Frauen und Frieden. Zu einigen bildlichen Konzeptionen der frühen Neuzeit

Frauen und Frieden. Zu einigen bildlichen Konzeptionen der frühen Neuzeit

von Jutta Held

Seit dem frühen 16. Jahrhundert setzt in der Bildpublizistik eine massive frauenfeindliche Kampagne ein, die vermutlich vom Patriziat der Städte in Verbindung mit den kirchlichen Instanzen getragen wird und das Ziel hat, die Frauen aus der Öffentlichkeit zu verdrängen und in der Familie dem Mann unterzuordnen. Trotz der nahezu ausschließlich negativen, warnenden Charakterisierung der Frauen, die verbreitet wird, gelang es nicht, das Frauenbild diesen misogynen Deutungsmustern der Kirche vollständig zu unterwerfen. Selbst diese theologisch legitimierten Ideologien hinsichtlich der Frau mußten immer wieder den volkstümlichen Alltagserfahrungen, in denen die Frau selbstverständlich auch eine positive Rolle spielte, Raum gewähren.

Es soll hier nur ein Bild aus dem späten Mittelalter angeführt werden, das eher diese volkstümlichen Erfahrungen spiegelt. Maria als Fürbitterin, die sogenannte Schutzmantelmadonna, gewährt Frauen und Männern, darunter auch Würdenträgern, unter ihrem Mantel Asyl, während Gottvater vom Himmel Pestpfeile auf die Menschen abschießt. Der männliche Gott ist ein ferner, unbarmherziger und kriegerischer Despot, während die Göttin (diesen Rang und Wert hatte Maria wohl zumindest im Leben des Volkes) auf der Erde steht wie die Menschen und ihnen ganz nahe ist. Sie konnte daher um Schutz vor der männlichen Gewalt angegangen werden.

In der Arbeitsteilung der Geschlechter war der Frau auf der Grundlage ihrer Sexualität die Rolle zugewachsen, Krieg und Krankheit abzuwehren oder deren Folgen zu mildern. Auf unserem Bild wird diese schützende Funktion der Frau deutlich in Opposition gesehen zu der männlichen Herrschaft, die Unheil verbreitet. Der theologischen Deutung der Herrschaft, die diese im Bilde Gottvaters als Summum bonum legitimiert, wird hier eindringlich, nahezu blasphemisch widersprochen.

Es mischen sich in diesem Bild vermutlich alte Erfahrungen, die Rolle der Frau betreffend, mit neuen gesellschaftlichen Erfordernissen und Wünschen nach Frieden und Sicherheit, die auf die Frau projiziert werden.

In dem Maße, wie die Märkte und Städte sich entwickelten, die Höfe zum Schutz des Handels sich das Gewaltmonopol aneigneten, wurden neue soziale Verkehrsformen erforderlich. Vor allem an den italienischen Höfen wurden erste Modelle eines friedlichen sozialen Umgangs entwickelt. Gleichzeitig und in Zusammenhang mit diesen neuen Verkehrsformen auf individueller Ebene werden Alternativen zu den gewaltsamen, kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den Herrschergeschlechtern erprobt. Isabella d'Este, die in Mantua mit ihrem Gemahl Alfonso Gonzaga regierte, eine Frau also, wird für ihre diplomatischen Künste gerühmt, die der Kriegskunst ihres Mannes gleichwertig seien.

Eine Friedenskultur wird ausgebildet, die sowohl den zwischenmenschlichen Umgang der Individuen untereinander bestimmen soll als auch – ansatzweise – auf die politischen Auseinandersetzungen ausgedehnt wird. Diese weltliche Friedenskultur emanzipiert sich zugleich von der kirchlichen Ideologie, die bislang die nahezu einzige sinngebende Instanz, auch für weltliche Belange, gewesen war. So wird dies utopische Reich des Friedens nicht länger der Maria unterstellt, sondern der Venus.

Der Parnaß von Mantegna, im Auftrage der Isabella d'Este gemalt, ist ein Beispiel. Venus ist im Begriff, Mars, den Kriegsgott, auf ihr Bett zu ziehen, d. h. zu entwaffnen. Die Musen Apoll, Merkur und Pegasus wohnen voll Freude der Verbindung zwischen Mars und Venus bei. Eine Tochter, Harmonia, wird aus der Vermählung hervorgehen. Der einzige, der an diesem Reich des Friedens keinen Gefallen findet, ist Hephaistos, der Ehemann der Venus und Schmied, der den Göttern ihre Waffen herstellte – modern gesprochen der Repräsentant der Rüstungsindustrie. Er wendet sich in aufgebrachter Geste gegen die Verbindung von Mars und Venus, bei der er betrogen wird. Die Frau bietet hier nicht nur elementaren Schutz wie auf dem Bild der Maria. Ihr wird gleichzeitig die Herrschaft in einem autonomen Reich das Friedens zuerkannt, das durch eigene Gesetze bestimmt wird: die Liebe herrscht hier, und nur unter ihrem Regiment können sich neue menschliche Fähigkeiten entfalten, Dichtung, Gesang, Tanz und Warenproduktion und -verkehr. In der französischen Salonkultur wird die Friedenserziehung durch die Frau, die von den italienischen Höfen ihren Ausgang nahm, fortgesetzt. Die Frau übernahm auch hier die Führung bei der Kultivierung des sozialen Umgangs der Individuen untereinander. Die galante Liebe, die in diesen Salons zu Beginn des 17. Jahrhunderts konzipiert wird, ist das Modell dieser neuen Kommunikationsform. Die Minnesklaverei, einst verpönt und diffamiert, wird nun zum Ideal des honnete homme. Den kriegerischen Männern, deren Erziehung nach Castigliones Vorstellung vom Hofmann noch der Notwendigkeit der Selbstverteidigung entsprach, wird hier von den Frauen die Friedensfähigkeit beigebracht. Statt Kampfstrategien zu lernen, wird in den Salons gegenseitige Rücksichtnahme eingebt, die Relativierung des eigenen, individuellen Standpunktes, um dem des Partners die gleiche Geltung zu gewähren. Eine neue, psychologisch wirksame Macht der Frau über den Mann wird nunmehr gesellschaftlich akzeptiert. Damit wird den Frauen, zunächst nur denen des Adels und der oberen Schichten der Bourgeoisie, ein neuer Aktionsrahmen eingeräumt, den sie zu nutzen wußten, um auch ihre geistige Emanzipation voranzutreiben.

Diese Salonkultur blieb in Opposition zum königlichen Hof. Noch die arkadische Welt, die Watteau in seinen Bildern galanter und natürlicher Liebe entwarf, wo der Frau gehuldigt wird, negieren Versailles, das bereits vor dem Tode Ludwigs XIV. als dominierendes, kriegführendes und unterdrückendes Machtzentrum heftig kritisiert wurde. Watteaus Liebesfeste finden im Freien statt, in einer von Menschenhand scheinbar unberührten Landschaft, fern von den gestutzten Gärten des Hofes. Die Unnatur der Versailler Landschaftsgestaltung wurde zum Symbol für bedrückende Herrschaft, deren Legitimität immer weniger einsichtig zu machen war. Im späten 18. Jahrhundert wurden, vor allem im Bürgertum, die Arbeitsteilungen zwischen den Geschlechtern in dem Maße ideologisch abgesichert, wie die Frau beanspruchen konnte, als gleichwertige Person neben dem Manne anerkannt zu werden. Diese Gleichwertigkeit von Mann und Frau war von den Aufklärern propagiert worden. Z. B. wird in Diderots Enzyklopädie argumentiert, daß die Frau dem Mann moralisch und intellektuell gleichwertig sei und daher die gleichen natürlichen Rechte beanspruchen könne.

Gleichzeitig begann jedoch das Bürgertum des späten 18. Jahrhunderts, die unterschiedlichen Rollenzuweisungen an Mann und Frau zu zementieren und zu verteidigen. David hat in seinem Bild von 1784 „Der Schwur der Horatier“ diese strikt getrennten Kompetenzzuweisungen scharf erkannt und antithetisch dargestellt. Die folgende Szene hat der Maler gewählt: Die drei Söhne des Horatius schwören ihrem Vater, das Vaterland, Rom, zu verteidigen. Es ging um die Vorherrschaft von Rom oder Alba Longa. Um weiteres Blutvergießen im Kampf beider Städte gegeneinander zu vermeiden, sollen je drei Vertreter aus den beiden Städten gegeneinander kämpfen. Die drei Horatier werden ausgewählt, um gegen die Curatier aus Alba Longa zu kämpfen. Dies stellt einen tragischen Konflikt dar, weil Sabina, die Schwester der Curatier, mit einem der Horatier verheiratet ist, und Camilla, die Schwester der Horatier, mit einem der Curatier verlobt ist.

Interessant ist nun, wie David diesen Konflikt dargestellt hat. Die Trennungen, die er schafft, sind sehr viel strikter und ausschließlicher als je zuvor. Zwar war auch schon Mantegnas Bild antithetisch angelegt: Nicht zufällig ist jedoch, daß dieser Widerspruch zwischen männlichem kriegerischen und weiblichem friedvollen Reich keineswegs so systematisch rigoros und reduktionistisch durchgeführt ist wie bei David. Im Reich der Venus, das nicht nur persönliche Liebesbeziehungen, sondern Kultur im weiteren Sinne umfaßt, darunter Tanz, Musik, Dichtung und Handel, sind durchaus auch Männer tätig. Das Friedensreich der Venus ist noch kein weibliches Ghetto.

David hat in seinem Bild nicht einmal zwei unterschiedliche Organisationsformen, also den Staat links und die Familie rechts konfrontiert. Die trauernden Frauen hüten nicht etwa, wie es das 18. Jahrhundert mit zahllosen Bildern ihnen vorexerzierte, liebevoll die Kinder, sondern überlassen den kleinen Jungen einer Amme. Außerdem zeigt David wie dieser ihrer Obhut bereits entgleitet: Mit seinem glühenden Blick ist er schon bei den Männern und ihrem Vaterlandsschwur. Die „Stimme der Natur“ setzt sich bereits gegen den Einfluß der Frauen durch. Die Frauen werden also nicht primär bei einer anderen Aufgabe gezeigt, die der der Männer widerspricht. Von dieser ihrer anders orientierten Funktion wird weitgehend abstrahiert. Unabhängig von ihr, also als Naturnotwendigkeit, vertreten sie ein anderes emotionales und moralisches Wertesystem. Kein Block, keine Geste verbindet die Frauen und die Kriegergruppe. Die Frauen erscheinen selbstzentriert, ohne Bezugspunkt außerhalb ihrer selbst. Hier sind sicher die Anfänge biologistischer Argumentationen greifbar, mit denen sich die Männer im 19. Jahrhundert, zunehmend aggressiver, gegen die Frauenemanzipation zur Wehr setzten: Weibliche Weichheit, weibliches Gefühl werden männlicher Härte und Vernunft konfrontiert, ihre gegensätzlich aufgefaßten Naturen werden zu unüberbrückbaren Schranken zwischen den Geschlechtern hochstilisiert. Bei Davids antithetischer Darstellungsweise überwiegt sicher noch der Gedanke an zwei mögliche Alternativen (also an Wahlfreiheit), an die alte Antithese von Krieg und Frieden. Durch den schärferen Geschlechterantagonismus und die rigide Reduktion der Szene auf diesen einen Gegensatz stellt David zugleich unerbittlich klar, daß es sich um ein Entweder – Oder handelt. Durch seine antithetische Komposition hat David die friedensorientierte Haltung der Frauen in dialektischen Bezug zu den entgegengesetzten Interessen der kriegführenden Männer gesetzt. Beide Welten widerlegen oder relativieren sich gegenseitig. Damit hat David die Frauen zwar nicht als „Akteure“ der Geschichte gesehen und akzeptiert. Sie bleiben vielmehr leidend und passiv. Dennoch erscheinen sie objektiv als ein Gegenargument gegen den Kampfesmut der Männer. David nimmt es ernst genug, um es auf seiner politischen Bühne zu repräsentieren, auf der er keine Nebenszene und keine Nebengedanken duldet.

In der Französischen Revolution wurden durch die Beteiligung der Frauen am revolutionären Prozeß die alten Festlegungen zwischen den Geschlechtern real in Frage gestellt. Die Frauen politisierten ihre alte Rolle als Schützerin des Lebens. Mit seinem Bild der Sabinerinnen hat David das handelnde Eingreifen der Frauen in die Politik reflektiert, und er geht in diesem Punkt über seinen „Schwur der Horatier“ hinaus. Dargestellt ist nicht, wie in der Bildtradition üblich, der „Raub der Sabinerinnen“. Dies Thema galt gemeinhin als Sinnbild für Hochzeiten und war daher für eine Politisierung in Davids Sinne ungeeignet. Der Künstler hat statt dessen die Fortsetzung der Geschichte drei Jahre später als Sujet gewählt. Die Sabiner unternehmen einen Rachefeldzug gegen Rom. Die Sabinerinnen, längst glücklich mit ihren Römern verheiratet und Mütter geworden, treten zwischen die kriegfahrenden Gruppen der Römer und Sabiner. In der Mitte ist Hersilia dargestellt, die Frau des Romulus, die diesen von dem Sabiner Tatius trennt. David geht wieder von den bekannten Rollenfixierungen aus: Der Mann ist auf Kriegsführung aus, die Frau für den Frieden zuständig. Diesmal ist es jedoch kein statischer Antagonismus wie bei den Horatiern, wo sich die Frauen leidend mit ihrer Rolle abfanden, sondern sie greifen handelnd ein. Sie werden auch nicht, wie bei den Horatiern, den kriegführenden Männern konfrontiert, denen gegenüber sie von vornherein unterlegen sind, sondern sie stehen – moralisch überlegen – zwischen den kriegführenden Parteien und vertreten das gemeinsame gesellschaftliche Interesse. David selbst wollte Hersilia als die mere patrie (die Mutter Vaterland – eine paradoxe Formulierung!) gedeutet wissen, die sich zwischen die einander bekämpfenden Parteien stürzt, die einander auszulöschen drohen. Diese Deutung – auch mit ihrer Hoffnung auf die Frauen – ist biografisch verständlich, bedenkt man, daß David sein Bild nach der Niederlage der Jakobiner gemalt hat, nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis, in das er als aktiver Anhänger der Jakobiner geworfen wurde.

Auf diese Rolle der Friedensstiftung, die uns historisch zugewachsen ist und die zur Zeit der französischen Revolution zum erstenmal politisch zugespitzt gesehen worden ist, besinnen wir Frauen uns heute mit besonderen Gründen. Wie wir wissen, hat das Bild der Horatier die reale Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts zutreffender antizipiert. Die Sabinerinnen sind bis heute eine Utopie, deren Realisierung noch aussteht.

Prof. Dr. Jutta Held lehrt Kunstgeschichte an der Universität Osnabrück.

„Du solt niemandt tödten“ – Darstellungen des Krieges in der frühen Neuzeit

„Du solt niemandt tödten“ – Darstellungen des Krieges in der frühen Neuzeit

Ein Beitrag der Kunstgeschichte zur Friedenserziehung

von Norbert Schneider

Schon für das Mittelalter, besonders aber für die frühe Neuzeit, als die ersten großen Heere eingerichtet und Innovationen in der Waffentechnik, vor allem im Geschützwesen, entwickelt wurden, lassen sich Friedensbewegungen nachweisen, zu denen sich auch nicht wenige Künstler bekannten. Wenn heute Franz Alt mit seiner Berufung auf die Bergpredigt einer primär vom christlichen Glauben geprägten Fraktion der Friedensbewegung eine ethische Argumentation anbietet, so kann man zeigen, daß derlei moralische Ideale schon von religiösen Gemeinschaften des Mittelalters wie den Bogumilen, den Waldensern und den Brüdern vom gemeinsamen Leben in radikaler Form gegen eine kriegslüsterne Obrigkeit gepredigt wurden. Neben diesen religiösen pazifistischen Bewegungen fanden auch säkulare, weltliche Friedensideen wachsende Verbreitung, wie sie, gestützt auf das Toleranzprinzip mit seiner Forderung nach friedlicher Koexistenz, im Zeitalter der Renaissance die Humanisten und später, im 18. Jahrhundert, die Aufklärer propagierten.

Bei Immanuel Kant finden wir sogar schon politisch-ökonomische Argumente: Er macht auf die ständig wachsenden Schuldenlasten des Staates aufmerksam, „deren Tilgung unabsehlich wird“, und weist auf Auswirkungen einer jeden Staatserschütterung auf alle anderen Staaten hin, mit denen „unser Weltteil“ „durch seine Gewerbe“ verkettet sei. „Man muß gestehen“, sagt Kant, „daß die größten Übel, welche gesittete Völker drücken, uns vom Kriege, und zwar nicht so sehr von dem, der wirklich oder gewesen ist, als von der nie nachlassenden und sogar unaufhörlich vermehrten Zurüstung zum künftigen, zugezogen werden. Hierzu werden alle Kräfte des Staates, alle Früchte seiner Kultur, die zu einer noch größeren Kultur gebraucht werden könnten, verwandt; der Freiheit wird an so vielen Orten Abbruch getan, und die mütterliche Vorsorge des Staates für einzelne Glieder in eine unerbittliche Härte der Forderungen verwandelt, indes diese doch auch durch die Besorgnis äußerer Gefahr gerechtfertigt wird.“

Kant macht also schon auf den Zusammenhang von Aufrüstung und Abbau von Sozialleistungen, Restriktionen auf dem Kultursektor und Zerstörung von vom Volk Beschaffenem Kulturgut aufmerksam, Aspekte, die auch heute noch vorrangig genannt werden müssen. Er erkennt hellsichtig und prangert es eindringlich an, daß der Staat mit seinen Aufrüstungsmaßnahmen die Kultur tendenziell vernichtet, die er doch eigentlich zu fördern hätte.

Mit Kant habe ich einen Friedenstheoretiker zitiert, dessen Argumentationen uns schon sehr modern vorkommen. Er steht, wie bereits angedeutet, in der Tradition der friedensethischen Theorien, die sich im 15. und 16. Jahrhundert ankündigten. Es war dies die Epoche, in der sich die modernen Nationalstaaten herausbildeten und damit auch nationale ökonomische Systeme, die von den absolutistischen Herrschern protegiert wurden. Eine Folge der aufkommenden divergierenden nationalen ökonomischen Interessen im Zeichen des expansiven Handelskapitals ist der Kampf um die politische Hegemonie, der immer wieder, die Ebene der Diplomatie verlassend, in kriegerische Konflikte riesigen Ausmaßes mündet. Das Studium der Entstehung der modernen Staaten lehrt eindringlich, daß die Profitinteressen immer wieder Anlaß und Ursache für das Anfachen von Kriegen gewesen sind, ein Prozeß, der bis heute anhält. Im 16. Jahrhundert wuchsen in gigantischem Maße die Kosten für die Planung und Führung von Kriegen. Im vorrevolutionären Frankreich machten die Staatsausgaben für militärische Einrichtungen zwei Drittel des Gesamtetats aus. Perry Anderson hat in seinem Buch „Die Entstehung des absolutistischen Staates“ (Frankfurt 1979, edition suhrkamp 950, S. 40) festgestellt: „Die permanente Virtualität eines internationalen Konflikts kennzeichnet das ganze Klima des Absolutismus. Der Friede war sozusagen meteorologische Ausnahme in den Jahrhunderten seiner Herrschaft in Europa. Man hat errechnet, daß es im ganzen 16. Jahrhundert nur 25 Jahre ohne militärische Operationen in Europa gab, während im 17. Jahrhundert nur sieben Jahre ohne entscheidende Kriege zwischen den Staaten vergingen. Das Kapital blieb davon unangefochten; im Gegenteil: ihm waren die Zustände … von Nutzen.“ (Thomas Hobbes schreibt in „De cive“ (2,2): „Suche den Frieden, wo du ihn haben kannst wo du ihn – in einer deinen Interessen angemessenen Weise – nicht haben kannst, rüste zum Krieg.“)

Eine affirmative Darstellung der militärischen Innovationen, einen Reflex des neuen Heerwesens bringt Altdorfers berühmte „Alexanderschlacht“ von 1529, gemalt für Herzog Wilhelm IV. von Bayern und seine Gemahlin Jacobaea von Baden. Bestimmt war dies Bild für die Residenz des Fürsten, neben einer Reihe an derer Kriegsbilder von Jörg Breu, Melchior Feselen, Ludwig Refinger u. a. Auffallend ist die Fülle von Figuren: Reiterscharen und Fußvolk in strategischer Anordnung, von einem hohen Blickpunkt aus gesehen, so daß man genau feststellen kann, wie die taktischen Operationen verlaufen. Auf der vom oberen Bildrand herabhängenden Tafel ist exakt verzeichnet, wieviel Perser Alexanders Heere töteten: 100.000 Mann zu Fuß und 10.000 Reiter. König Darius habe sich, so steht dort weiter zu lesen, mit mehr als 1.000 Reitern durch die Flucht retten können; seine Mutter, seine Gattin und seine Kinder hingegen seien gefangengenommen worden. Das Interesse an der Registrierung der Zahlen ist bemerkenswert groß. Mit just eben solchen Problemen befaßten sich die Fürsten des 16. Jahrhunderts, die Berufsheere von stattlicher Stärke einführten (Philipp II. von Spanien verfügte über 60.000 Mann, ein Jahrhundert später hat Ludwig XIV. von Frankreich 300.000 Krieger unter Sold.). Und so ist Altdorfers Bild, das zu vielen metaphysischen Kommentaren eingeladen hat, etwa hinsichtlich der Parallelität des kosmischen Geschehens am Himmel, der Wolkenformation, und dem Wogen der Schlacht unten, zuvörderst als ein historisches Dokument fr die Revolutionierung des Militärwesens in der frühen Neuzeit zu werten. Es enthält auch durchaus einen aktuellen Zeitbezug von der Intention des Auftraggebers und des Malers her, denn die Schlacht bei Issus (333 v. Chr.) ist typologisch bezogen auf den Kampf des christlichen Abendlandes gegen die heidnischen Türken (die hier mit den Persern gleichgesetzt werden ).

Solchen eher apologetischen, jedenfalls nicht kritischen Darstellungen stehen bildliche Äußerungen von dem Humanismus nahestehenden Künstlern wie Hans Baldung Grien (1476-1545) gegenüber, die die Brutalität der von den Fürsten angeworbenen Soldateska moralisch verurteilen. In einem Holzschnitt zeigt Baldung Grien zwei mit Schwertern sich bekämpfende Landsknechte. Über der Bildrahmung steht mahnend die Inschrift: „Das fünfft gebott ist: Du solt niemandt tödten.“ Unzweifelhaft eine Forderung, die Distanz zu einer wie auch immer gearteten Parteinahme in den militärischen Konflikten der Zeit sucht. Der „Dienst an der Waffe“, um die neudeutsche Sprachregelung unserer Regierung zu zitieren, wird unter Hinweis auf die Bibel als Verbrechen und Sünde wider Gott gesehen. Diese Position steht in Einklang mit der philosophischen Haltung des Humanismus etwa eines Erasmus von Rotterdam (1466-1536), der angesichts der kriegerischen Auseinandersetzungen des 16. Jahrhunderts immer wieder dazu aufrief, Toleranz zu üben und auf den Einsatz von Waffen zu verzichten. So wie auch heute die Friedensforschung ein sozialpsychologisches Programm zur Aufdeckung der sozialen Determinanten individuellen Aggressionsverhaltens entwickelt, so haben sich auch Erasmus und andere Humanisten nicht von ungefähr mit seelischen Dispositionen und mit der Skala der Affekte beschäftigt, um so zur Grundlegung eines gesellschaftlich verbindlichen moralischen Systems zu gelangen, das Friedfertigkeit und Brüderlichkeit ermöglicht. Im Gegensatz zu Luther, der mit seiner rigiden Erbsündentheorie den Menschen schlechthin zum Sünder erklärte, den nur die Gnade Gottes erlösen kann, hielt Erasmus zeitlebens an der Lehre vom freien Willen fest. Führte Luthers Lehre unweigerlich zu einer Anerkennung bestehender Gewalten und Gewaltsysteme, zu einer fatalistischen Haltung gegenüber dem Status Quo, so vertrat Erasmus die Auffassung, daß man sich. aus diesen Verhältnissen heraushalten und moralischen Widerpart leisten solle.

Anders Luther, der eine Schrift verfaßt hat, ob Kriegsleute auch seligen Standes sein können. Darin findet sich das Diktum: „Denn weil das Schwert ist von Gott eingesetzt, die Bösen zu strafen, die Frommen zu schützen und Friede zu handhaben, so ist's auch gewaltiglich genug bewiesen, daß Kriege und Würgen von Gott eingesetzt sind und was Kriegslauf und Kriegsrecht mitbringet. Was ist Krieg anders, denn Unrecht und Böses strafen? Warum kriegt man, denn daß man Friede und Gehorsam haben will?“ Dieser auch noch bei den heutigen Regierungen beliebten Argumentation, daß Aufrüsten und letztlich Kriegführen nur dem Frieden dient, steht Erasmus Mahnung an den Fürsten gegenüber: Ein guter Fürst sollte von sich aus überhaupt keinen Krieg beginnen und alles zu vermeiden suchen, was dazu führen könnte. Erasmus erinnert den Fürsten an die moralischen Grundlagen seines politischen Handelns, die im christlichen Glauben verankert sein müßten. Gegenüber kirchlicher Pervertierung christlicher Lehre mit ihrer Rechtfertigung des Krieges (z. B. bei Thomas von Aquin) insistiert Erasmus, der sich auf Argumente des Stoizismus stützt, darauf, daß sich der Fürst am Ideal des friedliebenden, vernunftgeleiteten Menschen orientieren und von dem Negativbild des kriegslüsternen Despoten, den er mit einer „wilden Bestie“ vergleicht, abheben müsse. Auch ökonomische Argumente läßt Erasmus – wie später Kant – einfließen: er macht eindrucksvoll klar, welche Kosten und Folgekosten Aufrüstung und – Krieg verursachen. Schließlich malt er die Schrecken und Leiden aus, die die Bevölkerung zu erleiden habe.

Mit den Bildern aus der Zeit der Reformation beginnt eine Tradition von Darstellungen, die die Leiden der Bevölkerung unter der Soldateska vor Augen führt. Die Künstler werden zu Anwälten der einfachen Menschen, die den Machenschaften der Großen, ihren politischen Interessen und Entscheidungen wehrlos ausgeliefert

Brueghels Bild „Der betlehemische Kindermord“ (1566/67, Wien, Kunsthistorisches Museum, 111×160 cm) erscheint nicht zufällig auf den ersten Blick als Idylle. Auf den zweiten entdeckt man, daß in die friedliche Winterlandschaft der Terror eingedrungen ist; die Schergen des Herodes überfallen das Dorf, metzeln die ihren Müttern entrissenen Kinder nieder, dringen plündernd in die Häuser ein. Im Mittelpunkt eine Phalanx Berittener, die die Straße nach hinten abriegelt, um ein Entkommen zu verhindern. Eindeutig handelt es sich bei diesem Bild um eine Anspielung auf die Militärdiktatur des Eisernen Herzogs Alba, der von Philipp II. mit einem Eliteheer von 10.000 spanischen Söldnern, die in Italien in Garnison lagen, zur Niederschlagung des Aufstands der Volksmassen gegen die Fremdherrschaft in die Niederlande entsandt worden war. Ziel der blutigen Aktion, bei der über 8.000 Menschen hingerichtet wurden (darunter nicht nur Adlige wie Graf Egmont und Admiral Hoorn, sondern auch Vertreter des armen Volkes), war es, durch Konfiskation so viel als nur irgend möglich aus den wirtschaftlichen Erträgen des prosperierenden Landes abzuschöpfen. Mit verschärften steuerlichen Belastungen wollte man das immer mehr dem Bankrott zuneigende ökonomische System des feudalabsolutistischen Spanien sanieren. Wie nahezu alle Kriege, hatte auch dieser ökonomische Ursachen. Wie heute, sollten auch damals wirtschaftliche Krisen mit brutalen militärischen Mitteln gelöst werden. Die Kosten hatte wie zu allen Zeiten das Volk zu tragen. Wahrscheinlich im selben Zeitraum, während der spanischen Okkupation, entstand Brueghels Bild „Der Triumph des Todes“ (Madrid, Prado, 117×162 cm): ein gespenstisches Inferno, ins Metaphysisch-Allegorische übersetzter Reflex der modernen Kriegsmaschinerie mit ihren strategisch formierten Heeren, die alles unbarmherzig niederwalzen und vernichten. Es gibt kein Entrinnen für die Lebenden. Skelette, Symbole des Todes, locken sie in eine riesige Falle. Andere werden wegen ihrer Zugehörigkeit zur Partei der Gegenseite hingerichtet. Alle gesellschaftlichen Schichten und Stände ereilt der Tod. Da hilft kein individuelles Sich-zur-Wehr-Setzen wie bei dem jungen donquichottehaft handelnden Edelmann vorn, der, vom Kartentisch aufspringend, zum Schwert greift. Brueghels Bild knüpft an die Tradition des spätmittelalterlichen Totentanzes an, wonach der Tod als die Instanz erscheint, vor der alle Menschen gleich sind und alle sozialen Privilegien hinfällig werden. So lassen sich zweifellos die Figuren im Vordergrund deuten: der Kaiser, der Kardinal, der Edelmann am Spieltisch u. a. Aber das Bild hat noch eine andere semantische Komponente, es schließt den von Erasmus her bekannten eindringlichen Appell an den Fürsten ein, Kriege unter allen Umständen zu vermeiden, weil sie das Volk und nicht zuletzt sie selber in tiefes Elend stürzen. Der Kaiser vorn links – kompositorisches Gegenstück zu dem tändelnden Liebespaar rechts, das sich um das Kriegswüten gar nicht zu scheren, es nicht einmal wahrzunehmen scheint – hat Brueghel, wie mir scheint, noch eine besondere Bedeutung über die semantische Dimension der Totentanzikonographie hinaus. Nach Dantes politischem Traktat „De monarchia“ (1310) repräsentiert er eigentlich die internationale Friedensordnung, die durch den Krieg, der hier freilich als völlig anonymes, kausal nicht erklärbares Geschehen erscheint, außer Kraft gesetzt wird. Der Kaiser fungiert bei Dante als Identifikationsfigur des internationalen Staatswesens. Seine Aufgabe ist es, den Frieden zu gewährleisten und den einzelnen Freiheit zu ermöglichen. Er wird also nicht als tyrannischer Herrscher aufgefaßt, der sein Volk unterdrückt, sondern, im Gegenteil, in seiner Person konzentriert sich sinnbildlich das Postulat, das Ideal der überstaatlichen Friedensordnung. Im Grunde genommen schimmert in Dantes utopischem Entwurf schon der Gedanke eines republikanisch-egalitär organisierten Staatswesens hindurch. Dies muß man m. E. bei der Deutung von Brueghels Kaiser mit in Betracht ziehen. Die Heere des Todes – hier eindeutige Anspielung auf die Invasion in den Niederlanden -, das blutige Kriegstreiben ist für den Künstler ein Verstoß gegen die Christi ich begründete natürliche Ordnung des Weltfriedens. Der gestürzte Kaiser, übrigens in unmittelbarer motivischer Nachbarschaft zum Rad des schaurigen Karrens mit den Totenköpfen, das an die Rota Fortunae, an das Rad der Fortuna (vgl. die Darstellung des Petrarca-Meisters) erinnert, indiziert, daß die Welt aus den Fugen ist, daß sie eine verkehrte Welt, eine widersinnige Ordnung geworden ist. Ich möchte noch kurz die Aufmerksamkeit auf das Motiv des Liebespaares lenken. Unverkennbar hat es neben dem tragischen Aspekt der Illusion, vom Kriegsgeschehen nicht berührt zu werden, komische Züge. Der sehnsuchtsvoll schmachtende, in die Saiten seiner Laute greifende Troubadour wird vom Künstler gnadenlos karikiert. Ihn äfft der siedelnde Tod höhnisch nach, ihm sein bevorstehendes Ende ankündigend. Brueghel hat für das Liebespaar kein Verständnis. Es verhält sich angesichts der drohenden Gefahr närrisch; und daß es sich hier um eine Narrensatire handelt, wird deutlich an der Figur des Narren mit dem rotweißen Schachbrettmuster, der sich ängstlich unter dem Tisch verkriecht. Freilich: so negativ der Künstler auch das Liebespaar aus der Perspektive der Narren Satire intendiert haben mag, in derer Kontext ja auch das Thema der verkehrten Welt gehört (siehe den Kaiser links): es hat doch noch einen sich aus seiner objektiven tragischen Situation ergebenden positiven Gehalt. Denn es repräsentiert selbst noch in der Karikatur das individuelle Glücksverlangen, das Bedürfnis nach Harmonie – Ansprüche, die von einer Objektivistischen Warte aus gesehen in Anbetracht des Faktischen, angesichts der Brutalität des Krieges als absurd und verrückt erscheinen. Nicht von ungefähr das Musikthema: in der emblematischen Bildsprache des 16. und 17. Jh. bezeichnet es über den trivialen Attributcharakter für das Liebespaar hinaus allgemein die harmonia mundi oder, politisch dimensioniert, die Eintracht der Völker und innerstaatliche Eintracht der Stände und sozialen Gruppen, also den Gedanken des Friedens auf allen Ebenen, der des Gemeinwesens und der der Individuen.

Warum, so wird man sich fragen, ist es sinnvoll, sich mit derlei historisch doch weit zurückliegenden Motiven zu beschäftigen? Ich denke, daß gerade auch im Rahmen einer allgemeinen Friedenserziehung die Didaktik einer sozialhistorisch verstandenen Kunstgeschichte eine wichtige Funktion hat, weil sie einen Beitrag zur Rekonstruktion der Vorgeschichte moderner Erscheinungsformen der Aufrüstung und Kriegsführung leisten kann. Im Kunstunterricht könnte an Bildern, die wegen ihrer Erlebniskomponente geschichtliche Vorgänge besonders gefühlseindringlich wahrnehmen lassen, gezeigt werden, daß schon in der Vergangenheit Kriege und alle Vorbereitungen dazu nicht fatalistisch hingenommen wurden, sondern in der Visualisierung des Schreckens oft utopische Gegenmodelle entwickelt wurden, in denen eine emphatische Friedenssehnsucht zum Ausdruck kommt.

Angesichts der reaktionären, mindestens zynisch gewaltverherrlichenden Bilderflut der Massenmedien – und das ist im wesentlichen der visuelle Rezeptionshorizont der Schüler -, angesichts aber auch im Zeichen der „Wende“ zunehmend irrationaler werdenden Tendenzen der Kunsterziehung, welche die Werke der Kunst entpolitisieren wollen, kann die historisch-kritische Aneignung solcher Bilder ein wichtiges pädagogisches Korrektiv sein und den Aufbau oder die Festigung einer politischen Moral unterstützen, auf die die Friedensbewegung, will sie nicht an Kraft verlieren, schwerlich verzichten kann.

Dr. Norbert Schneider lehrt Kunstgeschichte an der Universität Münster.

Wie friedlich ist die Soziologie? (1)

Wie friedlich ist die Soziologie? (1)

Die militärische Indienstnahme der Soziologie in den USA zwischen dem Zweiten Weltkrieg und dem Vietnamkrieg (1945-1965)

von Heinrich W. Ahlemeyer

Vorbemerkung

In der Titelfrage klingt bereits durch, daß die Soziologie womöglich nicht nur eine Friedenswissenschaft ist, als die sie hier und da wahrgenommen werden mag, eher vielleicht von ihrer Geschichte und Funktion her eine Befriedungswissenschaft entstanden im 19. Jahrhundert zur Befriedung des immer selbstbewußter und auch politisch immer einflußreicher werdenden Industrieproletariats für das Bürgertum.

Aber eine direkt militärisch-aggressive Ausprägung der Soziologie, eine kriegerische Soziologie gar – ist die vorstellbar? Hat es die gegeben? Und gibt es sie?

Ich möchte heute am Beispiel der amerikanischen Soziologie für den Zeitraum zwischen Zweitem Weltkrieg und Vietnamkrieg nicht nur nachweisen, daß es eine solche unfriedliche Soziologie gegeben hat und gibt, sondern zugleich auch eine Anschauung davon vermitteln, wie diese Soziologie militärisch vernutzt worden ist, worin ihre zum Teil verzichtbaren Funktionen für das Militär bestanden und bestehen. Zugleich möchte ich wenigstens andeutend skizzieren, welche Konsequenzen die militärische Indienstnahme für Selbstverständnis und Beschaffenheit der Disziplin hatte.

Was ist Friedlichkeit?

Welche Kriterien werden zugrunde gelegt, um Aussagen über die Friedlichkeit oder Unfriedlichkeit eines Tuns oder einer Institution zu machen? Kann nicht auch die Mitarbeit im militärischen System friedensstiftend sein? Und dienen nicht auch die Bundeswehr und die neuen Erstschlagwaffen Pershing II und Cruise Missile ausschließlich der Friedenserhaltung?

Nein. Diese Verdrehung der Wirklichkeit dürfen wir nicht mitmachen. Dieses Auf-den-Kopf-Stellen der Wahrheit. Für mich jedenfalls ist das Militär wesensmäßig ein Gewaltmittel, das für den Frieden so funktional ist wie Schnaps gegen Alkoholismus. Das Militär als die Organisation von gezielter Gewalt gegen Menschen ist eine Absage an alle nicht-gewaltsamen, friedlichen Konfliktlösungen qua Diskussion, Verhandlungen, Ausgleich und Kompromiß.

Deshalb rechtfertigt für mich die Mitwirkung an der Planung, Androhung, Optimierung und dem Einsatz von militärischer Gewalt das Urteil der Unfriedlichkeit.

Freilich stößt das Unterfangen, die militärische Indienstnahme der Soziologie zu untersuchen, rasch auf Schwierigkeiten. Sie sind im Gegenstand selbst begründet. Natürlich stellt sich die Zuarbeit von Soziologen für das Militär nur zum geringsten Teil in frei zugänglicher Literatur dar. Der größte Teil der Quellen, die hier aussagekräftig wären, entsteht und verbleibt im militärischen System als interne Dienstvorlage, geheimes Memorandum oder klassifiziertes Briefing-Papier. Einem Soziologen außerhalb des militärischen Systems ist es so gut wie unmöglich, solche Dokumente einzusehen, die strikten Zugangs- und Geheimhaltungsregeln unterliegen. Darüber hinaus schlägt sich nur ein sehr kleiner Teil der Zusammenarbeit zwischen Militärs und Soziologen schriftlich nieder. Die folgenden Anmerkungen stehen folglich unter der klaren Einschränkung, daß sie nur auf öffentlich zugängliche Quellen zurückgreifen konnten und daher nur einen Ausschnitt des Gesamtbildes erfassen.

Institutionelle Voraussetzungen

Zu Beginn einen kurzen Blick auf die institutionellen Voraussetzungen für die Durchführung soziologischer Forschungen im militärischen Bereich.

Durch den National Security Act wurde 1947 beim Departement of Defense (DOD) das Research and Development Board geschaffen, das ein Committee on Human Resources beinhaltete, welches sich den vier Feldern Psychophysiology and Human Engineering, Personnel and Training, Manpower und Human Relations and Morale widmete. Für die Soziologie wurde insbesondere der vierte Arbeitsbereich von Bedeutung.

Wie nun haben die einzelnen Teilstreitkräfte auf die zunehmenden Anforderungen einer Verwissenschaftlichung reagiert? Die Air Force gründete 1949 drei Forschungszentren für Verhaltenswissenschaften, nämlich:

  • das Human Resources Research Center (HRRC) des Air Training Command an der Lackland Air Force Base in Texas – das Human Resources Research Institute (HRRI) an der Maxwell Air Force Base in Alabama, dem Raymond L. Bowers als Soziologe vorstand – das Human Resources Research Laboratory (HRRL) des Headquaters Command, Bolling Air Force Base, D.C. Zusätzlich standen der Air Force an sozialwissenschaftlichen Einrichtungen zur Verfügung die
  • RAND Corporation in Santa Monica (LA), dessen social science department der Soziologe Hans Speier als Direktor vorstand, und das
  • Air Force Office of Scientific Research (AFOSR), dessen Behavioral Sciences Division der Soziologe Charles E. Hutchinson leitete.

(Am Rande sei noch erwähnt, das die Nachfolge des HRRI 1958 das Office for Social Science Programs, Randolph, AFB Texas angetreten hat.)

Die Armee gründete nicht wie die Air Force eigene sozialwissenschaftliche Forschungsinstitute, sondern schloß Vertragsbeziehungen mit universitären Institutionen ab. So etwa mit dem

  • Human Resources Research Office der George Washington University in Washington
  • Operations Research Office der John Hopkins University in Washington
  • Special Operations Research Office der American University in Washington.

Zusätzlich stand der Armee das Army Research Office at Army Headquarters zur Verfügung, in dem Kenneth E. Karcher als Soziologe die sozialwissenschaftliche Abteilung leitete.

Endlich sei noch erwähnt, daß auch der Navy mit dem Office of Naval Research und dem Bureau of Navy Personnel zwei entsprechende Einrichtungen zur Verfügung standen.

Zusammengefaßt läßt sich also sagen, daß seit dem Ende der 40er Jahre es institutionalisierte und zentralisierte Forschungsorganisationen innerhalb der Streitkräfte zur Planung, Durchführung und Bewertung sozialwissenschaftlicher Forschung für das Militär bestanden.

Welche Funktionen realisierte die Soziologie vermittels dieser Institutionen für das Militär?

Die Indienstnahme der Soziologie für strategische Planung (1): Die Analyse von Feindesmoral

Im Zweiten Weltkrieg wuchs im amerikanischen Militär die Erkenntnis, daß es mehr verläßliches Wissen über Feindländer brauchte. Vor allem ging es um ein breiteres Wissensspektrum, das über die traditionellen militärischen und politischen Informationen hinausging. Das Militär wollte insbesondere mehr über die sozialen und psychologischen Schwachstellen anderer Völker erfahren.

Militärische Institutionen zur Beschaffung solcher Informationen waren etwa (während des Krieges) die Foreign Morale Analysis Division beim Military Intelligence Service und die Moral Divisions beim U.S. Strategie Bombing Survey (USSBS). Beide Einrichtungen hatten die Aufgabe, die Wirkungen von Bombardierungen auf die Zivilbevölkerung in Deutschland und Japan zu untersuchen. Soziologen spielten hier ein herausragende Rolle. Die Abschlußberichte des USSBS – Effects of Strategie Bombing on German Moral, 2 vols., Washington 1946/47 sowie Effects of Strategic Bombings on Japanese Moral -, an denen u.a. die Soziologen Burton Fisher, Clifford Kirckpatrick, William H. Sewell sowie Raymond L. Bowers beteiligt waren, hatten eine große Wirkung. Sie beeinflußten nicht nur den weiteren Ausbau des strategischen Bombardierungspotentials der USA nach dem Zweiten Weltkrieg, sondern wirkten innermilitärisch und -wissenschaftlich über eine Reihe von Nachfolgestudien weiter (u.a. Irving L. Janis, Air War and Emotional Stress: Psychological Studies and Civilian Defense, New York 19 5 1, sowie Fred C. Ikle, The Social Impact of Bomb Destruction, Norman 1958).

Die Indienstnahme der Soziologie für strategische Planung (II): Die Analyse fremder Sozialsysteme

In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg wurde amerikanischen Politikern und Militärs mit den zunehmenden Spannungen zwischen Ost und West und der einhergehenden Abkapselung des sozialistischen Blocks die großen Informations- und Wissenslücken bewußt, die sie von potentiellen militärischen Gegnern hatten.

Deshalb wurde die Kenntnis des sowjetischen Systems eine der vordringlichsten Forschungsprioritäten in der Nachkriegszeit. 1950 initiierte das HRRI ein großes Forschungsprogramm, indem es einen entsprechenden Vertrag mit dem Russian Research Center der Universität Harvard abschloß und Clyde Kluckholm zum Forschungsdirektor bestimmte. An diesem vierjährigen Forschungsprojekt nahmen immer mehr als wenigstens ein Dutzend Soziologen und soziologischer Doktoranden teil. Ziel des Forschungsprojektes war es

  1. grundlegendes Wissen darüber zu produzieren, wie ein relativ unzugängliches fremdes Sozialsystem wie das sowjetische sich von innen ausnimmt, und
  2. Vorhersagen darüber zu machen, wie dieses Sozialsystem auf unterschiedlichste Belastungen reagieren würde. Insbesondere, wie sich angesichts solcher Streßfaktoren das Verhältnis zwischen unterschiedlichen Institutionen wie Verwaltung, Militärpolitik und zwischen unterschiedlichen ethnischen und sozialen Gruppen verändern wurde.

Neben frei zugänglichen Quellen wurden als empirische Basis hier Alltagseindrücke und Alltagseinschätzungen von Tausenden von emigrierten Sowjet-Bürgern herangezogen, die in ausführlichen Einzelinterviews und mehr als 12000 Fragebögen erhoben wurden.

Die Ergebnisse wurden der sozialwissenschaftlichen Community in 35 Zeitschriftenartikeln vorgestellt und den Streitkräften darüber hinaus in 18 speziellen Geheimberichten zugänglich gemacht.

Eine Zusammenfassung (Raymond A. Bauer, Alex Inkeles und Clyde Kluckholm) erschien 1956 in der Harvard Univ. Press unter dem Titel „How the Soviet System Works“ (Cambridge 1956); ein späterer Band von Alex Inkeles und Raymond A. Bauer „The Soviet Citizen. Daily Life in a Totalitarian State“ (Cambridge 1959), machte vor allem die statistischen Daten aus Interviews und Fragebögen zugänglich. Zu den Mitarbeitern gehörte u.a. auch der hierzulande bekannte Barrington Moore, Jr.

In mindestens vier Aspekten stellte sich der Nutzen dieser Rußland-Forschung für das Militär her.

  1. Den strategischen Forschungsabteilungen von Air Force und Generalstab wurden durch die Untersuchungen einzelner Aspekte der sowjetischen Gesellschaft Daten und Vorhersagen zugänglich, über die sie bis dahin nicht verfügt hatten.
  2. Über eine Reihe von Jahren wurde der Abschlußbericht zur Pflichtlektüre an den Generalstabsakademien und War Colleges der Streitkräfte.
  3. Die Interviews und Fragebögen wurden gebunden, kopiert und den Geheimdiensten in Washington zugänglich gemacht als Datengrundlage für die aktuell zu erstellenden Geheimdienststudien.
  4. Die Interviewerfahrung des Forschungsteams wurde in einem wiederum klassifizierten Handbuch für Interviews mit sowjetischen Flüchtlingen zusammengefaßt, das die militärischen Geheimdienste als Rüstzeug bekamen.

Als potentieller Feind war für das amerikanische Militär jedoch nicht nur die Sowjetunion von Interesse, sondern auch viele andere Gesellschaften, vor allem in der Dritten Welt. Als prinzipielles Instrument zur Sicherung der Ausbeutung über die Länder der Dritten Welt durch die kapitalistischen Länder sah sich das amerikanische Militär dabei zunehmend counterinsurgency operations, also Operationen zur Bekämpfung von Befreiungs- und Revolutionsbewegungen, Militärhilfe und zivilen Aktionsprogrammen ausgesetzt. Diese, wie es im soziologisch unterkühlten Jargon heißt, „Interaktion mit fremden Gesellschaften“ setzten ein gründliches Wissen über die Lebensweise dieser Völker voraus, das in der gewünschten Breite und Tiefe nicht zur Verfügung stand. Diese Lücke zu fällen wurde bis 1956 die Human Area Files (HRAF) an der Yale University beauftragt. Nach 1957 dann erachtete die Army diese Erfordernisse für so wichtig, daß sie speziell dafür eine neue Forschungsorganisation gründete, die sich ausschließlich darum kümmern sollte: das Special Operation Research Office an der American University in Washington.

Dort wurden in den folgenden Jahren insgesamt 50 Handbücher zu jeweils einzelnen Ländern produziert, die die Grundstrukturen der soziologischen, politischen, ökonomischen und militärischen Institutionen sowie bedeutsame Einzelheiten der Denk- und Handlungsweisen der einzelnen Gesellschaften vorstellten.

Die Indienstnahme der Soziologie für strategische Planung (III): Atomkriegsplanung und target selection

Wir kommen jetzt zur dritten Funktion innerhalb der Indienstnahme der Soziologie für strategische Planung, der Mitwirkung bei Atomkriegsplanung und target selection. Mit der Atombombe und der Bereitschaft, ihre Anwendung anzudrohen oder gar faktisch vorzunehmen, sah sich das amerikanische Militär neuen Anforderungen ausgesetzt, die mit den bis dahin existierenden Wissens- und Methodenbestand der Wissenschaften und der Nachrichtendienste so nicht zu erfüllen war. Nach Einschätzung des Generalstabs galt es, die alte militärische Frage: „Was ist notwendig, um den Kampfeswillen des Feindes zu brechen“ im Kontext des Atomkriegs neu zu stellen, nämlich in der Form, wieviel von einer Nation und welche ihrer Teile und Regionen zerstört werden müssen, um dieses Land militärisch niederzuzwingen. Und man sah, daß man, um diese Frage beantworten zu können, vor allem auch Informationen über die Strukturen und Funktion einzelner Städte und Regionen sowie über die Beziehungen und Abhängigkeiten zwischen einzelnen Regionen benötigte, also Wissen über die Zielgebiete als ökologische und soziale Systeme. Versuche, solches Wissen von den Wissenschaften produzieren zu lassen, setzten in den frühen 50er Jahren ein und die Soziologie spielte in diesen Forschungen eine herausragende Rolle. Hier sollen nur zwei dieser Projekte beispielhaft Erwähnung finden.

  1. Im Jahr 1951 schloß das HRRI mit dem Büro für angewandte Sozialforschung der Columbia University einen Vertrag ab, demzufolge das Büro unter der Leitung von Kingsley Davis einen Index erarbeiten sollte, der für alle größeren Städte der Welt grundlegende Informationen bereitstellen sollte. Diese Daten, so heißt es in einem internen Papier, sollten militärische Analytiker in die Lage versetzen, durch vergleichende Studien urbaner und regionaler Strukturen verläßlicherer Methoden für Air target selection zu entwickeln, also die Auswahl von Zielen für atomare Bombardierung.
  2. Ein anderes soziologisches Forschungsprojekt, das die Zielbestimmung für atomare und konventionelle Bombardierung unterstützen sollte, wurde am HRRI von dem Soziologen Norman E. Green und seinem Team durchgeführt. Green wollte über sein intelligence research program vor allem Techniken entwickeln, um grundlegende sozialstrukturelle Informationen aus Luftaufnahmen ableiten zu können. Anhand von Studien ausgewählter amerikanischer Städte suchte Green nach Korrelationen zwischen physischen Strukturen auf den Luftaufnahmen und sozialwissenschaftlichen Informationen, die aus zugänglichen Datenbeständen abgeleitet werden konnten.

Welchen Zwecken diese Forschungen dienten, darüber kann kein Zweifel bestehen. In einem Aufsatz über Luftfotographie und menschliche Ökologie der Stadt heißt es: „Die fotographische Interpretation ist ein wesentlicher Ansatz zur sozialwissenschaftlichen Analyse von urbanen Zonen. In vielen Situationen kann sie sogar die einzige Informationsquelle für bestimmte Daten sein.“ Und „Es ist wünschbar, vor allem die Übertragbarkeit der Ergebnisse auf Regionen außerhalb der USA zu überprüfen.“ Auch wenn dieses Projekt letztlich nicht abgeschlossen wurde, so hat es doch eine Reihe von Aufsätzen in Veröffentlichungen der Air Force gegeben und andere Soziologen wurden von der Luftwaffe ständig als Berater für strategische Planung hinzugezogen.

Wie friedlich ist die Soziologie?

Steht derjenige, der Städte und Regionen. aufgrund bestimmter Merkmale zur atomaren Vernichtung aussucht und wissenschaftliche Kriterien für Zerstörungsmaximierung erarbeitet, denjenigen an kriegerischer Aggressivität nach, die den Einsatz dann de facto fliegen und die Bomben aus den Schächten ausklinken? (Forts. folgt)

Heinrich W. Ahlemeyer ist Soziologe in Münster

Nichts als die Wahrheit?

Nichts als die Wahrheit?

Über die Kreativität der Unwahrheit im Kontext von Krieg und Gewalt

von María Cárdenas Alfonso, Andrea Nachtigall, Johannes Nau und Wolfram Wette

Herausgegeben von der Informationsstelle Wissenschaft und Frieden
und dem Arbeitskreis Historische Friedensforschung

Nichts als die Wahrheit?

Über die Kreativität der Unwahrheit im Kontext von Krieg und Gewalt

von María Cárdenas Alfonso

Seit jeher werden Kriege als effektives Mittel angesehen, um staatliche Interessen zu verteidigen bzw. auszubauen, und gelten als letzte Stufe der zwischenstaatlichen Eskalation von Konflikten. Doch da mit einem Krieg auch hohe innenpolitische Kosten verbunden sind (auf der gesellschaftlichen Ebene ebenso wie auf der individuellen), hängt die Initiierung einer militärischen Auseinandersetzung in hohem Maße von der Unterstützung durch die Bevölkerung ab. Die Wahrnehmung der Bevölkerung, »angegriffen zu werden« und »sich verteidigen zu müssen« ist insofern ein essentielles Requisit, um einen Krieg legitimieren und durchsetzen zu können.

Mediale Kriegsvorbereitung

Die mediale Vorbereitung von Kriegen und die dazu gehörende Irreführung der Öffentlichkeit war für W&F schon immer ein Thema. Hier einige ausgewählte Artikel, die im Volltext unter wissenschaft-und-frieden.de oder auf der CD-ROM mit den Artikeln der vergangenen 30 Jahre W&F einzusehen sind.

Jürgen Nieth: 10 Jahre Kosovo-Krieg. Kommentierte Presseschau. W&F 2-2009.

Jörg Becker und Mira Beham: Operation Balkan. Werbung für Krieg und Tod. W&F 3-2007.

Peter Bürger: Bildermaschine für den Krieg. W&F 3-2007.

Annabel McGoldrick: Kriegsjournalismus und Objektivität. W&F 3-2007.

Alexander Neu: Das Elend der Kriegsberichterstattung. W&F 3-2007.

Peter Strutynski: Je größer die Lüge, je geringer der Protest. W&F 3-2003.

Jürgen Scheffran: Game over? Macht, Wahrheit und Demokratie im Irakkonflikt. W&F 2-2003.

Jürgen Nieth: Kriegsgründe und die Realität. W&F 2-2003.

Gert Sommer: Terrorismus, Afghanistan und westliche Feindbilder. W&F 1-2002.

Susanne Kassel: Wie Medien Geschlechterstereotype zur Kriegslegitimation nutzen. W&F 2-2002.

Gert Sommer: Vermittelnd eingreifen – Zur Rolle der Medien in großen Konflikten. W&F 4-2000.

Jürgen Link: Die Autopoiesis des Krieges. W&F 3-1999.

Jürgen Scheffran: Zweierlei Massaker? Wie ein US-Diplomat im Kosovo-Dorf Racak den dritten Weltkrieg auslöste. W&F 2-1999.

Jürgen Nieth: Humanitär oder Macht? Mit welchem Ziel bombt die NATO? W&F 2-1999.

Joe Angerer: Die Geschichte deutscher Kriegspropaganda. W&F 3-1993

Wilhelm Kempf u.a: Die bundesdeutsche Kriegsberichterstattung im Golfkrieg. W&F 3-1993.

Gert Sommer & Wilhelm Kempf: Zur Relevanz von Feindbildern – am Beispiel des Golfkrieges/Der inszenierte Krieg. Medienberichterstattung und psychologische Kriegsführung. Dossier Nr. 9, Beilage zu W&F 3-1991.

Daher verwundert es nicht, dass im Krieg nicht nur jedes Mittel recht ist, sondern auch Lügen und Manipulationen ein zentrales, strategisches Instrument sind, um die Wahrnehmung Anderer zu beeinflussen. So wird der Krieg nicht zuletzt durch die Deutungshoheit über Realität (und Geschichte) gewonnen und somit zum Spielball akuter (inter-) nationaler Interessen.

Das vorliegende Dossier befasst sich mit der Frage, wie heute und in der Vergangenheit die nationale und internationale Politik von Kriegslügen beeinflusst und manipuliert wird und wurde, unter welchen Rahmenbedingungen und mit Hilfe welcher Strategien Kriegslügen ihre Wirkung entfalten und welche Einflussmöglichkeiten es gibt.

Mit Blick auf unsere individuelle Entscheidungspraxis wird uns bewusst, wie abhängig unser Urteilsvermögen und unsere Emotionen von unserer Wahrnehmung sind, die wiederum von (Fehl-) Informationen geprägt wird. Informationen bestimmen maßgeblich unsere Entscheidungsfreiheit und damit auch die Qualität unserer Entscheidungen. Auf der politischen Ebene können erfolgreiche Lügen schwerwiegende Folgen haben, was auch die Info-Boxen in diesem Dossier verdeutlichen.

Für die Heranführung an die Klassiker der strategischen Unwahrheit zur Manipulation relevanter Akteure im Krieg beginnt das Dossier mit einem Artikel von Wolfram Wette, der aus einer historischen Perspektive Methoden, Strategien und Akteure von Kriegslügen betrachtet.

Aus einer aktuellen Perspektive zeigen Andrea Nachtigall am Beispiel des »Embedded Feminism« und Johannes Nau am Beispiel Gaddafis auf, wie relativ die Bedeutung scheinbar universeller Werte und Normen in der internationalen Politik ist und wie sie für nationale Interessen zweckentfremdet werden kann – nicht nur mit Blick auf die Frage, welche Beachtung den Menschenrechten in bewaffneten Konflikten geschenkt wird, sondern auch, in welchem Zusammenhang und von welchen Akteuren ihre Implementierung verlangt wird. So zeigt sich, dass oft erst mit Rekurs auf die Menschenrechte, also im Sinne einer »Responsibility to Protect«, eine militärische Auseinandersetzung überhaupt legitimiert werden kann. In anderen Kontexten wiederum werden und wurden Menschenrechtsverletzungen ad acta gelegt und stattdessen die vermeintlich relevante Beziehung zu einem politisch stabilen Partner in einer sonst instabilen Region in den Vordergrund gestellt. Die Debatte um Militäreinsätze zum Schutz der Menschenrechte ist mit Vorsicht zu genießen, da mit der propagierten »Zivilisierungsabsicht« oft weniger der Wunsch der Emanzipation, als vielmehr neokoloniale Interessen einhergehen.

Der letzte Artikel von María Cárdenas untersucht die Voraussetzungen, unter denen sich Kriegslügen und -propaganda bewegen und multiplizieren: Unter welchen Umständen funktionieren Kriegslügen in einer medial vermittelten Gesellschaft? Welche strukturellen, kulturellen und politischen Rahmenbedingungen müssen vorhanden sein, damit die Bevölkerung sich ein eigenes Bild schaffen und eventuelle Kriegslügen entlarven kann – und dies möglichst »medienwirksam«? Welche Rolle spielen hierbei die Massenmedien als Akteur einerseits und Vermittler zwischen Regierung und Regierten andererseits? Welche Möglichkeiten bieten sich den Journalisten, um in kriegerischen Auseinandersetzungen ihrer Kontrollfunktion gerecht werden zu können? Der letzte Beitrag soll insofern auch den Blick für die Relevanz einer kritischen Öffentlichkeit schärfen.

 

Historische Kriegslügen

von Wolfram Wette

Aischylos (525-456 v. Chr.), der griechische Dichter und Schöpfer der griechischen Tragödie, erkannte den Zusammenhang bereits in voller Klarheit: „Im Krieg ist die Wahrheit das erste Opfer.“ 1 Diese Erkenntnis ist seitdem in verschiedenen Varianten vieltausendfach wiederholt worden. Das kann kein Zufall sein. Es muss damit zusammen hängen, dass die historische Wirklichkeit den Sachverhalt immer wieder bestätigt hat.

Durch die leidvollen Erfahrungen in den Kriegen des 19. und 20. Jahrhunderts, jetzt auch schon des 21., sind wir allerdings mehr als einmal belehrt worden, dass die Weisheit des Aischylos einer Erweiterung bedarf: Die Wahrheit stirbt nicht erst »im Krieg«, sondern schon in der Entstehungsphase einer gewaltsamen Auseinandersetzung. Während eines Krieges waren die Führungseliten eines kriegführenden Landes jeweils bestrebt, die Glaubwürdigkeit ihrer Rechtfertigungsbehauptungen durch ihre Kriegspropaganda permanent zu untermauern. Mit dem Ende des Ersten Weltkrieges – um diesen Fall zu nehmen2 – kam dann nicht etwa die Wahrheit auf den Tisch, sondern die Verschleierung der Wahrheit, respektive der Kampf um die Wahrheit, setzte sich weiter fort. Der in Deutschland nach 1918 erbittert geführte Meinungskampf über die Kriegsschuldfrage bietet dafür reiches Anschauungsmaterial.3

Kriegsmetaphysik

Wenn der Begriff »Kriegslüge« fällt, denkt man gewöhnlich an einen Auslöser, einen konkreten Anlass, wie zum Beispiel die Ermordung des österreichischen Thronfolgers im Juli 1914, der hernach zur Kriegsursache stilisiert wurde. Bei dieser Betrachtungsweise wird häufig vergessen, dass es im Hintergrund eine Weltsicht gab, die gleichsam als Humus diente, auf dem die aktuelle Kriegslüge erst gedeihen konnte. Gemeint ist ein bestimmtes Denken über »den« Krieg im Allgemeinen. Dieses Denken, das besonders im Deutschland des 19. und 20. Jahrhunderts weit verbreitet war, bezeichne ich als Kriegsmetaphysik. Gemeint sind die Vorstellungen, »der« Krieg sei »der Vater aller Dinge«, oder er sei ein Naturereignis, das ausbreche wie ein Vulkan und das von Menschen nicht gebändigt werden könne; oder der Krieg sei von Gott gewollt, womöglich ein »Gottesgericht«; oder aber – als linke Variante –, er sei ein gleichsam »naturnotwendiges« Produkt des Kapitalismus beziehungsweise des Imperialismus.4

In klassischer Weise formulierte zur Zeit des deutschen Kaiserreiches der preußische Generalstabschef Helmut von Moltke d. Ä. die zeitgenössische konservativ-militaristische Kriegsmetaphysik: „Der Friede ist ein Traum, und nicht einmal ein schöner, und der Krieg ein Glied in Gottes Weltordnung. […] Ohne den Krieg würde die Welt im Materialismus versumpfen.“ 5 Sätze wie dieser führten bei den Menschen zu der fatalistischen Grundhaltung, dass Kriege offenbar immer wiederkehren und daher nicht verhindert werden könnten.

Spätestens seit der Einführung der Allgemeinen Wehrpflicht im 19. Jahrhundert verfolgten Aggressoren das Ziel, die eigene Verantwortung für die Entfesselung kriegerischer Gewalt vor der eigenen Bevölkerung zu verschleiern. Sie wussten, dass das eigene Lager nur durch eine Verteidigungslüge für den Krieg mobilisiert werden konnte. Der Krieg musste als eine gerechte Sache erscheinen, und als gerecht wurde nur die Verteidigung des eigenen Landes gegen einen Aggressor angesehen. Es galt also, das eigene Land als das angegriffene hinzustellen, den Feind ins Unrecht zu setzen und ihm die Kriegsschuld aufzubürden. Wenn in der Regel alle kriegführenden Mächte die Menschen ihres Landes mit einer Verteidigungspropaganda mobilisierten, so bedeutete dies allerdings nicht, dass es sich dabei durchgängig um Kriegslügen handelte. So befanden sich etwa die von Hitler-Deutschland überfallenen Länder Europas zweifellos in einer Verteidigungssituation.

Friedrich II, König von Preußen, von seinen Bewunderern auch als »der Große« bezeichnet, gab im Jahre 1740 seiner Armee den Befehl zum Angriff auf Schlesien, das er, ganz der Machtpolitiker, dem preußischen Staat einverleiben wollte, bevor der Rivale Österreich zum Zuge kam. Das war der Beginn des so genannten Ersten Schlesischen Krieges (1740-1742). Während die Angriffshandlungen bereits im Gange waren, schrieb Friedrich seinem Minister Heinrich Graf von Podewils: „Ich habe den Rubikon überschritten, mit wehenden Fahnen und klingendem Spiel.“ Nun sei es Sache des Ministers, sich im Nachhinein eine »justa causa« auszudenken, also einen »gerechten Grund«, ein Rechtfertigungsmotiv.6 Im Hinblick auf die internationale Öffentlichkeit konstruierte er einen erbschaftsrechtlichen Anspruch, der mit der herrschenden Lehre vom gerechten Krieg nicht zu kollidieren schien. So wurde versucht, die aggressive und rechtswidrige Politik des preußischen Königs zu kaschieren.7

Der preußische Ministerpräsident Otto von Bismarck manipulierte im Jahre 1870 die »Emser Depesche« in der Weise, dass der französische Kaiser Napoleon III dadurch in die Rolle des Aggressors gedrängt wurde und Deutschland den Krieg erklärte.8 In den Augen der deutschen Öffentlichkeit ergab sich dadurch die Lage, dass Bismarck die angegriffenen Deutschen verteidigte. Verborgen blieb, dass er selbst es gewesen war, der auf den deutsch-französischen Krieg hingearbeitet hatte, weil er ihn zur Schaffung des preußisch-deutschen Nationalstaats brauchte.

Theobald von Bethmann Hollweg, Reichskanzler unter Kaiser Wilhelm II, verbreitete in der Julikrise von 1914 durch geschickte Regie den Eindruck, Deutschland bleibe nichts anderes übrig, als auf die russische Generalmobilmachung zu reagieren und sich zu verteidigen. Mit dieser Manipulation drängte er die zögernde Sozialdemokratie, die noch kurz zuvor Friedenskonferenzen und Friedensdemonstrationen organisiert hatte, dazu, eine Verteidigungssituation anzunehmen. Nicht nur die Konservativen, sondern auch die oppositionelle SPD-Reichstagsfraktion bewilligten daraufhin die Kriegskredite. Im Interesse der Landesverteidigung schloss die SPD einen so genannten Burgfrieden mit dem Kaiser und seiner Regierung.9 Der Chef des Marinekabinetts, Admiral Georg von Müller, freute sich über den gelungenen Coup: „Stimmung glänzend. Die Regierung hat eine glückliche Hand gehabt, uns als die Angegriffenen hinzustellen.“ 10

Am 1. September 1939 eröffnete das im Danziger Hafen liegende deutsche Linienschiff »Schleswig-Holstein« mit seinen schweren Geschützen das Feuer auf die polnische Westerplatte – ohne jede Kriegserklärung. Gleichzeitig ließ Hitler einen Angriff polnischer Soldaten auf den oberschlesischen Sender Gleiwitz vortäuschen. Deutsche Staatsbürger in polnischen Uniformen griffen die Radiostation an, um den NS-Propagandisten Stoff für ihre Ablenkungspropaganda zu liefern. Hitler verkündete noch am selben Tag in einer Reichstagsrede seine Verteidigungslüge, deren Kernsätze lauteten: „Polen hat nun heute Nacht zum ersten Mal auf unserem eigenen Territorium auch durch reguläre Soldaten geschossen. Seit 5.45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen! Und von jetzt ab wird Bombe mit Bombe vergolten.“ 11 Hitler hatte diesen Krieg von langer Hand geplant, seine Ziele aber vor der deutschen Öffentlichkeit verborgen, indem er zwischen 1933 und 1938 – zur allgemeinen Irreführung – eine geschickte Friedenspropaganda betrieb.12 Der deutsche Angriff auf Polen ist das vielleicht bekannteste Beispiel für die Ablenkungsmanöver, mit denen sich der eigentliche Angreifer zum Angegriffenen machen möchte.

Am 22. Juni 1941 überfiel die deutsche Wehrmacht in einer Stärke von drei Millionen Mann die Sowjetunion, die sich aufgrund des Hitler-Stalin-Paktes von 1939 in Sicherheit wiegte. Hitler und sein Propagandaminister Joseph Goebbels präsentierten an diesem Tage wiederum eine Verteidigungslüge. Die Sowjetunion, so behaupteten sie, habe eine aggressive Politik betrieben. Sie habe ihre Armeen an ihrer Westgrenze aufmarschieren lassen, habe damit die Abmachungen des Freundschaftsvertrages mit Deutschland gebrochen und „in erbärmlicher Weise verraten“. „Heute“, behauptete Hitler, „stehen rund 150 russische Divisionen an unserer Grenze. […] Damit aber ist nunmehr die Stunde gekommen, in der es notwendig wird, diesem Komplott der jüdisch-angelsächsischen Kriegsanstifter und der ebenso jüdischen Machthaber der bolschewistischen Moskauer Zentrale entgegenzutreten.“ Nun sei das Schicksal Europas, des Deutschen Reiches und des deutschen Volkes in die Hand der deutschen Soldaten gelegt. Damit war die Präventivkriegslegende geboren.13 Glaubte man der NS-Propaganda, so hatte Deutschland wieder einmal nur »zurückgeschossen«.

Auch der amerikanische Vietnamkrieg von 1964 bis 1975 begann mit einer Lüge. Die amerikanische Regierung unter dem demokratischen Präsidenten Lyndon B. Johnson suchte und fand einen Vorwand, um in den Krieg gegen Nordvietnam einzutreten. Es handelte sich um den so genannten Tonkin-Zwischenfall vom 2. und 4. August 1964. Angeblich hatten nordvietnamesische Kriegsschiffe im Golf von Tonkin (vor Nordvietnam) zwei US-Zerstörer beschossen. Nun ordnete Präsident Johnson »Vergeltungsbombardements« gegen Ziele in Nordvietnam an. Hernach ließ er sich vom amerikanischen Kongress eine Generalvollmacht zur Ausweitung des Krieges geben. Dieser sollte bis 1975 dauern und mit einem Sieg der nordvietnamesischen Kriegspartei enden.14 Die amerikanischen Soldaten mussten gedemütigt und fluchtartig das Land verlassen.

Der iranisch-irakische Krieg von 1980 bis 1988 wird als Erster Golfkrieg bezeichnet. In diesem Krieg unterstützten die Regierungen der westlichen Länder den irakischen Diktator Saddam Hussein insgeheim. Als die irakische Armee im Jahre 1990 in Kuwait einmarschierte, antworteten die USA und einige Verbündete mit dem Zweiten Golfkrieg. Um diesen Krieg vor der Öffentlichkeit zu legitimieren und um im eigenen Lager Kriegsbereitschaft zu mobilisieren, erfand die US-amerikanische Administration unter Präsident George Bush sen. nun eine neue Sprachstrategie: die Dämonisierung des Gegners.15 Der irakische Diktator und vormalige Verbündete Saddam Hussein wurde jetzt als „Hitler des Orients“ bezeichnet. Präsident Bush sen. selbst war der Stichwortgeber. In einer Rede vom 8. November 1990 sagte er, die irakischen Truppen hätten sich in Kuwait „ungeheuerliche Akte der Barbarei“ zuschulden kommen lassen, „die nicht einmal Adolf Hitler begangen hat“.16 Damit verschaffte Bush dem Saddam-Hitler-Vergleich eine weltweite Resonanz. In Deutschland führte dieser Vergleich, der auf eine Gleichsetzung hinauslief, zu großen Irritationen.17

54 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges kämpften erstmals wieder deutsche Soldaten im Ausland, nämlich gegen das serbische Rest-Jugoslawien. Dies geschah im Rahmen der Nato, aber ohne UNO-Mandat. Es handelte sich um einen Angriffskrieg, der weder vom Völkerrecht noch vom Grundgesetz (Artikel 26) gedeckt war. Rest-Jugoslawien hatte Deutschland weder angegriffen noch ging von ihm eine Bedrohung aus. Der damalige Außenminister Joschka Fischer (Bündnis 90/Die Grünen) legitimierte den deutschen Militäreinsatz, der in historischer Perspektive einen schwerwiegenden Tabubruch darstellte, mit historischen Erfahrungen aus der NS-Zeit. Nur brachte er diese jetzt ganz anders als bislang üblich ins Spiel.18 Er habe nicht nur gelernt „Nie wieder Krieg!“, argumentierte er im Deutschen Bundestag, sondern auch „Nie wieder Auschwitz!“ Das war eine historisch unhaltbare, aber politisch wirkungsmächtige historische Analogie.19 Verteidigungsminister Rudolf Scharping (SPD) präsentierte der internationalen Öffentlichkeit seinerzeit einen »Hufeisenplan«, der angeblich beinhaltete, dass die serbische Regierung die Albaner systematisch aus dem Kosovo vertreiben wolle. Tatsächlich war dieser Plan frei erfunden.20 Es handelte sich also um eine der üblichen Kriegslügen.21

Diese Wende in der Kriegsbegründung wurde später als »Menschenrechts-Bellizismus« bezeichnet, als Krieg für die Menschenrechte. Aus dieser Argumentation wurde dann die politische Strategie der »Schutzverantwortung« (Responsibility to Protect) entwickelt, die 2005 die Zustimmung fast aller Mitgliedsländer der Vereinten Nationen fand.22 Wegen der erwiesenen Missbrauchsgefahr, beispielsweise im internationalen Militäreinsatz gegen Libyen 2011, hat sich diese Strategie jedoch bereits als problematisch erwiesen.

Der Dritte Golfkrieg von 2003 wurde seitens der Regierung Bush jun. zunächst als militärische Antwort auf den terroristischen Angriff auf das World Trade Center am 11. September 2001 gerechtfertigt (»War on Terror«) – obwohl das eine mit dem anderen nichts zu tun hatte. Später wurde, wie schon 1990/91, die grausame Diktatur des irakischen Präsidenten Saddam Hussein zur Begründung herangezogen. Präsident Bush führte im Gefolge des Irak-Kriegs auch die Begriffe »Schurkenstaat« und »Achse des Bösen« ein. Damit machte er einmal mehr seine dichotomische Weltsicht deutlich: Hier die Guten und Willigen, dort die Bösen, die notfalls bekriegt werden müssen. Um die Gefährlichkeit von Saddam Hussein weltweit zu verdeutlichen, rückte die US-Propaganda erneut Saddam-Hitler-Vergleiche in das Blickfeld der Weltöffentlichkeit. Schließlich operierte die US-Propaganda mit der Behauptung, Saddam Hussein verfüge über Massenvernichtungswaffen und sei daher eine Bedrohung für die ganze Welt. Auch diese Behauptung sollte sich später als Lüge zum Zwecke der (präventiven) Kriegführung entpuppen.

Militärzensur: das systematische Totschweigen der Kriegswirklichkeit

Kriege sind eine extrem lebensfeindliche Angelegenheit. In ihnen fügen sich Menschen, die sich nicht kennen, den denkbar schwersten Schaden zu. Sie nehmen sich – und vielen nicht kämpfenden Zivilisten – gewaltsam Leben und Gesundheit. Wer als Staatsmann oder Militär eine kriegerische Auseinandersetzung plant oder in Kauf zu nehmen bereit ist, hält die Darstellung der Kriegswirklichkeit für einen subversiven Akt. Das musste Erich Maria Remarque mit seinem Buch »Im Westen nichts Neues« ebenso erfahren wie der Hamburger Lehrer Wilhelm Lamszus mit seinem 1912 erschienenen Zukunftsroman »Das Menschenschlachthaus«.23 Lamszus wurde von der reaktionären Presse als „schlechter Deutscher“ und als „vaterlandsloser Geselle“ verunglimpft. Der Kronprinz verlangte seine Entlassung aus dem Schuldienst. Auf Remarque prasselten wütende Reaktionen der nationalistischen Presse nieder. Der Kriegsschriftsteller Franz Schauwecker qualifizierte seinen Roman als „Kriegserlebnis eines Untermenschen“, und dessen Gesinnungsgenosse Georg Friedrich Jünger meinte herablassend, der Roman ergehe sich „in schwächlichen Klagen gegen den Krieg“.

Da sich die grausame Wirklichkeit des Krieges öffentlich nicht sehen lassen kann, muss sie versteckt werden. Militärs schotten ihr Tätigkeitsfeld seit jeher mit einem fast undurchdringlichen Gestrüpp von Geheimhaltungsvorschriften ab. Sie behaupten, die Geheimhaltung sei eine »Kriegsnotwendigkeit«; der Feind müsse im Unklaren gelassen werden über die eigenen Absichten und Möglichkeiten. Für die Mobilisierung und Aufrechterhaltung von Kriegsbereitschaft in der Bevölkerung des eigenen Landes ist die Verschleierung der Kriegsrealität von zumindest ebenso großer Bedeutung.

In den Kriegen des 19. und 20. Jahrhunderts übernahm die Militärzensur die Aufgabe, die Weitergabe kriegsrelevanter Informationen sowie die Berichterstattung über die Kriegsrealität möglichst vollständig zu unterbinden. So durften beispielsweise Bilder von getöteten deutschen Soldaten sowohl im Ersten als auch im Zweiten Weltkrieg nicht veröffentlicht werden. Im Hinblick auf die Verschleierung der Kriegsrealität nimmt der amerikanische Vietnamkrieg (1964-1975) eine Sonderstellung ein. Er war der einzige Krieg, über den die westlichen Kriegsberichterstatter offen und unzensiert schreiben durften. Das hatte einen juristischen Hintergrund: Weil die US-Regierung keine förmliche Kriegserklärung ausgesprochen hatte, trat auch das Gesetz über die Militärzensur nicht in Kraft.24 Daher konnte in diesem Krieg auch über die Verluste der amerikanischen Streitkräfte berichtet werden, unterstützt durch beeindruckende Filmszenen und Fotos. Diese Berichterstattung zerstörte die Moral der amerikanischen Heimatfront. Ein Großteil der Bevölkerung der USA entzog der Regierung schließlich ihre Unterstützung. So wurde dieser Krieg – bildlich gesprochen – in erster Linie in den amerikanischen Fernsehzimmern verloren. Seit den Erfahrungen des Vietnamkriegs gaben die Militärs das Informationsmonopol nie mehr aus der Hand. Sie bestimmten nun wieder allein, was die Medien berichten und was die Bevölkerung erfahren durfte, wohl wissend, dass Berichte über das Töten und die Todesangst von den Menschen ferngehalten werden müssen, wenn die Moral nicht zusammenbrechen soll.

Anmerkungen

1) zitate.de/autor/Aischylos.

2) Vgl. Hellmut von Gerlach: Die große Zeit der Lüge. Der Erste Weltkrieg und die deutsche Mentalität (1871-1921). Bremen, 1994.

3) Siehe wikipedia.org/wiki/Kriegsschuldfrage.

4) Vgl. Wolfram Wette: Kriegstheorien deutscher Sozialisten. Marx, Engels, Lassalle, Bernstein, Kautsky, Luxemburg. Stuttgart, 1971.

5) Gesammelte Schriften und Denkwürdigkeiten des General-Feldmarschalls Grafen Helmut v. Moltke, Bd. III. Berlin, 1892/93, S.154. Zum historischen Kontext vgl. Wolfram Wette: Militarismus in Deutschland. Geschichte einer kriegerischen Kultur. Frankfurt/M., 2008, S.102f.

6) Vgl. Reiner Steinweg (Hrsg.): Der gerechte Krieg. Christentum, Islam, Marxismus. Frankfurt/M., 1980.

7) Theodor Schieder: Friedrich der Große. Ein Königtum der Widersprüche. Berlin, 1983, S.144 f.

8) Siehe im Einzelnen Eberhard Kolb: Der Kriegsausbruch 1870. Politische Entscheidungsprozesse und Verantwortlichkeiten in der Julikrise 1870. Göttingen, 1970.

9) Vgl. Susanne Miller: Burgfrieden und Klassenkampf. Die deutsche Sozialdemokratie im Ersten Weltkrieg. Düsseldorf, 1974; sowie Lothar Wieland: Die Verteidigungslüge. Pazifisten in der deutschen Sozialdemokratie 1914-1918. Bremen, 1998.

10) Notiz Admiral v. Müllers vom 1.8.1914, zit. nach Dieter Groh: Negative Integration und revolutionärer Attentismus. Die deutsche Sozialdemokratie am Vorabend des Ersten Weltkrieges. Frankfurt/M., Berlin, Wien, 1973, S.672.

11) Hitlers Rundfunkrede vom 1.9.1939. In: Max Domarus: Hitler. Reden 1932 bis 1945, Bd. II, Erster Halbband: 1939-1940. Wiesbaden, 1973, S.1315.

12) Vgl. Wolfram Wette: Die propagandistische Mobilmachung für den Krieg. In: Wilhelm Deist, Manfred Messerschmidt, Hans-Erich Volkmann, Wolfram Wette: Ursachen und Voraussetzungen der deutschen Kriegspolitik. Frankfurt/M., 1989, S.117-161.

13) Vgl. Gerd R. Ueberschär, Lev A. Bezymenskij (Hrsg.): Der deutsche Angriff auf die Sowjetunion 1941. Die Kontroverse um die Präventivkriegsthese. Darmstadt, 1998. Bianka Pietrow-Ennker (Hrsg.): Präventivkrieg? Der deutsche Angriff auf die Sowjetunion. Frankfurt/M., 2011.

14) Bernd Greiner: Aus gegebenem Anlass. Ein Krieg, der mit einer Lüge begann und im Desaster enden musste. In: Mittelweg 36, 5/2007, S.4-16. ders.: Krieg ohne Fronten. Die USA in Vietnam. Hamburg, 2007.

15) Wolfram Wette: Ein Hitler des Orients? NS-Vergleiche in der Kriegspropaganda von Demokratien. In: Gewerkschaftliche Monatshefte, 4/2003, S.231-242.

16) Zit. nach John R. MacArthur: Schlacht der Lügen. Wie die USA den Golfkrieg verkauften. München, 1993, S.83.

17) Vgl. Wolfram Wette: Hitler des Orients?, op.cit., S.234-236.

18) Vgl. Michael Schwab-Trapp: Kriegsdiskurse. Die politische Kultur des Krieges im Wandel 1991-1999. Opladen, 2002. Und ders.: Der Nationalsozialismus im öffentlichen Diskurs über militärische Gewalt. Überlegungen zum Bedeutungswandel der deutschen Vergangenheit. In: Wolfgang Bergem (Hrsg.), Die NS-Diktatur im deutschen Erinnerungsdiskurs. Opladen, 2003, S.171-185.

19) Vgl. dazu Egbert Jahn: Nie wieder Krieg! Nie wieder Völkermord! Der Kosovo-Konflikt als europäisches Problem. Mannheim, 1999.

20) Vgl. Heinz Loquai: Der Kosovo-Konflikt. Wege in einen vermeidbaren Krieg. Die Zeit von Ende November 1997 bis März 1999. Baden-Baden, 2000.

21) Siehe die WDR-Dokumentation von Jo Angerer und Mathias Werth: Es begann mit einer Lüge. 2001.

22) Siehe wikipedia.org/wiki/Schutzverantwortung.

23) Wilhelm Lamszus: Das Menschenschlachthaus. Bilder vom kommenden Krieg. Hamburg, Berlin, 1912.

24) Winfried Scharlau: Wie realistisch schildern Medien den Krieg, die Täter und die Opfer? In: Thomas Kühne und Horst Gleichmann (Hrsg.): Massenhaftes Töten. Krieg und Genozide im 20. Jahrhundert. Essen, 2004, S.383-393, hier S.390.

Wolfram Wette, Prof. (em.) Dr. phil., Historiker, 1971-95 Militärgeschichtliches Forschungsamt, dann Universität Freiburg; Mitbegründer des Arbeitskreises Historische Friedensforschung (AKHF); Mitherausgeber der Reihen »Geschichte und Frieden« und »Frieden und Krieg«; Ehrenprofessor der russischen Universität Lipezk.

»Embedded Feminism«

Frauen(rechte) als Legitimation für militärische Intervention

von Andrea Nachtigall

Kriegerisches Handeln mit dem vermeintlichen Wohle und Schutz von Frauen (und Kindern) zu legitimieren, ist nicht neu. Wie feministische und genderbezogene Forschungen zeigen, dominieren in Kriegskontexten seit Jahrhunderten zumeist dichotome, stereotype Geschlechterrollen und -bilder: Männer sind die aktiven Handlungsträger, sie töten, kämpfen, beschützen oder verhandeln, wohingegen Frauen zumeist die Rolle des passiven (potentiellen) Opfers und der Leidtragenden des Krieges zufällt. Diese dominanten Identitäten werden häufig für die Begründung politischen Handelns zur Vorbereitung oder während eines Krieges gezielt mobilisiert und verstärkt, um staatliche und militärische Gewalt zu legitimieren. So evoziert der stete Verweis auf das weibliche Opfer nicht nur das Bild des männlichen Täters, sondern verlangt implizit oder explizit nach einem – traditionell ebenfalls männlich gedachten – Retter und Beschützer. Der Verweis auf bedrohte »FrauenundKinder«, wie Enloe (1990) diese wiederkehrende Diskursfigur pointiert bezeichnet hat, kann in diesem Sinne dazu dienen, die Kampfkraft der eigenen Soldaten anzuspornen und die »heldenhafte« Männlichkeit des Eigenen gegen die »barbarische« und »frauenfeindliche« Männlichkeit des Feindes abzugrenzen.

Neu an der im »Krieg gegen den Terror« verwendeten Argumentation ist also nicht der Verweis auf das weibliche Opfer, sondern die Verknüpfung mit dem Thema Frauenrechte bzw. die Explizitheit, mit der nunmehr feministische Diskursfragmente, wie die Forderung nach Gleichstellung und Emanzipation der (afghanischen) Frau, in die Begründungsmuster staatlicher und militärischer Politik eingebunden werden. Krista Hunt spricht (in Anlehnung an die in Militär und Kampfgeschehen »eingebetteten« Journalisten) passend von einem »embedded feminism« (2006), mit dem der Afghanistankrieg moralisch begründet wurde und mit dem eine breite Zustimmung innerhalb der Bevölkerung – auch unter Feministinnen und Frauenrechtlerinnen – erreicht werden konnte (vgl. auch Nachtigall/Dietrich 2003).

Das Auftauchen der afghanischen Frau in Politik und Medien, verbunden mit dem Ruf nach Frauenrechten, setzt jedoch nicht unbedingt ein nachhaltiges Interesse an ihrer tatsächlichen Situation und deren Veränderung voraus (vgl. Klaus/Kassel 2008, S.275). Zumeist blieb es bei oberflächlichen und plakativen Absichtsbekundungen, weswegen man besser von pseudo-feministischen Argumentationsmustern sprechen müsste.

Während die politische und mediale Vereinnahmung und Instrumentalisierung von Frauen(rechten) im Zuge des Afghanistankrieges bereits einige kritische Aufmerksamkeit erfahren hat (z.B. Kassel 2004; Maier/Stegmann 2003; Nachtigall 2012), ist jedoch nur geringes Augenmerk auf den weiteren Verlauf und Veränderungen der diskursiven Legitimationsfigur gelegt worden. Diese Lücke soll hier mit zahlreichen Beispielen aus der deutschen Printmedien-Berichterstattung zum Afghanistan- und Irakkrieg geschlossen werden. Zu diesem Zweck wurde eine stichprobenartige Analyse verschiedener deutscher »Leitmedien« – Der Spiegel (Spiegel), Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), die tageszeitung (taz), Bildzeitung (Bild) – vorgenommen, die nicht nur die Berichterstattung über die »offizielle Kriegszeit«, sondern auch die Post-Konflikt-Berichterstattung umfasst. Wie sich anhand des Materials zeigen lässt, kann der Verweis auf bedrohte »FrauenundKinder« bzw. das Thema Frauenrechte eine legitimierende, aber auch eine delegitimierende Funktion erfüllen.

Die Funktionalisierung und Instrumentalisierung (pseudo-) feministischer Argumente im Rahmen der Begründung und (De-) Legitimierung kriegerisch-militärischen Handelns geschieht dabei in beabsichtigter wie unbeabsichtigter Weise. So wird in den untersuchten Medien vielfach ein expliziter Zusammenhang zwischen Leid und Unterdrückung der Frau und der Notwendigkeit eines Krieges zu Gunsten der Frauen bzw. zur Implementierung oder Wiederherstellung von Frauenrechten hergestellt. Häufiger noch wird dieser Begründungszusammenhang indirekt nahe gelegt, zum Beispiel durch die spezifische Art und Weise, wie über Frauen (und Männer) in Afghanistan und Irak während des Kriegsgeschehens berichtet wird. Die diskursanalytische Perspektive interessiert sich hier jedoch weniger für mögliche Intentionen einzelner Journalist_innen, sondern für die überindividuellen Deutungsmuster, die in der Berichterstattung (re-) produziert werden und die einen Krieg als illegitim oder legitim erscheinen lassen können.

Afghanistankrieg

Die Burka als Kriegsargument und die entschleierte Afghanin als Symbol der Befreiung

Nach dem 11. September, insbesondere im Vorfeld und Verlauf des Afghanistankrieges, war plötzlich quer durch die deutschsprachige und internationale Medienlandschaft von den durch die Taliban unterdrückten afghanischen Frauen zu lesen – direkt oder indirekt verbunden mit dem Appell, die Afghaninnen von ihrem Leid zu erlösen. Der afghanischen Ganzkörperverschleierung, der Burka, kommt in diesem Kontext eine zentrale, symbolisch aufgeladene Bedeutung zu: Sie stellt das vordergründige Merkmal der Darstellung dar; kaum ein Text, eine Bildunterschrift oder ein Foto kommen ohne Verweis auf die Burka bzw. die generelle Bezugnahme auf das Thema Verschleierung aus. Die Burka gilt als untrügliches Zeichen schlimmster patriarchaler Unterdrückung durch die Taliban und eines fundamentalistischen Islams schlechthin. „Die Burka ist nicht eine rückständige Kleiderordnung, sondern macht aus Frauen blindes, hilfloses, konturloses Vieh.“ (taz 12.10.2001) Bis auf wenige Ausnahmen wird die Afghanin als zutiefst gedemütigte und traumatisierte Frau dargestellt, die passiv und leidend ihr Schicksal unter der Burka erduldet. In den Medien werden ihr jegliche Freiheiten, Entscheidungs- oder Handlungsoptionen abgesprochen; kaum mehr vorstellbar ist (aus westlich-okzidentalistischer Perspektive), dass diese Frauen überhaupt ein lebenswertes Leben führen. So ist beispielsweise von der „entmündigenden Burka“ (Spiegel 48/2001) oder auch – in Anspielung auf das Gewicht einer Burka – von „sieben Kilo Schmach“ (FAZ 19.9.2001) die Rede, die ihre Trägerinnen zwinge, „wie lebendig begraben durchs Leben zu gehen“ (ebd.). Wiederholt wird auf die körperlichen und seelischen Qualen afghanischer Frauen verwiesen, die von den Taliban „geknechtet“ und „unterjocht“ (FAZ 29.10.2001; Spiegel 41/2001) und zu „Sklavinnen“ gemacht worden seien (FAZ 19.9.2001).

Die Darstellung der afghanischen Frau wird dabei konstant mit dem Thema Islam bzw. dem islamistischen und frauenfeindlichen Regime der Taliban verknüpft, so dass die Afghanin als spezifisch islamische Frau und damit als »Andere« des Westens sichtbar gemacht wird. Effekt dieser Darstellungsmuster ist die Konstituierung einer grundlegenden, hierarchischen Differenz zwischen islamischer und westlicher Frau, wobei auf das altbekannte Stereotyp der »unterdrückten Muslimin« als Opfer des »orientalischen Patriarchats« bzw. eines »frauenfeindlichen Islam« rekurriert wird (vgl. Pinn/Wehner 1995). Die Zu- und Festschreibung der Opferrolle verunmöglicht zudem, afghanische Frauen in ihren tatsächlichen Handlungsmöglichkeiten wahrzunehmen und damit als eigenständige Akteurinnen und politische Subjekte anzuerkennen. Dass es auch in Afghanistan widerständiges Denken und Handeln gegeben hat, zeigt zum Beispiel das Engagement der Gruppe RAWA (Revolutionary Association of the Women of Afghanistan).

Die Viktimisierung der afghanischen Frau und die Dämonisierung des Feindes über eine brutale und fehlgeleitete Hypermaskulinität sind zwei Seiten der gleichen Medaille. Die »barbarische Frauenfeindlichkeit« der Taliban bildet in allen Medien das zentrale Thema, an dem die Verabscheuungswürdigkeit und Gefährlichkeit des Gegners festgemacht werden. (Sexualisierte) Gewalt gegen Frauen und eine extreme Frauenfeindlichkeit werden dabei ausschließlich als Merkmal des »orientalisierten Anderen« dargestellt und fungieren als definitiver Beweis seiner kulturellen Rückständigkeit. Wiederholt werden die Taliban als frauenfeindliche Vergewaltiger und Unterdrücker herausgestellt. „Taliban-Krieger vergewaltigen Afghanistans schöne Töchter“, lautet beispielsweise eine Schlagzeile der Bildzeitung (27.9.2001), oder: „Taliban-Terror! Wie Mädchen in Afghanistan leiden müssen“ (Bild 20.10.2001). Gleichzeitig wird durch die Art der Darstellung das Bild einer auf Freiheit und Gleichheit beruhenden westlichen (Geschlechter-) Ordnung als »zivilisatorisches Gegenmodell« zu der als besonders abartig und frauenverachtend gekennzeichneten (islamischen) Männerherrschaft der Taliban (implizit) gestärkt.

Diese Deutungsmuster haben Auswirkungen auf die Wahrnehmung und Beurteilung (außen-) politischen Handelns, insbesondere im Hinblick auf die Legitimität des militärischen Vorgehens. Die wiederholt herausgestellte »barbarische Frauenfeindlichkeit« des Feindes lässt ein militärisches Einschreiten – parallel zu den offiziellen Begründungsmustern des Krieges – aus humanitären und ethischen Gründen gerechtfertigt und geradezu unausweichlich erscheinen. Der Rekurs auf kolonialistische Wahrnehmungsmuster, demzufolge sich der »weiße Mann« als zivilisatorisch überlegen imaginiert, der die »Wilden« von der »Barbarei« befreien müsse, ist dabei unverkennbar. So schreibt Franz Josef Wagner in seiner täglichen Kolumne der Bildzeitung, die diesmal mit der Überschriebt „Liebe Mama“ an seine Mutter – stellvertretend für alle Mütter – adressiert ist: „Mama, wir bombardieren Afghanistan, weil wir auch die afghanische Frau befreien müssen.“ (30.10.2001)

Während vor und im Verlauf des Krieges das Thema Verschleierung der afghanischen Frau bzw. Zwangsverschleierung durch die Burka im Vordergrund der Berichterstattung standen, rückt mit dem »Etappensieg« in Kabul Anfang November 2001 das Motiv der Entschleierung in den Mittelpunkt. In der Darstellung der Medien scheint es geradezu zu einer euphorischen Massenentschleierung zu kommen, bei der sich die afghanischen Frauen enthusiastisch der verhassten Burka entledigen und damit zugleich ihr wahres Gesicht hinter dem Schleier als modebewusste und geschminkte Frau offenbaren. Der in Wort und Bild vollzogene Prozess der Entschleierung wird dabei kontinuierlich mit einer Rhetorik von Befreiung und Freiheit verknüpft: „Auf den Basaren fanden die Frauen, die zögerlich ihre Burkas abzuwerfen begannen, wieder Lippenstift und modische Kleidung. Kein Zweifel: Hier war ein Großteil des Landes befreit worden.“ (Spiegel 47/2001)

Der symbolische Charakter der Darstellung spiegelt sich insbesondere in der Bilderpolitik wider: Nach dem Sturz des Talibanregimes zirkulieren in den Medien zahlreiche Fotos von glücklich entschleierten afghanischen Frauen, die die Burka abgelegt oder angehoben haben, und verleihen dem Krieg im Nachhinein einen moralischen Mehrwert. Die Fotos sind allesamt auffallend ähnlich aufgebaut: Zu sehen ist stets eine Frau mit einer über den Kopf hochgeschlagenen Burka oder einem Kopftuch inmitten einer gesichtslosen Menge von Frauen, die nach wie vor die Burka tragen. Häufig stehen die Fotos ohne expliziten Bezug zum Text, d.h. sie begleiten die Kriegsberichterstattung, ohne dass in den Artikeln überhaupt auf die spezifische Situation der Frauen eingegangen würde. Die Bedeutung der Fotos erschließt sich primär über den Kontext, insbesondere aus den Bildunterschriften, so z.B.: „Befreite afghanische Frauen: Über Jahre gequält“ (Spiegel 48/2001), „Afghanische Frauen nach dem Fall von Kabul: Lippenstift wiederentdeckt“ (Spiegel 47/2001) und: „Nach fünfjährigem Versteckt unter dem Ganzkörperschleier endlich wieder im Straßenbild von Kabul: Lächelnde Frauen“ (taz 15.11.2001). Die Fotos der »entschleierten Afghanin« kreieren die Erwartungshaltung eines Vorher und Nachher (Dietze 2006, S.228). Die Botschaft verheißt: Eine Frau ist bereits entschleiert, die anderen werden bald folgen. Mehr noch als die textlichen Ausführungen vermitteln die Fotos Authentizität, sie scheinen unmittelbar und unmissverständlich zu belegen, dass der Krieg (doch) etwas Gutes bewirkt hat: die Entschleierung (= Befreiung) der afghanischen Frau, die wiederum stellvertretend für die Befreiung der afghanischen Nation steht.

Unter der Burka kommt stets eine jugendlich wirkende, strahlende und glücklich lächelnde Frau zum Vorschein; wodurch das Stereotyp der schönen und exotischen Orientalin unter dem Schleier assoziiert wird. Zum anderen wird die Darstellung der afghanischen Frau fortlaufend mit einem modernen »westlichen« Weiblichkeitsideal kontrastiert, das zugleich als Maßstab und stille Norm fungiert. „Das neue Leben der Mädchen im befreiten Kabul. Sie träumen von Lippenstift und bunten Kleidern“, lautet etwa eine Schlagzeile der Bildzeitung (15.11.2001).

Auch wenn die Fotos nunmehr unverhüllte Personen und individuelle Gesichter zeigen, wird die Anonymität der Darstellung nicht durchbrochen; keine der entschleierten Frauen kommt selbst zu Wort oder wird mit vollem Namen benannt.

Auch in der Berichterstattung über die politische Situation in Afghanistan nach dem Sturz des Talibanregimes offenbart sich der symbolische Gehalt der fotografischen Repräsentationen. So nimmt die Bildzeitung auf die weiblichen Delegierten der Petersberg-Konferenz Bezug: Sie zeigt Sima Wali und greift in der Überschrift erneut das Stereotyp der »geheimnisvollen orientalischen Schönheit« auf: „Wer ist die schöne Afghanistan-Unterhändlerin?“ (1.12.2001). Auf politische Ansichten, Ziele oder Forderungen der weiblichen Delegierten wird hier, wie in den meisten anderen untersuchten Medien, nicht näher eingegangen. Konkrete politische An- und Absichten werden lediglich von den männlichen Protagonisten geäußert – bzw. in der medialen Wiedergabe berücksichtigt. So werden die männlichen Konferenzteilnehmer in der Regel namentlich, mit Lebenslauf und politischem Hintergrund vorgestellt, einzeln interviewt und nach ihren politischen Absichten befragt (z.B. Spiegel 48/2001), die Frauen nur im Bild gezeigt

Zusammenfassend lässt sich sagen: Die afghanische Frau wurde in den Medien weniger als Individuum wahrgenommen, sondern fungiert als Symbol für den Erfolg des Krieges und den »demokratischen« Neubeginn in Afghanistan. Auch die Thematisierung von Gewalt gegen Frauen bzw. die medial herausgestellte Empörung über die Missachtung von Frauenrechten durch die Taliban sowie die zum Beweis einer neuen Ordnung gezeigten »befreiten« und »entschleierten« Frauen bedeuten nicht zwangsläufig ein wirkliches Interesse an den Belangen der afghanischen Frauen, ihren Lebensrealitäten und der nachhaltigen Umsetzung der Forderung nach Frauenrechten.

Ein erstes Indiz dafür ist das selektive Auftauchen des Themas. Die afghanische Frau und der Verweis auf die Missachtung bzw. die Forderung nach Wiederherstellung von Frauenrechten kommen in der Berichterstattung vor allem in spezifisch thematischen Konstellationen vor und sind zudem auf einen zeitlichen Rahmen von wenigen Monaten begrenzt. Sie stehen vor allem dann auf der Agenda, wenn es um die vermeintliche Brutalität und Frauenfeindlichkeit des Gegners bzw. des Islams im Allgemeinen, das Ende der Talibanherrschaft sowie die Motive und Gründe des eigenen, außenpolitischen Handelns geht.

Des Weiteren fällt die weitgehende Ignoranz gegenüber afghanischen Frauen als aktiv und politisch Handelnde und damit als Akteurinnen und Subjekte des Diskurses ins Auge. Es überwiegt eine homogenisierende Perspektive, die die afghanische Frau primär auf die Rolle des hilflos ausgelieferten Opfers – der Taliban, des Islams oder des Krieges – reduziert. Dass eine Afghanin als Individuum, mit Namen, Beruf und eigenen Ansichten vorgestellt wird, bleibt im Kontext der gesamten Berichterstattung eine Randerscheinung. Afghanische Frauen erhalten in den Medien nur selten eine eigene Stimme; sie werden nur selten zu ihren politischen Ansichten direkt befragt, noch werden ihre spezifischen Interessen, Erfahrungen und Einschätzung in der Berichterstattung berücksichtigt. Politische Meinungen von Frauen werden zudem sehr selektiv wiedergegeben. So wurden z.B. Berichte der Organisation RAWA über die Grausamkeit der Taliban wiederholt zitiert – nicht jedoch ihre grundsätzlich ablehnende Haltung gegenüber dem Krieg. Mehrfach wurde herausgestellt, dass sich afghanische Frauen für mehr Frauenrechte einsetzen wollten, aber was sie darunter genau verstehen, wie sie sich die Umsetzung vorstellen, was ihre zentralen Ziele sind etc. ist für die Medien nicht von Bedeutung. Die reale Verbannung der afghanischen Frau aus der Öffentlichkeit wiederholt sich somit in dem medialen Sprechen über die afghanische Frau, in der ihr abermals Handlungsmacht aberkannt und eine eigene Stimme verweigert werden.

Dass das mediale Interesse an der Situation der afghanischen Frau genauso schnell wieder abebbte, wie es begonnen hatte, kann als weiterer Beleg für die Oberflächlichkeit und Symbolhaftigkeit der Darstellung interpretiert werden. Kaum jemand scheint sich heute noch für die Umsetzung der zuvor proklamierten Frauenrechte oder die tatsächliche Lage der afghanischen Frau zu interessieren. Die Forderung, Frauen in die politische Neugestaltung Afghanistans verstärkt einbeziehen zu wollen, blieb kaum mehr als ein Lippenbekenntnis. Die vormals in den Medien für ihren tapferen Widerstand gegen die Taliban gelobte Frauenorganisation RAWA wurde zu den offiziellen Nachkriegs-Verhandlungen auf dem Petersberg noch nicht einmal eingeladen, was für die Medien keinerlei Notiz oder Empörung mehr Wert war. Auch die Tatsache, dass lediglich zwei der Minister_innenposten an Frauen vergeben wurden, scheint der zuvor noch lautstark verkündeten Forderung, Frauen sollten in der neuen gesellschaftspolitischen Ordnung eine zentrale Rolle spielen, Genüge getan zu haben.

Irakkrieg

Der Feind als ein Regime frauenquälender Schurken

Der Bezug auf bedrohte oder leidende Frauen und Kinder stellt auch in dem zweiten im Namen des »Krieg gegen den Terror« geführten Krieges im Irak (offizielle Dauer 20.3.-14.4.2003) eine vordergründige Diskursfigur dar, allerdings mit anderen Vorzeichen. Die Berichterstattung über die ersten Wochen des Irakkrieges wird von einer ausgeprägten Bilderpolitik begleitet, in der Frauen, Mädchen und Kinder als Kriegsopfer, Notleidende und Flüchtlinge im Vordergrund stehen. „Am schlimmsten leiden Iraks Kinder“, titelt die Bildzeitung (31.3.2003) und präsentiert vier großformatige Fotos, die weinende und verletzte Kinder zeigen. Dieselben oder ähnliche Agenturfotos sind auch in der taz (z.B. 31.3.2003), FAZ (z.B. 31.3.2003) und im Spiegel (z.B. 15/2003) zu finden. Die Fotos zeigen überwiegend Mütter mit ihren kleinen Kindern auf der Flucht oder einzelne verletzte Kinder, wobei daran appelliert wird, dass Kinder als besonders schutzbedürftig gelten. Der Bildausschnitt ist zumeist so gewählt, dass individuelle Gesichter, geprägt von einem Ausdruck der Verzweiflung und des Schreckens, im Vordergrund stehen. Die Art und Weise der visuellen Darstellung ist von Bedeutung: „Mitleid und Mitgefühl stellen sich bei Fotos ein, auf denen identifizierbare Einzelpersonen dargestellt werden“, halten Kirchner et al. (2002, S.36) anlässlich der Berichterstattung über den Kosovokrieg fest. Diese Tradition setzt sich auch in der Irakkriegsberichterstattung fort. So werden flüchtende Männer eher als Teil einer großen Masse gezeigt, während die Ikonisierung des Leidens Frauen und Kindern bzw. Mädchen vorbehalten bleibt. Der Bezug auf »FrauenundKinder« als Opfer von Kriegsgewalt, Flucht und Vertreibung erfüllt in diesem Kontext eine den Krieg delegitimierende Funktion.

Im Unterschied zum Afghanistankrieg fällt besonders auf, dass die Symbolik des Schleiers bzw. das Narrativ von Verschleierung und Entschleierung stark in den Hintergrund tritt. Kaum noch wird in den Texten und Bildunterschriften auf die Verschleierung der irakischen Frau Bezug genommen, selbst dann nicht, wenn auf den Fotos verschleierte Frauen zu sehen sind. Das kann damit zusammenhängen, dass die Verknüpfung des Irakkrieges mit dem Feindbild Islam weniger vordergründig ist als im Afghanistankrieg.

Der Verweis auf Frauenunterdrückung und (sexualisierte) Gewalt gegen Frauen fungiert innerhalb der Irakkriegsberichterstattung in erster Linie als Beleg für eine krankhafte Grausamkeit einzelner Männer, weniger als Zeichen für die vermeintliche Rückständigkeit und Barbarei einer ganzen Gesellschaft (Taliban) oder religiösen Kultur (Islam), wie es im Afghanistankrieg der Fall war. Gewalt gegen Frauen und Frauenfeindlichkeit werden vielmehr als ein individualistisches Kennzeichen einzelner Machthaber dargestellt, allen voran als Merkmal von Saddam Hussein und seinen beiden Söhnen. Nur selten wird jedoch die Diskussion über Motivation und Beweggründe des Krieges explizit mit dem Verweis auf die Wiederherstellung oder Einführung von Frauenrechten verknüpft. Die Legitimationsfigur des »embedded feminism« entfaltet ihre Wirkmächtigkeit eher indirekt. So wird die Abscheulichkeit des Feindes, ähnlich wie bei der Dämonisierung der Taliban, vor allem mit der Entrechtung von Frauen und brutaler (sexualisierter) Gewalt gegen Frauen und Mädchen begründet. Häufig sind stark dramatisierende Berichte über Vergewaltigungen, Folter und Hinrichtungen von Frauen, um den »alltäglichen Horror« zu illustrieren: „Dies ist ein Regime, das alle Fußknochen eines zweijährigen Mädchens einzeln zerbricht, um seine Mutter zu zwingen, den Aufenthaltsort ihres Mannes preiszugeben. […] Dies ist ein Regime, das eine Frau, eine Tochter oder andere weibliche Verwandte wiederholt vor den Augen eines Mannes vergewaltigt.“ (Spiegel 5/2003) Saddam Husseins Sohn Udai wird als gefürchteter „Frauenschreck“ und „brutaler Playboy“ bezeichnet, dem die Frauen willkürlich ausgeliefert seien (alles Spiegel 25/2003). Saddam und seine Söhne ließen Frauen täglich zu ihrem eigenen Vergnügen entführen, foltern und töten, wird wiederholt betont (ebd.). Und die Bildzeitung berichtet: „Frauen, die sich im privaten Kreis gegen Saddam ausgesprochen hatten, wurden in Folterkellern wochenlang nackt gehalten, geschlagen, vergewaltigt.“ (14.2.2003)

Trotz der zumeist ablehnenden Haltung der deutschen Medien zum Irakkrieg erscheint der Krieg durch die permanente Fokussierung auf die Situation der irakischen Frauen doch zumindest moralisch gerechtfertigt, und für die Frauen einen positiven Nebeneffekt mit sich zu bringen. Wenn Saddam Hussein und seinen Söhnen das Handwerk gelegt wird, kehrt auch für die irakischen Frauen wieder Frieden ein, ließe sich der Subtext der Berichterstattung zusammenfassen.

Kurz vor dem von US-Präsident Bush sen. im April 2001 verkündeten Sieg tauchen in den Medien ebenfalls kurzzeitig Fotos und Erzählungen von geretteten und befreiten Frauen und Mädchen auf. Am 10.4.2003 zeigt die Bildzeitung zwei großformatige Fotos, die erneut die im kollektiven Bildgedächtnis fest verankerten Bilder aktualisieren. Gezeigt wird ein US-Soldat mit einem kleinen Mädchen auf dem Arm. Bildunterschrift: „Ein Bild des Friedens. Ein US-Soldat hält fürsorglich ein kleines Mädchen, das bei den Kämpfen in Bagdad leicht verletzt wurde“. Gleich daneben sieht man das Foto einer in die Kamera strahlenden jungen Frau, die ihren Daumen empor streckt. Bildunterschrift: „Daumen rauf! Ein irakisches Mädchen begrüßt die alliierten Truppen“. Auch im Text ist wiederholt von den glücklichen Frauen die Rede: „Nach drei Wochen Bombenangriffen ruft eine Frau US-Soldaten weinend zu: ‚Wir lieben euch’.“ Der Rückgriff auf die altbewährten (Geschlechter-)Stereotypen von frauenfeindlichen Schurken und heldenhaften Soldaten auf der einen, geretteten »FrauenundMädchen« auf der anderen Seite, verleiht so auch dem Irakkrieg – trotz aller Kritik – im Nachhinein einen positiven Nutzen.

Die Schleiersymbolik in der Irakkriegsberichterstattung ist zudem keineswegs so eindeutig auf die Lesart Zwang und Unterdrückung festgelegt wie es im Afghanistankrieg der Fall war. Zu beobachten ist ein wiederkehrendes Bildmotiv, welches zumeist ohne Textbezug auftritt. Die Fotos zeigen schwarz verschleierte und schwer bewaffnete irakische Soldatinnen. Die Bildunterschriften setzen die Fotos regelmäßig in Zusammenhang mit dem »Terror-Regime« und assoziieren eine bevorstehende Gefahr (für die USA). So wird etwa betont, dass es sich bei den Frauen um Sympathisantinnen Saddam Husseins handele, die sich in einem „Protestmarsch gegen die USA“ (Spiegel 5/2003) befänden und dass ein Bürgerkrieg sowie Racheaktionen gegen die USA bevor stünden. Auch die taz verfolgt eine ähnliche Bilderpolitik: Schwarz verschleierte Frauen mit großen Gewehren zieren die Titelseite am 26.3.2003, darunter heißt es: „In der Stadt Jusifija, 30 Kilometer südlich von Bagdad gelegen, rufen bewaffnete Frauen antiamerikanische Parolen“. In keinem der Artikel wird jedoch auf die bewaffneten Frauen und Soldatinnen eingegangen. Völlig ohne Textbezug symbolisieren die (verschleierten) kampfbereiten Frauen eine besondere Gefahr für die USA und den Westen. Wie schon im zweiten Golfkrieg erscheinen irakische Soldatinnen als „unweibliche Amazonen mit Killerinstinkt“ (Kassel/Klaus 2008, S.270), von denen eine besondere Bedrohung auszugehen scheint. Die Opferrolle schwenkt in „fanatische Guerillaaktivität“ (ebd.) um – ein Motiv, welches für die Darstellung von Frauen in Kriegskontexten – wenn sie als Handelnde, Kämpfende und (potentielle) Täterinnen in Erscheinung treten – ebenfalls Tradition besitzt.

Frauen als stumme Warnung vor dem Truppenabzug

Die Situation der Frauen in Afghanistan und im Irak sowie das Thema Frauenrechte rücken im Verlauf der Konflikt-Berichterstattung immer weiter in den Hintergrund. Afghanische oder irakische Frauen tauchen in den Medien nur noch zu spezifischen Anlässen auf, zum Beispiel, wenn es um das Thema freie Wahlen geht oder wenn parlamentarische Abstimmungen über die Verlängerung des Afghanistaneinsatzes der Bundeswehr anstehen. So wird die Berichterstattung über die Parlamentswahlen in Afghanistan (18.9.2005) oder die Wahlen im Irak (30.1.2005) von Fotos begleitet, die Frauen auf dem Weg zum Wahllokal oder nach erfolgter Stimmabgabe mit blau oder violett gefärbten Zeigefingern (zur Kennzeichnung, dass die Wahl erfolgt ist und um Wahlbetrug zu vermeiden) zeigen (z.B. FAZ 31.1.2005). Die Fotografien der Frauen haben erneut überwiegend Symbolcharakter: Die anonymen Frauen auf den Fotos werden zum Zeichen des geglückten demokratischen Neubeginns des Landes – bei gleichzeitigem Schweigen über die reale Lage der Frauen, ihre Interessen oder Forderungen. So zeigt die taz am 31.1.2005 unter der Schlagzeile „Irak schreitet zur Demokratie“ verschiedene Fotos von Frauen (und Männern) mit dem charakteristischen »Wahlfinger«, den sie „stolz und zufrieden“ (Bildunterschrift) in die Kamera halten. Im Innenteil der Zeitung wird der Bericht fortgesetzt, begleitet von einem Foto, das zwei Frauen bei einer Sicherheitskontrolle vor einem Wahllokal zeigt – wiederum ohne dass die Lage der Frauen Gegenstand des Artikels wäre oder Frauen selbst zu Wort kämen. Auch die Berichterstattung über die Parlamentswahlen in Afghanistan wird vor allem mit weiblichen Wählerinnen bebildert, die vor einem Wahllokal Schlange stehen (z.B. taz 19.9.2005; FAZ 19.9.2005).

Geht es um die Mandatsverlängerungen des Afghanistaneinsatzes und damit verbunden um die Bestimmung des militärischen Auftrages und der konkreten Aufgabenfelder der Bundeswehr vor Ort, ist kaum noch von der Lage der Frauen oder der Einführung von Frauenrechten zu lesen. Dies war zu erwarten, nachdem die Situation der afghanischen Frauen bereits nach dem formalen Kriegsende für die Medien kaum noch von Interesse war. Andere militärische Aufgaben wie die Verteidigung der Sicherheit, Terrorbekämpfung oder Stabilisierung des Landes stehen nunmehr im Vordergrund. Auch der Verweis auf die Burka, die vormals so oft als die schlimmste Form der Frauenunterdrückung und Missachtung der Menschenrechte skandalisiert wurde, taucht in den Texten und Bildunterschriften heute nicht mehr auf. Niemanden scheint es zu verwundern, dass die afghanische Frau die Burka gar nicht abgelegt hat, wie es noch im November 2001 in allen Medien freudig prophezeit wurde.

Das Symbol Burka ist jedoch aus den Medien nicht völlig verschwunden – die Burka bleibt vielmehr als »stille Warnung« präsent. Auf nahezu jedem Foto, das deutsche Bundeswehrsoldaten in Afghanistan zeigt, ist auch eine »Burka-Frau« zu sehen – sei sie auch noch so klein und in weiter Ferne. Die Burka-Symbolik hat sich offensichtlich etabliert und bedarf keiner expliziten textlichen Begleitung mehr. Trotzdem bleibt die »Burka-Frau« als symbolische Referenz erhalten, ihre hartnäckige Präsenz auf den Fotos fungiert wie eine beständige Wiederholung der etablierten Legitimierungsfigur »Krieg für Frauenrechte« bzw. als stumme Mahnung, dass der Militäreinsatz (vermeintlich) auch für die afghanischen Frauen geführt wird.

Literatur

Dietze, Gabriele (2006): The political Veil. Interconnected Discourses on Burquas and Headscarves in the US and in Europe. In: von Braun, Christina/Brunotte, Ulrike/Dietze, Gabriele/Hrzán, Daniela/Jähnert, Gabriele/Pruin, Dagmar (Hrsg.): »Holy War« and Gender. »Gotteskrieg« und Geschlecht. Münster, S.225-238.

Enloe, Cynthia (1990): Womenandchildren: Making Feminist Sense of the Persian Gulf Crisis. In: Village Voice, 25. September, S.29-32.

Hunt, Krista (2006): »Embedded Feminism« and the War on Terror. In: Dies./Rygiel, Kim (Hrsg.): (En)Gendering the War on Terror. War Stories and Camouflaged Politics. Hampshire, S.51-72.

Kassel, Susanne (2004): Krieg im Namen der Frauenrechte? Der Beitrag der Medien zur Konstruktion einer Legitimationsfigur. In: Schweitzer, Christine/Aust, Björn/Schlotter, Peter (Hrsg.): Demokratien im Krieg. Baden-Baden, S.161-179.

Kirchner, Andrea/Kreischer, Sebastian/Ruth, Ina (2002): Bilder, die zum Handeln auffordern. In: Jäger, Margarete/Jäger, Siegfried (Hrsg.): Medien im Krieg. Duisburg, S.29-71.

Klaus, Elisabeth/Kassel, Susanne (2008): Frauenrechte als Kriegslegitimation in den Medien. In: Dorer, Johanna/Geiger, Brigitte/Köpl, Regina (Hrsg.): Medien – Politik – Geschlecht. Feministisch Befunde zur politischen Kommunikationsforschung. Wiesbaden, S.266-280.

Maier, Tanja/Stegmann, Stefanie (2003): Unter dem Schleier. Zur Instrumentalisierung von Weiblichkeit: Mediale Repräsentationen im »Krieg gegen den Terror«. In: Feministische Studien, Heft 1, S.48-57.

Nachtigall, Andrea/Dietrich, Anette (2003): GeschlechterKrieg und FriedensFronten. Zur Funkion(alisierung) der Kategorie Geschlecht im Kontext von Krieg. In: BUKO (Hrsg.): radikal global. Bausteine für eine internationalistische Linke. Berlin, S.129-144.

Nachtigall, Andrea (2012): Gendering 9/11. Medien, Macht und Geschlecht im Kontext des »War on Terror«. Bielefeld.

Pinn, Irmgard/Wehner, Marlies (1995): EuroPhantasien. Die islamische Frau aus westlicher Sicht. Duisburg.

Dr. phil. Andrea Nachtigall ist Professorin für Gender und Soziale Arbeit an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin. Sie hat zum Thema Geschlecht und Medien im Kontext des »War on Terror« an der Freien Universität Berlin promoviert. Bei diesem Artikel handelt es sich um die gekürzte Fassung einer im Auftrag der Heinrich-Böll-Stiftung 2011 entstandenen Studie; diese ist abrufbar unter gwi-boell.de/web/gewalt-konflikt- nachtigall-embedded-feminism- legitimation-medien-3421.html.

Feind – Freund – Feind

Menschenrechte und politisch-ökonomische Interessen

von Johannes Nau

Beziehungen zwischen Individuen wie auch zwischen Politikern und Staaten sind stark geprägt von Bildern, die Akteure von ihrem Gegenüber haben. Emotionen, Vorgeschichte und nicht zuletzt persönliche Interessen und Vorteile aus der Beziehung spielen eine große Rolle bei der Frage, ob diese Beziehung freundlich-positiv oder feindlich-negativ ist. Änderungen dieser inneren Bilder und damit der Beziehungen sind allgegenwärtig und alltäglich. So gibt es viele Beispiele schwankender Relationen zwischen westlichen Regierungen und Herrschern unter anderem des Nahen und Mittleren Ostens: Da wären die guten Beziehungen Saddam Husseins mit dem Westen, die ihm noch in den 1980er Jahren die Lieferung von Rüstungsgütern, Chemieanlagen und Kernreaktoren sicherten, sich jedoch im Zuge des ersten Golfkrieges zu einer erbitterten Feindschaft wandelten. Oder die Beziehung USA-Bin Laden, der ebenfalls in den 1980er Jahren durch die USA finanziell unterstützt wurde und während der sowjetischen Besetzung Afghanistans mit der CIA kooperierte. Zum Staatsfeind Nr. 1 der USA wurde Bin Laden erst nach den Anschlägen auf das World Trade Center vom 11. September 2001.

Ein weiteres Beispiel ist die mehrfach wechselnde Beziehung zwischen Muammar al-Gaddafi und westlichen Ländern, vor allem Europas, die hier chronologisch näher beleuchtet wird.

1970er Jahre

Gaddafi wird am 01. September 1969 durch einen unblutigen Militärputsch Libyens Staatsoberhaupt und bestimmt als Revolutionsführer von 1979 bis 2011 diktatorisch die Politik Libyens.

Schon zu Beginn seiner Machtergreifung macht Gaddafi sich wenige Freunde in der Welt. Nachdem er Anfang der 1970er Jahre Palästinenser auffordert, Selbstmordattentate gegen Israel zu begehen, und allen Arabern, die für palästinensische Gruppen kämpfen wollen, anbietet, sie auszubilden und finanziell zu unterstützen, ziehen die USA ihre Botschafter aus Libyen ab.

Gaddafi lobt das »Lod Airport Massaker«, bei dem 1972 am Flughafen Tel Aviv 28 Tote und knapp 80 Verletzte zu beklagen sind, und fordert palästinensische Terrorgruppen auf, ähnliche Anschläge durchzuführen. Er spielt eine Schlüsselrolle im Gebrauch von Öl-Embargos in den 1970er Jahren, um die Ölpreise anzuheben und so den Westen (vor allem die USA) von der Unterstützung Israels abzubringen.

Er lehnt sowohl den sowjetischen Kommunismus als auch den westlichen Kapitalismus ab und beschließt einen Mittelweg.

Unter anderem unterstützt er die Provisional IRA, eine Abspaltung der Irish Republican Army, ideell und materiell, indem er beispielsweise nach einer Reihe terroristischer Anschläge sagt: „Die Bomben, die Großbritannien erschüttern und den Geist der Briten brechen, sind Bomben des libyschen Volkes. Wir haben sie den irischen Revolutionären gesandt, damit die Briten den Preis für ihre vergangenen Taten zahlen“.

Im Dezember 1979 wird die amerikanische Botschaft in Libyen – im Zuge eines Protests gegen den Aufenthalt des gestürzten Schahs von Persien in den USA – von einem Mob attackiert und in Brand gesetzt. Daraufhin erklären die USA Libyen am 29.12.1979 zu einem „state sponsor of terrorism“.

1980er Jahre

Die Beziehungen zu den USA verschlechtern sich weiter, als im August 1981 ein US-Flugzeug über internationalem Gewässer im Mittelmeer von zwei libyschen Jets beschossen wird, da Libyen dieses Gebiet für sich beansprucht. Im Oktober 1981 wird der ägyptische Präsident Anwar Sadat ermordet. Gaddafi spendet dem Attentäter Beifall und spricht von einer gerechten Strafe für Sadats Unterschrift auf dem Camp-David-Abkommen mit den USA und Israel. Zwei Monate später erklärt das US-Außenministerium US-amerikanische Reisepässe für Reisen nach Libyen für ungültig und empfiehlt ihren Bürgern, Libyen zu verlassen.

Ungeachtet der angespannten Lage mit den USA besucht 1982 eine fast 20-köpfige Delegation der österreichischen »Gesellschaft für Nord- und Südfragen« Libyen im Kontext der Friedensbewegung und auf der Suche nach neuen Bündnispartnern. Unter ihnen sind auch die deutschen Grünen Otto Schily und Roland Vogt. Im März 1982 verbietet die US-Regierung Ölimporte aus Libyen. Im gleichen Monat reist Gaddafi auf Einladung des österreichischen Bundeskanzlers Kreisky nach Wien. Zu diesem Zeitpunkt herrscht international noch Unverständnis über diese Einladung.

Bei einer Demonstration gegen Gaddafi vor der libyschen Botschaft in London werden im April 1984 Schüsse aus der Botschaft auf die Demonstranten abgegeben; es werden elf Menschen verletzt und eine Polizistin getötet. Die diplomatischen Beziehungen zwischen Großbritannien und Libyen werden daraufhin für mehr als ein Jahrzehnt eingestellt. Nach palästinensischen Angriffen auf die Flughäfen in Rom und Wien 1985 erklärt Gaddafi, er würde weiterhin solche Terroranschläge sowie die RAF, die rote Brigade und die IRA unterstützen, solange europäische Länder »Anti-Gaddafi-Libyer« unterstützen. 1986 berichtet das libysche Fernsehen, Libyen bilde Selbstmordattentäter aus, um amerikanische und europäische Interessen zu attackieren.

Für den Bombenanschlag auf die Diskothek »La Belle« in Berlin im April 1986 macht US-Präsident Ronald Reagan den nach eigenen Aussagen „tollwütigen Hund des nahen Ostens“ Gaddafi persönlich verantwortlich und ordnet Luftangriffe auf Tripolis und Bengasi an, mit dem Ziel, Gaddafi zu töten. Gaddafis Adoptivtochter fällt dieser Aggression zum Opfer, er selbst überlebt dank seiner guten Beziehung zum damaligen maltesischen Ministerpräsidenten Carmelo Bonnici, der ihn vor dem Angriff warnt.

Die Anschläge auf ein Flugzeug der amerikanischen Linie Pan Am im schottischen Lockerbie am 21. Dezember 1988 durch libysche Geheimdienstler und auf Flug 772 der französischen Fluglinie UTA im Niger am 19. September 1989 führen zu einer weiteren Verschlechterung der Beziehung westlicher Staaten zu Libyen. Es werden UN-Sanktionen gegen Libyen erlassen, welche unter anderem libyschen Flugzeugen verbieten, über das Territorium von UN-Mitgliedsstaaten zu fliegen (Resolutionen 731, 748 und 883 des UN-Sicherheitsrates).

Gaddafi unterstützt in dieser Zeit immer wieder islamistische und maoistische Terrorgruppen, unter anderem auf den Philippinen, und Paramilitärs in Ozeanien. So versucht er, die Maori in Neuseeland zu radikalisieren, um die USA zu destabilisieren, woraufhin Australien 1987 die diplomatischen Beziehungen zu Libyen abbricht. 1988 wird herausgefunden, dass Libyen im Begriff ist, chemische Waffen zu bauen.

1990er Jahre

Anfang der 1990er Jahre kommt es zu einer weiteren Zuspitzung in der Beziehung Libyens mit dem Westen: Zwei libysche Geheimdienstagenten sind mutmaßlich für die Bombenanschläge auf die beiden Flüge in den Jahren 1988 und 1989 verantwortlich. Da Gaddafi sich weigert, diese auszuliefern, beschließt der UN-Sicherheitsrat im November 1993 weitere Sanktionen gegen Libyen. Auch ein Besuch von UN-Generalsekretär Kofi Annan im Dezember 1998 bringt Gaddafi nicht dazu, die Täter auszuhändigen. Im April 1999 lenkt Gaddafi schlussendlich doch ein und liefert die Attentäter aus, damit diese auf neutralem Boden verurteilt werden können. Der Sicherheitsrat hebt die Sanktionen noch am selben Tag auf.

Im Februar 1996 gibt es einen weiteren westlichen und durch den britischen Auslandsgeheimdienst MI6 mitfinanzierten Bombenanschlag auf Gaddafis Eskorte. Mehrere Gefolgsleute Gaddafis sterben, er selbst bleibt unverletzt.

Im gleichen Jahr beschließt der US-Kongress den »Iran and Libya Sanctions Act«, der alle Firmen bestraft, die innerhalb eines Jahres mehr als 40 Mio. US$ in Libyens Öl- oder Gassektor investieren. 2001 wird der Plan um weitere fünf Jahre erneuert (und 2006 in »Iran Sanctions Act« umbenannt).

In den späten 1990er Jahren solidarisiert sich Gaddafi trotz Widerstand des Westens mit dem jugoslawischen Präsidenten Slobodan Miloševiæ, auch dann noch, als dieser der ethnischen Säuberung an Albanern im Kosovo beschuldigt und angeklagt wird. Dennoch besucht der italienische Ministerpräsident Massimo D’Alema am 2. Dezember 1999 als erster westlicher Regierungschef seit 15 Jahren Libyen. Danach suchen immer mehr westliche Politiker die Nähe Gaddafis, vor allem aus ökonomischen Interessen.

2000er Jahre

Zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts knüpft Gaddafi eine enge, jahrelange Freundschaft zu Hugo Chavez, dem Präsidenten von Venezuela. Gleichzeitig verbessern sich nach den Anschlägen auf das World Trade Center von 11. September 2001 die Beziehungen Gaddafis zum Westen deutlich: Libysche Geheimdienste werden in den »global war on terror« integriert. Libysche Offiziere identifizieren und foltern im Auftrag der CIA Libyer, die mit al Kaida in Verbindung gebracht werden. Später beschreibt die CIA „surreale Treffen“ mit libyschen Geheimdienstlern, die mit dem Anschlag auf den PanAm Flug von 1988 in Verbindung gebracht werden.

Ab 2003 kooperiert die Europäische Union mit dem libyschem Regime, um afrikanische Flüchtlinge von den EU-Außengrenzen fern zu halten. Nach Angaben von Menschenrechtlern nimmt die EU dabei auch menschenunwürdige Zustände, Folter in libyschen Internierungslagern und den sicheren Tod der Flüchtlinge durch »Verfrachtung« in die Wüste in Kauf und finanziert dies sogar zum Teil.

Im selben Jahr gibt Gaddafi bekannt, dass Libyen an der Entwicklung von Massenvernichtungswaffen gearbeitet habe. Das ABC-Waffenprogramm wird daraufhin offen gelegt und demontiert, wodurch sich das Verhältnis zum Westen weiter stark verbessert.

Nach der US-Invasion in den Irak 2003 normalisieren sich die Beziehungen des Westens zu Libyen noch mehr: Es kommt zu Waffenlieferungen an Tripolis, und es werden Abkommen über Erdölförderung abgeschlossen.

2004 hebt US-Präsident George W. Bush die ökonomischen Sanktionen gegen Libyen auf, und im Januar besucht eine US-amerikanische Kongressdelegation offiziell den libyschen Staat.

Im März des selben Jahres besucht Tony Blair Libyen und durchbricht so die lange Isolation des nordafrikanischen Staats durch Großbritannien. Er lobt Gaddafi für die Abwendung von Nuklearprogrammen, und erstmals werden Geschäftsverbindungen mit Libyen aufgenommen. Diese beinhalten unter anderem die Lieferung militärischer Ausrüstung im Wert von 40 Mio £.

Im Oktober 2004 wird eine von der deutschen Firma Wintershell betriebene Ölbohranlage in Libyen von Bundeskanzler Gerhard Schröder eingeweiht, nachdem Libyen Kompensationszahlungen für die Bombenanschläge von 1986 auf die Diskothek in Berlin getätigt hatte.

2006 polemisiert Gaddafi wieder gegen den Westen und verordnet eine dreitägige Staatstrauer nach dem Tod Saddam Husseins. Es folgen Kürzungen westlicher Subventionen in die libysche Wirtschaft. Trotzdem streichen die USA Libyen 2006 nach 27 Jahren von der Liste der Staaten, die den Terrorismus unterstützen, da Gaddafi öffentlich dem Terrorismus abgeschworen hat.

Am 10. Dezember 2007, dem Welttag der Menschenrechte, besucht Gaddafi zum ersten Mal seit 34 Jahren Paris und wird mit militärischen Ehren empfangen. Hauptgrund für Gaddafis Besuch sind Waffengeschäfte mit Frankreich. Im Jahr 2008 erfolgt der Gegenbesuch von Sarkozy in Libyen, um Nukleartechnologie an Gaddafi zu verkaufen. (Im französischen Präsidentschaftswahlkampf 2012 wird ein Dokument veröffentlicht werden, welches besagt, dass Gaddafi 2007 Sarkozys Wahlkampf mit 50 Mio. Euro unterstützt habe. Dies spiegelt gut die Wechselwirkung von persönlichen Interessen auf der einen und politischen und wirtschaftlichen Vorteilen auf der andern Seite wider).

Im Juli desselben Jahres kommt es zu einer diplomatischen Krise mit der Schweiz, da Gaddafis Sohn Hannibal und seine Gattin in Genf wegen Körperverletzung, Drohung und Nötigung angezeigt und vorläufig festgenommen werden. Libyen verhängt einen vorübergehenden Boykott auf schweizer Importe und bestimmt einen Visastopp für schweizer Bürger.

Im Januar 2009 wird Gaddafi von König Juan Carlos in Madrid empfangen. Dabei wird eine 17 Mrd. US$ schwere Investition spanischer Firmen in die libysche Wirtschaft ausgehandelt. Im August 2009 besucht der italienische Ministerpräsident Silvio Berlusconi Libyen und spricht von einer „echten, tiefen Freundschaft“ zu Gaddafi. Ein Jahr zuvor hatte die Regierung in Rom Libyen Entschädigungszahlungen in Höhe von 3,4 Mrd. Euro für die Kolonialzeit von 1911 bis 1941 zugesagt. In den 2000er Jahren importiert Italien 60% seines Öls und 40% seines Erdgases aus Libyen. Darüber hinaus verspricht Berlusconi Gaddafi über 20 Jahre jährlich 250 Mio. Euro für die Zusage, alle nordafrikanischen Flüchtlinge, die Italien um politisches Asyl ersuchen, aufzunehmen.

Am 23. September 2009 kommt es dann bei der ersten Rede Gaddafis vor der UN-Vollversammlung zu einem Eklat. Gaddafi zerreißt einige Seiten der UN-Charta. Diese sei wertlos, da es Aufgabe der Vereinten Nationen sei, Frieden zu schaffen, es stattdessen seit ihrer Gründung aber 65 Kriege weltweit gegeben habe. Weiterhin nennt er den Sicherheitsrat einen »Terrorrat«, da dieser mit Nuklearmächten besetzt sei.

2010

Trotz der Furore vor der UN-Vollversammlung wird Gaddafi im August 2010 mit allen Ehren in Rom empfangen. Im Herbst besucht er erneut Frankreich. Die beiden Staaten einigen sich auf eine strategische Partnerschaft zum Bau eines Kernkraftwerks und die Lieferung französischer Kampfjets an Libyen.

Die 2010 veröffentlichten Wikileaks-Depeschen geben Klarheit, dass die Freilassung des in England inhaftierten Lockerbie-Attentäters Abdelbasset al-Megrahi im August 2009 nicht aus medizinischen Gründen erfolgte, sondern Libyen damit gedroht hatte, es würden harte, sofortige und unversöhnliche Konsequenzen folgen, sollte Megrahi im schottischen Gefängnis sterben. Dazu gehöre der sofortige Abbruch wirtschaftlicher Beziehungen mit Großbritannien und die Bedrohung britischer Diplomaten und Bürger in Libyen.

Anlass für den erneuten und letzten Bruch zwischen Gaddafi und dem Westen ist Gaddafis Verurteilung der tunesischen Revolution im Januar 2011 und seine Solidarisierung mit Präsident Ben Ali. Nach Massenprotesten in Libyen und den ersten Toten im Februar 2011 bricht Peru am 22.2. als erstes Land die diplomatischen Beziehungen mit Libyen ab. Am gleichen Tag suspendiert die Arabische Liga die Mitgliedschaft Libyens. Gaddafi erklärt die Liga daraufhin als illegitim: „Die Arabische Liga ist erledigt. Es gibt nichts wie die Arabische Liga.“

Westliche Staaten, darunter Großbritannien und die USA, verurteilen Gaddafi für die gewaltsame Niederschlagung der Proteste in Libyen, woraufhin sich auch Europa immer mehr von Gaddafi distanziert. So erkennt Frankreich im März 2011 noch während des Bürgerkriegs, als erstes Land den Nationalen Übergangsrat als legitime Führung Libyens an. Sechs Monate später sind es bereits 98 Länder. Auch Gaddafis langjährige Freundschaft zu Italien wird von italienischer Seite auf Eis gelegt.

Am 19. März 2011 beginnt die NATO unter der Führung von Frankreich, Großbritannien und den USA einen Luftkrieg gegen das Regime. Als mutmaßlicher Kriegsverbrecher und wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit wird Gaddafi seit dem 27. Juni 2011 weltweit mit Haftbefehl gesucht. Er wird am 20. Oktober 2011 nach seiner Gefangennahme getötet.

Fazit

Wie am Aufstieg und Fall Gaddafis zu erkennen ist, waren die Wechsel in der Beziehung Libyens zu westlichen Ländern zahlreich, und sie reichten von ausgeprägten Feindschaften bis hin zu langjährigen Allianzen. Zwar kam es aus politischen Gründen immer wieder zu Brüchen mit einzelnen Staaten, diese waren jedoch auf Grund wirtschaftlicher Interessen der westlichen Länder meist nicht von Dauer. Libyen als zeitweise viertgrößter Erdölproduzent Afrikas und Besitzer von vier Prozent der weltweiten Ölreserven war für Europa und die USA zu interessant, um auf geschäftliche Beziehungen zu verzichten. Darüber hinaus konnte die EU die Lösung der Flüchtlingsfrage an Gaddafi delegieren, der – gegen entsprechende finanzielle Zuschüsse – gerne half. Besonders bemerkenswert sind Frequenz und Ausmaß der Beziehungswechsel. So liegt beispielsweise zwischen dem Beschluss einer strategischen Partnerschaft mit Frankreich für den Bau eines Kernkraftwerks sowie der Lieferung von Kampfjets und dem Bombardement Libyens unter anderem durch Frankreich im Zuge der NATO-Koalition nur ein knappes halbes Jahr.

Insbesondere die EU und die USA konnten zur Erfüllung ihrer wirtschaftlichen Interessen offenbar problemlos über die die Menschenrechte missachtenden Taten Gaddafis – von Terrorakten über die Entwicklung von Massenvernichtungswaffen bis hin zu Solidaritätsbekundungen und finanzieller Unterstützung für terroristische Gruppen – hinwegsehen. Sie machten Gaddafi immer wieder zu einem respektierten Partner und Verbündeten, um Geschäfte vor allem mit Waffen, Rüstung und Erdöl abschließen zu können. Mit ihren Rüstungsexporten an Libyen unterstützten sie nicht zuletzt auch Gaddafis Menschenrechtsverletzungen an der eigenen Bevölkerung.

Literatur

Cassola, Arnold (2011): Diktator Gaddafi und die falschen Freunde im Westen. Die Welt, 9.9.2011.

Davis, Brian L. (1990): Qaddafi, Terrorism, and the Origins of the U.S. Attack on Libya. Westport: Greenwood Publishing Group.

Terroristen: Diskrete Bitte. Zehn Jahre nach dem Anschlag auf die Berliner Disko »La Belle« soll dem mutmaßlichen Attentäter der Prozeß gemacht werden. Der Spiegel 16/1996.

Poßarnig, Renate (1986): Gaddafi. Enfant terrible der Weltpolitik. Hamburg: Hoffmann und Campe.

Sadek, Hassan (2005): Gaddafi. München: Diederichs.

Schnurbusch, Ingrid (1994): Libyen im Fadenkreuz. Bonn: Bouvier.

Sullivan, Kimberley L. (2008): Muammar Al-Qaddafi’s Libya (Dictatorships). Minneapolis: Lerner Pub Group.

Johannes Nau ist Diplom-Psychologe. Er studiert Peace & Conflict Studies (International Double Award M.A.) an der Philipps-Universität Marburg und der University of Kent.

Medien im Krieg

Zwischen Instrumentalisierung und Widerstand

von María Cárdenas Alfonso

Im Zeitalter der Massendemokratien spielen die Medien eine immer bedeutendere Rolle: Sie stellen die Kommunikation zwischen verschiedenen Akteuren her und erfüllen Aufgaben, die das demokratische Funktionieren des Staates sichern und kontrollieren sollen. In bewaffneten Konflikten und militärischen Auseinandersetzungen ist die Handlungsfreiheit der Massenmedien jedoch oft durch zunehmenden Leistungsdruck, erschwerte Arbeitsbedingungen und politische Instrumentalisierungsversuche eingeschränkt. Welchen Grad der Handlungsfreiheit die Journalisten bei ihrer Berichterstattung aufrecht erhalten können, hängt von unterschiedlichen Faktoren ab.

Die Rolle der Massenmedien in Konflikten

In demokratischen Gesellschaften kommt den Massenmedien aus einer normativen Perspektive eine zentrale Rolle zu:

  • die Vermittlung zwischen verschiedenen Akteuren (insbesondere Exekutive und Bevölkerung),
  • die Kontrolle der demokratischen Institutionen und der Exekutive sowie
  • die (De-) Legitimation von politischen Entscheidungsprozessen.

Mittels Watchdog-Journalismus, Agenda-Setting und Gatekeeping stellen die Massenmedien die Kommunikation zwischen Exekutive und Bevölkerung her, definieren gesellschaftlich relevante Themen, sollen Rezipienten helfen, sich in ihrer Gesellschaft zu orientieren, und beeinflussen somit auch den Meinungsbildungsprozess.

Je mehr Nachrichtenfaktoren auf ein Ereignis zutreffen, desto wahrscheinlicher ist seine massenmediale Berücksichtigung durch Nachrichtenagenturen, Journalisten und Redakteure (vgl. Galtung und Ruge 1965). Mit Blick auf Kriegshandlungen wird schnell deutlich, dass diese einen Großteil relevanter Nachrichtenfaktoren (z.B. Aktualität, Relevanz, Negativität) erfüllen und ihnen daher in den Massenmedien große Beachtung geschenkt wird (vgl. Eilders und Hagen 2005, S.206).

Gleichzeitig wird hier auch ein erster Konflikt zwischen Medienlogik und konfliktpräventiver, deeskalierender und pazifistischer Medienberichterstattung sichtbar: Politische Konflikte erlangen meist erst dann massenmediale Aufmerksamkeit, wenn sie eskalieren und gewaltsam ausgetragen werden. Denn durch die Militarisierung eines Konflikts kann die inhaltliche Komplexität des politischen Konflikts auf die militärische Austragung desselben reduziert werden: Kurzfristige Ziele (z.B. militärische Siege) treten in den Vordergrund, da sie aktuell und eindeutig identifiziert und vermittelt werden können, die politischen Motive der einzelnen Akteure treten derweil jedoch in den Hintergrund. Dies erschwert es allen beteiligten Akteuren, in einen inhaltlichen Dialog über die politischen Interessen der jeweiligen Konfliktakteure und in einen beratenden Prozess zu treten. Besonders problematisch ist dieses Phänomen für den Unterlegenen, für den es so unweit schwieriger ist, seine politischen Forderungen zu vermitteln und (deeskalierende) politische Unterstützung, beispielsweise aus der Bevölkerung, für seine Interessen zu bekommen.

Aufgrund der Bedeutung für die politische Legitimation, die massenmedialer Kommunikation im Zeitalter der Massendemokratien zukommt, werden Ereignisse zunehmend medialisiert und entsprechend aufbereitet, um sie der Medienlogik (und insofern auch den Nachrichtenfaktoren) anzupassen. Vor diesem Hintergrund wird in der Aktualität häufig von einer Mediendemokratie gesprochen (vgl. u.a. Schatz, Rösler, Nieland 2002; Sarcinelli 2005). In bewaffneten Konflikten ist diese Situation besonders problematisch: Politische Akteure versuchen, die Medien für ihre Darstellung der Ereignisse zu instrumentalisieren. Gleichzeitig sind die Medien aber nicht als »neutrale Leinwand« zu betrachten, „auf die die Konfliktparteien ihre Bilder vom Krieg projizieren können“ (Brüggemann und Weßler 2009, S.635). Sie sind vielmehr ebenso ein politischer Akteur, der allerdings auch die sich im Spannungsfeld zueinander befindenden Interessen seiner Kundschaft (sowohl Mediennutzer bzw. Rezipienten als auch Anzeigenkundschaft) und Informanten (Militär, Regierung, politische Elite u.a.) berücksichtigen muss.

Die Medialisierung von Kriegen

Mit dem Aufkommen erster Tageszeitungen begann auch die mediale Begleitung von Kriegen. Der Krimkrieg (1853-1856) wurde als erster von Journalisten unabhängiger Tageszeitungen begleitet; die Medien erkannten den ökonomischen Mehrwert der Kriegsberichterstattung. Um dem Kontrollverlust durch unabhängige Kriegsberichterstattung vorzubeugen bzw. ihn zu vermeiden, entwickelten Staaten in den folgenden Weltkriegen Strategien zur Informationskontrolle und Staatspropaganda. Die Relevanz der Medien wurde mit der erstmaligen audiovisuellen Berichterstattung während des Vietnam-Kriegs besonders deutlich: Zwar wurde die Informationslage durch das US-Militär kontrolliert, jedoch führte die audiovisuelle »Teilhabe« am Krieg auch zu einer wachsenden Aufmerksamkeit in den USA. Die Bilder sorgten für eine stärkere Empathie mit den Opfern des Krieges einerseits, den eigenen, fallenden Soldaten andererseits und wirkten sich anfangs kriegsbefürwortend, später zunehmend kriegskritisch aus.

Als Reaktion auf die Bedeutung der Medien für die öffentliche Meinungsbildung zu kriegerischen Handlungen bildete sich parallel zur technologischen Entwicklung der Massenmedien (Live-Berichterstattung ) in den USA eine zunehmende Informationskontrolle durch Exekutive und Militär aus: Während im zweiten Golfkrieg 1990/91 nur ausgewählte Journalisten Einsätze begleiten durften und ihr Material untereinander teilen mussten (Pool-System), wird die Informationslage seit dem Afghanistankrieg durch »Embedded Journalism« und eine Informationsdoktrin kontrolliert, die die Informationsüberlegenheit zur Priorität allen militärischen Handelns erhebt (vgl. Szukala 2005). Insofern wurde anerkannt, dass der Krieg auch durch die Informationshoheit und Öffentlichkeitsarbeit (PR) entschieden wird: um Gegner einzuschüchtern, Alliierte für eine Unterstützung zu gewinnen und die eigene Bevölkerung für eine scheinbar unumgängliche militärische Lösung zu motivieren. Hierfür hat das US-Militär verschiedene Strategien entwickelt, die sich sowohl an die eigene Bevölkerung als auch an den Gegner wenden: die Störung der gegnerischen Informationsprozesse durch Überinformation (Information Overload), systematische Täuschungsmanöver (Deception) und die Vervielfältigung der Wirkung von Waffen durch Kommunikation (Force Multiplication). Diese durch die Exekutive beeinflusste Informationslage kann »Rally-around-the-flag«-Effekte verstärken, mit denen die Gesellschaft (und auch die Medienwelt) gegen den äußeren Feind geeint wird und sich hinter den Präsidenten stellt.

Der »Rally-around- the-flag«-Effekt

Die Wahrnehmung der Bevölkerung, »angegriffen zu werden« und »sich verteidigen zu müssen« ist ein essentielles Requisit, um einen Krieg legitimieren und durchsetzen zu können. Die Beteiligung eigener Soldaten an einem als unvermeidlich angesehenen Konflikt kann zu einem (kurzfristigen) Bedürfnis nach patriotischer Berichterstattung führen, welches es den Medien zu Beginn einer Kriegshandlung erschwert, eine kritische Haltung einzunehmen: „Die öffentliche Meinung tendiert dazu, die Regierungsposition zu stützen und Kritik als unpatriotisch zu tabuisieren“ (Brüggemann und Weßler 2009, S.642). Diese »Rally-around-the-flag«-Effekte (RATF-Effekte, »sich um die Flagge scharen«) konnten sich bislang vor allem in den USA feststellen lassen, beispielsweise im Zuge internationaler Finanzkrisen oder bzgl. des Kampfes gegen den Terrorismus (ebd.).

Kulturelle und sozialpsychologische Phänomene können eine zentrale Rolle für die Anfälligkeit einer Gesellschaft für den RATF-Effekt und seine Ausprägung spielen. So spricht eine patriotische Grundhaltung der Bevölkerung dafür, sich als eine positiv konnotierte Ingroup zu verstehen, die, wenn sie sich von einer Outgroup angegriffen fühlt, diese negativ konnotiert und somit eine militärische Initiative leichter legitimieren kann. Für die Frage nach der Legitimation von Gewalt spielt hier eine besondere Rolle, welche Assoziationen eine Gesellschaft mit militärischer Gewalt verbindet: Sind mit ihr positive Assoziationen und Stolz verbunden, wie z.B. durch eine erkämpfte Unabhängigkeit, ist der RATF-Effekt wahrscheinlicher, als wenn militärische Gewalt negative Assoziationen weckt, wie es bislang in Deutschland der Fall war. Insofern handelt es sich bei der Frage nach einer kritiklosen Unterstützung von Regierungen immer auch um die Prägung eines Diskurses, der eine wahrgenommene reelle oder symbolische Bedrohung der eigenen Nation forciert. Nimmt die Bevölkerung diese Bedrohung als gegeben wahr, anstatt sie kritisch zu hinterfragen und nach alternativen Handlungsmöglichkeiten zu suchen, ist ein RATF-Effekt wahrscheinlicher und eine Abhängigkeit der Medien von der politischen Agenda größer.

Elitendissens und unpatriotischer Pazifismus

Für die Frage, ob die Massenmedien eine zur Regierungslinie alternative Deutung des Geschehens einbringen können, ist außerdem die Breite des Meinungsspektrums im politischen Establishment und innerhalb der Regierung als relevant zu erachten (vgl. Brüggemann & Weßler 2009). Ein Elitendissens und eine von der Regierungslinie distanzierte Opposition ist also förderlich für die Medienfreiheit. Unter den sozialpsychologischen Faktoren eines »Rally-around-the-flag«-Effekts jedoch ist er relativ unwahrscheinlich. Denn auch die politische Elite kann es sich nicht leisten, als unpatriotisch stigmatisiert zu werden. Hiermit wird deutlich, dass eine von der Regierung gewollte militärische Eskalation durch Medien und politische Opposition nur noch schwer zu vermeiden ist, sobald die Bevölkerung eine unmittelbare und essentielle Bedrohung der Nation wahrnimmt. Allerdings hat die Vergangenheit auch gezeigt, dass insbesondere der Verlust vieler eigener Soldaten in einem Krieg ohne Aussicht auf einen (schnellen) Erfolg zu einem Diskurswechsel führen kann (im Vietnamkrieg ebenso wie im Afghanistankrieg). In solch einer Situation können die Medien im Sinne von »media follows change« alternative Deutungsmuster anbieten, die eine friedensfördernde Position vertreten und eine schnelle Beendigung der militärischen Auseinandersetzung unterstützen. Diesbezüglich ist die Ausrichtung und Positionierung der Medien selbst sowie die Beschaffenheit des Mediensystems von besonderer Relevanz.

Autonomie der Medien und journalistisches Selbstbild

Der Grad der Autonomie der Medien selbst ist für eine kriegskritische Haltung gegenüber der Exekutive von zentraler Bedeutung. So schwächt eine starke Kommerzialisierung der Medien durch ihre Abhängigkeit von Werbekunden und Einschaltquoten die Handlungsfähigkeit und zwingt die Medien zu opportunistischem Handeln bzw. fördert die Tendenz, Publikumsmeinungen zu reproduzieren, statt stets neu zu hinterfragen (Brüggemann und Weßler 2005, S.647f). Ein öffentlich-rechtliches Rundfunksystem wie in Deutschland kann durch seine (weitgehende) Unabhängigkeit von nationaler Politik und Wirtschaft privat-kommerzielle Medien unter Leistungs- und Konkurrenzdruck setzen und so insgesamt das journalistische Niveau heben bzw. halten. Einen ähnlichen Effekt könnte auch ein pluralistisches Mediensystem haben, sofern es dezentral strukturiert und durch Qualitäts- bzw. Leitmedien geprägt ist. Auch ist die Frage entscheidend, ob die Medien von allen beteiligten Konfliktparteien genutzt werden. Dann stiegt der Druck, Informationen der Akteure zu überprüfen und so neutral wie möglich zu formulieren oder sogar eine Vermittlerfunktion zu übernehmen (ebd.).

Gleichzeitig spielt auch das Selbstbild der Journalisten eine zentrale Rolle: So kann sich das Bild des »neutralen Beobachters« auch negativ auf die Konfliktentwicklung auswirken, indem Kriegspropaganda möglicherweise unkommentiert wiedergegeben wird. Medienakteure können, je nach ihrer (Un-) Abhängigkeit gegenüber dem politischen System und anderen Faktoren, mehr oder weniger autonom Nachrichten deuten und kommentieren. Ebenso können sie auch bewusst eine ideologiegeleitete Haltung und politische Position beziehen. So ist der »Journalism of Attachment«, der sich besonders in den USA herausgebildet hat, als eine bewusste politische Positionierung der Journalisten im »Kampf gegen das Böse« zu verstehen. Er beinhaltet bewusst eine »patriotische« Parteinahme. Dies bedeutet nicht nur, sich hinter den Präsidenten zu stellen, sondern auch, offizielle Informationen nicht zu hinterfragen. Damit stehen sie oft einer friedlichen Lösung von Konflikten entgegen und befürworten den militärischen Weg (Hanitzsch 2004, S.179 ff.).

Medienfreiheit im Krieg?

Bereits zu Beginn des Artikels wurde auf die Problematik der Nachrichtenfaktoren eingegangen und festgestellt, dass die Medien aufgrund von Medienlogik und Orientierungsfunktion in kriegerischen Auseinandersetzungen dazu verleitet werden, zugrunde liegende Motive zu vereinfachen und militärische Fakten in den Mittelpunkt zu stellen. Hierdurch kommt es häufig zu einer verkürzten Darstellung der Konfliktursachen und der politischen Forderungen der Konfliktparteien, was unwillentlich zu einer weiteren Polarisierung des Konflikts beitragen kann. Gleichzeitig erweist sich die Informationsbeschaffung in Zeiten des Krieges für die Massenmedien als sehr problematisch, da die Regierungen, allen voran die USA, strategische Informationskontrolle als übergeordnetes Ziel militärischer Handlung definieren und den Zugang zu Informationen, wie zuletzt im Afghanistankrieg, von der Einbettung in die US-amerikanische militärische Infrastruktur abhängig machen. Für Journalisten ist also eine von der Regierung »unabhängige« Informationsbeschaffung in bewaffneten Konflikten und damit eine kritische Berichterstattung zunehmend schwierig geworden.

In diesem Kontext ist die Diversifizierung des bislang durch europäische und US-amerikanische Medien kontrollierten internationalen Mediensystems durch die Entstehung von international einflussreichen und von den USA und Europa unabhängigen Medienoutlets (z.B. Al Jazeera) zu begrüßen: CNN, BBC, Reuters u.a. müssen nun „mit einer jungen Generation politisch relativ unabhängigen Satelliten-Nachrichtenfernsehens aus der arabischen Welt um Informationen aus den Konfliktregionen im Nahen und Mittleren Osten und in der Berichterstattung über asymmetrische Konflikte wie den diffusen internationalen Terrorismus“ konkurrieren (Hahn 2005, S.241). Dies könnte sich positiv auf die journalistische Qualität und Unabhängigkeit der etablierten Medien auswirken.

Wenngleich es Konzepte wie den Watchdog- und den Friedensjournalismus gibt, die aktiv versuchen, die Informationshegemonie des Staates zu brechen und ihn zu kontrollieren, stellt sich bei beiden die Frage nach der Wirkung: Auch wenn ihre grundlegend pazifistische und kritische Haltung durchweg positiv zu beurteilen ist, so bleibt es für sie problematisch, an relevante Informationen zu kommen und diese zu überprüfen. Die USA schlossen im zweiten Golfkrieg beispielsweise kritische Berichterstatter aus dem »Pool-System« aus.

Wenn die Nachfrage für sensationsorientierten und verkürzenden Journalismus steigt und die Anerkennung investigativen Journalismus und/oder öffentlich-rechtlicher Mediensysteme (die eine gewisse Unabhängigkeit der Medien absichern können) sinkt, werden Watchdog-Journalismus und Friedensjournalismus weiterhin lediglich bei einer kleinen Minderheit Gehör finden – so wie es bei Indymedia und anderen Grassroots-Medien der Fall ist. Eine Ausnahme sind hier »Whistleblowers«, die aus dem System heraus (z.B. als Regierungsmitarbeiter oder Angestellte des Militärs) Informationen über Unstimmigkeiten, Lügen und Verbrechen medienwirksam an die Öffentlichkeit geben.1 Insgesamt bleibt aber fraglich, inwiefern sich durch Informanten aus dem Inneren des Systems und Untergrundmedien bewusste Fehlinformationen und Falschaussagen der Exekutive nicht nur aufdecken und evtl. öffentlichkeitswirksam entlarven lassen, sondern auch eine nachhaltige Wirkung erzielt werden kann.

Das Internet zeigt die wachsenden Möglichkeiten eines zivilgesellschaftlichen Bottom-Up-Journalismus, der unabhängig von der Exekutive recherchieren und internationale Verbreitung finden kann. Andererseits darf aber nicht übersehen werden, dass das kostenfreie Internet höhere Medienkompetenzen beim Nutzer einfordert (bspw. die Auswahl seriöser Quellen) und auch Printmedien bedroht. Letztere können ihre Existenz oft nur noch durch Ausgabensenkung und eine höhere Abhängigkeit von Werbekunden sichern, was eine Qualitätskontrolle sowie die Überprüfung von Fehlinformationen erschwert. Hierdurch steigt die Wahrscheinlichkeit der Reproduktion von Falschaussagen – umso mehr, als gleichzeitig auch viele Informationsmedien aus dem Internet die Printmedien als Informationsquelle nutzen.

Medienkonsum darf also nicht nur als Informationsaufnahme verstanden werden, sondern auch als eine gesellschaftspolitische Grundhaltung. Die Qualität der Medien hängt dabei neben strukturellen, politischen, sozialen und kulturellen Faktoren auch von der kritischen Würdigung, Unterstützung und Kontrolle durch die Zivilgesellschaft ab. Letztendlich ist Medienkonsum „immer auch ein dramatischer und ritueller Akt, in dem gesellschaftliche, kulturelle und subkulturelle Normen und Werte thematisiert und reproduziert werden“ (Krotz 1998, S.68). Inwiefern Massenmedien sich unabhängig von der politischen Agenda bewegen (können), ist also auch eine Frage der Nachfrage.

Anmerkungen

1) Zum Beispiel Daniel Ellsberg, der mit der Veröffentlichung der »Pentagon-Papiere« (geheimer Akten über die US-Kriegsführung in Vietnam) zum Ende des Vietnamkrieges beitrug, oder auch Bradley E. Manning, der beschuldigt wird, u.a. geheime US-Militärdokumente über den Beschuss und den Tod irakischer Zivilisten an Wikileaks weitergegeben zu haben.

Literatur

Brüggemann, Michael und Weßler, Hartmut (2009): Medien im Krieg. Das Verhältnis von Medien und Politik im Zeitalter transnationaler Konfliktkommunikation. In: Politische Vierteljahresschrift, Nr. 42, hrsg. von Marcinkowski, Frank und Pfetsch, Barbara, S.635-657.

Hahn, Oliver (2005): Arabisches Satelliten-Nachrichtenfernsehen. In: Themenheft »Medialisierte Kriege und Kriegsberichterstattung«. Medien & Kommunikationswissenschaft, hrsg. von Eilders, Christiane und Hagen, Lutz M., 53. Jg., 2005/2-3, S.241 ff.

Hanitzsch, Thomas (2004): Journalisten zwischen Friedensdienst und Kampfeinsatz. Interventionismus im Kriegsjournalismus aus kommunikationswissenschaftlicher Perspektive. In: Martin Löffelholz (Hrsg.): Krieg als Medienereignis II: Krisenkommunikation im 21. Jahrhundert (War as Media Event: crisis communication in the 21st century). Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, S.169-193.

Krotz, Friedrich (1998): Kultur, Kommunikation und die Medien. In: Saxer, U. (Hrsg.): Medien-Kulturkommunikation. Publizistik – Vierteljahreshefte für Kommunikationsforschung, Sonderheft 2/1998, S.67-85.

Szukala, Andrea (2005): Informationsoperationen und die Fusion militärischer und medialer Instrumente in den USA. In: Themenheft »Medialisierte Kriege und Kriegsberichterstattung«. Medien & Kommunikationswissenschaft, hrsg. von Eilders, Christiane und Hagen, Lutz M. (Hrsg.), 53. Jg., 2005/2-3, S.222 ff.

Wolfsfeld, Gadi (1997): Media and Political Conflict. News from the Middle East. Cambridge: Cambridge University Press.

María Cárdenas Alfonso ist Staats- und Kommunikationswissenschaftlerin (B.A.). Zurzeit studiert sie Friedens- und Konfliktforschung (M.A.) an der Philipps-Universität Marburg und ist Mitglied des Redaktionsteams von W&F.

Haager Friedenskongress 1999

Haager Friedenskongress 1999

von Jost Dülffer / Jürgen Scheffran / Götz Neuneck / Gert Sommer / Christine Schweitzer / Joseph Rotblat

Herausgegeben in Zusammenarbeit mit der NaturwissenschaftlerInnen-Initiative Verantwortung für Friedens- und Zukunftsfähigkeit, den Juristinnen und Juristen gegen atomare, biologische und chemische Waffen (IALANA), der IPPNW
und den Pädagoginnen und Pädagogen für den Frieden.

Haager Friedenskonferenz 1999

Willkommen zur Konferenz

Wir laden Sie hiermit ein, sich Hunderten von Organisationen und Tausenden Menschen aus der ganzen Welt in Den Haag, Niederlande, vom 11. bis zum 15. Mai 1999 anzuschließen, um die »Agenda für Frieden und Gerechtigkeit von Den Haag« für das 21. Jahrhundert zu schaffen. Zivilgesellschaft, Regierungen und internationale Organisationen werden Friedens- und Gerechtigkeitsinitiativen dieses Jahrhunderts neu bewerten, die Erfolge und Misserfolge beurteilen und festlegen, welche nächsten Schritte wir als Partner für ein friedensreicheres 21. Jahrhundert unternehmen können.

Graça Machel, First Lady, Südafrika
Professor Joseph Rotblat, Nobelpreisträger 1995
Mr. José Ramos-Horta, Nobelpreisträger 1996<
Übersetzung aus dem Englischen Heike Webb, Diplom-Übersetzerin, Bonn

An den Veranstaltungen in Den Haag – 11. bis 15. Mai – nehmen neben friedenspolitisch tätigen Nichtregierungsorganisationen aus aller Welt auch VertreterInnen von Regierungen teil. Die Veranstaltungen laufen auf verschiedenen Ebenen ab: Neben Vollversammlungen, Workshops, Anhörungen, Lesungen, Podiumsdiskussionen und Gesprächen am Runden Tisch gibt es kulturelle Angebote wie Filme, Fotoausstellungen, Musik-, Tanz- und Theaterdarbietungen. Darüber hinaus bietet das Niederländische Kongresszentrum den Friedensorganisationen die Chance für interne Treffen und organisationsspezifische Aktionen, die Möglichkeit zur Selbstdarstellung, für Infostände , den Verkauf von Materialien etc.

zum Anfang | Der Weg zur Haager Friedenskonferenz

von Jost Dülffer

„Hunderte von Millionen werden aufgewendet, um furchtbare Zerstörungsmaschinen zu beschaffen, die heute als das letzte Wort der Wissenschaft betrachtet werden und schon morgen dazu verurteilt sind, jeden Wert zu verlieren infolge irgendeiner neuen Entdeckung… Die wirtschaftlichen Krisen sind zum großen Teil hervorgerufen durch das System der Rüstungen bis aufs Äußerste…“

Das sind Worte aus dem Manifest eines russischen Zaren, mit dem vor Hundert Jahren zur ersten Haager Friedenskonferenz eingeladen wurde. Sie formulieren eine Einsicht, die sicher seitdem deutlich an Gewicht gewonnen hat. Dass Rüstungen allein nationale und internationale Sicherheit nicht schaffen können ist weitgehend Allgemeingut der internationalen Politik. Wir blicken heute auf ein breites Geflecht von internationalen Vereinbarungen zur Rüstungsbegrenzung und Abrüstung, doch das Wettrüsten geht auch zehn Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges weiter. Die Hoffnungen Anfang der neunziger Jahre auf eine Friedensdividende, auf eine umfassende Abrüstung, auf eine friedliche Welt wurden gedämpft. Die Rüstungsexporte nehmen seit drei Jahren wieder stark zu. Zwar scheint die Gefahr eines Krieges zwischen Großmächten – dauernd präsent in den ersten 90 Jahren dieses Jahrhunderts – heute gebannt, aber die Welt ist nicht friedlicher geworden und der Militäreinsatz als „Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“ ist auch für die Politik unseres Landes wieder zur realen Möglichkeit geworden. Aus der Haager Friedenskonferenz, ihrem Entstehen, ihrem Verlauf und den Ergebnissen, können immer noch Lehren gezogen werden.

„Der 18. Mai 1899! Dass es ein weltgeschichtliches Datum ist, welches ich mir da niederschreibe – von dieser Überzeugung bin ich tief durchdrungen“, notierte Bertha von Suttner, die große Pazifistin, in ihr Tagebuch. „Es ist das erste Mal, dass die Vertreter der Regierungen zusammenkommen, um die »Mittel zu suchen«, der Welt einen dauerhaften, wahrhaften Frieden zu sichern.“ Sie war drei Tage vorher aus Wien nach Den Haag aufgebrochen, „zur Stätte, wo der Frieden geboren werden soll. Das ist wohl das schönste Reiseziel, welches das Schicksal meinem jahrelangen Ersehnen und Hoffen bieten konnte.“

In der Tat eröffnete an jenem 18. Mai 1899 der niederländische Außenminister de Beaufort eine internationale Konferenz wie es sie in dieser Art noch nicht gegeben hatte. Offizielle Vertreter aus 26 Staaten, zumeist führende Diplomaten, aber auch Völkerrechtler, Militärs und sogenannte Friedensfreunde fanden sich zusammen. Akkreditiert waren alle Großmächte Europas und die anderen damals selbständigen Staaten dieses Erdteils, dazu die Vereinigten Staaten, Japan, Siam, China und Persien.

Zum Präsidenten gewählt wurde ein alter Karrierediplomat, der russische Botschafter in London Baron de Staal, denn Zar Nikolaus II. hatte zu dem Treffen eingeladen. In seiner Eröffnungsrede meinte der Präsident, der Name Friedenskonferenz, „welchen der Instinkt der Völker, die Entscheidungen der Regierungen vorwegnehmend, unserer Zusammenkunft gegeben hat, bezeichnet zu Recht den Hauptgegenstand unserer Bestrebungen; die »Friedenskonferenz« darf der ihr anvertrauten Mission nicht untreu werden, sie muss ein greifbares Resultat hervorbringen, welches die ganze Welt vertrauensvoll von ihr erwartet.“

Hoffnung für Pazifisten

Zunächst einmal traf diese Hoffnung auf die Pazifisten zu. Neben der Baronin Suttner zum Beispiel auf den russichen Staatsrat und Warschauer Bankier Jan de Bloch, einen wohlhabenden Mann, der im Eisenbahnbau sein Geld gemacht und kurz zuvor ein monumentales sechsbändiges Werk unter dem Titel »Der Krieg« vorgelegt hatte, das auch heute noch lesenswert ist. In ihm suchte er mit statistischem und volkswirtschaftlichem Material zu beweisen, dass ein künftiger Krieg wegen der fortschreitenden technischen Waffenentwicklung ein immer kostspieliger werdendes Unterfangen sein würde. In einem solchen Krieg – und der Verlauf des Ersten Weltkrieges gab ihm schließlich recht – sei mit einem schnellen Sieg nicht zu rechnen, sondern die Fronten würden schnell erstarren; die defensiven Fähigkeiten würden die offensiven übersteigen; der Krieg werde somit die nationalen Volkswirtschaften zerrütten. Der würdige und wohlhabende Sechziger verteilte in der niederländischen Hauptstadt Broschüren mit seinen Thesen, hielt Vorträge über die »Utopie des Krieges« und ließ sich gern als Experten feiern.

Voll Hoffnung war zum Beispiel auch William T. Stead, ein britischer Journalist. Dieser »Apostelkopf mit grauem Vollbart« war zuvor unermüdlich durch die Hauptstädte Europas gezogen und hatte für die Friedensidee geworben; jetzt organisierte er in Den Haag eine effektive Berichterstattung, die nicht nur in seinem Heimatland wirkte.

Zum Beispiel auch der greise Henri Dunant, Begründer des Roten Kreuzes,. Er suchte in Korrespondenz mit Suttner die Haager Szene zu beeinflussen; führende französische wie amerikanische Pazifisten gesellten sich dazu.

Und schließlich Leonore Selenka, eine Münchner Professorengattin. Sie kam in die niederländische Hauptstadt um dem Präsidenten eine weltweite Sympathiekundgebung von Frauenvereinigungen zu überbringen, die wenige Tage vor Beginn der Konferenz gleichzeitig in den meisten Teilnehmerstaaten getagt hatten. Drei Millionen Frauen sollen durch diese Kundgebung repräsentiert worden sein – eine dänische Frauenadresse hatte allein 230.000 Unterschriften gebracht, eine amerikanische über eine Million. Auch so etwas hatte es noch nicht gegeben.

Was sich in Den Haag versammelte und für drei Monate tagte, war jedoch keine Versammlung der internationalen bürgerlichen Friedensbewegung, sondern eine Staatenkonferenz, zu der die Pazifisten nur eine Begleitmusik spielen konnten. Aber sie stand eben nicht wie andere Friedenskonferenzen am Ende eines blutigen Krieges und sollte die Bedingungen zwischen Siegern und Besiegten aushandeln, sondern sie wurde mitten im Frieden einberufen (der natürlich auch damals durch internationale Krisen bedroht wurde).

Der russische Zar als Initiator

Die Idee ging auf den russischen Zaren Nikolaus II. zurück, einen jungen und unsicheren Mann, der dennoch oder gerade deswegen im August 1899 ein Manifest veranlasst hatte, das mit praktischer Politik wenig zu tun zu haben schien (siehe Kasten). Die Meinung eines Otto von Bismarck, der von der friedenserhaltenden Kraft der Waffen überzeugt war, spiegelte sich darin gewiss nicht wieder. „Fürst Bismarck ist seit 28 Tagen todt!“ soll daher – das berichteten die Hamburger Nachrichten – jemand, der dem Hause des Reichskanzlers sehr nahestand, das Zarenmanifest kommentiert haben.

Weltfremd oder realistisch? Das war bei dieser zaristischen Diagnose der internationalen Staatengesellschaft die Frage. Sicherlich hatte der autokratische Herrscher aller Reußen gute Gründe für eine Abrüstungsinitiative. Allem Anschein nach gab Kriegsminister Kuropatkin im Frühjahr 1898 den entscheidenden Anstoß – ein Mann, der später im Russisch-Japanischen Krieg 1904/5 entschlossen die militärische Expansion seines Landes verteidigte.

Hintergründe

Auch 1898 waren die Spannungen in Ostasien gestiegen (nicht zuletzt nach dem deutschen Erwerb des Kolonialstützpunktes Kiautschou); die russische Ostasienflotte sollte gegen den weltpolitischen Erzrivalen Großbritannien verstärkt, die Truppenzahl in Ostsibirien drastisch erhöht werden. Und es drohte ein qualitativer Rüstungsschub: Deutsche und Franzosen hatten ein neues Schnellfeuergeschütz in ihren Armeen eingeführt, die Österreicher wollten ein Gleiches tun. Lohnte es sich da nicht – so Kuropatkin –, mit diesen westlichen Nachbarn über ein Nichtrüstungsabkommen zu verhandeln, das dem finanzschwachen Russland wenigstens neue Ausgaben ersparte? Man hätte doch zehn Jahre lang auf die Einführung des neuen Schnellfeuergewehres verzichten können. Schließlich kam der Gedanke auf, allgemein die Beendigung des Wettrüstens anzuregen.

Kaiser Wilhelm II. kommentierte dann auch nach der Veröffentlichung des Zarenmanifestes zutreffend: „Die ganze Elukubration scheint mir möglicherweise der grimmen Noth entsprungen, dass Russland die »Puste« finanziell auszugehen anfängt.“ – auch wenn er selber und die deutsche Reichspolitik, die Wettrüsten als eine Probe für die gesamtgesellschaftliche Leistungsfähigkeit betrachteten, ebenfalls in solche Not gerieten. Denn beim Flottenbau würden die Briten im kommenden Jahrzehnt diesen Test gewinnen, zugleich aber würden die internationalen Spannungen insgesamt durch das Wettrüsten zu Wasser und dann auch zu Lande zunehmen.

Die Finanzschwäche Russlands war jedoch im Allgemeinen in der wirtschaftlichen Entwicklung begründet. Das Riesenreich mit all seinen menschlichen und materiellen Ressourcen hatte sich im Vergleich zu Westeuropa und Amerika noch kaum industriell entwickelt. Vor allem mit französischen Anleihen konnte der „geborgte Imperialismus“ (Dietrich Geyer) an einen Landesausbau gehen, der eine Art kolonialer Entwicklung auf eigenem Territorium zu leisten hatte. Finanzminister Sergej Witte war die treibende Kraft: Den Eisenbahnbau in Mittel- und Ostasien und die Industrialisierung hielt er für die wichtigsten Methoden, um die Existenz Russlands als Großmacht im kommenden Jahrhundert zu sichern. Auch wenn sich Witte später von der Zareninitiative distanzierte (sie sei dilettantisch), so hatte sie doch ihren tieferen Grund gerade in der Prioritätenentscheidung: Landesentwicklung statt Wettrüsten.

Ein dritter Strang kam hinzu: Am Tag der Veröffentlichung des Zarenmanifests begab sich Nikolaus II. von St. Petersburg nach Moskau, um dort ein Denkmal Alexanders III. zu enthüllen, der nunmehr als »friedensbringender Zar« gefeiert wurde, da er die Lehren aus dem blutigen Russisch-Türkischen Krieg gezogen habe. Das war ein wenig an den Haaren herbeigezogen, ebenso wie die Initiative Alexanders II. von 1868 für eine Humanisierung überpointiert wurde (sie hatte 1874 zu einer Konferenz in Brüssel geführt).

Aber mit Recht konnte man bis zu Zar Alexander I. zurückgehen: Er hatte nach den napoleonischen Kriegen das von ihm begründete System einer »Heiligen Allianz« der Herrscher, Völker und Heere für einen stabilen Frieden in Europa auch mit dem Mittel der Abrüstung zu erreichen gesucht. Es müsse ein neues Mittel gefunden werden, schrieb der Zar 1816 an den britischen Außenminister Lord Castlereagh, die Dauerhaftigkeit der neuen Ordnung und die Befriedung der Völker ohne Furcht in völliger Sicherheit herzustellen. Darum solle man gleichzeitig die bewaffneten Kräfte aller Art reduzieren: Solange man diese „im Kriegszustand“ aufrechterhielte, werde „die Glaubwürdigkeit der bestehenden Verträge vermindert und eine schwere Last auf die Wohlfahrt und Unabhängigkeit der Völker“ gelegt.

Damals kam nichts dabei heraus, weil Castlereagh hinhaltend reagierte und der österreichische Staatskanzler Metternich befand, die Russen müssten wohl aus eigenem Interesse ihre überwältigende Armee aus dem letzten Krieg verringern. Es gab also tatsächlich 1898 eine russische Herrschertradition der Friedensstiftung durch Abrüstung. Zwar gab die wirtschaftliche Lage des Riesenreichs den Ausschlag, aber dahinter steckte ein genuiner, zum Teil religiös verbrämter Friedenswunsch.

Für Nikolaus II. war noch ein viertes Moment bestimmend. Seit 1889 erstarkte die Friedensbewegung, die auf Weltfriedenskongressen, bei Treffen der Interparlamentarischen Union und der Sozialistischen Internationalen von sich reden machte. Der Zar hatte Jan de Blochs Werk über den Krieg gelesen und war von den dort ausgemalten Schrecken beeindruckt; man brachte ihm auch die Verhandlungsergebnisse der letzten internationalen Friedenskongresse nahe. Die Pazifisten und Internationalisten vertrauten auf die zunehmende Bedeutung einer Weltöffentlichkeit. Also bot sich dies auch für den Zaren an. Im autokratischen Russland glaubte man sich um die Jahrhundertwende noch von derartigen Einflüssen frei; stärkte man im Westen jene friedensgeneigten Strömungen, brauchte dies im eigenen Land keine Folgen zu haben. Gerade die undiplomatische Art, das Manifest kurz nach der Übergabe an die ausländischen Diplomaten in der Presse zu veröffentlichen, spricht für dieses Motiv. Es war ein Appell über die Regierungen hinweg an die Völker.

Ob Außenminister Murawjew es wirklich, wie der deutsche Botschafter berichtete, ernsthaft gemeint hat, „dass (der Vorschlag) eine mächtige Waffe und ein gewaltiges Agitationsmitttel aus der Hand der Sozialdemokratie nimmt, die behauptet, die Regierungen opferten ihren eigennützigen Rüstungsplänen den Wohlstand ihrer Völker“, sei dahingestellt. Wilhelm II. jedenfalls befürchtete: „Er hat unseren Demokraten und Opposition eine brillante Waffe in die Hand gegeben zum agitiren!“

Reaktionen

Allerdings war es für die Sozialdemokratie nicht ganz leicht, darauf zu reagieren, dass der falsche Mann (fast) das Richtige gesagt hätte. Die sozialdemokratische Bremer Bürger-Zeitung legte dann auch den zaristischen Abrüstungsvorschlag wortwörtlich dem SPD-Abgeordneten Wilhelm Liebknecht für eine Haushaltsdebatte im Reichstag in den Mund und stellte sich die Reaktionen von den Konservativen bis hin zu den Liberalen vor:

„Satz für Satz versuchte man, ihn niederzubrüllen und niederzulachen. In patriotischer Entrüstung rang Herr v. Stumm die Hände, und Liebermann v. Sonnenberg warf von Zeit zu Zeit ein überzeugtes Pfui dazwischen. Höhnisch lächelnd hörte am Bundesrathstische der Kriegsminister zu und erklärte dann in kurzen, schneidenden Worten, er brauche nichts zu erwidern, da solches Zeug doch niemand ernst nehme. Herr von Manteuffel schnarrte etwas von vaterlandsloser Sozialdemokratie, Herr von Bennigsen hielt darauf eine staatsmännische Rede über den segensreichen Einfluss der Militärausgaben auf die Volkswohlfahrt, und zum Schluss erhob sich Eugen (Richter) und rühmte von den Freisinnigen, dass auch sie für ein starkes Heer eintreten und jeden Mann und jeden Groschen bewilligt hätten, es sei ihnen nur um das Septennat, um die Form zu thun gewesen.“

Die Sozialdemokraten blieben skeptisch. Abrüstung sei nur möglich auf der Grundlage der allgemeinen Volksbewaffnung in Form einer Miliz, hieß es kommentierend und wenig später: „Die kapitalistische Produktionsweise wird nach wie vor zu Kriegsexplosionen münden und nach wie vor in wahnsinnigen Rüstungen das Mark der Völker verzehren.“ Aber: „Nun kommt ein Zar zu dem Eingeständnis, dass wir recht haben!“

Wie es die Sozialdemokraten befürchtet hatten, geschah es wirklich: Die anderen Regierungen waren mehr oder weniger entsetzt; sie erklärten das Ganze – ohne öffentlich das Prestige des Zaren anzutasten – für utopisch, unpraktisch, undurchführbar. Am Deutlichsten sagte es die deutsche Reichsleitung, welche die Grundlagen des Staates durch den Zarenvorschlag gefährdet sah. Was Nikolaus eigentlich vorgeschlagen hatte, bedurfte also nach und nach der abschwächenden Deutung: Völlige Abrüstung meinte er sicherlich nicht, sondern man solle nur die Möglichkeit der langsamen Reduzierung prüfen, vielleicht noch den Verzicht auf bestimmte Rüstungsproduktionen, ein »Einfrieren« wie es heutzutage heißt.

Ergebnisse

Die diplomatischen Vorgespräche ergaben jedenfalls schon vor dem 18. Mai 1899: An Abrüstung dachte keine Großmacht. So wurde am Ende der ersten Haager Konferenz, die dann offiziell nicht mehr Abrüstungskonferenz, sondern Friedenskonferenz hieß, nur ein unverbindlicher Wunsch verabschiedet, die Fragen weiter zu studieren. Immerhin konnten sich die Delegierten bei bestimmten Kriegsformen, über deren Erfolgsaussichten in der Zukunft noch kein sicheres Urteil möglich war, zu Vereinbarungen durchringen:

Für fünf Jahre wurde ein Verbot ausgesprochen, „Projektile und Explosivstoffe aus Ballons oder auf andere entsprechende neue Arten“ abzuwerfen – ein Luftkriegsverbot, das stillschweigend am Ende der Periode auslief und 1907 erneuert wurde. Permanent verboten wurden für alle Vertragsparteien einerseits „die Verwendung von Projektilen, die als einziges Ziel haben, erstickende oder gesundheitsschädigende Gase zu verbreiten“, der Gaskrieg also, andererseits die Verwendung von abgeplatteten Gewehrgeschossen (Dum-Dum-Geschosse, die besonders große Wunden rissen).

Man kodifizierte auch das Land- und Seekriegsrecht, eine Vorstufe für die 1907 beschlossene und bis heute gültige Haager Landkriegsordnung. Sie sollte freilich erst dann angewendet werden, wenn der Frieden gescheitert, der Krieg im Gange war. Aber man suchte mehr und mehr nach einem Programm, das mit Frieden etwas zu tun hatte. Die Wünsche richteten sich auf die friedliche Beilegung internationaler Konflikte, auf Schiedsgerichte, Vermittlung und internationale Untersuchungsausschüsse.

Die Frage, ob man Schiedsgerichte für bestimmte Konfliktfälle obligatorisch machen sollte, ließ sich 1899 noch nicht beantworten. Aber man schuf im Haager Schiedsgerichtshof eine erste internationale Institution zur Streitbeilegung. Gegen den erbitterten Widerstand vor allem von deutscher Seite konnte nicht mehr vereinbart werden als eine Liste von Schiedsrichtern, der sich Streitparteien bedienen konnten. Tatsächlich geschah dies vor dem Ersten Weltkrieg in einer ganzen Reihe von Fällen, die aber mit den konkreten Kriegsgefahren der Zeit wenig zu tun hatten.

Sechs Jahre später – die Revolution in Russland, eine folge des Russisch-Japanischen Krieges 1904/5, war noch nicht vollständig niedergeschlagen – schlug die zaristische Regierung eine neue Haager Konferenz vor. Trotz oder gerade wegen des nun in vollem Gange befindlichen maritimen Wettrüstens wurde die Abrüstungsfrage schon vor dem Zusammentritt einer neuen Konferenz vertagt – in Formeln eines ‚Begräbnisses erster Klasse‘.

Dennoch tagte vom 15. Juni bis zum 18. Oktober 1907 eine neue Konferenz aller damals als unabhängig angesehenen Staaten (inklusive Lateinamerikas). Ihre Bedeutung lag vor allem in der weiteren Kodifikation des Kriegsrechts. Die Friedensfreunde wollten ein Schiedsgerichtsobligatorium zunächst auf unbedeutende Themen beschränken; sollte es sich im Verlauf der Zeit bewähren, könne man es hoffentlich auf größere Themen ausweiten.

Wieder war es die deutsche Reichsleitung, prinzipiell von der absoluten Souveränität der Großmächte überzeugt, die gegen alle solche Vorschläge Front machte und den Fortschritt verhinderte. Zwar wurden fünfzehn internationale Konventionen beschlossen, aber keine einzige griff nachhaltig in die Konflikte und Gegensätze der Staatengesellschaft ein. Der Weg in den Ersten Weltkrieg wurde nicht aufgehalten.

Die Teilnehmer wollten sich etwa 1915 zu einer dritten Haager Konferenz zusammensetzen, doch da tobte der Krieg schon, den man zu Recht den »großen Krieg« nennt oder die Urkatastrophe unseres Jahrhunderts.

Dr. Jost Dülffer ist Professor für neuere Geschichte am Historischen Seminar der Universität Köln.

Das Zarenmanifest

„… Im Namen des Friedens haben große Staaten mächtige Bündnisse miteinander geschlossen. Um den Frieden besser zu wahren, haben sie in bisher unbekanntem Grade ihre Militärmacht entwickelt und fahren fort, sie zu verstärken, ohne vor irgendeinem Opfer zurückzuschrecken.

Alle ihre Bemühungen haben dennoch nicht das segensreiche Ergebnis der ersehnten Friedensstiftung zeitigen können. Da die finanziellen Lasten eine steigende Richtung verfolgen und die Volkswohlfahrt an ihrer Wurzel treffen, so werden die geistigen und physischen Kräfte der Völker, die Arbeit und das Kapital zum großen Teile von ihrer natürlichen Bestimmung abgelenkt und in unproduktiver Weise aufgezehrt. Hunderte von Millionen werden aufgewendet, um furchtbare Zerstörungsmaschinen zu beschaffen, die heute als das letzte Wort der Wissenschaft betrachtet werden und schon morgen dazu verurteilt sind, jeden Wert zu verlieren, infolge irgendeiner neuen Entdeckung auf diesem Gebiet… Die wirtschaftlichen Krisen sind zum großen Teil hervorgerufen durch das System der Rüstungen bis aufs Äußerste, und die ständige Gefahr, welche in dieser Kriegsstoffansammlung ruht, machen die Heere unserer Tage zu einer erdrückenden Last, welche die Völker mehr und mehr nur mit Mühe tragen können. Es ist deshalb klar, dass, wenn diese Lage sich noch weiter so hinzieht, sie in verhängnisvoller Weise zu eben der Katastrophe führen werde, welche man zu vermeiden wünscht und deren Schrecken jeden Menschen schon beim bloßen Gedanken schaudern macht…

Durchdrungen von diesem Gefühl, hat seine Majestät geruht, mir zu befehlen, dass ich allen Regierungen, deren Vertreter am kaiserlichen Hof beglaubigt sind, den Zusammentritt einer Konferenz vorschlage, welche sich mit dieser ernsten Frage zu beschäftigen hätte. Diese Konferenz würde mit Gottes Hilfe ein günstiges Vorzeichen des kommenden Jahrhunderts sein…“

(Ausschnitte aus dem Zarenmanifest vom 24. August 1898, verkündet von Außenminister Graf Murajew)

zum Anfang | Neue Konfliktlinien an der Schwelle zum 21. Jahrhundert
100 Jahre Krieg – und kein Ende?

von Jürgen Scheffran

Den Schrecken des Krieges zu beenden oder zumindest zu mildern – dies war eine Motivation für der Haager Friedenskonferenz von 1899. Die Realität des 20. Jahrhunderts sah jedoch anders aus. Mit hunderten von Kriegen fällt die Bilanz der letzten hundert Jahre grausig aus. Die zweite Haager Konferenz (1907) sowie eine vorgesehene dritte (1915) konnten dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs und dem folgenden Abschlachten nichts entgegensetzen. Zwar wurden mit der Festlegung der Haager Landkriegsordnung, der Einrichtung eines Gerichtshofs für die Beilegung internationaler Streitfälle und dem Einsatzverbot für bestimmte Waffen (Giftgas) Ansätze zur »Zivilisierung« der Kriegführung unternommen. Im Kellogg-Briand-Pakt verzichteten gar 63 Staaten auf Krieg als Instrument der Politik und der auf der Weltabrüstungskonferenz von 1932 vorgestellte Hoover-Plan sah die schrittweise Abschaffung offensiver Waffen vor.

Doch gegen nationalen Taumel, totalen Krieg und technische Massenvernichtung konnte das zarte Friedenspflänzchen nichts ausrichten. Die fortwährende Steigerung der Vernichtungsmittel erreichte mit der Zerstörung mitteleuropäischer Städte durch Brandbomben und Raketen sowie im Einsatz der Atombombe gegen die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki ihren schrecklichen Höhepunkt. Der größte Land-, Luft- und Seekrieg der Geschichte richtete auch die größten Verheerungen an und forderte die größten Opfer an Menschenleben (27 Mio. Soldaten und 25 Mio. ZivilistInnen). Der Anteil der getöteten ZivilistInnen hatte sich gegenüber dem Ersten Weltkrieg von 5 auf 50 Prozent erhöht. Der Krieg entwickelte sich zum globalen totalen Krieg, der alle gesellschaftlichen Bereiche umfasste. Die Kriegskosten stiegen ins Uferlose und ließen einen militärisch-industriellen Komplex zurück, der sich nicht abschaffen lassen wollte.

Erst nach der Besinnungslosigkeit des Zweiten Weltkriegs und dem dadurch ausgelösten Schock kehrte eine gewisse Besinnung dahingehend ein, dass es nicht im Interesse der Völker sein kann, sich gegenseitig zu vernichten. Die erstarkte Friedensbewegung und Bestrebungen zur Friedensförderung wie die Gründung der Vereinten Nationen gerieten jedoch in den Strudel des Ost-West-Konflikts, in dem die beiden Supermächte die Welt in Einflusssphären teilten und alle gesellschaftlichen Ressourcen dem Wettrüsten unterordneten. Wissenschaft und Technik ermöglichten immer ausgeklügeltere Waffensysteme, deren Zerstörungswirkung die des gesamten Zweiten Weltkriegs um mehr als das Tausendfache übertraf und die mehrfache Zerstörung des Planeten in den Bereich des Möglichen rückte.

Mit der Beendigung des Kalten Krieges und der Vereinbarung von Abrüstungsverträgen zwischen den ehemaligen Kontrahenten ging eine kurze Tauwetterperiode in den internationalen Beziehungen einher, die mit dem zweiten Golfkrieg 1991 und weiteren Konflikten (Jugoslawien, Somalia, Zentralafrika, Tschetschenien, Nahost, Südasien) jedoch rasch wieder in einer Überhitzung endete. An der Schwelle zum 21. Jahrhundert ist die Abrüstungspolitik in der Krise und immer noch sind dutzende von Kriegen und hunderte größerer Konflikte zu verzeichnen, die auf komplexe Weise mit dem Ursachen- und Wirkungsgeflecht der globalen Probleme verbunden sind (Bevölkerungswachstum, Armut und Unterentwicklung, Umweltzerstörung und Ressourcenverknappung, Migration und Flucht, Gewalt und Krieg). Neue Risiken und Instabilitäten für die internationale Sicherheit sind auf allen Ebenen erkennbar. Die Kriege der Gegenwart werden eher mit Messern, Äxten und Pistolen ausgetragen während die noch verbleibende Supermacht USA die gesamte Hochtechnologieentwicklung einplant um die vermeintlichen Schlachten der Zukunft auf der Erde und im Weltraum zu schlagen.

Häufigkeit und Verteilung
von Konflikten

Die Bilanz des 20. Jahrhunderts ist auch hinsichtlich der Kriegshäufigkeit ernüchternd. Seit 1889 hat es kein Jahr mehr gegeben, in dem nicht ein neuer nationaler oder internationaler Konflikt begonnen wurde. Nach den beiden Weltkriegen nahm die Zahl laufender Konflikte pro Jahr sogar noch zu, was auch damit zusammenhängen mag, dass die Zahl staatlicher Akteure sich vervierfacht hat. Die Zahl neubegonnener Konflikte erreichte 1964 einen Höhepunkt von 25.1 In den fünf Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg wurden mehr Konflikte verzeichnet als in jeder früheren vergleichbaren Periode, insgesamt 398 internationale und 263 nationale Streitigkeiten bis 1995. In 387 Konflikten wurde Gewalt eingesetzt (darunter 104 Kriege), 274 verliefen ohne Gewalt. Ab 1969 wurden mehr gewaltsame interne als zwischenstaatliche Konflikte registriert, die ein höheres Gewaltpotential aufwiesen.2 Nach einer anderen Zählweise waren seit 1945 weltweit 194 Kriege zu verzeichnen, im Mittel kam ein Krieg pro Jahr hinzu. Im Jahr 1996 waren es weltweit 28 Kriege und 21 bewaffnete Konflikte unterhalb der Kriegsschwelle, die insgesamt 6,7 Millionen Tote und ein Vielfaches an Verwundeten forderten.3 Im Gefolge der Ereignisse von 1989 stieg die Zahl der bewaffneten Auseinandersetzungen noch einmal deutlich an, um nach einem Maximum im Jahr 1993 wieder abzufallen. In den letzten Jahren wurden mehr Kriege beigelegt als neue begonnen wurden.

Die allermeisten Konflikte fanden in den Regionen des Südens statt, zumeist zwischen Entwicklungsländern. Besonders betroffen war die Konfliktregion Naher Osten/Nordafrika, die seit dem Zweiten Weltkrieg Schauplatz von 53 Kriegen war. In Süd- und Südostasien sowie Subsahara-Afrika fanden zwischen 1945 und 1996 47 bzw. 43 Kriege statt. Es folgt Mittel- und Südamerika, mit 31 Kriegen (Globale Trends 1998). Dagegen ging in Ostasien nach den Kriegen der sechziger Jahre die Anwendung organisierter militärischer Gewalt zurück. Auch in anderen Weltregionen war seit 1960 ein Trend zu abnehmender Kriegshäufigkeit zu beobachten. In Europa gab es bis 1989 47 unfriedliche Auseinandersetzungen, darunter 20 latente Konflikte oder Krisen und acht Kriege (Pfetsch 1989). In Südosteuropa und den angrenzenden Regionen des Nahen Ostens und Zentralasiens brachen mit dem Zerfall der Vielvölkerstaaten Sowjetunion und Jugoslawien etwa ein Dutzend neuer Kriege aus. In einigen Konflikten waren bzw. sind die Großmächte (Großbritannien, Frankreich, USA, UdSSR/Russland) stark beteiligt, die bestimmte Regionen als ihre Machtsphären betrachteten. Immerhin waren 43 Staaten nie in Konflikte verstrickt und weitere 25 Nationen nur in nicht-gewaltsame (Pfetsch 1998).

Neue Konfliktmuster und knappe Ressourcen

Die Welt ist nach 1945 zwar nicht friedlicher geworden, doch hat sich gegenüber der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg das Konfliktverhalten zwischen Staaten geändert. Während zuvor Rivalitäten zwischen Staaten dominierten, die nationale Machtinteressen ohne Hemmungen mit Waffengewalt durchsetzten, begann sich nach dem Krieg in den Industrieländern die Erkenntnis durchzusetzen, dass Interessen auch friedlich und gemeinsam mit anderen erreicht werden können. Auch weiterhin ging bei den allermeisten Konflikten der Streit um Territorien und Grenzen sowie interne Macht. Viele bewaffnete Konflikte waren eine Folge der Unabhängigkeit früherer Kolonien und der Inanspruchnahme des Selbstbestimmungsrechts der Völker. Zahlreiche Konflikte der neunziger Jahre weisen ein hohes Maß an innerstaatlicher Gewalt auf, die die Entstehung von Bürgerkriegsgesellschaften und einen Verfall der Staatlichkeit zur Folge hat. Autoritäre Herrschaftscliquen und schwache Regierungen sind den Problemen von Unterentwicklung, Armut und Umweltzerstörung wie auch dem Modernisierungsdruck nicht gewachsen und unfähig, den Bevölkerungen ihrer Länder ein Minimum an Mitsprache und Lebensqualität zu garantieren. Als Abwehrreaktion werden alte Traditionen, Fundamentalismen und Feinbilder beschworen, die ethnischen Konflikten und einem »Kampf der Kulturen« Vorschub leisten. Der Konfliktaustrag ist mit einer Eigendynamik und Chaotisierung der Kriegführung, der weiteren Zerstörung sozialer Zusammenhänge und der Zerrüttung von Wirtschaft und Gesellschaft verbunden, die eine Lösung der zugrundeliegenden Probleme nahezu unmöglich machen (Globale Trends 1998).

Auch in den Industrieländern ist im Gefolge der Modernisierung und Globalisierung ein Einflussverlust des Nationalstaats zu verzeichnen, der zum einen auf die Schaffung internationaler Institutionen, Regime und Entscheidungsstrukturen zurückzuführen ist, zum anderen auf die Konzentration von Macht in den Händen international agierender privater Akteure (Konzerne, Interessengruppen, Mafia), die teilweise wenig auf demokratische Entscheidungen Rücksicht nehmen und ihre Interessen notfalls auch mit dem Mittel der Gewalt durchsetzen. Die empirisch begründete These, dass Demokratien untereinander keine Kriege führen, bedarf unter diesem Blickwinkel einer neuen Beurteilung, zumal auch für Demokratien wie die USA Gewalt gegenüber den politisch weniger entwickelten Staaten des Südens weiterhin als legitimes Machtmittel gilt.

Um das Besondere an der heutigen Konfliktlage zu verstehen ist es hilfreich, sie in den Kontext der bisherigen Menschheitsentwicklung einzuordnen, die durch Machtkämpfe um natürliche und gesellschaftliche Ressourcen geprägt wurde. Am Beispiel der Ressource »Territorium« wird deutlich, dass der Charakter der Konflikte sich mit dem fortschreitenden Grad der Nutzung oder Übernutzung dieser Ressource gewandelt hat. Zu unterscheiden sind die für jeden Entwicklungsgang eines Systems typischen Phasen Wachstum, Stagnation, Zerfall.

  1. Wachstum, Expansion, Machtgewinnung: Solange Menschen in immer neue Regionen expandieren konnten, waren Konflikte vorherrschend, die die Verteilung des neu »eroberten« Gebietes und die damit verbundene Macht betrafen. Im 19. Jahrhundert gerieten der imperialistische Expansionsdrang und die territoriale Aufteilung der Welt an die Nationalstaaten an ihre Grenzen. Zu spät gekommene Staaten wie Deutschland oder Japan versuchten bis ins 20. Jahrhundert hinein vergeblich, die Aufteilung mit Gewalt zu ihren Gunsten zu verschieben.
  2. Stagnation, Umverteilung, Identitätssicherung: Der Zweite Weltkrieg markiert das Ende der territorialen Expansionsphase und die Fixierung der Aufteilung, wobei die alten Kolonialmächte durch die Entkolonialisierung an Einfluss verloren. In der Stagnationsphase des Ost-West-Konflikts versuchten die Supermächte, die Machtverteilung in den Weltregionen auf militärischem und politisch-ideologischem Wege zu ihren Gunsten zu verschieben. Für Deutschland und Japan dagegen wurden Machtzugewinne nicht territorial, sondern in der technisch-ökonomischen Entwicklung und über politische Einigungsprozesse erreicht. Bei der Bildung neuer oder dem Zerfall alter Staaten stand die Frage der Orientierung und Identititätssicherung entlang der bestehenden globalen Machtstrukturen im Vordergrund, zunächst entlang der Ost-West-Achse, nach 1989 entlang der Nord-Süd-Achse (Zentrum-Peripherie).
  3. Zerfall, Risiko, Existenzgefährdung: Bei weiter anhaltender Wachstumsdynamik steigt der Druck auf die enger werdenden territorialen Grenzen, wodurch der Zerfall sozialer, ökonomischer und politischer Strukturen befördert wird. Es geht bei Konflikten in der Risikogesellschaft immer weniger um die Eroberung neuer Räume und immer mehr um die Verteilung von Mangel und Risiko. Am Stärksten werden die ohnehin schon marginalisierten Schichten in Nord und Süd betroffen, für die es um das Überleben geht, während privilegierte Schichten versuchen, ihre Macht und ihren Reichtum abzusichern.

Entsprechende Phasen können im Prinzip auch für andere Ressourcen identifiziert werden, insbesondere für die natürlichen Ressourcen Wasser, Nahrung, Energie, Biodiversität, Rohstoffe, wobei für jede Ressource eine Differenzierung hinsichtlich ihrer Relevanz vorzunehmen ist.

Die hier skizzierte Einteilung ist nicht streng chronologisch zu verstehen, denn bis heute findet eine Durchmischung aller drei Konfliktphasen statt. Allerdings gewinnen mit wachsender Verknappung Risiko- und Existenzkonflikte an Bedeutung, die sich vorwiegend an den Rändern der Weltgesellschaft abspielen und von der Öffentlichkeit oft verdrängt werden. Schließlich ist die Phaseneinteilung nicht als Naturgesetz zu verstehen. Zerfallsbedingte Konflikte müssen nicht über die Gewaltschwelle eskalieren, wenn sich weltweit eine Kultur des Friedens durchsetzt, die das Instrumentarium einer »nachhaltigen Friedensstiftung« weiterentwickelt, von präventiver Diplomatie und Konfliktvermittlung bis zu Maßnahmen der gesellschaftlichen und ökonomischen Friedenskonsolidierung. Voraussetzung ist, dass die Grundbedürfnisse für alle Menschen gewährleistet sind und die materielle Basis des Friedens gesichert ist, d.h. es muss mit den natürlichen Ressourcen im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung »vernünftig« gehaushaltet werden, wodurch die zerfallsbedingten Konflikte an Bedeutung verlieren.4 Bislang ist die Dynamik zur Erzeugung neuer Konflikte jedoch weiterhin ungebrochen, wie am Beispiel der Umweltkonflikte zu zeigen ist.

Naturzerstörung
und Umweltkonflikte

Bereits heute sind eine Reihe von Konfliktfällen zu beobachten, bei denen Umweltzerstörung ein wesentlicher Konfliktfaktor ist. Das Schweizer Environment and Conflicts Project (ENCOP) fand heraus, dass von den 51 Kriegen des Jahres 1992/1993 immerhin 22 (43 Prozent) eine Umweltdimension hatten bzw. teilweise durch Umweltveränderungen induziert waren. Betroffen sind vor allem Subsahara-Afrika sowie Süd- und Südostasien, wo der Anteil bei mehr als 50 Prozent lag.5 In dem Abschlussbericht des Projekts wurden 42 Fallstudien von Umweltkonflikten ausgewertet und drei Mustern von konfliktträchtigen Umweltveränderungen (Naturkatastrophen, nationale und internationale Opferzonen, Allmend-Effekt) zugeordnet.6 In der Synthese des ENCOP-Projekts heißt es (S.329):

„Die biologischen Grundlagen des menschlichen Daseins sind seit kurzem der Erschöpfung nahe. Eine weitere Steigerung der Weltgetreideernte war zum Beispiel seit 1990 nicht mehr möglich. Selbst Trinkwasser, eine einst in scheinbar unerschöpflicher Fülle vorkommende Ressource, wird an immer mehr Orten knapp. Raum, Nahrung, Wasser und weitere knappe Güter werden damit vermehrt zu Konfliktgegenständen unter Gruppen, die um ihr Überleben, um die Erhaltung ihrer traditionellen Lebensformen oder die Anhebung ihres Lebensstandards kämpfen. Es ist für die Gegenwart von grundlegender Bedeutung und für die Zukunft überlebenswichtig, diese Konflikte in ihren … Ursachen besser zu verstehen, um sie entschärfen, soweit wie möglich lösen oder wenigstens unter Vermeidung von Gewaltexzessen überstehen zu können.“

Einige Beispiele für umweltbedingte Konflikte, die nicht den Charakter von Kriegen haben, aber teilweise dennoch durch ein hohes Gewaltpotential geprägt sind, sollen im Folgenden die allgemeinen Zusammenhänge verdeutlichen.

  • Wasserkonflikte in Nahost: Israel bezieht mehr als 60 Prozent seines Wassers aus Gebieten außerhalb seiner international anerkannten Grenzen, zu einem erheblichen Teil auch aus der besetzten Westbank, wo der Pro-Kopf-Verbrauch der jüdischen Siedler etwa viermal so hoch ist wie bei den Arabern. Wiederholt waren Wasserreservoirs und Wasserleitungen Ziele militärischer Operationen. Der Erfolg von Verhandlungen wird vom weiteren Friedensprozess mitbestimmt. Die Wasserversorgung Ägyptens hängt zu 97 Prozent vom Nil und damit von den Oberanliegern Sudan und Äthiopien ab; Zuteilungsquoten sind seit langem umstritten. Das türkische Staudammprojekt an Euphrat und Tigris ist von Zwangsumsiedlungen und ethnischen Säuberungen begleitet und macht Syrien und Irak von der türkischen Wasserzuteilung abhängig.
  • Umweltflucht in Afrika: Der afrikanische Kontinent ist bereits in starkem Maße von ökologischen Problemen (Wassermangel, Desertifikation, Abholzen von Regenwäldern) betroffen, die durch eine globale Klimaerwärmung weiter verschärft werden. Millionen von Umweltflüchtlingen wandern in die Städte und benachbarte Länder aus, wo sie die sozialen Probleme verschärfen und Konflikte verursachen. Ein Beispiel ist die Vertreibung von 60.000 Menschen aus Mauretanien und dem Senegal zwischen April und August 1989, die teilweise auf die Übernutzung und Verödung der Böden im ehemals fruchtbaren Tal des Senegal-Flusses zurückzuführen ist. Am Horn von Afrika (insbesondere in Somalia) bewirkte eine Kombination verschiedener Fluchtursachen (Krieg, Unterdrückung, Hunger, Dürre) eine Destabilisierung der politischen Lage, die zum Eingreifen der Vereinten Nationen beitrug.
  • Massaker in Ruanda: Zwischen 1950 und 1994 stieg die Bevölkerung Ruandas von 2,5 auf 8,8 Millionen, die Pro-Kopf-Produktion sank zwischen 1960 und den frühen neunziger Jahren um fast die Hälfte. Das knapper werdende Land wurde immer weiter aufgeteilt. Die hohe Bevölkerungsdichte und die schlechte Ernährungslage verschärften den bereits bestehenden Konflikt zwischen Hutu und Tutsi und trugen zum Ausbruch der Gewalt bei, der auf das Nachbarland Zaire ausstrahlte und dort zur Destabilisierung beitrug.
  • Landflucht in Pakistan: Die Umwelt Pakistans leidet unter dem hohen Bevölkerungswachstum, der Bodenerosion, dem Wassermangel, der starken Entwaldung und dem Verlust landwirtschaftlicher Nutzfläche. Eine kleine Schicht der Gesellschaft versucht, die Kontrolle über die lebenswichtigen Naturressourcen (Wälder, Ackerland, Wasser) zu sichern. Aufgrund der verringerten landwirtschaftlichen Produktion wandern Menschen in die Städte oder in durch Naturkatastrophen (Überflutung) gefährdete Gebiete ab. Aufgrund der fehlenden städtischen Versorgung (u.a. mit Wasser und Elektrizität) ist es in Städten wie Karachi und Islamabad zu Protesten und gewaltsamen Zusammenstößen zwischen ethnischen Gruppen oder mit der Polizei gekommen.
  • Überschwemmungen in Bangladesh: Aufgrund seiner hohen Bevölkerungsdichte und seiner Lage in einem Überschwemmungsgebiet ist Bangladesh extrem anfällig gegenüber den Risiken der regionalen und globalen Umweltzerstörung. Verarmte Menschen ziehen in überflutungsgefährdete Regionen. In den letzten vier Dekaden wanderten Millionen von Menschen aus Bangladesch auch in die angrenzenden Gebiete Indiens aus, wodurch dort gewalttätige Unruhen gefördert wurden. Bei einem Anstieg des Meeresspiegels und einer Zunahme von Wirbelstürmen und Überschwemmungen als Folge der globalen Erwärmung würden große Teile Bangladeschs überschwemmt, was Millionen Menschen das Leben kosten kann und den Druck zur Auswanderung verstärkt.
  • Austrocknung des Aralsees: Die Versalzung und Austrocknung des Aralsees, der mehr als 75 Prozent seines Volumens eingebüßt hat, ist eine ökologische Katastrophe mit schwerwiegenden Folgen für Wirtschaft und Gesellschaft. Die Gesundheit von 50 Millionen Menschen verschlechterte sich, Folgeschäden wurden auf 37 Mrd. Rubel geschätzt. Afghanistan, Iran, Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan sind zusätzlich betroffen durch die Schädigung der Zuflüsse Amu-Darja und Syr-Darja. Wassermangel hat in der Region zu Auseinandersetzungen zwischen den ehemaligen Sowjetrepubliken geführt, aber auch zum regionalen Wassermanagement beigetragen.
  • Öl im Kaukasus: Die neuen Staaten im Kaukasus und in Zentralasien haben nach dem Zerfall der Sowjetunion große Erdöl- und Gasvorkommen übernommen, die mit Hilfe westlicher und östlicher Geldgeber rasch erschlossen werden sollen. In dieser Schlüsselregion zwischen Europa, Asien und Nahost kämpfen Staaten wie Russland, USA, Türkei, China, Indien, Pakistan, Iran und Irak um politischen und wirtschaftlichen Einfluss, der sich in einem Wettlauf um die besten Zugriffsmöglichkeiten auf Öl und Gas manifestiert. Konkrete Konflikte gibt es um die besten Transportwege (insbesondere Pipelinerouten), den rechtlichen Status des Kaspischen Meeres oder die Embargopolitik der USA gegenüber Iran.
  • Unruhen in Haiti: Einstmals reich bewaldet, hat Haiti heute fast seine gesamte Waldfläche (bis auf 2 Prozent) und einen großen Teil seines Mutterbodens eingebüßt. Die Getreideproduktion lag Anfang der neunziger Jahre um ein Drittel unter dem Wert von Mitte der siebziger Jahre, sodass die pro-Kopf zur Verfügung stehende Menge deutlich gesunken ist. Der Verlust von Wäldern und Boden in ländlichen Gebieten schaffte eine ökonomische Krise, die soziale Unruhen und internationale Migration (Exodus der »boat people«) hervorbrachte. Durch die Last einer irreversibel geschädigten Umwelt wird der gesellschaftliche Aufbauprozess stark behindert.
  • Der Landlosen-Konflikt in Chiapas/Mexiko: Der Aufstand der Zapatistischen Nationalen Befreiungsarmee (EZLN) in der Provinz Chiapas im Januar 1994 war ein Ergebnis der wachsenden Unzufriedenheit unter Landarbeitern, die neben anderen Gründen (etwa den voraussehbaren Folgen des mexikanischen NAFTA-Beitritts) auch durch die wachsende Knappheit von landwirtschaftlichen Nutzflächen bedingt war. Konfliktgegenstand war eine gerechtere Verteilung von Landrechten gegenüber den Eliten, die sich die Kontrolle über die besten Landflächen im Staat verschafft hatten.
  • Fischereikriege: Der Streit um Fangquoten im Atlantik hat gezeigt, dass durch die Verknappung biologischer Ressourcen auch zwischen Industrieländern gewaltsame Auseinandersetzungen möglich sind. So brachte im Frühjahr 1995 die kanadische Marine im Nordatlantik vor der Küste Neufundlands einen spanischen Fischtrawler auf, weil er wegen des Rückgangs von Fischbeständen gegen die Fangbestimmungen für den Grönland-Heilbutt verstieß. Eine weitere vehemente Auseinandersetzung wird zwischen den USA und Kanada um die Fangrechte an Lachs im Pazifik ausgetragen.

Dr. Jürgen Scheffran ist wissenschaftlicher Referent der interdisziplinären Arbeitsgruppe IANUS an der TU Darmstadt.

zum Anfang | Virtuelle Rüstungen
Die Waffensysteme des 21. Jahrhunderts oder die USA rüsten mit sich selbst

von Götz Neuneck

Das 21. Jahrhundert ist nicht mehr fern. Auch deshalb lohnt sich ein Blick in Stanislaw Lems Klassiker »Waffensysteme des 21. Jahrhunderts« aus dem Jahr 1983.7 Der Science-Fiction Autor wirft darin einen Blick auf die Entwicklungen eines rasant fortschreitenden Wettrüstens: Die Rede ist da von Anti-Antiraketen, Laserbomben, Mikroarmeen und folgender Technologiefalle: „Dass alle Kräfte in neue Umrüstungen investiert wurden, darüber entschieden nicht mehr Regierungen, Staatsmänner, der Wille der Generalstäbe, die Interessen der Monopole oder auch andere Interessengruppen, sondern (…) die Angst, dass auf die Erfindungen und Techniken, die die endgültige Überlegenheit verteilen, als erster jemand anderer stoßen wird.“8 Ein Blick in die sicherheitspolitischen Debatten dieser Tage, in strategische Dokumente und Rüstungspläne insbesondere der Führungsmacht bestätigt eben jenes Bild. Virtuelle Gegner und übersteigerte Bedrohungen bilden die Legitimation für enorme Rüstungsanstrengungen, bei denen die nächste Drehung der Rüstungsspirale schon vorweggenommen scheint: Da die angenommenen Gegner bald über dieselben Technologien wie die USA verfügen werden, muss jetzt der nächste Schub vorbereitet werden.

Nach Jahren des Übergangs nehmen die US-Strategiepläne für den Beginn des 21. Jahrhunderts Gestalt an. Im Mai 1997 hatte Verteidigungsminister Cohen den »Quadrennial Defense Review« QDR dem U.S.-Kongress überstellt, die Grundlage für die amerikanische Militärstrategie bis zum Jahre 2015 und die Rechtfertigung für die künftigen Militärausgaben. Der QDR ist der Rahmen für die nationale Militärstrategie und bildet die Planungsgrundlage für die regionale Militärpolitik und die globalen Strategieziele. Schlüsselbegriffe sind »robuste regionale Präsenz« der US-Streitkräfte, militärische Überlegenheit und eine Nutzung der technologischen Vorsprünge, die jeden potentiellen Rivalen oder regionalen Hegemon entmutigen sollen. Als Handlungsgrundlage werden drei Elemente hervorgehoben: »Shape-Prepare-Respond«.

Bei seiner letzten Budgetvorstellung führte Cohen aus: Die neue Militärstrategie der USA solle „das internationale, sicherheitspolitische Umfeld in günstiger Weise für die amerikanischen Interessen gestalten, willens und fähig sein, auf das volle Spektrum von Krisen zu antworten und jetzt für eine ungewisse Zukunft vorbereitet sein“.9 Der QDR warnt vor neuen gleichrangigen Rivalen auf der Weltbühne und der Verbreitung von neuen revolutionären Waffen und Militärstrategien, an denen die USA allerdings selbst arbeiten oder deren Einführung bereits von den USA angekündigt wird.

Nach den Aussagen vieler Militärexperten werden die Entwicklungen in zentralen Hochtechnologiebereichen – insbesondere bei den Informations- und Kommunikationstechnologien, den Sensortechnologien, der Datenverarbeitung und bei neuen Waffenprinzipien – zu einer »Revolution im Militärbereich« (RMA, Revolution in Military Affairs) führen. Zur Zeit werden vom Pentagon organisatorische, technologische und operative Maßnahmen geprüft und umgesetzt.

Das US-Militär soll auch in Zukunft in der Lage sein, zwei regionale Kriege gleichzeitig und unabhängig voneinander führen zu können. Nicht Abschreckung eines gleichwertigen Gegners, sondern globale militärische Überlegenheit ist offenbar das Ziel. Umgesetzt werden sollen technologisch insbesondere die Vorgaben der Studie »Joint Vision 2010«. Die Joint Chiefs of Staff veröffentlichten 1996 ein Konzept, das angibt, wie die US-Streitkräfte unter den technologischen und politischen Bedingungen des 21. Jahrhunderts zu kämpfen haben.10 Die Kriegführung des Jahres 2010 stützt sich auf die verbesserten Kommando- und Führungsmöglichkeiten des Informationszeitalters. Die Gegner der Zukunft sollen auf allen Ebenen des militärischen Spektrums „dominiert werden“: „Die Dominanz des Spektrums wird das Schlüsselelement sein, das wir für unsere Streitkräfte im 21. Jahrhundert suchen.“11 Weiter wird als Ziel formuliert: „Wir müssen Informationsüberlegenheit haben: die Fähigkeit einen ununterbrochenen Strom von Daten zu sammeln, zu verarbeiten und zu verteilen, während wir die Fähigkeit des Gegners, dies zu tun, ausnutzen oder unterbinden.“ Die Basis dafür bilden:

  • Ein verbessertes C2-Netz, das die Informationsdominanz gewährleistet.
  • Dominante »Manöverfähigkeit« für weit verteilte Verbundkräfte zu Lande, zu Wasser, in der Luft und im Weltraum.
  • Präzisionseinsätze mittels eines »Systems der Systeme«, das eine dynamische Zielerfassung, den Einsatz zielgenauer Waffen und die Schadensbewertung ermöglicht.
  • Die volle Kontrolle und der Schutz des Gefechtsfeldes inkl. einer wirksamen Luft- und Raketenabwehr.
  • Das Zusammenführen der Informations-, Logistik- und Transporttechnologien, um eine schnelle Krisenreaktion zu gewährleisten.

Anfang des Jahres erklärte Präsident Clinton, dass ab dem Haushaltsjahr 2000 die Militärausgaben wieder steigen werden: „Wir wollen, dass unsere Streitkräfte bis ins nächste Jahrhundert die bestausgerüsteten der Welt bleiben.“ Ab dem nächsten Jahr sollen zusätzlich 100 Mrd. $ für die Modernisierung der US-Streitkräfte aufgewendet werden. Erstmals seit der Hochrüstungsphase in den 80er Jahren steigen die Ausgaben damit wieder drastisch an.12 Gründe für diese Trendwende sind der innenpolitische Druck, der Wille zum Erhalt der Einsatzbereitschaft global agierender Interventionsstreitkräfte, die Integration von Hochtechnologien in den Militärapparat (»Revolution in Military Affairs«) und die ehrgeizigen Strategieziele der USA für das 21. Jahrhundert.

Als Beispiel des künftigen amerikanischen Verhaltens könnten die Militärschläge der USA im Mittleren Osten dienen: Nach 1991, 1993 und 1996 flogen die USA Luftangriffe gegen Ziele im Irak. Mitte Dezember 1998 wurden bei der Operation »Wüstenfuchs« in vier Nächten über 400 Tomahawks auf ca. 100 Ziele abfeuert. Zweck war laut Clinton „die nuklearen, chemischen und biologischen Waffenprogramme des Irak und seine militärische Fähigkeit zur Bedrohung seiner Nachbarn anzugreifen.“ Die Angriffe, die mit dem Counterproliferationskonzept der Clinton-Administration durchgeführt wurden, erfolgten ohne UN-Mandat und in einer Situation, in der die UNSCOM-Inspektion nicht mehr entscheidend weiterkam. Ca. 1 Mrd. $ wurden aufgewendet, 600 bis 1.600 Menschen getötet, ohne dass ein nennenswerter politischer Effekt zu verzeichnen wäre. Im Gegenteil: Diese einseitige Aktion nährt die weltweite Befürchtung, dass die USA in Zukunft unilateral auf der Grundlage ihrer militärischen und technologischen Überlegenheit agieren könnten.

Die Strategie globaler militärischer Überlegenheit führt nach Auffassung einiger Beobachter dazu, dass Gegner, die militärisch nicht mehr mit den USA konkurrieren können, sich auf andere Kampfformen verlegen. So rechnet man damit, dass Terroristen B- und C-Waffen einsetzen werden. In den nächsten Jahren sollen ca. 10 Mrd. $ zur Bekämpfung des Terrorismus ausgegeben werden. Das Programm umfasst organisatorische und technologische Maßnahmen sowie den Schutz von Computer- und Informationsnetzwerken.7

Eine wesentliche Triebkraft der US-Projekte ist die Befürchtung, dass Länder, die sich ebenfalls auf Dual-use-Technologien stützen, die USA gefährden könnten. Ziel bleibt die technologische Führerschaft der USA auf wichtigen Gebieten. Neben der Forcierung der Dual-use-Technologien werden fünf Schlüsselfelder der künftigen Kriegführung identifiziert, die Ziel und Motor militärischer und technologischer Anstrengungen sind:

  1. Eine nahezu perfekte Echtzeitkenntnis über den Gegner und deren Weitergabe an alle Teilstreitkräfte.
  2. Der unverzügliche, global abgestimmte Einsatz regionaler Streitkräfte in entscheidenden Kampfhandlungen.
  3. Der Erwerb einer Vielfalt militärischer Fähigkeiten, die für Aktionen am unteren Ende des Spektrums militärischer Operationen taugen und es erlauben, militärische Ziele mit einem Minimum von Verlusten und beiderseitigen Schäden zu erreichen.
  4. Die Kontrolle über die Weltraumnutzung.

5. Maßnahmen gegen die Bedrohung außerhalb der USA stationierter Truppen durch Massenvernichtungswaffen, ballistische Raketen und Marschflugkörper.

Counterproliferation

Vom Pentagon wird zur Begründung der Counterproliferations-Initiative CPI auf das gestiegene Risiko hingewiesen und darauf, dass es US-Truppen in künftigen Konflikten mit Gegnern zu tun haben könnten, die über Massenvernichtungswaffen (MVW) und Trägersysteme verfügen. Die CP-Initiative stellt eine militärische Ergänzung der bisherigen Nichtverbreitungspolitik dar. Die CPI ergänzt Maßnahmen der Prävention durch offensive und defensive »Schutzmaßnahmen«, die in der Verantwortung des Pentagon liegen.

Seit 1993 wurde eine Reihe von Maßnahmen zur institutionellen Absicherung der CPI eingeleitet. Diverse Studien (u.a. von den JCS) wurden angefertigt. Die Verdreifachung des Personals des Non-Proliferation Center (NPC) der US-Geheimdienste wurde beschlossen, um mit Mitteln der militärischen Aufklärung nicht nur Daten über die Proliferation von MVW bereitzustellen, sondern auch die Vorbereitungen militärischer Gegenmaßnahmen zu unterstützen. Ein Komitee identifizierte acht funktionelle Gebiete für die Counter-Proliferation: Nachrichtendienstliche Ermittlungen, Gefechtsfeldaufklärung, passive Verteidigung, aktive Verteidigung, Counterforce-Fähigkeiten, Unterstützung von Inspektionen, Unterstützung der Exportkontrolle und Counter-Terrorismus. Das Komitee schlug Technologieprogramme vor, die für die amerikanischen Nichtverbreitungsbemühungen genutzt werden sollen. Fast 90% der F&E-Gelder fließen dabei in den Bereich der Raketenabwehr.

Die Abwehr
von ballistischen Raketen

Präsident Clinton kündigte Anfang Januar nicht nur eine drastische Erhöhung des US-Rüstungsetats an. Die USA wollen auch etwa 7 Mrd. Dollar (über 11,6 Mrd. DM) zusätzlich zu der mobilen Raketenabwehr (Theater Missile Defense, TMD) in die Entwicklung eines landesweiten Raketenabwehrsystems (National Missile Defense, NMD) im Rahmen des »3Programms« verteilt auf die nächsten 6 Jahre investieren. Bis 2005 sollen damit insgesamt 10,5 Mrd. Dollar für den SDI-Nachfolger NMD ausgegeben werden. Zweck dieses Systems ist die Abwehr von begrenzten oder unautorisierten Angriffen von Raketen aus den Kernwaffenstaaten sowie die Kompensation der angeblich steigenden Bedrohung aus den »Schurkenstaaten«. Eine Stationierungsentscheidung soll im Juni 2000 getroffen werden.

Seit Ronald Reagans SDI-Initiative haben die USA ca. 55 Mrd. Dollar für diverse Raketenabwehrprojekte ausgegeben, bisher ohne sichtbaren Erfolg. 3-4 Mrd. Dollar werden pro Jahr für diese Projekte veranschlagt, ein Drittel für NMD und zwei Drittel für TMD. Bis zum Jahr 2005 sollen die Jahresausgaben für NMD verdreifacht werden. Wenn die in der Entwicklung befindlichen Systeme gebaut werden sollten, dürften die Kosten weiter ansteigen. Für NMD und TMD dürften die USA in den nächsten fünf Jahren an die 30 Mrd. Dollar ausgeben.

Die Clinton-Administration hatte seit 1996 zunächst die Entwicklung der Abwehr von Kurz- und Mittelstreckenraketen, TMD, vehement gefördert als ihre Vorgänger unter Reagan und Bush, die die Verteidigung des Kontinents ins Zentrum ihrer Politik stellten. Die heutigen Entwicklungsprogramme für diese mobile »Theater Missile Defense« umfassen sowohl die Verbesserung von vorhandenen Systemen als auch die Neuentwicklung von Flächenverteidigungssystemen der Armee und der Navy. Fünf Systeme befinden sich bereits in der Entwicklung. Neben der Verbesserung von radargelenkten Abwehrsystemen, die in niederer Höhe agieren und aus der Luftverteidigung (PATRIOT, MEADS) stammen, befindet sich auch eine Flächenverteidigung in der Entwicklung. Die Systeme THAAD der Army und »Upper Tier« der Navy sollen Raketen in der Mittelphase ihres Fluges durch direkte Treffer abfangen, was ein höchst kompliziertes Unterfangen ist. Mit finanzieller und technischer Unterstützung der USA arbeitet Israel seit 1988 an der ARROW.

Die Clinton-Administration hat bezüglich NMD erklärt, dass die Abfangraketen auf US-Territorium auf 100 Exemplare beschränkt werden, so wie dies der ABM-Vertrag u.a. vorschreibt. Diese Systeme werden eingebunden in ein »Space and Missile Tracking System« SMTS, das aus vorhandenen und noch zu stationierenden Frühwarnsatelliten besteht. Seit 1970 melden die DSP-Satelliten Raketenstarts aus einer geostationären Umlaufbahn. Im Rahmen des neuen »Space-Based Infrared System« SBIRS sollen bis zu 30 Satelliten diese Aufgaben übernehmen. Vier SBIRS-High-Satelliten sollen DSP ersetzen. Ca. 16-24 SBIRS-Low-Satelliten sollen die Verfolgung aus niedrigeren Umlaufbahnen übernehmen. Bodenradars vervollständigen das Warn- und Verfolgungssystem. Die diversen geplanten Systeme sind kombinierbar, sodass durch ihr Zusammenschalten eine umfangreiche globale Abwehrkapazität aufgebaut werden kann. Mit der Errichtung eines funktionierenden NMD-Systems sind die Tage des ABM-Vertrages gezählt. Möglicherweise erfolgt noch eine Nachbesserung, die die Sicherheitsbelange Russlands mit einbezieht; die Weichen für das Ende der klassischen Abschreckung sind jedoch gestellt, wenn massive Abwehrkapazitäten eingeführt werden

Kriegführung
aus dem Weltraum

Regionale und insbesondere globale militärische Operationen können nur im Zusammenhang mit weltraumgestützten Aufklärungs- und Frühwarnsystemen durchgeführt werden. In der »National Security Strategy« von 1997 wird US-Präsident Clinton zitiert: „Wir sind verpflichtet, unsere Führerschaft im Weltraum zu erhalten. Ungestörter Zugang zum und Nutzung des Weltraums ist wesentlich, um Frieden zu erhalten und die nationale Sicherheit der USA ebenso zu schützen wie die zivilen und kommerziellen Interessen.“14 Die Möglichkeiten, moderne Satelliten zur Unterstützung militärischer Operationen einzusetzen, sind von den USA vor allem während des 2. Golfkriegs 1991 demonstriert worden. Er gilt als der erste »Weltraumkrieg«. Die Weiterentwicklung der US-Weltraumsysteme wird seitdem weiter energisch vorangetrieben. Fortschritte bei dem Navigationssystem GPS, der Satellitenkommunikation, den Aufklärungssatelliten und den Anti-Satellitenwaffen sind nötig, wenn die Super- und Weltraummacht das Ziel ihrer »Full-Spectrum«-Dominanz im nächsten Jahrhundert erreichen möchte.15

Kriegführung in Städten
(Urban Warfare)

Nach Militärmeinung werden militärische Bodenoperationen in urbanen Siedlungen und Städten in Zukunft wahrscheinlicher werden: „Das neue Terrain der Megastädte, das ungewohnt für moderne Streitkräfte ist, ist nicht das offene Gelände, auf dem die konventionelle Überlegenheit begründet ist.“16 Das Pentagon hat die Industrie aufgefordert, für »Urban Warfare« geeignete High Tech-Ausrüstung zu entwickeln, u.a. Anti-Scharfschützensysteme, Freund/Feind-Erkennung, Sensoren um Gegner in geschlossenen Räumen und hinter Mauern zu erkennen, Roboter, die in unübersichtliches Gelände und in Häuser vordringen können, nichttödliche Granaten etc.

Kriegführung in küstennahen Bereichen (Littoral Warfare)

Unter »Littoral Warfare« wird die Seekriegsführung in Küstenregionen verstanden: „Die globale Bedrohung hat sich mit dem Ende des Kalten Krieges auf regionale Konflikte und Krisenherde verschoben, die sich überwiegend an den Küsten der Weltmeere abspielen und auf die von See aus eingewirkt werden kann.“17 In Küstennähe finden sich wichtige Wirtschaftszonen, Erdöl- und Erdgasinfrastruktur und Verkehrsadern. Die US-Marine richtet sich darauf technologisch und militärisch eigenständig ein, indem sie dort Präzisionswaffen, Aufklärung, Luftabwehr und den koordinierten Streitkräfteeinsatz vorantreibt. Sie setzt das Konzept der »information superiority« um, in dem alle Sensoren, Führungssysteme und Waffensysteme aller Teilstreitkräfte in einem steuerbaren Einsatzverbund (Network-Centric-Warfare) zusammengefasst werden. Der Verband verfügt über drei Netz-Systeme:18 Das »Informationsnetz« sammelt, verarbeitet und verteilt die Daten, die die Sensoren des »Sensor-Netzes« (land-, luft-, see- und weltraumgestützte Plattformen) aufnehmen. Das »Engagement-Netz« soll zum synchronisierten und präzisen Waffeneinsatz befähigen.

Information Warfare

In vielen militärischen Bereichen werden in den Industrienationen große Fortschritte erwartet; die eigentliche Revolution dürfte aber durch die Integration der einzelnen Systemkomponenten (»systems of systems«) den USA vorbehalten bleiben. Dort wird das angestrebte globale Führungssystem bereits mit C4ISR (Command, Control, Communication, Computers, Intelligence, Surveillance and Reconnaissance) bezeichnet. Nach Aussagen vieler Studien wird die Nutzung dieser Kapazitäten zu einer neuen Art der Kriegführung (»Information Warfare«) und einer Veränderung des Kriegsbildes führen. Computer, Datenverarbeitung und Expertensysteme sind auf dem »Schlachtfeld der Zukunft« überall vorhanden, um die horrenden Mengen von Nachrichten in Form von Daten, Bildern etc. von verschiedensten Sensoren (Satelliten, Flugzeuge, unbemannte Flugkörper) auszuwerten und weiterzuleiten. Von einem Luftwaffenlabor wird beispielsweise ein »Virtual Reality Command and Control (C2) System« entwickelt, das in Minuten eine konkrete Bedrohung analysiert und die Truppen und Flugzeuge für einen Gegenschlag zusammenstellt. Das Zusammenführen und Koppeln solcher Teilsysteme schafft ein globales Aufklärungs- und Reaktionssystem (»System of Systems«), bei dem jedes beliebige Ziel global umgehend aufgeklärt und bekämpft werden soll. Eigene Verluste sollen dabei ebenso minimiert werden wie der Personal- und Materialeinsatz. Dieses Konzept führt weg von teuren, ständig bereitgehaltenen Massenheeren und hin zu einer schlagkräftigen und überlegenen High-Tech-Armee, die sich moderner Informationstechnologien ebenso bedient wie des Weltraums. Die Konsequenzen der Einführung vieler dieser Hochtechnologien für Führung, Streitkräftestrukturen, zivile Infrastrukturen und nicht zuletzt für die internationale Rüstungskontrolle sind jedoch unklar.

Beim »Digital Battlefield Concept« der US-Armee geht es darum, computergestützt eine unmittelbare Verbindung von Aufklärung und kämpfenden Einheiten herzustellen, um so den Einsatzbereich und die Wirkung konventioneller Waffen zu erhöhen. Ein Kommandeur auf dem »Schlachtfeld der Zukunft« soll vollständige Kenntnisse über sämtliche Abläufe in einem Umkreis von 100 km erhalten. Soldaten sollen in das digitalisierte Netzwerk einbezogen werden (»Soldier Systems«). Ein US-Großverband (Force XXI) ist bereits mit Technologien dieser Art ausgerüstet und hält Übungen in der Mojave-Wüste ab.

»Information Warfare« umfasst mindestens sieben Varianten. Elemente des »Command and Control (C2)-Warfare« wurden während des Golfkrieges 1991 angewandt, als es den USA gelang, das C2-Netz der irakischen Armee auszuschalten. Unter »Information-Based Warfare« wird der Bereich der Spionage und Aufklärung ebenso verstanden wie die digitale Vermessung des Terrains eines Gegners durch Satelliten. Der elektronische Kampf (»Electronic Warfare«) ist den direkten Kriegshandlungen zuzurechnen: Sender werden gestört, Sendeanlagen bombardiert. Die »psychologische Kriegführung« versucht die Moral der Bevölkerung zu schwächen. In den Zeiten des Fernsehens und des Internets liegt es nahe, dass diese publikumswirksamen Medien in Zukunft stärker zu Zwecken der psychologischen Einwirkung benutzt werden.19 Über das Eindringen in Computernetze durch Hacker und das Einschleusen von Viren oder »trojanischen Pferden« wird immer wieder berichtet. Geheimdienste machen sich diese Fähigkeiten in gleicher Weise zu nutze –sei es, dass sie sich des Wissens der Hacker bedienen, sei es, dass sie eigene Hacking-Aktionen starten. Die futuristische Variante wird als »Netwar« bzw. »Cyberwar« bezeichnet. Während der Netwar gegen die IT-Strukturen der Zivilgesellschaft (z.B. auch NGOs) gerichtet ist, bezieht sich der Cyberwar auf die IT-Aktivitäten des Gegners. Es wird nicht ausgeschlossen, dass ein Netwar die Wirkung eines Nuklearkrieges erzielen könnte. In diesem Zusammenhang hat die Diskussion um die Frage, wie die Informations-Kriegführung der Zukunft aussehen könnte, weitreichende Bedeutung für Gesellschaften, deren Funktionieren auf der Basis von Informationsinfrastrukturen fußt.

Die Befürchtung, dass neben Hackern, Kriminellen und Geheimdiensten auch Terroristen aktiv werden könnten, zeigt sich in der zunehmenden Aufmerksamkeit, die in den USA dem Thema »cyberterrorism« gewidmet wird. Die USA verfügen allerdings selbst über die Mittel und das Wissen, um in fremde Netze einzudringen: So gelang es amerikanischen Agenten in das interne Computernetz der EU einzudringen und ökonomische und politische Geheimdaten zu kopieren. Im August 1994 wurde der französische Premierminister Balladur Opfer eines Lauschangriffes des US-Lauschsystems Echelon.20 Dem deutschen Windenergieanlagenproduzent Enecon wurden durch eine Abhöraktion der USA die Daten eines Alternativstromverfahrens entwendet.21 Zweck des Abhörsystems der National Security Agency sind nicht nur Informationen im Bereich Terrorismus, Rauschgift und Proliferation, sondern auch zunehmend Wirtschaftsdaten.

Technologien
des 21. Jahrhunderts

Der Beginn des 21. Jahrhunderts ist wenige hundert Tage entfernt, sodass es fast müßig ist, über die Waffensysteme des nächsten Millenniums zu spekulieren: Sie sind in der Planung. Hält der technologische Fortschritt weiter an, so werden aber auch in den nächsten 20 bis 50 Jahren weitere rüstungsrelevante Technologien entstehen und für militärische Zwecke verwendet.

Nukleare, biologische
und chemische Waffen

Die Potentiale in klassischen Bereichen wie Nuklear- und Hochenergiephysik sind nicht ausgeschöpft. Der Kernteststoppvertrag verbietet zwar die Durchführung von Nukleartestexplosionen, eine Reihe von Experimenten in denen Mikroexplosionen und subkritische Reaktionen eine Rolle spielen sind jedoch erlaubt. Thermonukleare Tests im Laborformat im Rahmen der Trägheitseinschussfusion (ICF) sind in zwölf Ländern geplant. Die leistungsstärksten Anlagen entstehen in den USA (NIF) und in Frankreich (LMJ). Nach Angaben von Kritikern, die diese Anlagen als Substitute für unterirdische Nukleartests ansehen, könnten diese Entwicklungen zu verbesserten, wenn nicht sogar völlig neuen Nuklearwaffen führen.22 Nuklearwaffen der 4. Generation wie miniaturisierte Kernsprengsätze zwischen einer und tausend Tonnen Sprengkraft sind prinzipiell möglich. Sie könnten in Zukunft den Nimbus einer Massenvernichtungswaffe verlieren. Die Einführung von Miniaturbomben auf dem Gefechtsfeld könnte die Kriegführung revolutionieren weil die Feuerkraft konventioneller Waffen verhundertfacht werden würde.

Gerade im Bereich biologischer Forschung werden in den nächsten Jahren sicherheitsrelevante Durchbrüche erwartet. Das Gebiet der Gentechnologie wird nach Expertenmeinung Entwicklungen hervorbringen, die die horizontale und vertikale Weiterverbreitung von neuen B-Waffen vorantreiben. Pathogene und Toxine könnten durch gentechnische Verfahren leichter zu entwickeln oder einzusetzen sein als die bekannten Agenzien.23 Biotechnologische Forschung kann Wirkungsweisen und Funktionen des menschlichen Körpers auf dem Molekularmaßstab soweit identifizieren, dass Angriffsstellen durch spezifische Agenzien offenbart werden. Die Sunday Times vom 15. November 1998 meldete, dass israelische Wissenschaftler eine »ethnische Waffe« entwickelt hätten. Den Wissenschaftlern soll es gelungen sein, Differenzen zwischen den Genen beider Gruppen zu identifizieren und ein genetisch entsprechend modifiziertes Bakterium oder Virus anzusetzen. Eine ethnisch-selektiv wirkende Waffe würde nicht nur eine neue Herausforderung für das B-Waffenübereinkommen bilden, sondern ganz neue Szenarien von der Zerstörung bestimmter Pflanzensorten oder Tiere bis hin zur Vernichtung einzelner Volksgruppen zulassen.

Chemische Agenzien, die Menschen beruhigen oder ruhigstellen sollen, fallen in den Bereich des C-Waffenübereinkommens. Viele der Chemikalien, die sich in Entwicklung befinden, haben einen schwer einzuschätzenden Einfluss auf das menschliche Gehirn und das Nervensystem. Bei den »Weniger tödlichen Waffen« werden Sprays oder Flüssigkeiten untersucht, die Menschen festkleben lassen oder Materialien korrodieren. Auch wenn diese Substanzen zu allererst gegen Materialien eingesetzt werden sollen, sind doch direkte und indirekte Effekte auf den Menschen nicht auszuschließen. In einer Studie über »non-lethal airpower« vertritt ein Psychopharmaka-Experte die Ansicht, dass sich die Drogenforschung auf die Schwelle zu einem neuen Durchbruch zubewegt.

Konventionelle Waffenprinzipien: Laser-Mikrowellen Elektromagnetische Kanonen

Die Nutzung des elektromagnetischen Spektrums für militärische Zwecke zu Nachrichten- und Überwachungszwecken ist nicht neu.24 Die Verwendung gerichteter Energie für Zerstörungszwecke hat jedoch durch das SDI-Programm einen Aufschwung erfahren. In erster Linie werden Laser zur Unterstützung und Erhöhung der Wirkung von konventionellen Waffen auf dem Gefechtsfeld verwandt. Im Rahmen amerikanischer Strategiepläne ist – neben der Anwendung auf dem sog. konventionellen Gefechtsfeld – der Einsatz von Lasern in folgenden Bereichen geplant: nichttödliche Waffen, Counterproliferation, Raketenabwehr, Anti-Satellitenkriegführung. Experimente und Prototypen für Hochenergielaser (HEL) gibt es seit den 70er Jahren. MIRACL ist ein DF-Laser mit einer Leistung von 2,2 MW. Insbesondere die Navy hatte großes Interesse an der Nutzung von Lasern zur Verteidigung von Schiffen gegen anfliegende Anti-Schiffsraketen. Im Rahmen des »Boost Phase Intercept«-Programms betreibt die U.S. Air Force Studien und Experimente zur Abwehr von taktischen Raketen, die von einem luftgestützten Laser (Airborne Laser, ABL) in der Startphase bekämpft werden sollen. In Frankreich und Deutschland werden Experimente und Konzeptionsstudien durchgeführt. Hochenergielaser werden zwar nicht direkt zum Blenden von Menschen gebaut und fallen damit nicht unter das Laserwaffenprotokoll, sie besitzen jedoch die Fähigkeit dazu in besonderer Weise. In einer akuten Kampfsituation kann nicht ausgeschlossen werden, dass Antisensorlaser auch gegen Menschen eingesetzt werden.

Mikrowellen sind elektromagnetische Strahlen zwischen 0,3-300 GHz. Sie können die Atmosphäre durchdringen und sind damit auch bei schlechter Sicht wirksam. Mikrowellenwaffen werden u.a. entwickelt um elektronische Bauelemente außer Gefecht zu setzen. Mikrowellen können auch durch Blitzentladungen oder Nuklearexplosionen in großen Höhen (NEMP) entstehen. NEMP-Effekte werden heute auch mit konventionellen Mitteln (High Power Microwave, HPM) erzeugt. Eine HPM-Waffe besteht aus einer Energiequelle, einem HPM-Generator und einer Antenne, die die Strahlung gerichtet abgibt. Eine nicht-nukleare EMP-Granate wurde entwickelt. Bei dem »Flux Compression Generator« (FCG)-Design wird durch eine Explosion ein EMP erzeugt, der einem Gewitter-Blitz ähnelt und elektronische Ausrüstung außer Gefecht setzen soll. Es werden verschiedene militärische Anwendungen von Mikrowellen in Betracht gezogen: gegen Menschen (als »nicht-tödliche«-Waffe), gegen Artillerie, zum Selbstschutz von Flugzeugen und Schiffen gegen Flugkörper, gegen C2-Zentralen und anfliegende Raketen.

Elektromagnetische Kanonen (EMK) sind Vorrichtungen, in denen Projektile elektromagnetisch beschleunigt werden. Ihr Vorteil besteht nach Meinung der Militärs in der höheren Mündungsgeschwindigkeit, die bei herkömmlichen Rohrwaffen aufgrund der begrenzten Ausbreitungsgeschwindigkeit der Treibgase beschränkt ist. Die USA unternehmen die größten Anstrengungen bei F&E von EMKs, aber auch in Russland, Europa, Japan und Israel werden EMKs entwickelt und erprobt.

An weiteren, inhumanen neuen Waffen wird geforscht, so z.B. Waffen mit kleinem Kaliber, nichtexplodierte Submunition, Seeminen und diverse nichttödliche Waffen (z.B. Infrasound). Ein großes Problem wird in der Verwendung von Submunition gesehen, die von mehreren Ländern hergestellt und exportiert wird. Submunition in Form von Bomblets wird durch Flugzeuge, Helikopter oder Raketen ausgebracht. In den Bomblets kann ein breites Spektrum von Munition (Explosivstoffe, Brandstoffe, Schrapnellmunition oder Hohlladungen) untergebracht werden. Clustermunition wird heute in Massenproduktion hergestellt. Diese Munition hat die Wirkung von Flächenzerstörungswaffen. Ein weiteres Problem besteht darin, dass ein Teil der Munition nicht wie gewünscht funktioniert, sondern zunächst liegenbleibt bis sie z.B. bei Berührung detoniert. Die Munition kann wie eine scharfe Mine tage- oder wochenlang aktiv bleiben. Sie stellt eine ständige Gefahr für die Zivilbevölkerung dar. Es gilt als sicher, dass die russische Armee Clustermunition im Kampf um Tschetschenien eingesetzt hat. »Fuel Air Explosives« sind Flächenwaffen, bei denen ein Brennstoff-Luftgemisch zur Explosion gebracht wird. Diese Druckwellenwaffen wurden im Vietnam-Krieg, in Afghanistan und im 2. Golfkrieg eingesetzt. Sie sind besonders grausam und wirken auf Flächen, die auch von Nuklearwaffen mit geringer Sprengkraft abgedeckt werden.

Mikroelektromechanische Systeme und Miniflügler

Die fortschreitende Miniaturisierung von Waffen könnte durch Forschungen auf dem Gebiet der Mikrotechnik und der Nanotechnologie erneuten Auftrieb erhalten. Während die Mikroelektronik immer leistungsfähigere elektronische Bausteine herstellt, beschäftigt sich die Mikrotechnik mit Miniaturisierung und Integration von mechanischen, optischen und elektronischen Elementen. Die Technologie der mikroelektromechanischen Systeme (MEMS) soll am Anfang des neuen Jahrhunderts einen Markt mit einem Volumen von 15 Mrd. US-Dollar erschließen.25 Dabei entstehen Kleinstelemente wie Mikromotoren oder Mikrosensoren bzw. -aktoren, die z.B. dazu verwandt werden, kleinste Flugmodelle oder Mini-U-Boote zu entwickeln. Die kalifornische Firma Aerovironment hat das erste »Micro Air Vehicle« (MAV) gebaut.26 Die Forschungen werden von der DARPA finanziert. Die MAVs sollen als nicht wiederverwendbare Aufklärungs- und Sensordrohnen auf dem Gefechtsfeld der Zukunft zum Einsatz kommen. Es ist vorstellbar, dass diese Flugkörper auch mit Sprengstoff beladen werden können. Als Einsatzgebiete werden Aufklärung in unübersichtlichem Gelände, in Städten, bei Reaktorunfällen und Terrorismusbekämpfung genannt. Der »Entomopter« ist eine Art Robotermücke mit künstlichen Flügeln. In Japan sind Wissenschaftler damit beschäftigt, elektronisch kontrollierte Insekten zu entwickeln. Mit einer Kamera ausgestattet sollen sie angeblich bei der Suche nach Erdbebenopfern helfen.

Während die Mikrotechnologie sich noch in voller Entfaltung befindet, kündigt sich im Bereich der Grundlagenforschung bereits das neue Gebiet der Nanotechnologie an.

Darunter versteht man das Studium und die Kontrolle von Objekten im Nanobereich, also auf der Ebene von Atomen und Molekülen. Erste Ideen dazu stammen von dem Physiker Richard Feyman aus dem Jahre 1959. Ein Aspekt der neuen Nanowelt wäre es, Molekülcluster zu bauen, die selbständig Moleküle aus ihrer Umgebung aufnehmen und sich selbst fortpflanzen. Die Nano-Systeme könnten sich wie Lebewesen organisieren und z.B. zur Zerstörung von Krankheitserregern oder zur Beseitigung von Schadstoffen in der Umwelt, aber auch für neue tödliche Substanzen benutzt werden.

Nanotechnologie hat längst das Interesse des Pentagon geweckt. So wird der ehemalige Vice-Chairman der JCS, David E. Jeremiah, mit den Worten zitiert: „Die militärischen Anwendungen der molekularen Produktion haben noch stärker als die Kernwaffen das Potential, das Kräftegleichgewicht grundlegend zu verändern.“27 Das notorische Streben nach der Nutzung wissenschaftlicher Erkenntnisse für die Kriegführung wird auch im nächsten Jahrhundert anhalten.

Lems Buch schließt mit dem Satz: „Nebenbei bemerkt wurde die Unmöglichkeit, zu Abrüstungsabkommen zu gelangen, damals mathematisch nachgewiesen. Ich sah eine mathematische Formel der sogenannten Konflikttheorie, die zeigte, warum die Verhandlungen keine guten Resultate erbringen konnten. Auf Abrüstungskonferenzen fallen bestimmte Entscheidungen. Wenn die Zeit für eine dem Frieden dienende Entscheidung länger ist als die Entscheidungszeit für solche militärischen Innovationen, die den diesen Entscheidungen unterliegenden Stand radikal verändern, wird jede Entscheidung im Augenblick, da sie getroffen wird – zum Anachronismus.“
Hoffen wir, dass Lems düstere Vision im 21. Jahrhundert Science Fiction bleibt.

Dr. Götz Neuneck ist Physiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg

zum Anfang | Menschenrechte und Friedensprozesse

von Gert Sommer

Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, verabschiedet von der Vollversammlung der Vereinten Nationen am 12.12.1948, ist ein bedeutsames Dokument der Menschheitsgeschichte: Darin hat sich eine große Anzahl der damals in den Vereinten Nationen vertretenen Länder auf einen erstaunlich umfassenden Katalog von unveräußerlichen Menschenrechten geeinigt.

Was sind Menschenrechte?

Zu den Menschenrechten gehört nicht nur das grundlegende Recht auf Leben, sondern auch weitere bürgerliche und politische Rechte wie z.B. Verbot von grausamer Behandlung und Folter, Asylrecht, Meinungs- und Informationsfreiheit, Versammlungsfreiheit. Dazu gehören zudem die wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Rechte wie z.B. Recht auf Arbeit, Schutz gegen Arbeitslosigkeit, Recht auf soziale Sicherheit, Anspruch auf ausreichende Lebenshaltung (u.a. Nahrung, Wohnung), Recht auf Bildung.

Die Vereinten Nationen haben 1989 zusätzlich eine Konvention über die Rechte des Kindes verabschiedet. Darin werden – als Ergänzung und Präzisierung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte – anspruchsvolle Ziele für Lebensbedingungen von Minderjährigen gesetzt, u.a. Recht auf Leben, auf gesunde körperliche und geistige Entwicklung, auf Bildung, ausreichende Ernährung, menschenwürdige Wohnverhältnisse und medizinische Versorgung sowie Recht auf Schutz vor Diskriminierung, Misshandlung, Vernachlässigung und Ausbeutung (Grant, 1991). In der Konvention wird auch die große Bedeutung der Massenmedien angesprochen. Danach soll sichergestellt werden, dass das Kind insbesondere Zugang zu solchen Informationen und Materialien hat, die die Förderung seines sozialen, seelischen und sittlichen Wohlergehens sowie seiner körperlichen und geistigen Gesundheit zum Ziel haben. Ergänzend sollen geeignete Richtlinien erarbeitet werden zum Schutz des Kindes vor Informationen und Materialien, die sein Wohlergehen beeinträchtigen.

Mit der Konvention des Kindes werden international zum ersten Mal – für die Ratifizierungsstaaten verbindlich – politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechtsansprüche für Kinder ausformuliert. Dies ist von großer Bedeutung, weil Kinder besonders schutzbedürftig sind, ihre eigenen Interessen bisher im politischen und gesellschaftlichen Alltag aber kaum durchsetzen konnten.

Die Menschenrechte müssen – da sie eine soziale Konstruktion und somit zeitabhängig sind – gemäß dem Bewusstsein und der Bedürfnisse der Menschheit weiterentwickelt werden. Dementsprechend wird seit einigen Jahren in den Vereinten Nationen über eine sogenannte dritte Generation der Menschenrechte diskutiert. Darin geht es insbesondere um das Recht auf Frieden, das Recht auf Entwicklung und das Recht auf eine gesunde Umwelt. Zum Recht auf Entwicklung etwa hat die Vollversammlung der Vereinten Nationen 1986 eine Resolution angenommen, die folgende zentralen Aussagen enthält (vgl. Tetzlaff, 1993):

  1. Das Recht auf Entwicklung ist ein unveräußerliches Menschenrecht kraft dessen alle Menschen und Völker Anspruch darauf haben, an einer wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und politischen Entwicklung teilzuhaben, in der alle Menschenrechte und Grundfreiheiten voll verwirklicht werden können.
  2. Der Mensch ist zentrales Subjekt der Entwicklung und sollte aktiver Träger und Nutznießer des Rechts auf Entwicklung sein.
  3. Die Staaten haben die Pflicht, einzeln und gemeinschaftlich Maßnahmen zu internationalen Entwicklungspolitiken zu ergreifen, die darauf gerichtet sind, die volle Verwirklichung des Rechts auf Entwicklung zu erleichtern.

Die verschiedenen Menschenrechtsarten haben hinsichtlich ihrer politischen Forderungen unterschiedliche Richtungen: Die bürgerlichen und politischen Rechte sind in erster Linie Schutzrechte des Individuums gegenüber der Staatsmacht sowie Teilhaberechte der Bürger an der politischen Willensbildung; die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte sind primär Forderungen an den Staat zur Sicherung einer menschenwürdigen materiellen Existenz sowie des Rechts auf Bildung und Kultur; die Menschenrechte der dritten Generation schließlich sind Forderungen einzelner Staaten an andere Staaten bzw. die Staatengemeinschaft.

Die zunächst unverbindliche Allgemeine Erklärung der Menschenrechte bekam eine größere völkerrechtliche Verbindlichkeit durch die zwei Menschenrechtspakte des Jahres 1966, die inhaltlich weitgehend mit der Allgemeinen Erklärung übereinstimmen (Pakt über bürgerliche und politische Rechte sowie Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte).

Insbesondere im Zusammenhang mit diesen Zwillingspakten von 1966, die bisher von etwa 110 Staaten unterschrieben und ratifiziert wurden, hat sich das Verständnis des Völkerrechts entscheidend verändert: Wenn ein Staat Menschenrechte verletzt oder in seinen Grenzen die Verletzung von Menschenrechten zulässt, dann können andere Staaten es als legitim ansehen, sich in dessen innere Angelegenheiten einzumischen. Menschenrechte und ihre Verletzungen werden also nicht mehr ausschließlich als innerstaatliche Angelegenheiten angesehen. Somit ist das Ziel der Vereinten Nationen nicht nur die Wahrung des internationalen Friedens, sondern auch die Verwirklichung friedlicher innerstaatlicher Lebensbedingungen.

Politische und ideologische Bedeutung von Menschenrechten

Die von den Vereinten Nationen verabschiedeten Menschenrechte sind inhaltlich so umfangreich, dass ihre Verwirklichung wohl nie erreicht werden wird, sondern immer nur angestrebt werden kann. Entsprechend formuliert die Präambel der Allgemeinen Erklärung die Menschenrechte als „… das von allen Völkern und Nationen zu erreichende gemeinsame Ideal.“ Alle Staaten verletzen Menschenrechte. Dies gilt auch für westliche Staaten, z.B. Deutschland, Frankreich und die USA, die in ihrem Selbstverständnis – von den Regierenden bis zur Bevölkerung – meist von der Realisierung der Menschenrechte in ihren Ländern ausgehen. Menschenrechtsverletzungen westlicher Staaten betreffen insbesondere die folgenden Rechte: Verbot der Diskriminierung (z.B. gegenüber Menschen anderer Hautfarbe, aber auch gegenüber Frauen), Asylrecht, Schutz vor Arbeitslosigkeit (z.B. gibt es derzeit allein in Deutschland, einem der reichsten Länder der Erde, ca. 6 Millionen Arbeitslose), Recht auf soziale Sicherheit (in den USA z.B. leiden ca. 20 Millionen Menschen unter Hunger); Selbstbestimmungsrecht aller Völker, deren freie Verfügung über ihre natürlichen Reichtümer (verletzt wurde dieses Recht durch direkte militärische Interventionen und »verdeckte« Operationen im Sinne der »Kriegsführung niedriger Intensität«, z.B. durch die USA u.a. in Chile, Grenada und Nicaragua, vgl. Hippler, 1987, Kempf, 1991). Hinzu kommt eine Vielzahl indirekter Verletzungen von Menschenrechten durch westliche Staaten, z.B. durch die politische und organisatorische Unterstützung von Regierungen und Gruppierungen, die bürgerliche und/oder wirtschaftliche Menschenrechte systematisch verletzen; durch Export von Rüstungsgütern oder anderen relevanten Materialien, die in Kriegen oder zur Unterdrückung der innerstaatlichen Opposition eingesetzt werden; durch die immensen Militärausgaben mit ihren weltweit negativen Folgen für die Verwirklichung wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Menschenrechte; durch strukturelle Verletzungen von (wirtschaftlichen) Menschenrechten aufgrund des derzeitigen Weltwirtschaftssystems: Die Auflagen des stark von den Interessen der führenden Industrienationen beeinflussten Internationalen Währungsfonds z.B. führen in aller Regel zu einer erheblichen Verschlechterung der sozialen Lage der Bevölkerung in den Ländern der sog. Dritten Welt; durch Bedrohung der menschlichen Lebensgrundlagen aufgrund der Gefährdung des ökologischen Systems der Erde, u.a. aufgrund des Lebensstils in westlichen Staaten: So verbrauchen z.B. die Industriestaaten – etwa 25% der Weltbevölkerung – über 80% der Energie.

Da – aufgrund des hohen Standards der Menschenrechte insgesamt – alle Staaten der Erde permanent Menschenrechte verletzen bzw. nicht erfüllen, ist somit die Kritik einzelner Staaten an anderen Staaten bezüglich Menschenrechtsverletzungen immer auch ein bewusster politischer Akt, häufig auch ein politisches Kampfmittel. Das Thema Menschenrechte erhält dadurch eine starke ideologische Färbung, es wird politisch instrumentalisiert. Eine zentrale Frage ist: Wer (welche Politiker und Regierungen) kritisiert wen bezüglich welcher Menschenrechtsverletzungen und welche expliziten und impliziten Ziele verfolgt er hiermit? Und dazu ergänzend: Wer kritisiert wen nicht bei Menschenrechtsverletzungen und warum unterlässt er dies?

Die ideologische Funktion des Umgangs mit Menschenrechten war besonders ausgeprägt im Ost-West-Konflikt, bei dem ein wesentlicher Inhalt der Feindbildproduktion darin bestand, dass der Westen dem Osten immer wieder und pauschal Menschenrechtsverletzungen bzw. Verletzung der bürgerlich-politischen Menschenrechte vorwarf (vgl. Sommer, 1992); der Osten seinerseits hielt entsprechend dem Westen Verletzungen der wirtschaftlichen Menschenrechte vor, beide Seiten haben somit auf ihre jeweilige Art die Menschenrechte »halbiert« und damit entwürdigt. Ein Beispiel des Westens möge dies illustrieren. Die Drangsalierungen von BürgerrechtlerInnen durch die sowjetische Staatsmacht wurden als Menschenrechtsverletzungen im Westen breit und intensiv thematisiert. Nicht annähernd so intensiv werden andere Menschenrechtsverletzungen behandelt, z.B. der tägliche Hungertod tausender Kinder in Afrika oder die systematische Ermordung von Straßenkindern in Brasilien oder Folterungen bei Polizeiverhören und die Unterdrückung der kurdischen Kultur in der Türkei oder die hohe Arbeitslosigkeit in den führenden westlichen Industriestaaten.

Menschenrechtsverletzungen werden bevorzugt anderen Staaten vorgehalten, insbesondere solchen, die einem anderen politischen, wirtschaftlichen, militärischen oder religiösen System angehören. Die Kritik an bestimmten Staaten und die damit begründeten Konsequenzen scheinen somit häufig eher von politischer Opportunität als von berechtigter Sorge um das Wohl der Bevölkerung geleitet. Durch das Betonen genehmer und das Leugnen oder Herabsetzen nicht genehmer Menschenrechte wird impliziert und suggeriert, der eigene Staat bzw. die eigene Staatenorganisation sei der wahre Hüter »der« Menschenrechte, es wird damit zur persönlichen und staatlichen Selbstwerterhöhung und zur Stabilisierung des eigenen gesellschaftlichen Systems beigetragen.

Menschenrechte und Frieden

Die Menschenrechte können als inhaltliche Ausgestaltung eines positiven Friedensbegriffs dienen.

Ein positives Friedenskonzept inhaltlich zu entfalten ist von großer Bedeutung, da der negative Friedensbegriff Frieden lediglich als Abwesenheit von Krieg definiert. So notwendig es auch ist Kriege zu vermeiden, so ist ihre Abwesenheit allein sicherlich keine hinreichende Bedingung für ein friedliches Leben. Die Menschenrechte dagegen bieten eine hervorragende Basis, Frieden positiv zu konzipieren, da sie zentrale politische, kulturelle, wirtschaftliche und soziale Inhalte benennen. Zudem genießen sie – zumindest auf dem Papier, in Verträgen und in politischen Verlautbarungen – mehrheitlichen Konsens der in den Vereinten Nationen vertretenen Länder (vgl. Kühnhardt, 1991). Eine wichtige Aufgabe der Vereinten Nationen besteht darin, die Menschenrechte entsprechend den Erkenntnissen und dem Bewusstsein der Menschheit weiter zu entwickeln und die bisher bereits benannten Menschenrechte in ihrer Dialektik und in ihrem wechselseitigen Bedingungsgefüge zu erkennen. Eine wichtige Voraussetzung für die Wirksamkeit der Menschenrechte besteht darin, dass die Menschen sie kennen und dass die Bevölkerung in jedem Land ihre möglichst weitgehende Realisierung anstrebt.

Die Verwirklichung der Menschenrechte sollte als zentrales Ziel jeglicher Politik angesehen werden.

Da die Vereinten Nationen als Gesamtorganisation den Menschenrechten eine große Bedeutung beimessen, haben sie eine Reihe von Sonderorganisationen eingesetzt, die sich mit der Verwirklichung einzelner Menschenrechte befassen: Internationale Arbeitsorganisation (ILO), Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation (FAO), Organisation für Erziehung, Wissenschaft und Kultur (UNESCO) und Weltgesundheitsorganisation (WHO). Als wichtiger Gegenstand der Friedenswissenschaften muss die Analyse der Verwirklichung von Menschenrechten und der Menschenrechtsverletzungen in einzelnen Ländern und Staatengruppen angesehen werden. Zusätzlich sind die politischen, kulturellen, gesellschaftlichen und individuellen Bedingungen zu analysieren, die eine Realisierung von Menschenrechten fördern oder behindern. Ergänzend dazu sind die Bedingungen zu analysieren, die Menschenrechtsverletzungen verhindern oder wahrscheinlich machen.

Aufgrund vieler Untersuchungen der Friedenswissenschaften können einige Bildungsziele benannt werden, die auf der individuellen Ebene ein friedliches Zusammenleben und eine Realisierung von Menschenrechten wahrscheinlicher machen. Dazu gehören insbesondere: Empathie, d.h. das Sich-Hineinversetzen in den Mitmenschen; gewaltfreie Austragung von Konflikten; Übernahme von Verantwortung; Zivilcourage; Abbau von Vorurteilen und Feindbildern.

Die politische Instrumentalisierung von Menschenrechten sollte beendet werden.

Verletzungen bestimmter Menschenrechte durch einzelne Länder werden von anderen Staaten nicht nur immer häufiger zum Anlass für Kritik an den Verletzerstaaten genommen, sondern auch für Zwangsmaßnahmen bis hin zum Krieg (auch beim zweiten Golfkrieg spielte das Thema Menschenrechtsverletzungen in der politischen Argumentation eine große Rolle). Menschenrechtsverletzungen werden somit auch zur Rechtfertigung für militärische Interventionen genutzt, nicht selten auch missbraucht. Auch die Kritik an Staaten, die bestimmte Menschenrechte verletzen, ist häufig primär von politischer Opportunität geleitet und weniger von berechtigter Sorge um das Wohl von Menschen. Somit bleiben Analysen der politischen Instrumentalisierung von Menschenrechten (vgl. Ostermann & Nicklas, 1979) ein wichtiges Thema.

Literatur:

Beck-Texte (1992): Menschenrechte, München, Beck.

Grant, James, P. (Hrsg.)(1991): Zur Situation der Kinder in der Welt, Köln, Deutsches Komitee für UNICEF.

Hippler, Jochen (1987): Low-Intensity Warfare – Konzeption und Probleme einer US-Strategie für die Dritte Welt, Essen, Arbeitspapier des Instituts für Internationale Politik.

Kempf, Wilhelm (1991): Verdeckte Gewalt – Psychosoziale Folgen der Kriegsführung niedriger Intensität in Zentralamerika, Hamburg, Argument-Verlag.

Kühnhardt, Ludger (1991): Die Universität der Menschenrechte, Bonn, Bundeszentrale für politische Bildung.

Sommer, Gert & Zinn, Jörg (1993): Halbierte Menschenrechte – Wissen, Einstellungen und Darstellungen des Themas »Menschenrechte« in Deutschland, Wissenschaft und Frieden 3/93, 32-54.

Sommer, Gert, Becker, Johannes, Rehbein, Klaus & Zimmermann, Rüdiger (Hrsg.) (1992): Feindbilder im Dienste der Aufrüstung, Marburg, Arbeitskreis Marburger Wissenschaftler für Friedens- und Abrüstungsforschung, 3. Auflage.

Tetzlaff, Rainer (Hrsg.) (1993): Menschenrechte und Entwicklung, Bonn, Stiftung Entwicklung und Frieden.

Dr. Gert Sommer ist Professor für Klinische Psychologie und Gemeindepsychologie an der Philipps-Universität Marburg, Gründungsmitglied und langjähriger Vorsitzender der Friedensinitiative Psychologie – Psychosoziale Berufe

Allgemeine Erklärung der Menschenrechte
(Kurze Zusammenfassung)

Bürgerliche und politische Rechte

  1. Menschen sind frei und gleich geboren;
  2. universeller Anspruch auf Menschenrechte, Verbot der Diskriminierung nach Rasse, Geschlecht, Religion, politischer Überzeugung usw.;
  3. Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit;
  4. Verbot von Sklaverei;
  5. Verbot von Folter und grausamer Behandlung;
  6. Anerkennung des Einzelnen als Rechtsperson;
  7. Gleichheit vor dem Gesetz;
  8. Anspruch auf Rechtsschutz;
  9. Schutz vor willkürlicher Verhaftung und Ausweisung;
  10. Anspruch auf unparteiisches Gerichtsverfahren;
  11. Unschuldsvermutung bis zu rechtskräftiger Verurteilung, Verbot der Rückwirkung von Strafgesetzen;
  12. Schutz der Freiheitssphäre (Privatleben, Post) des Einzelnen;
  13. Freizügigkeit und Auswanderungsfreiheit;
  14. Asylrecht;
  15. Recht auf Staatsangehörigkeit;
  16. Freiheit der Eheschließung, Schutz der Familie;
  17. Recht auf individuelles oder gemeinschaftliches Eigentum;
  18. Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit;
  19. Meinungs- und Informationsfreiheit;
  20. Versammlungs- und Vereinsfreiheit;
  21. Allgemeines gleiches Wahlrecht.

Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte

  1. Recht auf soziale Sicherheit, Anspruch auf wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte;
  2. Recht auf Arbeit, freie Berufswahl, befriedigende Arbeitsbedingungen; Schutz vor Arbeitslosigkeit; Recht auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit, angemessene Entlohnung, Berufsvereinigungen;
  3. Anspruch auf Erholung, Freizeit und Urlaub;
  4. Anspruch auf ausreichende Lebenshaltung, Gesundheit und Wohlbefinden, einschließlich Nahrung, Wohnung, ärztlicher Betreuung und sozialer Fürsorge;
  5. Recht auf Bildung, Elternrecht; Entfaltung der Persönlichkeit, Achtung der Menschenrechte und Freundschaft zwischen den Nationen als Bildungsziele;
  6. Recht auf Teilnahme am Kulturleben;
  7. Recht auf eine soziale und internationale Ordnung, die die Rechte verwirklicht;
  8. Pflichten gegenüber der Gemeinschaft, Beschränkungen mit Rücksicht auf Rechte anderer;
  9. Absoluter Schutz der in diesen Menschenrechten angeführten Rechte.

zum Anfang | Zivile Konfliktbearbeitung

von Christine Schweitzer

Innergesellschaftlich wie international bedroht Gewalt nicht nur Menschenleben, sondern stellt letztlich die Zukunft der betroffenen Gesellschaften – und angesichts moderner Massenvernichtungswaffen ganzer Weltregionen – in Frage. In den letzten zehn Jahren ist das Bewusstsein dafÜr gewachsen, dass Gewalt keine LÖsung eines Konfliktes schafft und keinen Raum fÜr einen Interessenausgleich lÄsst. Die kurzzeitige Befriedung eines Konfliktes mit Waffengewalt fÜhrt in aller Regel zu seinem spÄteren Wiederausbruch – oftmals unter weit destruktiveren Vorzeichen. Außerdem stellt sie ein Paradoxum dar: MilitÄrische Interventionen, die (vorgeblich) zum Schutz von Menschenrechten durchgefÜhrt werden, verletzen massiv eines der grundlegendsten Menschenrechte, das Recht auf Leben und Sicherheit.

Deshalb ist mit der Zivilen Konfliktbearbeitung zu den klassischen friedenspolitischen Themen der AbrÜstung und der internationalen Sicherheit ein neues Themenspektrum dazugekommen. Zugegeben: Mit wenigen Ausnahmen geht es nicht um wirklich neue Instrumente von Friedenssicherung und GewaltprÄvention. Mediation, diplomatische BemÜhungen um PrÄvention, »gute Dienste«, second-track-Diplomacy, ziviles Peacekeeping, aktiver Menschenrechtsschutz und der ganze Bereich des Peacebuilding, um nur einige Stichworte zu nennen, wurden nicht erst in den neunziger Jahren erfunden.28 Was neu ist, ist die Zusammenfassung dieser Instrumente unter den Sammelbegriff der Zivilen Konfliktbearbeitung29 und vor allem die Entwicklung und Ausformulierung von Ziviler Konfliktbearbeitung als politischer Alternative zu den etablierten Vorgehensweisen der Politik.

Zivile Konfliktbearbeitung hat hierbei eine zweifache Funktion: Zum einen ist sie wesentlicher Inhalt dessen, was mit »Zivilisierung von Außenpolitik« gemeint ist. Dabei stellt sie nicht nur eine an die Staatenwelt gerichtete Forderung dar, sondern ist auch ein Arbeitsfeld wachsender Bedeutung der zivilen Gesellschaft in vielen europÄischen LÄndern, deren Organisationen (NGOs) an der qualitativen wie quantitativen Entwicklung von Projekten ziviler Intervention in gewaltfÖrmige Konflikte arbeiten. Zum anderen spielen Verfahren der Zivilen Konfliktbearbeitung eine wachsende Rolle bei dem Versuch, der zunehmenden Gewalt und Entmenschlichung der modernen Gesellschaft etwas entgegenzusetzen und Menschen zu befÄhigen, ihre Konflikte ohne Anwendung von Gewalt zu lÖsen.

Überblick Über einige
Aufgaben und Verfahren
Ziviler Konfliktbearbeitung

Konflikte sind nicht nur unvermeidlich, sondern sie sind auch notwendig, so sehr oftmals danach gestrebt wird, sie zu vermeiden oder ihr Vorhandensein zu leugnen. Problematisch ist nicht der Konflikt, sondern die Form seiner Austragung, sprich das ZurÜckgreifen auf Gewalt zur Durchsetzung von Interessen.

Zivile Konfliktbearbeitung zielt primÄr darauf

  • zu verhindern, dass Konflikte zu gewaltfÖrmigen Konflikten (z.B. Krieg) eskalieren (GewaltprÄvention) und
  • bereits zur Gewalt eskalierte Konflikte so zu deeskalieren, dass der Konfliktinhalt bearbeitet und eine fÜr alle Seiten befriedigende Regelung gefunden werden kann.

Zivile Konfliktbearbeitung stellt ein AktivitÄtsfeld dar, das in praktisch allen gesellschaftlichen Bereichen zu finden ist. Dabei sind Abgrenzungen zwischen eigentlicher Konfliktbearbeitung und der GewaltprÄvention (einschließlich Erziehung zu Toleranz und Demokratie) nur schwer vorzunehmen, da diese Bereiche ineinander Übergehen.

Mediation

Eines der wichtigsten Verfahren der Konfliktbearbeitung ist die Konfliktmediation. Mediation ist eine Verhandlungsmethode, bei der eine externe Partei den Konfliktparteien dabei hilft, eine LÖsung ihres Konfliktes auszuarbeiten. Im Unterschied zu herkÖmmlichen Verhandlungstechniken verzichtet der Mediator/die Mediatorin darauf, eigene LÖsungsvorschlÄge einzubringen oder gar durch die Anwendung von Machtmitteln zu erzwingen.30 Anwendungsbereiche der Mediation gehen von Familien- und Scheidungsmediation Über Konfliktlotsenprojekte an Schulen, Nachbarschaftsmediation (Konflikte im Stadtteil) und TÄter-Opfer-Ausgleich (Wiedergutmachung statt Strafe bei strafrechtlichen Delikten) bis hin zur politischen Mediation in Umweltkonflikten (innergesellschaftlich) und im internationalen Feld (z.B. waren die Osloer VertrÄge zwischen Israel und PalÄstina Ergebnisse solcher Mediation).

Allerdings sollten hier zwei einschrÄnkende Warnungen nicht fehlen: Innergesellschaftlich darf die FÖrderung von Mediationsverfahren nicht dazu fÜhren, dass Individuen in ihrer FÄhigkeit, Konflikte selbst zu lÖsen, eingeschrÄnkt werden und sich zum Hausarzt, Handwerker und Anwalt ein Dienstleister hinzugesellt, der bei Problemen in Anspruch genommen wird. Im Gegenteil muss es Ziel sein, Kompetenzen der Konfliktbearbeitung so weiterzuentwickeln, dass nur im Äußersten Notfalle auf eine externe Partei zurÜckgegriffen werden muss.

Im internationalen Feld spricht die bisherige Erfahrung dafÜr, dass Mediation nicht in jedem Konfliktfall erfolgreich angewendet werden kann (s. die Studien von Bercovitch). Je mehr Opfer ein Konflikt bereits zu beklagen hatte und je schwerwiegender und langanhaltender die Differenzen sind, umso schwieriger scheint es, eine VerhandlungslÖsung zu finden. Aufgabe der internationalen Politik ist es in einem solchen Fall, die Rahmenbedingungen so zu verÄndern, dass eine Bereitschaft der Konfliktparteien, eine LÖsung zu erarbeiten, hergestellt wird. Sanktionen negativer wie positiver Art mÖgen ein Weg hierzu sein, wenngleich man bei ihnen aus friedenspolitischer Sicht sehr darauf achten sollte, ob sie angemessen sind und gezielt »die Richtigen« treffen. Sehr oft wurden gerade in den vergangenen Jahren massive Sanktionen bis hin zu totalen Embargos verhÄngt, die die BevÖlkerung trafen und die FÜhrung, die eigentlich gemeint war, stÄrkten.

GewaltprÄvention

Sehr unterschiedliche Projekte und Maßnahmen kÖnnen unter dem Stichwort der GewaltprÄvention zusammengefasst werden. In Schule und Jugendarbeit, in der Stadtteil-Sozialarbeit, bei Fanprojekten, in der Antifaschismus- und der Antirassismusarbeit und bei Frauenprojekten finden sich Anwendungsbereiche. Im internationalen Bereich geht es in erster Linie um die Verhinderung von Eskalation durch rechtzeitiges diplomatisches Intervenieren und um vertrauensbildende Maßnahmen auf allen gesellschaftlichen Ebenen, um insbesondere ethnische und religiÖse Konflikte zu entschÄrfen.

Zur PrÄvention im internationalen Bereich hat in den letzten Jahren eine intensive Diskussion stattgefunden, die sich u.a. im KSZE-Prozess niedergeschlagen hat. Doch trotz dieser im Kontext von KSZE/OSZE geschaffenen Institutionen und trotz der ungeheuren Menge an grundsÄtzlich verfÜgbarer Information Über praktisch alle Regionen der Erde (ob sie wirklich genutzt werden ist eine andere Frage), hat die Zahl bewaffneter Konflikte nicht abgenommen. Daraus kann gefolgert werden, dass nicht FrÜhwarnung, sondern frÜhes Handeln (»Early Action«) das Problem ist. Und in der Tat liegen hier die Schwierigkeiten: Ressourcenknappheit (personell wie finanziell), vorgebliche SachzwÄnge und die kurzen und auf Gewalt fixierten Aufmerksamkeitsspannen der Öffentlichkeit wie der Politik verhindern oft rechtzeitiges Handeln. Dies gilt insbesondere wenn der sich androhende Konflikt außerhalb der primÄren InteressensphÄren der WeltmÄchte liegt. (Damit soll nicht gesagt werden, dass NGOs hier besser abschneiden als die Politik: Das Diktat der Öffentlichkeit und der Ressourcenallokation trifft sie in aller Regel noch mehr als die Staaten.)

Zivile und gewaltfreie Interventionen in Krisen und Krieg

Ist ein internationaler oder ethno-nationaler Konflikt bereits eskaliert, erfordert seine umfassende Bearbeitung, dass mehrere Aufgaben gleichzeitig angegangen werden. Es gilt, die Gewalt zu deeskalieren, die Konfliktinhalte zu bearbeiten und die zugrundeliegenden Strukturen, Denk- und Verhaltensweisen so zu verÄndern, dass Frieden wieder mÖglich wird. Das heißt, dass die Strategien der Friedensbewahrung (Peacekeeping), Friedensschaffung (Peacemaking) und der Friedenskonsolidierung (Peacebuilding) kombiniert angewendet werden.31

Es wird sehr viel Über zivile Interventionen diskutiert, aber es gibt wenig wirklich fundierte Studien zu diesem Bereich. Die Verwirrung beginnt schon mit der Frage des Begriffes. Wenn »zivil« als Gegensatz zu »militÄrisch« verstanden wird, dann sind natÜrlich alle Interventionen zivil, bei denen kein MilitÄr eingesetzt wird (siehe z.B. Muller 1995). Dies ist als Definition brauchbar, aber wird dann problematisch, wenn – zumindest implizit – unterstellt oder assoziiert wird, dies bedeute auch, die entsprechende Intervention sei deshalb »gewaltlos«.

Zum Beispiel figurieren Sanktionen gewÖhnlich in der Liste von Instrumentarien »ziviler Intervention« an hervorgehobener Stelle und gelten oft als der »am wenigsten gewalttÄtige« Weg.32 Ich mÖchte demgegenÜber die Position vertreten, dass Sanktionen sehr gewaltsam sein kÖnnen und ihre Auswirkungen Ähnlich schlimm oder schlimmer als die individueller militÄrischer Aktionen. Man denke an das Beispiel des Irak, wo nach offiziellen Zahlen der UNO fast 600.000 Kinder in Folge der Ökonomischen Sanktionen gestorben sind.33

Aufgrund der hier genannten Probleme scheint mir, dass der Begriff der zivilen Intervention viel zu vage ist, um fÜr eine aussagefÄhige Diskussion von Konfliktintervention zu taugen. Ich halte es fÜr sinnvoller, auf die Frage der gewÄhlten Strategie abzuzielen und von gewaltfreien Interventionen zu sprechen, wenn

  • das Ziel der Intervention die Bearbeitung des Konfliktes unter BerÜcksichtigung der Interessen aller Konfliktseiten oder die UnterstÜtzung einer Partei ist, die fÜr eine solche Konfliktbearbeitung und/oder Verteidigung der Menschenrechte und Herstellung von Gerechtigkeit eintritt und wenn
  • dabei auf den Einsatz von tÖdlicher Gewalt, sei sie direkter physischer oder struktureller Art, verzichtet wird.

Friedensbewahrung

Peacekeeping konzentriert sich auf die Verhinderung, Einhegung und Beendigung von Feindseligkeiten; d.h. es ist dissoziativ angelegt, das Auseinanderhalten der Verfeindeten ist sein Hauptzweck. Das klassische Instrument des Peacekeepings ist der Einsatz von UN-Blauhelmtruppen; ein Instrument, das allerdings zunehmend aggressiver eingesetzt wird (»Robustes Peacekeeping«). Nicht nur deshalb gibt es sowohl in der Friedensforschung wie von Friedensorganisationen VorschlÄge, Friedensbewahrung mit gewaltlosen Mitteln zu konzipieren.

Ziviles Peacekeeping stellt sich grÖßere, gut in Techniken der Konfliktbearbeitung ausgebildete Einheiten vor, die unbewaffnet eingreifen. Ihr grÖßter Vorteil dÜrfte darin liegen, dass sie, da unbewaffnet, keine Provokation der anderen Seite darstellen. Die Frage, die unbeantwortet ist, lautet, in welchem Maße gerade diese IdentitÄt die militÄrischen Konfliktparteien dazu bringt, die Peacekeeper zu respektieren – in einem militarisierten Umfeld zÄhlen Zivilisten gewÖhnlich nicht viel – und welche Bedeutung die tatsÄchliche Anwendung von Waffengewalt hat.

In verschiedenen europÄischen LÄndern ist in den vergangenen Jahren der Vorschlag entwickelt worden, einen Zivilen Friedensdienst einzurichten, der als freiwilliger, staatlich finanzierter und rechtlich abgesicherter Dienst ein Instrument solch zivilen Peacekeepings werden kÖnnte.

Friedensschaffung

Peacemaking ist definiert als die Suche nach einer VerhandlungslÖsung der Interessenkonflikte zwischen den Konfliktparteien. Es befasst sich mit der wahrgenommenen Unvereinbarkeit von Interessen (den Konfliktinhalten) und ist in erster Linie eine Aufgabe der EntscheidungstrÄger (Politiker). Der Einsatz von Ziviler Konfliktbearbeitung bedeutet hier, wie oben bereits unter Mediation angesprochen, die Suche nach einer allseits befriedigenden LÖsung durch Verhandlungen.

Neben Regierungen und internationalen Organisationen (UN, OSZE usw) gibt es auch einige Nichtregierungsorganisationen, die durch das Anbieten guter Dienste, Begegnungen von FÜhrungspersÖnlichkeiten der sich in Konflikt befindlichen Gruppen oder Mediation fernab der Öffentlichkeit in diesem Bereich erfolgreich tÄtig sind.34

Friedenskonsolidierung

Peacebuilding, nur unzureichend als VersÖhnungsarbeit zu bezeichnen, befasst sich mit den feindseligen Einstellungen der Konfliktparteien einerseits und sozio-Ökonomischen Strukturen andererseits, also den persÖnlichen und gesellschaftlichen Voraussetzungen und Bedingungen eines Konfliktes. Sie werden mit dem Ziel einer langfristigen Wirkung bearbeitet.

Im Unterschied zu den beiden ersten Aufgabenbereichen ist Peacebuilding vor allem eine Aufgabe, die von lokalen und internationalen gesellschaftlichen Gruppen und Organisationen wahrgenommen wird. Als Hauptmethoden kÖnnen hier benannt werden:35

  • VersÖhnungsarbeit
  • Herstellen von Kontakt durch die Verfolgung gemeinsamer Übergeordneter Ziele
  • wirtschaftliche Entwicklung, die so verlÄuft, dass beide Konfliktseiten subjektiv ihre Gerechtigkeit konstatieren
  • Vertrauensbildung z.B. durch Justizreformen, Verzicht auf bestimmte Symbole
  • Bildung und Erziehung (z.B. binationale Schulen)
  • Vorurteilsreduzierung (z.B. Begegnungsprogramme, Gemeindefeste, Trainings, positives Handeln durch Massenmedien, Appelle fÜhrender PersÖnlichkeiten, individuelle Therapie)
  • Erforschung der gegenseitigen Kulturen

Verrechtlichung internationaler Beziehungen als Bedingung fÜr Zivile Konfliktbearbeitung?

Ein auch in der Friedensbewegung strittiges Feld ist das der Verrechtlichung internationaler Beziehungen, d.h. der Weiterentwicklung des VÖlkerrechts dahin, dass Staaten als Rechtssubjekte internationalen Gesetzen unterworfen werden, deren Einhaltung durch eine Judikative und eine Exekutive erzwungen wird. Die Schaffung eines Internationalen Strafgerichtshofs – dem allerdings u.a. die USA sich nicht unterwerfen wollen mit dem Argument, er kÖnnte ja eines Tages gegen ihre Soldaten ermitteln – ist ein wichtiger Schritt in diese Richtung.

Es soll hier auch nicht so sehr auf die faktischen Hindernisse dieses Konzeptes, die sich aus dem Machtungleichgewicht der internationalen Staatenwelt ergeben, hingewiesen werden, denn sie dÜrfen als bekannt vorausgesetzt werden. Aber ich mÖchte argumentieren, dass sich die Frage der Gewalt unabhÄngig vom Grad der Verrechtlichung stellt. Eine internationale Polizei, die zur Friedenserzwingung eingesetzt wÜrde, wÜrde die gleichen Waffen verwenden mÜssen, die gleiche Zahl an Menschen tÖten und das gleiche Ausmaß an Vernichtung verursachen wie eine NATO-Truppe, die zum gleichen Zweck eingesetzt wird.

Zur Bedeutung von Ausbildung in Ziviler Konfliktbearbeitung

Zivile Konfliktbearbeitung erfordert die Anwendung von Kenntnissen und FÄhigkeiten, die erlernt werden kÖnnen. Dazu gehÖren Wissen Über Konflikttheorien und Konfliktanalyse ebenso wie die Kenntnis der vielfÄltigen Methoden der Konfliktvermittlung (Kommunikation, Konsensfindung usw.).

Viele Berufsgruppen kommen in ihrer Aus- und Fortbildung heute mit solchen Themen in BerÜhrung. Dennoch besteht hier ein deutlicher Bedarf an »mehr«, an einer Einbeziehung von Ziviler Konfliktbearbeitung als Regellehrstoff z.B. in der Ausbildung von LehrerInnen und SozialarbeiterInnen.

Bei der Konfliktintervention im internationalen Kontext wÄchst ebenfalls das Bewusstsein, dass die Nachhaltigkeit von Nothilfe- und Entwicklungsprogrammen in Krisenregionen wesentlich mit davon abhÄngt ob es gelingt, die Konflikte auf gesellschaftlicher Ebene zu reduzieren. Deshalb werden in den letzten Jahren zunehmend Projekte im Rahmen der Entwicklungsdienste wie von anderen NGOs (vor allem aus dem Friedensbereich) entwickelt, die sich auf Zivile Konfliktbearbeitung konzentrieren.

In Deutschland wurde vor zwei Jahren damit begonnen, in einem (vom Land NRW gefÖrderten) Pilotprojekt FriedensfachkrÄfte auszubilden, d.h. Personen, die mit einer speziellen zusÄtzlichen Qualifikation in Ziviler Konfliktbearbeitung ausgestattet werden, die ihnen in ihrer Arbeit in einschlÄgigen Projekten der Konfliktintervention »von unten«, von Seiten gesellschaftlicher Gruppen, zugute kommen soll. Ähnliche Projekte, die in aller Regel verbunden sind mit dem Ziel, einen Zivilen Friedensdienst aufzubauen, finden sich in den Niederlanden, Frankreich, Österreich und Italien. Sie verbinden die Hoffnung, dass durch einen staatlich gefÖrderten Zivilen Friedensdienst die Zahl (und QualitÄt) besonders von friedenskonsolidierenden NGO-Projekten entscheidend gesteigert werden kÖnnte, mit dem Grundgedanken einer mÖglichst viele Menschen erreichenden Qualifizierung in Methoden und Verfahren Ziviler Konfliktbearbeitung.

Zum politischen Stellenwert von Ziviler Konfliktbearbeitung

Zivile Konfliktbearbeitung stellt sowohl ein Ziel als auch einen Weg dar. Sie dient der Zivilisierung von (Außen)Politik und des gesellschaftlichen Umganges miteinander und sie wird getragen von Werten, die schon immer Grundlage jeder wahren Friedenspolitik waren, nÄmlich Gewaltfreiheit und Gerechtigkeit.

Als Weg zu Frieden und Gerechtigkeit hat sie aber auch ihre Grenzen und sie sollte nicht als neues Allzweckmittel missverstanden werden:

  • Abbau struktureller Gewalt fordert, dass latente Konflikte auf die Tagesordnung gesetzt, d.h. eskaliert werden. Zwischen einem diktatorischen Regime und der von ihm unterdrÜckten BevÖlkerung kann es keine Zivile Konfliktbearbeitung geben. Worum es hier aus friedenspolitischer Sicht geht, ist die Entwicklung und der Einsatz von – gewaltfreien – Widerstandsmethoden bis hin zum gewaltfreien Aufstand.
  • Wenn die westliche Allianz unter FÜhrung der USA beschließt, die NATO kÜnftig zur Durchsetzung ihrer wirtschaftlichen und strategischen Interessen in aller Welt einzusetzen, dann heißt die Antwort darauf nicht Zivile Konfliktbearbeitung, sondern Protest und Widerstand gegen diese Politik. AbrÜstung, nachhaltiges Wirtschaften und Dialog der Zivilisationen, um nur ein paar Stichworte zu nennen, stehen als gleichberechtigte Elemente neben Ziviler Konfliktbearbeitung in einer umfassenden Friedensstrategie.
  • Die BeschÄftigung mit gewaltfreier Intervention sollte unbedingt wieder ergÄnzt werden durch die Weiterentwicklung Sozialer Verteidigung. Sie kÖnnte eine interessante Alternative fÜr all jene LÄnder und Volksgruppen darstellen, die sich der Gefahr eines bewaffneten Angriffes ausgesetzt sehen.

Unter BerÜcksichtigung dieser EinschrÄnkungen gilt es, Zivile Konfliktbearbeitung weiter auszubauen. Das bedeutet die konzeptionelle Weiterentwicklung von Methoden (Beispiel: ziviles Peacekeeping), die Institutionalisierung von Ziviler Konfliktbearbeitung in mÖglichst vielen Bereichen von Schulen bis zur internationalen Politik und (als erster Schritt zur vollstÄndigen AbrÜstung) die Umkehrung des Gewichtes zwischen den staatlichen Verteidigungshaushalten und den Haushaltslinien, die Zivile Konfliktbearbeitung abdecken.

Ziel dabei darf aber nicht sein, der herrschenden Machtpolitik ein weiteres Instrument an die Hand zu geben. Auch MilitÄrs und Politiker betrachten Zivile Konfliktbearbeitung heute oftmals als sinnvolle ErgÄnzung zu gewaltgestÜtzten Maßnahmen. So werden z.B. Projekte von deutschen NGOs gefÖrdert, die sich um die Bearbeitung von Konflikten bei der RÜcksiedlung von bosnischen FlÜchtlingen bemÜhen. Ohne die Sinnhaftigkeit dieser Projekte fÜr die Betroffenen in Frage zu stellen, muss darauf hingewiesen werden, dass sie die ZwangsrÜckfÜhrung dieser FlÜchtlinge erleichtern.

In meinen Augen sollte dem entgegen der Charakter von Ziviler Konfliktbearbeitung als Alternative zu Gewalt und MilitÄr wieder mehr in den Vordergrund gestellt werden, auch wenn dieses kurzfristig das Einwerben von Öffentlichen Mitteln oder die Institutionalisierung eines Zivilen Friedensdienstes – um nur zwei aktuelle deutsche Anliegen zu nennen – behindert. Mittel- oder langfristig kÖnnen Krieg, Gewalt, RÜstung und MilitÄr nur Überwunden werden, wenn sie in einer Art Doppelstrategie bekÄmpft und Alternativen dort, wo es notwendig erscheint, entwickelt werden.

Literatur

Bercovitch, Jacob/ Anagnoson, J.Theodore/ Willie, Donnette L.: Some Conceptual Issues and Empirical Trends in the Study of Successful Mediation in International Relations, in: Journal of Peace Reserch 28, 1(1991), S. 7-18.

Besemer, Christoph: Mediation: Vermittlung in Konflikten, Hrsg. Stiftung gewaltfreies Leben/Werkstatt fÜr gewaltfreie Aktion Baden, Heidelberg/Freiburg/KÖnigstein 1993.

Boutros Boutros-Ghali: An Agenda For Peace. Preventive Dipomacy, Peacemaking and Peace-keeping. Report of the Secretary-General pursuant to the statement adopted by the Summit Meeting of the Security Council on 31 January 1992, New York: United Nations, 1992.

Cremer, Uli: Deutschland als internationaler Zivildienstleistender. Entwurf fÜr ein Positionspapier von BÜndnis 90/Die GrÜnen, 5.8.1995.

Ebert, Theodor: Gewaltfreier Aufstand. Alternative zum BÜrgerkrieg, Waldkirchen: Waldkircher Verlagsgesellschaft, 1981 (4. Auflage).

Galtung, Johan: Peace by peaceful means. Peace and Conflict, Development and Civilization, London: Sage Publications, 1996.

MÜller, Barbara/BÜttner, Christian: Optimierungschancen von Peacekeeping, Peacemaking und Peacebuilding durch gewaltfreie Interventionen?, Arbeitspapier Nr. 4 des Instituts fÜr Friedensarbeit und Gewaltfreie Konfliktaustragung, Wahlenau 1996.

Muller, Jean-Marie: Principes et Methodes de l'intervention civile, Manuskript von 1994.

Paffenholz, Thania: »Die Waffen nieder!« Konzepte und Wege der Kriegsbeendigung, in: Matthies 1993: 57 ff.

Ropers, Norbert: Friedliche Einmischung. Strukturen, Prozesse und Strategien zur konstruktiven Bearbeitung ethnopolitischer Konflikte, Berghof Report 1, Berlin 1995.

Ryan, Stephen: Ethnic Conflict and International Relations, 2nd ed., Aldershot: Dartmouth Publishing Company Ltd, 1995.

Weiss, Thomas G.: HumanitÄre Intervention. Lehren aus der Vergangenheit, Konsequenzen fÜr die Zukunft, in: Debiel, Tobias/ Nuscheler, Franz (Hrsg.): Der neue Interventionismus. HumanitÄre Einmischung zwischen Anspruch und Wirklichkeit, Bonn: Dietz, Stiftung Entwicklung und Frieden, 1996, S. 53 ff

Christine Schweitzer, Ethnologin, ist GeschÄftsfÜhrerin des Bundes fÜr Soziale Verteidigung (BSV)

zum Anfang | Eine atomwaffenfreie Welt – Phantasie oder Möglichkeit?

von Joseph Rotblat

Seit nunmehr einem halben Jahrhundert befinden wir uns im Atomzeitalter – dem neuen Zeitalter, dessen Geburtsstunde der Welt durch die Bombe, die Hiroshima zerstört hat, angekündigt wurde. Es ist das Zeitalter, dessen Hauptcharakteristikum darin besteht, dass der Mensch zum ersten Mal in der Geschichte der Zivilisation die Möglichkeit hat, diese Zivilisation mit einem großen Knall zu zerstören.

Während der vergangenen fünfzig Jahre waren wir der Katastrophe einige Male sehr nahe; wir haben den Rand des Abgrundes erreicht und konnten hinab schauen; eher Glück als kluge Taktik hielten uns im letzten Moment zurück. Mit Beendigung des Kalten Krieges hat sich die Wahrscheinlichkeit eines nuklearen Holocaust zwar außerordentlich vermindert, sie ist jedoch noch immer existent. Solange noch Atomwaffen in den Arsenalen sind, besteht die Gefahr, dass sie in einer militärischen Auseinandersetzung eingesetzt werden. Diese Gefahr kann nur durch die Vernichtung aller Kernwaffen gebannt werden.

Die Schaffung einer atomwaffenfreien Welt ist kein utopischer Traum mehr. Es ist ein Ziel, das noch innerhalb der Lebenserwartung der Generation des Atomzeitalters erreicht werden kann – es bedarf jedoch einer enormen Anstrengung. Um Sicherheit in einer entnuklearisierten Welt garantieren zu können, sind nicht nur weitere technische Maßnahmen erforderlich, sondern auch neue Normen gesellschaftlichen Verhaltens. Zuallererst ist eine Wende in der Politik der Kernwaffenstaaten vonnöten – einer Politik, die seit dem Beginn des Atomzeitalters durch bewusste Ambiguitäten geprägt ist.

Man hätte annehmen können, dass mit der Beendigung des Ost-West-Konflikts kein Bedarf mehr an dem Kampfinstrument bestehen und die Erfüllung der ersten Resolution der Vereinten Nationen fortgesetzt würde. Dies war jedoch nicht der Fall.

Die überwiegende Mehrheit der heute lebenden Menschen wurde während des Atomzeitalters geboren. Atomwaffen stellen für sie ein natürliches Phänomen dar; für sie ist es schwierig, sich eine Welt ohne Atomwaffen vorzustellen. Wichtiger jedoch als dieser »angeborene Konservatismus« ist das begründete Interesse einiger Gruppen an einer Aufrechterhaltung des während es Kalten Krieges vorherrschenden Klimas. Eine große militärische Industrie ist von der Fortsetzung der Waffenproduktion abhängig; ebenso die Lebensphilosophie und die Karriere vieler Menschen. Deshalb wurden, als der alte Feind nicht mehr existierte, neue Feinde geschaffen, um die Fortführung der alten Politik zu rechtfertigen.

Die Erkenntnis, dass jeder von uns für die Sicherung unserer Zivilisation verantwortlich ist – durch die Abschaffung der Bedrohung durch den Atomkrieg – wird das Gefühl stärken, dass wir WeltbürgerInnen sind. Mit dem Wachsen dieses Gefühls geht einher die Ablehnung des Chauvinismus und der Fremdenfeindlichkeit, die beide zum Schüren lokaler und regionaler Kriegegenutzt werden. Die Sorge um die Zukunft muss die Menschen einander näher bringen, eine kernwaffenfreie Welt wird uns einer Welt ohne Krieg näher bringen.

WissenschaftlerInnen werden in diesem erzieherischen Prozess eine wichtige Rolle spielen. Die Universalität der Wissenschaft hat in ihnen das Gefühl reifen lassen, zu einer Weltgemeinschaft zu gehören und dass macht sie zu geborenen LehrerInnen, die in anderen Gruppen der Gesellschaft das Konzept des Weltbürgertums voranbringen werden.

In einer Welt, die von kriegerischen Auseinandersetzungen gezeichnet ist, über Weltbürgertum zu reden, scheint utopisch; die Aufgabe, eine Welt ohne Krieg zu schaffen, scheint unmöglich. Wir sollten uns jedoch den Ausspruch des deutschen Soziologen Max Weber ins Gedächtnis rufen: „Alle geschichtliche Erfahrung bestätigt es, dass die Menschheit das Mögliche nicht erreichte, wenn sie nicht immer wieder in der Welt nach dem Unmöglichen gegriffen hätte.“

Prof. Dr. Joseph Rotblat, Friedensnobelpreisträger

Anmerkungen

1) F. R. Pfetsch: Konfliktforschung, Krieg und Frieden in neuerer Zeit, Spektrum der Wissenschaft, Mai 1989, S. 12-16. Siehe auch F. R. Pfetsch (Hrsg.): Konflikte seit 1945, Freiburg, Ploetz-Verlag, 1991.

2) Die Zahlen basieren auf der KOSIMO-Datenbank; siehe F. R. Pfetsch: Der Wandel politischer Konflikte, Spektrum der Wissenschaft, März 1998, S. 76. Eine ausführliche Darstellung zu 100 Konflikten im Zeitraum 1990 bis 1995 findet sich in: F. R. Pfetsch (Hrsg.): Globales Konfliktpanorama 1990-1995, Münster, LIT-Verlag, 1996. Das Heidelberger Institut für Internationale Konfliktforschung gibt ein jährliches Konfliktbarometer heraus, zu bestellen unter e-mail frank.pfetsch@urz.uni-heidelberg.de. Siehe auch das im LIT-Verlag jährlich erscheinende Friedensgutachten deutscher Friedensforschungsinstitute, das ausgewählte Konflikte analysiert.

3) Stiftung Entwicklung und Frieden: Globale Trends 1998, Frankfurt, Fischer, 1997, S. 344. Hier wird auf die Problematik hingewiesen, den Kriegsbegriff exakt zu definieren. Nach gängiger Vorstellung ist Krieg definiert als ein gewaltsamer Massenkonflikt mit drei Merkmalen: a) es sind zwei oder mehr Streitkräfte beteiligt, darunter mindestens auf einer Seite reguläre Regierungsstreitkräfte; b) auf beiden Seiten gibt es ein Mindestmaß an zentralgelenkter Organisation; c) die bewaffneten Operationen ereignen sich mit einer gewissen Kontinuität.

4) Zur Verknüpfung von Frieden und nachhaltiger Entwicklung siehe J. Scheffran, W. Vogt: Kampf um die Natur – Umweltzerstörung und die Lösung ökologischer Konflikte, Darmstadt, Primus, 1998.

5) G. Bächler: Desertification and Conflict, ENCOP Occasional Paper No.10, Zürich/Bern, März 1994.

6) G. Bächler, V. Böge, S. Libiszewski, K. R. Spillmann (Hrsg.): Kriegsursache Umweltzerstörung, Rüegger-Verlag, 1996. Eine Synthese findet sich in Wissenschaft und Frieden 3/96, S. 55-71. Auch das Projekt über Umwelt, Bevölkerung und Sicherheit an der Universität von Toronto hat 1996 eine Synopse verschiedener Fallstudien vorgelegt. Siehe T. Homer-Dixon: V. Percival, Environmental Scarcity and Violent Conflict, Briefing Book, Toronto, 1996.

7) Stanislaw Lem: Die Waffensysteme des 21. Jahrhunderts, Suhrkamp-Verlag, Franfkurt am Main, 1983. Er schreibt: „Es gibt also keine bessere Methode, höchst geheime Information zu verbergen, als sie in einer Massenauflage zu publizieren“, S.11.

8) Ebd., S.83.

9) Department of Defense Budget for FY 1999, Department of Defense, 2. Februar 1998

10) Siehe dazu auch: I. Ruhmann: High Tech für den Krieg, in: Wissenschaft und Frieden 4/1997.

11) Joint Chiefs of Staff: Joint Vision 2010, Washington D.C. 1996, S. 2.

12) Das Rüstungsbudget für das Haushaltsjahr 2000 beträgt 267 Mrd. $. Im Zeitraum 2000-2005 sollen 112 Mrd $ zusätzlich ausgegeben werden. (DOD, News Release 1.2.1999).

13) SZ, 25. Januar 1999, S. 7.

14) National Security Strategy, Washington D.C. 1997.

15) Siehe dazu: J. Pike: American Control of Outer Space in the Third Millenium, in: INESAP Information Bulletin, Issue No. 16, November 1998, S. 29-33.

16) Transforming Defense, Kapitel: The World in 2020-Key Trends, Washington D.C. 1998.

17) D. Stockfisch: Littoral Warfare. Herausforderungen als Informationstechnik und Elektronik, in: Elektronik Report 1998, S. 23.

18) Ebd., S. 29.

19) Die Bedeutung einer begleitenden Medienkampagne darf heute als hoch eingeschätzt werden. Ohne CNN wäre der Golfkrieg 1991 nicht so verlaufen wie er verlaufen ist.

20) Echelon ermöglicht den USA Zugang zu Telefongesprächen, Faxdaten und e-mails in Europa. SZ vom 26. August 1998.

21) Die Zeit vom 17. September 1998.

22) A. Gsponer: Inertial Confinement Fusion and Fourth Generation Nuclear Weapons in: G. Neuneck, J. Altmann, J. Scheffran (Hrsg.): Nuklearwaffen – Neue Rüstungstechnologien – Verifikation von Abrüstung, Bad Honnef, Hamburg, 1998, S. 133-152.

23) Siehe O. Thränert: Enhancing the Biological Weapons Convention, Bonn 1996, S. 13.

24) G. Neuneck, S. Richardsen: Die Überwachungsmöglichkeiten von Beschränkungen bei neuen Waffenprinzipien in: J. Altmann, G. Neuneck (Hrsg.): Naturwissenschaftliche Beiträge zu Abrüstung und Verifikation, Hamburg 1996, S. 235-259.

25) Siehe M. Kaku: Zukunftsvisionen, München 1998, S. 32.

26) Der ferngelenkte Miniflieger (15 cm) soll 3 km weit und ca. 20 Minuten lang fliegen können. Siehe: Die Zeit vom 29. Oktober 1998, S. 17.

27) Zitiert nach Kaku 1998, S. 320.

28) Besonders deutlich ist diese Tendenz im innergesellschaftlichen Bereich. Hier wird heute gewÖhnlich von Ziviler Konfliktbearbeitung gesprochen, wo vor wenigen Jahren von Projekten der GewaltprÄvention, der Antirassismus-Arbeit oder der FriedenspÄdagogik die Rede war.

29) Unter Ziviler Konfliktbearbeitung soll hier verstanden werden die Bearbeitung von Konflikten ohne die Anwendung direkter Gewalt und mit dem Ziel, eine LÖsung zu finden, die die als berechtigt angesehenen Interessen aller Konfliktparteien berÜcksichtigt.

30) Es muss darauf hingewiesen werden, dass es zwei sich widersprechende Definitionen von Mediation gibt. Der hier gebrauchten Definition von Mediation als einer nicht-direktiven Methode, die vor allem von denjenigen verwandt wird, die Mediation im innergesellschaftlichen Bereich anwenden (s. Besemer 1993), steht der z.B. von Paffenholz (1993), Ropers (1995) und anderen verwendete Begriff von Mediation als einer Methode direktiver VerhandlungsfÜhrung gegenÜber, bei der der Vermittler eigene VorschlÄge einbringt und u.U. mittels politischen Druck die Konfliktparteien dazu bringt, sie anzunehmen.

31) Diese drei Strategien wurden ursprÜnglich von Johan Galtung entwickelt. Boutros Boutros-Ghali verstand sie als zeitlich aufeinander folgende Schritte. Hier soll demgegenÜber Steven Ryan gefolgt werden, der wie Galtung die VerschrÄnktheit der drei AnsÄtze betont.

32) Siehe z.B. Cremer 1995 und Weiss 1996

33) In vielen DiskussionsbeitrÄgen Über zivile Interventionen spielt zusÄtzlich die Frage des Akteurs eine große Rolle (Ropers 1995). Manche AutorInnen stellen zivile Interventionen in das Begriffsfeld der »zivilen Gesellschaft« und setzen sie praktisch mit der TÄtigkeit von NROs und Kirchen gleich (MÜller/BÜttner 1996).

34) Besonders die QuÄker und der italienische Orden San Egidio kÖnnen hier als Beispiele genannt werden.

35) Siehe Ryan 1995

40 Jahre Göttinger Erklärung Jetzt endlich Atomwaffen abschaffen

40 Jahre Göttinger Erklärung Jetzt endlich Atomwaffen abschaffen

von Wolfgang Liebert, Corinna Hauswedell, Otfried Nassauer, Xanthe Hall, Jürgen Scheffran, Martin B. Kalinowski

in Zusammenarbeit mit der Naturwissenschaftler-Initiative »Verantwortung für den Frieden« e. V.,
der Deutschen Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges / Ärzte in sozialer Verantwortung (IPPNW) und
dem Arbeitskreis für Friedenspolitik – atomwaffenfreies Europa (AKF)

zum Anfang | Atomwaffen abschaffen!

von Wolfgang Liebert

Hoffnung auf nukleare Abrüstung hat gute Gründe. Der alte Ost-West-Konflikt mit seiner nuklearen Aufrüstungsspirale ist beendet. Die Tür zu einer anderen Zukunft ist im Prinzip bereits geöffnet: die Überwindung der nuklearen Bedrohung, die die Welt in Atem gehalten hat, und das Zurückdrehen der Rüstungsspirale ist eine reale Utopie geworden. Die Idee der atomwaffenfreien Welt muß heute von allen ernst genommen werden, denn die grundlegenden Bedingungen für die angebliche Rationalität des Kernwaffenbesitzes haben sich radikal verändert.1

Die Atempause, die sich der reichere Teil der Welt für fünf Jahrzehnte nach dem letzten Weltkrieg unter Existenz der Atomwaffe verschafft hat, könnte bald ausgeschöpft sein. Das Vertrauen auf die nukleare Abschreckung war schon immer Laufen über dünnes Eis.2 Die alte Wurzel der Abschreckungsdoktrin war die Drohung mit dem Gebrauch von Atomwaffen, um die »andere Seite« vor dem möglichen Atomwaffeneinsatz abzuschrecken. Es ging dabei bald nicht nur um Abschreckung zwischen Atomwaffenbesitzern, sondern ebenso um den »Schutz« von Verbündeten und Sicherheitsgarantien, ausgesprochen gegenüber Dritten. Nach Ende der Konkurrenz der Systeme ist es höchste Zeit, diese Drohung mit der »wechselseitigen Vernichtung« endgültig in Frage zu stellen. Keiner weiß, ob die nukleare Abschreckung wirklich geeignet ist, den Ausbruch eines mit Kernwaffen ausgetragenen Konfliktes zu vermeiden. Zu oft stand die Welt knapp vor dem nuklearen Holocaust. Auch die Behauptung, nur die Existenz von Kernwaffen würden den Ausbruch eines größeren konventionellen Krieges zwischen industriell hochentwickelten – und damit gegen Störungen der Infrastruktur besonders anfälligen – Staaten glaubhaft ausschließen können, ist durch nichts zu beweisen. Die Wahrscheinlichkeit eines nuklearen Desasters quasi aus Versehen, ausgelöst durch die inhärenten Instabilitäten und Unsicherheiten eines im Prinzip anfälligen C3I-Systems sind in der Zeit der nuklearen Hochrüstung ausreichend thematisiert worden. Diese Gefahr besteht fort.

Die NATO-Doktrin der »flexiblen Antwort« (Flexible Response), die von der Drohung mit dem Ersteinsatz von Atomwaffen gegen einen konventionell überlegenen Gegner lebte, ist immer noch gültig. Auch die teilweise bekannt gewordene neue russische Nukleardoktrin ist nun auf diese erweiterte Abschreckungsdoktrin eingeschwenkt. Die fehlende Logik solcher Sicherheitskonzeptionen ist offensichtlich: Kann man wirklich das eigene Land verteidigen durch Einsatz von Nuklearwaffen (möglicherweise sogar innerhalb des eigenen Territoriums), wobei ein massiver nuklearer Vergeltungsschlag zu gewärtigen ist? Wer sich so verteidigen will, nimmt die Vernichtung des eigenen Landes und weiter Landstriche der Erde (oder sogar den Weltenbrand) in Kauf.

In Bezug auf den Atomwaffenbesitz stellt sich die Situation heute so dar: Wer glaubt vorbringen zu können, der Besitz von Nuklearwaffen oder die Einbettung in eine Strategie, die den Atomwaffenbesitz auf dem eigenen Territorien erlaubt oder erfordert, diene dem Erhalt der eigenen Souveränität, muß zugestehen, daß diese Argumentation auch von anderen Staaten, die nicht den Status einer offiziellen Atommacht haben, mit demselben Recht übernommen werden kann. Eine Globalisierung dieser fatalen Argumentationsweise wäre auf die Dauer kaum aufzuhalten. Dies wäre das Ende jeder Bemühung um die Nichtweiterverbreitung der Atomwaffen. Ein Ausweg aus dem Dilemma besteht im Grunde nur in einer Reduktion der Atomwaffenarsenale auf Null, auch wenn man für die Übergangsphase dorthin möglicherweise zugestehen mag, daß eine einseitige Existenz von Kernwaffen eine noch instabilere Situation herbeiführen mag.

Die atomare Bedrohung besteht fort

Aber noch immer sind rund 40.000 intakte atomare Sprengköpfe mit einer Sprengkraft von mehr als einer Million Hiroshimabomben in der Welt. Mehr als 20.000 davon befinden sich zur Zeit offiziell in den Arsenalen der Atomwaffenmächte – der Löwenanteil davon in Rußland und den USA. Die weiteren offiziellen Atommächte Frankreich, China und Großbritannien besitzen jeweils weniger als 500 Atomsprengköpfe. Israel könnte bereits 100-200 Atomwaffen produziert haben. Aus einer Abschätzung des produzierten Waffenstoffes ergeben sich für Indien und Pakistan mögliche Arsenale von je 40-80 bzw. 10-30 Kernwaffen. Auch in Deutschland sind immer noch Atomwaffen stationiert.

Der nukleare Abrüstungsprozeß zwischen den USA und Rußland ist in der Endphase des Kalten Krieges in Gang gekommen und wird trotz immer neuer Gefährdungen bislang durchgehalten. Die akute Gefahr des nuklearen Weltbrandes ist reduziert worden, u.a. durch die Verbannung der landgestützten Mittelstreckenwaffen, den Rückzug von Atomwaffen von Oberwasserschiffen oder verschiedenste Maßnahmen zur teilweisen Beendigung der Alarmbereitschaft.

Allerdings wurden bis vor kurzem im Bereich der strategischen Arsenale die Zielzahlen des START-II-Vertrages, der immer noch nicht von beiden »Supermächten« ratifiziert ist, als vorläufiger Endpunkt angesehen. Falls der START-II-Vertrag umgesetzt wird, ist mit insgesamt etwa 10.000 nuklearen Sprengköpfen in den offiziellen strategischen und nicht-strategischen Arsenalen Rußlands und der USA im Jahre 2003 zu rechnen. Die strategischen Nuklearstreitmächte von je 3.000 bis 3.500 Sprengköpfen werden dann jeweils zur Hälfte auf Unterseebooten stationiert sein. Die andere Hälfte soll zum größeren Teil in Cruise Missiles für die Bomberflotten und zum kleineren Teil auf landgestützten Interkontinentalraketen bereitgehalten werden. So wird vielleicht im Jahr 2003 wieder in etwa das zahlenmäßige Niveau erreicht sein wie im Jahr 1970, als der Nichtverbreitungsvertrag für Kernwaffen, der sogenannte Atomwaffensperrvertrag, in Kraft trat. Atomwaffenarsenale mit einem mehrfachen Overkill werden weiter die Welt bedrohen.

Ein Abrüstungsprozeß in Richtung Null ist dies keineswegs. Im Gegenteil: Nach dem Willen der Atommächte und ihrer Verbündeten sollen uns die Atomwaffen und die atomare Bedrohung auf Dauer erhalten bleiben. Dementsprechend gehen auch die Bemühungen kleinerer oder weniger einflußreicher Staaten weiter, in den Besitz der Bombe zu kommen, oder ihre schon vorhandenen, noch sehr bescheidenen Arsenale zu vermehren.

Gefahren der Weiterverbreitung

Wer Atomwaffen produzieren will, braucht geeignete Waffenstoffe. Für einen »Neuling« ist dies die entscheidende Hürde; der volle Waffentest spielt zunächst eher eine untergeordnete Rolle. Wer nuklearen Spaltstoff oder zusätzlich fusionsfähigen superschweren Wasserstoff (Tritium) besitzt, kann im Prinzip Atomwaffen bauen. Wer Waffenstoff produzieren will, der braucht Atomtechnologie: Urananreicherungstechnologie oder Reaktoren in Verbindung mit Wiederaufarbeitungstechnologie zur Abtrennung von Plutonium.

Eine ganze Reihe von Ländern haben bereits Zugriff auf mindestens eine dieser beiden Technologiebereiche. In der Liste dieser Länder finden sich alle offiziellen und inoffiziellen Atomwaffenstaaten wieder, daneben Staaten, die früher Waffenprogramme betrieben, wie Brasilien oder der Irak und Südafrika, das tatsächlich über lange Jahre eigene Atomwaffen besaß. Weiterhin haben eine Reihe von industrialisierten Ländern wie Japan, Deutschland, Belgien, die Niederlande und in einem gewissen Maße auch Kanada, Italien und Spanien durch die Beherrschung von sensitiven Nukleartechnologien, die zur Produktion von Waffenstoffen geeignet sind, eine prinzipielle Atomwaffenfähigkeit erlangt. Argentinien und Nordkorea (in der Vergangenheit auch Taiwan und Schweden) bemühten sich ebenfalls – teilweise erfolgreich –, diesen technologischen Stand zu erreichen.

Die weltweit angehäuften Mengen an Waffenstoff sind enorm: über 2.000 Tonnen hochangereicherten Urans (HEU) und etwa 270 Tonnen Plutonium im militärischen Bereich. Diese Zahlen sind im Vergleich zu sehen mit der für eine einfache Atomwaffe benötigten Menge: 10-20 Kilogramm HEU oder einige Kilogramm Plutonium.

Die einzigen zivilen Nutzer von waffenfähigem HEU sind heute nur noch eine Reihe von Forschungsreaktoren. Durch Umstellung (fast) aller Reaktoren auf schwach angereicherten Brennstoff besteht Hoffnung auf eine weitere Reduktion des Bedarfs bis auf Null und damit einer Eliminierung der Umnutzungsgefahr für Waffenzwecke. Eine gefährliche Ausnahme von diesen international koordinierten Bemühungen stellt der in Bau befindliche Garchinger Forschungsreaktor dar.3

Mindestens 1.000 Tonnen Plutonium liegen bereits im zivilen Bereich auf Halde, zum überwiegenden Teil noch eingebettet in den abgebrannten Reaktorbrennstoff, der so eine radiologische Barriere darstellt, die nur durch Formen der technischen Wiederaufarbeitung überwunden werden kann. 130 Tonnen werden aber bereits in abgetrennter Form im zivilen Bereich gelagert. Der größte Teil davon könnte ohne große technische Schwierigkeiten jederzeit auch für Waffen Verwendung finden. Die Wiederverwertung des Plutoniums als Reaktorbrennstoff wird – auch schlicht aus ökonomischen Gründen – nur sehr zögernd betrieben, so daß die Produktion und Verwertung von Uran-Plutonium-Mischoxidbrennelementen (MOX) mit der wachsenden Wiederaufarbeitungsrate nicht Schritt halten kann. Im Jahr 2010 könnten die im zivilen Bereich gelagerten abgetrennten Putoniummengen die für militärische Zwecke produzierten Mengen bereits deutlich übersteigen.

Es gibt keine absolute Sicherheit, daß die vorhandenen gigantischen Mengen an Waffenstoff nicht militärisch genutzt oder immer vollständig in der Hand der jetzigen Besitzerstaaten bleiben werden. Schon ein Hundertausendstel dieser Mengen in den Händen von terroristischen Gruppen oder machtgierigen Staatenlenkern in anderen Ländern würden erhebliche Gefahren heraufbeschwören. Ebenso ist die Abzweigung von Waffenstoff aus zivilen Programmen für Atomwaffenprogramme eine durchaus ernst zu nehmende Gefahr. Im Irak ist in den achtziger Jahren genau ein solch zivil-militärisch angelegter Doppelpfad Richtung Atomwaffe verfolgt worden. In Brasilien wurde über viele Jahre ein ziviles Atomprogramm mit deutscher technologischer Unterstützung bei gleichzeitiger Verfolgung eines militärischen, sogenannten »Parallelprogrammes« durchgeführt. Es scheint so zu sein, daß in der Frühzeit der meisten Atomprogramme mit zivilen Deckmänteln und der Parallelverfolgung von offen betriebenen zivilen und geheimgehaltenen militärischen Programmen operiert wurde. In einer Reihe von Fällen läßt sich heute nachweisen, daß die unausgesprochenen militärischen Zielsetzungen die zivile Entwicklung maßgeblich beeinflußt haben.4

Wenn wir die nukleare Proliferationsgefahr ernst nehmen, stehen wir mithin nicht nur vor dem medienwirksam inszenierten Problem, wie mit nuklearen Ambitionen finsterer Diktatoren umzugehen ist, sondern wir sind damit konfrontiert, daß augenscheinlich die angeblich rein zivile Entfaltung von Wissenschaft, Technik und Industrie im Nuklearbereich selbst im Kern des Problems steht.5 Politisch definierte nukleare Optionen können entstehen und vergehen und sind dem raschen historischen Wandel unterworfen. Für einmal geschaffene technische Optionen mit Relevanz für die Atomwaffe gilt dies in der Regel nicht.

Das nukleare Nichtverbreitungsregime, in dessen Kern der Nichtverbreitungsvertrag (NVV) steht, der im Mai 1995 nach 25-jähriger Laufzeit auf unbegrenzte Zeit verlängert wurde, bietet nicht die Lösung für dieses Problem. Das Vertragswerk ist mit einigen entscheidenden Mängeln behaftet. Dazu gehört, daß der zivil-militärischen Ambivalenz wesentlicher Nukleartechnologien zu wenig Beachtung geschenkt wird. Man hofft lediglich darauf, daß durch die Sicherungsmaßnahmen der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEO) die Abzweigung von Spaltstoffen für Waffenzwecke frühzeitig entdeckt werden kann. Kann man einem solchen System von Maßnahmen – unterhalb der Schwelle einer echten Kontrolle – Vertrauen schenken? Das ohnehin schwach ausgebildete System von Verfahren technischer Überwachung muß prinzipiell lückenhaft bleiben und kann daher keine wirkliche Gewähr dafür bieten, daß eine sichere Abgrenzung ziviler Programme von möglicher militärischer Nutzung erfolgt.6

Weg in die atomwaffenfreie Welt

Was sind die Ingredienzien einer atomwaffenfreien Welt?

  • Erstens werden alle Atomwaffen demontiert und die darin enthaltenen Waffenstoffe zunächst sicher verwahrt. In längerfristigerer Perspektive müßten sie dann nicht rückholbar beseitigt werden.
  • Zweitens darf es keine schnelle Möglichkeit zum Wiederaufbau von Arsenalen durch vorhandene Technologien und Infrastruktur geben. Verifikationsmaßmahmen werden eingeführt, um den Weg zum erneuten oder erstmaligen Atomwaffenbesitz – insbesondere durch Verlängerung und Verteuerung des Weges dorthin – empfindlich zu erschweren und entdeckbar zu machen.
  • Drittens muß eine stabile Weltfriedensordnung etabliert werden, die das Sicherheitsinteresse aller Staaten sowie aller Bürgerinnen und Bürger gleichermaßen befriedigt.
  • Viertens muß die Wissenschafts- und Technikentwicklung auf deutliche und ständig reflektierte Distanz zu atomwaffenrelevanten Bemühungen gehen, um zu vermeiden, daß alte Schleichwege oder neue Schlupflöcher zum Atomwaffenbesitz eröffnet werden.
  • Fünftens muß der zivile technologische und industrielle Bereich so gestaltet werden, daß jegliche Optionen auf Atomwaffenbesitz (latente Proliferation) nachhaltig und eindeutig vermieden werden können.

Es ist kaum vorstellbar das Ende der Weiterverbreitung von Atomwaffen und eine unumkehrbare nukleare Abrüstung auf Null innerhalb des existierenden Systems der Nicht(weiter)verbreitung von Kernwaffen zu erreichen. Die Weiterverbreitung von Kernwaffen kann auf die Dauer nur gestoppt und zurückgenommen werden, wenn ein globaler Verzicht auf Atomwaffen verwirklicht wird. Denn solange der Besitz von Kernwaffen oder nuklearen Waffenmaterialien in der Hand einiger weniger als legitim angesehen wird, schafft dies Begehrlichkeiten bei anderen. Für den Stopp der Weiterverbreitung wie den unumkehrbaren Weg in die atomwaffenfreie Welt ist auf längere Sicht entscheidend, daß auch im zivilen Bereich die Aufrechterhaltung von wissenschaftlich-technischen Voraussetzungen für Atomwaffenprogramme vermieden wird. Dies betrifft insbesondere die Rolle von waffengrädigen Nuklearmaterialien und entsprechenden Produktionstechnologien in zivilen Nuklearprogrammen. Regelungen, die für alle Staaten gleichermaßen verbindlich sind, müssen gefunden werden.

Die Transformation des Nichtweiterverbreitungregimes zur atomwaffenfreien Welt steht an. Im Zentrum dieses neuen Regimes muß eine Nuklearwaffenkonvention stehen, die wie im Bereich biologischer und chemischer Kampfstoffe bereits geschehen, ein vollständiges Verbot international verbindlich kodifiziert.7

Die Mächtigen der Welt wollen sich bislang nicht auf einen solchen Weg zur Beendigung der atomaren Bedrohung einlassen. Die Bemühungen zur nuklearen Abrüstung in den Gremien der Vereinten Nationen sind momentan blockiert durch die Weigerung der Atomwaffenbesitzer und ihrer Verbündeten, ernsthaft über den Verzicht auf diese ultimative Waffe zu verhandlen.

Dennoch wächst der weltweite Druck, die alten Versprechungen zur nuklearen Abrüstung endlich in die Tat umzusetzen. Von wissenschaftlicher Seite ist die Möglichkeit und der Weg zur Atomwaffenfreiheit durchdacht und es sind entsprechende Vorschläge für die Politik erarbeitet worden.8 Weltweit vernetzte Nichtregierungsorganisationen (NGO) von Medizinern, Wissenschaftlern, Juristen, Bürgerinnen und Bürgern versuchen die öffentliche Debatte und die zähen Bemühungen auf dem internationalen diplomatischen Parkett durch gezielte Aktivitäten voranzubringen.

Nur wenn die Menschen weltweit deutlich machen, daß sie die atomare Bedrohung endlich abschütteln wollen, besteht eine Chance, daß auch die Regierungen aktiv den Weg in die atomwaffenfreie Welt gestalten.

Literatur

Hussein, Bernadette 1997a. Mururoa – the untold story, in: Pacific Islands Monthly, January, 17-18.

Hussein, Bernadette 1997b. Checking the damage, in: Pacific Islands Monthly, January, 14-16.

Grimmel, Eckhard 1985. Die Folgen der französischen Atomtests im Südpazifik (Auszüge), in: Frieden und Abrüstung; Informationen und Dokumente aus der internationalen Friedensdiskussion, hrsg. v. d. Initiative für Frieden, internationalen Ausgleich und Sicherheit (IFIAS) (Bonn), S.10-14

IPPNW 1995. Radioaktive Verseuchung von Himmel und Erde; Atomtests unter, auf und über der Erde: Auswirkungen auf Gesundheit und Umwelt; Ein Bericht der „Internatonalen IPPNW-Kommission zur Untersuchung der Auswirkungen der Atomwaffenproduktion auf Gesundheit und Umwelt“ sowie des „Instituts für Energie- und Umweltforschung (IEER)“ (Berlin: IPPNW), 2. Auflage.

Worm, Thomas 1995. Muroroas strahlendes Geheimnis, in: die tageszeitung, 12.7.

Dr. Wolfgang Liebert ist wissenschaftlicher Mitarbeiter bei IANUS an der TH Darmstadt.

zum Anfang | Die »Göttinger 18« und das friedenspolitische Engagement von Wissenschaftlern heute

von Corinna Hauswedell

Mit ihrem öffentlichen Protest gegen die atomare Bewaffnung der Bundeswehr im Jahre 1957 konstituierten die als »Göttinger 18« bekannt gewordenen westdeutschen Physiker einige typische Merkmale für das künftige friedenspolitische Engagement von (Natur)Wissenschaftlern: Ihr inhaltlicher Fokus der »taktischen Atomwaffen« ermöglichte ein Eingreifen in eine aktuelle sicherheitspolitische Auseinandersetzung, ihr verantwortungsethisches Anliegen richtet sich bereits damals auf die allgemeinen Gefahren der Technikentwicklung im Atomzeitalter (obschon die »Göttinger« in ihrer Erklärung die Bedeutung der „friedlichen Verwendung der Atomenergie“ besonders unterstrichen). Vor allem aber signalisierte ihr Wirkungsinteresse, als »Nichtpolitiker« Fachwissen an die Öffentlichkeit und die politischen Entscheidungsinstanzen heranzutragen, das Auftreten einer neuen Art von (Gegen)Experten in der sicherheitspolitischen Arena des Kalten Krieges.

Im ideologischen Streit jener Zeit, der auch die »Göttinger Erklärung« begleitete, sah sich einer ihrer Unterzeichner, Carl Friedrich von Weizsäcker genötigt, gegen den Vorwurf des Vaterlandsverrats und der Inkompetenz, der den Wissenschaftlern seitens der damaligen Bundesregierung entgegengebracht wurde, die Ziele der Gruppe zu erläutern:

Erstens: Der Westen schützt seine Freiheit und den Weltfrieden durch die atomare Drohung auf die Dauer nicht; diese Rüstung zu vermeiden, ist in seinem Interesse ebenso wie in dem des Ostens.

Zweitens: Die Mittel der Diplomatie und des politischen Kalküls reichen offenbar nicht aus, dieser Wahrheit Geltung zu verschaffen, deshalb müssen auch wir Wissenschaftler reden und sollen die Völker selbst ihren Willen bekunden.

Drittens: Wer glaubwürdig zur atomaren Abrüstung raten soll, muß überzeugt dartun, daß er die Atombombe nicht will.

Nur dieser dritte Satz bedarf noch eines weiteren Kommentars. In der Schrecksekunde nach der Veröffentlichung unserer Erklärung wurde uns von prominenter Seite vorgeworfen, wir hätten uns an die falsche Adresse gewandt, wir hätten unseren Appell an unsere Kollegen in der ganzen Welt richten sollen. Diesen Vorwurf halte ich für ein Mißverständnis. Daß die große Welt nicht auf Appelle abrüstet, haben wir erlebt. Wir hatten uns dorthin zu wenden, wo wir eine direkte bürgerliche Verantwortung haben, nämlich an unser eigenes Land…“9

So markierte die »Göttinger Erklärung« auch den Weg vom individuellen Protest zum Gruppenprotest, von der Verweigerung der Mitarbeit einzelner an der Entwicklung von Massenvernichtungswaffen zu einer politischen Einflußnahme zugunsten von Rüstungskontrolle und Abrüstung.

Im Verlauf der folgenden Jahrzehnte fanden sich diese Merkmale friedenspolitischer Expertise in einem zunehmend internationalen Engagement verschiedener Gruppen von »political« scientists wieder.

Die 1957 im gleichnamigen kanadischen Ort initiierten »Pugwash-Konferenzen« einer zunächst kleinen Gruppe US-amerikanischer und sowjetischer Atomwissenschaftler übernahmen eine vetrauensbildende Beratungsfunktion zwischen den Supermächten, im Hintergrund der ersten Rüstungskontrollabkommen (Atomteststop-Vertrag 1963, Nichtweiterverbreitungsvertrag 1968, ABM-Vertrag 1972), sodann bei den biologischen und chemischen Waffen sowie bei der konventionellen Rüstung. Die jeweilige Fokussierung der Pugwash-Arbeit auf einzelne Rüstungsvorhaben (später kamen auch nichtmilitärische globale Konfliktursachen hinzu) half, Bedrohungsvorstellungen der anderen Seite im Ost-West-Konflikt zu relativieren. Es waren vor allem die der »international scientific community« entlehnten Arbeits- und Kommunikationsstrukturen der Pugwash-Gruppe, die dazu beitrugen, in den Köpfen auch der politischen Eliten neben der Abschreckungslogik Platz zu machen für die Rationalität der Rüstungsbegrenzung. Neuere Untersuchungen vollziehen die Wege nach, auf denen die Pugwash-Gruppe und andere friedenspolitisch engagierte Wissenschaftler Einfluß auf die sowjetische Außenpolitik der sechziger und der frühen siebziger Jahre gewannen (mit Rückwirkungen auf die US-Politik) und dann in neuem Umfang in den achtziger Jahren auf das »Neue Denken« in der Sowjetunion unter Michael Gorbatschow.10

Die stärker sozialwissenschaftlich geprägte »Kritische Friedensforschung« in der Bundesrepublik, die spät (1969/70) und auch in Auseinandersetzung mit den US-amerikanischen »arms-control«-Schulen entstanden war, hatte sich ebenfalls im schwierigen Spannungsfeld zwischen radikaler Abschreckungskritik (»Pathologie des Rüstungswettlaufs«), umfassender Konfliktursachenforschung und Policy-Orientierung für die beginnende Ost-West-Entspannung zu bewegen. Anfänglich beteiligte Naturwissenschaftler traten bald in den Hintergrund. Eine von vielen gewollte transdisziplinäre Zusammenarbeit rieb sich in der Praxis an den traditionellen Fächergrenzen und den Herausforderungen normativer Wissenschaftsansprüche. Dabei spielten auch die unterschiedlichen akademischen Traditionen und Selbstverständnisse der »zwei Kulturen« in den Natur- und Gesellschaftswissenschaften eine gewisse Rolle. Es war nicht leicht, einen gemeinsamen Themen- und Methodenkanon für die »harten« und die »weichen« Felder der jungen Friedenswissenschaft zu entwickeln.

Mit der moralischen Ausstrahlungskraft der (naturwissenschaftlichen) Anti-Atomethik wurde nicht nur die Friedensforschung in den frühen achtziger Jahren erneut konfrontiert, als die Ost-West-Entspannung unter die Räder der Nuklearkriegsdebatte, der Stationierung neuer Mittelstreckenwaffen in Europa und des US-Weltraumprogramms SDI zu geraten drohte.

Die im Kontext der Friedensbewegung der achtziger Jahre etablierten neuen Wissenschaftlerinitiativen vor allem aus den Reihen der Natur-, Ingenieur- und Informationswissenschaften sowie der Medizin (die internationale Ärzteorganisation IPPNW erhielt 1985 den Friedensnobelpreis) eröffneten mit ihrer militärkritischen Analyse und Expertise und durch die Art ihres bürgernahen Engagements einen großen öffentlichen Wirkungsradius – im nationalen wie im internationalen Rahmen.11 Sie knüpften in ihrem aufklärerischen Anspruch auch an die atompazifistischen Traditionen der fünfziger Jahre an; die Bildung eigener (Vereins)Strukturen – die Naturwissenschaftler Initiative »Verantwortung für den Frieden« gewann über 1.000 Mitglieder unter Hochschullehrern und Studenten –, ihre kontinuierliche Kongreß- und Publikationstätigkeit sowie die Initiierung von naturwissenschaftlichen Projekten der Abrüstungsforschung an bundesdeutschen Hochschulen wiesen jedoch über den appellativen Ansatz der »Göttinger 18« hinaus.

Während Friedensforscher durch ihre Arbeit an Konzepten einer »Gemeinsamen Sicherheit« neue sicherheitspolitische Rahmenbedingungen für Europa entwarfen, die auch im Osten auf Resonanz stießen, verstärkten friedensengagierte Naturwissenschaftler und Mediziner ihrerseits durch internationale Kommunikation den neuen Spielraum in der Sowjetunion in den achtziger Jahren: Durch Arbeiten an defensiven Verteidigungskonzepten, durch ihre Argumente gegen SDI und die Betonung globaler Überlebensinteressen jenseits der Blockkonstellation förderten sie die Bereitschaft für einseitige Schritte aus dem Rüstungswettlauf.

Mit dem Ende des Kalten Krieges haben sich Veränderungen vollzogen, auf die sich ein zeitgemäßes friedenswissenschaftliches Engagement einstellen muß:

  • Die neue Themenvielfalt von Abrüstungsmanagment bis Konfliktpräventation, von Friedensursachenforschung bis Friedenskonsolidierung erschwert zunächst eine politisch wirksame Konsensbildung und Fokussierung kritischer Expertise.
  • An die Stelle einer ideologisierten Nukleardiskussion ist die pragmatische Arroganz der Atomwaffen besitzenden Staaten getreten, die es den Schwellenländern nicht erleichtern, auf dieses (alte und neue) Symbol nationalstaatlicher Macht zu verzichten. Friedenswissenschaftler müssen ein neues strategisches Design entwerfen, in dem gemeinsame Interessen an nuklearer Abrüstung im nationalen und internationalen Rahmen identifiziert werden.
  • Neue diffuse Feindbildkonstellationen behindern die Entwicklung wirksamer Kontrollregime im Bereich der nuklearen und anderen Massenvernichtungswaffen.
  • Als negative Begleiterscheinung des begonnenen Abrüstungsprozesses ist in den letzten Jahren eine deutliche Zunahme des weltweiten Handels mit »überschüssigen« Waffen zu verzeichnen – besonders mit Kleinwaffen für die Krisenherde der Dritten Welt. Die UN werden auf diesem prekären Gebiet ohne kompetente unabhängige Politikberatung nicht handlungsfähig werden.
  • Immer schwieriger wird es, militärische und zivile Forschung und Entwicklung von einander abzugrenzen, »Dual-use« erscheint als Allheilmittel bei der Restrukturierung der übergroßen Rüstungs-High-Tech-Komplexe, vor allem in den USA. Das Hereinreichen militärischer Dimensionen in zivile Fragen der Technikfolgenbewältigung könnte eine neue sinnvolle Kooperation von Natur- und Gesellschaftswissenschaften begründen.

Politisches Engagement von (Natur)Wissenschaftlern ist seit den »Göttinger 18« – mit einem deutlichen Schub in den achtziger Jahren – selbstverständlicher geworden. Der politisch-moralische und fachliche Impuls der »Göttinger 18« und anderer engagierter Naturwissenschafter haben dazu beigetragen, daß das nüchterne, auf behauptete Wertfreiheit basierende Image dieser Disziplinen zu erodieren begann. Pugwash und ihrem Präsidenten Joseph Rotblat ist mit der Verleihung des Friedensnobelpreises 1995 eine späte Würdigung ihrer friedenspolitischen Beiträge zu Teil geworden.

Epistemische Gemeinschaften mit einem erklärten Normen- und Methodenkonsens haben sich anhand zentraler Problemfelder, z.B. in der Ökologie oder der Gentechnik, gebildet. Als wichtige Faktoren für eine erfolgreiche Thematisierung globaler militärischer und nichtmilitärischer Gefahren können heute die Frühwarnfunktion kritischer Expertise, der Aufbau internationaler Netzwerke und die Arbeit an strategischen Konzepten, die Ad-hoc-Forderungen und längerfristige Perspektive verbinden, gelten.

Dr. Corinna Hauswedell, Historikerin, arbeitet am Bonn International Center for Conversion (BICC) und ist Vorsitzende der Informationsstelle Wissenschaft und Frieden (IWIF)

zum Anfang | Die „Göttinger Erklärung“ der achtzehn Atomwissenschaftler (12.4.1957)

Die Pläne einer atomaren Bewaffnung der Bundeswehr erfüllen die unterzeichneten Atomforscher mit tiefer Sorge. Einige von ihnen haben den zuständigen Bundesministern ihre Bedenken schon vor mehreren Monaten mitgeteilt. Heute ist eine Debatte über diese Frage allgemein geworden. Die Unterzeichneten fühlen sich daher verpflichtet, öffentlich auf einige Tatsachen hinzuweisen, die alle Fachleute wissen, die aber der Öffentlichkeit noch nicht hinreichend bekannt zu sein scheinen.

1. Taktische Atomwaffen haben die zerstörende Wirkung normaler Atombomben. Als „taktisch“ bezeichnet man sie, um auszudrücken, daß sie nicht nur gegen menschliche Siedlungen, sondern auch gegen Truppen im Erdkampf eingesetzt werden sollen. Jede einzelne taktische Atombombe oder -granate hat eine ähnliche Wirkung wie die erste Atombombe, die Hiroshima zerstört hat. Da die taktischen Atomwaffen heute in großer Zahl vorhanden sind, würde ihre zerstörende Wirkung im ganzen sehr viel größer sein. Als „klein“ bezeichnet man diese Bomben nur im Vergleich zur Wirkung der inzwischen entwickelten „strategischen“ Bomben, vor allem der Wasserstoffbomben.

2. Für die Entwicklungsmöglichkeit der lebensausrottenden Wirkung der strategischen Atomwaffen ist keine natürliche Grenze bekannt. Heute kann eine taktische Atombombe eine kleinere Stadt zerstören, eine Wasserstoffbombe aber einen Landstrich von der Größe des Ruhrgebiets zeitweilig unbewohnbar machen. Durch Verbreitung von Radioaktivität könnte man mit Wasserstoffbomben die Bevölkerung der Bundesrepublik wahrscheinlich heute schon ausrotten. Wir kennen keine technische Möglichkeit, große Bevölkerungsmengen vor dieser Gefahr sicher zu schützen.

Wir wissen, wie schwer es ist, aus diesen Tatsachen die politischen Konsequenzen zu ziehen. Uns als Nichtpolitikern wird man die Berechtigung dazu abstreiten wollen; unsere Tätigkeit, die der reinen Wissenschaft und ihrer Anwendung gilt und bei der wir viele junge Menschen unserem Gebiet zuführen, beläd uns aber mit einer Verantwortung für die möglichen Folgen dieser Tätigkeit. Deshalb können wir nicht zu allen politischen Fragen schweigen. Wir bekennen uns zur Freiheit, wie sie heute die westliche Welt gegen den Kommunismus vertritt. Wir leugnen nicht, daß die gegenseitige Angst vor den Wasserstoffbomben heute einen wesentlichen Beitrag zur Erhaltung des Friedens in der ganzen Welt und der Freiheit in einem Teil der Welt leistet. Wir halten aber diese Art, den Frieden und die Freiheit zu sichern, auf die Dauer für unzuverlässig, und wir halten die Gefahr im Falle des Versagens für tödlich.

Wir fühlen keine Kompetenz, konkrete Vorschläge für die Politik der Großmächte zu machen. Für ein kleines Land wie die Bundesrepublik glauben wir, daß es sich heute noch am besten schützt und den Weltfrieden noch am ehesten fördert, wenn es ausdrücklich und freiwillig auf den Besitz von Atomwaffen jeder Art verzichtet. Jedenfalls wäre keiner der Unterzeichneten bereit, sich an der Herstellung, der Erprobung oder dem Einsatz von Atomwaffen in irgendeiner Weise zu beteiligen.

Gleichzeitig betonen wir, daß es äußerst wichtig ist, die friedliche Verwendung der Atomenergie mit allen Mitteln zu fördern, und wir wollen an dieser Aufgabe wie bisher mitwirken.

Fritz Bopp • Max Born • Rudolf Fleischmann • Walther Gerlach • Otto Hahn • Otto Haxel • Werner Heisenberg • Hans Kopfermann • Max v. Laue • Heinz Maier-Leibnitz • Josef Mattauch • Friedrich-Adolf Paneth • Wolfgang Paul • Wolfgang Riezler • Fritz Strassmann • Wilhelm Walcher • Carl Friedrich Frhr. v. Weizsäcker • Karl Wirtz

zum Anfang | Zur Rolle nuklearer Waffen in der russischen Politik

von Otfried Nassauer

Braucht Rußland heute und morgen Nuklearwaffen? In dieser Frage gibt es nationalen Konsens. Alle – militärische Experten, zivile Forscher und Politiker – fordern einstimmig: Rußland braucht nukleare Waffen – heute so sehr wie in der Zukunft.“ Starke Worte in einer Studie der Russisch-Amerikanischen Universität (RAU), angefertigt im vergangenen Jahr für die russische Duma. Die atomwaffenfreie Welt im Jahre 2000 – für Michail Gorbatschow mag sie ganz oben auf der Tagesordnung gestanden haben, unter Boris Jelzin hat sie kaum Priorität. Die Duma zeigt sich wenig geneigt, den START-II-Vertrag zu ratifizieren; mit der Abrüstung taktischer Atomwaffen geht es langsamer voran als vorgesehen. Der so hoffnungsvoll Geschwindigkeit gewinnende atomare Abrüstungszug droht zum Stillstand zu kommen.

Der Gründe gibt es viele. Die geplante Ausdehnung der NATO nach Osten droht zu einer grundsätzlichen Neubewertung atomarer Waffen für die Sicherheit Rußlands zu führen. Dies gilt für strategische wie für taktische Atomwaffen. Nuklearwaffen, so glauben viele in Rußland, sind die letzte Garantie für den Status der Nation als Großmacht. Sie zwingen den Westen, sich gegenüber Rußland kooperativ zu verhalten. Andere betonen, daß atomare Waffen angesichts der wirtschaftlichen Lage die billigste Form der Abschreckung darstellen – auch gegen einen konventionellen Angriff der NATO mit überlegenen Kräften. So gewinnen Nuklearwaffen angesichts der gegenwärtigen »Schwäche« Rußlands eine neue Legitimation, die weltweit die weitere atomare Abrüstung blockieren kann.

Die russische Opposition gegen START-II

In der russischen Diskussion über die strategischen Atomwaffen dominieren folgende Positionen:

  • Der START-II-Vertrag ist auf Dauer nicht im Interesse Rußlands, da Rußland, wollte es die ihm in diesem Vertrag zugestandenen Höchstgrenzen an Nuklearwaffen auf den jeweils zulässigen Trägersysteme dauerhaft ausschöpfen, bis zu 690 landgestützte Interkontinentalraketen mit je einem Sprengkopf neu bauen, beschaffen und bezahlen müßte. Für die USA bestehe keine vergleichbare Notwendigkeit zur Umstrukturierung ihrer Triade aus land-, see- und luftgestützten Atomstreitkräften. Die Alternative, mittelfristig eine deutliche nukleare Unterlegenheit gegenüber den USA in Kauf zu nehmen oder aber erhebliche finanzielle Ressourcen, die anderweitig viel dringender benötigt werden, in die Aufrechterhaltung nuklearer Parität zu investieren, sei für Rußland unvorteilhaft. Die unter START-II gemachten Zeitvorgaben für die weitere Abrüstung seien für Rußland aus wirtschaftlichen Gründen kaum einhaltbar.
  • Der Vertrag gestatte es sowohl den USA als auch Rußland im Falle eines Ausscherens aus den Vereinbarungen, die Zahl ihrer strategischen Atomwaffen wieder zu vergrößern. Für Rußland sei nachteilig, daß START-II den USA eine viel raschere und umfangreichere Vergrößerung ihres Potentials ermögliche.
  • Das Rußland durch den Vertrag erlaubte Atomwaffenpotential sei erheblich verwundbarer als das amerikanische. Rußlands U-Boote und die kleine Bomberflotte seien technologisch unterlegen und die landgestützten strategischen Interkontinentalraketen seien künftig bei einem Angriff erheblich leichter zu dezimieren.
  • Die Erweiterung der NATO verschlimmere die Lage im Verein mit neuen technischen Entwicklungen erheblich. Zum einen könnten die USA taktische luftgestützte Nuklearwaffen künftig in einer Krise geographisch näher an den russischen Grenzen und den russischen strategischen Atomwaffen stationieren. Den taktischen Atomwaffen der USA komme damit für Rußland künftig strategische Bedeutung zu.12 Zum anderen führe die zunehmende Ausstattung der NATO-Streitkräfte mit konventionellen, luftgestützten präzisionsgelenkten Abstandswaffen dazu, daß auch diese zu einer erheblichen Gefährdung des strategisch-nuklearen Potentials Rußlands werden.
  • Schließlich sei der Versuch konservativer Kräfte in den USA, den ABM-Vertrag auszuhebeln und ab 2003 ein nationales Raketenabwehrsystem zu stationieren, auf eine Reduzierung und späte Ausschaltung der russischen Zweitschlagsmöglichkeit gerichtet.

NATO-Erweiterung, KSE-Vertrag und die Rolle nuklearer Waffen

Große Sorgen macht der russischen Politik darüberhinaus der Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE). Der Vertrag kann als letztes rüstungskontrollpolitisches Kind des Kalten Krieges gelten. In ihm werden für eine der NATO entsprechende westliche Staatengruppe und eine dem ehemaligen Warschauer Pakt entsprechende östliche Staatengruppe Obergrenzen für konventionelle Großwaffensysteme wie Panzer, Geschütze, Kampfhubschrauber und Flugzeuge festgelegt. Die Auflösung des Warschauer Paktes und später der Sowjetunion haben aber die sicherheitspolitische Landkarte Europas weitgehend verändert, so daß die Regelungen des KSE-Vertrages angepaßt werden müssen.

Russische Politiker und Militärs betonen immer wieder, daß durch die NATO-Erweiterung eine konventionelle Überlegenheit der NATO in der Größenordnung von drei oder gar vier zu eins entstehe.13 Überlegenheit in dieser Größenordnung schafft – so die Theorie militärischen Denkens – die Gelegenheit, erfolgversprechend Angriffe durchzuführen. Da die NATO zudem – der Golfkrieg gilt in Rußland vielen als Beleg – über qualitativ bessere Waffen verfüge, verschärfe sich aus russicher Sicht das Problem. Rußland könne ohne Ausscheren aus dem KSE-Vertrag und ohne enorme finanzielle Aufwendungen seine konventionelle Unterlegenheit nicht ausgleichen. Taktische Atomwaffen seien deshalb eine relativ preiswerte Alternative zu konventioneller Aufrüstung und Vertragsbruch. Der russische Atomminister Michailov wurde im September letzten Jahres deutlich: Rußland könne, so spekulierte er, auf die Erweiterung der NATO mit dem Bau einer neuen Generation taktischer Atomwaffen kleinster Sprengkraft reagieren und diese bei der Rohr- und Raketenartillerie sowie bei der Luftwaffe stationieren. 10.000 solcher neuen Sprengköpfe, gebaut aus dem recycelten Bombenstoff der zur Abrüstung anstehenden alten Atomwaffen, seien realisierbar. Der Teststopp-Vertrag müsse dafür nicht verletzt werden – lediglich über eine Kündigung des INF-Vertrages müsse vielleicht nachgedacht werden.

Auch wenn Michailov im Kreml für diese Arbeitsbeschaffungsmaßnahme Zustimmung finden dürfte: Viele der russischen Argumente sind gute alte Bekannte. Es sind die Argumente der NATO aus den siebziger und achtziger Jahren. Sie prägten die NATO-Strategie der flexiblen Antwort und das Denken in militärischen Kräftebalancen. Es sind – unter umgekehrten Vorzeichen – die Argumente aus einem gespaltenen Europa. Die Erweiterung der NATO – so wird es von dem größten Teil der russischen Eliten gesehen – wird eine neue Spaltung Europas, neue Trennlinien durch den alten Kontinent hervorrufen.

Nuklearwaffen in der russischen Militärdoktrin

Eine mögliche Neubewertung der atomaren Waffen hatte sich in Rußland bereits 1993 angedeutet. Damals wurde ein Dokument über »Die Grundzüge der Militärdoktrin« durch den Sicherheitsrat der Russischen Föderation gebilligt und veröffentlicht.

Das Dokument weist den Nuklearwaffen im Kern fünf Aufgaben zu: Die Abschreckung gegenüber dem US-Nuklearpotential, die Abschreckung gegenüber den Atomwaffen der anderen erklärten Atommächte, die Abschreckung eines konventionellen Angriffs auf das atomare Potential Rußlands und dessen wesentliche Infrastruktur, die Abschreckung eines großen konventionellen Angriffs sowie die Rückversicherung gegenüber Risiken aus der Proliferation. Detailliertere Forderungen hinsichtlich des erforderlichen Atomwaffenpotentials oder Beschreibungen der Einsatzstrategie sind nicht enthalten. Ebensowenig fordert das Dokument die Fähigkeit, mit Nuklearwaffen einen Krieg führen und gewinnen zu können. Abschreckung mit dem Ziel, einem „Agressor den intendierten Schaden garantiert zufügen“ zu können, steht im Zentrum.

Allerdings wiederholt das Dokument den seit 1982 gültigen deklaratorischen Verzicht der Sowjetunion auf einen Ersteinsatz von Atomwaffen nicht länger, sondern formuliert vier Ausnahmen, in denen Rußland auch auf einen Ersteinsatz zurückgreifen könnte: gegenüber einer nuklearen Macht, Verbündeten einer Atommacht, die sich an einem Angriff auf Rußland beteiligen, gegenüber anderen Staaten, die sich einem solchen Angriff anschließen und gegenüber Staaten, die dem NPT nicht beigetreten sind.

Implizit werden bereits zu diesem Zeitpunkt die mittel- und osteuropäischen Staaten gewarnt: Die Mitgliedschaft in der NATO oder die Beteiligung an militärischen Aktivitäten gegen Rußland werde sie der russischen Drohung mit dem Ersteinsatz atomarer Waffen aussetzen.

Die Interpretierbarkeit der »Grundzüge der Militärdoktrin« dürfte gewollt sein. Die russische Politik will sich ihre endgültige Entscheidung über Umfang und Funktion ihres Nuklearpotentials offenhalten, bis die grundlegenden Entscheidungen über die künftigen Strukturen europäischer Sicherheit gefallen sind.

Diese Entscheidungen stehen in den kommenden zweieinhalb Jahren an. Ihre Grundlinien sollen – unter dem Druck des NATO-Zeitplans für die Aufnahme neuer Mitglieder – noch bis zum NATO-Gipfel im Juli 1997 festgelegt sein.

Neue Kompromißlinien – neue Abrüstungschancen?

Seit Ende letzten Jahres reagieren die NATO-Staaten erstmals mit signifikanten Veränderungen ihrer Positionen auf die veränderte Diskussion in Rußland. Die hohe Priorität, die Washington und Brüssel der politischen Durchsetzung der Osterweiterung der Allianz zumessen, fordert rüstungskontrollpolitische Kompromisse.

Der damalige US-Verteidigungsminister William Perry signalisierte, über ein START-III Rahmenabkommen könne verhandelt werden, ohne daß Rußland zuvor den START-II-Vertrag ratifiziere. Die Möglichkeit eines solchen Vorgehens wird mittlerweile in bilateralen Gesprächen auf hoher Ebene ausgelotet. Dabei zeigte sich, daß letztlich auch im Bereich der atomaren Gefechtsfeldwaffen in Europa neue Bewegung enstehen könnte.

Um russischen Befürchtungen entgegenzutreten, die NATO werde taktische Nuklearwaffen auf dem Boden der neuen Mitgliedsstaaten und damit erheblich näher an Rußland und dessen strategischen Atomwaffen stationieren, erklärte der NATO-Rat im Dezember 1996: „die NATO-Länder (haben) nicht die Absicht, keine Pläne und auch keinen Anlaß, nukleare Waffen auf dem Hoheitsgebiet neuer Mitglieder zu stationieren (… – und wir sehen dazu auch in Zukunft keine Notwendigkeit.“

Aus russischer Sicht ist dies ein erster Schritt in die richtige Richtung, allerdings kein hinreichender. Zum einen will Rußland, daß die NATO auch in Krise oder Krieg keine Atomwaffen in den neuen Mitgliedsstaaten stationiert. Indirekt wird damit auch ein Verzicht auf den Aufbau einer Infrastruktur zur Lagerung von Atomwaffen für den Krisenfall gefordert. Zum anderen möchte Rußland den Verzicht der NATO rechtlich bindend verankert wissen. Als Präzedenzfall gilt Rußland dabei der 2+4-Vertrag.

Die letzte Forderung bringt die NATO in eine Zwickmühle. Kann das Bündnis rechtlich verbindlich auf die Stationierung nuklearer Waffen auf dem Territorium von Staaten verzichten, die sich das Recht auf eine solche Stationierung und die Mitwirkung an der nuklearen Teilhabe der NATO für die Zukunft vorbehalten wollen? Würde die NATO nicht zwei Klassen von Bündnismitgliedern unterschiedlicher Rechte und Pflichten schaffen?

Auch hier deutet sich ein möglicher Ausweg an: Alle nuklearen Gefechtsfeldwaffen, die in den neuen Mitgliedsstaaten der Allianz stationiert werden könnten, gehören den USA. Als Nationalstaat können die USA eine bindende Zusage abgeben, auf die Stationierung atomarer Gefechtsfeldwaffen in den neu aufzunehmenden NATO-Staaten zu verzichten. In bilateralen amerikanisch-russischen Gesprächen wird deshalb ventiliert, ob eine für Rußland hinlängliche Zusage in den Kontext einer Rahmenvereinbarung über START-III aufgenommen werden kann.

Manche Überlegungen gehen noch einen Schritt weiter. Wird im Rahmen von START-III erst einmal über taktische Atomwaffen geredet, so könnten dort (oder in entsprechenden Zusatzprotokollen) auch weitere Abrüstungsvereinbarungen über atomare Gefechtsfeldwaffen in Europa und anderswo aufgenommen werden. Damit könnte ein einheitlicher Rahmen für alle nuklearen Abrüstungsbemühungen und einheitliche Obergrenzen für taktische und strategische, aktive und inaktive Atomsprengköpfe entstehen. Auch Zahlen wurden in diesem Zusammenhang bereits genannt: Zwischen 1.000 und 2.500 Atomsprengköpfe würde jede der beiden Seiten behalten.14

Ein solches Vorgehen weist auch aus NATO-Sicht erhebliche Vorteile auf. In Brüssel hegt man seit geraumer Zeit Befürchtungen, daß Rußland die 1991 einseitig versprochenen Reduzierungen und Außerdienststellungen taktisch-nuklearer Gefechtsfeldwaffen bis heute nicht vollständig umgesetzt hat. In Rußland seien – so die NATO – wahrscheinlich weiterhin Tausende, wenn nicht mehr als zehntausend taktische atomare Gefechtsfeldwaffen vorhanden. Gleichgültig, ob Rußland seine zugesagten Reduzierungen aus finanziellen Gründen oder aus Mangel an geeigneten Delaborierungskapazitäten nicht umsetzen konnte oder ob die russische Administration diese Selbstverpflichtungen aus außen- oder innenpolitischen Gründen nicht vollständig umsetzen wollte: Auf diese Waffen wollen jene russischen Militärs zurückgreifen, die mit einer russischen Kopie der NATO-Strategie der flexiblen Antwort auf die konventionelle Überlegenheit der NATO antworten wollen. Sie verweisen damit auch auf ein weiteres Problem: Rußland wird weitreichenden nuklearen Abrüstungsschritten nur dann zustimmen können, wenn die NATO ihm auch bei KSE-2, der konventionellen Abrüstung, deutlich weiter als bisher entgegenkommt.15

Die äußerst enge Verzahnung der Problembereiche NATO-Erweiterung, Aktualisierung des KSE-Vertrages, START-III und NATO-Rußland Verhältnis wird deutlich: Solange die NATO ihr Versprechen einer strategischen Partnerschaft mit Rußland nicht auch aus russischer Sicht erfüllt und solange in Rußland Befürchtungen existieren, die NATO könne sich erneut als Gegner erweisen, solange blockiert die NATO-Erweiterung sowohl die konventionelle als auch die nukleare Rüstungskontrolle. Sicherheit in Europa kann nur mit Rußland, nicht aber gegen Rußland gestaltet werden.

Otfried Nassauer leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit (BITS)

zum Anfang | IPPNW-Bericht über primitive Kernwaffen

Erneut haben die Internationalen Ärzte zur Verhütung des Atomkriegs (IPPNW) vor dem Risiko nuklearer Erpressung durch terroristische Gruppen gewarnt, da seit dem Ende des Kalten Kriegs Atommaterial immer leichter zu beschaffen sei und aufgrund des ohnehin problemlosen Zugangs zu den für den Bau eines einfachen Kernsprengsatzes erforderlichen Informationen.

Der von der IPPNW vorgestellte Bericht »Crude Nuclear Weapons: Proliferation and Terrorist Threat« analysiert eingehend die Bestandteile und das technische Know-how, die für den Bau der drei Typen von »Mini-Nukes« erforderlich sind, die am leichtesten in die Hand von Terroristen fallen können. Diese Typen wären:

  • Sprengsätze vom Hiroshima-Typ (gun type), die die geringsten Konstruktionsprobleme bereiten, aber große Mengen an hochangereichertem Uran erfordern würden – ein Material, das sich nach wie vor unter strenger militärischer Kontrolle befindet.
  • Implosionsgezündete Sprengsätze nach Art der 1945 über Nagasaki abgeworfenen Bombe wären schwieriger zu konstruieren, und ihre Herstellung wäre mit größeren Risiken verbunden. Man würde für sie jedoch nur umgewandeltes Reaktorplutonium benötigen. Eine Waffe dieser Art herzustellen, so die Einschätzung der Autoren, läge durchaus im Rahmen der Möglichkeiten einer kleinen Gruppe, die über größere finanzielle Mittel verfügt.
  • Der dritte Typ ist ebenfalls ein implosionsgezündeter Sprengsatz, für den jedoch leichter zu beschaffendes Plutoniumoxid verwendet wird. Er wäre am leichtesten zu konstruieren. Doch seine Sprengkraft sei nur schlecht kalkulierbar. Andererseits könnte er gerade durch seine Fähigkeit, weite Flächen mit Plutonium und anderem radioaktivem Material zu kontaminieren, für terroristische Organisationen besonders attraktiv werden.

Die Autoren kommen zu dem Ergebnis, daß eine terroristische Gruppe, die entschlossen genug ist, sich 55-60 Kilogramm hoch angereichertes Uran oder kleinere Mengen Plutonium oder Plutoniumoxid zu verschaffen, eine primitive Kernwaffe bauen könnte. Die Maßnahmen der Staaten zur Sicherung spaltbaren Materials (u.a. des bei der Verschrottung von Atomwaffen angefallenen) seien „chaotisch und ineffizient“. In Rußland würden Maßnahmen, die das kriminelle Abzweigen von Atommaterial ausschlössen, durch die dortigen politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse zusätzlich erschwert. Und es sei nicht unwahrscheinlich, daß einige terroristische Gruppen einen Kernsprengsatz bauen würden, falls sich ihnen die Gelegenheit dazu bietet.

In der Zusammenfassung ihres Berichts fordert die IPPNW:

  • Die internationale Kontrolle spaltbaren Materials zu verschärfen und Schritte zu seiner Endlagerung in die Wege zu leiten;
  • das Problem der weltweiten Nachfrage nach spaltbarem Material, sei es ziviler oder militärischer Herkunft, bei seinen Wurzeln anzugehen;
  • internationale Lösungen für die Probleme der Atomproliferation und eines möglichen Atomterrorismus zu entwickeln, die über die eng definierten »nationalen Sicherheitsinteressen« der USA, Rußlands und anderer Atomwaffenstaaten hinausgehen;
  • anzuerkennen, daß die endgültige Abschaffung der Atomwaffen die einzige sinnvolle Möglichkeit ist, langfristig den Gefahren zu begegnen, die von einem möglichen Atomterrorismus ausgehen.

Kein Erpressungsversuch wäre durchschlagender, als wenn es einem Terroristen gelänge, eine ganze Stadt zur Geisel zu nehmen“, meint Bernard Lown, der Mitbegründer und langjährige Co-Präsident der IPPNW in seinem Vorwort. „Kein anderes Zerstörungsinstrument kann einem Gemeinwesen größere Verheerungen zufügen oder einer größeren Zahl von Menschen das Leben kosten. Nur zu bald könnten Terroristen auf den Gedanken kommen, nicht nur ein einzelnes Gebäude in Schutt und Asche zu legen, sondern eine ganze Großstadt zusammen mit ihrem Einzugsgebiet mittels einer Kernwaffe in ein atomares Inferno zu verwandeln.“

(Geschrieben wurde »Crude Nuclear Weapons« von dem Geschäftsführer von IPPNW International, Gururaj Mutalik, dem Kernphysiker und Abrüstungsexperten Frank Barnaby und den wissenschaftlichen Beratern Peter Taylor und David Summer. Der Bericht ist der erste einer neuen Serie von IPPNW-Publikationen mit dem Titel »Global Health Watch Reports«.)

John Loretz, Redaktion Medicine And Global Survival
Übersetzung: Sebastian Scholz
Dieser Artikel wurde erst in „Arzt und Umwelt/Medizin und Globales Überleben“, 1/97 veröffentlicht.
Die volle Studie in englischer Sprache (70 Seiten) oder eine Zusammenfassung auf deutsch (20 Seiten) sind von der IPPNW-Geschäftstelle, Körtestr. 10, 10967 Berlin, zu beziehen.

zum Anfang | Folgen der französischen Atomtests im Südpazifik

von Steffen Rogalski

Bei der Untersuchung geologischer Folgen und Risiken der französischen Atomtests in Polynesien geht es zum einem um die Folgen von atomaren Explosionen in vulkanischen Atollen generell und zum anderen um die speziellen Folgen für Mururoa und Fangataufa. Dabei ist interessant zu wissen, daß die USA ihre Tests auf pazifischen Inseln unter anderem wegen deren ungünstiger geologischer Strukur einstellten.16 Auch die Untersuchungen des Instituts für Ozeanographische Wissenschaften in South Hampton auf ähnlichen vulkanischen Inseln (Hawaii und Kanaren) bestätigten die besonderen Risiken.17

Bereits 1979 waren die Schäden an der 24 Kilometer langen Riffkrone Mururoas erheblich. In französischen Militärkarten aus dem Jahre 1980 ist eine 3,50 Meter breite und mehrere Kilometer lange Spalte verzeichnet, ebenso wie mehrere Spalten längs und seitwärts. Deswegen warnten bereits 1981 auf dem Atoll arbeitende Ingenieure vor einem weiteren Absinken der Insel. 1987 besuchte der französische Meeresforscher Jacques Cousteau Mururoa. Seine Aufnahmen von meterbreiten Rissen in den Inselflanken unter Wasser, die von einem Forschungs-U-Boot in 200 Meter Tiefe aufgenommen wurden, wanderten um die ganze Welt. Außerdem stellte Cousteau hohe Konzentrationen von radioaktivem Jod 131 im Sediment der Lagune und im Plankton fest. Wegen der geringen Halbwertzeit dieses Stoffes (acht Tage) konnte dies kein Überbleibsel vergangener Atomtests in der Atmosphäre sein, sondern mußte von unterirdischen Explosionen stammen. Cousteau machte sich aber damals die nie offiziel belegte Erklärung zu eigen, daß das Jod 131 durch die defekte Ventilklappe eines Testbohrlochs an die Oberfläche gelangt sei und nicht durch Gesteinsrisse. Das Cousteau-Team wollte diese These allerdings nicht bestätigen. (IPPNW 1995, S. 116)

Die Brüchigkeit des Mururoa-Atolls veranlaßte aber offensichtlich die französischen Militärs dazu, einerseits die Tests aus dem Atollring in den Lagunenboden zu verlagern und andererseits Tests mit größerer Sprengkraft auf Fangataufa durchzuführen.

Am 12. Juli 1995 berichtete die »tageszeitung« über Spalten und Risse in den Atollen und erläuterte die Ergebnisse mehrerer Untersuchungen. Untersuchungen, die unvollständig blieben, da die unabhängigen Experten nicht länger als ein paar Tage auf den Inseln bleiben durften und ihre Experimente teilweise reglementiert wurden. Der populäre Vulkanologe Haroun Tazieff z.B. weilte ganze drei Tage auf Mururoa. Er kam trotz der Kürze der Zeit zu der Einschätzung, daß bei einer Explosion im Sommer 1979, bei dem ein Sprengsatz in nur 400 Meter Tiefe gezündet wurde, ein eine Million Kubikmeter großer Brocken vom Atollring abgesprengt wurde.

Die Pariser Zeitung Le Monde veröffentlichte am 3. Oktober 1995 eine Skizze des Mururoa-Atolls, die offensichtlich nur für den internen Dienstgebrauch der militärischen Befehlshaber des Versuchszentrums bestimmt war. Danach gab es schon Anfang der achtziger Jahre auf dem Atoll Risse, die sich in Quer- und Längsrichtung bis zu 8,5 Kilometer weit erstreckten. Die Risse, die später mit Zement geschlossen wurden, wurden zu einer Zeit festgestellt, als auf der Insel »nur« etwa 30 unterirdische Atomtests stattgefunden hatten; danach folgten noch etwa 100. Die Direktion des Versuchszentrums bestätigte, daß sich um die Explosionsherde herum immer wieder Risse bildeten, diese würden aber die Haltbarkeit des Atolls nicht tangieren. Die radioaktiven Rückstände blieben bis zu 99 Prozent in dem (in 500 bis 1.000 Meter Tiefe) durch die Hitzeentwicklung der Explosion zugeschmolzenen Hohlraum eingeschlossen.18

Demgegenüber steht unter anderem die Erfahrung von Grenpeace. Die Umweltschutzorganisation stellte im Jahre 1990 außerhalb der Zwölf-Meilen-Sperrzone rund ums Mururoa-Atoll bei Planktonproben eine erhöhte Konzentration des Cäsiumisotops 134 fest. Da dieses Isotop nicht im Fallout von atmosphärischen Atomtests vorkommt, kann es nur aus den unterirdischen Versuchen stammen. Mururoa gibt also heute schon radioaktive Substanzen aus unterirdischen Tests ab.

Über eine zusätzliche Verseuchung der Landfläche von Mururoa durch radioaktiven Müll berichtet eine internationale IPPNW Kommision. Dort heißt es: „Dank dieser Praktiken im Umgang mit Atommüll (auf Mururoa) befinden sich auf dem Grund der Lagune schätzungsweise 20 Kilogramm Plutonium 239. Das Team aus Australien, Neuseeland und Papua-Neuguinea schätzte, daß jährlich 20 Gigabequerel Plutonium 239 aus der Lagune ins Meer gelangen. Diese Aussage stimmt überein mit der Entdeckung des Cousteau-Teams, daß die Konzentration von Plutonium 239 an der Einfahrt der Lagune zehnmal höher ist als in der Lagune selbst. Sie wiesen auch darauf hin, daß die festgestellten Konzentrationen in der Grundschicht der Lagune und im Wasser viel zu hoch sind, um dem globalen atmosphärischen Fallout zugeschrieben werden zu können, und daher lokalen Ursprungs und auf die Remobilisierung sedimentärer Ablagerungen zurückzuführen sind.“ (IPPNW 1995, S.118f)

Beängstigend sind auch zahlreiche Prognosen. Nach einem geothermischen Computermodell (Simulationsprogramm) der Professoren Hochstein und O'Sullivan19 von der neuseeländischen Universität Auckland von 1985 setzt das von Seewasser getränkte Gestein, in dem die Atombombe explodierte, ein künstliches geothermisches System in Gang. Die extrem aufgeheizte Explosionskammer steigt demnach wie in einem Kamin nach oben, und zwar mit einer Geschwindigkeit von zehn Metern pro Jahr. Bei einer Sprengtiefe von 500 Metern würden die Radionuklide nach dieser Studie innerhalb von 50 Jahren die Erdoberfläche erreichen und nicht erst nach einem Jahrtausend, wie französische Behörden verlauten ließen.20

Jahrelang wurden Untersuchungen unabhängiger Wissenschaftler zu den Folgen der Atomtests auf den Pazifikinseln be- oder auch verhindert. Selbst ein Untersuchungsteam der EU durfte nach den letzten Explosionen Teile des Mururoa-Atolls und Fangataufa nicht inspizieren.21

Jetzt soll unter der Federführung des Beratungsausschusses der Internationalen Atomenergieorganisation eine Studie über die radiologische Situation der ehemaligen Atomtestgebiete Mururoa und Fangataufa erstellt werden. Eingeladen sind über 75 Wissenschaftler aus 20 Ländern. Die Studie soll allgemein die mögliche Betroffenenheit von Menschen durch das Freiwerden radioaktiver Stoffe und die geologische Situation der Atolle untersuchen, weiter sollen die Wissenschaftler Empfehlungen erarbeiten über die Form, das Ausmaß und die Dauer einer weiteren Beobachtung. Eine Untersuchung der Atomtestfolgen auf den Menschen ist im Rahmen dieser Studie nicht vorgesehen.

Dabei liegt auch die Notwendigkeit einer solchen Untersuchung auf der Hand. Nach Gabriel Tetiarahi, Koordinator der tahitianischen Nichtregierungsorganisation Hiti Tau leiden ungefähr 90 Prozent von 1.000 interviewten Arbeitern, die auf den Testgeländen beschäftigt waren, an verschiedenen Arten von Krebs (Hussein 1997a, 14). Die UNO schätzte die Anzahl der Strahlentoten infolge der ober- und unterirdischen Atomtests im Pazifik allein bis 1980 auf 15.000 Menschen. (Worm 1995).Doch die Vergangenheit scheint nicht zu interessieren in Französisch-Polynesien, wo in den Statistiken ohnehin nur 60 Prozent der Todesursachen erfaßt wurden.

Steffen Rogalski, Diplompolitologe, Vorsitzender des Arbeitskreises für Friedenspolitik – Atomwaffenfreies Europa

zum Anfang | Atomwaffenfreie Zonen – Beispiel für Europa

von Xanthe Hall

Vertraglich abgesicherte, atomwaffenfreie Zonen überziehen fast die gesamte südliche Welthemisphäre. Afrika, Lateinamerika, Antarktis, Südostasien und der Südpazifik zeigen uns damit den juristisch und ethisch einwandfreien Weg zu einer atomwaffenfreien Welt. Die dort abgeschlossenen Abkommen sind über viele Jahre verhandelt worden. Zur Zeit werden weitere derartige Zonen in Südasien, im Nahen Osten und in Ostasien offiziell ins Auge gefaßt. Warum, so bleibt angesichts dieser Entwicklungen zu fragen, sollten nicht auch in Europa atomwaffenfreie Zonen gebildet werden? Es wäre nicht zuletzt auch eine vertrauensbildende Maßnahme zwischen der NATO und Russland.

Seit 1959, als der Antarktis-Vertrag zur Unterschrift freigegeben wurde, sind insgesamt fünf Verträge über atomwaffenfreie Zonen abgeschlossen worden. Letztes Jahr unterschrieben 43 Staaten Afrikas den Pelindaba-Vertrag; ein Jahr davor wurde Südostasien (SEANWFZ) atomwaffenfrei. 1986, mitten im Kalten Krieg, erklärten sich alle Inseln des Südpazifiks, samt Australien und Neuseeland und einschließlich ihrer Meere, für atomwaffenfrei (Raratonga-Vertrag). Die Länder Lateinamerikas mit ihren Gewässern waren die ersten, nach der Antarktis, die 1967 einen Vertrag über Atomwaffenfreiheit abgeschlossen haben, der allerdings erst jetzt in Kraft tritt (Tlateloco-Vertrag).

Das Enstehen und die Verpflichtungen der Zonen

Atomwaffenfreie Zone, das bedeutet nicht nur, daß keine Atomwaffen in der definierten Zone stationiert werden dürfen. Meistens wird vertraglich eine Verpflichtung mit den atomwaffenbesitzenden Staaten vereinbart, Atomwaffen nicht gegen die Staaten in dieser Region einzusetzen oder gar damit zu drohen, sowie keine Atomtests in der Region durchzuführen. (Frankreich hat deshalb auch den Raratonga-Vertrag erst 1996, nach seiner letzten Atomtestreihe, unterzeichnet).

Die fünf Verträge sind vor einem unterschiedlichen Hintergrund entstanden und unterscheiden sich dementsprechend in vielen Punkten voneinander. Der Pelindaba-Vertrag z.B. schließt Afrikas Gewässer nicht ein. Mit dem Vertrag wollten die afrikanischen Staaten den Atomwaffenverzicht der Republik Südafrika absichern. Deshalb beinhaltet er ein Verbot auf Atomwaffenforschung und eine Verpflichtung, alle aus der Zeit vor dem Vertrag existierenden Atomwaffen zu zerstören. Der Raratonga-Vertrag ist aus dem Protest gegen französische Atomtests entstanden. Im Mittelpunkt steht deshalb das Verbot des Testens von Atomwaffen und der Deponierung von Atommüll im Meer. Tlateloco war eine Reaktion auf die Kuba-Krise 1962, nach Hiroshima und Nagasaki sicher der Zeitpunkt, zu dem die Gefahr eines Einsatzes von Atomwaffen am größten war. Kuba unterzeichnete den Vertrag übrigens erst 1995.

Atomwaffenfreie Zonen sind vor allem vertrauensbildende Maßnahmen. Sie können helfen, die Spannung in einer Konfliktsituation zu reduzieren und die Unbeteiligten zwischen den Konfliktparteien zu schützen. In Südostasien wollen die Vertragsparteien insbesondere Sicherheitsgarantien von China. Es geht ihnen um die völkerrechtlich verbindliche Zusicherung, daß China nie Atomwaffen gegen sie einsetzen wird. Die SEANWF-Zone gibt gleichzeitig ein Signal an Indien und Pakistan, die beide immer stärker unter Druck geraten, ihre Atomwaffenstrategie zu erklären und aufzugeben.

Die Konferenz der Vertragsparteien des Atomwaffensperrvertrags diskutiert atomwaffenfreie Zonen seit langem als Teil eines Nichtweiterverbreitungs-Regimes. In den letzten Jahren sind u.a. der Nahe Osten, Mittelasien, Südasien, die koreanische Halbinsel und Zentral- und Osteuropa als mögliche neue atomwaffenfreie Zonen ins Gespräch gekommen.23 Ich möchte auf das letztere fokussieren: Warum eine atomwaffenfreie Zone in Zentral- und Osteuropa bilden?

NATO-Osterweiterung

Die geplante Osterweiterung der NATO hat sowohl in der russischen Bevölkerung als auch bei Regierungs- und Parlamentsvertretern in Moskau für Verstimmung, teilweise sogar für neue Vorbehalte gegenüber dem Westen gesorgt. Dies berichteten Kollegen unserer russischen Sektion der »Ärzte gegen Atomkrieg« (IPPNW) schon 1995 während eines internationalen Workshops in Berlin.

Die Befürchtung der Russen wird genährt durch die Tatsache, daß NATO-Mitgliedsstaaten in aller Regel verpflichtet sind, die Stationierung von Atomwaffen auf ihrem Territorium zu akzeptieren. Aus diesem Grund könnten neue Mitgliedsstaaten der westlichen Verteidigungsallianz dazu benutzt werden, nukleare Sprengköpfe aus westlichen Arsenalen dichter an die Grenzen Rußlands heranzuführen.

Vor dem Hintergrund dieses bedrohlichen Szenarios entschieden die Teilnehmer des Berliner Workshops, sich in der Öffentlichkeit massiv für eine atomwaffenfreie Zone in Zentral- und Osteuropa einzusetzen und damit präventiv gegen die Stationierung westlicher Atomprojektile an Rußlands Grenzen anzugehen. Seitdem haben viele Friedensorganisationen, Forschungsinstitute sowie Vertreter der russischen, weißrussischen und ukrainischen Regierung dazu aufgerufen, diese Initiative zu unterstützen.

Vom Schwarzen Meer bis zur Ostsee

Der Vorschlag, eine atomwaffenfreie Zone in der Region zwischen Ostsee und Schwarzem Meer einzurichten, ist nicht neu.24 Er reicht zurück in die fünfziger Jahre und wurde 1990 von Weißrußland wiederaufgegriffen. Die Initiative wurde seitdem wiederholt bei internationalen Treffen thematisiert.25 Aber ausgerechnet die Staaten, die zum Kernland einer solchen atomwaffenfreien Zone gehören müßten, die geplanten neuen NATO-Mitgliedsländer Polen, Tschechien26 und Ungarn, erklärten sich öffentlich bereit, die Stationierung von Atomwaffen auf ihrem Territorium zu akzeptieren.

Die NATO hingegen hat in dieser Frage bisher keine eindeutige Position erkennen lassen. Es gebe, wie es heißt „keine a-priori-Pläne für eine Stationierung von Atomwaffen in den neuen Mitgliedsländern“. Für die Zukunft läßt das westliche Verteidigungsbündnis diese Option allerdings offen und besteht darauf, daß die mittel- und osteuropäischen Staaten mit NATO-Affinität ausdrücklich Bereitschaft zur Stationierung von Atomwaffen signalisieren.27

Als Folge dieser neuen Sicherheitslage drohte Rußland mit allen möglichen Sanktionen, einschließlich einer Neubewertung bereits abgeschlossener Abrüstungsabkommen, wie des START-II- und des ABM-Vertrages, falls die NATO die Osterweiterung in die Tat umsetzt.28 Sogar Weißrußland zog noch einen Pfeil aus dem Köcher, indem es wegen der atomaren Stationierungspläne der NATO die bereits angelaufene Verschrottung weißrussischer Arsenale wieder stoppen wollte.

In dieser aufgeheizten Atmosphäre besuchte im Mai 1996 eine internationale IPPNW-Delegation das NATO-Hauptquartier in Brüssel. Gegenüber den IPPNW-Emissären bestätigte Botschafter von Moltke, daß die NATO weder eine atomwaffenfreie Zone unterstütze, noch Atomwaffenfreiheit für die neuen Mitgliedsstaaten garantieren würde. Und dies, obwohl im Bündnis bereits Präzedenzfälle existieren: Die NATO-Mitglieder Norwegen29, Island und Dänemark haben sich vorbehalten zumindest in Friedenszeiten atomwaffenfrei zu bleiben, auch wurde vertraglich festgelegt, daß die ehemalige DDR nach der Wiedervereinigung atomwaffenfrei bleiben muß.30

Auf Anregung von NGO- und IPPNW-Vertretern befürwortete die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) im Juli 1996 bei einem Treffen in Stockholm die Einrichtung atomwaffenfreier Zonen in Europa. Erst durch Initiativen dieser Art war es möglich, daß die NATO während des OSZE-Gipfels vom Dezember vergangenen Jahres in Lissabon ihren Verzicht auf die Stationierung von Atomwaffen in den neuen Mitgliedsstaaten erklärte. Diese Erklärung kann einen völkerrechtlich bindenden Vertrag allerdings nicht ersetzen.

Schlußfolgerungen

Ein Großteil Europas muß, ähnlich wie der Nahe Osten oder Südasien, in denen Regierungen mittlerweile Abkommen über atomwaffenfreie Zonen einfordern, zu einer dauerhaft nuklearwaffenfreien Zone werden. Verträge, die die Zahl der Kernsprengköpfe in bestimmten Gebieten auf Null herunterschrauben, können insgesamt auch zur dauerhaften Reduktion der weltweiten Atomarsenale führen und den »Druck« zur Modernisierung der veralteten Systeme auf diese Weise reduzieren. Atomwaffenfreie Zonen sind insofern ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer Welt ohne nukleare Schreckensszenarien.

Rußland kann in diesem technologischen Waffenwettbewerb ohnehin kaum mehr Schritt halten. Es könnte sich allerdings bei einer Stationierung von NATO-Atomwaffen auf den Territorien seiner Nachbarländer veranlaßt sehen, das eigene Kernwaffenarsenal unter größten finanziellen Kraftanstrengungen beizubehalten und zu modernisieren. Vor diesem Hintergrund wäre eine atomwaffenfreie Zone in Mittel-und Osteuropa genau das richtige politische Signal, um die gespannte Atmosphäre im Verhältnis zwischen Rußland und dem westlichen Verteidigungsbündnis zu entkrampfen. Mit einem entsprechenden Abkommen wären sowohl die Länder West- als auch Osteuropas in der Lage, eine wirklich neue Sicherheitspartnerschaft – ohne Bauchschmerzen wegen atomarer Altlasten – einzuleiten.

Xanthe Hall arbeitet in der deutschen Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges / Ärzte in sozialer Verantwortung (IPPNW) in der Geschäftsführung mit Schwerpunkt Kampagnen.

zum Anfang | Mit Recht für eine atomwaffenfreie Welt. Vom Weltgerichtshof zur Nuklearwaffenkonvention

von Jürgen Scheffran

Am 8. Juli 1996 erklärte der Internationale Gerichtshof (IGH) in Den Haag, daß „die Drohung und der Einsatz von Atomwaffen generell in Widerspruch steht zu den Regeln des Kriegsvölkerrechts und insbesondere zu den Prinzipien und Regeln der Menschenrechte“. Am 10. Dezember stimmten mehr als zwei Drittel der Staaten in der UNO-Generalversammlung für eine Resolution, in der die im IGH-Rechtsgutachten festgestellte Verpflichtung zur nuklearen Abrüstung zum Anlaß genommen wird, unverzüglich Verhandlungen über eine Konvention zur Ächtung und Abschaffung der Kernwaffen (Nuklearwaffenkonvention) zu fordern. Damit erhöht sich der Druck auf die Kernwaffenstaaten, die in Artikel VI des nuklearen Nichtverbreitungsvertrages (NVV) eingegangenen Abrüstungsverpflichtungen einzulösen.

Nukleare Abrüstung stand bei den Vereinten Nationen schon seit ihrer Gründung ganz oben auf der Tagesordnung. In der ersten Resolution der UNO-Generalversammlung von 1946 trat die Staatengemeinschaft einmütig ein für „die Beseitigung von Atomwaffen aus den nationalen Waffenarsenalen“. In den folgenden fünf Jahrzehnten des Kalten Krieges konnte, abgesehen vom NVV und bilateralen Verträgen zwischen den beiden Supermächten, dieses Ziel nicht weiter konkretisiert werden. Ein erster Durchbruch wurde mit der UNO-Resolution 50/70 P vom 12. Dezember 1995 erzielt, in der Verhandlungen über die Abschaffung von Kernwaffen innerhalb eines vorgegebenen Zeitrahmens gefordert werden.

Noch weiter gehen die drei 1996 verabschiedeten UN-Resolutionen. Die schon 1995 vorgelegte Resolution wurde mit 110 Ja-Stimmen erneut angenommen, diesmal jedoch mit dem Vorschlag eines „zeitlich gebundenen Rahmens durch eine Nuklearwaffenkonvention“. Auch eine von Indien vorgelegte Resolution für das Verbot des Einsatzes von Kernwaffen wurde erneut angenommen, ebenfalls mit der zusätzlichen Forderung nach einer Nuklearwaffenkonvention.

Die Zusätze in beiden Resolution sind zurückzuführen auf die von Malaysia vorgelegte Resolution 51/45M »International Court of Justice Advisory Opinion on the Legality of the Threat or Use of Nuclear Weapons«, die schon am 14. November bei der Vorabstimmung im First Committee der UNO-Generalversammlung eine deutliche Mehrheit erzielt hatte und bei der Endabstimmung am 10.12. von allen Resolutionen die größte Unterstützung fand (115 Staaten dafür, 22 dagegen, 32 Enthaltungen). Der Erfolg ist zum Teil zurückzuführen auf die Verbindung zwischen IGH-Rechtsgutachten und Nuklearwaffenkonvention (NWK), die in zwei Paragraphen zum Ausdruck kommt:

Paragraph 3: Die Schlußfolgerung des Internationalen Gerichtshofs wird unterstützt: „Es gibt eine Verpflichtung, in gutem Vertrauen Verhandlungen durchzuführen und zu einem Abschluß zu bringen, die zur nuklearen Abrüstung in all ihren Aspekten unter strenger und wirksamer internationaler Kontrolle führen.“

Paragraph 4: Es werden alle Staaten aufgerufen, „ihre Verpflichtungen sofort wahrzunehmen durch die Aufnahme von multilateralen Verhandlungen im Jahr 1997, die zu einem frühen Abschluß einer Nuklearwaffenkonvention führen, die Entwicklung, Produktion, Erprobung, Stationierung, Lagerung, Transfer, Einsatzandrohung oder den Einsatz von Kernwaffen verbietet und ihre Abschaffung durchführt“.

Aufgrund der Autorität des IGH konnte die Resolution und damit auch die weitreichende Forderung nach einer NWK nicht nur bei fast allen Entwicklungsländern Unterstützung finden, darunter auch der Kernwaffenstaat China und inoffizielle Kernwaffenstaaten wie Indien und Pakistan (Israel enthielt sich der Stimme). Auch einige westliche Staaten votierten für die Resolution (Schweden, Irland, San Marino), und die NATO-Staaten Island, Dänemark und Norwegen enthielten sich immerhin der Stimme. Damit wurden Widersprüche im zuvor homogenen westlichen Block erkennbar, die bis in die NATO hineinreichen.

Bemerkenswert war auch die Rolle von Nicht-Regierungs-Organisationen (NGOs) beim Zustandekommen der Resolution. Dies betrifft zum einen das IGH-Urteil, das seit mehreren Jahren vom World Court Project initiiert und vorbereitet worden war. Zum zweiten war die Konzeption einer NWK seit Ende 1993 durch das International Network of Engineers and Scientists Against Proliferation (INESAP) in die öffentliche Diskussion getragen worden. Im April 1995 wurde die Forderung nach einer NWK während der New Yorker NVV-Konferenz in das Gründungsdokument des globalen Netzwerks für die Abschaffung der Atomwaffen »Abolition 2000« übernommen, das nunmehr von fast 700 Organisationen weltweit unterstützt wird. Schließlich basiert die Resolution Malaysias auf einem Vorschlag des New Yorker Lawyers Committee on Nuclear Policy (LCNP), der in der NWK-Arbeitsgruppe von Abolition 2000 angeregt worden war.

In Deutschland konnten die im Trägerkreis »Atomwaffen Abschaffen« zusammengefaßten Friedensorganisationen die NWK auf die politische Tagesordnung bringen. In einer Erklärung vom 15. November 1996 wurde die Vorabstimmung im First Committee der UNO begrüßt und die Bundesregierung zur Unterstützung der Malaysia-Resolution aufgefordert. Am 22.11.1996 schrieb der abrüstungspolitische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion, Friedbert Pflüger, in »Die Zeit«, daß die Idee einer Konvention zur Abschaffung der Atomwaffen ernsthaft in Erwägung gezogen müsse. Von derartigen Erwägungen war jedoch in der von der PDS-Fraktion initiierten Bundestagsdebatte vom 5. Dezember 1996 nichts mehr zu hören. Pflüger nannte dort eine Welt ohne Atomwaffen unter heutigen Bedingungen utopisch, während der FDP-Sprecher Günther Friedrich Nolting die derzeitige NATO-Strategie als vereinbar mit internationalem Recht ansah, trotz des IGH-Rechtsgutachtens. Angelika Beer (Bündnis 90 / Die Grünen) und Manfred Müller (PDS) sprachen sich dagegen für die Abschaffung der Atomwaffen durch eine Nuklearwaffenkonvention aus, während Gernot Erler (SPD) einem schrittweisen Vorgehen zum letztlichen Ziel der atomwaffenfreien Welt den Vorzug gab. Helmut Schäfer, Staatsminister im Auswärtigen Amt, unterschied zwischen der Zustimmung der Bundesregierung zum Paragraphen 3 der UN-Resolution, womit das IGH-Rechtsgutachten weitgehend akzeptiert wurde, und der Zurückweisung der Forderung nach NWK-Verhandlungen in Paragraph 4.

Umfassend oder schrittweise zur nuklearen Abrüstung?

Ob das Konzept einer NWK weitere Unterstützung findet, hängt maßgeblich davon ab, ob die nach der NVV-Konferenz eingesetzte politische Kettenreaktion für die Abschaffung der Kernwaffen anhält. Ausdruck der gewachsenen politischen Basis ist, neben dem IGH-Urteil, dem Netzwerk »Abolition 2000« und den UNO-Resolutionen, der Bericht der Canberra-Komission sowie eine Erklärung von fast 60 Generälen und Admirälen vom 4. Dezember 1996, die sich für eine Welt ohne Kernwaffen einsetzen (siehe Seite 19).

Die von Australiens Regierung eingerichtete Canberra-Kommission schlägt in ihrem Bericht vom 14. August 1996 eine Reihe konkreter Schritte zur nuklearen Abrüstung vor, läßt aber offen, ob die atomwaffenfreie Welt besser zu erreichen sei durch einen „inkrementellen Ansatz einer Reihe separater Rechtsmittel oder durch einen umfassenden Ansatz, der alle relevanten Rechtsmittel in einem einzigen völkerrechtlichen Instrument zusammenfaßt, einer Nuklearwaffenkonvention“.

Der schrittweise Ansatz baut auf existierenden Verträgen auf und ergänzt diese um weitere Einzelmaßnahmen nuklearer Abrüstung, Rüstungkontrolle und Nichtverbreitung. Der umfassende Ansatz fordert Verhandlungen über eine Konvention zum vollständigen Verbot und zur Beseitigung der Kernwaffen.

Jedes der Konzepte in seiner »reinen« Form hat Vor- und Nachteile. Für Anhänger des inkrementellen Ansatzes ist der umfassende Ansatz politisch unrealistisch oder sogar schädlich. Kritisiert wird, daß der umfassende Ansatz realistische Schritte verhindern oder hinauszögern könnte, die schon vor einer Konvention politisch möglich wären. Für Befürworter des umfassenden Ansatzes bieten Verhandlungen über Einzelschritte keinerlei Garantien, daß das Ziel der atomwaffenfreien Welt jemals erreicht wird und daß sich die einzelnen Puzzlesteine zu einem Gesamtbild zusammenfügen. Die Defizite des schrittweisen Ansatzes sind ein wesentlicher Grund für Indien, den Teststopp-Vertrag nicht zu unterzeichnen, da er keine Abrüstungsverpflichtungen der Kernwaffenmächte enthalte und diesen sogar weitere Kernwaffenentwicklungen erlaube. Ähnliche Probleme und Asymmetrien sind derzeit für den Stillstand bei den Genfer Abrüstungsverhandlungen über ein Produktionsverbot für Spaltmaterialien mitverantwortlich.

Schrittweise und umfassende Ansätze sind jedoch keine unversönlichen Gegensätze, sondern können sich sinnvoll ergänzen. Ein schrittweise-umfassender Ansatz behält die Abschaffung der Kernwaffen im Blick und formuliert ein Konzept aus abgestimmten Einzelschritten zu diesem Ziel, die in verschiedenen Foren ausgehandelt werden können. Solche Schritte wären etwa ein Verbot der Herstellung und Nutzung von Kernwaffenmaterialien (Cut-Off), ein Abkommen über den Nicht-(Erst-)Einsatz von Kernwaffen, die Trennung der Trägersysteme von den Sprengköpfen oder die Schaffung weiterer kernwaffenfreier Zonen. Eine integrierte Strategie würde einseitige Maßnahmen und Erklärungen, bilaterale Verhandlungen zwischen USA und Rußland und multilaterale Verhandlungen zwischen den fünf Atommächten, in der Genfer CD oder im NVV-Überprüfungsprozeß kombinieren, alles jedoch unter dem Dach der NWK-Rahmenverhandlungen. Mit der Realisierung jedes Einzelschritts werden die noch zu lösenden Aufgaben und Probleme immer weiter eingegrenzt, der gesamte Verhandlungsprozeß gestärkt und die Schwelle für die Vollendung der umfassenden Konvention gesenkt.

Auch wenn die Staaten sich vor Beginn der Verhandlungen nicht auf einen zeitlichen Rahmen für die Beseitigung der Kernwaffen einigen können, darf dies kein Grund sein, den Beginn von Verhandlungen über eine NWK zu verzögern. Die meisten Abrüstungsabkommen enthielten zeitliche Vorgaben, und die Frage des Zeitplans für die nukleare Abrüstung wird unweigerlich auf die Tagesordnung der NWK-Verhandlungen kommen. Ein Beispiel für einen Dreistufenplan zur atomwaffenfreien Welt wurde von den blockfreien Staaten (G-21) im August 1996 bei der CD in Genf vorgelegt.

Ein so beschriebenes inkrementell-umfassendes Konzept für die NWK-Verhandlungen könnte einen Beitrag dazu leisten, die derzeitige Krise der CD zu überwinden und die notwendige Transformation des unbefriedigenden nuklearen Nichtverbreitungsregimes in ein Abrüstungsregime zu erreichen.

Der Modellentwurf einer Nuklearwaffenkonvention

Seit März 1996 wird von einem durch LCNP organisierten Komitee aus JuristInnen, NaturwissenschaftlerInnen, AbrüstungsexpertInnen und FriedensaktivistInnen ein Modellentwurf für eine Nuklearwaffenkonvention ausgearbeitet, nach dem Vorbild der Chemiewaffenkonvention (Arbeitstreffen fanden in New York und Darmstadt statt). Ein erster Diskussionsentwurf lag bis September 1996 vor, ein öffentlicher Modellentwurf wird anläßlich der Überprüfungskonferenz zum NVV am 7. April in New York präsentiert.

Der derzeitige Modellentwurf (März 1997) umfaßt 26 Artikel und zwölf Anhänge, die zusammen über 100 Seiten ausmachen. Artikel I enthält allgemeine Verpflichtungen, keine Kernwaffen zu entwickeln, erproben, produzieren, erwerben, stationieren oder zu behalten sowie Atomwaffen nicht einzusetzen und dies auch nicht anzudrohen. Forschung mit dem Ziel der Kernwaffenentwicklung ist untersagt, nicht jedoch für Abrüstung erforderliche Forschung oder die Nutzung von Wissen für die Aufklärung über die Gefahren von Kernwaffen. Die Beschränkungen gelten auch für Komponenten und Infrastruktur von Kernwaffen, insbesondere für kernwaffenfähige Materialien (hochangereichertes Uran, Uran-233, Plutonium, Tritium), für Trägersysteme sowie Befehls- und Kommunikationsanlagen (C3I) für Kernwaffen. Damit verbundene Kapazitäten sind irreversibel zu beseitigen oder zu konvertieren.

Andere Artikel betreffen die Ausführung dieser Verpflichtungen, insbesondere Definitionen, Deklarationen, den Zeitplan für Abrüstung, die Verifikation, die nationale Implementierung, die internationale Agentur, nukleare Materialien und Anlagen, Trägersysteme und C3I, Ratifizierung, Kooperation und Streitschlichtung. Die Anhänge vertiefen u.a. Verifikationsmaßnahmen und Verfahren zur Kernwaffenzerstörung.

Von kritischer Bedeutung für die Wirksamkeit der Konvention ist die Ausarbeitung spezifischer Verifikationsvorschläge, insbesondere für spezielle kernwaffenfähige Nuklearmaterialien, wobei über die Safeguards der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEO) hinausgegangen werden muß und auch zivile Materialien in die Überprüfung einzubeziehen sind. Ein internationales Registrierungs- und Überwachungssystem umfaßt Inspektionen sowie zerstörungsfreie Meßverfahren, vor Ort installierte Sensoren, Fernsensoren und die Entdeckung von charakteristischen Radionukliden in der Umwelt. Inspektionen vor Ort würden systematische und Verdachtsinspektionen umfassen, die jederzeit und an jedem Ort durchführbar sein müssen. Durch Markierungstechniken ist eine eindeutige Identifizierung (»Fingerabdruck«) von Objekten möglich.

Eine Internationale Kontrollagentur, analog zur Chemiewaffenkonvention, hätte für die Implementierung der Konvention zu sorgen, einschließlich Verifikation und Einhaltung des Vertrages, Konsultation, Kooperation und Streitbeilegung zwischen den Vertragsstaaten. Die Konferenz der Vertragsstaaten würde auf regelmäßigen oder außerordentlichen Sitzungen die wesentlichen Entscheidungen treffen, während das »Executive Council« für die Implementierung und Durchführung der Konvention zuständig wäre. Das »Technical Secretariat« schließlich würde das Executive Council bei speziellen Aufgaben der Implementierung und Verifikation unterstützen.

Aufgrund der Komplexität des Übergangs zur kernwaffenfreien Welt ist eine koordinierte Zusammenarbeit zwischen Regierungen, Industrien und NGOs über Ländergrenzen hinweg erforderlich. Der NWK-Entwurf selbst schlägt entsprechende Mechanismen und Institutionen vor und knüpft an bestehende Regime an. Diese betreffen die nationale Implementation ebenso wie die soziale Verifikation, kollektive Maßnahmen der Vertragseinhaltung, Anreize zur Teilnahme am Regime, Forschung und Entwicklung für die Abschaffung von Kernwaffen und Nuklearmaterialien oder Vorschriften zur Minimierung heimlicher Aktivitäten.

Zur Ausgestaltung dieser und anderer Aufgaben sind noch viel Detailarbeit und wissenschaftliche Untersuchungen zu leisten. Auf alle Fragen hat der Modellentwurf keine Antwort; er möchte im Gegenteil eher die wesentlichen Fragen bewußt machen. Daher ist der aktuelle Entwurf nur als ein Zwischenergebnis in einem längerfristigen Prozeß anzusehen, der nach Bedarf und aktuellem Kenntnisstand modifiziert werden soll.

Literaturauswahl zur NWK

Liebert, W./Scheffran, J./Kalinowski, M. (1997): Vom Urteil des Weltgerichtshofs zur Nuklearwaffenkonvention: Verhandlungen zur Abschaffung der Kernwaffen beginnen, erscheint in einem von D. Deiseroth und P. Becker herausgegebenen Buch zum IGH-Urteil im agenda-Verlag, Münster.

Datan, M./Ware, A./Scheffran, J. (1996): Nuclear Weapons Convention on Track, INESAP Bulletin No.11, December 1996, S. 4-8.

Scheffran, J./Datan, M./Ware, A. (1997): Working Toward a Nuclear Weapons Convention, Vital Signs, 1/97.

Liebert, W. (1996): Nuklearwaffenkonvention aushandeln, in: Schindler-Saefkow, B./Strutynski, P. (Hg.): Kriege beenden, Gewalt verhüten, Frieden gestalten, Kassel, S. 104-110.

INESAP-Studie (1995): Beyond the NPT, A Nuclear-Weapon-Free World, INESAP-Study-Group-Report, April 25, New York, Darmstadt.

Dr. Jürgen Scheffran ist wissenschaftlicher Assistent bei IANUS an der TH Darmstadt

zum Anfang | Es gibt keine Alternative zu einer kernwaffenfreien Welt

Auszüge aus einer öffentlichen Erklärung von 57 Generälen und Admirälen aus 17 Ländern:

(…) Aufgrund unserer Berufserfahrung mit Waffen und Kriegen in den Streitkräften vieler Nationen haben wir uns eine eingehende, vielleicht sogar einzigartige Kenntnis der gegenwärtigen Sicherheits- bzw. Unsicherheitslage unserer Länder und Völker erworben. (…)

Das Ende des Kalten Krieges hat Bedingungen geschaffen, die eine Abrüstung der Kernwaffen begünstigen. (…) Die unbeschränkte Verlängerung des Vertrages über die Nichtverbreitung von Kernwaffen im Jahre 1995 sowie die Annahme des Vertrages über ein umfassendes Verbot von Kernwaffenversuchen durch die Vollversammlung der Vereinten Nationen im Jahr 1996 bilden (…) wichtige Fortschritte auf dem Weg zu einer kernwaffenfreien Welt. (…)

Unglücklicherweise ist jedoch eine echte Kernwaffenabrüstung trotz der erwähnten positiven Schritte nicht erreicht worden. Die Verträge schreiben lediglich die Vernichtung der Trägersysteme, nicht jedoch der Kernsprengköpfe vor. (…)

Wir sind zutiefst davon überzeugt, daß die folgenden Maßnahmen dringend notwendig sind und jetzt eingeleitet werden müssen:

Erstens, die bereits vorhandenen und die in der Planung vorgesehenen Kernwaffenvorräte sind bei weitem zu groß und sollten einschneidend reduziert werden.

Zweitens, die dann noch verbleibenden Kernwaffen sollten stufenweise und in voller Transparenz aus der Alarmbereitschaft herausgenommen sowie ihre Einsatzbereitschaft wesentlich verringert werden, sowohl in den offiziellen als auch in den De-facto-Kernwaffenstaaten.

Drittens, die langfristige Nuklearpolitik muß auf dem erklärten Grundsatz beruhen, Kernwaffen kontinuierlich, vollständig und unwiderruflich abzuschaffen.

Die Vereinigten Staaten und Rußland sollten – ohne jegliche Herabsetzung ihrer militärischen Sicherheit – den von START bereits begonnenen Reduktionsprozeß vorantreiben. (…) Die Verteidigung der territorialen Integrität einzelner Länder ist mit dem Fortschritt auf dem Weg zur Abschaffung der Kernwaffen durchaus vereinbar.

Man kann heute die genauen Umstände und Bedingungen für die endgültige Abschaffung dieser Waffen nicht vorhersehen oder vorschreiben. Eine Voraussetzung wäre zweifellos ein weltweites Programm der Überwachung und Inspektion, das Maßnahmen zur Buchführung und Kontrolle des Inventars an Kernwaffenmaterial einschließt. (…) Wesentlich ist auch ein abgesprochenes Vorgehen, um – wenn nötig – zwangsweise international intervenieren und geheime Aktivitäten zuverlässig und rechtzeitig unterbinden zu können.

Desweiteren ist es wichtig, kernwaffenfreie Zonen in verschiedenen Teilen der Welt zu schaffen, sowie Maßnahmen der Vertrauensbildung und der Transparenz auf dem Gebiet der Verteidigung im allgemeinen zu ergreifen. Schließlich ist es äußerst wichtig, alle Abrüstungs- und Rüstungskontrollverträge strikt zu erfüllen und sich beim Abrüstungsprozeß gegenseitig zu unterstützen, um auf diese Weise eine kernwaffenfreie Welt zustande zu bringen. Der Aufbau regionaler Systeme kollektiver Sicherheit unter Einschluß praktischer Maßnahmen zur Zusammenarbeit, Partnerschaft, Interaktion und Kommunikation sind wesentlich für die örtliche Stabilität und Sicherheit.

(…) Klar ist (…), daß Nationen, die im Besitz von Kernwaffen sind, nicht bereit sein werden, diese preiszugeben, solange sie nicht davon überzeugt sein können, daß es zuverlässigere und weniger gefährliche Mittel zur Gewährleistung ihrer Sicherheit gibt. Als Konsequenz davon ist ebenfalls klar, daß die Kernwaffenmächte im Augenblick nicht bereit sein werden, einem festgelegten Zeitplan für die Abschaffung zuzustimmen.

Ähnlich klar ist auch, daß es unter den Nationen, die gegenwärtig keine Kernwaffen besitzen, einige geben wird, die nicht für immer auf deren Beschaffung und Bereitstellung verzichten wollen, es sei denn, ihre Sicherheit wird auf andere Weise gewährleistet. Und sie werden auch nicht darauf verzichten, sie zu beschaffen, sollten die derzeitigen Nuklearmächte ihr nukleares Monopol für immer und ewig aufrecht erhalten wollen.

Schritte in Richtung auf die Abschaffung müssen in erster Linie von den offiziellen Kernwaffenstaaten (…) in gemeinsamer Verantwortung unternommen werden. Sie sollten aber auch von den De-facto-Kernwaffenstaaten (…) mitgetragen werden sowie von den größeren Nichtkernwaffenmächten wie Deutschland und Japan. (…)

Uns hat sich eine Herausforderung von höchster historischer Bedeutung geboten: Die Schaffung einer kernwaffenfreien Welt. Das Ende des Kalten Krieges macht es möglich.

Die Gefahren, die der Welt durch die Verbreitung von Kernwaffen, durch den Nuklearterrorismus und durch ein erneutes Kernwaffenwettrüsten drohen, machen es notwendig. Wir dürfen nicht versäumen, unsere Chance zu nutzen. Es gibt keine Alternative.

Unterzeichnet wurde diese Erklärung unter anderem von:

Brigade-General a.D. Henry van der Graaf; Direktor des Zentrums für Rüstungskontrolle und Verifikation, Mitglied des UN-Konsultationsrates für Abrüstungsangelegenheiten.

General a.D. Boris Gromov; Vizepräsident des parlamentarischen Ausschusses für internationale Angelegenheiten, ehemaliger Kommandeur der 40. Sowjetarmee in Afghanistan, ehemaliger stellv. Minister im russ. Auswärtigen Amt.

General a.D. Charles A. Horner; Kommandeur der alliierten Luftstreitkräfte während der Militäraktion »Wüstensturm« gegen den Irak 1991.

Generalmajor a.D. Alexander Lebed; russischer Präsidentschaftskandidat in 1996.

General a.D. Andrew O'Meara, ehemaliger Befehlshaber der US-Armee in Europa.

Übersetzung: Wolfgang Sternstein

zum Anfang | Handlungsbedarf – Hier und jetzt! Deutschlands Beitrag zur kernwaffenfreien Welt

von Martin B. Kalinowski

Die Mehrzahl der Staaten hat auf der Generalversammlung der Vereinten Nationen in New York im Dezember 1996 beschlossen, daß in diesem Jahr Verhandlungen zu einer Kernwaffenkonvention aufgenommen werden sollen. Damit würde der Forderung aus dem Gutachten des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag vom 8. Juli 1996 entsprochen, einen völkerrechtlich verbindlichen Vertrag zur Abschaffung der Kernwaffen auszuhandeln. Anfang des Jahres 1997 zeigte sich aber bei der Genfer Konferenz für Abrüstung, wie tief der Graben zwischen den blockfreien Ländern auf der einen Seite und den anerkannten Kernwaffenstaaten und deren Verbündeten auf der anderen Seite ist. Die 61 in Genf vertretenen Staaten konnten sich nicht einmal auf ein Verhandlungsprogramm einigen und es wird bezweifelt, ob sie dies bis Mitte des Jahres schaffen.

Indien und einige andere blockfreie Staaten bestanden auf einem festen Zeitplan für nukleare Abrüstung bis auf Null. Nur unter dieser Bedingung wäre Indien bereit, in den Abrüstungsprozeß selber einzusteigen. Vier der fünf anerkannten Kernwaffenstaaten (außer China) sowie ihre Verbündeten – darunter auch Deutschland – wollten aber nicht einmal einen Ausschuß zur Verhandlung über nukleare Abrüstung einrichten. Sie wollten lediglich über einen Produktionsstopp für spaltbare Kernwaffenmaterialien (Cut-off) verhandeln.

Um die gegenwärtige Konfrontation in Genf zu überwinden, sind neue Vorschläge notwendig. Ein solch neuer Vorschlag beinhaltet die Erweiterung des Verhandlungsmandats für den Cut-off-Vertrag auch auf das fusionierbare Kernwaffenmaterial Tritium. Damit würde dieser Vertrag eine deutliche Abrüstungskomponente bekommen, da Tritium mit einer Halbwertszeit von zwölf Jahren zerfällt. Der Tritiumzerfall könnte ein Schrittmacher sein für einen weichen Zeitplan zur Abrüstung von Kernwaffen. Vorräte aus vergangener Produktion müßten nicht unbedingt in die Verhandlungen einbezogen werden. Tritiumlose Kernwaffen gelten als dysfunktional und wären somit symbolisch abgerüstet. Da sie andererseits durch Neuproduktion von Tritium leicht wieder komplettierbar sind, wäre ein Tritiumproduktionsstopp (Cut-off) das entscheidende Signal für die Bereitschaft zur weitgehenden nuklearen Abrüstung.

Letztlich müssen aber Verhandlungen zu einer Kernwaffenkonvention aufgenommen und der Cut-off als ein dazugehöriges Element betrachtet werden. Mit einer Kernwaffenkonvention muß, ähnlich den Bio- und Chemiewaffenkonventionen, die letzte Kategorie von Massenvernichtungswaffen vollständig verboten werden.31

Abzug der Kernwaffen aus Deutschland

Deutschland besitzt zwar keine eigenen Kernwaffen, befindet sich aber unter dem »Nuklearschirm« der NATO, hat damit eine nukleare Teilhabe, unterhält geeignete Trägersysteme und bildet die Bundeswehr für den Einsatz von Kernwaffen aus.

Nach dem Urteil des Internationalen Gerichstshofes in Den Haag ist weder ein Kernwaffeneinsatz zur Unterstützung Verbündeter noch die Drohung mit demselben mit dem geltenden Völkerrecht zu vereinbaren, auch nicht im Notfall. Demzufolge sind auch alle Aktivitäten völkerrechtswidrig, die eine derartige »Nothilfe« vorbereiten oder ermöglichen. Daraus die Schlußfolgerungen zu ziehen heißt:

  • Deutschland muß seine nukleare Teilhabe an Kernwaffen der USA oder anderer Verbündeter vollständig aufgeben. Die noch in Deutschland stationierten Kernwaffen der USA in Büchel, Memmingen, Nörvenich und Ramstein müssen ebenso abgezogen werden, wie es für die letzten britischen Kernwaffen in Brüggen für 1998 fest geplant ist.
  • Die deutsche Politik muß sich klar abgrenzen von einer Beteiligung an einer irgendwie geteilten Verantwortung für einen europäischen »Nuklearschirm« (z.B. »concerted deterrence«). Insbesondere muß Deutschland auf die bilateralen Gespräche über Kernwaffen mit Frankreich verzichten, zu denen sich beide Länder im gemeinsamen Sicherheitsabkommen vom 9. Dezember 1996 in Nürnberg bereit erklärt haben.
  • Deutschland sollte sich für die Schaffung einer kernwaffenfreien Zone in Europa einsetzen. Als erster eigener Schritt zu diesem Ziel sollte die bereits in den neuen Bundesländern bestehende kernwaffenfreie Zone auf das ganze Bundesgebiet ausgedehnt werden.
  • Im Zuge der geplanten NATO-Osterweiterung sollte Deutschland darauf drängen, daß in neuen NATO-Mitgliedsstaaten nie Kernwaffen stationiert werden dürfen.
  • Schließlich darf Deutschland keine eigenen technischen Fähigkeiten zum Bau einer Kernwaffe schaffen oder aufrechterhalten. Für ein Land wie Deutschland, das eine komplexe Nuklearindustrie, aber keine Produktion von Kernwaffen hat, ist die entscheidende Frage, welche Regelungen im zivilen Bereich zu treffen sind. Insbesondere sollte Deutschland keinen direkten Zugriff auf kernwaffenfähiges Material haben (mehr dazu siehe unten).

Innovationen bei der Kontrolle ziviler kernwaffenfähiger Materialien

Das in Genf vorliegende Verhandlungsmandat für einen Cut-off-Vertrag ist auf den Minimalkonsens reduziert. Gemäß der vorangegangenen Diskussionen ist davon auszugehen, daß zunächst nur die Produktion von spaltbaren Materialien für Kernwaffenzwecke sowie außerhalb von nuklearen Sicherungsmaßnahmen (Safeguards der Internationalen Atomenergieorganisation IAEO) einbezogen werden. Das Mandat weist aber ausdrücklich daraufhin, daß weitere Punkte in den Verhandlungen vorgeschlagen und diskutiert werden dürfen. Das betrifft vor allem die Vorräte aus vergangener Produktion, deren Einbeziehung für einige Staaten wie Pakistan Bedingung ist. Verschiedene Staaten haben vorgeschlagen, auch die zivilen spaltbaren Materialien in die Verhandlungen miteinzubeziehen.

In diesem Punkt ist Deutschland besonders gefordert, da es als eines der wenigen Nichtkernwaffenländer in der Produktion und Nutzung von kernwaffenfähigen Materialien engagiert ist. Zwar ist seit Jahren die Entscheidung gegen eine Wiederaufarbeitungsanlage und gegen den Schnellen Brüter in Deutschland gefallen und auch die Produktion von Mischoxidbrennelementen (MOX) ist aufgegeben worden, dennoch bleiben deutsche Unternehmen im Plutoniumgeschäft, indem die EVUs ihre abgebrannten Brennelemente in Sellafield und La Hague aufarbeiten lassen (erst ein einziger Vertrag zur Wiederaufarbeitung mit Sellafield ist gekündigt worden) und indem Siemens Unteraufträge zur MOX-Fertigung für deutsche Reaktoren in Belgien und Frankreich erteilt. Das ist unökonomisch und radioökologisch schädlich. Zudem steht spätestens seit der Änderung des Atomgesetzes im Frühjahr 1994 die Option der direkten Endlagerung als Alternative zur Wiederaufarbeitung offen.

Im Rahmen des internationalen Nichtverbreitungsregimes hat sich seit des Inkrafttretens des Nichtverbreitungsvertrages ein Konsens entwickelt, nach dem die Erfüllung des Artikels IV über den Zugang zur friedlichen Nutzung der Kernenergie nicht in einer Weise geschehen darf, die das Ziel der Nichtverbreitung selber beeinträchtigt. Die notwendigen Einschränkungen für nukleare Technologien werden unter dem Stichwort »Proliferationsresistenz« diskutiert. So kam etwa die INFCE (International Fuel Cycle Evaluation) Konferenz 1979 zu dem Schluß, daß keine Forschungsreaktoren mehr gebaut werden sollten, die mit hochangereichertem Uran betrieben werden. Derartige existierende Reaktoren sollen umgerüstet werden. Zu dem Zweck wurde sowohl ein umfangreiches internationales Konversionsprogramm aufgelegt als auch ein spezielles für Deutschland vom Forschungsministerium finanziert.

Solange die kernwaffenfähigen Materialien nicht vermieden oder beseitigt werden können, sollten sie dem nationalen Zugriff entzogen werden. Die proliferations-resistentesten derzeit denkbaren Optionen sind sofortiger Verkauf und In-Treuhand-Legung auf internationalisiertem Territorium bei einer internationalen Organisation, die das Material nur lagert und nicht verwenden kann, oder die baldige Konditionierung als radioaktiver Abfall verbunden mit einer Überstellung des Materials unter internationale physische Kontrolle, die über die heutigen Safeguards hinausgeht.

In Drucksache 12/7472 antwortet die Bundesregierung auf den letzten Vorschlag: „Die Bundesregierung hat in ihrer 10-Punkte-Initiative vom 15. Dezember 1994 ein internationales Plutonium-Kontrollsystem gefordert, in dem vor allem auch das aus der Abrüstung von Kernwaffen freiwerdende Plutonium in allen Staaten internationalen Kontrollen unterworfen wird, so wie es für deutsches Plutonium bereits seit vielen Jahren der Fall ist.

Die Diskussionen um ein »International Plutonium Storage« gehen jedoch über den derzeitigen Kontrollstandard hinaus. Wesentlich ist das Ziel, den unkontrollierten nationalen Zugriff auf das Kernwaffenmaterial zu unterbinden.

Die Bundesregierung gab weiterhin die Auskunft:“Nach Artikel 80 des EURATOM-Vertrages kann die Kommission die Hinterlegung von überschüssigem Spaltmaterial verlangen, das nicht tatsächlich verwendet oder bereitgestellt wird. Die Kommission hat von dieser Möglichkeit bisher keinen Gebrauch gemacht“.

Demnach wäre es vielleicht ein denkbarer Weg, das noch im Ausland lagernde Plutonium aus der Wiederaufarbeitung deutscher Brennelemente bei der EURATOM zu hinterlegen, um so deutlich zu machen, daß es nicht in Kernwaffenprogramme anderer Länder gelangen soll. Denkbar wäre auch, das noch in Hanau verbleibende Plutonium der EURATOM zur Hinterlegung zu übergeben. Damit könnte ein Pilotprojekt einer internationalisierten Plutoniumlagerung von Deutschland initiiert werden, das in anderen Ländern – auch mit Plutonium aus der Abrüstung – übernommen werden könnte. Konkret vorstellbar wäre, daß das verbleibende deutsche Plutonium auf internationalisiertem Territorium gelagert wird, die physische Kontrolle an Personal der EURATOM oder IAEO abgegeben und der alleinige nationale Zugriff Deutschlands durch ein Zweischlüsselsystem aufgegeben wird.

Eine Verstärkung der Proliferationsresistenz muß nicht unbedingt im Rahmen der Cut-off-Verhandlungen in Genf geschehen. Deutschland könnte durch unilaterale Maßnahmen mit gutem Beispiel vorangehen. Weitreichender wäre sicherlich ein koordiniertes Vorgehen gemeinsam mit den anderen Ländern, die mit zivilem Plutonium umgehen oder dies von abgebrannten Brennelementen abtrennen. Eine gute Basis dafür bieten neben der Abrüstungskonferenz in Genf die in Wien seit drei Jahren geführten Verhandlungen unter dem Titel »Internationales Plutoniumregime«. Daran sind neben den fünf Kernwaffenstaaten die wichtigsten im zivilen Geschäft mit Plutonium engagierten Länder vertreten: Belgien, Deutschland, Japan und die Schweiz. Ziel dieser Verhandlungen ist es, gleiche Standards für die sichere Behandlung von Plutonium in denjenigen Staaten zu erreichen, die diesen Stoff nutzen oder produzieren. Insbesondere ist beabsichtigt, eine größere Transparenz über Plutoniummengen in der Öffentlichkeit zu schaffen und jährliche Plutoniumbilanzen herauszugeben. Bereits Anfang 1995 hatte sich die Bundesregierung gemeinsam mit sechs anderen Ländern darauf geeinigt.32 Mit der Verabschiedung eines Schlußdokuments zum Internationalen Plutoniumregime wird aber erst für Mitte 1997 gerechnet. Großbritannien veröffentlicht eine derartige Bilanz seit neun Jahren, Japan hat seine erstmals in einem »Weißbuch zur Atomenergie« am 25. November 1994 dargestellt und die USA haben im Februar 1996 eine Bilanz für die vergangenen 50 Jahre vorgelegt. Von deutscher Seite ist zu hören, daß eine eigene Plutoniumbilanz erst vorgelegt werden könne, wenn man sich auf einen Standard geeinigt habe. Dabei scheint eine wichtige Frage zu sein, auf welchem Niveau man die Zahlen rundet.

Im Rahmen der Wiener Gespräche werden auch Vorschläge zur Begrenzung der Produktion und Nutzung von Plutonium diskutiert. Von deutscher Seite wird dies zurückgewiesen. Mehr Zwänge könnten der kerntechnischen Industrie nicht auferlegt werden. Eine ähnlich bremsende Wirkung ging von Deutschland bei den Bemühungen der IAEO aus, im Rahmen des sogenannten 93+2 Programms die Safeguards-Maßnahmen zu effektivieren. Ein wichtiges Argument der Bundesregierung und anderer Länder mit starker Nuklearindustrie ist, daß sich die Kernwaffenländer mehr Kontrollen unterziehen müßten, bevor wieder die ohnehin bereits am meisten kontrollierten Länder noch stärker belastet werden. Dagegen ist zu halten, daß die zusätzlichen Belastungen nicht groß sind. Und natürlich ist dem beizupflichten, daß die Kernwaffenländer selber stärker kontrolliert werden müssen. Eine Möglichkeit dafür stellt das Abkommen zum Produktionsstopp von Waffenmaterialien dar, das bei der Abrüstungskonferenz in Genf verhandelt werden soll. Um mit dem genannten Argument gegen Verschärfung der Safeguards glaubhaft zu bleiben, sollte sich Deutschland in dieser Richtung stärker einbringen, was nicht nur aus Gründen der Bündnistreue schwerfällt, sondern insbesondere, solange der »Nuklearschirm« nicht aufgegeben ist.

Kriterien für die Erhöhung der Proliferationsresistenz

Als Kriterien für nationale Verzichtserklärungen und für einen internationalen Bann bezüglich Materialien und Technologien im zivilen Bereich werden vorgeschlagen:33

  • Beschränkungen für sensitive Nukleartechnologie und -materialien sollen nicht diskriminierend sein.
  • kein Umgang mit waffenfähigen Materialien, es sei denn innerhalb abgebrannter Brennelemente. Urananreicherung und – sofern als notwendig erachtet – Plutoniumseparation nur innerhalb internationaler Zentren und ohne die Möglichkeit des nationalen Zugriffs.
  • Bemühung um Nichtentstehung von waffenfähigem Material, auch nicht innerhalb internationaler Zentren.
  • sichere Lagerung abgebrannter Brennelemente, die waffenfähige Stoffe enthalten, nur innerhalb internationaler Zentren ohne nationale Zugriffsmöglichkeit.
  • Abbau der vorhandenen Vorräte an waffenfähigem Material, sofern dies technisch möglich und sinnvoll ist. Anderenfalls die Errichtung technischer Barrieren, die den Zugriff auf das Material erschweren.
  • Auslegung nationaler Nuklearprogramme so, daß waffenfähige Materialien weder genutzt werden können noch entstehen.

Konkrete Aufgaben für verschiedene Materialien

Plutonium:

  • Die Wiederaufarbeitung deutscher Brennelemente in ausländischen Anlagen sollte unverzüglich eingestellt werden. Plutonium sollte nicht mehr als Kernbrennstoff betrachtet werden, der nach dem Atomgesetz als Wertstoff zu verwerten ist, sondern es sollte als radioaktiver Abfall gelten.
  • Die Produktion von MOX-Brennelementen für deutsche Reaktoren im Ausland sollte eingestellt werden.
  • Es muß erforscht werden, ob und wie die direkte Entlagerung ggf. nach Verglasung des Plutoniums mit hochradioaktiven Abfällen möglich ist.34
  • Eine genaue Plutoniumbilanz von Deutschland muß veröffentlicht werden, um Spekulationen über heimliche Vorräte vorzubeugen.
  • Technologie für die Verwendung von Plutonium, insbesondere zur Fertigung von Mischoxid-Brennelementen soll nicht exportiert werden.
  • Das bei der Firma Siemens und im Bundesbunker in Hanau lagernde Plutonium sollte dem nationalen Zugriff entzogen werden. Ähnliches gilt für Plutonium, das sich noch in Abfällen in der stillgelegten Wiederaufarbeitungsanlage in Karlsruhe befindet. Radioaktive Abfälle mit signifikanten Mengen Plutonium, d.h. insbesondere abgebrannte Brennelemente, sollten ebenfalls dem nationalen Zugriff entzogen und einer internationalen physischen Kontrolle unterstellt werden.
  • Das im Ausland lagernde separierte Plutonium sollte einer internationalen Organisation zur Hinterlegung übergeben werden.

Hochangereichertes Uran:

  • Die wesentliche zivile Anwendung von hochangereichertem Uran stellt Brennstoff für Forschungsreaktoren dar. Seit Anfang der achtziger Jahre laufen internationale Bemühungen zur Reduzierung dieses Bedarfs. Der Bau des in Planung befindlichen neuen deutschen Forschungsreaktors FRM II in Garching wäre weltweit der erste Forschungsreaktor dieser Größenordnung, der seit Anfang der achtziger Jahre mit HEU als Brennstoff gebaut würde. Dies wäre das falsche Signal und ein Rückschlag für die internationalen Konversionsprogramme von HEU auf LEU.35
  • Mehrere deutsche Forschungsreaktoren arbeiten noch immer mit HEU, obwohl für die meisten bereits ein Konversionsprogramm entwickelt worden ist. Diese geplanten Umstellungen müssen zügig durchgeführt werden.36

Tritium:

  • Die größte Menge separierten Tritiums in Deutschland befindet sich im Tritiumlabor Karlsruhe (etwa 4 Gramm). Es unterliegt einer Überwachung durch die EURATOM. Die Überwachung sollte für die Öffentlichkeit transparenter durchgeführt und auf andere Tritiumbestände ausgeweitet werden.

Fazit

Einer der nächsten wichtigen Schritte auf dem Weg zu einer kernwaffenfreien Welt ist ein Bann auf kernwaffenfähige Materialien, um die nukleare Abrüstung unumkehrbar zu machen und um die Nichtverbreitung solider abzusichern. Die Aufgaben von Deutschland für diesen Schritt liegen im Bereich der zivilen Materialien. Da die weiteren Nutzungen von Plutonium und hochangereichertem Uran verzichtbar sind, könnte Deutschland international Zeichen setzen, mit unilateralen Maßnahmen voranschreiten und internationale Bemühungen maßgeblich unterstützen.

Dr. Martin B. Kalinowski ist wissenschaftlicher Mitarbeiter bei IANUS an der TH Darmstadt.

Anmerkungen

1) Rotblat, J. (1996): Eine atomwaffenfreie Welt: Phantasievorstellung oder Wirklichkeit?, in: Albrecht, U./Beisiegel, U./Braun, R./Buckel, W. (Hg.): Der Griff nach dem atomaren Feuer, Frankfurt, S.127-146. Zurück

2) Vgl. Liebert, W. (1995): Wege zur atomwaffenfreien Welt nach Verlängerung des Nichtverbreitungsvertrages, in: Sicherheit und Frieden 13.Jg., Nr.3, S.176-183. Zurück

3) Vergl. Liebert, W. (1995): Viel Wind um HEU <196> Die Kritik am neuen Garchinger Forschungsreaktor verstummt nicht, in: Wissenschaft und Frieden, 13.Jg., Nr.4, S.42-46. Zurück

4) Kollert, R. (1997): `Atoms for Peace', der politische Betrug <196> oder: Wie Regierungen in Westeuropa ihre militärisch orientierten Atomenergieprogramme tarnten, in: Liebert, W./Schmithals, F. (Hg.), Tschernobyl und kein Ende?, Münster. Zurück

5) Vgl. Kalinowski, M./Liebert, W (1994): Ambivalenz im Bereich nuklearer Forschung und Technologie, in: Liebert, W/Rilling, R./Scheffran, J. (Hg.), Die Janusköpfigkeit von Forschung und Technik. Zum Problem der zivil-militärischen Ambivalenz, Marburg, S. 163-179. Zurück

6) Vgl. Kalinowski, M./Liebert, W. (1997) Läßt sich die Kernenergienutzung gegen militärischen Gebrauch sichern?, in: Liebert, W./Schmithals, F. (Hg.), Tschernobyl und kein Ende?, Münster. Zurück

7) Vgl. Liebert, W. (1996): Nuklearwaffenkonvention aushandeln!, in: Schindler-Seafkow, B./Strutynski, P. (Hg.), Kriege beenden, Gewalt verhüten, Frieden gestalten, Kassel, S. 104-110. Zurück

8) Rotblat, J./Steinberger, J./Udgaonkar B. (Hg.), (1993): A Nuclear-Weapon-Free World <196> Desirable? Feasible?, Oxford: Westview Press. Liebert, W./.Scheffran, J. (Hg.), (1995): Against Proliferation <196> Towards General Disarmament, Münster. International Network of Engineers and Scientists Against Proliferation (INESAP),(1995): Document »Beyond the NPT: A Nuclear-Weapon-Free World«, New York/Darmstadt, 25. April 1995 (Deutsche Zusammenfassung in Wissenschaft und Frieden 13. Jg., Nr. 2/1995, S.102-106). Zurück

9) Carl Friedrich von Weizsäcker (1957): Die Verantwortung der Wissenschaft im Atomzeitalter, Göttingen. Zurück

10) Vgl. Metta Spencer (1995): »Political« Scientists. In: The Bulletin of the Atomic Scientists, July-August 1995, S. 62-68. Bernd W. Kubbig (1996): Kommunikatoren im Kalten Krieg: Die Pugwash-Konferenzen, die US-Sowjetische Studiengruppe und der ABM-Vertrag, HSFK-Report 6, Frankfurt/M. Zurück

11) Vgl. Corinna Hauswedell (1996): Friedenswissenschaften im Kalten Krieg, Friedensforschung und friedenswissenschaftliche Initiativen in der Bundesrepublik Deutschland in den achtziger Jahren, Dissertation, Hamburg. Zurück

12) Die NATO stationiert im Frieden in sieben Ländern Europas derzeit noch maximal 200 US-Atombomben des Typs B-61. In Krise oder Krieg kann diese Zahl vergrößert werden; zudem können seegestützte Marschflugkörper der NATO zugeordnet werden. Vgl. BASIC-BITS-Research Note 97.1, U.S.-NATO Nuclear Arsenals 1996-97, Berlin, 1997. Zurück

13) Zudem verlor Rußland bei der Auflösung der UdSSR viele seiner besten Waffen an die neuen unabhängigen Nachbarn. Laut NATO verblieben bei Rußland beispielsweise nur 37% der MIG-29 und 23% der SU-27-Kampflugzeuge (Spiegel 11/97.S.161). Zurück

14) Vgl. Carter, Ashton/Deutch, John (1997): No Nukes, Not Yet. In: Wall Street Journal 4.3.97 und Meier, Oliver/Nassauer, Otfried (1997): Next START by CART, BITS-Policy Paper 97.1, Berlin. Zurück

15) Der NATO-Vorschlag vom 20.2.1997 ist noch unzureichend, da er z.B. keine oder unzulängliche Angebote in den Bereichen Kampfflugzeuge, Kampfhubschrauber, Verstärkungskräfte und qualitative Rüstungskontrolle enthält. Zurück

16) Süddeutsche Zeitung, 5.10.1995: Das schreckliche Geheimnis der Risse. Zurück

17) Trust and Verify. The Bulletin of the Verification Technology Information Centre, No.60, September 1995, S.2. Zurück

18) Frankfurter Rundschau, 4.10.1995: Paris testet trotz Rissen im Atoll. Zurück

19) Hochstein, M.P./O'Sullivan, M.J. (1985): Geothermal systems created by underground nuclear testing, in: Proceedings of the 7th New Zealand Geothermal Workshop. Nach den Ergebnissen des Cousteau-Teams ist der Prozeß des Durchsickerns radioaktiver Substanzen sogar noch schneller, nämlich ab sechs Jahren! (IPPNW, 1995, S. 117) Zurück

20) Die Ergebnisse von Hochstein/O'Sullivan (1985) sind genauer zusammengefasst in: IPPNW, 1995, S. 116f. Zurück

21) Die Tageszeitung, 5.10.1995: Ende der atomaren Ignoranz. Zurück

22) Das »Information Bulletin« des internationalen Netzwerks der Ingenieure und Wissenschaftler gegen Proliferation gibt einen sehr guten Überblick über die gegenwärtigen und zukünftigen atomwaffenfreien Zonen der Welt, »Steps towards a nuclear-weapon-free world«, INESAP Information Bulletin, No. 10, August 1996. Zurück

23) Bericht des NGO Committee on Disarmament, UN General Assembly Disarmament Debates, November 1996, »Nuclear Weapon Free Zones«. Zurück

24) Die Palme-Kommission schlug 1982 eine 300 Kilometer breite entmilitarisierte Zone vor. Andere Vorschläge reichen bis 1957 zurück, als der polnische Außenminister Adam Rapacki eine atomwaffenfreie Zone bestehend aus der Tschechoslowakei, Polen, DDR und BRD vorschlug. Vorher schlugen Sir Anthony Eden (1955) und Hugh Gaitskell (1956) andere Zonen vor. Zurück

25) Auf der Konferenz zur Verlängerung und Überprüfung des Atomwaffensperrvertrages, New York 1995, Document NPT/Conf.1995/SR.3, p.3; auf der Abrüstungskonferenz, Genf, UN-Presseerklärung DC/96/40, Conference on Disarmament, 29.8.96. Zurück

26) »Czechs lift nuclear arms ban«, The Times, 22.8.96. Zurück

27) »Study on NATO Enlargement«, NATO, September 1995; »Intensified dialogue with interested partners on the enlargement study: Questions for partners«, NATO document, DPA(96) 346 (3rd revise), 4.4.96; »Czech Republic: Solana to E. Europe – NATO means shared nuclear role« Reuters News Service, 29.4.96. Zurück

28) Zum ersten Mal erwähnt bei einem Gespräch zwischen dem russischen Minister für Atomenergie Victor Michailow und Friedensnobelpreisträger Prof. Joseph Rotblat, März 1996; die Drohung wurde dem US-Außenminster William Perry bei seinem Besuch in Moskau Oktober 1996 wiederholt, »Moskau will START-II Vertrag nachverhandeln«, Berliner Zeitung, 16.10.96; »Falsche Signale aus Ost und West«, Tagespiegel, 18.10.96. Zurück

29) Aus einer Erklärung der norwegischen Regierung, Dezember 1960, Stortingsmeldung nr. 28, 1960-61, die später vom Parlament verabschiedet wurde. 1982 erklärte Außenminister Frydenlund im Parlament, daß Atomwaffen weder von den norwegischen Streitkräften eingesetzt werden könnten, noch könnten sie dafür trainiert werden. Das Konzept einer nordischen atomwaffenfreien Zone wurde erst vom finnischen Präsidenten Kekkonen 1963 vorgeschlagen. Zwanzig Jahre später verabschiedete das »Nordic Council« die Empfehlung, für die Einrichtung einer nordischen atomwaffenfreien Zone (Nordiska rådet, 43:e sessionen 1993, Mariehamn, p.778.). Zurück

30) Der Russiche Außenminister Primakov erklärte der OSZE, daß eine Nato-Osterweiterung gegen den 2+4-Vertrag verstoßen würde, weil die Auflösung des Warschauer Paktes abhängig von der Verpflichtung war, daß die NATO sich nicht erweitern würde. Zurück

31) Scheffran, J./Kalinowski, M. B./Liebert, W. (1997): Vom Urteil des Weltgerichtshofs zur Nuklearwaffenkonvention: Verhandlungen zur Abschaffung der Kernwaffen beginnen. In: Peter Becker (Hrsg.): Das Gutachten des Internationalen Gerichtshofs zur Legalität von Kernwaffen. Zurück

32) Nucleonics Week, 26. Januar 1995, Seite 5. Zurück

33) Kalinowski, M. B./Liebert, W. (1996): Proliferationsgefahren durch Nukleartechnologienutzung und Proliferationsresistenz als Auswahlkriterium für Energiesysteme. In: Bender, W. (Hrsg.): Verantwortbare Energieversorgung für die Zukunft. THD-Schriftenreihe Wissenschaft und Technik, Darmstadt. Zurück

34) Liebert, W. (1996): Plutoniumdebatte – vergraben, verMOXen, verglasen? In: Wissenschaft und Frieden, 14. Jg., Nr.2, S.60-66. Zurück

35) Liebert, W. (1995): Viel Wind um HEU – Die Kritik am neuen Garchinger Forschungsreaktor verstummt nicht. In: Wissenschaft und Frieden, 13.Jg., Nr.4, S.42-46. Zurück

36) Colschen, L./Kalinowski, M. B. (1991): Tritium. Ein Bombenstoff rückt ins Blickfeld von Nichtweiterverbreitung und nuklearer Abrüstung. In: Informationsdienst Wissenschaft und Frieden, 9. Jg., Heft 4, Seiten 10-14. Zurück

Dr. Wolfgang Liebert ist wissenschaftlicher Mitarbeiter bei IANUS an der TH Darmstadt.
Dr. Corinna Hauswedell, Historikerin, arbeitet am Bonn International Center for Conversion (BICC) und ist Vorsitzende der Informationsstelle Wissenschaft und Frieden (IWIF)
Otfried Nassauer leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit (BITS)
Steffen Rogalski, Diplompolitologe, Vorsitzender des Arbeitskreises für Friedenspolitik – Atomwaffenfreies Europa
Xanthe Hall arbeitet in der deutschen Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges / Ärzte in sozialer Verantwortung (IPPNW) in der Geschäftsführung mit Schwerpunkt Kampagnen.
Dr. Jürgen Scheffran ist wissenschaftlicher Assistent bei IANUS an der TH Darmstadt
Dr. Martin B. Kalinowski ist wissenschaftlicher Mitarbeiter bei IANUS an der TH Darmstadt.

Wissenschaftler für den Frieden

50 Jahre Göttinger Erklärung – 50 Jahre Pugwash-Konferenzen

Wissenschaftler für den Frieden

von Klaus Gottstein, Andreas Henneka, Martin Kalinowski, Götz Neuneck und Ulrike Wunderle

Herausgegeben von der Informationsstelle Wissenschaft und Frieden in Zusammenarbeit mit der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW)

zum Anfang | Remember your Humanity

50 Jahre Pugwash – 50 Jahre Göttinger Erklärung

von Götz Neuneck

Das Jahr 2007 markiert den 50. Jahrestag der Göttinger Erklärung und 50 Jahre Arbeit der »Pugwash Conferences on Science and World Affairs«, zwei Ereignisse an denen Naturwissenschaftler und Naturwissenschaftlerinnen in besonderer Weise beteiligt waren und die einen starken Einfluss auf nukleare Abrüstung und Rüstungskontrolle sowie die Beendigung des Wettrüstens der Supermächte hatten. Bereits im Juli 1955 hatten Bertrand Russell und Albert Einstein in ihrer später berühmt gewordenen Erklärung die Gemeinschaft der Wissenschaftler aufgefordert, sich angesichts des Wettrüstens und der globalen Kriegsgefahr mit Fragen der nuklearen Abrüstung zu beschäftigen. Die Wissenschaftler sollten sich „zur Aussprache zusammenfinden, um die Gefahren, die aufgrund der Entwicklung der Massenvernichtungsmittel entstanden sind, abzuschätzen“ und sie sollten Wege zur Konfliktbeilegung, Abschaffung der Nuklearwaffen und letztlich zur Beseitigung des Krieges an sich diskutieren und beschreiten.1 Dies war der Beginn weltweiter Initiativen, denen sich Naturwissenschaftler, aber später auch andere Berufszweige wie Mediziner oder Ingenieure, anschlossen. Naturwissenschaftler waren in besonderer Weise gefordert, da einige von ihnen selbst am Zustandekommen der Nuklearwaffen beteiligt waren und über das technische und institutionelle Wissen verfügten, um die Verbreitung und den Einsatz dieser monströsen Waffen zu verhindern bzw. die anwachsenden Arsenale abzurüsten. Wissenschaftler erfreuen sich zudem einer gewissen Reisefreiheit, sehen sich öfters bei Tagungen, sprechen oft eine gemeinsame Sprache und sind zu Objektivität, Humanität und Internationalität verpflichtet.

Das Russell-Einstein-Manifest warnte Regierungen und Öffentlichkeit vor den Gefahren des Einsatzes von Nuklearwaffen und stellte die Frage: „Sollen wir der Menschheit ein Ende setzen oder soll die Menschheit dem Krieg entsagen?“ Das Dokument verweist auf die Chancen und Gefahren, die der wissenschaftlich-technische Fortschritt für Krieg und Frieden mit sich bringt: „Vor uns liegt, wenn wir es wählen, stetiger Fortschritt in Glück, Wissen und Weisheit. Sollen wir statt dessen den Tod wählen, weil wir unseren Streit nicht vergessen können?“ Albert Einstein hatte noch wenige Tage vor seinem Tod am 18. April 1955 die Erklärung unterzeichnet, ebenso wie zehn bedeutende Wissenschaftler, darunter Max Born, Joseph Rotblat und Frédéric Joliot-Curie.2 Trotz aller Warnungen beschleunigte sich der Kalte Krieg: Wasserstoffbomben mit der tausendfachen Sprengkraft der Hiroshima-Bombe wurden entwickelt und ein Ressourcen verschleißendes Wettrüsten setzte ein, das in seinen immer gewaltigeren Dimensionen erst durch das Ende des Ost-West-Konfliktes 1989 gestoppt wurde. Seit dem Manifest aber wird der Aufruf »Scientists should assemble in conferences« durch Tagungen, Workshops und Treffen konkret in die Tat umgesetzt und wach gehalten.

Das Russell-Einstein-Manifest ist das Gründungsdokument der »Pugwash Conferences on Science and World Affairs«, bei denen schließlich im Juli 1957 zum ersten Mal Wissenschaftler in dem kleinen Fischerdörfchen in Neuschottland/Kanada zusammen kamen, um zu beraten, wie die durch das Russell-Einstein-Manifest vorgegebene Agenda umzusetzen sei. Das Treffen wurde durch einen kanadischen Großindustriellen ermöglicht. Joseph Rotblat spielte bei den Vorbereitungen eine wesentliche und treibende Rolle, wie auch in den darauf folgenden Jahrzehnten.3 Einige Tage diskutierten 22 hochrangige Wissenschaftler aus zehn Nationen in drei Arbeitsgruppen, darunter Leo Szilard, Victor Weisskopf, Alexander V. Topchiev und Hideki Yukawa.4 Die Themen des ersten Treffens waren die gesellschaftliche Verantwortung der Wissenschaftler, die Gefahren der Nuklearenergie und die Kontrolle der Nuklearwaffen.

Seit dem ersten Treffen kamen in über 320 international besetzten Konferenzen und Workshops renommierte und einflussreiche Wissenschaftler und Politikberater zusammen, um Beiträge zu Fragen der atomaren Bedrohung, zu bewaffneten Konflikten und Problemen der globalen Sicherheit zu leisten. »Pugwash International« veranstaltet neben Jahrestagungen verschiedene Workshops zu Themen wie der nuklearen Abrüstung, den B- und C-Waffen, regionalen Konflikten der Weiterverbreitung von Waffentechnologien und der sozialen Verantwortung der Naturwissenschaftler. Durch die vertiefte Behandlung des jeweiligen Themas, die Möglichkeit, vertraulich mit regierungsnahen Beratern und Politikern zusammenzutreffen gelang es oft, Dialoge in Gang zu setzen oder zumindest Verständnis für die unterschiedlichen Positionen zu wecken. Während des Kalten Krieges gelang es insbesondere, die Beratereliten der USA und der Sowjetunion zu vertraulichen Gesprächen zusammenzubringen. Jerome Wiesner, später Wissenschaftsberater unter John F. Kennedy und maßgeblich beteiligt am Zustandekommen des begrenzten Teststoppabkommen (1963), war ebenso Teilnehmer wie Hans Bethe, Isidor Rabi oder Freeman Dyson. Auch russischen Physikern wie Andrej Sacharow oder Jevgenij Velichov kommt ein großer Anteil an den rüstungskontrollpolitischen Fortschritten der letzten Jahrzehnte zu. Auf den Konferenzen wurden wichtige Beiträge zu Rüstungskontrollverträgen wie dem Raketenabwehrvertrag (ABM-Vertrag, 1972), den Kernteststoppverträgen (1963 und 1996) oder den Übereinkommen zur Begrenzung von B- und C-Waffen (1972 und 1993) sowie dem Vertrag über die konventionellen Streitkräfte in Europa (KSE, 1990) geleistet. Verfahrensvorschläge zur Verifikation von Rüstungskontrollabkommen wurden ebenso erarbeitet wie alternative Vorschläge zur strukturellen Nichtangriffsfähigkeit von Streitkräften. Herauszuheben sind auch die Bereiche Kriegsfolgen und internationale Sicherheit, strategische Analysen, Technologiefolgenabschätzung, Weiterverbreitung und Konversion. In diversen Monographien und Berichten wurden Wirkungen und Leistungen von Pugwash aufgearbeitet.5

Während sich die amerikanischen Kernphysiker auf internationaler Ebene zusammenschlossen, wandten sich 1956/57 die deutschen Atomphysiker zunächst an die eigene Regierung, später an die Öffentlichkeit.

Pugwash und die Göttinger Erklärung

Carl Friedrich von Weizsäcker beschrieb das Zustandekommen der Göttinger Erklärung6 so: „Im Herbst 1956 wurde uns deutschen Atomforschern klar, dass erste Vorbereitungen getroffen wurden, die Bundeswehr atomar auszurüsten.“ 7 Die deutschen Atomwissenschaftler schrieben im November 1956 einen Brief an Minister Franz-Josef Strauß, und am 29. Januar 1957 kam es zum Gespräch mit ihm. Der Minister hatte zuvor eine Atombewaffnung der europäischen NATO-Mitglieder befürwortetet, auch bestand die Gefahr, dass die Atomphysiker in militärische Forschungen hineingezogen würden. Für von Weizsäcker war außerdem die Gefahr der Weiterverbreitung von Atomwaffen in kleinere Staaten ein wichtiger Aspekt. Vor allem wurde den deutschen Wissenschaftlern klar, dass ein Abrüstungsappell alleine nicht ausreichen würde: „Deshalb mussten wir auch insbesondere öffentlich sagen, dass keiner von uns persönlich bereit wäre, Bomben zu machen, zu erproben oder anzuwenden.“ 8 Am 12. April 1957 forderten die »Göttinger 18« auf Initiative von Carl Friedrich von Weizsäcker und Werner Heisenberg in der »Göttinger Erklärung« den Verzicht der Bundesrepublik Deutschland auf Atomwaffenbesitz. (Siehe Beitrag von Martin Kalinowski). Die Unterzeichner erklärten auch ihre Entschlossenheit, sich nicht „an der Herstellung, der Erprobung oder dem Einsatz von Atomwaffen in irgendeiner Weise zu beteiligen.“ Ihre Motivation bezogen die Physiker aus der Tragweite ihrer eigenen Forschung und der Wirkung einer Atomwaffenexplosion. Als sicher darf gelten, dass die Erfahrungen im »Dritten Reich« einen wichtigen Hintergrund für die öffentlich ausgesprochene Verweigerung darstellten. Eine eigene nukleare Bewaffnung der Bundeswehr war, nachdem sich die führenden Kernphysiker für solche Zwecke öffentlich verweigert hatten, extrem schwierig geworden. Die Erklärung hatte eine weit reichende innenpolitische Wirkung aber auch internationale Reaktionen zur Folge.9 Die Debatte über die Nuklearbewaffnung und ihre Konsequenzen für Deutschland und Europa sollte bis in die 1980er Jahre andauern.

Die deutschen Pugwash-Aktivitäten

Zwischen der sich formierenden Pugwash-Bewegung und der Gruppe der »Göttinger 18« kam es zu intensiven Kontakten.10 Von Weizsäcker reiste im März/April 1958 in die USA, nach Kanada und England, um u.a. an der zweiten Pugwash-Konferenz in Lac Beauport bei Quebec teilzunehmen. Hier wurde er im Kreise international tätiger Wissenschaftler mit neuen Ideen zu Abrüstung und Rüstungskontrolle (Arms Control) konfrontiert. Ergebnis dieser Reise ist der mehrteilige Aufsatz »Mit der Bombe leben«, der im Mai 1958 in der Wochenzeitschrift »Die Zeit« veröffentlicht wurde. Wichtige Ideen zur Abrüstung wie die Abschaffung der Atomwaffen oder Vorschläge zur Rüstungskontrolle wie das Nukleartestverbot, die Nichtweiterverbreitung von Atomwaffen oder die Verifikation wurden in einen längerfristigen, politischen Kontext gesetzt und in die deutsche Debatte eingeführt. Am 1. Oktober 1959 wurde zudem nach dem Vorbild der »Federation of American Scientists« die »Vereinigung Deutscher Wissenschaftler« (VDW) gegründet. An der deutlich größeren und mehr an die Öffentlichkeit gerichteten dritten Pugwash-Konferenz in Kitzbühl und Wien nahm neben westdeutschen Wissenschaftlern wie Max Born, Helmut Burkhardt und Werner Kliefoth auch zum ersten mal ein ostdeutscher Vertreter, der Sekretär der Akademie der Wissenschaften der DDR Günter Rienäcker, teil. Offiziell wurde die Pugwash-Gruppe der DDR 1963 gegründet und bei der Akademie der Wissenschaften angesiedelt, entsprechend kam es in den Folgejahren am Rande von Pugwash-Konferenzen immer wieder zu Kontakten zwischen west- und ostdeutschen Wissenschaftlern. Schon in dieser Anfangsphase lassen sich unterschiedliche Orientierungen in der Arbeit der Pugwash-Gruppen ausmachen: Die eher »regierungsnahe« Linie wurde vor allem von v. Weizsäcker, Heisenberg und der Mehrheit der »Göttinger 18« vertreten. Sie wollten ihre politische Unabhängigkeit als Wissenschaftler wahren und eher als beratende Experten für eine Verbesserung der internationalen Beziehungen wirken. Die stärker »öffentliche« Linie, wie sie von Born, Burkhardt und Kliefoth vertreten wurde, setzte stärker darauf, die öffentliche Meinung durch entschiedenes Auftreten zu beeinflussen und so politischen Druck für abrüstungs- und friedenspolitische Initiativen zu entwickeln. Ohne die Kombination von öffentlichem Druck und tiefgehender technischer Analyse wären sicher viele Abrüstungsentwicklungen, die sich nach einiger Zeit durchgesetzt haben, nicht möglich gewesen.

In den 1960 und 1970er Jahren wurden in der neu gegründeten Hamburger VDW-Forschungsstelle wichtige Studien veröffentlicht, so das Memorandum »Ziviler Bevölkerungsschutz« (1962) oder die Studie »Kriegsfolgen und Kriegsverhütung« (1971), die erstmalig mit systemanalytischen Methoden arbeitete. Das Ergebnis war eindeutig: Im Falle eines Atomkrieges auf deutschem Boden würde das zerstört, was eigentlich geschützt werden soll: das Territorium Deutschlands. Aus diesen Arbeiten entsprangen später weitere sicherheitspolitische Arbeiten des 1970 gegründeten »Starnberger Institutes zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt«, deren Direktor von Weizsäcker zwischen 1970 und 1980 war.

In Deutschland bildeten die Göttinger Erklärung und die Starnberger Arbeiten immer wieder den Bezugspunkt für Wissenschaftler, auf dem Gebiet der atomaren Abrüstung und der Rüstungskontrolle aktiv zu werden. Im Jahr 1983 wurde von 23 Naturwissenschaftlern und Ärzten der Mainzer Appell »Verantwortung für den Frieden« beschlossen, der auf die Folgen eines Atomkrieges in Europa, die Beschleunigung des Wettrüstens durch neue Waffentechnologien und die daraus entstehenden ökonomischen Folgen hinwies. Die »Naturwissenschaftler-Initiative« hat in den Zeiten des so genannten Nachrüstungsbeschlusses durch Kongresse wichtige Beiträge zu gesellschaftlicher Aufklärung geleistet und eine wesentliche Rolle in der Friedensbewegung gespielt.

In den Jahren nach Gründung der VDW wurden die Pugwash-Aktivitäten in der Bundesrepublik vor allem durch VDW-Mitglieder wie Horst Afheldt, Helmut Glubrecht, Siegfried Penselin, Klaus Gottstein (siehe seinen Beitrag in diesem Dossier) oder Hans-Peter Dürr weiter betrieben. In Westdeutschland wurden acht Workshops und zwei Jahrestagungen (München 1977; Berlin 1992) veranstaltet. In der DDR fand der erste Workshop 1971 in Leipzig statt, drei weitere folgten, insbesondere zur C-Waffenproblematik. Vor allem Hans-Peter Dürr, seinen Mitarbeitern und der Workshop-Serie »Conventional Forces in Europe« gelang es Mitte der 1980er Jahre, wesentliche Beiträge zur Beendigung der konventionellen Überrüstung in Europa zu leisten, indem das von der Starnberger Gruppe entwickelte Konzept der strukturellen Nichtangriffsfähigkeit von Präsident Michail Gorbatschow aufgegriffen und neue Stabilitätskriterien zur Grundlage für konventionelle Abrüstungsinitiativen wurden. Der Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE) ist im Wesentlichen durch die Bereitschaft konventioneller Abrüstung durch den Warschauer Pakt und einen neuen Abrüstungsrahmen zustande gekommen. Er half einen Rahmen für die Umbrüche in Osteuropa zu kreieren. Pugwash erhielt 1995 gemeinsam mit Joseph Rotblat den Friedensnobelpreis »für ihre Bemühungen, den Anteil, den Atomwaffen in der internationalen Politik spielen, zu verringern und längerfristig diese Waffen zu eliminieren.“ Es ist sofort einsichtig, dass diese Mission nur zum Teil umgesetzt wurde. Hervorgehoben wurde in Oslo aber auch die »Pugwash-Methode«: „Sie brachten Wissenschaftler und Entscheidungsträger zusammen, um jenseits politischer Trennungen durch konstruktive Vorschläge die nukleare Gefahr zu reduzieren.“11 Angesichts tief liegender Konflikte u.a. im Mittleren Osten oder Asien, die zu einem Nuklearwaffeneinsatz führen können, ist die Pugwash-Methode weiterhin gefragt.

Die Pugwash-Bewegung heute

Liest man also die erwähnten Dokumente genau, stellt man fest, dass viele Forderungen bis heute nicht vollständig umgesetzt sind. Michail Gorbatschow stellte in seinem Statement zum 50. Pugwash Jubiläum fest: »Wir benötigen eine intellektuelle Grundlage für Abkommen, die drastisch die Nuklearwaffenarsenale auf dem Weg zu ihrer vollständigen Eliminierung reduzieren und einen Rüstungswettlauf im All verhindern.»12 50 Jahre nach dem ersten historischen Treffen wurde bei einer Zusammenkunft von 25 internationalen Wissenschaftlern in Pugwash eine Erklärung verabschiedet, die deutlich aufzeigt, dass die Gefahren nuklearer Zerstörung keinesfalls gebannt sind: »Wenn Nuklearwaffen existieren, werden sie eines Tages auch eingesetzt werden“, so der Tenor des Workshops, an dem auch Hiroshimas Bürgermeister Tadatoshi Akiba teilnahm. Vor dem Hintergrund der Krise des Nichtverbreitungsvertrages, eines möglichen Einsatzes von Nuklearwaffen durch Terroristen und übervoller Nukleararsenale (ca. 27.000 Nuklearwaffen) fordern die Teilnehmer eine „Wiederbelebung der Kampagne, die sich dafür einsetzt, Nuklearwaffen als »illegal und unmoralisch« einzustufen und sie zu reduzieren bzw. endgültig abzuschaffen«. Sie schlagen den Politikern u.a. folgende konkrete Schritte vor:13

  • sofortiges »De-alerting«, d.h. Rückstufung der Alarmbereitschaft tausender Nuklearwaffen und Aufbau wirksamer Frühwarnsysteme,
  • offizielle Erklärung, Nuklearwaffen nicht als erste einzusetzen (»No First Use«), und verbindliche Abgabe von »negativen Sicherheitsgarantien« durch die Nuklearwaffenstaaten,
  • unverzügliche Wiederaufnahme von Verhandlungen zwischen den USA und Russland zur Abrüstung auf 1.000 oder weniger Nuklearwaffen,
  • verstärkte Bemühung zur Vernichtung überflüssigen Nuklearmaterials und Beginn von Verhandlungen zu einem globalen Verbot der Produktion von Spaltmaterialien,
  • vollständiges Verbot von Weltraumwaffen,
  • politisches Übereinkommen der NATO, die US-Atomwaffen aus Europa abzuziehen,
  • volle Finanzierung und Implementierung des umfassenden Teststoppvertrages schon vor seinem offiziellen Inkrafttreten und
  • die Zustimmung aller Staaten für die vollständige Abschaffung aller Atomwaffen durch ein multilateral verifizierbares Instrument wie eine »Nuklearwaffenkonvention«.

Nach Meinung der Teilnehmer kann nur aufeinander abgestimmter politischer Wille und öffentlicher Druck „die unvermeidbare Katastrophe“ eines Nuklearwaffeneinsatzes verhindern.

Schwerpunkt der Pugwash-Aktivitäten war in den vergangenen fünf Jahren insbesondere der Mittlere Osten und Südasien. Neue Anstrengungen durch Workshops, Dialogprojekte und öffentliche Aufklärung sind nötig, um die Agenda, die das Russell-Einstein-Manifest und die Göttinger Erklärung gesetzt haben, in die Tat umzusetzen.

Prof. Dr. Götz Neuneck ist Leiter des Interdisziplinären Forschungsgruppe Abrüstung, Rüstungskontrolle und Risikotechnologien (IFAR²) am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik (IFSH) an der Universität Hamburg, Mitglied des Pugwash Councils und Deutscher Pugwash-Beauftragter der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW).

zum Anfang | 50 Jahre nach der Göttinger Erklärung

Nukleare Nichtverbreitung in Deutschland

von Martin Kalinowski

Die Göttinger Erklärung von 1957 war ein Meilenstein in der öffentlichen Wahrnehmung von Verantwortung durch Naturwissenschaftler, und sie wird als ein Startpunkt für die Bürgerbewegung gegen Kernwaffen wahrgenommen, denn ein Jahr nach ihrer Publikation bildete sich die Bewegung »Kampf dem Atomtod«. Die Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW), die 1959 gegründet wurde, sieht in der Göttinger Erklärung ihren Ausgangspunkt und hat sich deren Thematik zu eigen gemacht.

Die NATO begann Mitte der 50er Jahre unter dem Stichwort »Umrüstung« die Ausrüstung ihrer in Europa stationierten Soldaten mit so genannten taktischen Kernwaffen. Deutsche Politiker sahen die Notwendigkeit, dass sich Deutschland der geplanten Stationierung von taktischen Kernwaffen in europäischen Mitgliedstaaten der NATO anschließen müsse.

Der zweite und dritte Absatz der Göttinger Erklärung stellen einige Fakten richtig, die von interessierter Seite oft falsch dargestellt wurden. Der Verharmlosung taktischer Kernwaffen wird mit einer Beschreibung ihrer zerstörenden Wirkung entgegen gewirkt. Dann wird verdeutlicht, dass ein Schutz großer Bevölkerungszahlen vor der von Kernwaffen verbreiteten Radioaktivität nicht möglich wäre. Die Fragen um die Folgen eines Kernwaffeneinsatzes und die begrenzten Möglichkeiten für Zivilschutz, aber auch die Kernenergienutzung und die Verantwortung der Wissenschaftler im Allgemeinen wurden später in detaillierten wissenschaftlichen Studien untersucht, die Carl Friedrich von Weizsäcker1 und die VDW2 durchgeführt und publiziert haben.

Die politischen Aussagen sind der »unerhörte« Teil des Textes. Hier wagen es Wissenschaftler, Aussagen außerhalb ihres fachlichen Kompetenzgebietes zu machen. Für diese mutige Grenzüberschreitung wurden sie heftig angefeindet. Gerade damit haben sie aber ihre gesellschaftliche Verantwortung ernst genommen und eine Forderung aus den vorher genannten Fakten abgeleitet. Sie beschränken sich auf eine explizite Forderung, die sie bewusst auf das eigene Land beschränken: Deutschland soll „ausdrücklich und freiwillig auf den Besitz von Atomwaffen jeder Art verzichten.“

Die Erklärung enthält aber noch eine zweite bemerkenswerte politische Aussage: „Wir leugnen nicht, dass die gegenseitige Angst vor den Wasserstoffbomben heute einen wesentlichen Beitrag zur Erhaltung des Friedens in der ganzen Welt und der Erhaltung der Freiheit in einem Teil der Welt leistet.“ Damit werden die Abschreckungsdoktrin und die dafür bereit gestellten Kernwaffen grundsätzlich positiv bewertet. Die Erklärung hat also einen Doppelcharakter, da zum einen Kernwaffen in deutschem Besitz abgelehnt werden, andererseits die strategischen Kernwaffen befürwortet werden. Der Zuspruch wurde jedoch im unmittelbar folgenden Satz relativiert: „Wir halten aber diese Art, den Frieden und die Freiheit zu sichern, auf die Dauer für unzuverlässig, und wir halten die Gefahr im Falle des Versagens für tödlich.»

Die Erklärung enthält am Ende eine weitere Forderung, nämlich „die friedliche Verwendung der Atomenergie mit allen Mitteln zu fördern.“ Mit diesem Satz gewinnt der Text eine zweite Ambivalenz, die mit der zivil-militärischen Doppelverwendbarkeit von nuklearen Materialien und den zu ihrer Produktion geeigneten Technologien zusammen hängt.

Der dritte Bestandteil der Göttinger Erklärung ist die darin enthaltene Selbstverpflichtung: „Jedenfalls wäre keiner der Unterzeichnenden bereit, sich an der Herstellung, der Erprobung oder dem Einsatz von Atomwaffen in irgendeiner Weise zu beteiligen.“ Dieser freiwillige Verzicht verlieh der Erklärung eine besondere Glaubwürdigkeit. Mit ihrer persönlichen Gewissensentscheidung stellen sich die Kernphysiker als Vorbilder für eine politische Entscheidung gegen Kernwaffen dar.

Die Selbstverpflichtung wurde eingehalten. Die zivile Nutzung der Kernenergie wurde umfangreich realisiert, jedoch später wieder zurück gefahren. Deutschland unterzeichnete den Nichtverbreitungsvertrag und gelangte nicht in den Besitz eigener Kernwaffen. Aber taktische Kernwaffen der NATO-Partner USA und Großbritannien wurden in Westdeutschland stationiert, und unser Land wurde im Rahmen der nuklearen Teilhabe in deren Einsatz mit einbezogen. Man musste davon ausgehen, dass Deutschland in einem nuklear geführten Krieg weitgehend zerstört und radioaktiv verseucht würde.

Nach dem Ende des Kalten Krieges zogen Großbritannien und Russland alle Kernwaffen aus Deutschland wieder ab, die USA hält noch heute geschätzte 20 Kernwaffen in unserem Land am Standort Büchel stationiert. Ramstein und Nörvenich sind nach wie vor bereit, Kernwaffen jederzeit wieder aufzunehmen. Im Falle eines Einsatzes würden diese Kernwaffen auch mit Trägersystemen der Bundeswehr, den Tornados, und von deutschen Piloten ins Ziel gebracht. Die Piloten werden auch in Friedenszeiten dafür ausgebildet. Deutschland wird im Rahmen der nuklearen Planungsgruppe in die Entscheidungsprozesse einbezogen. Nur die Kernwaffen selbst sowie die Kontrolle über deren Zündung verbleibt bei den US-Streitkräften.

Dass es keinen dritten Weltkrieg gab und dass nach Hiroshima und Nagasaki keine Kernwaffen im Krieg mehr eingesetzt wurden, ist kein Beweis für die These, dass die nukleare Abschreckung funktioniert und den Frieden garantiert hat.

Dem Rechtsgutachten des Internationalen Gerichtshofes (IGH) in Den Haag von 1996 zufolge ist der Einsatz von und sogar die Drohung mit Kernwaffen völkerrechtswidrig.3 Mit jeder Stationierung ist die Drohung eines Einsatzes verbunden. Damit ist auch die nukleare Teilhabe Deutschlands nicht mit dem Völkerrecht vereinbar.

Schon Adenauer hat darauf hingewiesen, dass Deutschland keinen Alleingang durchführen könne. Auch heute können die in Deutschland lagernden Kernwaffen nicht isoliert betrachtet werden. Die Standardantwort der Bundesregierung auf die Aufforderung, die US-Kernwaffen abziehen zu lassen, bezieht sich auf die NATO-Verpflichtungen: „Am 20. April 1999 wurde das Strategische Konzept der NATO von den Staats- und Regierungschefs der NATO-Mitgliedstaaten verabschiedet. Es enthält eine umfassende Darstellung der Bündnisstrategie, die alle Bündnispartner bindet und die auch von der Bundesregierung ohne Einschränkung mitgetragen wird.“4

Heute dürfte sich eine Göttinger Erklärung diesen internationalen Verknüpfungen gegenüber nicht entziehen und müsste die Forderung nach Abrüstung der Kernwaffen auf alle Länder beziehen, die Kernwaffen besitzen. Sie dürfte allerdings auch nicht zulassen, dass sich die Bundesregierung hinter den Bündnisverpflichtungen versteckt. Es macht durchaus Sinn, im Alleingang mit gutem Beispiel voran zu gehen, so wie Griechenland das vor einigen Jahren bereits erfolgreich getan hat.

Die Selbstverpflichtung in der Göttinger Erklärung ist sehr kräftig formuliert: „Jedenfalls wäre keiner der Unterzeichnenden bereit, sich an der Herstellung, der Erprobung oder dem Einsatz von Atomwaffen in irgendeiner Weise zu beteiligen.“ Gleichzeitig wird in der Erklärung betont, „dass es äußerst wichtig ist, die friedliche Verwendung der Atomenergie mit allen Mitteln zu fördern.“

Diese beiden Forderungen sind nicht miteinander vereinbar. Aufgrund der Doppelverwendbarkeit (dual use) von Kernmaterialien und -technik für zivile und militärische Zwecke kann es nicht gelingen, eine nukleare Proliferation zu verhindern, wenn man die zivilen Anwendungen uneingeschränkt mit allen Mitteln betreibt. Die zivile und militärische Verwendbarkeit der Kerntechnik sind nicht trennbar. Dieser Umstand wird gegenwärtig am eskalierenden Streit um das vorgeblich rein zivile Nuklearprogramm des Iran deutlich.

Aufgrund der vorstehenden Betrachtungen zur zweifachen Ambivalenz der Göttinger Erklärung soll nun skizziert werden, welcher Aufklärungsbedarf und welche politischen Forderungen heute von einer Erklärung thematisiert werden müssten, die sich in der Tradition der Göttinger 18 sieht und einen Doppelcharakter vermeiden will.

Ganz im Sinne von Carl Friedrich von Weizsäcker wird heutzutage von engagierten Naturwissenschaftlern nicht nur Aufklärung geleistet, sondern auch naturwissenschaftlich orientierte Friedensforschung betrieben.5 Als konkrete und aktuelle Themen können genannt werden:

  • Fehlende Transparenz über die Menge deutscher Plutoniumbestände und die offene Frage, ob diese angesichts der vorgesehenen Restlaufzeiten der Kernkraftwerke noch vollständig in Form von MOX-Brennelementen bestrahlt und damit einem direkten Zugriff für Waffenzwecke entzogen werden können.
  • Umrüstbarkeit des Münchener Forschungsreaktors FRM II von hoch angereichertem Uran (HEU) auf nicht waffenfähigen niedrig angereicherten Brennstoff (LEU). Die Konzepte dafür liegen vor und die politischen Vorgaben erfordern die Umstellung. Nur die Realisierung ist nach wie vor fraglich..
  • Die Modernisierungen der Arsenale der fünf anerkannten Kernwaffenstaaten; insbesondere sei auf die immer wieder in den USA ins Gespräch gebrachten so genannten »mini nukes« hingewiesen.
  • Die aktuellen Gefahren von Kernwaffen, beispielsweise die Risiken eines Nuklearkrieges »aus Versehen« aufgrund der nach wie vor aufrecht erhaltenen Alarmbereitschaft; auch das Szenario eines »nuklearen Winters« ist aufgrund des Umfangs der nuklearen Arsenale sogar bei einem begrenzten regionalen Nuklearkrieg immer noch möglich.
  • Wenn es bei der Abrüstungskonferenz in Genf endlich zu Verhandlungen über einen Produktionsstopp für Kernwaffenmaterialien (Fissile Materials Cut-off Treaty, FMCT) kommen sollte, entsteht Bedarf an Informationen über die Verifizierbarkeit und den notwendigen Umfang des Verbotes.
  • Neue technische Mittel zur Entdeckung von heimlichen Nuklearaktivitäten.
  • Proliferationsgefahren neuer Nukleartechnologien wie Spallationsneutronenquellen und Fusionsreaktoren.
  • Die technischen Probleme von neuen Raketenabwehrsystemen: Einerseits funktionieren sie nicht effektiv und andererseits bringen sie neue Risiken mit sich.
  • Die Gefahren eines Wettrüstens im Weltraum.

Die konkreten politischen Forderungen, die heute zu stellen wären, sind vor allem,

  • den Abzug der US-Kernwaffen aus Deutschland zu veranlassen und
  • den Forschungsreaktor FRM II umzurüsten auf niedrig angereichertes Uran.

Mit der Erfüllung der ersten Forderung würde Deutschland zur Abrüstung von Kernwaffen einen Beitrag leisten, mit der zweiten Forderung würde sich Deutschland wieder einreihen in die internationale Norm zur Nichtverbreitung durch eine Minimierung der zivilen Bestände von kernwaffenfähigen Materialien.

Von grundsätzlicherer Art wären zwei Zielsetzungen. Die erste bezieht sich auf die nukleare Abrüstung, die zweite reagiert auf die zivil-militärische Doppelverwendbarkeit von Nukleartechnik und nuklearen Materialien.

Die völkerrechtliche Verpflichtung, Kernwaffen abzurüsten, muss baldmöglichst umgesetzt werden. Die deutsche Außenpolitik sollte sich dafür einsetzen, dass Verhandlungen zu einer Nuklearwaffenkonvention begonnen werden.6 Konkrete Schritte in diese Richtung sind

  • das Inkrafttreten des Umfassenden Kernwaffenteststoppvertrages,
  • Verhandlungen über ein Verbot zur Produktion von nuklearen Kernwaffenmaterialien,
  • tiefe Einschnitte in nukleare Arsenale,
  • Abschalten der Alarmbereitschaft von Kernwaffen,
  • verbindliche Erklärungen zum Nicht-Ersteinsatz,
  • Verzicht auf Raketenabwehrsysteme
  • und die Schaffung weiterer kernwaffenfreier Zonen.

Mit der somit zunehmenden Marginalisierung von Kernwaffen kann der Boden bereitet werden für die Abschaffung dieser Massenvernichtungswaffen.

Die Proliferationsrisiken sollten bei der Diskussion über die zukünftige Nutzung von Kernenergie zur Sicherung des zukünftigen Energiebedarfs und zur Reduktion der CO2-Emissionen ernsthaft bedacht werden. Zur Minimierung dieser Risiken gibt es das Konzept der Proliferationsresistenz. Die sicherste Methode ist die Vermeidung von kernwaffenfähigen Materialien. Insbesondere bedeutet dies den Verzicht auf die Nutzung von Plutonium. Bei einer längerfristigen Nutzung von Kernenergie und einer Ausweitung der derzeitigen Kapazitäten würde man jedoch nicht ohne die Produktion von Plutonium in Schnellen Brütern auskommen. Durch die dann deutlich umfangreicher werdende Plutoniumwirtschaft würden die Risiken erheblich steigen. Die damit verbundenen größeren Vorräte an Kernwaffenmaterial, die vielen involvierten Anlagen und die zahlreichen Transporte würden die Risiken von Proliferation, Nuklearschmuggel und möglichen Zugriff durch Terroristen drastisch erhöhen.

Dr. Martin B. Kalinowski ist Kernphysiker und Friedensforscher. Er ist seit März 2006 Carl-Friedrich von Weizsäcker-Professor für Naturwissenschaft und Friedensforschung und Leiter des gleichnamigen Zentrums an der Universität Hamburg. Zuvor war er sieben Jahre bei der Teststoppvertragsorganisation in Wien und zehn Jahre bei IANUS an der TU Darmstadt tätig.
Dieser Text basiert auf einem Vortrag, den der Autor auf der Festveranstaltung von VDW und IALANA zum 50. Jahrestag der Göttinger Erklärung am 14. April 2007 in Berlin gehalten hat.

Weitere Informationen zur Pugwash Bewegung

  • Reiner Braun, Robert Hinde, David Krieger, Harold Kroto, Sally Milne (Editors): Joseph Rotblat – Visionary for Peace, John Wiley, Mai 2007. In dem englischsprachigen Buch »Joseph Rotblat – Visionary for Peace« beschäftigen sich prominente Autoren wie Martin Rees, Michail Gorbachow, Jack Steinberger, Mohamed ElBaradei, Paul J. Crutzen, und Mairead Corrigan mit Wirken, Leben und Thesen des britischen Physikers und Friedensnobelpreisträgers Sir Joseph Rotblat (1908-2005), der als einziger Wissenschaftler aus moralischen Gründen das Manhattan-Projekt zur Fertigung der ersten Nuklearwaffen verlassen hatte und zu einem der profiliertesten Kritiker des nuklearen Wettrüstens wurde. Rotblat war ein entscheidender Gründer der Pugwash Konferenzen.
  • Götz Neuneck/Michael Schaaf (Hrsg.): Zur Geschichte der Pugwash-Bewegung in Deutschland, Preprint 332, Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, 2007, 93 Seiten. Die Geschichte der deutschen Pugwash-Gruppe wurde im Rahmen eines Symposiums der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW) am 24. Februar 2006 im Harnack-Haus durch Vorträge beleuchtet. Die Vorträge von D. Hoffmann, K. Gottstein, U. Wunderle, Götz Neuneck u.a. wurden in dem Tagungsband zusammengefasst, der im Rahmen der Preprint Reihe des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte Nr. 332 erschienen ist. Er kann unter folgender Internet-Adresse als PDF-Version geladen werden: http://www.mpiwg-berlin.mpg.de/Preprints/P332.PDF
  • Waging Peace. The Story of Joseph Rotblat and 50 Years of the Pugwash Conferences on Science and World Affairs, DVD von Hero´s Stone Productions in association with The Pugwash Conferences on Science and World Affairs, 2007. 21 Minuten, PAL-Version. Der Film erzählt in Rückblenden, Interviews und Dokumentaraufnahmen die Geschichte von Pugwash und Joseph Rotblat, dem Mitgründer von Pugwash und späteren Friedensnobelpreisträger. Die DVD kann gegen eine Spende bei G. Neuneck, c/o IFSH, Beim Schlump 83, 20144 Hamburg, bestellt werden. Das Video ist auch als Podcast auf dem Internet zugänglich: http://www.pugwash.org/media/wage.htm.
  • Wichtige Internet-Adressen zu Pugwash Internationale Homepage mit vielen Materialien und aktuellen Nachrichten: http://www.pugwash.org. Homepage der Deutschen Gruppe: http://www.pugwash.de

Kontakt: Prof. Dr. Götz Neuneck · c/o IFSH Beim Schlump 83, D-20144 Hamburg · neuneck@ifsh.de

Atomwissenschaftler gegen deutsche A-Bombe

Die Göttinger Erklärung von 1957

Die Pläne einer atomaren Bewaffnung der Bundeswehr erfüllen die unterzeichnenden Atomforscher mit tiefer Sorge. Einige von ihnen haben den zuständigen Bundesministern ihre Bedenken schon vor mehreren Monaten mitgeteilt. Heute ist eine Debatte über diese Frage allgemein geworden. Die Unterzeichnenden fühlen sich daher verpflichtet, öffentlich auf einige Tatsachen hinzuweisen, die alle Fachleute wissen, die aber der Öffentlichkeit noch nicht hinreichend bekannt zu sein scheinen.

1. Taktische Atomwaffen haben die zerstörende Wirkung normaler Atombomben. Als »taktisch« bezeichnet man sie, um auszudrücken, dass sie nicht nur gegen menschliche Siedlungen, sondern auch gegen Truppen im Erdkampf eingesetzt werden sollen. Jede einzelne taktische Atombombe oder -granate hat eine ähnliche Wirkung wie die erste Atombombe, die Hiroshima zerstört hat. Da die taktischen Atomwaffen heute in großer Zahl vorhanden sind, würde ihre zerstörende Wirkung im ganzen sehr viel größer sein. Als »klein« bezeichnet man diese Bomben nur im Vergleich zur Wirkung der inzwischen entwickelten »strategischen« Bomben, vor allem der Wasserstoffbomben.

2. Für die Entwicklungsmöglichkeit der lebensausrottenden Wirkung der strategischen Atomwaffen ist keine natürliche Grenze bekannt. Heute kann eine taktische Atombombe eine kleinere Stadt zerstören, eine Wasserstoffbombe aber einen Landstrich von der Größe des Ruhrgebietes zeitweilig unbewohnbar machen. Durch Verbreitung von Radioaktivität könnte man mit Wasserstoffbomben die Bevölkerung der Bundesrepublik wahrscheinlich schon heute ausrotten. Wir kennen keine technische Möglichkeit, große Bevölkerungsmengen vor dieser Gefahr sicher zu schützen.

Wir wissen, wie schwer es ist, aus diesen Tatsachen die politischen Konsequenzen zu ziehen. Uns als Nichtpolitikern wird man die Berechtigung dazu abstreiten wollen; unsere Tätigkeit, die der reinen Wissenschaft und ihrer Anwendung gilt und bei der wir viele junge Menschen unserem Gebiet zuführen, belädt uns aber mit einer Verantwortung für die möglichen Folgen dieser Tätigkeit. Deshalb können wir nicht zu allen politischen Fragen schweigen. Wir bekennen uns zur Freiheit, wie sie heute die westliche Welt gegen den Kommunismus vertritt. Wir leugnen nicht, dass die gegenseitige Angst vor den Wasserstoffbomben heute einen wesentlichen Beitrag zur Erhaltung des Friedens in der ganzen Welt und der Freiheit in einem Teil der Welt leistet. Wir halten aber diese Art, den Frieden und die Freiheit zu sichern, auf die Dauer für unzuverlässig, und wir halten die Gefahr im Falle des Versagens für tödlich. Wir fühlen keine Kompetenz, konkrete Vorschläge für die Politik der Großmächte zu machen. Für ein kleines Land wie die Bundesrepublik glauben wir, dass es sich heute noch am besten schützt und den Weltfrieden noch am ehesten fördert, wenn es ausdrücklich und freiwillig auf den Besitz von Atomwaffen jeder Art verzichtet. Jedenfalls wäre keiner der Unterzeichnenden bereit, sich an der Herstellung, der Erprobung oder dem Einsatz von Atomwaffen in irgendeiner Weise zu beteiligen. Gleichzeitig betonen wir, dass es äußerst wichtig ist, die friedliche Verwendung der Atomenergie mit allen Mitteln zu fördern, und wir wollen an dieser Aufgabe wie bisher mitwirken.

12. April 1957

Fritz Bopp, Max Born, Rudolf Fleischmann, Walther Gerlach, Otto Hahn, Otto Haxel, Werner Heisenberg, Hans Kopfermann, Max v. Laue, Heinz Maier-Leibnitz, Josef Mattauch, Friedrich-Adolf Paneth, Wolfgang Pauli, Wolfgang Riezler, Fritz Straßmann, Wilhelm Walcher, Carl Friedrich Frhr. v. Weizsäcker, Karl Wirtz

zum Anfang | Erinnerungen

Wenn es die Pugwash-Konferenzen nicht gäbe, müssten sie erfunden werden

von Klaus Gottstein

Wenn ich darstellen soll, welche Erinnerungen ich an die Frühzeit der Pugwash-Konferenzen habe, dann muss ich zunächst gestehen, dass die 42 Pugwash-Konferenzen, -Workshops und -Symposien, an denen ich teilgenommen habe, alle in den Jahren 1976 bis 2002 stattfanden, während die Serie der Pugwash-Konferenzen schon 1957 in dem inzwischen berühmten kanadischen Fischerdorf Pugwash begann und seitdem ununterbrochen fortgesetzt wurde. Ich wurde allerdings bereits 1962 in die mir bis dahin unbekannte Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW), also in die deutsche Pugwash-Gruppe aufgenommen, nachdem ich Carl Friedrich von Weizsäcker eine im Sommerurlaub verfasste Denkschrift überreicht hatte, der ich den Titel »Über die Wissenschaft von der Politik« gab und in der ich zu dem Schluss kam, dass es die Pflicht der Wissenschaft sei, mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln und Methoden, frei von machtpolitischen Einflüssen und sachfremden Ideologien, an der Lösung der bedrohlichen Probleme unserer Zeit zu arbeiten. Ich hatte nämlich in meinem Fach, der Elementarteilchenphysik, die Möglichkeiten ideologiefreier internationaler Zusammenarbeit kennen gelernt, die es Wissenschaftlern aus Ost und West und aus so genannten Entwicklungsländern gestattete, auch während des Kalten Krieges friedlich und erfolgreich an gemeinsamen Projekten zur Erforschung der kosmischen Strahlung und der Eigenschaften der Elementarteilchen zu arbeiten. Woran also lag es, dass die Politiker diese erfolgreichen Methoden noch nicht entdeckt hatten, wenn ihnen wirklich, wie sie ja behaupteten, an Frieden und am Wohlergehen der Menschheit gelegen war? Ich schlug vor, eine selbständige und unabhängige internationale »Gelehrtenrepublik« zu gründen, um wirklich unbeeinflusste Untersuchungen und Stellungnahmen zu den zu lösenden Problemen zu ermöglichen. In der Physik gab es eine solche »Gelehrtenrepublik« ja bereits, warum also nicht in der regierungsberatenden Politikwissenschaft?

C. F. von Weizsäcker befürchtete nach der Lektüre, dass eine solche »Gelehrtenrepublik« auch nicht in der Lage sein würde, Lösungen für die schweren politischen Konflikte der Zeit zu finden, befürwortete aber meinen Eintritt in die VDW, in der ich Gesprächspartner für die mich beschäftigenden Probleme finden würde. So nahm ich in der VDW, bald in deren Arbeitsausschuss, später im Vorstand, an den Diskussionen teil, die u.a. die Beteiligung an den Pugwash-Konferenzen und an den dort auf der Tagesordnung stehenden Fragen der Rüstungskontrolle, Abrüstung und Friedenserhaltung betrafen. Dabei waren natürlich auch die nicht immer übereinstimmenden Meinungen zu den auf den Pugwash-Konferenzen abzugebenden Stellungnahmen zu diskutieren, wenn es auch Prinzip der Pugwash-Konferenzen war und ist, dass jeder Teilnehmer nur seine eigene Meinung vertritt und nicht Delegierter einer Organisation oder gar seiner Regierung ist. Während Wissenschaftler aus westlichen Ländern nicht selten die Politik ihrer eigenen Regierung scharf kritisierten, befanden sich die »Privatmeinungen« der Wissenschaftler aus der Sowjetunion und aus den Ländern des Warschauer Paktes allerdings stets in völliger Übereinstimmung mit den letzten Stellungnahmen ihrer Regierungen, und es war ein offenes Geheimnis, dass einige der sowjetischen »Wissenschaftler« den Apparaten des Geheimdienstes und des Zentralkomitees angehörten und die echten Wissenschaftler überwachten. Dies wurde hingenommen, wobei man sogar den positiven Aspekt sah, dass auf diese Weise jede Verlautbarung und Empfehlung der Pugwash-Konferenzen in erwünschter Weise wortgetreu zur Kenntnis der maßgeblichen Stellen in Moskau gelangen würde. Auch war mit den »echten« Kollegen bei Spaziergängen, Kaffeepausen, Busfahrten usw. manchmal ein unkontrolliertes Wort möglich. Natürlich berichteten auch die westlichen Teilnehmer ihren Regierungen. Das war ja der Zweck der Übung.

Für mich hatte die Teilnahme an den Pugwash-Konferenzen selbst zunächst keine hohe Priorität. Mein Beruf als Abteilungsleiter im Max-Planck-Institut für Physik ließ mir nicht genug Zeit für andere Aktivitäten größeren Umfangs. Ich erinnere mich, dass ich 1964 zur 13. Pugwash-Konferenz nach Karlsbad hätte reisen können, aber absagte. Erst als ich 1974 nach meiner Rückkehr aus Washington, wo ich drei Jahre lang als Wissenschaftsattaché an der Deutschen Botschaft gearbeitet hatte, von Prof. Penselin, dem damaligen Vorstandsvorsitzenden der VDW, gefragt wurde, ob ich nicht als Pugwash-Beauftragter der VDW die Vorbereitung der für 1977 geplanten großen Pugwash-Konferenz in München übernehmen wolle, sagte ich zu. Von da an war ich ein regelmäßiger Teilnehmer an fast allen Veranstaltungen, die von Pugwash in aller Welt ausgerichtet wurden.

Die Konferenz in München, bei deren Vorbereitung und Durchführung ich viele fleißige Helfer hatte, war mit 223 Teilnehmern die bis dahin größte. Sie wurde erst 1992 durch die von Frau Falter im Namen der VDW organisierte Konferenz, ebenfalls eine Quinquennial Conference, mit 274 Teilnehmern übertroffen. Die Konferenz wurde durch Bundesforschungsminister Matthöfer eröffnet, dessen Haus für die VDW die Finanzierung der Konferenz übernommen hatte. Der Bundespräsident (Walter Scheel), der Bundeskanzler (Helmut Schmidt) und der Generalsekretär der Vereinten Nationen (Kurt Waldheim) sandten Grußbotschaften. Acht parallel tagende Arbeitsgruppen befassten sich sodann mit sämtlichen Themen, die sich zu der Zeit auf der Bearbeitungsliste von Pugwash befanden. 1977 waren das die folgenden Themen, die bis heute aktuell geblieben sind:

  • nukleare Rüstungskontrolle und Abrüstung
  • Rüstungskontrolle und Abrüstung im nicht-nuklearen Bereich
  • Koexistenz, Entspannung und Kooperation zwischen Nationen und Systemen
  • Sicherheit von Entwicklungsländern
  • Entwicklungsprobleme ökonomisch schwacher Länder
  • Energie, Weltressourcen und Trends beim Bevölkerungswachstum
  • Umweltgefahren mit globalen Auswirkungen
  • Wissenschaft, Wissenschaftler und Gesellschaft

Was die Pugwash-Konferenzen für mich besonders erfreulich und attraktiv machte, war zum einen die streng wissenschaftliche Atmosphäre, an welche die teilnehmenden, oft sehr prominenten Wissenschaftler von Hause aus gewöhnt waren und die es erlaubte, ohne diplomatische Rücksichten »laut zu denken« und nach praktikablen Lösungen für die heiklen politischen Probleme zu suchen, um die sich die Politiker vergeblich bemühten. Zum anderen waren es die nahezu freundschaftlichen Beziehungen, die sich im Laufe der Jahre und nach vielen heißen Diskussionen auch zwischen Vertretern ganz unterschiedlicher politischer Systeme und Weltanschauungen entwickelt hatten und die es gestatteten, offen zu sprechen und zu fragen. So konnten Wege aufgezeigt werden, die die Politiker später in ihren Abrüstungsverhandlungen beschritten haben, natürlich ohne sich auf Pugwash zu beziehen. In Deutschland haben das Auswärtige Amt (AA), das Verteidigungsministerium (BMVg) und die einschlägigen Ausschüsse des Bundestags die Berichte über die Ergebnisse der Pugwash-Veranstaltungen immer gern entgegengenommen. Ich selbst habe mich bemüht – darin dem Vorbild von C.F. von Weizsäcker folgend – vor Pugwash-Workshops deren Tagesordnung mit leitenden Vertretern des AA und des BMVg zu besprechen, um bei den nachfolgenden Pugwash-Diskussionen die Positionen der Regierung und die sich daraus ergebenden Hindernisse, für deren Überwindung eine Lösung gesucht werden müsse, erläutern zu können. Schon Bundesaußenminister Willy Brandt hatte einige VDW-Vorstandsmitglieder zum Meinungsaustausch empfangen, bevor diese zu einer Pugwash-Konferenz abreisten. Ich konnte mit General Altenburg, damals Generalinspekteur der Bundeswehr, im Bundesministerium der Verteidigung auf der Hardthöhe die deutsche Haltung zu Abrüstungsfragen besprechen, um auf einer damals bevorstehenden Pugwash-Konferenz in Polen von der konkreten Lage ausgehen zu können. Mehrfach hatte ich Gespräche mit Referatsleitern des Auswärtigen Amtes, und in einem Fall nahm einer von diesen als Gast an einem Pugwash-Workshop in Genf teil, um seine Gedanken dort in die Diskussion einbringen und die Ansichten insbesondere der Ostblock-Teilnehmer direkt zur Kenntnis nehmen zu können. Der Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Meyer-Landrut, vorher – und später noch einmal – Botschafter in Moskau und Staatssekretär des Bundespräsidialamtes zur Zeit von Bundespräsident Richard v. Weizsäcker, gab für den gesamten Vorstand der VDW ein Arbeitsessen in den Räumen des Auswärtigen Amtes und brachte auch dadurch das gute Arbeitsverhältnis zwischen der Beratung suchenden Regierung und den deutschen Pugwash-Vertretern zum Ausdruck. Im Ausland besuchte ich, wenn immer möglich, die deutschen Botschaften in den Gastländern der Pugwash-Konferenzen – so in Ottawa, Mexico City, Moskau, Warschau, Sofia – , deren Mitarbeiter im allgemeinen sehr an den Mitteilungen über die Konferenzergebnisse interessiert waren.

Abschließend darf ich als kurze Schlussfolgerung aus meinen Erinnerungen an eine jahrzehntelange Mitarbeit bei »Pugwash« festhalten: Wenn es die Pugwash-Konferenzen noch nicht gäbe, müssten sie erfunden werden, natürlich in der optimalen Form, in der kompetente Wissenschaftler Brücken schlagen, die sich dann als begehbar für die politischen Entscheidungsträger erweisen. Die zu überbrückenden Probleme werden leider niemals ausgehen, denn der wissenschaftliche Fortschritt ist unaufhaltsam und wird nicht nur Segen bringen sondern stets unbeabsichtigte Nebenwirkungen haben und – wie alle menschliche Tätigkeit – die Möglichkeit zu falscher Anwendung und Missbrauch schlimmsten Ausmaßes in sich tragen. Die soziale Verantwortung der Wissenschaft, für die Pugwash eintritt, wird immer gefordert bleiben.

Prof. Dr. Klaus Gottstein war Mitglied der Direktion des Max-Planck-Institut für Physik, Werner Heisenberg Institut, München und Sprecher der Pugwash-Gruppe der BRD von 1975 bis 1987

zum Anfang | Junge WissenschaftlerInnen in der Pugwash Bewegung

von Ulrike Wunderle und Andreas Henneka

Die »Pugwash Conferences on Science and World Affairs« ermöglichen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern den internationalen und zunehmend interdisziplinären Austausch über Probleme internationaler Sicherheit und friedlicher Konfliktregulierung. In ihrem Ansatz ist die Pugwash-Bewegung dem Russell-Einstein-Manifest von 1955 verpflichtet: Angesichts der Gefahr einer thermonuklearen Konfrontation zwischen den Blockführungsmächten des Kalten Krieges appellierten elf führende Wissenschaftler verschiedener Fachgebiete nicht nur an die politisch Verantwortlichen, die bestehenden Konflikte auf friedlichem Wege zu lösen und auf die Abschaffung von Atomwaffen hinzuwirken, sondern auch an die Wissenschaftler selbst, sich untereinander – und über Konfliktgrenzen hinweg – mit der neuen Bedrohung durch Massenvernichtungswaffen auseinanderzusetzen. Damit wurde das Russell-Einstein-Manifest zum geistigen Fundament und Bezugspunkt der seit 1957 stattfindenden »Pugwash Conferences on Science and World Affairs«.

Schon bald interessierten sich auch junge WissenschaftlerInnen, die im Zuge ihrer akademischen Ausbildung mit Fragen gesellschaftlicher Verantwortung von Wissenschaft konfrontiert wurden, für die Arbeit der Pugwash-Bewegung. In den späten 1970er Jahren formierten sich in den USA und Kanada die ersten Student-Pugwash-Gruppen. Joseph Rotblat, der langjährige Vorsitzende der Pugwash-Bewegung, und die nationalen Pugwash-Gruppen unterstützten dieses Engagement, so dass sich bis heute mehr als 30 nationale Student-Pugwash-Gruppen herausbildeten, die sich – gewissermaßen parallel zur Pugwash-Bewegung – unter dem Dach der »International Student/Young Pugwash« (ISYP) zusammenschlossen. Im Umfeld der Pugwash-Jahrestagung findet auch die »Student/Young Pugwash Conference« statt, für die sich StudentInnen und DoktorandInnen aus allen Ländern der Welt bewerben können.

Auf der Pugwash-Jahrestagung 2005 in Hiroshima – 60 Jahre nach dem Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki – erarbeitete ISYP ein eigenes »Mission Statement«, in der sie sich deutlich auf das Russell-Einstein-Manifest bezieht, zugleich aber darüber hinaus geht: „Geleitet vom Einstein-Russell-Manifest führt ISYP internationale Studenten und junge Wissenschaftler zusammen, die sich mit globalen Problemen und der gesellschaftlich verantwortungsvollen Anwendung von Wissenschaft und Technologie beschäftigen. Durch die Auseinandersetzung mit sehr unterschiedlichen Disziplinen, Kulturen und Weltsichten entwickeln die ISYP-Mitglieder schon früh in ihrer akademischen Ausbildung gemeinsame Ansichten und Arbeitsweisen und motivieren sich gegenseitig in ihrem Engagement für die Ideale der ISYP.“ Gemeinsam mit der »Senior«-Pugwash-Bewegung wendet sich ISYP folglich den grundlegenden Problemen und Symptomen globaler Sicherheitsrisiken zu.

In Deutschland geht die formale Gründung einer Studenten-Pugwash-Gruppe auf das Jahr 1984 zurück, die zuerst unter dem Engagement von Martin Kalinowski und später von Ulrike Jordan große Aktivität entwickelte. Im Jahr 2003 fanden sich schließlich wieder StudentInnen und DoktorandInnen zusammen, die die »Bundesdeutsche Studenten Pugwash« (BdSP) neu belebten. Regelmäßige Treffen in Berlin und Hamburg führten zu einer kontinuierlichen Diskussion unter den beteiligten StudentInnen über Wissenschaft und Frieden. In den Jahren 2005 und 2006 fanden erste organisierte Gesprächskreise in Berlin statt. Zum Überprüfungszyklus des nuklearen Nichtverbreitungsvertrages und dem iranisch-amerikanischen Verhältnis wurden Referenten aus dem Umfeld der Pugwash-Bewegung und ein weiterer Kreis interessierter StudentInnen und DoktorandInnen eingeladen. In Hamburg arbeiten Studenten der BdSP an einem deutschen Beitrag zur »Nuclear Awareness Campaign«. Seit Beginn 2007 bemüht sich der BdSP-Vorstand verstärkt, durch Veranstaltungen und Stellungnahmen zu aktuellen Themen die Basis für ein nachhaltiges Engagement junger Wissenschaftler in Deutschland für Abrüstung und Frieden zu schaffen. Der BdSP-Gegenstandpunkt »Zur Diskussion um das Für und Wider der amerikanischen Raketenabwehrpläne« zeugt hiervon ebenso wie die Akademie »Ansätze zu einer gerechten Energieverteilung im Kontext sicherheitspolitischer und wirtschaftlicher Interessenskonflikte: Probleme und Lösungsoptionen«, welche die BdSP in Zusammenarbeit mit der Heinrich-Böll-Stiftung und mit Unterstützung des VDW-Vorstands vom 31. August bis 1. September 2007 in Berlin organisierte. Ziel war es, StudentInnen und DoktorandInnen unterschiedlicher Fachrichtungen, Forschungsinstitutionen, Organisationen und Firmen zusammenzubringen, um die Chancen des interdisziplinären Dialogs über Sicherheit und Frieden aufzuzeigen. Die Anregungen der geladenen Referenten und die problemorientierte Gruppenarbeit unterstützte die intensive Diskussion zu Fragen der gerechten Energieverteilung, an welche die BdSP nun anknüpfen kann.

Die Aktivitäten der Bundesdeutschen Studenten Pugwash Gruppe sind in der Entstehung begriffen. Daher bieten sich vielfältige Möglichkeiten für StudentInnen, DoktorandInnen und weitere Interessierte, Ideen einzubringen und deren Realisierung aktiv mitzugestalten. Beiträge sind herzlich willkommen!

Ulrike Wunderle, VDW-Beauftragte BdSP (Kontakt: ulrike.wunderle@uni-tuebingen.de); Andreas Henneka, 1. Vorsitzender BdSP (Kontakt: gistar@zedat.fu-berlin.de). Weitere Informationen zu International Student/Young Pugwash finden sich im Internet unter www.student-pugwash.org

Anmerkungen

Neuneck, Götz: Remember your Humanity: 50 Jahre Pugwash – 50 Jahre Göttinger Erklärung

1) Siehe Text unter http://www.pugwash.org/about/manifesto.htm.

2) Zur Geschichte der Manifestes siehe: The Origins of the Russell-Einstein Manifesto, by Sandra Ionno Butcher, Pugwash History Series, Number One May 2005

3) Reiner Braun, Robert Hinde, David Krieger, Harold Kroto, Sally Milne (Editors): Joseph Rotblat – Visionary for Peace, John Wiley, Mai 2007.

4) Mehr Informationen zur ersten Pugwash-Konferenz unter http://www.pugwash.org/about/conference.htm

5) Siehe z.B. M. Evangelista: Unarmed Forces oder Joseph Rotblat: The Early Days of Pugwash, in: Physics Today 54/6 2001.

6) Siehe dazu das an Materialien reiche Buch von Elisabeth Kraus: Von der Uranspaltung zur Göttinger Erklärung, Würzburg 2001 und die Kurzfassung »Atomwaffen für die Bundeswehr?« In: Physik Journal Vol. 6, 2007 Nr.4 S.37-41.

7) Die Atomwaffen, Vortrag »Die Verantwortung der Wissenschaft im Atomzeitalter«, Bonn 29. April 1957, abgedruckt in: Der bedrohte Friede, S.31-42, hier S.34.

8) Ebenda, S.39.

9) Siehe dazu ausführlich Friedensinitiative Garchinger Naturwissenschaftler: 30 Jahre Göttinger Erklärung. Nachdenken über die Rolle des Wissenschaftlers in der Gesellschaft, Schriftenreihe Wissenschaft und Frieden Nr.11, Oktober 1997

10) Kraus 2001: S.66 und S.311.

11) Nobelpreis Homepage: http://nobelprize.org/nobel_prizes/peace/laureates/1995/press.html

12) Zitiert nach International Herald Tribune, 8.Juli 2007.

13) Revitalizing Nuclear Disarmament: Policy Recommendations of the Pugwash 50th Anniversary Workshop Pugwash, Nova Scotia, 5-7 July 2007http://www.pugwash.org/reports/nw/pugwash-mpi/Pugwash-MPI-Communique.htm

Kalinowski, Martin: 50 Jahre nach der Göttinger Erklärung – Nukleare Nichtverbreitung in Deutschland

1) Als Autor: Atomenergie und Atomzeitalter, Fischer Bücherei 1957; Die Verantwortung der Wissenschaft im Atomzeitalter, Vandenhoeck & Ruprecht 1957; als Herausgeber: Kriegsfolgen und Kriegsverhütung, München 1971.

2) Ziviler Bevölkerungsschutz heute. Frankfurt 1972.

3) Literaturangaben zu Veröffentlichung über das Gutachten finden sich unter » http://www.ialana.de/veroeffentlichungen.html«.

4) Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Dr. Norman Paech, Alexander Ulrich, Paul Schäfer (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE (Drucksache 16/424). Deutscher Bundestag Drucksache 16/568 vom 8. Februar 2006.

5) Siehe Forschungsverband Naturwissenschaft, Technik und Internationale Sicherheit (FONAS), www.fonas.org

6) Einen Vertragsentwurf für eine Nuklearwaffenkonvention legten bereits 1997 etliche Nichtregierungsorganisationen vor. Bei der Konferenz zum Nichtverbreitungsvertrag im Mai 2007 wurde den Delegierten eine überarbeitete Fassung des Textes vorgestellt. IALANA, INESAP, IPPNW (Hrsg.), Securing our Survival (SOS). The Case for a Nuclear Weapons Convention, 2007, 206 Seiten; ISBN 978-0-646-47379-0.

Von der »neuen Wehrmacht« zur Bundeswehr

Von der »neuen Wehrmacht« zur Bundeswehr

Der verwickelte Weg der Demokra- tisierung des Militärs in der BRD

von Detlef Bald

Der 12. November 1955 gilt als die Geburtsstunde der Bundeswehr – damals noch als »neue Wehrmacht « bezeichnet. Der erste Verteidigungsminister, Theodor Blank, vereidigte an diesem Tag in Bonn unter »Preußens Eisernen Kreuz« die höchsten Generäle, die Generalleutnante Adolf Heusinger und Hans Speidel, sowie eine Reihe Offiziere und Unteroffiziere. Anwesend die westlichen Militärattachés, ausgeschlossen die Öffentlichkeit inklusive der Vertreter der höchsten Bundesorgane und des Parlaments. Das stand in der Kontinuität des Weg hin zu dieser neuen deutschen Armee. Während 1949 Franz Josef Strauß noch seinen Wahlkampf, mit dem Slogan führte, jedem Deutschen möge der Arm verdorren, der jemals wieder ein Gewehr in die Hand nehme, sah Adenauer damals bereits in der Westintegration den Hebel für eine neue Wehrmacht. 1949 wurden insgeheim die Weichen gestellt, für das was 1956 Form annahm. Die Auseinandersetzungen über die Ausrichtung dieser Armee waren damit aber nicht beendet.

Will man die Geschichte der Bundeswehr in kursorischer Kürze erfassen, hilft zunächst ein Blick auf ihre Vorgänger. Dabei fällt auf, das deutsche Militär bestimmte sich im 19. und 20. Jahrhundert ganz im Zeichen nationaler Souveränität. Dreimal in hundert Jahren hatte es Europa mit expansiven Kriegen überzogen, nach 1868, nach 1914 und 1939. Es hatte als Machtmittel staatlicher Politik seinen einzigartigen Stellenwert mit einem hohen Grad an sozialer und politischer Exklusivität. Schon dem Kaiserreich war es nicht gut bekommen, den Primat des Militärischen konstitutionell abzusichern und die Unabhängigkeit des Regierungssystems des Reiches zu beschränken sowie die (noch zarten) demokratischen Impulse niederzuhalten. Die Niederlage im Ersten Weltkrieg belastete zwar die Fortexistenz der Reichsidee, aber die Umstände des Systemwandels wurden genutzt, nach altem Ideal die Armee als »Staat im Staate« zu rekonstruieren. Nicht zuletzt in der Weimarer Republik erwies sich, wie fatal das antidemokratische und antiliberale Potenzial des Militärs die Wirkungen der Verfassung in der politischen Wirklichkeit verwässerte. Am Ende hebelte auch die Reichswehr die Republik aus und ebnete dem Nationalsozialismus den Weg. Solche, – und weitere Aspekte der deutschen Geschichte wie der Militärpolitik und Kriegführung im Zweiten Weltkrieg – waren verantwortlich dafür, nach der Kapitulation 1945 die Wehrmacht institutionell aufzulösen, um, wie in Potsdam deklamiert wurde, den Militarismus auszulöschen.

Das Gründungsparadigma der Bundeswehr wies ihr grundsätzlich einen neu orientierenden Weg, da die Besatzungsmächte die Macht der Bonner Republik über 1949 hinaus bestimmten und somit der Bonner Armee nicht den Status einer national unabhängigen Armee gewährten. Die historisch geladenen Umstände führten zu der doppelten internationalen Signatur der deutschen Streitkräfte, sie sowohl durch westalliierte Suprematie als auch durch Bündniskontrolle einzubinden und keine souveräne Verfügungsgewalt der Bundesregierung zuzulassen. Daneben und gleichrangig bedeutsam wurde dieses Militär gemäß der normativen Kraft des Grundgesetzes in das demokratische Regierungssystem – mit vielfachen Konsequenzen für Aufbau und Entwicklung der militärischen Institution selbst – integriert und der parlamentarischen Zuständigkeit unterworfen. Die Existenz der Bundeswehr war also grundlegend auf diese beiden Pole hin ausgerichtet, gewissermaßen ihre Räson. Die Gestalt der Bundeswehr ist daher im Vergleich zur älteren Militärgeschichte anders: Unterscheidbar und bestimmbar.

Die Geschichte der Bundeswehr, das zeigt ihre offizielle Gründung im Jahr 1955 nur allzu klar, begann nicht mit einer Gründungsfeier, von der aus sich alles strahlenförmig nach vorne – in die Zukunft – entwickelt hätte. 1955 ist vielmehr ein Datum mit historischem Bezug, der im Wesentlichen drei Perspektiven entfaltete und damit in dreierlei Hinsicht die Gestalt der Bundeswehr auf Dauer erfasste. Wie der anfänglich noch unbestimmte Name der Streitkräfte, »neue Wehrmacht«, schon zeigt, war sie (1.) mit der deutschen Geschichte aufs Engste identifiziert: Mit der Geschichte der militärischen Vorgänger wie der Wehrmacht ganz offensichtlich. Ihre Kapitulation im Jahr 1945 aber gewährte dem (2.) Zugang, nämlich der internationalen Koalition der Siegermächte, die Chance sich durchzusetzen. Sie begleiteten und kanalisierten auf Dauer Ausrichtung und Entwicklung der Bundeswehr. Die (3.) Perspektive schließlich begründete die Demokratisierung des Militärs, das sich den rechtsstaatlichen und politisch-freiheitlichen Normen des Grundgesetzes unterwerfen musste, was u.a. zur Folge hatte, sein inneres Gefüge im Prinzip nach den Regularien des öffentlichen Dienstes zu ordnen. Gleichwohl gab es keine »Stunde Null«. Die zeitweilig entmachteten militärischen Funktionseliten wurden im Einvernehmen mit den Westalliierten und nach dem Willen der Bundesregierung wieder eingesetzt, allerdings unter der Voraussetzung, die gesetzten Bedingungen anzunehmen.

In diesem Sinne ist der Gründungstag der Bundeswehr, dieser auf das Jahr 1945 bezogene 12. November 1955, symbolträchtig ein Tag der Zukunft. Aus ihm entspringt die Hoffnung, die »neue Wehrmacht« als Instrument staatlicher Macht zu einer besseren, zu einer demokratisch geprägten Gestalt des Militärs der Bundesrepublik, zur Bundeswehr, zu entwickeln. Die Bundeswehr stand nicht nur lose in der Kontinuität der deutschen Geschichte, sondern sie ist in einem politisch-normativen Verständnis spannungsvoll mit den Lehren aus der europäischen Geschichte konfrontiert. Das fordert die Bundeswehr heraus. Sie wurde im Zusammenhang der Teilsouveränität der Bonner Republik offiziell im Mai 1955 begründet. Im geheimen Bündnis von Politik und Militär aber gab es die verdeckte Planung seit dem Herbst 1950 schon. Natürlich war manches, was die spätere konkrete Entwicklung tatsächlich bestimmen sollte, noch ungewiss. Denn dieser Dreiklang – Geschichtsbezug, Internationalisierung, Demokratie – durchzieht spannungsgeladen die gesamte Geschichte der Bonner Republik, daher auch der Bundeswehr, sicherlich zu einzelnen Zeitpunkten unterschiedlich wirksam, mal mit jenem Ton bestimmend und harmonisch oder mehr dissonant klingend. Alle diese drei miteinander verwobenen Perspektiven und Positionen, Bezüge oder Bedingungen prägen konstitutiv die Existenz des deutschen Militärs der Bonner und Berliner Republik, also nicht nur im Kalten Krieg, sondern grundsätzlich bis in die Gegenwart.

Um zu zeigen, wie die einzelnen Aspekte mit einander verwoben sind, soll zunächst die Rolle der Politik der Alliierten herausgestellt werden, über die Westintegration die für die übrige Welt bedrohlichen deutschen Machtansprüche und -Potenziale zu zähmen. Allein Umkehr und Erneuerung boten Sinn- und Identitätsstiftung für die zweite deutsche Republik, so auch für ihr Militär. Daran erinnert das Jahr 1945 bis in die Gegenwart, wie es Richard von Weizsäcker zusammenfasste: „Aber wir haben allen Grund, den 8. Mai 1945 als das Ende eines Irrweges deutscher Geschichte zu erkennen, das den Keim der Hoffnung auf eine bessere Zukunft barg.“ Die westlichen Alliierten des Weltkriegs übertrugen Kriegs- und Besatzungsrechte auf die Besiegten, sie gewährten 1955 im Deutschlandvertrag der Bonner Republik „die volle Macht eines souveränen Staates.“ Die Souveränität unterlag der Suprematie, wie sie sich die Alliierten in Jalta und Potsdam für ganz Deutschland vorbehalten hatten. Als wäre es ein kategorischer Imperativ, hielten sie an ihrer obersten Zuständigkeit, die Macht der Deutschen zu pazifizieren, in zeitgemäß abgestuften Kontrollformen fest. Nach 1990 sind dies die neuen völkerrechtlichen und zeitgemäß umgeformten Regelungen der gesicherten internationalen Mitwirkungssysteme der NATO und EU.

Hinter dieser Politik stand zu allen Daten – 1945, 1949, 1955 oder 1990 – das Prinzip: Wirksame Garantien für ein funktionierendes System der Machtkontrolle durch Westintegration! Westintegration war Werteintegration. International und gemäß dem Grundgesetz stand die Abkehr von der Militärgeschichte an: „Der Militarismus ist tot.“ Dieses Wort des Kanzlers Adenauer lässt den Wert der Geschichte, besonders den Bezug zu 1945, erkennen. Die zentrale Stellung des Militärs, seines politisch ambitionierten Offizierkorps, werde es wie in vergangenen Zeiten nie wieder geben. Die Bonner Antwort darauf war die demokratische Einbindung des Militärs – erstmals seit 1806 gelungen. Im Zeichen der Vergewisserung und Reflexion der Geschichte wurde das Militär der parlamentarischen Verantwortung untergeordnet. Der Reformer unter den Soldaten, Wolf Graf von Baudissin, wählte dafür sinnstiftend in Anlehnung an Gerhard von Scharnhorst (sein Geburtstag jährt sich 2005 am 12. November zum 250. Mal) den Begriff »Staatsbürger in Uniform«, der unter dem Synonym »Innere Führung« von der Militärführung schließlich akzeptiert wurde. Die Kodifizierung des Primats der Politik gelang in der Wehrgesetzgebung. Sie ist der Ausdruck der dezidierten Militärreform. Die politische staatsrechtliche Einordnung der Bundeswehr in das republikanische Regierungssystem von Bonn setzte der Geschichte eines militärischen Sonderwegs ein Ende. Ein solche Kontinuität sollte es nicht mehr geben. Man setzte tatsächlich Zeichen, die Wertordnung des Grundgesetzes in hohem Maße auf das Militär zu übertragen und rechtsstaatlich freiheitliche Grundrechte für Soldaten zu gewährleisten. Die Entmythologisierung des alten Militärs mit seinen besonderen Normen war, wie schon Max Weber beobachtet hatte, vor der Geschichte längst in Gang gekommen – die Bundeswehr unterzog sich einer Art nachholender Reform. Sie ist schließlich »normal« in der Bundesrepublik angelangt.

Natürlich lassen sich einzelne Phasen der über 50jährigen militärischen Geschichte der Bonner und Berliner Republik unterscheiden, die einen jeweils charakteristischen Widerhall jenes Dreiklangs (der Demokratisierung, Internationalisierung und des Geschichtsbezugs) einfangen, der allerdings, wenn er in einer Phase angeschlagen wurde, auch in der folgenden Zeit noch weiterklang. Somit bieten alle Phasen und die Schlüsseljahre nur eine relative und keine absolute Gliederung, die nicht starr zu verstehen ist, sondern nur helfen können, das komplexe historische Geschehen ein wenig zu ordnen. Denn Gegensätze und Widersprüche zur Wertebindung der politischen Kultur der Bundesrepublik verliehen dem Militär immer wieder ein »hässliches Gesicht«, öffentlich aufmerksam verfolgt bezüglich manifester Tendenzen eines genuin militärischen Milieus; also die Übernahme vermeintlich »ewiger Werte des Soldatentums« in den fünfziger Jahren bis hin zum Anspruch oberster Generale (Schnez-Studie 1969), die Gesellschaft nach militärischem Maß zu gestalten; die Geltung von Drill und Schinderei gemäß militaristischem Vorbild in den sechziger Jahren (Nagold); die traditionalistische Orientierung am Mythos einer politisch »sauberen« Wehrmacht, wie sich in der jahrelangen Ablehnung der Widerstandskämpfer des 20. Juli 1944 als »Landesverräter« und »Eidbrecher« bis hin zur brisanten Distanz zur Ausstellung »Verbrechen der Wehrmacht« in den neunziger Jahren zeigte; also Strukturen unklarer Identität der militäreigenen Tradition; die Ambivalenz zwischen Reformern und Traditionalisten als ein dauerhaftes Dilemma, das im Selbstverständnis der Soldaten und im Gesamtprofil der Bundeswehr Dellen hinterlassen hat; die Ablehnung der demokratischen und gesellschaftlichen Einflüsse durch Abgrenzung des Militärs – Atombewaffnung oder Friedensbewegung bieten viele Beispiele; die Diffamierung gerade des Reformsymbols – »Innere Führung« – durch die Politik z.B. des Ministers F. J. Strauß mit dem Wort vom „Inneren Gewürge“ oder durch traditionalistische Deklassierung der Generale wie – um nur einige prominente Skandalbelastete von 1955 bis 2004 zu nennen: Heinz Karst, Heinz Trettner, Hellmut Grashey und schließlich Gerd Schulze-Rhonhof oder Reinhard Günzel; die Ausrichtung des Berufsprofils an einseitigen und rechtslastigen Vorbildern, zuletzt im Hochhalten eines Kämpferkults in den neunziger Jahren mit geradezu signifikanten Übersteigerungen in über zwanzig Standorten (Coesfeld) im Jahr 2004. Die Geschichte der Bundeswehr erweist sich zu allen Zeiten als vielfältig und spannungsgeladen.

Um den strukturierenden Dreiklang angemessen einordnen zu können, ist noch auf einen dynamisierenden Faktor hinzuweisen: Militärpolitik war deutsche Macht bewusste Politik. Schon Adenauer verband mit Militär die Hoffnung auf eine optimierbare Revision der staatlichen Handlungs-Potenziale. Bündnispolitik und europäische Integration waren das Resultat. Die »Wiederaufrüstung« leitete den Prozess des »nation building« der Bundesrepublik und formte gewissermaßen die außenpolitische Staatsräson: Gleichsetzung der staatlich-nationalen Existenz mit internationaler militärischer Verflechtung. Nach 1990 erfuhr das alte Muster weitere Impulse, die aber nur – könnte man betonen – die internationale Gestalt des deutschen Militärs modifizierten. Die Verhandlungen um einen Militärbeitrag nach 1949 und nach 1990 offenbaren das Grundmuster des wechselseitigen Nutzens der Politik, jenes »do ut des«, das damals wie heute feststellbar ist. Demokratische Kontinuität und die Internationalität der Bundeswehr durch Bündnistreue und Europäisierung boten auch hier Chancen der Machtteilhabe durch Machttransformation. Kanzler Kohl stellte die Weichen. Die internationalen Einsätze der Bundeswehr bis hin zur kriegerischen Teilnahme an der Kosovo-Besetzung sowie der militärgestützten Außenpolitik im Verfassungsrahmen der EU legen davon Zeugnis ab, wie in der Gegenwart Kanzler Schröder deutsche Machtpolitik definierte.

Das Vertragswerk von 1955 und von 1990 enthält in nuce die Staatsräson Deutschlands, nur als Teil einer europäischen Friedensordnung »frei« sein zu können. Es war, das lässt sich festhalten, auch so immer eine Deklamation der Versöhnung. Dieses Paradigma bleibt für Deutschland und somit für die Bundeswehr erhalten. Das Rad der Geschichte lässt sich nicht mehr zurückdrehen.

Dr. Detlef Bald war Wissenschaftlicher Direktor am Sozialwissenschaftlichen Institut der Bundeswehr, er arbeitet jetzt als freier Autor

Die Erfindung der Erinnerung

Die Erfindung der Erinnerung

Geopolitik des Entsetzens und Ethik der Rekonstruktion

von Juan Jorge Michel Fariña

Die zeitgenössischen Katastrophen zeichnen eine Geopolitik des Entsetzens, deren Koordinaten zunehmend ungewisser werden. Von Erdbeben über Wassergewalt, von den ökonomischen und ökologischen Risiken bis zu vielfältigen Formen menschlicher Vernichtung erlebt die Menschheit täglich den Beweis ihrer Zerbrechlichkeit. Aber schon Sigmund Freud hatte es prophetisch geahnt: Während die Verletzlichkeit gegenüber der Natur Mitleid und Solidarität weckt, erzeugt die Aggression durch den Nächsten noch mehr Hass und Ressentiments. Sich mit dieser Besonderheit der »condition humaine« auseinander zu setzen, ist wohl die größte Herausforderung unserer Zeit.

Am 24. März 2006 wurden in Argentinien die Gedenkfeiern zu 30 Jahre Militärputsch begangen. Warum 30 Jahren, warum nicht fünf, fünfzehn oder schlicht dreizehn? Welche Neigung treibt uns dazu, die Erinnerung an diese oder jene Jubiläen zu knüpfen, wenn sich doch die Wirklichkeit nicht in Dekaden zeigt? Es handelt sich offensichtlich um den Wert einer Zeremonie, um die symbolische Wirksamkeit bestimmter Rituale einer Kultur, mit der wir die einmalige Geographie unserer gemeinsamen Geschichte festlegen.

Die drei Zeiten der Schuldbefreiung

Der Fall Argentiniens ist interessant, weil er ein gigantisches Unternehmen der Erfindung von Erinnerung voraussetzt. Es wurden aufwändige Versuche unternommen, die Vergangenheit zu begraben und dennoch hat das Erinnern überdauert. Das alles hat sich innerhalb gewisser Besonderheiten ereignet, die zum Nachdenken über die Originalität dieser Beharrlichkeit anregen.

Vor weniger als einem Jahr, im Juni 2005, hat der Oberste Gerichtshof in einem historischen Urteil die Verfassungswidrigkeit des Schlußpunktgesetzes (Ley de Punto Final) und des Befehlsnotstandsgesetzes (Ley de Obediencia Debida) festgestellt. Die Medien haben die Information über die ganze Welt verbreitet, es aber versäumt, ihr Publikum über den Sinn dieser Gesetze aufzuklären. Was bedeuten diese beiden Gesetze, die fälschlicherweise »Begnadigungsgesetze« genannt werden?

Es handelt sich um zwei Säulen einer Straflosigkeitsstrategie für die schlimmsten Verbrechen, die je in der Geschichte Argentiniens begangen wurden. Irgendwann habe ich einen Artikel mit der Überschrift »Die drei Zeiten der Schuldbefreiung« veröffentlicht. Diese drei Zeiten heißen Schlußpunktgesetz, Befehlsnotstandsgesetz, Begnadigung. Sie sind chronologische und logische Zeiten der größten juristisch-institutionellen Anordnung des Vergessens, die je entworfen wurde.

Vielen unserer Universitätsstudenten, die nach 1976 geboren sind, behagt es nicht, wenn wir von Dingen aus der Vergangenheit sprechen. Sie betrachten uns ein bisschen herablassend, so als wären wir alte Opas, die von einem fernen Spanischen Bürgerkrieg erzählen. Dennoch lohnt sich die Beschäftigung mit der Geschichte.

Im Dezember 1986, zwei Jahre nach dem Ende der Militärdiktatur, war die Erforschung der finstersten Verbrechen der argentinischen Geschichte beachtlich voran geschritten. Man hatte überzeugende Beweise gegen rund 1.300 Militärs der verschiedenen Streitkräfte gesammelt, Beweise von Verbrechen wie illegalen Entführungen, Folter, Vergewaltigung, dauerhafter Freiheitsberaubung, Diebstahl, Entführung und Identitätstausch von Säuglingen sowie massiven Morden unter dem Vorwand des Verschwindenlassens (Desaparecidos). Diese 1.300 Militärs waren nur die Spitze des Eisbergs. Die Beweise, die zur Verurteilung genügt hätten, waren das Ergebnis jahrelanger Recherchen argentinischer und internationaler Menschenrechtsorganisationen.

Doch es blieb weitaus mehr zu erforschen, und man schätzte damals, wenn die Ermittlungen konsequent und mit staatlicher Unterstützung weitergeführt worden wären, hätte man die Zahl der Schuldigen mindestens verdreifachen müssen.

Das war der Punkt, an dem die argentinische Regierung die Entscheidung traf, die Untersuchungen abrupt zu beenden. Das Schlusspunktgesetz (Ley de Punto Final) setzte der Suche nach Wahrheit ein zeitliches Limit. Es beschnitt den Corpus des Ermittelten auf den Zeitraum bis 1986 und erklärte damit jede spätere Anklage für nichtig. Das war die erste Phase der Schuldbefreiung.

Einige Monate später, zu Ostern 1987, erhob sich eine Gruppe der in diese humanitären Verbrechen verwickelten Militärs aus Protest gegen die Verurteilung. Es war der berühmte Putsch der »Bemalten Gesichter« (carapintadas). Seine Protagonisten bemalten sich Stirn und Wangen mit schwarzer Schuhcreme zum vermeintlichen Zeichen dafür , dass sie kämpfende Soldaten gewesen seien. Unter diesen Bedingungen gab die Regierung dem Druck nach und verkündigte das Befehlsnotstandsgesetz (Ley de Obediencia Debida), das fast alle jener 1.300 angeklagten Militärs der Verantwortung enthob, auf denen erdrückende Beweise für ungeheure Verbrechen lasteten. Das damals angeführte Argument lautete, sie hätten die Verbrechen auf Befehl ihrer Vorgesetzten ausgeführt, deshalb seien sie „nicht verantwortlich für das, was sie taten.“ (Originalgesetzestext: „No eran responsables de lo que hacían.“) Das war die zweite Phase der Schuldbefreiung.

Wir können uns drei konzentrische Kreise vorstellen. Der äußere Kreis, der weiteste von allen, stellt das Universum der Verantwortlichen für die Verbrechen dar. Mit dem Schlusspunktgesetz wurde dieser Kreis auf einen kleineren reduziert, auf ein Drittel des ersten, und mit dem Befehlsnotstandsgesetz entließ man automatisch fast alle in Freiheit. Als Schuldige blieben ein Dutzend hochrangiger Militärs übrig, ein letzter innerer Kreis, unbedeutend im Vergleich zum ersten Universum. Diese Militärs kamen vor Gericht und wurden in unterschiedlichem Maße für schuldig befunden. Wenige Jahre später, im Jahr 1990, kam die dritte Phase der Schuldbefreiung: die Begnadigung (Indulto). Alle wurden begnadigt, das heißt, es wurde ihnen verziehen.

Das bedeutet, dass innerhalb kurzer Zeit die Verantwortlichen für die größten Verbrechen unserer Geschichte freigelassen wurden, die meisten von ihnen wurden nicht mal vor Gericht gestellt.

Wenn in den Medien von der täglichen Unsicherheit in Argentinien gesprochen wird, von der Gewalt, mit der Kriminelle ihre Wut an Opfern auslassen, vom Mangel an Verfassungsgarantien für die Bürger, dann bringt das niemand mit diesem beschämenden Kapitel unserer Geschichte in Verbindung. Als entstünde die Gewalt von selbst und die Straflosigkeit sei aus einem Ei gekrochen.

Die Erfindung der Erinnerung

Doch das Bemerkenswerte ist, dass die Erinnerung überlebt hat. Wenn wir Argentinier über den Sinn nachdenken, uns unserer Vergangenheit zu erinnern, ist es hilfreich, den Faschismus in Deutschland zu Hilfe zu ziehen. Wir erleben heute eine Welle des Erinnerns an die Verbrechen des Dritten Reiches. Dabei reden wir hier nicht von Ereignissen der letzten 30 Jahre, sondern von jenen, die 60 Jahre her sind. Schauen wir auf die Erfahrungen, die das Kino bietet: »Der Untergang«, der die letzten Tage Hitlers im Bunker rekonstruiert und die erschreckenden Morde von Kindern durch einen Arzt der Nazis. »Der neunte Tag«, der auf tapfere Weise die Dimension einer Entscheidung eines Geistlichen in einem Konzentrationslager thematisiert, »Amen«, der Film des unvergesslichen Costa-Gavras, der die Grenzen von Wissenschaft und Technologie aufzeigt, die sich ergeben, wenn man sie jenseits jeglicher ethischer Horizonte denkt. Oder »Verschwörung«, jener Film, der die geheimen Akten jener Versammlung von 1942 ans Licht zerrt, mit denen die Auslöschung des jüdischen Volkes beschlossen wurde.

Wenn das Kino der Spiegel ist, in dem sich eine Gesellschaft betrachtet, was heißt das für das Gedenken? Heißt das vielleicht, dass in diesen extremen Nuancen des Horrors der Schlüssel zum Verständnis jenes zeitgenössischen Subjekts, des Argentiniers, liegt, der gerade versucht, unsere Demokratie aufzubauen? Denn tatsächlich ist es so: Wenn man ein Ausnahmezustands-Regime mit langen Gefängnisaufenthalten, Verschwundenen, Folter, gewalttätigen Formen des Exils und geheimen Internierungscamps erlebt, tritt etwas von der »condition humaine« ans Licht, das latent in der täglichen Erfahrung enthalten, aber nur in seinen schlimmsten Formen der Erkenntnis zugänglich ist. Es ist diese Gewalt, die auch in normalen Zeiten existiert, die uns in den Demokratien, die wir errungen haben, aber im täglichen Erleben aus den Händen gleitet. Wir müssen daraus folgern, dass die Erinnerung nicht nur eine moralische Verpflichtung gegenüber der eigenen Geschichte ist, sondern vielmehr ist sie der Ausweg, den die menschliche Psyche bietet, um mittels dessen, was sich als extrem darstellt, die blinden Stellen der Gegenwart jedes Einzelnen anzuschauen.

Das Erinnern, das Gedenken ist also keine Ergötzung an der Vergangenheit, sondern die Erfindung der Zukunft.

Die Rückkehr von Antigone

„Wie können Sie einem Häftling Information entlocken, wenn Sie ihn nicht foltern? (…) Glauben sie, wir hätten 7.000 erschießen können? Selbst wenn wir nur drei erschossen hätten…Schauen Sie mal, was der Papst für einen Aufstand gemacht hat, als Franco drei erschossen hatte. Die ganze Welt hätte sich auf uns gestürzt. Sie können keine 7.000 Menschen erschießen (…) Und wenn wir sie ins Gefängnis gesteckt hätten, was dann? Das hatten wir schon mal. Dann kommt eine neue Regierung und setzt sie frei.“

Diese Worte haben eine besondere Bedeutung, denn es sind die ersten, mit denen ein Unterdrücker der Militärdiktatur (1976-1983) explizit zugibt, dass die Verschwundenen im Geheimen umgebracht wurden. Es ist der argentinische General Díaz Bessone, der von der französischen Journalistin Marie-Monique Robin für den Dokumentarfilm »Todesschwadronen. Die französische Schule« interviewt wurde. Er wurde in Frankreich und anderen zwölf europäischen Ländern am 1. September 2005 gezeigt.

Jahrzehntelang haben die argentinischen Militärs die Existenz der Verschwundenen geleugnet, anfangs unter der Vorgabe, die Menschen seien noch am Leben und heimlich ins Exil gegangen, später mit dem Eingeständnis einiger weniger Fälle, die als »Exzesse« bezeichnet wurden. Die Enthüllungen im erwähnten Film zeigen, dass es sich um einen systematischen Plan handelte: Man mordete im Geheimen und entfernte die Körper der Opfer, um jegliche Form von Begräbnisritual von Seiten der Familie zu verhindern.

Diese grimmige Wut auf den politischen Gegner über den Tod hinaus ist nicht neu. Schon vor 2.500 Jahren greift Sophokles in seiner »Antigone« ein ähnliches Thema auf. Kreon, oberster Befehlshaber des thebischen Heeres, verbietet das Begräbnis von Polyneikes. Dieser war beim Versuch, die Stadt anzugreifen, um seine Rechte auf den Thron von Theben zu verteidigen, ums Leben gekommen. Das Edikt von Kreon hatte die Funktion einer Strafe und gleichzeitig einer Drohung an jene, die versuchten, die Staatsgewalt herauszufordern. Deshalb ist Antigones Tat, gegen die Gesetze der Stadt den Körper ihres toten Bruders zu begraben, im Lauf der Geschichte zum Symbol für ethisches Handeln avanciert.

Das Verschwindenlassen der Körper ist – zusammen mit der Entführung und dem Identitätstausch von Kindern – zum »Markenzeichen« der argentinischen Militärdiktatur geworden. Gleichzeitig war es, auch wenn seine Verfechter es nicht wussten, der Anfang vom Ende des eigenen Regimes. Denn eine Mutter, äußerst empfindlich angesichts der Bedrohung ihrer Leibesfrucht, wird nie ihr Kind aufgeben. Dieser Kern von »Antigone« ist es, der in den Demonstrationen der Mütter rund um die Plaza de Mayo wiederkehrt, ebenso wie in allen anderen politischen oder sozialen Formen des endlosen Strebens nach Gerechtigkeit.

Ethik und Ästhetik der Erinnerung

Zweifellos spielt die Kunst in der Strategie der Rekonstruktion die Hauptrolle. Denn es gibt nichts zu rekonstruieren, wenn Gedächtnis und Gerechtigkeit nicht vorhanden sind. Die Literatur, die Musik, die Bildhauerei, das Kino und das Theater zeigen bewegende Offenbarungen dieser Übung einer kollektiven Erinnerung.

Einer der Schriftsteller, die das Thema der Erinnerung am tiefsten und sicherlich am bewegendsten aufgegriffen haben, ist der argentinische Dramatiker Eduardo Pavlovsky. Sein Werk »El señor Laforgue« wurde 1981 während der Militärdiktatur aufgeführt, als die Anerkennung gering und die Umstände noch sehr riskant waren. Die Geschichte musste auf die Insel Haiti unter dem Regime von Papa Doc verlegt werden. Das Stück beschreibt die Geschichte eines Kommandanten der Luftwaffe, der die Aufgabe hatte, das Verschwinden politischer Gegner zu organisieren. Die angewandte Technik war fürchterlich: Die Verdächtigen wurden bewusstlos an Bord eines Militärflugzeuges gebracht und unter Vollnarkose ins Meer geworfen. Ein nachgeworfenes schweres Gewicht sollte die Körper versenken – eine »saubere« Technik des Verschwindenlassens.

Das Stück von Pavlovsky nähert sich dem Thema auf überraschende Weise: Kommandant Laforgue geht zu einer Routinebesprechung in ein Militärzentrum und läuft dort zufällig einem Überlebenden seiner nächtlichen Flüge über den Weg. Der Mann war mit einer zu niedrigen Narkosedosis ins Meer geworfen worden, er wurde auf wundersame Weise von Fischern gerettet. Ein Fehler des Systems: Nicht alle Opfer wurden sorgfältig genug eliminiert. Einige Verschwundene tauchten wieder auf und sind ein gefährliches lebendes Zeugnis.

Die politische Situation auf der Insel beginnt sich zu verändern, unter der Hand reden die Leute, und es kursieren Gerüchte über die nächtlichen Flüge der Militärs. Die Person des verantwortlichen Piloten wird bekannt, die Oberen sind beunruhigt. Drastische Maßnahmen müssen ergriffen werden. Mit der Präzision eines Uhrwerks wird das Verschwinden des Kommandanten geplant. In einer modernen Militärklinik leitet man seine Metamorphose ein: Die Physiognomie wird verändert, er bekommt eine neue Familie, seine Persönlichkeit wird verwandelt, sein Gedächtnis ausgelöscht. Die Behandlung verläuft langsam und schwierig. Die Erinnerungen von Laforgue sind sehr hartnäckig. Die Sitzungen müssen intensiviert, neue Technologien hinzugezogen werden. Gleichzeitig spitzt sich die politische Lage auf der Insel zu: Der Diktator fällt schlagartig in Ungnade, das Volk organisiert seine Wut. Die leisen Gerüchte werden zu lauten Vorwürfen. Ein Detail des Stücks: Aufgrund der Finanzkrise muss die Regierung Blei beim Versenken der Körper sparen, die Ereignisse überstürzen sich. Ein schweres Gewitter peitscht über die Insel. Das aufgewühlte Wasser treibt die Leichen an den Strand, wie in einem Albtraum kehren die Körper der Verschwundenen zurück.

Das Regime ist verzweifelt. Es gibt keinen Ausweg mehr, Laforgue ist gefährlicher denn je geworden. Seine Verwandlung muss abgeschlossen und er aus dem Land gebracht werden. In der Klinik trifft man die Vorbereitungen für die Reise Laforgues und seiner neuen Familie in die Vereinigten Staaten. Im letzten Moment schlägt das Gedächtnis unerbittlich zu: Als Laforgue einsteigen soll, spült der Anblick des Flugzeugs die Erinnerungen des Kommandanten wieder hoch und zeigt ihm wie im Spiegel das finstere Ende seiner ehemaligen Passagiere. Sein Schrei um Erbarmen „Nicht ins Flugzeug! Nicht ins Flugzeug!“ beendet das Stück mit einem Zeugnis gegen das Vergessen.

Erinnerung und Gerechtigkeit

Pavlovsky zeichnet meisterhaft die Strategie des Regimes nach, doch vor allem die Risse darin, die Fehler, die seine Grenzen offenbaren und seine Widersprüche. Es geht, wie anfangs angedeutet, um die Beharrlichkeit der Erinnerung. Je ausgetüftelter, je klüger die Anordnung des Vergessens, umso größer ist der Einfallsreichtum der Erinnerung. Wie in jedem Stück von Pavlovsky nimmt »El señor Laforgue« auf subtile, ästhetische Weise die Vorgänge vorweg, die man später in der gesellschaftlichen Wirklichkeit wiedererkennt. Im Text sind nur die Feinheiten , die kleinen Details vergrößert, die die geheimen Besonderheiten der »condition humaine« ausmachen.

Man erkennt die zahlreichen Facetten der Vernichtung, den Kampf um die Vermehrung von Macht ohne Rücksicht auf die Opfer, das Bemühen um »Sauberkeit« einer raffinierten Technik, die jede Spur verwischen will (vollständiges Verschwindenlassen), die unpersönliche Bürokratie, die das Verschwindenlassen des Henkers in die unendliche Kette von Befehlen einreiht, und schließlich die bürokratisch-politische Technik, die die Verantwortlichkeit des Flüchtigen der Stunde auf ein Minimum reduzieren will.1

Der argentinische Psychoanalytiker Fernando Ulloa hat einmal behauptet, Gerechtigkeit herzustellen sei wie lieben. Es gebe Höhepunkte und tagtägliches Einerlei.

Nach dreißig Jahren Militärputsch mag es merkwürdig erscheinen, dass wir den Eintritt in diese schreckliche Nacht feiern und nicht den Ausgang der Nacht. Doch wenn man einmal die Ausgangsmöglichkeiten erfasst hat, ist das Herz des Labyrinths das Beunruhigendste. Darauf richtet sich die Beschwörung der Erinnerung.

Anmerkungen

1) Zur Beschreibung dieser Mechanismen siehe Guillermo Maci und Juan Jorge Fariña: Tesis analiticas sobre la desaparicion de personas tal como se presentan en la experiencia clinico-institucional, Buenos Aires, 1983.

Juan Jorge Michel Fariña ist Professor für Psychologie, Ethik und Menschenrechte an der Universität Buenos Aires und leitet an der Technischen Universität das Programm »International Bioethical Information System«. Von 1981 bis 1992 war er Direktor des Programms zur psychologischen Unterstützung der Angehörigen von Verschwundenen und politischen Häftlingen (MSSM-Medicins du Monde). Übersetzung aus dem Spanischen: Dr. Daniela Engelhardt

Söldnergeschichte(n)

Söldnergeschichte(n)

von Michael Sikora

Eine Geschichte der Söldner gibt es eigentlich nicht. Das Söldnerwesen ist keine definierbare Institution, das über die Jahrhunderte eine kontinuierliche Entwicklung durchlaufen hätte. Seit der Antike haben sich Söldner anscheinend jeder Form militärisch organisierter Gewalt angegliedert, mehr oder weniger zahlreich, in höchst unterschiedlicher Gestalt und ebenso unterschiedlichen Motiven folgend. Da sind beispielsweise die eigentlichen Handwerker der Gewalt, Spezialisten, die ihre besonderen Fähigkeiten im Umgang mit Waffen und Kriegführung als Dienstleistung zu Markte tragen. An die englischen Bogenschützen oder die genuesischen Armbrustschützen des späten Mittelalters wäre zu denken, oder an die Technokraten des Krieges, die das Personal der gegenwärtigen Söldnerfirmen bilden.

Viele Söldner wird man eher als Abenteurer begreifen, die sich für einen Lebensentwurf entschieden haben, von dem sie sich in unterschiedlicher Weise Bestätigung und Verwirklichung versprechen. In den Reihen der mittelalterlichen Ritterheere fanden sich bereits viele junge Adlige, die nicht ihrer Vasallenpflicht, sondern der Bezahlung folgten und auf ihre Art die Ideale ihres Standes zu verwirklichen suchten. Vielen modernen Söldnern scheinen die Belastungen eines Kriegerlebens verheißungsvoller zu sein als die Zwänge der Zivilisation.

Manchmal nimmt das Söldnerwesen die eigenartige Gestalt einer ethnischen Besonderheit an. Das prominenteste Beispiel sind die Schweizer Eidgenossen: Zwei Jahrhunderte lang, im 14. und 15., befreiten sie sich von ihren Feudalherren, entwickelten innovative Kampfweisen – und zählten danach für drei Jahrhunderte zu den begehrtesten Söldnern auf den Kriegsschauplätzen ganz Europas. Ein letzter Abglanz lebt bis heute in der päpstlichen Schweizergarde fort. Oder die Gurkhas, Angehörige einer kampfeslustigen nepalesischen Ethnie, die Anfang des 19. Jahrhunderts mit den Engländern in Berührung kamen und sich nach ihrer Unterwerfung in großer Zahl für die britische Armee verpflichten ließen. Bis heute holen sie englische Kastanien aus den Feuern der Welt, und so war das erste Todesopfer der KFOR-Truppen im Kosovo ein Gurkha der britischen Armee.

Die meisten Söldner aber wird man wohl als arme Schlucker betrachten müssen, die in den Krieg ziehen, weil sie vielleicht von Ruhm und Beute träumen, aber zunächst nicht wissen, wovon sie morgen leben sollen. Nicht selten waren und sind dies selbst Opfer des Krieges, der ihre Dörfer und Gehöfte verheert und ihnen die Lebensgrundlage entzogen hat. Nicht selten aber auch wurden und werden junge Männer einfach in den Krieg gezwungen. In den Söldnerheeren des 17. und 18. Jahrhunderts fanden sich viele Arme und Gezwungene, und erst recht stützen sich moderne Warlords in den Elendsregionen der Bürgerkriege auf solche mehr oder weniger freiwillige Krieger und schrecken auch nicht vor der Rekrutierung von Kindern zurück. Andererseits bieten selbst moderne Berufsarmeen westlicher Staaten nicht nur hehre Ideale, sondern gesicherte Laufbahnen an, die offensichtlich in ökonomischen Krisen als Alternative zu Arbeitslosigkeit nachgefragt werden.

Aber sind das auch Söldner? Die Vielgestaltigkeit des Söldnerwesens macht an vielen Stellen Grenzen fließend und Definitionen schwierig. Das wird auch an den jüngsten Versuchen deutlich, dem Söldnertum juristisch entgegen zu treten. Unter dem Eindruck der unkontrollierbaren Gewalt, die im Zuge der Entkolonierungskrisen in Afrika von Söldnern ausging, haben sich auch die Vereinten Nationen die Bekämpfung der Söldner zum Ziel gemacht. Aber in der 1989 von der UN-Generalversammlung verabschiedeten Konvention gegen Söldner konnte man sich nur auf eine gewundene Definition einigen, die wortreich Merkmale von Söldnern aufzählt. Als solche gelten demnach nur Krieger, die extra für einen Konflikt angeworben worden sind, die keine Staatsangehörigen der Konfliktparteien sind, deren Kampf sich gegen Regierung und Integrität eines Staates richten, die nicht von Dritten offiziell entsandt worden sind. Besonders misslich für eine Norm, die ja auch juristisch handhabbar sein soll, ist, dass diese Beschreibung nicht einmal ohne subjektive Dimension auskommt, den demnach ist für den Söldner auch wesentlich, dass ihn vor allem das Streben nach persönlichem Gewinn motiviert.

Aber gerade diese subjektive Dimension ist es, die dem volkssprachigen Verständnis von Söldnern zugrunde liegt. Ein Beispiel, das im Vergleich zu den Kriegen der Welt läppisch erscheinen mag, bringt dies in aller Subtilität zum Ausdruck. Im Dezember 1999 sahen sich die Fußballprofis des FC Bayern München nach einer verlorenen Partie mit Spruchbändern wie „Schämt euch, ihr Söldner“ konfrontiert. Gekränkt steckte Übungsleiter Hitzfeld exakt das beleidigende Begriffsfeld ab: „Die Fans haben kein Recht, uns als Verräter, Söldner und Gauner hinzustellen“. Aber warum wurde dieser Vorwurf gerade an diesem Tag erhoben? Das vorangegangene Spiel war nicht gegen einen beliebige Mannschaft verloren worden, sondern gegen den Lokalrivalen 1860 München. Bei diesem Gegner geht es traditionsgemäß nicht nur um Punkte, sondern um Ehre, und da wird mehr verlangt, als vertraglich vereinbarte Dienstleistung, nämlich Leidenschaft und Identifikation. So ergab die Schmähung erst Sinn. Und das eben markiert den Söldner im landläufigen Sinn: Ein Mangel an legitimen Motiven, die ihre Gewaltausübung rechtfertigen könnten.

Das ist zwar ein auch in der Geschichte verbreiteter Topos der Söldnerkritik, aber er ist keineswegs zeitlos. Die mitunter widersprüchlichen Bilder, die sich eine Gesellschaft von Söldnern macht, sagen nicht nur etwas über Söldner aus, sondern noch viel mehr über das Verhältnis der Gesellschaft zur militärischen Gewalt. Sie sind mithin selbst Produkt historischer Prozesse. Wenn es auch schwierig ist, eine Geschichte der Söldner zu schreiben, so kann doch die Geschichte der Spuren erzählt werden, die sie in die Geschichte von Krieg und Herrschaft und von Werten und Wahrnehmungen eingeschrieben haben. Ein Leitmotiv dessen ist die Polarität zwischen Söldnerheer und Bürgerheer. Die griechische wie die römische Geschichte kennt solche Kapitel. Die Ursprünge der modernen Variante kann man bis ins 15. Jahrhundert zurück verfolgen.

Es ist die Zeit, in der Söldner in den europäischen Heeren allmählich zur Mehrheit und damit für eine längere Phase der Militärgeschichte zum dominierenden Strukturmerkmal wurden. Das war ein voraussetzungsvoller und eckiger Prozess, was hier nicht näher entfaltet werden kann. Zur vollen Selbständigkeit gelangte das Söldnerwesen zuerst in den italienischen Stadtstaaten der Renaissance. Deren Erfahrungen von willkürlicher Gewalt, gewissenlosem Verrat und unkontrolliertem Machtmissbrauch riefen zwar auch entschiedene Kritiker auf den Plan. Aber den Siegeszug der Söldner hielten sie nicht auf, zu verlockend waren die Vorzüge der Söldner für die Fürsten und Obrigkeiten. Die herkömmlichen Wehrformen, der Appell an adlige Vasallen oder städtische wie dörfliche Milizen, war an lästige Bedingungen geknüpft und an den Eigensinn und Widerwillen der Betroffenen. Söldner dagegen waren beliebig verfügbar – wenn man sie denn bezahlen konnte. Rasch erwies sich auch deren militärische Effektivität als schlechterdings unschlagbar.

Der Wunsch nach Söldnern überstieg aber in aller Regel die materiellen Möglichkeiten der Kriegsherren. Fürstliche Behörden waren noch kaum entwickelt, und die fürstlichen Amtsträger waren noch lange nicht in der Lage, die komplexe Organisation von Truppen in eigener Regie zu vollziehen. Das blieb erfahrenen Truppenführern überlassen. Mehr noch, das Kapital, das den Fürsten fehlte, wurde oft auf demselben Weg mobilisiert, indem solche Truppenführer, zwar im Auftrag, aber dann auf eigene Kosten Söldner hinter sich scharten und also in Vorleistung traten, in der Erwartung, dass der Krieg selbst und die Steuersäckel ihrer Auftraggeber diese Investition auf längere Sicht rentabel werden ließ. Die Logik dieser Praxis ist als Kriegsunternehmertum bezeichnet worden, und wenn es auch anachronistisch wäre, diese Praxis als privatwirtschaftlich zu bezeichnen, so blieb doch die Kontrolle der Fürsten über diese Truppen lange Zeit prekär. Erst allmählich, bis ins 18. Jahrhundert, entwickelten die staatlichen Herrschaftsapparate die nötigen Techniken, um die Kontrolle über das Militär zu sichern und die Armeen als ein zentrales Machtinstrument in den Staatsapparat zu integrieren.

Aus einer ganz hohen Warte betrachtet, hat die beliebige Verfügbarkeit der Söldner entwicklungsgeschichtlich eine große Bedeutung erlangt. Indem das Söldnerwesen die adligen Ritterheere des Mittelalters als dominierende Struktur ablöste, wurde das Kriegswesen zugleich von seiner Bindung an geburtsständische Rollen und Normen abgekoppelt. Die Reduktion kriegerischer Praxis auf militärische Effizienz, die sich in Gestalt des Söldnerwesens vollzog, bedeutete nichts anderes als eine Professionalisierung des Kriegswesens, das im Prinzip von jedermann ausgeübt werden konnte. Das ist ziemlich vereinfacht gedacht, insofern auch die Einschätzung der Effizienz wiederum von zeitgenössischen Wahrnehmungen abhing, die aus heutiger Sicht nicht immer sehr rational anmuten (es aber aus damaliger Sicht waren). Aber Drill, Disziplin, Dienstgrade, Befehlshierarchie, alle diese Ingredienzien modernen Heerwesens entfalteten sich als funktionale Optimierung von Söldnerverbänden.

Das Militär wurde auf diese Weise relativ früh zu einem autonomen Subsystem, das die funktionale Differenzierung moderner Gesellschaften antizipierte. Die Autonomie bedeutete unter den Bedingungen des vormodernen Fürstenstaates aber auch, dass die Armeen ein unkontrollierbares Instrument für die Eroberungswünsche der Fürsten darstellten. Die Entfremdung zwischen Söldnerheer und Bevölkerung geriet im Laufe des 18. Jahrhunderts zunehmend in die bürgerliche Kritik.

Und dann ging alles ganz schnell. Die französische Revolution führte nicht nur zu einer militärischen Massenmobilisierung, sondern zu einer neuen ideellen Legitimation des Kriegsdienstes, die sich gerade vom Fürstendienst abhob. Aus der Revolutionierung des Staates und des Krieges erwuchs ihre Nationalisierung. Damit wurde das Heerwesen nicht nur in den Herrschaftsapparat, sondern auch in den Wertehaushalt der bürgerlichen Gesellschaft integriert. Die Heere blieben zwar Zankapfel zwischen monarchischer und parlamentarischer Kontrolle, aber ihr unwägbares Gewaltpotential wurde durch die Verpflichtung auf nationale Werte gesamtgesellschaftlich legitimiert.

Der Typus des Söldners wurde damit aber beinahe über Nacht zum gesellschaftlichen Außenseiter. Er wurde einhellig zum moralischen Mängelwesen gestempelt, um gute und böse Krieger unterscheiden zu können. Die Professionalität allein reicht nicht für diese Unterscheidung, denn die gab und gibt es auf beiden Seiten. Die Nationalisierung des Krieges führte überdies dazu, dass bis heute der Söldner meist ganz selbstverständlich als Ausländer betrachtet wird, also als Fremder dort, wo er seinen Militärdienst leistet, und umgekehrt als Verräter gegenüber seinem Heimatland. Für die vorrevolutionäre Ära wäre dieser Maßstab gegenstandslos gewesen, denn unter den Rekruten, die den Trommeln der Werbeoffiziere folgten, befanden sich in europäischen Heeren gleichermaßen Inländer wie Ausländer. Die einen als Söldner zu begreifen, die anderen aber nicht, hieße anachronistisch den nachrevolutionären Maßstab anzulegen. Bei genauerem Hinsehen stößt der Maßstab im übrigen auch bei modernen Söldnerverbänden auf Grauzonen.

Das Söldnerwesen wurde auf diese Weise marginalisiert. Aber es verschwand keineswegs. Die Ambivalenz, in die die Söldner der Moderne hineingestellt worden sind, wird am Beispiel der französischen Fremdenlegion besonders deutlich. 1831 zunächst aus politischen Flüchtlingen aufgestellt, behandelte sie die französische Regierung selbst mit Misstrauen und sorgte ganz konkret für ihre räumliche Marginalisierung, indem die Legion lange Zeit nur in nordafrikanischen Standorten stationiert wurden. Von dort aus ließen sich die Legionäre immer noch für die europäischen Staatenkriege einsetzen. Vor allem aber waren sie ein gefügiges Instrument, um weit jenseits der Grenzen Frankreichs koloniale Interessen zu verfechten, wofür sich nationales Militär nur mit großem legitimatorischen Aufwand hätte motivieren und mobilsieren lassen. Dieser Vorteil, der wiederum auf die beliebige Verfügbarkeit verweist, lässt sich auch auf andere Söldnerstrukturen des 19. und 20. Jahrhunderts übertragen.

Wie dominierend dennoch das nationalstaatliche Paradigma blieb, offenbart das paradoxe Motto der Legion: Legio patria nostra – die Legion ist unser Vaterland. Die Ambivalenz wird noch deutlicher, wenn die oben skizzierten Definitionen herangezogen werden. Denn nach den Maßstäben der UN wären die Fremdenlegionäre keine Söldner, schließlich ist die Legion eine staatliche Institution. Natürlich hatte die Staatengemeinschaft kein Interesse, sich dieses Instrument selbst zu verbieten. Sie zielte auf die Bekämpfung nichtstaatlicher Gewalt. Fragt man aber nach dem allgemeinen Sprachgebrauch, so gelten die Legionäre allerdings als die Söldner schlechthin, gemessen gerade an dem subjektiven Maßstab, der nach den Motiven des Kriegers fragt.

Gemessen allerdings an den Entwicklungen der letzten 40 Jahre, mit der Ausbreitung von Söldnerpraktiken seit den 60er Jahren und ihrer rasanten Beschleunigung seit den 90er Jahren, stellt die Fremdenlegion in der Tat eine vergleichsweise reguläre und legitimationsfähige Formation dar. Es ist hier nicht der Raum, die diffuse Vielfalt der militärischen Strukturen zu erfassen, die sich seither ausgebildet haben. Zwei Hauptentwicklungen markieren die auseinanderstrebenden Pole einer immer breiter gefächerten Praxis. Das Ende des Kalten Krieges favorisiert offenbar die Zunahme regionaler Krisenherde, in denen die Erodierung staatlicher Strukturen die Entstehung von Gewaltmärkten ermöglicht, das heißt Zustände, unter denen lokale und regionale Kriegsherren unkontrollierte, dauerhafte Gewaltherrschaften aufbauen, gespeist von der Kontrolle über legale, aber vor allem illegale Warenströme und Ressourcengewinnung. Über ihre Ähnlichkeit mit den Kriegsunternehmern des 16. und 17. Jahrhunderts ist schon diskutiert worden, aber der noch viel höhere Grad an Autonomie und Territorialisierung solcher Gewalträume kennzeichnet auch substantielle Unterschiede.

Dem stehen international agierende Militärfirmen gegenüber, die sich aus ehemaligen Spezialisten staatlicher Militär- oder Sicherheitsapparate rekrutieren und eine breite Palette von Dienstleistungen der Sparte Gewalt anbieten. Die zunehmende Indienstnahme solcher Firmen auch durch westliche Regierungen folgt einerseits der Logik des Outsourcing, die komplexe Aufgaben in privater Hand effizienter ausgeführt sieht. Zugleich aber emanzipiert sich diese Praxis von der Legitimation staatlichen Gewaltmonopols und ermöglich damit, im Rahmen globaler Rivalitäten jenseits der Aufmerksamkeit demokratischer Öffentlichkeiten Interessen zu verfolgen und beispielsweise auch in den trüben Schattenwelten der regionalen Krisen zu agieren. Die in einigen Regionen zunehmende Relativierung staatlicher Gewalt durch Subversion und Globalisierung lässt erwarten, dass militärische Gewalt und staatliche Legitimierung allmählich wieder entkoppelt werden. Der Streit um die Begriffe, ob nämlich diese Strukturen als Söldnerwesen bezeichnet werden können, ist in der Fachdebatte längst entbrannt und verweist darauf, dass es sich auch um ein Ringen um Wahrnehmungen und Wertungen handeln wird.

Anmerkungen

Die Literatur über Söldner ist zahlreich, aber in aller Regel räumlich wie zeitlich nur begrenzt konzipiert. Weiterführende Hinweise finden sich in: Michael Sikora: Söldner – historische Annäherung an einen Kriegertypus, in: Geschichte und Gesellschaft, 29. Jahrgang 2003, Heft 2, S. 210-238.

PD Dr. Michael Sikora, Westfälische Wilhelms-Universität Münster., arbeitet zur Sozial- und Mentalitätsgeschichte des Militärs, zur Kulturgeschichte des Adels und zur Genese politischer Partizipation in der Frühen Neuzeit