Lernen aus dem Scheitern

Lernen aus dem Scheitern

Ist der Bund bereit, »Lehren aus Afghanistan« zu ziehen?

von Conrad Schetter

In zwanzig Jahren deutscher Beteiligung an der Intervention in Afghanistan gab es aus dem politischen Raum nur äußerst spärlich Stellungnahmen zur Situation: Hin und wieder ein Fortschrittsbericht zu Afghanistan, beeindruckende Zahlen über den Bau von Straßen, die Alphabetisierung von Kindern oder die verbesserte Wasserversorgung. Selbstkritik gab es kaum.

30 Monate nach der Rückkehr der Taliban und dem Scheitern der Intervention jedoch überschlagen sich nun Bundesregierung und Bundestag mit zerknirschter Selbstkritik: Ende 2023 erschien die ressortgemeinsame Evaluation von Auswärtigem Amt, BMZ und BMI. Ende Februar 2024 veröffentlichte die Enquete-Kommission »Lehren aus Afghanistan für das zukünftige vernetzte Engagement Deutschlands« ihren Zwischenbericht. Auf insgesamt fast 900 Seiten zeichnen Evaluation und Enquete ein verheerendes Bild des Scheiterns in Afghanistan minutiös nach.

Positiv muss man hervorheben, dass sich mit Evaluation und Enquete der politische Raum seiner Verantwortung stellt, und in Afghanistan gemachte Fehler schonungslos offengelegt werden. Das ist bemerkenswert und Zeichen einer lebendigen demokratischen Kultur. Dass das Verteidigungsministerium sich an der Evaluation nicht beteiligte und damit die Antwort schuldig bleibt, inwiefern es bereit ist, aus Afghanistan lernen zu wollen, ist eine verpasste Chance.

Die Berichte verdeutlichen eindrücklich, was in 20 Jahren Afghanistanpolitik schief lief: Der politische Apparat zeigte kaum Interesse daran, Afghanistan zu verstehen; gesellschaftliche wie politische Kontexte wurden in Zielsetzungen des Einsatzes kaum berücksichtigt. Das Wünschenswerte bestimmte die Agenda, nicht das Machbare. Die Liste des Versagens ist lang. Interessant ist vor allem, dass gerade bei den Anhörungen in der Enquete-Kommission der Eindruck entstand, dass die politischen Entscheidungsträger*innen genau zu wissen schienen, was in Afghanistan schief lief und letztlich von der Bilanzierung des Scheiterns nicht überrascht waren. Alle schienen von den Missständen der Intervention zu wissen, aber vermittelten nach außen hin stets ein anderes Bild.

Worauf auch Zwischenbericht und Evaluationsberichte keine Antwort haben: Weshalb setzte sich dieses Versagen über ganze 20 Jahre hinweg fort – ohne dass kritische Stimmen erhoben wurden; ohne dass sich in den Ministerien eine Fehlerkultur etablierte; ohne dass Anpassungen vorgenommen wurden. Alle wussten, dass sich die Intervention in Afghanistan auf den Abgrund zu bewegte; alle sahen geradezu gelähmt zu, aber niemand ergriff Gegenmaßnahmen. Weder forderte der Bundestag – wie es etwa das niederländische Parlament tat – Zwischenevaluationen, von denen er seine Zustimmung zu einer Mandatsverlängerung hätte abhängig machen können; noch gab es Reporting- und Kommunikationsschleifen in den Ministerien, die die ungeschönte Weitergabe von kritischen Einschätzungen über die verschiedenen Hierarchien in den Ministerien bis hin zu Minister*in und Kanzler*in ermöglicht hätten. Dies ist der eigentliche, unausgesprochene Befund der nun vorliegenden Berichte, der einen vor Schreck erstarren lässt. Denn er wirft ein ganz grundsätzliches Schlaglicht auf das Versagen der deutschen Politik im Umgang mit Fehlentwicklungen.

Viele der Vorschläge in den jetzt vorliegenden Berichten zum »Lernen aus Afghanistan« sind gut, aber nicht neu – und sie gehen allesamt nicht die Frage an, wie eine andere Fehlerkultur in den politischen Apparaten etabliert werden kann und wie bei eklatanten Fehlentwicklungen gegengesteuert werden kann. So verwundert es nicht, dass sich schon die ersten Stimmen in den Ministerien erheben, die Afghanistan als einen einmaligen Vorgang bezeichnen, der sich nicht wiederholen wird. Af­ghanistan erscheint so als ein Unfall. Diese Bewertung ist praktisch. Denn man kann dann an den bestehenden Grundfesten der politischen Praxis festhalten. Doch genau hier liegt der Fehler. Wenn es eine Lehre gibt, so ist es diese: Eine nachgängige Analyse kann einen angerichteten Schaden nicht wieder gut machen.

Das Plädoyer ist daher ein Einfaches. Aufgrund der Begrenztheit des institutionellen Lernens von Ministerien und Parlament bedarf es einer kritisch-konstruktiven Beratung und Kontrolle von Außen. Konkret sollte jeder Auslandseinsatz von Beginn an von einer unabhängigen Expert*innenkommission begleitet werden, um Fehlentwicklungen im Einsatz frühzeitig zu erkennen und zu analysieren, um politische Entscheidungsträger*innen auf allen Ebenen zu beraten und um die Arbeit der Ministerien zu überwachen. Vielleicht ringt sich ja die Enquete-Kommission am Ende zu solch einer Empfehlung durch; vielleicht ist dies aber auch nicht nötig, da die Ministerien doch weit selbstkritischer sind, als ich hier angemerkt habe, und in ihren Häusern robuste Mechanismen einer Fehlerkultur einführen. Das wäre die wünschenswerteste Lehre aus Afghanistan.

Conrad Schetter ist Direktor des Bonner Zentrums für Konfliktforschung bicc und arbeitet seit vielen Jahren u.a. zu Räumen der Gewalt in Afghanistan.

Alternativen denken, Handlungsräume eröffnen

Alternativen denken, Handlungsräume eröffnen

Um mich herum erlebe ich den Militarisierungsschub alltäglich: den der Köpfe und Herzen in den Gesprächen mit Nachbar*innen, der rüstungs- und exportpolitischen Entscheidungen, wenn ich die Zeitung öffne, der Popkultur, wenn Kampfpanzer zu niedlichen Tierchen werden (»free the leo«), aber auch der Rhetorik, der Diplomatie und der internationalen Foren. Ich meine: Was in der Vergangenheit ein vermeintlicher Konsens über militärisch eher zurückhaltendes außenpolitisches Handeln und die notwendige Ergänzung militärischer Mittel durch Diplomatie, Zivile Konfliktbearbeitung und Mediationsexpertise war, wird immer weiter in eine sicherheitspolitische Engführung gedrängt.

In diesen Zeiten fällt es schwer, Alternativen zu denken und zu diskutieren oder mit diesen durchzudringen. Allzu leicht werfen sich Diskussionspartner*innen Vorwürfe von Kriegsrechtfertigung, Mitschuld durch Untätigkeit oder anderes an den Kopf – und auch nicht immer ist die kühle Argumentation für alle überzeugend, gar nachvollziehbar. Das geht mir ganz persönlich so und auch in der Friedenswissenschaft ist die fachinterne Diskussion voll entbrannt.

Als W&F verstehen wir unseren Auftrag so, dass wir die Ergebnisse der Friedens- und Konfliktforschung nutzen sollten für die Suche nach gewaltaversen Interventionsformen für Prävention, Deeskalation und Konflikttransformation. Wir sind überzeugt, dass Friedenswissenschaft hierzu empirisch belastbare Daten und Konzepte zur Verfügung stellt, die noch Jahre später wieder aktualisierbar sind: So beispielsweise die Kritik an der Dynamik, die Dieter Senghaas vor 50 Jahren als „organisierte Friedlosigkeit“ »autistischer« Systeme (heute müsste ein anderer Begriff gewählt werden) bezeichnet hatte. Letztere kam in 2022 wieder voll en vogue unter dem Deckmantel »realistischer« Politik, die Kritik daran hält auch jetzt noch stand. Oder als ein anderes Beispiel die Anwendung der »Neun Stufen der Konflikteskalation« von Friedrich Glasl für die Analyse der Eskalationsgeschichte zwischen Russland und der Ukraine.

Daher nähern wir uns mit diesem Heft der Frage, welche Handlungsräume eröffnet werden könnten für Deeskalation, Kooperation, alternative Sicherheitserzählungen und welche Gefahren in einer dauerhaften Bedrohungserzählung liegen. Es ist die Suche nach gangbaren Alternativen. Diese Perspektive verbindet diesmal alle Beiträge des Schwerpunktes mit den weiteren Beiträgen in der hinteren Hälfte des Heftes und dem Dossier, das die Frage nach dem Auftrag und Wesensgehalt der Friedensforschung stellt (»Quo vadis Friedensforschung?«).

Heinz Gärtner eröffnet diesen Schwerpunkt mit einem Blick auf »engagierte Neutralität«, also einer außenpolitischen Form der Positionierung, die sich nicht auf die Logiken eskalierender Militärbündnisse einlässt ohne dabei inhaltlich einen normativen Kompass vermissen zu lassen. Lukas Mengelkamp ergänzt die historisch informierte Perspektive um einen Blick in die Geschichte der »alternativen Verteidigungskonzepte«. Er diskutiert darin die deeskalierenden Möglichkeiten defensiver Verteidigungskonzeptionen – die immer noch militärische Verteidigung wären –, die ein Gegenkonzept zu massiven Battle Group Aufstellungen im Baltikum bieten könnten.

Tobias Rothmund führt uns die gesellschaftlichen Folgen andauernder Bedrohungskommunikation vor Augen und weist Auswege. Simon Weiß verweist uns auf die Notwendigkeit, schon heute über die Eskalation hinauszudenken, und fordert uns auf, die Rolle und Aufgabe der OSZE auch in hoch eskalierten Situationen immer neu zu denken und zu sichern.

Alternativen denkbar zu machen, Handlungsräume zu eröffnen – das ist auch der Kern eines Anliegens in eigener Sache: Seit 40 Jahren erscheint W&F. Im Oktober 1983 hielten die Leser*innen die erste gedruckte Ausgabe in Händen. In vierzig Jahren hat sich vieles verändert, aber Sinn und Zweck einer friedens­politischen Vierteljahreszeitschrift sind immer noch gegeben – heute vielleicht stärker, als wir in den letzten Jahren gehofft hatten. Gerade in diesen Zeiten und der schieren Masse an zur Verfügung stehenden Wissensangeboten zur Frieden und Konflikten, Krieg und Gewalt muss W&F helfen, das fast unüberblickbare »Zuviel« zu sichten, zu lichten, zu bewerten und zu »übersetzen«.

Nun also dieses 40. Jubiläum in einer Zeit in der Friedenswissenschaft, Friedensbewegung und allgemeine politische Öffentlichkeit vor riesigen Herausforderungen stehen – immer noch und wieder neu. Daher bieten wir zum Jubiläum eine große Plattform, um gemeinsam friedenswissenschaftliche Erkenntnisse, Theorien, Konzepte und auch Alternativen zu einem militarisierten »Normal« zu diskutieren, die uns helfen können, zu einer friedlicheren Welt zu gelangen. Wir laden dazu herzlich zum Symposium »Wissenschaft für den Frieden« am 6. und 7. Oktober 2023 nach Bonn ein (siehe Aufruf für Beiträge, S. 52).

Passend zu diesem Jubiläumsjahr erscheint W&F nun auch als ­vierfarbig gedruckte Zeitschrift, wir hoffen, es gefällt Ihnen und euch. Das farbige Register soll eine leichtere Übersicht über die Themen im Heft bieten, die im Heft abgedruckte Kunst erhält endlich ihren angemessenen Stellenwert. So wollen wir das Lesevergnügen auf die nächste Stufe heben,

Ihr David Scheuing

Das Mali-Desaster


Das Mali-Desaster

von Jürgen Nieth

„Die EU droht dem Krisenland Mali für den Fall eines Einsatzes der russischen Söldnerfirma Wagner mit einem Ende der Unterstützung. Dann wäre eine ‚rote Linie überschritten, sagte der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell nach Beratungen der Außenminister.“ (ZDF-Text, 18.10.21, 22:22 Uhr). Ein mögliches Ende des Bundeswehrengagements, bei einem Einsatz russischer Söldner in Mali, hatte Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer bereits Mitte September angedacht. Es geht dabei um die deutsche Beteiligung an der »Europäischen Ausbildungsmission« (EUTM) und dem Einsatz im Rahmen der Vereinten Nationen (MINUSMA).

Daniel Lücking kommentiert das im nd (21.09.21, S. 2): „Mali erlebte in den vergangenen Jahren zwei Putsche, wird derzeit von einer Militärregierung geführt. All das während seit vielen Jahren laufender UN- und EU-Militäreinsätze. Grund für einen Abzug von Truppen waren die Putsche nie. Nun aber reichen Gerüchte um einen angeblich von Bamako geplanten Einsatz russischer Söldner, um laut über ein Ende des deutschen Engagements nachzudenken.“ Und für Sabine Kebir ist die „Empörung des Westens über einen Einsatz russischer Söldner in Mali […] ebenso wenig glaubhaft, wie es in Bezug auf Libyen oder Syrien ist. Bedient man sich doch selbst in eben diesen Ländern nicht nur etlicher Private Military Contractors, sondern zugleich zehntausender Söldner.(Freitag, 30.09.21, S. 9)

Der Militäreinsatz

„Im Rahmen der beiden Mali-Mandate sind derzeit etwa 1.220 Soldaten der Bundeswehr eingesetzt, jedoch ohne Kampfauftrag. Frankreich hatte 2014 die Operation Barkhane gestartet, um den islamistischen Terror zu bekämpfen. Zuletzt hatte sie eine Stärke von 5.000 Soldaen. Das gesamte Personal der MINUSMA liegt bei mehr als 18.000, darunter mehr als 12.000 Soldaten.“ (Claudia Bröll in FAZ, 28.09.21, S. 11) Über die Ziele der Einsätze gehen die Meinungen auseinander. Dazu Denis Tull in NZZ (22.09.2021, S. 59): „Der französische Präsident Macron sagt klar: Wir machen hier nur Terrorismusbekämpfung. Schaut man aber auf die Strategien der anderen europäischen Länder, die vor Ort präsent sind, sieht es anders aus. Was die deutsche Regierung etwa über die Ziele ihres Einsatzes schreibt, kommt der Staatsbildung sehr nahe.“ Für Ruslan Trad (Tagesspiegel 18.10.21, S. 9) stehen geopolitische Fragen im Mittelpunkt. Für ihn „ist die Sahelzone auch für die Sicherheit der EU und anderer Teile Afrikas von entscheidender Bedeutung […]. Die Region ist aber auch für Russland interessant, dort liegen Diamanten- und Goldminen, auf die es der Kreml abgesehen hat. Für die europäische Präsenz auf dem Kontinent werden die Herausforderungen immer größer.“ Die ökonomischen Interessen der alten Kolonialmacht Frankreich in der Region bleiben unerwähnt.

Krisenland Mali

Der Sahelstaat ist viermal größer als Deutschland und hat fast 20 Mio. Einwohner*innen. Er ist einer der ärmsten Staaten der Welt, das jährliche Durchschnittseinkommen beträgt laut Weltbank 830 US $ im Jahr, rund 70 Prozent der Bevölkerung gelten als Analphabet*innen.

„Seit mindestens fünf Jahren beobachten wir eine kontinuierliche Verschlechterung der Sicherheitslage in Mali und im gesamten Sahel,“ schreibt Denis Tull (s.o.). „Die Zahl der Anschläge jihadistischer Gruppierungen nimmt zu, die Zahl der Vertriebenen ist stark angestiegen, vielerorts gibt es nur noch eine Art Rumpfstaat, der die städtischen Gebiete kontrolliert.“ Katrin Gänsler (taz 20.09.21, S. 9) zitiert einen Beobachter aus Bamako: „Selbst eine Million Soldat*innen könnten diesen Staat nicht überwachen […]. Erfolgreiche Terrorbekämpfung ginge deshalb nur über die Politik. Seit den 1990er Jahren habe die Korruption aller Regierungen stetig zugenommen und sich überall im öffentlichen Leben etabliert.“ In derselben taz schreibt Christine Longin, die EU-Ausbildungsmission „habe bislang 15.000 malische Soldaten geschult […] Der Erfolg gilt als mäßig.

In dieser Situation hat die Militärregierung in Bamako den Einsatz russischer Söldner ins Gespräch gebracht. Denis Tull (s.o.) sieht darin primär ein „politisches Manöver […]. Für die Militärführung könnte es unter anderem darum gehen, sich etwas mehr Freiraum zu schaffen.“ Ähnlich sieht das Claudia Bröll (FAZ): „Die Militärjunta verspricht zwar bis Februar 2022 Wahlen und einen Übergang zu einer zivilen Regierung. Doch sind bisher keine verstärkten Bemühungen in diese Richtung erkennbar […]. Das Kalkül könnte darin bestehen, einen Verzicht auf einen Vertrag (mit dem Söldnerunternehmen) anzubieten, wenn die internationale Gemeinschaft eine Verschiebung der Wahlen akzeptiere. Auch für Sabine Kebir (s.o.) geht es möglicherweise nur um eine „warnende Botschaft“.

Wie weiter

Für Denis Tull (NZZ 22.09.2021, S. 5) ist ein baldiges Ende des Einsatzes nicht zu erwarten. Wahrscheinlich ist aber eine substantielle Verkleinerung zumindest der französischen Operation Barkhane. Und dies kann durchaus eine Chance sein […]. Vielleicht schafft das mehr Freiräume für Lösungen, die zwar nicht immer den Vorstellungen der Europäer entsprechen werden, die möglicherweise aber besser funktionieren.

Nachdem Kramp-Karrenbauer drohte, eine „Präsenz der Russen gefährde die Fortführung der Bundeswehr-Missonen in Mali, forderte der SPD-Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich eine generelle Prüfung, ob der Einsatz deutscher Soldaten dort noch sinnvoll sei […]. Mützenich stellte infrage, ob mit der Übergangsregierung in Bamako, die seit einem zweiten Militärputsch amtiert, überhaupt der Übergang in demokratische Verhältnisse noch zu erreichen sei“, schreibt die FAZ (18.09.21, S. 4). Die Verteidigungsministerin ist nur noch wenige Tage im Amt, dann liegt die Richtlinienkompetenz bei einem sozial­demokratischen Kanzler. Ändert sich etwas bei den Militäreinsätzen? Kaum anzunehmen, dass die neue Regierung Sabine Kebir folgt, die im Freitag (s.o.) schlussfolgert:„Wenn der Dschihadismus ernsthaft bekämpft werden soll, liegt eine militärische und ökonomische Kooperation mit Russland und China durchaus nahe – nicht nur im Sahel.

Zitierte Presseorgane: FAZ – Frankfurter Allgemeine Zeitung, Freitag – Der Freitag, nd – neues deutschland, NZZ – Neue Zürcher Zeitung, Tagesspiegel – Der Tagesspiegel, taz – die tageszeitung, ZDF-Ticker

Bundeswehr als Katastrophenschutz?


Bundeswehr als Katastrophenschutz?

Corona-Pandemie verdeutlicht Missstände

von Martin Kirsch

Die Bundeswehr geriert sich in der Corona-Pandemie als besserer Katastrophenschutz und nutzt ihre Aktivitäten für eine Propaganda­offensive. Währenddessen geraten die ohnehin unterfinanzierten Institutionen der zivilen Krisenvorsorge nicht nur medial ins Hintertreffen. Das Vordringen der Bundeswehr in den zivilen Katastrophenschutz ist kein neues Phänomen in der Corona-Pandemie, wird aber wie diverse andere gesellschaftliche Schieflagen in der aktuellen Krise besonders deutlich.

Nach einer kurzen Phase, in der sich auch die Bundeswehr auf die Auswirkungen der Corona-Pandemie in ihren Reihen einstellen musste, fuhren die Streitkräfte ihre Aktivitäten im Inland ab Ende März 2020 massiv hoch. Zusätzlich zu den fünf Bundeswehrkrankenhäusern, die ohnehin in die zivile Krankenversorgung in Deutschland eingebunden sind, stehen fast 32.000 Soldat*innen für Hilfsaufgaben in Bereitschaft: knapp 17.000 Sanitätssoldat*innen und 15.000 Angehörige der sonstigen Waffengattungen (BMG u. BMI 2020, S. 12). Damit handelt es sich um das größte Einsatzkontingent, dass die Bundeswehr je für Einsätze im Inland aufgestellt hat. Erst zum zweiten Mal, nach dem Hochwassereinsatz 2013, wurden Soldat*innen für Hilfeleistungen im Inland in großer Zahl präventiv in Bereitschaft versetzt. Dabei handelt es sich um die Vorbereitung für ein Worst-case-Szenario, dies zeigt sich am tatsächlich eingesetzten Personal: Die Zahl der gleichzeitig eingesetzten Soldat*innen blieb im Verlauf des gesamten Mai deutlich unter 1.000. Dennoch soll das überdimensionierte Kontingent der Streitkräftebasis bis zum Herbst aufrecht erhalten werden.

Koordiniert werden die Einsatzkontingente von den bereits etablierten Strukturen der Zivil-Militärischen Zusammenarbeit und einem Führungsstab des Sanitätsdienstes sowie von vier Regionalen Führungsstäben, die kurzerhand bei den Truppenkommandos von Marine, Luftwaffe und den beiden Panzerdivisionen des Heeres eingerichtet wurden. Auch diese ab April ad hoc eingerichteten Führungsstrukturen sollen bis zum Herbst bestehen bleiben (Wiegold 2020). Bis dahin plant der für Inlandseinsätze zuständige Generalleutnant Martin Schelleis, die Erfahrungen zum Aufbau neuer Koordinations- und Führungsstrukturen zu nutzen. Diese Umstrukturierung, die ohne Corona-Pandemie vermutlich Jahre gedauert hätte, soll nicht nur zur Steuerung von möglichen Corona-Einsätzen der Bundeswehr bis ins nächste Jahr genutzt werden, sondern zur Basis dauerhafter neuer Strukturen werden.

Über 600 Amtshilfeanträge

Bis Anfang Juni 2020 reagierte die Bundeswehr auf über 600 Anträge auf Amtshilfe von zivilen Behörden und Ministerien (Wiegold 2020). Knapp die Hälfte, rund 280 Anträge, wurden von der Bundeswehr wegen fehlendem Personal und Material oder wegen fehlender Rechtsgrundlage abgelehnt oder von den Antragssteller*innen zurückgezogen. Darunter waren rechtswidrige Anfragen der grün-schwarzen Landesregierung in Baden-Württemberg, die für die Soldat*innen hoheitliche Aufgaben als Ordnungskräfte in unter Quarantäne stehenden Geflüchtetenunterkünften sowie die Unterstützung der Landespolizei bei der Durchsetzung der Corona-Maßnahmen vorsahen.

Im gesamten Jahr 2019 reagierte die Bundeswehr insgesamt auf 250 Amtshilfeersuchen, was die Dimension der aktuellen Maßnahmen verdeutlicht. Die Bandbreite der durchgeführten Amtshilfemaßnahmen überschreitet den Rahmen des hier Darstellbaren. Daher werden im Folgenden einige Aufgaben-Cluster aufgeführt, die die Bundeswehr im Rahmen der Corona-Pandemie übernahm, und an einigen Beispielen erläutert (Kirsch 2020).

  • Zu Beginn des unkontrollierten Ausbruchs der Corona-Pandemie in Deutschland im März 2020 wurde die Versorgung von Krankenhäusern und weiteren medizinischen und pflegenden Einrichtungen mit Schutzausrüstung und Medizinprodukten zu einem zentralen politischen Thema. Schnell begann die Beschaffungsbehörde der Bundeswehr für das Bundesgesundheitsministerium entsprechende Kaufaufträge im dreistelligen Millionenbereich abzuwickeln. Für den Lufttransport der bestellten Produkte aus China nutzten die Streitkräfte für sie unter Vertrag stehende Großraumtransportflugzeuge des zivilen Firmenkonsortiums SALIS. Zudem wurden Soldat*innen, beispielsweise in Hessen, in die Planung – vom Einkauf über die Verteilung bis hin zur tatsächlichen Verteilung der Schutzausrüstung – eingebunden. Ende März waren Logistikeinheiten der Bundeswehr damit betraut, die gesamte Schutzausrüstung für Sachsen-Anhalt von Flughäfen abzuholen, zu rationieren und umzuverpacken sowie an zivile Stellen, wie die Gesundheitsämter, zu verteilen.
  • Ab Mitte April wurden in Brandenburg die ersten Soldat*innen in Gesundheitsämtern eingesetzt, um das Stammpersonal bei der telefonischen Kontaktverfolgung von Infizierten und an der allgemeinen Telefonhotline zu unterstützen. Im Gesundheitsamt Potsdam wurden die 25 regulären Mitarbeiter*innen um 15 weitere Soldat*innen aufgestockt. Obgleich ihnen hoheitliche Aufgaben, wie das Verhängen verpflichtender Quarantänemaßnahmen, rechtlich verboten sind, werden hier Bundeswehrangehörige in sensiblen Bereichen der Gesundheitsüberwachung eingesetzt. Anfang Juni waren knapp 200 Soldat*innen in 30 Gesundheitsämtern in acht Bundesländern im Einsatz.
  • Einen weiteren Arbeitsschwerpunkt bildet der Einsatz von Soldat*innen in Alten- und Pflegeheimen. In einem Altenheim im Kreis Bamberg, in dem es zu einem Corona-Ausbruch gekommen war, wurden vorübergehend 35 Panzersoldat*innen eingesetzt. In vier Bundesländern waren Anfang Juni knapp 100 Soldat*innen in rund 20 Heimen tätig. Neben wenigen Sanitätssoldat*innen mit medizinischer Ausbildung, die auch im pflegerischen Bereich tätig werden dürfen, besteht der Großteil der Aufgaben in der Essensausgabe und weiteren nicht-pflegerischen Tätigkeiten.
  • Ebenfalls in Heimeinrichtungen werden in Deutschland, häufig zwangsweise, geflüchtete Menschen im Asylverfahren untergebracht. Dort kam es in oft überbelegten Heimen aufgrund der beengten Lebensverhältnisse und der teils katastrophalen hygienischen Bedingungen bereits gehäuft zu Corona-Ausbrüchen. Mehrfach wurden hunderte Bewohner*innen solcher Einrichtungen kollektiv unter Quarantäne gestellt. Die Bundeswehr lehnte zwar rechtswidrige Anträge aus Thüringen und Baden-Württemberg ab, Soldat*innen als Wachmannschaften für solche Einrichtungen zur Verfügung zu stellen, für Hilfstätigkeiten, wie Essenszubereitung und -ausgabe, sowie medizinische Überwachung und Betreuung werden jedoch Bundeswehrangehörige eingesetzt.
  • Darüber hinaus sind Soldat*innen mit und ohne medizinische Ausbildung an Aufbau und Betrieb von Teststationen, Notkliniken und medizinischen Versorgungsstationen beteiligt. Seltener stellt die Bundeswehr zivilen Krankenhäusern Sanitätspersonal sowie mobile Beatmungsgeräte, Röntgen- und CT-Container zur Verfügung.

Unabhängig von Amtshilfeanträgen sind die fünf Bundeswehrkrankenhäuser sowie Labore der Bundeswehr, darunter ein Speziallabor für die Erkennung biologischer Waffen, in die Versorgung und Testung der Bevölkerung eingebunden.

Zivile Alternativen

Für alle Aufgaben, die die Bundeswehr im Rahmen der Corona-Pandemie bisher übernimmt, bestehen zivile Alternativen. In der medialen Berichterstattung zumeist unerwähnt, wickelt das Technische Hilfswerk (THW) die gesamte Logistik rund um Schutzausrüstungen und Medizinprodukte in Bayern ab und betreibt Logistikeinrichtungen in diversen weiteren Bundesländern. Zudem blieben Transport- und Logistikkapazitäten von zivilen Speditions- und Luftfahrtunternehmen, die aufgrund des Lockdown nicht ausgelastet waren, ungenutzt.

Für die Unterstützung der Gesundheitsämter wurde im März ein Programm des Bundesgesundheitsministeriums aufgelegt. Vermittelt über das Robert-Koch-Institut (RKI), wurden Stellen für 500 Studierende ausgeschrieben. Sie werden als »Containment Scouts« in der telefonischen Kontaktverfolgung eingesetzt. Trotz mehr als 10.000 Bewerbungen wurden bis Mitte Juni allerdings nur 380 Stellen besetzt (Fuchs 2020). Die Option, das Programm aufzustocken, wurde gar nicht erst diskutiert.

Ein Arbeitsschwerpunkt der Containment Scouts ist Nordrhein-Westfalen, wo auf den Einsatz von Soldat*innen in Gesundheitsämtern verzichtet wurde. Ein Grund für die auch unabhängig von der aktuellen Pandemie angespannte Situation in den Gesundheitsämtern ist häufig der Personalmangel. In vielen Kreisen und Städten werden Stellen für Ärzt*innen in den Ämtern aufgrund der miserablen Bezahlung nur mit Interimslösungen besetzt.

Für die medizinische, pflegerische und allgemeine Betreuung in Alten- und Pflegeheimen sowie Geflüchtetenunterkünften müssten Kapazitäten der zivilen Katastrophenschutzeinrichtungen zur Verfügung stehen. So sind bei Evakuierungen aufgrund von Bombenentschärfungen Rotes Kreuz, Johanniter, Malteser und Arbeiter-Samariter-Bund in der Lage, Tausende Menschen, darunter auch Alte und Kranke, in Turnhallen und sonstigen Notunterkünften zu betreuen. Zudem ist die Personalsituation in der Pflege, ob in Heimen oder Krankenhäusern, nicht nur, aber vor allem aufgrund der schlechten Bezahlung bereits im Normalbetrieb an der Belastungsgrenze.

Für Aufbau und Betrieb von Teststationen, Notkliniken und medizinischen Versorgungseinrichtungen ähnelt das Bild der Situation in Pflegeeinrichtungen. Diese Aufgaben fallen in den Kernbereich der zivilen Katastrophenschutzeinrichtungen für die medizinische Versorgung der Bevölkerung in Ausnahmesituationen.

Zivil-Militärische-Zusammenarbeit

Der bisher größte Wendepunkt in der Geschichte der Bundeswehr war das Ende des Kalten Krieges 1989/90. Bis dahin schien der Auftrag der Streitkräfte der Bundesrepublik klar: Landes- und Bündnisverteidigung, d.h. ein potenzieller Krieg auf deutschem Territorium gegen den Warschauer Pakt im Rahmen der NATO-Bündnisverteidigung. Alle weiteren Aufgaben der Bundeswehr mussten sich dieser Kernaufgabe unterordnen. So existieren zwar bereits seit den 1960er Jahren Strukturen der Bundeswehr für die Zivil-Militärische-Zusammenarbeit innerhalb des so genannten Territorialheeres. Sie waren allerdings für die Unterstützung der Bundeswehr durch zivile Organisationen im Kriegsfall ausgelegt.

Seit der Umstrukturierung der Bundeswehr in der ersten Hälfte der 2000er Jahre wurde dieser Auftrag um 180 Grad gewendet. Die Möglichkeit eines Krieges in der Heimat schien in weite Ferne gerückt, und die Kampftruppen der Bundeswehr wurden zunehmend in Interventionskriege und Auslandsmissionen geschickt. Der Ansatz der »Vernetzten Sicherheit« wurde mit dem »Weißbuch 2006« erstmals in einem zentralen Regierungsdokument festgeschrieben. Im In- und Ausland sollte die Bundeswehr dazu befähigt werden, im engen Verbund mit zivilen Institutionen auf gesellschaftlich, ökonomisch, ökologisch und kulturell bedingte Krisen zu reagieren. Diesem neuen Paradigma entsprechend war der Kernauftrag der neu aufgestellten Strukturen der Zivil-Militärischen Zusammenarbeit ab 2006, die Fähigkeiten der Bundeswehr als Teil der gesamtstaatlichen Krisenvorsoge aktiv zur Unterstützung ziviler Institutionen, zuvorderst des Katastrophenschutzes, anzubieten. Verfestigt wurden diese Strukturen bei den regelmäßig stattfindenden Länder- und Ressortübergreifenden Krisenmanagementübungen (LÜKEX), in denen die Bundeswehr als fester und dauerhafter Bestandteil des staatlichen Katastrophenschutzes etabliert wurde (BBK o.D.). Als Übungsszenarien für LÜKEX dienen u.a. extreme Schneefälle, Sturmfluten und Terroranschläge sowie Stromausfälle und Cyberattacken. Im Rahmen von LÜKEX 2007 wurden die Reaktionen auf eine weltweite Influenza-Pandemie geübt (ebenda).

Falsche Prioritätensetzung – oder: Wer bezahlt die Rechnung?

Warum werden die Institutionen des zivilen Katastrophenschutzes in der Corona-Pandemie und bei Naturkatastrophen eigentlich nicht in vollem Umfang einbezogen? Und kann der zivile Katastrophenschutz diese Aufgaben aktuell überhaupt übernehmen?

Offengelegt werden bei dieser Fragestellung zentrale Missstände finanzieller, personeller und politischer Natur, die bereits vor der Corona-Pandemie existierten, jetzt aber besonders deutlich zu Tage treten. Die Menschen, auf die der zivile Katastrophenschutz zurückgreifen kann – über zwei Millionen –, sind Mitglieder der jeweiligen Organisationen und leisten ihren Dienst größtenteils freiwillig und ehrenamtlich. Ein Extrembeispiel ist das THW: Dort stehen den rund 64.000 ehrenamtlichen Einsatzkräften nur 1.800 hauptamtliche THW-Angehörige gegenüber, die ausschließlich mit Führungs-, Verwaltungs- und Organisationsaufgaben sowie der Materialwirtschaft betraut sind (THW 2020a, S. 8-9; THW 2020b). Wie in vielen Bereichen der Zivilgesellschaft haben auch diese Organisationen in den letzten Jahren mit einem Mitgliederrückgang und Mangel an Freiwilligen zu kämpfen.

Zudem wurden auch dem zivilen Katastrophenschutz nach 1990 massiv die finanziellen Mittel gekürzt. Einrichtungen wie Notkrankenhäuser wurden geschlossen, und die Lagerhaltung von Medikamenten und Material wurde abgewickelt. Um diesem Trend entgegenzusteuern, plant das Rote Kreuz aktuell wieder Materiallager anzulegen und zehn neue Behandlungseinrichtungen für bis zu 50.000 Patient*innen aufzubauen. Dafür wird mit Kosten von rund einer Viertel Milliarde Euro gerechnet. Während der Rüstungshaushalt in den letzten Jahren kontinuierlich stieg und weiter steigen soll, ist die Finanzierung dieses Vorhaben bisher nicht gesichert.

In die bestehenden Lücken im zivilen Katastrophenschutz dringt die Bundeswehr seit rund 15 Jahren massiv vor. Dabei wird sie keineswegs bloß als vermeintlich notwendiger Lückenfüller gesehen. Als um 2006 die neuen Strukturen der Zivil-Militärischen-Zusammenarbeit der Bundeswehr aufgebaut wurden, gab es aktive Bestrebungen in der Bundespolitik, für die Streitkräfte neue Aufgabenfelder im Inland zu erschließen. Abgesehen von grundsätzlichen Kritikpunkten an diesem gezielten Vordringen der Armee in die Sphäre der Innenpolitik, entstanden durch dieses Vorgehen auch ganz konkrete, praktische Probleme. Einerseits ist die Bundeswehr für Teile dieser Aufgaben gar nicht entsprechend ausgebildet und ausgerüstet. Andererseits bleibt die Priorität der Bundeswehr die Fähigkeit, von der Ostflanke der NATO bis nach Mali und Afghanistan Krieg führen zu können. Sind Personal und Material also in Manövern, Eingreiftruppen und Kriegseinsätzen gebunden, stehen sie für Katastrophenschutzaufgaben in Deutschland nicht oder nur stark eingeschränkt zur Verfügung.

Ein weiterer Faktor kommt dazu: Für die Bewältigung von Naturkatastrophen, Großunfällen und Pandemien sind in Friedenszeiten die föderalen Strukturen der Bundesländer und Kommunen zuständig. Ministerpräsident*innen und Landrät*innen, die für die Hilfsanträge an die Bundeswehr verantwortlich sind, versuchen in solchen Ausnahmesituationen häufig Handlungsfähigkeit und Stärke zu beweisen. Der Ruf nach der Bundeswehr und die Mobilisierung von Soldat*innen wird auch medial als Signal der Stärke transportiert, weil martialische Bilder erzeugt werden können. Übersehen wird dabei zumeist, dass sich so zwar kurzfristig praktische und politische Erfolge erzielen lassen. Das Bild von zupackenden Soldat*innen wirkt im jeweiligen Moment stark. Mit einer alltäglichen und dauerhaften Unterstützung und Ausfinanzierung des Katastrophenschutzes hingegen – die dauerhaft Kosten erzeugt, auch wenn akut keine Katastrophe vorliegt – lassen sich kaum Sympathiewerte und Wähler*innenstimmen gewinnen. Viele Landes- und Kommunalpolitiker*innen unterliegen daher dem Reiz des militärischen, auch wenn sie damit dem zivilen, föderalen System des Katastrophenschutzes die Grundlagen entziehen.

Verstärkt wird die finanzielle Schieflage zwischen Zentralstaat und föderalen Strukturen zudem in der konkreten Krisen- oder Katastrophensituation. Die Kosten für die Einsätze des Katastrophenschutzes müssen die Kommunen und Länder tragen, die die Katastrophenschutzkräfte mobilisieren. Ein Großteil der anfallenden Kosten ergibt sich aus der Kompensation der Verdienstausfälle der ehrenamtlichen Helfer*innen, und das kann teuer werden. Die Bundeswehr hingegen stellt ihre Katastrophenschutz- und Hilfseinsätze nicht in Rechnung. Denn auch das Verteidigungsministerium, das die Kosten übernimmt, profitiert von diesen Einsätzen. In der aktuellen Corona-Pandemie sogar von einer privaten PR-Agentur mit Sonderwebsite und YouTube-Doku-Serie in Szene gesetzt, kann sich die Bundeswehr als Hilfsorganisation präsentieren, um Rekrut*innen werben, die Akzeptanz in der Bevölkerung steigern und mit diesen positiven Bildern weiter steigende Rüstungsausgaben rechtfertigen.

Mit der Übernahme der Kosten für Einsätze der Bundeswehr wird damit ein weiterer Anreiz geschaffen, nicht auf einen verlässlich finanzierten und funktionierenden zivilen Katastrophenschutz, sondern selbst bei kleineren Ereignissen auf die vermeintlich kostengünstigere Akuthilfe der Bundeswehr zu setzen.

Konsequenzen

Um die aktuell vorherrschende Bevorzugung der Bundeswehr und das damit einhergehende Ausbluten des zivilen Katastrophenschutzes zu beenden, wäre es dringend nötig, Gelder aus dem Rüstungshaushalt des Bundes in die Länder- und Kommunen umzuleiten. Nur so ließe sich eine funktionsfähige Alternative zur faktischen Militarisierung der zivilen Katastrophenvorsorge sichern bzw. wieder herstellen. Im Gegensatz zu einer zentralstaatlichen und häufig militärischen Krisenreaktion würden so lokale und regionale Strukturen der Zivilgesellschaft gestärkt.

Zudem wären die Ausfinanzierung von Krankenhäusern und Pflegeeinrichtung sowie eine angemessene Bezahlung der dort arbeitenden Menschen und damit ein Ende der marktförmigen Organisation der medizinischen Versorgung der Bevölkerung bitter nötig. Von einem solchen Sinneswandel würde die Bevölkerung auch im Alltag, ganz unabhängig von Naturkatastrophen oder einer Pandemie, erkennbar profitieren.

Wachsamkeit ist allerdings bei Vorstößen des Bundesinnenministeriums aus den letzten Jahren gefragt, die auf den ersten Blick wie eine Stärkung des zivilen Katastrophenschutzes aussehen. Mit der 2016 veröffentlichten »Konzeption Zivile Verteidigung« (KZV) wird erstmals seit den 1990er Jahren der Kriegsfall in Deutschland wieder zur festen Planungsgröße (BMI 2016). Hinter dem Begriff der »Zivilen Verteidigung« verbirgt sich eine Art Katastrophenschutz für den Kriegsfall. Damit reiht sich die Vorbereitung ziviler Infrastruktur für die Arbeitsfähigkeit unter Kriegsbedingungen in die allgemeine Aufrüstung von NATO und EU gegen Russland ein.

Mehr als deutlich wird angesichts der aktuellen Pandemie allerdings, dass weder machtpolitische und militärische Strategien noch zentralstaatliche Führungsstrukturen und Bunker, sondern funktionsfähige lokale und zivile Strukturen des Katastrophenschutzes und ein stabiles, ausfinanziertes Gesundheitswesen tatsächliche Verbesserung bringen würden.

Literatur

Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe/BBK (o.D.): LÜKEX-Historie – von Terror bis Stromausfall. Online auf bbk.bund.de

Bundesministerium der Verteidigung/BMVg (2006): Weißbuch 2006 zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr. Berlin.

Bundesministerium des Inneren/BMI (2016): Konzeption Zivile Verteidigung (KZV). Berlin, 24.8.2016.

Bundesministerium für Gesundheit/BMG und Bundesministerium des Inneren, für Bau und Heimat/BMI (2020): Lagebild Gemeinsamer Krisenstab BMI-BMG COVID-19 – Stand: 16.04.2020, 09:00 Uhr. VS – Nur für den Dienstgebrauch. Abrufbar über: Semsrott, A. (2020): Corona-Krise – Wir veröffentlichen aktuelles Lagebild des Krisenstabs. fragdenstaat.de, 18.4.2020.

Fuchs, T. (2020): Corona und die Detektive. Redaktionsnetzwerk Deutschland, 14.5.2020.

Kirsch, M. (2020): Die Bundeswehr und das Virus – Teil II: Mitte März bis Mitte Mai – Amtshilfe und Eiserne Reserve. Ausdruck – Magazin der Informationsstelle Militarisierung e.V., Vol. 18, Nr. 2, S. 34-40.

Koytek, O.; Boje, M.; Schulze, J. (2020): Kata­strophenschutz am Limit – Wie gut ist Deutschland aufgestellt? ZDF zoom, Erstausstrahlung 1.4.2020.

Technisches Hilfswerk/THW (2020a): Jahrsbericht 2019. Bonn, Mai 2020.

Technisches Hilfswerk/THW (2020b): Die Bundesanstalt Technisches Hilfswerk im Überblick. Bonn: Juli 2020.

Wiegold, T. (2020): Coronavirus – Bundeswehr fährt Bereitschaftszeiten zurück, bleibt aber in Reserve. augengeradeaus.net, 4.6.2020.

Martin Kirsch ist Sozialwissenschaftler und Mitarbeiter der Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V.

Menschwerdung im Krieg


Menschwerdung im Krieg

Bundeswehr in den Fußstapfen von Ernst Jünger?

von Michael Jenewein

Die Werbung für die Bundeswehr wird gerne von zwei Seiten kritisiert. Stellt sich die Bundeswehr als modernes Sicherheits-Dienstleistungsunternehmen dar, so wird ihr vorgeworfen, sie negiere die Spezifik des Soldatenberufs, das Töten bzw. das Kriegführen. Präsentiert sie mit martialischen Bildern den mutigen Einsatz entschlossener Kämpfer, so wird ihr die Verherrlichung des Krieges vorgehalten. Unser Autor hat sich die jüngste Bundeswehr-Werbekampagne angesehen und einen etwas anderen Ansatz gewählt: Er arbeitet heraus, in welche geistesgeschichtliche Tradition sich die Macher dieser Kampagne, vermutlich unbewusst, stellen und was daran faul ist.

Unter dem Titel „Mach, was wirklich zählt!“ arbeitet die Bundeswehr seit 2016 an einer neuen Außendarstellung und versucht, sich von alten Vorurteilen zu befreien: „Wir sind vielseitig, modern und attraktiv.Was sich zunächst nach dem Werbeslogan eines Start-up-Unternehmens aus Berlin-Neukölln anhört, ist eine der vielen Selbstbeschreibungen, die die Bundeswehr in ihrer aktuellen Werbekampagne verwendet. In dem YouTube-Clip »Wir sind das Heer« (Bundeswehr 2015) bekommt man vermeintlich einen guten Einblick in das moderne Leben als deutsche*r Soldat*in: Untermalt von cineastischer Filmmusik rennen Bodentruppen ohne sichtliche Anstrengung durch den Wald und über das Schlachtfeld; Panzer fahren durch die Wüste; sowohl Männer als auch Frauen in Tarnuniform schießen auf unsichtbare Gegner*innen und blicken mit strenger Miene in die Kamera.

Von der Gemeinschaft zum Individuum

Augenscheinlich wollte sich die Bundeswehr nach außen einen neuen Anstrich verpassen.

Das traditionelle Bild der Soldat*innen war stark geprägt von typischen Militäridealen, wie Hierarchie und Drill, und wurde, überspitzt formuliert, mit tagelangem Herumkriechen im Schlamm assoziiert. Im Militär ordnet sich das Individuum der Gemeinschaft unter, damit diese erfolgreich sein kann.

Dieses Bild scheint nun in Teilen ausgedient zu haben. Mit der neuen Werbekampagne inszeniert sich die Bundeswehr als Institution moderner westlicher Werte: Die Soldat*innen sind keine gesichtslose, anonyme Masse mehr; ihr Einsatz dient in erster Linie nicht dem Kollektiv, sondern ihnen selbst – wenn man den Werbesprüchen Glauben schenken darf. Wer gibt dir den Glauben an dich selbst?“, steht in großen weißen Lettern auf einem der Plakate. Die Bundeswehr hat im Streben nach Selbstfindung ein Potential zur Anwerbung neuer Rekrut*innen erkannt. Herauszufinden, wer man eigentlich ist, wie weit man gehen kann, wenn es die Umstände erfordern – diese Fragen der Selbstverwirklichung sollen sich nun im Licht des Soldat*innendaseins beantworten lassen: Wie weit kannst du kommen, wenn du an dein Limit gehst?“, fragt die Bundeswehr und fordert zur Hinterfragung des eigenen Lebensentwurfes auf. Warum immer Australien oder Neuseeland, wenn es auch Syrien sein kann?

Vor dem Hintergrund einer Reihe von Kriegstagebüchern, Berichten oder auch Romanen, in denen Soldaten ihre Erfahrungen verarbeiten, wirkt es verwunderlich, dass das militärische Dasein von der Bundeswehr nun als Individuationsprozess dargestellt wird. Das wohl prominenteste Beispiel ist der Roman »Im Westen nichts Neues« (1929) von Erich Maria Remarque, der seine und die Erlebnisse anderer Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg gesammelt und damit eines der wichtigsten Werke der (Anti-) Kriegsliteratur geschaffen hat. Im Vorwort benennt Remarque sein Vorhaben: Es bestehe darin, „über eine Generation zu berichten, die vom Kriege zerstört wurde – auch wenn sie seinen Granaten entkam“ (Remarque 2019, S. 8). Das Leben als Soldat hat in seinem Roman wenig mit dem Prozess der Selbstverwirklichung zu tun. Remarque beschreibt Krieg vielmehr als Entfremdungsprozess, der sich auch im Leben nach dem Krieg fortsetzt.

Krieg als Schauplatz der Menschwerdung

Es ist allerdings auch nicht richtig zu behaupten, dass die deutsche Bundeswehr mit ihrer aktuellen Darstellung ein gänzlich neues Bild des*der Soldat*in und der Kriegserfahrung proklamieren möchte. Der Schriftsteller und Soldat Ernst Jünger beschrieb bereits in den 1920er Jahren den Ersten Weltkrieg als Ort der Selbstfindung. Seine eigenen Erfahrungen als Frontsoldat fasste er auf der Grundlage seiner Kriegstagebücher u.a. im romanähnlichen Werk »In Stahlgewittern« (1920) zusammen, während er seine bekanntesten anthropologischen Gedanken zum Soldaten in dem Essay »Der Kampf als inneres Erlebnis« (1922) veröffentlichte.

Im Gegensatz zu Remarque stellt Jünger nicht die Entfremdungserfahrung des Krieges, sondern den Prozess der individuellen Persönlichkeitsentwicklung in den Vordergrund. Der Krieg erscheint bei ihm als Schicksalserfahrung, als einschneidendes Erlebnis, das den Menschen von Grund auf neu formt: „Der Krieg ist es, der die Menschen und ihre Zeiten zu dem machte, was sie sind. […] Der Krieg, aller Dinge Vater, ist auch der unsere; er hat uns gehämmert, gemeißelt und gehärtet zu dem, was wir sind.“ (Jünger 1980, S. 11) Natürlich verändert der Krieg den Menschen. Jünger sieht in diesem Umstand allerdings nicht eine bloße Tatsache, sondern wertet den Krieg in affirmativ-pathetischer Sprache als Vater“. Der Erste Weltkrieg wurde von ihm als Gegenpol zur Gesellschaft der Jahrhundertwende wahrgenommen. Er dachte im Soldatendasein einen antibürgerlichen Gegenentwurf zur Dekadenz und Zerstreuung des Bürgertums der 1910er Jahre zu finden, welches ihm als Ort der Sinnlosigkeit und Entfremdung galt: „Im Schoße versponnener Kultur lebten wir zusammen, enger als Menschen zuvor, in Geschäfte und Lüste zersplittert, durch schimmernde Plätze und Untergrundschächte sausend, in Cafés vom Glanze der Spiegel umstellt, Straßen, Bänder farbigen Lichtes, Bars voll schillernder Liköre […]. Doch unter immer glänzender polierter Schale, unter allen Gewändern, mit denen wir uns wie Zauberkünstler behängten, blieben wir nackt und roh wie die Menschen des Waldes und der Steppe.(Jünger 1980, S. 12)

Zu großen Teilen war Ernst Jüngers Kulturkritik hier noch seinem Zeitgeist verbunden: Das Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg war geprägt von einer eigenartigen Mischung aus Aufbruchsstimmung, Zukunftsvisionen, Endzeitstimmungen und einer Dekadenz, die das Leben durchzog; all diese Motive prägten vor allem die Sphäre der modernen Großstadt und wurden in Kunst und Literatur immer wieder beschworen. Eine beachtliche Anzahl intellektueller Persönlichkeiten (wie Max Scheler, Georg Simmel oder Thomas Mann) sah in diesen sozialhistorischen Erscheinungen einen Zerfall der gegenwärtigen Kultur und versprach sich vom Ersten Weltkrieg einen Neustart. Was später als »Augusterlebnis« oder »Geist von 1914« bezeichnet wurde, verweist auf genau diese euphorische Erwartungshaltung einer gebildeten Riege, die sich den Krieg als kulturrevolutionäres Ereignis erhoffte. So sah der Soziologie Georg Simmel im Krieg die Möglichkeit eines Wertewandels, in dem „das Geld […] als Ziel aller Ziele“ (Simmel 1999, S. 46) nebensächlich und anstelle dessen das Leben wieder das höchste Gut wird.

Auch in Ernst Jüngers Augen fungierte der Krieg als eine Art Heilsbringer, der die Menschheit vor der oft beschworen Sinnlosigkeit und Entfremdung der modernen Gesellschaft bewahren sollte, allerdings auf andere Weise als bei seinen Zeitgenossen. Sah beispielsweise Simmel den Krieg als ein notwendiges Rekalibrierungsmoment der Geschichte an, das den Menschen im Anschluss an den Krieg wieder das Wesentliche des Lebens wertschätzen und verstehen lässt, stellt für Jünger der Krieg die einzig wahre Lebensform dar: Was könnte auch heiliger sein, als der kämpfende Mensch.“ (Jünger 1980, S. 48). Jüngers Stilisierung des Soldaten zum höchsten Typus Mensch zieht sich als Motiv durch sein gesamtes Schaffen. Im Vorwort zu »In Stahlgewittern« ruft er dazu auf, die Erinnerungen und Werte des tapferen Kriegers hochzuhalten, „inmitten dieser Zeit weichlichen Gewinsels, der moralischen Verkümmerung und des Renegatentums“ (Jünger 2013, S. 21). An späterer Stelle spricht er von der Schlacht als transzendente Existenzerfahrung, als „Schicksalsstunde“, die ihn „in die Tiefe überpersönlicher Bereiche“ (Jünger 2013, S. 571) geführt hat.

Die in Anbetracht der zahllosen Opfer des Ersten Weltkrieges zynische Darstellung des Schlachtfeldes als Schauplatz der Menschwerdung hat für Jünger noch weiterreichende Konsequenzen. Während der frühen 1930er Jahre, als Jünger mit dem Nationalsozialismus sympathisierte und mit vielen anderen Rechtsintellektuellen Kontakt hielt, erschien sein Aufsatz »Die Totale Mobilmachung« (1930), in dem er eine Militarisierung der gesamten Gesellschaft zeichnete. Mit einer Portion Kriegsnostalgie verklärte er den Ersten Weltkrieg als Ort, der dem Menschen diente, „sich selbst zu verwirklichen“ (Jünger 1930, S. 30). Die kriegstheoretische Argumentation von Jünger ist genau so einfach wie verstörend: Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er im Kriege kämpft; wenn die Menschheit als Gesamtes verwirklicht werden soll, muss der Krieg über das Schlachtfeld hinaus in alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens vordringen.

Das Pathos der Eigentlichkeit und des »richtigen« Lebens

Mit der Härte, in der Jünger hier seine Vorstellung von einem richtigen und »menschenwürdigen« Dasein formuliert, inszeniert sich die deutsche Bundeswehr natürlich nicht. Trotzdem findet sich ein wesentlich Gemeinsames der beiden Darstellungen: Im Soldat*innendasein sollen die wirklich wichtigen Fragen der menschlichen Existenz beantwortet werden können. Die Plakate der Bundeswehr erinnern unweigerlich an Jünger, wenn sie den militärischen Dienst mit Phrasen, wie Wer gibt dir eigentlich den Glauben an dich selbst?“, „Wie weit kannst du kommen, wenn du an dein Limit gehst?“ oder „Mach, was wirklich zählt!“, verbinden. Man könnte an dieser Stelle einwerfen, dass die Bundeswehr ja auch als Landesverteidigung oder Katastrophenschutzdienst im Inneren agiert und für mehr als Krieg im Ausland steht. Dies soll nicht in Abrede gestellt werden, die Inszenierung auf YouTube, Instagram und den Plakaten scheint diesen Teilbereich aber für wenig interessant zu halten. Aufwendig gedrehte Videos zeigen Panzer, bewaffnete Bodentruppen, Explosionen im Hintergrund und einen in Szene gesetzter Helikopter, der den Schauplatz überfliegt. Dazwischen werden immer wieder Phrasen eingeblendet: Wir können kämpfen. Wir führen am Boden die Entscheidung herbei. Wir sind das Heer.“

Egal ob Ernst Jüngers kriegstheoretische Ansichten in seinem philosophischen und literarischen Werk oder die Inszenierung der deutschen Bundeswehr: Zugunsten einer tiefgreifend existentialen Erfahrung, die nur im Krieg gemacht werden kann, wird das alltägliche und bürgerliche Leben automatisch als belanglos und erfahrungsarm eingestuft. Beiden Darstellungen wohnt das Pathos eines »richtigen« Lebens inne, also die Vorstellung, dass es eine der menschlichen Existenz authentisch entsprechende Daseinsform gibt. Ideengeschichtlich ist hier eine starke Nähe zur Existenzphilosophie des 20. Jahrhunderts auszumachen, was bei Ernst Jünger vielleicht nicht allzu sehr überraschen mag. Der Philosoph Martin Heidegger, der gerne als einflussreichster Denker der Existenzphilosophie genannt wird, war nämlich ein begeisterter Leser von Jünger und pflegte mit ihm nach dem Zweiten Weltkrieg einen engen Kontakt. Ihrem Briefwechsel ist zu entnehmen, dass ihre intellektuelle Verwandtschaft nicht nur auf philosophischer, sondern auch auf ideologischer Ebene stattfand: Beide sahen sich in Anbetracht ihrer Nähe zum Nationalsozialismus (Heidegger noch weitaus mehr als Jünger) als »Opfer« der Entnazifizierung und als Ausgestoßene der Nachkriegsgesellschaft.

Heidegger selbst hat zeitlebens nicht nur mit, sondern auch viel über Jünger geschrieben und spricht in seinem Text »Von Ernst Jünger« (1939/40) in größten Tönen von ihm: „Doch Jünger hat den Geist des Frontkämpfers ins Werk geprägt mit dem Willen, ihn lebendig zu erhalten und dieses Soldatentum als einen neuen Menschenschlag vorbildlich zu machen.“ (Heidegger 2004, S. 236) Jünger war für Heidegger eine Ikone des Menschen; um es in seiner Terminologie zu sagen, hat Jünger das „eigentliche Selbstsein“ (Heidegger 2006, S. 130) im Krieg gefunden. Im Gegensatz dazu steht für Heidegger die alltägliche Gesellschaft, in der die Lebensweise von „Unselbstständigkeit und Uneigentlichkeit“ (Heidegger 2006, S. 128) geprägt sei. Parallel zu der Kulturkritik der 1910er Jahre und Jüngers antibürgerlicher Haltung gegenüber der Vorkriegsgesellschaft des Ersten Weltkrieges spricht Heidegger von einer »Diktatur des Man«: Wir genießen und vergnügen uns, wie man genießt; wir lesen, sehen und urteilen über Literatur und Kunst, wie man sieht und urteilt; wir ziehen uns aber auch vom großen Haufen zurück, wie man sich zurückzieht; wir finden empörend, was man empörend findet.“ (Heidegger 2006, S. 127) Ihre Begrifflichkeit mag unterschiedlich sein, die Thematik ist dieselbe: Die moderne Gesellschaft als Entfremdungsapparat und das Pathos einer richtigen oder eigentlichen Lebensweise als Gegenentwurf.

Derselbe Gedanke steht hinter der Werbekampagne der deutschen Bundeswehr, wenn sie dazu auffordert „Mach, was wirklich zählt!“ Wirklich zählt nur der militärische Dienst, das Leben als Soldat*in. In der Aufforderung findet sich ein moralischer Imperativ, der durch die verschiedenen Bildunterschriften und Werbeslogans nochmals konkretisiert wird. Die Bundeswehr bedient sich der gleichen Motivik wie Jünger und Heidegger, indem sie die moderne Gesellschaft als Ort unendlicher Möglichkeiten zeichnet, an dem man schnell mal die Orientierung verlieren kann. Wer in diesem Mahlstrom an Möglichkeiten nach Selbstverwirklichung trachtet, sei in der Bundeswehr gut aufgehoben: Hier kommt man an sein Limit, hier lernt man sich selbst erst richtig kennen, und hier kommt man zu einer unmittelbaren Eigentlichkeitserfahrung der menschlichen Existenz.

Die Bundeswehr als Spielplatz der Menschwerdung

Die Werbekampagne der Bundeswehr hat zum Ziel, moderner und attraktiver auf junge Anzuwerbende zu wirken. Dabei steht sie mit ihrer Inszenierung in den gedanklichen Schuhen Ernst Jüngers, der auch historisch gesehen eine wichtige Persönlichkeit für die Bundeswehr war. Als Jünger 1998 im Alter von 102 Jahren in Wilflingen beerdigt wurde, erwiesen ihm fünf Generäle der Bundeswehr die letzte Ehre. Jüngers Ruf als Offizier und Frontsoldat, der im Ersten Weltkrieg unter anderem den »Pour le Mérite«, den höchsten Tapferkeitsorden, erhalten hatte, hat sich in der Bundeswehr lange gehalten, trotz (oder gerade wegen?) seiner bedenklichen kriegstheoretischen Ansichten und der Nähe zum Nationalsozialismus.

Trotz alledem muss man Jünger eines zu Gute halten: Auch wenn seine Kriegstagebücher, besonders »In Stahlgewittern«, von einem Pathos des eigentlichen Lebens und des Standhaltens durchzogen sind, so unterschlägt er nicht die Grausamkeiten und Schrecken des Schlachtfeldes.

Die Bundeswehr hingegen lässt diese in ihrer Werbekampagne vollständig außen vor. Mit großen Panzern, schicken Hubschraubern und gutaussehenden Offizier*innen, die unbeschadet das Feld überqueren, lässt sich besser Werbung machen als mit zerfetzten Kriegsopfern, Leichenbergen und vor Todesangst zusammenbrechenden Soldat*innen. Während Jüngers literarische Kriegsdarstellung als Schauplatz der Menschwerdung bezeichnet werden kann, handelt es sich bei den cineastischen und fotographischen Darstellungen der Bundeswehr eher um einen Spielplatz der Menschwerdung. Der militärische Dienst wird in verharmloster Form filmreich und familienfreundlich für das Primetime-Abendprogramm in Szene gesetzt.

Wenn die deutsche Bundeswehr an ihrer pathetischen Darstellung des Militärdienstes als Ort der Selbstverwirklichung festhalten möchte, dann sollte sie auch die Kehrseite betrachten und thematisieren, zu welchem Preis diese Eigentlichkeitserfahrung erkauft wird und ob sie das überhaupt wert ist: „Hier wird man zu tiefer, ungeteilter Empfindung gezwungen, und sei es auch nur zu einer würgenden und überwältigenden Angst, von der man sich in der Sicherheit der Städte gar keine Vorstellung machen kann.“ (Jünger 1978, S. 45)

Literatur

Bundeswehr (07.04 2015): Wir sind das Heer. youtube.com/watch?v=E7-rI12rq_g.

Heidegger, M. (2006): Sein und Zeit. Tübingen: Max Niemeyer.

Heidegger, M. (2004): Von Ernst Jünger. In: Trawny, P.: Martin Heidegger Gesamtausgabe Bd. 90 – Zu Ernst Jünger. Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, S. 233-249.

Jünger, E. (1978): Das Wäldchen 125 – Eine Chronik aus den Grabenkämpfen 1918. In: ders: Sämtliche Werke Bd. 1 – Der erste Weltkrieg. Stuttgart: Klett-Cotta, S. 301-438.

Jünger, E. (1980): Der Kampf als inneres Erlebnis. In: ders: Sämtliche Werke Bd. 7 – Betrachtungen zur Zeit. Stuttgart: Klett-Cotta, S. 11-103.

Jünger, E. (1930): Die Totale Mobilmachung. In: ders.: Krieg und Krieger. Berlin: Junker und Du¨nnhaupt. S. 9-30.

Jünger, E. (2013): In Stahlgewittern. Historisch-kritische Ausgabe. Stuttgart: Klett-Cotta.

Remarque, E.M. (2019): Im Westen nichts Neues. Köln: Kiepenheuer und Witsch.

Simmel, G. (1999): Die Krisis der Kultur. In: Rammstedt, O. (Hrsg.): Georg Simmel Gesamtausgabe Bd. 16 – Der Krieg und die geistigen Erscheinungen. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Michael Jenewein ist Masterstudent im Fach Philosophie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena.

Hybrider Krieg


Hybrider Krieg

Zu Konjunktur, Dynamik und Funktion eines Konzepts

von Ina Kraft

Dieser Beitrag befasst sich mit der Verwendung des Konzepts des hybriden Krieges in der deutschen sicherheitspolitischen Debatte. Er kommt zu dem Ergebnis, dass politische Akteure das noch immer vage Konzept nutzen, um konkrete Vorhaben der Bundeswehr sowie Änderungen in der sicherheitspolitischen Entscheidungsfindung zu legitimieren.

Hybride Kriegführung steht im Fokus einer Reihe von allgemeinen Abhandlungen sowie konkreten militärtheoretischen Ansätzen in den beiden letzten Jahrzehnten, wie beispielsweise »cyberwar« (Arquilla und Ronfeldt), »new wars« (Kaldor) oder »asymmetric war« (Thornton). In den USA erlangt das Konzept der Hybriden Kriegführung durch die Veröffentlichungen von Frank G. Hoffman ab 2006 Aufmerksamkeit in akademischen und militärstrategischen Fachdebatten (Hoffmann 2007). In der US-amerikanischen Debatte wird »hybrid war« bis 2010 theoretisch als eine neue Art des Krieges und zumeist mit Blick auf Akteure im Nahen und Mittleren Osten (Fälle: Hisbollah, Taliban, islamistischer Terrorismus) thematisiert. Das Konzept beschreibt die Vorgehensweise zumeist nichtstaatlicher militärischer Gruppen, die sich konventioneller und irregulärer Methoden der Operationsführung bedienen, um technologisch übermächtige Gegner zu bekämpfen. Allerdings folgen in den USA zunächst keine weiteren sicherheitspolitischen Konsequenzen aus der Konzeptualisierung.

Nutzbarmachung in der deutschen Debatte

Wird das Hybridkriegskonzept in Deutschland bis 2011 im Vergleich zu den USA kaum rezipiert, erlangt es danach hohe und vor allem auch politische Aufmerksamkeit. Im September 2014 verwendet Bundesverteidigungsministerin von der Leyen den Begriff in einer Plenardebatte im Deutschen Bundestag. Der damalige Bundesaußenminister Steinmeier erwähnt den Terminus in seiner Rede auf der Münchener Sicherheitskonferenz 2015. Sicherheitspolitische Berater*innen benutzen den Begriff ebenso wie Referent*innen im Bundesverteidigungsministerium und Journalist*innen.

Auch in dem im Juli 2016 veröffentlichten »Weißbuch zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr« ist der Begriff prominent vertreten. Im Vorwort weist die Bundesministerin der Verteidigung auf die hybride Kriegführung als eine der gegenwärtigen Herausforderungen hin, die eine Ausstattung der Bundeswehr mit bestem Material und eine nachhaltige Finanzierung notwendig mache. Dabei tritt eine deutliche Bedeutungsverschiebung zum ursprünglich durch Hoffman formulierten Konzept zutage. Durch die Nennung von Cyberangriffen und Propaganda sowie der verdeckten Beteiligung von Soldat*innen als Merkmal einer hybriden Kriegführung ist das Konzept im deutschen sicherheitspolitischen Verständnis stark auf den Fall Russland/Ukraine zugeschnitten.

Auch in der NATO und in der EU ist das Thema hybride Bedrohungen präsent. Wenige Monate nach den russischen Handlungen in der Ukraine im Juni 2014 erklären die Staats- und Regierungschefs auf dem Treffen des Nordatlantikrats in Wales, sie würden sicherstellen, „dass die NATO in der Lage ist, effektiv den besonderen Herausforderungen einer Bedrohung durch einen Hybridkrieg zu begegnen“. Im Dezember 2015 verabschiedet das Bündnis die »Strategy on NATO‘s role in countering hybrid warfare«. Im April 2016 zieht die EU mit dem »Gemeinsamen Rahmen für die Abwehr hybrider Bedrohungen« nach. Darin wird unter anderem die Einrichtung einer »Hybrid Fusion Cell« im EU Intelligence Analysis Centre beim Europäischen Auswärtigen Dienst vorgeschlagen. Auch in der NATO werden institutionelle Strukturen geschaffen: Im April 2017 legt sie mit der Gründung des European Centre of Excellence for Countering Hybrid Threats institutionelle Strukturen fest.

Politische Funktionen des Konzepts

In der deutschen Debatte sind nicht nur ein deutlicher Zeitverzug in der Adaption des Konzepts sowie eine Bedeutungsverschiebung auszumachen. Es finden sich auch kaum Bezüge zu irregulären Gegner*innen und deren (auch konventionellen) Taktiken, wie sie in der US-amerikanischen Debatte konzipiert werden. Stattdessen bezieht sich der Begriff fast ausschließlich auf die teils irregulären Taktiken des staatlichen Akteurs Russland. So thematisieren die deutschen Beiträge verstärkt Propaganda, die Zerstörung Kritischer Infrastrukturen sowie Handlungen im so genannten Informationsraum als Elemente hybrider Kriegführung. Die verspätete Rezeption und der Bedeutungswandel deuten darauf hin, dass in der deutschen Debatte das US-amerikanische Hybridkriegskonzept benutzt wurde, um den Ereignissen, die sich 2014 in der Ukraine abspielten, einen Namen zu geben. So wird einerseits das Konzept in seiner Bedeutungszuschreibung verändert, andererseits aber das konfliktträchtige Verhalten Russlands zum Beispiel in Syrien nicht mit dem Konzept gefasst.

Diese Nutzung bereits vorhandener Lösungen (hier: das Konzept Hybride Kriegführung) für neu auftretende Probleme (hier: Benennung des Verhaltens Russlands in der Ukraine) ist ein Phänomen, das bei kollektiven Entscheidungen auftritt und bereits in den 1970er Jahren unter dem Schlagwort »garbage can theory« in den Sozialwissenschaften diskutiert wird. Mit Blick auf dessen Konjunktur und Dynamik scheint das 2006 entwickelte Hybridkriegskonzept eine ebensolche Lösung zu sein, die 2014 schließlich ein Problem fand. Im Besonderen erfüllt das Konzept drei Funktionen im deutschen sicherheitspolitischen Diskurs: Komplexitätsreduktion durch Vereinfachung und Interpretation, Generierung von Aufmerksamkeit sowie Inanspruchnahme von Legitimität für eigene Anliegen.

Vereinfachung und Interpretation

Begriffe und Konzepte reduzieren komplexe Realitäten. Das komplexe Verhalten Russlands wird mit dem Begriff »Hybrider Krieg« beschrieben. Das erlaubt eine effektivere sicherheitspolitische Kommunikation, hat aber auch den Effekt, dass der Begriff durch die Diskursteilnehmer*innen bald selbst als Realität begriffen wird. Begriffsbildung und -verwendung ist soziales Handeln, bei dem die Sozialisation der Handelnden ebenso wie ihre Interessen eine entscheidende Rolle spielen. Komplexitätsreduktion ist also kein wertfreies rationales Produkt und hybride Kriegführung daher auch keine bloße wertneutrale Vereinfachung. In seiner inhärenten Interpretation der Realität spiegelt der Begriff bereits die Interessen und die Sozialisation der Teilnehmer*innen im deutschen sicherheitspolitischen Diskurs wider.

Aufmerksamkeit

Die Verwendung des Hybridkriegsbegriffes schafft zudem in einem selbstverstärkenden Prozess Aufmerksamkeit. Je häufiger der Begriff diskutiert wird, umso attraktiver scheint es für Diskursteilnehmer*innen, selbst zu dem Konzept beizutragen. Damit leisten sie der Popularität des Begriffs weiteren Vorschub. Eine Analyse von Artikeln der sicherheitspolitischen Fachzeitschrift »Europäische Sicherheit und Technik« zeigt, dass viele Autoren hybride Kriegführung im ersten Absatz nennen, ohne jedoch im weiteren Verlauf auf den Begriff oder seine Bedeutung einzugehen. Hybride Kriegführung wird hier vergleichbar mit der Nennung von bekannten Persönlichkeiten in Texten (name dropping) verwendet, um Aufmerksamkeit zu generieren und um die Anschlussfähigkeit des Beitrags zum aktuellen Hybridkriegsdiskurs zu signalisieren. Die Kenntnis des Konzepts signalisiert darüber hinaus die Zugehörigkeit des Autors oder der Autorin zum sicherheitspolitischen Expert*innen- und damit auch zum Elitenkreis.

Legitimierung von Vorhaben der Bundeswehr

Die Generierung von Aufmerksamkeit hat zum Ziel, die Diskursteilnehmer*innen für ein Thema zu interessieren. Die Generierung von Legitimität verfolgt darüber hinaus die Absicht, die eigene Position angemessen erscheinen zu lassen. Legitimität soll hier nicht konstitutionell-normativ, sondern vielmehr soziologisch verstanden sein. Aus dieser Perspektive müssen soziale Akteure nicht bloß materielle Ressourcen generieren, um ihre Handlungsfähigkeit zu sichern. Sie müssen gleichsam Erwartungen erfüllen, die von anderen Akteuren an sie herangetragen werden. Denn nur legitim(iert)e Forderungen können zur Mobilisierung institutioneller und budgetärer Ressourcen eingesetzt werden. Beispiele für die Doppelanforderungen von Effizienz und Angemessenheit sind gerade im Kontext der Sicherheitspolitik mannigfaltig – man denke an die taktische Effizienz des Einsatzes von bewaffneten Drohnen auf der einen und dessen rechtliche und ethische Grenzen auf der anderen Seite.

Die Nutzung des Hybridkriegsbegriffs in der deutschen sicherheitspolitischen Debatte dient aus dieser Perspektive dem Ziel, politische Forderungen zu legitimieren. Der durch Komplexitätsreduzierung und eine hohe Aufmerksamkeit institutionalisierte Mythos der hybriden Kriegführung wirkt dabei auf zwei Arten: Zum einen wird der Begriff des Hybridkriegs genutzt, um eigene Anliegen zu rechtfertigen, die jedoch kaum in den Definitionsrahmen für hybride Kriegführung oder deren Gegenmaßnahmen fallen. So argumentiert zum Beispiel der damalige Amtschef des Amts für Heeresentwicklung mit dem Phänomen der hybriden Bedrohungen, um für eine veränderte Heeresstruktur zu werben (Köpke 2015, S. 28). Über die bloße Nennung hinaus wird hierbei ein begründeter Zusammenhang zwischen Forderung und Hybridkriegskonzept allerdings nicht aufgezeigt. Der Inspekteur der Luftwaffe, General Karl Müllner, argumentiert in ähnlicher Weise für eine Ausstattung der Luftwaffe mit Drohnen (Müllner 2015). Nun ist der Bedarf der Teilstreitkräfte nach mehr Mobilität oder modernem Gerät keine direkte Folge der hybriden Bedrohungen. Dennoch werden sie in der Argumentation genutzt, um den »ewigen« Forderungen der Teilstreitkräfte nach mehr Ressourcen Nachdruck zu verleihen.

Legitimierung erweiterter Einflusssphären

Darüber hinaus dient das Konzept auch als Begründung für mögliche sicherheitspolitische Maßnahmen, die Einflusssphären sicherheitspolitischer Akteure in gesellschaftliche Räume hinein erweitern oder sicherheitspolitische Entscheidungen erleichtern. In der deutschen sicherheitspolitischen Debatte werden mit Blick auf hybride Bedrohungen folgende Maßnahmen diskutiert: erstens, eine stärkere sicherheitspolitische Kooperation und Vernetzung. Diese betrifft einerseits die ressortübergreifende Arbeit auf der nationalen Ebene (Alamir 2015). Andererseits sollen der Informationsaustausch sowie abgestimmte Vorgehensweisen auch zwischen NATO und EU vereinfacht werden (Deutsche Bundesregierung 2016, S. 69-70). Im Zusammenhang mit dem Hybridkriegskonzept hat, zweitens, der Begriff der gesamtstaatlichen Resilienz als Gegenstrategie ebenfalls Prominenz erlangt (ebenda, S. 49). Resilienz bezeichnet die Widerstandsfähigkeit einer Gesellschaft. Im Weißbuch 2016 erlangt der Begriff eine große Bedeutung für die Abwendung hybrider Bedrohungen: „Erfolgreiche Prävention gegen hybride Gefährdungen erfordert staatliche und gesamtgesellschaftliche Resilienz – und damit umfassende Verteidigungsfähigkeit.“ (ebenda, S. 39) In der sicherheitspolitischen Debatte werden Resilienz-Maßnahmen in den Bereichen Energiesicherheit, Bildung, Handel und Wirtschaft, öffentliche Meinung und Kommunikation diskutiert.

Legitimierung der Änderung politischer Konstanten

Es gibt eine Reihe von Debattenbeiträgen, die die Angemessenheit der derzeitigen rechtlichen Rahmenbedingungen deutscher Sicherheitspolitik vor dem Hintergrund hybrider Bedrohungen hinterfragen. Da geht es um die Vereinfachung sicherheitspolitischer Entscheidungsfindung, aber auch um die Frage, ob die in Deutschland verfassungsrechtlich verankerte Trennung von innerer und äußerer Sicherheit aufrechterhalten werden sollte (Deutsche Bundesregierung 2016; Deutscher Bundestag 2016).

Es finden sich in der Debatte auch Hinweise auf mögliche Implikationen hybrider Kriegführung für das internationale Völkerrecht. So heißt es im Weißbuch 2016: „Das Merkmal hybrider Kriegführung, die Verwischung der Grenze zwischen Krieg und Frieden, stellt […] besondere Herausforderungen an die Feststellung des Bündnisfalls nach Artikel 5 des NATO-Vertrags.“ (Deutsche Bundesregierung 2016, S. 65) Das wurde zuvor bereits im Zusammenhang mit dem vermuteten russischen Cyberangriff auf Estland 2007 diskutiert. Bisher allerdings herrschte unter den NATO-Staaten Zurückhaltung, Cyberangriffe als Angriff im Sinne des Völkerrechts zu werten. Auch auf EU-Ebene wird diskutiert, ob bei einem hybriden Angriff die Solidaritätsklausel nach Art. 222 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union oder sogar die Beistandspflicht des Art. 42 des Vertrags über die Europäische Union greife (Europäische Kommission 2016, S. 19).

Resümierend ist festzuhalten, dass im Zusammenhang mit oder mit Verweis auf hybride Bedrohungen im deutschen sicherheitspolitischen Diskurs eine Ausweitung der sicherheitspolitischen Kooperation und Kompetenzen von NATO und EU debattiert wird. Außerdem wird in diesem Kontext die Ausweitung staatlicher Ordnungsfunktionen zur Herstellung einer gesellschaftlichen Resilienz sowie die stärkere Zusammenarbeit staatlicher Institutionen diskutiert. Darüber hinaus werden in der Debatte etablierte rechtliche Charakteristika deutscher Sicherheitspolitik mit einem Fragezeichen versehen: die Regeln sicherheitspolitischer Entscheidungsfindung, die Trennung innerer von äußerer Sicherheit sowie die völkerrechtlichen Bewertungen eines Angriffs. Das Hybridkriegskonzept dient hierbei als Legitimation für die Vorschläge jener Maßnahmen.

Neue Begründungslogik für Verteidigung

Die Verwendung des Hybridkriegskonzepts im sicherheitspolitischen Diskurs dient möglicherweise der Versicherheitlichung gesellschaftlicher Bereiche (Buzan et al. 1998). Die Interpretation, Kommunikation und gesellschaftlich geteilte Wahrnehmung hybrider Bedrohungen als existenzielle Gefährdungen könnte demnach ganz real dazu führen, dass sicherheitspolitischen Akteuren mehr Handlungsmöglichkeiten zugesprochen werden. Ein Konzept entfaltet so reale Wirkung.

Mit Blick auf den strategischen Diskurs kann zudem konstatiert werden, dass die Konzentration auf hybride Kriegführung in der deutschen und trans­atlantischen Verteidigungsplanung einen Wandel in der Begründungslogik verteidigungspolitischer Grundpositionen darstellt. War die Verteidigungsplanung zu Zeiten des Ost-West-Konflikts von einem bedrohungsbasierten Ansatz (threat-based approach) geprägt, wurde dieser mit dem Wegfall der Sowjetunion und des Warschauer Paktes als Gegner von einem fähigkeitsbasierten Ansatz (capabilities-based approach) abgelöst. Dieser richtet Streitkräfte nicht mehr nach einem konkreten Bedrohungssze­nario aus, sondern in Bezug auf die operativen Fähigkeiten, die in zukünftigen Einsätzen am wahrscheinlichsten gebraucht werden.

Mit dem Hybridkriegskonzept tritt nun nach der bedrohungsbasierten und der fähigkeitsbasierten eine phänomenbasierte Begründung für die Verteidigungsplanung auf. Diese fokussiert argumentativ weder auf einen konkreten Gegner noch auf die Wahl der Mittel, sondern auf die Art der Bedrohung, auf das Phänomen.

Dieser Wandel mag verschiedene Gründe haben. Zum einen gilt nach den Erfahrungen der USA und der NATO in den Kriegen im Irak und in Afghanistan der fähigkeitsbasierte Ansatz als gescheitert, da Gegner Wege finden, westlichen Truppen trotz deren überlegener Militärtechnik empfindliche Verluste zuzufügen. Ein weiterer möglicher Grund, gerade in Deutschland, ist die rhetorische Ausweichbewegung, die der Begriff hybride Kriegführung erlaubt: Der Hybridkriegsbegriff ermöglicht es – anders als ein bedrohungsbasierter Ansatz, der Russland direkt nennt –, sicherheitspolitische Maßnahmen gegen befürchtete russische Handlungen zu ergreifen und zugleich Dialog- und Kooperationsbereitschaft zu signalisieren.

Letztlich ist auch denkbar, dass eine phänomenbasierte statt einer konkret bedrohungsbasierten Begründung eine gewollte Ambiguität darstellt, denn trotz seiner beeindruckenden politischen Karriere verbleibt der Begriff des hybri­den Krieges noch immer im Vagen. So antwortet die Bundesregierung auf eine kleine Anfrage der Fraktion Die Linke im Bundestag: „Auch wenn die Begriffe »hybride Kriegführung«, »hybride Konflikte« und »hybride Bedrohungen« seit mehreren Jahren Teil des sicherheitspolitischen Diskurses sind, entziehen sich diese Begriffe einfachen und abschließenden Definitionen.“ (Deutscher Bundestag 2016) Diese »semantische Ratlosigkeit« mag im allgemeinen Diskurs, bei dem die Teilnehmer*innen schon wissen werden, was gemeint ist, hinnehmbar sein. Diese Ambiguität, die im Übrigen auch bei dem Begriff der Resilienz zutage tritt, muss vor dem Hintergrund sehr realer sicherheitspolitischer Maßnahmen, die derzeit diskutiert werden, jedoch kritisch betrachtet werden.

Literatur

Alamir, F.M. (2015): »Hybride Kriegführung« – ein möglicher Trigger für Vernetzungsfortschritte? Ethik und Militär – Kontroversen der Militärethik & Sicherheitskultur 2/2015, S. 3-7.

Buzan, B.; Waever, O.; de Wilde, J. (1998): Secur­ity – A new framework for analysis. Boulder, London: Lynne Rienner.

Deutsche Bundesregierung (2016): Weißbuch 2016 zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr. Bonn, Berlin: BMVg.

Deutscher Bundestag (2016): Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Andrej Hunko, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE – Einsatzmöglichkeiten von Militär und Geheimdiensten gegen sogenannte hybride Bedrohungen. Deutscher Bundestag, Drucksache 18/8631 vom 1.6.2016.

Europäische Kommission (2016): Gemeinsamer Rahmen für die Abwehr Hybrider Bedrohungen. Europäische Kommission, Drucksache Join(2016) 18 vom 6.4.2016.

Hoffman, F. G. (2007): Conflict in the 21st century – The rise of hybrid wars. Arlington: Potomac Institute for Policy Studies.

Köpke, W. (2015): Heeresentwicklung – Ganzheitlich, systembasiert und zukunftsorientiert. Europäische Sicherheit und Technik 4/2015, S. 26-30.

Müllner, K. (2015): Luftwaffe – auf klarem Kurs. Europäische Sicherheit und Technik 6/2015, S. 32-36.

Ina Kraft ist Wissenschaftlerin am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr in Potsdam. Der Beitrag gibt ausschließlich die persönliche Meinung der Autorin wieder.

Bei diesem Text handelt sich um eine gekürzte und leicht bearbeitete Fassung des folgenden Beitrags: Kraft, Ina (2018): Hybrider Krieg – Zu Konjunktur, Dynamik und Funktion eines Konzepts. Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik, Vol. 11, Nr. 3, S. 305-23.

„Nicht dazu da, Waffen zu segnen“?


„Nicht dazu da, Waffen zu segnen“?

Über den Militär- und Kriegsdienst der Militärseelsorge

von Albert Fuchs

Im Zentrum von Auseinandersetzungen mit dem bundesdeutschen Zusammenspiel von Staat und Kirche in Form der Militärseelsorge steht in der Regel die rechtliche und organisatorische Seite dieses Zusammenspiels. Doch auch das konkrete dienstbezogene und dienstliche Reden und Handeln von (hochrangigen) Vertretern der kirchlichen Militärseelsorge bedarf der kritischen Analyse, wie der vorliegende Beitrag exemplarisch verdeutlicht. Zur klären, ob und ggf. wie dieses Reden und Handeln sich effektiv auf das Militärpersonal und eine interessierte Öffentlichkeit auswirkt, ist oder wäre Sache eingehender empirischer Forschung.

Das besondere, »Militär-« oder »Soldatenseelsorge« genannte, bundesdeutsche Zusammenspiel von Staat und Kirche gilt als im Kern grundgesetzlich verankert: einerseits durch die in Artikel 4 (Abs. 1 und 2) des Grundgesetzes garantierte „Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses“ und ungestörte Religionsausübung“ und andererseits durch eine gemäß Artikel 140 GG aus der Weimarer Reichsverfassung übernommene Regelung. „Soweit das Bedürfnis nach Gottesdienst und Seelsorge im Heer, in Krankenhäusern, Strafanstalten oder sonstigen öffentlichen Anstalten besteht“, sind dieser Regelung zufolge „[…] die Religionsgesellschaften zur Vornahme religiöser Handlungen zuzulassen“ (Art. 141 WRV).

Um dem Ziel der insoweit grundgesetzlich angelegten Kooperation von Staat und Kirche im Falle des „Heer[es]“ gerecht zu werden, hält man es für erforderlich, seelsorgerliche Leistungen zur Verfügung zu stellen, die speziell auf die Arbeit und die Arbeitsbedingungen des Militärpersonals inkl. seiner Dienstzeiten und örtlichen Gegebenheiten abgestimmt sind. Das wiederum erfordert Vereinbarungen zum Status, zur Tätigkeit und zur Alimentierung der Militärseelsorger sowie zur Organisation dieses Dienstbereichs. Entsprechende rechtliche Regelungen liegen für die katholische Militärseelsorge im Wesentlichen in dem einschlägigen Passus des (gemäß einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 1957) weiter geltenden Reichkonkordats von 1933 vor (Art. 27 RK). Die evangelische Seelsorge in der Bundeswehr ist durch den Militärseelsorgevertrag von 1957 geregelt; er gilt seit Anfang 2004 als rechtlicher Rahmen auch für die ostdeutschen Landeskirchen.

Diese Verträge und deren konkrete Umsetzung laufen auf eine institutionelle Verflechtung von Staat und Kirche in der Militärseelsorge hinaus, die in dieser Enge und Dichte weit über das grundgesetzlich eher minimalistisch angelegte Kooperationsverhältnis hinausgeht; auf Details ist hier nicht näher einzugehen (vgl. Czermak 2017; Kropp 2018). Aus der Sicht der Kirchen (-Leitungen) wie aus der Sicht (von Repräsentant*innen) des Staates hat sich das tendenziell staatskirchliche Arrangement der bundesdeutschen Militärseelsorge bestens bewährt. Kritiker*innen liefert es dagegen reichlich und anhaltend Grund zu politischer, rechtlicher, ethischer und theologisch-religiöser Infragestellung. Als verfassungswidrig gilt vielen – wohl zu Recht – der Staatsbeamtenstatus der Militärgeistlichen mit enger Integration in den militärischen Dienstbetrieb und bei voller staatlicher Finanzierung. Unbestritten ist andererseits, dass jedenfalls im kirchlichen Wertehimmel das „auf Erden Frieden den Menschen“ des Evangeliums (Lukas 2,14) einen außerordentlich hohen Rang einnimmt, in Verkündigung und Lehre ebenso wie im Selbstverständnis der Kirchen.

Aus dieser Perspektive sollte demnach ausschlaggebend sein, ob die etablierte Militärseelsorge einen friedenspolitischen Mehrwert hat im Vergleich zu einer konsequent staatsunabhängigen bzw. nicht über die grundgesetzliche Minimalkooperation hinausgehenden Regelung. Das folgende Hitler-Zitat lässt auch für die Bundeswehr eher Gegenteiliges mutmaßen: „Es droht eine schwarze Wolke […] Wir haben Soldaten notwendig, gläubige Soldaten. Gläubige Soldaten sind die wertvollsten. Sie setzen alles ein.“ (Adolf Hitler in einem Gespräch mit dem Osnabrücker Bischof Berning, 26. April.1933; zitiert nach Breuer 2015, S. 75)

Zurüstung der »Seelen«

Erwartungen Hitlers an die Militärseelsorge und die Bereitschaft zumindest eines hochrangigen kirchlichen Amtsträgers, diese Erwartungen zu bedienen, kamen, wie gut verbürgt, deutlich zum Ausdruck bei einem Zusammentreffen Hitlers mit dem Münchner Erzbischof Kardinal Faulhaber im November 1936 auf dem Obersalzberg. Auf Hitlers Bemerkung, der Soldat, der drei oder vier Tage im Trommelfeuer liege, brauche einen religiösen Halt, versicherte ihm Faulhaber, da könne die Kirche dem Staat helfen und die Seelen rüsten (Czermak 2017). Seelsorge also als Zurüstung der gläubigen Herde – jedenfalls im Nebeneffekt – für den staatlichen Menschen-Schlachtbetrieb! Die konkreten Formen und Auswirkungen dieses perversen Zusammenspiels von Staat und Kirche sind hinlänglich beforscht und bekannt (z.B. Röw 2014).

Gewiss, man muss sich davor hüten, die kirchliche Seelsorge bei der Bundeswehr den Verhältnissen »unter dem Hakenkreuz« gleichzustellen. Das von diesen Verhältnissen ausgehende kalte Licht kann aber und sollte den kritischen Blick auf die Entwicklung bei der Bundeswehr-Seelsorge schärfen. So kommt ein in der Richtung »wie damals« liegender staatlich-militärischer Erwartungshorizont durchaus auch in der Zentralen Dienstvorschrift 66/1 (vom 25.8.1956) zum Ausdruck, die für die Bundeswehr-Seelsorge immer noch maßgeblich ist – freilich nicht annähernd so brutal offen wie bei Hitler. Dieser Dienstvorschrift zufolge stellt sich die Militärseelsorge „die Aufgabe, unter Wahrung der freiwilligen Entscheidung des einzelnen das religiöse Leben zu wecken, zu festigen und zu vertiefen. Dadurch fördert sie zugleich die charakterlichen und sittlichen Werte in den Streitkräften und hilft die Verantwortung tragen, vor die der Soldat als Waffenträger gestellt ist.“ (zit. nach Czermak 2017) Und in der so genannten Dienststelle Blank, dem Vorläufer des Verteidigungsministeriums, wurde bereits 1954 intern von einer Bringschuld des Staates gesprochen mit der Begründung, der Staat selbst habe ein echtes Interesse an der Militärseelsorge. Der Wert seiner Streitkräfte, so das Argument, hänge vom Charakter und der seelischen Einstellung der Soldaten nicht weniger ab als vom waffentechnischen Ausbildungsstand. Diese Eigenschaften aber würden bei den meisten Menschen von der religiösen Grundlage her bestimmt (ebd.).

So stellt sich die Frage, wie die maßgebenden Vertreter der zeitgenössischen Militärseelsorge mit dem staatlich-militärischen Erwartungshorizont umgehen. Abermals wird kaum ein ähnlich offenes Andienen gegenüber (Mitgliedern) einer Bundesregierung nachzuweisen sein wie seinerzeit das von Kardinal Faulhaber gegenüber Hitler. Systematische Untersuchungen zu diesem Thema sind nicht bekannt. Immerhin sind öffentliche Einlassungen ranghoher Militärseelsorger zu finden, die mustergültig sein dürften für ihren Umgang mit dem staatlich-militärischen Erwartungshorizont.

Aufschlussreiche Interviews mit den ranghöchsten amtierenden Vertretern der kirchlichen Militärseelsorge, mit dem katholischen Militärbischof Dr. Franz-Josef Overbeck und dem evangelischen Militärbischof Sigurd Rink, wurden im vergangenen Jahr vom Bonner General-Anzeiger veröffentlicht (Overbeck 2018; Rink 2018). Mit den Ausführungen von Bischof Overbeck hat sich eine kleine Gruppe aktiver Mitglieder der katholischen Friedensbewegung Pax Christi in einem offenen Brief eingehend auseinandergesetzt (Pax Christi/Impulsgruppe 2018). Aus ihrer differenzierten Kritik am Amtsverständnis und der Amtsführung des katholischen Militärbischofs stechen zwei Punkte hervor, die, geringfügig anders akzentuierend, auch bei Bischof Rink zu konstatieren sind.

Zum einen macht man es sich ausgesprochen leicht mit dem eklatanten Gegensatz zwischen dem jesuanischen Ethos radikaler Gewaltfreiheit und der Gewaltverhaftung des Militärbetriebs. Bischof Overbeck verschiebt diesen Konflikt in das Gewissen der Einzelnen, hält aber andererseits, höchst begründungsdürftig, die Anwendung von militärischer Gewalt „im Krisen- und Konfliktfall“ nicht nur für rechtfertigungsfähig, also für erlaubt, sondern sogar für „mitunter auch geboten“. Und Bischof Rink genügt eine kleine Schrift von Martin Luther aus der Zeit der […] Bauernkriege“ im geistig-geistlichen Überlebensbeutel für den soldatischen Weg durch die Dilemmata militärischer Gewalt.

In der angesprochenen Abhandlung »Ob Kriegsleute in seligem Stande sein können« von 1526 (verfügbar unter glaubensstimme.de) stellt Luther grundlegend ab auf den Unterschied zwischen der Sorge um sich selbst und der Sorge für andere; bei jener fordert er Gewaltverzicht, bei dieser dagegen heißt er Gewaltgebrauch (unter bestimmten Bedingungen) gut. Wie frei von Sorge um sich selbst aber muss und kann die Sorge für andere sein? Der Konflikt wird also letztlich ebenfalls in das individuelle moralische Bewusstsein verschoben. Die strukturelle Gewalt, das Militärgewaltsystem, kommt nicht in den Blick, wird erst recht nicht in Frage gestellt, sondern im Gegenteil bestätigt. Es ist ja rettende und folglich »gute Gewalt«. Dass derart obrigkeitsgefällige Ethik auch immer noch die Verwicklung der Bundeswehr in die Nuklearstrategie der NATO ethisch sanieren können soll, ist vielleicht am besten als (ungewollte) Karikatur zu jedem Versuch zu lesen, sich mit der ethischen Problematik militärischer Gewalt »staatstragend« auseinanderzusetzen.

Der zweite Hauptkritikpunkt betrifft die Linientreue, die beide Kirchenherren gegenüber der laufenden Militär- und Sicherheitspolitik an den Tag legen. So schätzt Bischof Overbeck u.a. die bundesdeutsche militär- und sicherheitspolitische Entwicklung seit der Epochenwende von 1989/90 durchweg als positiv ein, von der fraglosen Hinnahme des Eintritts der Bundeswehr in eine neue Ära ihrer Existenz“ im Zuge des Anschlusses der DDR an die Bundesrepublik und der Beschwörung „weltweite[r] Gefahren“ als treibende Kraft der Umwandlung der einst grundgesetzlich verankerten Verteidigungsarmee in eine „Armee im Einsatz“ bis hin zu einem vorbehaltlosen Lobspruch auf die Bundeswehr als „Parlamentsarmee“ mit „klaren ethischen Standards“. Und Bischof Rink, von der Redaktion als „bekennende[r] Pazifist“ vorgestellt, scheint sich mindestens ebenso sehr um „Material und Personal für die Einsätze“ zu sorgen wie um die Menschen, die beim Militär bzw. im Einsatz angeblich besonders „offen für die Seelsorge“ sind.

Besteht also doch nur ein gradueller Unterschied zwischen Kardinal Faulhabers Bereitschaft, sich auf Hitlers Erwartungen einzulassen, und der Kammerdienerei der amtierenden Militärbischöfe gegenüber dem staatlich-militärischen Erwartungshorizont für die Bundeswehr?

Militärgeistlicher Kriegsdienst

Für einen dezidierten Kritiker aus theologisch-religiöser Sicht, wie den ehemaligen Militärseelsorger Matthias Engelke, ist ausgemacht, dass die etablierte Militärseelsorge nicht nur Militärdienst im Sinne der Zurichtung der Seelen leistet, sondern »Kriegsdienst« in einem engeren Sinn (Engelke 2010). Der Autor untermauert diese These durch einen Abgleich des Militärbetriebs mit formalen (soziologischen) Merkmalen von Religion. Zu jedem kritischen Religionsmerkmal findet sich ein Pendant beim Militär: von der deutlichen, durchaus auch physischen Trennung von »innen« und »außen« über eine eigene Sprache mit eigener Begrifflichkeit und einer Fülle von Abkürzungen, eine eigene Hierarchie mit eigenem Ethos und besonderen Verhaltensstandards, eigene Zeremonien und Feiern bis zu einer spezifischen Vorstellung vom »Ganz Anderen« samt der Besorgung seiner Präsenz in Kult und Ritus durch religiöse Spezialisten. Der Kern der Sonderexistenz des Militärs – und damit die Basis des militäreigenen »Ganz Anderen« – liegt in der ihm zugestandenen Tötungslizenz und in der Ausrichtung des gesamten Betriebs auf die Wahrnehmung dieser Lizenz, unter Einschluss der Hinnahme von eigener Verletzung und Tod.

Der Verlust eigener Soldat*innen aber ist die Stunde der religiösen Spezialisten. Ihnen obliegt die Kommunikation an der Grenze zwischen Leben und Tod – und darüber hinaus. Dabei geht es insbesondere darum, dem Geschehen irgendwie Sinn abzugewinnen und Schuld(-gefühle) zu bewältigen. Gemäß der herrschenden politisch-militärischen Ideologie haben Soldat*innen dafür zu sorgen, dass »notfalls« getötet wird, wer sich der Zielsetzung der eigenen Regierenden widersetzt; der Tod »der anderen« – für »unsere« Sicherheit und »unseren« Wohlstand – ist kaum des Nachdenkens und der Rede wert.

Der Verlust eigener Soldat*innen jedoch kann nicht Sinn und Zweck kriegerischer Unternehmungen sein. Die Eigenen dürfen auch nicht umsonst gestorben sein; das würde ja einzugestehen bedeuten, dass zumindest das betreffende militärische Unternehmen »unsinnig« ist. So muss ihr Tod für die Überlebenden einen besonderen Sinn haben. Er besteht zum einen darin, die »Sache«, für die sich die »Gefallenen« bis zum »Opfer des Lebens« eingesetzt haben, mit möglichst gleichem Einsatz weiter zu betreiben. Mit der Rede von einem Opfertod wird zum andern der Soldatentod zu einem übergeordneten Geschehen erhoben und erhält gleichsam sakrale Qualität. Beide Varianten der Konstruktion von Sinn entlasten zugleich von der Schuldproblematik, die sich den Überlebenden aufdrängt, wenn sie sich fragen, warum es die Kameraden und nicht sie selbst getroffen hat, sich eventuell (mit-) verantwortlich sehen (müssen) für den Tod von Kameraden oder unabweislich mit der politisch-moralischen Fragwürdigkeit eines kriegerischen Einsatzes konfrontiert werden.

Zum Kriegsdienst wird dieser militärgeistliche Service Engelke (2010) zufolge vor allem durch die Abwesenheit der Opfer der anderen Seite, der verletzten und/oder getöteten Gegner: „Dadurch wird augenfällig, dass die Militärseelsorger nicht im Dienste einer Institution stehen, die unabhängig vom Militär andere Zusammenhänge und Bezüge schafft und lebt, wie es etwa die weltweite Kirche beansprucht, sondern sie agieren innerhalb der Grenzen und Regeln des jeweiligen Militärs. […] Feindesliebe, die Jesus gemäß zum Weg derer gehört, die ihm nachfolgen, […] ist ausgeschlossen.“ (ebd. S. 8)

Engelkes hier nur gedrängt zu rekonstruierende Analyse mag bei aller Plausibilität Zweifel nahelegen, ob sie auch für die Bundeswehr zutrifft. Bei solchen Vorbehalten ist nachzulesen, was z.B. der damalige Bundesverteidigungsminister und der seinerzeit amtierende katholische Militärgeneralvikar im Rahmen der offiziellen Trauerfeier für die im April 2010 in Afghanistan »gefallenen« Bundeswehrangehörigen zu sagen hatten (Guttenberg 2010; Wakenhut 2010; vgl. Fuchs 2010). Nicht zuletzt diese oder ähnliche Ansprachen dürften Engelke zu seinen Einsichten zum Kriegsdienst-Charakter der etablierten Militärseelsorge inspiriert haben – und machen sie zumindest zu wohl begründeten Hypothesen.

Fazit

Die dargestellten Sachverhalte und Analysen lassen die im Titel des vorliegenden Beitrags aufgenommene Bemerkung von Bischof Overbeck, er sei „nicht dazu da, Waffen zu segnen“ (Overbeck 2018, S. 3), bestenfalls als Ausdruck von Selbsttäuschung erscheinen. Es geht aber nicht nur um individuelle Selbsttäuschung, sondern um sozial geteilte und insofern um eine Art institutionell verfestigte Selbsttäuschung, die darauf hinausläuft, im politischen und kulturellen Sinn sehr wohl „Waffen zu segnen“, und die damit höchstwahrscheinlich beiträgt zur Verstärkung und Perpetuierung des kulturellen „Mythos erlösender Gewalt“ (Wink 2014). Wie sich dieses Waffensegnen aber tatsächlich auf das Bundeswehrpersonal auswirkt, lässt sich weder auf der Basis von Plausibilitätserwägungen noch durch eine – u.U. auch kunstgerechtere – Interpretation von Einlassungen hochrangiger Akteure der Militärseelsorge ausmachen, sondern nur durch empirische Forschung.

Was immer aber diese Wirkungen sein mögen, militärgeistliches Waffensegnen auch indirekter Art stellt aus der hier zugrunde gelegten Perspektive eine schwere Belastung für die Glaubwürdigkeit des amtskirchlichen Friedensengagements dar.

Literatur

Breuer, T. (1999/2015): Gehorsam, pflichtbewusst und opferwillig – Deutsche Katholiken und ihr Kriegsdienst in der Wehrmacht. In Bürger, P. (Hrsg.): „Es droht eine schwarze Wolke“ – Katholische Kirche und Zweiter Weltkrieg. ­Berlin: Pax Christi, S. 75-84.

Czermak, G. (2017): Militärseelsorge. Institut für Weltanschauungsrecht (Lexikon); ­weltanschauungsrecht.de

Engelke, M. (2010): Der Kriegsdienst der Militärseelsorge. Wissenschaft und Frieden, 3-2010, Dossier 65, S. 6-8.

Fuchs, A. (2010): Re-Sakralisierung des Militärischen. Wissenschaft und Frieden, 3-2010, Dossier 65, S. 2-5.

Guttenberg, K.-T. zu (2010): Rede des Verteidigungsministers auf der Trauerfeier in Ingolstadt, 24.4.2010; bmvg.de

Kropp, V. (2018): Mit kirchlichem Segen in den Krieg? Die Militärseelsorge in der Bundeswehr. Ausdruck 3-2018, S. 13-22.

Overbeck, F.-J. (2018): „Ich bin nicht dazu da, Waffen zu segnen“ – Über die Seelsorge für Soldaten, soziale Brennpunkte und das Verhältnis von Staat und Kirche. General-Anzeiger/Bonn, 11.1.2018, S. 3.

Pax Christi/Impulsgruppe (2018): An den katholischen Militärbischof Herrn Dr. Franz-Josef Overbeck, Bischof von Essen – Offener Brief anlässlich des »Tages der Militärseelsorge« im Rahmen des 101. Deutschen Katholikentags vom 9. bis 13. Mai 2018 in Münster; ­militaerseelsorge-abschaffen.de.

Rink, S. (2018): „Die Auslandseinsätze der Bundeswehr sind keine Trockenübungen“ – Über schlechte Ausrüstung der Truppe und anspruchsvolle Soldatenseelsorge. General-­Anzeiger/Bonn, 20.11.2018, S. 26.

Röw, M. (2014): Militärseelsorge unter dem Hakenkreuz – Die katholische Feldpastoral 1939-1945. Paderborn: Schöningh.

Wakenhut, W. (2010): Ansprache von Militärgeneralvikar Walter Wakenhut aus Anlass der Trauerfeier für die in Afghanistan gefallenen Soldaten am 24.04.2010 in Ingolstadt; katholische-­militaerseelsorge.de.

Wink, W. (2014): Verwandlung der Mächte – Eine Theologie der Gewaltfreiheit. Herausgegeben von Thomas Nauerth und Georg Steins. Regensburg: Pustet.

Prof. Dr. Albert Fuchs war Hochschullehrer für Kognitions- und Sozialpsychologie und psychologische Methodenlehre, ist u.a. Mitglied des Instituts für Friedensarbeit und Gewaltfreie Konfliktaustragung und bei Pax Christi engagiert.

Die neue Normalität?

Die neue Normalität?

NATO und Bundeswehr im (Informations-) Krieg mit Russland

von Jürgen Wagner

Seit der Eskalation der westlich-russischen Beziehungen ab 2014 hat sich die NATO wieder auf ihren alten Hauptfeind zurückbesonnen. Auch die Bundeswehr wird konsequent auf eine mögliche Auseinandersetzung mit Russland ausgerichtet, wie spätestens die beiden Kerndokumente des Jahres 2018, die »Konzeption der Bundeswehr« (20. Juli) und das »Fähigkeitsprofil« (3. September) verdeutlichten. Mehr noch: In Papieren des Heereskommandos wurden ein Krieg mit Russland und die daraus abgeleiteten Rüstungserfordernisse bereits detailliert ausgeplant. Besonders auffällig ist dabei, dass neben der Anschaffung und Finanzierung von zusätzlichem »schwerem Gerät« inzwischen vor allem dem Kampf um den so genannten Informationsraum eine immer größere Bedeutung eingeräumt wird.

Die Planungen von NATO und Bundeswehr für den Informationsraum betreffen nicht allein Aspekte wie das Lahmlegen gegnerischer IT-Systeme auf dem Gefechtsfeld, und auch mit massiver Propaganda im Feindesland ist es dabei nicht getan. Aus ihrer Warte befindet sich der Westen in einem dauerhaften (Informations-) Krieg mit Russland, in dem Maßnahmen bereits lange vor Ausbruch des »klassischen« Krieges einsetzen. Deshalb wird es als erforderlich erachtet, so etwa ein Papier der »Bundesakademie für Sicherheitspolitik« (BAKS), auch an der Heimatfront die Informationshoheit zu erringen: „Klassischerweise wird zwischen Friedens- und Kriegszeiten unterschieden – eine Grenze, die im Zeitalter des Informationskriegs zu verschwimmen droht. Doch bereits vor dem Ausbruch eines hochintensiven Konflikts stellt sich die Frage, wie dieser von einem gegnerischen Akteur im Cyber- und Informationsraum vorbereitet wird und welche Vorkehrungen dafür getroffen werden. […] Betrachtet man Kriege durch diese theoretische Brille, so beobachten wir, dass die Bevölkerung, oftmals auch nur Minderheiten oder einzelne Bevölkerungsteile, in die Informationskriege einbezogen und zum Ziel gemacht werden, indem sie einer kontinuierlichen Propaganda ausgesetzt ist. Dies geschieht lange bevor ein bewaffneter Konflikt ausbricht und Streitkräfte überhaupt involviert sind. […] Informationen selbst sind zum Angriffsziel und Mittel geworden; der Informationswettbewerb und der Kampf um die Deutungshoheit sind ein entscheidender Faktor in der modernen Kriegsführung geworden.1

Dachdokument der Rüstung: »Konzeption der Bundeswehr«

Den ersten wichtigen Meilenstein für eine grundlegende Neuausrichtung der Bundeswehr in Richtung Russland markierten im April 2017 die »Vorläufigen konzeptionellen Vorgaben für das künftige Fähigkeitsprofil der Bundeswehr«. Verfasst unter der Ägide von Generalleutnant Erhard Bühler, wurden schon damals keine Zweifel daran gelassen, dass der »Bündnisverteidigung« und damit faktisch der Rüstung gegen Russland künftig wieder mehr Bedeutung zukommen soll. Deutschland müsse bis 2031 drei schwere Divisionen mit je etwa 20.000 Soldat*innen in die NATO einbringen können, die erste bereits 2026, so die wichtigste Aussage des »Bühler-Papiers«. Den nicht sonderlich zarten Hauch von Kaltem Krieg, den das Ganze vermittelte, fasste damals die FAZ mit den Worten zusammen: „Damit würden die Divisionen wieder die klassische Struktur aus der Zeit vor 1990 einnehmen.2

In einem nächsten Schritt unterzeichnete Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen am 20. Juli 2018 die »Konzeption der Bundeswehr«, das »Dachdokument« der Truppe, die nun auch offiziell die (Re-) Fokussierung auf Auseinandersetzungen mit Russland zum Inhalt hatte (ohne dabei, wohlgemerkt, den Anspruch auf globale Militärinterventionen aufzugeben). Russland wird in der »Konzeption der Bundeswehr« zwar nicht ausdrücklich erwähnt, immer wieder ist aber die Rede davon, dass aufgrund „der sicherheitspolitischen Entwicklungen der letzten Jahre […] die kollektive Bündnisverteidigung wieder in den Fokus der strategischen Überlegungen der NATO gerückt“ sei. Und weiter: „Die Bundeswehr muss […] in der Lage sein, zur kollektiven Bündnisverteidigung in allen Dimensionen mit kurzem Vorlauf, mit umfassenden Fähigkeiten bis hin zu kampfkräftigen Großverbänden innerhalb und auch am Rande des Bündnisgebietes eingesetzt zu werden.“ (S. 23)

Diese Formulierungen sind entlarvend, lassen sie doch genug Spielraum, um die Bundeswehr auch für Auseinandersetzungen in einem der aktuell noch »blockfreien« Länder zwischen der NATO und Russland einzusetzen, in denen die Spannungen seit Jahren zunehmen. Was dieser Anspruch für die Struktur und Bewaffnung der Bundeswehr bedeutet, wurde anschließend im »Fähigkeitsprofil der Bundeswehr« ausgebreitet.

Fähigkeitsprofil: Rüstungsstufenplan

Das »Fähigkeitsprofil der Bundeswehr«, ein internes Planungspapier der Bundeswehr vom 3. September 2018, übernimmt im Wesentlichen die bereits im »Bühler-Papier« erläuterten Vorschläge, präzisiert sie aber noch einmal deutlich. So visiert das Fähigkeitsprofil einen dreistufigen Umbau der Bundeswehr an – Schritt eins soll 2023 erfolgen. Zu diesem Zeitpunkt wird beabsichtigt, ein Brigadeäquivalent – also etwa 5.000 Soldat*innen (unter Berücksichtigung von Rotations- und Ruhezeiten noch einmal deutlich mehr) – mit voller Bewaffnung bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung aller anderen »Verpflichtungen« (z.B. für die EU-Kampftruppen) in die NATO einbringen zu können. Der zweite Schritt soll 2027 folgen (ein Jahr später als im »Bühler-Papier« vorgesehen), da will die Bundeswehr eine Division mit etwa 20.000 Soldat*innen beisteuern. Das Ende des im Fähigkeitsprofil beschriebenen Planungshorizontes ist schließlich 2031 erreicht; von da ab sollen alle Teilstreitkräfte für einen Krieg mit Russland gerüstet sein: Drei Divisionen (Heer), vier gemischte Einsatzverbände (Luftwaffe), 25 Kampfschiffe (davon elf Fregatten) und acht U-Boote (Marine) sowie Kapazitäten zur Erlangung der Hoheit im Informationsraum (Cyber) will die Bundeswehr bis dahin mobilisieren können. Auch die Truppe soll größer werden: Die Bundeswehr soll von derzeit knapp 180.000 Soldat*innen allein bis 2025 auf 203.000 Soldat*innen anwachsen.3

Angesichts der Tatsache, dass Politik und Bundeswehr seit Jahren das fehlende Interesse an einer sicherheitspolitischen Debatte beklagen, ist es zynisch, das Fähigkeitsprofil als »VS [Verschluss-Sache] – nur für den Dienstgebrauch« einzustufen – es darf also nicht daraus zitiert werden (obwohl Teile des Inhaltes gleich an befreundete Zeitungen weitergereicht wurden). Die drei Anlagen zum Fähigkeitsprofil, in denen – mutmaßlich – eine detaillierte Aufstellung der Rüstungsprojekte mitsamt ihrer Kosten bis zur ersten »Ausbaustufe« 2023 sowie die zwischen 2024 und 2031 anvisierten Vorhaben enthalten sein sollen, wurden sogar als »geheim« eingestuft. Das bedeutet, Abgeordnete dürfen sie nur in der Geheimschutzstelle des Bundestages einsehen, sich keine Notizen darüber machen und auch nicht darüber reden.

Beim »erforderlichen« Finanzbedarf orientiert sich das Fähigkeitsprofil an den 1,5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes, die bereits im Mai 2018 in einem Papier der Bundeswehr-Universität auftauchten. Diese Zielgröße wurde anschließend mit Unterstützung der Kanzlerin von Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen offiziell bei der NATO für das Jahr 2025 verbindlich zugesagt. In Zahlen bedeutet dies, dass nach dem Anstieg des Militärhaushaltes von 23,8 Mrd. Euro (2000) auf 43,2 Mrd. Euro (2019) noch einmal mächtig zugelegt werden soll: Als konkrete Zahl werden im Fähigkeitsprofil bis 2025 satte 59,78 Mrd. Euro (nach NATO-Kriterien 63,9 Mrd. Euro) genannt.4

Kriegsplanungen des Heereskommandos

Wie eingangs erwähnt, visierte das »Bühler-Papier«, die wichtigste Vorarbeit zum Fähigkeitsprofil, 2026 als Datum für die Einspeisung der ersten schweren Division in die NATO-Planungen an. Und genau dieses Datum diente augenscheinlich dem Heereskommando in dem Mitte 2017 von ihm herausgegebenen »Thesenpapier I – Wie kämpfen die Landstreitkräfte künftig?« als Orientierungspunkt. Darin wird ein detailliertes Szenario entworfen, wie die Bundeswehr im NATO-Verbund im Jahr 2026 einen Landkrieg gegen Russland gewinnen kann und welche Fähigkeiten hierfür beschafft werden sollen.5 In dem »Thesenpapier« geht es darum, ein „Zielbild Landstreitkräfte 2026“ auszuarbeiten, das sich prägend auf die künftige Struktur und Bewaffnung des Heeres auswirken soll: „Die in diesem Papier dargelegten Ideen und Anforderungen werden in einem Operationskonzept vertieft und dann konsequenterweise in neuen Strukturen münden. […] Das zukünftige Operationskonzept soll dabei die quantitativen und qualitativen Forderungen des Fähigkeitsprofils der Bundeswehr – abgeleitet aus den akzeptierten NATO Planungszielen und den nationalen Aufgaben – mit den hier dargestellten Ideen verknüpfen. Es wird so zum gedanklichen Kernelement der zukünftigen Entwicklung der Landstreitstreitkräfte.“ (S. 25)

Der zunehmenden Bedeutung des Informationsraums – sowohl für die Auseinandersetzung auf dem Gefechtsfeld selbst wie auch an der Heimatfront – wird unter anderem folgendermaßen Rechnung getragen: „Jede Präsenz und Aktion von [Landstreitkräften] auf einem zukünftig »gläsernen« Gefechtsfeld oder Einsatzraum erzeugt reaktiv einen Effekt im Informationsraum, der »Kampf« um/mit Informationen muss zwingend – und schnell im Sinne einer »Golden Hour« – geführt werden. (S. 8/9) Und weiter: „Das Gefechtsfeld wird transparenter und komplexer, sowohl im Sinne von verbesserten Aufklärungsfähigkeiten aller Seiten als auch hinsichtlich der Verbreitung von Meldungen/Nachrichten/Gerüchten quasi weltweit, in alle gesellschaftlichen Bereiche und in die eigene Truppe hinein. Das Gefechtsfeld wird durch die [sic!] Zusammentreffen von verbesserter Aufklärung, schnelleren Entscheidungs- und Bekämpfungszyklen aufgrund taktischer NetOpFü und zielgenauerer und verbesserter Wirkmittel letaler, selbst für gut geschützte Kräfte. […] Taktische Cyber-Kräfte unterstützen offensiv und defensiv den Einsatz von Landstreitkräften und […] ermöglichen auch […] den Angriff auf gegnerische Systeme und die offensive Beeinflussung von Entwicklungen im Informationsraum.“ (S. 15/16)

Daraufhin wird ein Szenario beschrieben, wie aus Sicht des Heeres ein künftiger (Informations-) Krieg gegen Russland ablaufen könnte. Es beginnt mit dem Auflaufen der maßgeblich von Deutschland aufgebauten Ultraschnellen NATO-Eingreiftruppe (VJTF), was aber nicht die erhoffte abschreckende Wirkung erzeugt: „Der Beschluss zur Aktivierung und Verlegung der VJTF (stand by), bestehend im Kern aus dem DEU Einsatzdispositiv (EDP), wurde aufgrund einer überraschenden Lageentwicklung notwendig. […] Dennoch kommt es nach einer Phase von Desinformation, separatistischen Aktivitäten, lokalen Angriffen von Separatisten und verdeckt operierenden Special Operation Forces zum Angriff der gegnerischen Hauptkräfte.“ (S. 17)

Als Reaktion auf diesen (russischen) Angriff startet die NATO daraufhin ihrerseits eine Offensive. Auf dem Gefechtsfeld stellt sich das dann wie folgt dar: „Zur Vorbereitung des Gegenangriffs befiehlt der BrigKdr das Auslösen des langfristig vorbereiteten Lähmens des gegnerischen FüInfoSys, um den gegnerischen Entscheidungsprozess zu verlangsamen. Parallel werden in offenen Quellen (soziale Netzwerke, Messenger Services, Nachrichtenkommentare etc.), eine Vielzahl von Meldungen platziert, die auf ein Ausweichen der NATO-Kräfte hindeuten und so die eigene Absicht verschleiern helfen.“ (S. 22)

Doch der (Informations-) Krieg soll nicht allein auf dem Gefechtsfeld, sondern auch an der Heimatfront ausgefochten werden: „Nachdem sich der Erfolg des Gegenangriffs abzeichnet, befiehlt der BrigKdr eine offensive und mehrsprachige Informationskampagne, die durch Bilder, Text, Videos etc. die Erfolge der NATO-Truppen herausstreicht und zeigt, dass Kollateralschäden vermieden werden, aber auch eigene Verluste nicht verschweigt. Zeitgleich werden ausgesuchte Angehörige des Gegners und deren Angehörige adressiert. Durch diese zeitnahe ehrliche und offene Berichterstattung wird gegnerischer Propaganda entgegengewirkt, die öffentliche Meinung sowohl in den NATO-Staaten als auch beim Gegner beeinflusst und die Informationshoheit umstritten oder gewonnen.“ (S. 22/23)

Deutlicher ist wohl nach dem Ende der Blockkonfrontation noch nie ein Krieg mit Russland öffentlich einsehbar durchgespielt worden.

Spiel mit dem Feuer

Die NATO (und damit auch die Bundeswehr) basiert – und rechtfertigt – ihr Agieren aktuell vor allem mit den Erkenntnissen aus einem Planspiel der RAND Corporation aus dem Jahr 2016.6 Die Denkfabrik gelangte zu dem Ergebnis, Russland sei in der Lage, innerhalb kürzester Zeit die drei baltischen Staaten zu besetzen und die »Suwalki-Lücke«, den Versorgungskorridor zu Polen, zu schließen. Daraus wurde die Forderung abgeleitet, eine solche Entwicklung müsse (und könne) durch eine beherzte NATO-Vorwärtspräsenz verhindert werden. Genau dies lieferte die Rechtfertigung für die unter Bruch der NATO-Russland-Akte inzwischen erfolgte Stationierung von 4.000 NATO-Soldat*innen in Osteuropa.

Möglich ist natürliches vieles, was dabei aber kaum eine Rolle zu spielen scheint, ist die Wahrscheinlichkeit, mit der ein solches Szenario eintreten könnte. Welches wie auch immer geartetes, nachvollziehbares Interesse Russland an einem solchen Schritt haben könnte, bleibt schleierhaft. Das andauernde Säbelrasseln und die gegen Russland gerichtete Aufrüstung (nicht nur) der NATO-Ostflanke bergen nicht nur großes Eskalationspotenzial, sie riskieren auch, den »Neuen Kalten Krieg« zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung zu machen. Allerdings hat es ohnehin den Anschein, als hätten sich die »strategischen Zirkel« schon auf einen Dauerkonflikt mit Russland eingerichtet, der wiederum als Rechtfertigung für die intensivierte Aufrüstung der Bundeswehr dient. So heißt es etwa in einem weiteren Papier der Bundesakademie für Sicherheitspolitik: „Es ist wichtig, den systemischen, ausdauernden und umfassenden Charakter der momentanen Herausforderung durch Russland zu begreifen. […] Die Antwort der atlantischen Gemeinschaft in Richtung Russland sollte der Herausforderung angemessen und daher ebenfalls systemisch, ausdauernd und umfassend sein. […] Wir sollten uns nicht der Illusion hingeben bzw. den Eindruck aufkommen lassen, dass der derzeitige Konflikt mit Russland von vorübergehender Dauer sei und wir in absehbarer Zeit wieder zur Normalität zurückkehren könnten.7

Anmerkungen

1) Busch, C.; Düe, N. (2017): Informationskriege – Eine Herausforderung für die Bundeswehr. Bundesakademie für Sicherheitspolitik, BAKS-Arbeitspapier Nr. 24/2017.

2) Seliger, M. (2017): Bis zu den Sternen. Frank­furter Allgemeine Zeitung, 19.4.2017.

3) Offiziell zugänglichen Informationen zum Fähigkeitsprofil stellt das Verteidigungsministerium auf seiner Website bereit: Neues Fähigkeitsprofil komplettiert Konzept zur Modernisierung der Bundeswehr. 4.9.2018, bmvg.de.

4) Siehe u.a. Schnell, J. (2018): Diskussionsbeitrag zum Verteidigungshaushalt im Finanzplan der Bundesregierung für die Jahre 2019 bis 2022. München, Universität der Bundeswehr, 5.5.2018.

5) Kommando Heer (o.J.): Thesenpapier I – Wie kämpfen Landstreitkräfte künftig?
Das Papier wurde wohl im Sommer 2017 fertiggestellt, erschien aber erst später, zunächst auf dem Blog pivotarea.eu, 22.9.2017. Erst danach wurde es auch auf der offiziellen Webseite »Thesenpapiere zur Zukunft deutscher Landstreitkräfte« des Heeres (deutschesheer.de) veröffentlicht. Bislang folgten »Thesenpapier II – Digitalisierung von Landoperationen« sowie »Thesenpapier III – Rüstung digitalisierter Landstreitkräfte«.

6) Shlapak, D.A.; Johnson, M. (2016): Reinforcing Deterrence on NATO’s Eastern Flank. Rand Arroyo Center.

7) Menkiszak, M. (2017): Herausforderung Russland. Bundesakademie für Sicherheitspolitik, BAKS-Arbeitspapier Nr. 27/2017.

Jürgen Wagner ist geschäftsführendes Vorstands­mitglied der Tübinger Informationsstelle Militarisierung (imi-online.de).

Gewalt, Geschlecht und Militär


Gewalt, Geschlecht und Militär

Die Bundeswehr auf feministischem Terrain?

von Tim Bausch und Carolina Rehrmann

Das Militärhistorische Museum der Bundeswehr in Dresden befasst sich in seinem Repertoire mit Themen der Gewalt und deren Folgen. Gegenwärtig werden im Rahmen der Sonderausstellung »Männlicher Krieg – Weiblicher Frieden? Gewalt und Geschlecht« auch gendersensible Exponate angeboten. Die Ausstellung konstituiert sich neben den geschlechtlichen Koordinaten auch über Aspekte der Gewalt und des Friedens. Der Zusammenhang von Gewalt und Geschlecht leuchtet ein. Schließlich sind geschlechtsspezifische Zuschreibungen von Machtstrukturen und somit auch immer von Formen der (symbolischen) Gewalt geprägt. Ist Feminismus also en vogue? Was bedeutet es, wenn sich die Bundeswehr mit solchen Themen beschäftigt? Die Ausstellung mit etwa 1.000 Objekten und Werken lädt noch bis 18. Oktober 2018 dazu ein, genauer hinzuschauen.

Unser Beitrag widmet sich der aktuellen Sonderausstellung »Gewalt und Geschlecht. Männlicher Krieg – Weiblicher Frieden?« des Militärhistorischen Museums in Dresden. Bewusst nutzen wir den dort vorgefundenen Erfahrungsraum für weiterführende Gedanken zur Kunst- und Institutionskritik.

Prolog | Wissensvermittlung zwischen Repräsentation und autonomer Kritik

Nach einer kurzen theoretischen Reflexion zu den Prämissen der Gendertheorie widmen wir uns den Ausstellungsinhalten, die zunächst zusammengefasst und alsdann kritisch bewertet werden.

Leitend ist dabei die Auffassung, dass Ausstellungen als hybrides Darstellungsmedium (vgl. Muttenthaler/Wonisch 2006, S. 37) in besonderer Weise dazu geeignet sind, den*die Besucher*in über die ästhetische Verknüpfung haptischer, akustischer und visueller Elemente intellektuell und sinnlich zu stimulieren. Ausstellungen können den Raum spielerisch zur Verbindung oder auch zur Kontrastierung unterschiedlicher Narrative nutzen und dabei umkämpftes Wissen spür- und erfahrbar machen, indem sie den*die Besucher*in zu geistiger Reflexion und emotionalem Erleben einladen. Da künstlerische Interventionen mit politischer Positionierung einhergehen, sollte jede*r kritische Besucher*in sich fragen, wie sich das Grundnarrativ einer Ausstellung zur sozialen Wirklichkeit verhält.

Dementsprechend können sich Ausstellungen darauf beschränken, lediglich soziale Rangordnungen abzubilden oder Kontingenz (die Möglichkeit eines Ereignisses, bei gleichzeitiger Nichtnotwendigkeit), Multiperspektivität und Relativität betonen. Im letzteren Fall werden Hierarchien und symbolische Positionierungen etwa durch Ironisierungen, Distanzierungen und Überformungen bewusst infrage gestellt. Erst dadurch gewinnt die Kunst ihre eigentliche Autonomie (vgl. Adorno: l’art pour l’art).

In diesem Sinne verstehen wir Ausstellungen als kreative Erfahrungsräume, die idealiter nicht bloß informieren, sondern irritieren sollten, um vor allem das Marginalisierte jenseits rationalistischer Paradigmen sichtbar zu machen. Im Sinne einer Orientierung an der Trias von Emanzipation, Imagination und Utopie belassen wir es deshalb nicht bei einer deskriptiven und abstrahierten Reproduktion der Inhalte, sondern nutzen den Erfahrungsraum der Ausstellung für weiterführende Impulse und Gedanken.

Sonderausstellung | Im Modus der Dekonstruktion

Die heteronormative Prämisse von der gleichsam naturgegebenen Passivität und unkontrollierten Gefühlswallung der Frau gegenüber angeborenen aggressiven Impulsen des Mannes nebst seiner Gabe zur rationalen Reflexion erscheint (auch wenn die zwei Letzteren zugegeben in einem gewissen Spannungsfeld stehen) so alt wie die Menschheit selbst. Im Kielwasser von Poststrukturalismus und Postmoderne mit ihrem Siegeszug des Hybriden, Relativen und Subjektiven machte die Genderwissenschaft derartigen Stereotypen den Garaus. So verweist sie einerseits auf die soziale Konstruktion geschlechterspezifischer Selbstverständlichkeiten und Verhaltensweisen, beispielsweise mit Blick auf die wirkmächtige Idee der ethnisch-exklusiven Nation und ihren zugewiesenen Genderrollen (so basieren die Ideen Vater Staat und Mutter Nation vornehmlich auf männlichem Kampfgeist und weiblicher Reproduktion). Andererseits macht sie die inhärenten Machtstrukturen sichtbar (vgl. Butler 1990/ 2009 und Yuval-Davis 1997).

Indes: Was einer weiß, macht einen noch lange nicht heiß. Einblicke in kritisch-reflexive Wahrheiten haben die hohen Sphären (populistischer) Machtpolitik und die alltäglichen des Normalen, Bekannten und Bequemen bisher im globalen Kontext wenig tangiert, ganz besonders nicht in den elementaren Katalysatoren der Zivilisationsgeschichte: Krieg und Frieden. Denn sind soziale Rollen nicht erst seit der Ökonomisierung aller Gesellschaftsbereiche heute mehr denn je effektivstes Mittel für Anerkennung, erfolgreiche Performance und Gewinnmaximierung geworden, so sind klassische Genderrollen einmal mehr mit traditionellen Strukturen verbunden, die nationale Identitäten und sexuelle Beziehungen genauso formen wie sie Vormundschaft und Exklusion begründen. Kritik an der als selbstverständlich empfundenen Norm ist daher nicht nur unbequem, sondern mitunter gefährlich, weil sie zugleich an viel mehr rüttelt als an einem bis heute auch in Wissenschaftskreisen oftmals stiefmütterlich behandelten Klischee.

Zeit also, dass sich eine an Bildern und Geschichte(n) reiche Ausstellung unter dem Titel »Gewalt und Geschlecht – Männlicher Krieg, weiblicher Frieden?« dem Thema widmet. Die Sonderausstellung wird im militärhistorischen Museum in Dresden gezeigt – man hätte sich vielleicht keinen passenderen Ort vorstellen können. Erklärtes Ziel ist es, im Sinne der kritischen Dekonstruktion Mauern des herkömmlichen Denkens einzureißen und den Blick der Besucher*innen auf die vielen Facetten der historischen und gegenwärtigen Essentialisierung von Frau und Mann im Sinne der oben genannten Dichotomie zu lenken. Ausgehend von Bourdieus (2006) Sentenz von der Verankerung männlicher Hegemonie durch die »Waffen der physischen und symbolischen Gewalt« präsentiert sich die Ausstellung als bunter Querschnitt von Photographien, Gemälden und Dokumenten durch die Jahrhunderte, Kulturen und Gesellschaftsbereiche von stilisierter wie untypischer Männlichkeit und (vor allem) Weiblichkeit.

Historische Kriegsphotographien zeigen Bilder männlicher Gewalt. Sie reichen von Massakern der Nazis bis zum Apartheidregime und sensibilisieren für die Problematik sexualisierter Gewalt gegen Frauen, die entgegen tradierter Vorstellungen keineswegs nur Nebenprodukt von Krieg ist, sondern als Waffe zur Demoralisierung des Feindes und als verlockender Lohn für den Kampfgeist des Soldaten einen elementaren Bestandteil von Kriegsführung darstellt: Sie zeigen Frauen als Kriegstrophäe der Wehrmacht, Sexdienstleisterinnen der US-Armee in Vietnam oder von IS-Terroristen zwangsprostituierte Jesidinnen. Ebenso im Fokus stehen der normierte Frauenkörper als Hüter der (männlichen) Ehre und die Sanktionierung jeglichen Abweichens – im drastischsten Fall durch »Ehrenmord«.

Die Ausstellung bemüht sich um die Sichtbarmachung der dramatischen Folgen von Gewaltkonflikt, Patriarchat und Sexismus im Kontext moderner Kriegsführung mit ihrem hohen Anteil an Zivilopfern und liegt damit im Zeitgeist des friedenspolitischen Gendermain­streaming (vgl. zu Letzterem u.a. United Nations 2002). Wer die Ursprünge derartiger diskriminierender Strukturen sucht, findet endlose kulturgeschichtliche Anknüpfungspunkte. Historische Gemälde und Dokumente geben in diesem Sinne den Blick auf die tieferen Wurzeln normativer Genderrollen frei. Sie reichen von höfischen Geschlechterklischees, von Inquisition und der mittelalterlichen Züchtigung »streitsüchtiger« Frauen durch die so genannten Halsgeigen über den »Kraftmesser« als Jahrmarktattraktion für das Messen von Männlichkeit bis zu neuzeitlicher Medizin, die Frauen natürliche Neigungen zu Hysterie und anderen psychischen Leiden unterstellen wollte.

Auf Basis dieser Herleitung spannt die Ausstellung dann einen Bogen zur modernen Gesellschaft, der von Männerportraits auf Zeitschriftencovern, der traditionellen Geschlechtertrennung in bestimmten Berufsgruppen, sexueller Gewalt gegen Frauen durch digitale Medien bis zur Stilisierung von Genderrollen durch die Spielzeugindustrie reicht. Am Ende wird so den widerstrebenden Sphären der Norm eine effektive Bühne bereitet: Sie ist als Gegenstück zum ersten Ausstellungsteil konzipiert und zielt auf die Dekonstruktion des Stereotyps weiblicher Passivität und Unzulänglichkeit. Den Besucher*innen präsentieren sich Portraits weiblicher Gladiatorinnen, Frauenbilder als Märtyrerinnen in der biblischen Lehre, Regentinnen wie Katharina von Medici, Informationstafeln über die mittelalterliche Macht von Maitressen und politische Ikonen der Neuzeit und Gegenwart, wie Indira Gandhi und Benazir Bhutto, zu denen sich Peschmerga-Kämpferinnen, Modeschöpferinnen, Spitzensportlerinnen und Drohnenpilotinnen gesellen. Auch von Frauen verübte Grausamkeiten, wie die der »Hexe von Buchenwald« Ilse Koch, die taktische Nutzung der Geschlechterstereotypen durch weibliche Selbstmordattentäterinnen oder etwa der weitverbreitete Widerwille, eine Frau wie Beate Zschäpe als Akteurin rechtsextremer Mordserien anzuerkennen, werden schließlich thematisiert.

Würdigung | Kritische Einordnung und weiterführende Gedanken

Die Ausstellung bietet eine ganze Bandbreite an unterschiedlichsten Exponaten, die einem breiten Publikum die genderrelevanten Facetten von Krieg und Frieden vermitteln. Dabei verbindet sich Populärkulturelles der Gegenwart mit Historischem, soziale Lebenswelt mit Gewaltkontext, die unterschiedliche Formen struktureller und direkter Zwänge thematisieren. In diesem Sinne ist die sozialwissenschaftliche Grundierung durch Pierre Bourdieus (2006) Konzept der »symbolischen Gewalt«, wie sie im Ausstellungskatalog und in den Informationstafeln erscheint, durchaus überzeugend, auch wenn die Ausstellung sowohl in ihrer thematischen Breite als auch in der Voraussetzung wissenschaftlicher Expertise für ein breites Publikum sehr anspruchsvoll und möglicherweise zu wenig fokussiert erscheint.

Was indes mehr ins Auge sticht, ist das, was fehlt. Denn die Ausstellung tut nicht weh und wagt sich kaum in die Sphären des Sensiblen und Kontroversen – vor allem nicht in Bezug auf die Bundeswehr selbst. Auch kann man sich fragen, inwiefern eine Reifizierung (Vergegenständlichung) dessen stattfindet, was dem Anspruch nach dekonstruiert werden soll. In der Exposition steht nämlich – hier spiegelt die Ausstellung auch den thematischen Schwerpunkt der Genderwissenschaft wider – wieder einmal vor allem die Frau als Projektionsfläche männlicher Phantasien und als Sinnbild der sie umgebenden Machtstrukturen im Fokus.

Tradierte Frauenbilder als Stereotypen zu entlarven, indem man Gegenbeispiele anführt, erscheint vor diesem Hintergrund zwar folgerichtig. Eine wirkliche Dekonstruktion der impliziten Selbstverständlichkeiten im idealtypischen Verständnis von Mann und Frau bietet sich aber kaum, weil die Kritik an der zweiten Seite der Medaille weitgehend ausspart bleibt: die Sphäre idealisierter bzw. selbstverständlicher Männlichkeit. Bilder männlichen Kampfgeistes und (struktureller) Gewalt durch Männer finden sich zwar in etlichen, aber zugleich auch altbekannten, kaum irritierenden Variationen. Genau die Prämissen vermeintlich angeborener männlicher Eigenschaften (wie der Hang zu aggressiven Impulsen und die Fähigkeit zu kalter Rationalität) lassen die Kriege alternativlos und Konfliktstrukturen als natürlich erscheinen. Dies erfolgreich in Frage zu stellen, hätte (wie die Ausstellung es für die Idee des Weiblichen ja durchaus tut) bedeutet, die sozialen Konstruktionsprozesse sichtbar zu machen, die den heteronormativen Idealtypus Mann entstehen lassen.

In der Darstellung tradierter Männlichkeitskulte und der Verherrlichung von Gewalt oder über Homosexualitäts- oder Transgenderdebatten hätte sich die Ausstellung beispielsweise eines breiten Fundus an bestehenden, kritischen Diskursen bedienen können, die viel mehr Irritations- und Anregungspotential besitzen. Das gilt im vorliegenden Kontext natürlich besonders für die (De-) Konstruktion aggressiver Männlichkeit (und die verbundene Abwertung von Weiblichkeit) im Militär. Denn die auch durch kleinere Reformen im Kern unangetasteten patriarchalen Strukturen der Institution Bundeswehr und sie betreffende kritische Kontroversen bleiben hier ausgespart. Es wäre ehrlicher gewesen, das Zusammenwirken von Geschlecht und Gewalt in der eigenen Sphäre kritischer zu reflektieren, indem man das Militär als Form organisierter Gewalt und seinen latenten oder offenen Chauvinismus und Sexismus als Disziplinarmacht sichtbar macht – eine Grundproblematik, die sich auch durch die Anhebung des Frauenanteils in der Bundeswehr nicht grundsätzlich verändert hat. Eine gendersensible Ausstellung, die die Strukturen der eigenen Institution weitestgehend unkommentiert lässt – einmal mehr vor dem Hintergrund, dass das militärhistorische Museum einst lediglich der Schau von Kriegsgeräten diente – erscheint damit leicht als Imagestrategie. Die US-amerikanische Wissenschaftlerin Krista Hunt (2006) prägte in diesem Zusammenhang den Begriff des »embedded feminism«. Darunter wird die strategische Einverleibung feministischer Diskurspositionen verstanden. Diese Form der Inkorporierung dient mächtigen Akteur*innen als Form der (Selbst-) Legitimierung eigener Ziele. Entsprechend ist hier Feminismus das Mittel zu einem anderen Zweck.

So überrascht es nicht, dass die Sonderausstellung sich in ihrem deutlichen Fokus auf Weiblichkeit und Zivilgesellschaft kaum in die festen Ausstellungskomponenten integriert. Sie bleibt so – wenn überhaupt – ein Tropfen auf dem heißen Stein. Kritisch-reflexive und holistische Ansätze, die den Einfluss von Gesellschaft, Kultur und Staatsapparat in der Konstruktion von Genderstereotypen und verbundenen Hierarchien des Militärs zeigen und um kritische Aufklärung bemüht sind, finden sich kaum. Vielmehr entsteht der Eindruck, dass sich die Bundeswehr populärer, zivilgesellschaftlicher und wissenschaftlicher Debatten bedient, ohne die Sphären des für sie selbst Unbequemen zu tangieren. Solch eine Betrachtung stellt sicher, dass die kritische Kampfzone kein Terrain an militärische Akteure verliert und ist damit Symptomkosmetik statt Ursachenbekämpfung.

Das wirkt umso plausibler, wenn man die gegenwärtigen Marketingstrategien der Bundeswehr betrachtet. Sie erscheinen sowohl als Antwort auf eben jene, beispielsweise an den jüngsten Skandalen sexueller Gewalt oder dem Druck auf weibliche Rekruten (wie in der Debatte um die verunglückte Soldatin auf der Gorch Fock) entzündete, Grundsatzkritik als auch als Instrument der Attraktivitätssteigerung für die Rekrutierung neuen Personals nach der Abschaffung der Wehrpflicht. Plakate im öffentlichem Raum mit der Aufschrift Auch bei uns haben Frauen das letzte Wort: Als Chefin“ zeugen von solchen Strategien.

Neben dieser kritischen Selbstreflexion der militärischen Sphäre hätte die Ausstellung vielfältige Möglichkeiten einer Infragestellung des Selbstverständlichen über Irritation, Interaktion und schmerzhafte Denkanstöße nutzen können, die postkolonialen und postmodernen Diskursen zentralen Platz einräumen (man denke an Banksys Walled Off Hotel, siehe auch Bausch/Stein 2017). Schließlich besitzt das Darstellungsformat theoretisch die nötigen didaktischen Eigenschaften, um neue Denkbewegungen zu fördern. „In der Begegnung mit dem Unverfu¨gbaren u¨bersteigt der Besucher seine perso¨nlichen, ihn im Alltag fesselnden Beschränkungen, und bleibt doch er selbst.“ (Klein 2004: S. 163) Kritisches Denken, so könnte man sagen, bedarf eben auch immer einer Auseinandersetzung mit dem Unverfügbaren, um die Grenzen des eigenen Bewusstseins zu überschreiten oder zumindest herauszufordern. Durch die Konfrontation mit Transsexualität als Gegenstück zum Heteronormativen, durch ambi- oder polyvalente Collagen, Installationen und Filmsequenzen, die die Welt aus der Perspektive eines anderen Geschlechts konkret erfahrbar machen, oder etwa durch Illustration von politischen Protestbewegungen, die mit Genderrollen spielen, hätten solche Irritationsmomente erreicht werden können. Besucher*innen hätten so animiert werden können, die Selbstverständlichkeit des eigenen Geschlechts zu hinterfragen, indem man ihnen einen Spiegel vorhielte und so Empathie für die Wirkmacht von Geschlechterrollen motivierte. Nur so würden neue Handlungsräume sichtbar, neue Fragen aufgeworfen und kritische Diskurse für die Zukunft angestoßen.

Eine gelungene Ausstellung sollte also immer auch Kontroversen hin zu gesellschaftlichen Utopien befördern. Schließlich darf es Kritik nicht nur darum gehen, um es frei nach Marx zu formulieren, die Welt zu erklären, sondern sie zu verändern. Wissenschaft und Kunst müssen in diesem Sinne neben kritischer Reflexion immer auch den Mut besitzen, eine »Kartographie des Möglichen« (Rancière 2016) zu skizzieren.

Literatur

Bausch, T.; Stein, A. (2017): Zur Repräsentationsproblematik von Konflikten und der Macht zu definieren – Potenziale und Grenzen partizipativer und mehrperspektivischer Ausstellungsformate. In: Warnecke, A.; Reitmair-Juárez, S. (Hrsg.): Um Gottes Willen? Die ambivalente Rolle von Religionen in Konflikten. Stadtschlaining: Austrian Study Centre for Peace and Conflict Resolution, S. 68-85.

Bourdieu, P. (2013): Die männliche Herrschaft. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Butler, J. (1990): Gender Trouble: Feminism and the Subversion of Identity. Routledge: New York [u. a.].

Butler, J. (2009): Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen. Frankfurt/M: Suhrkamp.

Klein, A. (2004): Expositum – Zum Verhältnis von Ausstellung und Wirklichkeit. Bielefeld: transcript.

Krista, H. (2006): »Embedded Feminism« and the War on Terror. In: Hunt, K.; Rygiel, K. (eds.): (En)Gendering the War on Terror. War Stories and Camouflaged Politics. Hampshire & Burlington: VT.

Mutterthaler, R.; Wonisch, R. (2006): Gesten des Zeigens. Zur Repräsentation von Gender und Race in Ausstellungen. Bielefeld: transcript.

Rancière, J. (2016): Interview Thomas Claviez und Dietmar Wetzel mit Jacques Rancie`re. In: Claviez, T.; Wetzel D. (Hrsg.): Zur Aktualität von Jacques Rancie`re – Einleitung in sein Werk. Wiesbaden: Springer VS.

United Nations (2002): Gender Mainstreaming – An Overview. Office of the Special Advisor for Gender Issues and Advancement of Women: New York.

Yuval-Davis, N.: (1997): Gender and Nation. Sage Publications: New York

Tim Bausch arbeitet und promoviert am Institut für Politikwissenschaft/Lehrstuhl für Intern. Beziehungen in Jena. Als Sprecher der Jungen AFK vertritt er auch selbige Institution in der Redaktion der W&F. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen neben der Bewegungsforschung auch ästhetische Protestformen. 
Dr. Carolina Rehrmann arbeitet am Institut für Politikwissenschaft/Lehrstuhl für Intern. Beziehungen in Jena. Neben dieser Tätigkeit arbeitet Carolina Rehrmann außerdem am Jena Center for Reconciliation Studies (JCRS). In ihrem Habilitationsprojekt beschäftigt sie sich mit (geschlechtlichen) Rollen und Rollenbildern.

Mali – ein zweites Afghanistan?

Mali – ein zweites Afghanistan?

von Jürgen Nieth

Am 27. Januar 2017 hat der Bundestag mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und Grünen die erneute Ausweitung des Mali-Einsatzes der Bundeswehr beschlossen. „Bereits im vergangenen Jahr war die Personalobergrenze von 150 auf 650 Soldaten erhöht worden.“ (Parlament, 23.1.17, S. 9) Zukünftig sollen 1.000 Bundeswehrangehörige an der »Multidimensionalen Integrierten Stabilisierungsmission der Vereinten Nationen in Mali (Minusma)« teilnehmen, was „die Mali-Mission demnächst zum aktuell größten Auslandseinsatz der Bundeswehr machen wird“ (FAZ, 27.1.17, S. 8). Dabei wird auch der Aktionsradius der deutschen Soldaten größer. Vier Transporthubschrauber des Typs NH90 sollen vor allem zur Rettung Verwundeter eingesetzt werden, vier Kampfhubschrauber des Typs Tiger die Einsätze absichern. Zusätzlich sind künftig mehr Drohnen vor Ort, um Transport- und Einsatzwege zu sichern. Außer dem Blauhelmkontingent „ist die Bundeswehr noch mit 129 Männern und Frauen an der EU-Ausbildungsmission für die malischen Streitkräfte in Koulikoro im Süden des Landes beteiligt“ (Spiegel, 21.1.17, S. 32).

Der gefährlichste Einsatz

Über 100 UN-Soldaten wurden in den letzten drei Jahren in Mali getötet. Dass der Einsatz in Mali der gefährlichste UN-Einsatz ist, darin scheinen die wichtigsten deutschen Tageszeitungen übereinzustimmen: Für SZ und taz ist er der „gefährlichste der Welt“ (27.1.17, jeweils S. 6), das ND spricht vom bisher „gefährlichste[n] Militäreinsatz der UNO“ (12.1.17, S. 6), und die FAZ stellt fest: „Längst ist nicht mehr Afghanistan, sondern Mali der gefährlichste Einsatzort für deutsche Soldaten.“ (20.12.16, S. 4) »Die Welt« hatte bereits vor einem Jahr als Headline „Bundeswehr zieht in ein neues Afghanistan“. Sie zitierte Soldaten, denen zufolge der Einsatz „einen aussagekräftigen Namen bekommen hat: »Afghanistan 2.0«. (Welt, 29.1.16, S. 7)

Trotz einer großen internationalen Militärpräsenz mit 13.000 Soldaten und Polizisten aus 53 Ländern im Rahmen des UN-Einsatzes, „dazu mehrere Tausend französische Soldaten, die mit ihrer Militäroperation Barkhane Islamisten in Mali und dem gesamten Sahel bekämpfen […], ist die Lage heute ungleich komplizierter, teils sogar schlimmer als 2012, schreibt Isabell Pfaff (SZ, 27.1.17, S. 6). Auch für den deutschen Kontingentführer Oberstleutnant Michael Hoppstädter hat sich „die Sicherheitslage wieder verschlechtert, die Zahl von Anschlägen, Attentaten und Opfern nimmt zu. Zudem wird die politische Lage immer komplexer, die Zahl bewaffneter Gruppen steigt. Ständig ändern sich deren Zugehörigkeiten und Loyalitäten.“ (Parlament, 23.1.17, S. 9)

Rückblick

Der Norden Malis war im „Frühjahr 2012 in die Hände von Dschihadistengruppen und mit ihnen verbündeten Tuareg-Rebellen gefallen. Französische Streitkräfte starteten Anfang 2013 eine Offensive und drängten die Angreifer zurück. Dass Paris Truppen schickte, hat nicht so sehr mit der kolonialen Vergangenheit und daraus angeblich resultierenden besonderen Verpflichtungen zu tun. Es geht vielmehr um die wirtschaftliche Zukunft Frankreichs, denn wenn die Region in einem Terrorbrand untergeht, dann wird es kritisch mit dem Zugang zum »französischen« Uran im Niger. Ohne Uran keine Atomenergie, ohne Strom wäre die Grande Nation rasch am Ende.“ (René Heilig in ND, 2.8.16, S. 2)

Dass der Aufstand im Norden aber überhaupt erfolgreich sein konnte, hatte auch mit französischer Politik zu tun, nämlich mit dem von Sarkozy gepusch­ten Krieg gegen Libyen. „Die Aufständischen waren besser ausgerüstet. Der Zusammenbruch Libyens hatte sie – und zahllose andere bewaffnete Gruppen der Region – mit neuen Waffen aus Gaddafis Lagern versorgt.“ (Isabell Pfaff in SZ, 27.1.17, S. 6)

Einsatzziele

Die SZ (27.1.17, S. 6) zitiert den französischen Afrika-Analysten Denis Tull vom Pariser Institut für strategische Forschung: „Zwar könne die UN-Mission keinen seriösen Beitrag zur Verbesserung der Sicherheitslage im Norden leisten – ‚dafür ist das Land zu groß und der Konflikt zu kompliziert. Aber : Eine zentrale Aufgabe der Minusma sei es, bei der Umsetzung des Friedensabkommens zu helfen – und das steht […] an erster Stelle.“ Es ist ein Friedensabkommen, das die malische Regierung im Juni 2015 mit den Tuareg-Rebellen geschlossen hat und über das Beobachter bereits ein Jahr später sagten, es sei „vom Inhalt des Papiers […] bislang sehr wenig umgesetzt worden“ (SZ, 21.6.16, S. 7).

»Der Spiegel« zitiert aus der Begründung der Regierung für das neue Bundeswehrmandat (21.1.17, S. 32): „Die Stabilisierung Malis ist ein Schwerpunkt des deutschen Engagements in der Sahel-Region.“ Es gehe darum, „Mali in eine friedliche Zukunft führen zu helfen und die strukturellen Ursachen von Flucht und Vertreibung zu beseitigen“.

Den letzten Satz greift auch René Heilig (ND, 12.1.17, S. 6) auf. Für ihn verfolgt die Bundesregierung mit der Ausweitung des Einsatzes vier Ziele. „Erstens übernimmt Deutschland Verantwortung in der Welt. Zweitens bekommt man Lob, weil man sich für eine stärkere Autorität der UNO einsetzt. Man zeigt sich – drittens – solidarisch mit Frankreich, das per Blitzeinsatz seiner Truppen die Rebellen stoppte und den Zerfall Malis aufschob […] nicht uneigennützig […]. Für Deutschland ist aber der vierte Punkt wichtig: Fluchtursachen eindämmen. Mali ist ein Vorposten des EU-Grenzwalls.“

Der bereits oben zitierte Oberstleutnant der Bundeswehr Hoppstädter hält den Mali-Einsatz für sinnvoll, mit einem großen »Aber«: „Militärisch wird man eine solche Krise in keinem Staat jemals lösen können […] dazu gehört noch viel mehr, zum Beispiel der zivile Aufbau und die Ausbildung junger Menschen.“ (Parlament, 23.1.17, S. 9)

Das Autorenteam des »Spiegel« ist da skeptischer: „[…] es müsste schon ein Wunder geschehen, wenn sich die großen Erwartungen, die sich vor allem die Deutschen machen, erfüllen würden. Mali bleibt ein hoffnungsloser Fall, solange die Malier ihr Schicksal nicht selbst in die Hand nehmen. Von außen lässt sich ein Land nicht reformieren.“ (21.1.17, S. 35)

Zitierte Zeitungen: Das Parlament, Der Spiegel, Die Welt, FAZ – Frankfurter Allgemeine, ND – Neues Deutschland, SZ – Süddeutsche Zeitung, taz – tageszeitung.