Mali – ein zweites Afghanistan?

Mali – ein zweites Afghanistan?

von Jürgen Nieth

Am 27. Januar 2017 hat der Bundestag mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und Grünen die erneute Ausweitung des Mali-Einsatzes der Bundeswehr beschlossen. „Bereits im vergangenen Jahr war die Personalobergrenze von 150 auf 650 Soldaten erhöht worden.“ (Parlament, 23.1.17, S. 9) Zukünftig sollen 1.000 Bundeswehrangehörige an der »Multidimensionalen Integrierten Stabilisierungsmission der Vereinten Nationen in Mali (Minusma)« teilnehmen, was „die Mali-Mission demnächst zum aktuell größten Auslandseinsatz der Bundeswehr machen wird“ (FAZ, 27.1.17, S. 8). Dabei wird auch der Aktionsradius der deutschen Soldaten größer. Vier Transporthubschrauber des Typs NH90 sollen vor allem zur Rettung Verwundeter eingesetzt werden, vier Kampfhubschrauber des Typs Tiger die Einsätze absichern. Zusätzlich sind künftig mehr Drohnen vor Ort, um Transport- und Einsatzwege zu sichern. Außer dem Blauhelmkontingent „ist die Bundeswehr noch mit 129 Männern und Frauen an der EU-Ausbildungsmission für die malischen Streitkräfte in Koulikoro im Süden des Landes beteiligt“ (Spiegel, 21.1.17, S. 32).

Der gefährlichste Einsatz

Über 100 UN-Soldaten wurden in den letzten drei Jahren in Mali getötet. Dass der Einsatz in Mali der gefährlichste UN-Einsatz ist, darin scheinen die wichtigsten deutschen Tageszeitungen übereinzustimmen: Für SZ und taz ist er der „gefährlichste der Welt“ (27.1.17, jeweils S. 6), das ND spricht vom bisher „gefährlichste[n] Militäreinsatz der UNO“ (12.1.17, S. 6), und die FAZ stellt fest: „Längst ist nicht mehr Afghanistan, sondern Mali der gefährlichste Einsatzort für deutsche Soldaten.“ (20.12.16, S. 4) »Die Welt« hatte bereits vor einem Jahr als Headline „Bundeswehr zieht in ein neues Afghanistan“. Sie zitierte Soldaten, denen zufolge der Einsatz „einen aussagekräftigen Namen bekommen hat: »Afghanistan 2.0«. (Welt, 29.1.16, S. 7)

Trotz einer großen internationalen Militärpräsenz mit 13.000 Soldaten und Polizisten aus 53 Ländern im Rahmen des UN-Einsatzes, „dazu mehrere Tausend französische Soldaten, die mit ihrer Militäroperation Barkhane Islamisten in Mali und dem gesamten Sahel bekämpfen […], ist die Lage heute ungleich komplizierter, teils sogar schlimmer als 2012, schreibt Isabell Pfaff (SZ, 27.1.17, S. 6). Auch für den deutschen Kontingentführer Oberstleutnant Michael Hoppstädter hat sich „die Sicherheitslage wieder verschlechtert, die Zahl von Anschlägen, Attentaten und Opfern nimmt zu. Zudem wird die politische Lage immer komplexer, die Zahl bewaffneter Gruppen steigt. Ständig ändern sich deren Zugehörigkeiten und Loyalitäten.“ (Parlament, 23.1.17, S. 9)

Rückblick

Der Norden Malis war im „Frühjahr 2012 in die Hände von Dschihadistengruppen und mit ihnen verbündeten Tuareg-Rebellen gefallen. Französische Streitkräfte starteten Anfang 2013 eine Offensive und drängten die Angreifer zurück. Dass Paris Truppen schickte, hat nicht so sehr mit der kolonialen Vergangenheit und daraus angeblich resultierenden besonderen Verpflichtungen zu tun. Es geht vielmehr um die wirtschaftliche Zukunft Frankreichs, denn wenn die Region in einem Terrorbrand untergeht, dann wird es kritisch mit dem Zugang zum »französischen« Uran im Niger. Ohne Uran keine Atomenergie, ohne Strom wäre die Grande Nation rasch am Ende.“ (René Heilig in ND, 2.8.16, S. 2)

Dass der Aufstand im Norden aber überhaupt erfolgreich sein konnte, hatte auch mit französischer Politik zu tun, nämlich mit dem von Sarkozy gepusch­ten Krieg gegen Libyen. „Die Aufständischen waren besser ausgerüstet. Der Zusammenbruch Libyens hatte sie – und zahllose andere bewaffnete Gruppen der Region – mit neuen Waffen aus Gaddafis Lagern versorgt.“ (Isabell Pfaff in SZ, 27.1.17, S. 6)

Einsatzziele

Die SZ (27.1.17, S. 6) zitiert den französischen Afrika-Analysten Denis Tull vom Pariser Institut für strategische Forschung: „Zwar könne die UN-Mission keinen seriösen Beitrag zur Verbesserung der Sicherheitslage im Norden leisten – ‚dafür ist das Land zu groß und der Konflikt zu kompliziert. Aber : Eine zentrale Aufgabe der Minusma sei es, bei der Umsetzung des Friedensabkommens zu helfen – und das steht […] an erster Stelle.“ Es ist ein Friedensabkommen, das die malische Regierung im Juni 2015 mit den Tuareg-Rebellen geschlossen hat und über das Beobachter bereits ein Jahr später sagten, es sei „vom Inhalt des Papiers […] bislang sehr wenig umgesetzt worden“ (SZ, 21.6.16, S. 7).

»Der Spiegel« zitiert aus der Begründung der Regierung für das neue Bundeswehrmandat (21.1.17, S. 32): „Die Stabilisierung Malis ist ein Schwerpunkt des deutschen Engagements in der Sahel-Region.“ Es gehe darum, „Mali in eine friedliche Zukunft führen zu helfen und die strukturellen Ursachen von Flucht und Vertreibung zu beseitigen“.

Den letzten Satz greift auch René Heilig (ND, 12.1.17, S. 6) auf. Für ihn verfolgt die Bundesregierung mit der Ausweitung des Einsatzes vier Ziele. „Erstens übernimmt Deutschland Verantwortung in der Welt. Zweitens bekommt man Lob, weil man sich für eine stärkere Autorität der UNO einsetzt. Man zeigt sich – drittens – solidarisch mit Frankreich, das per Blitzeinsatz seiner Truppen die Rebellen stoppte und den Zerfall Malis aufschob […] nicht uneigennützig […]. Für Deutschland ist aber der vierte Punkt wichtig: Fluchtursachen eindämmen. Mali ist ein Vorposten des EU-Grenzwalls.“

Der bereits oben zitierte Oberstleutnant der Bundeswehr Hoppstädter hält den Mali-Einsatz für sinnvoll, mit einem großen »Aber«: „Militärisch wird man eine solche Krise in keinem Staat jemals lösen können […] dazu gehört noch viel mehr, zum Beispiel der zivile Aufbau und die Ausbildung junger Menschen.“ (Parlament, 23.1.17, S. 9)

Das Autorenteam des »Spiegel« ist da skeptischer: „[…] es müsste schon ein Wunder geschehen, wenn sich die großen Erwartungen, die sich vor allem die Deutschen machen, erfüllen würden. Mali bleibt ein hoffnungsloser Fall, solange die Malier ihr Schicksal nicht selbst in die Hand nehmen. Von außen lässt sich ein Land nicht reformieren.“ (21.1.17, S. 35)

Zitierte Zeitungen: Das Parlament, Der Spiegel, Die Welt, FAZ – Frankfurter Allgemeine, ND – Neues Deutschland, SZ – Süddeutsche Zeitung, taz – tageszeitung.

Ein offener Brief


Ein offener Brief

Kooperation zwischen Hochschule Bremen und Bundeswehr

Ralf E. Streibl

Mitte Mai 2016 schickte Ralf E. Streibl einen offenen Brief an die Rektorin der Hochschule Bremen, Prof. Dr. Karin Luckey, und kündigte seine Lehrtätigkeit an der Hochschule auf. Grund für seine Entscheidung war der Abschluss eines Kooperationsabkommens zwischen der Hochschule und dem Bildungszentrum der Bundeswehr im Kontext eines neuen dualen Studienangebots (vgl. Bundeswehr-Journal 2016). In seinem Schreiben setzt sich der Autor mit seiner Verantwortung als Wissenschaftler auseinander. W&F dokumentiert den offenen Brief.

Sehr geehrte Frau Luckey,
die Hochschule Bremen hat – so war zu erfahren – entschieden, dass es künftig zum »Internationalen Frauenstudiengang Informatik« (IFI) eine zusätzliche Variante als Duales Studium geben wird. Gleichzeitig wurde beschlossen, hierfür eine Kooperation mit der Bundeswehr einzugehen.

Seit Gründung des IFI-Studiengangs im Wintersemester 2000/2001 bis heute habe ich regelmäßig als Lehrbeauftragter innerhalb dieses Studiengangs das Fachgebiet »Informatik und Gesellschaft« in der Lehre vertreten. Angesichts der oben genannten Beschlusslage werde ich diese Aufgabe in der Zukunft nicht mehr übernehmen. Denn für die Mitwirkung im Regellehrbetrieb eines in Kooperation mit der Bundeswehr betriebenen Studiengangs stehe ich nicht zur Verfügung.

Gesellschaftlich und hochschulpolitisch halte ich die strukturelle Kooperation eines Studiengangs mit der Bundeswehr für eine Fehlentscheidung. Ich bedauere sehr, dass die Leitung der Hochschule Bremen die kritischen und nachdenklichen Stimmen innerhalb der eigenen Institution letztlich ignoriert hat.

Da ich diese Entscheidung nicht beeinflussen kann, bleibt mir nur, persönliche Konsequenzen zu ziehen. Auf die künftige Zusammenarbeit der Hochschule Bremen mit der Bundeswehr wird es keine Auswirkungen haben, dass ich mich aus dem Studiengang verabschiede. Für mich selbst und vor dem Hintergrund meines Verständnisses von Wissenschaft und Hochschullehre ist es jedoch ein notwendiger und folgerichtiger Schritt, jetzt Nein zu sagen – und dies auch öffentlich.

Ich möchte Ihnen im folgenden einige der Überlegungen und Bezüge darstellen, die zu meiner Entscheidung beitrugen. Im Kern geht es dabei immer um Verantwortung (in) der Wissenschaft. Die Auseinandersetzung damit kann und muss – das ist meine feste Überzeugung – auf ganz unterschiedlichen Ebenen gleichzeitig erfolgen.

Gesellschaft und Politik: Friedensorientierung

Die Umbrüche in Osteuropa ließen kurzfristig auf ein Ende der langjährigen Dominanz militärisch-strategischer Kalküle sowie der Ideologie der Abschreckung hoffen. Leider hat sich schnell gezeigt, dass diese Hoffnung trog. Die viel zitierte »neue Weltordnung« nahm eine andere Richtung auf: Die im Grundsatz an humanitären Werten orientierte Idee internationaler Hilfe für bedrohte oder unterdrückte Menschen wird mit zunehmender Selbstverständlichkeit im Sinne militärischer Interventionen verstanden bzw. vorrangig unter diesem Paradigma geplant und betrieben.

Spätestens seit den Anschlägen vom 11. September 2001 und dem damals ausgerufenen »Krieg gegen den Terror« werden militärische Operationen als naheliegende Reaktionsmöglichkeit und gerechtfertigte Handlungsoption angesehen. Krisendiplomatie und ihre langfristigen, oft auch zähen Verhandlungsprozesse werden auf die Seite gedrängt. Albert Fuchs (2004) bezeichnet diesen Weg von den »humanitären Interventionen« zur Wiedereinführung eines »Rechts auf Kriegführung« als Wiederbelebung der Kriegskultur.

Dem gegenüber steht die Forderung nach einer gesellschaftlichen Friedensorientierung. Das Ziel eines umfassenden Friedens steht im Einklang mit der UN-Charta und – bezogen auf die Bundesrepublik – mit dem Grundgesetz. Begreift man den Prozess zu einer Kultur des Friedens auch als Bildungsprozess, so wäre ein erstes Lernziel, Kriege als vom Menschen herbeigeführt und damit als vermeidbar zu begreifen (Nicklas 1996).

Mit dem Slogan »Terrorismusbekämpfung« werden nicht nur Kriegseinsätze gerechtfertigt, sondern auch die Intensivierung staatlicher Überwachung, geheimdienstlicher Datensammlung und sogar offensichtliche Verstöße gegen die Menschenrechte bis hin zu Folter. Die Entwicklung geht somit auch einher mit einer Intensivierung struktureller Gewalt und hat so auch direkte Auswirkungen auf die Zivilgesellschaft.

Kriterium für Frieden ist die Fähigkeit, mit Konflikten umzugehen (vgl. Galtung 1998). Erforderlich hierfür ist gleichermaßen eine Friedensstruktur wie auch eine Friedenskultur. Dem entgegen steht jedoch die bis heute in vielen Köpfen fest verwurzelte Überzeugung, Frieden sei nur durch Stärke erreichbar. Diese Überzeugung zu hinterfragen und in einem offenen Diskurs jenseits militärisch geprägter Sichtweisen den Weg zu einer echten Friedensfähigkeit zu eröffnen ist eine große Herausforderung für Politik und Gesellschaft und damit eine zentrale Aufgabe für Bildung und Wissenschaft.

Friedensorientierung – um auf den konkreten Anlass des vorliegenden Textes zurück zu kommen – ist viel mehr als die bloße Ablehnung einer strukturellen Kooperation von Bildungseinrichtungen mit militärischen oder rüstungsaffinen Einrichtungen, Organisationen oder Unternehmen. Es geht nicht darum, einfach nicht zu kooperieren: Vielmehr geht es um zugrundeliegende Entscheidungen und Prozesse. Diese betreffen gleichermaßen die Wissenschaft an sich, ihre Disziplinen und ihre Institutionen sowie die dort tätigen Individuen. Davon wird deswegen in den nächsten Abschnitten die Rede sein.

Verantwortung von WissenschaftlerInnen

Unter dem Eindruck der Atombombenabwürfe und des nuklearen Wettrüstens zwischen den USA und der Sowjetunion formulierte der Mathematiker und Philosoph Bertrand Russell [1955] ein von Albert Einstein und acht weiteren namhaften Wissenschaftlern mitunterzeichnetes Manifest, in dem vor den Gefahren des Krieges mit Nuklearwaffen gewarnt und die bewusste Entscheidung gegen bewaffnete Konflikte gefordert wurde. Das daraus resultierende erste Zusammentreffen von 22 hochrangigen Wissenschaftlern aus zehn Nationen in [dem kanadischen Fischerdorf] Pugwash – ein Auftakt für folgende Konferenzen – war ein frühes Signal dafür, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sich zu ihrer gesellschaftlichen Verantwortung bekennen und in dieser Konsequenz auch politisch Position beziehen müssen. Die Teilnehmer wurden angefeindet und galten als weltfremd oder Verräter (vgl. Neuneck 2009). 1995 erhielten die Pugwash-Konferenzen sowie ihr Mitbegründer und langjähriger Präsident Józef Rotblat den Friedensnobelpreis. In seiner Dankesrede stellte Rotblat heraus, dass es in unterschiedlichen Forschungsfeldern zu negativen gesellschaftlichen Folgen kommen könne, weswegen stete Wachsamkeit der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gefragt sei sowie die Bereitschaft bzw. Verpflichtung, ggf. kritische Entwicklungen auch an die Öffentlichkeit zu bringen (Rotblat 1995).

Wenn Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die fachlichen Grenzen ihrer Disziplin verlassen und öffentlich über die Folgen und möglichen Grenzen ihres Tuns nachdenken, wird ihnen oftmals die Zuständigkeit für die damit einhergehenden gesellschaftlichen oder politischen Fragen abgesprochen. Auch die 18 Atomwissenschaftler, die 1957 die »Göttinger Erklärung« verfassten, antizipierten entsprechende Reaktionen und äußerten in ihrer Erklärung die Erwartung, dass man ihnen die Berechtigung abstreiten werde, politische Konsequenzen aus ihren Erkenntnissen zu ziehen. Doch – so verdeutlichten sie in ihrer Erklärung – ihre wissenschaftliche Tätigkeit und insbesondere auch die Tatsache, dass sie viele jungen Menschen dem Gebiet zuführen würden, belade sie mit der Verantwortung für die Folgen, weswegen sie nicht zu allen politischen Fragen schweigen könnten (vgl. Albrecht et al. 2009).

Dass die Freiheit von Wissenschaft Grenzen hat und haben sollte, ist inzwischen weit in das gesellschaftliche Bewusstsein vorgedrungen. Die grundgesetzlich garantierte Freiheit von Wissenschaft, Forschung und Lehre stößt regelmäßig an Grenzen, wo andere Menschen- oder Verfassungsrechte berührt sind oder wo beispielsweise durch internationale Verträge oder nationale Regelungen Forschungsziele ausgeschlossen oder Methoden reglementiert sind. Doch die Beachtung rechtlicher Normen und Regelungen allein genügt nicht, um verantwortliches Handeln in der Wissenschaft sicherzustellen.

Die 2010 von der Max-Planck-Gesellschaft beschlossenen Hinweise und Regeln zum verantwortlichen Umgang mit Forschungsfreiheit und Forschungsrisiken (MPG 2010) stellen in diesem Sinne explizit heraus, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aufgefordert sind, weitergehende ethische Grundsätze zu berücksichtigen. Sie sollen Risiken für Mensch und Umwelt vor dem Hintergrund ihrer Fachkompetenz erkennen und abschätzen und ggf. persönliche Entscheidungen über die Grenzen ihrer Arbeit treffen, was auch bedeuten kann, dass Vorhaben modifiziert oder – als Ultima Ratio – gar nicht durchgeführt werden. Die Kriterien für solch eine Entscheidung können vielfältig sein. Neben Fragen der Risikoabschätzung (z.B. Wahrscheinlichkeit eines Schadens, Ausmaß eines eventuellen Schadens, Beherrschbarkeit von Ergebnissen) benennt die Max-Planck-Gesellschaft auch strukturelle Aspekte, die für solch eine Entscheidung erheblich sein können, nämlich wer Kooperationspartner, Auftraggeber, Nutzer oder Finanzier der Forschung ist.

Verantwortung in der Wissenschaft endet nicht bei der Forschung. Die Identifikation, Betrachtung, Analyse, Bewertung und Reflexion von Rahmenbedingungen, divergierenden Interessen, gesellschaftlichen Wirkungen, ethischen Fragen und Dilemmata, Entwicklungspfaden, Handlungsspielräumen und Gestaltungsoptionen im offenen kommunikativen Miteinander und im gegenseitigen kritischen Diskurs muss wesentlicher Teil von Hochschullehre und Studium sein.

Ambivalenzen und Verant­wortungsdiskurse im Fach

Seit dem Russel-Einstein-Manifest und der Göttinger Erklärung haben viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler für sich individuelle Entscheidungen getroffen und beschlossen, die eine oder andere Forschungsfrage nicht anzugehen oder bestimmte Projekte nicht durchzuführen. Beispiele finden sich in vielen Fächern und Fachgebieten.

Da es bei dem an der Hochschule Bremen geplanten Kooperationsstudiengang um einen Informatikstudiengang handelt, möchte ich hier – ohne Beschränkung der Allgemeinheit – exemplarisch einige Positionierungen heranziehen:

  • David L. Parnas begründete 1985 seinen Rücktritt aus einem Beratergremium zum SDI-Projekt des amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan mit seinen fachlichen Zweifeln an einer verantwortbaren Funktionsfähigkeit und Beherrschbarkeit des geplanten Systems (vgl. Parnas 2009).
  • Benjamin Kuipers veröffentlichte 2003 ein Positionspapier, in dem er begründete, warum er keine Fördermittel vom Militär annimmt (Kuipers 2003).
  • 1996 fand eine ausführliche und differenzierte Debatte in einem großen deutschen Softwarehaus darüber statt, ob die Durchführung eines Projekts für das Bundesministerium der Verteidigung mit dem Selbstverständnis der Firma verträglich sei. Besonders erfreulich ist, dass die Debatte zusammengefasst dokumentiert nachlesbar ist (Brössler, Biskup, Rauschmayer 1996).

Bereits 1984 hatte sich Terry Winograd in einem kleinen Aufsatz »Some thoughts on military funding« mit der Frage beschäftigt, ob die Nichtannahme militärischer Fördergelder nur ein »symbolischer Akt« sei oder ob auf diesem Weg auch mehr zu bewirken sei (Winograd 1985). Die Reihe solcher Beispiele könnte noch lang fortgeführt werden.

In der Informatik haben Debatten um Militär-Bezüge und Dual-use eine lange Geschichte, die sich in die Gegenwart fortsetzt. Krieg, Militär und Rüstungswettlauf waren bereits in der Frühzeit der Computerentwicklung wesentliche Triebkräfte. Mit der weiträumigen Durchdringung von Arbeitswelt und Gesellschaft mit Informationstechnik und digitalen Medien scheint der Stellenwert militärischer Anwendungen und Bezüge etwas in den Hintergrund zu treten. Bei genauerer Betrachtung stellt man jedoch fest, dass dies wohl nicht so ist – der Rahmen hat sich jedoch verändert. Exemplarisch seien hier nur drei Aspekte genannt:

  • Aktuelle Kriege sind ohne Informatik und ihre Produkte nicht führbar. Dies betrifft nicht nur technisierte Waffensysteme, sondern die gesamte Infrastruktur. Viele im zivilen Bereich eingesetzte technische Komponenten und Lösungen können und werden auch militärisch genutzt.
  • Dual-use-Strategien werden aktiv betrieben und gefördert. Neben klassischen Forschungsaufträgen und -kooperationen wird zunehmend auch über Wettbewerb-Szenarien Knowhow abgeschöpft, Imagepflege betrieben und Personal rekrutiert (vgl. bspw. Streibl 2012b).
  • Die uns im zivilen Leben direkt umgebende Informationstechnik ist Teil und Gegenstand militärischer und strategischer Überlegungen. Sie wird gleichermaßen zum Angriffsziel und zum Angriffsmittel – das Schlachtfeld hat sich längst auf diese Sphäre erweitert.

Ambivalenz ist im Bereich wissenschaftlicher Forschung und technischer Entwicklung grundsätzlich nicht vermeidbar. Gerade deswegen ist eine kritisch-reflektierende inhaltliche Befassung mit diesen Fragen in den Fächern und Forschungs- und Bildungseinrichtungen zentral. Im Mittelpunkt muss dabei eine frühzeitige antizipative Analyse von Forschung und Entwicklung stehen, die – wie Wolfgang Liebert fordert – nach Intentionen, wissenschaftlich-technischen Potenzialen, normativen Rand- und Vorbedingungen, ambivalenten Entwicklungslinien, gewollten Wirkungen, nicht-intendierten Folgen und sichtbaren Entwicklungsrisiken fragt (Liebert 2009).

In diesem Sinne wäre dann wohl auch die aktuelle Ausbildungsinitiative der Bundeswehr, in deren Rahmen der Kooperationsstudiengang mit der Hochschule Bremen angesiedelt ist, im Kontext ihres Gesamtszenarios zu betrachten:

Die Bundeswehr – so zeigen es die aktuellen Planungen – soll in der nächsten Zeit wachsen; ein besonderes Augenmerk kommt dabei dem Ausbau und der Bündelung von Cyber- und IT-Aktivitäten zu. Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen stellte jüngst entsprechende Pläne der Öffentlichkeit vor. Bis Ende 2016 soll in ihrem Ministerium eine neue Abteilung Cyber/IT eingerichtet werden, und 2017 soll ein zusätzlicher militärischer Organisationsbereich Cyber- und Informationsraum (CIR) aufgestellt werden (BMVg 2016b). Gleichzeitig wurden Kampagnen gestartet, mit denen auf dem Arbeitsmarkt stark nachgefragte IT-Spezialisten für die Streitkräfte gewonnen werden sollen. Ein Beispiel dafür ist das im März 2016 gestartete Projekt »Digitale Kräfte« mit dem Slogan „Entwickle mit uns die Bundeswehr der Zukunft“ (BMVg 2016a). Auf der Projekt-Website wird auch der Kooperationsstudiengang mit der Hochschule Bremen beworben. Der entsprechende Verweis auf die Hochschule Bremen und den konkreten Studiengang war übrigens dort schon lange, bevor die Hochschule Bremen die Kooperation offiziell beschlossen hatte, eingetragen.

Verantwortungsentschei­dungen in Institutionen

Selbstverständlich kann eine Hochschule keine Beschlüsse fassen, die verfassungsgemäße Rechte, wie die Forschungs- und Wissenschaftsfreiheit, außer Kraft setzen würden. Wie sind dann aber institutionelle Selbstverpflichtungen einzuschätzen, die eine Ablehnung jeglicher Beteiligung von Wissenschaft und Forschung mit militärischer Nutzung bzw. Zielsetzung bzw. eine Verpflichtung auf den Frieden oder zivile Zwecke beinhalten? Derartige Beschlüsse – gemeinhin Zivilklauseln genannt – stellen kein grundsätzliches Verbot derartiger Forschung dar. Sie sind darüber hinaus weder ein trennscharfes Entscheidungsinstrument noch wird durch sie eine finale Kontrolle etabliert. Wirkungs- oder gar bedeutungslos sind solche Beschlüsse gleichwohl nicht: Denn wenn eine Hochschule oder eine andere große Institution solch einen Beschluss fasst, hat dies eine weitergehende Außenwirkung, als wenn einzelne Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler für sich individuelle Entscheidungen treffen. Eine Institution, die einen derartigen Beschluss gefasst hat, muss sich dann auch daran messen lassen, wie der Beschluss gelebt wird und wie ernsthaft sich die Institution selbst damit auseinandersetzt:

  • Ermutigt und unterstützt sie ihre Mitglieder, regelmäßig im Sinne praktizierter gesellschaftlicher Verantwortung die Auswirkungen und Folgen eigenen wissenschaftlichen Handelns in Forschung und Lehre zu prüfen und zu hinterfragen?
  • Werden Studierende angeregt und eingeladen, sich mit entsprechenden Fragen und Problemen als Teil ihres Studiums zu beschäftigen?
  • Ermöglicht die Institution einen öffentlichen Diskurs über die Bedeutung und Folgen der dort betriebenen Forschung?
  • Schafft sie Transparenz durch eine Verpflichtung zur Bekanntgabe von Forschungsthemen, Kooperationen und Herkunft von Fördermitteln sowie die Verpflichtung zur Veröffentlichung von Forschungsergebnissen?
  • Fördert sie Diskurse in den Gremien und Fächern hinsichtlich der Ambivalenz wissenschaftlicher Erkenntnisse und Entwicklungen?

Die staatlichen Hochschulen im Land Bremen haben allesamt Beschlüsse gefasst, die als Zivilklausel verstanden werden. Den Auftakt machte im Januar 2012 die Bestätigung und Konkretisierung der bereits seit 1986 bestehenden Beschlusslage der Universität Bremen (vgl. Streibl 2012a). Im Juni 2012 wurde im Akademischen Senat der Hochschule Bremen eine Zivilklausel beschlossen (HSB 2012), und die Hochschule Bremerhaven folgte im Juli 2012. Erst einige Jahre später, im Jahr 2015, wurde im Bremischen Hochschulgesetz ein Paragraph eingeführt, der die Hochschulen des Landes explizit dazu verpflichtet, sich jeweils selbst eine Zivilklausel zu geben. Es wird dafür kein konkreter Wortlaut vorgegeben – dies wäre wohl auch rechtlich bedenklich; auf jeden Fall würde es den wesentlichen Sinn verfehlen und konterkarieren, innerhalb der Institutionen eine Auseinandersetzung und Beschlussfassung über eine solche Selbstverpflichtung zu befördern. Denn wenn eine Zivilklausel nicht aktiv gelebt und im wissenschaftlichen Alltag immer wieder aufs neue an Ambivalenzen geprüft und hinterfragt wird, verkommt sie schnell zur Makulatur.

Die aktuelle Entscheidung der Hochschule Bremen zur Einrichtung eines Kooperationsstudiengangs mit der Bundeswehr wurde in den letzten Tagen auch hinsichtlich der Vereinbarkeit mit der Zivilklausel der Hochschule Bremen diskutiert. Argumentative Versuche, in diesem Zusammenhang die Formulierung jener Zivilklausel nur auf Forschung begrenzt zu interpretieren und den Bereich der Lehre und des Studiums auszuklammern, muten vergleichsweise konstruiert und hilflos an. Konsequent wäre – sofern die Hochschule den Kooperationsstudiengang mit der Bundeswehr ernst meint –, die bestehende Zivilklausel an sich zu hinterfragen und ggf. abzuändern oder abzuschaffen. Ich selbst würde einen solchen Schritt sehr bedauern, aber das Festhalten eines halt- und bedeutungslosen Feigenblattes, während gleichzeitig mit der Einrichtung dieses Kooperationsstudiengangs strukturelle Fakten in anderer Richtung geschaffen werden, erscheint mir als noch schlechtere Alternative.

Eine wichtige Funktion hat eine Zivilklausel in einer Institution übrigens auf jeden Fall: Sollten Beschäftigte aus Gewissensgründen oder ethischen Überlegungen unter Verweis auf die in ihrer Institution beschlossene Zivilklausel die Mitarbeit an Projekten oder Kooperationsprojekten mit militärischen Bezügen verweigern, dann wäre es wohl insbesondere die Aufgabe der Hochschulleitung sicherzustellen, dass diesen Personen hieraus keine Nachteile erwachsen. Spätestens hier wird die Absurdität der Situation, welche die Leitung der Hochschule Bremen mit der Einrichtung solch eines Kooperationsstudiengangs selbst geschaffen hat, offenbar.

Individuelle Entscheidung

Erfreulicherweise thematisiert das Bremische Hochschulgesetz auch jenseits institutioneller Beschlüsse und Zivilklauseln schon seit langem Fragen der Verantwortung und fordert in dem der Freiheit von Wissenschaft und Kunst, Forschung, Lehre und Studium gewidmeten Paragraphen alle an Forschung und Lehre Beteiligten zur Achtsamkeit hinsichtlich der gesellschaftlichen Folgen wissenschaftlicher Erkenntnisse auf.

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind dem Rahmen und Kontext, in dem sie tätig werden, nicht passiv-hilflos ausgesetzt. Sobald sie sich als in Forschung und Entwicklung sowie in Lehre und Studium aktiv Handelnde begreifen, sind sie gefordert, sich proaktiv mit unterschiedlichen Perspektiven, ethischen Fragen, Ambivalenzen des Faches sowie der eigenen Verantwortung auseinanderzusetzen und, sie müssen dann letztendlich für sich individuelle Entscheidungen treffen (vgl. auch Liebert 2005).

Eine solche Entscheidung habe ich nun für mich getroffen: Als Reaktion auf den Beschluss der Hochschule Bremen, den besagten Kooperationsstudiengang mit der Bundeswehr einzurichten, werde ich – wie bereits eingangs erwähnt – meine langjährige Mitwirkung in diesem Studiengang beenden. Seit Gründung des Internationalen Frauenstudiengangs Informatik an der Hochschule Bremen im Jahr 2000 war ich regelmäßig dort als Lehrbeauftragter für »Informatik und Gesellschaft« tätig. Mein Bemühen galt der Schaffung eines anregenden Lern- und Studienambiente, in welchem – geprägt durch Offenheit, Wertschätzung und Reflexion – die Studentinnen die Möglichkeit erhalten sollten, Szenarien und Entwicklungen aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten und zu bewerten, ihre und anderer Leute Sichtweisen in Frage zu stellen und vor allem kontrovers zu diskutieren.

In der Presse wurde berichtet, dass – laut Leitung der Hochschule Bremen – die Bundeswehr keinen Einfluss auf Inhalte des Studiums nehmen könne. Dies mag formal auch so sein. Durch die strukturelle und finanzielle Verbindung zwischen Hochschule und Bundeswehr verändert sich aber der Gesamtkontext. Ich selbst bin nicht dazu bereit, als Person und mit meiner Lehrveranstaltung Teil solch einer Konstruktion zu sein – auch vor dem Hintergrund meiner oben skizzierten Überlegungen und Überzeugungen hinsichtlich der Friedensorientierung und Verantwortung in der Wissenschaft.

Der Beschluss, einen Dualen Studiengang mit der Bundeswehr als Kooperationspartner einzurichten, hat eine öffentliche Debatte in Bremen ausgelöst. Ich würde es sehr begrüßen, wenn die Leitung der Hochschule bereit wäre, entsprechende Diskussionen sowohl innerhalb der Hochschule als auch öffentlich weiter zu führen.

Hierfür stehe ich gerne zur Verfügung.

Mit freundlichen Grüßen,
Ralf E. Streibl

Literatur

Albrecht, S.; Bieber, H.-J.; Braun, R.; Croll, P.; Ehringhaus, H.; Finckh, M.; Graßl, H.; von Weizsäcker, E.U. (Hrsg.) (2009): Wissenschaft – Verantwortung – Frieden: 50 Jahre VDW. Berlin: Berliner Wissenschafts-Verlag.

Bundesministerium der Verteidigung/BMVg (2016a): Projekt Digitale Kräfte (Website).

Bundesministerium der Verteidigung/BMVg (2016b): Die Bundesministerin – Tagesbefehl 26.04.2016 (CIR).

rpm (2016): Verwaltungsdienst – Kooperation mit fünf Hochschulen. bundeswehr-journal.de, 8. Mai 2016.

Brössler, P.; Biskup, H.; Rauschmayer, H. (1996): Damals hatte es ja keine Bedeutung – Ein Softwarehaus stellt sich der Gewissensfrage. FifF-Kommunikation, 13(3), S. 28-34.

Fuchs, A. (2004): Vom »neuen Denken« zur »neuen Weltordnung«. In: Sommer, G.; Fuchs, A. (Hrsg.): Krieg und Frieden – Handbuch der Konflikt- und Friedenspsychologie. Weinheim: Beltz, S. 237-249.

Galtung, J. (1998): Frieden mit friedlichen Mitteln – Friede und Konflikt, Entwicklung und Kultur. Opladen: Leske + Budrich.

Hochschule Bremen/HSB (2012): Zivilklausel der Hochschule Bremen. Beschluss des Akademischen Senats vom 12. Juni 2012.

Kuipers, B. (2003): Why don’t I take military funding? Online unter web.eecs.umich.edu/­~kuipers/.

Liebert, W. (2005): Dual-use revisited – Die Ambivalenz von Forschung und Technik. Wissenschaft und Frieden, 23(1), S. 26-29.

Liebert, W. (2009): Umgang mit Dual-Use von Technologien und Ambivalenz in der Forschung. In: Albrecht, S.; Bieber, H.-J.; Braun, R.; Croll, P.; Ehringhaus, H.; Finckh, M.; Graßl, H.; von Weizsäcker, E.U. (Hrsg.): Wissenschaft – Verantwortung – Frieden: 50 Jahre VDW. Berlin: Berliner Wissenschafts-Verlag, S. 445-450.

Max-Planck-Gesellschaft/MPG (2010): Hinweise und Regeln der Max-Planck-Gesellschaft zum verantwortlichen Umgang mit Forschungsfreiheit und Forschungsrisiken (beschlossen am 19. März 2010 vom Senat der Max-Planck-Gesellschaft).

Neuneck, G. (2009): Die deutsche Pugwash-Geschichte und die Pugwash-Konferenzen. Ursprünge, Arbeitsweise und Erfolge – Das Ende des Kalten Krieges und die Herausforderungen der Zukunft. In: Albrecht, S.; Bieber, H.-J.; Braun, R.; Croll, P.; Ehringhaus, H.; Finckh, M.; Graßl, H.; von Weizsäcker, E.U. (Hrsg.): Wissenschaft – Verantwortung – Frieden: 50 Jahre VDW. Berlin: Berliner Wissenschafts-Verlag, S. 378-392.

Nicklas, H. (1996): Erziehung zur Friedensfähigkeit. In: Imbusch, P.; Zoll, R. (Hrsg.): Friedens- und Konfliktforschung. Opladen: Leske+Budrich, S. 463-480.

Parnas, D.L. (2009): Ein Brief aus dem Jahr 1985. Retrospektive. FifF-Kommunikation, 26(1), S. 7-10.

Rotblat, J. (1995): Remember your Humanity. Rede zur Verleihung des Friedensnobelpreises.

Streibl, R.E. (2012a): Bremer Universität bestätigt Zivilklausel – Wichtiges Signal für Verantwortung in der Wissenschaft. Wissenschaft & Frieden, 30(1), S. 58-59.

Streibl, R.E. (2012b): It’s a Challenge – Militärische Roboterwettbewerbe. FifF-Kommunika­tion, 29(1), S. 21-25.

Winograd, T. (1985): Einige Gedanken zur finanziellen Fo?rderung durch das Milita?r. In: Bickenbach, J.; Keil-Slawik, R.; Löwe, M.; Wilhelm, R. (Hrsg.): Militarisierte Informatik. Schriftenreihe »Wissenschaft und Frieden« Bd. 4. Marburg/Berlin/Münster: BdWi/FIfF/Natwiss, S. 169-173.

Ralf E. Streibl ist Diplom-Psychologe und arbeitet hauptberuflich an der Universität Bremen im Fach Informatik sowie im Personalrat. Von 2000 bis 2016 war er zusätzlich als Lehrbeauftragter im Studiengang IFI an der Hochschule Bremen tätig. Er ist langjähriges Mitglied des Forum Friedenspsychologie sowie des Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortungen und dort auch Mitglied des Beirats.

Bundeswehreinsatz gegen den IS

Bundeswehreinsatz gegen den IS

Eine völker- und verfassungsrechtliche Bewertung

von Bernd Hahnfeld

Nach den von der Terrororganisation »Islamischer Staat« (IS) begangenen Angriffen auf Paris vom 13. November 2015 erging auf Antrag der Bundesregierung (Drucksache 18/6866) am 4. Dezember 2015 mit 445 Ja-Stimmen gegen 145 Nein-Stimmen bei sieben Enthaltungen der Beschluss des Bundestages über den Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte zur Verhütung und Unterbindung terroristischer Handlungen durch den IS. Der Bundestagsbeschluss enthält eine Begründung für den deutschen Beitrag, der im Rahmen der internationalen Allianz gegen den IS geleistet wird. Der Einsatz dient der Unterstützung Frankreichs, des Irak und der internationalen Allianz gegen den IS durch Bereitstellung von „Luftbetankung, Aufklärung […], seegehenden Schutz und Stabspersonal; die Personalstärke des Einsatzes darf bis zu 1.200 Soldatinnen und Soldaten betragen. Der Beschluss ist entgegen der Darstellung im Antragstext nicht durch das Völkerrecht und das Grundgesetz gedeckt.

Völkerrechtlich ist Deutschland wie alle anderen Staaten nach Artikel 2 Absatz 3 UN-Charta verpflichtet, internationale Streitigkeiten durch friedliche Mittel so beizulegen, dass der Weltfriede, die internationale Sicherheit und die Gerechtigkeit nicht gefährdet werden. Artikel 2 Absatz 4 UN-Charta verbietet dementsprechend die Androhung oder Anwendung militärischer Gewalt in den internationalen Beziehungen. Verboten ist nach Artikel 2 Absatz 7 UN-Charta auch das Eingreifen in die inneren Angelegenheiten eines anderen Staates. Militärische Gewalt darf nur in zwei Ausnahmefällen eingesetzt werden: entweder mit Autorisierung durch einen entsprechenden Beschluss des UN-Sicherheitsrates nach Artikel 39 und 42 UN-Charta oder als individuelle oder kollektive Selbstverteidigung in den Grenzen von Artikel 51 UN-Charta. Daran ist Deutschland völkerrechtlich gebunden. Das gibt auch die deutsche Verfassung, das Grundgesetz, zwingend vor (Artikel 20 Absatz 3 und Artikel 25 GG).

EU als System gegenseitiger kollektiver Sicherheit?

Die Bundesregierung beruft sich in ihrem Antrag zur verfassungsrechtlichen Rechtfertigung auf Artikel 24 Absatz 2 GG.1 Die Entsendung bewaffneter deutscher Streitkräfte solle im Rahmen und nach den Regeln eines Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit erfolgen. Darauf kann sich die Bundesregierung aber nur berufen, wenn der Militäreinsatz tatsächlich im Rahmen und nach den Regeln eines solchen Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit im Sinne von Artikel 24 Absatz 2 GG stattfindet. Weder die Europäische Union (EU) noch die ad hoc von mehreren Staaten gebildete internationale Allianz gegen den IS sind aber als Systeme gegenseitiger kollektiver Sicherheit im Sinne von Artikel 24 Absatz 2 GG anzusehen.

Das hat für den Fall der EU das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) im Lissabon-Urteil vom 30. Juni 2009 bereits entschieden (Randnummer-RdNr 390). Nach dieser Rechtsprechung des BVerfG verdeutlicht der Ratifikationsvorbehalt des Lissabon-Vertrages der EU, dass der Schritt der EU zu einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit (noch) nicht gegangen worden ist. Das BVerfG hält den späteren Ausbau der EU zu einem derartigen System zwar nicht für von vornherein unzulässig. Als Hindernis könnte sich allerdings erweisen, dass Entscheidungen nach Artikel 42 Absatz 7 EU-Vertrag2 durch Artikel 24 Absatz 2 EU-Vertrag ausdrücklich der gerichtlichen Kontrolle durch den Europäischen Gerichtshof entzogen sind. Denn anders als ein Verteidigungsbündnis muss ein Bündnis kollektiver Sicherheit für den Fall von Aggressionsakten von Bündnispartnern verbindliche interne Konfliktregelungsmechanismen enthalten.

Soweit im Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestags (WD2-3000-203/15) behauptet wird, Artikel 24 Absatz 2 GG biete auch der „Einbindung von kollektiven Verteidigungsstrukturen“ nach Artikel 42 Absatz 7 EU-Vertrag eine Rechtsgrundlage, wird der Wortlaut und Sinn der Verfassungsnorm in sein Gegenteil verkehrt. Nicht ohne Grund ist in Artikel 24 Absatz 2 GG nur die „Einordnung in ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit“ zur Wahrung des Friedens vorgesehen und nicht auch ein Verteidigungsbündnis. Verteidigungsbündnisse sind gegen einen oder mehrere potenzielle Gegner gerichtet. Sie setzen auf die relative Stärke der Bündnispartner, nicht jedoch auf die gemeinsame (kollektive) Sicherheit der potenziellen Gegner.

Auch bei der internationalen Allianz gegen den IS spricht alles dagegen, dass diese ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit im Sinne von Artikel 24 Absatz 2 GG ist. Dieser «Allianz« mehrerer Staaten geht es nur um die politische und militärische Abwehr der vom IS ausgehenden internationalen Bedrohung. Es fehlen für ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit alle konstitutiven Elemente. Stattdessen handelt es sich bei der internationalen Allianz gegen den IS um ein informelles Beistandsbündnis.3

Die Regierungen Frankreichs und Deutschlands haben es unterlassen, sich für ihren Militäreinsatz gegen den IS durch einen Beschluss des UN-Sicherheitsrats autorisieren zu lassen. Die Bundesregierung beruft sich lediglich darauf, dass der UN-Sicherheitsrat in den Resolutionen 2170 (2014), 2199 (2015) und 2249 (2015) wiederholt festgestellt hat, von der Terrororganisation IS gehe eine Bedrohung für den Weltfrieden und die internationale Sicherheit aus. Zudem forderte der UN-Sicherheitsrat in der Resolution 2249 (2015) die Mitgliedsstaaten, „die dazu in der Lage sind“, auf, unter Einhaltung des Völkerrechts in dem unter der Kontrolle des IS stehenden Gebiet in Syrien und Irak „alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, ihre Anstrengungen zu verstärken und zu koordinieren, um terroristische Handlungen zu verhüten und zu unterbinden“. Diese Formulierung dient der Bundesregierung zur Rechtfertigung des Militäreinsatzes, obwohl der UN-Sicherheitsrat im operativen Teil seiner Resolutionen keine Ermächtigung zu Militäreinsätzen nach Artikel 42 UN-Charta ausgesprochen hat und die Entstehungsgeschichte der Resolution eindeutig beweist, dass der Sicherheitsrat das auch keinesfalls wollte.

Eine Ermächtigung zur Anwendung militärischer Gewalt durch den Sicherheitsrat erfordert die ausdrückliche Bezugnahme auf Artikel 42 UN-Charta. Das ergibt sich aus Artikel 53 Satz 2 UN-Charta. Diese Bestimmung schreibt vor, dass ohne Ermächtigung des Sicherheitsrats Zwangsmaßnahmen nicht ergriffen werden dürfen. Diese Ermächtigung muss eindeutig und zweifelsfrei sein. Es entspricht der ständigen Praxis des Sicherheitsrats, dass in den operativen Teilen der Resolutionen die Rechtsgrundlage ausdrücklich genannt wird. Erhellend sind dabei die bisherigen Resolutionen des Sicherheitsrats zum internationalen Terrorismus, den der Sicherheitsrat regelmäßig als Bedrohung für den Weltfrieden und die internationale Sicherheit bezeichnet hat. Dabei hat der Sicherheitsrat in den letzten Jahrzehnten immer wieder seine Zuständigkeit für das Einschreiten bei Terroranschlägen erklärt und eine Vielzahl nichtmilitärischer Maßnahmen zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus angeordnet. Die folgenden Resolutionen des UN-Sicherheitsrates belegen das:

UN-Sicherheitsrat: Polizeiliche Maßnahmen statt Militäreinsätze

  • 1992 ist der Sicherheitsrat mit der Resolution 748 wegen der Nichtauslieferung der mutmaßlichen Attentäter von Lockerbie gegen Libyen vorgegangen. Er hat sich auf Kapitel VII UN-Charta berufen und die Verhinderung von Handlungen des internationalen Terrorismus als essentiell für die Wahrung des Friedens und der Sicherheit bezeichnet. Zu militärischen Maßnahmen nach Artikel 42 UN-Charta hat er nicht ermächtigt.
  • 1999 hat er mit der Resolution 1267 nach Kapitel VII UN-Charta weit reichende Sanktionen gegen das Taliban-Regime in Afghanistan beschlossen. Als Begründung wurde angeführt, dass die Taliban die Ausbildung von Terroristen und die Vorbereitung terroristischer Anschläge ermöglichten. Die Verhinderung des Terrorismus sei essentiell für die Wahrung des Friedens und der Sicherheit. Angeordnet wurden Flugverbotszonen für die Flugzeuge und das Einfrieren von Bankkonten und Vermögen der Taliban. Ein Sanktionskomitee sollte die Durchführung kontrollieren. Die Sanktionen wurden später um Reiseverbote, Waffenembargos und den Personenkreis erweitert. Die Sanktionsausschüsse des Sicherheitsrats führen seither umstrittene Listen von Verdächtigen, gegen die alle UN-Mitgliedsstaaten einzuschreiten verpflichtet sind.
  • Ebenfalls im Jahre 1999 forderte der Sicherheitsrat mit der Resolution 1269 die Staaten allgemein zur Bekämpfung des Terrorismus und zum Abschluss einer internationalen Anti-Terrorismus-Konvention auf. Dasselbe wiederholte er am 12.9.2001 – einen Tag nach 9/11, dem Anschlag auf die Twin-Towers, das Pentagon und andere Einrichtungen der USA –, wobei er die Terroranschläge als kriminell und als Bedrohung für den Weltfrieden und die internationale Sicherheit bezeichnete.
  • Mit der Resolution 1373 vom 28.9.2001 ging der UN-Sicherheitsrat in seiner Reaktion auf 9/11 noch weiter. Erneut bezeichnete er sich als allgemein zuständig für Akte des internationalen Terrorismus und erklärte, dass er jeden Akt des internationalen Terrorismus als Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit betrachtet. Seine Maßnahmen nach Kapitel VII UN-Charta richten sich an alle Staaten. Nach Art einer Rahmengesetzgebung gebietet er, die Finanzierung terroristischer Handlungen zu verhindern und das Geldsammeln zu bestrafen, Vermögen einzufrieren, Geldtransfer zu verbieten, vor Anschlägen zu warnen, Zufluchtsorte zu verweigern, die Nutzung der Hoheitsgebiete zu verhindern, Unterstützer vor Gericht zu stellen, die Bewegung von Terroristen durch Grenzkontrollen zu verhindern, relevante Informationen auszutauschen, den Missbrauch der Asylgewährung und des Flüchtlingsstatus zu verhindern und binnen 90 Tagen über die eingeleiteten Schritte Bericht zu erstatten. Die Maßnahmen sind zeitlich, räumlich und sachlich nicht begrenzt. Zur Überwachung wurde ein »Counter Terrorism Commmittee« geschaffen.
  • Noch einen Schritt weiter ging der Sicherheitsrat nach den Bombenattentaten von Madrid 2004. Obwohl er ebenso wie die spanische Regierung die Verantwortlichkeit der baskischen Untergrundorganisation ETA unterstellte – und damit keinen internationalen Terrorismus –, sah er sich als zuständig an und ging nach Kapitel VII UN-Charta vor, indem er in Resolution 1530 die terroristischen Anschläge als Bedrohung für den Frieden und die Sicherheit bezeichnete. Er postulierte die Verpflichtung aller Staaten, im Rahmen ihrer Verpflichtungen aus der Resolution 1373 die Drahtzieher der Anschläge zu überführen und vor Gericht zu stellen.

In allen diesen Fällen hat der Sicherheitsrat deutlich hervorgehoben, dass die angeordneten Maßnahmen zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus (nichtmilitärische) Sanktionen nach Artikel 41 UN-Charta sind. Militärische Sanktionen nach Artikel 42 UN-Charta hat er vermieden, offensichtlich, weil die Terrorakte keinem Staat zuzurechnen waren. Dasselbe gilt für die von der Bundesregierung zitierten Resolutionen des Sicherheitsrats von 2014 und 2015, die sich mit dem IS befassen.

Die Beteiligung Deutschlands an dem in Syrien und im Irak durchgeführten Militäreinsatz nach Artikel 24 Absatz 2 Grundgesetz hätte eine Ermächtigung des UN-Sicherheitsrats nach Artikel 42 UN-Charta oder (nach der Rechtsprechung des BVerfG) zumindest die Erklärung des Beistandsfalles der NATO erfordert, die beide nicht vorliegen. Dem Einsatz fehlt damit die Rechtsgrundlage.

Militäreinsatz als kollektive Selbstverteidigung?

Die Bundesregierung beruft sich bei dem Bundeswehreinsatz nicht nur auf Artikel 24 Absatz 2 GG, sondern auch auf das Recht auf kollektive Selbstverteidigung zugunsten von Frankreich und Irak gemäß Artikel 51 UN-Charta. Damit stützt sie den Einsatz auch auf Artikel 87a Absatz 2 GG4 und vermengt unzulässig die beiden eigenständigen Rechtsgrundlagen.

Das BVerfG legt in ständiger Rechtsprechung Artikel 87a Absatz 2 GG dahingehend aus, dass Auslandseinsätze der Bundeswehr außer „zur Verteidigung“ nur im Rahmen und nach den Regeln eines Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit erlaubt sind. Das hat das BVerfG zuletzt im Urteil vom 30. Juni 2009 zum Vertrag von Lissabon entschieden (RdNr. 254).

Der Verteidigungsfall ist in Artikel 115a GG geregelt. Er setzt voraus, dass das Bundesgebiet mit Waffengewalt angegriffen wird oder ein solcher Angriff unmittelbar droht. Die Feststellung des Verteidigungsfalles erfolgt in einem förmlichen Verfahren durch den Bundestag und den Bundesrat. Diese Voraussetzungen liegen im Fall des Einsatzes gegen den IS nicht vor.

Folgt man jedoch der gut begründeten Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG), so umfasst der Begriff Verteidigung in Artikel 87a Absatz 2 GG im Wortsinn mehr als die »Verteidigung« der eigenen Staatsgrenzen. Das ist laut BVerwG aus dem begrifflichen Gegensatz im Grundgesetz zwischen »Landesverteidigung« in Artikel 115 Absatz 1 und »Verteidigung« in Artikel 87a Absatz 2 sowie aus dem Entstehungszusammenhang der Regelung zu schließen. Die im Jahre 1968 in das Grundgesetz eingefügte Regelung sollte einen militärischen Einsatz der Bundeswehr im Rahmen des Verteidigungsbündnisses der NATO nicht ausschließen. Das BVerwG ging in dem Urteil vom 21.6.2005 (RdNr. 93) allerdings davon aus, dass »Verteidigung« äußerstenfalls das umfasst, was nach dem geltenden Völkerrecht nach Artikel 51 UN-Charta das Selbstverteidigungsrecht zulässt: „Artikel 51 UN-Charta gewährleistet und begrenzt in diesem Artikel für jeden Staat das – auch völkergewohnheitsrechtlich allgemein anerkannte – Recht zur »individuellen« und zur »kollektiven Selbstverteidigung« gegen einen »bewaffneten Angriff«, wobei das Recht zur »kollektiven Selbstverteidigung« den Einsatz von militärischer Gewalt – über den Verteidigungsbegriff des Artikel 115a GG hinausgehend – auch im Wege einer erbetenen Nothilfe zugunsten eines von einem Dritten angegriffenen Staates zulässt (z.B. »Bündnisfall«).“ Dass Artikel 87a Absatz 2 GG damit auch weltweit jeden militärischen Einsatz der Bundeswehr zugunsten jedes beliebigen Staates zulässt, ist im Rahmen des NATO-Vertrages nicht auszuschließen. Jedoch hat das BVerwG damit nicht die ständige Rechtsprechung des BVerfG in Frage gestellt, dass Verteidigung auf den Rahmen des NATO-Verteidigungsbündnisses beschränkt ist. Ein »NATO-Bündnisfall« liegt jedoch nicht vor, so dass der Bundeswehreinsatz gegen den »Islamischen Staat« in Syrien und Irak unter keinerlei Gesichtspunkten zu rechtfertigen ist. Er ist verfassungswidrig.

Die Bundesregierung rechtfertigt den Bundeswehreinsatz rechtsfehlerhaft als kollektive Verteidigung nach Artikel 87a Absatz 2 GG in Verbindung mit Artikel 51 UN-Charta. Dabei sind folgende Überlegungen zu berücksichtigen:

1. Nach Artikel 87a Absatz 2 GG in Verbindung mit Artikel 51 UN-Charta ist jeder Staat zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung gegen den bewaffneten Angriff eines anderen Staates berechtigt. Angreifer ist beim aktuellen Bundeswehreinsatz aber der IS, also eine nichtstaatliche Terroristengruppe, denn der IS ist kein Staat im völkerrechtlichen Sinn. Er verfügt nicht über ein gesichertes Staatsgebiet und über ein dauerhaft zuzuordnendes Staatsvolk. Der IS ist nicht fähig, mit anderen Staaten in Beziehung zu treten und ist durch die Staatengemeinschaft auch nicht anerkannt.

Bei der Gründung der Vereinten Nationen im Jahre 1945 war ein nichtstaatlicher Angreifer kaum vorstellbar. Aufgrund der Resolutionen 1368 und 1373 des UN-Sicherheitsrats, die dieser anlässlich der nichtstaatlichen Terrorangriffe gegen die USA vom 11.9.2001 erlassen hatte und in denen er das Selbstverteidigungsrecht nach Artikel 51 UN-Charta anerkannt hat, sowie aufgrund der Erklärung der kollektiven Selbstverteidigung der NATO (Beistandsfall) und der Anerkennung des Selbstverteidigungsrechtes durch die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa und die Organisation Afrikanischer Staaten kann es als gesichertes Völkerrecht angesehen werden, dass das Selbstverteidigungsrecht auch auf bewaffnete Angriffe durch nichtstaatliche Akteure Anwendung findet. Das hat der Internationale Gerichtshof 2014 im Fall zur Mauer in den von Israel besetzten Gebieten jedenfalls für den Fall anerkannt, dass der Angriff grenzüberschreitender Natur ist.

2. Bei den Attentaten in Paris handelt es sich um einen Angriff des in Gebieten Iraks und Syriens operierenden IS gegen Frankreich. Zwar stammen die Attentäter aus Frankreich und Belgien, der IS hat aber in einer schriftlichen Erklärung die Verantwortung für die Anschläge übernommen und erklärt, er habe die Anschlagsorte ausgewählt. Gleichzeitig hat der IS Frankreich mit weiteren Anschlägen gedroht.

Die Angriffe des IS gegen Irak und Syrien erfolgen unmittelbar auf deren Staatsgebieten. Alle diese Angriffe sind in Umfang und Ausmaß zwischenstaatlichen Militäroperationen vergleichbar. Während das bei den mit militärischen Mitteln geführten Angriffen gegen Syrien und Irak auf der Hand liegt, ergibt sich das für den Angriff des IS gegen Frankreich aus der geplanten und koordinierten Vorgehensweise, die zwar nicht in den Folgen, jedoch in der Tendenz mit den Angriffen des 11.September 2001 gegen die USA vergleichbar ist. In beiden Fällen ging es dem Angreifer darum, mit Waffengewalt den größtmöglichen Schaden anzurichten, um den angegriffenen Staat zu destabilisieren.

3. Die internationale Allianz gegen den IS will ihre Verteidigungsmaßnahmen vor allem auf syrischem und irakischem Staatsgebiet durchführen. Bei einem Angriff eines nichtstaatlichen Aggressors ist die Selbstverteidigung mit militärischen Mitteln auf dem Staatsgebiet eines anderen Staates nach der Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofs nur dann gerechtfertigt, wenn dieser Staat sich das Handeln des nichtstaatlichen Angreifers zurechnen lassen muss. Diese Einschränkung hat im Falle des militärischen Vorgehens von Frankreich im Irak keine Bedeutung, weil die Regierung des Irak die internationale Allianz gegen den IS ausdrücklich um militärische Hilfe bei der eigenen Selbstverteidigung gegen die Angriffe des IS gebeten hat und die Allianz dem Ersuchen nachgekommen ist. Diese Abwehr des IS im Rahmen der kollektiven Selbstverteidigung ist jedoch auf das Staatsgebiet des Irak beschränkt. Zur Begründung wird auf die nachfolgenden Ausführungen verwiesen.

4. Anders ist die Lage in Syrien, wo die syrische Regierung lediglich das verbündete Russland um Beistand gegen den IS gebeten hat. Die Selbstverteidigung Frankreichs auf ihrem Staatsgebiet muss die Regierung Syriens nur hinnehmen, wenn ihr die Angriffsaktivitäten des IS zugerechnet werden müssen. Dafür gibt es keine Anhaltspunkte. Vielmehr befindet sich auch die syrische Regierung im Abwehrkampf gegen den IS, der Teile des syrischen Staatsgebiets völkerrechtswidrig okkupiert hat.

Die internationale Allianz gegen den IS hat kein Recht zur Ausübung der kollektiven Selbstverteidigung auf dem Staatsgebiet Syriens. Die Tatsache, dass der UN-Sicherheitsrat im nicht-operativen Teil seiner anlässlich 9/11 beschlossenen Resolutionen 1368 und 1373 das Selbstverteidigungsrecht erwähnt hat, bedeutet nicht, dass er dessen Anwendung auch in Fällen anerkannt hätte, in denen der Staat noch nicht einmal mit den Terroristen kollaboriert oder ihnen willentlich ein sicheres Rückzugsgebiet (strittige »Safe-haven-Doktrin«) gewährt. Der Sicherheitsrat hat nur allgemein auf Artikel 51 UN-Charta hingewiesen. Er stellt keine Kriterien für ein etwaiges Selbstverteidigungsrecht in diesen Fällen auf und ermächtigt nicht zu dessen Ausübung. Für die Auslegung der beiden Resolutionen ist auch von Bedeutung, dass der Sicherheitsrat im operativen Teil wie oben beschrieben lediglich politische, finanzielle und polizeiliche Abwehrmaßnahmen nach Artikel 41 UN-Charta fordert.

Der gleichfalls umstrittene Ansatz, dass ein Staat militärische Maßnahmen gegen terroristische Gruppen, die von seinem Territorium aus agieren, dulden muss, wenn er »weder bereit noch fähig« ist, diese zu bekämpfen und grenzüberschreitende Angriffe zu verhindern, könnte allenfalls durch Völkergewohnheitsrecht gerechtfertigt sein. Der Umstand, dass außer Frankreich auch die USA, Großbritannien und die Türkei ungeachtet der fehlenden Zustimmung Syriens sich bei ihrem Vorgehen auf syrischem Boden auf diese Argumentation berufen, schafft noch kein Völkergewohnheitsrecht. Es fehlt an der allgemeinen Staatenpraxis und an einer übereinstimmenden Rechtsüberzeugung der Staaten. Das Gewaltverbot nach Artikel 2 Absatz 2 UN-Charta verbietet militärische Maßnahmen auf syrischem Staatsgebiet, außer die syrische Regierung stimmt diesen ausdrücklich zu.

Vereinzelte Überlegungen, die Zurechnung zu einem Staat zu lockern und Terrorakte nicht-staatlicher Organisationen oder Einzelner auch dann als bewaffnete Angriffe des Staates anzusehen, wenn diese keine Schutzverbindung oder Duldung durch den Staat aufweisen, auf dessen Staatsgebiet sie handeln, widersprechen dem geltenden Völkerrecht. Zwar trifft es zu, dass inzwischen das Ausmaß der Gewalt und Zerstörungskraft internationaler Terrorgruppen den zwischenstaatlichen Auseinandersetzungen durchaus vergleichbar ist. Richtig ist auch, dass diese Entwicklung bei der Gründung der Vereinten Nationen 1945 unvorhersehbar war. Dennoch hat sich bislang kein die UN-Charta erweiterndes Völkergewohnheitsrecht herausgebildet. Vor allem hat der UN-Sicherheitsrat zwar immer wieder Terrororganisationen als „ernsteste Bedrohung für den internationalen Frieden und die Sicherheit“ bezeichnet, aber in den operativen Teilen aller Resolutionen bewusst vermieden, militärische Maßnahmen nach Artikel 42 UN-Charta anzuordnen. Stattdessen hat der Sicherheitsrat sich darauf beschränkt, ökonomische, politische und polizeiliche Maßnahmen anzuordnen oder zu fordern.

Auch die gelegentlich gehörte Argumentation, die Bombardierung des IS liege im Interesse Syriens, weshalb von einer stillschweigenden Zustimmung Syriens auszugehen sei, trägt nicht. Die USA haben öffentlich und wiederholt verkündet, das Regime Assad beseitigen zu wollen, so dass sich die Allianz nicht auf eine stillschweigende Zustimmung der syrischen Regierung berufen kann.

Gleichermaßen ist der militärische Angriff Frankreichs gegen den IS auf syrischem Staatsgebiet wegen des fehlenden Einverständnisses der syrischen Regierung völkerrechtswidrig. Frankreich bleibt nach Lage des Rechts, will es dieses nicht brechen, nur die Alternative übrig, die Anschläge von Paris mit den Mitteln der Polizei und der nationalen Strafverfolgung zu bekämpfen. Damit entfällt auch das Recht zur kollektiven Selbstverteidigung (Nothilfe) zugunsten Frankreichs, soweit diese auf syrischem Staatsgebiet stattfindet. Dasselbe gilt, soweit Staaten Nothilfe zugunsten Syriens durch Unterstützung der internationalen Allianz gegen den IS leisten wollen.

Letztlich missachtet die Bundesregierung, dass das Selbstverteidigungsrecht nach Artikel 51 UN-Charta nur so lange gilt, als der abzuwehrende Angriff gegenwärtig ist. Ist dieser abgeschlossen, sind militärische Abwehrmaßnahmen unzulässig. Die – die Verteidigung auslösenden – Attentate von Paris sind abgeschlossen. Die meisten Attentäter sind tot. Konkrete Drohungen der auf der Flucht befindlichen Personen sind nicht bekannt geworden. Zwar hat der IS in seinem Bekennerschreiben weitere Anschläge angedroht. Diese gegen Frankreich gerichtete Drohung ist jedoch vage und allgemein. Sie rechtfertigt nur polizeiliche Vorsorge, aber keine militärischen Verteidigungsmaßnahmen.

In Betracht kommt lediglich eine kollektive Selbstverteidigung zugunsten der durch den IS im Irak in Bedrängnis geratenen irakischen Regierung, die um entsprechende Unterstützung gebeten hat. Die kollektive Verteidigung in Form der Nothilfe hat sich jedoch aus den genannten Gründen auf das Staatsgebiet des Irak zu beschränken. Und Deutschland ist auch dazu außerhalb des NATO-Bündnisfalles nicht berechtigt, weil die Voraussetzungen von Artikel 87a Absatz 2 GG nicht vorliegen.

Zusammenfassend ist festzuhalten: Der Bundeswehreinsatz gegen den IS in Syrien und Irak ist verfassungs- und völkerrechtswidrig.

Anmerkungen

1) Artikel 24 Absatz 3 GG lautet: „Der Bund kann sich zur Wahrung des Friedens einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit einordnen; er wird hierbei in die Beschränkungen seiner Hoheitsrechte einwilligen, die eine friedliche und dauerhafte Ordnung in Europa und zwischen den Völkern der Welt herbeiführen und sichern.“

2) Artikel 42 Absatz 7 des Lissabon-Vertrages lautet: „(7) Im Falle eines bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats schulden die anderen Mitgliedstaaten ihm alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung im Einklang mit Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen. […]“

3) Die Allianz wurde am 5.9.2014 beim NATO-Gipfel in Wales von den Vereinigten Staaten ausgerufen. Ihr traten seither mehrere Dutzend Staaten bei.

4) Artikel 87a Absatz 2 GG lautet: „Außer zur Verteidigung dürfen die Streitkräfte nur eingesetzt werden, soweit dieses Grundgesetz es ausdrücklich zuläßt.“

Bernd Hahnfeld, Richter i.R., ist Mitglied der Deutschen Sektion der International Association of Lawyers Against Nuclear Arms (IALANA) und war viele Jahre im Vorstand von W&F.

Bundeswehr im Innern

Bundeswehr im Innern

von Jürgen Nieth

„Charakter und Dynamik gegenwärtiger und zukünftiger sicherheitspolitischer Bedrohungen machen […] Weiterentwicklungen erforderlich, um einen wirkungsvollen Beitrag der Bundeswehr zur Gefahrenabwehr an der Grenze von innerer und äußerer Sicherheit auf einer klaren Grundlage zu ermöglichen“, heißt es im Entwurf für das »Weißbuch 2016 zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr« (zitiert nach süddeutsche-online, 12.4.16).

Im Klartext: Es geht um einen erweiterten Einsatz der Bundeswehr in Deutschland selbst. Ein Thema, das CDU/CSU seit Jahren am Herzen liegt und das jetzt offensichtlich ohne Konsultation des Regierungspartners SPD nachträglich in den Entwurf des »Weißbuchs« eingefügt wurde: „Im Auswärtigen Amt erzeugte dieser Satz auch deswegen abwehrendes Staunen, weil er in der Rohfassung des Weißbuch-Entwurfs, den von der Leyen eine Woche vor Ostern an Steinmeier weitergab, noch nicht enthalten war.“ (Johannes Leithäuser und Majid Sattar in FAZ, 13.4.16, S.2)

Die Verärgerung auf SPD-Seite ist offensichtlich: „Weißbuch hin oder her – eine Grundgesetzänderung für den Einsatz der Bundeswehr im Innern wird es mit der SPD nicht geben“, so der Außenminister (zitiert nach Spiegel-Online, 12.4.16). „Ähnlich äußern sich Genossen aus beiden Parteiflügeln.“ (Tobias Schulze in taz, 14.4.16, S.6) Als Fazit zieht ein AutorInnenteam der WELT: „Von der Leyen hat mit ihrer Taktik das Klima für die Schlussverhandlungen über das Weißbuch vergiftet.“ (13.4.16, S.5)

Terrorabwehr als Vorwand

Die Bundeswehr könne „im Fall eines Terroranschlags in Deutschland eine wertvolle Unterstützung auch im Inneren sein, heißt es im Verteidigungsministerium“, schreibt die Hannoversche Allgemeine (12.4.16, S.2). Und die FAZ schildert als CDU-Position: „[…] falls es in Deutschland einmal zu einer ähnlichen Serie von Terrorakten komme wie jüngst in Paris, dann würden Polizeikräfte die Hilfe der Bundeswehr benötigen.“ (FAZ, 13.4.16, S.2) Genau dafür ist sie aber nach Meinung mehrerer Kommentatoren nicht geeignet. Die BZ (14.4.16, S.8) titelt ihre Zusammenfassung: „Kein Ersatz für die Polizei.“ Im Kommentar des neuen deutschland (13.4.16, S.4) heißt es: „Nach den Anschlägen von Paris im Januar 2015 wurden dort Tausende Soldaten mobilisiert, um Menschen vor Attacken durch Islamisten zu schützen. Vollständige Sicherheit konnten aber auch sie nicht bieten, wie die erneuten tödlichen Anschläge auf Zivilisten gezeigt haben.“ Lorenz von Stackelberg schreibt im Münchner Merkur (13.4.16): „Auf einem anderen Blatt steht allerdings die Effektivität von Militäreinsätzen im Inneren, wenn es um Terror geht. Islamistische Attentäter mögen sich als eine Art von Soldaten sehen, sie agieren aber wie Schwerkriminelle. Für deren Bekämpfung ist die Polizei mit ihren Spezialkommandos und Sondereinheiten gerüstet – besser als jene Soldaten, die […] wenig mehr als Objektschutz leisten könnten.“ Und für Joachim Käppner (SZ, 13.4.16, S.4) hat sich auch bei den Auslandseinsätzen gezeigt, „dass Soldaten schnell überfordert sind, wenn sie die Ersatzpolizei geben müssen, wie bei den März-Unruhen im Kosovo 2003“.

Für Daniela Vates ist Terrorbekämpfung der Vorwand. „Tatsächlich handelt es sich um etwas anderes: um die Suggestion von Sicherheit zum Preis der Militarisierung des Alltags […] Es wäre eine Ausweitung der Kampfzone. Umso eindrucksvoller ist dies, als das Verteidigungsministerium den Schritt gerne flankieren würde durch eine Lockerung der Bedingungen für Auslandseinsätze und durch einen Verzicht auf die Obergrenze für die Truppenzahl.“ (BZ, 13.4.16, S.8)

Dauerthema der Union

Die Union versucht seit Jahrzehnten, die Fesseln zu lösen, die die Verfassung dem Militäreinsatz jenseits der Katastrophenhilfe anlegt.“ (Tagesspiegel, 13.4.16, S.4) Und für den Fall, dass sie die dafür notwendige Zweidrittelmehrheit im Parlament nicht bekommt, droht sie, „ihre Forderung im Falle eines Wahlsieges bei der Bundestagswahl 2017 in Koalitionsverhandlungen ein[zu]bringen“ (BZ, 12.4.16, S.4).

Dass die „völlig überflüssige Debatte über Bundeswehreinsätze im Innern hierzulande fortgesetzt [wird]. Das liegt auch an der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Die Karlsruher Richter sprachen diesbezüglich vor rund vier Jahren von Ausnahmefällen als letztes Mittel. Sie ließen somit Raum für Interpretationen. Dabei wäre es im Sinne des Grundgesetzes gewesen, der Militarisierung der Innenpolitik einen Riegel vorzuschieben. Allein aus der deutschen Geschichte lassen sich hierfür viele gute Gründe ableiten“, schreibt Aert von Riel (ND, 13.4.16, S.4).

Die Geschichte beschäftigt auch Joachim Käppner (SZ, 13.4.16, S.4): „Deutschland hat eine lange Tradition des Einsatzes von Militär im Inland. Leider ist dies eine Tradition, auf die man gerne verzichten würde: Soldaten schossen 1848/49 die freiheitliche Revolution zusammen; von den Soldaten verlangte Kaiser Wilhelm II, auf ihre eigenen Familien zu schießen; Soldaten putschten 1920 gegen die demokratische Reichsregierung, während die Führung der Reichswehr sich weigerte einzuschreiten, denn »Truppe schießt nicht auf Truppe«. Weite Teile der Zivilgesellschaft galten den Generälen als innerer Feind, dem wahren Feind warfen sie sich dann 1933 an den Hals. Das ist der Hintergrund, vor dem das Grundgesetz den Einsatz von Streitkräften im Inneren untersagt, mit eng begrenzten Ausnahmen wie Katastrophen oder anderen Notfällen.“

Blick in die Zukunft

Lassen Sie uns vom Schlimmsten ausgehen: In Deutschland wird eine Partei mit diktatorischen Tendenzen an die Regierung gewählt, beispielsweise rechtsnational. Sie könnte, wäre die Verfassung bereits geändert, die Soldaten auf die Straße schicken, weil irgendwas ja immer droht oder bedroht. Man kann argumentieren, dass sich anti-demokratische militaristische Kräfte von einer Verfassung nicht aufhalten lassen würden. Aber allzu leicht sollte man es ihnen nicht machen.“ (Daniela Vates in BZ, 13.4.16, S.8)

Zitierte Tageszeitungen: Berliner Zeitung (BZ), DIE WELT, Frankfurter Allgemeine (FAZ), Hannoversche Allgemeine, Münchner Merkur, neues deutschland (ND), Süddeutsche Zeitung (SZ), Der Tagespiegel, tageszeitung (taz).

Die teure Truppe

Die teure Truppe

von Jürgen Nieth

„Getrennt marschieren, gemeinsam schlagen – so lautete der strategische Grundsatz des preußischen Generalstabschefs Helmuth von Moltke […] Nun haben ihn aktuell die Aufsichtsinstanzen über die Bundeswehr nachgeahmt: Fast zur gleichen Zeit präsentieren […] der Wehrbeauftragte Hans Peter Bartels und […] die Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen verschiedene Zahlen und Grafiken, die auf dieselbe Forderung hinauslaufen: Der personelle und finanzielle Schrumpfungsprozess der Bundeswehr muss ein Ende nehmen.“ (FAZ, 28.1.16, S.1)

Von allem zu wenig …

… hat die Bundeswehr nach den Ausführungen Bartels (SPD). „Der Fehlbestand beginne beim Großgerät, wie Panzerhaubitzen, Transportflugzeugen, Hubschraubern oder Fregatten, und er reiche bis zu Schutzwesten, Nachtsichtbrillen, Munition oder tauglichen Kampfstiefeln.“ Bartels legt nach: „Nie zuvor in den 60 Jahren ihres Bestehens […] habe die Bundeswehr »eine derartige Fülle unterschiedlicher Aufgaben und Einsätze« bewältigen müssen: der verlängerte und ausgeweitete Einsatz in Afghanistan mitsamt dem Erstarken der Taliban, die Russland-Ukraine-Krise mit der Wiederentdeckung der NATO-Aufgaben zur Bündnisverteidigung, die Konflikte in Syrien, im Irak und in Mali, ein Dutzend weiterer Auslandseinsätze mit kleineren Kontingenten – und dazu der Amtshilfeeinsatz der Streitkräfte in der Flüchtlingskrise.“ (Welt, 27.1.16, S.5)

Deshalb bezeichnet Bartels „die Aussetzung der Wehrpflicht im Jahr 2011 ohne entsprechendes Personalkonzept als falsch“ (ND 27.1.16, S.5). Er möchte nicht nur bei der Ausrüstung, sondern auch beim Personal der Bundeswehr nachlegen und spricht davon, dass die Zahl der Soldaten „von 600.000 im Jahr 1990 in West- und Ostdeutschland auf heute 177.000 aktive Soldatinnen und Soldaten reduziert“ worden sei (Welt 27.1.16, S.1). Zumindest sollten „die 185.000 Stellen, die bisher nur auf dem Papier stehen, auch tatsächlich besetzt werden“ (SZ 27.1.16, S.5). Unter geht bei Bartels, dass es sich bei den 600.000 noch um die SoldatInnen zweier Armeen handelte, die sich vorher im Kalten Krieg an der wohl gefährlichsten Front gegenüberstanden und deren Größe eben auch mit dieser Konfrontation zwischen NATO und Warschauer Pakt begründet wurde. Ebenfalls nicht erwähnt wird, dass die Zahl 185.000 nicht als Soll-, sondern als Obergrenze festgelegt wurde.

Geldsegen für die Truppe

Dahingestellt sei, ob es sich bei von der Leyens Antwort auf Bartels um eine schnelle Reaktion handelte oder um ein abgekartetes Spiel: der eine morgens, die andere am Nachmittag. Für Ottfried Nassauer (taz 28.1.16, S.1) treibt es „Ursula von der Leyen […] auf die Spitze [….] Die zusätzlichen 8 Milliarden binnen vier Jahren, die ihr bisher zugestanden wurden, reichen nicht. 130 Milliarden Euro verteilt auf 15 Jahre fordert die Verteidigungsministerin nun alleine in Bewaffnung und Ausstattung der Bundeswehr zu investieren. Pro Jahr wären das etwa 3 bis 4 Milliarden mehr als bisher.“ Auch die FAZ (27.1.16, S.4) stellt fest: „Gemessen an dem aktuellen Budgetposten für Beschaffung und Rüstung, der 2016 bei weniger als fünf Milliarden Euro liegt, müssten sich die Jahresetats in den Jahren bis 2030 jährlich auf 8,7 Milliarden Euro nahezu verdoppeln.“ An anderer Stelle weist die FAZ (28.1.16., S.4) darauf hin, dass die Opposition der Ministerin vorrechne, „zu den verlangten höheren Rüstungskosten […] kämen [jährlich] weitere Milliarden hinzu, da sich in der Folge auch die Kosten für Materialerhalt und für Personal erhöhten“.

Von der Leyens Wunschliste

René Heilig zitiert im ND (28.1.16., S.5) aus der Wunschliste der Verteidigungsministerin. „Statt 225 »Leopard«-Panzern soll es 320 geben, der Bestand an Fennek-Spähpanzern soll um 30 auf 248 steigen. Statt 89 will man 101 Panzerhaubitzen. Außerdem sollen sechs Marine-Helikopter zusätzlich angeschafft werden und 40 schwere Transporthubschrauber als Ersatz für die alten CH53-Maschinen. Für einen internationalen Hubschrauberverbund kommen 22 NH90-Helikopter dazu. Man will 80 »Tornados«, 138 »Eurofighter«, verschiedene Aufklärungs- sowie 16 kampffähige Drohnen fliegen lassen. Statt der bislang geplanten vier Mehrzweckkampfschiffe schickt man sechs über die Weltmeere. Noch gibt es keine großen Veränderungen gegenüber den von de Maizière 2011 bestimmten Obergrenzen. Doch wohlgemerkt – das ist der aktuelle Bedarf. Was man demnächst alles in IT-Systeme und die Cyberkriegsführung investieren will, ist gewiss weniger sichtbar als Panzer oder Raketen, wohl aber kampfstärker. Zudem geht von der Leyen davon aus, den Prozess der erhöhten Rüstungsausgaben »zu verstetigen«.“

NATO will mehr Geld

Für Johannes Leithäuser (FAZ 28.1.16., S.1) hat die Verteidigungsministerin mit ihrem Vorstoß „doppelte Erwartungen geweckt: Bei den Soldaten, die schon lange auf eine vollständige Ausrüstung warten, aber auch bei den Partnern Deutschlands, vor allem bei jenen der NATO, die schon lange die deutsche Beteuerung hören, die Verteidigungsausgaben wieder in Richtung des NATO-Ziels von zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu bringen“. Otfried Nassauer sieht als ersten Adressaten der Ansage von der Leyens die amerikanischen Teilnehmer der Münchner Sicherheitskonferenz: „Hört, hört! Wir Deutschen tun etwas und stocken unsere Militärausgaben auf.“ (taz 28.1.16., S.1) Und Olaf Standke (ND 29.1.16., S.4) kommentiert den Jahresbericht des NATO-Generalsekretärs mit den Worten, dass dieser „sichtlich erfreut verkünden [konnte], dass die Militärausgaben diverser Mitgliedsländer wieder gewachsen seien; das bewege sich in die »richtige Richtung« […] [D]ie zwei Prozent des Bruttosozialprodukts, auf die man sich 2014 geeinigt hat, bringen zum Ärger des Hauptquartiers nur fünf Staaten auf, darunter zynischerweise das im besonderen Maße schuldengeplagte Griechenland.“

Übrigens: In diesem Jahr steigt der Anteil des Verteidigungsetats der BRD am Bruttosozialprodukt von 1,16% im Vorjahr auf 1,18% (Welt 27.1.16., S.5). Eine Erhöhung auf zwei Prozent, das wären jährlich nicht nur vier, sondern über 20 Milliarden Euro mehr.

Zitierte Presseorgane: DIE WELT (Welt), Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), neues deutschland (ND), Süddeutsche Zeitung (SZ), tageszeitung (taz).

Jürgen Nieth

Mehr Verantwortung? Ja, bitte!

Mehr Verantwortung? Ja, bitte!

von Paul Schäfer

Vorstand und Redaktion von W&F waren bei der Jahresplanung 2015 relativ schnell einig: „Wir müssen was zur deutschen Rolle in der heutigen Welt machen.“ Ausgangspunkt der Diskussion waren die programmatisch anmutenden Reden dreier deutscher PolitikerInnen auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2014, in denen das veränderte Gewicht Deutschlands in Europa und der Welt beschworen und daraus ein »Mehr an Verantwortung« abgeleitet wurde.

Bei der Vorbereitung des vorliegenden Heftes sind wir aber rasch darauf gestoßen, dass eine solide Einschätzung der Rolle Deutschlands schwieriger ist als gedacht. Weil die Reden der Konferenz doch nur eine Momentaufnahme darstellen, weil eine Reihe von Ereignissen – Ukrainekrise, Islamisches Kalifat in Nahost, Flüchtlingsdrama – einschneidende Prozesse in Gang gesetzt hat, die nicht so einfach zu erfassen sind, und weil die Bundesregierung diesbezüglich durchaus widersprüchliche Signale aussendet. Wir haben uns daher vorgenommen, eher eine Annäherung an das Thema zu versuchen. Am Anfang des Schwerpunktthemas stehen daher pointierte und kontroverse Statements zu der Frage, ob »München« eher für eine Zäsur oder doch eher für ein Kontinuum der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik steht. Die Folgebeiträge brechen diese Frage, direkt oder indirekt, herunter auf sicherheits- und militärpolitische Entwicklungen der jüngsten Zeit. Diese wiederum stehen in engem Zusammenhang mit dem wieder aufgebrochenen großen Konflikt zwischen den NATO- und den EU-Mitgliedsstaaten auf der einen Seite und Russland auf der anderen sowie mit den immer weiter eskalierten Gewaltszenarien vor allem in Nahost. Es ergeben sich einzelne Mosaik-Teile, ein fertiges Bild fügt sich daraus (noch) nicht zusammen. Aber vielleicht liegen die Widersprüche in der Sache selbst?

Kein Zweifel: Deutschland hat vor allem innerhalb der EU erheblich an Gewicht gewonnen. Dies ist offenkundig mit der gestärkten Position Deutschlands nach der Weltfinanzkrise 2007/8 verknüpft. Die Ultimaten setzende Politik der Bundesregierung in den »Verhandlungen« über die Schuldenkrise Griechenlands ist ein Beispiel dafür. „In Europa wird wieder deutsch gesprochen“, hieß es da. Die Regierung nutzt das stärkere ökonomische Gewicht, um bilateral wie in internationalen Gremien Einfluss zu nehmen. Aber welchem Kompass folgt sie dabei? Sie will weiter an der globalen Durchsetzung der neoliberal geprägten Weltwirtschaftsordnung arbeiten; sie möchte im deutschen Interesse die EU als Faktor in diesem globalen Wettbewerb stärken. Zugleich ist die Regierung mit den vehementen Folgen dieser »Weltordnung« konfrontiert – den „Schattenseiten der Globalisierung“, von denen inzwischen selbst die Kanzlerin spricht. Eine Konsequenz: Man müsse sich stärker in internationales Krisenmanagement einbringen. Aber wie? Und in welchem Verhältnis soll diese Krisendiplomatie mit dem auf der Münchner Konferenz unüberhörbar geforderten intensiveren militärischen »Engagement« stehen?

Im Osten hat man mit rücksichtsloser Markterweiterungspolitik einen geopolitischen Wettlauf mit Russland ausgelöst, dadurch in der Ukraine Gewaltprozesse befördert, und schickt sich dann an, Feuerwehr zu spielen. »Friedensdiplomatie« wird mit Säbelrasseln und Sanktionen garniert. Wohin soll das führen?

Noch irritierender die Eindrücke in der Flüchtlingsfrage. Deutschland hat sich mit der Aufnahme hunderttausender Flüchtlinge positiv profiliert, avanciert fast schon zum gelobten Land. Aber werden daraus endlich Konsequenzen gezogen? Neben der »Willkommenskultur« erleben wir gleichzeitig, dass die Bundeswehr zur Flüchtlingsabwehr im Mittelmeer aktiv werden soll. Und was gedenken die Bundesregierung und die EU zu tun, um sich endlich den Fluchtursachen zuzuwenden? Bis dato hat man sich überwiegend im Windschatten der USA bewegt und ist damit mitverantwortlich für das, „was westliche Politik im Orient anrichtet“ (Michael Lüders). Wird es hier, unter dem Druck der Ereignisse, ein Umdenken geben?

Für eine „vorausschauende Politik“ möchte der Bundesaußenminister sein Haus besser wappnen. Doch dazu gehört entschieden mehr als eine neue Abteilung für Krisenprävention am Werderschen Markt. Es geht um Grundkonzepte: Vereinte Nationen oder Mächtekoalitionen? Gerechtigkeit global oder Behauptung der eigenen Privilegien? Vorrang für zivil oder Fortsetzung militärisch gestützter Interessenpolitik? Werden die immer wieder proklamierten Wertemaßstäbe endlich auch auf das eigene Handeln angewandt?

Sollte Deutschland in dieser laut Außenminister »aus den Fugen geratenden Welt« mehr internationale Verantwortung übernehmen? Ja! Wie wäre es, wenn Deutschland bei der Umsetzung der neuen UN-Nachhaltigkeitsziele voranginge? Wenn die Bundesrepublik grundsätzlich auf Rüstungsexporte verzichten würde? Wenn sich unser Land ein besonderes internationales Profil erarbeitete, das auf Friedensdiplomatie und ziviler Konfliktbearbeitung beruht?

Ihr Paul Schäfer

Kommt eine neue Rüstungswelle?

Kommt eine neue Rüstungswelle?

von Alexander S. Neu

Vor wenigen Monaten verabschiedete der Deutsche Bundestag den Haushaltsplan 2015 der Bundesregierung. Nach dem Budget für »Arbeit und Soziales« ist der Etat für »Verteidigung« mit 32,3 Mrd. Euro der zweitgrößte Posten.

Tatsächlich dürften die Militärausgaben aber noch deutlich über diesen 32 Mrd. Euro liegen. Vieles wird versteckt: militärische Forschung im Etat für Wissenschaft und Forschung, Ausgaben für verletzte oder traumatisierte Soldaten im Sozialetat usw. Legt man NATO-Kriterien zugrunde – die anderen sind da etwas ehrlicher als wir –, hat der deutsche Militäretat eine Höhe von 35,1 Mrd. Euro. Dass ergibt umgerechnet auf 82 Mio. Einwohner ca. 440 Euro pro Person. Eine vierköpfige Familie zahlt also im Durchschnitt 1.760 Euro im Jahr für die Bundeswehr.

Von diesen 35,1 Mrd. Euro sind ungefähr 6,2 Mrd. Euro für »verteidigungsinvestive« Ausgaben, also Rüstungsausgaben, verplant. Die laufenden Kosten für die gegenwärtigen Auslandseinsätze der Bundeswehr sind 2015 dagegen vergleichsweise gering. Für diesen Posten sind nach dem Abzug des größten Teils der BundeswehrsoldatInnen aus Afghanistan noch 500 Millionen Euro vorgesehen. Trotz der hohen jährlichen Investitionen geriet das militärische Großgerät der Bundeswehr im Herbst letzten Jahres wieder einmal in die Schlagzeilen. Solche Debatten begleiten die Bundeswehr seit Jahrzehnten: Es ging im Wesentlichen um jahrelange Verzögerungen bei der Auslieferung, um unvorstellbare Kostenexplosionen und um mangelnde Leistungsfähigkeiten. Diesmal stand die Nichteinsatzfähigkeit eines großen Teils des schweren militärischen Geräts im Mittelpunkt.

Ich hatte Anfang Januar 2014 eine Kleine Anfrage an die Bundesregierung gerichtet mit dem Titel »Kostenentwicklung bei Großwaffensystemen« (Drucksache 18/336). Es ging speziell um neun Beschaffungsprojekte, u.a. Eurofighter und A400M. Die Beantwortung der Fragen hätte eigentlich kein Problem sein dürfen. Die Aufgabe stellte sich für die Bundesregierung jedoch als äußerst schwierig dar, da in der Vergangenheit offensichtlich die Rüstungsverträge, Kostensteigerungen etc. der verschiedenen Projekte nicht in ein einheitliches Analyse- und Bewertungssystem eingepflegt wurden. Für diese Annahme spricht auch, dass Verteidigungsministerin von der Leyen just in diesem Zeitraum ein »Rüstungsboard« eingerichtet hat. Dieses sollte den Entwicklungs- und Beschaffungszustand, Risiken und Probleme von 15 Beschaffungsprojekten in je eigenen »Statusberichten« darstellen.

Auf den Tag genau zeitgleich mit der Antwort auf meine Kleine Anfrage (Drucksache 18/650), ging die Ministerin am 20. Februar in die Offensive und verkündete: Erstens könne sie die »Statusberichte« nicht abnehmen, da sie unzureichend seien, und sie ziehe diesbezüglich personelle Konsequenzen im Verteidigungsministerium. Zweitens werde sie eine externe Unternehmensberatung beauftragen, bis Oktober 2014 einige laufende Rüstungsprojekte zu untersuchen.

Die Unternehmensberatung KPMG erhielt dann auch den Auftrag, das zu untersuchen, was im Wesentlichen Gegenstand meiner Kleinen Anfrage war: KPMG sollte einen seriösen und systematisierten Überblick über die Entwicklung und Beschaffung ausgesuchter Projekte erstellen, weil das Verteidigungsministerium selbst dazu offensichtlich nicht in Lage war. Der Rüstungslobbyist Adamowitsch kommentiert das in der Frankfurter Rundschau (9.10.2014): „Da ist in 60 Jahren im Ministerium ein System entstanden, das keiner mehr beherrscht.“

Die Unternehmensberatung lieferte ihr Ergebnis im September 2014. Ihrem Bericht zufolge waren u.a. einsatzfähig: ein Viertel der Hubschrauber der Marken Tiger, Marder und Sea King, deutlich weniger als die Hälfte der Tornados, Eurofighter und C160-Transall-Transportflugzeuge. Das gleiche Bild bei den Korvetten, den Marder-Panzern und den Truppentransporten Boxer.

Im gleichen Monat, als diese Zahlen veröffentlicht wurden, bekräftigten die NATO-Mitgliedstaaten auf ihrem Gipfel in Wales ihren Willen, die Militärausgaben auf zwei Prozent des jeweiligen Bruttoinlandsprodukts zu erhöhen. Deutschlands Militärhaushalt liegt derzeit bei ca. 1,3 Prozent des BIP. Ein Anstieg auf zwei Prozent hieße für Deutschland – auf der Grundlage des BIP des Jahres 2013 in Höhe von 2,8 Billionen Euro – ein Anstieg um 21 Mrd. Euro auf 56 Mrd. Euro. Angesichts der Haushaltskrise in etlichen NATO-Mitgliedstaaten ist die Zahl von zwei Prozent für viele illusorisch. Die Bundesregierung aber scheint dem Beschluss mittelfristig nachkommen zu wollen. Er wäre kaum gegen das Votum der deutschen Regierung gefasst worden, und es gibt zahlreiche Hinweise, dass der Militärhaushalt ab 2016 stufenweise angehoben werden soll. Da dies nicht sonderlich populär ist, bietet die westlich-russische Krise der Bundesregierung eine ausgezeichnete Gelegenheit, der Öffentlichkeit die Notwendigkeit, ja sogar die Alternativlosigkeit, einer Aufrüstung und Modernisierung der Bundeswehr zu verkaufen.

Sehr gut passen da die Berichte über marodes militärisches Großgerät. An einen Zufall scheint selbst die Frankfurter Allgemeine Zeitung (30.09.2014) nicht zu glauben: „Diese Materialkrise hätte die Bundeswehr kaum zu einem günstigeren Zeitpunkt treffen können. Das sicherheitspolitische Empfinden in Deutschland ist durch die Gewalt im Nahen Osten und in der Ukraine gereizt wie nie seit dem 11. September 2001, der Wille zur Zusammenarbeit in Rüstungsvorhaben und militärischen Einsätzen in der NATO stärker denn je seit dem Ende des Kalten Krieges […] Daher könnte aus der aktuellen Krise binnen eines Jahrzehnts eine Bundeswehr entstehen, die besser und verlässlicher ausgerüstet ist als heute.“

Die Berichte über nicht einsatzfähiges militärisches Großmaterial sind mit viel Vorsicht zu genießen. Wie schreibt der oben zitierte Rüstungslobbyist Adamowitsch: „Wir müssen aufpassen, dass der Zustand der Bundeswehr nicht zu schlecht geredet wird.“ In der Neuen Zürcher Zeitung wird am gleichen Tag das Ganze als „Pseudodebatte“ bezeichnet und darauf verwiesen, dass es keinerlei Hinweis darauf gebe, dass „die Einsatzfähigkeit [der Bundeswehr] […] ernsthaft gefährdet ist“.

Da bleibt die Frage: Wozu soll dann die Bundeswehr „besser und verlässlicher ausgerüstet“ werden?

„Eine unmittelbare territoriale Bedrohung Mitteleuropas und damit Deutschlands mit konventionellen militärischen Mitteln besteht heute nicht mehr. Das wird angesichts des erweiterten europäischen Sicherheits- und Stabilitätsraumes und der erkennbaren Fortschritte in der Zusammenarbeit mit Russland auf absehbare Zukunft auch so bleiben.“ Zu diesem Schluss kam der »Bericht des Generalinspekteurs der Bundeswehr zum Prüfauftrag aus der Kabinettsklausur vom 7. Juni 2010«, der im September 2010 vorgelegt wurde. Andere sprachen schon mal davon, dass wir seit 1990 von Freunden umzingelt seien.

Von Fortschritten in der Zusammenarbeit mit Russland können wir heute natürlich nicht mehr sprechen. Aber wenn die Zusammenarbeit mit Russland in den letzten Jahren schweren Schaden genommen hat, so liegt das sicher nicht nur an einer Seite. Der Krim ging schließlich die westliche Unterstützung bei der Zerschlagung Jugoslawiens, eine NATO-Osterweiterung und eine sehr expansive Politik westlicher Länder – nicht nur in der Ukraine – voraus. Allerdings lassen sich diese Probleme mit Sicherheit nicht militärisch lösen.

Hinter den Beschaffungsprogrammen der Bundeswehr stand und steht denn auch keine Bedrohung von außen. Der tiefere Grund, warum sämtliche Bundesregierungen nach dem Ende des Ost-West-Konflikts, ob CDU/CSU–FDP, SPD-Grüne oder CDU/CSU-SPD, an den Großrüstungsprojekten bis heute festhielten, liegt in den zunehmenden Ambitionen Deutschlands auf der weltpolitischen Bühne.

Das wird auch in dem oben genannten Bericht von Generalinspekteur Wieker deutlich:

„Die geostrategische Lage in der Mitte Europas, die weltweite Verflechtung als Handels- und Industrienation ebenso wie die internationalen Verpflichtungen, die insbesondere aus der Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen, der NATO und der Europäischen Union erwachsen, setzen den Rahmen deutscher Sicherheitspolitik.

Zu den deutschen Sicherheitsinteressen gehören,

  • […] regionalen Krisen und Konflikten, die Deutschlands Sicherheit und Interessen beeinträchtigen können, vorzubeugen und zur internationalen Krisenbewältigung beizutragen,
  • globalen Herausforderungen, vor allem der Bedrohung durch den internationalen Terrorismus und der Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen zu begegnen,
  • den freien und ungehinderten Welthandel als Grundlage unseres Wohlstands zu fördern und zu schützen, […].

Ziel deutscher Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist – auf der Grundlage unserer Werte und in Umsetzung unserer Interessen – die Sicherung von Frieden, Freiheit und Wohlstand unserer Bürgerinnen und Bürger.

Die Verwirklichung dieser Ziele und die Wahrung unserer Interessen erfordert eine kontinuierliche Überprüfung und Anpassung der sicherheitspolitischen Instrumente.“

Der schönen Worte entkleidet heißt das: Wir brauchen zur Sicherung unseres welt- oder machtpolitischen Anspruchs, unseres Lebensstandards, unserer politischen und wirtschaftlichen Interessen eine effektive, schlagkräftige und schnell verlegbare Armee. Die Fähigkeiten für eine Interventionsarmee sollen weiter ausgebaut werden; als Symbol dafür steht der strategische Transportflieger A400M.

Gleichzeitig greifen Politiker – vor allem aus der CDU/CSU – wieder in die Mottenkiste der Militärpolitik aus Zeiten des Kalten Krieges. Angesichts des »russischen Bären« wollen sie auch die Panzerflotte wieder aufrüsten. Der Bestand an »Leopard 2«-Kampfpanzern beträgt noch rund 230 Stück; der soll nach dem Willen der CDU/CSU ergänzt werden um eine modernisierte Variante (gleichsam »Leopard 3«). Beschlossen hat das Verteidigungsministerium bereits den Kauf von 131 zusätzlichen Radpanzern des Typs »Boxer« im Wert von ca. 620 Mio. Euro.

Schwarze Null hin, schwarze Null her, wenn es um Rüstungsgeschäfte geht, scheinen die Steuergelder locker zu sitzen, gespart werden muss dann woanders.

Hätte die Bundesregierung die Auslandseinsätze der Bundeswehr evaluiert, hätte sie zu der Erkenntnis kommen müssen, dass in keinem einzigen Krieg der letzten Jahre die anfangs gesetzten Ziele erreicht wurden. Auf all die großen militärischen Interventionen folgte das Chaos in den betroffenen Ländern, so in Irak oder Libyen, und in Afghanistan wird es nicht anders sein.

Das unterstreicht eindringlich: Wir brauchen weder eine weltweit operierende Interventionsarmee noch eine neue »Panzerarmee« für den europäischen Kontinent. Statt Militarisierung der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik brauchen wir eine Politik der Konfliktprävention und zivilen Konfliktbearbeitung, eine Politik der Verständigung.

Dr. Alexander S. Neu, Mitglied des Bundestages, ist Obmann im Verteidigungsausschuss der Fraktion DIE LINKE.

Behandlungsziele vorgegeben?

Behandlungsziele vorgegeben?

Psychotherapie für Soldaten

von Neue Gesellschaft für Psychologie

Im März 2014 fand an der Freien Universität Berlin das Symposium »Trommeln für den Krieg« der Neuen Gesellschaft für Psychologie (NGfP, ngfp.de) statt. Auf dem Symposium wurde vom NGfP-Vorstand eine Stellungnahme zu einem Kooperationsvertrag über die psychotherapeutische Betreuung von Soldaten zwischen der Bundespsychotherapeutenkammer und der Bundeswehr abgegeben. Der Präsident der Psychotherapeutenkammer reagierte mit einem Gesprächsangebot, um offensichtlich entstandene „Missverständnisse“ auszuräumen. Die NGfP entschied sich aber, die Diskussion lieber öffentlich fortzusetzen und konkretisierte ihre Haltung zum Thema daher in einem Offenen Brief. W&F dokumentiert die beiden Texte.

Stellungnahme zur Psychotherapie von Soldaten

Am 16. September 2013 trat eine Vereinbarung zwischen dem Bundesministerium der Verteidigung und der Bundespsychotherapeutenkammer in Kraft, nach der zivile Psychotherapeuten in Privatpraxen Soldaten nach Verfahren behandeln, die von der Bundeswehr geregelt sind. Der Vereinbarung ging eine gleichartige Übereinkunft des Bundesministeriums der Verteidigung mit der Kassenärztlichen Bundesvereinigung [über die ärztliche Versorgung von Soldaten; d.Red.] voraus. Die Bundeswehr und die Psychotherapeutenkammer veranstalten zudem am 13. März 2014 in Berlin im Offiziersheim der Blücher-Kaserne eine erste gemeinsame Fortbildungsveranstaltung, die Therapeuten auf die Behandlung von Soldaten vorbereiten soll.

Aus der Vereinbarung, dem Programm der Fortbildungsveranstaltung und aus Äußerungen des Präsidenten der Bundespsychotherapeutenkammer, Professor Rainer Richter, am 26. November 2013 geht eindeutig hervor, dass es sich um psychotherapeutische Behandlungen durch zivile Therapeuten unter der Regie und im Interesse der Bundeswehr handelt. Richter ließ erklären, dass bei zunächst psychisch erkrankten und dann „erfolgreich behandelten“ Soldaten nichts gegen eine Teilnahme an Auslandseinsätzen spreche.

Psychisch belastete oder traumatisierte Soldaten bedürfen selbstverständlich einer psychotherapeutischen Behandlung, aber psychotherapeutische Behandlung von Soldaten muss unabhängig von der Bundeswehr sein. Das Bundesverteidigungsministerium oder die Truppe dürfen weder die Behandlungsmethoden noch Behandlungsziele vorgeben. Es kann nicht Aufgabe von Psychologen sein, Reaktionen von Soldaten auf Kriegshandlungen – wie Entsetzen, Abscheu und Angst vor erneutem Erleben – wegzutherapieren, um Soldaten für den nächsten Einsatz fit zu machen. Therapien mit solchen Zielsetzungen dienen der Unterstützung und Fortsetzung von kriegerischen Einsätzen der Bundeswehr.

Im Mittelpunkt jeder Therapie haben allein Wohl und Gesundheit des Klienten zu stehen.

Es ist Pflicht des Therapeuten dafür zu sorgen, dass Dritte mit anderen Interessen keinen Einfluss auf die Behandlung nehmen können. Daher lehnen wir solche psychotherapeutische Behandlungen unter der Regie der Bundeswehr ebenso wie die von der Bundeswehr organisierten Fortbildungen ab.

Berlin, 9. März 2014 Der Vorstand: Prof. Dr. Klaus-Jürgen Bruder, Dr. Christoph Bialluch, Dipl.-Psych. Jörg Hein

Offener Brief an den Präsidenten der Bundespsychotherapeutenkammer

An den Präsidenten der Bundespsychotherapeutenkammer, Prof. Dr. Rainer Richter

Sehr geehrter Herr Richter, die Neue Gesellschaft für Psychologie (NGfP) hat sich am 9. März 2014 in einer Stellungnahme gegen die Zusammenarbeit der Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) mit der Bundeswehr und dem Bundesverteidigungsministerium gewandt. In Ihrer Antwort auf unsere Erklärung haben Sie von Missverständnissen unsererseits gesprochen und ein Gespräch angeboten, um diese Missverständnisse über Ihre Kooperation mit der Bundeswehr auszuräumen. Wir möchten aber stattdessen weiter öffentlich über diese Kooperation debattieren und wollen Ihnen hier unseren Standpunkt vertiefend erläutern. Inzwischen hat auch die Ärzteorganisation IPPNW eine kritische Stellungnahme zur Ihrer Zusammenarbeit mit der Bundeswehr abgegeben, der wir voll zustimmen.

Ihre Bemühungen, zivilen PsychotherapeutInnen ohne Kassensitz in Privatpraxen die Behandlung von SoldatInnen zu ermöglichen, hatten einen längeren Vorlauf. Noch im Juni 2013 klagte Ihre Kammer, die deutschen Streitkräfte blockierten die „schnelle psychotherapeutische Versorgung traumatisierter Soldaten“, indem sie diesen die Nutzung von Privatpraxen untersagten. Im September vergangenen Jahres unterzeichnete die Kammer dann eine Vereinbarung mit dem Verteidigungsministerium, die Hindernisse für Behandlungen in Privatpraxen aus dem Weg räumte.

Am 13. März fand in Berlin im Offiziersheim der Blücher-Kaserne eine erste Fortbildung der Bundeswehr für privat abrechnende PsychotherapeutInnen statt. Die Veranstaltung eröffnete der Beauftragte des Verteidigungsministeriums für posttraumatische Belastungsstörungen, Brigadegeneral Klaus von Heimendahl. DozentInnen waren ausschließlich PsychologInnen und ÄrztInnen im Bundeswehrdienst. Die TeilnehmerInnen wurden unter anderem informiert über „Besonderheiten des Soldatenberufs“, über Spezifika einer „Heilbehandlung für die Bundeswehr“, über „aktuelle Einsatzgebiete und Einsatzsituationen“ und über das Thema „Truppenpsychologen im Einsatz – mit Soldaten auf Patrouille/auf Wache/im Feldlager“.

Dieses thematisch erstaunliche Fortbildungsprogramm war zuletzt der Anlass für unsere Erklärung. Hinzu kam Ihre Äußerung als Kammerpräsident, dass bei traumatisierten psychisch erkrankten Soldaten nach erfolgreicher Behandlung nichts gegen einen erneuten Auslandseinsatz spreche. Als NGfP sind wir zum einen aus politischen Gründen gegen Auslandseinsätze der Bundeswehr. Davon unabhängig lehnen wir auch eine Psychotherapie ab, für die das Wohl der Klientin/des Klienten nicht höchster Maßstab ist, die sich vielmehr in den Dienst der Bundeswehr und ihrer Ziele stellt.

Die psychischen Störungen von BundeswehrsoldatInnen, die sich seit einigen Jahren häufen und um deren Behandlung es geht, sind meist Folge traumatisierender Kriegserlebnisse im Ausland, etwa von Erlebnissen, bei denen Kameraden der Betroffenen getötet oder schwer verletzt wurden oder bei denen die betroffenen Soldaten selbst Menschen getötet oder verletzt haben.

Die traumatisierten Soldaten haben ein Recht auf therapeutische Hilfe. Es kann aber nicht Aufgabe von PsychologInnen sein, Reaktionen von SoldatInnen auf Kriegshandlungen, wie Entsetzen, Abscheu und Angst vor erneutem Erleben, wegzutherapieren, um diese schnell für den nächsten Einsatz fit zu machen. Dies haben wir bereits in unserer Erklärung betont.

In Ihrer Antwort auf diese Erklärung widersprechen Sie unserer Kritik und schreiben, es sei „absurd und entbehrt jeder Grundlage, die Bundeswehr würde Behandlungsziele vorgeben“. Die Vereinbarung, die Sie im vergangenem September mit der Bundeswehr abgeschlossen haben, gliedert aber die Behandlung von Soldaten durch privat abrechnende TherapeutInnen in die truppenärztliche Versorgung ein. TruppenärztInnen sind rechtlich verpflichtet, vor allem für die Einsatzfähigkeit von SoldatInnen zu sorgen. Wiederherstellung der Einsatzfähigkeit ist das ihnen vorgegebene Behandlungsziel.

BundeswehrsoldatInnen sind nicht krankenversichert. Sie haben keine freie Arztwahl. „Vielmehr erfolgt die Versorgung der Soldaten über den Truppenarzt. Dieser entscheidet, ob ein Soldat auf weitere Fachärzte zugreifen könne“, so sagte es auch eine Psychologin der Bundeswehr bei der oben erwähnten Fortbildung. Allein der Truppenarzt kann psychisch erkrankte Soldaten an freie Therapeuten überweisen. Der Therapeut habe dem überweisenden Truppenarzt Diagnose sowie Indikation und Therapieziel mitzuteilen, heißt es in den Informationen Ihrer Kammer zur »Behandlung von Soldaten in Privatpraxen«. Der Truppenarzt genehmige die Therapie und entscheide später auf Grundlage eines ausführlichen Berichts über Verlängerungen.

Die rechtlichen Regeln der truppenärztlichen Versorgung finden sich in einer Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Bundesbesoldungsgesetz. „Die unentgeltliche truppenärztliche Versorgung dient […] der Erhaltung und Wiederherstellung der Dienst- und Einsatzfähigkeit der Soldatinnen und Soldaten. Sie umfasst alle damit im Zusammenhang stehenden notwendigen und angemessenen Maßnahmen zur Gesunderhaltung, Verhütung und frühzeitigen Erkennung von gesundheitlichen Schäden sowie die zur Behandlung einer Erkrankung spezifisch erforderlichen medizinischen Leistungen“, heißt es einleitend in Paragraf 2 der Vorschrift.

Das übergeordnete Ziel der truppenärztlichen Versorgung ist somit die „Erhaltung und Wiederherstellung der Dienst- und Einsatzfähigkeit“. Die „Maßnahmen zur Gesunderhaltung“ dienen diesem Zweck. Nur zum Vergleich: Die Behandlung ziviler KassenpatientInnen hat nach dem Sozialgesetzbuch V „die Aufgabe, die Gesundheit der Versicherten zu erhalten, wiederherzustellen oder ihren Gesundheitszustand zu bessern“. Hier steht die Gesundheit und nicht berufliche Einsatzfähigkeit im Vordergrund. Anders als Soldaten können Kassenpatienten den Arzt ihres Vertrauens wählen und müssen nicht immer zuerst einen bei ihrem Arbeitgeber angestellten Mediziner aufsuchen.

Bei den meisten körperlichen Leiden gibt es zwischen den Zielen „Gesunderhaltung“ von SoldatInnen und deren „Einsatzfähigkeit“ sicher keinen Konflikt: Je körperlich fitter der Soldat/die Soldatin, desto einsatzfähiger ist er/sie. Anders sieht es auf dem Felde der psychischen Gesundheit aus. Vor allem bei SoldatInnen, die durch Kriegseinsätze im Ausland erkrankt sind, ist ein Zielkonflikt zwischen psychischer Gesundung und „Wiederherstellung der Dienst- und Einsatzfähigkeit“ ohne weiteres denkbar. Für eine Therapie, die von vornherein dem rechtlich von der Bundeswehr vorgegebenen Ziel „Wiederherstellung der Einsatzfähigkeit“ folgt, ist das Wohl der KlientInnen daher nicht mehr oberster Maßstab.

Die Bundespsychotherapeutenkammer hat in den Veröffentlichungen zur Zusammenarbeit mit der Bundeswehr an keiner Stelle berufsethische Probleme angesprochen, die mit dem vorgegebenen Therapieziel „Wiederherstellung der Einsatzfähigkeit“ verbunden sind. Stattdessen stand das Bestreben im Vordergrund, die Bundeswehr als neuen Auftraggeber für TherapeutInnen zu gewinnen.

Zudem hat die Kammer oder haben Sie, Herr Richter, auch die Probleme unerwähnt gelassen, die sich aus der Verschwiegenheitspflicht von SoldatInnen für eine Therapie ergeben. Erst auf der erwähnten Fortbildungsveranstaltung waren dann die Grundrechtsbeschränkungen im Wehrbereich und das Soldatengesetz Thema. Dieses Gesetz verlangt in Paragraf 14 vom Bundeswehrangehörigen, „über die ihm bei oder bei Gelegenheit seiner dienstlichen Tätigkeit bekannt gewordenen Angelegenheiten Verschwiegenheit zu bewahren“. Aufgehoben ist die Verschwiegenheitspflicht nur für innerdienstliche Mitteilungen und für Tatsachen, „die offenkundig sind oder ihrer Bedeutung nach keiner Geheimhaltung bedürfen“.

Selbst für Aussagen über dienstliche Begebenheiten vor Gericht oder in Ermittlungsverfahren brauchen SoldatInnen stets eine Genehmigung. Anders als das Gespräch mit dem Truppenarzt/der Truppenärztin, zählt die Sitzung bei externen TherapeutInnen kaum zum innerdienstlichen Verkehr. Damit dürfen SoldatInnen den TherapeutInnen nur offenkundige oder bedeutungslose Erlebnisse im Auslandseinsatz schildern. In den Mitteilungen der Kammer ist an keiner Stelle davon die Rede, dass SoldatInnen vor der ersten Sitzung beim externen Therapeuten von der Verschwiegenheitspflicht entbunden würden. Eine Therapie aber, in der der Traumatisierte/die Traumatisierte nicht offen und über alles sprechen kann, ist schlechterdings eine Absurdität.

Eine Psychotherapie traumatisierter SoldatInnen, die dem truppenärztlichen Ziel Wiederherstellung der Einsatzfähigkeit folgt, lehnen wir aus ethischen und politischen Gründen ab. Therapie muss offen sein, auch gerade offen für die Erkenntnis der Klientin/des Klienten, dass Kriegseinsätze und Gewalt gegen Mitmenschen auch SoldatInnen krank machen können und künftig zu meiden sind. Politisch fügt sich die Vereinbarung Ihrer Kammer mit der Bundeswehr für uns in die Bestrebungen ein, mehr Akzeptanz für deutsche Kriegseinsätze im Ausland zu schaffen. Obwohl der erste Kriegseinsatz der Bundeswehr, 1999 im Kosovo-Krieg gegen Jugoslawien, nunmehr 15 Jahre zurückliegt, obwohl Politiker verschiedenster Couleur, wie zuletzt Bundespräsident Joachim Gauck, immer wieder offensiv für Einsätze werben, lehnen die Bundesbürger diese weiter mehrheitlich ab.

Die Vereinbarung der Bundespsychotherapeutenkammer mit der Bundeswehr wurde im Namen der Kammermitglieder abgeschlossen. PsychotherapeutInnen sind Zwangsmitglieder der Kammer. Eine öffentliche Diskussion unter den Mitgliedern über die Vereinbarung gab es aber nicht. Wie viele andere PsychotherapeutInnen sehen wir in der Vereinbarung ein Bekenntnis der Kammer zu einer kriegerischen deutschen Außenpolitik. Wir fühlen uns in diesem Punkt von der Kammer nicht vertreten.

Wir fordern Sie daher auf, die ohne Zustimmung der Kammermitglieder abgeschlossene Vereinbarung aufzukündigen sowie die dieser zugrundeliegenden Verträge und Absprachen zu veröffentlichen und sich einer Diskussion mit den Mitgliedern über Ihre Kooperation mit der Bundeswehr zu stellen.

Berlin, Ostern 2014 Mit freundlichen Grüßen Vorstand: Prof. Dr. K.-J. Bruder, Dr. Ch. Bialluch, Jörg Hein

Wer wird Soldat?

Wer wird Soldat?

Zur Motivation junger Menschen, Soldat zu werden

von Jonna Schürkes

Die Aussetzung der Wehrpflicht im Juni 2011 hat das Rekrutierungsproblem der Bundeswehr verstärkt. Gleichzeitig wird ein neuer Trend erkennbar: Es verpflichten sich vor allem solche Menschen als Soldaten, die befürchten, auf dem zivilen Arbeitsmarkt nicht zum Zuge zu kommen. Obwohl die sozioökonomische Herkunft der Soldaten sowohl in der Bundeswehr als auch in den Medien und im Bundestag immer wieder Thema ist, werden in Deutschland , anders als in den USA, keine diesbezüglichen Daten veröffentlicht. Das Thema ist für die friedenspolitische und antimilitaristische Arbeit allerdings zu wichtig, als dass man es aufgrund der fehlenden Datenlage einfach beiseite lassen könnte.

Für den vorliegenden Artikel wurden Aussagen von Militärs und Verteidigungspolitikern, Umfrageergebnisse zur Motivation junger Menschen, sich bei der Bundeswehr zu verpflichten, und aufgrund von Anfragen im Bundestag sporadisch veröffentlichte Daten zusammengetragen. Dabei bestätigt sich: In vielen Fällen ist eine gewisse Perspektivlosigkeit Vorraussetzung dafür, dass jemand Soldat wird und damit die Gefahren der zunehmenden Auslandseinsätze auf sich nimmt.

„Wer Alternativen hat, geht nicht zur Bundeswehr“

Das Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr (ZMS, früher Sozialwissenschaftliches Institut der Bundeswehr/SOWI), führt seit 2004 regelmäßig Umfragen unter 15- bis 24-Jährigen durch und befragt diese zu ihrer Bereitschaft, Soldat zu werden. Die Umfragen dienen der Bundeswehr in erster Linie dazu, ihre Rekrutierungsstrategien zu verbessern.

Vor allem die Umfrageergebnisse der ersten Jahre zeigten, dass sich ein erheblicher Teil der neu rektrutierten Soldaten aus Angst vor der Arbeitslosigkeit zum Dienst an der Waffe verpflichtete. Die 2005 verabschiedeten Hartz-IV-Gesetze und der durch sie aufgebaute massive Druck v.a. auch auf junge Arbeitslose, jeden Job anzunehmen, wurden von der Bundeswehr genutzt, um Nachwuchs zu rekrutieren.1

Auch die jüngste, im Dezember 2013 veröffentlichte ZMS-Studie untersucht, wieviele Jugendliche sich vorstellen können, eine Mannschaftslaufbahn bei der Bundeswehr einzuschlagen.2 Hier sind die Umfrageergebnisse nicht mehr so eindeutig wie in den Studien zuvor. Vermutlich haben Jugendliche heute weniger Angst, keinen Arbeits- oder Ausbildungsplatz zu finden. Nun erwägen offenbar vor allem Jugendliche ohne Schulabschluss oder mit Hauptschulabschluss, Soldat zu werden.

Als Gründe für ein grundsätzliches Interesse an einer Laufbahn bei der Bundeswehr werden vor allem „Gesichertes Einkommen“, „Neues Lernen/Erfahrungen sammeln“, „Sicherer Arbeitsplatz/Ausbildungsplatz“, „Wenn in der freien Wirtschaft kein Ausbildungsplatz zu finden ist“ genannt. Die Auslandeinsätze hingegen sind mit Abstand das wichtigste Argument, kein Soldat zu werden, gefolgt von „Widerspricht (z.B. religiösen) Überzeugungen“ und „Andere berufliche Pläne, Zeitverlust“.

Die jüngsten Umfrageergebnisse bestätigen damit das Bild, das bereits die Vorgängerstudien gezeichnet haben: Es zeigt sich, „dass die Streitkräfte als Arbeitgeber vor allem für diejenigen in Frage kommen, die geringe sonstige berufliche Chancen besitzen. Umgekehrt verfügen die allermeisten, die für sich eine Tätigkeit in den Streitkräften ausschließen, über ihnen geeigneter erscheinende Möglichkeiten. Die Jugendlichen, die bereits eine Ausbildung oder einen Beruf haben, der ihnen zusagt, entwickeln in der Regel kein Interesse am Soldatenberuf. Zugespitzt formuliert heißt das: Wer berufliche Alternativen hat, geht nicht zur Bundeswehr“, so beschreiben es Nina Leonhardt, Dozentin an der Führungsakademie der Bundeswehr, und Heiko Biehl, Leiter des Forschungsbereichs Militärsoziologie am ZMS.3

Der »Freiwillige Wehrdienst«: nur wenn's sein muss

Sowohl diejenigen, die sich gegebenenfalls als Soldat auf Zeit verpflichten würden, als auch diejenigen, die sich für den Freiwilligen Wehrdienst (FWD) entscheiden, tun dies nicht unbedingt, weil sie von der Sinnhaftigkeit eines Militärdienstes überzeugt sind: Sobald sich eine zivile Alternative bietet, springen viele wieder ab.

Der FWD, der 2011 mit der Aussetzung der Wehrpflicht geschaffen wurde, gilt der Bundeswehr als wichtiges Instrument, um ausreichend Nachwuchs zu gewinnen. Ursprünglich sollten jedes Jahr mehr als 12.000 Freiwillige rekrutiert werden, die sich für sechs bis 23 Monate verpflichten und, anders als Wehrpflichtige, auch in den Auslandseinsatz geschickt werden. Im ersten Jahr des FWD bewarb sich tatsächlich die angestrebte Zahl junger Menschen für den Dienst, was vorwiegend auf die doppelten Abiturjahrgänge zurückzuführen war. Seitdem sind die Bewerberzahlen deutlich geringer.4

Innerhalb der ersten sechs Monate können die Freiwillig Wehrdienstleistenden (FWDL) die Bundeswehr jederzeit wieder verlassen. Von dieser Möglichkeit machten seit Beginn des Dienstes mehr als 25 Prozent Gebrauch.5 Als Grund für ihren Weggang gaben 34 Prozent an, zwischenzeitlich eine zivilberufliche Alternative, zum Beispiel eine Ausbildungsstelle oder einen Studienplatz, gefunden zu haben. Auch FWDLer, die die Probezeit schon hinter sich haben, tendieren dem Bericht des Wehrbeauftragen zufolge dazu, aus der Bundeswehr auszusteigen, wenn sich ihnen eine Alternative bietet.6 Am FWD zeigt sich, wie schwer der Bundeswehr die Rekrutierung von Nachwuchs fällt. Aus diesem Grund hat das Verteidigungsministerium die angestrebte Zahl FDWLer inzwischen auf 5.000 gesenkt.7

Enge Kooperation mit den Arbeitsagenturen

In der Hoffnung, wenigstens jene Jugendlichen rekrutieren zu können, die arbeitslos oder von Arbeitslosigkeit bedroht sind, kooperiert die Bundeswehr seit Jahren eng mit den Arbeitsagenturen. So unterzeichneten die Bundeswehr und die Bundesagentur für Arbeit (BA) im Februar 2010 ein Abkommen, in dem sie vereinbarten, „durch Optimierung der Kommunikationsmöglichkeiten zwischen der Wehrdienstberatung und den personalwerblichen Zielgruppen über die BA die Rahmenbedingungen zur Personalgewinnung für die Bundeswehr zu verbessern“. Kurz gesagt: Die Arbeitsagenturen sollen die Bundeswehr aktiv bei der Rekrutierung unterstützen. Dazu soll zum einen die Präsenz der Bundeswehr in den Arbeitsagenturen weiter erhöht werden, zum anderen sollen Angestellte der Arbeitsagenturen von der Bundeswehr im Rekrutieren fortgebildet werden. So besuchten 2014 Mitarbeiter der Arbeitsagenturen in Baden-Württemberg eine Kaserne, um sich „hautnah, sogar mit Waffenschau, über berufliche Perspektiven, die die Bundeswehr bieten kann“, zu informieren.8

Die enge Kooperation zwischen Bundeswehr und Arbeitsagenturen zeigt sich auch in Personalfragen: So wurde die Kooperationsvereinbarung von Seiten der Bundesagentur von ihrem Chef Frank Jürgen Weise unterzeichnet. Wiese war zum damaligen Zeitpunkt auch Vorsitzender der Strukturkommission der Bundeswehr, die im Auftrag des Verteidigungsministeriums die Strukturreform der Bundeswehr vorbereiten sollte.

Mit der Abschaffung der Wehrpflicht wurden auch die Kreiswehrersatzämter geschlossen und 110 ständige und mehr als 200 mobile Karriereberatungsbüros eingerichtet. Mindestens in 18 Städten befinden sich die ständigen Karriereberatungsbüros in denselben Gebäuden wie die Arbeitsagenturen.9 Auch die mobilen Beratungsbüros bieten regelmäßig Informationsveranstaltungen in den Räumen der Arbeitsagenturen an, die diese aktiv bewerben.

Fazit

Geht es nach dem Willen des Bundespräsidenten Joachim Gauck und der aktuellen Bundesregierung, wird die Bundeswehr in Zukunft noch mehr Soldaten in Kriegseinsätze schicken. Die Frage, warum junge Menschen in diese Kriege ziehen, ist zu wichtig, um ihre Beantwortung alleine der Bundeswehr zu überlassen. Denn auch wenn Michael Wolffsohn, ehemals Professor für Neuere Geschichte an der Universität der Bundeswehr in München, für seine Aussagen, der Bundeswehr drohe eine „Ossifizierung“ und aus dem Staatsbürger in Uniform werde das „Prekariat in Uniform“, sowohl vom damaligen Verteidigungsminister Thomas de Maiziere als auch vom Bundeswehrverband massiv Schelte bekam, besteht im Militär erkennbar ebenfalls die Sorge, nur noch jene rekrutieren zu können, die in der »freien Wirtschaft« keinen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz bekommen.10 Dabei geht es einerseits um die Befürchtung, langfristig nicht genug Soldaten rekrutieren zu können; es geht der Militärelite aber auch um das Ansehen ihres Berufstandes: „Die Befürchtung, es könne am unteren Ende der gesellschaftlichen Skala eine selektive Wehrpflicht wirksam werden, die insbesondere sozial und wirtschaftlich Schwächere in die Streitkräfte drängt, treibt nicht zuletzt die Militärelite um, die befürchtet, eine solche Entwicklung […] gefährde ihr soziales Standing.“ 11

Die Friedens- und antimilitaristische Bewegung weist immer wieder darauf hin, dass die Realität des Soldaten Krieg ist und die Bundeswehr ihr Versprechen vom »sicheren Arbeitsplatz« nicht hält. Dabei muss sie enger mit Arbeitsloseninitiativen und anderen Gruppen, die gegen die Prekarisierung in Deutschland kämpfen, zusammenarbeiten. Denn solange es Menschen gibt, die sich als Soldat verpflichten, um der Arbeitslosigkeit und dem Druck durch die Arbeitsagenturen zu entgehen, solange wird es genügend Nachwuchs für die Kriegseinsätze der Bundeswehr geben.

Anmerkungen

1) Vgl. Jonna Schürkes, Heiko Humburg, Jürgen Wagner (2008): Sozialabbau und Rekrutierungsstrategien der Bundeswehr. W&F-Dossier 58.

2) Jana Hennig: Attraktivität der Mannschaftslaufbahn der Bundeswehr. Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr (ZMS), Dezember 2013.

3) Nina Leonhardt und Heiko Biehl: Beruf: Soldat. In: Nina Leonhard u.a. (Hrsg.) (2012): Militärsoziologie – Eine Einführung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2. Auflage, S.414.

4) Genaue Zahlen zu Bewerbungen, Einstellungen und Kündigungen von FWDLern (allerdings nur für 2012) finden sich in der Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Linken »Umsetzung des Freiwilligen Wehrdienstes in den Jahren 2012 und 2013«, Bundestags-Drucksache 17/14082 vom 25.6.2013.

5) Thomas Wiegold: Kündigung im freiwilligen Wehrdienst: Ein Drittel sieht keine Perspektive in der Truppe. Augen Geradeaus, 17.6.2013.

6) Bericht des Wehrbeauftragten 2013. Bundestags-Drucksache 18/300 vom 28.1.2014.

7) Dem freiwilligen Wehrdienst droht das Aus. Die Welt, 16.8.2013.

8) Kooperation Bundeswehr und BA: Berufskunde mit Waffenschau. Dialog 4/2014 (Mitarbeiterzeitschrift der Arbeitsagentur); online unter kritischerkommilitone.wordpress.com.

9) Die Karriereberatungsbüros in Ansbach, Aurich, Braunschweig, Coesfeld, Göttingen, Hagen, Hamm, Herford, Mainz, Mühlhausen, Neuruppin, Offenburg, Paderborn, Rheine, Rostock, Schwäbisch Gmünd, Siegen und Weilheim haben die selbe Adresse wie die jeweiligen Arbeitsagenturen.

10) Vgl. beispielsweise das Interview mit dem ehemaligen Wehrbeauftragten des Bundestages, Reinhold Robbe: „Es reicht nicht, ein paar Faltblättchen zu verteilen“. tagesschau.de, 1.7.2011.

11) Leonhardt und Biehl, op.cit., S.422.

Joanna Schürkes ist Politikwissenschaftlerin und im Beirat der Tübinger Informationsstelle Militarisierung (IMI).

Die Bundeswehr in Führung?

Die Bundeswehr in Führung?

Die Reklamekampagne der Bundeswehr

von Christian Stache

Im Juni 2014 stellte Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) die Reklame- und Rekrutierungskampagne »Aktiv. Attraktiv. Anders. – Bundeswehr in Führung« der Öffentlichkeit vor. Die Attraktivitätssteigerung des Dienstes an der Waffe durch einen Acht-Punkte-Plan ergänzt die Auf- und Umrüstung des deutschen Militärs. Die Kampagne hat zum Ziel, neue Soldatinnen und Soldaten zu gewinnen und bereits aktive zu binden sowie die politisch-ideologische Verankerung der Bundeswehr in der Gesellschaft zu vertiefen. Auf diese Weise soll die Kampagne die Kriegsfähigkeit der Bundesrepublik und ihre Einsatzfähigkeit als Interventionsarmee steigern.

Anfang 2014 gab Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen der Bild am Sonntag ein ausführliches Interview, in dem sie unter anderem ihre Vorhaben für die Bundeswehrreform im Kalenderjahr 2014 skizzierte. Dem Leitmedium des Springer-Verlags sagte sie, die Bundeswehr müsse im „Wettbewerb um die besten Köpfe mit den vielen zivilen Arbeitgebern bestehen“ können. Ihr Ziel sei es daher, „die Bundeswehr zu einem der attraktivsten Arbeitgeber in Deutschland zu machen“. Denn, so die Ministerin einige Monate später, nach Bekanntgabe der so genannten Attraktivitätsoffensive des Bundesverteidigungsministeriums (BMVg), die Frage der Attraktivität der Bundeswehr als Arbeitgeber sei für die Einsatzfähigkeit von entscheidender Bedeutung. Und um diese zu steigern, wolle sie „nur die Besten“ für das deutsche Militär.

Das Personalproblem

Trotz des sukzessiven Anstiegs der Ausgaben für PR- und Rekrutierungsmaßnahmen auf jährlich knapp 30 Millionen Euro1 und zahlreicher Initiativen zur Attraktivitätssteigerung des Dienstes an der Waffe2 strömen die jungen Arbeitskräfte nicht in Massen in die Kasernen. Der Presse- und Informationsstab des BMVg beteuert zwar, „die Lage der militärischen Personalgewinnung“ könne „sowohl rückblickend für das Jahr 2013 als auch vorausschauend für 2014 als gut und stabil bezeichnet werden“.3 Doch auch die PR-Abteilung des Ministeriums kann nicht gänzlich kaschieren, dass Personal fehlt. Ihr zufolge verpflichteten sich 2013 nur 87 Prozent der benötigten Soldaten auf Zeit. Bei den Mannschafts- und Unteroffizierslaufbahnen unterschritt die Armee die erforderliche Zahl sogar um 15 Prozentpunkte, ganz zu schweigen von den so genannten Spezialisten, „insbesondere in den Bereichen IT/Elektronik und Sanitätsdienst. Hier ist es schwer, geeigneten Nachwuchs zu finden“, räumen die Kommunikationsexperten von der Hardthöhe ein. Von den seit 1. Juli 2011 eingestellten 28.830 Freiwilligen Wehrdienstleistenden hat nach Angaben des Bundesverteidigungsministeriums etwa ein Viertel den Dienst innerhalb der ersten sechs Monate quittiert. Der Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestags, Hellmut Königshaus (FDP), sprach in seinem Jahresbericht gar von „erheblichem Personalmangel vor allem beim Heer und der Marine“. Laut Königshaus müsse heute die Basis dafür geschaffen werden, dass die Bundeswehr „auch in Zukunft genügend und ausreichend qualifizierten Nachwuchs gewinnen kann“. Dies sei „eine Überlebensfrage für die Streitkräfte“.4

Der Acht-Punkte-Plan

Von der Leyen weiß um die Achillesferse der Bundeswehr, auch wenn sie solch deutliche Formulierungen wie die ihres Kollegen Könighaus vermeidet. Eines der größten Risiken für die Einsatzfähigkeit der Truppe sei, dass ihr die qualifizierten Menschen ausgingen, sagte die Ministerin vor der Bundespressekonferenz Mitte 2014. Damit dies nicht passiert und die Bundeswehr weiterhin weltweit Operationen durchführen kann, wie von Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD), Bundespräsident Joachim Gauck und von der Leyen im ersten Halbjahr 2014 unisono gefordert,5 legte das BMVg nach langer Vorarbeit einen Maßnahmenkatalog zur Attraktivitätssteigerung der Arbeit bei der Bundeswehr vor.

Von der Leyen stellte die Kampagne ihres Hauses mit dem Titel „Aktiv. Attraktiv. Anders. – Bundeswehr in Führung“ Anfang Juni 2014 der Öffentlichkeit vor. Im Wesentlichen handelt es sich um einen Acht-Punkte-Plan, unterfüttert mit 29 „untergesetzlichen“ Maßnahmen, d.h. Reformen, die nicht per Gesetz geregelt werden müssen. Mit ihrer Hilfe sollen die angestrebten Veränderungen erreicht und junge Menschen zum Dienst in den Streitkräften bzw. bereits »dienende« Soldatinnen und Soldaten für eine längerfristige Tätigkeit beim Militär motiviert werden.

Bei den acht Kernvorhaben handelt es sich um folgende Punkte: die Einführung eines neuen Führungsmanagements (1) und neuer Rekrutierungs- und Fortbildungsmöglichkeiten (2), die Vereinbarkeit von Familie und Beruf (3), flexiblere Arbeitsverhältnisse (4) bei gesteigerter Planbarkeit und besseren Aufstiegsbedingungen (5), die Entwicklung eines Gesundheitsmanagements (6), die moderne Einrichtung der Kasernen (7) sowie die vertiefte Verankerung der Bundeswehr in der Gesellschaft (8).6

Hier sollen die einzelnen Punkte kurz beleuchtet werden.

Die Führungsebene der Bundeswehr ist offensichtlich zu dem Ergebnis gekommen, es bestünden erhebliche Defizite in der „Art und Weise, wie respektvoll und wertschätzend Vorgesetzte und Untergebene tagtäglich miteinander umgehen“. Außerdem geht bei den Militärs wohl immer noch die Pflicht des Korps über die Belange des Individuums. Daher soll das neue Führungsmanagement „Gute Führung“ (Punkt 1) die militärischen Führungskader sensibilisieren. Über Lehrgänge, Schulungen und eine Kanonisierung dessen, was man sich unter „guter Führung“ vorzustellen hat, soll das Leitungspersonal der Bundeswehr soziale Techniken – »soft skills« – erlernen, um die Untergebenen effektiver zu führen, ohne dabei auf die bestehenden Hierarchien direkt Bezug nehmen zu müssen. Zudem sollen die Vorgesetzten die privaten Belange der ihnen unterstellten Soldatinnen und Soldaten berücksichtigen.

Ein zentraler Pfeiler der aktuellen Bundeswehrreform und der Kampagne zur Attraktivitätssteigerung ist die Entwicklung neuer Methoden zur Nachwuchsgewinnung und internen Weiterbildung (Punkt 2). Diese bilden gemeinsam mit der gesteigerten Planbarkeit und den besseren Aufstiegsbedingungen das Herzstück der Reformagenda. Die Bundeswehr will z.B. durch einen „24-Stunden-Service für Jobangebote und Kontaktaufnahme“ in Form des „E-Recruiting“, die „Einrichtung eines Call-Centers für zivile Laufbahnen“ und einen Talentpool, über den grundsätzlich geeignete, aber zunächst nicht ausgewählte Bewerber weitere Stellenangebote erhalten, den „Kontakt zum Arbeitgeber Bundeswehr“ erleichtern. Außerdem hofft sie durch die Erhöhung „der Azubi-Übernahmequote aus Ausbildungswerkstätten von 25 auf 70%“, neue Arbeitskräfte zu gewinnen. Das BMVg beabsichtigt darüber hinaus, den Soldatinnen und Soldaten die Weiterbildung zu garantieren und frühzeitige Anschlussangebote sowie Beratung zu weiteren Berufsperspektiven bei der Bundeswehr sicherzustellen. Gleichzeitig sollen Versetzungen früher angekündigt, mit den Betroffenen erörtert und insgesamt die Zahl der Verlegungen verringert, die Aufstiegschancen an einem Standort erhöht und eine Online-Informationsbörse über Dienstposten eingerichtet werden, sodass die Soldaten sich einfach über mögliche Anschlussjobs informieren können.

Ergänzt werden diese Vorhaben durch Maßnahmen, mit denen die Vereinbarkeit von Beruf und Familie verbessert und die Arbeit flexibler gestaltet werden kann (Punkte 3, 4 und 5). Die Bundeswehr hat schon damit begonnen, mehr Belegrechte in Kitas zu erwerben, mehr Tagespflegeangebote zu machen und auch Kitas an eigenen Standorten zu eröffnen.7 Es ist zudem geplant, an jedem Standort eine „zentrale Ansprechstelle für alle Probleme rund um Familie und Dienst“ zu schaffen und den Soldaten im Einsatz überall kostenfreie Telefon- und Internetnutzung anzubieten. Ferner will das BMVg Teilzeitarbeitsmodelle und Langzeitarbeitskonten für alle Beschäftigte einführen, damit diese Zeit für private Anliegen haben. Zusätzlich soll durch mobile Informationstechnologie – also Laptops, Tablets und Smartphones – „zeit- und ortsunabhängiges Arbeiten“ unterstützt werden.

Die Einführung eines „betrieblichen Gesundheitsmanagements“ (Punkt 6) beginnt mit einem Pilotprojekt an zehn Standorten und dient der Kontrolle und Sicherstellung der Leistungsfähigkeit der Truppe. Es zielt auf Stress- und Suchtprävention und umfasst voraussichtlich Gesundheitschecks und Sportangebote.

Unter modernen Unterkünften (Punkt 7) stellt sich Ministerin von der Leyen vor allem eine neue Inneneinrichtung (Möbel, Fernseher und Kühlschränke) sowie freien und ungehinderten Internetzugang in allen Kasernen vor. Diese Ausstattung soll den Wohnkomfort und den Wohlfühlfaktor für die Soldatinnen und Soldaten deutlich erhöhen.

Ein besonderes Schmankerl sind die Projekte, die man sich auf der Hardthöhe für eine stärkere Verankerung der Bundeswehr in der Gesellschaft ausgedacht hat (Punkt 8). Unter anderem soll im Jahr 2015 „anlässlich des 60-jährigen Bestehens der Bundeswehr“ bundesweit ein „Tag der Bundeswehr“ gefeiert werden, „an dem sich die Bundeswehr an zahlreichen regionalen Standorten auch als attraktiver Arbeitgeber mit Hunderten spannenden zivilen und militärischen Berufen präsentiert“. Fortan, so die Planung, ist der Tag jedes Jahr zu begehen. Außerdem wird ab 2015, ganz im Geiste der zivil-militärischen Kooperation an der Heimatfront, jährlich der Preis »Bundeswehr und Gesellschaft« an „Personen und Institutionen, die sich auf allen gesellschaftlichen Ebenen in besonderem Maße für die Belange der Bundeswehr oder ihrer Angehörigen einsetzen“, verliehen.

Insgesamt werden für das Reformpaket laut Bundesverteidigungsministerin für einen Zeitraum von fünf Jahren 100 Millionen Euro veranschlagt. Die Ausgaben würden aus den laufenden Jahresetats bestritten, d.h. es fallen angeblich keine Mehrkosten an. Dies wurde in den Reihen der Bundestagsopposition bereits in Zweifel gezogen. Ähnliche Versprechungen wurden auch in der Vergangenheit selten eingehalten.

Es ist vorgesehen, dass der überwiegende Teil der Pläne in den nächsten zwei Jahren realisiert wird. Die Umsetzung einiger Vorhaben wird sich bis ins Jahr 2017 hinein ziehen; dann soll auch die aktuelle Bundeswehrreform abgeschlossen sein soll.

Nach der Attraktivitätsoffensive ist vor der Attraktivitätsoffensive

Die Große Koalition hatte bereits im Koalitionsvertrag angekündigt, sie beabsichtige, große Summen Steuergelder für die Rekrutierung von Nachwuchs und für Bundeswehr-Reklame auszugeben: „Wichtig ist es, dass der Dienst in der Bundeswehr attraktiv bleibt. Wir werden eine Attraktivitätsoffensive voranbringen.“ Der Koalitionsvertrag enthält eine relativ detaillierte Liste an Vorschlägen, die einen Teil der jetzt vorgestellten Maßnahmen bereits vorweg nehmen. Daher ist die zurückhaltende Kritik des SPD-Verteidigungsexperten Rainer Arnold an den Plänen der Ministerin kaum ernst zu nehmen. Zumal Arnold im Namen der SPD-Fraktion noch wenige Wochen vor Veröffentlichung der BMVg-Agenda die Vorschläge des Bundeswehrverbandes zur Attraktivitätssteigerung des Militärs begrüßte und erklärte: „Die Bundeswehr muss attraktiver werden.“ 8

Der Acht-Punkte-Plan wird durch eine weitere Initiative des BMVg ergänzt, die allerdings noch nicht beschlossen wurde, weil die rechtlichen Anforderungen an sie höher sind: das so genannte Artikelgesetz. Es soll Ende 2014 vom Bundestag verabschiedet werden und bereits am 1. Januar 2015 in Kraft treten. Maßgeblich sollen die Grenzen für zusätzliche Verdienste für Berufssoldaten wegfallen. Auch die Rente für Soldaten auf Zeit wird neu geregelt. Schließlich soll für pendelnde Soldatinnen und Soldaten die Möglichkeit geschaffen werden, zwischen Trennungsgeld und Umzugskostenvergütung zu wählen. Gerd Hoofe, Staatssekretär im BMVg, kündigte bereits im Juli 2014 an, dass die „bisher vorgestellten Maßnahmen“ der Kampagne »Aktiv. Attraktiv. Anders. – Bundeswehr in Führung« nicht abschließend seien, sondern „fortgeschrieben und weiterentwickelt werden, unter anderem in einer »Personalstrategie 2020+«“. Die Chefetage des Militärs forderte er zudem auf, „kontinuierlich alle sich ergebenden Möglichkeiten der Attraktivitätssteigerung“ auch in der Alltagsarbeit auszuschöpfen. Es ist also davon auszugehen, dass das Ende der Rekrutierungsbemühungen und des Reklame-Bombardements noch nicht erreicht ist.

Erhöhte Kriegsfähigkeit: Attraktivität plus Waffen

Kaum hatte von der Leyen im Juni 2014 ihre Pläne vorgestellt, standen sie im Kreuzfeuer der Kritik. Insbesondere der ehemalige Generalinspekteur der Bundeswehr, Harald Kujat, ließ kein gutes Haar an der Ministerin und ihren Vorschlägen. Er polterte gegenüber dem FOCUS: „Von der Leyen hat ganz offensichtlich keine Ahnung vom Militär.“ 9 Die Ministerin komme ihm vor „wie eine gute Hausfrau, die ihre Kinder versorgt“. „Und“, so Kujat gegenüber der Süddeutschen Zeitung, „es wirkt auf mich, als sei diese Ideensammlung von Leuten erstellt worden, die die Bundeswehr nicht kennen.“ Soldaten bräuchten vor allem eine vernünftige Ausrüstung. „Das macht den Soldatenberuf sicherer und damit attraktiv.“ 10 Der ehemals ranghöchste Militär der Bundesrepublik erhielt Unterstützung von einem nicht namentlich genannten hochrangigen Offizier aus dem BMVg, den der FOCUS mit folgenden Worten zitierte: „Die Ministerin verpasst uns mit dieser Agenda das Image von Weicheiern und Warmduschern, kein Mensch wird doch Soldat, weil er wohnliche Beleuchtung für seine Stube bekommt.“ 11

Der Kritik wurde postwendend von höchster Stelle begegnet. Der amtierende Generalinspekteur der Bundeswehr, General Volker Wieker, sagte in einem Interview mit der FAZ, ohne Kujat beim Namen zu nennen, es sei „unzulässig, die Modernisierung von Ausrüstung und Bewaffnung der Bundeswehr in eine Entweder-oder-Konstellation mit der Attraktivitäts-Agenda zu stellen, die gerade vorgestellt worden ist“; einige Einwände gegen von der Leyens Pläne seien „rückwärtsgerichtet“ und schadeten der Bundeswehr.12 Der Inspekteur der Marine warb in einem offenen Brief um Unterstützung für die Werbe- und Rekrutierungsbemühungen. Attraktive Rahmenbedingungen seien für die Marine auch in Anbetracht der aktuellen Personallage geradezu überlebenswichtig.13 Auch der Bundeswehrverband stand der Ministerin zur Seite. In einer Pressemitteilung bezeichnete dessen Bundesvorsitzender, Oberstleutnant André Wüstner, die Reformvorschläge von der Leyens als „guten Anfang“. Es müssten aber weitere Maßnahmen folgen.14 Zuspruch kam sogar aus der Opposition. Doris Wagner, Mitglied des Bundestages für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, begrüßte die „Attraktivitätsagenda der Ministerin“ als einen „wichtigen Schritt in die richtige Richtung. […] Wer gute Männer und Frauen für die Bundeswehr begeistern will, muss auch gute Arbeitsbedingungen bieten.“ 15 Von der Leyen meldete sich schließlich noch einmal selbst zu Wort: Für sie sei es „nicht ein Entweder-oder, sondern es ist ein Sowohl-als-auch“.16 Die Ministerin will also nicht nur eine attraktivere Armee, sondern auch bessere Waffen. Sie ließ zwar in den vergangenen Monaten (mit niederschmetterndem Ergebnis) einige große Rüstungsprojekte prüfen, an ihrer generellen Absicht, die Bundeswehr weiter hochzurüsten, bestehen aber kaum Zweifel.

Der Vorsitzende des Bundeswehrverbands, Wüstner, lieferte schließlich unzweideutig die Begründung für die Attraktivitätsoffensive: „Die Steigerung der Attraktivität ist kein Selbstzweck. Sie ist existenziell für motivierte und einsatzbereite Streitkräfte.“ Softskills plus Drohnen oder Attraktivität plus Waffen, das ist das Konzept der ersten Verteidigungsministerin der Republik, um die Kriegsfähigkeit des deutschen Militärs zu erhöhen und die Interessen der deutschen Wirtschaft und der deutschen Politik militärisch durchzusetzen.

Berufsrisiko Krieg

Die Protagonistinnen und Protagonisten dieser Kontroverse sparen aus, dass der Job bei der Bundeswehr wohl kaum ein Beruf »wie jeder andere« ist. Im Begleitvideo zur Rekrutierungs- und Werbekampagne »Aktiv. Attraktiv. Anders. – Bundeswehr in Führung« spielt die Kriegsrealität nicht ansatzweise eine Rolle. Von der Leyen spricht zwar davon, die Bundeswehr sei aufgrund der Auslandseinsätze „ein besonderer Arbeitgeber“ mit „ganz besonderen Aufgaben“, aber nur, um diese Besonderheit in ihrem Sinne positiv zu wenden: „[G]erade weil wir viel von den Soldatinnen und Soldaten verlangen, müssen wir ihnen auch im Grundbetrieb viel bieten.“ 17

Das BMVg will vor allem und ausdrücklich auf die Bedürfnisse der Zielgruppe »jung und qualifiziert« eingehen. In dem Flyer zur Werbe- und Rekrutierungskampagne heißt es: „Als Arbeitgeber im Wettbewerb um Fachkräfte müssen wir attraktiv sein für junge Männer und Frauen, die berufliche Herausforderungen suchen und die notwendigen fachlichen und sozialen Kompetenzen mitbringen.“ 18 Die Charmeoffensive des BMVg richtet sich entsprechend nicht in erster Linie an Jugendliche, deren Schulabschluss schlecht ist, oder an Menschen mittleren Alters, die keinen Job finden – die kommen auch ohne extra Überzeugungsarbeit in ausreichender Zahl. Die jungen qualifizierten Arbeitskräfte hingegen haben andere Möglichkeiten, einen Arbeitsplatz zu finden, und nutzen diese auch. Die demographische Entwicklung verschärft die Konkurrenz mit den zivilen Unternehmen zusätzlich. Entsprechend müsse die Bundeswehr, so ist ihrer Homepage zu entnehmen, „in den nächsten drei Jahren auf die Überholspur gehen, um sich einen vorderen Platz im Wettbewerb um die besten Köpfe zu sichern“.19 „Ziel ist es“, wird in dem oben erwähnten Flyer des Ministeriums formuliert, „die vielen Guten, die sie hat, zu halten und möglichst viele neue motivierte Männer und Frauen für sich zu gewinnen.“

Demographischer Wandel, verschärfte Konkurrenz mit zivilen Unternehmen um Arbeitskräfte usw. – Argumente, die die Bundeswehr seit Jahren als Erklärung für ihre schlechte Personalsituation anführt -, sind zwar aus Sicht der Bundeswehr durchaus ernstzunehmende Probleme. Es sind aber vor allem die Kriege und militärischen Operationen im Ausland, die der Attraktivität der Bundeswehr und der Nachwuchsförderung diametral entgegenstehen. Dies wird allerdings nur selten ausgesprochen. Alexander S. Neu, Obmann der Fraktion DIE LINKE im Verteidigungsausschuss, äußerte sich kritisch über die Pläne des BMVg und die Erfolgsaussichten der Reformen: „Die Bundeswehr hat ein grundsätzliches Problem: Junge Menschen wollen nicht in Kriege geschickt und dort verheizt werden.“ Die mangelnde Attraktivität des Militärdienstes führt er auf „die Ausrichtung der Bundeswehr als globale Interventionsarmee im Dienste einer militarisierten Außenpolitik“ zurück. „Die Bundeswehr ist eben kein normaler Arbeitgeber, sondern einer, der junge Menschen sucht, die bereit sind zu töten und selbst getötet zu werden.“ 20

Diese Position wird untermauert von den Ergebnissen einer Studie des Potsdamer Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr. Auch wenn das Institut mit seiner Studie lediglich die „Attraktivität der Mannschaftslaufbahn“ erforscht hat, sind die im Dezember 2013 veröffentlichten Resultate durchaus auf die Bundeswehr insgesamt übertragbar. Der Erhebung zufolge seien die Auslandseinsätze und das damit verbundene Berufsrisiko der „wichtigste Grund gegen eine Verpflichtung in der Mannschaftslaufbahn“. Sogar „für die Jugendlichen, die sich für eine Tätigkeit als Soldat bzw. Soldatin der Mannschaftslaufbahn interessieren, sind die Auslandseinsätze der mit Abstand häufigste genannte Grund gegen eine solche Verpflichtung“.21

Lebensverlängernde Maßnahme

Mittelfristig stellt sich die Frage, ob es den Strateginnen und Strategen des BMVg gelingt, die berechtigten Bedenken und nachvollziehbaren Sorgen der Menschen sukzessive aus dem kollektiven Bewusstsein zu verdrängen, indem man sie mit stetig neuen Versprechungen und materiellen Zugeständnissen überlagert. Bislang zumindest hält sich hartnäckig die Erkenntnis, dass der Verzicht auf einen Job beim – in den Worten des BMVg – „hochmodernen, global agierenden Konzern“ Bundeswehr eine lebensverlängernde Maßnahme ist.

Anmerkungen

1) Kleine Anfrage »Umfang von Werbemaßnahmen der Bundeswehr im Jahr 2013« der Fraktion DIE LINKE im Deutschen Bundestag. Drucksache 18/1018, 16.5.2014.

2) Mehr dazu in Christian Stache: Arme und Ausländer, zu den Waffen und an die Front! Die Bundeswehr startet Charme-Offensive für ihre Transformation zur Armee im Einsatz. Tübingen: Informationsstelle Militärisierung, IMI-Analyse 2011/05.

3) Presse- und Informationsstab BMVg: Die Lage der Personalgewinnung in der Bundeswehr. Berlin, 5.3.2014.

4) Unterrichtung durch den Wehrbeauftragten. Jahresbericht 2013 (55. Bericht). Bundestags-Drucksache 18/300, 28.1.2014.

5) Siehe z.B. Florian Gathmann: Gauck auf Sicherheitskonferenz: Deutschland, auf in die Welt. Spiegel Online. 31.1.2014.

6) Die Bundeswehr stellt auf ihrer Homepage reichlich Material zur Kampagne zur Verfügung. Um einen ersten Überblick zu erhalten, sind die „Informationen für die Medien“ besonders geeignet, in denen die acht Schwerpunkte benannt und die dazugehörigen Maßnahmen stichpunktartig aufgeführt werden. Dies gilt auch für den achtseitigen »Flyer« des Bundesverteidigungsministeriums zur Kampagne, der im Juni 2014 erschienen ist. Diese Materialien wurden durchweg für die Veröffentlichung werbewirksam aufbereitet.

7) Zu den Folgen und Problemen siehe z.B. Thomas Mickan: Motivationsfaktor Kita. Über Belegrechte und die Privilegierung der Bundeswehr. Tübingen: Informationsstelle Militärisierung, IMI-Analyse 2013/019.

8) SPD-Bundestagsfraktion, Arbeitsgruppe Sicherheits- und Verteidigungspolitik, Abgeordneter Rainer Arnold: Bundeswehr muss attraktiver werden. Pressemitteilung, 7.5.2014.

9) Ulrike Demmer: Die Wellness-Truppe. FOCUS Magazin Nr. 23, 2.6.2014.

10) Kritik an von der Leyens Plänen für attraktivere Bundeswehr. Süddeutsche.de, 31.5.2014.

11) Von der Leyen erntet Spott mit Attraktivitätsoffensive für Bundeswehr. focus.de, 1.6.2014.

12) Johannes Leithäuser im Gespräch mit dem Generalinspekteur der Bundeswehr, Volker Wieker: Rückwärtsgerichtete Kritik schadet der Bundeswehr. FAZ.net, 8.6.2014.

13) Vizeadmiral Axel Schimpf: Inspekteurbrief zur Attraktivitätsoffensive der Bundeswehr. 19.6.2014, marine.de.

14) Deutscher Bundeswehrverband: Attraktivitätsoffensive der Bundeswehr – Wüstner: Guter Anfang – jetzt Finanzmittel bereitstellen und notwendige Gesetze erlassen! Pressemitteilung Nr. 8/2014, Berlin, 30.5.2014.

15) Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen: Bundeswehr – Attraktivität-Agenda ohne Abstriche. Pressemitteilung, 4.6.2014.

16) BMVg: Pressekonferenz – Statement der Verteidigungsministerin zur Attraktivität der Bundeswehr [vor der Bundespressekonferenz]. Berlin, 4.6.2014.

17) Ibid.

18) Siehe Fußnote 6.

19) Die Bundeswehr geht in die Attraktivitätsoffensive. bundeswehr.de, 2.6.2014.

20) Linksfraktion Alexander Neu: Wohlfühl-Angebote machen eine Interventionsarmee nicht attraktiv. Pressemitteilung, 4.6.2014.

21) Jana Hennig: Attraktivität der Mannschaftslaufbahn der Bundeswehr. Forschungsbericht. Potsdam: Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, Dezember 2013.

Christian Stache, M.A. der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, promoviert derzeit an der Universität Hamburg und ist Beirat der Informationsstelle Militarisierung (IMI).