Sammelsurium statt Strategie

Sammelsurium statt Strategie

Bericht zum Aktionsplan Krisenprävention

von Barbara Unger

Als die Bundesregierung genau zwei Jahre nach der Verabschiedung des Aktionsplans »Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung« (im Folgenden kurz: Aktionsplan) ihren ersten Umsetzungsbericht veröffentlichte, löste das keinen Presserummel aus und es folgte auch keine rasche Reaktion der nicht-staatlichen Akteure. Die Pressemitteilung am 31. Mai diesen Jahres war denkbar knapp, und der Bericht zunächst nicht online erhältlich. Zudem kam er sperrig daher: Über 130 Seiten insgesamt, in der Gliederung nicht an dem damals auch wegen seiner Länge kritisierten Aktionsplan angelehnt. Unter der Überschrift »Sicherheit und Stabilität durch Krisenprävention gemeinsam stärken« legte die Bundesregierung dar, welche Leitgedanken, Umsetzungsmaßnahmen und neue Wege sie in Bezug auf den Aktionsplan sieht. Ist der Aktionsplan heute belanglos, ist der Erfolg so gering? Was sind die Kriterien, an denen die Umsetzung des Aktionsplans gemessen werden soll? In welchem Verhältnis stehen dabei der Prozess der interministeriellen Abstimmung auf der einen und die konkreten Ergebnisse auf der anderen Seite?

Zunächst ein Schritt zurück und ein Blick auf den Aktionsplan. Als Selbstverpflichtung der Bundesregierung wurde der Aktionsplan am 12. Mai 2004 vom Bundeskabinett verabschiedet. Auf rund 70 Seiten (ohne Anhang) zeigte die Bundesregierung einerseits auf, was bis dato geschehen war, und stellte gleichzeitig in 161 Aktionen unterschiedlichster Couleur vor, was in einem Zeitraum von fünf bis zehn Jahren zu tun sei, um den bundesdeutschen Beitrag zu Krisenprävention noch effektiver zu gestalten. Damit war der deutsche Aktionsplan wesentlich umfangreicher als beispielsweise der schwedische oder die 2003 verabschiedete Europäische Sicherheitsstrategie.

Neuartig für die deutsche Arbeit im Bereich Frieden und Sicherheit war, dass das Auswärtige Amt (AA) zwar auf seiner Federführung beharrte, den Aktionsplan aber insbesondere mit dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) sowie mit weiteren relevanten Ministerien zusammen erstellte. Eine konkrete »Infrastruktur« für die Arbeit in diesem Bereich wurde angeregt und in der Folge auch umgesetzt. So konstituierte sich im September 2004 ein Ressortkreis aus Beauftragten der einzelnen Ministerien, der im Mai 2005 einen Beirat berief. Nach zwei Jahren zog die Bundesregierung nun Bilanz und erstattet, wie im Aktionsplan festgelegt, dem Parlament Bericht.

Auf dem Weg zu mehr und besserer Koordination der einzelnen Ressorts im Bereich ziviler Krisenprävention ist der Aktionsplan zweifelsohne ein Meilenstein – dieser Aspekt ist nicht genug zu würdigen. Im Folgenden liegt der Schwerpunkt auf Themen, die nach der Vorlage des Umsetzungsberichts noch zu klären oder zu verbessern sind. Zunächst ist ein Nachteil des Aktionsplans und seiner Folgemaßnahmen: Er wurde und wird als rot-grünes Projekt gesehen, „weiße Salbe auf grüne Seele“, das nach der Beteiligung der Bundeswehr im Kosovo nötig war. Zwar geht er auf die rot-grünen Koalitionsvereinbarungen zurück; aber auch die große Koalition hat sich im Koalitionsvertrag vom November 2005 verpflichtet, den Aktionsplan umzusetzen und den Ressortkreis zu stärken. Dennoch: In der politischen Debatte wird auf hochrangiger Ebene nur selten auf den Aktionsplan verwiesen.

Akzentverschiebung von Frieden hin zu Sicherheit

Deutlichster Unterschied zwischen Aktionsplan und Bericht ist der Duktus hinsichtlich des Zielhorizonts. War im Aktionsplan von Frieden und umfassender Sicherheit die Rede, nennt der Bericht schon im Titel Sicherheit und Stabilität. Referenzrahmen ist, unübersehbar durch eine Vielzahl von Zitaten, die den Kapiteln vorangestellt sind, die Europäische Sicherheitsstrategie von 2003. Nun ist es immer Anliegen dieser und der vorherigen Bundesregierung gewesen, darauf hinzuweisen, dass die Bundesregierung ihren Beitrag in einem multilateralen Setting leiste. Neu ist allerdings, dass der Bezug nun die Sicherheit und nicht mehr der zivile Ansatz der Konfliktbearbeitung ist, und dass verkündet wird: „Der Begriff »Zivile Krisenprävention« ist […] nicht als Abgrenzung zu militärischer Krisenprävention zu sehen, sondern schließt letztere mit ein.“ (S. 7) Zudem nimmt die Darstellung militärischer und zivil-militärischer Maßnahmen einen weit größeren Raum ein als genuin zivile Instrumente wie beispielsweise der Zivile Friedensdienst, dem gerade einmal eine halbe Seite gewidmet ist. Diese Wandel sind bereits im Koalitionsvertrag angelegt und lösen das grüne Verständnis und das auf grüne Initiativen zurückgehende Versprechen des Aktionsplans zu einem Primat ziviler Mittel ab.

Was gilt nun? Das neue Weißbuch des Verteidigungsressorts wird im Bericht nicht einmal erwähnt, obwohl es – im deutlichen Unterschied zum Aktionsplan – die deutschen Interessen in den Mittelpunkt des Handelns stellt. Wie zuletzt Stephan Klingebiel zu Recht bemerkt hat, sollte dies zu einer ausführlichen Ziel- und Strategiedebatte anregen, da bislang kein strategischer Kontext und kein einheitlicher Zielhorizont der Bundesregierung im Feld von Frieden und Sicherheit festzustellen ist.

Sind die Strukturen ausreichend für mehr Kohärenz?

Spannend wird es, wo im Bericht die durch den Aktionsplan angeregte Struktur zur Steigerung der Kohärenz zwischen den Ministerien vorgestellt und bewertet wird; hierzu wird auch konkret auf die Aktionen eingegangen. Tatsächlich ist die sichtbarste Folge des Aktionsplans die Einrichtung einer schlanken »Infrastruktur«: Jedes Ministerium ernennt eine/n Beauftragte/n für Krisenprävention; diese bilden den Ressortkreis unter Vorsitz des Auswärtigen Amts, dessen Beauftragter im Botschaftsrang ist. Aufgabe des Ressortkreises ist es, die Kohärenz und Koordinierung der Bundesregierung im Feld der Krisenprävention sicher zu stellen. Der Ressortkreis traf sich laut Bericht durchschnittlich alle sechs Wochen; für die Behandlung von Leuchtturmprojekten wurden Arbeitsgruppen eingerichtet, so zu Entsendegesetz, Ländergesprächskreisen, Ressourcenpools, Sicherheitssektorreform und der Rolle der Privatwirtschaft.

Der Beirat wurde 2005, ein Jahr nach Verabschiedung des Aktionsplans, berufen. Mit 19 Personen aus Wissenschaft und Zivilgesellschaft, Privatwirtschaft und Einzelpersonen mit besonders relevanter Erfahrung hat sich der Ressortkreis ein heterogenes Gremium geschaffen, das die Handlungsfelder des Aktionsplans abdecken soll. Allerdings bedingt diese an sich begrüßenswerte Unterschiedlichkeit der Akteure auch, dass der Beirat kaum konsensuale Stellungnahmen abgeben kann, vielmehr die Perspektiven der unterschiedlichen Akteure aufzeigt. Formal ist die Rolle zwar geklärt, wie sich aber die unterschiedlichen Akteure intern abstimmen, welche Zeitbudgets sie einbringen, ist unbekannt. Die Beratung des Ressortkreises findet vorwiegend in den fünf Arbeitsgruppen statt, bislang aber offenbar nicht hinsichtlich der Gesamtstrategie und der Steigerung der Koordinierung generell. Somit scheint die wertvolle Chance vertan, das Fach- und Prozesswissen des Beirats enger in die laufenden Koordinierungsprozesse einzubinden. Auch zur Bewertung der Umsetzung des Aktionsplans hat der Beirat keinen nach außen sichtbaren Beitrag geleistet: Zum Bericht der Bundesregierung hat sich der Beirat (noch?) nicht öffentlich zu Wort gemeldet; einzelne Organisationen, deren RepräsentantInnen im Beirat sind, haben dies allerdings getan (vgl. die bislang veröffentlichten Stellungnahme der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung und den Kommentar von Stephan Klingebiel).

Woran wäre Erfolg zu messen?

Geht es eher um den schwierigen Prozess einer Annäherung unterschiedlicher Ressortkulturen, der ein langsames Herantasten und die Einübung gemeinsamer Prozesse in Arbeitsgruppen erfordert, oder sollen gleich die konkreten Konsequenzen benannt und evaluiert werden? Geht es um letzteres, dann bleibt der Bericht hinter den Erwartungen zurück. Der ohnehin lange Bericht nimmt nicht auf alle Aktionen des Aktionsplans Bezug, und die Kapitel sind anders gegliedert als im Aktionsplan selbst. Zudem drückt sich der Bericht, mit Ausnahme von einer Seite in der Zusammenfassung, auf der konstatiert wird, der Aktionsplan habe im Berichtszeitraum „erheblich zu einer besseren Ausrichtung des deutschen krisenpräventiven Engagements beigetragen“, um differenziertere Bewertungen herum, er zählt in aller Regel lediglich die seit 2004 – und teilweise sogar vorher – geleisteten Einzelbeiträge auf.

Geht es um den Prozess der Annäherung, so weisen mehrere Faktoren auf Fortschritte hin: nicht die »Zückerchen« (Christiane Lammers W&F 2005) wie der Zivile Friedensdienst und die Einrichtung von FriEnt werden gefeiert, sondern die langsame Annäherung wird betont – leider nur im Kapitel zur Infrastruktur und nicht in Bezug auf einzelne Handlungsfelder.

Auf Ebene gemeinsamer Finanzplanung gibt es zwar keinen Konfliktpool, aber einen ersten Ansatz gemeinsamer Planung in einer interministeriellen Steuergruppe zu westafrikanischen Peacekeeping-Kapazitäten. Die im Aktionsplan vorgeschlagene Überprüfung, ob sich die Bundesregierung an den britischen Pools orientieren könnte und somit über gemeinsame Steuerungs- und Finanzierungsmechanismen zu mehr Kohärenz fände, wurde zwar mit dem Verweis auf das im Grundgesetz verankerte Ressortprinzip verneint. Aber nun sollen rund fünf Millionen Euro aus dem Haushalt des BMV zur Verfügung stehen, die zur Stärkung der westafrikanischen Peacekeeping-Kapazitäten durch eine interministerielle Steuergruppe ausgegeben werden.

Die Arbeit der anderen Arbeitsgruppen führte zwar ebenfalls nicht zu einem grundsätzlichen Wandel, kann aber als wichtiges Feld der Einübung von ressortübergreifenden Abstimmungsprozessen begriffen werden. Die heterogene Besetzung des Beirats dürfte auch Lerneffekte bei der Zusammenarbeit und Konsultation mit den hier vorhandenen Akteuren hervorbringen, wenngleich das sicherlich nicht im ersten Berichtszeitraum zu schaffen war. Zumal seit Verabschiedung des Aktionsplans neben dem Regierungswechsel auch mehrere personelle Wechsel in den am stärksten geforderten Ressorts BMZ und AA stattfanden, so etwa der Wechsel des Krisenpräventionsbeauftragten des AA von Botschafter Hennig auf Botschafter Däuble.

Der Aktionsplan hat diejenigen Kräfte in den Institutionen gestärkt, die ohnehin zumindest Konfliktsensibilität als entscheidendes Kriterium verankern wollen, hat aber keine größeren sichtbare neue Impulse bewirkt. So würdigt der Bericht zwar Fortschritte hinsichtlich der Koordination und Kohärenz innerhalb einzelner Ressorts, wie beispielsweise die Veröffentlichung des Übersektoralen Konzepts zur Krisenprävention, Konfliktbearbeitung und Friedensförderung in der deutschen Entwicklungszusammenarbeit, schlägt aber nicht vor, diese als Modell für das Mainstreaming des Themas in andere Ressorts zu übertragen, obwohl das doch logisch wäre.

Der Umsetzungsbericht erhält keine umfassenden Angaben über die Ressourcenausstattung im Bereich ziviler Krisenprävention; lediglich einzelne Summen werden genannt, so dass über dieses wichtige Indiz für Veränderung kein klares Bild entstehen kann.

Inhaltliche Schritte und neue Schwerpunkte

Unbestritten hat krisenpräventives Handeln in den letzten Jahren zu einer krisensensibleren Sicht in einigen Ressorts geführt. Fraglich ist, wie kohärent und nachhaltig dies geschehen ist. Wiewohl der Ressortkreis anhand ausgewählter Schwerpunkte (Leuchtturmprojekte) die fünf priorisierten Felder – Sicherheitssektorreform, Ressourcenpooling, Entsendegesetz, Ländergesprächskreis mit Pilotland Nigeria, Rolle der Privatwirtschaft – ressortübergreifend behandelt hat, blieb diese Behandlung exemplarisch. Fünf neue Schwerpunkte der nationalen Ebene (neben weiteren auf der internationalen) nennt nun der »Aktionsplan im Aktionsplan« des Umsetzungsberichts. Auf der Agenda stehen weiterhin die Bemühungen, die Schnittstellen Early Warning und Early Action zu bestimmen und die vorhandenen Mechanismen wirksam zu nutzen, Bemühungen in der multidimensionalen Krisenprävention voranzutreiben, wobei der zivil-militärischen Erfahrung und der Ausbildungskooperation zwischen den Ministerien besonderes Gewicht zukommen soll. Auffallend ist, dass zivile Mittel den militärischen zugeordnet werden, nicht umgekehrt.

Der Komplex Wirtschaft-Umwelt-Konflikt wird weiterhin prioritär gesehen; hier wird der internationalen Energiesicherheit eine wichtige Rolle eingeräumt. Als vierter Punkt wird die Stärkung des Ressortkreises genannt; die Anbindung an die Staatssekretärs/-ministerebene soll gesucht werden. Zudem soll geprüft werden, inwiefern der Ressortkreis stärker inhaltliche Formulierungen deutscher Positionen übernimmt. Fünfter Punkt ist die Kommunikation; zu Recht merkt der Bericht an, dass eine »Präventionslobby« fehlt und öffentliches Interesse an den Themen geweckt werden muss. Doch auch dazu fehlen konkrete Maßnahmen oder auch nur Vorschläge – und die Art der Veröffentlichung des Berichts scheint darauf hinzudeuten, dass hier noch erhebliche Arbeit zu leisten ist.

Der Bericht zum Aktionsplan reagiert merklich auf Anregungen und Kritik, die seinerzeit zum Aktionsplan geäußert wurden. Allerdings ist nicht zu erkennen, dass diese Anregungen in die Gesamtstrategie aufgenommen und tatsächlich inhaltlich umgesetzt worden wären. Ein Beispiel ist der Umgang mit dem Vorwurf, der Aktionsplan sei zu wenig auf Gender allgemein und die Umsetzung der UN-Resolution 1325 im Besonderen eingegangen. Auf drei Seiten wird in Kapitel 12 des Berichts zwar auf die Errungenschaften eingegangen. Damit wird Gender allerdings erneut als add-on behandelt statt wie postuliert als Querschnittsaufgabe.

Insgesamt: Der Aktionsplan bleibt als Rahmen erhalten; wie dieser Rahmen weiter genutzt wird, lässt sich sicherlich an Form und Inhalten der Debatte um den Umsetzungsbericht ablesen, die nun nach der Sommerpause ansteht.

Wie soll es weitergehen?

Ohne auf alle Ansatzpunkte eingehen zu können, scheinen folgende Aspekte von besonderer Bedeutung:

  • Der Bundestag ist Adressat des Berichts der Bundesregierung – wird er die Chance nutzen, eine Debatte über die friedens- und sicherheitspolitische Strategien der Bundesregierung zu führen, und dabei die oben aufgeworfenen Fragen nach dem Verhältnis von zivilen und militärischen, vor- und nachsorgenden Maßnahmen aufgreifen? Die Debatte um das noch nicht offiziell veröffentlichte Weißbuch des Verteidigungsministeriums sollte dringend in diesem Zusammenhang geführt werden.
  • Die Bundesregierung hat ihren Bericht stark an die Europäische Sicherheitsstrategie angelehnt; in ihrer EU-Präsidentschaft 2007 wird sie zeigen müssen, wie wichtig ihr das Thema ist, welche Beiträge sie für den Bereich zivile Krisenprävention für Europa leistet, und auf welche Netzwerke sie sich dabei stützt. Innenpolitisch stünde es an, den Aktionsplan stärker als Grundlage des Handelns heranzuziehen und dies auch öffentlich darzustellen: Wer außerhalb der Fachöffentlichkeit hat je vom Aktionsplan gehört? Dazu kann Voraussetzung sein, die Struktur zu verbessern und, wie vorgesehen, den Ressortkreis zu stärken – vor allem aber kommt es darauf an, ob er weiterhin vorrangig als Erbe der grünen Regierungsbeteiligung gesehen wird oder als Grundlage staatlichen Handelns.
  • Wissenschaft und Zivilgesellschaft – wie werden sie über ihre Mitgliedschaft im Beirat hinaus die Bundesregierung und die Ressorts beratend begleiten? Welche Kommunikationskultur muss sowohl auf Seiten der Regierung und Administration als auch auf der Seite der nichtstaatlichen Akteure ausgebildet werden, um dem Thema zivile Krisenprävention Schub zu verleihen? Einige Vorschläge stehen im Raum: So könnte die Zivilgesellschaft einen friedenspolitischen Schattenbericht veröffentlichen, der kritisch die Umsetzung misst (Ulrike Hopp auf der AFK-Tagung), und eine klare Advocacy-Strategie der Akteure könnte erlauben, zeitnah konkrete Vorschläge zu unterbreiten. Wer aber wird dies leisten?

Literatur

Bericht der Bundesregierung: Sicherheit und Stabilität durch Krisenprävention gemeinsam stärken. 1. Bericht der Bundesregierung über die Umsetzung des Aktionsplans »Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung«. http://www.auswaertiges-amt.de/diplo/de/Aussenpolitik/FriedenSicherheit/Krisenpraevention/Aktionsplan1BerichtBuReg0506.pdf

Konferenz des Instituts für Entwicklung und Frieden im Januar 2006 zu: Der Aktionsplan »Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung«. Stand und Perspektiven aus Sicht der Friedens- und Konfliktforschung. Tagungsbericht unter http://www.bundesstiftung-friedensforschung.de/pdf-docs/debielbericht.pdf

Bericht der AFK-Tagung auf Deutsch im PRIUB-Newsletter: http://www.priub.org/afb_info/2006_1_de.pdf

Die Presseerklärung der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung »Plattform Zivile Konfliktbearbeitung fordert mehr politische Bedeutung für den Aktionsplan der Bundesregierung zur zivilen Krisenprävention« kann unter http://www.konfliktbearbeitung.net/?info=docs&pres=detail&uid=638 angefordert werden

Klingebiel, Stephan (2006): Globaler Aktionismus reicht nicht: Deutschland braucht eine Debatte über seine Sicherheitspolitik, in: Internationale Politik, Nr. 8, August 2006, 96–97. http://www.die-gdi.de/die_homepage.nsf/6f3fa777ba64bd9ec12569cb00547f1b/2ea7464a12a15e9cc12570fb002cc486/$FILE/Internationale%20Politik-August-2006.pdf

Stellungnahme des Frauensicherheitsrats zum Bericht der Bundesregierung über die Umsetzung des Aktionsplans »Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung« für den Berichtszeitraum Mai 2004 – April 2006 http://www.uni-kassel.de/fb5/frieden/themen/Konfliktbearbeitung/frauen.html

Barbara Unger, Diplompolitologin, beschäftigt sich seit über zehn Jahren mit Themen der zivilen Konfliktbearbeitung. Seit Mai 2006 ist sie, neben freiberuflicher Tätigkeit, Projektkoordinatorin bei der Berghof Foundation for Peace Support. Der Beitrag gibt ihre persönliche Meinung wieder.

Militärpolitische Leitlinien zur zivil-militärischen Zusammenarbeit (CIMIC)

Militärpolitische Leitlinien zur zivil-militärischen Zusammenarbeit (CIMIC)

von NATO

An dieser Stelle war ein Interview zur zivil-militärischen Zusammenarbeit aus der Sicht der Bundeswehr vorgesehen. Die Fragen sind formuliert und die grundsätzliche Zusage für ein Interview liegt seit August vor. Aber leider gab es ein Terminproblem. Wie uns die Pressestelle der Bundeswehr mitteilte, steht uns „ein hochrangiger Experte der Bundeswehr“ zur Beantwortung unserer Fragen erst für die W&F-Ausgabe 1-2007 zur Verfügung. Um in der aktuellen Ausgabe aber zumindest einen Einblick in ein militärisches Grundverständnis von zivil-militärischer Zusammenarbeit zu vermitteln, haben wir uns entschlossen, hier das einschlägige NATO-Dokument MC 411/1 vom 18. Januar 2002 abzudrucken.1 Es erscheint uns weitgehend selbsterklärend.

Abschnitt 1 – Einführung

Allgemeines

1. Im Rahmen einer von der NATO durchgeführten militärischen Operation entfaltet sich ein breites Spektrum von Beziehungen zwischen den Streitkräften der Allianz und den Zivilbehörden, der Bevölkerung, anderen Organisationen und Einrichtungen. Die Art dieser Beziehungen hängt ab von der Art der durchgeführten Aktivitäten, weshalb innerhalb dieses Spektrums unterschiedliche Voraussetzungen gelten. Im Bereich der zivil-militärischen Zusammenarbeit herrscht eine wechselseitige Abhängigkeit: Zunehmend ersuchen zivile Behörden um Hilfe durch militärische Mittel, andererseits ist die zivile Unterstützung für militärische Operationen wichtig.

Ziel

2. Mit diesem Dokument wird angestrebt, Leitlinien für die NATO-Militärpolitik zur CIMIC festzulegen.

Abschnitt 2 – Begrifflichkeit und Geltungsbereich

Zivil-militärische Zusammenarbeit (CIMIC) bei Einsätzen

3. Veränderungen des Umfeldes, in dem die NATO operieren könnte, haben zur Entwicklung eines neuen Strategischen Konzepts (SC 99) geführt. Im SC 99 wird festgestellt, dass die Interaktion zwischen NATO-Streitkräften und dem zivilen Umfeld, in dem sie operieren, für den Einsatzerfolg wesentlich ist. Dies gilt sowohl für die kollektive Verteidigung (Collective defence operations, CDOs) als auch für Nicht-Artikel-5-Operationen zur Krisenbewältigung (Crisis response operations, CROs); allerdings ist dabei die höhere Wahrscheinlichkeit einer CRO gegenüber einer CDO zu unterstreichen. In MC 400/2 wird sogar festgestellt, dass Operationen zur Krisenbewältigung aufgrund ihrer multifunktionalen Natur erfordern, dass alle beteiligten militärischen und zivilen Einrichtungen und Organisationen ohne Einschränkung zusammenarbeiten.

4. CIMIC erleichtert die Zusammenarbeit zwischen einem NATO-Befehlshaber und allen Teilen des zivilen Umfelds innerhalb seines Gemeinsamen Einsatzgebiets (Joint Operations Area, JOA). CIMIC ist: Die der Unterstützung des Auftrags dienende Abstimmung und Zusammenarbeit zwischen dem NATO-Befehlshaber und den zivilen Akteuren, die Bevölkerung vor Ort ebenso eingeschlossen wie kommunale Behörden und nationale, internationale und Nichtregierungsorganisationen und Einrichtungen.

Weitere Aspekte der zivil-militärischen Beziehungen

5. Zivile Notfallplanung (CEP). Im Allgemeinen dient die CEP (Civil Emergency Planning) dem Schutz und der Hilfe für die Bevölkerung, meist im Katastrophen- oder Kriegsfalle. Im aktuellen Sicherheitsumfeld besteht eine zentrale Funktion der CEP darin, im Hinblick auf die militärische Planung bei Artikel-5- und bei Nicht-Artikel-5-Operationen reaktionsfähig zu bleiben. Dafür ist Sorge zu tragen, indem Vorbereitungen zur Koordinierung ziviler Hilfseinsätze, die für den Einsatzerfolg nach wie vor wesentlich sind, eingeplant werden.

6. Militärhilfe (Military Assistance in Humanitarian Emergencies, MAHE). Im Falle der Katastrophenhilfe und der Hilfe in anderen zivilen Notfällen, die nicht mit NATO-Militäreinsätzen verbunden sind, können nationale militärische Potentiale zur Unterstützung der die Notfallhilfe beaufsichtigenden zivilen Behörden eingesetzt werden. Für diesen Fall sind in MC 343 die NATO-Leitlinien der Militärhilfe bei Internationaler Katastrophenhilfe [Military support for International Disaster Relief Operations] dargestellt; dort wird der Einsatz militärischer und ziviler Kräfte und Mittel in der Katastrophenhilfe [Military and Civil Defense Assets, MCDA] beschrieben. Der Nordatlantikrat (NAC) muss die Nutzung gemeinsamer alliierter militärischer Kräfte und Mittel für solche zivilen Aktivitäten genehmigen.

Im Falle von Artikel-5- oder Nicht-Artikel-5-Operationen kann es sein, dass sich Streitkräfte der Allianz mit ihrem Beitrag zur Krisenbewältigung durch Militäreinsätze auch mit humanitären Notlagen befassen müssen. Während humanitäre Hilfe primär eine Mission für die Host Nation (den »Aufnahmestaat« ) ist und in der Zuständigkeit der UN liegt, kann die Präsenz der die Militäroperationen durchführenden NATO-Streitkräfte dazu führen, dass die Allianz auf zivile Anforderungen rasch reagieren muss. In diesem Falle werden militärische Kräfte und Mittel für begrenzte Aufgaben im Rahmen des Potenzials durch die militärische Befehlskette und gemäß dem vom NAC genehmigten Operationsplan (OPLAN) zur Verfügung gestellt.

7. Unterstützung durch den Aufnahmestaat (Host Nation Support, HNS). Mit der HNS wird angestrebt, den NATO-Befehlshaber und die Entsendestaaten im verfügbaren Rahmen mit Material, Einrichtungen und Diensten zu unterstützen; dazu gehören auch der Schutz von Räumen und administrative Unterstützung gemäß den zwischen Entsendestaaten und/oder NATO und dem Aufnahmestaat getroffenen Vereinbarungen. Als solche erleichtert die HNS den Aufmarsch von Streitkräften in einem Operationsgebiet, indem die Aufnahme, die Sammlung und die Verlegung unterstützt werden. HNS kann ferner den für den Unterhalt und die Verlegung von Truppen erforderlichen Umfang von logistischen Verbänden und Material reduzieren, der sonst von den Entsendestaaten zu gewährleisten ist. Die CIMIC kommt in der Regel dann zum Tragen, wenn es darum geht, die Durchführung der HNS insbesondere im Hinblick auf die Nutzung von HNS-Ressourcen zu erleichtern.

Die Durchführung der CIMIC zur Unterstützung von Operationen

8. Allgemeines. NATO-Operationen müssen bei der Planung und Durchführung von Militäreinsätzen soziale, politische, kulturelle, religiöse, ökologische und humanitäre Faktoren berücksichtigen. Des Weiteren müssen NATO-Befehlshaber die Präsenz immer größerer Zahlen ziviler internationaler und Nichtregierungsorganisationen berücksichtigen. Unterschiede in Kultur und Auftrag zwischen den betroffenen militärischen und zivilen Organisationen können diese schwierigen Umstände noch komplizieren. Effiziente Beziehungen zwischen den militärischen und zivilen Behörden, Organisationen, Einrichtungen und Bevölkerungsgruppen im JOA herzustellen trägt dazu bei, den nicht-militärischen Beitrag zum Erreichen eines stabilen Umfeldes zu maximieren und Konflikte zu minimieren. Der NAC legt den Rahmen für die Beteiligung der im Einsatz befindlichen militärischen Kräfte an zivilen Aktivitäten fest.

9. Zwecke der CIMIC. Unmittelbarer Zweck der CIMIC ist es, die uneingeschränkte Zusammenarbeit von NATO-Befehlshaber und zivilen Behörden, Organisationen, Einrichtungen und Bevölkerung im Operationsgebiet des Befehlshabers zu etablieren und zu erhalten, um ihm die Erfüllung seines Auftrags zu ermöglichen. Dazu kann die direkte Unterstützung der Ausführung eines zivilen Plans gehören. Der langfristige Zweck der CIMIC besteht in ihrem Beitrag zur Schaffung und zum Erhalt von Bedingungen, die das Erreichen der mit den Operationen verbundenen Bündnisziele fördern.

10. Schnittstellen. Die CIMIC ist die Schnittstelle zu den zivilen Behörden und ist als Unterstützung sowohl für Operationen unter Anwendung von Artikel 5 (CDOs) als auch für Nicht-Artikel-5-Operationen (CROs) zu betrachten. Bei CIMIC handelt es sich also um einen in die Kommandostruktur integrierten Tätigkeitsbereich im Kontext des gesamten Operationsplans und nicht um eine eigenständige Aktivität.

11. Geltungsbereich. CIMIC bedeutet weder militärische Kontrolle ziviler Organisationen oder Einrichtungen noch das Umgekehrte. Bei CIMIC ist vorausgesetzt:

a. Das Militär ist in der Regel nur für sicherheitsbezogene Aufgaben und für die Unterstützung der entsprechenden zivilen Behörden – im Rahmen der Kräfte und Mittel – zur Durchführung ziviler Aufgaben zuständig, wenn dies (gegebenenfalls) zwischen dem betreffenden Militärbefehlshaber gemäß OPLAN und den zuständigen zivilen Behörden vereinbart wurde.

b. Unter außergewöhnlichen Umständen kann es notwendig sein, dass das Militär Aufgaben übernimmt, für die normalerweise eine geeignete zivile Behörde, Organisation oder Einrichtung verantwortlich ist. Solche Aufgaben werden nur übernommen, wenn eine geeignete zivile Institution nicht existiert oder nicht in der Lage ist, ihren Auftrag auszuführen, und sonst ein unzumutbares Vakuum entstehen würde. Das Militär muss darauf eingestellt sein, solche notwendigen Aufgaben, wenn es von der zuständigen zivilen Behörde darum ersucht und ihm von der NATO die Genehmigung dazu erteilt wurde, solange zu übernehmen, bis die geeignete zivile Behörde, Organisation oder Einrichtung zur Bewältigung dieser Aufgaben in der Lage ist.

c. Die Verantwortung für zivile Aufgaben wird der geeigneten zivilen Behörde, Organisation oder Einrichtung übertragen, sobald dies zweckmäßig ist; es geschieht möglichst reibungslos.

d. Es kommt häufig vor, dass das Militär Zugriff auf örtliche zivile Ressourcen haben muss. In solchen Fällen werden alle Anstrengungen unternommen, um nachteilige Auswirkungen auf die örtliche Bevölkerung, Wirtschaft, Umwelt, Infrastruktur oder die Arbeit humanitärer Organisationen zu vermeiden.

e. Es werden alle zweckmäßigen Maßnahmen ergriffen, um die Beeinträchtigung der Neutralität und Unparteilichkeit humanitärer Organisationen zu vermeiden.

12. Integrierte Planung. Das Obenstehende erfordert eine integrierte Planung sowie enge Arbeitsbeziehungen zwischen Militär und den geeigneten zivilen Organisationen und Einrichtungen vor und während eines militärischen Einsatzes. Diese Beziehungen werden sowohl im Operationsgebiet als auch auf der Ebene des Strategischen Kommandos oder darunter – wo die militärische Planung erfolgt – gepflegt. Es ist jedoch zu berücksichtigen, dass es nicht immer möglich ist, solche Beziehungen oder Planungsmechanismen, selbst dort, wo sie existieren, auf formeller Ebene zu nutzen.

Abschnitt 3 – Politik

Allgemeines

13. Im Sinne des Bündnisses gründet sich die CIMIC auf die Führung durch den Nordatlantikrat (NAC). Auf dieser Grundlage sind in erster Linie die NATO-Militärbehörden (NMAs) für die Planung und Durchführung von CIMIC-Aktivitäten innerhalb ihres Operationsraumes verantwortlich. Falls erforderlich, stimmen sich die NMAs mit den zuständigen Ausschüssen des Nordatlantikrats ab.

14. Die CIMIC-Doktrin, operative Erfordernisse sowie Verfahren und Standards werden folgendermaßen abgestimmt:

a. Das Hauptziel der Allied Joint Publication AJP-9 – der »NATO Civil-Military Cooperation (CIMIC) Doctrine« – besteht in Richtlinien für die Planung und Durchführung der CIMIC zur Unterstützung von Operationen, an denen NATO-Streitkräfte beteiligt sind. Wenngleich dieses Dokument in erster Linie zur Verwendung durch NATO-Streitkräfte gedacht ist, gilt die Doktrin gleichermaßen für Operationen, die von Koalitionen aus NATO- und Nicht-NATO-Staaten durchgeführt werden.

b. Gegebenenfalls wird die CIMIC in Dokumente über operative Erfordernisse und Einsatzaufträge einbezogen.

c. Es werden auf die Interoperabilität bezogene Standards und Verfahren entwickelt und durchgeführt, um ein CIMIC-Potenzial zu erzielen, das interalliierten und teilstreitkraftübergreifenden Erfordernissen genügt und die Integration nationaler Potenziale ermöglicht.

d. Innerhalb der gesamten integrierten Kommandostruktur der NATO sollten die CIMIC-Stabselemente gestärkt werden.

e. Die NATO-Staaten sollten eigene CIMIC-Potenziale zur Unterstützung der CIMIC-Doktrin, -Erfordernisse und -Verfahren entwickeln, wie durch die Streitkräfteplanung festgelegt.

Abstimmung und Zusammenarbeit

15. Die CIMIC muss ein integraler Bestandteil der gesamten Operation sein, was enger Abstimmung mit anderen militärischen Potenzialen und Maßnahmen bedarf.

16. Um den größten Nutzen aus der CIMIC zu ziehen, ist ein einheitliches Vorgehen notwendig. Die nationalen CIMIC-Aktivitäten und die CIMIC-Aktivitäten der NATO in einem Operationsgebiet sollten eng aufeinander abgestimmt und konfliktfrei gestaltet werden, ohne die Erfordernisse der unteren Führungsebenen zu beeinträchtigen. Am besten sind Kommandoregelungen, die eine koordinierte Führung von CIMIC-Aktivitäten erleichtern.

17. Dem Gesamtziel sind Spannungen zwischen politischen, militärischen, humanitären, ökonomischen und anderen Komponenten der zivil-militärischen Beziehungen abträglich. Um solche potenziell instabilen Situationen zu verhindern und zu entschärfen, ist Transparenz von grundlegender Bedeutung, weil sie Vertrauen schafft und das gegenseitige Verständnis fördert. Deshalb ist die CIMIC-Interaktion mit zivilen Behörden und Organisationen, wann immer möglich, von Transparenz bestimmt.

18. Die CIMIC bietet eines von mehreren wirksamen Instrumenten, die dem Befehlshaber zum Erreichen der Gesamtziele zur Verfügung stehen. Um dieses Potenzial aber weitestgehend auszuschöpfen, ist es wichtig, dass militärische und zivile Organisationen, sofern möglich, gemeinsame und übereinstimmende Ziele festlegen. Diese sind bereits in einem frühen Stadium der Planung zu ermitteln, gemäß politischer Vorgaben, die die militärischen Befehlshaber in die Planung zur Durchführung ihrer Einsätze einbeziehen müssen.

19. Die notwendige Zusammenarbeit zwischen militärischen und zivilen Organisationen und Einrichtungen bei Einsätzen sollte durch Kontakte auf Arbeitsebene und die wechselseitige Teilnahme an CIMIC-Seminaren, Schulungen und Übungen unterstützt werden.

Abschnitt 4 – Zuständigkeiten

Zuständigkeiten des Militärausschusses

20. Die speziellen Zuständigkeiten des NATO-Militärausschusses sind folgende:

a. Dafür Sorge zu tragen, dass CIMIC-Aspekte gegebenenfalls in andere MC-Leitlinien und -Dokumente einbezogen werden.

b. Orientierung für die Durchführung der CIMIC zu bieten, da sie sich auf militärische Operationen, Übungen und Schulungen bezieht.

c. Innerhalb der NATO und erforderlichenfalls in enger Kooperation mit an der Partnerschaft für den Frieden teilnehmenden Staaten/truppenstellenden Nicht-NATO-Staaten die Zusammenarbeit und Abstimmung in allen CIMIC-Angelegenheiten zu fördern.

d. Den NAC zu beraten und gegebenenfalls bei ihm Rat einzuholen.

e. Nach Bedarf die Strategischen Befehlshaber zu führen.

Zuständigkeiten der Strategischen Befehlshaber

21. Die speziellen Zuständigkeiten der Strategischen Befehlshaber sind die folgenden:

a. Das CIMIC-Potenzial in ihrem Befehlsbereich zu entwickeln und/oder auszubauen.

b. Die CIMIC-Konzepte, -Pläne und -Verfahren in Übereinstimmung mit den Weisungen des Militärausschusses zu entwickeln, abzustimmen und zu aktualisieren.

c. In ihrer Kommandantur und den nachgeordneten Kommandobehörden die CIMIC-Stäbe (oder vergleichbare) sowie geeignete Schnittstellen zu zivilen Organisationen einzurichten.

d. Dafür Sorge zu tragen, dass die nachgeordneten Kommandobehörden über die Doktrin, Orientierung und standardmäßigen Arbeitsabläufe verfügen, die zur Durchführung von CIMIC-Plänen gemäß der NATO-Krisenvorsorge erforderlich sind.

e. Den politischen Behörden der NATO die Anforderungen an die CIMIC zur Unterstützung militärischer Operationen zu übermitteln.

f. Die Durchführung der CIMIC nach Genehmigung durch den Militärausschuss zu koordinieren und zu beaufsichtigen.

g. Anträge für Forschung und Entwicklung zur Verbesserung der CIMIC-Projekte anzuregen.

h. Standards für Schulungen zu entwickeln und CIMIC-Schulungen in Manövern durchzuführen.

i. CIMIC-Krisenvorsorge zur Genehmigung durch den MC/NAC zu prüfen und zu entwickeln.

Anmerkungen

1) Quelle: NATO International Military Staff. MC 411/1 (18-Jan-2002): NATO Military Policy on Civil-Military Cooperation

Einsatz der Bundeswehr im Innern?

Einsatz der Bundeswehr im Innern?

von Burkhard Hirsch

Manchmal ist es schwer, keine Satire zu schreiben. Es geht ja nicht nur um die Fußballweltmeisterschaft, bei der die Gefahren für die innere Sicherheit so hoch geredet werden, dass man sich fast in einen Hochsicherheitstrakt wünscht und sich jeder Angeber, der etwas auf sich hält und endlich mal in die Medien kommen will, versucht fühlen muss diese Chance zur Provokation zu nutzen. Und dann sieht man im Fernsehen diese klugen Soldaten in der ständig kreisenden luftbetankten AWACS-Maschine vor ihren Bildschirmen sitzen oder diese hochmotivierten Piloten des Jagdgeschwaders Richthofen zu ihren Tornados zum Blitzstart rennen. Und dann wird der Kommentar des TV-Reporters über das, was sie dann tun sollen, etwas unbestimmter. Dann wird der Mantel militärischer Nächstenliebe ausgebreitet.

Nicht nur jetzt, sondern seit geraumer Zeit wird dem Bürger bei jeder Gelegenheit erklärt, dass die Bundeswehr ein neues Einsatzspektrum benötigt, dass sie Deutschland am Hindukusch verteidigt (allerdings nicht gegen Heroin, das dort reichhaltig gewonnen und dann nach Europa transportiert wird), dass sie im Indischen Ozean auf hoher See wegen »enduring freedom« Terroristen jagt (auch die dort häufigeren Seeräuber?), dass sie in Bosnien wegen der religiösen und ethnischen Unduldsamkeiten der undankbaren Bewohner leider noch bleiben muss und in Kinshasa Wahlen schützt, mit anderen Worten, dass sie gebraucht wird und dass wir gebraucht werden, ein schönes Gefühl.

»Einsatz der Bundeswehr im Innern« – ein schönes Wort. Das klingt so klinisch sauber, sozusagen aseptisch. Warum sollte sie – wird rhetorisch gefragt – ausgerechnet bei uns nicht das tun dürfen, was sie in Bosnien, Serbien, oder sonst wo tun soll, nämlich im jeweiligen Inland zu schützen, wen und was auch immer? Schließlich ist doch überall Inland, auch im Ausland!

Die Antwort ist einfach: Eben weil wir nicht in Bosnien, Serbien oder sonst wo leben, sondern in der Bundesrepublik, in einem Staat mit durchaus und demokratisch geregelten Verhältnissen, in dem kein Bürgerkrieg tobt oder droht und in dem die Probleme der Kriminalität von der Polizei bewältigt werden.

Aber haben nicht auch andere demokratische Länder eine Art Inlandsheer, das wir früher Landsturm II nannten, wie etwa die Nationalgarde oder die Carabinieri – um nur zwei bekannte Beispiele zu nennen? Das stimmt und wir haben auch so etwas. Wir haben den Bundesgrenzschutz – jetzt Bundespolizei genannt – mit der immer noch legendären GSG9, die Einsatzhundertschaften und Bereitschaftspolizeien der Länder und die SEK’s, die zur Bekämpfung von Gewaltkriminalität besonders ausgebildeten und ausgerüsteten Sondereinsatzkommandos der Polizei mit beachtlicher Einsatzstärke. Wir haben sie immer noch und sie haben sich keineswegs nach dem Ende der RAF und des Kalten Krieges in Luft aufgelöst, auch wenn man wenig von ihnen hört.

Niemand hat bisher Einsätze der Bundeswehr im Inland vermisst. Wer durch südamerikanische Städte geht und die dort üblichen Militärstreifen mit ihren Maschinenpistolen oder uniformierte Kräfte mit großkalibrigen Revolvern im Holster am Eingang von Banken, guten Hotels und Einkaufszentren stehen sieht, den beschleicht nicht gerade das Gefühl größerer Sicherheit.

Wir haben eine Wehrpflichtarmee. Ob und wann wir den Bürger in Uniform gegen den Bürger in Zivil, unter Umständen gegen die eigenen Landsleute einsetzen wollen, das war bei Einführung der Wehrverfassung eine heikle und die Öffentlichkeit aufwühlende Frage. Dabei geht es nicht nur darum, den Ländern notwendige Hilfskräfte bei Flutgefahren, Waldbränden oder Eisenbahnunglücken zur Verfügung zu stellen. Sie brauchen diese und dem steht nichts im Wege. Aber wir wollen nicht, dass sich die Länder zur Sanierung ihrer Haushalte ersparen können, ausreichende Polizeikräfte auszubilden und auszurüsten um dann an ihrer Stelle Wehrpflichtige oder kriegsmäßig ausgebildete Berufssoldaten als ungelernte Hilfspolizisten einsetzen zu müssen. Dann könnte man obendrein alle langjährigen und erfolgreichen Bemühungen um die Deeskalierung innerer Auseinandersetzungen vergessen. Und wir wollen auch nicht, dass eine Bundesregierung sich kurzerhand auf Notstand beruft und die Bundeswehr zur Lösung politischer Probleme in Bewegung setzt. Das ist keine blasse Theorie, sondern wurde durchaus überlegt, z. B. bei Wackersdorf und bei Autobahnblockaden.

Der Verfassungsgeber hatte reichhaltige Vorbilder und Erfahrungen. Man nannte das damals nicht geschönt „Einsatz der Bundeswehr im Innern“, sondern in schlichter Sprache: „Ausrufung des Belagerungszustandes“. Das bedeutete nach der Preußischen Verfassung von 1851 die Übertragung der Exekutive auf die Militärbefehlshaber. Nach der Verfassung von 1871 konnte der Kaiser für alle Landesteile des Reiches – natürlich ausgenommen für Bayern – den Kriegszustand erklären. Auch der Weimarer Reichspräsident konnte zur Wiederherstellung von »Sicherheit und Ordnung« mit bewaffneter Macht einschreiten und bürgerliche Rechte reihenweise aufheben.

Das Grundgesetz setzt dem klare Grenzen. Die Bundeswehr darf nur dann eingesetzt werden, wenn es die Verfassung ausdrücklich vorsieht, nicht vielleicht, nicht durch Auslegungskünste der Minister, sondern ausdrücklich, mit klaren, eindeutigen Worten, das heißt also mit Wissen und Wollen der Rechtsgemeinschaft. Sie kann auf Wunsch der Länder bei schweren Unglücksfällen oder Naturkatastrophen helfen und dabei allenfalls das örtliche Polizeirecht anwenden. Die Bundesregierung kann sie einsetzen bei bürgerkriegsähnlichen Kämpfen, wenn die Polizeien der Länder nicht ausreichen oder nicht tätig werden wollen. Die Bundeswehr ist zur Verteidigung da. Sie wird bei militärischen Angriffen auf das Bundesgebiet und bei internationalen Einsätzen im Rahmen der NATO und auf der Grundlage der Satzung der Vereinten Nationen eingesetzt. Das sollte reichen.

Es gibt aber Viele, die sich damit nicht zufrieden geben.

Da ist jener Soldat, der beim ersten internationalen Einsatz der Bundeswehr als erster in Somalia aus dem Flugzeug kletterte mit den Worten: „Zurück in der Familie.“ Eine merkwürdige Familie muss er haben. Es ging ihm wohl darum, deutlich zu machen, dass man endlich als richtiger vollwertiger Soldat diesen ganzen elenden historischen Ballast abwerfen können muss, diese lästige Erinnerungskeule an Krieg und Verbrechen, dass man doch wohl mal wieder frisch anfangen kann. Wo die Fahne weht, ist der Verstand in der Trompete.

Da sind aber auch die etwas kühler kalkulierenden Herren innerhalb und außerhalb der Bundeswehr, die sich nach neuen Aufgaben umsehen, da wir doch von Freunden geradezu umzingelt sind und eine militärische Bedrohung unseres Landes jetzt und in absehbarer Zukunft, soweit irgend erkennbar, ausscheidet. Das kann neben der Freude über den Frieden auch unangenehme Konsequenzen haben. Der zahlenmäßige Umfang, der Aufbau und die Kosten der Armee und die allgemeine Wehrpflicht geraten in immer stärkere öffentliche Zweifel. Womit erwerben wir mehr Sicherheit, mit immer teureren Waffen oder mit größeren Aufwendungen für die politische, soziale und kulturelle Sicherheit bestimmter Problemländer in unserer Region?

Und da sind schließlich Politiker, die aufgeschreckt von den Attentaten des 11. Sept. 2001 und dem Sperrholzflieger in Frankfurt die amerikanische Redewendung vom »war on terrorism« wörtlich nehmen und dasitzen wie die Regisseure, die »action« rufen, Handlungsfähigkeit und Tatkraft darstellen wollen, die vom »Krieg im Inland« faseln und damit die Katze aus dem Sack lassen: Dass es nicht nur darum geht, ob die Bundeswehr im Inland für die örtliche Polizei zu deren Entlastung Hand- und Spanndienste in Form von Objektschutz leisten soll, sondern darum, die Bundeswehr im Inland von den Grundsätzen des Polizeirechts zu lösen.

Sie sollen unter Missachtung grundlegender Werte unserer Verfassung und unter erklärter Missachtung eines ausdrücklichen Urteils des Bundesverfassungsgerichts ein Passagierflugzeug mitsamt den unschuldigen entführten Insassen abschießen können, ohne wegen Mordes oder Totschlags vor Gericht gestellt zu werden. Sie sollen wie im Krieg unter Hinnahme von Kollateralschäden töten dürfen. Wo gehobelt wird, da fallen eben Späne, da darf man nicht kleinlich sein.

Ein Terrorangriff, heißt die simple Forderung, ist ein Verteidigungsfall. Heilige Einfalt, man sieht den Tornado-Piloten förmlich, der das entführte Flugzeug anfliegt und den Täter über Bordfunk fragt: Sind Sie ein Terrorist? Nein, wird der antworten, ich bin nur ein Verrückter. Tja, dann ist es wohl kein »war on terrorism« und der Verteidigungsminister kann nicht »action« rufen, was er im Verteidigungsfall übrigens ohnehin nicht könnte, weil dann die Kanzlerin zum IBUK wird, zur Inhaberin der Befehls- und Kommandogewalt.

Angst essen Seele auf. Wir sollten aufhören, unsere Verfassung weiter zu demolieren. Innere Sicherheit hat auch etwas mit dem inneren Frieden einer Gesellschaft zu tun. Und der ist nicht zu bekommen, wenn man sich in einem dauernden Kriegszustand befindet.

Einsatz der Bundeswehr im Inland? Ja, natürlich. Die nächste Flut kommt bestimmt.

Dr. Burkhard Hirsch, Rechtsanwalt, Bundestagsvizepräsident a. D.

Gewissensfreiheit statt Kadavergehorsam

Gewissensfreiheit statt Kadavergehorsam

Freispruch für Bundeswehroffizier

von Jürgen Rose

Der Bundeswehrmajor Florian Pfaff war nicht bereit, den Krieg der USA gegen den Irak im Rahmen der Bundeswehr zu unterstützen. Schikanen und eine Degradierung zum Hauptmann waren die Folge. Pfaff wehrte sich und bekam Recht. Das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig sprach in einem Aufsehen erregenden Urteil den Bundeswehroffizier vom Vorwurf der Gehorsamsverweigerung frei. Es wertet das Völkerrecht deutlich höher als funktionierende Militärgewalt. In W&F 4-2005 kommentierte Helga Wullweber dieses Urteil: »Rechtliche Grenzen des Gehorsams – Auch Soldaten dürfen Befehle verweigern«. In folgendem Beitrag befasst sich Oberstleutnant Jürgen Rose u.a. Ereignissen rund um die »Befehlsverweigerung«, mit der Urteilsschelte – vor allem ehemaliger Militärs – und mit einigen Aspekten des Urteils, wie der völkerrechtlichen Beurteilung des Irak-Kriegs durch die Bundesverwaltungsrichter.

Soweit bekannt, handelt es sich bei dem Bundeswehrmajor Florian Pfaff um den einzigen Soldaten in den gesamten deutschen Streitkräften,1 der den Mut aufgebracht hat, sich Befehlen zu widersetzen, durch deren Ausführung er sich wissentlich an dem von den USA und Großbritannien angezettelten Angriffskrieg gegen den Irak – der renommierte Rechtsphilosoph Reinhard Merkel hatte diesen als „völkerrechtliches Verbrechen“ 2 gebrandmarkt –, beteiligt hätte. Mit einer durchaus spektakulär zu nennenden Urteilsbegründung sprach ihn im Sommer dieses Jahres der 2. Wehrdienstsenat des Bundesverwaltungsgerichts Leipzig von dem schwerwiegenden Vorwurf der Gehorsamsverweigerung frei.

Was aber bildete den Anlass für Pfaffs Husarenritt durch alle Instanzen der Wehrgerichtsbarkeit? Entscheidend war der Beschluss der Bundesregierung, die Protagonisten des völkerrechtswidrigen Angriffskrieges gegen den Irak getreu Gerhard Schröders Parole von der »Enttabuisierung des Militärischen« bei der Ausführung ihres Unrechtsaktes tatkräftig zu unterstützen – notabene nach ordnungsgemäßer Anfrage aus dem Oval Office. Der deutschen Öffentlichkeit freilich wurde suggeriert, Berlin hielte sich strikt an völkerrechtliche Prinzipien und das eigene Grundgesetz, während tatsächlich das genaue Gegenteil der Fall war.3 Einer derartigen Politik der Scheinheiligkeit ließ sich Bundeswehrmajor Pfaff nicht dienstbar machen. Seinen Vorgesetzten erklärte er klipp und klar, er werde keinerlei Befehlen nachkommen, durch deren Ausführung er sich der Mitwirkung an der „mörderischen Besetzung des Irak durch die USA (und andere)4 schuldig machen würde. Postwendend begannen daraufhin die Mühlen der Militärbürokratie zu mahlen: Von seinen Vorgesetzten wurden Pfaff Konsequenzen angedroht. Vom militärischen Rechtsberater wurde er einer „abwegigen Rechtsauffassung“ bezichtigt und als zukünftiger „Held der Friedensbewegung“ verspottet (derselbe Advokat gab freilich später während der Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht in Leipzig zu Protokoll, ihm hätte die fachliche Kompetenz in völkerrechtlichen Fragen gefehlt!5). Der Truppenarzt, bei dem Pfaff sich vorgestellt hatte, um sich bestätigen zu lassen, dass seine Perzeption und Bewertung des Irak-Krieges keiner übertriebenen Wahrnehmung entsprangen, ließ ihn umgehend zur stationären psychiatrischen Untersuchung in das Bundeswehrzentralkrankenhaus Koblenz verbringen. Gleichwohl erbrachten die einwöchigen, für ihn höchst unverständlichen medizinischen Untersuchungen, die er in der »Klapsmühle« 6 über sich ergehen lassen musste, keinen pathologischen Befund. Daraufhin wurde gegen Pfaff im April 2003 ein gerichtliches Disziplinarverfahren eingeleitet, in dem er durch die 1. Kammer des Truppendienstgerichts Nord eines Dienstvergehens für schuldig befunden wurde. Überraschenderweise sahen die Richter jedoch von einer Entfernung aus dem Dienstverhältnis ab und degradierten den Soldaten lediglich vom Major zum Hauptmann, da sie ihm ehrenhafte Motive bei seiner Gehorsamsverweigerung zubilligten.

Gegen diese erstinstanzliche Entscheidung legten sowohl Anklage als auch Verteidigung Berufung beim Bundesverwaltungsgericht in Leipzig ein. Letztere, um einen Freispruch zu erreichen, der Wehrdisziplinaranwalt, weil er aufgrund „völliger Uneinsichtigkeit“ Pfaffs dessen Rausschmiss aus der Truppe erreichen wollte. Dieses Ansinnen scheiterte indes kläglich, denn am 21. Juni 2005 hob der 2. Wehrdienstsenat des Bundesverwaltungsgerichts das Urteil der 1. Kammer des Truppendienstgerichts Nord auf, wies die Berufung des Wehrdisziplinaranwalts als unbegründet zurück und sprach den Major Florian Pfaff frei – die Kosten des Verfahrens trägt der Bund.

Mit ihrem unmissverständlichen, konziser Rechtsauslegung folgenden Urteil haben die Leipziger Richter der rot-grünen Bundesregierung, der NATO-hörigen Bundeswehrführung sowie allen bellizistischen Worthelden eine schallende Ohrfeige erteilt. Kaum verwunderlich setzte umgehend heftigste Urteilsschelte ein. Gleichwohl ist man geneigt, eine Träne der Verzweiflung zu weinen, in der das Salz des Ärgers die Feuchtigkeit der Anteilnahme zu verkrusten droht, angesichts der Melange aus Dreistigkeit und Ignoranz, mit welcher gewisse Protagonisten aus der rechtskonservativen Ecke der sogenannten »Strategic Community« dieses höchstrichterliche Urteil in der Causa Pfaff nun kommentieren. Bemerkenswert an diesem Vorgang ist einzig das kümmerliche Niveau der von allenfalls rudimentärer Sachkenntnis getrübten Anwürfe. So gibt der ehemalige Verteidigungsminister und vielzitierte Verfassungsrechtler Prof. Dr. Rupert Scholz zu Protokoll7, dass es nicht die Aufgabe eines Soldaten sei, zu bewerten, ob ein Krieg völkerrechtswidrig sei und ob er deshalb die Ausführung bestimmter Befehle verweigern dürfe. Gerade Berufssoldaten seien dem existenznotwendigen Prinzip von Befehl und Gehorsam verpflichtet. Und deshalb könne es nicht sein, dass Rechtsfragen Gegenstand einer Gewissensentscheidung des Soldaten würden mit der Maßgabe, dass der den Befehl verweigern könne. Diese Einlassungen müssen schon deshalb Erstaunen hervorrufen, weil bereits jedem Rekruten der Bundeswehr zu Beginn seiner Grundausbildung beigebracht wird, dass er Befehle, durch die eine Straftat begangen würde, gar nicht befolgen darf (§ 11 Soldatengesetz). Dieser Gesetzesauflage kann ein Soldat selbstverständlich nur dann nachkommen, wenn er die Rechtmäßigkeit von Befehlen prüft, bevor er sie ausführt. Dass einem ehemaligen Inhaber der Befehls- und Kommandogewalt über die Bundeswehr derartiges wehrrechtliches Basiswissen offenbar nicht präsent ist, kann den Major Pfaff in seiner Haltung nur schlagend bestätigen.

Auch unter Bundeswehrgenerälen stößt das Urteil auf Ablehnung – allerdings wagten wie üblich nur Pensionäre öffentliche Kritik. So spricht der ehemalige Inspekteur des Heeres und später zum Staatsekretär auf der Hardthöhe beförderte Jörg Schönbohm, derzeit Innenminister und stellvertretender Ministerpräsident von Brandenburg, hinsichtlich des besagten Urteils von einer „bedauerlichen Entwicklung“ und warnt unter Bezugnahme auf Theodor Heuss, vor einem „Verschleiß des Gewissens“. Darüber hinaus sieht er die Bündnisfähigkeit Deutschlands in der NATO gefährdet, „[w]enn Bundeswehrsoldaten in wichtigen Funktionen plötzlich anfangen, sich auf ihr Gewissen zu berufen …“8. Kräftiger hin langt der ehemalige Amtschef des Heeresamtes und jetzige Präsident des »Bayerischen Soldatenbundes«, Jürgen Reichardt, in seiner Hauspostille mit dem bezeichnenden Namen »Treue Kameraden«. Er nämlich hält die Entscheidung der Leipziger Richter für „eine befremdliche, unverständliche Gesetzesauslegung, vergleichbar jenem berüchtigten (sic!) »Mörder-Urteil« des Bundesverfassungsgerichts. Sie liefert die Funktionsfähigkeit unserer Streitkräfte den persönlichen Anschauungen einzelner Soldaten aus, untergräbt somit die Grundlagen soldatischen Handelns und gefährdet die Verlässlichkeit unserer Streitkräfte.“ 9 Überdies wittert Reichardt Gefahren für die „Fundamente des Staates“ schlechthin. Den Gewissenskonflikt des Soldaten Pfaff angesichts massiven Völkerrechts- und Verfassungsbruchs bezeichnet er als „eigentlich belanglose Sache“ und unterstellt ihm „anmaßende politische Absichten politisierender Soldaten.“ Bei dieser Gelegenheit schießt der General außer Diensten auch gleich eine volle ideologische Breitseite gegen das „sogen. »Darmstädter Signal«, eine kleine Gruppe politisch extrem linker Soldaten, die sich im Internet ihrer Kampagnen rühmen“, denn Pfaff sei schließlich bei dieser Mitglied. Zu dumm nur, dass es sich bei Paff um einen tiefgläubig katholischen, politisch eher konservativen und unbeirrbar rechtstreuen Bayern handelt, der linker Umtriebe definitiv abhold ist. Bloß noch skurril wirkt dann Reichardts Schlussappell an den Verteidigungsminister, die Revision des Leipziger Urteils als seine Aufgabe anzusehen – indes: gegen diese höchstrichterliche Entscheidung ist eine Revision gar nicht zulässig.

Den Vogel bei der Urteilskrittelei schoss indes der Vorsitzende des Deutschen BundeswehrVerbandes, Oberst Bernhard Gertz, – notabene Volljurist – ab, als er allen Ernstes zum Besten gab, man müsste hinsichtlich der Gewissensfreiheit für Soldaten „unterscheiden zwischen Wehrpflichtigen und Zeit- sowie Berufssoldaten, für den Berufssoldaten gälte eine deutlich stärkere Pflichtenbindung.“ 10 Je höher Status und Besoldung, desto gewissenloser die Haltung, ließe sich daraus folgern. Konsequenterweise fordert Gertz denn auch eine Einschränkung der Gewissensfreiheit für Soldaten, die gefälligst dort ihre Grenzen finden müsse, wo die Einsatzfähigkeit der Bundeswehr betroffen sei.

All die nach dem Leipziger Urteilsspruch aufgebrandete haltlose Kritik vermag indes nicht das Geringste an dem Faktum zu ändern, dass es den Bundesverwaltungsrichtern gelungen ist, mit ihrem Urteil in der Causa Pfaff einen Meilenstein zu setzen, was einerseits zukünftige Einsätze der Bundeswehr in bewaffneten Konflikten, andererseits die Sicherung demokratischer Grundrechte für den Staatsbürger in Uniform angeht, der sich in seinem täglichen Dienst einem strikt hierarchisch strukturierten militärischen Zwangs-, Disziplin- und Gewaltsystem zu unterwerfen hat.

So fand bislang kaum Beachtung, dass das Bundesverwaltungsgericht mit seinem Urteilsspruch eindeutig, umfassend und zugleich erschöpfend klargestellt hat, wie der Verteidigungsbegriff des Grundgesetzes nach Art. 87a zu verstehen ist. Hierdurch füllt es eine Interpretationslücke, die das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 12. Juli 1994 betreffend den Einsatz bewaffneter Streitkräfte im Rahmen eines Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit ausdrücklich offen gelassen hatte. Damals hatten die Verfassungsrichter festgestellt: „Art. 87a GG steht der Anwendung des Art. 24 Abs. 2 GG als verfassungsrechtliche Grundlage für den Einsatz bewaffneter Streitkräfte im Rahmen eines Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit nicht entgegen. Nach Art. 87a Abs. 1 Satz 1 GG stellt der Bund ‚Streitkräfte zur Verteidigung’ auf; nach Art. 87a Abs. 2 GG dürfen diese Streitkräfte ‚außer zur Verteidigung’ nur eingesetzt werden, soweit das Grundgesetz es ausdrücklich zulässt. Die mannigfachen Meinungsverschiedenheiten darüber, wie in diesem Zusammenhang die Begriffe der ‚Verteidigung’ und des ‚Einsatzes’ auszulegen sind, und ob Art. 87a Abs. 2 GG als eine Vorschrift zu verstehen ist, die nur den Einsatz der Streitkräfte ‚nach innen’ regeln will, bedürfen in den vorliegenden Verfahren keiner Entscheidung. Denn wie immer dies zu beantworten sein mag, jedenfalls wird durch Art. 87a GG der Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte im Rahmen eines Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit, dem die Bundesrepublik Deutschland gemäß Art. 24 Abs. 2 GG beigetreten ist, nicht ausgeschlossen.11 Das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig folgt dieser verfassungsrechtlichen Grundsatzentscheidung, indem es konstatiert: „Die primäre Aufgabe der Bundeswehr ergibt sich dabei aus Art. 87a Abs. 1 GG, wonach der Bund Streitkräfte ‚zur Verteidigung’ aufstellt.“ 12 Nach Auffassung der Richter ist damit zum einen der »Verteidigungsfall« nach Art. 115a GG gemeint, i. e. eine Situation, in der das „Bundesgebiet mit Waffengewalt angegriffen wird oder ein solcher Angriff unmittelbar droht.“ Der entscheidende Passus hinsichtlich der Reichweite des Verteidigungsbegriffs im Grundgesetz folgt unmittelbar: „Da der Normtext des Art. 87a Abs. 1 und 2 GG von ‚Verteidigung’, jedoch – anders als die zunächst vorgeschlagene Fassung – nicht von ‚Landesverteidigung’ spricht und da zudem der verfassungsändernde Gesetzgeber bei Verabschiedung der Regelung im Jahre 1968 auch einen Einsatz im Rahmen eines NATO-Bündnisfalles als verfassungsrechtlich zulässig ansah, ist davon auszugehen, dass ‚Verteidigung’ alles das umfassen soll, was nach dem geltenden Völkerrecht zum Selbstverteidigungsrecht nach Art. 51 der Charta der Vereinten Nationen (UN-Charta), der die Bundesrepublik Deutschland wirksam beigetreten ist, zu rechnen ist.“ 13 Höchstrichterlich widerlegt ist hiermit die in der sicherheitspolitischen Diskussion häufig vorgetragene Auffassung, das Grundgesetz begrenze den Einsatz der Bundeswehr auf die Verteidigung des Territoriums der Bundesrepublik Deutschland sowie des NATO-Vertragsgebiets. Stattdessen definieren die Bundesverwaltungsrichter einen weiten Verteidigungsbegriff, der alles umfasst, was die UN-Charta erlaubt, zugleich beschränken sie jenen aber eben auch strikt auf deren Bestimmungen. Denn, so die Richter, „Art. 51 UN-Charta gewährleistet und begrenzt in diesem Artikel für jeden Staat das – auch völkergewohnheitsrechtlich allgemein anerkannte – Recht zur ‚individuellen’ und zur ‚kollektiven Selbstverteidigung’ gegen einen ‚bewaffneten Angriff’, wobei das Recht zur ‚kollektiven Selbstverteidigung’ den Einsatz von militärischer Gewalt – über den Verteidigungsbegriff des Art. 115a GG hinausgehend – auch im Wege einer erbetenen Nothilfe zugunsten eines von einem Dritten angegriffenen Staates zulässt (z. B. ‚Bündnisfall’). Der Einsatz der Bundeswehr ‚zur Verteidigung’ ist mithin stets nur als Abwehr gegen einen ‚militärischen Angriff’ (‚armed attack’ nach Art. 51 UN-Charta) erlaubt, jedoch nicht zur Verfolgung, Durchsetzung und Sicherung ökonomischer oder politischer Interessen.“ 14

Von Beobachtern mit einer gewissen Spannung erwartet worden war insbesondere die völkerrechtliche Beurteilung des Irak-Kriegs durch die Bundesverwaltungsrichter. Wer diesbezüglich gehofft hatte, das Bundesverwaltungsgericht würde den Irak-Krieg eindeutig als völkerrechts- und verfassungswidrig brandmarken und dem Soldaten Pfaff bescheinigen, er wäre zur Gehorsamsverweigerung gemäß Soldatengesetz (§ 11) und Wehrstrafgesetz (§ 5) verpflichtet gewesen, mag enttäuscht sein. Dazu besteht indes kein Anlass. Denn mit einer solchen Entscheidung hätte das Gericht lediglich die bestehende Rechtslage bestätigt und den Handlungsspielraum von Soldaten zur Gehorsamsverweigerung einzig auf die Fälle eingeschränkt, wo die Völkerrechtswidrigkeit eines Krieges für jedermann eindeutig erkennbar und unumstritten wäre. Mit der nun getroffenen Entscheidung aber erweitern die Richter den Ermessensspielraum diesbezüglich erheblich, nämlich bereits auf all die Fälle, wo auch nur Zweifel an der Rechtmäßigkeit einer militärischen Intervention bestehen.15 Wenn in einem solchen Fall ein Soldat in einen Gewissenskonflikt gerät und diesen ernsthaft und glaubwürdig darlegen kann, braucht er Befehlen nicht zu gehorchen, durch deren Ausführung er in jene Aktionen innerhalb rechtlicher Grauzonen verwickelt würde. Mit dieser Rechtsprechung nimmt das Bundesverwaltungsgericht im Hinblick auf die Legalität bewaffneter Einsätze der Bundeswehr de facto eine Beweislastumkehr vor: Nicht der Soldat muss beweisen, dass seine Gehorsamsverweigerung rechtlich geboten war, sondern zuallererst muss die Bundesregierung den von ihr in den Kampf entsandten »Staatsbürgern in Uniform« darlegen, dass der diesen erteilte Auftrag den Normen des Völkerrechts und der Verfassung entspricht.16 Dabei legt das Gericht die rechtlichen Hürden für den Einsatz bewaffneter Streitkräfte sehr hoch, indem es nämlich die Zulässigkeit militärischer Gewaltanwendung strikt auf die in der UN-Charta vorgesehenen Fälle (Kap. VII und Art. 51) begrenzt: „Ein Staat, der sich – aus welchen Gründen auch immer – ohne einen solchen Rechtfertigungsgrund über das völkerrechtliche Gewaltverbot der UN-Charta hinwegsetzt und zur militärischen Gewalt greift, handelt völkerrechtswidrig. Er begeht eine militärische Aggression.“ 17 Und, so das Gericht weiter im Hinblick auf die deutschen Unterstützungsleistungen für das angloamerikanische Völkerrechtsverbrechen am Golf: „Eine Beihilfe zu einem völkerrechtlichen Delikt ist selbst ein völkerrechtliches Delikt.“ 18 Gerade im Hinblick auf die in ständiger Einsatzbereitschaft gehaltenen Interventionsstreitkräfte der NATO (NATO Response Force – NRF) und Europäischen Union (EU Battle Group), die erklärtermaßen gegebenenfalls auch ohne Mandat des UN-Sicherheitsrates innerhalb weniger Tage weltweit zum Einsatz kommen sollen, dürfte dies für die Zukunft interessante Implikationen aufwerfen, wenn nämlich Angehörige dieser Truppenverbände in einem solchen Fall ihr Gewissen entdecken. Für die Bundeswehr als Parlamentsarmee ist dies indes höchst bedeutsam, folgt daraus doch: Der Primat der Politik gilt lediglich innerhalb der Grenzen von Recht und Gesetz, jenseits davon herrscht der Primat des Gewissens. Denn, so das Bundesverwaltungsgericht: „[I]m Konflikt zwischen Gewissen und Rechtspflicht [ist] die Freiheit des Gewissens ‚unverletzlich’ … “ 19

Anmerkungen

1) Mittlerweile ist ein ähnlicher Fall aus den britischen Streitkräften bekannt geworden. Dort weigert sich der Flight Lieutenant der Royal Air Force Kendall-Smith erneut zur militärischen Dienstleistung im Irak anzutreten, weil er die Rechtmäßigkeit des Krieges und der Besatzung bestreitet. Ihn erwartet nun ein Prozess vor einem Militärgericht; vgl. hierzu Pilger, John: The Epic Crime that Dares Not Speak its Name. Royal Air Force officer to be tried before a military court for refusing to return to Iraq, in: New Statesman, October 28, 2005, http://www.newstatesman.co.uk/.

2) Merkel, Reinhard: Krieg. Was Amerika aufs Spiel setzt. Ein Präventivkrieg mag der Logik imperialer Macht entsprechen. Aber er untergräbt das Rechtsbewusstsein der Menschheit, Erstveröffentlichung in der Hamburger Wochenzeitung »Die Zeit« Nr. 12/2003, abgedruckt in dem Sammelband von: Ambos, Kai/Arnold, Jörg (Hrsg.): Der Irak-Krieg und das Völkerrecht, (Reihe Juristische Zeitgeschichte, Abteilung 5: Juristisches Zeitgeschehen – Rechtspolitik und Justiz aus zeitgenössischer Perspektive, Bd. 14), Berlin 2004, S. 28.

3) Vgl. hierzu Rose, Jürgen: Wozu das NATO-Truppenstatut die Bundesregierung verpflichtet, in: Bernd W. Kubbig (Hrsg.): Brandherd Irak. US-Hegemonieanspruch, die UNO und die Rolle Europas, Frankfurt/Main 2003, S. 235 – 242 sowie Deiseroth, Dieter: Verstrickung in einen Angriffskrieg. Zu Reichweite und Grenzen von Bündnisverpflichtungen im US-Irak-Krieg, in: Lutz, Dieter S.†/Gießmann, Hans J. (Hrsg.): Die Stärke des Rechts gegen das Recht des Stärkeren. Politische und rechtliche Einwände gegen eine Rückkehr des Faustrechts in die internationalen Beziehungen, (Reihe Demokratie, Sicherheit, Frieden, Bd. 156), Baden-Baden 2003, S. 160 – 182.

4) Pfaff, Florian zit. n. Bundesverwaltungsgericht: Urteil des 2. Wehrdienstsenats vom 21. Juni 2005 – BVerwG 2 WD 12.04, S. 103.

5) Bundesverwaltungsgericht: a.a.O., S. 120.

6) Pfaff, Florian zit. n. Bundesverwaltungsgericht: Urteil des 2. Wehrdienstsenats vom 21. Juni 2005 – BVerwG 2 WD 12.04, S. 20.

7) Vgl. Scholz, Rupert: Befehl und Gehorsam sind existenznotwendig, Ex-Verteidigungsminister Rupert Scholz über das Verwaltungsgerichtsurteil, das einem Soldaten Befehlsverweigerung aus Gewissensgründen zubilligt, in: Die Welt, 25. Juni 2005.

8) Vgl. Schönbohm, Jörg: Berufsrisiko für Soldaten. Interview mit Jörg Schönbohm, in: Süddeutsche Zeitung, 24. Juni 2005, S. 2.

9) Dieses und die folgenden Zitate aus Reichardt, Jürgen: Gehorsam und Gewissen, in: Treue Kameraden – Zeitschrift des Bayerischen Soldatenbundes 1874 e.V., Nr. 4/2005, S.3.

10) Gertz, Bernhard: Grenzen der Einsatzfähigkeit, in: Westfälische Rundschau, 25. Juni 2005 (Interviewer: Lothar Klein).

11) Bundesverfassungsgericht: Urteil vom 12. Juli 1994, a.a.O., S. 355f.

12) Bundesverwaltungsgericht: a.a.O., S. 29.

13) Bundesverwaltungsgericht: a.a.O., S. 30.

14) Bundesverwaltungsgericht: a.a.O., S. 30.

15) Vgl. hierzu Bundesverwaltungsgericht: a.a.O., S. 72.

16) Vgl. hierzu Bundesverwaltungsgericht: a.a.O., S. 116.

17) Bundesverwaltungsgericht: a.a.O., S. 73.

18) Bundesverwaltungsgericht: a.a.O., S. 81.

19) Bundesverwaltungsgericht: a.a.O., S. 106.

Dipl. Päd. Jürgen Rose ist Oberstleutnant der Bundeswehr. Er vertritt in diesem Beitrag nur seine persönlichen Auffassungen.

Sicherheitspolitische Praxis und Völkerrecht

Sicherheitspolitische Praxis und Völkerrecht

von Norman Paech

Die über 40 Auslandseinsätze der Bundeswehr seit der Epochenwende von 1989/90 deuten darauf hin, dass sich auch Deutschland inzwischen von der einstmals viel gepriesenen »Kultur der Zurückhaltung« gegenüber dem Militär als Instrument der Außenpolitik weit gehend verabschiedet hat. Nicht zuletzt die rot-grüne Bundesregierung unter Kanzler Schröder hat die „Enttabuisierung des Militärischen“ (Schröder über Schröder in der ZEIT vom 18.10.01) so effektiv betrieben, dass militärische »Machtprojektion« allenthalben (wieder) als »normal« qualifiziert wird. Damit wird aber tendenziell einerseits die normative Bindung der Außenpolitik verneint – als handele es sich um einen Naturprozess; andererseits werden die völkerrechtlichen Normen in Frage gestellt – als sei einfach das Verhalten bestimmter (mächtiger) Staaten maßgeblich. Im Gegensatz zu solchen Tendenzen problematisiert der folgende Beitrag die herrschende Sicherheitspolitik im Lichte des geltenden Völkerrechts. Der Aufsatz beinhaltet einen geringfügig überarbeiteten Vortrag über die »Vereinbarkeit von sicherheitspolitischer Praxis mit dem Völkerrecht«, den der Autor am 4. Juli auf Einladung der Führungsakademie der Bundeswehr in der Clausewitz-Kaserne in Hamburg aus Anlass des 50. Jahrestag der Bundeswehr gehalten hat.

Jüngst fasste Verteidigungsminister Struck in einem Interview in der Frankfurter Rundschau die zukünftige sicherheitspolitische Praxis in wenigen prägnanten Sätzen zusammen: „Unsere Spur wird die Transformation der Truppe sein. Dafür stehen zwei Sätze. Erstens: Deutschland wird auch am Hindukusch verteidigt. Er ist akzeptiert, auch wenn mir zu wenig darüber diskutiert wird. Der zweite Satz lautet: Einsatzgebiet der Bundeswehr ist die ganze Welt. Wer einer Nato-Response-Force zustimmt, wer dem Konzept der Battle-Groups zustimmt, muss wissen: Grundsätzlich müssen deutsche Soldaten bereit sein, an Orten Verantwortung zu übernehmen, an die wir heute noch nicht denken. Dabei gilt für uns aber immer: Wir treten nie allein auf, sondern machen alles mit unseren Partnern in der NATO oder der EU zusammen.“ (FR. 2. Juni 2005)

Nehmen wir also die Aufforderung ernst und diskutieren wir die beiden Sätze, die doch nicht so allgemein akzeptiert sind, wie Minister Struck es vermutet.

Verteidigung ohne Angriff

Bereits ein Blick in das Grundgesetz offenbart erhebliche Widersprüche zum geplanten weltweiten Einsatz der Bundeswehr, denn Art. 115 a definiert den »Verteidigungsfall« ganz eindeutig als Angriff auf das Bundesgebiet. Darüber hinaus nimmt Art. 26 GG das absolute Verbot des Angriffskrieges in der UNO-Charta auf und fordert sogar seine Bestrafung. Auch nach dem Nordatlantikvertrag von 1949 ist die NATO als klassisches Verteidigungsbündnis konzipiert; die Bündnisverpflichtung des Art. 5 wird ausdrücklich in den Verteidigungsrahmen des Art. 51 UN-Charta gestellt und eindeutig territorial begrenzt: Der Angriff muss auf das Gebiet eines Mitgliedstaates in Europa oder Nordamerika erfolgen, Inseln, Schiffe und Flugzeuge im nordatlantischen Raum „nördlich des Wendekreises des Krebses“ eingeschlossen (Art. 6).

Nun kann sich Minister Struck zweifellos auf die Neue Strategie der NATO berufen, die im April 1999 in Washington von allen Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsländer beschlossen wurde. Sie erweiterte den Verteidigungsauftrag um einen Auftrag zur »Krisenbewältigung«, ohne dass allerdings ein solcher Auftrag im NATO-Vertrag selbst irgendwie zum Ausdruck kommt. Der Krisen-Begriff ist außerordentlich weit und variabel gefasst: „Ungewissheit und Instabilität im und um den euroatlantischen Raum sowie die mögliche Entstehung regionaler Krisen an der Peripherie des Bündnisses (…) Ethnische und religiöse Rivalitäten, Gebietsstreitigkeiten, unzureichende oder fehlgeschlagene Reformbemühungen, die Verletzung von Menschenrechten und die Auflösung von Staaten können zu lokaler und selbst regionaler Instabilität führen. Die daraus resultierenden Spannungen könnten zu Krisen führen, die die euro-atlantische Stabilität berühren, sowie zu menschlichem Leid und bewaffneten Konflikten.“ (Z. 20) Zudem können die Sicherheitsinteressen auch von anderen nichtmilitärischen „Risiken umfassenderer Natur berührt werden, einschließlich Akte des Terrorismus, der Sabotage und des organisierten Verbrechens sowie der Unterbrechung der Zufuhr lebenswichtiger Ressourcen.“ (Z. 24)1

Das ist eine durchaus zutreffende Beschreibung drohender Risiken, aber in keinem Fall eine rechtswirksame Interventionsermächtigung. Der Beschluss der Minister ist völkerrechtlich vollkommen irrelevant und hebt das absolute Gewaltverbot der UN-Charta nicht auf. Erinnern wir uns des Zeitpunktes des Strategie-Beschlusses. Während die Minister in Washington tagten, war die Bombardierung Jugoslawiens noch in vollem Gange. Die mangelnde völkerrechtliche Grundlage dieses ersten der drei großen Kriege seit der Epochenwende ist hinlänglich bekannt und wird unter Juristen allgemein eingeräumt. Wo weder ein Fall der Selbstverteidigung gem. Art. 51 UNO-Charta noch eine Ermächtigung durch den UN-SR gem. Art. 42 UNO-Charta vorliegt, verbietet das absolute Gewaltverbot des Art. 2. Z. 4 UN-Charta jeden militärischen Angriff auf einen anderen Staat. Deswegen waren die Bombardierung Jugoslawiens und des Iraks eindeutig rechtswidrig, die Berufung auf ein Selbstverteidigungsrecht im Fall Afghanistans zumindest umstritten. Wenn Minister Struck beteuert: „Wir treten nie allein auf, sondern machen alles mit unseren Partnern in der NATO oder der EU zusammen“, so ist das politisch zweifellos klug, juristisch aber belanglos, wenn er nicht gleichzeitig die UN-Charta und das Völkerrecht als die alleinige Grundlage legaler militärischer Gewaltanwendung anerkennt. NATO und EU vermögen eine mangelnde völkerrechtliche Legitimation nicht zu ersetzen.

»Humanitäre Intervention«

Das Legitimationsdefizit im Fall des Kosovo-Kriegs war den NATO-Regierungen durchaus bewusst. Um jedoch nicht dem offenen Vorwurf des Völkerrechtsbruchs ausgeliefert zu sein, bemühten sie sich, neben moralischen Rechtfertigungen, neue juristische Begründungen zu entwickeln bzw. alte wieder zu beleben. So griffen sie auf eine alte Figur des Völkerrechts der Vor-Charta-Ära zurück: die sog. humanitäre Intervention. Zwar haben die USA bei ihren Interventionen in Lateinamerika (Grenada 1983, Nicaragua 1984, Panama 1989) immer wieder auf diese Rechtfertigung zurückzugreifen versucht, haben jedoch dabei nirgendwo Zustimmung oder Gefolgschaft finden können.

Hauptziel und zentrale Aufgabe der UNO sind die Friedenssicherung, worunter sich alle anderen Ziele einzureihen haben. Dies macht z. B. Art. 103 UN-Charta deutlich: „Widersprechen sich die Verpflichtungen von Mitgliedern der Vereinten Nationen aus dieser Charta und ihre Verpflichtungen aus anderen internationalen Übereinkünften, so haben die Verpflichtungen aus dieser Charta Vorrang.“ Tritt also das Gewaltverbot der Friedenssicherung in Konkurrenz zu einer Verpflichtung aus einer der Menschenrechtspakte und -konventionen, so hat das Gewaltverbot Vorrang. Eine Verknüpfung beider Prinzipien derart, dass die Sicherung der Menschenrechte eine Ausnahme vom Gewaltverbot zulasse oder gar erfordere, ist im System der UN-Charta also nicht angelegt.

Dies hat der Internationale Gerichtshof (IGH) 1986 in seinem Urteil im Rechtsstreit Nicaraguas gegen die USA noch einmal unterstrichen: „Die Vereinigten Staaten mögen ihre eigene Einschätzung hinsichtlich der Achtung der Menschenrechte in Nicaragua haben, jedoch kann die Anwendung von Gewalt keine geeignete Methode sein, die Achtung der Menschenrechte zu überwachen oder zu sichern. Hinsichtlich der ergriffenen Maßnahmen (ist festzustellen), dass der Schutz der Menschenrechte, ein strikt humanitäres Ziel, unvereinbar ist mit der Verminung von Häfen, der Zerstörung von Ölraffinerien, oder … mit der Ausbildung, Bewaffnung und Ausrüstung von Contras. Das Gericht kommt zu dem Ergebnis, dass das Argument, das von der Wahrung der Menschenrechte in Nicaragua hergeleitet wird, keine juristische Rechtfertigung für das Verhalten der USA liefern kann.“2

Noch im selben Jahr hat das Foreign Office Großbritanniens auf die zwingenden politischen Gründe für die Ablehnung der »humanitären Intervention« als dritte Ausnahme vom Gewaltverbot hingewiesen: „Die überwältigende Mehrheit der zeitgenössischen Rechtsmeinung spricht sich gegen die Existenz eines Rechts zur (einseitigen) humanitären Intervention aus, u. zw. aus drei Gründen: erstens enthalten die UN-Charta und das Völkerrecht insgesamt offensichtlich kein spezifisches derartiges Recht; zweitens liefert die Staatenpraxis in den letzten zweihundert Jahren und besonders nach 1945 allenfalls eine Hand voll wirklicher Fälle einer humanitären Intervention, wenn überhaupt – wie die meisten meinen; und schließlich, aus Gründen der Vorsicht, spricht die Möglichkeit des Missbrauchs stark dagegen, ein solches Recht zu schaffen… Der wesentliche Gesichtspunkt, der deshalb dagegen spricht, die humanitäre Intervention zu einer Ausnahme vom Prinzip des Interventionsverbots zu machen, sind ihre zweifelhaften Vorteile, die bei weitem durch ihre Kosten in Form des vollen Respekts vor dem Völkerrecht aufgewogen werden.“3

Wenn sich die Regierung Blair auch nicht an diese Mahnung gehalten hat, so haben diese Argumente in den vergangenen Jahren doch nicht ihre Gültigkeit verloren.4 Sie sind auf einem Treffen der Außenminister der 133 Mitgliedstaaten der Gruppe 77 am 24. September 1999 noch einmal bestätigt worden: „Wir weisen das sog. Recht auf humanitäre Intervention zurück, welches keine Basis in der UNO-Charta noch im internationalen Recht hat.5 Und ein Report des Foreign Affairs Committee des Britischen Unterhauses vom 23. Mai 2000 hat das Vorgehen der eigenen Regierung eindeutig als rechtswidrig qualifiziert: „Wir kommen zu dem Schluss, dass die Operation Allied Force den spezifischen Vorschriften dessen widersprach, was als grundlegendes Recht der internationalen Gemeinschaft bezeichnet werden kann – die UNO-Charta… Wir fassen zusammen, dass letztlich die Doktrin der Humanitären Intervention eine sehr schwache Basis im derzeitigen Völkergewohnheitsrecht hat und dass dies die NATO-Aktion rechtlich fragwürdig macht.“6

War die völkerrechtliche Legalität der »humanitären Intervention« nicht mehr zu retten, so versuchte das Komitee die NATO-Bombardierung zumindest moralisch zu legitimieren. Ähnliche Rettungsversuche finden wir bei einigen Vertretern der sog. politikorientierten Rechtswissenschaft der New Haven School an der Yale-Universität wie z.B. Anne-Marie Slaughter, die den Jugoslawien-Krieg zwar ebenfalls als juristisch illegal einstuft, dennoch aber moralisch legitimiert.7 Wir haben erlebt, wie dankbar insbesondere der deutsche Außenminister diesen Ausweg aus seinem Legitimationsdilemma aufgenommen hat. Wo jedoch die Grenzen zwischen Recht, Theologie und Moralphilosophie verschwimmen, ist letztlich jeder Angriffskrieg zu begründen.

Ziehen wir eine kurze Zwischenbilanz: Alle Versuche, die militärischen Aktionsmöglichkeiten über die völkerrechtlichen Grenzen der reinen Verteidigung (Art. 51 UN-Charta) auf Krisenbewältigung, Menschenrechtssicherung und Risikovorsorge auszudehnen, müssen derzeit noch an der klaren und eindeutigen Dogmatik der UNO-Charta scheitern. Ihre Relativierung aus Gründen menschenrechtlicher Nothilfe oder moralischer Verpflichtung wird zwar immer wieder versucht, hat aber keine namhafte und mehrheitliche Zustimmung bei den Staaten gefunden.

Präventivkrieg

Nach dem Terroranschlag auf Pentagon und World Trade Center im September 2001 bekam die sicherheitspolitische Debatte eine neue Wendung. Der Terrorismus und sein befürchteter Zugang zu Massenvernichtungsmitteln wurden zum Angelpunkt einer weiteren »Aufstockung« der Verteidigungsstrategie. War in der Neuen NATO-Strategie bereits der weltweite Kriseneinsatz, also die faktische Entterritorialisierung und Entgrenzung des Einsatzraums, enthalten, so sollte die Verteidigung gegen den Terrorismus nun auch die zeitliche Begrenzung des Art. 51 UN-Charta aufheben können. Der Einsatz militärischer Gewalt müsse räumlich wie zeitlich unbegrenzt möglich werden. Schon die bloße Vermutung, dass einer dieser sog. Schurkenstaaten über atomare, chemische oder biologische Massenvernichtungswaffen verfügen könne, soll einen präventiven Erstschlag mit Waffengewalt rechtfertigen.

Die US-Administration hat die Vorverlagerung militärischer Verteidigung auf drohende Gefahren bzw. Angriffe, die sog. Präventivverteidigung, zur zentralen strategischen Option ihrer neuen »National Security Strategy« gemacht, die sie genau ein Jahr nach dem Terroranschlag, am 17. September 2002, veröffentlichte. Erstmals hatte sie Präsident Bush in einer Rede vor der Militärakademie West Point im Juni 2002 verkündet; angewandt wurde sie erstmals gegen den Irak. Seitdem wird sie als Bush-Doktrin gehandelt. Die entscheidenden Passagen lauten: „Wir müssen das Konzept der unmittelbaren Bedrohung an die Fähigkeiten und Ziele der heutigen Gegner anpassen… Die Vereinigten Staaten haben sich seit langem die Option auf präemptive Handlungen offen gehalten, um einer hinreichenden Bedrohung ihrer nationalen Sicherheit begegnen zu können. Je größer die Bedrohung, desto größer das durch Untätigkeit entstehende Risiko – und desto zwingender das Argument für antizipatorische Selbstverteidigung (…). Die Vereinigten Staaten werden gegebenenfalls präemptiv handeln, um solche feindlichen Akte unserer Gegner zu vereiteln oder ihnen vorzubeugen.

Die Vereinigten Staaten werden nicht in allen Fällen Gewalt anwenden, um aufkeimenden Bedrohungen zuvorzukommen, und Staaten sollten Präemption auch nicht als Vorwand für Aggressionen benutzen. In einer Zeit aber, in der die Feinde der Zivilisation offen und aktiv nach den zerstörerischen Technologien streben, können die Vereinigten Staaten jedoch nicht untätig bleiben, während das Gefahrenpotential wächst.“8

Ein Jahr später übernahm auch die EU für ihre im Aufbau befindlichen Krisenreaktionstruppen, die sog. battle-groups, die Option zeitlich und räumlich unbegrenzter militärischer Interventionen. In dem sog. Solana-Papier, welches vom Europäischen Rat im Dezember 2003 als »Europäische Sicherheitsstrategie« verabschiedet wurde, heißt es: „Unser herkömmliches Konzept der Selbstverteidigung, das bis zum Ende des Kalten Krieges galt, ging von der Gefahr einer Invasion aus. Bei den neuen Bedrohungen wird die erste Verteidigungslinie oftmals im Ausland liegen. Die neuen Bedrohungen sind dynamischer Art… Daher müssen wir bereit sein, vor Ausbruch einer Krise zu handeln. Konflikten und Bedrohungen kann nicht früh genug vorgebeugt werden.“

An anderer Stelle heißt es: „Wir müssen eine Strategie-Kultur entwickeln, die ein frühzeitiges, rasches und wenn nötig robustes Eingreifen fördert… Als eine Union von 25 Mitgliedstaaten, die mehr als 160 Mrd. Euro für Verteidigung aufwenden, sollten wir mehrere Operationen gleichzeitig durchführen können.“9

Obwohl der Wortlaut von Art. 51 UNO-Charta die Selbstverteidigung eindeutig auf den Fall „eines bewaffneten Angriffs“ beschränkt, haben vor allem Israel und die USA immer wieder versucht, den Anwendungsbereich der Selbstverteidigung zu erweitern. So Israel 1956 in der Suezkrise, 1967 im Sechs-Tage-Krieg und 1981 beim Angriff auf den Osirik-Nuklearreaktor im Irak. Zwar hat die Staatengemeinschaft das nie als rechtmäßige Verteidigung akzeptiert und die Bombardierung des Nuklearreaktors mit einer einstimmigen Resolution des UN-Sicherheitsrats verurteilt. Dennoch griffen auch die USA bei ihren Invasionen auf Grenada 1983 und Panamas 1989 zur Ergreifung Noriegas, sowie der Bombardierung von Tripolis 1986 nach dem Anschlag auf die Disco La Belle und Bagdads 1993 als Antwort auf ein zwei Monate zuvor versuchtes Attentat auf Präsident Bush sen. immer wieder auf das Argument der Selbstverteidigung zurück. Letztlich musste sie auch für den Krieg gegen den Irak herhalten. Der Sicherheitsrat war zumeist durch das Veto der USA blockiert, so dass es nur im Fall Panamas zu einer eindeutigen Verurteilung der Invasion durch die UN-Generalversammlung kam. Insofern stellt die »National Security Strategy« zu Recht fest, dass die USA immer auf das Konzept vorbeugender Selbstverteidigung zurückgegriffen hat – doch gegen das eindeutige Verteidigungskonzept der UNO-Charta und die einhellige internationale Ablehnung.10

Selbst diejenigen, die eine Erweiterung der Selbstverteidigung auf unmittelbar bevorstehende Angriffe erstrecken wollen, verlangen den Nachweis eines unmittelbar bevorstehenden, überwältigenden Angriffs, der weder andere Mittel noch einen Moment der Beratung mehr zulässt.11 Diese Kriterien der vorbeugenden Selbstverteidigung wurden bereits im Jahre 1842 durch den US-Außenminister Webster entwickelt. Sie wurden auch nach dem Zweiten Weltkrieg und der Verabschiedung der UNO-Charter immer wieder zitiert, aber immer außerordentlich eng gefasst. So wollen einige sie nur für Fälle gelten lassen, „wo es einen überzeugenden Beweis nicht nur bloßer Drohungen und möglicher Gefahren gibt, sondern eines bereits vorbereiteten Angriffs, wenn davon gesprochen werden kann, dass ein Angriff schon begonnen hat, obwohl er noch nicht die Grenze überschritten hat.“12 Ein solcher Fall lag jedoch in allen zitierten Angriffen nicht vor und eine allgemeine abstrakte Terrorismusdrohung kann diesen Kriterien schon gar nicht entsprechen.

Bilanz und Ausblick

Die Bush-Doktrin der Präventivverteidigung stellt eine eindeutige Verletzung der UNO-Charta dar – ihr Ziel ist es, neues Völkerrecht zu schaffen. Dies ist nur durch staatliche Praxis auf dem Wege der gewohnheitsrechtlichen Ausweitung und der Veränderung des Art. 51 UNO-Charta möglich. Entscheidend sind also nicht irgendwelche Meinungen in der politischen oder juristischen Öffentlichkeit,13 sondern eine Staatenpraxis, die dieses neue Recht einführen und zu einem neuen Standard machen will. Bisher kann von einer solchen gewohnheitsrechtlichen Änderung des völkerrechtlichen Verteidigungsbegriffs keine Rede sein, selbst wenn USA und NATO sie durch ihre Interventionspraxis durchsetzen wollen. Denn die überwältigende Mehrheit der Staaten ist dagegen, wenn sie diese Praxis auch nicht verhindern kann.

Wirksamer scheint überraschenderweise derzeit eine Kritik zu sein, die aus offensichtlich unerwarteter Richtung kommt: aus der Truppe und von den Gerichten. Die Dienstverweigerung eines Offiziers der Bundeswehr aus Gewissensgründen konnte unlängst nur deswegen die Anerkennung des Bundesverwaltungsgerichts finden, weil die Gründe – die Völkerrechtswidrigkeit des Irak-Krieges – ernsthaft und für den erkennenden Senat nachvollziehbar waren. Das Urteil vom 21. Juni stellt zentral auf „gravierende rechtliche Bedenken im Hinblick auf das Gewaltverbot der UN-Charta und das sonstige geltende Völkerrecht“ ab (Leitsatz 6).14 Insoweit kann man erwarten, dass in Zukunft insbesondere jeder Fall präventiver Verteidigung gegenüber einer Dienstverweigerung aus Gewissensgründen unterlegen sein wird. Eine Perspektive, die nicht nur den Juristen mit Genugtuung erfüllen muss, da Recht auch in diesem sensiblen Bereich der Politik wieder die Bedeutung erhält, die ihm in einer Demokratie zukommt.

Anmerkungen

1) Das strategische Konzept des Bündnisses. Bulletin Nr. 24, 3. Mai 1999, S. 221-231.

2) Military and Paramilitary Activities case, International Law Reports 468/469, para. 268. So auch die heute fast einhellige Meinung in der Völkerrechtswissenschaft, Alfred Verdross, Bruno Simma, Universelles Völkerrecht, Berlin 1984, § 284; Albrecht Randelzhofer, Art. 2 Ziff. 4 Rdnr. 30. In: B. Simma (Hrsg.): Charta der Vereinten Nationen, München 1991, S. 49 ff.; Bruno Simma: NATO, the UN and the use of force: Legal aspects. European Journal of International Law, Vol. 10/1999, S. 1 ff.; Antonio Cassese: Ex iniuria ius oritur: Are we moving towards international legitimation of forcible humanitarian countermeasures in the world community? European Journal of International Law, Vol. 10/1999, S. 24 ff.; Hermann Weber: Rechtsverstoß, Fortentwicklung oder Neuinterpretation? Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9. Juli 1999, S. 8.

3) UK Foreign Office Policy Document No. 148, British Yearbook of International Law 57/1986, S. 614.

4) Vgl. neben den bereits weiter oben angegebenen Autoren O. Schachter: International law in theory and practice, Dordrecht 1991, S. 128; Antonio Cassese: Self-determination of peoples, Cambridge 1995, S. 199 f.; Michael Bothe: VII Rdnr. 19. In: Graf Vitzthum (Hrsg.): Völkerrecht, Berlin 1997; Reinhard Merkel: Das Elend der Beschützten, DIE ZEIT, 12. Mai 1999, S. 10; August Pradetto: Die NATO, humanitäre Intervention und Völkerrecht. Aus Politik und Zeitgeschichte, B 11/99, 12. März 1999, S.26 ff.

5) Vgl. Brad R. Roth: Bending the law, breaking it, or developing it? The United States and the humanitarian use of force in the post-Cold War era. In: Michael Byers, Georg Nolte (Eds.): United States hegemony and the foundations of international law, Cambridge 2003, S. 242.

6) Vgl. Marcello G. Kohen: US use of force after the Cold War. In: Michael Byers, Georg Nolte (Eds.): United States hegemony and the foundations of international law, Cambridge 2003, S. 219.

7) Vgl. Brad R. Roth: a.a.O. (s. Anm. 5), S.250 ff. So auch die Independent International Commission on Kosovo (Goldstone Commission), Kosovo Report 2000.

8) The White House: The National Security Strategy of the United States of America, Sept. 2002, http://www.whitehouse.gov/nsc/nss.pdf, Kap. V, S. 15. Vgl. Dietrich Murswiek: Die amerikanische Präventivstrategie und das Völkerrecht. Neue Juristische Wochenschrift, Heft 14/2003, S. 1014 ff.

9) European Security Strategy, A secure Europe in a better world, Dez. 2003, http://europa.eu.int/geninfo/whatsnew.htm

10) Vgl. Albrecht Randelzhofer, Art. 51 Rdnr. 39. In: Bruno Simma (Ed.): The Charter of the United Nations, Oxford 2002; Antonio Cassese: International law, Oxford 2001, S. 310; Dietrich Murswiek: a.a.O. (s. Anm. 8), Anm. 15; Christine Gray: International law and the use of force, New York 2000; Mary Ellen O’Connell, Re-leashing the dogs of war. The American Journal of International Law, Vol. 97/2003.

11) Yoram Dinstein: War, agression and self-defence, Cambridge 1994, S. 190 ff.; Peter Malanczuk: Akehurst’s Modern introduction to international law, London 1997, S. 312 ff.

12) C. Humphrey M. Waldock: The regulation of the use of force by individual states in international law. Recueil des Cours, Vol. 81 (1952-II), S. 451 ff., 498.

13) Vgl. W. Michael Reisman: International legal responses to terrorism. Houston Journal of International Law, Vol. 22/1999; Armin A. Steinkamm: Der Irak-Krieg – auch völkerrechtlich eine neue Dimension. Unumgängliche Diskussion über das Recht der präventiven Verteidigung. Neue Züricher Zeitung, 16. Mai 2003; Karl Heinz Kamp: Die neue Sicherheitsstrategie der USA und das grundsätzlich andere Verständnis von Völkerrecht. In: Friedrich Ebert Stiftung, Zurück zum Faustrecht? Dokumentation einer Konferenz vom 22. September 2003, S. 49 ff; Karl Heinz Kamp: Die Bedrohung bekämpfen, bevor sie akut wird. Frankfurter Rundschau, 4. Febr. 2004. Vgl. auch die neue außenpolitische Doktrin der CDU, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29. April 2003, S. 2.

14) Bundesverwaltungsgericht, Urteil 2WD 12.04 vom 21. Juni 2005, http://www.bundesverwaltungsgericht.de.

Dr. Norman Paech, Professor em. für Öffentliches Recht an der Hamburger Universität für Wirtschaft und Politik (HWP), seit September 2005 MdB »Die Linke«

Rechtliche Grenzen des Gehorsams

Rechtliche Grenzen des Gehorsams

Auch Soldaten dürfen Befehle verweigern

von Helga Wullweber

Nachdem der Irakkrieg am 20.03.2003 begonnen hatte, verweigerte ein Major der Bundeswehr die Weiterarbeit an einem IT-Projekt, weil er davon ausgehen musste, dass mit diesem Projekt die Beteiligung der Bundeswehr am Irak-Krieg unterstützt werde und seine Vorgesetzten das nicht ausschließen konnten.

Zur Beteiligung Deutschlands stellte das Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) am 21.06.2005 fest (Az.: 2 WD 12.04): Die Vorgesetzten waren vom Verteidigungsministerium darüber informiert worden, dass die Bundesregierung – obgleich sie erklärt hatte, ein militärisches Vorgehen gegen den Irak abzulehnen – den USA und Großbritannien vor Kriegsbeginn Überflugrechte, Nutzung der US-Einrichtungen in Deutschland und Schutz dieser Einrichtungen zugesagt hat. Hieraus resultiere, dass Deutschland »Drehscheibe« für den Einsatz der US-Streitkräfte im Irak ist.

Das BVerwG sprach den Soldaten vom Vorwurf des Dienstvergehens frei. Er habe nicht gegen die ihm nach dem Soldatengesetz obliegende Gehorsamspflicht verstoßen, weil er rational nachvollziehbar sich darauf berufen hat, dass ihn die Ausführung des militärischen Befehls in ernste Gewissensnöte gebracht hätte und ihm deshalb nicht zumutbar war.

Das BVerwG wertete die rechtlichen Bedenken des Soldaten nicht nur als eine ernsthafte und diskussionswürdige Meinung, deren Richtigkeit dahin stehen kann. Das BVerwG prüfte die Rechtslage, um Anhaltspunkte für die rationale Nachprüfbarkeit der Gewissensentscheidung des Soldaten zu erlangen. Verblüffendes Ergebnis ist, dass die verfassungs- und völkerrechtlichen Bedenken des Soldaten gegen die Unterstützungsleistungen Deutschlands für den Irak-Krieg mit den Vorgaben der vom Bundesminister der Verteidigung erlassenen Zentralen Dienstvorschrift (ZDv) 15/2 vom August 1992 übereinstimmen.

Das BVerwG zeigt, dass das Grundrecht der Freiheit des Gewissens (Art. 4 Abs. 1 GG) auch für Soldaten gilt und nicht durch das Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung (Art. Abs. 3 GG) verdrängt wird. Bereits die Grundregelung zur Gehorsamspflicht eines Soldaten im Soldatengesetz (§ 11 Abs. 1 S. 2) beziehe sich auf die Freiheit des Gewissens, indem sie dem Soldaten auferlegt, einen Befehl „gewissenhaft“ auszuführen, also nicht gewissenlos, und fordere einen mitdenkenden und insbesondere die Folgen der Befehlsausführung – gerade im Hinblick auf die Schranken des geltenden Rechts und die ethischen »Grenzmarken« des eigenen Gewissens – bedenkenden Gehorsam.

In dieser Grundregelung zur gewissenhaften, dem Gewissen verhafteten, Befehlsausübung scheint die Geschichte der Bundeswehr auf. Bei der in den Jahren 1955/56 erfolgten Aufstellung der Bundeswehr sei in den Wehrgesetzen ausdrücklich bestimmt worden, dass Soldaten die gleichen staatsbürgerlichen Rechte wie jeder andere Staatsbürger haben und die Soldaten „Staatsbürger in Uniform“ sind (§ 6 Satz 1 SG). Um jede Sonderstellung der Streitkräfte im demokratischen und sozialen Rechtsstaat des Grundgesetzes (Art. 20 Abs. 1 GG) hinsichtlich der Bindung an die Grundrechte (Art. 1 Abs. 3 GG) sowie an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 GG) zu verhindern, sei 1956 Art. 1 Abs. 3 GG dahingehend geändert worden, dass die Grundrechte außer für Gesetzgebung und Rechtssprechung für „die vollziehende Gewalt“, zu der die Streitkräfte zählen, gelten (statt wie vorher für „die Verwaltung“). Die Erteilung eines militärischen Befehls steht deshalb unter dem Vorbehalt seiner Grundrechtskonformität.

Das BVerwG betont, dass Gewissensfreiheit nicht heißt, willkürlich nach eigenem Gesetz zu leben und zu handeln. Die Berufung auf die Gewissensfreiheit, um die Unzumutbarkeit der Befolgung eines Befehls zu begründen, wird als eine von mehreren rechtlichen Grenzen des Gehorsams (neben sechs weiteren rechtlichen Konstellationen) eines Soldaten aufgeführt. Diese rechtlichen Grenzen des soldatischen Gehorsams lassen erkennen, dass ein Soldat nicht vordergründig und leichtfertig Gründe geltend machen kann, will er einen Befehl unter Berufung auf seine Gewissensfreiheit verweigern. Für den Soldaten rechtlich unverbindlich ist u.a. auch ein Befehl, dessen Ausführung die Menschenwürde verletzen würde oder der nicht zu dienstlichen Zwecken, d.h. nicht zur Erfüllung der durch das Grundgesetz (abschließend) festgelegten Aufgaben der Bundeswehr, erteilt worden ist oder dessen Erteilung oder Ausführung als Handlung zu qualifizieren ist, die geeignet ist und in der Absicht vorgenommen wird, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten (Art. 26 Abs.1 Satz 1 GG), oder dessen Erteilung oder Ausführung gegen die »allgemeinen Regeln des Völkerrechts« im Sinne des Art. 25 GG verstößt, zu denen u.a. das völkerrechtliche Gewaltverbot und die grundlegenden Regeln des humanitären Kriegsvölkerrechts gehören.

Als Gewissensentscheidung beschreibt das Bundesverwaltungsgericht jede ernste sittliche, d.h. an den Kategorien von »Gut« und »Böse« orientierte Entscheidung, die der Einzelne in einer bestimmten Lage als für sich bindend und unbedingt innerlich verpflichtend erfährt, so dass er gegen sie nicht ohne ernste Gewissensnot handeln könnte. Da der Gewissensappell »als innere Stimme« des Soldaten nur mittelbar aus entsprechenden Indizien und Signalen, die auf eine Gewissensentscheidung und Gewissensnot hinweisen, und zwar nur über das Medium der Sprache, erschlossen werden könne, prüft das BVerwG, ob eine nach außen tretende, rational mitteilbare und nach dem Kontext intersubjektiv nachvollziehbare Darlegung der Ernsthaftigkeit, Tiefe und Unabdingbarkeit (im Sinne einer absoluten Verbindlichkeit) der Gewissensentscheidung des angeklagten Soldaten positiv festgestellt werden kann.

Das BVerwG befasst sich deshalb mit der Konfliktsituation des Soldaten und stellt fest: Seine Gewissensentscheidung fand in einem Kontext statt, der von, auch für einen zum Waffeneinsatz nach wie vor bereiten Berufssoldaten, besonderen Umständen geprägt war. Hintergrund und Anlass für sein Handeln war der Krieg gegen den Irak, gegen den gravierende rechtliche Bedenken im Hinblick auf das Gewaltverbot der UN-Charta und das sonstige geltende Völkerrecht bestanden und bestehen. Diese Situation habe der Soldat weder vordergründig noch leichtfertig angenommen noch bewusst herbeigeführt.

Sodann zeigt das BVerwG anhand der ZDv 15/02, dass die völkerrechtlichen Bedenken des Soldaten gegen die von der Regierung der Bundesrepublik Deutschland zugesagten Unterstützungsleistungen, die für ihn Veranlassung zur Befehlsverweigerung waren, berechtigt waren und sind. Die Regelungen der ZDv 15/2 beinhalten in Übereinstimmung mit dem völkerrechtlichen Neutralitätsrecht (V. Haager Abkommen vom 18.10.1907, in Deutschland in Kraft seit dem 25.10.1910), dass ein Staat, der an einem bewaffneten Konflikt zwischen anderen Staaten nicht beteiligt ist, den Status eines »neutralen Staates« hat. Das Gebiet eines »neutralen Staates« ist „unverletzlich“; jede Kriegshandlung ist darauf untersagt, insbesondere „Truppen oder Munitions- oder Verpflegungskolonnen durch das Gebiet einer neutralen Macht hindurchzuführen“ oder Nachrichten vermittelnde „Anlagen“ zu nutzen. Gemäß der ZDv 15/2 darf ein »neutraler Staat«, der die Bundesrepublik Deutschland im Hinblick auf den allein von den USA und ihren Verbündeten geführten Krieg gegen den Irak ist, auf seinem Territorium „keine der Konfliktparteien unterstützen“ und keine kriegsunterstützenden Handlungen dulden. Die ZDv 15/02 bestimmt u.a. auch, dass der »neutrale Staat« zum aktiven Tätigwerden und damit zum Einschreiten verpflichtet ist, wenn Neutralitätsverletzungen begangen werden. Die Streitkräfte einer Konfliktpartei, die sich auf dem Gebiet des »neutralen Staates« befinden, sind daran zu hindern, an den Kampfhandlungen teilzunehmen, und zu „internieren“.

Der Position der Bundesregierung, sie sei zu den Unterstützungsleistungen aufgrund der NATO-Verträge (incl. des Aufenthaltsvertrages für die US-Armee) politisch verpflichtet, widerspricht das BVerwG. Von den sich aus dem völkerrechtlichen Neutralitätsrecht ergebenden völkerrechtlichen Verpflichtungen sei Deutschland nicht dadurch freigestellt, dass es Mitglied der NATO ist, der auch die kriegführenden Staaten angehören. Es gebe keine Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland, entgegen der UN-Charta und dem geltenden Völkerrecht völkerrechtswidrige Handlungen von NATO-Partnern zu unterstützen.

Für die Gewissensentscheidung des Soldaten kam es nicht darauf an, dass er die sich aus dem als Verfassungsrecht geltenden Völkerrecht ergebende Rechtslage genau kannte. Der Soldat hatte zum einen vergeblich versucht, mit Hilfe seiner Vorgesetzten Klarheit zu gewinnen, ob er eventuell von fragwürdigen Grundlagen ausging. Zum anderen bedeuten – so das BVerwG – die rechtlichen Bedenken des Soldaten nicht, dass er nur die fehlende Legalität der deutschen Unterstützungsleistungen gerügt hätte: Für den Soldaten stellte vielmehr das geltende Völkerrecht das ethische Minimum dar. Das ist eine bedeutsame Facette der Befehlsverweigerung des Soldaten, weil in Erinnerung gerufen wird, dass UN-Charta und Menschenrechtskonvention keine beliebig veränderbaren Vertragswerke sind, sondern auf »überpositiven« Maßstäben beruhen, deren Kodifizierung wegen der Erfahrungen mit dem Faschismus und nach dem Inferno des 2. Weltkrieges gelang.

Wichtig ist schließlich der Hinweis des BVerwG darauf, dass die militärischen Vorgesetzten auch außerhalb des vom Soldatengesetz vorgeschriebenen staatsbürgerlichen und völkerrechtlichen Unterrichts verpflichtet sind, einem in einem Konfliktfall an der Rechtmäßigkeit eines Befehls zweifelnden Soldaten möglichst vollständig sowohl über die konfliktrelevanten Tatsachen als auch möglichst objektiv über die maßgebliche Rechtslage zu informieren: „Diese Unterrichtung muss sich – grundrechtskonform – daran orientieren, wie ein gegebenenfalls mit der Frage befasstes rechtsstaatliches Gericht die Sache voraussichtlich beurteilen würde.“ Die Vorgesetzten müssen sich also gründlich mit dem Verfassungs- und Völkerrecht befassen, dessen Beachtung ihnen überdies die Zentrale Dienstvorschrift aufgibt.

Im ersten »Mauerschützenurteil« vom 20.1.1992 hat das Landgericht Berlin den DDR-Grenzsoldaten zur Last gelegt, ihr Gewissen nicht „rechtzeitig“ geprüft zu haben. Um Wiederholungen zu verhindern, ist die rechtzeitige Information der Soldaten zu gewährleisten und dürfen Dritte, ob Soldaten oder nicht, nicht belangt werden, wenn sie Soldaten mit rechtlichen Zweifeln an ihrem Tun konfrontieren. Der Staatsbürger in Uniform ist verpflichtet, sich ein Urteil zu bilden über das, was er tut, um sein Gewissen prüfen zu können.

Helga Wullweber, Rechtsanwältin, Fachanwältin für Arbeits- und Sozialrecht in Berlin, ist Vorstandsmitglied der deutschen Sektion der IALANA

Der strukturelle Einschnitt in die Militärpolitik

Der strukturelle Einschnitt in die Militärpolitik

Eine zeithistorische Einordnung der VPR 2003

von Detlef Bald

Peter Struck hat am 21. Mai 2003 neue »Verteidigungspolitische Richtlinien« (VPR) erlassen. Sie wurden mit großem Aufwand angekündigt und haben viel Aufsehen erregt. Mit Blick auf die Geschichte der Bundeswehr haben sie tatsächlich eine größere Bedeutung als manche begleitende Kommentare vermuten ließen. Diese Richtlinien geben der Bundeswehr ihr Profil für die weitere Entwicklung und integrieren sie zugleich in die internationale Ausrichtung der NATO und der EU. Manche Ambivalenzen, Unklarheiten, auch Widersprüche der amtlichen Sicherheitspolitik vergangener Jahre haben sich damit erledigt. Doch damit einher geht auch eine Veränderung der inhaltlichen Qualität des Auftrags der Bundeswehr, wie Detlef Bald an mehren Punkten deutlich macht.

Nach dem Völkerrecht ist jeder Angriffskrieg geächtet, die Staaten sind zum Gewaltverzicht verpflichtet. Ausnahme ist der Fall der Notwehr eines Staates gegenüber einem militärischen Angriff von außen. Nur bei der Verteidigung kommen völkerrechtliche Legalität und ethische Legitimität bekanntlich zusammen.

Grundsatz militärischer Einsätze

Dem entsprechend heißt es im Grundgesetz: „Der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf.“ (Art. 87 a Abs. 1) Der Einsatz der Bundeswehr wird weiter dadurch eingeschränkt, dass er nach dem Grundgesetz »ausdrücklich« zugelassen sein muss. Ganz im Einklang mit der deutschen Verfassung wird im NATO-Vertrag Ziel und Zweck dieses Bündnisses ausschließlich als Verteidigung definiert und geographisch auf das Gebiet der Mitglieder begrenzt. Die Vorgaben des nationalen und internationalen Rechts sind eindeutig.

In den VPR wird noch auf die Geltung des Grundgesetzes Bezug genommen, aber in völligem Kontrast dazu anschließend (Ziffer 5) fortgeführt: „Verteidigung heute umfasst allerdings mehr als die herkömmliche Verteidigung an den Landesgrenzen gegen einen konventionellen Angriff. Sie schließt die Verhütung von Konflikten und Krisen (…) ein.“ Verteidigung lasse sich geographisch nicht mehr eingrenzen, da sie zur Sicherheit beitrage, „wo immer diese gefährdet ist.“ Das ist die Formulierung für das verbreitete Motto von Struck: „Deutschland wird am Hindukusch verteidigt.“

Was ist geschehen, dass im politischen Klima der Gegenwart die eklatante Bagatellisierung, Umgehung oder Missachtung oberster Rechtsnormen möglich ist, ohne dass vehementer Protest erfolgt?

Nun, Struck selbst gibt dafür eine pragmatische Erklärung; er übernehme diese großzügige Interpretation zum auswärtigen Einsatz militärischer Mittel „entsprechend dem weiten Verständnis von Verteidigung, das sich in den letzten Jahren herausgebildet hat.“ (Ziffer 4) Ein politischer Usus genügt, um eine Norm der Verfassung beiseite zu schieben. Aber so ist es tatsächlich. Ein paar Hinweise auf den Wandel des Sprachgebrauchs mögen genügen. Im Juli 1990 hatte die NATO in London die neue Richtung vorgegeben; von nun an sei sie ein „politisches Bündnis“, die „treibende Kraft für den Wandel in Europa“. Was dies bedeutetet, findet sich in dem viel zu wenig beachteten »Neuen Strategischen Konzept« der NATO vom November 1991. Dort werden Stabilität und Frieden in Nordafrika und im Nahen Osten als „wichtig für die Sicherheit des Bündnisses“ bezeichnet und »Out-of-Area-Einsätze« angekündigt.

Zur gleichen Zeit gaben Admiral Dieter Wellershoff und General Klaus Naumann die neue Marschrichtung für die Bundeswehr vor. Sie führten den »erweiterten Sicherheitsbegriff« hinsichtlich der „Konfliktpotentiale auf dem Balkan“ und der Krisen in der Welt ein, die nicht mehr zuließen, „den Blick auf Europa zu verengen“; Wellershoff erfand im Jahr 1991 die zivilistisch klingende Parole für militärische Einsätze im Ausland: „Schützen, helfen, retten!“ Aber die Kehrseite dieser Medaille wurde offenbar, als zum gleichen Zeitpunkt der konkrete Maßstab intern – im veränderten Ziel der Ausbildung für die Offiziere – verkündet wurde: „Der Krieg ist der Ernstfall!“

Kanzler Helmut Kohl griff das Angebot von Präsident George Bush sen. auf, an der »partnership in leadership« einer neuen Weltordnung teilzuhaben und reagierte mit dem Wort von der „größeren Verantwortung in der Völkergemeinschaft“. Damit begann die neue formative Phase der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik.

Nur gut ein Jahr nach der Vereinigung finden sich die Konsequenzen in den VPR von Gerhard Stoltenberg. Er legte das Fundament für die Bundeswehr in dem Dokument mit dem umständlichen Titel: Militärpolitische und militärstrategische Grundlagen und konzeptionelle Grundrichtung der Neugestaltung der Bundeswehr (22. Jan. 1992). Sie läuteten die neue Machtpolitik der Berliner Republik ein. Dort benannte die Politik »vitale Interessen« an die wirtschaftliche und internationale »Stabilität«. Noch vage wurde als »Herausforderung« an die deutsche Sicherheitspolitik festgestellt: „Die Förderung und Absicherung weltweiter politischer, wirtschaftlicher, militärischer und ökologischer Stabilität; die Aufrechterhaltung des freien Welthandels und des Zugangs zu strategischen Rohstoffen.“ Man war so kühn, eine „gerechte Weltwirtschaftsordnung“ einzufordern, allerdings unter dem Aspekt, den „ungehinderten Zugang zu Märkten und Rohstoffen in aller Welt“ für Deutschland zu sichern. Erstmals wurde ein Zusammenhang zwischen ökonomischer Prosperität und Sicherheit hergestellt, in dem militärische Mittel als Faktoren für ungehinderte Lieferung von Rohstoffen benannt wurden. Zweifel an vitalen Interessen Deutschlands und der Begründung militärischer Interventionen ließen diese VPR eigentlich nicht aufkommen.

Der »Umbau« der Bundeswehr konnte nach diesem Rahmenplan erfolgen. Das war die radikalste Wende seit dem Gründungskonzept der fünfziger Jahre. Denn die Bundeswehr war für derartige Aufgaben überhaupt nicht befähigt, sie war dafür nicht ausgebildet, ausgerüstet und ausgerichtet. Deshalb beschloss das Kabinett im Februar 1992 langfristige Planungen für eine vollständige »Restrukturierung« der Bundeswehr. Im Sinne des politisch-militärischen Ansatzes war man sich der Radikalität des Unterfangens bewusst. Nicht zufällig lautete bezeichnender Weise das Ziel »Streitkräfte 2010«. Volker Rühe brachte es auf den Punkt: „Was früher Bedrohung war, heißt heute Instabilität.“ (Rühe 1993)

Wie zu Beginn der fünfziger Jahre Konrad Adenauer die (bedingte Souveränität der) Bonner Republik mit militärischer Macht begründete, so handelte Helmut Kohl zu Beginn der neunziger Jahre gleichermaßen mit Blick auf die (im Zeichen der vollen Souveränität begriffene) Macht der Berliner Republik. Damals war die Doktrin der Bedrohung aus dem Osten genutzt worden, um die Aufstellung von Streitkräften glaubwürdig zu begründen; nun galt es, internationale Risiken und Instabilitäten als ursächliche Voraussetzung für den Umbau der Bundeswehr zu nutzen. Dieses politische Konzept wurde mit dem Fall der Mauer in Washington entworfen und in kürzester Zeit in Bonn rezipiert.

Bekannt wurde der Wandel durch eine Untersuchung der RAND Corporation, ob die deutschen Eliten die Umwandlung der NATO mit tragen würden. Das Ergebnis war signifikant. Hier einige Daten zur militärischen Elite: Die Generalität der Bundeswehr war 1994 zu 99 Prozent zu humanitären Einsätzen in Krisenregionen bereit und zu 80 Prozent zu Zwangsmaßnahmen sogar gegen den Willen der Konfliktpartner. Das Fazit für alle: „Die deutsche Führungselite hat anscheinend gleich mehrere wichtige Schritte unternommen, um die (…) »Kultur der Zurückhaltung« abzulegen und die überholte Beschränkung als reine Zivilmacht aufzugeben.“ Nun konnten die Amerikaner beruhigt werden, da man den Deutschen attestierte, auf dem Weg „zu einem »normalen« Akteur in Europa“ zu sein.

Struck hat Recht, wenn er in seinen VPR betont, er folge nur dem in den letzten Jahren entwickelten Begriff der Doktrin zu Sicherheit und Verteidigung. Nur so ist zu begreifen, dass Politik, Regierung und Parlament sowie die Öffentlichkeit durchgehen ließen, dass (1.) die Vorgaben des Grundgesetzes und (2.) des Völkerrechts so erweitert verstanden werden, dass die angesprochene Gültigkeit heute nahezu obsolet sind. Diese Aussage gilt unabhängig von dem in den VPR eingefügten Satz: „Grundgesetz und Völkerrecht bilden die Grundlage für alle Einsätze der Bundeswehr.“ (Ziffer 37)

In diesem Zusammenhang ist (3.) eine weitere völkerrechtliche Differenzierung der VPR zu erkennen. Zunächst findet sich pauschal die Äußerung, oberste Legitimierung für Interventionen gewähren UNO und NATO, sogar mit internationaler Einbindung: „Bewaffnete Einsätze der Bundeswehr (…) werden gemeinsam mit Verbündeten und Partnern“ im Rahmen von UNO und NATO stattfinden – doch dann erfolgt die entscheidende Gewichtung. Die UNO hat ihre Aufgaben bei der „Bewältigung der Herausforderungen des 21. Jahrhunderts“ durch Friedensmissionen mit klassischen Blauhelm-Missionen, die darüber hinaus von „Konfliktverhütung durch politische Aktivitäten und vorbeugende Truppenstationierung bis hin zum Einsatz bewaffneter Kräfte zur Eindämmung von Konflikten und zur Stabilisierung innerstaatlicher Konflikte“ (Ziffer 44) reichen. Diese Einsätze sind auf das Ziel „friedlicher Lebensbedingungen“ gerichtet.

Und zur NATO das Novum im offiziellen Auftrag: Das Bündnis kann autonom Einsätze durchführen und die Bundeswehr ohne eine weitere Legitimierung seitens der UNO oder der OECD einbinden (die Bedingung des Bundesverfassungsgerichts, falls es sich zum System kollektiver Sicherheit erklärt, wird nicht reflektiert). Die NATO rangiert im Unterschied zu früher mit neuer politischer Wertigkeit an Legalität und Legitimität, zuständig für „Krisen und Konflikte, Bedrohungen und deren Ursachen im erweiterten geographischen Umfeld“. Das sind die »Anforderungen«, auf die die Bundeswehr kollektiv reagieren wird, wie es vollmundig heißt: „aus welcher Richtung sie auch kommen mögen.“ (Ziffer 47) Was schon auf der Tagung der NATO im Dezember 1989 gefordert wurde, steht heute als integraler Bestandteil des Auftrags der Bundeswehr fest: Einsätze »out of area« in alleiniger Kompetenz des NATO-Rates.

Schließlich ist (4.) klar, dass innerhalb der deutschen Exekutive (Verteidigungsministerium), der parlamentarischen Gremien und des Militärs seit Ende 1989 die Transformation des Sicherheitsbegriffs erfolgte, der schon im Winter 1991/92 bereits seine Konturen zeigte. Konsequent hat die Politik mit langem Atem den damaligen außen- und sicherheitspolitischen Entwurf umgesetzt und präzisiert. Nahtlos, wenn auch etappenweise und mit gewisser Zeitverzögerung, griffen die Deutschen die entsprechenden amerikanischen Impulse innerhalb der NATO auf. Bezeichnend ist, dass formal keine echten rechtlich relevanten Fixierungen – also die Änderung des Grundgesetzes und die Reformulierung des NATO-Vertrages – vorgenommen wurden. Stattdessen wurde die Transformation Stück für Stück und möglichst »unauffällig« durch Deklarationen, Gremienbeschlüsse und Erklärungen auf der Ebene der Exekutive, von Politik und Verwaltung herbeigeführt. Die VPR von Struck vom Jahr 2003 stehen voll in der Tradition der »Grundlagen« des Januars 1992.

Neue Wagnisse der erweiterten Sicherheit

Die VPR des Jahres 2003 bieten in zwei großen Bereichen Perspektiven einer Entwicklung, die für Deutschland Neuland bedeuten. Das erste Beispiel: Die VPR reflektieren die europäische Integration: Mit der Europäisierung der Sicherheitspolitik steht auch eine andere strukturelle Einbindung der Bundeswehr an. Seit der Präsidentschaft von John F. Kennedy vor 40 Jahren ist zwar akzeptiert, dass die NATO eine zweite, eine europäische Säule, benötigt. Doch eine solche organisatorische Sonderformation eines europäischen Militärs wurde von den USA allein unter ihrem Oberkommando gedacht. Wann immer in der folgenden Zeit europäische Initiativen ventiliert wurden, fanden sie prinzipiell Widerstand, wenn sie diese Bedingung nicht erfüllten. So war die NATO seit 1949/1954 strukturiert – und daran sollte sich aus der Sicht Washingtons auch nichts ändern.

Die Wurzeln zur Ausprägung von Komponenten zur Sicherheit in der Europäischen Union sind alt. In dem Gründungsdokument zur EPZ, der »Europäischen Politischen Zusammenarbeit« vom Dezember 1973 findet sich u.a. das Ziel, „die Sicherheit eines jeden einzelnen (Staates) besser“ zu gewährleisten. Einen ganz entscheidenden Anstoß gab es in Maastricht 1991 – nach dem Zusammenbruch des Ostblocks – mit der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP), wo es um Ziele ging wie „Frieden, Sicherheit und Fortschritt in Europa“, aber auch „in der Welt zu fördern.“ Damals hieß es, man wolle „auf längere Sicht“ auch eine gemeinsame Verteidigungspolitik festlegen.

Die Entwicklung seit der Zerstörung der Hochhäuser in New York und von Teilen des Pentagon, also seit »11/9« hat auch die EU aktiviert; nicht zu vernachlässigen sind die Kriege in Afghanistan und vor allem der Golfkrieg II gegen den Irak. Die aktuellen Rivalitäten und Komplikationen mit den USA haben mancherlei Impulse für Aufbau und Entwicklung europäischer Militärstrukturen gegeben. Zur Klärung der Vorstellung von einer »Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik« (ESVP) wurde vom Rat der EU 2001 festgestellt, die EU habe die Rolle einer Macht, „die jeder Form von Gewalt, Terror und Fanatismus entschlossen den Kampf ansagt.“ Das klingt beinah wie aus amerikanischer Feder, zugleich aber wurde erklärt, man sei bestrebt, die sozialen Verhältnisse in der Welt gerecht und solidarisch zu ändern. Das steht noch für das lange Zeit hoch gehaltene Ideal von Europa als Zivilmacht. Bislang hat die EU keine ausformulierte Strategie, doch hat der EU-Rat in Thessaloniki im Juni 2003 Javier Solanas Äußerung akzeptiert, nach der die EU ein globaler Akteur ist, „sie sollte daher bereit sein, einen Teil der Verantwortung für die globale Sicherheit zu tragen.“ Solana nannte als vorrangigen Ziele:

  • Stabilität in Europas Nahbarschaft – vom Kaukasus bis Nordafrika,
  • eine effektive, multilaterale und funktionierende Weltordnung und
  • die Bewältigung der »alten« und neuen Risiken.

Vollkommen unklar blieb dabei, welchen Stellenwert im einzelnen militärische Interventionen haben können.

Die hier angedeutete Ambivalenz wird auch in den VPR von Struck deutlich. Bemerkenswert ist, dass Berlin sein hohes Interesse an europäischen militärischen Potentialen dokumentiert und betont, „in den vergangenen Jahren“ bei den Beschlüssen zur Ausgestaltung dieser EU-Politik „eine Schlüsselrolle“ (Ziffer 51) gespielt zu haben. Mit deutlichen Worten wird bekannt, „unabdingbar“ sei für die Glaubwürdigkeit und Durchsetzungsfähigkeit der EU, in allen Politikbereichen „handlungsfähig“ zu sein: „Krisen, die Europa berühren, muss die EU in einer breiten Palette ziviler und militärischer Fähigkeiten begegnen können.“ Das Ziel wird in einer „schnellen militärischen Reaktionsfähigkeit“ (Ziffer 53) gesehen.

Was die ESVP tatsächlich bedeuten wird, liegt weitgehend im Dunkel der zukünftigen Entwicklung. Sicherlich ist sie mehr als nur eine offene Option. Gerade die Unkalkulierbarkeit eines amerikanischen Unilateralismus hat in diesen Jahren deutlich gemacht, wie sehr Differenzen und (Teil-)Identitäten über den Atlantik hinweg europäische Interessen bewusst werden ließen. Der in Gang gekommene Prozess hat Auswirkungen. Nach meiner Einschätzung wird die Bindung des Auftrags der Bundeswehr an die EU bereits mittelfristig beträchtliche Konsequenzen haben.

Ein zweiter Bereich künftiger militärischer Aufgaben ist im Einzelnen überhaupt nicht eindeutig einzuordnen, aber zumindest so gravierend wie das Problem der europäischen Einsätze: Der Einsatz der Bundeswehr im Innern. Nach den Notstandsgesetzen von 1968/69 ist die Bundeswehr nur die ultima ratio bei äußerster Bedrohung des sozialen Friedens, also im Falle des »inneren Notstandes«, d.h. bei Naturkatastrophen und bei bewaffneten Unruhen. Artikel 87a Abs. 4 GG gewährt in Verbindung mit Artikel 91 die Zuständigkeit des Bundes zur „Bekämpfung organisierter und militärisch bewaffneter Aufständischer.“ Die Formulierung dieser Artikel und das Konzept des Grundgesetzes wollen die strikte Trennung militärischer und polizeilicher Gewalt mit ihren je unterschiedlichen Aufgaben und Einsatzdoktrinen. Darüber hinaus und dafür wurde mit dem BGS ein Polizeitruppe des Bundes errichtet, die auf Fragen der inneren Ordnung und des sozialen Friedens spezialisiert ist, wenn die Polizei der Länder überfordert ist.

Diese Regelung hat ihre historischen Erfahrungen, da es nach 1815, 1848, 1871 und 1918 üblich war, unter der Devise: „Gegen Demokraten helfen nur Soldaten“ Militär für Einsätze gegen die eigene Bevölkerung zu impfen. Berüchtigt sind die Worte Kaiser Wilhelms von 1891: „Bei den jetzigen sozialistischen Umtrieben kann es vorkommen, dass ich Euch befehle, Eure eigenen Verwandten, Brüder, ja Eltern niederzuschießen – was ja Gott verhüten möge – aber auch dann müsst Ihr Meine Befehle ohne Murren befolgen.“ Weitere Beispiele: Noske setzte die Reichswehr zu Zehntausenden in Berlin, Bremen und München ein. Heinrich Himmler koordinierte als »Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei« den besonderen gemeinsamen ideologischen Einsatz.

In der aktuellen Entwicklung des Jahres 2003 vernahm daher im Januar die deutsche Öffentlichkeit mit Erstaunen, dass Edmund Stoiber und Wolfgang Schäuble die Forderung nach Änderung des Grundgesetzes erhoben, um die Bundeswehr im Innern u.a. gegen terroristische Bedrohungen einsetzen zu können (FAZ 30. 1.; 1. 2.). Beide bildeten die Speerspitze einer Lobby, die – zur Zeit der Fertigstellung der VPR – eine Ausweitung der Aufgaben der Bundeswehr anstrebte. Sie hatten Erfolg.

Erstmals erhält das Militär in den VPR den Auftrag, sich auf Einsätze im Innern vorzubereiten: „Zum Schutz Deutschlands und seiner Bürgerinnen und Bürger leistet die Bundeswehr künftig einen bedeutenden, zahlreiche neue Teilaufgaben umfassenden und damit deutlich veränderten Beitrag im Rahmen einer nationalen Sicherheitskonzeption.“ (Ziffer 80) Die zahlreichen Aufgaben sind nicht enumerativ fest gehalten sondern pauschal unter Schutz der „Bevölkerung“ und der „lebenswichtigen Infrastruktur des Landes“ vor Terrorismus und „asymmetrischen Bedrohungen“ subsumiert. Die Einsatzoptionen gelten „immer dann“, wenn „nur“ die Bundeswehr über die „erforderlichen Fähigkeiten“ verfügt.

Das ist die neue Lage gemäß dem Erlass von Minister Struck. Doch, um es klarzustellen, er steht mit diesen Formulierungen nicht in der Tradition von Noske, gleichwohl hat er in historischer Perspektive den qualitativen Punkt gemacht, ein Tabu außer Kraft zu setzen und den Einsatz von Militär im Innern in den Auftrag der Bundeswehr aufzunehmen. Welche dienstrechtlichen Konsequenzen sich daran fügen, welche spezielle Ausbildung und Bewaffnung damit verbunden ist oder welche gesellschaftlichen, politischen oder ökonomischen Fälle konkret gemeint sind, wird mit diffusen Worten offen gehalten. Was beispielsweise bedeuten asymmetrische Bedrohungen in diesem Lande, stammt der Begriff doch aus dem Bedrohungsszenario internationaler Konflikte mit militärischen Interventionen. Oder geistert im Hintergrund die neueste Version des Begriffs vom totalen Krieg herum? Jedenfalls ist deutlich, dass in diesen Passagen der VPR der Minister für manche undefinierte und pauschalisierende Formulierungen die politische Verantwortung übernommen hat.

Doch es sollte hier noch eine Anmerkung zu den neunziger Jahren angebracht werden. Im Jahr 1993 wandte sich Schäuble, damals Fraktionsvorsitzender der Unionsparteien im Bundestag in einem Brief an die Abgeordneten. Er trat für den Einsatz der Bundeswehr im Innern ein gegen die neuen Bedrohungen im Zeitalter „weltweiter Wanderungsbewegungen und internationalem Terrorismus“. Da die Grenzen zwischen innerer und äußerer Sicherheit zunehmend „verwischen“ würden, sprach er sich für die Aufhebung der „perfektionistischen Beschränkungen“ des Grundgesetzes aus . (FR 22. 12. 1993)

Das Grundgesetz wurde 2003 nicht verändert, die Exekutive nutzt mit den VPR das Mittel eines Erlasses.

Auswirkungen der Änderung des militärischen Auftrags

Die VPR des Jahres 2003 haben einen hohen historischen Stellenwert. Mehrere Aussagen sind für die Einordnung erforderlich. Als Erstes ist anzumerken, dass sie mit der alten Bundeswehr Schluss machen. Im Sommer 2000 hatte Minister Rudolf Scharping seine perspektivische Planung der Bundeswehr mit dem Titel vorgelegt: Die Bundeswehr sicher ins 21. Jahrhundert. Eckpfeiler für eine Erneuerung von Grund auf. Unabhängig vom Wortlaut dieses Titels sollte eine Reform von Grund auf verhindert werden, wie sie in dem umfassend angelegten Projekt der Weizsäcker-Kommission angestrebt worden war. Im Gegensatz dazu beschwor Scharping den Primat der alten Form der Landesverteidigung, „in erster Linie“ sollten sie und die „Kollektive Verteidigung“ (Ziffer 20) Umfang und Struktur der Streitkräfte bestimmen. Damit wurde den restaurativen Kräften im Heer freie Hand gegeben, an einem Militärkonzept der massenhaft organisierten Verteidigung mit Panzereinsatz gen Osten festzuhalten. So hatte die Doktrin der fünfziger Jahre mit Russland als Feindbild hintergründig bis in die Gegenwart Bedeutung. Mit diesem anachronistischen Bild hat Struck aufgeräumt, als er die Grenze zog: „Die herkömmliche Landesverteidigung (…) entspricht nicht mehr den aktuellen sicherheitspolitischen Erfordernissen.“ (Ziffer 12) Die Auswirkungen dieses Satzes sind gravierender als ein militärischer Laie vermutet – im Selbstverständnis des Militärs ist das ein Bruch mit vielen Traditionen, ein radikaler Einschnitt.

Zweitens ergeben sich Fragen nach der Rationalität und Effektivität des Militärs, das die VPR als Bild entwerfen, dem die zukünftige Entwicklung verpflichtet ist. Bis auf zahlenmäßig geringfügige Einheiten verkörpert die alte Bundeswehr bis in die Gegenwart und die nahe Zukunft den klassischen Typ des modernen Militärs der Vergangenheit, entwickelt im Kontext der Industrialisierung des frühen 20. Jahrhunderts. Die ökonomische Revolutionierung der modernen Kommunikation (die drei Cs: Command, Control, Communication, zunächst in der Mondlandung erprobt) und Rüstungsproduktion hat hingegen seit den achtziger Jahren einen anderen Typ des Militärs der Moderne entwickelt und hervorgebracht. Er wurde in Teilen in der Praxis – Golfkrieg I – getestet und entspricht einem anderen Typ militärischer Auseinandersetzungen. Er verlangt neue Einsatzdoktrinen, Ausbildungskonzepte und Rüstungsstrukturen. Bezogen auf diese säkulare Entwicklung hat Struck grundsätzlich die Zeichen der Zeit erkannt und die Richtung der Modernisierung für die Bundeswehr eingeschlagen (Unabhängig von dem Vorwurf, mit Rücksicht auf die Traditionalisten im Heer, die für die Wehrpflicht plädieren, manche Konsequenzen nur halbherzig vorgegeben zu haben).

Drittens bedingt diese Entscheidung – gewissermaßen die Kehrseite dieser Medaille – eine Erweiterung der politischen Optionen für die Bundesrepublik: die Verheißung der Teilhabe an einer globalen Machtausübung mit militärischen Mitteln oder der (latenten) Androhung mit dem Einsatz von Militär – mit der Reichweite von humanitären Zielen bis hin zur Bestimmung der internationalen Ordnung. Dafür, das wurde bereits betont, war es erforderlich, die öffentliche Wahrnehmung der Legalität zu verändern und Akzeptanz für militärische Einsätze im Ausland herzustellen. Eine der Voraussetzungen war das veränderte Verständnis der einschlägigen Bestimmungen des Grundgesetzes, das anders definiert wurde als es ein halbes Jahrhundert lang üblich war. Ähnlich erging es der völkerrechtlichen Bindung durch die UN-Charta und durch den NATO-Vertrag. So begründet sich der Einsatz der Bundeswehr im Innern wie »out of area« ganz wesentlich aufgrund einer veränderten Perzeption rechtlicher Bindungen.

Viertens ergibt sich für die zeithistorische Einordnung der sicherheitspolitischen Konzeption eine Erkenntnis über das politische System der Bundesrepublik. Die Verführung durch die Macht der neuen Weltordnung, von Bush sen. der westlichen Welt offeriert, zeitigte ihre größten Erfolge auf dem sicherheitspolitischen Feld. Wichtige machtpolitische Elemente haben sich ganz unabhängig von aktuellen Querelen zwischen Berlin und Washington durchgesetzt. Nur eine Generation hat es gedauert, bis das politische Konzept militärischer Interventionen in der Bundesrepublik Anerkennung gefunden hat. Der konzeptionelle Ansatz der Regierung Kohl von 1991/92 hat bei der Regierung Schröder offensichtlich Pate gestanden. Verblüffend ist, dass die VPR des Jahres 2003 von der Gruppe der politischen Elite in die Tat umgesetzt wurde, die zu Beginn der neunziger Jahre in kritischer Opposition dazu stand und vehement Alternativen in einer europäischen Friedensordnung (Egon Bahr) ohne diese militärische Ausstattung gesucht hatte.

Ein fünfte Anmerkung ist erforderlich. Diese Entwicklung wird gerne als Militarisierung der deutschen und europäischen Außenpolitik bezeichnet. Zweifelsohne sind Teile der deutschen Öffentlichkeit überrascht, wie leicht heutzutage über den Einsatz von Militär gesprochen wird. Insofern hat das alte Europa wichtige Aspekte des ursprünglich kultivierten Ideals einer Zivilmacht aufgegeben. Militär und das Denken in militärischen Kategorien wurden tatsächlich »normal«, insofern alltäglich. Doch sollte man nicht meinen, zu Zeiten der »Kultur der Zurückhaltung« im »Kalten Krieg« habe es nicht heftige Anteile militaristischen Denkens in der Außen- und Innenpolitik gegeben. Zurückhaltung bestand allein gegenüber autonomen Einsätzen im Ausland außerhalb des Bündnisgebietes. Was vorzufinden ist, kann als Verschiebung der machtpolitischen Akzente gesehen werden. Auffällig wird dieses Phänomen dadurch, dass bislang militärisch kaum berührte Bereiche mittlerweile mit Macht und dem Einsatz oder der Drohung mit Militär definiert werden. Es handelt sich um neue Formen und Inhalte einer außenpolitischen Militarisierung.

Schlussendlich muss noch bedauert werden, dass es den aktiven Kräften in den Friedenswissenschaften nicht gelungen ist, einer wichtigen politischen Kategorie, nämlich der Stärkung des Rechts in der Praxis der Politik, in dieser Zeit mehr Geltung zu verschaffen. Frieden zwischen den Staaten zu erhalten oder zu schaffen gebietet, nach verbindlichen rechtlichen Regeln vorzugehen. Die VPR verweisen auf derartige Defizite.

Es bleibt nur der alte, von Einstein genannte Ausweg: Im Sinne eines gerechten Friedens eine neue Denkungsart in der Politik zu wagen.

Literaturhinweise:

Hans Arnold (Hg.): Sicherheit für das größere Europa. Politische Optionen im globalen Spannungsfeld, Bonn 2002.

Detlef Bald: Hiroshima, 6. August 1945. Die nukleare Bedrohung, München 1999.

Gert Krell: Arroganz der Macht, Arroganz der Ohmacht – Der Irak, die Weltordnungspolitik der USA und die transnationalen Beziehungen, HSFK-Report, 1/2003.

Dieter S. Lutz (Hg.): Friede in der Bewährung. Beiträge zur Diskussion des Friedens als Ernstfall, Baden-Baden 2002.

Dr. Detlef Bald war Wissenschaftlicher Direktor am Sozialwissenschaftlichen Institut der Bundeswehr, er arbeitet jetzt als freier Autor.

Die Bundeswehr ist keine Polizei

Die Bundeswehr ist keine Polizei

von Helmuth Prieß

Seit Jahren taucht aus dem konservativen Lager immer wieder der Vorschlag auf, die Bundeswehr auch im Inneren einzusetzen; z.B. zur Abwehr illegaler Einwanderer an den Landesgrenzen oder – seit den Anschlägen vom 11. September 2001 – zur Bekämpfung des Terrorismus.

Diesem Vorschlag steht unsere Verfassung entgegen. Danach stellt der Bund Streitkräfte zur Verteidigung auf. Seit der verfassungsändernden Auslegung des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Juli 1994 bedeutet das nicht nur Landesverteidigung, sondern auch Schutz deutscher Interessen weltweit – bisher nur, wenn dem Einsatz ein UN-Beschluss vorausgegangen ist und wenn der Deutsche Bundestag zugestimmt hat.

Die Sicherung der deutschen Grenzen gegen Schmuggel und illegale Grenzübertritte, d.h. auch zur Verhinderung illegaler Einwanderung, ist Aufgabe von Polizei und Bundesgrenzschutz; ebenso die Gefahrenabwehr im Inneren, also der Kampf gegen den Terrorismus. Das ist auch richtig so, denn die Soldaten der Bundeswehr sind zur Abwehr von Terrorakten im Inneren ebenso ungeeignet wie zur weltweiten Terrorbekämpfung. Der verdeckte Kampf von Terroristen unterläuft – wie das tägliche Geschehen zeigt – die offene Kampfführung militärischer Einheiten.

Für das Aufspüren von Terroristen – auch das belegen die regelmäßigen Erfolgsmeldungen – sind allein nationale und internationale Polizei sowie Geheimdienste geeignet. Deren technische und gegebenenfalls personelle Möglichkeiten müssen ausgebaut werden und die Zusammenarbeit der Dienste innerhalb der Staaten und zwischen ihnen ist zu verbessern. Dass das einer angemessenen parlamentarischen Kontrolle bedarf, ist für mich selbstverständlich.

Wir dürfen auch nicht übersehen, dass der Einsatz von Militär oft dazu beiträgt, terroristische Aktivitäten zu verstärken. Der israelisch-palästinensische Konflikt und die fortlaufende Kette terroristischer Angriffe, wie z.B. in Afghanistan und dem Irak, beweisen dies deutlich. Hinzu kommt, dass die Forderung nach Militär zur Terrorismusbekämpfung im Inneren von dringend erforderlichen zivilen Schutzmaßnahmen bei Atomkraftwerken, Chemieanlagen, Wasserwerken usw. ablenkt.

Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass es auch bei größten Anstrengungen keine absolute Sicherheit geben wird! Unsere dicht besiedelte und hochtechnisierte Welt bleibt gegen Terroranschläge verwundbar!

Auch der im »rot-grünen« Entwurf des Flugsicherheitsgesetzes vorgesehene Einsatz von Kampfflugzeugen gegen Attentate mit gekaperten (Passagier-) Flugzeugen ist im Ernstfall wirkungslos. Falls es Terroristen gelingt, sich Passagiermaschinen zu bemächtigen, werden sie ohne »Sightseeing-Umwege« vom Frankfurter Flughafen direkt in die Frankfurter Bankhochhäuser, vom Düsseldorfer Flughafen direkt ins Mannesmann-Hochhaus oder von Berlin-Tegel direkt ins Sony-Center fliegen. Die Katastrophe wäre eingetreten, bevor die bereitgehaltenen Kampfjets in der Luft sind!

Wirksame Hilfe gegen Terroranschläge bieten nur vorbeugende politische, ökonomische, polizeiliche und technische Schutzmaßnahmen.

Um den Terrorismus in unserem Land und weltweit schrittweise abzubauen, brauchen wir Maßnahmen des politischen Ausgleichs, den Dialogs zwischen allen Religionen und ethnischen Gruppen und die weitestmögliche Herstellung von innerstaatlicher wie weltweiter sozialer Gerechtigkeit. Der größte Nährboden des Terrorismus ist die total ungerechte Verteilung von Chancen zur Lebensgestaltung. Hunger und Elend, Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit und Hass bieten den Scharfmachern die Basis, um »Menschen ohne Lebensperspektive« für den geplanten Terrortod zu rekrutieren.

Der Ruf nach Militär zur Terrorabwehr trifft aber nicht nur ins Leere – er ist auch kontraproduktiv, denn (falls man ihm folgt) bindet er viel Geld und Arbeitskraft, die sinnvoller eingesetzt werden kann, er lenkt nicht nur ab, er behindert die Diskussion um tatsächlich notwendige Maßnahmen zum Kampf gegen den Terrorismus.

Die Debatte um den Einsatz der Bundeswehr im Inneren hat auch noch eine andere Dimension, die wir nicht übersehen dürfen: Hier könnte unter Umständen ein Tor geöffnet werden für einen missbräuchlichen – den politischen – Einsatz der Bundeswehr im Inneren. Das Grundgesetz hat die Lehren aus der Weimarer Republik gezogen, als es auch deshalb diesen Einsatz untersagte.

Helmuth Prieß, Oberstleutnant a.D., ist Sprecher des »Arbeitskreises Darmstädter Signal« – eines friedenspolitischen Zusammenschlusses aktiver und ehemaliger Bundeswehroffiziere und Unteroffiziere. Er ist Träger des Gustav-Heinemann-Bürgerpreises und der Clara-Immerwahr-Auszeichnung der IPPNW.

Weltweit im Einsatz

Weltweit im Einsatz

von Jürgen Nieth

Weltweit im Einsatz

Verteidigungsminister Struck will die Bundeswehr so umstrukturieren, dass sie bis zu 35.000 Soldatinnen und Soldaten jederzeit an jedem Ort einsetzen kann. Gegenwärtig sind fast 8.000 Bundeswehrangehörige außerhalb des NATO-Gebietes stationiert: 3.581 bei der NATO-Truppe Kfor im Kosovo, 1.375 bei der NATO-Truppe in Bosnien-Herzegowina, 45 im Rahmen der EU-Operation »Concordia« und 11 im NATO-Hauptquartier in Mazedonien, 1.867 in Afghanistan, 200 im Rahmen der UN-Operation Isaf in Usbekistan, 11 als UN-Beobachter in Georgien, 303 im »Anti-Terror-Einsatz« in Dschibuti, Kenia, Kuwait und am Horn von Afrika, 404 zur Sicherung des Schiffsverkehrs im Mittelmeer.

Die geplante starke Ausdehnung der Bundeswehr-Auslandseinsätze erfordert eine neue Bundeswehrstruktur, für die der Generalinspekteur der Bundeswehr, Wolfgang Schneiderhahn, bis zum Jahresende Vorschläge vorlegen soll. In diesen Zusammenhang setzte Verteidigungsminister Struck als Zielgröße für die Bundeswehr 250.000 bis 280.000 fest, gleichzeitig wandte er sich gegen eine Abschaffung der Wehrpflicht. (Spiegel, 1.12.03)

Wehrpflichtige im Auslandseinsatz?

Der Vorschlag von Verteidigungsminister Struck, dass Auslandseinsätze auch schon während des neunmonatigen Grundwehrdienstes auf freiwilliger Basis möglich sein sollen, ist innerhalb der Koalition auf heftige Kritik gestoßen. Die Grünen-Vorsitzende, Angelika Beer, bezeichnete es als unverantwortlich, „Jugendliche, die nicht ausreichend ausgebildet sind“, im Ausland einzusetzen. (FR 18.11.03) Der Arbeitskreis Darmstädter Signal – ein Zusammenschluss aktiver und ehemaliger Offiziere der Bundeswehr – hält Auslandeinsätze von Wehrpflichtigen für verfassungswidrig. „Es ist unverantwortlich, junge, in ca. 6 Monaten Grund- und Spezialausbildung nur lückenhaft ausgebildete Wehrpflichtige im Ausland einzusetzen … Mit dem leben junger, unzureichend ausgebildeter Männer (darf) nicht gespielt werden.“ (Pressedienst ak-ds, 26.11.03)

Kabul, Kundus, ganz Afghanistan?

Der Einsatz der Bundeswehr in der nordafghanischen Region Kundus ist nach „Angaben der Bundesregierung ein »Pilotprojekt«. Wenn es erfolgreich sei, könnten weitere Gebiete nach diesem Modell befriedet werden.“ (FR, 16.10.03) Nach einer gemeinsamen Vorlage des Außen-, Verteidigungs-, Innen- und Entwicklungsministeriums sollen durch das gesamte deutsche Engagement die afghanischen Staatsorgane „in die Lage versetzt werden, ihre Autorität in der Fläche durchzusetzen.“

Die Bundeswehr soll deshalb über den regionalen Einsatz in Kabul und Kundus hinaus im Rahmen der NATO-geführten »Schutztruppe« auch 2004 bei der Absicherung der Wahlen helfen. Es wird offen gelassen, ob die gegenwärtig geplante Aufstockung des Bundeswehrkontingents in Afghanistan um 450 auf 2.250 Soldaten dafür reicht oder ob dafür weitere Bundeswehreinheiten notwendig sind.

Robertson fordert deutsche Berufsarmee.

NATO-Generalsekretär, George Robertson, hat Deutschland zum Aufbau einer Berufsarmee aufgefordert. In der Bild am Sonntag (26.10.03) führte er u.a. aus: „Die meisten NATO-Mitglieder sehen … in einer Berufsarmee die einzige Möglichkeit, den neuen Bedrohungen angemessen zu begegnen… Streitkräfte, die sich nicht in kurzer Zeit über große Entfernungen verlegen lassen, sind nicht mehr viel Wert … Heute verfügen die europäischen Mitglieder (der NATO) zusammen über 1,4 Millionen Soldaten, eine weitere Million steht in Reserve. Aber nur 55.000 Soldaten taugen für Auslandseinsätze. Solche Armeen existieren nur auf dem Papier.“

Streubomben bei der Bundeswehr

Die Bundeswehr will auf ihre hoch umstrittenen Streubomben nicht verzichten. Ein Sprecher des Verteidigungsministeriums bestätigte Informationen der SWR-Sendung »Report Mainz« vom 17. November, nach denen die Bundeswehr im Besitz Tausender dieser heimtückischen Waffen ist. Die Luftwaffe habe seit 2001 bereits 8.000 Streubomben vernichtet, der Restbestand liege jetzt wesentlich darunter.

Militärkreise bezeichnen laut FR (18.11.03) einen Verzicht auf die Streubomben zwar als „wünschenswert, doch wegen geltender NATO-Bündnisverpflichtungen nicht möglich.“ Bundestagspräsident Wolfgang Thierse hatte in der Reportsendung das Verteidigungsministerium aufgefordert, die Bomben aus dem Bestand der Bundeswehr zu nehmen und Entwicklungshilfe-Ministerin Heidemarie Wieszorek-Zeul verlangte ein weltweites Verbot. Für den verteidigungspolitischen Sprecher der Grünen, Winni Nachtwei, stellen Streubomben wegen eines hohen Prozentsatzes nicht explodierender Sprengkörper vor allem für die Zivilbevölkerung über lange Zeiträume eine tödliche Gefahr dar.

»Mut zur Meldung«

Verteidigungsminister Struck hat den Chef des Kommandos Spezialstreitkräfte der Bundeswehr, Brigadegeneral Günzel, wegen antisemitischer Äußerungen entlassen. Ein Schritt, der allseits begrüßt wurde und doch die Frage offen ließ, wieso erst jetzt, schließlich war Güntzel bereits mehrfach aufgefallen.

Der Arbeitskreis »Darmstädter Signal« stellt dazu fest: „Brigadegeneral Günzel ist kein Einzelfall … BG Günzel hat doch wohl seit über 30 Jahren als Offizier im Kreise der ihn umgebenden Kameraden seine undemokratischen Gedanken geäußert. Teile des Offizierkorps … waren und sind Günzels Positionen nicht so fern – und es fehlt den demokratisch gesinnten Offizieren offensichtlich der »Mut zur Meldung«.

BG Günzel ist auch deshalb kein Einzelfall, weil er nur das aktuelle Glied einer Kette von undemokratischen Entgleisungen von hohen Offizieren seit Bestehen der Bundeswehr ist …

Das Offizierkorps (muss) endlich den »Mut zur ungeschminkten Diskussion« über die unbegrenzte Verfügbarkeit der Bundeswehr für Kampfeinsätze vor und hinter allen Gebirgsketten unserer Erde zeigen – denn das ist die entscheidende Frage für das »Berufsbild des Soldaten« und unser aller Zukunft!“

Verteidigungspolitik ade

Verteidigungspolitik ade

Bundeswehreinsätze im Innern und weltweit

von Tobias Pflüger

Die zeitliche Abfolge der Ereignisse ab dem 19. Mai 2003 war wohl eher Zufall, trotzdem macht es Sinn, sie politisch zusammen zu bewerten: Am 19. Mai 2003 hielt Johannes Rau seine »Berliner Rede«, diesmal eine außenpolitische Grundsatzrede, ebenfalls am 19. Mai wurde die neue EU-Interventionstruppe für teilweise einsatzfähig erklärt, am 21. Mai stellte Verteidigungsminister Peter Struck die schon länger erwarteten neuen »Verteidigungspolitischen Richtlinien« vor, am gleichen Tag einigten sich SPD und CDU/CSU auf die Grundlinien eines so genannten Bundeswehr-Entsendegesetzes und ebenfalls am 21. Mai genehmigte der Bundestags-Haushaltsausschuss mit den Stimmen aller Fraktionen den Kauf von 60 Militär-Airbussen 400 M für insgesamt 8,3 Milliarden Euro. Eine wahrhaft militärisch dominierte Woche. Politisch zentral war die Vorlage der neuen »Verteidigungspolitischen Richtlinien« (VPR).
Mit den Worten „Die Sicherheit Deutschlands wird auch am Hindukusch verteidigt“ kündigte Peter Struck im Bundestag am 05.12.2002 neue »Verteidigungspolitische Richtlinien« (VPR) für Frühjahr 2003 an. Wegen des Irakkrieges wurde die Vorlage verschoben. Am 25.04.2003 veröffentlichten die Tageszeitungen »Die Welt« und »Süddeutsche Zeitung« jeweils Auszüge aus einem Entwurf der »Verteidigungspolitischen Richtlinien«. Am meisten Schlagzeilen machte dabei der im Entwurf formulierte geplante Einsatz der Bundeswehr im Innern.

Bundeswehreinsatz im Innern

Obwohl es am Bundeswehreinsatz im Innern zum Teil deutliche Kritik gab, blieben diese Passagen im wesentlichen unverändert. In den jetzt vorgelegten VPR heißt es: „Zum Schutz der Bevölkerung und der lebenswichtigen Infrastruktur des Landes vor terroristischen und asymmetrischen Bedrohungen wird die Bundeswehr Kräfte und Mittel entsprechend dem Risiko bereithalten. Auch wenn dies vorrangig eine Aufgabe für Kräfte der inneren Sicherheit ist, werden die Streitkräfte im Rahmen der geltenden Gesetze immer dann zur Verfügung stehen, wenn nur sie über die erforderlichen Fähigkeiten verfügen oder wenn der Schutz der Bürgerinnen und Bürger sowie kritischer Infrastruktur nur durch die Bundeswehr gewährleistet werden kann.“ (80)1 Damit ist das bisherige Tabu eines Bundeswehreinsatzes im Innern gefallen. Bisher galt, dass die Bundeswehr nur »im Spannungsfall« im Innern eingesetzt werden darf, für die Aufgaben im Innern war allein die Polizei zuständig.

Abschied von der Landesverteidigung

„Die herkömmliche Landesverteidigung gegen einen konventionellen Angriff als allein strukturbestimmende Aufgabe der Bundeswehr entspricht nicht mehr den aktuellen sicherheitspolitischen Erfordernissen.“ (12) So heißt es in den neuen VPR und damit wird offiziell Abschied genommen vom Grundgesetz, in dem es in Artikel 87a Absatz 1 heißt: „Der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf“ und in Absatz 2: „Außer zur Verteidigung dürfen die Streitkräfte nur eingesetzt werden, soweit dieses Grundgesetz es ausdrücklich zulässt.“ Sehr freundlich bezeichnete der Berliner Jura-Professor Christian Pestalozza die neuen VPR als »verfassungsfern«. Der Regierung ist das Problem mit der Verfassung offensichtlich bewusst: So heißt es gleich unter Punkt 1 in den VPR: „Die Neugewichtung der Aufgaben der Bundeswehr und die daraus resultierenden konzeptionellen und strukturellen Konsequenzen entsprechen dem weiten Verständnis von Verteidigung, das sich in den letzten Jahren herausgebildet hat.“ Und: „Nach Artikel 87a des Grundgesetzes stellt der Bund Streitkräfte zur Verteidigung auf. Verteidigung heute umfasst allerdings mehr als die herkömmliche Verteidigung an den Landesgrenzen gegen einen konventionellen Angriff. Sie schließt die Verhütung von Konflikten und Krisen, die gemeinsame Bewältigung von Krisen und die Krisennachsorge ein.“ Mit Strucks Richtlinien werde so Pestalozza, der enge Verteidigungsbegriff des Grundgesetzes aufgeweicht und die Verfassung überdehnt. „Wer die Einsätze über das bisherige Maß ausdehnen will, muss das Grundgesetz ändern. Die Landesverteidigung ist nach dem Grundgesetz das Hauptziel der Streitkräfte. Struck argumentiert, dass alles Landesverteidigung ist, egal was wo passiert. Das ist vom Grundgesetz, wie seine sehr engen und strengen Formulierungen zeigen, so nicht gemeint.“2 Selbst vom CDU-Abgeordneten Dietrich Austermann kam Kritik: „Die Umfirmierung der Bundeswehr auf bestimmte Aufgaben schrammt nach meiner Meinung die Verfassung.“3 Mit den VPR kommt es zu einer fast ausschließlichen Konzentration der Bundeswehr auf Auslandseinsätze. „Ausschließlich für die herkömmliche Landesverteidigung gegen einen konventionellen Angreifer dienende Fähigkeiten werden angesichts des neuen internationalen Umfelds nicht mehr benötigt. Sie können zudem angesichts der knappen, zur Schwerpunktbildung zwingenden Ressourcenlage nicht mehr erbracht werden, ohne dass sich dies nachteilig auf die künftig erforderlichen Fähigkeiten auswirkt. Notwendig bleibt vielmehr eine Befähigung, die es erlaubt, die Landesverteidigung gegen einen Angriff mit konventionellen Streitkräften innerhalb eines überschaubaren längeren Zeitrahmens wieder aufzubauen. Dies erfordert die Beibehaltung der Wehrpflicht.“(60) Interessant ist, dass damit explizit Landesverteidigung als fast unnötig bezeichnet wird, und die Einheiten, deren Aufgabe dies war, Schritt für Schritt aufgelöst werden sollen. Die Option auf Wiederherstellung von Kapazitäten zur Landesverteidigung als Begründung für die Wehrpflicht ist neu.

Bundeswehr weltweit

Eine der zentralen Aussagen in den neuen VPR betrifft den Aktionsradius der Bundeswehr: „Künftige Einsätze lassen sich wegen des umfassenden Ansatzes zeitgemäßer Sicherheits- und Verteidigungspolitik und ihrer Erfordernisse weder hinsichtlich ihrer Intensität noch geografisch eingrenzen.“ (57) Damit wird als Einsatzradius der Bundeswehr die gesamte Welt definiert. „Der politische Zweck bestimmt Ziel, Ort, Dauer und Art eines Einsatzes… Die Notwendigkeit für eine Teilnahme der Bundeswehr an multinationalen Operationen kann sich weltweit und mit geringem zeitlichen Vorlauf ergeben und das gesamte Einsatzspektrum bis hin zu Operationen mit hoher Intensität umfassen.“ (57) Schnell einsatzfähige Truppen sind also das Ziel, „Operationen mit hoher Intensität“, damit sind Operationen der Elitetruppen »Kommando Spezialkräfte« (KSK) und der »Division Spezialoperationen« (DSO) gemeint. Wobei klargestellt wird, dass die „Grenzen zwischen den unterschiedlichen Einsatzarten fließend“ sind. „Eine rasche Eskalation von Konflikten, wodurch ein friedenserhaltender Einsatz in eine Operation mit höherer Intensität übergeht, ist nie auszuschließen.“ (58)

Bundeswehr als Anti-Terrororganisation

„Internationale Konfliktverhütung und Krisenbewältigung – einschließlich des Kampfs gegen den internationalen Terrorismus – sind für deutsche Streitkräfte auf absehbare Zeit die wahrscheinlicheren Aufgaben und beanspruchen die Bundeswehr in besonderem Maße.“ (78) Das ist eine Abschwächung gegenüber der Aufgabenstellung im Entwurf der VPR. Dort hieß es noch: „Die Bundeswehr bekämpft weltweit operierende Terrororganisationen und trägt dazu bei, ihnen sichere Rückzugsgebiete zu entziehen und Seeverbindungswege zu sichern.“ Doch auch in der Endversion ist der am häufigsten verwendete Begriff für die Notwendigkeit der Bundeswehr »Terrorismus«. Als konkrete Gefahren werden beschrieben: „Vornehmlich religiös motivierter Extremismus und Fanatismus, im Verbund mit der weltweiten Reichweite des internationalen Terrorismus, bedrohen die Errungenschaften moderner Zivilisationen wie Freiheit und Menschenrechte, Offenheit, Toleranz und Vielfalt.“ (19) Dieser Satz nach dem Irakkrieg gelesen zeigt die Doppelbödigkeit westlicher Politik sehr gut auf, wenn man als Subjekt des Satzes z.B. die US-Regierung einsetzt und unter Terrorismus auch Staatsterrorismus versteht. „Zum Schutz der Bevölkerung und der lebenswichtigen Infrastruktur des Landes vor terroristischen und asymmetrischen Bedrohungen wird die Bundeswehr Kräfte und Mittel entsprechend dem Risiko bereithalten.“ (80) Es bleibt völlig offen, was mit asymetrischen (nichtterroristischen) Bedrohungen gemeint sein könnte. Völlig verschiedene politische Entwicklungen werden in den VPR zu einem einzigen Bedrohungsszenario vermischt: „Ungelöste politische, ethnische, religiöse, wirtschaftliche und gesellschaftliche Konflikte wirken sich im Verbund mit dem internationalen Terrorismus, mit der international operierenden Organisierten Kriminalität und den zunehmenden Migrationsbewegungen unmittelbar auf die deutsche und europäische Sicherheit aus.“ (25)

BW: Instrument zur Durchsetzung deutscher Interessen

Die Bundeswehr wird explizit als Instrument zur Durchsetzung deutscher Interessen benannt: „Um seine Interessen und seinen internationalen Einfluss zu wahren und eine aktive Rolle in der Friedenssicherung zu spielen, stellt Deutschland in angemessenem Umfang Streitkräfte bereit, die schnell und wirksam zusammen mit den Streitkräften anderer Nationen eingesetzt werden können“ (72) Davor heißt es: „Der Auftrag der Bundeswehr ist eingebettet in die gesamtstaatliche Vorsorgepflicht für die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger, unseres Landes und unseres Wertesystems sowie für die Wahrung unserer Interessen im europäischen und transatlantischen Zusammenhang.“ (70) In den Verteidigungspolitischen Richtlinien von 1992 wurde der Bundeswehr bereits eine Rolle zugeschrieben zur Sicherung von Märkten und Rostoffen. Wörtlich hieß es damals: „Dabei lässt sich die deutsche Politik von vitalen Sicherheitsinteressen leiten: … Aufrechterhaltung des freien Welthandels und des ungehinderten Zugangs zu Märkten und Rohstoffen in aller Welt im Rahmen einer gerechten Weltwirtschaftsordnung.“ Eine ähnliche inhaltliche Aussage ist in den neuen VPR, diesmal allerdings geschickter formuliert: „Die deutsche Wirtschaft ist aufgrund ihres hohen Außenhandelsvolumens und der damit verbundenen besonderen Abhängigkeit von empfindlichen Transportwegen und -mitteln zusätzlich verwundbar.“ (27)

Deutsche und europäische Kriegswaffenindustrie

Die Notwendigkeit einer deutschen Kriegswaffenindustrie wird mehrfach betont: „Europäische und transatlantische Bündelung nationaler Mittel ist Vorgabe für die Rüstungskooperation. Gemeinsame Planung, gemeinsame Beschaffung, gemeinsamer Betrieb von Waffensystemen und gemeinsame Ausbildung stecken den Rahmen ab für das, was durch europäische Integration und Herausbildung der ESVP sicherheitspolitisch notwendig und möglich ist und sich bereits in einer effizienteren europäischen Rüstungskooperationspolitik manifestiert. Die Arbeiten zur Entwicklung einer Europäischen Rüstungsagentur werden vorangetrieben“. (68) „Deutschland wird als Voraussetzung für solche Kooperationsfähigkeit eine leistungs- und wettbewerbsfähige industrielle Basis in technologischen Kernbereichen aufrechterhalten, um auf die Entwicklung entscheidender Waffensysteme Einfluss nehmen zu können. Dies fördert Bündnis- und Europafähigkeit und ist daher ein Teil deutscher Sicherheitspolitik. Der industrielle Zusammenschluss nationaler Rüstungskapazitäten wird unverändert eine wichtige Rolle spielen.“ (69) Durch die Vergabe von Beschaffungsprojekten bevorzugt an bestimmte einzelne Firmen in den verschiedenen Sparten (Heer, Luftwaffe, Marine) wird der Konzentrationsprozess in der deutschen Kriegswaffenindustrie vom Staat aus weiter befördert. Damit stehen sich zunehmend einige wenige oder nur ein Anbieter auf Seiten der Industrie einem Abnehmer (Bundeswehr) gegenüber. Dies macht sowohl die konkreten Kriegswaffenprojekte immer teurer als auch eine demokratische Kontrolle immer schwerer.4 Der Export von Kriegswaffengütern wird durch diesen Oligopolisierungsprozess ebenfalls weiter angekurbelt: Bei der jetzt beschlossenen Bestellung von 60 Militärairbussen für 8,3 Milliarden Euro ist sogar vertraglich festgeschrieben worden, dass die sieben beteiligten Staaten (Deutschland, Frankreich, Spanien, Großbritannien, Belgien, Türkei und Luxemburg) Teile der bezahlten Entwicklungskosten zurückbekommen, wenn das Flugzeug erwartungsgemäß ein Exportschlager wird. Und davon geht der Systemführer EADS aus: „Der A400 M ist gut positioniert, um einen großen Teil der weltweiten Flotte an taktischen Transportmaschinen abzulösen.“5 Schließlich wollen immer mehr Staaten ihre Interventionsfähigkeit deutlich erhöhen, und dazu sind entsprechende Transportmöglichkeiten zentral.

BRD als Schlüsselstaat in NATO und EU

Auslandseinsätze sollen nur im Rahmen bestehender internationaler Institutionen stattfinden: „Bewaffnete Einsätze der Bundeswehr mit Ausnahme von Evakuierungs- und Rettungsoperationen werden nur gemeinsam mit Verbündeten und Partnern im Rahmen von VN, NATO und EU stattfinden.“ (11) Inwieweit diese Vorgabe aufgrund der veränderten internationalen Konstellation und den dabei üblich gewordenen »Ad hoc Koalitionen« überhaupt realistisch ist, sei dahingestellt. Die Bundesregierung konstatiert für Deutschland sowohl in der NATO als auch in der EU eine Schlüsselrolle: „Deutschland hat in den vergangenen Jahren bei den Beschlüssen der EU zur Ausgestaltung der ESVP eine Schlüsselrolle gespielt. Die Umsetzung der europäischen Streitkräfteziele und die Beseitigung erkannter Fähigkeitsdefizite im nationalen und europäischen Rahmen sowie die Bereitstellung der angezeigten militärischen Fähigkeiten und Mittel sind Maßstab dafür, wie Deutschland und seine Partner ihre Verantwortung im Rahmen der EU wahrnehmen.“ (51) Für die NATO heißt es: „Deutschland ist mit seinen Streitkräften mehr als jeder andere Bündnispartner in die NATO integriert. Ihm fällt im Bündnis eine herausragende Rolle und Verantwortung für den künftigen Kurs der NATO zu“. (48) Offensichtlich zentral ist aber die Stärkung der EU als Militärmacht: „Der Stabilitätsraum Europa wird durch eine breit angelegte, kooperative und wirksame Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU gestärkt. … Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik beruht auf der strategischen Partnerschaft mit der Nordatlantischen Allianz und ermöglicht selbständiges europäisches Handeln, wo die NATO nicht tätig sein muss oder will“. (40) Dabei steht wieder das Deutsche Interesse in der EU im Vordergrund: „Deutsche Sicherheitspolitik gewinnt im vereinten Europa zusätzliche Handlungsoptionen.“ (29) Das konservative »Centrum für angewandte Politikforschung« (CAP) spricht deshalb gar von einer „europäischen Dimension der Bundeswehr“,6 die fest in den VPR verankert sei. Als Begründung für die Militarisierung der EU muss im übrigen die Globalisierung herhalten: „Auch die Globalisierung macht ein voll handlungsfähiges Europa erforderlich.“ (40)

Die Militarisierung der EU ist in drei Bereichen sehr weit vorangeschritten: Erstens bei der Bildung einer EU-Interventionstruppe mit 60.000 Soldaten, die 2003 einsatzfähig sein soll, zweitens und das wird in der Diskussion häufig übersehen, in Gestalt der schon länger vorhandenen verschiedenen bi- und multinationalen Korps, wie das deutsch-niederländische, das Euro-Korps, das deutsch-dänisch-polnische Korps. Hinzu kommt die beschriebene Stärkung der europäischen Kriegswaffenindustrie, was explizit mit einem „Konkurrenzkampf mit den Vereinigten Staaten“7 begründet wird. Es gibt eben nicht auf der einen Seite die »böse« USA und auf der anderen die »gute« EU. Das »alte Europa« hat nicht die Intention, »Friedensmacht« zu sein, sondern will seine eigenen Interessen sowohl wirtschaftlich als eben auch militärisch durchsetzen. Ziel ist auch eine Gegen-Militärmacht. Die Grundstrukturen sind gleich: Es geht der EU wie den USA darum, Kriege in Regionen im Süden führen zu können. Der »Pralinengipfel« in Brüssel Ende April hat gezeigt, dass die Regierungen, die sich gegen den Irak-Krieg wandten, nur gegen diesen Krieg waren, nicht aber gegen Krieg als Mittel der Politik. Belgien, Frankreich, Luxemburg und Deutschland verabredeten eine weitere stärkere militärische und Rüstungszusammenarbeit. So ist ein eigenständiger Militärstab der EU vorgesehen. Bei der Herausbildung einer Militärmacht EU sollen einige vorangehen können. Das alte Kerneuropakonzept findet sich hier auf der militärischen Ebene wieder.

Zentraler Akteur bei der Herausbildung einer Gegen-Militärmacht EU ist neben der französischen Regierung die deutsche Regierung. Die Bundesregierung hält sich dabei wie immer alle Optionen offen, sie will alle möglichen Hüte nutzen: Ob das nun die Europäische Union ist, die NATO, die UNO, ob das »ad-hoc-Bündnisse« sind oder auch rein nationale Einsätze.

Präventivkriegskonzept durch die Hintertür?

Aus der Schlussfassung der neuen VPR wurde das im Entwurf enthaltene »Präventivkriegskonzept« wieder gestrichen. »Die Welt« schreibt dazu: „Anders als in einem früheren Entwurf wird in den Verteidigungspolitischen Richtlinien (VPR)… die Möglichkeit präventiver Militäraktionen nicht mehr betont. In dem 22-seitigen Papier… fehlt ein Satz aus dem Entwurf, in dem es hieß, »vor allem« gegenüber nichtstaatlichen Akteuren und Terroristen »können zur politischen Krisenvorsorge komplementäre militärische Maßnahmen zur Abwehr der Bedrohung frühzeitig notwendig werden«. Jetzt wird deutlich zurückhaltender formuliert: »Zur Abwehr von Bedrohungen sind zudem vor allem gegenüber nicht-staatlichen Akteuren entsprechende zivile und militärische Mittel und Fähigkeiten zu entwickeln«.“ Was »Die Welt« nicht schreibt ist, dass die Formulierung in den neuen VPR allen Interpretationen Tür und Tor offen lässt. Eine explizite Festschreibung des Präventivkriegskonzeptes ist dies nicht. Insofern könnte man die Korrektur des Entwurfs auch als einen späten Sieg der Friedensbewegung bezeichnen, denn insbesondere aus ihren Reihen war das mögliche Präventivkriegskonzept benannt und kritisiert worden. Doch leider kann immer noch das Präventivkriegskonzept in den Text hineininterpretiert werden. Als Kernbereiche von Bundeswehreinsätzen werden in den VPR folgende zwei Punkte definiert: „Konfliktverhütung und Krisenbewältigung“ (10) sowie „Unterstützung von Bündnispartnern“ (10). Wobei diese beiden Optionen alternativ genannt sind und es durchaus nahe liegt, zu vermuten, dass „multinationale Sicherheitsvorsorge“ (vgl. Punkt 11 der VPR) im Rahmen von NATO und EU nicht in jedem Fall das Ziel haben muss, schon bestehende Krisen zu bekämpfen (wie auch immer dies militärisch funktionieren soll), sondern bereits einzugreifen, bevor eine so genannte konkrete Bedrohung entsteht. Außerdem wird das Konzept der »präventiven Kriegsführung« sowohl im Rahmen der NATO als auch der EU intensiv diskutiert.8

Johannes Rau zur deutschen Kriegspolitik

Johannes Rau hielt am 19.05. in Berlin seine außenpolitische Grundsatzrede. An dieser war auffällig, dass Rau ähnliche Begrifflichkeiten benutzt, wie sie in den zu diesem Zeitpunkt noch nicht veröffentlichten VPR benutzt werden: „Die Herausforderungen, vor denen wir gemeinsam stehen, sind ungemein vielfältig: die weltweit organisierte Kriminalität wie zum Beispiel der Drogenhandel, der internationale Terrorismus, vor allem in Verbindung mit religiösem Fanatismus.“ Rau erklärt zentrale Aussagen der VPR auch zu seinen eigenen: „Deshalb müssen wir bereit sein, Gewalt auch mit militärischen Mitteln zu begegnen – und diese Bereitschaft muss glaubwürdig sein. Eine handlungsfähige europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik muss deshalb auch eine militärische Komponente haben.“

Gleichzeitig gibt Rau aber auch seiner Sorge Ausdruck, dass die neue deutsche Militär- und Kriegspolitik von vielen in der Bevölkerung nicht mitgetragen wird. In Bezug auf die Bundeswehr stellt er z.B. fest : „Die neue Sicherheitspolitik und die völlig veränderte Rolle der Bundeswehr ist in den vergangenen Jahren im Bewusstsein unseres Volkes nicht annähernd so verarbeitet worden, wie das notwendig wäre… Ich vermisse eine breit geführte gesellschaftliche Debatte über die Frage, wie die Bundeswehr der Zukunft aussehen soll… Nirgendwo ist eine Regierung so sehr auf Unterstützung und Einverständnis der Menschen angewiesen wie dann, wenn die Bundeswehr als Instrument der Außen- und Sicherheitspolitik eingesetzt wird…Wie immer auch die Antwort lauten mag, zu der wir kommen werden, sie muss am Ende einer gesellschaftlichen Debatte stehen. Wir brauchen einen breiten Konsens.“

Tatsächlich werden die Veränderungen in der Bundeswehr und die deutschen Kriegseinsätze von einer Mehrheit der Bevölkerung nicht aktiv unterstützt, sondern eher passiv hingenommen. »Die Welt« schildert diesen Zustand am 02.02.03 mit den Worten: „Manchmal werden bahnbrechende Weichenstellungen übersehen: Mit seinem Satz, die Freiheit könne auch am Hindukusch verteidigt werden, hätte Verteidigungsminister Struck hier zu Lande eigentlich einen pazifistischen Aufschrei erzeugen müssen. Aber auch als Bundeswehr-Generalinspekteur Schneiderhan Präventivschläge mit deutscher Beteiligung ins Spiel brachte, blieb es ruhig.“ Das geplante Präventivkriegskonzept für die Bundeswehr war offensichtlich noch nicht in der Gesellschaft durchsetzbar. Die Betonung liegt auf »noch«. Die Bundesregierung betreibt weiter ihre Doppelstrategie: Einerseits sich als »Friedensmacht« zu gerieren, andererseits zeitgleich die Militärmacht Europäische Union auszubauen und die Bundeswehr zur weltweiten Interventions- und Einsatzarmee zu machen. Diese beschriebene »Ruhe« und das Agieren der Bundesregierung in Sachen Bundeswehr muss auch der Friedensbewegung und der kritischen Friedensforschung große Sorge bereiten.

Anmerkungen

1) Die Ziffern beziehen sich auf die Punkte in den neuen Verteidigungspolitischen Richtlinien.

2) zitiert nach dpa, 24.05.2003.

3) zitiert nach dpa, 23.05.2003.

4) vgl. dazu auch Baumann, Hannes: Effizienz kontra Transparenz in dieser W&F Ausgabe.

5) zitiert nach Reuters 27.05.2003.

6) http://www.cap.uni-muenchen.de

7) Manager-Magazin, 06.03.2003

8) Vgl. hierzu z.B. Pflüger, Tobias: IMI-Analyse 2002/86b, »Präventivkriege jetzt auch deutsche Politik?« http://www.imi-online.de/2002.php3?id=290

Tobias Pflüger ist Redaktionsmitglied von W&F und im Vorstand der Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V.