Einfrieren des Militärhaushaltes

Einfrieren des Militärhaushaltes

von Arbeitsgruppe alternative Wirtschaftspolitik

Der Etat des Bundesverteidigungsministeriums im Entwurf der Bundesregierung für den Haushalt 1985 ist ein Übergangshaushalt: Zum einen soll das schon in den letzten Jahren zu beobachtende – weit überdurchschnittliche Wachstum der Militärausgaben zu Lasten der Ausgaben für Soziales, Bildung und Gesundheit trotz gewisser finanzieller Entlastungen auf seiten der Beschaffungsausgaben für Waffensysteme der zweiten Generation fortgesetzt werden. Zum anderen will die Bundesregierung mit der drastischen Anhebung der Entwicklungsausgaben für die 90er Jahre schon jetzt die Weichen für eine neue Aufrüstungswelle stellen, deren Dimension alle bisherigen Rüstungsschübe weit übertreffen würden. Wenn diese neue Rüstungsrunde verhindert werden soll, ist es schon heute erforderlich, diesen politischen Weichenstellungen entgegenzutreten.

I. Der Haushaltsentwurf für 1985 steht – wie schon in den letzten fünf Jahren – im Zeichen des Vorrangs für die Militärausgaben. Bei einer konjunktur- und beschäftigungspolitisch unverantwortlich niedrigen – Steigerungsrate der Gesamtausgaben von nur 1,2 % sollen die Mittel des Bundesverteidigungsministeriums mehr als dreimal so schnell, nämlich um 3,7 %, steigen. Für die Gesamtheit aller übrigen Bundesausgaben ergibt sich damit ein nominales Wachstum von nur 0,5 %, oder – bei einer erwarteten Preissteigerungsrate von 2,5 % – ein realer Rückgang von 2 %. In absoluten Zahlen: Von den 3,1 Mrd. DM Ausgabenzuwachs entfallen 1,8 Mrd. DM auf die Ausgaben des Verteidigungsministeriums. Rechnet man die Militärausgaben nach den üblichen NATO-Kriterien, sind es sogar 1,9 Mrd. DM oder 62,6 % der gesamten Ausgabenzunahmen.

An diesen Größenordnungen und Proportionen haben auch die Beratungen des Haushaltsausschusses nichts wesentliches geändert: Er schlägt vor, die Gesamtausgaben um 2,2 Mrd. DM oder 0,9 % und die Ausgaben des Verteidigungsministeriums um 1,5 Mrd. DM oder 3,1 % anzuheben. Für alle übrigen Ausgaben zusammen bedeutet dies eine Zunahme um 0,7 Mrd. DM oder 0,3 %.

II. Die Politik beschleunigter militärischer Aufrüstung geht nach wie vor einher mit einer Einschränkung von Sozial- und Bildungsausgaben: So werden die Mittel des Ministeriums für Arbeit und Sozialordnung um den gleichen Betrag (nämlich 1,9 Mrd. DM) gekürzt, um den die Militärausgaben ansteigen sollen. Das Ministerium für Jugend, Familie und Gesundheit erhält 600 Mio. DM oder 3,6 % weniger. Der Etat des Ministeriums für Bildung und Wissenschaft, der bereits im laufenden Jahr um 13 % gekürzt worden ist, wird erneut um 0,7 % gesenkt.

Zur Begründung für die Kürzung der Bundesausgaben für Sozialleistungen, Gesundheit und Bildung verweist die Bundesregierung immer wieder auf die prekäre Finanzlage des Bundes. Diese Behauptung ist offensichtlich unwahr. Die Enge der staatlichen Finanzen hindert die Bundesregierung nicht, den Militäretat Jahr für Jahr aufzustocken. Die Regierung spricht propagandistisch von „Sozialstaat auf Pump“ oder von „Kostenexplosion im Gesundheitswesen“. Statt dessen sollte sie lieber den „Rüstungsstaat auf Pump“ und die „Kostenexplosion im militärischen Beschaffungswesen“ kritisieren und verhindern; dies gäbe den erforderlichen fiskalischen Spielraum für die Aufrechterhaltung und den Ausbau des Systems der sozialen Sicherheit in der Bundesrepublik. Daß dies nicht geschieht ist nicht Ergebnis finanzpolitischer Sachzwänge, sondern Ausdruck politischer Prioritätensetzung durch die Bundesregierung.

III. Die unverminderte Eskalation der Militärausgaben wiegt umso schwerer, als sich gerade im kommenden Jahr eine hervorragende Möglichkeit ihrer Eindämmung bieten würde. 1985 nehmen nämlich die Ausgaben für die Beschaffung der großen Waffensysteme der zweiten Generation wegen des beginnenden Abschlusses der Ausstattung erheblich ab: Die Ansätze für die drei großen Waffensysteme Tornado, Leopard 2 und AWACS liegen 1985 insgesamt um fast 1,1 Mrd. DM unter denen des laufenden Jahres. Hierin läge eine Chance, durch ein Absenken der Beschaffungsmittel den Anstieg der Militärausgaben zu stoppen oder zumindest deutlich zu bremsen.

Die Bundesregierung zieht es jedoch vor, die finanzielle Entlastung von seiten der Großwaffensysteme durch eine drastische Steigerung der Beschaffung von Munition (+14,3 %) und Peripheriegerät wie Fahrzeugen (+30,1 %), Fernmelde- (+21,2 %) und Feldzeugmaterial (+40 %) zu nutzen. Sie will – offensichtlich auch unter dem Druck der amerikanischen Regierung – das Niveau der Beschaffungsausgaben um jeden Preis aufrechterhalten.

Das Ergebnis ist: Während in allen anderen Bereichen Sach- und Beschaffungsausgaben gekürzt werden, wird es der Bundeswehr geradezu auferlegt, in großem Umfang Munition zu horten und ihr Ausgabenniveau aufrechtzuerhalten. Ähnliches gilt für die Personalausgaben: Die Bundeswehr ist der einzige Bereich im öffentlichen Dienst, in dem für das kommende Jahr über tausend neue Stellen geplant sind und über zweitausend vorhandene Stellen neu besetzt werden.

IV. Besonders eklatant ist die militärische Priorität im Bereich von Wissenschaft, Forschung und Bildung. Die ruckartige Ausweitung der Ausgaben für militärische Forschung und Entwicklung um 29,2 % im kommenden Jahr wird von der Bundesregierung mit der Notwendigkeit begründet, jetzt die Entwicklung der Waffensysteme der dritten Generation zügig voranzutreiben, mit denen die Bundeswehr in den 90er Jahren ausgerüstet werden soll.

Dies sowie der Auslauf der Beschaffung der zweiten Waffengeneration – kennzeichnen den Haushalt 1985 im militärischen Bereich als Übergangshaushalt. In ihm sollen entscheidende Weichen für die Rüstungsentwicklung bis über das Ende dieses Jahrhunderts hinaus gestellt werden.

Die dritte Waffengeneration enthält zum größten Teil die Systeme, die zur Verwirklichung der modifizierten NATO Doktrin der Follow-on-Forces-Attack (FOFA) erforderlich sind: Waffen für den Angriff in die Tiefe des gegnerischen Hinterlandes. Im Zusammenhang mit der Air Land Battle Konzeption müssen diese Waffen als für die militärische Aggression geeignet angesehen und von der Gegenseite so empfunden werden. Ihre Beschaffung würde dazu beitragen, eine neue Runde der Destabilisierung, des Mißtrauens und der Konfrontation auch in den europäischen Beziehungen einzuleiten und anzuheizen.

V. Die Finanzierung der geplanten Ausrüstungswelle ist hingegen noch weitgehend ungeklärt. Die Bundesregierung wird aller Voraussicht nach versuchen, sie im wesentlichen auf zwei Wegen sicherzustellen: Zum einen werden erneut in zunehmendem Maße Staatsschulden aufgenommen werden, die anschließend mit dem Argument der Haushaltssanierung einen erneuten „Zwang“ zu Einsparungen an anderen Stellen schaffen. Zum anderen wird sie aber auch versuchen, umittelbar Kürzungen in den Bereichen vorzunehmen, die schon in der Vergangenheit zur Finanzierung der Rüstung herangezogen worden sind: Sozial-, Bildungs- und Gesundheitsausgaben sowie Ausgaben im Infrastrukturbereich.

Die Dimension dieser erneuten Streichungen würde das, was in den letzten fünf Jahren an Sozialabbau durchgesetzt Wurde und die Lebenslage von Millionen Menschen spürbar beeinträchtigt hat, weitgehend in den Schatten stellen.

Auch wenn das mit der Bundeswehrplanung 1985 bis 1997 verbundene Aufrüstungsprogramm sich im Haushalt 1985 noch nicht in steigenden Beschaffungsausgaben, sondern nur in vergleichsweise „harmlosen“ Ansätzen im Entwicklungsetat niederschlägt, bedeutet dieser Haushalt eine entscheidende Weichenstellung auf dem Weg zu einem erneuten Aufrüstungsschub, der auf einem historisch einmalig hohen Niveau ansetzen würde. Die jetzt vorgesehenen Entwicklungsausgaben haben den Charakter einer Einstiegsdroge; von der es später wie die Erfahrungen der letzten 25 Jahre zeigen – kaum noch ein Zurück gibt. Daher ist es außerordentlich wichtig diese anlaufende Entwicklung möglichst früh zu stoppen.

VI. Aus dieser Beurteilung der geplanten Militärausgaben im Haushaltsentwurf 1985 ergibt sich folgende Hauptforderung: Die Mittel für den Einzelplan 14 sollen auf dem Stande von 1984 (das sind 48,141 Mrd. DM) eingefroren werden. Gegenüber dem Entwurf der Bundesregierung bedeutet das Minderausgaben in Höhe von 1,785 Mrd. DM (Gegenüber dem Vorschlag des Haushaltsausschusses beläuft sich die Einsparung auf 1,499 Mrd. DM). Diese Einsparung könnte durch folgende vier Maßnahmenbündel erreicht werden:

a) Bei den militärischen Beschaffungen werden die Entlastungen bei den Ausgaben für die Großwaffensysteme voll zur Senkung der Beschaffungsausgaben insgesamt genutzt und nicht durch Erhöhungen in anderen Bereichen kompensiert.

Einsparung (allein bei AWACS, TORNADO und Kampfpanzern) 1,088 Mrd. DM. Die eingesparten Mittel sollten für beschäftigungswirksame Programme im Bereich des Umweltschutzes und der Energieeinsparung verwendet werden.

b) Bei den Ausgaben für militärische Infrastruktur werden die Mittel für das Wartime Host Nation Support Programme auf dem Stand von 1984 eingefroren.

Einsparung: 61,03 Mio. DM. Die eingesparten Mittel sollten als Zuschüsse an Länder und Gemeinden für den Ausbau des öffentlichen Personennahverkehrs und des sozialen Wohnungsbaus gegeben werden.

c) Bei den Personalausgaben wird die Stellenbesetzungssperre aufrechterhalten (45 Mio. DM). Die vorhandenden 1022 Stellen für längerdienende Soldaten werden gestrichen (13 Mio. DM). Einsparung: 58 Mio. DM. Die eingesparten Mittel sollten zur Aufstockung des Personals bei den Arbeits- und Sozialämtern verwendet werden.

d) Die Ausgaben für militärische Forschung und Entwicklung werden auf dem Stand von 1984 eingefroren.

Einsparung: 562 Mio. DM. Die eingesparten Mittel sollten zur Verstärkung der Forschung im Bereich des Arbeits- und Gesundheitsschutzes eingesetzt werden.

Damit ergibt sich eine Gesamteinsparung von 1.769 Mrd. DM.

Gericht und Krieg

Gericht und Krieg

Das Bundesverfassungsgericht verspielt seine Glaubwürdigkeit

von Bernd Hahnfeld

Das höchste deutsche Gericht verweigert mit dem Urteil vom 3.07.2007 (2 BvE 2/07), der Entscheidung über die Tornado-Einsätze in Afghanistan, die im Antrag mit Recht geforderte verfassungsrechtliche Prüfung. Die Bundestagsfraktion der PDS/Die Linke hatte beantragt festzustellen, dass die Bundesregierung gegen das Grundgesetz verstößt, indem sie ohne Zustimmungsgesetz der Fortentwicklung des NATO-Vertrages zustimmt und sich durch die Entsendung von Tornado-Flugzeugen am erweiterten ISAF-Mandat beteiligt. In einer beispiellosen Wurstigkeit bügelt das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) die Anträge ab, ohne die zugrunde liegenden Rechtsfragen ernsthaft zu erörtern.

Das neue Urteil ist die fatale Fortentwicklung der Adria-Entscheidung von 1994, mit der das BVerfG den Beschluss der Bundesregierung zum Adria-Einsatz der Bundeswehr verfassungsrechtlich gebilligt hatte. Dieses Ergebnis war nur möglich, indem das BVerfG sich über die bis dahin weithin anerkannte verfassungs- und völkerrechtliche Unterscheidung von Verteidigungsbündnissen und Militärpakten einerseits und von gegenseitigen kollektiven Sicherheitssystemen andererseits hinweggesetzt und systemwidrig die NATO als ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit anerkannt hatte. Nur über die sich daraus ergebende Anwendung von Art. 24 Abs. 2 GG war die Teilnahme an der NATO-Militäraktion zu rechtfertigen.

Nach Art. 24 Abs. 2 GG kann sich der Bund zur Wahrung des Friedens einem System der gegenseitigen kollektiven Sicherheit einordnen. Ein solches System ist zweifelsfrei die UN. Die NATO hingegen galt bis zur Adria-Entscheidung des BVerfG als reines Verteidigungsbündnis. Im Gegensatz zu einem Verteidigungsbündnis sichern Systeme der gegenseitigen kollektiven Sicherheit die Mitglieder vor Aggressionen von außerhalb und innerhalb des Systems, verpflichten zur friedlichen Streitbeilegung und stellen dafür die entsprechenden Organe und Wege bereit, so etwa den Internationalen Gerichtshof in Den Haag. Der NATO fehlen solche Einrichtungen. Dem BVerfG reichte jedoch die Gewissheit, dass sich die NATO dem Frieden verpflichtet fühlt.

Das neue Urteil knüpft auch an der Entscheidung des BVerfG vom 22.11. 2001 an. In dieser hat das BVerfG das »neue Strategische Konzept« der NATO vom 23./23. April 1999 nicht als Änderung des NATO-Vertrages, sondern nur als dessen Fortentwicklung und Konkretisierung bewertet, obwohl die Staats- und Regierungschefs der NATO-Staaten die Aufgaben der NATO um „nicht unter Artikel 5 fallende Krisenreaktionseinsätze“ auch außerhalb des euro-atlantischen Raumes erweitert haben. Das BVerfG hat solche Krisenreaktionseinsätze als verfassungsrechtlich unbedenklich angesehen, wenn das Friedensgebot des Grundgesetzes, die strikte Bindung an die UN-Charta und die Anerkennung der primären Verantwortung des UN-Sicherheitsrates beachtet werden.

Als verfassungswidrig hat das BVerfG die Fortentwicklung des NATO-Systems unter Verstoß gegen das ursprüngliche Zustimmungsgesetz oder die Fortentwicklung jenseits der von der Bundesregierung erteilten Ermächtigung bezeichnet, ohne jedoch diese Tatbestände näher zu konkretisieren.

Mit der nunmehr verkündeten Entscheidung zum Tornado-Einsatz hat das BVerfG die Bundesregierung bei Militäreinsätzen nahezu von allen verfassungsrechtlichen Beschränkungen freigestellt. Der Wortlaut und Geist des NATO-Vertrages, das Gewaltverbot der UN-Charta, das Friedensgebot des Grundgesetzes und das Primat des UN-Sicherheitsrates werden souverän übergangen, die gerichtliche Aufklärungspflicht wird missachtet. Solange die NATO behauptet, der Einsatz diene dem Frieden, gilt er als verfassungskonform. Der Verquickung von ISAF und Operation Enduring Freedom (OEF) aufgrund gemeinsamer Kommandostrukturen und Einsatzgebiete geht das BVerfG gar nicht nach. Die notwendige Beweisaufnahme zur Frage der Völkerrechtswidrigkeit der Taliban-Jagd im Rahmen der OEF und zur Beteiligung der ISAF-Einheiten an den nicht durch Notwehr gerechtfertigten Militär-Aktionen der USA hat das Gericht unterlassen. Lediglich der Generalinspekteur, General Wolfgang Schneiderhahn, ist als Zeuge vernommen worden.

Jedem Amtsrichter würde so ein Urteil vom Rechtsmittelgericht um die Ohren gehauen werden. Entweder würde er sein Handwerkszeug nicht beherrschen oder er hätte es bewusst nicht angewendet. Das BVerfG erfüllt den selbst formulierten Auftrag nicht, wenn es einerseits behauptet, nur wenn das NATO-Bündnis seine friedenssichernde Ausrichtung aufgebe, würde es sich von seinem Gründungsauftrag entfernen, andererseits aber vermeidet, die Verquickung der ISAF mit der nicht friedenssichernden OEF aufzuklären. Das BVerfG hat entschieden, der Organklage der Bundestagsfraktion der PDS/Die Linke nicht stattzugeben; es hat diese Entscheidung nicht nachvollziehbar begründet.

Bernd Hahnfeld, Richter i.R., ist stellvertretender Vorsitzender der Deutschen Sektion der International Association of Lawyers Against Nuclear Arms (IALANA) und für diese im Vorstand der Zeitschrift Wissenschaft & Frieden.

In der Luft, auf See und zu Land

In der Luft, auf See und zu Land

Militär-Hilfe »auf Teufel komm raus«

von Johannes Plotzki

Im Umfeld des G-8-Gipfels, der Anfang Juni 2007 in Heiligendamm stattfand, gab es verschiedene Einsätze der Bundeswehr. Insbesondere der Tiefflug von Tornado-Aufklärungsflugzeugen über ein Camp der globalisierungskritischen Bewegung hat für Entrüstung und ein parlamentarisches Nachspiel gesorgt.

Zusammengenommen widersprechen die Berichte über die tatsächlich während des G8-Gipfels durchgeführten Einsätze der Bundeswehr zu Land, auf See und in der Luft diametral dem, was die Bundesregierung im Vorfeld hat Glauben machen wollen. Hatte die Bundesregierung in ihrer Antwort auf die kleine Anfrage am 26.04.2007 verneint, die Bundeswehr an der Sicherung der Strecke zwischen dem Flughafen Rostock-Laage und dem Tagungshotel zu beteiligen, wurde das Gegenteil für jeden sichtbar, der sich während des G8-Gipfels auf der Autobahn (BAB 19) zwischen Rostock und dem Flughafen Rostock-Laage bewegte und auf den Autobahnbrücken gepanzerte Bundeswehrfahrzeuge vom Typ Fennek sah. In ihrer Antwort bekräftigte die Bundesregierung außerdem, dass »analog zur FIFA-Fußball-WM 2006 – keine Unterstützungskräfte ›in erster Reihe im Straßenbild‹ in Erscheinung treten.«1Entgegen dieser Ankündigung donnerte am 5. Juni ein Bundeswehrtornado nur 110 Meter über die Köpfe der Campbewohner von Reddelich hinweg.

Das bisherige juristische und parlamentarische Nachspiel ist bekannt: Einleitung eines Vordisziplinarverfahrens gegen den Piloten und der Bericht des Parlamentarischen Staatssekretärs beim Bundesminister der Verteidigung, Christian Schmidt (CDU/CSU). In seinem Bericht zählt Staatssekretär Schmidt die einzelnen Flüge der Tornados auf und erklärt, dass jeweils auf Bitten der Polizeidirektion Rostock das Aufklärungsgeschwader 51 »Immelmann« mit der Durchführung der Flüge beauftragt wurde. Die Polizeidirektion Rostock wiederum bekam von der Besonderen Aufbauorganisation (BAO) Kavala das Amtshilfegesuch des Landes Mecklenburg-Vorpommern an das Wehrbereichskommando 1 am 24. April diesen Jahres übermittelt. Trotzdem berichtete ein Ministeriumsvertreter im Innenausschuss am 23. Mai 2007, dass die Bundeswehr »überwiegend nur Transportaufgaben« übernehmen werde. Bei einer Fragestunde im Plenum war sogar von »ausschließlich Transportaufgaben« die Rede.2 Sprach Staatssekretär Schmidt noch von insgesamt vier Missionen, hat sich laut »Leipziger Volkszeitung« herausgestellt, dass es sieben Missionen mit möglicherweise bis zu zehn Flügen gegeben habe.3 Aufgenommen wurden bei den Flügen u.a. die Camps in Rostock, Wichmannsdorf und Reddelich.

Staatssekretär Schmidt informierte auch über den Einsatz von gepanzerten Bundeswehrfahrzeugen des Typs Fennek. Wurde deren Anforderung bereits am 13. März vom Innenminister Mecklenburg-Vorpommerns durch den Verteidigungsminister am 26. April 2007 gebilligt, hieß es in der auf den 24. April datierten Antwort der Bundesregierung noch »Umfang und Intensität der Unterstützungsleistungen durch die Bundeswehr werden erst zeitnah zum G8-Gipfeltreffen endgültig absehbar sein4 Eingesetzt wurden nach Angaben des Staatssekretärs insgesamt zehn Fennek-Fahrzeuge. Drei davon innerhalb der Sperrzone, die restlichen zur Überwachung der An- und Abflugrouten an den An- und Abflugtagen, zur Überwachung der Fahrstrecken der Delegationen auf der A 19, und der landwirtschaftlichen Versuchsanstalt des Landes Mecklenburg-Vorpommern (Genmais). Ein zehnter Fennek-Spürwagen war zur Koordinierung eingesetzt.

Ebenso wie der Recce-Tornado wird auch der Fennek von der Bundeswehr in Afghanistan verwendet. Die Herstellerfirma Krauss-Maffei Wegmann lobt seinen hervorragenden Einsatz für »Spähaufträge bis weit hinter feindlichen Linien.«5 Dies ermöglichen ihm Wärmebildgerät, CCD-Kamera mit hoher Auflösung samt Zoom-Objektiv und Laserentfernungsmesser. Eine Mini-Drohne ALADIN ist ebenfalls an Bord. Sie startet wie ein Modellflugzeug aus der Hand und hat eine Reichweite von rund 6.000 Metern.6

Hatte die Bundesregierung noch in ihrer bereits erwähnten Antwort angegeben, dass insgesamt 1.100 Soldaten während des G8-Gipfels eingesetzt werden, waren es nach einer Aussage des Sprechers im Verteidigungsministerium, Oberstleutnant Strunk, tatsächlich aber 2.100 Soldaten.7 Für die Öffentlichkeit unübersehbar wurde die zivil-militärische Zusammenarbeit auch im Krankenhaus von Bad Doberan. Dort kamen Soldaten des Sanitätsdienstes zur Unterstützung des zivilen Krankenhauspersonals bei der ambulanten und stationären Patientenversorgung zum Einsatz. Bei guter Sicht erkennbar waren auch die Boote der Marine vor der Küste: Sechs Verkehrsboote als Transportmittel, zwei Minenjagdboote für das Absuchen des seeseitigen Sperrgebietes, ein Minenjagdboot als Plattform für Minentaucher und eine Fregatte als Unterstützung für die Luftwaffe.8 Deutlich wird bereits beim jetzigen Erkenntnisstand, dass diese Einsätze von Heer, Luftwaffe und Marine im Innern weit über die Amtshilfe nach Art 35 (1) GG hinausgehen. Afghanistan ist überall, bewegt sich doch die Bundeswehr auch bei ihren Inlandseinsätzen zunehmend fern des Grundgesetzes.

Anmerkungen

1) Antwort der Bundesregierung (Drucksache 16/5148), 26. 04. 2007

2) Der Spiegel, 21. Juni 2007

3) Leipziger Volkszeitung, 21.6.2006

4) Spiegel online, 23. Juni 2007

5) Homepage von Krauss-Maffei Wegmann: http://www.kmweg.de/frame.php?page=31

6) Homepage Die Panzeraufklärer im Internet: http://www.pzaufkl.de/

7) Kl. Anfrage (Drucksache 16/5698) von Abgeordneten von DIE LINKE an die Bundesregierung, 14.06.07

8) Antwort der Bundesregierung, ebenda.

Johannes Plotzki ist Mitarbeiter der Informationsstelle Militarisierung in Tübingen

Dem Krieg einen Sinn geben

Dem Krieg einen Sinn geben

Zur Deutung der Balkan-Kriege in den Feldzeitungen der Bundeswehr

von Fabian Virchow

Während in der soziologischen, politik- und medienwissenschaftlichen Forschung in den vergangenen Jahren die Interaktion von medialer Berichterstattung und politischem Handeln bzw. militärischen Entscheidungsprozessen in Krisen- und Kriegssituationen intensiver betrachtet worden ist, haben die medialen Angebote der Militärs selbst bisher wenig Beachtung gefunden. Dabei sind sie an der diskursiven Herstellung einer spezifischen »Kultur des Krieges« ebenso beteiligt wie an der Bereitstellung von Sinnstiftungsangeboten für die Soldaten und Soldatinnen. Mit letzterem befasst sich der folgende Beitrag anhand ausgewählter Publikationen der Bundeswehr.

Mit dem Zerfall der Sowjetunion und dem Ende des Ost-West-Konflikts, mit der Auflösung der Warschauer Vertragsorganisation und der marktwirtschaftlichen Transformation der osteuropäischen Gesellschaften sowie dem Auftreten bzw. der Zuspitzung neuer Konfliktlagen haben sich die Rahmenbedingungen, Vektoren und Bezugsgrößen für die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland nachhaltig verändert. In ihr, von der zuweilen angenommen wurde, sie sei noch bis weit in die 1990er Jahre durch eine culture of antimilitarism geprägt gewesen (Berger 1998: ix/x), haben sich im Ausgang des 20. Jahrhunderts das Primat der Außenpolitik und eine Aufwertung des Militärischen als Mittel deutscher Außenpolitik durchgesetzt (vgl. Schwab-Trapp 2002, Rathbun 2006).

Politische Kultur und militärische Öffentlichkeitsarbeit

Im Unterschied zur originären Analyse politischer Kultur mit ihrer Fokussierung auf die Untersuchung subjektiver Einstellungen ist im vorliegenden Kontext politische Kultur im Anschluss über Vorstellungsmuster konzeptualisiert, die durch historische Erfahrungen einerseits und die aktuelle Deutungspraxis politischer Akteure andererseits geprägt werden. Besteht die politische Kultur einer Gesellschaft »aus einem System von Bedeutungen für politische Ereignis- und Handlungszusammenhänge, das in öffentlichen Auseinandersetzungen zwischen politischen und kulturellen Eliten hergestellt wird und Legitimation für diese Ereignisse und Handlungszusammenhänge enthält« (Schwab-Trapp 2002: 19), so konkurrieren in ihr die Deutungsangebote verschiedener diskursiver Gemeinschaften um die Interpretationshoheit politischer und sozialer Ereignisse und Handlungszusammenhänge. Mit den diskursiven Formationen als »institutionalisierte und legitimierungsfähige Formen des Sprechens über spezifische Themenfelder und Gegenstandsbereiche« (Schwab-Trapp 2002: 48) ist die Herausbildung diskursiver Gemeinschaften verbunden, die ihre »Identität als diskursive Gemeinschaften durch diskursive Prozesse der Abgrenzung und Integration« (ebd.: 52) konstruiert. Auch die Bundeswehr als Institution mit ihren Repräsentanten und Medienangeboten bemüht sich um die Konstruktion einer diskursiven Gemeinschaft, die als gesellschaftlicher Akteur Deutungsmacht beansprucht.

Eine solche Konzeptualisierung politischer Kultur, der es um Fragen der Anleitung und Legitimation politischen und sozialen Handelns geht, als Politische Soziologie ist anschlussfähig an konstruktivistische Perspektiven der Internationalen Politik bzw. der Internationalen Beziehungen, da die Bundeswehr bzw. im erweiterten Sinne die strategic community an den vielgestaltigen Diskursen über Funktion und Aufgabe deutscher Streitkräfte teilnimmt und diese mit ihren Deutungsangeboten maßgeblich bestimmt.

Die konstruktivistische Fokussierung auf die Relevanz nicht-materieller Faktoren wie Bedeutungszuschreibungen, Werte, Ideen, kulturelle Praxen und subjektive Weltdeutungen handelnder Akteure bei der Analyse und Erklärung internationaler Politik und Beziehungen soll hier nicht in dichotomischer Abgrenzung zu rationalistischen Ansätzen verstanden werden, sondern als zusätzliche Perspektive bei der Analyse akteursspezifischer sozialer Konstruktionen außenpolitischen Handelns und zugrundeliegender Interessen, die häufig medial vermittelt sind.

Das Militär ist als kollektiver Akteur unmittelbar an Kriegshandlungen und MOOTW (Military Operations Other Than War) beteiligt; zugleich stellt es mittels der von ihm vorgehaltenen oder kontrollierten Medien auch Deutungsangebote eben dieser Anwendungen des militärischen Gewaltapparates bereit. Im Unterschied zu den USA, wo es zahlreiche Untersuchungen zur Repräsentation des Militärs in den Medien sowie zur Struktur, Arbeits- und Wirkungsweise militärischer Öffentlichkeitsarbeit gibt (vgl. exemplarisch Suid 2002; Robb 2004; Elter 2005), sind entsprechende Studien zur Darstellung der Bundeswehr in Printmedien, Hörfunk und Fernsehen ebenso rar (vgl. jedoch Schaffer/Zelinka 1993; Meder 1998; Bleicher/Hickethier 2005) wie wissenschaftliche Untersuchungen über die Kooperations- und Austauschprozesse zwischen Bundeswehr und journalistischem Feld oder empirisch-qualitative Analysen zu den Medien und der Öffentlichkeitsarbeit der deutschen Streitkräfte oder – allgemeiner – über die Militärpublizistik in Deutschland (Brandt/Friedeburg 1966; Zelinka/Anker 1991; Klauser 1996; Schießer 2002).

Im folgenden sollen Ergebnisse aus einem Forschungsprojekt vorgestellt werden, das sich mit den Feldzeitungen der Bundeswehr befasst (vgl. Virchow 2007). Diese sind aus militärsoziologischer und kulturwissenschaftlicher Perspektive als Untersuchungsgegenstand in vielfältiger Weise interessant, so etwa hinsichtlich des diskursiven Umgangs mit Tod und Verwundung, der Konstruktion von Geschlechterrollen, der Thematisierung von Sexualität. An dieser Stelle soll der Frage nachgegangen werden, welche Deutungsangebote in diesen Medien hinsichtlich der Kriegsursachen, der Konfliktparteien und der Konfliktverläufe, anlässlich derer Bundeswehreinheiten disloziert wurden, gemacht werden. In den Feldzeitungen findet sich – aus Sicht der ins Einsatzgebiet entsandten Soldaten und Soldatinnen – die Wahrnehmung des Konflikts und die Formulierung von Deutungsangeboten durch zugelassene Beobachter, deren medial vermittelte Augenzeugenschaft als besonders interpretationsstark und aussagekräftig angenommen werden könnte.

Die Feldzeitungen der Bundeswehr

Das aktuelle Medienangebot der Bundeswehr fußt auf der unter dem Titel »Truppeninformation 2000« firmierenden Neustrukturierung der Medien der Bundeswehr (Damm 2002). Der gegenwärtige »Medienmix« der Bundeswehr beinhaltet

  • die Wochenzeitung »Aktuell. Zeitung für die Bundeswehr« in Verantwortung der Redaktion des Presse- und Informationsstabes der Bundeswehr mit einer Auflage von 60.000 Exemplaren;
  • seit April 2001 die auch im freien Verkauf erhältliche Monatsschrift »Y. Magazin der Bundeswehr«, in die die Truppenzeitschriften der verschiedenen Waffengattungen aufgegangen sind;
  • als Quartalspublikation die »Information für die Truppe«, kürzlich umbenannt in »IF – Innere Führung«, die mit vertiefender Hintergrundberichterstattung und historischen Themen als Instrument der politischen Bildung eingesetzt wird (vgl. Michael 2006; Reeb 2006);
  • ein für Bundeswehrangehörige zugängliches »Intr@net aktuell«, in dem seit Ende 2000 tagesaktuelle Informationen und Stellungnahmen angeboten werden, sowie
  • ein in der Anfangsphase von der Produktionsfirma »Atkon« betreutes »Bundeswehr-TV«, das bisher besonders für die im Ausland eingesetzten Soldaten und Soldatinnen und in den truppeneigenen Zentren für Familienbetreuung empfangen werden kann.

Jenseits dieser Konzeption finden sich weitere Medienangebote der Bundeswehr, die eng an die Auslandseinsätze der Bundeswehr und die Transformation zur »Armee im Einsatz« gebunden sind und zum Teil in den Verantwortungsbereich der sogenannten OpInfo –Einheiten (Operative Information) gehören, die in der Tradition der psychologischen Kampfführung stehen. Zum Aufgabenbereich dieser Truppengattung gehört das auf Nachwuchsgewinnung ausgerichtete Personalmarketing, in dessen Rahmen etwa Redakteure von Schülerzeitungen zur OpInfo-Truppe eingeladen werden (Wegner 2006), die Produktion von Radioprogrammen und Zeitschriften für die Bundeswehrsoldaten und -soldatinnen im Ausland und die Informationssammlung über aktuelle und zukünftige Einsatzländer einschließlich soziodemographischer Merkmale ihrer Bevölkerungen (Marberg 2006).

Neben Zielgruppenradios, mit denen die Bevölkerung in den Einsatzgebieten der Bundeswehr informiert wird, gehört auch das Betreuungsradio der Bundeswehr, »Radio Andernach«, zu OpInfo-Einheit. Seit 1996 ist »Radio Andernach« im ehemaligen Jugoslawien mit einem Studio vertreten, seit 2002 auch im afghanischen Kabul.

Schließlich produziert die Bundeswehr in ihren Einsatzgebieten auch Feldzeitungen. Neben der erstmals im November 2002 erschienenen ISAF-Feldzeitung »Checkpoint« wird für das in Mazedonien stationierte Bundeswehr-Kontingent seit 1999 wöchentlich die Zeitung »Maz & More« mit einer Auflage von über 6.000 Exemplaren (2002) produziert. Bereits Ende 1997 wurde unter dem Titel »Der Keiler« (Auflage 1.600) eine Feldzeitung der Bundeswehr in Bosnien-Herzegowina und anfangs auch Kroatien hergestellt. In der ersten Ausgabe von Maz & More hieß es zur Funktion der Publikation, diese diene der Verbindung der Truppe im Einsatz mit den Familienangehörigen und solle das Zusammengehörigkeitsgefühl des Kontingents fördern (Maz & More Nr. 1: 2).

Auch wenn die Feldzeitungen in Aufmachung und Umfang immer wieder Veränderungen unterworfen waren, so lassen sich auf den zwölf bis sechzehn Seiten folgende Elemente als häufig wiederkehrend identifizieren: Beiträge zu aktuellen politischen Entwicklungen (z.B. Wahlen) oder militärischen Ereignissen (z.B. Militärübungen, Test neuer Waffensysteme, Kommandoübergaben und Kontingentwechsel), Interviews mit Kommandeuren, Berichte über die Tätigkeit einzelner Einheiten sowie über Patrouillenfahrten, Porträts von Soldaten und Soldatinnen, Darstellungen ausländischer Truppen, Kommentare von Militärgeistlichen oder Truppenpsychologen, Ablauf von Feiertagen und Events der Truppenbetreuung, karitative Aktionen zugunsten der Zivilbevölkerung, ein bis zwei Seiten mit Witzen, Rätseln, Horoskopen und Kreuzworträtseln sowie – meist auf der Rückseite – Grüße von Familienangehörigen. Ein Teil der Auflage wird nach Deutschland geschickt und steht so den Familienangehörigen oder Lebenspartnern zur Verfügung.

Die Balkan-Kriege in den Feldzeitungen der Bundeswehr

In den wöchentlich erscheinenden Feldzeitungen der Bundeswehr nehmen Beiträge, die sich explizit mit Ursachen, Verlauf und Konfliktparteien im (früheren) Jugoslawien befassen, nur einen geringen Anteil der Gesamtfläche ein. Während sich die in den Feldzeitungen befragten kommandierenden Offiziere vor allem zu militärischen Fachfragen äußern und bezüglich politischer Beurteilungen und Entscheidungen auf »die Politik« verweisen (vgl. zu detaillierten Nachweisen: Virchow 2007), teilen die Militärs mit den von den Redaktionen der Feldzeitungen befragten Politikern die Bewertung, dass die Konfliktregelungsprozesse Fortschritte machen, aber noch eine nicht absehbare Zeit in Anspruch nehmen werden. Von Regierungsvertretern werden hingegen Bedingungen und Perspektiven formuliert, so etwa bzgl. der Auslieferung der Generäle Mladic und Karadzic als conditio für die Aufnahme in die EU. Von militärischen wie politischen Vertretern werden die Bundeswehr-Einsätze unisono als »Erfolgsstory« bezeichnet und den Soldaten und Soldatinnen explizit Anerkennung gezollt und politische Unterstützung ausgesprochen.

Besonderen Erklärungswert hinsichtlich der Konfliktlagen im ehemaligen Jugoslawien beanspruchen die mehrteiligen Artikelserien, die in den Feldzeitungen abgedruckt wurden. Diese Artikelserien zur Entstehung und zum Verlauf der Konflikte im ehemaligen Jugoslawien bieten keine durchgängig einheitliche Deutung an. Zum Teil fokussieren sie auf einen Zeitraum, der vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart reicht, zum Teil greifen sie weit zurück bis in die Zeit der Teilung des Römischen Reiches. In den Beiträgen werden unterschiedliche Komplexitätsgrade bezüglich der Darstellung und Relation historischer Ereignisse und Entwicklungen ebenso deutlich wie verschiedene Betrachtungsperspektiven, die im einen Fall eher an die Darstellung von Geschichte als »Tat großer Männer« und Kriegsgeschichtsschreibung erinnert, in anderen Beiträgen jedoch auch die ökonomischen Krisenmomente der gesellschaftlichen Entwicklung und die Dimension der Überföderalisierung als konfliktfördernde Faktoren anführen und damit einen wichtigen Aspekt zum Verständnis der historischen Entwicklung zumindest benennen (vgl. Okuka 1998; Pavkoviæ 2000).

Den Beiträgen ist gemeinsam, dass sie in der grundsätzlichen Perspektive und in expliziten Bezügen als Konfliktursache die »ungelöste nationale Frage« (Maz & More Nr. 59: 11) und die »konsequente Verweigerung nationaler Selbstbestimmungsrechte« (Maz & More Nr. 60: 11) markieren, und die These das ein »Kunstgebilde« (Maz & More Nr. 183: 14) wie Jugoslawien nicht funktioniere. Obwohl immer wieder auch die durch Migrationsprozesse verursachten Enthomogenisierungsprozesse Erwähnung finden, folgt die implizite Textur der Vorstellung von der Existenz von »Völkern«, die als weitgehend homogene Entitäten begriffen werden und durch die Jahrhunderte immer wieder miteinander in Konflikten und Kämpfen verwickelt waren (z.B. Maz & More Nr. 164: 14). »Ethnische Zugehörigkeit« wird dabei im Regelfall essentialisiert (vgl. z.B. die Charakterisierung Titos in Maz & More Nr. 182: 14). Tatsächlich jedoch waren – insbesondere in Bosnien-Herzegowina, wo durch wiederholte Wanderungsbewegungen sowohl »Serben« als auch »Muslime« fast flächendeckend verteilt und die »Kroaten« in den meisten Teilen der Republik anzutreffen waren (vgl. MacDonald 2002: 223) – die scheinbar klaren Kategorien wenig eindeutig und trennscharf. Werden die vielfältigen und variablen Muster kultureller Differenzierung und Zuordnung betrachtet, so lässt sich erahnen, dass es unmöglich ist, mit ihnen Eindeutigkeit bezüglich der objektiven Zugehörigkeit zu einer bestimmten Vergemeinschaftungsform (»Volk«) herzustellen (vgl. Lockwood 1975). Für viele Menschen in Bosnien war über lange Zeit ein »village patriotism« bedeutsamer als der Bezug zu einer qua Religion, Sprache oder Kultur konstruierten »Ethnie« (vgl. Calic 1998; Pratt 2003: 142 ff.).

Während der militärischen Auseinandersetzungen im ehemaligen Jugoslawien wurden die soziale Plausibilisierung der Ordnungsvorstellung Nation und die Nationalisierung der Gesellschaften vorangetrieben; dabei stellte neben der Sprache auch die Implementierung nationaler Symbole, Feste, Bilder und Mythen, die mit bestimmten Werten und Verhaltensnormen verbunden wurden und als Teil einer »invention of tradition« (Hobsbawn & Ranger 1983) zu verstehen sind, einen zentralen Bereich dar. Solche Prozesse nationalistischer Umformung in Gestalt der Aktualisierung ‚nationaler Erinnerungskulturen‘ werden in den Feldzeitungen insbesondere am Amselfeld-Mythos dargestellt.

Zu den Leerstellen in den Artikelserien zählen hinsichtlich des Prozesses der Separation von Slowenien und Kroatien die Anerkennungspolitik der Bundesrepublik Deutschland und der EU als konfliktbeeinflussende Faktoren sowie die weit reichende Ausblendung von Tendenzen und gesellschaftlichen Konstellationen, die den nationalistischen Verfeindungstendenzen nicht entsprochen haben. Entgegen dem dadurch entstehenden Eindruck eines geradlinigen, fast zwangsläufigen Prozesses der Konflikteskalation hatten die Nationalisten zahlreiche Widerstände zu überwinden. So gelang es trotz umfangreicher nationalistischer Kampagnen bis Anfang der 1990er Jahre auch in Serbien nicht, ethno-nationalistische bzw. religiös-nationalistische Vorstellungen hegemonial werden zu lassen (vgl. Obradoviæ 1998); eine umfassende Kriegsbegeisterung in den Republiken Jugoslawiens war, wie die Schwierigkeiten bei der Mobilmachung (vgl. Civic 1994) belegen, zunächst auch nicht erreicht worden.

Während in frühen Ausgaben von »Maz & More« und »Der Keiler« stärker Eindrücke der unmittelbar vorangegangenen Kriegshandlungen und Zerstörungen aufscheinen und von einer weiterhin äußerst angespannten Lage berichtet wird, wird in der Berichterstattung in den letzten Jahren mehr auf die kleinen Fortschritte im Zusammenleben der Bevölkerungsgruppen bzw. auf eine Rückkehr zu Prozeduren des Alltags abgehoben, die freilich oft nur unter dem Schutz der KFOR-Truppe möglich seien. Hinsichtlich der Rolle deutscher Soldaten wird einerseits die Deutung als »Hüter der Ordnung« und andererseits die des »Aufbauhelfers« angeboten. Durchgängig findet sich eine Darstellung der Bundeswehrtruppe in den Einsatzgebieten als »große Gemeinschaft« bzw. »Familie«; die in zahlreichen militärsoziologischen Untersuchungen als bedeutsam erkannten Kategorien class, gender und ethnicity werden nur sehr selten explizit thematisiert.

Insgesamt dienen die Feldzeitungen der Bundeswehr der Sinngebung und Legimitierung des konkreten soldatischen Tuns, der Inszenierung eines Gemeinschaftsgefühls innerhalb der Truppe, der Herstellung eines »emotionales Bandes« zur Heimat sowie der Vermittlung von Kenntnissen über die Gesellschaften, in denen sich die Soldaten und Soldatinnen im Auslandseinsatz bewegen, und die Konfliktsituationen und -historien, in die sie intervenieren. Hinsichtlich des letztgenannten Aspekts, zu dem ausgewählte Ergebnisse im Fokus dieses Beitrages standen, hat sich gezeigt, dass häufig eine Abfolge historischer Daten im Mittelpunkt steht, die Bedingungskonstellationen der Konflikte und ihrer Eskalation sowie die Mechanismen und Motoren der Verfeindungsprozesse nicht ihrer Komplexität entsprechend dargestellt werden, sondern auf eine eindimensionale Interpretation als ethnisch-nationalistischer Konflikt (vgl. Massey/Hodson/Sekuliæ 1999; Flere 2003) verkürzt werden. Auch wenn hinsichtlich der Rezeption der Beiträge in den Feldzeitungen der Bundeswehr und den dort angebotenen Deutungsmustern hier keine Aussagen getroffen werden können, so ist daran zu erinnern, dass sich Produzierende und Rezipierende in einem politisch-kulturellen System bewegen, dass hinsichtlich des Bemühens, den Ereignissen »im Balkan« diskursiv Ordnung und Sinn zu verleihen, vom »Balkanismus« (Todorova 1999; Rasza/Lindstrom 2004, Miskovic 2006) geprägt ist. Der Balkanismus mit seiner Vorstellung »des Balkans« als Brücke zwischen Ost und West, als »halborientalisch« und »halbzivilisiert«, von »Religion« und »Ethnizität« seit Jahrhunderten unausweichlich in Konflikte getrieben, ist eine diskursive Verhärtung (James Clifford), der freilich nicht nur in den Feldzeitungen der Bundeswehr zu begegnen ist.

Literaturverzeichnis

Berger, Thomas U. (1998): Cultures of Antimilitarism. National Security in Germany and Japan. Baltimore/London.

Bleicher, Joan K./Hickethier, Knut (2005): Der Blick des Fernsehens auf die Bundeswehr. Unveröff. Manuskript.

Brandt, Gerhard/Friedeburg, Ludwig v. (1966): Aufgaben der Militärpublizistik in der modernen Gesellschaft. Frankfurt/Main.

Calic, Marie-Janine (1998): Religion und Nationalismus im jugoslawischen Krieg. In: Bielefeldt, Heiner/Heitmeyer, Wilhelm (Hg.) (1998): Politisierte Religion. Frankfurt/Main, S.337-359.

Cviic, Christopher (1994): Das Ende Jugoslawiens, in: Volle Angelika/Wagner, Wolfgang (Hg.): Der Krieg auf dem Balkan. Bonn, S.37-43.

Damm, Tile von (2002): Die Öffentlichkeitsarbeit der Bundeswehr – die Truppe als modernes Promotion- und Marketingunternehmen. In: Albrecht, Ulrich/Becker, Jörg (Hg.) (2002): Medien zwischen Krieg und Frieden. Baden-Baden, S.65-73.

Elter, Andreas (2005): Die Kriegsverkäufer. Geschichte der US-Propaganda 1917-2005. Frankfurt/Main.

Flere, Sergej (2003): Blind Alleys in Ethnic Essentialist Explanations of the Downfall of the Former Yugoslavia. In: Critical Sociology 29.2 2003. 237-256.

Hobsbawm, Eric J./Ranger, Terence (Hg.) (1983): The Invention of Tradition. Cambridge.

Klauser, Raimund (1996): »Eine starke Truppe« – Bundeswehrwerbung in der Wendezeit. In: Diesener, Gerald/Gries, Rainer (Hg.) (1996): Propaganda in Deutschland. Darmstadt, S.266-285.

Lockwood, W.G. (1975): European Moslems: Economy and Ethnicity in Western Bosnia. New York.

MacDonald, David Bruce (2002): Balkan holocausts? Serbian and Croatian victim-centered propaganda and the war in Yugoslavia. Manchester.

Marberg, Jan (2006): Wissen ist Macht. In: Y. 7/2006: 54.

Massey, Garth/Hodson, Randy/Sekuliæ, Duško (1999): Ethnic Enclaves and Intolerance: The Case of Yugoslavia. In: Social Forces 78.2 1999: 669-691.

Mayring. Philipp (1993): Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken. Weinheim.

Meder, Gerhard (1998): Zur Neubestimmung der Rolle der Bundeswehr in den deutschen Printmedien. In: Kempf, Wilhelm/Schmidt-Regner, Irena (Hg.) (1998): Krieg, Nationalismus, Rassismus und die Medien. Münster, S.201-210.

Michael, Rüdiger (2006): Spiegelbild des Wandels. In: Information für die Truppe 3-4/2006: 14-17.

Miskovic, Maya (2006): Fierce Mustache, Muddy Chaos, and Nothing Much Else: Two Cinematic Images of the Balkans. In: Cultural Studies ↔ Critical Methodologies 6. 2006. 440-459.

Obradoviæ, Marija (1998): Der Krieg als Quelle politischer Legitimation. Ideologie und Strategie der herrschenden Partei. In: Brenner, Thomas/Popov, Nebojša/Stobbe, Heinz-Günther (1998): Serbiens Weg in den Krieg. Berlin, S.359-377.

Pavkoviæ, Aleksandar (2000): The Fragmentation of Yugoslavia. Nationalism and War in the Balkans. Basingstoke.

Pratt, Jeff (2003): Class, Nation and Identity. London & Sterling.

Rasza, Maple/Lindstrom, Nicole (2004): Balkan Is Beautiful: Balkanism in the Political Discourse of Tuðjman’s Croatia. In: East European Politics and Societies 18. 2004. 628-650.

Rathbun, Brian C. (2006): The Myth of German Pacifism. In: German Politics and Society 24. 2006. 68-81.

Reeb, Hans-Joachim (2006): 50 Jahre Truppeninformation im Wandel des Medienzeitalters. In: Information für die Truppe 3-4/2006: 4-12.

Robb, David L. (2004): Operation Hollywood. How the Pentagon Shapes and Censors the Movies. Amherst.

Schaffer, Hanne I./Zelinka, Fritz-F. (1993): Bundeswehr im Presseaufwind. Neue Sachlichkeit statt Jubeljournalismus in der ostdeutschen Presse nach der Wende. München.

Schießer, Sylvia (2002): Gender, Medien und Militär: Zur Konstruktion weiblicher Stereotype in der Darstellung von Soldatinnen in den Printmedien der Bundeswehr. In: beiträge zur feministischen theorie und praxis Nr. 61. 47-61.

Schwab-Trapp, Michael (2002): Kriegsdiskurse. Die politische Kultur des Krieges im Wandel 1991-1999. Opladen.

Suid, Lawrence H. (2002): Guts & Glory: The Making of the American Military Image in Film. Lexington.

Todorova, Maria (1999): Die Erfindung des Balkans. Europas bequemes Vorurteil. Darmstadt.

Virchow, Fabian (2007): Das Militär als Deutungsinstanz. In: Tonn, Horst/Korte, Barbara: Kriegskorrespondenten in der Mediengesellschaft. Wiesbaden (im Erscheinen).

Wegner, Sebastian (2006): Hinter den Kulissen. In: Bundeswehr aktuell 46/2006: 13.

Zelinka, Fritz-Felix/Anker, Ingrid (1991): Markt- und Medienanalyse Bundeswehrzeitschriften. München.

Dr. Fabian Virchow ist Lehrbeauftragter an den Universitäten in Lüneburg und Marburg, wo er zuletzt eine Professur für Friedens- und Konfliktforschung vertrat

Konfliktverhütung durch Krieg?

Konfliktverhütung durch Krieg?

Verfassungsfragen an das neue Bundeswehr-Weißbuch

von Martin Kutscha

Anders als der Entwurf vom April d.v.J. fand das im Oktober von der Bundesregierung vorgelegte »Weißbuch 2006 zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr«1 in der breiteren Medienöffentlichkeit nur mäßige Aufmerksamkeit. Die eine oder andere Entschärfung des Entwurfs im Zuge der Ressortabstimmung hatte jedoch vor allem kosmetischen Charakter; an der »ganzen Richtung« hat sich nichts geändert. Die bleibt nicht zuletzt mit gravierenden verfassungsrechtlichen Problemen behaftet.

Häufig wird die Kurzatmigkeit der Politik beklagt. Statt langfristige Gestaltungskonzepte zu verfolgen, sind die meisten Politiker vor allem damit beschäftigt, durch Agenda-Setting und geschickte Selbstdarstellung ihre Erfolgsaussichten bei der nächsten Wahl zu optimieren. Angesichts einer solchen von kurzfristigen Effekten lebenden Praxis ist es grundsätzlich zu begrüßen, dass in einem umfangreichen Grundsatzpapier Zukunftslinien für die deutsche Sicherheitspolitik entwickelt werden. Das neue Weißbuch hat dennoch viele Erwartungen enttäuscht: Auf brennende Gegenwartsfragen rund um die Verwendungen der Bundeswehr gibt es keine eindeutige Antwort, sondern verbleibt im Nebulösen.2 Ausgangspunkt der Darstellung sind auch nicht etwa die präzisen Vorgaben unserer Verfassung für Einsätze der deutschen Streitkräfte als Teil der vollziehenden Gewalt des Bundes, sondern vage definierte „Werte, Interessen und Ziele deutscher Sicherheitspolitik“, zu denen u. a. der „freie und ungehinderte Welthandel als Grundlage unseres Wohlstands“ gerechnet wird (S.28). Angesichts solcher Blindstellen im neuen Weißbuch, aber auch angesichts einer verbreiteten Gewöhnung an Einsätze der Bundeswehr rund um die Welt erscheint es umso notwendiger, an die Inhalte und Hintergründe der einschlägigen Aussagen des Grundgesetzes zu erinnern.

Abschied von der Friedensstaatlichkeit?

Nicht nur im ersten, feierlich-pathetisch klingenden Satz des Grundgesetzes „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ spiegelt sich die entschiedene Absage an die Praktiken des überwundenen Naziregimes. Darüber hinaus wird ein – eigentlich – unmissverständliches Verdikt gegen Krieg und Gewaltanwendung gegenüber anderen Völkern ausgesprochen: Art. 26 Abs. 1 verbietet jegliche Störung des friedlichen Zusammenlebens der Völker und erklärt schon die Vorbereitung eines Angriffskrieges für verfassungswidrig.3 Es muss erstaunen, dass eine so grundlegende Verfassungsnorm nirgendwo im neuen Weißbuch erwähnt, geschweige denn abgedruckt wird, selbst nicht im Abschnitt 3.3 „Verfassungsrechtliche Vorgaben“. Eine makabre Erklärung hierfür wäre, dass seitens der Verfasser des Weißbuchs die Auffassung vertreten wird, diese Verfassungsnorm inkriminiere nur die Vorbereitung des Angriffskrieges, nicht aber den Angriffskrieg selbst. In der Tat wird der den Art. 26 GG ausfüllende Straftatbestand des § 80 StGB vom Generalbundesanwalt ganz in diesem Sinne verstanden: In seinem Antwortschreiben vom 26. Januar 2006 auf die Strafanzeige einer Friedensorganisation gegen den früheren Bundeskanzler Schröder u. a. wegen der Tätigkeit deutscher Agenten im Irak behauptete der Generalbundesanwalt, nach diesem Tatbestand sei nur die Vorbereitung eines Angriffskriegs, nicht aber der Angriffskrieg selbst strafbar.4 Nun nennt § 80 StGB tatsächlich nicht das Führen des Angriffskrieges selbst, und Analogieschlüsse sind im Strafrecht wegen der strikten Geltung der Regel »nulla poena sine lege« untersagt5. Aber in diesem Fall ist völlig eindeutig, dass auch das Führen des Angriffskrieges selbst vom verfassungsrechtlichen Verdikt und von der Strafbarkeit umfasst sein sollte. In der Begründung des zuständigen Bundestagsausschusses für diese Strafbestimmung heißt es: „§ 80 umfasst nicht nur, wie der Wortlaut etwa annehmen lassen könnte, den Fall der Vorbereitung eines Angriffskrieges, sondern erst recht den der Auslösung eines solchen Krieges.“6

Als weitere in diesem Zusammenhang bedeutsame Verfassungsnorm ist Art. 25 GG zu nennen, der den „allgemeinen Regeln des Völkerrechts“ Vorrang vor den Gesetzen der Bundesrepublik verleiht. Zu diesen „allgemeinen Regeln“ gehört nach einhelliger Meinung auch das in Art. 2 Ziffer 4 der UNO-Satzung verankerte Gewaltverbot.7 Damit im Einklang beschränkt Art. 87 a GG den Handlungsrahmen der deutschen Streitkräfte auf die Verteidigung sowie auf Einsätze aufgrund besonderer Zulassung durch das Grundgesetz selbst.8 Was der Verfassungsbegriff der Verteidigung bedeutet, ist in der Rechtswissenschaft allerdings umstritten: Aus entstehungsgeschichtlicher Sicht spricht vieles für die Auffassung, dass sich dieser Begriff auf den in Art. 115 a GG definierten »Verteidigungsfall« bezieht, mithin einen Angriff auf das Bundesgebiet mit Waffengewalt zur Voraussetzung hat.9 Dem gegenüber gehen andere Autoren von einem völkerrechtlichen Verteidigungsbegriff aus, der auch z. B. militärische Hilfeleistungen bei einem Angriff auf Bündnispartner im Rahmen des NATO-Vertrages umfasst.10 Ein Einsatz der Bundeswehr „zur Verfolgung, Durchsetzung und Sicherung ökonomischer oder politischer Interessen“ wäre dagegen nicht vom Verteidigungsbegriff gedeckt, wie das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 21. Juni 2005 richtig feststellte.11

Zwar heißt es im neuen Weißbuch: „Die Verteidigung Deutschlands gegen eine militärische Bedrohung von außen ist und bleibt die verfassungsrechtliche Kernfunktion der Bundeswehr“ (S.75). Wenige Seiten später lesen wir dann aber: „Die herkömmliche Landesverteidigung gegen einen konventionellen Angriff als strukturbestimmende Aufgabe der Bundeswehr entspricht nicht länger den aktuellen sicherheitspolitischen Erfordernissen“ (S.93). Danach ist es nur konsequent, wenn bei der Aufzählung der Aufgaben der Bundeswehr an erster Stelle nicht etwa die Verteidigung, sondern „internationale Konfliktverhütung und Krisenbewältigung einschließlich des Kampfes gegen den internationalen Terrorismus“ genannt wird (S.13 und 72). Unter den Begriff der Verteidigung, wie ihn Art. 87 a GG verwendet, lässt sich diese Aufgabe jedenfalls kaum subsumieren.

Sicherlich gehört es zu den Zielen einer verantwortungsbewussten Außenpolitik, zur Lösung von international sich auswirkenden Konflikten beizutragen und dabei auch deren Ursachen in den Blick zu nehmen. Zu fragen bleibt aber, warum denn gerade eine Kampftruppe das optimale Instrument sein soll, um auf die sozialen, ethnischen bzw. politischen Wurzeln solcher Konflikte in anderen Ländern einzuwirken. Zivile Instrumentarien wie z. B. sozial orientierte Hilfsprogramme dürften hierbei weitaus erfolgsversprechender sein. Entgegen dem von Regierung und manchen Medien gepflegten Image ist die Bundeswehr kein Verband von Sozialarbeitern, die auf den Krisenschauplätzen der Welt im Einklang mit den jeweiligen sozialen und kulturellen Prägungen der Bevölkerung behutsam und hingebungsvoll ihr Aufbauwerk verrichten. Der just bei der Präsentation des Weißbuchs enthüllte Fall der Leichenschändungen in Afghanistan dürfte nur die Spitze des Eisbergs darstellen; die verrohende Wirkung der Beteiligung an Kriegseinsätzen lässt sich kaum bestreiten.

Das Scheitern einer vorrangig auf militärische Intervention setzenden Politik zeigt sich vor allem im Irak: Die Besetzung dieses Landes hat hier zwar zur Entmachtung eines Diktators geführt, jedoch keineswegs ein blühendes Land und eine funktionierende demokratische Ordnung hergestellt. Stattdessen herrschen im Irak Massenelend und Bürgerkrieg, das Land ist zu einer Brutstätte von Gewalt und Terrorismus geworden. Die Lage in Afghanistan entwickelt sich offenbar in die gleiche Richtung. Der von der US-Regierung propagierte »Krieg gegen den Terror« hat mithin, wie die 16 US-Geheimdienste in einer Ende September 2006 bekannt gewordenen Stellungnahme einräumten, im Ergebnis zu einer Verstärkung der terroristischen Bedrohung geführt.12

Einordnung in internationale Friedenssysteme

Breiten Raum nimmt im Weißbuch die Darstellung der Entwicklung internationaler Organisationen ein, vom NATO-Bündnissystem bis zu den Vereinten Nationen. Die inzwischen zahlreich gewordenen Einsätze der Bundeswehr auf Schauplätzen im Ausland finden schließlich auch durchweg im Rahmen solcher Vertragssysteme statt. Betrachten wir die insoweit bestehende Verfassungslage.

Das Grundgesetz hat den Bund in Art. 24 Abs. 2 ermächtigt, sich „zur Wahrung des Friedens einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit“ einzuordnen. In seinem Grundsatzurteil vom 12. Juli 1994 erblickte das Bundesverfassungsgericht in dieser Bestimmung die Ermächtigung zu Bundeswehreinsätzen im Ausland, die „im Rahmen und nach den Regeln“ solcher Systeme stattfinden.13 Ignoriert wurde dabei, dass Art. 24 GG die von Art. 87 a Abs. 2 GG verlangte ausdrückliche Zulassung von Bundeswehreinsätzen gerade nicht enthält und deshalb als Ermächtigungsgrundlage hierfür recht fragwürdig ist. Auch stieß es bei Völkerrechtlern auf Befremden, dass das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil nicht nur die UNO als ein solches „System gegenseitiger kollektiver Sicherheit“ betrachtete, sondern auch die NATO, ein klassisches Militärbündnis, das den potentiellen Gegner eben nicht mit einbezieht.14

Immerhin hat das höchste deutsche Gericht einige Jahre später noch einmal ausdrücklich an die Zweckbestimmung der nach Art. 24 Abs. 2 GG zulässigen Einordnung Deutschlands erinnert, nämlich die Wahrung des Friedens. Die tatbestandliche Formulierung dieser Norm schließe es aus, so heißt es in seinem Urteil vom 22. November 2001, „dass die Bundesrepublik Deutschland sich in ein gegenseitiges kollektives System militärischer Sicherheit einordnet, welches nicht der Wahrung des Friedens dient. Auch die Umwandlung eines ursprünglich den Anforderungen des Art. 24 Abs. 2 GG entsprechenden Systems in eines, das nicht mehr der Wahrung des Friedens dient oder sogar Angriffskriege vorbereitet, ist verfassungsrechtlich untersagt.“15 Dies mochte das Gericht im Hinblick auf die NATO jedenfalls im Jahre 2001 nicht annehmen.

Klare Aussagen zu den aktuellen Konzepten »präventiver« Kriege, wie sie vor allem in den USA propagiert werden, sucht man im Weißbuch von 2006 vergebens. Von einer scheinbar neutralen Warte aus wird statt dessen die völkerrechtliche Lehre von der »Responsibility to Protect« geschildert, die sich im Gefolge des Kosovo-Krieges von 1999 herausgebildet habe und nach der militärische Zwangsmaßnahmen auch zur Abwendung humanitärer Katastrophen, zur Bekämpfung terroristischer Bedrohungen und zum Schutz der Menschenrechte geboten sein könnten (S.57/58). Auch wenn dies nicht ausdrücklich formuliert wird, scheinen die Verfasser des Weißbuchs diese Auffassung wohl als begrüßenswerten Fortschritt des Völkerrechts zu betrachten.

Nun ist es zwar richtig, dass die im Völkerrecht inzwischen weitgehend anerkannte Verantwortung der Staatengemeinschaft für den weltweiten Menschenrechtsschutz (»Responsibility to Protect«) eine Beschränkung des Prinzips der Souveränität der Staaten impliziert, wenn die UNO auf massive Menschenrechtsverletzungen mit jeweils abgestuften Sanktionen reagiert.16 Die Anerkennung eines Rechts auf militärische Intervention ohne ausdrückliche Ermächtigung durch den Sicherheitsrat würde allerdings nichts anderes als eine Einladung an mächtige und kriegsbereite Staaten bedeuten, unter Berufung auf wirkliche oder vermeintliche Verletzungen von Menschenrechten nach ihrem Belieben andere Staaten anzugreifen.17 Dies wäre ein verhängnisvoller Schritt zurück zur alten, auf Augustinus und Thomas von Aquin zurückgehenden Lehre vom »bellum iustum«, zur Vorstellung vom »gerechten Krieg«, und damit die Preisgabe einer der wichtigsten Errungenschaften des modernen Völkerrechts, des universellen Grundsatzes des Gewaltverzichts zwischen den Staaten. Die in Art. 24 Abs. 2 GG vorgeschriebene Zweckbestimmung für die Einordnung Deutschlands in internationale Systeme würde damit jedenfalls eklatant missachtet.

Terrorbekämpfung durch Bundeswehreinsätze im Inneren?

Im Zuge der Notstandsgesetzgebung von 1968 sind die Voraussetzungen für Inlandseinsätze der deutschen Streitkräfte im Grundgesetz präzise geregelt worden. Danach sind solche Einsätze nur im Verteidigungs- oder im Spannungsfall oder zur Abwehr drohender Gefahren für den Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung des Bundes oder eines Landes (Art. 87 a Abs. 2 und 3 GG), ferner im Falle von Naturkatastrophen oder besonders schweren Unglücksfällen gemäß Art. 35 Abs. 2 und 3 GG zulässig. So konnten auf der Grundlage des Art. 35 Abs. 2 GG Bundeswehrsoldaten z. B. als Helfer bei Hochwasserkatastrophen an der Oder und der Elbe eingesetzt werden.

In seinem Urteil vom 15. Februar 2006 zum Luftsicherheitsgesetz hat das Bundesverfassungsgericht weitere Restriktionen für Inlandseinsätze der Streitkräfte statuiert. Danach dürfen diese bei der Bekämpfung von Naturkatastrophen oder besonders schweren Unglücksfällen nicht mit „spezifisch militärischen Waffen“ eingesetzt werden. Weil die Streitkräfte in diesen Fällen nur Unterstützungsleistungen für die überforderten Polizeien der Länder erbringen würden, seien sie auf die Wahrnehmung polizeilicher Aufgaben und Befugnisse beschränkt.18 Der Abschuss von »terrorverdächtigen« Flugzeugen fällt nicht darunter und ist deshalb nach Auffassung des Gerichts weder mit den genannten kompetenzrechtlichen Bestimmungen des Grundgesetzes noch mit dem Recht auf Leben in Verbindung mit der Menschenwürdegarantie vereinbar. Der Staat dürfe die unschuldigen Passagiere nicht als bloße Objekte seiner Rettungsaktion zum Schutze anderer Menschen benutzen und auf diese Weise verdinglichen und entrechtlichen. Damit würde „den als Opfern selbst schutzbedürftigen Flugzeuginsassen der Wert abgesprochen, der dem Menschen um seiner selbst willen zukommt.“19

Der »Rettungsabschuss« von Zivilflugzeugen wurde nun von den Regierungspolitikern nicht etwa ad acta gelegt. Um ihn in Zukunft trotz des Urteils aus Karlsruhe zu ermöglichen, wird eine Verfassungsänderung gefordert. Wie es im Weißbuch heißt, „sieht die Bundesregierung die Notwendigkeit einer Erweiterung des verfassungsrechtlichen Rahmens für den Einsatz der Streitkräfte. Infolge der neuartigen Qualität des internationalen Terrorismus sowie des gewachsenen und territorial weitgehend unbeschränkten Gewaltpotentials nichtstaatlicher Akteure sind heute auch in Deutschland Angriffe vorstellbar, die aufgrund ihrer Art, Zielsetzung sowie ihrer Auswirkungen den bestehenden tatsächlichen und rechtlichen Rahmen der klassischen Gefahrenabwehr überschreiten“ (S.76).

Uneinigkeit herrscht zwischen den Regierungsparteien bislang noch über den Inhalt der beabsichtigten Verfassungsänderung. Der innenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Wiefelspütz, hat eine Ergänzung des Art. 35 GG vorgeschlagen, nach der die Streitkräfte unter bestimmten Voraussetzungen im Inneren „auch militärische Mittel zur Gefahrenabwehr“ einsetzen dürfen.20 Dagegen plädierte Bundesinnenminister Schäuble für eine Änderung des Art. 87 a GG, die Bundeswehreinsätze außer zur Verteidigung auch zur „unmittelbaren Abwehr eines sonstigen Angriffs auf die Grundlagen des Gemeinwesens“ gestatten soll.21

In einem entscheidenden Punkt ist sich Schäuble mit dem Sozialdemokraten Wiefelspütz indessen einig: Bei einer Flugzeugentführung durch Terroristen wie am 11. September 2001 in den USA dürften die Streitkräfte die Maschine abschießen, weil es sich um einen kriegerischen Akt handele.22 In diesem Fall käme das Kriegsvölkerrecht zur Anwendung, das auch die Tötung unschuldiger Passagiere eines als Angriffswaffe missbrauchten Verkehrsflugzeugs als Kollateralschaden nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsprinzips zulasse.23

Nun mag es zwar der Logik des Krieges entsprechen, Menschenleben insbesondere von Soldaten als bloße Rechenposten zu behandeln. Entgegen den Behauptungen von Schäuble und Wiefelspütz lässt sich der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aber keineswegs entnehmen, dass das Verbot einer staatlichen Abwägung »Leben gegen Leben« sowie die in Art. 1 Abs. 1 GG verbürgte Unverletzlichkeit der Menschenwürde nur in Friedenszeiten gelten sollen. Im Übrigen handelt es sich bei einem Terroranschlag mithilfe eines entführten Verkehrsflugzeugs um einen Akt schwerster Kriminalität, aber keineswegs um einen kriegerischen Angriff auf das Bundesgebiet.24

Der Verwischung der Grenze zwischen terroristischer Kriminalität und Kriegszustand hat verheerende Konsequenzen für die rechtsstaatliche Ordnung und die Geltung der Grundrechte in Deutschland: Jenseits der detaillierten Verfassungsregeln für den Verteidigungsfall (Art. 115 a ff. GG) werden unter der Flagge des »Krieges gegen den Terror« Elemente des Ausnahmezustandes zum Leben erweckt. Carl Schmitt lässt grüßen: „Die Entscheidung macht sich frei von jeder normativen Gebundenheit und wird im eigentlichen Sinne absolut.“25 Alles, was zur Terrorabwehr als notwendig erscheint, gilt dann auch als legitim – bis hin zur Opferung unschuldiger Menschen. Die Grundrechte werden zu Gnadenakten des Staates degradiert, die dieser nach Belieben erteilen und wieder kassieren kann. Eine Regierung, so die treffende Kritik von Burkhard Hirsch, „die nach ihrem Ermessen das Kriegsrecht ausrufen kann, erhebt sich über die Verfassung und macht aus den Bürgern Untertanen.“26

Anmerkungen

1) Bundesministerium der Verteidigung (2006): Weißbuch 2006 zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr, Berlin. Die Seitenangaben im folgenden Text beziehen sich auf diese gedruckte Ausgabe. Das Weißbuch ist im Internet verfügbar unter: http://www.weissbuch2006.de.

2) Dazu auch Uesseler, R. (2006): Weißbuch 2006: Interessenpolitik weißgewaschen. Blätter für deutsche und internationale Politik, H. 12/06, S.1423 ff.

3) Dazu im Einzelnen Schiedermair, S. (2005): Der internationale Frieden und das Grundgesetz, Baden-Baden, Nomos-Verlag, S.100 ff.

4) Nach Finckh, U. (2007): Sind Angriffskriege nicht strafbar? In T. Müller-Heidelberg u.a. (Hrsg.), Grundrechte-Report 2007. Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland, Frankfurt/M., Fischer-Verlag.

5) Vgl. Art. 103 Abs. 2 GG.

6) Bundestagsdrucksache V/2860, S.2.

7) Vgl. nur Bundesverfassungsgericht (BVerfG): Urt. v. 22. 11. 2001, 2 BvE 6/99. Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen (BVerfGE) 104, S.151 (213); Bundesverwaltungsgericht (BVerwG): Urt. v. 21. 06. 2005, 2 WD 12/04. Neue Juristische Wochenschrift, H. 1-2/06, S.77 (82 u. 93).

8) Geregelt in den Art. 87 a Abs. 3 u. 4, 35 Abs. 2 u. 3 GG; dazu näher im dritten Abschnitt.

9) So z.B. Arndt, C. (1992): Bundeswehreinsatz für die UNO. Die Öffentliche Verwaltung, H. 14/92, S.618; Deiseroth, D. (1993): Die Beteiligung Deutschlands am kollektiven Sicherheitssystem der Vereinten Nationen aus verfassungsrechtlicher Sicht. Neue Justiz, 47, S.145 (149); ausführlich dazu Kutscha, M. (2004): „Verteidigung“ – vom Wandel eines Verfassungsbegriffs. Kritische Justiz, 37, S.228 (232 f.).

10) So z. B. Baldus, M. (2005): Art. 87 a, Rdnr. 43. In H. v. Mangoldt, F. Klein & C. Starck (Hrsg.), Grundgesetz (Bd. 3, 5. Aufl.). München: Vahlen; Heun, W. (2000): Art. 87 a, Rdnr. 17. In H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar (Bd. 3). Tübingen: Mohr.

11) BVerwG: wie in Anm. 7.

12) Vgl. FR vom 28. 09. 06.

13) BVerfG: Urt. v. 12. 7. 1994, 2 BvE 3/92. BVerfGE 90, S.286, u.a.

14) Vgl. im Einzelnen Kutscha, M. (2004): Militäreinsätze vor dem Bundesverfassungsgericht. In H. Kramer & W. Wette (Hrsg.): Recht ist, was den Waffen nützt. Justiz und Pazifismus im 20. Jahrhundert, Berlin, Aufbau-Verlag, S.321 (325 ff.).

15) BVerfG: wie in Anm. 7.

16) Vgl. dazu z. B. Brzoska, M. (2006): Friedensmissionen: Erfolg und Scheitern. Blätter für deutsche und internationale Politik, H. 12/06, S.1491 (1494 f.).

17) Vgl. dazu im Einzelnen Paech, N. (2007): Völkerrechtliches Souveränitätsprinzip vs. Menschenrechte, in diesem Heft; Neu, A. (2006): Verteidigung grenzenlos. Blätter für deutsche und internationale Politik, H. 7/06, S.788 ff.

18) BVerfG: Urt. v. 15. 02. 2006, 1 BvR 357/05. Neue Juristische Wochenschrift, 59, S.751 (755 f.).

19) BVerfG: wie in Anm. 18, S.758.

20) Wiefelspütz, D. (2007): Vorschlag zur Neufassung des Art. 35 GG. Zeitschrift für Rechtspolitik, 40, S.17 (19).

21) Nach FR vom 03.01.07.

22) FR vom 04. 05. 06 u. vom 03.01.07.

23) Wiefelspütz, D. (2006): Der kriegerische terroristische Luftzwischenfall und die Landesverteidigung. Recht und Politik , 42, S.71ff.

24) Vgl. auch die Kritik von Hirsch, B. (2007): Schäubles Quasi-Krieg. Blätter für deutsche und internationale Politik, H. 2/07, S.133 (135); ausführlich: Kutscha, M. (2006): Terrorbekämpfung jenseits der Grundrechte? Recht und Politik , 42, S.202 ff.

25) Schmitt, C. (1934): Politische Theologie (2. Aufl.), München, Duncker & Humblot, S.19.

26) Hirsch, B.: wie in Anm. 24, S.134.

Prof. Dr. Martin Kutscha lehrt Staats- und Verwaltungsrecht an der Fachhochschule für Verwaltung und Rechtspflege Berlin

Die militärisch-ökonomische Barbarisierung

Die militärisch-ökonomische Barbarisierung

von Detlef Hartmann

Seit der Epochenwende befindet sich die Bundeswehr in »Transformation«, sozusagen im Zeitraffertempo, von einer Verteidigungsarmee, wie sie das Grundgesetz vorsieht, zu einer Interventionsarmee. Diese Umwandlung wurde schon vielfach beschrieben und analysiert. Kaum diskutiert wird bisher, dass sich nach kaum anderthalb Jahrzehnten seit dem Fall der Berliner Mauer als Zielgestalt des Transformationsprozesses erneut die Zurichtung der deutschen Streitkräfte für einen »totalen Krieg« abzeichnet und »von weit oben« propagiert wird – freilich in postmoderner Gestalt: Als umfassende Ökonomisierung des Militärischen und als Militarisierung des Ökonomischen.

Es klingt wie die Phantasie eines ewig gestrigen Militaristen: „Zunächst – wenn der Krieg von Anfang an zur Geschichte der Menschheit gehört, dann ist anzunehmen, dass der Krieg überwiegend positive Funktionen erfüllt. Wäre es nicht so, dann hätte die Evolution sicher längst dafür gesorgt, dass der Krieg als Phänomen verschwunden wäre. Vermutlich sind hier zwei miteinander verbundene und tiefer liegende Kräfte wirksam. Das eine ist der kompetitive Charakter, der die gesamte Schöpfung durchzieht… Worum wird dabei konkurriert? Im Wesentlichen um Macht, um Ressourcen und um die Vorherrschaft eigener kultureller Identitäten… Der Krieg hat seinen Ursprung jedoch nicht nur in den Kosten-Nutzen-Kalkülen der Kontrahenten. Die eigentlichen treibenden Kräfte liegen tiefer. Es ist die Lust an der Macht und an erfolgreichen Aggressionen. Das Unzivilisierte und Ursprüngliche ist es, was fasziniert – der Wegfall aller künstlichen Regeln. Auf den Spielcharakter des Krieges hat bereits Clausewitz hingewiesen. Krieg ist das Spiel mit dem höchsten Einsatz, bei dem dann – wenn es um Tod und Leben geht – auch so gut wie alles erlaubt ist. Offensichtlich ist es so, dass der Mensch – oder vorsichtiger formuliert: viele Menschen – bindungsfreie existenzielle Herausforderungen suchen, um sich selbst zu finden. Nirgends ist die Chance dafür so groß wie im Kampf, wie in der Bewährung im Kampf. Gewalt, Kampf und Sieg auf die Dauer nur im Fernsehen zu erleben, ist für viele dann nur ein schwaches und wenig zuverlässiges Substitut… Der Mensch sucht seine Individualität, aber er leidet auch oft unter ihr. Die Sehnsucht nach Ich-Entlastung und Verschmelzung mit anderen gehört deshalb auch zu seiner Natur. Die stärkste Erfüllung dieser Sehnsucht ist die Gemeinsamkeit im Kampf – abgesehen vielleicht von der Liebe. In diesem Licht ist der Krieg dann kein politisches Mittel mehr, sondern er wird zum Zweck und löst sich von allen gesellschaftlichen Bindungen… Ich bleibe bei meiner ersten These, dass der Krieg Zukunft hat und zwar wegen der Natur des Menschen.“ (Schnell, 2000, S.3-5).

Tatsächlich ist es mehr als nur die Phantasie eines Ewiggestrigen: Es ist die nüchterne Kalkulation zum Wert der Barbarei als ökonomischer Ressource – vom Lehrstuhl der Fakultät für Wirtschafts- und Organisationswissenschaften der Bundeswehruniversität in München. Prof. Schnell, vormals Stellvertreter des Generalinspekteurs, hat die zitierten Überlegungen auf einer internationalen Management-Tagung im Juni 2000 in Brüssel vorgetragen. In den brisanten Teilen handelt es sich um eine Aufbereitung der Vorstellungen Martin van Crevelds für Managementzwecke aus dessen Buch »Die Zukunft des Krieges« (1998). Van Creveld, der sich auch auf Ernst Jünger und den Hitler-Kumpan General Ludendorff beruft, ist nicht unbeliebt in der Bundeswehr. In »Fighting power« (1982) hat er der NS-Wehrmacht die höchste Kampfkraft des 20. Jahrhunderts bescheinigt, der allenfalls die israelische Armee im Sechstagekrieg gleichgekommen sei. Auch er beschwört die Lust am Krieg, die Entfesselung von allen Regeln, den Einsatz aller Fähigkeiten des Menschen, von den höchsten bis zu den niedrigsten.

Aufgeschreckt durch den Strom der »Einzelfälle« kriegerisch-barbarischen Verhaltens im Rahmen der Bundeswehrausbildung und -einsätze setzt sich die Öffentlichkeit zunehmend mit den radikalen Veränderungen in den Leitvorstellungen der Bundeswehr auseinander. Jürgen Rose erinnerte unlängst daran, dass Generalmajor von Kielmansegg schon 1991 „der Zivilisierungsmöglichkeit einer Armee, die einsatzfähig sein soll, … verhältnismäßig enge Grenzen gesetzt“ sah (zit. nach Rose, 2006, S.1). Rose weist auch hin auf das Werben des Heeresinspekteurs Generalleutnant Hans-Otto Budde für den Typ des „archaischen Kämpfers“, den man sich vorstellen müsse „als einen Kolonialkrieger, der fern der Heimat bei dieser Existenz in Gefahr steht, nach eigenen Gesetzen zu handeln.“ (ebd.). Detlef Bald zeichnet in diversen Publikationen (u.a. 1998; 1999; 2005) das Abrücken vom Leitbild des »Staatsbürgers in Uniform« zum Bild des »Kriegers« nach, dessen oberstes Ideal „Kämpfen können und kämpfen wollen“ sei. Bei Schnell erkennt er „eine Kontinuität aus dem Denken von Ludendorffs totalem Krieg“, aus der „Denkart der Wehrmacht“ (zit. nach Koufen, 2006, S.7). Nachträglich wird diese Einschätzung drastisch sekundiert durch das neue Buch der Generale Reinhard Günzel (KSK) und Ulrich Wegener (GSG9) und ihres SS-Gewährsmanns Wilhelm Walther mit einer propagandistischen Wiederbelebung nazistischer Ordensmythen (Günzel, Walther & Wegener, 2006).

Verschmelzung ökonomischer und kriegerischer Potenziale

Nur auf den ersten Blick erscheint das überzogen. Und nur auf dem Hintergrund der aktuellen Strategien der Skandalverarbeitung. Die machen sich die fein säuberliche Trennung des »Ökonomischen« vom »Militärischen« zunutze. Sie ist jedoch längst überholt. Aber bevor wir begreifen, wie eng die Rückbezüge zu den Theoretikern und Strategen des »totalen Kriegs« sind, müssen wir uns der aktuellen Engführung und Verschmelzung des Militärischen und Ökonomischen zuwenden, wie sie auch in den Vorstellungen Schnells zum Ausdruck kommen. Sie sprengen die Vorstellungswelt, die mit der Militarisierung des Ökonomischen nur Kriegsgewinn, Raub, militärkeynesianische Stimulierung verbunden hatte. Schnell, van Creveld und ihre Mitstreiter sind keine »ewig Gestrigen«, sie denken auf neue Weise »total«. Wenn wir dies begriffen haben, werden wir neu über die alte Dynamik der Totalisierung des Kriegs nachdenken lernen. »Kontinuität« aus dem Denken von Ludendorff ist zu linear gedacht. Es geht um eine Totalisierung im postmodernen Gewand, die über den historischen Bruch die Analogien zur alten Totalisierung sichtbar werden lässt und zugleich den Bezug aktiv herstellt.

Van Creveld sagt: „Stattdessen könnte man in Anlehnung an Ludendorffs Werk zum totalen Krieg zutreffender sagen, dass er mit der Politik verschmilzt, zu Politik wird, ja Politik ist… Militärische und wirtschaftliche Funktionen werden wieder zusammen geführt, wie es zumindest bis 1648 durchaus übliche Praxis war“ (1998, S.316).

Bei Schnell klingt das so: „Sicherlich wird der militärische Manager nicht – um einen Begriff von Clausewitz aufzugreifen – zu einem ‚Kriegsunternehmer’ vom Typ Wallensteins. Aber die Herausforderung besteht doch in einer mentalen und professionellen Veränderung. Die herkömmliche Welt des Soldaten war eine andere Welt als die des Kaufmanns und Unternehmers. Diese beiden Welten werden nun stärker zusammen geführt werden… Die Führungs- und Managementgrundsätze von Militärorganisationen sind auf die extreme Form eines Wettbewerbs hin entwickelt. Menschliche Werte und Tugenden zählen da meist mehr als ökonomische Anreize. Es ist das ganze Selbst des Menschen, das gefordert wird… Sicher können Militärorganisationen noch manches vom Management privatwirtschaftlicher Organisationen lernen. Das Umgekehrte gilt aber genauso, und wenn es zutrifft, dass der globale Wettbewerb schärfer wird, dann konvergieren auch manche Führungs- und Managementgrundsätze“ (2000, S.18, 21f.).

Tötenwollen als „immaterielle Ressource“

Der Griff nach dem „ganzen Selbst“ als Gegenstand der Zusammenführung, der Verschmelzung der ökonomischen und militärischen Welt, der Welt des Unternehmers und des Kriegers: Was heißt das? Schnell vollzieht die Verschmelzung im Managementbegriff der „immateriellen Ressource“. Dies ist der Schlüsselbegriff des Zugriffs auf Subjekte im globalen Transformationsprozess des Kapitalismus, den wir »Globalisierung« nennen. Der Begriff korrespondiert mit anderen handlungs- und managementleitenden Begriffen wie: »Humanressourcen«, »Ressource Mensch«, »Wissenskapital«, »intellektuelles Kapital«, »Humankapital«. Der Ansatz ist »ganzheitlich«, »total«. Es geht um den Zugriff auf alle Dimensionen des Menschlichen und ihre Erschließung als »Ressource« zum Zweck der Neugestaltung der Arbeitsunterwerfung, bis hin zur Erschließung peripherer Gesellschaften. Dazu gehören nicht nur »endliche« Ressourcen des biologischen Substrats und der physischen Verwendungs- und Leistungsfähigkeit, sondern auch Einstellungen, Mentalitäten, soziale Beziehungen, kulturelle Qualitäten und Praktiken, Routinen, Kreativität, Intuition und vor allem »Vertrauen« (commitment). Der Zugriff ist tendenziell »total« im Sinne eines ganzheitlichen Griffs nach dem Subjekt und seiner Subjektivität unter Einschluss seiner sämtlichen sozialen und kulturellen Bezüge im Sinne einer komplexen »Lebensweise« (vgl. u.a. Moldaschl & Thießen, 2003; Moldaschl, 2005). In diesem Sinne behandelt Schnell auch die militärische Erschließung des „ganzen Selbst des Menschen“ als Ressource für die Fähigkeit, Gewalt anzuwenden, zu töten und sich zu opfern.

Gut, könnte man sagen. So sind halt die Militärs, schlimm genug. Aber wenn sich barbarische Kämpfer dem Unternehmertum annähern sollen, so doch jedenfalls nicht der rational geprägte Unternehmer dem archaischen Kämpfer? Falsch: Die Konvergenz wird längst auch von dieser Seite betrieben. Die politische Ökonomie selbst hat in der aktuellen frühen Phase der Globalisierung die barbarischen Anteile des unternehmerischen Antriebs reaktiviert. Sie hat dies getan im Rückgriff auf Joseph Schumpeter (1911/12; 1942), dessen politisch-ökonomische Grundvorstellungen von innovativer Dynamik in einem regelrechten Siegeszug die Managementkonzepte durchdrungen haben. Nicht die nüchterne Kalkulation macht danach die unternehmerischen Potentiale aus; sie sei allenfalls tauglich für den stationären Betrieb eines Unternehmens ohne Entwicklung. Innovative Tätigkeit speise sich aus dem „Siegerwillen, kämpfen wollen einerseits, Erfolg haben wollen des Erfolges als solchen wegen andererseits“, aus der „Fähigkeit, Altes zu zerstören und Neues zu schaffen“, „der Fähigkeit, andere sich zu unterwerfen und seinen Zwecken dienstbar zu machen, zu befehlen und zu überwinden.“ Kriegsherr und Unternehmer haben bei Schumpeter einen gemeinsamen historischen Ursprung, der auch die Analogie ihrer barbarischen Energien begründet. Und dass es barbarische Energien sind, die den Prozess der wirtschaftlichen Entwicklung, der „schöpferischen Zerstörung“, der innovativen Gestaltung der Welt antreiben, daran lässt er selbst keinen Zweifel. „Rücksichtslosigkeit“, in der „Durchbrechung aller Bindungen“ charakterisieren sie. Schumpeters Gedankenwelt der „schöpferischen Zerstörung“ beherrscht die politisch-ökonomischen Kommandoebenen der Triade Japan-USA-Europa. Greenspan hat sie propagiert, Köhler als IWF-Direktor und Bundespräsident, Othmar Issing von der EZB etc. Viele Unternehmer und Managementführer (wie zum Beispiel der Chefökonom Walter von der Deutschen Bank) lassen sich von Schumpeters Grundvorstellungen leiten, allen voran das weltweit führende Management-Unternehmen McKinsey.1 Man darf jedoch nicht die Verhältnisse verkehren. Das Kapital und das Militär konvergieren in der Steigerung der Aggressivität ihrer Grundvorstellungen nicht, weil sie einer Theorie folgen. Sie konvergieren darin, weil der Umbruch von der Spätphase des keynesianisch orientierten »Fordismus« zu einer innovativen Welle der Globalisierung neue, sehr aggressive Momente in der Zerstörung der alten und Gestaltung der neuen Welt, ihrer sozialen, politischen und ökonomischen Verhältnisse zur Wirkung bringt.

Barbarei und Globalisierung

Als Professor für Sicherheits- und Militärökonomie/Streitkräftemanagement behandelt Schnell (2000) die Barbarisierungspotentiale des »archaischen Kriegers« nicht nur als Bestandteil der immateriellen Ressourcen der Bundeswehr, sondern er sieht sie als dynamisches Moment im aktuellen Prozess der Globalisierung. Diese Dynamik begreift er als asymmetrisch im Gefälle der hochentwickelten innovatorischen Kerne der Metropolen zu den „Zwischenzonen“ der „Regionen mit labilem Gleichgewichtssystem“ (in der nationalen Sicherheitsstrategie der USA die »failed states«): „Hier werden Kriege wahrscheinlicher, insbesondere wenn sich dort wichtige Ressourcen und strategische Rohstoffe befinden.“ Die „stark hegemonial organisierten Regionen – wie etwa die EU oder Nordamerika“ mit ihrer „Eskalationsüberlegenheit“ zeichnet er dabei als zentrale Akteure (a.a.O., S.9).

Über das Projekt dieser Militarisierung des Ökonomischen gibt das Weißbuch 2006, zu dem auch die Bundeswehruniversitäten ihren Beitrag geleistet haben, eine grundsätzlich-strategische Auskunft. Sie stellt militärische Intervention ausdrücklich in den Dienst der Globalisierung: „Mit der Globalisierung eröffnen sich für Deutschland neue Chancen… Die Bewältigung dieser Herausforderungen erfordert den Einsatz eines breiten außen-, sicherheits-, verteidigungs- und entwicklungspolitischen Instrumentariums“ (Bundesministerium der Verteidigung, 2006, S.9, 20). Deutschland „ist entschlossen, den Zugewinn an Freiheit und Gestaltungsraum in einer Welt der Globalisierung zu nutzen“ (ebd., S.21). „Nicht in erster Linie militärische, sondern gesellschaftliche, ökonomische, ökologische und kulturelle Bedingungen, die nur in multinationalem Zusammenwirken beeinflusst werden können, bestimmen die künftige sicherheitspolitische Entwicklung“ (S.29). Erforderlich sei ein umfassendes „Gesamtkonzept“. Es erfasse „neben den klassischen Feldern der Außen-, Sicherheits-, Verteidigungs- und Entwicklungspolitik unter anderem die Bereiche Wirtschaft, Umwelt, Finanz-, Bildungs- und Sozialpolitik“ (S.30).Es geht also nicht mehr um Verteidigung, es geht darum, den Prozess der Globalisierung durchzusetzen. Dies ist ein aggressiver Prozess der totalen, der »umfassenden« Transformation. Sie gibt sich nicht mit Zugriff auf Rohstoff- und Energieressourcen zufrieden. Sie will Welt »gestalten«, im komplexen, »totalen« Zugriff.

Das Weißbuch schließt ausdrücklich an das strategische Konzept der NATO aus dem Jahre 1999 an (a.a.O., S.38f.), das die umfassende und totale Zweckrichtung militärischer Intervention nicht nur bei Risiken für die Handelsstrukturen und Rohstoffsicherheit propagierte, sondern auch bei Risiken aus der in verfallenden staatlichen Strukturen beeinträchtigten Sicherheitslage. Die im September 2002 veröffentlichte US-amerikanische »nationale Sicherheitsstrategie« (NSS), deren tragende Grundsätze im Hinblick auf die gewünschte euro-atlantische Partnerschaft ganz offenbar auch in das Weißbuch 2006 eingeflossen sind, präzisiert dies. Auch hier werden militärische Interventionen in den Dienst der Öffnung von Gesellschaften und Märkten gestellt, um sie für den Zugang der kapitalistischen Kräfte aufzubrechen: Finanzen, Services, Technologien, um das Produktivpotential der Arbeit zu »entfesseln« (The White House, 2002, passim; vgl. Hartmann & Vogelskamp, 2003, S.34ff.).

Diese Verschmelzung von Ökonomie und Militär in der totalen Entfesselung und Erschließung der »immateriellen Ressourcen« bis in ihre barbarischen Triebkräfte hinein erlaubt es, auch den Rückgriff auf die Theoretiker und Strategen des »totalen Kriegs«, wie Ludendorff einer war, zu verstehen. Wir sehen, dass es zu simpel ist, Schnell und anderen Propagandisten des »archaischen Kämpfers« zu unterstellen, sie orientierten sich in linearer Traditionspflege einfach an Ludendorff. Es wird richtig, wenn wir Ludendorffs Strategien und Vorstellungen des totalen Kriegs als Facette einer analogen Engführung des militärischen und ökonomischen Managements begreifen, die damals »Geopolitik« hieß und heute als »Globalisierung« firmiert.

Das Konzert des Aufrufs barbarischer Energien in den totalen Innovationskrieg ist vielstimmig. Es verschmilzt mit den ekstatischen Orgien der Tötungsenergien aus dem geschichtlichen Hallraum des letzten Globalisierungszyklus zu einem neuen Gesang. Schnell ist nur eine Stimme, wenn auch eine maßgebliche. Wir werden ihr nur gerecht, wenn wir uns der Barbarisierung in allen ihren ökonomisch-managerialen, kulturellen, religiösen, mentalen Strängen entgegenstellen, die ihre historische Verwirklichung in einem neuen Schub der Totalisierung sucht.

Literatur

Bald, D. (1998): Neotraditionalismus in der Bundeswehr. Wissenschaft und Frieden, 16 (4), S.57-59.

Bald, D. (1999): Der Paradigmenwechsel der Militärpolitik. Mittelweg36, 8 (5), 23-32.

Bald, D. (2005): Die Bundeswehr. Eine kritische Geschichte 1955-2005. München, Beck.

Bundesministerium der Verteidigung (Hrsg.) (2006): Weißbuch 2006 zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr. Berlin, BMVg.

Günzel, R., Walther, W. & Wegener, U. (2006): Geheime Krieger. Drei deutsche Kommandoverbände im Bild: KSK – Brandenburger –GSG 9. Selent, Pour le Merite.

Hartmann, D. & Vogelskamp, D. (2003): Irak. Schwelle zum sozialen Weltkrieg. Berlin/Hamburg, Assoziation A.

Koufen, K. (2006): Der Mensch, eine Kriegernatur. taz vom 07.11.06, S.7.

Moldaschl, M. (Hrsg.) (2005): Immaterielle Ressourcen. München, Hampp.

Moldaschl, M. & Thießen, F. (Hrsg.) (2003): Neue Ökonomie der Arbeit., Marburg: Metropolis – darin insbesondere der Beitrag des Erstherausgebers: Von der Personalwirtschaftslehre zur Wirtschaftslehre der Person? S.95ff.

Rose, J. (2006): Archaische Kämpfer am Hindukusch. Freitag vom 03.11.06, S.1.

Schnell, J. (2000): Zur zukünftigen Rolle von Militärorganisationen – Wie verändern sich Einsatzspektrum und Management von Streitkräften? Vortrag im Rahmen der Jahreskonferenz der European Federation for Management Development vom 18.06.-20.06.2000 unter dem Leitthema »Renaissance 2000«. Verfügbar unter: http://www.unibw-muenchen.de/Campus/WOW/v1054/miloek1.html.

Schumpeter, J. A. (2006): Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung (Nachdr. d. Erstausg. 1911/12). Berlin, Duncker & Humblot.

Schumpeter, J. A. (2005): Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie (8. Aufl., engl. Erstausg. 1942). Stuttgart, Francke/UTB.

Van Creveld, M. (1982): Fighting power: German and U.S. Army Performance, 1939-1945. Westport, Greenwood Press.

Van Creveld, M. (1998): Die Zukunft des Krieges. München, Gerling Akademie Verlag.

The White House (2002): The National Security Strategy of the United States of America. Verfügbar unter: http://www.whitehouse.gov/nsc/nssall.html.

Anmerkungen

1) Joseph Schumpeter hat dem fraglichen Unternehmertypus und dem von ihm betriebenen Prozess „schöpferischer Zerstörung“ die fantasiereichen und lesenswerten Darstellungen des zweiten Kapitels der „Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung“ gewidmet (1. Aufl. Leipzig 1911/12, Zitate S.164) sowie des 7. Kapitels von „Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie“ (1. Aufl. 1942, zit. nach 7. Aufl. 1993, S.134, 137f.). Ein Buch des Autors, das auch die Schumpeter-Renaissance thematisiert, ist in Vorbereitung; Arbeitstitel: „Soziale und militärische Fronten der Globalisierung.“

Detlef Hartmann ist Rechtsanwalt und lebt in Köln. Eine Langfassung des vorliegenden Beitrags ist verfügbar unter http://www.materialien.org/Texte/Texte.

Sondermentalität mit Tradition

Sondermentalität mit Tradition

Die Gebirgsjäger in der Bundeswehr

von Markus Mohr

Deutsche Soldaten, die in Afghanistan mit Totenschädeln und Menschenknochen vor der Kamera possieren. Bilder, die Ende Oktober 2006 durch die deutsche Presse gingen und die Öffentlichkeit erregten. Es handelte sich um Soldaten einer Gebirgsjägereinheit, einer Einheit mit Tradition. Auf diese sehr spezielle Traditionslinie machten allerdings nur wenige Medien aufmerksam. Der Bonner General-Anzeiger war am 27.10.2006 eher die Ausnahme: „Für den Einsatz am Boden in den unwegsamen Bergregionen am Hindukusch sind sie besonders geeignet. Das sichert den Gebirgsjägern eine Sonderstellung, geht häufig aber auch mit einer Sondermentalität einher: Die Totenkopf-Fotos, aufgenommen (…) in der Umgebung von Kabul, liefern den unrühmlichen Beweis dafür.“ Markus Mohr über den politischen Hintergrund, vor dem diese »Sondermentalität« entstehen konnte.

Der Ort, von dem die Gebirgsjäger mit ihrer »Sondermentalität« nach 1945 wieder in die ganze Welt ausgesandt werden, heißt Mittenwald. Dort liegt das historisch-politische Zentrum der deutschen Gebirgstruppe. Hier manifestiert sich seit über einem halben Jahrhundert eine militärische Praxis und Traditionspflege der ganz besonderen Art. Ihre Verbindungslinien reichen bis heute in die Spitzen der politischen und militärischen Gremien dieses Landes.

Gebirgsjäger im 3. Reich

Am 1. Juli 1944 würdigte im Schloss Kleßheim mit einem Staatsakt Adolf Hitler den durch einen Flugzeugunfall ums Leben gekommen Gebirgsjägergeneral Eduard Dietl. Als Reichswehrsoldat war Dietl bereits im Januar 1919 in München in die Vorläufergruppierung der NSDAP, die DAP, eingetreten. Er stand beim Hitler-Putsch von 1923 mit dem von ihm kommandierten Regiment für die Nationalsozialisten Gewehr bei Fuß. Die NS-Propagandamaschine machte Dietl neben Rommel zum populärsten Wehrmachtssoldaten.

Es verwundert kaum, dass der »Führer« über den plötzlichen Tod – des vermutlich noch vor ihm in die Partei eingetretenen Kompagnons – sehr betroffen war. So sprach er von einem seiner „treuesten Kameraden aus langer, schwerer gemeinsamen Kampfzeit“, einem „hervorragenden Soldaten“, der ein „Vorbild unnachgiebiger Härte und nie erloschener Treue bis zum Tode“ gewesen sei. Und dann wagte der »Führer« auch gleich noch eine Prognose: Der Name Dietls werde „in seiner stolzen Gebirgsarmee weiterleben“ (Kaltenegger, 1990).

Traditionspflege durch alte Kameraden

Betrachtet man nun die Geschichte der Bundesrepublik, dann sollte der »Führer« zumindest mit dieser Aussage Recht behalten: Der zur Jahreswende 1951/52 offiziell gegründete Kameradenkreis der Gebirgsjäger erwies bereits in den ersten Ausgaben seiner Mitgliederzeitschrift Generaloberst Dietl ein ehrendes Gedenken. Diese, einem engagierten Nationalsozialisten gewidmete, Traditionspflege sollte ihre Wirkung nicht verfehlen: Im Jahre 1964 wurde unter Bundesverteidigungsminister von Hassel der Beschluss gefasst, einer Liegenschaft der Bundeswehr in Füssen den Namen »Generaloberst Dietl-Kaserne« zu geben. Mit dem Traditionserlass konnten militärische Einrichtungen „nach Persönlichkeiten benannt werden, die in Haltung und Leistung beispielhaft waren.“ (Abenheim, 1989).

Als »beispielhaft« konnte die aufopferungsvolle Haltung Dietls gegenüber Hitler offenbar auch in der neu gegründeten Bundeswehr durchgehen.

Es sollte 30 Jahre dauern, bevor der zunehmende Protest an ein derartiges Gedenken – sowie der erneut geplante Einsatz von Gebirgsjägereinheiten im ehemaligen Jugoslawien – Ende 1995 dafür sorgten, dass die »Generaloberst Dietl-Kaserne« in Füssen und die »General Ludwig Kübler-Kaserne« in Mittenwald umbenannt wurden (vgl. Knab, 1995). Übrigens gegen den Widerspruch der Gemeinde und gegen Widerstand aus der Bundeswehr. Gebirgsjägergeneral Rainer Jung: „Man könne Dietl nichts vorwerfen, außer dass er ein treuer Gefolgsmann Hitlers gewesen sei“ (Die Welt vom 8.6.1995) .

Diese Geschichte wirft ein bezeichnendes Licht auf die Traditionspflege der Bundeswehr-Gebirgsjägertruppen. Besonders hervorzuheben ist hierbei die Politik des Kameradenkreises. Dieser Verein diente Generalen, Offizieren und Unteroffizieren aus der Wehrmacht zunächst als eine Art soziales wie politisches Auffangbecken. In einer Anfang Dezember 1951 in München abgehaltenen Tagung werden in dem Protokoll als Ziel dieses Bundes „die Erhaltung des guten Rufes der Gebirgstruppe, für die Bewahrung des Geistes der Gemeinschaft und der Hingabe an Heimat, Volk und Vaterland“ genannt. Der „Schmähung des deutschen Soldatentums und der Zersetzung unseres Volkes als wehrbereite Lebensgemeinschaft“ solle begegnet werden, „auch um zersetzende Einflüsse der Sowjets abzuwehren und um zu zeigen, wie wir waren und sind.“ (Wittmann, 1957). Mit diesem militaristisch-antikommunistischen Selbstverständnis fungiert der Kameradenkreis bis auf den heutigen Tag als öffentlichkeitswirksame Pressure-Group.

Politisch-militärische Prominenz und die Tradition

Lässt man die politische Geschichte der Bundeswehrgebirgstruppe und des mit ihr personell vielfältig verbundenen Kameradenkreises aus über 50 Jahren Revue passieren, so müssen Namen von Militärs und Politikern, wie Hubert Lanz, Franz Josef Strauß, Karl Wilhelm Thilo, Hellmut Grashey, Edmund Stoiber, Klaus Naumann, und Klaus Reinhardt besonders hervorgehoben werden.

Der General der Gebirgstruppen Hubert Lanz, wurde für Kriegsverbrechen in Nürnberg zu zwölf Jahren Gefängnis verurteilt, jedoch weit vor Ablauf der Strafe entlassen. Schon kurz nach der Haftentlassung bekam er ein Angebot des damaligen FDP-Vorsitzenden Thomas Dehler, der Partei beizutreten, um »militärische Sicherheitsfragen« zu behandeln. Von dort aus rückte Lanz in das »Amt für Sicherheit und Heimatschutz« ein; eine Keimzelle für das im Zuge der Remilitarisierung gegründete Amt Blank, das spätere Verteidigungsministerium. Schon anlässlich der Bundestagswahl 1953 kandidierte er im Landkreis Weilheim – in dem auch Mittenwald liegt – für die FDP, u.a. gegen den jungen CSU-Aktivisten Franz Josef Strauß, der dort das Direktmandat gewann.

Auch wenn Lanz eine ihm indirekt von Strauß 1961 angetragene Position als Bundeswehrgeneral aufgrund US-amerikanischer Widerstände nicht antreten konnte, so amtierte er doch bis zum Jahre 1982 als Ehrenpräsident des Kameradenkreises. Als solcher war er stets gern gesehener Gast auf Bundeswehrempfängen mit der bayrischen Staatsregierung. Noch 1989 hing in der Kaserne von Garmisch-Partenkirchen sein Konterfei im Andachtsraum.

Als gerade ins Amt gelangter Verteidigungsminister ließ es sich F. J. Strauß nicht nehmen am 19. Mai 1957 das erste öffentliche Rekrutengelöbnis in der Geschichte der Bundeswehr in Mittenwald zu zelebrieren. In der offiziellen Chronik der 1. GD ist vermerkt: „ Die Wpfl (Wehrpflichtigen) der 1. Gebirgsdivision legen als erste Soldaten der Bundeswehr das Feierliche Gelöbnis ab… Es erklingt zum ersten Mal der Große Zapfenstreich.“ (P.E. Uhde, 1982)

Dass sich die Wiedergründung der Gebirgsjägerdivision vor dem Horizont der alten Wehrmacht vollzog, wurde in der Kameradenzeitung »Die Gebirgstruppe« vom Kommandeur der 1. Gebirgsdivision, Buchner, offen angesprochen. Gerade die „große Anzahl von Soldaten (…) die sich (…) von den Gebirgs-Divisionen des Krieges her kennen“ seien „ein besonderes Glück“. Denn „jeder dieser alten Angehörigen der Gebirgstruppe“ trage dazu bei, „daß auch diese neue 1. Gebirgs-Division wieder von jenem Geist, von jener Haltung und von jener Eigenart erfüllt [werde, die] die Gebirgs-Divisionen der Wehrmacht (…) hatten.“ Und überhaupt, so Buchner mit Blick auf die Zukunft weiter, sei es „erfreulich, feststellen zu können, daß unsere jungen Freiwilligen auf dem besten Wege sind, diese wertvolle Überlieferung zu übernehmen und weiterzutragen.“ (Buchner 1957). Das Ergebnis dieser Bemühungen um eine unkritische Traditionspflege konnte auch noch Jahrzehnte später im Buch des Gebirgsjäger-Zeitsoldaten Kaltenegger nachgelesen werden: „Was über die allgemeinen Grundsätze der Ausbildung in der Gebirgstruppe der deutschen Wehrmacht gesagt wurde, hat im wesentlichen auch Gültigkeit für die 1. Gebirgsdivision der Bundeswehr. (…) So erwuchs die 1. Gebirgsdivision der Bundeswehr – ähnlich wie die alte 1. Gebirgsdivision der deutschen Wehrmacht – aus einer Gebirgsbrigade zu einer Gebirgsdivision.“ In ihrer Größenordnung entspreche sie „etwa dem ehemaligen Gebirgs-Armee-Korps der deutschen Wehrmacht.“ (Kaltenegger, 1980).

Auch nach seiner Entlassung als Verteidigungsminister hielt Strauß seine schützende Hand über die Soldaten aus der ersten Gebirgsdivision. Er wird sicher – zusammen mit dem BND-General Gehlen – seinen aktiven Anteil daran gehabt haben, dass die in den 60er Jahren gegen rund 300 Gebirgsjäger eingeleiteten Strafermittlungsverfahren – aufgrund von Massakern in Kommeno und Kephallonia im Zweiten Weltkrieg – in keinem einzigen Fall zur Anklage kamen. (Vgl. Herbert, 1996) Strauß bezeichnete sich noch im Jahre 1986 als »Vater der 1. Gebirgsdivision«. Selbst offenkundige NS-Bezüge stellten für ihn kein Problem dar: „Für die deutsche Gebirgstruppe war (der in Jugoslawien hingerichtete Kriegsverbrecher. D. Verf.) General Ludwig Kübler als Mensch und als Soldat ein Vorbild. Ihm hat die Truppe bis auf den heutigen Tag viel zu verdanken.“ (Kaltenegger, 1998).

Die in den 70er Jahren immer mal wieder von einem Teil der Spitze des Verteidigungsministeriums angestellten Überlegungen, die 1. Gebirgsdivison in eine andere Militärstruktur zu überführen, fanden in Strauß einen energischen und dann auch erfolgreichen Widersacher. Noch in seinen posthum publizierten Erinnerungen widmete Strauß mehrere Seiten seinem – gegen Widersprüche höchster Generäle – erfolgten Engagement für den Aufbau der Gebirgstruppe. (Strauß, 1989)

In der Geschichte der Bundeswehr sollten es auch die beiden Generäle der Gebirgsjäger und Mitglieder des Kameradenkreises, Hellmut Grashey und Karl Wilhelm Thilo, zu bundesweiter Prominenz bringen. Der im Stab Dietls ausgebildete Grashey forderte im März 1969 als stellvertretender Generalsinspekteur der Bundeswehr in einem Lehrgang für Generalstäbler an der Führungsakademie in Hamburg dazu auf, dass sich die Bundeswehr dazu bereit halten sollte, die Rolle eines »Ordnungsfaktors« in Staat und Gesellschaft zu übernehmen: „Die Zeit sei reif dafür, die ‚Maske’ der Inneren Führung, hinter der sich die Bundeswehr allzu lange habe verstecken müssen, nun endlich abzulegen“ (Bald, 2005). Doch damit nicht genug: Zusammen mit dem zum stellvertretenden Herresinspekteur aufgestiegenen Thilo hatte Grashey auch an den Ende des Jahres 1969 bekannt werdenden so genannten Schnez-Studien des gleichnamigen Heeresinspekteurs mitgearbeitet. Sowohl bei den »Gedanken zur Inneren Führung« wie in dem Papier »Gedanken zur Verbesserung der inneren Ordnung des Heeres« handelt es sich um zwei reaktionäre Manifeste, die zu Beginn des Jahres 1970 weite Verbreitung fanden und in denen sich nicht zufällig markige Formulierungen von „psychisch und physisch harten Kämpfern“ finden, denen Bundeswehrsoldaten genügen sollten. (Heßler, 1971). Die Schnez-Traktate, die ganz in dem Geiste des Kameradenkreises waren, wurden gleich zu Beginn der Kohl-Regierung im Jahre 1983 „in den Offizierkasinos (…) als heimlicher Besteller“ recycelt. (Spiegel 1983)

Nach der Vereinigung der beiden Deutschländer sollte es in einem politischen wie logistischen Sinne zu einer erneuten Aufwertung der im Militärzentrum Mittenwald stationierten Gebirgsjägereinheiten kommen. Ende 1991 hatte Bundeskanzler Kohl dem Kameradenkreis in einem persönlichen Anschreiben versichert, dass auch „in der neuen Bundeswehrstruktur (…) die Gebirgsjäger einen herausragenden Platz einnehmen“ werden. Dies biete, so Kohl weiter, die „Chance (…), bewährte Traditionen fortzusetzen und den Korpsgeist der Gebirgsjäger zu erhalten.“ (Kohl, 1991)

Ein Protagonist in Sachen Neuausrichtung deutscher Militärpolitik, war der 1991 in das Amt des Generalinspekteurs der Bundeswehr berufene Klaus Naumann. Ein halbes Jahr vor der Verabschiedung jener wesentlich von ihm auf den Weg gebrachten Verteidigungspolitischen Richtlinien im November 1992 hatte er es sich nicht nehmen lassen, auf dem Pfingsttreffen des Kameradenkreises in Mittenwald aufzutreten. Dort sprach er auch den Zusammenhang zwischen der Bundeswehr und der Nazi-Wehrmacht an. Er ließ dabei keinen Zweifel daran, dass die Wehrmacht im Grunde nur »missbraucht« worden sei, gleichwohl für „Bewährung in äußerster Not, für Erinnerung an und Verehrung von vorbildlichen Vorgesetzten, für Kameraden und Opfertod“ stehe, kurz: Für „jene vorzügliche Truppe, die Unvorstellbares im Kriege zu leisten und zu erleiden hatte.“ (Prior, 1992).

Gebirgsjäger im Auslandseinsatz

Blickt man auf die letzten anderthalb Jahrzehnte Militärpolitik der neuen Bundesrepublik zurück, so dürfen sich die Gebirgsjäger-Einheiten rühmen, fast immer zu den ersten Einsatzverbänden zu zählen, die seitens der Bundesregierung bei neuen Kriegseinsätzen ins Spiel gebracht werden. Ihre Stationen führten sie zwischenzeitlich von der Wüste in Somalia (FAZ, 22.1.1994), über das Territorium der zerfallenden Republik Jugoslawien bis nach Afghanistan.

Die Vorreiterrolle der Gebirgsjäger für die gesamte Bundeswehr wurde auch durch die Einrichtung eines neuen Lehrgangstyps an der Gebirgs- und Winterkampfschule in Mittenwald/Oberbayern, sinnigerweise am 8. Mai 1995, deutlich: Unter dem vieldeutigen Motto »Ganze Männer braucht das Land« beschreibt der dortige Presseoffizier Kutschera als „logische Konsequenz aus der neu gewonnenen internationalen Verantwortung Deutschlands in der Staatengemeinschaft“ als dessen Ziel, „die Kampf- und Überlebensfähigkeit der Infanteriesoldaten bis zur Ebene Kompanie in schwierigem Gelände unter extremen Witterungsbedingungen zu entwickeln bzw. zu erhöhen.“ (Kutschera, 1996) Zu einer der ersten Übungsgruppen zählte dabei eine Kompanie des Jägerbataillons 571 aus dem sächsischen Schneeberg, das von Mittenwalder Gebirgsjägeroffizieren aufgebaut worden war. (Sander, 2004) Diese Einheit – unter der Leitung des Fallschirmjägergenerals Günzel – wurde im Dezember 1997 bundesweit bekannt durch selbstgedrehte Videos, auf denen einige ihrer Angehörigen Nazi-Gesänge probten – »Ewiges Deutschland – heiliges Reich« –, Vergewaltigungen und Geiselerschießungen übten. (Schäfer, 1998)

Parallel zu diesen Vorfällen, die zu einem Untersuchungsausschuss des Bundestages führten, rückten Mittenwalder Gebirgsjäger in Kasernen auf dem Territorium der zerfallenden Republik Jugoslawien ein. Ende Februar 1999 zitierte die ZEIT in Einstimmung auf den Kosovo-Krieg einen älteren Offizier aus dem Gebirgsjägerbataillon 233 mit der Bemerkung: „Erst enthaupten, dann schlachten“. Und weiter heißt es: „In wochenlangen schweren Luftangriffen müssten die Hauptquartiere, die Leitstellen und die Depots der Serben zerstört werden. Danach begänne die Landschlacht. Doch anders als in der Wüste, wo Panzer ohne große Verluste schnell vorankommen können, müssten im gebirgigen Kosovo die Befreier zu Fuß oder – wie in Vietnam – mit Hubschraubern anrücken.“ (Schwelien, 1999). Zu einem Landkrieg ist es so bekanntlich nicht gekommen, allerdings: Am Ende des NATO-Angriffskrieges gegen die Bundesrepublik Jugoslawien war es auch für deutsche Gebirgsjäger im Kosovo wieder soweit: „Erstmals seit dem zweiten Weltkrieg hat (in Prizren) ein deutscher Soldat den Befehl gegeben, im Gefecht das Feuer auf einen Menschen zu eröffnen“, vermeldet das Nachrichtenmagazin Der Spiegel. Es handelte sich um Soldaten des Gebirgsjägerbataillons 571 aus Schneeberg/Sachsen, das nach der Wende von Offizieren aus Mittenwald aufgebaut worden war.

Den Kosovo-Krieg führte auch zu neuen Ehren für einen weiteren Gebirgsjäger: Der aus Mittenwald stammende General Klaus Reinhardt wurde NATO-Kommandeur auf dem Balkan. In dieser Funktion trat er dann gleich vor dem Kameradenkreis. Vor 6.000 Zuhörern auf dem Hohen Brendten beantwortete er die Frage danach, warum denn „bei den Auslandseinsätzen des Deutschen Heeres immer wieder Gebirgsjäger dabei“ seien, mit dem Hinweis, dass „die Gebirgstruppe der Bundeswehr (…) von Männern aufgebaut und geistig ausgerichtet worden (sei), die als Kommandeure, als Kompaniechefs und Kompaniefeldwebel (einerseits) die schreckliche Erfahrung des Krieges und der Diktatur am eigenen Leib erlebt und durchlitten, (andererseits) uns die zeitlosen militärischen Werte wie Pflicht, Treue, Tapferkeit und Kameradschaft vorgelebt“ haben. „Diese Männer“, so Reinhardt, „waren unsere Vorbilder, und sie repräsentieren eine ganze Generation von Wehrmachtssoldaten, (die) der nachfolgenden Generation das Koordinatensystem ihrer Werteordnung“ weitergegeben hätten und natürlich „Respekt“ verdienten. Es sei gerade der Kameradenkreis gewesen, so Reinhardt, der „bei der Pflege dieser Tradition und ihrer Weitergabe an die nächste Generation (…) sein ganz besonderes Verdienst“ habe. (Reinhardt, 2000).

Ein Jahr später stellte sich für Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber die Erinnerungsarbeit des Kameradenkreises der Gebirgsjäger als eine „unangreifbare Traditionspflege“ dar, die für die „insgesamt traditionsarme Bundeswehr ihresgleichen“ suche und auf deren „Leistungen in Vergangenheit und Gegenwart“ man besonders stolz sein könne. (GBT 2001/Heft 4).

Derzeit vertritt die Interessen der Gebirgsjäger und ihres Kameradenkreises im Bundestag das CSU-Mitglied Christian Schmidt. Ende Mai 2006 beantwortete er als parlamentarischer Staatssekretär im Bundesverteidigungsministerium im Namen der Bundesregierung eine kleine Anfrage der PDS-Abgeordneten Jelpke hinsichtlich des Verhältnisses der Bundeswehr zum Kameradenkreis u.a. mit der schlichten Feststellung: „Der Kameradenkreis der Gebirgstruppe bekennt sich in seiner politischen Grundeinstellung zu den Werten und Zielvorstellungen unserer verfassungsgemäßen Ordnung. Die Zusammenarbeit zwischen der Bundeswehr und dem Kameradenkreis der Gebirgstruppe sowie die Teilnahme von Soldaten der Bundeswehr an der so genannten Brendtenfeier sind daher nicht zu beanstanden.“ Selbstredend, das die Bundesregierung hier „die historische Aufarbeitung von Kriegsverbrechen durch einen eingetragenen Verein“ lieber nicht „kommentieren“ wollte. (Deutscher Bundestag, 2006) Der in der ersten Gebirgsdivision gediente Bundeswehrsoldat Schmidt ist übrigens selbst Mitglied des Kameradenkreises.

Ausblick

Eine Distanz zur Politik und Praxis der nationalsozialistischen Wehrmacht gehört zwischenzeitlich zur offiziellen Politik der Bundesrepublik. Gleichzeitig wird dieses Tabu aber durch die mit Unterstützung der Bundeswehr alljährlich in Mittenwald durchgeführten Gedenkfeierlichkeiten des Kameradenkreises der Gebirgsjäger ständig in Frage gestellt. Schließlich wird hier, wie Wolfram Wette einmal feststellte, das »Traditionsproblem« beständig neu vermessen. (Wette, 1997)

Ob die offizielle Distanz zur NS-Wehrmacht im militärischen Raum für die Bundeswehr in Zukunft aufrecht erhalten bleibt, darauf hat die »Traditionspflege« sicher einen Einfluss. Der kritische Blick auf die Kameradentreffen und der Protest gegen die Verherrlichung von Kriegsverbrechen und Kriegsverbrechern ist deshalb dringend notwendig. Genauso aber die Auseinandersetzung mit den Kampfeinsätzen der Bundeswehr. Die Gebirgsjäger stehen hier in der ersten Reihe und die sich dabei herausbildenden »Sondermentalitäten« – siehe Afghanistan – können schnell die offizielle Distanz ad absurdum führen.

Literatur:

Abenheim, Donald (1989): Bundeswehr und Tradition, Auf der Suche nach dem gültigen Erbe des deutschen Soldaten, München.

Bald, Detlef (2005): Die Bundeswehr, Eine kritische Geschichte 1955-2005, München.

Buchner, Hans (1957): Die neue deutsche Gebirgstruppe, in GBT 1957 / Heft 2-4, S.277-280.

Deutscher Bundestag (2006): Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Ulla Jelpke u.a. und der Fraktion DIE LINKE vom 29.5.2006, Drucksache 16/1623, Internet: kg.r2010.de/Media/3/178/1/2103.pdf

Herbert, Ulrich (1996): Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft. 1903-1989, Bonn.

Heßler, Klaus (1971): Militär – Gehorsam – Meinung, Berlin.

Kaltenegger, Roland (1980): Die Geschichte der deutschen Gebirgstruppe, Stuttgart.

Kaltenegger, Roland (1990): Generaloberst Dietl, München.

Knab, Jakob (1995): Falsche Glorie, Das Traditionsverständnis der Bundeswehr, Berlin.

Koelbl, Susanne (2000): Der Kampf, das ist das Äußerste, in Der Spiegel vom 7.2.00.

Kohl, Helmut (1991): Brief an den 1. Vorsitzenden des Kameradenkreis der Gebirgstruppe e.V., Herrn Heinz Jaumann vom 5.12.1991, in GBT Heft 1/1992, S.7.

Kutschera, Norbert (1996): Ganze Männer braucht das Land, Ein neuer Lehrgang an der Gebirgs- und Winterkampfschule, in Truppenpraxis – Wehrausbildung 1/1996, S. S.50-52.

Prior, Helmut (1992): Hoher Brendten 1992 – ein Höhepunkt, 10.000 kamen zum 35jährigen Jubiläum des Ehrenmals, in GBT, Heft 4/1992, S.4-8.

Reinhardt, Klaus (2000): Ansprache des Oberkommandierenden der Landstreitkräfte Europa Mitte, in GBT, Heft 4/2000, S.8-17.

Sander, Ulrich (2004): Die Macht im Hintergrund, Köln.

Schäfer, Paul (1998): Bundeswehr und Rechtsextremismus, in Wissenschaft & Frieden Nr. 2/1998 Dossier Nr. 28.

Schwelien, Michael (1999): Mit Monika nach Prishtina, In DIE ZEIT vom 25.2.1999.

Stoiber, Edmund (2001): Ansprache des bayrischen Ministerpräsidenten in GBT Heft 4/2001, S.10-13.

Strauß, Franz-Josef (1989): Die Erinnerungen, Berlin.

Spiegel (1983): Zurück zur Legende vom besonderen Sterben, Der Spiegel, 10.10.1983.

Uhde, Peter. E. (1982): 25 Jahre 1. Gebirgsdivision, Lahr.

Wette, Wolfram (1997): Brisante Tradition, in Die Zeit, 19.12.1997.

Wittmann, August (1957): 4 Jahre Kameradenkreis der Gebirgstruppe. Rückschau und Vorschau, in GBT, Heft 2-4/1957, S.223-229.

Markus Mohr Jg. der Kuba-Krise, Autoschlosser und Mitglied der IG Metall, nimmt seit 2002 an den Protesten gegen das Kameradenkreistreffen der Gebirgsjäger in Mittenwald teil.

Zivil-militärische Zusammenarbeit aus der Sicht der Bundeswehr

Zivil-militärische Zusammenarbeit aus der Sicht der Bundeswehr

Interview mit Oberst i.G. Volker Fritze

von Volker Fritze und Albert Fuchs

Das folgende Interview zum Verständnis der Bundeswehr von zivil-militärischer Zusammenarbeit (CIMIC / ZMZ) konnte nicht rechtzeitig für unser entsprechendes Schwerpunktheft 4/06 realisiert werden. Wir tragen es auch als Novum für W&F in dem Sinne nach, dass wir die von uns ansonsten eher grundsätzlich kritisch-objektivierend beobachtete Institution Bundeswehr in der Person von Oberst i.G. Volker Fritze selbst zu Wort kommen lassen. Bevor man argwöhnt, jetzt sei auch W&F einer Akzeptanz-Offensive des Militärs via CIMIC / ZMZ erlegen, sollte man sich unsere Fragen und die gegebenen Antworten genauer ansehen. Grob gesprochen liegt der Akzent entweder auf der Sachinformation oder der politischen Bewertung. Wir glauben, dass die gebotene Sachinformation zumindest in Teilen durchaus Neuigkeitswert hat. Andererseits wird bei den Antworten auf die Bewertungsfragen – sofern die Frageintention aufgegriffen wird – niemand entgehen, wie »mainstreamig« im Sinne der neu-deutschen Außen- und Sicherheitspolitik der CIMIC / ZMZ-Ansatz bei der Bundeswehr verstanden wird. Allerdings ist im Auge zu behalten, dass die Antworten erkennbar nicht auf das tatsächliche Denken von Bundeswehrangehörigen abstellen, sondern auf die Programmatik – im Unterschied zu der einen oder anderen der für W&F von Albert Fuchs gestellten Fragen. Der »Apparat« wurde von der Redaktion hinzugefügt. Wir danken Herrn Fritze und dem Presse- und Informationsstab der Bundeswehr, dass sie die vorliegende W&F-Novität ermöglicht haben.

W&F: Was versteht das Militär / die Bundeswehr unter CIMIC / ZMZ? Worum geht es im Besonderen im Hinblick auf die Einsätze jenseits der Landes- und Bündnisgrenzen?

Volker Fritze: In Anerkennung der Veränderungen der globalen sicherheitspolitischen Lage wurden die Aufgaben der Bundeswehr (Bw) neu gewichtet und Einsätze zur Konfliktverhütung und Krisenbewältigung – einschließlich des Kampfes gegen den internationalen Terrorismus – als die wesentlichen Beiträge der Bw zu einer umfassend angelegten sowie ressortübergreifenden deutschen Außen- und Sicherheitspolitik erklärt.

ZMZ Bw umfasst nach heutigem Verständnis alle Planungen, Vereinbarungen, Maßnahmen, Kräfte und Mittel, welche die Beziehungen zwischen militärischen Dienststellen sowie Dienststellen der Territorialen Wehrverwaltung auf der einen Seite und zivilen Kräften, Behörden, Organisationen, Stellen und der Zivilbevölkerung auf der anderen Seite für die militärische Auftragserfüllung regeln. Dies schließt die Zusammenarbeit mit Regierungsorganisationen (RO), Nicht-Regierungs-Organisationen (NRO) oder Internationalen Behörden, Organisationen und Ämtern (IO) sowie anderen zivilen Akteuren im In- und Ausland ein. Die zivil-militärische Zusammenarbeit im Ausland (ZMZ / A) beinhaltet die Eignung / Befähigung zu Unterstützungsleistungen für militärische Operationen im gesamten Spektrum von Krisenprävention, Eingreifoperationen, Stabilisierungsoperationen sowie zur Unterstützung im Rahmen von Hilfeleistungen.

Seit Ende der 90er Jahre wird die internationale Staatengemeinschaft in besonderer Weise mit zunehmend komplexeren Problemstellungen bei der Krisenbewältigung konfrontiert. Die Feststellungen des ehemaligen Bundesverteidigungsministers Dr. Peter Struck: „Deutschland wird auch am Hindukusch verteidigt“ und „die erste Priorität ist nicht mehr die Verteidigung an des Ostgrenzen unseres Landes“ verdeutlichen diese Veränderung plakativ. Heute umfasst Verteidigung mehr als die Verteidigung an den Landesgrenzen gegen einen konventionellen Angriff. Sie schließt die Verhütung von Konflikten und Krisen, die gemeinsame Bewältigung von Konflikten und die Konfliktnachsorge mit ein. Krisenprävention kann nicht ausschließlich mit Hilfe von Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik bewältigt werden. Krisenprävention ist vielmehr eine Querschnittsaufgabe, die zunehmend auch andere Politikbereiche und nichtstaatliche Organisationen fordert. Der Einsatz rein militärischer oder rein ziviler Mittel zur Krisenbewältigung reicht nicht aus, um eine Krisenregion dauerhaft zu befrieden. Nur durch die Verzahnung der verschiedenen Fähigkeiten können Maßnahmen, die auf die Beseitigung der Ursachen nationaler oder regionaler Konflikte abzielen, an Effizienz und Nachhaltigkeit gewinnen.

W&F: Gibt es eine spezifische »Einsatzphilosophie« im Unterschied zur entsprechend benannten Konzeption aus der Zeit der Ost-West-Konfrontation?

V. F.: Unter ZMZ wurde in der Vergangenheit ein Verfahren der Abstimmung zwischen zivilen und militärischen Trägern der ehemaligen Landesverteidigung verstanden. CIMIC umfasste die Maßnahmen, die das Verhältnis von Aufnahmestaat zu NATO-Streitkräften betrafen. Mithin waren ZMZ und CIMIC innerhalb der Landesverteidigung im NATO-Bündnis aufeinander bezogen und bildeten den Schirm, unter dem sich eine zivil-militärische Kooperation vollzog. Das heutige Grundverständnis der Bw von ZMZ / A1 entspricht fast identisch dem der NATO von CIMIC2. Sowohl ZMZ / A als auch CIMIC zielen ab auf:

  • Koordinierung der zivil-militärischen Beziehungen,
  • Unterstützung der Streitkräfte und
  • Unterstützung des zivilen Umfeldes.

W&F: Setzt die Bundeswehr in ihrem Grundverständnis andere Akzente als (NATO-) Partner? Und als das DPKO der UNO mit dem „Civil-Military-Coordination“-Konzept für Peacekeeping bzw. Peacebuilding?

V. F.: Im CIMIC-Verständnis einzelner Staaten gibt es graduelle Unterschiede. Diese spielen aber bei bündnisgemeinsamen Operationen nur eine untergeordnete Rolle, da in diesem Fall die NATO-Doktrin maßgebend ist. Dennoch ergeben sich in der Praxis durchaus Unterschiede, wie beispielsweise die Provincial Reconstruction Team (PRT)-Konzeptionen der verschiedenen in Afghanistan engagierten Nationen verdeutlichen. Das vom UN-Department of Peacekeeping Operations (UN-DPKO) 2002 herausgegebene Dokument »Civil-Military Coordination Policy« ist das Ergebnis eines Erfahrungsprozesses, das sich aus erkannten Problemfeldern bei UN-Operationen der Vergangenheit ableitet.3 Die Unterschiedlichkeit von teilweise mehreren hundert gleichzeitig in der selben Region tätigen zivilen Organisationen, inkompatiblen Organisationsstrukturen zwischen diesen Organisationen, aber auch zwischen den zivilen und den militärischen Komponenten sowie ungeklärte Informationswege und insbesondere unklare Führungsstrukturen führten zur Notwendigkeit, zielführenderes Handeln in einem »Policy Document« festzuschreiben.

Das Dokument selbst ist nur bedingt mit dem CIMIC-Verständnis der NATO kompatibel, da die Ziele und die Ausrichtung von UNO und NATO unterschiedlich sind. Trotzdem ist seit geraumer Zeit die Bemühung zu erkennen, die Zusammenarbeit beider Organisationen zu vertiefen und NATO- und UN-Verständnis kontinuierlich anzunähern.

W&F: Woher stammt das augenscheinliche »Anschlussbedürfnis« des Militärs an die Zivilgesellschaft(en), obwohl doch zumindest »auf den ersten Blick« einer militärischen und einer zivilen Konfliktbearbeitung unterschiedliche bis gegensätzliche Handlungslogiken zugrunde liegen? Oder ist das CIMIC-Konzept in der Bundeswehr im Hinblick auf ihr militärisches Kernmandat gar nicht unstrittig? Welche Vorbehalte werden eventuell artikuliert?

V. F.: Der Aktionsplan »Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung« der Bundesregierung vom 12. Mai 20044 und noch deutlicher der »1. Bericht der Bundesregierung über die Umsetzung des Aktionsplans«5 zeigen, dass Krisenprävention nicht ausschließlich mit Mitteln der Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik zu bewältigen ist, sondern in einem ressort-, organisations- und fähigkeitsübergreifenden Ansatz mit anderen Politikbereichen, wie Wirtschafts-, Umwelt-, Finanz-, Bildungs-, Kultur- und Sozialpolitik zu sehen ist. Zivile Krisenprävention ist folglich nicht in Abgrenzung zu militärischer Krisenprävention zu verstehen, sondern schließt diese mit ein. Somit ist es unzutreffend, von einem »Anschlussbedürfnis« zu sprechen, sondern das gemeinsame Vorgehen auf der Grundlage eines einvernehmlich getragenen Ansatzes bildet zwei Seiten derselben Medaille.

W&F: Wie funktioniert CIMIC konkret, z.B. im Kosovo und in Afghanistan? Welche Formen oder Ansätze der Institutionalisierung haben sich herausgebildet? Mit charakteristischen Unterschieden in diesen beiden politischen Kontexten?

V. F.: In den Einsatzgebieten der Bw ist CIMIC integraler Bestandteil jeder Operation. Verbindung und Abstimmung mit dem zivilen Umfeld sowie Erfassung und Berücksichtigung der zivilen Lage sind die wesentlichen Aufgaben. Daneben dient die Projektarbeit der Versorgung der Zivilbevölkerung, ist damit essenzieller Beitrag zur Schaffung von Stabilität und trägt zu Akzeptanz des internationalen Einsatzes und zum Schutz der zivilen Organisationen sowie der eigenen Truppe bei. Im Kosovo liegen die Schwerpunkte in der Feststellung der zivilen Lage, dem Betreiben von CIMIC-Centres – d.h von öffentlichen Anlaufstellen für die Bevölkerung, um Anliegen vorzutragen – sowie in der Fortführung unmittelbarer Unterstützungsmaßnahmen für die Zivilbevölkerung durch eine deutsche CIMIC-Kompanie und in der Beteiligung an multinationalen Liasion Monitoring Teams (LMT). In Afghanistan liegen die Schwerpunkte bei Feststellung und Bewertung der zivilen Lage, der Unterstützung für das zivile Umfeld, dem Aufbau eines Netzwerkes, um das Einsatzkontingent wirkungsvoll in die Region zu integrieren und um die Zusammenarbeit mit den zivilen Partnern, RO, NRO und der Bevölkerung zu optimieren. Provincial Reconstruction Teams (PRT) bilden den äußeren Rahmen für die CIMIC-Tätigkeit. Das führt zu einer Schwerpunktverlagerung für die Arbeit der CIMIC-Kräfte, d.h. Wiederaufbau und Entwicklungshilfe erfolgt dort überwiegend in der Zuständigkeit anderer Ressorts oder beauftragter Institutionen und Organisationen (z.B. GTZ ). Die Aktivitäten der CIMIC-Kräfte liegen vor allem in der Erkundung der Lage des zivilen Umfeldes und dem Erstellen so genannter Village- and District-Profiles sowie im Herstellen und Halten von Verbindungen zum zivilen Umfeld, insbesondere zu den lokalen Autoritäten, Behörden, und natürlich zu RO und NRO. Des weiteren gilt es, die Planung und Durchführung von Unterstützungsmaßnahmen, also einzelne sog. Quick Impact Projects, sowie ausnahmsweise größere Unterstützungsprojekte entwicklungspolitisch abzustimmen. Dies findet jedoch stets auch unter dem Aspekt des Schutzes der Truppe im Einsatz statt. Die institutionalisierte Zusammenarbeit mit den zivilen Partnern erfolgt bereits auf ministerieller Ebene in Deutschland, u.a. in Form eines Referentenaustausches z. B. zwischen dem BMVg und dem BMZ.

W&F: Bestehen in der CIMIC-Praxis der involvierten NATO-Staaten nennenswerte Unterschiede, insbesondere bei den Provincial Reconstruction Teams (PRTs) der USA, Großbritanniens und Deutschlands in Afghanistan? Worauf beruhen sie eventuell? Wie wirken sie sich aus?

V. F.: PRTs sind für alle Beteiligten relatives »Neuland«. Ende 2002 wurden durch die USA militärisch geführte PRTs mit ziviler Beteiligung im Rahmen der Anti-Terror-Operation Enduring Freedom (OEF) entwickelt. Großbritannien folgte Mitte 2003 mit einem eigenen Modell, und mit Übernahme des PRT in Kunduz durch Deutschland im Oktober 2003 entstand ein drittes PRT-Modell. Zwischen den PRTs der USA, Großbritanniens und Deutschlanbds gibt es deutliche Unterschiede.

Das US-Modell dient sowohl der Anti-Terror-Operation Enduring Freedom als auch dem Wiederaufbau des Landes. Die zivilen Akteure unterstehen dabei einem militärischen Befehlshaber. Die Finanzierung von Projekten erfolgt im wesentlichen aus Mitteln der Streitkräfte. Projektarbeit und Wiederaufbau orientieren sich ohne Abstimmung mit den Vereinten Nationen oder zivilen Organisationen zumeist an operativen Gesichtspunkten. Die Zielsetzung der US-PRTs ist in der Praxis eher die Einbindung in eine Anti-Terror-Operation denn eine Stabilisierungs- und Wiederaufbauoperation nach deutschem Verständnis. Ob die von Deutschland kritisch gesehene Vermischung von Kampfauftrag mit Stabilisierungsauftrag durch ein identisches Kontingent zum Erfolg führt, wird die Zukunft zeigen.

Das Modell von Großbritannien, das sich zunächst ebenfalls am Anti-Terror-Kampf orientiert hat, ist in Bezug auf eine Arbeitsteilung und Zuständigkeiten der zivilen und militärischen Akteure deutlich stärker auf Kooperation mit der zivilen Seite ausgerichtet als das US-Modell. Es präferiert den Einsatz kleiner militärischer Trupps, die neben Aufklärung und Vertrauensbildung die Initiierung von zivilen Aufbauprojekten zum Ziel haben, die dann aber durch unabhängige zivile Akteure ausgeführt werden. Die zivile Seite verfolgt aber auch selbstgewählte Ziele und Projekte. Es existiert also eine Differenzierung zwischen militärischen und zivilen Aktivitäten.

Der Grundphilosophie des deutschen Konzepts folgend, nach der PRTs als zivile Wiederaufbauteams mit militärischer Unterstützungskomponente ausgerichtet werden, bestehen deutsche PRTs aus gleichberechtigten zivilen und militärischen Anteilen, um den politischen Gesamtauftrag, einen gemeinsamen Beitrag zum wirtschaftlichen und politischen Wiederaufbau des Landes zu leisten, umzusetzen. Diese PRTs sind somit regionale Wiederaufbauteams, in denen sich der ressortübergreifende Ansatz Deutschlands zur Unterstützung von Afghanistan widerspiegelt. Den PRTs gehören Vertreter des AA, des BMI, des BMZ und der Bw an. Ihre wesentlichen Aufgaben sind: Förderung des Wiederaufbaus von Administration, Sicherheitsstrukturen, Infrastruktur und Bildungseinrichtungen sowie Förderung von Wirtschaftsprojekten. Eingebettet in die internationale Gemeinschaft unterstützt Deutschland so die Bildung und Festigung legitimierter Staatsgewalt. Die Bw trägt zur Sicherheit der zivilen Partner bei und schafft damit die Voraussetzung für das deutsche Engagement beim Wiederaufbau in den nördlichen Provinzen. Die vertrauensbildende Präsenz der Bw im Land und ihre aktive Mitwirkung bei der Reform des Sicherheitssektors spielen dabei eine Schlüsselrolle. Die Bw versorgt die Angehörigen des PRT, unterstützt zivile Aufbauprojekte, führt aktiv ISAF-Informationskampagnen für die Zivilbevölkerung durch und wirkt durch ihre deutliche Präsenz. Damit wirkt sie ebenso stabilisierend wie durch den Aufbau eines regionalen Netzwerkes mit lokalen Behörden, regionalen Machthabern, Organisationen der UNO und Hilfsorganisationen.

W&F: Bezogen auf einen Standard-Konfliktzyklus mit den Phasen latenter Konflikt ⇒ manifeste (gewaltförmige) Konfliktaustragung ⇒ Wiederaufbau findet man CIMIC vor allem der dritten Phase zugeordnet. Die CIMIC-Erfahrungen in Afghanistan aber müssen wohl einer in die Länge gezogenen zweiten Phase zugerechnet werden. Was ergibt sich daraus für die Praxis?

V. F.: Bezogen auf das dargestellte Phasenmodell ist aus heutiger Sicht eine Zuordnung zu den Phasen 2 und 3 für Afghanistan zutreffend. Daraus ergibt sich für die Praxis, dass CIMIC für das eingesetzte Personal schwieriger durchzuführen ist als auf dem Balkan, weil durch die angespannte Sicherheitslage besondere, einschränkende Maßnahmen zum Tragen kommen (z.B. die Nutzung gepanzerter Fahrzeuge). Zunehmend kann man nicht mehr klar zwischen Phasen eines Konflikts differenzieren, wie dies das genannte Modell in vereinfachender Form impliziert. Moderne Konflikte lassen diese klassische Einteilung verschwimmen. Vielfach lautet die Realität, dass Kampf, Stabilisierung und Wiederaufbau parallel stattfinden und sich gegenseitig beeinflussen. Dies spiegelt sich in der Zielsetzung des bereits erwähnten, von der Bundesregierung 2004 implementierten Aktionsplans »Zivile Krisenprävention« wider, in welchem in einer ganzheitlichen Betrachtungsweise ein ressort- und organisationsübergreifender Ansatz zu Krisenprävention, Krisenmanagement, Konfliktlösung und Postkonflikt gewählt wurde.

W&F: In den einschlägigen Richtlinien (i.B. der NATO: MC 411/1) wird die Bedeutung von CIMIC für die Akzeptanz (seitens der konfliktbetroffenen Bevölkerung) und den Erfolg der militärischen Einsätze / Operationen betont. Damit werden Entwicklungszusammenarbeit, humanitäre Hilfe und zivile Konfliktbearbeitung i. e. S. anscheinend militärisch-politischen Zielvorgaben untergeordnet oder bestenfalls zu integralen Bestandteilen solcher Vorgaben. Wie sieht man dieses Verhältnis bei der Bundeswehr?

V. F.: Entwicklungspolitik, humanitäre Hilfe und CIMIC sind unterschiedliche Bereiche, haben aber Berührungspunkte. Da CIMIC keine Entwicklungspolitik oder humanitäre Hilfe in Uniform ist, sondern einer militärischen und politischen Zielsetzung dient, stellt CIMIC keine Konkurrenz dar. Ausgehend von einem ganzheitlichen Ansatz, wie ihn die Bundesregierung mit dem Aktionsplan »Zivile Krisenprävention«verfolgt, gilt es natürlich, Aktivitäten und Ziele sinnvoll miteinander abzustimmen. Ich will es nochmals ausdrücklich unterstreichen: Ziviles Krisenmanagement stellt keinen Gegensatz zum militärischen Einsatz dar, sondern nach unserem Verständnis ist das Militär Bestandteil eines gemeinsamen Krisenmanagements, in dem alle Beteiligten fähigkeitsbezogen zu einem gemeinsamen Ergebnis beitragen. Diese Aussage steht auch nicht im Widerspruch zu der angeführten NATO-Vorschrift MC 411/1, die in keinem Passus den Anspruch erhebt, Entwicklungspolitik oder die humanitäre Hilfe für militärische Zwecke operationalisieren zu wollen.

W&F: In der (affirmativen) Literatur wird »Nation Building« meist als Kohärenz stiftende und in einer Transformationsperspektive mit dem militärischen wie dem zivilen Ansatz kompatible Leitidee angeboten. Kritiker halten dagegen, dass bereits darin westlicher (Kultur-) Imperialismus zum Ausdruck komme, ganz zu schweigen von möglichen handfesten Interessen der beteiligten Staaten. Wird diese Problematik bei der Bundeswehr reflektiert?

V.F: Krisenprävention – und hierzu zählt auch der Aufbau staatlicher Strukturen nach einem Konflikt – wird in dem Bericht als politische Aufgabe gesehen, die aufgrund ihrer Komplexität den koordinierten Einsatz eines differenzierten Instrumentariums erfordert. Mit ihrem Konzept der Zivilen Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung integriert die Bundesregierung damit die verfügbaren Instrumente ziviler und militärischer Art in einem einheitlichen Politikansatz.

Einsätze im Rahmen komplexer Friedensmissionen mit Entwicklungs- bzw. so genannten Nation Building-Komponenten erfordern eine effektive zivil-militärische Zusammenarbeit. Hierdurch kann das Risiko krisenhafter Entwicklungen vermindert werden. Eine Mandatierung der Vereinten Nationen sichert gleichzeitig die Interessen der lokalen Bevölkerung bzw. Kulturgemeinschaft. Jede Form der Unterstützung orientiert sich eng am Bedarf der zu unterstützenden Nation und berücksichtigt die Vorstellungen ihrer souveränen Regierung. Dabei bedarf eine nachhaltige Konsolidierung von Frieden und Stabilität auch der Beteiligung der Betroffenen und der Übernahme von Eigenverantwortung (»ownership«). Wichtig ist ebenfalls der Grundsatz der »Joint Ownership«, d. h., dass sich beide Seiten im Rahmen der jeweils zur Verfügung stehenden Kapazitäten gemeinsam und abgestimmt aktiv in den Aufbauprozess einbringen, Ziele formulieren und Vorhaben verwirklichen. Somit sehen wir im Nation Building keinen Kulturimperialismus.

W&F: Abgesehen von der Instrumentalisierungsproblematik, sehen vielfach Trägerorganisationen von Entwicklungszusammenarbeit, humanitärer Hilfe und ziviler Konfliktbearbeitung die eigene Glaubwürdigkeit und insbesondere in einem anhaltendem »heißen« Konfliktklima auch die eigene Sicherheit durch die Nähe zu multinationalen Truppen gefährdet. Wie trägt man solchen Bedenken seitens der Bundeswehr Rechnung?

V. F.: Nach dem Motto »Keine Entwicklung ohne Sicherheit – Keine Sicherheit ohne Entwicklung!« und der Bedeutung militärischer Beiträge zur Bewältigung sicherheitspolitischer Herausforderungen gibt es zunehmend mehr Berührungspunkte zwischen entwicklungspolitischen, humanitären und militärischen Akteuren. Aus Sicht der Bw ist sogar festzustellen, dass mitunter die Entwicklungspolitik vom Militär Beiträge und militärisches Eingreifen erwartet. Gleichzeitig bildet nur erfolgreicher ziviler Wiederaufbau die Chance für einen zeitlich absehbaren Abzug der Streitkräfte (»Exit Strategy«).

In der Zusammenarbeit mit zivilen Institutionen beobachten wir, dass es zwischen den zivilen Akteuren selbst erhebliche Unterschiede gibt, und wir tragen dem mit der erforderlichen Sensibilität Rechnung. Da CIMIC ein militärisches Instrumentarium ist, stellt sich nach hiesiger Bewertung auch nicht die Frage nach der Glaubwürdigkeit der zivilen staatlichen und nichtstaatlichen Organisationen. Wenn RO oder NRO z.B. in Afghanistan Abstand zu den Streitkräften halten wollen, wird das respektiert.

W&F: CIMIC-Aktivitäten können leicht nicht-intendierte Nebeneffekte in einer konfliktbelasteten Zielgesellschaft haben, i.B. Rehabilitation / Stabilisierung eskalationsverantwortlicher Eliten, Entlastung der politischen Entscheidungsträger, strukturelle Abhängigkeiten. Wie beugt man solchen CIMIC-»Kollateralschäden« vor?

V. F.: Diese Gefahr ist bei allen Einsätzen in Krisenländern latent. Durch die Konzeption des Einsatzes der deutschen CIMIC-Kräfte soll solchen Schäden und negativen Einflüssen vorgebeugt werden. Alle Unterstützungsmaßnahmen werden unter dem Leitgedanken »Hilfe zur Selbsthilfe« ausgeplant und durchgeführt. Es werden nach Möglichkeit keine fertigen Produkte präsentiert, sondern Maßnahmen werden unter Einbindung der lokal oder regional Betroffenen in gemeinsamer Tätigkeit geplant, durchgeführt und in der Verantwortung zuständiger Stellen gepflegt, um hier Nachhaltigkeit zu erzielen. Der Gefahr der Begünstigung von Einzelgruppen oder verantwortlichen Eliten begegnen wir durch entsprechende aufklärende Vorbereitung und Abstimmung mit anderen Ressorts bzw. Institutionen. Grundsätzlich geht jeder CIMIC-Maßnahme eine tiefgehende Untersuchung über die Auswirkung der Aktivität voraus.

W&F: Im Kontext von CIMIC ist vielfach von »Lessons Learned« die Rede. Könnten Sie ein paar wichtige Lektionen benennen, die man gelernt hat? Wer hat die entsprechenden Erkenntnisse oder Einsichten wie gewonnen? Wie werden Sie umgesetzt?

V. F.: Angesichts von Häufigkeit und Dauer der Einsätze sowie der internationalen Verpflichtungen galt und gilt es, im Einklang mit Entwicklungen bei NATO, EU und den zivilen Partnern, Anpassungen und Optimierungen vorzunehmen. Auf der Grundlage der »Verteidigungspolitischen Richtlinien«6, der »Konzeption der Bundeswehr«7 und der Einsatzerfahrungen der letzten Jahre wurde die Fähigkeit zu ZMZ / A übergreifend auf die wahrscheinlicheren Aufgaben der Bw ausgerichtet. Neben der genannten strategischen Anpassung wird durch Qualitätsmanagement in Grundbetrieb und Einsatz eine ständige Anpassung und Optimierung der CIMIC-Arbeit und -Ausbildung vorgenommen.

Als übergreifendes Beispiel für Lessons Learned bietet sich ein Blick auf historische Entwicklungen an: Der VN-Einsatz zur humanitären Intervention in Somalia endete nicht mit dem gewünschten Erfolg, der anfängliche Bosnien-Einsatz führte nur zu Teilresultaten. Bei beiden Einsätzen war die Arbeit ziviler und militärischer Akteure nicht optimal abgestimmt. Dies hat sich in der Zwischenzeit, wie im Kosovo bei KFOR und in Afghanistan bei ISAF klar belegt wird, deutlich verändert. Koexistenz wurde durch Kooperation zwischen allen Beteiligten ersetzt. Mit den PRT’s ist ein Grad der zivil-militärischen Integration entstanden, welcher weit über Koexistenz und teilweise auch über Kooperation hinausgeht. Wichtig dabei ist, dass Zusammenarbeit und Integration schon in Deutschland beginnen und nicht ausschließlich im Einsatzland praktiziert werden. An diesem Erkenntnis- und Lernprozess waren zivile und militärische Partner gleichermaßen beteiligt und haben sich und ihre Zielsetzung im Konsens mit den jeweils anderen eingebracht.

W&F: CIMIC-Aufgaben sind zweifelsohne hoch komplex und erfordern andere Kernkompetenzen als spezifisch militärische. Wie rekrutiert bzw. selektiert und / oder trainiert die Bundeswehr ihre Fachkräfte für diesen Aufgabenkomplex?

V. F.: Eine besondere Herausforderung stellt die Rekrutierung und Ausbildung des im CIMIC-Bereich eingesetzten Personals dar. Obgleich CIMIC-Einsätze als integraler Bestandteil in militärische Operationen eingebettet sind, unterscheiden sie sich dennoch von den allgemein üblichen militärischen Aufgaben. Neben dem Beherrschen der üblichen militärischen Grundfertigkeiten, Erfahrungen im Bereich von Operationsplanung und -führung, einer abgeschlossenen Fachausbildung in einer anderen militärischen Verwendungsreihe, Sprachkenntnissen sowie Verhandlungsgeschick sind interkulturelle Kompetenz und die Befähigung, auf sich selbst gestellt arbeiten zu können, die üblichen »Zugangsvoraussetzungen« für die Offiziere und Unteroffiziere in CIMIC-Verwendungen.

Die Ausbildung trägt dem hohen Anspruch der künftigen Verwendung Rechnung und wird ständig angepasst. Hierbei unterscheiden wir zwischen der kontingentunabhängigen Ausbildung und der Kontingentausbildung für den jeweiligen Einsatz. Die kontingentunabhängige Fachausbildung erfolgt in komplexen Ausbildungsschritten. In einer ersten Ausbildungsstufe, nach Absolvieren des ZMZ-Basislehrgangs beim CIMIC-Zentrum der Bw in Nienburg, folgen zwei Lehrgänge an der Akademie für Krisenmanagement, Notfallplanung und Zivilschutz (AKNZ). Diese beiden Lehrgänge werden gemeinsam mit Teilnehmern aus dem Bereich der RO und NRO besucht. Für die weitere CIMIC-Ausbildung sind Lehrgänge beim multinationalen CIMIC-Centre of Excellence in Budel / Niederlande oder an der NATO-Schule in Oberammergau oder bei befreundeten Nationen obligatorisch. Für Stabsoffiziere ist zudem eine Ausbildung an der Führungsakademie der Bundeswehr vorgesehen. Vor einem konkreten Einsatz nimmt das CIMIC-Personal neben der regulären Kontingent-Ausbildung aller für den jeweiligen Einsatz vorgesehenen Soldaten zusätzlich an einer speziellen, auf die Einsatzregion bezogenen CIMIC-Kontingentausbildung teil.

W&F: Aus Sicht mancher Kritiker dient(e) CIMIC letztlich dazu, die Neuausrichtung der Bw mit anhaltenden und immer neuen Auslandseinsätzen hoffähig zu machen und die Schwelle für solche Einsätze ohne öffentliche Diskussionen zu senken (cf. »Parlamentsbeteiligungsgesetz«). Damit würden zugrunde liegende (militär-) machtpolitische Ambitionen von Politikern und politisierenden Militärs und treibende Interessen der ökonomischen Elite verschleiert. Diese politische Kritik wirft (auch) die Frage der Legitimität (über die Legalität hinaus) auf und könnte das Selbstverständnis von Bundeswehrangehörigen zentral berühren. Wie setzt man sich in der Bundeswehr damit auseinander? Wie könnte man sich damit auseinandersetzen?

V. F.: Nicht-staatliche Akteure und asymmetrische Methoden der Gewaltanwendung spielen in den gegenwärtigen Konflikten eine wesentliche Rolle. Die offenen, von hoher Mobilität geprägten Informationsgesellschaften in Europa und Nordamerika sind mit ihrer komplexen Infrastruktur und großen Ressourcenabhängigkeit gegenüber derartigen Bedrohungsformen besonders anfällig. Organisierte Kriminalität und Migrationsbewegungen sind weitere neuartige Herausforderungen für die Sicherheit moderner Industriegesellschaften. Die veränderte Sicherheitslage erfordert insgesamt ein neues Verständnis von Sicherheit, Schutz und Verteidigung. Dabei bleibt die Verteidigung Deutschlands gegen eine äußere Bedrohung weiterhin der verfassungsrechtliche und politische Auftrag der Bundeswehr. Deutschland begegnet den sicherheitspolitischen Herausforderungen und Risiken mit einer vorbeugend angelegten, international eingebetteten und ressortübergreifenden Sicherheitspolitik. Sie beinhaltet aber auch die Bereitschaft und erfordert die Fähigkeit, Freiheit und Menschenrechte sowie Stabilität und Sicherheit gegebenenfalls mit militärischen Mitteln zu schützen, durchzusetzen oder auch wiederherzustellen. Dabei kann es erforderlich werden, Streitkräfte sehr frühzeitig einzusetzen, um Krisen zu verhindern, Konflikte beizulegen oder terroristische Gruppierungen an asymmetrischen Angriffen zu hindern. In diesem Zusammenhang dient die zivil-militärische Zusammenarbeit im Ausland der Operationsführung der eingesetzten Kräfte und ist aus militärischer Sicht erforderlich und zweckmäßig. ZMZ / A ist also kein Selbstzweck, sondern dient stets der Erfüllung des jeweiligen militärischen Auftrages der im Einsatzgebiet eingesetzten Streitkräfte. Daher orientieren sich ZMZ / A-Aktivitäten stets am konkreten Auftrag des Einsatzkontingents, sowie an der zivilen Lage einschließlich der Größe des Einsatzgebietes, Anzahl und Art der zivilen Ansprechpartner und der Lage der Bevölkerung und werden auf die jeweilige Situation zugeschnitten erbracht.

Eine wesentliche Leistung von ZMZ / A ist es, Akzeptanz bei der Bevölkerung im Einsatzgebiet zu schaffen und zu stärken und damit einen wichtigen Beitrag zum Schutz der eigenen Truppe und auch ziviler Akteure zu leisten. Diese Akzeptanz wird u.a. durch Kleinprojekte zur Unterstützung der Bevölkerung hergestellt. Dies geschieht nicht in Konkurrenz zu zivilen Institutionen, sondern entweder in Abstimmung mit diesen oder nach dem Humanitären Völkerrecht, das jeden Truppenführer verpflichtet im Einsatzgebiet einen minimalen humanitären Standard zu gewährleisten, falls die dafür zuständigen zivilen Stellen dazu nicht in der Lage oder dazu bereit sind. ZMZ / A hat also eine an militärischen Erfordernissen orientierte Unterstützungsfunktion für einen militärischen Auftrag, der dem Primat der Politik folgt. Falls der politische Auftrag »Nation Building« oder »Reconstruction« lautet, wird die Bundeswehr und damit auch ZMZ / A den militärischen Beitrag hierzu leisten.

Der Einsatz der PRT im Rahmen des deutschen Afghanistan-Konzeptes belegt diesen Ansatz eindrucksvoll. Über die Unterbindung bewaffneter Auseinandersetzungen hinaus ist ein Land zu unterstützen, um einen langfristigen und lebenswerten Frieden zu erlangen. Dazu ist für die VN der Aufbau bzw. die Reform von lokalen Institutionen eine Schlüsselaufgabe. Stabilisierung und Governance-Aufgaben sind gemäß den VN parallele und keine sequentiellen Bereiche, was die VN zum Schluss führt, dass sicherheitspolitische und entwicklungspolitische Vernetzung essentiell ist. Vor jedem Truppenabzug müsse die Frage stehen, ob die Grundsteine für eine friedliche Entwicklung im Einsatzland gelegt sind. Somit intendiert die Bw nicht, durch CIMIC Auslandseinsätze »hoffähig« zu machen, sondern sie stellt sich vielmehr den sicherheitspolitischen Realitäten und Herausforderungen.

Anmerkungen

1) Teilkonzeption Zivil-Militärische Zusammenarbeit der Bundeswehr (TK ZMZ Bw) vom 30.10.2001, Ziff. 203 [Verschlusssache].

2) NATO (2001): MC 411/1 (Final), NATO Military Policy on Civil Military Cooperation. Verfügbar unter: http://www.nato.int/ims/docu/mc411-1-e.htm [Zugriff: 20.02.06]; NATO (2003): AJP-9, Nato Civil Military Cooperation (CIMIC) Doctrine. Verfügbar unter: http://www.nato.int/ims/docu/AJP-9.pdf [Zugriff: 11.07.06].

3) UNO – Department of Peacekeeping Operations (UN-DPKO) (2002): Civil-Military Coordination Policy. Verfügbar unter: http://www.un.org.depts/dpko/milad/oma/dpko_cmcoord_policy.pdf [Zugriff: 22.07.06].

4) Die Bundesregierung (2004): Aktionsplan »Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung«. Verfügbar unter: http://www.auswaertiges-amt.de/www/de/Aussenpolitik/Friedenspolitik/ziv_km/Aktionsplan_html [Zugriff: 15.02.06].

5) Die Bundesregierung (2006): Sicherheit und Stabilität durch Krisenprävention gemeinsam stärken.- 1. Bericht der Bundesregierung über die Umsetzung des Aktionsplans »Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung«. Verfügbar unter: http://www.auswaertiges-amt.de/diplo/de/Aussenpolitik/FriedenSicherheit/Krisenpraevention/Aktionsplan1BerichtBuReg0506.pdf [Zugriff: 22.11.06].

6) Bundesministerium der Verteidigung (2003): Verteidigungspolitische Richtlinien für den Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung. Berlin: Presse- und Informationsstab.

7) Bundesministerium der Verteidigung (2004): Grundzüge der Konzeption der Bundeswehr. Verfügbar unter: http://www.bundeswehr.de [Zugriff: 22.11.06].

Volker Fritze, Oberst i.G., ist Referatsleiter im Führungsstab der Streitkräfte (FüS V4)

Gewissen statt Gehorsam

Gewissen statt Gehorsam

von Gernot Lennert, Michael Behrendt, Jürgen Rose, Gerd Greune und Friedhelm Schneider, Rudi Friedrich

Beilage zu Wissenschaft und Frieden 2/2008 Herausgegeben von W&F, der Informationsstelle Wissenschaft und Frieden (IWIF) e.V., der DFG/VK, der Arbeitsstelle Frieden und Abrüstung e.V., dem AK Darmstädter Signal, dem Europäischen Büro für Kriegsdienstverweigerung (EBCO) und Connection e.V.

Kriegsdienstverweigerung

Antimilitaristisch-pazifistisches Konzept und Menschenrecht

von Gernot Lennert

In der frühen Neuzeit nahmen einige christliche Gruppierungen das Gewaltlosigkeitsideal erheblich ernster als die etablierten Großkirchen. Mennoniten, Hutterer und später Duchoborzen kamen zum Schluss, dass Kriegsdienst nicht nur Priestern, sondern allen Gläubigen untersagt sei. Christen dieser Art waren die ersten staatlich anerkannten Kriegsdienstverweigerer.1 Ein allgemeines Recht auf Kriegsdienstverweigerung für alle forderten sie nicht. Im Unterschied zu den anderen historischen Friedenskirchen, wie die pazifistischen gewaltlos orientierten protestantischen Gruppen genannt werden, strebten die Quäker – oder Society of Friends – nicht danach, sich gottgefällig, unpolitisch und sektiererisch von einer sündhaften Welt zu isolieren. Sie waren entscheidend an der Gründung der ersten Friedensgesellschaften Anfang des 19. Jahrhunderts in Großbritannien und Nordamerika beteiligt und trugen die Idee der Kriegsdienstverweigerung in die Gesellschaft. Immer häufiger verweigerten Menschen außerhalb der Friedenskirchen den Militärdienst. Seit dem 1. Weltkrieg begannen Staaten allmählich, Militärdienstverweigerung aus Gewissensgründen rechtlich zu tolerieren. Vorreiter waren, vereinfachend dargestellt, protestantisch geprägte Staaten Nordwesteuropas und Nordamerikas; katholische Länder in Europa folgten erst widerstrebend in den 1960er und 1970er Jahren. In Lateinamerika verbreitet sich der Gedanke der Kriegsdienstverweigerung vor allem seit den 1990er Jahren. Bis heute wird in Europa Kriegsdienstverweigerung in orthodox geprägten Ländern sowie in der Türkei gesellschaftlich und staatlich am meisten abgelehnt und verfolgt. In einer wachsenden Zahl von Ländern – von Portugal bis zur Ukraine – wurde dagegen der Kriegsdienstzwang abgeschafft.2

Menschenrecht oder Ausnahmerecht?

In jüngster Zeit ist immer häufiger von Kriegsdienstverweigerung als Menschenrecht die Rede, sowohl in der Friedensbewegung als auch bei Menschenrechtsorganisationen. Doch bei genauerer Betrachtung stellt sich heraus, dass Kriegsdienstverweigerung trotzdem nur als Ausnahmerecht begriffen wird.3 Die staatliche Zwangsrekrutierung wird nicht grundsätzlich in Frage gestellt, das Recht der Militärdienstverweigerung wird an das Vorhandensein einer Überzeugung, auf die Überprüfung dieser Überzeugung sowie an den Zwang zum Ersatzdienst für Militärdienstverweigerer gebunden. Reduziert man die Kriegsdienstverweigerung auf die Verweigerung aus Gewissensgründen, dürfen nur Menschen, die sich auf Gewissensgründe berufen, den Kriegsdienst verweigern, andere nicht. Egal wie liberal die entsprechende Gewissensprüfung gehandhabt wird, wird damit das Recht auf Kriegsdienstverweigerung als Ausnahmerecht für Menschen mit einer bestimmten Motivation definiert, nicht als Menschenrecht für alle.

Menschenrechtsorganisationen lehnen z.B. auch die Folter ab. Was würde geschehen, wenn auf Foltervermeidungswillige die Kriterien für Kriegsdienstverweigerung analog angewendet würden? Dann müssten sie sich gefallen lassen, dass überprüft wird, ob ihr Wunsch nach Folterverschonung einer ethischen Überzeugung entspringt. Wenn sie dann als berechtigt anerkannt würden, von Folter verschont zu bleiben, müssten sie aber noch, um in der Analogie zur Militärdienstverweigerung zu bleiben, eine Ersatzrepression über sich ergehen lassen. Was im Kontext von Folter absurd wirkt, gilt bezüglich des Kriegsdienstzwangs vielen als selbstverständlich.

Doch warum wird Kriegsdienstverweigerung als Ausnahmerecht und nicht als Menschenrecht begriffen? Ein Faktor ist das staatliche Interesse an Zwangsrekrutierung für Krieg. Staat und Militär wollen Kriegsdienstverweigerung nur als Ausnahme von der Regel akzeptieren. So ist es in einigen Menschenrechtskonventionen ausdrücklich formuliert: Sklaverei, Leibeigenschaft und Zwangsarbeit sind verboten, aber Militärdienst und Militärersatzdienst sind von diesem Verbot ausgenommen.4 Es bleibt die Frage, warum auch Friedensorganisationen diese Ansicht vertreten.

Gewissensfreiheit oder Recht auf Leben und Freiheit?

Da das Recht auf Kriegsdienstverweigerung in den klassischen Menschenrechtsdeklarationen nicht separat erwähnt wird, muss es entweder neu postuliert oder aus anderen bereits akzeptierten Menschenrechten abgeleitet werden. Wenn ein Mensch zu Kriegsdiensten zwangsrekrutiert werden soll, entsteht angesichts der damit verbundenen Freiheitseinschränkung und der Gefährdung von Leib und Leben ein Interessenkonflikt, so dass es nahe liegt, die lebensgefährliche Freiheitsberaubung mit dem Verweis auf das Recht auf Leben und Selbstbestimmung abzulehnen. In diese Richtung gingen die Levellers 1648/1649 in England.5 In der politischen Kultur der angelsächsischen Länder lebt das Bewusstsein fort, dass Zwangskriegsdienst ein schwerer Eingriff in die Freiheit des Individuums ist. Kriegsdienstzwang wird als zeitweilige Notwendigkeit gesehen, aber kaum als an sich positiv.

In Kontinentaleuropa galt in der Tradition der Französischen Revolution über die ideologischen Grenzen von rechts bis links Zwangsmilitärdienst als Pflicht des Staatsbürgers, ungeachtet der militärischen Erforderlichkeit. Das Militär wurde Schule der Nation. Diese staatsvergötternde totalitäre Dienstideologie gibt es in der älteren militärischen und in der jüngeren zivilen Variante, in der zwar der Militärdienst kritisch gesehen oder gar ablehnt wird, aber nicht der Zwang zum Dienst. Zivile Zwangsdienste erscheinen in diesem Weltbild als etwas Nützliches und Erstrebenswertes, als zweite Schule der Nation.6

Im internationalen und im einzelstaatlichen Recht ist üblich geworden, das Recht auf Kriegsdienstverweigerung nicht vom Recht des Einzelnen auf Leben und Freiheit, sondern von der Gedanken-, Religions- oder Gewissensfreiheit abzuleiten. Dementsprechend spricht man in den meisten Sprachen nach dem Vorbild des englischen »conscientious objection« von Verweigerung aus Gewissensgründen. Im Deutschen werden bei »Kriegsdienstverweigerung« die Gewissensgründe mitgedacht.

Die Gedanken, dass es Kriegsdienstverweigerer gibt, die zu Recht abgelehnt werden, oder dass Militärdienstverweigerern zu Recht ein Ersatzdienst aufgezwungen wird, sind auch in der Friedensbewegung weit verbreitet. Verinnerlicht ist auch der militärlegitimierende Sprachgebrauch, z.B. »Wehrdienst«.7

Unterschiedliche Sicht in der Friedensbewegung

Die geschilderte Geisteshaltung lässt sich jedoch keineswegs nur damit erklären, dass gedankenlos das vorherrschende Denken übernommen wird. Ideologische Unterschiede und machtpolitische Interessen kommen hinzu. Der sozialdemokratische oder marxistische Antimilitarismus, der besonders programmatisch von Karl Liebknecht formuliert wurde, kritisiert ähnlich wie der liberale Antimilitarismus lediglich Auswüchse des Militärwesens, strebt aber ein anderes, revolutionäres, den eigenen Interessen oder auch dem bestehenden Staat dienendes Militär an, keineswegs die Abschaffung des Militärs. Lediglich im radikalen Antimilitarismus, wie er besonders deutlich von Anarchosyndikalisten in den Niederlanden artikuliert wurde, wurde Militär grundsätzlich abgelehnt und ausgehend vom Gedanken des Generalstreiks auch die Kriegsdienstverweigerung propagiert.8 Seitdem haben sich diese Strömungen miteinander verbunden, voneinander gelernt und sich weiterentwickelt. Heute überschneiden sich radikaler Antimilitarismus, Pazifismus und die Idee der Gewaltfreiheit weitgehend.

Doch die ursprünglichen Strömungen sind immer wieder erkennbar. Kriegsdienstverweigerung wird zumindest in der deutschen Friedensbewegung mehrheitlich weder als Menschenrecht noch als Mittel der Politik begriffen. In breiteren Bündnissen, in Ostermarschaufrufen und dergleichen spielt Kriegsdienstverweigerung in der Regel keine Rolle.9 Verweigerer bestimmter Kriege, die den Dienst in bestimmten Armeen verweigern, können durchaus willkommen sein. Kriegsdienstverweigerung an sich wird aber gerne ignoriert oder als unpolitisches Individualproblem abgetan, namentlich von denjenigen, die zwangsrekrutierenden Regierungen und politischen Bewegungen ideologisch verhaftet sind.

Gewissensgründe oder antimilitaristisch-pazifistische Zielsetzung?

Pazifismus, so wie er z.B. von der pazifistischen Internationalen »War Resisters“ International«10 verstanden wird, ist nicht nur eine Bewegung gegen zwischenstaatlichen Krieg, sondern gegen Gewalt schlechthin. Verletzung von Menschenrechten, nicht-kriegerische physische und strukturelle Gewalt und Repression müssten aus pazifistischer Sicht ebenso abgelehnt werden wie Krieg. Die Beschränkung des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung auf Gewissensgründe führt konzeptionell zu Gewissensprüfungen, Zwangsdienst für anerkannte Verweigerer, staatlicher Repression in Form von Militärdienstzwang oder Inhaftierung nicht anerkannter Verweigerer sowie Diskriminierung nicht-religiöser Verweigerer.

Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen muss notwendigerweise ein Ausnahmerecht für Menschen mit einer bestimmten Motivation oder einem bestimmten Persönlichkeitsbild bleiben. Damit wird garantiert, dass es immer Menschen geben wird, die mangels nachweisbarer Gewissensentscheidung und der erwünschten Persönlichkeitsmerkmale zum Militär gezwungen werden können. Eine solche Personalbestandsgarantie fürs Militär kann aus pazifistisch-antimilitaristischer Perspektive nicht erstrebenswert sein. Wer die Abschaffung von Krieg und Militär als Ziel hat, kann nicht wollen, dass auch nur eine einzige Person, egal wie gewissensmotiviert oder gewissenlos sie ist, Militärdienst leistet. Wer Krieg und Militär ablehnt, müsste sich sowohl aus menschenrechtlichen als auch aus pazifistisch-antimilitaristischen Erwägungen für das Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung für alle unabhängig von Gesinnung und Motivation und ohne jede Bestrafung einsetzen.

Anmerkungen

1) Zur Geschichte der Kriegsdienstverweigerung: Guido Grünewald (1979): Geschichte der Kriegsdienstverweigerung. DFG-VK Extra Nr. 4. Essen; Devi Prasad (2005): War is a Crime against Humanity. The Story of War Resisters“ International. WRI, London; Wolfgang Zucht (1982): Widerstand bis zum Äußersten leisten …, in: Widerstand gegen die Wehrpflicht. Texte und Materialien. Weber, Zucht & Co./Zündhölzchen, Kassel/Korntal, S.7-16.

2) Vgl. Gernot Lennert (2004): Kriegsdienstverweigerung in der Europäischen Union und in den Beitrittsländern, in: Wissenschaft und Frieden. 23. Jg., Nr. 2, S.43-46.

3) Ausführlicher bei Gernot Lennert (2007): Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen und Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung: Ein Widerspruch, in: Wolfram Beyer (Hg.): Kriegsdienste verweigern – Pazifismus aktuell. Libertäre und humanistische Positionen. Oppo-Verlag, Berlin, S.26-55 sowie in Forum Pazifismus Nr. 15 3. Quartal 2007 S.3-15 (unter dem Titel: Ein gravierender Widerspruch: Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen und Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung).

4) Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten des Europarats von 1950. Art. 4; Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte der UN, Art. 8.

5) Vgl. Gernot Lennert (1987): Die Diggers. Grafenau, vor allem S.17-23, 127.

6) Vgl. Gernot Lennert (1998): Rekrutierung im Krieg im Spannungsverhältnis staatlichen Anspruchs und individueller Selbstbestimmung, in: Kriegsdienstverweigerung und Asyl in Europa. (hg. von Connection e.V., Niedersächsischer Flüchtlingsrat e.V., Förderverein Pro Asyl e.V. u.a.) Offenbach, S.4-7.

7) In Bezug auf das zwischenstaatliche Verhältnis suggeriert »Wehrdienst«, dass die Kriegsdienstleistung der Verteidigung diene. Allerdings haben gerade deutsche sogenannte Wehrdienstleistende schon viele Angriffskriege geführt. Im Spannungsverhältnis zwischen Individuum und Staat ist der Begriff ebenfalls abwegig. Wehrdienst leisten gerade diejenigen, die sich am wenigsten gegen die Zwangsrekrutierung zur Wehr setzen.

8) Ausführliche Gegenüberstellung in: Sozialgeschichte des Antimilitarismus. Graswurzelrevolution Nr. 117/118 (1987).

9) Eine Ausnahme sind die Mainz/Wiesbadener Ostermarschaufrufe der vergangenen Jahre (vgl. www.dfg-vk-mainz.de).

10) www.wri-irg.org.

Dr. Gernot Lennert ist Mitglied der Deutsche Friedensgesellschaft – Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK)

Totalverweigerung

Ungehorsam gegen Zwangsrekrutierung und Krieg

von Michael Behrendt

Im Gegensatz zu wenigen aktiven Soldaten, die für ihre punktuelle Gehorsamsverweigerung große Aufmerksamkeit bekommen, finden Totalverweigerer verhältnismäßig wenig Unterstützung. Sie sind grundsätzlich nicht bereit, auf Befehl zu töten. Für dieses Verhalten wird ihnen von offizieller Seite oft vorgeworfen, sie handelten gewissenlos und müssten dafür bestraft werden. Die »gewissenlose Handlung« ist die Aufkündigung des Gehorsams.

Berufs- und Zeitsoldaten, die mit dem Militär langfristige »Arbeitsverträge« eingegangen sind, werden dann nicht bestraft, wenn sie aus Gewissensgründen den Gehorsam in einer konkreten Situation verweigern, ohne grundsätzlich den Kriegsdienst als solchen in Frage zu stellen und grundsätzlich bereit sind, den Dienst fortzusetzen. Das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG-Urteil 2 WD 12.04) hat in seiner Entscheidung vom 21.06.2005 festgestellt, dass die Gehorsamspflicht eines Soldaten durch das Grundrecht auf Gewissensfreiheit begrenzt wird. Trifft ein Soldat eine »geschützte Gewissensentscheidung«, hat er Anspruch auf eine »gewissensschonende Handlungsalternative«. Freiwillige Soldaten sollen mit dieser Regelung die Möglichkeit bekommen, ohne Bestrafung innerhalb der Truppe anderweitig eingesetzt zu werden. Gegen ihren Willen rekrutierte Totalverweigerer haben diese Möglichkeit nicht, denn jeder Einsatz in der Truppe wird von ihnen abgelehnt. Die einzige »gewissensschonende Handlungsalternative« wäre die sofortige Entlassung.

Erste Fälle von Totalverweigerung (TKDV) wurden in den 1970er Jahren bekannt. In den 1980er Jahren, der Hochzeit der Friedensbewegung, verweigerten jährlich mehr als hundert Wehrpflichtige total und in den 1990er Jahren wurden jährlich noch ungefähr 30 Fälle öffentlich. Aktuell gibt es nur noch Einzelfälle, die Unterstützung und die Öffentlichkeit suchen. Unter TKDV ist die konsequente Ablehnung und Verweigerung des Kriegsdienstes und aller damit verbundenen und daraus resultierenden Zwänge zu verstehen. In der BRD ist der Kriegsdienst durch die Wehrpflicht organisiert, und damit kann jeder männliche Staatsbürger zum Kriegsdienst zwangsverpflichtet werden. Die Motivationen für die TKDV sind unterschiedlich. Sie reichen von der ausschließlich religiösen Begründung, die sich auf ein absolutes Tötungsverbot beruft, über ethisch-moralische, politische, antimilitaristische bis hin zu anarchistischen Motiven, die dem Staat als Träger des Militärs grundsätzlich das Recht absprechen, über die individuelle Existenz und das Leben des Einzelnen bestimmen zu können.

In jüngster Zeit treten zwei Gründe in den Vordergrund. Durch den Umbau der Bundeswehr zur Interventionsarmee wird die Wehrpflicht an die Erfordernisse der Streitkräfte angepasst. Die Armee benötigt für ihre Auslandseinsätze weniger zwangsrekrutierte Amateure. Die Wehrpflicht muss nach dem Gleichheitsgrundsatz (Art 3 GG) des Grundgesetzes organisiert werden. Wenn aber der Bedarf der Truppe pro Jahr mit rund 60.000 Personen aus einen Gesamtpool von deutlich über 400.000 Wehrpflichtigen gedeckt werden kann, dann fühlen sich die wenigen Einberufenen zu Recht ungerecht behandelt. Daraus werden die aktuellen Motive für eine Totalverweigerung deutlich: einerseits die Kritik an der Transformation der Bundeswehr zur Interventionsstreitkraft und die damit verbundene Kriegsführung der BRD in Auslandseinsätzen, andererseits die schwindende Akzeptanz gegenüber der Wehrpflicht, die durch die Wehrungerechtigkeit als Lotteriespiel wahrgenommen wird.

Nach Art. 4 Abs. 3 Grundgesetz darf niemand gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst an der Waffe gezwungen werden. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes gibt es nur die Möglichkeit, den Kriegsdienst mit der Waffe zu verweigern. Die Verweigerung des waffenlosen Kriegsdienstes ist juristisch nicht möglich. Staatlich anerkannte Kriegsdienstverweigerer unterliegen, genau wie Soldaten, der Kriegsdienstpflicht und müssen diese durch die Ableistung des Ersatzdienstes erfüllen. Eine grundsätzliche Verweigerung ist nach geltendem Recht nicht möglich. Die Verweigerung der Zwangsdienste wird als Straftatbestand gewertet und kann als Fahnenflucht bzw. Dienstflucht mit bis zu fünf Jahren Gefängnis bestraft werden. Weitere Straftatbestände wie eigenmächtige Abwesenheit und Gehorsamsverweigerung bzw. Nichtbefolgen von Anordnungen, die jeweils mit bis zu drei Jahren Gefängnis bestraft werden können, werden ebenfalls regelmäßig verfolgt.

Ziviler Ungehorsam im Rahmen der Wehrpflicht

Die Wehrpflicht beschränkt sich nicht auf die Einberufung zum Wehr- oder Zivildienst. Der Einberufung geht ein bürokratischer Ablauf voraus, den manche Wehrpflichtige und potentielle Totalverweigerer boykottieren. Er beginnt damit, dass die potentiellen Wehrpflichtigen bereits als Jugendliche im Alter von 17 Jahren durch das Landeseinwohnermeldeamt erfasst werden. Daran schließt sich der erste Kontakt durch die Kreiswehrersatzämter (KWEA) mit dem »Fragebogen zur Musterungsvorbereitung« und der schriftlichen »Meldung von Erkrankungen« an.

Bei der Erfassung sollen die vorhandenen Daten der Meldeämter durch die zukünftigen Wehrpflichtigen schriftlich mitgeteilt bzw. bestätigt werden. Die Daten werden gleichzeitig an die KWEA weitergeleitet. Die Informationen durch den Rücklauf des Fragebogens zur Musterungsvorbereitung sollen der Behörde die weitere Einberufungsplanung erleichtern. Die schriftliche Meldung von Erkrankungen soll die Musterung vereinfachen und beschleunigen. Wehrpflichtige können die Erfassung nicht verhindern, sie können lediglich die Korrektur falscher Daten verweigern. Wird das Ausfüllen der Fragebögen verweigert, kann das mit einem Bußgeld bestraft werden, und die polizeiliche Vorführung ins KWEA ist möglich.

Nach der Erfassung werden die Wehrpflichtigen zur Musterung ins KWEA geladen. Bei der Musterung werden die Wehrpflichtigen auf ihre körperliche Kriegsverwendungsfähigkeit militärmedizinisch untersucht. Wehrpflichtige können die Musterung verweigern, indem sie der Ladung nicht folgen. Auch hier stehen als Sanktionsmöglichkeiten Bußgelder und die polizeiliche Vorführung bereit. Vor Ort kann die Untersuchung verweigert werden, was zu einer »Musterung nach Augenschein« führt. Das heißt: Nur die Tatsache, dass der Wehrpflichtige im KWEA von einem Musterungsarzt gesehen wurde, entscheidet über seine Kriegsverwendungsfähigkeit. Seit 2005 besteht die Möglichkeit, Musterungsunwillige, bei denen eine polizeiliche Vorführung nicht möglich ist, nach Aktenlage – also ohne jede medizinische Grundlage – tauglich zu mustern. Diese Gesetzesverschärfung deutet darauf hin, dass die Bereitschaft der Wehrpflichtigen, sich mustern zu lassen, in den vergangenen Jahren gesunken ist. Mit rechtskräftiger Musterung ist die Einberufung möglich.

Nach der Musterung wird die Eignungs- und Verwendungsfeststellung (EUF) im KWEA mit Hilfe des militärpsychologischen Dienstes durchgeführt. Die EUF dient dazu, besondere Fähigkeiten und Schwächen zu erkennen, um die Wehrpflichtigen militärisch am sinnvollsten einsetzen zu können. Nach der EUF sollen die Wehrpflichtigen nach ihrer Bereitschaft für Auslandseinsätze befragt werden. Auch die EUF kann verweigert werden. Das ist ebenfalls bußgeldbewehrt, und die polizeiliche Vorführung ist möglich.

Totalverweigerung

Ab dem Einberufungstermin zum Wehr- bzw. Zivildienst verlässt der betroffene Wehrpflichtige den Sanktionsrahmen der Ordnungswidrigkeiten und betritt den juristischen Raum der strafbaren Handlung.

Bei der Bundeswehr

Mit der Einberufung zur Bundeswehr steht jeder Totalverweigerer vor der Entscheidung, ob er der Einberufung Folge leistet und in der Kaserne alle Befehle verweigert (Gehorsamsverweigerung) oder ob er der Einberufung überhaupt nicht folgt (eigenmächtige Abwesenheit, Fahnenflucht). Im zweiten Fall muss er mit einer »Zuführung« durch Polizei oder Feldjäger rechnen. Manche Totalverweigerer stellen sich selbst, um Ort und Zeitpunkt des Zugriffs durch Polizei und Feldjäger zu beeinflussen und öffentlichkeitswirksam vorzubereiten.

Disziplinierung: Selbstjustiz der Militärs

Gehorsamsverweigerung bei der Bundeswehr kann mit Disziplinararrest bis zu 21 Tagen am Stück bestraft werden. Die etwa 10 m² große Arrestzelle ist normalerweise mit einem Stuhl, Tisch, WC und Pritsche ausgestattet. Die Pritsche soll tagsüber hochgeklappt sein. Hoch gelegene vergitterte Milchglasfenster verhindern den Außenkontakt. Der Umgang des Wachpersonals ist auch mit den vorhandenen Regelungen weitestgehend willkürlich und unterscheidet sich von Bewacher zu Bewacher. Dem Arrestierten steht täglich maximal eine Stunde bewachter Hofgang zu. Einmal wöchentlich darf er für höchstens eine Stunde Besuch empfangen.

Die willkürliche Ausgestaltung der Umstände – mal »lockerer« Arrest, mal strenge Auslegung – hat sich als effektives Mittel starker Zermürbung bewährt. Unsicherheiten gelten in der Psychologie als einer der intensivsten Stressfaktoren. Isolation ist als Form des Reizentzugs dazu geeignet, die Wahrnehmung und den Wirklichkeitsbezug herabzusetzen oder zu verschieben. Solche Bedingungen können als Misshandlung oder unter Umständen als Folter bezeichnet werden.

Verglichen mit den Bedingungen in anderen Haftanstalten ist der Bundeswehrarrest deutlich schärfer. Totalverweigerer werden mehrmals hintereinander mit Disziplinararresten bestraft, um Gehorsam zu erzwingen. Das führt zu Gesamtarrestzeiten von üblicherweise drei mal drei Wochen, teilweise auch noch mehr. Der Negativrekord liegt bei insgesamt mehr als 100 Tagen Arrest. Unter solchen Bedingungen können, in Extremfällen Anzeichen vorübergehender Haftpsychosen auftreten. Die Bundeswehr versucht, das Mittel des Disziplinararrests dazu zu nutzen, um den Willen des Totalverweigerers zu brechen.

Entweder nach dem Willen der Vorgesetzten oder nach der Entscheidung über einen Arrestantrag durch das zuständige Truppendienstgericht oder auf Weisung des Kriegsministeriums wird die Strafaktion, die der Bundeswehrarrest gegenüber Totalverweigerern darstellt, fortgesetzt oder beendet. Der Totalverweigerer hat die Möglichkeit, gegen die Disziplinarmaßnahme Beschwerde einzulegen. Die Beschwerde wird jedoch dann von dem selben Verantwortlichen im Truppendienstgericht bearbeitet, der der Disziplinarmaßnahme zugestimmt hat.

Es folgt nach den Disziplinarmaßnahmen ein Dienstverbot und/oder die Entlassung aus der Truppe. Da der Totalverweigerer während seines Zwangsaufenthalts in der Armee durch sein widerständiges Verhalten nach den geltenden Gesetzen straffällig geworden ist, schließt sich ein Strafprozess an, bei dem es bisher immer zu Verurteilungen kam. Vereinzelte erstinstanzliche Freisprüche wurden in der Berufungsinstanz aufgehoben. Durch juristische Interpretationsspielräume kam es in der Vergangenheit zu Mehrfacheinberufungen von Totalverweigerern und daraus resultierend zu Doppelbestrafungen.

Im Zivildienst

Grund für die TKDV im Zivildienst ist die persönliche Erkenntnis, dass der Zivildienst als Ersatzdienst ebenfalls Kriegsdienst ist. Als anderer Grund kann angenommen werden, dass man der zusätzlichen Bestrafung durch die Bundeswehr, dem Disziplinararrest, ausweicht. Bei Dienstantritt im Zivildienst und Gehorsamsverweigerung (§ 54 ZDG »Nichtbefolgen von Anordnungen«) drohen erstens Freiheitsstrafen bis zu drei Jahren in Analogie zum Wehrstrafgesetz. Darüber hinaus gibt es auch disziplinarische Maßnahmen wie Soldentzug (bis zu vier Monatssolde) und Stubenarrest bis zu 30 Tagen, der jedoch nicht mit den Bedingungen in der Bundeswehr vergleichbar ist. In der Regel kommt es »nur« zur strafrechtlichen Verfolgung und Verurteilung wegen Dienstflucht. Auch durch das Bundesamt für den Zivildienst (BAZ) kann es zur erneuten Einberufung kommen, insbesondere dann, wenn dem Totalverweigerer in der Urteilsbegründung keine Gewissensentscheidung gegen den Zivildienst attestiert wurde. In diesen Fällen kann es auch zu einer Doppelbestrafung durch die Gerichte kommen.

Soziale Kontrolle

Weitere Probleme neben der Kriminalisierung bestehen im unterschiedlichen Grad der gesellschaftlichen Ächtung: jahrelanger Stress mit Behörden und juristische Auseinandersetzungen, Probleme mit Freunden, Eltern oder Arbeitgebern.

Nach den Verfahren, die Zeit und Geld rauben, droht eine erneute Heranziehung zum Zivil- bzw. Wehrdienst, die ein neues Verfahren mit erneuter Bestrafung zur Folge haben kann.

Gesellschaftliche Ausgrenzung oder Ächtung zum Beispiel durch Politiker, faktische Berufsverbote bis hin zur Psychiatrisierung (nicht selten wird Totalverweigerern die »geistige Reife« abgesprochen oder »geistige Verwirrtheit« unterstellt) sind Aspekte, die selten betrachtet werden.

Aktuelle Praxis in der Truppe

Nach dreieinhalbjähriger Unterbrechung wurden 2007 wieder Totalverweigerer zur Bundeswehr einberufen. Die von uns begleiteten Totalverweigerer Jonas G. und Alexander H. wurden nach zweimal verhängten Arreststrafen entlassen: Jonas G., der zum April 2007 einberufen war, wurde nach 42 Tagen Arrest auf Weisung des »Bundesministers der Verteidigung« entlassen. Bei Alexander H., einberufen zum 1. Juli 2007, hat das zuständige Truppendienstgericht Süd nach 25 Tagen Arrest (7 und 18 Tage) einen Antrag auf Verhängung eines dritten Arrestes abgelehnt.

Moritz K., zum Oktober 2007 einberufen, wurde während des laufenden vierten Arrestes überraschend am 11. Dezember 2007 aus der Bundeswehr entlassen. Die Entlassung erfolgte „mit Zustimmung des Verteidigungsministers“. Bis dahin musste er 55 Arresttage absitzen. Nach seiner Einberufung trat er den Kriegsdienst nicht an. Feldjäger führten ihn Mitte Oktober der Truppe zu. Insgesamt wurden vier so genannte Disziplinararreste in Höhe von 7, 14, 20 und 21 Tagen gegen ihn verhängt.

Aus der Entscheidung des Kommandeurs, Division Luftbewegliche Operationen, auf Weisung des Bundesministers der Verteidigung vom 29. Juni 2007 gegen Jonas G.: „Militärische Ordnung ist ein entscheidendes Element für den Erhalt der Einsatzbereitschaft der Bundeswehr (…) Eine Gefahr für die militärische Ordnung liegt u.a. vor, wenn das pflichtwidrige Verhalten des Soldaten die Gefahr der Wiederholung und Nachahmung in sich birgt. In Ihrem Falle sehe ich eine Wiederholungs- und Nachahmungsgefahr, da ihre Totalverweigerung anderen Soldaten nicht verborgen bleibt, (…) so liegt nach der Rechtsprechung eine ernstliche Gefahr für die militärische Ordnung vor, die eine sofortige Entlassung rechtfertigt.“

Sinngemäß gleiche Argumente können genauso zur weiteren Arrestierung und nicht zur Entlassung führen, wie der Beschwerdebeschluss des Truppendienstgerichts Nord gegen Malik S. zeigt. Beschluss des Truppendienstgericht Nord vom 10.08.2002, Disziplinarbeschwerdesache gegen Malik S.: (…) „hätte nämlich ohne die Anordnung (gemeint ist die sofortige Festnahme und Arrestierung, d. V.) die Gefahr bestanden, dass der Beschwerdeführer auf unbestimmte Zeit vor den Angehörigen des Regiments weiter beharrlich an seinem Fehlverhalten festhält, (…) Aber auch die Verhängung von weiteren 21 Tagen Disziplinararrest selbst sind nicht zu beanstanden. (…) Allein die Tatsache, dass der Beschwerdeführer durch den bisher verbüßten Disziplinararrest (14, 21 und 21 Tage Arrest, d. V.) noch nicht zur Einsicht gekommen ist, lässt sich nicht schließen, dass eine weitere Einwirkung aussichtslos ist.“ Die Beschwerde von Malik S. richtete sich gegen den vierten Arrest mit 21 Tagen Dauer. Nach 80 Tagen Arrest wurde ein Dienstverbot ausgesprochen.

Die wenigen bekannten Fälle lassen eine empirische Aussage nicht zu. Deutlich wird aber bei einem Vergleich von Disziplinarmaßnahmen und deren Begründungen, dass der Willkür Tür und Tor offen stehen. Seit langem wird von Totalverweigerern und Unterstützergruppen darauf hingewiesen, dass Disziplinararrest gegen Totalverweigerer ein ungeeignetes Mittel ist und nur als Bestrafung zusätzlich zur gerichtlichen Verurteilung gelten kann. Da für Totalverweigerer im Gegensatz zu Soldaten in der Truppe keine gewissenschonende Handlungsalternative möglich ist, der Disziplinararrest keinen Strafcharakter haben darf, bleibt nur die sofortige Entlassung aus der Bundeswehr ohne vorherige Arrestierung.

Gerichtsurteile

In den aktuellen Fällen kam es im Strafverfahren nicht zur Verhängung einer Freiheitsstrafe, sondern von Arbeitsstunden, wobei die Staatsanwaltschaft gegen das Urteil gegen Alexander H. in die Berufung ging, es ist somit nicht rechtskräftig.

Sowohl Jonas G. als auch Alexander H. wurden nach Jugendstrafrecht verurteilt. Nach Erwachsenenstrafrecht wäre mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Freiheitsstrafe verhängt worden. Der Prozess gegen Moritz K. steht noch aus.

Solidarität und Unterstützung

Totalverweigerer verdienen Solidarität und Unterstützung, da ihr ziviler Ungehorsam friedenpolitische Relevanz hat. Eine Solidarisierung vor Ort, dort wo der Totalverweigerer seiner Freiheit durch Arrest beraubt wird, ist wichtig und nötig. Persönliche Briefe an den TKDVer, Protestbriefe an die Kaserne, die Vorgesetzten und die Verantwortlichen in Verwaltung und Politik, machen deutlich, der Gefangene ist nicht allein, sein Anliegen wird geteilt und unterstützt. Besuche, Kundgebungen und Flugblätter vor der Kaserne sind praktische Beispiele für Solidaritätsarbeit. Briefe an Politiker, Petitionen an den Wehrbeauftragen und den Petitionsausschuss, alleine schon, um auf die unmenschliche Behandlung durch die Arrestierung aufmerksam zu machen, können unterstützen, sofern der TKDVer mit diesen Aktivitäten einverstanden ist. Öffentlichkeitsarbeit im allgemeinen und speziell auf regionaler Ebene kann eine Diskussion im Sinne der Motive für die TKDV bewirken und einen Schutz vor Übergriffen gegen den Totalverweigerer herstellen.

weitere Infos: http://www.kampagne.de/Wehrpflichtinfos/Totalverweigerung.php

Michael Behrendt ist Mitarbeiter der Arbeitsstelle Frieden und Abrüstung e.V. (www.asfrab.de)

Situationsbezogene Kriegsdienstverweigerung und Gehorsamsverweigerung in der Bundeswehr

von Jürgen Rose

„Die Erfahrung aus Vietnam hat gelehrt, dass Widerstand innerhalb der Armee eine mächtige Kraft ist, um imperiale Ambitionen zu begrenzen und einen illegitimen Krieg zu beenden.“

David Cortright (2005): Soldiers in Revolt: GI Resistance During the Vietnam War. Chicago, S.279.

In Zeiten des Global War on Terror, des Präventivkrieges, der Völkerrechtsverbrechen, Folterexzesse und der Aushöhlung fundamentaler Menschen- und Bürgerrechte mag die allzu oft menschenverachtende und mörderische Realität militärischer Gewaltanwendung den Verdacht erwecken, bei dem Terminus »Soldat« handle es sich um ein Akronym, das ausbuchstabiert bedeutet: »Soll ohne langes Denken alles tun«. Zusätzlich Vorschub leistet einer solchen Perzeption, dass gerade die in der NATO verbündeten westlichen Demokratien, darunter auch die Bundesrepublik Deutschland, ihre Streitkräfte immer häufiger für Einsätze missbrauchen, die durch völkerrechtliche Mandate entweder nicht hinreichend oder gar nicht abgedeckt sind. Kaum zu überschätzende Relevanz besitzen darüber hinaus die seit der Endphase des Kalten Krieges von der militärischen Führung der Bundeswehr systematisch vorangetriebenen Bestrebungen zur Etablierung eines »neotraditionalistischen Kämpfer-Kultes«, der die Kriegstüchtigkeit der Bundeswehr als Maß aller Dinge definierte. Im Kern erhebt diese Position die Vorstellung vom Soldaten als eines kriegsnah ausgebildeten, allzeit bereiten, selbstlos dienenden und unbedingt gehorchenden Kämpfertypen zur fraglos zu akzeptierenden Norm.1 Nachgerade idealtypisch hat der (immer noch) amtierende Inspekteur des deutschen Heeres, Generalmajor Hans-Otto Budde, das unter den Vorzeichen der aktuellen Globalisierungskriege präferierte Soldatenbild auf den Punkt gebracht, als er ausführte: „Wir brauchen den archaischen Kämpfer und den, der den High-Tech-Krieg führen kann.“ 2

Noch viel unverblümter verdeutlichte ein Kampfgefährte Buddes aus gemeinsamen Fallschirmjägertagen, was dieser wirklich meinte: „Diesen Typus müssen wir uns wohl vorstellen als einen Kolonialkrieger, der fern der Heimat bei dieser Existenz in Gefahr steht, nach eigenen Gesetzen zu handeln.“ Denn, so fährt er fort: „Eine ‚neue Zeit“ in der Militärstrategie und Taktik verlangt natürlich einen Soldatentypen sui generis: Der ‚Staatsbürger in Uniform“ … hat ausgedient.“ 3

Ungeachtet solcher für eine demokratische Streitkräftekultur verheerenden Parolen aus reaktionären Generalskreisen hat – die zeitweilig durchaus intensiv geführten öffentlichen Debatten zeigen dies4 – nicht nur in der Zivilgesellschaft das Problembewusstsein im Hinblick auf die völker- und verfassungsrechtliche Legitimität der in jüngerer Zeit vom Zaun gebrochenen Interventions- und Präventivkriege zugenommen. Wie die erkleckliche Anzahl von Gehorsamsverweigerungen in den Reihen diverser Interventions- und Besatzungsarmeen illustriert, ist auch unter den »Handwerkern des Krieges«, welche die von der politischen Führung erteilten Kampfaufträge ausführen sollen, die Sensibilität dafür gewachsen, dass sowohl die völkerrechtliche Ächtung des Krieges schlechthin als auch dessen in jüngster Zeit nochmals bekräftigte Kriminalisierung im Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofes gravierende Implikationen sowohl für die rechtlichen als auch für die moralischen Dimensionen soldatischen Handelns bergen.

Die fundamentale Frage, die jeder und jede sich in diesem Spannungsfeld von Gehorsamspflicht, Rechtstreue und Gewissensfreiheit bewegende Militärangehörige individuell für sich beantworten muss, lautet: Wie darf oder soll oder muss ich als prinzipiell dem Primat der Politik unterworfener Soldat handeln, wenn meine politische Leitung und militärische Führung mich in einen Krieg befiehlt, in dem unvermeidlich Menschen getötet und verwundet werden, wenn es sich dabei möglicherweise oder gar offensichtlich um einen Angriffskrieg handelt – stellt letzterer doch ein völkerrechtliches Verbrechen dar.

Für den betroffenen Militärangehörigen existiert keine Möglichkeit, sich dieser existentiell bedeutsamen Problematik zu entziehen. Denn spätestens seit dem Nürnberger Kriegsverbrechertribunal nach dem Zweiten Weltkrieg entfällt der Rekurs auf die übergeordnete politische und militärische Autorität als Exkulpation: Dort wurde nämlich verbindlich festgeschrieben, dass kein Soldat ungesetzliche Befehle ausführen darf. Der rechts- und moralphilosophische Begründungsnexus hierfür basiert in Anlehnung an Immanuel Kant auf der Erkenntnis, dass für jegliches menschliche Handeln das je eigene Gewissen den Maßstab bildet und setzt. Für den Umgang mit der soldatischen Verantwortung impliziert dies zwingend die Nichtigkeit des Rückzugs auf erhaltene Befehle zur Legitimation irgendwelchen soldatischen Handelns. Indem ein Soldat einen Befehl ausführt, macht er einen fremden Willen zu seinem eigenen und bevor er diesen seinen eigenen Willen durch sein Handeln realisiert, muss er dessen Legitimität an seinem eigenen Gewissen prüfen.

Die in der Tradition der Aufklärung verwurzelte moderne Rechtsphilosophie fand ihren Niederschlag in den sogenannten Nürnberger Prinzipien. Letztere flossen in der Folge zum einen in unterschiedliche nationale wehrrechtliche Gesetzeswerke ein5; zum anderen wurden sie auch auf völkerrechtlicher Ebene bekräftigt. So wird im »Verhaltenskodex zu politisch-militärischen Aspekten der Sicherheit«, den die Staats- und Regierungschefs der Teilnehmerstaaten der KSZE im Dezember 1994 in Budapest vereinbarten, stipuliert: „30. Jeder Teilnehmerstaat wird die Angehörigen seiner Streitkräfte mit dem humanitären Völkerrecht und den geltenden Regeln, Übereinkommen und Verpflichtungen für bewaffnete Konflikte vertraut machen und gewährleisten, dass sich die Angehörigen der Streitkräfte der Tatsache bewusst sind, dass sie nach dem innerstaatlichen und dem Völkerrecht für ihre Handlungen individuell verantwortlich sind. 31. Die Teilnehmerstaaten werden gewährleisten, dass die mit Befehlsgewalt ausgestatteten Angehörigen der Streitkräfte diese im Einklang mit dem einschlägigen innerstaatlichen Recht und dem Völkerrecht ausüben und dass ihnen bewusst gemacht wird, dass sie nach diesem Recht für die unrechtmäßige Ausübung ihrer Befehlsgewalt individuell zur Verantwortung gezogen werden können und dass Befehle, die gegen das innerstaatliche Recht und das Völkerrecht verstoßen, nicht erteilt werden. Die Verantwortung der Vorgesetzten entbindet die Untergebenen nicht von ihrer individuellen Verantwortung.“6

Dieser über alle Stufen der militärischen Hierarchie hinweg für jeden Soldaten – gleich ob Vorgesetzter oder Untergebener – geltende Rechtssatz individueller Verantwortlichkeit für sein Tun und Lassen wurde und wird von hochrangigen militärischen Führern immer wieder anerkannt und bekräftigt. So postulierte der vormalige Generalinspekteur der Bundeswehr, General Klaus Naumann, gar eine soldatische Pflicht zur Gehorsamsverweigerung, als er in seinem Generalinspekteursbrief 1/1994 ausführte: „In unserem Verständnis von Rechtsstaatlichkeit und Ethik stehen dem Gehorsamsanspruch des Dienstherrn das Recht und die Pflicht zur Gehorsamsverweigerung gegenüber, wo eben diese Rechtsstaatlichkeit und Sittlichkeit mit dem militärischen Auftrag nicht mehr in Einklang stehen, der Soldat damit außerhalb der freiheitlich-demokratischen Rechtsordnung gestellt würde.“7

Diese im Hinblick auf den klassischen Auftrag zur Landes- und Bündnisverteidigung formulierten und zudem primär auf die von der Bundeswehr beschworene Tradition der militärischen Widerstandskämpfer des 20. Juli 1944 gegen die Hitlertyrannei abzielenden Überlegungen mochten zunächst noch rein theoretisch und abstrakt erscheinen. Aber wenn sowohl die Ausübung der Befehlsgewalt als auch das bloße Ausführen empfangener Befehle strikt an das geltende innerstaatliche Recht einerseits, das Völkerrecht andererseits gebunden sein sollten, war a priori nicht auszuschließen, dass Soldaten oder Soldatinnen sich von Fall zu Fall weigerten, an militärischen Aktionen teilzunehmen, wenn diese erkennbar völkerrechtswidrig oder auch nur völkerrechtlich zweifelhaft und umstritten waren. Prompt gewann denn auch diese Problematik nach dem Ende des Kalten Krieges und seit die Bundeswehr Deutschland vorgeblich auch auf dem Balkan oder gar am Hindukusch verteidigt, eine zunächst nicht erahnte Brisanz, als nämlich einzelne Bundeswehrsoldaten beschlossen, statt bedenkenlos Befehle von Vorgesetzten auszuführen, die sie für unvereinbar mit Grundgesetz- und Völkerrechtsnormen hielten, lieber ihrem Gewissen und Diensteid zu folgen. All jene Kriegsdienstverweigerer im wahrsten Sinne des Wortes handelten unter Inkaufnahme hoher persönlicher Risiken – immerhin stellen Gehorsamsverweigerung und Ungehorsam nach dem deutschen Wehrstrafgesetz mit Freiheitsentzug bewehrte Straftaten dar.

So weigerte sich bereits 1999 während des völkerrechtswidrigen Luftkriegs der NATO gegen die Bundesrepublik Jugoslawien ein gutes Dutzend Luftwaffenpiloten, mit ihren ECR-TORNADOs die ihnen befohlenen Luftangriffsmissionen zur »Unterdrückung der gegnerischen Luftabwehr«, wie es im einschlägigen Militärjargon heißt, zu fliegen. Der Vorgang blieb damals weitgehend unbeachtet, da es mit den Luftwaffenpiloten zu einer stillschweigenden Einigung kam – hauptsächlich wohl deshalb, weil der Bundesregierung an einem medienwirksamen Prozess durch alle Instanzen bis möglicherweise vor das Bundesverfassungsgericht oder den Europäischen Gerichtshof nicht gelegen sein konnte. In der Folgezeit indes sollte die Bundeswehrführung weitaus weniger Behutsamkeit im Umgang mit widerständigem Verhalten von Soldatinnen und Soldaten an den Tag legen, wie einige signifikante Fälle demonstrieren, die im Hinblick auf ihre rechtliche Bewertung und fallweise Sanktionierung besondere Relevanz besitzen und daher im folgenden näher beleuchtet werden sollen. Der erste davon betrifft den Bundeswehrmajor Florian Pfaff, der zweite den Autor selbst und der dritte die Sanitätssoldatin im Dienstgrad eines Hauptfeldwebels Christiane Ernst-Zettl. Verbrieft sind darüber hinaus mehrere Fälle von anerkannten und abgelehnten Kriegsdienstverweigerungen von aktiven und ehemaligen Soldaten und Soldatinnen bis hinauf in die Offiziersränge, die ausdrücklich die kriegerischen Missionen der Bundeswehr als Begründung für ihre Gewissensentscheidungen benennen.

Major Florian Pfaff

Soweit bekannt, handelt es sich bei dem Bundeswehrmajor Florian Pfaff8 um den einzigen Soldaten in den gesamten deutschen Streitkräften, der sich Befehlen widersetzte, durch deren Ausführung er sich wissentlich an dem von den USA und Großbritannien angezettelten Angriffskrieg gegen den Irak – der renommierte deutsche Rechtsphilosoph Reinhard Merkel hatte diesen als „völkerrechtliches Verbrechen“9 gebrandmarkt – beteiligt hätte. Konkret hatte Major Pfaff den Auftrag, an der Entwicklung eines Software-Programms zu arbeiten, von dem weder er selbst noch sein von ihm dahingehend befragter Vorgesetzter ausschließen konnten, dass dieses direkt oder indirekt auch zur logistischen und informationstechnischen Unterstützung des Irak-Krieges hätte Verwendung finden können. Nachdem die Kampfhandlungen im Irak begonnen hatten, erklärte der Major seinen Vorgesetzten klipp und klar, er werde keinerlei Befehlen nachkommen, durch deren Ausführung er sich der Mitwirkung an der „mörderischen Besetzung des Irak durch die USA (und andere)“10 schuldig machen würde.

Umgehend wurde gegen den Major im April 2003 ein gerichtliches Disziplinarverfahren eingeleitet, in dessen Verlauf er am 9. Februar 2004 durch die 1. Kammer des Truppendienstgerichts Nord zum Hauptmann degradiert wurde. Gegen diese erstinstanzliche Entscheidung legten sowohl Anklage als auch Verteidigung Berufung beim Bundesverwaltungsgericht in Leipzig ein. Fast anderthalb Jahre später, am 21. Juni 2005, hob der 2. Wehrdienstsenat des Bundesverwaltungsgerichts das Urteil der 1. Kammer des Truppendienstgerichts Nord auf, wies die Berufung des Wehrdisziplinaranwalts als unbegründet zurück und sprach den Major Florian Pfaff mit einer durchaus spektakulär zu nennenden Urteilsbegründung11 von einem der schwerwiegendsten Vorwürfe frei, die gegen einen Soldaten erhoben werden können: dem der Gehorsamsverweigerung nämlich.

Von Beobachtern mit einer gewissen Spannung erwartet worden war insbesondere die völkerrechtliche Beurteilung des Irak-Kriegs durch die Bundesverwaltungsrichter. All jene Beobachter, die erhofft hatten, das Bundesverwaltungsgericht würde den Irak-Krieg eindeutig als völkerrechts- und verfassungswidrig brandmarken und dem Soldaten Pfaff bescheinigen, er wäre zur Gehorsamsverweigerung gemäß Soldatengesetz (§ 11) und Wehrstrafgesetz (§ 5) verpflichtet gewesen, mochten vielleicht enttäuscht worden sein. Dazu bestand indes kein Anlass. Denn mit einer solchen Entscheidung hätte das Gericht lediglich die bestehende Rechtslage bestätigt und den Handlungsspielraum von Soldaten zur Gehorsamsverweigerung einzig auf die Fälle eingeschränkt, wo die Völkerrechtswidrigkeit eines Krieges für jedermann eindeutig erkennbar und unumstritten wäre. Mit ihrer Entscheidung aber erweiterten die Richter den Ermessensspielraum diesbezüglich erheblich, nämlich bereits auf all die Fälle, wo auch nur Zweifel an der Rechtmäßigkeit einer militärischen Intervention bestehen (S.72). Wenn in einem solchen Fall künftig ein deutscher Soldat in einen Gewissenskonflikt gerät und diesen ernsthaft und glaubwürdig darlegen kann, braucht er Befehlen nicht zu gehorchen, durch deren Ausführung er in jene Aktionen innerhalb rechtlicher Grauzonen verwickelt würde. Mit dieser Rechtsprechung nahm das Bundesverwaltungsgericht im Hinblick auf die Legalität bewaffneter Einsätze der Bundeswehr de facto eine Beweislastumkehr vor: Nicht der Soldat muss beweisen, dass seine Gehorsamsverweigerung rechtlich geboten war, sondern zuallererst muss die Bundesregierung den von ihr in den Kampf entsandten »Staatsbürgern in Uniform« darlegen, dass der diesen erteilte Auftrag den Normen des Völkerrechts und des Grundgesetzes entspricht (S.116). Dabei legte das Gericht die rechtlichen Hürden für den Einsatz bewaffneter Streitkräfte sehr hoch, indem es nämlich die Zulässigkeit militärischer Gewaltanwendung strikt auf die in der UN-Charta vorgesehenen Fälle (Kap. VII und Art. 51) begrenzte: „Ein Staat, der sich – aus welchen Gründen auch immer – ohne einen solchen Rechtfertigungsgrund über das völkerrechtliche Gewaltverbot der UN-Charta hinwegsetzt und zur militärischen Gewalt greift, handelt völkerrechtswidrig. Er begeht eine militärische Aggression.“ (S.73) Und, so das Gericht weiter im Hinblick auf die deutschen Unterstützungsleistungen für den angloamerikanischen Angriffskrieg am Golf: „Eine Beihilfe zu einem völkerrechtlichen Delikt ist selbst ein völkerrechtliches Delikt.“ (S.81)

Für die Bundeswehr als Parlamentsarmee sind die Implikationen des Leipziger Urteilsspruches höchst bedeutsam, folgt daraus doch: Der Primat der Politik gilt lediglich innerhalb der Grenzen von Recht und Gesetz, jenseits davon herrscht der Primat des Gewissens. Denn, so das Bundesverwaltungsgericht: „[I]m Konflikt zwischen Gewissen und Rechtspflicht [ist] die Freiheit des Gewissens ‚unverletzlich“ … .“ (S.106) Nicht zuletzt hat somit das höchste Verwaltungsgericht der Bundesrepublik Deutschland durch sein Urteil die eingangs erwähnte Maxime des ehemaligen Generalinspekteurs Klaus Naumann bekräftigt.

Oberstleutnant Jürgen Rose

Da die Bundeswehrführung alles unternahm, um das Pfaff-Urteil totzuschweigen und in seiner Bedeutung auf einen skurrilen Einzelfall herunterzuspielen12, blieb die Nagelprobe auf die Tragfähigkeit dieser epochalen Jurisdiktion noch zu erbringen. Der Zeitpunkt hierfür war am 15. März 2007 gekommen, als der Autor dieses Beitrages seinem Disziplinarvorgesetzten im Wehrbereichskommando IV in München einen »Dienstlichen Antrag« vorlegte, in dem es hieß: „Im Hinblick auf die von der Bundesregierung getroffene Entscheidung, Waffensysteme TORNADO der Bundesluftwaffe zum Einsatz nach Afghanistan zu entsenden (Antrag der Bundesregierung vom 8.2.2007 – BT-Drs. 16/4298), den daraufhin am 9. März 2007 erfolgten Zustimmungsbeschluss des Deutschen Bundestages sowie die mittlerweile ergangene Befehlsgebung des Streitkräfteunterstützungskommandos zur Umsetzung dieser Entscheidung erkläre ich hiermit, dass ich es nicht mit meinem Gewissen vereinbaren kann, den Einsatz von TORNADO-Waffensystemen in Afghanistan in irgendeiner Form zu unterstützen, da meiner Auffassung nach nicht auszuschließen ist, dass ich hierdurch kraft aktiven eigenen Handelns zu einem Bundeswehreinsatz beitrage, gegen den gravierende verfassungsrechtliche, völkerrechtliche, strafrechtliche sowie völkerstrafrechtliche Bedenken bestehen. Zugleich beantrage ich hiermit, auch von allen weiteren Aufträgen, die im Zusammenhang mit der «Operation Enduring Freedom» im allgemeinen und mit der Entsendung der Waffensysteme TORNADO nach Afghanistan im besonderen stehen, entbunden zu werden.“13

Vorausgegangen war diesem Antrag eine nahezu ein Jahr zuvor abgegebene »Dienstliche Erklärung«, in der unter anderem stand: „In Anerkennung des Primats der Politik und verpflichtet meinem Eid, der Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen sowie Recht und Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen, erkläre ich hiermit, dass ich es nicht mit meinem Gewissen vereinbaren kann, Befehle auszuführen, die gegen das Völkerrecht oder das deutsche Recht verstoßen. Ich berufe mich dabei auf Artikel 4, Absatz 1 des Grundgesetzes sowie auf das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts Leipzig zur Gewissensfreiheit von Soldaten vom 21. Juni 2005 (BVerwG 2 WD 12.04).“14Diese Erklärung war unbeanstandet zur Personalakte genommen worden.

Die Weigerung, zur logistischen Unterstützung des TORNADO-Einsatzes in Afghanistan beizutragen – konkret ging es um die Sicherstellung der Versorgung mit Flugbetriebskraftstoff auf dem Einsatzflugplatz in Mazar-i-Sharif – war noch am Abend desselben Tages Gegenstand der Berichterstattung im ARD-Fernsehmagazin PANORAMA, wurde tags darauf in einer Vielzahl von Radiosendern verbreitet und stand in fast sämtlichen Zeitungen der Republik zu lesen. Nicht zuletzt aufgrund der ungeahnten Publizität der Angelegenheit sowie eines durch die Bundestagsabgeordneten Willy Wimmer (CDU) und Peter Gauweiler (CSU) beim Bundesverfassungsgericht angestrengten Organstreitverfahrens gegen den TORNADO-Einsatz entschied die zuständige militärische Führung umgehend, den Antragsteller fortan »gewissenschonend« in einer anderen Abteilung seiner Dienststelle einzusetzen, ganz so wie dies im einschlägigen Gewissensfreiheitsurteil des Leipziger Bundesverwaltungsgerichtes normiert worden war. Mit einer gewichtigen Einschränkung freilich, denn in seinem schriftlichen Bescheid führte der zuständige Disziplinarvorgesetzte aus: „Wie ich Ihnen im persönlichen Gespräch am 16. März 2007 mitgeteilt habe, handelt es sich bei dieser Entscheidung über Ihre neue Verwendung ausdrücklich nicht um die Anerkennung der in Ihrem Schreiben vom 15. März 2007 genannten Gründe. Darüber wird – gegebenenfalls auch im Zusammenhang mit einer möglichen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts – zu einem späteren Zeitpunkt entschieden.“15

Zwar wurde die Organklage der beiden Bundestagsabgeordneten vom Bundesverfassungsgericht kurz darauf aus formalen Gründen zurückgewiesen, doch brachte die Bundestagsfraktion der PDS/Die Linke die Angelegenheit erneut auf die Agenda, so dass eine höchstrichterliche Entscheidung unumgänglich wurde. Am 3. Juli 2007 wiesen die Karlsruher Verfassungsrichter die Klage mit einer in weiten Teilen als skandalös zu bewertenden Begründung ab. Geradezu ins Auge springen musste indessen, dass das Gericht in seiner Begründung, mit der es die Klage abwies, zwar einerseits eine Eloge auf die NATO und deren ISAF-Mission abgab, sich andererseits aber auffällig distanziert und einsilbig zu der in dem zentralasiatischen Land parallel stattfindenden »Operation Enduring Freedom« äußerte. Unverkennbar lässt dies darauf schließen, was das höchste deutsche Gericht von jenem »Kreuzzug gegen den Terror« hält, den US-Präsident George W. Bush ausgerufen hatte: nämlich rein gar nichts.

Nicht zuletzt diesem Umstand dürfte es zuzuschreiben sein, dass in Sachen »TORNADO-Verweigerung« über die bereits erwähnte Verfügung vom 16. März 2007 hinaus keine weitere offizielle Entscheidung über diesen Vorgang seitens vorgesetzter Dienststellen inklusive des Bundesministeriums der Verteidigung erfolgte. Einiges spricht demzufolge für die Annahme, dass seitdem im Berliner Bendlerblock in der Tat jene „Angst vor der Massenverweigerung“16 in der Armee grassiert, auf die der ehemalige Leiter des Planungsstabes im Verteidigungsministerium, Dr. Hans Rühle, etwas alarmistisch in seiner ansonsten eher nüchtern-illusionslose Analyse hinwies, wo er messerscharf die Implikationen des im Juni 2005 am Bundesverwaltungsgericht in Leipzig vom 2. Wehrdienstsenat gesprochenen Urteils zur Gewissensfreiheit von Soldaten herausarbeitet hatte. Empirisch unterfüttert wird diese These durch den Umstand, dass sich zum einen „bereits mehrere Dutzend Bundeswehrsoldaten, die ihre Aktivitäten in Afghanistan nicht mehr mit ihrem Gewissen vereinbaren können, bei ihren Anwälten nach Möglichkeiten für eine anderweitige Verwendung innerhalb der Truppe erkundigt“17 haben und zum anderen auch beim »Arbeitskreis Darmstädter Signal«, als einer dessen Sprecher der Autor fungiert, entsprechende Anfragen eingingen.

Erneute und wiederum hochbrisante Aktualität dürfte die Option der Gehorsamsverweigerung unter den Rahmenbedingungen der weiterhin andauernden »Operation Enduring Freedom« im Hinblick auf die sogenannte »Quick Reaction Force« gewinnen, für die ab Juli 2008 zusätzlich mindestens 250 weitere SoldatInnen der Bundeswehr an den Hindukusch entsandt werden sollen. Zwar werden diese Kräfte dem »Regional Command North« der ISAF unterstellt und sollen auch primär für die vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen mandatierte ISAF-Mission zum Einsatz kommen – aber eben nicht ausschließlich. Überall indes, wo deutsche SoldatInnen für den völkerrechts- und zugleich verfassungswidrigen »Global War on Terror« missbraucht werden sollen, sind der Gehorsamsverweigerung Tür und Tor weit geöffnet.

Hauptfeldwebel Christiane Ernst-Zettl

Der Fall der Sanitätssoldatin Christiane Ernst-Zettl betrifft nicht wie die Fälle zuvor das ius ad bellum, sondern das ius in bello, das Recht im Kriege, genauer gesagt: das humanitäre Völkerrecht. Letzteres zählen die Völkerrechtler zum sogenannten ius cogens, d. h. zum immer und überall zwingend einzuhaltenden Recht. Den Anlass für den Konflikt lieferte der bis heute andauernde völkerrechtswidrige Einsatz von Sanitätspersonal der Bundeswehr für Wach- und Sicherungsdienste, die sogenannte Lagersicherung, im Rahmen des Krieges in Afghanistan. Dabei geht es nicht um die Bewachung ausschließlich von Sanitätseinrichtungen, wie zum Beispiel eines Feldlazaretts, die völkerrechtlich durchaus zulässig ist, sondern um die umfassende militärische Absicherung der Garnisonen der multinationalen Streitkräfte. Hierfür wurden Sanitätssoldaten sogar am Maschinengewehr als Kämpfer eingesetzt, nachdem ihnen zuvor das Ablegen der Rotkreuzarmbinden befohlen worden war. Christiane Ernst-Zettl leistete als Hauptfeldwebel der deutschen Sanitätstruppe vom 24. Februar bis 27. April 2005 Dienst in Afghanistan. Eingesetzt war sie in der Klinikkompanie des Sanitätseinsatzverbandes im 7. Kontingent der »International Security Assitance Force« (ISAF) der NATO. Am 16. April 2005 wurde die Bundeswehrsanitäterin zum völkerrechtswidrigen Dienst an der Waffe befohlen, als sie im Rahmen der militärischen Absicherung von Camp Warehouse, der in Kabul gelegenen Garnison der multinationalen ISAF, Personenkontrollen an afghanischen Frauen vornehmen sollte, welche die ISAF als lokale Arbeitskräfte beschäftigt. Hierbei sollte sie ihre Rot-Kreuz-Armbinde ablegen, woraufhin Ernst-Zettl beim Sicherungszugführer, einem Oberleutnant, vorstellig wurde, um ihm zu melden, dass sie im Sinne des humanitären Völkerrechts Nichtkombattant sei und daher für Sicherungsaufgaben nicht eingesetzt werden dürfe. Allein für ihre Meldung und den damit verbundenen Versuch, sich an die Bestimmungen der Genfer Konventionen zu halten, wurde die Soldatin mit einer Disziplinarbuße von 800 Euro belegt und »repatriiert«, das bedeutet, strafweise nach Deutschland zurückkommandiert. Die Begründung dafür wirkt bizarr: Sie hätte mit ihrem Verhalten den Sicherungszugführer verunsichert und so den ordnungsgemäßen Dienstablauf behindert.

Skandalöserweise wurde die Beschwerde der Soldatin gegen ihre Maßregelung vom zuständigen Truppendienstgericht Süd abgewiesen. Dessen absurde Begründung lautete im Kern: „Ihr musste klar sein, dass der Sicherungszugführer diese Frage nicht sofort klären konnte … und sie hat diesen damit bewusst instrumentalisiert.“18 Weil sie nämlich – so das Gericht – die Angelegenheit drei Tage zuvor schriftlich ihrem Disziplinarvorgesetzten gemeldet und darauf noch keinen Bescheid erhalten hätte. Die Richter sahen darin einen „Missbrauch ihrer Rechte zu Lasten eines Kameraden“, warfen ihr vor, den Dienstbetrieb gestört zu haben, und attestierten ihr obendrein, dass ihr Handeln „ein bedenkliches Licht auf ihren Charakter“ würfe. Wie das Gericht expressis verbis betonte, wurde ihr freilich „kein Ungehorsam vorgeworfen“, obwohl sie sich mehrfach ostentativ geweigert hatte, dem ihr erteilten Befehl Folge zu leisten, das international anerkannte Schutzzeichen des Roten Kreuzes, das sie am Arm trug, abzulegen. Da es sich bei der gegen sie verhängten Disziplinarbuße gemäß Wehrdisziplinarordnung lediglich um eine „einfache Disziplinarmaßnahme“ handelte, war gegen die letztinstanzliche Entscheidung des Truppendienstgerichtes kein weiteres Rechtsmittel mehr gegeben.

Ohne die komplexe völkerrechtliche Gemengelage, wie sie aus den vier Genfer Abkommen von 1949 sowie den beiden Zusatzprotokollen aus dem Jahr 1977 resultiert, an dieser Stelle en detail abhandeln zu können, lässt sich resümierend doch konstatieren, dass die Perfidie der geschilderten Verfahrensweise darin liegt, dass Soldaten hierdurch abgeschreckt werden, sich mit den rechtlichen oder auch moralischen Implikationen ihres Handelns auseinander zu setzen. Darüber hinaus illustriert der vorliegende Fall – ganz ähnlich wie die einschlägigen Verfahren vor dem Karlsruher Bundesverfassungsgericht – erneut die Ohnmacht des Bürgers mit und ohne Uniform gegenüber den immer offener zutage tretenden Tendenzen der Exekutive zum habituellen Völkerrechtsbruch. Das deprimierende Resultat der Causa Ernst-Zettl: Eine völkerrechtstreue Soldatin wurde sang- und klanglos abgestraft, im Bundesministerium der Verteidigung lachen sich die Völkerrechtsverbieger ins Fäustchen und in Afghanistan liegen weiterhin die Sanitäter hinterm Maschinengewehr, um sich ihre Kundschaft selbst zu schießen. Glorreiche Zeiten am Hindukusch.

Anmerkungen

1) Vgl. Kielmansegg, Johann Adolf Graf von: „Der Krieg ist der Ernstfall“, in: Truppenpraxis Nr. 3/1991, S.304 – 307; Müller, Morgan von: „Wer kämpfen nicht gelernt hat, kann auch nicht kämpfen“, in: Truppenpraxis Nr. 3/1991, S.309f.

2) Budde, Hans-Otto (Interviewter), in: Winkel, Wolfgang: Bundeswehr braucht archaische Kämpfer. Hans-Otto Budde soll das Heer in die Zukunft führen – Porträt eines Weggefährten, in: Welt am Sonntag vom 29. Februar 2004.

3) Ebd.

4) Vgl. hierzu insbesondere Ambos, Kai/Arnold, Jörg (Hg.) (2004): Der Irak-Krieg und das Völkerrecht, Berlin; Lutz, Dieter S.†/Gießmann, Hans J. (Hg.) (2003): Die Stärke des Rechts gegen das Recht des Stärkeren, Baden-Baden.

5) So zum Beispiel in das Soldatengesetz (§ 10 und § 11) und das Wehrstrafgesetz (§ 5, § 19, § 20, § 21, § 22; § 32; § 33 und § 34. Im Vereinigten Königreich sind Soldaten verpflichtet, jeden rechtswidrigen Befehl zu verweigern. In Dänemark und Frankreich müssen Soldaten alle offenkundig rechtswidrigen Befehle verweigern. Darüber hinaus sind sie berechtigt, alle sonstigen rechtswidrigen Befehle nicht zu befolgen. In Belgien, Luxemburg, den Niederlanden, Polen und Spanien müssen wie in Deutschland Soldaten alle Befehle verweigern, durch die eine Straftat begangen würde. Während jedoch in den Niederlanden ein Soldat sämtliche rechtswidrigen Befehle verweigern darf, sind Soldaten in Deutschland, Luxemburg und Spanien nur dazu berechtigt, einen engeren Kreis rechtwidriger Befehle zu verweigern. Hierzu gehören insbesondere Befehle, die gegen die Menschenwürde verstoßen (vgl. hierzu Nolte, Georg (2002): Studie Vergleich Europäischer Wehrrechtssysteme, Göttingen 2002 sowie Groß, Jürgen (2005): Demokratische Streitkräfte, Baden-Baden).

6) Auswärtiges Amt (Hrsg.) (1998): Von der KSZE zur OSZE. Grundlagen, Dokumente und Texte zum deutschen Beitrag 1993-1997, Bonn, S.267f.

7) Naumann, Klaus: Generalinspekteursbrief 1/1994, Bonn 1994.

8) Zur Causa Pfaff vgl. u. a. Bachmann, Hans Georg (2006): Militärischer Gehorsam und Gewissensfreiheit, in: Zetsche, Holger/Weber, Stephan (Hrsg.): Recht und Militär. 50 Jahre Rechtspflege der Bundeswehr, Baden-Baden 2006, S.156-168 sowie mit Verweisen auf weitere Urteilskommentierungen Ladiges, Manuel: Irakkonflikt und Gewissenskonflikte, in: Wissenschaft & Sicherheit online – Texte des Bundesverbands Sicherheitspolitik an Hochschulen, Nr. 02/2007 vom 22. März 2007.

9) Merkel, Reinhard: Krieg. Was Amerika aufs Spiel setzt. Ein Präventivkrieg mag der Logik imperialer Macht entsprechen. Aber er untergräbt das Rechtsbewusstsein der Menschheit, in: Die Zeit Nr. 12/2003. An der Illegalität des Irak-Krieges nach allen etablierten völkerrechtlichen Kriterien existieren nach herrschender juristischer Meinung längst keinerlei Zweifel mehr (vgl. die überwältigende Mehrheit der Beiträge in Ambos, Kai/Arnold, Jörg (Hrsg.) und Lutz, Dieter S.†/Gießmann, Hans J. (Hrsg.) in Fußnote 4).

10) Pfaff, Florian zit. n. Bundesverwaltungsgericht: Urteil des 2. Wehrdienstsenats vom 21. Juni 2005 – BVerwG 2 WD 12.04, S.103, [http://www.bundesverwaltungsgericht.de/media/archive/3059.pdf, 05.12. 2007].

11) Vgl. ebd., 72. Hieraus auch die folgenden Zitate.

12) Vgl. Andreas Flocken: »Globale Verteidigung«. Von der Entgrenzung des militärischen Auftrags und der Freiheit des Gewissens, in: S+F Sicherheit und Frieden, Heft 4/2006, S.204 – 209.

13) Rose, Jürgen: Aufklären, damit die anderen bomben können. Dokumentation. Antrag des Oberstleutnants Jürgen Rose, von allen dienstlichen Aufgaben bei einem Tornado-Einsatz in Afghanistan entbunden zu werden, in: Freitag – Die Ost-West-Wochenzeitung, Nr. 12/2007, S.7.

14) Rose, Jürgen: Dienstliche Erklärung vom 1. Mai 2006, dokumentiert in: Jürgen Rose/(ms): Soldaten-Verweigerung gegen völkerrechts- oder grundgesetzwidrige Befehle, in: FriedensForum Nr. 3/2006, S.9.

15) Wehrbereichskommando IV Süddeutschland – Chef des Stabes: Schreiben vom 16. März 2007.

16) Rühle, Hans: Angst vor der Massenverweigerung. Warum die Bundesregierung mit allen Mitteln versucht, die Bundeswehr aus dem Süden Afghanistans herauszuhalten, in: Süddeutsche Zeitung vom 28. März 2007, S.2.

17) Hörstel, Christoph R. (2007): Sprengsatz Afghanistan. Die Bundeswehr in tödlicher Mission, S.36.

18) Truppendienstgericht Süd: Beschluss in der Disziplinarbeschwerdesache – Az: S 10 BLc 4/05 – München, 31.08.2005, S.15.

Dipl. Päd. Jürgen Rose ist Oberstleutnant der Bundeswehr. Er vertritt in diesem Beitrag nur seine persönlichen Auffassungen.

Arbeitskreis Darmstädter Signal

Im September 1983 beschlossen 20 Offiziere und Unteroffiziere der Bundeswehr (Bw) bei ihrem ersten Treffen im Darmstadt einen friedenspolitischen Aufruf: das DARMSTÄDTER SIGNAL. Sie wandten sich nicht nur gegen die »Nach«-Rüstung mit Atomraketen in West- und Ost-Europa, sondern forderten eine kleinere, nicht angriffsfähige Bundeswehr und den Abbau aller Massenvernichtungsmittel von deutschem Boden und weltweit. Für Soldaten der Bw sollte das »Leitbild vom Staatsbürger in Uniform« endlich verwirklicht werden. Bis heute ist der Ak DS das einzige kritische Sprachrohr von ehemaligen und aktiven Offizieren und Unteroffizieren der Bundeswehr. Der Ak DS äußert sich zu aktuellen Fragen des Einsatzes der Bundeswehr und der Rolle des Militärs in der Demokratie.

Kriegsdienstverweigerung in Europa

Fortschritte – Probleme – Herausforderungen

von Gerd Greune und Friedhelm Schneider

In den zurückliegenden 50 Jahren hat die Einbeziehung des Rechts auf Militärdienstverweigerung aus Gewissensgründen in internationale Menschenrechtsstandards beachtliche Fortschritte gemacht.

In den Menschenrechtsbestrebungen nach 1945 führt das Thema der Militärdienstverweigerung zunächst über zwei Jahrzehnte ein Schattendasein. 1967 ist der Europarat die erste europäische Institution, die dieses Grundrecht in den Blick nimmt. Von Anfang an leiten die Europarats-Parlamentarier die Militärdienstverweigerung aus Gewissensgründen als logische Konsequenz aus Artikel 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention ab, der das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit festlegt.1 Weitere Entschließungen folgen.2 Die Forderung nach einer freiheitlichen Ausgestaltung des Rechts auf Militärdienstverweigerung und nach einem zivilen Alternativdienst ohne Strafcharakter ist bis heute auf der Tagesordnung des Europarats geblieben. Die letzte umfassende „Empfehlung zur Ausübung des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung in den Mitgliedsstaaten des Europarates“ betont im Mai 2001 „i. das Recht, als Verweigerer aus Gewissensgründen zu jedem beliebigen Zeitpunkt vor, während oder im Anschluss an den Wehrdienst registriert zu werden; ii. das Recht für Berufssoldaten, die Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer zu beantragen; iii. das Recht für alle Wehrpflichtigen, Information über die Verweigerung aus Gewissensgründen zu erhalten; iv. das Ableisten eines rein zivilen Ersatzdienstes, der weder abschreckend sein noch Strafcharakter haben darf.“ 3

Dass die Militärdienstverweigerung europäischen Menschenrechtsstandards gemäß geregelt ist, wird für Neumitglieder des Europarates seit einiger Zeit als ein Aufnahmekriterium geltend gemacht und überprüft.

Eine ähnliche Entwicklung lässt sich für den Bereich des Europäischen Parlaments feststellen. Maßgebliche Dokumente sind hier die großen Resolutionen, die die Abgeordneten Macciocchi4 (1983), Schmidbauer5 (1989), De Gucht6 (1993) und Bandres/Bindi7 (1994) als Berichterstatter vorbereitet haben. Die wiederkehrenden Jahresberichte über die Menschenrechte in der EU üben regelmäßig öffentliche Kritik an Ländern, die sich gravierende Verstöße gegen das Recht auf Militärdienstverweigerung zuschulden kommen lassen.

Die Verankerung dieses Rechts als Menschenrecht entspricht dem erklärten Willen der für Europa maßgeblichen politischen Institutionen. Aus diesem Grunde benennt die Charta der Grundrechte der Europäischen Union in Art. 10 Abs.2 das Recht auf gewissensbedingte Militärdienstverweigerung explizit als Bestandteil der Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit: „Das Recht auf Militärdienstverweigerung aus Gewissensgründen wird nach den einzelstaatlichen Gesetzen anerkannt, welche die Ausübung dieses Rechts regeln.“ Die sachgemäße Auslegung dieses Grundrechtsartikels wird davon abhängen, dass sie dem für sein Zustandekommen konstitutiven gemeinsamen politischen Willen der europäischen Institutionen Rechnung trägt und neben dem in Art. 21 verfügten Diskriminierungsverbot die in Art. 52 niedergelegte Wesensgehaltsgarantie berücksichtigt. Demnach dürfen nationale Gesetze den Wesensgehalt der in der Charta anerkannten Freiheitsrechte nicht einschränken. Am 12. Dezember 2007 wurde die EU-Grundrechtscharta nach einer wechselvollen Vorgeschichte durch die Präsidenten von Parlament, Rat und Kommission proklamiert und unterzeichnet. Jo Leinen, im Europäischen Parlament Vorsitzender des Ausschusses für Konstitutionelle Fragen, unterstreicht in diesem Zusammenhang: „Mit Artikel 10 Absatz 2 ist das Recht auf Verweigerung aus Gewissensgründen als Bestandteil der Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit erstmals in einem Europäischen Vertrag festgeschrieben. Die Charta der Grundrechte in der EU ist die erste völkerrechtlich verbindliche Kodifizierung auf dem Gebiet der Menschenrechte, die das Recht zur Kriegsdienstverweigerung als Bestandteil der Gewissensfreiheit ausdrücklich anerkennt. Ich freue mich, dass dieser zivilisatorische Fortschritt, wonach jede Bürgerin und jeder Bürger das Recht hat, unter Berufung auf das Gewissen die staatliche Verpflichtung zum Militärdienst abzulehnen, auf europäischer Ebene konsensfähig geworden ist. Vor dem Hintergrund, dass zur Zeit immer noch 10 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union an einer Pflicht zum Militärdienst festhalten, ist das nicht selbstverständlich…Aber auch in den übrigen Staaten mit Freiwilligenarmeen erwächst aus der Grundrechte-Charta die Pflicht, ihren Soldatinnen und Soldaten das Recht zur Verweigerung des Militärdienstes einzuräumen. Weil jede Soldatin und jeder Soldat dem eigenen Gewissen verantwortlich ist und bleibt, muss die Gewissensfreiheit auch in bestimmten Konfliktsituationen und Einsätzen gewährleistet sein.“ 8

Ähnlich wie der Europäischen Menschenrechtskonvention (Art. 9) ist auch dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (Art. 18) das Recht auf Militärdienstverweigerung nur indirekt als Bestandteil der Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit zu entnehmen. 1993 revidiert der UN-Menschenrechtsausschuss seine bis dahin aufrecht erhaltene Weigerung, das Recht auf Militärdienstverweigerung als impliziten Bestandteil des Bürgerrechtspakts anzuerkennen. In seinem Allgemeinen Kommentar Nr. 22 zu Artikel 18 des Bürgerrechtspakts führt er aus: „Der Pakt bezieht sich nicht ausdrücklich auf ein Recht der Verweigerung aus Gewissensgründen, doch der Ausschuss ist der Überzeugung, dass ein solches Recht aus Artikel 18 abgeleitet werden kann, insofern als die Verpflichtung, tödliche Gewalt anzuwenden, ernsthaft in Konflikt mit der Gewissensfreiheit und dem Recht, die eigene Religion oder Weltanschauung zu bekunden, geraten kann.“ 9

Bereits seit 1987 bekräftigt die UN-Menschenrechtskommission die Militärdienstverweigerung als legitime Ausübung des Menschenrechtes auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit.10 In ihren Resolutionen fordert die Kommission immer wieder freiheitliche Standards für ein nicht diskriminierendes Verweigerungsrecht ein. Zuletzt widmete sie sich einer Übersicht über gelungene Praxisbeispiele (»best practices«) im Umgang mit der Militärdienstverweigerung aus Gewissensgründen.11

Kein umfassender Rechtsschutz

Obwohl positive Entwicklungen zu verzeichnen sind, bleibt die Situation der Kriegsdienstverweigerer, gesamteuropäisch betrachtet, weit von einem umfassenden Rechtsschutz entfernt.

In den Mitgliedsländern des Europarates wird seit 1967 das Recht auf Kriegsdienstverweigerung nur außerordentlich zurückhaltend umgesetzt. In vielen Ländern befinden sich in den 1960er und 1970er Jahren Pazifisten im Gefängnis, weil ihre Gewissensentscheidung nicht anerkannt worden ist. In Deutschland und Frankreich beginnt erst in den 1980er Jahren eine allmähliche Liberalisierung des Grundrechts auf KDV. In der Schweiz gibt es erst seit 1996 einen Rechtsanspruch auf KDV. In Griechenland wird 1998 das Recht auf Gewissensfreiheit gegenüber dem Militärdienst gesetzlich anerkannt und zugleich wird der Zivildienst als Strafdienst ausgestaltet. In Zypern schließlich wurde im Jahre 2005 ein militärisch kontrollierter Zivildienst eingeführt, der die Kriegsdienstverweigerer massiv gegenüber den Soldaten benachteiligt. Die Türkei lehnt das Recht auf KDV ab und wird deshalb regelmäßig von der Europäischen Kommission gemahnt, gesetzliche Regelungen zu schaffen. Hier wird selbst die Berichterstattung über das Recht auf Militärdienstverweigerung mit Strafe bedroht und zahlreiche Journalisten bereits angeklagt. In den Ländern der ehemaligen Sowjetunion, in denen gesetzliche Regelungen eingeführt wurden, werden überwiegend Verweigerer aus religiösen Gründen anerkannt. Auffällig ist, dass die orthodoxen Kirchen generell die Gewissensfreiheit von Kriegsdienstverweigerern nicht unterstützen und eine restriktive Gesetzgebung eher befürworten.

Der Europarat hat im westlichen Balkan, vor allem in Bosnien-Herzegovina, in den 1990er Jahren erhebliche Anstrengungen unternommen, um einen zivilen Ersatzdienst aufzubauen, der zugleich auch zur Harmonisierung der Wehrgesetzgebung in der Föderation und der Serbischen Republik beitragen sollte. Die gesetzliche Regelung des Rechts auf KDV in Bosnien-Herzegowina sollte zugleich auch Voraussetzung für die Mitgliedschaft in dem »Partnership for peace« Programm der NATO sein. Am Ende des Weges stand nach heftigem Streit zwischen Sarajevo und Banja Luka die Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht 2006. In Serbien melden sich seit drei Jahren jährlich 50% der Wehrpflichtjahrgänge zum Zivildienst, nicht zuletzt, weil die Lebensbedingungen in den Kasernen recht bescheiden sind und der Zivildienst in der eigenen Gemeinde durchgeführt werden kann.

Im Jahre 2002 hat die Generaldirektion für Menschenrechte des Europarats eine Broschüre herausgegeben, die die Absicht verfolgt, „eine breite Öffentlichkeit sowie nationale Einrichtungen auf die Probleme von Militärdienstverweigerern aufmerksam zu machen.“ 12 Darin wird festgestellt, dass in einigen Ländern Fortschritte bei der Behandlung von Kriegsdienstverweigerern zu beobachten sind, während andere Staaten die Einrichtung eines Zivildienstes ablehnen oder an diskriminierende Bedingungen knüpfen. Mit Nachdruck betont das Europarats-Dokument: „Es genügt nicht, nationale Regelungen zu haben, die sich an den vom Europarat festgelegten Grundsätzen zur Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen orientieren. Es geht vor allem darum, dass diese Regelungen tatsächlich in die Praxis umgesetzt werden.“ 13

Von den 192 Mitgliedsstaaten der UNO, die fast alle eine Armee unterhalten, akzeptieren nur etwa 30 ein Recht auf Militärdienstverweigerung – wobei damit über die freiheitliche Qualität der jeweiligen gesetzlichen Regelungen noch keine Aussage gemacht ist. Aktuell halten 27 der 46 Europarats-Mitgliedsstaaten an der Wehrpflicht fest. In 14 der 27 europäischen Wehrpflichtstaaten liegt die Zuständigkeit für die Durchführung des Ersatzdienstes beim Verteidigungsministerium, 16 Länder stellen das Anerkennungsverfahren für Kriegsdienstverweigerer unter militärische Aufsicht, nur 18 Länder sehen einen Zivildienst außerhalb des Militärs vor. Eine nicht-diskriminierende, mit der Militärdienstzeit identische Dauer des Zivildienstes findet sich in drei europäischen Staaten, in 21 Ländern müssen Kriegsdienstverweigerer länger dienen als die Wehrpflichtigen beim Militär. Obwohl der Europarat das Recht auf Anerkennung als Militärdienstverweigerer aus Gewissensgründen auch für Berufssoldaten eingefordert hat, haben nur zwei seiner 46 Mitgliedsstaaten entsprechende Vorkehrungen getroffen.

Das Recht auf Gewissensfreiheit wird durch die geänderten Rahmenbedingungen für militärische Einsätze erneut rechtlich strapaziert. Irak-Krieg-Verweigerer aus den USA sitzen in US-Militärgefängnissen in Deutschland; kurdische Verweigerer aus der Türkei bemühen sich – oft vergeblich – um Schutz in den Mitgliedsländern der EU, um nicht am Krieg gegen eigene Landsleute teilnehmen zu müssen.

Eine neue Dimension: Der NATO-Krieg gegen den Terror

Nachdem die USA die Terroranschläge vom 11. September 2001 als militärischen Angriff gewertet haben, stellte der Nato-Rat am 12. September 2001, den »Bündnisfall« fest. Der Bundestag hat am 19. September 2001 eine Entschließung verabschiedet, die diese Erklärung des Nato-Rates ausdrücklich begrüßt. Bündnisfall bedeutet, dass der »Verteidigungsfall« nach Artikel 115a festgestellt werden könnte. Deutschland wäre dann im Kriegszustand. Dies hätte auch weitreichende Folgen für Wehrpflichtige.

Soldaten und Auslandseinsätze

Alle freiwillig dienenden Soldaten (Berufs-, Zeitsoldaten, Freiwillig Wehrdienst Leistende) können zu jedem Einsatz abkommandiert werden. Es bedarf keiner vorherigen Zustimmung des einzelnen Soldaten. Nach der Rechtsauffassung der derzeitigen Bundesregierung sind „auch Soldaten im Grundwehrdienst verpflichtet, im Rahmen der verfassungsmäßigen Aufgaben der Bundeswehr überall dort Dienst zu leisten, wo es erforderlich ist“, also auch im Ausland. Allerdings ist es Praxis, dass sie dort „ausschließlich aufgrund freiwilliger Meldung eingesetzt werden“. (Drucksache des Bundestages 14/3893, S.14) In einer sicherheitspolitisch zugespitzten Situation kann von dieser Praxis abgewichen werden.

Reservisten und Auslandseinsätze

Wehrpflichtige gehören nach ihrer Dienstzeit zur Reserve und können zu Wehrübungen einberufen werden. Hat ein Reservist eine »Erklärung zur Teilnahme an besonderen Auslandsverwendungen« unterschrieben, kann er zu einer maximal siebenmonatigen Auslandswehrübung einberufen werden. Seine Erklärung kann er nur bis zur Einberufung zurückziehen. Nach einer Einberufung ist der Widerruf ausgeschlossen. Dies gilt bis zum Ablauf des Jahres, in dem er das 45. Lebensjahr, mit Unteroffiziers- oder Offiziersdienstgrad bis zum Ablauf des Jahres, in dem er das 60. Lebensjahr vollendet.

Wehrpflicht im Bereitschaftsdienst und Bereitschaftsfall

Die Bundesregierung kann auch verfügen, dass Reservisten zu unbefristeten Wehrübungen einberufen werden und ohne parlamentarische Zustimmung den Bereitschaftsfall anordnen. Die Kreiswehrersatzämter können dann Zurückstellungen, die nach § 12 Absatz 2 und 4 des Wehrpflichtgesetzes vorgenommen wurden (Vorbereitung auf das geistliche Amt, Berufsausbildung, zweiter Bildungsweg etc.), widerrufen. Widersprüche gegen Musterungsbescheide verlieren jetzt ihre aufschiebende Wirkung, gesetzlich vorgeschriebene Anhörungen vor der Einberufung finden jetzt nicht mehr statt. Wehrpflichtige, die sich im Ausland aufhalten, können zur unverzüglichen Rückkehr aufgefordert werden, und jeder Grenzübertritt ist genehmigungspflichtig. Der Bereitschaftsfall hat allerdings keine Auswirkungen auf anerkannte Kriegsdienstverweigerer.

Wehrpflicht und Spannungsfall

Nach Eintreten des Spannungsfalls kann eine »Sonderregelung für Verteidigungsangelegenheiten« im Verwaltungsverfahrensgesetz (§ 95) in Kraft treten. Unabkömmlichkeitsstellungen für Wehrpflichtige werden auf Tätigkeiten beschränkt, die für den Weiterbetrieb kriegsnotwendiger Betriebe oder Aufgaben notwendig sind.

Spannungsfall/Verteidigungsfall

Nach Artikel 12a können sowohl im Spannungs- als auch im Verteidigungsfall Wehrpflichtige, die sich weder im Wehr- noch Zivildienstverhältnis befinden, für „Zwecke der Verteidigung einschließlich des Schutzes der Zivilbevölkerung in Arbeitsverhältnisse verpflichtet werden“. Allerdings ist hier zwischen dem Spannungsfall nach Artikel 80a Absatz 1, der eine Entscheidung des Bundestages voraussetzt, und nach Artikel 80a Absatz 3 zu unterscheiden. Letzterer wird aufgrund einer Entscheidung durch ein internationales Gremium festgestellt. Das ist der Bündnisfall.

»Notstandsgesetze« können bei Eintritt des Spannungsfalles oder im Verteidigungsfall in Kraft treten und hebeln in grundlegenden Bereichen die Grundrechte aller Bürger und Bürgerinnen aus. Aber auch unabhängig von der formellen Feststellung des Spannungsfalls kann der Bundestag nach Artikel 80a Absatz 1 die Anwendung der Notstandsgesetze beschließen, die ansonsten nur im Spannungsfall oder Verteidigungsfall zugelassen sind. Dies wird als »Teilnotfall« bezeichnet.

Anträge auf Kriegsdienstverweigerung, die von nicht einberufenen Ungedienten gestellt werden, verlieren im Verteidigungs- und Spannungsfall einschließlich des Bündnisfalls ihre Einberufung hemmende Wirkung. Über diese Anträge entscheiden dann die Ausschüsse für Kriegsdienstverweigerung (§ 8 Kriegsdienstverweigerungsgesetz). Antragsteller können trotzdem vor der Entscheidung über ihren Antrag zum Wehrdienst einberufen werden. Jedoch hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 24. April 1985 entschieden, dass man im Kriegsfall nach einem KDV-Antrag nur zu einem waffenlosen Dienst verpflichtet werden darf.

Wehrpflicht, KDV und Verteidigungsfall

Nach Feststellung des Verteidigungsfalles unterliegen alle Wehrpflichtigen bis zum 31. Dezember des Jahres, in dem sie das 60. Lebensjahr beenden, der Wehrpflicht (§ 3 Absatz 5 Wehrpflichtgesetz). Für aktive Soldaten wird die Dienstzeit auf unbestimmte Zeit erweitert, Reservisten können zu einem unbefristeten Wehrdienst einberufen werden (§ 4 Absatz 1 Satz 4 Wehrpflichtgesetz), auch zu Einsätzen rund um den Globus. Ungediente Wehrpflichtige gehören zur Ersatzreserve und können im Verteidigungsfall zur Bundeswehr einberufen werden. Die Ausweitung der Wehrpflicht gilt auch für anerkannte Kriegsdienstverweigerer. Sie können ebenfalls bis zum 60. Lebensjahr zu einem unbefristeten Zivildienst einberufen werden, unabhängig davon, ob sie bereits Zivildienst geleistet haben oder noch nicht – so § 79 Absatz 1 Zivildienstgesetz. Ein Kriegsdienstverweigerer, der noch vor Feststellung des Verteidigungsfalles seine Anerkennung beantragt hat, über dessen Antrag aber noch nicht entschieden ist, kann sofort zum Zivildienst einberufen werden (Wehrpflichtgesetz § 48 Absatz 2 Satz 2). Alle erfolgten Zurückstellungen vom Wehr- oder Zivildienst, ausgenommen solche aus gesundheitlichen Gründen, treten außer Kraft (Wehrpflichtgesetz § 48 Absatz 2 Satz 3 und § 79 Absatz 4 Zivildienstgesetz). Einberufungen zum unbefristeten Wehrdienst und zwar zum sofortigen Dienstantritt können ohne Einhaltung einer Frist erfolgen (§21 Absatz 3 Wehrpflichtgesetz).

Die neue NATO-Doktrin vom 24. April 1999 enthielt bereits Aufgabenstellungen, deren völkerrechtliche und gesetzliche Legitimation umstritten war. Der Kosovo-Krieg und der NATO Einsatz in Afghanistan führen nach Auffassung kirchlicher Organisationen dazu, dass es für alle Soldatinnen und Soldaten die Möglichkeit zu situationsbezogener Kriegsdienstverweigerung geben müsse. Dafür gibt es bisher keine rechtliche Grundlage. Um ihren friedensethischen Aussagen gerecht zu werden, sollten die Kirchen diese Problematik vermitteln und sich für die rechtliche Anerkennung situationsbezogener Kriegsdienstverweigerung einsetzen.

Notwendige Lobby-Arbeit

Die Durchsetzung des Rechtes auf Kriegsdienstverweigerung braucht die Unterstützung der Zivilgesellschaft.

Dass die Konsensbildung im Bereich der europäischen Institutionen zugunsten des Rechtes auf Kriegsdienstverweigerung so weit vorangekommen ist, ist nicht zuletzt dem Engagement zahlreicher Nichtregierungsorganisationen zu verdanken. Auf internationaler Ebene sind hier neben den Quäkervertretungen in Brüssel und Genf besonders Amnesty International (AI), War Resisters“ International (WRI) und das Europäische Büro für Kriegsdienstverweigerung (EBCO) zu nennen, die ihrerseits ein Netzwerk von Mitgliedsverbänden in der Mehrzahl der europäischen Länder haben und so Lobby-Arbeit auf europäischer wie einzelstaatlicher Ebene betreiben.14 Ebenfalls hilfreich waren in der zurückliegenden Zeit u.a. unterstützende Resolutionen der Konferenz der Menschenrechts-Nichtregierungsorganisationen beim Europarat15 und des Europäischen Jugendforums16. Auf kirchlicher Seite hat sich die Konferenz Europäischer Kirchen im Mai 2001 für die Aufnahme des Rechts auf Militärdienstverweigerung aus Gewissensgründen in die Europäische Menschenrechtskonvention ausgesprochen. In ihrer jüngsten Friedensdenkschrift unterstreicht die Evangelische Kirche in Deutschland ausdrücklich den besonderen Stellenwert der Kriegsdienstverweigerung: „Die evangelische Kirche betrachtet die Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen als Menschenrecht und setzt sich dafür ein, es auch im Bereich der Europäischen Union verbindlich zu gewährleisten. Als Menschen- und Grundrecht besitzt die Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen Vorrang auch gegenüber demokratisch legitimierten Maßnahmen militärischer Friedenssicherung oder internationaler Rechtsdurchsetzung. Dies gilt unabhängig von der Wehrform.“ 17 Die Denkschrift spricht sich für den Schutz auch der situationsbezogenen Kriegsdienstverweigerung aus und hält zum Verhältnis von Militärdienst und Kriegsdienstverweigerung fest: „Militärdienst ist eine staatsbürgerliche Pflicht, die dem Menschenrecht auf Gewissensfreiheit ethisch nicht gleichrangig ist.“ 18 Auch wenn der Hinweis auf zivilgesellschaftliche Zusammenhänge hier nur exemplarisch möglich ist, bleibt festzuhalten, dass komplementär zur institutionellen Verankerung der Gewissensfreiheit die gesellschaftliche Lobby-Arbeit für die Akzeptanz des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung von entscheidender Bedeutung ist.

Konkrete Aufgaben

Bei der Durchsetzung des Menschenrechts auf Militärdienstverweigerung aus Gewissengründen sind weiterhin gravierende Defizite zu verzeichnen. Hier Abhilfe zu schaffen, gehört zu den dringlichen Aufgaben politischen Engagements.

Das Recht auf Militärdienstverweigerung aus Gewissengründen muss explizit Eingang in völkerrechtlich verbindliche Vertragswerke finden, wie es als erster Schritt für den Geltungsbereich der EU-Grundrechtscharta gelungen ist. Entsprechend den langjährigen Forderungen von Europarat, Europäischem Parlament, Kirchen und Menschenrechts-NROs ist darauf hinzuwirken, dass der Schutz der Kriegsdienstverweigerung über ein Zusatzprotokoll in die Europäische Menschenrechtskonvention integriert wird. Nur so kann bewirkt werden, dass die restriktive Rechtsprechung des Straßburger Menschenrechtsgerichtshofes in Fragen der Militärdienstverweigerung sich ändert.

Zu den großen Herausforderungen von Friedensethik und Menschenrechtsschutz gehören die Achtung der Kriegsdienstverweigerer im Ernstfall bewaffneter Konflikte und das Recht auch von Berufssoldaten, zu einer inneren Entwicklung zu stehen, die sie zu einer Revision ihrer früheren Dienstverpflichtung bringt. Der Schutz der Gewissensfreiheit muss auch für Fälle situativer oder selektiver Kriegsdienstverweigerung gelten.19

Kriegsdienstverweigerer und Deserteure, die durch die Behörden ihres Landes Verfolgungen ausgesetzt sind, müssen ohne den Nachweis zusätzlicher Verfolgungsgründe einen Anspruch auf Asyl erhalten.

Der Schutz der Militärdienstverweigerung aus Gewissensgründen gehört zu den durch UNO, Europarat und Europäisches Parlament proklamierten Menschenrechtsstandards. Solange dennoch ein wirksamer Rechtsschutz für Kriegsdienstverweigerer nicht gewährleistet ist, ist eine umfassende Amnestie für Kriegsdienstverweigerer zu fordern.

Von den politisch Verantwortlichen unseres Landes ist zu erwarten,
– dass sie, entsprechend den oben skizzierten Ansätzen, die internationale Durchsetzung des Menschenrechts auf Militärdienstverweigerung aus Gewissensgründen fördern,
– dass sie sich für die Aufnahme des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen in die Europäische Menschenrechtskonvention einsetzen,
– dass sie die positiven Erfahrungen des deutschen Staates mit Kriegsdienstverweigerung und Zivildienst in die internationale Diskussion einbringen.

Übersicht über die Lage des Militärdienstes und der Kriegsdienstverweigerung
in den Mitgliedsländern des Europarates
Mitgliedsland Wehrpflicht
(keine Wehrpflicht seit …)
Dauer des Militärdienstes Recht auf KdV seit … Dauer des Zivildienstes
Albanien ja 12 Monate 1998 (Verfassung) 12 Monate
Armenien 1 ja 18 Monate 1994 36 Monate
Azerbaijan 2 ja 18 Monate 1995 (Verfassung)  
Belarus ja 18 Monate 1994  
Belgien 1995      
Bosnien-Herzegowina 2006      
Bulgarien 2008      
Dänemark ja 4-12 Monate (ø 9 Monate) 1917 gleiche Dauer
Deutschland ja 9 Monate 1949/1956 9 Monate
Estland ja 8 Monate 1994 12 Monate
Finnland 3 ja 180-360 Tage    
(ø 8,5 Monate) 1931 395 Tage    
Frankreich 2001      
Georgien 4 ja 18 Monate 1997 36 Monate
Griechenland ja 12 Monate 1997 23 Monate
Großbritannien 1960      
Irland niemals      
Island niemals      
Italien 2006      
Kroatien 2008      
Lettland 2007      
Litauen ja 12 Monate 1990 18 Monate
Luxemburg niemals      
Malta niemals      
Mazedonien 2007      
Moldawien ja 12/13 Monate 1994 (Verfassung) Freikauf möglich
Montenegro 2007      
Niederlande 1996      
Norwegen 5 ja 12 Monate 1995 12 Monate
Österreich ja 6 Monate 1975 6 Monate
Polen ja 12 Monate 1988 18 Monate
Portugal 2005      
Rumänien 2007      
Russland 6 ja 12 Monate seit 1992 (Verfassung der Sowjetisch  
Föderalen Republik von Russland)        
seit 1993 (Verfassung der FR Russlands) 21 Monate      
Schweden ja 7,5 Monate 1920 7,5 Monate
Schweiz ja max. 260 Tage 1992/1996 max. 390 Tage
Serbien 7 ja 6 Monate 1994/2003 9 Monate
Slovakische Republik 2006      
Slowenien 2003      
Spanien 2001      
Tschechische Republik 2006      
Türkei 8 ja 18 Monate nein nein
Ukraine ja 18 Monate 1992 doppelte Länge
Ungarn 2006      
Zypern ja 25 Monate 2005 34 Monate
Anmerkungen Tabelle
1) Armenien hat eine Rekordzahl von religiösen Kriegsdienstverweigerern im Gefängnis, obwohl es gegenüber dem Europarat aus dem Jahre 2004 eine Zusage gibt, alle Gewissensgefangenen freizulassen. Gegenwärtig sind 72 Zeugen Jehovahs inhaftiert; die durchschnittliche Gefängnisstrafe liegt bei zweieinhalb Jahren. Ein sog. alternativer Zivildienst steht jedoch unter der vollständigen Kontrolle des armenischen Generalstabs und wird von Militärpolizei überwacht und nach Militärstrafrecht geregelt. Pazifisten werden gezwungen, Militäruniformen zu tragen. Zeugen Jehovahs und Molokans sind bereit, einen tatsächlichen Zivildienst abzuleisten – aber Armenien läßt dies nicht zu.
2) Anfang 2007 beschloss das Azerbaijanische Parlament Änderungen im Wehrpflichtgesetz und befreite jene, die für behinderte Personen sorgen, an Universitäten promovieren oder Väter von zwei Kindern sind, von der Wehrpflicht. Zuvor musste man mindestens drei minderjährige Kinder vorweisen. 2007 richtete sich die Azerbaijanische Armee vollständig nach NATO Standards aus. Dies wird auch die Wehrpflicht betreffen, erklärte Verteidigungsminister Novruzov.
3) Jährlich befinden sich etwa 50 KdVer im Gefängnis aufgrund der Nichtableistung der Überlänge des Zivildienstes.
4) Die KdV Erklärung kann max. bis 10 Tage nach der Einberufung abgegeben werden. Bisher gibt es kein Zivildienstgesetz. Jährlich sind 38.857 männliche Personen wehrpflichtig.
5) Im Jahre 2006 gab es 10.234 Militärdienstleistende und 1.298 Kriegsdienstverweigerer.
6) Im 1. Halbjahr 2006 wurden 124.550 Wehrpflichtige einberufen, 319 KdVer gezählt und 275 zum Zivildienst einberufen.
7) 50% aller Wehrpflichtigen leisten Zivildienst.
8) 2 KdVer im Jahr 2006 and 4 KdVer 2007 haben öffentlich ihre Kriegsdienstverweigerung erklärt. Es gibt keinen Zivildienst. Anklagen wurden auch gegen Journalisten erhoben, die über das Recht auf KdV Artikel veröffentlichten. Enver Aydemirhas ist der erste türkische Verweigerer, der sich auf seinen muslimischen Glauben beruft.

Anmerkungen

1) Resolution 337(1967) zum Recht auf KDV aus Gewissensgründen Abschnitt A.2. Ähnlich formuliert die Bandres-Bindi-Resolution des Europäischen Parlaments, s. Anm. 7.

2) So 1977 die Empfehlung 816 (1977) der Parlamentarischen Versammlung zum Recht auf Militärdienstverweigerung, 1987 die Empfehlung R (87)8 des Ministerkomitees betreffend die Verweigerung der Militärdienstpflicht, 1994 Resolution 1042 (1994) zu Deserteuren aus den Republiken des früheren Jugoslawien, 2001 die Empfehlung 1518 (2001) der Parlamentarischen Versammlung „Ausübung des Rechts auf Militärdienstverweigerung aus Gewissensgründen in den Mitgliedsstaaten des Europarates“. Zuletzt wird in Empfehlung 1742 (2006) „Menschenrechte von Mitgliedern der Streitkräfte“ das Recht bekräftigt, jederzeit, auch als Berufssoldat, den Militärdienst aus Gewissensgründen zu verweigern.

3) Empfehlung 1518 (2001) Ziffer 5. Der Wortlaut der Empfehlung findet sich u.a. in der Europarats-Broschüre H(2002)2 „Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen“, deren Absicht es ist, „eine breite Öffentlichkeit sowie nationale Einrichtungen auf die Probleme von Militärdienstverweigerern aufmerksam zu machen“ (http://www.coe.int/t/e/human_rights/objcond.pdf).

4) Entschließung vom 7. Februar 1983 zur Militärdienstverweigerung aus Gewissensgründen

5) Entschließung vom 13. Oktober 1989 über Militärdienstverweigerung aus Gewissensgründen und Zivildienst

6) Entschließung vom 11. März 1993 über die Achtung der Menschenrechte in der Europäischen Gemeinschaft, s. besonders Ziffer 46.-53.

7) Entschließung vom 19. Januar 1994 über die Militärdienstverweigerung aus Gewissensgründen in den Mitgliedsstaaten der Gemeinschaft

8) Jo Leinen: Das Europa der Bürgerrechte garantiert ausdrücklich die Gewissensfreiheit zur Militärdienstverweigerung, Presse-Information vom 15.01.2008 (www.joleinen.de, deutscher Text), EBCO-Newsletter The Right to Refuse to Kill, Edition Spring 2008 (www.ebco-beoc.org, englische Version)

9) Zitiert nach Dokument E/CN.4/2006/51 der UN-Menschenrechtskommission vom 27.02.2006, Ziffer 12.

10) Siehe u.a. die Resolutionen 1995/83, 1998/77,2002/45 der UN-Menschenrechtskommission

11) Siehe Dokument E/CN.4/2006/51 der UN-Menschenrechtskommission vom 27.02.2006 (Analytischer Bericht des Amtes des Hohen Kommissars für Menschenrechte betreffend die besten Verfahrensweisen im Zusammenhang mit der Verweigerung des Militärdienstes aus Gewissensgründen). In Nachfolge der früheren UN-Menschenrechtskommission konstituierte sich im Juni 2006 der neu gebildete UN-Menschenrechtsrat, von dem bisher keine Entschließungen zum Thema Militärdienstverweigerung vorliegen.

12) Europarat/Generaldirektion für Menschenrechte und Rechtsangelegenheiten: Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen, Dokument H(2002)2, Nachdruck 12/2007, S.8 (http://www.coe.int/t/e/human_rights/objcond.pdf)

13) Ebenda S.6

14) Einen wohl eher unbeabsichtigten Beleg für die Wirksamkeit dieser bewusstseinsbildenden politischen Arbeit zitiert der WRI Newsletter CO UPDATE No 37/2008: Ersin Kaya, ein Major der türkischen Streitkräfte, beklagt in einem Zeitschriftenartikel, dass der Fall des vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof erfolgreichen Kriegsdienstverweigerers Osman Murat Ülke dazu benutzt werde, um Propaganda gegen die Wehrpflicht zu machen. Kaya fährt fort: „Einige NROs tragen auf die eine oder andere Weise zu dieser Propaganda bei. Diese Organisationen (z.B. EAK, WRI, EBCO etc.) stellen durch ihre Websites und internationalen Konferenzen Öffentlichkeit her und können manchmal beträchtlichen Einfluss auf die EU-Politik ausüben.“ Der Autor kommt zu dem Schluss, dass die Kriegsdienstverweigerung unvereinbar mit der türkischen Kultur sei, und empfiehlt, die Websites von Kriegsdienstverweigerer-Organisationen zu schließen. [Artikel in: Stratejik Arastirmalar Dergisi No. 8 , September 2006].

15) Vgl. aktuell das im April 2008 erschienene OSZE-Handbuch „Menschenrechte und Grundfreiheiten von Streitkräftebediensteten“, Warschau, Kap.10 Resolution zur Anerkennung des Rechts auf Militärdienstverweigerung aus Gewissensgründen vom 25.09.2001, http://www.coe.int/t/e/ngo/public/groupings/human_rights/documents/2001/20010925rap.asp#TopOfPage, Appendix II

16) Resolution zur Militärdienstverweigerung aus Gewissensgründen vom 9./10.11.2007, dokumentiert in EBCO-Newsletter The Right to Refuse to Kill, Edition Spring 2008 (www.ebco-beoc.org)

17) Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen. Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gütersloh 2007, S.43

18) Ebenda S.44, vgl. Anm. 18

19) Besondere Beachtung verdient in diesem Zusammenhang das richtungsweisende Bundesverwaltungsgerichtsurteil zum Fall des Bundeswehrmajors Florian Pfaff, der seine Mitarbeit an einem militärischen IT-Projekt verweigerte, um nicht eine Unterstützungsleistung für den völkerrechtswidrigen Irakkrieg zu erbringen. In den Leitsätzen des Urteils heißt es: 8. „Hat ein Soldat eine von dem Grundrecht der Gewissensfreiheit (Art. 4 Abs. 1 GG) geschützte Gewissensentscheidung getroffen, hat er Anspruch darauf, von der öffentlichen Gewalt nicht daran gehindert zu werden, sich gemäß den ihn bindenden und unbedingt verpflichtenden Geboten seines Gewissens zu verhalten, Diesem Anspruch ist dadurch Rechnung zu tragen, dass ihm eine gewissenschonende diskriminierungsfreie Handlungsalternative bereitgestellt wird…“ In den Entscheidungsgründen wird betont: „Selbst im Verteidigungsfall ist die Bindung der Streitkräfte an die Grundrechte…gerade nicht aufgehoben.“ (S.. 113) [Urteil des 2. Wehrdienstsenats vom 21. Juni 2005 BVerwG 2 WD 12.04]

Gerd Greune ist ehemaliger DFG-VK Vorsitzender (1980-1990) und seit 2003 Präsident des Europäischen Büros für Kriegsdienstverweigerung in Brüssel. Friedhelm Schneider vertritt die Evangelische Arbeitsgemeinschaft zur Betreuung der Kriegsdienstverweigerer (EAK) im Vorstand des Europäischen Büros für Kriegsdienstverweigerung (EBCO) und ist dessen Delegierter beim Europarat.

Kriegsdienstverweigerung und internationale Solidaritätsarbeit

von Rudi Friedrich

Ich „möchte mich bei verschiedenen Menschen bedanken. Sie haben nicht zugelassen, dass meine Geschichte verschwindet. Sie haben mich in den schwierigsten Momenten meines Lebens unterstützt.“ So dankte der US-Kriegsdienstverweigerer Agustín Aguayo für die Unterstützung anlässlich der Verleihung des Stuttgarter Friedenspreises im Dezember 2007.

„Ich muss auf der Hut sein, wenn ich nicht mein Leben im Gefängnis verbringen will. Wie jeder Illegale sehe ich mich vielen Hindernissen ausgesetzt und bin dazu gezwungen, im Untergrund zu leben.“ So schildert der türkische Kriegsdienstverweigerer Ugur Gör 2007 seine Lebenssituation angesichts der drohenden Verfolgung im eigenen Land.

„Ich erfuhr, dass es die Ethiopian War Resisters“ Initiative gibt. Als ich sah, dass im Logo das Gewehr zerbrochen ist, machte mich das sehr glücklich. Das entsprach meinem Gefühl und ich kam zur Initiative dazu“, berichtete der äthiopische Deserteur Moges Beyene in einem im Januar 2008 veröffentlichten Interview.

Die drei Beispiele beschreiben die vielfältigen Hintergründe und Lebenslagen von ausländischen Kriegsdienstverweigerern in der Auseinandersetzung mit dem Militär ihres Herkunftslandes und als Schutz- und Asylsuchende im Ausland. Ich will mich im Folgenden weder ausführlich mit den rechtlichen Hintergründen für die Betroffenen beschäftigen noch mit der Situation der deutschen Kriegsdienstverweigerer. Ich will vielmehr kurz beschreiben, welche Gruppen von Verweigerern mit ihren je spezifischen Problemen es gibt und welche Erfahrungen es in der Solidaritätsarbeit gibt:

Migranten, die mit einem ausländischen Pass auf Dauer in Deutschland leben, sind in ihrem Herkunftsland wehrpflichtig. Können sie sich der Wehrpflicht entziehen? Gibt es dort das Recht zur Kriegsdienstverweigerung? Kriegsdienstverweigerer, die diese Fragen nicht klären können und keine befriedigende Antwort finden, sehen sich in einer ausweglosen Lage: Das Konsulat wird die Ausstellung eines neuen Passes verweigern – oder auch die Verlängerung. Ohne Ausweispapiere erlischt die Aufenthaltsberechtigung in Deutschland. Es droht die Abschiebung.

Menschen, die sowohl einen deutschen als auch einen ausländischen Pass haben – so genannte Doppelstaater – sind gleich in zwei Ländern wehrpflichtig. Oft wird die Ableistung des Militär- oder Zivildienstes durch bilaterale Verträge vom anderen Staat anerkannt, aber nicht immer. Griechenland erkennt oft nur die Ableistung des Militärdienstes in Deutschland, nicht aber des Zivildienstes an. Mit anderen Ländern gibt es überhaupt keine bilateralen Verträge, wie mit Serbien oder Marokko.

In Deutschland stationierte ausländische Soldaten, z.B. aus den USA, die den Kriegsdienst verweigern wollen oder sich dem Einsatz in einem Krieg entziehen, sind in ihren Möglichkeiten, an Informationen und Unterstützung zu kommen, stark eingeschränkt. Sie suchen qualifizierte Beratung in ihrer eigenen Sprache.

In verschiedenen Ländern, wie in der Türkei, Kolumbien oder auch Israel, wird die Kriegsdienstverweigerung nicht oder nur unzureichend anerkannt. Illegalisierte und inhaftierte Verweigerer hoffen auf internationale Unterstützung und Lobbyarbeit für ihr Anliegen.

Aufgrund von Zwangsrekrutierung und der Verfolgung von Kriegsdienstverweigerern und Deserteuren sehen viele ihre einzige Chance in der Flucht. In der Regel gilt aber die Verfolgung als Kriegsdienstverweigerer nicht als Asylgrund. Deutsche Behörden und Gerichte lehnen deren Asylanträge immer wieder ab, da jeder Staat das Recht habe, seine Männer (und auch Frauen) zur Wehrpflicht zu zwingen. Es spielt dabei keine Rolle, ob dort Krieg geführt wird, ob es überhaupt ein Recht auf Kriegsdienstverweigerung gibt, ob dort ein unterdrückerisches Regime herrscht.

An all diesen Stellen ist Unterstützung nötig. Aufgrund der je nach Herkunftsstaat unterschiedlichen rechtlichen Situation und der Erfahrung, dass deutsche Behörden ihr Anliegen ablehnen, ist eine qualifizierte Beratung möglichst in der Herkunftssprache eine Grundvoraussetzung für eine effektive Solidaritätsarbeit. Erst einmal geht es darum, die Fakten zu kennen, damit sich die Betroffenen darauf hin selbst entscheiden können, wie sie weiter vorgehen. Besonders hilfreich ist es, wenn es eine selbstorganisierte Gruppe gibt, in der sich Verweigerer zusammenschließen. Hier können Erfahrungen ausgetauscht werden und informelle Zusammenhänge entstehen, die auch in prekären Situationen noch Schutz und Hilfe bieten können.

Darüber hinaus ist es mit einer solchen Gruppe möglich, gemeinsame politische Ziele nach außen zu tragen. Sie wenden sich gegen den Krieg in ihrem Herkunftsland, sie wollen die dort möglicherweise aktiven Gruppen unterstützen, sie organisieren Aktionen, um auf die prekäre Lage im Herkunftsland hinzuweisen und die dortige Praxis anzuprangern, sie treten gegenüber Parlamentariern und Institutionen auf, sie fordern gemeinsam Asyl für Kriegsdienstverweigerer und Deserteure.

Neben all diesen politischen Aktivitäten hat ihr Zusammenschluss aber auch eine andere wichtige Bedeutung: Deserteure und Deserteurinnen, die aufgrund ihrer Flucht vor dem Militär in ihrem Herkunftsland verfemt werden und als »Verräter« gelten, erleben in der Gruppe, dass sie nicht alleine stehen. Gerade dadurch, dass sie mit ihrer Verweigerung an die Öffentlichkeit gehen, gewinnt ihre Entscheidung eine hohe Bedeutung sowie politisches Gehalt und kann so als etwas Positives erlebt werden. Sie gehören zur kleinen Gruppe derjenigen, die sich aktiv für die Durchsetzung der Menschenrechte, für ein Ende des jeweiligen Krieges in ihrem Herkunftsland einsetzen. Sie werden zum Sprachrohr von vielen, die sich bislang nicht trauen, an die Öffentlichkeit zu gehen.

Dabei sehen sich die Exilgruppen in Deutschland besonderen Schwierigkeiten gegenüber. Sie kennen die politischen Verhältnisse in Deutschland nicht, sie müssen sich in einer fremden Sprache mit unbekannten Gesetzen und Regelungen auseinandersetzen, Asylsuchenden wird mit der so genannten Residenzpflicht die Reisefreiheit in Deutschland eingeschränkt, der Krieg im Herkunftsland sorgt auch unter den Flüchtlingen für Polarisierungen oder Misstrauen. Hier sind die Initiativen oft auf Begleitung und Unterstützung von deutschen Gruppen und Organisationen angewiesen. Mit drei Beispielen will ich verdeutlichen, wie Solidaritätsarbeit praktisch aussehen kann.

US-Verweigerer unterstützen – der Fall von Agustín Aguayo

Agustín Aguayo war als Sanitäter im Jahre 2005 mit seiner Einheit in den Irak geschickt worden. Er hatte einen Antrag auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer gestellt, der jedoch vom Militär abgelehnt wurde. Stattdessen sollte er im September 2006 ein zweites Mal in den Irak gehen. Diesem Einsatz entzog er sich durch Flucht aus dem Militär. Im April 2007 wurde er deswegen zu acht Monaten Haft verurteilt. Jetzt lebt er wieder in den USA und unterstützt die dortigen Antikriegsgruppen.

Zunächst ging es in seinem Fall darum, ihn bei seinem Antrag auf Kriegsdienstverweigerung zu unterstützen. Seit Beginn des Irakkrieges übernimmt das Military Counseling Network in Bammental diese Aufgabe. Zwei Freiwillige aus den USA stehen für Anfragen von SoldatInnen zur Verfügung, begleiten die Kriegsdienstverweigerungsverfahren, stellen Kontakte zu anderen Gruppen, Rechtsanwälten oder Psychiatern her. Insbesondere bei der Öffentlichkeitsarbeit werden sie von Gruppen wie Connection e.V., Stop the War Brigade oder den American Voices Abroad unterstützt.

Agustín Aguayo hatte lange gezögert, an die Öffentlichkeit zu gehen, da er immer auf die Einsicht des US-Militär und damit auf eine Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer gehofft hatte. Erst als ihm der erneute Einsatz im Irak drohte, ging er in die Offensive. Es gelang Connection e.V, erste Kontakte zu Journalisten herzustellen, so dass seine Geschichte im Fernsehen und in verschiedenen Zeitungen veröffentlicht wurde. Zu seinem Prozess waren seine Geschichte und seine Gründe für die Ablehnung des Irakkrieges schließlich breit bekannt geworden.

Zeitgleich startete Connection e.V eine Postkarten- und eine Spendenkampagne. So erreichten ihn in der Haft beim US-Militär in Mannheim mehr als 1.500 Postkarten und Briefe. Sie waren gegenüber dem Militär ein Zeichen des Protestes und für Agustín Aguayo eine äußerst wichtige moralische Unterstützung. Über Spendenkampagnen verschiedener Organisationen konnte ein großer Teil seiner immensen Rechtsanwaltskosten abgedeckt werden.

Die Bedeutung dieses Einzelfalls ist nicht zu unterschätzen. Gerade weil er an die Öffentlichkeit ging, stärkt er in besonderer Weise den Widerstand gegen den Krieg auch innerhalb der Armee. Das gibt auch anderen Mut, ihm zu folgen.

20 Jahre Kampf für das Recht auf Kriegsdienstverweigerung in der Türkei

Vor fast 20 Jahren gingen in der Türkei die ersten Kriegsdienstverweigerer an die Öffentlichkeit. Sie sehen sich einem Teufelskreis der Verfolgung gegenüber. So wurden Verweigerer wie Osman Murat Ülke, Mehmet Tarhan oder Halil Savda nach ihrer Einberufung wegen Befehlsverweigerung angeklagt und verurteilt. Kaum aus der Haft entlassen, werden sie erneut rekrutiert und damit weiter verfolgt. In der Vergangenheit wurden auf diese Weise Kriegsdienstverweigerer bis zu acht Mal verurteilt. Viele sind gezwungen, in der Illegalität zu leben.

Über die Jahre hat sich ein Netz zur internationalen Unterstützung der Verweigerer in der Türkei entwickelt. So gab es Postkartenaktionen, Aktionstage mit Protesten vor türkischen Konsulaten in verschiedenen Ländern, Initiativen beim Europarat, dem Europäischen Parlament. Mit internationalen Konferenzen in der Türkei gelang es immer wieder, die Kriegsdienstverweigerung auch in den türkischen Medien zum Thema zu machen. Im Falle von Osman Murat Ülke wurde Klage beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) eingereicht.

All dies führte dazu, dass der EGMR die Türkei wegen der Verfolgung der Kriegsdienstverweigerer verurteilte. Die Türkei wurde zudem aufgefordert, die Verweigerer zu legalisieren und die Gesetzeslage zu ändern. Die Frage der Kriegsdienstverweigerung ist auch Thema bei den Verhandlungen zum Beitritt in der Europäischen Union.

Es lässt sich also sagen, dass die Solidaritätsarbeit wirkungsvoll auf den verschiedenen Ebenen durchgeführt worden ist. Allerdings ist nach wie vor keine Änderung der Situation in der Türkei abzusehen. Auch auf dringende Appelle des Ministerausschusses des Europarates, „ohne weiteren Verzug alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen … und rasch eine Gesetzesreform zu verabschieden“, gibt es keine Reaktion. Das macht ratlos, bedeutet aber in der Tat, dass die Kriegsdienstgegner noch einen langen Atem haben müssen.

Äthiopische KriegsgegnerInnen organisieren sich

Vor gut einem Jahr wandten sich einige äthiopische Flüchtlinge an Connection e.V., weil sie angesichts ihrer eigenen Erfahrungen und der fortgesetzten Kriegspolitik der äthiopischen Regierung gegen Krieg und Militär arbeiten wollten und wollen. Da es in Äthiopien keine allgemeine Wehrpflicht gibt, ist es keine Gruppe von Verweigerern. Sie bezeichnen sich selbst als KriegsgegnerInnen. Einige von ihnen sind aus dem Militär desertiert.

Die Bevölkerung Äthiopiens ist mit einer katastrophalen wirtschaftlichen und sozialen Situation konfrontiert. 44% der Bevölkerung leben unter der Armutsgrenze. Dennoch wendet die äthiopische Regierung unter dem Premierminister Meles Zenawi 8,4% des Bruttoinlandsproduktes für Militär auf und führt Krieg inner- wie auch außerhalb des Landes: In Somalia, im Ogaden und möglicherweise auch wieder gegen Eritrea. Im Inneren Äthiopiens wird nach wie vor die Opposition verfolgt.

Zunächst kümmerte sich Connection e.V darum, dass die Initiative einen Raum für regelmäßige Treffen hatte, um gemeinsame Forderungen und ihre Arbeit zu entwickeln. Den Aktiven war es zudem wichtig, ihre eigenen Erfahrungen öffentlich zu machen. Connection führte daher mit mehreren längere Interviews durch und veröffentlichten diese schließlich Anfang 2008 gemeinsam mit Hintergrundberichten und Stellungnahmen zur Situation in Äthiopien. Damit ist eine Basis geschaffen, mit der ihre Position deutlich wird und nach außen getragen werden kann. Das geschah gemeinsam mit Pro Asyl und dem Bayerischen Flüchtlingsrat im Rahmen einer Pressekonferenz im Februar 2008.

Das damit vermittelte Gefühl, mit seiner Geschichte und mit seiner Erfahrung nicht alleine zu stehen, das Gefühl, gemeinsam aktiv werden zu können, gibt sehr viel Selbstvertrauen, um die schwierige Situation in Deutschland meistern zu können. Das ist eine wichtige Grundlage, um weiter politisch aktiv zu sein.

Connection e.V. bietet immer wieder Aktionen an, an denen sich Einzelpersonen und Gruppen beteiligen können (siehe Internet: www.Connection-eV.de). Aber letztlich hängt die Unterstützung gerade einzelner Verweigerer davon ab, dass persönliche Kontakte hergestellt und gehalten werden, dass Vertrauen aufgebaut wird und das ein Netz von UnterstützerInnen bereit steht, das mit Menschen, Gruppen und Organisationen zusammen arbeitet, die z.B. vor Ort aktiv werden, dort zu Flüchtlingen Kontakt aufnehmen und mit ihnen solidarisch sind.

Rudi Friedrich ist Mitarbeiter von Connection e.V.

WWW

Weitere Informationen, Literatur und Hilfestellung zum Thema Gehorsamsverweigerung, Kriegsdienstverweigerung und TKDV finden sich unter folgenden Internetadressen

Deutsche Friedensgesellschaft/Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK) https://www.dfg-vk.de/willkommen/

Arbeitsstelle Frieden und Abrüstung e.V. http://www.asfrab.de/

Europäisches Büro für Kriegsdienstverweigerung www.ebco-beoc.org

Evangelische Arbeitsgemeinschaft zur Betreuung der Kriegsdienstverweigerer (EAK) http://www.eak-online.de/

Connection e.V. – Internationale Arbeit für Kriegsdienstverweigerer und Deserteure http://www.connection-ev.de/

Sozialabbau und Rekrutierungsstrategien der Bundeswehr

Sozialabbau und Rekrutierungsstrategien der Bundeswehr

von Jonna Schürkes, Heiko Humburg und Jürgen Wagner, Bundeswehr-Wegtreten

Beilage zu Wissenschaft und Frieden 3/2008
Herausgegeben von der Informationsstelle Wissenschaft und Frieden in Zusammenarbeit mit der Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. und der Initiative Bundeswehr-Wegtreten.

Sozialabbau und andere Rekrutierungsstrategien der Bundeswehr

von Jürgen Wagner

Lange Zeit wurde ein Zusammenhang zwischen Militarisierung und Sozialabbau allein über die sinkenden Sozialausgaben bei steigenden Militärausgaben hergestellt. Gerade in Deutschland aber, wo das Militär gerne als »Spiegelbild« der Gesellschaft und der Soldat als »Staatsbürger in Uniform« dargestellt wird, verpflichten sich immer mehr Jugendliche aus gesellschaftlich unterprivilegierten Gruppen als »Freiwillig-Längerdienende«, weil sie für sich keine oder kaum eine Chance auf dem zivilen Arbeitsmarkt sehen. Ähnlich wie in den USA unterwerfen sich Jugendliche den Gefahren des Kriegseinsatzes, weil ihnen die Gesellschaft keine anderen Chancen lässt.

Für die Bundeswehr ist dies überaus praktisch, denn sie hat extreme Schwierigkeiten, an ausreichend Rekruten für ihre zunehmenden Auslandseinsätze zu gelangen, da der Soldatenberuf unter Jugendlichen, vor allem unter denen, die auf dem zivilen Arbeitsmarkt gute Perspektiven haben, extrem unbeliebt ist.

Aus diesem Grund sucht die Bundeswehr nach immer neuen Möglichkeiten, Jugendliche anzuwerben: dazu gehören

die massive Werbung auf öffentlichen Plätzen, in Schulen und Universitäten, im Fernsehen, Kino und Internet,

die Absenkung der Einstellungskriterien,

das Festhalten an der Wehrpflicht und nicht zuletzt

die schamlose Ausnutzung der Situation arbeitsloser Jugendlicher.

Besonders profitiert die Bundeswehr von der Verschärfung der Auflagen für unter 25jährige Hartz IV Empfänger. Vor diesem Hintergrund erweist sich der Sozialabbau als Rekrutierungsgehilfe der Bundeswehr. Dies geht mittlerweile soweit, dass die Bundeswehr in zahlreichen Arbeitsämtern bereits ständige Büros unterhält und sogar Berichte vorliegen, dass Hartz IV Empfängern Leistungskürzungen angedroht wurden, sollten sie sich weigern, an einer Rekrutierungsveranstaltung teilzunehmen.

Aber nicht nur unter potenziellen Rekruten, auch in der gesamten Bevölkerung nimmt die Ablehnung deutscher Kriegseinsätze in den letzten Jahren rapide zu. Diese Ablehnungshaltung hat bislang jedoch noch nicht zu einer breiten Protestbewegung geführt, die sich die Forderung nach Rückzug der deutschen Truppen, Abrüstung und Umschichtung von Rüstungsgeldern zugunsten sozialer Maßnahmen zu Eigen macht. Dies dürfte vor allem damit zusammenhängen, dass in der Wahrnehmung der meisten Menschen das Thema Auslandseinsätze trotz einer grundsätzlich kritischen Haltung eine sehr untergeordnete Rolle spielt angesichts gravierender sozialer Probleme, Jobunsicherheit usw. Der Hindukusch ist weit weg.

Dass dem nicht so ist, versuchen in jüngster Zeit zahlreiche Initiativen wie u.a. »Bundeswehr-Wegtreten« aufzuzeigen. Sie organisieren Protestveranstaltungen gegen die verschiedenen Rekrutierungsmaßnahmen der Bundeswehr und deren Vordringen in den öffentlichen Raum. Das Bestreben der Bundeswehr, die Perspektivlosigkeit von Jugendlichen mithilfe der verschärften Hartz IV-Gesetzgebung auszunutzen und dabei eng mit den Arbeitsagenturen zu kooperieren, liefert dabei einen Anknüpfungspunkt, in dem sich die Friedensfrage ganz direkt mit Fragen sozialer Gerechtigkeit verbindet.

Wie Aktionen in verschiedenen Städten gezeigt haben, reagiert die Bundeswehr sehr empfindlich auf eine Kritik ihrer Darstellung in der Öffentlichkeit und auf die Proteste gegen die Anwerbung von arbeitslosen Jugendlichen vor allem in den Arbeitsagenturen.

Man kann hoffen, dass der Soldatenberuf auch weiterhin einen Sonderstatus genießt und sich die Gesellschaft nicht damit anfreundet, dass Jugendliche de facto zum Töten gezwungen werden und sich in die Gefahr begeben, getötet zu werden. Das vorliegende Dossier informiert deshalb nicht nur über den Themenkomplex »Sozialabbau als Rekrutierungshilfe der Bundeswehr«, sondern auch über phantasievolle Aktionen gegen die »Werber in Uniform«.

Jürgen Wagner, Informationsstelle Militarisierung

Armee der Arbeitslosen?

Arbeitsagenturen als Rekrutierungsgehilfen der Bundeswehr

von Jonna Schürkes

Im Mai 2000 berichtete die Berliner Zeitung von sinkenden Bewerberzahlen bei der Bundeswehr. „Der Soldaten-Job hat an Attraktivität eingebüßt“ aufgrund der zunehmenden Bundeswehreinsätze im Ausland. Gleichzeitig wies die BZ darauf hin, dass dies aufgrund der schlechten Lage auf dem Arbeitsmarkt aber wohl kein dauerhaftes Problem sein werde.1 Tatsächlich konnte der Stern fünf Jahre später titeln: „Bundeswehr verzeichnet Zulauf wegen Arbeitslosigkeit.“ 2 Und im Januar 2006 berichtete die Berliner Zeitung, die Bundeswehr werde zu einer „Armee der Arbeitslosen“. Mehr als jeder Dritte einberufene Wehrpflichtige sei zuvor arbeitslos gewesen. Sie zitiert einen Sprecher der Arbeitsagentur Berlin-Brandenburg, nach dem der Run auf die Bundeswehr vor allem auf die Lage am Arbeitsmarkt zurückzuführen ist.3 Der Stern sah dann auch die »Gefahr«, dass eine Entspannung auf dem Arbeitsmarkt zu Problemen bei der Nachwuchsgewinnung führen könnte.4

Hinzu kommt, dass aufgrund des demografischen Wandels ein Rückgang der Menschen im wehrfähigen Alter erwartet wird, dies gilt vor allem für Ostdeutschland.5 Vor diesem Hintergrund fürchtet die Bundeswehr eine sinkende Jugendarbeitslosigkeit, da sie dann mit zivilen Arbeitgebern um Nachwuchs konkurrieren muss.6 Oder anders ausgedrückt: die Bundeswehr braucht die Perspektivlosigkeit Jugendlicher, damit diese sich zu Soldaten ausbilden lassen und bereit sind, »deutsche Interessen« unter Gefährdung ihrer körperlichen und geistigen Gesundheit rund um den Globus zu »verteidigen«.

Dies ist in der Geschichte des Militärs durchaus nichts Neues, neu ist, dass die für die Jugendlichen zuständigen Agenturen für Arbeit (ARGE) in vielen Fällen mit der Bundeswehr eng zusammenarbeiten und zum Teil auch Druck ausüben, bis hin zur Kürzung von Sozialleistungen.

Rekrutierungsprobleme

Die Bundeswehr hat trotz der oben angesprochenen für sie positiven Jugendarbeitslosigkeit in einigen Bereichen Rekrutierungsprobleme. So schreibt die FAZ im April d. J.: „In den Kampf- und Transportgeschwadern ist durchschnittlich rund ein Viertel der Stellen für Besatzungsmitglieder vakant. Der Sanitätsdienst hat ein ‚Fehl“ von neun Prozent an Offizieren, also Ärzten. Das Kommando Spezialkräfte (KSK) hat sogar nicht einmal die Hälfte seiner eigentlich vorgesehenen 394 Elitesoldaten7. Nimmt man nur die ‚Shooter“, die Elitekämpfer im engeren Sinne, so ist das Verhältnis sogar noch ungünstiger. Auch bei den Kampfschwimmern, der Spezialkräfteeinheit der Marine, fehlt Personal, doch nicht ganz in diesem Ausmaß.“ 8 Als Ursache für die Nachwuchsprobleme werden vom Sozialwissenschaftlichen Institut der Bundeswehr (SOWI) der demografische Wandel und die zunehmenden Auslandseinsätze genannt. Bezüglich der abschreckenden Wirkung der Auslandseinsätze schreibt das SOWI: „[Es] ist damit zu rechnen, dass den Jugendlichen immer mehr bewusst wird, dass es sich bei der Bundeswehr um eine Armee im Einsatz handelt und dass der Beruf des Soldaten erhebliche Risiken mit sich bringt. Diese Erkenntnis wird zumindest bei einem Teil der jungen Männer und Frauen die Bereitschaft verringern, zur Bundeswehr zu gehen.“ 9

Neben der abschreckenden Wirkung von Auslandseinsätzen und dem demografischen Wandel bereiten den Rekrutierern auch die Ablehung von militärischem Drill und Gehorsam Kopfschmerzen.10

Ablehnung der Auslandseinsätze

Die im Weißbuch der Bundeswehr vom Oktober 2006 nüchtern konstatierte Umwandlung der Bundeswehr hin zu einer »Armee im Einsatz« wird sowohl von den Soldaten als auch von der Bevölkerung Deutschlands zunehmend abgelehnt. Eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Allensbach vom Oktober 2007 zeigt, dass 50% (2005: 34%) der Befragten der Meinung sind, die Bundeswehr solle sich zukünftig nicht mehr an Auslandseinsätzen beteiligen. Nur 34% (2005: 46%) befürworten zukünftige Auslandseinsätze.11 Auch bei den einzelnen Einsätzen sieht es ähnlich aus. Eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Forsa im April 2007 ergab, dass mehr als 70% der Befragten den Tornado-Einsatz in Afghanistan ablehnen.12 Auch der Einsatz vor der Küsten des Libanons (UNIFIL)13 und der Kongoeinsatz (EUFOR)14 wurden mehrheitlich ablehnt. Die Tendenz der Zustimmung ist bei allen Auslandseinsätzen der Bundeswehr sinkend.15 Eine Umfrage unter Soldaten, die am EUFOR-Einsatz teilnehmen sollten, zeigt, dass auch sie nicht von dem Sinn des Einsatzes überzeugt waren.16 Der Vorsitzende des Bundeswehrverbandes kritisierte in einer ganzseitigen Anzeige in der Süddeutschen Zeitung im Vorfeld des Einsatzes, die Soldaten müssten im Kongo „den Kopf hinhalten“ und gleichzeitig würde ihnen der Lohn gekürzt.17

Das Ansehen der Bundeswehr ist aber nicht nur unter Jugendlichen gesunken, sondern auch bei denjenigen, die sich bereits verpflichtet haben. Nach einer Umfrage des Deutschen Bundeswehrverbandes vom Februar 2007 würden über 70% der heutigen Berufssoldaten Verwandten und Freunden davon abraten, sich bei der Bundeswehr zu verpflichten. Besonders negativ ist der Umfrage zufolge das Stimmungsbild bei Soldaten, die an Auslandseinsätzen teilnehmen.18 Das SOWI beklagt, dass die Jugendlichen nur schwer vom Gegenteil zu überzeugen seien, wofür nicht unerheblich die negative Berichterstattung in den Medien verantwortlich sei. Es müssten, so der Autor der SOWI-Jugendumfrage Thomas Bulmahn, „[f]ür den Fall, dass die Negativberichterstattung über einen längeren Zeitraum anhält und das Image des Soldatenberufs nachhaltig zu beinträchtigen droht, […] geeignete Kommunikationsstrategien auch für den Bereich der Nachwuchswerbung entwickelt werden“ 19 (Die »Kommunikationsstrategien« der Bundeswehr werden ausführlich in dem Artikel von Heiko Humburg untersucht). Die Imageverbesserung der Bundeswehr und vor allem des Soldatenberufs ist jedoch ein langwieriger Prozess. Somit liegt es auf der Hand, dass die Bundeswehr neue Wege beschreiten muss, um ihren Bedarf auch künftig decken zu können.

Absenken der Einstellungskriterien für FWLD

Eine Reaktion, die kurzfristig die Zahl der »geeigneten« Jugendlichen für den Soldatenberuf erhöhen sollte, war die Änderung der Einstellungskriterien für Freiwilliglängerdienende (FWLD) im Jahr 2006. FWLD sind Soldaten, die sich für einen bestimmten Zeitraum über den Grundwehrdienst hinaus verpflichten. Dabei erklären sie sich auch bereit zu einer Teilnahme an Auslandseinsätzen, sodass sie sich zusätzlich einem Test unterziehen müssen.

Interessant ist, dass 2006 die Einstellungskriterien in Bezug auf die physischen Anforderungen an zukünftige Soldaten angehoben wurden, während sie in Bezug auf soziale Kompetenz, psychische Belastbarkeit und Verhaltensstabilität abgesenkt wurden. Im Bericht des Wehrbeauftragten heißt es: „Ab dem Diensteintrittstermin 1. Oktober 2006 können Wehrpflichtige dieser Sondergruppe auch im Falle einer Unterschreitung der Mindestvoraussetzungen im Hinblick auf ‚soziale Kompetenz“ und ‚psychische Belastbarkeit“ bis Bewertungsstufe 6 und ‚Verhaltensstabilität“ bis Bewertungsstufe 5 verpflichtet werden.“ 20 Das steht im Widerspruch zu der Behauptung der Bundeswehr, dass gerade die soziale Kompetenz der Soldaten bei »Friedensschaffenden Maßnahmen« im Ausland von hoher Bedeutung sei. Tatsächlich dürften Soldaten mit einer geringen sozialen Kompetenz kaum in der Lage sein die Kriegseinsätze der Bundeswehr der betroffenen Bevölkerung im Einsatzland als »humanitäre Einsätze« zu verkaufen. Und Soldaten mit einer geringen psychischen Belastbarkeit eine Waffe in die Hand zu geben und sie in den Auslandseinsatz zu schicken, ist auch nicht gerade ungefährlich.

Auch hinsichtlich der zunehmenden Anzahl an Soldaten, die mit Posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) und anderen psychischen Problemen von Auslandseinsätzen zurückkehren, ist das Absenken der Kriterien verantwortungslos.

Wer berufliche Alternativen hat, geht nicht zur Bundeswehr

Neben der Absenkung der Einstellungskriterien und den massiven Werbemaßnahmen vor allem in Schulen und Medien (siehe Artikel von Heiko Humburg) macht sich die Bundeswehr die schwierige Situation von Jugendlichen auf dem zivilen Ausbildungs- und Arbeitsmarkt zunutze. In einem Artikel des Hamburger Abendblattes vom Februar 2007 heißt es: „Um an Nachwuchs zu gelangen, verfeuerte die Bundeswehr jahrelang viel Geld – unter anderem mit Werbefilmen wie ‚Bundeswehr – eine starke Truppe“. ‚Wir haben Fehler gemacht“, räumt Christian Louven (39) vom Zentrum für Nachwuchsgewinnung Nord ein. Doch mit der Arbeitslosigkeit kamen immer mehr junge Menschen, die sich freiwillig meldeten. Die Bundeswehr profitiere von der schlechten Wirtschaftslage. ‚Und das nutzen wir auch aus“, gibt Louven zu.“ 21 Bevor auf die Zusammenarbeit zwischen der Bundeswehr und den Arbeitsagenturen eingegangen wird, lohnt sich ein Blick auf die Motivation und den sozialen Hintergrund der Jugendlichen, die bereit sind, sich bei der Bundeswehr zu verpflichten bzw. den Beruf des Soldaten zu ergreifen.

Nina Leonard vom SOWI klagt in ihrem Lehrbuch »Militärsoziologie – eine Einführung«: „Zum Soldatenberuf in der Bundesrepublik liegen nur wenige wissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse vor. Die Zahl der Arbeiten, die dies anhand eines systematischen theoretischen Zugangs, mittels fundierter methodischer Instrumente und auf einer soliden empirischen Basis tun, ist noch geringer. So steht etwa eine berufssoziologische Analyse des ‚Arbeitsplatzes Bundeswehr“ nach wie vor aus.“ 22 Eine wichtige Quelle sind jedoch die Umfragen des SOWI zum Thema »Berufswahl Jugendlicher und Nachwuchswerbung der Bundeswehr«. Bisher hat es je eine Umfrage in den Jahren 2003 und 2006 gegeben. Die Studien dienen der Verbesserung der Nachwuchswerbung und werden vom Verteidigungsministerium in Auftrag gegeben.

Die zur Verfügung stehenden Ergebnisse zeigen, dass ein großer Teil der Jugendlichen, die sich bei der Bundeswehr verpflichten, dies vor allem aus ökonomischen Gründen und weniger aus Überzeugung tut. Im Jahr 2003 konnten sich ca. 30% der männlichen Jugendlichen eine Verpflichtung bei der Bundeswehr vorstellen, wobei über die Hälfte davon angab, sie würden dies nur unter Umständen tun. Dieses »unter Umständen« erklärt sich daraus, dass 30% angaben, sie würden sich verpflichten, wenn sie keine Möglichkeit sehen würden, einen anderen Ausbildungsplatz zu bekommen. Über 70% der Jugendlichen, die Interesse am Soldatenberuf haben, geben an, sie würden vor allem aufgrund der Arbeitsplatzsicherheit zur Bundeswehr gehen, fast 60% nennen die guten Einkommensmöglichkeiten als Grund. Diejenigen, die sich nicht bei der Bundeswehr verpflichten wollen, geben im Gegenzug zu 90% als Grund an, sie könnten mit einem besseren Arbeitsplatz rechnen.23 Die Ergebnisse der Umfrage 2006 werden leider nicht mehr so eindeutig präsentiert. Dennoch kann der grafischen Darstellung der Ergebnisse dieselbe Tendenz entnommen werden. Leonhard fasst die Ergebnisse folgendermaßen zusammen: „Wer berufliche Alternativen hat, geht nicht zur Bundeswehr. […] Wer über ausreichende berufliche Chancen verfügt, zieht die Möglichkeit, Soldat der Bundeswehr zu werden, gar nicht in Betracht.“ 24

Ein ähnliches Bild ergibt sich bei denjenigen, die sich verpflichten, um bei der Bundeswehr eine Ausbildung zu machen bzw. an einer Bundeswehr-Universität zu studieren. Eine Befragung von Studenten der Bundeswehr-Universitäten Hamburg und München aus dem Jahr 2002 kommt zum Ergebnis, dass fast 70% der Studenten den Beruf des Soldaten nicht gewählt hätten, wenn ihnen dadurch nicht ein Studium ermöglicht worden wäre.25 Leider gibt es zu diesem Thema keine neueren empirischen Daten. Jedoch kann davon ausgegangen werden, dass die Studiengebühren in mehreren Bundesländern diesen Trend zusätzlich verstärken. Die Bundeswehr wirbt inzwischen offensiv mit „Studieren ohne Gebühren, Studieren mit Gehalt – Studium bei der Bundeswehr“ 26 und das Studenten- und Schülermagazin Unicum warb 2006 mit dem Slogan „Sold statt Studiengebühren“ für das Studium an einer der Bundeswehr-Universitäten.

Von denjenigen, die sich verpflichten, um eine Ausbildung bei der Bundeswehr zu machen, waren 27% laut einer SOWI-Umfrage unter Unteroffizieren aus dem Jahr 2002 zuvor arbeitslos. Zudem, so die Untersuchung, könne man einen Zusammenhang feststellen, zwischen erlebter Arbeitslosigkeit und Verpflichtungszeit: „Wer vor der Bundeswehr arbeitslos war, neigte überrepräsentativ stark zu einer längeren Verpflichtungszeit.“ 27 In Hamburg waren Anfang 2007 von 328 Jugendlichen, die sich bei der Bundeswehr freiwillig verpflichteten, 107 zuvor arbeitslos gemeldet.28

Die Tatsache, dass sich junge Leute aus ökonomischen Gründen bzw. aufgrund fehlender Chancen verpflichten, lässt bereits vermuten, dass es sich größtenteils um Jugendliche aus ärmeren Familien und mit schlechteren Schulabschlüssen handelt. Allgemeine Daten über die soziale Herkunft von Zeitsoldaten stehen nicht zur Verfügung, wohl aber über diejenigen, die an einer Bundeswehr-Universität studieren. Die oben bereits erwähnte Studie der Bundeswehr-Universität Hamburg kommt zu dem Ergebnis, dass Studenten der Bundeswehr-Universitäten in München und Hamburg eher aus Familien mit geringerem Einkommen und Bildung stammen, als Studenten anderer Universitäten: „[…] der Offizierberuf [bietet] insbesondere für die Studenten aus den mittleren und niedrigen sozialen Herkunftsgruppen Chancen des Aufstiegs.“ 29 Die Befragung von Unteroffizieren im Jahr 2002 ergab, dass nur etwas mehr als 10% über die Fachhochschulreife oder Abitur verfügten.30 „Fasst man die vorliegenden Erkenntnisse zusammen, dann lässt sich sagen, dass die Bundeswehr als Arbeitgeber gegenwärtig in erster Linie für Haupt- und Realschüler mit oftmals geringen beruflichen Alternativen, die sich von der Armee Ausbildungs- bzw. Weiterbildungsmöglichkeiten versprechen, interessant ist. Demgegenüber nehmen viele Abiturienten die Streitkräfte als Beschäftigungsfeld erst gar nicht wahr“ 31, so Nina Leonhard in ihrer Untersuchung zu potenziellen Arbeitnehmern der Bundeswehr.

Es zeigt sich zudem, dass sich vor allem Jugendliche aus Ostdeutschland verpflichten und dann in erster Linie aus Regionen, in denen eine hohe Arbeitslosigkeit herrscht: „Unter den anderen Jugendlichen [die sich eine Verpflichtung bei der Bundeswehr vorstellen können] ist die Bundeswehr vor allem als Arbeit- und Ausbildungsgeber aufgrund der unsicheren Arbeitsmarktlage, der Sicherheit des Arbeitsplatzes und der Möglichkeiten der beruflichen Weiterbildung interessant. Während in Gebieten mit hoher Arbeitslosigkeit das Interesse am Soldatenberuf steigt, ist in Gegenden mit guter Arbeitsmarktlage mit Rekrutierungsproblemen zu rechnen.“ 32 Auch Heikenroths Umfrage unter Unteroffizieren zeigt, dass die Anzahl der Bewerbungen als Zeitsoldat eng mit der wirtschaftlichen Situation in der Region zusammenhängt. „In den norddeutschen und ostdeutschen Wehrbereichen und Bundesländern besitzt demnach die Bundeswehr – nicht zuletzt wegen der hohen Arbeitslosigkeit – weit größere Anziehungskraft als im wirtschaftlich prosperierenden Südwesten. Hier scheint zwar der Dienst in der Bundeswehr als durchaus vorstellbar, aber angesichts der vielfältigen beruflichen Entwicklungsmöglichkeiten in der privaten Wirtschaft befindet sich die Bundeswehr in dieser Region in einem sehr ausgeprägten Konkurrenzverhältnis mit anderen potenziellen Arbeitgebern.“ 33

Die ARGEn als Rekrutierungshelfer

Der Druck auf jugendliche Arbeitslose wächst. Besonders von Bedeutung dürften dabei die Verschärfungen der Auflagen für unter 25jährige sein. Sie erhalten einen geringeren Hartz IV Satz als über 25jährige, die Miete für eine eigene Wohnung wird nicht mehr bezahlt und bereits bei einem einmaligen Verstoß gegen die Auflagen können den Jugendlichen alle Bezüge gekürzt werden. Der Druck für jugendliche Arbeitslose, jede Arbeit anzunehmen, ist demnach extrem hoch. Die so genannte Stallpflicht, also die Pflicht bei den Eltern zu wohnen, ist auch angesichts der Ergebnisse der Jugendumfrage von Bulmahn von Bedeutung, die schon 2003 ergab, dass 40% sich bei der Bundeswehr verpflichten würden, um endlich von zu Hause ausziehen zu können.34

Doch dieser Druck reicht noch nicht aus und so kooperiert die Bundeswehr mit den ARGEn auf vielfältige Weise. Die Zusammenarbeit reicht von der Werbung für den Soldatenberuf durch Mitarbeiter der ARGEn, der Bereitstellung von Räumen für Rekrutierungsveranstaltungen bis hin zu konkreten Kooperationsvereinbarungen mit der Bundeswehr.

Als Argumente für den Beruf des Soldaten werden in den unterschiedlichen Pressemitteilungen und Ankündigungen auf den Internetseiten der ARGEn die „hervorragenden Weiterbildungsmöglichkeiten“, die „Sicherheit des Arbeitsplatzes“ und das „hohe Gehalt“, aber auch die Entlastung des Ausbildungs- und Arbeitsmarktes genannt. Immer wieder werden Rekrutierungsveranstaltungen gemeinsam von Bundeswehr und Arbeitsagenturen organisiert: seien es die so genannten Girls-Days, Informationsveranstaltungen mit Wehrdienstberatern oder Veranstaltungen, bei denen unterschiedliche »Berufe in Uniform« vorgestellt werden, bei denen die Bundeswehr mit der Polizei, dem BGS oder dem Zoll um die Jugendlichen konkurriert.

Diese Form der Kooperation ist weit verbreitet. Unter dem Titel »Vorbilder mit sicherem Arbeitsplatz«, informiert die Agentur in Neuwied über die erfolgreiche Veranstaltung der Bundeswehr im Berufsinformationszentrum (BIZ). In der Presseerklärung heißt es: „In einer Zeit, in der es immer schwieriger wird, überhaupt eine interessante Lehrstelle zu finden, schätzen Jugendliche die vielfältigen Möglichkeiten, aber auch die Sicherheit [sic!], die ihnen hier geboten wird. […] Früher mussten junge Leute erst mal schlucken, wenn sie erfuhren, dass ihre Ausbildung bei der Bundeswehr (BW) sie für mindestens acht, falls sie studieren wollten sogar für zwölf Jahren zu Soldaten machen würde. Doch die Zeit, in der diese Verpflichtung eine Hürde war, gehört längst der Vergangenheit an […], erklärt Stabsfeldwebel und Wehrdienstberater Lothar Melms. „Wo in der freien Wirtschaft bekommt man heute schon eine solche Beschäftigungsgarantie?“ […].“ 35 Für eine Informationsveranstaltung in Leipzig warb die dortige Agentur: „In Sachsen-Anhalt und Thüringen waren Ende Dezember 2005 ca. 31.500 Jugendliche unter 25 Jahren arbeitslos, die über eine abgeschlossene Berufsausbildung verfügen. Für das Jahr 2006 hat die Bundeswehr einen erhöhten Bedarf zur Einstellung von Soldaten auf Zeit in der Laufbahn der Mannschaften. Die Einstellung als Soldat auf Zeit in der Laufbahn der Mannschaften bietet Jugendlichen einerseits für vier Jahre ein gesichertes Einkommen, erweitert ihre sozialen und beruflichen Kompetenzen und entlastet andererseits den Arbeitsmarkt.“ 36

Auch wenn das Anwerben von Jugendlichen für den Soldatenberuf in den Arbeitsagenturen (oder Arbeitsämtern) nicht unbedingt neu ist, so hat die Qualität und Quantität der Präsenz von Wehrdienstberatern in den ARGEn deutlich zugenommen. Bereits im September 2001 protestierten Bremer Arbeitslose gegen die Anwerbung von Arbeitslosen für Auslandseinsätze im Arbeitsamt. Der Vize-Chef des Arbeitsamtes reagierte mit Erstaunen auf die Proteste: Die Bundeswehr sei doch eine ganz normale Firma, mit der man zusammenarbeite.37 Spätestens seit 2006 sind die Auftritte der Rekrutierer in den ARGEn Normalität – wären da nicht die immer einfallsreicheren Aktionen gegen solche Veranstaltungen von Erwerbsloseninitiativen und antimilitaristischen Gruppen (siehe den Beitrag von Bundeswehr Wegtreten).

Vor allem in ostdeutschen Großstädten arbeiten die Agenturen eng mit der Bundeswehr zusammen. In Dessau finden nicht nur regelmäßig Informationsveranstaltungen (Talk im BIZ) statt. Im Januar 2008 veranstaltete die ARGE sogar eine ganze Bundeswehrwoche unter dem Motto »Entschieden gut – Gut entschieden« in ihren Räumlichkeiten. Eine ganze Woche lang hatten die Rekrutierer fast den ganzen Tag Zeit, arbeitslose Jugendliche abzufangen.38 Diese Bundeswehrwoche fand im Rahmen eines Kooperationsprogramms zwischen der Arbeitsagentur und der Bundeswehr innerhalb der Initiative »JUKAM – Junge Karriere Mitteldeutschland« statt. JUKAM ist eine privatwirtschaftliche Initiative zur »Behebung des Problems des Fachkräftemangels« und zur Senkung der Arbeitslosigkeit in Sachsen Anhalt: „Im April [2006] startete der Modellversuch in Sachsen-Anhalt und Thüringen zur Gewinnung arbeitsloser Jugendlicher als Soldat auf Zeit bei der Bundeswehr. Träger des Projekts sind die Regionaldirektion Sachsen-Anhalt-Thüringen der Bundesagentur für Arbeit, das Zentrum für Nachwuchsgewinnung OST der Bundeswehr, die Wehrbereichsverwaltung Ost und die Initiative JuKaM der bildungszentrum energie GmbH Halle/Saale.“ 39 Das Engagement der ARGE wird in der Einladung zur Messe folgendermaßen erklärt: „Intention der Kooperation ist es, arbeitslose Jugendliche für ein Engagement als Zeitsoldat zu interessieren. Im Agenturbezirk sind derzeit rund 2.000 Jugendliche unter 25 Jahre arbeitslos. Die Bundeswehr hingegen bietet freie Stellen […].“ 40

Auch in Leipzig arbeiten ARGE und Bundeswehr zur beiderseitigen Zufriedenheit eng zusammen. Beide Seiten freuen sich über die „hervorragende Zusammenarbeit“. Die hohen Anwerbezahlen von Zeitsoldaten über die Arbeitsagenturen seien „ein gutes Zeichen für die Motivation von jungen Arbeitslosen in der Region auch nichtalltägliche Chancen bei der Suche nach einer neuen Arbeit zu ergreifen und auch ein prima Beispiel für die erfolgreiche Zusammenarbeit zwischen Bundeswehr und Arbeitsagentur“, so der Leiter der Arbeitsagentur in Leipzig im Mai 2005.41

Diese »hervorragende Kooperation« wurde im November 2007 noch erweitert, indem ein Kooperationsvertrag geschlossen wurde. Ziel der Kooperation ist die „Unterstützung der Bundeswehr bei der passgenauen Besetzung offener Stellen für Zeitsoldaten.“ 42 Die Kooperation besteht darin, dass die Bundeswehr die Möglichkeit erhält, in den Räumen der ARGE und des Berufsinformationszentrums zu rekrutieren und die Jugendlichen über die ARGE auf die Veranstaltungen hingewiesen werden. Damit die Mitarbeiter der ARGE auch überzeugend für den Beruf des Soldaten werben können, werden sie direkt in Bundeswehreinrichtungen auf die Beratungsgespräche mit jugendlichen Arbeitslosen vorbereitet. In der Presseerklärung der ARGE Leipzig zu dieser Kooperation heißt es: „Zum einen hat die Bundeswehr weiterhin einen hohen Bedarf zur Einstellung von Soldaten. Diesen Bedarf soll auch die Kooperation mit der ARGE Leipzig decken, denn viele junge Menschen werden erstmals im Zusammenhang mit ihrer Arbeitslosigkeit auf den Arbeitgeber Bundeswehr aufmerksam. […] Die Bundeswehr hat jährlich einen strukturellen Ergänzungsbedarf von ca. 22.000 Soldatinnen und Soldaten. […] In der Stadt Leipzig waren zum Oktober 2007 ca. 4.900 junge Menschen unter 25 Jahren arbeitslos gemeldet.“ 43

Eine Kleine Anfrage und eine anschließende schriftliche Nachfrage der Linksfraktion im Bundestag im Februar und April 2008 hat ergeben, dass die Bundeswehr in elf ARGEn dauerhafte Büros unterhält. In 204 ARGEn finden regelmäßig Rekrutierungsveranstaltungen der Bundeswehr statt.44 (siehe Kasten auf Seite ) Es zeigt sich, dass die Zusammenarbeit zwischen ARGEn und Bundeswehr trotz massiver Kritik an dieser Praxis weiter ausgebaut wird. Die Büros der Bundeswehr befinden sich vor allem in Städten mit einer überdurchschnittlich hohen Arbeitslosenquote.45

Arbeitslosen Jugendlichen drohen Leistungskürzungen, wenn sie nicht an den Rekrutierungsveranstaltungen der Bundeswehr teilnehmen. So äußerte sich der Sprecher der ARGE Leipzig Ronny Schleicher in der Dresdner Morgenpost Ende 2007 folgendermaßen: „Ein Angebot für einen Job beim Bund werten wir als normale Wiedereingliederungshilfe. Allerdings werden wir in jedem Einzelfall prüfen, ob das Angebot zumutbar war und somit Sanktionen fällig werden.“ 46 Zudem sind Bundeswehr-Wegtreten Fälle bekannt, bei denen jugendliche Arbeitslose unter Sanktionsandrohungen zur Teilnahme an BW-Werbeveranstaltungen verpflichtet wurden. Dennoch wurde die Nachfrage nach einer solchen Praxis sowohl in einer kleinen Anfrage im sächsischen Landtag als auch in der bereits erwähnten Anfrage im Bundestag verneint. Jugendliche, die den Wehrdienst verweigern, können jedoch keinesfalls zu der Teilnahme an derartigen Veranstaltungen gezwungen werden.

Unabhängig davon, ob die Jugendlichen tatsächlich formal dazu gezwungen werden, an den Rekrutierungsveranstaltungen in den ARGEn teilzunehmen, ein faktischer Zwang besteht dennoch. Er wird durch die Kürzung von Sozialleistungen vor allem im Rahmen der so genannten U25-Maßnahmen, den Druck durch die Gesellschaft und wahrscheinlich auch ihrer Familien (Stichwort: Stallpflicht) sowie das eigene Gefühl der Perspektivlosigkeit erzeugt.

Das Berufsrisiko: Auslandseinsatz

Der Beruf des Soldaten ist jedoch kein normaler Job. Wer sich verpflichtet, erklärt sich auch bereit, an Auslandseinsätzen teilzunehmen. Der Wehrdienstberater der Bundeswehr in Neuwied, Lothar Melms, wies bei einer Werbeveranstaltung der Bundeswehr auf die Schattenseiten des Soldatenberufs hin: „Wer Soldat werden will, der muss mobil sein. Und das nicht nur innerhalb Deutschlands – zunehmend wird der Dienst auch im Ausland geleistet.“ 47 Selbst der Einsatz von Waffen und des eigenen Lebens soll den Jugendlichen positiv verkauft werden: Die Gefahren, die sie am eigenen Leibe erfahren und die hohe psychische Belastung seien später positiv bei der Suche nach einem Arbeitsplatz bei zivilen Unternehmen. So ist auf der Homepage des Magazins der Bundeswehr Y zu lesen:

„[die Soldaten] sind auch hohem psychischen Druck ausgesetzt, denn im Einsatz geht es um das eigene Leben. ‚Mehr noch als Berufstätige in der Wirtschaft, wo Entlassung, Mobbing und Reorganisation, persönliche Krisen und Leistungsdruck die Berufstätigen heutzutage belasten“, sagt [die Psychologin] Simone Petersen und bringt es auf den Punkt: ‚Das verschafft den ehemaligen Soldaten einen Wettbewerbsvorteil auf dem Arbeitsmarkt von großem Wert.““ 48

Dies ist zynisch. Bis heute sind fast 70 Bundeswehrsoldaten bei Auslandseinsätzen gestorben, viele kehren mit psychischen Problemen und teilweise schweren physischen Verletzungen nach Deutschland zurück. Der Wehrbeauftragte der Bundesregierung schreibt dazu: „Nach aktuellen Erkenntnissen hat sich die Zahl der an posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) erkrankten Soldatinnen und Soldaten seit dem Jahr 2003 nahezu verdreifacht.“ 49 Bisher wurden offiziell insgesamt ca. 1.700 Soldaten wegen psychischer Erkrankungen in Bundeswehreinrichtungen behandelt, etwa 700 Soldaten davon mit PTBS. Die Dunkelziffer ist in diesem Bereich sehr hoch: Der Chef des Deutschen Bundeswehrverbandes wies darauf hin, „dass viele Soldaten ihre Probleme nicht vor den Kameraden oder der Familie zu Hause zugeben wollen, um nicht als ‚Weicheier“ dazustehen. Ein Soldat habe eben ‚hart zu sein.““ 50 Inzwischen mehren sich auch die Klagen von Soldaten, die im Auslandseinsatz waren, sie würden mit ihren physischen und psychischen Problemen weitgehend alleine gelassen.51

Nicht zu vergessen ist, dass der Beruf des Soldaten schon alleine deshalb kein normaler Job ist, wie es Bundeswehr, Bundesregierung und ARGEn immer wieder betonen, weil man als Soldat das Töten lernt und damit rechnen muss getötet zu werden. Dass die Bundesregierung in diesem Zusammenhang leider dennoch keinerlei Probleme hat, die Perspektivlosigkeit Jugendlicher über die Kooperation zwischen der Bundeswehr und den ARGEn auszunutzen und damit für benachteiligte Gruppen faktisch einen Zwang zu erzeugen, sich für die Truppe zu verpflichten, zeigen ihre Antworten auf diverse Anfragen.

Anmerkungen

1) Der Soldaten-Job hat an Attraktivität eingebüßt, Berliner Zeitung, 27.05.2000.

2) Bundeswehr verzeichnet Zulauf wegen Arbeitslosigkeit, Stern, 10.06.2005.

3) Bundeswehr wird zum Heer der Arbeitslosen, Berliner Zeitung, 03.01.2006.

4) Nachwuchssorgen bei der Bundeswehr, Stern, 17.04.2006.

5) Bundeswehr gehen die Rekruten aus, Tagesschau, 15.05.2007, URL: http://www.tagesschau.de/inland/meldung31456.html

6) Bundeswehr im Wettbewerb: Soldaten gesucht, FAZ, 29.04.2008.

7) Wie die FAZ auf diese Anzahl der Elitesoldaten kommt, ist unklar. Für das KSK sind nicht 394, sondern ca. 1.000 Spezialkräfte vorgesehen. Vgl. Mut nicht verlieren, in: Y-Magazin der Bundeswehr, Februar 2007, S.46.

8) Bundeswehr im Wettbewerb: Soldaten gesucht, FAZ, 29.04.2008.

9) Bulmahn, Thomas (2007): Berufswahl Jugendlicher und Interesse an einer Berufstätigkeit bei der Bundeswehr. Ergebnisse der Jugendstudie des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr. Forschungsbericht 81, Straussberg, S.16.

10) Bulmahn, Thomas (2004): Berufswunsch Soldat, in: Sowi-News April 2004, S.4.

11) Der Preis der Freiheit und der Sicherheit, FAZ.net, 16.10.2007.

12) Mehrheit gegen Tornados in Afghanistan, Spiegel Online, 06.04.2007.

13) Umfrage: Mehrheit der Deutschen gegen Mission, Kölner Stadtanzeiger, 13.09.2006.

14) Mehrheit der Deutschen lehnt Bundeswehreinsatz ab, Die Welt, 02.06.2006.

15) Bulmahn, Thomas u.a. (2008): Sicherheits- und Verteidigungspolitisches Meinungsklima in der Bundesrepublik Deutschland, SOWI-Forschungsbericht Nr. 84, April 2008, S.125.

16) Kongo Mission: Noch nie soviel Ablehnung, N24, 17.05.2006.

17) Marischka, Christoph (2006): Den Kopf hinhalten. Für wen deutsche Soldaten unter anderem an den Congo gehen, in: Ausdruck (Juni 2006), S.15-16.

18) Umfrage beim Bundeswehrverband: Alarmierendes Stimmungsbild der Streitkräfte, in: Tagesschau, 26.04.2007, URL: http://www.tagesschau.de/inland/meldung36700.html

19) Bulmahn 2007, S.76.

20) 1: besonders ausgeprägt, 7: ungenügend ausgeprägt; Bericht des Wehrbeauftragten 2006, S.35., BT-DS 16/4700, URL: http://dip.bundestag.de/btd/16/047/1604700.pdf

21) Wir sind lieber Soldaten als arbeitslos, Hamburger Abendblatt, 06.02.2007.

22) Leonhard, Nina (2005): Soldat: Beruf oder Berufung?, in: Leonhard, Nina/Werkner, Ines-Jaqueline (Hrsg.): Militärsoziologie – Eine Einführung, Wiesbaden, S.254.

23) Bulmahn 2004.

24) Leonhard 2005, S.260.

25) Posner, Christine (2004): Untersuchung der Studenten der Helmut-Schmidt-Universität und der Universität der Bundeswehr München; Erhebung und Datengrundlage; Regionale und soziale Herkunft, Berufswahl, Helmut Schmidt Universität Hamburg, S.11.

26) Presseinfo der Bundesagentur für Arbeit Düsseldorf, 22.10.07, URL: http://tinyurl.com/4gwdh2

27) Heikenroth, André u.a. (2002): Unteroffizier und ziviler Beruf, Strausberg, S.26.

28) Wir sind lieber Soldaten als arbeitslos, Hamburger Abendblatt 06.02.2007.

29) Posner 2004, S.6.

30) Heikenroth 2002, S.26.

31) Leonhard 2005, S.260f.

32) Apelt, Maja (2002): Die Integration der Frauen in der Bundeswehr ist abgeschlossen, Soziale Welt, Nr. 3/2002, S.325-344.

33) Heikenroth (2000): Wer will zur Bundeswehr? Eine Potenzialanalyse, Strausberg, S.39.

34) Bulmahn 2004.

35) Vorbilder mit sicherem Arbeitsplatz, Pressemitteilung der Bundesagentur für Arbeit, 25.02.2005.

36) Soldat auf Zeit. Eine Informationsveranstaltung für arbeitslose Jugendliche aus Sachsen-Anhalt, Pressemitteilung der Bundesagentur für Arbeit, 10.05.2006.

37) Krieg als »Vertrauenssache«, URL: http://www.also-zentrum.de/archiv/publik/quer/2001quer/6_war.htm

38) Bundeswehrwoche in der Arbeitsagentur, Pressemitteilung der Arbeitsagentur Dessau, URL: http://tinyurl.com/4x8xkk

39) Bundeswehr kooperiert mit Wirtschaft, in: mdw, März/April 2006.

40) Eine berufliche Zukunft bei der Bundeswehr, Pressemitteilung der Bundesagentur für Arbeit vom 23.01.2008.

41) Bundeswehr sucht Soldaten auf Zeit – Bewerbungsaktion erfolgreich, Pressemitteilung der Bundesagentur für Arbeit, 25.07.2005.

42) Antwort auf die Anfrage der Linksfraktion im Sächsischen Landtag vom 21.01.2008. Drucksache: 04/10762.

43) Presseinfo der ARGE Leipzig (30.11.2007): ARGE + Bundeswehr = Job, URL: http://tinyurl.com/4qtxcd

44) Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Linksfraktion: Zusammenarbeit zwischen Bundesagentur für Arbeit, Arbeitsgemeinschaften und Bundeswehr, BT-DS 16/8285, URL: http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/16/082/1608285.pdf; Antwort auf schriftliche Anfragen vom 18.04.2008, BT-DS 16/8842, URL: http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/16/088/1608842.pdf

45) Die Antwort auf die schriftliche Frage von Inge Höger enthält eine Liste der Städte, in denen die Bundeswehr Büros in den ARGEn angemietet haben und in denen regelmäßig Sprechstunden der Wehrberater stattfinden.

46) Ab in den Krieg, sonst wird die Stütze gekürzt, in: Morgenpost am Sonntag, 16.12.2007.

47) Vorbilder mit sicherem Arbeitsplatz, Pressemitteilung der Bundesagentur für Arbeit, 25.02.2005.

48) Kompetent – Kampf an neuer Front, URL: http://tinyurl.com/5yubzj

49) Bericht der Wehrbeauftragten 2006, S.42.

50) Bundeswehr befürchtet Anstieg Posttraumatischer Störungen bei Soldaten, URL: www.ngo-online.de/ganze_nachricht.php?Nr=16900

51) Kriegstrauma, ZDF Mona Lisa, 18.11.2007.

Jonna Schürkes ist Mitarbeiterin der Tübinger Informationsstelle Militarisierung. Sie betreut dort ein Projekt zur Herstellung alternativer Unterrichtsmaterialien.

In Zeiten von Jugendarbeitslosigkeit und »Hartz IV«:

PR-Strategien der Bundeswehr

von Heiko Humburg

Derzeit tun 50.000 Wehrpflichtige, 58.000 Berufssoldaten und 131.000 Zeitsoldaten ihren Dienst, die sich zwischen vier und zwölf Jahre verpflichtet haben. Da in den nächsten Jahren die geburtenschwachen Jahrgänge vor der Tür stehen und die Attraktivität des Soldatenberufs rapide sinkt, steht die Bundeswehr vor erheblichen Rekrutierungsproblemen (siehe den Beitrag von Jonna Schürkes). Deshalb lautet das Fazit: Verstärkte Werbung für die Truppe ist nötig. Das Konzept der Armee sieht den Besuch von Jugendoffizieren an Schulen und die Einflussnahme auf Unterrichtsinhalte ebenso vor, wie die Teilnahme an Jugendmessen oder die Durchführung von Talentshows und sportlichen Wettkämpfen. Die Bundeswehr bedient sich bei ihrer Einflussarbeit professioneller Apparate aus Forschern und PR-Experten, aber auch »unabhängiger« Journalisten, Fernsehstationen, diverser staatlicher und halbstaatlicher Stellen sowie Städten und Kommunen. Dabei geht es allgemein gesprochen um Deutungshoheit über die Auslands- und Kriegseinsätze der Bundeswehr, um ein »normales«, positives Image der Streitkräfte und im Speziellen um Nachwuchswerbung, also um Rekrutierung für aktuelle und künftige Kampfeinsätze in aller Welt.

Verstärkte Werbung an Schulen

Wir brauchen alternative Unterrichtsmaterialien!

Aufgrund der suggestiven und einseitigen Art der Unterrichtsmaterialien »Frieden und Sicherheit« hat die Informationsstelle Militarisierung begonnen, alternative Unterrichtsmaterialien zu erarbeiten, die online kostenlos zur Verfügung gestellt werden. Zielgruppe sind Schüler und Lehrer der gymnasialen Oberstufe und der Erwachsenenbildung. Geplant sind Arbeitsblätter zu unterschiedlichen Themen der Außen- und Sicherheitspolitik Deutschlands und der EU, Materialien für Lehrer zu einzelnen Themen sowie eine Referentenliste. Die Unterrichtsmaterialien können unabhängig, aber auch zusammen mit den Materialen »Frieden und Sicherheit« eingesetzt werden.

Die Informationsstelle Militarisierung würde sich freuen, wenn sich Lehrer bereit erklären würden, die Materialien im Unterricht zu testen und Verbesserungsvorschläge zu machen. Auch ist sie an Informationen interessiert, wann und wo Jugendoffiziere an Schulen auftreten, um ein vollständigeres Bild über deren Aktivitäten zu erhalten.

Kontakt: imi@imi-online.de

Die Werbung setzt immer häufiger bereits in der Schule an. Die Methoden der Bundeswehr variieren zwischen indirekter Beeinflussung von Schülerinnen und Schülern durch Einflussnahme auf Unterrichtsmaterialien und Schulbücher und direkten Kontakten zwischen Bundeswehrangehörigen und Jugendlichen.

Im Internet stellt das Portal www.frieden-und-sicherheit.de „ein Informationsangebot für junge Leute von 15 bis 20 Jahren sowie für den Unterricht in der Sekundarstufe II und den oberen Klassen der Sekundarstufe I (Klassen 9/10)“ zur Verfügung. Es wird von dem vorgeblich privaten Verein Arbeitsgemeinschaft Jugend und Bildung betrieben und unterliegt der „fachlichen Beratung“ durch das Verteidigungsministerium.1 Diese Materialien sind bereits so aufbereitet, dass den Lehrerinnen und Lehrern damit die Unterrichtsvorbereitung abgenommen wird – so soll sichergestellt werden, dass die von der Bundeswehr gewünschten Inhalte weitgehend unbesehen übernommen werden. Die Unterrichtsmaterialien umfassen ein Heft für den Unterricht (Schülerheft und Lehrerbegleitheft) und Arbeitsblätter, die als Ergänzung zum Schülerheft, aber auch unabhängig als Einzelblätter verwendet werden können. Vorgesehen ist jedoch, ganze Unterrichtssequenzen an den Materialien auszurichten, nicht nur für den Politik/Gemeinschaftskundeunterricht, sondern auch für Religion, Ethik, Geschichte und Geografie.2

Das Arbeitsblatt »Die Bundeswehr im Auslandseinsatz«3 zeigt eine Weltkarte mit den Einsatzorten der Bundeswehr. Die Schüler sollen dann auf den Bundeswehr-Internetseiten die Hintergründe der Einsätze recherchieren. Überschrieben sind die Seiten, auf denen die SchülerInnen recherchieren sollen, mit »Wege zum Frieden«, »Verantwortung tragen« sowie »Frieden schaffen«. Andere Arbeitsblätter beschäftigen sich mit den Themen »Eine Truppe für Europa« oder dem »Weißbuch« der Bundeswehr4, das bekanntlich globale Militäreinsätze zur Sicherung vermeintlich deutscher Interessen vorsieht. Darin haben SchülerInnen dann Multiple-Choice Fragen zu beantworten. Eine Arbeitsfrage lautet beispielsweise: „Das Weißbuch der Bundeswehr heißt Weißbuch, weil a) …die Farbe weiß für den Frieden steht. b) …es einen weißen Umschlag hat. c) …darin so viele Weisheiten niedergeschrieben sind.“

Die Materialien sind aber keineswegs alle plump, ganz im Gegenteil. Ein »Klassiker« der Bundeswehr-Unterrichtsmaterialien ist die Hochglanz-Broschüre »Frieden und Sicherheit«.5 Für Lehrer gibt es eine Extra-Ausgabe mit Tipps und Tricks zur Planung und Leitung des Unterrichts mit dem Material.6

Die Unterrichtsmaterialien sind sehr gut aufbereitet, weshalb die konkrete Kritik an einzelnen Arbeitsblättern schwer fällt. Es wird suggeriert, dass die Materialien eine Diskussion herausfordern würden, indem verschiedene Meinungen genannt werden und die Diskussion in der Gesellschaft um den Sinn und Zweck der Bundeswehr und ihrer Einsätze im In- und Ausland aufgegriffen würden. Dies mag auf den ersten Blick zutreffen, bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass hier sehr suggestiv vorgegangen wird. Systematisch wird die emotionale Betroffenheit von Kindern und Jugendlichen als Ansatzpunkt für die Vermittlung militaristischer Inhalte genutzt: „Wenn in der Gesellschaft die Angst vor terroristischen Anschlägen zunimmt, dann trifft dies auch Jugendliche. Die Schüler sollten wissen, dass das Verbreiten von Furcht und Schrecken eines der Ziele von Terrorismus ist und dass das ‚Kopf in den Sand stecken“ und Lähmung keine Lösungen sein können.“ 7

Stets wird suggeriert, Auslandseinsätze dienten zum einen dem Schutz der deutschen Bevölkerung vor terroristischen Angriffen und zum anderen der Durchführung humanitärer Aktionen. Dies führt zu der absurden Aussage im Begleitheft: „Aus dem ‚Soldaten für den Frieden“, dem ‚Staatsbürger in Uniform“, der zu Zeiten des ‚Kalten Krieges“ zur Landesverteidigung bereitstand, ist ein ‚Soldat für den Weltfrieden“, ein ‚Weltbürger in Uniform“ geworden, der in entfernten Regionen und Erdteilen zum Einsatz kommt.“ 8

Neben dem schüren von Angst und der Ausnutzung von Emotionen werden in den Unterrichtsmaterialien höchst umstrittene Konzepte als wertfreie Realitäten dargestellt. Dies gilt vor allem für die Konzepte der »Neuen Kriege«, der »Vernetzten Sicherheit«, der »Zivilmilitärischen Zusammenarbeit (CIMIC)« und des »erweiterten Sicherheitsbegriffs«. Es wird nicht erwähnt, dass zahlreiche WissenschaftlerInnen und PolitikerInnen bereits den Grundannahmen widersprechen, auf denen diese angeblich unumstrittenen und wertfreien Konzepte aufbauen.

Auch die Auswahl von Texten und Links zur weiteren Recherche ist extrem einseitig und die Bewertung der Sachverhalte wird durch die Form der Fragestellung bereits vorgegeben. So zum Beispiel im Arbeitsblatt »Hilfe für Menschen in Not«9, in dem die Bundeswehr in einem Atemzug mit dem Internationalen Roten Kreuz und Amnesty International als Hilfsorganisation dargestellt wird. Zum höchst umstrittenen CIMIC-Konzept wird die Aufgabe gestellt: „Lesen Sie den CIMIC-Text, und erklären Sie in eigenen Worten, warum eine Zusammenarbeit zwischen Bundeswehr und Hilfsorganisationen in Krisengebieten wichtig ist. Wieso können sie einander nicht ersetzen?“ Die Kritik von Hilfsorganisationen ob der Vereinnahmung durch das Militär wird mit der Frage abgebügelt: „Warum empfinden manche Hilfsorganisationen die Bundeswehr als Konkurrenz?“ Diese Frage suggeriert, dass es den Hilfsorganisationen nur um die eigene Stellung geht und nicht um eine grundsätzliche Kritik an den Verflechtungen zwischen ziviler Hilfe und Militäreinsatz.

Dass mit den Unterrichtsmaterialien keine offene Diskussion über den Sinn und Zweck der Bundeswehr verfolgt wird, wird auch deutlich, wenn man die im Lehrerheft genannten Unterrichtsziele betrachtet. Darin heißt es u.a.: „Die Schülerinnen und Schüler sollen […] erkennen, dass für die gegenwärtige Friedens- und Sicherheitspolitik bei der fortgeschrittenen Globalisierung ein System globaler kooperativer Sicherheit erforderlich ist und weiterentwickelt werden muss, [sie sollen] am Beispiel aktueller Auslandseinsätze der Bundeswehr deren friedenssichernde Rolle beurteilen.“ 10

Äußerst einseitig wird auch die Wahrnehmung der Bundeswehr durch Soldaten und Soldatinnen dargestellt. Im Schülerheft werden unter dem Titel »Warum wir Soldaten brauchen«11 Statements von Soldatinnen und Soldaten über ihren Beruf wiedergegeben. Es handelt sich um vier Aussagen, die alle ihren Job als erfüllend beschreiben und sich positiv über die Auslandseinsätze äußern. In keinem der Zitate ist auch nur ein Hauch von Kritik zu hören. Die Umfrage des Bundeswehrverbandes, nach dem 70% der Soldaten ihren Freunden und Verwandten vom Dienst bei der Bundeswehr abraten würden12, wird ebenso ignoriert, wie die Tatsache, dass viele Soldatinnen und Soldaten nach Auslandseinsätzen Probleme haben (siehe den Beitrag von Jonna Schürkes).

Abgesehen davon wird sowohl in den Arbeitsblättern als auch im Schülerheft alleine durch die Wortwahl die Bewertung der dargestellten Sachverhalte enorm beeinflusst. Handelt es sich um Kriege, die von Europa oder den USA ausgehen, so sind es „friedensschaffende Maßnahmen“ oder „humanitäre Einsätze“. Handelt es sich um Kriege in anderen Teilen der Welt, so wird von Bürgerkriegen, Terror und Völkermord gesprochen. Besonders haarsträubende Aussagen, wie die „gewaltsame Herstellung friedlicher Zustände“ 13 werden vorsorglich in Anführungszeichen gesetzt.

Die Beratung zur Herstellung der Unterrichtsmaterialien kostet das Verteidigungsministerium jährlich 223.000 Euro. Für die Jahre 2008/09 sind jährlich 330.000 Euro vorgesehen, da ein neues Schülerheft erstellt werden soll. Die Materialien werden erschreckend häufig im Unterricht verwendet: „In 2007 sind von den Schulen mehr als 325.000 Schüler- und über 16.000 Lehrerhefte für den Unterricht bestellt worden.“ 14

In der Lehrerausgabe des Heftes wird darauf verwiesen, dass das Erreichen der Lernebene des „beurteilen, abwägen, Bereitschaft entwickeln“ leichter durch das eigene Erleben einer Bundeswehreinrichtung oder im Gespräch mit einem Jugendoffizier erreicht werden kann als ohne diese »Angebote«.15 Dass dieser Appell fruchtet, zeigen aktuelle Beispiele: Im Januar 2008 brachte eine Deutschlehrerin 34 SchülerInnen aus Torgau und Delitzsch in Sachsen für vier Tage für ein Planspiel der Bundeswehr zu zwei Jugendoffizieren auf das Schloss Weidenberg bei Nürnberg. In Bremen fand eine ebenfalls viertägige Veranstaltung für SchülerInnen aus Hamburg-Bergedorf gleich in der Kaserne statt.16

Bundesweit koordiniert erfolgen die Einladungen an Schülerinnen in Bundeswehreinrichtungen durch das Bundesverteidigungsministerium am »Girls“ Day«. Der Girls“ Day, der seit 2001 jährlich vom Kompetenzzentrum Technik-Diversity-Chancengleichheit e.V. aus Bielefeld durchgeführt wird, geht auf eine Initiative des Bundesministeriums für Bildung und Forschung sowie des Familienministeriums zurück. Beteiligt sind neben der Bundeswehr der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB), die Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), die Bundesagentur für Arbeit (BA), der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI), der Zentralverband des Deutschen Handwerks (ZDH) und der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK). Fördermittel kommen unter anderem vom Europäischen Sozialfonds.17 Wie die Bundeswehr mitteilt, geht es ihr darum, „Schülerinnen für den ‚Arbeitgeber Bundeswehr“ zu interessieren und darauf aufmerksam zu machen, dass der Beruf des Soldaten keine reine Männersache ist.“ Mit Veranstaltungen am Girls“ Day, heißt es weiter, könne „der fehlend qualifizierte Nachwuchs, der so dringend gebraucht wird, […] leichter angeworben werden.“ Insbesondere technische Fachkräfte sollen unter jungen Frauen rekrutiert werden, denn sie hätten inzwischen in allen Schulstufen die besseren Abschlüsse aufzuweisen.18 Im Jahr 2006 hatten sich insgesamt 135 Dienststellen der Bundeswehr am Girls“ Day beteiligt und ihr Angebot mehr als 6.200 jungen Frauen aus dem gesamten Bundesgebiet präsentiert.19 Zahlreiche Militärveranstaltungen im Rahmen des »Mädchen-Zukunftstages« fanden in Kooperation mit den Arbeitsagenturen und in deren Räumlichkeiten statt.

Jugendoffiziere an Schulen

Ein wichtiges Instrument ihrer Nachwuchswerbung ist für die Jugendoffiziere an den Schulen das Strategiespiel POLIS (Politik und Internationale Sicherheit). Dabei handelt es sich um eine Simulation für Schüler ab der 10. Klasse, bei der anhand konkreter Beispiele weltweite Ressourcenverteilungskonflikte und Interventionsszenarien durchgespielt werden – Atomwaffeneinsatz inklusive. Lehrer und betriebliche Ausbilder können POLIS-Seminare im Rahmen von Klassenfahrten kostenlos buchen; unter der Anleitung von Jugendoffizieren wird dann mehrere Tage meist in Kasernen geübt.20 POLIS wurde 2004 insgesamt 378 mal für jeweils 30 bis 50 Schüler gebucht.

Wie ein solches Strategiespiel abläuft, beschreibt anschaulich ein Artikel in der ZEIT vom April 2003. Es wird beschrieben, wie Schüler, die sich vor Beginn des Spiels gegen jede Form von Krieg aussprachen, Krieg führen. Dass „[…] gerade friedensbewegte Schüler aufgerüstet hätten, sei ein ‚Element der Orientierung“ an der Realität“, so Wolfgang Sting, Professor für Theaterpädagogik an der Universität Hamburg. Und auch der Jugendoffizier Christian Rump, „ist von der Kriegsstimmung der Schüler nicht überrascht. ‚Es gibt immer welche, die vorletzte Woche noch bei der Hand-in-Hand-Lichterkette mitgemacht haben und jetzt Krieg führen wollen“, sagt der 28-Jährige, ‚viele denken plötzlich, Stärke und Gewalt sind die besten Mittel.“ Rump spricht davon, wie sehr die Medien gegen den [Irak-]Krieg Stimmung machten und die Schüler beeinflussten. Wenn die Schüler im Spiel aber Verantwortung trügen, setzten sie oft selbst das Militär ein.“ 21 Zusammengefasst: Das Strategiespiel POLIS treibt den Schülern die Flausen von Lichterketten und Friedensbewegung aus und soll sie mit der Realität und Alternativlosigkeit des Krieges bekannt machen.

Derzeit gibt es knapp 100 haupt- und weit über 300 nebenamtliche Jugendoffiziere. Allein im Jahr 2005 führten die Jugendoffiziere fast 8.000 Einsätze durch und erreichten knapp 181.000 Menschen. Mit über 160.000 erreichten Schülerinnen und Schülern liegt der Schwerpunkt eindeutig im schulischen Bereich. Im Vergleich zum Jahr 2004 stieg damit die Zahl der Einsätze um über 9,8% an.22 In den meisten Bundesländern gibt es kultusministerielle Erlasse und Weisungen, welche die Einbindung von Jugendoffizieren in den Schulunterricht ausdrücklich befürworten. Die Bundeswehr arbeitet bei ihren Auftritten in Schulen nach eigener Aussage eng mit der Lehrerschaft zusammen. Die Jugendoffiziere berichten: „In fast allen Betreuungsbereichen gestaltete sich dieses Miteinander vertrauensvoll, kooperativ und effektiv. Die Lehrer, mit denen die Jugendoffiziere in Kontakt stehen oder kommen, sind der Bundeswehr fast ausnahmslos positiv und offen gegenüber eingestellt. Dabei sind erfreulich viele jüngere Pädagoginnen und Pädagogen.“ 23 Dennoch ist die Bundeswehr mit der Zahl der Einladungen von Jugendoffizieren an Schulen keineswegs zufrieden. Ein Bundeswehr-PR-Experte beklagt, dass die kultusministeriellen Empfehlungen den Lehrern als End-Entscheidern einen so großen Spielraum ließen, dass diese letztendlich selbst festlegen, in welchem Maß die Bundeswehr im Unterricht behandelt und ob Jugendoffiziere hinzugezogen würden. Für die Zukunft wird deshalb angestrebt, dies verbindlicher zu regeln.24

Im Handbuch der Jugendoffiziere, herausgegeben von der Akademie für Information und Kommunikation (AIK)25, wird als Aufgabe beschrieben, dass Jugendoffiziere in „Kernfragen des militärischen Auftrages keine von den Vorgaben des Bundesministeriums für Verteidigung abweichenden Auffassungen“ vertreten dürfen. Das bedeutet also, dass sie dazu verpflichtet werden, immer streng die Position der Regierung und der Armeeführung wiederzugeben und für sie zu werben. In der Arbeit der Jugendoffiziere geht es um Überzeugungsarbeit, nicht, wie so oft betont, um Dialog und Information. Diese sind eher Mittel zum Zweck. Jugendoffiziere heißen nicht nur so, weil sie Jugendliche im Sinne der Bundeswehr beeinflussen wollen und sollen, sondern auch, weil sie selber noch jung sind, meist zwischen 27 und 32 Jahren. Für diesen »Fronteinsatz« (dieser Begriff wird auch von Jugendoffizieren selbst verwendet) ist nicht jede Person geeignet.

„Den Jugendoffizier muss Wendigkeit, Begeisterungsfähigkeit, Redegewandtheit, politisches Interesse und Freude an der Jugendarbeit auszeichnen“, heißt es in dem Handbuch für Jugendoffiziere des Verteidigungsministeriums.26 „Er soll von seinem Auftreten her frisch und jugendlich, kann sogar noch etwas jungenhaft wirken. Er muss redegewandt, schlagfertig und mit einer Portion Humor begabt sein. Er soll ein Mensch sein, zu dem man gern Kontakt sucht und der seinerseits leicht Kontakt findet. Auch soll er ein ausgeprägtes Interesse am politischen und sonstigen Tagesgeschehen haben.“ 27

Wer hauptamtlicher Jugendoffizier werden will, muss vom Notenschnitt im oberen Drittel seines Jahrgangs gewesen sein, über ein abgeschlossenes Universitätsstudium verfügen, eine Empfehlung der Bundeswehr-Akademie für Information und Kommunikation (AIK, früher: Amt für Psychologische Kriegführung) vorweisen können, nach dem Studium ausreichend lang in der Truppe gedient haben und mindestens drei Jahre lang für diese Rolle zur Verfügung stehen. Alle Soldaten, die Jugendoffiziere werden sollen, absolvieren einen Intensivkurs. Dabei geht es um drei große Bereiche:

Rhetorik – d. h. es werden Verhaltens- und Argumentationsweisen gelehrt

Politische Bildung/Sicherheitspolitik – d. h. inhaltliche Schulung zu strittigen Bundeswehrthemen

Informationen über die Jugendlichen – d. h. Einstellungen der Jugendlichen, Verhaltensweisen, Interessen usw.

Das Auftreten der Jugendoffiziere ist natürlich je nach Eignung und persönlichen Voraussetzungen mehr oder weniger qualifiziert und geschickt. Letztlich arbeiten aber alle mit den Mitteln und Methoden, die ihnen in der psychologischen Ausbildung vermittelt wurden. Das macht die Jugendoffiziere bis zu einem gewissen Maß berechenbar.

Tatsächlich vertreten sie fast nie einen eigenen Standpunkt, obwohl sie gelegentlich versuchen diesen Eindruck zu erwecken. Jugendoffiziere sind stark bemüht, das bei Jugendlichen vorhandene Bild eines Militaristen zu konterkarieren: Mimik, Gestik, äußere Erscheinung und Sprache stehen im Zeichen der Sympathiewerbung, sie sollen psychologische Barrieren abbauen. Während ungeschulte Soldaten auch bei Diskussionen zwangsläufig in Kasernenhofton verfallen, unterläuft dem Jugendoffizier ein solches Missgeschick nicht. Die Stimme bleibt ruhig und gelassen, die Lautstärke ist dem Raum stets angemessen. Sie zeigen sich locker und ungezwungen, gesprächsbereit und offen für alle Probleme. Durch eine geschickte Gesprächsstrategie versuchen sie, inhaltlich-politische Konflikte zu entschärfen und ihnen wo möglich ganz auszuweichen.

Wichtig ist den Jugendoffizieren, schon zu Beginn einer Veranstaltung eine vertraute Atmosphäre zu schaffen. So erzählen sie zunächst von sich: Alter, verheiratet, Kinder, zur Bundeswehr, um die Familie schützen zu können oder Ähnliches. Erst auf direkten Widerspruch reagiert der Jugendoffizier aggressiver. Die Strategie ist dabei, seinen Gegenspieler als uninformiert oder uneinsichtig hinzustellen. Häufig versucht der Jugendoffizier kritische Positionen als jugendlich-naiv darzustellen, ihnen aber scheinbar Verständnis entgegen zu bringen.

Der Jugendoffizier verschließt sich also nicht grundsätzlich der Kritik. Sachlich und emotionslos geht er auf die aufgeworfenen Probleme ein, gibt zu, dass es sie gibt. Aber im Laufe seiner Argumentation stellt sich heraus, dass die Probleme aufgebauscht werden, dass sie nicht typisch für die Bundeswehr sind oder längst alles getan wird, um sie zu beseitigen. Letztlich gibt es keine Probleme von Bedeutung, außer denen, die der Jugendoffizier selbst aufwirft: zu wenig Geld für die Rüstung, zu wenig Verteidigungswillen und Dienstbereitschaft bei Jugendlichen etc.

Im Rahmen der Aus- und Weiterbildung für Pädagogen und Multiplikatoren bieten die Jugendoffiziere außerdem spezielle sicherheitspolitische Seminare an. So informieren sie z.B. Referendare bei mehrtägigen Fahrten nach Berlin, Brüssel oder Straßburg über die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik, die Entwicklungen in der NATO sowie die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik. In vielen Bundesländern werden diese Veranstaltungen von den Kultusministerien als Lehrerfortbildungsseminare anerkannt. So kann ein Jugendoffizier in Bad Salzungen (Thüringen) berichten: „Mittlerweile wurde erreicht, dass das Ministerium seine Schulämter ausdrücklich auf die Zusammenarbeit mit den Jugendoffizieren hinweist. Außerdem wurde erreicht, dass die Jugendoffiziere im Thüringer Institut für Lehrerweiterbildung nun als Dozenten aufgeführt und somit vom Ministerium und den Schulämtern anerkannte Weiterbildungen für Lehrer anbieten können.“ 28 Es werden also bereits Lehramtsanwärter militärisch geschult; Offiziere der Bundeswehr unterrichten in Thüringen die künftigen Klassenlehrer aus den Fächergruppen Gemeinschaftskunde, Geschichte und Ethik.

Die Bundeswehr legt nach Außen großen Wert darauf, dass die Jugendoffiziere selbst nicht direkt in der Personalwerbung aktiv sind. Die Trennung von Information und Rekrutierung „wird von den Schulbehörden und den Schulen erbeten und erwartet. Vor allem in traditionell der Bundeswehr kritisch gegenüberstehenden Betreuungsbereichen ist es unerlässlich, sich abzusprechen und den entsprechenden Schulen zu garantieren, dass der Vortrag keine Nachwuchswerbung ist.“ 29 Diese Trennung wird in der Praxis allerdings nur bedingt aufrechterhalten. Die Jugendoffiziere sollen den Rekrutierern den Weg bereiten. Auch die Jugendoffiziere geben zu: „Prinzipiell ist die Zusammenarbeit mit der Wehrdienstberatung […] ausgezeichnet. So werden gemeinsame Auftritte vor Schulklassen genauso geplant und durchgeführt wie Besuchsanfragen weitergeleitet werden, […] oder es werden Schulanschreiben von beiden zusammen ausgestaltet und versandt.“ 30

Die Antwort auf eine Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE zeigt, dass die Bundesregierung die Praxis der Beeinflussung des Unterrichts durch die Bundeswehr sehr positiv sieht. Sie ist der Meinung, sie würde dem Beutelsbacher Konsens, der die Mindestanforderung an die politische Bildung in der Schul- und Erwachsenenbildung festlegt, entsprechen.31 Der Beutelsbacher Konsens von 1976 enthält drei Grundsätze, wobei zwei durch die Form der Unterrichtsmaterialien Sicherheit und Frieden und die Präsenz von Jugendoffizieren an Schulen missachtet werden. So besagt das Überwältigungsverbot: „Es ist nicht erlaubt, den Schüler – mit welchen Mitteln auch immer – im Sinn erwünschter Meinungen zu überrumpeln und damit an der Gewinnung eines selbstständigen Urteils zu hindern.“ Das Beispiel des oben dargestellten Arbeitsblattes zur zivil-militärischen Zusammenarbeit missachtet dieses Verbot eindeutig. Die Nutzung von offen wertenden und höchst umstrittenen Konzepten, die als vermeintlich wertneutral und allgemein anerkannt verkauft werden, widerspricht dem Kontroversitätsgebot, das besagt:

„Was in Wissenschaft und Politik kontrovers ist, muss auch im Unterricht kontrovers erscheinen. Diese Forderung ist mit der vorgenannten aufs engste verknüpft, denn wenn unterschiedliche Standpunkte unter den Tisch fallen, Optionen unterschlagen werden, Alternativen unerörtert bleiben, ist der Weg zur Indoktrination beschritten.“ 32 Der Bundesregierung zufolge werden diese Grundsätze jedoch auch durch die Arbeit von Jugendoffizieren an Schulen nicht verletzt: „Die Grundprinzipien des Beutelsbacher Konsens sind Grundlage der Politischen Bildung in der Bundeswehr […]. Sie sind integraler Lehrinhalt der Ausbildung der nebenamtlichen/hauptamtlichen Jugendoffiziere an der AKBwInfoKom.“ 33 Wie oben dargestellt wurde, ist die Arbeit der Jugendoffiziere jedoch keinesfalls wertneutral. So heißt es in einer Darstellung von Jugendoffizieren auf einer Seite des Bildungsservers Sachsen Anhalt: „Die Jugendoffiziere in Sachsen-Anhalt stehen Ihnen und Ihren Schülern als Referenten, Diskussions- und Ansprechpartner in allen Fragen, die das Themenfeld Sicherheitspolitik der Bundesrepublik Deutschland, Europas und der Welt betreffen, zur Verfügung. Wir möchten mit unserer Arbeit einen Beitrag zur Erhaltung und Festigung des Grundkonsens über die Sicherheits- und Verteidigungspolitik unseres Landes leisten.“ 34 Dabei gehen sie von einem Grundkonsens aus, der so nicht besteht.

Auch der Berliner Senat sieht durch die Präsenz von Jugendoffizieren an Schulen „eine ausgewogene politische Diskussion des Themas mit den differenzierten Vorgaben des geltenden Rahmenplans für Unterricht und Erziehung sichergestellt.“ Der Senat kommt zu diesem Ergebnis, obwohl er zuvor darüber berichtete, dass im Jahr 2000 205 Veranstaltungen von Jugendoffizieren stattgefunden hätten und lediglich eine davon mit der Beteiligung von Wehrpflichtgegnern. Von Ausgewogenheit kann daher keine Rede sein.35

Die Truppe erobert den öffentlichen Raum

Im August 2007 titelte die FAZ „Rekrutierungsbüros in jeder Fußgängerzone?“ und entwarf folgende Vision: „Die Fußgängerzone einer beliebigen deutschen Stadt mit 30.000 Einwohnern, wir schreiben das Jahr 2010. Ein Blumengeschäft, drei Telefonläden, ein Ramschverkäufer mit fernöstlichen Drei-Euro-Produkten, eine Pommesbude und irgendwo dazwischen ein Rekrutierungsbüro.“ 36 Auch wenn dies tatsächlich noch eine Vision ist, so tummeln sich Rekrutierer inzwischen vermehrt auf Markplätzen, Messen, Volksfesten, Unis oder Berufsinformationszentren. 2008 sollen mehr als 600 dieser Einsätze stattfinden.37

Von Düsseldorf aus steuern 24 hauptamtliche Mitarbeiter alle Einsätze der Bundeswehr auf Großveranstaltungen oder belebten Marktplätzen. Sie koordinieren die Trucks des »KarriereTreffs« aber auch die jeweils acht Infomobile und Infotrucks sowie die acht Messestände der vier Zentren für Nachwuchsgewinnung (ZNwG), die rein personalwerblich ausgerichtet sind.38

Der KarriereTreff Bundeswehr und das ZNwG wollen dieses Jahr 9.147 Schulen anschreiben, das sind fast 30% mehr als 2007. Bei der Werbung wird das Kriegsministerium wieder Panzer, Flugzeuge und anderes Großgerät einsetzen. Das Zentrum für Nachwuchsgewinnung bildet nach Meinung der Bundesregierung „[…] eine moderne und innovative Kommunikationsplattform […].“ 39 Im letzten Jahr fanden 204.259 Informationsgespräche statt. Die Bundeswehr nutzt 2008 auch die über 1.500 Auftritte des Musikkorps, über hundert Gelöbnisse und andere militärische Zeremonien zur externen Personalgewinnung.40

Mit einem »Karrieretruck« zieht die Bundeswehr durch Deutschland, um auf öffentlichen Plätzen Jugendliche anzusprechen. Im Karrieretruck gibt es Kino, gleich neben ihm eine Kletterwand und vor ihm werden Interessierte über die Karriere bei der Bundeswehr informiert. Die Bundesregierung schätzt die Bedeutung der mobilen Werbung als sehr hoch ein: „Nur durch diese mobilen Einsätze können die aus Sicht der Bundesregierung attraktiven Karrieremöglichkeiten in der Bundeswehr flächendeckend präsentiert werden. Für die Sicherstellung der personellen Regeneration und damit Zukunftsfähigkeit der Bundeswehr haben die mobilen Einsätze daher eine hohe Bedeutung.“ 41 Die Bundeswehrwerbung ist der Bundesregierung einiges wert: Alleine der Einsatz der Karrieretrucks kostete im Jahr 2007 fast 1 Millionen Euro.42

Zum Repertoire zählen zudem eigens für Jugendliche veranstaltete Preisausschreiben, Musik-, Talent- und Sportwettbewerbe. Abgerundet werden die Bemühungen der Streitkräfte, Einfluss auf das Denken und die Berufswahl von Jugendlichen zu nehmen, durch regelmäßig abgehaltene Jugendpressekongresse. Die anwesenden Schülerzeitungsredakteure werden aufgefordert, Texte zu schreiben, die die Kommunikation zwischen der Bundeswehr und ihrer jugendlichen Zielgruppe verbessern.43

Die Bundeswehr betreibt im Internet verschiedene Seiten, die in erster Linie dem Anwerben von Jugendlichen dienen. Auf der Seite »www.treff.bundeswehr.de« können Jugendliche, sobald sie sich mit vollständigem Namen, Adresse, Telefonnummer, (angestrebtem) Schulabschluss, Nationalität etc. angemeldet haben, Bildschirmschoner, Handy-Klingeltöne etc. herunterladen, mit anderen Jugendlichen oder Bundeswehrangehörigen chatten und an Gewinnspielen teilnehmen. Die Richtigkeit der Angaben wird soweit kontrolliert, als dass die Zugangsdaten per Post geschickt werden. Mit diesen Angaben – so ist zu vermuten – können die Jugendlichen kontaktiert und angeworben werden. Auch mit den auf der Internetseite beworbenen Veranstaltungen werden spezielle Gruppen von Jugendlichen angesprochen. So sind nur diejenigen zu den »discovery days« eingeladen, „die sich für die Laufbahn der Unteroffiziere bzw. Feldwebel des allgemeinen Fachdienstes, oder der Feldwebel des Truppendienstes interessieren.“ 44

Mehrmals jährlich werden auch Sportveranstaltungen organisiert, wie die BW-Olympix, das BW-Beachen45 oder BW Adventure-Games, bei denen die Teilnehmer bei simulierten Marine-Übungen das Überleben auf See trainieren können. Der Hauptpreis der letzten BW-Olympix war die Teilnahme an einer Übung für Piloten der Luftwaffe. Das Ziel der Veranstaltungen ist klar: „Als Informationsforen bieten die Veranstaltungsformate erstmalig eine Plattform für einen gemeinsamen Auftritt der Streitkräfte und Wehrverwaltung mit Schwerpunkt ‚Personalgewinnung.““ 46 Eine Studie zur Verbesserung der Nachwuchswerbung des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr empfiehlt: „Die vorhandenen Angebote, wie beispielsweise die Sport- und Musik-Events der Bundeswehr (BW-Beachen, BW-Olympix), Girlsday, Tage der offenen Tür (Open Ship der Marine) etc., sollten weiter ausgebaut und weitere geeignete Möglichkeiten entwickelt werden.“ 47

Auch an Universitäten versuchten Jugendoffiziere Fuß zu fassen und dort die Version der Bundeswehr zu Krieg und Frieden zu verbreiten. Dies war bisher jedoch wenig erfolgreich.48 Doch seit dem Wintersemester 2006/07 gibt es in Potsdam den Studiengang »Military-Studies«, der gemeinsam vom Sozialwissenschaftlichen Institut der Bundeswehr, dem Militärgeschichtlichen Forschungsamt der Bundeswehr und dem Institut der Soziologie und Militärgeschichte der Uni Potsdam veranstaltet wird. Das Drängen in zivile Universitäten dient wohl vorrangig der Beeinflussung der Studien zur Militärsoziologie und Militärgeschichte, kann aber auch im Zusammenhang mit der Not der Bundeswehr, Personal mit Universitätsabschlüssen zu gewinnen, gesehen werden. In Ingolstadt ist ein Studiengang »Luftfahrttechnik« an einer FH geplant. Werbung für diesen Studiengang macht die FH gemeinsam mit der Bundeswehr. So landete zu Semesterbeginn im Oktober 2007 ein Hubschrauber der Bundeswehr auf dem Gelände der FH. Dazu standen Bundeswehrangehörige zur Verfügung, um Fragen zu beantworten: „Die [Studenten] wollen auch wissen, wie sie an Jobs in dieser Branche kommen.“ 49

In Zusammenarbeit mit der Bundeswehr entstand auch die TV-Serie »Sonja wird eingezogen«, die 2006 auf RTL ausgestrahlt wurde. Die Moderatorin Sonja Zietlow segelte darin auf der Gorch Fock, sprang Fallschirm und robbte mit Scharfschützen und KSK-Soldaten durch den Schmutz. Der 50. Geburtstag der Bundeswehr war der willkommene Anlass, Schaffen und Wirken der Truppe einer breiten Öffentlichkeit zu präsentieren und nebenbei um den dringend benötigten Nachwuchs zu werben. RTL hält sich zur Frage, wer »Sonja wird eingezogen« finanzierte, bedeckt. Weder das Produktionsbudget noch die Aufteilung unter den Kooperationspartnern werden genannt. Fest steht nur, dass die Bundeswehr das Gerät stellte.

Aber auch das öffentlich-rechtliche Fernsehen stellt sich in den Dienst der Bundeswehr-Imagekampagne. »Die Rettungsflieger« ist eine Co-Produktion von Bundeswehr und ZDF. Auf der Homepage zur Sendung kann man sich ausführlich über die Bundeswehr informieren. Unter der Überschrift „Es wirkt nicht nur echt – es ist auch echt“ ist nachzulesen, dass die Orte, an denen die Serie gedreht wird, echte Einsatzzentralen, Hubschrauberlandeplätze etc. der Bundeswehr sind. Zudem kann man auf der vom ZDF und der Bundeswehr gemeinsam gestalteten Internetseite erfahren, dass die Darstellungen so authentisch sind, weil die Bundeswehr direkt am Drehbuch mit schreibt und die Piloten der Hubschrauber echte Bundeswehrpiloten sind. Neben der Verbesserung des Images der Bundeswehr im Allgemeinen dient auch diese Sendung der Rekrutierung von Nachwuchs. Auf einer Extraseite können sich Interessierte informieren, wie man Rettungsflieger bei der Bundeswehr werden kann.50

Im November 2007 startete der Film »Mörderischer Frieden« in den Kinos. Der Film spielt während des NATO-Krieges im Kosovo und die Protagonisten sind Bundeswehrsoldaten. Er handelt vorgeblich von den ganz alltäglichen und menschlichen Problemen im Auslandseinsatz. Spiegel-online urteilte jedoch: „Die Bundeswehr-Recken in ‚Mörderischer Frieden“ hingegen verstehen es nicht nur, sich schadlos durchs osteuropäische Tohuwabohu zu schlagen, sondern stiften dann auch noch wunderbar symbolträchtig ein bisschen Frieden zwischen den Menschen. Am Ende knattert dann besinnlich ein Heeres-Hubschrauber. Ein Eingreifmärchen, wie es sich die PR-Abteilung der Bundeswehr nicht schöner hätte ausdenken können.“ 51 Doch was heißt hier die »Bundeswehr nicht schöner hätte ausdenken können«, schließlich wurde der Regisseur Rudolf Schweiger bei diesem Projekt sowohl von der Bundeswehr, als auch vom Arbeitsbereich 3 (Medien) des Presse- und Informationsstabes des Verteidigungsministeriums unterstützt.52

Die »Corporate Identity« der Bundeswehr

Die »Marke« Bundeswehr wird planmäßig in der Öffentlichkeit aufpoliert. Neben der Dienstleistung diverser privater Werbefirmen ist die bundeswehreigene Akademie für Information und Kommunikation (AIK) für diese Aufgabe zuständig. Die AIK ist eine Nachfolgeeinrichtung der Akademie für psychologische Verteidigung (PSV), die nach der Wiederbewaffnung Westdeutschlands mit tatkräftiger konzeptioneller und praktischer Unterstützung vormaliger NS-Propagandisten aufgebaut wurde.53

Die AIK hat seit 1990 ein Aufgabenfeld mit drei Kernfunktionen:

Das Feststellen und Analysieren der Einstellung der Bürger zur Bundeswehr. Auf dieser Basis sollen Empfehlungen für die Informationsarbeit abgegeben werden.

Die AIK soll als »Begegnungsstätte sicherheitspolitisch aktiver und interessierter« Multiplikatoren fungieren.

Sie soll die Aus-, Fort- und Weiterbildung des militärischen und zivilen Fachpersonals in Form von Lehrgängen (in erster Linie Presse- und Jugendoffiziere) übernehmen.54

Neben der Ausbildung von Fachpersonal der Presse- und Informationsarbeit wird in der AIK also im Rahmen von Seminaren ein sicherheitspolitischer Dialog mit „interessierten Bürgern“ geführt. Als Multiplikatoren werden neben „führende(n) Vertreter(n)“ von „publizistischen Organen mit überregionaler Bedeutung“ auch „leitende Angehörige der Industrie und Wirtschaft“, „führende Vertreter der Arbeitnehmerverbände“, Juristen und Pädagogen des höheren Staatsdienstes, bekannte Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens sowie Abgeordnete des Deutschen Bundestages, der Landtage und des Europäischen Parlaments angesprochen, nach eigenen Aussagen mit wachsendem Erfolg.55

Ziel dieser Propaganda-Apparate der Bundeswehr ist aktuell beispielsweise die Vorbereitung der Öffentlichkeit auf den Tod deutscher Soldaten in größerer Zahl. Die „Gesellschaft in Deutschland“, so der AIK-Kommandeur Oberst Rainer Senger, müsse darauf „vorbereitet“ werden, dass Bundeswehrangehörige „in größerer Zahl sterben“ und „andere Menschen töten.“ 56 Diese Stand-by-Propaganda soll unter den Medienvertretern Gewöhnung und Gleichgültigkeit hervorrufen.

Wie es auf einer Fachtagung hieß, basiert die „neue Informations- und Kommunikationsstrategie“ auf den Verteidigungspolitischen Richtlinien der Bundeswehr. Darin wird bekanntlich behauptet, dass sich „Verteidigung geografisch nicht mehr eingrenzen“ lasse und die Aufgabe des deutschen Militärs in der „Gestaltung des internationalen Umfelds in Übereinstimmung mit deutschen Interessen“ bestehe. Der Bürger müsse verstehen, dass die Bundeswehr in Zukunft vermehrt „friedenserzwingende, also intensive Maßnahmen“ im Ausland durchführen werde und „kein Technisches Hilfswerk in Flecktarn“ sei.57

Eine Aufgabe der AIK ist auch die »Corporate Identity« der Bundeswehr, also die Vermittlung eines positiven Bildes der Streitkräfte in den Medien. Die erste koordinierte Werbekampagne lief Ende der 1980er mit dem Slogan »Eine starke Truppe« an. Die Kampagne sollte vor allem der Nachwuchswerbung dienen. „Im Rahmen dieser ersten systematischen Werbekampagne der Streitkräfte warben sie 1987 erstmals im Medium Fernsehen um Nachwuchs. Stark emotionalisierende Werbesequenzen, die mit der Anlehnung an die Schlussszene des damaligen Filmhits ‚Top Gun“ (amerikanischer Fliegerfilm) oder der Darstellung von Lagerfeuerromantik das ‚besondere Abenteuer in der Bundeswehr“ im Sinne einer ‚Starken Truppe“ vermitteln sollte.“ 58 Unter dem Namen »Dachkonzept Informationsarbeit 2000« wurde zwischen 1992 und 2000 mit großem finanziellem Aufwand versucht, die gesellschaftliche Akzeptanz der »neuen« Bundeswehr in der Bevölkerung zu verbessern und die Institution als attraktiven und modernen Arbeitgeber darzustellen. Seitdem startet die Bundeswehr jährliche Werbekampagnen, z.B. die Kampagne »Wir sind da«.

Die Bundeswehr nimmt auf dargestellte Weise gezielt Einfluss auf Massenmedien wie das Fernsehen. Aus der ehemaligen PSV ist auch die »Truppe für Operative Information« (OpInfo) hervorgegangen. Bezeichnenderweise trägt sie im NATO-Sprachgebrauch weiterhin die Bezeichnung »Psychological Operations« (PSYOPS). Aus diesem Hause stammt auch der neue Sender Bundeswehr Television (BwTv), der verschlüsselt per Satellit ausgestrahlt wird, da den Streitkräften eine direkte mediale Einflussnahme auf die eigene Bevölkerung verboten ist.59 BwTv wurde 2002 mithilfe der PR-Agentur Atkon AG aufgebaut. Wie die Recherchen von Steven Hutchings zum Dokumentarfilm »Die gelenkte Demokratie« ergaben, wurde eine 100prozentige Tochterfirma der Atkon AG, die Atkon TV Service GmbH, damit beauftragt, sendefertige Fernsehbeiträge an private und öffentlich-rechtliche Fernsehanstalten abzugeben.60 In Zusammenarbeit mit der OpInfo entstand auch die TV-Serie »Sonja wird eingezogen«.

Fast alle Forschungseinrichtungen, die für die mediale Propagandaarbeit des deutschen Militärs relevant sind, wurden mittlerweile in Strausberg konzentriert. Neben der AIK befindet sich dort auch das Sozialwissenschaftliche Institut der Bundeswehr (SoWi), das der AIK mittels Meinungsumfragen die Ansatzpunkte für die gezielte Einflussarbeit an Bevölkerung und Truppe liefert.

Fazit: Die Militärpropaganda stoppen

Die militaristische Propaganda legt sich – unterstützt durch staatliche und privatwirtschaftliche Stellen – wie Mehltau über die Gesellschaft. Die Bundeswehr zielt mit ihrer Werbung besonders auf Jugendliche und versucht deren Perspektivlosigkeit auszunutzen. Denn das Hauptargument der Werbestrategen ist immer noch die Sicherheit des Arbeitsplatzes. Werbeslogans wie »Du suchst Zukunft? Wir bieten sie«, »Die Bundeswehr – jung, dynamisch und effektiv – eines der größten Ausbildungsunternehmen Deutschlands« oder »Berufsgarantie bei der Bundeswehr – Nutzen Sie ihre Chance« stoßen in Zeiten einer Jugendarbeitslosigkeit von ca. 15% und mehreren hunderttausend Jugendlichen ohne Ausbildungsplatz zunehmend auf offene Ohren. Deshalb ist es umso notwendiger, dass von Seiten der Friedensbewegung aber auch der Gewerkschaften der militaristischen Propaganda der Bundeswehr in Schulen, Arbeitsämtern und der Öffentlichkeit entschlossener als bisher entgegentreten wird.

Anmerkungen

1) Frank Brendle: Propagandaoffensive an der Jugendfront, Junge Welt, 06.01.2006.

2) Frieden und Sicherheit (2006a): Lehrerhandreichung 2006/2007. Begleitmaterial zum Schülerheft und zum Internetauftritt, S.3, URL: http://www.frieden-und-sicherheit.de/uploads/134/Lehrerheft_2006_07.pdf

3) Arbeitsblatt: Die Bundeswehr im Auslandseinsatz, August 2004, URL: http://www.frieden-und-sicherheit.de/uploads/72/Arbeitsblatt_BW_Ausland.pdf

4) Arbeitsblatt: Weißbuch 2006: Die Zukunft der Bundeswehr, November 2006, URL: http://www.frieden-und-sicherheit.de/uploads/72/Arbeitsblatt_Weissbuch.pdf

5) Frieden und Sicherheit (2006b): Wir alle tragen Verantwortung. Ein Heft für die Schule 2006/2007, URL: http://www.frieden-und-sicherheit.de/uploads/134/Schuelerheft_2006_07.pdf

6) Frieden und Sicherheit 2006a.

7) Ebd., S.4.

8) Ebd., S.5.

9) Arbeitsblatt: Hilfe für Menschen in Not, November 2005, URL: http://www.frieden-und-sicherheit.de/uploads/72/Arbeitsblatt_Hilfsorganisationen.pdf

10) Frieden und Sicherheit 2006a, S.5f.

11) Frieden und Sicherheit 2006b, S.10f.

12) Alarmierendes Stimmungsbild der Streitkräfte, Tagesschau, 26.04.2007.

13) Frieden und Sicherheit 2006a, S.3.

14) Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage (2008a): Informationsarbeit der Bundeswehr an Schulen vom 21.04.2008, BT-Drucksache 16/8852, URL: http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/16/088/1608852.pdf

15) Frieden und Sicherheit 2006a, S.5f.

16) Hochamt für den Krieg, Junge Welt, 20.02.2008.

17) www.girls-day.de

18) Girls“ Day bei der Luftwaffe, 24.04.2008, URL: http://tinyurl.com/62w3gp

19) Girls“ Day. Der Mädchen-Zukunftstag kommt am 26. April 2007 zur Luftwaffe, URL: http://tinyurl.com/476obx

20) Heinelt, Peer: Wehrpropaganda aktuell, Konkret, 2/2006.

21) Hartung, Manuel: Krieg oder Frieden, Die ZEIT, 30.04.2003.

22) BMVg (2006): Bericht der Jugendoffiziere für das Jahr 2005, S.4, URL: http://www.bundeswehr-wegtreten.org/main/Jahresbericht_Jugendoffiziere_2005.pdf

23) Ebd., S. S.8.

24) Cassens, Manfred (2006): Die Informationsarbeit der Bundeswehr in erziehungswissenschaftlicher Perspektive. Informationsinhalte und deren didaktische Einbettung; Inauguraldissertation; Universität der Bundeswehr München, S.80.

25) BMVg, IPStab/Public Relations – Az 01-61-00: Tätigkeit der Jugendoffiziere der Bundeswehr im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit.

26) Ebd.

27) Fregattenkapitän Hans-Jürgen Meyer: Jugendoffiziere und Jugendunteroffiziere in der Bundeswehr, Beilage zum Heft 8/1999 Informationen für die Truppe, S.17f.

28) BMVg 2006, S.7f.

29) Ebd., S.9.

30) Ebd., S.10.

31) Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage 2008a, S.5.

32) Wehling, Hans-Georg (1977): Konsens à la Beutelsbach, in: Schiele, Siegfried & Schneider, Herbert (Hrsg.): Das Konsensproblem in der politischen Bildung, Stuttgart, S.179f.

33) Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage 2008a, S.5.

34) Die Jugendoffiziere in Sachsen-Anhalt, 09.01.2008, URL: http://www.bildung-lsa.de/index2.html?subj=863&cont=4038

35) Antwort des Berliner Senats auf die Kleine Anfrage: Jugendoffiziere an Berliner Schulen vom 8.02.01, URL: http://www.parlament-berlin.de:8080/starweb/adis/citat/VT/14/KlAnfr/k141430.pdf

36) Rekrutierungsbüros in jeder Fußgängerzone?, FAZ.net, 27.08.2007, URL: http://tinyurl.com/5k4w7g

37) Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage (2008b): Militäraufmärsche in der Öffentlichkeit und Reklameeinsätze der Bundeswehr im Jahr 2008 vom 04.03.2008, BT-Drucksache16/8355, URL: http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/16/083/1608355.pdf

38) Y-Magazin der Bundeswehr; November 2006, S.108.

39) Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage 2008b, S.8.

40) Ebd.

41) Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage (2007): Reklametätigkeit der Bundeswehr vom 21.03.2007, BT-Drucksache16/4768, S.7f., URL: http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/16/047/1604768.pdf

42) Ebd.

43) 82. Jugendpressekongress, URL: http://tinyurl.com/5tnqlc

44) discovery days 2008 – Fritzlar: Division Luftbewegliche Operationen (DLO), URL: http://tinyurl.com/5ebrk7

45) Führend auf dem Gebiet des »Jugendmarketings« ist die Hamburger PR-Agentur Euro RSCG ABC, die auch das diesjährige Beachvolleyball-Turnier Bw-Beachen „08 im Auftrag des deutschen Militärs organisiert.

46) Einmal Deutschland, Y.Online, URL: http://tinyurl.com/6mdb9n

47) Bulmahn, Thomas (2007): Berufswahl Jugendlicher und Interesse an einer Berufstätigkeit bei der Bundeswehr. Ergebnisse der Jugendstudie des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr. Forschungsbericht 81, Straussberg, S.69.

48) BMVg 2006, S.4.

49) Faszination Luftfahrttechnik, Donaukurier, 30.10.2007.

50) http://www.rettungsflieger.bundeswehr.de

51) Kuscheln im Kosovo, Spiegel Online, 28.11.2007, URL: http://www.spiegel.de/kultur/kino/0,1518,520163,00.html

52) Hilflos im Kosovo, Die ZEIT, 29.11.2007, URL: http://www.zeit.de/2007/49/Kino-Moerderischer-Frieden; Gut und Böse auf beiden Seiten, 26.11.2007, URL: http://tinyurl.com/6576az

53) Zur Geschichte der AIK siehe: Hutchings, Steven (2006): Gesteuerte Demokratie; Diplomarbeit an der Hochschule für Gestaltung, Offenbach am Main.

54) Cassens 2006, S.98.

55) Informationsveranstaltungen des Heeres für zivile Führungskräfte 2007, URL: http://www.zifkras.de/infowub1.htm

56) Interview mit Oberst Rainer Senger, Kommandeur der Akademie der Bundeswehr für Information und Kommunikation; www.bmvg.de, 8.9.2005.

57) Ebd.; das Interview wurde mittlerweile vom Netz genommen. Auszüge finden sich jedoch bei www.german-foreign-policy.com vom 18.09.2005.

58) Cassens 2006, S.91.

59) Das Bundesverfassungsgericht entschied zwar 1977 grundsätzlich, dass auch Öffentlichkeitsarbeit staatlicher Institutionen legal ist, die Ausstrahlung eines frei empfangbaren TV-Kanals ist davon aber nicht gedeckt. Vgl. Cassens 2006.

60) Gesteuerte Demokratie? – ein Dokumentarfilm von Steven Hutchings, URL: http://v2v.cc/v2v/Gesteuerte_Demokratie%3F

Heiko Humburg ist Lehramtsreferendar (Geschichte/Politik) in Hamburg und seit dem Jugoslawienkrieg in der Friedensbewegung aktiv.

Kein Frieden mit der Bundeswehr

Militarisierung ist angreifbar

von Bundeswehr-Wegtreten

Bundeswehr setzt sich in ARGEn fest

Wie gezielt sich die Bundeswehr an Arbeitslose wendet, das wird auch darin deutlich, dass sie in zahlreichen »Arbeitsagenturen« Büros unterhält oder regelmäßige Sprechstunden anbietet.

Dauerhafte Büros unterhält die Bundeswehr in:

Celle, Donauwörth, Essen, Hamm, Hildesheim, Lübeck, Mainz, Mühlhausen, Osnabrück, Paderborn, Weilheim

Dauerhaft Sprechstunden werden in folgenden Städten angeboten:

Aachen, Aalen, Ahaus, Ahlen, Alsfeld, Altöttingen, Amberg, Anklam, Annaberg, Apolda, Arnstadt, Aue, Auerbach, Bad Doberan, Bad Hersfeld, Bad Kissingen, Bad Kreuznach, Bad Liebenwerder, Bad Salzuflen, Bad Segeberg, Balingen, Bad Oldesloe, Beeskow, Belzig, Bergen, Bergisch Gladbach, Bernau, Bernburg, Bersenbrück, Bitterfeld, Bonn, Borna, Brandenburg, Brühl, Buchholz, Butzbach, Coburg, Coesfeld, Cuxhaven, Deggendorf, Demmin, Dessau, Detmold, Diepholz, Döbeln, Duisburg, Düren, Düsseldorf, Eberswalde, Eisenach, Elmshorn, Emden, Erbach, Erkelenz, Eschwege, Euskirchen, Eutin, Frankenberg, Frankfurt/M, Freiberg, Friedberg, Friesoythe, Fulda, Gelsenkirchen, Georgsmarienhütte, Gerolstein, Göppingen, Görlitz, Gotha, Greifswald, Greiz, Grimma, Guben, Güstrow, Hagen, Hagenow, Halberstadt, Halle, Hamburg, Hameln, Hanau, Heide, Heilbronn, Hermeskeil, Hettstedt, Hildburghausen, Hof, Holzminden, Höxter, Hoyerswerda, Hünfeld, Idar-Oberstein, Idstein, Ilmenau, Iserlohn, Jena, Kaiserslautern, Kaltenkirchen, Kamenz, Köln, Königswusterhausen, Konstanz, Korbach, Köthen, Krefeld, Kronach, Kusel, Landau, Leer, Limburg, Lingen, Lippstadt, Lohr am Main, Lübbenau, Lüchow, Luckenwalde, Ludwigshafen, Ludwigslust, Malchin, Marienberg, Marktredwitz, Mayer, Meiningen , Melle, Merseburg, Meschede, Monschau, Münsingen, Münster, Nagold, Nauen, Neumünster, Neunkirchen, Neustrelitz, Nienburg, Nordenham, Norderstedt, Nordhausen, Nordhorn, Oberhausen, Oschersleben, Offenbach, Offenburg, Oldenburg i.H., Olsberg, Oschatz, Papenburg, Parchim, Pasewalk, Perleberg, Pforzheim, Pirmasens, Pirna, Plauen, Quedlinburg, Rastatt, Rathenow, Recklinghausen, Rendsburg, Reutlingen, Rheine, Ribnitz, Ribnitz-Damgarten, Riesa, Röbel, Rosenheim, Rostock, Rotenburg, Rottweil, Saarbrücken, Saarlouis, Salzwedel, Sangerhausen, Schleiz, Schönebeck, Schwalmstadt, Schweinfurt, Senftenberg, Sigmaringen, Soest, Sögel, Solingen, Soltau, Sömmerda, Sondershausen, Sonneberg, Stadtallendorf, Stadthagen, Stollberg, Strassfurt, Sulingen, Syke, Tauberbischofsheim, Teterow, Torgau, Tübingen, Ueckermünde, Uelzen, Vechta, Velbert, Waiblingen, Waren/Müritz, Weilburg, Weimar, Weißenfels, Weißwasser, Wernigerode, Wesel, Wismar, Witzenhausen, Wolgast, Worms, Wuppertal, Wurzen, Zeitz, Zweibrücken, Zwickau.

Quelle: Antwort der Bundesregierung auf eine schriftliche Anfrage von Inge Höger im Bundestag: Drucksache 16/8842

Gegen die drohende Nachwuchsebbe an SoldatInnen und gegen die lauter werdende Kritik der Bevölkerung an den Auslandseinsätzen setzt die Bundeswehr auf modernes Akzeptanz-Management, Eventmarketing und Werbetouren. Wenn sich in Deutschland schon keine rechte Begeisterung für die Verteidigung deutscher Interessen am Hindukusch und anderswo herstellen lässt, so ist die Bundeswehr zumindest um Ruhe an der »Heimatfront« bemüht. Bislang scheint die Rechnung aufzugehen, denn die mehrheitliche Umfrage-Ablehnung beispielsweise des derzeitigen Bundeswehreinsatzes in Afghanistan entfaltet zunächst keinerlei Wirkung in Form einer breiten, aktiv ablehnenden Protestbewegung gegen die wiederbelebte deutsche Kriegspolitik.

Doch an einigen wenigen Stellen regt sich tatsächlich Widerstand gegen die Flut von Reklame- und Rekrutierungseinsätzen der Bundeswehr. Bereits seit vielen Jahren gibt es phantasievolle, zum Teil lautstarke und manchmal auch handfeste Auseinandersetzungen bei öffentlichen Bundeswehrgelöbnissen und Soldatenfeiern. Seit etwa anderthalb Jahren stiften AntimilitaristInnen und Erwerbslosengruppen darüber hinaus Unruhe bei Werbeeinsätzen der Bundeswehr im Inneren. Ihr Schwerpunkt sind die Veranstaltungen der Bundeswehr an Arbeitsämtern, Schulen, Universitäten und auf Jobmessen. Aber auch beim »Karriere-Treff« der Bundeswehr auf zentralen Plätzen in den Innenstädten, bei Soldatengottesdiensten und »karitativen« Auftritten der Bundeswehr-Musikkorps bleibt die zunehmende Präsenz der Bundeswehr nicht unwidersprochen. Und langsam rücken auch die seit 2007 für den »Heimatschutz« eingesetzten Bundeswehr-Reservisten im Rahmen der zivil-militärischen Zusammenarbeit Inland (ZMZ/I) in den Fokus der AktivistInnen. Zu erfolgreichen Protest- und Störaktionen gegen Bundeswehrauftritte kam es in den vergangenen 18 Monaten über 85-mal in mehr als 40 Städten1. Bundeswehrveranstaltungen wurden »gesprengt«, blockiert, umgestaltet oder nach Protestankündigungen von der Bundeswehr kurzfristig abgesagt.

Wir dokumentieren im Folgenden exemplarisch einige Aktivitäten der letzten beiden Jahre, die sich gegen eine schleichende Militarisierung unter anderem durch eine Normalisierung von Alltagspräsenz der Bundeswehr im Inneren wenden.

Wer Arbeitsamt sagt, muss auch Bundeswehr sagen

Für den Werbefeldzug der Bundeswehr ist das Arbeitslosengeld II ein zentrales Rekrutierungsinstrument – Jobcenter sorgen für Nachschub an Soldaten. Die Bundeswehr nutzt die Perspektivlosigkeit am Arbeitsmarkt und den zunehmenden Druck für Erwerbslose, jeden noch so miesen Job annehmen zu müssen. Ausbildung und berufliche Qualifizierung werden davon abhängig gemacht, dass Menschen bereit sind, das Todeshandwerk zu lernen und anzuwenden. Zahlreiche Arbeitsagenturen kooperieren bereitwillig und profitieren als Lieferanten von zivilen und militärischen Nachwuchskräften für die Bundeswehr – (nicht nur) über eine abgesenkte Arbeitslosenstatistik.

Während die Wehrdienstberater bundesweit in 11 Arbeitsagenturen permanente Büros betreiben, sind sie in nahezu allen Arbeitsagenturen etwa im Monatsrhythmus zu Rekrutierungsveranstaltungen und Sprechstunden vertreten.

Die Teilnahme von Arbeitslosengeld II EmpfängerInnen ist nicht immer freiwillig.2 Die ARGE Leipzig wertet in einem Kooperationsvertrag mit der Bundeswehr sogar explizit die Annahme einer »zivilen« Stelle beim Arbeitgeber Bundeswehr als zumutbar und damit deren Verweigerung als sanktionierbar (siehe Artikel von Jonna Schürkes).

In mehreren Städten wurden die Werbeveranstaltungen der Bundeswehr an den Arbeitsagenturen massiv gestört. Nach mehrfachen Störaktionen sind die monatlichen Veranstaltungen an der Arbeitsagentur in Köln bis zur „Klärung der Rahmenbedingungen zur Durchführung von zukünftigen Informationsveranstaltungen“ (für drei Monate) ausgesetzt worden. Dies hatte der Leiter der Kölner Arbeitsagentur angeordnet, nachdem die Bundeswehr bei ihren Werbeveranstaltungen bewaffnete Feldjäger als Saalschutz eingesetzt hatte und dieses Vorgehen auf breite Proteste (auch unter den MitarbeiterInnen) gestoßen war. In Berlin pausierten Bundeswehrwerber aufgrund angekündigter Proteste. Auch in Rostock sagte die Bundeswehr ihre Veranstaltung Ende Mai 2007 ab, als vorzeitig angereiste G8-GipfelgegnerInnen ihre Teilnahme per Pressemitteilung ankündigten.

In Bielefeld griff eine Gruppe »StörenfriedInnen« im März 2007 als »Kommunikationsguerilla« erfolgreich ein: Eine Prozession angeführt von Militärbischof Mixa gefolgt von einer stimmgewaltigen Generalin und ein paar SoldatInnen, die offenbar eine Skelettgrube geplündert hatten, enterte die laufende Veranstaltung, übte das Salutieren, Marschieren im Stechschritt und dergleichen Unsinn mehr. Nachdem weitere Kleingruppen folgten, packte der Werbeoffizier entnervt seine sieben Sachen und beendete die Veranstaltung.

Im letzten Jahr kamen zur Dezember-Veranstaltung der Bundeswehr am Arbeitsamt Berlin-Hellerrsdorf eine ganze Reihe äußerst diskussionsfreudiger Menschen, die den angebotenen Raum für faktenreiche Beiträge zu Bundeswehr und zum Kriegsdienst nutzten. Die Diskussion wurde schließlich durch einen Feueralarm beendet.

In Wuppertal bekam Oberbootsmann Heinrichs im Mai 2007 unmittelbar vor Beginn seiner Werbeveranstaltung im Wuppertaler Arbeitsamt eine Torte ins Gesicht – die Veranstaltung fiel aus. Die Gruppe »m.g.« (mit geschmack), die sich zu der Aktion bekannte, entkam gut gelaunt und forderte zu einem bundesweiten Tortenwettbewerb bei Bundeswehrveranstaltungen auf.

Im Februar 2008 sorgten AntimilitaristInnen in Brühl für Katerstimmung bei Bundeswehr und Arbeitsagentur. Sie nutzten die Gunst des jecken Treibens im Rheinland mit seinem sessionsbedingten Kostümierungs- und Vermummungsgebot und verpassten dem Berufsinformationszentrum der Arbeitsagentur Brühl vor einem BW-Werbetermin am Aschermittwoch mit viel Farbe einen »Tarnanstrich«.

Schul- und vorlesungsfreie Zeit für die Bundeswehr

Ein Bundeswehr-Infomobil sollte im April 2007 den Schulhof des Goethe-Gymnasiums in Weimar besuchen. Auf einer Tafel im Foyer forderte die Schulleitung die SchülerInnen auf: „… Nutzt diese Gelegenheit!“ So geschah es: Das auf dem Schulhof geparkte Infomobil wurde über Nacht mit Antikriegsparolen besprüht und tags darauf in der großen Pause in einer spontanen Kundgebung umstellt, so dass erst einmal Schluss war mit Bundeswehrwerbung.

In Göttingen sollte im April 2008 ein Rekrutierungs-Trupp der Bundeswehr mit Infomobil auf dem Schulhof der Berufsbildenden Schulen für drei Tage stationiert werden. Mit einem offenen Brief im Vorfeld an Schulleitung, LehrerInnenkollegium, Elternschaft und SchülerInnenvertretung und diversen Flugblattaktionen auf dem Schulhof gelang es einem Netzwerk »Gewaltfrei leben«, den Einsatz zu verhindern. Als sich die ersten AntimilitaristInnen um 7 Uhr dem Schulhof näherten, sah zunächst alles danach aus, dass sich Militär und Schulleitung zur gewaltsamen Durchsetzung der Zwangsveranstaltung für die Schulklassen entschieden hatten: Bis auf einen waren alle Zugänge zum Schulhof abgesperrt und die umliegenden Straßen von Bereitschaftspolizei gesäumt. Die AktivistInnen bauten sich dennoch an diesem Eingang mit Sarg, Transparenten und Flugblättern auf. Dann kam die Nachricht, dass der Einsatz des Infomobils abgesagt ist. Um sicher zu stellen, dass die Invasion der Bundeswehr auch an den beiden folgenden Tagen ausblieb, traf sich das Netzwerk jeweils zum antimilitaristischen Schulfrühstück.

Die Methode der offenen Protestankündigung funktionierte bereits im September 2007 in Duisburg. Hier forderten mehrere Gruppen, dass das Bertolt Brecht Berufskolleg seinem Namensgeber gerecht werde und die Bundeswehr wieder auslade. Die Bundeswehr zog den Termin in Absprache mit der Berufsschulleitung daraufhin zurück.

Auch an Universitäten kam es zu Protesten gegen das Eindringen des Militärs in den Hochschulbetrieb. Im Wintersemester 2007/2008 startete an der Uni Potsdam ein neuer Masterstudiengang »Military Studies« unter Beteiligung des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes (MGFA) und des Sozialwissenschaftlichen Insitutes (SOWI) der Bundeswehr. Die feierliche Begrüßung der StudienanfängerInnen und die Eröffnung des Studienganges wurde von zahlreichen AktivistInnen erfolgreich gestört.

An der Uni in Kassel bescherten Studierende den angekündigten Referenten der NATO und des Rüstungskonzerns EADS im Mai diesen Jahres eine vorlesungsfreie Zeit. Ein Teil einer vor dem Saal abgehaltenen Gegenversammlung strömte in den Hörsaal. Die Begeisterung der DemonstrantInnen, einen Oberstleutnant zu Gesicht zu bekommen äußerte sich in minutenlangem Applaus und lautem Rufen, sodass dieser seinen Vortrag immer wieder unterbrechen musste. Letzten Endes blieb der Veranstalterin nichts anderes übrig, als die Vorlesung für beendet zu erklären und Oberstleutnant Jens Fehler mit seinem Adjutanten nach Hause zu schicken.

Trittbrettfahrerin Bundeswehr auf Jugendmessen

Es ist erstaunlich, auf welchen Ausstellungen und Messen die Bundeswehr vertreten ist. Ist der Hintergrund bei Job- und Bildungsmessen leicht ersichtlich, so fragen sich manche, was die Bundeswehr mit ihrem beschränkten Publikationsrepertoire auf Deutschlands großen Buchmessen verloren hat.3

Seit Jahren belegte die Bundeswehr auf der Leipziger Buchmesse eine der größten Ausstellungsflächen. Nachdem bereits im März 2003 (unmittelbar nach Beginn des Irak-Kriegs) AusstellerInnen und BesucherInnen eine Demo auf der Messe organisiert und die Messeleitung aufgefordert hatten, die Bundeswehr im nächsten Jahr nicht mehr zuzulassen, kam es 2004 zum Eklat. Etwa 200 VerlegerInnen, AutorInnen und MessebesucherInnen riegelten den Bundeswehrstand (in unmittelbarer Nachbarschaft von Jugendbuch- und Comic-Verlagen) ab. Der Einsatz von Feldjägern und Bereitschaftspolizei sorgte für Tumult, unschöne Bilder und viel Unmut bei Publikum und Verlagen – die Bundeswehr meidet seitdem die Leipziger Buchmesse.

Im Mai 2008 griffen Clowns den Werbesoldaten der Bundeswehr auf einer Dresdener Jobmesse an deren Stand unter die Arme. Ein Vergleich des Zuschauerinteresses an der Präsentation der Bundeswehr einerseits und dem »Unterstützungskommando der Clowns-Rebel-Army« andererseits offenbarte einen klaren Punktsieg für die antimiliaristischen Clowns.

Aufrüstung mit Gottes Segen

In Köln schwört der Glaubenskrieger Kardinal Meisner beim jährlichen Soldatengottesdienst im Kölner Dom – in der Regel in Anwesenheit des Verteidigungsministers – seit Jahren mehr als tausend SoldatInnen auf den Kriegsdienst ein.

Sein Predigtspruch aus dem Jahre 1997 bleibt unvergessen: „Wem käme es in den Sinn, Soldaten, die auch Beter sind, dann noch als Mörder zu diskriminieren? Nein, in betenden Händen ist die Waffe vor Missbrauch sicher.“

Eine Predigt, die nahtlos anschloss an die der Vorjahre. 1996 hatte Meisner in Köln formuliert: „Einem Gott lobenden Soldaten kann man guten Gewissens Verantwortung über Leben und Tod anderer übertragen, weil sie bei ihm gleichsam von der Heiligkeit Gottes mit abgesichert sind.“ Und bereits 1993 sah Meisner im Soldaten, „als Inbegriff der strafenden Gerechtigkeit, die letzte Möglichkeit, das Böse im Menschen zu bannen.“

Im Januar 2006 bat er mit einem Papstzitat die Soldaten, die sich in den Konfliktherden der Welt im Einsatz befanden, „in jeglicher Situation und Umgebung treue Verkünder der Wahrheit des Friedens“ zu sein.

Diese unselige Allianz zwischen Kreuz und Schwert bedarf natürlich einer Antwort. AntimilitaristInnen aus Köln und Umgebung begleiteten in den Jahren 2007 und 2008 den Soldatengottesdienst im Kölner Dom. Im Januar letzten Jahres überraschte ein 20-köpfiger Chor – der sich unter die Gäste im Dom gemischt hatte – die 1.500 SoldatInnen mit folgendem Lied: [Melodie: Ihr Kinderlein kommet] Ihr Krieger kommt alle Zum Kölner Kardinal. Er segnet die Waffen Wäscht Blut vom schwarzen Stahl. Er schändet den Tempel Mit Händlern des Tods. Macht Pflugschar zu Schwertern Sein Kreuzzug bricht los. …

In diesem Jahr schritt dem angriffslustigen Vorbeter der Tod entgegen. Kurz vor Meisners Eintreffen legten im Kölner Dom 15 Demonstranten ihre Mäntel ab und schritten als »Tote« mit dem Transparent „Der Tod dankt für die gesegnete Ernte“ durch den Mittelgang, bis sie von »Ordnungshütern« aus dem Dom gedrängt wurden.

In Hannover protestierten im November 2007 dreißig AntimilitaristInnen anlässlich eines Adventskonzerts des Bundeswehr Musikkorps der 1. Panzerdivision in der hannoverschen Marktkirche. Mit einem Transparent „Aufrüstung mit Gottes Segen – Hand in Hand in den Krieg“ harrten sie am Altar der Kirche aus. Die Protestierenden erklärten ruhig aber bestimmt, dass solange Militär in der Kirche wäre, sie auch bleiben würden. Der Oberbefehlshaber der 1. Panzerdivision, Generalmajor Langheld, reklamierte sofort das Hausrecht für die Armee – Stadtsuperintendent Puschmann hielt das für einen Versprecher, befürwortete jedoch ebenfalls die gewaltsame Entfernung der »StörerInnen«. In einem völlig überzogen harten Einsatz der Polizei wurden die AktivistInnen hinaus gedrängt und vor der Kirche eingekesselt. Die Auseinandersetzung ging weiter. Inzwischen hatte eine Veranstaltung – unter Anwesenheit von VertreterInnen der Protestierenden und der Marktkirchengemeinde – stattgefunden. Etwa 240 Menschen beteiligten sich an der sachlich wie engagiert geführten Diskussion. Auch aus kirchlichen Kreisen gab es heftige Kritik an dem Militärkonzert in der Kirche. Ein Mitglied des Vorstands der Marktkirche bekannte, dass der antimilitaristische Protest produktive Diskussionen im Kirchenvorstand ausgelöst habe. Superintendent Puschmann stand mit seinem Schulterschluss mit der 1. Panzerdivision und der Äußerung, er werde die Anzeigen wegen Hausfriedensbruch auf keinen Fall zurücknehmen, einsam im Raum. In zahlreichen Redebeiträgen wurde er aufgefordert, diese Anzeige zurückzunehmen, um eine Kriminalisierung der FriedensdemonstrantInnen nicht zuzulassen. Diese kündigten weitere Protestaktionen an und die Marktkirchengemeinde will den Vertrag mit der Bundeswehr überdenken.4

Die wollen doch nur spielen … – karitatives Militainment

Unter dem Motto »Klänge für den Frieden« zelebrierte die Bundeswehr im November 2007 zum siebten Mal das Internationale Militär Musik Festival in Köln. »Mit Musik geht alles besser…« – auch das Töten! Gegen eine etwaige Image pflegende Befriedungsstrategie der Bundeswehr »Soldaten sind Musiker und Kriege sind Konzerte für den Frieden« trafen sich etwa 60 KriegsgegnerInnen zum lautstarken »Bundeswehr Wegblasen«. Neu gemixte Marschmusik hinterlegt mit Bombendetonationen und Sirenengeheul sowie marschierende Clowns und SambaanarchistInnen begleiteten die Gäste beim Einmarsch in die Köln-Arena.

Im April 2008 musste ein Benefizkonzert der Bundeswehr in der Kölner Philharmonie unterbrochen werden. Der Live-Mitschnitt des Konzerts war versaut. Ein antimilitaristischer Rave auf dem Dach der Philharmonie nutzte mit schweren »Instrumenten« einen altbekannten Konstruktionsfehler des Konzertsaals: Stiefel, Holz-Clocks und große Holzstempel sorgten für ausreichende Verstärkung der Sambabeats von etwa vierzig BundeswehrgegnerInnen ins Innere der Philharmonie. Während der Aufführungen wird der sonst öffentlich zugängliche Heinrich-Böll-Platz über dem Dach der Philharmonie von Ein-Euro-JobberInnen abgesperrt, damit keine Schrittgeräusche von Fußgängerinnen oder Fahrgeräusche von Skateboards ins Innere dringen. Die Ein-Euro-Kräfte übten sich angesichts der Menge an DachbesetzterInnen jedoch in Zurückhaltung, hegten teils sogar offene Sympathie für die unkonventionelle Tanzveranstaltung über den musizierenden Soldaten. Der Inspizient (koordiniert den Auftritt der Musiker in der Philharmonie) wandte sich in der unfreiwilligen Pause an einige Raver auf dem Dach: „Dies ist der falsche Ort für euren Protest,“ da tut die Bundeswehr mal was Gutes. Falsch! Jeder Ort, an dem die Bundeswehr auftritt, ist ein richtiger Ort für Protest und Widerstand. Wer zwischen kämpfenden und spielenden, zwischen Brunnen bauenden und in Afghanistan schießenden Soldaten unterscheidet, übersieht, dass die Aufgabenverteilung zwischen verschiedenen Einheiten der Bundeswehr immer auch einer »inneren Absicherung« der kämpfenden Einheiten dient.

Stören und mehr – nicht nur weg-, sondern auch nachtreten!

Analysiert man das Verhalten der Bundeswehr in Reaktion auf die geschilderten Protest- und Störaktionen, so sieht man, dass die Werbeoffiziere nicht blind an der Durchsetzung ihres Werbe- und Rekrutierungsauftrags festhalten. Im Einzelfall lieber keine als eine negative Außenwirkung erzeugen, scheint das Motto zu sein. Am Kölner Arbeitsamt verzichtete die Bundeswehr zunächst auf eine öffentliche Ankündigung durch Flyer und Plakate, dann gänzlich auf Laufkundschaft: die regelmäßige Sprechstunde der Wehrdienstberatung im Arbeitsamt wurde auf den (wenig frequentierten) Nachmittag verlegt. Damit sollte den ebenso regelmäßig auftauchenden BundeswehrgegnerInnen das Forum genommen werden. Die Absagen vieler Werbeveranstaltungen, bei denen Störaktivitäten angekündigt waren, untermauern dieses taktische Ausweichen der Bundeswehr zur Schadensminimierung. Sie kann es sich (in bisherigem Maße) erlauben, überflutet sie doch das Land mit über 600 Reklame-Einsätzen jährlich.

Um der Bundeswehr mit ihren häufig an Schulen akzeptierten Jugendoffizieren das Wasser abzugraben, bedarf es deshalb dringend weitergehender Aktivitäten. Hatten in den 80er und auch noch in den 90er Jahren die Jugendlichen mehrheitlich allein schon aus Ablehnung von Bevormundung, blindem Gehorsam und Uniformiertheit eine kritische Haltung gegenüber dem Militär, so ist die Meinung zur Bundeswehr an sich heute weniger eindeutig. Einige antimilitaristische Gruppen haben sehr positive Erfahrungen mit eigenen Schulveranstaltungen (Kontakt über die SchülerInnenvertretung oder bekannte Lehrer im Kollegium) mit Deserteuren aus den aktuellen Kriegen im Irak oder Afghanistan bzw. mit sehr engagierten Vietnamkriegsveteranen gemacht. Verweigert die Schulleitung eine derartige Großveranstaltung im Haus, so können Schulklassen zu einer gemeinsamen Veranstaltung (während der Schulzeit!) extern einladen.

Manche Initiativen benötigen einen längeren Atem, als dies eine punktuelle Intervention hergibt. Die seit 2002 fortwährenden Bemühungen, dem alljährlichen Pfingsttreffen der Gebirgsjäger in Mittenwald, bei dem es immer wieder zur Verherrlichung von NS-Kriegsverbrechern kam, ein Ende zu bereiten, entfalteten erst in den letzten beiden Jahren ihren vollen politischen Druck. Das Treffen, zu dem einige tausend aktive und ehemalige Gebirgsjäger aus Bundeswehr und Wehrmacht zusammenkommen, wurde verlegt. Aufgrund der Proteste gegen die Mörder unterm Hakenkreuz blieben nach eigenen Angaben zu Pfingsten die Touristen im oberbayerischen Mittenwald aus.

Analog liegt die Stärke des Widerstands gegen das »Bombodrom« in der Kyritz-Ruppiner-Heide, dem von der Bundeswehr geplanten Boden-Luftkrieg-Übungsplatz, in der seit Jahren andauernden, kontinuierlichen Aufbauarbeit eines möglichst breiten und belastbaren Netzes von BürgerInneninitiativen und anderen AntimilitaristInnen.

Perspektiven

Das Eingreifen in die (noch) gut geschmierte Reklame- und Rekrutierungsmaschinerie der Bundeswehr bedeutet mehr als nur das konkrete Abwerben einzelner potenzieller SoldatInnen. Es geht um das generelle Zurückdrängen einer Bundeswehr, die sich zunehmend im öffentlichen Raum breit macht. Eine unwidersprochene Alltagspräsenz des Militärs spiegelt nicht nur, sondern prägt auch gesamtgesellschaftliches Bewusstsein zugunsten einer fortschreitenden Militarisierung im Äußeren und Inneren.

Zwei neue antimilitaristische Zeitungsprojekte aus Hannover und Berlin5 sowie die Einrichtung eines »nomadischen« Anti-Kriegs-Cafes, das nach Vorbild der frühen Bewegung gegen den Vietnamkrieg (wöchentlich) mit verschiedenen Themen an verschiedenen Plätzen Berlins auftaucht, spiegeln den (neuerlichen) Versuch, eine breitere Öffentlichkeit für antimilitaristische Positionen zu erlangen. Darüber hinaus steigt das Interesse an einem ganz praktischen Antimilitarismus. Zwei Veranstaltungen im Frühjahr 2008 in Berlin zum Thema »Kriegsgerät interessiert uns brennend« und »Deutschland führt Krieg – Sabotage ist notwendig« waren mit zusammen 400 Leuten überraschend gut besucht. In der Veranstaltung wurde die Legitimität und Notwendigkeit von antimilitaristischem Widerstand und direktem Eingreifen im Sinne selbstorganisierter Abrüstung zur Debatte gestellt. Vorgetragen haben AktivistInnen aus verschiedenen europäischen Ländern über Sabotage- und Blockadeaktionen gegen Kriegsgerät: Aus den Niederlanden eine Aktivistin, die eine militärische Satellitenanlage zerstört hat, aus Irland ein Aktivist, der in Shannon ein Militärflugzeug beschädigte und aus Deutschland eine Aktivistin, die im Februar 2008 einen Bundeswehr-Militärtransport auf der Schiene blockiert hat. Die einhellige Meinung bei den Veranstaltungen war, dass bombardierende, marodierende Truppen, Hightech Kriegsgeräte, archaische Kämpfer, imperialistische Kriegsbündnisse für den Profit keine Normalität, sondern Verbrechen sind, gegen die es gilt, praktischen Widerstand zu leisten. Nicht zuletzt der Einsatz der Bundeswehr im Inneren mit Spähpanzern und Tornados auf dem G8-Gipfel 2007 in Heiligendamm, sowie die Kriminalisierung von drei Aktivisten, denen vorgeworfen wird, LKWs der Bundeswehr in Brandenburg angezündet zu haben, sorg(t)en bei vielen für eine neue bzw. verstärkte antimilitaristische Ausrichtung. Und so gibt es in letzter Zeit auch in Deutschland wieder ein steigendes Interesse an einer Abrüstung von unten.6

Wir wissen, bis zur Abschaffung der Bundeswehr ist es noch weit. Bis dahin wird noch viel Friedens- und Aufklärungsarbeit notwendig sein. Dazu zählen auch antimilitaristische Aktionen. Sie sind kein Verbrechen sondern eine legitime Variante der Widerstands. Wehren wir uns gegen jeden Einsatz der Bundeswehr: Gegen »friedenserzwingende« Auslandeinsätze genauso wie gegen »überwachende und sichernde« Inlandeinsätze und die bundesweit zunehmenden Reklame- und Rekrutierungseinsätze!

Anmerkungen

1) Aachen, Aschaffenburg, Bad Oldesloe,Baumholder, Bautzen, Berlin, Bernau, Bielefeld, Bochum, Brühl, Dortmund, Dresden, Duisburg, Düren, Düsseldorf, Göttingen, Gütersloh, Frankfurt aM, Freiburg, Gießen, Gifhorn, Görlitz, Hamburg, Hannover, Herne, Jena, Kassel, Kiel, Köln, Lemgo, Lüneburg, Magdeburg, Mainz, Mittenwald, Münster, Oberhausen, Paderborn, Potsdam, Reutlingen, Rostock, Tübingen, Weimar, Wuppertal, Wittstock, Zittau.

2) Es sind mehrere Fälle bekannt, bei denen jugendliche Arbeitslose unter Sanktionsandrohungen zur Teilnahme an BW-Werbeveranstaltungen verpflichtet wurden.

3) Es dürfte wohl um die Anbiederung insbesondere an ein junges Publikum gehen, was auch die pompösen Auftritte auf Europas größter Computerspiele-Messe, der Games Convention in Leipzig, erklärt. Die Games Convention findet im August 2008 letztmalig in Leipzig statt. Ab 2009 zieht sie unter dem Namen GAMESCom nach Köln um.

4) Vgl. Zeitung gegen Krieg, Nr. 1/2008.

5) http://antimilitarismus.blogsport.de und www.bundeswehr-wegtreten.org/main/panzerknackerin_00.pdf

6) Siehe dazu http://einstellung.so36.net/files/antimilitaristische_broschuere.pdf und www.bundeswehr-wegtreten.org.

Bundeswehr-Wegtreten ist ein Zusammenschluss antimilitaristischer Gruppen, dessen Ziel es ist, die Bundeswehr in ihrem Streben nach mehr gesellschaftlicher Akzeptanz und bei ihrer Selbstinszenierung im öffentlichen Raum anzugreifen. Eine umfassendere Dokumentation aller »Bundeswehr wegtreten« Aktionen mit Aufruf-Texten und Presseartikeln findet sich unter www.bundeswehr-wegtreten.org.