Martin Luther King


Martin Luther King

Ein Gegner des Vietnamkrieges

von Karlheinz Lipp

Am 4. April 1968, also vor 50 Jahren, wurde Martin Luther King (1929-1968) in Memphis ermordet. Hierzulande wurde King vor allem als schwarzer Bürgerrechtler und Vertreter der Gewaltfreiheit berühmt. Wenig bekannt sind Kings Friedensengagement gegen den Vietnamkrieg sowie sein Einsatz für die (nicht nur schwarzen) Armen und Arbeitslosen in seinem letzten Lebensjahr. Kings Äußerungen sind auch in unserer Gegenwart von einer verblüffenden Aktualität.

Die politische und organisatorische Heimat Kings bildete die Southern Christian Leadership Conference, die 1957 von Schwarzen gegründet worden war. Diese Bürgerrechtsbewegung knüpfte an die erste erfolgreiche Aktion, den Busboykott in Montgomery 1955, an. Durch gewaltfreie Aktivitäten (z.B. Freiheitsfahrten in Überlandbussen) wurde versucht, den Rassismus, besonders in den Südstaaten der USA, zumindest teilweise aufzuheben und der schwarzen Bevölkerung ein aktives, politisches Selbstbewusstsein zu vermitteln. Das berühmteste Beispiel ist der Marsch auf Washington 1963 mit der Abschlussrede »I have a dream«. Ein Jahr später erhielt King den Friedensnobelpreis.

Kings Kritik am Vietnamkrieg begann 1967

In der Öffentlichkeit beschäftigte sich King erstmals am 25. Februar 1967 auf einer Konferenz in Los Angeles ausschließlich mit dem Vietnamkrieg. Er wandte sich gegen die Diffamierung der langsam, aber stetig wachsenden Friedensbewegung in den USA. Ihn beängstigte, dass die Hoffnung auf eine Veränderung der US-amerikanischen Gesellschaft hinfällig werden könnte. Daher sprach sich King für eine Verbindung von Bürgerrechts- und Friedensbewegung aus. Er folgte damit seiner Frau Coretta Scott King (1927-2005), die bereits vor ihm in der Bewegung gegen den Vietnamkrieg aktiv geworden war. Sie beschreibt auch die zunächst vorherrschenden Zweifel ihres Mannes.

„Zwar hatte sich Martin schon lange mit dem Weltfrieden befaßt, doch erst 1967 engagierte er sich endgültig, indem er sich gegen den Vietnam-Krieg wandte. Davor lag er mit sich im Widerstreit, ob er seine Kraft und Zeit auch noch der Sache des internationalen Friedens widmen und damit Energie von der Bewegung für schwarze Freiheit zum Teil abziehen sollte.“ (C.S. King, S. 249. Die Rechtschreibung folgt dem Original.)

Für die politischen Eliten und das FBI bedeutete diese Entwicklung des schwarzen Bürgerrechtlers eine noch intensivere Beobachtung der Aktivitäten Kings. Das FBI versuchte durch Berichte an Nachrichtenagenturen geschickt, King als Kommunisten darzustellen, eine Maßnahme, die nur allzu sehr an die McCarthy-Ära und die Jagd auf wirkliche und vermeintliche Kommunisten erinnerte. Erneut zeigte sich, wie der Kalte Krieg innenpolitisch genutzt wurde.

Am 4. April 1967 – auf den Tag genau ein Jahr vor seiner Ermordung – entfaltete King in einer berühmten Rede vor 3.000 Menschen in der Riverside Church, einer progressiven Gemeinde in New York, seine grundsätzlichen Bedenken gegenüber dem Vietnamkrieg und verknüpfte diese mit seinem Engagement für die Menschenrechte. Die Schirmherrschaft dieses Abends hatte die Organisation »Clergy and Laymen Concerned About Vietnam«, eine überkonfessionelle Vereinigung von Theologen und Laien gegen den Vietnamkrieg, übernommen.

Wir nahmen die schwarzen jungen Männer, denen unsere Gesellschaft das Lebensrecht versagte, und sandten sie 8000 Meilen weit weg, um die Freiheiten in Südostasien zu sichern, die sie in Südwest-Georgia und East-Harlem nicht gefunden hatten. So wurden wir immer wieder mit der grausamen Ironie konfrontiert, Neger und Weiße beobachten zu müssen, wie sie gemeinsam töten und sterben für eine Nation, die es nicht fertiggebracht hat, sie in den gleichen Schulen nebeneinander sitzen zu lassen. Wir sehen, wie sie miteinander in brutaler Solidarität die Hütten eines armen Dorfes niederbrennen, aber es ist uns klar, daß sie niemals in dem gleichen Häuserblock in Detroit wohnen würden. […]

Ab 1945 versagten wir neun Jahre lang dem Volk von Vietnam das Recht auf Unabhängigkeit. Neun Jahre lang unterstützten wir tatkräftig die Franzosen bei ihrem verhängnisvollen Versuch, Vietnam wieder zur Kolonie zu machen. […] Nachdem die Franzosen geschlagen waren, sah es so aus, als ob es durch das Genfer Abkommen nun doch zur Unabhängigkeit und zur Landreform kommen werde. Aber stattdessen kamen die Vereinigten Staaten mit der Absicht, die von Ho Chi Minh angestrebte Wiedervereinigung der für eine gewisse Zeit geteilten Nation zu verhindern. Die Bauern mussten erneut beobachten, wie wir einen der übelsten modernen Diktatoren unterstützten – den von uns erwählten Premierminister [Ngo Dinh] Diem.

Die Bauern sahen zu und duckten sich, als Diem rücksichtslos jede Opposition ausrottete, die wucherischen Großgrundbesitzer unterstützte und es sogar ablehnte, über die Wiedervereinigung mit dem Norden auch nur in eine Diskussion zu treten. Die Bauern sahen, wie all dies unter dem Schutz amerikanischen Einflusses geschah und dann unter dem Schutz einer immer größeren Anzahl amerikanischer Soldaten, die kamen, um die durch Diems Methoden hervorgerufene Erhebung niederschlagen zu helfen. Vielleicht waren sie froh über Diems Sturz [2. November 1963], aber die dann folgende lange Liste der Militärdiktaturen bedeutete offensichtlich keine wirkliche Veränderung – schon gar nicht, was ihr Verlangen nach Landbesitz und Frieden anging.“ (M.L. King, S. 77 und 80f.)

Verständnis für den Vietkong

Empathie mit der Nationalen Front für die Befreiung Südvietnams bewies King mit den folgenden Worten: „Was hat es mit der Nationalen Befreiungsfront auf sich, jener seltsam anonymen Gruppe, die wir Vietkong oder Kommunisten nennen? Was müssen sie von uns Amerikanern denken, wenn ihnen klar wird, daß wir Unterdrückungsmethoden eines Diem zuließen, die ja erst der Grund für ihren Zusammenschluß als Widerstandsgruppe im Süden wurde? Was denken sie über unsere Zustimmung zu den Gewalttaten, die sie zu den Waffen greifen ließ? […]

Wie können sie uns vertrauen, wenn wir sie jetzt nach der langen Zeit des mörderischen Diem-Regimes wegen ihrer Gewalttaten anklagen, und das, während wir zur Zeit alle möglichen neuen todbringenden Waffen über ihr Land bringen? Wir müssen endlich begreifen, was sie bewegt, selbst wenn wir mit ihrem Handeln nicht einverstanden sind. Wir müssen endlich begreifen, daß die Leute, die wir unterstützen, sie zur Gewaltanwendung trieben. Sehen wir denn nicht, daß unsere sorgsam mit Computern errechneten Vernichtungspläne ihre größten Gewalttaten vergleichsweise unerheblich erscheinen lassen?“ (M.L. King, S. 82f.)

Kings Fazit lautete: „Auf welche Weise auch immer: Dieser Wahnsinn muss aufhören. Wir müssen zu einem Ende kommen, und zwar jetzt. Ich spreche als ein Kind Gottes und als Bruder jener notleidenden, armen Menschen von Vietnam. Ich spreche für die, deren Land verwüstet, deren Häuser zerstört und deren Kultur vernichtet wird. Ich spreche für die Armen in Amerika, die einen zweifachen Preis zahlen: den der zerbrochenen Hoffnung daheim und den des Todes und der Korruption in Vietnam. Ich spreche als ein Bürger der Welt, jener Welt, die entsetzt auf den Weg schaut, den wir genommen haben. Ich spreche als Amerikaner zu den Führern meines Volkes. Denn wir haben die entscheidenden Schritte in diesem Krieg unternommen, deshalb muss er jetzt durch unsere Initiative beendet werden.“ (M.L. King, S. 85)

Vorschläge für eine Beendigung des Krieges

Ein Ende des Vietnamkrieges durch deeskalierende Schritte präzisierte King in seiner Ansprache sehr genau, und er schaute auch auf die Zeit nach dem Krieg:

„Ich möchte fünf konkrete Vorschläge machen, die unsere Regierung sofort befolgen sollte, um den langen und schwierigen Prozess einzuleiten, der uns aus diesem Konflikt herausführt, der immer mehr einem Alptraum gleicht:

1. Alle Bombardierungen in Nord- und Südvietnam sind sofort zu beenden.

2. Einseitige Einstellung aller Kampfhandlungen in der Hoffnung, daß dadurch eine günstige Atmosphäre für Verhandlungen entsteht.

3. Sofort Schritte unternehmen, um das Entstehen neuer Schlachtfelder in Südostasien zu verhindern, indem wir unseren militärischen Aufmarsch in Thailand einschränken und die Einmischung in Laos beenden.

4. Realistisch das Faktum akzeptieren, daß die Nationale Befreiungsfront in Südvietnam erhebliche Unterstützung findet und daß sie deshalb bei allen sinnvollen Verhandlungen und in jeder kommenden vietnamesischen Regierung eine Rolle spielen muß.

5. In Übereinstimmung mit dem Genfer Abkommen von 1954 einen Zeitpunkt festsetzen, zu dem alle fremden Truppen aus Vietnam abgezogen werden.

Eine weitergehende Verpflichtung könnte für uns darin bestehen, daß wir jedem Vietnamesen, der unter einer neuen Regierung, an der die Nationale Befreiungsfront beteiligt ist, um sein Leben fürchtet, Asyl gewähren. Sodann müssen wir so umfassend wie möglich für die Schäden aufkommen, die wir angerichtet haben. Wir müssen die ärztliche Hilfe leisten, die so dringend nötig ist, und das, falls nötig, sogar in unsrem eigenen Land.“ (M.L. King, S. 86)

Der Vietnamkrieg in globaler Perspektive

King geht ebenso auf die internationalen Interessen der »Ersten Welt« ein, jenseits von Vietnam.

„Wahre Solidarität ist mehr als die Münze, die man dem Bettler hinwirft; sie ist nicht so zufällig und gedankenlos. Sie kommt zu der Einsicht, daß ein Haus, das Bettler hervorbringt, umgebaut werden muss. Eine echte Revolution der Werte wird den schreienden Gegensatz von Armut und Reichtum sehr bald mit großer Unruhe betrachten. Sie wird nach Übersee blicken und mit gerechter Empörung darauf hinweisen, daß einzelne Kapitalisten des Westens riesige Geldbeträge in Asien, Afrika und Lateinamerika investieren, nur um zu verdienen und ohne Interesse an sozialen Fortschritten in jenen Ländern, und sie wird ausrufen: ‚Das ist ungerecht.‘

Eine Revolution der Werte wird unser Bündnis mit den Großgrundbesitzern in Lateinamerika durchschauen und feststellen: ‚Das ist ungerecht.‘ Ungerecht ist auch die westliche Überheblichkeit, die meint, daß sie den anderen alles beibringen kann und von ihnen nichts zu lernen hat. Eine wirkliche Revolution der Werte wird den Status quo selbst beseitigen und vom Kriege sagen: ‚Dieser Weg zur Lösung von Spannungen ist nicht recht.‘“ (M.L. King, S. 88f.)

Im April 1967 stand die amerikanische Antikriegsbewegung noch auf schwachen Füßen, so dass die Reaktionen der Presse überwiegend negativ ausfielen. Dem Bürgerrechtler wurde vorgeworfen, kommunistische Positionen zu vertreten und damit Hanoi und Peking zu unterstützen. Der Vergleich zwischen dem Krieg in Vietnam und der Unterdrückung der Schwarzen in den USA wurde zurückgewiesen.

Am 15. April kam es im Rahmen der Frühjahrsaktivierung gegen den Vietnamkrieg zu zwei Großveranstaltungen. In San Francisco sprach Coretta Scott King vor 50.000 Menschen im Kezar-Stadion und in New York demonstrierten zwischen 100.000 (Polizeiangabe) und 250.000 (Angabe der Organisatoren) Menschen auf einem Marsch durch Manhattan zum Gebäude der Vereinten Nationen. Hier hielt King eine kurze Rede. Präsident Lyndon B. Johnson ließ von seiner texanischen Ranch verlauten, dass das FBI diese Aktionen observiert.

Inzwischen avancierte King zum prominentesten Vertreter der Antikriegsbewegung, die sich an den Universitäten ausweitete. Im Mai und Juni reiste King ca. 3.000 Meilen, um in zahlreichen Pressekonferenzen, Reden und Versammlungen seine Auffassung zu vertreten. Gleichzeitig ließ Johnson den Krieg weiter eskalieren. Jetzt kämpften etwa 500.000 US-Soldaten in Südostasien, und die Bombardierung Nordvietnams wurde intensiviert. Die Kosten für den Krieg stiegen weiter deutlich an.

Krieg in Vietnam und Bürgerkrieg in den USA

Im Sommer 1967 nahmen die innenpolitischen Spannungen in den USA dramatisch zu. In über 100 Städten kam es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen. Den traurigen Höhepunkt erlebte die Stadt Detroit mit 43 Toten. Johnson befahl den Einsatz von Panzern und Bundestruppen und ignorierte die sozialen und wirtschaftlichen Hintergründe dieser Unruhen völlig. In einem Telegramm an Johnson kritisierte King die Ablehnung eines Mietzuschussgesetzes durch den Kongress und verlangte Maßnahmen zur Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit.

Etwa 20.000 junge Menschen beteiligten sich an einem Vietnam-Sommer. Tausende protestierten gegen die Wehrpflicht (die 1973 als eine Folge des Vietnamkrieges abgeschafft werden sollte) und im Oktober etwa 50.000 vor dem Pentagon in der Hauptstadt Washington. King unterstützte die Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen.

In einer Ansprache vor Mitgliedern von Gewerkschaften an der Universität Chicago am 11. November 1967 behandelte King die innenpolitische Dimension des Vietnamkrieges.

„Der Krieg hat zu dem bizarren Schauspiel geführt, daß Streitkräfte der USA gleichzeitig in den Gettos der USA und in den Dschungeln Asiens kämpfen. Der Krieg hat die Verbitterung und die Verzweiflung der Neger so gesteigert, daß Rassenunruhen in den Städten nun ein hässlicher Bestandteil der amerikanischen Szene sind. Wie kann die Administration, gleichsam vor Empörung bebend, die Gewalttaten schwarzer Gettobewohner verurteilen, während sie in Asien ein Beispiel für Gewalt gegeben hat, das die Welt schockiert? Diejenigen, die Schiffskanonen, Millionen Tonnen an Bomben und scheußliches Napalm benutzen, können nicht vor Negern über Gewalt sprechen. Nur diejenigen, die für den Frieden kämpfen, haben die moralische Autorität, andere über Gewaltlosigkeit zu belehren. Ich möchte nicht mißverstanden werden: ich setzte die sogenannte Gewalt der Neger nicht mit dem Krieg gleich. […]

Die Prioritäten der Administration und des Kongresses werden in dramatischer Weise illustriert durch die Leichtigkeit, mit der 70 Milliarden Dollar für den Krieg bereitgestellt werden, während man den unwilligen Kongreßabgeordneten kaum zwei Milliarden Dollar für Programme zur Bekämpfung der Armut abringen kann.

In den vergangenen zwei Monaten ist die Arbeitslosigkeit ungefähr um 15 Prozent gestiegen. Zur Zeit werden Zehntausende von Mitarbeitern in Programmen gegen die Armut abrupt aus ihren Arbeitsstellen und Trainingsprogrammen entlassen, so daß sie auf dem kleiner werdenden Arbeitsmarkt um Arbeitsplätze und um ihr Überleben kämpfen müssen. Die kriegsbedingte Inflation verkleinert das Gehalt der Arbeitenden, die Pension der Ruheständler und die Ersparnisse fast aller. […] Die Mehrheit im Kongreß und in der Administration hat sich – im Unterschied zur Mehrheit der Bevölkerung – ausschließlich der Durchführung des Krieges verschrieben. Man hat geschätzt, daß wir ca. 500 000 Dollar aufwenden, um einen einzigen feindlichen Soldaten in Vietnam zu töten, dennoch geben wir für jeden armen Amerikaner im Rahmen der Programme zur Bekämpfung der Armut nur ca. 53 Dollar aus.“ (M.L. King, S. 93-95)

Angesichts der zunehmenden weltweiten Proteste sah King die USA in einem Zustand der Isolierung. Auch die psychischen Folgen des Vietnamkrieges, besonders für die vielen jungen US-Soldaten, erfasste King früh: Drogenkonsum, Kriegstraumata, Probleme der Reintegration in die Gesellschaft nach der Rückkehr aus dem Dschungelkrieg in Asien.

Eine innenpolitische Dimension des Vietnamkrieges erkannte King in der Stärkung des militärisch-industriellen Komplexes sowie der reaktionären Kräfte.

Bei seinen kritischen Äußerungen zur Kriegspolitik der US-Regierung berief sich King auf Persönlichkeiten der amerikanischen Geschichte.

„Wir tun gut, uns daran zu erinnern, daß die amerikanische Tradition ein starkes Element des Widerspruchs selbst in Kriegszeiten enthält. Während des Mexikanischen Krieges [1846/47] übte die intellektuelle Elite der Nation, [Ralph Waldo] Emerson, [Henry David] Thoreau und viele andere, vernichtende Kritik an der Politik der Regierung. Im Kongreß hielt ein relativ unbekannter, neugewählter Abgeordneter eine scharfe Ansprache, in der er den Krieg verurteilte. Der junge Abgeordnete war Abraham Lincoln aus Illinois.“ (M.L. King, S. 98)

Der Vietnamkrieg verschärfte die sozialen Probleme in den USA

Die sozialen und wirtschaftlichen Missstände in den USA, beschleunigt durch den Vietnamkrieg, veranlassten King, an einem neuen Projekt zu arbeiten: der Kampagne für die Armen. Diese Aktion sollte auf breiter Basis durchgeführt werden und mehrere Monate dauern, um so einen effektiven Druck auf den US-Kongress auszuüben.

Punktuelle Erfolgserlebnisse mit Boykotten, Sit-ins und Märschen hatte die Bürgerrechtsbewegung schon verzeichnet. Nun sollten in einem ehrgeizigen Projekt der Umverteilung von Macht auf nationaler Ebene radikale gesellschaftliche Veränderungen vorgenommen werden, um den Rassismus, die Armut, die Arbeitslosigkeit sowie den Vietnamkrieg zu beenden. King war sich dieser großen Herausforderung und »Kraftprobe der Gewaltlosigkeit« bewusst, sah aber keine Alternative angesichts der Eskalation zu einem Bürgerkrieg in den Großstädten der USA.

Währenddessen wütete der Vietnamkrieg weiter und erfuhr eine überraschende Entwicklung. Am höchsten religiösen Festtag Vietnams, dem Neujahrsfest Tet am 31. Januar 1968, setzte eine Offensive ein. Die nordvietnamesische Armee und der Vietkong attackierten 36 Provinzhauptstädte, 64 Kreisstädte, zahlreiche Dörfer und zwölf amerikanische Stützpunkte. Die militärischen Befehlshaber der USA wurden völlig überrascht. Auch wenn die Tet-Offensive letztendlich niedergeschlagen wurde, offenbarte sie das Scheitern der Konzepte der US-Regierung und des US-Militärs – eine Schmach, die in diesen Kreisen bis heute nicht überwunden wurde.

Die Kritik an der Regierung Johnson wuchs weltweit, auch innerhalb der eigenen Demokratischen Partei. King kritisierte den Vietnamkrieg weiterhin als einen Ausdruck des weißen Rassismus, wandte sich aber nun seinem neuen Projekt zu. Er kümmerte sich um nicht sesshafte Landarbeiter*innen in Kalifornien, besuchte Reservate der Native Americans, reiste ins Mississippi-Delta zu der verarmten schwarzen Bevölkerung und beschäftigte sich mit den Gettoproblemen in den Großstädten des Nordens der USA.

Mitte Februar 1968, also nur wenige Tage nach der Tet-Offensive, begann der Streik der schwarzen Müllmänner in Memphis. In diesem Streik sah King eine Brücke zu dem, was er plante: einen Marsch der Armen nach Washington, ähnlich dem Marsch des Jahres 1963. King unterstützte die Aktionen der Müllmänner gegen die rassistische Stadtverwaltung. In Memphis hielt Martin Luther King seine letzte Rede – einen Tag vor seiner Ermordung.

Literatur

DeBenedetti, D.; Chatfield, C (1990): An American Ordeal – The Antiwar Movement of the Vietnam Era. Syracuse: Syracuse University Press.

Carson, C.(2008): The Martin Luther King, Jr. Encyclopedia. Westport: ABC Clio.

Frey, M. (2004, 7. Aufl.): Geschichte des Vietnamkriegs – Die Tragödie in Asien und das Ende des amerikanischen Traums. München: C.H. Beck.

Hall, S. (2005): Peace and Freedom – The Civil Rights and Antiwar Movements in the 1960s. Philadelphia: Penn Press.

King, M.L. (1983, 5. Aufl): Testament der Hoffnung – Letzte Reden, Aufsätze und Predigten. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus.

King, C.S. (1977): Mein Leben mit Martin Luther King. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus

Lucks, D.S. (2014): Selma to Saigon – The Civil Rights Movement and the Vietnam War. Lexington: University Press of Kentucky.

Oates, S.B. (1986): Martin Luther King – Kämpfer für Gewaltlosigkeit. München: Wilhelm Heyne Verlag.

Dr. Karlheinz Lipp ist Historiker mit dem Schwerpunkt Historische Friedensforschung.

Baden war Vorreiter


Baden war Vorreiter

Erstes Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung vor 70 Jahren

von Dieter Junker

„[U]nter dem Schock von Krieg und Diktatur“, wie es der Potsdamer Historiker Patrick Bernhard formulierte,1 wurde 1947 und 1948, also noch vor der Verabschiedung des Grundgesetzes, in den Verfassungen oder in Landesgesetzen mehrerer deutscher Länder in den westlichen Besatzungszonen ein Recht auf Kriegsdienstverweigerung verankert. Dies geschah in Hessen, Berlin, Württemberg-Baden, Bayern und (Süd-)Baden. Am weitesten ging das Land Baden, das in der französischen Besatzungszone lag. Denn hier wurde 1947 erstmals in Deutschland das Recht auf Kriegsdienstverweigerung als Grundrecht in die Verfassung aufgenommen.2

Die Initiative, erstmals in Deutschland ein Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung in den Grundrechtekatalog einer Verfassung aufzunehmen, ging auf Dr. Wilhelm Hoch aus Schopfheim zurück. Der Jurist gehörte für die Badische Christlich-Soziale Volkspartei (BCSV), einem CDU-Vorläufer, der Beratenden Versammlung in Baden an, die die neue Landesverfassung erarbeiten sollte. Am 1. April 1947 stellte er in der Sitzung des Verfassungs- und Rechtspflegeausschusses den Antrag, eine Bestimmung einzuführen, nach der kein Badener zur Ableistung von Militärdienst gezwungen werden kann.3 Dem stimmte der Ausschuss einstimmig zu.

Wilhelm Hoch,4 am 23. Dezember 1893 in Kollnau geboren, gehörte vor 1933 der katholischen Zentrumspartei an. Nach dem Attentat vom 20. Juli 1944 stand der Rechtsanwalt auf der Liste der zu Verhaftenden, konnte sich aber rechtzeitig verstecken. Nach dem Krieg engagierte sich Hoch in der Friedensbewegung. Er starb am 3. Oktober 1954.

Der neue Artikel 69a wird wieder gestrichen …

Schon wenige Tage nach Hochs Antrag brachte die BCSV am 11. April 1947 allerdings einen Antrag in die Beratende Versammlung ein, wonach der neue Artikel 69a um den Zusatz „[…] außer zur Aufrechterhaltung der Ordnung im Innern des Landes“ ergänzt werden sollte.5 Der Verfassungs- und Rechtspflegeausschuss lehnte dies aber ab.

Doch nur drei Tage später, am 14. April 1947, beantragte die BCSV-Fraktion, nun im Plenum, den Artikel 69a ganz zu streichen, sehr zur Überraschung der Sozialdemokraten (SP) und Kommunisten (KP).6 Der kommunistische Abgeordnete Erwin Peckert vermutete dahinter eine Retourkutsche für die Abstimmungsniederlage im Verfassungs- und Rechtspflegeausschuss; der SP-Abgeordnete Ernst Haas verwies darauf, dass der neue Artikel 69a im zuständigen Ausschuss einstimmig angenommen worden sei. Demgegenüber warf der BCSV-Abgeordnete Wolfgang Hoffmann der KP und der SP vor, die BCSV als reaktionäre Militaristen zu brandmarken. Er betonte, seine Partei halte einen solchen Artikel für überflüssig, da im Verfassungsentwurf ja bereits formuliert werde, dass jegliche Handlung, die das Zusammenleben der Völker störe, verfassungswidrig sei.

In der namentlichen Abstimmung votierten 27 Abgeordnete für die Streichung des Artikels 69a, 25 lehnten die Streichung ab.7 Dies bedeutete, dass das Recht auf Kriegsdienstverweigerung wieder aus der badischen Verfassung gestrichen wurde.

… doch die Versammlung revidiert den Beschluss

Doch damit wollten sich einige Abgeordnete nicht abfinden. Nur eine Woche später, am 21. April 1947, teilte der Präsident der Beratenden Versammlung dem Plenum mit, dass im Verfassungs- und Rechtspflegeausschuss der Antrag gestellt worden war, den gestrichenen Artikel 69a wiederherzustellen. Diesem Antrag habe der Ausschuss mit „erheblicher“ Mehrheit stattgegeben.8

Im Plenum beantragte der KP-Abgeordnete Wilhelm Büche daraufhin eine namentliche Abstimmung über die Wiederaufnahme des Artikels 69a. Und diesmal stimmte die große Mehrheit der Versammlung bei vier Nein-Stimmen (drei von der Demokratischen Partei [DP], eine von der BCSV) dafür, den umstrittenen Artikel 69a mit dem Recht auf Kriegsdienstverweigerung doch in die neue badische Verfassung aufzunehmen. Im endgültig verabschiedeten Verfassungsentwurf für das Land Baden wurde der Artikel 69a zum Artikel 3, der lautete: „Kein badischer Staatsbürger darf zur Leistung militärischer Dienste gezwungen werden.“

Die Verfassung wurde am 18. Mai 1947 in einer Volksabstimmung angenommen und trat am 22. Mai 1947 mit der Verkündung in Kraft.

Grundrecht auf Kriegsdienst­verweigerung auch in Berlin

Neben Baden wurde auch in (Groß-) Berlin eine Bestimmung über das Recht auf Verweigerung des Kriegsdienstes in die Verfassung aufgenommen,9 unter explizitem Bezug auf Baden.10 Im Verfassungsausschuss der Stadtverordnetenversammlung stellte der SPD-Abgeordnete Friedrich-Wilhelm Lucht im März 1948 zur Diskussion, ob nicht in Berlin ebenfalls ein Artikel über Kriegsdienstverweigerung eingeführt werden sollte. Eine entsprechende Forderung hatte im Vorfeld schon der Berliner Frauenbund erhoben.

Der Heidelberger Politikwissenschaftler Pfetsch zitiert aus der Sitzungsniederschrift, der Ausschuss-Vorsitzende Otto Suhr (SPD) habe zu diesem Antrag bemerkt, er persönlich sei für jede Kriegsdienstverweigerung, halte die Aufnahme in die Verfassung aber nicht für richtig, da man sonst auch die Frage nach der Herstellung von Kriegsmaterial und anderes in der Verfassung regeln müsste. Obwohl der Verfassungsausschuss den Antrag ablehnte, wurde er in der Sitzung der Stadtverordnetenversammlung vom 22. April 1948 in die Verfassung aufgenommen. Artikel 21 der Berliner Verfassung, in der bereits das Verbot von Handlungen, die geeignet seien, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, betont wurde, erhielt den neuen Absatz 2: „Jeder Mann hat das Recht, Kriegsdienste zu verweigern, ohne dass ihm Nachteile entstehen dürfen.“

Die Verfassung wurde von der Stadtverordnetenversammlung und vom Magistrat der Stadt Berlin am 22. April 1948 beschlossen, trat aber aufgrund der politischen Entwicklung in Berlin 1948 noch nicht abschließend in Kraft. Erst am 1. September 1950 wurde die endgültige Verfassung verabschiedet.11

Nicht im Verfassungsrang, aber als Gesetz

Auch in Württemberg-Baden wurde über einen Verfassungsartikel zur Kriegsdienstverweigerung diskutiert. Seit 30. November 1946 enthielt die Landesverfassung – ein Novum für ein deutsches Land – bereits einen Artikel zur Ächtung des Krieges: „Jede Handlung, die mit der Absicht vorgenommen wird, eine friedliche Zusammenarbeit der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Krieges vorzubereiten, ist verfassungswidrig.“ Dies geschah vor allem auf Initiative des SPD-Politikers Carlo Schmid, der später im Parlamentarischen Rat auch zu den Initiatoren eines Rechts auf Kriegsdienstverweigerung im Grundgesetz der Bundesrepublik gehörte.12

Das Stuttgarter Jugendparlament und verschiedene Friedensgruppen engagierten sich seit September 1947 dafür, dass in die württemberg-badischen Verfassung ein Recht auf Kriegsdienstverweigerung aufgenommen wird.13 Sie griffen dabei eine Forderung von Gisela Heidorn auf, die bereits 1946 in der von ihr herausgegebenen Frauenzeitschrift »Das Medaillon« für ein Recht auf Kriegsdienstverweigerung als einem Beitrag zur Abschaffung des Krieges eingetreten war. Nachdem im bayerischen Landtag im Oktober 1947 ein entsprechendes Gesetz eine Mehrheit gefunden hatte, erhielt die württemberg-badische Initiative neuen Rückenwind. Allerdings sprachen sich die Parteien im Stuttgarter Landtag dagegen aus, eine entsprechende Regelung in die Verfassung aufzunehmen. Ministerpräsident Reinhold Maier (DVP) verwies dabei auf Äußerungen amerikanischer Generäle, wonach die Kriegsgefahr größer sei als jemals zuvor.

Um eine Lösung zu finden, entschied sich der Landtag dafür, anstatt das Recht auf Kriegsdienstverweigerung in die Verfassung aufzunehmen, ein Gesetz zu erlassen, das nur mit verfassungsändernder Mehrheit geändert werden konnte. Dies fand im Landtag am 22. April 1948 eine Mehrheit, wie der Spiegel berichtete.14 Das Gesetz Nr. 1007 vom 23. April 1948 bestimmte in seinem einzigen Artikel: „Niemand darf zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden.“

Eine Kämpferin für das Recht auf Kriegsdienstverweigerung in Württemberg-Baden war Anna Haag, die für die SPD dem Landtag angehörte.15 Laut Spiegel setzte sie sich auch dafür ein, dass der Landtag über den Alliierten Kon­trollrat eine Initiative zu einem Kriegsdienstverweigerungsgesetz für alle vier Besatzungszonen ergreifen sollte.

Bayern war schneller

Parallel zu Württemberg-Baden beriet der Bayerische Landtag über ein »Gesetz über die Straffreiheit bei Kriegsdienstverweigerung«, das im Herbst 1947 die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) eingebracht hatte. Am 25. September 1947 beschäftigte sich der Ausschuss für Verfassungsfragen des bayerischen Landtags mit diesem Antrag. Dabei bezweifelten Abgeordnete der Christlich-Sozialen Union (CSU) und der Wirtschaftlichen Aufbau-Vereinigung (WAV) zwar die Notwendigkeit dieses Gesetzes, stimmten dem SPD-Antrag aber zu.16

In der Landtagssitzung am 23. Oktober 1947, bei der über die Annahme dieses Gesetzes entschieden werden sollte, äußerten CSU und WAV erneut deutliche Vorbehalte und fragten nach dem Sinn eines solchen Gesetzes, da Bayern und Deutschland auf absehbare Zeit keine bewaffnete Truppe aufstellen könnten. Die CSU kündigte aus diesem Grund eine Ablehnung des Gesetzentwurfs an.17 Allerdings gab es auch CSU-Abgeordnete, die dem Antrag zustimmen wollten, da für sie Krieg Massenmord sei. Sprecher der SPD und der Freien Demokratischen Partei (FDP) unterstützten nachdrücklich den Gesetzentwurf, da damit ein Versäumnis in der Verfassung wettgemacht werde. Die WAV zeigte sich wie die CSU uneins.

Nach einer Sitzungsunterbrechung, in der die CSU zu einer Fraktionssitzung zusammenkam, brachte die CSU-Fraktion den Änderungsantrag ein, vor den eigentlichen Gesetzestext eine Präambel zu stellen, in der sich Bayern zu Frieden, Freiheit und Völkerverständigung bekenne und in der darauf verwiesen würde, dass Krieg durch Völkerrecht geächtet sei. Mit dieser Änderung wurden im Landtag die vorgeschlagene Präambel in der ersten Lesung einstimmig, der SPD-Gesetzesantrag anschließend bei vier Enthaltungen der WAV einstimmig und das Gesamtgesetz schließlich bei einer Enthaltung angenommen. In der zweiten Lesung erfolgte die einstimmige Annahme des Gesetzes über die Straffreiheit bei Kriegsdienstverweigerung, das am 21. November 1947 in Kraft trat und damit das erste Gesetz in Deutschland war, das eine Kriegsdienstverweigerung regelte.

Hessische Initiative wird zugunsten des Grundgesetzes fallen gelassen

In der hessischen Verfassung war ähnlich wie in Württemberg-Baden und in Baden eine Ächtung des Krieges verankert. Artikel 69 der Landesverfassung betonte, dass sich Hessen zu Frieden, Freiheit und Völkerverständigung bekenne, den Krieg ächte und dass jede Handlung, die mit der Absicht vorgenommen werde, einen Krieg vorzubereiten, verfassungswidrig sei.18

Im März 1948 brachte die SPD im hessischen Landtag einen Gesetzentwurf ein, wonach kein hessischer Staatsbürger zum Militärdienst oder zur Teilnahme an Kriegshandlungen gezwungen werden könne, sondern das Recht habe, den Militär- und Kriegsdienst zu verweigern.19 Beschlossen wurde das Gesetz aber nicht mehr: In der Landtagssitzung vom 21. September 1949 teilte der Berichterstatter des Landtags mit, dass sich der Hauptausschuss zwar am 9. Juli 1949 mit diesem SPD-Initiativantrag beschäftigt habe, dem Landtag aber aufgrund des Artikels 4, Absatz 3 des Grundgesetzes, das mittlerweile verabschiedet worden war, empfehle, diesen Antrag als erledigt zu erklären. Diesem Vorschlag folgte der Landtag.20

Parlamentarischer Rat und die Auflösung des Landes Baden

Der Parlamentarische Rat nahm bei der Ausarbeitung des Grundgesetzes ein Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen in die neue Verfassung auf. Die SPD-Abgeordnete Friederike Nadig hatte am 30. November 1948 im Grundsatzausschuss des Parlamentarischen Rates einen entsprechenden Antrag eingebracht, der 1949 schließlich gegen Streichungsanträge aus der FDP und der CDU Eingang in die neue deutsche Verfassung fand („Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden.“), allerdings mit dem Zusatz, wonach das Nähere ein Bundesgesetz regele. Und anders als in den oben genannten Landesverfassungen und in den zu diesem Zeitpunkt bestehenden Landesgesetzen erlaubte das Grundgesetz zudem nur eine Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen.21

Von den beiden Grundrechtsregelungen in deutschen Länderverfassungen hatte am Ende nur die Berliner Regelung Bestand. Der Freistaat Baden, in dem erstmals ein Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung in eine deutsche Verfassung aufgenommen worden war, ging 1952 im Bundesland Baden-Württemberg auf, womit die badische Verfassung von 1947 ihre Gültigkeit verlor. In die neue baden-württembergische Landesverfassung fand ein Recht auf Kriegsdienstverweigerung keinen Eingang, allerdings wurden dort die im Grundgesetz festgelegten Grundrechte und damit auch das Recht auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen als Bestandteil der Landesverfassung anerkannt.22

Anmerkungen

1) Bernhard, P. (2005): Zivildienst zwischen Reform und Revolte – Eine bundesdeutsche Institution im gesellschaftlichen Wandel 1961-1982. München: Oldenbourg, S. 27.

2) Pfetsch, F.R. (1990): Ursprünge der Zweiten Republik – Prozesse der Verfassungsgebung. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 412 ff.
Pfetsch, F.R. (1986): Verfassungspolitische Innovationen 1945-1949 – Am Anfang war der linksliberale Rechtsstaat. Zeitschrift für Parlamentsfragen, 1/1986, S. 19 ff.
Hecker, H. (1954): Die Kriegsdienstverweigerung im deutschen und ausländischen Recht. Frankfurt/Berlin: Alfred Metzner.
Ciezki, N. (1999): Für das Recht auf Kriegsdienstverweigerung – Einfluss und Bedeutung der »Zentralstelle für Recht und Schutz der Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen e.V.«. Münster: agenda, S. 22 ff.
Die badische Regelung wird von Friedrich Siegmund-Schultze, der sich schon vor dem Zweiten Weltkrieg für ein Recht auf Kriegsdienstverweigerung nachdrücklich engagierte, in seinem Beitrag »Das Recht auf Kriegsdienstverweigerung in der deutschen Gesetzgebung« in der Zeitschrift »Die Friedenswarte« von 1950 nicht erwähnt, sondern betont, dass in der französischen Besatzungszone, anders als in der amerikanischen, keine Regelungen zur Kriegsdienstverweigerung aufgenommen wurden.

3) Feuchte, P. (1991): Quellen zur Verfassung des Landes Baden 1947. Stuttgart: W. Kohlhammer, Band 1, S. 468.

4) Biografische Daten nach Landesarchiv Baden-Württemberg – Staatsarchiv Freiburg (o.J.): Findbuch Nachlass Wilhelm Hoch, verfasst von Stefanie Albus-Kötz; landesarchiv-bw.de.

5) Feuchte, P. (2001): Quellen zur Verfassung des Landes Baden 1947. Stuttgart: W. Kohlhammer, Band 2, S. 63 f.

6) Der Wortlaut der Debatte ist abgedruckt bei Feuchte, P. (2001), a.a.O., S. 173 ff.

7) Der Beratenden Versammlung in Baden gehörten 37 Abgeordnete der BCSV, 11 Abgeordnete der SP, neun Abgeordnete der DP und vier Abgeordnete der KP an.

8) Feuchte, P. (2001), a.a.O., S. 342.

9) Siegmund-Schultze, F. (1959): Das Recht auf Kriegsdienstverweigerung in der deutschen Gesetzgebung. Die Friedens-Warte, Vol 50, S. 357-366.

10) Pfetsch, F.R. (1996), a.a.O, s. 19.

11) Siegmund-Schultze, F. (1959), a.a.O., S. 362.

12) Pfetsch, F.R. (1996), a.a.O., S. 20.

13) Der Spiegel vom 1. Mai 1948, S. 6-7.

14) Laut Spiegel nahmen lediglich 46 der 100 Abgeordneten an der Abstimmung teil, von denen 23 dem Gesetz zustimmten und drei sich enthielten, darunter auch der Ministerpräsident.

15) Kopp, E (2011): Anna Haag kämpfte für das Recht auf Kriegsdienstverweigerung. Chrismon plus 12/2011.

16) Landtagsprotokoll der 30. Sitzung vom 23. Oktober 1947, S. 51 ff.
Der Spiegel vom 1. Mai 1948, S. 7.

17) Kock, P.-J. (2006): Der bayerische Landtag – Eine Chronik. München: Bayerischer Landtag.

18) Siegmund-Schultze, F. (1950), a.a.O., S. 360.

19) Hellmuth Hecker (1954), a.a.O., S. 10.

20) Siegmund-Schultze, F. (1959), a.a.O., S. 360 f.

21) Bernhard, P. (2005), a.a.O., S. 27 ff..
Ciezki, N. (1999), a.a.O., S. 24 ff.

22) Feuchte, P. (1983): Verfassungsgeschichte von Baden-Württemberg. Stuttgart: W. Kohlhammer.

Dieter Junker ist Dipl.-Soziologie, lebt im Hunsrück und arbeitet seit 1995 als freier Journalist. Er ist daneben für die Öffentlichkeitsarbeit des EKD-Friedensbeauftragten und der evangelischen Friedensarbeit zuständig.

Es droht eine neue »Nachrüstungs«debatte


Es droht eine neue »Nachrüstungs«debatte

30 Jahre nuklearer Mittelstreckenvertrag

von Andreas Zumach

Am 8. Dezember 1987 unterzeichneten der damalige US-Präsident Ronald Reagan und der Generalsekretär der sowjetischen KPdSU, Michail Gorbatschow, im Weißen Haus in Washington die so genannte »doppelte Nulllösung« für die »Intermediate-range nuclear forces« (INF, atomare Mittelstreckenwaffen) der beiden Großmächte. Der Vertrag regelte den Abzug und die Verschrottung aller landgestützten atomaren Raketen kürzerer (500-1.500 Kilometer) und mittlerer (1.500-5500 Kilometer) Reichweite sowie ihrer Abschussrampen und sonstigen Infrastruktur nicht nur in Europa, sondern weltweit, innerhalb von drei Jahren. Das INF-Abkommen wird in Kürze 30 und ist bis heute ein Kernelement der Rüstungskontrolle zwischen den USA und Russland, gerät aber zunehmend unter Druck.

Mit dem historischen INF-Abkommen wurden erstmals in der Rüstungskontrollgeschichte seit dem Zweiten Weltkrieg nicht nur numerische Obergrenzen oder andere Einschränkungen für bestimmte Waffensysteme vereinbart, sondern ihre vollständige Abrüstung. Zudem vereinbarten die beiden Großmächte weitreichende gegenseitige Inspektionsmaßnahmen während der Umsetzung des Vertrages sowie das Verbot der Neuentwicklung und Produktion dieser Waffensysteme. Nicht unter das INF-Abkommen fallen atomare Artillerie und Kurzstreckenraketen mit einer Reichweite von unter 500 Kilometern.

Am 1. Juni 1988 trat der INF-Vertrag in Kraft. Damit ging eine zehnjährige Eskalationsphase der atomaren Aufrüstung zu Ende, die in der Bundesrepublik Deutschland und anderen NATO-Staaten die größte Friedensbewegung seit Ende des Zweiten Weltkrieges ausgelöst hatte. Auch in der DDR und in anderen Mitgliedsländern der Warschauer Vertragsorganisation regte sich erstmals deutlicher Widerspruch gegen die Anhäufung von immer mehr atomaren Massenvernichtungswaffen.

Schmidts »Raketenlücke« und der »Doppelbeschluss«

Am 28. Oktober 1977 hatte der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt in einer Rede vor dem International Institute for Strategic Studies in London Sorgen geäußert über eine angebliche »Raketenlücke« auf NATO-Seite. Das westliche Bündnis habe keine ausreichenden Mittel gegen die auf Westeuropa gerichteten atomaren Mittelstreckenraketen vom Typ SS-20, die die Sowjetunion damals stationierte. US-Präsident Jimmy Carter schlug daraufhin vor, 108 atomare Pershing-II-Raketen und 464 Marschflugkörper (Cruise Missiles) des Typs Tomahawk in Deutschland, Großbritannien, den Niederlanden, Belgien und Italien zu stationieren. Am 12. Dezember 1979 übernahm ein Gipfeltreffen der Staats-und Regierungschefs aus den damals 16-NATO-Staaten offiziell den Aufrüstungsvorschlag des US-Präsidenten. Der NATO-Gipfel kleidete seine Entscheidung allerdings in einen »Doppelbeschluss«: Von Moskau forderte die NATO den Abbau der bereits stationierten SS-20-Raketen. Sollte Moskau diese Forderung nicht erfüllen, werde es zur westlichen »Nachrüstung« mit Pershing II und Cruise Missiles kommen.

Dieser »Doppelbeschluss« und das darin enthaltene »Verhandlungsangebot« an die Sowjetunion waren vor allem eine Konzession an die zunehmend aufrüstungskritische Stimmung nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern auch in den Regierungsparteien einiger NATO-Staaten. 1977/78 hatte das Vorhaben der USA, in Europa eine »Neutronenwaffe« zu stationieren, deren »Vorteil« es sei, dass sie nur gegnerische Soldaten töte, aber keine Gebäude zerstöre, vor allem in der BRD für große Unruhe gesorgt. Egon Bahr, der führende Sicherheitspolitiker von Helmut Schmidts Regierungspartei SPD, bezeichnete die Neutronenbombe damals als eine „Perversion des Denkens“. Die Neutronenwaffe wurde nie in Europa stationiert.

Auf dem Berliner Bundesparteitag der SPD eine Woche vor dem Brüsseler NATO-Gipfel vom Dezember 1979 erhielt Kanzler Schmidt bereits nur noch 60 Prozent Zustimmung für den geplanten »Doppelbeschluss«. In einem Zeitunginterview mit dem Autor hatte bereits im März 1979 mit dem damaligen Kommandeur der 12. Panzerdivision, Generalmajor Gert Bastian, erstmals ein Soldat der Bundeswehr öffentlich das Aufrüstungsvorhaben der NATO kritisiert. Das war ein erster Riss in der bis dato völlig geschlossenen Front der Befürworter des Doppelbeschlusses aus Militärs und Sicherheitspolitikern der etablierten Parteien. In der Folge äußerten sich auch aktive wie pensionierte Generäle aus anderen europäischen NATO-Staaten kritisch. Später gründeten Bundeswehrsoldaten, die den Doppelbeschluss ablehnten, die Vereinigung »Darmstädter Signal«, die sich bis heute kritisch mit der Sicherheits-und Militärpolitik Deutschlands und der NATO auseinandersetzt.

Die Sorgen und Bedenken nicht nur in der Friedensbewegung richteten sich vor allem auf eine damals ganz neue US-amerikanische Waffenentwicklung, die Pershing-II-Rakete, von der nach den Plänen der NATO 108 Exemplare ausschließlich in der BRD stationiert werden sollten. Grund der Besorgnis: Mit ihrer Schnelligkeit, Zielgenauigkeit und Zerstörungskraft machte die Pershing II erstmals seit Beginn der Ost-West-Konfrontation einen atomaren »Enthauptungsschlag« der NATO gegen die Sowjetunion zumindest vorstellbar. Ein »Enthauptungsschlag« hätte der Sowjetunion ihre gesicherte Zweitschlagskapazität genommen und damit die Grundlage des atomaren Abschreck­ungspatts zerstört. Verstärkt wurden diese Sorgen noch, als nach der Wahl Ronald Reagans zum neuen US-Präsidenten im November 1980 im Pentagon tatsächlich Konzeptpapiere verfasst wurden, die die Option eines solchen »Enthauptungsschlages« enthielten sowie das Szenario eines auf Europa begrenzten Atomkrieges mit den beiden deutschen Staaten als Kerngebiet dieses Krieges. Auch Reagans Pläne für ein weltraumgestütztes Raketenabwehrsystem (Strategic Defense Initiative, SDI) trugen zu diesen Sorgen bei. Sie herrschten nicht nur in der Friedensbewegung vor, sondern auch in der Bundeswehrführung, wie damals noch aktive Generäle Jahre später, nach ihrer Pensionierung, bestätigten.

Die Lage ähnelte der Situation in den Jahren 1966/67. Damals verordneten die USA innerhalb der NATO den Strategiewechsel von der »massiven Vergeltung« (massiv retaliation) hin zur »abgestuften Antwort« (flexible reponse). Die »massive Vergeltung« sah bei einem konventionellen Angriff des Warschauer Paktes nicht nur den sofortigen Einsatz aller konventionellen Streitkräfte und Waffen der NATO vor, sondern auch der in Westeuropa stationierten taktischen Atomwaffenarsenale der NATO sowie der strategischen Atomstreitkräfte der USA. Die neue Strategie der »abgestuften Antwort« hingegen sah vor, auf einen Angriff der Warschauer Vertragsorganisation zunächst nur mit konventionellen Waffen zu reagieren, dann bei Bedarf taktische Atomwaffen einzusetzen und erst in einer dritten Eskalationsstufe die strategischen Arsenale der USA. Dieser Strategiewechsel der USA führte vor 50 Jahren in der Führung der Bundeswehr und den Streitkräften anderer westeuropäischer NATO-Staaten zu der Sorge, die USA könnten sich aus dem »Risikoverbund« der NATO abkoppeln und eine militärische Auseinandersetzung mit der Warschauer Vertragsorganisation auf Europa begrenzen wollen.

Die Friedensbewegung mobilisiert zum Protest

Am 10. Oktober 1981 demonstrierten in Bonn über 300.000 Menschen friedlich gegen die geplante Aufrüstung mit Pershing II und Cruise Missiles, aber auch gegen die SS-20 in der Sowjetunion. „Überwindung von Geist, Logik und Politik der Abschreckung“ lautete das zentrale Motto dieser bis dahin größten Demonstration und Friedenskundgebung in der Geschichte der Bundesrepublik. Bundeskanzler Schmidt versuchte vergeblich, den Redeauftritt des führenden SPD-Politikers Erhard Eppler zu verhindern und Bundestagsabgeordneten seiner Partei die Teilnahme an der Demonstration zu verbieten. Zwei Wochen vor dem 10. Oktober waren in Amsterdam bereits 450.000 Menschen gegen die atomare Rüstung auf die Straße gegangen. In den folgenden Wochen demonstrierten Hundertausende in den Hauptstädten der anderen drei vorgesehenen Stationierungsländer der atomaren Cruise Missiles, London, Rom und Brüssel, wie auch in den Hauptstädten anderer NATO-Staaten. In der DDR wagten sich unter dem Motto »Schwerter zu Pflugscharen« kirchliche Friedensgruppen nun stärker in die Öffentlichkeit und forderten den Abzug der in der DDR und anderen Ostblockstaaten stationierten sowjetischen Kurzstreckenraketen vom Typ SS-21 und SS-23.

In der Regierungspartei SPD setzten sich unter dem Einfluss der Friedensbewegung immer mehr Teilgliederungen, wie die Jungsozialisten, Ortsvereine, Unterbezirke und ganze Landesverbände, von der Linie ihres Kanzlers ab und forderten ein »Nein« der Partei zur Stationierung der neuen Atomraketen. Dieser Prozess verstärkte sich noch, nachdem im Frühjahr 1982 infolge des Seitenwechsels der FDP und dem daraus folgenden Ende der SPD/FDP-Koalition Helmut Kohl (CDU) Kanzler wurde und die SPD in die Opposition ging. Kurz nach Kohls Amtsantritt demonstrierten im Juni 1982 beim NATO-Gipfel in Bonn knapp eine halbe Million Menschen gegen die geplante atomare Aufrüstung. Scheinbar unbeirrt hielt Kohl an den Plänen fest und versicherte, er werde den inzwischen für Ende 1983 vorgesehenen Beginn der Stationierung der Pershing II und Cruise Missiles in der BRD durchsetzen. Wie groß die Ablehnung in der Bevölkerung war, zeigte im August 1982 eine vom ZDF-Politbarometer in Auftrag gegebene repräsentative Umfrage: 75 Prozent der Befragten sprachen sich gegen die Stationierung der neuen Atomwaffen aus, mit Mehrheiten unter den Wähler*innen aller Parteien und in allen Altersgruppen. Das Kanzleramt drängte das ZDF, diese Umfrageergebnisse nicht zu veröffentlichen, doch sie wurden dem Autor zugespielt und vom Bonner Koordinationskreis der Friedensbewegung veröffentlicht.

Am 22. Oktober 1983 kam es mit großen Demonstrationen in Bonn, Hamburg und Berlin sowie der 108 Kilometer langen Menschenkette zwischen Stuttgart und Neu-Ulm zu einem letzten Höhepunkt der Friedensbewegung. Auf der Bonner Kundgebung bekräftigte der SPD-Vorsitzende, Friedensnobelpreisträger und Ex-Bundeskanzler Willy Brandt das »Nein« seiner Partei zur Stationierung, das die SPD inzwischen auf einem Bundesparteitag beschlossen hatte.

Vier Wochen später stimmte der Bundestag dennoch mit der Mehrheit der CDU/CSU/FDP-Regierungskoalition für die Stationierung der neuen Atomraketen, die wenig später begann. An den Stationierungsorten Mutlangen, Neu-Ulm, Neckarsulm und Heilbronn demonstrierten in den folgenden Jahren zehntausende Friedensbewegte und blockierten gewaltfrei die Eingänge der US-amerikanischen Militärgelände. Viele Hunderte wurden angeklagt und von den zuständigen Amtsgerichten gemäß § 240 des Strafgesetzbuches wegen Nötigung verurteilt. Jahre später urteilte das Bundesverfassungsgericht allerdings, dass gewaltfreie Blockaden nicht den Straftatbestand der Nötigung erfüllen.

INF-Verhandlungen in Genf

Die Sowjetunion war anfangs nur nach einer Rücknahme des »Doppelbeschlusses« zu Verhandlungen mit der NATO bereit, ließ sich im Oktober/November 1980 aber doch auf »Vorgespräche« mit den USA in Genf ein. Ab November 1981 verhandelten dann beide Seiten offiziell in Genf. Zunächst unterbreiteten sie nur Vorschläge, die auf eine Reduzierung und zahlenmäßige Obergrenze von Atomwaffen kürzerer und mittlerer Reichweite in Europa zielten. Einer der Hauptstreitpunkte war Moskaus Forderung, bei einem künftigen Gleichgewicht auf niederem Niveau auch die britischen und französischen Atomwaffen dieser Kategorie mit anzurechnen. Diese Forderung lehnten die USA und die NATO stets kategorisch ab.

Im November 1982 wurden die Genfer Verhandlungen ergebnislos unterbrochen. Und nach Beginn der Stationierung der Pershing II und der Cruise Missiles ab Ende 1983 gab es zunächst keine Aussicht auf eine Wiederaufnahme der Verhandlungen. Doch nach der Wahl von Michail Gorbatschow zum Generalsekretär der KPdSU im Frühjahr 1985 kehrte die Sowjetunion an den Verhandlungstisch zurück und zeigte sich bereit zu einem vollständigen Verbot von atomaren Raketen kürzerer und mittlerer Reichweite. Eine entsprechende Verständigung wurde zwischen Washington und Moskau nach zwei Gipfeltreffen mit Gorbatschow und Reagan bereits im Frühjahr 1987 erreicht. Doch dann gab es Widerstand aus Deutschland: Die Sowjetunion verlangte, dass auch die bei Einheiten der Bundeswehr stationierten 72 atomaren Pershing-1A-Raketen der USA mit einer Reichweite von gut 700 Kilometer unter die geplante »doppelte Nulllösung« fallen müssten. Doch Teile von CDU/CSU sprachen sich gegen die Einbeziehung dieser Raketen in den Vertrag aus. FDP, Grüne und SPD waren für ihre Abrüstung. Im Sommer 1987 beendete Bundeskanzler Helmut Kohl unter deutlichem Druck aus Washington den Streit und stimmte dem Abzug der Pershing-1A-Raketen zu. Die Zustimmung erfolgte einseitig durch die Bundesrepublik und wurde nicht in den INF-Vertrag aufgenommen. So war der Weg frei für die Vertragsunterzeichnung am 8. Dezember 1987.

Die USA zerstörten vertragsgemäß 846, die Sowjetunion insgesamt 1.846 Raketen. Die letzte Rakete wurde im Mai 1991 demontiert.

Die Inspektionsrechte aus dem INF-Vertrag endeten am 31. Mai 2001. An diesem Datum galt der Vertrag auch als vollständig umgesetzt.

Der Vertrag gilt zwar zeitlich unbegrenzt, allerdings hat jede Vertragspartei das Recht, ihn mit sechs Monate Frist aufzukündigen, wenn „außerordentliche Ereignisse im Zusammenhang mit dem Gegenstand dieses Vertrages ihre übergeordneten Interessen beinträchtigen“.

Eine Kündigung ist bislang zwar nicht erfolgt, doch ist der INF-Vertrag zunehmend gefährdet.

Der INF-Vertrag ist in Gefahr

Bereits im Februar 2007 erklärte Russlands Präsident Wladimir Putin in seiner Rede vor der Münchner Sicherheitskonferenz, der Vertrag diene angesichts der von den USA beabsichtigten Aufstellung von Komponenten eines bodengestützten Raketenabwehrsystems in Tschechien und Polen den russischen Sicherheitsinteressen nicht mehr. Die amerikanischen Pläne gefährdeten die strategische Stabilität, was, wie der Chef des Generalstabs der russischen Streitkräfte wenige Tage später ausführte, „geeignete Gegenmaßnahmen“ erforderlich mache.

Im Juli 2014 erhob das Außenministerium der USA öffentlich den Vorwurf, Russland habe mehrfach Mittelstreckenraketen getestet und damit gegen den Vertrag verstoßen. Um welchen Typ eines bodengestützten Marschflugkörpers es sich gehandelt habe – nur diese sind unter dem INF-Vertrag verboten –, wurde offiziell nicht bekanntgegeben. Medienberichten zufolge handelt es sich um Iskander-K R500. Dieser Typ wurde erstmals 2007 getestet, seine maximale Reichweite ist nicht bekannt, und in den vergangenen Jahren wurde von den USA auch keine Vertragsverletzung geltend gemacht.

Bei Gesprächen einer US-Delegation in Moskau Anfang September 2014 wies Russland die Vorwürfe Washingtons zurück. Hingegen hätten die USA in drei Punkten gegen den INF-Vertrag verstoßen: Für Raketenabwehrtests würden die USA Raketen benutzen, die Mittelstreckenraketen ähnelten. Auch die Verwendung von Angriffsdrohnen sei ein Verstoß gegen den INF-Vertrag, weil sie zu 100 Prozent mit bodengestützten Marschflugkörpern“ übereinstimmten. Darüber hinaus ist Moskau beunruhigt über die Entwicklung der landgestützten Variante des US-Raketenabwehrsystems Aegis Ashore mit der Senkrechtstartanlage »MK 41 Vertical Launching System«, die 2015 in Rumänien stationiert wurde und 2018 in Polen eingeführt werden soll. Von diesen Anlagen könnten außer Abwehrraketen auch Cruise Missiles des Typs Tomahawk und damit vom INF-Vertrag verbotene Waffen gestartet werden.

Amerikanische Regierungsvertreter äußerten im Februar 2017 die Überzeugung, Russland habe den Vertrag gebrochen, indem es Mittelstreckenraketen nicht nur testete und produzierte, sondern bereits zwei aktive Bataillone seiner Streitkräfte damit ausgerüstet habe. Die Waffe, von den USA als SSC-8 bezeichnet, soll von Startvorrichtungen auf Lastwagen eingesetzt werden können, die sehr den Fahrzeugen ähneln, die von russischen Truppen für die SS-26-Iskander-Atomrakete benutzt werden. Eine der Einheiten mit dem neuen Raketentyp stehe nach US-Angaben noch beim Raketenerprobungszentrum Kapustin Jar, während die andere bereits abgerückt sei.

In Washington und auch in der NATO wird als Antwort auf die behauptete Verletzung des INF-Vertrages durch Moskau inzwischen über eine westliche »Nachrüstung« mit dieser verbotenen Waffenkategorie diskutiert. Ob sich die Geschichte des Mittelstrecken-Wettrüstens an dieser Stelle einfach wiederholt?

Andreas Zumach ist seit 1988 Korrespondent am Genfer Sitz der Vereinten Nationen für die taz und andere Zeitungen, Radio- und Fernsehstationen im deutschsprachigem Raum sowie Autor mehrerer Bücher zu den Vereinten Nationen und zu internationalen Konflikten. Er ist Mitglied im Beirat von W&F. Zur Zeit der »Nachrüstung« war er friedenspolitischer Mitarbeiter der Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste, in deren Auftrag er die Bonner Demonstration vom 10. Oktober 1981 organisierte, und danach bis 1987 einer der Sprecher des in Folge dieser Demonstration gegründeten Bonner Koodinationsausschusses der Friedensbewegung.

Umkämpfte Erinnerungen an Hiroshima


Umkämpfte Erinnerungen an Hiroshima

von Annette Ripper

Barack Obama war seit dem Atombombenabwurf auf das Zentrum von Hiroshima am 6. August 1945 der erste US-Präsident, der die Stadt besuchte. In seiner Rede verwies er auf die Bedeutsamkeit der Erinnerung an die verheerenden Folgen, da Erinnerung ein Umdenken ermögliche (Obama 2016). Erinnerungsarbeit ist jedoch ein komplexer Prozess, der eng an die Konstruktion von Identität gebunden ist, entweder die eines Einzelnen oder die eines Kollektivs. Dieser Beitrag beleuchtet anhand des Briefwechsels von Claude Eatherly, einem ehemaligen Major der US Army Air Force, mit dem österreichischen Philosophen Günther Anders und der daran anschließenden Debatte ein Stück dieser Erinnerungsarbeit, die an der Schnittstelle von Erinnerung und Gegen-Erinnerung, Identität und politischer Machtausübung angesiedelt ist.

Das philosophische Werk von Günther Anders bezieht sich in besonderer Weise auf die Ungeheuerlichkeit von Nuklearwaffen. Anders‘ Entsetzen über die Atombombenabwürfe in Hiroshima und Nagasaki haben sich tief in seine Arbeit und seine Aktivitäten eingeschrieben. Entwicklung und Einsatz der Atombombe markieren für ihn eine klare Zäsur im Beziehungsgefüge zwischen Mensch und Technik und zwar insofern, als der Mensch mit dem Einsatz der Technik potentiell in die Lage versetzt wird, seinen eigenen Untergang herbeizuführen. Anders stellt folgende Thesen auf, die für ihn in diesem Stadium der Technikentwicklung charakteristisch sind und die insgesamt die »Antiquiertheit des Menschen«, so der Titel seines zweibändigen Hauptwerks, ausmachen: „daß wir der Perfektion unserer Produkte nicht gewachsen sind; daß wir mehr herstellen als vorstellen und verantworten können; und daß wir glauben, das, was wir können, auch zu dürfen, nein: zu sollen, nein: zu müssen“ (Anders 1985, Vorwort zur 5. Auflage).

Die erste These ist gekoppelt an das, was Anders als „prometheische Scham“ (ebd., S. 23) bezeichnet und was sich auf das Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt bezieht und dieses Verhältnis verändert. Das Subjekt als Natürliches, Menschliches, empfindet Scham gegenüber der kalkulierbaren, immer gleich bleibenden leistungsintensiven Kraft der technischen Apparate, Maschinen und Objekte. Das ungeheure Destruktionspotential, die berechenbare Exaktheit und die Reichweite technischer Produkte übersteigen die menschlichen Fähigkeiten um ein Vielfaches, weswegen der Mensch sich seiner Unterlegenheit schämt und daher, so Anders, „zum Hofzwerg seines eigenen Maschinenparks“ (ebd., S. 25) werde. Diese, auch als „prometheische[s] Gefälle“ (ebd., S. 25) bezeichnete Distanz zwischen dem Vermögen der technischen Produkte und dem der Menschen verändere sich und werde größer – und zwar nicht nur, weil die Technik immer mehr kann als der Mensch, sondern auch, weil damit eine Diskrepanz zwischen »Herstellen« und »Vorstellen« einhergeht: „Daß wir nämlich mehr herstellen können, als wir vorstellen können; daß die Effekte, die wir mit Hilfe unserer von uns selbst hergestellten Geräte anrichten, so groß sind, daß wir für deren Auffassung nicht mehr eingerichtet sind.“ (Jungk 1961, S. 19)

Anders sah seine These in der seelischen Verfassung und der Zustandsveränderung des am militärischen Einsatz der Hiroshima-Bombe beteiligten Majors Eatherly bestätigt. Dieser war Pilot der Flugzeugcrew, die vor dem Bombenabwurf die Wetterbedingungen über Hiroshima erkundete und die dafür benötigten guten Sichtverhältnisse meldete. In den Tagen nach der Explosion der Bombe war Eatherly sehr still und auffallend verschlossen. In den folgenden Jahren wurde er durch skurrile Vergehen mehrfach straffällig, aus der Armee entlassen und nach zweifach versuchtem Suizid wiederholt – angeblich freiwillig – in der psychiatrischen Abteilung eines Militärkrankenhauses in Texas untergebracht. Die biografische Entwicklung Eatherlys erregte Aufsehen und wurde medial bekannt. Anders wurde durch einen »Newsweek«-Artikel von 1957 auf Eatherly aufmerksam und beschloss, ihn zu kontaktieren. Er schrieb Eatherly im Juni 1959 einen Brief, in dem er ihm seine Überlegungen zur neuartigen moralischen Situation, in die die Nuklearwaffen die Menschheit versetzt hatten, darlegte.

Der Effekt der Nachträglichkeit – eine eindringliche Korrespondenz

Dieser Brief bildete den Auftakt einer eineinhalb Jahre andauernden und 71 Briefe umfassenden Korrespondenz, die 1961 von Robert Jungk herausgegeben und einer größeren Leserschaft zugänglich gemacht wurde (Jungk 1961). Für Anders war Eatherly „schuldlos schuldig“ (ebd., S. 17 und 66) geworden, er war ein kleiner Teil eines komplexen Ganzen, ein Rädchen im Getriebe, das diesen Wahnsinn möglich machte. Und gerade weil Eatherly verhaltensauffällig war und offenbar an der Verarbeitung des Unvorstellbaren scheiterte, war er Anders zufolge Täter und Opfer zugleich und damit ein „Symbol der Zukunft“ mit der Funktion eines „Kronbeispiels“ (ebd., S. 17) für die grausame Wirkung und Rückwirkung der Bombe, die nicht nur unmittelbar durch sie Betroffenen unvorstellbare physische und psychische Verletzungen zufügt, sondern auch denjenigen, die sie gegen andere einsetzen. Eatherlys sonderbares Verhalten war der Beleg für die Gewissenskonflikte, die durch die Beteiligung an der Ermordung mehrerer Hunderttausend Menschen ausgelöst werden, die sich durch eine Einzelperson nicht bewältigen lassen und sich in Schuldgefühlen äußern, die ein Ventil brauchen, welches entweder ihre Anerkennung oder ihre Substitution sein muss. Für Anders war dieser Umstand nicht zuletzt darin sinnfällig geworden, dass Eatherly versucht hatte, sich durch eine Reihe krimineller und pseudo-krimineller Aktivitäten schuldig zu machen.1 Das Verhalten Eatherlys erlaubte damit im Rückschluss auf seine Beteiligung an der »Hiroshima-Mission«, den Einsatz der Atombombe als „schuldhafte Tat“ (Coulmas 2005, S. 7) zu klassifizieren.

Im US-amerikanischen Erinnerungsdiskurs wird der Einsatz hingegen bis heute nicht als schuldhaft anerkannt, denn sonst hätte sich Präsident Obama bei seinem Besuch in Hiroshima im Mai 2016 entschuldigen können und müssen. Wenig verwunderlich also, dass Eatherly der Schuldspruch für seine kriminellen Handlungen verwehrt wurde und er von der Justiz nicht belangt, sondern für krank erklärt wurde. Vermutlich 1947, nach seiner Entlassung vom Militär, wurde er in ein Krankenhaus für ehemalige Armeeangehörige in Waco, Texas, eingewiesen (ebd., S. 65).2 Man attestierte dem ehemaligen Air-Force-Piloten einen manischen Zustand“, der Auslöser für einen „Schuldkomplex“ (ebd., S. 90 und 122) gewesen sei, und entkoppelte damit die Relation zwischen Krankheitsbild und Bombenabwurf.

Anders kritisiert diese Diagnose nicht nur im Hinblick auf die Trennung von Ursache und Wirkung, sondern verweist auch auf die Problematik des Terminus »Schuldkomplex«. Durch dessen Verwendung würde der an reale Ereignisse gekoppelten Erfahrung von Schuld die Grundlage entzogen und nahegelegt, das Schuldgefühl sei einzig das Ergebnis oder die Begleiterscheinung eines schon zuvor existenten krankhaften psychischen Zustandes (ebd., S. 122 f.). Ob Eatherly tatsächlich schon vor Hiroshima psychisch angegriffen war, wie einige Autoren – darunter Huie (1964) – behaupten, lässt sich hier nicht entscheiden. Dass aber die US-Regierung Interesse daran hatte, die Glaubwürdigkeit desjenigen Piloten zu untergraben, dessen Einsatz eine Voraussetzung für den Abwurf der Atombombe von Hiroshima war, darf als wahrscheinlich gelten.

Die mediale Aufmerksamkeit des Falls Eatherly war mit dem Briefwechsel zwischen dem Piloten und dem Philosophen stark angestiegen. Zudem war Anders schon früh mit der Veröffentlichung einzelner Briefe befasst, lange bevor die von Jungk herausgegebene gesamte Korrespondenz publiziert und in mehrere Sprachen übersetzt wurde (ebd., S. 25 f.).3 Und auch Eatherly war offenbar bereits vor seiner Einweisung an die Öffentlichkeit getreten, um sich für Frieden und gegen atomare Rüstung einzusetzen (ebd., S. 25). Während des Austauschs mit Anders waren Filmproduzenten an Eatherly herangetreten, die seinen Werdegang verfilmen wollten. Anders riet ihm ab, solche Angebote ernst zu nehmen: „Wir dürfen die Gefahr nicht unterschätzen, daß Sie, der wirkliche Mensch, in einen hübsch lächelnden Schauspieler verwandelt werden könnten, also in eine harmlose Figur, die nicht dem Ernst der Wirklichkeit zugehört, sondern der Welt des bloßen Scheins. Sie wissen genau so gut wie ich, daß es Machtgruppen gibt, die an einer solchen Verwandlung interessiert wären, und denen nichts willkommener wäre, als wenn sie Sie unter Ihrem glamour begraben könnten.“ (ebd., S. 40 f.)

Stattdessen riet er ihm, selbst als Schriftsteller tätig zu werden und seine Biographie als einen „Akt der Selbstheilung“ (ebd., S. 58) niederzuschreiben. Anders sorgte sich um den Zustand Eatherlys, der wiederholt behauptete, man wolle ihn ins Militär-Krankenhaus Walter Reed verlegen (ebd., S. 58). Möglicherweise war eine Verlegung eine Reaktion auf die wachsende Popularität Eatherlys, der Unmengen an Post erhielt, darunter „Berge von Briefen aus Japan“ (ebd., S. 56). Besonders hervorzuheben ist hier der Brief der »Hiroshima Girls«, die sich, selbst versehrt und für den Rest ihres Lebens durch Entstellungen und Narben gekennzeichnet, an ihn wandten, um ihm ihr tiefes Mitleid“ zu übermitteln und ihn wissen zu lassen, dass sie „in gar keinem Sinne Feindschaft empfinden“ und ihm wünschen, dass er „bald vollkommen gesunden“ möge (ebd., S. 38 f.). Dieses beeindruckende Dokument ist nur ein Beispiel für viele versöhnliche Briefe, die Eatherly aus Japan erreichten.

Erinnerungsdiskurse

Der offizielle Erinnerungsdiskurs in Hiroshima ist heute bestimmt durch Gedenken an die Opfer, obgleich es für sie ein langer und mühsamer Weg war, als solche anerkannt zu werden.4 Mit moralischen und politischen Anklagen zurückhaltend bleibt das Erinnern an die Massenvernichtung von etwa 140.000 Menschen eher auf die humanitäre Katastrophe bezogen. So haben die Atombombenabwürfe als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ (ebd, S. 92) neben der Shoah Eingang in die Geschichtsbücher gefunden. Der japanische Historiker Hiroshi Hasegawa konnte aber anhand bislang unbekannter Dokumente den beabsichtigt experimentellen Charakter der »Mission« belegen und aufzeigen, dass aufgrund von Manövern des Trägerflugzeuges vor dem Abwurf die Opferzahl von Hiroshima um geschätzte 70.000 Menschen erhöht wurde (Knauß 2009).

Das verleiht der Frage nach dem »Warum«zusätzlich Brisanz. Japan hatte jahrzehntelang auf kriegsstrategische Gründe der USA und auf die militärische Lage im Zweiten Weltkrieg verwiesen. Der Japanologe Coulmas kommt zu der Einschätzung, dass sich aktuell ein Wandel im Erinnern an Hiroshima ankündigt. Die im kollektiven Gedächtnis Japans seit den 1960er Jahren verankerte Selbstbeschreibung als „einzig[e] vom Atomtod heimgesuchte Nation“ (Coulmas 2005, S. 28) scheint an Eindringlichkeit zu verlieren, ebenso wie die mediale Aufmerksamkeit für erinnerungskulturell geprägte Veranstaltungen. Das äußert sich nicht zuletzt darin, dass die lange durch die Bombardierung geprägte pazifistische Einstellung Japans aufzuweichen beginnt (siehe dazu den Artikel »Zivilklausel auf japanisch« von Hartwig Hummel in dieser W&F-Ausgabe) und vereinzelt sogar die Anschaffung eigener Atomwaffen angeregt wird (ebd., S. 110 und 114).

Was die USA betrifft, so wird die Frage des »Warum« kurze Zeit nach der Katastrophe mit der Rettung von Menschenleben sowie der schnellen Beendigung des Krieges begründet. Der damalige Präsident Truman sprach einmal von „500.000 geretteten US-Leben“ (Bernstein 1986), ein anderes Mal sogar von einer Million. Gemeint sind mit diesen Zahlen US-Soldaten, die bei einer konventionellen Eroberung Japans wohl ihr Leben verloren hätten. Für diese Zahlen gibt es aber keine Grundlage, und diese Begründung stieß von Beginn an auf Widerspruch.

Der US-amerikanische Historiker Gar Alperovitz trug andere Einschätzungen zusammen, etwa von General Eisenhower, damals Oberkommandierender der in Europa stationierten US-Truppen, vom damaligen Stabschef Admiral William Leahy und aktuelleren Datums auch von J. Samuel Walker, dem ehemaligen Historiker der U.S. Nuclear Regulatory Commission. Sie alle waren sich einig, dass die Bomben weder zur Rettung von Menschenleben beitrugen, noch in irgendeiner Weise kriegsstrategisch gerechtfertigt werden konnten. Im Gegenteil. Leahy bekannte:„Die Japaner waren bereits besiegt und bereit, sich zu ergeben […] Der Einsatz dieser barbarischen Waffe gegen Hiroshima und Nagasaki war keine substanzielle Unterstützung in unserem Krieg gegen Japan […] Da wir sie als Erste benutzt haben, […] haben wir einen ethischen Standard übernommen, der dem der Barbaren des finsteren Mittelalters gleicht. Mir wurde nicht beigebracht, auf diese Weise Krieg zu führen, und Kriege können nicht gewonnen werden, indem man Frauen und Kinder vernichtet.“ (zitiert nach Alperovitz 1990, S. 29)

Verhindert hat Leahy den Abwurf der Bomben auf Hiroshima und Nagasaki dennoch nicht, obgleich er und andere, darunter namhafte Physiker wie Leo Szilard, vom Einsatz abrieten. Leahy wies Truman schon im Juni 1945 darauf hin, dass „eine Kapitulation von Japan unter Bedingungen herbeigeführt werden kann, die für Japan akzeptabel sind und gänzlich zufriedenstellende Regelungen für Amerikas Verteidigung gegen eine künftige transpazifische Aggression einschließen“ (ebd., S. 24).

Alperovitz zufolge waren machtstrategische Gründe gegenüber der Sowjetunion für den Einsatz der Bomben ausschlaggebend (ebd., S. 23). Nach der Kapitulation Japans wurde von den US-Besatzern eine Zensur über alle Hiroshima und Nagasaki betreffenden Aspekte verhängt, die nicht nur die Opferversorgung erschwerte, sondern auch die Auseinandersetzung und den Erinnerungsdiskurs behinderte. Etabliert wurde vielmehr eine Gegenerinnerung, in der sich die Erzählung von einem „gerechten Krieg“ (Coulmas 2005, S. 116), in dem die Atombomben zum sofortigen Kriegsende geführt und Leben gerettet hätten, bis heute verfestigt hat (ebd., S. 96).

In den USA besteht bis in die Gegenwart ein starkes Interesse, diese Erzählung zu stützen. Dies zeigte sich an der Debatte um den Besuch Obamas in Hiroshima, die von Republikanern und Veteranen angestoßen wurde (ebd., S. 32f), sowie exemplarisch im Streit um die von der Smithsonian Institution geplante Ausstellung zum 50-jährigen Kriegsende im Luft- und Raumfahrtmuseum in Washington D.C. in den 1990er Jahren. Die Kuratoren hatten Hiroshima und Nagasaki um Exponate für die Ausstellung gebeten, die diese bereitwillig zur Verfügung stellten und die der Anlass heftiger Kontroversen wurden. Veteranenverbände und konservative Politiker waren gegen die Ausstellung von Exponaten, die Anlass geben könnten, das oben gezeichnete US-amerikanische Erinnerungsbild in Frage zu stellen. In dieser schließlich im Kongress verhandelten Debatte setzte sich am Ende die konservative Meinung durch, und die Ausstellung wurde abgesagt (ebd., S 32 f.). Teil dieser Ausstellung sollte auch der vollständig restaurierte B29-Bomber »Enola Gay« sein, mit dem die »Little Boy« genannte Atombombe über Hiroshima abgeworfen wurde.

Tibbets vs. Eatherly

Die mit der Namensgebung vorgenommenen Verharmlosungen und Personifikationen dieser todbringenden Artefakte stützen die Gegenerinnerung in den USA, die längst Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses geworden ist. Enola Gay hieß die Mutter des Piloten Paul Tibbets, der das Trägerflugzeug der Hiroshima-Bombe flog. Anders als Eatherly, der die Wetterbedingungen auskundschaftete und das „go ahead“ (Jungk 1961, S. 44) an Tibbets Besatzung gab, versicherte Tibbets bis kurz vor seinem Tod im Jahr 2007, dass er keine Gewissensbisse hatte und auch nicht habe. In einem Bericht des »Independent« schrieb der Journalist David McNeill: „Paul Tibbets, der Pilot der »Enola Gay«, sagte auch, dass die Bombe Leben gerettet habe. Auf die Frage, ob er es bereue, sagte er: ‚Ach was, auch nicht, wenn ich nochmals darüber nachdenke. Unter den selben Umständen, verdammt, ja, ich würde es wieder tun.’“ (McNeill 2005)

1960, zur Zeit des Briefwechsels zwischen Anders und Eatherly, erschienen etliche Dokumentationen über die Crew der »Enola Gay«, so etwa in »Coronet«.5 In der August-Ausgabe der Zeitschrift wird unter dem Titel »15 Years Later: The men who bombed Hiroshima«6 ein Portrait der Crew abgedruckt, dem ein großes Foto der Besatzung vorangestellt ist. Es zeigt zwölf junge Männer in Uniformen, die, in zwei Reihen hintereinander aufgestellt, lachend in die Kamera blicken. Alles „handverlesene Experten, ausgewählt für ihre Intelligenz, emotionale Stabilität und Disziplin“ (ebd., S. 79) – Charaktereigenschaften, die allen bei ihren erfolgreichen Nachkriegskarrieren geholfen hätten. Und für alle steht trotz unterschiedlicher Meinungen in Detailfragen eines fest: „sie sind sich in dem Punkt einig, ob sie das Gleiche wieder tun würden“ (ebd., S. 89). Danach folgen 14 Seiten Ausschnitte aus Interviews mit den einzelnen Crewmitgliedern, mit größer gedruckten Anmerkungen am Rand für diejenigen Leser*innen, die sich nicht die Mühe machen, den vollständigen Artikel zu lesen. Dort nimmt der ungenannte Autor der Zusammenfassung auch Bezug auf Gerüchte, die im Umlauf seien: „Es gingen Gerüchte um, dass Unglück, Gewissensbisse und sogar Wahnsinn die Männer, die die Bombe abwarfen, wie ein Fluch verfolgte. Diese Geschichten waren nicht wahr. Ein Mitglied einer Aufklärungsmission, die vor dem Angriff auf Nagasaki [sic!] im Einsatz war, ist zwar in einer Nervenheilanstalt, den Crewmitgliedern der »Enola Gay« geht es aber prächtig.“ (ebd., S. 89)

Der Bezug auf Eatherly ist deutlich. Die Leser*innen werden hier geschickt gelenkt. Der Gedanke, dass sich im „mental hospital“ ein Patient aufhält, der die »Hiroshima-Mission« als Ganzes in Frage stellt, scheint hier völlig abwegig. Dies wird verstärkt durch die folgende Äußerung Tibbets, des Bomberpiloten von Hiroshima, Ich habe absolut kein Schuldgefühl, ganz entgegen einiger Berichte, in denen behauptet wurde, dass ich im Irrenhaus sei, weil mich wegen dieser Sache Gewissensbisse plagten. Ich glaube nicht, dass irgendjemand kämpferische Aktivitäten im Gefecht persönlich nehmen sollte. Ich wurde angewiesen, es zu tun. Wenn ich angewiesen würde, so etwas heute zu tun, ich habe in den vielen Jahren Militärdienst gelernt, Befehle zu befolgen, also würde ich sie fraglos befolgen.“ (ebd. S. 90)

Immerhin eines der Besatzungsmitglieder spricht einen Wunsch aus, der hier nicht unerwähnt bleiben soll: „Ich hoffe, dass bald alle Nationen diese Bombe ächten werden, so, wie sie Giftgas geächtet haben.“ (ebd., S. 96) Es bleibt die einzige Aussage dieser Art in dem Text.

Vier Jahre nach dem »Coronet«-Text erschien »The Hiroshima Pilot« (1964) von William B. Huie, einem Journalisten, der ebenfalls auf den Fall Eatherly aufmerksam geworden war und ein beträchtliches Materialienkonvolut – bestehend aus Interviews, militärischen Führungszeugnissen, Tonbandaufnahmen von Freunden, Familie und Kollegen – zusammengetragen hatte, das belegen sollte, dass Eatherly keineswegs der von seinem Gewissen gepeinigte und zum Pazifisten geläuterte Bomberpilot sei. Vielmehr sei er ein anerkennungssüchtiger Betrüger, dessen Angststörung wohl eher daher rührte, dass er für den Angriff auf Nagasaki und später für den Abwurf der Testbombe auf den Bikini-Atoll nicht berücksichtigt worden sei. Günther Anders warf Huie vor, Eatherly zu einer Symbolfigur stilisiert zu haben, die eher einem Wunschbild entspreche als den Tatsachen. Anders wies das entschieden zurück und unterstellte seinerseits Huie, er habe sich kaufen lassen (Zimmer 1964).7 Huie wurde außerdem von anderen Journalisten vorgeworfen, die teilweise zweifelhaften und nur mündlich gegebenen Gegendarstellungen voreingenommen und zu unkritisch widergegeben zu haben (ebd.).

Ausblick

Was letztlich im Fall Eatherly Wahrheit ist und was nicht, lässt sich kaum beurteilen. Doch dass Geschichtsschreibung und Erinnerung konstruktive Prozesse sind, sollte mit den obigen Ausführungen belegt werden. Daher steht in diesem Zusammenhang weniger die Frage nach der ultimativen Wahrheit im Vordergrund, sondern vielmehr die nach den Schlussfolgerungen, die wir aus der Korrespondenz zwischen Anders und Eatherly für unser heutiges Denken und Handeln ziehen. Was diese Korrespondenz ermöglicht hat, war eine Reflexion über den ersten beabsichtigten Einsatz einer Massenvernichtungswaffe, die den Tod von mehreren Hunderttausend Menschen mit sich brachte,. Die genaue Zahl ist bis heute unbekannt (Althaus 2015). Schätzungen liegen bei 140.000 getöteten Menschen bis Ende des Jahres 1945. Fünfzig Jahre später werden Opferzahlen für Hiroshima in einigen Publikationen mit insgesamt über 200.000 angegeben (Schleusener 2004, S. 20), in anderen ist sogar von 350.000 Opfern die Rede, einschließlich derer, die teilweise ihr Leben lang mit den Folgen kämpf(t)en (Coulmas 2005, S. 18). Eine angemessene Aufarbeitung war zeitgenössisch durch Zensurmaßnahmen behindert worden, und zu schnell war die Weltgemeinschaft in der Nachkriegsgeschichte durch neue Bedrohungslagen und durch die Aufarbeitung anderer Gräueltaten abgelenkt.

Die Ausführungen wollten auch zeigen, dass das Erinnern ein umkämpfter Prozess ist, der von US-Seite bis heute entschieden geführt wird. Die Eatherly-Briefe ermöglichten einen trostspendenden Austausch mit den Opfern einer Katastrophe, denen lange die Anerkennung verweigert wurde und deren Leid durch die zensurbestimmte Informationspolitik der US-Besatzer lange Zeit im Verborgenen blieb. Und selbst wenn Anders mehr in Eatherly gesehen hat – ist dieser Umstand nicht Ausdruck für die Wünschbarkeit einer Vision, an die es damals wie heute zu glauben lohnt?

Anders‘ oft als kulturpessimistisch bezeichnete Philosophie steht im Zeichen der industriellen Produktion, des Holocaust und der Atombombe. Stilisierungen und Überspitzungen waren für ihn notwendige Mittel, um sich einer von ihm konstatierten Bagatellisierung der technischen und gesellschaftlichen Entwicklung zu widersetzen und so zu deren Wahrheit zu gelangen (Anders 1985, S. 236). Die Aktualität seiner Überlegungen zeigt sich heute insbesondere im Hinblick auf die atomare Situation (Morat 2006; Dries 2009, S. 94).

Anmerkungen

1) Zu diesen gehörten etwa ein Banküberfall, ohne Geld stehlen zu wollen; vgl. Jungk 1961, S. 11.

2) Dem Briefwechsel ist eine genaue Datierung der Einweisung nicht zu entnehmen. Eatherly war 1959, als Anders ihn kennenlernte, bereits viele Jahre Patient in der psychiatrischen Abteilung des Veteranenkrankenhauses in Waco, Texas, wenn auch mit Unterbrechungen. In der Zeit seiner Korrespondenz mit Anders war er bis Oktober 1960 durchgängig interniert, ist dann aber geflohen. Allerdings griff man ihn zwei Monate später wieder auf und wies ihn unter verstärkten Sicherheitsvorkehrungen erneut ein (vgl. Coulmas 2005, S. 113 und 119).

3) Diese Briefe wurden nicht nur in Deutschland publiziert, sondern auch in bekannten Tageszeitungen in Japan (vgl. Coulmas 2005, S. 58).

4) Das gilt für alle Opfer von Hiroshima, inbesondere aber für koreanische Bombenopfer, die im August 1945 als Kriegsgefangene in Japan waren, und für »Hibakusha«, deren Verwundungen äußerlich nicht sichtbar waren (vgl. Coulmas 2005, S. 26f.).

5) »Coronet« war ein auflagenstarkes und ein breites Publikum ansprechendes Digest-Magazin, das in den Jahren 1936 bis 1971 monatlich erschien. Die Artikel reichten von kulturellen Themen und Starportraits bis hin zu Dossiers über Personen und Personengruppen aus verschiedenen Bereichen.

6) Der Artikel ist online verfügbar unter ­oldmagazinearticles.com/atomic_bomb_­opinions_held_by_Enola_Gay_Crew-pdf.

7) Was die Replik von Anders anbelangt, so bezieht sich Zimmer hier auf einen Artikel in der Süddeutschen Zeitung vom 15. Mai 1964.

Literatur

Alperovitz, G. (1990): Why the United States dropped the bomb. Technology Review, 93(6), S. 22-34. Von Alperovitz liegt eine deutsche Übersetzung seines Standardwerks zum Atomwaffeneinsatz auf Hiroshima vor: Hiroshima – Die Entscheidung für den Abwurf der Bombe. Hamburg: Hamburger Edition, 1995.

Anders, G. (1985 [1956]): Die Antiquiertheit des Menschen. Erster Band. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution. Siebte Auflage. München: Beck.

Althaus, J. (2015): Atombomben 1945 – Niemand kennt die wirkliche Zahl der Opfer. welt.de, 10.8.2015.

Bernstein, B. J. (1986): A postwar myth: 500 000 U.S. lives saved. Bulletin of the Atomic Scientists, 42(6), S. 38-40.

Coulmas, F. (2005): Hiroshima – Geschichte und Nachgeschichte. München: Beck.

Dries, C. (2009): Günther Anders. Paderborn: Fink.

Fohler, S. (2003): Techniktheorien – Der Platz der Dinge in der Welt des Menschen. München: Fink.

Huie, W.B. (1964): The Hiroshima Pilot. New York: Putnam. Deutsch ebenfalls 1964 erschienen bei Zsolnay.

Jungk, R. (Hrsg.) (1961): Off limits für das Gewissen – Der Briefwechsel zwischen dem Hiroshima-Piloten Claude Eatherly und Günther Anders. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.

Knauß, F. (2009): Atombombe auf Hiroshima – Ein Experiment mit 70 000 Toten. Zeit Online, 20.8.2009.

McNeill, D. (2005): “My God what have we done?” – the commander of the »Enola Gay«. Independent, 4.8.2005.

Medick, V. und Wagner, W. (2016): Obamas heikle Hiroshima-Mission. Spiegel Online, 26.5.2016.

Morat, D. (2006): Die Aktualität der Antiquiertheit – Günther Anders‘ Anthropologie des industriellen Zeitalters. Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, 2, S. 322-327.

Obama, B.H. (2016): Remarks by President Obama and Prime Minister Abe of Japan at Hiroshima Peace Memorial, Hiroshima Peace Memorial, Hiroshima, Japan, May 27. 2016; obamawhitehouse.archives.gov.

Schleusener, J. (2004): Tage, die die Welt veränderten. 6.8.1945 – Die Bombe auf Hiroshima. Augsburg: Weltbild.

Zimmer, D.E. (1964): Der Bomberpilot von Hiroshima – Claude Eatherly oder die Suche nach dem einen Gerechten. DIE ZEIT, 28.8.1964.

Annette Ripper, M.A. ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin bei IANUS, einer Einrichtung für naturwissenschaftliche Friedensforschung an der TU Darmstadt.

Der Pazifist Erasmus von Rotterdam

Der Pazifist Erasmus von Rotterdam

von Till Bastian

Pazifismus steht derzeit nicht hoch im Kurs – weder in Deutschland noch weltweit (siehe dazu W&F 1-2017). Dies ist um so bedauerlicher, als es gerade in Mitteleuropa eine Tradition des pazifistischen Argumentierens gibt, die seit 500 Jahren nicht abgerissen ist. Eröffnet wurde sie mit der Friedensschrift des Erasmus von Rotterdam aus dem Jahr 1517. Gerade im »Reformationsjahr 2017« ist dieses Traktat des Erinnerns wert und würdig – nicht zuletzt wegen der heftigen Auseinandersetzung des Erasmus mit Martin Luther, der sich zu der Frage von Krieg und Frieden auf recht fragwürdige Art und Weise geäußert hat.

Erasmus Desiderius, genannt Erasmus von Rotterdam, ist – so sein Biograph Stefan Zweig – „unter allen Schreibenden und Schaffenden des Abendlandes der erste bewusste Europäer, der erste streitbare Friedensfreund“ gewesen.1 Geboren wurde er in Rotterdam, vielleicht auch in Gouda, vermutlich im Jahre 1466 (aber auch das steht nicht zweifelsfrei fest) als Sohn der Arzttochter Margarete Rogers und eines Priesters, war also ein uneheliches Kind. Gestorben ist er 1536 in Basel.

Seine pazifistische Haltung wurde von ihm schon früh kundgetan: In sein erstes Buch, die anno 1500 in Paris erschienenen »Adagia« (eine ausführlich kommentierte Sammlung griechischer und römischer Sprichworte, zweite Auflage Venedig 1508) reihte er in die dritte Auflage von 1515 die Redensart „Dulce bellum inexpertis“ (frei übersetzt „Süß ist der Krieg nur für den, der ihn nicht kennt“ ) ein und schrieb dazu, im Krieg verhielten sich die Menschen schlimmer als die Tiere, die ja nur für Nahrung oder zur Verteidigung ihrer Jungen kämpften, während sich die Menschen von Ehrgeiz, Zorn, Lust oder anderen extremen Gefühlen zur Gewalttätigkeit verleiten ließen.

Erasmus hielt sich während der Arbeit an diesem Text noch in England auf, wurde aber von der Kriegsbereitschaft des jungen Königs Heinrich VIII., der im Sommer 1512 zu einem Feldzug nach Frankreich aufgebrochen war, zunehmend verstört. „Der Krieg, für den man hier rüstet, hat plötzlich den Geist dieser Insel verändert“, hatte er schon im Frühjahr 1514 in einem Brief an den Abt von Saint-Omer geschrieben. Im Sommer 1514 verließ er England, um nach Basel zu reisen; eine zweite Reise rheinaufwärts im Sommer 1515 schloss sich an. Wichtig war ihm vor allem der Kontakt mit dem Drucker Froben, bei dem im Februar 1516 seine lateinische Ausgabe des griechischen Neuen Testaments erschien – ein Foliant von über tausend Seiten, der in 1.200 Exemplaren gedruckt worden war.

Nur wenig später wurde der bereits erwähnte Abschnitt der »Adagia« von 1515 unter dem Titel »Der Krieg ist süß allein dem Unerfahrenen« als erster Text des Erasmus überhaupt von Ulrich Varnbühler, einem kaiserlichen Rat am Reichskammergericht (damals noch in Worms ansässig), ins Deutsche übersetzt (Basel: Cratander 1519; Straßburg: Schürer 1520). In diesen Jahren avancierte Erasmus zum meistgedruckten Autor in deutscher Sprache nach Martin Luther.

Die »Querela pacis« – Klage des Friedens

Bereits ein Jahr nach der Abfassung des Textes zu »Dulce bellum inexpertis« arbeitete Erasmus an seiner »Querela pacis« (Klage des Friedens), einer Auftragsarbeit für den burgundischen Kanzler Jean Le Sauvage (1455-1518). Anlass war ein für 1517 geplanter Friedenskongress in Cambrai, auf dem sich die Könige Maximilian I. (Heiliges Römisches Reich), Franz I. (Frankreich) und Heinrich VIII. (England) hätten miteinander versöhnen sollen; das Treffen kam allerdings nie zustande. Erasmus schickte am 5. Oktober 1517 ein handschriftliches Exemplar des Textes an den Bischof von Utrecht, Philipp von Burgund (1464-1524); gedruckt erschien das Werk im Dezember 1517, wiederum bei Johannes Froben in Basel; zwei deutsche Übersetzungen wurden 1521 veröffentlicht. Während er an der »Querela pacis« arbeitete, hielt sich Erasmus in Brabant auf, zunächst in Brüssel und Antwerpen, dann ab Juni 1517 in Löwen.

Auch in seiner »Querela pacis« betont Erasmus, dass Krieg der außermenschlichen Natur fremd, mithin Menschenwerk sei: „Der Eber stößt seine mörderischen Zähne nicht in einen Eber, der Luchs hat Frieden mit dem Luchs, die Schlange versehrt nicht die Schlangen, die Eintracht der Wölfe ist sogar sprichwörtlich.“ 2 Und weiter: „Die Tiere setzen auch nur zum Kampf an, wenn sie durch Hunger oder durch Sorge um die Jungen in Erregung geraten. Welches Unrecht ist dagegen den Christen zu gering, um nicht als geeignete Kriegsgelegenheit betrachtet zu werden?“ 3 An diese allgemeinen Betrachtungen schließt sich eine scharfe Kritik der damals herrschenden Zustände an: „Falls man sich nun früherer Kriege nicht erinnert, vergegenwärtige sich, wer will, die im Zeitraum der letzten zwölf Jahre geführten Kriege, möge er die Ursachen prüfen, er würde erfahren, daß alle um der Fürsten willen unternommen und mit großem Unheil für das Volk geführt wurden, obwohl sie das Volk gewiß nicht das geringste angingen.“ 4

Freilich kritisiert Erasmus ebenso scharf wie die Fürstenwillkür auch den zu seiner Zeit bereits aufkommenden Nationalismus (im Kölner Reichstagsabschied von 1512 war erstmals die Redewendung vom »Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation« benutzt worden): „Um dem Haß Nahrung zu geben, werden die Namen der Gebiete missbraucht. Und die einflussreichen Größen nähren diesen Irrtum des dummen Volkes, und auch einige Priester nähren ihn, um des eigenen Vorteils willen. Der Engländer ist dem Franzosen feind, aus keinem anderen Grund, als weil er Franzose ist. Dem Schotten zürnt der Brite aus keiner anderen Ursache, als daß er ein Schotte ist. Der Deutsche ist mit dem Franzosen zerfallen, der Spanier mit den beiden. O Verrücktheit, bringt der bloße Name eines Ortes auseinander, warum mögen nicht eher so viele verbinden? Du willst als Brite dem Franzosen übel. Warum willst Du als Mensch nicht lieber dem Menschen wohl? Als Christ dem Christen? Warum kann eine unbedeutende Sache bei diesen da mehr bewirken als so viele Knüpfungen der Natur?“ 5

In diesen Sätzen klingt das Weltbürgertum des Erasmus an, das dieser fünf Jahre nach der Niederschrift der »Querela pacis« ausdrücklich beim Namen nannte. Denn im Jahre 1522 bot der Reformator Ulrich Zwingli (1484-1531) dem damals in Basel lebenden Erasmus als dem berühmtesten Gelehrten seiner Zeit das Bürgerrecht der Stadt Zürich an, wo Zwingli als Geistlicher am Großmünster soeben eine Kirchenreformation eingeleitet hatte. Erasmus lehnte dieses Angebot in einem Brief an Zwingli ab, in dem er unter anderem schrieb: „Ich danke dir sehr für deine Zuneigung und die deiner Stadt. Ich wünsche, ein Bürger der Welt zu sein, allen gemeinsam, oder besser, für alle ein Fremder.“ 6

Der berühmteste Satz aus der »Querla pacis« des Erasmus ist aber wohl dieser: „Kaum kann je ein Friede so ungerecht sein, dass er nicht besser wäre als selbst der gerechteste Krieg.“ 7

Die Mahnrede des Erasmus – heute so aktuell wie eh und je – hat das bis 1945 andauernde Blutvergießen in Europa nicht zu verhindern vermocht, aber sie verhallte auch nicht ungehört. Schon 1518 erschien in Basel die zweite Auflage; es folgten Publikationen unter anderen in Krakau (1518), Venedig (1518), Florenz (1519), Straßburg (1522), Paris (1525). In den folgenden 150 Jahren wurde die »Querela pacis« in 35 Ausgaben in lateinischer Sprache veröffentlicht.8 Die beiden deutschen Übersetzungen von 1521 wurden schon erwähnt. 1520 erschien die erste Übersetzung ins Spanische, 1559 ins Englische, 1567 ins Niederländische. Dass Erasmus sich auf gefährliches Terrain gewagt hatte, zeigte sich in Frankreich: Lous de Berquin (um 1485-1529), der frühere Sekretär des Königs Franz I., hatte den Text ins Französische übertragen und wurde 1529 in Paris als rückfälliger Ketzer und Parteigänger Luthers öffentlich verbrannt; schon 1525 war sein Manuskript der Erasmus-Übersetzung auf Geheiß der theologischen Fakultät der Sorbonne den Flammen übergeben worden.

Jedenfalls wurde Erasmus mit seiner Friedensschrift zum Geburtshelfer einer pazifistischen Literaturtradition,9 die seit 1517 aus der europäischen Geistesgeschichte nicht mehr zu vertreiben war.10

Ein Jahr nach der »Querela pacis« lancierte Erasmus die anonyme Schrift »Dialogus, Julius exclusus e coelis« (Dialog, Der aus dem Himmel ausgeschlossene Julius), die 1518 gedruckt bei Dirk Martens in Löwen erschien (die erste deutsche Übersetzung wurde 1521 veröffentlicht).11 Den Papst Julius II. hatte Erasmus bei seinem Aufenthalt in Italien erlebt, als der »Kriegerpapst« am 11. November 1508 in vollem Harnisch mit seinen Truppen in Bologna eingezogen war. Im genannten Dialog will Petrus den Papst, der mit einem Schwert bewaffnet ist, nicht ins Himmelreich einlassen. Nach einem längeren Zwiegespräch fragt Julius: „Du schließt mir also nicht auf?“ Petrus antwortet: „Jedem Beliebigen eher als solch einer Pestgestalt. Denn wir sind ja alle von dir exkommuniziert. Aber willst du einen guten Rat? Du hast eine Schar tüchtiger Männer, du hast unermessliche Geldmittel, du selbst bist ein guter Bauherr. Errichte dir ein neues Paradies, aber befestige es gut, damit es nicht von den Dämonen erobert werden kann.12

Erasmus’ Pazifismus und das »Reformationsjahr 2017«

Trotz aller Kritik am Kriegspapst Julius, der 1513 gestorben war – zur Reformation hatte Erasmus ein zwiespältiges Verhältnis: Zwar teilte er die Kirchenkritik Luthers und anderer Reformatoren durchaus und nahm den Wittenberger mehrfach in Schutz (aus alledem erwuchs später die Redensart, Erasmus habe das Ei ausgebrütet, aus dem Luther geschlüpft sei),13 aber Luthers cholerisches Wesen, das er für Aufrührertum hielt, stieß ihn ab. Hier ist wohl seinem Biographen Willehad Paul Eckert zuzustimmen, wenn dieser schreibt: „Die von beiden Parteien in gleicher Weise geübte Intoleranz, die Verfolgung der Andersgläubigen mit Geldstrafen, Gefängnis und Hinrichtungen mißbilligt der Rotterdamer; nach seiner Überzeugung mußte sich die Zugehörigkeit zur unbekannten Kirche keineswegs mit der Zugehörigkeit zur sichtbaren, institutionellen Kirche decken. Auch Menschen, die außerhalb der Institution stehen, können zur unsichtbaren Kirche gehören, Ketzer und fromme Heiden.“ 14

Es wäre schade, wenn im »Reformationsjahr 2017«, das aus naheliegenden Gründen sehr stark auf Martin Luther und seinen »Thesenanschlag« (ebenfalls Oktober 1517) fokussiert, der pazifistische Beitrag des Erasmus zur europäischen Geschichte in den Hintergrund gedrängt würde. Dies insbesondere deshalb, weil Erasmus in der Frage von Krieg und Frieden sehr viel eindeutiger gewesen ist als der in dieser Hinsicht recht ambivalente Luther – man denke nur an dessen Schrift zur Bauernerhebung, »Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern«, darin unter anderem der Satz: „So wunderliche Zeiten sind jetzt, daß sich ein Fürst den Himmel mit Blutvergießen verdienen kann, besser als andere mit Beten […]“. Von ähnlicher Gewaltbereitschaft zeugt auch Luthers Empfehlung an den christlichen Söldner: „Willst du darauf den Glauben und ein »Vaterunser« sprechen, magst du es tun und lasse damit genug sein. Und befiehl damit Leib und Seele in Seine Hände und zeuch dann vom Leder und schlage drein in Gottes Namen.“ (»Ob Kriegsleute auch in seligem Stande sein können«, 1526) Wie Brigitte Hannemann angemerkt hat, ist ein größerer Kontrast kaum denkbar als der zwischen diesen Luther-Sätzen und des Erasmus’ „eindringlicher Auseinandersetzung mit dem Vaterunser-betenden Soldaten“.15

Hierüber mögen sich Leserin und Leser ihr jeweils ganz persönliches Urteil bilden. Sicher ist jedenfalls, dass es sich – auch, ja, gerade im »Reformationsjahr 2017« – durchaus lohnt, sich der von Erasmus von Rotterdam begründeten pazifistischen Tradition zu erinnern und ebenso seiner so erstaunlich aktuellen, ein halbes Jahrtausend alten Friedensschrift aus dem Jahr 1517.

Anmerkungen

1) Zweig, S. (1935/2016): Triumph und Tragik des Erasmus von Rotterdam. Köln: Anaconda, S. 9.

2) Die »Querela pacis« wird zitiert nach Hannemann, B. (Hrsg. und Übersetzerin) (1985): Erasmus von Rotterdam – die Klage des Friedens. München und Zürich: Piper, hier S. 50. Die Herausgeberin hat dem Text des Erasmus ein sehr lesenswertes Vorwort vorangestellt. Der Band wurde 2017 bei Diogenes (Zürich) neu aufgelegt, die Neuauflage lag dem Autor bei Drucklegung allerdings noch nicht vor.

3) Ibid., S. 73.

4) Ibid.

5) Ibid., S. 87

6) Zitiert nach Ribhegge, W. (2010): Erasmus von Rotterdam. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 121 f.
Zum Thema Erasmus von Rotterdam und Weltbürgertum siehe auch den Essay des Verfassers (2017): Das Erbe des Erasmus – Von der Ächtung des Krieges und der Hoffnung auf Weltbürgertum. Isny. Zu beziehen über ­t.bastian@wollmarshoehe.de.

7) Hannemann, op.cit., S. 80.

8) Die Angaben nach Hannemann, op.cit.

9) Zur Rezeption der »Querla pacis« während des Dreißigjährigen Krieges siehe Schwarz, A.-L.: „Des armen Manns sehnliche Klag“ – Friendensvisionen im Dreißigjährigen Krieg. W&F 1-2017.

10) Für das Studium dieses Traditionsstranges verdanke ich viel dem Buch von Kurt v. Raumer (1953): Ewiger Friede – Friedensrufe und Friedenspläne seit der Renaissance. München: Alber. Die Freude an der Lektüre des verdienstvollen Werkes wird allerdings geschmälert, wenn man berücksichtigt, dass der Verfasser 1933 bis 1945 überzeugter Nationalsozialist war, was man – bei genauerem Hinsehen – seinem Text zwischen den Zeilen, bisweilen aber auch in den Zeilen durchaus anmerkt.

11) Der Text zirkulierte wohl schon vorher in europäischen Humanistenkreisen, denn im März 1517 schrieb Erasmus in einem Brief an Thomas Morus in London: „Jener Dialog über Julius und Petrus befindet sich, soviel ich weiß, bereits in den Händen des Kanzlers [Jean le Sauvage, T.B.]. Er gefällt ihm sehr.“ Zitiert nach Ribhegge, W. (2010): Erasmus von Rotterdam. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 94.

12) Ribhegge, op.cit., S. 95

13) Zuerst wohl geäußert von Hieronymus Aleander (1480-1542) in dessen Bericht vom Wormser Reichtag 1521.

14) Eckert, W.P. (1983): Erasmus von Rotterdam. In: Humanismus, Renaissance und Reformation. Forscher und Philosophen. Exempla historica – Epochen der Weltgeschichte in Biographien, Band 23. Frankfurt a.M.: Fischer, S. 60.

15) Hannemann, op.cit., S. 28.

Dr. Till Bastian, Arzt und Friedensforscher, ist langjähriges Vorstandsmitglied der Internationalen Ärzte zur Verhütung des Atomkrieges – Ärzte in sozialer Verantwortung e.V. (IPPNW). Er arbeitet an einer Fachklinik in der Nähe von Ravensburg.

Eine kleine Chronik des Pazifismus

Eine kleine Chronik des Pazifismus

von Corinna Hauswedell und Jürgen Nieth

Gedanken des Pazifismus finden wir in fast allen Religionen und in den philosophischen Denktraditionen seit der Antike. Zahlreiche Werke belegen eine kritische Auseinandersetzung mit dem Krieg und das Streben nach Alternativen zum militärischen Umgang mit Konflikten. Cicero (106-43 vor unserer Zeitrechnung) beispielsweise wird das Zitat zugeschrieben: „Der ungerechteste Friede ist immer noch besser als der gerechteste Krieg.“

Die ersten organisatorischen Zusammenschlüsse, die einen Dienst mit der Waffe ablehnten, hatten eine religiöse Basis. Sie bildeten sich innerhalb der Orden der Franziskaner und Waldenser im 12. Jhd., der Hussiten (15. Jhd.), der Hutterer und Mennoniten (16. Jhd.). Um 1650 entstanden in England die Quäker, die als Religionsgemeinschaft geschlossen den Kriegsdienst ablehnen und bis heute in den Friedensbewegungen vieler Länder aktiv sind.

Die folgende Chronologie pazifistischer Akteure, Bewegungen und Diskurse ist notwendig selektiv und unvollständig und legt einen Schwerpunkt auf den deutschen Kontext.

1795 Immanuel Kant verfasst die Abhandlung »Zum ewigen Frieden«, in der er u.a. die Entwicklung eines vertraglich abgesicherten universellen Völkerrechts vorschlägt.

1815 Nach der Niederlage Napoleons bilden sich die ersten Friedensgesellschaften: 1815 die »Massachusetts Peace Society«, 1816 die europäische Friedensgesellschaft »London Peace Society«, 1821 die »Sociéte de la Morale Chrétienne« in Frankreich, 1828 die »American Peace Society«, 1830 die »Société de la Paix« in Genf, 1841 das »Comité de la Paix« in Frankreich.

1843 Erster Internationaler Friedenskongress in London. Es folgen internationale Kongresse in Brüssel 1848, Paris 1849, Frankfurt 1850, Manchester 1852 und Edinburgh 1853.

1845 Der Franzose J.B. Richard de Radonvillers setzt sich für die Etablierung des Wortes »Pazifismus« ein, für ein „System der Befriedung, des Friedens; alles, was den Frieden zu stiften und zu bewahren bestrebt ist“. Vorherrschend bleibt zunächst jedoch die Verwendung von Begriffen wie »Friedensfreunde« oder »Friedensbewegung«.

1850 Gründung der »Königsberger Friedensgesellschaft«, die aber bereits 1851 verboten wird.

1886 Gründung eines Friedensvereins in Frankfurt/Main. Es folgen schnell weitere in anderen deutschen Städten.

1889 Mit einem Weltfriedenskongress in Paris wird die 1853 unterbrochene Tradition internationaler Friedenskongresse wieder aufgenommen.

1892 Gründung der »Deutschen Friedensgesellschaft« (DFG).

1897 Bertha von Suttner begründet mit ihrem Antikriegsroman »Die Waffen nieder« den deutschen bürgerlichen Pazifismus.
Im gleichen Jahr Weltfriedenskongress in Hamburg.

1899 und 1907 Haager Friedenskonferenzen mit dem Ziel internationaler Abrüstung und nichtmilitärischer Regelung internationaler Konflikte.

1901 Henri Dunant (Gründer des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes) und Frédéric Passy (Gründer der »Société française pour l'arbitrage entre nations«) erhalten den ersten Friedensnobelpreis.

1901 Der französische Präsident der »Ligue internationale de la Paix et de la Liberté«, Emile Arnaud, setzt sich für den Begriff »Pazifist« ein, da er aussagestärker als »Friedensfreund« sei: „Wir sind nicht nur friedlich, wir sind nicht nur friedfertig, wir sind nicht nur friedensstiftend. Wir sind alles zusammen und noch mehr: Wir sind, in einem Wort, Pazifisten.“
Im gleichen Jahr plädiert auch der Vorsitzende der »Deutschen Friedensgesellschaft«, Alfred Hermann Fried, in Abstimmung mit Bertha von Suttner dafür, den Begriff »Friedensfreund« durch »Pazifist« zu ersetzen, um sich von „anderen platonischen Freunden des Friedens“ zu unterscheiden.

1905 Bertha von Suttner erhält als erste Frau den Friedensnobelpreis.

1907 Der Kongress der II. Internationale (mit Delegierten aus 23 Ländern) beschließt in Stuttgart eine Resolution, die die Arbeiter aller Länder aufruft, mit allen Mitteln gegen Militarismus und Kriegsgefahr zu kämpfen. Pazifistische Konzepte erreichen die Arbeiter- und sozialistische Bewegung.

1908 A.H. Fried propagiert einen »wissenschaftlichen Pazifismus« (vielfach auch »revolutionärer Pazifismus« genannt), um stärker die Ursachen der Gewalt (Kriege) ins Visier zu nehmen. Er kritisiert damit auch die Position Bertha von Suttners, die zu stark auf Gefühl und Moral setze.

1910 Der Kongress der II. Internationale in Kopenhagen bekräftigt die Beschlüsse des Stuttgarter Kongresses von 1907 gegen Militarismus und Kriegsgefahr und ruft alle sozialdemokratischen Parteien auf, sich für eine allgemeine Abrüstung und obligatorische Schiedsgerichte zur Lösung internationaler Konflikte einzusetzen.

1910 Mahatma Gandhi wird zum politischen Führer der indischen Unabhängigkeitsbewegung. Der von ihm propagierte gewaltfreie Widerstand, verbunden mit Aktionen des zivilen Ungehorsams und Hungerstreiks, führt 1947 zur Unabhängigkeit Indiens.

1913 Ein Außerordentlicher Kongress der II. Internationale bestätigt in Basel die Antikriegspositionen der beiden vorhergegangen Kongresse und ruft die Sozialisten aller Länder auf, „der kapitalistischen Welt der Ausbeutung und des Massenmordes die proletarische Welt des Friedens und der Verbrüderung der Völker“ entgegenzustellen.

1914 Auf dem Deutschen Friedenskongress setzt sich Ludwig Quidde für eine Verbindung der Positionen des »wissenschaftlichen Pazifismus« mit denen des »moralischen Pazifismus« ein.
Nach der Kriegserklärung Deutschlands an Frankreich verlässt die deutsche Sozialdemokratie die Antkriegsposition der früheren internationalen Kongresse und stimmt am 4. August den Kriegskrediten zu. Bei einer zweiten Abstimmung im November beugt sich Karl Liebknecht nicht mehr der Parteidisziplin und stimmt als einziger Abgeordneter dagegen.

1918 Rechtsextreme Kräfte werfen den Pazifisten nach dem Ersten Weltkrieg Landesverrat vor. Kurt Eisner (1919), Hans Paasche (1920), Alexander Futran (1920) u.a. werden ermordet, einige entgehen nur knapp Attentaten.

1920 Kurt Hiller gründet die Gruppe »Revolutionärer Pazifisten«, der auch Kurt Tucholsky beitritt.

1922 Zusammenschluss von 13 deutschen Friedensorganisationen zum »Deutschen Friedenskartell«, das 1928 rund 100.000 Mitglieder repräsentiert.

1927 Ludwig Quidde erhält zusammen mit Ferdinand Buisson, Mitbegründer der Französischen Liga für Menschenrechte, den Friedensnobelpreis.

1933 Die DFG wird bereits im Februar verboten und die Pazifisten gehören im Dritten Reich neben Kommunisten und Sozialdemokraten zur Gruppe der politisch Verfolgten. Viele von ihnen – wie Carl von Ossietzky, Kurt Hiller, Paul von Schoenaich und Gerhard Seger – werden inhaftiert. Andere, wie Albert Einstein, Kurt Tucholsky, Ludwig Quidde, Helene Stöcker, können sich der Verfolgung nur durch Exil entziehen.

1935 Kurt Tucholsky fordert aus dem schwedischen Exil eine entschlossenere Haltung der Westmächte gegenüber dem deutschen Faschismus: „Boykott. Blockade. Innere Einmischung in diese Barbarei, ohne Krieg zu führen.?
Der Friedensnobelpreis wird an Carl von Ossietzky verliehen.

1939-45 Der Zweite Weltkrieg zerstört alle Hoffnungen auf friedliche Konfliktbeilegung; die Niederlage Nazi-­Deutschlands und der Achsenmächte ­öffnet den Weg zur Gründung der Vereinten Nationen. Die Charta der Vereinten Nationen setzt erstmals die Sicherung des Weltfriedens als ein anerkanntes Völkerrechtssubjekt auf die Agenda.

1945 Der Atombombeneinsatz der US-Führung auf die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki wird zum Fanal für den Beginn der Anti-Atombewegung (Atompazifismus) und eröffnet zugleich eine neue Front: den Ost-West-Konflikt in Gestalt des Kalten Krieges.

1947 Gründung der »Internationale der Kriegsdienstgegner« (IdK) als deutschen Zweig der »War Resisters' International« (1921). Die antimilitaristische Organisation fusionierte 1968 mit der »Deutschen Friedensgesellschaft« zur DFG-IdK und diese 1974 mit dem »Verband der Kriegsdienstverweigerer« (VK) zur DFG-VK.

1952 Willi Agatz, Manfred von Brauchitsch, Wilhelm Elfes, Edith Menge u.a. gründen einen Ausschuss für die Durchführung einer Volksbefragung gegen die Remilitarisierung und für den Abschluss eines Friedensvertrages mit Deutschland. Die Initiative wird von der Bundesregierung verboten.

1956 Parallel zur Bildung der Bundeswehr und zur Einführung der Wehrpflicht entsteht die »Ohne-mich«-Bewegung, getragen vor allem von den Kriegsdienstverweigern. Im gleichen Jahr setzt Zukunftsforscher Robert Jungk mit seinem Werk »Heller als Tausend Sonnen – Das Schicksal der Atomforscher« ein Signal für die Friedensverantwortung der Wissenschaftler.

1957 Die »Göttinger 18«, eine Gruppe Atomforscher aus der BRD – unter ihnen Carl Friedrich von Weizsäcker und die Nobelpreisträger Max Born, Otto Hahn und Werner Heisenberg –, wenden sich in einem Appell gegen die beabsichtigte Ausrüstung der Bundeswehr mit Atomwaffen (Kontroverse um zivile vs. militärische Nutzung). Es folgen erste größere Aktionen im Rahmen der Bewegung »Kampf dem Atomtod«.

1955 Russell-Einstein-Manifest gegen die Folgen der Nuklearrüstung; Grundstein für die Pugwash-Konferenzen.

1958 Erster Ostermarsch der britischen »Campaign for Nuclear Disarmament« (CND) von London zum Atomforschungszentrum Aldermaston.

1960 Angelehnt an das britische Vorbild findet in der BRD der erste Ostermarsch gegen die atomare Bedrohung statt. In den Folgejahren kommen als Themen der Kampf gegen den Vietnamkrieg und die Notstandsgesetze dazu. Die Tradition der deutschen Ostermärsche wird 1969 unterbrochen; im Zuge der Entspannungspolitik unter Willy Brandt kommt es Ende der 1970er Jahre zu einer Wiederbelebung mit vielfältigen weiteren Aktionen, die sich gegen ein erneutes Wettrüsten im Kalten Krieg wenden (u.a. gegen die Neutronenbombe und den »NATO-Doppelbeschluss« von 1979).

1980 Verabschiedung des »Krefelder Appell« gegen die Stationierung atomarer Mittelstreckenraketen in Europa. Zu den Initiatoren zählen Martin Niemöller, Helmut Ridder, Gösta von Uexküll, Petra Kelly und Gert Bastian (bis 1983 über sechs Millionen Unterschriften).1980-1983 – Die Atomrüstung und die Abschreckungslogik des Kalten Krieges dominieren die außen- und innenpolitische Debatte; Westeuropa und USA erleben die breiteste Friedensbewegung mit Großdemonstrationen in Bonn, Amsterdam, New York u.a. (Teilnehmerzahlen zwischen 300.000 und eine Million). Es entstehen neue Protestformen des Zivilen Ungehorsams (Menschenketten, Blockaden, Sitzstreiks); pazifistische Positionen auch in Gestalt eines (internationalen) friedenswissenschaftlichen »Gegenexpertentums« (Pugwash, Naturwissenschaftler-, Mediziner-, Juristen-, Pädagogen- und andere Initiativen) werden gesellschaftlich relevant und politisch zeitweise mehrheitsfähig.
Die sozialliberale Bundesregierung scheitert an der Raketenfrage, die Grünen ziehen in den Bundestag ein, die neue Kohl-Genscher-Regierung setzt im Herbst 1983 die Raketenstationierung gegen die öffentliche Meinung durch.

1985 Die »Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges« (IPPNW) erhalten den Friedensnobelpreis.

1987-90 Mit der Unterzeichnung des Mittelstreckenvertrages (INF) im Dezember 1987 wird, durch weitreichende Zugeständnisse des sowjetischen Generalsekretärs Michael Gorbatschow vorbereitet, eine wichtige Forderung der Friedensbewegung späte Realität und ein Ende der Blockkonfrontation eingeleitet; die Charta von Paris (1990) besiegelt eine Ära der Hochrüstung und zugleich eines rational neu begründeten Pazifismus.

Seit den 1990er Jahren mit den Kriegen im ehemaligen Jugoslawien, besonders seit dem Kosovokrieg 1999 und dem Völkermord in Ruanda 1994, sind Fragen des Menschenrechtsschutzes und der Legitimität des Einsatzes militärischer Gewalt zu einer neuen Herausforderung internationaler Politik geworden.

Mit dem Erstarken des transnationalen Terrorismus und dem »war on ­terror«, wie er seit 2001 unter US-Führung etabliert wurde, erleben wir sowohl eine Erosion des Völkerrechts als auch Versuche einer neuen Normensetzung (u.a. durch die »Responsibility to Protect/Schutzverantwortung«). Im Gefolge so genannter »neuer Kriege« nach dem Kalten Krieg wurden aber auch neue Erfahrungen mit Friedensschlüssen gemacht.

Pazifistinnen und Pazifisten sind gefragt, in diese Kontexte kreative Impulse einer zivilen Streit(beilegungs)­kultur einzubringen.

Zusammengestellt von Corinna Hauswedell und Jürgen Nieth

„Deß armen Manns sehnliche Klag“

„Deß armen Manns sehnliche Klag“

Friedensvisionen im Dreißigjährigen Krieg

von Anna Lisa Schwartz

Beim Stichwort »Pazifismus« denken wir wohl kaum an das 17. Jahrhundert, zu weit scheint diese Zeit entfernt für ein Konzept, das vermeintlich eher modern ist. Dieser Eindruck trügt. In dem Wort steckt das lateinische »pax«, Frieden, und die Friedenssehnsucht der Menschen ist eine Konstante der Geschichte. Das war im Dreißigjährigen Krieg nicht anders. Diese Sehnsucht schlug sich in den zeitgenössischen Quellen nieder, aus denen wir einiges über die Situation in dieser Zeit erfahren können.

Der Dreißigjährige Krieg erschütterte nicht nur erstmals gleichzeitig große Teile Zentraleuropas, sondern erfasste insbesondere auch alle Bevölkerungsschichten. Die großen Truppenkontingente im Deutschen Reich belasteten sowohl die städtische als auch die ländliche Bevölkerung. Kein Bild zeugt so deutlich von den Gräueltaten des Krieges wie Jaques Callots 18 Radierungen umfassende Serie »Die großen Schrecken des Krieges« von 1633. Besonders »die Gehängten« findet sich noch heute in vielen Geschichtsbüchern und Abhandlungen zum Dreißigjährigen Krieg.

Auch zeitgenössische Quellen lassen die desaströse Situation der Reichsbevölkerung in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts erahnen. So schildert ein anonymer Bericht die Situation während des Zusammentreffens schwedischer und kaiserlicher Truppen in Norddeutschland im Januar 1632: „Es wird […] berichtet, daß […] daselbst einen Mann erstochen, einen erschossen […] und sonst die Ordinanz gehabt, alle Bauern niederzumachen, alle Weibsbilder, alt und jung, die angetroffen sind, geschändet, der ganze Flecken ausgeplündert, […] allen Vorrat an Getreide, Bier, Wein und andern Victualien verzehrt oder hinweg genommen.“ (Jessen 1963, S. 280-281)

Die Klage des »gemeinen Mannes«

Wie allein die nahezu unüberschaubare Menge an Flugblättern aus dem ersten Drittel des Jahrhunderts zeigt,1 dominieren Friedenssehnsüchte in Bild und Text die Medien der Zeit. Besonders in den 1630er Jahren formiert sich eine pazifistische Strömung innerhalb der Bevölkerung: Es stehen nicht mehr die konfessionellen und politischen Spannungen im Vordergrund, sondern die schlechten Lebensbedingungen der Menschen. Diese Schwerpunktverlagerung zeigt die Radierung »EUROPA QUERULA ET VULNERATA / Klage der Europen« von 1631 deutlich (Abb. 1). Die personifizierte Europa steht im Mittelpunkt und trennt die Darstellung in zwei Hälften: Links ist eine Gruppe Menschen zu sehen, rechts befinden sich Soldaten, die »Europa« mit Pfeilen beschießen. Andreas Wang identifizierte einen der Männer als Jesuiten und somit die Gruppe links als katholisch (Harms Bd. II, S. 392), der Text wird diesbezüglich aber nicht konkret. In der zweiten Textspalte wird weder die Protestantische Union noch die Katholische Liga angesprochen, sondern die Unfähigkeit der Obrigkeit und des Volkes. Da klagt »Europa«: „Wo ist die Einigkeit? Denn wo dieselbe wohnet / mit Unglück Raht und That man wird verschonet.“

Auch wenn die Verwendung des Kontinentnamens sich eigentlich nur auf die politische Mächtekonstellation, insbesondere auf das Deutsche Reich, bezieht (Tschopp 2004, S. 33-36), ist das Vorbild für den Flugblatttitel eindeutig. 1517 verfasste Erasmus von Rotterdam seine »Querela pacis« (Klage des Friedens), in der die Friedensgöttin »Pax« zu einer neuen Friedenszeit in Europa aufruft. Anlass der Schrift war eine geplante Friedenskonferenz, insbesondere zwischen Deutschland und Frankreich, in Cambrai, die allerdings nie stattfand. Erasmus von Rotterdams Klagerede des Friedens aber gilt noch heute als Beginn eines humanistisch geprägten Pazifismus im vormodernen Europa. Umso mehr Bedeutung verleiht es dem Flugblatt von 1631, dass der Verfasser im Titel Bezug auf die erasmische Grundlagenschrift nimmt.

Was auf dem Flugblatt von 1631 lediglich im Text anklingt, konkretisieren weitere Beispiele aus der Zeit auch im Bild. Das Blatt »Deß armen Manns sehnliche Klag / gegen dem grossen KriegsGott/ über das verderbliche Kriegswesen / und umb Abwendung desselben« von 1636 (Abb. 2) greift abermals das Motiv der Klage auf, nun aber jenseits politischer und religiöser Handlungsbereiche. Vor dem Prospekt einer brennenden Stadt und eines kämpfenden Heeres sind Vertreter verschiedener Stände zu sehen. Sie richten ihre Bitten direkt an »Mars«, der als Kontrahent des Friedens in voller Rüstung und mit Kriegsgerät an einem Baum sitzt: „Sieh an das Leyd / Auch die Elendn In allen Ständn.“ Auch »Pax«, hier nach christlicher Symbolik als Lamm wiedergegeben, bittet um Frieden im Namen der unterschiedlichen Berufsstände. Weitere Personen auf dem Blatt sind ein Kaufmann (Nr. 3), ein Städter (Nr. 4) und ein betender Bauer (Nr. 5), die ihr Wort an den Kriegsgott richten. Im Text wird die Szene genauer ausgelegt: Nur im Streben nach einem sündenfreien christlichen Leben könne durch göttliche Hand Frieden gewahrt bleiben.

Neue Friedensmotive ab 1648

Der Verweis auf verschiedene Ständegruppen bleibt bis zur Aushandlung des Westfälischen Friedens als Thematik solcher Flugblätter erhalten und diente u.a. der Festigung eines bestimmten Motivkanons. Ein Beispiel dafür ist der Holzschnitt »Neuer Auß Münster vom 25. deß Weinmonats im Jahr 1648. abgefertigter Freud- und Friedenbringender Postreuter« (1648) (Abb. 3), der in mehr als der Hälfte des Textes schon nicht mehr die Folgen des Krieges, sondern die Segnungen des Friedens thematisiert. Der Postreiter zählt zu den bekanntesten Darstellungen des Westfälischen Friedens, was vor allem damit zusammenhängt, dass die Postwege im Rahmen der Gesandtenkongresse in Osnabrück und Münster besonders ausgebaut werden mussten und die Nachricht vor allem auf diesem Weg kommuniziert wurde (Fleitmann 1974). Die einleitenden Zeilen lassen den Reiter zu Wort kommen, der die Botschaft aus den beiden Kongressstädten in die Welt hinausträgt und explizit die Hauptstädte der beteiligten Vertragsmächte nennt. Im Anschluss nimmt der anonyme Verfasser ausführlich Bezug auf die einzelnen Berufe und somit die Stände des Reiches, die durch die neu angebrochene Friedenszeit wieder erfolgreich produktiv werden könnten. Dabei wird besonders der zu erwartende Wohlstand und Aufschwung des Handels betont, der durch die Unterzeichnung der Friedensverträge nun wieder florieren könne: „Der Schuster wird sein Geldt vor Schuh nicht können zehlen / Den Schneider wird das Volck umb neue Kleider quelen.“

Die Realität gestaltete sich komplexer: Auch noch nach 1648 befinden sich große Truppenkontingente im Reichsgebiet und belasteten die Bevölkerung, bis im Rahmen des Nürnberger Exekutionskongresses ein Plan zum Abzug der Truppen festgelegt wurde (Oschmann 1991, S. 418-435). Wie im Flugblatt zuvor schließt die Schilderung des Postreiters nicht, ohne den Grund für die Wiederherstellung des Friedens zu benennen: Es danct alles Gott / es danct Ihm frü und spat / was kreucht / fleugt / lebt und schwebt / und was nur Odem hat.“

Frieden schafft Wachstum

Die Wurzeln des Friedensmotivs liegen zwar nicht in einer völkischen Friedensbewegung im Dreißigjährigen Krieg, seine Verwendung hatte aber zu der Zeit Hochkonjunktur. Als Quelle fungierten antike Autoren, deren Stücke durch frühneuzeitliche Emblembücher wieder aufgegriffen wurden. Tibull und Ovid schrieben unter anderem über die unmittelbaren Folgen des Friedens, zu denen sie vor allem den Aufschwung von Handel, Landwirtschaft usw. zählen. Unter ein Motto – »ex pace urbertas« (aus Frieden Fruchtbarkeit) – wurden sie erst in Andrea Alciatis Emblembuch von 1531 gestellt (Kaulbach 1998).

Die Untersuchung verschiedener Friedensbilder im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg hat bisher gezeigt, dass solche Embleme häufig aus ihrer eigentlichen Struktur – bestehend aus Motto, Bild und Epigramm – herausgelöst und auf den Bildinhalt reduziert in die Friedensdarstellungen Eingang finden. Gleiches gilt für das zuvor genannte Motto in Alciatis Publikation. Das Aufblühen der verschiedenen wirtschaftlichen Tätigkeiten bleibt nach 1648 gängiges Motiv für viele Friedensdarstellungen, im Bild häufig durch einen kleinen ackerpflügenden Bauern im Hintergrund symbolisiert. Auch im Blatt des Postreiters taucht das Motiv bereits auf: „Ihr Bauren spannet an die starcken AckerPferde / klatscht mit der Peitschen scharff / die Pflugschar in die Erde.“

Warum wurde das Motiv, aus antiken Quellen bekannt und durch Embleme vermittelt, nicht bereits früher im Rahmen von Friedensdarstellungen verwendet? Das mag zum einen daran liegen, dass der Westfälische Friede erstmals ganz Europa und alle Medien und materiellen Kulturen erfasste. Die Einbindung der Ständeklage dürfte jedoch dazu geführt haben, dass sich gerade die Vorstellung einer aufblühenden Landwirtschaft, eines Handelsaufschwungs und des reichen Kaufmanns etablieren konnte. Auch wenn die Kriegsführung des 18. Jahrhunderts – teilweise aufgrund ihrer Verlagerung auf See – weniger die Bevölkerung in Mitleidenschaft zog als in der Mitte des 17. Jahrhunderts, blieb das Motiv des ackerpflügenden Bauern und der Verbesserung der Lebenszustände weiterhin erhalten. Eine Medaille auf den Frieden von Utrecht 1713 zeigt einen Bauer hinter »Britannia« (Abb. 4). Zusätzlich symbolisieren ein Sämann und eine Flotte zur See den Wohlstand, den England durch den Friedensvertrag mit Frankreich erwarten kann. Auf der Vorderseite der Medaille befindet sich ein Porträt von Königin Anna, in deren Regierungszeit die Vereinigung von Schottland und England fiel (Ohm 2015, S. 214, Nr. II.1.1). Zusammen mit den Verträgen von Rastatt und Baden beendete der Frieden von Utrecht den Spanischen Erbfolgekrieg (1701–1714) und somit einen Konflikt zwischen mehreren europäischen Großmächten.

Diese Friedensikonographie etablierte sich in Folge des Westfälischen Friedens vor allem aufgrund der Betroffenheit der Bevölkerung, blieb danach aber von ­diesem Kontext losgelöst noch bis zum Ende des 18. Jahrhunderts erhalten.

Anmerkung

1) Eine unvergleichliche Zusammenstellung, vor allem wegen der detaillierten Kommentare zu den Flugblättern, bildet die federführend von Wolfgang Harms herausgegebene Reihe (1980-2005): Deutsche und illustrierte Flugblätter des 16. und 17. Jahrhunderts. 7 Bde., Tübingen: Max Niemeyer.

Literatur

Fleitmann, W. (1974): Postverbindungen für den Westfälischen Friedenskongreß 1643 bis 1648. Archiv für deutsche Postgeschichte 7, Heft 1, S. 3-48.

Griffiths, A. (1998): Callot – Miseries of war. In: Malbert, R.; Griffiths, A. (eds.): Disasters of war – Callot, Goya, Dix. Katalog einer Ausstellung, die 1998 u.a. in Kelvingrove Art Gallery and Museum in Glasgow gezeigt wurde; Manchester: National Touring Exhibitions, S. 11–24.

Harms, W. (Hrsg.) (1980-2005): Deutsche und illustrierte Flugblätter des 16. und 17. Jahrhunderts. 7 Bde, Tübingen: Max Niemeyer.

Hannemann, B. (Hrsg.) (1985): Die Klage des Friedens von Erasmus von Rotterdam. München: Piper.

Jessen, H. (Hrsg.) (1963): Der Dreißigjährige Krieg in Augenzeugenberichten. Düsseldorf: Rauch.

Kaulbach, H.-M. (1998): Das Bild des Friedens – vor und nach 1648. In: Bußmann, K.; Schilling H. (Hrsg.): 1648 – Krieg und Frieden in Europa. Bd. 2, Kunst und Kultur. Ausstellungskatalog des Westfälischen Landesmuseums für Kunst und Kulturgeschichte Münster, des Kulturgeschichtlichen Museums sowie der Kunsthalle Dominikanerkirche Osnabrück 1998–1999 (26. Europarat-Ausstellung). München: Bruckmann, S. 593-603.

Ohm, M. (2015): Am Ende des Spanischen Erbfolgekrieges – Medaillen auf die Friedensschlüsse in Utrecht, Rastatt und Baden (1713/1714). In: Bayerische Numismatische Gesellschaft (Hrsg.): Jahrbuch für Numismatik und Geldgeschichte 65. München: R. Pflaum, S. 211-232.

Oschmann, A.S. (1991): Der Nürnberger Exekutionstag 1649-1650 – Das Ende des Dreißigjährigen Krieges in Deutschland. Dissertation an der Universität Bonn von 1988. Münster: Aschendorff, Schriftenreihe der Vereinigung zur Erforschung der Neueren Geschichte Bd. 17.

Tschopp, S.S. (2004): Gegenwärtige Abwesenheit – Europa als politisches Denkmodell des 17. Jahrhunderts? In: Bußmann, K.; Werner E.A. (Hrsg.): Europa im 17. Jahrhundert – Ein politischer Mythos und seine Bilder. Stuttgart: Franz Steiner, S. 25-36.

Anna Lisa Schwartz M.A. ist Kunsthistorikerin. Sie promoviert an der Universität Trier zu den visuellen Repräsentationen des Friedens von Aachen (1748) in der niederländischen Republik und arbeitet im Projekt »Dass Gerechtigkeit und Friede sich küssen – Repräsentationen des Friedens im vormodernen Europa« im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg.

Friedenskonzepte im Wandel

Friedenskonzepte im Wandel

Analyse der Vergabe des Friedensnobelpreises von 1901 bis 2015

von Susanne Reitmair-Juárez

In jüngerer Zeit wird häufig kriti­siert, die Entscheidungen des Friedensnobelkomitees hätten mit dem Vermächtnis von Alfred Nobel wenig zu tun und es würden zu oft falsche Preisträgerentscheidungen getroffen. Selten wird die Logik hinter der Entscheidung für bestimmte Preisträger*innen beleuchtet. Dieser Beitrag stellt erste Ergebnisse eines Forschungsprojektes am Demokratiezentrum Wien vor, das untersucht, welche Friedenskonzepte bei der Vergabe des Friedensnobelpreises zugrunde gelegt wurden und wie diese sich im Laufe der Jahre 1901-2015 verändert bzw. ausgeweitet haben. Um das herauszufinden, wurden die Reden des norwegischen Nobelkomitees bei der Vergabe des Preises sowie die Dankesreden der Preisträger*innen analysiert.

In seinem Testament stellte der 1895 verstorbene Alfred Nobel sein gesamtes Vermögen für jährlich zu vergebende Preise zur Verfügung, darunter ein Friedenspreis, der an die Person gehen solle, die im vergangenen Jahr die meiste oder die beste Arbeit für die Verbrüderung der Völker und die Abschaffung oder Verminderung stehender Heere sowie für die Abhaltung und Förderung von Friedenskongressen geleistet hat“. In der praktischen Umsetzung arbeitete das Nobelkomitee bestimmte Friedenskonzepte heraus, die es für preiswürdig erachtete.

Frieden durch Recht

Seit 1901, der ersten Verleihung des Friedensnobelpreises, steht die Überzeugung des Nobelkomitees im Vordergrund, Frieden könne durch eine fortschreitende Verrechtlichung der internationalen Beziehungen erreicht werden. Dadurch soll das Handeln der Staaten gegenüber anderen Staaten beschränkt und allgemein gültigen Regeln unterworfen werden. Krieg soll verboten und bei Verstoß bestraft werden. Das »Recht« zu militärischen Aktionen soll nicht mehr bei einzelnen Staaten, sondern bei einer internationalen Organisation liegen (wie es 1945 in der Charta der Vereinten Nationen festgeschrieben wurde – mit Ausnahme des Rechts auf Selbstverteidigung im Falle eines Angriffs, das den Staaten weiterhin zusteht). Schiedsgerichte, völkerrechtliche Verträge und internationale Organisationen bieten in dieser Konzeption den notwendigen internationalen Rahmen für weltweiten Frieden. Auch wachsende Interdependenz durch intensive Handelsbeziehungen und Verträge in immer mehr Politikbereichen ist Teil dieses Friedensverständnisses. Als vorläufig letzte Vertreterin dieses Konzepts wurde 2012 die Europäische Union mit dem Friedensnobelpreis geehrt. Insgesamt gab es im Untersuchungszeitraum 41 Auszeichnungen für Bemühungen, Frieden durch Recht zu schaffen oder zu stärken.

Humanitäre Hilfe und Flüchtlingsarbeit

Humanitäre Hilfe, vor allem die Arbeit mit Flüchtlingen, steht bei 16 Preisträger*innen im Zentrum der Aktivitäten. Ziel ist es, Kriege »menschlicher« zu machen, sie Regeln zu unterwerfen und das Leid der Menschen (sowohl der Soldat*innen als auch der Zivilist*innen) zu lindern. Dies ist das einzige Friedenskonzept, für das Akteure mehrfach ausgezeichnet wurden, das Internationale Komitee vom Roten Kreuz gar drei Mal (1917, 1944, 1963).

Wichtige friedenschaffende ­Akteure kommen aus der nicht-staatlichen, zivilgesellschaftlichen ebenso wie aus der supranationalen Sphäre und üben häufig deutliche Kritik an Staaten, die ihre politischen und rechtlichen Verpflichtungen nicht genügend wahrnehmen.

Abrüstung

In der Geschichte des Friedensnobelpreises wurden 22 Auszeichnungen für Verdienste um die Abrüstung vergeben. Nach dem Zweiten Weltkrieg stand atomare Abrüstung im Vordergrund. Obwohl im Bereich Abrüstung eindeutig die Staaten die dominanten Akteure sind – schließlich müssen sie ihre Waffenarsenale reduzieren –, wurden vorwiegend nichtstaatlich aktive Akteure ausgezeichnet.

Wie beim Konzept »Frieden durch Recht« ging es dem Nobelkomitee auch hier darum, das Sicherheitsdilemma der internationalen Beziehungen abzu­schwächen: Rüstet ein Staat auf, so fühlen sich andere Staaten bedroht und rüsten nach, dadurch fühlt sich wiederum der erste Staat bedroht; je stärker die Staaten hochgerüstet sind, desto wahrscheinlicher wird der Krieg.

Frieden durch Entwicklung

Im Laufe der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird vom Nobelkomitee auch die gleiche und gleichberechtigte sozio­ökonomische Entwicklung aller Staaten und aller Menschen als Weg zum Frieden definiert. Nur wenn ein gewisses Maß an Wohlstand und Gleichheit erreicht würde, könne es Frieden geben. Der Gerechtigkeitsbegriff wird als Kategorie eingeführt. Die Preisträger*innen lenken die Aufmerksamkeit weg vom negativen Friedensbegriff hin zur Qualität des Friedens. Gerechtigkeit bzw. gleiche Entwicklungschancen oder gleicher Wohlstand müssten auf beiden Ebenen erreicht werden: sowohl innerhalb (gesellschaftliche Ebene) als auch zwischen den Staaten (internationale Ebene). Damit wird die »Black Box« Staat geöffnet und gesellschaftliche Strukturen innerhalb einzelner Staaten kommen in den Blick. Durch die Konzeptualisierung von Ungleichheit als Keim von Konflikt wird auch der Gegenbegriff zum Frieden ausgeweitet: vom Krieg hin zum Konflikt, und zwar Konflikt auf allen Ebenen sozialer Organisation.

Staaten und internationale Organisationen sind weiterhin wichtige Akteure, sie haben bei der Entwicklung und Herstellung von Gerechtigkeit zentrale Handlungsmöglichkeiten und -macht. Friedensrelevant ist in diesem Feld aber nicht die Außen-, sondern die Innenpolitik, konkreter die Sozial-, Wirtschafts-, Bildungs- und Verteilungspolitik. Gleichzeitig rücken die Juror*innen bei »Frieden durch Entwicklung« die Eigenverantwortung des Individuums bzw. der Zivilgesellschaft in den Blick: Jede*r könne zu einem gesunden, gerechten (und damit friedlichen) Zusammenleben beitragen.

Beilegung regionaler Konflikte

Mehrmals wurde die Bearbeitung oder Beilegung regional begrenzter Konflikte oder Kriege mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet, z.B. die Klärung des deutsch-französischen Verhältnisses (Preise 1925-1927), Nordirland (1976, 1998), Ost-Timor (1996), Südafrika (1960, 1984, 1993), Nahost (1950, 1978, 1994), Vietnam (1973), Zentral­amerika (1987).

Eine Gemeinsamkeit dieser Friedensnobelpreise ist, dass konkrete gewaltsame Konflikte als Hindernis für eine insgesamt friedliche Welt verstanden werden – einerseits, weil ein Konflikt sich geografisch ausdehnen könne, andererseits, weil Frieden unteilbar sei: Niemand könne tatsächlich in Frieden leben, wenn es irgendwo auf der Welt Krieg oder Gewalt gebe (so Lutuli 1960, al-Sadat 1978). Einige Konflikte standen im Laufe der Zeit mehrmals im Fokus, teils um explizit einen bestehenden und vielleicht noch fragilen Friedensprozesses zu fördern (drei Friedensnobelpreise zu Südafrika, drei zum Nahost-Konflikt, zwei zu Nord­irland). Darüber hinaus ist eine wichtige Gemeinsamkeit, dass verschiedene Ebenen oder Rollen in einem Konflikt ausgezeichnet und somit ins Zentrum der Weltöffentlichkeit gerückt wurden: die politische wie die zivilgesellschaftliche. Es braucht einerseits eine politische Einigung, formelle Friedensprozesse, Abkommen und politische Strukturen, um eine friedliche Konfliktbeilegung zu ermöglichen (z.B. Mandela/de Klerk in Südafrika, Hume/Trimble in Nordirland, Chamberlain/Dawes und Stresemann/Briand für die deutsch-französische Aussöhnung, Ramos-Horta in Ost-Timor), andererseits kann eine Top-down-Lösung nicht ausreichen, besonders, wenn es um innerstaatliche Konflikte geht. Die Überzeugung von Individuen oder sozialen Bewegungen, dass ein Konflikt gewaltfrei bearbeitet werden muss, ist zentral für eine nachhaltige Konfliktlösung (Lutuli/Tutu in Südafrika, Buisson/Quidde für die deutsch-französische Aussöhnung, Williams/Corrigan für Nordirland, Belo in Ost-Timor).

In den Reden von Nobelkomitee und Preisträger*innen wird der Friedensbegriff inhaltlich qualifiziert: Es müssten die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Strukturen im Sinne von mehr Gerechtigkeit, Gleichheit und Mitbestimmung verbessert werden. Dies wird am besten in demokratischen Staaten erreicht. Frieden braucht demnach Demokratie, um einen gewaltfreien Interessens­ausgleich gestalten und institutionalisieren zu können.

Kodifizierung der Menschen­rechte und Demokratisierung

Ein weiteres Friedenskonzept sieht die Formulierung, Kodifizierung und Umsetzung der Menschenrechte in Kombination mit Demokratisierungsprozessen als wichtigsten Weg zum Frieden. Dafür wurden 29 Preise vergeben. Es wurden zwei Teilmodelle unterschieden, die auf unterschiedlichen (politischen) Ebenen ansetzen: einerseits die Kodifizierung und Einforderung der Menschenrechte auf einer allgemeinen (internationalen) Ebene (so wurde Cassin 1968 für seine Rolle bei der Formulierung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ausgezeichnet); andererseits wurden einige Preisträger*innen für ihr Engagement für die tatsächliche Umsetzung und Einhaltung dieser Rechte in konkreten politischen Systemen ausgezeichnet (z.B. Liu Xiaobo 2010). Ebenso wurden mehrere Dissident*innen sozialistischer oder diktatorischer Regime ausgezeichnet. Gemeinsam ist den Preisträger*innen das Prinzip der Gewaltlosigkeit.

1948 wurde die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet; schon 1951 wird Leon Jouhaux für seinen Einsatz für Menschenrechte mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Dieses Friedenskonzept nennt mehrere Akteure als wesentlich zur Erreichung des Friedens: Individuen und die (organisierte) Zivilgesellschaft sollen ihre eigenen Rechte selbstbewusst (aber gewaltfrei) einfordern. Ein wesentlicher Handlungsauftrag richtet sich direkt an die Staaten. Diese müssen die Menschenrechte garantieren und selbst einhalten, Verstöße dagegen abstellen. Als Korrektiv von staatlichem Handeln oder Unterstützung dafür dienen wiederum internationale Strukturen (z.B. Gerichtshöfe) und völkerrechtliche Abkommen. Frieden baut nun gewissermaßen auf der Abwesenheit direkter Gewalt auf und versucht, die Qualität des menschlichen Zusammenlebens in einer Gesellschaft zu verbessern: Die Menschenrechte begrenzen das staatliche Handeln einerseits und unterwerfen es andererseits gewissen Pflichten. Nachdem in anderen Friedenskonzepten die Begrenzung souveränen staatlichen Handelns nach außen – gegenüber anderen Staaten – im Zentrum stand, ist nun die Begrenzung staatlichen Handelns (und somit der nationalen Souveränität) nach innen zentral. Damit verschiebt sich die relevante Handlungsebene vom Staat hin zum Individuum. Ziel allen politischen Handelns sollen persönliche Freiheit, politische Mitbestimmung und das Wohlergehen der Menschen sein.

Es ist auffallend, dass Preisträger*innen, die sich für die Umsetzung von Menschenrechten in konkreten politischen Systemen einsetzen, großteils nicht aus Europa oder Nordamerika kommen, wohingegen bei allen anderen Friedenskonzepten sowie generell in der Geschichte des Friedensnobelpreises diese beiden Regionen stark dominieren.

Klimawandel und
Umweltschutz

Die jüngste Weiterentwicklung des Friedenskonzepts seitens des Nobelkomitees ist zweifelsfrei die Berücksichtigung der ökologischen Dimension. 2004 wird Wangari Muta Maathai aus Kenia für die Gründung des Green Belt Movement ausgezeichnet. 2007 erhalten Al Gore und das International Panel on Climate Change (IPCC) den Preis für ihren Kampf gegen den Klimawandel bzw. für entsprechende Bewusstseinsbildung in Politik und Gesellschaft. Alle drei Preisträger*innen verknüpfen ganz bewusst die Ökologie und die Umwelt mit Konflikt­ursachen und dem Friedensbegriff. Das Nobelkomitee erklärte ausdrücklich, dass es seinen ohnehin schon breiten Friedensbegriff nochmals erweitert habe (Rede des Komitees 2004). Es wird eine breite Palette an Akteuren benannt, die für Frieden arbeiten müssen: Die Individuen und Gesellschaften müssten sich der Auswirkungen des Klimawandels (und des eigenen Beitrags dazu) bewusst werden und ihre eigenen Handlungen überdenken; die Staaten müssten politische Maßnahmen ergreifen, sowohl innerstaatlich als auch auf internationaler Ebene. Jede*r habe Möglichkeiten, einen Beitrag zum Frieden zu leisten. Auch hier ist Frieden eng mit dem Begriff der Gerechtigkeit verbunden.

Entwicklungslinien

Aus der Analyse der Friedenskonzepte lassen sich einige Entwicklungslinien herausarbeiten, die im Folgenden kurz umrissen werden. Eine interessante Entwicklung ist die Positionierung der Preisträger*innen selbst, sowohl in geografischer und sozioökonomischer wie in politischer Hinsicht. Im Laufe der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden verstärkt Personen und Organisationen aus Regionen, Religionen und Kulturen außerhalb Europas und Nordamerikas ausgezeichnet (z.B. Dalai Lama, Aung San Suu Kyi, Shirin Ebadi, Mohammad ElBaradei). Auch die gesellschaftliche und sozioökonomische Stellung der Preisträger*innen hat sich verbreitert und ist nicht mehr auf Eliten beschränkt.

Eine Öffnung ist auch hinsichtlich der Art der Konflikte oder Problematiken zu verzeichnen, die bei der Auszeichnung berücksichtigt wurden: Während in der Frühzeit des Preises die Verhinderung eines weiteren (europäischen) Krieges bzw. die Bearbeitung der »Erbfeindschaft« zwischen den europäischen Großmächten Frankreich und Deutschland im Zentrum stand, weitet sich das Themen­spektrum in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus, bis hin zu Entwicklungsfragen, Kinder- und Frauenrechten und Umweltschutz.

Selbst bei den Akteuren, die als Friedensstifter angesehen werden, lassen sich qualitative Veränderungen beobachten. Zwar bleibt der Staat zentraler Akteur für die Frage von Krieg und Frieden, es hat sich aber die relevante Handlungsebene verschoben, vom Handeln zwischen Staaten zum staatlichen Handeln gegenüber Bürger*innen. Der Wirkungsbereich der nationalen Souveränität wird damit wie oben erläutert durch die Menschenrechte nach innen und außen eingeschränkt.

Von Beginn an sollte durch die Verleihung eines Nobelpreises die internationale/supranationale Ebene als Koordinatorin, Kontrolleurin und Helferin gestärkt werden, etwa durch Würdigung von Schlichtungsverträgen, internatio­nalen Gerichten und Verträgen. Das Verständnis der Rolle der supranationalen Akteure hat sich nicht wesentlich verändert: Sie sollen einen rechtlichen Rahmen für staatliches Handeln bieten und dieses dadurch begrenzen.

Gewandelt hat sich hingegen das Selbstverständnis der Zivilgesellschaft: In den ersten Jahrzehnten wird die Zivilgesellschaft häufig als eine Art innerstaatliches Korrektiv der eigentlichen Akteure, also der Staaten, gesehen, und diese Rolle kommt ihnen bis heute zu. Allerdings hat sich ihre Position gegenüber dem Staat verschoben: Regierungen werden nicht mehr um etwas gebeten, sondern es werden bestehende Rechte eingefordert. Besonders die arabischen und afrikanischen Preisträger*innen im 21. Jahrhundert sagen sehr selbstbewusst, dass sie nicht um Frieden, um Hilfe oder Entwicklung bitten, sondern dass sie ihre Menschenrechte einfordern – von ihren Regierungen (z.B. Dankesrede von Tawakkol Karman 2011).

Auf verschiedenen Ebenen lassen sich also Veränderungen im Friedensverständnis, in der Konzeptualisierung einzelner Akteure und in den für Frieden relevanten Themenbereichen feststellen, meist im Sinne einer Öffnung. Allerdings verlaufen diese Entwicklungsprozesse weder linear noch chronologisch oder exklusiv. Seit dem Zweiten Weltkrieg wird mal das eine, mal das andere Konzept mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.

Weiteres Forschungsvorhaben

Im weiteren Verlauf des Forschungsprojekts werden zu den jeweiligen Friedenskonzepten vertiefende Fallstudien zu einzelnen Friedensnobelpreisträger*innen erarbeitet. Darüber hinaus erfolgt eine geopolitische und friedenswissenschaft­liche Kontextualisierung dieser Fallstudien, die Gender-Frage wird beleuchtet (es gibt nur 16 Frauen unter 129 Preisträger*innen), und postkoloniale Theorien werden berücksichtigt.

Susanne Reitmair-Juárez M.A., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Demokratiezentrum Wien. Ihr Studium der Politikwissenschaft absolvierte sie an der Universität Salzburg, einen Forschungsaufenthalt in Guatemala. Schwerpunkte ihrer Arbeit sind die Themenfelder Politische Bildung, Instrumente direkter und partizipativer Demokratie, Migration sowie Friedensforschung.

Frauen und Frieden nach 1945

Frauen und Frieden nach 1945

Eine Annäherung an den Diskurs in Ost- und Westdeutschland

von Helke Dreier

Unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkrieges organisierten sich viele Frauen in Frauenausschüssen und -organisationen. Neben der Linderung der sozialen Not waren die Aktivitäten dieser Gruppen geprägt vom Thema »Frieden«, und ihre Aktionen galten dem Aufbau eines friedlichen und demokratischen Deutschlands. Ihr Beitrag dazu sollte die politische Bildung der Frauen sein. Dabei thematisierten sie einen Pazifismus, der stark an ihre Geschlechtsidentität und die damit verbundenen Kriegserfahrungen geknüpft war. Der sich verschärfende Ost-West-Konflikt und seine ideologischen Auseinandersetzungen hatten auch Konsequenzen für die friedenspolitische Diskussion innerhalb der Frauenorganisationen. Die Forschung dazu lässt bislang aber noch viele Fragen offen.

Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg wird häufig als eine Zeit des Politikverdrusses verstanden. Nach Krieg und Faschismus sei den Deutschen das Interesse für die Politik abhanden gekommen und ihr Leben vom mühsamen Nachkriegsalltag bestimmt gewesen. Lenkt man den Blick auf die Arbeit und die Aktivitäten der Frauen und ihrer Organisationen in dieser Zeit, kommt man allerdings zu einer anderen Einschätzung. Unmittelbar nach Kriegsende organisierten sich viele Frauen in den in allen vier Besatzungszonen entstehenden Frauenausschüssen und in anderen Frauenorganisationen, wie dem Frankfurter Frauenverband (gegründet als Zusammenschluss der hessischen Frauenausschüsse im Januar 1947), dem Wilmersdorfer Frauenverband (WFB, gegründet im Juli 1947, der Vorläufer des Berliner Frauenbundes/BFB), der Notgemeinschaft 1947 (gegründet im Januar 1948, später Deutscher Staatsbürgerinnen-Verband) oder dem Demokratischen Frauenbund Deutschlands (DFD, gegründet im März 1947), um nur ein paar Organisationen zu nennen.

Ihr soziales und fürsorgerisches Engagement zur Linderung der sozialen Not der Nachkriegszeit verstanden diese Frauenorganisationen als politische Aufgabe: „[…] Wir Frauendelegierten erkennen, daß unsere Arbeit nicht auf soziale Aufgaben beschränkt sein darf. Wir müssen den deutschen Frauen bei der Überwindung der faschistischen Ideologie Wegweiser und Helfer sein und sie zu verantwortlichen Mitarbeiterinnen gewinnen im Sinne des Friedens, der Völkerversöhnung, der Demokratie und des Aufbaues. Die Frauen werden lernen, politisch zu denken, damit sie klar erkennen, wo die Ursachen unserer heutigen Notlage liegen und mit uns den Ausweg aus der Not lindern, der in unserer eigenen Arbeit liegt.“ Aus diesem Auszug aus der Resolution der ersten Delegiertenkonferenz der Frauenausschüsse im Juli 1946 wird deutlich, dass das politische Engagement der Frauen friedenspolitisch geprägt war. Die Frauenorganisationen der Nachkriegszeit, die sich nicht explizit als Friedensorganisationen verstanden, sahen in der Sicherung des Friedens und dem Aufbau einer friedlichen und demokratischen Gesellschaft in Deutschland ihre zentrale Aufgabe.

Neben diesen sich allerorts gründenden Frauenausschüssen, -gruppen und -organisationen entstanden immer mehr Zusammenschlüsse, die sich direkt als Frauenfriedensorganisationen gründeten. Sie unterschieden sich in ihrer Größe und Organisationsform. Einige waren lokal aktiv, wie der von der Physikerin Freda Wüsthoff 1946 ins Leben gerufene Stuttgarter Friedenskreis, eine Arbeitsgemeinschaft von Frauen zur Förderung des »dauernden« Friedens, der viele namhafte Vertreterinnen der bürgerlichen Frauenbewegung angehörten, u.a. Gertrud Bäumer, Theanolte Bähnisch, Dorothee von Velsen, Elly Heuss-Knapp, Agnes von Zahn-Harnack, Marie Elisabeth Lüders und Clara von Simson (Hauser 1996). Andere, wie die im Juni 1948 unter der Leitung von Magda Hoppstock-Huth gegründete Deutschlandzentrale der Weltorganisation der Mütter aller Nationen (World Organization of Mothers of all Nations, W.O.M.A.N.), arbeiteten überregional.

Verantwortung der Frauen für den Frieden

Die politischen Aktivitäten der Frauen(friedens)gruppen und -organisationen der Nachkriegszeit waren von Kampagnen für den Frieden bestimmt. Die in allen vier Besatzungszonen stattfindenden Frauenkongresse und Gründungsveranstaltungen der verschiedenen Organisationen machten das Thema Frieden zu ihrem Leitmotiv. So z.B. die erste Frauenkonferenz der Westzonen in Bad Boll im Mai 1947, auf der Freda Wüsthoff und Agnes Zahn-Harnack zu den Themen Frieden und Völkerverständigung sprachen. Auch die hier verabschiedete Resolution stellte den Frieden ins Zentrum (Stoehr und Schmidt-Harzbach 1996, S. 232; Hervé und Nödinger 1995, S. 132). In der Sowjetischen Besatzungszone fand der Gründungskongress des Demokratischen Frauenbundes Deutschlands (DFD) unter dem Titel »Frauenkongreß für den Frieden« statt (Demokratische Frauenbund Deutschlands 1947). Es war auch dieser Frauenverband, der 1948 die Friedenskampagne »Für das Verbot der Atombombe« initiierte (Stoehr und Schmidt-Harzbach 1996, hier vor allem S. 233/234).1

Auf die Gefahren der atomaren Rüstung wiesen die Frauengruppen und -organisationen aller vier Besatzungszonen schon sehr bald nach Kriegsende in Vorträgen und auf Kongressen hin. Beispielhaft seien hier die Aktivitäten der Physikerin Freda Wüsthoff genannt, die eine breite Aufklärungsarbeit durch Reden und Vorträge vor allem in den westlichen Besatzungszonen und auch in Berlin entfaltete. Sie warnte früh vor den Gefahren von Atomwaffen, u.a. in ihrem im Januar 1948 gehaltenen Festvortrag »Atomenergie und Frieden« auf der Gründungsveranstaltung der Notgemeinschaft 1947.

Mit ihrem Engagement für den Frieden reihten sich die Frauengruppen und -organisationen in eine politische Oppositionsbewegung ein, die in der Forschung auch als »Ohne mich«-Bewegung zusammengefasst wird (Werner 2006). Die Motive dieser Gruppen für ihr friedenspolitisches Engagement waren vielfältig. Sie reichten von einem grundsätzlichen Pazifismus über antimilitaristische oder antikapitalistische Positionen bis hin zu einer Ablehnung der Westintegration des westlichen Teil Deutschlands, weil diese eine Wiedervereinigung erschwere (Wette 2008, S. 14).

All diese Motive finden sich auch bei den Frauenorganisationen, allerdings kam hier ein weiteres, geschlechtsbezogenes Motiv hinzu: Sie sprachen der Frau in ihrer Funktion als »Lebensgeberin« eine besondere Verantwortung für den Frieden zu. Indem sie männlich mit kriegerisch und zerstörerisch, weiblich dagegen mit friedliebend und lebensspendend gleichsetzten, machten sie Weiblichkeit bzw. Frau-Sein zum Synonym für friedlich und Frieden und somit zum Kernanliegen von Frauenpolitik. „Das erste, was wir Frauen und Mütter daher fordern, das ist eine Sicherung des Friedens“, hieß es denn auch im ersten Aufruf des Zentralen Frauenausschusses im November 1945 (zit. nach Stoehr und Schmidt-Harzbach 1996, S. 231).

Doch auch wenn die Sicherung des Friedens und der Aufbau einer friedlichen Gesellschaft die einigende Klammer für die politische Arbeit waren, gab es Unterschiede in der politischen Grundhaltung der einzelnen Frauen(friedens)­gruppen und folglich unterschiedliche Meinungen darüber, wie der Weg dahin aussehen sollte und welche Mittel zum Ziel führen. Einige der Frauenorganisationen standen den Zielen und Idealen der Kommunistischen Partei Deutschland (KPD) nahe (z.B. der Demokratische Frauenbund Deutschlands, DFD), andere sprachen sich für eine parlamentarisch-repräsentative Demokratie aus (z.B. der Deutsche Frauenring, DFR).

Viele offene Fragen

Immer stärker wurde der friedenspolitische Diskurs der Frauen(friedens)­organisationen geprägt von den ideologischen Auseinandersetzungen des Kalten Krieges. Welchen Einfluss dies auf das Friedens- und Pazifismusverständnis der Frauenorganisationen hatte, darüber gibt es bislang kaum Untersuchungen. Die Arbeiten aus den Reihen der Historischen Frauen- und Geschlechterforschung über die Frauenorganisationen im Nachkriegsdeutschland haben durchgehend einen starken Westbezug und legen den Schwerpunkt vor allem auf die Geschichte dieser Frauenorganisationen und die Biographien ihrer Protagonistinnen (Hervé 1979; Brändle-Zeile 1983; Riesenberger 1983; Maltry 1993; Hervé 2001). Die Arbeiten aus den Reihen der Historischen Friedensforschung greifen die Ergebnisse der Genderforschung auf und stellen die Aktivitäten der Frauenorganisationen stärker in den gesellschaftlichen Rahmen ihrer Zeit (u. a. Canning 2002; Stoehr 2002; Davy 2002 u. 2005; Bald und Wette 2008; Dunkel 2015; Hertrampf 2006; Stoehr 2012).

Zum Pazifismusverständnis der Frauenorganisationen gibt es kaum Untersuchungen, und die wenigen Ansätze, die es gibt, kommen zu unterschiedlichen Ergebnissen. Während Ingrid Schmidt-Harzbach noch von einem einigenden und übereinstimmenden Friedensbegriff der Frauenorganisationen für die erste Zeit nach Kriegsende ausgeht – Annette Kuhn, die zu den ersten gehörte, die sich mit diesem Thema befassten, sprach gar von einem feministischen Pazifismus dieser Zeit (Kuhn 1986, S. 27) –, ist Irene Stoehr der Meinung, dass es diese Übereinstimmung nie gegeben habe, sondern bereits unmittelbar mit der Gründung der ersten Frauenorganisationen die Gräben sichtbar wurden (Stoehr und Schmidt-Harzbach 1996).

Ob und in welchem Kontext das Argument, Frauen seien qua Geschlecht, als Lebensspenderin und Mutter, schon von Natur aus das friedlichere Geschlecht, von allen Frauen(friedens)organistionen aufgegriffen wurde, bleibt genauer zu untersuchen. Ebenso ist zu fragen, wie die zunehmende Einbindung der west- und ostdeutschen Frauenorganisationen in die ideologischen Auseinandersetzungen des Kalten Krieges den friedenspolitischen Diskurs dieser Organisationen bestimmte.

Erste Ergebnisse eines Forschungsprojektes am Archiv der deutschen Frauenbewegung (addf-kassel.de/projekte/forschung/friedensdiskurs/) legen die Vermutung nahe, dass einige Organisationen am Topos der friedfertigen Frau festhielten und dies zu ihrem zentralen Argument machten, z.B. die Weltorganisation der Mütter aller Nationen (W.O.M.A.N.), während sich andere Frauenorganisationen auf die politische und gesellschaftliche Gleichstellung der Frau beriefen. Durch die gleichberechtigte Teilhabe der Frauen am politischen Leben sollten zukünftige Kriege verhindert und der Frieden gesichert werden (so z.B. die Notgemeinschaft 1947). Als weitere These aus der bisherigen Arbeit dieses Projektes lässt sich formulieren, dass der Demokratische Frauenbund Deutschlands (DFD) beide Argumentationsstränge miteinander verknüpfte. Sowohl die besondere Disposition der Frau für den Frieden qua Geschlecht als auch ihre gesellschaftliche und politische Gleichstellung bildeten die Basis für den friedenspolitischen Diskurs. Welchen Einfluss das sozialistische Friedensverständnis auf den Friedensbegriff und das Pazifismusverständnis dieser Organisation hatte, bleibt zu klären. Ebenso bleibt zu untersuchen, ob die Überlegungen zur gleichberechtigten Stellung der Frau in der Gesellschaft und ihrer daraus erwachsenden Verantwortung für den Frieden dem Frauenbild des Sozialismus entsprangen oder doch noch stärker den Ideen der alten Frauenbewegung verbunden waren.

Beim derzeitigen Stand der Quellenerschließung drängt sich der Eindruck auf, dass der Friedensdiskurs maßgeblich vom Osten bestimmt wurde. Es scheint so zu sein, dass das Friedensthema in den Publikationsorganen der Frauenorganisationen des Westens einen weniger prominenten Platz einnahm. Diese Dominanz des östlich bestimmten, sozialistischen Friedensdiskurses in den Frauenorganisationen (aber nicht nur dort) könnte eine Erklärung dafür liefern, warum Friedensaktivistinnen und Friedensaktivisten im Westen in den späteren Jahren oft unter »Kommunismusverdacht« gerieten.

Anmerkung

1) Diese Kampagne diente zur Unterstützung der sowjetischen Delegation bei den Vereinten Nationen, die diese Forderung dort stellte. Der DFD sammelte damals 5,5 Millionen Unterschriften für das Verbot der Atombombe. Dreihunderttausend davon stammten aus den Westzonen.

Literatur

Bald, D.; Wette, W. (Hrsg.) (2008): Alternativen zur Wiederbewaffnung. Friedenskonzeptionen in Westdeutschland 1945-1955. Essen: Klartext.

Bald, D.; Wette W. (Hrsg).) (2010): Friedensinitiativen in der Frühzeit des Kalten Krieges 1945-1955. Essen: Klartext.

Brändle-Zeile, E. (1983): Frauen für Frieden. Dokumentation, o.O.

Canning, K. (2002): Engendering the History of War and Peace. Comment. In: Ziemann, B. (Hrsg.): Perspektiven der Historischen Friedensforschung. Essen: Klartext, S. 146-152.

Davy, J. A. (2002): German Women’s Peace Activism and the Politics of Motherhood – A ­Gendered Perspective of Historical Peace Research. In: Ziemann, B. (Hrsg.): Perspektiven der Historischen Friedensforschung. Essen: Klartext, S. 110-132.

Davy, J. A.; Hagemann, K.; Kätzel, U. (Hrsg.) (2005): Frieden – Gewalt – Geschlecht. Friedens- und Konfliktforschung als Geschlechterforschung. Essen: Klartext.

Demokratischer Frauenbund Deutschlands (1947): Protokoll des Deutschen Frauenkongresses für den Frieden. Gründungskongreß des Demokratischen Frauenbundes Deutschlands, 7., 8. und 9. März 1947, Staatsoper Berlin.

Dunkel, F.; Schneider, C. (Hrsg.) (2015): Frauen und Frieden? Zuschreibungen – Kämpfe – Verhinderungen. Opladen: Budrich.

Hauser, A. (1996): Stuttgarter Frauen für den Frieden. Frauen – Politik – Alltag nach 1945. Tübingen: Silberburg.

Hertrampf, S. (2006): „Zum Wohle der Menschheit“. Feministisches Denken und Engagement internationaler Aktivistinnen 1945-1975. Herbolzheim: Centaurus.

Hervé, F. (Hrsg.) (1979): Brot & Rosen – Geschichte und Perspektiven der demokratischen Frauenbewegung. Frankfurt a.M.: Marxistische Blätter.

Hervé, F. (Hrsg.) (2001): Geschichte der deutschen Frauenbewegung, 7. verb. u. überarb. Auflage (1. Aufl. 1982). Köln: PapyRossa.

Hervé, F.; Nödinger, I. (2001): Aus der Vergangenheit gelernt? 1945 bis 1949. In: Hervé, F. (Hrsg.): Geschichte der deutschen Frauenbewegung, op.cit., S. 127-138.

Kuhn, A. (1986): Frauen suchen neue Wege der Politik. In: Frauen in der Nachkriegszeit, Bd. 2: Frauenpolitik 1945-1949. Quellen und Materialien, hrsg. von dieselbe, Düsseldorf: Schwann-Bagel, S. 11-35.

Maltry, K. (1993): Die neue Frauenfriedensbewegung – Entstehung, Entwicklung, Bedeutung. Frankfurt a.M.: Campus.

Resolution der ersten Delegiertenkonferenz der Frauenausschüsse 13./14. Juli 1946, Berlin (1946). Die Frau von heute, 1(12), S. 4-5.

Riesenberger, D. (1983): Klara-Marie Faßbinder. In: Donat, H.; Holl, K. (Hrsg.): Die Friedensbewegung – Organisierter Pazifismus in Deutschland, Österreich und in der Schweiz. Düsseldorf: ECON, S. 109-110.

Stoehr, I. (2002): Kalter Krieg und Geschlecht – Überlegungen zu einer friedenshistorischen Forschungslücke. In: Ziemann, B. (Hrsg.): Perspektiven der Historischen Friedensforschung. Essen: Klartext, S. 133-145.

Stoehr, I. (2012): Friedensklärchens Feindinnen – Klara-Marie Fassbinder und das antikommunistische Frauennetzwerk: In: Paulus, J.; Silies, E.-M.; Wolff, K. (Hrsg.): Zeitgeschichte als Geschlechtergeschichte – Neue Perspektiven auf die Bundesrepublik. Frankfurt a. M.: Campus, S. 69-91.

Stoehr, I.; Schmidt-Harzbach, I. (1996): Friedens­politik und Kalter Krieg – Frauenverbände im Ost-West-Konflikt. In: Genth, R.; Jäkl, R.; Pwalowski, R.; Schmidt-Harzbach, I.; Stoehr, I. (Hrsg.): Frauenpolitik und politisches Wirken von Frauen im Berlin der Nachkriegszeit 1945-1949. Berlin: trafo, S. 229-254.

Werner, M. (2006): Die »Ohne mich«-Bewegung – Die bundesdeutsche Friedensbewegung im deutsch-deutschen Kalten Krieg (1949-1955). Münster: Monsenstein u. Vannerdat.

Wette, W. (2008): Friedensinitiativen in der Frühzeit des Kalten Krieges (1945-1955). In: Bald, D.; Wette, W: Alternativen zur Wiederbewaffnung – Friedenskonzeptionen in Westdeutschland 1945-1955. Essen: Klartext, S. 9-23.

Helke Dreier, Historikerin, M.A., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Archiv der deutschen Frauenbewegung in Kassel. ­Zurzeit arbeitet sie dort im Forschungsprojekt »Der Friedensdiskurs der west- und ostdeutschen Frauenorganisationen von 1945 bis 1955«.

Weltordnungskriege im Ost-West-Konflikt?

Weltordnungskriege im Ost-West-Konflikt?

von Jost Dülffer

Kommunismus versus Kapitalismus oder Demokratie versus Diktatur? Wenn das die einzigen Ordnungsmuster der Weltpolitik über fast fünfzig Jahre gewesen wären, könnte man sich den folgenden Beitrag sparen. Gezeigt werden soll vielmehr, dass Kriege dieser Zeit (und danach) komplexeren Mustern auf mehreren Ebenen folgten. Nur so kann man zu annähernd hinreichenden Erklärungen kommen.

Der »Kalte Krieg« wurde im Laufe der Jahre zunehmend zum globalen Krieg. Er machte sich nicht nur im Norden, sondern auch im Globalen Süden in allen Bereichen von Staat, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur bemerkbar. Die Entwicklungen, deren Dynamiken durch die bipolare Konfliktordnung des Kalten Krieges überlagert und bisweilen erst auf Dauer gestellt wurden, wiesen aber auch eine eigene lokale und regionale Logik auf, und zwar keineswegs nur im Globalen Süden. Dies traf bereits seit den imperialen Eroberungen des 19. Jahrhunderts zu, galt aber auch für die Dekolonisation nach den beiden Weltkriegen.

Eine längerfristige Sicht auf die regionalen Konflikte im 20. Jahrhundert könnte lohnend sein, die diese genuinen und z.T. verdeckt gehaltenen Strukturen internationaler Subsysteme in den Blick nimmt und damit auch die Möglichkeit schafft, die in den letzten Jahrzehnten wichtig gewordenen Konflikte und Kriege als neue Erscheinung älterer Problemlagen zu erkennen. Es könnte sein, dass die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts, die einen entscheidenden Ausgangspunkt und Austragungsort in Europa hatten, so in längerer Perspektive weniger wichtig erscheinen und den bislang üblichen Blick von der nördlichen Halbkugel in den Süden verschieben.

Die beiden Weltführungsmächte USA und Sowjetunion und ihre Verbündeten trafen 1945 nur als Folge des sonst nicht zu stoppenden deutschen Hegemonial- und Rassenkrieges mitten in Europa aufeinander und schufen so die Voraussetzungen für die Entwicklung zum Kalten Krieg. Dieser Ost-West-Konflikt führte zur Bildung zweier Integrationsblöcke mit sehr unterschiedlichen Strukturen: „Das eine Imperium […] entstand durch Einladung, das andere durch Auferlegung“, formulierte John Lewis Gaddis.1 Zugleich luden beide Seiten mit zumindest propagandistischer moralischer Disqualifikation die jeweils andere Seite als »Reich des Bösen« auf – nicht erst durch Ronald Reagan.

Ich ziehe es vor, diese jahrzehntelange Auseinandersetzung (die sich, wenn auch in gewandelter Form, nach 1991 weiter beobachten lässt) als »Ost-West-Konflikt« zu bezeichnen, weil so dessen Intensivphasen mit dem Eindruck hoher Kriegsgefahr deutlicher hervortreten. Er beschränkte sich nicht auf Europa, sondern erstreckte sich von Beginn an auch auf Südost- und Ostasien (z.B. Indochina); in diesem Rahmen gab es etliche heiße Konflikte. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass zu einer Zeit, als man einen großen Krieg befürchtete, die eigentlichen »Kalten Kriege« an anderer Stelle stattfanden. Sie umfassten die Berlin-Blockade und den Koreakrieg 1948 bis 1951 – letzterer ein »heißer Krieg«, der auf Europa überzugreifen drohte –, die Berlin- und Kuba-Krisen 1959-1962 sowie die »Nachrüstungskrise« zwischen 1979 und 1984.2

Der Ost-West-Konflikt

Worum ging es im Ost-West-Konflikt, der von zahlreichen interpendenten Konfliktfeldern auf den Achsen Ost-West und Nord-Süd durchzogen war? Es war sicher ein ideologischer Konflikt, er lässt sich aber nicht darauf reduzieren. Umfassendere Interpretationen3 betonen zwei Modernisierungsstrategien, die sich in Ost und West verschiedener Methoden des Werbens und der aggressiven Ausbreitung bedienten. Fasst man unter die Ausbreitung auch Bereiche wie Wirtschaft, Kultur, Technologie und vor allem die militärische Aufrüstung, lässt sich annähernd das gesamte (in sich pluralistische) Muster von Lebensweisen erfassen.

Weitere Differenzierungen sind angebracht, um den vielschichtigen, ordnungsrelevanten Konfliktlagen näher zu kommen. Erstens verfolgte die Länder des »Westens«, voran die USA, das umfassende Ziel, die Weltwirtschaft zu rekonstruieren und zum eigenen Vorteil zu organisieren. Aber das multinationale Wirtschafts- und Finanzsystem, das immer stärker die globalen Strukturen der Welt bestimmte, wurde nur noch bedingt durch staatliche Institutionen gestaltet oder gar kontrolliert.4 Transnationalität auch zivilgesellschaftlicher Provenienz entwickelte sich quer zu den bisherigen staatlichen Ordnungen, wurde aber auch zum Vehikel der Durchdringung von »Zweiter« und »Dritter Welt« durch die »Erste«.5 Zweitens waren die USA und die Sowjetunion zwar die entscheidenden internationalen Mächte, im Westen gab es aber mit den ehemaligen Kolonialmächten, allen voran Großbritannien und Frankreich, zwei Subzentren, die sich – zumal in Fragen der Dekolonisierung – nur mühsam den tendenziell antikolonialen USA unterordneten. Die Sowjetunion wiederum hatte seit den späten 1950er Jahren mit der massiven Konkurrenz der Volksrepublik China zu rechnen, die sich seither in allen regionalen Konflikten des Südens bemerkbar machte. Die relative Autonomie der Regionalmächte zeigte sich schon bei den Konflikten um Griechenland und Jugoslawien 1944 bis 1949.

Daher muss man bei vielen Konflikten, die nach 1945 zu Kriegen führten, die verschiedenen Akteure auf unterschiedlichen Ebenen und ihr Verhältnis zueinander berücksichtigen. Dazu zählten neben lokalen, ggf. ethnischen Gruppen, vor Ort auch Nachbarländer in der jeweiligen Region mit eigenen Führungsansprüchen und bisweilen auch die weltpolitischen Ordnungsmächte.6 Einer seriösen Forschung zum Ost-West-Konflikt sollte es also darum gehen, Konflikte und Kriege in einem Mehrebenensystem7 zu verorten und die darin enthaltenen divergenten Binnenlogiken in den Blick zu nehmen.

Verlagerung der Konflikte in den Globalen Süden

Im Ost-West-Konflikt fanden konventionelle Kriege ganz überwiegend im Globalen Süden statt, wobei zwischenstaatliche und innerstaatliche Kriegsformen sehr häufig ineinander übergingen.8 Zwischen 1945 und 1990 gab es etwa 20 Millionen kriegsbedingte Tote, 99 % davon in der »Dritten Welt«.9 Der Globale Norden – von »nur« ca. 200.000 Kriegsverlusten betroffen – muss im Vergleich damit als relativ friedlich gelten Die Gründe lassen sich hier nur anreißen: Die Teilung Europas entwickelte sich langsam, in der Regel situativ und ungeplant. Auf der einen Seite gab es die Tendenz, die auch nach 1945 weiter bestehenden lokalen und europäischen Gewaltkonflikte im Osten der Sowjetunion zu überlassen.10 So ließ der Westen die Niederschlagung des Volksaufstandes in der DDR 1953 zu und entlarvte die noch im US-Wahlkampf 1952 vertretene Politik des »Roll back«, der Befreiung, als Illusion. Diese Akzeptanz der militärischen Herrschaftssicherung im gegnerischen Block setzte sich 1956 in Ungarn/Polen und 1968 in der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik (ČSSR) fort, führte jedoch bereits 1980/81 nicht mehr zur militärischen Niederschlagung der polnischen Solidarnosc-Bewegung.

Was sich schon im Zweiten Weltkrieg abgezeichnet hatte und von Winston Churchill und Josef Stalin informell anerkannt worden war, nämlich die Abgrenzung von Interessensphären, sicherte letztlich den Frieden in Europa. Am Verhandlungstisch wurden Entscheidungen getroffen, die einen weiteren großen Krieg nach den Verlusten des Zweiten Weltkrieges verhinderten. Spätestens mit dem atomaren Patt der frühen 1960er Jahre stabilisierte die Gefahr eines bewusst herbeigeführten Nuklearkrieges auf beiden Seiten den weiter aggressiv aufgeladenen Konflikt. Das war die europäische Ordnung des Kalten Krieges, die kriegsvermeidend wirkte.11 Weder die Sowjetunion noch die USA akzeptierten jedoch Parität im rüstungstechnischen Sinne, was ein groteskes Wettrüsten mit Trägersystemen und nuklearen Sprengköpfen zur Folge hatte; sie beachteten aber den territorialen Status quo.12 Die USA und die Sowjetunion machten Politik unter der Prämisse, dass ein notwendig eskalierender Nuklearkrieg nicht zu führen sei, drohten dennoch wiederholt verbal, zumal in der Doppelbeschlusskrise der 1980er Jahre, mit Krieg, was mehrmals zu fast fatalen Fehlinterpretationen führte. Die Methoden der Auseinandersetzung blieben daher auf die – im Osten und Westen je andere – Subversion und medial-kulturelle Einflussnahme beschränkt; es war aber gerade die westliche, auch an Menschenrechten orientierte Informations- und Kulturpolitik, die nachhaltig subversiv wirkte.

Die drohenden und akuten Kriege selbst verlagerten sich seit den 1950er Jahren stärker in die »Dritte Welt«. Dieser Terminus – ursprünglich einer des Aufbruchs13 – entwickelte sich bis heute zur Metapher für Abhängigkeit, Zerstörung und fortgesetzte Ausbeutung. Die Modernisierungsstrategien der »Ersten« und »Zweiten Welt« konkurrierten nun auch in diesen »Entwicklungsländern«, die geographisch nur zum Teil in der südlichen Hemisphäre liegen. Hier waren die Kalte-Kriegs-Imperien nicht schroff voneinander abgegrenzt, und hier engagierte sich die Sowjetunion wesentlich häufiger als im Norden »durch Einladung«, die USA stärker »durch Auferlegung«. Die USA, teilweise in Kooperation, häufig aber auch in Konkurrenz zu den (vormaligen) Kolonialmächten bzw. in deren Nachfolge, hatten sich zugleich mit ihrem Bestreben, die Weltwirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg wieder anzukurbeln und sich Rohstoffquellen, vor allem Öl, zu erschließen, frühzeitig zum Aufbau eines Kranzes von maritimen Stützpunkten entschlossen, die ihnen starke Positionsvorteile einbrachten.14 Die Sowjetunion konnte sich demgegenüber auf in ihrem Sozialismus angelegte antiimperialistische Strategien stützen, die in der Dekolonisierung zum Wettbewerb mit der westlich-demokratischen Unterstützung (post-) kolonialer Eliten führte.

Es gab nur einen Krieg, in dem die Sowjetunion und die USA zwar unabhängig voneinander, aber unisono die antiimperialistische Karte zogen: Das war der 1956 von Frankreich, Großbritannien und Israel angezettelte Suezkrieg gegen Ägypten. Bei einem anderen, dem indisch-pakistanischen Krieg von 1966, agierte die Sowjetunion gar als von den USA erwünschter Friedensvermittler.15

Zumeist waren Konflikte weitaus antagonistischer. Sie begannen 1946 um den Iran oder die türkischen Meerengen und eskalierten erstmals im Koreakrieg 1950 bis 1953. Schon hier kann man kaum von einem »Stellvertreterkrieg« oder einem Krieg um die Weltordnung sprechen, andernfalls müsste der geographisch-hegemoniale Aspekt stärker betont werden. Der Koreakrieg hatte mehrfache Ursachen. So etablierten die beiden Großmächte nach 1945 zunächst sowjet- bzw. US-freundliche Machthaber im Norden bzw. Süden der Halbinsel, deren Alleinvertretungsanspruch von den Führungsmächten zunächst im Zaum gehalten wurde. Erst nach dem Sieg Mao Zedongs im chinesischen Bürgerkrieg 1949 erhielt der nordkoreanischen Präsident Kim Il-sung die sowjetische und zugleich die chinesische Unterstützung. Das war der Punkt, als die USA primär aus geostrategischen Gründen intervenierten und mit einem Mandat der Vereinten Nationen eine große »Koalition der Willigen« zustande brachten.16 Der hier und später noch oft gebrauchte Begriff des »Stellvertreterkrieges« trifft den Kriegsanlass und -grund nur unzureichend. Vielmehr müsste der geographisch-hegemoniale Aspekt stärker betont werden, wenn man von einem Ordnungskrieg sprechen will. Die USA erwogen in Korea mehrfach den Einsatz von Atomwaffen, stimmten aber letzlich im Juli 1953 einem ( bis heute anhaltender) Waffenstillstand auf der territorialen Basis der damaligen Kampflinien zu.

Lösungen nach Kriegen

Nach drei wichtigen kriegerischen Konflikten mit nachfolgender Teilung der Länder zeigten sich unterschiedliche nationale Friedenslösungen.

1. In Korea überdauerte die Existenz zweier Staaten das Ende des bisherigen Ost-West-Konflikts auch deshalb, weil die Volksrepublik China ein Interesse an der Stützung der spätkommunistischen Diktatur bewahrte. China hatte sich von einer weltrevolutionären Führungsmacht zu einer politisch-militärischen Weltmacht entwickelt, welche sich in den regionalen wie generellen Konflikten der Gegenwart auch als Militärmacht artikuliert. Ebenso wichtig wie dieser regionale Rahmen erscheint die Etablierung zweier sehr unterschiedlicher gesellschaftlicher Organisationsformen, von denen sich der Norden seither mit offenen, auch nuklearen, Kriegsrüstungen und -drohungen seiner Existenz versichert.

2. In der deutschen Frage, an der gefährlichsten Nahtstelle des Kalten Krieges angesiedelt und mit einer sonst kaum erreichten Militärdichte in beiden deutschen Staaten, fiel mit dem Entzug der sowjetischen Unterstützung und damit der Preisgabe eines wesentlichen Elements bisherigen hegemonialen Einflusses in Osteuropa die Teilung weg und führte zur Vereinigung von 1990 mit den bekannten Folgen bis heute.

3. In Indochina erlangte Frankreich 1945 seine Kolonialherrschaft militärisch zurück, konnte sich jedoch trotz US-Hilfe nicht überall im Lande durchsetzen, sodass das Land nach der französischen militärischen Niederlage von 1954 bis 1975 in Vietnam geteilt war (daneben gehören Laos und Kambodscha zu Indochina). Trotz des Pariser Friedensvertrages von 1973 mussten sich die USA zwei Jahre später schmachvoller als zuvor bereits die Franzosen geschlagen geben. Das war singulär und führte zur Wiedervereinigung beider Teile Vietnams. Der Vietnamkrieg folgte der Logik nationaler Befreiungskriege und wurde, obwohl von der Sowjetunion und der Volksrepublik China unterstützt, entscheidend von der Regionalmacht selbst gegen das US-geführte Bündnis gewonnen.17 Nach einigen regionalen Anschlusskriegen zur Erlangung eine regionalen Machtbalance konsolidierte sich das vom Norden her vereinigte Vietnam, das inzwischen guten Austausch mit dem Westen pflegt.

Die Entwicklung dieser drei durch Krieg geteilten Staaten gibt also drei unterschiedliche Verlaufsformen wieder: erstens eine andauernde feindliche Teilung, zweitens den friedlichen Kollaps einer Seite und drittens einen siegreichen Vereinigungskrieg. Man wird daher nicht von einer »Ordnung« des Kalten Krieges sprechen können.

Gegenüber der »Dritten Welt« verfolgten Westen und Osten unterschiedliche Entwicklungspfade, die sie z.T. militärisch unterstützten. Gerade die USA ließen sich dabei von einer Strategie der Glaubwürdigkeit tragen und intervenierten bisweilen nur, um künftige Vorteile der Gegenseite auszuschließen. Die von der Eisenhower-Administration für Südostasien entwickelte Domino-Theorie bildete ein Modell, das angesichts einer weltweit wahrgenommenen kommunistischen Gefahr auf viele Konflikte übertragen wurde. Auf sowjetischer Seite gab es bisweilen ähnliche Perzeptionen18 oder zumindest verbreitete sie propagandistisch Feindbilder von US-imperialistischen Verschwörungen, die bis zu einem bedrohlichen westdeutschen Neofaschismus reichten. Das sowjetische Äquivalent für die US-Niederlage in Vietnam wurde der Afghanistankrieg von 1979 bis 1989. Er wurde von Moskau nicht als Expansionskrieg für eigenen Einfluss und Ordnung geführt, sondern aus einer grundsätzlich defensiven Position, um nicht jeden Einfluss in der Region zu verlieren – mit dem bekannten negativen Resultat.19

Befreiungs- und Staatenbildungskriege im Globalen Süden

Die Kriege im Globalen Süden waren in der Zeit des Ost-West-Konflikts zumeist Befreiungs- und postkoloniale Staatsbildungskriege. Die USA wie die Sowjetunion boten den vielfach europäisch sozialisierten Eliten mit der Berufung auf liberalkapitalistische oder sozialrevolutionäre Ansätze einen Referenzrahmen für eigene politische Programme, die ihrerseits dazu dienten, die jeweilige Unterstützung der Supermächte in regionalen Kriegen zu erlangen. Walt W. Rostows »Stages of Economic Growth« von 1960 trug bereits den Untertitel »An Anticommunist Manifesto«. Er konstruierte im Hinblick auf die »Dritte Welt« fünf Stufen normativ gedachter Entwicklung im westlichen Sinn bis hin zum sich selbst tragenden Wachstum. Rostow stieg in den späten 1960er Jahren im politischen Apparat bis zum Nationalen Sicherheitsberater der Vereinigten Staaten auf, seine »ordnende« Blaupause scheiterte aber schon in ihren Ansätzen bei den Aufbauprogrammen für Vietnam, die – da von Anfang an militärisch begleitet – die USA letztlich in den Krieg schlittern ließen.20

Tatsächlich verlief die Konkurrenz der zwei von den Weltmächten betriebenen Entwicklungspfade chaotisch, gewaltförmig und letztlich kontraproduktiv für ihre jeweiligen Ziele. Wie der Krieg um die Unabhängigkeit des Belgischen Kongo zeigte, reichte noch 1960/61 die sowjetische militärische Unterstützung der Regierung Lumumba nicht zu deren Absicherung, was die Ermordung Lumumbas im belgischen Interesse mit CIA-Unterstützung ermöglichte. Danach und vor allem seit den 1970er Jahren intensivierte sich aber das sowjetische Engagement in afrikanischen Kriegen von der Unterstützung in Stellvertreterkriegen bis hin zu direktem militärischem Eingreifen.

Am Horn von Afrika sowie in Mo­zambique und Angola wurden Kriege unterschiedlicher Befreiungsbewegungen von der Sowjetunion wie vom Westen auch militärisch durch Berater, Geld und Soldaten unterstützt. Bei der jeweils durchaus vorhandenen Absicht, die soziale Lage der Bevölkerung zu verbessern, ging es primär um die Ausweitung des Einflusses, nicht um territoriale Gewinne.21 Hinzu kam, dass sich die Volksrepublik China z.B. in Angola seit den 1970er Jahren gegen die Sowjetunion militärisch positionierte. Da die USA unter der Reagan-Administration intensiver gegen den sowjetischen Einfluss überall auf der Welt vorgingen, nahmen besonders die afrikanischen Kriege an Zerstörungskraft zu. „Es sieht so aus, dass Afrika unter dem hohen geopolitischen Einsatz der Supermächte und ihrer ideologischen Konfrontation gegen Ende des Kalten Krieges schwere Kollateralschäden erleiden musste.“ 22 Das scheint mir jedoch eine Beschreibung zu sein, die eher für die in Kauf genommenen Folgen als für die gezielten Absichten der Sowjetunion23 und/oder der USA galten.

Sicherung der Einflusssphären

Ein »grand design« zur Ausbreitung der eigenen Ordnungen durch Krieg spielte eine geringere Rolle als das Bestreben, nur nicht an Einfluss zu verlieren, gestützt durch den Glauben an die je eigene welthistorische Überlegenheit und ökonomische Interessen. Dabei gerieten die Supermächte häufig in ein regionales Machtsystem, das sie mit ihrem militärischen Führungsanspruch zu überwinden oder doch zumindest nach dem eigenem Sieg von der Sinnhaftigkeit von Krieg zu überzeugen hofften. Das ging und geht bis heute fast immer schief – unter den krachenden Misserfolgen der G.W. Bush-Administration zur Etablierung einer solchen Ordnung24 leidet nicht nur der Mittlere Osten bis heute.

Anmerkungen

1) Gaddis, J.L. (1997): We Now Know – Rethinking Cold War History. Oxford: Oxford University Press, S. 52.

2) Dülffer, J. (2004): Europa im Ost-West-Konflikt 1945-1991. München: Oldenbourg.

3) Westad, O.A. (2005): The Global Cold War – Third World Interventions and the Making of Our Time. Cambridge: Cambridge University Press. Auch insgesamt im Folgenden zum Globalen Süden.

4) Ferguson, N. et al. (ed.) (2011): The Shock of the Global – The 1970ies in Perspective. Cambridge, Mass.: Harvard University Press.

5) Iriye, A. et al. (2012): The Human Rights Revolution – An International History. Oxford: Oxford University Press.
ders.; Osterhammel, J. (Hrsg.) (2013): Geschichte der Welt 1945 bis heute – Die globalisierte Welt. München: C.H. Beck.

6) Für andere Zeiten entwickelt bei: Dülffer, J. u. a. (1986): Inseln als Brennpunkte internationaler Politik – Konfliktbewältigung im Wandel des internationalen Systems 1890-1984: Kreta, Korfu, Zypern. Köln: Wissenschaft und Politik.

7) Damit ist etwas anderes als das viel diskutierte Mehrebenensystem der europäischen Integration gemeint.

8) Typisierungen m Anschluss an Istvan Kende: Gantzel, K.J.; Schwinghammer, T. (1995): Die Kriege nach dem Zweiten Weltkrieg 1945-1992 – Daten und Tendenzen. Münster: LIT.

9) Painter, D.S. (1995): Explaining U.S. Relations with the Third World. In: Diplomatic History 19, Nr. 3, S. 525-548, hier S. 525.

10) Lowe, K. (2014): Der wilde Kontinent – Europa in den Jahren der Anarchie 1943-1950. Stuttgart: Klett-Cotta.

11) Das ist der Sinn des Titels von Gaddis, J.L. (1987): The Long Peace – Inquiries in the History of the Cold War. Oxford: Oxford University Press.

12) Maddock, S. (2010): Nuclear Apartheid – The Quest for American Atomic Supremacy from World War II to the Present. Chapel Hill: The University of North Carolina Press.

13) Dinkel, J. (2015): Die Bewegung Bündnisfreier Staaten – Genese, Organisation und Politik (1927–1992). Berlin/München/Boston: De Gruyter Oldenbourg.

14) Leffler, M.P. (1991): A Preponderance of Power – National Security, the Truman Administration and the Cold War. Stanford: Stanford University Press.
Als Einstieg zu Öl u.a.: Painter, D.S. (2010): Oil, Resources and the Cold War, 1945-1962. In: Leffler, M.P.; Westad, O.A. (eds.): The Cambridge History of the Cold War. Cambridge: Cambridge University Press, 3 Bände, hier I, S. 486-507.

15) Dülffer, J. (2006): »Self-sustained conflict« – Systemerhaltung und Friedensmöglichkeiten im Ost-West-Konflikt 1945-1991. In: Hauswedell, C. (Hrsg.): Deeskalation von Gewaltkonflikten seit 1945. Essen: Klartext, S. 33-60; für den indisch-pakistanischen Krieg S. 55-59.

16) Stueck, W.S. (2002): Rethinking the Korean War – A New Diplomatic and Strategic History. Princeton: Princeton University Press.

17) Frey, M. (2004): Die Geschichte des Vietnamkrieges. München: C.H. Beck, 7. Auflage.

18) Hilger, A. (Hrsg.) (2009): Die Sowjetunion und die Dritte Welt – UdSSR, Staatssozialismus und Antikolonialismus im Kalten Krieg 1945–1991. München: De Gruyter Oldenbourg.

19) Kalinovsky, A. (2011): A Long Goodbye – The Soviet Withdrawal from Afghanistan. Cambridge, Mass.: Harvard University Press.

20) Rostow, W.W. (1960): The Stages of Economic Growth – An Anticommunist Manifesto. Cambridge, Mass.: Cambridge University Press.

21) Westad, O.A. (Fußnote 4), S. 5.

22) Byrne, J.J. (2013): Africa’s Cold War. In: Robert McMahon (ed.) (2013): The Cold War in the Third World. Oxford: Oxford University Press, S. 101-123, hier S. 115.

23) Hilger, A. (Fußnote 18).

24) The White House (2002/2006): The National Security Stategy of the United States of America. Washington, D.C.

Prof. Dr. Jost Dülffer lehrte als Professor für Internationale Geschichte und Historische Friedens-und Konfliktforschung an der Universität zu Köln.

Der Autor dankt Claudia Kemper und Gottfried Niedhart für anregende Diskussionen zu diesem Beitrag.