Von der »neuen Wehrmacht« zur Bundeswehr

Von der »neuen Wehrmacht« zur Bundeswehr

Der verwickelte Weg der Demokra- tisierung des Militärs in der BRD

von Detlef Bald

Der 12. November 1955 gilt als die Geburtsstunde der Bundeswehr – damals noch als »neue Wehrmacht « bezeichnet. Der erste Verteidigungsminister, Theodor Blank, vereidigte an diesem Tag in Bonn unter »Preußens Eisernen Kreuz« die höchsten Generäle, die Generalleutnante Adolf Heusinger und Hans Speidel, sowie eine Reihe Offiziere und Unteroffiziere. Anwesend die westlichen Militärattachés, ausgeschlossen die Öffentlichkeit inklusive der Vertreter der höchsten Bundesorgane und des Parlaments. Das stand in der Kontinuität des Weg hin zu dieser neuen deutschen Armee. Während 1949 Franz Josef Strauß noch seinen Wahlkampf, mit dem Slogan führte, jedem Deutschen möge der Arm verdorren, der jemals wieder ein Gewehr in die Hand nehme, sah Adenauer damals bereits in der Westintegration den Hebel für eine neue Wehrmacht. 1949 wurden insgeheim die Weichen gestellt, für das was 1956 Form annahm. Die Auseinandersetzungen über die Ausrichtung dieser Armee waren damit aber nicht beendet.

Will man die Geschichte der Bundeswehr in kursorischer Kürze erfassen, hilft zunächst ein Blick auf ihre Vorgänger. Dabei fällt auf, das deutsche Militär bestimmte sich im 19. und 20. Jahrhundert ganz im Zeichen nationaler Souveränität. Dreimal in hundert Jahren hatte es Europa mit expansiven Kriegen überzogen, nach 1868, nach 1914 und 1939. Es hatte als Machtmittel staatlicher Politik seinen einzigartigen Stellenwert mit einem hohen Grad an sozialer und politischer Exklusivität. Schon dem Kaiserreich war es nicht gut bekommen, den Primat des Militärischen konstitutionell abzusichern und die Unabhängigkeit des Regierungssystems des Reiches zu beschränken sowie die (noch zarten) demokratischen Impulse niederzuhalten. Die Niederlage im Ersten Weltkrieg belastete zwar die Fortexistenz der Reichsidee, aber die Umstände des Systemwandels wurden genutzt, nach altem Ideal die Armee als »Staat im Staate« zu rekonstruieren. Nicht zuletzt in der Weimarer Republik erwies sich, wie fatal das antidemokratische und antiliberale Potenzial des Militärs die Wirkungen der Verfassung in der politischen Wirklichkeit verwässerte. Am Ende hebelte auch die Reichswehr die Republik aus und ebnete dem Nationalsozialismus den Weg. Solche, – und weitere Aspekte der deutschen Geschichte wie der Militärpolitik und Kriegführung im Zweiten Weltkrieg – waren verantwortlich dafür, nach der Kapitulation 1945 die Wehrmacht institutionell aufzulösen, um, wie in Potsdam deklamiert wurde, den Militarismus auszulöschen.

Das Gründungsparadigma der Bundeswehr wies ihr grundsätzlich einen neu orientierenden Weg, da die Besatzungsmächte die Macht der Bonner Republik über 1949 hinaus bestimmten und somit der Bonner Armee nicht den Status einer national unabhängigen Armee gewährten. Die historisch geladenen Umstände führten zu der doppelten internationalen Signatur der deutschen Streitkräfte, sie sowohl durch westalliierte Suprematie als auch durch Bündniskontrolle einzubinden und keine souveräne Verfügungsgewalt der Bundesregierung zuzulassen. Daneben und gleichrangig bedeutsam wurde dieses Militär gemäß der normativen Kraft des Grundgesetzes in das demokratische Regierungssystem – mit vielfachen Konsequenzen für Aufbau und Entwicklung der militärischen Institution selbst – integriert und der parlamentarischen Zuständigkeit unterworfen. Die Existenz der Bundeswehr war also grundlegend auf diese beiden Pole hin ausgerichtet, gewissermaßen ihre Räson. Die Gestalt der Bundeswehr ist daher im Vergleich zur älteren Militärgeschichte anders: Unterscheidbar und bestimmbar.

Die Geschichte der Bundeswehr, das zeigt ihre offizielle Gründung im Jahr 1955 nur allzu klar, begann nicht mit einer Gründungsfeier, von der aus sich alles strahlenförmig nach vorne – in die Zukunft – entwickelt hätte. 1955 ist vielmehr ein Datum mit historischem Bezug, der im Wesentlichen drei Perspektiven entfaltete und damit in dreierlei Hinsicht die Gestalt der Bundeswehr auf Dauer erfasste. Wie der anfänglich noch unbestimmte Name der Streitkräfte, »neue Wehrmacht«, schon zeigt, war sie (1.) mit der deutschen Geschichte aufs Engste identifiziert: Mit der Geschichte der militärischen Vorgänger wie der Wehrmacht ganz offensichtlich. Ihre Kapitulation im Jahr 1945 aber gewährte dem (2.) Zugang, nämlich der internationalen Koalition der Siegermächte, die Chance sich durchzusetzen. Sie begleiteten und kanalisierten auf Dauer Ausrichtung und Entwicklung der Bundeswehr. Die (3.) Perspektive schließlich begründete die Demokratisierung des Militärs, das sich den rechtsstaatlichen und politisch-freiheitlichen Normen des Grundgesetzes unterwerfen musste, was u.a. zur Folge hatte, sein inneres Gefüge im Prinzip nach den Regularien des öffentlichen Dienstes zu ordnen. Gleichwohl gab es keine »Stunde Null«. Die zeitweilig entmachteten militärischen Funktionseliten wurden im Einvernehmen mit den Westalliierten und nach dem Willen der Bundesregierung wieder eingesetzt, allerdings unter der Voraussetzung, die gesetzten Bedingungen anzunehmen.

In diesem Sinne ist der Gründungstag der Bundeswehr, dieser auf das Jahr 1945 bezogene 12. November 1955, symbolträchtig ein Tag der Zukunft. Aus ihm entspringt die Hoffnung, die »neue Wehrmacht« als Instrument staatlicher Macht zu einer besseren, zu einer demokratisch geprägten Gestalt des Militärs der Bundesrepublik, zur Bundeswehr, zu entwickeln. Die Bundeswehr stand nicht nur lose in der Kontinuität der deutschen Geschichte, sondern sie ist in einem politisch-normativen Verständnis spannungsvoll mit den Lehren aus der europäischen Geschichte konfrontiert. Das fordert die Bundeswehr heraus. Sie wurde im Zusammenhang der Teilsouveränität der Bonner Republik offiziell im Mai 1955 begründet. Im geheimen Bündnis von Politik und Militär aber gab es die verdeckte Planung seit dem Herbst 1950 schon. Natürlich war manches, was die spätere konkrete Entwicklung tatsächlich bestimmen sollte, noch ungewiss. Denn dieser Dreiklang – Geschichtsbezug, Internationalisierung, Demokratie – durchzieht spannungsgeladen die gesamte Geschichte der Bonner Republik, daher auch der Bundeswehr, sicherlich zu einzelnen Zeitpunkten unterschiedlich wirksam, mal mit jenem Ton bestimmend und harmonisch oder mehr dissonant klingend. Alle diese drei miteinander verwobenen Perspektiven und Positionen, Bezüge oder Bedingungen prägen konstitutiv die Existenz des deutschen Militärs der Bonner und Berliner Republik, also nicht nur im Kalten Krieg, sondern grundsätzlich bis in die Gegenwart.

Um zu zeigen, wie die einzelnen Aspekte mit einander verwoben sind, soll zunächst die Rolle der Politik der Alliierten herausgestellt werden, über die Westintegration die für die übrige Welt bedrohlichen deutschen Machtansprüche und -Potenziale zu zähmen. Allein Umkehr und Erneuerung boten Sinn- und Identitätsstiftung für die zweite deutsche Republik, so auch für ihr Militär. Daran erinnert das Jahr 1945 bis in die Gegenwart, wie es Richard von Weizsäcker zusammenfasste: „Aber wir haben allen Grund, den 8. Mai 1945 als das Ende eines Irrweges deutscher Geschichte zu erkennen, das den Keim der Hoffnung auf eine bessere Zukunft barg.“ Die westlichen Alliierten des Weltkriegs übertrugen Kriegs- und Besatzungsrechte auf die Besiegten, sie gewährten 1955 im Deutschlandvertrag der Bonner Republik „die volle Macht eines souveränen Staates.“ Die Souveränität unterlag der Suprematie, wie sie sich die Alliierten in Jalta und Potsdam für ganz Deutschland vorbehalten hatten. Als wäre es ein kategorischer Imperativ, hielten sie an ihrer obersten Zuständigkeit, die Macht der Deutschen zu pazifizieren, in zeitgemäß abgestuften Kontrollformen fest. Nach 1990 sind dies die neuen völkerrechtlichen und zeitgemäß umgeformten Regelungen der gesicherten internationalen Mitwirkungssysteme der NATO und EU.

Hinter dieser Politik stand zu allen Daten – 1945, 1949, 1955 oder 1990 – das Prinzip: Wirksame Garantien für ein funktionierendes System der Machtkontrolle durch Westintegration! Westintegration war Werteintegration. International und gemäß dem Grundgesetz stand die Abkehr von der Militärgeschichte an: „Der Militarismus ist tot.“ Dieses Wort des Kanzlers Adenauer lässt den Wert der Geschichte, besonders den Bezug zu 1945, erkennen. Die zentrale Stellung des Militärs, seines politisch ambitionierten Offizierkorps, werde es wie in vergangenen Zeiten nie wieder geben. Die Bonner Antwort darauf war die demokratische Einbindung des Militärs – erstmals seit 1806 gelungen. Im Zeichen der Vergewisserung und Reflexion der Geschichte wurde das Militär der parlamentarischen Verantwortung untergeordnet. Der Reformer unter den Soldaten, Wolf Graf von Baudissin, wählte dafür sinnstiftend in Anlehnung an Gerhard von Scharnhorst (sein Geburtstag jährt sich 2005 am 12. November zum 250. Mal) den Begriff »Staatsbürger in Uniform«, der unter dem Synonym »Innere Führung« von der Militärführung schließlich akzeptiert wurde. Die Kodifizierung des Primats der Politik gelang in der Wehrgesetzgebung. Sie ist der Ausdruck der dezidierten Militärreform. Die politische staatsrechtliche Einordnung der Bundeswehr in das republikanische Regierungssystem von Bonn setzte der Geschichte eines militärischen Sonderwegs ein Ende. Ein solche Kontinuität sollte es nicht mehr geben. Man setzte tatsächlich Zeichen, die Wertordnung des Grundgesetzes in hohem Maße auf das Militär zu übertragen und rechtsstaatlich freiheitliche Grundrechte für Soldaten zu gewährleisten. Die Entmythologisierung des alten Militärs mit seinen besonderen Normen war, wie schon Max Weber beobachtet hatte, vor der Geschichte längst in Gang gekommen – die Bundeswehr unterzog sich einer Art nachholender Reform. Sie ist schließlich »normal« in der Bundesrepublik angelangt.

Natürlich lassen sich einzelne Phasen der über 50jährigen militärischen Geschichte der Bonner und Berliner Republik unterscheiden, die einen jeweils charakteristischen Widerhall jenes Dreiklangs (der Demokratisierung, Internationalisierung und des Geschichtsbezugs) einfangen, der allerdings, wenn er in einer Phase angeschlagen wurde, auch in der folgenden Zeit noch weiterklang. Somit bieten alle Phasen und die Schlüsseljahre nur eine relative und keine absolute Gliederung, die nicht starr zu verstehen ist, sondern nur helfen können, das komplexe historische Geschehen ein wenig zu ordnen. Denn Gegensätze und Widersprüche zur Wertebindung der politischen Kultur der Bundesrepublik verliehen dem Militär immer wieder ein »hässliches Gesicht«, öffentlich aufmerksam verfolgt bezüglich manifester Tendenzen eines genuin militärischen Milieus; also die Übernahme vermeintlich »ewiger Werte des Soldatentums« in den fünfziger Jahren bis hin zum Anspruch oberster Generale (Schnez-Studie 1969), die Gesellschaft nach militärischem Maß zu gestalten; die Geltung von Drill und Schinderei gemäß militaristischem Vorbild in den sechziger Jahren (Nagold); die traditionalistische Orientierung am Mythos einer politisch »sauberen« Wehrmacht, wie sich in der jahrelangen Ablehnung der Widerstandskämpfer des 20. Juli 1944 als »Landesverräter« und »Eidbrecher« bis hin zur brisanten Distanz zur Ausstellung »Verbrechen der Wehrmacht« in den neunziger Jahren zeigte; also Strukturen unklarer Identität der militäreigenen Tradition; die Ambivalenz zwischen Reformern und Traditionalisten als ein dauerhaftes Dilemma, das im Selbstverständnis der Soldaten und im Gesamtprofil der Bundeswehr Dellen hinterlassen hat; die Ablehnung der demokratischen und gesellschaftlichen Einflüsse durch Abgrenzung des Militärs – Atombewaffnung oder Friedensbewegung bieten viele Beispiele; die Diffamierung gerade des Reformsymbols – »Innere Führung« – durch die Politik z.B. des Ministers F. J. Strauß mit dem Wort vom „Inneren Gewürge“ oder durch traditionalistische Deklassierung der Generale wie – um nur einige prominente Skandalbelastete von 1955 bis 2004 zu nennen: Heinz Karst, Heinz Trettner, Hellmut Grashey und schließlich Gerd Schulze-Rhonhof oder Reinhard Günzel; die Ausrichtung des Berufsprofils an einseitigen und rechtslastigen Vorbildern, zuletzt im Hochhalten eines Kämpferkults in den neunziger Jahren mit geradezu signifikanten Übersteigerungen in über zwanzig Standorten (Coesfeld) im Jahr 2004. Die Geschichte der Bundeswehr erweist sich zu allen Zeiten als vielfältig und spannungsgeladen.

Um den strukturierenden Dreiklang angemessen einordnen zu können, ist noch auf einen dynamisierenden Faktor hinzuweisen: Militärpolitik war deutsche Macht bewusste Politik. Schon Adenauer verband mit Militär die Hoffnung auf eine optimierbare Revision der staatlichen Handlungs-Potenziale. Bündnispolitik und europäische Integration waren das Resultat. Die »Wiederaufrüstung« leitete den Prozess des »nation building« der Bundesrepublik und formte gewissermaßen die außenpolitische Staatsräson: Gleichsetzung der staatlich-nationalen Existenz mit internationaler militärischer Verflechtung. Nach 1990 erfuhr das alte Muster weitere Impulse, die aber nur – könnte man betonen – die internationale Gestalt des deutschen Militärs modifizierten. Die Verhandlungen um einen Militärbeitrag nach 1949 und nach 1990 offenbaren das Grundmuster des wechselseitigen Nutzens der Politik, jenes »do ut des«, das damals wie heute feststellbar ist. Demokratische Kontinuität und die Internationalität der Bundeswehr durch Bündnistreue und Europäisierung boten auch hier Chancen der Machtteilhabe durch Machttransformation. Kanzler Kohl stellte die Weichen. Die internationalen Einsätze der Bundeswehr bis hin zur kriegerischen Teilnahme an der Kosovo-Besetzung sowie der militärgestützten Außenpolitik im Verfassungsrahmen der EU legen davon Zeugnis ab, wie in der Gegenwart Kanzler Schröder deutsche Machtpolitik definierte.

Das Vertragswerk von 1955 und von 1990 enthält in nuce die Staatsräson Deutschlands, nur als Teil einer europäischen Friedensordnung »frei« sein zu können. Es war, das lässt sich festhalten, auch so immer eine Deklamation der Versöhnung. Dieses Paradigma bleibt für Deutschland und somit für die Bundeswehr erhalten. Das Rad der Geschichte lässt sich nicht mehr zurückdrehen.

Dr. Detlef Bald war Wissenschaftlicher Direktor am Sozialwissenschaftlichen Institut der Bundeswehr, er arbeitet jetzt als freier Autor

Präsenz zeigen

Präsenz zeigen

Die deutsche Außenpolitik im Dienst des Militärs

von Peter Strutynski

Im Geschacher um einen Einsatz der deutschen Marine vor den Küsten Libanons fällt viel Schatten auf die deutsche Außenpolitik. So war im Halbdunkel kursierender Gerüchte um die Formulierung von Einsatzangeboten der Bundesregierung und Einsatzanforderungen Libanons kaum noch zu erkennen, worin das politische Ziel und – vor allem – der humanitäre Ertrag für die vom Krieg betroffene libanesische Bevölkerung liegen. Man konnte den Eindruck gewinnen, die politische Klasse in Berlin handele nach dem Muster: Wenn die Politik mit ihrem Latein am Ende ist, überlässt sie das Denken dem Militär. Das Militär seinerseits hat sich ganz dem »olympischen« Wahlspruch ergeben: „Dabei sein ist alles“.

Noch während der UN-Sicherheitsrat im August über einer Resolution zur Beendigung der Kämpfe im israelischen Krieg brütete, war sich die Große Koalition schon darin einig, die Bundeswehr in den Nahen Osten zu schicken – erst danach begann man in Berlin zu überlegen, was sie denn dort überhaupt tun solle. Der Vorsitzende des Bundeswehrverbands, Oberst Gertz, hat in einer Phoenix-Fernsehrunde am 5. September davon gesprochen, dass die Marine deshalb besonders geeignet sei für den Libanoneinsatz, weil es in dieser Waffengattung noch genügend Ressourcen gäbe. Die anderen Teilstreitkräfte sind mit ihren terrestrischen Einsätzen vom Balkan über den Kongo bis nach Afghanistan bis an die Halskrause ausgelastet. Da macht es dann auch nichts, wenn der Einsatz vor den Küsten der Levante militärisch wenig Sinn macht. Wollte man wirklich die Waffenlieferungen an die Hisbollah behindern – erklärtes Ziel der Bundesregierung –, dann wären doch wohl eher die Landwege vom Iran über Syrien in den Libanon unter die Lupe zu nehmen. Dafür aber gibt es kein Mandat des UN-Sicherheitsrats. Also begnügt man sich mit dem militärisch überflüssigen, symbolisch aber umso wichtigeren Einsatz deutscher Fregatten, Korvetten und Versorgungsschiffe im südöstlichen Mittelmeer.

»Präsenz zeigen« ist in dem Zusammenhang eines der beliebtesten Wörter der Berliner Regierung geworden. Präsenz zeigen, um potenzielle Waffenschmuggler abzuschrecken, Präsenz zeigen, um dem Verbündeten Israel zu bedeuten, dass man ihn nicht alleine lässt und »deutsche Verantwortung« übernimmt, Präsenz zeigen, um den Anspruch Deutschlands auf eine gewichtigere Rolle in den Vereinten Nationen zu unterstreichen. Präsenz zeigen aber auch, um der kriegsunwilligen deutschen Bevölkerung zu zeigen, dass deutsche »Normalität« heute anders aussieht.

Mit einem Militäreinsatz zur Regulierung des israelisch-libanesischen Konflikts reißt Deutschland das letzte Tabu nieder, das die deutsche Nachkriegspolitik trotz aller Kalten-Kriegs-Töne Jahrzehnte lang bestimmte: Für undenkbar galt, militärisch in einen Konflikt einzugreifen, in dem die Nachkommen der vom deutschen Faschismus vernichteten sechs Millionen Juden zu Schaden kommen könnten. Genau das aber ist bei einem wirklich neutralen, das heißt die Konfliktparteien auseinander haltenden Blauhelmeinsatz – ob robust oder nicht – möglich.

Es sei denn, Deutschland nimmt den UN-Auftrag – die Verpflichtung zur Neutralität – nicht ernst und greift militärisch als Partei in den Nahost-Konflikt ein. Dafür spricht Vieles. Unmissverständlich erklären z.B. die Propagandisten eines deutschen Militäreinsatzes, es sei Deutschlands Hauptaufgabe im Nahen Osten, Israel zu schützen, da es sich hier um die einzige Demokratie in der Region handele und weil man das den Juden aus historischen Gründen schuldig sei. Selbst die anfänglichen konservativen Gegner eines Militäreinsatzes, wie der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber, argumentierten auf der selben Linie wie die Befürworter: Wollten die einen nicht dabei sein, weil man dann ja womöglich in die Lage kommen könnte, „auf Israelis zu schießen“, so wollen die anderen unbedingt dabei sein, weil der Schutz israelischen Lebens einen besonders hohen Wert darstelle. Diese Spielart des voreingenommenen Philosemitismus ist bei genauem Hinsehen nichts anderes als ein latenter Rassismus. Im Umkehrschluss heißt das: Auf alles andere, auf islamische Hisbollah-Kämpfer, auf libanesische Soldaten, auf Hamas-»Terroristen«, auf irgendwelche anderen »Araber« kann sehr wohl geschossen werden, nur Israelis sind »Tabu«. Das aber ist nur die halbe Konsequenz aus der deutschen Geschichte, der wir uns selbstverständlich alle stellen müssen. Aus der Erfahrung des schrecklichsten Kapitels der deutschen Geschichte mit der millionenfachen Judenvernichtung und der Behandlung anderer, insbesondere slawischer Völker als »Untermenschen« muss auch die Lehre gezogen werden: Deutschland darf Menschen unterschiedlicher Hautfarbe, Herkunft, Religion usw. nie wieder als mehr oder weniger »minderwertig«, aber auch nicht als mehr oder weniger »höherwertig« klassifizieren. Deutschland muss das Lebensrecht aller Menschen gleich hoch bewerten. Die Menschenrechte, wie sie in der Allgemeinen Menschenrechtserklärung 1948 und in den beiden Menschenrechtskonventionen (Sozialpakt und Zivilpakt, 1967) verankert wurden, haben eben universelle Gültigkeit.

In der Bundestagsdebatte am 19. und 20. September zum Antrag der Bundesregierung, bis zu 2.400 Soldaten in den Nahen Osten zu entsenden, waren sich – mit Ausnahme der Vertreter der Linksfraktion – alle Redner/innen darin einig, dass Israel beim Libanonkrieg nur von seinem Recht auf Selbstverteidigung Gebrauch gemacht habe und bei allen anderen Kriegen – auch denen, die vielleicht noch kommen mögen – das internationale Recht und natürlich auch Deutschland auf seiner Seite habe, während die Hisbollah (ersatzweise: die Hamas oder andere arabische Gegner Israels) der eigentliche Aggressor sei. Eine sehr einseitige Sicht, der zu Grunde liegt, dass das Kidnapping der beiden israelischen Soldaten am 12. Juli d. J. die Ursache des Krieges gewesen sei. Eine Position, die sich auch in der UN-Resolution 1701 (2006) wiederfindet, die aber leider nicht das Monate, ja, Jahre dauernde Konfliktgeschehen im israelisch-libanesischen Grenzgebiet im Ganzen betrachtet. Beispielsweise spricht der letzte Bericht des Generalsekretärs der Vereinten Nationen über die Tätigkeit von UNIFIL davon, dass dem 12. Juli „permanente provokative“ Grenzverletzungen („persistent and provocative Israeli air incursions“) der israelischen Luftwaffe vorausgegangen seien (S/2006/560 – 21 July 2006). Obwohl man es also besser wissen könnte, weil die entsprechenden Dokumente vorliegen, beruht der von der herrschenden Meinung dominierte öffentliche Diskurs über den Nahen Osten auf der unausgesprochenen und nicht mehr hinterfragbaren »Geschäftsgrundlage «, dass Israel im Recht, seine Gegner im Unrecht seien. Wer das anzweifelt und für seine Zweifel nach historischen Belegen sucht (wobei man nicht lange suchen muss), gerät dann schnell in die Gefahr, nicht auf dem Boden des Rechts zu stehen bzw. antiisraelische oder sogar antisemitische Ressentiments zu bedienen.

Besonders forsche Apologeten der israelischen (Kriegs-)Politik, ob sie aus der diffusen Ecke der sog. Antideutschen oder aus dem Zentralrat der Juden in Deutschland kommen, tun sich nicht mehr so leicht mit ihren grobschlächtigen Klassifizierungen in gut oder böse, seit ihnen aus den eigenen Reihen heraus widersprochen wird. Die »Europäischen Juden für einen gerechten Frieden« stellten sich in einer öffentlichen Erklärung hinter Entwicklungshilfeministerin Wieczorek-Zeul, nachdem diese den israelischen Angriff auf den Libanon als „völkerrechtswidrig“ beurteilt hatte und vom Zentralrat der Juden hierfür heftig angegriffen worden war. Kurze Zeit später meldete sich Rolf Verleger, Mitglied der jüdischen Gemeinde in Lübeck und zugleich im Direktorium des Zentralrats, zu Wort und kritisierte die völlige Identifikation des Zentralrats der Juden mit der Außenpolitik Israels. „In einer Zeit“, so monierte Verleger, „in der der jüdische Staat andere Menschen diskriminiert, in Kollektivverantwortung bestraft, gezielte Tötungen ohne Gerichtsverfahren praktiziert“, könne vom Zentralrat der Juden erwartet werden, „dass das wenigstens als Problem erkannt wird.“ Und Evelyn Hecht-Galinski, die Tochter des angesehenen früheren Zentralrats-Präsidenten Heinz Galinski, legte in einem Interview mit dem Deutschlandfunk am 1. September nach, indem sie dem Zentralrat vorwarf, sich „zum wiederholten Male als Sprachrohr der israelischen Regierung in Deutschland“, als „Propagandamaschinerie“ zu verstehen, „anstatt sich um die sozialen Belange der Gemeindemitglieder in den jüdischen Gemeinden in Deutschland zu kümmern.“ Das sei seine „eigentliche Aufgabe“. Sie legt auch den Finger auf einen wunden Punkt der öffentlichen Diskussion und der mangelnden Bereitschaft der Linken und der Friedensbewegung, sich in der Nahostfrage stärker zu engagieren: „Ich kriege so viele Zuschriften von sehr, sehr engagierten Deutschen, die absolut nicht in der rechten Ecke sind, die sich aber schon gar nicht trauen, den Mund aufzumachen. Die sagen immer, ,Sie können das mit ihrem Namen, aber wenn wir das sagen, sind wir sofort Antisemiten‘.“ Mit dem Antisemitismus-Vorwurf hantiert besonders schnell die streitbare Präsidentin des Zentralrats der Juden, Charlotte Knobloch, die vor kurzem sowohl der Entwicklungshilfeministerin Wieczorek-Zeul als auch dem Linksfraktions-Vorsitzenden Oskar Lafontaine vorwarf, sie unterstützten mit ihrer Kritik an Israel „die Anti-Stimmung gegen Juden in Deutschland“. Dem hält Hecht-Galinski entgegen, dass „nicht diejenigen, die Israels Politik kritisieren“, den Antisemitismus „fördern“, sondern diejenigen, „die schweigen und damit zulassen, dass das Bild von hässlichen Israeli und inzwischen auch von hässlichen Juden“ entstehen könne. Die Ursache für eine hier zu Lande steigende antiisraelische Stimmung liege in erster Linie an der israelischen Politik, „die durch nichts mehr zu rechtfertigen“ sei.

Linke Intellektuelle – deren Ahnengalerie gespickt ist mit jüdischen Denkern – und die Friedensbewegung taten sich schwer, die israelische Politik in den letzten Wochen und Monaten als das hinzustellen, was sie ist: völkerrechtswidrig, aggressiv und menschenverachtend. „Jegliche Kritik wird als Antisemitismus verurteilt, und dadurch ist ja schon fast jeder mundtot gemacht worden“, sagte Frau Hecht-Galinski und kann sich dabei auch auf Erfahrungen der Organisation »Europäische Juden für einen gerechten Frieden« (EJJP) stützen, deren Mitglied sie ist und deren Stimme nur sehr selten ein Echo in den Mainstream-Medien findet. Man stelle sich nur einen Augenblick vor, die USA – und nicht die Israelis – hätten den Libanon-Krieg geführt: Wäre da nicht ein Aufschrei durch die Welt, auch durch Deutschland gegangen? Hätten sich da nicht wieder unzählige Intellektuelle, politische, soziale und kulturelle Organisationen und Institutionen zu Wort gemeldet und ihren geharnischten Protest hinaus posaunt? Die Friedensbewegung hätte mit Sicherheit wieder größere Menschenmassen auf die Straße gebracht. Kurz: Die Empörung über einen völkerrechtswidrigen Krieg, über Kriegsverbrechen und Verstöße gegen die Genfer Konvention hätte über die Linke und die Friedensbewegung hinaus breite Teile der Gesellschaft erfasst. Israels Krieg gegen Libanon und – nicht zu vergessen – die andauernden militärischen »Strafaktionen« gegen Palästinenser im Gazastreifen und Westjordanland verstießen genauso gegen Völkerrecht, Genfer Konvention und alle einschlägigen Menschenrechtskonventionen. Der lautstarke Protest dagegen blieb aus, weil die Hemmschwelle, Israel zu kritisieren, ungleich höher liegt als im Fall der USA.

Soweit das historische Bewusstsein und politische Gewissen der Deutschen dafür verantwortlich sind, dass diese Hemmschwelle höher liegt als bei jedem anderen Staat, ist das sogar ein zivilisatorischer Fortschritt. Das Bekenntnis der Deutschen zu ihrer nicht tilgbaren Schuld gegenüber den Juden impliziert immer auch eine besondere Verantwortung für deren Schutz und Sicherheit – nicht nur in Israel übrigens, sondern auch bei uns und überall in der Welt. Wenn die politische Klasse daraus allerdings eine »Staatsräson« macht, welche die bedingungslose Solidarität mit Israel zum wichtigsten Credo deutscher Außenpolitik im Nahen Osten erklärt, beraubt sie sich jeglichen politischen und diplomatischen Handlungsspielraums. Die Rede der Bundeskanzlerin in der Haushaltsdebatte am 6. September war diesbezüglich eine Offenbarung. „Es muss verhindert werden, dass deutsche Soldaten auf Israelis schießen, und sei es nur ungewollt“, sagte sie. (Dürfen wir ergänzen: Es bereitet uns kein Problem auf andere zu schießen?). Und die Kanzlerin fährt fort: „Wenn es aber zur Staatsräson Deutschlands gehört, das Existenzrecht Israels zu gewährleisten, dann können wir nicht einfach sagen: Wenn in dieser Region das Existenzrecht Israels gefährdet ist – und das ist es –, dann halten wir uns einfach heraus.“ Wann wird es dieser Kanzlerin und all jenen, die sich ihrer Staatsräson verschrieben haben, dämmern, dass die Sicherheit Israels langfristig nur dadurch zu erreichen ist, dass auch die Sicherheit der Palästinenser und aller anderen Staaten der Region garantiert wird? Krieg und Militär, das zeigt die Geschichte des Nahen Ostens der letzten 58 Jahre, haben noch nie einen Beitrag dazu geleistet.

Der Einsatz der deutschen Marine vor Libanons Küste, der am 20. September vom Bundestag mit Dreiviertelmehrheit beschlossen wurde, wird erstens die Gewalt im Nahen Osten nicht beenden. Der nächste militärische Konflikt wartet gleichsam »auf Wiedervorlage«. Zweitens wird Israel, ohnehin hochgerüstet dank US-amerikanischer und deutscher Militärhilfe, einen verlässlichen Alliierten »vor Ort« haben. Das ist zwar nicht (ganz) im Sinne der UN-Resolution 1701 und des entsprechenden Mandats des Sicherheitsrats für UNIFIL, aber es könnte – drittens – ein weiterer Bestandteil der US-Kriegsvorbereitungen werden, die auf Syrien und den Iran abzielen. Die USA halten ja nach wie vor an ihrer Drohkulisse gegen Iran fest und schließen einen Krieg nicht aus – der israelische Minister Jacob Edri ist von der Notwendigkeit dieses Krieges sogar überzeugt (Thüringer Allgemeine vom 05.09.06). Eine deutsche Truppenpräsenz vor Libanons Küste könnte Deutschland also auch in einen größeren Krieg hinein ziehen. Frau Merkel wäre, als sie noch nicht Kanzlerin war, gern beim US-Krieg gegen Irak mitmarschiert. Ob ihr damaliger Traum sich gegen Iran erfüllt? Er geriete zum Alptraum – für alle Beteiligten: Die Bundeswehr »zeigt Präsenz« im Libanon und wird »präsent« im nächsten Nahost-Krieg.

Dr. Peter Strutynski, Politikwissenschaftler; Mitglied der Arbeitsgruppe Friedensforschung an der Uni Kassel, die die jährlichen »Friedenspolitischen Ratschläge« veranstaltet.

Sammelsurium statt Strategie

Sammelsurium statt Strategie

Bericht zum Aktionsplan Krisenprävention

von Barbara Unger

Als die Bundesregierung genau zwei Jahre nach der Verabschiedung des Aktionsplans »Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung« (im Folgenden kurz: Aktionsplan) ihren ersten Umsetzungsbericht veröffentlichte, löste das keinen Presserummel aus und es folgte auch keine rasche Reaktion der nicht-staatlichen Akteure. Die Pressemitteilung am 31. Mai diesen Jahres war denkbar knapp, und der Bericht zunächst nicht online erhältlich. Zudem kam er sperrig daher: Über 130 Seiten insgesamt, in der Gliederung nicht an dem damals auch wegen seiner Länge kritisierten Aktionsplan angelehnt. Unter der Überschrift »Sicherheit und Stabilität durch Krisenprävention gemeinsam stärken« legte die Bundesregierung dar, welche Leitgedanken, Umsetzungsmaßnahmen und neue Wege sie in Bezug auf den Aktionsplan sieht. Ist der Aktionsplan heute belanglos, ist der Erfolg so gering? Was sind die Kriterien, an denen die Umsetzung des Aktionsplans gemessen werden soll? In welchem Verhältnis stehen dabei der Prozess der interministeriellen Abstimmung auf der einen und die konkreten Ergebnisse auf der anderen Seite?

Zunächst ein Schritt zurück und ein Blick auf den Aktionsplan. Als Selbstverpflichtung der Bundesregierung wurde der Aktionsplan am 12. Mai 2004 vom Bundeskabinett verabschiedet. Auf rund 70 Seiten (ohne Anhang) zeigte die Bundesregierung einerseits auf, was bis dato geschehen war, und stellte gleichzeitig in 161 Aktionen unterschiedlichster Couleur vor, was in einem Zeitraum von fünf bis zehn Jahren zu tun sei, um den bundesdeutschen Beitrag zu Krisenprävention noch effektiver zu gestalten. Damit war der deutsche Aktionsplan wesentlich umfangreicher als beispielsweise der schwedische oder die 2003 verabschiedete Europäische Sicherheitsstrategie.

Neuartig für die deutsche Arbeit im Bereich Frieden und Sicherheit war, dass das Auswärtige Amt (AA) zwar auf seiner Federführung beharrte, den Aktionsplan aber insbesondere mit dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) sowie mit weiteren relevanten Ministerien zusammen erstellte. Eine konkrete »Infrastruktur« für die Arbeit in diesem Bereich wurde angeregt und in der Folge auch umgesetzt. So konstituierte sich im September 2004 ein Ressortkreis aus Beauftragten der einzelnen Ministerien, der im Mai 2005 einen Beirat berief. Nach zwei Jahren zog die Bundesregierung nun Bilanz und erstattet, wie im Aktionsplan festgelegt, dem Parlament Bericht.

Auf dem Weg zu mehr und besserer Koordination der einzelnen Ressorts im Bereich ziviler Krisenprävention ist der Aktionsplan zweifelsohne ein Meilenstein – dieser Aspekt ist nicht genug zu würdigen. Im Folgenden liegt der Schwerpunkt auf Themen, die nach der Vorlage des Umsetzungsberichts noch zu klären oder zu verbessern sind. Zunächst ist ein Nachteil des Aktionsplans und seiner Folgemaßnahmen: Er wurde und wird als rot-grünes Projekt gesehen, „weiße Salbe auf grüne Seele“, das nach der Beteiligung der Bundeswehr im Kosovo nötig war. Zwar geht er auf die rot-grünen Koalitionsvereinbarungen zurück; aber auch die große Koalition hat sich im Koalitionsvertrag vom November 2005 verpflichtet, den Aktionsplan umzusetzen und den Ressortkreis zu stärken. Dennoch: In der politischen Debatte wird auf hochrangiger Ebene nur selten auf den Aktionsplan verwiesen.

Akzentverschiebung von Frieden hin zu Sicherheit

Deutlichster Unterschied zwischen Aktionsplan und Bericht ist der Duktus hinsichtlich des Zielhorizonts. War im Aktionsplan von Frieden und umfassender Sicherheit die Rede, nennt der Bericht schon im Titel Sicherheit und Stabilität. Referenzrahmen ist, unübersehbar durch eine Vielzahl von Zitaten, die den Kapiteln vorangestellt sind, die Europäische Sicherheitsstrategie von 2003. Nun ist es immer Anliegen dieser und der vorherigen Bundesregierung gewesen, darauf hinzuweisen, dass die Bundesregierung ihren Beitrag in einem multilateralen Setting leiste. Neu ist allerdings, dass der Bezug nun die Sicherheit und nicht mehr der zivile Ansatz der Konfliktbearbeitung ist, und dass verkündet wird: „Der Begriff »Zivile Krisenprävention« ist […] nicht als Abgrenzung zu militärischer Krisenprävention zu sehen, sondern schließt letztere mit ein.“ (S. 7) Zudem nimmt die Darstellung militärischer und zivil-militärischer Maßnahmen einen weit größeren Raum ein als genuin zivile Instrumente wie beispielsweise der Zivile Friedensdienst, dem gerade einmal eine halbe Seite gewidmet ist. Diese Wandel sind bereits im Koalitionsvertrag angelegt und lösen das grüne Verständnis und das auf grüne Initiativen zurückgehende Versprechen des Aktionsplans zu einem Primat ziviler Mittel ab.

Was gilt nun? Das neue Weißbuch des Verteidigungsressorts wird im Bericht nicht einmal erwähnt, obwohl es – im deutlichen Unterschied zum Aktionsplan – die deutschen Interessen in den Mittelpunkt des Handelns stellt. Wie zuletzt Stephan Klingebiel zu Recht bemerkt hat, sollte dies zu einer ausführlichen Ziel- und Strategiedebatte anregen, da bislang kein strategischer Kontext und kein einheitlicher Zielhorizont der Bundesregierung im Feld von Frieden und Sicherheit festzustellen ist.

Sind die Strukturen ausreichend für mehr Kohärenz?

Spannend wird es, wo im Bericht die durch den Aktionsplan angeregte Struktur zur Steigerung der Kohärenz zwischen den Ministerien vorgestellt und bewertet wird; hierzu wird auch konkret auf die Aktionen eingegangen. Tatsächlich ist die sichtbarste Folge des Aktionsplans die Einrichtung einer schlanken »Infrastruktur«: Jedes Ministerium ernennt eine/n Beauftragte/n für Krisenprävention; diese bilden den Ressortkreis unter Vorsitz des Auswärtigen Amts, dessen Beauftragter im Botschaftsrang ist. Aufgabe des Ressortkreises ist es, die Kohärenz und Koordinierung der Bundesregierung im Feld der Krisenprävention sicher zu stellen. Der Ressortkreis traf sich laut Bericht durchschnittlich alle sechs Wochen; für die Behandlung von Leuchtturmprojekten wurden Arbeitsgruppen eingerichtet, so zu Entsendegesetz, Ländergesprächskreisen, Ressourcenpools, Sicherheitssektorreform und der Rolle der Privatwirtschaft.

Der Beirat wurde 2005, ein Jahr nach Verabschiedung des Aktionsplans, berufen. Mit 19 Personen aus Wissenschaft und Zivilgesellschaft, Privatwirtschaft und Einzelpersonen mit besonders relevanter Erfahrung hat sich der Ressortkreis ein heterogenes Gremium geschaffen, das die Handlungsfelder des Aktionsplans abdecken soll. Allerdings bedingt diese an sich begrüßenswerte Unterschiedlichkeit der Akteure auch, dass der Beirat kaum konsensuale Stellungnahmen abgeben kann, vielmehr die Perspektiven der unterschiedlichen Akteure aufzeigt. Formal ist die Rolle zwar geklärt, wie sich aber die unterschiedlichen Akteure intern abstimmen, welche Zeitbudgets sie einbringen, ist unbekannt. Die Beratung des Ressortkreises findet vorwiegend in den fünf Arbeitsgruppen statt, bislang aber offenbar nicht hinsichtlich der Gesamtstrategie und der Steigerung der Koordinierung generell. Somit scheint die wertvolle Chance vertan, das Fach- und Prozesswissen des Beirats enger in die laufenden Koordinierungsprozesse einzubinden. Auch zur Bewertung der Umsetzung des Aktionsplans hat der Beirat keinen nach außen sichtbaren Beitrag geleistet: Zum Bericht der Bundesregierung hat sich der Beirat (noch?) nicht öffentlich zu Wort gemeldet; einzelne Organisationen, deren RepräsentantInnen im Beirat sind, haben dies allerdings getan (vgl. die bislang veröffentlichten Stellungnahme der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung und den Kommentar von Stephan Klingebiel).

Woran wäre Erfolg zu messen?

Geht es eher um den schwierigen Prozess einer Annäherung unterschiedlicher Ressortkulturen, der ein langsames Herantasten und die Einübung gemeinsamer Prozesse in Arbeitsgruppen erfordert, oder sollen gleich die konkreten Konsequenzen benannt und evaluiert werden? Geht es um letzteres, dann bleibt der Bericht hinter den Erwartungen zurück. Der ohnehin lange Bericht nimmt nicht auf alle Aktionen des Aktionsplans Bezug, und die Kapitel sind anders gegliedert als im Aktionsplan selbst. Zudem drückt sich der Bericht, mit Ausnahme von einer Seite in der Zusammenfassung, auf der konstatiert wird, der Aktionsplan habe im Berichtszeitraum „erheblich zu einer besseren Ausrichtung des deutschen krisenpräventiven Engagements beigetragen“, um differenziertere Bewertungen herum, er zählt in aller Regel lediglich die seit 2004 – und teilweise sogar vorher – geleisteten Einzelbeiträge auf.

Geht es um den Prozess der Annäherung, so weisen mehrere Faktoren auf Fortschritte hin: nicht die »Zückerchen« (Christiane Lammers W&F 2005) wie der Zivile Friedensdienst und die Einrichtung von FriEnt werden gefeiert, sondern die langsame Annäherung wird betont – leider nur im Kapitel zur Infrastruktur und nicht in Bezug auf einzelne Handlungsfelder.

Auf Ebene gemeinsamer Finanzplanung gibt es zwar keinen Konfliktpool, aber einen ersten Ansatz gemeinsamer Planung in einer interministeriellen Steuergruppe zu westafrikanischen Peacekeeping-Kapazitäten. Die im Aktionsplan vorgeschlagene Überprüfung, ob sich die Bundesregierung an den britischen Pools orientieren könnte und somit über gemeinsame Steuerungs- und Finanzierungsmechanismen zu mehr Kohärenz fände, wurde zwar mit dem Verweis auf das im Grundgesetz verankerte Ressortprinzip verneint. Aber nun sollen rund fünf Millionen Euro aus dem Haushalt des BMV zur Verfügung stehen, die zur Stärkung der westafrikanischen Peacekeeping-Kapazitäten durch eine interministerielle Steuergruppe ausgegeben werden.

Die Arbeit der anderen Arbeitsgruppen führte zwar ebenfalls nicht zu einem grundsätzlichen Wandel, kann aber als wichtiges Feld der Einübung von ressortübergreifenden Abstimmungsprozessen begriffen werden. Die heterogene Besetzung des Beirats dürfte auch Lerneffekte bei der Zusammenarbeit und Konsultation mit den hier vorhandenen Akteuren hervorbringen, wenngleich das sicherlich nicht im ersten Berichtszeitraum zu schaffen war. Zumal seit Verabschiedung des Aktionsplans neben dem Regierungswechsel auch mehrere personelle Wechsel in den am stärksten geforderten Ressorts BMZ und AA stattfanden, so etwa der Wechsel des Krisenpräventionsbeauftragten des AA von Botschafter Hennig auf Botschafter Däuble.

Der Aktionsplan hat diejenigen Kräfte in den Institutionen gestärkt, die ohnehin zumindest Konfliktsensibilität als entscheidendes Kriterium verankern wollen, hat aber keine größeren sichtbare neue Impulse bewirkt. So würdigt der Bericht zwar Fortschritte hinsichtlich der Koordination und Kohärenz innerhalb einzelner Ressorts, wie beispielsweise die Veröffentlichung des Übersektoralen Konzepts zur Krisenprävention, Konfliktbearbeitung und Friedensförderung in der deutschen Entwicklungszusammenarbeit, schlägt aber nicht vor, diese als Modell für das Mainstreaming des Themas in andere Ressorts zu übertragen, obwohl das doch logisch wäre.

Der Umsetzungsbericht erhält keine umfassenden Angaben über die Ressourcenausstattung im Bereich ziviler Krisenprävention; lediglich einzelne Summen werden genannt, so dass über dieses wichtige Indiz für Veränderung kein klares Bild entstehen kann.

Inhaltliche Schritte und neue Schwerpunkte

Unbestritten hat krisenpräventives Handeln in den letzten Jahren zu einer krisensensibleren Sicht in einigen Ressorts geführt. Fraglich ist, wie kohärent und nachhaltig dies geschehen ist. Wiewohl der Ressortkreis anhand ausgewählter Schwerpunkte (Leuchtturmprojekte) die fünf priorisierten Felder – Sicherheitssektorreform, Ressourcenpooling, Entsendegesetz, Ländergesprächskreis mit Pilotland Nigeria, Rolle der Privatwirtschaft – ressortübergreifend behandelt hat, blieb diese Behandlung exemplarisch. Fünf neue Schwerpunkte der nationalen Ebene (neben weiteren auf der internationalen) nennt nun der »Aktionsplan im Aktionsplan« des Umsetzungsberichts. Auf der Agenda stehen weiterhin die Bemühungen, die Schnittstellen Early Warning und Early Action zu bestimmen und die vorhandenen Mechanismen wirksam zu nutzen, Bemühungen in der multidimensionalen Krisenprävention voranzutreiben, wobei der zivil-militärischen Erfahrung und der Ausbildungskooperation zwischen den Ministerien besonderes Gewicht zukommen soll. Auffallend ist, dass zivile Mittel den militärischen zugeordnet werden, nicht umgekehrt.

Der Komplex Wirtschaft-Umwelt-Konflikt wird weiterhin prioritär gesehen; hier wird der internationalen Energiesicherheit eine wichtige Rolle eingeräumt. Als vierter Punkt wird die Stärkung des Ressortkreises genannt; die Anbindung an die Staatssekretärs/-ministerebene soll gesucht werden. Zudem soll geprüft werden, inwiefern der Ressortkreis stärker inhaltliche Formulierungen deutscher Positionen übernimmt. Fünfter Punkt ist die Kommunikation; zu Recht merkt der Bericht an, dass eine »Präventionslobby« fehlt und öffentliches Interesse an den Themen geweckt werden muss. Doch auch dazu fehlen konkrete Maßnahmen oder auch nur Vorschläge – und die Art der Veröffentlichung des Berichts scheint darauf hinzudeuten, dass hier noch erhebliche Arbeit zu leisten ist.

Der Bericht zum Aktionsplan reagiert merklich auf Anregungen und Kritik, die seinerzeit zum Aktionsplan geäußert wurden. Allerdings ist nicht zu erkennen, dass diese Anregungen in die Gesamtstrategie aufgenommen und tatsächlich inhaltlich umgesetzt worden wären. Ein Beispiel ist der Umgang mit dem Vorwurf, der Aktionsplan sei zu wenig auf Gender allgemein und die Umsetzung der UN-Resolution 1325 im Besonderen eingegangen. Auf drei Seiten wird in Kapitel 12 des Berichts zwar auf die Errungenschaften eingegangen. Damit wird Gender allerdings erneut als add-on behandelt statt wie postuliert als Querschnittsaufgabe.

Insgesamt: Der Aktionsplan bleibt als Rahmen erhalten; wie dieser Rahmen weiter genutzt wird, lässt sich sicherlich an Form und Inhalten der Debatte um den Umsetzungsbericht ablesen, die nun nach der Sommerpause ansteht.

Wie soll es weitergehen?

Ohne auf alle Ansatzpunkte eingehen zu können, scheinen folgende Aspekte von besonderer Bedeutung:

  • Der Bundestag ist Adressat des Berichts der Bundesregierung – wird er die Chance nutzen, eine Debatte über die friedens- und sicherheitspolitische Strategien der Bundesregierung zu führen, und dabei die oben aufgeworfenen Fragen nach dem Verhältnis von zivilen und militärischen, vor- und nachsorgenden Maßnahmen aufgreifen? Die Debatte um das noch nicht offiziell veröffentlichte Weißbuch des Verteidigungsministeriums sollte dringend in diesem Zusammenhang geführt werden.
  • Die Bundesregierung hat ihren Bericht stark an die Europäische Sicherheitsstrategie angelehnt; in ihrer EU-Präsidentschaft 2007 wird sie zeigen müssen, wie wichtig ihr das Thema ist, welche Beiträge sie für den Bereich zivile Krisenprävention für Europa leistet, und auf welche Netzwerke sie sich dabei stützt. Innenpolitisch stünde es an, den Aktionsplan stärker als Grundlage des Handelns heranzuziehen und dies auch öffentlich darzustellen: Wer außerhalb der Fachöffentlichkeit hat je vom Aktionsplan gehört? Dazu kann Voraussetzung sein, die Struktur zu verbessern und, wie vorgesehen, den Ressortkreis zu stärken – vor allem aber kommt es darauf an, ob er weiterhin vorrangig als Erbe der grünen Regierungsbeteiligung gesehen wird oder als Grundlage staatlichen Handelns.
  • Wissenschaft und Zivilgesellschaft – wie werden sie über ihre Mitgliedschaft im Beirat hinaus die Bundesregierung und die Ressorts beratend begleiten? Welche Kommunikationskultur muss sowohl auf Seiten der Regierung und Administration als auch auf der Seite der nichtstaatlichen Akteure ausgebildet werden, um dem Thema zivile Krisenprävention Schub zu verleihen? Einige Vorschläge stehen im Raum: So könnte die Zivilgesellschaft einen friedenspolitischen Schattenbericht veröffentlichen, der kritisch die Umsetzung misst (Ulrike Hopp auf der AFK-Tagung), und eine klare Advocacy-Strategie der Akteure könnte erlauben, zeitnah konkrete Vorschläge zu unterbreiten. Wer aber wird dies leisten?

Literatur

Bericht der Bundesregierung: Sicherheit und Stabilität durch Krisenprävention gemeinsam stärken. 1. Bericht der Bundesregierung über die Umsetzung des Aktionsplans »Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung«. http://www.auswaertiges-amt.de/diplo/de/Aussenpolitik/FriedenSicherheit/Krisenpraevention/Aktionsplan1BerichtBuReg0506.pdf

Konferenz des Instituts für Entwicklung und Frieden im Januar 2006 zu: Der Aktionsplan »Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung«. Stand und Perspektiven aus Sicht der Friedens- und Konfliktforschung. Tagungsbericht unter http://www.bundesstiftung-friedensforschung.de/pdf-docs/debielbericht.pdf

Bericht der AFK-Tagung auf Deutsch im PRIUB-Newsletter: http://www.priub.org/afb_info/2006_1_de.pdf

Die Presseerklärung der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung »Plattform Zivile Konfliktbearbeitung fordert mehr politische Bedeutung für den Aktionsplan der Bundesregierung zur zivilen Krisenprävention« kann unter http://www.konfliktbearbeitung.net/?info=docs&pres=detail&uid=638 angefordert werden

Klingebiel, Stephan (2006): Globaler Aktionismus reicht nicht: Deutschland braucht eine Debatte über seine Sicherheitspolitik, in: Internationale Politik, Nr. 8, August 2006, 96–97. http://www.die-gdi.de/die_homepage.nsf/6f3fa777ba64bd9ec12569cb00547f1b/2ea7464a12a15e9cc12570fb002cc486/$FILE/Internationale%20Politik-August-2006.pdf

Stellungnahme des Frauensicherheitsrats zum Bericht der Bundesregierung über die Umsetzung des Aktionsplans »Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung« für den Berichtszeitraum Mai 2004 – April 2006 http://www.uni-kassel.de/fb5/frieden/themen/Konfliktbearbeitung/frauen.html

Barbara Unger, Diplompolitologin, beschäftigt sich seit über zehn Jahren mit Themen der zivilen Konfliktbearbeitung. Seit Mai 2006 ist sie, neben freiberuflicher Tätigkeit, Projektkoordinatorin bei der Berghof Foundation for Peace Support. Der Beitrag gibt ihre persönliche Meinung wieder.

Bundeswehreinsätze im Inneren

Bundeswehreinsätze im Inneren

Betriebswirtschaftliche Argumentation als Triebfeder

von Michael Berndt

Im Frühjahr diesen Jahres erregte Bundesinnenminister Schäuble Aufsehen mit seiner Forderung, die Bundeswehr verstärkt im Inland einzusetzen. Dabei dachte er an Großereignisse wie die Fußballweltmeisterschaft und an einen besonderen Beitrag der Bundeswehr zum Kampf gegen den Terrorismus. Die Argumentationskette: Die Bundeswehr verfügt über Fähigkeiten, die die Polizei nicht besitzt, diese Fähigkeiten müssen auch im Inland zur Terrorismusabwehr genutzt werden, und da Großereignisse immer auch die Gefahr terroristischer Anschläge in sich bergen, bietet sich ein Bundeswehreinsatz hier direkt an. Im Spätsommer sind diese Forderungen weitgehend aus den Medien verschwunden. Die Bundeswehrdiskussion wird beherrscht von der aktuellen Situation in Afghanistan und dem Einsatz vor der Küste des Libanon. Bundeswehreinsätze stellen sich wieder als Auslandseinsätze dar. Doch Schäubles Vorstellungen sind genau so wenig vom Tisch, wie das am 15.02.2006 vom Bundesverfassungsgericht für nicht grundgesetzkonform erklärte Luftsicherheitsgesetz. Im Entwurf des neuen »Weißbuchs zur Sicherheitspolitik«, das die Bundeskanzlerin zu einem wichtigen Arbeitsschwerpunkt der Bundesregierung für das Restjahr1 erklärte, finden sich all diese Themen wieder. Was ist der Hintergrund für diese neue Debatte über die Erweiterung der Einsatzmöglichkeiten der Bundeswehr?

Bei der Diskussion über die Erweiterung der Einsatzmöglichkeiten der Bundeswehr erscheint es so, als ginge es der Bundesregierung um reine Machtpolitik und eine stärkere außenpolitische Rolle – auch im Verhältnis zu den USA und den anderen westeuropäischen Staaten. Wenn Exverteidigungsminister Struck von der Verteidigung Deutschlands am Hindukusch spricht, unterstreicht das diese These, es sagt aber noch nichts aus über die Hintergründe einer Erweiterung der Einsatzmöglichkeiten der Bundeswehr im Inneren unseres Landes. Bei Letzterem zeigt sich, dass nicht nur (Welt-)Ordnungsvorstellungen, Vorstellungen über die Rolle militärischer Gewalt und eine einseitige Sicherheitsdefinition bei der Erweiterung der Bundeswehr-Einsätze eine Rolle spielen, sondern auch eine betriebswirtschaftliche Zweck-Mittel-Logik.

In diesem Artikel geht es um den Zusammenhang zwischen dieser Zweck-Mittel-Logik und der Definition von Sicherheit,2 darum, wie die Grenze zwischen Innerer und Äußerer Sicherheit zunehmend verwischt wird.

Verfassung wird ausgehöhlt

Im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland – in seiner mit den Notstandsgesetzen von 1968 festgelegten Fassung – heißt es in Artikel 87a: „(1) Der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf… (2) Außer zur Verteidigung dürfen die Streitkräfte nur eingesetzt werden, soweit dieses Grundgesetz es ausdrücklich zulässt.“

Doch was lässt das Grundgesetz ausdrücklich zu? Im Normalzustand/Frieden lässt das Grundgesetz den Einsatz der Bundeswehr im Inland nur als humanitäre/technische Amtshilfe bei Naturkatastrophen und besonders schweren Unfällen zu (Art. 35). Im Ausland darf die Bundeswehr im Normalzustand nach Auslegung des Bundesverfassungsgerichtes von 1994 nur im Kontext von Systemen kollektiver Sicherheit zur Wahrung des Weltfriedens eingesetzt werden. Nach diesem Verständnis verbietet das Grundgesetz im Normalzustand sowohl den militärischen Einsatz der Bundeswehr im Inland, wie den rein nationalen Einsatz der Bundeswehr als militärisches Instrument im Ausland. Ausnahmeregelungen trifft das Grundgesetz für den Inlandseinsatz nur noch für die Fälle des inneren Notstandes und des Verteidigungsfalls. Nur während eines inneren Notstandes, nach Artikel 91, darf die Bundeswehr zur Unterstützung der Polizei beim Objektschutz und bei der Bekämpfung von organisierten und militärisch bewaffneten Aufständischen tätig werden (Art. 87a [4]). Und nur im Verteidigungsfall (Art. 115) darf die Bundeswehr zur Verkehrsregelung, zum Schutz ziviler Objekte und zur Unterstützung polizeilicher Maßnahmen (GG Art 87a [3]) eingesetzt werden.

Diese Regelungen scheinen klar, doch die Geschichte der Bundeswehreinsätze ist davon geprägt, dass die Einsatzmöglichkeiten zunehmend ausgedehnt wurden,3 einhergehend mit einer teils offenen, teils stillen Neuinterpretation der grundgesetzlichen Regelungen. Ein Ausdruck der offenen Neuinterpretation ist das Verfassungsgerichtsurteil von 1994.4 Während die sukzessiven Erweiterungen bei den Auslandseinsätzen zumeist von größeren öffentlichen Protesten begleitet wurden, trifft dies auf die Erweiterungen der Einsatzmöglichkeiten im Inneren kaum zu. Hier wurde eher im Stillen uminterpretiert und entsprechend gehandelt.

Zunächst wurde die Bundeswehr im Inland tatsächlich nur zur Amtshilfe bei Naturkatastrophen und Unfällen eingesetzt, z. B. bei diversen Hochwasserkatastrophen seit den 1960er Jahren. Später kamen Unterstützungseinsätze bei gesellschaftlichen Großereignissen und polizeilichen Großaktionen dazu. Amtshilfe mit Sanitätern und Transportkapazitäten wurden aktuell beim Weltjugendtag 20055 und der Fußballweltmeisterschaft 20066 geleistet, obwohl beide Ereignisse sicher nicht unter Naturkatastrophe oder besonders schweres Unglück eingereiht werden können. Für die Fußballweltmeisterschaft wurden außer den tatsächlich eingesetzten Kräften auch Einheiten bereit gehalten, die im Notfall zum Einsatz kommen sollten. Über die neutrale Amtshilfe gingen dann aber schon in den 1980er Jahren Inlandseinsätze der Bundeswehr hinaus, die als Hilfe bei der Durchsetzung bestimmter politisch umstrittener Projekte im Inland zu interpretieren sind. So unterstützte die Bundeswehr z.B. im Rahmen der Auseinandersetzungen um die Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf die Polizei mit Hubschraubern zum Transport und zur Aufklärung7. Mit all diesen Erweiterungen änderte sich auch das eingesetzte Material. So wurden u.a. beim Hochwasser an Rhein, Main, Mosel und Saar 1995 auch Tornado-Kampfflugzeuge zur Luftaufklärung im Tiefflug eingesetzt.8 „Die Tornados konnten nach dieser Tiefflugerprobung ihrer neuen Aufklärungsgeräte … wenig später nach Bosnien verlegt werden“9 Auch die Auslandseinsätze begannen mit humanitärer Hilfe bei Naturkatastrophen, zuerst 1960 in Marokko. Und sie endeten (zunächst) bei der Möglichkeit, die Bundeswehr auch zum Kampf außerhalb der Landesverteidigung einzusetzen, wenn sie nur – wie das Verfassungsgerichtsurteil von 1994 festlegt – im Kontext von Systemen kollektiver Sicherheit – also nicht rein national – stattfinden und der Bundestag ihnen zustimmt.

Bei den Auslandseinsätzen sammelte die Bundeswehr Erfahrungen, von denen Schäuble u.a. jetzt auch bei Einsätzen im Inneren profitieren möchte. So praktizierte sie im Nachkriegs-Kosovo und im Rahmen der ISAF in Afghanistan Objektschutz und die Unterstützung polizeilicher Maßnahmen. Also genau das, was im Frühjahr diesen Jahres als Aufgabe für Inlandseinsätze in die Diskussion gebracht wurde.

Eine Gesamtbetrachtung der Erweiterungen fördert zu Tage, dass sie immer schrittweise durchgeführt wurden, so dass die jeweilige Bundestagsmehrheit sie mittragen konnte und es in der Bevölkerung keine riesigen Proteste gab. Jeder Schritt beinhaltet dabei aber bereits die Option auf den nächsten. Genau deshalb ist auch bei der neuerlichen Diskussion über den Bundeswehreinsatz im Inneren größte Skepsis angesagt.

Ökonomisierung und Sicherheitsdefinition

Die Forderung nach erweiterten Einsatzmöglichkeiten der Bundeswehr im Inneren wird zum einen begründet mit der veränderten Sicherheitslage und zum anderen damit, dass die Bundeswehr über Fähigkeiten verfügt, die die Institutionen, die im Inland für derartige Einsätze zuständig sind – so die Bundespolizei, die Landespolizeien, das THW, die Feuerwehren und die diversen medizinischen Institutionen –, nicht besitzen. Aufschlussreich ist dabei, dass nicht etwa der Bundesverteidigungsminister an erster Stelle die neuen Vorstellungen über den Inlandseinsatz der Bundeswehr in der Öffentlichkeit vertritt, sondern der Bundesinnenminister. Statt für die, in seinen Zuständigkeitsbereich fallende Bundespolizei neues Material zu fordern – was allerdings einer weiteren kritischen Diskussion bedürfte –, fordert er eine Neudefinition des Verteidigungsbegriffes.10

Hier zeigt sich, wie ökonomisiertes Denken Einzug in die sicherheits- und militärpolitischen Planungen genommen hat. Es geht nur noch um die Ziel-Mittel-Frage: Auf der einen Seite steht eine veränderte Rahmenlage, auf die reagiert werden muss. Auf der anderen Seite stehen bestimmte Mittel zur Reaktion zur Verfügung. Ist das Ziel, Schutz vor den neuen Sicherheitsgefahren, so sind die Mittel dazu optimal einzusetzen.11 Diese verbetriebswirtschaftlichte Sichtweise wird nun auf die internen Planungen der Bundeswehr angewandt,12 wie auch bei den Überlegungen zu neuen Einsatzmöglichkeiten. Dies ist allerdings kein Spezifikum der Sicherheits- und Militärpolitik, sondern Ausdruck einer Politikauffassung, die sich auch bezüglich anderen Politikfelder identifizieren lässt.13 Die Folge ist, dass der aus dem Grundgesetz herauslesbare Tenor einer Skepsis gegenüber dem militärischen Instrument, inkl. seiner Ein- und Beschränkungen, zunehmend ersetzt wird durch eine betriebswirtschaftliche Zweck-Mittel-Logik, in deren Rahmen Militär zu einem normalen – nahezu überall anwendbaren – Instrument unter anderen wird.

Diese ökonomische Logik findet sich dementsprechend genauso wieder im Konzept der Zivil-militärischen Zusammenarbeit in Afghanistan, wie in Deutschland während der Fußballweltmeisterschaft. Mit dem Kriterium des optimalen Mitteleinsatzes, wird es – scheinbar zwanghaft – notwendig, diesen auch optimal zu organisieren. Daraus folgt, dass in Friedenszeiten die Kooperation zwischen Bundeswehr und anderen Institutionen so organisiert werden muss, dass Dopplungen und lange Wege vermieden werden. Genau dazu fanden im Vorfeld der Fußballweltmeisterschaft diverse Übungen statt.

Sekundiert wird dies durch die Neudefinition der Sicherheitslage. Wird in der politischen Diskussion von einer Unsicherheit gesprochen, so wird suggeriert, dass es Ereignisse oder Entwicklungen gibt, die eine objektiv feststellbare Sicherheitsbedrohung für ein Objekt darstellen. Empirische Basis dieser scheinbar objektiven Feststellung sind dann z.B. artikulierte Absichten und identifizierte Potentiale des definierten Gegners. Zentrale Aufgabe der Regierenden ist es dann, Überlegungen anzustellen, wie dieser vorhandenen Bedrohung begegnet werden kann. In den letzten 50 Jahren haben sich aber die Kriterien für die Identifikation von Sicherheitsbedrohungen stark gewandelt14. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde (äußere) Sicherheit im wesentlichen über die militärische Bedrohung durch einen identifizierbaren Akteur mit identifizierbaren militärischen Fähigkeiten definiert. In den 1970er Jahren wurde der Sicherheitsbegriff dann – ausgehend von den Ölkrisen – zum ersten Mal erweitert. Als zusätzliche Gefahr wurden nun Entwicklungen wahrgenommen, die auf die Verwundbarkeit staatlich verfasster Gesellschaften durch Außeneinflüsse hindeuteten, z.B. die Abhängigkeit von Erdöllieferungen und damit die Verwundbarkeit im Energiebereich. Das Militärische in der Bedrohung wurde so einerseits relativiert, andererseits wurden zur Vorsorge gegen die neuen Bedrohungen gerade auch militärische Mittel in Betracht gezogen. Zu Beginn der 1990er Jahre fand dann ein zweiter Wandel statt. Unter dem Begriff des Risikos (für die eigene Sicherheit) wurde nun ein ganzes Konglomerat von Entwicklungen gefasst, denen es sowohl an Akteurscharakter wie an intendierter Bedrohung mangelte. Jegliche Entwicklung erschien nun sicherheitsrelevant. Was aber dabei der genuin militärische Beitrag zur Sicherheitsbewahrung sein sollte, blieb offen. Genau in diesem Sinne wurde in den Verteidigungspolitischen Richtlinien von 1992 festgestellt: „Diese Risiken sind aufgrund ihres Ursachencharakters nicht militärisch lösbar. Sie können auch nicht mit militärischen Potentialen ausbalanciert werden. Der mögliche Verlauf von Krisen und Konflikten lässt sich kaum nach Wahrscheinlichkeit und Bedrohungsgrad voraussagen.“15 Militär sollte also zur Risikovorsorge beitragen, obwohl es dazu nach amtlicher Auffassung gar nicht fähig war.

Mit dem 11.9.2001 kehrten dann – mit den Terroristen – wieder konkrete Akteure in die Sicherheitsdiskussion zurück, die Fähigkeiten und Absichten blieben aber diffus. Allerdings konnten nun diese Akteure herangezogen werden, um den Sicherheitsbegriff nochmals neu zu definieren. Zentral ist, dass diese Akteure und ihre verbrecherischen Aktionen den Ausgangspunkt lieferten, um Terroranschläge als kriegerische Akte zu definieren.16 Der Feind (im Sinne es eines klaren Gegners) kehrte so in die sicherheits- und militärpolitischen Planungen zurück. Es ist ein benennbarer Feind – wie diffus er auch immer sein mag. Das Problem mit diesem Feind ist, dass für ihn Landesgrenzen keine wesentlichen Schranken mehr darstellen. Die Definition der Terroranschläge als Krieg – und nicht mehr als kriminelle Akte17 – ermöglichte den umfassenden Einsatz des Militärs zur Terrorismusbekämpfung. Dieser Logik entspricht, dass Angesichts des internationalen Terrorismus eine Trennung von äußerer und innerer Sicherheit als nicht mehr problemadäquat erklärt wird, also auch nicht mehr die Beschränkung der Bundeswehr auf Friedens- und Verteidigungseinsätze außerhalb Deutschlands.

Hier wird deutlich, dass die konkrete Form der Definition von Sicherheitsbedrohungen letztlich von den politischen Entscheidungsträgern abhängt und davon, welche Instrumente diese zur Bedrohungsabwehr einsetzen wollen.18 D.h., nicht nur die Bedrohung ist Ausgangspunkt für die Auswahl der Instrumente, sondern auch das Interesse daran bestimmte Instrumente – und hier eben das Instrument Militär – einsetzen zu wollen wird zum Ausgangspunkt für die konkrete Definition der Bedrohung. Welche Entwicklungen in welcher konkreten Situation als Sicherheitsbedrohung definiert werden, hängt so auch damit zusammen, welche Gegenmittel und Strategien gerade durchgesetzt werden sollen.

Nun schließt sich der Kreis. Angesichts der identifizierten Gefahren und knapper Ressourcen erscheint es politisch eher durchsetzbar, das Militär zur Terrorismusbekämpfung einzusetzen, als im Inland anderen (zivilen) Institutionen entsprechend mehr Mittel zur Verfügung zu stellen oder in weit stärkeren Maße die Ursachen des Terrorismus zu bearbeiten. Indem das Militär zur entscheidenden Kraft im Kampf gegen den Terror erklärt wird, geht man auch der Frage aus dem Wege, ob es nicht adäquater – und langfristig auch kostengünstiger – wäre, die Ursachen des Terrorismus zu bearbeiten, als auf die Folgen zu schießen.

Die Verstetigung des Notstandes

Unter diesem Blickwinkel erscheint es nun durchaus folgerichtig, wenn demnächst erneut die Ausweitung der Einsatzmöglichkeiten der Bundeswehr im Inland auf die Tagesordnung gesetzt wird, spätestens dann, wenn es um die im Koalitionsvertrag19 festgehaltene Neuregelung des Luftsicherheitsgesetzes und die Einbringung eines Seesicherheitsgesetzes20 inkl. der damit zusammenhängenden wahrscheinlich notwendigen Grundgesetzänderungen gehen wird.

Die ökonomische Zweck-Mittel-Logik führt zu einer Desensibilisierung gegenüber dem Mittel Militär und gleichzeitig führt die konkrete Sicherheitsdefinition zu scheinbar zwangsläufiger Aufgabenzuweisung an das Militär. Es wächst damit die Gefahr, dass mit der Neuregelung des Luftsicherheitsgesetzes und der Einführung eines Seesicherheitsgesetzes nicht nur kleinere Änderungen des Grundgesetzes verbunden sein werden. Nehmen wir das Terrorismusbekämpfungsgesetz und die Anti-Terror-Datei dazu, so droht ein gesellschaftlicher und politischer Zustand, der als Verstetigung des Notstandes interpretiert werden kann.

Anmerkungen

1) Vgl.: Bauchschmerzen bei Glaubensfragen. Trotz einer positiven Wirtschaftsentwicklung geht die große Koalition angeschlagen in Klausur, in: SZ 29.08.2006, S. 6.

2) Auf den Zusammenhang zwischen Ordnungsvorstellungen, Sicherheitsbegriff und Gewaltdefinitionen bin ich an anderer Stelle schon eingegangen. Siehe: Berndt, Michael: Gewalt – Ordnung – Sicherheit. Die Trias zunehmender Gewöhnung an militärische Gewalt, in: Thomas, Tanja / Virchow, Fabian (Hrsg.): Banal Militarism. Zur Veralltäglichung des Militärischen im Zivilen (Cultural Studies: 13); Bielefeld 2006; S. 65-81.

3) Siehe: Berndt, Michael: Einmal Hindukusch und zurück, in: Forum Wissenschaft 4/2006 (Im Druck).

4) Zur Problematik dieses Urteils siehe: Lutz, Dieter S.: Seit dem 12.Juli 1994 ist die NATO ein System Kollektiver Sicherheit! Eine Urteilsschelte, in: Vierteljahresschrift für Sicherheit und Frieden (S+F) 4/1994; S. 186-188.

5) Siehe dazu die Berichte auf der Domain: http://www.streitkraeftebasis.de (Download: 27.8.2006).

6) Siehe dazu: http://www.fifawm2006.bundeswehr.de/portal/a/fifawm2006 (Download: 27.8.2006).

7) Siehe: Amtshilfe der Bundeswehr bei Demonstrationen, in: ami (18:9-10) 1988; S. 77.

8) Siehe dazu: Gose, Stefan: Bundeswehr im Inneren. Aufgeschoben ist nicht aufgehoben, in: ami (27:12) 1997; S. 49-54; hier S. 52.

9) ebenda

10) Siehe: Schäuble, Wolfgang: Ich kann die neuen Gefahren nicht ausblenden (Interview), in: SZ 8.4.2006; S. 10 und ders.: Das ist die WM und nicht der Kalte Krieg (Interview), in: Der Tagesspiegel 15.5.2006.

11) Schon ein Siebenklässler soll ja lernen, dass Wirtschaften bedeutet „die vorhandenen Mittel zur Bedürfnisbefriedigung möglichst wirksam (effizient) einzusetzen.“ (Riedel, Hartwig (Hrsg.); Politik & Co. Sozialkunde und Wirtschaft für das Gymnasien: Bd. 1: Jahrgangsband 7/8; Bamberg 2003; S. 91).

12) Siehe dazu auch: Kantner, Cathleen / Richter, Gregor: Die Ökonomisierung der Bundeswehr im Meinungsbild der Soldaten. Ergebnisse der Streitkräftebefragung 2003 (Sozialwissenschaftliches Institut der Bundeswehr; SOWI-Arbeitspapiere: 139); Strausberg, Dezember 2004.

13) Siehe dazu: Röttger, Bernd: Jenseits des Staates: Der Positivismus der Geschäftsführer, in: Berndt, Michael/ Sack, Detlef (Hrsg.): Global Governance? Voraussetzungen und Formen demokratischer Beteiligung im Zeichen der Globalisierung; Wiesbaden 2001; S. 147-161 und ders. Militarisierung der Politik – Entpolitisierung des Militärs. Reorganisation der Militärpolitik in der Weltzwangsgesellschaft. Beitrag zum Workshop »Deutsche Militärpolitik nach 1990« das Arbeitskreis Militärpolitikkritik der AFK am 2. und 3.7.2001 in Berlin.

14) Siehe Daase, Christopher: Der erweiterte Sicherheitsbegriff und die Diversifizierung amerikanischer Sicherheitsinteressen. Anmerkungen zu aktuellen Tendenzen in der sicherheitspolitischen Forschung, in: PVS (32:3) 1991; S. 425-451 und ders.: Bedrohung, Verwundbarkeit und Risiko in der neuen Weltordnung, in: ami (21:7) 1991; S. 13-21.

15) Bundesminister der Verteidigung 1992: Verteidigungspolitische Richtlinien für den Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung; Bonn (26.11.), 34 Seiten; hier S. 11.

16) In der regierungsamtlichen deutschen Diskussion wird aber, ganz im Gegensatz zu der in den USA, der Begriff des Feindes explizit vermieden, obwohl er implizit, gerade über die Beteiligung an Militäraktionen im Kontext des NATO-Bündnisfalles immer mitschwingt.

17) Das dies nicht zwangsläufig war, zeigt ein Blick auf Dokumente der EU und des UNO-Sicherheitsrates, die kurz nach dem 11.9.2001 verabschiedet wurden. So finden sich dort noch sowohl Formulierungen, die die Terroraktionen als „Terrorakte“ als auch als „Terrorangriffe“ titulieren. Die Titulierung „Angriff“ hat sich erst in der Folge durchgesetzt.

18) Siehe: Wæver, Ole: Securitization and desecuritization, in: Wæver, Ole; Concepts of security; Copenhagen 1997; S. 211-256.

19) Gemeinsam für Deutschland – mit Mut und Menschlichkeit. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD vom 11.11.2005; S. 116. (http://www.bundesregierung.de/Content/DE/__Anlagen/koalitionsvertrag,property=publicationFile.pdf, Download 1.8.2006).

20) Siehe: ebenda, sowie auch: Schutz vor Angriff an der Küste, in: SZ 30.3.2006; S. 6 und U-Boot-Einsatz nur im Extremfall, in: SZ 27.5.2006; S. 6.

Dr. Michael Berndt ist Friedensforscher. Er wohnt in Habichtswald bei Kassel.

Militärpolitische Leitlinien zur zivil-militärischen Zusammenarbeit (CIMIC)

Militärpolitische Leitlinien zur zivil-militärischen Zusammenarbeit (CIMIC)

von NATO

An dieser Stelle war ein Interview zur zivil-militärischen Zusammenarbeit aus der Sicht der Bundeswehr vorgesehen. Die Fragen sind formuliert und die grundsätzliche Zusage für ein Interview liegt seit August vor. Aber leider gab es ein Terminproblem. Wie uns die Pressestelle der Bundeswehr mitteilte, steht uns „ein hochrangiger Experte der Bundeswehr“ zur Beantwortung unserer Fragen erst für die W&F-Ausgabe 1-2007 zur Verfügung. Um in der aktuellen Ausgabe aber zumindest einen Einblick in ein militärisches Grundverständnis von zivil-militärischer Zusammenarbeit zu vermitteln, haben wir uns entschlossen, hier das einschlägige NATO-Dokument MC 411/1 vom 18. Januar 2002 abzudrucken.1 Es erscheint uns weitgehend selbsterklärend.

Abschnitt 1 – Einführung

Allgemeines

1. Im Rahmen einer von der NATO durchgeführten militärischen Operation entfaltet sich ein breites Spektrum von Beziehungen zwischen den Streitkräften der Allianz und den Zivilbehörden, der Bevölkerung, anderen Organisationen und Einrichtungen. Die Art dieser Beziehungen hängt ab von der Art der durchgeführten Aktivitäten, weshalb innerhalb dieses Spektrums unterschiedliche Voraussetzungen gelten. Im Bereich der zivil-militärischen Zusammenarbeit herrscht eine wechselseitige Abhängigkeit: Zunehmend ersuchen zivile Behörden um Hilfe durch militärische Mittel, andererseits ist die zivile Unterstützung für militärische Operationen wichtig.

Ziel

2. Mit diesem Dokument wird angestrebt, Leitlinien für die NATO-Militärpolitik zur CIMIC festzulegen.

Abschnitt 2 – Begrifflichkeit und Geltungsbereich

Zivil-militärische Zusammenarbeit (CIMIC) bei Einsätzen

3. Veränderungen des Umfeldes, in dem die NATO operieren könnte, haben zur Entwicklung eines neuen Strategischen Konzepts (SC 99) geführt. Im SC 99 wird festgestellt, dass die Interaktion zwischen NATO-Streitkräften und dem zivilen Umfeld, in dem sie operieren, für den Einsatzerfolg wesentlich ist. Dies gilt sowohl für die kollektive Verteidigung (Collective defence operations, CDOs) als auch für Nicht-Artikel-5-Operationen zur Krisenbewältigung (Crisis response operations, CROs); allerdings ist dabei die höhere Wahrscheinlichkeit einer CRO gegenüber einer CDO zu unterstreichen. In MC 400/2 wird sogar festgestellt, dass Operationen zur Krisenbewältigung aufgrund ihrer multifunktionalen Natur erfordern, dass alle beteiligten militärischen und zivilen Einrichtungen und Organisationen ohne Einschränkung zusammenarbeiten.

4. CIMIC erleichtert die Zusammenarbeit zwischen einem NATO-Befehlshaber und allen Teilen des zivilen Umfelds innerhalb seines Gemeinsamen Einsatzgebiets (Joint Operations Area, JOA). CIMIC ist: Die der Unterstützung des Auftrags dienende Abstimmung und Zusammenarbeit zwischen dem NATO-Befehlshaber und den zivilen Akteuren, die Bevölkerung vor Ort ebenso eingeschlossen wie kommunale Behörden und nationale, internationale und Nichtregierungsorganisationen und Einrichtungen.

Weitere Aspekte der zivil-militärischen Beziehungen

5. Zivile Notfallplanung (CEP). Im Allgemeinen dient die CEP (Civil Emergency Planning) dem Schutz und der Hilfe für die Bevölkerung, meist im Katastrophen- oder Kriegsfalle. Im aktuellen Sicherheitsumfeld besteht eine zentrale Funktion der CEP darin, im Hinblick auf die militärische Planung bei Artikel-5- und bei Nicht-Artikel-5-Operationen reaktionsfähig zu bleiben. Dafür ist Sorge zu tragen, indem Vorbereitungen zur Koordinierung ziviler Hilfseinsätze, die für den Einsatzerfolg nach wie vor wesentlich sind, eingeplant werden.

6. Militärhilfe (Military Assistance in Humanitarian Emergencies, MAHE). Im Falle der Katastrophenhilfe und der Hilfe in anderen zivilen Notfällen, die nicht mit NATO-Militäreinsätzen verbunden sind, können nationale militärische Potentiale zur Unterstützung der die Notfallhilfe beaufsichtigenden zivilen Behörden eingesetzt werden. Für diesen Fall sind in MC 343 die NATO-Leitlinien der Militärhilfe bei Internationaler Katastrophenhilfe [Military support for International Disaster Relief Operations] dargestellt; dort wird der Einsatz militärischer und ziviler Kräfte und Mittel in der Katastrophenhilfe [Military and Civil Defense Assets, MCDA] beschrieben. Der Nordatlantikrat (NAC) muss die Nutzung gemeinsamer alliierter militärischer Kräfte und Mittel für solche zivilen Aktivitäten genehmigen.

Im Falle von Artikel-5- oder Nicht-Artikel-5-Operationen kann es sein, dass sich Streitkräfte der Allianz mit ihrem Beitrag zur Krisenbewältigung durch Militäreinsätze auch mit humanitären Notlagen befassen müssen. Während humanitäre Hilfe primär eine Mission für die Host Nation (den »Aufnahmestaat« ) ist und in der Zuständigkeit der UN liegt, kann die Präsenz der die Militäroperationen durchführenden NATO-Streitkräfte dazu führen, dass die Allianz auf zivile Anforderungen rasch reagieren muss. In diesem Falle werden militärische Kräfte und Mittel für begrenzte Aufgaben im Rahmen des Potenzials durch die militärische Befehlskette und gemäß dem vom NAC genehmigten Operationsplan (OPLAN) zur Verfügung gestellt.

7. Unterstützung durch den Aufnahmestaat (Host Nation Support, HNS). Mit der HNS wird angestrebt, den NATO-Befehlshaber und die Entsendestaaten im verfügbaren Rahmen mit Material, Einrichtungen und Diensten zu unterstützen; dazu gehören auch der Schutz von Räumen und administrative Unterstützung gemäß den zwischen Entsendestaaten und/oder NATO und dem Aufnahmestaat getroffenen Vereinbarungen. Als solche erleichtert die HNS den Aufmarsch von Streitkräften in einem Operationsgebiet, indem die Aufnahme, die Sammlung und die Verlegung unterstützt werden. HNS kann ferner den für den Unterhalt und die Verlegung von Truppen erforderlichen Umfang von logistischen Verbänden und Material reduzieren, der sonst von den Entsendestaaten zu gewährleisten ist. Die CIMIC kommt in der Regel dann zum Tragen, wenn es darum geht, die Durchführung der HNS insbesondere im Hinblick auf die Nutzung von HNS-Ressourcen zu erleichtern.

Die Durchführung der CIMIC zur Unterstützung von Operationen

8. Allgemeines. NATO-Operationen müssen bei der Planung und Durchführung von Militäreinsätzen soziale, politische, kulturelle, religiöse, ökologische und humanitäre Faktoren berücksichtigen. Des Weiteren müssen NATO-Befehlshaber die Präsenz immer größerer Zahlen ziviler internationaler und Nichtregierungsorganisationen berücksichtigen. Unterschiede in Kultur und Auftrag zwischen den betroffenen militärischen und zivilen Organisationen können diese schwierigen Umstände noch komplizieren. Effiziente Beziehungen zwischen den militärischen und zivilen Behörden, Organisationen, Einrichtungen und Bevölkerungsgruppen im JOA herzustellen trägt dazu bei, den nicht-militärischen Beitrag zum Erreichen eines stabilen Umfeldes zu maximieren und Konflikte zu minimieren. Der NAC legt den Rahmen für die Beteiligung der im Einsatz befindlichen militärischen Kräfte an zivilen Aktivitäten fest.

9. Zwecke der CIMIC. Unmittelbarer Zweck der CIMIC ist es, die uneingeschränkte Zusammenarbeit von NATO-Befehlshaber und zivilen Behörden, Organisationen, Einrichtungen und Bevölkerung im Operationsgebiet des Befehlshabers zu etablieren und zu erhalten, um ihm die Erfüllung seines Auftrags zu ermöglichen. Dazu kann die direkte Unterstützung der Ausführung eines zivilen Plans gehören. Der langfristige Zweck der CIMIC besteht in ihrem Beitrag zur Schaffung und zum Erhalt von Bedingungen, die das Erreichen der mit den Operationen verbundenen Bündnisziele fördern.

10. Schnittstellen. Die CIMIC ist die Schnittstelle zu den zivilen Behörden und ist als Unterstützung sowohl für Operationen unter Anwendung von Artikel 5 (CDOs) als auch für Nicht-Artikel-5-Operationen (CROs) zu betrachten. Bei CIMIC handelt es sich also um einen in die Kommandostruktur integrierten Tätigkeitsbereich im Kontext des gesamten Operationsplans und nicht um eine eigenständige Aktivität.

11. Geltungsbereich. CIMIC bedeutet weder militärische Kontrolle ziviler Organisationen oder Einrichtungen noch das Umgekehrte. Bei CIMIC ist vorausgesetzt:

a. Das Militär ist in der Regel nur für sicherheitsbezogene Aufgaben und für die Unterstützung der entsprechenden zivilen Behörden – im Rahmen der Kräfte und Mittel – zur Durchführung ziviler Aufgaben zuständig, wenn dies (gegebenenfalls) zwischen dem betreffenden Militärbefehlshaber gemäß OPLAN und den zuständigen zivilen Behörden vereinbart wurde.

b. Unter außergewöhnlichen Umständen kann es notwendig sein, dass das Militär Aufgaben übernimmt, für die normalerweise eine geeignete zivile Behörde, Organisation oder Einrichtung verantwortlich ist. Solche Aufgaben werden nur übernommen, wenn eine geeignete zivile Institution nicht existiert oder nicht in der Lage ist, ihren Auftrag auszuführen, und sonst ein unzumutbares Vakuum entstehen würde. Das Militär muss darauf eingestellt sein, solche notwendigen Aufgaben, wenn es von der zuständigen zivilen Behörde darum ersucht und ihm von der NATO die Genehmigung dazu erteilt wurde, solange zu übernehmen, bis die geeignete zivile Behörde, Organisation oder Einrichtung zur Bewältigung dieser Aufgaben in der Lage ist.

c. Die Verantwortung für zivile Aufgaben wird der geeigneten zivilen Behörde, Organisation oder Einrichtung übertragen, sobald dies zweckmäßig ist; es geschieht möglichst reibungslos.

d. Es kommt häufig vor, dass das Militär Zugriff auf örtliche zivile Ressourcen haben muss. In solchen Fällen werden alle Anstrengungen unternommen, um nachteilige Auswirkungen auf die örtliche Bevölkerung, Wirtschaft, Umwelt, Infrastruktur oder die Arbeit humanitärer Organisationen zu vermeiden.

e. Es werden alle zweckmäßigen Maßnahmen ergriffen, um die Beeinträchtigung der Neutralität und Unparteilichkeit humanitärer Organisationen zu vermeiden.

12. Integrierte Planung. Das Obenstehende erfordert eine integrierte Planung sowie enge Arbeitsbeziehungen zwischen Militär und den geeigneten zivilen Organisationen und Einrichtungen vor und während eines militärischen Einsatzes. Diese Beziehungen werden sowohl im Operationsgebiet als auch auf der Ebene des Strategischen Kommandos oder darunter – wo die militärische Planung erfolgt – gepflegt. Es ist jedoch zu berücksichtigen, dass es nicht immer möglich ist, solche Beziehungen oder Planungsmechanismen, selbst dort, wo sie existieren, auf formeller Ebene zu nutzen.

Abschnitt 3 – Politik

Allgemeines

13. Im Sinne des Bündnisses gründet sich die CIMIC auf die Führung durch den Nordatlantikrat (NAC). Auf dieser Grundlage sind in erster Linie die NATO-Militärbehörden (NMAs) für die Planung und Durchführung von CIMIC-Aktivitäten innerhalb ihres Operationsraumes verantwortlich. Falls erforderlich, stimmen sich die NMAs mit den zuständigen Ausschüssen des Nordatlantikrats ab.

14. Die CIMIC-Doktrin, operative Erfordernisse sowie Verfahren und Standards werden folgendermaßen abgestimmt:

a. Das Hauptziel der Allied Joint Publication AJP-9 – der »NATO Civil-Military Cooperation (CIMIC) Doctrine« – besteht in Richtlinien für die Planung und Durchführung der CIMIC zur Unterstützung von Operationen, an denen NATO-Streitkräfte beteiligt sind. Wenngleich dieses Dokument in erster Linie zur Verwendung durch NATO-Streitkräfte gedacht ist, gilt die Doktrin gleichermaßen für Operationen, die von Koalitionen aus NATO- und Nicht-NATO-Staaten durchgeführt werden.

b. Gegebenenfalls wird die CIMIC in Dokumente über operative Erfordernisse und Einsatzaufträge einbezogen.

c. Es werden auf die Interoperabilität bezogene Standards und Verfahren entwickelt und durchgeführt, um ein CIMIC-Potenzial zu erzielen, das interalliierten und teilstreitkraftübergreifenden Erfordernissen genügt und die Integration nationaler Potenziale ermöglicht.

d. Innerhalb der gesamten integrierten Kommandostruktur der NATO sollten die CIMIC-Stabselemente gestärkt werden.

e. Die NATO-Staaten sollten eigene CIMIC-Potenziale zur Unterstützung der CIMIC-Doktrin, -Erfordernisse und -Verfahren entwickeln, wie durch die Streitkräfteplanung festgelegt.

Abstimmung und Zusammenarbeit

15. Die CIMIC muss ein integraler Bestandteil der gesamten Operation sein, was enger Abstimmung mit anderen militärischen Potenzialen und Maßnahmen bedarf.

16. Um den größten Nutzen aus der CIMIC zu ziehen, ist ein einheitliches Vorgehen notwendig. Die nationalen CIMIC-Aktivitäten und die CIMIC-Aktivitäten der NATO in einem Operationsgebiet sollten eng aufeinander abgestimmt und konfliktfrei gestaltet werden, ohne die Erfordernisse der unteren Führungsebenen zu beeinträchtigen. Am besten sind Kommandoregelungen, die eine koordinierte Führung von CIMIC-Aktivitäten erleichtern.

17. Dem Gesamtziel sind Spannungen zwischen politischen, militärischen, humanitären, ökonomischen und anderen Komponenten der zivil-militärischen Beziehungen abträglich. Um solche potenziell instabilen Situationen zu verhindern und zu entschärfen, ist Transparenz von grundlegender Bedeutung, weil sie Vertrauen schafft und das gegenseitige Verständnis fördert. Deshalb ist die CIMIC-Interaktion mit zivilen Behörden und Organisationen, wann immer möglich, von Transparenz bestimmt.

18. Die CIMIC bietet eines von mehreren wirksamen Instrumenten, die dem Befehlshaber zum Erreichen der Gesamtziele zur Verfügung stehen. Um dieses Potenzial aber weitestgehend auszuschöpfen, ist es wichtig, dass militärische und zivile Organisationen, sofern möglich, gemeinsame und übereinstimmende Ziele festlegen. Diese sind bereits in einem frühen Stadium der Planung zu ermitteln, gemäß politischer Vorgaben, die die militärischen Befehlshaber in die Planung zur Durchführung ihrer Einsätze einbeziehen müssen.

19. Die notwendige Zusammenarbeit zwischen militärischen und zivilen Organisationen und Einrichtungen bei Einsätzen sollte durch Kontakte auf Arbeitsebene und die wechselseitige Teilnahme an CIMIC-Seminaren, Schulungen und Übungen unterstützt werden.

Abschnitt 4 – Zuständigkeiten

Zuständigkeiten des Militärausschusses

20. Die speziellen Zuständigkeiten des NATO-Militärausschusses sind folgende:

a. Dafür Sorge zu tragen, dass CIMIC-Aspekte gegebenenfalls in andere MC-Leitlinien und -Dokumente einbezogen werden.

b. Orientierung für die Durchführung der CIMIC zu bieten, da sie sich auf militärische Operationen, Übungen und Schulungen bezieht.

c. Innerhalb der NATO und erforderlichenfalls in enger Kooperation mit an der Partnerschaft für den Frieden teilnehmenden Staaten/truppenstellenden Nicht-NATO-Staaten die Zusammenarbeit und Abstimmung in allen CIMIC-Angelegenheiten zu fördern.

d. Den NAC zu beraten und gegebenenfalls bei ihm Rat einzuholen.

e. Nach Bedarf die Strategischen Befehlshaber zu führen.

Zuständigkeiten der Strategischen Befehlshaber

21. Die speziellen Zuständigkeiten der Strategischen Befehlshaber sind die folgenden:

a. Das CIMIC-Potenzial in ihrem Befehlsbereich zu entwickeln und/oder auszubauen.

b. Die CIMIC-Konzepte, -Pläne und -Verfahren in Übereinstimmung mit den Weisungen des Militärausschusses zu entwickeln, abzustimmen und zu aktualisieren.

c. In ihrer Kommandantur und den nachgeordneten Kommandobehörden die CIMIC-Stäbe (oder vergleichbare) sowie geeignete Schnittstellen zu zivilen Organisationen einzurichten.

d. Dafür Sorge zu tragen, dass die nachgeordneten Kommandobehörden über die Doktrin, Orientierung und standardmäßigen Arbeitsabläufe verfügen, die zur Durchführung von CIMIC-Plänen gemäß der NATO-Krisenvorsorge erforderlich sind.

e. Den politischen Behörden der NATO die Anforderungen an die CIMIC zur Unterstützung militärischer Operationen zu übermitteln.

f. Die Durchführung der CIMIC nach Genehmigung durch den Militärausschuss zu koordinieren und zu beaufsichtigen.

g. Anträge für Forschung und Entwicklung zur Verbesserung der CIMIC-Projekte anzuregen.

h. Standards für Schulungen zu entwickeln und CIMIC-Schulungen in Manövern durchzuführen.

i. CIMIC-Krisenvorsorge zur Genehmigung durch den MC/NAC zu prüfen und zu entwickeln.

Anmerkungen

1) Quelle: NATO International Military Staff. MC 411/1 (18-Jan-2002): NATO Military Policy on Civil-Military Cooperation

Einsatz der Bundeswehr im Innern?

Einsatz der Bundeswehr im Innern?

von Burkhard Hirsch

Manchmal ist es schwer, keine Satire zu schreiben. Es geht ja nicht nur um die Fußballweltmeisterschaft, bei der die Gefahren für die innere Sicherheit so hoch geredet werden, dass man sich fast in einen Hochsicherheitstrakt wünscht und sich jeder Angeber, der etwas auf sich hält und endlich mal in die Medien kommen will, versucht fühlen muss diese Chance zur Provokation zu nutzen. Und dann sieht man im Fernsehen diese klugen Soldaten in der ständig kreisenden luftbetankten AWACS-Maschine vor ihren Bildschirmen sitzen oder diese hochmotivierten Piloten des Jagdgeschwaders Richthofen zu ihren Tornados zum Blitzstart rennen. Und dann wird der Kommentar des TV-Reporters über das, was sie dann tun sollen, etwas unbestimmter. Dann wird der Mantel militärischer Nächstenliebe ausgebreitet.

Nicht nur jetzt, sondern seit geraumer Zeit wird dem Bürger bei jeder Gelegenheit erklärt, dass die Bundeswehr ein neues Einsatzspektrum benötigt, dass sie Deutschland am Hindukusch verteidigt (allerdings nicht gegen Heroin, das dort reichhaltig gewonnen und dann nach Europa transportiert wird), dass sie im Indischen Ozean auf hoher See wegen »enduring freedom« Terroristen jagt (auch die dort häufigeren Seeräuber?), dass sie in Bosnien wegen der religiösen und ethnischen Unduldsamkeiten der undankbaren Bewohner leider noch bleiben muss und in Kinshasa Wahlen schützt, mit anderen Worten, dass sie gebraucht wird und dass wir gebraucht werden, ein schönes Gefühl.

»Einsatz der Bundeswehr im Innern« – ein schönes Wort. Das klingt so klinisch sauber, sozusagen aseptisch. Warum sollte sie – wird rhetorisch gefragt – ausgerechnet bei uns nicht das tun dürfen, was sie in Bosnien, Serbien, oder sonst wo tun soll, nämlich im jeweiligen Inland zu schützen, wen und was auch immer? Schließlich ist doch überall Inland, auch im Ausland!

Die Antwort ist einfach: Eben weil wir nicht in Bosnien, Serbien oder sonst wo leben, sondern in der Bundesrepublik, in einem Staat mit durchaus und demokratisch geregelten Verhältnissen, in dem kein Bürgerkrieg tobt oder droht und in dem die Probleme der Kriminalität von der Polizei bewältigt werden.

Aber haben nicht auch andere demokratische Länder eine Art Inlandsheer, das wir früher Landsturm II nannten, wie etwa die Nationalgarde oder die Carabinieri – um nur zwei bekannte Beispiele zu nennen? Das stimmt und wir haben auch so etwas. Wir haben den Bundesgrenzschutz – jetzt Bundespolizei genannt – mit der immer noch legendären GSG9, die Einsatzhundertschaften und Bereitschaftspolizeien der Länder und die SEK’s, die zur Bekämpfung von Gewaltkriminalität besonders ausgebildeten und ausgerüsteten Sondereinsatzkommandos der Polizei mit beachtlicher Einsatzstärke. Wir haben sie immer noch und sie haben sich keineswegs nach dem Ende der RAF und des Kalten Krieges in Luft aufgelöst, auch wenn man wenig von ihnen hört.

Niemand hat bisher Einsätze der Bundeswehr im Inland vermisst. Wer durch südamerikanische Städte geht und die dort üblichen Militärstreifen mit ihren Maschinenpistolen oder uniformierte Kräfte mit großkalibrigen Revolvern im Holster am Eingang von Banken, guten Hotels und Einkaufszentren stehen sieht, den beschleicht nicht gerade das Gefühl größerer Sicherheit.

Wir haben eine Wehrpflichtarmee. Ob und wann wir den Bürger in Uniform gegen den Bürger in Zivil, unter Umständen gegen die eigenen Landsleute einsetzen wollen, das war bei Einführung der Wehrverfassung eine heikle und die Öffentlichkeit aufwühlende Frage. Dabei geht es nicht nur darum, den Ländern notwendige Hilfskräfte bei Flutgefahren, Waldbränden oder Eisenbahnunglücken zur Verfügung zu stellen. Sie brauchen diese und dem steht nichts im Wege. Aber wir wollen nicht, dass sich die Länder zur Sanierung ihrer Haushalte ersparen können, ausreichende Polizeikräfte auszubilden und auszurüsten um dann an ihrer Stelle Wehrpflichtige oder kriegsmäßig ausgebildete Berufssoldaten als ungelernte Hilfspolizisten einsetzen zu müssen. Dann könnte man obendrein alle langjährigen und erfolgreichen Bemühungen um die Deeskalierung innerer Auseinandersetzungen vergessen. Und wir wollen auch nicht, dass eine Bundesregierung sich kurzerhand auf Notstand beruft und die Bundeswehr zur Lösung politischer Probleme in Bewegung setzt. Das ist keine blasse Theorie, sondern wurde durchaus überlegt, z. B. bei Wackersdorf und bei Autobahnblockaden.

Der Verfassungsgeber hatte reichhaltige Vorbilder und Erfahrungen. Man nannte das damals nicht geschönt „Einsatz der Bundeswehr im Innern“, sondern in schlichter Sprache: „Ausrufung des Belagerungszustandes“. Das bedeutete nach der Preußischen Verfassung von 1851 die Übertragung der Exekutive auf die Militärbefehlshaber. Nach der Verfassung von 1871 konnte der Kaiser für alle Landesteile des Reiches – natürlich ausgenommen für Bayern – den Kriegszustand erklären. Auch der Weimarer Reichspräsident konnte zur Wiederherstellung von »Sicherheit und Ordnung« mit bewaffneter Macht einschreiten und bürgerliche Rechte reihenweise aufheben.

Das Grundgesetz setzt dem klare Grenzen. Die Bundeswehr darf nur dann eingesetzt werden, wenn es die Verfassung ausdrücklich vorsieht, nicht vielleicht, nicht durch Auslegungskünste der Minister, sondern ausdrücklich, mit klaren, eindeutigen Worten, das heißt also mit Wissen und Wollen der Rechtsgemeinschaft. Sie kann auf Wunsch der Länder bei schweren Unglücksfällen oder Naturkatastrophen helfen und dabei allenfalls das örtliche Polizeirecht anwenden. Die Bundesregierung kann sie einsetzen bei bürgerkriegsähnlichen Kämpfen, wenn die Polizeien der Länder nicht ausreichen oder nicht tätig werden wollen. Die Bundeswehr ist zur Verteidigung da. Sie wird bei militärischen Angriffen auf das Bundesgebiet und bei internationalen Einsätzen im Rahmen der NATO und auf der Grundlage der Satzung der Vereinten Nationen eingesetzt. Das sollte reichen.

Es gibt aber Viele, die sich damit nicht zufrieden geben.

Da ist jener Soldat, der beim ersten internationalen Einsatz der Bundeswehr als erster in Somalia aus dem Flugzeug kletterte mit den Worten: „Zurück in der Familie.“ Eine merkwürdige Familie muss er haben. Es ging ihm wohl darum, deutlich zu machen, dass man endlich als richtiger vollwertiger Soldat diesen ganzen elenden historischen Ballast abwerfen können muss, diese lästige Erinnerungskeule an Krieg und Verbrechen, dass man doch wohl mal wieder frisch anfangen kann. Wo die Fahne weht, ist der Verstand in der Trompete.

Da sind aber auch die etwas kühler kalkulierenden Herren innerhalb und außerhalb der Bundeswehr, die sich nach neuen Aufgaben umsehen, da wir doch von Freunden geradezu umzingelt sind und eine militärische Bedrohung unseres Landes jetzt und in absehbarer Zukunft, soweit irgend erkennbar, ausscheidet. Das kann neben der Freude über den Frieden auch unangenehme Konsequenzen haben. Der zahlenmäßige Umfang, der Aufbau und die Kosten der Armee und die allgemeine Wehrpflicht geraten in immer stärkere öffentliche Zweifel. Womit erwerben wir mehr Sicherheit, mit immer teureren Waffen oder mit größeren Aufwendungen für die politische, soziale und kulturelle Sicherheit bestimmter Problemländer in unserer Region?

Und da sind schließlich Politiker, die aufgeschreckt von den Attentaten des 11. Sept. 2001 und dem Sperrholzflieger in Frankfurt die amerikanische Redewendung vom »war on terrorism« wörtlich nehmen und dasitzen wie die Regisseure, die »action« rufen, Handlungsfähigkeit und Tatkraft darstellen wollen, die vom »Krieg im Inland« faseln und damit die Katze aus dem Sack lassen: Dass es nicht nur darum geht, ob die Bundeswehr im Inland für die örtliche Polizei zu deren Entlastung Hand- und Spanndienste in Form von Objektschutz leisten soll, sondern darum, die Bundeswehr im Inland von den Grundsätzen des Polizeirechts zu lösen.

Sie sollen unter Missachtung grundlegender Werte unserer Verfassung und unter erklärter Missachtung eines ausdrücklichen Urteils des Bundesverfassungsgerichts ein Passagierflugzeug mitsamt den unschuldigen entführten Insassen abschießen können, ohne wegen Mordes oder Totschlags vor Gericht gestellt zu werden. Sie sollen wie im Krieg unter Hinnahme von Kollateralschäden töten dürfen. Wo gehobelt wird, da fallen eben Späne, da darf man nicht kleinlich sein.

Ein Terrorangriff, heißt die simple Forderung, ist ein Verteidigungsfall. Heilige Einfalt, man sieht den Tornado-Piloten förmlich, der das entführte Flugzeug anfliegt und den Täter über Bordfunk fragt: Sind Sie ein Terrorist? Nein, wird der antworten, ich bin nur ein Verrückter. Tja, dann ist es wohl kein »war on terrorism« und der Verteidigungsminister kann nicht »action« rufen, was er im Verteidigungsfall übrigens ohnehin nicht könnte, weil dann die Kanzlerin zum IBUK wird, zur Inhaberin der Befehls- und Kommandogewalt.

Angst essen Seele auf. Wir sollten aufhören, unsere Verfassung weiter zu demolieren. Innere Sicherheit hat auch etwas mit dem inneren Frieden einer Gesellschaft zu tun. Und der ist nicht zu bekommen, wenn man sich in einem dauernden Kriegszustand befindet.

Einsatz der Bundeswehr im Inland? Ja, natürlich. Die nächste Flut kommt bestimmt.

Dr. Burkhard Hirsch, Rechtsanwalt, Bundestagsvizepräsident a. D.

Gewissensfreiheit statt Kadavergehorsam

Gewissensfreiheit statt Kadavergehorsam

Freispruch für Bundeswehroffizier

von Jürgen Rose

Der Bundeswehrmajor Florian Pfaff war nicht bereit, den Krieg der USA gegen den Irak im Rahmen der Bundeswehr zu unterstützen. Schikanen und eine Degradierung zum Hauptmann waren die Folge. Pfaff wehrte sich und bekam Recht. Das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig sprach in einem Aufsehen erregenden Urteil den Bundeswehroffizier vom Vorwurf der Gehorsamsverweigerung frei. Es wertet das Völkerrecht deutlich höher als funktionierende Militärgewalt. In W&F 4-2005 kommentierte Helga Wullweber dieses Urteil: »Rechtliche Grenzen des Gehorsams – Auch Soldaten dürfen Befehle verweigern«. In folgendem Beitrag befasst sich Oberstleutnant Jürgen Rose u.a. Ereignissen rund um die »Befehlsverweigerung«, mit der Urteilsschelte – vor allem ehemaliger Militärs – und mit einigen Aspekten des Urteils, wie der völkerrechtlichen Beurteilung des Irak-Kriegs durch die Bundesverwaltungsrichter.

Soweit bekannt, handelt es sich bei dem Bundeswehrmajor Florian Pfaff um den einzigen Soldaten in den gesamten deutschen Streitkräften,1 der den Mut aufgebracht hat, sich Befehlen zu widersetzen, durch deren Ausführung er sich wissentlich an dem von den USA und Großbritannien angezettelten Angriffskrieg gegen den Irak – der renommierte Rechtsphilosoph Reinhard Merkel hatte diesen als „völkerrechtliches Verbrechen“ 2 gebrandmarkt –, beteiligt hätte. Mit einer durchaus spektakulär zu nennenden Urteilsbegründung sprach ihn im Sommer dieses Jahres der 2. Wehrdienstsenat des Bundesverwaltungsgerichts Leipzig von dem schwerwiegenden Vorwurf der Gehorsamsverweigerung frei.

Was aber bildete den Anlass für Pfaffs Husarenritt durch alle Instanzen der Wehrgerichtsbarkeit? Entscheidend war der Beschluss der Bundesregierung, die Protagonisten des völkerrechtswidrigen Angriffskrieges gegen den Irak getreu Gerhard Schröders Parole von der »Enttabuisierung des Militärischen« bei der Ausführung ihres Unrechtsaktes tatkräftig zu unterstützen – notabene nach ordnungsgemäßer Anfrage aus dem Oval Office. Der deutschen Öffentlichkeit freilich wurde suggeriert, Berlin hielte sich strikt an völkerrechtliche Prinzipien und das eigene Grundgesetz, während tatsächlich das genaue Gegenteil der Fall war.3 Einer derartigen Politik der Scheinheiligkeit ließ sich Bundeswehrmajor Pfaff nicht dienstbar machen. Seinen Vorgesetzten erklärte er klipp und klar, er werde keinerlei Befehlen nachkommen, durch deren Ausführung er sich der Mitwirkung an der „mörderischen Besetzung des Irak durch die USA (und andere)4 schuldig machen würde. Postwendend begannen daraufhin die Mühlen der Militärbürokratie zu mahlen: Von seinen Vorgesetzten wurden Pfaff Konsequenzen angedroht. Vom militärischen Rechtsberater wurde er einer „abwegigen Rechtsauffassung“ bezichtigt und als zukünftiger „Held der Friedensbewegung“ verspottet (derselbe Advokat gab freilich später während der Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht in Leipzig zu Protokoll, ihm hätte die fachliche Kompetenz in völkerrechtlichen Fragen gefehlt!5). Der Truppenarzt, bei dem Pfaff sich vorgestellt hatte, um sich bestätigen zu lassen, dass seine Perzeption und Bewertung des Irak-Krieges keiner übertriebenen Wahrnehmung entsprangen, ließ ihn umgehend zur stationären psychiatrischen Untersuchung in das Bundeswehrzentralkrankenhaus Koblenz verbringen. Gleichwohl erbrachten die einwöchigen, für ihn höchst unverständlichen medizinischen Untersuchungen, die er in der »Klapsmühle« 6 über sich ergehen lassen musste, keinen pathologischen Befund. Daraufhin wurde gegen Pfaff im April 2003 ein gerichtliches Disziplinarverfahren eingeleitet, in dem er durch die 1. Kammer des Truppendienstgerichts Nord eines Dienstvergehens für schuldig befunden wurde. Überraschenderweise sahen die Richter jedoch von einer Entfernung aus dem Dienstverhältnis ab und degradierten den Soldaten lediglich vom Major zum Hauptmann, da sie ihm ehrenhafte Motive bei seiner Gehorsamsverweigerung zubilligten.

Gegen diese erstinstanzliche Entscheidung legten sowohl Anklage als auch Verteidigung Berufung beim Bundesverwaltungsgericht in Leipzig ein. Letztere, um einen Freispruch zu erreichen, der Wehrdisziplinaranwalt, weil er aufgrund „völliger Uneinsichtigkeit“ Pfaffs dessen Rausschmiss aus der Truppe erreichen wollte. Dieses Ansinnen scheiterte indes kläglich, denn am 21. Juni 2005 hob der 2. Wehrdienstsenat des Bundesverwaltungsgerichts das Urteil der 1. Kammer des Truppendienstgerichts Nord auf, wies die Berufung des Wehrdisziplinaranwalts als unbegründet zurück und sprach den Major Florian Pfaff frei – die Kosten des Verfahrens trägt der Bund.

Mit ihrem unmissverständlichen, konziser Rechtsauslegung folgenden Urteil haben die Leipziger Richter der rot-grünen Bundesregierung, der NATO-hörigen Bundeswehrführung sowie allen bellizistischen Worthelden eine schallende Ohrfeige erteilt. Kaum verwunderlich setzte umgehend heftigste Urteilsschelte ein. Gleichwohl ist man geneigt, eine Träne der Verzweiflung zu weinen, in der das Salz des Ärgers die Feuchtigkeit der Anteilnahme zu verkrusten droht, angesichts der Melange aus Dreistigkeit und Ignoranz, mit welcher gewisse Protagonisten aus der rechtskonservativen Ecke der sogenannten »Strategic Community« dieses höchstrichterliche Urteil in der Causa Pfaff nun kommentieren. Bemerkenswert an diesem Vorgang ist einzig das kümmerliche Niveau der von allenfalls rudimentärer Sachkenntnis getrübten Anwürfe. So gibt der ehemalige Verteidigungsminister und vielzitierte Verfassungsrechtler Prof. Dr. Rupert Scholz zu Protokoll7, dass es nicht die Aufgabe eines Soldaten sei, zu bewerten, ob ein Krieg völkerrechtswidrig sei und ob er deshalb die Ausführung bestimmter Befehle verweigern dürfe. Gerade Berufssoldaten seien dem existenznotwendigen Prinzip von Befehl und Gehorsam verpflichtet. Und deshalb könne es nicht sein, dass Rechtsfragen Gegenstand einer Gewissensentscheidung des Soldaten würden mit der Maßgabe, dass der den Befehl verweigern könne. Diese Einlassungen müssen schon deshalb Erstaunen hervorrufen, weil bereits jedem Rekruten der Bundeswehr zu Beginn seiner Grundausbildung beigebracht wird, dass er Befehle, durch die eine Straftat begangen würde, gar nicht befolgen darf (§ 11 Soldatengesetz). Dieser Gesetzesauflage kann ein Soldat selbstverständlich nur dann nachkommen, wenn er die Rechtmäßigkeit von Befehlen prüft, bevor er sie ausführt. Dass einem ehemaligen Inhaber der Befehls- und Kommandogewalt über die Bundeswehr derartiges wehrrechtliches Basiswissen offenbar nicht präsent ist, kann den Major Pfaff in seiner Haltung nur schlagend bestätigen.

Auch unter Bundeswehrgenerälen stößt das Urteil auf Ablehnung – allerdings wagten wie üblich nur Pensionäre öffentliche Kritik. So spricht der ehemalige Inspekteur des Heeres und später zum Staatsekretär auf der Hardthöhe beförderte Jörg Schönbohm, derzeit Innenminister und stellvertretender Ministerpräsident von Brandenburg, hinsichtlich des besagten Urteils von einer „bedauerlichen Entwicklung“ und warnt unter Bezugnahme auf Theodor Heuss, vor einem „Verschleiß des Gewissens“. Darüber hinaus sieht er die Bündnisfähigkeit Deutschlands in der NATO gefährdet, „[w]enn Bundeswehrsoldaten in wichtigen Funktionen plötzlich anfangen, sich auf ihr Gewissen zu berufen …“8. Kräftiger hin langt der ehemalige Amtschef des Heeresamtes und jetzige Präsident des »Bayerischen Soldatenbundes«, Jürgen Reichardt, in seiner Hauspostille mit dem bezeichnenden Namen »Treue Kameraden«. Er nämlich hält die Entscheidung der Leipziger Richter für „eine befremdliche, unverständliche Gesetzesauslegung, vergleichbar jenem berüchtigten (sic!) »Mörder-Urteil« des Bundesverfassungsgerichts. Sie liefert die Funktionsfähigkeit unserer Streitkräfte den persönlichen Anschauungen einzelner Soldaten aus, untergräbt somit die Grundlagen soldatischen Handelns und gefährdet die Verlässlichkeit unserer Streitkräfte.“ 9 Überdies wittert Reichardt Gefahren für die „Fundamente des Staates“ schlechthin. Den Gewissenskonflikt des Soldaten Pfaff angesichts massiven Völkerrechts- und Verfassungsbruchs bezeichnet er als „eigentlich belanglose Sache“ und unterstellt ihm „anmaßende politische Absichten politisierender Soldaten.“ Bei dieser Gelegenheit schießt der General außer Diensten auch gleich eine volle ideologische Breitseite gegen das „sogen. »Darmstädter Signal«, eine kleine Gruppe politisch extrem linker Soldaten, die sich im Internet ihrer Kampagnen rühmen“, denn Pfaff sei schließlich bei dieser Mitglied. Zu dumm nur, dass es sich bei Paff um einen tiefgläubig katholischen, politisch eher konservativen und unbeirrbar rechtstreuen Bayern handelt, der linker Umtriebe definitiv abhold ist. Bloß noch skurril wirkt dann Reichardts Schlussappell an den Verteidigungsminister, die Revision des Leipziger Urteils als seine Aufgabe anzusehen – indes: gegen diese höchstrichterliche Entscheidung ist eine Revision gar nicht zulässig.

Den Vogel bei der Urteilskrittelei schoss indes der Vorsitzende des Deutschen BundeswehrVerbandes, Oberst Bernhard Gertz, – notabene Volljurist – ab, als er allen Ernstes zum Besten gab, man müsste hinsichtlich der Gewissensfreiheit für Soldaten „unterscheiden zwischen Wehrpflichtigen und Zeit- sowie Berufssoldaten, für den Berufssoldaten gälte eine deutlich stärkere Pflichtenbindung.“ 10 Je höher Status und Besoldung, desto gewissenloser die Haltung, ließe sich daraus folgern. Konsequenterweise fordert Gertz denn auch eine Einschränkung der Gewissensfreiheit für Soldaten, die gefälligst dort ihre Grenzen finden müsse, wo die Einsatzfähigkeit der Bundeswehr betroffen sei.

All die nach dem Leipziger Urteilsspruch aufgebrandete haltlose Kritik vermag indes nicht das Geringste an dem Faktum zu ändern, dass es den Bundesverwaltungsrichtern gelungen ist, mit ihrem Urteil in der Causa Pfaff einen Meilenstein zu setzen, was einerseits zukünftige Einsätze der Bundeswehr in bewaffneten Konflikten, andererseits die Sicherung demokratischer Grundrechte für den Staatsbürger in Uniform angeht, der sich in seinem täglichen Dienst einem strikt hierarchisch strukturierten militärischen Zwangs-, Disziplin- und Gewaltsystem zu unterwerfen hat.

So fand bislang kaum Beachtung, dass das Bundesverwaltungsgericht mit seinem Urteilsspruch eindeutig, umfassend und zugleich erschöpfend klargestellt hat, wie der Verteidigungsbegriff des Grundgesetzes nach Art. 87a zu verstehen ist. Hierdurch füllt es eine Interpretationslücke, die das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 12. Juli 1994 betreffend den Einsatz bewaffneter Streitkräfte im Rahmen eines Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit ausdrücklich offen gelassen hatte. Damals hatten die Verfassungsrichter festgestellt: „Art. 87a GG steht der Anwendung des Art. 24 Abs. 2 GG als verfassungsrechtliche Grundlage für den Einsatz bewaffneter Streitkräfte im Rahmen eines Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit nicht entgegen. Nach Art. 87a Abs. 1 Satz 1 GG stellt der Bund ‚Streitkräfte zur Verteidigung’ auf; nach Art. 87a Abs. 2 GG dürfen diese Streitkräfte ‚außer zur Verteidigung’ nur eingesetzt werden, soweit das Grundgesetz es ausdrücklich zulässt. Die mannigfachen Meinungsverschiedenheiten darüber, wie in diesem Zusammenhang die Begriffe der ‚Verteidigung’ und des ‚Einsatzes’ auszulegen sind, und ob Art. 87a Abs. 2 GG als eine Vorschrift zu verstehen ist, die nur den Einsatz der Streitkräfte ‚nach innen’ regeln will, bedürfen in den vorliegenden Verfahren keiner Entscheidung. Denn wie immer dies zu beantworten sein mag, jedenfalls wird durch Art. 87a GG der Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte im Rahmen eines Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit, dem die Bundesrepublik Deutschland gemäß Art. 24 Abs. 2 GG beigetreten ist, nicht ausgeschlossen.11 Das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig folgt dieser verfassungsrechtlichen Grundsatzentscheidung, indem es konstatiert: „Die primäre Aufgabe der Bundeswehr ergibt sich dabei aus Art. 87a Abs. 1 GG, wonach der Bund Streitkräfte ‚zur Verteidigung’ aufstellt.“ 12 Nach Auffassung der Richter ist damit zum einen der »Verteidigungsfall« nach Art. 115a GG gemeint, i. e. eine Situation, in der das „Bundesgebiet mit Waffengewalt angegriffen wird oder ein solcher Angriff unmittelbar droht.“ Der entscheidende Passus hinsichtlich der Reichweite des Verteidigungsbegriffs im Grundgesetz folgt unmittelbar: „Da der Normtext des Art. 87a Abs. 1 und 2 GG von ‚Verteidigung’, jedoch – anders als die zunächst vorgeschlagene Fassung – nicht von ‚Landesverteidigung’ spricht und da zudem der verfassungsändernde Gesetzgeber bei Verabschiedung der Regelung im Jahre 1968 auch einen Einsatz im Rahmen eines NATO-Bündnisfalles als verfassungsrechtlich zulässig ansah, ist davon auszugehen, dass ‚Verteidigung’ alles das umfassen soll, was nach dem geltenden Völkerrecht zum Selbstverteidigungsrecht nach Art. 51 der Charta der Vereinten Nationen (UN-Charta), der die Bundesrepublik Deutschland wirksam beigetreten ist, zu rechnen ist.“ 13 Höchstrichterlich widerlegt ist hiermit die in der sicherheitspolitischen Diskussion häufig vorgetragene Auffassung, das Grundgesetz begrenze den Einsatz der Bundeswehr auf die Verteidigung des Territoriums der Bundesrepublik Deutschland sowie des NATO-Vertragsgebiets. Stattdessen definieren die Bundesverwaltungsrichter einen weiten Verteidigungsbegriff, der alles umfasst, was die UN-Charta erlaubt, zugleich beschränken sie jenen aber eben auch strikt auf deren Bestimmungen. Denn, so die Richter, „Art. 51 UN-Charta gewährleistet und begrenzt in diesem Artikel für jeden Staat das – auch völkergewohnheitsrechtlich allgemein anerkannte – Recht zur ‚individuellen’ und zur ‚kollektiven Selbstverteidigung’ gegen einen ‚bewaffneten Angriff’, wobei das Recht zur ‚kollektiven Selbstverteidigung’ den Einsatz von militärischer Gewalt – über den Verteidigungsbegriff des Art. 115a GG hinausgehend – auch im Wege einer erbetenen Nothilfe zugunsten eines von einem Dritten angegriffenen Staates zulässt (z. B. ‚Bündnisfall’). Der Einsatz der Bundeswehr ‚zur Verteidigung’ ist mithin stets nur als Abwehr gegen einen ‚militärischen Angriff’ (‚armed attack’ nach Art. 51 UN-Charta) erlaubt, jedoch nicht zur Verfolgung, Durchsetzung und Sicherung ökonomischer oder politischer Interessen.“ 14

Von Beobachtern mit einer gewissen Spannung erwartet worden war insbesondere die völkerrechtliche Beurteilung des Irak-Kriegs durch die Bundesverwaltungsrichter. Wer diesbezüglich gehofft hatte, das Bundesverwaltungsgericht würde den Irak-Krieg eindeutig als völkerrechts- und verfassungswidrig brandmarken und dem Soldaten Pfaff bescheinigen, er wäre zur Gehorsamsverweigerung gemäß Soldatengesetz (§ 11) und Wehrstrafgesetz (§ 5) verpflichtet gewesen, mag enttäuscht sein. Dazu besteht indes kein Anlass. Denn mit einer solchen Entscheidung hätte das Gericht lediglich die bestehende Rechtslage bestätigt und den Handlungsspielraum von Soldaten zur Gehorsamsverweigerung einzig auf die Fälle eingeschränkt, wo die Völkerrechtswidrigkeit eines Krieges für jedermann eindeutig erkennbar und unumstritten wäre. Mit der nun getroffenen Entscheidung aber erweitern die Richter den Ermessensspielraum diesbezüglich erheblich, nämlich bereits auf all die Fälle, wo auch nur Zweifel an der Rechtmäßigkeit einer militärischen Intervention bestehen.15 Wenn in einem solchen Fall ein Soldat in einen Gewissenskonflikt gerät und diesen ernsthaft und glaubwürdig darlegen kann, braucht er Befehlen nicht zu gehorchen, durch deren Ausführung er in jene Aktionen innerhalb rechtlicher Grauzonen verwickelt würde. Mit dieser Rechtsprechung nimmt das Bundesverwaltungsgericht im Hinblick auf die Legalität bewaffneter Einsätze der Bundeswehr de facto eine Beweislastumkehr vor: Nicht der Soldat muss beweisen, dass seine Gehorsamsverweigerung rechtlich geboten war, sondern zuallererst muss die Bundesregierung den von ihr in den Kampf entsandten »Staatsbürgern in Uniform« darlegen, dass der diesen erteilte Auftrag den Normen des Völkerrechts und der Verfassung entspricht.16 Dabei legt das Gericht die rechtlichen Hürden für den Einsatz bewaffneter Streitkräfte sehr hoch, indem es nämlich die Zulässigkeit militärischer Gewaltanwendung strikt auf die in der UN-Charta vorgesehenen Fälle (Kap. VII und Art. 51) begrenzt: „Ein Staat, der sich – aus welchen Gründen auch immer – ohne einen solchen Rechtfertigungsgrund über das völkerrechtliche Gewaltverbot der UN-Charta hinwegsetzt und zur militärischen Gewalt greift, handelt völkerrechtswidrig. Er begeht eine militärische Aggression.“ 17 Und, so das Gericht weiter im Hinblick auf die deutschen Unterstützungsleistungen für das angloamerikanische Völkerrechtsverbrechen am Golf: „Eine Beihilfe zu einem völkerrechtlichen Delikt ist selbst ein völkerrechtliches Delikt.“ 18 Gerade im Hinblick auf die in ständiger Einsatzbereitschaft gehaltenen Interventionsstreitkräfte der NATO (NATO Response Force – NRF) und Europäischen Union (EU Battle Group), die erklärtermaßen gegebenenfalls auch ohne Mandat des UN-Sicherheitsrates innerhalb weniger Tage weltweit zum Einsatz kommen sollen, dürfte dies für die Zukunft interessante Implikationen aufwerfen, wenn nämlich Angehörige dieser Truppenverbände in einem solchen Fall ihr Gewissen entdecken. Für die Bundeswehr als Parlamentsarmee ist dies indes höchst bedeutsam, folgt daraus doch: Der Primat der Politik gilt lediglich innerhalb der Grenzen von Recht und Gesetz, jenseits davon herrscht der Primat des Gewissens. Denn, so das Bundesverwaltungsgericht: „[I]m Konflikt zwischen Gewissen und Rechtspflicht [ist] die Freiheit des Gewissens ‚unverletzlich’ … “ 19

Anmerkungen

1) Mittlerweile ist ein ähnlicher Fall aus den britischen Streitkräften bekannt geworden. Dort weigert sich der Flight Lieutenant der Royal Air Force Kendall-Smith erneut zur militärischen Dienstleistung im Irak anzutreten, weil er die Rechtmäßigkeit des Krieges und der Besatzung bestreitet. Ihn erwartet nun ein Prozess vor einem Militärgericht; vgl. hierzu Pilger, John: The Epic Crime that Dares Not Speak its Name. Royal Air Force officer to be tried before a military court for refusing to return to Iraq, in: New Statesman, October 28, 2005, http://www.newstatesman.co.uk/.

2) Merkel, Reinhard: Krieg. Was Amerika aufs Spiel setzt. Ein Präventivkrieg mag der Logik imperialer Macht entsprechen. Aber er untergräbt das Rechtsbewusstsein der Menschheit, Erstveröffentlichung in der Hamburger Wochenzeitung »Die Zeit« Nr. 12/2003, abgedruckt in dem Sammelband von: Ambos, Kai/Arnold, Jörg (Hrsg.): Der Irak-Krieg und das Völkerrecht, (Reihe Juristische Zeitgeschichte, Abteilung 5: Juristisches Zeitgeschehen – Rechtspolitik und Justiz aus zeitgenössischer Perspektive, Bd. 14), Berlin 2004, S. 28.

3) Vgl. hierzu Rose, Jürgen: Wozu das NATO-Truppenstatut die Bundesregierung verpflichtet, in: Bernd W. Kubbig (Hrsg.): Brandherd Irak. US-Hegemonieanspruch, die UNO und die Rolle Europas, Frankfurt/Main 2003, S. 235 – 242 sowie Deiseroth, Dieter: Verstrickung in einen Angriffskrieg. Zu Reichweite und Grenzen von Bündnisverpflichtungen im US-Irak-Krieg, in: Lutz, Dieter S.†/Gießmann, Hans J. (Hrsg.): Die Stärke des Rechts gegen das Recht des Stärkeren. Politische und rechtliche Einwände gegen eine Rückkehr des Faustrechts in die internationalen Beziehungen, (Reihe Demokratie, Sicherheit, Frieden, Bd. 156), Baden-Baden 2003, S. 160 – 182.

4) Pfaff, Florian zit. n. Bundesverwaltungsgericht: Urteil des 2. Wehrdienstsenats vom 21. Juni 2005 – BVerwG 2 WD 12.04, S. 103.

5) Bundesverwaltungsgericht: a.a.O., S. 120.

6) Pfaff, Florian zit. n. Bundesverwaltungsgericht: Urteil des 2. Wehrdienstsenats vom 21. Juni 2005 – BVerwG 2 WD 12.04, S. 20.

7) Vgl. Scholz, Rupert: Befehl und Gehorsam sind existenznotwendig, Ex-Verteidigungsminister Rupert Scholz über das Verwaltungsgerichtsurteil, das einem Soldaten Befehlsverweigerung aus Gewissensgründen zubilligt, in: Die Welt, 25. Juni 2005.

8) Vgl. Schönbohm, Jörg: Berufsrisiko für Soldaten. Interview mit Jörg Schönbohm, in: Süddeutsche Zeitung, 24. Juni 2005, S. 2.

9) Dieses und die folgenden Zitate aus Reichardt, Jürgen: Gehorsam und Gewissen, in: Treue Kameraden – Zeitschrift des Bayerischen Soldatenbundes 1874 e.V., Nr. 4/2005, S.3.

10) Gertz, Bernhard: Grenzen der Einsatzfähigkeit, in: Westfälische Rundschau, 25. Juni 2005 (Interviewer: Lothar Klein).

11) Bundesverfassungsgericht: Urteil vom 12. Juli 1994, a.a.O., S. 355f.

12) Bundesverwaltungsgericht: a.a.O., S. 29.

13) Bundesverwaltungsgericht: a.a.O., S. 30.

14) Bundesverwaltungsgericht: a.a.O., S. 30.

15) Vgl. hierzu Bundesverwaltungsgericht: a.a.O., S. 72.

16) Vgl. hierzu Bundesverwaltungsgericht: a.a.O., S. 116.

17) Bundesverwaltungsgericht: a.a.O., S. 73.

18) Bundesverwaltungsgericht: a.a.O., S. 81.

19) Bundesverwaltungsgericht: a.a.O., S. 106.

Dipl. Päd. Jürgen Rose ist Oberstleutnant der Bundeswehr. Er vertritt in diesem Beitrag nur seine persönlichen Auffassungen.

Sicherheitspolitische Praxis und Völkerrecht

Sicherheitspolitische Praxis und Völkerrecht

von Norman Paech

Die über 40 Auslandseinsätze der Bundeswehr seit der Epochenwende von 1989/90 deuten darauf hin, dass sich auch Deutschland inzwischen von der einstmals viel gepriesenen »Kultur der Zurückhaltung« gegenüber dem Militär als Instrument der Außenpolitik weit gehend verabschiedet hat. Nicht zuletzt die rot-grüne Bundesregierung unter Kanzler Schröder hat die „Enttabuisierung des Militärischen“ (Schröder über Schröder in der ZEIT vom 18.10.01) so effektiv betrieben, dass militärische »Machtprojektion« allenthalben (wieder) als »normal« qualifiziert wird. Damit wird aber tendenziell einerseits die normative Bindung der Außenpolitik verneint – als handele es sich um einen Naturprozess; andererseits werden die völkerrechtlichen Normen in Frage gestellt – als sei einfach das Verhalten bestimmter (mächtiger) Staaten maßgeblich. Im Gegensatz zu solchen Tendenzen problematisiert der folgende Beitrag die herrschende Sicherheitspolitik im Lichte des geltenden Völkerrechts. Der Aufsatz beinhaltet einen geringfügig überarbeiteten Vortrag über die »Vereinbarkeit von sicherheitspolitischer Praxis mit dem Völkerrecht«, den der Autor am 4. Juli auf Einladung der Führungsakademie der Bundeswehr in der Clausewitz-Kaserne in Hamburg aus Anlass des 50. Jahrestag der Bundeswehr gehalten hat.

Jüngst fasste Verteidigungsminister Struck in einem Interview in der Frankfurter Rundschau die zukünftige sicherheitspolitische Praxis in wenigen prägnanten Sätzen zusammen: „Unsere Spur wird die Transformation der Truppe sein. Dafür stehen zwei Sätze. Erstens: Deutschland wird auch am Hindukusch verteidigt. Er ist akzeptiert, auch wenn mir zu wenig darüber diskutiert wird. Der zweite Satz lautet: Einsatzgebiet der Bundeswehr ist die ganze Welt. Wer einer Nato-Response-Force zustimmt, wer dem Konzept der Battle-Groups zustimmt, muss wissen: Grundsätzlich müssen deutsche Soldaten bereit sein, an Orten Verantwortung zu übernehmen, an die wir heute noch nicht denken. Dabei gilt für uns aber immer: Wir treten nie allein auf, sondern machen alles mit unseren Partnern in der NATO oder der EU zusammen.“ (FR. 2. Juni 2005)

Nehmen wir also die Aufforderung ernst und diskutieren wir die beiden Sätze, die doch nicht so allgemein akzeptiert sind, wie Minister Struck es vermutet.

Verteidigung ohne Angriff

Bereits ein Blick in das Grundgesetz offenbart erhebliche Widersprüche zum geplanten weltweiten Einsatz der Bundeswehr, denn Art. 115 a definiert den »Verteidigungsfall« ganz eindeutig als Angriff auf das Bundesgebiet. Darüber hinaus nimmt Art. 26 GG das absolute Verbot des Angriffskrieges in der UNO-Charta auf und fordert sogar seine Bestrafung. Auch nach dem Nordatlantikvertrag von 1949 ist die NATO als klassisches Verteidigungsbündnis konzipiert; die Bündnisverpflichtung des Art. 5 wird ausdrücklich in den Verteidigungsrahmen des Art. 51 UN-Charta gestellt und eindeutig territorial begrenzt: Der Angriff muss auf das Gebiet eines Mitgliedstaates in Europa oder Nordamerika erfolgen, Inseln, Schiffe und Flugzeuge im nordatlantischen Raum „nördlich des Wendekreises des Krebses“ eingeschlossen (Art. 6).

Nun kann sich Minister Struck zweifellos auf die Neue Strategie der NATO berufen, die im April 1999 in Washington von allen Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsländer beschlossen wurde. Sie erweiterte den Verteidigungsauftrag um einen Auftrag zur »Krisenbewältigung«, ohne dass allerdings ein solcher Auftrag im NATO-Vertrag selbst irgendwie zum Ausdruck kommt. Der Krisen-Begriff ist außerordentlich weit und variabel gefasst: „Ungewissheit und Instabilität im und um den euroatlantischen Raum sowie die mögliche Entstehung regionaler Krisen an der Peripherie des Bündnisses (…) Ethnische und religiöse Rivalitäten, Gebietsstreitigkeiten, unzureichende oder fehlgeschlagene Reformbemühungen, die Verletzung von Menschenrechten und die Auflösung von Staaten können zu lokaler und selbst regionaler Instabilität führen. Die daraus resultierenden Spannungen könnten zu Krisen führen, die die euro-atlantische Stabilität berühren, sowie zu menschlichem Leid und bewaffneten Konflikten.“ (Z. 20) Zudem können die Sicherheitsinteressen auch von anderen nichtmilitärischen „Risiken umfassenderer Natur berührt werden, einschließlich Akte des Terrorismus, der Sabotage und des organisierten Verbrechens sowie der Unterbrechung der Zufuhr lebenswichtiger Ressourcen.“ (Z. 24)1

Das ist eine durchaus zutreffende Beschreibung drohender Risiken, aber in keinem Fall eine rechtswirksame Interventionsermächtigung. Der Beschluss der Minister ist völkerrechtlich vollkommen irrelevant und hebt das absolute Gewaltverbot der UN-Charta nicht auf. Erinnern wir uns des Zeitpunktes des Strategie-Beschlusses. Während die Minister in Washington tagten, war die Bombardierung Jugoslawiens noch in vollem Gange. Die mangelnde völkerrechtliche Grundlage dieses ersten der drei großen Kriege seit der Epochenwende ist hinlänglich bekannt und wird unter Juristen allgemein eingeräumt. Wo weder ein Fall der Selbstverteidigung gem. Art. 51 UNO-Charta noch eine Ermächtigung durch den UN-SR gem. Art. 42 UNO-Charta vorliegt, verbietet das absolute Gewaltverbot des Art. 2. Z. 4 UN-Charta jeden militärischen Angriff auf einen anderen Staat. Deswegen waren die Bombardierung Jugoslawiens und des Iraks eindeutig rechtswidrig, die Berufung auf ein Selbstverteidigungsrecht im Fall Afghanistans zumindest umstritten. Wenn Minister Struck beteuert: „Wir treten nie allein auf, sondern machen alles mit unseren Partnern in der NATO oder der EU zusammen“, so ist das politisch zweifellos klug, juristisch aber belanglos, wenn er nicht gleichzeitig die UN-Charta und das Völkerrecht als die alleinige Grundlage legaler militärischer Gewaltanwendung anerkennt. NATO und EU vermögen eine mangelnde völkerrechtliche Legitimation nicht zu ersetzen.

»Humanitäre Intervention«

Das Legitimationsdefizit im Fall des Kosovo-Kriegs war den NATO-Regierungen durchaus bewusst. Um jedoch nicht dem offenen Vorwurf des Völkerrechtsbruchs ausgeliefert zu sein, bemühten sie sich, neben moralischen Rechtfertigungen, neue juristische Begründungen zu entwickeln bzw. alte wieder zu beleben. So griffen sie auf eine alte Figur des Völkerrechts der Vor-Charta-Ära zurück: die sog. humanitäre Intervention. Zwar haben die USA bei ihren Interventionen in Lateinamerika (Grenada 1983, Nicaragua 1984, Panama 1989) immer wieder auf diese Rechtfertigung zurückzugreifen versucht, haben jedoch dabei nirgendwo Zustimmung oder Gefolgschaft finden können.

Hauptziel und zentrale Aufgabe der UNO sind die Friedenssicherung, worunter sich alle anderen Ziele einzureihen haben. Dies macht z. B. Art. 103 UN-Charta deutlich: „Widersprechen sich die Verpflichtungen von Mitgliedern der Vereinten Nationen aus dieser Charta und ihre Verpflichtungen aus anderen internationalen Übereinkünften, so haben die Verpflichtungen aus dieser Charta Vorrang.“ Tritt also das Gewaltverbot der Friedenssicherung in Konkurrenz zu einer Verpflichtung aus einer der Menschenrechtspakte und -konventionen, so hat das Gewaltverbot Vorrang. Eine Verknüpfung beider Prinzipien derart, dass die Sicherung der Menschenrechte eine Ausnahme vom Gewaltverbot zulasse oder gar erfordere, ist im System der UN-Charta also nicht angelegt.

Dies hat der Internationale Gerichtshof (IGH) 1986 in seinem Urteil im Rechtsstreit Nicaraguas gegen die USA noch einmal unterstrichen: „Die Vereinigten Staaten mögen ihre eigene Einschätzung hinsichtlich der Achtung der Menschenrechte in Nicaragua haben, jedoch kann die Anwendung von Gewalt keine geeignete Methode sein, die Achtung der Menschenrechte zu überwachen oder zu sichern. Hinsichtlich der ergriffenen Maßnahmen (ist festzustellen), dass der Schutz der Menschenrechte, ein strikt humanitäres Ziel, unvereinbar ist mit der Verminung von Häfen, der Zerstörung von Ölraffinerien, oder … mit der Ausbildung, Bewaffnung und Ausrüstung von Contras. Das Gericht kommt zu dem Ergebnis, dass das Argument, das von der Wahrung der Menschenrechte in Nicaragua hergeleitet wird, keine juristische Rechtfertigung für das Verhalten der USA liefern kann.“2

Noch im selben Jahr hat das Foreign Office Großbritanniens auf die zwingenden politischen Gründe für die Ablehnung der »humanitären Intervention« als dritte Ausnahme vom Gewaltverbot hingewiesen: „Die überwältigende Mehrheit der zeitgenössischen Rechtsmeinung spricht sich gegen die Existenz eines Rechts zur (einseitigen) humanitären Intervention aus, u. zw. aus drei Gründen: erstens enthalten die UN-Charta und das Völkerrecht insgesamt offensichtlich kein spezifisches derartiges Recht; zweitens liefert die Staatenpraxis in den letzten zweihundert Jahren und besonders nach 1945 allenfalls eine Hand voll wirklicher Fälle einer humanitären Intervention, wenn überhaupt – wie die meisten meinen; und schließlich, aus Gründen der Vorsicht, spricht die Möglichkeit des Missbrauchs stark dagegen, ein solches Recht zu schaffen… Der wesentliche Gesichtspunkt, der deshalb dagegen spricht, die humanitäre Intervention zu einer Ausnahme vom Prinzip des Interventionsverbots zu machen, sind ihre zweifelhaften Vorteile, die bei weitem durch ihre Kosten in Form des vollen Respekts vor dem Völkerrecht aufgewogen werden.“3

Wenn sich die Regierung Blair auch nicht an diese Mahnung gehalten hat, so haben diese Argumente in den vergangenen Jahren doch nicht ihre Gültigkeit verloren.4 Sie sind auf einem Treffen der Außenminister der 133 Mitgliedstaaten der Gruppe 77 am 24. September 1999 noch einmal bestätigt worden: „Wir weisen das sog. Recht auf humanitäre Intervention zurück, welches keine Basis in der UNO-Charta noch im internationalen Recht hat.5 Und ein Report des Foreign Affairs Committee des Britischen Unterhauses vom 23. Mai 2000 hat das Vorgehen der eigenen Regierung eindeutig als rechtswidrig qualifiziert: „Wir kommen zu dem Schluss, dass die Operation Allied Force den spezifischen Vorschriften dessen widersprach, was als grundlegendes Recht der internationalen Gemeinschaft bezeichnet werden kann – die UNO-Charta… Wir fassen zusammen, dass letztlich die Doktrin der Humanitären Intervention eine sehr schwache Basis im derzeitigen Völkergewohnheitsrecht hat und dass dies die NATO-Aktion rechtlich fragwürdig macht.“6

War die völkerrechtliche Legalität der »humanitären Intervention« nicht mehr zu retten, so versuchte das Komitee die NATO-Bombardierung zumindest moralisch zu legitimieren. Ähnliche Rettungsversuche finden wir bei einigen Vertretern der sog. politikorientierten Rechtswissenschaft der New Haven School an der Yale-Universität wie z.B. Anne-Marie Slaughter, die den Jugoslawien-Krieg zwar ebenfalls als juristisch illegal einstuft, dennoch aber moralisch legitimiert.7 Wir haben erlebt, wie dankbar insbesondere der deutsche Außenminister diesen Ausweg aus seinem Legitimationsdilemma aufgenommen hat. Wo jedoch die Grenzen zwischen Recht, Theologie und Moralphilosophie verschwimmen, ist letztlich jeder Angriffskrieg zu begründen.

Ziehen wir eine kurze Zwischenbilanz: Alle Versuche, die militärischen Aktionsmöglichkeiten über die völkerrechtlichen Grenzen der reinen Verteidigung (Art. 51 UN-Charta) auf Krisenbewältigung, Menschenrechtssicherung und Risikovorsorge auszudehnen, müssen derzeit noch an der klaren und eindeutigen Dogmatik der UNO-Charta scheitern. Ihre Relativierung aus Gründen menschenrechtlicher Nothilfe oder moralischer Verpflichtung wird zwar immer wieder versucht, hat aber keine namhafte und mehrheitliche Zustimmung bei den Staaten gefunden.

Präventivkrieg

Nach dem Terroranschlag auf Pentagon und World Trade Center im September 2001 bekam die sicherheitspolitische Debatte eine neue Wendung. Der Terrorismus und sein befürchteter Zugang zu Massenvernichtungsmitteln wurden zum Angelpunkt einer weiteren »Aufstockung« der Verteidigungsstrategie. War in der Neuen NATO-Strategie bereits der weltweite Kriseneinsatz, also die faktische Entterritorialisierung und Entgrenzung des Einsatzraums, enthalten, so sollte die Verteidigung gegen den Terrorismus nun auch die zeitliche Begrenzung des Art. 51 UN-Charta aufheben können. Der Einsatz militärischer Gewalt müsse räumlich wie zeitlich unbegrenzt möglich werden. Schon die bloße Vermutung, dass einer dieser sog. Schurkenstaaten über atomare, chemische oder biologische Massenvernichtungswaffen verfügen könne, soll einen präventiven Erstschlag mit Waffengewalt rechtfertigen.

Die US-Administration hat die Vorverlagerung militärischer Verteidigung auf drohende Gefahren bzw. Angriffe, die sog. Präventivverteidigung, zur zentralen strategischen Option ihrer neuen »National Security Strategy« gemacht, die sie genau ein Jahr nach dem Terroranschlag, am 17. September 2002, veröffentlichte. Erstmals hatte sie Präsident Bush in einer Rede vor der Militärakademie West Point im Juni 2002 verkündet; angewandt wurde sie erstmals gegen den Irak. Seitdem wird sie als Bush-Doktrin gehandelt. Die entscheidenden Passagen lauten: „Wir müssen das Konzept der unmittelbaren Bedrohung an die Fähigkeiten und Ziele der heutigen Gegner anpassen… Die Vereinigten Staaten haben sich seit langem die Option auf präemptive Handlungen offen gehalten, um einer hinreichenden Bedrohung ihrer nationalen Sicherheit begegnen zu können. Je größer die Bedrohung, desto größer das durch Untätigkeit entstehende Risiko – und desto zwingender das Argument für antizipatorische Selbstverteidigung (…). Die Vereinigten Staaten werden gegebenenfalls präemptiv handeln, um solche feindlichen Akte unserer Gegner zu vereiteln oder ihnen vorzubeugen.

Die Vereinigten Staaten werden nicht in allen Fällen Gewalt anwenden, um aufkeimenden Bedrohungen zuvorzukommen, und Staaten sollten Präemption auch nicht als Vorwand für Aggressionen benutzen. In einer Zeit aber, in der die Feinde der Zivilisation offen und aktiv nach den zerstörerischen Technologien streben, können die Vereinigten Staaten jedoch nicht untätig bleiben, während das Gefahrenpotential wächst.“8

Ein Jahr später übernahm auch die EU für ihre im Aufbau befindlichen Krisenreaktionstruppen, die sog. battle-groups, die Option zeitlich und räumlich unbegrenzter militärischer Interventionen. In dem sog. Solana-Papier, welches vom Europäischen Rat im Dezember 2003 als »Europäische Sicherheitsstrategie« verabschiedet wurde, heißt es: „Unser herkömmliches Konzept der Selbstverteidigung, das bis zum Ende des Kalten Krieges galt, ging von der Gefahr einer Invasion aus. Bei den neuen Bedrohungen wird die erste Verteidigungslinie oftmals im Ausland liegen. Die neuen Bedrohungen sind dynamischer Art… Daher müssen wir bereit sein, vor Ausbruch einer Krise zu handeln. Konflikten und Bedrohungen kann nicht früh genug vorgebeugt werden.“

An anderer Stelle heißt es: „Wir müssen eine Strategie-Kultur entwickeln, die ein frühzeitiges, rasches und wenn nötig robustes Eingreifen fördert… Als eine Union von 25 Mitgliedstaaten, die mehr als 160 Mrd. Euro für Verteidigung aufwenden, sollten wir mehrere Operationen gleichzeitig durchführen können.“9

Obwohl der Wortlaut von Art. 51 UNO-Charta die Selbstverteidigung eindeutig auf den Fall „eines bewaffneten Angriffs“ beschränkt, haben vor allem Israel und die USA immer wieder versucht, den Anwendungsbereich der Selbstverteidigung zu erweitern. So Israel 1956 in der Suezkrise, 1967 im Sechs-Tage-Krieg und 1981 beim Angriff auf den Osirik-Nuklearreaktor im Irak. Zwar hat die Staatengemeinschaft das nie als rechtmäßige Verteidigung akzeptiert und die Bombardierung des Nuklearreaktors mit einer einstimmigen Resolution des UN-Sicherheitsrats verurteilt. Dennoch griffen auch die USA bei ihren Invasionen auf Grenada 1983 und Panamas 1989 zur Ergreifung Noriegas, sowie der Bombardierung von Tripolis 1986 nach dem Anschlag auf die Disco La Belle und Bagdads 1993 als Antwort auf ein zwei Monate zuvor versuchtes Attentat auf Präsident Bush sen. immer wieder auf das Argument der Selbstverteidigung zurück. Letztlich musste sie auch für den Krieg gegen den Irak herhalten. Der Sicherheitsrat war zumeist durch das Veto der USA blockiert, so dass es nur im Fall Panamas zu einer eindeutigen Verurteilung der Invasion durch die UN-Generalversammlung kam. Insofern stellt die »National Security Strategy« zu Recht fest, dass die USA immer auf das Konzept vorbeugender Selbstverteidigung zurückgegriffen hat – doch gegen das eindeutige Verteidigungskonzept der UNO-Charta und die einhellige internationale Ablehnung.10

Selbst diejenigen, die eine Erweiterung der Selbstverteidigung auf unmittelbar bevorstehende Angriffe erstrecken wollen, verlangen den Nachweis eines unmittelbar bevorstehenden, überwältigenden Angriffs, der weder andere Mittel noch einen Moment der Beratung mehr zulässt.11 Diese Kriterien der vorbeugenden Selbstverteidigung wurden bereits im Jahre 1842 durch den US-Außenminister Webster entwickelt. Sie wurden auch nach dem Zweiten Weltkrieg und der Verabschiedung der UNO-Charter immer wieder zitiert, aber immer außerordentlich eng gefasst. So wollen einige sie nur für Fälle gelten lassen, „wo es einen überzeugenden Beweis nicht nur bloßer Drohungen und möglicher Gefahren gibt, sondern eines bereits vorbereiteten Angriffs, wenn davon gesprochen werden kann, dass ein Angriff schon begonnen hat, obwohl er noch nicht die Grenze überschritten hat.“12 Ein solcher Fall lag jedoch in allen zitierten Angriffen nicht vor und eine allgemeine abstrakte Terrorismusdrohung kann diesen Kriterien schon gar nicht entsprechen.

Bilanz und Ausblick

Die Bush-Doktrin der Präventivverteidigung stellt eine eindeutige Verletzung der UNO-Charta dar – ihr Ziel ist es, neues Völkerrecht zu schaffen. Dies ist nur durch staatliche Praxis auf dem Wege der gewohnheitsrechtlichen Ausweitung und der Veränderung des Art. 51 UNO-Charta möglich. Entscheidend sind also nicht irgendwelche Meinungen in der politischen oder juristischen Öffentlichkeit,13 sondern eine Staatenpraxis, die dieses neue Recht einführen und zu einem neuen Standard machen will. Bisher kann von einer solchen gewohnheitsrechtlichen Änderung des völkerrechtlichen Verteidigungsbegriffs keine Rede sein, selbst wenn USA und NATO sie durch ihre Interventionspraxis durchsetzen wollen. Denn die überwältigende Mehrheit der Staaten ist dagegen, wenn sie diese Praxis auch nicht verhindern kann.

Wirksamer scheint überraschenderweise derzeit eine Kritik zu sein, die aus offensichtlich unerwarteter Richtung kommt: aus der Truppe und von den Gerichten. Die Dienstverweigerung eines Offiziers der Bundeswehr aus Gewissensgründen konnte unlängst nur deswegen die Anerkennung des Bundesverwaltungsgerichts finden, weil die Gründe – die Völkerrechtswidrigkeit des Irak-Krieges – ernsthaft und für den erkennenden Senat nachvollziehbar waren. Das Urteil vom 21. Juni stellt zentral auf „gravierende rechtliche Bedenken im Hinblick auf das Gewaltverbot der UN-Charta und das sonstige geltende Völkerrecht“ ab (Leitsatz 6).14 Insoweit kann man erwarten, dass in Zukunft insbesondere jeder Fall präventiver Verteidigung gegenüber einer Dienstverweigerung aus Gewissensgründen unterlegen sein wird. Eine Perspektive, die nicht nur den Juristen mit Genugtuung erfüllen muss, da Recht auch in diesem sensiblen Bereich der Politik wieder die Bedeutung erhält, die ihm in einer Demokratie zukommt.

Anmerkungen

1) Das strategische Konzept des Bündnisses. Bulletin Nr. 24, 3. Mai 1999, S. 221-231.

2) Military and Paramilitary Activities case, International Law Reports 468/469, para. 268. So auch die heute fast einhellige Meinung in der Völkerrechtswissenschaft, Alfred Verdross, Bruno Simma, Universelles Völkerrecht, Berlin 1984, § 284; Albrecht Randelzhofer, Art. 2 Ziff. 4 Rdnr. 30. In: B. Simma (Hrsg.): Charta der Vereinten Nationen, München 1991, S. 49 ff.; Bruno Simma: NATO, the UN and the use of force: Legal aspects. European Journal of International Law, Vol. 10/1999, S. 1 ff.; Antonio Cassese: Ex iniuria ius oritur: Are we moving towards international legitimation of forcible humanitarian countermeasures in the world community? European Journal of International Law, Vol. 10/1999, S. 24 ff.; Hermann Weber: Rechtsverstoß, Fortentwicklung oder Neuinterpretation? Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9. Juli 1999, S. 8.

3) UK Foreign Office Policy Document No. 148, British Yearbook of International Law 57/1986, S. 614.

4) Vgl. neben den bereits weiter oben angegebenen Autoren O. Schachter: International law in theory and practice, Dordrecht 1991, S. 128; Antonio Cassese: Self-determination of peoples, Cambridge 1995, S. 199 f.; Michael Bothe: VII Rdnr. 19. In: Graf Vitzthum (Hrsg.): Völkerrecht, Berlin 1997; Reinhard Merkel: Das Elend der Beschützten, DIE ZEIT, 12. Mai 1999, S. 10; August Pradetto: Die NATO, humanitäre Intervention und Völkerrecht. Aus Politik und Zeitgeschichte, B 11/99, 12. März 1999, S.26 ff.

5) Vgl. Brad R. Roth: Bending the law, breaking it, or developing it? The United States and the humanitarian use of force in the post-Cold War era. In: Michael Byers, Georg Nolte (Eds.): United States hegemony and the foundations of international law, Cambridge 2003, S. 242.

6) Vgl. Marcello G. Kohen: US use of force after the Cold War. In: Michael Byers, Georg Nolte (Eds.): United States hegemony and the foundations of international law, Cambridge 2003, S. 219.

7) Vgl. Brad R. Roth: a.a.O. (s. Anm. 5), S.250 ff. So auch die Independent International Commission on Kosovo (Goldstone Commission), Kosovo Report 2000.

8) The White House: The National Security Strategy of the United States of America, Sept. 2002, http://www.whitehouse.gov/nsc/nss.pdf, Kap. V, S. 15. Vgl. Dietrich Murswiek: Die amerikanische Präventivstrategie und das Völkerrecht. Neue Juristische Wochenschrift, Heft 14/2003, S. 1014 ff.

9) European Security Strategy, A secure Europe in a better world, Dez. 2003, http://europa.eu.int/geninfo/whatsnew.htm

10) Vgl. Albrecht Randelzhofer, Art. 51 Rdnr. 39. In: Bruno Simma (Ed.): The Charter of the United Nations, Oxford 2002; Antonio Cassese: International law, Oxford 2001, S. 310; Dietrich Murswiek: a.a.O. (s. Anm. 8), Anm. 15; Christine Gray: International law and the use of force, New York 2000; Mary Ellen O’Connell, Re-leashing the dogs of war. The American Journal of International Law, Vol. 97/2003.

11) Yoram Dinstein: War, agression and self-defence, Cambridge 1994, S. 190 ff.; Peter Malanczuk: Akehurst’s Modern introduction to international law, London 1997, S. 312 ff.

12) C. Humphrey M. Waldock: The regulation of the use of force by individual states in international law. Recueil des Cours, Vol. 81 (1952-II), S. 451 ff., 498.

13) Vgl. W. Michael Reisman: International legal responses to terrorism. Houston Journal of International Law, Vol. 22/1999; Armin A. Steinkamm: Der Irak-Krieg – auch völkerrechtlich eine neue Dimension. Unumgängliche Diskussion über das Recht der präventiven Verteidigung. Neue Züricher Zeitung, 16. Mai 2003; Karl Heinz Kamp: Die neue Sicherheitsstrategie der USA und das grundsätzlich andere Verständnis von Völkerrecht. In: Friedrich Ebert Stiftung, Zurück zum Faustrecht? Dokumentation einer Konferenz vom 22. September 2003, S. 49 ff; Karl Heinz Kamp: Die Bedrohung bekämpfen, bevor sie akut wird. Frankfurter Rundschau, 4. Febr. 2004. Vgl. auch die neue außenpolitische Doktrin der CDU, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29. April 2003, S. 2.

14) Bundesverwaltungsgericht, Urteil 2WD 12.04 vom 21. Juni 2005, http://www.bundesverwaltungsgericht.de.

Dr. Norman Paech, Professor em. für Öffentliches Recht an der Hamburger Universität für Wirtschaft und Politik (HWP), seit September 2005 MdB »Die Linke«

Rechtliche Grenzen des Gehorsams

Rechtliche Grenzen des Gehorsams

Auch Soldaten dürfen Befehle verweigern

von Helga Wullweber

Nachdem der Irakkrieg am 20.03.2003 begonnen hatte, verweigerte ein Major der Bundeswehr die Weiterarbeit an einem IT-Projekt, weil er davon ausgehen musste, dass mit diesem Projekt die Beteiligung der Bundeswehr am Irak-Krieg unterstützt werde und seine Vorgesetzten das nicht ausschließen konnten.

Zur Beteiligung Deutschlands stellte das Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) am 21.06.2005 fest (Az.: 2 WD 12.04): Die Vorgesetzten waren vom Verteidigungsministerium darüber informiert worden, dass die Bundesregierung – obgleich sie erklärt hatte, ein militärisches Vorgehen gegen den Irak abzulehnen – den USA und Großbritannien vor Kriegsbeginn Überflugrechte, Nutzung der US-Einrichtungen in Deutschland und Schutz dieser Einrichtungen zugesagt hat. Hieraus resultiere, dass Deutschland »Drehscheibe« für den Einsatz der US-Streitkräfte im Irak ist.

Das BVerwG sprach den Soldaten vom Vorwurf des Dienstvergehens frei. Er habe nicht gegen die ihm nach dem Soldatengesetz obliegende Gehorsamspflicht verstoßen, weil er rational nachvollziehbar sich darauf berufen hat, dass ihn die Ausführung des militärischen Befehls in ernste Gewissensnöte gebracht hätte und ihm deshalb nicht zumutbar war.

Das BVerwG wertete die rechtlichen Bedenken des Soldaten nicht nur als eine ernsthafte und diskussionswürdige Meinung, deren Richtigkeit dahin stehen kann. Das BVerwG prüfte die Rechtslage, um Anhaltspunkte für die rationale Nachprüfbarkeit der Gewissensentscheidung des Soldaten zu erlangen. Verblüffendes Ergebnis ist, dass die verfassungs- und völkerrechtlichen Bedenken des Soldaten gegen die Unterstützungsleistungen Deutschlands für den Irak-Krieg mit den Vorgaben der vom Bundesminister der Verteidigung erlassenen Zentralen Dienstvorschrift (ZDv) 15/2 vom August 1992 übereinstimmen.

Das BVerwG zeigt, dass das Grundrecht der Freiheit des Gewissens (Art. 4 Abs. 1 GG) auch für Soldaten gilt und nicht durch das Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung (Art. Abs. 3 GG) verdrängt wird. Bereits die Grundregelung zur Gehorsamspflicht eines Soldaten im Soldatengesetz (§ 11 Abs. 1 S. 2) beziehe sich auf die Freiheit des Gewissens, indem sie dem Soldaten auferlegt, einen Befehl „gewissenhaft“ auszuführen, also nicht gewissenlos, und fordere einen mitdenkenden und insbesondere die Folgen der Befehlsausführung – gerade im Hinblick auf die Schranken des geltenden Rechts und die ethischen »Grenzmarken« des eigenen Gewissens – bedenkenden Gehorsam.

In dieser Grundregelung zur gewissenhaften, dem Gewissen verhafteten, Befehlsausübung scheint die Geschichte der Bundeswehr auf. Bei der in den Jahren 1955/56 erfolgten Aufstellung der Bundeswehr sei in den Wehrgesetzen ausdrücklich bestimmt worden, dass Soldaten die gleichen staatsbürgerlichen Rechte wie jeder andere Staatsbürger haben und die Soldaten „Staatsbürger in Uniform“ sind (§ 6 Satz 1 SG). Um jede Sonderstellung der Streitkräfte im demokratischen und sozialen Rechtsstaat des Grundgesetzes (Art. 20 Abs. 1 GG) hinsichtlich der Bindung an die Grundrechte (Art. 1 Abs. 3 GG) sowie an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 GG) zu verhindern, sei 1956 Art. 1 Abs. 3 GG dahingehend geändert worden, dass die Grundrechte außer für Gesetzgebung und Rechtssprechung für „die vollziehende Gewalt“, zu der die Streitkräfte zählen, gelten (statt wie vorher für „die Verwaltung“). Die Erteilung eines militärischen Befehls steht deshalb unter dem Vorbehalt seiner Grundrechtskonformität.

Das BVerwG betont, dass Gewissensfreiheit nicht heißt, willkürlich nach eigenem Gesetz zu leben und zu handeln. Die Berufung auf die Gewissensfreiheit, um die Unzumutbarkeit der Befolgung eines Befehls zu begründen, wird als eine von mehreren rechtlichen Grenzen des Gehorsams (neben sechs weiteren rechtlichen Konstellationen) eines Soldaten aufgeführt. Diese rechtlichen Grenzen des soldatischen Gehorsams lassen erkennen, dass ein Soldat nicht vordergründig und leichtfertig Gründe geltend machen kann, will er einen Befehl unter Berufung auf seine Gewissensfreiheit verweigern. Für den Soldaten rechtlich unverbindlich ist u.a. auch ein Befehl, dessen Ausführung die Menschenwürde verletzen würde oder der nicht zu dienstlichen Zwecken, d.h. nicht zur Erfüllung der durch das Grundgesetz (abschließend) festgelegten Aufgaben der Bundeswehr, erteilt worden ist oder dessen Erteilung oder Ausführung als Handlung zu qualifizieren ist, die geeignet ist und in der Absicht vorgenommen wird, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten (Art. 26 Abs.1 Satz 1 GG), oder dessen Erteilung oder Ausführung gegen die »allgemeinen Regeln des Völkerrechts« im Sinne des Art. 25 GG verstößt, zu denen u.a. das völkerrechtliche Gewaltverbot und die grundlegenden Regeln des humanitären Kriegsvölkerrechts gehören.

Als Gewissensentscheidung beschreibt das Bundesverwaltungsgericht jede ernste sittliche, d.h. an den Kategorien von »Gut« und »Böse« orientierte Entscheidung, die der Einzelne in einer bestimmten Lage als für sich bindend und unbedingt innerlich verpflichtend erfährt, so dass er gegen sie nicht ohne ernste Gewissensnot handeln könnte. Da der Gewissensappell »als innere Stimme« des Soldaten nur mittelbar aus entsprechenden Indizien und Signalen, die auf eine Gewissensentscheidung und Gewissensnot hinweisen, und zwar nur über das Medium der Sprache, erschlossen werden könne, prüft das BVerwG, ob eine nach außen tretende, rational mitteilbare und nach dem Kontext intersubjektiv nachvollziehbare Darlegung der Ernsthaftigkeit, Tiefe und Unabdingbarkeit (im Sinne einer absoluten Verbindlichkeit) der Gewissensentscheidung des angeklagten Soldaten positiv festgestellt werden kann.

Das BVerwG befasst sich deshalb mit der Konfliktsituation des Soldaten und stellt fest: Seine Gewissensentscheidung fand in einem Kontext statt, der von, auch für einen zum Waffeneinsatz nach wie vor bereiten Berufssoldaten, besonderen Umständen geprägt war. Hintergrund und Anlass für sein Handeln war der Krieg gegen den Irak, gegen den gravierende rechtliche Bedenken im Hinblick auf das Gewaltverbot der UN-Charta und das sonstige geltende Völkerrecht bestanden und bestehen. Diese Situation habe der Soldat weder vordergründig noch leichtfertig angenommen noch bewusst herbeigeführt.

Sodann zeigt das BVerwG anhand der ZDv 15/02, dass die völkerrechtlichen Bedenken des Soldaten gegen die von der Regierung der Bundesrepublik Deutschland zugesagten Unterstützungsleistungen, die für ihn Veranlassung zur Befehlsverweigerung waren, berechtigt waren und sind. Die Regelungen der ZDv 15/2 beinhalten in Übereinstimmung mit dem völkerrechtlichen Neutralitätsrecht (V. Haager Abkommen vom 18.10.1907, in Deutschland in Kraft seit dem 25.10.1910), dass ein Staat, der an einem bewaffneten Konflikt zwischen anderen Staaten nicht beteiligt ist, den Status eines »neutralen Staates« hat. Das Gebiet eines »neutralen Staates« ist „unverletzlich“; jede Kriegshandlung ist darauf untersagt, insbesondere „Truppen oder Munitions- oder Verpflegungskolonnen durch das Gebiet einer neutralen Macht hindurchzuführen“ oder Nachrichten vermittelnde „Anlagen“ zu nutzen. Gemäß der ZDv 15/2 darf ein »neutraler Staat«, der die Bundesrepublik Deutschland im Hinblick auf den allein von den USA und ihren Verbündeten geführten Krieg gegen den Irak ist, auf seinem Territorium „keine der Konfliktparteien unterstützen“ und keine kriegsunterstützenden Handlungen dulden. Die ZDv 15/02 bestimmt u.a. auch, dass der »neutrale Staat« zum aktiven Tätigwerden und damit zum Einschreiten verpflichtet ist, wenn Neutralitätsverletzungen begangen werden. Die Streitkräfte einer Konfliktpartei, die sich auf dem Gebiet des »neutralen Staates« befinden, sind daran zu hindern, an den Kampfhandlungen teilzunehmen, und zu „internieren“.

Der Position der Bundesregierung, sie sei zu den Unterstützungsleistungen aufgrund der NATO-Verträge (incl. des Aufenthaltsvertrages für die US-Armee) politisch verpflichtet, widerspricht das BVerwG. Von den sich aus dem völkerrechtlichen Neutralitätsrecht ergebenden völkerrechtlichen Verpflichtungen sei Deutschland nicht dadurch freigestellt, dass es Mitglied der NATO ist, der auch die kriegführenden Staaten angehören. Es gebe keine Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland, entgegen der UN-Charta und dem geltenden Völkerrecht völkerrechtswidrige Handlungen von NATO-Partnern zu unterstützen.

Für die Gewissensentscheidung des Soldaten kam es nicht darauf an, dass er die sich aus dem als Verfassungsrecht geltenden Völkerrecht ergebende Rechtslage genau kannte. Der Soldat hatte zum einen vergeblich versucht, mit Hilfe seiner Vorgesetzten Klarheit zu gewinnen, ob er eventuell von fragwürdigen Grundlagen ausging. Zum anderen bedeuten – so das BVerwG – die rechtlichen Bedenken des Soldaten nicht, dass er nur die fehlende Legalität der deutschen Unterstützungsleistungen gerügt hätte: Für den Soldaten stellte vielmehr das geltende Völkerrecht das ethische Minimum dar. Das ist eine bedeutsame Facette der Befehlsverweigerung des Soldaten, weil in Erinnerung gerufen wird, dass UN-Charta und Menschenrechtskonvention keine beliebig veränderbaren Vertragswerke sind, sondern auf »überpositiven« Maßstäben beruhen, deren Kodifizierung wegen der Erfahrungen mit dem Faschismus und nach dem Inferno des 2. Weltkrieges gelang.

Wichtig ist schließlich der Hinweis des BVerwG darauf, dass die militärischen Vorgesetzten auch außerhalb des vom Soldatengesetz vorgeschriebenen staatsbürgerlichen und völkerrechtlichen Unterrichts verpflichtet sind, einem in einem Konfliktfall an der Rechtmäßigkeit eines Befehls zweifelnden Soldaten möglichst vollständig sowohl über die konfliktrelevanten Tatsachen als auch möglichst objektiv über die maßgebliche Rechtslage zu informieren: „Diese Unterrichtung muss sich – grundrechtskonform – daran orientieren, wie ein gegebenenfalls mit der Frage befasstes rechtsstaatliches Gericht die Sache voraussichtlich beurteilen würde.“ Die Vorgesetzten müssen sich also gründlich mit dem Verfassungs- und Völkerrecht befassen, dessen Beachtung ihnen überdies die Zentrale Dienstvorschrift aufgibt.

Im ersten »Mauerschützenurteil« vom 20.1.1992 hat das Landgericht Berlin den DDR-Grenzsoldaten zur Last gelegt, ihr Gewissen nicht „rechtzeitig“ geprüft zu haben. Um Wiederholungen zu verhindern, ist die rechtzeitige Information der Soldaten zu gewährleisten und dürfen Dritte, ob Soldaten oder nicht, nicht belangt werden, wenn sie Soldaten mit rechtlichen Zweifeln an ihrem Tun konfrontieren. Der Staatsbürger in Uniform ist verpflichtet, sich ein Urteil zu bilden über das, was er tut, um sein Gewissen prüfen zu können.

Helga Wullweber, Rechtsanwältin, Fachanwältin für Arbeits- und Sozialrecht in Berlin, ist Vorstandsmitglied der deutschen Sektion der IALANA

Der strukturelle Einschnitt in die Militärpolitik

Der strukturelle Einschnitt in die Militärpolitik

Eine zeithistorische Einordnung der VPR 2003

von Detlef Bald

Peter Struck hat am 21. Mai 2003 neue »Verteidigungspolitische Richtlinien« (VPR) erlassen. Sie wurden mit großem Aufwand angekündigt und haben viel Aufsehen erregt. Mit Blick auf die Geschichte der Bundeswehr haben sie tatsächlich eine größere Bedeutung als manche begleitende Kommentare vermuten ließen. Diese Richtlinien geben der Bundeswehr ihr Profil für die weitere Entwicklung und integrieren sie zugleich in die internationale Ausrichtung der NATO und der EU. Manche Ambivalenzen, Unklarheiten, auch Widersprüche der amtlichen Sicherheitspolitik vergangener Jahre haben sich damit erledigt. Doch damit einher geht auch eine Veränderung der inhaltlichen Qualität des Auftrags der Bundeswehr, wie Detlef Bald an mehren Punkten deutlich macht.

Nach dem Völkerrecht ist jeder Angriffskrieg geächtet, die Staaten sind zum Gewaltverzicht verpflichtet. Ausnahme ist der Fall der Notwehr eines Staates gegenüber einem militärischen Angriff von außen. Nur bei der Verteidigung kommen völkerrechtliche Legalität und ethische Legitimität bekanntlich zusammen.

Grundsatz militärischer Einsätze

Dem entsprechend heißt es im Grundgesetz: „Der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf.“ (Art. 87 a Abs. 1) Der Einsatz der Bundeswehr wird weiter dadurch eingeschränkt, dass er nach dem Grundgesetz »ausdrücklich« zugelassen sein muss. Ganz im Einklang mit der deutschen Verfassung wird im NATO-Vertrag Ziel und Zweck dieses Bündnisses ausschließlich als Verteidigung definiert und geographisch auf das Gebiet der Mitglieder begrenzt. Die Vorgaben des nationalen und internationalen Rechts sind eindeutig.

In den VPR wird noch auf die Geltung des Grundgesetzes Bezug genommen, aber in völligem Kontrast dazu anschließend (Ziffer 5) fortgeführt: „Verteidigung heute umfasst allerdings mehr als die herkömmliche Verteidigung an den Landesgrenzen gegen einen konventionellen Angriff. Sie schließt die Verhütung von Konflikten und Krisen (…) ein.“ Verteidigung lasse sich geographisch nicht mehr eingrenzen, da sie zur Sicherheit beitrage, „wo immer diese gefährdet ist.“ Das ist die Formulierung für das verbreitete Motto von Struck: „Deutschland wird am Hindukusch verteidigt.“

Was ist geschehen, dass im politischen Klima der Gegenwart die eklatante Bagatellisierung, Umgehung oder Missachtung oberster Rechtsnormen möglich ist, ohne dass vehementer Protest erfolgt?

Nun, Struck selbst gibt dafür eine pragmatische Erklärung; er übernehme diese großzügige Interpretation zum auswärtigen Einsatz militärischer Mittel „entsprechend dem weiten Verständnis von Verteidigung, das sich in den letzten Jahren herausgebildet hat.“ (Ziffer 4) Ein politischer Usus genügt, um eine Norm der Verfassung beiseite zu schieben. Aber so ist es tatsächlich. Ein paar Hinweise auf den Wandel des Sprachgebrauchs mögen genügen. Im Juli 1990 hatte die NATO in London die neue Richtung vorgegeben; von nun an sei sie ein „politisches Bündnis“, die „treibende Kraft für den Wandel in Europa“. Was dies bedeutetet, findet sich in dem viel zu wenig beachteten »Neuen Strategischen Konzept« der NATO vom November 1991. Dort werden Stabilität und Frieden in Nordafrika und im Nahen Osten als „wichtig für die Sicherheit des Bündnisses“ bezeichnet und »Out-of-Area-Einsätze« angekündigt.

Zur gleichen Zeit gaben Admiral Dieter Wellershoff und General Klaus Naumann die neue Marschrichtung für die Bundeswehr vor. Sie führten den »erweiterten Sicherheitsbegriff« hinsichtlich der „Konfliktpotentiale auf dem Balkan“ und der Krisen in der Welt ein, die nicht mehr zuließen, „den Blick auf Europa zu verengen“; Wellershoff erfand im Jahr 1991 die zivilistisch klingende Parole für militärische Einsätze im Ausland: „Schützen, helfen, retten!“ Aber die Kehrseite dieser Medaille wurde offenbar, als zum gleichen Zeitpunkt der konkrete Maßstab intern – im veränderten Ziel der Ausbildung für die Offiziere – verkündet wurde: „Der Krieg ist der Ernstfall!“

Kanzler Helmut Kohl griff das Angebot von Präsident George Bush sen. auf, an der »partnership in leadership« einer neuen Weltordnung teilzuhaben und reagierte mit dem Wort von der „größeren Verantwortung in der Völkergemeinschaft“. Damit begann die neue formative Phase der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik.

Nur gut ein Jahr nach der Vereinigung finden sich die Konsequenzen in den VPR von Gerhard Stoltenberg. Er legte das Fundament für die Bundeswehr in dem Dokument mit dem umständlichen Titel: Militärpolitische und militärstrategische Grundlagen und konzeptionelle Grundrichtung der Neugestaltung der Bundeswehr (22. Jan. 1992). Sie läuteten die neue Machtpolitik der Berliner Republik ein. Dort benannte die Politik »vitale Interessen« an die wirtschaftliche und internationale »Stabilität«. Noch vage wurde als »Herausforderung« an die deutsche Sicherheitspolitik festgestellt: „Die Förderung und Absicherung weltweiter politischer, wirtschaftlicher, militärischer und ökologischer Stabilität; die Aufrechterhaltung des freien Welthandels und des Zugangs zu strategischen Rohstoffen.“ Man war so kühn, eine „gerechte Weltwirtschaftsordnung“ einzufordern, allerdings unter dem Aspekt, den „ungehinderten Zugang zu Märkten und Rohstoffen in aller Welt“ für Deutschland zu sichern. Erstmals wurde ein Zusammenhang zwischen ökonomischer Prosperität und Sicherheit hergestellt, in dem militärische Mittel als Faktoren für ungehinderte Lieferung von Rohstoffen benannt wurden. Zweifel an vitalen Interessen Deutschlands und der Begründung militärischer Interventionen ließen diese VPR eigentlich nicht aufkommen.

Der »Umbau« der Bundeswehr konnte nach diesem Rahmenplan erfolgen. Das war die radikalste Wende seit dem Gründungskonzept der fünfziger Jahre. Denn die Bundeswehr war für derartige Aufgaben überhaupt nicht befähigt, sie war dafür nicht ausgebildet, ausgerüstet und ausgerichtet. Deshalb beschloss das Kabinett im Februar 1992 langfristige Planungen für eine vollständige »Restrukturierung« der Bundeswehr. Im Sinne des politisch-militärischen Ansatzes war man sich der Radikalität des Unterfangens bewusst. Nicht zufällig lautete bezeichnender Weise das Ziel »Streitkräfte 2010«. Volker Rühe brachte es auf den Punkt: „Was früher Bedrohung war, heißt heute Instabilität.“ (Rühe 1993)

Wie zu Beginn der fünfziger Jahre Konrad Adenauer die (bedingte Souveränität der) Bonner Republik mit militärischer Macht begründete, so handelte Helmut Kohl zu Beginn der neunziger Jahre gleichermaßen mit Blick auf die (im Zeichen der vollen Souveränität begriffene) Macht der Berliner Republik. Damals war die Doktrin der Bedrohung aus dem Osten genutzt worden, um die Aufstellung von Streitkräften glaubwürdig zu begründen; nun galt es, internationale Risiken und Instabilitäten als ursächliche Voraussetzung für den Umbau der Bundeswehr zu nutzen. Dieses politische Konzept wurde mit dem Fall der Mauer in Washington entworfen und in kürzester Zeit in Bonn rezipiert.

Bekannt wurde der Wandel durch eine Untersuchung der RAND Corporation, ob die deutschen Eliten die Umwandlung der NATO mit tragen würden. Das Ergebnis war signifikant. Hier einige Daten zur militärischen Elite: Die Generalität der Bundeswehr war 1994 zu 99 Prozent zu humanitären Einsätzen in Krisenregionen bereit und zu 80 Prozent zu Zwangsmaßnahmen sogar gegen den Willen der Konfliktpartner. Das Fazit für alle: „Die deutsche Führungselite hat anscheinend gleich mehrere wichtige Schritte unternommen, um die (…) »Kultur der Zurückhaltung« abzulegen und die überholte Beschränkung als reine Zivilmacht aufzugeben.“ Nun konnten die Amerikaner beruhigt werden, da man den Deutschen attestierte, auf dem Weg „zu einem »normalen« Akteur in Europa“ zu sein.

Struck hat Recht, wenn er in seinen VPR betont, er folge nur dem in den letzten Jahren entwickelten Begriff der Doktrin zu Sicherheit und Verteidigung. Nur so ist zu begreifen, dass Politik, Regierung und Parlament sowie die Öffentlichkeit durchgehen ließen, dass (1.) die Vorgaben des Grundgesetzes und (2.) des Völkerrechts so erweitert verstanden werden, dass die angesprochene Gültigkeit heute nahezu obsolet sind. Diese Aussage gilt unabhängig von dem in den VPR eingefügten Satz: „Grundgesetz und Völkerrecht bilden die Grundlage für alle Einsätze der Bundeswehr.“ (Ziffer 37)

In diesem Zusammenhang ist (3.) eine weitere völkerrechtliche Differenzierung der VPR zu erkennen. Zunächst findet sich pauschal die Äußerung, oberste Legitimierung für Interventionen gewähren UNO und NATO, sogar mit internationaler Einbindung: „Bewaffnete Einsätze der Bundeswehr (…) werden gemeinsam mit Verbündeten und Partnern“ im Rahmen von UNO und NATO stattfinden – doch dann erfolgt die entscheidende Gewichtung. Die UNO hat ihre Aufgaben bei der „Bewältigung der Herausforderungen des 21. Jahrhunderts“ durch Friedensmissionen mit klassischen Blauhelm-Missionen, die darüber hinaus von „Konfliktverhütung durch politische Aktivitäten und vorbeugende Truppenstationierung bis hin zum Einsatz bewaffneter Kräfte zur Eindämmung von Konflikten und zur Stabilisierung innerstaatlicher Konflikte“ (Ziffer 44) reichen. Diese Einsätze sind auf das Ziel „friedlicher Lebensbedingungen“ gerichtet.

Und zur NATO das Novum im offiziellen Auftrag: Das Bündnis kann autonom Einsätze durchführen und die Bundeswehr ohne eine weitere Legitimierung seitens der UNO oder der OECD einbinden (die Bedingung des Bundesverfassungsgerichts, falls es sich zum System kollektiver Sicherheit erklärt, wird nicht reflektiert). Die NATO rangiert im Unterschied zu früher mit neuer politischer Wertigkeit an Legalität und Legitimität, zuständig für „Krisen und Konflikte, Bedrohungen und deren Ursachen im erweiterten geographischen Umfeld“. Das sind die »Anforderungen«, auf die die Bundeswehr kollektiv reagieren wird, wie es vollmundig heißt: „aus welcher Richtung sie auch kommen mögen.“ (Ziffer 47) Was schon auf der Tagung der NATO im Dezember 1989 gefordert wurde, steht heute als integraler Bestandteil des Auftrags der Bundeswehr fest: Einsätze »out of area« in alleiniger Kompetenz des NATO-Rates.

Schließlich ist (4.) klar, dass innerhalb der deutschen Exekutive (Verteidigungsministerium), der parlamentarischen Gremien und des Militärs seit Ende 1989 die Transformation des Sicherheitsbegriffs erfolgte, der schon im Winter 1991/92 bereits seine Konturen zeigte. Konsequent hat die Politik mit langem Atem den damaligen außen- und sicherheitspolitischen Entwurf umgesetzt und präzisiert. Nahtlos, wenn auch etappenweise und mit gewisser Zeitverzögerung, griffen die Deutschen die entsprechenden amerikanischen Impulse innerhalb der NATO auf. Bezeichnend ist, dass formal keine echten rechtlich relevanten Fixierungen – also die Änderung des Grundgesetzes und die Reformulierung des NATO-Vertrages – vorgenommen wurden. Stattdessen wurde die Transformation Stück für Stück und möglichst »unauffällig« durch Deklarationen, Gremienbeschlüsse und Erklärungen auf der Ebene der Exekutive, von Politik und Verwaltung herbeigeführt. Die VPR von Struck vom Jahr 2003 stehen voll in der Tradition der »Grundlagen« des Januars 1992.

Neue Wagnisse der erweiterten Sicherheit

Die VPR des Jahres 2003 bieten in zwei großen Bereichen Perspektiven einer Entwicklung, die für Deutschland Neuland bedeuten. Das erste Beispiel: Die VPR reflektieren die europäische Integration: Mit der Europäisierung der Sicherheitspolitik steht auch eine andere strukturelle Einbindung der Bundeswehr an. Seit der Präsidentschaft von John F. Kennedy vor 40 Jahren ist zwar akzeptiert, dass die NATO eine zweite, eine europäische Säule, benötigt. Doch eine solche organisatorische Sonderformation eines europäischen Militärs wurde von den USA allein unter ihrem Oberkommando gedacht. Wann immer in der folgenden Zeit europäische Initiativen ventiliert wurden, fanden sie prinzipiell Widerstand, wenn sie diese Bedingung nicht erfüllten. So war die NATO seit 1949/1954 strukturiert – und daran sollte sich aus der Sicht Washingtons auch nichts ändern.

Die Wurzeln zur Ausprägung von Komponenten zur Sicherheit in der Europäischen Union sind alt. In dem Gründungsdokument zur EPZ, der »Europäischen Politischen Zusammenarbeit« vom Dezember 1973 findet sich u.a. das Ziel, „die Sicherheit eines jeden einzelnen (Staates) besser“ zu gewährleisten. Einen ganz entscheidenden Anstoß gab es in Maastricht 1991 – nach dem Zusammenbruch des Ostblocks – mit der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP), wo es um Ziele ging wie „Frieden, Sicherheit und Fortschritt in Europa“, aber auch „in der Welt zu fördern.“ Damals hieß es, man wolle „auf längere Sicht“ auch eine gemeinsame Verteidigungspolitik festlegen.

Die Entwicklung seit der Zerstörung der Hochhäuser in New York und von Teilen des Pentagon, also seit »11/9« hat auch die EU aktiviert; nicht zu vernachlässigen sind die Kriege in Afghanistan und vor allem der Golfkrieg II gegen den Irak. Die aktuellen Rivalitäten und Komplikationen mit den USA haben mancherlei Impulse für Aufbau und Entwicklung europäischer Militärstrukturen gegeben. Zur Klärung der Vorstellung von einer »Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik« (ESVP) wurde vom Rat der EU 2001 festgestellt, die EU habe die Rolle einer Macht, „die jeder Form von Gewalt, Terror und Fanatismus entschlossen den Kampf ansagt.“ Das klingt beinah wie aus amerikanischer Feder, zugleich aber wurde erklärt, man sei bestrebt, die sozialen Verhältnisse in der Welt gerecht und solidarisch zu ändern. Das steht noch für das lange Zeit hoch gehaltene Ideal von Europa als Zivilmacht. Bislang hat die EU keine ausformulierte Strategie, doch hat der EU-Rat in Thessaloniki im Juni 2003 Javier Solanas Äußerung akzeptiert, nach der die EU ein globaler Akteur ist, „sie sollte daher bereit sein, einen Teil der Verantwortung für die globale Sicherheit zu tragen.“ Solana nannte als vorrangigen Ziele:

  • Stabilität in Europas Nahbarschaft – vom Kaukasus bis Nordafrika,
  • eine effektive, multilaterale und funktionierende Weltordnung und
  • die Bewältigung der »alten« und neuen Risiken.

Vollkommen unklar blieb dabei, welchen Stellenwert im einzelnen militärische Interventionen haben können.

Die hier angedeutete Ambivalenz wird auch in den VPR von Struck deutlich. Bemerkenswert ist, dass Berlin sein hohes Interesse an europäischen militärischen Potentialen dokumentiert und betont, „in den vergangenen Jahren“ bei den Beschlüssen zur Ausgestaltung dieser EU-Politik „eine Schlüsselrolle“ (Ziffer 51) gespielt zu haben. Mit deutlichen Worten wird bekannt, „unabdingbar“ sei für die Glaubwürdigkeit und Durchsetzungsfähigkeit der EU, in allen Politikbereichen „handlungsfähig“ zu sein: „Krisen, die Europa berühren, muss die EU in einer breiten Palette ziviler und militärischer Fähigkeiten begegnen können.“ Das Ziel wird in einer „schnellen militärischen Reaktionsfähigkeit“ (Ziffer 53) gesehen.

Was die ESVP tatsächlich bedeuten wird, liegt weitgehend im Dunkel der zukünftigen Entwicklung. Sicherlich ist sie mehr als nur eine offene Option. Gerade die Unkalkulierbarkeit eines amerikanischen Unilateralismus hat in diesen Jahren deutlich gemacht, wie sehr Differenzen und (Teil-)Identitäten über den Atlantik hinweg europäische Interessen bewusst werden ließen. Der in Gang gekommene Prozess hat Auswirkungen. Nach meiner Einschätzung wird die Bindung des Auftrags der Bundeswehr an die EU bereits mittelfristig beträchtliche Konsequenzen haben.

Ein zweiter Bereich künftiger militärischer Aufgaben ist im Einzelnen überhaupt nicht eindeutig einzuordnen, aber zumindest so gravierend wie das Problem der europäischen Einsätze: Der Einsatz der Bundeswehr im Innern. Nach den Notstandsgesetzen von 1968/69 ist die Bundeswehr nur die ultima ratio bei äußerster Bedrohung des sozialen Friedens, also im Falle des »inneren Notstandes«, d.h. bei Naturkatastrophen und bei bewaffneten Unruhen. Artikel 87a Abs. 4 GG gewährt in Verbindung mit Artikel 91 die Zuständigkeit des Bundes zur „Bekämpfung organisierter und militärisch bewaffneter Aufständischer.“ Die Formulierung dieser Artikel und das Konzept des Grundgesetzes wollen die strikte Trennung militärischer und polizeilicher Gewalt mit ihren je unterschiedlichen Aufgaben und Einsatzdoktrinen. Darüber hinaus und dafür wurde mit dem BGS ein Polizeitruppe des Bundes errichtet, die auf Fragen der inneren Ordnung und des sozialen Friedens spezialisiert ist, wenn die Polizei der Länder überfordert ist.

Diese Regelung hat ihre historischen Erfahrungen, da es nach 1815, 1848, 1871 und 1918 üblich war, unter der Devise: „Gegen Demokraten helfen nur Soldaten“ Militär für Einsätze gegen die eigene Bevölkerung zu impfen. Berüchtigt sind die Worte Kaiser Wilhelms von 1891: „Bei den jetzigen sozialistischen Umtrieben kann es vorkommen, dass ich Euch befehle, Eure eigenen Verwandten, Brüder, ja Eltern niederzuschießen – was ja Gott verhüten möge – aber auch dann müsst Ihr Meine Befehle ohne Murren befolgen.“ Weitere Beispiele: Noske setzte die Reichswehr zu Zehntausenden in Berlin, Bremen und München ein. Heinrich Himmler koordinierte als »Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei« den besonderen gemeinsamen ideologischen Einsatz.

In der aktuellen Entwicklung des Jahres 2003 vernahm daher im Januar die deutsche Öffentlichkeit mit Erstaunen, dass Edmund Stoiber und Wolfgang Schäuble die Forderung nach Änderung des Grundgesetzes erhoben, um die Bundeswehr im Innern u.a. gegen terroristische Bedrohungen einsetzen zu können (FAZ 30. 1.; 1. 2.). Beide bildeten die Speerspitze einer Lobby, die – zur Zeit der Fertigstellung der VPR – eine Ausweitung der Aufgaben der Bundeswehr anstrebte. Sie hatten Erfolg.

Erstmals erhält das Militär in den VPR den Auftrag, sich auf Einsätze im Innern vorzubereiten: „Zum Schutz Deutschlands und seiner Bürgerinnen und Bürger leistet die Bundeswehr künftig einen bedeutenden, zahlreiche neue Teilaufgaben umfassenden und damit deutlich veränderten Beitrag im Rahmen einer nationalen Sicherheitskonzeption.“ (Ziffer 80) Die zahlreichen Aufgaben sind nicht enumerativ fest gehalten sondern pauschal unter Schutz der „Bevölkerung“ und der „lebenswichtigen Infrastruktur des Landes“ vor Terrorismus und „asymmetrischen Bedrohungen“ subsumiert. Die Einsatzoptionen gelten „immer dann“, wenn „nur“ die Bundeswehr über die „erforderlichen Fähigkeiten“ verfügt.

Das ist die neue Lage gemäß dem Erlass von Minister Struck. Doch, um es klarzustellen, er steht mit diesen Formulierungen nicht in der Tradition von Noske, gleichwohl hat er in historischer Perspektive den qualitativen Punkt gemacht, ein Tabu außer Kraft zu setzen und den Einsatz von Militär im Innern in den Auftrag der Bundeswehr aufzunehmen. Welche dienstrechtlichen Konsequenzen sich daran fügen, welche spezielle Ausbildung und Bewaffnung damit verbunden ist oder welche gesellschaftlichen, politischen oder ökonomischen Fälle konkret gemeint sind, wird mit diffusen Worten offen gehalten. Was beispielsweise bedeuten asymmetrische Bedrohungen in diesem Lande, stammt der Begriff doch aus dem Bedrohungsszenario internationaler Konflikte mit militärischen Interventionen. Oder geistert im Hintergrund die neueste Version des Begriffs vom totalen Krieg herum? Jedenfalls ist deutlich, dass in diesen Passagen der VPR der Minister für manche undefinierte und pauschalisierende Formulierungen die politische Verantwortung übernommen hat.

Doch es sollte hier noch eine Anmerkung zu den neunziger Jahren angebracht werden. Im Jahr 1993 wandte sich Schäuble, damals Fraktionsvorsitzender der Unionsparteien im Bundestag in einem Brief an die Abgeordneten. Er trat für den Einsatz der Bundeswehr im Innern ein gegen die neuen Bedrohungen im Zeitalter „weltweiter Wanderungsbewegungen und internationalem Terrorismus“. Da die Grenzen zwischen innerer und äußerer Sicherheit zunehmend „verwischen“ würden, sprach er sich für die Aufhebung der „perfektionistischen Beschränkungen“ des Grundgesetzes aus . (FR 22. 12. 1993)

Das Grundgesetz wurde 2003 nicht verändert, die Exekutive nutzt mit den VPR das Mittel eines Erlasses.

Auswirkungen der Änderung des militärischen Auftrags

Die VPR des Jahres 2003 haben einen hohen historischen Stellenwert. Mehrere Aussagen sind für die Einordnung erforderlich. Als Erstes ist anzumerken, dass sie mit der alten Bundeswehr Schluss machen. Im Sommer 2000 hatte Minister Rudolf Scharping seine perspektivische Planung der Bundeswehr mit dem Titel vorgelegt: Die Bundeswehr sicher ins 21. Jahrhundert. Eckpfeiler für eine Erneuerung von Grund auf. Unabhängig vom Wortlaut dieses Titels sollte eine Reform von Grund auf verhindert werden, wie sie in dem umfassend angelegten Projekt der Weizsäcker-Kommission angestrebt worden war. Im Gegensatz dazu beschwor Scharping den Primat der alten Form der Landesverteidigung, „in erster Linie“ sollten sie und die „Kollektive Verteidigung“ (Ziffer 20) Umfang und Struktur der Streitkräfte bestimmen. Damit wurde den restaurativen Kräften im Heer freie Hand gegeben, an einem Militärkonzept der massenhaft organisierten Verteidigung mit Panzereinsatz gen Osten festzuhalten. So hatte die Doktrin der fünfziger Jahre mit Russland als Feindbild hintergründig bis in die Gegenwart Bedeutung. Mit diesem anachronistischen Bild hat Struck aufgeräumt, als er die Grenze zog: „Die herkömmliche Landesverteidigung (…) entspricht nicht mehr den aktuellen sicherheitspolitischen Erfordernissen.“ (Ziffer 12) Die Auswirkungen dieses Satzes sind gravierender als ein militärischer Laie vermutet – im Selbstverständnis des Militärs ist das ein Bruch mit vielen Traditionen, ein radikaler Einschnitt.

Zweitens ergeben sich Fragen nach der Rationalität und Effektivität des Militärs, das die VPR als Bild entwerfen, dem die zukünftige Entwicklung verpflichtet ist. Bis auf zahlenmäßig geringfügige Einheiten verkörpert die alte Bundeswehr bis in die Gegenwart und die nahe Zukunft den klassischen Typ des modernen Militärs der Vergangenheit, entwickelt im Kontext der Industrialisierung des frühen 20. Jahrhunderts. Die ökonomische Revolutionierung der modernen Kommunikation (die drei Cs: Command, Control, Communication, zunächst in der Mondlandung erprobt) und Rüstungsproduktion hat hingegen seit den achtziger Jahren einen anderen Typ des Militärs der Moderne entwickelt und hervorgebracht. Er wurde in Teilen in der Praxis – Golfkrieg I – getestet und entspricht einem anderen Typ militärischer Auseinandersetzungen. Er verlangt neue Einsatzdoktrinen, Ausbildungskonzepte und Rüstungsstrukturen. Bezogen auf diese säkulare Entwicklung hat Struck grundsätzlich die Zeichen der Zeit erkannt und die Richtung der Modernisierung für die Bundeswehr eingeschlagen (Unabhängig von dem Vorwurf, mit Rücksicht auf die Traditionalisten im Heer, die für die Wehrpflicht plädieren, manche Konsequenzen nur halbherzig vorgegeben zu haben).

Drittens bedingt diese Entscheidung – gewissermaßen die Kehrseite dieser Medaille – eine Erweiterung der politischen Optionen für die Bundesrepublik: die Verheißung der Teilhabe an einer globalen Machtausübung mit militärischen Mitteln oder der (latenten) Androhung mit dem Einsatz von Militär – mit der Reichweite von humanitären Zielen bis hin zur Bestimmung der internationalen Ordnung. Dafür, das wurde bereits betont, war es erforderlich, die öffentliche Wahrnehmung der Legalität zu verändern und Akzeptanz für militärische Einsätze im Ausland herzustellen. Eine der Voraussetzungen war das veränderte Verständnis der einschlägigen Bestimmungen des Grundgesetzes, das anders definiert wurde als es ein halbes Jahrhundert lang üblich war. Ähnlich erging es der völkerrechtlichen Bindung durch die UN-Charta und durch den NATO-Vertrag. So begründet sich der Einsatz der Bundeswehr im Innern wie »out of area« ganz wesentlich aufgrund einer veränderten Perzeption rechtlicher Bindungen.

Viertens ergibt sich für die zeithistorische Einordnung der sicherheitspolitischen Konzeption eine Erkenntnis über das politische System der Bundesrepublik. Die Verführung durch die Macht der neuen Weltordnung, von Bush sen. der westlichen Welt offeriert, zeitigte ihre größten Erfolge auf dem sicherheitspolitischen Feld. Wichtige machtpolitische Elemente haben sich ganz unabhängig von aktuellen Querelen zwischen Berlin und Washington durchgesetzt. Nur eine Generation hat es gedauert, bis das politische Konzept militärischer Interventionen in der Bundesrepublik Anerkennung gefunden hat. Der konzeptionelle Ansatz der Regierung Kohl von 1991/92 hat bei der Regierung Schröder offensichtlich Pate gestanden. Verblüffend ist, dass die VPR des Jahres 2003 von der Gruppe der politischen Elite in die Tat umgesetzt wurde, die zu Beginn der neunziger Jahre in kritischer Opposition dazu stand und vehement Alternativen in einer europäischen Friedensordnung (Egon Bahr) ohne diese militärische Ausstattung gesucht hatte.

Ein fünfte Anmerkung ist erforderlich. Diese Entwicklung wird gerne als Militarisierung der deutschen und europäischen Außenpolitik bezeichnet. Zweifelsohne sind Teile der deutschen Öffentlichkeit überrascht, wie leicht heutzutage über den Einsatz von Militär gesprochen wird. Insofern hat das alte Europa wichtige Aspekte des ursprünglich kultivierten Ideals einer Zivilmacht aufgegeben. Militär und das Denken in militärischen Kategorien wurden tatsächlich »normal«, insofern alltäglich. Doch sollte man nicht meinen, zu Zeiten der »Kultur der Zurückhaltung« im »Kalten Krieg« habe es nicht heftige Anteile militaristischen Denkens in der Außen- und Innenpolitik gegeben. Zurückhaltung bestand allein gegenüber autonomen Einsätzen im Ausland außerhalb des Bündnisgebietes. Was vorzufinden ist, kann als Verschiebung der machtpolitischen Akzente gesehen werden. Auffällig wird dieses Phänomen dadurch, dass bislang militärisch kaum berührte Bereiche mittlerweile mit Macht und dem Einsatz oder der Drohung mit Militär definiert werden. Es handelt sich um neue Formen und Inhalte einer außenpolitischen Militarisierung.

Schlussendlich muss noch bedauert werden, dass es den aktiven Kräften in den Friedenswissenschaften nicht gelungen ist, einer wichtigen politischen Kategorie, nämlich der Stärkung des Rechts in der Praxis der Politik, in dieser Zeit mehr Geltung zu verschaffen. Frieden zwischen den Staaten zu erhalten oder zu schaffen gebietet, nach verbindlichen rechtlichen Regeln vorzugehen. Die VPR verweisen auf derartige Defizite.

Es bleibt nur der alte, von Einstein genannte Ausweg: Im Sinne eines gerechten Friedens eine neue Denkungsart in der Politik zu wagen.

Literaturhinweise:

Hans Arnold (Hg.): Sicherheit für das größere Europa. Politische Optionen im globalen Spannungsfeld, Bonn 2002.

Detlef Bald: Hiroshima, 6. August 1945. Die nukleare Bedrohung, München 1999.

Gert Krell: Arroganz der Macht, Arroganz der Ohmacht – Der Irak, die Weltordnungspolitik der USA und die transnationalen Beziehungen, HSFK-Report, 1/2003.

Dieter S. Lutz (Hg.): Friede in der Bewährung. Beiträge zur Diskussion des Friedens als Ernstfall, Baden-Baden 2002.

Dr. Detlef Bald war Wissenschaftlicher Direktor am Sozialwissenschaftlichen Institut der Bundeswehr, er arbeitet jetzt als freier Autor.