauf drängen und dafür arbeiten, dass das Chemiewaffenübereinkommen universelle Geltung erlangt und vergleichbare Abrüstungsregime auch für alle anderen unmenschlichen und unterschiedslos tötenden Waffengattungen durchgesetzt werden.

Paul F. Walker promovierte am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Internationaler Sicherheit. Er leitet den Bereich Umweltsicherheit und Nachhaltigkeit bei Green Cross International und wurde 2013 für seinen unermüdlichen Einsatz für eine chemiewaffenfreie Welt mit dem Right Livelihood Award (Alternativer Nobelpreis) ausgezeichnet.
Übersetzt von Regina Hagen.

Forschen für den Krieg

Forschen für den Krieg

Psychologische Aspekte der Rüstungsforschung im Nationalsozialismus

von Marianne Müller-Brettel

In allen kriegführenden Gesellschaften stellten Gelehrte, Handwerker und Techniker ihr Wissen und ihre Fähigkeiten den jeweiligen Herrschern für die Entwicklung von Waffen und die Planung von Kriegen zur Verfügung. Ohne Wissenschaftler und Ingenieure, ohne die Kooperationsbereitschaft der Forschungsinstitutionen hätte die Wehrmacht nicht aufrüsten und der deutsche Faschismus den Eroberungskrieg nicht führen können. Heute verurteilen wir das Verhalten der akademischen Elite im Nationalsozialismus. Doch die Frage bleibt, wie konnte es dazu kommen?

Wir haben nicht nur eine individuelle, sondern auch eine kollektive Identität. Wir sind eingebunden in ein soziales System, das uns prägt und das zu verlassen uns Angst macht. Sozialpsychologische Experimente wie das Milgram-Experiment oder das Stanford-Prison-Experiment1 zeigen, dass Loyalitäten und soziale Rollen das konkrete Handeln stärker bestimmen als individuelle Persönlichkeitseigenschaften und Wertvorstellungen. Die »Macht der Situation« bringt ganz normale Menschen dazu, sich grausam zu verhalten.

Dazuzugehören ist ein Grundbedürfnis des Menschen. Der soziale Konsens ist ein entscheidender Faktor dafür, was als recht und unrecht empfunden wird (Morris & Donald 1995). Denn weiche ich zu sehr von den Werten meiner jeweiligen Bezugsgruppen ab, so werde ich ausgeschlossen, was Verlust bedeutet und im schlimmsten Fall tödlich sein kann. Intellektuelle sind in doppelter Weise in das meist von Eliten bestimmte gesellschaftliche Wertesystem eingebunden: Sie formulieren und kommunizieren die jeweils gültigen Normen und Werte, die wiederum ihre eigenen Wertvorstellungen prägen. Das Verhalten der Wissenschaftler im Nationalsozialismus ist ohne das damals herrschende Wertesystem (Zeitgeist), dessen Wurzeln im 19. Jahrhundert liegen, nicht zu verstehen.

Der Zeitgeist oder die Macht der Situation

Durch die Industrialisierung und die damit einhergehende Säkularisierung verloren Christentum und Kirche an gesellschaftlicher Bedeutung. Nation und Nationalismus sollten ihre Funktionen übernehmen. Die nationale Idee sollte die Sehnsucht nach Erlösung befriedigen, während der Nationalstaat eine über alle Stände hinweg geltende Wertegemeinschaft bilden und damit den gesellschaftlichen Zusammenhalt garantieren sollte. In gesellschaftlichen Umbruchsituationen, die mit Verunsicherung für jede Bürgerin und jeden Bürger einhergehen, wird häufig Sicherheit in der kollektiven Gewalt gesucht. Entsprechend spielten und spielen bis heute Militär und Krieg bis hin zum Völkermord bei der Nationenbildung eine wesentliche Rolle. „Es scheint, als ob der moderne Staat, der sich als ein homogenes »Selbst«, als ein politisch, ethnisch und/oder religiös begründetes imaginäres »Wir« begreift, immer dazu neigt, sich gegen einen Anderen herauszubilden, den es zu vertreiben, ja zu vernichten gilt.“ (Sémelin 2004, S.368)

In Preußen wurden die Kriege gegen Napoleon von Gelehrten und Literaten zum großen Befreiungskrieg, zur „bellizistischen Gründungstat“ der Nation, stilisiert (Haase 2009, S.93). Das Militär wurde zur wertsetzenden Instanz. Entsprechend wurden militärische Tugenden wie Opferbereitschaft, Tapferkeit und Kameradschaft als herrschende Werte proklamiert. Der Militarismus erfasste alle Bereiche der Gesellschaft, disziplinierte und strukturierte sie (Reichherzer 2012). Militär und Krieg sollten nationale Einheit und Erlösung bringen. Der Glaube an die nationale Idee, an das Vaterland, trat neben den Glauben an Gott, was in der Kriegseuphorie von 1914 gipfelte, die auch die Mehrheit der Intellektuellen erfasste.2

Die Niederlage im Ersten Weltkrieg und die Demütigung durch den Versailler Vertrag verstärkten den Gelehrten-Nationalismus. Die Mehrheit der Wissenschaftler lehnte die Demokratie ab. Vielmehr sollten Wissenschaft und Militär Hand in Hand die Niederlage wettmachen. So schwärmte Friedrich Körber, Direktor des Kaiser-Wilhelm-Institus (KWI) für Eisenforschung, 1939 vom „Titan Deutschland“, der es nun im zweiten Anlauf der Welt zeigen werde (zit. nach Hachtmann 2009, S.40). Nicht zuletzt galt es, »den Bolschewismus« zu bekämpfen.

Seit Mitte der 1920er Jahre kooperierten die führenden Forschungsinstitute mit der Reichswehr, die einen neuen Krieg plante. Das Ziel des KWI-Direktors und Entwicklers der Giftgastechnologie, Fritz Haber, war es, die während des Ersten Weltkrieges erfolgreiche Kooperation zwischen Militärs, Naturwissenschaftlern, Technikern und der Großchemie im Frieden fortzusetzen (Szöllösi-Janze 2000). Dies bekräftigte 1934 der Verwaltungsausschuss der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (KWG): Es herrschte „Einmütigkeit darüber, dass die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft es als ihre vornehmste Aufgabe betrachte, ihre wissenschaftlichen Interessen mit den militärischen Interessen, die zur Zeit für unser Vaterland besonders wichtig seien, zu verbinden“ (Niederschrift über die Sitzung des Verwaltungsausschusses der KWG, 6.3.1934, zit. nach Deichmann 2000, S.240).

Die Kapitulation und Entmilitarisierung führten 1945 – anders als 1918 – zu einem Bruch im Wertesystem. Das Militär war diskreditiert, entsprechend auch die Zusammenarbeit von Wissenschaft und Militär. Die Wertfreiheit der Wissenschaft wurde verkündet, wodurch die Wissenschaftler sich selbst entlasteten, denn eine wertfreie Wissenschaft konnte nicht für die Verbrechen des Nationalsozialismus verantwortlich gemacht werden. Wie stark diese Sichtweise die Wahrnehmung in der Bundesrepublik prägte und die Leugnung der Forschungstätigkeit im Dienste des Faschismus möglich machte, zeigt das Beispiel von Adolf Butenandt, Nobelpreisträger und von 1960 bis 1972 Präsident der Max-Planck-Gesellschaft (MPG): Er ließ 1974 die Behauptung, dass Institute der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Rahmen der Euthanasie Hirnforschung betrieben hätten, gerichtlich verbieten (Heim 2000).3

Die Legende von der Wertfreiheit der Wissenschaft und der Unschuld der Forscher an den Verbrechen des Nazi-Regimes war zum einen möglich, weil Professoren und Historiker die Deutungshoheit über die Geschichte haben (Heim 2000, S.77f.). Zum anderen wurde die Leugnung erleichtert durch den Rückschaufehler oder »Hindsight Bias« (Hoffrage & Pohl 2003). Das heißt, wir erinnern ein Ereignis nicht dadurch, dass wir die damalige Situation eins zu eins aus unserem Gedächtnis abrufen, sondern dadurch, dass wir das Ereignis rekonstruieren, wobei neue Informationen und Bewertungen mit einfließen. Das Sterben von KZ-Häftlingen bei ihrem Arbeitseinsatz oder in einem Experiment war mit dem nationalsozialistischen Wertesystem vereinbar – es handelte sich ja um »minderwertiges Leben«. Spätestens nach den Nürnberger Prozessen aber wurde es auch in Deutschland als Verbrechen gewertet. Da die Mehrheit der Wissenschaftler sich bemühte, nicht gegen das herrschenden Wertesystem zu verstoßen, rekonstruierten sie ihre Erinnerungen automatisch vor dem Hintergrund der nach 1945 geltenden Normen.

Charakteristisch sind die Gespräche der in Farm Hall4 internierten Atomwissenschaftler, beispielsweise von Erich Bagge: „[W]enn wir während des Krieges Menschen in Konzentrationslager [steckten] – ich habe das nicht getan, ich wusste nichts davon und ich habe das immer verurteilt, wenn ich davon hörte.“ Oder Otto Hahn: „[W]as hat Laue alles gegen den Nationalsozialismus unternommen, und auch ich glaube, dagegen gekämpft zu haben.“ (Hoffmann 1993, S.121f.) Die Verfälschung der Erinnerungen geht bis zur Leugnung objektiver Tatsachen. So behaupteten Wissenschaftler, die in Peenemünde am Raketenbau beteiligt waren, es habe in den Werkstätten und Labors keine KZ-Häftlinge gegeben (Eisfeld 1996, S.98). »Hindsight Bias« entlastet uns von der Auseinandersetzung mit dem eigenen Fehlverhalten. Nicht anders als der Mehrheit der deutschen Bevölkerung erlaubte dieser Gedächtnismechanismus den Wissenschaftlern, ihre Beteiligung an dem nationalsozialistischen System zu verdrängen. Mit der Leugnung der aktiven Zusammenarbeit mit dem Hitlerregime befanden sich die Wissenschaftler in der Nachkriegszeit wieder im Einklang mit dem Zeitgeist.

Sozialer Status und Gehorsam

Neben den allgemeinen gesellschaftlichen Wertvorstellungen wird unser Verhalten auch durch unsere Sozialisation und gesellschaftliche Stellung beeinflusst. Die Klassenlage der Intellektuellen bestimmt sie historisch eher zum Diener der herrschenden Klasse als zum Oppositionellen (Wellmann & Spielvogel 1990). Professoren und Wissenschaftler sind als Beamte eine Stütze des Staates. Eine akademische Laufbahn kann jedermann unabhängig von seiner Herkunft einschlagen. Voraussetzung ist weder Grundbesitz noch Kapitalvermögen, sondern das Bestehen der entsprechenden Prüfungen wie Abitur, Promotion und Habilitation. Die Bereitschaft, sich einer solch reglementierten Laufbahn zu unterwerfen, macht die Mehrheit der Forschenden und Lehrenden zu loyalen Staatsdienern, die die Regierung beraten, notfalls kritisieren, nicht aber das bestehende System in Frage stellen.

Nach Harrell & Stahl (1981) ähneln Wissenschaftler in ihrer Persönlichkeitsstruktur stärker Offizieren als Managern. Wie bei den Angehörigen der Wehrmacht war für die Mehrheit der Akademiker die Loyalität gegenüber der faschistischen Regierung wichtiger als die persönliche Meinung. So wie ein Offizier, der von der Unsinnigkeit der Weiterführung eines Krieges überzeugt ist, glaubt sich moralisch zu verhalten, wenn er aus Loyalität gegenüber der ihm anvertrauten Truppe weiterkämpft (Hartmann & Herz 1991), so hielten auch Forscher, die dem Nationalsozialismus skeptisch gegenüber standen, die Zusammenarbeit mit Hitler für ihre Pflicht. So wie Gehorsam für einen Offizier selbstverständlich ist, so führten auch die von ihrer politischen Einstellung und wissenschaftlichen Reputation her unterschiedlichen KWI-Direktoren Richard Kuhn, Peter Adolf Thiessen und Wilhelm Rudorf jede Anordnung (wie Entlassungen von Juden) des Regimes widerspruchslos aus, obgleich ein KWI-Direktor auch unter Hitler relativ große Freiheiten besaß (Deichmann 2000). Der Physiker Walther Gerlach sah sich 1945 „selbst in der Position eines geschlagenen Generals“ (Hoffmann 1993, S.60ff.). Auch die meisten Physiker, Chemiker und Ingenieure des US-amerikanischen Atomwaffenprogramms in Los Alomos fühlten sich als Militärangehörige. Widerstandslos akzeptierten sie die damit einhergehende Unterordnung der eigenen Urteilsfähigkeit unter die militärische Order (Dyson 1984).

Macht und Karrieren

Machtstreben passt nicht zum Selbstbild von Wissenschaft, und doch ist Macht ein wesentliches Motiv, Rüstungsforschung zu betreiben. Zum einen haben auch Wissenschaftler Allmachtsphantasien. Carl Friedrich von Weizsäcker gesteht am Ende seines Lebens: „Es war der träumerische Wunsch, wenn ich einer der wenigen Menschen bin, die verstehen, wie man eine Bombe macht, dann werden die obersten Autoritäten mit mir reden müssen.“ (Hoffmann 1993, S.338) Der Atomphysiker Walter Gerlach hatte zwar Angst, „an die Bombe zu denken“, stellte sich aber vor, „derjenige, der mit dem Einsatz der Bombe drohen konnte, würde alles erreichen können“ (ebd. S.158). Inwieweit die Faszination der Macht beim Bau der Atombombe ein Rolle spielte, sei dahin gestellt. Fakt ist, dass Idee und Anstoß zum Bau der Bombe aus der Wissenschaft kamen.5 Moore & Moore (1958) analysierten anhand von Sitzungsprotokollen den Entscheidungsprozess, der im August 1945 zum Abwurf der Atombomben auf Japan führte. Danach gab das Votum der »leading scientists« den Ausschlag für Präsident Trumans Entscheidung, die Bomben über Hiroschima und Nagasaki abzuwerfen.6 Denn wie Robert Oppenheimer bekannte: „Wir wollten, dass es geschah, ehe der Krieg vorüber war und keine Gelegenheit mehr dazu sein würde.“ (zit. nach Hochhuth 2006, S.24)

Zum anderen geht es um das Ansehen eines Faches, um den Einfluss der Wissenschaft in der Gesellschaft, um Forschungsgelder und nicht zuletzt um individuelle Karrieren. Viele Disziplinen, auch sozialwissenschaftliche,7 haben von Faschismus und Krieg profitiert. Der Nationalsozialismus befreite Anthropologen und Mediziner von ethischen Schranken und schuf neue Aufgabengebiete für die Eugenik, Rassenhygiene, Volkstumsforschung und Lebensraumpolitik (Heim 2000). Eugen Fischer, Direktor des KWI für Anthropologie, schrieb in der Deutschen Allgemeinen Zeitung vom 28.3.1943: „Es ist ein besonderes und seltenes Glück für eine an sich theoretische Forschung, wenn sie in eine Zeit fällt, wo die allgemeine Weltanschauung ihr anerkennend entgegenkommt, ja wo sogar ihre praktischen Ergebnisse sofort als Unterlagen staatlicher Maßnahmen willkommen sind.“ (zit. nach Müller-Hill 2000, S.223)

Eine »Uranmaschine«, eine Atombombe oder eine Weltraumrakete konnten nur in Großforschungseinrichtungen gebaut werden. Die Regierungen aber finanzierten Großforschung nur, wenn sie rüstungsrelevant war, wie der Raketenbau in Deutschland oder die Entwicklung der Atombombe in den USA. Generalmajor Walter Dornberger, der im Heereswaffenamt für das Raketenwaffenprogramm zuständig war, legitimierte nachträglich die Rüstungsforschung mit den Worten: „Die „Entwicklung großer Flüssigkeitsraketen musste […] zwangsläufig zunächst den Weg über die Waffenentwicklung nehmen“, denn es „gab keinen Geldgeber, der willens war, Millionen, selbst Milliarden von Mark in ein Unternehmen zu stecken, […] das auf Jahre hinaus noch keinen Verdienst abwerfen konnte.“ (Dornberger 1963, S.7)

Die Initiative für neue Rüstungsprojekte ging in den meisten Fällen von den Forschern aus. Nicht selten mussten Wissenschaftler, wie der Vorsitzende der Deutschen Mathematiker-Vereinigung Süss, die entsprechenden NS-Stellen erst von der Kriegsrelevanz ihres Faches überzeugen (Epple & Remmert 2000).8 Auch die Kontaktaufnahme zur SS für die Rekrutierung von KZ-Häftlingen ging von Ingenieuren (Eisfeld 1996) und Medizinern (Klee 1997) aus. Dank der Bereitschaft der Wissenschaftler, für den Krieg zu forschen, stieg der Etat des Reichswissenschaftsministeriums von 22 Millionen RM 1938 auf 97 Millionen RM 1942 (Fahlbusch 2000, S.470).

Nicht nur Forschungsgelder, auch Privilegien und die gesellschaftliche Aufwertung („zum ersten Mal wurden Wissenschaftler zum vollwertigen und verantwortlichen Partner bei der Kriegsführung“; Roth 1989, S.22) machten die Zusammenarbeit mit dem Heereswaffenamt und anderen Regierungsstellen attraktiv. Neben Vergünstigungen wie der Befreiung vom Fronteinsatz, Karrierechancen und materiellem Wohlstand bot die Rüstungsforschung die Möglichkeit, Forschungsträume zu verwirklichen, die in der zivilen Forschung aus ethischen – wie die Menschenexperimente an KZ-Häftlingen – oder aus finanziellen – wie das deutsche Raketen- oder das US-amerikanische Manhattan-Projekt – Gründen unmöglich gewesen wären. Allerdings trug die Realisierung dieser Träume im Verhältnis zum Aufwand nur wenig zum wissenschaftlichen Fortschritt bei und erbrachte keinen gesellschaftlichen Nutzen.

Ähnlich wie die Loyalität eines Offiziers seiner Truppe und dem Oberbefehlshaber gilt, unabhängig davon, ob es sich um einen Diktator oder eine demokratische Regierung handelt, galt die Loyalität der deutschen Raketenbauer und Atomwissenschaftler primär ihren Projekten und den sie finanzierenden Regierungen. Entsprechend hatten weder die Physiker und Ingenieure von Peenemünde noch die Wissenschaftler und Techniker des »Uranprojektes« nach Kriegsende Skrupel, für die USA oder die Sowjetunion zu arbeiten (Albrecht et al. 1992). Charakteristisch sind die in Farm Hall protokollierten Überlegungen Werner Heisenbergs: „Wenn mir die Engländer also sagen: ‚Sie dürfen allerhöchstens mit minderwertigen Apparaturen arbeiten’ und die Russen sagen: ‚Sie bekommen ein Institut mit einem Jahresetat von einer halben Million’, dann würde ich mir überlegen, ob ich nicht doch zu den Russen gehe.“ (Hoffmann 1993, S.254)

Walker, der die Geschichte der Atombombe rekonstruierte, kommt zu dem Schluss, dass sich Wissenschaftler unter Hitler, Stalin und in den USA im Kalten Krieg ähnlich verhielten. Sie nahmen die Geheimhaltung, das Arbeiten unter einem Diktator und die Entwicklung von Atomwaffen als Kriegsnotwendigkeit hin. „Moderne Wissenschaft, insbesondere was heute als »Big Science« bezeichnet wird, hängt von staatlichen Stellen ab. In Kriegszeiten wird der Staat immer noch mächtiger. Ein Wissenschaftler kann entweder emigrieren (oder fliehen) oder aus dem Beruf aussteigen oder innerhalb des politischen und damit ideologischen Systems arbeiten. Die meisten wählen Letzteres […].“ (Walker 2000, S.327)

Es gab Ausnahmen wie Max Planck, der 1914 noch kriegsbegeistert war, sich aber seit Mitte der 1930er für Frieden und Aussöhnung mit Frankreich einsetzte. Nach dem Scheitern seiner Bemühungen ging er „in die Stille Resistenz“ (Hachtmann 2009, S.44). Dieses Beispiel zeigt, dass es auch im Nationalsozialismus möglich war, sich dem System und seinen Rüstungsambitionen zu verweigern, denn in jeder Diktatur gibt es Nischen. Doch für die meisten Wissenschaftler überwog das Bedürfnis, dazuzugehören, an bedeutenden Projekten zu arbeiten, einen gesicherten Arbeitsplatz und gesellschaftliches Ansehen zu besitzen.

Anmerkungen

1) Milgram-Experiment: Nur sehr wenige Versuchspersonen weigerten sich, auf Anweisung des Versuchsleiters Probanden schmerzhafte Stromstöße zu versetzen (Milgram 1974). Stanford-Prison-Experment: Studenten wurde per Zufall die Rolle eines Gefangenen oder eines Wärters zugewiesen. Die Gefangenen verbrachten 24 Stunden, die Wärter acht Stunden am Tag in einer simulierten Gefängnissituation. Die zuvor gesunden und friedlichen Studenten verhielten sich als Wärter aggressiv, zum Teil sadistisch, und als Gefangene pathologisch. Das Experiment musste vorzeitig abgebrochen werden (Haney & Zimbardo 1977).

2) Nationalismus und Kriegsbegeisterung waren kein deutsches Phänomen, sondern erfassten Intellektuelle aus allen am Ersten Weltkrieg beteiligten Nationen (Müller-Brettel 1994).

3) Erst in den 1990er Jahren bekannte sich die MPG zu der »braunen« Vergangenheit ihrer Vorgängerin, der KWG, und setzte eine HistorikerInnenkommission ein, die die Geschichte der KWG aufarbeitete.

4) 1945 internierten die Alliierten für mehrere Monate zehn deutsche Atomphysiker des »Uranprojektes« auf dem Landsitz Farm Hall in England; dort hörte der britische Geheimdienst ihre Gespräche ohne ihr Wissen ab, protokollierte sie und übermittelte sie an die USA. Die Protokolle wurden 1991 veröffentlicht.

5) In einem Brief an Roosevelt beschrieb Einstein 1939 die Möglichkeit, eine Atombombe zu bauen, und schlug vor, die entsprechenden Forschungsarbeiten in den USA zu intensivieren. Er vermutete, dass auch in Deutschland an der Bombe gearbeitet wurde (hypertextbook.com/eworld/einstein.shtml).

6) Hohe US-Offiziere lehnten den Abwurf der Atombombe ab. Truman zögerte und veranlasste eine Befragung von Physikern an den Universitäten Chicago und Berkeley sowie in Los Alamos. Mehrheitlich sprachen sich die Physiker gegen eine Demonstration der Bombe über unbewohntem Gebiet aus und befürworteten den militärischen Einsatz, d.h. den Abwurf über bewohnten Städten des Feindes.

7) In den USA fristete die Psychologie ein Nischendasein, bis es Psychologen im Ersten Weltkrieg mit Hilfe von Eignungstests gelang, innerhalb kürzester Zeit 1,75 Millionen Wehrpflichtige entsprechend ihren Fähigkeiten den jeweiligen Truppen zuzuordnen. In Deutschland verdankt die Psychologie ihre Diplomprüfungsordnung von 1941 dem Einsatz für die Wehrmacht (Riedesser & Verderber 1985). Während des Zweiten Weltkrieges entstand in den USA die Disziplin »American Studies« (Harders 2009) und in Deutschland florierten die Wehrwissenschaften (Reichherzer 2012).

8) Schon im Ersten Weltkrieg fuhr Fritz Haber persönlich an die Front, um die Offiziere zu überzeugen, sein Giftgas einzusetzen.

Literatur

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Dr. Marianne Müller-Brettel ist Psychologin und war von 1972 bis 2003 wissenschaftliche Mitarbeiterin des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung in Berlin.

Die Friedensnobelpreise 1926 und 1927

Die Friedensnobelpreise 1926 und 1927

von Karlheinz Lipp

Der Friedensnobelpreis ist ein politischer Preis. Das wird deutlich in der Ehrung von Persönlichkeiten und Bewegungen, die sich besonders für Frieden und Verständigung, gegen Massenvernichtungswaffen und Menschenrechtsverletzungen eingesetzt haben. Das wird aber auch sichtbar, wenn Politiker ehemals verfeindeter Länder oder Konfliktparteien für Schritte zur Lösung der Probleme gemeinsam den Nobelpreis bekommen, z. B. Henry Kissinger und Le Duc Tho nach dem Vietnamkrieg, Jitzchak Rabin, Schimon Perez und Jassir Arafat nach der Vereinbarung von Oslo, John Hume und David Trimble nach dem Nordirland-Abkommen. Unser Autor behandelt eine Besonderheit in der Nobelpreisgeschichte. In zwei aufeinander folgenden Jahren wurden Politiker und Friedensaktivisten für ihre Arbeit am selben Projekt – der »Überwindung der so genannten deutsch-französischen Erbfeindschaft« – ausgezeichnet: 1926 die Außenminister Frankreichs und Deutschlands, Aristide Briand und Gustav Stresemann, und nur ein Jahr später der französische Friedensaktivist Ferdinand Buisson und der deutsche Pazifist Ludwig Quidde.

Der Krieg von 1870/71 und der Erste Weltkrieg 1914-18 waren der militärische Ausdruck der permanenten Rivalität und der sich verschärfenden Spannungen zwischen den beiden Nachbarstaaten Deutschland und Frankreich. Der Versailler-Vertrag, die Besetzung des Ruhrgebiets 1923 und der darauf folgende gewaltfreie deutsche Widerstand belasteten auch nach 1918 das deutsch-französische Verhältnis.

Einen Wendepunkt brachte das Jahr 1924. Die Konferenz von London läutete mit der vorläufigen Regelung der Reparationen eine Periode der Entspannung ein. Nur ein Jahr später brachte der Vertrag von Locarno – mit dem endgültigen Verzicht Deutschlands auf Elsass-Lothringen – einen weiteren, bedeutenden Schritt in Richtung Versöhnung. Am 10. September 1926 trat Deutschland dem Völkerbund bei. Bereits am 19. September kam es in Thoiry am Genfer See zu einem psychologisch wichtigen Gedankenaustausch der beiden Außenminister Aristide Briand und Gustav Stresemann, allerdings ohne konkrete politische Folgen. Das Friedensnobelpreiskomitee würdigte die Entspannungspolitik dieser beiden Politiker mit dem Friedensnobelpreis 1926.

Auch auf der außerparlamentarischen Ebene zeigte sich eine positive Entwicklung. So kam es, ebenfalls 1924, zu einem Redneraustausch zwischen französischen und deutschen Pazifisten. Damit sollte eine „Brücke über den Abgrund“ (so der französische Pazifist und Menschenrechtler Victor Basch) gebaut werden.

Im Jahre 1927 setzte das norwegische Friedensnobelpreis-Komitee einen weiteren politischen Akzent für die deutsch-französische Entspannungspolitik, indem es den Friedensnobelpreis den Friedensaktivisten Ferdinand Buisson und Ludwig Quidde zuerkannte.

In seiner Laudatio sagte der Vorsitzende des Komitees, Professor Dr. Frederik Stang, u.a.: „Wir werden nicht nur vonseiten von Staaten, vonseiten ihrer Organe und durch ihre Politik mit Krieg bedroht; die Psyche der Menschen, die Instinkte der Massen bergen ebenfalls dauernde Kriegsgefahren in sich. Aus diesem Grunde muss, ehe große Zahlen von Menschen für den Pazifismus gewonnen werden können, eine volksnahe Aufklärungsarbeit vorausgehen, eine Werbetätigkeit, die sich bemüht, die Massen von der Vorstellung abzubringen, der Krieg sei das einzige Mittel zur Lösung von Konflikten.

Diese Bemühungen setzten sich eines der höchsten Ziele: den friedlichen Wettbewerb der Völker und die Schaffung einer internationalen Organisation, die es ermöglicht, die Streitigkeiten zwischen Nationen zu bereinigen.

An solchen volksnahen Bemühungen für den Frieden haben Ferdinand Buisson und Ludwig Quidde einen hervorragenden Anteil. Sie haben an der vordersten Linie dafür gekämpft; sie haben die Friedensbewegungen in den beiden Ländern geleitet, wo diese Bewegung sich den größten Schwierigkeiten gegenüber sah, wo sie andererseits aber eine ganz besonders hohe Mission hatte: Frankreich und Deutschland.

Wenn das Nobelkomitee den diesjährigen Friedenspreis an Herrn Buisson und an Herrn Quidde verleiht, will es dadurch auf eine Zuversicht erweckende Tatsache aufmerksam machen: die Tatsache, dass in Frankreich und Deutschland eine öffentliche Meinung geschaffen worden ist, die für die friedliche Zusammenarbeit der Völker günstig ist; erst diese hat die Verständigung von Deutschland und Frankreich ermöglicht, welche durch die mit den Friedenspreisen von 1925 und 1926 gekrönten Verträge von Locarno besiegelt wurde.“ (Harttung, S.57-59)

Ludwig Quidde hielt am 12. Dezember 1927 seinen Nobelvortrag in Oslo über »Abrüstung und Sicherheit«, Ferdinand Buisson sprach nicht zum Auditorium, reichte aber im Frühjahr 1928 einige Thesen seiner Friedensarbeit ein.

Am 11. März 1928 traten Buisson und Quidde gemeinsam in Freiburg (Breisgau) auf. Auch vertreten waren das Auswärtige Amt, die Badische Staatsregierung und die Stadt Freiburg. Einen Tag später sprach Quidde in Köln allein, da der 87-jährige Buisson wegen einer Erkrankung nicht dabei sein konnte. Dieser Auftritt eines Pazifisten wurde von der NSDAP gestört und konnte erst nach einem Polizeieinsatz stattfinden. Auch bei der Abreise pöbelten Rechtsradikale Quidde auf dem Kölner Hauptbahnhof an.

Ein Vergleich von Buisson und Quidde zeigt einige Gemeinsamkeiten der beiden Friedensnobelpreisträger: Beide traten für die Versöhnung zwischen Frankreich und Deutschland ein, beide äußerten sich als Pazifisten kritisch zu Rüstung und Krieg, beide beriefen sich auf den Friedenstheoretiker Immanuel Kant, beide verbanden Pazifismus mit menschenrechtlichem Engagement, so etwa der deutlichen Ablehnung des Antisemitismus.

Geschichtspolitik

Ganz vergessen sind die Friedensnobelpreisträger von 1927 in ihren jeweiligen Ländern nicht. In Frankreich sind Straßen u.a. in Arras, Begles, Bordeaux, Clichy, Courcelles-Les-Lens, Lyon, Marseille, St.Étienne und Paris nach Buisson benannt. Ferner gibt es Schulen u.a. in Antony, Brest, Clermont-Ferrand, Montauban, Niort, Rouen und Versailles, die seinen Namen tragen.

In Deutschland trägt (noch) keine Schule den Namen von Ludwig Quidde. Allerdings sind Straßen und Plätze nach ihm benannt, so in Bergisch Gladbach, Bingen, Bremen, Dortmund, Frankfurt/Main, Göttingen, Kassel, Köln, München (auch eine U-Bahnstation), Oelde und Osnabrück. Die Deutsche Bahn jedoch strich bereits vor einigen Jahren den ICE Ludwig Quidde, der Bremen und München verband.

Als besonders gelungen muss die Straßenbenennung im Berliner Bezirk Pankow angesehen werden. Nach Auskunft des dortigen Bezirksamts erfolgte 1994 die Umbenennung der Straße 64 in Ludwig-Quidde-Straße. Im Jahre 2006 beschloss der Bezirk die Umbenennung der Straße 49, die sich mit der Ludwig-Quidde-Str. kreuzt, in Ferdinand-Buisson-Straße. So sind die beiden Friedensnobelpreisträger auch per Straßennamen eng und höchst sinnvoll verknüpft.

„Abrüstung des Hasses“ Kurzbiographie Ferdinand Buisson

Geboren wurde Buisson am 20. Dezember 1841 in Paris als Sohn eines Richters und einer frommen, sozial-karitativen Mutter. Nach der Gymnasialzeit in St.Étienne und dem Studium an der Sorbonne verweigerte er den Loyalitätseid auf Kaiser Napoleon III. Daraufhin bekam er in Frankreich keine Anstellung und arbeitete daher als Lehrer in Neuchâtel in der Schweiz. Durch die Teilnahme am ersten internationalen Friedenskongress überhaupt, in Genf 1867, erfuhr der Lehrer die entscheidende politische Prägung. Er propagierte schon in dieser Zeit die Vereinigten Staaten von Europa, und zwei Jahre später auf dem nächsten Kongress in Lausanne forderte Buisson die Abschaffung der „Armeen, dieser Götter der Cäsaren und Napoleone“.

Nach dem Sturz Napoleons III. 1870 ernannte Unterrichtsminister Jules Ferry Ende der 1870er Jahre Buisson zum Generalinspektor des französischen Bildungswesens. Es gelang dem Protestanten, Philosophen und Pädagogen, den großen Einfluss des Klerus auf das Schulwesen zurück zu drängen. Damit zählte Buisson zu den Wegbereitern der Trennung von Staat und Kirche, die in Frankreich 1905 offiziell vollzogen wurde.

Als Mitglied der Radikalsozialistischen Partei setzte sich Buisson für die Menschenrechte ein, besonders für die Rechte der Frauen und für den Frieden. Sehr früh verlangte er, wie Émile Zola, eine Neubewertung des Prozesses gegen Dreyfus. Buisson gehörte zu den Mitbegründern der Ligue des Droits de l’Homme (Menschenrechtsliga), die noch heute existiert, und fungierte von 1913 bis 1926 als ihr Präsident. Ferner engagierte er sich für verfolgte Minderheiten (Polen, russische Revolutionäre, Juden). Von 1902 bis 1914 und von 1919 bis 1924 arbeitete Buisson als Abgeordneter seiner Partei im Parlament.

Ab 1896 lehrte Buisson als Professor der Pädagogik an der Sorbonne und setzte friedenspädagogische Impulse im Sinne einer Erziehung, die im Geiste der Aufklärung und der Toleranz stand. Hier folgte er seinem philosophischen Vorbild Immanuel Kant. So forderte Buisson bereits 1905 einen Abschied von dem weit verbreiten nationalistischen Geschichtsunterricht. Ferner sollten den Kindern und Jugendlichen Alternativen zu Gewalt, Krieg und Militär aufgezeigt werden, so etwa die internationale Schiedsgerichtsbarkeit.

Im Ersten Weltkrieg befürwortete Buisson den Verteidigungskrieg und setzte sich als Mitglied der französischen Völkerbundvereinigung für den Aufbau dieser neuen, internationalen Organisation ein. Nach 1918 engagierte sich der Pazifist und Menschenrechtler für die Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund. Ferner kritisierte Buisson den Versailler Vertrag als Hindernis zum Frieden. Im Jahre 1924 bereiste der Friedensaktivist mehrfach Deutschland und hielt Reden für die deutsch-französischen Versöhnung, so u.a. vor 1.500 Arbeitern der Firma Krupp in Essen und vor dem Reichstag in Berlin.

Seinen finanziellen Anteil des Friedensnobelpreises ließ Buisson Organisationen zukommen, die für den Frieden zwischen den Völkern eintraten. Er starb am 16. Februar 1932.

„Aufbau einer internationalen Rechtsordnung“ Kurzbiographie Ludwig Quidde

Ludwig Quidde wurde am 23. März 1858 in Bremen geboren und entstammte einer bürgerlich-konservativen Handelsfamilie. Er studierte Geschichte, Philosophie und Volkswirtschaft in Straßburg und Göttingen. Bereits 1881 engagierte sich Quidde politisch, indem er sich gegen den Antisemitismus der deutschen Studentenschaft wandte. Es folgte die Heirat mit einer so genannten Halbjüdin. Beruflich arbeitete der Historiker an der Herausgabe der Deutschen Reichstagsakten mit. Im Jahre 1887 wurde er zum außerordentlichen Mitglied der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften berufen. 1892 erfolgte die Berufung zum außerordentlichen Mitglied der Akademie selbst. Die sich abzeichnende akademische Karriere wurde 1894 jäh gestoppt, als der Historiker mit seiner Schrift »Caligula« eine geniale und treffsichere Satire auf Kaiser Wilhelm II. publizierte. Die von Quidde herausgegebene Zeitschrift für Geschichtswissenschaft wurde boykottiert, die Chance auf einen Lehrstuhl war abrupt blockiert. Zwei Jahre später agitierte der deutsche Pazifist gegen eine posthume Ehrung für Kaiser Wilhelm I. und musste dafür eine dreimonatige Haftstrafe antreten.

Ludwig Quidde entwickelte sich nun immer entschiedener zum Pazifisten. 1894 gründete er die Münchner Friedensvereinigung und erreichte durch seine Aufrufe zur Beendigung des Burenkrieges reichsweites Aufsehen. 1902 trat er in das Präsidium der Deutschen Friedensgesellschaft ein, 1914 wurde er zum Vorsitzenden gewählt. In der nationalen und internationalen Friedensarbeit wirkte Quidde sehr vielfältig. Ein wichtiger Aspekt bildete für ihn dabei die deutsch-französische Verständigung. Als Abgeordneter der liberalen Fortschrittlichen Volkspartei gehörte Quidde von 1907 bis 1918 dem Bayerischen Landtag an. Im Jahre 1919 erfolgte die Wahl Quiddes als Abgeordneter der Deutschen Demokratischen Partei in die Nationalversammlung.

Während und nach dem Ersten Weltkrieg wurde Quidde innerhalb der deutschen Friedensbewegung von radikalen Kräften zunehmend als zu kompromissbereit und bürgerlich kritisiert. Er blieb zunächst Präsident der pazifistischen Dachorganisation Deutsches Friedenskartell, wurde jedoch im Jahre 1929 als Vorsitzender der Deutschen Friedensgesellschaft abgelöst.

Der Machtantritt der NSDAP vertrieb den nunmehr mittellosen 75-Jährigen ins Exil nach Genf. Quidde unterstützte von der Schweiz aus andere Flüchtlinge, gehörte immer noch dem Internationalen Friedensbüro an und verfasste im Auftrag des Nobelinstituts eine Geschichte der deutschen Friedensbewegung während des Ersten Weltkriegs. Er starb am 5. März 1941.

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Bernhard Kupfer (2001): Lexikon der Nobelpreisträger. Düsseldorf: Parmos.

Karlheinz Lipp, Reinhold Lütgemeier-Davin, Holger Nehring (Hrsg.) (2010): Frieden und Friedensbewegungen in Deutschland 1892-1992. Ein Lesebuch. Essen: Klartext

Michael Neumann (Hrsg.) (1989): Der Friedensnobelpreis von 1901 bis heute. Bd.4. Der Friedensnobelpreis von 1926 bis 1932. Zug: Edition Pacis.

Dr. Karlheinz Lipp ist Historiker und Mitglied im Arbeitskreis Historische Friedensforschung.