1989 – fünfzig Jahre nach Kriegsbeginn

1989 – fünfzig Jahre nach Kriegsbeginn

von Till Bastian

Das Jahr 1989 hatte noch gar nicht begonnen, da wurde es schon mit höchsten Erwartungen befrachtet. Theo Sommer, um globale Perspektiven und welthistorische Dimensionen selten verlegen, schrieb in der letzten Ausgabe der Zeit im Jahr 1988, unsere Generation habe „ein Rendezvous mit der Geschichte“. Für eine solche Feststellung – Sommer hatte sie einer Rede des US-Präsidenten Franklin Delano Roosevelt entlehnt – gibt es allerdings allen Anlaß. Vor fünfzig Jahren, am 1. September 1939, wurde um 5 Uhr 45 »zurückgeschossen« – mit dem Angriff des Schlachtschiffs »Schleswig-Holstein« auf die polnische Westerplatte begann der Zweite Weltkrieg: Hitlers Versuch, die Karten von 1914 neu zu mischen und einen nächsten Waffengang zu wagen; ein Krieg, an dessen Ende nicht nur die Zerstörung ganzer Länder und millionenfacher Tod standen, sondern auch die Atombombenexplosionen von Hiroshima und Nagasaki, die mahnenden Fanale eines neuen Atomkriegszeitalters. Auch in dieser Hinsicht ist 1939 ein Schicksalsjahr gewesen. Der von Th. Sommer zitierte 32. US. Präsident Roosevelt hatte – das erkennen wir heute, aus der Perspektive des 50-Jahres-Abstandes deutlicher als die damaligen Zeitgenossen – in jenem Jahr sein ganz persönliches Stelldichein mit Klio, der Muse der Historiker: Aufgerüttelt durch Einsteins Brief über den mittlerweile möglichen Bau einer »Superbombe« (August 1939) leitete der Politiker kaum ein Jahr nach der ersten Kernspaltung durch Hahn, Meitner und Straßmann das Atomprogramm seines Landes in die Wege: 1942 wurde der Kernreaktor angefahren, am 16. Juli 1945 in der Wüste von New-Mexiko die erste Atombombe gezündet – die nächsten Explosionen verwüsteten japanische Städte.

In Anbetracht dieser historischen Verwicklungen und Reminiszenzen kann ein auch nur halbwegs sensibler Chronist kaum anderes empfinden als ein Gefühl der Peinlichkeit, ja der Scham, wenn er Zustand und Entwicklung der offiziellen Bonner Politik betrachtet. Nicht nur, daß ein Besuch des Staatsoberhauptes zum 1. September in der Volksrepublik Polen – im Grunde eine selbstverständliche Geste des politischen Anstandes und des Versöhnungswillens – von der »Stahlhelm«-Fraktion in der CDU/CSU erfolgreich verhindert ist; nicht allein, daß auch der Bundeskanzler seine Polenreise mit einer fragwürdigen Begründung verschoben hat – als wolle er deutschem Wahn und deutscher Hybris noch die Krone des schlechten Gechmacks aufsetzen, hat ein hochkarätiger Politiker in Ministerrang, auf die rechtsradikalen Wähler schielend, just fünfzig Jahre nach Beginn jenes Krieges, in dem deutsche Schergen ein Viertel der polnischen Bevölkerung ausgerottet haben, die polnische Westgrenze in Frage gestellt und kaum verhüllt den Anspruch auf deutsche Wiederinbesitznahme der Gebiete östlich der Oder-Neiße-Linie angemeldet. Wenn sich ein Rendezvous mit der Geschichte so anbahnt – dann ist es offenbar von Selbsttäuschung, Verleugnung und Verdrängung überschattet. Mit einem glücklichen Ausgang kann so kaum gerechnet werden.

Die Welt vor hundert Jahren

Empörung, sie sei so berechtigt, wie sie wolle, ist ein unzureichender Nährboden für die Antwort auf die Frage, was zu tun sei. Welchen Gebrauchswert kann die historische Rückbesinnung denn haben für all jene, die dabei mit mehr Furcht und Zweifel zu Werke gehen als die Herren Kohl und Waigel? Betrachten wir die Welt vor hundert Jahren, 1889: Damals wie heute sehen wir eine Fülle vielfältiger friedenspolitischer Aktivitäten, beobachten wir Versuche, mit den traditionellen Verhaltensweisen der Machtpolitik radikal zu brechen, hören wir die Forderung nach einem neuen Denken und Handeln, nach dem Bau eines tragfähigen Fundamentes für den Weltfrieden. In Paris tritt 1889 der erste Weltfriedenskongreß zusammen; Frédéric Passy, Vorsitzender der »Französischen Gesellschaft der Friedensfreunde«, begrüßt die Delegierten von hundert verschiedenen Friedensgesellschaften und gründet mit seinem Freundeskreis die rasch bekannt werdende Zeitschrift »Revue de la Paix«(zunächst unter dem Titel »Arbitrage entre Nations«). Im selben Jahr 1889 entsteht auf Initiative des britischen Arbeiterführers, Unterhausabgeordneten und Pazifisten William Randal Cremer die »Interparlamentarische Union für Schiedsgerichtbarkeit und Frieden«, ein Verein, in dem sich friedenspolitisch engagierte Parlamentarier aus 9 Ländern zusammengefunden hatten (1890 traten ihr auch die deutschen Abgeordneten Barth, Broemel und Dorn bei). 1889 – ein Jahr vielfältiger friedenspolitischer Aktivitäten, auch auf publizistischem Gebiet. Friedrich Engels, fast siebzig Jahre alt, brütet über Manuskripten, aus denen später der programmatische Essay „Kann Europa abrüsten?“ (1893) hervorgehen wird, ein Aufsatz, der erstmalig erörtert, ob die Frage von Krieg oder Frieden nicht unter bestimmten Bedingungen als den Erfordernissen des Klassenkampfes übergeordnet betrachtet werden muß – ein Gedanke, der bekanntlich hundert Jahre später in der politischen Philosophie des Michael Gorbatschow voll zum Tragen kommt. Den unbestrittenen Höhepunkt der zahllosen friedenspolitischen Veröffentlichungen jener Tage bildet freilich der just 1889 erschienene Roman „Die Waffen nieder!“ der am 9. Juni 1843 zu Prag geborenen Adligen Bertha von Suttner, die im Jahr 1905 als erste Frau den Friedensnobelpreis erhielt. Doch die internationale Friedensbewegung, für die der Name von Suttner prototypisch stehen mag, ist trotz bestem Willen und großem Engagement letzten Endes machtlos gegen den aufblühenden, auf Krieg und Kolonialbesitz setzenden Imperialismus. Mag sein, daß diese Bewegung allzu philosophisch-philanthropisch orientiert gewesen ist – ein deutlicher Fingerzeig für uns Gegenwärtige, wo doch heute der Satz „Der Friede beginnt in den Köpfen“ auf Friedenskongressen und Kirchentagen wieder in aller Munde ist. Unstreitig ist die Sentenz richtig, doch umfaßt sie nur die halbe Wahrheit – denn wenn das, was in den Köpfen beginnt, sich in Waffenfabriken, Generalstäben und Ministerien nicht praktisch durchsetzt, also institutionell-organisatorisch abgesichert wird, droht der Frieden allemal in seinen Ansätzen stecken zu bleiben. So geschah es auch in der Zeit der Jahrhundertwende. „Der ewige Friede ist ein Traum, und nicht einmal ein schöner, und der Krieg ein Glied in Gottes Weltordnung“, so schrieb Generalfeldmarschall Helmuth von Moltke 1880 an den Heidelberger Völkerrechtsgelehrten Bluntschli: „In ihm entfalten sich die edelsten Tugenden des Menschen, Mut, Entsagung, Pflichttreue und Opferwilligkeit mit Einsetzung des Lebens. Ohne ihn würde die Welt im Materialismus versumpfen.“ Die Furcht des Generalissimus erwies sich freilich als unbegründet; die Welt »versumpfte« nicht. Schon im August 1914, Frau von Suttner war soeben zu Grabe getragen worden, donnerten die Kanonen. Kaiser Wilhelm II., der oberste Kriegsherr aller Deutschen, hatte seine Reichstagsrede zur Kriegserklärung mit den Worten beendet: „Nun wollen wir sie aber dreschen!“

Eine zeitgenössische Photographie zeigt eine gewaltige Menschenmenge, die sich vor der Münchener Feldherrenhalle versammelt hat, um der Verkündigung des Mobilmachungsbeschlusses zu lauschen. Unter den begeisterten Zuhörern ein enthusiastisch jubelnder junger Mann; die Ausschnittvergrößerung beweist, daß es sich um keinen anderen als Adolf Hitler handelt, geboren 1889, in eben jenem Jahr, als „Die Waffen nieder!“ erschien. Jetzt ist er fünfundzwanzig – als Fünfzigjähriger wird er, getragen von einer breiten Wille der Zustimmung unter seinen »Volksgenossen« als Rache für den verlorenen ersten einen zweiten, noch ungleich blutigeren Weltkrieg entfesseln….

Die Epoche des zweiten »dreißigjährigen Krieges«

Vielleicht werden Historiographen späterer Zeiten die Jahre 1914 bis 1945 als die Epoche des zweiten »dreißigjährigen Krieges« bezeichnen. Auf jeden Fall aber war diese erste Hälfte unseres bluttriefenden 20. Jahrunderts eine Epoche nicht nur exzessiver Machtentfaltung, sondern auch der Machtverherrlichung expressis verbis. Vom Kaiser Wilhelm II., der seine Feinde »dreschen« wollte, haben wir bereits berichtet – fünfundzwanzig Jahre später, im August 1939, verkündete Adolf Hitler, der einst der kaiserlichen Mobilmachungsorder so begeistert zugehört hatte: „Wer Macht nicht besitzt, verliert das Recht zum Leben.“ Der Krieg, den Hitler 25 Jahre nach der wilhelminischen Kriegserklärung begann, sechs Jahre, nachdem er selber von einer Woge der Sympathie und Begeisterung an die Macht getragen worden war – dieser Krieg muß in der Tat als der Versuch gewertet werden, sich am machtpolitischen Ziel von 1914 noch einmal, aber noch brutaler, noch rücksichtsloser, zu versuchen. Insoweit hatte Philipp Jenninger in seiner verunfallten Gedenkrede durchaus recht, als er, von seinem Unbewußten zum gar zu einfühlsamen Umgang mit dem Nationalsozialismus verführt, die rhetorische Frage stellte: „Machte nicht Hitler wahr, was Wilhelm II. nur versprochen hatte, nämlich die Deutschen herrlichen Zeiten entgegenzuführen?“

Schon 1935 hat Bertrand Russell, zu Zeiten des Ersten Weltkrieges wegen des Aufrufs zur Wehrdienstverweigerung mit Gefängnis bestraft, nach dem zweiten Weltkrieg mit dem Nobelpreis ausgezeichnet, hellsichtig geschrieben:

„Der Hitlerische Wahnsinn unserer Tage ist ein aus Götter- und Heldensagen gewobener Mantel, in den sich das deutsche Ich einhüllt, um nicht im eisigen Wind von Versailles zu erstarren…. Thyssen glaubt, mit Hilfe der Nazi-Bewegung sowohl den Sozialismus vernichten als auch seinen Umsatz gewaltig steigern zu können. Die Annahme, daß er recht hat, scheint jedoch ebenso unbegründet zu sein, wie zu glauben, daß seine Vorgänger im Jahre 1914 recht hatten. Für ihn ist es unumgänglich, das deutsche Selbstvertrauen bis zu einem gefährlichen Grad aufzupeitschen; das Ergebnis ist wahrscheinlich ein Krieg mit unglücklichem Ausgang. Selbst große Anfangserfolge würden nicht zu einem endgültigen Sieg führen; heute wie vor zwanzig Jahren vergißt die deutsche Regierung, daß es Amerika gibt.“

Die Friedensbewegung von 1889 hat sich nicht durchsetzen können; 1914 taumelte die Welt in einen Krieg, nach dessen Ende die Schaffung einer stabilen Weltfriedensordnung mißlang; der nächste Weltkrieg folgte rund zwanzig Jahre nach dem ersten. Es läßt sich lange darüber philosophieren, warum dem so gewesen ist – aber ein Grund kann wohl doch darin gesehen werden, daß sich die meisten Staatsmänner nach 1919 den künftigen Frieden als auf Machtpolitik gegründet dachten; daß sie nicht begriffen, daß die Politik bewaffneter Abschreckung schon das erste große Völkerringen nicht hatte verhindern können – wie sie sich später auch gegen einen zum Äußersten entschlossenen Hasardeur vom Schlage Hitlers als weitgehend wirkungslos erwies. Die Welt fuhr nach 1919 fort in jenem schon von Bertha von Suttner beklagten Wechselgesang der Großmächte:

Meine Rüstung ist die defensive.

Deine Rüstung ist die offensive,

Ich muß rüsten, weil du rüstest,

weil du rüstest,rüste ich

Also rüsten wir,

Rüsten wir nur immer zu…. (Aus: „Die Waffen nieder“,1889)

Eine radikale politische Wende blieb 1919 aus – die Gedanken und Ideen der Friedensbewegung am Ende des 19. Jahrhunderts zerstoben in der blutigen »Realpolitik« des beginnenden zwanzigsten Saeculums. Ausnahmen hat es freilich gegeben: Als die USA am 6. April 1917 in den Krieg eintraten, wurden sie von ihrem achtundzwanzigsten Präsidenten, Thomas Woodrow Wilson, regiert (er war 1912 gewählt, 1916 wiedergewählt worden). Wilson, der 1919 den Friedensnobelpreis erhielt, ist in der Folgezeit oft wegen seiner »idealistischen« Außenpolitik geschmäht worden (unter anderem in einem Buch, das Sigmund Freud gemeinsam mit dem ehemaligen US-Sonderbeauftragten in Moskau, William Christian Bullitt, verfaßt hat). Daran ist zumindest richtig, daß Wilson, insofern eine Ausnahmeerscheinung unter den Staatsmännern seiner Zeit, der damals üblichen »Real« – und das heißt Machtpolitik äußerst skeptisch gegenüberstand. In seiner mit großem Jubel aufgenommenen Kriegsbotschaft an den Kongreß (2.4.1917) prägte er den berühmten Satz „That the world must be made safe for Democracy“, und am 8. Januar 1918 trug er eben diesem Kongreß seine bekannten »Vierzehn Punkte« vor, die insgesamt „das Programm des Weltfriedens“ bilden sollten. Den letzten Punkt – er lag Wilson besonders am Herzen und sollte sozusagen dramaturgisch den Schlußakkord des Konzeptes bilden – stellte die Idee des Völkerbundes dar: „Es muß eine allgemeine Vereinigung der Nationen mit bestimmten Vertragsbedingungen gebildet werden, zum Zwecke gegenseitiger Garantieleistung für die politische Unabhängigkeit und Unverletzlichkeit der großen sowie kleinen Nationen…“

Daß Wilsons Gegner, der Hohenzollernkaiser in Berlin, in dieser Frage anders dachte, bedarf wohl kaum der Betonung. Wilhelm II., der es liebte, den Rand der von ihm durchgesehenen Gazetten mit Bemerkungen und Kommentaren zu versehen, hat noch am 10. März 1918, also kurz nach der Veröffentlichung der »Vierzehn Punkte« neben einem Artikel der »Münchener Allgemeinen Zeitung« vermerkt: „Der kommende Frieden wird unseren Feinden, so Gott will, aufgezwungen werden müssen. Sie werden erst zum Frieden schreiten, wenn sie so geschlagen sind, daß sie genug haben …. Also ein echter, rechter hausbackener Friede, wie er bisher immer nach jedem siegreichen Kriege geschlossen wurde. Volksbeglückende Weltbürgerschaftsgedanken finden darin keinen Platz. Nur das nackte eigene Interesse und die Garantien für die eigene Sicherheit und Größe dürfen maßgebend sein!“

Die Redewendung vom „nackten eigenen Interesse“, das allein maßgeblich sein dürfe, gemahnt schon fast an den »böhmischen Gefreiten«, der alsbald dem Hohenzollern als oberster deutscher Schlachtenlenker nachfolgen sollte – man ist versucht, zu seufzen: Wer hat uns Deutsche nicht schon regiert…! Dem Kaiser blieb allerdings nicht mehr viel Zeit zum Schwadronieren. Acht Monate nach seiner auf den Erzwidersacher Wilson gezielten Tirade über die „volksbeglückenden Weltbürgerschaftsgedanken“ flüchtet er ins holländische Exil, und am selben 10. November unterzeichnet der Abgeordnete Erzberger das Waffenstillstandsabkommen, aus dem der Versailler Vertrag hervorgehen sollte, dessen Teil I die Völkerbundsatzung bildete.

Vom Völkerbund zur UNO

Die Friedensbewegung von 1889 hat den ersten, der Völkerbund von 1919 den zweiten Weltkrieg nicht verhindern können – in beiden Fällen bewahrte ein gnädiges Geschick Bertha von Suttner und Thomas Woodrow Wilson davor, das Scheitern ihrer Ideale und Pläne noch erleben zu müssen. Für Wilson (er starb 1924) mag es bitter genug gewesen sein, daß er – seit dem 2. Oktober 1919 durch einen Schlaganfall linksseitig gelähmt und ans Krankenlager gefesselt – noch mitansehen mußte, daß der Senat in zwei Abstimmungen vom 19.11.1919 und vom 19.03.1920 den Eintritt in den Völkerbund ablehnte und daß sein Nachfolger im Präsidialamt, Warren Harding, nicht zögerte, den eigenen überwältigenden Wahlsieg von 1920 als gegen den Völkerbund gerichtetes Plebiszit darzustellen. Es kann hier nicht der Ort sein, das Scheitern des Völkerbundes nachzuzeichnen – seine letzte Sitzung fand übrigens vor fünfzig Jahren, kurz nach Kriegsbeginn, am 14. Dezember 1939 statt. Doch schon vier Jahre später vereinbarten Emissäre der USA, der UdSSR, Großbritanniens und Chinas auf einem Treffen in Moskau die Neubelebung des Völkerbundgedankens; treibende Kraft dieser Entwicklung war der Amerikaner Cordell Hull, geboren 1871 und von 1933 bis 1944 US-Außenminister, ein begeisterter Anhänger der politischen Philosophie Wilsons, für dessen demokratische Partei er seit 1907 dem Kongreß angehörte. 1955 hat Hull, von Roosevelt als „Vater der Vereinten Nationen“ bezeichnet, für seinen Verdienst den Friedensnobelpreis erhalten. Auf der sogenannten Dumbarton-Oaks-Konferenz 1944 wurden die Grundzüge einer UN-Charta entwickelt und am 26. Juni 1945 unterzeichneten die USA und 49 andere Nationen diese Charta der Vereinten Nationen. Während der Völkerbund keine zwanzig Jahre überdauerte, können die Vereinten Nationen bald ihr fünfzigjähriges Bestehen feiern. Das Ansehen dieser Organisation war nicht immer groß, ihr Prestige oft glanzlos – vielen galt die UN über Jahre als teure und ineffektive, von Bürokraten übervölkerte Schwatzbude, deren Resolutionen kaum größerer praktischer Nutzwert zukam als jenem Beschluß, mit dem das Laterankonzil 1139 das Verbot der Armbrust (als einer »unritterlichen“Waffe, die gegen »Ungläubige« freilich weiterhin gebraucht werden durfte) durchsetzen wollte….

Heute, 1989, fünfzig Jahre nach Kriegsbeginn, wird diese Ansicht allerdings immer weniger Anhänger finden – zu deutlich haben die Vereinten Nationen, dieser »Völkerbund im zweiten Anlauf«, sich in den letzten zwei Jahren als weltpolitischer Stabilitätsfaktor von hohem Wert erwiesen: zum Waffenstillstand am persischen Golf, zu Abkommen in Afghanistan, Angola und Namibia haben sie ganz entschieden beigetragen, und der Wunsch, mehr Einfluß, Kreativität und Kompetenz auf supranationalen Ebenen zu übertragen, wird immer häufiger vernommen. Ist Präsident Wilson also gescheitert? Der Gang der Ereignisse zeigt deutlich, daß historische »Momentaufnahmen« untauglich zur Beantwortung dieser Frage sind. Schon 1919, erst recht aber 1939 – nach Kriegsausbruch und Auflösung des Völkerbundes – hätten wohl viele Menschen mit einem klaren Ja geantwortet; die Situation im Jahre 1989 jedoch beweist, daß ein solches Ja recht vorschnell gewesen wäre.

Diese Betrachtung gibt uns Anlaß, die Frage von Mißerfolg und Scheitern in der Politik – und speziell bei den Bemühungen um Abrüstung und Weltfrieden – neu zu überdenken. Gerade ein solches Nachsinnen stellt einen überaus wichtigen Beitrag zur Selbstreflexion im Gedenkjahr 1989 dar. Denn der von Richard von Weizsäcker auf die nationalsozialistische Vergangenheit der Deutschen gemünzte Satz gilt im Grunde uneingeschränkt: „Wer vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart.“ Und wer gegenwartsblind ist, wird kaum je die Zukunft gestalten können.

Die unterirdischen Wasseradern der Geschichte

Man muß nicht gleich den etwas pathetischen Satz vom „Rendezvous mit der Geschichte“ bemühen, um festzustellen, daß gerade in einem so betrüblichen Gedenkjahr wie 1989 das Nachdenken über den Gang der Weltgeschichte eine wichtige Ressource für eine planvolle Gestaltung der Zukunft darstellt. Viele, die sich diesem Bemühen widmen, werden sich wohl mit der Frage plagen, ob denn im Verlauf der geschichtlichen Ereignisse Kontinuitätslinien erkennbar sind oder aber ob es gerade die Brüche, die Diskontinuitäten sind, die Geschichte machen. Und in beiden Fällen stellt sich die zweite Frage, wo wir kontinuierliche Entwicklungslinien einerseits, wo wir Ein- und Umbrüche andererseits zu vermuten haben. Ein Essay von dieser Kürze darf sich nicht erfrechen, eine Antwort auf solche Fragen zu versuchen, er darf aber dem Verdacht Ausdruck geben, ob die Frage nicht eventuell falsch gestellt ist – ob Brüche und Kontinuitäten nicht zwei Seiten einer Medaille darstellen.

Eine solche Auffassung wird insbesondere durch die Betrachtung »zweiseitiger« Ereignisse nahegelegt – prototypisch hierfür mag die Geschichte des Völkerbundes bzw. der Vereinten Nationen sein: Als Idee 1918/19 häufig verlacht und verspottet, im ersten Realisierungsversuch 1939 recht kläglich gescheitert, hat sich das Konzept des supranationalen Staatenverbandes dann eben doch – vielleicht gar endgültig – durchgesetzt; auch wenn Wilson sich zunächst für gescheitert gehalten haben mag, so hat er doch in Cordell Hull einen höchst wirkungsvollen Testamentvollstrecker gefunden. Sieht man das Werk der Friedensnobelpreisträger von 1919 und 1945 im kontinuierlichen Zusammenhang, so muß es dann doch als erfolgreiches, weltveränderndes Trachten gewertet werden, trotz des blutigen Unterbruches im Jahr 1939. Im übrigen könnte man durchaus noch weiter ausholen und das Konzept von Völkerbund und Vereinten Nationen bis zu Immanuel Kants Traktat „Zum ewigen Frieden“(1795) zurückverfolgen – eine Schrift, die damals sicher von vielen Zeitgenossen als typisch philosophische, weltfremde Spintisiererei abgetan worden ist (Kant selber hatte schon 1793 geklagt, daß alle Philosophie, die „auf den Zustand eines ewigen, auf einen Völkerbund als Weltrepublik gegründeten Frieden hofft….als Schwärmerei allgemein verlacht wird“). Auch Bertha von Suttner, auch die Friedensbewegung ihrer Zeit ist allgemein verlacht worden – und was könnte, so scheint es, deutlicher ihr Scheitern markieren als die beiden blutigen Weltkriege? Doch hier ist abermals, das konnten wir schon an Person und Philosophie des Thomas Woodrow Wilson zeigen, Vorsicht am Platz. Die Menschheitsgeschichte ist weder ein gradliniger Prozeß, noch vollziehen sich entscheidende Veränderungen in kurzen Fristen. Und darüber hinaus: Was meinen wir eigentlich mit »Realität«, wenn wir eine Idee, ein Konzept, eine These als »realitätsfern« oder gar als »weltfremd« bezeichnen? Könnte nicht Immanuel Kant, wenn er als Revenant zum 50sten Jahrestag der UN-Gründung 1995 auf diese Welt wiederkehrte, mit Recht sagen, daß, wer zuletzt lacht, am besten lacht – mag er zuvor auch noch so arg verspottet worden sein? Wenn ein Feldherr Tausende abschlachten läßt, ist das für uns grausige Realität, neben der das Traktat des Philosophen zu grauer, abgehobener Theorie verblaßt. Aber diese Sicht der Dinge ist einseitig und verzerrt. Es muß doch nachdenklich machen, daß das Verdikt »weltfremd«, ausgesprochen von Männern wie General Moltke, Kaiser Wilhelm II. oder Generalsekretär Wörner stets die Pläne für ein friedliches Zusammenleben der Völker betrifft – von der „Klage des Friedens“ des Erasmus von Rotterdam (1517) bis zu Wilhelm Penns „Essay zum gegenwärtigen und zukünftigen Frieden in Europa“(1693); von der Bergpredigt bis zu Frau von Suttners „Die Waffen nieder!“; von Kants Friedenstraktat bis zu Wilsons vierzehn Punkten. Die Konzeptionen der Rüstungsbefürworter und Militärplaner, der Realpolitiker und Gewaltstrategen werden demgegenüber erstaunlich milde beurteilt – vom »Schlieffen-Plan« des preußischen Generalstabs bis zu Ronald Reagans »Krieg der Sterne«-Projekt…. Als der Philosoph Leibniz 1671 nach Paris reiste, um den »Sonnenkönig« Ludwig XIV vom Angriff auf seine Nachbarn abzuhalten, scheiterte er, denn der Monarch weigerte sich, den Besucher zu empfangen. Aber der Feldzug des ehrgeizigen Königs scheiterte auch – und war dieser Plan nicht viel verwegener als das Bemühen des Philosophen?

Wir kommen zum Ende unserer Betrachtungen. Ein amerikanischer Leser könnte jetzt vielleicht fragen:„ Where is the beef?“ – Wo ist der praktische Nutzeffekt für die um ihr Selbstverständnis ringende Friedensbewegung im historischen Gedenkjahr 1989?

Nun, gerade das sollte gezeigt werden: Daß es falsch ist, sich in einem verkürzten Geschichtsverständnis gar zu eng an die Vordergründigkeit der vermeintlichen Realität zu klammern; daß es in die Irre führt, in fehlgeleitetem Pragmatismus auf allzu kurzfristige Effekte und Wirkungen zu hoffen…..

Es gibt Traditionslinien von eigener Kraft, die wie unterirdische Wasseradern unsichtbar unter dem Urgestein der »historischen Tatsachen« verlaufen und die, wenn wir sie nur ernst nehmen, durchaus zum Kraftquell werden können: die Friedensdichtungen des Novalis, des Jean Paul und der Bertha von Suttner; die kosmopolitische Humanität eines Lessing und eines Wieland; die politischen Visionen von Immanuel Kant. Wie erbärmlich wirkt es demgegenüber, wenn ein Herr Mayer-Vorfelder auf alle drei Strophen des Deutschlandliedes, wenn ein Herr Waigel auf die Grenzen von 1937 setzt…..

Die Gründung der Vereinten Nationen und die Nürnberger Prozesse von 1945; beides Versuche, die Weltordnung auf eine neue, gerechte Grundlage zu stellen. Diese Versuche mußten halbherzig bleiben. Solange sie im Schatten der Atombombe, im Rahmen einer Politik der nuklearen Abschreckung erfolgten – denn diese Politik macht Völkermord zum legitimen Mittel der zwischenstaatlichen Auseinandersetzung. Aber vielleicht vollzieht sich auch der durch den Kriegsbeginn 1939 ausgelöste Neuaufbruch zu einer anderen Politik »zweizeitig«. Vielleicht können gerade wir Deutschen fünfzig Jahre nach dem Beginn des Zweiten Weltkriegs entscheidend dazu beitragen. Politische Visionen, die sich selbst als langfristig wirksam verstehen und bewußt abseits der Tagespolitik halten – wie die Idee einer atomwaffenfreien Welt, zu der eine atomwaffenfreie BRD gewiß einen großen Schritt beisteuern könnte – sind dafür unabdingbar.

„Prognosen sind immer schwierig, besonders, wenn sie die Zukunft betreffen“ hat Niels Bohr einmal gesagt. Die Zukunft ist in jeder Hinsicht offen, wir können nichts Verläßliches über sie aussagen. Aber es mag ein Trost sein, daß wir immerhin hoffen dürfen – aber nur, wenn wir auch tun.

Dr. Till Bastian, Arzt und Schriftsteller, lebt in Isny.

Friedensärzte

Friedensärzte

Felix Boenheim (1890 – 1960) und das Internationale ärztliche Engagement gegen Krieg und Faschismus

von Thomas M. Ruprecht

“Du, Arzt am Krankenbett, wenn sie Dir morgen befehlen, Du sollst die Männer kriegstauglich schreiben, dann gibt es nur eins: Sag nein!“ (Wolfgang Borchert)

„… Wir Ärzte kennen die Schrecken des Krieges am besten, weil wir noch heute die irreparablen Gesundheitsschäden des letzten Krieges täglich sehen. Der nächste Krieg kennt keinen Unterschied zwischen Front und Hinterland. Giftgase, Brandbomben und Bakterien werden alles Lebendige vernichten. Im Weltkriege wurden fast 10 Millionen Menschen auf den Schlachtfeldern getötet, 17 Millionen verwundet und verstümmelt. … Die Massenarbeitslosigkeit hat zur Massenverelendung geführt. Der Abbau der Leistungen der sozialen Versicherungen, der Mittel zur Bekämpfung der Krankheiten führt zu immer neuen und schwereren Schädigungen der Gesundheit des Einzelnen. Chronische Unterernährung und Wohnungselend lassen Volksseuchen wie die Tuberkolose wieder ansteigen. Die Zahl der Nervenerkrankungen nimmt ständig zu und mit ihnen die Zahl der Selbstmorde.

Trotz der fortdauernden Vernichtung von Kulturwerten durch Krieg und Nachfolgen, trotzdem die Schreckensbilder des Weltkrieges nicht unvergessen bleiben, sind schon wieder Kräfte am Werk, die den Ausweg aus der Wirtschaftskrise in einem neuen Krieg sehen wollen. … Bedroht ist in erster Linie Sowjet-Rußland. Ein Angriff auf dieses Land, das den friedlichen Aufbau will, bedeutet einen neuen Weltkrieg. Deshalb rufen wir unterzeichneten Ärzte aller Länder auf, gegen den Krieg zu kämpfen … Als Hüter der Volksgesundheit erheben wir unsere warnende Stimmen gegen ein neues internationales Blutbad, in das die Völker planmäßig hineingetrieben und dessen Folgen unabsehbare sein werden.“ 1

So endete der »Aufruf an die Ärzte aller Länder«, den Felix Boenheim, Chefarzt der inneren Abteilung des Berliner Hufeland-Hospitals, im Frühjahr 1932 an Kolleginnen und Kollegen in aller Welt verschickte. Über 200 unterzeichneten ihn, unter ihnen Sigmund Freud und Carl Gustav Jung. Sie unterstützten damit den Appell der französischen Schriftsteller Henri Barbusse (1873-1935) und Romain Rolland (1866-1944) für den »Weltkongreß gegen Krieg und Faschismus« 1932 in Amsterdam.

Spätestens seit Beginn des japanisch-chinesischen Krieges 1931 stand den politisch engagierten Zeitgenossen ein neuer Weltkrieg als drohende Gefahr vor Augen. Faschismus und Nationalsozialismus waren scheinbar unaufhaltsam auf dem Vormarsch. Die erste deutsche Republik lag in Agonie, ihre potentiellen Verteidiger zermürbten sich in unversöhnlichen Flügelkämpfen, Aufrüstung und Kriegsvorbereitungen wurden immer unverblümter propagiert und durchgesetzt, trotz Massenelend und- Arbeitslosigkeit. Bereits seit 1928 hatte der »Verein Sozialistischer Ärzte« in Berlin Front gegen die Aufrüstungspolitik bezogen, vor allem gegen die umfangreichen »Zivilschutz«-Maßnahmen für einen B- und C-Waffen-Krieg. Boenheim, langjähriges Mitglied des Vereins und renommierter Endokrinologe in Berlin, setzte schließlich Impulse jener »Gaskriegsdebatte« um, als ihn Henri Barbusse 1932 fragte, ob er für den Amsterdamer Kongreß Leiter der deutschen Delegation werden und im Reich Vorbereitungen koordinieren würde.

Felix Boenheim, 1890 in Berlin geboren, stammte ursprünglich aus einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie jüdischer Herkunft. Er hatte Medizin in München, Freiburg und Berlin studiert und war politisch stark von seinem Onkel Hugo Haase (1863-1919) beeinflußt, Fraktionsvorsitzender der SPD-Reichstagsfraktion, Mitglied des Parteivorstandes und 1917 Gründer der USPD.

1. Weltkrieg und Novemberrevolution

Bereits während des 1. Weltkrieges hatte Boenheim die Mitwirkung am Krieg abgelehnt: Schon wenige Monate nach Kriegsbeginn bekundete er als landsturmpflichtiger Arzt im ostpreußischen Graudenz offen seine Ablehnung. Obendrein befreundete er sich mit dem damals berühmten Berliner Kardiologen Georg Friedrich Nicolai (1874-1964), ab 1917 der international bekannteste deutsche Kriegsgegner aufgrund seiner »Biologie des Krieges«, jenem „Kultbuch des internationalen Pazifismus“ 2. Beide kamen schließlich mit den Militärbehörden in Konflikt. Boenheim wurde bereits 1915 vor ein Kriegsgericht gestellt, wegen „fahrlässiger Gerüchteverbreitung“ und „Beleidigung“ des Kriegsministers von Falkenhayn (1861-1922). Ohne das Urteil abzuwarten, degradierte man ihn, und zog ihn in Aberkennung seines Sonderstatus als Mediziner als gemeinen Soldaten zur aktiven Truppe ein; damals ein Präzedenzfall. Wegen Krankheit schließlich entlassen, begann er 1916 eine vielversprechende wissenschaftliche Karriere an der Universitätsklinik Rostock. Als er sich jedoch politisch für die neugegründete USPD engagierte, konnte er sich nicht mehr habilitieren und wechselte ans Städtische Krankenhaus nach Nürnberg.

Dort spielte er in der Novemberrevolution als Arbeiter- und Soldatenrat der USPD eine bedeutende Rolle, radikalisierte sich aber im Laufe der SPD-geführten Restauration. Als libertärer Kommunist wurde er mit 29 Jahren führende Persönlichkeit der Nürnberger Spartakisten. Als im April 1919 in München die Räterepublik ausgerufen werden sollte, schlug ihn Erich Mühsam (1878-1934) für das Amt des Bayrischen Justizministers vor. Boenheim jedoch lehnte zusammen mit der KPD eine Beteiligung an der revolutionären Umwälzung ab, da sie in seinen Augen basisdemokratischer Legitimation und ausreichenden Rückhalts in der Bevölkerung entbehrte.

1921-1932

Nach Assistenzjahren am Stuttgarter Katharinenhospital ließ er sich 1921 als Internist in Berlin nieder. Seine politische Tätigkeit orientierte sich weiterhin an der KPD, obwohl er nie Parteimitglied wurde. Er gehörte zum Kreis um Willi Münzenberg (1889-1940), den er in Stuttgart als Vorsitzenden der württembergischen Kommunisten kennengelernt hatte. Boenheims Schwerpunkte waren das soziale Engagement für die Arbeiterschaft Berlins und die Interessen der deutschen und internationalen Arbeiterbewegung, für gesundheitliche Aufklärung breitester Schichten und eine Sozialisierung des Gesundheitswesens. Er war Mitglied der »Deutschen Liga für Menschenrechte«, engagierte sich in einem überparteilichen »Verein Sozialistischer Ärzte« und in der Ärztesektion der »Internationalen Arbeiterhilfe«(IAH), war Mitinitiator der »Gesellschaft der Freunde des neuen Rußland« (1923), zu der zahlreiche prominente Künstler, Schriftsteller und Wissenschaftler wie die Brüder Mann und Albert Einstein gehörten und trat 1927 der »Liga gegen Imperialismus und für die nationale Unabhängigkeit« bei, aus der ein Jahr später die »Weltliga gegen Imperialismus und koloniale Unterdrückung, für nationale Freiheit« wurde. In Wieland Herzfeldes »Malik« und Münzenbergs »Neuem Deutschen Verlag« veröffentlichte er populärwissenschaftliche Schriften, verkehrte mit Ernst Thälmann (1886-1944) und Wilhelm Pieck (1876-1960) und pflegte Freundschaften zu Ernst Toller (1893-1939) und dem pazifistischen Schriftsteller Leonhard Frank (1882-1961). Beruflich war er trotz gebrochener akademischer Karriere sehr erfolgreich, arbeitete wissenschaftlich in den Labors der Charité, publizierte im In- und Ausland und gewann einen hervorragenden Ruf als Endokrinologe, besonders auf dem Gebiet der Schilddrüsenerkrankungen.

1931 – inzwischen Chefarzt am Berliner Hufeland-Hospital – verlor er wegen seines gesundheitspolitischen Engagements seine Kassenzulassung durch Ausschluß aus dem Hartmann-Bund. Nur wenig später erreichte ihn die Bitte von Henri Barbusse zur Vorbereitung des Amsterdamer Kongresses. Boenheim gründete daraufhin einen eigenen Initiativausschuß. Mitglieder waren Käte Kollwitz (1867-1945), die Literaten Bert Brecht, Bernhard von Brentano (1901-1964), Ricarda Huch (1864-1947) Anna Seghers (1900-1983) und Ernst Toller, der Arzt und Sexualreformer Max Hodann (1894-1946) und der Psychoanalytiker und Freud-Schüler Wilhelm Reich (1897-1957). Gleichzeitig rief er auch ein international besetztes Ärztekomitee ins Leben, besetzt vor allem mit renommierten Hochschullehrern: Der Königsberger Ludwig Pick3, der Prager Endokrinologe Arthur Biedl (1869-?), der Bonner Zahnmediziner Alfed Kantorowicz (1880-1962), der Berliner Internist Georg Zülzer (1870-1949) und schließlich der Züricher Arbeiterarzt und Anarcho-Syndikalist Fritz Brupbacher (1874-1944). Sie waren auch die Erstunterzeichner des anfangs zitierten Aufrufs aus Boenheims Feder.

Der Amsterdamer Kongreß 1932

Der Amsterdamer Kongreß entwickelte sich zur größten Antikriegskundgebung, die bis dahin je stattgefunden hatte. Am 27. August 1932 versammelten sich über 4000 Teilnehmer, davon 2200 Delegierte aus 35 verschiedenen Ländern4. Er sollte ein Signal setzen zur Bildung einer parteiübergreifenden Volksfront gegen den um sich greifenden kriegerischen Faschismus und Nationalsozialismus. Parallel zum Plenum tagte die erste internationale Ärztekonferenz unter dem Motto »Arzt und Arbeiterklasse verbündet im Kampf gegen Imperialismus und Kriegsgefahr«. Das Hauptreferat vor den ca. 50 Teilnehmern aus ganz Europa hielt Felix Boenheim: „Die gesundheitlichen Folgen des letzten Krieges und die drohenden Folgen des kommenden, insbesondere des Gaskrieges“ Am darauffolgenden Tag, den 28. August 1932, beschloß die zweite ärztliche Sonderkonferenz auf Initiative Boenheims die Gründung der »Internationalen Gesellschaft der Ärzte gegen Krieg und Faschismus« und wählte ihn zum Präsidenten. Folgende Erklärung wurde verabschiedet:

„Die auf dem Antikriegskongreß vertretenen Ärzte aus allen europäischen Ländern appellieren angesichts der wachsenden Gefahr eines neuen Weltkrieges an alle Ärzte, die nicht dulden wollen, daß die Fortschritte der Wissenschaft und Technik in den Dienst der planmäßigen Massenvernichtung gestellt werden…. Verheerend war die Wirkung des Krieges auf Frauen und Kinder. Die Gesundheit der unterernährten, blutarmen Frauen wurde durch die Fabrikarbeit, besonders auch in den Munitionsfabriken vollends untergraben. Die im Kriege geborenen Kinder der werktätigen Bevölkerung erlitten irreparable, noch heute nachweisbare Schädigungen. … Die am Kriege interessierten Kräfte aller Länder, insbesondere der Rüstungsindustrie, bemühten sich, die Ärzte in die Front der Vorbereitung des Krieges einzureihen. Im Weltkriege wurde der Arzt dazu degradiert, den letzten Mann kriegsverwendungsfähig zu schreiben und die verhängnisvollen Folgen von Hunger und Unterernährung zu verschweigen. Heute soll er durch seine Gutachten beitragen zu weiterem Abbau der kümmerlichen Renten der Kriegs- und Arbeitsopfer. Die in allen Ländern in letzter Zeit mit äußerster Intensität betriebene Agitation für den Gas- und Luftschutz zeigt, daß man den kommenden Krieg als nahe bevorstehend erwartet, Ärzte stehen an führender Stelle bei der Organisierung des Gas- und Luftschutzes. Dieser ist um so gefährlicher, als er sich unter dem Schein defensiver Maßnahmen abspielt. Eine besondere Rolle hierbei spielen die einzelnen Sektionen des »Internationalen Roten Kreuzes« deren Tätigkeit die Massen im Kampf gegen den Krieg lähmt. Wir Ärzte, die wir uns für die Verhinderung eines neuen Weltgemetzels einsetzen, verpflichten uns, folgende dringliche Aufgaben durchzuführen:

  1. Aufklärung über die Greuel- und Vernichtungsmethoden des Krieges, insbesondere des alles Leben unterschiedslos vernichtenden Gaskrieges, unter den Ärzten und in den breiten Massen der Bevölkerung.
  2. Aufklärung über die tatsächliche Unmöglichkeit eines wirksamen Gasschutzes. Der einzig wirksame Gasschutz ist der siegreiche Kampf gegen den Krieg.
  3. Aufzeigen der katastrophalen Folgen von Krieg und Nachkriegskrise auf die Volksgesundheit in den einzelnen Ländern. Durchführung von Massenuntersuchungen in Elendsgebieten, wie sie in Deutschland, in der Tschechoslowakei mit erschütternden Ergebnissen durchgeführt werden. Veranstaltungen von Referaten, Schulungskursen und Kundgebungen über diese Themen in allen Kreisen der Bevölkerung.
  4. Schaffung eines internationalen Ärztebüros, das systematisch die Tatsachen der gesundheitlichen Schädigungen in den einzelnen Ländern sammelt und wissenschaftlich verarbeitet, sowie Direktiven gibt für den Kampf der Ärzte gegen den Krieg. Wirksame Arbeit zur Verhütung eines neuen Krieges können die Ärzte nur Hand in Hand mit den Organisationen leisten, die einen aktiven Kampf gegen den Krieg führen“ 5

Boenheim und die internationale Ärztegesellschaft knüpften damit an oppositionelle Strömungen an, die es innerhalb der europäischen Ärzteschaft schon während des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts gegeben hatte6.Ihr bedeutenster Vertreter war zunächst Rudolf Virchow (1821-1902). Als einer der schärfsten Gegner Bismarcks hatte er am 21. Oktober 1869 großes Aufsehen erregt mit einem Abrüstungsantrag im Preußischen Abgeordnetenhaus7. 1895 sah er für Europa nur zwei Möglichkeiten: „Abrüsten oder Untergehen“ 8.

Die erste spezifisch ärztliche Friedensorganisation war jedoch 1905 in Frankreich entstanden, auf Initiative des damals berühmten Internisten und Pioniers der Radiologie und physikalischen Medizin Dr. Joseph Alexandre Rivière (1860-1946): Die „Association internationale médicale contre la Guerre“. Der Nobelpreisträger Charles Richet (1860-1933)9, ihr prominentestes Mitglied hatte damals bereits gefordert: „… diese Idee des Friedens, des heiligen Friedens, ist es wert, durch jeden Arzt, der seine Aufgabe verstanden hat, verteidigt zu werden. Todgeweihte ins Leben zurückzuholen, Versehrten beizustehen, behindertes Leben zu verlängern: das ist ganz sicher die Pflicht des Arztes. Warum aber sollte ihm veboten sein, kräftige, gesunde und lebensdurstige junge Menschen zu retten, die die Mächtigen dieser Welt in ihrem Wahn ins Gemetzel der Schlachtfelder kommandieren?… Ist es nicht eine grausame Ironie, seine Fürsoge einem armen Tuberkulosekranken zuzuwenden, dessen Leiden nur mit größter Mühe lindern zu können, während der Moloch des Krieges mit einem einzigen Schlag hunderttausende gesunde, vitale junge Menschen vernichtet?… Wir Ärzte sind Anwälte der Menschlichkeit. Lassen sie uns diese Aufgabe mit aller Entschiedenheit vertreten. Begrenzen wir unsere Humanität nicht auf hingebungsvolle Krankenpflege! Gehen wir weiter!“ 10

Neben der »Association«, die über 700 Mitglieder in 21 europäischen, 18 mittel- und südamerikanischen Staaten, aber auch in Kanada und den USA hatte, waren noch weitere Mediziner mit der Gründung antimilitaristischer und pazifistischer Organisationen hervorgetreten: Fritz Brupbacher – ebenfalls 1905 – mit der Schweizer »antimilitaristischen Liga«11, 1914 der britische Internist und Quäker Henry Hodgkin (1877-1933)12 mit der bis heute bestehenden pazifistischen »Fellowship of Reconciliation« (»Internationaler Versöhnungsbund) und 1919 der Berliner Sexualforscher Magnus Hirschfeld (1868-1935) und der Züricher Psychiater August Forel (1848-1931) mit der »Arbeitsgemeinschaft für die Abschaffung der Kriege«13.

Die »Internationale Gesellschaft der Ärzte gegen Krieg und Faschismus«

Boenheims »Internationale Gesellschaft der Ärzte gegen Krieg und Faschismus« nahm auch Thesen auf, die bereits 1929 vor allem der »Verein Sozialistischer Ärzte« in der »Gaskriegsdebatte« propagiert hatte. Besonders erwähnenswert sind hier die marxistisch orientierten Psychoanalytiker Otto Fenichel (1887-1946) und Ernst Simmel (1882-1974), aber auch die sozialistische Berliner Stadträtin und Neuköllner Bezirksärztin Käte Frankenthal (1889-1976). Unter dem Pseudonym »Kenta« geißelte sie auch nach ihrer Flucht aus Deutschland in zahlreichen Artikeln die Aufrüstung Hitlers, speziell im Gesundheitswesen. In ihrem Beitrag „Deutsche Ärzte bereiten den Krieg vor“ von 1933 schreibt sie über den »Zivilschutz«:

„Diese ganze Aktion, in deren Dienst sich auch die Deutsche Ärzteschaft mit Begeisterung stellt, dient nicht der Abwehr von Angriffen, sondern sie dient der Vorbereitung zum Krieg … Es wird in Deutschland kein Auto angeschafft, kein Amt errichtet, kein Mensch ausgebildet, ohne auf das eine große Ziel hin zu visieren: Krieg! Wie hypnotisiert muß der ganze Heerhaufen, den man aus dem deutschen Volk bildet, auf dieses eine Ziel schauen: Krieg!“ 14

Noch im Herbst 1932 entstanden in Europa 11 nationale Sektionen der internationalen Ärztegesellschaft. Die deutsche hatte im Frühjahr 1933 fast 300 Mitglieder. Boenheim gründete nach seiner Rückkehr aus Amsterdam zusätzlich das »Deutsche Kampfkomitee gegen den imperialistischen Krieg«, ein Versuch, in letzter Minute die bisher verfeindeten Strömungen innerhalb des antimilitaristisch-pazifistischen Lagers wieder an einen Tisch zu bringen und zu gemeinsamer Aktion zu motivieren. Unter den 60 Mitgliedern waren neben Arbeitern aus Rüstungsbetrieben auch Albert Einstein, die Feministin Helene Stöcker (1869-1943), Heinrich Mann und die Pazifisten der »Deutschen Friedensgesellschaft« Otto Lehmann-Rußbüldt (1873-1964) und General a.D. Paul Freiherr von Schönaich (1866-1954). Neben zahlreichen Veranstaltungen gegen die Kriegsvorbereitungen überall in Deutschland initiierte es die Gründung innerbetrieblicher Komitees in Rüstungsfabriken, um so die Waffenproduktion zu verhindern und wenn möglich durch Streiks lahmzulegen.

Die »Internationale Gesellschaft der Ärzte gegen Krieg und Faschismus« inspirierte schließlich die Arbeit des »Komitees für Kriegsprophylaxe«, einer Arbeitsgemeinschaft der holländischen Medizinischen Gesellschaft15, und zahlreiche Ärzte in Großbritannien. Diese publizierten noch 1938 ein Buch mit dem Titel »The Doctor's View of War«. Im Vorwort schreibt John A. Ryle, Professor in Cambridge, wie eine Verweigerung ärztlicher Mitarbeit Kriege undurchführbar machen könnte16.

Die Boenheim'sche Gesellschaft markiert einen vorläufigen Höhepunkt ärztlichen Engagements gegen Krieg und Faschismus – in Deutschland jedoch nur für kurze Zeit. Bereits fünf Monate nach ihrer Gründung bereitete die Wahl Hitlers zum Reichskanzler der deutschen Sektion ein jähes Ende. Sie wurde zerschlagen, Boenheim am 28. Februar 1933 verhaftet (in der Nacht des Reichsbrandes). An der ersten Nachfolgekonferenz der Gesellschaft in London konnte kein deutscher Vertreter mehr teilnehmen.

Exil und Nachkriegszeit

Nur durch glückliche Umstände wurde Boenheim nach sechs Monaten aus der Spandauer Haft entlassen. Er emigrierte sofort nach Frankreich. Es folgte eine zweijährige Odyssee über Großbritannien, Palästina und Paris nach New York. Dort entwickelte er sich schon bald zu einem der führenden Akteure des politischen Exils. In zahlreichen Organisationen arbeitete er an leitender Position für eine Einheitsfront aller Deutsch-Amerikaner und Emigranten gegen Hitler – zuletzt im »Council for a Democratic Germany«, einer Allparteienkoalition zur Entwicklung politischer Programme für den demokratischen Wiederaufbau in Deutschland, unter Leitung des religiösen Sozialisten und Theologieprofessors Paul Tillich.

1949 kehrt Boenheim nach Deutschland zurück und folgte einem Ruf als Leiter der Universitäts-Poliklinik in Leipzig. Er bleibt trotz angeschlagener Gesundheit (friedens-)politisch aktiv und gründet zusammen mit dem Sozialhygieniker Wolfgang Oerter(*1920) – in Anlehnung an Amsterdam – die erste ärztliche Friedensgruppe der DDR, die »Friedensgemeinschaft Deutscher Ärzte«. Nach der Emeritierung leitete er während seiner letzten Lebensjahre das einst weltberühmte »Karl-Sudhoff-Institut für Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften«.

Boenheim und die mit ihm international engagierten Ärzte des sozialistischen Spektrums formulierten wesentlich eindeutiger als alle Vorgänger eine berufsspezifische, letztlich medizinethisch begründete Verpflichtung aller im Gesundheitswesen Tätigen, sich ihrer Rolle in der Kriegsmaschinerie bewußt zu werden und die Mitarbeit radikal zu verweigern – als Anwalt aller tatsächlich und potentiell Geschädigten. Nicolai hatte 1918 anläßlich seiner schließlich erfolgten Strafversetzung und Degradierung noch geschrieben: „Ich bin der Meinung, daß ich durch die Tatsache meiner Approbation das moralische und juristische Recht erworben habe, dem Staate während eines Krieges nicht mit der Waffe, sondern mit ärztlichem Wissen zu dienen“, und „daß es entweder ein Zeichen von Pflichtvergessnheit oder aber ein Zeichen von Dummheit ist, in Zeiten, in denen man die Ärzte so bitter nötig braucht,…, einem Arzt die Ausübung seines Berufes unmöglich zu machen“ 17.

Obwohl er sich geweigert hatte, den Fahneneid zu schwören und sich damit einer vollständigen Unterordnung entzog, kritisierte er die Behörden ausschließlich auf dem Boden militärischer Logik, die Hindenburg in seinen Lebenserinnerungen deutlich umreißt:

„Würde unser Sanitätsdienst nicht auf der Höhe gestanden haben, auf der er sich tatsächlich befand, so hätten wir schon aus diesem Grunde den Krieg nicht so lange durchhalten können. die Leistungen der Feldsanitäter werden sich dereinst … als ein besonderes Ruhmesblatt deutscher Geistesarbeit und Hingabe für einen großen Zweck erweisen …“ 18.

Nicolai sah nicht das Dilemma ärztlicher Ethik zwischen Bewahrungspflicht gegenüber seinen Patienten und den Verwertungsinteressen der Armee.

Das minoritäre ärztliche Engagement der späten 20-er und 30-er Jahre hingegen gründete sich angesichts weiter perfektionierter Massenvernichtungsmittel auf die Überzeugung, ein moderner Krieg könne auch durch noch so gut organisierte medizinische Hilfe nicht humaner gemacht werden, im Gegenteil: Die Instrumentalisierung des Gesundheitswesens und die Tätigkeit des Roten Kreuzes nährten die Illusion von der Beherrschbarkeit der Folgen und senkten die Hemmschwelle zum Losschlagen. Wären im 2. Weltkrieg die reichlich vorhandenen C-Waffen wie ursprünglich vorgesehen zum Einsatz gekommen, hätte sich die Hilflosigkeit der Helfer schon damals offenbart. Nach Hiroshima und Nagasaki tritt sie jedoch noch offener zutage und mit ihr die zwingende Notwendigkeit wirksamer Prävention statt hilfloser Therapie.

Literatur

1) Association médicale internationale contre la Guerre (Hrsg.) (1910): Actes et manifestations diverses (1905-1910; Paris.
2)<~>Bleker, Johanna/Schmiedebach, Heinz-Peter (Hrsg.)(1987): Medizin und Krieg. Vom Dilemma der Heilberufe 1865 bis 1985. Frankfurt/M.
3) Brocke, Bernhard vom (1984): Wissenschaft versus Materialismus: Nicolai, Einstein und die »Biologie des Krieges«. Mit einer Dokumentation von Rektor und Senat der Universität Berlin (»Wissenschaft und Militarismus“II); in: Annali dell'Instituto storico italo-germanico in Trento X 1984, 405-508.
4) Frankenthal, Käte (1981): Der dreifache Fluch: Jüdin, Intellektuelle, Sozialistin. Lebenserinnerungen einer Ärztin in Deutschland und im Exil (Hrsg.: Kathleen M. Pearle/ Stefan Leibfried); Frankfurt/M. – New York.
5) Kenta (d.i. Käte Frankenthal) (1933): Deutsche Ärzte bereiten den Krieg vor; in: Sozialärztliche Rundschau 4(1933), 115/116.
6) Hindenburg, Paul von (1920): Aus meinem Leben. Briefe Reden und Berichte (Hrsg: F. Endres, 1934); Leipzig.
7) Joules, H. (Ed.)(1938): The Doctor's View of War; London.
8) Lang, Karl (1983): Kritiker, Ketzer, Kämpfer. Das Leben des Arbeiterarztes Fritz Brupbacher; Zürich (1917): Die Biologie des Krieges. Betrachtungen eines deutschen Naturforschers; Zürich.
9) ders. (1918): Warum ich aus Deutschland ging. Offener Brief an denjenigen Unbekannten, der die Macht in Deutschland hat; Bümplitz b.Bern.
10) Roorda, J.(Hrsg.)(O.J.[1939]): Medical Opinions on War (Published on behalf of the Netherlands Medical Association (Committee for war-prophylaxis)); Amsterdam.
11) Ruprecht, Thomas M. (1986): Einzelgänger und Außenseiter. Tradition und Beispiel frühen Engagements von Ärzten für den Frieden; in: Beck, Winfried/ Elsner, Gine/ Mausbach, Hans (Hrsg.)(1986): Pax Medica. Stationen ärztlichen Friedensengagements und Verirrungen ärztlichen Militarismus; Hamburg.
12) Schabel, Elmer (1987): Zwischen den Weltkriegen: Kritik des imperialistischen Krieges und die Gaskriegsdebatte im Verein Sozialistischer Ärzte 1924 – 1936; in Bleker, Johanna/ Schmiedebach, Heinz-Peter (Hrsg.)(1987), 173-190.
13)Schumann, Rosemarie (1985): Amsterdam 1932. Der Weltkongreß gegen den imperialistischen Krieg; Berlin (DDR).
14) Stenographische Berichte über die Verhandlungen der durch die Allerhöchste Verordnung vom 15. Oktober 1868 einberufenen beiden Häuser des Landtags. Haus der Abgeordneten, Band 1; Berlin 1869.

Anmerkungen

1) Sigmund-Freud-Museum Wien, Dokument Nr. 11.125(1); Zurück

2) vom Brocke (1985), 419; Zurück

3) nicht zu verwechseln mit Arnold Pick (1851-1924), Erstbeschreiber der Pick'schen Krankheit; Zurück

4) vgl. Schumann (1985); Zurück

5) InPreKorr, 2505 (20.09.1932); Zurück

6) vgl. Ruprecht (1986); Zurück

7) Stenographische Berichte … (1869), 87; Zurück

8) Apôtre de la paix; in: Le Matin (Paris), 6.07.1895, S.1/2; Zurück

9) er erhielt den Nobelpreis für Medizin 1913 für die Erforschung der Überempfindlichkeitsreaktionen; von ihm stammt der Begriff »Anaphylaxie«; Zurück

10) Association …(1910), 56-58 (Übersetzung T.R.); Zurück

11) vgl. Lang (1983); Zurück

12) nicht zu verwechseln mit Thomas H. Hodgkin (1798-1866), nachdem der »Morbus Hodgkin« benannt ist; Zurück

13) vgl. Ruprecht (1986), 15; Zurück

14) Kenta (1933), 116; zit. bei Schnabel (1987), 183; Zurück

15) Roorda (o.J.[1939]); Zurück

16) Joules (1938); Zurück

17) Nicolai (1918), 24 bzw. 20; Zurück

18) Hindenburg (1920), 136; Zurück

Thomas M. Ruprecht ist Arzt und arbeitet am Institut für Geschichte der Medizin an der Universität Freiburg

Eirene und Pax – Friedensgedanken in antiker Mythologie und Dichtung

Eirene und Pax – Friedensgedanken in antiker Mythologie und Dichtung

von Peter Wülfing

Die griechisch-römische Antike ist, nicht anders als andere geschichtliche Epochen, markiert durch Kriege und Kriegertum. Es bedarf einer besonderen Anstrengung, wenn ein Altphilologe aus seinem Gebiet etwas zur heutigen Diskussion um die Möglichkeit das Friedens beitragen will. Meine Auswahl ist auf einige mythische Aussagen, die wir bei Hesiod finden, gefallen, auf die imaginäre Welt der Komödie des Aristophanes und auf den Kontrast, der sich einstellt, wo die Römer griechische Vorstellungen aufgenommen und oft tiefgreifend umgestaltet haben.

Einen Mythos vom „Goldenen Menschengeschlecht“ finden wir in Hesiods „Werken und Tagen“. Dieses Epos hat mit bäuerlicher Arbeit zu tun, aber mehr noch mit einer Ethik, wie sie für den Landmann unabdingbar ist.

Hesiod, vielleicht um 700 v. Chr. lebend, hat viel ganz Persönliches in dieses Gedicht eingebracht: Sein Bruder Perses hatte ihn bei der Erbteilung übervorteilt und bei dem anschließenden Gerichtsverfahren durch Bestechungen obsiegt. So wollte Hesiod hier seine Grundvorstellungen von Gerechtigkeit verkünden, welche durch die Herrschaft des Gottes Zeus über die anderen Götter und über die Menschen geschaffen worden sei.

In mehreren Absätzen wird erzählt, wie das Böse in die Welt kam. Eine dieser Erzählungen handelt von den fünf Geschlechtern, die nach Metallen benannt sind: Es folgt auf ein goldenes das silberne, das bronzene und nach dem Zwischenzeitalter der Heroen das jetzige, das eiserne Geschlecht. Ein jedes Glied wird schlechter sein als das vorangehende. Das goldene war also der Höhepunkt, von dem der Abstieg ausgegangen war. Es lebte vor der Herrschaft des Zeus, unter Kronos. Im Zusammenhang mit Hesiods Anschauung von der Gerechtigkeit des Zeus muß das bedeuten, daß es einer Rechtspflege damals noch nicht bedurfte.

Das Goldene Geschlecht lebte den Göttern gleich, hatte den Sinn ohne Sorgen, lebte fern von Mühe und Not. Kein elendes Alter:

Füße und Hände blieben sich immer gleich. „Man erfreute sich des Wohlstandes, fern von allem Bösen. Die Menschen starben vom Schlaf überwältigt. Frucht trug der fruchtbare Acker von selbst, viel und großzügig. Die Bauern lebten, nach ihrem Willen, ruhig, vom Ertrag ihrer Felder, mit vielen Gütern ausgestattet (Verse 108-119). Es fällt auf, daß hier der Friede nicht ausdrücklich genannt wird, aber er ist unzweifelhaft eingeschlossen in die Prädikate des Fehlens von Sorgen, Not und Bösem, in das Sterben im Schlaf, und – jetzt kommt der entscheidende Zug – der Gewaltlosigkeit des Lebens auf und aus dem Lande. Es ist eines der beständigsten Elemente des goldenen Zeitalters, daß die Früchte von selbst kommen. Im Grunde handelt es sich um das Empfinden des Landmannes, daß er Gewalt anwendet, wenn er Pflanzen und Tiere zum „Liefern“ zwingt. Der mythische Friede hatte den Naturfrieden eingeschlossen. Der Mensch war in paradiesischer Natur nicht auf Gewalt angewiesen, die Ausgangspunkt für seine tiefverwurzelte Unfriedlichkeit ist.

Hesiod hat das Thema noch einmal aufgenommen. 100 Verse weiter stellt er seinem ungerechten Bruder einen harmonischen Zustand der Welt vor Augen, in dem Gerechtigkeit sich durchgesetzt hat, nunmehr unter der Herrschaft des Zeus. Dieser Zustand fügt noch weitere Elemente in das Bild: Einheimischen wie Fremden (!) werden korrekte Richtersprüche zuteil, die Stadt blüht deshalb im Wohlstand, ebenso das Volk. Friede breitet sich über das Land aus; Eirene ist Nachwuchs ernährend wie eine Amme, und Zeus regt niemals mehr Krieg als Lösung von Problemen an. Hunger gibt es bei gerechten Menschen nicht (da sie richtig teilen. – Wohin sind wir gekommen!). Und dann kommen wieder die Hinweise auf den reichen Ertrag der Felder, des Viehs, der Menschen an Nachkommenschaft, mit einem auffallenden Zug: es gibt keine Seefahrt!

Hier ist das archaisch-bäuerliche Mißtrauen gegen das Nicht-Bodenständige wirksam, konkret auch die Furcht vor den Störungen, die Import und Export im Fernhandel in das stets prekäre Preisgefüge für den Bauern bringen. Die Seefahrt ist Merkmal des Handels, des Städtischen, des Unfriedlichen. Transportmittel sind ja immer auch Mittel der Herrschaft, der Ausbeutung, der Kolonialisierung. Es zeigt sich hier die Furcht vor technischen Errungenschaften, welche die mühsam bewahrten Gleichgewichte zerstören.

In der ersten Stelle fassen wir einen mythischen Urzustand, „noch unter Kronos“, sozusagen vor den Problemen, die sich die Menschen gegenseitig bereiten, bevor Güter verteilt werden müssen und so weiter, wodurch dann die schlechteren Arten von Menschen entstehen.

Die 2. Stelle, in welcher Eirene und Polemos, der Krieg, wirklich genannt werden, gehört nun in eine Situation, in der die Probleme bereits aufgebrochen sind, Gerechtigkeit ist die einzige Lösung für sie. Ihre Möglichkeit wird nicht als sicher, sondern als utopisch beschrieben, bis hin zum Verzicht auf Seefahrt. Ein Goldenes Zeitalter, das vorher als Urzustand beschrieben war, ist nun Lohn für Gerechtigkeit.

Hesiods Ausmalung ist sehr knapp: 24 Hexameter für beide Passagen, das ist kein langer Text. In der nachfolgenden Zeit, in der griechischen Klassik, und bei den Römern sind mehr Elemente hinzugekommen, die z.T. ebenfalls ein hohes Alter besitzen dürften. Hier soll es genügen, das Inventar von Vorstellungen zusammenzustellen. Das friedliche, goldene Menschengeschlecht:

  • lebt mit den Göttern zusammen,
  • erhält seinen Lebensunterhalt von einer freiwillig spendenden Pflanzenwelt,
  • einer ebensolchen Tierwelt,
  • es herrscht Überfluß,
  • Quellen oder Flüsse fließen von Wein, Milch, Honig, Nektar,
  • es herrscht gemäßigtes Klima,
  • ewiger Frühling.
  • Zur Gewaltlosigkeit des Daseins gehört auch der Tierfriede: d.h. Raubtiere existieren nicht oder reißen nicht,
  • dem entspricht bei den Menschen zuweilen Vegetarismus.

Und was hat das Goldene Geschlecht nicht? Es gibt keine Krankheiten, kein Alter, keine Schiffe, keinen Privatbesitz, besonders nicht an Grund und Boden, keine Sklaven, und vor allem keinen Krieg.

Im folgenden Beispiel zeigt sich der Friedensgedanke nicht mehr in der Form des „Es war einmal…“ oder des „Einst wird kommen…“, sondern vor dem düsteren Hintergrund des peloponnesischen Krieges, jenes fatalen Kampfes am Ende des 5. Jahrhunderts v. Chr. zwischen dem demokratischen Athen und Sparta, das die kriegerischen Tugenden für sich gepachtet hatte. Da gab es in Athen die scharfe und vor Imaginationskraft sich manchmal überschlagende Stimme des Aristophanes. Der dachte sich konkrete und zugleich illusionistische Szenen aus, die mit der Stimmung des Volkes zu tun hatten, mit dessen Träumen von großen Siegen, aber auch mit der Besorgnis, der Friede könnte für immer verloren sein.

Ich will zwei solche Szenen erwähnen:

1.) In dem frühesten erhaltenen Stück des Aristophanes, den Acharnern, 425 v. Chr. aufgeführt, ist folgende Situation vorauszusetzen: Athen befindet sich seit sechs Jahren im Krieg, zwei Pestepidemien hat es überstanden, vier Invasionen der Spartaner bis vor die Mauern der Stadt. Die Bevölkerung Attikas ist hinter den Stadtmauern zusammengepfercht. Ihr Land ist verbrannte Erde, gefällte Bäume, meist Oliven (die erst nach vielen Jahren Früchte tragen). In der Stadt die Etappe, Drückeberger, Kriegsgewinnler, egoistische Politiker, gewissenlose Kriegspropagandisten. Dazu erfand Aristophanes den Einzelnen, der „spinnt“ und der eigentlich der einzige Vernünftige ist: Dikaiopolis („rechtschaffener Bürger“) macht nicht mehr mit. Er schließt einen Separatfrieden und erklärt seinen Hof zum Friedensgebiet und zur Freihandelszone. Sofort stellt sich großer Wohlstand ein. Es geht dem „spinnerten“ Dikaiopolis und seiner Familie prächtig, und die Auseinandersetzung mit kriegsbereiten Köhlern, den Acharnern des Titels, gewinnt er ebenso wie die mit dem General Lamachos, der von den prallen Vorräten des Dikaiopolis angelockt wird.

Die illusionistische Welt dieser Komödie gibt dem Friedensgedanken Raum, wo die Machtverhältnisse alle Bewegungsfreiheit des Individuums abgeschnitten haben. Der Gedanke bleibt noch frei, und das wird ausgeschöpft. So schöpfen auch heutige Friedensfreunde wenigstens den Denkraum aus, ihre Straße, ihr Viertel, ihre Stadt atomwaffenfrei zu erklären. Aristophanes hat das schon einmal vorgedacht und sich dabei auch noch erlaubt, die offizielle Kriegsschuldthese „Die Spartaner (immer ist es der jeweilige Gegner) tragen die alleinige Kriegsschuld“ in Zweifel zu ziehen.

2.) Eine verbreitete Illusion wird in dem berühmtesten Stück des Aristophanes in Szene gesetzt, der Lysistrate: die Illusion, die Frauen könnten mit den Mitteln des Ehestreiks erreichen, was Männer offenbar zu bewerkstelligen unfähig sind. Aristophanes Szenario ist aber etwas mehr als nur ein Spaß mit einem undurchführbaren und deshalb ungefährlichen Einfall. Aristophanes gibt seiner Utopie einige ganz realistische Züge: An der Durchführung wird von Anfang an eine Frau des gegnerischen Lagers, die Spartanerin Lampito, beteiligt. Auch wird sehr umsichtig als erster Schritt der Parthenon und damit die Staats- und Kriegskasse besetzt. Den Witz bezieht die Komödie aus zahlreichen Nebenhandlungen: Männer, die versuchen, an ihre Frauen auf der Burg heranzukommen. Frauen, die unter hanebüchenen Vorwänden versuchen, Urlaub nach Hause zu bekommen. Am Ende stehen aber ganz vernünftige, sachliche Verhandlungen, die den Friedensschluß herbeiführen. Also kein folgenloser Illusionismus, sondern ein sich Aufbäumen des gesunden Menschenverstandes gegen sture, zerstörerische, militaristische Rechthaberei. Die Wirklichkeit nahm natürlich den anderen Weg: Wenige Monate nach der Lysistrate übernahm, 411 v. Chr., eine terroristische Junta die Macht in Athen, die Demokratie wurde durch eine Diktatur von 400 anerkannten Bürgern ersetzt und, obwohl dies in der Tendenz ein spartafreundlicher Akt war, kam es nicht zum Friedensschluß. Der Peloponnesische Krieg schleppte sich über weitere sieben Jahre hin.

Fazit: Es ist eine Illusion, von denjenigen die befreienden Handlungen zu erwarten, die bisher besonders rechtlos waren. Die Frauen damals hatten nämlich nicht viel mehr Persönlichkeitsrechte als Sklaven. Weder von diesen noch von jenen sind nachhaltige Impulse zur Änderung der Verhältnisse ausgegangen. Heute ist die Friedensproblematik sicher auch nicht von den Frauen allein zu lösen, aber ohne die Frauen ist sie noch nicht einmal ernst anzugehen. Aristophanes vor fast 2500 Jahren hat da etwas vorausentworfen.

Die helle, gescheite, vitale, auch etwas verzweifelte Komik eines Aristophanes treffen wir bei den Römern nicht wieder. Vielmehr treffen wir ein neues Wort: pax. Die Etymologie, die für Eirene unbekannt ist, ist hier deutlich Pango und paciscor heißen „ein Abkommen schließen“; Perfektform ist pactum, was wir im Fremdwort Pakt benutzen.

Im lateinischen Wort steht also eine Bedeutung des Friedens im Vordergrund: der Frieden als Abkommen, wodurch kriegerische Konflikte beendet und Besitzveränderungen besiegelt werden. Es meint also den Frieden nach dem Sieg, und die Aktion, die dorthin führt, heißt pacare. So haben noch jüngst die Amerikaner ihre Operationen in Vietnam pacification genannt.

Die Gegner oder Opfer Roms haben diesen Sprachgebrauch durchschaut. Berühmt ist der Aufschrei des Britannierfürsten Calgacus in Tacitus Agricola: „Plündern, Morden, Rauben nennen sie mit gefälschtem Wort imperium und, wo sie Wüstenei schaffen, da sprechen sie von pax!“

Die personifizierte Pax als Friedensgöttin wird auf römischen Münzen übrigens auch mit den Symbolen der Victoria, der Göttin des Sieges, ausgestattet: Lorbeer, Lanze, Helm, Schild.

Diese römische Friedensauffassung erscheint bedrückend. Sie ist zunächst einmal eindeutig. Der griechische und unser Friedensbegriff sind dagegen vieldeutig. Daß „Friede“ als „Umfriedung“ den umhegten, geschützten Raum gemeint hat, ist längst vergessen. Er umfaßt – darüber dürfen wir uns nicht täuschen – auch den römischen mit, den „Siegfrieden“, von dem man im 1. Weltkrieg sprach.

Was ist aus dem griechischen Mythos vom goldenen Menschengeschlecht geworden? – Er ist von römischen Dichtern mit leidenschaftlichem Interesse aufgegriffen und umgestaltet worden. Zunächst waren es Römer, die an die Stelle der vier Menschengeschlechter den Zeitbegriff setzten. Sie erst reden vom goldenen Zeitalter, dem andere Zeitalter folgen oder vorausgehen. Diese Tendenz hat sicherlich mit der römischen Geschichtsauffassung zu tun, die eine starke Komponente des Intentionalen hat: Geschichte hat ein Ziel, Vergangenheit ist Vorgeschichte, es gibt einen Plan der Geschichte. Deshalb versuchen die Römer, die zyklischen Zeitalter in der linearen Geschichte wiederzufinden, was unmythisch gedacht ist; aber das ist die europäische Leistung der Römer, das Utopische ans Mögliche heranzuführen. Es stören uns zwar die Verbiegungen und Leugnungen der Realität, die damit verbunden sind, aber daß davon ungeheure Antriebe ausgegangen sind, ist unzweifelhaft.

Die Römer verwandelten seit den ersten Anfängen der Kaiserzeit, also unter sehr speziellen Umständen, das goldene Zeitalter in eine unmittelbar bevorstehende oder sogar bereits eingetretene Epoche. Seitdem ist diese unmittelbare Erwartung des aetas aurea immer wieder formuliert worden. Sie wurde zum Cliché der Kaiserpanegyrik. Augustus mitgezählt, ist von 16 (!) verschiedenen römischen Kaisern behauptet worden – und das sorgfältig vor ihren Ohren -, daß sie die Wiederkehr des Goldenen Zeitalters bringen würden.

Einen entscheidenden Anteil an der beschriebenen römischen Entwicklung hat Vergil. An mehreren Stellen seines großen Werkes, von den sogenannten Hirtengedichten oder Eklogen über das Lehrgedicht Georgica bis zur Aeneis finden sich Aussagen über den Frieden des goldenen Zeitalters. Sie lassen sich auf 3 Kernaussagen konzentrieren:

1. Der Friede ist ein paradiesischer Zustand (Eklogen I und IV), er wird beschrieben als Wiederkehr der in den Anfängen der Menschheit unter Saturn herrschenden Goldenen Zeit.

Das ist eine klare Aufnahme des Mythos, der von Hesiod her tradiert ist.

2. Spuren dieser Goldenen paradiesischen Zeit finden sich noch heute, und zwar im Leben der italischen Bauern! (Georgica II, 136–176; 458-542)

Hesiod hätte das auch von seinen böotischen Landsleuten sicher nicht gesagt; aber auch er hatte einen Grund für das Ende der goldenen Generation im Eindringen des antiagrarischen Fernhandels gesehen, der nun für den italischen Landbau so katastrophale Folgen hatte.

3. Diese Goldene paradiesische Zeit wird als Erfüllung der Zeiten kommen nach der Geburt eines wunderbaren Kindes (Ekloge IV); ja diese Goldene Zeit ist da (!) als Werk des Augustus (Aeneis I 278 f., 286-96; VI 1, 791-807; VIII 313-327).

Zur eben erwähnten 4. Ekloge Vergils noch eine Beobachtung, die dem Theologen Jürgen Ebach verdankt wird: Der paradiesische Friedenszustand ist, wie in anderen Zeugnissen, illustriert durch den Tierfrieden. Zwischen den Tieren herrscht Harmonie sowie zwischen Tieren und Menschen. Die Ausmalung des Bildes stimmt in erstaunlichem Maß mit derjenigen überein, die beim Propheten Jesaia im Alten Testament gegeben wird, cap.11.

Das hat schon immer die Gemüter bewegt. Philologen haben daran die Hypothese geknüpft, Vergil habe Jesaia gekannt und die Aussagen von dort übernommen (was übrigens nicht so unwahrscheinlich ist, wie es sich anhört). Dabei wurden allerdings feine, aber bedeutende Unterschiede übersehen. Der Tierfriede bei Jesaia ist so geschildert:

„Da wird Gast sein der Wolf beim Lamm und der Leopard wird beim Böcklein lagern, Kalb und Löwe werden zusammen fett werden und ein kleiner Junge kann sie miteinander zur Weide führen … Der Löwe wird wie das Vieh Stroh fressen. Da wird der Säugling vergnügt an der Höhe der Schlange spielen und nach der Viper hat schon das Kleinkind die Hand ausgestreckt.“

Wichtige Beteiligte sind also die Kinder (dreimal erwähnt), an sich wehrlos, sind sie in Harmonie mit den gefährlichsten Tieren vereint.

Bei Vergil gibt es Anklänge daran auch, aber, um nur diese beiden Äußerungen herauszustellen: der neugeborene Knabe ist deshalb sicher, weil es Löwen nicht oder nicht mehr gibt und weil die Schlange eingehen wird!

In dieser Einzelheit verrät sich eine Friedensauffassung, die auf Sicherheitsstreben reduziert ist, und die ist nur durch die Ausschaltung des gefährlichen Gegners zu garantieren. Friede kann eben auch Vernichtungsfriede sein.

Wir haben jedoch von den Römern nicht nur eine offizielle, staatstragende Friedensideologie. Das schönste Beispiel ganz privater Friedenssehnsucht bietet Tibulls Elegie 110. Dort steht der Friede in Verbindung mit menschlicher, jugendlicher Liebe, entsprechend der heutigen Formel „make love – not war“.

Was kann uns die Antike also lehren? – Z.B., daß man sich unter Frieden, Eirene und pax sehr verschiedene Dinge vorstellen kann, insbesondere, daß es eine römisch-lateinisch-westeuropäischee Tradition gibt, in welcher Friede ein Zustand nach dem Kriege ist, gesehen vom Überlegenen als eine Friedensordnung, vom Unterlegenen als Stillhalteverpflichtung: „Sei friedlich“, d.h. „halt den Mund und gehorche!“

Wir müssen erkennen, daß immer, meist unausgesprochen, ein Preis für den Frieden festgesetzt wird und daß sich auch die Friedensbewegung zu diesem Preis nur ungern äußert; ebensowenig wie der militärisch denkende und handelnde Teil der Menschheit: Er will ihn nur unter schwierig zu erfüllenden Bedingungen gewähren.

Ist darauf „Frieden um jeden Preis“ eine Antwort? Kann man bei weitgehender Ungeklärtheit stehen bleiben? Unsere lateinisch bestimmten Nachbarn, deren Wörter für Frieden sich von pax herleiten, betrachten das verständnislos bis mißtrauisch!

Wir sollten aus dieser zwiespältigen europäischen Tradition lernen, daß uns eine doppelte Aufgabe gestellt ist:

Wir müssen ebenso bereit sein, das augenblicklich Machbare für den Frieden zu tun, wie uns an fundamentalen utopischen Denkmodellen orientieren. Wir haben kein Recht, um eines absoluten Ziels willen den prekären Frieden von Menschenhand, d.i. in der Regel der von der Hand der Machthaber, zurückzuweisen. Wir haben die Zeit nicht, auf den „Gerechten Menschen“ zu warten, oder auf den Aufstand der Frauen, oder der Armen, oder auf eine neue, zum Frieden erzogene Generation von Kindern (als ob es Erziehung von der tabula rasa aus gäbe).

Zugleich aber ist der Blick ständig auf das utopische Modell zu halten. Sonst bleiben Einzelhandlungen ziellos und bleiben letztlich folgenlos.

Aus der mythischen Überlieferung kommen dafür die Elemente. Radikaler gedacht bei Jesaia als bei Vergil. Mehr interessenfrei bei Hesiod und Aristophanes als bei den Römern. Dafür bei den Römern auf irdisches Maß gebracht und mit der Tendenz und den Instrumenten zur Humanisierung ausgestattet.

Das sind die Denkmuster, welche die Antike anbietet.

Dr. Peter Wülfing ist Professor für Klassische Philologie an der Universität zu Köln.

Von Galilei bis Hiroshima. Über Sittlichkeit und Naturwissenschaft

Von Galilei bis Hiroshima. Über Sittlichkeit und Naturwissenschaft

von Harald Böhme

Preis oder Verdammnis des Galilei? „Die Atombombe ist sowohl als technisches als auch soziales Phänomen das klassische Endprodukt seiner wissenschaftlichen Leistung und seines sozialen Versagens“1

Die Legende von Galilei erzählt, er habe widerrufen, um seine Mechanik zu vollenden, so daß die Discorsi dieser seiner Klugheit zu verdanken wären. Doch was ist eine Wissenschaft wert, wenn sie auf Unterwerfung angewiesen ist? Hiroshima gibt die Antwort; Wissenschaft im Dienste der Staatsmacht ermöglichen ihr den Massenmord. Allerdings hat Galilei das nicht getan, insofern beinhaltet seine Wissenschaft nicht an sich die Entartung der Wissenschaft. Doch gerade sie bietet die Möglichkeit dazu, daß die Erkenntnis über die Natur mißbraucht und gegen die Gesellschaft gewendet wird. Zu zeigen ist, inwiefern Galilei auf diese Möglichkeit verweist, und welche Bedingungen zu ihrer Realisierung notwendig sind.

Galileis wesentliche Entdeckung ist die analytische Methode. Sein Anspruch auf Wahrheit gründet sich auf diese Methode welche den Unterschied ausmacht von seiner neuen Wissenschaft zur Wissenschaft der Alten. Mittels des Experiments will er das Verhalten der Natur erforschen. Dies bedeutet nicht nur die Beobachtung der Natur, sondern die wirkliche Erzeugung des Naturzusammenhangs, den die Analytik als möglichen Zusammenhang erkannt hat. Z.B. „über die natürliche beschleunigte Bewegung“; darin stellt Galilei zunächst den abstrakten Zusammenhang von Zeit und Geschwindigkeit auf, leitet daraus das „Fallgesetz“ ab und versucht, dieses konkret nachzuweisen.2

Das Gesetz behauptet jedoch mehr als die Gültigkeit bestimmter Werte, es stellt die abstrakte Möglichkeit für alle Werte dar, als ein Zusammenhang unbestimmter Werte bzw. variabler Größen. Damit wird die Bewegung in Variablen bestimmt, deren Bedeutung ihre Unbestimmtheit ist; ihr gesetzmäßiger Zusammenhang ist daher als Gleichung von Unbestimmten ein funktionaler Zusammenhang.3

Die durch die Analyse gefundene Gleichung eines Prozesses ist dann am Naturprozeß selbst nachzuweisen. Dabei ist die Messung bestimmter Größen natürlich mit Meßfehlern behaftet, so daß die angenommene Identität dieser Größen zugleich eine Nichtidentität ist und die Gleichheit der Größen zugleich ihre Verschiedenheit. Doch dies erscheint als zufällige Abweichung von der Gleichheit, die in deren Gesetzmäßigkeit wieder aufgehoben ist. Insofern kann Galilei von Meßfehlern absehen und behaupten, daß seine zahlreichen Beobachtungen bzgl. des Fallgesetzes „niemals merklich voneinander abwichen“.4 Ganz anders stellt sich die Gesetzmäßigkeit jedoch dar, wenn wir sie nicht als Gleichheit bestimmter Größen, sondern als funktionalen Zusammenhang von Unbestimmten auffassen. Die Variablen sind dann als identische sich selbst gleich, aber zugleich als Variable veränderlich, also nichtidentisch und ungleich. Dieser Widerspruch kann nicht auf die prinzipielle Identität der Größen zurückgeführt werden, denn er macht den Inhalt des Prozesses aus, der analysiert wird. Vielmehr überführt die Analyse diesen Widerspruch in eine höhere Identität, die Gleichung der Variablen, wodurch der Prozeß als Bewegung identifiziert ist. Aber erst das Experiment zeigt, ob die analytische Lösung als abstrakte Möglichkeit tatsächlich eine konkrete Möglichkeit ist, indem die Bedingungen ihrer Wirklichkeit hergestellt werden.

Das Experiment ist keine an sich beobachtete Natur, sondern bedeutet die Produktion einer zweiten Natur. Die Gleichung eines Prozesses identifiziert einen Zusammenhang, der nur in einer künstlichen Identität real besteht. In dieser Identität besteht die Notwendigkeit des Zusammenhanges, indem aus den Anfangsbedingungen das Endresultat analytisch abzuleiten ist. Doch ebensowenig wie die bloße Beobachtung diese innere Notwendigkeit beweisen kann, kann sie die Identität des Prozesses beweisen, sondern käme nur per Induktion auf eine äußerliche, verständige Abstraktion. Die analytische Methode, welche die Wahrheit als innere Gesetzmäßigkeit behauptet, kann daher nicht davon abstrahieren, daß diese Wahrheit auf die Produktion einer entsprechenden Gegenständlichkeit angewiesen ist. Dies bedeutet die Fixierung eines gegenständlichen Zusammenhangs als sich identischen, so daß die Produktion in der Ausschließung des Nichtidentischen besteht, des Unendlichen der Materie, die gleichwohl aller Produktion zugrunde liegt. Daher stellt z.B. Galilei eine glatte Fläche her und läßt eine runde Messingkugel laufen, wodurch erst die Bedingungen der Identität gegeben sind. Die Herstellung dieser Bedingungen bedeutet aber den Umgang mit einer unbedingten, materiell gegebenen Nichtidentität.

In der Nichtidentität des Prozesses hat die analytische Methode schließlich ihren wesentlichen Widerspruch. Die Identität löst den Widerspruch insofern, wie er analytisch erscheint, als ein Widerspruch der analytischen Bestimmungen des Prozesses, der aber ein Widerstreit der materiellen Bedingungen des Prozesses ist. Die analytische Methode ist also letztlich die Wissenschaft davon, diesen Widerstreit theoretisch und praktisch zu bestimmen. Als „reine“ Analytik jedoch schließt sie diesen Widerstreit methodisch aus, indem sie den erscheinenden Widerspruch in der Identität aufhebt. Die Realität erscheint dann als Resultat dieser Abstraktion, was nach Marx die Verselbständigung der Abstraktion bedeutet.5 In dieser „Mystifikation“ der Analytik besteht ihre Metaphysik, ihr Zweck ist nicht mehr die Aneignung der Natur als zweite Natur, sondern die Beherrschung der Natur unter reiner Zweckmäßigkeit.(5a)

Doch inwiefern bedeutet Galilei, der die analytische Methode in der Physik entdeckt hat, zugleich ihre metaphysische Verselbständigung? Sicher nicht, weil seine Wissenschaft zunächst ohne Einfluß blieb auf die Entwicklung der Produktivkraft; denn dies liegt im Charakter der Wissenschaft, Modelle zur Produktion zu erstellen (mögliche und wirkliche), die an sich keine gesellschaftliche Reproduktion darstellen. Ebensowenig ist die Analytik deswegen Metaphysik, weil darin die Mathematik in der Natur angewendet wird, denn dies hieße den abstrakt möglichen Charakter der mathematischen Analysis zu verwechseln mit dem konkret möglichen Experiment, also die Vorwegnahme der Metaphysik, gegen die Intention der Galileischen Physik.6 Der Verrat, den Galilei an der Wissenschaft verübt hat, besteht vielmehr in seinem Widerruf, durch den er die Wissenschaft der herrschenden Macht ausgeliefert hat. Diese Macht entschied über die Wahrheit, und Galilei mußte die von ihm vertretene Lehre (das kopernikanische System) zur „falschen Meinung“ erklären.7 Damit war aber von der Kirche die Analytik insgesamt zur bloßen Hypothese erklärt, ihre Wahrheiten zu spekulativen Möglichkeiten, denen an sich keine Wirklichkeit zukommt. In der Form war die Wissenschaft zu vereinbaren mit dem Glauben, heute erhält sie diese Form im Kritizismus.

Darüber hinaus demonstriert Galileis Unterwerfung das Ungenügen einer Moral, deren Verantwortung allein im Gewissen gegeben ist. Entsprechend beschreibt Hegel das Gewissen als gehaltlos, ohne objektive Bedeutung; daher kann „die Sehnsucht nach einer Objektivität entstehen, in welcher sich der Mensch lieber zum Knecht und zur vollendeten Abhängigkeit erniedrigt“.8 Diese Erniedrigung betrifft jedoch nicht nur Galilei als Person, sondern bedeutet zugleich die Erniedrigung seiner Wissenschaft. Sie wird zur verfügbaren Wissenschaft, die ebenso gebraucht wie mißbraucht werden kann, je nach den Zwecken der Macht, der sie unterworfen ist. In Brechts Stück erkennt dies Galilei selbst, und er nennt davon die Ursache: „Hätte ich widerstanden, hätten die Naturwissenschaftler etwas wie den hippokratischen Eid der Ärzte entwickeln können, das Gelöbnis, ihr Wissen einzig zum Wohle der Menschheit anzuwenden!“9 Dieser Eid stellt für Galilei jedoch nur eine abstrakte Möglichkeit dar, die er in der konkreten Wirklichkeit bereits hintergangen hat. Somit betreibt Galilei am Ende seine Wissenschaft wie ein Laster, „heimlich, wahrscheinlich mit Gewissensbissen“.10 Bei Brecht ebenso wie bei Hegel scheitert Galilei am Gewissen, weil dieses keine konkrete Handlungsmöglichkeit bedeutet. Damit ist die Lage der Wissenschaft jedoch nur an ihrem Anfang charakterisiert, als eine Wissenschaft, die noch kein wesentlicher Faktor der Gesellschaft ist. Erst in der bürgerlichen Gesellschaft wird sie zum konkreten Moment der Reproduktion, so daß die Wissenschaft keine Frage mehr der Moral und des Gewissens ist, sondern der Sittlichkeit, die mit dieser Gesellschaft gegeben ist.

II

Hegel bestimmt die Sittlichkeit als die konkrete Identität des Guten und der Freiheit.11 Als „Idee der Freiheit“12 ist sie das Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft, ihre Wirklichkeit ist der Staat.13 Die Sittlichkeit wird dabei als Inhalt einer Form gedacht, welche durch die Organisation des Staates gegeben ist. Entscheidend ist, daß dieser Staat der Form nach mit der Wissenschaft übereinstimmt. Für den Staat ist „das Prinzip seiner Form als Allgemeines wesentlich der Gedanke“;14 die Wissenschaft „hat den Zweck des Erkennens, und zwar der gedachten objektiven Wahrheit und Vernünftigkeit“.15 Indem der Staat aber die Wirklichkeit der konkreten Freiheit ist, so ist „von seiner Seite die Freiheit des Denkens und der Wissenschaft ausgegangen“.16 Genau dadurch unterscheidet sich der Staat von der Kirche, die Giordano Bruno verbrannt und Galilei hat Abbitte tun lassen. Die Objektivität des Staates steht hier gegen die subjektive Gestalt der Wahrheit, wie sie der Autorität der Kirche entspringt. Diese Autorität beruht allein auf Glauben und Versicherung, wenn sie nicht mit Zwang durchgesetzt wird. Der Staat hingegen weiß sich als Allgemeines, gerade weil dieses für ihn die Form der Wissenschaft hat. Insofern ist er die Notwendigkeit ihrer Freiheit, und umgekehrt wird die Freiheit der Wissenschaft für den Staat zur Notwendigkeit. Doch daraus geht auch hervor, daß dies keine Freiheit um der Freiheit der Wissenschaft willen ist, sondern eine um der Freiheit des Staates, in dessen Willen die Wissenschaft gegeben ist. Demgemäß werden die Staatsbeamten und die Intelligenz in der Organisation des Staates in einem Mittelstand zusammengefaßt.17 Was als Widerspruch erscheint, einerseits Hierarchie und Bürokratie, andererseits die Freiheit der Wissenschaft, bedingt sich gegenseitig. Aus diesem Einssein ergibt sich schließlich die Verantwortung des Wissenschaftlers; es ist die Verantwortlichkeit des Beamten.18

Das äußere Staatsrecht zeigt dann die Bedeutung der Freiheit im Verhältnis der Staaten, das „ihre Souveränität zum Prinzip hat“.19 Die Freiheit des einzelnen Staates steht dabei im Widerspruch zur Freiheit der anderen Staaten, was die gegenseitige Anerkennung der Staaten bewirkt. Dies bedeutet einerseits den Krieg der Staaten,20 andererseits die Einschränkung dieses Krieges auf ein „Vorübergehensollendes“,21 so daß die Möglichkeit des Friedens erhalten bleibt, d.h. die Fähigkeit zur Reproduktion der Gattung. Darin ist aber auch die Äußerlichkeit des Staats gegenüber der Gattung ausgedrückt; dies wird bei Hegel deutlich, wenn er die Erhaltung des Familien- und Privatlebens als Bedingung des Krieges setzt. Jedoch bleibt dies bei Hegel ein Sollen, eine moralische Forderung, die auf den Sitten beruht und daher als Voraussetzung der Sittlichkeit von dieser aufgehoben wird. 22

Daraus, daß das Völkerrecht allein im Willen der Staaten seine Wirklichkeit hat, ergibt sich nunmehr die Bedeutung der Wissenschaft als Grundlage dieses Willens. Dies bedeutet nicht nur den friedlichen wissenschaftlichen Wettbewerb zwischen den Staaten, worin die technologischen Möglichkeiten zur kriegerischen Nutzung geschaffen werden, sondern dies bedeutet auch den wirklichen Einsatz der Wissenschaft für den Krieg. Entsprechend gehört in der Jenaer Realphilosophie die Wissenschaft zum öffentlichen Stand, der für den Staat arbeitet. Dieser besteht aus dem Geschäftsmann, der zugleich Gelehrter ist, und dem Soldatenstand. Dessen Tätigkeit beschreibt Hegel wie folgt: „im Krieg ist es ihm gewährt: es ist Verbrechen für das Allgemeine, der Zweck der Erhaltung des Ganzen gegen den Feind, der auf die Zerstörung desselben geht. Diese Entäußerung muß eben diese abstrakte Form haben, individualitätslos sein, der Tod kalt empfangen und gegeben werden (…) -, unpersönlich aus dem Pulverdampf.“23

III

In Hiroshima starben 100.000 Menschen den unpersönlichen Tod an der Atomexplosion.24 Am Projekt zur Herstellung der Bombe waren mehr als 10.000 Wissenschaftler beteiligt. Vier der prominentesten Physiker des Projekts bildeten das „scientific panel“,25 welches gefragt wurde, wie die Bombe benutzt werden sollte 26. Sie wurden allerdings nicht gefragt, ob die Bombe benutzt werden sollte, hatten also nur Bedingungen für einen möglichen Einsatz anzugeben, während die Entscheidung über den wirklichen Einsatz dem Präsidenten vorbehalten war. Vor diesem Einsatz und seinen Konsequenzen warnte eindringlich der Franck-Report,27 der ersten Initiative von Atomphysikern gegen den Atomkrieg. Er wurde dem Kriegsminister übersandt und von diesem dem „scientific panel“ vorgelegt, welches sich auch hierbei an seine Aufgabe hielt. Nach R. Oppenheimer: „Wir sagten, wir glaubten nicht, daß unsere Eigenschaft als Wissenschaftler uns speziell dazu befähige, die Frage zu beantworten, ob die Bomben angewendet werden sollten oder nicht.“28 Damit war der Report abgelehnt, indem die Physiker dafür allein den offiziellen Weg wählten, überließen sie auch allein dem Staat die Entscheidung. Sie dachten einerseits gesellschaftlich verantwortlich, verhielten sich aber nur formal sittlich, indem sie nicht vor die Öffentlichkeit traten, um die Welt vor der atomaren Zerstörung zu warnen.

Das staatliche Interesse am Einsatz der Atombomben entsprach auch dem unmittelbar wissenschaftlichen Interesse. Die Gegner des Einsatzes hatten zu weit gedacht, als sie sich um die Zukunft besorgt zeigten. Zunächst galt es, die atomaren Möglichkeiten zu beweisen, die Zerstörung der Städte als Demonstration militärischer Macht sollte den Wissenschaftlern auch ihre faktische Macht demonstrieren, bei gleichzeitiger politischer Ohnmacht. Ihnen ging es um die Funktion der „Trinity“ von Atombomben, von denen „erst“ eine Plutonium-Bombe explodiert war. Hiroshima war dann das erste Experiment, daß eine Uran-Bombe explodierte und man ihre Folgen studierte. Doch dies Experiment war keines mehr, wodurch Naturkräfte erkannt wurden, sondern eines, in dem sie als Destruktionskräfte nicht mehr gebannt waren. Insofern hat die Wissenschaft dabei keine Macht gewonnen, sondern verloren, anstatt die Natur zu beherrschen, wurde sie deren Opfer. Für die beteiligten Wissenschaftler gilt das allerdings nicht, in der Laboratoriumsstadt Los Alamos, die zur Kriegsfront geworden war, feierte man den „Sieg“.29

Die Atombombe ist jedoch nicht nur als Ausdruck der formalen Verfügung des Staates über die Wissenschaft zu begreifen, sie ist ebenso ein Resultat der Entwicklung der Produktivkräfte auf der Basis der von der Wissenschaft entdeckten Naturkräfte. So wurde mit der Entdeckung der Uranspaltung sogleich die Möglichkeit der Atombombe erkannt; zu ihrem Bau bedurfte es allerdings der riesigen technischen und finanziellen Mittel, welche die USA dafür zur Verfügung stellten. Insofern entschied der Staat als die Organisation der Produktionsverhältnisse über die Wirklichkeit der Atombombe. Hegels Idee des Staates als Form der Sittlichkeit widerspricht nicht einer solchen Wirklichkeit. Diese Form der Sittlichkeit, das wissen wir heute, widerspricht nicht einmal einer Option, die zur Vernichtung der menschlichen Gattung führen kann. Dies ist m.E. das nicht zu hintergehende Problem der Sittlichkeit. Seine Lösung liegt sicher nicht im Zurück zur zweckfreien, analytischen Wissenschaft. Denn die Wissenschaft ist heute mindestens durch einen Zweck bestimmt, den der Erhaltung der menschlichen Gattung. Deren Lebensprozeß hat aber als Erhaltungsbedingung seine Entwicklung, dies bedeutet sowohl die Entwicklung ihres gesellschaftlichen Verhältnisses als auch ihres Naturverhältnisses. Für die Naturwissenschaft bedeutet diese Entwicklung ihre reale Sittlichkeit. Dies schließt aber jede Entwicklung aus, die zur Vernichtung des Naturverhältnisses der Gattung und damit des Gattungslebens überhaupt führen kann. Oder anders gesagt, die Naturwissenschaft trägt erst dann reale Verantwortung, wenn sie das Telos der Freiheit negiert;30 positiv ausgedrückt, wenn ihr einziges Telos, als Tendenz der Entwicklung, die freie Zeit ist.31

Anmerkungen

1 Brecht, B.: Gesammelte Werke (Ed. Suhrkamp). Frankturt a. M. 1967; Bd. 17, S. 1109. Zum wissenschaftlichen Zusammenhang siehe Kuznecov, B. G.: Von Galilei bis Einstein. Berlin 1970.Zurück

2 Siehe Galilei, G.: Unterredungen und mathematische Demonstrationen über zwei neue Wissenszweige, die Mechanik und die Fallgesetze betrettend. Darmstadt 1973, S. 146 f.Zurück

3 Galileis Darstellung des funktionalen Zusammenhanges ist noch die geometrische Darstellung des Oresme. Jedoch entsteht fast zeitgleich mit den „Discorsi“ die algebraische Geometrie des Descartes, in der Linien durch Gleichungen in Unbestimmten ausgedruckt werden. Erst mit dieser algebraischen Darstellung vollendet sich die analytische Methode; insofern ist es historisch nicht ganz korrekt, allein Galilei als ihren Entdecker anzusehen.Zurück

4 A.a.O., S. 163.Zurück

5 Siehe Marx, K., Engels, F.: Werke (MEW), Bd. 1, S. 213.Zurück

5a Zusatz: Der Super-GAU von Tschernobyl demonstriert in erschreckender Weise die reale Gefahr, die von solcher Metaphysik ausgeht. Siehe Traube, K. u.a.: Nach dem Super-GAU, Hamburg 1986.Zurück

6 Siehe Strong, E. W.: Procedures and Metaphysics. Berkeley 1936.Zurück

7 Siehe Galilei, G.: Dialog über die beiden hauptsachlichsten Weltsysteme. Übers. u. Erl. E. Strauß. Stuttgart 1982, S. LXXIV.Zurück

8 Hegel, G. W. F.: Werke (Suhrkamp). Frankfurt a. M. 1970 f., Bd. 7, S. 290.Zurück

9 Brecht Werke, Bd. 3, S. 1341. Siehe auch Bd. 17, S. 1129 f.Zurück

10 Brecht Werke, Bd. 17, S. 1109.Zurück

11 Hegel Werke, Bd. 7, § 141, S. 286.Zurück

12 A.a.O., § 142, S. 292.Zurück

13 A.a.O., § 257, S. 398.Zurück

14 A.a.O., § 270, S. 426.Zurück

15 Ebenda.Zurück

16 Ebenda.Zurück

17 Siehe a.a.O., § 297, S. 464.Zurück

18 Siehe MEW, Bd. 1, S. 246 f.Zurück

19 Hegel Werke, Bd.7, § 333, S. 499.Zurück

20 Siehe a.a.O., §§ 330-334.Zurück

21 A.a.O., § 338, S. 502.Zurück

22 A.a.O., § 339, S. 502. – Es ist das unbestreitbare Verdienst der Hegelschen Rechtsphilosophie, den Antagonismus der bürgerlichen Staaten erkannt zu haben. Hegels Idealismus besteht allerdings darin, die Weltgeschichte dieses Antagonismus als Weltgeist zu begreifen, worin die Illusion einer Vernunft in der Geschichte ausgedruckt ist. Diese übernimmt Holz, wenn er meint, mit Leibniz´ Begriff der Kompossibilitat eine den Antagonismus übergreifende logische Gattung gefunden zu haben. Siehe Holz, H. H.: Zur Logik der Koexistenz. In: Dialektik, Bd. 4, Köln 1982, S. 65-74. Jedoch lassen sich logisch nur erscheinende Widersprüche vermitteln, während wesentliche Widersprüche (die Antinomie des politischen Staates und der bürgerlichen Gesellschaft) als wirkliche Extreme nicht miteinander vermittelt werden können (MEW 1, S. 292-296). Holz nennt weiter als Bedingung der Koexistenz „das Zugleichsein von Gegensätzlichem“ (S. 67), so daß die Veränderung unter Erhaltung der Gegensätze möglich ist. Das Modell dafür ist die kontinuierliche Bewegung, die in der mathematischen Gleichung als Funktion (y = f(x)) ausgedruckt ist. Holz, der die mathematische Gleichung nur als Modell des statischen Gleichgewichts begreift (S. 66), plädiert nun implizit für eine solche Funktion als Modell des dynamischen Gleichgewichts der Gesellschaftssysteme (S. 69), z.B. als „Verhältnis von second (y) und first (x) Strike capacity“ (S. 70). Damit beruht sein Konzept der friedlichen Koexistenz auf „Abschreckung“ (ebenda), was jedoch kein Frieden ist. Siehe Furth, P.: Logik der Abschreckung – eine Kritik. Informationsdienst Wissenschaft und Frieden, H. 2, 1984, S. 28 f. Zusatz: Im atomaren Abschreckungsfrieden ist keine friedliche Nutzung der Kernenergie möglich, im wirklichen Frieden konnte man auf sie verzichten. Zurück

23 Hegel, G. W. F.: Jenaer Realphilosophie 1805/06. Hamburg 1969, S. 261.Zurück

24 Die eindringlichste Darstellung der Geschichte der Atombombe ist m.E. diejenige von Jungk, R.: Heller als tausend Sonnen. Hamburg 1964. Eine neuere Zusammenfassung gibt Scherer, W.: Physikalische Grundlagen und Geschichte des Baus der ersten Nuklearwaffen. In: Physik & Rüstung. Universität Marburg 1983, S. 66-115.Zurück

25 J. Robert Oppenheimer, Enrico Fermi, Arthur H. Compton und Ernest O. Lawrence (Jungk, S. 168).Zurück

26 Bereits Galilei ließ bei seiner Untersuchung der Bewegung die Frage nach dem „warum“ fallen, um zunächst das „wie“ zu bestimmen. Siehe Mach, E.: Die Mechanik, Leipzig 1933, S. 119. Diese Beschränkung auf die Kinematik war sinnvoll, solange keine analytische Theorie der Dynamik vorlag. Ist diese aber gegeben, bedeutet die Beschränkung auf das „wie“, daß die Physik lediglich Möglichkeiten bestimmt und von den Konsequenzen für die Wirklichkeit absieht. Dies war der Inhalt von Galileis Unterwerfung, ebenso bedeutet diese Beschränkung der Physik heute die Unterwerfung des Physikers.Zurück

27 Text in: Jungk, S. 324 f. Zurück

28 Jungk, S. 173.Zurück

29 Jungk, S. 210 f. Kriegsopfer waren im Laboratorium erst später zu beklagen: H. Dagnian und L. Slotin (S. 180, 213).Zurück

30 Siehe Furth, P.: Arbeit, Teleologie, Hegelianismus. In: Dialektik, Bd. 2, Köln 1981, S. 99-121.Zurück

31 Dies wird von Galilei ausgesprochen: „Wofür arbeitet Ihr? Ich halte dafür, daß das einzige Ziel der Wissenschaft darin besteht, die Mühseligkeit der menschlichen Existenz zu erleichtern.“ Brecht Werke, Bd. 3, S. 1340. Zur Entwicklung der Produktivkraft als Ökonomie der Zeit siehe Marx, K.: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, S. 599. „Ersparung von Arbeitszeit gleich Vermehrung der freien Zeit“ (ebenda) bedeutet in den charakteristischen Großen der politischen Ökonomie die Verminderung von (v + m).Zurück

Dr. Harald Böhme ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fachbereich Mathematik/Informatik an der Universität Bremen. Bei dem vorstehenden Aufsatz handelt es sich um einen Vortrag, den H. Böhme beim XVI. Internationalen Hegel-Kongreß zum Thema „Moralität und Sittlichkeit“ in Zürich 1986 gehalten hat. Er wird auch im Hegel-Jahrbuch 1988 erscheinen.

Forschen für den Frieden: Im Geiste des Humboldtschen Erbes

Forschen für den Frieden: Im Geiste des Humboldtschen Erbes

von Günther Rose, Bernd P. Löwe

Die friedenswissenschaftlichen Arbeiten an der Humboldt-Universität zu Berlin tragen ein unverwechselbar eigenes Gesicht. An mehr als zehn Sektionen wurden in den letzten Jahren Projekte einer fachspezifischen Friedensforschung bearbeitet. Die neue historische Dimension der Friedensfrage wurde dabei ebenso behandelt wie die Rolle regionaler Konflikte für das System internationaler Beziehungen, das Verhältnis von Arbeiter- und Friedensbewegung und die Entwicklung der Konzeption der friedlichen Koexistenz. Speziellere Themen waren: Beiträge des Völkerrechts zur Durchsetzung des Gewaltverbots in den zwischenstaatlichen Beziehungen; Kriegsdeutung, Kriegsanalyse und Friedensstrategie in der Literatur der DDR und anderen Ländern, Dietrich Bonhoeffers Erbe von der Friedensverantwortung der Christen, die Aktualität des Friedensgedankens in der deutschen Klassik etc.

Neben diesen vor allem gesellschaftswissenschaftlich geprägten Arbeiten wurden auch naturwissenschaftliche Dimensionen der Friedensforschung erschlossen und entwickelt: Die Bedrohung des Friedens durch Kernwaffen der neuen Generation, physikalische Aspekte eines umfassenden Atomteststopps und nuklearer Abrüstung, Modellierungen zum Komplex „nuklearer Winter“, die Verantwortung des Naturwissenschaftlers im Nuklearzeitalter, die IPPNW und das Friedensengagement der Mediziner der DDR.

Resultate dessen sind in einem Sammelband „Friedensforschung an der Humboldt-Universität zu Berlin“ (1985) zu finden. Eine nicht weniger umfangreiche Palette bringt das „Humboldt-Journal zur Friedensforschung“ (1986), mit dem jährlich Forschungsergebnisse, Entwicklungstendenzen und wissenschaftliches Leben vorgestellt und internationale Trends reflektiert werden. In der jüngst erschienenen Nummer sind – neben Aufsätzen aus den eben erwähnten Forschungslinien und Lehrveranstaltungen – auch Beiträge der Psychologie zur Friedensforschung, der Pädagogik zur Friedenserziehung, der Philosophie zum Clausewitzschen Denken und seiner Bedeutung für die aktuelle Theoriebildung, der Politökonomie zur Relation von Weltwirtschaft und Weltfrieden, der Theologie zum Problem „Theologie der Befreiung“ in Lateinamerika, der Anglistik bzw. Amerikanistik zum Friedensdenken und Friedensengagement an US-amerikanischen Universitäten und Hochschulen enthalten. Das Journal wird auch weiterhin primär Leistungen bilanzieren, die disziplinär, multi- und vor allem interdisziplinär an der Humboldt-Universität erbracht wurden und werden. Zugleich wird berichtet über Ergebnisse der Arbeit mit den Kooperationspartnern in der DDR sowie im Ausland. Das wird bereits der Fall sein, wenn der 87er Band des „Humboldt-Journals zur Friedensforschung“ vorliegt, in dem Beiträge des im November 1986 stattgefundenen 3. Humboldt-Kolloquiums zur Friedensforschung enthalten sind, das mit breiter internationaler Beteiligung unter dem Thema durchgeführt wurde „Sicherheitstheorie und Sicherheitspolitik im Dialog marxistischer und nichtmarxistischer Friedensforscher“.

Einen besonderen Stellenwert für die Entwicklung der Friedensforschung an der Humboldt-Universität besitzt das „Internationale wissenschaftliche Seminar – Verantwortung und Wirken der Universität für Frieden und sozialen Fortschritt“, das am 23./24. Oktober 1985 anläßlich des 175. Gründungsjubiläums der Alma mater berolinensis und des 275. Gründungsjubiläums der Berliner Charité entstand.49 Rektoren, Präsidenten und führende Repräsentanten von 45 Partneruniversitäten aus 30 Ländern Europas, Asiens und Amerikas hatten sich auf diesem bisher einzigartigen Forum ungeachtet unterschiedlicher Auffassungen in anderen Fragen einmütig zur besonderen Verantwortung des Wissenschaftlers für den Frieden und den sozialen Fortschritt bekannt. „In Erwägung dessen, daß es in einem Nuklearkrieg weder Sieger noch Besiegte geben kann und daß ein solcher Krieg zur Selbstvernichtung der Menschheit führen würde, erblicken wir im Frieden die Ultima ratio, die Grundbedingung menschlicher Existenz“, heißt es in der einmütig gebilligten abschließenden Erklärung. Beachtung verdient auch die einhellige Ablehnung der mit dem SDI-Projekt verbundenen Militarisierung des Weltraums und der damit angestrebten militärstrategischen Überlegenheit. (Der Protokollband erschien 1986 in der Wissenschaftlichen Schriftenreihe der Humboldt-Universität zu Berlin.)

Mit der Reihe „Humboldt-Vorträge zur Friedensforschung“, in der vor allem international bekannte Friedensforscher aus ihrer Tätigkeit berichten sollen, Wissen und Erfahrungen ausgetauscht werden sollen, wollen wir einen eigenen Beitrag leisten zur Koalition der Vernunft und des Realismus, die der außenpolitischen Linie des XI. Parteitages der SED entspricht. Wir sind überzeugt, daß die Wissenschaften ein gleichsam unerschöpfliches Problemlösungspotential enthalten, um für alle Menschheitsfragen gangbare Lösungen zu finden. Das gilt auch für die Abwendung der Gefahren eines nuklearen Infernos und die Begründung eines dauerhaften Friedensprozesses. Dies mit Rationalität und Redlichkeit als Teil intellektueller Verantwortung und mit nimmermüdem Engagement als Teil der politischen Verantwortung anzugehen, macht heute die Pflicht zur Vernunft aus. Ein akademischer Imperativ dieser Art und Qualität sollte die scientific community in unserem Zeitalter prägen.

In diesem Bewußtsein realisierte sich auch unsere Beteiligung an Aktivitäten der internationalen Friedensforschung. Dazu zählen die Teilnahme des Rektors der Humboldt-Universität an der „Internationalen Konsultation“ der UNESCO „Bildung und Frieden“ im Januar 1986 in Athen bzw. am Internationalen Symposium zur Friedenserziehung in Genf, das von der Weltorganisation der Universitäten veranstaltet wird; in diese Reihe gehört auch die aktive Beteiligung am Inter University Centre Dubrovnik, die Teilnahme an der Begegnung „Appell von der Akropolis“ im August dieses Jahres in Athen, die Beteiligung an der IPRA-Arbeit und die Beteiligung am UNESCO-Projekt „Friedenserziehung an Universitäten“.

Schließlich möchten wir den besonderen Platz der „Humboldt-Kolloquia zur Friedensforschung“ hervorheben. Nachdem zunächst auf dem ersten dieser Art im November 1985 politikwissenschaftliche Aspekte der Friedensforschung behandelt wurden, auf dem folgenden politökonomische Aspekte bzw. wirtschaftswissenschaftliche Beiträge zur Friedensforschung im Mittelpunkt standen, steht das dritte – mit nunmehr internationaler Beteiligung – unter dem Schwerpunkt „Sicherheit“ (s.o.) und dient vor allem dem internationalen Dialog und der Kooperation. Mit dem Blick auf Reykjavik im UNO-Jahr des Friedens ist dies unser spezifischer Beitrag, mitzuhelfen, die Kunst zu beherrschen und die Wissenschaft zu entwickeln, daß die Völker trotz unterschiedlicher Gesellschaftsordnungen vernünftig miteinander leben können (M. Gorbatschow). Dies zu befördern wird im Jahr 1987 mit besonderen Vorzeichen versehen – die fortschrittliche Menschheit begeht den 70sten Jahrestag der Oktoberrevolution und damit auch den von Lenins „Dekret über den Frieden“; internationalen Charakter tragen auch die Festlichkeiten zum 750. Jahrestag der ersten urkundlichen Erwähnung der Stadt Berlin. Die von der Humboldt-Universität durchgeführten internationalen Seminare und Kurse für Studenten und Graduierte werden fortgesetzt. Die vielfältigen politischen Standpunkte, wissenschaftlichen Thesen und Weltbilder, die dabei vertreten werden, sind eine gute Grundlage für wissenschaftlichen Meinungsstreit – dabei dient die sachliche Austragung von Kontroversen dem common sense in der substantiellen Zwecksetzung. Das soll so bleiben und noch ergebnisreicher gestaltet werden. Im Oktober 1985 wurde der Zentrale Arbeitskreis Friedensforschung der Humboldt-Universität konstituiert. Ihm gehören unter Leitung von Günther Rose die Leiter der entsprechenden Projekte und Maßnahmen sowie weitere führende Wissenschaftler der Universität an. Die Hauptfunktion besteht in der konzeptionellen Führung und koordinierenden Tätigkeit, damit jede Disziplin aus den Gesellschafts-, Natur- und Agrarwissenschaften ebenso wie aus der Medizin, den Technik- und Informationswissenschaften und last but not least der Theologie ihren arteigenen Beitrag zu leisten und in wachsendem Maße in den Dienst einer interdisziplinären Qualifizierung von Lehre und Forschung zu stellen vermögen. Natürlich werden hier auch die internationalen Verbindungen und Kooperationen konzentriert, die für die Friedensforschung und ihr Wirksamwerden für die Friedensbewegung relevant sind.

Einen nicht geringen Stellenwert besitzen die seit 1984 durchgeführten intersektionellen und demzufolge multidisziplinären Friedensvorlesungen, zu denen auch die Berliner Öffentlichkeit eingeladen ist. Schließlich erfüllen Studentenzirkel, Forschungskollektive vor allem der Nachwuchswissenschaftler und größere Forschungskreise – wie z.B. der speziell für Friedensforschung an der Sektion Marxismus-Leninismus – eine wichtige Funktion bei der Entwicklung einer Wissenschaft vom Frieden. Die Breite der Aktivitäten widerspiegelt eine Seite der Sensibilisierung für das Menschheitsproblem Nr. 1, von dem auch unsere Universität positiv beherrscht wird.

Günther Rose, Bernd P. Löwe: Zentraler Arbeitskreis Friedensforschung der Humboldt-Universität zu Berlin, Unter den Linden 6, 1086 Berlin/DDR

Nachkriegsbilder Vorkriegsbilder.

Nachkriegsbilder Vorkriegsbilder.

Zum Verhältnis von Erinnerung und Antizipation in der Kunst nach 1945

von Annegret Jürgens-Kirchhoff

Das Nachkriegsbilder in der Zeit eines drohenden neuen Krieges zu Vorkriegsbildern werden kennen, ließe sich an zahlreichen Beispielen zeigen. Ebenso konnten in Bildern vom kommenden Krieg vergangene Kriegserfahrungen verarbeitet werden. Erinnerung und Antizipation verschränkten sich in Bildern gegen den Krieg in oft kompilierter Weise und erhellten wechselseitig ihren schwierigen Gegenstand.1 Viel spricht dafür, daß dieser Zusammenhang im Hinblick auf den drohenden 3. Weltkrieg so nicht mehr besteht. Die Möglichkeit von Vorkriegsbildern erscheint ebenso wie die Rezeption von Nachkriegsbildern unter heutigen Bedingungen gründlich verändere Dazu gehört die wiederholt geäußerte Befürchtung, daß es nach dem nächsten Krieg, der ein nuklearer wäre, niemanden mehr geben werde, der sich noch ein Bild von ihm machen könnte.2 Die Unvorstellbarkeit eines atomaren Krieges hat aber nicht nur zur Folge, daß sich Viele Künstler die Antizipation der drohenden Schrecken nicht mehr zutrauen – die bildenden Künstler noch weniger als die Schriftsteller. Sie läßt auch den Versuch, in Bildern Der atomaren Vernichtung die Erfahrungen vergangener Kriege zu reflektieren, leichtfertig erscheinen, wo er der Besonderheit den Krieges im atomaren Zeitalter nicht gerecht wird. Unbrauchbar erscheinen die Erinnerungen, überholt die Erfahrungen, harmlos die Bilder vom letzten Krieg.3

Diesem problematischen Verhältnis von Erinnerung und Antizipation in Antikriegsbildern nach 1945 gelten die folgenden Überlegungen. Welcher Zusammenhang besteht zwischen der Vorstellungskraft der Künstler und ihrer Fähigkeit, sich zu erinnern oder auch zu vergessen? Ist die Erinnerung an vergangene Kriege geeignet, den Malern die Augen zu öffnen, oder verstellt sie eher den Blick auf die heute drohenden Gefahren? Da unsere Zukunft von der Verarbeitung der Vergangenheit abhängt, stellt sich die Frage, was mit dem Blick in eine katastrophal vorgestellte Zukunft zugleich erinnert, assoziiert, bedacht wird, ob und wie sich die bildenden Künstler nach dem 2. Weltkrieg, nach dem Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki an der lebenswichtigen Erinnerungsarbeit beteiligt haben und heute noch beteiligen.

Es ist bekannt, daß diese Erinnerungsarbeit in der BRD von den meisten über lange Zeit verweigert wurde. Zur Rede von Neubeginn und Stunde Null gehörte das Schweigen über die Vergangenheit. Das Verstummen nach der Erfahrung von Faschismus und Krieg war noch sprachloser als das Verstummen der Generation, die, wie Walter Benjamin schrieb, „1914-1918 eine der ungeheuersten Erfahrungen der Weltgeschichte gemacht hat.“4 Benjamin hat dieses Verstummen als „Erfahrungsarmut“, d.h. als Unfähigkeit, sich auf Erfahrungen zu berufen und diese der jungen Generation zu vermitteln, problematisiert. Er hat diese Erfahrungsarmut – „Armut nicht nur an privaten sondern an Menschheitserfahrungen überhaupt“ – als „eine Art von neuem Barbarentum“ bezeichnet in der Absicht, „einen neuen positiven Begriff des Barbarentums einzuführen.“5 Benjamin sah in der Erfahrungsarmut der Überlebenden des 1. Weltkriegs die Chance des Neubeginns, des Vonvornbeginnens. Er beobachtete ein illusionsloses und rückhaltloses Bekenntnis zu einem Zeitalter, in dem die großen schöpferischen Kräfte bereit und in der Lage seien, „erst einmal reinen Tisch“ zu machen, das Neue „aus Wenigem heraus zu konstruieren“.6

Benjamin hat, als er dies 1933 schrieb, den 2. Weltkrieg kommen sehen. Gleichwohl hat er dem „neuen Barbarentum“ seiner Zeit Menschlichkeit zugetraut 7 und wohl auch die Fähigkeit, den faschistischen Barbaren zu widerstehen. Es wurde jedoch nur zu bald deutlich, daß sich die vielen nicht an die hielten, die das gründlich Neue zu ihrer Sache gemacht hatten, in der Politik wie in der Kunst. Mit dem Blick nach vorn, von Erfahrungen entblößt und ohne Rücksicht auf das Vergangene, waren vor allem die kleinbürgerlichen Massen nicht in der Lage, in der Selbstdarstellung des Faschismus als „neue“, „revolutionäre“, gar „sozialistische“ Bewegung die alten imperialistischen Herrschaftsinteressen zu erkennen, deren Durchsetzung ihnen bereits im 1. Weltkrieg die Sprache verschlagen hatte. Die Erfahrung dieses Krieges, von der sich viele nur abgestoßen hatten, ohne daß sie zur mitteilbaren und vermittelbaren Erfahrung geworden war, hatte sie nicht klug gemacht und nicht menschlicher. Es wiederholten sich die ungeheuren Erfahrungen eines imperialistischen Weltkriegs, es wiederholten sich das Verstummen und die Erfahrungsarmut bei den Überlebenden. Wieder war die Rede von Neuanfang und Stunde Null. Inzwischen wurde ein 3. Weltkrieg machbar. Viele sehen ihn heute kommen.

Es fällt schwer, in dem Verstummen und der Erfahrungsarmut der Generation, die aus dem 2. Weltkrieg „heimkehrte“, noch positive Momente wahrzunehmen. Die Rede von der Stunde Null geriet zu Recht in den Verdacht der Selbsttäuschung und Verdrängung. Wie verständlich auch immer das Bedürfnis nach Neuanfang sein mochte, als eines ohne Rücksicht auf Verluste war es zukunftsorientiert in einem schlimmen Sinne. Gut zwanzig Jahre nach Kriegsende, 1967, versuchten Alexander und Margarete Mitscherlich in ihrem Buch „Die Unfähigkeit zu trauern“ auf die in der Bundesrepublik verbreitete „hartnäckig aufrechterhaltene Abwehr von Erinnerungen“8 aufmerksam zu machen und auf die politisch verhängnisvollen Konsequenzen einer Haltung, die mit Hilfe von Verleugnung, Verdrängung und Projektion auf die unzähligen Kriegstoten, den millionenfachen Mord an Juden, Polen, Russen, den Mord an politischen Gegnern aus den eigenen Reihen reagierte.

Ein scheinbar harmloses Beispiel für die sprachlose und zuweilen blindwütige Abrechnung mit der Vergangenheit ist der „Bildersturm“, dem eine Ausstellung von Gemälden Franz Radziwills 1946 in einem Hamburger Kaufhaus ausgesetzt war. Die stark besuchte Ausstellung erregte das Publikum derart, daß es schließlich sieben der ausgestellten Gemälde zerstörte.9 Nach zwölf Jahren Faschismus und sechs Jahren Krieg erschienen Radziwills Bilder einer aus den Fugen geratenen Welt unerträglich. Geschlagene eines Weltkriegs, schlugen die Besucher nun auf die Bilder ein, die sie daran erinnerten. Mochten solche extremen Reaktionen auf Künstler, die ihre Erfahrungen und Erinnerungen an den 2. Weltkrieg zu verarbeiten suchten, auch die Ausnahme sein, sie erscheinen doch symptomatisch für die aufgeregte und sprachlose Abwehr von Schuld, Scham und Angst. „Böswillig“ erschienen nicht selten die, die nicht vergessen wollten.

Die Abwehr von Erinnerung bestimmte nach 1945 nicht nur die Rezeption der Nachkriegskunst; sie prägte auch die Bilder, die sich in dieser Zeit mit Krieg und Faschismus auseinanderzusetzen versuchten. Es handelt sich in aller Regel um Werke, die das Leiden, die Trauer, Ohnmacht, Resignation und Verzweiflung der Überlebenden thematisieren. Deutlich ist eine starke Tendenz zur Verallgemeinerung des Einzelschicksals, zur symbolischen Darstellung, zu metaphorischen, mythischen, religiösen Formulierungen. Hiob, der verlorene Sohn, Christus stehen für den bedrängten, ohnmächtigen, leidgeprüften Menschen dieser Zeit. Neben Motiven aus der Totentanz-Ikonographie sind es häufig christliche Themen, Höllenfahrtszenen und Visionen der Apokalypse, in denen die schockierende Erfahrung einer beispiellosen Katastrophe beschworen wird.10 Die Zerstörung, auf die Radziwills Gemälde verweisen, bedroht Erde und Himmel. Der Riß, der in vielen seiner Bilder durch die Welt geht, spaltet den Boden und läßt den Himmel auseinanderklaffen. Er wird zum Zeichen drohenden Unheils, das keinen Stein auf dem anderen lassen wird. Ähnlich werden in den zahlreichen Ruinenbildern dieser Zeit eingestürzte Mauern, Gebäudereste, Fensterhöhlen, ausgebrannte Häuser zu Symbolen der Zerstörung und der „Unbehaustheit“ des Menschen.

In Wilhelm Lachnits Gemälde „Der Tod von Dresden“ aus dem Jahr 1945 ist die zerstörte Stadt nur angedeutet in einem stark vereinfachten, stilisierten Gefüge von ineinandergestürzten, verkohlten Balken. In den abstrakten Trümmern sitzt der allegorische Knochenmann, der selbst von Trauer übernmannte Tod – ihm zur Seite im Vordergrund in ähnlicher Haltung mit gebeugtem Oberkörper und gesenktem Kopf, das Gesicht in der offenen Hand verborgen, eine Frau mit einem Kind. Es hat die Arme über den Schoß der Mutter gelegt und blickt mit ernstem Gesicht aus dem Bild heraus. Vor den symbolischen Trümmern und der Figur eines in Trauer und Scham versunkenen Todes erscheint das auf die Mutter sich stützende, von ihrem rechten Arm umfangene Kind als Verkörperung der Hoffnung auf Überleben. Wie ein Versprechen auf Zukunft ist das tränenlose Gesicht des noch unerfahrenen Kindes dem Betrachter zugewandt. Derart symbolisch aufgefaßte Szenen, in denen nach traditionellem Muster allegorische Figuren auf Tod und Leben verweisen, sind charakteristisch für viele Bilder dieser Zeit.

Ein Gemälde von Karl Hofer aus dem Jahr 1947 trägt den bemerkenswerten Titel „Atomserenade“, bemerkenswert, weil in der Kunst der ersten Nachkriegsjahre Hiroshima und Nagasaki eigentlich kein Thema sind. Außer diesem Bild Hofers ist mir bis in die 50er Jahre hinein kein Gemälde bekannt, das sich nachweislich auf die atomare Vernichtung der beiden japanischen Städte bezieht. Auch hier wurde Erinnerung verweigert und behindert, und zwar auf der Ebene offizieller Politik: Die USA verhängten über die Berichterstattung zu den Folgen des Atombombenabwurfs eine jahrelange, bis 1952 andauernde Zensur. Damit, d. h. mit dem Mangel an Information, mag es, neben der in dieser Zeit ohnehin starken Tendenz zu metaphorischen Formulierungen, zu tun haben, daß auch Hofers Gemälde von der Realität, der erstmals praktizierten atomaren Massenvernichtung, weitgehend abstrahiert. Während Hofer sich mit anderen Bildern in bekannte ikonographische Zusammenhänge stellt, das Vergangene als „Höllenfahrt“ und „Totentanz“ thematisiert, versucht er hier, in der ungewöhnlichen Darstellung einer symbolisch bedeutsamen Situation mit dem Blick auf menschliche Befindlichkeit ein Bild der atomaren Katastrophe zu geben: In den abendlichen Frieden einer kleinen Gruppe von Menschen, die am weit geöffneten Fenster dem Gesang und dem Lautenspiel eines Musikanten in ihrer Mitte lauschen, fällt die Atombombe. Die Menschen sind bleich und starr vor Entsetzen; sie sehen einander nicht an; kein Blick geht hinaus; am dunklen, von Blitzen zerrissenen Himmel steht der Mond als große zerbrochene Scheibe.

Die künstlerische Reflexion von Erfahrung und Geschichte in den verallgemeinernden, unbestimmten und reduzierten Formen einer metaphorischen Malerei begriff Vergangenheit weithin als grausames, übermächtiges Schicksal, dem der Mensch schuldlos-schuldig unterworfen ist. In diesem Zusammenhang stellten sich auch die zuweilen nüchtern registrierten Kriegsfolgen als schicksalhaft über die Menschen verhängte, nicht als von Menschen gemachte dar, als Folgen einer Naturkatastrophe oder eines göttlichen Strafgerichts. Mag man in dieser fatalistischen Auffassung von Geschichte, die mit ihrem apokalyptischen Pathos kaum geeignet war, die Realität von Faschismus und Krieg zu durchdringen auch eine Form der Abwehr von konkreter Erinnerung und Erfahrung erblicken – die intensive und immer erneute Thematisierung der subjektiven, emotionalen Folgen der erlebten Schrecken macht doch deutlich, daß es in diesen Nachkriegsbildern durchaus darum ging, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Die künstlerische Arbeit war hier – wie auch immer – an dem Verarbeitungsprozeß, den die Psychoanalyse „Trauerarbeit“ nennt, beteiligt. Nicht verstummt zu sein in einer Situation, in der viele sehr bald schon von der Vergangenheit nicht mehr reden und nichts mehr hören wollten, gehört zu den produktivsten Anstrengungen der Künstler, die in Nachkriegsbildern – wie erfahrungsarm und sprachlos auch immer – von den Folgen der Vergangenheit zu sprechen versuchten.

Sie haben dazu nur wenige Jahre Gelegenheit. Die Unfähigkeit, sich auf Erfahrungen zu berufen, und die Weigerung, diese der jungen Generation zu vermitteln, isolierte zunehmend auch die Künstler, die dies versuchten. Endgültig entmutigt wurden sie allerdings erst, als nach der Gründung der Bundesrepublik die rehabilitierte abstrakte Kunst als die zeitgemäße Form einer angeblich autonomen, modernen Kunst verabsolutiert wurde. Die Etablierung der westlichen Kunstszene hatte zur Folge, daß viele gegenständlich arbeitende Künstler über lange Zeit regelrecht „vergessen“ wurden. Inzwischen haben manche, die zu dieser Entwicklung beigetragen haben, ihre eigene Verdrängungsleistung vergessen. Werner Haftmann, einer der einflußreichsten Befürworter der abstrakten Moderne nach 1949, schrieb 1984 in der FAZ: „Ich habe mich oft gefragt, warum der große Krieg, den meine Generation zu durchleben hatte, in den künstlerischen Rängen so antwortlos blieb: ein paar mehr anekdotisch als gleichnishaft wirkende Bücher von amerikanischen Schriftstellern – und sonst das Schweigen! – Auch die Malerei brachte keine verzeichnenswerten Verbildlichungen hervor. Wie anders nach dem ersten Krieg!“11 Dieser scheinheiligen Klage ist es offensichtlich entgangen, daß es das Schweigen, von dem Haftmann spricht, jedenfalls in den ersten Nachkriegsjahren von 1945 bis 1949 nicht gab.12

Die Generation, die sich so schlecht erinnert, hat ihre Erfahrungsarmut und ihr ramponiertes historisches Bewußtsein der Nachkriegsgeneration vererbt. Statt ihr mit Erfahrungen zur Hilfe zu kommen, „befreite“ man sie und sich selbst von Erinnerungen, nicht nur hierzulande. Noch 1980 mußte ein Bild des japanischen Malerpaares Toshi und Iri Maruki, das seit über dreißig Jahren seine Erinnerungen an Hiroshima malt, aus einem Schulbuch verschwinden, weil es – so das japanische Erziehungsministerium – einen „schädlichen, deprimierenden Einfluß“13 ausübe. Vor etwa einem Jahr konnte man in mehreren Pressenotizen nachlesen, daß man in einem englischen Archiv umfangreiches Material für einen Film „entdeckt“ habe, den der für seine Krimis bekannte Regisseur Alfred Hitchcock in Auschwitz gedreht hat. Mit Rücksicht auf die Gefühle der mit dem Wiederaufbau beschäftigten Deutschen sei dies Material nicht veröffentlicht worden. Anschließend hat man es dann, so scheint es, vergessen. Für die Versuche, uns so durch Zensur, Verbot und Geheimhaltung von Bildern vor Trauer, Zorn und Erkenntnis zu „schützen“, ließen sich weitere Beispiele finden.

Es bleibt jedoch die Frage wie weit die subjektive Abwehr von Erinnerung und ihre Entsprechung auf der Ebene offizieller Politik dazu beigetragen haben, daß es in der Kunst nach 1945 kaum Werke einer Antikriegskunst gibt, die ähnliche Bedeutung erlangt hätten wie die Bilder eines Picasso oder Dix. Der Krieg, insbesondere der machbar gewordene atomare Krieg ist in der Kunst der 50er Jahre, die die abstrakte Moderne als Befreiung von der Fessel des Gegenständlichen und als künstlerische Weltsprache feierte, kaum ein Thema; dies gilt auch noch, als Ende der 50er Jahre die „Kampf dem Atomtod“-Bewegung ein Bewußtsein von den Gefahren des atomaren Zeitalters zu entwickeln versuchte. Zu den wenigen Ausnahmen gehören Arbeiten des niederländischen Malers Constant, der 1950/51, vermutlich unter dem Eindruck des Koreakrieges, in der Sprache der abstrakten Kunst den Krieg thematisiert. In der an realistische Traditionen anknüpfenden Kunst der DDR ist ab etwa Mitte der 50er Jahre erstmals eine Auseinandersetzung mit der atomaren Bedrohung zu beobachten.14 Die USA geben Anlaß, sich an Hiroshima zu erinnern: Am 1. November 1952 zündeten sie die erste Wasserstoffbombe; 1954 führten sie auf den Marshallinseln Wasserstoffbombentests durch. – Im Jahr 1958 malt Werner Tübke unter dem Titel „Hiroshima“ drei Gemälde; sie gehören zu den wenigen Bildern, die konkret auf die atomare Zerstörung der japanischen Stadt Bezug nehmen. Erst in den 60er und 70er Jahren entstehen in der Folge der Politisierung durch die Studentenbewegung sowie der Proteste gegen den Vietnamkrieg in größerem Umfang Arbeiten, die sich mit Krieg, Gewalt und Faschismus auseinandersetzen. Die Abwendung der westlichen Kunstszene von der abstrakten Moderne und ihr zunehmendes Interesse an neuer Gegenständlichkeit werden dazu beigetragen haben, daß sich die Aufmerksamkeit für eine politisch engagierte Antikriegskunst schärfte. Die Beiträge zum Thema von Renato Guttuso, Duane Hanson, der Equipo Cronica, Peter Sorge, Rudolph Schoofs, Alfred Hrdlicka, Bernhard Heisig, Jochen Hiltmann – die Reihe ließe sich fortsetzen – sind zahlreich und zeigen ein großes inhaltliches und formales Spektrum. In einem Teil dieser Antikriegsbilder wurde die Erinnerungsarbeit nachgeholt, zu der sich die meisten Künstler in den ersten Nachkriegsjahren nicht oder nur selten in der Lage sahen.

Der 2. Weltkrieg wurde in diesen späten Nachkriegsbildern nicht auf der Ebene symbolischer Verallgemeinerung beschworen, sondern in der Regel sehr konkret im Hinblick auf bestimmte Ereignisse problematisiert. Bekannt wurde vor allem „Das transportable Kriegerdenkmal“ von Edward Kienholz aus dem Jahr 1968. Kienholz erinnert in diesem großen Tableau an die Flaggenhissung auf dem Suribachi, dem höchsten Berg der japanischen Insel Iwo Jima, die von amerikanischen Truppen am 23. Februar 1945 nach einem der blutigsten Tage des 2. Weltkriegs erobert wurde – bei der Erstürmung der Insel wurden allein 6821 Amerikaner getötet. Das heroische Bild erschien auf 3 Cent Briefmarken; es wurde in Papiermache nachgebildet, in Hamburgers, in Butter, in Eiscreme, und es wurde nachgegossen für ein hundert Tonnen schweres Bronze-Memorial auf dem Soldatenfriedhof von Arlington. Kienhole macht daraus den ironisch-bösen Vorschlag eines „transportablen Kriegerdenkmals“ für den Vietnamkrieg und die folgenden Kriege, ein mobiles Gerät, das immer und überall zur Verfügung steht, abstellbar bis auf weiteres im „friedlichen“ Alltag neben „Hot dogs“ und Coca Cola.15

Alle diese Werke rechnen, wie indirekt und vermittelt auch immer, mit der Möglichkeit neuer Kriege. Sie tun dies allerdings nur selten in der Antizipation eines letzten, atomaren. Erst in der Kunst der 80er Jahre nehmen unter dem Druck der sogenannten Nachrüstung mit der Zunahme endzeitlicher Vorstellungen auch die Bilder vom atomaren Holocaust zu.1982 entstehen Arnulf Rainers Zyklus „Hiroshima“ und Robert Morris „Feuersturmserie“, 1983 Joseph Beuys „Ende des 20. Jahrhunderts“, 1984 Armans in Bronze gegossenes Ensemble verbrannter Möbel „The day after“. Auch die „Jungen Wilden“ entdecken die Bombe, das Ende der Menschheit, die Apokalypse.16 In diesen und anderen Versuchen, sich ein Bild zu machen von der drohenden atomaren Katastrophe und in den sie begleitenden Analysen und Interpretationen hat das apokalyptische Denken Konjunktur.17 Es beherrscht nicht nur die Köpfe einiger Künstler und Kunsthistoriker. Wie ein letztes Zerfallsprodukt von Aufklärung greift es um sich. Selbst der amerikanische Präsident ist davon überzeugt, in einer Zeit zu leben, in der sich Armageddon, der letzte Kampf zwischen Gut und Böse ankündigt. Er hat es Thomas Dine, dem Chef eines Komitees, das sich für gute Beziehungen zwischen den USA und Israel einsetzt, verraten: „Wie Sie wissen, gehe ich immer wieder auf eure alten Propheten im Alten Testament und auf die Anzeichen zurück, die Armageddon ankündigen. Ich ertappe mich dabei, daß ich mich frage, ob wir die Generation sind, die erlebt, wie das auf uns zukommt. Ich weiß nicht, ob Sie in letzter Zeit eine dieser Prophezeiungen wahrgenommen haben. Aber glauben Sie mir, sie beschreiben ganz gewiß die Zeit, die wir jetzt erleben.“18 Ronald Reagan hat seine Verstärker: Eine in den letzten Jahren in den USA entstandene Popkultur verbreitet in Abenteuerromanen, Musikvideos, Filmen, Comic Strips und nicht zuletzt – über die christlichen Fernsehsender die Botschaft, daß die Apokalypse, die als Atomkrieg kommen und unvermeidbar sein werde nicht das absolute Ende darstelle, sondern eher den rettenden Durchgang zu einem besseren Leben in Frieden, Freiheit und ohne die Russen.19

„Apokalypse. Ein Prinzip Hoffnung?“20

Welche Möglichkeiten haben Künstler, mit diesen herrschenden Untergangsphantasien und Endzeitvisionen umzugehen und den auf Einverständnis und Gewöhnung zielenden Armageddonbotschaften zu widersprechen? Es wird vermutlich nicht ausreichen, in der Darstellung der verheerenden Wirkungen eines Atomkriegs diesen als heillosen und hoffnungslosen vor Augen zu führen, oder gar, wie Robert Morris dies mit den Großformatigen, ganze Räume ausfüllenden Kohlezeichnungen seiner „Feuersturmserie“ versuchte, den Betrachter in das Zentrum solch eines atomaren Szenarios zu stellen. Es wird wahrscheinlich auch nicht ausreichen, was Gerda Dassing in einem Poster „The last photo“ von 1981 versucht, aus der entgegengesetzten Perspektive des himmelweit Entfernten ein letztes Bild von der atomaren Zerstörung der Erde zu vermitteln. In der langen Geschichte der Kriegsdarstellungen waren die Bilder, Symbole, Visionen der Apokalypse immer wieder eine Möglichkeit, Vorstellungen von der Ungeheuerlichkeit erlebter Schrecken, von unerträglichen Leiden, von Bedrohung und Untergang zu vermitteln, dies auch dann noch, als eine Säkularisierung der einst biblischen Thematik einsetzte. Die atomare Situation legt es heute offenbar weiterhin nahe, in apokalyptischen Bildern von Gefahren und Ängsten zu sprechen bzw. Bilder entsprechend zu deuten.

So richtig die Feststellung des qualitativ Neuen eines Atomkriegs ist, so fragwürdig erscheint es aber, wenn die Vorstellung von der großen Katastrophe als dem schlechthin Beispiellosen, noch nie Dagewesenen sich Bilder des Schreckens schafft, die in dem Maße, wie sie dem Neuen des nuklearen Krieges zu entsprechen suchen, sich von der Realität, in der wir (noch) leben, entfernen: von Rüstungsmaßnahmen, militärischen Konzepten, technologischen Entwicklungen, ökonomischen Strategien, politischen Entscheidungen. In der finsteren apokalyptischen Zukunftsperspektive ist jedes Bewußtsein von Geschichte gelöscht und jeder politisch-gesellschaftliche Handlungshorizont ausgeblendet.21 Vom ganz Anderen führt kein Weg mehr zurück. „Das apokalyptische Denken, das ja in Wirklichkeit ein parareligiöses ist, hat jedoch nicht nur unsere politischen Wünsche, Ansprüche und Utopien auf ein Minimum zurückgeschraubt, es hat auch das politische Unterscheidungs- und Differenzierungsvermögen nachhaltig beeinträchtigt.“ 22 Es hat den Anschein, als gelte dies heute in besonderem Maße für die bildende Kunst. Hier wird mehr noch als anderswo die akute Bedrohung unserer Gattung weithin nicht mehr als ein konkretes politisch-ökonomisch-militärisches Problem behandelt, sondern als ein anthropologisches, ethisches bzw. religiöses. Das apokalyptische Denken, das sich das Schlimmste vorzustellen versucht, erspart sich in aller Regel den Blick auf das, was dieses Unvorstellbare möglicher und wahrscheinlicher machen wird. Es erspart sich auch den Blick auf vergangene Kriege und die Bilder, die wir von ihnen haben. Sie erscheinen konventionell und nicht zu vergleichen, Kriege (und Bilder), die man vergessen kann. Der Versuch, derart der Unvorstellbarkeit atomarer Vernichtung gerecht zu werden, gehört wohl auch zu den von manchen Künstlern verinnerlichten Strategien der Abwehr von Erinnerung und Erfahrung. Dies hat zur Folge, daß sich die antizipatorischen Anstrengungen der Künstler vielfach auf die manifesten und bekannten Erscheinungsformen des nuklearen Krieges fixieren, auf die charakteristische Pilzform, den schwarzen Regen, die Schatten verglühter Menschen, den Feuersturm. Die apokalyptische Zuspitzung bleibt in der Nähe der Effekte. Sie ist damit allerdings noch realitätsnäher als die apokalyptische Spekulation so mancher Interpreten, die in solchen Bildern nur noch Endzeitliches vermuten, nur noch Gefühle des Untergangs und des Todes. Daß z.B. Arnulf Rainers Hiroshima-Zyklus auch die Verarbeitung einer bestimmten historischen Erfahrung, eines konkreten Ereignisses ist und sich mit Dokumenten dieses Ereignisses auseinandersetzt, hat dann mit der „eigentlichen“ Bedeutung der Blätter wenig zu tun.23 Ohne die Einsicht in vergangene Schrecken, ohne den Versuch, sich über deren Zustandekommen und deren Folgen Klarheit zu verschaffen, ohne die Erkenntnis, daß das Vergangene nichts war als „Menschenwerk“, bleibt die Antizipation drohenden Unheils ohnmächtig, resignativ und melancholisch ihren eigenen apokalyptischen Phantasien unterworfen.

Die Rückgewinnung von Erinnerung und die Überwindung der verbreiteten Erfahrungsarmut erscheinen als wichtige, vielleicht einzige Möglichkeit zu verhindern, daß Phantasie und Vorstellungskraft sich zunehmend von der Realität entfernen, um schließlich in den apokalyptischen Bildern eines Kriegs der Sterne die Schrecken vergangener Kriege endgültig zu vergessen und den kommenden Krieg als ein vielleicht schreckliches, aber vor allem großartiges und überwältigendes Ereignis zu imaginieren. Diese abgehobene Phantasie hat Günther Anders nicht gemeint, als er immer wieder eindringlich für eine Erweiterung unserer Vorstellungskraft plädierte.24 In dem „Land der Phantasie“, von dem er sich noch realistische Perspektiven erhofft, „beflügelt“ die Erinnerung die Antizipation dessen, was da angeblich auf uns zukommt, als sei dies nicht unsere eigene selbstzerstörerische Bewegung auf einen Krieg hin, der wie alle vorausgegangenen mit bestimmten Interessen geplant und geführt werden wird. Ausgerechnet vor dem Imperial War Museum in London hing im Februar dieses Jahres ein großes Transparent, das mit der Aufschrift „Give your past a future“ für den Erhalt und Ausbau des Museums warb. – Dabei wären die apokalyptischen Bilder nicht zu verdrängen. Es ginge vielmehr darum, die in ihren Motiven enthaltenen Ängste, Wünsche, Bedürfnisse, Interessen zu dechiffrieren und zu ermitteln, was sie eigentlich meinen, woher sie kommen und worauf sie zielen und warum ihr konkreter Zusammenhang „vergessen“ wurde. Auch dies wäre ein Teil notwendiger Erinnerungsarbeit.

Im März dieses Jahres war im Fernsehen in einer vierteiligen Folge ein Film zu sehen, der sich mit dem Problem des Vergessens und der Notwendigkeit des Sich-Erinnerns befaßt: „Shoah“ von dem Journalisten und Filmemacher Claude Lanzmann. („Shoah“ ist ein hebräisches Wort und bedeutet großes Unglück, Katastrophe.) Lanzmann hat in diesem Film Überlebende aus deutschen KZs befragt, aber auch die Täter, ehemalige Nazis und Beteiligte des damaligen Bürokratie – und Verwaltungsapparates. Mehr als zehn Jahre hat Lanzmann an diesem Film gearbeitet, ein zäher und mühseliger Versuch das Vergessen aufzuhalten. Lanzmann ruft die Opfer als Zeugen auf, nötigt sie, in das eigene Vergessen einzudringen und zu berichten. Deutlich wird, wie schwer, wie schmerzlich die Erinnerung ist; es ist in der Tat eine Arbeit. Es kommt vor, daß die Befragten nicht mehr weitersprechen können, nicht mehr wollen. Lanzmann läßt nicht los, sagt: „Sprechen Sie weiter. (…) Sie müssen. Es ist notwendig. (…) Ich bitte Sie. Wir müssen das machen. Sie wissen das. (…) Ich weiß, daß es hart ist, ich weiß, verzeihen Sie mir. (…) Ich bitte Sie, fahren Sie fort.“25

Anmerkungen

1 Dies ließe sich besonders deutlich am Beispiel von Otto Dix zeigen, der in seinen Bildern fast zwanzig Jahre lang seine Erfahrung des 1. Weltkriegs thematisiert hat. Das letzte große Gemälde „Das Schlachtfeld in Flandern“, das Dix in den ersten Jahren des Faschismus 1934-36 man, steht neben anderen Werken, die, wie z. B. Lea Grundigs Radierfolge „Krieg droht!“ von 1936, auf die Konsequenzen faschistischer Politik hinweisen. In diesem Zusammenhang der Antizipation eines neuen Krieges wird Dix spätes Nachkriegsbild zu einem Bild vom kommenden Krieg, zum Vorkriegsbild. Zurück

2 Jonathan Schell: Das Schicksal der Erde, in: Peter Keckeis (Hrsg.): Wacht auf! Eure Träume sind schleht! Wo Friede beginnt. Stuttgart 1983, S. 153. Zurück

3 Vgl. Arnulf Rainer: Hiroshima, in: A. Rainer, Hiroshima Werkgruppe aus 57 Bildern. Ausst. Kat. Bochum 1982. Zurück

4 Walter Benjamin: Erfahrung und Armut, in: W. Benjamin: Gesammelte Schriften, Bd. II,1., hrsg. von R. Tiedemann und H. Schweppenhäuser. Frankfurt/M. 1977, S. 214. Zurück

5 Ebd., S. 215. Zurück

6 Ebd. Zurück

7 Ebd., S. 219. Zurück

8 Alexander und Margarethe Mitscherlich: Die Unfähigkeit zu treuem. Grundlagen kollektiven Verhaltens. München 1967, S. 9. Zurück

9  Vgl. Wolfgang Freiherr von Löhneysen: Franz Radziwill, in: Die Kunst und das schöne Heim, H. 4, Jan. 1957, S. 128.Zurück

10 Vgl. Jutta Held: Kunst und Kunstpolitik in Deutschland 1945-49. Kulturaufbau in Deutschland nach dem 2. Weltkrieg. Berlin (West) 1981, bes. S. 53 ff. Zurück

11 Werner Haftmann: Lachende Totenköpfe. Zum Radierzyklus „Der Krieg“ von Otto Dix, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 90 vom 14. April 1984. Zurück

12 Vgl. Anm.10; Zwischen Krieg und Frieden. Buch zur Ausst. Hrsg. vom Frankfurter Kunstverein. Berlin (West) 1980; Hermann Raum: Die bildenden Künste der BRD und Westberlins. Leipzig 1977. Zurück

13 Zit. nach Peter Crome: Bilder aus der Hölle, die Hiroshima hieß, in: Frankfurter Rundschau Nr. 181 vom 8. Aug.1983, S. 11.Zurück

14 Vgl. Lothar Lang: Malerei und Graphik in der DDR. Leipzig 1983, S.58 f. Zurück

15 Vgl. Rainer Fabian (Text) und Hans Christian Adam: Bilder vom Krieg.130 Jahre Kriegsfotografie – eine Anklage. Hamburg 1983, S. 264 f. Zurück

16 Vgl. Apokalypse. Ein Prinzip Hoffnung? Ernst Bloch zum 100. Geburtstag. Ausst. Kat. Hrsg. von Richard W. Gassen und Bernhard Holeczek. Wilhelm-Hack-Museum Ludwigshafen am Rhein 1985. Zurück

17 Vgl. Michael Schneider: Bomben-Existenzialismus, in: Debatte, H. 1, Sept.1984, S. 47-53. Zurück

18 Zit. n. Klaus Christian Wanninger: Predigt für Ronald Reagan. Der Präsident und die Apokalypse. Düsseldorf 1984, S. 6. Zurück

19 Vgl. Konrad Ege: I love the bomb, in: Konkret, H. 4, April 1986, S. 52-55. Zurück

20 Titel des in Anm.16 genannten Katalogs. Zurück

21 Vgl. Peter Furth: Troja hört nicht auf zu brennen. Über die Bewirtschaftung der Toten, in: Debatte, H. 2, Febr.1986, S. 6-25. Zurück

22 Michael Schneider: Das Gespenst der Apokalypse und die Lebemänner des Untergangs, in: Apokalypse (Anm. 16), S. 359. Zurück

23  Vgl. Arnulf Rainer, Hiroshima. Werkgruppe aus 57 Bildern. Ausst. Kat. Bochum 1982, s. p., Klappentext.Zurück

24 Günther Anders: Thesen zum Atomzeitalter, in: Das Argument 17, 2. Jg. Okt. 1960, S. 226-234, bes. S. 228 f. Zurück

25 Claude Lanzmann: Shoah. Düsseldorf 1986, S. 158. Zurück

Dr. Annegret Jürgens-Kirchhoff ist Kunstwissenschaftlerin, z. Zt Vertretungsprofessur an der Univ. Osnabrück.

Frauen und Frieden. Zu einigen bildlichen Konzeptionen der frühen Neuzeit

Frauen und Frieden. Zu einigen bildlichen Konzeptionen der frühen Neuzeit

von Jutta Held

Seit dem frühen 16. Jahrhundert setzt in der Bildpublizistik eine massive frauenfeindliche Kampagne ein, die vermutlich vom Patriziat der Städte in Verbindung mit den kirchlichen Instanzen getragen wird und das Ziel hat, die Frauen aus der Öffentlichkeit zu verdrängen und in der Familie dem Mann unterzuordnen. Trotz der nahezu ausschließlich negativen, warnenden Charakterisierung der Frauen, die verbreitet wird, gelang es nicht, das Frauenbild diesen misogynen Deutungsmustern der Kirche vollständig zu unterwerfen. Selbst diese theologisch legitimierten Ideologien hinsichtlich der Frau mußten immer wieder den volkstümlichen Alltagserfahrungen, in denen die Frau selbstverständlich auch eine positive Rolle spielte, Raum gewähren.

Es soll hier nur ein Bild aus dem späten Mittelalter angeführt werden, das eher diese volkstümlichen Erfahrungen spiegelt. Maria als Fürbitterin, die sogenannte Schutzmantelmadonna, gewährt Frauen und Männern, darunter auch Würdenträgern, unter ihrem Mantel Asyl, während Gottvater vom Himmel Pestpfeile auf die Menschen abschießt. Der männliche Gott ist ein ferner, unbarmherziger und kriegerischer Despot, während die Göttin (diesen Rang und Wert hatte Maria wohl zumindest im Leben des Volkes) auf der Erde steht wie die Menschen und ihnen ganz nahe ist. Sie konnte daher um Schutz vor der männlichen Gewalt angegangen werden.

In der Arbeitsteilung der Geschlechter war der Frau auf der Grundlage ihrer Sexualität die Rolle zugewachsen, Krieg und Krankheit abzuwehren oder deren Folgen zu mildern. Auf unserem Bild wird diese schützende Funktion der Frau deutlich in Opposition gesehen zu der männlichen Herrschaft, die Unheil verbreitet. Der theologischen Deutung der Herrschaft, die diese im Bilde Gottvaters als Summum bonum legitimiert, wird hier eindringlich, nahezu blasphemisch widersprochen.

Es mischen sich in diesem Bild vermutlich alte Erfahrungen, die Rolle der Frau betreffend, mit neuen gesellschaftlichen Erfordernissen und Wünschen nach Frieden und Sicherheit, die auf die Frau projiziert werden.

In dem Maße, wie die Märkte und Städte sich entwickelten, die Höfe zum Schutz des Handels sich das Gewaltmonopol aneigneten, wurden neue soziale Verkehrsformen erforderlich. Vor allem an den italienischen Höfen wurden erste Modelle eines friedlichen sozialen Umgangs entwickelt. Gleichzeitig und in Zusammenhang mit diesen neuen Verkehrsformen auf individueller Ebene werden Alternativen zu den gewaltsamen, kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den Herrschergeschlechtern erprobt. Isabella d'Este, die in Mantua mit ihrem Gemahl Alfonso Gonzaga regierte, eine Frau also, wird für ihre diplomatischen Künste gerühmt, die der Kriegskunst ihres Mannes gleichwertig seien.

Eine Friedenskultur wird ausgebildet, die sowohl den zwischenmenschlichen Umgang der Individuen untereinander bestimmen soll als auch – ansatzweise – auf die politischen Auseinandersetzungen ausgedehnt wird. Diese weltliche Friedenskultur emanzipiert sich zugleich von der kirchlichen Ideologie, die bislang die nahezu einzige sinngebende Instanz, auch für weltliche Belange, gewesen war. So wird dies utopische Reich des Friedens nicht länger der Maria unterstellt, sondern der Venus.

Der Parnaß von Mantegna, im Auftrage der Isabella d'Este gemalt, ist ein Beispiel. Venus ist im Begriff, Mars, den Kriegsgott, auf ihr Bett zu ziehen, d. h. zu entwaffnen. Die Musen Apoll, Merkur und Pegasus wohnen voll Freude der Verbindung zwischen Mars und Venus bei. Eine Tochter, Harmonia, wird aus der Vermählung hervorgehen. Der einzige, der an diesem Reich des Friedens keinen Gefallen findet, ist Hephaistos, der Ehemann der Venus und Schmied, der den Göttern ihre Waffen herstellte – modern gesprochen der Repräsentant der Rüstungsindustrie. Er wendet sich in aufgebrachter Geste gegen die Verbindung von Mars und Venus, bei der er betrogen wird. Die Frau bietet hier nicht nur elementaren Schutz wie auf dem Bild der Maria. Ihr wird gleichzeitig die Herrschaft in einem autonomen Reich das Friedens zuerkannt, das durch eigene Gesetze bestimmt wird: die Liebe herrscht hier, und nur unter ihrem Regiment können sich neue menschliche Fähigkeiten entfalten, Dichtung, Gesang, Tanz und Warenproduktion und -verkehr. In der französischen Salonkultur wird die Friedenserziehung durch die Frau, die von den italienischen Höfen ihren Ausgang nahm, fortgesetzt. Die Frau übernahm auch hier die Führung bei der Kultivierung des sozialen Umgangs der Individuen untereinander. Die galante Liebe, die in diesen Salons zu Beginn des 17. Jahrhunderts konzipiert wird, ist das Modell dieser neuen Kommunikationsform. Die Minnesklaverei, einst verpönt und diffamiert, wird nun zum Ideal des honnete homme. Den kriegerischen Männern, deren Erziehung nach Castigliones Vorstellung vom Hofmann noch der Notwendigkeit der Selbstverteidigung entsprach, wird hier von den Frauen die Friedensfähigkeit beigebracht. Statt Kampfstrategien zu lernen, wird in den Salons gegenseitige Rücksichtnahme eingebt, die Relativierung des eigenen, individuellen Standpunktes, um dem des Partners die gleiche Geltung zu gewähren. Eine neue, psychologisch wirksame Macht der Frau über den Mann wird nunmehr gesellschaftlich akzeptiert. Damit wird den Frauen, zunächst nur denen des Adels und der oberen Schichten der Bourgeoisie, ein neuer Aktionsrahmen eingeräumt, den sie zu nutzen wußten, um auch ihre geistige Emanzipation voranzutreiben.

Diese Salonkultur blieb in Opposition zum königlichen Hof. Noch die arkadische Welt, die Watteau in seinen Bildern galanter und natürlicher Liebe entwarf, wo der Frau gehuldigt wird, negieren Versailles, das bereits vor dem Tode Ludwigs XIV. als dominierendes, kriegführendes und unterdrückendes Machtzentrum heftig kritisiert wurde. Watteaus Liebesfeste finden im Freien statt, in einer von Menschenhand scheinbar unberührten Landschaft, fern von den gestutzten Gärten des Hofes. Die Unnatur der Versailler Landschaftsgestaltung wurde zum Symbol für bedrückende Herrschaft, deren Legitimität immer weniger einsichtig zu machen war. Im späten 18. Jahrhundert wurden, vor allem im Bürgertum, die Arbeitsteilungen zwischen den Geschlechtern in dem Maße ideologisch abgesichert, wie die Frau beanspruchen konnte, als gleichwertige Person neben dem Manne anerkannt zu werden. Diese Gleichwertigkeit von Mann und Frau war von den Aufklärern propagiert worden. Z. B. wird in Diderots Enzyklopädie argumentiert, daß die Frau dem Mann moralisch und intellektuell gleichwertig sei und daher die gleichen natürlichen Rechte beanspruchen könne.

Gleichzeitig begann jedoch das Bürgertum des späten 18. Jahrhunderts, die unterschiedlichen Rollenzuweisungen an Mann und Frau zu zementieren und zu verteidigen. David hat in seinem Bild von 1784 „Der Schwur der Horatier“ diese strikt getrennten Kompetenzzuweisungen scharf erkannt und antithetisch dargestellt. Die folgende Szene hat der Maler gewählt: Die drei Söhne des Horatius schwören ihrem Vater, das Vaterland, Rom, zu verteidigen. Es ging um die Vorherrschaft von Rom oder Alba Longa. Um weiteres Blutvergießen im Kampf beider Städte gegeneinander zu vermeiden, sollen je drei Vertreter aus den beiden Städten gegeneinander kämpfen. Die drei Horatier werden ausgewählt, um gegen die Curatier aus Alba Longa zu kämpfen. Dies stellt einen tragischen Konflikt dar, weil Sabina, die Schwester der Curatier, mit einem der Horatier verheiratet ist, und Camilla, die Schwester der Horatier, mit einem der Curatier verlobt ist.

Interessant ist nun, wie David diesen Konflikt dargestellt hat. Die Trennungen, die er schafft, sind sehr viel strikter und ausschließlicher als je zuvor. Zwar war auch schon Mantegnas Bild antithetisch angelegt: Nicht zufällig ist jedoch, daß dieser Widerspruch zwischen männlichem kriegerischen und weiblichem friedvollen Reich keineswegs so systematisch rigoros und reduktionistisch durchgeführt ist wie bei David. Im Reich der Venus, das nicht nur persönliche Liebesbeziehungen, sondern Kultur im weiteren Sinne umfaßt, darunter Tanz, Musik, Dichtung und Handel, sind durchaus auch Männer tätig. Das Friedensreich der Venus ist noch kein weibliches Ghetto.

David hat in seinem Bild nicht einmal zwei unterschiedliche Organisationsformen, also den Staat links und die Familie rechts konfrontiert. Die trauernden Frauen hüten nicht etwa, wie es das 18. Jahrhundert mit zahllosen Bildern ihnen vorexerzierte, liebevoll die Kinder, sondern überlassen den kleinen Jungen einer Amme. Außerdem zeigt David wie dieser ihrer Obhut bereits entgleitet: Mit seinem glühenden Blick ist er schon bei den Männern und ihrem Vaterlandsschwur. Die „Stimme der Natur“ setzt sich bereits gegen den Einfluß der Frauen durch. Die Frauen werden also nicht primär bei einer anderen Aufgabe gezeigt, die der der Männer widerspricht. Von dieser ihrer anders orientierten Funktion wird weitgehend abstrahiert. Unabhängig von ihr, also als Naturnotwendigkeit, vertreten sie ein anderes emotionales und moralisches Wertesystem. Kein Block, keine Geste verbindet die Frauen und die Kriegergruppe. Die Frauen erscheinen selbstzentriert, ohne Bezugspunkt außerhalb ihrer selbst. Hier sind sicher die Anfänge biologistischer Argumentationen greifbar, mit denen sich die Männer im 19. Jahrhundert, zunehmend aggressiver, gegen die Frauenemanzipation zur Wehr setzten: Weibliche Weichheit, weibliches Gefühl werden männlicher Härte und Vernunft konfrontiert, ihre gegensätzlich aufgefaßten Naturen werden zu unüberbrückbaren Schranken zwischen den Geschlechtern hochstilisiert. Bei Davids antithetischer Darstellungsweise überwiegt sicher noch der Gedanke an zwei mögliche Alternativen (also an Wahlfreiheit), an die alte Antithese von Krieg und Frieden. Durch den schärferen Geschlechterantagonismus und die rigide Reduktion der Szene auf diesen einen Gegensatz stellt David zugleich unerbittlich klar, daß es sich um ein Entweder – Oder handelt. Durch seine antithetische Komposition hat David die friedensorientierte Haltung der Frauen in dialektischen Bezug zu den entgegengesetzten Interessen der kriegführenden Männer gesetzt. Beide Welten widerlegen oder relativieren sich gegenseitig. Damit hat David die Frauen zwar nicht als „Akteure“ der Geschichte gesehen und akzeptiert. Sie bleiben vielmehr leidend und passiv. Dennoch erscheinen sie objektiv als ein Gegenargument gegen den Kampfesmut der Männer. David nimmt es ernst genug, um es auf seiner politischen Bühne zu repräsentieren, auf der er keine Nebenszene und keine Nebengedanken duldet.

In der Französischen Revolution wurden durch die Beteiligung der Frauen am revolutionären Prozeß die alten Festlegungen zwischen den Geschlechtern real in Frage gestellt. Die Frauen politisierten ihre alte Rolle als Schützerin des Lebens. Mit seinem Bild der Sabinerinnen hat David das handelnde Eingreifen der Frauen in die Politik reflektiert, und er geht in diesem Punkt über seinen „Schwur der Horatier“ hinaus. Dargestellt ist nicht, wie in der Bildtradition üblich, der „Raub der Sabinerinnen“. Dies Thema galt gemeinhin als Sinnbild für Hochzeiten und war daher für eine Politisierung in Davids Sinne ungeeignet. Der Künstler hat statt dessen die Fortsetzung der Geschichte drei Jahre später als Sujet gewählt. Die Sabiner unternehmen einen Rachefeldzug gegen Rom. Die Sabinerinnen, längst glücklich mit ihren Römern verheiratet und Mütter geworden, treten zwischen die kriegfahrenden Gruppen der Römer und Sabiner. In der Mitte ist Hersilia dargestellt, die Frau des Romulus, die diesen von dem Sabiner Tatius trennt. David geht wieder von den bekannten Rollenfixierungen aus: Der Mann ist auf Kriegsführung aus, die Frau für den Frieden zuständig. Diesmal ist es jedoch kein statischer Antagonismus wie bei den Horatiern, wo sich die Frauen leidend mit ihrer Rolle abfanden, sondern sie greifen handelnd ein. Sie werden auch nicht, wie bei den Horatiern, den kriegführenden Männern konfrontiert, denen gegenüber sie von vornherein unterlegen sind, sondern sie stehen – moralisch überlegen – zwischen den kriegführenden Parteien und vertreten das gemeinsame gesellschaftliche Interesse. David selbst wollte Hersilia als die mere patrie (die Mutter Vaterland – eine paradoxe Formulierung!) gedeutet wissen, die sich zwischen die einander bekämpfenden Parteien stürzt, die einander auszulöschen drohen. Diese Deutung – auch mit ihrer Hoffnung auf die Frauen – ist biografisch verständlich, bedenkt man, daß David sein Bild nach der Niederlage der Jakobiner gemalt hat, nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis, in das er als aktiver Anhänger der Jakobiner geworfen wurde.

Auf diese Rolle der Friedensstiftung, die uns historisch zugewachsen ist und die zur Zeit der französischen Revolution zum erstenmal politisch zugespitzt gesehen worden ist, besinnen wir Frauen uns heute mit besonderen Gründen. Wie wir wissen, hat das Bild der Horatier die reale Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts zutreffender antizipiert. Die Sabinerinnen sind bis heute eine Utopie, deren Realisierung noch aussteht.

Prof. Dr. Jutta Held lehrt Kunstgeschichte an der Universität Osnabrück.

„Du solt niemandt tödten“ – Darstellungen des Krieges in der frühen Neuzeit

„Du solt niemandt tödten“ – Darstellungen des Krieges in der frühen Neuzeit

Ein Beitrag der Kunstgeschichte zur Friedenserziehung

von Norbert Schneider

Schon für das Mittelalter, besonders aber für die frühe Neuzeit, als die ersten großen Heere eingerichtet und Innovationen in der Waffentechnik, vor allem im Geschützwesen, entwickelt wurden, lassen sich Friedensbewegungen nachweisen, zu denen sich auch nicht wenige Künstler bekannten. Wenn heute Franz Alt mit seiner Berufung auf die Bergpredigt einer primär vom christlichen Glauben geprägten Fraktion der Friedensbewegung eine ethische Argumentation anbietet, so kann man zeigen, daß derlei moralische Ideale schon von religiösen Gemeinschaften des Mittelalters wie den Bogumilen, den Waldensern und den Brüdern vom gemeinsamen Leben in radikaler Form gegen eine kriegslüsterne Obrigkeit gepredigt wurden. Neben diesen religiösen pazifistischen Bewegungen fanden auch säkulare, weltliche Friedensideen wachsende Verbreitung, wie sie, gestützt auf das Toleranzprinzip mit seiner Forderung nach friedlicher Koexistenz, im Zeitalter der Renaissance die Humanisten und später, im 18. Jahrhundert, die Aufklärer propagierten.

Bei Immanuel Kant finden wir sogar schon politisch-ökonomische Argumente: Er macht auf die ständig wachsenden Schuldenlasten des Staates aufmerksam, „deren Tilgung unabsehlich wird“, und weist auf Auswirkungen einer jeden Staatserschütterung auf alle anderen Staaten hin, mit denen „unser Weltteil“ „durch seine Gewerbe“ verkettet sei. „Man muß gestehen“, sagt Kant, „daß die größten Übel, welche gesittete Völker drücken, uns vom Kriege, und zwar nicht so sehr von dem, der wirklich oder gewesen ist, als von der nie nachlassenden und sogar unaufhörlich vermehrten Zurüstung zum künftigen, zugezogen werden. Hierzu werden alle Kräfte des Staates, alle Früchte seiner Kultur, die zu einer noch größeren Kultur gebraucht werden könnten, verwandt; der Freiheit wird an so vielen Orten Abbruch getan, und die mütterliche Vorsorge des Staates für einzelne Glieder in eine unerbittliche Härte der Forderungen verwandelt, indes diese doch auch durch die Besorgnis äußerer Gefahr gerechtfertigt wird.“

Kant macht also schon auf den Zusammenhang von Aufrüstung und Abbau von Sozialleistungen, Restriktionen auf dem Kultursektor und Zerstörung von vom Volk Beschaffenem Kulturgut aufmerksam, Aspekte, die auch heute noch vorrangig genannt werden müssen. Er erkennt hellsichtig und prangert es eindringlich an, daß der Staat mit seinen Aufrüstungsmaßnahmen die Kultur tendenziell vernichtet, die er doch eigentlich zu fördern hätte.

Mit Kant habe ich einen Friedenstheoretiker zitiert, dessen Argumentationen uns schon sehr modern vorkommen. Er steht, wie bereits angedeutet, in der Tradition der friedensethischen Theorien, die sich im 15. und 16. Jahrhundert ankündigten. Es war dies die Epoche, in der sich die modernen Nationalstaaten herausbildeten und damit auch nationale ökonomische Systeme, die von den absolutistischen Herrschern protegiert wurden. Eine Folge der aufkommenden divergierenden nationalen ökonomischen Interessen im Zeichen des expansiven Handelskapitals ist der Kampf um die politische Hegemonie, der immer wieder, die Ebene der Diplomatie verlassend, in kriegerische Konflikte riesigen Ausmaßes mündet. Das Studium der Entstehung der modernen Staaten lehrt eindringlich, daß die Profitinteressen immer wieder Anlaß und Ursache für das Anfachen von Kriegen gewesen sind, ein Prozeß, der bis heute anhält. Im 16. Jahrhundert wuchsen in gigantischem Maße die Kosten für die Planung und Führung von Kriegen. Im vorrevolutionären Frankreich machten die Staatsausgaben für militärische Einrichtungen zwei Drittel des Gesamtetats aus. Perry Anderson hat in seinem Buch „Die Entstehung des absolutistischen Staates“ (Frankfurt 1979, edition suhrkamp 950, S. 40) festgestellt: „Die permanente Virtualität eines internationalen Konflikts kennzeichnet das ganze Klima des Absolutismus. Der Friede war sozusagen meteorologische Ausnahme in den Jahrhunderten seiner Herrschaft in Europa. Man hat errechnet, daß es im ganzen 16. Jahrhundert nur 25 Jahre ohne militärische Operationen in Europa gab, während im 17. Jahrhundert nur sieben Jahre ohne entscheidende Kriege zwischen den Staaten vergingen. Das Kapital blieb davon unangefochten; im Gegenteil: ihm waren die Zustände … von Nutzen.“ (Thomas Hobbes schreibt in „De cive“ (2,2): „Suche den Frieden, wo du ihn haben kannst wo du ihn – in einer deinen Interessen angemessenen Weise – nicht haben kannst, rüste zum Krieg.“)

Eine affirmative Darstellung der militärischen Innovationen, einen Reflex des neuen Heerwesens bringt Altdorfers berühmte „Alexanderschlacht“ von 1529, gemalt für Herzog Wilhelm IV. von Bayern und seine Gemahlin Jacobaea von Baden. Bestimmt war dies Bild für die Residenz des Fürsten, neben einer Reihe an derer Kriegsbilder von Jörg Breu, Melchior Feselen, Ludwig Refinger u. a. Auffallend ist die Fülle von Figuren: Reiterscharen und Fußvolk in strategischer Anordnung, von einem hohen Blickpunkt aus gesehen, so daß man genau feststellen kann, wie die taktischen Operationen verlaufen. Auf der vom oberen Bildrand herabhängenden Tafel ist exakt verzeichnet, wieviel Perser Alexanders Heere töteten: 100.000 Mann zu Fuß und 10.000 Reiter. König Darius habe sich, so steht dort weiter zu lesen, mit mehr als 1.000 Reitern durch die Flucht retten können; seine Mutter, seine Gattin und seine Kinder hingegen seien gefangengenommen worden. Das Interesse an der Registrierung der Zahlen ist bemerkenswert groß. Mit just eben solchen Problemen befaßten sich die Fürsten des 16. Jahrhunderts, die Berufsheere von stattlicher Stärke einführten (Philipp II. von Spanien verfügte über 60.000 Mann, ein Jahrhundert später hat Ludwig XIV. von Frankreich 300.000 Krieger unter Sold.). Und so ist Altdorfers Bild, das zu vielen metaphysischen Kommentaren eingeladen hat, etwa hinsichtlich der Parallelität des kosmischen Geschehens am Himmel, der Wolkenformation, und dem Wogen der Schlacht unten, zuvörderst als ein historisches Dokument fr die Revolutionierung des Militärwesens in der frühen Neuzeit zu werten. Es enthält auch durchaus einen aktuellen Zeitbezug von der Intention des Auftraggebers und des Malers her, denn die Schlacht bei Issus (333 v. Chr.) ist typologisch bezogen auf den Kampf des christlichen Abendlandes gegen die heidnischen Türken (die hier mit den Persern gleichgesetzt werden ).

Solchen eher apologetischen, jedenfalls nicht kritischen Darstellungen stehen bildliche Äußerungen von dem Humanismus nahestehenden Künstlern wie Hans Baldung Grien (1476-1545) gegenüber, die die Brutalität der von den Fürsten angeworbenen Soldateska moralisch verurteilen. In einem Holzschnitt zeigt Baldung Grien zwei mit Schwertern sich bekämpfende Landsknechte. Über der Bildrahmung steht mahnend die Inschrift: „Das fünfft gebott ist: Du solt niemandt tödten.“ Unzweifelhaft eine Forderung, die Distanz zu einer wie auch immer gearteten Parteinahme in den militärischen Konflikten der Zeit sucht. Der „Dienst an der Waffe“, um die neudeutsche Sprachregelung unserer Regierung zu zitieren, wird unter Hinweis auf die Bibel als Verbrechen und Sünde wider Gott gesehen. Diese Position steht in Einklang mit der philosophischen Haltung des Humanismus etwa eines Erasmus von Rotterdam (1466-1536), der angesichts der kriegerischen Auseinandersetzungen des 16. Jahrhunderts immer wieder dazu aufrief, Toleranz zu üben und auf den Einsatz von Waffen zu verzichten. So wie auch heute die Friedensforschung ein sozialpsychologisches Programm zur Aufdeckung der sozialen Determinanten individuellen Aggressionsverhaltens entwickelt, so haben sich auch Erasmus und andere Humanisten nicht von ungefähr mit seelischen Dispositionen und mit der Skala der Affekte beschäftigt, um so zur Grundlegung eines gesellschaftlich verbindlichen moralischen Systems zu gelangen, das Friedfertigkeit und Brüderlichkeit ermöglicht. Im Gegensatz zu Luther, der mit seiner rigiden Erbsündentheorie den Menschen schlechthin zum Sünder erklärte, den nur die Gnade Gottes erlösen kann, hielt Erasmus zeitlebens an der Lehre vom freien Willen fest. Führte Luthers Lehre unweigerlich zu einer Anerkennung bestehender Gewalten und Gewaltsysteme, zu einer fatalistischen Haltung gegenüber dem Status Quo, so vertrat Erasmus die Auffassung, daß man sich. aus diesen Verhältnissen heraushalten und moralischen Widerpart leisten solle.

Anders Luther, der eine Schrift verfaßt hat, ob Kriegsleute auch seligen Standes sein können. Darin findet sich das Diktum: „Denn weil das Schwert ist von Gott eingesetzt, die Bösen zu strafen, die Frommen zu schützen und Friede zu handhaben, so ist's auch gewaltiglich genug bewiesen, daß Kriege und Würgen von Gott eingesetzt sind und was Kriegslauf und Kriegsrecht mitbringet. Was ist Krieg anders, denn Unrecht und Böses strafen? Warum kriegt man, denn daß man Friede und Gehorsam haben will?“ Dieser auch noch bei den heutigen Regierungen beliebten Argumentation, daß Aufrüsten und letztlich Kriegführen nur dem Frieden dient, steht Erasmus Mahnung an den Fürsten gegenüber: Ein guter Fürst sollte von sich aus überhaupt keinen Krieg beginnen und alles zu vermeiden suchen, was dazu führen könnte. Erasmus erinnert den Fürsten an die moralischen Grundlagen seines politischen Handelns, die im christlichen Glauben verankert sein müßten. Gegenüber kirchlicher Pervertierung christlicher Lehre mit ihrer Rechtfertigung des Krieges (z. B. bei Thomas von Aquin) insistiert Erasmus, der sich auf Argumente des Stoizismus stützt, darauf, daß sich der Fürst am Ideal des friedliebenden, vernunftgeleiteten Menschen orientieren und von dem Negativbild des kriegslüsternen Despoten, den er mit einer „wilden Bestie“ vergleicht, abheben müsse. Auch ökonomische Argumente läßt Erasmus – wie später Kant – einfließen: er macht eindrucksvoll klar, welche Kosten und Folgekosten Aufrüstung und – Krieg verursachen. Schließlich malt er die Schrecken und Leiden aus, die die Bevölkerung zu erleiden habe.

Mit den Bildern aus der Zeit der Reformation beginnt eine Tradition von Darstellungen, die die Leiden der Bevölkerung unter der Soldateska vor Augen führt. Die Künstler werden zu Anwälten der einfachen Menschen, die den Machenschaften der Großen, ihren politischen Interessen und Entscheidungen wehrlos ausgeliefert

Brueghels Bild „Der betlehemische Kindermord“ (1566/67, Wien, Kunsthistorisches Museum, 111×160 cm) erscheint nicht zufällig auf den ersten Blick als Idylle. Auf den zweiten entdeckt man, daß in die friedliche Winterlandschaft der Terror eingedrungen ist; die Schergen des Herodes überfallen das Dorf, metzeln die ihren Müttern entrissenen Kinder nieder, dringen plündernd in die Häuser ein. Im Mittelpunkt eine Phalanx Berittener, die die Straße nach hinten abriegelt, um ein Entkommen zu verhindern. Eindeutig handelt es sich bei diesem Bild um eine Anspielung auf die Militärdiktatur des Eisernen Herzogs Alba, der von Philipp II. mit einem Eliteheer von 10.000 spanischen Söldnern, die in Italien in Garnison lagen, zur Niederschlagung des Aufstands der Volksmassen gegen die Fremdherrschaft in die Niederlande entsandt worden war. Ziel der blutigen Aktion, bei der über 8.000 Menschen hingerichtet wurden (darunter nicht nur Adlige wie Graf Egmont und Admiral Hoorn, sondern auch Vertreter des armen Volkes), war es, durch Konfiskation so viel als nur irgend möglich aus den wirtschaftlichen Erträgen des prosperierenden Landes abzuschöpfen. Mit verschärften steuerlichen Belastungen wollte man das immer mehr dem Bankrott zuneigende ökonomische System des feudalabsolutistischen Spanien sanieren. Wie nahezu alle Kriege, hatte auch dieser ökonomische Ursachen. Wie heute, sollten auch damals wirtschaftliche Krisen mit brutalen militärischen Mitteln gelöst werden. Die Kosten hatte wie zu allen Zeiten das Volk zu tragen. Wahrscheinlich im selben Zeitraum, während der spanischen Okkupation, entstand Brueghels Bild „Der Triumph des Todes“ (Madrid, Prado, 117×162 cm): ein gespenstisches Inferno, ins Metaphysisch-Allegorische übersetzter Reflex der modernen Kriegsmaschinerie mit ihren strategisch formierten Heeren, die alles unbarmherzig niederwalzen und vernichten. Es gibt kein Entrinnen für die Lebenden. Skelette, Symbole des Todes, locken sie in eine riesige Falle. Andere werden wegen ihrer Zugehörigkeit zur Partei der Gegenseite hingerichtet. Alle gesellschaftlichen Schichten und Stände ereilt der Tod. Da hilft kein individuelles Sich-zur-Wehr-Setzen wie bei dem jungen donquichottehaft handelnden Edelmann vorn, der, vom Kartentisch aufspringend, zum Schwert greift. Brueghels Bild knüpft an die Tradition des spätmittelalterlichen Totentanzes an, wonach der Tod als die Instanz erscheint, vor der alle Menschen gleich sind und alle sozialen Privilegien hinfällig werden. So lassen sich zweifellos die Figuren im Vordergrund deuten: der Kaiser, der Kardinal, der Edelmann am Spieltisch u. a. Aber das Bild hat noch eine andere semantische Komponente, es schließt den von Erasmus her bekannten eindringlichen Appell an den Fürsten ein, Kriege unter allen Umständen zu vermeiden, weil sie das Volk und nicht zuletzt sie selber in tiefes Elend stürzen. Der Kaiser vorn links – kompositorisches Gegenstück zu dem tändelnden Liebespaar rechts, das sich um das Kriegswüten gar nicht zu scheren, es nicht einmal wahrzunehmen scheint – hat Brueghel, wie mir scheint, noch eine besondere Bedeutung über die semantische Dimension der Totentanzikonographie hinaus. Nach Dantes politischem Traktat „De monarchia“ (1310) repräsentiert er eigentlich die internationale Friedensordnung, die durch den Krieg, der hier freilich als völlig anonymes, kausal nicht erklärbares Geschehen erscheint, außer Kraft gesetzt wird. Der Kaiser fungiert bei Dante als Identifikationsfigur des internationalen Staatswesens. Seine Aufgabe ist es, den Frieden zu gewährleisten und den einzelnen Freiheit zu ermöglichen. Er wird also nicht als tyrannischer Herrscher aufgefaßt, der sein Volk unterdrückt, sondern, im Gegenteil, in seiner Person konzentriert sich sinnbildlich das Postulat, das Ideal der überstaatlichen Friedensordnung. Im Grunde genommen schimmert in Dantes utopischem Entwurf schon der Gedanke eines republikanisch-egalitär organisierten Staatswesens hindurch. Dies muß man m. E. bei der Deutung von Brueghels Kaiser mit in Betracht ziehen. Die Heere des Todes – hier eindeutige Anspielung auf die Invasion in den Niederlanden -, das blutige Kriegstreiben ist für den Künstler ein Verstoß gegen die Christi ich begründete natürliche Ordnung des Weltfriedens. Der gestürzte Kaiser, übrigens in unmittelbarer motivischer Nachbarschaft zum Rad des schaurigen Karrens mit den Totenköpfen, das an die Rota Fortunae, an das Rad der Fortuna (vgl. die Darstellung des Petrarca-Meisters) erinnert, indiziert, daß die Welt aus den Fugen ist, daß sie eine verkehrte Welt, eine widersinnige Ordnung geworden ist. Ich möchte noch kurz die Aufmerksamkeit auf das Motiv des Liebespaares lenken. Unverkennbar hat es neben dem tragischen Aspekt der Illusion, vom Kriegsgeschehen nicht berührt zu werden, komische Züge. Der sehnsuchtsvoll schmachtende, in die Saiten seiner Laute greifende Troubadour wird vom Künstler gnadenlos karikiert. Ihn äfft der siedelnde Tod höhnisch nach, ihm sein bevorstehendes Ende ankündigend. Brueghel hat für das Liebespaar kein Verständnis. Es verhält sich angesichts der drohenden Gefahr närrisch; und daß es sich hier um eine Narrensatire handelt, wird deutlich an der Figur des Narren mit dem rotweißen Schachbrettmuster, der sich ängstlich unter dem Tisch verkriecht. Freilich: so negativ der Künstler auch das Liebespaar aus der Perspektive der Narren Satire intendiert haben mag, in derer Kontext ja auch das Thema der verkehrten Welt gehört (siehe den Kaiser links): es hat doch noch einen sich aus seiner objektiven tragischen Situation ergebenden positiven Gehalt. Denn es repräsentiert selbst noch in der Karikatur das individuelle Glücksverlangen, das Bedürfnis nach Harmonie – Ansprüche, die von einer Objektivistischen Warte aus gesehen in Anbetracht des Faktischen, angesichts der Brutalität des Krieges als absurd und verrückt erscheinen. Nicht von ungefähr das Musikthema: in der emblematischen Bildsprache des 16. und 17. Jh. bezeichnet es über den trivialen Attributcharakter für das Liebespaar hinaus allgemein die harmonia mundi oder, politisch dimensioniert, die Eintracht der Völker und innerstaatliche Eintracht der Stände und sozialen Gruppen, also den Gedanken des Friedens auf allen Ebenen, der des Gemeinwesens und der der Individuen.

Warum, so wird man sich fragen, ist es sinnvoll, sich mit derlei historisch doch weit zurückliegenden Motiven zu beschäftigen? Ich denke, daß gerade auch im Rahmen einer allgemeinen Friedenserziehung die Didaktik einer sozialhistorisch verstandenen Kunstgeschichte eine wichtige Funktion hat, weil sie einen Beitrag zur Rekonstruktion der Vorgeschichte moderner Erscheinungsformen der Aufrüstung und Kriegsführung leisten kann. Im Kunstunterricht könnte an Bildern, die wegen ihrer Erlebniskomponente geschichtliche Vorgänge besonders gefühlseindringlich wahrnehmen lassen, gezeigt werden, daß schon in der Vergangenheit Kriege und alle Vorbereitungen dazu nicht fatalistisch hingenommen wurden, sondern in der Visualisierung des Schreckens oft utopische Gegenmodelle entwickelt wurden, in denen eine emphatische Friedenssehnsucht zum Ausdruck kommt.

Angesichts der reaktionären, mindestens zynisch gewaltverherrlichenden Bilderflut der Massenmedien – und das ist im wesentlichen der visuelle Rezeptionshorizont der Schüler -, angesichts aber auch im Zeichen der „Wende“ zunehmend irrationaler werdenden Tendenzen der Kunsterziehung, welche die Werke der Kunst entpolitisieren wollen, kann die historisch-kritische Aneignung solcher Bilder ein wichtiges pädagogisches Korrektiv sein und den Aufbau oder die Festigung einer politischen Moral unterstützen, auf die die Friedensbewegung, will sie nicht an Kraft verlieren, schwerlich verzichten kann.

Dr. Norbert Schneider lehrt Kunstgeschichte an der Universität Münster.

Wie friedlich ist die Soziologie? (1)

Wie friedlich ist die Soziologie? (1)

Die militärische Indienstnahme der Soziologie in den USA zwischen dem Zweiten Weltkrieg und dem Vietnamkrieg (1945-1965)

von Heinrich W. Ahlemeyer

Vorbemerkung

In der Titelfrage klingt bereits durch, daß die Soziologie womöglich nicht nur eine Friedenswissenschaft ist, als die sie hier und da wahrgenommen werden mag, eher vielleicht von ihrer Geschichte und Funktion her eine Befriedungswissenschaft entstanden im 19. Jahrhundert zur Befriedung des immer selbstbewußter und auch politisch immer einflußreicher werdenden Industrieproletariats für das Bürgertum.

Aber eine direkt militärisch-aggressive Ausprägung der Soziologie, eine kriegerische Soziologie gar – ist die vorstellbar? Hat es die gegeben? Und gibt es sie?

Ich möchte heute am Beispiel der amerikanischen Soziologie für den Zeitraum zwischen Zweitem Weltkrieg und Vietnamkrieg nicht nur nachweisen, daß es eine solche unfriedliche Soziologie gegeben hat und gibt, sondern zugleich auch eine Anschauung davon vermitteln, wie diese Soziologie militärisch vernutzt worden ist, worin ihre zum Teil verzichtbaren Funktionen für das Militär bestanden und bestehen. Zugleich möchte ich wenigstens andeutend skizzieren, welche Konsequenzen die militärische Indienstnahme für Selbstverständnis und Beschaffenheit der Disziplin hatte.

Was ist Friedlichkeit?

Welche Kriterien werden zugrunde gelegt, um Aussagen über die Friedlichkeit oder Unfriedlichkeit eines Tuns oder einer Institution zu machen? Kann nicht auch die Mitarbeit im militärischen System friedensstiftend sein? Und dienen nicht auch die Bundeswehr und die neuen Erstschlagwaffen Pershing II und Cruise Missile ausschließlich der Friedenserhaltung?

Nein. Diese Verdrehung der Wirklichkeit dürfen wir nicht mitmachen. Dieses Auf-den-Kopf-Stellen der Wahrheit. Für mich jedenfalls ist das Militär wesensmäßig ein Gewaltmittel, das für den Frieden so funktional ist wie Schnaps gegen Alkoholismus. Das Militär als die Organisation von gezielter Gewalt gegen Menschen ist eine Absage an alle nicht-gewaltsamen, friedlichen Konfliktlösungen qua Diskussion, Verhandlungen, Ausgleich und Kompromiß.

Deshalb rechtfertigt für mich die Mitwirkung an der Planung, Androhung, Optimierung und dem Einsatz von militärischer Gewalt das Urteil der Unfriedlichkeit.

Freilich stößt das Unterfangen, die militärische Indienstnahme der Soziologie zu untersuchen, rasch auf Schwierigkeiten. Sie sind im Gegenstand selbst begründet. Natürlich stellt sich die Zuarbeit von Soziologen für das Militär nur zum geringsten Teil in frei zugänglicher Literatur dar. Der größte Teil der Quellen, die hier aussagekräftig wären, entsteht und verbleibt im militärischen System als interne Dienstvorlage, geheimes Memorandum oder klassifiziertes Briefing-Papier. Einem Soziologen außerhalb des militärischen Systems ist es so gut wie unmöglich, solche Dokumente einzusehen, die strikten Zugangs- und Geheimhaltungsregeln unterliegen. Darüber hinaus schlägt sich nur ein sehr kleiner Teil der Zusammenarbeit zwischen Militärs und Soziologen schriftlich nieder. Die folgenden Anmerkungen stehen folglich unter der klaren Einschränkung, daß sie nur auf öffentlich zugängliche Quellen zurückgreifen konnten und daher nur einen Ausschnitt des Gesamtbildes erfassen.

Institutionelle Voraussetzungen

Zu Beginn einen kurzen Blick auf die institutionellen Voraussetzungen für die Durchführung soziologischer Forschungen im militärischen Bereich.

Durch den National Security Act wurde 1947 beim Departement of Defense (DOD) das Research and Development Board geschaffen, das ein Committee on Human Resources beinhaltete, welches sich den vier Feldern Psychophysiology and Human Engineering, Personnel and Training, Manpower und Human Relations and Morale widmete. Für die Soziologie wurde insbesondere der vierte Arbeitsbereich von Bedeutung.

Wie nun haben die einzelnen Teilstreitkräfte auf die zunehmenden Anforderungen einer Verwissenschaftlichung reagiert? Die Air Force gründete 1949 drei Forschungszentren für Verhaltenswissenschaften, nämlich:

  • das Human Resources Research Center (HRRC) des Air Training Command an der Lackland Air Force Base in Texas – das Human Resources Research Institute (HRRI) an der Maxwell Air Force Base in Alabama, dem Raymond L. Bowers als Soziologe vorstand – das Human Resources Research Laboratory (HRRL) des Headquaters Command, Bolling Air Force Base, D.C. Zusätzlich standen der Air Force an sozialwissenschaftlichen Einrichtungen zur Verfügung die
  • RAND Corporation in Santa Monica (LA), dessen social science department der Soziologe Hans Speier als Direktor vorstand, und das
  • Air Force Office of Scientific Research (AFOSR), dessen Behavioral Sciences Division der Soziologe Charles E. Hutchinson leitete.

(Am Rande sei noch erwähnt, das die Nachfolge des HRRI 1958 das Office for Social Science Programs, Randolph, AFB Texas angetreten hat.)

Die Armee gründete nicht wie die Air Force eigene sozialwissenschaftliche Forschungsinstitute, sondern schloß Vertragsbeziehungen mit universitären Institutionen ab. So etwa mit dem

  • Human Resources Research Office der George Washington University in Washington
  • Operations Research Office der John Hopkins University in Washington
  • Special Operations Research Office der American University in Washington.

Zusätzlich stand der Armee das Army Research Office at Army Headquarters zur Verfügung, in dem Kenneth E. Karcher als Soziologe die sozialwissenschaftliche Abteilung leitete.

Endlich sei noch erwähnt, daß auch der Navy mit dem Office of Naval Research und dem Bureau of Navy Personnel zwei entsprechende Einrichtungen zur Verfügung standen.

Zusammengefaßt läßt sich also sagen, daß seit dem Ende der 40er Jahre es institutionalisierte und zentralisierte Forschungsorganisationen innerhalb der Streitkräfte zur Planung, Durchführung und Bewertung sozialwissenschaftlicher Forschung für das Militär bestanden.

Welche Funktionen realisierte die Soziologie vermittels dieser Institutionen für das Militär?

Die Indienstnahme der Soziologie für strategische Planung (1): Die Analyse von Feindesmoral

Im Zweiten Weltkrieg wuchs im amerikanischen Militär die Erkenntnis, daß es mehr verläßliches Wissen über Feindländer brauchte. Vor allem ging es um ein breiteres Wissensspektrum, das über die traditionellen militärischen und politischen Informationen hinausging. Das Militär wollte insbesondere mehr über die sozialen und psychologischen Schwachstellen anderer Völker erfahren.

Militärische Institutionen zur Beschaffung solcher Informationen waren etwa (während des Krieges) die Foreign Morale Analysis Division beim Military Intelligence Service und die Moral Divisions beim U.S. Strategie Bombing Survey (USSBS). Beide Einrichtungen hatten die Aufgabe, die Wirkungen von Bombardierungen auf die Zivilbevölkerung in Deutschland und Japan zu untersuchen. Soziologen spielten hier ein herausragende Rolle. Die Abschlußberichte des USSBS – Effects of Strategie Bombing on German Moral, 2 vols., Washington 1946/47 sowie Effects of Strategic Bombings on Japanese Moral -, an denen u.a. die Soziologen Burton Fisher, Clifford Kirckpatrick, William H. Sewell sowie Raymond L. Bowers beteiligt waren, hatten eine große Wirkung. Sie beeinflußten nicht nur den weiteren Ausbau des strategischen Bombardierungspotentials der USA nach dem Zweiten Weltkrieg, sondern wirkten innermilitärisch und -wissenschaftlich über eine Reihe von Nachfolgestudien weiter (u.a. Irving L. Janis, Air War and Emotional Stress: Psychological Studies and Civilian Defense, New York 19 5 1, sowie Fred C. Ikle, The Social Impact of Bomb Destruction, Norman 1958).

Die Indienstnahme der Soziologie für strategische Planung (II): Die Analyse fremder Sozialsysteme

In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg wurde amerikanischen Politikern und Militärs mit den zunehmenden Spannungen zwischen Ost und West und der einhergehenden Abkapselung des sozialistischen Blocks die großen Informations- und Wissenslücken bewußt, die sie von potentiellen militärischen Gegnern hatten.

Deshalb wurde die Kenntnis des sowjetischen Systems eine der vordringlichsten Forschungsprioritäten in der Nachkriegszeit. 1950 initiierte das HRRI ein großes Forschungsprogramm, indem es einen entsprechenden Vertrag mit dem Russian Research Center der Universität Harvard abschloß und Clyde Kluckholm zum Forschungsdirektor bestimmte. An diesem vierjährigen Forschungsprojekt nahmen immer mehr als wenigstens ein Dutzend Soziologen und soziologischer Doktoranden teil. Ziel des Forschungsprojektes war es

  1. grundlegendes Wissen darüber zu produzieren, wie ein relativ unzugängliches fremdes Sozialsystem wie das sowjetische sich von innen ausnimmt, und
  2. Vorhersagen darüber zu machen, wie dieses Sozialsystem auf unterschiedlichste Belastungen reagieren würde. Insbesondere, wie sich angesichts solcher Streßfaktoren das Verhältnis zwischen unterschiedlichen Institutionen wie Verwaltung, Militärpolitik und zwischen unterschiedlichen ethnischen und sozialen Gruppen verändern wurde.

Neben frei zugänglichen Quellen wurden als empirische Basis hier Alltagseindrücke und Alltagseinschätzungen von Tausenden von emigrierten Sowjet-Bürgern herangezogen, die in ausführlichen Einzelinterviews und mehr als 12000 Fragebögen erhoben wurden.

Die Ergebnisse wurden der sozialwissenschaftlichen Community in 35 Zeitschriftenartikeln vorgestellt und den Streitkräften darüber hinaus in 18 speziellen Geheimberichten zugänglich gemacht.

Eine Zusammenfassung (Raymond A. Bauer, Alex Inkeles und Clyde Kluckholm) erschien 1956 in der Harvard Univ. Press unter dem Titel „How the Soviet System Works“ (Cambridge 1956); ein späterer Band von Alex Inkeles und Raymond A. Bauer „The Soviet Citizen. Daily Life in a Totalitarian State“ (Cambridge 1959), machte vor allem die statistischen Daten aus Interviews und Fragebögen zugänglich. Zu den Mitarbeitern gehörte u.a. auch der hierzulande bekannte Barrington Moore, Jr.

In mindestens vier Aspekten stellte sich der Nutzen dieser Rußland-Forschung für das Militär her.

  1. Den strategischen Forschungsabteilungen von Air Force und Generalstab wurden durch die Untersuchungen einzelner Aspekte der sowjetischen Gesellschaft Daten und Vorhersagen zugänglich, über die sie bis dahin nicht verfügt hatten.
  2. Über eine Reihe von Jahren wurde der Abschlußbericht zur Pflichtlektüre an den Generalstabsakademien und War Colleges der Streitkräfte.
  3. Die Interviews und Fragebögen wurden gebunden, kopiert und den Geheimdiensten in Washington zugänglich gemacht als Datengrundlage für die aktuell zu erstellenden Geheimdienststudien.
  4. Die Interviewerfahrung des Forschungsteams wurde in einem wiederum klassifizierten Handbuch für Interviews mit sowjetischen Flüchtlingen zusammengefaßt, das die militärischen Geheimdienste als Rüstzeug bekamen.

Als potentieller Feind war für das amerikanische Militär jedoch nicht nur die Sowjetunion von Interesse, sondern auch viele andere Gesellschaften, vor allem in der Dritten Welt. Als prinzipielles Instrument zur Sicherung der Ausbeutung über die Länder der Dritten Welt durch die kapitalistischen Länder sah sich das amerikanische Militär dabei zunehmend counterinsurgency operations, also Operationen zur Bekämpfung von Befreiungs- und Revolutionsbewegungen, Militärhilfe und zivilen Aktionsprogrammen ausgesetzt. Diese, wie es im soziologisch unterkühlten Jargon heißt, „Interaktion mit fremden Gesellschaften“ setzten ein gründliches Wissen über die Lebensweise dieser Völker voraus, das in der gewünschten Breite und Tiefe nicht zur Verfügung stand. Diese Lücke zu fällen wurde bis 1956 die Human Area Files (HRAF) an der Yale University beauftragt. Nach 1957 dann erachtete die Army diese Erfordernisse für so wichtig, daß sie speziell dafür eine neue Forschungsorganisation gründete, die sich ausschließlich darum kümmern sollte: das Special Operation Research Office an der American University in Washington.

Dort wurden in den folgenden Jahren insgesamt 50 Handbücher zu jeweils einzelnen Ländern produziert, die die Grundstrukturen der soziologischen, politischen, ökonomischen und militärischen Institutionen sowie bedeutsame Einzelheiten der Denk- und Handlungsweisen der einzelnen Gesellschaften vorstellten.

Die Indienstnahme der Soziologie für strategische Planung (III): Atomkriegsplanung und target selection

Wir kommen jetzt zur dritten Funktion innerhalb der Indienstnahme der Soziologie für strategische Planung, der Mitwirkung bei Atomkriegsplanung und target selection. Mit der Atombombe und der Bereitschaft, ihre Anwendung anzudrohen oder gar faktisch vorzunehmen, sah sich das amerikanische Militär neuen Anforderungen ausgesetzt, die mit den bis dahin existierenden Wissens- und Methodenbestand der Wissenschaften und der Nachrichtendienste so nicht zu erfüllen war. Nach Einschätzung des Generalstabs galt es, die alte militärische Frage: „Was ist notwendig, um den Kampfeswillen des Feindes zu brechen“ im Kontext des Atomkriegs neu zu stellen, nämlich in der Form, wieviel von einer Nation und welche ihrer Teile und Regionen zerstört werden müssen, um dieses Land militärisch niederzuzwingen. Und man sah, daß man, um diese Frage beantworten zu können, vor allem auch Informationen über die Strukturen und Funktion einzelner Städte und Regionen sowie über die Beziehungen und Abhängigkeiten zwischen einzelnen Regionen benötigte, also Wissen über die Zielgebiete als ökologische und soziale Systeme. Versuche, solches Wissen von den Wissenschaften produzieren zu lassen, setzten in den frühen 50er Jahren ein und die Soziologie spielte in diesen Forschungen eine herausragende Rolle. Hier sollen nur zwei dieser Projekte beispielhaft Erwähnung finden.

  1. Im Jahr 1951 schloß das HRRI mit dem Büro für angewandte Sozialforschung der Columbia University einen Vertrag ab, demzufolge das Büro unter der Leitung von Kingsley Davis einen Index erarbeiten sollte, der für alle größeren Städte der Welt grundlegende Informationen bereitstellen sollte. Diese Daten, so heißt es in einem internen Papier, sollten militärische Analytiker in die Lage versetzen, durch vergleichende Studien urbaner und regionaler Strukturen verläßlicherer Methoden für Air target selection zu entwickeln, also die Auswahl von Zielen für atomare Bombardierung.
  2. Ein anderes soziologisches Forschungsprojekt, das die Zielbestimmung für atomare und konventionelle Bombardierung unterstützen sollte, wurde am HRRI von dem Soziologen Norman E. Green und seinem Team durchgeführt. Green wollte über sein intelligence research program vor allem Techniken entwickeln, um grundlegende sozialstrukturelle Informationen aus Luftaufnahmen ableiten zu können. Anhand von Studien ausgewählter amerikanischer Städte suchte Green nach Korrelationen zwischen physischen Strukturen auf den Luftaufnahmen und sozialwissenschaftlichen Informationen, die aus zugänglichen Datenbeständen abgeleitet werden konnten.

Welchen Zwecken diese Forschungen dienten, darüber kann kein Zweifel bestehen. In einem Aufsatz über Luftfotographie und menschliche Ökologie der Stadt heißt es: „Die fotographische Interpretation ist ein wesentlicher Ansatz zur sozialwissenschaftlichen Analyse von urbanen Zonen. In vielen Situationen kann sie sogar die einzige Informationsquelle für bestimmte Daten sein.“ Und „Es ist wünschbar, vor allem die Übertragbarkeit der Ergebnisse auf Regionen außerhalb der USA zu überprüfen.“ Auch wenn dieses Projekt letztlich nicht abgeschlossen wurde, so hat es doch eine Reihe von Aufsätzen in Veröffentlichungen der Air Force gegeben und andere Soziologen wurden von der Luftwaffe ständig als Berater für strategische Planung hinzugezogen.

Wie friedlich ist die Soziologie?

Steht derjenige, der Städte und Regionen. aufgrund bestimmter Merkmale zur atomaren Vernichtung aussucht und wissenschaftliche Kriterien für Zerstörungsmaximierung erarbeitet, denjenigen an kriegerischer Aggressivität nach, die den Einsatz dann de facto fliegen und die Bomben aus den Schächten ausklinken? (Forts. folgt)

Heinrich W. Ahlemeyer ist Soziologe in Münster

Nichts als die Wahrheit?

Nichts als die Wahrheit?

Über die Kreativität der Unwahrheit im Kontext von Krieg und Gewalt

von María Cárdenas Alfonso, Andrea Nachtigall, Johannes Nau und Wolfram Wette

Herausgegeben von der Informationsstelle Wissenschaft und Frieden
und dem Arbeitskreis Historische Friedensforschung

Nichts als die Wahrheit?

Über die Kreativität der Unwahrheit im Kontext von Krieg und Gewalt

von María Cárdenas Alfonso

Seit jeher werden Kriege als effektives Mittel angesehen, um staatliche Interessen zu verteidigen bzw. auszubauen, und gelten als letzte Stufe der zwischenstaatlichen Eskalation von Konflikten. Doch da mit einem Krieg auch hohe innenpolitische Kosten verbunden sind (auf der gesellschaftlichen Ebene ebenso wie auf der individuellen), hängt die Initiierung einer militärischen Auseinandersetzung in hohem Maße von der Unterstützung durch die Bevölkerung ab. Die Wahrnehmung der Bevölkerung, »angegriffen zu werden« und »sich verteidigen zu müssen« ist insofern ein essentielles Requisit, um einen Krieg legitimieren und durchsetzen zu können.

Mediale Kriegsvorbereitung

Die mediale Vorbereitung von Kriegen und die dazu gehörende Irreführung der Öffentlichkeit war für W&F schon immer ein Thema. Hier einige ausgewählte Artikel, die im Volltext unter wissenschaft-und-frieden.de oder auf der CD-ROM mit den Artikeln der vergangenen 30 Jahre W&F einzusehen sind.

Jürgen Nieth: 10 Jahre Kosovo-Krieg. Kommentierte Presseschau. W&F 2-2009.

Jörg Becker und Mira Beham: Operation Balkan. Werbung für Krieg und Tod. W&F 3-2007.

Peter Bürger: Bildermaschine für den Krieg. W&F 3-2007.

Annabel McGoldrick: Kriegsjournalismus und Objektivität. W&F 3-2007.

Alexander Neu: Das Elend der Kriegsberichterstattung. W&F 3-2007.

Peter Strutynski: Je größer die Lüge, je geringer der Protest. W&F 3-2003.

Jürgen Scheffran: Game over? Macht, Wahrheit und Demokratie im Irakkonflikt. W&F 2-2003.

Jürgen Nieth: Kriegsgründe und die Realität. W&F 2-2003.

Gert Sommer: Terrorismus, Afghanistan und westliche Feindbilder. W&F 1-2002.

Susanne Kassel: Wie Medien Geschlechterstereotype zur Kriegslegitimation nutzen. W&F 2-2002.

Gert Sommer: Vermittelnd eingreifen – Zur Rolle der Medien in großen Konflikten. W&F 4-2000.

Jürgen Link: Die Autopoiesis des Krieges. W&F 3-1999.

Jürgen Scheffran: Zweierlei Massaker? Wie ein US-Diplomat im Kosovo-Dorf Racak den dritten Weltkrieg auslöste. W&F 2-1999.

Jürgen Nieth: Humanitär oder Macht? Mit welchem Ziel bombt die NATO? W&F 2-1999.

Joe Angerer: Die Geschichte deutscher Kriegspropaganda. W&F 3-1993

Wilhelm Kempf u.a: Die bundesdeutsche Kriegsberichterstattung im Golfkrieg. W&F 3-1993.

Gert Sommer & Wilhelm Kempf: Zur Relevanz von Feindbildern – am Beispiel des Golfkrieges/Der inszenierte Krieg. Medienberichterstattung und psychologische Kriegsführung. Dossier Nr. 9, Beilage zu W&F 3-1991.

Daher verwundert es nicht, dass im Krieg nicht nur jedes Mittel recht ist, sondern auch Lügen und Manipulationen ein zentrales, strategisches Instrument sind, um die Wahrnehmung Anderer zu beeinflussen. So wird der Krieg nicht zuletzt durch die Deutungshoheit über Realität (und Geschichte) gewonnen und somit zum Spielball akuter (inter-) nationaler Interessen.

Das vorliegende Dossier befasst sich mit der Frage, wie heute und in der Vergangenheit die nationale und internationale Politik von Kriegslügen beeinflusst und manipuliert wird und wurde, unter welchen Rahmenbedingungen und mit Hilfe welcher Strategien Kriegslügen ihre Wirkung entfalten und welche Einflussmöglichkeiten es gibt.

Mit Blick auf unsere individuelle Entscheidungspraxis wird uns bewusst, wie abhängig unser Urteilsvermögen und unsere Emotionen von unserer Wahrnehmung sind, die wiederum von (Fehl-) Informationen geprägt wird. Informationen bestimmen maßgeblich unsere Entscheidungsfreiheit und damit auch die Qualität unserer Entscheidungen. Auf der politischen Ebene können erfolgreiche Lügen schwerwiegende Folgen haben, was auch die Info-Boxen in diesem Dossier verdeutlichen.

Für die Heranführung an die Klassiker der strategischen Unwahrheit zur Manipulation relevanter Akteure im Krieg beginnt das Dossier mit einem Artikel von Wolfram Wette, der aus einer historischen Perspektive Methoden, Strategien und Akteure von Kriegslügen betrachtet.

Aus einer aktuellen Perspektive zeigen Andrea Nachtigall am Beispiel des »Embedded Feminism« und Johannes Nau am Beispiel Gaddafis auf, wie relativ die Bedeutung scheinbar universeller Werte und Normen in der internationalen Politik ist und wie sie für nationale Interessen zweckentfremdet werden kann – nicht nur mit Blick auf die Frage, welche Beachtung den Menschenrechten in bewaffneten Konflikten geschenkt wird, sondern auch, in welchem Zusammenhang und von welchen Akteuren ihre Implementierung verlangt wird. So zeigt sich, dass oft erst mit Rekurs auf die Menschenrechte, also im Sinne einer »Responsibility to Protect«, eine militärische Auseinandersetzung überhaupt legitimiert werden kann. In anderen Kontexten wiederum werden und wurden Menschenrechtsverletzungen ad acta gelegt und stattdessen die vermeintlich relevante Beziehung zu einem politisch stabilen Partner in einer sonst instabilen Region in den Vordergrund gestellt. Die Debatte um Militäreinsätze zum Schutz der Menschenrechte ist mit Vorsicht zu genießen, da mit der propagierten »Zivilisierungsabsicht« oft weniger der Wunsch der Emanzipation, als vielmehr neokoloniale Interessen einhergehen.

Der letzte Artikel von María Cárdenas untersucht die Voraussetzungen, unter denen sich Kriegslügen und -propaganda bewegen und multiplizieren: Unter welchen Umständen funktionieren Kriegslügen in einer medial vermittelten Gesellschaft? Welche strukturellen, kulturellen und politischen Rahmenbedingungen müssen vorhanden sein, damit die Bevölkerung sich ein eigenes Bild schaffen und eventuelle Kriegslügen entlarven kann – und dies möglichst »medienwirksam«? Welche Rolle spielen hierbei die Massenmedien als Akteur einerseits und Vermittler zwischen Regierung und Regierten andererseits? Welche Möglichkeiten bieten sich den Journalisten, um in kriegerischen Auseinandersetzungen ihrer Kontrollfunktion gerecht werden zu können? Der letzte Beitrag soll insofern auch den Blick für die Relevanz einer kritischen Öffentlichkeit schärfen.

 

Historische Kriegslügen

von Wolfram Wette

Aischylos (525-456 v. Chr.), der griechische Dichter und Schöpfer der griechischen Tragödie, erkannte den Zusammenhang bereits in voller Klarheit: „Im Krieg ist die Wahrheit das erste Opfer.“ 1 Diese Erkenntnis ist seitdem in verschiedenen Varianten vieltausendfach wiederholt worden. Das kann kein Zufall sein. Es muss damit zusammen hängen, dass die historische Wirklichkeit den Sachverhalt immer wieder bestätigt hat.

Durch die leidvollen Erfahrungen in den Kriegen des 19. und 20. Jahrhunderts, jetzt auch schon des 21., sind wir allerdings mehr als einmal belehrt worden, dass die Weisheit des Aischylos einer Erweiterung bedarf: Die Wahrheit stirbt nicht erst »im Krieg«, sondern schon in der Entstehungsphase einer gewaltsamen Auseinandersetzung. Während eines Krieges waren die Führungseliten eines kriegführenden Landes jeweils bestrebt, die Glaubwürdigkeit ihrer Rechtfertigungsbehauptungen durch ihre Kriegspropaganda permanent zu untermauern. Mit dem Ende des Ersten Weltkrieges – um diesen Fall zu nehmen2 – kam dann nicht etwa die Wahrheit auf den Tisch, sondern die Verschleierung der Wahrheit, respektive der Kampf um die Wahrheit, setzte sich weiter fort. Der in Deutschland nach 1918 erbittert geführte Meinungskampf über die Kriegsschuldfrage bietet dafür reiches Anschauungsmaterial.3

Kriegsmetaphysik

Wenn der Begriff »Kriegslüge« fällt, denkt man gewöhnlich an einen Auslöser, einen konkreten Anlass, wie zum Beispiel die Ermordung des österreichischen Thronfolgers im Juli 1914, der hernach zur Kriegsursache stilisiert wurde. Bei dieser Betrachtungsweise wird häufig vergessen, dass es im Hintergrund eine Weltsicht gab, die gleichsam als Humus diente, auf dem die aktuelle Kriegslüge erst gedeihen konnte. Gemeint ist ein bestimmtes Denken über »den« Krieg im Allgemeinen. Dieses Denken, das besonders im Deutschland des 19. und 20. Jahrhunderts weit verbreitet war, bezeichne ich als Kriegsmetaphysik. Gemeint sind die Vorstellungen, »der« Krieg sei »der Vater aller Dinge«, oder er sei ein Naturereignis, das ausbreche wie ein Vulkan und das von Menschen nicht gebändigt werden könne; oder der Krieg sei von Gott gewollt, womöglich ein »Gottesgericht«; oder aber – als linke Variante –, er sei ein gleichsam »naturnotwendiges« Produkt des Kapitalismus beziehungsweise des Imperialismus.4

In klassischer Weise formulierte zur Zeit des deutschen Kaiserreiches der preußische Generalstabschef Helmut von Moltke d. Ä. die zeitgenössische konservativ-militaristische Kriegsmetaphysik: „Der Friede ist ein Traum, und nicht einmal ein schöner, und der Krieg ein Glied in Gottes Weltordnung. […] Ohne den Krieg würde die Welt im Materialismus versumpfen.“ 5 Sätze wie dieser führten bei den Menschen zu der fatalistischen Grundhaltung, dass Kriege offenbar immer wiederkehren und daher nicht verhindert werden könnten.

Spätestens seit der Einführung der Allgemeinen Wehrpflicht im 19. Jahrhundert verfolgten Aggressoren das Ziel, die eigene Verantwortung für die Entfesselung kriegerischer Gewalt vor der eigenen Bevölkerung zu verschleiern. Sie wussten, dass das eigene Lager nur durch eine Verteidigungslüge für den Krieg mobilisiert werden konnte. Der Krieg musste als eine gerechte Sache erscheinen, und als gerecht wurde nur die Verteidigung des eigenen Landes gegen einen Aggressor angesehen. Es galt also, das eigene Land als das angegriffene hinzustellen, den Feind ins Unrecht zu setzen und ihm die Kriegsschuld aufzubürden. Wenn in der Regel alle kriegführenden Mächte die Menschen ihres Landes mit einer Verteidigungspropaganda mobilisierten, so bedeutete dies allerdings nicht, dass es sich dabei durchgängig um Kriegslügen handelte. So befanden sich etwa die von Hitler-Deutschland überfallenen Länder Europas zweifellos in einer Verteidigungssituation.

Friedrich II, König von Preußen, von seinen Bewunderern auch als »der Große« bezeichnet, gab im Jahre 1740 seiner Armee den Befehl zum Angriff auf Schlesien, das er, ganz der Machtpolitiker, dem preußischen Staat einverleiben wollte, bevor der Rivale Österreich zum Zuge kam. Das war der Beginn des so genannten Ersten Schlesischen Krieges (1740-1742). Während die Angriffshandlungen bereits im Gange waren, schrieb Friedrich seinem Minister Heinrich Graf von Podewils: „Ich habe den Rubikon überschritten, mit wehenden Fahnen und klingendem Spiel.“ Nun sei es Sache des Ministers, sich im Nachhinein eine »justa causa« auszudenken, also einen »gerechten Grund«, ein Rechtfertigungsmotiv.6 Im Hinblick auf die internationale Öffentlichkeit konstruierte er einen erbschaftsrechtlichen Anspruch, der mit der herrschenden Lehre vom gerechten Krieg nicht zu kollidieren schien. So wurde versucht, die aggressive und rechtswidrige Politik des preußischen Königs zu kaschieren.7

Der preußische Ministerpräsident Otto von Bismarck manipulierte im Jahre 1870 die »Emser Depesche« in der Weise, dass der französische Kaiser Napoleon III dadurch in die Rolle des Aggressors gedrängt wurde und Deutschland den Krieg erklärte.8 In den Augen der deutschen Öffentlichkeit ergab sich dadurch die Lage, dass Bismarck die angegriffenen Deutschen verteidigte. Verborgen blieb, dass er selbst es gewesen war, der auf den deutsch-französischen Krieg hingearbeitet hatte, weil er ihn zur Schaffung des preußisch-deutschen Nationalstaats brauchte.

Theobald von Bethmann Hollweg, Reichskanzler unter Kaiser Wilhelm II, verbreitete in der Julikrise von 1914 durch geschickte Regie den Eindruck, Deutschland bleibe nichts anderes übrig, als auf die russische Generalmobilmachung zu reagieren und sich zu verteidigen. Mit dieser Manipulation drängte er die zögernde Sozialdemokratie, die noch kurz zuvor Friedenskonferenzen und Friedensdemonstrationen organisiert hatte, dazu, eine Verteidigungssituation anzunehmen. Nicht nur die Konservativen, sondern auch die oppositionelle SPD-Reichstagsfraktion bewilligten daraufhin die Kriegskredite. Im Interesse der Landesverteidigung schloss die SPD einen so genannten Burgfrieden mit dem Kaiser und seiner Regierung.9 Der Chef des Marinekabinetts, Admiral Georg von Müller, freute sich über den gelungenen Coup: „Stimmung glänzend. Die Regierung hat eine glückliche Hand gehabt, uns als die Angegriffenen hinzustellen.“ 10

Am 1. September 1939 eröffnete das im Danziger Hafen liegende deutsche Linienschiff »Schleswig-Holstein« mit seinen schweren Geschützen das Feuer auf die polnische Westerplatte – ohne jede Kriegserklärung. Gleichzeitig ließ Hitler einen Angriff polnischer Soldaten auf den oberschlesischen Sender Gleiwitz vortäuschen. Deutsche Staatsbürger in polnischen Uniformen griffen die Radiostation an, um den NS-Propagandisten Stoff für ihre Ablenkungspropaganda zu liefern. Hitler verkündete noch am selben Tag in einer Reichstagsrede seine Verteidigungslüge, deren Kernsätze lauteten: „Polen hat nun heute Nacht zum ersten Mal auf unserem eigenen Territorium auch durch reguläre Soldaten geschossen. Seit 5.45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen! Und von jetzt ab wird Bombe mit Bombe vergolten.“ 11 Hitler hatte diesen Krieg von langer Hand geplant, seine Ziele aber vor der deutschen Öffentlichkeit verborgen, indem er zwischen 1933 und 1938 – zur allgemeinen Irreführung – eine geschickte Friedenspropaganda betrieb.12 Der deutsche Angriff auf Polen ist das vielleicht bekannteste Beispiel für die Ablenkungsmanöver, mit denen sich der eigentliche Angreifer zum Angegriffenen machen möchte.

Am 22. Juni 1941 überfiel die deutsche Wehrmacht in einer Stärke von drei Millionen Mann die Sowjetunion, die sich aufgrund des Hitler-Stalin-Paktes von 1939 in Sicherheit wiegte. Hitler und sein Propagandaminister Joseph Goebbels präsentierten an diesem Tage wiederum eine Verteidigungslüge. Die Sowjetunion, so behaupteten sie, habe eine aggressive Politik betrieben. Sie habe ihre Armeen an ihrer Westgrenze aufmarschieren lassen, habe damit die Abmachungen des Freundschaftsvertrages mit Deutschland gebrochen und „in erbärmlicher Weise verraten“. „Heute“, behauptete Hitler, „stehen rund 150 russische Divisionen an unserer Grenze. […] Damit aber ist nunmehr die Stunde gekommen, in der es notwendig wird, diesem Komplott der jüdisch-angelsächsischen Kriegsanstifter und der ebenso jüdischen Machthaber der bolschewistischen Moskauer Zentrale entgegenzutreten.“ Nun sei das Schicksal Europas, des Deutschen Reiches und des deutschen Volkes in die Hand der deutschen Soldaten gelegt. Damit war die Präventivkriegslegende geboren.13 Glaubte man der NS-Propaganda, so hatte Deutschland wieder einmal nur »zurückgeschossen«.

Auch der amerikanische Vietnamkrieg von 1964 bis 1975 begann mit einer Lüge. Die amerikanische Regierung unter dem demokratischen Präsidenten Lyndon B. Johnson suchte und fand einen Vorwand, um in den Krieg gegen Nordvietnam einzutreten. Es handelte sich um den so genannten Tonkin-Zwischenfall vom 2. und 4. August 1964. Angeblich hatten nordvietnamesische Kriegsschiffe im Golf von Tonkin (vor Nordvietnam) zwei US-Zerstörer beschossen. Nun ordnete Präsident Johnson »Vergeltungsbombardements« gegen Ziele in Nordvietnam an. Hernach ließ er sich vom amerikanischen Kongress eine Generalvollmacht zur Ausweitung des Krieges geben. Dieser sollte bis 1975 dauern und mit einem Sieg der nordvietnamesischen Kriegspartei enden.14 Die amerikanischen Soldaten mussten gedemütigt und fluchtartig das Land verlassen.

Der iranisch-irakische Krieg von 1980 bis 1988 wird als Erster Golfkrieg bezeichnet. In diesem Krieg unterstützten die Regierungen der westlichen Länder den irakischen Diktator Saddam Hussein insgeheim. Als die irakische Armee im Jahre 1990 in Kuwait einmarschierte, antworteten die USA und einige Verbündete mit dem Zweiten Golfkrieg. Um diesen Krieg vor der Öffentlichkeit zu legitimieren und um im eigenen Lager Kriegsbereitschaft zu mobilisieren, erfand die US-amerikanische Administration unter Präsident George Bush sen. nun eine neue Sprachstrategie: die Dämonisierung des Gegners.15 Der irakische Diktator und vormalige Verbündete Saddam Hussein wurde jetzt als „Hitler des Orients“ bezeichnet. Präsident Bush sen. selbst war der Stichwortgeber. In einer Rede vom 8. November 1990 sagte er, die irakischen Truppen hätten sich in Kuwait „ungeheuerliche Akte der Barbarei“ zuschulden kommen lassen, „die nicht einmal Adolf Hitler begangen hat“.16 Damit verschaffte Bush dem Saddam-Hitler-Vergleich eine weltweite Resonanz. In Deutschland führte dieser Vergleich, der auf eine Gleichsetzung hinauslief, zu großen Irritationen.17

54 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges kämpften erstmals wieder deutsche Soldaten im Ausland, nämlich gegen das serbische Rest-Jugoslawien. Dies geschah im Rahmen der Nato, aber ohne UNO-Mandat. Es handelte sich um einen Angriffskrieg, der weder vom Völkerrecht noch vom Grundgesetz (Artikel 26) gedeckt war. Rest-Jugoslawien hatte Deutschland weder angegriffen noch ging von ihm eine Bedrohung aus. Der damalige Außenminister Joschka Fischer (Bündnis 90/Die Grünen) legitimierte den deutschen Militäreinsatz, der in historischer Perspektive einen schwerwiegenden Tabubruch darstellte, mit historischen Erfahrungen aus der NS-Zeit. Nur brachte er diese jetzt ganz anders als bislang üblich ins Spiel.18 Er habe nicht nur gelernt „Nie wieder Krieg!“, argumentierte er im Deutschen Bundestag, sondern auch „Nie wieder Auschwitz!“ Das war eine historisch unhaltbare, aber politisch wirkungsmächtige historische Analogie.19 Verteidigungsminister Rudolf Scharping (SPD) präsentierte der internationalen Öffentlichkeit seinerzeit einen »Hufeisenplan«, der angeblich beinhaltete, dass die serbische Regierung die Albaner systematisch aus dem Kosovo vertreiben wolle. Tatsächlich war dieser Plan frei erfunden.20 Es handelte sich also um eine der üblichen Kriegslügen.21

Diese Wende in der Kriegsbegründung wurde später als »Menschenrechts-Bellizismus« bezeichnet, als Krieg für die Menschenrechte. Aus dieser Argumentation wurde dann die politische Strategie der »Schutzverantwortung« (Responsibility to Protect) entwickelt, die 2005 die Zustimmung fast aller Mitgliedsländer der Vereinten Nationen fand.22 Wegen der erwiesenen Missbrauchsgefahr, beispielsweise im internationalen Militäreinsatz gegen Libyen 2011, hat sich diese Strategie jedoch bereits als problematisch erwiesen.

Der Dritte Golfkrieg von 2003 wurde seitens der Regierung Bush jun. zunächst als militärische Antwort auf den terroristischen Angriff auf das World Trade Center am 11. September 2001 gerechtfertigt (»War on Terror«) – obwohl das eine mit dem anderen nichts zu tun hatte. Später wurde, wie schon 1990/91, die grausame Diktatur des irakischen Präsidenten Saddam Hussein zur Begründung herangezogen. Präsident Bush führte im Gefolge des Irak-Kriegs auch die Begriffe »Schurkenstaat« und »Achse des Bösen« ein. Damit machte er einmal mehr seine dichotomische Weltsicht deutlich: Hier die Guten und Willigen, dort die Bösen, die notfalls bekriegt werden müssen. Um die Gefährlichkeit von Saddam Hussein weltweit zu verdeutlichen, rückte die US-Propaganda erneut Saddam-Hitler-Vergleiche in das Blickfeld der Weltöffentlichkeit. Schließlich operierte die US-Propaganda mit der Behauptung, Saddam Hussein verfüge über Massenvernichtungswaffen und sei daher eine Bedrohung für die ganze Welt. Auch diese Behauptung sollte sich später als Lüge zum Zwecke der (präventiven) Kriegführung entpuppen.

Militärzensur: das systematische Totschweigen der Kriegswirklichkeit

Kriege sind eine extrem lebensfeindliche Angelegenheit. In ihnen fügen sich Menschen, die sich nicht kennen, den denkbar schwersten Schaden zu. Sie nehmen sich – und vielen nicht kämpfenden Zivilisten – gewaltsam Leben und Gesundheit. Wer als Staatsmann oder Militär eine kriegerische Auseinandersetzung plant oder in Kauf zu nehmen bereit ist, hält die Darstellung der Kriegswirklichkeit für einen subversiven Akt. Das musste Erich Maria Remarque mit seinem Buch »Im Westen nichts Neues« ebenso erfahren wie der Hamburger Lehrer Wilhelm Lamszus mit seinem 1912 erschienenen Zukunftsroman »Das Menschenschlachthaus«.23 Lamszus wurde von der reaktionären Presse als „schlechter Deutscher“ und als „vaterlandsloser Geselle“ verunglimpft. Der Kronprinz verlangte seine Entlassung aus dem Schuldienst. Auf Remarque prasselten wütende Reaktionen der nationalistischen Presse nieder. Der Kriegsschriftsteller Franz Schauwecker qualifizierte seinen Roman als „Kriegserlebnis eines Untermenschen“, und dessen Gesinnungsgenosse Georg Friedrich Jünger meinte herablassend, der Roman ergehe sich „in schwächlichen Klagen gegen den Krieg“.

Da sich die grausame Wirklichkeit des Krieges öffentlich nicht sehen lassen kann, muss sie versteckt werden. Militärs schotten ihr Tätigkeitsfeld seit jeher mit einem fast undurchdringlichen Gestrüpp von Geheimhaltungsvorschriften ab. Sie behaupten, die Geheimhaltung sei eine »Kriegsnotwendigkeit«; der Feind müsse im Unklaren gelassen werden über die eigenen Absichten und Möglichkeiten. Für die Mobilisierung und Aufrechterhaltung von Kriegsbereitschaft in der Bevölkerung des eigenen Landes ist die Verschleierung der Kriegsrealität von zumindest ebenso großer Bedeutung.

In den Kriegen des 19. und 20. Jahrhunderts übernahm die Militärzensur die Aufgabe, die Weitergabe kriegsrelevanter Informationen sowie die Berichterstattung über die Kriegsrealität möglichst vollständig zu unterbinden. So durften beispielsweise Bilder von getöteten deutschen Soldaten sowohl im Ersten als auch im Zweiten Weltkrieg nicht veröffentlicht werden. Im Hinblick auf die Verschleierung der Kriegsrealität nimmt der amerikanische Vietnamkrieg (1964-1975) eine Sonderstellung ein. Er war der einzige Krieg, über den die westlichen Kriegsberichterstatter offen und unzensiert schreiben durften. Das hatte einen juristischen Hintergrund: Weil die US-Regierung keine förmliche Kriegserklärung ausgesprochen hatte, trat auch das Gesetz über die Militärzensur nicht in Kraft.24 Daher konnte in diesem Krieg auch über die Verluste der amerikanischen Streitkräfte berichtet werden, unterstützt durch beeindruckende Filmszenen und Fotos. Diese Berichterstattung zerstörte die Moral der amerikanischen Heimatfront. Ein Großteil der Bevölkerung der USA entzog der Regierung schließlich ihre Unterstützung. So wurde dieser Krieg – bildlich gesprochen – in erster Linie in den amerikanischen Fernsehzimmern verloren. Seit den Erfahrungen des Vietnamkriegs gaben die Militärs das Informationsmonopol nie mehr aus der Hand. Sie bestimmten nun wieder allein, was die Medien berichten und was die Bevölkerung erfahren durfte, wohl wissend, dass Berichte über das Töten und die Todesangst von den Menschen ferngehalten werden müssen, wenn die Moral nicht zusammenbrechen soll.

Anmerkungen

1) zitate.de/autor/Aischylos.

2) Vgl. Hellmut von Gerlach: Die große Zeit der Lüge. Der Erste Weltkrieg und die deutsche Mentalität (1871-1921). Bremen, 1994.

3) Siehe wikipedia.org/wiki/Kriegsschuldfrage.

4) Vgl. Wolfram Wette: Kriegstheorien deutscher Sozialisten. Marx, Engels, Lassalle, Bernstein, Kautsky, Luxemburg. Stuttgart, 1971.

5) Gesammelte Schriften und Denkwürdigkeiten des General-Feldmarschalls Grafen Helmut v. Moltke, Bd. III. Berlin, 1892/93, S.154. Zum historischen Kontext vgl. Wolfram Wette: Militarismus in Deutschland. Geschichte einer kriegerischen Kultur. Frankfurt/M., 2008, S.102f.

6) Vgl. Reiner Steinweg (Hrsg.): Der gerechte Krieg. Christentum, Islam, Marxismus. Frankfurt/M., 1980.

7) Theodor Schieder: Friedrich der Große. Ein Königtum der Widersprüche. Berlin, 1983, S.144 f.

8) Siehe im Einzelnen Eberhard Kolb: Der Kriegsausbruch 1870. Politische Entscheidungsprozesse und Verantwortlichkeiten in der Julikrise 1870. Göttingen, 1970.

9) Vgl. Susanne Miller: Burgfrieden und Klassenkampf. Die deutsche Sozialdemokratie im Ersten Weltkrieg. Düsseldorf, 1974; sowie Lothar Wieland: Die Verteidigungslüge. Pazifisten in der deutschen Sozialdemokratie 1914-1918. Bremen, 1998.

10) Notiz Admiral v. Müllers vom 1.8.1914, zit. nach Dieter Groh: Negative Integration und revolutionärer Attentismus. Die deutsche Sozialdemokratie am Vorabend des Ersten Weltkrieges. Frankfurt/M., Berlin, Wien, 1973, S.672.

11) Hitlers Rundfunkrede vom 1.9.1939. In: Max Domarus: Hitler. Reden 1932 bis 1945, Bd. II, Erster Halbband: 1939-1940. Wiesbaden, 1973, S.1315.

12) Vgl. Wolfram Wette: Die propagandistische Mobilmachung für den Krieg. In: Wilhelm Deist, Manfred Messerschmidt, Hans-Erich Volkmann, Wolfram Wette: Ursachen und Voraussetzungen der deutschen Kriegspolitik. Frankfurt/M., 1989, S.117-161.

13) Vgl. Gerd R. Ueberschär, Lev A. Bezymenskij (Hrsg.): Der deutsche Angriff auf die Sowjetunion 1941. Die Kontroverse um die Präventivkriegsthese. Darmstadt, 1998. Bianka Pietrow-Ennker (Hrsg.): Präventivkrieg? Der deutsche Angriff auf die Sowjetunion. Frankfurt/M., 2011.

14) Bernd Greiner: Aus gegebenem Anlass. Ein Krieg, der mit einer Lüge begann und im Desaster enden musste. In: Mittelweg 36, 5/2007, S.4-16. ders.: Krieg ohne Fronten. Die USA in Vietnam. Hamburg, 2007.

15) Wolfram Wette: Ein Hitler des Orients? NS-Vergleiche in der Kriegspropaganda von Demokratien. In: Gewerkschaftliche Monatshefte, 4/2003, S.231-242.

16) Zit. nach John R. MacArthur: Schlacht der Lügen. Wie die USA den Golfkrieg verkauften. München, 1993, S.83.

17) Vgl. Wolfram Wette: Hitler des Orients?, op.cit., S.234-236.

18) Vgl. Michael Schwab-Trapp: Kriegsdiskurse. Die politische Kultur des Krieges im Wandel 1991-1999. Opladen, 2002. Und ders.: Der Nationalsozialismus im öffentlichen Diskurs über militärische Gewalt. Überlegungen zum Bedeutungswandel der deutschen Vergangenheit. In: Wolfgang Bergem (Hrsg.), Die NS-Diktatur im deutschen Erinnerungsdiskurs. Opladen, 2003, S.171-185.

19) Vgl. dazu Egbert Jahn: Nie wieder Krieg! Nie wieder Völkermord! Der Kosovo-Konflikt als europäisches Problem. Mannheim, 1999.

20) Vgl. Heinz Loquai: Der Kosovo-Konflikt. Wege in einen vermeidbaren Krieg. Die Zeit von Ende November 1997 bis März 1999. Baden-Baden, 2000.

21) Siehe die WDR-Dokumentation von Jo Angerer und Mathias Werth: Es begann mit einer Lüge. 2001.

22) Siehe wikipedia.org/wiki/Schutzverantwortung.

23) Wilhelm Lamszus: Das Menschenschlachthaus. Bilder vom kommenden Krieg. Hamburg, Berlin, 1912.

24) Winfried Scharlau: Wie realistisch schildern Medien den Krieg, die Täter und die Opfer? In: Thomas Kühne und Horst Gleichmann (Hrsg.): Massenhaftes Töten. Krieg und Genozide im 20. Jahrhundert. Essen, 2004, S.383-393, hier S.390.

Wolfram Wette, Prof. (em.) Dr. phil., Historiker, 1971-95 Militärgeschichtliches Forschungsamt, dann Universität Freiburg; Mitbegründer des Arbeitskreises Historische Friedensforschung (AKHF); Mitherausgeber der Reihen »Geschichte und Frieden« und »Frieden und Krieg«; Ehrenprofessor der russischen Universität Lipezk.

»Embedded Feminism«

Frauen(rechte) als Legitimation für militärische Intervention

von Andrea Nachtigall

Kriegerisches Handeln mit dem vermeintlichen Wohle und Schutz von Frauen (und Kindern) zu legitimieren, ist nicht neu. Wie feministische und genderbezogene Forschungen zeigen, dominieren in Kriegskontexten seit Jahrhunderten zumeist dichotome, stereotype Geschlechterrollen und -bilder: Männer sind die aktiven Handlungsträger, sie töten, kämpfen, beschützen oder verhandeln, wohingegen Frauen zumeist die Rolle des passiven (potentiellen) Opfers und der Leidtragenden des Krieges zufällt. Diese dominanten Identitäten werden häufig für die Begründung politischen Handelns zur Vorbereitung oder während eines Krieges gezielt mobilisiert und verstärkt, um staatliche und militärische Gewalt zu legitimieren. So evoziert der stete Verweis auf das weibliche Opfer nicht nur das Bild des männlichen Täters, sondern verlangt implizit oder explizit nach einem – traditionell ebenfalls männlich gedachten – Retter und Beschützer. Der Verweis auf bedrohte »FrauenundKinder«, wie Enloe (1990) diese wiederkehrende Diskursfigur pointiert bezeichnet hat, kann in diesem Sinne dazu dienen, die Kampfkraft der eigenen Soldaten anzuspornen und die »heldenhafte« Männlichkeit des Eigenen gegen die »barbarische« und »frauenfeindliche« Männlichkeit des Feindes abzugrenzen.

Neu an der im »Krieg gegen den Terror« verwendeten Argumentation ist also nicht der Verweis auf das weibliche Opfer, sondern die Verknüpfung mit dem Thema Frauenrechte bzw. die Explizitheit, mit der nunmehr feministische Diskursfragmente, wie die Forderung nach Gleichstellung und Emanzipation der (afghanischen) Frau, in die Begründungsmuster staatlicher und militärischer Politik eingebunden werden. Krista Hunt spricht (in Anlehnung an die in Militär und Kampfgeschehen »eingebetteten« Journalisten) passend von einem »embedded feminism« (2006), mit dem der Afghanistankrieg moralisch begründet wurde und mit dem eine breite Zustimmung innerhalb der Bevölkerung – auch unter Feministinnen und Frauenrechtlerinnen – erreicht werden konnte (vgl. auch Nachtigall/Dietrich 2003).

Das Auftauchen der afghanischen Frau in Politik und Medien, verbunden mit dem Ruf nach Frauenrechten, setzt jedoch nicht unbedingt ein nachhaltiges Interesse an ihrer tatsächlichen Situation und deren Veränderung voraus (vgl. Klaus/Kassel 2008, S.275). Zumeist blieb es bei oberflächlichen und plakativen Absichtsbekundungen, weswegen man besser von pseudo-feministischen Argumentationsmustern sprechen müsste.

Während die politische und mediale Vereinnahmung und Instrumentalisierung von Frauen(rechten) im Zuge des Afghanistankrieges bereits einige kritische Aufmerksamkeit erfahren hat (z.B. Kassel 2004; Maier/Stegmann 2003; Nachtigall 2012), ist jedoch nur geringes Augenmerk auf den weiteren Verlauf und Veränderungen der diskursiven Legitimationsfigur gelegt worden. Diese Lücke soll hier mit zahlreichen Beispielen aus der deutschen Printmedien-Berichterstattung zum Afghanistan- und Irakkrieg geschlossen werden. Zu diesem Zweck wurde eine stichprobenartige Analyse verschiedener deutscher »Leitmedien« – Der Spiegel (Spiegel), Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), die tageszeitung (taz), Bildzeitung (Bild) – vorgenommen, die nicht nur die Berichterstattung über die »offizielle Kriegszeit«, sondern auch die Post-Konflikt-Berichterstattung umfasst. Wie sich anhand des Materials zeigen lässt, kann der Verweis auf bedrohte »FrauenundKinder« bzw. das Thema Frauenrechte eine legitimierende, aber auch eine delegitimierende Funktion erfüllen.

Die Funktionalisierung und Instrumentalisierung (pseudo-) feministischer Argumente im Rahmen der Begründung und (De-) Legitimierung kriegerisch-militärischen Handelns geschieht dabei in beabsichtigter wie unbeabsichtigter Weise. So wird in den untersuchten Medien vielfach ein expliziter Zusammenhang zwischen Leid und Unterdrückung der Frau und der Notwendigkeit eines Krieges zu Gunsten der Frauen bzw. zur Implementierung oder Wiederherstellung von Frauenrechten hergestellt. Häufiger noch wird dieser Begründungszusammenhang indirekt nahe gelegt, zum Beispiel durch die spezifische Art und Weise, wie über Frauen (und Männer) in Afghanistan und Irak während des Kriegsgeschehens berichtet wird. Die diskursanalytische Perspektive interessiert sich hier jedoch weniger für mögliche Intentionen einzelner Journalist_innen, sondern für die überindividuellen Deutungsmuster, die in der Berichterstattung (re-) produziert werden und die einen Krieg als illegitim oder legitim erscheinen lassen können.

Afghanistankrieg

Die Burka als Kriegsargument und die entschleierte Afghanin als Symbol der Befreiung

Nach dem 11. September, insbesondere im Vorfeld und Verlauf des Afghanistankrieges, war plötzlich quer durch die deutschsprachige und internationale Medienlandschaft von den durch die Taliban unterdrückten afghanischen Frauen zu lesen – direkt oder indirekt verbunden mit dem Appell, die Afghaninnen von ihrem Leid zu erlösen. Der afghanischen Ganzkörperverschleierung, der Burka, kommt in diesem Kontext eine zentrale, symbolisch aufgeladene Bedeutung zu: Sie stellt das vordergründige Merkmal der Darstellung dar; kaum ein Text, eine Bildunterschrift oder ein Foto kommen ohne Verweis auf die Burka bzw. die generelle Bezugnahme auf das Thema Verschleierung aus. Die Burka gilt als untrügliches Zeichen schlimmster patriarchaler Unterdrückung durch die Taliban und eines fundamentalistischen Islams schlechthin. „Die Burka ist nicht eine rückständige Kleiderordnung, sondern macht aus Frauen blindes, hilfloses, konturloses Vieh.“ (taz 12.10.2001) Bis auf wenige Ausnahmen wird die Afghanin als zutiefst gedemütigte und traumatisierte Frau dargestellt, die passiv und leidend ihr Schicksal unter der Burka erduldet. In den Medien werden ihr jegliche Freiheiten, Entscheidungs- oder Handlungsoptionen abgesprochen; kaum mehr vorstellbar ist (aus westlich-okzidentalistischer Perspektive), dass diese Frauen überhaupt ein lebenswertes Leben führen. So ist beispielsweise von der „entmündigenden Burka“ (Spiegel 48/2001) oder auch – in Anspielung auf das Gewicht einer Burka – von „sieben Kilo Schmach“ (FAZ 19.9.2001) die Rede, die ihre Trägerinnen zwinge, „wie lebendig begraben durchs Leben zu gehen“ (ebd.). Wiederholt wird auf die körperlichen und seelischen Qualen afghanischer Frauen verwiesen, die von den Taliban „geknechtet“ und „unterjocht“ (FAZ 29.10.2001; Spiegel 41/2001) und zu „Sklavinnen“ gemacht worden seien (FAZ 19.9.2001).

Die Darstellung der afghanischen Frau wird dabei konstant mit dem Thema Islam bzw. dem islamistischen und frauenfeindlichen Regime der Taliban verknüpft, so dass die Afghanin als spezifisch islamische Frau und damit als »Andere« des Westens sichtbar gemacht wird. Effekt dieser Darstellungsmuster ist die Konstituierung einer grundlegenden, hierarchischen Differenz zwischen islamischer und westlicher Frau, wobei auf das altbekannte Stereotyp der »unterdrückten Muslimin« als Opfer des »orientalischen Patriarchats« bzw. eines »frauenfeindlichen Islam« rekurriert wird (vgl. Pinn/Wehner 1995). Die Zu- und Festschreibung der Opferrolle verunmöglicht zudem, afghanische Frauen in ihren tatsächlichen Handlungsmöglichkeiten wahrzunehmen und damit als eigenständige Akteurinnen und politische Subjekte anzuerkennen. Dass es auch in Afghanistan widerständiges Denken und Handeln gegeben hat, zeigt zum Beispiel das Engagement der Gruppe RAWA (Revolutionary Association of the Women of Afghanistan).

Die Viktimisierung der afghanischen Frau und die Dämonisierung des Feindes über eine brutale und fehlgeleitete Hypermaskulinität sind zwei Seiten der gleichen Medaille. Die »barbarische Frauenfeindlichkeit« der Taliban bildet in allen Medien das zentrale Thema, an dem die Verabscheuungswürdigkeit und Gefährlichkeit des Gegners festgemacht werden. (Sexualisierte) Gewalt gegen Frauen und eine extreme Frauenfeindlichkeit werden dabei ausschließlich als Merkmal des »orientalisierten Anderen« dargestellt und fungieren als definitiver Beweis seiner kulturellen Rückständigkeit. Wiederholt werden die Taliban als frauenfeindliche Vergewaltiger und Unterdrücker herausgestellt. „Taliban-Krieger vergewaltigen Afghanistans schöne Töchter“, lautet beispielsweise eine Schlagzeile der Bildzeitung (27.9.2001), oder: „Taliban-Terror! Wie Mädchen in Afghanistan leiden müssen“ (Bild 20.10.2001). Gleichzeitig wird durch die Art der Darstellung das Bild einer auf Freiheit und Gleichheit beruhenden westlichen (Geschlechter-) Ordnung als »zivilisatorisches Gegenmodell« zu der als besonders abartig und frauenverachtend gekennzeichneten (islamischen) Männerherrschaft der Taliban (implizit) gestärkt.

Diese Deutungsmuster haben Auswirkungen auf die Wahrnehmung und Beurteilung (außen-) politischen Handelns, insbesondere im Hinblick auf die Legitimität des militärischen Vorgehens. Die wiederholt herausgestellte »barbarische Frauenfeindlichkeit« des Feindes lässt ein militärisches Einschreiten – parallel zu den offiziellen Begründungsmustern des Krieges – aus humanitären und ethischen Gründen gerechtfertigt und geradezu unausweichlich erscheinen. Der Rekurs auf kolonialistische Wahrnehmungsmuster, demzufolge sich der »weiße Mann« als zivilisatorisch überlegen imaginiert, der die »Wilden« von der »Barbarei« befreien müsse, ist dabei unverkennbar. So schreibt Franz Josef Wagner in seiner täglichen Kolumne der Bildzeitung, die diesmal mit der Überschriebt „Liebe Mama“ an seine Mutter – stellvertretend für alle Mütter – adressiert ist: „Mama, wir bombardieren Afghanistan, weil wir auch die afghanische Frau befreien müssen.“ (30.10.2001)

Während vor und im Verlauf des Krieges das Thema Verschleierung der afghanischen Frau bzw. Zwangsverschleierung durch die Burka im Vordergrund der Berichterstattung standen, rückt mit dem »Etappensieg« in Kabul Anfang November 2001 das Motiv der Entschleierung in den Mittelpunkt. In der Darstellung der Medien scheint es geradezu zu einer euphorischen Massenentschleierung zu kommen, bei der sich die afghanischen Frauen enthusiastisch der verhassten Burka entledigen und damit zugleich ihr wahres Gesicht hinter dem Schleier als modebewusste und geschminkte Frau offenbaren. Der in Wort und Bild vollzogene Prozess der Entschleierung wird dabei kontinuierlich mit einer Rhetorik von Befreiung und Freiheit verknüpft: „Auf den Basaren fanden die Frauen, die zögerlich ihre Burkas abzuwerfen begannen, wieder Lippenstift und modische Kleidung. Kein Zweifel: Hier war ein Großteil des Landes befreit worden.“ (Spiegel 47/2001)

Der symbolische Charakter der Darstellung spiegelt sich insbesondere in der Bilderpolitik wider: Nach dem Sturz des Talibanregimes zirkulieren in den Medien zahlreiche Fotos von glücklich entschleierten afghanischen Frauen, die die Burka abgelegt oder angehoben haben, und verleihen dem Krieg im Nachhinein einen moralischen Mehrwert. Die Fotos sind allesamt auffallend ähnlich aufgebaut: Zu sehen ist stets eine Frau mit einer über den Kopf hochgeschlagenen Burka oder einem Kopftuch inmitten einer gesichtslosen Menge von Frauen, die nach wie vor die Burka tragen. Häufig stehen die Fotos ohne expliziten Bezug zum Text, d.h. sie begleiten die Kriegsberichterstattung, ohne dass in den Artikeln überhaupt auf die spezifische Situation der Frauen eingegangen würde. Die Bedeutung der Fotos erschließt sich primär über den Kontext, insbesondere aus den Bildunterschriften, so z.B.: „Befreite afghanische Frauen: Über Jahre gequält“ (Spiegel 48/2001), „Afghanische Frauen nach dem Fall von Kabul: Lippenstift wiederentdeckt“ (Spiegel 47/2001) und: „Nach fünfjährigem Versteckt unter dem Ganzkörperschleier endlich wieder im Straßenbild von Kabul: Lächelnde Frauen“ (taz 15.11.2001). Die Fotos der »entschleierten Afghanin« kreieren die Erwartungshaltung eines Vorher und Nachher (Dietze 2006, S.228). Die Botschaft verheißt: Eine Frau ist bereits entschleiert, die anderen werden bald folgen. Mehr noch als die textlichen Ausführungen vermitteln die Fotos Authentizität, sie scheinen unmittelbar und unmissverständlich zu belegen, dass der Krieg (doch) etwas Gutes bewirkt hat: die Entschleierung (= Befreiung) der afghanischen Frau, die wiederum stellvertretend für die Befreiung der afghanischen Nation steht.

Unter der Burka kommt stets eine jugendlich wirkende, strahlende und glücklich lächelnde Frau zum Vorschein; wodurch das Stereotyp der schönen und exotischen Orientalin unter dem Schleier assoziiert wird. Zum anderen wird die Darstellung der afghanischen Frau fortlaufend mit einem modernen »westlichen« Weiblichkeitsideal kontrastiert, das zugleich als Maßstab und stille Norm fungiert. „Das neue Leben der Mädchen im befreiten Kabul. Sie träumen von Lippenstift und bunten Kleidern“, lautet etwa eine Schlagzeile der Bildzeitung (15.11.2001).

Auch wenn die Fotos nunmehr unverhüllte Personen und individuelle Gesichter zeigen, wird die Anonymität der Darstellung nicht durchbrochen; keine der entschleierten Frauen kommt selbst zu Wort oder wird mit vollem Namen benannt.

Auch in der Berichterstattung über die politische Situation in Afghanistan nach dem Sturz des Talibanregimes offenbart sich der symbolische Gehalt der fotografischen Repräsentationen. So nimmt die Bildzeitung auf die weiblichen Delegierten der Petersberg-Konferenz Bezug: Sie zeigt Sima Wali und greift in der Überschrift erneut das Stereotyp der »geheimnisvollen orientalischen Schönheit« auf: „Wer ist die schöne Afghanistan-Unterhändlerin?“ (1.12.2001). Auf politische Ansichten, Ziele oder Forderungen der weiblichen Delegierten wird hier, wie in den meisten anderen untersuchten Medien, nicht näher eingegangen. Konkrete politische An- und Absichten werden lediglich von den männlichen Protagonisten geäußert – bzw. in der medialen Wiedergabe berücksichtigt. So werden die männlichen Konferenzteilnehmer in der Regel namentlich, mit Lebenslauf und politischem Hintergrund vorgestellt, einzeln interviewt und nach ihren politischen Absichten befragt (z.B. Spiegel 48/2001), die Frauen nur im Bild gezeigt

Zusammenfassend lässt sich sagen: Die afghanische Frau wurde in den Medien weniger als Individuum wahrgenommen, sondern fungiert als Symbol für den Erfolg des Krieges und den »demokratischen« Neubeginn in Afghanistan. Auch die Thematisierung von Gewalt gegen Frauen bzw. die medial herausgestellte Empörung über die Missachtung von Frauenrechten durch die Taliban sowie die zum Beweis einer neuen Ordnung gezeigten »befreiten« und »entschleierten« Frauen bedeuten nicht zwangsläufig ein wirkliches Interesse an den Belangen der afghanischen Frauen, ihren Lebensrealitäten und der nachhaltigen Umsetzung der Forderung nach Frauenrechten.

Ein erstes Indiz dafür ist das selektive Auftauchen des Themas. Die afghanische Frau und der Verweis auf die Missachtung bzw. die Forderung nach Wiederherstellung von Frauenrechten kommen in der Berichterstattung vor allem in spezifisch thematischen Konstellationen vor und sind zudem auf einen zeitlichen Rahmen von wenigen Monaten begrenzt. Sie stehen vor allem dann auf der Agenda, wenn es um die vermeintliche Brutalität und Frauenfeindlichkeit des Gegners bzw. des Islams im Allgemeinen, das Ende der Talibanherrschaft sowie die Motive und Gründe des eigenen, außenpolitischen Handelns geht.

Des Weiteren fällt die weitgehende Ignoranz gegenüber afghanischen Frauen als aktiv und politisch Handelnde und damit als Akteurinnen und Subjekte des Diskurses ins Auge. Es überwiegt eine homogenisierende Perspektive, die die afghanische Frau primär auf die Rolle des hilflos ausgelieferten Opfers – der Taliban, des Islams oder des Krieges – reduziert. Dass eine Afghanin als Individuum, mit Namen, Beruf und eigenen Ansichten vorgestellt wird, bleibt im Kontext der gesamten Berichterstattung eine Randerscheinung. Afghanische Frauen erhalten in den Medien nur selten eine eigene Stimme; sie werden nur selten zu ihren politischen Ansichten direkt befragt, noch werden ihre spezifischen Interessen, Erfahrungen und Einschätzung in der Berichterstattung berücksichtigt. Politische Meinungen von Frauen werden zudem sehr selektiv wiedergegeben. So wurden z.B. Berichte der Organisation RAWA über die Grausamkeit der Taliban wiederholt zitiert – nicht jedoch ihre grundsätzlich ablehnende Haltung gegenüber dem Krieg. Mehrfach wurde herausgestellt, dass sich afghanische Frauen für mehr Frauenrechte einsetzen wollten, aber was sie darunter genau verstehen, wie sie sich die Umsetzung vorstellen, was ihre zentralen Ziele sind etc. ist für die Medien nicht von Bedeutung. Die reale Verbannung der afghanischen Frau aus der Öffentlichkeit wiederholt sich somit in dem medialen Sprechen über die afghanische Frau, in der ihr abermals Handlungsmacht aberkannt und eine eigene Stimme verweigert werden.

Dass das mediale Interesse an der Situation der afghanischen Frau genauso schnell wieder abebbte, wie es begonnen hatte, kann als weiterer Beleg für die Oberflächlichkeit und Symbolhaftigkeit der Darstellung interpretiert werden. Kaum jemand scheint sich heute noch für die Umsetzung der zuvor proklamierten Frauenrechte oder die tatsächliche Lage der afghanischen Frau zu interessieren. Die Forderung, Frauen in die politische Neugestaltung Afghanistans verstärkt einbeziehen zu wollen, blieb kaum mehr als ein Lippenbekenntnis. Die vormals in den Medien für ihren tapferen Widerstand gegen die Taliban gelobte Frauenorganisation RAWA wurde zu den offiziellen Nachkriegs-Verhandlungen auf dem Petersberg noch nicht einmal eingeladen, was für die Medien keinerlei Notiz oder Empörung mehr Wert war. Auch die Tatsache, dass lediglich zwei der Minister_innenposten an Frauen vergeben wurden, scheint der zuvor noch lautstark verkündeten Forderung, Frauen sollten in der neuen gesellschaftspolitischen Ordnung eine zentrale Rolle spielen, Genüge getan zu haben.

Irakkrieg

Der Feind als ein Regime frauenquälender Schurken

Der Bezug auf bedrohte oder leidende Frauen und Kinder stellt auch in dem zweiten im Namen des »Krieg gegen den Terror« geführten Krieges im Irak (offizielle Dauer 20.3.-14.4.2003) eine vordergründige Diskursfigur dar, allerdings mit anderen Vorzeichen. Die Berichterstattung über die ersten Wochen des Irakkrieges wird von einer ausgeprägten Bilderpolitik begleitet, in der Frauen, Mädchen und Kinder als Kriegsopfer, Notleidende und Flüchtlinge im Vordergrund stehen. „Am schlimmsten leiden Iraks Kinder“, titelt die Bildzeitung (31.3.2003) und präsentiert vier großformatige Fotos, die weinende und verletzte Kinder zeigen. Dieselben oder ähnliche Agenturfotos sind auch in der taz (z.B. 31.3.2003), FAZ (z.B. 31.3.2003) und im Spiegel (z.B. 15/2003) zu finden. Die Fotos zeigen überwiegend Mütter mit ihren kleinen Kindern auf der Flucht oder einzelne verletzte Kinder, wobei daran appelliert wird, dass Kinder als besonders schutzbedürftig gelten. Der Bildausschnitt ist zumeist so gewählt, dass individuelle Gesichter, geprägt von einem Ausdruck der Verzweiflung und des Schreckens, im Vordergrund stehen. Die Art und Weise der visuellen Darstellung ist von Bedeutung: „Mitleid und Mitgefühl stellen sich bei Fotos ein, auf denen identifizierbare Einzelpersonen dargestellt werden“, halten Kirchner et al. (2002, S.36) anlässlich der Berichterstattung über den Kosovokrieg fest. Diese Tradition setzt sich auch in der Irakkriegsberichterstattung fort. So werden flüchtende Männer eher als Teil einer großen Masse gezeigt, während die Ikonisierung des Leidens Frauen und Kindern bzw. Mädchen vorbehalten bleibt. Der Bezug auf »FrauenundKinder« als Opfer von Kriegsgewalt, Flucht und Vertreibung erfüllt in diesem Kontext eine den Krieg delegitimierende Funktion.

Im Unterschied zum Afghanistankrieg fällt besonders auf, dass die Symbolik des Schleiers bzw. das Narrativ von Verschleierung und Entschleierung stark in den Hintergrund tritt. Kaum noch wird in den Texten und Bildunterschriften auf die Verschleierung der irakischen Frau Bezug genommen, selbst dann nicht, wenn auf den Fotos verschleierte Frauen zu sehen sind. Das kann damit zusammenhängen, dass die Verknüpfung des Irakkrieges mit dem Feindbild Islam weniger vordergründig ist als im Afghanistankrieg.

Der Verweis auf Frauenunterdrückung und (sexualisierte) Gewalt gegen Frauen fungiert innerhalb der Irakkriegsberichterstattung in erster Linie als Beleg für eine krankhafte Grausamkeit einzelner Männer, weniger als Zeichen für die vermeintliche Rückständigkeit und Barbarei einer ganzen Gesellschaft (Taliban) oder religiösen Kultur (Islam), wie es im Afghanistankrieg der Fall war. Gewalt gegen Frauen und Frauenfeindlichkeit werden vielmehr als ein individualistisches Kennzeichen einzelner Machthaber dargestellt, allen voran als Merkmal von Saddam Hussein und seinen beiden Söhnen. Nur selten wird jedoch die Diskussion über Motivation und Beweggründe des Krieges explizit mit dem Verweis auf die Wiederherstellung oder Einführung von Frauenrechten verknüpft. Die Legitimationsfigur des »embedded feminism« entfaltet ihre Wirkmächtigkeit eher indirekt. So wird die Abscheulichkeit des Feindes, ähnlich wie bei der Dämonisierung der Taliban, vor allem mit der Entrechtung von Frauen und brutaler (sexualisierter) Gewalt gegen Frauen und Mädchen begründet. Häufig sind stark dramatisierende Berichte über Vergewaltigungen, Folter und Hinrichtungen von Frauen, um den »alltäglichen Horror« zu illustrieren: „Dies ist ein Regime, das alle Fußknochen eines zweijährigen Mädchens einzeln zerbricht, um seine Mutter zu zwingen, den Aufenthaltsort ihres Mannes preiszugeben. […] Dies ist ein Regime, das eine Frau, eine Tochter oder andere weibliche Verwandte wiederholt vor den Augen eines Mannes vergewaltigt.“ (Spiegel 5/2003) Saddam Husseins Sohn Udai wird als gefürchteter „Frauenschreck“ und „brutaler Playboy“ bezeichnet, dem die Frauen willkürlich ausgeliefert seien (alles Spiegel 25/2003). Saddam und seine Söhne ließen Frauen täglich zu ihrem eigenen Vergnügen entführen, foltern und töten, wird wiederholt betont (ebd.). Und die Bildzeitung berichtet: „Frauen, die sich im privaten Kreis gegen Saddam ausgesprochen hatten, wurden in Folterkellern wochenlang nackt gehalten, geschlagen, vergewaltigt.“ (14.2.2003)

Trotz der zumeist ablehnenden Haltung der deutschen Medien zum Irakkrieg erscheint der Krieg durch die permanente Fokussierung auf die Situation der irakischen Frauen doch zumindest moralisch gerechtfertigt, und für die Frauen einen positiven Nebeneffekt mit sich zu bringen. Wenn Saddam Hussein und seinen Söhnen das Handwerk gelegt wird, kehrt auch für die irakischen Frauen wieder Frieden ein, ließe sich der Subtext der Berichterstattung zusammenfassen.

Kurz vor dem von US-Präsident Bush sen. im April 2001 verkündeten Sieg tauchen in den Medien ebenfalls kurzzeitig Fotos und Erzählungen von geretteten und befreiten Frauen und Mädchen auf. Am 10.4.2003 zeigt die Bildzeitung zwei großformatige Fotos, die erneut die im kollektiven Bildgedächtnis fest verankerten Bilder aktualisieren. Gezeigt wird ein US-Soldat mit einem kleinen Mädchen auf dem Arm. Bildunterschrift: „Ein Bild des Friedens. Ein US-Soldat hält fürsorglich ein kleines Mädchen, das bei den Kämpfen in Bagdad leicht verletzt wurde“. Gleich daneben sieht man das Foto einer in die Kamera strahlenden jungen Frau, die ihren Daumen empor streckt. Bildunterschrift: „Daumen rauf! Ein irakisches Mädchen begrüßt die alliierten Truppen“. Auch im Text ist wiederholt von den glücklichen Frauen die Rede: „Nach drei Wochen Bombenangriffen ruft eine Frau US-Soldaten weinend zu: ‚Wir lieben euch’.“ Der Rückgriff auf die altbewährten (Geschlechter-)Stereotypen von frauenfeindlichen Schurken und heldenhaften Soldaten auf der einen, geretteten »FrauenundMädchen« auf der anderen Seite, verleiht so auch dem Irakkrieg – trotz aller Kritik – im Nachhinein einen positiven Nutzen.

Die Schleiersymbolik in der Irakkriegsberichterstattung ist zudem keineswegs so eindeutig auf die Lesart Zwang und Unterdrückung festgelegt wie es im Afghanistankrieg der Fall war. Zu beobachten ist ein wiederkehrendes Bildmotiv, welches zumeist ohne Textbezug auftritt. Die Fotos zeigen schwarz verschleierte und schwer bewaffnete irakische Soldatinnen. Die Bildunterschriften setzen die Fotos regelmäßig in Zusammenhang mit dem »Terror-Regime« und assoziieren eine bevorstehende Gefahr (für die USA). So wird etwa betont, dass es sich bei den Frauen um Sympathisantinnen Saddam Husseins handele, die sich in einem „Protestmarsch gegen die USA“ (Spiegel 5/2003) befänden und dass ein Bürgerkrieg sowie Racheaktionen gegen die USA bevor stünden. Auch die taz verfolgt eine ähnliche Bilderpolitik: Schwarz verschleierte Frauen mit großen Gewehren zieren die Titelseite am 26.3.2003, darunter heißt es: „In der Stadt Jusifija, 30 Kilometer südlich von Bagdad gelegen, rufen bewaffnete Frauen antiamerikanische Parolen“. In keinem der Artikel wird jedoch auf die bewaffneten Frauen und Soldatinnen eingegangen. Völlig ohne Textbezug symbolisieren die (verschleierten) kampfbereiten Frauen eine besondere Gefahr für die USA und den Westen. Wie schon im zweiten Golfkrieg erscheinen irakische Soldatinnen als „unweibliche Amazonen mit Killerinstinkt“ (Kassel/Klaus 2008, S.270), von denen eine besondere Bedrohung auszugehen scheint. Die Opferrolle schwenkt in „fanatische Guerillaaktivität“ (ebd.) um – ein Motiv, welches für die Darstellung von Frauen in Kriegskontexten – wenn sie als Handelnde, Kämpfende und (potentielle) Täterinnen in Erscheinung treten – ebenfalls Tradition besitzt.

Frauen als stumme Warnung vor dem Truppenabzug

Die Situation der Frauen in Afghanistan und im Irak sowie das Thema Frauenrechte rücken im Verlauf der Konflikt-Berichterstattung immer weiter in den Hintergrund. Afghanische oder irakische Frauen tauchen in den Medien nur noch zu spezifischen Anlässen auf, zum Beispiel, wenn es um das Thema freie Wahlen geht oder wenn parlamentarische Abstimmungen über die Verlängerung des Afghanistaneinsatzes der Bundeswehr anstehen. So wird die Berichterstattung über die Parlamentswahlen in Afghanistan (18.9.2005) oder die Wahlen im Irak (30.1.2005) von Fotos begleitet, die Frauen auf dem Weg zum Wahllokal oder nach erfolgter Stimmabgabe mit blau oder violett gefärbten Zeigefingern (zur Kennzeichnung, dass die Wahl erfolgt ist und um Wahlbetrug zu vermeiden) zeigen (z.B. FAZ 31.1.2005). Die Fotografien der Frauen haben erneut überwiegend Symbolcharakter: Die anonymen Frauen auf den Fotos werden zum Zeichen des geglückten demokratischen Neubeginns des Landes – bei gleichzeitigem Schweigen über die reale Lage der Frauen, ihre Interessen oder Forderungen. So zeigt die taz am 31.1.2005 unter der Schlagzeile „Irak schreitet zur Demokratie“ verschiedene Fotos von Frauen (und Männern) mit dem charakteristischen »Wahlfinger«, den sie „stolz und zufrieden“ (Bildunterschrift) in die Kamera halten. Im Innenteil der Zeitung wird der Bericht fortgesetzt, begleitet von einem Foto, das zwei Frauen bei einer Sicherheitskontrolle vor einem Wahllokal zeigt – wiederum ohne dass die Lage der Frauen Gegenstand des Artikels wäre oder Frauen selbst zu Wort kämen. Auch die Berichterstattung über die Parlamentswahlen in Afghanistan wird vor allem mit weiblichen Wählerinnen bebildert, die vor einem Wahllokal Schlange stehen (z.B. taz 19.9.2005; FAZ 19.9.2005).

Geht es um die Mandatsverlängerungen des Afghanistaneinsatzes und damit verbunden um die Bestimmung des militärischen Auftrages und der konkreten Aufgabenfelder der Bundeswehr vor Ort, ist kaum noch von der Lage der Frauen oder der Einführung von Frauenrechten zu lesen. Dies war zu erwarten, nachdem die Situation der afghanischen Frauen bereits nach dem formalen Kriegsende für die Medien kaum noch von Interesse war. Andere militärische Aufgaben wie die Verteidigung der Sicherheit, Terrorbekämpfung oder Stabilisierung des Landes stehen nunmehr im Vordergrund. Auch der Verweis auf die Burka, die vormals so oft als die schlimmste Form der Frauenunterdrückung und Missachtung der Menschenrechte skandalisiert wurde, taucht in den Texten und Bildunterschriften heute nicht mehr auf. Niemanden scheint es zu verwundern, dass die afghanische Frau die Burka gar nicht abgelegt hat, wie es noch im November 2001 in allen Medien freudig prophezeit wurde.

Das Symbol Burka ist jedoch aus den Medien nicht völlig verschwunden – die Burka bleibt vielmehr als »stille Warnung« präsent. Auf nahezu jedem Foto, das deutsche Bundeswehrsoldaten in Afghanistan zeigt, ist auch eine »Burka-Frau« zu sehen – sei sie auch noch so klein und in weiter Ferne. Die Burka-Symbolik hat sich offensichtlich etabliert und bedarf keiner expliziten textlichen Begleitung mehr. Trotzdem bleibt die »Burka-Frau« als symbolische Referenz erhalten, ihre hartnäckige Präsenz auf den Fotos fungiert wie eine beständige Wiederholung der etablierten Legitimierungsfigur »Krieg für Frauenrechte« bzw. als stumme Mahnung, dass der Militäreinsatz (vermeintlich) auch für die afghanischen Frauen geführt wird.

Literatur

Dietze, Gabriele (2006): The political Veil. Interconnected Discourses on Burquas and Headscarves in the US and in Europe. In: von Braun, Christina/Brunotte, Ulrike/Dietze, Gabriele/Hrzán, Daniela/Jähnert, Gabriele/Pruin, Dagmar (Hrsg.): »Holy War« and Gender. »Gotteskrieg« und Geschlecht. Münster, S.225-238.

Enloe, Cynthia (1990): Womenandchildren: Making Feminist Sense of the Persian Gulf Crisis. In: Village Voice, 25. September, S.29-32.

Hunt, Krista (2006): »Embedded Feminism« and the War on Terror. In: Dies./Rygiel, Kim (Hrsg.): (En)Gendering the War on Terror. War Stories and Camouflaged Politics. Hampshire, S.51-72.

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Klaus, Elisabeth/Kassel, Susanne (2008): Frauenrechte als Kriegslegitimation in den Medien. In: Dorer, Johanna/Geiger, Brigitte/Köpl, Regina (Hrsg.): Medien – Politik – Geschlecht. Feministisch Befunde zur politischen Kommunikationsforschung. Wiesbaden, S.266-280.

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Nachtigall, Andrea (2012): Gendering 9/11. Medien, Macht und Geschlecht im Kontext des »War on Terror«. Bielefeld.

Pinn, Irmgard/Wehner, Marlies (1995): EuroPhantasien. Die islamische Frau aus westlicher Sicht. Duisburg.

Dr. phil. Andrea Nachtigall ist Professorin für Gender und Soziale Arbeit an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin. Sie hat zum Thema Geschlecht und Medien im Kontext des »War on Terror« an der Freien Universität Berlin promoviert. Bei diesem Artikel handelt es sich um die gekürzte Fassung einer im Auftrag der Heinrich-Böll-Stiftung 2011 entstandenen Studie; diese ist abrufbar unter gwi-boell.de/web/gewalt-konflikt- nachtigall-embedded-feminism- legitimation-medien-3421.html.

Feind – Freund – Feind

Menschenrechte und politisch-ökonomische Interessen

von Johannes Nau

Beziehungen zwischen Individuen wie auch zwischen Politikern und Staaten sind stark geprägt von Bildern, die Akteure von ihrem Gegenüber haben. Emotionen, Vorgeschichte und nicht zuletzt persönliche Interessen und Vorteile aus der Beziehung spielen eine große Rolle bei der Frage, ob diese Beziehung freundlich-positiv oder feindlich-negativ ist. Änderungen dieser inneren Bilder und damit der Beziehungen sind allgegenwärtig und alltäglich. So gibt es viele Beispiele schwankender Relationen zwischen westlichen Regierungen und Herrschern unter anderem des Nahen und Mittleren Ostens: Da wären die guten Beziehungen Saddam Husseins mit dem Westen, die ihm noch in den 1980er Jahren die Lieferung von Rüstungsgütern, Chemieanlagen und Kernreaktoren sicherten, sich jedoch im Zuge des ersten Golfkrieges zu einer erbitterten Feindschaft wandelten. Oder die Beziehung USA-Bin Laden, der ebenfalls in den 1980er Jahren durch die USA finanziell unterstützt wurde und während der sowjetischen Besetzung Afghanistans mit der CIA kooperierte. Zum Staatsfeind Nr. 1 der USA wurde Bin Laden erst nach den Anschlägen auf das World Trade Center vom 11. September 2001.

Ein weiteres Beispiel ist die mehrfach wechselnde Beziehung zwischen Muammar al-Gaddafi und westlichen Ländern, vor allem Europas, die hier chronologisch näher beleuchtet wird.

1970er Jahre

Gaddafi wird am 01. September 1969 durch einen unblutigen Militärputsch Libyens Staatsoberhaupt und bestimmt als Revolutionsführer von 1979 bis 2011 diktatorisch die Politik Libyens.

Schon zu Beginn seiner Machtergreifung macht Gaddafi sich wenige Freunde in der Welt. Nachdem er Anfang der 1970er Jahre Palästinenser auffordert, Selbstmordattentate gegen Israel zu begehen, und allen Arabern, die für palästinensische Gruppen kämpfen wollen, anbietet, sie auszubilden und finanziell zu unterstützen, ziehen die USA ihre Botschafter aus Libyen ab.

Gaddafi lobt das »Lod Airport Massaker«, bei dem 1972 am Flughafen Tel Aviv 28 Tote und knapp 80 Verletzte zu beklagen sind, und fordert palästinensische Terrorgruppen auf, ähnliche Anschläge durchzuführen. Er spielt eine Schlüsselrolle im Gebrauch von Öl-Embargos in den 1970er Jahren, um die Ölpreise anzuheben und so den Westen (vor allem die USA) von der Unterstützung Israels abzubringen.

Er lehnt sowohl den sowjetischen Kommunismus als auch den westlichen Kapitalismus ab und beschließt einen Mittelweg.

Unter anderem unterstützt er die Provisional IRA, eine Abspaltung der Irish Republican Army, ideell und materiell, indem er beispielsweise nach einer Reihe terroristischer Anschläge sagt: „Die Bomben, die Großbritannien erschüttern und den Geist der Briten brechen, sind Bomben des libyschen Volkes. Wir haben sie den irischen Revolutionären gesandt, damit die Briten den Preis für ihre vergangenen Taten zahlen“.

Im Dezember 1979 wird die amerikanische Botschaft in Libyen – im Zuge eines Protests gegen den Aufenthalt des gestürzten Schahs von Persien in den USA – von einem Mob attackiert und in Brand gesetzt. Daraufhin erklären die USA Libyen am 29.12.1979 zu einem „state sponsor of terrorism“.

1980er Jahre

Die Beziehungen zu den USA verschlechtern sich weiter, als im August 1981 ein US-Flugzeug über internationalem Gewässer im Mittelmeer von zwei libyschen Jets beschossen wird, da Libyen dieses Gebiet für sich beansprucht. Im Oktober 1981 wird der ägyptische Präsident Anwar Sadat ermordet. Gaddafi spendet dem Attentäter Beifall und spricht von einer gerechten Strafe für Sadats Unterschrift auf dem Camp-David-Abkommen mit den USA und Israel. Zwei Monate später erklärt das US-Außenministerium US-amerikanische Reisepässe für Reisen nach Libyen für ungültig und empfiehlt ihren Bürgern, Libyen zu verlassen.

Ungeachtet der angespannten Lage mit den USA besucht 1982 eine fast 20-köpfige Delegation der österreichischen »Gesellschaft für Nord- und Südfragen« Libyen im Kontext der Friedensbewegung und auf der Suche nach neuen Bündnispartnern. Unter ihnen sind auch die deutschen Grünen Otto Schily und Roland Vogt. Im März 1982 verbietet die US-Regierung Ölimporte aus Libyen. Im gleichen Monat reist Gaddafi auf Einladung des österreichischen Bundeskanzlers Kreisky nach Wien. Zu diesem Zeitpunkt herrscht international noch Unverständnis über diese Einladung.

Bei einer Demonstration gegen Gaddafi vor der libyschen Botschaft in London werden im April 1984 Schüsse aus der Botschaft auf die Demonstranten abgegeben; es werden elf Menschen verletzt und eine Polizistin getötet. Die diplomatischen Beziehungen zwischen Großbritannien und Libyen werden daraufhin für mehr als ein Jahrzehnt eingestellt. Nach palästinensischen Angriffen auf die Flughäfen in Rom und Wien 1985 erklärt Gaddafi, er würde weiterhin solche Terroranschläge sowie die RAF, die rote Brigade und die IRA unterstützen, solange europäische Länder »Anti-Gaddafi-Libyer« unterstützen. 1986 berichtet das libysche Fernsehen, Libyen bilde Selbstmordattentäter aus, um amerikanische und europäische Interessen zu attackieren.

Für den Bombenanschlag auf die Diskothek »La Belle« in Berlin im April 1986 macht US-Präsident Ronald Reagan den nach eigenen Aussagen „tollwütigen Hund des nahen Ostens“ Gaddafi persönlich verantwortlich und ordnet Luftangriffe auf Tripolis und Bengasi an, mit dem Ziel, Gaddafi zu töten. Gaddafis Adoptivtochter fällt dieser Aggression zum Opfer, er selbst überlebt dank seiner guten Beziehung zum damaligen maltesischen Ministerpräsidenten Carmelo Bonnici, der ihn vor dem Angriff warnt.

Die Anschläge auf ein Flugzeug der amerikanischen Linie Pan Am im schottischen Lockerbie am 21. Dezember 1988 durch libysche Geheimdienstler und auf Flug 772 der französischen Fluglinie UTA im Niger am 19. September 1989 führen zu einer weiteren Verschlechterung der Beziehung westlicher Staaten zu Libyen. Es werden UN-Sanktionen gegen Libyen erlassen, welche unter anderem libyschen Flugzeugen verbieten, über das Territorium von UN-Mitgliedsstaaten zu fliegen (Resolutionen 731, 748 und 883 des UN-Sicherheitsrates).

Gaddafi unterstützt in dieser Zeit immer wieder islamistische und maoistische Terrorgruppen, unter anderem auf den Philippinen, und Paramilitärs in Ozeanien. So versucht er, die Maori in Neuseeland zu radikalisieren, um die USA zu destabilisieren, woraufhin Australien 1987 die diplomatischen Beziehungen zu Libyen abbricht. 1988 wird herausgefunden, dass Libyen im Begriff ist, chemische Waffen zu bauen.

1990er Jahre

Anfang der 1990er Jahre kommt es zu einer weiteren Zuspitzung in der Beziehung Libyens mit dem Westen: Zwei libysche Geheimdienstagenten sind mutmaßlich für die Bombenanschläge auf die beiden Flüge in den Jahren 1988 und 1989 verantwortlich. Da Gaddafi sich weigert, diese auszuliefern, beschließt der UN-Sicherheitsrat im November 1993 weitere Sanktionen gegen Libyen. Auch ein Besuch von UN-Generalsekretär Kofi Annan im Dezember 1998 bringt Gaddafi nicht dazu, die Täter auszuhändigen. Im April 1999 lenkt Gaddafi schlussendlich doch ein und liefert die Attentäter aus, damit diese auf neutralem Boden verurteilt werden können. Der Sicherheitsrat hebt die Sanktionen noch am selben Tag auf.

Im Februar 1996 gibt es einen weiteren westlichen und durch den britischen Auslandsgeheimdienst MI6 mitfinanzierten Bombenanschlag auf Gaddafis Eskorte. Mehrere Gefolgsleute Gaddafis sterben, er selbst bleibt unverletzt.

Im gleichen Jahr beschließt der US-Kongress den »Iran and Libya Sanctions Act«, der alle Firmen bestraft, die innerhalb eines Jahres mehr als 40 Mio. US$ in Libyens Öl- oder Gassektor investieren. 2001 wird der Plan um weitere fünf Jahre erneuert (und 2006 in »Iran Sanctions Act« umbenannt).

In den späten 1990er Jahren solidarisiert sich Gaddafi trotz Widerstand des Westens mit dem jugoslawischen Präsidenten Slobodan Miloševiæ, auch dann noch, als dieser der ethnischen Säuberung an Albanern im Kosovo beschuldigt und angeklagt wird. Dennoch besucht der italienische Ministerpräsident Massimo D’Alema am 2. Dezember 1999 als erster westlicher Regierungschef seit 15 Jahren Libyen. Danach suchen immer mehr westliche Politiker die Nähe Gaddafis, vor allem aus ökonomischen Interessen.

2000er Jahre

Zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts knüpft Gaddafi eine enge, jahrelange Freundschaft zu Hugo Chavez, dem Präsidenten von Venezuela. Gleichzeitig verbessern sich nach den Anschlägen auf das World Trade Center von 11. September 2001 die Beziehungen Gaddafis zum Westen deutlich: Libysche Geheimdienste werden in den »global war on terror« integriert. Libysche Offiziere identifizieren und foltern im Auftrag der CIA Libyer, die mit al Kaida in Verbindung gebracht werden. Später beschreibt die CIA „surreale Treffen“ mit libyschen Geheimdienstlern, die mit dem Anschlag auf den PanAm Flug von 1988 in Verbindung gebracht werden.

Ab 2003 kooperiert die Europäische Union mit dem libyschem Regime, um afrikanische Flüchtlinge von den EU-Außengrenzen fern zu halten. Nach Angaben von Menschenrechtlern nimmt die EU dabei auch menschenunwürdige Zustände, Folter in libyschen Internierungslagern und den sicheren Tod der Flüchtlinge durch »Verfrachtung« in die Wüste in Kauf und finanziert dies sogar zum Teil.

Im selben Jahr gibt Gaddafi bekannt, dass Libyen an der Entwicklung von Massenvernichtungswaffen gearbeitet habe. Das ABC-Waffenprogramm wird daraufhin offen gelegt und demontiert, wodurch sich das Verhältnis zum Westen weiter stark verbessert.

Nach der US-Invasion in den Irak 2003 normalisieren sich die Beziehungen des Westens zu Libyen noch mehr: Es kommt zu Waffenlieferungen an Tripolis, und es werden Abkommen über Erdölförderung abgeschlossen.

2004 hebt US-Präsident George W. Bush die ökonomischen Sanktionen gegen Libyen auf, und im Januar besucht eine US-amerikanische Kongressdelegation offiziell den libyschen Staat.

Im März des selben Jahres besucht Tony Blair Libyen und durchbricht so die lange Isolation des nordafrikanischen Staats durch Großbritannien. Er lobt Gaddafi für die Abwendung von Nuklearprogrammen, und erstmals werden Geschäftsverbindungen mit Libyen aufgenommen. Diese beinhalten unter anderem die Lieferung militärischer Ausrüstung im Wert von 40 Mio £.

Im Oktober 2004 wird eine von der deutschen Firma Wintershell betriebene Ölbohranlage in Libyen von Bundeskanzler Gerhard Schröder eingeweiht, nachdem Libyen Kompensationszahlungen für die Bombenanschläge von 1986 auf die Diskothek in Berlin getätigt hatte.

2006 polemisiert Gaddafi wieder gegen den Westen und verordnet eine dreitägige Staatstrauer nach dem Tod Saddam Husseins. Es folgen Kürzungen westlicher Subventionen in die libysche Wirtschaft. Trotzdem streichen die USA Libyen 2006 nach 27 Jahren von der Liste der Staaten, die den Terrorismus unterstützen, da Gaddafi öffentlich dem Terrorismus abgeschworen hat.

Am 10. Dezember 2007, dem Welttag der Menschenrechte, besucht Gaddafi zum ersten Mal seit 34 Jahren Paris und wird mit militärischen Ehren empfangen. Hauptgrund für Gaddafis Besuch sind Waffengeschäfte mit Frankreich. Im Jahr 2008 erfolgt der Gegenbesuch von Sarkozy in Libyen, um Nukleartechnologie an Gaddafi zu verkaufen. (Im französischen Präsidentschaftswahlkampf 2012 wird ein Dokument veröffentlicht werden, welches besagt, dass Gaddafi 2007 Sarkozys Wahlkampf mit 50 Mio. Euro unterstützt habe. Dies spiegelt gut die Wechselwirkung von persönlichen Interessen auf der einen und politischen und wirtschaftlichen Vorteilen auf der andern Seite wider).

Im Juli desselben Jahres kommt es zu einer diplomatischen Krise mit der Schweiz, da Gaddafis Sohn Hannibal und seine Gattin in Genf wegen Körperverletzung, Drohung und Nötigung angezeigt und vorläufig festgenommen werden. Libyen verhängt einen vorübergehenden Boykott auf schweizer Importe und bestimmt einen Visastopp für schweizer Bürger.

Im Januar 2009 wird Gaddafi von König Juan Carlos in Madrid empfangen. Dabei wird eine 17 Mrd. US$ schwere Investition spanischer Firmen in die libysche Wirtschaft ausgehandelt. Im August 2009 besucht der italienische Ministerpräsident Silvio Berlusconi Libyen und spricht von einer „echten, tiefen Freundschaft“ zu Gaddafi. Ein Jahr zuvor hatte die Regierung in Rom Libyen Entschädigungszahlungen in Höhe von 3,4 Mrd. Euro für die Kolonialzeit von 1911 bis 1941 zugesagt. In den 2000er Jahren importiert Italien 60% seines Öls und 40% seines Erdgases aus Libyen. Darüber hinaus verspricht Berlusconi Gaddafi über 20 Jahre jährlich 250 Mio. Euro für die Zusage, alle nordafrikanischen Flüchtlinge, die Italien um politisches Asyl ersuchen, aufzunehmen.

Am 23. September 2009 kommt es dann bei der ersten Rede Gaddafis vor der UN-Vollversammlung zu einem Eklat. Gaddafi zerreißt einige Seiten der UN-Charta. Diese sei wertlos, da es Aufgabe der Vereinten Nationen sei, Frieden zu schaffen, es stattdessen seit ihrer Gründung aber 65 Kriege weltweit gegeben habe. Weiterhin nennt er den Sicherheitsrat einen »Terrorrat«, da dieser mit Nuklearmächten besetzt sei.

2010

Trotz der Furore vor der UN-Vollversammlung wird Gaddafi im August 2010 mit allen Ehren in Rom empfangen. Im Herbst besucht er erneut Frankreich. Die beiden Staaten einigen sich auf eine strategische Partnerschaft zum Bau eines Kernkraftwerks und die Lieferung französischer Kampfjets an Libyen.

Die 2010 veröffentlichten Wikileaks-Depeschen geben Klarheit, dass die Freilassung des in England inhaftierten Lockerbie-Attentäters Abdelbasset al-Megrahi im August 2009 nicht aus medizinischen Gründen erfolgte, sondern Libyen damit gedroht hatte, es würden harte, sofortige und unversöhnliche Konsequenzen folgen, sollte Megrahi im schottischen Gefängnis sterben. Dazu gehöre der sofortige Abbruch wirtschaftlicher Beziehungen mit Großbritannien und die Bedrohung britischer Diplomaten und Bürger in Libyen.

Anlass für den erneuten und letzten Bruch zwischen Gaddafi und dem Westen ist Gaddafis Verurteilung der tunesischen Revolution im Januar 2011 und seine Solidarisierung mit Präsident Ben Ali. Nach Massenprotesten in Libyen und den ersten Toten im Februar 2011 bricht Peru am 22.2. als erstes Land die diplomatischen Beziehungen mit Libyen ab. Am gleichen Tag suspendiert die Arabische Liga die Mitgliedschaft Libyens. Gaddafi erklärt die Liga daraufhin als illegitim: „Die Arabische Liga ist erledigt. Es gibt nichts wie die Arabische Liga.“

Westliche Staaten, darunter Großbritannien und die USA, verurteilen Gaddafi für die gewaltsame Niederschlagung der Proteste in Libyen, woraufhin sich auch Europa immer mehr von Gaddafi distanziert. So erkennt Frankreich im März 2011 noch während des Bürgerkriegs, als erstes Land den Nationalen Übergangsrat als legitime Führung Libyens an. Sechs Monate später sind es bereits 98 Länder. Auch Gaddafis langjährige Freundschaft zu Italien wird von italienischer Seite auf Eis gelegt.

Am 19. März 2011 beginnt die NATO unter der Führung von Frankreich, Großbritannien und den USA einen Luftkrieg gegen das Regime. Als mutmaßlicher Kriegsverbrecher und wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit wird Gaddafi seit dem 27. Juni 2011 weltweit mit Haftbefehl gesucht. Er wird am 20. Oktober 2011 nach seiner Gefangennahme getötet.

Fazit

Wie am Aufstieg und Fall Gaddafis zu erkennen ist, waren die Wechsel in der Beziehung Libyens zu westlichen Ländern zahlreich, und sie reichten von ausgeprägten Feindschaften bis hin zu langjährigen Allianzen. Zwar kam es aus politischen Gründen immer wieder zu Brüchen mit einzelnen Staaten, diese waren jedoch auf Grund wirtschaftlicher Interessen der westlichen Länder meist nicht von Dauer. Libyen als zeitweise viertgrößter Erdölproduzent Afrikas und Besitzer von vier Prozent der weltweiten Ölreserven war für Europa und die USA zu interessant, um auf geschäftliche Beziehungen zu verzichten. Darüber hinaus konnte die EU die Lösung der Flüchtlingsfrage an Gaddafi delegieren, der – gegen entsprechende finanzielle Zuschüsse – gerne half. Besonders bemerkenswert sind Frequenz und Ausmaß der Beziehungswechsel. So liegt beispielsweise zwischen dem Beschluss einer strategischen Partnerschaft mit Frankreich für den Bau eines Kernkraftwerks sowie der Lieferung von Kampfjets und dem Bombardement Libyens unter anderem durch Frankreich im Zuge der NATO-Koalition nur ein knappes halbes Jahr.

Insbesondere die EU und die USA konnten zur Erfüllung ihrer wirtschaftlichen Interessen offenbar problemlos über die die Menschenrechte missachtenden Taten Gaddafis – von Terrorakten über die Entwicklung von Massenvernichtungswaffen bis hin zu Solidaritätsbekundungen und finanzieller Unterstützung für terroristische Gruppen – hinwegsehen. Sie machten Gaddafi immer wieder zu einem respektierten Partner und Verbündeten, um Geschäfte vor allem mit Waffen, Rüstung und Erdöl abschließen zu können. Mit ihren Rüstungsexporten an Libyen unterstützten sie nicht zuletzt auch Gaddafis Menschenrechtsverletzungen an der eigenen Bevölkerung.

Literatur

Cassola, Arnold (2011): Diktator Gaddafi und die falschen Freunde im Westen. Die Welt, 9.9.2011.

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Terroristen: Diskrete Bitte. Zehn Jahre nach dem Anschlag auf die Berliner Disko »La Belle« soll dem mutmaßlichen Attentäter der Prozeß gemacht werden. Der Spiegel 16/1996.

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Sadek, Hassan (2005): Gaddafi. München: Diederichs.

Schnurbusch, Ingrid (1994): Libyen im Fadenkreuz. Bonn: Bouvier.

Sullivan, Kimberley L. (2008): Muammar Al-Qaddafi’s Libya (Dictatorships). Minneapolis: Lerner Pub Group.

Johannes Nau ist Diplom-Psychologe. Er studiert Peace & Conflict Studies (International Double Award M.A.) an der Philipps-Universität Marburg und der University of Kent.

Medien im Krieg

Zwischen Instrumentalisierung und Widerstand

von María Cárdenas Alfonso

Im Zeitalter der Massendemokratien spielen die Medien eine immer bedeutendere Rolle: Sie stellen die Kommunikation zwischen verschiedenen Akteuren her und erfüllen Aufgaben, die das demokratische Funktionieren des Staates sichern und kontrollieren sollen. In bewaffneten Konflikten und militärischen Auseinandersetzungen ist die Handlungsfreiheit der Massenmedien jedoch oft durch zunehmenden Leistungsdruck, erschwerte Arbeitsbedingungen und politische Instrumentalisierungsversuche eingeschränkt. Welchen Grad der Handlungsfreiheit die Journalisten bei ihrer Berichterstattung aufrecht erhalten können, hängt von unterschiedlichen Faktoren ab.

Die Rolle der Massenmedien in Konflikten

In demokratischen Gesellschaften kommt den Massenmedien aus einer normativen Perspektive eine zentrale Rolle zu:

  • die Vermittlung zwischen verschiedenen Akteuren (insbesondere Exekutive und Bevölkerung),
  • die Kontrolle der demokratischen Institutionen und der Exekutive sowie
  • die (De-) Legitimation von politischen Entscheidungsprozessen.

Mittels Watchdog-Journalismus, Agenda-Setting und Gatekeeping stellen die Massenmedien die Kommunikation zwischen Exekutive und Bevölkerung her, definieren gesellschaftlich relevante Themen, sollen Rezipienten helfen, sich in ihrer Gesellschaft zu orientieren, und beeinflussen somit auch den Meinungsbildungsprozess.

Je mehr Nachrichtenfaktoren auf ein Ereignis zutreffen, desto wahrscheinlicher ist seine massenmediale Berücksichtigung durch Nachrichtenagenturen, Journalisten und Redakteure (vgl. Galtung und Ruge 1965). Mit Blick auf Kriegshandlungen wird schnell deutlich, dass diese einen Großteil relevanter Nachrichtenfaktoren (z.B. Aktualität, Relevanz, Negativität) erfüllen und ihnen daher in den Massenmedien große Beachtung geschenkt wird (vgl. Eilders und Hagen 2005, S.206).

Gleichzeitig wird hier auch ein erster Konflikt zwischen Medienlogik und konfliktpräventiver, deeskalierender und pazifistischer Medienberichterstattung sichtbar: Politische Konflikte erlangen meist erst dann massenmediale Aufmerksamkeit, wenn sie eskalieren und gewaltsam ausgetragen werden. Denn durch die Militarisierung eines Konflikts kann die inhaltliche Komplexität des politischen Konflikts auf die militärische Austragung desselben reduziert werden: Kurzfristige Ziele (z.B. militärische Siege) treten in den Vordergrund, da sie aktuell und eindeutig identifiziert und vermittelt werden können, die politischen Motive der einzelnen Akteure treten derweil jedoch in den Hintergrund. Dies erschwert es allen beteiligten Akteuren, in einen inhaltlichen Dialog über die politischen Interessen der jeweiligen Konfliktakteure und in einen beratenden Prozess zu treten. Besonders problematisch ist dieses Phänomen für den Unterlegenen, für den es so unweit schwieriger ist, seine politischen Forderungen zu vermitteln und (deeskalierende) politische Unterstützung, beispielsweise aus der Bevölkerung, für seine Interessen zu bekommen.

Aufgrund der Bedeutung für die politische Legitimation, die massenmedialer Kommunikation im Zeitalter der Massendemokratien zukommt, werden Ereignisse zunehmend medialisiert und entsprechend aufbereitet, um sie der Medienlogik (und insofern auch den Nachrichtenfaktoren) anzupassen. Vor diesem Hintergrund wird in der Aktualität häufig von einer Mediendemokratie gesprochen (vgl. u.a. Schatz, Rösler, Nieland 2002; Sarcinelli 2005). In bewaffneten Konflikten ist diese Situation besonders problematisch: Politische Akteure versuchen, die Medien für ihre Darstellung der Ereignisse zu instrumentalisieren. Gleichzeitig sind die Medien aber nicht als »neutrale Leinwand« zu betrachten, „auf die die Konfliktparteien ihre Bilder vom Krieg projizieren können“ (Brüggemann und Weßler 2009, S.635). Sie sind vielmehr ebenso ein politischer Akteur, der allerdings auch die sich im Spannungsfeld zueinander befindenden Interessen seiner Kundschaft (sowohl Mediennutzer bzw. Rezipienten als auch Anzeigenkundschaft) und Informanten (Militär, Regierung, politische Elite u.a.) berücksichtigen muss.

Die Medialisierung von Kriegen

Mit dem Aufkommen erster Tageszeitungen begann auch die mediale Begleitung von Kriegen. Der Krimkrieg (1853-1856) wurde als erster von Journalisten unabhängiger Tageszeitungen begleitet; die Medien erkannten den ökonomischen Mehrwert der Kriegsberichterstattung. Um dem Kontrollverlust durch unabhängige Kriegsberichterstattung vorzubeugen bzw. ihn zu vermeiden, entwickelten Staaten in den folgenden Weltkriegen Strategien zur Informationskontrolle und Staatspropaganda. Die Relevanz der Medien wurde mit der erstmaligen audiovisuellen Berichterstattung während des Vietnam-Kriegs besonders deutlich: Zwar wurde die Informationslage durch das US-Militär kontrolliert, jedoch führte die audiovisuelle »Teilhabe« am Krieg auch zu einer wachsenden Aufmerksamkeit in den USA. Die Bilder sorgten für eine stärkere Empathie mit den Opfern des Krieges einerseits, den eigenen, fallenden Soldaten andererseits und wirkten sich anfangs kriegsbefürwortend, später zunehmend kriegskritisch aus.

Als Reaktion auf die Bedeutung der Medien für die öffentliche Meinungsbildung zu kriegerischen Handlungen bildete sich parallel zur technologischen Entwicklung der Massenmedien (Live-Berichterstattung ) in den USA eine zunehmende Informationskontrolle durch Exekutive und Militär aus: Während im zweiten Golfkrieg 1990/91 nur ausgewählte Journalisten Einsätze begleiten durften und ihr Material untereinander teilen mussten (Pool-System), wird die Informationslage seit dem Afghanistankrieg durch »Embedded Journalism« und eine Informationsdoktrin kontrolliert, die die Informationsüberlegenheit zur Priorität allen militärischen Handelns erhebt (vgl. Szukala 2005). Insofern wurde anerkannt, dass der Krieg auch durch die Informationshoheit und Öffentlichkeitsarbeit (PR) entschieden wird: um Gegner einzuschüchtern, Alliierte für eine Unterstützung zu gewinnen und die eigene Bevölkerung für eine scheinbar unumgängliche militärische Lösung zu motivieren. Hierfür hat das US-Militär verschiedene Strategien entwickelt, die sich sowohl an die eigene Bevölkerung als auch an den Gegner wenden: die Störung der gegnerischen Informationsprozesse durch Überinformation (Information Overload), systematische Täuschungsmanöver (Deception) und die Vervielfältigung der Wirkung von Waffen durch Kommunikation (Force Multiplication). Diese durch die Exekutive beeinflusste Informationslage kann »Rally-around-the-flag«-Effekte verstärken, mit denen die Gesellschaft (und auch die Medienwelt) gegen den äußeren Feind geeint wird und sich hinter den Präsidenten stellt.

Der »Rally-around- the-flag«-Effekt

Die Wahrnehmung der Bevölkerung, »angegriffen zu werden« und »sich verteidigen zu müssen« ist ein essentielles Requisit, um einen Krieg legitimieren und durchsetzen zu können. Die Beteiligung eigener Soldaten an einem als unvermeidlich angesehenen Konflikt kann zu einem (kurzfristigen) Bedürfnis nach patriotischer Berichterstattung führen, welches es den Medien zu Beginn einer Kriegshandlung erschwert, eine kritische Haltung einzunehmen: „Die öffentliche Meinung tendiert dazu, die Regierungsposition zu stützen und Kritik als unpatriotisch zu tabuisieren“ (Brüggemann und Weßler 2009, S.642). Diese »Rally-around-the-flag«-Effekte (RATF-Effekte, »sich um die Flagge scharen«) konnten sich bislang vor allem in den USA feststellen lassen, beispielsweise im Zuge internationaler Finanzkrisen oder bzgl. des Kampfes gegen den Terrorismus (ebd.).

Kulturelle und sozialpsychologische Phänomene können eine zentrale Rolle für die Anfälligkeit einer Gesellschaft für den RATF-Effekt und seine Ausprägung spielen. So spricht eine patriotische Grundhaltung der Bevölkerung dafür, sich als eine positiv konnotierte Ingroup zu verstehen, die, wenn sie sich von einer Outgroup angegriffen fühlt, diese negativ konnotiert und somit eine militärische Initiative leichter legitimieren kann. Für die Frage nach der Legitimation von Gewalt spielt hier eine besondere Rolle, welche Assoziationen eine Gesellschaft mit militärischer Gewalt verbindet: Sind mit ihr positive Assoziationen und Stolz verbunden, wie z.B. durch eine erkämpfte Unabhängigkeit, ist der RATF-Effekt wahrscheinlicher, als wenn militärische Gewalt negative Assoziationen weckt, wie es bislang in Deutschland der Fall war. Insofern handelt es sich bei der Frage nach einer kritiklosen Unterstützung von Regierungen immer auch um die Prägung eines Diskurses, der eine wahrgenommene reelle oder symbolische Bedrohung der eigenen Nation forciert. Nimmt die Bevölkerung diese Bedrohung als gegeben wahr, anstatt sie kritisch zu hinterfragen und nach alternativen Handlungsmöglichkeiten zu suchen, ist ein RATF-Effekt wahrscheinlicher und eine Abhängigkeit der Medien von der politischen Agenda größer.

Elitendissens und unpatriotischer Pazifismus

Für die Frage, ob die Massenmedien eine zur Regierungslinie alternative Deutung des Geschehens einbringen können, ist außerdem die Breite des Meinungsspektrums im politischen Establishment und innerhalb der Regierung als relevant zu erachten (vgl. Brüggemann & Weßler 2009). Ein Elitendissens und eine von der Regierungslinie distanzierte Opposition ist also förderlich für die Medienfreiheit. Unter den sozialpsychologischen Faktoren eines »Rally-around-the-flag«-Effekts jedoch ist er relativ unwahrscheinlich. Denn auch die politische Elite kann es sich nicht leisten, als unpatriotisch stigmatisiert zu werden. Hiermit wird deutlich, dass eine von der Regierung gewollte militärische Eskalation durch Medien und politische Opposition nur noch schwer zu vermeiden ist, sobald die Bevölkerung eine unmittelbare und essentielle Bedrohung der Nation wahrnimmt. Allerdings hat die Vergangenheit auch gezeigt, dass insbesondere der Verlust vieler eigener Soldaten in einem Krieg ohne Aussicht auf einen (schnellen) Erfolg zu einem Diskurswechsel führen kann (im Vietnamkrieg ebenso wie im Afghanistankrieg). In solch einer Situation können die Medien im Sinne von »media follows change« alternative Deutungsmuster anbieten, die eine friedensfördernde Position vertreten und eine schnelle Beendigung der militärischen Auseinandersetzung unterstützen. Diesbezüglich ist die Ausrichtung und Positionierung der Medien selbst sowie die Beschaffenheit des Mediensystems von besonderer Relevanz.

Autonomie der Medien und journalistisches Selbstbild

Der Grad der Autonomie der Medien selbst ist für eine kriegskritische Haltung gegenüber der Exekutive von zentraler Bedeutung. So schwächt eine starke Kommerzialisierung der Medien durch ihre Abhängigkeit von Werbekunden und Einschaltquoten die Handlungsfähigkeit und zwingt die Medien zu opportunistischem Handeln bzw. fördert die Tendenz, Publikumsmeinungen zu reproduzieren, statt stets neu zu hinterfragen (Brüggemann und Weßler 2005, S.647f). Ein öffentlich-rechtliches Rundfunksystem wie in Deutschland kann durch seine (weitgehende) Unabhängigkeit von nationaler Politik und Wirtschaft privat-kommerzielle Medien unter Leistungs- und Konkurrenzdruck setzen und so insgesamt das journalistische Niveau heben bzw. halten. Einen ähnlichen Effekt könnte auch ein pluralistisches Mediensystem haben, sofern es dezentral strukturiert und durch Qualitäts- bzw. Leitmedien geprägt ist. Auch ist die Frage entscheidend, ob die Medien von allen beteiligten Konfliktparteien genutzt werden. Dann stiegt der Druck, Informationen der Akteure zu überprüfen und so neutral wie möglich zu formulieren oder sogar eine Vermittlerfunktion zu übernehmen (ebd.).

Gleichzeitig spielt auch das Selbstbild der Journalisten eine zentrale Rolle: So kann sich das Bild des »neutralen Beobachters« auch negativ auf die Konfliktentwicklung auswirken, indem Kriegspropaganda möglicherweise unkommentiert wiedergegeben wird. Medienakteure können, je nach ihrer (Un-) Abhängigkeit gegenüber dem politischen System und anderen Faktoren, mehr oder weniger autonom Nachrichten deuten und kommentieren. Ebenso können sie auch bewusst eine ideologiegeleitete Haltung und politische Position beziehen. So ist der »Journalism of Attachment«, der sich besonders in den USA herausgebildet hat, als eine bewusste politische Positionierung der Journalisten im »Kampf gegen das Böse« zu verstehen. Er beinhaltet bewusst eine »patriotische« Parteinahme. Dies bedeutet nicht nur, sich hinter den Präsidenten zu stellen, sondern auch, offizielle Informationen nicht zu hinterfragen. Damit stehen sie oft einer friedlichen Lösung von Konflikten entgegen und befürworten den militärischen Weg (Hanitzsch 2004, S.179 ff.).

Medienfreiheit im Krieg?

Bereits zu Beginn des Artikels wurde auf die Problematik der Nachrichtenfaktoren eingegangen und festgestellt, dass die Medien aufgrund von Medienlogik und Orientierungsfunktion in kriegerischen Auseinandersetzungen dazu verleitet werden, zugrunde liegende Motive zu vereinfachen und militärische Fakten in den Mittelpunkt zu stellen. Hierdurch kommt es häufig zu einer verkürzten Darstellung der Konfliktursachen und der politischen Forderungen der Konfliktparteien, was unwillentlich zu einer weiteren Polarisierung des Konflikts beitragen kann. Gleichzeitig erweist sich die Informationsbeschaffung in Zeiten des Krieges für die Massenmedien als sehr problematisch, da die Regierungen, allen voran die USA, strategische Informationskontrolle als übergeordnetes Ziel militärischer Handlung definieren und den Zugang zu Informationen, wie zuletzt im Afghanistankrieg, von der Einbettung in die US-amerikanische militärische Infrastruktur abhängig machen. Für Journalisten ist also eine von der Regierung »unabhängige« Informationsbeschaffung in bewaffneten Konflikten und damit eine kritische Berichterstattung zunehmend schwierig geworden.

In diesem Kontext ist die Diversifizierung des bislang durch europäische und US-amerikanische Medien kontrollierten internationalen Mediensystems durch die Entstehung von international einflussreichen und von den USA und Europa unabhängigen Medienoutlets (z.B. Al Jazeera) zu begrüßen: CNN, BBC, Reuters u.a. müssen nun „mit einer jungen Generation politisch relativ unabhängigen Satelliten-Nachrichtenfernsehens aus der arabischen Welt um Informationen aus den Konfliktregionen im Nahen und Mittleren Osten und in der Berichterstattung über asymmetrische Konflikte wie den diffusen internationalen Terrorismus“ konkurrieren (Hahn 2005, S.241). Dies könnte sich positiv auf die journalistische Qualität und Unabhängigkeit der etablierten Medien auswirken.

Wenngleich es Konzepte wie den Watchdog- und den Friedensjournalismus gibt, die aktiv versuchen, die Informationshegemonie des Staates zu brechen und ihn zu kontrollieren, stellt sich bei beiden die Frage nach der Wirkung: Auch wenn ihre grundlegend pazifistische und kritische Haltung durchweg positiv zu beurteilen ist, so bleibt es für sie problematisch, an relevante Informationen zu kommen und diese zu überprüfen. Die USA schlossen im zweiten Golfkrieg beispielsweise kritische Berichterstatter aus dem »Pool-System« aus.

Wenn die Nachfrage für sensationsorientierten und verkürzenden Journalismus steigt und die Anerkennung investigativen Journalismus und/oder öffentlich-rechtlicher Mediensysteme (die eine gewisse Unabhängigkeit der Medien absichern können) sinkt, werden Watchdog-Journalismus und Friedensjournalismus weiterhin lediglich bei einer kleinen Minderheit Gehör finden – so wie es bei Indymedia und anderen Grassroots-Medien der Fall ist. Eine Ausnahme sind hier »Whistleblowers«, die aus dem System heraus (z.B. als Regierungsmitarbeiter oder Angestellte des Militärs) Informationen über Unstimmigkeiten, Lügen und Verbrechen medienwirksam an die Öffentlichkeit geben.1 Insgesamt bleibt aber fraglich, inwiefern sich durch Informanten aus dem Inneren des Systems und Untergrundmedien bewusste Fehlinformationen und Falschaussagen der Exekutive nicht nur aufdecken und evtl. öffentlichkeitswirksam entlarven lassen, sondern auch eine nachhaltige Wirkung erzielt werden kann.

Das Internet zeigt die wachsenden Möglichkeiten eines zivilgesellschaftlichen Bottom-Up-Journalismus, der unabhängig von der Exekutive recherchieren und internationale Verbreitung finden kann. Andererseits darf aber nicht übersehen werden, dass das kostenfreie Internet höhere Medienkompetenzen beim Nutzer einfordert (bspw. die Auswahl seriöser Quellen) und auch Printmedien bedroht. Letztere können ihre Existenz oft nur noch durch Ausgabensenkung und eine höhere Abhängigkeit von Werbekunden sichern, was eine Qualitätskontrolle sowie die Überprüfung von Fehlinformationen erschwert. Hierdurch steigt die Wahrscheinlichkeit der Reproduktion von Falschaussagen – umso mehr, als gleichzeitig auch viele Informationsmedien aus dem Internet die Printmedien als Informationsquelle nutzen.

Medienkonsum darf also nicht nur als Informationsaufnahme verstanden werden, sondern auch als eine gesellschaftspolitische Grundhaltung. Die Qualität der Medien hängt dabei neben strukturellen, politischen, sozialen und kulturellen Faktoren auch von der kritischen Würdigung, Unterstützung und Kontrolle durch die Zivilgesellschaft ab. Letztendlich ist Medienkonsum „immer auch ein dramatischer und ritueller Akt, in dem gesellschaftliche, kulturelle und subkulturelle Normen und Werte thematisiert und reproduziert werden“ (Krotz 1998, S.68). Inwiefern Massenmedien sich unabhängig von der politischen Agenda bewegen (können), ist also auch eine Frage der Nachfrage.

Anmerkungen

1) Zum Beispiel Daniel Ellsberg, der mit der Veröffentlichung der »Pentagon-Papiere« (geheimer Akten über die US-Kriegsführung in Vietnam) zum Ende des Vietnamkrieges beitrug, oder auch Bradley E. Manning, der beschuldigt wird, u.a. geheime US-Militärdokumente über den Beschuss und den Tod irakischer Zivilisten an Wikileaks weitergegeben zu haben.

Literatur

Brüggemann, Michael und Weßler, Hartmut (2009): Medien im Krieg. Das Verhältnis von Medien und Politik im Zeitalter transnationaler Konfliktkommunikation. In: Politische Vierteljahresschrift, Nr. 42, hrsg. von Marcinkowski, Frank und Pfetsch, Barbara, S.635-657.

Hahn, Oliver (2005): Arabisches Satelliten-Nachrichtenfernsehen. In: Themenheft »Medialisierte Kriege und Kriegsberichterstattung«. Medien & Kommunikationswissenschaft, hrsg. von Eilders, Christiane und Hagen, Lutz M., 53. Jg., 2005/2-3, S.241 ff.

Hanitzsch, Thomas (2004): Journalisten zwischen Friedensdienst und Kampfeinsatz. Interventionismus im Kriegsjournalismus aus kommunikationswissenschaftlicher Perspektive. In: Martin Löffelholz (Hrsg.): Krieg als Medienereignis II: Krisenkommunikation im 21. Jahrhundert (War as Media Event: crisis communication in the 21st century). Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, S.169-193.

Krotz, Friedrich (1998): Kultur, Kommunikation und die Medien. In: Saxer, U. (Hrsg.): Medien-Kulturkommunikation. Publizistik – Vierteljahreshefte für Kommunikationsforschung, Sonderheft 2/1998, S.67-85.

Szukala, Andrea (2005): Informationsoperationen und die Fusion militärischer und medialer Instrumente in den USA. In: Themenheft »Medialisierte Kriege und Kriegsberichterstattung«. Medien & Kommunikationswissenschaft, hrsg. von Eilders, Christiane und Hagen, Lutz M. (Hrsg.), 53. Jg., 2005/2-3, S.222 ff.

Wolfsfeld, Gadi (1997): Media and Political Conflict. News from the Middle East. Cambridge: Cambridge University Press.

María Cárdenas Alfonso ist Staats- und Kommunikationswissenschaftlerin (B.A.). Zurzeit studiert sie Friedens- und Konfliktforschung (M.A.) an der Philipps-Universität Marburg und ist Mitglied des Redaktionsteams von W&F.