Keine Taler für den Krieg


Keine Taler für den Krieg

August Bebel und Wilhelm Liebknecht als Kritiker des Krieges von 1870/71

von Karlheinz Lipp

Das Deutsche Kaiserreich (1871-1918) wurde als Ergebnis des deutsch-französischen Krieges von 1870/71 im Spiegelsaal von Versailles »von oben« gegründet. Somit hatte Preußen-Deutschland in wenigen Jahren erfolgreich drei Kriege geführt (zuvor bereits 1864 gegen Dänemark und 1866 gegen Österreich-Ungarn). Diese Siege stabilisierten einen Militarismus in Deutschland, der von weiten Teilen der Bevölkerung mitgetragen wurde (Wette 2011). Umso wichtiger ist es, auf jene Stimmen hinzuweisen, die diesen Militarismus kritisch hinterfragten.

Die im 19. Jahrhundert entstehende proletarische Bewegung beschäftigte sich u.a. mit dem Phänomen des Militärs. Der Beschluss der 1. Internationale (3.-8. September 1866) in Genf lautete dahingehend, dass stehende Heere abgeschafft und stattdessen Volksheere aufgebaut werden sollten.

Zwei Jahre später verfasste Wilhelm Liebknecht (1826-1900) die Resolution des 5. Vereinstages der Arbeitervereine in Nürnberg. Darin heißt es u.a.: „Das System der stehenden Heere, wie es sich in fast allen Ländern Europas entwickelt hat, ist eine der Hauptursachen der gegenwärtigen Geschäftsstockungen. Indem es den Völkern insgesamt ungeheure Lasten auferlegt, die Steuern mit den Staatsschulden von Tag zu Tag erhöht, einen großen Teil der Bevölkerung in den besten und kräftigsten Lebensjahren ihrem Berufe und der Produktion entzieht, ist es zugleich eine wesentliche Ursache der herrschenden sozialen Not und Massenverarmung.

Indem es ferner den Fürsten die Macht gibt, gegen den Willen und das Interesse der Völker Krieg zu führen, überhaupt den Willen der Völker zu mißachten , ist das stehende Heer die Quelle beständiger Kriegsgefahr, das Mittel dynastischer Eroberungskriege nach außen und der Unterdrückung von Recht und Freiheit nach innen.“ (zitiert nach Butterwegge und Hofschen 1984, S. 29) Auch dieser Vereinstag forderte die Abschaffung stehender Heere.

Vordergründig wurde der deutsch-­französische Krieg durch die »Emser Depesche« ausgelöst; bei ihr ging es um die Thronfolge in Spanien. Kaiser Napoleon III. wollte die Einsetzung des Hohenzollernprinzen Leopold auf den spanischen Thron verhindern und forderte daher den preußischen König Wilhelm I. auf zu erklären, dass die Dynastie der Hohenzollern auf den spanischen Thron verzichten werde. Dies wurde abgelehnt und zwar in einer Depesche, die von Bismarck absichtlich in verkürzter Form der Presse zugespielt wurde. Napoleon III. fühlte sich brüskiert und erklärte am 19. Juli 1870 den Krieg. Die »Emser Depesche« ist ein treffsicheres Beispiel für die geschickte Manipulation von Medien, um einen Krieg gezielt zu entfesseln. August Bebel (1840-1913) kritisierte Bismarcks Urheberschaft des deutsch-französischen Krieges in zwei Artikeln in der sozialdemokratischen Zeitung »Der Volksstaat« (Nr. 73 und 74, 1873), und Liebknecht publizierte 1891 seine Schrift »Die Emser Depesche oder wie Kriege gemacht werden« (Nürnberg: Verlag Wörlein & Comp).

Stimmenthaltung bei Beginn des deutsch-französischen Krieges

Kein Krieg ohne Geld. Um den Krieg zu finanzieren – die wahre Geschichte der »Emser Depesche« war noch unbekannt, die Pariser Arbeiterinnen und Arbeiter hatten auf einer Versammlung bereits gegen einen Krieg gestimmt –, wurde im Reichstag des Norddeutschen Bundes der Antrag auf Kriegsanleihen in Höhe von 120 Millionen Taler gestellt. Eine parlamentarische Debatte gab es nicht. Alle Abgeordneten stimmten am 21. Juli 1870 für die Anleihen, nur Liebknecht und Bebel, Sozialdemokraten der »Eisenacher Richtung«, enthielten sich der Stimme – de facto zwei Nein-Stimmen. In einem »motivierten Votum« begründeten die beiden Abgeordneten der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP) ihr Abstimmungsverhalten:

„Der gegenwärtige Krieg ist ein dynastischer Krieg , unternommen im Interesse der Dynastie Bonaparte wie der Krieg von 1866 im Interesse der Dynastie Hohenzollern.

Die zur Führung des Krieges dem Reichstag abverlangten Geldmittel können wir nicht bewilligen, weil dies ein Vertrauensvotum für die preußische Regierung wäre, die durch ihr Vorgehen im Jahre 1866 den gegenwärtigen Krieg vorbereitet hat. Ebensowenig können wir die geforderten Geldmittel verweigern, denn es könnte dies als Billigung der frevelhaften und verbrecherischen Politik Bonapartes aufgefaßt werden.

Als prinzipielle Gegner jedes dynastischen Krieges, als Sozialrepublikaner und Mitglieder der Internationalen Arbeiter­assoziation, die ohne Unterschied der Nationalität alle Unterdrücker bekämpft, alle Unterdrückten zu einem großen Bruderbunde zu vereinigen sucht, können wir uns weder direkt noch indirekt für den gegenwärtigen Krieg erklären und enthalten uns daher der Abstimmung , indem wir die zuversichtliche Hoffnung aussprechen, daß die Völker Europas , durch die jetzigen unheilvollen Ereignisse belehrt, alles aufbieten werden, um sich ihr Selbstbestimmungsrecht zu erobern und die heutige Säbel- und Klassenherrschaft als die Ursache aller staatlichen und gesellschaftlichen Übel zu beseitigen.“ (zitiert nach Liebknecht 1986, S. 37 f.)

Die bürgerlich-konservativen Parteien zeigten sich entsetzt; auch der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein distanzierte sich von Bebel und Liebknecht. Differenzen existierten ferner zwischen den beiden Kritikern und dem Braunschweiger Ausschuss, dem Parteivorstand der SDAP. Bebel und Liebknecht wurden in ihrem Wohnort Leipzig auf offener Straße belästigt, Fenster in Liebknechts Wohnung mit Steinen demoliert.

Die Stimmenthaltung von Liebknecht und Bebel darf keineswegs gering geachtet werden. Eine Friedensbewegung existierte zu dieser Zeit in Deutschland nicht einmal ansatzweise, anders als etwa in den USA, Großbritannien und Frankreich.

Exkurs: Entstehung einer Friedensbewegung in Deutschland

Erst im Jahre 1850 wurde in Deutschland eine lokale Friedensorganisation gegründet, in Königsberg – eine Spätfolge von Immanuel Kants wegweisender Friedensschrift »Zum ewigen Frieden« von 1795. Dort hatte sich Kant sehr kritisch zu stehenden Heeren geäußert. Die Gründer der Königsberger Gruppe, die Ärzte Johann Jacoby und Robert Motherby, der ehemalige Pfarrer Julius Rupp (Großvater von Käthe Kollwitz) sowie der Arbeiterführer Friedrich Grünhagen vertraten einen pazifistischen Nonkonformismus. Die reaktionären preußischen Behörden observierten diese Gründung voller Misstrauen, und bereits 1851 – nach nur einem Jahr – wurde der Friedensverein in Königsberg auf Anordnung der Behörden wieder aufgelöst.

Auch nach 1870/71 blieb Deutschland friedenspolitisch ein Entwicklungsland. Es konnte daher nicht überraschen, dass der Versuch einer Aktivierung von außen erfolgte. Der britische Pazifist Hodgson Pratt unternahm im Jahre 1884 eine Werbetour durch Deutschland, um Friedensorganisationen aufzubauen. Nur in Frankfurt am Main gelang eine Gründung, die von Dauer war. Schließlich gründeten Bertha von Suttner und Alfred Hermann Fried 1892 die Deutsche Friedensgesellschaft, die noch heute existiert (Holl 1988, S. 26-32; Riesenberger 1985, S. 24-36).

Das Nein zu den neuen Kriegsgeldern

Nach der Schlacht bei Sedan Anfang September 1870 trat der deutsch-französische Krieg in eine neue Phase. Bebel sah dies in seinen Lebenserinnerungen so. „Doch der Krieg wütete weiter. Die Gefangennahme Napoleons bei Sedan beantwortete Paris mit der Erklärung der Republik, ein Ereignis, das namentlich im deutschen Hauptquartier sehr unangenehm berührte. Um Frankreich zu einer Republik zu machen , dafür hätte man den Krieg nicht begonnen. Man fürchtete das böse Beispiel, wie sich gezeigt hat, ohne Grund. […]

Aber auch im Braunschweiger Ausschuß hatte die Nachricht wie eine Bombe eingeschlagen und einen starken Gesinnungswechsel hervorgerufen. Jetzt waren mit einem Schlage alle Differenzen zwischen uns beseitigt. Sofortiger Friedensschluß mit der französischen Republik, Ersatz aller Kriegskosten, aber Verzicht auf jede Annexion waren die Forderungen, die wir jetzt gemeinsam erhoben. Aus dem Verteidigungskrieg war mittlerweile der Eroberungskrieg geworden.“ (Bebel 1997, S. 313)

Die Reaktion des Militärs folgte umgehend. Auf Befehl des Generals Vogel von Falckenstein wurde der komplette Braunschweiger Ausschuss am 9. September 1870 gesetzeswidrig verhaftet und bis zum 30. März 1871 auf der Festung Boyen bei Lötzen (Ostpreußen) inhaftiert.

Die Fortsetzung des Krieges verlangte weitere Summen; jetzt handelte es sich um 100 Millionen Taler. Liebknecht und Bebel enthielten sich nun nicht mehr der Stimme, sondern sprachen sich im Reichstag des Norddeutschen Bundes am 26. November 1870 gegen die Bewilligung der Gelder aus und stimmten zwei Tage später gegen die Finanzierung des Krieges. Ihre Position spiegelte sich im folgenden Antrag:

„In Erwägung, daß der am 19. Juli von Louis Bonaparte, damals Kaiser der Franzosen, erklärte Krieg durch die Gefangennahme Louis Bonapartes und die Niederwerfung des französischen Kaiserreiches tatsächlich sein Ende erreicht hat;

in Erwägung, daß nach den eignen Erklärungen des Königs von Preußen in der Thronrede am 19. Juli und der Proklamation an das französische Volk vom 11. August der Krieg deutscherseits nur ein Verteidigungskrieg und kein Krieg gegen das französische Volk sei;

in Erwägung, daß der Krieg, welcher trotzdem seit dem 4. September geführt wird, im schroffsten Widerspruch mit dem königlichen Wort nicht ein Krieg gegen die kaiserliche Regierung und die kaiserliche Armee, welche nicht mehr existieren, sondern ein Krieg gegen das französische Volk ist, nicht ein Verteidigungskrieg, sondern ein Eroberungskrieg, nicht ein Krieg für die Unabhängigkeit Deutschlands, sondern ein Krieg für die Unterdrückung der edlen französischen Nation […],

beschließt der Reichstag, die verlangte Geldbewilligung für die Kriegführung abzulehnen, und fordert den Bundeskanzler [des Norddeutschen Bundes] auf, dahin zu wirken , daß unter Verzichtleistung auf jede Annexion französischen Gebietes mit der französischen Republik schleunigst Frieden geschlossen werde.“ (zitiert nach Liebknecht 1986, S. 52 f.)

Nach den Reden der Verweigerer der Kriegskredite kam es im Parlament zu Tumulten. In der Folgezeit attackierten konservative Presseorgane in einer Kampagne die beiden Abgeordneten der SDAP. Zustimmung erfuhren Liebknecht und Bebel in Schreiben von Ortsvereinen. Am 17. Dezember wurden die zwei Sozialistenführer verhaftet und blieben zunächst bis zum 28. März 1871 inhaftiert. Der Sieg Preußens im Bündnis mit den süddeutschen Staaten gegen Frankreich führte schließlich zur Proklamation des Deutschen Kaiserreiches am 18. Januar 1871 in Versailles. Dies war ein großer Triumph für den Militarismus und von Bismarcks aggressiver Politik.

Keine Annexion von Elsass-Lothringen

Bei den erstmals abgehaltenen Reichstagswahlen am 3. März 1871 gewann Bebel ein Mandat. Er hielt im Deutschen Reichstag am 25. Mai eine Rede gegen die Annexion Elsass-Lothringens. Süffisant kommentiert der Sozialist, dass er in dieser Annexion wenigstens einen einzigen Vorteil erkennen könne – und verknüpft dies mit einer interessanten europapolitischen Komponente:

„Täuschen Sie sich nicht, meine Herren, wenn einmal die Annexion unabänderlich ist – und wir wenige können sie ja beim besten Willen nicht rückgängig machen gegen die Macht, die uns gegenübersteht –, dann ist der einzige Vorteil, den ich in der Annexion von Elsaß-Lothringen erblicke, der, daß gerade diese revolutionären und republikanischen Tendenzen, die meiner Überzeugung nach in einem großen Teil der Bevölkerung von Elsaß-Lothringen leben, jetzt nach Deutschland mit hinübergenommen werden und daß Elsaß-­Lothringen so den Keil bildet, der es uns mit möglich machen wird, nach einiger Zeit das gesamte monarchische Deutschland aus den Fugen zu treiben .

Ich von meinem Standpunkte aus protestiere entschieden gegen die Annexion, weil ich sie für ein Verbrechen gegen das Völkerrecht halte, weil ich sie für einen Schandfleck in der deutschen Geschichte halte. Ich hoffe, daß die elsässische Bevölkerung, ihrer freiheitlichen Mission sich bewußt, den freiheitlichen Kampf mit uns in Deutschland aufnehmen wird, damit endlich die Zeit kommt, wo die europäischen Bevölkerungen ihr volles Selbstbestimmungsrecht erlangen können, was sie aber nur bekommen können, wenn die Völker Europas in der republikanischen Staatsform das Ziel ihrer Bestrebungen erblicken.“ (Bebel 1979, S. 150 f.)

Ferner bekannte sich Bebel in dieser Rede im Namen der SDAP zur Pariser Kommune.

Der Prozess wegen angeblichen Hochverrats 1872

Vom 11. bis 23. März 1872 fand in Leipzig der Prozess wegen angeblichen Hochverrats gegen Bebel, Liebknecht und Adolf Hepner, einem Redakteur der Zeitung »Der Volksstaat«, statt (siehe dazu Friedländer 2008, S- 23-47; Wette 2004; Enzensberger 1973, S. 125-143). Die ursprüngliche Intention der kaiserlichen Justiz, nämlich die Sozialisten für ihre verweigerte Zustimmung zu den Kriegskrediten öffentlich abzustrafen, war in diesem Prozess kein Thema mehr. Im Mittelpunkt stand nun der Vorwurf, die Angeklagten würden als Mitglieder einer revolutionären Bewegung den Sturz des Staates anstreben.

Insbesondere Bebel und Liebknecht nutzten die Tribüne des Gerichts, um ihre sozialistische und antimilitaristische Position gegenüber der Anklage, den Geschworenen (ein Rittergutsbesitzer, ein Oberförster, einige Kaufleute und Gutsbesitzer), dem Publikum des Prozesses sowie der politischen Öffentlichkeit ausführlich darzulegen.

So führte Liebknecht u.a. aus: „Die Erfolge von 1870/71 haben mich in meinen Ansichten nicht erschüttern können. Im Gegenteil, die »glorreichen« Siege des preußisch-französischen Krieges haben mich in meiner Anschauung nur bestärkt. Sie haben den starren Militarismus befestigt, das bürgerliche Element noch mehr, als es vorher der Fall war, zurückgedrängt und dadurch die Reformfähigkeit des Staats, falls sie noch vorhanden gewesen sein sollte, vollends aufgehoben .

Seit 1866 steht die Existenz Preußens auf der Spitze des Schwerts. Die Schlacht von Königgrätz verloren, und Preußen hatte als Großmacht aufgehört. Eine entscheidende Niederlage in Frankreich, und Preußen war von der Landkarte Europas gestrichen. Ein Staat wie Preußen kann aber des Krieges nicht entbehren, vom Kriege sich nicht emanzipieren, und für jeden Erobererstaat, von dem die Geschichte uns Kunde gibt, ist noch der Moment gekommen, wo der Krieg keine Siege brachte. Und nicht siegen ist für einen Erobererstaat gleichbedeutend mit Untergang.

Ein Staat wie das Bismarcksche Preußen-Deutschland ist durch seinen Ursprung mit fatalistischer Notwendigkeit dem gewaltsamen Untergang geweiht. Das Schicksal des französischen Empire, dessen sklavische, jedenfalls nicht verbesserte Kopie es ist, kündet ihm seine Zukunft. Auf dem Schlachtfeld geboren, das Kind des Staatsstreichs des Krieges und der Revolution von oben, muß es ruhelos von Staatsstreich zu Staatsstreich , von Krieg zu Krieg eilen und entweder auf dem Schlachtfeld zerbröckeln oder der Revolution von unten erliegen. Das ist Naturgesetz .“ (zitiert nach Leidigkeit 1960, S. 256 f.; Hervorhebung im Original)

Bebel und Liebknecht wurden zu zwei Jahren Festungshaft verurteilt, die sie absaßen; Hepner wurde freigesprochen. Nach dem Prozess kam es in mehreren deutschen Städten zu Solidaritätskundgebungen mit den Verurteilten. In einem weiteren Prozess wegen angeblicher Majestätsbeleidigung wurde Bebel zu neunmonatiger Haft verurteilt.

In der Haft genossen Bebel und Liebknecht als politische Gefangene einige Privilegien. Die Parteiarbeit konnten die beiden ansatzweise weiterführen. Bebel übersetzte im Gefängnis eine Schrift der Franzosen Yves Guyot und Sigismond Lacroix ins Deutsche, die 1876 unter dem Titel »Die wahre Gestalt des Christentums. Uebersetzt von einem deutschen Sozialisten« erschien. Im gleichen Jahr publizierte Bebel »Der deutsche Bauernkrieg mit Berücksichtigung der hauptsächlichsten sozialen Bewegungen des Mittelalters«.

Im Gothaer Programm, das auf dem Vereinigungskongress der sozialdemokratischen Richtungen 1875 beschlossen wurde, heißt es u.a.:

„Die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands fordert als Grundlagen des Staates: […]
2. Direkte Gesetzgebung durch das Volk. Entscheidung über Krieg und Frieden durch das Volk.
3 . Allgemeine Wehrhaftigkeit. Volksheer anstelle der stehenden Heere.“
(zitiert nach Butterwegge und Hofschen 1984, S. 34)

Die Debatten in der SPD über die friedenspolitischen Positionen hielten in den nächsten Jahren an. Im Sommer 1914 stimmte die Fraktion im Reichstag für die Kriegskredite und vertrat den Kurs eines Burgfriedens. Diese Entwicklung beschleunigte die innerparteiliche Auseinandersetzung während des Ersten Weltkrieges über die Friedensfrage, – und es kam immer stärker zu einer inhaltlichen und organisatorischen Spaltung der Partei. So erfolgte die Gründung der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Die antimilitaristische Position seines Vaters setzte der Sohn, Karl Liebknecht, konsequent fort.

Literatur

Abendroth, W. (1974): August Bebels Kampf gegen Militarismus und Krieg. In: ders. u.a. (Hrsg.): Sozialdemokratie und Sozialismus – August Bebel und die Sozialdemokratie heute. Köln: Pahl-Rugenstein, S. 29-51.

Bebel, A. (1970): Ausgewählte Reden und Schriften. Ba nd 1: 1863 bis 1878. Hrsg. von Rolf Dlubek und Ursula Herrmann unter Mitarbeit von Dieter Malik. Berlin: Dietz, S. 150f.

Bebel, A. (1997): Aus meinem Leben. Bonn: J.H.W. Dietz, S. 313. Die zweite Auflage der Originalfassung erschien in drei Bänden zwischen 1911 und 1914.

Butterwegge, C.; Hofschen, H.-G. (1984): Sozialdemokratie, Krieg und Frieden Die Stellung der SPD zur Friedensfrage von den Anfängen bis zur Gegenwart. Eine kommentierte Dokumentation. Heilbronn: Distel. Die Rechtschreibung bei den Zitaten folgt dem Original.

Enzensberger, H. M. (Hrsg. (1973): Freisprüche – Revolutionäre vor Gericht. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Friedländer, H. (2008): Mörder, Verräter, Attentäter – Gerichtsreportagen aus dem Kaiserreich. Hrsg. von Gideon Botsch und Christoph Kopke. Berlin: Verlag für Berlin-Brandenburg. Die Originalausgabe erschien 1912.

Holl, K. (1988): Pazifismus in Deutschland. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Leidigkeit, K.-H. (Hrsg.) (1960): Der Leipziger Hochverratsprozeß vom Jahre 1872. Berlin: Rütten & Loening.

Liebknecht, W. (1986): Gegen Militarisierung und Eroberungskrieg – Aus Schriften und Reden. Berlin: Dietz.

Riesenberger, D. (1985): Geschichte der Friedensbewegung in Deutschland – Von den Anfängen bis 1933. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht.

Schmidt, J. (2013): August Bebel – Kaiser der Arbeiter. Zürich: Rotpunkt.

Weitershaus, F.W. (1976): Wilhelm Liebknecht – Das unruhige Leben eines Sozialdemokraten. Gütersloh und Gießen: Selbstverlag.

Wette, W. (2004): August Bebel und Wilhelm Liebknecht : Die Sozialistenführer als Gegner des deutsch-französischen Krieges von 1870/71. In: Krämer, H.; Wette, W. (Hrsg.): Recht ist, was den Waffen nützt – Justiz und Pazifismus im 20. Jahrhundert. Berlin: Aufbau, S. 100-108.

Wette, W. (2011): Militarismus in Deutschland – Geschichte einer kriegerischen Kultur. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch.

Dr. Karlheinz Lipp ist Historiker mit dem Schwerpunkt Historische Friedensforschung.

Streit um den Frieden

Streit um den Frieden

Die alte Bundesrepublik zwischen Krieg und Frieden

von Claudia Kemper

Ein halbes Jahrhundert im Frieden … Im Vergleich zur deutschen Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts lässt sich vor allem für die Bundesrepublik eine Erfolgsgeschichte konstatieren – einerseits. Andererseits erlebte die Bevölkerung in beiden deutschen Staaten viele Phasen als einen weder ganz friedlichen, noch kriegerischen Zustand. So warf der Zweite Weltkrieg einen langen Erinnerungsschatten auf beide deutsche Nachkriegsgesellschaften und erstreckte sich in Überresten als Ordnungsmuster zum Teil bis weit in die Zeit nach 1945. Gleichzeitig trat ein
neues Ordnungsmodell hinzu: der Kalte Krieg.

Die Neuere Militärgeschichte integriert in ihren mehrdimensionalen Arbeiten zum Krieg Erkenntnisse der Gewaltsoziologie, sodass auch Gewalterfahrungen und Gewaltordnungen jenseits kriegerischer Operationen in den Blick rücken (Kühne und Ziemann 2000; Ziemann 2002). Aus beiden Forschungsrichtungen inspiriert und kulturgeschichtlich erweitert kann auch der Kalte Krieg als eine global wirksame Gewaltordnung definiert werden. Diese schrieb nicht nur in Form der Rüstungsspirale einen totalen Krieg als Zukunftsoption fest, sondern sie drang mit ihren kriegerischen
Unterscheidungskategorien von Freund/Feind und Sieg/Niederlage oder mit dem Anspruch auf technische und gesellschaftliche Überlegenheit tief in die gesellschaftlichen Poren ein. In seiner totalen Konfrontationslogik lässt sich der Kalte Krieg auch als Simulation eines Krieges verstehen, bei dem der Einbildungskraft der Menschen Gewalt angetan wurde (Bernhard, Nehring und Rohstock 2012, S. 14; Geyer 1990).

Der Abwurf der Atombomben über Hiroshima und Nagasaki im August 1945 markiert den Überschneidungspunkt des alten und neuen Krieges. Entwicklung und Bau der Hiroshima-Bombe folgten unmittelbar den Dynamiken im Zweiten Weltkrieg, ihr Abwurf beeinflusste dessen Ende im Pazifik aber kaum. Vielmehr lässt sich für das internationale Mächteverhältnis der Beginn des Kalten Krieges auf diesen August datieren, allein weil die Sowjetunion schon längst damit beschäftigt war, ebenfalls eine Atombombe zu bauen. In der deutsch-deutschen Wahrnehmung begann der Kalte Krieg vor allem in Form zunehmender
Drohgebärden am Grenzzaun. Dort wurde die Spannung zwischen sowjetischen und US-Besatzern mit konventionellen Waffen und geschlossenen Toren demonstriert – die erste Berlinkrise 1948/49 war hierfür zentral.

Enger Bezug von Demilitari­sierung und Aufrüstung

In der unmittelbaren Nachkriegsphase, als die Alliierten noch eine gemeinsame Politik gegenüber dem besiegten Aggressor vertraten, setzten sie eine nahezu vollständige Abrüstung in Deutschland durch. Die berühmten fünf Ds, darunter »disarmament« (Entwaffnung) und »demilitarization« (Entmilitarisierung), mit denen die westlichen Besatzungszonen überzogen wurden, waren Maßnahmen, um Gewalt zu beenden und neue zu vermeiden (Benz 1989, S. 30 f.). Im November 1945 wurde in Deutschland jede militärische Ausbildung verboten; im August 1946 folgte die offizielle Auflösung der
Wehrmacht1; im Dezember 1946 wurden Herstellung, Einfuhr oder Ausfuhr von Kriegsmaterial verboten. Die während der Kriegszeit etablierten »Waffenschmieden« wurden in Ostdeutschland meist komplett demontiert und in Westdeutschland auf zivile Güterproduktion umgestellt (Bontrup und Zdrowomyslaw 1988, S. 129 ff.). All dies sollte zur vollständigen De-Militarisierung beitragen.

Die westdeutsche Nachkriegszeit wäre womöglich deutlich anders verlaufen, u.a. mit einer weitaus früher einsetzenden Aufarbeitung der NS-Verbrechen, wenn sich im Ost-West-Konflikt nicht sogleich eine neue Kriegsordnung herausgebildet hätte. Die CDU unter Konrad Adenauer ließ keinen Zweifel daran, wie sich der so bedrohte Frieden auf eine „wehrhafte Demokratie“ zu stützen habe, die im Kern antikommunistisch ausgerichtet sein musste (Schildt 2015, S. 78 ff.): „Ein Staat, der keine Wehrmacht hat, ist machtlos. Da kann man sagen, was man will. Und Demokratie hin,
Demokratie her, wenn Leute da sind, die gegen
die Demokratie angehen, und die Demokratie hat nichts, was sie schützt, als ihr Prinzip, dann ist sie eben verloren!“2

Darauf folgte die Phase der »Westernisierung« im Zeichen des Antikommunismus – ein Narrativ, das mit Blick auf den Konflikt um den »inneren Frieden« stärker differenziert werden muss. Denn während der »bedrohte Frieden« seinen Feind im Kommunismus ausmachte, musste der »innere Frieden« vor allem bewahrt werden zur „Stabilisierung einer bestimmten Gesellschaftsordnung bzw. erwünschter Geschlechts- und Geschichtsbilder“ (Rigoll 2014, S. 40). Die Anfeindung, politische Ausgrenzung und Marginalisierung von Pazifistinnen und Pazifisten, Friedensbewegten oder
antimilitaristischen Intellektuellen – nicht zuletzt auch eines Bundesinnenministers Gustav Heinemann –, die sich gegen die Wiederbewaffnung einsetzten, zeigten, wie mit dem Label »kommunistische Bedrohung« von offizieller Seite auch sachliche innergesellschaftliche Konflikte übertüncht und stillgelegt werden konnten.

Bei aller antikommunistischen Propaganda wirkten vor allem die Niederschlagung des Aufstands in Ostdeutschland 1953 und der Einmarsch sowjetischer Truppen in Ungarn 1956 auf die öffentliche Meinung zugunsten eines bewaffneten Westdeutschlands. Mit der Berlin-Krise 1961, als sich sowjetische und US-amerikanische Panzer am Checkpoint Charlie gegenüberstanden, und der Kuba-Krise 1962 sollte sich die Mehrheitsmeinung für eine bewaffnete Bundesrepublik endgültig verfestigten. Kurz zuvor noch stand die Bevölkerung konkreten Plänen zur Gründung der Bundeswehr 1955 und der Debatte über ihre atomare
Bewaffnung 1957/58 ambivalent gegenüber. Alle Umfrageergebnisse zeigten, dass sich die Mehrheit der Bevölkerung während dieser Zeit zwar gegen die Bedingungen aussprach, unter denen ein deutsches Militär wieder eingeführt werden sollte, aber gleichzeitig einer konservativen Regierung ihre Stimme gab, die sich explizit für die Gründung der Bundeswehr und für die Bündnispflichten in einem westlichen Militärbündnis aussprach (Geyer 2001).

Die Ablehnung einer westdeutschen Armee lag nur zu einem geringeren Teil in der konkreten Ablehnung von Gewaltausübung begründet. Ein größeres Motiv lag in den mehr oder weniger öffentlich diskutierten Regierungsplänen, eine neue Armee fest einzubinden in ein westliches Militärbündnis: Das war bis 1954/55 eine Europäische Verteidigungsgemeinschaft und, nach deren Scheitern, ab 1955 die NATO. In beiden Fällen war der Preis für die Einrichtung einer westdeutschen Armee der Verzicht auf die Souveränitätsrechte über diese Armee. Die Bundesrepublik hätte keine eigene Armee gründen können, wenn
diese nicht auch unter westlicher Aufsicht stand – Beschränkungen, die in der westdeutschen Öffentlichkeit sehr unpopulär waren. Ein Teilnehmer einer Umfrage von 1951 formulierte es so: „Den Dussel möchte ich sehen, der sich jetzt für Ami oder Iwan totschießen lässt. […] Wir haben in einem neuen Krieg nichts zu gewinnen. Für fremde Mächte kämpfen wir nicht. Adenauer etc. sollen sich doch einmal die Köpfe vollhauen. (Geyer 2001, S. 287)

Ambivalentes Sicherheitsbedürfnis

Neben den militärpolitischen Neuerungen mit Eintritt in die NATO spielte Mitte der 1950er Jahre vor allem eine neue Form der medialen Berichterstattung über die atomare Bedrohung eine Rolle (Augustine 2012). 1954 verbreitete sich die Nachricht über den außer Kontrolle geratenen Atomwaffentest »Castle Bravo« im Pazifik. Etwa 160 Kilometer vom Bikini-Atoll entfernt und außerhalb der Sperrzone ging auf das japanische Fischerboot »Glücklicher Drache« ein ­Fallout nieder, der die Besatzung verstrahlte. Die Nachricht vom Unglück verbreitete sich in Japan und auch in Europa und
Deutschland. Das Unglück weckte zum ersten Mal Besorgnis, der Umgang mit Atombomben berge ­unkontrollierbare Gefahren.

Das national gedachte Souveränitäts- und Sicherheitsbedürfnis prägte die Deutschen in den 1950er Jahren auch, als es um die Frage ging, die frisch gegründete Bundeswehr mit Atomwaffen auszustatten. 1956 machte dieses Gerücht die Runde, schon bald bestätigt von Bundeskanzler Adenauer. Die eruptive Mobilisierung gegen diese Pläne verband vor allem der atomare Schrecken, denn etwa zur gleichen Zeit begann eine umfassende Rezeption der Ereignisse von Hiroshima und Nagasaki und ihrer Folgen. Die atomare Bedrohung blieb im deutschen Kontext abstrakt, stand für eine generelle Furcht vor dem
»Atomtod« und wurde nicht zum Anlass genommen, konkrete verteidigungspolitische Prämissen in Frage zu stellen (Schildt 2009). Auch wenn sich in dieser Phase die Friedenswissenschaft zu formieren begann, ärgerten ihre kritischen Beiträge zur fatalen Logik der atomaren Abschreckung vor allem die politischen Eliten, stimulierten aber noch nicht in der breiten Öffentlichkeit. Erst mit den veränderten politischen und sozialen Rahmenbedingungen während der 1970er Jahre fanden der friedenswissenschaftliche Diskurs zum Ordnungssystem des Kalten Krieges und neue soziale Bewegungen zusammen.

Ein zunehmendes Sicherheitsbedürfnis bei gleichzeitiger Abwehr militärischer Einrichtungen: Die neu etablierte Friedensordnung der Bundesrepublik wurde mit sehr unterschiedlichen Erfahrungsschichten und Erwartungshorizonten ausgestattet, verband sich mit der unmittelbaren Kriegserfahrung, mit dem Bombenkrieg und den Gewalterfahrungen bei Kriegsende und danach und gleichzeitig mit einem wachsenden Verständnis für die atomare Waffentechnologie.

Für die Frage, unter welchen Bedingungen Friedensideen und Friedenspolitik die Bundesrepublik prägten, darf zudem nicht vergessen werden, dass die Rüstungsindustrie (in beiden deutschen Staaten) seit den 1950er Jahren wieder Fahrt aufnahm, in Westdeutschland vor allem im Rahmen des europäischen Wirtschaftsaufbauprogramms. In Europa hatte im Wesentlichen nur die britische und schwedische Rüstungsindustrie den Krieg überdauert. Nun profitierte die gesamte europäische Rüstungsindustrie von der amerikanischen Unterstützung, die nach dem Ausbruch des Korea-Krieges in Gang gesetzt wurde und auch
in Deutschland wirkte. „Der Traum jedes europäischen Herstellers war es, einen Teil des großen amerikanischen Marktes zu erobern. (Kaldor 1977, S. 49) Wurden in der Bundesrepublik bis 1955 überwiegend Textilien, optische Geräte und Fernmeldeeinrichtungen produziert, kamen in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre und mit Gründung der Bundeswehr »harte Rüstungsgüter« hinzu, die per Lizenz in Deutschland hergestellt werden konnten (Geyer 2001, S. 211). Bis 1973 folgten technisch komplexe Lizenzproduktionen, darunter der Starfighter F-104G, und erste Eigenproduktionen.
Bis Mitte der 1980er Jahre schloss die deutsche Rüstungsindustrie mit der Entwicklung komplexer Waffensysteme in Eigenregie an das internationale Waffenniveau an (Leopard II, Kampfflugzeuge MRCA-Tornado, Panzerabwehrwaffen Milan, Hot, Roland) (Wenzke und Zündorf 2008, S. 106 u. 114 ff.; Kollmer 2002).

Stabilisierung und Unfriede

Die atomare Kriegsordnung zog noch weitere Kreise: Seit der atomaren Waffengleichheit zwischen den USA und der Sowjetunion Anfang der 1950er Jahre war klar war, dass Atombomben keine Siege herbeiführen würden, wie man sie aus konventionellen Kriegen kannte. Deshalb mussten der anderen Seite von nun an zwei Dinge glaubhaft vor Augen geführt werden: die permanente Einsatzbereitschaft atomarer Waffen sowie die eigene Fähigkeit, auf allen, auch konventionellen Ebenen, verteidigungsbereit zu sein. Alle Verteidigungskonzepte – von »massive retaliation« bis »flexible response« –
kalkulierten mit der Atombombe und werteten gleichzeitig die konventionellen Streitkräfte wieder auf. Letztlich waren die deutsche Rüstungsindustrie und die Bundeswehr auch ohne atomare Ausstattung von Beginn an ein dynamischer Teil des Wettrüstens und der Bedrohungslagen im Kalten Krieg.

Dies sollte im Hinterkopf behalten, wer auf die Stabilisierung des Ost-West-Konflikts durch die atomaren Waffenarsenale verweist. Die Zeit des Kalten Krieges als „langen Frieden“ (John Lewis Gaddis) zu bezeichnen, ist längst umstritten, teils obsolet, sowohl was die außenpolitische und militärische Bedrohungskonstellation anging als auch die innere Beschaffenheit einer Gesellschaft in ständiger Alarmbereitschaft. Zeitgenössische Kritiker, wie Karl W. Deutsch (Deutsch und Kaiser 1971) oder Dolf Sternberger (1986), prägten Einschätzungen, die auch einer zu stark an binären Codes
orientierten Zeitgeschichtsschreibung zu denken geben könnten: „[…] wir wollen den Zustand der Kampflosigkeit bei gleichzeitiger Hochrüstung nicht als einen Zustand des Friedens, eher schon, wie man gesagt hat, des »Schreckensfriedens« oder des »Zitterfriedens«, aber gewiss ebenso wenig als einen Zustand des Krieges bezeichnen, sondern als einen solchen des Unkrieges, wenn die Prägung erlaubt sei; sie entspricht und antwortet dem älteren und vertrautem Wort »Unfriede«.3

Auf der Makroebene entfaltete sich der Kalte Krieg als eine »Kriegsführungs-Abschreckung«, die sich vorrangig auf den abgestuften Gebrauch von Atomwaffen stützte und schließlich in Wissenschaft, Kultur und öffentlicher Rede fortsetzte: Weder begrenzte Ziele noch begrenzte Mittel bestimmten das strategische Denken (Senghaas 2003, S. 309). Diese brisante Konstellation retrospektiv als Stabilität zu bezeichnen, offenbart eine geradezu den Atem verschlagende geschichtspolitische Hybris.

Friedensordnungen nach 1945

Nicht nur für die unmittelbare Nachkriegszeit und nicht nur mit Blick auf die Friedensbewegung muss gefragt werden: „Wie veränderte sich durch die Erfahrung des Krieges [und seiner Gewalt, CK] das Gefühl für den Zustand des Friedens?“ (Wolfrum 2003, S. 31) Die Sicherheitsbedenken in Ost und West und das Ziel, eine kalkulierbare geostrategische Situation einzurichten, reichen jedenfalls nicht aus, um den zeitgenössischen Begriff des Friedens in Europa und in der Bundesrepublik zu erklären. In der Tat hätte es keinen westdeutschen Staat gegeben ohne eine strikte
friedenspolitische Festlegung (Niedhardt 2000, S. 184). Aber im Reden über die eigene Friedlichkeit drückten sich in der Bundesrepublik von Beginn an sowohl die kaum zu hintergehenden außenpolitischen Verpflichtungen im westlichen Bündnis als auch die verfassungsgemäße Selbstvergewisserung angesichts der kriegerischen Vergangenheit aus. In dieser logischen Doppelhelix konnte der „Friedenstreiber“ (Niedhardt 2000, S. 183) Bundesrepublik wieder mit Militär und Waffen ausgestattet und in die NATO integriert werden.

Das bundesrepublikanische Friedensnarrativ wurde durch den Umstand gestärkt, dass die alte Bundesrepublik eine außerordentliche, zeitliche begrenzte Rolle in der internationalen Politik einnahm. Die Friedensordnung der Bundesrepublik hing von der historisch spezifischen Situation nach 1945 ab, die aber keineswegs einen Normalzustand darstellte. Hieraus konnte sich eine Art Traumblase immerwährender autarker Friedlichkeit bilden, wodurch der Blick auf die immer existente gewalttätige und kriegerische Kehrseite des zivilen Lebens nur langsam frei wurde.

Diese Deutung stellt die faktische Kraft von Friedensnormen keineswegs in Abrede, die aber an anderer Stelle wirkten als vordergründig angenommen werden könnte. In ganz Westeuropa verbanden sich nach 1945 mit den Friedensideen die politischen Ziele persönliche Freiheit sowie materielle und soziale Sicherheit (Nehring und Pharo 2008, S. 291). Ein solches Friedensverständnis prägte das gesellschaftliche Zusammenleben nach 1945, individualisierte und naturalisierte sich zunehmend und wirkte wiederum auf gesellschaftliche Normen zurück. Materielle Sicherheit als Grundlage für politische
Stabilität war wiederum eine Idee, die bis in die 1930er Jahre zurückreichte und seitdem den Konsumerismus zum Markstein für gute Regierungsfähigkeit und inneren Frieden (good governance) auswies. Neben der sozialen setzte sich eine politische Dimension des Friedens durch, denn der langsame Übergang in ein demokratisches Gemeinwesen, das Einüben demokratischer Praktiken in Form von Wahlen, Einhaltung des Presserechts oder Durchsetzung von Gleichberechtigungsgesetzen festigten die Überzeugung, Frieden könne sich nur in einer Demokratie entwickeln. In gewohnter Dynamik stellte diese in der
Bundesrepublik eben jene Freiräume bereit, in denen dann ausgiebig über den Frieden gestritten wurde, wodurch sich wiederum das demokratische Gemeinwesen veränderte.

Auch der anti-atomare Friedenskonsens wies schon während der Hochphase der Friedensbewegung in den 1980er Jahren deutliche Risse auf: Erstens erlebte die Debatte um Frieden und Sicherheit eine bis dahin nicht gekannte Verwissenschaftlichung, vorangetrieben von regierungsunabhängigen Expert*innen aus Natur- und Sozialwissenschaften. Zweitens wirkte die durch die Deutsche Kommunistische Partei und die Deutsche Friedens-Union mitten in die Bewegung hineingetragene DDR-Friedensrhetorik stark zerrüttend auf den überparteilichen Friedenskonsens. Drittens bot Letzterer genug Stoff, um die atomare
Bedrohung zum Bunsenbrenner unter einem neuen deutschen Nationalismus werden zu lassen, stand doch ganz Deutschland vermeintlich vor der Apokalypse. Viertens stand die Gewaltfrage unvermindert im Raum. Auch wenn die Großdemonstrationen friedlich verliefen und der gewaltlose Widerstand zur bevorzugten Protestform wurde, bedeutete dies keineswegs Einigkeit in der Sache. Zum einen musste sich seit der Zersplitterung der außerparlamentarischen Opposition im Jahrzehnt zuvor jeder Protest mit dem eigenen Verständnis von Gewalt auseinandersetzen. Zum anderen war die Gewaltfrage in der
Friedensbewegung Ausdruck eines Generationenkonflikts: Jüngere, militante oder autonome Protestierer*innen sahen sich keineswegs vom Stil und Vorgehen der Mehrheitsbewegung repräsentiert (Balz 2015).

Friedensproteste in der Bundesrepublik können somit als Teil von Sicherheitsdiskursen, als Prozesse gesellschaftlicher Selbstanerkennung oder als Abgrenzungsversuche innerhalb des Bündnissystems gedeutet werden. Im Protest gegen Aufrüstung und Krieg kommt in der Regel so viel zusammen, dass sich die verschiedenen Beteiligten selten darüber einig sind, wofür das Friedenszeichen eigentlich stehen soll.

Fazit

Das Narrativ einer alten Bundesrepublik im Frieden muss nicht aufgegeben werden, um es kritisch zu hinterfragen. In einer solchen Annäherung gehören atomare Bedrohung, Militär, Rüstung, demokratische Praxis, Friedensbewegung und Streit um Friedenspolitik zusammen. Außerdem barg der Ost-West-Konflikt vor allem aus deutscher Sicht die Gefahr, wieder zum konventionellen Krieg zu führen. Bedrohung allerorten: Die junge Bundesrepublik rekurrierte deshalb nicht nur auf einen von außen bedrohten Frieden, sondern auch auf das Ideal eines inneren Friedens.

Aus der generellen Angst, zum Opfer in einem fremdbestimmten Krieg zu werden, entwickelte sich in der Bundesrepublik die Präferenz, eine sichere Option im militärischen Westbündnis zu favorisieren. Die Angst vor einem konventionellen Krieg nahm ab, aber keineswegs die vor einer gewalttätigen Vernichtung. Die Akzeptanz einer militärischen Ausstattung der Bundesrepublik stieg, aber nicht die für militärische Einsätze. Ähnlich ambivalent zeigte sich die Bevölkerung lange Zeit hinsichtlich der militärischen und zivilen Nutzung der Atomenergie. Erst in den 1970er und 1980er Jahren wurden dieser
Spagat, die Komplexität und die inneren Zusammenhänge einer höchst ambivalenten »Friedenspolitik« thematisiert. Alles in allem dürften sich mit einer stärkeren Berücksichtigung des Streits um den Frieden einige Narrative zur Bundesrepublik differenzieren. Pragmatisch empfohlen sei bei der gesamten Frage nach Krieg und Frieden in der Bundesrepublik, die Erzählung weniger eindeutig, sondern mit einem beherzten »Dazwischen« zu beginnen.

Anmerkungen

1) Die entsprechende (offizielle) Auflösung der Wehrmacht erfolgte durch das Kontrollratsgesetz Nr. 34 vom 20. August 1946. Die militärische Ausbildung wurde durch das Gesetz Nr. 8 vom 30. November 1945 untersagt.

2) Geyer 2001, S. 269; zitiert nach Buchstab, G. (1989): Adenauer: „Wir haben wirklich etwas geschaffen“ – Die Protokolle des CDU-Bundesvorstandes 1953 bis 1957. Düsseldorf: Droste, S. 469.

3) Sternberger, D. (1986), S. 13, zitiert nach Wolfrum 2003, S. 16.

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Dr. phil. habil. Claudia Kemper ist Zeithistorikerin aus Hamburg.

Dieser Artikel ist eine gekürzte Version des Aufsatzes »Alles so schön friedlich hier!? Die Geschichte der Bundesrepublik zwischen Krieg und Frieden«. In: Bajohr, F.; Doering-Manteuffel, A.; Kemper, C.; Siegfried, D. (Hrsg.) (2016): Mehr als eine Erzählung – Zeitgeschichtliche Perspektiven auf die Bundesrepublik. Göttingen: Wallstein, S. 361-375.

Ein Wegbereiter der Friedensbewegung

Ein Wegbereiter der Friedensbewegung

Vor 50 Jahren starb Friedrich Siegmund-Schultze

von Karlheinz Lipp

Vom Kaiserreich bis zur Bundesrepublik Deutschland – über mehrere Jahrzehnte und in äußerst unterschiedlichen politischen und gesellschaftlichen Systemen – engagierte sich Friedrich Siegmund-Schultze (1885-1969) sehr intensiv in verschiedenen Organisationen für den Frieden und für soziale Fragen. Wie sah dieses Engagement aus?

Die Zweite Haager Friedenskonferenz von 1907 beflügelte einige christliche Gruppen in Deutschland und Großbritannien in ihrem Friedensengagement. Besonders gegenseitige Besuche, beginnend im Frühjahr 1908, sollten Vorurteile ab- und freundschaftliche Beziehungen aufbauen. Friedrich Siegmund-Schultze erhielt von seinem Patenonkel, dem Hofprediger Ernst von Dryander, direkt nach dem theologischen Examen den Auftrag, diese Reisen zu organisieren – und wirkte bis 1914 als Sekretär des Vereinigten Kirchlichen Komitees zur Pflege freundschaftlicher Beziehungen
zwischen Großbritannien und Deutschland. Bereits in dieser frühen Lebensphase entwickelte er ein großes Interesse an internationalen Fragen und Konzepten der Verständigung. Dies prägte Siegmund-Schultze entscheidend, und er unterschied sich dadurch von vielen deutschnationalen und militaristischen Pfarrern und Theologen.

Im Jahre 1910 heiratete der Bürgerliche die adlige Maria von Maltzahn; beide überwanden dadurch soziale Schranken. Aus der Ehe gingen sechs Kinder hervor. Im gleichen Jahr referierte Siegmund-Schultze in der Sektion »Die Religion und der Friede« auf dem Fünften Weltkongress für Freies Christentum und Religiösen Fortschritt in Berlin.

Die Soziale Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost und die Zeitschrift »Die Eiche«

Das Jahr 1911 bedeutete für Siegmund-Schultze eine tiefe Zäsur. Nach nur einem Jahr (1910/11) als Pfarrer an der Potsdamer Friedenskirche verließen seine Frau und er das bürgerliche Ambiente und siedelten um in das proletarische Armutsviertel im Osten Berlins. Dort erfolgte die Gründung der »Sozialen Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost«, einer Nachbarschaftssiedlung von Arbeiterinnen und Arbeitern sowie Studierenden nach dem Vorbild des englischen Settlements Toynbee Hall, welches der Theologe 1908 bei einem Besuch in London kennengelernt hatte. Sukzessive wurde dieses Projekt zur Versöhnung der
Klassen erweitert. So kamen in den nächsten Jahren eine Frauenkolonie, eine Volkshochschule, eine Jugendgerichts­hilfe, Ferienkolonien, ein Kinderheim sowie eine Heilerziehungsstätte für psychisch auffällige Kinder auf dem Ulmenhof (Berlin-Wilhelmshagen) hinzu. Dieses Projekt leitete Siegmund-Schultze bis zur Zerstörung durch den NS-Staat im Jahre 1933.

Das soziale Engagement des Theologen zeigt sich auch in der Gründung des Akademisch-Sozialen Vereins (1912) sowie in seiner Funktion als Sekretär des Christlichen Studentenweltbundes für Sozialarbeit und Ausländermission (1912-1914).

Im Januar 1913 erschien erstmals die Zeitschrift »Die Eiche«, die von Friedrich Siegmund-Schultze herausgegeben wurde. Der US-amerikanische Millionär und pazifistische Mäzen Andrew Carnegie unterstützte das Erscheinen der ersten Jahrgänge finanziell. In den Anfangsjahren führte dieses Organ den aussagekräftigen Untertitel »Vierteljahresschrift zur Pflege freundschaftlicher Beziehungen zwischen Grossbritannien und Deutschland«. Bis zum Verbot durch den NS-Staat im Jahre 1933 gehörte »Die Eiche« zu den wichtigsten deutschsprachigen Zeitschriften im Bereich der internationalen und
pazifistischen Ökumene.

Erster Weltkrieg

Anfang August 1914 fand in Konstanz eine internationale kirchliche Friedenskonferenz statt, die Siegmund-Schultze organisierte. Zweck dieser Tagung sollte die Zusammenführung verschiedener Kirchengemeinschaften und Völker sein, um die Bedeutung des Friedens zu betonen und die Kriegsgefahr zu bannen. Ca. 120 Delegierte aus 30 Ländern nahmen an dieser Konstanzer Veranstaltung teil, die wegen des Beginns des Ersten Weltkrieges bereits am 2. August beendet werden musste. Gleichwohl bedeutete die Tagung de facto den Beginn der Arbeit des Weltbundes für Freundschaftsarbeit der Kirchen.
Siegmund-Schultze blieb dieser Organisation bis 1948 als Schriftführer eng verbunden.

Die Erinnerung der Tochter Elisabeth Hesse zeigt, dass dieses Friedensenga­ge­ment nicht unproblematisch war: „Mein Vater hatte nämlich, getreu seiner Glaubensüberzeugung, einen pazifistischen Quäkeraufsatz 1914 nach Ausbruch des Weltkrieges verbreitet und wurde von einem Mitglied der Kirchenbehörde bei den Militärs denunziert. Ein Verfahren wegen Hoch- und Landesverrat wurde eingeleitet. Ein Schreiben, das den Dank des Kaisers für den Quäkeraufsatz durch seinen Kabinettschef übermittelte, rettete meinen Vater vor der Füsilierung.“
(Siegmund-Schultze 1990, S. 401)

Die Position des Theologen schwankte während des Ersten Weltkrieges zunächst zwischen Patriotismus und christlichem Pazifismus. Bei Beginn dieses Krieges meldeten sich viele männliche Studierende und Helfer der Sozialen Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost freiwillig zum Kriegsdienst. Siegmund-Schultze kommentierte dies positiv. Im November 1914 wurde der Theologe Mitglied der Friedensorganisation Bund Neues Vaterland. Ende dieses Jahres zählte Siegmund-Schultze zu den führenden Mitbegründern der Auskunfts- und Hilfsstelle für Deutsche im Ausland und Ausländer in Deutschland (Caritas inter arma).
Die Arbeit dieser Organisation erstreckte sich auf die gesamte Dauer des Ersten Weltkrieges.

Im Frühjahr 1915 aber zog Siegmund-Schultze eine ernüchternde Bilanz des ersten Kriegshalbjahres. Die Klassengegensätze seien nicht, wie er noch 1914 gehofft hatte, überwunden – im Gegenteil, sie hätten sich durch den Krieg verschärft. Ferner entlarvte der Theologe die Mythen und Lügen der kaiserlichen Propaganda. Ebenfalls 1915 wurde Siegmund-Schultze Obmann der englischen Gefangenenseelsorge in Deutschland (bis 1919) und Mitarbeiter der Bewegung für Praktisches Christentum (bis 1938).

Im Jahre 1916 kritisierte Siegmund-Schultze die zunehmende, kriegsbedingte Verwahrlosung von (männlichen) Jugendlichen. Sein Konzept, wonach Studierende die Berufs- und Arbeitswelt des Proletariats näher erleben sollten, bedeutete für ihn während des Krieges auch, die Arbeit in der Rüstungsindustrie kennenzulernen. Ebenfalls 1916 trat Siegmund-Schultze jeweils den neuen pazifistischen Organisationen Zentralstelle Völkerrecht und Vereinigung Gleichgesinnter bei.

Sein großes Engagement im Sozialbereich fand während des Krieges seinen Ausdruck in der Berufung zum ersten Direktor des Berliner Jugendamtes (1917/18), zum Vorsitzenden des Deutschen Vereins zur Fürsorge für jugendliche Psychopathen sowie als Präsident des Internationalen Kongresses für Heilpädagogik (1918-1933).

Weimarer Republik und Friedenssonntag

Auch nach dem Ende des Ersten Weltkrieges zeigte sich die internationale und ökumenische Offenheit von Siegmund-Schultze. So arbeitete er von 1919 bis 1932 als Präsident des Internationalen Versöhnungsbundes (Deutscher Zweig), von 1920 bis 1937 als Mitglied eines Ausschusses der Weltkonferenz für Glauben und Kirchenverfassung, von 1921 bis 1930 als Geschäftsführer des Deutschen Komitees der Internationalen Volkshochschule in Helsingör (Dänemark) sowie von 1921 bis 1939 als internationaler Schriftführer des Kirchenkomitees für die Minoritäten der baltischen und südosteuropäischen Länder.

Im Jahre 1925 organisierte Erzbischof Nathan Söderblom (Friedensnobelpreis 1930), der Siegmund-Schultze nach Kriegsende kennengelernt und ihn zu Vorträgen nach Schweden eingeladen hatte, in Stockholm eine Weltkirchenkonferenz der nicht-römisch-katholischen Kirchen. Ein geplanter Vortrag von Siegmund-Schultze über »Die Erziehung zu brüderlicher Gesinnung im eigenen Volk und unter den Völkern« konnte nicht gehalten werden, da die deutsche Delegation ein solches Thema ablehnte und entsprechend blockierte. Auch hier zeigte sich das Aufeinandertreffen einer konservativen, nationalistischen
Position und einer weltoffenen Überzeugung. Im gleichen Jahr übernahm Siegmund-Schultze eine Honorar-Professur an der Universität zu Berlin (Jugendkunde und Jugendwohlfahrt, später: Sozialpädagogik und Sozialethik).

Sehr große Sympathien brachte Siegmund-Schultze der Realisierung eines Friedenssonntages entgegen. Ein solcher höchst symbolischer Feiertag fand in Deutschland erstmals 1908 in der Freien Evangelischen Gemeinde Königsberg statt. Am 7. Dezember 1913 folgte erstmals (und bis heute letztmals) die Feier eines Friedenssonntages in einer Landeskirche, nämlich der Landeskirche Elsass-Lothringens.

In der Weimarer Republik versuchten religiös-sozialistische Pfarrer sowie Geistliche des Weltbundes für internationale Freundschaftsarbeit der Kirchen einen Friedenssonntag in Deutschland zu eta­blieren. Nachdem ein erwartetes positives Echo auf den Aufruf des Weltbundes für einen Friedenssonntag ausblieb, versuchte es Siegmund-Schultze in der Endphase der Weimarer Republik eigenständig mit einem erneuten Anlauf. In den Jahren 1930 bis 1932 veröffentlichte er in seinem Organ »Die Eiche« Artikel über den Friedenssonntag, sammelte akribisch ­Feiern von Friedenssonntagen im In- und
Ausland und publizierte diese in seiner Zeitschrift. Die intensiven Bemühungen Siegmund-Schultzes brachten nur sehr geringe Erfolge. Im Jahre 1938 scheiterte er im Schweizer Exil nochmals mit dem Versuch, einen Friedenssonntag abzuhalten.

Exil in der Schweiz und die Zeit nach 1945

Im Frühjahr 1933 engagierte sich Siegmund-Schultze für ein Internationales Hilfskomitee für deutsche Auswanderer jüdischer Abstammung. Kurz vor der geplanten Gründung verhaftete die Gestapo den Theologen und zwang ihn am 23. Juni 1933 zur Flucht in die Schweiz. In seiner neuen Heimat wirkte er als Berater für Studierende der Züricher Hochschule (bis 1937), schloss sich (bis 1939) als Geschäftsführer dem Internationalen Kirchenkomitee für Flüchtlingshilfe an und arbeitete als Gastprofessor in verschiedenen Ländern. Im Jahre 1941 führte er Friedensverhandlungen für den deutschen Widerstand
(Kreis um den Leipziger Oberbürgermeister Carl-Friedrich Goerdeler) mit den Alliierten.

Die Tochter Elisabeth erinnert sich: „Vor dem Krieg und auch noch während des Krieges traf sich mein Vater bei Konferenzen und zu Hause in Zürich mit führenden Leuten des Widerstandes. Von Goerdeler bekam meine Mutter ein wunderschönes Alpenveilchen geschenkt, das sie jahrelang immer wieder zum Blühen brachte. Der Vater teilte die Ansicht Goerdelers, einen Tyrannenmord nicht verantworten zu können. Er teilte ebenso die Ansicht des Kreisauer Kreises, auch Kommunisten an den Plänen für den Aufbau nach dem verlorenen Krieg zu beteiligen.“
(Siegmund-Schultze 1990, S. 407)

Im Jahre 1946 erfolgte ein Ruf auf eine Professur für Sozialethik und Sozialpädagogik an die Berliner Humboldt-Universität, die Siegmund-Schultze jedoch ablehnte mit dem Verweis auf die Unmöglichkeit einer Fortsetzung der Arbeit der Sozialen Arbeitsgemeinschaft in Berlin-Ost. Ein Jahr später nahm er eine Honorarprofessur an der Universität Münster an und übernahm die Leitung der sozialpädagogischen Abteilung der Forschungsstelle dieser Universität mit Sitz in Dortmund. Ebenfalls in dieser Stadt des Ruhrgebiets gründete Siegmund-Schultze eine Jugend-Wohlfahrtsschule und blieb bis 1954
dortiger Direktor. Generell gilt aber, dass nach dem Zweiten Weltkrieg die sozialpädagogische Arbeit des Exilanten in Wissenschaft und Praxis kaum rezipiert wurde.

Im Bereich der Friedensarbeit erreichte er allerdings Bedeutung. Schon 1946 veröffentlichte Siegmund-Schultze seine grundlegende Schrift »Die Überwindung des Hasses«. Hier zeigt er anhand von Beispielen aus der griechisch-römischen Welt, der Renaissance und Aufklärung, des Hinduismus, des Judentums und des Christentums Wege zur Überwindung des Hasses auf. Auch ein Denken jenseits von Klassen- und Rassenhass wird thematisiert.

In der praktischen Friedensarbeit blieb Siegmund-Schultze weiterhin aktiv. So beteiligte er sich an den Vorarbeiten zum Artikel 4, Absatz 3 des Grundgesetzes („Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden.“), wurde u.a. Präsident der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Friedensverbände sowie Vorsitzender der Zentralstelle für Recht und Schutz der Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen. Diese Funktion wurde umso dringlicher, da das Recht auf Kriegsdienstverweigerung immer mehr zu einem angeblichen Ausnahmerecht degradiert wurde.
Er unterstützte Gustav Heinemanns Notgemeinschaft für den Frieden Europas und kritisierte die Wiederaufrüstung der jungen Bundesrepublik durch Kanzler Adenauer.

Siegmund-Schultze baute das umfangreiche Ökumenische Archiv in Soest auf, das inzwischen Teil des Evangelischen Zentralarchivs in Berlin ist – eine formidable Fundgrube zur Geschichte der (christlichen) Friedensbewegung. Sein Schüler und Mitarbeiter Klaus Rehbein äußerte sich zu dem Ökumenischen Archiv so: „Aus der reichen Erfahrung eines konfliktreichen Lebens hatte Siegmund-Schultze ein tiefes Mißtrauen gegen ausschließlich staatliche oder kirchlich verwaltete Institute und Institutionen. Er wollte bis zuletzt selbst über die Zugangsmöglichkeiten zu seinem
Material bestimmen können. Die Freigabe
für die Verwaltung Dritter sollte erst dann erfolgen, wenn das Material geordnet und dokumentiert war. Und ein zweites kam hinzu. Es gelang Siegmund-Schultze, sein Soester Archiv noch einmal zu einem Zentrum ökumenischer Begegnung zu machen. Alte Freunde und Weggefährten trafen sich mit einer neuen Generation.“ (Siegmund-Schultze 1990, S. 422)

Nach Friedrich Siegmund-Schultze benannte die Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Kriegsdienstverweigerung einen Preis für gewaltfreies Handeln (ab 2018 Evangelischer Friedenspreis), der seit 1994 verliehen wird.

Quellen und Literatur

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Dr. Karlheinz Lipp ist Historiker und Mitglied im Arbeitskreis Historische Friedensforschung.

Frieden nach dem Ersten Weltkrieg


Frieden nach dem Ersten Weltkrieg

Chancen und Grenzen

von Jost Dülffer

Am 11. November 1918 schwiegen die Waffen zwischen dem Deutschen Reich und den alliierten und assoziierten Nationen, allen voran Großbritannien, Frankreich und USA. Dieser Erste Weltkrieg hatte annähernd zehn Millionen Menschen das Leben gekostet, doppelt so viele waren verwundet und kehrten physisch, oft auch psychisch für ihr weiteres Leben gezeichnet in der Folgezeit zurück. Dieser 11. November hat sich seither als der entscheidende Tag des Kriegsendes ins historische Gedächtnis eingebrannt und wird zumal in den USA, Frankreich und Großbritannien bis heute jedes Jahr intensiv gefeiert. Es ist eine klassische, aber naive und daher falsche Vorstellung, dass nach dem Ende der Kampfhandlungen »nur« noch ein Frieden ausgehandelt werden musste, den man dann normativ bewerten kann.

Was sich seit 1945 verfestigte, traf schon 1918 zu: Die Rechtsakte formaler Verträge wurden zum Teil eines länger andauernden, komplexen und umfänglichen Friedensprozesses, der auch die mentale Versöhnung einschließen musste. Oder anders gesagt: Während für die eine oder die andere Region Friedensverträge geschlossen wurden, gingen an anderer Stelle Kämpfe, ja sogar langwierige Kriege weiter. Das dauerte mindestens bis 1923. Der Weltkrieg fand in sehr unterschiedlichen Gewalträumen statt, in denen jeweils unterschiedliche Strategien zur Befriedung verfolgt wurden.

Neue Dimensionen: Untergang einer Stadt und Aufbegehren gegen Rassismus

Zentral waren die Ereignisse um Waffenstillstände und das Aushandeln von Friedensverträgen, daneben es gab aber noch ganz andere wichtige und langfristig wirkende Faktoren. Zwei Beispiele erläutern dies.

  • Smyrna (heute Izmir) war eine multiethnische Stadt an der Ägäis, u.a. von Türken, Griechen und Armeniern bewohnt. Sie wurde 1919 im Einvernehmen mit den Westmächten von griechischen Truppen besetzt, um einem befürchteten italienischen (!) Eingreifen zuvorzukommen. Im Zuge des türkischen revolutionären Krieges unter Mustafa Kemal rückten türkische Truppen im September 1922 in die Stadt ein. Der orthodoxe Bischof wurde brutal ermordet; die zusätzlich von griechischen Flüchtlingen überfüllte Stadt fiel Raub, Mord, Vergewaltigungen anheim und wurde gezielt in Brand gesetzt. Von britischen Schiffen vor der Stadt und damit von der Weltöffentlichkeit beobachtet ging die Stadt unter; man schätzt, dass 30.000 Menschen bei diesen Massakern ums Leben kamen (Gerwarth 2017; Immig 2008; Milton 2008).1 Es gab also intensive Kriege noch nach dem Ende des »eigentlichen« Weltkrieges.
  • Im Februar 1919 stellte die japanische Delegation auf der Friedenskonferenz in Paris den Antrag, in die Satzung der neuen Weltorganisation, des Völkerbundes, einen Artikel aufzunehmen, der sich gegen rassische Diskriminierung wendet. Der Antrag griff auch Erfahrungen aus Afrika und anderen asiatischen Ländern auf, wurde in einer entsprechenden Kommission diskutiert und mit einer deutlichen Mehrheit von 17 zu 11 Stimmen angenommen. Allein Sitzungsleiter Woodrow Wilson, der US-Präsident, bürstete das Ganze mit Verfahrenstricks ab. Weltweite Empörung war die Folge, doch es blieb dabei: Die Ablehnung der USA, Frankreichs und Großbritanniens, die aufgrund eigener Rassensegregation oder Kolonialherrschaft entsprechende Vereinbarungen gefährlich fanden, setzte sich durch.2 Hier wurde erstmals ein mögliches dauerhaftes Friedenselement formuliert, das damals nicht konsensfähig war.

Weil die Friedensregelung nach dem Ersten Weltkrieg so komplex war, werden im Folgenden exemplarisch zwei allgemeinere Aspekte herausgegriffen, die in der Gegenwart öffentliche Diskussion versprechen:3 die Rolle Deutschlands im Spiegel des Versailler Vertrags und globale Entwicklungen in der Folge des Weltkriegs.

Der Frieden von Versailles mit dem Deutschen Reich

Die Verteufelung des Versailler Vertrages gehört seit den Tagen der Unterzeichnung im Juni 1919 zu den zentralen Geschichtsaussagen in Deutschland. Man kann argumentieren, dass sich erst im fast nationsweiten Protest gegen das »Schanddiktat« die Gesellschaft der entstehenden Weimarer Demokratie konstituierte – nur die Unabhängigen Sozialdemokraten fanden an diesem kapitalistischen Frieden nicht viel Schlimmes (Dülffer 2002). Der Protest setzte sich in den 1920er Jahren fort und bot Stoff für die zugkräftigsten nationalsozialistischen Kampfparolen. Erst einige Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg kehrte sich der Blick um: Wenn – so die Argumentation im Zuge der vom Historiker Fritz Fischer (1961) ausgelösten Kontroverse – Deutschland den Krieg angezettelt hatte, dann hatte es den harten Frieden auch verdient. Rückhalt fand diese Sicht in dem »Kriegsschuldartikel« 231 des Vertrages, in dem Deutschland zu Reparationen in noch festzulegender Höhe verpflichtet wurde (Dülffer 2017). In jüngerer Zeit machte die US-Historikerin Isabel Hull (2014) mit dem Verweis auf angeblich singuläre deutsche Völkerrechtsverletzungen Furore und heizte die Schulddebatte erneut an.

Mit 100-jährigem Abstand vom Friedensvertrag sollte man jedoch jenseits aller juristischen oder moralischen Empörung die schwierige Lage der Friedensmacher und die objektiv keineswegs unerträglich demütigende Situation des Deutschen Reiches angemessen einzuordnen suchen. Historisch gesehen ging es nie allein darum, einen Frieden der Gerechtigkeit und des Ausgleichs nach den Vorstellungen des bereits genannten US-Präsidenten Wilson zu schaffen, etwa auf der Basis des Selbstbestimmungsrechts der Völker. Letzteres war zwar eine regulative Größe, aber niemand konnte damals sagen, welche Bevölkerungsgruppe jeweils welche Selbstbestimmung ausüben soll oder darf (Fisch 2010; Dülffer 2011) – US-Außenminister Robert Lansing war denn auch auch einer der klarsten Gegner dieses Prinzips. Es gab in der Folge Gebietsverschiebungen allein aus politischen Gründen; lagen diese nicht vor, fanden in Mitteleuropa auch Volksabstimmungen zur Neuordnung statt.

Wichtiger aber war: Alle beteiligten Mächte wollten nicht mit einem »Unentschieden« aus dem Krieg ausscheiden, sondern suchten – auch aus innenpolitischen Gründen –, sich für die eigene Rolle in der Zukunft schadlos zu halten. Am markantesten für diese Einstellung war der mit Kriegsende obsolet gewordene deutsche Frieden von Brest-Litowsk, im Frühjahr 1918 separat mit der Ukraine und Sowjetrussland geschlossen: Er legte den Grundstein für geplante Vasallenstaaten, aus denen dann die Lebensraumidee Hitlers u.a. erwuchs. Auch die europäischen Alliierten hatten zuvor ihre Bevölkerung und ihre materiellen Ressourcen mit der Maßgabe mobilisiert, dass der Sieg sie sowohl entschädigen als auch auf Dauer gegen einen neuen Krieg schützen sollte. Daraus resultierten die moralischen Elemente im Vertrag, vor allem aber die materiellen Verpflichtung aller Verliererstaaten zu Reparationen, deren Umfang erst nach mehreren Jahren festgelegt und im Laufe der Jahre modifiziert wurde. Das war ein zwischen den USA und den Alliierten mühsam ausgehandelter Kompromiss.

Die entscheidende Aussage zum Versailler Vertrag muss allerdings lauten: Die mentale Empörung beruhte auf einer kollektiven Realitätsverweigerung der meisten Deutschen, erklärlich durch den scheinbar bis zum Schluss noch günstigen Kriegsverlauf, verstärkt durch eine gezielte Propaganda der Reichsregierung, allen voran des Außenministers Graf Brockdorff-Rantzau. Die Bestimmungen von »Versailles« waren hart, boten aber bei besonnener Deutung Chancen für einen Wiederaufstieg des Deutschen Reiches zu einer europäischen Großmacht im Rahmen einer europäischen Friedensordnung. Der gegen viele innenpolitische Widerstände begonnene Weg der Vertragserfüllung und -revision setzte auf die Wirtschaftskraft des Reiches und zeitigte bis Mitte der 1920er Jahre unter Außenminister Gustav Stresemann gute Erfolge, bekam aber in der aufkommenden Weltwirtschaftskrise nicht genügend Zeit, um in einer europäischen Friedensordnung volle Wirkung zu entfalten (Niedhart 1989, 2006).

Im Gegensatz zu diesem zentralen geschichtlichen Befund zeigen sich in der Gegenwart erneut Ansätze zur Revision. Revision ist an sich ein legitimer wissenschaftlicher Prozess der Überprüfung liebgewonnener Urteile, sie hat aber in der Absicht und in der Funktion auch eine Rolle in der politischen Gegenwartsdiagnose. Da ist zum einen die ausführliche Darlegung, dass die Alliierten ab 1916 alle deutschen Friedensbemühungen abwiesen. Zum anderen wird der Gedanke entfaltet, militärisch hätten die Deutschen noch mindestens ein halbes Jahr durchhalten können, dann wäre der Frieden ganz anders ausgefallen. Sodann wird die Versailler Inszenierung der Alliierten bei der Übergabe der Friedensbedingungen gelegentlich als ein nie dagewesener Akt der Demütigung aufgefasst (Afflerbach 2018, Krumeich 2017; Platthaus 2018a und 2018b). Und schließlich finden die zeitgenössischen Grafiken der Reichskarte mit – inhaltlich zutreffender – Abtretung von Gebieten, inklusive Angabe der Prozente an verloren gegangener Bevölkerung, Industrie- oder Rohstoffproduktion sowie der weitgehenden Entmilitarisierung (bei Veranschaulichung der Truppenstärken der Nachbarn) bis in die Gegenwart hinein Anwendung, so etwa in der großen Ausstellung »Frieden. Von der Antike bis heute«4 im Westfälischen Landesmuseum Münster): An die Stelle der heutigen analytischen Deutung wurde auch hier die propagandistische Inszenierung der 1920er Jahre gesetzt.

Globale Friedenskonferenz in Paris5

Auch wenn die oben erwähnten japanischen Bemühungen zur Ächtung von Rassismus auf der Pariser Friedenskonferenz keinen unmittelbaren Erfolg hatten, so fanden sie doch in vielen Teilen der Welt direkten Widerhall, u.a. in den USA bei den Vertretern der Schwarzen, darunter W.E.B. Du Bois. Er hatte das »negro problem« schon 1906 als zentrale Frage der Zukunft bezeichnet und damit einen Auftakt zur Emanzipationsbewegung der Schwarzen in den USA markiert (Berg 2005). Gewiss, China unterstützte Japan in Paris bei seinem Antrag, doch andere Vertreter von »nations of color«, wie man früher sagte, hatten keinen Staat, für den sie sprechen konnten, und suchten daher ihre Anliegen am Rande der Konferenz als Lobbyist*innen zur Geltung zu bringen.

Komplementär zur Friedenskonferenz fand in der französischen Hauptstadt daher der erste »Pan African Congress« statt. Neben Afrikaner*innen nahmen auch bürgerschaftlich engagierte Politiker aus Großbritannien und den USA teil, darunter auch Du Bois. Zwar erreichten sie mit ihrem Anliegen eines zentralafrikanischen Staats nichts, aber das Thema war formuliert. Personen wie ein junger Exil-Vietnamese, der später unter dem Namen Ho Chi Minh bekannt wurde, und Delegierte des Jüdischen Weltkongresses oder des arabischen Fürstentums der Hedschas signalisierten weitere Ansprüche und Aufbrüche aus der außereuropäischen Welt.

Formal galt, dass nur die offiziell am Krieg beteiligten Staaten an der Friedenskonferenz teilnahmen, dennoch waren etliche außereuropäische Staaten vertreten, darunter vor allem die wichtigsten Staaten des British Commonwealth, wie Australien, Neuseeland, Canada und Südafrika. Dies verdankten sie nicht zuletzt der Tatsache, dass Kontingente ihrer Truppen an zentralen Kriegsschauplätzen gekämpft hatten, sowohl an der Westfront in Europa als auch im Nahen Osten. Beim Kampf um die Dardanellen 1915 waren australische Truppen zentral, sodass man geradezu von einer Konstituierung der australischen Nation durch den Ersten Weltkrieg sprechen kann. In Mesopotamien hatten 700.000 z.T. gut ausgebildete indische Truppen von Bagdad aus gekämpft; Inder waren darüber hinaus u.a. an der Somme in Frankreich, an den Dardanellen und in Ostafrika eingesetzt. Indien wurde in Paris bei der Unterzeichnung des Friedensvertrages durch den britischen Indienminister und den kurz zuvor zum Lord Ganga Singh ernannten Maharadscha von Bikaner repräsentiert – während gleichzeitig britische Truppen in Amritsar ein Massaker an Hunderten protestierenden Indern anrichteten (Kulke/Rothermund 2018). Dies alles stellte die Vorherrschaft des »Weißen Mannes« ersichtlich in Frage.

Mandatssystem des Völkerbunds

Institutionalisiert wurde dieses Gefüge durch das Mandatssystem des Völkerbundes, mit dem ehemalige Kolonien unter die abgestufte Oberhoheit anderer Kolonialmächte gestellt wurden, vordergründig aufgrund der Unfähigkeit Deutschlands zu deren Verwaltung. Daraus wurde in der Folge eine »Kolonialschuldlüge« gestrickt.

Auch wenn dies – insbesondere bei der Übernahme pazifischer Gebiete durch Japan oder von »Deutsch-Südwest« durch Südafrika – auf Annexion hinauslief, war hier das Prinzip der Vorbereitung auf Eigenverantwortung wichtig, zwar kolonialistisch formuliert, aber dennoch zukunftsweisend (Pedersen 2014). Dieses Prinzip griff, wie gleich zu zeigen ist, auch im Nahen Osten.

Auflösung von Großreichen

Nach dem 11. November 1918 und während der gesamten Pariser Friedenskonferenz gingen in mehreren Gewaltzonen die Kämpfe weiter. Die Auflösung dreier Großreiche – des Osmanischen, des Habsburgischen, des Russischen –, zum Teil auch des Deutschen Reiches (Polen!), schuf Probleme, die mit der regulativen Idee neuer Nationalstaaten nur bedingt und oft erst Jahre später gelöst werden konnten.

Sowjetrussland war an den Friedensverhandlungen in Paris nicht beteiligt. Der russische Bürgerkrieg, der zugleich eine breite Intervention bedeutete, ließ vorläufig keinen Frieden zu. Der polnisch-sowjetische Krieg um Grenzen und Einflussbereiche endete im März 1921 mit dem bilateralen Frieden von Riga; Sowjetrussland benannte sich Ende 1922 in Sowjetunion um.

Die zweite große fortdauernde Kampfzone bildete der Vordere Orient. Anders als die Friedensverträge der Alliierten mit dem Deutschen Reich, Österreich, Ungarn und Bulgarien trat der im August 1920 geschlossene Vertrag mit dem Osmanischen Reich nie in Kraft. In fortdauernden Kämpfen – von Smyrna war bereits die Rede – emanzipierte sich vor allem die von nun an nationalstaatliche Türkei. Die arabischen Territorien südlich der Türkei hingegen gerieten in prekäre Mandatsverhältnisse zu Frankreich und Großbritannien, die auf eine neue Kolonisierung hinausliefen. Immerhin schuf der Vertrag von Lausanne, der die Grenzen der Türkei insbesondere gegenüber Griechenland festgelegte, im Juli 1923 auch eine vorübergehende völkerrechtliche Grundlage zur externen Lösung der Palästinafrage (Roshwald 2000).

Wie bereits angedeutet, nahm neben den konkreten Friedensverträgen mit territorialen und materiellen Verpflichtungen die Frage nach der künftigen Weltordnung und der neuen Institution des Völkerbundes eine zentrale Rolle ein. In den meisten kriegführenden Staaten hatte es vielfältige Überlegungen für die Ordnung nach dem „Krieg, der alle Kriege beenden wird“ (Wells 1914), gegeben, die nun alle zusammengebracht werden mussten. Deshalb wurde es keineswegs ein reiner »Wilson-Frieden«, den man sich im Deutschen Reich in unterschiedlichen Versionen zusammenfantasierte, sondern ein Kompromiss. In diesen gingen viel mehr Komponenten der alten Großmacht- und Kolonialordnung ein, als sich die progressive Geschichtsdeutung des völkerrechtlichen Fortschritts gern zugesteht. Vielmehr ließen die Interessen der Großmächte, allen voran das Interesse am Zusammenhalt des britischen Empires, das der Südafrikaner Jan Smuts wirkmächtig einzubringen verstand, einen recht hybriden Völkerbund entstehen (Mazower 2009).

Bilanz

Da sich die USA aus innenpolitischen Gründen aus der Unterzeichnung wie der Umsetzung des Völkerbundes zurückzogen (mit ihrem Beobachterstatus aber dennoch die Gestaltungsmöglichkeiten der stärksten kapitalistischen Weltmacht weiter nutzten) und weitere zentrale Akteure, wie die Sowjetunion oder Deutschland, zunächst fehlten, blieb die Wirkung der Pariser Friedensverhandlungen deutlich begrenzt. Eine entscheidende Weltmachtfrage, die Verhinderung eines künftigen Wettrüstens zur See, wurden 1921/22 auf der Washingtoner Seemächtekonferenz vorläufig geregelt (Ziebura 1984).6 Überdies waren die Verhandlungen von»„weißen« Vorstellungen geprägt, wie ein dauerhafter Frieden aussehen sollte. Aus dem Krieg, der, wie oben zitiert, alle Kriege beenden sollte, war für viele ein Friedensschluss geworden, der wahren Frieden gerade unmöglich machte.7

Im Rückblick kam es bei der Pariser Friedenskonferenz nur zu einem Kompromiss – einem Kompromiss „zwischen enttäuschten Siegern und nicht zwischen Siegern und Besiegten“ (Leonhard 2014, S. 967). Die Ordnung selbst war damit kaum konsolidiert, die Verantwortung für eine permanente Fortsetzung von Friedensprozessen blieb. Unter den Bedingungen fortgesetzter Großmachtpolitik, weltwirtschaftlicher Rivalitäten und sich voll entfaltender Globalisierung sowie stärker denn je ideologisch aufgeladener Gegensätze wurden die Staaten dieser Verantwortung nur ansatzweise gerecht. Es ist gleichwohl erstaunlich, wieviele Regelungen, ob temporär pazifizierend oder neue Konflikte schaffend, die Friedensmacher damals zustande brachten.

Anmerkungen

1) Eine gute Auflistung der unterschiedlichen Deutungen findet sich unter en.wikipedia.org/wiki/Great_fire_of_Smyrna (10.10.2018).

2) Der Antrag forderte „allen fremden Staatsbürgern von Mitgliedschaften des Völkerbundes in jeder Hinsicht gleiche und gerechte Behandlung zukommen zu lassen, keine Unterscheidung, sei es durch Gesetze oder in der Realität, zu machen, was ihre Rasse oder Nationalität betrifft“; siehe dazu Shimazu 2002; Lissner 2014; Lauren 2003.

3) Die für den Herbst 2018 in Deutschland erschienenen umfängliche Monographien von Eckart Conze, Gerd Krumeich, Jörn Leonhard und Klaus Schwabe sind nach Abfassung dieses Beitrags erschienen. Bereits im Sommer 2018 erschien Payk 2018.

4) Siehe ausstellung-frieden.de; zur Ausstellung wurde ein mehrbändiger Katalog vorgelegt.

5) Auch vor den Neuerscheinungen Herbst 2018 zum Rahmen: Leonhard, J. (2014): Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkrieges, München: C. H. Beck, S. 894-938; Krumeich, G. (2001): Versailles. Ziele – Wirkung – Wahrnehmung. Essen: Klartext.

6) Ziebura (1984) unterschied demgemäß nur leicht überspitzt ein Versailler und ein Washingtoner System.

7) In Anlehnung an den auf den Nahen Osten gemünzten Titel »A Peace to End all Peace« von Fromkin (2009).

Literatur

Afflerbach, H. (2018): Auf des Messers Schneide – Wie das Deutsche Reich den Ersten Weltkrieg verlor. München: C.H. Beck.

Berg, M. (2005): The Ticket to Freedom – Die NAACP und das Wahlrecht der Afro-Amerikaner. Frankfurt/M.: Campus.

Conze, E. (2018), Die große Illusion. Versailles 1919 und die Neuordnung der Welt, München: Siedler.

Dülffer, J (2002): Frieden schließen nach einem Weltkrieg? Die mentale Verlängerung der Kriegssituation in den Friedensschluß. In: Dülffer, j.; Krumeich, G. (Hrsg.): Der Verlorene Frieden – Politik und Kriegskultur nach 1918. Essen: Klartext, S. 19-38.

Dülffer, J. (2011): Die Diskussion um das Selbstbestimmungsrecht und die Friedensregelungen nach den Weltkriegen des 20. Jahrhunderts. In: Fisch, J. (Hrsg.): Die Verteilung der Welt – Selbstbestimmung und das Selbstbestimmungsrecht der Völker. München: Oldenbourg, S. 113-140.

Dülffer, J. (2017): German Research on the First World War in a Centenary Perspective. Ventunesimo Secolo, No. 41, S. 38-57.

Fisch, J. (2010): Das Selbstbestimmungsrecht der Völker – Die Domestizierung einer Illusion. München: Oldenbourg.

Fischer, F. (1961): Griff nach der Weltmacht – Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/18. Düsseldorf: Droste.

Fromkin, D. (2009): A Peace to End all Peace – The Fall of the Ottoman Empire and the Creation of the Modern Middle East. London: Macmillan.

Gerwarth, R. (2017): Die Besiegten – Das blutige Erbe des Ersten Weltkrieges, München: Siedler, S. 11-14.

Hull, I.V. (2014): A Scrap of Paper – Breaking and Making International Law during the Great War. Ithaca: Cornell Univeristy Press.

Immig, N. (2001): Die Smyrna-Frage in der internationalen Politik 1919-1923. Magister-Arbeit an der Univeristät Köln.

Krumeich, G. (2017): Der Dolchstoß war nicht bloß eine Legende. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.7.2017, S. 13.

Krumeich, G. (2018), Die unbewältigte Niederlage. Das Träuma des Ersten Weltkrieges und die Weimarer Republik. Freiburg: Herder

Kulke, H.; Rothermund, D. (2018): Geschichte Indiens. München: C. H. Beck.

Lauren, P. G. (2003): The Evolution of International Human Rights – Visions Seen. Philadelphia: University of Pennsylvania Press, S. 97-102.

Leonhard, J.(2018), Der überforderte Frieden. Versailles und die Welt 1918-1923, München: C.H. Beck.

Lissner, S. (2014): Menschenrechte auf der Pariser Konferenz 1919 – Universalistisches »Menschenrasserecht«? Bucerius Law Journal, 2/2014, S. 98-103.

Manela, E. (2007): The Wilsonian Moment – Self-Determination and the International Origins of Anticolonial Nationalism. Oxford/New York: Oxford University Press.

Mazower, M (2009), No Enchanted Peace – The End of Empire and the Ideological Origins of the United Nations. Princeton und Oxford: Princeton University Press.

Milton, Giles (2008): Paradise Lost – Smyrna 1922. London: Hodder & Stoughton.

Niedhart, G. (1989): Internationale Beziehungen 1917-1947. Paderborn: Schöningh.

Niedhart, G. (2006): Die Außenpolitik der Weimarer Republik. München: Oldenbourg.

Payk, M. (2018): Frieden durch Recht? Der Aufstieg des modernen Völkerrechts und der Friedensschluss nach dem Ersten Weltkrieg. München: de Gruyter.

Pedersen, S. (2014): The Guardians – The League of Nations and the Crisis of Empire. Oxford/New York: Oxford University Press.

Platthaus, A. (2018a): Demütigung als Prinzip. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.2.2018.

Platthaus, A. (2018b): „1918“ – Aufstand für die Freiheit. Die Revolution der Besonnenen. München: Piper.

Roshwald, A. (2000): Ethnic Nationalism and the Fall of Empires – Central Europe, the Middle East and Russia, 1914-23. London: Routledge.

Schwabe, K. (2018), Versailles. Das Wagnis eines demokratischen Friedens, Paderborn: Schöningh (angekündigt für November)

Shimazu, N. (2002): Japan, race and equality – The racial equality proposal of 1919. London: Routledge, S. 164-166.

Tooze, A. (2014), Sintflut. Die Neuordnung der Welt 1916-1931, München: Siedler

Wells, H.G. (1914): The War that Will End War. London: Frank & Cecil Palmer.

Ziebura, G.(1984): Weltwirtschaft und Weltpolitik 1922/24-1931 – Zwischen Rekonstruktion und Zusammenbruch. Frankfurt: Suhrkamp.

Professor Dr. Jost Dülffer lehrt Mittlere und Neuere Geschichte am Historischen Institut der Unversität zu Köln.

1618 – 1648 – 2018


1618 – 1648 – 2018

Zur Aktualität des Dreißigjährigen Krieges und des Westfälischen Friedens

von Michael Rohrschneider

Am 23. Mai 2018 jährte sich zum 400. Mal der berühmte Prager Fenstersturz, der den Auftakt des Dreißigjährigen Krieges (1618-1648) markierte. Die aktuellen Diskussionen in Wissenschaft und breiterer Öffentlichkeit über dieses bedeutende Ereignis gehen oftmals einher mit der Frage, ob und inwiefern man aus dem »Großen Krieg« und dem Westfälischen Frieden (24. Oktober 1648) im Hinblick auf die gegenwärtigen Konflikte im Nahen und Mittleren Osten etwas lernen könne. Der Autor führt in die Geschichte der Jahre 1618 bis 1648 ein und zeigt auf, dass die Erforschung von Krieg und Frieden im 17. Jahrhundert durchaus Potenziale bietet, um aktuelle Konfliktlagen besser verstehen zu können.

Am 23. Mai 1618 ereignete sich in Prag etwas Außergewöhnliches. Eine Abordnung der protestantischen böhmischen Stände drang in die königliche Burg auf dem Hradschin und warf die beiden katholischen Statthalter Martinitz und Slawata sowie deren Sekretär Fabricius aus dem Fenster. Die drei »Defenestrierten« überlebten den Sturz aus großer Höhe. Die katholische Seite führte dies auf das rettende Eingreifen der Gottesmutter Maria zurück, wohingegen die protestantische Propa­ganda vermeldete, sie hätten überlebt, weil sie auf einem Misthaufen gelandet seien.

Anlass dieses spektakulären „Mordanschlag[s] auf Mitglieder der kaiserlichen Regierung“ (Gotthard 2016, S. 77) war die Zuspitzung konfessionspolitischer Differenzen zwischen den protestantischen Ständen und ihrem katholischen Landesherren, dem Habsburger Ferdi­nand von Innerösterreich, der 1617 König von Böhmen geworden war. Hinter diesen konfessionellen Spannungen stand jedoch die viel ältere und grundsätzlichere Frage der politischen Machtverteilung zwischen der Krone und den böhmischen Oberschichten, die nun gewaltsam ausgetragen wurde (Repgen 1998, S. 292). Die explosive Mischung aus konfessionellen und politischen Konflikten entfesselte einen dreißig lange Jahre währenden Krieg, der katastrophale Folgen hatte und erst nach mehrjährigen Friedensverhandlungen 1648 auf einem multilateralen „Kongress der Superlative“ (Kampmann 2008, S. 152) in Münster und Osnabrück zu großen Teilen beendet werden konnte.

Worum ging es im Dreißigjährigen Krieg?

Versucht man, den verworrenen Kriegsverlauf der Jahre 1618 bis 1648 zu strukturieren, dann lassen sich folgende generelle Aspekte hervorheben: Einerseits war der Dreißigjährige Krieg ein »teutscher« Krieg. Das Heilige Römische Reich deutscher Nation war Hauptkriegsschauplatz, und zahlreiche Konflikte in wichtigen Fragen der deutschen Reichsverfassung wurden damals mit großer Erbitterung ausgetragen: Sollte sich das Reich zu einer eher zentralisierten Monarchie mit dem Kaiser als entscheidendem Machtfaktor entwickeln oder zu einem tendenziell föderalen Verband von vergleichsweise selbständig agierenden Gliedern? Und wie würden sich zukünftig die Beziehungen zwischen den Konfessionen in politischer und verfassungsrechtlicher Hinsicht gestalten, wenn beispielsweise auf den Reichstagen konfessionelle Streitfragen beraten und entschieden würden?

Das war aber nur die eine Seite der Medaille. Denn das Ringen um die Verfasstheit des »teutschen« Reiches war unauflöslich mit Konflikten zwischen den europäischen Mächten verwoben. Insbesondere die Konkurrenz um die Vorherrschaft in Europa zwischen den österreichischen und spanischen Habsburgern einerseits und dem aufstrebenden Frankreich andererseits war hierbei von außerordentlicher Bedeutung. Auch die Auseinandersetzungen in Nordosteuropa um die Vorherrschaft in dieser Region spielte mit in das Geschehen hinein. Zudem überschattete die immer wieder greifbare Gefahr eines neuerlichen Krieges gegen das Osmanische Reich die Politik der europäischen Höfe wie ein Damoklesschwert. Nahezu ganz Europa war somit betroffen, nicht nur das Heilige Römische Reich. Dass der Dreißigjährige Krieg so außerordentlich lange währte, hängt zweifellos mit dieser doppelten Problematik zusammen: Einerseits war er ein »teutscher« Krieg, andererseits manifestierten sich in jenen Jahren tief verwurzelte Konflikte zwischen den in Entstehung begriffenen frühmodernen »Staaten« Europas. Beides lässt sich nicht trennscharf differenzieren.

Den Versuch, die komplexen und wechselnden Kriegsabläufe mit ihren zahllosen Schlachten und Feldzügen kurz und knapp darzustellen, sollte man erst gar nicht unternehmen. Zu disparat war das langjährige Kriegsgeschehen, als dass man es mit wenigen Worten umreißen könnte. Einen guten Zugang zum Gesamtverlauf des Krieges ermöglicht jedoch folgende Beobachtung: Immer dann, wenn die Habsburger (Spanien und der Kaiser) militärisch eindeutig zu dominieren drohten, trat eine neue auswärtige Macht offen auf antihabsburgischer Seite in den Krieg ein (1625 Dänemark, 1630 Schweden und 1635 Frankreich). Am Ende des sehr wechselhaften dreißigjährigen Ringens wurde schließlich eine Friedensordnung vereinbart, die Europa erklärtermaßen einen christlichen, allgemeinen und ewigen Frieden bringen sollte (»Pax sit christiana, universalis et perpetua«).

Die drei Friedensschlüsse des Jahres 1648

Nach langjährigen Verhandlungen in den beiden Kongressstädten Münster und Osnabrück wurden im Jahr 1648 drei Friedensverträge unterzeichnet. Zunächst erfolgte am 30. Januar die Unterzeichnung des spanisch-niederländischen Sonderfriedens von Münster. Dieser Friedensschluss setzte dem so genannten Achtzigjährigen Krieg (1568-1648) ein Ende. König Philipp IV. von Spanien erkannte nun die aus einem Aufstand gegen das spanische Mutterland hervorgegangene Republik der Vereinigten Niederlande als völkerrechtlich unabhängigen und souveränen Staat an (Poelhekke 1948).

Von diesem Separatfriedensschluss, der für die Entstehung des heutigen niederländischen Staates einen wichtigen Markstein darstellt, ist der Friedensschluss vom 24. Oktober 1648 strikt zu unterscheiden, für den sich die Bezeichnung »Westfälischer Frieden« eingebürgert hat. Bei diesem Frieden handelt es sich um zwei Teilfriedensschlüsse, die vertragsrechtlich gesehen allerdings eine Einheit bilden: Der Kaiser schloss – unter Hinzuziehung der Reichsstände – zum einen mit dem König von Frankreich und zum anderen mit der Königin von Schweden Frieden. Geregelt werden sollten mit diesem Friedensschluss sowohl zahlreiche Streitpunkte der internationalen Beziehungen als auch die politischen, konfessionellen, wirtschaftlichen und verfassungsrechtlichen Probleme im Heiligen Römischen Reich.

Ein weiterer Krieg konnte auf dem Westfälischen Friedenskongress allerdings nicht beendet werden. Die seit 1635 währende militärische Auseinandersetzung zwischen Frankreich und Spanien wurde, trotz intensiver Verhandlungen in Münster, noch elf weitere Jahre bis zum so genannten Pyrenäenfrieden (7. November 1659) fortgesetzt. Insofern war das ursprüngliche Ziel des Westfälischen Friedenskongresses 1648 gescheitert: die Schaffung eines allgemeinen Friedens der Christenheit (Rohrschneider 2007).

Der Westfälische Frieden ist zweifellos der am besten erforschte Friedensschluss der gesamten Frühen Neuzeit (ca. 1500-1800). Dies hängt unmittelbar damit zusammen, dass Forscher*innen für diesen Friedensschluss auf eine herausragende Materialgrundlage zurückgreifen können. Allein im Rahmen der historisch-kritischen Edition der inzwischen am Zentrum für Historische Friedensforschung der Universität Bonn angesiedelten »Acta Pacis Westphalicae« (APW) sind bis heute 48 stattliche Bände erschienen, dazu ein elektronisches Supplement. 40 Bände der »Acta Pacis« liegen seit einiger Zeit zudem auch digital vor und können jederzeit kostenlos abgerufen werden (»APW digital«). Die Historische Friedens- und Konfliktforschung hat von dieser wegweisenden Aktenedition in den vergangenen Jahrzehnten ungemein profitiert (Lanzinner 2014).

400 Jahre nach dem Prager Fenstersturz

Der 400. Jahrestag des Prager Fenstersturzes fand in Wissenschaft und Öffentlichkeit große Aufmerksamkeit. Zahlreiche wissenschaftliche und populärwissenschaftliche Publikationen erschienen zu diesem Anlass, Funk und Fernsehen berichteten ausführlich, und im Internet wurde fleißig gebloggt. Das Jahr 2018 wird allerdings noch mit einem komplementären Gedenktag aufwarten: Am 24. Oktober jährt sich zum 370. Mal die Unterzeichnung des Westfälischen Friedens, der zuletzt im Jahre 1998 mit einem großen Jubiläum bedacht wurde, an dem sich u.a. zahlreiche europäische Staatsoberhäupter persönlich beteiligten. Die Bedeutung der beiden Jahreszahlen 1618 und 1648 ist evident. Sie sind als Chiffren frühneuzeitlicher Bellizität einerseits und Friedensfähigkeit andererseits nicht nur feste Bestandteile der Geschichtswissenschaft, sondern als »Lieux de Mémoire« zweifellos Marksteine im kollektiven deutschen und europäischen Gedächtnis.“ (Rohrschneider/Tischer 2018, S. 2) Zwar ist nicht ansatzweise zu erwarten, dass die mediale Aufmerksamkeit zum »kleinen« Jubiläum des Westfälischen Friedens so groß sein wird wie der »runde« Jahrestag des Prager Fenstersturzes. Gleichwohl zeigen bereits die zum Gedenkjahr 2018 publizierten Monographien, Sammelbände und Aufsätze, dass die gegenwärtige wissenschaftliche Diskussion über den Dreißigjährigen Krieg und den Westfälischen Frieden an einem Thema kaum vorbeikommt: der Frage nach der Aktualität der Beschäftigung mit dem Geschehen der Jahre 1618 bis 1648.

Die Geschichte als »Lehrmeisterin des Lebens«?

Historiker*innen streiten gerne über die Frage, ob und inwiefern der auf Cicero zurückgehende Topos von der Geschichte als »Lehrmeisterin des Lebens« (»historia magistra vitae«) seine Berechtigung hat (Koselleck 2000). Immer wieder wird in diesem Zusammenhang mit guten Gründen auf das dringende Erfordernis verwiesen, bei Vergleichen zwischen vergangenen und gegenwärtigen Phänomenen mit außerordentlicher Behutsamkeit vorzugehen. Vor vorschnellen Analogieschlüssen, unreflektierten Gleichsetzungen und anachronistischen Parallelisierungen wird sehr zu Recht nachdrücklich gewarnt. Andererseits ermöglichen gerade Vergleiche und Analogien – je nach Untersuchungsgegenstand – erhebliche Erkenntnisgewinne, denkt man etwa an die reizvollen Gedankenspiele kontrafaktischer (der Realität widersprechender) Geschichtsschreibung (Evans 2014).

In der aktuellen wissenschaftlichen Diskussion über den Dreißigjährigen Krieg und den Westfälischen Frieden findet man im Hinblick auf diese Problematik bemerkenswerte Diskrepanzen. Drei Beispiele hierfür seien genannt. So liest man in der 2017 erschienenen Gesamtdarstellung des Dreißigjährigen Krieges aus der Feder des Politologen Herfried Münkler folgende Einschätzung: „Es scheint also, als könne man aus der Westfälischen Ordnung nichts mehr lernen. Dafür aber lässt sich umso mehr aus dem Dreißigjährigen Krieg lernen, dessen Formen der Kriegführung im großen Stil in die Praxis der Kriege zurückgekehrt sind.“ (Münkler 2017, S. 817-818) In Georg Schmidts neuer Geschichte des Dreißigjährigen Krieges heißt es dagegen: „Die Lektüre des Westfälischen Friedensvertrages vermittelt vor allem die Einsicht, dass Alternativen zu den üblichen Wegen eine Lösung sein können.“ (Schmidt 2018, S. 694) Und die jüngste Monographie Johannes Burkhardts endet mit dem pointierten Schlusssatz: „Der Krieg der Kriege konnte […] schließlich doch beendet werden, und wer schon weiß, wie das möglich war, könnte es in vergleichbaren Fällen vielleicht schneller schaffen.“ (Burkhardt 2018, S. 265) Ein von der Universität Cambridge (»Forum on Geopolitics«) und der Körber-Stiftung betriebenes Forschungsprojekt widmet sich genau dieser so kontrovers diskutierten Frage nach der Anwendbarkeit des Westfälischen Friedens auf die heutige Zeit (von Hammerstein/Milton 2018).

Dieser fachwissenschaftliche Diskurs ist insofern von außerordentlicher Relevanz, als vonseiten der Politik derzeit explizit nach dem Potenzial gefragt wird, das die Erforschung des Dreißigjährigen Krieges und des Westfälischen Friedens für die Konfliktlagen der gegenwärtigen Staatenwelt bereithält. Die bekanntesten Beispiele hierfür sind die beiden Reden, die Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier noch während seiner Amtszeit als Außenminister im Jahr 2016 hielt (Steinmeier 2016a; Steinmeier 2016b). Steinmeier gab ausdrücklich die Frage zu bedenken, ob man nicht aus dem Westfälischen Frieden etwas zur Lösung des Syrien-Krieges lernen könne. Kann es also einen – wie auch immer gearteten – »Westfälischen Frieden« für den Mittleren Osten geben?

Je länger der Krieg in Syrien dauert, umso deutlicher werden strukturelle Ähnlichkeiten zwischen der aktuellen dortigen Lage und dem Dreißigjährigen Krieg. Dies fordert Fragen nach Parallelen und Analogien förmlich heraus. Drei Aspekte treten hierbei besonders in den Vordergrund: Sowohl der Dreißigjährige Krieg als auch der gegenwärtige Krieg in Syrien waren bzw. sind (1.) asymmetrische Konflikte. Es handelt sich hierbei nicht um »klassische« Staatenkonflikte, bei denen fest institutionalisierte und zentral organisierte Staaten gegeneinander Krieg führen, sondern um Auseinandersetzungen, die in hohem Maße durch die Konfrontation rebellierender und/oder nichtstaatlicher Akteure mit der Landesherrschaft respektive dem amtierenden Machthaber geprägt waren bzw. sind.

Ferner ist (2.) auf die außerordentliche Bedeutung des Faktors Religion hinzuweisen. Die für uns Westeuropäer heutzutage selbstverständliche Trennung von Staat und Kirche bzw. Politik und Religion kann für das 17. Jahrhundert (noch) keine Gültigkeit beanspruchen. So war es für frühneuzeitliche Herrscher vollkommen klar, dass sie sich als gläubige Christen nicht nur um ihr eigenes Seelenheil, sondern auch um das ihrer Untertanen zu sorgen hatten. Die Parallelen zum Nahen und Mittleren Osten liegen auf der Hand, denn auch dort ist die Gemengelage durch die enge Verflechtung von politischen und religiösen Interessen gekennzeichnet.

Schließlich ist (3.) auf die – mehr oder weniger offene – Einmischung auswärtiger Mächte in den Dreißigjährigen Krieg und den Krieg in Syrien aufmerksam zu machen. Allerdings wird in diesem Zusammenhang auch ein substanzieller Unterschied deutlich: Während der Syrienkonflikt auch und gerade Züge eines Stellvertreterkriegs trägt, verhielt es sich im Dreißigjährigen Krieg anders. Alle damals kriegführenden Parteien hatten konkrete Eigeninteressen und agierten nicht primär als Marionetten anderer Mächte. Das konnte zwar in der Sache durchaus auch vorkommen; ein solches Vorgehen war aber keineswegs ein Strukturprinzip.

Was können wir aus dem Westfälischen Frieden lernen?

Mögliche Analogien und Vergleiche zwischen den Verhältnissen der Jahre 1648 und 2018 liefern keine tagespolitisch konkret nutzbaren Handlungsanweisungen. Ein Beispiel dafür ist die so genannte »Normaljahrsregel«, die im Westfälischen Frieden zur Beilegung der konfessionellen Konflikte etabliert wurde. Derzufolge markierte ein Stichdatum (1. Januar 1624) den Status quo des religiösen Besitzstands: Was an diesem Tag katholisch war, sollte katholisch, was protestantisch war, sollte protestantisch bleiben – allerdings mit zahlreichen Ausnahmen, die friedensvertraglich festgeschrieben wurden (Fuchs 2010). Könnte eine solche Regelung ein Vorbild für die Lösung gegenwärtiger Konflikte sein? Nein, sicher nicht! Dennoch können wir aus dem Prinzip des Normaljahrs etwas lernen. Denn wie verfuhren die Väter des Westfälischen Friedens in diesem höchst umstrittenen Verhandlungspunkt? Sie transferierten einen religiös-theologischen Konflikt auf eine politische Ebene und klammerten dabei die religiöse Wahrheitsfrage komplett aus, denn man konnte und wollte offenbar nicht entscheiden, wer theologisch gesehen Recht hat und wer nicht: Katholiken, Lutheraner oder Calvinisten? Und das war die entscheidende Voraussetzung dafür, dass es am Ende doch noch gelang, den gordischen Knoten der konfessionellen Auseinandersetzungen zu durchtrennen, nämlich mittels der Konstituierung einer politischen Lösung für ein religiös-konfessionelles Problem. Eine solche Vorgehensweise wäre sicherlich eine denkbare Option, um in Syrien Verständigungsfortschritte zu erreichen.

Darüber hinaus kann man anhand des Westfälischen Friedens lernen, welche Verhandlungsinstrumente in der Vergangenheit mit Erfolg angewendet wurden und welche Schwierigkeiten damit üblicherweise einhergehen. So zeigen etwa die westfälischen Friedensverhandlungen eindrücklich die Möglichkeiten und Grenzen von institutionalisierter Friedensvermittlung auf, die damals vom päpstlichen Legaten und dem venezianischen Botschafter geleistet wurde. Eine Lehre ist aus der Geschichte jedenfalls ganz klar zu ziehen: Friedensvermittlung ist kein Allheilmittel. Es kommt stets sehr auf die Unparteilichkeit und individuellen Fähigkeiten der Mediatoren an. Aber selbst noch so gute Vermittler können einen Friedensschluss nicht herbeizaubern, zumal wenn die Rahmenbedingungen für erfolgreiche Verhandlungen nicht gegeben sind.

Ein weiterer Gesichtspunkt hängt mit der Verhandlungstechnik der Mediation eng zusammen: Wie verfährt man, wenn die Konfliktparteien gar nicht bereit sind, sich mit dem Kontrahenten an einen Verhandlungstisch zu setzen? Man schafft zwei Verhandlungsorte! Der Friedenskongress von Münster und Osnabrück zeigt, dass ein solches Prozedere in der Vergangenheit mit Erfolg umgesetzt werden konnte – obwohl die beiden westfälischen Städte damals kommunikationstechnisch gesehen eine Tagesreise auseinanderlagen. Gerade angesichts moderner Kommunikationsmittel sollten getrennte Verhandlungsorte eigentlich kein Problem sein.

Auch eine internationale Garantie der Einhaltung des für Syrien zu schließenden Friedens ist sicherlich unerlässlich, wie schwierig dies im Einzelnen auch sein mag. Und warum nicht nach dem Vorbild des Westfälischen Friedens? Das hieße dann, dass alle Signatarmächte den Frieden garantieren, sodass das Friedensabkommen auf einem breiten, soliden Fundament gründen könnte.

Bei aller gebotenen Zurückhaltung gegenüber der Bedeutung, die dem Prinzip der Geschichte als »Lehrmeisterin des Lebens« in der konkreten politischen Praxis zukommt: Aus dem Dreißigjährigen Krieg und dem Westfälischen Frieden kann man durchaus etwas lernen – zwar nicht im Sinne von konkreten Handlungsanweisungen, aber die Historische Friedens- und Konfliktforschung kann zweifellos dabei helfen, Strukturen gewaltsamer Konflikte anhand einer Analyse von historischen Phänomenen mit größerer Tiefenschärfe zu verstehen und somit auf Grundlage gesicherten Wissens Orientierung zu vermitteln. Gerade in einer Zeit, in der »Fake News« zu einem langfristigen Strukturproblem avancieren, ist dies wichtiger denn je.

Literatur

APW digital; apw.digitale-sammlungen.de.

Burkhardt, J. (2018): Der Krieg der Kriege – Eine neue Geschichte des Dreißigjährigen Krieges. Stuttgart: Klett-Cotta.

Evans, R.J. (2014): Veränderte Vergangenheiten – Über kontrafaktisches Erzählen in der Geschichte. München: DVA.

Fuchs, R.-P. (2010): Ein »Medium zum Frieden« – Die Normaljahrsregel und die Beendigung des Dreißigjährigen Krieges. München: Oldenbourg.

Gotthard, A. (2016): Der Dreißigjährige Krieg – Eine Einführung. Köln [u.a.]: Böhlau.

Hammerstein, E. von; Milton, P. (2018): Von Münster nach Damaskus – Für Syrien und Irak bietet der Westfälische Frieden hilfreiche Erkenntnisse. Internationale Politik, 1-2018 (Januar/Februar), S. 75-79.

Kampmann, Ch. (2008): Europa und das Reich im Dreißigjährigen Krieg – Geschichte eines europäischen Konflikts. Stuttgart: Kohlhammer.

Koselleck, R. (2000): Historia Magistra VitaeÜber die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte. In: Koselleck, R.: Vergangene Zukunft – Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 4. Aufl., S. 38-66.

Lanzinner, M. (2014): Das Editionsprojekt der Acta Pacis Westphalicae. Historische Zeitschrift, Vol. 298, Nr. 1, S. 29-60.

Münkler, H. (2017): Der Dreißigjährige Krieg – Europäische Katastrophe, deutsches Trauma 1618-1648. Berlin: Rowohlt.

Poelhekke, J.J. (1948): De vrede van Munster. Den Haag: Nijhoff.

Repgen, K. (1998): Dreißigjähriger Krieg. Wiederabdruck in: Repgen, K.: Dreißigjähriger Krieg und Westfälischer Friede – Studien und Quellen. Paderborn [u.a.]: Schöningh, S. 291-318.

Rohrschneider, M.: (2007): Der gescheiterte Frieden von Münster – Spaniens Ringen mit Frankreich auf dem Westfälischen Friedenskongress (1643-1649). Münster: Aschendorff.

Rohrschneider, M.; Tischer, A. (2018): Dreißigjähriger Krieg und historischer Wandel – Einführende Überlegungen. In: Rohrschneider, M.; Tischer, A. (Hrsg.): Dynamik durch Gewalt? Der Dreißigjährige Krieg (1618-1648) als Faktor der Wandlungsprozesse des 17. Jahrhunderts. Münster: Aschendorff, S. 1-10.

Schmidt, G. (2018): Die Reiter der Apokalypse – Geschichte des Dreißigjährigen Krieges. München: C.H.Beck.

Steinmeier, F.-W. (2016a): Der Westfälische Frieden als Denkmodell für den Mittleren Osten – Rede bei den Osnabrücker Friedensgesprächen (12. Juli 2016); auswaertiges-amt.de.

Steinmeier, F.-W. (2016b): Rede zur Eröffnung des 51. Deutschen Historikertages (20. September 2016); auswaertiges-amt.de.

Michael Rohrschneider ist Professor für Geschichte der Frühen Neuzeit und Rheinische Landesgeschichte sowie Leiter des Zentrums für Historische Friedensforschung der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.

Historisches Vorbild


Historisches Vorbild

Bertha von Suttner und die Frauen für Frieden

von Anne Bieschke

Wichtiger Bestandteil der Bewegungsarbeit der Friedensfrauen war immer auch die Erarbeitung und Bewusstmachung der eigenen Geschichte. Sie stellen sich in die Tradition früherer Aktivistinnen und Bewegungen und knüpfen an sie an. So werden die historischen Vorläuferinnen zu wichtigen Bestandteilen der eigenen Identität. Selbst ohne personelle oder strukturelle Kontinuitäten gelingt dies vor allem anhand der Themen und Argumente, durch ähnliche Aktionsformen, die Übernahme von Ritualen oder Feiertagen und das Gedenken an berühmte Frauen, die sich um den Frieden verdient gemacht hatten. Bertha von Suttner ist hierbei wohl die hervorragendste Persönlichkeit.

Die Frauenfriedensbewegung kann inzwischen auf eine etwa 150-jährige Geschichte zurückblicken, die teils von Kriegen unterbrochen wurde, teils Zeiten der Latenz erfuhr, ohne jedoch ganz abzubrechen. Auch für sie gilt die Erkenntnis: „Kaum ein Thema gegenwärtiger sozialer Bewegungen ist wirklich neu. […] Rückblickend ist festzustellen, dass soziale Bewegungen ihre Geschichte und Vorgeschichte immer wieder aufs Neue entdecken und in gewisser Weise »erfinden«.“ (Roth 2008, S. 21) Das Geschlecht ist für die Frauenfriedensbewegung dabei das wichtigste verbindende Element und ausschlaggebend für das Gefühl einer Zusammengehörigkeit über Generationen hinweg. Daneben fungieren »Vorfahrinnen« der Frauenfriedensbewegung bis heute als wichtige Vorbilder und als Quellen des Empowerment auf emotionaler Ebene. Es ist möglich, aus der Geschichte Mut zu schöpfen, die eigene Argumentation zu prüfen und von den früheren Theoretikerinnen zu lernen oder gegebenenfalls deren Fehler und Misserfolge zu reflektieren.1

Die Erarbeitung der eigenen Geschichte durch die Frauenfriedensbewegung wirkt jedoch nicht nur nach innen. Nach außen sind Aktionen, die Bezug auf die Geschichte und auf in der breiten Öffentlichkeit bekannte Personen nehmen, ein Mittel, die Sichtbarkeit und die Wirksamkeit der eigenen Aktionen zu erhöhen. Der Geschichtswissenschaft geben genau diese Aneignungen der eigenen Geschichte Auskunft über die innere Verfasstheit und das Selbstverständnis der Frauenfriedensbewegung.

Wohl am häufigsten wurde und wird, wenn es um weibliches Friedensengagement geht, Bezug genommen auf Leben und Werk Bertha von Suttners. Bertha von Suttner, österreichische Pazifistin, geboren 1843, erarbeitete in ihren Schriften nicht nur Grundlagen des (weiblichen) Friedensengagements, sondern war auch Mitbegründerin der Österreichischen Gesellschaft der Friedensfreunde (1891) und der Deutschen Friedensgesellschaft (1892). Vor allem durch ihren Roman »Die Waffen nieder!« ist Bertha von Suttner vielen ein Begriff. Der Roman, den sie im Jahr 1889 zunächst in kleiner Auflage veröffentlichte, wurde eines der erfolgreichsten Antikriegsbücher seiner Zeit. 1905 erhielt sie als erste Frau den Friedensnobelpreis – eine Auszeichnung, zu der sie selbst einige Jahre zuvor Alfred Nobel angeregt hatte. Für viele Friedensfrauen ist sie ein Vorbild, weil sie sich dezidiert als Frau für den Frieden einsetzte und dies in einer Zeit, in der die Handlungsspielräume von Frauen im »öffentlichen Raum« sehr begrenzt waren (Hausen 1976).

Die »Westdeutsche Frauenfriedensbewegung«

In den 1950er Jahren wurde Bertha von Suttner zum ersten Mal dezidiert als historisches Vorbild rezipiert, und zwar durch die 1951 gegründete Westdeutsche Frauenfriedensbewegung (WFFB). Zeit ihres Bestehens zeigte die WFFB sich geschichtsbewusst und stellte sich ausdrücklich in die Tradition Bertha von Suttners (Notz 2015) und der alten Frauenbewegung, wie die beiden Mitbegründerinnen Ingeborg Küster und Elly Steinmann betonten: „Durch die Westdeutsche Frauenbewegung ist die deutsche Frauenbewegung fortgeführt worden, die Tradition jener Frauen, die zu ihrer Zeit bereit gewesen sind, unter schwierigen Bedingungen das Notwendige zu tun.“ (Küster/Steinmann 1990, S. 233)

Die Frauen gaben sich das Motto „Wir sind Hüterinnen, Wachen ist unser Auftrag, unser Amt ist der Friede“ (Faßbinder 1956, S. 3), das den besonderen Bezug des weiblichen Geschlechtes zum Frieden, aber auch zur Wahrung von Traditionen hervorhob.

Ihre Hauptziele waren die Verhinderung der Wiederbewaffnung der Bundesrepublik und deren Einbindung in ein westliches Militär- oder Verteidigungsbündnis. Daneben setzten sich die Frauen auch für eine Verbesserung der Beziehungen zur DDR ein. 1952 protestierten etwa 1.600 Frauen in Bonn gegen den Deutschlandvertrag, 1954 demonstrierten sie gegen die allgemeine Wehrpflicht, 1955 gegen die Pariser Verträge und 1964 gegen eine multilaterale Atomstreitmacht – hierzu beteiligten sich ca. 700 Frauen der WFFB an einer Demonstration in Den Haag, einer der Wirkungsstätten von Bertha von Suttner. Ab Mitte der 1960er Jahre engagierte die WFFB sich vornehmlich gegen den Vietnamkrieg. Das Ende der WFFB wurde von der Aufgabe ihrer Frauenzeitschrift »Frau und Frieden« eingeläutet, die bis 1974 erschien (Küster/Steinmann 1990). Zu diesem Zeitpunkt ließen auch die übrigen Tätigkeiten der WFFB immer weiter nach und versiegten schließlich ganz.

Die Frauenfriedensbewegung der 1980er Jahre

Während die WFFB sich dezidiert in der Tradition der Vorgängerbewegung sah, war die Frauenfriedensbewegung der 1980er Jahre ein Kind der Neuen Frauenbewegung. Als Teil dieser sowie der Friedensbewegung verstand sie sich durchaus auch als eigenständige Bewegung, die gegen Aufrüstung (NATO-Doppelbeschluss) protestierte und sich für einen Frieden stark machte, der die Gleichberechtigung der Geschlechter einschließt.

Eine erste Welle des Protests und die Bildung neuer Frauengruppen lösten Ende der 1970er Jahre die u.a. von Verteidigungsminister Apel in den Raum gestellte Frage aus, ob Frauen auch zum Wehrdienst verpflichtet werden sollten. Die Diskussion blieb nicht auf die Frauen- und Frauenfriedensbewegung beschränkt, sondern wurde durchaus ein gesamtgesellschaftliches Thema. Zu Beginn der Debatte waren es vor allem Aktivistinnen der Initiative »Frauen in die Bundeswehr? Wir sagen Nein!«, gegründet im Mai 1979, die mit Demonstrationen und so genannten »Verweigerungsaktionen« an die Öffentlichkeit traten. Die Frauen wurden aufgerufen, vorsorglich bei der zuständigen Behörde schriftlich jede Form des Kriegseinsatzes, von einem möglichen Wehrdienst bis hin zu medizinischen Hilfeleistungen, zu verweigern und gegen eine mögliche Frauenwehrpflicht zu protestieren.

Eine Internationalisierung der Frauenfriedensbewegung wurde mit dem im Februar 1980 in Dänemark initiierten Aufruf »Frauen für den Frieden« (zit. in Quistorp 1982, S. 20) ab Anfang der 1980er Jahre erreicht, in dem unter anderem Abrüstung und der Stopp des Wettrüstens zwischen den Supermächten USA und Sowjetunion gefordert wurden. Auch die westdeutschen Frauen beteiligten sich an der internationalen Unterschriftenaktion und begleitenden Aktionen.2

Einen Bezug zu ihren historischen Vorfahrinnen mussten sich die Aktivistinnen der 1980er Jahre oft erst erarbeiten, dann jedoch nutzten sie ihn umso expliziter für die Herstellung der eigenen Identität als Bewegung und für die Darstellung nach außen. Wie wichtig diese Traditionslinien auch für die »neue« Frauenfriedensbewegung waren, zeigt das Vorwort von Eva Quistorp zum Band »Frauen für den Frieden – Analysen, Dokumente und Aktionen aus der Frauenfriedensbewegung«:

„Viele Probleme, die heute aufgegriffen werden, waren bereits Themen früherer Frauenfriedensbewegungen. Ideen und Energien jener Bewegungen setzen sich bis heute fort – wenn auch oft unbewußt. […] »Frauen für Frieden« knüpfen an eine […] Tradition an – die Tradition einer Widerstand leistenden Minderheit von Pazifistinnen wie Bertha von Suttner, Lydia [sic!]Gustava Heymann und Virginia Woolf, von Kommunistinnen wie Clara Zetkin, libertären Anarchistinnen wie Emma Goldmann, Sozialistinnen wie Rosa Luxemburg, Christinnen wie Dorothy Day und Luise Rinser. Ohne diese Geschichte wäre die Stärke und Vielfalt der neuen Frauenfriedensbewegung kaum denkbar.“ (Quistorp 1982, S. 9)

Auch hier waren es oft Bertha von Suttner und ihr Werk, an die bei zahlreichen Aktionen erinnert wurde: Im März 1981 benannten Friedensfrauen in Berlin in einer ihrer Aktionen die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Bertha-von-Suttner-Gedächtniskirche um. Sie fanden Nachahmerinnen an vielen weiteren Orten, wobei die Frauen nicht nur Kirchen, sondern – wie zum Beispiel in Düsseldorf – auch Platz- oder Straßennamen veränderten (Balistier 1996). Die Berufung auf ein historisches Vorbild unterstrich die Legitimität der eigenen Ziele. Die Friedensfrauen zeigten sich selbst und der Öffentlichkeit, dass ihre Forderungen auch schon Jahrzehnte früher aktuell waren. Dabei war auch der Verweis auf vergangenes Scheitern Bestandteil der Aktion und diente als Warnung an sich selbst und an die Öffentlichkeit. Die Gewalterfahrungen und Konflikte des 19. und 20. Jahrhunderts seien schließlich auch eine Folge der Nichtbeachtung weiblichen Friedensengagements gewesen. Darum sei es nun an der neuen Generation Frauenfriedensbewegung, dafür zu sorgen, dass ihre Anliegen ernst genommen würden.

Frauen für den Frieden heute

Mit der Thematisierung von Krieg und Frieden bei der UN-Weltfrauenkonferenz in Peking (1995) und ihren nationalen Vorbereitungs- und Nachfolgekonferenzen hat sich das Engagement der Frauenfriedensorganisationen wieder stärker auf eine institutionalisierte Ebene verlagert. Getragen wird dies zum Beispiel von der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit (IFFF), gegründet 1915, die beratenden Status bei verschiedenen Gremien der Vereinten Nationen hat.3

Spätestens seit dem Jahr 2001 und der vom UN-Sicherheitsrat verabschiedeten Resolution 1325, »Frauen, Frieden und Sicherheit«, ist die besondere Betroffenheit von Frauen von Krieg und seinen Folgen, wie Flucht, Vertreibung und (sexuelle) Gewalt an Zivilist*innen, international anerkannt.4 Anerkannt ist ebenfalls, dass Frauen aufgrund dieser Betroffenheit auch an Friedensprozessen beteiligt sein müssen. Die Umsetzung der Resolution geht jedoch nur schleppend voran. Hier sind nun wieder Frauen gefragt, die sich engagieren, Gruppen gründen und aktiv werden, um auf nationaler und internationaler Ebene die Umsetzung der Resolution zu überwachen und einzufordern.

Ein weiteres Beispiel ist das Frauennetzwerk für Frieden e.V., das seit 1996 besteht und als zentralen Wert eine Friedenskultur anstrebt, die „die Realisierung von Gerechtigkeit, die insbesondere auch das Ende der Gewalt gegen Frauen und die Implementierung der Geschlechtergerechtigkeit für Frauen, Männer und Transgeschlechtlichkeiten einschließt“ (Frauennetzwerk für Frieden o.J.). Die Netzwerkorganisation FriedensFrauen Weltweit wiederum, die aus der Initiative »1000 Frauen für den Friedensnobelpreis« im Jahr 2003 hervorgegangen ist, hat es sich zur Aufgabe gemacht, „die Vernetzung zwischen Friedensstifterinnen zu stärken, ihre Arbeit mit praktischen Tools zu unterstützen und ihr Engagement sichtbar zu machen.“ (FriedensFrauen Weltweit o.J.)

Eines der wichtigsten solcher »Tools« ist der Hinweis auf die eigene Geschichtlichkeit. Die IFFF verweist auf ihrer Webseite dezidiert auf Bertha von Suttner und würdigt ihr Leben und Werk als einen wichtigen Beitrag weiblichen Friedensengagements. Ganz ähnlich wie die Frauenfriedensbewegung in den 1980er Jahren arbeitet das Frauennetzwerk für Frieden e.V. ganz praktisch mit der historischen Person Bertha von Suttner. Das Frauennetzwerk hatte jahrelang darauf hingewirkt, dass für Bertha von Suttner in Bonn ein Denkmal errichtet würde. Nach jahrelanger Öffentlichkeitsarbeit, Spendensammlungen und Überzeugungsarbeit gegenüber der Stadt Bonn ziert nun seit 2013 eine Stele der finnischen Künstlerin Sirpa Masalin den Bertha-von-Suttner-Platz in Bonn. 2016 gründete sich innerhalb des Frauennetzwerkes zusätzlich eine eigene »Bertha-AG«, die sich dem Andenken an von Suttner verschrieben hat und „den Geist Bertha von Suttners in Bonn präsent“ halten möchte (Frauennetzwerk für den Frieden o.J.).

Die Beispiele zeigen, wie wichtig die eigene Geschichte für das Selbstverständnis der Frauenfriedensbewegung und ganz allgemein für soziale Bewegungen ist. Die aktive Aneignung dieser Geschichte ist dabei ebenso wichtig wie ihre Verwendung als Vehikel für die eigenen Botschaften. Dabei muss bedacht werden, dass die Geschichtsarbeit sozialer Bewegungen stets selektiv ist und eben dazu dient, ein bestimmtes Bild von der eigenen Bewegung zu zeichnen. Die „Erfindung von Tradition“ kann die „Legitimation und das politische Gewicht der eigenen Mobilisierung verstärken“ (Roth/Rucht 2008, S. 21).

Anmerkungen

1) Vgl. zum Nutzen der Reflexion und Bewahrung der eigenen Geschichte für Neue Soziale Bewegungen, respektive der (neuen) Frauenbewegung, Wenzel 2013, S. 183.

2) Zur Geschichte der Frauenfriedensbewegung in der Bundesrepublik zu Beginn der 1980er Jahre ausführlich Bieschke 2018 (im Erscheinen).

3) Women’s International League for Peace and Freedom, WILPF; wilpf.org.

4) Zur Wirkung der Resolution 1325 vgl. Weiß (2016). Zur Resolution 1325 siehe außerdem die Artikel von Ruth Seifert und Heidi Meinzolt in diesem Heft.

Literatur

Balistier, T. (1996): Straßenprotest – Formen oppositioneller Politik in der Bundesrepublik Deutschland zwischen 1979 und 1989. Münster: Westfälisches Dampfboot.

Bieschke, A. (2018): Die unerhörte Friedensbewegung – Frauen, Krieg und Frieden in der Nuklearkrise (1979-1983). Essen: Klartext (im Erscheinen).

Faßbinder, K.M. (1956): Fünf Jahre Velbert. Frau und Frieden Nr. 10, S. 3.

Frauennetzwerk für Frieden e.V. (o.J.); ­frauennetzwerk-fuer-frieden.de.

FriedensFrauen Weltweit (o.J.); 1000peacewomen.org.

Hausen, K. (1976): Die Polarisierung der »Geschlechtscharaktere« – Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben. In: Conze, W. (Hrsg.): Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas – Neue Forschungen. Stuttgart: Klett, S. 363-393.

Küster, I.; Steinmann, E. (1990): Die Westdeutsche Frauenfriedensbewegung (WFFB). In: Hervé, F. (Hrsg.): Geschichte der deutschen Frauenbewegung. Köln: PapyRossa, 4. Auflage, S. 224-234.

Notz, G. (2015): Klara Marie Faßbinder (1890-1974) und die Westdeutsche Frauenfriedensbewegung (WFFB). In: Dunkel, F.; Schneider, C. (Hrsg.): Frauen und Frieden? Zuschreibungen – Kämpfe – Verhinderungen. Leverkusen-Opladen: Budrich academic, S. 87-102.

Roth, R.; Rucht, D. (Hrsg.) (2008): Die sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945 – Ein Handbuch. Frankfurt/New York, campus, S. 21.

Quistorp, E. (Hrsg.) (1982): Frauen für den Frieden – Analysen, Dokumente und Aktionen aus der Friedensbewegung, Bensheim: Päd-­extra-Buchverlag.

Weiß, N. (2016): Frauen, Frieden und Sicherheit – was hat Resolution 1325 gebracht? Potsdam: Universitätsverlag Potsdam.

Wenzel, C. (2013): Springen, Schreiten, Tanzen – Die Stiftung Archiv der deutschen Frauenbewegung. In: Bacia, J.; Wenzel, C. (Hrsg.): Bewegung bewahren – Freie Archive und die Geschichte von unten. Berlin: Hirnkost, S. 179-196.

Dr. Anne Bieschke ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Dekanat der Philosophischen Fakultät der Universität Mannheim und Historikerin. In ihrer Dissertation untersuchte sie die Geschichte der Frauenfriedensbewegung in der Bundesrepublik in der Nuklearkrise (1979-1983).

Martin Luther King


Martin Luther King

Ein Gegner des Vietnamkrieges

von Karlheinz Lipp

Am 4. April 1968, also vor 50 Jahren, wurde Martin Luther King (1929-1968) in Memphis ermordet. Hierzulande wurde King vor allem als schwarzer Bürgerrechtler und Vertreter der Gewaltfreiheit berühmt. Wenig bekannt sind Kings Friedensengagement gegen den Vietnamkrieg sowie sein Einsatz für die (nicht nur schwarzen) Armen und Arbeitslosen in seinem letzten Lebensjahr. Kings Äußerungen sind auch in unserer Gegenwart von einer verblüffenden Aktualität.

Die politische und organisatorische Heimat Kings bildete die Southern Christian Leadership Conference, die 1957 von Schwarzen gegründet worden war. Diese Bürgerrechtsbewegung knüpfte an die erste erfolgreiche Aktion, den Busboykott in Montgomery 1955, an. Durch gewaltfreie Aktivitäten (z.B. Freiheitsfahrten in Überlandbussen) wurde versucht, den Rassismus, besonders in den Südstaaten der USA, zumindest teilweise aufzuheben und der schwarzen Bevölkerung ein aktives, politisches Selbstbewusstsein zu vermitteln. Das berühmteste Beispiel ist der Marsch auf Washington 1963 mit der Abschlussrede »I have a dream«. Ein Jahr später erhielt King den Friedensnobelpreis.

Kings Kritik am Vietnamkrieg begann 1967

In der Öffentlichkeit beschäftigte sich King erstmals am 25. Februar 1967 auf einer Konferenz in Los Angeles ausschließlich mit dem Vietnamkrieg. Er wandte sich gegen die Diffamierung der langsam, aber stetig wachsenden Friedensbewegung in den USA. Ihn beängstigte, dass die Hoffnung auf eine Veränderung der US-amerikanischen Gesellschaft hinfällig werden könnte. Daher sprach sich King für eine Verbindung von Bürgerrechts- und Friedensbewegung aus. Er folgte damit seiner Frau Coretta Scott King (1927-2005), die bereits vor ihm in der Bewegung gegen den Vietnamkrieg aktiv geworden war. Sie beschreibt auch die zunächst vorherrschenden Zweifel ihres Mannes.

„Zwar hatte sich Martin schon lange mit dem Weltfrieden befaßt, doch erst 1967 engagierte er sich endgültig, indem er sich gegen den Vietnam-Krieg wandte. Davor lag er mit sich im Widerstreit, ob er seine Kraft und Zeit auch noch der Sache des internationalen Friedens widmen und damit Energie von der Bewegung für schwarze Freiheit zum Teil abziehen sollte.“ (C.S. King, S. 249. Die Rechtschreibung folgt dem Original.)

Für die politischen Eliten und das FBI bedeutete diese Entwicklung des schwarzen Bürgerrechtlers eine noch intensivere Beobachtung der Aktivitäten Kings. Das FBI versuchte durch Berichte an Nachrichtenagenturen geschickt, King als Kommunisten darzustellen, eine Maßnahme, die nur allzu sehr an die McCarthy-Ära und die Jagd auf wirkliche und vermeintliche Kommunisten erinnerte. Erneut zeigte sich, wie der Kalte Krieg innenpolitisch genutzt wurde.

Am 4. April 1967 – auf den Tag genau ein Jahr vor seiner Ermordung – entfaltete King in einer berühmten Rede vor 3.000 Menschen in der Riverside Church, einer progressiven Gemeinde in New York, seine grundsätzlichen Bedenken gegenüber dem Vietnamkrieg und verknüpfte diese mit seinem Engagement für die Menschenrechte. Die Schirmherrschaft dieses Abends hatte die Organisation »Clergy and Laymen Concerned About Vietnam«, eine überkonfessionelle Vereinigung von Theologen und Laien gegen den Vietnamkrieg, übernommen.

Wir nahmen die schwarzen jungen Männer, denen unsere Gesellschaft das Lebensrecht versagte, und sandten sie 8000 Meilen weit weg, um die Freiheiten in Südostasien zu sichern, die sie in Südwest-Georgia und East-Harlem nicht gefunden hatten. So wurden wir immer wieder mit der grausamen Ironie konfrontiert, Neger und Weiße beobachten zu müssen, wie sie gemeinsam töten und sterben für eine Nation, die es nicht fertiggebracht hat, sie in den gleichen Schulen nebeneinander sitzen zu lassen. Wir sehen, wie sie miteinander in brutaler Solidarität die Hütten eines armen Dorfes niederbrennen, aber es ist uns klar, daß sie niemals in dem gleichen Häuserblock in Detroit wohnen würden. […]

Ab 1945 versagten wir neun Jahre lang dem Volk von Vietnam das Recht auf Unabhängigkeit. Neun Jahre lang unterstützten wir tatkräftig die Franzosen bei ihrem verhängnisvollen Versuch, Vietnam wieder zur Kolonie zu machen. […] Nachdem die Franzosen geschlagen waren, sah es so aus, als ob es durch das Genfer Abkommen nun doch zur Unabhängigkeit und zur Landreform kommen werde. Aber stattdessen kamen die Vereinigten Staaten mit der Absicht, die von Ho Chi Minh angestrebte Wiedervereinigung der für eine gewisse Zeit geteilten Nation zu verhindern. Die Bauern mussten erneut beobachten, wie wir einen der übelsten modernen Diktatoren unterstützten – den von uns erwählten Premierminister [Ngo Dinh] Diem.

Die Bauern sahen zu und duckten sich, als Diem rücksichtslos jede Opposition ausrottete, die wucherischen Großgrundbesitzer unterstützte und es sogar ablehnte, über die Wiedervereinigung mit dem Norden auch nur in eine Diskussion zu treten. Die Bauern sahen, wie all dies unter dem Schutz amerikanischen Einflusses geschah und dann unter dem Schutz einer immer größeren Anzahl amerikanischer Soldaten, die kamen, um die durch Diems Methoden hervorgerufene Erhebung niederschlagen zu helfen. Vielleicht waren sie froh über Diems Sturz [2. November 1963], aber die dann folgende lange Liste der Militärdiktaturen bedeutete offensichtlich keine wirkliche Veränderung – schon gar nicht, was ihr Verlangen nach Landbesitz und Frieden anging.“ (M.L. King, S. 77 und 80f.)

Verständnis für den Vietkong

Empathie mit der Nationalen Front für die Befreiung Südvietnams bewies King mit den folgenden Worten: „Was hat es mit der Nationalen Befreiungsfront auf sich, jener seltsam anonymen Gruppe, die wir Vietkong oder Kommunisten nennen? Was müssen sie von uns Amerikanern denken, wenn ihnen klar wird, daß wir Unterdrückungsmethoden eines Diem zuließen, die ja erst der Grund für ihren Zusammenschluß als Widerstandsgruppe im Süden wurde? Was denken sie über unsere Zustimmung zu den Gewalttaten, die sie zu den Waffen greifen ließ? […]

Wie können sie uns vertrauen, wenn wir sie jetzt nach der langen Zeit des mörderischen Diem-Regimes wegen ihrer Gewalttaten anklagen, und das, während wir zur Zeit alle möglichen neuen todbringenden Waffen über ihr Land bringen? Wir müssen endlich begreifen, was sie bewegt, selbst wenn wir mit ihrem Handeln nicht einverstanden sind. Wir müssen endlich begreifen, daß die Leute, die wir unterstützen, sie zur Gewaltanwendung trieben. Sehen wir denn nicht, daß unsere sorgsam mit Computern errechneten Vernichtungspläne ihre größten Gewalttaten vergleichsweise unerheblich erscheinen lassen?“ (M.L. King, S. 82f.)

Kings Fazit lautete: „Auf welche Weise auch immer: Dieser Wahnsinn muss aufhören. Wir müssen zu einem Ende kommen, und zwar jetzt. Ich spreche als ein Kind Gottes und als Bruder jener notleidenden, armen Menschen von Vietnam. Ich spreche für die, deren Land verwüstet, deren Häuser zerstört und deren Kultur vernichtet wird. Ich spreche für die Armen in Amerika, die einen zweifachen Preis zahlen: den der zerbrochenen Hoffnung daheim und den des Todes und der Korruption in Vietnam. Ich spreche als ein Bürger der Welt, jener Welt, die entsetzt auf den Weg schaut, den wir genommen haben. Ich spreche als Amerikaner zu den Führern meines Volkes. Denn wir haben die entscheidenden Schritte in diesem Krieg unternommen, deshalb muss er jetzt durch unsere Initiative beendet werden.“ (M.L. King, S. 85)

Vorschläge für eine Beendigung des Krieges

Ein Ende des Vietnamkrieges durch deeskalierende Schritte präzisierte King in seiner Ansprache sehr genau, und er schaute auch auf die Zeit nach dem Krieg:

„Ich möchte fünf konkrete Vorschläge machen, die unsere Regierung sofort befolgen sollte, um den langen und schwierigen Prozess einzuleiten, der uns aus diesem Konflikt herausführt, der immer mehr einem Alptraum gleicht:

1. Alle Bombardierungen in Nord- und Südvietnam sind sofort zu beenden.

2. Einseitige Einstellung aller Kampfhandlungen in der Hoffnung, daß dadurch eine günstige Atmosphäre für Verhandlungen entsteht.

3. Sofort Schritte unternehmen, um das Entstehen neuer Schlachtfelder in Südostasien zu verhindern, indem wir unseren militärischen Aufmarsch in Thailand einschränken und die Einmischung in Laos beenden.

4. Realistisch das Faktum akzeptieren, daß die Nationale Befreiungsfront in Südvietnam erhebliche Unterstützung findet und daß sie deshalb bei allen sinnvollen Verhandlungen und in jeder kommenden vietnamesischen Regierung eine Rolle spielen muß.

5. In Übereinstimmung mit dem Genfer Abkommen von 1954 einen Zeitpunkt festsetzen, zu dem alle fremden Truppen aus Vietnam abgezogen werden.

Eine weitergehende Verpflichtung könnte für uns darin bestehen, daß wir jedem Vietnamesen, der unter einer neuen Regierung, an der die Nationale Befreiungsfront beteiligt ist, um sein Leben fürchtet, Asyl gewähren. Sodann müssen wir so umfassend wie möglich für die Schäden aufkommen, die wir angerichtet haben. Wir müssen die ärztliche Hilfe leisten, die so dringend nötig ist, und das, falls nötig, sogar in unsrem eigenen Land.“ (M.L. King, S. 86)

Der Vietnamkrieg in globaler Perspektive

King geht ebenso auf die internationalen Interessen der »Ersten Welt« ein, jenseits von Vietnam.

„Wahre Solidarität ist mehr als die Münze, die man dem Bettler hinwirft; sie ist nicht so zufällig und gedankenlos. Sie kommt zu der Einsicht, daß ein Haus, das Bettler hervorbringt, umgebaut werden muss. Eine echte Revolution der Werte wird den schreienden Gegensatz von Armut und Reichtum sehr bald mit großer Unruhe betrachten. Sie wird nach Übersee blicken und mit gerechter Empörung darauf hinweisen, daß einzelne Kapitalisten des Westens riesige Geldbeträge in Asien, Afrika und Lateinamerika investieren, nur um zu verdienen und ohne Interesse an sozialen Fortschritten in jenen Ländern, und sie wird ausrufen: ‚Das ist ungerecht.‘

Eine Revolution der Werte wird unser Bündnis mit den Großgrundbesitzern in Lateinamerika durchschauen und feststellen: ‚Das ist ungerecht.‘ Ungerecht ist auch die westliche Überheblichkeit, die meint, daß sie den anderen alles beibringen kann und von ihnen nichts zu lernen hat. Eine wirkliche Revolution der Werte wird den Status quo selbst beseitigen und vom Kriege sagen: ‚Dieser Weg zur Lösung von Spannungen ist nicht recht.‘“ (M.L. King, S. 88f.)

Im April 1967 stand die amerikanische Antikriegsbewegung noch auf schwachen Füßen, so dass die Reaktionen der Presse überwiegend negativ ausfielen. Dem Bürgerrechtler wurde vorgeworfen, kommunistische Positionen zu vertreten und damit Hanoi und Peking zu unterstützen. Der Vergleich zwischen dem Krieg in Vietnam und der Unterdrückung der Schwarzen in den USA wurde zurückgewiesen.

Am 15. April kam es im Rahmen der Frühjahrsaktivierung gegen den Vietnamkrieg zu zwei Großveranstaltungen. In San Francisco sprach Coretta Scott King vor 50.000 Menschen im Kezar-Stadion und in New York demonstrierten zwischen 100.000 (Polizeiangabe) und 250.000 (Angabe der Organisatoren) Menschen auf einem Marsch durch Manhattan zum Gebäude der Vereinten Nationen. Hier hielt King eine kurze Rede. Präsident Lyndon B. Johnson ließ von seiner texanischen Ranch verlauten, dass das FBI diese Aktionen observiert.

Inzwischen avancierte King zum prominentesten Vertreter der Antikriegsbewegung, die sich an den Universitäten ausweitete. Im Mai und Juni reiste King ca. 3.000 Meilen, um in zahlreichen Pressekonferenzen, Reden und Versammlungen seine Auffassung zu vertreten. Gleichzeitig ließ Johnson den Krieg weiter eskalieren. Jetzt kämpften etwa 500.000 US-Soldaten in Südostasien, und die Bombardierung Nordvietnams wurde intensiviert. Die Kosten für den Krieg stiegen weiter deutlich an.

Krieg in Vietnam und Bürgerkrieg in den USA

Im Sommer 1967 nahmen die innenpolitischen Spannungen in den USA dramatisch zu. In über 100 Städten kam es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen. Den traurigen Höhepunkt erlebte die Stadt Detroit mit 43 Toten. Johnson befahl den Einsatz von Panzern und Bundestruppen und ignorierte die sozialen und wirtschaftlichen Hintergründe dieser Unruhen völlig. In einem Telegramm an Johnson kritisierte King die Ablehnung eines Mietzuschussgesetzes durch den Kongress und verlangte Maßnahmen zur Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit.

Etwa 20.000 junge Menschen beteiligten sich an einem Vietnam-Sommer. Tausende protestierten gegen die Wehrpflicht (die 1973 als eine Folge des Vietnamkrieges abgeschafft werden sollte) und im Oktober etwa 50.000 vor dem Pentagon in der Hauptstadt Washington. King unterstützte die Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen.

In einer Ansprache vor Mitgliedern von Gewerkschaften an der Universität Chicago am 11. November 1967 behandelte King die innenpolitische Dimension des Vietnamkrieges.

„Der Krieg hat zu dem bizarren Schauspiel geführt, daß Streitkräfte der USA gleichzeitig in den Gettos der USA und in den Dschungeln Asiens kämpfen. Der Krieg hat die Verbitterung und die Verzweiflung der Neger so gesteigert, daß Rassenunruhen in den Städten nun ein hässlicher Bestandteil der amerikanischen Szene sind. Wie kann die Administration, gleichsam vor Empörung bebend, die Gewalttaten schwarzer Gettobewohner verurteilen, während sie in Asien ein Beispiel für Gewalt gegeben hat, das die Welt schockiert? Diejenigen, die Schiffskanonen, Millionen Tonnen an Bomben und scheußliches Napalm benutzen, können nicht vor Negern über Gewalt sprechen. Nur diejenigen, die für den Frieden kämpfen, haben die moralische Autorität, andere über Gewaltlosigkeit zu belehren. Ich möchte nicht mißverstanden werden: ich setzte die sogenannte Gewalt der Neger nicht mit dem Krieg gleich. […]

Die Prioritäten der Administration und des Kongresses werden in dramatischer Weise illustriert durch die Leichtigkeit, mit der 70 Milliarden Dollar für den Krieg bereitgestellt werden, während man den unwilligen Kongreßabgeordneten kaum zwei Milliarden Dollar für Programme zur Bekämpfung der Armut abringen kann.

In den vergangenen zwei Monaten ist die Arbeitslosigkeit ungefähr um 15 Prozent gestiegen. Zur Zeit werden Zehntausende von Mitarbeitern in Programmen gegen die Armut abrupt aus ihren Arbeitsstellen und Trainingsprogrammen entlassen, so daß sie auf dem kleiner werdenden Arbeitsmarkt um Arbeitsplätze und um ihr Überleben kämpfen müssen. Die kriegsbedingte Inflation verkleinert das Gehalt der Arbeitenden, die Pension der Ruheständler und die Ersparnisse fast aller. […] Die Mehrheit im Kongreß und in der Administration hat sich – im Unterschied zur Mehrheit der Bevölkerung – ausschließlich der Durchführung des Krieges verschrieben. Man hat geschätzt, daß wir ca. 500 000 Dollar aufwenden, um einen einzigen feindlichen Soldaten in Vietnam zu töten, dennoch geben wir für jeden armen Amerikaner im Rahmen der Programme zur Bekämpfung der Armut nur ca. 53 Dollar aus.“ (M.L. King, S. 93-95)

Angesichts der zunehmenden weltweiten Proteste sah King die USA in einem Zustand der Isolierung. Auch die psychischen Folgen des Vietnamkrieges, besonders für die vielen jungen US-Soldaten, erfasste King früh: Drogenkonsum, Kriegstraumata, Probleme der Reintegration in die Gesellschaft nach der Rückkehr aus dem Dschungelkrieg in Asien.

Eine innenpolitische Dimension des Vietnamkrieges erkannte King in der Stärkung des militärisch-industriellen Komplexes sowie der reaktionären Kräfte.

Bei seinen kritischen Äußerungen zur Kriegspolitik der US-Regierung berief sich King auf Persönlichkeiten der amerikanischen Geschichte.

„Wir tun gut, uns daran zu erinnern, daß die amerikanische Tradition ein starkes Element des Widerspruchs selbst in Kriegszeiten enthält. Während des Mexikanischen Krieges [1846/47] übte die intellektuelle Elite der Nation, [Ralph Waldo] Emerson, [Henry David] Thoreau und viele andere, vernichtende Kritik an der Politik der Regierung. Im Kongreß hielt ein relativ unbekannter, neugewählter Abgeordneter eine scharfe Ansprache, in der er den Krieg verurteilte. Der junge Abgeordnete war Abraham Lincoln aus Illinois.“ (M.L. King, S. 98)

Der Vietnamkrieg verschärfte die sozialen Probleme in den USA

Die sozialen und wirtschaftlichen Missstände in den USA, beschleunigt durch den Vietnamkrieg, veranlassten King, an einem neuen Projekt zu arbeiten: der Kampagne für die Armen. Diese Aktion sollte auf breiter Basis durchgeführt werden und mehrere Monate dauern, um so einen effektiven Druck auf den US-Kongress auszuüben.

Punktuelle Erfolgserlebnisse mit Boykotten, Sit-ins und Märschen hatte die Bürgerrechtsbewegung schon verzeichnet. Nun sollten in einem ehrgeizigen Projekt der Umverteilung von Macht auf nationaler Ebene radikale gesellschaftliche Veränderungen vorgenommen werden, um den Rassismus, die Armut, die Arbeitslosigkeit sowie den Vietnamkrieg zu beenden. King war sich dieser großen Herausforderung und »Kraftprobe der Gewaltlosigkeit« bewusst, sah aber keine Alternative angesichts der Eskalation zu einem Bürgerkrieg in den Großstädten der USA.

Währenddessen wütete der Vietnamkrieg weiter und erfuhr eine überraschende Entwicklung. Am höchsten religiösen Festtag Vietnams, dem Neujahrsfest Tet am 31. Januar 1968, setzte eine Offensive ein. Die nordvietnamesische Armee und der Vietkong attackierten 36 Provinzhauptstädte, 64 Kreisstädte, zahlreiche Dörfer und zwölf amerikanische Stützpunkte. Die militärischen Befehlshaber der USA wurden völlig überrascht. Auch wenn die Tet-Offensive letztendlich niedergeschlagen wurde, offenbarte sie das Scheitern der Konzepte der US-Regierung und des US-Militärs – eine Schmach, die in diesen Kreisen bis heute nicht überwunden wurde.

Die Kritik an der Regierung Johnson wuchs weltweit, auch innerhalb der eigenen Demokratischen Partei. King kritisierte den Vietnamkrieg weiterhin als einen Ausdruck des weißen Rassismus, wandte sich aber nun seinem neuen Projekt zu. Er kümmerte sich um nicht sesshafte Landarbeiter*innen in Kalifornien, besuchte Reservate der Native Americans, reiste ins Mississippi-Delta zu der verarmten schwarzen Bevölkerung und beschäftigte sich mit den Gettoproblemen in den Großstädten des Nordens der USA.

Mitte Februar 1968, also nur wenige Tage nach der Tet-Offensive, begann der Streik der schwarzen Müllmänner in Memphis. In diesem Streik sah King eine Brücke zu dem, was er plante: einen Marsch der Armen nach Washington, ähnlich dem Marsch des Jahres 1963. King unterstützte die Aktionen der Müllmänner gegen die rassistische Stadtverwaltung. In Memphis hielt Martin Luther King seine letzte Rede – einen Tag vor seiner Ermordung.

Literatur

DeBenedetti, D.; Chatfield, C (1990): An American Ordeal – The Antiwar Movement of the Vietnam Era. Syracuse: Syracuse University Press.

Carson, C.(2008): The Martin Luther King, Jr. Encyclopedia. Westport: ABC Clio.

Frey, M. (2004, 7. Aufl.): Geschichte des Vietnamkriegs – Die Tragödie in Asien und das Ende des amerikanischen Traums. München: C.H. Beck.

Hall, S. (2005): Peace and Freedom – The Civil Rights and Antiwar Movements in the 1960s. Philadelphia: Penn Press.

King, M.L. (1983, 5. Aufl): Testament der Hoffnung – Letzte Reden, Aufsätze und Predigten. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus.

King, C.S. (1977): Mein Leben mit Martin Luther King. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus

Lucks, D.S. (2014): Selma to Saigon – The Civil Rights Movement and the Vietnam War. Lexington: University Press of Kentucky.

Oates, S.B. (1986): Martin Luther King – Kämpfer für Gewaltlosigkeit. München: Wilhelm Heyne Verlag.

Dr. Karlheinz Lipp ist Historiker mit dem Schwerpunkt Historische Friedensforschung.

Baden war Vorreiter


Baden war Vorreiter

Erstes Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung vor 70 Jahren

von Dieter Junker

„[U]nter dem Schock von Krieg und Diktatur“, wie es der Potsdamer Historiker Patrick Bernhard formulierte,1 wurde 1947 und 1948, also noch vor der Verabschiedung des Grundgesetzes, in den Verfassungen oder in Landesgesetzen mehrerer deutscher Länder in den westlichen Besatzungszonen ein Recht auf Kriegsdienstverweigerung verankert. Dies geschah in Hessen, Berlin, Württemberg-Baden, Bayern und (Süd-)Baden. Am weitesten ging das Land Baden, das in der französischen Besatzungszone lag. Denn hier wurde 1947 erstmals in Deutschland das Recht auf Kriegsdienstverweigerung als Grundrecht in die Verfassung aufgenommen.2

Die Initiative, erstmals in Deutschland ein Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung in den Grundrechtekatalog einer Verfassung aufzunehmen, ging auf Dr. Wilhelm Hoch aus Schopfheim zurück. Der Jurist gehörte für die Badische Christlich-Soziale Volkspartei (BCSV), einem CDU-Vorläufer, der Beratenden Versammlung in Baden an, die die neue Landesverfassung erarbeiten sollte. Am 1. April 1947 stellte er in der Sitzung des Verfassungs- und Rechtspflegeausschusses den Antrag, eine Bestimmung einzuführen, nach der kein Badener zur Ableistung von Militärdienst gezwungen werden kann.3 Dem stimmte der Ausschuss einstimmig zu.

Wilhelm Hoch,4 am 23. Dezember 1893 in Kollnau geboren, gehörte vor 1933 der katholischen Zentrumspartei an. Nach dem Attentat vom 20. Juli 1944 stand der Rechtsanwalt auf der Liste der zu Verhaftenden, konnte sich aber rechtzeitig verstecken. Nach dem Krieg engagierte sich Hoch in der Friedensbewegung. Er starb am 3. Oktober 1954.

Der neue Artikel 69a wird wieder gestrichen …

Schon wenige Tage nach Hochs Antrag brachte die BCSV am 11. April 1947 allerdings einen Antrag in die Beratende Versammlung ein, wonach der neue Artikel 69a um den Zusatz „[…] außer zur Aufrechterhaltung der Ordnung im Innern des Landes“ ergänzt werden sollte.5 Der Verfassungs- und Rechtspflegeausschuss lehnte dies aber ab.

Doch nur drei Tage später, am 14. April 1947, beantragte die BCSV-Fraktion, nun im Plenum, den Artikel 69a ganz zu streichen, sehr zur Überraschung der Sozialdemokraten (SP) und Kommunisten (KP).6 Der kommunistische Abgeordnete Erwin Peckert vermutete dahinter eine Retourkutsche für die Abstimmungsniederlage im Verfassungs- und Rechtspflegeausschuss; der SP-Abgeordnete Ernst Haas verwies darauf, dass der neue Artikel 69a im zuständigen Ausschuss einstimmig angenommen worden sei. Demgegenüber warf der BCSV-Abgeordnete Wolfgang Hoffmann der KP und der SP vor, die BCSV als reaktionäre Militaristen zu brandmarken. Er betonte, seine Partei halte einen solchen Artikel für überflüssig, da im Verfassungsentwurf ja bereits formuliert werde, dass jegliche Handlung, die das Zusammenleben der Völker störe, verfassungswidrig sei.

In der namentlichen Abstimmung votierten 27 Abgeordnete für die Streichung des Artikels 69a, 25 lehnten die Streichung ab.7 Dies bedeutete, dass das Recht auf Kriegsdienstverweigerung wieder aus der badischen Verfassung gestrichen wurde.

… doch die Versammlung revidiert den Beschluss

Doch damit wollten sich einige Abgeordnete nicht abfinden. Nur eine Woche später, am 21. April 1947, teilte der Präsident der Beratenden Versammlung dem Plenum mit, dass im Verfassungs- und Rechtspflegeausschuss der Antrag gestellt worden war, den gestrichenen Artikel 69a wiederherzustellen. Diesem Antrag habe der Ausschuss mit „erheblicher“ Mehrheit stattgegeben.8

Im Plenum beantragte der KP-Abgeordnete Wilhelm Büche daraufhin eine namentliche Abstimmung über die Wiederaufnahme des Artikels 69a. Und diesmal stimmte die große Mehrheit der Versammlung bei vier Nein-Stimmen (drei von der Demokratischen Partei [DP], eine von der BCSV) dafür, den umstrittenen Artikel 69a mit dem Recht auf Kriegsdienstverweigerung doch in die neue badische Verfassung aufzunehmen. Im endgültig verabschiedeten Verfassungsentwurf für das Land Baden wurde der Artikel 69a zum Artikel 3, der lautete: „Kein badischer Staatsbürger darf zur Leistung militärischer Dienste gezwungen werden.“

Die Verfassung wurde am 18. Mai 1947 in einer Volksabstimmung angenommen und trat am 22. Mai 1947 mit der Verkündung in Kraft.

Grundrecht auf Kriegsdienst­verweigerung auch in Berlin

Neben Baden wurde auch in (Groß-) Berlin eine Bestimmung über das Recht auf Verweigerung des Kriegsdienstes in die Verfassung aufgenommen,9 unter explizitem Bezug auf Baden.10 Im Verfassungsausschuss der Stadtverordnetenversammlung stellte der SPD-Abgeordnete Friedrich-Wilhelm Lucht im März 1948 zur Diskussion, ob nicht in Berlin ebenfalls ein Artikel über Kriegsdienstverweigerung eingeführt werden sollte. Eine entsprechende Forderung hatte im Vorfeld schon der Berliner Frauenbund erhoben.

Der Heidelberger Politikwissenschaftler Pfetsch zitiert aus der Sitzungsniederschrift, der Ausschuss-Vorsitzende Otto Suhr (SPD) habe zu diesem Antrag bemerkt, er persönlich sei für jede Kriegsdienstverweigerung, halte die Aufnahme in die Verfassung aber nicht für richtig, da man sonst auch die Frage nach der Herstellung von Kriegsmaterial und anderes in der Verfassung regeln müsste. Obwohl der Verfassungsausschuss den Antrag ablehnte, wurde er in der Sitzung der Stadtverordnetenversammlung vom 22. April 1948 in die Verfassung aufgenommen. Artikel 21 der Berliner Verfassung, in der bereits das Verbot von Handlungen, die geeignet seien, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, betont wurde, erhielt den neuen Absatz 2: „Jeder Mann hat das Recht, Kriegsdienste zu verweigern, ohne dass ihm Nachteile entstehen dürfen.“

Die Verfassung wurde von der Stadtverordnetenversammlung und vom Magistrat der Stadt Berlin am 22. April 1948 beschlossen, trat aber aufgrund der politischen Entwicklung in Berlin 1948 noch nicht abschließend in Kraft. Erst am 1. September 1950 wurde die endgültige Verfassung verabschiedet.11

Nicht im Verfassungsrang, aber als Gesetz

Auch in Württemberg-Baden wurde über einen Verfassungsartikel zur Kriegsdienstverweigerung diskutiert. Seit 30. November 1946 enthielt die Landesverfassung – ein Novum für ein deutsches Land – bereits einen Artikel zur Ächtung des Krieges: „Jede Handlung, die mit der Absicht vorgenommen wird, eine friedliche Zusammenarbeit der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Krieges vorzubereiten, ist verfassungswidrig.“ Dies geschah vor allem auf Initiative des SPD-Politikers Carlo Schmid, der später im Parlamentarischen Rat auch zu den Initiatoren eines Rechts auf Kriegsdienstverweigerung im Grundgesetz der Bundesrepublik gehörte.12

Das Stuttgarter Jugendparlament und verschiedene Friedensgruppen engagierten sich seit September 1947 dafür, dass in die württemberg-badischen Verfassung ein Recht auf Kriegsdienstverweigerung aufgenommen wird.13 Sie griffen dabei eine Forderung von Gisela Heidorn auf, die bereits 1946 in der von ihr herausgegebenen Frauenzeitschrift »Das Medaillon« für ein Recht auf Kriegsdienstverweigerung als einem Beitrag zur Abschaffung des Krieges eingetreten war. Nachdem im bayerischen Landtag im Oktober 1947 ein entsprechendes Gesetz eine Mehrheit gefunden hatte, erhielt die württemberg-badische Initiative neuen Rückenwind. Allerdings sprachen sich die Parteien im Stuttgarter Landtag dagegen aus, eine entsprechende Regelung in die Verfassung aufzunehmen. Ministerpräsident Reinhold Maier (DVP) verwies dabei auf Äußerungen amerikanischer Generäle, wonach die Kriegsgefahr größer sei als jemals zuvor.

Um eine Lösung zu finden, entschied sich der Landtag dafür, anstatt das Recht auf Kriegsdienstverweigerung in die Verfassung aufzunehmen, ein Gesetz zu erlassen, das nur mit verfassungsändernder Mehrheit geändert werden konnte. Dies fand im Landtag am 22. April 1948 eine Mehrheit, wie der Spiegel berichtete.14 Das Gesetz Nr. 1007 vom 23. April 1948 bestimmte in seinem einzigen Artikel: „Niemand darf zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden.“

Eine Kämpferin für das Recht auf Kriegsdienstverweigerung in Württemberg-Baden war Anna Haag, die für die SPD dem Landtag angehörte.15 Laut Spiegel setzte sie sich auch dafür ein, dass der Landtag über den Alliierten Kon­trollrat eine Initiative zu einem Kriegsdienstverweigerungsgesetz für alle vier Besatzungszonen ergreifen sollte.

Bayern war schneller

Parallel zu Württemberg-Baden beriet der Bayerische Landtag über ein »Gesetz über die Straffreiheit bei Kriegsdienstverweigerung«, das im Herbst 1947 die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) eingebracht hatte. Am 25. September 1947 beschäftigte sich der Ausschuss für Verfassungsfragen des bayerischen Landtags mit diesem Antrag. Dabei bezweifelten Abgeordnete der Christlich-Sozialen Union (CSU) und der Wirtschaftlichen Aufbau-Vereinigung (WAV) zwar die Notwendigkeit dieses Gesetzes, stimmten dem SPD-Antrag aber zu.16

In der Landtagssitzung am 23. Oktober 1947, bei der über die Annahme dieses Gesetzes entschieden werden sollte, äußerten CSU und WAV erneut deutliche Vorbehalte und fragten nach dem Sinn eines solchen Gesetzes, da Bayern und Deutschland auf absehbare Zeit keine bewaffnete Truppe aufstellen könnten. Die CSU kündigte aus diesem Grund eine Ablehnung des Gesetzentwurfs an.17 Allerdings gab es auch CSU-Abgeordnete, die dem Antrag zustimmen wollten, da für sie Krieg Massenmord sei. Sprecher der SPD und der Freien Demokratischen Partei (FDP) unterstützten nachdrücklich den Gesetzentwurf, da damit ein Versäumnis in der Verfassung wettgemacht werde. Die WAV zeigte sich wie die CSU uneins.

Nach einer Sitzungsunterbrechung, in der die CSU zu einer Fraktionssitzung zusammenkam, brachte die CSU-Fraktion den Änderungsantrag ein, vor den eigentlichen Gesetzestext eine Präambel zu stellen, in der sich Bayern zu Frieden, Freiheit und Völkerverständigung bekenne und in der darauf verwiesen würde, dass Krieg durch Völkerrecht geächtet sei. Mit dieser Änderung wurden im Landtag die vorgeschlagene Präambel in der ersten Lesung einstimmig, der SPD-Gesetzesantrag anschließend bei vier Enthaltungen der WAV einstimmig und das Gesamtgesetz schließlich bei einer Enthaltung angenommen. In der zweiten Lesung erfolgte die einstimmige Annahme des Gesetzes über die Straffreiheit bei Kriegsdienstverweigerung, das am 21. November 1947 in Kraft trat und damit das erste Gesetz in Deutschland war, das eine Kriegsdienstverweigerung regelte.

Hessische Initiative wird zugunsten des Grundgesetzes fallen gelassen

In der hessischen Verfassung war ähnlich wie in Württemberg-Baden und in Baden eine Ächtung des Krieges verankert. Artikel 69 der Landesverfassung betonte, dass sich Hessen zu Frieden, Freiheit und Völkerverständigung bekenne, den Krieg ächte und dass jede Handlung, die mit der Absicht vorgenommen werde, einen Krieg vorzubereiten, verfassungswidrig sei.18

Im März 1948 brachte die SPD im hessischen Landtag einen Gesetzentwurf ein, wonach kein hessischer Staatsbürger zum Militärdienst oder zur Teilnahme an Kriegshandlungen gezwungen werden könne, sondern das Recht habe, den Militär- und Kriegsdienst zu verweigern.19 Beschlossen wurde das Gesetz aber nicht mehr: In der Landtagssitzung vom 21. September 1949 teilte der Berichterstatter des Landtags mit, dass sich der Hauptausschuss zwar am 9. Juli 1949 mit diesem SPD-Initiativantrag beschäftigt habe, dem Landtag aber aufgrund des Artikels 4, Absatz 3 des Grundgesetzes, das mittlerweile verabschiedet worden war, empfehle, diesen Antrag als erledigt zu erklären. Diesem Vorschlag folgte der Landtag.20

Parlamentarischer Rat und die Auflösung des Landes Baden

Der Parlamentarische Rat nahm bei der Ausarbeitung des Grundgesetzes ein Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen in die neue Verfassung auf. Die SPD-Abgeordnete Friederike Nadig hatte am 30. November 1948 im Grundsatzausschuss des Parlamentarischen Rates einen entsprechenden Antrag eingebracht, der 1949 schließlich gegen Streichungsanträge aus der FDP und der CDU Eingang in die neue deutsche Verfassung fand („Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden.“), allerdings mit dem Zusatz, wonach das Nähere ein Bundesgesetz regele. Und anders als in den oben genannten Landesverfassungen und in den zu diesem Zeitpunkt bestehenden Landesgesetzen erlaubte das Grundgesetz zudem nur eine Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen.21

Von den beiden Grundrechtsregelungen in deutschen Länderverfassungen hatte am Ende nur die Berliner Regelung Bestand. Der Freistaat Baden, in dem erstmals ein Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung in eine deutsche Verfassung aufgenommen worden war, ging 1952 im Bundesland Baden-Württemberg auf, womit die badische Verfassung von 1947 ihre Gültigkeit verlor. In die neue baden-württembergische Landesverfassung fand ein Recht auf Kriegsdienstverweigerung keinen Eingang, allerdings wurden dort die im Grundgesetz festgelegten Grundrechte und damit auch das Recht auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen als Bestandteil der Landesverfassung anerkannt.22

Anmerkungen

1) Bernhard, P. (2005): Zivildienst zwischen Reform und Revolte – Eine bundesdeutsche Institution im gesellschaftlichen Wandel 1961-1982. München: Oldenbourg, S. 27.

2) Pfetsch, F.R. (1990): Ursprünge der Zweiten Republik – Prozesse der Verfassungsgebung. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 412 ff.
Pfetsch, F.R. (1986): Verfassungspolitische Innovationen 1945-1949 – Am Anfang war der linksliberale Rechtsstaat. Zeitschrift für Parlamentsfragen, 1/1986, S. 19 ff.
Hecker, H. (1954): Die Kriegsdienstverweigerung im deutschen und ausländischen Recht. Frankfurt/Berlin: Alfred Metzner.
Ciezki, N. (1999): Für das Recht auf Kriegsdienstverweigerung – Einfluss und Bedeutung der »Zentralstelle für Recht und Schutz der Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen e.V.«. Münster: agenda, S. 22 ff.
Die badische Regelung wird von Friedrich Siegmund-Schultze, der sich schon vor dem Zweiten Weltkrieg für ein Recht auf Kriegsdienstverweigerung nachdrücklich engagierte, in seinem Beitrag »Das Recht auf Kriegsdienstverweigerung in der deutschen Gesetzgebung« in der Zeitschrift »Die Friedenswarte« von 1950 nicht erwähnt, sondern betont, dass in der französischen Besatzungszone, anders als in der amerikanischen, keine Regelungen zur Kriegsdienstverweigerung aufgenommen wurden.

3) Feuchte, P. (1991): Quellen zur Verfassung des Landes Baden 1947. Stuttgart: W. Kohlhammer, Band 1, S. 468.

4) Biografische Daten nach Landesarchiv Baden-Württemberg – Staatsarchiv Freiburg (o.J.): Findbuch Nachlass Wilhelm Hoch, verfasst von Stefanie Albus-Kötz; landesarchiv-bw.de.

5) Feuchte, P. (2001): Quellen zur Verfassung des Landes Baden 1947. Stuttgart: W. Kohlhammer, Band 2, S. 63 f.

6) Der Wortlaut der Debatte ist abgedruckt bei Feuchte, P. (2001), a.a.O., S. 173 ff.

7) Der Beratenden Versammlung in Baden gehörten 37 Abgeordnete der BCSV, 11 Abgeordnete der SP, neun Abgeordnete der DP und vier Abgeordnete der KP an.

8) Feuchte, P. (2001), a.a.O., S. 342.

9) Siegmund-Schultze, F. (1959): Das Recht auf Kriegsdienstverweigerung in der deutschen Gesetzgebung. Die Friedens-Warte, Vol 50, S. 357-366.

10) Pfetsch, F.R. (1996), a.a.O, s. 19.

11) Siegmund-Schultze, F. (1959), a.a.O., S. 362.

12) Pfetsch, F.R. (1996), a.a.O., S. 20.

13) Der Spiegel vom 1. Mai 1948, S. 6-7.

14) Laut Spiegel nahmen lediglich 46 der 100 Abgeordneten an der Abstimmung teil, von denen 23 dem Gesetz zustimmten und drei sich enthielten, darunter auch der Ministerpräsident.

15) Kopp, E (2011): Anna Haag kämpfte für das Recht auf Kriegsdienstverweigerung. Chrismon plus 12/2011.

16) Landtagsprotokoll der 30. Sitzung vom 23. Oktober 1947, S. 51 ff.
Der Spiegel vom 1. Mai 1948, S. 7.

17) Kock, P.-J. (2006): Der bayerische Landtag – Eine Chronik. München: Bayerischer Landtag.

18) Siegmund-Schultze, F. (1950), a.a.O., S. 360.

19) Hellmuth Hecker (1954), a.a.O., S. 10.

20) Siegmund-Schultze, F. (1959), a.a.O., S. 360 f.

21) Bernhard, P. (2005), a.a.O., S. 27 ff..
Ciezki, N. (1999), a.a.O., S. 24 ff.

22) Feuchte, P. (1983): Verfassungsgeschichte von Baden-Württemberg. Stuttgart: W. Kohlhammer.

Dieter Junker ist Dipl.-Soziologie, lebt im Hunsrück und arbeitet seit 1995 als freier Journalist. Er ist daneben für die Öffentlichkeitsarbeit des EKD-Friedensbeauftragten und der evangelischen Friedensarbeit zuständig.

Es droht eine neue »Nachrüstungs«debatte


Es droht eine neue »Nachrüstungs«debatte

30 Jahre nuklearer Mittelstreckenvertrag

von Andreas Zumach

Am 8. Dezember 1987 unterzeichneten der damalige US-Präsident Ronald Reagan und der Generalsekretär der sowjetischen KPdSU, Michail Gorbatschow, im Weißen Haus in Washington die so genannte »doppelte Nulllösung« für die »Intermediate-range nuclear forces« (INF, atomare Mittelstreckenwaffen) der beiden Großmächte. Der Vertrag regelte den Abzug und die Verschrottung aller landgestützten atomaren Raketen kürzerer (500-1.500 Kilometer) und mittlerer (1.500-5500 Kilometer) Reichweite sowie ihrer Abschussrampen und sonstigen Infrastruktur nicht nur in Europa, sondern weltweit, innerhalb von drei Jahren. Das INF-Abkommen wird in Kürze 30 und ist bis heute ein Kernelement der Rüstungskontrolle zwischen den USA und Russland, gerät aber zunehmend unter Druck.

Mit dem historischen INF-Abkommen wurden erstmals in der Rüstungskontrollgeschichte seit dem Zweiten Weltkrieg nicht nur numerische Obergrenzen oder andere Einschränkungen für bestimmte Waffensysteme vereinbart, sondern ihre vollständige Abrüstung. Zudem vereinbarten die beiden Großmächte weitreichende gegenseitige Inspektionsmaßnahmen während der Umsetzung des Vertrages sowie das Verbot der Neuentwicklung und Produktion dieser Waffensysteme. Nicht unter das INF-Abkommen fallen atomare Artillerie und Kurzstreckenraketen mit einer Reichweite von unter 500 Kilometern.

Am 1. Juni 1988 trat der INF-Vertrag in Kraft. Damit ging eine zehnjährige Eskalationsphase der atomaren Aufrüstung zu Ende, die in der Bundesrepublik Deutschland und anderen NATO-Staaten die größte Friedensbewegung seit Ende des Zweiten Weltkrieges ausgelöst hatte. Auch in der DDR und in anderen Mitgliedsländern der Warschauer Vertragsorganisation regte sich erstmals deutlicher Widerspruch gegen die Anhäufung von immer mehr atomaren Massenvernichtungswaffen.

Schmidts »Raketenlücke« und der »Doppelbeschluss«

Am 28. Oktober 1977 hatte der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt in einer Rede vor dem International Institute for Strategic Studies in London Sorgen geäußert über eine angebliche »Raketenlücke« auf NATO-Seite. Das westliche Bündnis habe keine ausreichenden Mittel gegen die auf Westeuropa gerichteten atomaren Mittelstreckenraketen vom Typ SS-20, die die Sowjetunion damals stationierte. US-Präsident Jimmy Carter schlug daraufhin vor, 108 atomare Pershing-II-Raketen und 464 Marschflugkörper (Cruise Missiles) des Typs Tomahawk in Deutschland, Großbritannien, den Niederlanden, Belgien und Italien zu stationieren. Am 12. Dezember 1979 übernahm ein Gipfeltreffen der Staats-und Regierungschefs aus den damals 16-NATO-Staaten offiziell den Aufrüstungsvorschlag des US-Präsidenten. Der NATO-Gipfel kleidete seine Entscheidung allerdings in einen »Doppelbeschluss«: Von Moskau forderte die NATO den Abbau der bereits stationierten SS-20-Raketen. Sollte Moskau diese Forderung nicht erfüllen, werde es zur westlichen »Nachrüstung« mit Pershing II und Cruise Missiles kommen.

Dieser »Doppelbeschluss« und das darin enthaltene »Verhandlungsangebot« an die Sowjetunion waren vor allem eine Konzession an die zunehmend aufrüstungskritische Stimmung nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern auch in den Regierungsparteien einiger NATO-Staaten. 1977/78 hatte das Vorhaben der USA, in Europa eine »Neutronenwaffe« zu stationieren, deren »Vorteil« es sei, dass sie nur gegnerische Soldaten töte, aber keine Gebäude zerstöre, vor allem in der BRD für große Unruhe gesorgt. Egon Bahr, der führende Sicherheitspolitiker von Helmut Schmidts Regierungspartei SPD, bezeichnete die Neutronenbombe damals als eine „Perversion des Denkens“. Die Neutronenwaffe wurde nie in Europa stationiert.

Auf dem Berliner Bundesparteitag der SPD eine Woche vor dem Brüsseler NATO-Gipfel vom Dezember 1979 erhielt Kanzler Schmidt bereits nur noch 60 Prozent Zustimmung für den geplanten »Doppelbeschluss«. In einem Zeitunginterview mit dem Autor hatte bereits im März 1979 mit dem damaligen Kommandeur der 12. Panzerdivision, Generalmajor Gert Bastian, erstmals ein Soldat der Bundeswehr öffentlich das Aufrüstungsvorhaben der NATO kritisiert. Das war ein erster Riss in der bis dato völlig geschlossenen Front der Befürworter des Doppelbeschlusses aus Militärs und Sicherheitspolitikern der etablierten Parteien. In der Folge äußerten sich auch aktive wie pensionierte Generäle aus anderen europäischen NATO-Staaten kritisch. Später gründeten Bundeswehrsoldaten, die den Doppelbeschluss ablehnten, die Vereinigung »Darmstädter Signal«, die sich bis heute kritisch mit der Sicherheits-und Militärpolitik Deutschlands und der NATO auseinandersetzt.

Die Sorgen und Bedenken nicht nur in der Friedensbewegung richteten sich vor allem auf eine damals ganz neue US-amerikanische Waffenentwicklung, die Pershing-II-Rakete, von der nach den Plänen der NATO 108 Exemplare ausschließlich in der BRD stationiert werden sollten. Grund der Besorgnis: Mit ihrer Schnelligkeit, Zielgenauigkeit und Zerstörungskraft machte die Pershing II erstmals seit Beginn der Ost-West-Konfrontation einen atomaren »Enthauptungsschlag« der NATO gegen die Sowjetunion zumindest vorstellbar. Ein »Enthauptungsschlag« hätte der Sowjetunion ihre gesicherte Zweitschlagskapazität genommen und damit die Grundlage des atomaren Abschreck­ungspatts zerstört. Verstärkt wurden diese Sorgen noch, als nach der Wahl Ronald Reagans zum neuen US-Präsidenten im November 1980 im Pentagon tatsächlich Konzeptpapiere verfasst wurden, die die Option eines solchen »Enthauptungsschlages« enthielten sowie das Szenario eines auf Europa begrenzten Atomkrieges mit den beiden deutschen Staaten als Kerngebiet dieses Krieges. Auch Reagans Pläne für ein weltraumgestütztes Raketenabwehrsystem (Strategic Defense Initiative, SDI) trugen zu diesen Sorgen bei. Sie herrschten nicht nur in der Friedensbewegung vor, sondern auch in der Bundeswehrführung, wie damals noch aktive Generäle Jahre später, nach ihrer Pensionierung, bestätigten.

Die Lage ähnelte der Situation in den Jahren 1966/67. Damals verordneten die USA innerhalb der NATO den Strategiewechsel von der »massiven Vergeltung« (massiv retaliation) hin zur »abgestuften Antwort« (flexible reponse). Die »massive Vergeltung« sah bei einem konventionellen Angriff des Warschauer Paktes nicht nur den sofortigen Einsatz aller konventionellen Streitkräfte und Waffen der NATO vor, sondern auch der in Westeuropa stationierten taktischen Atomwaffenarsenale der NATO sowie der strategischen Atomstreitkräfte der USA. Die neue Strategie der »abgestuften Antwort« hingegen sah vor, auf einen Angriff der Warschauer Vertragsorganisation zunächst nur mit konventionellen Waffen zu reagieren, dann bei Bedarf taktische Atomwaffen einzusetzen und erst in einer dritten Eskalationsstufe die strategischen Arsenale der USA. Dieser Strategiewechsel der USA führte vor 50 Jahren in der Führung der Bundeswehr und den Streitkräften anderer westeuropäischer NATO-Staaten zu der Sorge, die USA könnten sich aus dem »Risikoverbund« der NATO abkoppeln und eine militärische Auseinandersetzung mit der Warschauer Vertragsorganisation auf Europa begrenzen wollen.

Die Friedensbewegung mobilisiert zum Protest

Am 10. Oktober 1981 demonstrierten in Bonn über 300.000 Menschen friedlich gegen die geplante Aufrüstung mit Pershing II und Cruise Missiles, aber auch gegen die SS-20 in der Sowjetunion. „Überwindung von Geist, Logik und Politik der Abschreckung“ lautete das zentrale Motto dieser bis dahin größten Demonstration und Friedenskundgebung in der Geschichte der Bundesrepublik. Bundeskanzler Schmidt versuchte vergeblich, den Redeauftritt des führenden SPD-Politikers Erhard Eppler zu verhindern und Bundestagsabgeordneten seiner Partei die Teilnahme an der Demonstration zu verbieten. Zwei Wochen vor dem 10. Oktober waren in Amsterdam bereits 450.000 Menschen gegen die atomare Rüstung auf die Straße gegangen. In den folgenden Wochen demonstrierten Hundertausende in den Hauptstädten der anderen drei vorgesehenen Stationierungsländer der atomaren Cruise Missiles, London, Rom und Brüssel, wie auch in den Hauptstädten anderer NATO-Staaten. In der DDR wagten sich unter dem Motto »Schwerter zu Pflugscharen« kirchliche Friedensgruppen nun stärker in die Öffentlichkeit und forderten den Abzug der in der DDR und anderen Ostblockstaaten stationierten sowjetischen Kurzstreckenraketen vom Typ SS-21 und SS-23.

In der Regierungspartei SPD setzten sich unter dem Einfluss der Friedensbewegung immer mehr Teilgliederungen, wie die Jungsozialisten, Ortsvereine, Unterbezirke und ganze Landesverbände, von der Linie ihres Kanzlers ab und forderten ein »Nein« der Partei zur Stationierung der neuen Atomraketen. Dieser Prozess verstärkte sich noch, nachdem im Frühjahr 1982 infolge des Seitenwechsels der FDP und dem daraus folgenden Ende der SPD/FDP-Koalition Helmut Kohl (CDU) Kanzler wurde und die SPD in die Opposition ging. Kurz nach Kohls Amtsantritt demonstrierten im Juni 1982 beim NATO-Gipfel in Bonn knapp eine halbe Million Menschen gegen die geplante atomare Aufrüstung. Scheinbar unbeirrt hielt Kohl an den Plänen fest und versicherte, er werde den inzwischen für Ende 1983 vorgesehenen Beginn der Stationierung der Pershing II und Cruise Missiles in der BRD durchsetzen. Wie groß die Ablehnung in der Bevölkerung war, zeigte im August 1982 eine vom ZDF-Politbarometer in Auftrag gegebene repräsentative Umfrage: 75 Prozent der Befragten sprachen sich gegen die Stationierung der neuen Atomwaffen aus, mit Mehrheiten unter den Wähler*innen aller Parteien und in allen Altersgruppen. Das Kanzleramt drängte das ZDF, diese Umfrageergebnisse nicht zu veröffentlichen, doch sie wurden dem Autor zugespielt und vom Bonner Koordinationskreis der Friedensbewegung veröffentlicht.

Am 22. Oktober 1983 kam es mit großen Demonstrationen in Bonn, Hamburg und Berlin sowie der 108 Kilometer langen Menschenkette zwischen Stuttgart und Neu-Ulm zu einem letzten Höhepunkt der Friedensbewegung. Auf der Bonner Kundgebung bekräftigte der SPD-Vorsitzende, Friedensnobelpreisträger und Ex-Bundeskanzler Willy Brandt das »Nein« seiner Partei zur Stationierung, das die SPD inzwischen auf einem Bundesparteitag beschlossen hatte.

Vier Wochen später stimmte der Bundestag dennoch mit der Mehrheit der CDU/CSU/FDP-Regierungskoalition für die Stationierung der neuen Atomraketen, die wenig später begann. An den Stationierungsorten Mutlangen, Neu-Ulm, Neckarsulm und Heilbronn demonstrierten in den folgenden Jahren zehntausende Friedensbewegte und blockierten gewaltfrei die Eingänge der US-amerikanischen Militärgelände. Viele Hunderte wurden angeklagt und von den zuständigen Amtsgerichten gemäß § 240 des Strafgesetzbuches wegen Nötigung verurteilt. Jahre später urteilte das Bundesverfassungsgericht allerdings, dass gewaltfreie Blockaden nicht den Straftatbestand der Nötigung erfüllen.

INF-Verhandlungen in Genf

Die Sowjetunion war anfangs nur nach einer Rücknahme des »Doppelbeschlusses« zu Verhandlungen mit der NATO bereit, ließ sich im Oktober/November 1980 aber doch auf »Vorgespräche« mit den USA in Genf ein. Ab November 1981 verhandelten dann beide Seiten offiziell in Genf. Zunächst unterbreiteten sie nur Vorschläge, die auf eine Reduzierung und zahlenmäßige Obergrenze von Atomwaffen kürzerer und mittlerer Reichweite in Europa zielten. Einer der Hauptstreitpunkte war Moskaus Forderung, bei einem künftigen Gleichgewicht auf niederem Niveau auch die britischen und französischen Atomwaffen dieser Kategorie mit anzurechnen. Diese Forderung lehnten die USA und die NATO stets kategorisch ab.

Im November 1982 wurden die Genfer Verhandlungen ergebnislos unterbrochen. Und nach Beginn der Stationierung der Pershing II und der Cruise Missiles ab Ende 1983 gab es zunächst keine Aussicht auf eine Wiederaufnahme der Verhandlungen. Doch nach der Wahl von Michail Gorbatschow zum Generalsekretär der KPdSU im Frühjahr 1985 kehrte die Sowjetunion an den Verhandlungstisch zurück und zeigte sich bereit zu einem vollständigen Verbot von atomaren Raketen kürzerer und mittlerer Reichweite. Eine entsprechende Verständigung wurde zwischen Washington und Moskau nach zwei Gipfeltreffen mit Gorbatschow und Reagan bereits im Frühjahr 1987 erreicht. Doch dann gab es Widerstand aus Deutschland: Die Sowjetunion verlangte, dass auch die bei Einheiten der Bundeswehr stationierten 72 atomaren Pershing-1A-Raketen der USA mit einer Reichweite von gut 700 Kilometer unter die geplante »doppelte Nulllösung« fallen müssten. Doch Teile von CDU/CSU sprachen sich gegen die Einbeziehung dieser Raketen in den Vertrag aus. FDP, Grüne und SPD waren für ihre Abrüstung. Im Sommer 1987 beendete Bundeskanzler Helmut Kohl unter deutlichem Druck aus Washington den Streit und stimmte dem Abzug der Pershing-1A-Raketen zu. Die Zustimmung erfolgte einseitig durch die Bundesrepublik und wurde nicht in den INF-Vertrag aufgenommen. So war der Weg frei für die Vertragsunterzeichnung am 8. Dezember 1987.

Die USA zerstörten vertragsgemäß 846, die Sowjetunion insgesamt 1.846 Raketen. Die letzte Rakete wurde im Mai 1991 demontiert.

Die Inspektionsrechte aus dem INF-Vertrag endeten am 31. Mai 2001. An diesem Datum galt der Vertrag auch als vollständig umgesetzt.

Der Vertrag gilt zwar zeitlich unbegrenzt, allerdings hat jede Vertragspartei das Recht, ihn mit sechs Monate Frist aufzukündigen, wenn „außerordentliche Ereignisse im Zusammenhang mit dem Gegenstand dieses Vertrages ihre übergeordneten Interessen beinträchtigen“.

Eine Kündigung ist bislang zwar nicht erfolgt, doch ist der INF-Vertrag zunehmend gefährdet.

Der INF-Vertrag ist in Gefahr

Bereits im Februar 2007 erklärte Russlands Präsident Wladimir Putin in seiner Rede vor der Münchner Sicherheitskonferenz, der Vertrag diene angesichts der von den USA beabsichtigten Aufstellung von Komponenten eines bodengestützten Raketenabwehrsystems in Tschechien und Polen den russischen Sicherheitsinteressen nicht mehr. Die amerikanischen Pläne gefährdeten die strategische Stabilität, was, wie der Chef des Generalstabs der russischen Streitkräfte wenige Tage später ausführte, „geeignete Gegenmaßnahmen“ erforderlich mache.

Im Juli 2014 erhob das Außenministerium der USA öffentlich den Vorwurf, Russland habe mehrfach Mittelstreckenraketen getestet und damit gegen den Vertrag verstoßen. Um welchen Typ eines bodengestützten Marschflugkörpers es sich gehandelt habe – nur diese sind unter dem INF-Vertrag verboten –, wurde offiziell nicht bekanntgegeben. Medienberichten zufolge handelt es sich um Iskander-K R500. Dieser Typ wurde erstmals 2007 getestet, seine maximale Reichweite ist nicht bekannt, und in den vergangenen Jahren wurde von den USA auch keine Vertragsverletzung geltend gemacht.

Bei Gesprächen einer US-Delegation in Moskau Anfang September 2014 wies Russland die Vorwürfe Washingtons zurück. Hingegen hätten die USA in drei Punkten gegen den INF-Vertrag verstoßen: Für Raketenabwehrtests würden die USA Raketen benutzen, die Mittelstreckenraketen ähnelten. Auch die Verwendung von Angriffsdrohnen sei ein Verstoß gegen den INF-Vertrag, weil sie zu 100 Prozent mit bodengestützten Marschflugkörpern“ übereinstimmten. Darüber hinaus ist Moskau beunruhigt über die Entwicklung der landgestützten Variante des US-Raketenabwehrsystems Aegis Ashore mit der Senkrechtstartanlage »MK 41 Vertical Launching System«, die 2015 in Rumänien stationiert wurde und 2018 in Polen eingeführt werden soll. Von diesen Anlagen könnten außer Abwehrraketen auch Cruise Missiles des Typs Tomahawk und damit vom INF-Vertrag verbotene Waffen gestartet werden.

Amerikanische Regierungsvertreter äußerten im Februar 2017 die Überzeugung, Russland habe den Vertrag gebrochen, indem es Mittelstreckenraketen nicht nur testete und produzierte, sondern bereits zwei aktive Bataillone seiner Streitkräfte damit ausgerüstet habe. Die Waffe, von den USA als SSC-8 bezeichnet, soll von Startvorrichtungen auf Lastwagen eingesetzt werden können, die sehr den Fahrzeugen ähneln, die von russischen Truppen für die SS-26-Iskander-Atomrakete benutzt werden. Eine der Einheiten mit dem neuen Raketentyp stehe nach US-Angaben noch beim Raketenerprobungszentrum Kapustin Jar, während die andere bereits abgerückt sei.

In Washington und auch in der NATO wird als Antwort auf die behauptete Verletzung des INF-Vertrages durch Moskau inzwischen über eine westliche »Nachrüstung« mit dieser verbotenen Waffenkategorie diskutiert. Ob sich die Geschichte des Mittelstrecken-Wettrüstens an dieser Stelle einfach wiederholt?

Andreas Zumach ist seit 1988 Korrespondent am Genfer Sitz der Vereinten Nationen für die taz und andere Zeitungen, Radio- und Fernsehstationen im deutschsprachigem Raum sowie Autor mehrerer Bücher zu den Vereinten Nationen und zu internationalen Konflikten. Er ist Mitglied im Beirat von W&F. Zur Zeit der »Nachrüstung« war er friedenspolitischer Mitarbeiter der Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste, in deren Auftrag er die Bonner Demonstration vom 10. Oktober 1981 organisierte, und danach bis 1987 einer der Sprecher des in Folge dieser Demonstration gegründeten Bonner Koodinationsausschusses der Friedensbewegung.

Umkämpfte Erinnerungen an Hiroshima


Umkämpfte Erinnerungen an Hiroshima

von Annette Ripper

Barack Obama war seit dem Atombombenabwurf auf das Zentrum von Hiroshima am 6. August 1945 der erste US-Präsident, der die Stadt besuchte. In seiner Rede verwies er auf die Bedeutsamkeit der Erinnerung an die verheerenden Folgen, da Erinnerung ein Umdenken ermögliche (Obama 2016). Erinnerungsarbeit ist jedoch ein komplexer Prozess, der eng an die Konstruktion von Identität gebunden ist, entweder die eines Einzelnen oder die eines Kollektivs. Dieser Beitrag beleuchtet anhand des Briefwechsels von Claude Eatherly, einem ehemaligen Major der US Army Air Force, mit dem österreichischen Philosophen Günther Anders und der daran anschließenden Debatte ein Stück dieser Erinnerungsarbeit, die an der Schnittstelle von Erinnerung und Gegen-Erinnerung, Identität und politischer Machtausübung angesiedelt ist.

Das philosophische Werk von Günther Anders bezieht sich in besonderer Weise auf die Ungeheuerlichkeit von Nuklearwaffen. Anders‘ Entsetzen über die Atombombenabwürfe in Hiroshima und Nagasaki haben sich tief in seine Arbeit und seine Aktivitäten eingeschrieben. Entwicklung und Einsatz der Atombombe markieren für ihn eine klare Zäsur im Beziehungsgefüge zwischen Mensch und Technik und zwar insofern, als der Mensch mit dem Einsatz der Technik potentiell in die Lage versetzt wird, seinen eigenen Untergang herbeizuführen. Anders stellt folgende Thesen auf, die für ihn in diesem Stadium der Technikentwicklung charakteristisch sind und die insgesamt die »Antiquiertheit des Menschen«, so der Titel seines zweibändigen Hauptwerks, ausmachen: „daß wir der Perfektion unserer Produkte nicht gewachsen sind; daß wir mehr herstellen als vorstellen und verantworten können; und daß wir glauben, das, was wir können, auch zu dürfen, nein: zu sollen, nein: zu müssen“ (Anders 1985, Vorwort zur 5. Auflage).

Die erste These ist gekoppelt an das, was Anders als „prometheische Scham“ (ebd., S. 23) bezeichnet und was sich auf das Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt bezieht und dieses Verhältnis verändert. Das Subjekt als Natürliches, Menschliches, empfindet Scham gegenüber der kalkulierbaren, immer gleich bleibenden leistungsintensiven Kraft der technischen Apparate, Maschinen und Objekte. Das ungeheure Destruktionspotential, die berechenbare Exaktheit und die Reichweite technischer Produkte übersteigen die menschlichen Fähigkeiten um ein Vielfaches, weswegen der Mensch sich seiner Unterlegenheit schämt und daher, so Anders, „zum Hofzwerg seines eigenen Maschinenparks“ (ebd., S. 25) werde. Diese, auch als „prometheische[s] Gefälle“ (ebd., S. 25) bezeichnete Distanz zwischen dem Vermögen der technischen Produkte und dem der Menschen verändere sich und werde größer – und zwar nicht nur, weil die Technik immer mehr kann als der Mensch, sondern auch, weil damit eine Diskrepanz zwischen »Herstellen« und »Vorstellen« einhergeht: „Daß wir nämlich mehr herstellen können, als wir vorstellen können; daß die Effekte, die wir mit Hilfe unserer von uns selbst hergestellten Geräte anrichten, so groß sind, daß wir für deren Auffassung nicht mehr eingerichtet sind.“ (Jungk 1961, S. 19)

Anders sah seine These in der seelischen Verfassung und der Zustandsveränderung des am militärischen Einsatz der Hiroshima-Bombe beteiligten Majors Eatherly bestätigt. Dieser war Pilot der Flugzeugcrew, die vor dem Bombenabwurf die Wetterbedingungen über Hiroshima erkundete und die dafür benötigten guten Sichtverhältnisse meldete. In den Tagen nach der Explosion der Bombe war Eatherly sehr still und auffallend verschlossen. In den folgenden Jahren wurde er durch skurrile Vergehen mehrfach straffällig, aus der Armee entlassen und nach zweifach versuchtem Suizid wiederholt – angeblich freiwillig – in der psychiatrischen Abteilung eines Militärkrankenhauses in Texas untergebracht. Die biografische Entwicklung Eatherlys erregte Aufsehen und wurde medial bekannt. Anders wurde durch einen »Newsweek«-Artikel von 1957 auf Eatherly aufmerksam und beschloss, ihn zu kontaktieren. Er schrieb Eatherly im Juni 1959 einen Brief, in dem er ihm seine Überlegungen zur neuartigen moralischen Situation, in die die Nuklearwaffen die Menschheit versetzt hatten, darlegte.

Der Effekt der Nachträglichkeit – eine eindringliche Korrespondenz

Dieser Brief bildete den Auftakt einer eineinhalb Jahre andauernden und 71 Briefe umfassenden Korrespondenz, die 1961 von Robert Jungk herausgegeben und einer größeren Leserschaft zugänglich gemacht wurde (Jungk 1961). Für Anders war Eatherly „schuldlos schuldig“ (ebd., S. 17 und 66) geworden, er war ein kleiner Teil eines komplexen Ganzen, ein Rädchen im Getriebe, das diesen Wahnsinn möglich machte. Und gerade weil Eatherly verhaltensauffällig war und offenbar an der Verarbeitung des Unvorstellbaren scheiterte, war er Anders zufolge Täter und Opfer zugleich und damit ein „Symbol der Zukunft“ mit der Funktion eines „Kronbeispiels“ (ebd., S. 17) für die grausame Wirkung und Rückwirkung der Bombe, die nicht nur unmittelbar durch sie Betroffenen unvorstellbare physische und psychische Verletzungen zufügt, sondern auch denjenigen, die sie gegen andere einsetzen. Eatherlys sonderbares Verhalten war der Beleg für die Gewissenskonflikte, die durch die Beteiligung an der Ermordung mehrerer Hunderttausend Menschen ausgelöst werden, die sich durch eine Einzelperson nicht bewältigen lassen und sich in Schuldgefühlen äußern, die ein Ventil brauchen, welches entweder ihre Anerkennung oder ihre Substitution sein muss. Für Anders war dieser Umstand nicht zuletzt darin sinnfällig geworden, dass Eatherly versucht hatte, sich durch eine Reihe krimineller und pseudo-krimineller Aktivitäten schuldig zu machen.1 Das Verhalten Eatherlys erlaubte damit im Rückschluss auf seine Beteiligung an der »Hiroshima-Mission«, den Einsatz der Atombombe als „schuldhafte Tat“ (Coulmas 2005, S. 7) zu klassifizieren.

Im US-amerikanischen Erinnerungsdiskurs wird der Einsatz hingegen bis heute nicht als schuldhaft anerkannt, denn sonst hätte sich Präsident Obama bei seinem Besuch in Hiroshima im Mai 2016 entschuldigen können und müssen. Wenig verwunderlich also, dass Eatherly der Schuldspruch für seine kriminellen Handlungen verwehrt wurde und er von der Justiz nicht belangt, sondern für krank erklärt wurde. Vermutlich 1947, nach seiner Entlassung vom Militär, wurde er in ein Krankenhaus für ehemalige Armeeangehörige in Waco, Texas, eingewiesen (ebd., S. 65).2 Man attestierte dem ehemaligen Air-Force-Piloten einen manischen Zustand“, der Auslöser für einen „Schuldkomplex“ (ebd., S. 90 und 122) gewesen sei, und entkoppelte damit die Relation zwischen Krankheitsbild und Bombenabwurf.

Anders kritisiert diese Diagnose nicht nur im Hinblick auf die Trennung von Ursache und Wirkung, sondern verweist auch auf die Problematik des Terminus »Schuldkomplex«. Durch dessen Verwendung würde der an reale Ereignisse gekoppelten Erfahrung von Schuld die Grundlage entzogen und nahegelegt, das Schuldgefühl sei einzig das Ergebnis oder die Begleiterscheinung eines schon zuvor existenten krankhaften psychischen Zustandes (ebd., S. 122 f.). Ob Eatherly tatsächlich schon vor Hiroshima psychisch angegriffen war, wie einige Autoren – darunter Huie (1964) – behaupten, lässt sich hier nicht entscheiden. Dass aber die US-Regierung Interesse daran hatte, die Glaubwürdigkeit desjenigen Piloten zu untergraben, dessen Einsatz eine Voraussetzung für den Abwurf der Atombombe von Hiroshima war, darf als wahrscheinlich gelten.

Die mediale Aufmerksamkeit des Falls Eatherly war mit dem Briefwechsel zwischen dem Piloten und dem Philosophen stark angestiegen. Zudem war Anders schon früh mit der Veröffentlichung einzelner Briefe befasst, lange bevor die von Jungk herausgegebene gesamte Korrespondenz publiziert und in mehrere Sprachen übersetzt wurde (ebd., S. 25 f.).3 Und auch Eatherly war offenbar bereits vor seiner Einweisung an die Öffentlichkeit getreten, um sich für Frieden und gegen atomare Rüstung einzusetzen (ebd., S. 25). Während des Austauschs mit Anders waren Filmproduzenten an Eatherly herangetreten, die seinen Werdegang verfilmen wollten. Anders riet ihm ab, solche Angebote ernst zu nehmen: „Wir dürfen die Gefahr nicht unterschätzen, daß Sie, der wirkliche Mensch, in einen hübsch lächelnden Schauspieler verwandelt werden könnten, also in eine harmlose Figur, die nicht dem Ernst der Wirklichkeit zugehört, sondern der Welt des bloßen Scheins. Sie wissen genau so gut wie ich, daß es Machtgruppen gibt, die an einer solchen Verwandlung interessiert wären, und denen nichts willkommener wäre, als wenn sie Sie unter Ihrem glamour begraben könnten.“ (ebd., S. 40 f.)

Stattdessen riet er ihm, selbst als Schriftsteller tätig zu werden und seine Biographie als einen „Akt der Selbstheilung“ (ebd., S. 58) niederzuschreiben. Anders sorgte sich um den Zustand Eatherlys, der wiederholt behauptete, man wolle ihn ins Militär-Krankenhaus Walter Reed verlegen (ebd., S. 58). Möglicherweise war eine Verlegung eine Reaktion auf die wachsende Popularität Eatherlys, der Unmengen an Post erhielt, darunter „Berge von Briefen aus Japan“ (ebd., S. 56). Besonders hervorzuheben ist hier der Brief der »Hiroshima Girls«, die sich, selbst versehrt und für den Rest ihres Lebens durch Entstellungen und Narben gekennzeichnet, an ihn wandten, um ihm ihr tiefes Mitleid“ zu übermitteln und ihn wissen zu lassen, dass sie „in gar keinem Sinne Feindschaft empfinden“ und ihm wünschen, dass er „bald vollkommen gesunden“ möge (ebd., S. 38 f.). Dieses beeindruckende Dokument ist nur ein Beispiel für viele versöhnliche Briefe, die Eatherly aus Japan erreichten.

Erinnerungsdiskurse

Der offizielle Erinnerungsdiskurs in Hiroshima ist heute bestimmt durch Gedenken an die Opfer, obgleich es für sie ein langer und mühsamer Weg war, als solche anerkannt zu werden.4 Mit moralischen und politischen Anklagen zurückhaltend bleibt das Erinnern an die Massenvernichtung von etwa 140.000 Menschen eher auf die humanitäre Katastrophe bezogen. So haben die Atombombenabwürfe als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ (ebd, S. 92) neben der Shoah Eingang in die Geschichtsbücher gefunden. Der japanische Historiker Hiroshi Hasegawa konnte aber anhand bislang unbekannter Dokumente den beabsichtigt experimentellen Charakter der »Mission« belegen und aufzeigen, dass aufgrund von Manövern des Trägerflugzeuges vor dem Abwurf die Opferzahl von Hiroshima um geschätzte 70.000 Menschen erhöht wurde (Knauß 2009).

Das verleiht der Frage nach dem »Warum«zusätzlich Brisanz. Japan hatte jahrzehntelang auf kriegsstrategische Gründe der USA und auf die militärische Lage im Zweiten Weltkrieg verwiesen. Der Japanologe Coulmas kommt zu der Einschätzung, dass sich aktuell ein Wandel im Erinnern an Hiroshima ankündigt. Die im kollektiven Gedächtnis Japans seit den 1960er Jahren verankerte Selbstbeschreibung als „einzig[e] vom Atomtod heimgesuchte Nation“ (Coulmas 2005, S. 28) scheint an Eindringlichkeit zu verlieren, ebenso wie die mediale Aufmerksamkeit für erinnerungskulturell geprägte Veranstaltungen. Das äußert sich nicht zuletzt darin, dass die lange durch die Bombardierung geprägte pazifistische Einstellung Japans aufzuweichen beginnt (siehe dazu den Artikel »Zivilklausel auf japanisch« von Hartwig Hummel in dieser W&F-Ausgabe) und vereinzelt sogar die Anschaffung eigener Atomwaffen angeregt wird (ebd., S. 110 und 114).

Was die USA betrifft, so wird die Frage des »Warum« kurze Zeit nach der Katastrophe mit der Rettung von Menschenleben sowie der schnellen Beendigung des Krieges begründet. Der damalige Präsident Truman sprach einmal von „500.000 geretteten US-Leben“ (Bernstein 1986), ein anderes Mal sogar von einer Million. Gemeint sind mit diesen Zahlen US-Soldaten, die bei einer konventionellen Eroberung Japans wohl ihr Leben verloren hätten. Für diese Zahlen gibt es aber keine Grundlage, und diese Begründung stieß von Beginn an auf Widerspruch.

Der US-amerikanische Historiker Gar Alperovitz trug andere Einschätzungen zusammen, etwa von General Eisenhower, damals Oberkommandierender der in Europa stationierten US-Truppen, vom damaligen Stabschef Admiral William Leahy und aktuelleren Datums auch von J. Samuel Walker, dem ehemaligen Historiker der U.S. Nuclear Regulatory Commission. Sie alle waren sich einig, dass die Bomben weder zur Rettung von Menschenleben beitrugen, noch in irgendeiner Weise kriegsstrategisch gerechtfertigt werden konnten. Im Gegenteil. Leahy bekannte:„Die Japaner waren bereits besiegt und bereit, sich zu ergeben […] Der Einsatz dieser barbarischen Waffe gegen Hiroshima und Nagasaki war keine substanzielle Unterstützung in unserem Krieg gegen Japan […] Da wir sie als Erste benutzt haben, […] haben wir einen ethischen Standard übernommen, der dem der Barbaren des finsteren Mittelalters gleicht. Mir wurde nicht beigebracht, auf diese Weise Krieg zu führen, und Kriege können nicht gewonnen werden, indem man Frauen und Kinder vernichtet.“ (zitiert nach Alperovitz 1990, S. 29)

Verhindert hat Leahy den Abwurf der Bomben auf Hiroshima und Nagasaki dennoch nicht, obgleich er und andere, darunter namhafte Physiker wie Leo Szilard, vom Einsatz abrieten. Leahy wies Truman schon im Juni 1945 darauf hin, dass „eine Kapitulation von Japan unter Bedingungen herbeigeführt werden kann, die für Japan akzeptabel sind und gänzlich zufriedenstellende Regelungen für Amerikas Verteidigung gegen eine künftige transpazifische Aggression einschließen“ (ebd., S. 24).

Alperovitz zufolge waren machtstrategische Gründe gegenüber der Sowjetunion für den Einsatz der Bomben ausschlaggebend (ebd., S. 23). Nach der Kapitulation Japans wurde von den US-Besatzern eine Zensur über alle Hiroshima und Nagasaki betreffenden Aspekte verhängt, die nicht nur die Opferversorgung erschwerte, sondern auch die Auseinandersetzung und den Erinnerungsdiskurs behinderte. Etabliert wurde vielmehr eine Gegenerinnerung, in der sich die Erzählung von einem „gerechten Krieg“ (Coulmas 2005, S. 116), in dem die Atombomben zum sofortigen Kriegsende geführt und Leben gerettet hätten, bis heute verfestigt hat (ebd., S. 96).

In den USA besteht bis in die Gegenwart ein starkes Interesse, diese Erzählung zu stützen. Dies zeigte sich an der Debatte um den Besuch Obamas in Hiroshima, die von Republikanern und Veteranen angestoßen wurde (ebd., S. 32f), sowie exemplarisch im Streit um die von der Smithsonian Institution geplante Ausstellung zum 50-jährigen Kriegsende im Luft- und Raumfahrtmuseum in Washington D.C. in den 1990er Jahren. Die Kuratoren hatten Hiroshima und Nagasaki um Exponate für die Ausstellung gebeten, die diese bereitwillig zur Verfügung stellten und die der Anlass heftiger Kontroversen wurden. Veteranenverbände und konservative Politiker waren gegen die Ausstellung von Exponaten, die Anlass geben könnten, das oben gezeichnete US-amerikanische Erinnerungsbild in Frage zu stellen. In dieser schließlich im Kongress verhandelten Debatte setzte sich am Ende die konservative Meinung durch, und die Ausstellung wurde abgesagt (ebd., S 32 f.). Teil dieser Ausstellung sollte auch der vollständig restaurierte B29-Bomber »Enola Gay« sein, mit dem die »Little Boy« genannte Atombombe über Hiroshima abgeworfen wurde.

Tibbets vs. Eatherly

Die mit der Namensgebung vorgenommenen Verharmlosungen und Personifikationen dieser todbringenden Artefakte stützen die Gegenerinnerung in den USA, die längst Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses geworden ist. Enola Gay hieß die Mutter des Piloten Paul Tibbets, der das Trägerflugzeug der Hiroshima-Bombe flog. Anders als Eatherly, der die Wetterbedingungen auskundschaftete und das „go ahead“ (Jungk 1961, S. 44) an Tibbets Besatzung gab, versicherte Tibbets bis kurz vor seinem Tod im Jahr 2007, dass er keine Gewissensbisse hatte und auch nicht habe. In einem Bericht des »Independent« schrieb der Journalist David McNeill: „Paul Tibbets, der Pilot der »Enola Gay«, sagte auch, dass die Bombe Leben gerettet habe. Auf die Frage, ob er es bereue, sagte er: ‚Ach was, auch nicht, wenn ich nochmals darüber nachdenke. Unter den selben Umständen, verdammt, ja, ich würde es wieder tun.’“ (McNeill 2005)

1960, zur Zeit des Briefwechsels zwischen Anders und Eatherly, erschienen etliche Dokumentationen über die Crew der »Enola Gay«, so etwa in »Coronet«.5 In der August-Ausgabe der Zeitschrift wird unter dem Titel »15 Years Later: The men who bombed Hiroshima«6 ein Portrait der Crew abgedruckt, dem ein großes Foto der Besatzung vorangestellt ist. Es zeigt zwölf junge Männer in Uniformen, die, in zwei Reihen hintereinander aufgestellt, lachend in die Kamera blicken. Alles „handverlesene Experten, ausgewählt für ihre Intelligenz, emotionale Stabilität und Disziplin“ (ebd., S. 79) – Charaktereigenschaften, die allen bei ihren erfolgreichen Nachkriegskarrieren geholfen hätten. Und für alle steht trotz unterschiedlicher Meinungen in Detailfragen eines fest: „sie sind sich in dem Punkt einig, ob sie das Gleiche wieder tun würden“ (ebd., S. 89). Danach folgen 14 Seiten Ausschnitte aus Interviews mit den einzelnen Crewmitgliedern, mit größer gedruckten Anmerkungen am Rand für diejenigen Leser*innen, die sich nicht die Mühe machen, den vollständigen Artikel zu lesen. Dort nimmt der ungenannte Autor der Zusammenfassung auch Bezug auf Gerüchte, die im Umlauf seien: „Es gingen Gerüchte um, dass Unglück, Gewissensbisse und sogar Wahnsinn die Männer, die die Bombe abwarfen, wie ein Fluch verfolgte. Diese Geschichten waren nicht wahr. Ein Mitglied einer Aufklärungsmission, die vor dem Angriff auf Nagasaki [sic!] im Einsatz war, ist zwar in einer Nervenheilanstalt, den Crewmitgliedern der »Enola Gay« geht es aber prächtig.“ (ebd., S. 89)

Der Bezug auf Eatherly ist deutlich. Die Leser*innen werden hier geschickt gelenkt. Der Gedanke, dass sich im „mental hospital“ ein Patient aufhält, der die »Hiroshima-Mission« als Ganzes in Frage stellt, scheint hier völlig abwegig. Dies wird verstärkt durch die folgende Äußerung Tibbets, des Bomberpiloten von Hiroshima, Ich habe absolut kein Schuldgefühl, ganz entgegen einiger Berichte, in denen behauptet wurde, dass ich im Irrenhaus sei, weil mich wegen dieser Sache Gewissensbisse plagten. Ich glaube nicht, dass irgendjemand kämpferische Aktivitäten im Gefecht persönlich nehmen sollte. Ich wurde angewiesen, es zu tun. Wenn ich angewiesen würde, so etwas heute zu tun, ich habe in den vielen Jahren Militärdienst gelernt, Befehle zu befolgen, also würde ich sie fraglos befolgen.“ (ebd. S. 90)

Immerhin eines der Besatzungsmitglieder spricht einen Wunsch aus, der hier nicht unerwähnt bleiben soll: „Ich hoffe, dass bald alle Nationen diese Bombe ächten werden, so, wie sie Giftgas geächtet haben.“ (ebd., S. 96) Es bleibt die einzige Aussage dieser Art in dem Text.

Vier Jahre nach dem »Coronet«-Text erschien »The Hiroshima Pilot« (1964) von William B. Huie, einem Journalisten, der ebenfalls auf den Fall Eatherly aufmerksam geworden war und ein beträchtliches Materialienkonvolut – bestehend aus Interviews, militärischen Führungszeugnissen, Tonbandaufnahmen von Freunden, Familie und Kollegen – zusammengetragen hatte, das belegen sollte, dass Eatherly keineswegs der von seinem Gewissen gepeinigte und zum Pazifisten geläuterte Bomberpilot sei. Vielmehr sei er ein anerkennungssüchtiger Betrüger, dessen Angststörung wohl eher daher rührte, dass er für den Angriff auf Nagasaki und später für den Abwurf der Testbombe auf den Bikini-Atoll nicht berücksichtigt worden sei. Günther Anders warf Huie vor, Eatherly zu einer Symbolfigur stilisiert zu haben, die eher einem Wunschbild entspreche als den Tatsachen. Anders wies das entschieden zurück und unterstellte seinerseits Huie, er habe sich kaufen lassen (Zimmer 1964).7 Huie wurde außerdem von anderen Journalisten vorgeworfen, die teilweise zweifelhaften und nur mündlich gegebenen Gegendarstellungen voreingenommen und zu unkritisch widergegeben zu haben (ebd.).

Ausblick

Was letztlich im Fall Eatherly Wahrheit ist und was nicht, lässt sich kaum beurteilen. Doch dass Geschichtsschreibung und Erinnerung konstruktive Prozesse sind, sollte mit den obigen Ausführungen belegt werden. Daher steht in diesem Zusammenhang weniger die Frage nach der ultimativen Wahrheit im Vordergrund, sondern vielmehr die nach den Schlussfolgerungen, die wir aus der Korrespondenz zwischen Anders und Eatherly für unser heutiges Denken und Handeln ziehen. Was diese Korrespondenz ermöglicht hat, war eine Reflexion über den ersten beabsichtigten Einsatz einer Massenvernichtungswaffe, die den Tod von mehreren Hunderttausend Menschen mit sich brachte,. Die genaue Zahl ist bis heute unbekannt (Althaus 2015). Schätzungen liegen bei 140.000 getöteten Menschen bis Ende des Jahres 1945. Fünfzig Jahre später werden Opferzahlen für Hiroshima in einigen Publikationen mit insgesamt über 200.000 angegeben (Schleusener 2004, S. 20), in anderen ist sogar von 350.000 Opfern die Rede, einschließlich derer, die teilweise ihr Leben lang mit den Folgen kämpf(t)en (Coulmas 2005, S. 18). Eine angemessene Aufarbeitung war zeitgenössisch durch Zensurmaßnahmen behindert worden, und zu schnell war die Weltgemeinschaft in der Nachkriegsgeschichte durch neue Bedrohungslagen und durch die Aufarbeitung anderer Gräueltaten abgelenkt.

Die Ausführungen wollten auch zeigen, dass das Erinnern ein umkämpfter Prozess ist, der von US-Seite bis heute entschieden geführt wird. Die Eatherly-Briefe ermöglichten einen trostspendenden Austausch mit den Opfern einer Katastrophe, denen lange die Anerkennung verweigert wurde und deren Leid durch die zensurbestimmte Informationspolitik der US-Besatzer lange Zeit im Verborgenen blieb. Und selbst wenn Anders mehr in Eatherly gesehen hat – ist dieser Umstand nicht Ausdruck für die Wünschbarkeit einer Vision, an die es damals wie heute zu glauben lohnt?

Anders‘ oft als kulturpessimistisch bezeichnete Philosophie steht im Zeichen der industriellen Produktion, des Holocaust und der Atombombe. Stilisierungen und Überspitzungen waren für ihn notwendige Mittel, um sich einer von ihm konstatierten Bagatellisierung der technischen und gesellschaftlichen Entwicklung zu widersetzen und so zu deren Wahrheit zu gelangen (Anders 1985, S. 236). Die Aktualität seiner Überlegungen zeigt sich heute insbesondere im Hinblick auf die atomare Situation (Morat 2006; Dries 2009, S. 94).

Anmerkungen

1) Zu diesen gehörten etwa ein Banküberfall, ohne Geld stehlen zu wollen; vgl. Jungk 1961, S. 11.

2) Dem Briefwechsel ist eine genaue Datierung der Einweisung nicht zu entnehmen. Eatherly war 1959, als Anders ihn kennenlernte, bereits viele Jahre Patient in der psychiatrischen Abteilung des Veteranenkrankenhauses in Waco, Texas, wenn auch mit Unterbrechungen. In der Zeit seiner Korrespondenz mit Anders war er bis Oktober 1960 durchgängig interniert, ist dann aber geflohen. Allerdings griff man ihn zwei Monate später wieder auf und wies ihn unter verstärkten Sicherheitsvorkehrungen erneut ein (vgl. Coulmas 2005, S. 113 und 119).

3) Diese Briefe wurden nicht nur in Deutschland publiziert, sondern auch in bekannten Tageszeitungen in Japan (vgl. Coulmas 2005, S. 58).

4) Das gilt für alle Opfer von Hiroshima, inbesondere aber für koreanische Bombenopfer, die im August 1945 als Kriegsgefangene in Japan waren, und für »Hibakusha«, deren Verwundungen äußerlich nicht sichtbar waren (vgl. Coulmas 2005, S. 26f.).

5) »Coronet« war ein auflagenstarkes und ein breites Publikum ansprechendes Digest-Magazin, das in den Jahren 1936 bis 1971 monatlich erschien. Die Artikel reichten von kulturellen Themen und Starportraits bis hin zu Dossiers über Personen und Personengruppen aus verschiedenen Bereichen.

6) Der Artikel ist online verfügbar unter ­oldmagazinearticles.com/atomic_bomb_­opinions_held_by_Enola_Gay_Crew-pdf.

7) Was die Replik von Anders anbelangt, so bezieht sich Zimmer hier auf einen Artikel in der Süddeutschen Zeitung vom 15. Mai 1964.

Literatur

Alperovitz, G. (1990): Why the United States dropped the bomb. Technology Review, 93(6), S. 22-34. Von Alperovitz liegt eine deutsche Übersetzung seines Standardwerks zum Atomwaffeneinsatz auf Hiroshima vor: Hiroshima – Die Entscheidung für den Abwurf der Bombe. Hamburg: Hamburger Edition, 1995.

Anders, G. (1985 [1956]): Die Antiquiertheit des Menschen. Erster Band. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution. Siebte Auflage. München: Beck.

Althaus, J. (2015): Atombomben 1945 – Niemand kennt die wirkliche Zahl der Opfer. welt.de, 10.8.2015.

Bernstein, B. J. (1986): A postwar myth: 500 000 U.S. lives saved. Bulletin of the Atomic Scientists, 42(6), S. 38-40.

Coulmas, F. (2005): Hiroshima – Geschichte und Nachgeschichte. München: Beck.

Dries, C. (2009): Günther Anders. Paderborn: Fink.

Fohler, S. (2003): Techniktheorien – Der Platz der Dinge in der Welt des Menschen. München: Fink.

Huie, W.B. (1964): The Hiroshima Pilot. New York: Putnam. Deutsch ebenfalls 1964 erschienen bei Zsolnay.

Jungk, R. (Hrsg.) (1961): Off limits für das Gewissen – Der Briefwechsel zwischen dem Hiroshima-Piloten Claude Eatherly und Günther Anders. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.

Knauß, F. (2009): Atombombe auf Hiroshima – Ein Experiment mit 70 000 Toten. Zeit Online, 20.8.2009.

McNeill, D. (2005): “My God what have we done?” – the commander of the »Enola Gay«. Independent, 4.8.2005.

Medick, V. und Wagner, W. (2016): Obamas heikle Hiroshima-Mission. Spiegel Online, 26.5.2016.

Morat, D. (2006): Die Aktualität der Antiquiertheit – Günther Anders‘ Anthropologie des industriellen Zeitalters. Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, 2, S. 322-327.

Obama, B.H. (2016): Remarks by President Obama and Prime Minister Abe of Japan at Hiroshima Peace Memorial, Hiroshima Peace Memorial, Hiroshima, Japan, May 27. 2016; obamawhitehouse.archives.gov.

Schleusener, J. (2004): Tage, die die Welt veränderten. 6.8.1945 – Die Bombe auf Hiroshima. Augsburg: Weltbild.

Zimmer, D.E. (1964): Der Bomberpilot von Hiroshima – Claude Eatherly oder die Suche nach dem einen Gerechten. DIE ZEIT, 28.8.1964.

Annette Ripper, M.A. ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin bei IANUS, einer Einrichtung für naturwissenschaftliche Friedensforschung an der TU Darmstadt.