Die Legende lebt

Die Legende lebt

Zur Debatte um die Zukunft der Bundeswehr

von Jürgen Groß und Jürgen Rose

Es ist gewiss nicht die schlechteste Tradition in der Bundesrepublik, dass von Zeit zu Zeit über sicherheitspolitische Fragen sehr kontrovers und unter großer Anteilnahme der Öffentlichkeit diskutiert wird. Die Auseinandersetzungen um die Wiederbewaffnung in den fünfziger, um die Ostverträge zu Beginn der siebziger sowie den NATO-»Doppelbeschluss« Anfang der achtziger Jahre könnten ebenso als Beispiele herangezogen werden wie die seit Mitte der 90er Jahre allmählich einsetzende Debatte um die Zukunft der Bundeswehr. Der öffentliche Diskurs auch sicherheits- und militärpolitischer Themen ist einer entwickelten Demokratie angemessen und im Übrigen der Sache selbst keineswegs abträglich.
Leider konnte sich zu dieser Erkenntnis ausgerechnet ein ehemaliger Bundesverteidigungsminister nicht durchringen, der – von der Notwendigkeit einer Erneuerung der Bundeswehr von Grund auf zunächst durchaus überzeugt – vor dem Kartell der Nostalgiker, Lobbyisten und Besitzstandswahrer frühzeitig einknickte, sich in der Öffentlichkeit zu zentralen Fragen vorschnell festlegte, die Empfehlungen einer eigens berufenen Expertenkommission größtenteils ignorierte und fragwürdige Entscheidungen im Eiltempo durchzog. Die Folgen ließen denn auch nicht lange auf sich warten. Es zeigte sich sehr schnell, dass diese »Jahrhundertreform«, noch ehe sie richtig begonnen hatte, selbst schon wieder reformbedürftig war. Heute nun entdeckt man die damals verworfenen Vorschläge der Weizsäcker-Kommission neu, während die damalige Bundeswehrführung längst nicht mehr im Amt ist. Über die Qualität der Scharping’schen Halbreform ist damit eigentlich schon alles gesagt.

Die öffentliche Debatte, damals aus politisch kurzsichtigen Motiven vorzeitig beendet, bekommt also eine zweite Chance. Sie sollte nicht abermals verspielt werden. Das bedeutet, dass wirklich alle Aspekte dieser Thematik vorurteilsfrei geprüft werden müssen, auch und gerade die vermeintlichen Selbstverständlichkeiten. Dies war bisher nicht der Fall. Statt dessen ist die Diskussion bis heute nur zu oft von gebetsmühlenhaft wiederholten »Bekenntnissen« anstelle von konstruktivem Zweifel geprägt. Diese »Bekenntnisse« manifestieren sich in dreifacher Gestalt:

  • Erstens, die Bundeswehr brauche mehr Geld;
  • zweitens, das Leitbild des »Staatsbürgers in Uniform« sei vorbildlich verwirklicht
  • und drittens, die Beibehaltung der allgemeinen Wehrpflicht sei die bessere Alternative.

Alle diese Aussagen wirken auf den ersten Blick recht plausibel. Bei näherer Prüfung jedoch erweisen sie sich sämtlich als unhaltbar: In der Realität hat die Bundeswehr Geld genug, ist der »Staatsbürger in Uniform« kaum mehr als eine Fiktion, wäre eine Freiwilligenarmee der jetzigen Wehrform in jeder Hinsicht überlegen.

Die vermeintlichen Tatsachen erweisen sich also als Legenden. Es wird Zeit, mit ihnen aufzuräumen.

Legende Nummer eins: Die Bundeswehr ist unter-finanziert

Die zählebigste Legende. Dabei verkennen die ewigen Forderungen nach einer Aufstockung der finanziellen Mittel für die Streitkräfte völlig die notwendigen gesamtpolitischen Prioritätensetzungen. Denn Sicherheit ist ja nicht die einzige Aufgabe, die jeder Staat zu erfüllen hat (und militärische Stärke wiederum ist nur ein Instrument neben anderen, die möglicherweise geeignet sind, Sicherheit zu produzieren). Es gibt in der Geschichte des internationalen Systems zahlreiche nicht unbedingt nachahmenswerte Beispiele von Staaten, die ihrem Sicherheitsstreben einen allzu hohen Stellenwert beigemessen haben – mit verheerenden Folgen. Der Zusammenbruch der Sowjetunion ist vielleicht das augenfälligste, doch keineswegs das einzige Beispiele aus der Geschichte und auch die Gegenwart kennt etliche dieser zweifelhaften Vorbilder. Natürlich muss den politischen Entscheidungsträgern ein breiter Ermessensspielraum bei der Bestimmung des sicherheitspolitisch Notwendigen konzediert werden, dennoch erscheint die Forderung nach einem vernünftigen Gleichgewicht zwischen sicherheitspolitischen Zielen und den verfügbaren Mitteln nicht unbillig.

Vor diesem Hintergrund ist es doch sehr erstaunlich, dass die gegenwärtigen Einsatzaufträge der Bundeswehr, so problematisch und diffus sie teilweise auch sein mögen, so gut wie gar nicht öffentlich in Frage gestellt werden. Nach den bisherigen Erfahrungen im Zusammenhang mit den Ereignissen des 11. September erscheint keineswegs ausgemacht, ob dem Terrorismus mit militärischen Mitteln überhaupt substantiell beizukommen ist. Und welchen Beitrag die Patrouillenfahrten einiger Kriegsschiffe an einer eher willkürlich gewählten Weltgegend dazu leisten sollen, ist schon gar nicht nachvollziehbar. Und selbst hinsichtlich der Bundeswehreinsätze, die – schon aus geostrategischer Sicht – eher sinnvoll erscheinen, also auf dem Balkan, darf daran erinnert werden, dass sich Sicherheitspolitik nicht darin erschöpfen kann, in regelmäßigen Abständen das Mandat der dort eingesetzten Bundeswehrsoldaten zu verlängern, während politische Initiativen allenfalls eine nachrangige Rolle spielen. Die gegenwärtige Bundeswehrreform hat das Ziel, die Streitkräfte zu befähigen, zwei sogenannte mittlere Operationen gleichzeitig durchzuführen. Doch bereits heute, noch in der Phase des Umbaus, nimmt die Bundeswehr an nicht weniger als sechs mehr oder weniger personalintensiven Einsätzen teil, bei denen kein Ende abzusehen ist. Man kann sich nur schwer des Eindrucks erwehren, dass hier etwas gewaltig aus dem Ruder gelaufen ist.

Das gilt offensichtlich auch hinsichtlich der militärischen Mittel. Idealtypisch leiten sich diese vom Auftrag der Streitkräfte und diese wiederum von dem Ausmaß der militärischen Bedrohung oder Risiken ab. Davon ist längst keine Rede mehr. Stattdessen wird in der Öffentlichkeit primär mit bündnisinternen »Ranglisten« argumentiert, auf denen Deutschland den ihm gemäßen Platz einnehmen müsse. Dass diese Ranglisten (etwa Vergleiche des Anteils der Verteidigungsaufwendungen am Bruttoinlandsprodukt des jeweiligen Staates) nur sehr begrenzt darüber etwas aussagen, welchen Beitrag ein Land zu Stabilität, Sicherheit und Frieden in der Welt leistet, spielt dabei kaum eine Rolle.

Eine andere, kaum plausiblere Variante ist die Bezugnahme auf die militärischen »Fähigkeiten«. Wohlgemerkt, es handelt sich hierbei keineswegs um die Fähigkeiten potentieller Gegner, sondern ausschließlich um die der eigenen Alliierten, mit denen man »kompatibel« sein will. Im Grunde führt die NATO, auf die heute schon 70 Prozent der weltweiten Rüstungsausgaben entfallen, also nur einen absurden Rüstungswettlauf mit sich selbst.

Doch noch aus einem anderen Grund wirkt die ewige Klage, die Bundeswehr sei unterfinanziert, nicht so recht glaubhaft. Denn zu einem beträchtlichen Teil liegen der Finanzmisere auch gravierende bundeswehrinterne Verteilungs- und Optimierungsdefizite zugrunde. Statt den Empfehlungen der Weizsäcker-Kommission Folge zu leisten, den Personalumfang signifikant zu reduzieren und ungefähr die Hälfte der bestehenden Bundeswehrstandorte aufzulösen, begnügt man sich mit Minimalkorrekturen, die allen betriebswirtschaftlichen Argumenten Hohn sprechen. Militär scheint nicht mehr primär als sicherheitspolitisches, sondern eher als regional- und strukturpolitisches Instrument betrachtet zu werden. Außerdem verfügen nach wie vor die deutschen Streitkräfte über Verbände, deren Existenz sich nur aus dem mittlerweile obsoleten Auftrag der Landesverteidigung ableitet und knappe und wertvolle Ressourcen unnötig bindet. Und noch ein Umstand springt bei der Betrachtung der neuen Bundeswehrstruktur förmlich ins Auge: Der Personalumfang und die Anzahl der Verbände nehmen ab, die Anzahl der Hierarchieebenen aber bleibt. Die Leitungsspannen, d.h. die Zahl der direkt unterstellten Truppenteile bzw. Dienststellen, nehmen – vor allem auf den oberen Ebenen – zum Teil deutlich ab. Fast könnte man den Eindruck gewinnen, die Strukturen der Streitkräfte leiten sich weniger aus ihrem Auftrag ab, als aus dem Bestreben möglichst viele gut dotierte Dienstposten zu erhalten.

Diese hohlen Strukturen kontrastieren auf merkwürdige Weise mit einer Überfrachtung des soldatischen Alltags mit aus militärfunktionaler Sicht völlig sinnlosen Tätigkeiten. Allein die Ausbildung von jährlich rund hunderttausend Grundwehrdienstleistenden, die schon sechs bzw. neun Monate später die Bundeswehr wieder verlassen, stellt eine gewaltige Verschwendung von personellen und materiellen Ressourcen dar. (Dass das Festhalten an der allgemeinen Wehrpflicht überhaupt das Grundübel der aktuellen Misere in den deutschen Streitkräften ist, dürfte sich mittlerweile herumgesprochen haben; auf dieses Thema wird unten noch ausführlich eingegangen.) Doch damit nicht genug: Wie zu Zeiten des Alten Fritz vergeuden Rekruten und Ausbilder viele Stunden und Tage, um das »korrekte« Gehen, Stehen und Grüßen zu erlernen bzw. zu vermitteln. Und wie zu Kaiser Wilhelms Zeiten werden in der Truppe »Bälle« und ähnliche Veranstaltungen organisiert, zu deren Vorbereitung und Durchführung Teileinheiten, ja ganze Einheiten tage- und wochenlang lahmgelegt sind. Die Aufzählung ließe sich beliebig verlängern. Wer hier keinen Willen zu überfälligen Veränderungen, fast möchte man sagen: »Entrümpelungen« zeigt, hat jegliches Recht zur Klage über die angeblich unzureichenden Mittel verloren.

Im Übrigen kann es einer Armee, die beispielsweise immer noch etliche Musikkorps unterhält oder es sich leistet, Tausende von Soldaten als Kellner (sog. Ordonnanzen) einzusetzen, um ihre Offiziere und Unteroffiziere zu bedienen, so schlecht auch wieder nicht gehen.

Dies alles stützt den Befund: Die Bundeswehr hat nicht etwa zu wenig Geld, sie gibt es nur falsch aus.

Legende Nummer zwei: Der Soldat ist »Staatsbürger in Uniform«

Die verblüffendste Legende. Denn nirgendwo sonst klaffen Selbstwahrnehmung des Militärs und Realität so weit auseinander. Obwohl es in der Umsetzung der Konzeption der Inneren Führung eklatante Defizite gibt, wird bei jeder sich bietenden Gelegenheit von Seiten der Bundeswehr – subjektiv ganz ehrlich – dieselbe Innere Führung als »Gütesiegel« und »anerkanntes Markenzeichen«, nicht selten sogar als »Modell« für andere Armeen bezeichnet. Dabei handelt es sich bei den erwähnten Defiziten keineswegs um wohl nie ganz vermeidbare, aus menschlichen Unzulänglichkeiten resultierenden Umsetzungsprobleme und auch nicht um potentielle Gefahren, der die Konzeption durch verschiedene aktuelle Trends, wie etwa dem Ausbau und der Vertiefung multinationaler militärischer Strukturen, erwachsen könnten. Die Defizite sind vielmehr akut und substantiell und liegen bei unvoreingenommener Betrachtungsweise auch offen zutage; die Veröffentlichungen darüber jedenfalls sind Legion.

Woher rührt dann dieser Realitätsverlust? Weil das Verständnis von »Innerer Führung« innerhalb der Bundeswehr durchaus beliebig und auch völliges Unverständnis nicht selten anzutreffen ist. Das mag unglaublich erscheinen, aber es ist eine Tatsache. In den Streitkräften wird Innere Führung allenfalls als zwischenmenschliches Führungs- und Motivationskonzept – als Sozialtechnik also – gesehen, während sie nach ihrer Grundintention weit mehr ist, nichts Geringeres nämlich als die Verwirklichung staatlicher und gesellschaftlicher Normen im Militär.

Defizite der Inneren Führung sind also mitnichten nachrangig oder gar marginal. Sie sind auch nicht mit militärfunktionalen Argumenten aufzuwiegen. Effektivitätsdefizite einer Armee mögen ein sicherheitspolitisches Handicap darstellen, Demokratie- und Menschenrechtsdefizite in den Streitkräften sind dagegen unerträglich.

Es ist auch unzulässig, vielleicht doch erkannte Defizite in der Bundeswehr mit dem Verweis auf eventuell noch größere Missstände in anderen Streitkräften zu relativieren und zu bagatellisieren. Der einzig legitime Orientierungspunkt für das deutsche Militär sind und bleiben die Standards einer entwickelten Demokratie.

Bei Anlegung dieser Messlatte gibt es in der Bundeswehr, gelinde gesagt, ein erhebliches Entwicklungspotential. Der militärische Alltag kennt zahlreiche Beispiele, die dem rhetorisch hochgehaltenen Leitbild kaum entsprechen, ja vielfältig sogar konterkarieren. Notwendig wäre ein der Zeit angemessenes Soldatenbild, in dem etwa den Kategorien »Motivation«, »Anreize« und »Eigenverantwortung« eine weit größere Bedeutung zukäme. Stattdessen setzt die Bundeswehr nach wie vor auf zwangsrekrutiertes, kaserniertes, mit zahlreichen antiquierten Normen traktiertes und bevormundetes Personal. Und ist es wirklich notwendig und angemessen, dass das militärische Prinzip von Befehl und Gehorsam – im Einsatz unabdingbar – bis in den letzten Winkel der Streitkräfte und auf alle Routinetätigkeiten des militärischen Alltags, wo es keineswegs um Leben und Tod geht, unreflektiert ausgedehnt wird? Und wirken – um nur noch ein weiteres Beispiel zu nennen – vordemokratische Veranstaltungen wie »Feierliche Gelöbnisse« nicht in besonderem Maße anachronistisch, für den unvoreingenommenen Betrachter befremdlich und für die Betroffenen vielleicht ein wenig unwürdig, indem nämlich Soldaten gezwungen werden, sich einheitsweise, mechanisch und in starrer Körperhaltung, gleichsam marionettenhaft zum Einsatz ihres Lebens zu verpflichten, wo doch – dem tiefen Ernst der Situation entsprechend – Nachdenklichkeit und Selbstprüfung weit angebrachter wären? Dem Betrachter stellt sich, diese Beispiele vor Augen, denn doch die Frage, was das für eine »Bundeswehr der Zukunft« werden soll, wenn diese in so grundlegenden Dingen noch nicht einmal in der Gegenwart angekommen scheint. Den Reformbedarf auf diesem Gebiet nicht erkannt oder als weniger wichtig eingestuft und beträchtliche Gestaltungsmöglichkeiten ungenutzt gelassen zu haben, zählt wohl zu den unbegreiflichsten Versäumnissen, die der politischen und militärischen Führung in den letzten Jahren angelastet werden mussten.

Legende Nummer drei: Die Wehrpflicht ist unver-zichtbar

Die verhängnisvollste Legende. Bis heute beharrt die politische und militärische Führung in Deutschland auf der Beibehaltung einer antiquierten Wehrform, die die Bundeswehr als Hemmschuh bei allen Reformbemühungen mit sich herumtragen muss und sich immer offensichtlicher als Grundübel der akuten Misere der deutschen Streitkräften herausstellt. Warum tut sie das? Sicherheitspolitische, bündnispolitische, militärfunktionale und ökonomische Gründe scheiden aus. Aus sämtlichen der erwähnten Perspektiven spricht längst alles für den unverzüglichen Übergang von einer Wehrpflichtarmee zu Freiwilligenstreitkräften. (Um Missverständnissen vorzubeugen: Die Rede ist hier von »echten« Wehrpflichtigen, die derzeit neun Monate Grundwehrdienst leisten und für die Verwendung von Auslandseinsätzen nach übereinstimmendem Urteil nicht geeignet sind. Die häufig zu vernehmenden – nur scheinbar das Gegenteil beweisenden – Lobeshymnen beziehen sich in der Regel auf die auch im Ausland dienenden sogenannten freiwilligen zusätzlichen Wehrdienst Leistenden [FWDL], die de facto nichts anderes als Kurz-Zeitsoldaten sind. Hier wird also – bewusst oder unbewusst – vielfach Etikettenschwindel betrieben.) Was den ökonomischen Aspekt anbetrifft: Selbstverständlich sind die budgetären Kosten für einen einzelnen Grundwehrdienstleistenden niedriger als die für einen Zeitsoldaten; wenn man jedoch alle volkswirtschaftlichen Kosten miteinbezieht, reduziert sich diese Differenz beträchtlich; im Übrigen interessieren in diesem Zusammenhang nur die insgesamt in den Streitkräften anfallenden Personalkosten – kein seriöses Modell für Freiwilligenstreitkräfte geht von einem Personalumfang von 285.000 Soldatinnen und Soldaten aus.

In der gegenwärtigen Debatte müssen vor allem zwei »Begründungen« immer wieder dafür herhalten, warum die Wehrpflicht angeblich noch notwendig sei. Da ist zum einen das Argument, die Bundeswehr gewinne derzeit rund die Hälfte ihres Nachwuchses an Offizieren und Unteroffizieren aus den Reihen ihrer Wehrpflichtigen. Doch ist das nicht allzu simpel gedacht? Ist die Nachwuchslage einer Armee nicht das Resultat einer Summevon Faktoren, die alle mit der Einschätzung der Attraktivität des Arbeitgebers Bundeswehr zu tun haben (auch im Vergleich zur zivilen Konkurrenz) – also eine Gleichung mit vielen Unbekannten, in die auch potentielle negative Werbeeffekte wie die mit hoher Glaubwürdigkeit ihrem sozialen Umfeld übermittelten Erlebnisberichte frustrierter Grundwehrdienstleistender mit einzubeziehen wären? Und dass es mit der Attraktivität der deutschen Streitkräfte gegenwärtig nicht zum Besten bestellt ist, zeigt sich schon daran, dass etwa die Weiterverpflichtungsneigung nach den Erfahrungen bei Auslandseinsätzen drastisch sinkt. Dass andererseits das Potential vorhanden wäre, zeigt sich an folgender Entwicklung: Seit Ende des Jahres 2001 explodiert geradezu die Zahl der jungen Männer und Frauen, die sich für den freiwilligen Dienst in der Bundeswehr bewerben. Das hat zum einen mit der Lage auf dem Arbeitsmarkt, weitaus mehr aber damit zu tun, dass die Bundeswehr endlich auch für die Soldatinnen und Soldaten auf der Ebene der Mannschaften und Unteroffiziere äußerst attraktive Angebote zivil verwertbarer Aus- und Weiterbildung macht. Das Hauptproblem der Bundeswehr besteht gar nicht mehr darin, dass sie nicht genügend Nachwuchs benötigter Qualität anlockt, sondern dass die Kapazitäten der Nachwuchsgewinnungsorganisation hoffnungslos damit überfordert sind, »wehrwilliges« Personal zeit- und bedarfsgerecht in die Streitkräfte einzusteuern. Mit anderen Worten: Es gibt etliche Stellen, an denen man ansetzen kann (ja sogar muss), um die Nachwuchslage zu verbessern – das starre Beharren auf eine antiquierte Wehrform allein genügt sicher nicht. Doch selbst wenn es genügen würde: Es ist völlig unverhältnismäßig, Jahr für Jahr über 100.000 Mann einzuziehen, nur um einige tausend Freiwillige zu bekommen.

Das zweite Argument der Wehrpflichtbefürworter liegt auf der gesellschaftspolitischen Ebene. Doch ist es – bei näherem Hinsehen – ebenso unhaltbar. Denn zu einer Überschätzung der gesellschaftspolitischen Integrationsleistung der Wehrpflichtigen besteht absolut kein Anlass: Die allgemeine Wehrpflicht ist in der Bundesrepublik seit vielen Jahren kaum mehr als eine Fiktion. Zudem kann davon ausgegangen werden, dass die überwiegenden Einstellungen der jüngeren Freiwilligen mit kurzer Verpflichtungszeit von den Einstellungen der derzeitigen Wehrpflichtigen wohl gar nicht so weit voneinander entfernt liegen. Eine drastische Reduzierung des Berufssoldatenanteils sowie eine auf ein vertretbares Mindestmaß begrenzte Dienstzeit der übrigen Freiwilligen sind daher auch die Kennzeichen seriöser alternativer Strukturmodelle, wie etwa des von der Kommission »Europäische Sicherheit und Zukunft der Bundeswehr« am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH) entwickelten Bundeswehrmodells 200F.

Doch selbst wenn man einer Wehrpflichtarmee unerreichbare Integrationsleistungen konzedieren wollte – was wie gesagt nicht der Fall ist –, so sind in dieser Hinsicht neben der Wehrform zahlreiche weitere Variablen relevant, die die unterstellten Defizite einer Freiwilligenstreitkraft gegebenenfalls mehr als kompensieren könnten. Es gibt vermutlich weit effizientere Wege, Streitkräfte in der Demokratie zu verankern und der Kontrolle durch eine pluralistische Gesellschaft zu unterwerfen, als das Beharren auf einer antiquierten Wehrform.

Man könnte sogar noch einen Schritt weiter gehen und zu dem Schluss kommen, dass etwaige Pluspunkte der allgemeinen Wehrpflicht aus der gesellschaftspolitischen Perspektive nicht nur überschätzt werden, sondern dass die Nachteile dieser Wehrform alle Vorteile in der Summe überwiegen. Denn in ein der Zeit angemessenes Soldatenbild, in dem – wie oben in anderem Zusammenhang bereits erwähnt – etwa den Kategorien »Motivation«, »Anreize« und »Eigenverantwortung« eine weit größere Bedeutung als bisher zukommt und damit dem Leitbild des »Staatsbürgers in Uniform« sehr viel näher kommt, fügt sich die bisher praktizierte Zwangsrekrutierung schwerlich ein. Auch in dieser Hinsicht erweist sich die Wehrpflicht also als Modernisierungshindernis.

Wenn also auch diese am häufigsten verwendeten Argumente der Wehrpflichtnostalgiker einer näheren Prüfung nicht standhalten, ist das ein untrügliches Zeichen dafür, dass diese Wehrform wirklich ausgedient hat.

Perspektiven

In der Summe ist dies kein erfreulicher Befund. Und nicht jeder wird ihn teilen wollen. Doch wer sich weigert, den Tatsachen ins Auge zu sehen und sich stattdessen lieber an Mythen und Legenden klammert, erweist den Streitkräften keinen guten Dienst. Tabuisierung und Schönfärberei sind so ziemlich das Letzte, was die Bundeswehr zur Zeit gebrauchen kann.

Die Debatte muss weiter gehen – kontrovers, sachlich, ohne Legenden. Kritik und Widerspruch sind die belebenden, konstruktiven Elemente. Diese Erkenntnis könnte zu einem nicht geringeren Teil als der chronische finanzielle Druck als neuer Anstoß dienen, endlich wirkliche Reformen zu wagen.

Einige Ansätze sind ja bereits erkennbar: Etwa die Vereinbarung der Regierungskoalition, die Wehrpflicht im Laufe der Legislaturperiode erneut auf den Prüfstand zu stellen. Oder das Diktum des Verteidigungsministers, die Bundeswehr werde die Mittel bekommen, die sie brauche, um ihren Auftrag zu erfüllen – jedoch: „Wenn wir das Geld nicht haben, werde ich den Auftrag ändern.“ Auch die angekündigte Reduzierung überzogener Rüstungsprojekte könnte man in diesem Zusammenhang anführen. Bleibt die Legende vom »Staatsbürger in Uniform«: Man möchte an die politische Führung appellieren, die relativ weiten Gestaltungsspielräume in diesem Bereich mutiger als bisher zu nutzen, ansonsten steht zu befürchten, dass das vielzitierte Leitbild ein weiteres halbes Jahrhundert wieder nur als Legende lebt.

Oberstleutnant i. G. Dr. Jürgen Groß und Oberstleutnant Jürgen Rose sind Mitarbeiter des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH).

Rosige Ankündigungen, graue Taten

Rosige Ankündigungen, graue Taten

Zum außen- und sicherheitspolitischen Teil des SPD/Grünen-Koalitionsvertrags

von Paul Schäfer

Die »rot-grüne« Regierungsübernahme 1998 nach 16 Jahren Helmut Kohl war von großen Erwartungen begleitet. Nicht zuletzt die Koalitionsvereinbarung nährte diese Hoffnungen. In ihr fanden sich nicht wenige Anliegen engagierter Gruppen im außerparlamentarischen Bereich wieder. Joschka Fischer war zwar vor Amtsantritt nicht müde geworden, Kontinuität zu betonen, aber konnte man das nicht gut und gerne unter diplomatischer Routine abhandeln? „Deutsche Außenpolitik ist Friedenspolitik“, lautete der erste Satz des Abschnitts über internationale Politik. Doch die Tinte unter dem Koalitionsvertrag war kaum trocken, als die neue Regierungscrew nach Washington bestellt wurde, um Deutschland auf einen NATO-Militäreinsatz im ehemaligen Jugoslawien einzuschwören. Die Enttäuschung saß tief, dass es just diese Regierung war, die erstmals eine unmittelbare deutsche Beteiligung an Kriegshandlungen vollzog. Manche trösteten sich damit, dass es sich um eine einmalige Entgleisung gehandelt haben könnte. Aber nach dem 11.9.2001 prägte Kanzler Schröder das Wort von der „Enttabuisierung des Militärischen“. Wenn er dennoch wiedergewählt wurde, dann nicht dieses Satzes wegen, sondern weil sich »Rot-Grün« im Wahlkampf als besonnene Anti-Kriegspartei präsentierte. Doch was gilt nun nach der erfolgten Wiederwahl? Welche Aufschlüsse gibt diesbezüglich die Koalitionsvereinbarung?
Mit der deutschen Beteiligung am NATO-Luftkrieg waren wichtige Kernsätze des Koalitionsvertrages (Bedeutung der Vereinten Nationen, Wahrung des Völkerrechts) Makulatur geworden. Wenn jetzt viele Aussagen des Vertrages von 1998 wiederholt werden, ist davon auszugehen, dass wieder das gleiche Grundmuster bedient wird. Tatsächlich überwiegt, wenn man die Koalitionsverträge von 1998 und 2002 vergleicht, Kontinuität – bei einigen Neuakzentuierungen.

Widerspruch zwischen Deklaration und politischer Praxis

Der frisch gebackene Außenminister Fischer prägte damals den bemerkenswerten und klugen Satz, man wolle Kontinuität, um Spielräume für neue Politikansätze überhaupt eröffnen zu können. Doch damit war es nicht weit her. Bescheidene Vorstöße, etwa zur Regulierung der internationalen Finanzmärkte durch Oskar Lafontaine oder zur Revision der NATO-Doktrin vom atomaren Erstschlag, wurden, nachdem man sich eine Abfuhr eingehandelt hatte, schlicht ad acta gelegt. Neu scheint nun ein gewisser »Realismus« zu sein, der darin zu bestehen scheint, dass man solche kühnen Vorstöße gar nicht mehr erwägt.

Ein neuer Akzent liegt auch darin, dass unter dem Eindruck der Terroranschläge allenthalben von Sicherheitserfordernissen die Rede ist. In der Regierungserklärung von Gerhard Schröder wird dieses Leitmotiv deutlich betont. Der Bundesregierung gehe es um „eine Gesellschaft, die […] umfassend Sicherheit bereitstellen kann.“1 International werbe die Regierung für einen erweiterten Sicherheitsbegriff, hieß es da.

Zum deklarierten Kontinuum deutscher Außenpolitik (gewissermaßen auch die Standards rot-grüner Außenpolitik) gehören:

  • Eine multilateral ausgerichtete Politik, die bei der Lösung globaler Probleme auf die UNO und ihre »Unterorganisationen«, wie der OSZE setzt;
  • der hohe Stellenwert der transatlantischen Zusammenarbeit, der sich in einem Bekenntnis zur loyalen Partnerschaft mit den USA und zur Unverzichtbarkeit der NATO äußert;
  • die überragende Bedeutung des europäischen Integrationsprozesses für die deutsche Politik;
  • Abrüstung & Rüstungskontrolle, Entwicklungspolitik als globale Zukunftssicherung.

Eine kritische Sicht auf den Koalitionsvertrag wird nicht nur Widersprüche zwischen den verschiedenen Grundelementen dieser Orientierung aufspüren, sondern auch den Konkretionsgehalt der jeweiligen Abschnitte genauer unter die Lupe nehmen müssen. Diese Prüfung wird im Lichte der Erfahrungen vorgenommen werden. Was bedeutet die Widerborstigkeit der Schröder/Fischer-Regierung in Sachen Irak-Krieg für den künftigen Kurs der Regierung? Wie ernst sind dieses Mal die Aussagen zu werten, dass man das Völkerrecht beachten wolle, dass den Vereinten Nationen eine Schlüsselrolle zukomme, dass man für Gewaltverzicht eintrete?

Schlüsselfrage Nr. 1: US-Empire

Die gegenwärtige Irak-Politik macht das Dilemma der Schröder/Fischer-Regierung schlaglichtartig klar: Man hat ernste Einwände gegen den geplanten US-Krieg. Dessen Legitimation stünde nach Meinung der Bundesregierung auf schwachen Füßen; der Krieg käme ungelegen, weil er die Bewältigung akuter anderer Krisenherde (Afghanistan, Kaschmir, v.a. Nahost) erschwert und weil er die Gefahr unkontrollierbarer Entwicklungen in der Golfregion immens verstärkt. Andererseits ist die Bundesregierung nicht kategorisch gegen Militärinterventionen, wenn es um die Durchsetzung »westlicher« Interessen geht (die ja gerne als »Verantwortung der Weltgemeinschaft« verbrämt werden). Das Kanzler-Wort von der »Enttabuisierung des Militärischen« bleibt im Koalitionsvertrag unerwähnt, wird aber eben auch nicht widerrufen. Die Bundesregierung trägt das Strategische Dokument der NATO vom April 1999 mit, das sog. »friedensschaffende« Militäreinsätze der Allianz vorsieht.

Ist es vor diesem Hintergrund mehr als Zufall, dass die Zielstellung der 98er-Vereinbarung, die Aufgaben der NATO jenseits der Bündnisverteidigung an die Normen und Standards von VN und OSZE binden zu wollen, dieses Mal fehlt? In diesem Kontext genauso entscheidend: Die Bundesregierung akzeptiert die Führungsrolle der USA, nicht nur beim Kampf gegen den Terrorismus, sondern bei der Sicherung der gemeinsamen »Werte« und »Interessen«. Ihr Einwand gegen den drohenden Krieg bezieht sich ausschließlich auf die neue aggressive US-Strategie, unliebsame Regimes militärinterventionistisch – auch ohne Legitimation des VN-Sicherheitsrates – stürzen (»regime-change«) zu wollen. Dieser Einwand ist zwar erheblich, aber doch nicht so kategorischer Natur, dass die Regierung alles daransetzen würde, den Krieg zu verhindern. Zumal sie – nicht zuletzt nach den erheblichen Verstimmungen im Wahlkampf – alles daran setzen will, ihre Loyalität gegenüber dem Großen Bruder wieder unter Beweis zu stellen.

Daher hat die Bundesregierung eine moderate Linie des Widerspruchs gewählt: Keine Beteiligung eigener militärischer Verbände, aber auch keine Einwände gegen die Nutzung US-amerikanischer Militärbasen hierzulande für Angriffe gegen den Irak, kein demonstrativer Abzug der Spürpanzer aus Kuwait. Schon jetzt ist absehbar, dass man die Differenz zwar nicht aufgeben, aber den USA noch weiter entgegenkommen will. Die Bundesregierung hat eine Erhöhung des militärischen Beitrages der Bundeswehr in Afghanistan angekündigt, der die USA entlasten würde – Minister Struck wurde daraufhin prompt zu Mr. Rumsfeld vorgelassen, musste sein Dinner aber in der Deutschen Botschaft einnehmen. Ob sich die Bundesrepublik, falls es zum Krieg kommt, am sog. post-conflict-building, am Wiederaufbau mit militärischen Mitteln beteiligt, scheint noch nicht endgültig geklärt.

Seit dem Dissens in der Irak-Frage hat die Bush-Administration deutlich gemacht, wie man mit unsicheren Kantonisten umzuspringen gedenkt. Berlin wurde eine Liste von Forderungen übergeben, deren Erfüllung darüber entscheide, ob Deutschland noch einmal „eine zweite Chance“ gegeben werde.2 Darin ging es insbesondere um den NATO-Gipfel in Prag und um deutsches Wohlverhalten in drei Angelegenheiten:

  • Zustimmung zu einer großen, zweiten Ost-Erweiterungsrunde der NATO,
  • Bereitschaft zur Aufnahme der Türkei in die EU und
  • Unterstützung eines Plans zur Aufstellung einer neuen NATO-Eingreiftruppe (»NATO Response Force«).

Die 21.000-Mann starke Truppe soll künftig die Speerspitze der NATO bei der »Terrorismus«-Bekämpfung bilden, genauer gesagt: Sie wird wohl den US-amerikanischen Marines, die als klassisches Expeditionskorps für weltweite Einsätze ausgelegt sind, nachgebildet werden. Der amerikanische Vorschlag soll nicht zuletzt Sand ins Getriebe der EU-Bemühungen um eine 60.000 Mann umfassende Interventionstruppe werfen. Es deutet sich eine Arbeitsteilung an, die den USA und der von ihr geführten NATO die »harten Militäreinsätze« vorbehält, während das europäische Kontingent eher für »peace-keeping-Einsätze« vorgehalten werden soll. Außenminister Fischer hat nun der NATO-Eingreiftruppe unter Vorbehalt zugestimmt. 3 Die neue Truppe müsse mit der Aufstellung der EU-Krisenreaktionskräfte vereinbar sein, sagte er.

Das transatlantische Gezerre um europäische Militäreinsätze wird also weiter gehen. Woran die USA wirklich interessiert sind, hat jüngst NATO-Botschafter Nicholas Burns deutlich gemacht: Deutschland müsse endlich zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts in die Rüstung stecken. Das wären schlappe 40 Milliarden € (Ist-Stand knapp 25 Mrd.)4 Man kann auch Freunde »totrüsten«.

Die angesprochene Umgangsweise ist kein kurzfristiger Reflex auf Schröders Wahlkampf-»Entgleisung«, sondern konkreter Ausdruck eines neuen Selbstbewusstseins relevanter Teile der US-Eliten. Spätestens seit den Ereignissen von »NineEleven« sehen sie die USA dazu berufen, ein Empire zu errichten, das der Welt Stabilität, Wohlstand und Freiheit garantiert, und nebenbei die eigene, uneingeschränkte Vorherrschaft für das 21. Jahrhundert sichert. Mit der New Security Strategy des Präsidenten Bush wird diese Doktrin festgeschrieben und in entsprechende Schlussfolgerungen gegossen. Dabei geht es um die dauerhafte Sicherung der militärischen Dominanz, um das Recht zu präemptiven Angriffskriegen, wenn es die »eigene Sicherheit« erfordert, und um die langfristige Verhinderung von möglichen Gegen-Allianzen.

Wer die Vereinten Nationen in eine Schlüsselrolle bei der Bewältigung der Herausforderungen des 21. Jahrhunderts bringen will, wer einer Zivilisierung und Verrechtlichung der Internationalen Beziehungen das Wort redet, muss sich dieses Grundkonflikts bewusst sein: Diese noblen Ziele der Bundesregierung sind den Plänen des US-Empire diametral entgegengesetzt.

Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass sich die Benennung dieses Konflikts in einer von diplomatischen Zwängen geprägten Regierungserklärung wiederfindet. Aber leider ist die Verdrängung dieses harten Widerspruchs Methode bei allen europäischen Regierungen, die deutsche eingeschlossen. Hat man damit vor der gewiss schwierigen Aufgabe europäischer Selbstbehauptung nicht bereits kapituliert?

Die USA unter George W. Bush lehnen internationale Rüstungskontroll- und Abrüstungsvereinbarungen ab. Wie also will die Bundesregierung ihr Ziel der „vollständigen Abschaffung aller Massenvernichtungswaffen“ durchsetzen? Wie soll die konsequente Ächtung der B- und C-Waffen erreicht werden?

Die US-Administration lehnt die Übertragung von Souveränitätsrechten an eine internationale Gerichtsbarkeit strikt ab. Wie also soll es mit dem Internationalen Strafgerichtshof weitergehen? Soll man sich auf die Art fauler Kompromisse einstellen, wie sie beim ISGH jüngst erzielt wurden? Die »Multilateralisten« dürfen solche Einrichtungen gründen, die aber durch bilaterale Vereinbarungen der USA mit ihren Verbündeten prompt unterlaufen werden?!

Es ist an der Zeit, dass darüber eine offene und harte Debatte geführt wird. Von amerikanischer Seite wurde mit den provokativen Thesen Robert Kagans5 Klartext geredet. Die europäischen Antworten sind bisher eher diffus. Solange muss man sich nicht wundern, dass es außenpolitisch bei schönen Deklarationen bleibt. Den Ansprüchen an eine Politik, die eine friedlichere, eine gerechtere Welt erreichen will, genügt dies nicht.

Schlüsselfrage 2: Gestaltung der Globalisierung

Auch im zentralen Bereich der Entwicklungszusammenarbeit war in den vergangenen Jahren der Widerspruch zwischen Deklaration und Praxis unübersehbar. Es bedurfte der schrecklichen Terroranschläge von New York und Washington, um den Abwärtstrend bei den Ausgaben zu stoppen. Die Regierung hatte sich zuvor weit von dem anvisierten Ziel der 0,7 Prozent (Anteil Entwicklungshilfe am Bruttosozialprodukt) entfernt. Dieser Widerspruch setzt sich fort.

Der gesamte Abschnitt des Koalitionsvertrages zur internationalen Politik ist überschrieben mit »Gerechte Globalisierung«. SPD und Grüne wollen Globalisierung gestalten und dabei von den Prämissen Zivilisierung, Rüstungsbegrenzung und Interessenausgleich zwischen den Weltregionen ausgehen. Doch wer Globalisierung gestalten will, muss zunächst einmal zur Kenntnis nehmen, wie Globalisierung bis dato »funktioniert« und warum sie ganz andere Folgen als die intendierten zeitigt. Bei der gegenwärtig forcierten Globalisierung dreht sich alles darum, Volkswirtschaften und Gesellschaften für den Weltmarkt zu konditionieren. Dort aber sind die Regulative der großen transnationalen Akteure und des Finanzkapitals bestimmend. Deren Gewinninteressen werden durch internationale Regime besonders unter der Federführung des Internationalen Währungsfonds bisher glänzend bedient, wie es zuletzt Nobelpreisträger Joseph Stiglitz (»Schatten der Globalisierung«) sehr präzise nachgewiesen hat. Die Folgen dieser Globalisierung können nicht nur in Südamerika, sondern auch in Afrika studiert werden.

Es gibt inzwischen genügend Untersuchungen darüber, wie der gnadenlose Kampf um Ressourcen gerade in Afrika zu immer neuen kriegerischen Auseinandersetzungen geführt hat. Ein Befund, der selbst in Studien der Weltbank nachgelesen werden kann. Wer also der Gewalteskalation in der vormaligen Dritten Welt (»Neue Kriege«) wehren will, muss sein Hauptaugenmerk darauf richten, nachhaltige Entwicklung in den Ländern des Südens zu fördern und sozial gerechtere Verhältnisse im Weltmaßstab herzustellen.

Die Bundesregierung formuliert in diesem Rahmen: „Unser gemeinsames Ziel ist, weltweit ein System globaler kooperativer Sicherheit zu entwickeln, das allen Menschen ermöglicht, friedlich, frei und ohne Not zu leben.“ Dem ist unbedingt beizupflichten, um im nächsten Schritt nach den Mitteln und Wegen zu fragen, die die Regierung einzuschlagen gedenkt, um diesem Ziel näher zu kommen. Nach dem oben Angedeuteten wird einiges davon abhängen, ob die Regierung, in Verbindung mit anderen Akteuren wie der EU, willens und bereit ist, die bisher dominanten Kräfte der Globalisierung in sozialstaatliche und ökologische Schranken zu weisen und etwas Macht an die bisher Machtlosen in den internationalen Strukturen abzugeben. Doch was die Regierung in dieser Hinsicht vorschlägt, bleibt allgemein und zahnlos.

Hieß es noch im 98er Vertrag, dass man sich für die Schließung der Steueroasen einsetzen wolle, geht es jetzt nur noch darum, den Druck auf diese zu erhöhen, „um die Steuergerechtigkeit zu erhöhen“. Vorschläge wie Tobinsteuer und Nutzungsentgelte sollen weiter „geprüft werden“. Dabei hatte sich die Ministerin redlich Mühe gegeben, die Möglichkeiten der Umsetzung der Tobin-Tax wissenschaftlich evaluieren zu lassen.6

Gegenüber den transnational tätigen Unternehmen will man sich dafür einsetzen, dass sie ihre soziale und ökologische Verantwortung anerkennen sollen. Es steht zu befürchten, dass dieser philanthropische Appell wenig fruchten wird.

Der IWF soll eine stärkere Rolle in der Krisenvorbeugung bekommen, dazu sollen Kapitalflüsse und Auslandsverschuldung „intensiver analysiert und transparent“ werden. Das ist ein allzu dürftiges Konzept.

Diese Kritik bleibt auch erhalten, wenn man wohlwollend in Rechnung stellt, dass die Regierungserklärung einige positive Dinge – Entschuldungsinitiative für die Ärmsten der Armen (HIPC), Marktzugang für Entwicklungsländer, fairer Handel – festgeschrieben hat. Auch hier wird es auf die Umsetzung ankommen. Was von manchen Ankündigungen zu halten ist, zeigt u.a. der Punkt »Hermes-Kredite«. Schon im letzten Vertrag wurde versprochen, Exportbürgschaften sollten stärker an soziale und ökologische Erfordernisse gekoppelt werden. Geschehen ist bis dato nahezu nichts. Menschenrechtsverletzungen sollen jetzt bei Anträgen »geprüft« werden. Aber die bisherige Praxis zeigt, dass im Zweifel die Exportinteressen der deutschen Wirtschaft oben an stehen.

Nicht zum ersten Mal wird die Anhebung der staatlichen Mittel für Entwicklungszusammenarbeit versprochen. Es gehört zur traurigen Bilanz der ersten vier Jahre Rot-Grün, dass man nicht über das Niveau Kohlscher Entwicklungshilfe hinauskam. Schlimmer noch. Zwischenzeitlich sank der Etatansatz. Immer noch ist man unter der 0,3 Prozent Marke (Anteil der Ausgaben am Bruttosozialprodukt). Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass Mittel für Osteuropa (Transform) und Südosteuropa (Stabilitätspakt) aus der Allgemeinen Finanzverwaltung in den Etat des BMZ verlagert wurden, war der Rückgang in den letzten Jahren noch einschneidender. Jetzt soll bis zum Jahre 2006 ein Anteil von 0,33 Prozent am Bruttosozialprodukt erreicht werden. Fachleute haben errechnet, dass die Bundesrepublik damit ca. 30 Jahre bräuchte, um auf die Zielzahl 0,7 Prozent zu kommen.

Böse Zungen behaupten vor diesem Hintergrund, dass es nur noch eine Frage der Zeit sei, dass auch noch die Leistungen der Bundeswehr im Rahmen zivil-militärischer Aufbauprogramme (Straßenbau im Kosovo etc.) in den BMZ-Etat hineingerechnet werden (wie dies bereits andere Länder tun). Dann ist die Zielmarke evtl. eher zu erreichen.

Ähnlich verhält es sich mit den Aktionsprogrammen zur Halbierung der globalen Armut, den Aufwendungen für die soziale Grundsicherung in den Entwicklungsländern etc. Den großen Ankündigungen stehen unangemessene Taten gegenüber.

Mit großem Aufwand hat die Bundesregierung beim Weltgipfel für nachhaltige Entwicklung in Johannesburg verkündet (und in die Koalitionsvereinbarung aufgenommen), dass man „in den nächsten Jahren“ 350 Mio € für verbesserten Wasserzugang bereitstellen wolle. In den nächsten fünf Jahren wolle man 500 Mio. € zum Ausbau der Erneuerbaren Energien und weitere 500 Mio. € zur Steigerung der Energieeffizienz bereitstellen. Solche Botschaften klingen gut. Allerdings hat die Regierung nicht erklärt, dass sie diese Mittel zusätzlich bereitstellen wird. Es geht doch eher darum, dass bisher im Einzelplan des Ministeriums unter verschiedenen Titel eingestellte Ausgaben zusammengefasst und ggf. aufgestockt werden. Um welchen Betrag?

Wie vorbeugende Entschuldigungen wirken die Hinweise im Text, dass die Entwicklungsländer doch selber durch »Gutes Regieren« (»Good Governance«) und durch bessere Finanzaufsicht dafür sorgen sollten, dass es aufwärts geht. Nicht dass diese Botschaft falsch wäre. Aber angesichts der Tatsache, dass die Wirtschaftspolitik der meisten Länder der Erde mit akribischen Auflagen von den internationalen Finanzinstitutionen reguliert wird, müssen solche Aussagen fast zynisch wirken.

Wir werden daher genau hinzuschauen haben, welche Initiativen die Bundesregierung ergreift (und nicht nur ankündigt), wenn es darum geht, die Partizipationsrechte der Entwicklungsländer in den internationalen Gremien zu stärken. Hier sind sowohl die entwicklungspolitischen NGOs wie auch die Globalisierungskritiker und -kritikerinnen gefragt.

Markenzeichen »zivile Krisenvorbeugung«?

Zivile Krisenprävention und Konfliktbewältigung bezeichnet die Bundesregierung als „Eckpfeiler ihrer internationalen Stabilitäts- und Friedenspolitik.“ Zivile Konfliktbearbeitung soll zum Markenzeichen dieser Regierung werden. Bundesaußenminister Fischer schwärmt gern von einem europäischen Modell des internationalen Krisenmanagements. Dies schließt indes Militäreinsätze nicht aus. Militärisches und zivile »Krisenbearbeitung« sollen ins rechte Verhältnis gesetzt werden. Den USA wird in diesem Zusammenhang implizit vorgeworfen, dass sie militärische Antworten bevorzugen und die zivile Aufgabe des »nation-building« vernachlässigen würden. Das wollen die »Europäer« besser machen. Die Bundesregierung hat in der vergangenen Legislatur mit der Bereitstellung von Ressourcen für zivile Krisenbewältigung (Polizei, Justiz etc.) und dem Aufbau des Zivilen Friedensdienstes (ZFD) begonnen. Diese Infrastruktur soll nun weiter ausgebaut werden. Eine Schlüsselrolle soll dabei dem jüngst gegründeten »Zentrum für internationale Friedenseinsätze« zukommen. Ein ressortübergreifender Aktionsplan zur »Zivilen Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung« soll erarbeitet werden.

Man wird sich die dort angesprochenen Maßnahmen im Einzelnen anschauen müssen. Dass der ZFD sinnvolle Beiträge der Konfliktbearbeitung leisten kann, ist kaum zu bestreiten; wenn man sich dabei stärker darauf konzentrieren würde, Menschen aus den Krisengebieten zu qualifizieren, wäre diese Einrichtung noch positiver zu bewerten. (Dass im Kontext der zivilen Krisenvorbeugung die Friedensforschung mehr Mittel erhalten soll, ist ohnehin zu begrüßen). Die Intension der Bundesregierung, auf dem Feld der Zivilisierung der Internationalen Beziehungen besonders aktiv zu werden, enthält Anknüpfungspunkte auch für die Friedensbewegung. Sie muss vor allem genutzt werden, um die Grundsatzdebatte um neue Paradigmen in der Internationalen Politik zu eröffnen. Dabei werden die Widersprüche rot-grüner Außenpolitik in aller Schärfe benannt werden müssen. Bis dato bleibt die zivile Konfliktbearbeitung mehr oder weniger ein Appendix von Militäreinsätzen. Dies schlägt sich nicht nur in der eklatanten Diskrepanz der Mittelbereitstellung zwischen Militärischem und Zivilem nieder. Zivile Krisenbearbeitung hatte bisher in aller Regel eine nachsorgende Funktion nach »Militärinterventionen«. Sie trägt, ob im Quasi-Protektorat Kosovo, oder im Quasi-Protektorat Afghanistan, ausgesprochen paternalistische Züge. Daher muss die Frage erlaubt sein, ob diese Form der Konfliktbewältigung nicht doch nur Bestandteil einer hegemonialen Stabilisierungspolitik ist, die zwar »by the way« Demokratisierungs- und Zivilisierungsfortschritte bringen kann, die aber im Kern vor allem darauf abzielt, Störpotenziale beim Anschluss peripherer Regionen an Weltmarkt und bürgerliche Weltgesellschaft auszuschalten.7 Es geht also primär um die Sichtweise und die Interessen der führenden Industriemächte. Bis dato hat sich diese Form der Stabilitätspolitik, vorsichtig ausgedrückt – siehe Balkan – nicht als durchgängige Erfolgsstory erwiesen. Und der Preis eines solchen dem Militärischen subordinierten Krisenlösungsmodells ist hoch. Dies beginnt bei den zahlreichen Opfern der Kriege. Bislang hat der Ansatz der Bundesregierung weder im nationalen noch im internationalen Maßstab dazu geführt, dass die militärischen Potentiale sukzessiv abgebaut werden. Im Gegenteil.

Die Effektivierung der »Armee im Einsatz«

Die Bundeswehr unterliegt seit dem Beginn der 90er Jahre ständigen Veränderungen. Die Folgen der Deutschen Einheit, der völkerrechtlich und haushaltspolitisch gebotene Zwang der Umfangreduzierung, der Umbau von einer territorialen Verteidigungsarmee zu einer hochmobilen Einsatztruppe, all dies hat viel Unruhe in die Bundeswehr gebracht. Die Kohl-Regierung hatte zwar die Weichen in Richtung Einsatzarmee gestellt und die dafür erforderliche Umrüstung eingeleitet, wollte aber ein Maximum an Besitzstandswahrung mit größtmöglicher Modernisierung verbinden. Dieser Vorsatz scheiterte aber immer wieder an den Zwängen des klammen Bundeshaushalts.

Mit der Einsetzung einer Art »Wehrstrukturkommission« unter Leitung des Ex-Bundespräsidenten von Weizsäcker sollte endlich der Gordische Knoten durchschlagen werden. Doch der unglückliche Vorgänger des jetzigen Verteidigungsministers hatte anderes im Sinn. Auch er wollte eine definitive Reform der Bundeswehr ins Werk setzen, zugleich aber als »Soldatenminister« (Hunzinger lässt grüßen) in die Geschichte eingehen. So entschied er sich für den Mittelweg zwischen den Begehrlichkeiten der Generalität bzw. der Rüstungswirtschaft und den weiter reichenden Vorschlägen der Weizsäcker-Kommission. Die Folge: Die jetzige Regierungsvereinbarung muss das Kommissionspapier wieder aus der Schublade holen und eine neuerliche Reform der Reform in Aussicht stellen.

Mit der Aussage, dass die neuen Aufgaben, die Struktur, die Ausrüstung und die Mittel der Bundeswehr wieder in ein ausgewogenes Verhältnis gebracht werden müssen, enthält der Koalitionsvertrag ein halbherziges Eingeständnis, dass die bisherigen Koordinaten der Bundeswehrplanung nicht das letzte Wort sind. Damit sich aber nicht allzu viel Unruhe verbreitet, sollen größere Revisionen erst zum Ende der Legislaturperiode vorgenommen werden. Ob dazu die Infragestellung der Wehrpflicht oder zumindest deren Modifikation gehören wird, steht noch nicht fest. Minister Struck muss allerdings unmittelbar damit beginnen, einige Beschaffungstitel auf den Prüfstand zu stellen. Das betrifft vor allem die Stückzahl des neuen Transportflugzeugs A 400 M. Die eskalierende Krise der Staatsfinanzen wird eine weitere Deckelung der Rüstungsausgaben unausweichlich machen.

Dabei wird aber vor allem an Einsparpotenziale durch Strukturreformen und durch die Verkleinerung des Personalumfangs gedacht. Denn die Bundesregierung will zugleich ihre Verpflichtungen innerhalb der NATO und des neuen militärischen Zweigs der EU erfüllen. Und die bedeuten in jedem Fall Fortsetzung der Rüstungsmodernisierung. Abrüstungspolitik ist also von der neuen/alten Bundesregierung nicht zu erwarten.

Der verhaltene grüne Triumph, dass man die Zukunftsfragen der Armee wieder aufgemacht habe, sollte uns nicht täuschen. Aber immerhin kann die angekündigte Revision der Bundeswehr-Reform in der Tat genutzt werden, um eine neue gesellschaftliche Debatte über Sinn und Unsinn von Streitkräften zu eröffnen. Die Friedensbewegung und die Kritiker und Kritikerinnen des Militärischen sind gefordert.

Dies wird auch aus anderen Gründen nötig sein: Verteidigungsminister Struck hat die Einbringung eines Bundeswehr-Entsendegesetzes (kurioserweise »Parlamentsbeteiligungsgesetz« genannt) angekündigt, das offenkundig nur einem Zweck dient, die lästige parlamentarische Befassung, bevor Truppen zum Einsatz kommen, einzuschränken.8 Wie der SPIEGEL richtig feststellt, verträgt sich die Absicht, die neue »NATO Response Force« binnen sieben Tage »einsetzbar« (!) zu machen, nicht mit der langwierigen bundesdeutschen Genehmigungsprozedur. Opposition gegen die Aushöhlung parlamentarischer Rechte aus dem gegenwärtigen Parlament heraus, ist kaum zu erwarten. Umso mehr sollten wir Friedensbewegten Alarm schlagen.

Ohne Druck von unten ist keine Widerständigkeit gegen drohende Kriege zu erwarten, wird es keine wirklichen Initiativen zur Abrüstung und Entmilitarisierung geben. Auch die Ankündigungen einer auf Nachhaltigkeit und soziale Gerechtigkeit gerichteten globalen Strukturpolitik werden ansonsten überwiegend auf dem Papier bleiben.

Anmerkungen

1) Regierungserklärung des Bundeskanzlers vor dem Deutschen Bundestag am 29. Oktober 2002, in: Bulletin 85-1, 29.10.2002.

2) FAZ vom 23.10.02: Eine „Liste“ Washingtons für Berlin.

3) S. Süddeutsche Zeitung vom 15. November 2002, S. 6.

4) Der SPIEGEL 45/2002, S. 136.

5) Robert Kagan, Was die Vereinigten Staaten und Europa auseinander treibt, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 10`02, Bonn. Siehe auch die Repliken im November-Heft der „Blätter“.

6) „Eine moderne Tobin-Tax gegen Spekulation“, Auszüge einer Studie im Auftrag des BMZ, in: Frankfurter Rundschau vom 22.02.02.

7) Siehe dazu die Beiträge von Peter Lock und Paul Schäfer in: Ulrich Albrecht, Michael Kalman, Sabine Riedel, Paul Schäfer (Hrsg.), Das Kosovo-Dilemma. Schwache Staaten und Neue Kriege als Herausforderung des 21. Jahrhunderts, Münster 2002.

8) S. Der SPIEGEL 45/2002, S. 136.

Paul Schäfer ist Mitglied der W&F-Redaktion, Köln

Die Kriegsermächtigung

Die Kriegsermächtigung

von Tobias Pflüger

Als Beitrag Deutschlands zum »Krieg gegen den Terror« beantragte die Bundesregierung am 7. November 2001 eine »Ermächtigung zum Einsatz« von 3.900 Bundeswehrsoldaten für die Dauer eines Jahres. Tobias Pflüger zu den Folgen dieses Beschlusses.
Die offiziellen Angaben über das Bundeswehrkontingent sind wie folgt: „Im Rahmen der Operation ENDURING FREEDOM werden bis zu 3.900 Soldaten mit entsprechender Ausrüstung bereitgestellt: ABC-Abwehrkräfte, ca. 800 Soldaten/Sanitätskräfte, ca. 250 Soldaten/Spezialkräfte, ca. 100 Soldaten/Lufttransportkräfte, ca. 500 Soldaten/Seestreitkräfte einschließlich Seeluftstreitkräfte, ca. 1800 Soldaten/erforderliche Unterstützungskräfte, ca. 450 Soldaten.“ (…) „Die Beteiligung mit deutschen Streitkräften an der Operation ENDURING FREEDOM ist zunächst auf zwölf Monate begrenzt.“ (…) „Einsatzgebiet ist das Gebiet gemäß Art. 6 des Nordatlantikvertrags, die arabische Halbinsel, Mittel- und Zentralasien und Nord-Ost-Afrika sowie die angrenzenden Seegebiete. Deutsche Kräfte werden sich an etwaigen Einsätzen gegen den internationalen Terrorismus in anderen Staaten als Afghanistan nur mit Zustimmung der jeweiligen Regierung beteiligen.“

Die Regierung will mit diesem Beschluss eine umfassende Kriegsermächtigung:

  • Der Bundestag soll die konkrete Hoheit über den Einsatz von Bundeswehrsoldaten an die Bundesregierung abgeben.
  • Der Einsatzraum der Bundeswehr ist bewusst sehr weiträumig gefasst und lässt praktisch alle Kriegsoptionen offen. »Kompensationseinsätze« in den USA sind möglich. Mit den sehr offenen Begrifflichkeiten Mittelasien, Nordostafrika und Zentralasien kann alles gemeint sein: Ist damit der Irak doch Kriegsziel? Oder geht es jetzt um Somalia? Auch der Sudan und Libyen können unter diese geographische Beschreibung noch subsumiert werden. Was ist mit dem Kaukasus als Einsatzort deutscher Truppen? Mit der vagen geographischen Eingrenzung des möglichen Einsatzgebietes zeichnet sich ab, was weitere Ziele des von den USA und Großbritannien begonnenen Krieges sein könnten. Es ist spätestens jetzt klar, es handelt sich nicht um einen »Krieg gegen den Terror«, es geht den Krieg führenden Regierungen des Westens um eine geopolitische Neuordnung Mittel- und Zentralasiens und Nordostafrikas.
  • Sehr interessant ist die Formulierung der Kriegsbeteiligung „in anderen Staaten als Afghanistan nur mit Zustimmung der jeweiligen Regierung.“ Was ist, wenn es keine anerkannte Regierung gibt, wie etwa in Somalia?

Mit einem so offenen Kriegsmandat hat die Bundesregierung die Möglichkeit die Bundeswehr mit allen möglichen konkreten Einsatzoptionen (von humanitärer Hilfe bis zum Bodentruppeneinsatz) in einem sehr offenen geographischen Umfeld einzusetzen. Die Beschreibung der Truppenkontingente lässt vieles absichtlich offen. Doch ist manches für Militärkenner trotzdem klar:

  1. Bei den „ABC-Abwehrkräften, ca. 800 Soldaten“ handelt es sich um zwei Kompanien des ABC-Abwehrbataillon 7 aus Höxter mit dem ABC-Spürpanzer Fuchs. Der Spürpanzer Fuchs, Exportschlager der deutschen Waffenindustrie, ist ein rollendes Labor. Die ABC-Spürpanzer sollen auf dem Landweg wohl via Türkei Richtung Kriegsgebiet gebracht werden. Möglicher Einsatzort ist Usbekistan, das Aufmarschgebiet der US-Truppen. Auch ein Rochadeeinsatz (Austausch mit US-Truppen) ist möglich.
  2. „Sanitätskräfte, ca. 250 Soldaten“: Hierbei handelt es sich um einen so genannten Multi-Role-Transporter MedEvac. Dies ist ein Airbus A310 mit medizinischem Spezialausbau. Also ein fliegendes Kleinkrankenhaus. Erster Stationierungsort ist der Kölner Flughafen. Ziel wird wohl sein, Kriegsverletzte aus dem Kriegsgebiet abzutransportieren. Zuerst wohl zu den US-Einrichtungen bei Frankfurt/Main in Deutschland.
  3. „Lufttransportkapazitäten im Umfang von bis zu 500 Soldaten“: Hierbei handelt es sich wohl um mindestens 3 Transallflugzeuge der Bundeswehr, die unter Befehl des EUCOM (Europäisches Oberkommando der US-Streitkräfte) Transportaufgaben vom US-Luftwaffenstützpunkt Ramstein (Rheinland-Pfalz) mit Frachten u.a. zum türkischen NATO-Stützpunkt Incirlik wahrnehmen sollen. Diese Information deutet auf einen doch möglichen Einsatz gegen den Irak hin oder auf andere Maßnahmen im Zusammenhang mit dem Irak.
  4. „Seestreitkräfte in einem Umfang von 1.800 Soldaten“: Der umfangreichste Teil der Kriegsbeteiligung wird von der Marine gestellt. Angefragt sind nach Angaben des US-Militärs: 1 Instandsetzungsschiff, 2 Fregatten, 1 Aufklärungsschiff, 1 Tanker, Seefernaufklärer Breguet Atlantique, ein Verband mit Schnellbooten, ein so genannter Minensuchverband sowie 2 Hubschrauber »Sea King«. Der Einsatzraum der Marineeinheiten ist der Golf von Aden/das Horn von Afrika, es geht also wohl um die Absicherung von Schiffswegen z.B. für Öltransporte. Interessant ist die Teilnahme von »Verbindungsoffizieren für die Embargoüberwachung«. Soll hier die Bundeswehr am bisherigen Irak-Embargo teilnehmen? Werden neue Embargomaßnahmen gegen den Irak oder Somalia geplant?
  5. „»Spezialkräfte« der Bundeswehr im Umfang von bis zu 100 Soldaten“: Aufgrund der unspezifischen Beschreibung handelt es sich hierbei nicht nur um Soldaten der Elitekampfeinheit »Kommando Spezialkräfte« aus Calw, sondern auch – wohl im Austausch – um die KSK-light-Truppen der Division spezielle Operationen (DSO) mit Sitz des Stabes in Regensburg und die Luftlandebrigaden 31 in Oldenburg und 26 in Saarlouis. Für diese KSK- und DSO-Truppen könnte der Kriegseinsatz nicht nur riskant sondern tödlich werden. Insgesamt bleibt aber die Frage offen: Welche Rolle sollen die Bundeswehrsoldaten spielen? Sichern sie die bombenden Truppen der Kriegspartner ab oder beteiligen sie sich in einer zweiten Phase selbst am direkten Krieg?

Tobias Pflüger ist Vorstandsmitglied der Informationsstelle Militarisierung (IMI)

Militarisierung der Außenpolitik?

Militarisierung der Außenpolitik?

Zur zukünftigen internationalen Rolle der Bundesrepublik

von Friedens- und KonfliktforscherInnen

Persönlichkeiten aus der Friedensforschung und der Politik haben sich mit folgenden »12 Thesen über falsche und richtige Zielpunkte für die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik« an die Öffentlichkeit gewandt und eine Diskussion eingefordert.
Mit der Entscheidung des Deutschen Bundestags am 16. November 2001 über den Einsatz deutscher Streitkräfte im »Krieg gegen den Terror« – der Krieg, der von der US-Administration zur militärischen Durchsetzung und Sicherung langfristiger strategischer Ziele benutzt wird – ist der Weg zu einer neuen deutschen Militärdoktrin geöffnet worden, die eine qualitativ neue globale Rolle der deutschen Außenpolitik und damit der Bundesrepublik Deutschland einleitet:

Indem als ständiges potenzielles Einsatzgebiet der Bundeswehr, insbesondere auch der Bundesmarine, neben dem NATO-Gebiet nicht nur die unmittelbare europäische Randzone, sondern auch der gesamte Raum „arabische Halbinsel, Mittel- und Zentralasien und Nord-Ost-Afrika, sowie die angrenzenden Seegebiete“ festgelegt wird und dies offensichtlich auch zum Zweck der Absicherung einer profitablen Nutzung von Naturressourcen (Öl) in diesem Raum, reiht sich die Bundesrepublik uneingeschränkt in die westliche Global-Strategie der massiven militärischen Ressourcen-Zugangssicherung ein.

Für die zur Zeit einzige Supermacht USA und für die weiterhin an ihre Geschichte als Kolonialmächte und an ihre globalen Interessen gebundenen europäischen Nuklearmächte mag diese Strategie gegenwärtig als »normale Politik« erscheinen. Die deutsche Außenpolitik verspielt mit einer solchen Militärdoktrin wesentliche Spielräume für deutsche Vermittler- und Brückenfunktionen, die im europäischen und im deutschen Interesse liegen und die angesichts der Gefahren sich zuspitzender Konfrontationen für alle Seiten von wachsender Bedeutung sind.

Die derzeitige internationale Entwicklung ist geprägt durch fortschreitende Aushöhlung und Destruktion der Grundlagen unserer internationalen Ordnung: durch global wachsende Militarisierung der Außen- und Sicherheitspolitik (zunehmendes Gewicht militärischer Machtprojektion), durch Aushöhlung und Zerstörung von Völkerrecht (z.B. des UN-Gewaltmonopols, des internationalen Kriegsrechts), durch gravierenden Bedeutungsverlust der Vereinten Nationen und anderer internationaler Organisationen. Neoimperiale Tendenzen werden sichtbar.

Die Alternative zu dieser Entwicklung heißt: gemeinsame Sicherheit aus gegenseitigen Dependenzen, organisiert in durch Interessenausgleich ermöglichten Partnerschaften und in regionalen Sicherheitssystemen. Die Bundesrepublik kann diese Alternative entscheidend fördern, wenn sie klar und führend als Zivilmacht erkennbar ist, in und für Europa und weit darüber hinaus.

Eine so definierte Außen- und Sicherheitspolitik erfordert grundsätzliche politische Entscheidungen über ihre Zielpunkte und ihre Prioritäten:

1. Leitbild für die zukünftige internationale Rolle der Bundesrepublik Deutschland darf nicht die »normale Mittelmacht« mit globalem Ehrgeiz sein, wie sie Großbritannien und Frankreich darstellen. Deutschland darf auch nicht wegen Fehlens eines klaren Rollenkonzepts in eine solche »Normale-Mittelmacht«-Rolle hineinschliddern. Eine solche Rolle wird aber inzwischen zunehmend von deutschen politischen Kräften angestrebt.

2. Leitbild für die zukünftige internationale Rolle der Bundeswehr kann deshalb nicht eine Bundeswehr mit globalen Fähigkeiten sein. Mögliche Einsatzgebiete der Bundeswehr außerhalb des NATO-Bereichs müssen beschränkt werden auf Europa und – unter klar definierten Voraussetzungen – auf die unmittelbaren Randzonen Europas (Mittelmeer einschließlich Mittelmeerküsten). Ausnahme: Beteiligung der Bundeswehr an UN-Blauhelmeinsätzen (weltweit). Die Bundesrepublik benötigt keine global einsatzfähige Hochseeflotte und keine Marineinfanterie für Kampflandungen gegen fremde Küsten. Die gegenwärtige Planung für eine große global-fähige Lufttransportflotte muss wesentlich nach unten korrigiert werden.

3. Die Bundesrepublik Deutschland muss auch allen langfristig möglichen Wegen, die nukleare Teilhabe Deutschlands zu erweitern oder Deutschland sogar auf den Rang einer »normalen« Kernwaffen-Macht zu heben, eindeutig absagen.

4. Von der Geschichte nicht nur des 20.Jahrhunderts, von der zentraleuropäischen Lage und vor allem von den jetzt anstehenden internationalen Sicherheitsproblemen her ist die Kernaufgabe deutscher Außen- und Sicherheitspolitik heute: Aufbau und Stärkung von deutschen, europäischen und außereuropäischen Vermittlungs- und Brückenfunktionen, von zivilen Konfliktlösungspotenzialen.

5. Übergeordneter Zielpunkt der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik und vorrangiges Einsatzgebiet der Ressourcen deutscher Außenpolitik (das sind Personal, Finanzmittel, Kommunikations- und Kooperationsbeziehungen, Beratungstätigkeit, Vertrauensbildung) muss – neben der Wahrung unmittelbarer deutscher Interessen – die Errichtung und Unterstützung von regionalen Sicherheitssystemen sein, um die Politik militärischer Interventionen durch einen »Welthegemon« überwinden zu können, also: Aufbau der dafür erforderlichen Institutionen: Rechtsentwicklung, zugehörige internationale politische Rahmenstrukturen, regionale Mediationsinstrumente, zivile Friedensdienste, regionale Gerichtsbarkeit und Sanktionsstrukturen, einschließlich regionaler/internationaler Polizei, Personalaufbau.

6. Die Bundesrepublik sollte ihr politisches und wirtschaftliches Gewicht in Europa, insbesondere in der Europäischen Union, nutzen, um in Europa diejenigen politischen Kräfte und Regierungen zu ermutigen, die bereit sind, dem Aufbau und der Förderung regionaler Sicherheitssysteme Priorität zu geben. Die Anstrengungen für die Errichtung von »Konferenzen für Sicherheit und Zusammenarbeit« im Mittelmeerraum und im Gebiet Mittlerer Osten/Mittelasien müssen wesentlich verstärkt werden.

7. Die Bundesregierung muss eine breite internationale Initiative für die Revitalisierung und Weiterentwicklung der UNO einleiten, auch damit endlich beschleunigt Wege zu einem auf Dauer gerechteren internationalen Wirtschafts- und Finanzsystem zugunsten der Dritten Welt beschritten werden können.

8. Deutsche Außen- und Sicherheitspolitik muss mit allen Kräften der fortschreitenden Aushöhlung und dem Zerfall des Völkerrechts, insbesondere des Gewaltmonopols der Vereinten Nationen, entgegenwirken. Die Grenze zwischen Krieg und Bekämpfung von internationalem Terrorismus muss erhalten bleiben. Selbstmandatierung darf nicht internationales Gewohnheitsrecht werden. Es kann nicht sein, dass sich die UNO zur Reparatureinrichtung für den durch Militärinterventionen entstandenen Schaden entwickelt.

9. Die Finanzmittel für die zivile Komponente der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik müssen wesentlich erhöht werden. Erforderlich ist eine kritische Bestandsaufnahme aller Aktivitäten und Ressourcen. Dazu gehört auch eine transparente Grob-Bilanzierung der finanziellen Kosten-Nutzen-Verhältnisse bei Entwicklung, Aufbau und Einsatz einerseits von zivilen Mitteln (klassische Außenpolitik bis zu Szenarien moderner Konfliktprävention), andererseits von unterschiedlichen militärischen Mitteln (einschließlich Kriegs- und Wiederaufbaukosten). Notwendig ist daran anschließend eine Überprüfung der Reformkonzepte für die Bundeswehr.

10. Betrachtet man den Gesamtaufwand, den die Bundesrepublik heute für Diplomatie, Finanzierung internationaler Institutionen, Kreditfinanzierung von Wiederaufbau, die Entwicklungshilfe und die Aufnahme von Kriegsflüchtlingen treibt, zeigt sich, dass Deutschland sich stärker als andere vergleichbare Staaten für zivile Stabilitätsförderung engagiert. Diese Tatsache ist unserer politischen Elite nicht hinreichend bewusst. Damit erhöht sich die Gefahr, dass sich die Bundesrepublik auf einen Kurs steigender Militarisierung der Außenpolitik begibt.

11. Wir brauchen endlich die öffentliche Diskussion über die heute realistischen – zivilen und militärischen – Bedrohungsszenarien, über die als Antwort auf diese Bedrohungen tatsächlich angemessenen und unangemessenen sicherheitspolitischen Konzepte und Instrumente, über ihre möglichen Konsequenzen, über die zu mobilisierenden Ressourcen und über die Entwicklung des Völkerrechts.

12. Diese Diskussion darf nicht absehen von der festen Einbindung der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik in den Rahmen der Europäischen Union, vom Aufbau der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP). Sie wird auch nicht davon absehen, dass die europäischen Staaten und die USA gegenseitig auf eine immer neu zu definierende partnerschaftliche Kooperation angewiesen sind. Aber die Kernfrage der Debatte lautet für den Bürger der Bundesrepublik: Wofür/wann/wo/unter welchen Bedingungen/auf welcher Rechtsgrundlage sollen deutsche Streitkräfte gegebenenfalls eingesetzt werden? Welche militärischen Fähigkeiten sind in diesem Rahmen notwendig? Was kann und muss der deutsche Beitrag zur zivilen Komponente der Sicherheitspolitik sein? Wenn dieser Debatte weiter ausgewichen wird, werden sicherheitspolitische und politische Schlüsselentscheidungen des Bundestages weiter mit sachfremden Begründungen gefasst werden (letztes Beispiel: Militär-Airbus A400M) mit der Folge eines weiter schrumpfenden Vertrauens der Bürger in das Parlament.

10. Februar 2002

Dr. Patricia Bauer (Mitglied des AFK-Vorstandes, Uni-Osnabrück); Dr. Michael Berndt (Politikwissenschaftler, FH Kassel); Dr. Ulrike Borchardt (Forschungsstelle Kriege, Rüstung und Entwicklung, Uni Hamburg); Horst Grabert (Staatssekretär im Kanzleramt und Botschafter a.D., Kleinmachnow); Dr. Jutta Koch (Lehrbeauftragte, FU Berlin); Andreas Kuhnert (MdL Brandenburg, Potsdam); Dr. Wilhelm Nolte (Oberstleutnant a.D., Hamburg); Dr. Walter Romberg (Finanzminister a.D., Teltow); Dr. Rolf Schmachtenberg (Berlin/Bonn); Dr. Lutz Schrader (Politikwissenschaftler, FU Hagen); Dr. Lutz Unterseher (Politikberater, Studiengruppe Alternative Sicherheitspolitik, Berlin); Roland Vogt (Landesvorsitzender Bündnis 90/Grüne Brandenburg, Potsdam).

Eine leise Öffnung: Soldatinnen in der Bundeswehr

Eine leise Öffnung: Soldatinnen in der Bundeswehr

von Christine Eifler

Frauen in die Bundeswehr – das ist ein seit Jahren in der Frauen- und damit auch in der Friedensbewegung äußerst kontrovers diskutiertes Thema. Die einen sehen hierin einen weiteren Schritt zur Militarisierung, ein „gleiches Recht auf Unrecht“ (so Anne Rieger in »Die Gleichberechtigungsfalle«, W&F 2/2000). Sie lehnen es ab, Streitkräfte zivilen Arbeitgebern gleichzustellen und weisen darauf hin, dass z.B. in Armeen mit einem hohen weiblichen Anteil – wie der US-Armee – sexuelle Belästigung und Nötigung an der Tagesordnung sind. Andere sehen im Zugang zur Armee einen notwendigen Schritt zur Gleichberechtigung, eine neue Arbeitsmarktchance für Frauen und einen Schritt hin zur Zivilisierung des Militärs. Für Christine Eifler liegt die Öffnung der Bundeswehr für Frauen im internationalen Trend. Sie beleuchtet die gegenwärtige Situation und stellt die Funktion der Soldatin in Bezug zu dem von der „Bundesregierung hoch bewerteten neuen militärischen Aufgabenfeld“ Peacekeeping. Eine Position, die sicher weiteren Diskussionsbedarf weckt.
Ohne nennenswerte öffentliche Diskussionen ist eine weit reichende Veränderung des Verhältnisses von Militär und Frauen über die politische Bühne der Bundesrepublik gegangen: Die Soldatin wurde öffentlich anerkannter Teil des Militärs. Damit wurde hierzulande vollzogen, was in vielen Ländern schon seit Jahren Realität geworden ist.1 Die Geschlechterbeziehungen sind damit zu einem dauerhaften Bestandteil der sozialen Beziehungen innerhalb der Bundeswehr geworden, ein Tatbestand, der sowohl aus historischer als auch aus Gender-Perspektive von grundsätzlicher Bedeutung ist.2

Bisher war die Integration von Frauen in die Bundeswehr im Vergleich zu anderen Ländern wenig entwickelt. Das Grundgesetz verbot Frauen den militärischen Dienst mit der Waffe, ermöglichte jedoch durch die Trennung von Streitkräften und ziviler Wehrverwaltung die Verwendung von Frauen auf zivilen Stellen auf allen Ebenen der Bundeswehr.3 In den Streitkräften selbst sind Frauen seit 1975 zugelassen, allerdings ausschließlich im Sanitätsdienst. Bezogen auf die gesamte Bundeswehr waren dies 1%, bezogen auf die Berufs- und Zeitsoldaten sind es knapp 2%. 1997 hatte die Bundeswehr 3.500 Soldatinnen, davon 30 im Militärmusikdienst.4 Der Beginn der Einbeziehung von Frauen erfolgte während einer Phase erheblichen Personalmangels. Die »militärischen Seiteneinsteigerinnen« waren approbierte Ärztinnen, für die ebenso wie für alle späteren Soldatinnen galt, keinen Dienst an der Waffe tun zu dürfen, es sei den als Notwehr und Nothilfe, wie es das Völkerrecht für das Sanitätspersonal zugesteht. Erst 1989 wurden die ersten 50 Sanitätsoffiziersanwärterinnen eingestellt. 1991 erfolgte die Öffnung für Mannschafts- und Unteroffizierlaufbahnen im Sanitätsdienst und im Militärmusikdienst.Bis dahin war Frauen in der Bundeswehr nur eine marginalisierte Position zugedacht. Trotz des Paragraphen 12a des Grundgesetzes wäre es möglich gewesen, weit mehr Funktionen mit Frauen zu besetzen, als dies der Fall war. Weitere Öffnungen wurden aber bisher abgelehnt.5 Dies hat sich mit dem Jahre 2001 grundsätzlich verändert. Seit Januar 2001 wurden 1.556 Soldatinnen in der Laufbahngruppe Unteroffiziere/Mannschaften aufgenommen. Im Dezember 201 wurden 204 Offiziersanwärterinnen in den Truppendienst übernommen. 21,9% dieser Gruppe haben ihr Interesse an einer Tätigkeit in Kampf- und Kampfunterstützungseinheiten geäußert. Somit hat sich die Zahl der Frauen in der Bundeswehr auf 6.721 erhöht.

Interessant ist es sich ins Gedächtnis zu rufen, in welcher Weise die Öffnung der Bundeswehr erfolgte. Das Thema Frauen und Militär war bis dahin nur in bestimmten Zeiträumen von Interesse: So war es seit Jahren ein bevorzugtes Thema der Medien im »Sommerloch«. Waren noch 1997 und 1998 die Mehrheit der Beiträge ablehnend gegenüber einer Öffnung der Bundeswehr für Frauen, änderte sich dies im Sommer 1999. Der Tenor der Beiträge zeigte eine wachsende Akzeptanz gegenüber Frauen in Uniform. Man war sich einig darüber, dass die Beteiligung von Frauen an der Bundeswehr freiwillig sein müsse. Eine Wehrpflicht für Frauen wurde abgelehnt. Ein ähnlicher Wandel zeigte sich auch bei den Parteien, die bis dahin noch gegen die Öffnung der Bundeswehr für Frauen waren: Bei Bündnis 90 – Die Grünen befürwortete eine Reihe von Abgeordneten, zum Beispiel Angelika Beer, die Öffnung für Frauen und bei der PDS sprach sich deren Abgeordnete Christina Schenk dafür aus. Die Zustimmungen insgesamt bezogen sich ausschließlich auf die Bundeswehr als »Arbeitsplatz«. Eine Beteiligung von Frauen an Kampftruppen wurde abgelehnt. Die Meinungsäußerung des stellvertretenden CDU-Vorsitzenden und früheren Verteidigungsministers Volker Rühe drückte einen gewissen Konsens aus: Er plädierte für eine Öffnung der Bundeswehr für Frauen, wandte jedoch ein: „Ich halte nichts von Frauen in Kampfpanzern.“

Dieser Meinungsumschwung zur Öffnung war nicht unerheblich mit dem Krieg im Kosovo verbunden. Der als humanitäre Intervention bezeichnete Einsatz der Bundeswehr hatte auf neue Konfliktfelder aufmerksam gemacht und zumindest kurzzeitig die Diskussion um ein neues militärpolitisches Rollenverständnis der Bundesrepublik angefacht. Vor diesem Hintergrund entwickelte sich ein weit gehendes Einverständnis für eine Öffnung der Bundeswehr für Frauen. Nicht zuletzt zeigten die Bilder über den militärischen Einsatz im Kosovo Soldatinnen anderer Nationen, die selbstverständlich ihren Dienst taten.

Auch mit der Klage der Elektronikerin Tanja Kreil vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) kam noch keine rechte Bewegung in die Sache. Obwohl sich recht schnell abzeichnete, in welchem Sinne sich der EuGH entscheiden werde, blieb es um das Thema Militär und Frauen ruhig. Das Urteil vom 11. Januar 2000 bewertete dann die bisherige Praxis der Einbeziehung von Frauen in der Bundeswehr als einen Verstoß gegen die aus dem Jahr 1976 stammenden gemeinschaftsrechtlichen Gleichstellungsrichtlinien der EU. Demzufolge hat der Grundsatz der Gleichbehandlung im Berufsleben auch als Richtlinie für die Ausgestaltung der Beschäftigungsverhältnisse in den Streitkräften zu gelten. Frauen nur zum Sanitätsdienst zuzulassen, verstoße gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung im Zugang zur Beschäftigung, zur Berufsbildung, zum beruflichen Aufstieg und in Bezug auf die Arbeitsbedingungen innerhalb der Streitkräfte. Das heißt, der EuGH bewertete den freiwilligen Dienst von Frauen an der Waffe als Berufsausübung und forderte folglich auch für diesen Rahmen berufliche Gleichstellung.

Unter dem Druck dieses Urteils entschloss sich die Bundesregierung, eine völlige Öffnung der Bundeswehr für Frauen vorzunehmen. Im Unterschied zur Praxis anderer nationaler Militärs6 sprach sie sich gegen Quoten für die Einstellung von Frauen aus; weder für den allgemeinen Zugang zu den Streitkräften noch für den Einsatz in bestimmten Verwendungsreihen sollen Einschränkungen gelten. Auch die Kampftruppen sollen Frauen uneingeschränkt offenstehen. Mit der Novellierung der gesetzlichen Grundlagen (Grundgesetz, Soldatengesetz, Soldatenlaufbahnverordnung) wurden alle notwendigen Voraussetzungen geschaffen, damit nun Frauen als Freiwillige Dienst mit der Waffe tun dürfen. Damit hat sich der Gesetzgeber von einem Frauenbild verabschiedet, von dem sich die Rechtsprechung im Verfassungs- und Arbeitsrecht schon seit Längerem weit gehend entfernt hatte. Das Bild von der Frau als Hüterin des Hauses, „schwach, ängstlich und von Natur aus friedfertig, so daß der Mann sie draußen im Felde schützen muss“, wurde von der im Grundgesetz geschützten Stellung der Frau abgelöst: „aktiv und vollständig in alle Bereiche des staatlichen Gemeinwesens integriert.“7 Für die Ausgestaltung der gesellschaftlichen Geschlechterbeziehungen hat dies nicht unbedeutende politische Auswirkungen. Mit dem Einbezug von Frauen ins Militär unter den Bedingungen der Gleichstellung der Geschlechter geraten tradierte symbolische Anordnungen in der Geschlechtergesellschaft, den Geschlechterhierarchien und die damit verbundenen gesellschaftlichen Subjektpositionen unter Druck. Die Konzeptionalisierung von Männlichkeit, Weiblichkeit und Staat, wie sie sich in der Entwicklung europäischer Nationalstaaten herausgebildet hat, zeigt8, dass an die Einführung der männlichen Wehrpflicht mehr gekoppelt war als die Einrichtung einer Organisation zur nationalen Verteidigung: Die Einführung der Wehrpflicht hatte entscheidende Bedeutung im Arrangement des gesamtgesellschaftlichen Geschlechterverhältnisses. Auf der Grundlage und im Zuge der Schaffung moderner Massenarmeen erfolgte – und dies ist entscheidend für die weitere Konstruktion von Geschlecht – eine institutionelle Verknüpfung von Männlichkeit und Gewalt. Der institutionelle Charakter dieser Verknüpfung ist – wie Mary Douglas deutlich machte – deshalb entscheidend, weil nur Institutionen sozialen Verhältnissen Dauerhaftigkeit und Status verleihen können. Mit der aktuellen Konstruktion der Soldatin stellt sich somit gesamtgesellschaftlich die Frage, in welchen Positionen Frauen Macht und Einfluss haben und an welchen Entscheidungsprozessen sie teilhaben sollen. Zur Zeit werden diese Auseinandersetzungen auch in Organisationen der UNO und bei NGO´s geführt, die verlangen, dass Frauen verstärkt im »peacekeeping« eingesetzt werden und im Rahmen des »gender mainstreaming« zu gleichen Teilen an militärischen und militärpolitischen Entscheidungen partizipieren sollen.

Die nun auch in der Bundesrepublik vollzogene Öffnung der Streitkräfte für Frauen reiht sich in den internationalen Trend ein, Frauen unter den Bedingungen der Gleichstellung am Militär zu beteiligen. Diese Entwicklungen sind Teil des von Morris Janowitz beschriebenen Prozesses der »Zivilisierung« des Militärs. Demnach erreichen relevante soziale Veränderungen nach und nach alle gesellschaftlichen Organisationen und Institutionen – so auch die Organisation Militär – und beeinflussen die Orientierungen ihrer Mitglieder und die Organisation.9 Auf der individuellen Ebene spiegeln sich diese in heterogenen Motiven nun auch von Frauen wider, in Streitkräften tätig zu sein, so auch in der Attraktivität eines über den Militärdienst möglichen Zugangs zu qualifizierten Ausbildungs- und Berufsmöglichkeiten. Auf der institutionellen Ebene zeigen sich die Veränderungen im Wandel des rechtlichen und sozialen Status des Militärs. Dieses wird in der Gesellschaft in steigendem Maße auch als öffentlicher Arbeitgeber wahrgenommen. Als solcher muss es die jeweiligen nationalen, sozialen und zunehmend auch arbeitsrechtlichen Gesetze und Bestimmungen beachten. Nach der Gesetzeslage ist eine Unterscheidung nach Geschlechtern bezüglich der dienstrechtlichen Stellung und der Karrierechancen im Status Berufssoldat nicht zulässig. Als Teil der Exekutive und als soziale Institution ist das Militär immer mehr jenen Zugangsprinzipien unterworfen, die auch für andere staatliche Bereiche gelten: der Durchsetzung von Chancengleichheit, lediglich eingeschränkt durch überprüfbare und gesellschaftlich akzeptierte Kriterien wie Eignung und Leistungsfähigkeit und ohne Ansehen des Geschlechts. Schutz vor sexueller Belästigung und Mobbing müssen vom Arbeitgeber organisiert und durchgesetzt werden. Der Bundeswehr ist es auferlegt, die jeweiligen gesetzlichen Bestimmungen des Arbeitsschutzes für schwangere Frauen und des Mutterschutzes einzuhalten und Initiativen zur Schaffung von Kinderbetreuungseinrichtungen zu unterstützen.

Dieser Wandel des Militärs vollzieht sich in einem widersprüchlichen sozialen Geflecht, das sowohl von einer neuen Distanz als auch einer neuen Nähe zur Zivilgesellschaft gekennzeichnet ist: Einerseits sehen sich militärisches Handeln und der Einsatz militärischer Gewalt in zunehmenden Maße schwierigen Anforderungen politischer Legitimation gegenüber. Kritik an militärischen Einsätzen wird unter den Schlagworten »militärischer Interventionismus im Namen der Menschenrechte«, »Selbstmandatierung im Zeichen von Geopolitik« oder »Privatisierung der Gewalt« u.a. geführt. Kritisiert werden die Rolle der Medien und der Berichterstattung in militärischen Konflikten. Die Vorbereitung und die Durchführung militärischer Aktionen ist von einer breiten politischen Kampagne begleitet, die auf die politische Willensbildung der Bevölkerung gerichtet ist. Militärische Einsätze bedürfen der Unterstützung oder zumindest Duldung der Zivilbevölkerung.

Andererseits hat das Militär seine frühere herausgehobene Rolle (tendenziell) verloren. Außerhalb, aber auch innerhalb des Militärs werden militärische Rituale und Zeremonien infrage gestellt. Die Bereitschaft zur Wehrpflicht, zum Reservistendienst oder als Berufssoldat Dienst in den Streitkräften zu tun, hängt nicht unerheblich von der Wahrscheinlichkeit eines militärischen Einsatzes ab.10 Wiederum verdeutlicht die Tatsache, dass Frauen und Homosexuelle in vielen Ländern öffentlich anerkannter Teil des Militärs geworden sind, seine gestiegene Akzeptanz und im Sinne Janowitz’ dessen »Zivilisierung«. Die daraus resultierende veränderte soziale und rechtliche Stellung des Militärs in der Gesellschaft führt in der Tendenz zu einer Entwicklung, in der das Militär eine Organisation wird wie jede andere.11 Damit erscheint auch der Job des Soldaten als ein Job wie jeder andere, der nun auch für Frauen zugänglich geworden ist. Das Militär stellt immer weniger einen Sonderbereich mit Privilegien und Sonderregelungen dar. Vielmehr steht es unter dem politischen Druck, geltende gesellschaftliche Normen der Gleichstellung und des Arbeitsrechtes durchzusetzen.12

Dennoch bleibt die Widersprüchlichkeit bestehen, die für die individuellen Selbstverständnisse der Soldatinnen und für die militärische Institution sowie für das Verhältnis zur Zivilgesellschaft erheblich ist: Zwar ist eine Verrechtlichung und Angleichung des Militärs an andere Berufe zu konstatieren, aber ebenso das Weiterbestehen von Merkmalen, die dafür sprechen, die militärische Tätigkeit doch als eine besondere einzustufen. Vor allem wird das mit dem Soldatenberuf verbundene Verhältnis zum Töten und getötet Werden als wesentlicher Punkt angesehen, der den Unterschied zu anderen, zivilen Tätigkeiten ausmacht.

Neuer Handlungsdruck

Die Öffnung der Bundeswehr für Frauen erzeugt einen nicht zu unterschätzenden Handlungsdruck auf die militärische Organisation, die sozialen Beziehungen zwischen Soldaten und Soldatinnen unter den veränderten Bedingungen zu gestalten. Die kulturellen und politischen Aushandlungsprozesse um die »StaatsbürgerInnen in Uniform« sollten auch Angelegenheit der politischen Öffentlichkeit sein. Zwar gibt sich die militärische Führung der Bundeswehr entschlossen, die Integration von Frauen ohne größere Probleme zu realisieren.13 Dennoch zeigen die Ergebnisse von Befragungen von Soldaten durch das Sozialwissenschaftliche Institut der Bundeswehr nicht unerhebliche Vorbehalte gegen die Einbeziehung von Frauen.14 Eine Mehrheit der befragten Soldaten stimmt der Öffnung der Bundeswehr für Frauen zu. Dem steht eine nicht unerhebliche skeptische und ablehnende Minderheit gegenüber. Im Heer sind die Vorbehalte am größten. Sie basieren auf einem überwiegend traditionellen Bild vom Militär und vom Geschlechterverhältnis. Soldaten mit kürzerer Verpflichtungszeit haben stärkere Vorbehalte, die auch mit der gewachsenen Konkurrenz durch die Anwesenheit von Frauen zu erklären sind.

Darüber hinaus lehnen 40 % der Soldaten Frauen in Kampfverwendungen ab. 30 % halten Frauen für die »harten Bedingungen« im Felde als nicht geeignet und befürchten, dass die Bundeswehr mit der Öffnung aller militärischen Bereiche für Frauen ihren militärischen Auftrag nicht erfüllen kann. 22,8 % der Soldaten halten Frauen als militärische Vorgesetzte für ungeeignet. Ein nicht unbedeutender Teil (63,5%) erwartet durch die Anwesenheit von Soldatinnen mehr Probleme im Dienstalltag, vor allem würden „die mit Sexualität verbundenen Probleme zunehmen“ (83,6%). Immerhin fällt 55,8 % der befragten Soldaten die Vorstellung nicht leicht, von einer Soldatin mit der Waffe in der Hand verteidigt zu werden.

Die Ausgestaltung der sozialen Beziehungen in der Bundeswehr verlangt nicht nur die Überwindung jener Vorurteile, die sich auch in anderen Ländern als nachhaltige Integrationshemmnisse erwiesen haben.15 Darüber hinaus ist eine in der Bundesrepublik noch völlig unterbelichtete politische und wissenschaftliche Diskussion erforderlich, um das in der Politik der gegenwärtigen Bundesregierung hoch bewertete neue militärische Aufgabenfeld des Peacekeeping auszufüllen. Für die Implementierung demokratischer und zivilgesellschaftlicher Verhältnisse in Konfliktgebieten ist es unerlässlich, die allgemeine, den militärischen Einsatz legitimierende Rhetorik über die »unterdrückte Frau« um eine Perspektive zu erweitern, die die Kategorie Gender als analytische Kategorie ernst nimmt. Gesellschaftliche Konfliktstrukturen erweisen sich als hochgradig verschränkt mit den Konstruktionen von Gender und Identität.16 Das betrifft nicht nur die Konfliktentstehung und den Austrag von Konflikten, sondern auch deren Bearbeitung durch die verschiedenen AkteurInnen. SoldatInnen repräsentieren im Einsatzland die demokratischen und politischen Vorstellungen des eigenen Landes: Die eigene Geschlechtsidentität und Geschlechterkultur hat für die Tätigkeit im Einsatzland eine brisante Bedeutung erfahren. Wie brisant diese Problematik ist, zeigen Militärprostitution (auch von UNO-Truppen) und die völlig unbefriedigende Berücksichtigung der spezifischen Problem- und Interessenlagen von Frauen in Konfliktzonen.17

Die von der Politik gewollten Demokratisierungsprozesse in Einsatzgebieten erfordern Streitkräfte mit umfassenden sozialen Qualitäten der SoldatInnen, die die Menschenrechte in allen Belangen beachten. Die Implementierung von Gleichstellungsregimen in Einsatzgebieten ist eine wichtige neue Aufgabe. Organisationen wie das Europäische Parlament und die UNO fordern in diesem Zusammenhang eine Erhöhung des Anteils von Frauen in Friedenstruppen auf mindestens 40% und eine militärische Ausbildung, in der Genderfragen einen zentralen Platz bekommen. Dass all diese weit reichenden und umfangreichen Aufgabenstellungen nur mit grundsätzlichen Veränderungen des Militärs selbst zu bewerkstelligen sind, ist wohl kaum anzuzweifeln.

Anmerkungen

1) In vielen NATO-Ländern sind Frauen dort seit mehreren Jahren vertreten. Länder, in denen – wie in Deutschland und Italien – noch gesetzliche Beschränkungen des Zugangs von Frauen zum Militär bestanden, haben diese aufgehoben. Die Spanne ihres jeweiligen Anteils reicht zur Zeit von weniger als 1% in Polen oder Österreich bis zu fast 15 % in Russland und in den USA. Frauen dienen als Freiwillige sowohl in Wehrpflichtarmeen als auch in Freiwilligen- und Berufsarmeen. Sie erreichten die Öffnung verschiedener Dienstzweige, Verwendungsbereiche und Truppengattungen. Sie sind in Kampfunterstützungseinheiten und zum Teil auch in den männlich-maskulin konnotierten Kampfeinheiten tätig. In militärischen Hierarchien sind Frauen noch deutlich unterrepräsentiert, haben zum Teil jedoch bereits relativ hohe Ränge inne.

2) Ausführlicher dazu Christine Eifler: Bewaffnet und geschminkt – Zur sozialen und kulturellen Konstruktion des weiblichen Soldaten in Russland und in den USA, in: L’Homme, Heft 1, 2001, S.73-97.

3) 1995/96 waren 161.000 zivile Mitarbeiter beschäftigt, davon nahezu 52.600 Frauen, das sind 32%. Mehr als die Hälfte dieser Frauen arbeitet in der Wehrverwaltung des Bundes, die übrigen arbeiten in den Streitkräften. Dabei werden von den Frauen Tätigkeiten ausgeführt, die in anderen Armeen von Frauen in Uniform wahrgenommen werden. Vgl. Anker, Ingrid/Welcker, Ingrid (1999): Trendwende für die Bundeswehr? Der Beruf Soldat für Frauen, Bielefeld, S.19.

4) ebenda

5) So wurde die Klage einer Soldatin des Sanitätsdienstes auf Laufbahnwechsel vor dem Bundesverwaltungsgericht abgelehnt. Die Klägerin wollte die Übernahme als Militärkraftfahrlehrerin. Der Gleichbehandlungsgrundsatz erfordere es nicht, Verwendungen für Soldatinnen in anderen soldatischen Laufbahnen zu schaffen, auch wenn der Dienst mit der Waffe nicht erforderlich sei. Vgl. Beschluss des BVerwG Berlin, AZ i.-WB-89-95.

6) Zu den Staaten mit den größten Einsatzerfahrungen von Frauen zählen die Vereinigten Staaten von Amerika, Großbritannien, Kanada und Frankreich. In ihren Streitkräften existieren Restriktionen im Zugang zu Kampfeinheiten. Norwegen, Spanien, Belgien, Österreich, Schweden und Ungarn haben die Öffnung vollständig vollzogen, Frauen können in allen Waffengattungen dienen. Nur Luxemburg schließt Frauen vollständig vom Militärdienst aus. Vgl. Military Balance 1999-2000, hg. International Institute for Strategic Studies, Oxford 1999. Nato, Nationale Botschaften, vgl. auch Constanze Stelzenmüller, Bürgerin in Uniform, in: ZEITPunkte, Wohin marschiert die Bundeswehr? Fakten Meinungen und Dokumente zur wichtigsten politischen Debatte des Jahres 2000, Heft 4/2000, 34-37, hier 35.

7) Sibylle Raasch: Krieg auch mit den Waffen einer Frau?, in: Kritische Justiz, 33, 2 (2000), 248-261, hier 255.

8) Vgl. u.a. Ute Frevert: Soldaten, Staatsbürger. Überlegungen zur historischen Konstruktion von Männlichkeit, in: Thomas Kühne (Hrsg.): Männergeschichte – Geschlechtergeschichte. Männlichkeit im Wandel der Moderne, Frankfurt a. M./New York 1996, 69-87; dies.: Das jakobinische Modell – Allgemeine Wehrpflicht und Nationsbildung in Preußen – Deutschland, in: dies.(Hrsg.): Militär und Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1997, 17-47; Ruth Seifert: Gender, Nation und Militär – Aspekte von Männlichkeitskonstruktion und Gewaltsozialisation durch Militär und Wehrpflicht, in: Eckardt Opitz u. Frank S. Rödiger (Hrsg.): Allgemeine Wehrpflicht. Geschichte, Probleme, Perspektiven, Bremen 1995, 199-214.

9) Morris Janowitz, The Professional Soldier. A Social and Political Portrait, New York 1991, besonders 46 ff.

10) So haben angesichts der Ereignisse vom 11. September Reservisten der Bundeswehr ihre Verweigerung für den Reservistendienst erklärt. FAZ vom 27.10.2001

11) Vgl. Charles C. Moskos und Frank R.Wood (Hrsg.): The Military More than Just a Job?, Washington 1988.

12) In Russland existieren trotz sehr unsicherer sozialer und rechtlicher Verhältnisse für Frauen im Militär verfassungsmäßig garantierte Rechte, die in anderen Teilen der Gesellschaft noch nicht gewährleistet werden.

13) Dabei stützt sie sich auf die Analyse der Erfahrungen mit Frauen im Militär vor allem in den USA und in Österreich, aber auch des Einsatzes von Frauen bei der Polizei und dem BGS in der Bundesrepublik sowie der eigenen bisherigen Ergebnisse mit den Frauen im Sanitätsdienst.

14) Es handelt sich um repräsentative Befragungen von 3.260 Soldaten mittels eines Fragebogens, von denen 2.648 antworteten. Zu den Ergebnissen vgl. Kümmel, G./Biehl, H.: Warum nicht? – Die ambivalente Sicht männlicher Soldaten auf die weitere Öffnung der Bundeswehr, Strausberg 2001.

15) Vgl. hierzu z.B. Francine D’Amico/Laurie Weinstein (eds.): Gender Camouflage. Women and the U.S. Military, New York (N.Y. Univ. Press) 1999; Edna Levy: Women Warriors – The Paradox and Politics of Israeli Women in Uniform, in: Sita Ranchod-Nilsson/Mary Ann Tetreault (eds.): Women, States and Nationalism. At Home in the Nation?, London (Routledge) 2000; Ruth Seifert: Militär und Geschlechterverhältnis – Ein Überblick über aktuelle Problemlagen in der Bundesrepublik Deutschland, Israel und den USA, in: Beiträge zu Lehre und Forschung 5/1998, Fb Sozialwissenschaften der Führungsakademie der Bundeswehr, Hamburg.

16) Ruth Seifert: Genderdynamiken bei der Entstehung, dem Austrag und der Bearbeitung von kriegerischen Konflikten. In: Peripherie, Zeitschrift für Politik und Ökonomie der Dritten Welt, erscheint Frühjahr 2002

17) Vgl, EU-Bericht über die Beteiligung von Frauen an der friedlichen Beilegung von Konflikten (2000/2025 (INI)), Ausschuss für die Rechte der Frauen und Chancengleichhheit, Berichterstatterin Maj Britt Theorin

Christine Eifler ist Privatdozentin an der Universität Bremen und arbeitet gegenwärtig an einem DFG-Projekt zur Einbeziehung von Frauen in die Streitkräfte der USA, der Bundesrepublik und in Russland.

Vom Elend einer militarisierten Außenpolitik

Vom Elend einer militarisierten Außenpolitik

Die Bundeswehr im Kampfeinsatz in Afghanistan

von Jürgen Rose

Zum zweiten Mal nach 1999 entsenden Sozialdemokraten und Bündnisgrüne deutsche Soldaten mit einem expliziten Kampfauftrag in ein fremdes Land – nötigenfalls zum Töten und zum Sterben. Unter den Vorzeichen einer so genannten Normalisierung der deutschen Außenpolitik scheint ein solches Procedere zur Regel zu werden. Vergessen offenbar die einstmals so emphatisch betonte »Kultur der Zurückhaltung«, in der sich die bitter gelernten Lektionen einer in der Katastrophe kulminierten deutschen Politik mit kriegerischen Mitteln niedergeschlagen hatten. Ab sofort heißt es wieder: „Germans to the Front!“
Vor nunmehr sieben Jahren, als nach dem Ende des Kalten Krieges der Auftrag der deutschen Streitkräfte neu definiert wurde, formulierte der damalige Außenminister Klaus Kinkel einen Katalog politischer Prinzipien für eine Beteiligung der Bundeswehr an internationalen Militäraktionen1, welcher den ehemaligen, aber nunmehr offenbar überholten sicherheitspolitischen Grundkonsens der Bundesrepublik Deutschland widerspiegelte. Im Wesentlichen hatte sich diese Republik in einem langwierigen, bis vor das Bundesverfassungsgericht getragenen Disput auf folgende Prämissen verständigt, die erfüllt sein müssten, bevor die Bundeswehr in den Einsatz geschickt würde:

Erstens käme eine Beteiligung an internationalen Militäreinsätzen nur dann in Frage, wenn sie völkerrechtlich eindeutig zulässig wäre. Nur so wäre sichergestellt, dass durch solche Einsätze das Recht gewahrt und nicht neues Unrecht geschaffen würde. „Nichts schlägt so leicht in Barbarei um, wie der selbstgerecht geführte Kreuzzug gegen vermeintliche oder wirkliche Barbaren.“ (Rudolf Walther)2

Zweitens würde Deutschland solche Einsätze niemals alleine unternehmen, sondern sich nur im gemeinsamen Verbund mit anderen Partnern an Militäroperationen beteiligen, primär im Rahmen bestehender internationaler Institutionen wie z. B. UNO, OSZE, NATO oder WEU.

Drittens müssten folgende Fragen befriedigend beantwortet sein: Gibt es ein klares Mandat? Ist die militärische Aktion in sinnvoller Weise in ein umfassendes politisches Lösungskonzept eingebettet? Sind die verfügbaren Mittel hinreichend, um einer solchen Mission zum Erfolg zu verhelfen? Ist die Verhältnismäßigkeit zwischen dem erstrebten Ziel und den möglicherweise in Kauf zu nehmenden Zerstörungen gewahrt? Gibt es eindeutige Erfolgskriterien und damit eine absehbare zeitliche Begrenzung? Bestehen Überlegungen für den Fall, dass der angestrebte Erfolg sich wider Erwarten doch nicht erreichen lässt?

Viertens müssten je mehr es in Richtung Kampfeinsätze ginge, desto zwingender die Gründe sein, die eine deutsche Beteiligung erforderten. Je höher das Risiko für die Soldaten, um so höher müssten die Werte sein, die es zu verteidigen gälte. Das geforderte Risiko, unter Umständen auch für das eigene Leben, müsste für die eingesetzten Soldaten, aber auch für die Bevölkerung zu Hause, als sinnvoll und zumutbar empfunden werden.

Fünftens bedürfte die Teilnahme deutscher Streitkräfte an internationalen Militäreinsätzen gemäß der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes der parlamentarischen Zustimmung. Angesichts der politischen Tragweite solcher Einsätze und der möglichen Gefährdung der Soldaten wäre ein parteiübergreifender Konsens anzustreben. Der »Dienst am Frieden« sollte einigend wirken und nicht Anlass zu neuen Kontroversen geben.

Sechstens dürfte eine deutsche Beteiligung nicht konfliktverschärfend wirken. Dies könnte vor allem der Fall sein, wenn in den Einsatzregionen aus der Zeit der deutschen Besatzung während des Zweiten Weltkrieges noch besondere Animositäten lebendig seien.

Legt man diesen Kriterienkatalog an den bevorstehenden Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan an, so drängen sich eine Reihe von Zweifeln auf. So scheint prima facie eine klare völkerrechtliche Grundlage für den Krieg gegen Afghanistan zu existieren, hat doch der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen nach den Terroranschlägen von New York und Washington in mehreren Resolutionen das Recht auf Selbstverteidigung nach Art. 51 der UN-Charta bekräftigt und die NATO den Bündnisfall nach Art. 5 des NATO-Vertrages konstatiert. Eine genauere Analyse der einschlägigen Resolutionen Nr. 1368 vom 12. September 2001 sowie Nr. 1373 vom 28. September 2001 ergibt indessen, dass aus diesen mitnichten ein Freibrief zum uneingeschränkten Bombenkrieg gegen Afghanistan hervorgeht. Ganz im Gegenteil: Statt die Staaten zu einem solchen Krieg zu ermächtigen, fordert der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen die Staaten ganz konkret auf, zusammenzuarbeiten, um die Täter, Organisationen und Förderer der Terroranschläge von New York und Washington der Strafjustiz zuzuführen. Nicht völkerrechtliche Sanktionen gegen Staaten, sondern das internationale Strafrecht bezogen auf individuelle Personen erachtet demnach der Sicherheitsrat in der Resolution Nr. 1368 als adäquates Instrumentarium der Terrorismusbekämpfung.3 Besonders stellt der Sicherheitsrat darüber hinaus in seinen Resolutionen darauf ab, dass die Bekämpfung des internationalen Terrorismus’ in Übereinstimmung mit den Regelungen der UN-Charta und ausschließlich unter Anwendung rechtmäßiger Mittel zu geschehen habe.

In der Tat stellen die terroristischen Akte vom 11. September 2001 Verbrechen dar – Helmut Schmidt nennt sie zu Recht „Mammut-Verbrechen“4 –, begangen von kriminellen Tätern. Deren Ergreifung und Aburteilung indes fällt unter die Prärogative von Polizei und Justiz, nicht aber die des Militärs. Wer demgegenüber auf eine Terrorbekämpfung zuvörderst mittels militärischer Gewaltanwendung setzt, entwertet das Instrumentarium ziviler Konfliktregelung und kompromittiert die Idee von der Verrechtlichung der internationalen Beziehungen.5 Noch größere Irritationen muss in diesem Kontext auslösen, wenn gerade die USA, die so betont das Wort »Gerechtigkeit« im Munde führen – man erinnere sich, dass die ursprüngliche Bezeichnung für den Anti-Terrorkrieg »Infinite Justice« lauten sollte –, mit aller Macht die Etablierung des 1998 in Rom beschlossenen Internationalen Strafgerichtshofes der Vereinten Nationen hintertreiben6. Letztlich muss es geradezu bizarr wirken, wenn eine Nation, die sich strikt weigert, gegebenenfalls die Aburteilung eines eigenen Staatsbürgers im Falle des Völkermordes, schwerster Kriegsverbrechen oder der Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor einem zukünftigen Internationalen Strafgerichtshof der Vereinten Nationen zuzulassen, zugleich das Recht beansprucht, die Auslieferung eines von ihr terroristischer Verbrechen Beschuldigten herbeizubomben, noch dazu ohne der Weltöffentlichkeit bisher stichhaltige, gerichtsfeste Beweise vorgelegt zu haben.

Auf den Punkt gebracht ergibt sich aus der völkerrechtlichen Analyse des Problemkomplexes »Internationaler Terrorismus«, dass, solange keinem einzelnen Staat oder einer Staatengruppe eine Handlung zugerechnet werden kann, die einem bewaffneten Angriff im Sinne des Art. 51 der UN-Charta gleichzustellen ist, eine gesicherte völkerrechtliche Legitimation für militärische Maßnahmen nicht existiert – und zwar weder für die USA noch für die NATO.7 Im Hinblick auf die erstgenannte Voraussetzung für den Kampfeinsatz der Bundeswehr in Afghanistan bleibt demnach festzuhalten, dass dieser auf einer völkerrechtlich schwankenden Grundlage steht, zumindest aber das Kriterium der eindeutigen Zulässigkeit nicht erfüllt.

Das Kriterium zwei ist erfüllt, da die Bundesrepublik Deutschland mit ihren Streitkräften im NATO-Bündnis und darüber hinaus im Kontext einer geradezu weltumspannenden Koalition gegen den Terror agiert. Allerdings bleibt zu monieren, dass sich in dieser viel zitierten Koalition doch einige, gelinde ausgedrückt, schillernde Figuren befinden oder auch mit welcher Nonchalance aus Schurken Alliierte werden.

In Bezug auf das dritte Kriterium drängen sich die gravierendsten Einwände gegen die Teilnahme deutscher Soldaten am Anti-Terrorkrieg auf. Neben dem Umstand, dass es kein gesichertes völkerrechtliches Mandat für einen solchen Einsatz gibt, bleibt die Frage nach der politischen Zielsetzung dieses Krieges bis dato im Dunkeln. Da die direkten Angriffe auf die terroristische Infrastruktur Osama bin Ladens in den ersten Kriegswochen nicht den beabsichtigten Erfolg brachten, wechselten die USA ihre Strategie, vernichteten zunächst das Taliban-Regime und bombten die Vertreter der so genannten Nord-Allianz zurück an die Macht.

Die Paradoxie einer solchen Vorgehensweise illustriert der Umstand, dass die USA selbst gemeinsam mit Pakistan und Saudi-Arabien die Taliban Mitte der neunziger Jahre an die Macht gebracht haben. Damals meinte man den Bürgerkrieg, der Afghanistan in ein unerträgliches Chaos gestürzt hatte, beenden zu können, indem man mit Hilfe der Taliban eben jene Warlords, Stammesfürsten und Clanchefs von der Macht vertrieb, die man heute wieder in Amt und Würde bomben möchte. Welch absurde Logik, zunächst Beelzebub mit Satan zu vertreiben und jetzt wieder Satan mit Beelzebub. Trotz intensivster diplomatischer Bemühungen ist eine tragfähige politische Konfliktlösung für Afghanistan bis heute nicht einmal im Ansatz zu erkennen. Krieg ohne ein klares politisches Ziel zu führen, ist nach Clausewitz ein Kardinalfehler. Krieg bedeutet dann nämlich nicht die „Fortführung der Politik unter Einmischung anderer Mittel“, sondern die Abdankung von Politik und die Erhebung militärischer Gewaltanwendung zum Selbstzweck. Eine derartige Vorgehensweise lässt sich dann wohl mit Fug und Recht als Abenteurertum bezeichnen – und daran wollte sich diese Republik ja eigentlich nicht beteiligen, wenn man den Bundeskanzler richtig verstanden hat.

Darüber hinaus gibt aber auch die Art und Weise der militärischen Operationsführung zu erheblichen Zweifeln an deren Sinnhaftigkeit Anlass. Festzustellen ist zunächst, dass der Krieg in und über Afghanistan gemäß dem von den USA seit dem Golfkrieg 1991 entfalteten neuen Paradigma geführt wird; ein Schlüsselbegriff hierzu lautet »Revolution in Military Affairs«. Diesem Paradigma zufolge werden Kriege mit Hilfe von High tech-Waffensystemen, auf welche die USA und ihre Rüstungsindustrie ein Quasi-Monopol besitzen, aus der Distanz, mit überlegenen, weltraum- und luftgestützten Aufklärungsmitteln, modernster Informations- und Führungstechnologie sowie konkurrenzlos überlegenen Luftkriegsmitteln geführt, wobei eigene Verluste vermieden und gegnerische minimiert werden sollen. Bodengebundene US-Streitkräfte, die, wenn überhaupt, dann in geringer Stärke zum Einsatz kommen, dienen vornehmlich der Unterstützung des Luftkrieges mittels Aufklärung und Zielbeleuchtung sowie sonstigen Spezial- oder Kommandooperationen. Zudem streben die USA an, dass die Verbündeten oder jeweiligen Koalitionspartner deren Streitkräfte für den stets mit erheblichen Verlustrisiken verbundenen Einsatz am Boden bereitstellen. Schon der Verlauf des Kosovokrieges demonstrierte, wie effektiv dieses neue Paradigma der Kriegführung in die Tat umgesetzt wurde, und der Krieg in Afghanistan liefert eine erneute Bestätigung für dessen Wirkungsmächtigkeit.

In der Realität des Krieges gegen Afghanistan resultiert aus einer solchen Doktrin, dass ein ohnehin unbewohnbares Land noch unbewohnbarer gemacht wird. Während der Weltöffentlichkeit suggeriert wurde, dass die U.S.-Airforce selektiv und präzise die Infrastruktur von Osama bin Ladens Al Qaida sowie das rudimentäre Militärpotenzial der Taliban zertrümmerte, meldete der amerikanische Fernsehsender NBC unter Berufung auf einen hochrangigen Offizier der US-Streitkräfte, dass die US-Luftwaffe die entsprechend völkerrechtlicher Regularien deutlich gekennzeichneten Lager des IKRK in Afghanistan vorsätzlich bombardiert habe, um die dort deponierten Lebensmittel und Hilfsgüter nicht in die Hände der Taliban fallen zu lassen.8 Nach der Genfer Konvention inklusive Zusatzabkommen fallen vorsätzliche Angriffe auf humanitäre Einrichtungen unter die Kategorie der Kriegsverbrechen. Insgesamt sollen mehr als achtzig Prozent der IKRK-Strukturen in Afghanistan zerstört worden sein.9 Symbolhaften Gehalt besaß schon die Zerstörung eines Büros der Vereinten Nationen in Kabul zu Beginn der Bombardierungen, wobei vier lokale Mitarbeiter, deren Aufgabe darin bestand, im Rahmen eines humanitären UNO-Projektes Minen zu räumen, getötet worden waren.

Trotz der schnellen und effektiven Zerstörung der sehr begrenzten Anzahl militärischer Ziele von strategischer Bedeutung in den ersten Kriegswochen hatte sich das Taliban-Regime als äußerst widerstandsfähig erwiesen, wie das Pentagon zu seiner Überraschung zuzugeben genötigt war. Die U.S. Airforce ging daher dazu über, den Truppen der Nordallianz den Weg durch die Stellungen der Taliban freizubomben, wobei die Taktik des so genannten square bombings sowie Clusterbomben zum Einsatz gelangten. Darüber hinaus dürften auch die berüchtigten »Fuel-Air-Explosives« zur Anwendung gekommen sein, Aerosolbomben, die eine enorme Druckwelle erzeugen und Menschen – im Jargon der Militärs als »weiche Ziele« bezeichnet –, die sich in deren Wirkbereich befinden, die inneren Organe zerfetzen. Da die Kämpfe auch weiterhin nicht in einer menschenleeren Wüstenei stattfinden, sondern durchaus auch Siedlungen im Kampfgebiet liegen, führt diese Veränderung der operativen Konzeption dazu, dass mitunter ohne Rücksicht auf die örtliche Zivilbevölkerung ganze Dörfer umgepflügt und eingeäschert werden.

Ein weiterer Effekt des Krieges gegen Afghanistan liegt darin, dass Millionen Flüchtlinge angesichts der desaströsen Ernährungslage und des einsetzenden Winters dem Hunger- und Kältetod ausgesetzt sind, da die humanitären Hilfsorganisationen angesichts der Kriegshandlungen nahezu zur Untätigkeit verurteilt waren. In der Konsequenz bedeutet die Art der Kriegführung in Afghanistan, dass die gesamte afghanische Bevölkerung – Männer, Frauen, Kinder, Alte – quasi in Geiselhaft genommen wird für eine Handvoll Terroristen, die auf afghanischem Territorium operieren. Indem solchermaßen die Conditio sine qua non der Verhältnismäßigkeit von intendiertem Zweck und selektierten Mitteln schlechterdings ignoriert wird, ist der Krieg gegen Afghanistan, so wie er derzeit geführt wird, mit dem Völkerrecht und dem Kriegsvölkerrecht nicht zu vereinbaren.

Darüber hinaus lässt er sich auch unter moralischen Aspekten nicht rechtfertigen, weil er nämlich der Maxime folgt, es sei erlaubt, Unschuldige zu töten um andere Unschuldige zu rächen und potenzielle Opfer zukünftiger terroristischer Anschläge zu retten. Ein derartiges Kalkül ist selbstredend absurd. Wer weiterhin für uneingeschränkte Solidarität mit den USA im Krieg gegen Afghanistan plädiert, muss wissen, dass er damit einer unhaltbaren moralischen Maxime folgt.

Neben dem unermesslichen Leid, das der Krieg hervorbringt, ist er zudem unter politischen Aspekten völlig kontraproduktiv, da er nämlich das Gegenteil dessen bewirken wird, was eigentlich erreicht werden soll. Jeder von der westlichen Kriegsmaschinerie getötete Zivilist nährt den Hass in der islamischen Welt und treibt den Rattenfängern des Terrorismus neue Gefolgsleute zu. Militärische Gewaltanwendung ändert nicht das Geringste an den Ursachen für das Entstehen von Denkschablonen und Handlungsmustern, gemäß denen die Protagonisten im Heiligen Krieg gegen eine als gottlos und zutiefst ungerecht empfundene Welt ihre heldenhafte Selbstaufopferung unter Maximierung feindlicher Verluste zum höchsten Ziel erheben. Wie man es auch dreht und wendet: Mit Bomben und Raketen lässt sich die Spaltung der Welt in Arm und Reich nicht überwinden, mit einem »Kreuzzug gegen den Terrorismus« kein gerechter Frieden schaffen, mit militärischer Gewalt der Kampf um die Köpfe und Herzen der Menschen in der islamischen Welt nicht gewinnen.

Gewendet auf die eingangs aufgeworfene Fragestellung nach den Erfolgskriterien der militärischen Intervention resultiert aus den aufgezeigten Defiziten und Dilemmata, dass jene mitnichten in zufriedenstellender Weise beantwortet ist, sondern im Gegenteil höchst unklar bleibt. Darüber hinaus lässt sich auch überhaupt kein Ende des Krieges absehen, ganz im Gegenteil wird von offizieller Seite stets betont, dass der Kampf gegen den internationalen Terrorismus von sehr langer Dauer sein wird. Und schließlich sind bisher keinerlei Überlegungen betreffend eine so genannte Exit Strategy bekannt. Die kürzlich überraschend erzielten militärischen Erfolge gegen das Taliban-Regime bedeuten nämlich noch längst nicht die siegreiche Beendigung des Krieges in Afghanistan und schon gar nicht den Sieg im Kampf gegen den Terrorismus.

Zusammengefasst ergibt die Analyse von Kriterium Nummer drei des oben explizierten Prinzipienkatalogs, dass sich für keine der dort subsumierten Fragen eine zufriedenstellende Antwort findet. Eine Entsendung von Bundeswehrsoldaten in den Krieg gegen Afghanistan erscheint somit weder als zweckmäßig noch als gerechtfertigt. Auch die vierte Forderung stellt eine Schlüsselfrage dar: Sind die Gründe für das eventuelle Opfer deutscher Soldaten auf dem Schlachtfeld in Afghanistan wirklich zwingend? Rechtfertigen die terroristischen Attacken in den USA, wie grauenhaft und menschenverachtend sie sich auch immer darstellen, zweifelsfrei einen Kampfauftrag für die Bundeswehr und gibt es tatsächlich keinerlei Dissens über die Sinnhaftigkeit eines derartigen Kampfeinsatzes? Dies ist, beobachtet man die aktuelle politische Debatte sowie die Berichterstattung in den Medien, keineswegs der Fall. Ganz im Gegenteil, denn erstens ist zu konstatieren, dass in der demokratischen Öffentlichkeit in Anbetracht der politischen und militärischen Imponderabilien seit Wochen Skepsis und Kritik am Krieg der USA und Großbritanniens in Afghanistan wachsen. Zweitens aber lässt die von der Bundesregierung deklarierte Politik nach der Devise »uneingeschränkter Solidarität« mit den USA den Verdacht aufkeimen, dass es gar nicht so sehr die USA waren, die einen militärischen Beitrag der Bundeswehr unbedingt eingefordert haben, sondern vielmehr Gerhard Schröder und Joschka Fischer diesen den USA geradezu aufgenötigt haben, um Einfluss und Mitsprache Deutschlands im Kampf gegen den internationalen Terrorismus zu bekommen.10 Dies mag man für politisch durchaus klug und zweckmäßig halten, dann sollte man es getreu dem Gebot der Wahrhaftigkeit der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit und den Soldaten der Bundeswehr aber auch so erklären.

Was die fünfte Forderung des Prinzipienkataloges betrifft, so hat nur eine äußerst knappe Mehrheit des Deutschen Bundestages dem Kampfeinsatz der Bundeswehr in Afghanistan zugestimmt. Die Art und Weise, wie dieser Beschluss seitens des Bundeskanzlers dem Parlament abgepresst wurde, bedeutet tendenziell ein Unterlaufen des vom Bundesverfassungsgericht mit Bedacht in sein Urteil vom 12. Juli 1994 formulierten Parlamentsvorbehaltes für den Einsatz der Bundeswehr jenseits der Landesgrenzen. Zugleich ist hinsichtlich der politischen Kontrolle des deutschen Militärs eine ganz klare und besorgniserregende Machtverschiebung weg von der Legislative und hin zur Exekutive zu konstatieren. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird die Kontroverse um den bevorstehenden Kampfeinsatz deutscher Soldaten andauern und sich im weiteren Verlauf des Krieges eher noch verschärfen. Im Hinblick auf die Legitimation des Bundeswehreinsatzes einerseits, die Moral der Truppe andererseits dürften sich aus diesem Sachverhalt nicht unerhebliche negative Implikationen ergeben.

Das letzte Kriterium, dass nämlich eine Beteiligung Deutschlands an einem Konflikt sich unter Berücksichtigung der besonderen historischen Spezifika deutscher (Militär-)Geschichte nicht verschärfend auswirken dürfe, erscheint im afghanischen Kontext eher irrelevant, da die Horden des Dritten Reiches bis in jene fernen Regionen nicht vorgedrungen waren.

Das abschließende Resümee im Hinblick auf die Erfüllung der einstmals so explizit reklamierten Prinzipien für einen Einsatz deutscher Streitkräfte fällt, was den Krieg in Afghanistan anbetrifft, sehr ernüchternd aus: Die Perspektive, auf dem Altar ominöser nationaler Interessen geopfert zu werden, wird in den Streitkräften jetzt und in der Zukunft erhebliche Zweifel sowohl am Sinn als auch an der Legitimität militärischen Dienens aufkommen lassen. Zusammengenommen mit der unübersehbar im Scheitern begriffenen Bundeswehrreform könnte sich daher die Lage für die deutschen Streitkräfte in ungeahnt prekärer Weise entwickeln.

Anmerkungen

1) Vgl. hierzu Kinkel, Klaus: Die Rolle Deutschlands bei Friedensmissionen, in: NATO-Brief, Oktober 1994, S. 6f.

2) Walther, Rudolf: Die Fiktion vom sauberen Waffengang, in: Die Zeit, Nr. 32, 2. August 2001, S. 41.

3) Vgl. hierzu Stuby, Gerhard: Internationaler Terrorismus und Völkerrecht, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 11/2001, S. 1333.

4) Vgl. Schmidt, Helmut: Das Mammut-Verbrechen, in: Die Zeit, Nr. 38, 13. September 2001, S. 1.

5) Vgl. Garzón, Baltasar: Die einzige Antwort auf den Terror – Bomben auf Kabul, Spezialkommandos, Jagd auf die Taliban: Das dient zuerst dem Wunsch nach Rache für den 11. September. Erfolg aber verheißt nur die Sprache des Rechts und der Richter, in: Die Zeit, Nr. 44, 25. Oktober 2001, S. 11.

6) Vgl. Schmidt-Häuer, Christian: Den Freunden ins Auge gestochen – Die amerikanische Regierung unterstützt das Gesetz gegen den Internationalen Strafgerichtshof und brüskiert die Vereinten Nationen, in: Die Zeit, Nr. 43, 18. Oktober 2001, S. 4.

7) Vgl. hierzu Stuby, Gerhard: Internationaler Terrorismus und Völkerrecht, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 11/2001, S. 1334.

8) Vgl. Rupp, Rainer: Im Visier: Rotes Kreuz. USA bombardieren Lager in Kabul absichtlich, in: Neues Deutschland, Nr. 256, 3./4. November 2001, S. 3.

9) Vgl. die entsprechende Meldung in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 252, 2. November 2001, S. 4; dort wird unter der Rubrik »Blick in die Presse« die französische Zeitung L’Humanité wie folgt zitiert: „Durch die US-Luftangriffe in Afghanistan wurden 80 Prozent der Infrastruktur des Roten Kreuzes zerstört, irrtümlich, wie die US-Regierung sagt. Doch ist der Irrtum nicht Wesenselement der amerikanischen Strategie? Am Anfang sollten die Ausbildungslager der Terrororganisation zerstört und bin Laden gefangen werden, jetzt beobachten wir eine Art ‚Startegie der Angst‘ mit Bombardierungen, damit sich die Bevölkerung von den Taliban abwendet.“

10) Vgl. hierzu den höchst aufschlußreichen Artikel von Josef Joffe in: Die Zeit, Nr. 47, 15. November 2001, S. 3. Dort wird die Leitung des DoD’s wie folgt zitiert: „Unser größtes Problem ist derzeit, dass wir die mannigfach angebotene Militärhilfe gar nicht richtig assimilieren und eingliedern können. (…) Wir erwarten nicht von jedem Land, dass es sich überall und immerdar beteiligt.“

Dipl. Päd. Jürgen Rose ist Oberstleutnant der Bundeswehr. Er ist gezwungen darauf hinzuweisen, dass er in diesem Beitrag nur seine persönlichen Auffassungen vertritt.

Aufrüstung im Reagenzglas

Aufrüstung im Reagenzglas

Die B-Waffenforschung der Bundeswehr

von Jan van Aken

Im August diesen Jahres sind die internationalen Verhandlungen zur Stärkung der Biowaffen-Konvention am Widerstand der USA vorerst gescheitert. Damit bleibt das Verbot biologischer Waffen weiterhin ohne einen multilateralen, rechtlich bindenden Verifikationsmechanismus. Noch ist nicht abzusehen, welche neuen Wege zur Überprüfung der Konvention die Vertragsstaaten im Genf entwickeln werden und ob es überhaupt konsensfähige Modelle geben kann, denen sich auch eine Bush-Regierung unterwerfen würde. Damit die biologische Rüstungskontrolle nicht zum alleinigen Spielfeld nationaler Geheimdienste verkommt, muss jetzt auch über ein zivilgesellschaftliches Monitoring der B-Forschung nachgedacht werden. Beispielhaft hat das »sunshine project« die Biowaffen-Forschung der Bundeswehr unter die Lupe genommen und in einem Bericht veröffentlicht, der hier in Auszügen wiedergegeben ist:
Die biologische Abwehrforschung der Bundeswehr wird seit 1995 massiv ausgebaut, der Etat für die Biowaffenforschung ist im Vergleich zum Gesamthaushalt überdurchschnittlich stark gestiegen. Diese Verteidigungsoffensive im Reagenzglas steht erklärtermaßen im direkten Zusammenhang mit der Neuorientierung der Bundeswehr auf Auslandseinsätze. Die Bedrohung durch biologische Waffen hat sich nach Einschätzung des Verteidigungsministeriums (BMVg) erhöht – aber nicht, weil jetzt mit dem Abwurf von Bakterienbomben über München oder Berlin gerechnet wird, sondern weil die »Krisenreaktionskräfte« im Auslandseinsatz tendenziell einer höheren B-Gefahr ausgesetzt sind.1 Insofern ist der massive Ausbau der Biowaffenforschung bei der Bundeswehr als Teil einer Aufrüstung zu begreifen, die die Voraussetzung für den Einsatz der Bundeswehr außerhalb des NATO-Gebietes erst schafft.

Die Bundeswehr ist sicherlich nicht an der Entwicklung von Biobomben und Killerbakterien beteiligt, sondern betreibt ein rein defensiv ausgelegtes Forschungsprogramm. Allerdings zeigen verschiedene Beispiele aus dem Forschungsbereich des BMVg, wie schwierig – wenn nicht unmöglich – eine klare Unterscheidung in Offensiv- und Defensivforschung ist. Die Bundeswehr zeigt sich bislang ignorant gegenüber der Zweischneidigkeit der biologischen Abwehrforschung. Eine sehr sorgfältige und öffentliche Bewertung der Einzelprojekte ist ebenso nötig wie klare Grenzziehungen.

Im Vergleich mit anderen EU-Staaten hat die Bundeswehr ein recht umfangreiches biologisches Forschungsprogramm. Zwar nimmt Großbritannien innerhalb der EU mit einem B-Etat von weit über 50 Mio. DM zweifelsohne eine einsame Spitzenstellung ein, doch wird in vielen anderen europäischen Ländern nur eine sehr eingeschränkte biologische Abwehrforschung betrieben.310 Millionen DM gab das Verteidigungsministerium im Jahre 1999 für den »medizinischen B-Schutz« aus. Das entspricht einer Steigerung von fast 60% gegenüber dem B-Etat in 1994.4 Die Hälfte des Geldes wurde für Projekte innerhalb der Bundeswehr ausgegeben, vor allem an der Sanitätsakademie der Bundeswehr in München sowie am Wehrwissenschaftlichen Institut für Schutztechnologien (WIS) in Munster. Während an der Sanitätsakademie eher die Grundlagenforschung betrieben wird, konzentriert das WIS in Munster sich auf die technische Entwicklung von einsatztauglichen Geräten und Verfahren sowie auf die Testung von Neuentwicklungen. An der SanAk wird im Institut für Mikrobiologie von rund 22 Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen – davon 7 WissenschaftlerInnen – biologische Abwehrforschung betrieben.5 Das Institut umfasst gut 1000 qm Laborfläche der Sicherheitsstufe 2, ein Hochsicherheitslabor (Stufe 3) ist zur Zeit im Aufbau. Das Institut befasst sich schwerpunktmäßig mit Hasenpest-Bakterien, die – neben Milzbrand – zu den klassischen Biowaffen der ersten Wahl zählen. Ein weiterer Schwerpunkt der Forschung ist die Entwicklung von schnellen Nachweisverfahren für eine Reihe von B-Waffen-Erregern, darunter Orthopocken-Viren, Pestbakterien oder Burkholderia.Am WIS sind 33 Personen (darunter 11 WissenschaftlerInnen) mit dem B-Schutz befasst. In Munster stehen ein Hochsicherheitslabor (230 qm) der Stufe 3 sowie gut 500 qm Sicherheitslabor der Stufe 2 zur Verfügung. Am WIS wird auch mit gefährlichen Krankheitserregern der Stufe 3 gearbeitet.6 Das WIS hat vor allem die Aufgabe, Produkte der Grundlagenforschung – z.B. aus der Sanitätsakademie oder von zivilen Forschungsnehmern – auf ihre Praxistauglichkeit zu überprüfen und zur Einsatzfähigkeit weiterzuentwickeln. Unter anderem wurden und werden dort folgende Projekte durchgeführt:

  • Entwicklung eines Nachweissystems für Alphaviren (zu denen typische B-Waffen-Erreger wie z.B. Pferde-Enzephalitis-Viren gehören) zur Praxisreife. Das System wurde bereits in Ringversuchen getestet und wird derzeit in Zusammenarbeit mit den britischen und französischen Armeen auf Schnellnachweissysteme übertragen.7
  • Untersuchung kommerzieller Luftkeimsammler auf ihre Tauglichkeit für den Nachweis luftgetragener B-Waffen.8
  • Untersuchung des Einsatzes eines Schnellnachweises für Bakterien und Viren in Umweltproben.9
  • Entwicklung von in Laborcontainern einsetzbaren Test-Kits zur Erkennung von Mikroorganismen und Toxinen.10

Die andere Hälfte des deutschen B-Etats wurde an zivile Auftragnehmer vergeben, vornehmlich an Universitäten. Im Jahre 1999 hat das Verteidigungsministerium 17 Einzelprojekte zum Schutz vor biologischen Waffen bei zivilen Forschungseinrichtungen in Auftrag gegeben.11 Bislang verweigert das BMVg eine Veröffentlichung der Auftragnehmer sowie der dort durchgeführten Projekte. Anhand von Bundeswehrdokumenten sowie Veröffentlichungen einiger Universitätsinstitute konnten einige der zivilen Auftragnehmer identifiziert werden, darunter u.a. die Universitäten München, Gießen, Hohenheim, Freiburg und die Tierärztliche Hochschule Hannover.

Das dual-use-Problem

Einige Projekte, die bei der Bundeswehr oder im Auftrag des BMVg durchgeführt werden, werfen erhebliche Fragen auf. Dabei geht es nicht um ein prinzipielles Verbot von Defensivforschung, denn streng genommen ist jegliche medizinische Entwicklung auch defensive Biowaffenforschung. Problematisch wird die Defensivforschung dadurch, dass sie mit dem Problem des dual-use behaftet ist. Fast alles Wissen und jedwede Ausrüstung, die für ein offensives Biowaffen-Programm benötigt werden, haben auch mögliche Anwendungen in der zivilen Forschung in Biologie und Medizin. Nur eine hauchdünne Linie trennt offensive und defensive Biowaffenforschung. Die Frage, ob ein bestimmtes Experiment offensiv oder defensiv ausgelegt ist, kann oft nicht durch objektive Kriterien beantwortet werden, sondern nur durch die dahinter stehende Absicht. Selbst Impfstoffe haben dual-use-Charakter. Sie wirken zwar auf den ersten Blick eindeutig defensiv. Möchte ein Angreifer jedoch eine biologische Waffe einsetzen, müsste er auch einen Impfstoff zum Schutz der eigenen Streitmacht und Bevölkerung bereithalten. Die Durchimpfung einer ganzen Armee – wie zur Zeit in den USA gegen Milzbrand – könnte auch als Hinweis auf ein offensives Programm gewertet werden.

Bei einigen Forschungsansätzen in der Defensivforschung wird zwangsläufig ein offensives B-Waffen-Potenzial mit entwickelt. So müssen für die Testung von Nachweisverfahren oder Impfstoffen die entsprechenden Erreger produziert und appliziert werden. Es ist deshalb davon auszugehen, dass ein ganzes Arsenal an typischen B-Waffen-Erregern bei der Bundeswehr und ihren Auftragnehmern zumindest in kleineren Mengen vorliegt und für die entsprechenden Testverfahren eingesetzt wird.

Ein besonders krasses Beispiel liefert ein früheres Botulinum-Projekt des BMVg. Anfang der 1990er Jahre hat das Frankfurter Battelle-Institut im Auftrag des BMVg einen Impfstoff gegen das Botulinum-Toxin entwickelt, das zu den klassischen Toxin-Waffen zählt. Da der Impfstoff aus einem inaktivierten Botulinum-Toxin besteht, muss für seine Herstellung zunächst das Gift in großen Mengen produziert werden. Tatsächlich enthält der Abschlussbericht des Projektes detaillierte Anweisungen zur Herstellung von verschiedenen Varianten des Botulinum-Toxins. Für die Impfstoffherstellung erfolgt im letzten Schritt eine Inaktivierung des Toxins durch Bestrahlung12 – für eine offensive Nutzung müsste dieser Schritt einfach weggelassen werden.

Ein weiteres Beispiel bietet die gentechnische Produktion des Gasbrand-Toxins in einem Darmbakterium, das für Impfstoffe und Nachweissysteme eingesetzt werden soll. Zwar wird im konkreten Falle nur eine nicht-toxische Variante des Toxins produziert, es wäre jedoch ein Leichtes, mit exakt denselben Methoden eine tödliche Variante des Giftes in großen Mengen herzustellen – oder gleich das Darmbakterium als tödlichen Kampfstoff einzusetzen. Dieses Projekt wird seit vielen Jahren vom BMVg gefördert und hat alle methodischen Schritte zur Übertragung von Toxin-Genen und die Produktion des Toxins in Kolibakterien ausgearbeitet und entwickelt – ein rundum offensiv nutzbares Know-How.

Besonderes Augenmerk verdient auch die Aerosoltechnik, da die effektivste Methode zur Anwendung von biologischen Waffen die Ausbringung als feine Stäube über die Luft ist. Für die Testung von Nachweisverfahren für luftgetragene Keime müssen jedoch keimtragende Aerosole erst erzeugt werden – eine Technologie mit offensichtlich offensivem Anwendungspotenzial. Das BMVg verweigert aktuell eine Auskunft darüber, ob im Rahmen der B-Schutzforschung auch keimhaltige Aerosole erzeugt werden.13 In früheren Aussagen hat das BMVg allerdings Arbeiten mit „höheren Konzentrationen von nicht-bedrohungsrelevanten Mikroorganismen und Erregern, mit keimhaltigen Aerosolen sowie mit bedrohungsrelevanten Keimen“ zugegeben.14

Impfstoffe

Der dual-use-Charakter von Impfstoffen wurde bereits erwähnt. Darüber hinaus müssen Impfungen als Schutz vor biologischen Waffen aus zweierlei Gründen prinzipiell in Frage gestellt werden. Zum einen sind sie nur von zweifelhafter Effizienz, da kaum gegen das gesamte Spektrum von B-Waffen-Erregern geimpft werden kann. Selbst eine Milzbrand-Impfung schützt nicht unbedingt gegen jede Art von Milzbrand-Erregern. Die Vielfalt der möglichen Erreger und ihrer Varianten macht einen Rundum-Schutz unmöglich, zumal die Gentechnologie hier noch ganz neue Möglichkeiten eröffnet. 1997 wurde bekannt, dass russische Forscher durch eine Genübertragung Milzbrand-Bakterien so verändert haben, dass die bekannten Impfstoffe nicht mehr vor ihnen schützen.15

Die Bundeswehr hat das Problem in Prinzip erkannt, aber nur die halbherzige strategische Entscheidung getroffen, prioritär Impfstoffe gegen „B-Kampfstoffe, die weltweit irgendwo bereits einmal munitioniert worden sind“, zu entwickeln.16 Diese Einschränkung verringert das Problem kaum, da eine Vielzahl von Viren, Bakterien und Toxinen in den letzten Jahrzehnten im Rahmen offensiver Biowaffenprogramme z.B. in England, den USA, der Sowjetunion oder dem Irak als Biowaffe entwickelt worden sind. Neben dem »Klassiker« Milzbrand sind dies unter anderem Hasenpest, Botulinum-Toxin, Pestbakterien, Marburgvirus, Equine Enzephalitis-Viren und vieles mehr. Alle bisher bekannten Offensivprogramme haben mehrere verschiedene Erreger parallel entwickelt, insofern wird sich kaum vorhersagen lassen, mit welchen biologischen Waffen eine Armee gegebenenfalls konfrontiert sein wird.

Prophylaktische Impfungen gegen die gesamte mögliche Bandbreite der Erreger sind jedoch nicht nur technisch praktisch unmöglich, sondern noch aus einem zweiten Grund problematisch. Impfungen bergen immer ein gewisses Gesundheitsrisiko, das sich mit der Zahl der verschiedenen Impfungen potenziert. So löst der Versuch der US-Armee, alle 2,5 Millionen US-Soldaten gegen Milzbrand (Anthrax) zu impfen, zunehmend Kritik aus. Es besteht auch der Verdacht, dass das Golfkriegs-Syndrom möglicherweise durch die Impfungen ausgelöst wurde.17

Bislang hat das Verteidigungsministerium keine kohärente Strategie zum Nutzen von Impfstoffen im medizinischen B-Schutz vorgelegt. Es besteht der Verdacht, dass Impfungen unreflektiert als Schutzmaßnahme verfolgt werden, ohne eine klare Vorstellung davon zu haben, welchen tatsächlichen Beitrag ein eventuell irgendwann einmal vorliegender Impfstoff im B-Schutz leisten kann. Angesichts der dual-use-Problematik und der Notwendigkeit, die Entwicklung eines Offensivpotenzials wenn möglich zu vermeiden, ist eine Neubewertung der Impfstoffentwicklung bei der Bundeswehr dringend erforderlich.

Ausblick

Das Verteidigungsministerium versucht bislang, eine öffentliche Diskussion der Biowaffenforschung zu vermeiden und verweigert bzw. verzögert detaillierte Informationen über die Forschungsprogramme. Umfassende Informationen über zivile Auftragnehmer werden nicht veröffentlicht, nur handverlesenen Personen wird Zugang zur medizinischen B-Schutz-Tagung gewährt,18 und Fragen werden in der Regel gar nicht oder nur ausweichend beantwortet.

Transparenz und Offenheit sind die Grundvoraussetzungen für eine demokratische Diskussion und Bewertung der sensiblen Defensivforschung an biologischen Waffen. Als einen ersten Schritt muss das Verteidigungsministerium umgehend eine umfassende Informationspolitik sicherstellen.

Angesichts der dual-use-Problematik wird es keine einfachen Antworten auf die Frage geben, welche Projekte sinnvoll sind und welche nicht. Ein wichtiges Bewertungskriterium muss die pozentielle Wirkung nationaler Defensivforschung auf internationale Abrüstungsbemühungen sein. So wäre es z.B. sinnvoll, innerhalb der Biowaffen-Konvention ein Verbot von gentechnischen Veränderungen zu verankern, die Krankheitserreger noch pathogener oder waffentauglicher machen. Deshalb sind die Arbeiten der Bundeswehr mit antibiotikaresistenten Erregern grundsätzlich abzulehnen – unabhängig von der Frage, ob die Bundeswehr dies mit einer rein defensiven Motivation durchführt oder nicht.

Jenseits der Einzelprojekte muss jedoch das zugrundeliegende Bedrohungsszenario für die Bundesrepublik in Frage gestellt werden. Die aktuellen Anstrengungen des Verteidigungsministeriums im medizinischen B-Schutz sind vor allem in geplanten Auslandseinsätzen der Bundeswehr begründet. Wer nicht plant, seine Truppen in Kriegsgebiete außerhalb Europas zu schicken, kann auf eine Ausweitung der B-Forschung in Deutschland verzichten. Insofern ist der massive Ausbau der Biowaffenforschung bei der Bundeswehr als Teil einer Aufrüstung zu begreifen, die erst die Voraussetzung für den Einsatz so genannter Krisenreaktionskräfte außerhalb des NATO-Gebietes schafft.

Insbesondere die akademischen Institutionen, die im Auftrag des BMVg B-Forschung betreiben, sind aufgefordert, die politischen Implikationen ihrer Arbeit in der ganzen Bandbreite zu reflektieren. Für sich genommen kann weder der Verweis auf ein erhöhtes Bedrohungspotenzial noch die Behauptung eines defensiven Charakters der Forschung eine Rechtfertigung für die militärische Forschung an den Universitäten sein. Die zivilen Auftragnehmer müssen sich der Diskussion stellen, dass sie mit ihrer Arbeit die Voraussetzung für Auslandseinsätze schaffen bzw. dass ihre Arbeit letztendlich in ein biologisches Wettrüsten münden kann. Es ist bedenklich, dass sich ein Großteil der akademischen Institutionen nicht oder nur sehr begrenzt zu ihrer Kooperation mit der Bundeswehr bekennen. Bis auf sehr wenige Ausnahmen wird hier eine Geheimhaltung ähnlich wie im Hause Scharping betrieben.

Anmerkungen

1) Hauschild, E. (1999): Die Proliferation von Massenvernichtungswaffen. Eine Analyse der Bedrohung durch biologische Waffen. Akademie der Bundeswehr für Information und Kommunikation. AIK-Texte 3/99.

2) Quelle für den B-Etat: Meldungen der Vertragsstaaten der Biowaffenkonvention 1999 (s. Fußnote 4); Quelle für den gesamten Verteidigungsetat:

3) Zum Vergleich: In Italien sind nur 2 Wissenschaftler im B-Schutz beschäftigt, die Niederlande haben einen Etat von nur 1,1 Millionen US-Dollar. Quelle: Meldungen der Vertragsstaaten der Biowaffenkonvention 1999 (s. Fußnote 4).

4) Diese Zahlen stammen aus den Meldungen, die die Bundesregierung jährlich im Rahmen der vertrauensbildenden Maßnahmen der Biowaffen-Konvention an die Vereinten Nationen abgibt. Diese Meldungen – genannt CBMs für »confidence building measures« – sind nicht explizit geheim, sie werden jedoch von der Bundesregierung auch nicht veröffentlicht. Einem Mitarbeiter des Sunshine Project wurde im März 2001 vom Auswärtigen Amt Einsicht in die deutschen CBMs von 1992-2000 gewährt. Die Meldungen für das Jahr 1999 – auch von anderen Staaten – liegen dem Sunshine Project in Kopie vor.

5) Quelle: Meldungen der Bundesregierung im Rahmen der Biowaffenkonvention

6) Neben der biologischen Abwehrforschung wird auch zu ca. 30% Umweltschutz-Forschung betrieben. Diese Angaben stammen – wenn nicht anders angegeben – aus den Meldungen der Bundesregierung im Rahmen der Biowaffenkonvention

7) Marschall, H.-J./Setzke, M./Voß, L. (1999): Derzeitiger Stand des Alphavirus-Elisa. In: Abstracts der 6. Medizinischen B-Schutz-Tagung des BMVg, Oktober 1999 in München.

8) Marschall, H.-J./Kaestler, P./Voß, L. (1999): Luftkeimsammeltechnik in der B-Detektionsausstattung. In: Abstracts der 6. Medizinischen B-Schutz-Tagung des BMVg, Oktober 1999 in München.

9) Gläser, H.-U./Köhne, S. (1999): Schnell-PCR zum Nachweis von Bakterien und Viren. In: Abstracts der 6. Medizinischen B-Schutz-Tagung des BMVg, Oktober 1999 in München.

10) Dies wird seit 1998 von den 3 Mitarbeitern der Laborgruppe Med. B-Schutz des Zentralen Institut des Sanitätsdienstes der Bundeswehr auf dem Gelände der WIS durchgeführt.

11) Schreiben des BMVg (InSan I 1) vom 30.12. 1999 an das Sunshine Project.

12) Forschungsbericht aus der Wehrmedizin BMVg-FBWM 92-9 (1992) Entwicklung eines trivalenten Impfstoffes gegen Clostridium Botulinus-Toxin Typ A, B und E.

13) So antwortete das BMVg mit Schreiben vom 13.12.2000 auf die Frage nach Arbeiten mit keimhaltigen Aerosolen: „In Beantwortung Ihrer Fragen zu Aerosolen verweise ich auf die Jahresmeldung 2000, in der den Vereinten Nationen angezeigt worden ist, dass »No outdoor studies of biological aerosols« in Einrichtungen der Bundeswehr durchgeführt worden sind. (…) Die von Ihnen gestellten Fragen zu Untersuchungen an Aerosolen müssen daher als Unterstellung eines verdeckten Offensivprogramms interpretiert werden.“ Mit dieser Antwort ist weder etwas über Aerosolversuche im Labor noch über Aerosolversuche bei den Auftragnehmern des BMVg gesagt.

14) BMVg-Aussage vor Haushaltsexperten des Bundestages 1988 im Rahmen der Planung eines Laborgebäudes auf dem Gelände in Munster. Zitiert nach: Kiper, M. (1988): Aufrüstung in bundesdeutschen Reagenzgläsern. Informationsdienst Wissenschaft und Frieden, 5/88.

15) Pomerantsev, A. P. /Staritsyn, N. A. (1996): Behaviour of heterologous recombinant plasmid pCET in cells of Bacillus anthracis. Genetika 32:500-509.

16) OTA Dr. Sohns vom BMVg (heute Leiter des Bereiches Studien und Wissenschaft der Sanitätsakademie): Medizinischer ABC-Schutz. Vortrag auf der Konferenz zur Forschungsplanung für 1997. 13.-14. Juni 1995, Bonn. Niederschrift der Konferenz veröffentlicht vom BMVg 1996.

17) Mehr dazu unter http://www.anthraxvaccine.org/

18) So teilte das BMVg mit Schreiben vom 13. Dezember 2000 mit, dass die B-Schutz-Tagung „Vertretern aus dem politisch-parlamentarischen Raum und internationalen Experten“ offen stehe. Und weiter: „Das BMVg sieht (…) keine Veranlassung, Details dieser Thematik mit Personen außerhalb des oben benannten Personenkreises zu diskutieren.“

Dr. Jan van Aken ist Gründer des Sunshine Project, das Informationen über Biowaffen recherchiert und veröffentlicht.

Abschied von der Verteidigungsarmee

Abschied von der Verteidigungsarmee

Militäretat 2001 dokumentiert Umbau der Bundeswehr

von Paul Schäfer

Die Bundeswehr soll weitreichend umstrukturiert werden. In seinen »Eckpfeilern für eine Erneuerung von Grund auf« hat Minister Scharping die Richtung vorgezeichnet. Kernpunkt ist die Bereitstellung von Krisenreaktionskräften im Umfang von 150.000 Menschen. Dies bedeutet eine Verdreifachung des Ist-Standes. Dass „in erster Linie Landesverteidigung und Kollektive Verteidigung Umfang und Struktur der Bundeswehr“ bestimmen würden, erweist sich als bloße Beruhigungsformel. Die deutschen Streitkräfte sollen „auf einen umfassenden Einsatz vorbereitet und für die wahrscheinlichsten Einsätze rasch verfügbar“ sein. Ein Angriff auf die Bundesrepublik Deutschland gilt auch nach Scharpings Meinung derzeit und absehbar als unwahrscheinlich. Es bleiben die Einsätze zur so gen. Krisenbewältigung. Die der NATO und der EU zugesagten Streitkräfte müssten in der Lage sein, eine große Operation mit 50.000 Soldaten oder zwei mittlere Operationen mit jeweils bis zu 10.000 Soldaten über mehrere Jahre durchzuführen, heißt es bei Scharping.
In welche Kriege sollen künftig deutsche Soldaten geschickt werden? Nach Afrika? In den Kaukasus? Wenn ja, auf welcher Grundlage? Der Kosovo-Einsatz ohne UNO-Mandat solle Ausnahme bleiben, eine Legitimation durch den UN-Sicherheitsrat bleibe bei solchen Kampfeinsätzen „wünschenswert“, sagt die Bundesregierung. Künftige Völkerrechtsbrüche sind also fast vorprogrammiert. An dem neuen kriegerischen Auftrag der Bundeswehr ist auch die neue Beschaffungsplanung ausgerichtet. Die Umstrukturierung kostet also Geld. Viel Geld.

Der Umbau der Bundeswehr („Erneuerung von Grund auf“) soll bis zum Jahre 2007 abgeschlossen sein. Die entscheidenden Weichenstellungen sind erst ab dem Jahre 2002 zu erwarten. Die schrittweise Anhebung der Stellen für Berufs- und Zeitsoldaten auf 200.000, die bessere Besoldung bestimmter Laufbahngruppen, die Einführung neuer Laufbahnen (Beseitigung des Verwendungs- und Beförderungsstaus etc.), die Absenkung der Zahl der einzuberufenden Wehrpflichtigen, die Verkürzung und Neuregelung der Wehrdienstzeit werden ab Januar 2002 wirksam. Daher fallen die jetzt im Haushalt zu verzeichnenden Änderungen moderat aus. Erste Weichen aber werden gestellt: So soll die Zahl der einzuberufenden Wehrpflichtigen im nächsten Jahr 10.000 unter den ursprünglichen Planungen liegen. Damit würde der Anteil der Grundwehrdienstleistenden/freiwillig Dienstleistenden bei 118.400 Stellen liegen. Die dadurch erreichten Einsparungen im nächsten Haushalt sind relativ bescheiden; sie liegen bei ca. 81 Mio. DM.

Künftig soll der Zielumfang ca. 80.000 betragen. Die Wehrdienstzeit wird auf neun Monate verkürzt; sie kann in einem Stück oder in zwei Abschnitten (6 + 3 Monate) geleistet werden. Während jetzt auch die FDP von der Wehrpflicht abgerückt ist, halten CDU und SPD (und damit die Bundesregierung) verbissen an der Wehrpflicht fest. Beiden Parteien geht es darum, aus Gründen politischer Symbolik die Personalstärke auf hohem Level zu halten und die gesellschaftliche Legitimation der Streitkräfte zu stärken – ohne den Zwangsdienst fürchten sie um die »Wehrbereitschaft« des Landes. Dabei zeigt die künftige Regelung eines »Auswahl-Wehrdienstes«, dass die gesellschaftspolitische Begründung der Wehrpflicht auf schwachen Füßen steht. Es geht ausschließlich um die Sicherung der Rekrutierungsbasis für die Streitkräfte; für diesen Anachronismus müssen die Jugendlichen bezahlen, die künftig für neun Monate einrücken müssen – damit aus ihren Reihen die Bundeswehr weiteres Personal für den eigentlichen Kern der Armee, die Krisenreaktionskräfte, werben kann.

Trendwende im Wehretat 2001

Entscheidend beim Wehretat 2001 ist die Trendwende beim Ausgabevolumen. Der Einzelplan 14 (Militärhaushalt) steigt gegenüber dem Soll 2000 um rund 1,5 Mrd. DM oder 3,2 %. Er hat einen Gesamtumfang von 46,802 Mrd. DM (2000 = 45,3 Mrd. DM) Dies ist deshalb besonders bemerkenswert, weil der Gesamtetat stagniert. Infolgedessen steigt auch der Anteil der im EP 14 etatisierten Rüstungsausgaben von 9,5 auf 9,8 %. Allerdings muss berücksichtigt werden, dass sich diese nominale Steigerung aus der Rückübertragung der Mittel für die Auslandseinsätze der Bundeswehr aus dem allgemeinen Finanztopf ergibt. Die in den Einzelplan 60 eingestellten zwei Milliarden (EP 6004) werden wieder in den Etat des BMVg umgeschichtet. Daraus würde sich sogar eine Absenkung des Plafonds um eine halbe Milliarde DM gegenüber dem Haushaltsjahr 2000 ergeben. Doch die Bundesregierung hat vorgebaut. Da Minister Scharping zusätzlichen finanziellen Spielraum benötigt, wurde eine Regierungsvereinbarung zwischen Finanzministerium und BMVg geschlossen, die vorsieht, dass durch Rationalisierungen und »outsourcing« zu erreichende Effizienzgewinne zu 100%, Erlöse aus dem Verkauf von beweglichen und unbeweglichen Gütern der Bundeswehr zu 80% dem Etat des BMVg zugeschlagen werden. Auf diesem Wege sollen im nächsten Jahr bis zu 1 Mrd. DM, im Jahre 2002 bis zu 1,2 Mrd. DM dem Wehretat zusätzlich zufließen. Der Verkauf von nicht mehr benötigten Liegenschaften (weil die Bundeswehr ja verkleinert werden wird) und von veraltetem Wehrmaterial soll prosperieren, damit Minister Scharping noch mehr Geld für seine Truppe bekommen kann. Man darf gespannt sein, welches Großgerät bzw. welche Waffen wohin verhökert werden.

Besonders relevant: Der Ansatz (für den Militärhaushalt ???) 2001 steigt gegenüber dem 33. Finanzplan um rund 2,0 Mrd. oder 4,5 %. In der jüngeren Vergangenheit mussten die Ansätze meistens nach unten korrigiert werden. Jetzt soll der Etat nach oben gehen und auf diesem hohen Niveau in den nächsten Jahren gehalten werden. Ob sich diese Planung realisieren lässt, ist ungewiss. Die jetzige Bundesregierung scheint aber wild entschlossen zu sein, an der Hochrüstung festzuhalten.

Qualitative Aufrüstung ist das entscheidende Stichwort, das die nächsten Jahre charakterisieren wird. Die Planung ist dabei an der »Defense Capability Initiative« der NATO bzw. den »European Headline Goals« der sich militarisierenden Europäischen Union orientiert. Im Vordergrund stehen neue strategische Aufklärungskapazitäten, neue strategische Lufttransportfähigkeiten und neue streitkräftegemeinsame Kommunikations- und Führungsmittel. Zugleich sollen die Waffensysteme, die am Kriegsbild der Ost-West-Konfrontation orientiert waren, in großem Stil ausgemustert werden. Der größere Finanzspielraum des BMVg soll ausschließlich für den Investitions-Bereich verwendet werden. Bereits im nächsten Jahr erhofft sich der Minister eine Anhebung des investiven Teils des Einzelplans auf weit über 25% (gegenwärtig 24,9 Prozent). Die vielbeschworene Investitionslücke ist damit noch lange nicht geschlossen. Künftig müssen also noch mehr Mittel aus dem Etat erwirtschaftet und/oder zu Lasten anderer Ressorts vom Bundesminister der Finanzen aufgebracht werden. Und das Gesamtvolumen der anvisierten Beschaffungen ist enorm.

200 Milliarden für neue militärische Großprojekte

In den nächsten fünfzehn Jahren sollen die verschiedenen Großprojekte ca. 180 Milliarden DM verschlingen. Andere Berechnungen gehen von 210 Mrd. DM (!) aus. Preisgleitklauseln werden dafür sorgen, dass die ursprünglichen Ansätze entsprechend nach oben getrieben werden. Dabei sind hier nur die Entwicklungs- und Beschaffungskosten addiert, die laufenden Betriebskosten liegen bekanntlich noch einiges über diesen Ansätzen.

Im einzelnen:

  • Eurofighter 2000. Er beansprucht im nächsten Jahr 1,7 Milliarden DM, nähert sich also wie vorgesehen der Zwei-Milliarden-Grenze. 2000 betrug der Ansatz noch 1,3 Mrd. DM. Insgesamt immer noch veranschlagt: Knapp 25 Mrd. DM.
  • Die neuen Hubschrauber (NH 90, TIGER) liegen 2001 knapp unter einer halben Milliarde. Gesamtbeschaffungspreis: Knapp 13 Mrd. DM.
  • Die Umrüstung der Marine für neue Kriegsszenarien hat ebenfalls ihren Preis. 2001 werden für die Fregatten 124, für die U-Boote 212, die Korvetten 130, den Einsatzgruppenversorger Kl. 702 über anderthalb Milliarden DM aufgebracht. Gesamtkosten: über 9 Milliarden.

Erstmals eingestellt sind geringe Beiträge für das allwetterfähige Radarsystem SAR-Lupe. Ob es bei der jetzt mit Frankreich vereinbarten Sparvariante, die Deutschland ca. 600 Mio. DM in den nächsten Jahren kosten würde, bleibt, sei dahingestellt. Anhebungen der militärischen Beschaffungsausgaben erfolgen auch beim Heer. Hier v.a. wegen des Zulaufs der Panzerhaubitze 2000. In der Summe steigen die Beschaffungstitel (folgt man der Plus-/Minus-Liste, die ja aktueller ist und über den Regierungsentwurf hinausgeht) um etwa 1 Milliarde DM von 11,26 auf 12,2 Mrd. DM an. Der größere Anstieg der Ausgaben steht allerdings noch bevor. Ob diese Summen dann noch durch Rationalisierungs- und Veräußerungsgewinne eingespielt werden können, ist mehr als fraglich. Schließlich hat sich der Minister auch den Weg, durch weitreichenden Personalabbau Finanzspielräume zu bekommen, verbaut. Die Reduzierungen bei den Wehrpflichtigen müssen ins Verhältnis gesetzt werden zum geplanten und sehr kostspieligen Aufwuchs der Berufs- und Zeitsoldaten von derzeit 190.000 auf 200.000. Einsparungen bei den Personal- und Betriebsausgaben durch eine nicht allzu arg verkleinerte Bundeswehr werden auf diesem Wege kaum zu erzielen sein.

Von besonderer Brisanz: Das zukünftige Großraumtransportflugzeug (Future Transport Aircraft – FTA) wurde zunächst nur als Leertitel eingestellt. Mit anderen Worten: Seine Finanzierung war unklar. Lapidar wurde darauf hingewiesen, dass die Finanzierung nur außerhalb des Einzelplans 14 gewährleistet werden könne, d.h. andere Ressorts sollten dafür bluten müssen. Überraschend beantragte die Bundesregierung dann jedoch in der Abschlussberatung des Haushaltsausschusses Verpflichtungsermächtigungen in Höhe von 10 Mrd. DM aufzunehmen. Dem Antrag wurde mit den Stimmen der Regierungsparteien und der CDU/CSU stattgegeben.

Die Bundeswehr möchte 73 Turboprop-Maschinen A400M bestellen, die ab 2007 der Truppe zugeführt werden sollen. Der Stückpreis wird gegenwärtig mit 176 Mio. DM beziffert. Die Summe dürfte sich ergo zwischen 13 und 20 Milliarden DM einpendeln. In diesem Milieu wird eben geklotzt und nicht gekleckert.

Finanzplanung mit vielen Fragezeichen

Es wäre kühn zu behaupten, die Haushaltsplanung aus dem Hause Scharping stehe auf soliden Füssen. Dies dürfte auch der Grund sein, warum der Generalinspekteur in seiner Weisung zur Umsetzung der Eckpunkte des Ministers den schlichten Satz einfügte, dass finanzplanerische Vorgaben, die mit Blick auf die Erstellung des Bundeswehrplans 2002 erforderlich seien, zu einem späteren Zeitpunkt erfolgen sollten.

  • Zu den Unwägbarkeiten gehören die angestrebten Veräußerungsgewinne durch den Verkauf von Material und von Liegenschaften. Im Kapitel Feldzeugwesen (Fahrzeuge, Munition, Gewehre etc.) ist die Rede davon, dass das Überschussmaterial bereits weitgehend abgebaut sei. Was bleibt also?
  • Gleichen sich die Zusatzausgaben für mehr Berufs- und Zeitsoldaten (von 190.000 auf 200.000) und die Senkung der Ausgaben durch Reduzierung der GWDL auf 100.000 p.a. aus oder nicht?
  • Was ist mit künftigen Lohnrunden? Was mit der Angleichung der Gehälter und Löhne in Ost und West? Würde man die Bezüge der Berufs- und Zeitsoldaten und der Zivilbeschäftigten aus den alten und neuen Bundesländern angleichen, müssten ca. 200 Mio. DM zusätzlich bereitgestellt werden.
  • Welche Preissprünge bzw. -überraschungen bergen die großen Beschaffungsprogramme?
  • Mit welchen Währungsrisiken ist zu rechnen? Bereits heute müssen nicht unbeträchtliche Beträge für Wechselkursanpassungen bei der Beschaffung des Eurofighters (weil bestimmte Ausgaben in Dollar verrechnet werden müssen) aufgewandt werden.
  • Was ist mit der künftigen Entwicklung der Energiepreise?

Außenpolitische Lage bietet Chance für Abrüstung

Die günstige sicherheitspolitische Lage der Bundesrepublik Deutschland, nur noch von Freunden und Partnern umzingelt zu sein, eröffnet Spielräume für weitgehende und mutige Abrüstungsschritte. Gerne wurde in früheren Debatten auf die blutigen Bürgerkriege in Südosteuropa verwiesen, um die Notwendigkeit starker und umfangreicher Streitkräfte zu begründen. Die Dekade der blutigen Balkankriege ist aber nunmehr beendet. Es bleiben noch viele Unsicherheiten und viele Konfliktpotenziale, gewiss. Aber nach den demokratischen Veränderungen in Serbien-Montenegro lässt sich darauf bauen, dass jetzt die Chance eines friedlichen Neuanfangs gegeben ist. Wirtschaftliche Unterstützung und Zusammenarbeit sind angesagt und nicht die Aufstellung neuer militärischer Interventionskräfte der EU.

Die deutschen Streitkräfte müssen wieder auf den strikten Verteidigungsauftrag ausgerichtet werden. Dann sind 100.000 Soldatinnen und Soldaten mehr als genug, um unser Land gegen alle Eventualitäten zu schützen. Auf die qualitative Umrüstung der Bundeswehr zu einer global operierenden Interventionsarmee kann und muss verzichtet werden.

Paul Schäfer ist Diplom-Soziologe und Wissenschaftlicher Mitarbeiter der PDS-Fraktion im Deutschen Bundestag

Zum Wandel der Bundeswehr

Zum Wandel der Bundeswehr

von Arbeitskreis Darmstädter Signal

Mit großer Besorgnis stellen wir fest, dass sich die Bundeswehr hinsichtlich ihres Auftrags genau in die Richtung entwickelt, vor der wir Soldaten des Arbeitskreises »Darmstädter Signal« immer gewarnt haben:

Die Bundeswehr ist zum Instrument einer Politik geworden, die

  • Auslandseinsätze statt der Landesverteidigung als primäre Aufgabe definiert,
  • statt der Behebung der wahren Ursachen von Konflikten eine militärische Lösung bevorzugt,
  • Menschenrechtsverletzungen nur dann nachdrücklich anprangert, wenn ein internationaler militärischer Einsatz begründet werden soll.

Der Krieg gegen Jugoslawien, der ohne UNO-Mandat geführt wurde, war ein tragischer Höhepunkt in der Eskalation militärischer Gewalt in Europa unter Beteiligung der Bundeswehr. Der Luftkrieg gegen Jugoslawien war völkerrechtswidrig. Die Information der Öffentlichkeit und der Soldaten war nicht frei von Täuschungen und Verharmlosungen (z.B.: »Kollateralschäden«).

Auch im Hinblick auf die Entwicklung der zukünftigen »Gemeinsamen Europäischen Außen- und Sicherheitspolitik« (GASP) und neuer weltweiter Sicherheitsstrukturen vermissen wir Soldaten vom Arbeitskreis »Darmstädter Signal«, hoffnungsvolle Ansätze.

  • Die Chance zur Entwicklung eines europäischen Systems kollektiver Sicherheit auf der Grundlage der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) scheint vertan. Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) birgt die Gefahr, einseitig auf militärische Optionen ausgerichtet zu werden.
  • Rußland und die EU tragen eine besondere Verantwortung für den Weltfrieden. Die NATO-Osterweiterung, der Krieg gegen Jugoslawien und der Krieg in Tschetschenien behindern die Zusammenarbeit.
  • Statt die UNO weiter zu stärken, legitimiert sich die NATO als Instrument zukünftiger Konfliktlösungen. Damit wird die UNO mehr und mehr in die Rolle des »Erfüllungsgehilfen der NATO« gedrängt.

Friedens- und Sicherheits- politische Konsequenzen

Streitkräfte sind zur Landesverteidigung grundsätzlich gerechtfertigt. Sie können auch zu friedenserhaltenden UN-Maßnahmen eingesetzt werden! Ziel muss die konsequente Verringerung aller Streitkräfte auf der Welt sein!

Der Einsatz von Soldaten zur Sicherung nationaler Interessen wie z.B. zum „Schutz des (sogenannten) freien Welthandels oder der strategischen Rohstoffreserven“ ( aus: Verteidigungspolitische Richtlinien der Bundesregierung 1992 ) ist weder politisch noch moralisch gerechtfertigt und stellt einen Rückfall in kolonialistisches Denken dar.

Für zivile Aufgaben wie Katastrophen- und Umweltschutz kann die Bundeswehr in Ausnahmefällen eingesetzt werden. Für Entwicklungshilfe oder polizeiliche Arbeit wie im Kosovo- sind Streitkräfte wenig geeignet.

Friedenssicherung gelingt am besten in einem System kollektiver Sicherheit. Für unseren Kontinent bietet sich die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) als Rahmen an. Parallel zum Ausbau der OSZE sind die politischen und militärischen Befugnisse von NATO und WEU im gleichen Maße zu reduzieren.

Die UNO muss als globales System kollektiver Sicherheit politisch und finanziell gestärkt und ausgebaut werden. Wir erwarten gerade von der jetzigen Bundesregierung, dass sie sich für tiefgreifende Reformen der UNO einsetzt.

  • Die Möglichkeiten der UNO zur Konfliktvorbeugung und zur Krisenfrüherkennung müssen deutlich ausgebaut werden.
  • Die Besetzung des Weltsicherheitsrates muss ausgewogener erfolgen.
  • Das Vetorecht der Großmächte muss abgeschafft werden.
  • Die Unterstellung von nationalen Streitkräften unter alleinigen UN-Befehl muss gemäß Art. 43 der UN-Charta durch Sonderabkommen geregelt werden.

Konsequenzen für die Bundeswehr

Der Personalumfang der Bundeswehr ist stufenweise und sozial verträglich auf ca. 1/3 der jetzigen Stärke abzubauen, weil unser Land nicht mehr militärisch bedroht ist. Bei diesem Streitkräfteumfang kann die Allgemeine Wehrpflicht nicht mehr aufrecht erhalten werden. Daher ist die Bundeswehr in eine Freiwilligenarmee (nicht Berufsarmee !) mit ca. 120.000 Soldaten umzuwandeln.

Der Dienst in den Streitkräften muss den Anforderungen der modernen Arbeitswelt entsprechen: Die Mitbestimmungsrechte für Bundeswehrangehörige sind auszubauen (z.B. im Beurteilungswesen, Mitbeurteilung durch Gleichgestellte und Untergebene). Die Weiterentwicklung von Prinzipien zeitgemäßer Menschenführung (Anwendung des kooperativen Führungsstils, ziviler Umgangston in militärischen Einrichtungen), familienfreundliche Dienstgestaltung, demokratische politische Bildung (Vorrang vor anderen Diensterfordernissen, Einbeziehung ziviler Lehrkräfte, Teilnahme aller Vorgesetzten) und konsequente Ausbildung in nationalem und internationalem Recht (z.B. Kriegsvölkerrecht) sowie Fremdsprachenausbildung müssen Schwerpunkte des dienstlichen Alltages sein. Glaubwürdige Demokratie verlangt den freien und ungehinderten Gedankenaustausch über moralisch-ethische Grundfragen des Soldatenberufs.

UN-Einsätze der Bundeswehr

Vorrang vor jedem UN-Einsatz von Bundeswehrsoldaten muss für Deutschland das nachdrückliche Eintreten für nicht-militärische Maßnahmen der Konfliktvorbeugung und -beilegung haben!

  • Nur in Einzelfällen sollte der Deutsche Bundestag einer Entsendung deutscher Soldaten zu UN-Missionen zustimmen!
  • Soldaten der Bundeswehr dürfen nur für klassische friedenserhaltende (Blauhelm-) Einsätze der UNO zum Einsatz kommen!
  • Für andere Einsätze – wie etwa den Jugoslawienkrieg – darf die Bundeswehr nicht zur Verfügung stehen.

Frieden mit Waffen »erzwingen« zu wollen, ist eine gefährliche Illusion! Aus diesen Gründen lehnen wir Kampfeinsätze ab.

Deutsche Impulse zur friedlichen Konfliktlösung

Wegen der besonderen Vergangenheit Deutschlands und wegen unserer festen Überzeugung, dass der Einsatz militärischer Mittel die teuerste, gefährlichste und schlechteste Form der Konfliktlösung darstellt, fordern wir die Bundesregierung auf, ihre Konzepte zur Aufstellung eines unbewaffneten Friedenskorps und zum Ausbaus des zivilen Friedensdienstes umzusetzen und die Friedens- und Konfliktforschung weiter zu verstärken. Da Konflikte immer wirtschaftliche, soziale oder ethnische Ursachen haben, muss die Bundesrepublik beginnen, hier anzusetzen:

  • Ausgleich des Nord-Süd-Gefälles durch aktives Eintreten für eine gerechte Weltwirtschaftsordnung ( z.B. Schuldenerlass für Entwicklungsländer),
  • Schutz bzw. Wiederherstellung der natürlichen Lebensgrundlagen,
  • konsequent restriktive Rüstungsexportpolitik,
  • Ausbau des Internationalen Gerichtshofs zur Ahndung aller Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen.

Da die Gefahr des Einsatzes von Massenvernichtungswaffen nach wie vor besteht, muss Deutschland sich dafür einsetzen, dass

  • alle ABC-Waffen geächtet werden,
  • alle ABC-Waffen aus Deutschland abgezogen werden,
  • Deutschland sich an keiner »Europäischen A-Waffe« beteiligt und
  • die NATO auf den Ersteinsatz von Atomwaffen verzichtet,
  • der »Nichtweiterverbreitungsvertrag« von Atomwaffen verstärkt durchgesetzt wird.

Der Frieden ist der Ernstfall!

Militärische Mentalität versus Innere Führung

Militärische Mentalität versus Innere Führung

Zur Reform der Bundeswehr

von Detlef Bald

Der Umbau der Bundeswehr nach dem Jahr 2000 kann als die umfassendste Umstrukturierung des Militärs der letzten fünf Jahrzehnte angesehen werden. War der Aufbau deutscher Streitkräfte nach dem Zweiten Weltkrieg noch ganz im Einklang mit den Erfahrungen des Krieges und insofern nach altem Vorbild erfolgt, geht es den Verantwortlichen in Politik und Militär an der Jahrhundertwende darum, einen neuen Typ des Militärs zu realisieren. Detlef Bald untersucht, warum die gegenwärtige Strukturreform mehr ist als eine einfache Modernisierung oder eine technische Effizienzsteigerung, warum diese an die Grundlagen geht.

Die Geschichte hat der Bundeswehr von Anfang an eine demokratische Konstitution, die den Namen Innere Führung trägt, mit auf den Weg gegeben. Im Bewusstsein der Bevölkerung ist die Innere Führung das Qualitätszeichen der Bundeswehr geworden. Doch diese Geschichte ist wechselvoll. Gleichwohl kann eine Art Summe gezogen werden: Das Leitbild des Staatsbürgers hat seine Rolle für den Soldaten gefunden und das Leitbild des Soldaten für den Bürger abgelöst. Eine Umpolung wurde programmatisch in der Bundeswehr vollzogen. Sie hat eine normale Gestalt in der Bonner Republik erfahren. Der Maßstab der Inneren Führung hat die Bundeswehr demokratie- und sozialverträglich ausgerichtet.

Der verdrängte Maßstab

Man sollte annehmen, dass die Innere Führung eine Schlüsselrolle für das neue Konzept der Armee einnimmt, um das Etablierte nach Bewährtem oder Verkrustetem hin zu überprüfen. Das soll mit dem jüngst in der Bundeswehr eingeführten Programm der Ausbildung zur »Leadership« geschehen. Denn es beansprucht bereits, die veränderten sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen, „dass der deutsche Soldat nicht nur kämpfen kann und will, sondern darüber hinaus auch zu schützen, zu retten und zu helfen befähigt ist,“ ins Visier zu nehmen. Für das Ziel – „Steigerung der Führungsleistung und des Führenkönnens“ – wurde das Leadership-Training als Ausbildungseinheit eingeführt. Doch hinter hochtrabenden Worten („Im Neuen Heer für Neue Aufgaben erhält die Ausbildung der militärischen Führer eine neue Qualität“)1 scheint sich alles auf eine »gefechtsmäßige« Welt zu begrenzen. Dies erhärten Erläuterungen von 1998, obwohl „das richtige Denken“ und die „geistig-ethischen Bindungen“ in der „Nation als Schicksalsgemeinschaft“ beschworen werden.2 Das aber bleibt bloße Gesinnung. In der Ausbildung selbst werden Themen der politischen Bildung überhaupt nicht angesprochen. Der Inspekteur des Heeres spricht von Ethik in Erziehung und Ausbildung, meint aber nur das schlichte Training im Verbund schwerer Waffen. Innere Führung gibt es nicht.

Das Technokratentum in Uniform wird sogar in den Entwürfen der politischen Parteien hingenommen. Das Vorbild der Inneren Führung wird ausgeblendet. Auch der Landesvorsitzende des Wehr- und Sicherheitspolitischen Arbeitskreises der CSU nahm diese Position ein. Zunächst machte er noch ganze »Reformfelder« für Mobilität und Modernität der Bundeswehr nach 2000 aus, aber dann ließ er sich sogar bei dem Kapitel »gesellschaftspolitische Aspekte« hauptsächlich über öffentlich-rechtliche Zeitverträge aus und bemühte sich, die privilegierte militärspezifische Besoldungsordnung zu rechtfertigen3 – kein Wort zur Inneren Führung.

Das dritte Dokument zur »Sicherheit 2010« stellte die CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag vor. Immerhin wird ein knapper Abschnitt der Inneren Führung gewidmet. Sie wird darin ausschließlich hinsichtlich einer politischen Bildung betrachtet, die „optimal“ die „Sinnhaftigkeit“ des „erweiterten Auftrages“ vermitteln soll.4 Diese Begrenzung ist eine typische Verzerrung. Innere Führung wird für den Zweck funktionalisiert, Attraktivität auf dem Arbeitsmarkt zu gewähren und Disziplinarprobleme zu lösen; ebenso eindimensional wird politische Bildung eingesetzt.

Die Innere Führung ist aus diesen drei Konzepten für die Zeit nach 2000 verdrängt worden. Die Normen, welche die Gegenwart oder die Zukunft des Militärs regulieren, werden nicht reflektiert. Dabei wäre es ganz einfach: Innere Führung bietet den Entwurf, die Normen des Grundgesetzes – modifiziert in einer dem Militär angemessenen Weise – für das Militär verbindlich zu machen, also die Bundeswehr demokratie- und sozialverträglich zu entwickeln. Das Konzept der Kongruenz von Militär und Staat sowie von Militär und Gesellschaft stammt aus dem Jahr 1950, als Wolf Graf von Baudissin diesen Wertewandel im Militär absichern wollte. Der Maßstab sollte den aus der Geschichte bekannten – Inkompatibilität von Militär- und Zivilbereich – ersetzen.5

Zurück in die Sechzigerjahre

Eine Ursache, die den Verlust an Relevanz der Inneren Führung in der Bundeswehr erklärt, ist in der politischen Wende des Jahres 1982 zu sehen. Sie hat die Bundeswehr umgepolt. Mit den Worten des Generals Pöppel, der Pluralismus habe bereits einen „einseitigen geistigen Einbruch“ im Offizierkorps erzielt,6 richtete die Prominenz des Militärs die Speerspitze gegen die Reformpolitik.7 Werte der kollektiven Einordnung gewannen in der »Erziehung zum Dienen«8 Priorität; „das traditionelle Werte- und Normenbewusstsein in der Truppe“ 9 wurde glorifiziert. Manfred Wörner brachte das Pendel in Schwung, um das Signal für die Gegenreform vordergründig gegen die Politik von Helmut Schmidt zu geben, tatsächlich wurde die Dominanz des Militärischen eingeklagt.

Die Lage der Bundeswehr wurde als Niedergang klassifiziert. Das Jahrzehnt der Reformen habe die Bundeswehr abgewirtschaftet, sie sei zu „einer Friedensarmee“ deformiert. Der „Wertepluralismus“ habe das Militär zerrüttet.10 Endlich sei das „Ende der Zivilisierung der Bundeswehr“ erreicht. Im Planungsstab des Ministeriums gelang es, die korporativen Saiten des alten Traditionalismus zum Klingen zu bringen. Die Parole „Man muß der Armee geben, was der Armee ist“ wurde rekultiviert. Ins Zentrum des Militärs rückte die „Kampfmotivation“, getragen von gesellschaftlicher „Wehrmotivation“. Der Beruf sui generis wurde gepriesen: „Maßstab ist nicht die Verträglichkeit mit dem zivilen Bereich oder eine Einordnung in die Gesellschaft.“11

Wörner baute einen ideologischen Wall um die Bundeswehr auf. Er wollte mit seinem Kampf gegen die Reformen Schmidts die Reichweite der Inneren Führung beschneiden. Folglich warf man das Steuer ganz herum, diffamierte Liberalismus und Pluralismus in der Bundeswehr. Die exponiertesten Verfechter des Traditionalismus, die Schmidt gefeuert hatte, wurden anerkannt: „eben jenes Selbstverständnis, das (…) in der Schnez-Studie unmißverständlich zum Ausdruck gekommen war.“12 Die Reaktivierung von Albert Schnez kann als die entscheidende Grenzüberschreitung angesehen werden, hatte er doch als Repräsentant der militärischen Führung im Jahr 1969 die Politik gedrängt, die Gesellschaft an Haupt und Gliedern für „die Kampfbereitschaft des Heeres entscheidend“13 zu reformieren. Diese alten Generale (Schnez, H. Grashey, W. Schall, H. Karst), die sich voll Stolz gerühmt hatten, Gesellschaft und Politik mit der Maske der Inneren Führung über ihre wahre Bedeutung in der Bundeswehr getäuscht zu haben, wurden dann als Kronzeugen der Gegenreform zur „Reaktivierung und -etablierung tradierter soldatischer Struktur-, Mentalitäts- und Verhaltensmuster im Militär“ herangezogen.14 Die „Schnez-Söhne“15 der Sui-generis-Ideologie plädierten wie ehedem ihre Ziehväter für das „Umdenken“ im Militär, sogar für das „Umdenken“ in „der Bevölkerung der westlichen Demokratien“ (Farwick) – so das Selbstzeugnis der Wende von 1982.

Diese Kampagne hat auf die Tradition der Bundeswehr nachhaltig eingewirkt. Die Brisanz lag in der Wehrmacht als Vorbild, die nicht mehr „pauschal“ verurteilt werden dürfe. Politisch sei nur von einem Missbrauch deutscher Soldaten zu sprechen. „Gerade darum verdienen Haltung und Leistung vieler Einzelner unseren Respekt.“16 Eine Gegenkultur tat sich auf. Die militärische Führung setzte eine eigene, bellizistische Sprache durch. Sie forderte als oberstes Ziel „hinreichende Kriegstüchtigkeit“; der Soldat solle „auch ohne sein Hauptgerät oder Waffensystem als Kämpfer“ taugen. Jene „Fertigkeiten“, so der für die Ausbildung im Heer zuständige General, müssten im Alltag geübt werden, damit „die Soldaten nichts mehr aus der Fassung bringt.“17 Das Zauberwort lautete „kriegsnahe Ausbildung“.18 Während in Europa die Gegensätze des Kalten Krieges zusammenbrachen, schallte mit einem Male die Parole der mentalen Aufrüstung: „Der Krieg ist der Ernstfall“. Hatte zuvor das Ziel der Verteidigung noch „kämpfen können“ geheißen, wurde nun die Devise verschärft: „kämpfen wollen!“19 Daher werde man „gut beraten sein, gelegentlich einen Blick in den reichen Erfahrungsschatz der Wehrmacht zu werfen“. Wie konnte dagegen nur „Widerstand“20 kommen! Hatten in der Wehrmacht doch „Deutsche, wie heute auch“ gedient. Mit solchen Worten vernebelte die Generalität den Krieg und wollte am Ende klarmachen, die vermeintliche Normalität der Bundeswehr schließe direkt an die Normalität der Wehrmacht an.21

Bedingt bildungsbereit

Die Reideologisierung der Achtzigerjahre hat weitreichende Folgen für die Bundeswehr gezeitigt: Seit dem traditionalistischen Militär freie Hand gewährt wurde, hat die Gegenreform tief in die Bildungspolitik eingeschnitten. Die Bundeswehr hindert das jedoch nicht, sich in einem geschönten Eigenbild zu präsentieren. Kritische Berichte von beteiligten Soldaten werden ebenso wie Analysen von außen negiert.22 In diesem Kontext versteht sich, dass in dem Planungspapier der CDU/CSU-Fraktion davon gesprochen wird, „unser hohes Ausbildungsniveau“ fort zu entwickeln.23

Das Versagen in der Bildungspolitik wird an mehreren Punkten deutlich. Ein erstes Beispiel: Die Auswahl der Generalstabsoffiziere. Die von der Bundeswehr selbst aufgestellten Leistungskriterien für die Karriere der Offizierselite kommen gar nicht mehr zur Geltung. Ergebnisse und Prüfungen von Lehrgängen oder Studium wurden nicht mehr adäquat berücksichtigt; dienstliche Beurteilungen verloren ihre Relevanz. Die Kriterien wurden auf den Kopf gestellt. Anpassung an erwünschte Haltungen sicherte die Karriere. Empirische Befunde bescheinigen , dass traditionalistische Wertepositionen zu einer mentalen Homogenisierung der Militärelite führen sollten. Die Personalpolitik verfolgte „eine anachronistische Fixierung auf den Kampftruppenoffizier als Idealbild“ des Offiziers – ein „Affront gegen die bundesrepublikanische Gesellschaft“.24

In einem zweiten Sektor der Inneren Führung finden sich massive Einschnitte. Die Bildungsreform der Sechzigerjahre hatte wichtige Impulse bei der sozialen Demokratisierung gegeben. Abitur und Hochschulstudium hatten Einzug in der Bundeswehr gehalten.25 Zivile Bildungsstandards fanden ihren Stellenwert für die militärische Professionalisierung. Doch die restaurative Politik setzte einen Gegentrend durch: Das Niveau wurde gesenkt. Bei der Übernahme zum Berufsoffizier hatten 1994 von 452 Offizieren nur 49 Prozent ein abgeschlossenes Studium, 1995 waren es von 425 Offizieren gerade noch 47 Prozent.26 Diese Zahlen beziehen sich auf den Status der Offiziere im Jahre ihres Vertragsabschlusses. Andere Daten der Führungsakademie, die alle Berufsoffiziere erfassen, verdeutlichen die drastischen Einbrüche (Grafik 1). Noch am Ende der Achtzigerjahre fand sich ein Anteil von mehr als zwei Dritteln studierter Offiziere. Nach 1991 sank diese Kurve stetig bis unter 50 Prozent ab. Im einzelnen unterscheiden sich Heer (60,5%), Marine (37 %) und Luftwaffe (30,6%),27 hier 1995. Aus dem anvisierten Regelfall des Studiums für alle Berufsoffiziere wurde nichts. Eine Zwei-Klassen-Armee ist entstanden. Trotz eigener Universitäten hat die Bundeswehr das Niveau ihrer Führungselite markant gesenkt.

Diesen Trend unterstützen einige qualitative Analysen über die Ausbildung an der Führungsakademie. Die zweijährige Ausbildung für die Generalstäbler verdeutlicht symptomatisch die Misere. Das Resultat klingt nicht nur, es ist nach dem Urteil eines Insiders besorgniserregend: Die Fähigkeit an „professionellen Fertigkeiten und politischer Bildung (…) reicht dafür nicht aus“,28 was der Beruf erfordere. Vor allem mangele es an politischer Urteilsfähigkeit. Es werde Gesinnung antrainiert und eine „einseitige Revitalisierung (…) des Kämpfens“ betrieben; ein „verengtes Berufsbild“ klammere die „politische Dimension des Staatsbürgers in Uniform“ aus. Der Mangel reicht weit:

  • Das enge Berufsprofil „verkürzt“ die Innere Führung;29
  • „das berufliche Selbstverständnis der künftigen Generalstabsoffiziere“ hatte in pädagogischer Hinsicht „starke Defizite“;30
  • „das für eine kritische Auseinandersetzung mit sicherheitspolitischen Problemstellungen erforderliche intellektuelle Leistungsvermögen“ wies in „Schlüsselqualifikationen (…) erhebliche Mängel“ auf.31

Bildungspolitik hat als zentrales Steuerungselement im Militär versagt. Gravierende Defizite im Niveau als auch in der Qualität der Bildung haben die Innere Führung beschädigt. Die Bundeswehr ist, in Anlehnung an einen berühmten Titel: bedingt bildungsbereit.

Ab ins gesellschaftliche Abseits

Das mentale Eigenleben und die soziale Absonderung des Militärs von der Gesellschaft kann über die Rekrutierung der Offiziere erschlossen werden. Dabei spielt der Indikator der Zugehörigkeit zu einer Konfession eine ungeahnte milieuprägende Rolle; wäre er nicht traditionell seit über hundert Jahren fester Bestandteil der Selektion, könnte man diesen einen von mehreren Faktoren der Rekrutierung unterschätzen; doch er hat signifikante Bedeutung. Die protestantische Konfession nimmt eine dominante Leitfunktion für die „erwünschte Gesinnung“ der Offiziere ein. An diese alten Verhältnisse hatte die Bundeswehr anfänglich angeknüpft, sodass es nicht verwundert, wenn 1966 etwa 70 Prozent der Offiziere protestantisch waren.32 Die Reformen der Siebzigerjahre suchten in einer pluralistischen Öffnung den sozialen Ausgleich. Demzufolge überwog zeitweilig der Anteil der Katholiken unter den Leutnants; er betrug 1974 erstmals 50 Prozent, bei 41,1 Prozent Protestanten. Doch die Politik, diese Einseitigkeiten mittelfristig auszutarieren, fand schnell ein Ende. In den Neunzigerjahren ist erneut die strukturelle Dominanz der Protestanten mit etwa 45 Prozent restituiert worden, während der Anteil katholischer Offiziere um 33 Prozent pendelte. Trotz eines insgesamt abnehmenden Trends ist es lange gelungen, den Nachwuchs an konfessionell gebundenen Offizieren (etwa 80 Prozent) recht homogen – bei kaum 60 Prozent Anteil in der jüngeren Bevölkerung – zu halten. Die Bundeswehr hat überproportinal die Dominanz der Protestanten hergestellt. Korrespondiert dieses Bild mit der „landsmannschaftlichen Verwurzelung“, wie sie die CDU/CSU für die Bundeswehr einfordert?33

Das Fazit zur Lage der Inneren Führung ist deprimierend. Die Bundeswehr hat notwendige Bedingungen der zivilverträglichen Akzeptanz – pluralistische Offenheit und soziale Gleichheit, aber auch den Respekt vor den erworbenen Leistungen im Bildungssystem – eingedämmt und manches sogar beseitigt. In diesen Fällen wurden grundrechtliche Prinzipien beschädigt. Die Militärpolitik hat Erfolge der Militärreform aufgegeben. Die Aktivitäten am Ende der Neunzigerjahre – die Historisierung in der Bildung und »Leadership« – ließen die Trends der Reduktion der zivil-militärischen Beziehungen kulminieren; sie rekultivierten altes Traditionsgut aus den militärdominanten Fünfzigerjahren.

Ein Fazit zur Zukunft der Inneren Führung fällt schwer, da die großen Parteien mit »Modernität und Mobilität« die Realität des militärischen Eigenlebens verklären und schlicht für ein Technokratentum in Uniform plädieren. Die vorgestellten Ansätze lassen jedenfalls erkennen, dass sie die Kongruenz des Militärs zur Gesellschaft vernachlässigen. Was für die gegenwärtige Bundeswehr schon schädlich ist, kann für die Armee 2010 nur Bedenken erzeugen.

Anmerkungen

1) General für die Ausbildung und Erziehung im Heer, Weisung für das »Leadership-Training« der Kampftruppen in Übungszentren, Köln im August 1977, S. 2.

2) Helmut Willmann, Leadership. Der militärische Führer im Einsatz – Forderungen für Erziehung und Ausbildung, Bonn, 25. Juni 1998.

3) Hans Raidel, Reformfelder der Bundeswehr im Kontext europäischer Sicherheits- und Verteidigungspolitik, Berlin, im November 1999, S, 8 f.

4) CDU/CSU Fraktion, Sicherheit 2010. »Die Zukunft der Bundeswehr«, Berlin 22. Febr. 2000, S. 34.

5) Wolf Graf von Baudissin, Dreißig Jahre Bundeswehr – Licht und Schatten, in: Franz H.U. Borkenhagen (Hg.), Bundeswehr Demokratie in oliv? Streitkräfte im Wandel, Berlin/Bonn 1986, S. 20. Vgl. Detlef Bald, Wolf Graf von Baudissin – Die Zivilisierung des Militärs, in: Claudia Fröhlich u.a. (Hg.), Engagierte Demokraten. Vergangenheitspolitik in kritischer Absicht, Münster 1999, S. 84 ff. und Hilmar Linnenkamp, Dieter S. Lutz (Hg.), Innere Führung, Baden-Baden 1995, S. 19 ff.

6) Vgl. Bernd C. Hesslein (Hg.), Die unbewältigte Vergangenheit der Bundeswehr. Fünf Offiziere zur Krise der Inneren Führung, Reinbek 1977; Martin Kutz, Reform und Restauration der Offizierausbildung der Bundeswehr, Baden-Baden 1982, S. 138 ff.

7) Der Generalinspekteur: Weisung für Ausbildung, Erziehung und Bildung in den Streitkräften im Jahr 1980, Bonn, August 1979; vgl. zum Überblick »Bundeswehr nach der Wende«, Heft 1/1985 der Vierteljahresschrift für Sicherheit und Frieden.

8) Erlass: Erziehung zum Dienen. Verbesserung der Vorausssetzungen zum soldatischen Dienen. FÜS I 6, Oberst i.G. Zimmer, in: Dieter S. Lutz (Hg.): Weder Wehrkunde noch Friedenserziehung? Der Streit in der KMK 1980/83, Baden-Baden 1984.

9) D. Stockfisch, Das Ethos des Soldaten heute, in: Truppenpraxis, 5/1983, S. 329.

10) Dieter Farwick, Die Innenansicht der Bundeswehr oder Palmströn ist unter uns, in: Criticon 69/1982, S. 19 ff.

11) Klaus Hammel, Sinnfragen des Soldatenberufs, in: Vierteljahresschrift für Sicherheit und Frieden, 1/1985, S. 14 f.

12) Gerhard Hubatschek, Wertewandel in der Bundeswehr, in: Die Welt, 11. November 1982, S. 7.

13) Die Schnez-Studie, Gedanken zur Verbesserung der inneren Ordnung im Heer, abgedruckt in Klaus Hessler, Miltär – Gehorsam – Meinung, Berlin/New York 1971.

14) Wolfgang R. Vogt (Hg.), Militär als Gegenkultur? Opladen 1986, Einleitung, S. 11 ff.

15) Kurt Kister, Innere Führung ohne Überzeugung, in: Borkenhagen (1986), S. 162 f.

16) (General) Adalbert von der Recke, Last und Chance unserer Geschichte, in: Evangelisches Kirchenamt der Bundeswehr (Hg.), De officio. Zu den ethischen Herausforderungen des Offizierberufes, Hannover 1985, S. 249 f.

17) General Carstens auf der Kommandeurtagung des Heeres, Frühjahr 1985

18) Vgl. »Kriegsbild und Soldatenberuf«, Vierteljahresschrift für Sicherheit und Frieden, Jg. 5, 2/1987.

19) (General) Andreas Broicher, »Nebenkriegsschauplatz« – Vom Nutzen der Kriegsgeschichte für die Aus- und Weiterbildung des Offiziers, in: Truppenpraxis, 1991, S. 296.

20) (General) Jürgen Reichardt, Der Maßstab bleibt das Gefecht. Traditionen und der Wandel soldatischer Aufgaben, in: FAZ, 21. Oktober 1999, S. 14.

21) Vgl. Wolfram Wette, Bilder der Wehrmacht in der Bundeswehr, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Jg. 23, 2/1998, S. 186 ff.; Detlef Bald, Neotraditionalismus und Extremismus – eine Gefährdung für die Bundeswehr, in: Reinhard Mutz u.a. (Hg.), Friedensgutachten 1998, Münster 1998, S. 277 ff.

22) Vgl. die Beiträge zur Reform der Führungsakademie von Hilmar Linnenkamp und Detlef Bald, in: Vierteljahresschrift für Sicherheit und Frieden, Jg. 15, 1997, S. 130 ff., S. 166 ff.; ebenso Martin Kutz und Jörg Keller, ebenda, Jg. 17, 1999, S. 70 ff., S. 77 ff.

23) CDU/CSU-Fraktion (2000), S. 34.

24) Martin Kutz, Realitätsflucht und Aggression im deutschen Militär, Baden-Baden 1990, S. 137 f.

25) Vgl. Detlef Bald, Der deutsche Offizier. Sozial- und Bildungsgeschichte des deutschen Offizierkorps im 20. Jahrhundert, München 1982, S. 129 ff.

26) Personalinformation, Zentrale und Grundsatzangelegenheiten der militärischen Personalführung, April 1999, Anlage 1a, vgl. auch S. 5.

27) Aufstellungen der Führungsakademie Hamburg, G 3 Pl Ausb/Lehre, (zuletzt) 12. Juli 1999. Die Angaben zu 1999: nur die erste Hälfte des Jahres. Die zugänglichen Daten variieren, beispielsweise Kutz (1990), S. 106; Rudolf Hamann, Bernd Molter, Staatsbürger in Uniform auf dem Prüfstand. Von der Notwendigkeit einer Ausbildungsreform für Stabsoffiziere der Bundeswehr, Hamburg 1999, S. 9 (WIFIS-AKTUELL Nr. 13); für die älteren Daten vgl. Bald (Anm. 26), S. 133.

28) Hilmar Linnenkamp, Neue Aufgaben der Bundeswehr – alte Ausbildung?, in: Vierteljahresschrift für Sicherheit und Frieden, Jg. 15, 3/1997, S. 166; Detlef Bald, Eine überfällige Bildungsreform, in: ebenda, S. 142 ff.; Martin Kutz, Überlegungen zu einer Reform der Führungsakademie der Bundeswehr, in: ebenda, Jg. 17, 2/1999, S. 70 ff.

29) Hamann, Molter (Anm. 36), S. 34.

30) Oberstleutnant Frhr. v. Rosen, Zum Berufsbild des angehenden Generalstabsoffiziers als Erzieher und Ausbilder im Ausbildungssystem Streitkräfte, in: Beiträge zu Lehre und Forschung, Fachbereich SOW, Hamburg 3/1997, S. 22.

31) Hamann, Molter (Anm. 36), S. 10.

32) Die im Text folgenden älteren Angaben bei Bald (Anm. 34), S. 77, die Daten der Neunzigerjahre von: Zentrale Informationsstelle PERFIS, Bonn 9. Febr. 2000.

33) CDU/CSU-Fraktion (2000), S. 32 f.

Dr. Detlef Bald war bis 1996 Wissenschaftlicher Direktor am Sozialwissenschaftlichen Institut der Bundeswehr. Er arbeitet jetzt als freier Publizist.