Zum Wandel der Bundeswehr

Zum Wandel der Bundeswehr

von Arbeitskreis Darmstädter Signal

Mit großer Besorgnis stellen wir fest, dass sich die Bundeswehr hinsichtlich ihres Auftrags genau in die Richtung entwickelt, vor der wir Soldaten des Arbeitskreises »Darmstädter Signal« immer gewarnt haben:

Die Bundeswehr ist zum Instrument einer Politik geworden, die

  • Auslandseinsätze statt der Landesverteidigung als primäre Aufgabe definiert,
  • statt der Behebung der wahren Ursachen von Konflikten eine militärische Lösung bevorzugt,
  • Menschenrechtsverletzungen nur dann nachdrücklich anprangert, wenn ein internationaler militärischer Einsatz begründet werden soll.

Der Krieg gegen Jugoslawien, der ohne UNO-Mandat geführt wurde, war ein tragischer Höhepunkt in der Eskalation militärischer Gewalt in Europa unter Beteiligung der Bundeswehr. Der Luftkrieg gegen Jugoslawien war völkerrechtswidrig. Die Information der Öffentlichkeit und der Soldaten war nicht frei von Täuschungen und Verharmlosungen (z.B.: »Kollateralschäden«).

Auch im Hinblick auf die Entwicklung der zukünftigen »Gemeinsamen Europäischen Außen- und Sicherheitspolitik« (GASP) und neuer weltweiter Sicherheitsstrukturen vermissen wir Soldaten vom Arbeitskreis »Darmstädter Signal«, hoffnungsvolle Ansätze.

  • Die Chance zur Entwicklung eines europäischen Systems kollektiver Sicherheit auf der Grundlage der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) scheint vertan. Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) birgt die Gefahr, einseitig auf militärische Optionen ausgerichtet zu werden.
  • Rußland und die EU tragen eine besondere Verantwortung für den Weltfrieden. Die NATO-Osterweiterung, der Krieg gegen Jugoslawien und der Krieg in Tschetschenien behindern die Zusammenarbeit.
  • Statt die UNO weiter zu stärken, legitimiert sich die NATO als Instrument zukünftiger Konfliktlösungen. Damit wird die UNO mehr und mehr in die Rolle des »Erfüllungsgehilfen der NATO« gedrängt.

Friedens- und Sicherheits- politische Konsequenzen

Streitkräfte sind zur Landesverteidigung grundsätzlich gerechtfertigt. Sie können auch zu friedenserhaltenden UN-Maßnahmen eingesetzt werden! Ziel muss die konsequente Verringerung aller Streitkräfte auf der Welt sein!

Der Einsatz von Soldaten zur Sicherung nationaler Interessen wie z.B. zum „Schutz des (sogenannten) freien Welthandels oder der strategischen Rohstoffreserven“ ( aus: Verteidigungspolitische Richtlinien der Bundesregierung 1992 ) ist weder politisch noch moralisch gerechtfertigt und stellt einen Rückfall in kolonialistisches Denken dar.

Für zivile Aufgaben wie Katastrophen- und Umweltschutz kann die Bundeswehr in Ausnahmefällen eingesetzt werden. Für Entwicklungshilfe oder polizeiliche Arbeit wie im Kosovo- sind Streitkräfte wenig geeignet.

Friedenssicherung gelingt am besten in einem System kollektiver Sicherheit. Für unseren Kontinent bietet sich die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) als Rahmen an. Parallel zum Ausbau der OSZE sind die politischen und militärischen Befugnisse von NATO und WEU im gleichen Maße zu reduzieren.

Die UNO muss als globales System kollektiver Sicherheit politisch und finanziell gestärkt und ausgebaut werden. Wir erwarten gerade von der jetzigen Bundesregierung, dass sie sich für tiefgreifende Reformen der UNO einsetzt.

  • Die Möglichkeiten der UNO zur Konfliktvorbeugung und zur Krisenfrüherkennung müssen deutlich ausgebaut werden.
  • Die Besetzung des Weltsicherheitsrates muss ausgewogener erfolgen.
  • Das Vetorecht der Großmächte muss abgeschafft werden.
  • Die Unterstellung von nationalen Streitkräften unter alleinigen UN-Befehl muss gemäß Art. 43 der UN-Charta durch Sonderabkommen geregelt werden.

Konsequenzen für die Bundeswehr

Der Personalumfang der Bundeswehr ist stufenweise und sozial verträglich auf ca. 1/3 der jetzigen Stärke abzubauen, weil unser Land nicht mehr militärisch bedroht ist. Bei diesem Streitkräfteumfang kann die Allgemeine Wehrpflicht nicht mehr aufrecht erhalten werden. Daher ist die Bundeswehr in eine Freiwilligenarmee (nicht Berufsarmee !) mit ca. 120.000 Soldaten umzuwandeln.

Der Dienst in den Streitkräften muss den Anforderungen der modernen Arbeitswelt entsprechen: Die Mitbestimmungsrechte für Bundeswehrangehörige sind auszubauen (z.B. im Beurteilungswesen, Mitbeurteilung durch Gleichgestellte und Untergebene). Die Weiterentwicklung von Prinzipien zeitgemäßer Menschenführung (Anwendung des kooperativen Führungsstils, ziviler Umgangston in militärischen Einrichtungen), familienfreundliche Dienstgestaltung, demokratische politische Bildung (Vorrang vor anderen Diensterfordernissen, Einbeziehung ziviler Lehrkräfte, Teilnahme aller Vorgesetzten) und konsequente Ausbildung in nationalem und internationalem Recht (z.B. Kriegsvölkerrecht) sowie Fremdsprachenausbildung müssen Schwerpunkte des dienstlichen Alltages sein. Glaubwürdige Demokratie verlangt den freien und ungehinderten Gedankenaustausch über moralisch-ethische Grundfragen des Soldatenberufs.

UN-Einsätze der Bundeswehr

Vorrang vor jedem UN-Einsatz von Bundeswehrsoldaten muss für Deutschland das nachdrückliche Eintreten für nicht-militärische Maßnahmen der Konfliktvorbeugung und -beilegung haben!

  • Nur in Einzelfällen sollte der Deutsche Bundestag einer Entsendung deutscher Soldaten zu UN-Missionen zustimmen!
  • Soldaten der Bundeswehr dürfen nur für klassische friedenserhaltende (Blauhelm-) Einsätze der UNO zum Einsatz kommen!
  • Für andere Einsätze – wie etwa den Jugoslawienkrieg – darf die Bundeswehr nicht zur Verfügung stehen.

Frieden mit Waffen »erzwingen« zu wollen, ist eine gefährliche Illusion! Aus diesen Gründen lehnen wir Kampfeinsätze ab.

Deutsche Impulse zur friedlichen Konfliktlösung

Wegen der besonderen Vergangenheit Deutschlands und wegen unserer festen Überzeugung, dass der Einsatz militärischer Mittel die teuerste, gefährlichste und schlechteste Form der Konfliktlösung darstellt, fordern wir die Bundesregierung auf, ihre Konzepte zur Aufstellung eines unbewaffneten Friedenskorps und zum Ausbaus des zivilen Friedensdienstes umzusetzen und die Friedens- und Konfliktforschung weiter zu verstärken. Da Konflikte immer wirtschaftliche, soziale oder ethnische Ursachen haben, muss die Bundesrepublik beginnen, hier anzusetzen:

  • Ausgleich des Nord-Süd-Gefälles durch aktives Eintreten für eine gerechte Weltwirtschaftsordnung ( z.B. Schuldenerlass für Entwicklungsländer),
  • Schutz bzw. Wiederherstellung der natürlichen Lebensgrundlagen,
  • konsequent restriktive Rüstungsexportpolitik,
  • Ausbau des Internationalen Gerichtshofs zur Ahndung aller Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen.

Da die Gefahr des Einsatzes von Massenvernichtungswaffen nach wie vor besteht, muss Deutschland sich dafür einsetzen, dass

  • alle ABC-Waffen geächtet werden,
  • alle ABC-Waffen aus Deutschland abgezogen werden,
  • Deutschland sich an keiner »Europäischen A-Waffe« beteiligt und
  • die NATO auf den Ersteinsatz von Atomwaffen verzichtet,
  • der »Nichtweiterverbreitungsvertrag« von Atomwaffen verstärkt durchgesetzt wird.

Der Frieden ist der Ernstfall!

Militärische Mentalität versus Innere Führung

Militärische Mentalität versus Innere Führung

Zur Reform der Bundeswehr

von Detlef Bald

Der Umbau der Bundeswehr nach dem Jahr 2000 kann als die umfassendste Umstrukturierung des Militärs der letzten fünf Jahrzehnte angesehen werden. War der Aufbau deutscher Streitkräfte nach dem Zweiten Weltkrieg noch ganz im Einklang mit den Erfahrungen des Krieges und insofern nach altem Vorbild erfolgt, geht es den Verantwortlichen in Politik und Militär an der Jahrhundertwende darum, einen neuen Typ des Militärs zu realisieren. Detlef Bald untersucht, warum die gegenwärtige Strukturreform mehr ist als eine einfache Modernisierung oder eine technische Effizienzsteigerung, warum diese an die Grundlagen geht.

Die Geschichte hat der Bundeswehr von Anfang an eine demokratische Konstitution, die den Namen Innere Führung trägt, mit auf den Weg gegeben. Im Bewusstsein der Bevölkerung ist die Innere Führung das Qualitätszeichen der Bundeswehr geworden. Doch diese Geschichte ist wechselvoll. Gleichwohl kann eine Art Summe gezogen werden: Das Leitbild des Staatsbürgers hat seine Rolle für den Soldaten gefunden und das Leitbild des Soldaten für den Bürger abgelöst. Eine Umpolung wurde programmatisch in der Bundeswehr vollzogen. Sie hat eine normale Gestalt in der Bonner Republik erfahren. Der Maßstab der Inneren Führung hat die Bundeswehr demokratie- und sozialverträglich ausgerichtet.

Der verdrängte Maßstab

Man sollte annehmen, dass die Innere Führung eine Schlüsselrolle für das neue Konzept der Armee einnimmt, um das Etablierte nach Bewährtem oder Verkrustetem hin zu überprüfen. Das soll mit dem jüngst in der Bundeswehr eingeführten Programm der Ausbildung zur »Leadership« geschehen. Denn es beansprucht bereits, die veränderten sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen, „dass der deutsche Soldat nicht nur kämpfen kann und will, sondern darüber hinaus auch zu schützen, zu retten und zu helfen befähigt ist,“ ins Visier zu nehmen. Für das Ziel – „Steigerung der Führungsleistung und des Führenkönnens“ – wurde das Leadership-Training als Ausbildungseinheit eingeführt. Doch hinter hochtrabenden Worten („Im Neuen Heer für Neue Aufgaben erhält die Ausbildung der militärischen Führer eine neue Qualität“)1 scheint sich alles auf eine »gefechtsmäßige« Welt zu begrenzen. Dies erhärten Erläuterungen von 1998, obwohl „das richtige Denken“ und die „geistig-ethischen Bindungen“ in der „Nation als Schicksalsgemeinschaft“ beschworen werden.2 Das aber bleibt bloße Gesinnung. In der Ausbildung selbst werden Themen der politischen Bildung überhaupt nicht angesprochen. Der Inspekteur des Heeres spricht von Ethik in Erziehung und Ausbildung, meint aber nur das schlichte Training im Verbund schwerer Waffen. Innere Führung gibt es nicht.

Das Technokratentum in Uniform wird sogar in den Entwürfen der politischen Parteien hingenommen. Das Vorbild der Inneren Führung wird ausgeblendet. Auch der Landesvorsitzende des Wehr- und Sicherheitspolitischen Arbeitskreises der CSU nahm diese Position ein. Zunächst machte er noch ganze »Reformfelder« für Mobilität und Modernität der Bundeswehr nach 2000 aus, aber dann ließ er sich sogar bei dem Kapitel »gesellschaftspolitische Aspekte« hauptsächlich über öffentlich-rechtliche Zeitverträge aus und bemühte sich, die privilegierte militärspezifische Besoldungsordnung zu rechtfertigen3 – kein Wort zur Inneren Führung.

Das dritte Dokument zur »Sicherheit 2010« stellte die CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag vor. Immerhin wird ein knapper Abschnitt der Inneren Führung gewidmet. Sie wird darin ausschließlich hinsichtlich einer politischen Bildung betrachtet, die „optimal“ die „Sinnhaftigkeit“ des „erweiterten Auftrages“ vermitteln soll.4 Diese Begrenzung ist eine typische Verzerrung. Innere Führung wird für den Zweck funktionalisiert, Attraktivität auf dem Arbeitsmarkt zu gewähren und Disziplinarprobleme zu lösen; ebenso eindimensional wird politische Bildung eingesetzt.

Die Innere Führung ist aus diesen drei Konzepten für die Zeit nach 2000 verdrängt worden. Die Normen, welche die Gegenwart oder die Zukunft des Militärs regulieren, werden nicht reflektiert. Dabei wäre es ganz einfach: Innere Führung bietet den Entwurf, die Normen des Grundgesetzes – modifiziert in einer dem Militär angemessenen Weise – für das Militär verbindlich zu machen, also die Bundeswehr demokratie- und sozialverträglich zu entwickeln. Das Konzept der Kongruenz von Militär und Staat sowie von Militär und Gesellschaft stammt aus dem Jahr 1950, als Wolf Graf von Baudissin diesen Wertewandel im Militär absichern wollte. Der Maßstab sollte den aus der Geschichte bekannten – Inkompatibilität von Militär- und Zivilbereich – ersetzen.5

Zurück in die Sechzigerjahre

Eine Ursache, die den Verlust an Relevanz der Inneren Führung in der Bundeswehr erklärt, ist in der politischen Wende des Jahres 1982 zu sehen. Sie hat die Bundeswehr umgepolt. Mit den Worten des Generals Pöppel, der Pluralismus habe bereits einen „einseitigen geistigen Einbruch“ im Offizierkorps erzielt,6 richtete die Prominenz des Militärs die Speerspitze gegen die Reformpolitik.7 Werte der kollektiven Einordnung gewannen in der »Erziehung zum Dienen«8 Priorität; „das traditionelle Werte- und Normenbewusstsein in der Truppe“ 9 wurde glorifiziert. Manfred Wörner brachte das Pendel in Schwung, um das Signal für die Gegenreform vordergründig gegen die Politik von Helmut Schmidt zu geben, tatsächlich wurde die Dominanz des Militärischen eingeklagt.

Die Lage der Bundeswehr wurde als Niedergang klassifiziert. Das Jahrzehnt der Reformen habe die Bundeswehr abgewirtschaftet, sie sei zu „einer Friedensarmee“ deformiert. Der „Wertepluralismus“ habe das Militär zerrüttet.10 Endlich sei das „Ende der Zivilisierung der Bundeswehr“ erreicht. Im Planungsstab des Ministeriums gelang es, die korporativen Saiten des alten Traditionalismus zum Klingen zu bringen. Die Parole „Man muß der Armee geben, was der Armee ist“ wurde rekultiviert. Ins Zentrum des Militärs rückte die „Kampfmotivation“, getragen von gesellschaftlicher „Wehrmotivation“. Der Beruf sui generis wurde gepriesen: „Maßstab ist nicht die Verträglichkeit mit dem zivilen Bereich oder eine Einordnung in die Gesellschaft.“11

Wörner baute einen ideologischen Wall um die Bundeswehr auf. Er wollte mit seinem Kampf gegen die Reformen Schmidts die Reichweite der Inneren Führung beschneiden. Folglich warf man das Steuer ganz herum, diffamierte Liberalismus und Pluralismus in der Bundeswehr. Die exponiertesten Verfechter des Traditionalismus, die Schmidt gefeuert hatte, wurden anerkannt: „eben jenes Selbstverständnis, das (…) in der Schnez-Studie unmißverständlich zum Ausdruck gekommen war.“12 Die Reaktivierung von Albert Schnez kann als die entscheidende Grenzüberschreitung angesehen werden, hatte er doch als Repräsentant der militärischen Führung im Jahr 1969 die Politik gedrängt, die Gesellschaft an Haupt und Gliedern für „die Kampfbereitschaft des Heeres entscheidend“13 zu reformieren. Diese alten Generale (Schnez, H. Grashey, W. Schall, H. Karst), die sich voll Stolz gerühmt hatten, Gesellschaft und Politik mit der Maske der Inneren Führung über ihre wahre Bedeutung in der Bundeswehr getäuscht zu haben, wurden dann als Kronzeugen der Gegenreform zur „Reaktivierung und -etablierung tradierter soldatischer Struktur-, Mentalitäts- und Verhaltensmuster im Militär“ herangezogen.14 Die „Schnez-Söhne“15 der Sui-generis-Ideologie plädierten wie ehedem ihre Ziehväter für das „Umdenken“ im Militär, sogar für das „Umdenken“ in „der Bevölkerung der westlichen Demokratien“ (Farwick) – so das Selbstzeugnis der Wende von 1982.

Diese Kampagne hat auf die Tradition der Bundeswehr nachhaltig eingewirkt. Die Brisanz lag in der Wehrmacht als Vorbild, die nicht mehr „pauschal“ verurteilt werden dürfe. Politisch sei nur von einem Missbrauch deutscher Soldaten zu sprechen. „Gerade darum verdienen Haltung und Leistung vieler Einzelner unseren Respekt.“16 Eine Gegenkultur tat sich auf. Die militärische Führung setzte eine eigene, bellizistische Sprache durch. Sie forderte als oberstes Ziel „hinreichende Kriegstüchtigkeit“; der Soldat solle „auch ohne sein Hauptgerät oder Waffensystem als Kämpfer“ taugen. Jene „Fertigkeiten“, so der für die Ausbildung im Heer zuständige General, müssten im Alltag geübt werden, damit „die Soldaten nichts mehr aus der Fassung bringt.“17 Das Zauberwort lautete „kriegsnahe Ausbildung“.18 Während in Europa die Gegensätze des Kalten Krieges zusammenbrachen, schallte mit einem Male die Parole der mentalen Aufrüstung: „Der Krieg ist der Ernstfall“. Hatte zuvor das Ziel der Verteidigung noch „kämpfen können“ geheißen, wurde nun die Devise verschärft: „kämpfen wollen!“19 Daher werde man „gut beraten sein, gelegentlich einen Blick in den reichen Erfahrungsschatz der Wehrmacht zu werfen“. Wie konnte dagegen nur „Widerstand“20 kommen! Hatten in der Wehrmacht doch „Deutsche, wie heute auch“ gedient. Mit solchen Worten vernebelte die Generalität den Krieg und wollte am Ende klarmachen, die vermeintliche Normalität der Bundeswehr schließe direkt an die Normalität der Wehrmacht an.21

Bedingt bildungsbereit

Die Reideologisierung der Achtzigerjahre hat weitreichende Folgen für die Bundeswehr gezeitigt: Seit dem traditionalistischen Militär freie Hand gewährt wurde, hat die Gegenreform tief in die Bildungspolitik eingeschnitten. Die Bundeswehr hindert das jedoch nicht, sich in einem geschönten Eigenbild zu präsentieren. Kritische Berichte von beteiligten Soldaten werden ebenso wie Analysen von außen negiert.22 In diesem Kontext versteht sich, dass in dem Planungspapier der CDU/CSU-Fraktion davon gesprochen wird, „unser hohes Ausbildungsniveau“ fort zu entwickeln.23

Das Versagen in der Bildungspolitik wird an mehreren Punkten deutlich. Ein erstes Beispiel: Die Auswahl der Generalstabsoffiziere. Die von der Bundeswehr selbst aufgestellten Leistungskriterien für die Karriere der Offizierselite kommen gar nicht mehr zur Geltung. Ergebnisse und Prüfungen von Lehrgängen oder Studium wurden nicht mehr adäquat berücksichtigt; dienstliche Beurteilungen verloren ihre Relevanz. Die Kriterien wurden auf den Kopf gestellt. Anpassung an erwünschte Haltungen sicherte die Karriere. Empirische Befunde bescheinigen , dass traditionalistische Wertepositionen zu einer mentalen Homogenisierung der Militärelite führen sollten. Die Personalpolitik verfolgte „eine anachronistische Fixierung auf den Kampftruppenoffizier als Idealbild“ des Offiziers – ein „Affront gegen die bundesrepublikanische Gesellschaft“.24

In einem zweiten Sektor der Inneren Führung finden sich massive Einschnitte. Die Bildungsreform der Sechzigerjahre hatte wichtige Impulse bei der sozialen Demokratisierung gegeben. Abitur und Hochschulstudium hatten Einzug in der Bundeswehr gehalten.25 Zivile Bildungsstandards fanden ihren Stellenwert für die militärische Professionalisierung. Doch die restaurative Politik setzte einen Gegentrend durch: Das Niveau wurde gesenkt. Bei der Übernahme zum Berufsoffizier hatten 1994 von 452 Offizieren nur 49 Prozent ein abgeschlossenes Studium, 1995 waren es von 425 Offizieren gerade noch 47 Prozent.26 Diese Zahlen beziehen sich auf den Status der Offiziere im Jahre ihres Vertragsabschlusses. Andere Daten der Führungsakademie, die alle Berufsoffiziere erfassen, verdeutlichen die drastischen Einbrüche (Grafik 1). Noch am Ende der Achtzigerjahre fand sich ein Anteil von mehr als zwei Dritteln studierter Offiziere. Nach 1991 sank diese Kurve stetig bis unter 50 Prozent ab. Im einzelnen unterscheiden sich Heer (60,5%), Marine (37 %) und Luftwaffe (30,6%),27 hier 1995. Aus dem anvisierten Regelfall des Studiums für alle Berufsoffiziere wurde nichts. Eine Zwei-Klassen-Armee ist entstanden. Trotz eigener Universitäten hat die Bundeswehr das Niveau ihrer Führungselite markant gesenkt.

Diesen Trend unterstützen einige qualitative Analysen über die Ausbildung an der Führungsakademie. Die zweijährige Ausbildung für die Generalstäbler verdeutlicht symptomatisch die Misere. Das Resultat klingt nicht nur, es ist nach dem Urteil eines Insiders besorgniserregend: Die Fähigkeit an „professionellen Fertigkeiten und politischer Bildung (…) reicht dafür nicht aus“,28 was der Beruf erfordere. Vor allem mangele es an politischer Urteilsfähigkeit. Es werde Gesinnung antrainiert und eine „einseitige Revitalisierung (…) des Kämpfens“ betrieben; ein „verengtes Berufsbild“ klammere die „politische Dimension des Staatsbürgers in Uniform“ aus. Der Mangel reicht weit:

  • Das enge Berufsprofil „verkürzt“ die Innere Führung;29
  • „das berufliche Selbstverständnis der künftigen Generalstabsoffiziere“ hatte in pädagogischer Hinsicht „starke Defizite“;30
  • „das für eine kritische Auseinandersetzung mit sicherheitspolitischen Problemstellungen erforderliche intellektuelle Leistungsvermögen“ wies in „Schlüsselqualifikationen (…) erhebliche Mängel“ auf.31

Bildungspolitik hat als zentrales Steuerungselement im Militär versagt. Gravierende Defizite im Niveau als auch in der Qualität der Bildung haben die Innere Führung beschädigt. Die Bundeswehr ist, in Anlehnung an einen berühmten Titel: bedingt bildungsbereit.

Ab ins gesellschaftliche Abseits

Das mentale Eigenleben und die soziale Absonderung des Militärs von der Gesellschaft kann über die Rekrutierung der Offiziere erschlossen werden. Dabei spielt der Indikator der Zugehörigkeit zu einer Konfession eine ungeahnte milieuprägende Rolle; wäre er nicht traditionell seit über hundert Jahren fester Bestandteil der Selektion, könnte man diesen einen von mehreren Faktoren der Rekrutierung unterschätzen; doch er hat signifikante Bedeutung. Die protestantische Konfession nimmt eine dominante Leitfunktion für die „erwünschte Gesinnung“ der Offiziere ein. An diese alten Verhältnisse hatte die Bundeswehr anfänglich angeknüpft, sodass es nicht verwundert, wenn 1966 etwa 70 Prozent der Offiziere protestantisch waren.32 Die Reformen der Siebzigerjahre suchten in einer pluralistischen Öffnung den sozialen Ausgleich. Demzufolge überwog zeitweilig der Anteil der Katholiken unter den Leutnants; er betrug 1974 erstmals 50 Prozent, bei 41,1 Prozent Protestanten. Doch die Politik, diese Einseitigkeiten mittelfristig auszutarieren, fand schnell ein Ende. In den Neunzigerjahren ist erneut die strukturelle Dominanz der Protestanten mit etwa 45 Prozent restituiert worden, während der Anteil katholischer Offiziere um 33 Prozent pendelte. Trotz eines insgesamt abnehmenden Trends ist es lange gelungen, den Nachwuchs an konfessionell gebundenen Offizieren (etwa 80 Prozent) recht homogen – bei kaum 60 Prozent Anteil in der jüngeren Bevölkerung – zu halten. Die Bundeswehr hat überproportinal die Dominanz der Protestanten hergestellt. Korrespondiert dieses Bild mit der „landsmannschaftlichen Verwurzelung“, wie sie die CDU/CSU für die Bundeswehr einfordert?33

Das Fazit zur Lage der Inneren Führung ist deprimierend. Die Bundeswehr hat notwendige Bedingungen der zivilverträglichen Akzeptanz – pluralistische Offenheit und soziale Gleichheit, aber auch den Respekt vor den erworbenen Leistungen im Bildungssystem – eingedämmt und manches sogar beseitigt. In diesen Fällen wurden grundrechtliche Prinzipien beschädigt. Die Militärpolitik hat Erfolge der Militärreform aufgegeben. Die Aktivitäten am Ende der Neunzigerjahre – die Historisierung in der Bildung und »Leadership« – ließen die Trends der Reduktion der zivil-militärischen Beziehungen kulminieren; sie rekultivierten altes Traditionsgut aus den militärdominanten Fünfzigerjahren.

Ein Fazit zur Zukunft der Inneren Führung fällt schwer, da die großen Parteien mit »Modernität und Mobilität« die Realität des militärischen Eigenlebens verklären und schlicht für ein Technokratentum in Uniform plädieren. Die vorgestellten Ansätze lassen jedenfalls erkennen, dass sie die Kongruenz des Militärs zur Gesellschaft vernachlässigen. Was für die gegenwärtige Bundeswehr schon schädlich ist, kann für die Armee 2010 nur Bedenken erzeugen.

Anmerkungen

1) General für die Ausbildung und Erziehung im Heer, Weisung für das »Leadership-Training« der Kampftruppen in Übungszentren, Köln im August 1977, S. 2.

2) Helmut Willmann, Leadership. Der militärische Führer im Einsatz – Forderungen für Erziehung und Ausbildung, Bonn, 25. Juni 1998.

3) Hans Raidel, Reformfelder der Bundeswehr im Kontext europäischer Sicherheits- und Verteidigungspolitik, Berlin, im November 1999, S, 8 f.

4) CDU/CSU Fraktion, Sicherheit 2010. »Die Zukunft der Bundeswehr«, Berlin 22. Febr. 2000, S. 34.

5) Wolf Graf von Baudissin, Dreißig Jahre Bundeswehr – Licht und Schatten, in: Franz H.U. Borkenhagen (Hg.), Bundeswehr Demokratie in oliv? Streitkräfte im Wandel, Berlin/Bonn 1986, S. 20. Vgl. Detlef Bald, Wolf Graf von Baudissin – Die Zivilisierung des Militärs, in: Claudia Fröhlich u.a. (Hg.), Engagierte Demokraten. Vergangenheitspolitik in kritischer Absicht, Münster 1999, S. 84 ff. und Hilmar Linnenkamp, Dieter S. Lutz (Hg.), Innere Führung, Baden-Baden 1995, S. 19 ff.

6) Vgl. Bernd C. Hesslein (Hg.), Die unbewältigte Vergangenheit der Bundeswehr. Fünf Offiziere zur Krise der Inneren Führung, Reinbek 1977; Martin Kutz, Reform und Restauration der Offizierausbildung der Bundeswehr, Baden-Baden 1982, S. 138 ff.

7) Der Generalinspekteur: Weisung für Ausbildung, Erziehung und Bildung in den Streitkräften im Jahr 1980, Bonn, August 1979; vgl. zum Überblick »Bundeswehr nach der Wende«, Heft 1/1985 der Vierteljahresschrift für Sicherheit und Frieden.

8) Erlass: Erziehung zum Dienen. Verbesserung der Vorausssetzungen zum soldatischen Dienen. FÜS I 6, Oberst i.G. Zimmer, in: Dieter S. Lutz (Hg.): Weder Wehrkunde noch Friedenserziehung? Der Streit in der KMK 1980/83, Baden-Baden 1984.

9) D. Stockfisch, Das Ethos des Soldaten heute, in: Truppenpraxis, 5/1983, S. 329.

10) Dieter Farwick, Die Innenansicht der Bundeswehr oder Palmströn ist unter uns, in: Criticon 69/1982, S. 19 ff.

11) Klaus Hammel, Sinnfragen des Soldatenberufs, in: Vierteljahresschrift für Sicherheit und Frieden, 1/1985, S. 14 f.

12) Gerhard Hubatschek, Wertewandel in der Bundeswehr, in: Die Welt, 11. November 1982, S. 7.

13) Die Schnez-Studie, Gedanken zur Verbesserung der inneren Ordnung im Heer, abgedruckt in Klaus Hessler, Miltär – Gehorsam – Meinung, Berlin/New York 1971.

14) Wolfgang R. Vogt (Hg.), Militär als Gegenkultur? Opladen 1986, Einleitung, S. 11 ff.

15) Kurt Kister, Innere Führung ohne Überzeugung, in: Borkenhagen (1986), S. 162 f.

16) (General) Adalbert von der Recke, Last und Chance unserer Geschichte, in: Evangelisches Kirchenamt der Bundeswehr (Hg.), De officio. Zu den ethischen Herausforderungen des Offizierberufes, Hannover 1985, S. 249 f.

17) General Carstens auf der Kommandeurtagung des Heeres, Frühjahr 1985

18) Vgl. »Kriegsbild und Soldatenberuf«, Vierteljahresschrift für Sicherheit und Frieden, Jg. 5, 2/1987.

19) (General) Andreas Broicher, »Nebenkriegsschauplatz« – Vom Nutzen der Kriegsgeschichte für die Aus- und Weiterbildung des Offiziers, in: Truppenpraxis, 1991, S. 296.

20) (General) Jürgen Reichardt, Der Maßstab bleibt das Gefecht. Traditionen und der Wandel soldatischer Aufgaben, in: FAZ, 21. Oktober 1999, S. 14.

21) Vgl. Wolfram Wette, Bilder der Wehrmacht in der Bundeswehr, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Jg. 23, 2/1998, S. 186 ff.; Detlef Bald, Neotraditionalismus und Extremismus – eine Gefährdung für die Bundeswehr, in: Reinhard Mutz u.a. (Hg.), Friedensgutachten 1998, Münster 1998, S. 277 ff.

22) Vgl. die Beiträge zur Reform der Führungsakademie von Hilmar Linnenkamp und Detlef Bald, in: Vierteljahresschrift für Sicherheit und Frieden, Jg. 15, 1997, S. 130 ff., S. 166 ff.; ebenso Martin Kutz und Jörg Keller, ebenda, Jg. 17, 1999, S. 70 ff., S. 77 ff.

23) CDU/CSU-Fraktion (2000), S. 34.

24) Martin Kutz, Realitätsflucht und Aggression im deutschen Militär, Baden-Baden 1990, S. 137 f.

25) Vgl. Detlef Bald, Der deutsche Offizier. Sozial- und Bildungsgeschichte des deutschen Offizierkorps im 20. Jahrhundert, München 1982, S. 129 ff.

26) Personalinformation, Zentrale und Grundsatzangelegenheiten der militärischen Personalführung, April 1999, Anlage 1a, vgl. auch S. 5.

27) Aufstellungen der Führungsakademie Hamburg, G 3 Pl Ausb/Lehre, (zuletzt) 12. Juli 1999. Die Angaben zu 1999: nur die erste Hälfte des Jahres. Die zugänglichen Daten variieren, beispielsweise Kutz (1990), S. 106; Rudolf Hamann, Bernd Molter, Staatsbürger in Uniform auf dem Prüfstand. Von der Notwendigkeit einer Ausbildungsreform für Stabsoffiziere der Bundeswehr, Hamburg 1999, S. 9 (WIFIS-AKTUELL Nr. 13); für die älteren Daten vgl. Bald (Anm. 26), S. 133.

28) Hilmar Linnenkamp, Neue Aufgaben der Bundeswehr – alte Ausbildung?, in: Vierteljahresschrift für Sicherheit und Frieden, Jg. 15, 3/1997, S. 166; Detlef Bald, Eine überfällige Bildungsreform, in: ebenda, S. 142 ff.; Martin Kutz, Überlegungen zu einer Reform der Führungsakademie der Bundeswehr, in: ebenda, Jg. 17, 2/1999, S. 70 ff.

29) Hamann, Molter (Anm. 36), S. 34.

30) Oberstleutnant Frhr. v. Rosen, Zum Berufsbild des angehenden Generalstabsoffiziers als Erzieher und Ausbilder im Ausbildungssystem Streitkräfte, in: Beiträge zu Lehre und Forschung, Fachbereich SOW, Hamburg 3/1997, S. 22.

31) Hamann, Molter (Anm. 36), S. 10.

32) Die im Text folgenden älteren Angaben bei Bald (Anm. 34), S. 77, die Daten der Neunzigerjahre von: Zentrale Informationsstelle PERFIS, Bonn 9. Febr. 2000.

33) CDU/CSU-Fraktion (2000), S. 32 f.

Dr. Detlef Bald war bis 1996 Wissenschaftlicher Direktor am Sozialwissenschaftlichen Institut der Bundeswehr. Er arbeitet jetzt als freier Publizist.

Unforced Errors & Friendly Fire

Unforced Errors & Friendly Fire

Die ultimative Bundeswehr-Reform
vor der nächsten

von Andreas Körner

Darauf hatten viele innerhalb und außerhalb der Bundeswehr seit Jahren gewartet: Schluss mit Denkverboten und alter Besitzstandswahrung. Einen breiten offenen Dialog über die Zukunft der Bundeswehr hatte der Verteidigungsminister bei seinem Amtsantritt im Oktober 1998 versprochen. Zwanzig Monate, einen Krieg und zwei Generalinspekteure später ist klar: Daraus wurde nichts. Geheime Kommissionen, geschlossene Tagungen mit der Truppe, Unterrichtung durch statt Diskussion mit dem Minister und immer wieder überzogenes öffentliches Wehklagen über den Zustand der Truppe, fehlende Finanzen, internationale Bündnisverpflichtungen. Während Fragen über Umfang, Wehrpflicht und Haushalt die öffentliche Debatte bestimmen, gerät die eigentliche Sinnfrage, wozu welche Streitkräfte benötigt werden, völlig aus dem Blickwinkel. Und weil sich auch zehn Jahre nach dem Ende des Ost-West-Konflikts und ein Jahr nach dem Kosovo-Krieg links von der Mitte noch kein sicherheitspolitischer Konsens über die außenpolitische Rolle Deutschlands und den Beitrag der Bundeswehr abzeichnet, kriegt Deutschland eine Wehrpflichtarmee im Übergang.

Bei ihrem Amtsantritt stand die rotgrüne Regierung nicht nur vor der Frage, ob sie der Aufforderung der NATO zur Androhung von Luftangriffen gegen die Bundesrepublik Jugoslawien zustimmt, sondern auch, wie die Bundeswehr in den kommenden Jahren tragfähig reformiert werden soll. Dass die Truppe von ca. 340.000 Soldatinnen und Soldaten sowie ca. 140.000 Zivilbeschäftigten dringend reformbedürftig ist, ist PolitikerInnen, Fachleuten und der interessierten Öffentlichkeit seit Jahren bekannt. Allerdings sind die Vorstellungen darüber, wie das Missverhältnis von Auftrag, Umfang, Struktur, Ausrüstung und Haushalt wieder in Einklang gebracht werden können, sehr unterschiedlich.
Dies hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass sich in der Bundesrepublik nur langsam ein Grundkonsens darüber herstellt, welche internationale politische Rolle dem vereinten Deutschland nach dem Ende des Ost-West-Konflikts angemessen ist und welche Aufgabe dabei der Bundeswehr zukommt. Die Folie, vor der sich die Neuordnung der Bundeswehr abspielt, ist stark von den europäischen und transatlantischen Entwicklungen beeinflusst. Die anhaltenden bitteren und blutigen Erfahrungen mit dem Staatszerfall Jugoslawiens haben gezeigt, dass die EU trotz Gemeinsamer Außen- und Sicherheitspolitik nicht in der Lage ist, einen Krisenherd in Europa einzudämmen. Auch wenn dies eine Hauptursache in den jeweils unterschiedlichen außenpolitischen Vorstellungen und Traditionen der einzelnen EU-Staaten hat, so wird das schnell auf die militärische Unfähigkeit zum Handeln reduziert. Auf der anderen Seite gibt es innerhalb der europäischen NATO-Staaten verstärkt den Eindruck, dass die militärische und politische Vormachtstellung der USA für Europa nicht länger hinnehmbar ist.

Reform der Bundeswehr

Während der Koalitionsverhandlungen vom Oktober 1998 einigten sich SPD und Bündnisgrüne auf die Einsetzung einer unabhängigen Kommission zur Zukunft der Bundeswehr.1 Beide Parteien erhofften sich, dass die Kommission bei sachlicher Abwägung aller Argumente zu Empfehlungen kommen würde, die ihre jeweiligen Positionen stützen. Während die SPD sich in erster Linie Unterstützung für eine umfassenden Modernisierung und Verbesserung der Finanzausstattung der Bundeswehr erhoffte, erwarteten die Grünen eine drastische Reduzierung des Personalumfangs und eine Abschaffung der Wehrpflicht.

Mit der Einberufung der Kommission wartete der Verteidigungsminister bis Mai 1999. Das Neue Strategische Konzept der NATO und die Defense Capability-Initiative zur Verbesserung der Ausrüstung in Schlüsselbereichen sollten von Anfang an als Grundlagendokumente vorliegen. Im Mai 1999 legte der Verteidigungsminister eine Zusammenfassung der 4.000-seitigen Bestandsaufnahme zum Zustand der Bundeswehr2 vor, in der er den begrenzten Umfang und die Zusammensetzung der Krisenreaktionskräfte, die Defizite in der Personalstruktur, die unzureichende Ausrüstung und nicht zuletzt die fehlenden Haushaltsmittel beklagte. Diese Wunschliste wurde im Oktober 1999 durch weitere Schaubilder, die die Unterfinanzierung und Unterausstattung unterstreichen sollten, ergänzt.3

Scharping, der die vom ihm ausgesuchten Mitglieder der Kommission ermutigte, unter Ausschluss der Öffentlichkeit ohne Scheuklappen Optionen für die Zukunft der Bundeswehr vorzulegen, musste bald feststellen, dass die Kommission deutlich eigenständiger arbeitete, als er es erwartet hatte. Hatte er anfangs noch alle Spekulationen über Umfang und Wehrform mit Verweis auf die ergebnisoffene Arbeit der Kommission abgelehnt, ließ er später über die Presse verbreiten, dass er sein Ministeramt mit der Beibehaltung der Wehrpflicht verknüpfe. Mit anderen Worten: Eine eventuelle Empfehlung der Kommission oder der SPD für eine Freiwilligenarmee wäre gleichbedeutend mit einer Rücktrittsempfehlung; ein Beharren der Grünen auf der Abschaffung der Wehrpflicht hätte eine Koalitionskrise zur Folge.

Um die Arbeit der Wehrstrukturkommission zu relativieren und weitere Handlungsempfehlungen zu haben, beauftragte der Verteidigungsminister im September 1999 den Generalinspekteur von Kirchbach, einen Vorschlag für eine Wehrpflichtarmee zu erarbeiten.4 Nachdem sich Anfang des Jahres abzeichnete, dass von Kirchbachs Vorstellungen sogar bis ins Detail in den Positionspapieren der CDU wieder auftauchten5, beauftragte Scharping kurzerhand den Planungsstab des Hauses mit einer eigenen Vorlage. Die Ergebnisse flossen in das »Eckpfeiler-Papier« ein.6 Als eine seiner letzten Amtshandlungen durfte Generalinspekteur von Kirchbach am 23. Mai 2000, zeitgleich mit dem Bericht der Kommission, seine Überlegungen für eine Armee mit 290.000 SoldatInnen dem Minister offiziell überreichen. Am Tag darauf wurde der Öffentlickeit mitgeteilt, dass der Generalinspekteur seine Amtszeit vorzeitig beendet und durch den bisherigen Planungsstableiter Kujat ersetzt wird.

Nachdem bis Anfang Juni 2000 SPD7, CSU8, F.D.P.9, PDS10, Bündnisgrüne11 und zahlreiche wissenschaftliche Institutionen sowie Interessenverbände12 ihre Vorstellungen auf den Markt gebracht haben, ist an Stellungnahmen und Vorschlägen zur Zukunft kein Mangel.13 Wer erwartet hatte, dass nun die Auseinandersetzung über die unterschiedlichen Reformvorstellungen – insbesondere die Empfehlungen der Weizsäcker-Kommission – erfolgen würde, sah sich getäuscht. Ein Verteidigungsminister Scharping diskutiert nicht. Er unterrichtet und droht. Noch im Juni 2000 sollen im Kabinett die Eckpfeiler für die Zukunft der Bundeswehr verabschiedet werden.

Sicherheitspolitische Analyse

Was die19-köpfige Kommission »Gemeinsame Sicherheit und Zukunft der Bundeswehr« unter Leitung von Altbundespräsident Richard von Weizsäcker nach einjähriger vertraulicher Arbeit der Öffentlichkeit präsentierte, ist in mehrfacher Hinsicht überraschend. Die Kommission fordert nichts weniger als eine »Erneuerung von Grund auf« und damit den Abschied von der alten Bundeswehr. Die Kommission beschränkt sich dabei nicht nur auf den engen militärischen Bereich, sondern unterstreicht die Grenzen militärischer und die Wichtigkeit ziviler Beiträge.

Ausgangspunkt der Kommissionsüberlegung ist eine Bedrohungsanalyse, die zu dem Ergebnis kommt, dass „heute und auf absehbare (…) Zeit die Gefahr eines Atomkrieges und die eines groß angelegten konventionellen Angriffs auf unser Territorium nicht zu erkennen“ ist (Ziff. 15). Eine solche Bedrohungskulisse ließe sich nur langfristig, d. h. innerhalb einer Warnzeit von 8 bis 10 Jahren wieder aufbauen. Die Aufgabe der Landesverteidigung, die als gemeinsame Bündnisaufgabe begriffen wurde, ist folglich nicht mehr im Mittelpunkt der Bundeswehraufgaben. Wenn die Bundeswehr zu Verteidigungsaufgaben eingesetzt würde, dann nur mit einem begrenzten Kontingent an den Flanken des Bündnisses, d. h. außerhalb des eigenen Staatsgebietes.

Konsequenterweise reicht es nach Auffassung der Kommmission vollkommen aus, dass die Bundeswehr Strukturen und Ausrüstung für einen Verteidigungsumfang von 300.000 Soldaten (bisher 680.000) und eine Personalreserve von 100.000 Reservisten vorhält. Diese Einschätzung ist vor allem deshalb bemerkenswert, weil sie im fundamentalen Widerspruch zu den Bewertungen des Generalinspekteurs und des Bundesverteidigungsministers steht. Diese haben die Beibehaltung der Wehrpflicht immer mit dem Umfang des Verteidigungsumfangs (sogenannte Aufwuchsfähigkeit) begründet. Obwohl die Kommission in ihrer Mehrheit die Beibehaltung der Wehrpflicht befürwortet, ist sie explizit der Auffassung (Ziff. 89), dass auch die Fluktuation einer Freiwilligenarmee von 220.000 Soldaten einen Verteidigungsumfang von mindestens 400.000 Soldaten ermöglicht.

Wehrpflicht contra Interventionsarmee?

Von links bis rechts gibt es noch große Unklarheit darüber, wie ein deutscher Militärbeitrag aussehen muss, der weder den Vorwurf militärischer Großmachtpolitik, noch den eines deutschen Sonderwegs provoziert. Die Kommission empfiehlt, dass sich die Bundesrepublik im militärischen Bereich an den konventionellen Streitkräften Großbritanniens (Präsenzumfang 204.000) und Frankreichs (Ziel 2002: 247.000) orientiert. Sie empfiehlt daher eine Freiwilligenarmee mit 220.000 SoldatInnen oder eine Armee von 240.000 Soldaten, davon 30.000 Wehrpflichtige die bedarfsorientiert heran gezogen werden. D. h., wenn es die Lage erfordert, könnten auch mehr oder weniger heran_gezogen werden. Die geringe Zahl der Wehrdienstleistenden, die für den zwangsweisen Freiheitsentzung angemessener bezahlt werden sollen, wurde von der Opposition und einem Kommissionsmitglied unter Verweis auf die Wehrgerechtigkeit als verfassungswidrig betrachtet. Wie verfassungskonform eine Wehrpflicht ist, die bei einem Geburtsjahrgang von 430.000 Männern nur einen Bedarf von 80.000 oder 100.000 Wehrpflichtigen hat, wird zu Recht in Frage gestellt. Nachdem junge Frauen künftig dürfen, Männer aber weiterhin auf unbefristete Zeit müssen, stellt sich die verfassungsrechtliche Frage auch von der Seite der Gleichberechtigung.

Die Beibehaltung der Wehrpflicht wird von der Kommission mit dem Argument der Flexibilität für die Wechselfälle der Geschichte begründet. Allerdings wurde bei der Pressekonferenz deutlich, dass es der Kommission im Kern um die Nachwuchsrekrutierung geht – alle Freiwilligenarmeen haben z. T. eklatante Nachwuchsprobleme. Obwohl die Kommission auch eine Wehrdienstzeit von 6 Monaten für machbar hält, plädiert sie für 10 Monate, um die Soldaten nicht nur auszubilden, sondern auch auf Funktionsposten einsetzen zu können. Die Vorschläge des Verteidigungsministers und des Generalinspekteurs, die Wehrdienstzeit in sechs plus drei Monate oder sieben plus zwei Monate zu splitten, hält sie für unrealistisch. Eine solche Regelung ist nicht nur viel teurer, sie bringt auch einen unvergleichlich hohen Verwaltungsaufwand mit sich. Sinn macht diese Splittung nur, wenn es darum geht, die Schlechterstellung des Zivildienstes aufrecht zu erhalten.

Während andere NATO-Staaten mit dem Ende des Ost-West-Konflikts auch das Ende der Massenarmeen in Europa gekommen sahen, hält die Bundesrepublik seit Jahren krampfhaft an der Wehrpflichtarmee fest.14 Mit Ausnahme der Grünen und der PDS haben sich alle Parteien für die Beibehaltung der Wehrpflicht ausgesprochen. Es ist jedoch auffällig, dass sich die GegnerInnen der Wehrpflicht nur mit halber Kraft für deren Abschaffung eingesetzt haben. Das nach meiner persönlichen Überzeugung unter verschiedenen Gesichtspunkten beste Konzept – eine Freiwilligenarmee von 200.000 SoldatInnen – litt erheblich unter Friendly Fire und Unforced Errors. Wie in der Friedensbewegung, so gibt es auch in den linken Parteien eine nicht unbedeutende Anzahl von Menschen, die für die Beibehaltung der Wehrpflicht sind, weil sie in der Wehrpflichtarmee die Alternative zu einer Interventionsarmee sehen. Wollen sie nicht sehen, dass die schlimmsten Interventionsarmeen nur mit Hilfe von Wehrpflichtigen aufgestellt und eingesetzt werden konnten? Die Beibehaltung der Wehrpflicht wird den Aufbau struktureller Interventionsfähigkeit nicht verhindern, sondern partiell sogar erleichtern. In der Begründung des Bundesministeriums der Verteidigung anlässlich des Normenkontrollverfahrens vor dem Landgericht Potsdam wird z.B. deutlich hervorgehoben, dass die Bundeswehr davon ausgeht, theoretisch auch Wehrpflichtige zu Out-of-Area-Einsätzen heran zu ziehen. Die angeschlagene Wehrpflicht soll also mit dem Verweis auf künftige potenzielle Auslandseinsätze weiter legitimiert werden.

Einsatzkräfte = Interventionskräfte?

Die Bundeswehr hat gegenwärtig Krisenreaktionskräfte in einem Umfang von ca. 62.000 Soldaten. Bislang werden die Kontingente aus einer Vielzahl von Standorten zusammengestellt und bedürfen einer zusätzlichen Einsatzvorbereitung. Gleichzeitig ging bei der Aufstellung der Krisenreaktionskräfte niemand davon aus, dass diese mehrere Jahre im Einsatz sind. Die Folge ist, dass viele Soldaten nun schon zum wiederholten Mal im Einsatz sind.

Mit Ausnahme der Grünen (100.000 bis 120.000) und der PDS (keine Angaben) schlagen alle politischen Parteien und die Hardthöhe vor, die Anzahl der Einsatzkräfte auf einen Umfang zwischen 140.000 bis 160.000 SoldatInnen zu erhöhen „Die Zahl der Soldaten“, so die Kommission, „hängt davon ab, welches Gewicht Deutschland künftig bei der Krisenbewältigung in die Waagschale werfen will“ (Ziff. 78). Wie die NATO, die EU, die USA, Frankreich und Großbritannien geht auch die Kommission von einem Szenario von zwei mittleren oder einem größeren Konflikt aus. Die Streitkräfte werden nicht mehr in Krisenreaktionskräfte und Hauptverteidigungskräfte geteilt, sondern es gibt nur noch Einsatzkräfte, die für das gesamte Spektrum der Aufgaben zuständig sind und auf eine militärische Grundorganisation für die Aufrechterhaltung von Ausbildung und Betrieb zurrückgreifen können.

Wenn sich die Opposition von CDU/CSU lautstark gegen eine Interventionsarmee nach Vorbild der Weizsäcker-Kommission ausspricht, dann deshalb, weil sie noch weitergehende Vorstellungen hat. Die Konservativen wollen eine Armee, die künftig alles kann, sogar den Einsatz im Inneren. Wer den Kommissionsbericht gründlich gelesen hat, kann eigentlich nur schwerlich zu der Einschätzung kommen, dass sich die Kommission für eine reine Interventionsarmee ausspricht. Sie macht an vielen Stellen deutlich, dass sie dem militärischen Mittel nur begrenzte Wirkung zubilligt und die EuropäerInnen „öfter Nein sagen müssen, als Ja sagen können“. Aber hier liegt die Crux. Durch Aufbau eines größeren einsatzbereiten Personalkaders und die perspektivische Beschaffung von Ausrüstungsgegenständen, die den Einsatz weit vom eigenen Land entfernt erlauben, schafft sich Deutschland die strukturellen Fähikgeiten zur militärischen Intervention. Will man strukturelle Sicherungen einbauen, dann ist es wichtig, den Auftrag möglichst eng auf den Bereich der Peacekeeping-Funktionen und territorial – mit Ausnahme von UN-Stand-by-Unterstützungen – auf Europa zu beschränken. Dieser Auftrag müsste sich im Bereich der Ausstattung auf ein enges Leistungs- und Mengengerüst niederschlagen.

Finanzierbarkeit

Welche Kosten die von Scharping vorgeschlagene Reform verursachen wird und welche Einsparungen er mit seinem Rationalisierungsprogramm erwirtschaften kann, weiß zum gegenwärtigen Zeitpunkt niemand. Die mittelfristige Finanzplanung wird bis zum Jahr 2003 zu einer weiteren Reduzierung des Verteidigungshaushalts auf ca. 43,7 Mrd. DM führen. Darüber hinaus sind im Einzelplan des Finanzministers 2 Mrd. DM als militärische Sonderausgaben für den Kosovo eingestellt. Da Scharping der Kommission bei vielen kostensparenden Vorschlägen (Halbierung der Standorte, 240.000 Friedensumfang, 300.000 Verteidigungsumfang + 100.000 Personalreserve) nicht folgen will, wird er das angestrebte – aber noch nicht näher bezifferte Modernisierungsprogramm nicht finanzieren können.

Sollte Scharping sich in den nächsten Wochen nicht eines Besseren hesinnen hat er beste Aussichten, als Don Quichote in die Ahnengalerie deutscher Verteidigungsminister einzugehen. Dort, „wo wir einen Scharnhorst oder Gneisenau“ bräuchten, lästerte der grüne Fraktionssprecher Schlauch, „haben wir einen Scharping“. Unfreiwillig auf den Feldherrenhügel abgeschoben, führt er dort unter Rückgriff auf verzerrende Übertreibungen, Alarmismus und politische Nötigung eine kraftzehrende Schlacht gegen eine grundlegende Reform der Bundeswehr. Dabei hat er mit seiner Vorgehensweise viele seiner politischen Weggefährten – den Kanzler und die militärische Führung eingeschlossen – erheblich vergrault. Scharping bleibt ein Minister auf Abruf, die Bundeswehrreform nur ein Baustein auf dem Weg zur nächsten.

IST CDU Kirchbach SPD Scharping Kommission FDP Bü90 / Grüne PDS
Berufssoldaten 60.000 40.000
Soldaten auf Zeit 130.000 170.000
Gesamt 190.000 200.000 202.300 190-200.000 200.000 210.000 195.000 200.000 100.000
Freiwillig Wehrdienstleistende (FWDL) 23.000 27.000 27.000 5.000
Wehrdienst
5 Monate
65.000
6 Monate X X 25.000
7 Monate X
9 Monate X 57.500 X 25.000
10 Monate 112.000 25.000
Gesamt 135.000 100.000 84.500 70-80.000 77.000 30.000 65.000
Bundeswehrumfang 325.000 300.000 290.300 260-280.000 277.000 240.000 260.000 200.000 100.000
mil. Grundorganisation ca. 140.000 113.000 127.000 100.000 110.000
Einsatzkräfte 60.000 ca. 160.000 157.000 140-150.000 150.000 140.000 150.000 100-120.000
Zivilpersonal 124.000 <<<100.000 80.000 80-90.000 80.000 100.000 80.000
Gesamtumfang 462.000 400.000 360.000 320.000 360.000 280.000
Verteidigungsumfang 680.000 600.000 500.000 500.000 300.000 + 100.000
Die Bundeswehr in Zahlen: Vergleich der vorliegenden Vorschläge zur Bundeswehrreform

Anmerkungen

1)Andreas Körner: Zurück in die Zukunft? Mit der Wehrstrukturkommission zu neuen Ufern?, in: WuF 1/99, S. 47 ff.

2)Bundesministerium der Verteidigung: Bestandsaufnahme. Die Bundeswehr an der Schwelle zum 21. Jahrhundert, Bonn, 3. Mai 1999.

3) Bundesminister der Verteidigung: Kompendium Friedenssicherung und die konzeptionelle Neuausrichtung der Bundeswehr, Berlin, 7. Oktober 1999.

4) »Eckwerte für die konzeptionelle und planerische Weiterentwicklung der Streitkfäfte«, Generalinspekteur von Kirchbach, 23.05.00 (www.bundeswehr.de/ministerium/politik_aktuell/zukunftskonzepte.html).

5) Arbeitsgruppe Verteidigungspolitik der CDU/CSU Bundestagsfraktion: Sicherheit 2010. Die Zukunft der Bundeswehr, Berlin, 22. Februar 2000; siehe auch Beschluss des Bundesfachausschusses Außen- und Sicherheitspolitik der CDU: Positionspapier Zukunft der Bundeswehr, Berlin, den 21. März 2000.

6) »Die Bundeswehr sicher ins 21. Jahrhundert«, Bundesminister der Verteidigung vom 01.06.00 (www.bundeswehr.de).

7) Arbeitsgruppe Sicherheitsfragen der SPD-Bundestagsfraktion: Zur Reform der Bundeswehr, Berlin, den 18. Mai 2000; Positionspapier der SPD-Bundestagsfraktion zur Bundeswehrreform, 06.06.2000.

8) CSU: Eine leistungsfähige Sicherheits- und Verteidigunspolitik für ein stabiles Europa.

9) F.D.P.-Bundestagsfraktion: Bundeswehr 2000. Auftragsgerechter Maßanzug für Attraktivität und Effizienz, 16. März 1999.

10) Konzept der PDS-Bundestagsfraktion zur Zukunft der Bundeswehr: Für eine 100.000-Personen-Armee, 17. Mai 2000.

11) Die Bundeswehr reformieren. Leitlinien der SPD-Bundestagsfraktion vom 17.05.2000; Die Bundeswehr reformieren. Eckpunkte der Bundestagfraktion Bündnis 90/Die Grünen vom 06.06.2000.

12) Siehe hierzu u. a. Zwischenbericht der Baudissin-Kommission des IFSH in: FR-Dokumentation v. 09.06.2000, Volker Kröning: Die Bundeswehr im Jahre 2005, in: Defensive und Intervention. Die Zukunft Vertrauensbildender Verteidigung, Bremen 1998, S. 129 ff.; Jürgen Schnell/Universität der Bundeswehr München: Studienreihe »Zur Zukunft der Bundeswehr« http://www.unibw-muenchen.de/campus/WOW/v1054miloek1.html,

13) Otfried Nassauer: Die Bundeswehr auf Reformkurs? in: ami 4/00. S. 6 ff.

14) Siehe Andreas Körner: Wehrpflicht am Wendepunkt, WuF 4/96, S. 20ff.

Andres Körner ist Referent für Friedens- und Sicherheitspolitik beim Abgeordneten Winfried Nachtwei, Bündnis 90/Die Grünen. Der Beitrag gibt nur die persönliche Einschätzung des Autors, nicht jedoch die des Abgeordneten oder der Fraktion wieder.

Die Gleichberechtigungsfalle

Die Gleichberechtigungsfalle

»Freiwilliger Waffendienst«: Gleiches Recht auf Unrecht

von Anne Rieger

Der Anti-Diskriminierungsausschuss der UN rügte vor einigen Tagen die Tatsache, dass Frauen in Deutschland nach wie vor in vielen Bereichen diskriminiert werden: Sie erhalten nur 77 Prozent des Durchschnittsverdienstes von Männern, haben mehr als 90 Prozent der prekären und unzureichend bezahlten Teilzeitjobs inne und, obwohl mehr Frauen als Männer ein Studium beginnen, besetzen sie nur neun Prozent aller ProfessorInnenstellen. 94 Prozent der höchstdotierten Posten in Wirtschaft und Wissenschaft sind von Männern besetzt. An dieser Situation hat sich seit zehn Jahren kaum etwas geändert.

Ja, es ist höchste Zeit, Gleichberechtigung und Gleichstellung von Frauen auf allen Ebenen unserer Gesellschaft herzustellen. Aber waren das auch die Beweggründe des Deutschen Bundeswehrverbandes (DBwV) als er 1996 Tanja Kreil seine Hilfe anbot? Wir erinnern uns: Frau Kreil hatte sich damals beim Elektronik-Instandsetzungsdienst der Bundeswehr beworben und war abgelehnt worden, da die damit verbundene Waffenausbildung für Frauen dem Grundgesetz widerspreche. Der DBwV stellte daraufhin Tanja Kreil Rechtsschutz und seinen Vertragsanwalt zur Verfügung. Mit dessen Unterstützung klagte sie vor dem Europäischen Gerichtshof (EUGH) auf die Einhaltung der Gleichbehandlungsrichtlinie des Europäischen Rates aus dem Jahre 1976 bezüglich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg. Sie klagte mit Erfolg: Unter großer öffentlicher Beachtung sprachen sich die RichterInnen im Januar für einen Zugang der Frauen in Deutschland zum Dienst mit der Waffe aus.

Der Vorsitzende des DBwV, Oberst Bernhard Gertz, jubelte: „Hier ging es um die Beseitigung eines Berufsverbotes.“ Noch am gleichen Tag veranlasste Peter Wichert, Staatssekretär im Verteidigungsministeriums, die Bildung einer Steuergruppe »Frauen in den Streitkräften«, die bis zum 29. Februar einen Entwurf zum Handlungs- und Entscheidungsbedarf vorlegen sollte. Minister Rudolf Scharping, der bereits im Juli 1999 ankündigte Frauen auch im Wachdienst, also »mit der Waffe« einzusetzen, begrüßte das Urteil und versprach einen abgestimmten Gesetzentwurf zur Kabinettsbehandlung noch vor der Sommerpause. „Eine historische Entscheidung zugunsten der Frauen in Europa, insbesondere aber in Deutschland“, fasste Peter Dreist in »Bundeswehr aktuell« das Ergebnis zusammen.

Bei so viel männlicher Unterstützung in der Gleichberechtigungsfrage wundert frau sich! Noch immer sind die Beschlüsse des EUGH zur Lohngleichheit und gegen mittelbare Diskriminierung von Frauen in der Bezahlung in der Bundesrepublik nicht umgesetzt, noch immer kann von Chancengleichheit im zivilen Bereich, in Familie, Beruf und Gesellschaft keine Rede sein. Hier wird gemauert, doch wenn es um die Bundeswehr geht, werden »einflussreiche« Männer plötzlich schwach und entdecken die Gleichberechtigung. Das ist dann doch mehr als merkwürdig und legt den Schluss nahe, dass hier der Wunsch und das Recht von Frauen auf technisch anspruchsvolle Arbeitsplätze zur Legitimation der Bundeswehr und zur Militarisierung der Gesellschaft missbraucht werden sollen.

Ist der Zugang zum Dienst an der Waffe wirklich „die Nagelprobe auf die Akzeptanz der Unteilbarkeit von BürgerInnenrechten“ wie Christa Schenk (PDS) es sieht? Ist es wirklich ein „weiterer Schritt zum Abbau rechtlicher Benachteiligung von Frauen“ (Deutscher Frauenrat), liegen darin wirklich „neue berufliche Entwicklungsmöglichkeiten in technisch anspruchsvollen Jobs“ (Ursula Engelen-Kefer, DGB)? Ist denn SoldatIn sein – das abgerichtet werden zum Töten auf Kommando – ein Beruf wie jeder andere? Kann frau wirklich die gleichberechtigte »Lizenz zum Töten« als höchste Stufe weiblicher Emanzipation verstehen oder sollte nicht vielleicht doch den Frauen aus Parteien und Gewerkschaften angesichts dieses Schritts zur Gleichberechtigung der Jubel im Halse stecken bleiben? Emanzipation heißt doch nicht Nachahmung männlicher Dummheit, hat doch nichts mit Macho-Gleichstellung in Militärmaschinerien zu tun. Es ist schwer nachvollziehbar, dass es ein Fortschritt für die Frauen aus den USA gewesen sei soll, in Somalia, Haiti, Bosnien, am Golf und anderswo zu töten und getötet zu werden.

Emanzipation heißt Selbstbestimmung. Diesem Interesse dient aber kein Militär der Welt. Nach innen ist es undemokratisch, nach dem Prinzip von Befehl und Gehorsam organisiert, nach außen ist es ein Instrument der Unterdrückung, der Zerstörung von Mensch und Natur. Es dient der Aufrechterhaltung von Macht – auch der Aufrechterhaltung der Macht der Männer über die Frauen. Die US-Armee liefert hierfür den Beweis: Untersuchungen belegen, dass in der US-Armee, die mit 15 Prozent den höchsten Frauenanteil in der NATO hat, zwei Drittel der Frauen brutaler Unterdrückung durch sexuelle Belästigung, Nötigung bis zu Vergewaltigungen ausgesetzt sind.

Es hat auch wenig mit Gleichberechtigung zu tun, wenn frau als Lückenbüßerin Personaldefizite füllen soll. Seit dem ersten Kriegseinsatz der Bundeswehr wollen sich immer weniger Zeitsoldaten für zusätzliche Jahre verpflichten. Glaubt man dem Verteidigungsministerium fehlen 1000 Unteroffiziere und 2000 Offiziere; die Zahl der Kriegsdienstverweigerer hat das historisches Hoch von 174.348 erreicht. Der Begriff »Reservearmee« bekommt da einen neuen, einen makabren Klang.

Viel zu tun hat die Frage »Frauen und der Dienst mit der Waffe« allerdings mit der sozialen Frage. Das wird deutlich, wenn mensch sich die US-Armee ansieht und feststellen muss, dass die schwarzen Frauen in der »Truppe« deutlich in der Mehrzahl sind, während angesichts einer florierenden Wirtschaft sich insbesondere die weißen Frauen vom Militär abwenden um sich im zivilen Bereich nach beruflichen Alternativen umzusehen. In Italien gibt das Verteidigungsministerium offen zu, dass bei den Bewerbungen der Frauen zur Armee die hohe Arbeitslosigkeit im Süden eine große Rolle spiele. Dass sich bei uns vor allem in Ostdeutschland zunehmend Frauen bei der Armee bewerben sagt denn auch weniger aus über die Berufswünsche von Frauen, als über ihre Perspektivlosigkeit auf dem zivilen Arbeitsmarkt angesichts der gewaltigen Massenarbeitslosigkeit.

„Frieden ist der Ernstfall“ hieß der Auftrag der Bundeswehr noch vor 10 Jahren. Doch spätestens seit den Verteidigungspolitischen Richtlinien von 1993 gehört zum »Ernstfall« „die Aufrechterhaltung des freien Welthandels und des ungehinderten Zugangs zu Märkten und Rohstoffen in aller Welt“. Die militärische Ergänzung zum politischen und ökonomischen »Weltmachtstreben«. Die Bundeswehr soll weltweit eingesetzt werden können, auch um gegebenenfalls Wirtschaftsinteressen durchzusetzen. Dazu werden die sogenannten Krisenreaktionskräfte hochgerüstet.

Der „Zweck von Waffen ist es, genutzt zu werden“, erklärt Boeing-Sprecherin Karen Vanderloo. Wozu? Um Kriege zu führen, denn das ist die Aufgabe von Armeen, dazu werden Soldaten und Soldatinnen ausgebildet. Das gilt auch für die deutsche Armee und zwar jetzt »out of area«, d.h. unter Umständen weltweit und nicht nur zur Verteidigung. Ich wehre mich aber dagegen, dass in unserem Land Menschen zum Töten ausgebildet werden und dass in unserem Namen Angriffskriege geführt werden. Angesichts unserer Geschichte, angesichts der schrecklichen Sonderrolle, die Deutschland bei den Kriegen dieses Jahrhunderts gespielt hat, kann für mich der Waffendienst für Frauen in anderen Ländern kein Beispiel sein.

Natürlich bin ich für Gleichberechtigung. Der Zugang von Frauen zur Waffe ist aber für mich in erster Linie keine »Frauenfrage«, sondern eine friedenspolitische. Statt in die Gleichberechtigungsfalle zu tappen gilt es sich gegen die weitere Militarisierung der Gesellschaft zu wehren. Weder Frauen noch Männer in die Bundeswehr!

Anne Rieger ist 2. Bevollmächtigte der IG-Metall Waiblingen, aktiv in der VVN-Bund der Antifaschisten und Mitinitiatorin einer Unterschriftensammlung »Frauen ans Gewehr – wir sagen nein!«