Unforced Errors & Friendly Fire

Unforced Errors & Friendly Fire

Die ultimative Bundeswehr-Reform
vor der nächsten

von Andreas Körner

Darauf hatten viele innerhalb und außerhalb der Bundeswehr seit Jahren gewartet: Schluss mit Denkverboten und alter Besitzstandswahrung. Einen breiten offenen Dialog über die Zukunft der Bundeswehr hatte der Verteidigungsminister bei seinem Amtsantritt im Oktober 1998 versprochen. Zwanzig Monate, einen Krieg und zwei Generalinspekteure später ist klar: Daraus wurde nichts. Geheime Kommissionen, geschlossene Tagungen mit der Truppe, Unterrichtung durch statt Diskussion mit dem Minister und immer wieder überzogenes öffentliches Wehklagen über den Zustand der Truppe, fehlende Finanzen, internationale Bündnisverpflichtungen. Während Fragen über Umfang, Wehrpflicht und Haushalt die öffentliche Debatte bestimmen, gerät die eigentliche Sinnfrage, wozu welche Streitkräfte benötigt werden, völlig aus dem Blickwinkel. Und weil sich auch zehn Jahre nach dem Ende des Ost-West-Konflikts und ein Jahr nach dem Kosovo-Krieg links von der Mitte noch kein sicherheitspolitischer Konsens über die außenpolitische Rolle Deutschlands und den Beitrag der Bundeswehr abzeichnet, kriegt Deutschland eine Wehrpflichtarmee im Übergang.

Bei ihrem Amtsantritt stand die rotgrüne Regierung nicht nur vor der Frage, ob sie der Aufforderung der NATO zur Androhung von Luftangriffen gegen die Bundesrepublik Jugoslawien zustimmt, sondern auch, wie die Bundeswehr in den kommenden Jahren tragfähig reformiert werden soll. Dass die Truppe von ca. 340.000 Soldatinnen und Soldaten sowie ca. 140.000 Zivilbeschäftigten dringend reformbedürftig ist, ist PolitikerInnen, Fachleuten und der interessierten Öffentlichkeit seit Jahren bekannt. Allerdings sind die Vorstellungen darüber, wie das Missverhältnis von Auftrag, Umfang, Struktur, Ausrüstung und Haushalt wieder in Einklang gebracht werden können, sehr unterschiedlich.
Dies hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass sich in der Bundesrepublik nur langsam ein Grundkonsens darüber herstellt, welche internationale politische Rolle dem vereinten Deutschland nach dem Ende des Ost-West-Konflikts angemessen ist und welche Aufgabe dabei der Bundeswehr zukommt. Die Folie, vor der sich die Neuordnung der Bundeswehr abspielt, ist stark von den europäischen und transatlantischen Entwicklungen beeinflusst. Die anhaltenden bitteren und blutigen Erfahrungen mit dem Staatszerfall Jugoslawiens haben gezeigt, dass die EU trotz Gemeinsamer Außen- und Sicherheitspolitik nicht in der Lage ist, einen Krisenherd in Europa einzudämmen. Auch wenn dies eine Hauptursache in den jeweils unterschiedlichen außenpolitischen Vorstellungen und Traditionen der einzelnen EU-Staaten hat, so wird das schnell auf die militärische Unfähigkeit zum Handeln reduziert. Auf der anderen Seite gibt es innerhalb der europäischen NATO-Staaten verstärkt den Eindruck, dass die militärische und politische Vormachtstellung der USA für Europa nicht länger hinnehmbar ist.

Reform der Bundeswehr

Während der Koalitionsverhandlungen vom Oktober 1998 einigten sich SPD und Bündnisgrüne auf die Einsetzung einer unabhängigen Kommission zur Zukunft der Bundeswehr.1 Beide Parteien erhofften sich, dass die Kommission bei sachlicher Abwägung aller Argumente zu Empfehlungen kommen würde, die ihre jeweiligen Positionen stützen. Während die SPD sich in erster Linie Unterstützung für eine umfassenden Modernisierung und Verbesserung der Finanzausstattung der Bundeswehr erhoffte, erwarteten die Grünen eine drastische Reduzierung des Personalumfangs und eine Abschaffung der Wehrpflicht.

Mit der Einberufung der Kommission wartete der Verteidigungsminister bis Mai 1999. Das Neue Strategische Konzept der NATO und die Defense Capability-Initiative zur Verbesserung der Ausrüstung in Schlüsselbereichen sollten von Anfang an als Grundlagendokumente vorliegen. Im Mai 1999 legte der Verteidigungsminister eine Zusammenfassung der 4.000-seitigen Bestandsaufnahme zum Zustand der Bundeswehr2 vor, in der er den begrenzten Umfang und die Zusammensetzung der Krisenreaktionskräfte, die Defizite in der Personalstruktur, die unzureichende Ausrüstung und nicht zuletzt die fehlenden Haushaltsmittel beklagte. Diese Wunschliste wurde im Oktober 1999 durch weitere Schaubilder, die die Unterfinanzierung und Unterausstattung unterstreichen sollten, ergänzt.3

Scharping, der die vom ihm ausgesuchten Mitglieder der Kommission ermutigte, unter Ausschluss der Öffentlichkeit ohne Scheuklappen Optionen für die Zukunft der Bundeswehr vorzulegen, musste bald feststellen, dass die Kommission deutlich eigenständiger arbeitete, als er es erwartet hatte. Hatte er anfangs noch alle Spekulationen über Umfang und Wehrform mit Verweis auf die ergebnisoffene Arbeit der Kommission abgelehnt, ließ er später über die Presse verbreiten, dass er sein Ministeramt mit der Beibehaltung der Wehrpflicht verknüpfe. Mit anderen Worten: Eine eventuelle Empfehlung der Kommission oder der SPD für eine Freiwilligenarmee wäre gleichbedeutend mit einer Rücktrittsempfehlung; ein Beharren der Grünen auf der Abschaffung der Wehrpflicht hätte eine Koalitionskrise zur Folge.

Um die Arbeit der Wehrstrukturkommission zu relativieren und weitere Handlungsempfehlungen zu haben, beauftragte der Verteidigungsminister im September 1999 den Generalinspekteur von Kirchbach, einen Vorschlag für eine Wehrpflichtarmee zu erarbeiten.4 Nachdem sich Anfang des Jahres abzeichnete, dass von Kirchbachs Vorstellungen sogar bis ins Detail in den Positionspapieren der CDU wieder auftauchten5, beauftragte Scharping kurzerhand den Planungsstab des Hauses mit einer eigenen Vorlage. Die Ergebnisse flossen in das »Eckpfeiler-Papier« ein.6 Als eine seiner letzten Amtshandlungen durfte Generalinspekteur von Kirchbach am 23. Mai 2000, zeitgleich mit dem Bericht der Kommission, seine Überlegungen für eine Armee mit 290.000 SoldatInnen dem Minister offiziell überreichen. Am Tag darauf wurde der Öffentlickeit mitgeteilt, dass der Generalinspekteur seine Amtszeit vorzeitig beendet und durch den bisherigen Planungsstableiter Kujat ersetzt wird.

Nachdem bis Anfang Juni 2000 SPD7, CSU8, F.D.P.9, PDS10, Bündnisgrüne11 und zahlreiche wissenschaftliche Institutionen sowie Interessenverbände12 ihre Vorstellungen auf den Markt gebracht haben, ist an Stellungnahmen und Vorschlägen zur Zukunft kein Mangel.13 Wer erwartet hatte, dass nun die Auseinandersetzung über die unterschiedlichen Reformvorstellungen – insbesondere die Empfehlungen der Weizsäcker-Kommission – erfolgen würde, sah sich getäuscht. Ein Verteidigungsminister Scharping diskutiert nicht. Er unterrichtet und droht. Noch im Juni 2000 sollen im Kabinett die Eckpfeiler für die Zukunft der Bundeswehr verabschiedet werden.

Sicherheitspolitische Analyse

Was die19-köpfige Kommission »Gemeinsame Sicherheit und Zukunft der Bundeswehr« unter Leitung von Altbundespräsident Richard von Weizsäcker nach einjähriger vertraulicher Arbeit der Öffentlichkeit präsentierte, ist in mehrfacher Hinsicht überraschend. Die Kommission fordert nichts weniger als eine »Erneuerung von Grund auf« und damit den Abschied von der alten Bundeswehr. Die Kommission beschränkt sich dabei nicht nur auf den engen militärischen Bereich, sondern unterstreicht die Grenzen militärischer und die Wichtigkeit ziviler Beiträge.

Ausgangspunkt der Kommissionsüberlegung ist eine Bedrohungsanalyse, die zu dem Ergebnis kommt, dass „heute und auf absehbare (…) Zeit die Gefahr eines Atomkrieges und die eines groß angelegten konventionellen Angriffs auf unser Territorium nicht zu erkennen“ ist (Ziff. 15). Eine solche Bedrohungskulisse ließe sich nur langfristig, d. h. innerhalb einer Warnzeit von 8 bis 10 Jahren wieder aufbauen. Die Aufgabe der Landesverteidigung, die als gemeinsame Bündnisaufgabe begriffen wurde, ist folglich nicht mehr im Mittelpunkt der Bundeswehraufgaben. Wenn die Bundeswehr zu Verteidigungsaufgaben eingesetzt würde, dann nur mit einem begrenzten Kontingent an den Flanken des Bündnisses, d. h. außerhalb des eigenen Staatsgebietes.

Konsequenterweise reicht es nach Auffassung der Kommmission vollkommen aus, dass die Bundeswehr Strukturen und Ausrüstung für einen Verteidigungsumfang von 300.000 Soldaten (bisher 680.000) und eine Personalreserve von 100.000 Reservisten vorhält. Diese Einschätzung ist vor allem deshalb bemerkenswert, weil sie im fundamentalen Widerspruch zu den Bewertungen des Generalinspekteurs und des Bundesverteidigungsministers steht. Diese haben die Beibehaltung der Wehrpflicht immer mit dem Umfang des Verteidigungsumfangs (sogenannte Aufwuchsfähigkeit) begründet. Obwohl die Kommission in ihrer Mehrheit die Beibehaltung der Wehrpflicht befürwortet, ist sie explizit der Auffassung (Ziff. 89), dass auch die Fluktuation einer Freiwilligenarmee von 220.000 Soldaten einen Verteidigungsumfang von mindestens 400.000 Soldaten ermöglicht.

Wehrpflicht contra Interventionsarmee?

Von links bis rechts gibt es noch große Unklarheit darüber, wie ein deutscher Militärbeitrag aussehen muss, der weder den Vorwurf militärischer Großmachtpolitik, noch den eines deutschen Sonderwegs provoziert. Die Kommission empfiehlt, dass sich die Bundesrepublik im militärischen Bereich an den konventionellen Streitkräften Großbritanniens (Präsenzumfang 204.000) und Frankreichs (Ziel 2002: 247.000) orientiert. Sie empfiehlt daher eine Freiwilligenarmee mit 220.000 SoldatInnen oder eine Armee von 240.000 Soldaten, davon 30.000 Wehrpflichtige die bedarfsorientiert heran gezogen werden. D. h., wenn es die Lage erfordert, könnten auch mehr oder weniger heran_gezogen werden. Die geringe Zahl der Wehrdienstleistenden, die für den zwangsweisen Freiheitsentzung angemessener bezahlt werden sollen, wurde von der Opposition und einem Kommissionsmitglied unter Verweis auf die Wehrgerechtigkeit als verfassungswidrig betrachtet. Wie verfassungskonform eine Wehrpflicht ist, die bei einem Geburtsjahrgang von 430.000 Männern nur einen Bedarf von 80.000 oder 100.000 Wehrpflichtigen hat, wird zu Recht in Frage gestellt. Nachdem junge Frauen künftig dürfen, Männer aber weiterhin auf unbefristete Zeit müssen, stellt sich die verfassungsrechtliche Frage auch von der Seite der Gleichberechtigung.

Die Beibehaltung der Wehrpflicht wird von der Kommission mit dem Argument der Flexibilität für die Wechselfälle der Geschichte begründet. Allerdings wurde bei der Pressekonferenz deutlich, dass es der Kommission im Kern um die Nachwuchsrekrutierung geht – alle Freiwilligenarmeen haben z. T. eklatante Nachwuchsprobleme. Obwohl die Kommission auch eine Wehrdienstzeit von 6 Monaten für machbar hält, plädiert sie für 10 Monate, um die Soldaten nicht nur auszubilden, sondern auch auf Funktionsposten einsetzen zu können. Die Vorschläge des Verteidigungsministers und des Generalinspekteurs, die Wehrdienstzeit in sechs plus drei Monate oder sieben plus zwei Monate zu splitten, hält sie für unrealistisch. Eine solche Regelung ist nicht nur viel teurer, sie bringt auch einen unvergleichlich hohen Verwaltungsaufwand mit sich. Sinn macht diese Splittung nur, wenn es darum geht, die Schlechterstellung des Zivildienstes aufrecht zu erhalten.

Während andere NATO-Staaten mit dem Ende des Ost-West-Konflikts auch das Ende der Massenarmeen in Europa gekommen sahen, hält die Bundesrepublik seit Jahren krampfhaft an der Wehrpflichtarmee fest.14 Mit Ausnahme der Grünen und der PDS haben sich alle Parteien für die Beibehaltung der Wehrpflicht ausgesprochen. Es ist jedoch auffällig, dass sich die GegnerInnen der Wehrpflicht nur mit halber Kraft für deren Abschaffung eingesetzt haben. Das nach meiner persönlichen Überzeugung unter verschiedenen Gesichtspunkten beste Konzept – eine Freiwilligenarmee von 200.000 SoldatInnen – litt erheblich unter Friendly Fire und Unforced Errors. Wie in der Friedensbewegung, so gibt es auch in den linken Parteien eine nicht unbedeutende Anzahl von Menschen, die für die Beibehaltung der Wehrpflicht sind, weil sie in der Wehrpflichtarmee die Alternative zu einer Interventionsarmee sehen. Wollen sie nicht sehen, dass die schlimmsten Interventionsarmeen nur mit Hilfe von Wehrpflichtigen aufgestellt und eingesetzt werden konnten? Die Beibehaltung der Wehrpflicht wird den Aufbau struktureller Interventionsfähigkeit nicht verhindern, sondern partiell sogar erleichtern. In der Begründung des Bundesministeriums der Verteidigung anlässlich des Normenkontrollverfahrens vor dem Landgericht Potsdam wird z.B. deutlich hervorgehoben, dass die Bundeswehr davon ausgeht, theoretisch auch Wehrpflichtige zu Out-of-Area-Einsätzen heran zu ziehen. Die angeschlagene Wehrpflicht soll also mit dem Verweis auf künftige potenzielle Auslandseinsätze weiter legitimiert werden.

Einsatzkräfte = Interventionskräfte?

Die Bundeswehr hat gegenwärtig Krisenreaktionskräfte in einem Umfang von ca. 62.000 Soldaten. Bislang werden die Kontingente aus einer Vielzahl von Standorten zusammengestellt und bedürfen einer zusätzlichen Einsatzvorbereitung. Gleichzeitig ging bei der Aufstellung der Krisenreaktionskräfte niemand davon aus, dass diese mehrere Jahre im Einsatz sind. Die Folge ist, dass viele Soldaten nun schon zum wiederholten Mal im Einsatz sind.

Mit Ausnahme der Grünen (100.000 bis 120.000) und der PDS (keine Angaben) schlagen alle politischen Parteien und die Hardthöhe vor, die Anzahl der Einsatzkräfte auf einen Umfang zwischen 140.000 bis 160.000 SoldatInnen zu erhöhen „Die Zahl der Soldaten“, so die Kommission, „hängt davon ab, welches Gewicht Deutschland künftig bei der Krisenbewältigung in die Waagschale werfen will“ (Ziff. 78). Wie die NATO, die EU, die USA, Frankreich und Großbritannien geht auch die Kommission von einem Szenario von zwei mittleren oder einem größeren Konflikt aus. Die Streitkräfte werden nicht mehr in Krisenreaktionskräfte und Hauptverteidigungskräfte geteilt, sondern es gibt nur noch Einsatzkräfte, die für das gesamte Spektrum der Aufgaben zuständig sind und auf eine militärische Grundorganisation für die Aufrechterhaltung von Ausbildung und Betrieb zurrückgreifen können.

Wenn sich die Opposition von CDU/CSU lautstark gegen eine Interventionsarmee nach Vorbild der Weizsäcker-Kommission ausspricht, dann deshalb, weil sie noch weitergehende Vorstellungen hat. Die Konservativen wollen eine Armee, die künftig alles kann, sogar den Einsatz im Inneren. Wer den Kommissionsbericht gründlich gelesen hat, kann eigentlich nur schwerlich zu der Einschätzung kommen, dass sich die Kommission für eine reine Interventionsarmee ausspricht. Sie macht an vielen Stellen deutlich, dass sie dem militärischen Mittel nur begrenzte Wirkung zubilligt und die EuropäerInnen „öfter Nein sagen müssen, als Ja sagen können“. Aber hier liegt die Crux. Durch Aufbau eines größeren einsatzbereiten Personalkaders und die perspektivische Beschaffung von Ausrüstungsgegenständen, die den Einsatz weit vom eigenen Land entfernt erlauben, schafft sich Deutschland die strukturellen Fähikgeiten zur militärischen Intervention. Will man strukturelle Sicherungen einbauen, dann ist es wichtig, den Auftrag möglichst eng auf den Bereich der Peacekeeping-Funktionen und territorial – mit Ausnahme von UN-Stand-by-Unterstützungen – auf Europa zu beschränken. Dieser Auftrag müsste sich im Bereich der Ausstattung auf ein enges Leistungs- und Mengengerüst niederschlagen.

Finanzierbarkeit

Welche Kosten die von Scharping vorgeschlagene Reform verursachen wird und welche Einsparungen er mit seinem Rationalisierungsprogramm erwirtschaften kann, weiß zum gegenwärtigen Zeitpunkt niemand. Die mittelfristige Finanzplanung wird bis zum Jahr 2003 zu einer weiteren Reduzierung des Verteidigungshaushalts auf ca. 43,7 Mrd. DM führen. Darüber hinaus sind im Einzelplan des Finanzministers 2 Mrd. DM als militärische Sonderausgaben für den Kosovo eingestellt. Da Scharping der Kommission bei vielen kostensparenden Vorschlägen (Halbierung der Standorte, 240.000 Friedensumfang, 300.000 Verteidigungsumfang + 100.000 Personalreserve) nicht folgen will, wird er das angestrebte – aber noch nicht näher bezifferte Modernisierungsprogramm nicht finanzieren können.

Sollte Scharping sich in den nächsten Wochen nicht eines Besseren hesinnen hat er beste Aussichten, als Don Quichote in die Ahnengalerie deutscher Verteidigungsminister einzugehen. Dort, „wo wir einen Scharnhorst oder Gneisenau“ bräuchten, lästerte der grüne Fraktionssprecher Schlauch, „haben wir einen Scharping“. Unfreiwillig auf den Feldherrenhügel abgeschoben, führt er dort unter Rückgriff auf verzerrende Übertreibungen, Alarmismus und politische Nötigung eine kraftzehrende Schlacht gegen eine grundlegende Reform der Bundeswehr. Dabei hat er mit seiner Vorgehensweise viele seiner politischen Weggefährten – den Kanzler und die militärische Führung eingeschlossen – erheblich vergrault. Scharping bleibt ein Minister auf Abruf, die Bundeswehrreform nur ein Baustein auf dem Weg zur nächsten.

IST CDU Kirchbach SPD Scharping Kommission FDP Bü90 / Grüne PDS
Berufssoldaten 60.000 40.000
Soldaten auf Zeit 130.000 170.000
Gesamt 190.000 200.000 202.300 190-200.000 200.000 210.000 195.000 200.000 100.000
Freiwillig Wehrdienstleistende (FWDL) 23.000 27.000 27.000 5.000
Wehrdienst
5 Monate
65.000
6 Monate X X 25.000
7 Monate X
9 Monate X 57.500 X 25.000
10 Monate 112.000 25.000
Gesamt 135.000 100.000 84.500 70-80.000 77.000 30.000 65.000
Bundeswehrumfang 325.000 300.000 290.300 260-280.000 277.000 240.000 260.000 200.000 100.000
mil. Grundorganisation ca. 140.000 113.000 127.000 100.000 110.000
Einsatzkräfte 60.000 ca. 160.000 157.000 140-150.000 150.000 140.000 150.000 100-120.000
Zivilpersonal 124.000 <<<100.000 80.000 80-90.000 80.000 100.000 80.000
Gesamtumfang 462.000 400.000 360.000 320.000 360.000 280.000
Verteidigungsumfang 680.000 600.000 500.000 500.000 300.000 + 100.000
Die Bundeswehr in Zahlen: Vergleich der vorliegenden Vorschläge zur Bundeswehrreform

Anmerkungen

1)Andreas Körner: Zurück in die Zukunft? Mit der Wehrstrukturkommission zu neuen Ufern?, in: WuF 1/99, S. 47 ff.

2)Bundesministerium der Verteidigung: Bestandsaufnahme. Die Bundeswehr an der Schwelle zum 21. Jahrhundert, Bonn, 3. Mai 1999.

3) Bundesminister der Verteidigung: Kompendium Friedenssicherung und die konzeptionelle Neuausrichtung der Bundeswehr, Berlin, 7. Oktober 1999.

4) »Eckwerte für die konzeptionelle und planerische Weiterentwicklung der Streitkfäfte«, Generalinspekteur von Kirchbach, 23.05.00 (www.bundeswehr.de/ministerium/politik_aktuell/zukunftskonzepte.html).

5) Arbeitsgruppe Verteidigungspolitik der CDU/CSU Bundestagsfraktion: Sicherheit 2010. Die Zukunft der Bundeswehr, Berlin, 22. Februar 2000; siehe auch Beschluss des Bundesfachausschusses Außen- und Sicherheitspolitik der CDU: Positionspapier Zukunft der Bundeswehr, Berlin, den 21. März 2000.

6) »Die Bundeswehr sicher ins 21. Jahrhundert«, Bundesminister der Verteidigung vom 01.06.00 (www.bundeswehr.de).

7) Arbeitsgruppe Sicherheitsfragen der SPD-Bundestagsfraktion: Zur Reform der Bundeswehr, Berlin, den 18. Mai 2000; Positionspapier der SPD-Bundestagsfraktion zur Bundeswehrreform, 06.06.2000.

8) CSU: Eine leistungsfähige Sicherheits- und Verteidigunspolitik für ein stabiles Europa.

9) F.D.P.-Bundestagsfraktion: Bundeswehr 2000. Auftragsgerechter Maßanzug für Attraktivität und Effizienz, 16. März 1999.

10) Konzept der PDS-Bundestagsfraktion zur Zukunft der Bundeswehr: Für eine 100.000-Personen-Armee, 17. Mai 2000.

11) Die Bundeswehr reformieren. Leitlinien der SPD-Bundestagsfraktion vom 17.05.2000; Die Bundeswehr reformieren. Eckpunkte der Bundestagfraktion Bündnis 90/Die Grünen vom 06.06.2000.

12) Siehe hierzu u. a. Zwischenbericht der Baudissin-Kommission des IFSH in: FR-Dokumentation v. 09.06.2000, Volker Kröning: Die Bundeswehr im Jahre 2005, in: Defensive und Intervention. Die Zukunft Vertrauensbildender Verteidigung, Bremen 1998, S. 129 ff.; Jürgen Schnell/Universität der Bundeswehr München: Studienreihe »Zur Zukunft der Bundeswehr« http://www.unibw-muenchen.de/campus/WOW/v1054miloek1.html,

13) Otfried Nassauer: Die Bundeswehr auf Reformkurs? in: ami 4/00. S. 6 ff.

14) Siehe Andreas Körner: Wehrpflicht am Wendepunkt, WuF 4/96, S. 20ff.

Andres Körner ist Referent für Friedens- und Sicherheitspolitik beim Abgeordneten Winfried Nachtwei, Bündnis 90/Die Grünen. Der Beitrag gibt nur die persönliche Einschätzung des Autors, nicht jedoch die des Abgeordneten oder der Fraktion wieder.

Die Gleichberechtigungsfalle

Die Gleichberechtigungsfalle

»Freiwilliger Waffendienst«: Gleiches Recht auf Unrecht

von Anne Rieger

Der Anti-Diskriminierungsausschuss der UN rügte vor einigen Tagen die Tatsache, dass Frauen in Deutschland nach wie vor in vielen Bereichen diskriminiert werden: Sie erhalten nur 77 Prozent des Durchschnittsverdienstes von Männern, haben mehr als 90 Prozent der prekären und unzureichend bezahlten Teilzeitjobs inne und, obwohl mehr Frauen als Männer ein Studium beginnen, besetzen sie nur neun Prozent aller ProfessorInnenstellen. 94 Prozent der höchstdotierten Posten in Wirtschaft und Wissenschaft sind von Männern besetzt. An dieser Situation hat sich seit zehn Jahren kaum etwas geändert.

Ja, es ist höchste Zeit, Gleichberechtigung und Gleichstellung von Frauen auf allen Ebenen unserer Gesellschaft herzustellen. Aber waren das auch die Beweggründe des Deutschen Bundeswehrverbandes (DBwV) als er 1996 Tanja Kreil seine Hilfe anbot? Wir erinnern uns: Frau Kreil hatte sich damals beim Elektronik-Instandsetzungsdienst der Bundeswehr beworben und war abgelehnt worden, da die damit verbundene Waffenausbildung für Frauen dem Grundgesetz widerspreche. Der DBwV stellte daraufhin Tanja Kreil Rechtsschutz und seinen Vertragsanwalt zur Verfügung. Mit dessen Unterstützung klagte sie vor dem Europäischen Gerichtshof (EUGH) auf die Einhaltung der Gleichbehandlungsrichtlinie des Europäischen Rates aus dem Jahre 1976 bezüglich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg. Sie klagte mit Erfolg: Unter großer öffentlicher Beachtung sprachen sich die RichterInnen im Januar für einen Zugang der Frauen in Deutschland zum Dienst mit der Waffe aus.

Der Vorsitzende des DBwV, Oberst Bernhard Gertz, jubelte: „Hier ging es um die Beseitigung eines Berufsverbotes.“ Noch am gleichen Tag veranlasste Peter Wichert, Staatssekretär im Verteidigungsministeriums, die Bildung einer Steuergruppe »Frauen in den Streitkräften«, die bis zum 29. Februar einen Entwurf zum Handlungs- und Entscheidungsbedarf vorlegen sollte. Minister Rudolf Scharping, der bereits im Juli 1999 ankündigte Frauen auch im Wachdienst, also »mit der Waffe« einzusetzen, begrüßte das Urteil und versprach einen abgestimmten Gesetzentwurf zur Kabinettsbehandlung noch vor der Sommerpause. „Eine historische Entscheidung zugunsten der Frauen in Europa, insbesondere aber in Deutschland“, fasste Peter Dreist in »Bundeswehr aktuell« das Ergebnis zusammen.

Bei so viel männlicher Unterstützung in der Gleichberechtigungsfrage wundert frau sich! Noch immer sind die Beschlüsse des EUGH zur Lohngleichheit und gegen mittelbare Diskriminierung von Frauen in der Bezahlung in der Bundesrepublik nicht umgesetzt, noch immer kann von Chancengleichheit im zivilen Bereich, in Familie, Beruf und Gesellschaft keine Rede sein. Hier wird gemauert, doch wenn es um die Bundeswehr geht, werden »einflussreiche« Männer plötzlich schwach und entdecken die Gleichberechtigung. Das ist dann doch mehr als merkwürdig und legt den Schluss nahe, dass hier der Wunsch und das Recht von Frauen auf technisch anspruchsvolle Arbeitsplätze zur Legitimation der Bundeswehr und zur Militarisierung der Gesellschaft missbraucht werden sollen.

Ist der Zugang zum Dienst an der Waffe wirklich „die Nagelprobe auf die Akzeptanz der Unteilbarkeit von BürgerInnenrechten“ wie Christa Schenk (PDS) es sieht? Ist es wirklich ein „weiterer Schritt zum Abbau rechtlicher Benachteiligung von Frauen“ (Deutscher Frauenrat), liegen darin wirklich „neue berufliche Entwicklungsmöglichkeiten in technisch anspruchsvollen Jobs“ (Ursula Engelen-Kefer, DGB)? Ist denn SoldatIn sein – das abgerichtet werden zum Töten auf Kommando – ein Beruf wie jeder andere? Kann frau wirklich die gleichberechtigte »Lizenz zum Töten« als höchste Stufe weiblicher Emanzipation verstehen oder sollte nicht vielleicht doch den Frauen aus Parteien und Gewerkschaften angesichts dieses Schritts zur Gleichberechtigung der Jubel im Halse stecken bleiben? Emanzipation heißt doch nicht Nachahmung männlicher Dummheit, hat doch nichts mit Macho-Gleichstellung in Militärmaschinerien zu tun. Es ist schwer nachvollziehbar, dass es ein Fortschritt für die Frauen aus den USA gewesen sei soll, in Somalia, Haiti, Bosnien, am Golf und anderswo zu töten und getötet zu werden.

Emanzipation heißt Selbstbestimmung. Diesem Interesse dient aber kein Militär der Welt. Nach innen ist es undemokratisch, nach dem Prinzip von Befehl und Gehorsam organisiert, nach außen ist es ein Instrument der Unterdrückung, der Zerstörung von Mensch und Natur. Es dient der Aufrechterhaltung von Macht – auch der Aufrechterhaltung der Macht der Männer über die Frauen. Die US-Armee liefert hierfür den Beweis: Untersuchungen belegen, dass in der US-Armee, die mit 15 Prozent den höchsten Frauenanteil in der NATO hat, zwei Drittel der Frauen brutaler Unterdrückung durch sexuelle Belästigung, Nötigung bis zu Vergewaltigungen ausgesetzt sind.

Es hat auch wenig mit Gleichberechtigung zu tun, wenn frau als Lückenbüßerin Personaldefizite füllen soll. Seit dem ersten Kriegseinsatz der Bundeswehr wollen sich immer weniger Zeitsoldaten für zusätzliche Jahre verpflichten. Glaubt man dem Verteidigungsministerium fehlen 1000 Unteroffiziere und 2000 Offiziere; die Zahl der Kriegsdienstverweigerer hat das historisches Hoch von 174.348 erreicht. Der Begriff »Reservearmee« bekommt da einen neuen, einen makabren Klang.

Viel zu tun hat die Frage »Frauen und der Dienst mit der Waffe« allerdings mit der sozialen Frage. Das wird deutlich, wenn mensch sich die US-Armee ansieht und feststellen muss, dass die schwarzen Frauen in der »Truppe« deutlich in der Mehrzahl sind, während angesichts einer florierenden Wirtschaft sich insbesondere die weißen Frauen vom Militär abwenden um sich im zivilen Bereich nach beruflichen Alternativen umzusehen. In Italien gibt das Verteidigungsministerium offen zu, dass bei den Bewerbungen der Frauen zur Armee die hohe Arbeitslosigkeit im Süden eine große Rolle spiele. Dass sich bei uns vor allem in Ostdeutschland zunehmend Frauen bei der Armee bewerben sagt denn auch weniger aus über die Berufswünsche von Frauen, als über ihre Perspektivlosigkeit auf dem zivilen Arbeitsmarkt angesichts der gewaltigen Massenarbeitslosigkeit.

„Frieden ist der Ernstfall“ hieß der Auftrag der Bundeswehr noch vor 10 Jahren. Doch spätestens seit den Verteidigungspolitischen Richtlinien von 1993 gehört zum »Ernstfall« „die Aufrechterhaltung des freien Welthandels und des ungehinderten Zugangs zu Märkten und Rohstoffen in aller Welt“. Die militärische Ergänzung zum politischen und ökonomischen »Weltmachtstreben«. Die Bundeswehr soll weltweit eingesetzt werden können, auch um gegebenenfalls Wirtschaftsinteressen durchzusetzen. Dazu werden die sogenannten Krisenreaktionskräfte hochgerüstet.

Der „Zweck von Waffen ist es, genutzt zu werden“, erklärt Boeing-Sprecherin Karen Vanderloo. Wozu? Um Kriege zu führen, denn das ist die Aufgabe von Armeen, dazu werden Soldaten und Soldatinnen ausgebildet. Das gilt auch für die deutsche Armee und zwar jetzt »out of area«, d.h. unter Umständen weltweit und nicht nur zur Verteidigung. Ich wehre mich aber dagegen, dass in unserem Land Menschen zum Töten ausgebildet werden und dass in unserem Namen Angriffskriege geführt werden. Angesichts unserer Geschichte, angesichts der schrecklichen Sonderrolle, die Deutschland bei den Kriegen dieses Jahrhunderts gespielt hat, kann für mich der Waffendienst für Frauen in anderen Ländern kein Beispiel sein.

Natürlich bin ich für Gleichberechtigung. Der Zugang von Frauen zur Waffe ist aber für mich in erster Linie keine »Frauenfrage«, sondern eine friedenspolitische. Statt in die Gleichberechtigungsfalle zu tappen gilt es sich gegen die weitere Militarisierung der Gesellschaft zu wehren. Weder Frauen noch Männer in die Bundeswehr!

Anne Rieger ist 2. Bevollmächtigte der IG-Metall Waiblingen, aktiv in der VVN-Bund der Antifaschisten und Mitinitiatorin einer Unterschriftensammlung »Frauen ans Gewehr – wir sagen nein!«