Umweltverbände und Streitkräfte – Konflikte und Zusammenarbeit

Umweltverbände und Streitkräfte – Konflikte und Zusammenarbeit

Reinhard Sander

Prof. Reinhard Sander, zweiter Vorsitzender des Deutschen Naturschutzrings, hielt auf dem Symposion »Bundeswehr und Umweltschutz« eine Rede zum vorgegebenen Thema: . Dabei wurde wohl erstmalig die Bundeswehr offiziell von den Umweltverbänden in die Pflicht genommen. Wir dokumentieren in Auszügen. Die vollständige Rede ist beim DNR anzufordern.

„Gerne habe ich Ihre Einladung angenommen, um hier vor und mit Ihnen den Bereich Militär und Umwelt aus unserer Sicht zu diskutieren. Das Thema heißt im Untertitel »Konflikte und Zusammenarbeit«. Ich möchte mich in meinem Beitrag mehr den nicht unerheblichen Konflikten zuwenden, deshalb aber am Anfang dankbar anerkennen, daß es an der Basis unserer Umweltorganisationen vielfältige Formen der Zusammenarbeit mit einzelnen Vertretern der Bundeswehr gibt. Sie sind Mitglieder in unseren Umweltverbänden, sie beteiligen sich an unseren Aktionen, manche bekleiden sogar Funktionen.

(…) Deshalb einige Bemerkungen zu unserer Organisation, dem DNR, Dachverband der deutschen Natur- und Umweltschutzverbände, der 1950 gegründet wurde. Die 96 Mitgliedsverbände weisen eine sehr unterschiedliche Größe auf – von Großverbänden wie dem Deutschen Alpenverein mit über 500.000 Mitgliedern oder dem Verband der Gebirgs- und Wandervereine mit sogar über 800.000 Mitgliedern – gibt es kleine, gleichwohl sehr leistungsstarke Organisationen, wie z.B. die hessische Gesellschaft für Ornitologie und Naturschutz, die mit ihren paar Hundert Mitgliedern mehr zustande bringt als mancher große Verband. Sie alle haben sich auf unser Grundsatzprogramm verpflichtet, das unter Federführung des leider viel zu früh verstorbenen, vormaligen Staatssekretärs im Bundesinnenministerium, Herrn Dr. Günter Hartkopf, 1987 verabschiedet wurde.

Ich zitiere aus diesem Grundsatzprogramm: „In Verantwortung vor der Schöpfung ist es unser ethischer Auftrag, die Umwelt um ihrer selbst willen zu sichern und alles menschliche Leben umfassend zu schützen. Das ökologische Gleichgewicht ist zukünftig auf hohem Niveau zu stabilisieren und die dynamischen Prozesse sind zu erhalten. Die Nutzung der Natur und ihrer erneuerbaren Ressourcen darf deren Regenerierungsfähigkeit nicht übersteigen. Wasser, Boden, Luft und die freilebende Pflanzen- und Tierwelt sind sozial verpflichtende Güter des Allgemeinwohls, denen sich die private Nutzung unterzuordnen hat“.

Alle aktuellen globalen und regionalen Umweltprobleme zusammen haben die ökologische Krise unseres Planeten verursacht. Die Zerstörung der Ozonschicht, der Treibhauseffekt, die Klimaveränderung, die rasche Ausdehnung der Wüsten nicht nur in der Sahelzone; die Vernichtung der Regenwälder, des reichsten Ökosystems der Erde, der dramatische Anstieg der Zahlen aussterbender Tier- und Pflanzenarten, der Verlust schützenswerter Biotope, kurz: die Übernutzung der Lebensgrundlage der Erde durch die Menschen bedroht alles Leben.

In unserem Grundsatzprogramm heißt es u.a.: „Wirksamer Umweltschutz fordert von allen Menschen, umweltbewußter zu leben und unsere Existenzgrundlagen so pfleglich zu behandeln, daß auch künftige Generationen eine lebenswerte Umwelt vorfinden.“ Sie sehen, der DNR hat einen globalen und gleichzeitig lokalen Ansatz. Alle Umweltprobleme müssen entsprechend global und lokal erkannt und angegangen werden!

Das Militär als globaler Belastungsfaktor

Diese grundlegenden Gedanken und Maßstäbe müssen auch für das Militär gelten! Reden wir über das Militär, so müssen wir es weltweit als Faktor betrachten. Lassen Sie mich daher zuerst zur globalen Fragestellung äußern: Die Militärausgaben haben derzeit einen Anteil am Weltbruttosozialprodukt von 6,15%. Sie belaufen sich weltweit auf ca. 1000 Mrd. US-Dollar. Eine Umweltrelevanz ergibt sich allein schon daraus, da diese Gelder gebunden sind und nicht z.B. im dringend gebotenem internationalem Klimaschutz investiert werden.

Der Militär-Anteil an den Staatsausgaben beträgt weltweit nach UNO-Angaben ca. 25-28 %, in der Bundesrepublik sind es 1990 nach NATO-Kriterien offiziell 21,6% am Bundeshaushalt. (…) Die Folgen einer Klimaänderung lassen sich mit den Folgen eines Atomkrieges vergleichen. So kam Gro Harlem Brundtland auf der Konferenz »The Changing Atmosphere« 1988 in Toronto zu der Feststellung, daß nur ein Atomkrieg die zu erwartenden Auswirkungen der Klimaveränderungen übertreffen könne. Das Militär kann uns beides bescheren. Deshalb ist es mir ein besonderes Anliegen, hier noch einmal zu verdeutlichen, daß die Bundeswehr Mitglied eines Militärvertragssystems ist, das auf die Produktion, Erprobung und schlimmstenfalls Einsatz von Atomwaffen und biologischen sowie chemischen Waffen setzt. Atombombentests verseuchten die halbe Hemisphäre unseres Planeten. Eine UN-Kommission errechnete 1980, daß an den Folgen von 441 oberirdischen Tests in den 50er und 60er Jahren 150 000 Menschen gestorben sind oder noch daran sterben werden. Die radioaktiven Werte des Bodens, der Luft und im Wasser der Bundesrepublik waren in den 60er Jahren teilweise höher, als nach Tschernobyl. Landstriche wurden unbewohnbar, Tausende von Menschen wurden zwangsumgesiedelt (Bikini-Atoll). Allein die Atomwaffenproduktion in den USA hat ungeheure Folgen: Über 100 Milliarden US-Dollar, dies entspricht mehr als Zweidrittel des gesamten Haushalts der bisherigen Bundesrepublik, soll die Entseuchung der 280 Fabriken und 20 Waffenproduktionsgebiete in den USA kosten. (Inzwischen werden schon 200 Milliarden Dollar Kosten genannt!). Mit einer Infrastruktur im Werte von 24 Milliarden US-Dollar, auf einer Fläche von fast viermal der Größe wie des Saarlandes und mit einem jährlichen Etat von 8 Milliarden US-Dollar eine makabre Bilanz der Sicherheit! Nachdem in einzelnen Gebieten bewußt Millionen Liter schwer radioaktiv verseuchten Wassers freigesetzt wurden, u.a. wurden sie direkt ins Grundwasser gepumpt (!), ist eine Entseuchung dennoch nicht zu erreichen. Bei ihren Manövern zu Wasser verloren die Militärs bisher weltweit ein ganzes Atomwaffenarsenal. Über 50 Atomsprengköpfe und neun U-Boot-Reaktoren sollen laut Greenpeace auf dem Meeresgrund liegen. Insgesamt gab es über 1200 Unfälle an Bord dieser Schiffe. Alles potentielle Tschernobyls!

Auch auf dem Land fanden derartige Unfälle statt. Noch heute ist in Palomares in Spanien die Strahlung eines Atomwaffenunfalls von 1966 vorhanden. Das Militär krankt an einer zweifachen Irrationalität. Kommt es mit seinen Waffen zum Einsatz, zerstört es was es verteidigen soll. Atomwaffen, bio-chemische Waffen, aber auch großflächig einsetzbare konventionelle Waffen, stehen für die potentielle globale Vernichtung, den potentiellen Massenmord bereit.

Zivilisationsunverträglichkeit

Mit der Vorbereitung dieser vernichtenden Verteidigung wird das zu Verteidigende bereits schwer geschädigt. Das Militär vernutzt lebensnotwendige Ressourcen im gigantischen Ausmaß, belastet und zerstört regionale und globale Ökosysteme. Und ergänzend sei noch erwähnt, daß die Friedensforschung inzwischen nachweist, daß ein Industrieland, wie die Bundesrepublik, strukturell nicht verteidigungsfähig ist. Atomkraftwerke, zentrale Stromversorgung wie dezentrale Öllagerung in Häusern, Chemiefabriken – sie alle lassen einen Verteidigungsplaner erschauern. Die Zivilisationsverträglichkeit von Militärmaßnahmen scheint ebenso wenig gegeben wie eine Umweltverträglichkeit.

Die Umweltbelastung des Militärapparates in der Bundesrepublik wurde bisher weder vom Umweltminister (z.B. im Umweltbericht 1990), noch vom Umweltbundesamt (z.B. im Jahresbericht 1990) noch von Seiten des Raumordnungsminister (z.B. im Raumordnungsbericht 1990) dem Ausmaß entsprechend eingehend thematisiert. Will man auf bundesweite Daten und Fakten in diesem Bereich zurückgreifen, ist man auf Informationen der Bundeswehr selbst angewiesen.

Die Bundeswehr als Umweltschützer?

Die Bundeswehr ist seit Mitte der achtziger Jahre darauf bedacht, sich nach außen hin als sehr aktiven Umweltschützer darzustellen. Berichte und Studien zur Umweltsituation bleiben jedoch intern bzw. geheim oder werden äußerst beschönigt der Öffentlichkeit dargestellt. Angesichts der Tatsache, daß wir anteilig am Staatshaushalt über 21% dem Militär zur Verfügung stellen, halten wir diesen Zustand für nicht mehr tragbar. Selbst die parlamentarische Kontrolle versagt. Anfragen im Bundestag werden nur ungenügend beantwortet. Wir wissen von Beschwerden der Grünen und der SPD in diesem Bereich. Abgeordnete haben am meisten Einfluß auf die Gestaltung der Staatsausgaben. Will man umwelt- oder sogar klimaverträgliche Politik gestalten, brauchen sie zumindestens Basisinformationen und Kontrollmöglichkeiten. Hiervon kann im Bereich Militär und Umwelt nicht ausgegangen werden. Im Ausland dagegen, z.B. in Holland oder den USA, gibt es bereits umfassende, detailierte und teilweise jährliche Berichte über die Umweltsituation bei den Streitkräften. Angesichts der zugespitzten ökologischen Weltsitutation (vgl. den neuen Bericht der Enquete-Kommission zur Vorsorge und zumSchutz der Erdatmosphäre) und dem historischen Kontext (Wiedervereinigung/ Wiener Verhandlungen u.a.) ist es nicht mehr zu verantworten, daß grundsätzliche und lebenswichtige Fragen, welche man muß es wiederholen allein durch die Bundeswehr bisher 21% der Staatsausgaben betrafen, nicht mehr allein den Militärs zu überlassen. (…) Die US-Streitkräfte widmen sich, bedingt durch enorme Umweltbelastungen ihres Militärbetriebes, verstärkt der Problematik in den USA, ohne allerdings auf die Umweltbelastung ihrer Liegenschaften im Ausland einzugehen. Wir wissen inzwischen, wie schlimm es bei uns auf einigen Liegenschaften aussieht und fordern energisch, daß nun endlich ein Erhebung von Seiten der Bundesregierung durchgeführt wird. (…) Gerade auch angesichts der eklatanten Umweltprobleme der Militärs in der ehemaligen DDR und auf den alliierten Liegenschaften in der westlichen BRD muß die Forderung von Umweltschützern und Friedensforschernendlich umgesetzt werden: Wir brauchen sofort ein Sondergutachten des Rates für Umweltfragen der Bundesregierung zum Bereich Militär. Nun ist der Zeitpunkt gekommen, wo wir die Umsetzung verstärkt einfordern werden.

Offenheit

In unserem Grundsatzprogramm heißt es unter dem Punkt »Offenheitsprinzip«:

„Jedes Verschweigen oder Verniedlichen von Umweltschädigungen ist als kriminelles Unrecht zu behandeln. Nur absolute Offenheit von Politik, Staat und Wirtschaft mit unbeschränktem Akteneinsichtsrecht hilft, die verlorene Glaubwürdigkeit wiederzugewinnen.“ Dies gilt natürlich auch für die Bundeswehr! Nicht nur die USA verfügt über sehr interessante und umfangreiche und vor allem öffentlich nachzuvollziehende Umweltprogramme im Bereich ihrer militärischen Liegenschaften. Auch in der UdSSR gibt es solche Ansätze, aber auch Hinweise die befürchten lassen, daß es dort ebenfalls katastrophale Zustände gibt. Wenn wir uns die Hinterlassenschaften in der ehemaligen DDR betrachten, ist dieses nicht verwunderlich. 1988 kam ein Vorstoß von dem politisch beratenden Ausschuß der Warschauer-Pakt Staaten. Eine am 16. Juli 1988 veröffentlichte Erklärung widmete sich den »Folgen des Wettrüstens für die Umwelt und andere Aspekte der ökologischen Sicherheit«. Dort heißt es: „Das Wettrüsten zerstört in immer stärkerem Maße die Umwelt, läuft den Anstrengungen zum Umweltschutz zuwider und verhindert die Lösung der bedeutsamen Aufgabe, ein harmonisches Gleichgewicht von Gesellschaft, Technik und Natur auf der Erde herzustellen. Die Produktion, Lagerung und der Transport verschiedener Waffenarten, der Bau von Militärobjekten und die Durchführung militärischer Übungen haben unmittelbare, negative Auswirkungen auf die Umwelt“ (S. 23). Obwohl die NATO seit 1969 einen Umweltausschuß »CCMS« eingerichtet hat, vermissen wir bis heute eine Stellungnahme zum Bereich Militär und Umwelt.

Keine Privilegien für die Bundeswehr

Des weiteren fordert der DNR, daß alle Privilegien der Bundeswehr und der Alliierten Streitkräfte innerhalb des Umweltrechts gestrichen werden. So heißt es in unserem Grundsatzprogramm unter dem Punkt Gleichheitsprinzip: „Auch die Bundeswehr als integraler Bestandteil von Bürgern und Staat und die Alliierten Streitkräfte haben sich an den allgemein gültigen Umweltvorschriften zu orientieren“. Die Zusammenarbeit mit den Umweltverbänden setzt daher voraus, daß die Bundeswehr gewillt ist, sich wie alle Träger öffentlicher Belange innerhalb der Planung demokratisch einem Abwägungsprozeß zu stellen, ihre Umweltsituation zu veröffentlichen und Schädigungen zu stoppen, sowie alte und neue Altlasten mit Priorität anzugehen. Alle Maßnahmen, von der Müllsammelaktion einer Kompanie, über die Baumpflanzungen zum Tag der Umwelt, bis hin zur sogenannten Ölüberwachung mit Bundeswehrflugzeugen über der Nordsee sind sicher wertvoll. Aber andererseits gibt es Schießübungen der Bundeswehr in der Melldorfer Bucht bis in die jüngsten Tage. In der ehemaligen DDR sollen fast alle Truppenübungsplätze, auch die in Naturschutzgebieten gelegenen, übernommen werden wie z.B. das 250 ha große Gebiet in der Collwitz-Letzinger Heide nördlich von Magdeburg sowie die 1000 ha große »Sandische Wiese« auf der Halbinsel Zingst. Die Teilnehmer des 10. internationalen Wattenmeertages in Bremen haben bereits am 17.9. dagegen energisch protestiert und es wurden bereits über 34. 000 Unterschriften gegen Ihre Absichten gesammelt! In unserem Grundsatzprogramm heißt es zum schon erwähnten Punkt Offenheitsprinzip: „Erst wenn durch offengelegte Probleme und glaubwürdiges Verhalten der Verantwortlichen eine Basis des neuen Vertrauens geschaffen worden ist, können die Verantwortlichen ihren Anspruch auf Solidarität der Bürger zu ihren Gunsten mit Recht erheben. Der DNR wird diesen Weg von Offenheit zur Solidarität mitgestalten.“

Ich habe heute diese Gelegenheit genutzt, offen mit Ihnen zu reden und die Konflikte, wie sie sich mir aus der Sicht der Deutschen Umweltverbände darstellen, in aller Schonungslosigkeit anzusprechen. Angesichts der globalen Umweltsituation werden von uns allen wesentlich höhere Anstrengungen gefordert. Ernst Ulrich von Weizäcker beziffert sie in seinem neuen Buch »Erdpolitik« auf die fünf- bis achtfache Potenz, wenn wir den Wettlauf gewinnen wollen. Sie werden mir sicher zustimmen, daß dies in erhöhtem Maße für eine zahlenmäßig so starke und mächtige gesellschaftliche Kraft, wie die Bundeswehr gilt. Wir alle müßen auch tagtäglich auf dem komplizierten ökologischen Gebiet dazulernen und umdenken. Auf diese ständige Bereitschaft zum Umdenken kommt es an. Die deutschen Umweltschutzverbände leisten dabei der Bundeswehr gerne Hilfestellung, soweit das in ihren Kräften steht. Der DNR und seine Mitgliedsverbände sind jedenfalls zur Zusammenarbeit auf allen Ebenen herzlich gerne bereit, wenn es dadurch geht, den Umweltschutz konsequent voranzutreiben.

Umweltschutz auf Liegenschaften der Bundeswehr

Entsorgen durch Verschweigen

Umweltschutz auf Liegenschaften der Bundeswehr

von MÖP

Im April gab es Einiges zum Thema Umweltschutz bei der Bundeswehr zu lesen und den Bericht mit dem Titel: „Umweltschutz in der Bundeswehr – Grundlagen, Maßnahmen und Absichten“, der an den Verteidigungsausschuß ging. Den Parlamentariern wurde hierbei versucht darzustellen, wie gut organisatorisch die Bundeswehr gerüstet sei.

Umweltschutzkonzeption I

Dieses Dokument ist bei genauerer Analyse eine absolute Schönfärberei. Wie überall, wird über allgemeine Aussagen nicht hinausgegangen. 1990 sollen erstmals 30 hauptamtliche Sachbearbeiter für Umweltschutz (Umweltingeneure) eingestellt werden. „Ziel ist es, im Zuständigkeitsbereich der durch Umweltprobleme besonders belasteten Standortverwaltungen (!) einen fachlich qualifizierten Sachbearbeiter für Umweltschutz (Umweltingeneur/FH) einzusetzen, der bis zu drei (!) Standortverwaltungen zu betreuen hat. Es ist nicht beabsichtigt, bei jeder der 184 Standortverwaltungen einen Umweltingeneur einzusetzten“ (S.9).

In den Streitkräften selbst bestehe bisher keine eigene hauptamtliche Umweltschutzorganisation. „In Truppe und Wehrverwaltung wurden in den letzten Jahren mehr als 600 nebenamtliche (!) »Umweltbeauftragte« von ihren Kommandeuren/Dienststellenleitern bestimmt. Sie stehen in keinem Organisationsplan und sind für diese Aufgabe weder ausgebildet noch in Informationsprozesse einbezogen. Auf diese Beauftragten kann nach Ausbau der hauptamtlichen Umweltschutzorganisation zu einem großen Teil verzichtet werden“ (S.11). Weiterhin ist zu erfahren, daß seit 1978 39 Straf- und Verwaltungsverfahren wegen Umweltverstößen eingeleitet wurden. Der größte Teil endete mit Freispruch oder Einstellung.

Es folgen zum Thema Luftreinhaltung, Gewässerschutz, Abfallwirtschaft, Naturschutz auf Übungsplätzen etc. Maßnahmenbeschreibungen ohne jedoch die gegebene Situation zu schildern. Dies ist aber erforderlich, um überhaupt Aussagen zu den Maßnahmen zu machen. Es gibt aber für die Bundeswehr keine derartige Erhebung; dies muß man sich immer wieder vergegenwärtigen! Im Anhang der Berichtes finden sich Organisationsschemata der Umweltorganisation in den Streitkräften. Dies ist der erste Schritt, um überhaupt einmal organisatorische Ordnung in den Umweltbereich zu bringen.

Umweltschutzkonzeption II

Bereits im Oktober dieses Jahres wurde eine weitere »Fachkonzeption Umweltschutz der Bundeswehr« vorgestellt. Sie wurde am 24.10. im Verteidigungsausschuß beraten und soll Verteidigungsfähigkeit und Umweltschutz glaubhaft miteinander verknüpfen. Es müsse ein „verantwortbarer Weg“ gefunden werden. Die Verteidigungsfähigkeit dürfe allerdings nicht leiden. Die Konzeption wurde von dem BMVg erlassen (SIV 3 – Az 63-25-00/20.

Diese Konzeption (Nomen est Omen) gilt für den gesamten Verantwortungsbreich des BMVg. Wichtig ist, daß erstmals der Begriff »ökologische Sicherheit« von den bundesdeutschen Militärs besetzt wird. „Die Erhaltung des Friedens und die Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen müssen als gemeinsame Aufgaben verteidigungspolitischer und ökologischer Sicherheitsvorsorge gesehen werden“.

In der Fachkonzeption wird darauf hingewiesen, daß das immer dichter werdende Netz von Umweltauflagen offenkundig gemacht habe, daß bei der Umweltschutzpraxis in der Bundeswehr bisher eine grundlegende Konzeption gefehlt habe, die Ziele, Prioritäten, Aufgaben und Zuständigkeiten für die Bundeswehr bestimmt hätte. Noch einmal wird auf die 30 Umweltingeneure abgehoben. Sie sollen hier Abhilfe schaffen – nicht viel bei (ehemals) 670.000 Mitarbeitern. Die in der Fachkonzeption verwendeten Begriffe weichen zum Teil von gültigen Dienstvorschriften ab. „Folgedokumente haben sich an diesen Begriffen zu orientieren. Über deren Definition und Aufnahme in Dienstvorschriften wird gesondert entschieden“.

Unter dem Punkt »Zielsetzung und Geldzungsbereich« heißt es: „Angesichts abnehmender militärischer Bedrohung und zunehmender Umweltschäden und -gefährdungen werden Streitkräfte nicht allein nach ihrer Fähigkeit bewertet, den Frieden zu erhalten, sondern auch danach, welche Rücksicht sie dabei auf die Umwelt nehmen und welchen aktiven Beitrag sie zu ihrem Schutz leisten können.

Es ist notwendig, militärisches Handeln mit ökologischer Verantwortung zu verbinden. Umweltschutz ist integraler Bestandteil von Führungsverantwortung. Dabei gilt es, den Verfassungsauftrag Verteidigung trotz wachsender und einschränkender Regelungen und Erfordernisse zum Schutz der Umwelt unter den geringst möglichen Belastungen von Mensch und Natur sicherzustellen“.

Dieser Einleitungsabschnitt enttarnt die Bundeswehr und ihre Umweltschutzabsichten. Jahre des Nichtstuns sind nun offiziell aus legitimatorischen Gründen beendet worden. Es folgen auf 40 Seiten interessante Absichtserklärungen. Teilweise wird bewußt Öko-Vokabular gebraucht. Unter dem Punkt »Kooperationsprinzip« heißt es: „Die Kooperation mit gesellschaftlich relevanten Gruppen und Instutionen ist auf allen Ebenen zu verstärken. Die Zusammenarbeit mit Kommunen und Kontakte zu anerkannten Umweltverbänden heben das gegenseitige Verständnis (…)“.

Militärische Offensive hat sich bisher immer bewährt. Interessant ist, daß es eine „Bestandsaufname von Altlastenverdachtsflächen“ geben soll. „Diese Verdachtsflächen sind durch wissenschaftlich fundierte Gefährdungsabschätzungen zu bewerten. Danach ist ein Sanierungsprogramm zu erstellen. Diese Arbeiten sind begonnen worden; sie werden als vordringlich betrachtet. Zur Ermittlung möglicher Bodenkontaminationen durch militärische Nutzung sind intensive Untersuchungen angelaufen“.

Diese Aussage widerspricht allen bisher gemachten Angaben. Leider wird nicht bekannt gegeben, wieviel Untersuchungen wo gemacht werden, und warum diese »intensiv« sind. Die Studientätigkeit der Bundeswehr nimmt (verbal) enorm zu, doch die Abhilfemaßnahmen werden nicht geschildert. Nach „intensiven Vorarbeiten“ soll noch in diesem Jahr eine Erhebung über den teilweise schlechten Zustand des 5500 km langen Kanalnetzes der Bundeswehr erfolgen. Und zum Thema Abfall heißt es: „Eine geordnete Abfallwirtschaft ist zum Schutz von Boden und Grundwasser dringlich erforderlich. Fachaufsicht und Koordinierung sind zu intensivieren. Eine erste Voraussetzung ist die bereits erfolgte Einrichtung eines entsprechenden Dienstpostens für einen Sachbearbeiter (Umweltingeneur) bei jeder Wehrbereichsverwaltung“.

Erstmalig wird auch auf die »Gaststreitkräfte« in einem solchen Papier eingegangen: „Zu dem deutschen Recht (…) dem die Gaststreitkräfte genüge tun müssen (…), gehört auch das Umweltrecht, insbesondere die Vorschriften des Immissionsschutz-, Abfall- und Wasserrechts. (…) Die Verpflichtung der Gaststreitkräfte, das deutsche Recht zu achten, schließt auch die Verpflichtung ein, zu ständigen deutschen Behörden im Rahmen ihrer Aufgabenwahrnehmung Zutritt zu Liegenschaften zu gewähren“.

Auf die neue östliche Bundeswehr wird in diesem Bericht nicht eingegangen. Auch in ihrem Recht will sich die Bundeswehr verbal beschneiden, auch wenn sie keine einzige Privilegierungsklausen im Umweltrecht aufgeben will: „Dabei (bei der Abwägung) haben die Belange der Verteidigung gegenüber denen des Umweltschutzes grundsätzlich Gleichrang“. Auch der Punkt „Ausblick“ scheint von einem internen, kritischen Umweltschützer der Bundeswehr verfasst worden zu sein: „Der Handlungsbedarf zum Schutz Umwelt wird weiter steigen. Erhebliche Finanzmittel zur Sanierung und für die Umweltvorsorge werden notwendig werden,. Eine neue, umfassende Sicherheitskultur für die Industriegesellschaft in Deutschland zeichnet sich ab, um die Umwelt nachhaltig wiederherzustellen“. Auch der Schlußsatz dieser Konzeption verdeutlicht, daß bis heute wenig im Umweltbereich der Bundeswehr passiert ist: „Mit dieser Fachkonzeption erhält der Umweltschutz der Bundeswehr den Stellenwert, der ihm aufgrund der gesellschaftspolitischen, naturwissenschaftlich-technischen und aktuellen militärischen Entwicklung zugestanden werden muß. Dies setzt ein neues mitverantwortliches Denken bei allen Bundeswehrangehörigen voraus. Eine intakte Umwelt vermittelt dem Frieden in Freiheit höhere Qualität“.

Dies ist also eine offizielle Darstellung. Anhand von drei anderen Dokumenten zeigt sich schnell, daß die oben geschilderten bescheidenen Einsichten relativiert werden müssen. In Studien und Antworten auf Anfragen von Abgeordneten wird wie bisher verharmlosend und beschönigend die Umweltmisere der Streitkräfte dargestellt.

Interne Umweltstudie 1990

Für die »Ökologischen Briefe« hat die MÖP einen internen Bericht der Bundeswehr über deren „liegenschaftsbezogenen Umweltschutz“ analysiert. Diese »verschwiegene Umweltbilanz der Bundeswehr«, so der Titel des Artikels, zeugt von großen Widersprüchen. In einem 1989 von der MÖP veröffentlichten internen Bundeswehrschreiben hieß es bereits in amtsdeutsch zum Thema Öffentlichkeitsarbeit: „Informationsschriften zeigen teilweise ein unrealistisch günstiges Bild vom geschilderten Umweltzustand, weil Betroffene klare Aussagen zu hindern suchen“. Dies hat sich mit dem vorliegenden internen Bericht vom Juni 1990, welcher zur Zeit in der Bundeswehr verteilt wird, nicht geändert. Er hat zur Aufgabe dem Vorwurf entgegenzutreten, die Bundeswehr verschweige gravierende Umweltdefizite oder verdecke diese mit positiven Ergebnissen. Er baut auf die Untersuchung von 1988 auf, wobei jedoch konsequent alle verfänglichen Angaben zugunsten einer aufwendigen, inhaltsleeren Gestaltung herausgestrichen wurden. Der Bericht beginnt schon im Vorwort mit einer Hochstapelei: alle Zahlen und Fakten seien größtenteils einer eigens für die Umweltschutzbelange erstellten „Umweltdatei der Bundeswehr“ entnommen worden. Es handelt sich hierbei lediglich um das »Unterbringungs-Fachinformationssystem-Physischer Umfang (UFIS-PU)«, welches in erster Linie für die „Unterstützung der Managementaufgaben bei der Realisierung großer Bauvorhaben der Bundeswehr sowie der Erarbeitung und Durchführung der Infrastrukturgesamtplanung“ eingerichtet wurde und Ende 1988 noch in der Einführungsphase stand.

Zum Thema Luftbelastung:

Der Stromverbrauch stieg von 1159 MWh 1979 auf 1572 MWh 1988, wobei er am Gesamtenergieverbrauch nur ca. 10% nach Berechnung der Bundeswehr beteiligt sei. Der Gesamtwärmeenergieverbrauch der Bundeswehr betrug 1988 9,47 Mio MWh. Demnach muß aber der Stromanteil am Gesamtenergieverbrauch bei ca. 16,6% liegen!

Zum Thema Wasserbelastung:

In dem Kapitel „Die Nutzung des Wassers durch die Bundeswehr“ wird eine Frischwasserzufuhr von 70.000 m3 pro Tag für die Bundeswehr angegeben. Insgesamt werden 27.628.594 m3 Wasser pro Jahr verbraucht. 63 Liter pro Tag und Person wurden in der Studie ebenfalls errechnet. Nimmt man die Gesamtverbrauchszahl als Berechnungsgrundlage, so ergibt sich ein täglicher Wasserverbrauch von 75694,8 m3 pro Tag, 5000 m3 pro Tag mehr, als die Bundeswehr selbst errechnet. Demnach liegt der Tagesbedarf jedoch bei ca. 113 Liter pro Person. Vom Gesamtwasserverbrauch werden 10.416.717 m3 (37,70%) selbst gefördert. Insgesamt sind 21.397.900 m3 (77,45%) Grundwasser und nur 6.231.694 m3 (22,55%) „sonstige Förderung“. Die Trinkwasserversorgung wird im Bundesdurchschnitt im zivilen Bereich mit nur 65% durch Grundwasser gedeckt. Anscheinend werden nichteinmal 15% der Bundeswehr-Abwässer in den vorhandenen Anlagen erfasst.

Der Bericht von 1990 unterschlägt die Angaben zu den anfallenden Rückständen insbesondere den Sonderabfällen und die fehlenden Wasserrechtsbescheide. Insgesamt ist der Bericht weniger konkret als der von 1988. Die aufwendige Gestaltung läßt den Schluß nahe liegen, daß es sich hier lediglich um Argumentations- denn um Grundlagenmaterial für eine wirkliche und notwendige Umweltvorsorge handelt. Der Bericht macht überhaupt keine Aussagen zu Problemfeldern wie dem Fahrzeugbestand und -gebrauch, Flugbetrieb, Lärm insb. Betriebs- und Schießlärm, Altlasten und neue Altlasten von den z.B. 900 verschiedenen Munitionsarten, Manöverschäden oder Gebrauch von FCKW u.a.

Somit reiht sich der Bericht in die vielen anderen Berichte ein. Er wurde dem Verteidigungsauschuß erst zwei Tage nach der letzten Sitzung am 26.10.90 übergeben, vier Monate nach Erscheinen.

Antwort auf Anfrage der SPD ungenügend und falsch

Für die SPD hat die MÖP eine Stellungnahme zu der Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der SPD-Fraktion Zivilisationsverträglichkeit von Verteidigungsvorbereitungen im Frieden (Bt-Drs. 11/7826) erstellt. Die gesamte Antwort ist nur als ein weiterer, untauglicher Versuch zu werten, die katastrophalen Zustände im militär-ökologischen Bereich zu tarnen. Einige Antworten sind derartig »Schönfärberei«, daß von einer objektiven Antwort, die jedem Parlamentarier zustehen, nicht gesprochen werden kann. Da die Fragen nicht detailliert genug gestellt wurden, hat die Hardthöhe es zum Anlaß genommen, Allgemeinplätze statt wirkliche Zustandsbeschreibungen zu liefern. Es handelt sich eigentlich nicht um eine Beantwortung im herkömmlichen Sinne, sondern um eine Kommentierung, die den wirklichen Umweltnotstand verdecken soll. Es wurde empfohlen, Beschwerde bei Frau Bundestagspräsidentin Rita Süßmuth einzulegen. So heißt es z.B.: „Es gibt keinen Anhalt für Bodenverseuchungen durch Übungs- und Ausbildungsmunition auf Übungsplätzen der Bundeswehr und der Streitkräfte der Entsendestreitkräfte“. Es existieren jedoch bereits mind. vier Studien, die hier einen Zusammenhang nachweisen. Die ausführliche Anfragenanalyse kann für 10 DM incl. Porto bei der MÖP bestellt werden.

Einer weiteren Antwort auf eine SPD-Anfrage »Altlasten auf Liegenschaften der in Deutschland stationierten ausländischen Streitkräfte« (11/8101) kann man ebenfalls wenig entnehmen. Immerhin konnte sich die Bundesregierung zu folgender Aussage hinreißen lassen: „Durch den militärischen Betrieb auf den Liegenschaften der Streitkräfte sind bisher Gewässer- und Bodenbelastungen insbesondere durch Treib- und Schmierstoffe, chemische Lösungs- und Reinigungsmittel sowie durch Bleischrot beim Betrieb von Tontaubenschießständen bekannt geworden“.

Antwort auf Anfrage der GRÜNEN ungenügend und falsch

Einer Anfrage der GRÜNEN zum Thema »Militär und Klima« erging es bei der Beantwortung nicht viel besser. Zahlen und Aussagen stimmen wenig überein. Wie immer liegen der Bundesregierung keine Angaben zu den alliierten Streitkräften vor. Selbst beim Kerosinverbrauch, der sonst immer mit 900.000 t/a angegeben wurde, schweigt sie sich aus. Mengenangaben zum FCKW-Verbrauch gibt es nicht einmal für die Bundeswehr. Die Angaben zum Betriebsstoffverbrauch zeigen im Vergleich mit anderen bekannten Zahlen von 1985 und 1986 eine Zunahme. Das sie jetzt „tendenziell rückläufig“ seien, liegt wohl eher an der erwarteten Abrüstung. Die Angabe, die Bundeswehr produziere im Jahr ca. eine Milliarde m3 CO2 kann ebenfalls nicht stimmen. Umgerechnet ergebe dies ungefähr 2 Mio t CO2. Diese werden aber allein schon beim Kerosinverbrauch erzeugt. Daß die Bundesregierung nichts über die Klimawirksamkeit von Raketenstarts sagen will, ist angesichts der so groß angelegten Forschungs- und Aufklärungsaufgabe der Bundestags-Klima-Enquete-Kommission schlicht eine Farce. Nur oberirdische Atomwaffenexplosionen, Vulkantätigkeiten, Flugzeuge und Raketen können überhaupt direkt in die oberen Schichten der Atmosphäre eingreifen. Auch die vorgeschobene Unwissensheit gegenüber stark ozonvernichtenden Treibstoffadditiven ist in diesem Zusammenhang nicht zu akzeptieren. Obwohl die Bundesregierung spätestens durch die Anfrage für diese Thematik sensibilisiert sein müßte, gibt es keinerlei Hinweise auf geplante bzw. stattfindende Forschungsvorhaben.

Hintergrund dieser Anfrage der GRÜNEN ist eine Studie, die sie bei der Arbeits- und Forschungsstelle »Militär, Ökologie und Planung« (MÖP) e.V. in Bonn in Auftrag gegeben haben. Sie hat die Klimaverträglichkeit des Rüstungs- und Militärapparates zum Untersuchungsgegenstand.

Abschlußbericht des Unterausschusses »Militärischer Fluglärm/Truppenübungsplätze«

Ebenfalls am 24.10. wurde der Abschlußbericht des inzwischen dritten Unterauschußes »Militärischer Fluglärm/Truppenübungsplätze« beraten. Der Bericht ist äußerst mager (23 Seiten + Anhang) und gibt im wesentlichen die Presseverlautbarungen zum Thema Tiefflug, Soltau-Lüneburg-Abkommen, Truppenübungsplatz Grafenwöhr und Schießplatz Nordhorn-Range wieder. Im übrigen wird auf den umfangreichen Zwischenbericht verwiesen, den wir im MÖP-Rundbrief ausreichend kritisiert hatten. Interessant ist, daß es 104 Petitionen, davon zahlreiche von Gemeinden zum Thema Tiefflug, Lärm etc. gegeben hat. Unter dem Punkt Folgerungen und Ausblick heißt es: „Neben den dargestellten noch offenen Problemen zum militärischen Flugbetrieb und zu den Truppenübungsplätzen wird die weitere paralmentarische Aufmerksamkeit besonders den Altlasten auf Liegenschaften der in Deutschland stationierten ausländischen Streitkräfte gelten müssen“. Ob es allerdings in der nächsten Wahlperiode wieder einen Ausschuß geben wird, ist noch nicht bekannt.

Literatur

Olaf Achilles/Die GRÜNEN im Bundestag (Hg.): »Militär, Klima und Rüstung«; KÖF-Reihe Bd. 6; Alheim 1990
ders./MÖP e.V.: Stellungnahme zu der Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der SPD-Fraktion Zivilisationsverträglichkeit von Verteidigungsvorbereitungen im Frieden (Bt-Drs 11/7826); Bonn 1990
ders./dies.: »Verschwiegene Umweltbilanz der Bundeswehr« in: Ökologische Briefe 42; Frankfurt a.M. 1990
Bundesminster der Verteidigung: »Umweltschutz in Liegenschaften der Bundeswehr – Reinhaltung von Luft und Wasser Abfallwirtschaft«; Bonn November 1988
ders: »Umweltschutz in Liegenschaften der Bundeswehr – Luft, Wasser, Boden«; Bonn Juni 1990 1990
ders.: »Umweltschutz in der Bundeswehr – Grundlagen, Maßnahmen, Absichten«; Bericht des BMVg an den Verteidigungsausschuß des Deutschen Bundestages; Bonn 10.4.90
ders.: »Fachkonzeption Umweltschutz der Bundeswehr«, Bonn 4.10.90
Bundesregierung: „Antwort auf die Kleine Anfrage der SPD – »Altlasten der auf Liegenschaften der Deutschland stationierten ausländischen Streitkräfte““ (Bt-Drs. 11/8101)
dies.: „Antwort auf die Kleine Anfrage der SPD-Fraktion – Zivilisationsverträglichkeit von Verteidigungsvorbereitungen im Frieden (Bt-Drs 11/7826); Bonn 1990
dies.: „Antwort auf die Kleine Anfrage der GRÜNEN im Bundestag Militär und Klima“ (Bt.Drs. 11/8337)

Gerade auch angesichts der eklatanten Umweltprobleme der Militärs in der ehemaligen DDR und auf den alliierten Liegenschaften in der ehemaligen BRD muß die Forderung von Umweltschützern und Friedensforschern endlich umgesetzt werden: ein Sondergutachten des Rates für Umweltfragen der Bundesregierung zum Bereich Militär.

Aufruf: Bundesrepublik ohne Armee

Aufruf: Bundesrepublik ohne Armee

Aufruf für eine zivile Bundesrepublik Deutschland, eine Bundesrepublik ohne Armee (BoA)

von BoA

In vielen Initiativen der Friedensbewegung wird gegenwärtig das weitreichende Projekt einer Bundesrepublik ohne Armee (BoA) diskutiert und an einigen Orten bereits konkret vorbereitet. Unser Aufruf für eine zivile Bundesrepublik Deutschland soll diese Bemühungen ermutigen und das Anliegen überall bekanntmachen, damit sich viele und immer mehr Bürgerinnen und Bürger an seiner Verwirklichung beteiligen.
Seit Jahren hat die Friedensbewegung und haben mit ihr einsichtige PublizistInnen und PolitikerInnen festgestellt: jede Form eines Krieges der hochgerüsteten Blöcke in Europa ist beiderseits so sinnlos wie tödlich. Die dramatische Ereignisse der letzten Monate haben nunmehr den letzten Rest einer politischen Rechtfertigung für die Szenarien der Unvernunft beseitigt. Wenigstens eine europäische Welt ohne Rüstung und Militär ist eine realistische Perspektive geworden. Sie bietet erstmals tatsächliche Sicherheit vor einer Kriegsgefahr, die in jeder – auch der reduzierten und kontrollierten – Rüstung enthalten ist. Die Bundesrepublik Deutschland braucht ebensowenig eine Bundeswehr, wie die Deutsche Demokratische Republik eine Nationale Volksarmee.

Für beide deutsche Staaten eröffnet sich heute die historische Chance, vollständig abzurüsten. Dadurch können sie beide für sich und ihre Nachbarn unter Beweis stellen, daß wir Deutschen aus der Geschichte gelernt haben. Die Bundesrepublik kann hier und heute ohne jedes Risiko für die Sicherheit der Bevölkerung einseitig auf bewaffnete Streitkräfte – die Bundeswehr – verzichten. Sie leistete damit auch ihren besten und sichtbarsten Beitrag zur Entmilitarisierung und Demokratisierung der Deutschen Demokratischen Republik. Eine zivile Bundesrepublik und eine ihr folgende zivile Deutsche Demokratische Republik würden jenseits aller Zweifel beweisen, daß von den Deutschen keine Bedrohung ihrer Nachbarn mehr ausgehen kann. Nicht nur partielle Rüstung und Truppenverminderung, sondern die vollständige Auflösung der Bundeswehr – und parallel dazu der Nationalen Volksarmee – muß unsere konkrete politische Antwort sein auf die Erkämpfung der Demokratie durch das Volk der DDR.

Wir rufen die Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik auf, mit denselben Energien, die sie noch vor kurzem in der großen Friedensbewegung der achtziger Jahre entfaltet hatten, mit derselben Phantasie und Kreativität alle verfügbaren demokratischen und gewaltfreien Mittel zu mobilisieren, um die politischen Repräsentanten zu der historischen Entscheidung einer ersatzlosen Auflösung der Bundeswehr zu drängen. Die dadurch freikommenden Mittel werden zur sozialen Sicherheit, zum Umweltschutz, zur Hilfe für osteuropäische Länder, vor allem aber auch der armen und ausgebeuteten Völker der sogenannten Dritten und Vierten Welt und nicht zuletzt in der DDR dringend gebraucht.

Der Bundespräsident könnte selbst einen wichtigen ersten, wenn auch zunächst nur symbolischen Schritt in Richtung auf eine zivile Bundesrepublik Deutschland machen: wir bitten ihn, das bisherige militärische Zeremoniell bei Staatsempfängen durch zivile Formen der Begrüßung seiner, unserer Gäste zu ersetzen.

Komitee für Grundrechte und Demokratie, An der Gasse 1, 6121 Sensbachtal

Wie tief fliegt der Jäger ’90?

Wie tief fliegt der Jäger ’90?

Der Jäger 90 im Einsatzkonzept der Luftwaffe

von Otfried Nassauer

„Machen wir uns keine Illusionen. Heute sind es die Tiefflüge, morgen sind es die Manöver, übermorgen wird die gesamte Bundeswehr in Frage gestellt.“ Wo Herr Professor Doktor Scholz, Bundesminister der Verteidigung a.D., recht hat, da hat er recht. Und mit obigen Worten hat der Herr Minister ade Professor Doktor gar nicht so unrecht. Er weist nämlich darauf hin, daß der Ärger über die Symptome des Molochs Militär schnell zum politischen Widerstand gegen die Ursache, also das Militärische selbst werden kann. Ganz soweit führt dieser Artikel nicht, wohl aber möchte er die Notwendigkeit verdeutlichen, den Ärger über das verschwenderische Jagdflugzeug der neunziger Jahre und über den Lärmterror des Tieffluges in politische Opposition gegen eine der wesentlichen Ursachen beider Ärgernisse zu verwandeln: die nukleare Abschreckung, die NATO-Strategie der flexiblen Antwort und die in diese eingebettete Luftwaffendoktrin der NATO-Staaten.Diese politisch festgelegten militärischen Konzepte nämlich, machen beide, den Tiefflug und den Jäger 90 erforderlich und die sogenannte atomare »Modernisierung« darüberhinaus ebenso.

Die Phantom ist für ihr überaus lautes Triebwerk bekannt. Es ist so laut, daß gegen Ende der siebziger Jahre zwecks Lärmreduzierung eigens für die Phantom und den Starfighter eine gesonderte Mindestflughöhe im Tiefflug von 245 Metern (sonst gilt 150 Meter) verordnet wurde. 1980 wurde diese Maßnahme wieder aufgehoben; das Triebwerk aber blieb unverändert. Heute fliegt der Donnervogel – laut wie eh und je – so tief wie alle anderen Kampfflugzeuge auch: 150 m bzw 75 m in den Tieffluggebieten.

Fliegt der Jäger 90 tief?

Wenn er nicht vorher aus politischen oder wirtschaftlichen Gründen abstürzt, lautet die Antwort „JA!“. Das neue Jagdflugzeug soll in einer »Zweitrolle« als Jagdbomber dienen, es soll zudem „Begleitschutz für den Tornado“ fliegen. Zumindest für diese beiden Aufgaben ist es erforderlich, tief zu fliegen. So stehen denn auch „gute Tiefflugeigenschaften“ in der taktischen Forderung für das neue Milliardenprojekt.

Aber so einfach wollen und können wir es uns nicht machen. Denn mit guten Argumenten behaupten militärische Fachleute, daß moderne Jagdflugzeug-Technik die Tiefflugnotwendigkeit reduziert und modernste Triebwerke leiseren Lärm machen.

Dies macht eine genauere Betrachtung des Einsatz- und Aufgabenspektrums für das neue Jagdflugzeug sowie der Luftwaffendoktrin der NATO erforderlich.

Luftverteidigung im Tiefflug?

Hauptaufgabe des Jäger 90 ist – laut Darstellung der Bundeswehr – der Jagdkampf, also die Bekämpfung gegnerischer Flugzeuge in der Luft, vorrangig über dem Gebiet der Bundesrepublik. Jäger sollen Luftüberlegenheit herstellen, möglichst gar Luftherrschaft, über eigenem Territorium, aber auch in den gegnerischen Luftraum hinein. Das bemannte Flugzeug ergänzt dabei Flugabwehrgeschütze und -raketen, schließt Lücken in der Luftverteidigung, wenn der Gegner die bodengestützte Flugabwehr überwindet, eilt zu Hilfe, wenn mehr gegnerische Flugzeuge angreifen, als die Raketen und Geschütze bekämpfen können.

Weder dieses Bedrohungsbild noch die daraus abgeleitete Rechtfertigung der Arbeiten am Jäger 90 sind hier Gegenstand der Argumentation und Kritik. Gefragt werden soll nach der Rolle des Tieffluges bei diesen Aufgaben.

Heute ist für diese Aufgabe Tiefflug erforderlich. Der Jäger und Jagdbomber Phantom F-4F erfüllt sie zur Zeit. Die Bundesluftwaffe setzt ihn in vier Geschwadern dazu ein.

Gegnerische Jagdbomber fliegen zum Schutz vor frühzeitiger Entdeckung und zur Verkürzung der Zeit, in der sie von der Flugabwehr bekämpft werden können, so tief und so schnell wie möglich. Im Krieg liegen die Einsatzgeschwindigkeiten um 1000 km/h und die Einsatzhöhen zwischen 30 und 60 Meter, wenn möglich sogar darunter. Im Frieden ist die Ausbildung eingeschränkt. Mindestens 150 Meter Höhe (75 m für den simulierten Zielanflug in 7 Areas) und maximal 835 km/h, so lauten die Vorschriften.

In der Jagdflugaufgabe ist Tiefflug vor allem wegen der technischen Auslegung der Phantom erforderlich. Das ältere Radar hat eine relativ kurze Reichweite und kann tieffliegende Flugzeuge aus größerer Höhe nicht eigenständig gegen den Erdhintergrund von oben orten. Zudem unterstützt es nur Luft- Luftraketen relativ geringer Bekämpfungsreichweite. Eine Phantom muß Tiefflieger im Tiefflug bekämpfen, nachdem sie aus ihrem Warteraum an sie herangeführt worden ist. Wie ein Habicht stürzt sie dann auf ihren Gegner herab und versucht durch komplizierte Flugmanöver in eine günstige Schußposition für ihre Bordwaffen zu kommen.

Jagdflugzeuge modernerer Bauart – oder besser mit moderneren Radaren und Bordwaffen – können auf viele dieser Tiefflugmanöver verzichten: Ihre Radare erkennen auch den tieffliegenden Gegner schon aus großer Höhe und erlauben die Bekämpfung mehrerer Flugzeuge aus vielen Winkeln sowie auf große Entfernungen, selbst jenseits des optischen Horizontes, auf 50-80 km Entfernung. Das alles geht sehr schnell. Für den eigentlichen Luftkampf z.B. des Jägers 90 werden Treibstoffreserven für nur 2-3 Minuten als ausreichend erachtet.

Beim Jäger 90 ist ein solch modernes Hochleistungsradar vorgesehen; zwei Firmenkonsortien wetteifern seit Jahren verbissen um den Auftrag. Der Jäger 90 wird ein »look down shoot down« Radar erhalten. Beide Radarvorschläge unterstützen Jagdflugzeuge bei der Bekämpfung von oben nach unten und über große Distanzen mit Luft-Luft-Raketen mittlerer Reichweite. Die für den Jäger 90 vorgesehene Waffe dieser Art heißt AMRAAM (Advanced Medium Range Air to Air Missile).

Die neuen Fähigkeiten des Radars werden sicher viele heute im Tiefflug stattfindende Luftkämpfe überflüssig machen. Der Jäger 90 wird also weniger Tiefflug für die Luftverteidigungsaufgabe absolvieren müssen als die Phantom heute. Jedoch: Die Einrüstung des modernen amerikanischen APG-65-Radars (dessen Weiterentwicklung auch für den Jäger 90 angeboten wird) und der AMRAAM-Rakete sind auch schon bei der Kampfwertsteigerung der für den Jagdauftrag eingeplanten Phantom F4-F vorgesehen, die die Bundesluftwaffe ab 1991 durchführen will. Mit der Einführung des Jäger 90 wird die Tiefflugnotwendigkeit im Jagdkampf im Vergleich zur kampfwertgesteigerten Phantom also nicht nochmals wesentlich reduziert. Abzuwarten bleibt, ob des Jägers Triebwerk leiser Lärm machen wird.

Luftangriff – der Kern der Tiefflugaufgabe

Die von der NATO angenommene Bedrohungslage spiegelt auch die eigenen operativen Pläne. Man unterstellt dem Gegner ein Konzept, das man selbst durchzuführen gedenkt. „Unter dem Zaun der gegnerischen Luftabwehr hindurch“, die Deckung durch das Gelände nutzend, sollen NATO-Jagdbomber wie die F-16, der Tornado oder zukünftig die F-15E Strike Eagle ihre Ziele in der DDR, CSSR, in Polen und der UdSSR anfliegen. Der Jagdbomber bekämpft gegnerische Streitkräfte am Boden. Er stellt das eindeutig offensiv operierende Element der Luftstreitkräfte dar. Dabei sind verschiedene Aufgabenbereiche und Zielkategorien in verschiedener Tiefe im gegnerischen Hinterland zu unterscheiden.

1. Jagdbomber fliegen Luftnahunterstützung. Dies beinhaltet die direkte Bekämpfung gegnerischer Truppen aus der Luft in Unterstützung der eigenen Frontverbände. So kann man die eigene Verteidigung stärken, aber auch eigene Angriffe zu verwirklichen helfen. Feindliche Panzer und Kampftruppen sind die Hauptziele. Während die USA diese Aufgabe mit dem teilgepanzerten A-10 Kampfflugzeug (Remscheid) wahrnehmen, setzt die Bundesluftwaffe Alpha Jets und Phantom für diese Aufgabe ein.

Der tieffliegende Jagdbomber über oder knapp jenseits der Front ist Gefährdung durch die massierte Frontluftabwehr ausgesetzt. Je moderner die kleinen, tragbaren Flugabwehrraketen in der Vergangenheit wurden, desto gefährlicher wurden diese Einsätze. Die USA diskutieren noch, ob sie in der Zukunft ein speziell für diese Aufgabe konstruiertes Flugzeug weiter einsetzen wollen. Die Bundesluftwaffe hat entschieden, den leichten Jagdbomber Alpha Jet nicht zu modernisieren und diese Luftwaffenaufgabe zu reduzieren. Phantom und zusätzlich geplante Tornados sollen die Aufgabe – wo unbedingt erforderlich – übernehmen.

Diese Entscheidung fiel angesichts der steigenden Fähigkeit der Heeresartillerie, präzise und genau auch weiter entfernte Ziele zu bekämpfen. Die evolutionär-revolutionär verlaufende Entwicklung halb- und intelligenter Munition, zeitverzugsloser Aufklärung und moderner Raketenwaffen hat dies ermöglicht. Das Gefecht „in die Tiefe“ – wie in der US-amerikanischen AirLand Battle-Doktrin und der FOFA (Follow on Forces)- Doktrin der NATO angelegt – kann heute bereits mit moderner Artilleriemunition und Raketenwerfern wie MARS sehr effektiv geführt werden. Die Leistungskraft der Landstreitkräfte wird durch die Einführung konventioneller ATACMS-Systeme (Army Tactical Missile System, ein Zweifachraketenwerfer mit ca 150-200 km Reichweite, der zu Beginn der 90er Jahre eingeführt werden soll) weiter steigen. Eine enorme Steigerung der Heereskampfkraft entwickelt sich auch aus der zunehmenden Einführung von Kampfhubschraubern.

Sowohl in den USA als auch z.B. bei der Bundeswehr sind aus diesen Entwicklungen erste Schlußfolgerungen gezogen worden. Begann in der Vergangenheit die Planungshoheit der Luftwaffen (gegenüber der der Heere) ca 30 km jenseits der vorderen Linie der eigenen Verbände, so wird der Planungsbereich des Heeres nunmehr auf 100 km erweitert, eine Auswirkung der zunehmenden Durchsetzung der offensiven operativen und taktischen Vorstellungen der AirLand Battle Doktrin in der NATO.

In der Zukunft wird mit dem weiteren Zulauf modernster und effektiver Heeresartillerie der Bedarf an Luftnahunterstützung zurückgehen. Die Luftwaffe wird vor allem und wenn möglich nur noch bei Bedarf einer umfangreichen Schwerpunktbildung in dieser Aufgabe eingesetzt werden. Dies gilt insbesondere, wenn ein feindlicher Durchbruch durch die eigenen Reihen verhindert werden soll oder wenn eigene Verbände einen Durchbruch durch die gegnerische Front durchführen wollen. Die Einführung von Abstandswaffen mit intelligenten Submunitionen auch bei den Luftwaffen soll dabei die Notwendigkeit reduzieren, in den Wirkungsbereich der gegnerischen Luftabwehrwaffen einfliegen zu müssen. Der Anflug zum Einsatzgebiet wird trotzdem weiter im Tiefflug geschehen.

2. Jagdbomber riegeln das Gefechtsfeld ab. Hier werden Flugzeuge eingesetzt, um die gegnerischen Fronttruppen von ihrem Nachschub abzuschneiden. Treibstoffe, Munition, Material und frische Verbände, die in großer Zahl an die Front herangeführt werden müssen, sollen angegriffen und zerstört werden, bevor sie die Front erreichen. Mobile Ziele wie LKWs, Tankfahrzeuge, Truppentransporter und Kampffahrzeuge sind in großer Zahl zu bekämpfen, ebenso wie stationäre Ziele, z.B. frontnahe Depots, Befehlszentralen, Verkehrsknotenpunkte und -engpässe oder Einsatzflugplätze. Diese Ziele liegen bereits tiefer auf gegnerischem Territorium, 15, 30, 100 km von der eigentlichen Front entfernt. Moderne konventionelle Munitionen und Aufklärungsmittel machen auch auf diese Entfernungen schon heute effektive Bekämpfung möglich. In der Zukunft werden diese Möglichkeiten weiter steigen, nicht nur für die Luftwaffen, sondern auch für die Heeresraketenartillerie.

Der Flug ins gegnerische Hinterland erfolgt im Tiefstflug. Je weiter die Ausrüstung der Luftwaffen mit modernsten konventionellen Munitionen voranschreitet, desto deutlicher werden hier Schwerpunkte gesetzt werden. Dem Erfolg der Abriegelungseinsätze wird entscheidender Einfluß auf den Erfolg der Bodentruppen beigemessen. Die Bundesluftwaffe setzt für diese Aufgabe alle Typen von Jagdbombern ein, die ihr zur Verfügung stehen, den Alpha Jet, die Phantom und den Tornado. Auch der Jäger 90 – in seiner Zweitrolle als Jagdbomber – wird in diesem Aufgabenspektrum zum Einsatz kommen.

3. Jagdbomber haben die Aufgabe der Abriegelung. Die Abriegelung unterscheidet sich von der Gefechtsfeldabriegelung vor allem durch die noch größere Entfernung der Ziele, die bekämpft werden sollen. Diese liegen oft Hunderte von Kilometern jenseits der Front. Es handelt sich auch hier um stationäre Ziele wie Depots, Verkehrsknotenpunkte, Engpässe wie z.B.die Eisenbahnspurwechselzone zwischen der UdSSR und Polen oder wichtige Flußbrücken, bedeutende Infrastruktureinrichtungen und Kommandozentralen. Zum Teil gilt es auch, Verstärkungen der Frontkampftruppen auf dem Wege nach vorne zur Front zu bekämpfen. Schwerpunktwaffe der Bundesluftwaffe für diesen Aufgabenbereich ist der Tornado. Andere Jagdbomber können ergänzungsweise eingesetzt werden.

Erneut ist der Tiefflug das wesentliche Mittel zur Durchsetzung gegen die gegnerische Luftverteidigung. Abriegelungseinsätze haben einen sehr hohen Tieffluganteil.

4. Jagdbomber bekämpfen die gegnerische Luftwaffe am Boden. Gleich zu Beginn eines Krieges wird ein entscheidendes Gefecht ausgetragen – das um die Luftüberlegenheit. Dieses findet aber nicht nur in der Luft – Kampfflugzeug gegen Kampfflugzeug – statt. Der ehemalige Luftwaffeninspekteur und heutige stellvertretende NATO-Oberbefehlshaber Eberhard Eimler machte dies schon im Juni 1984 so deutlich: „Der Durchbruch im Kampf um die Luftüberlegenheit muß jedoch durch Initiative und ständige Offensive erreicht werden. Diese Forderung steht am Anfang der Luftkriegslehre.(…) Alle Kampfflugzeuge der Luftwaffe haben die Fähigkeit, zum initiativ geführten Kampf gegen Luftstreitkräfte beizutragen. Mit dem Tornado und seiner modernen Bewaffnung werden wir auf lange Sicht ein hervorragendes System mit guter Erfolgsaussicht auch im Kampf gegen die Basen (d.h. Flugplätze) einsetzen können.“

Der Gedanke ist klar und einfach: Entscheidend ist, die gegnerische Luftwaffe zu bekämpfen bevor sie abheben kann, sie zumindest aber zu zwingen, auf Hilfsflugplätze auszuweichen. Gleich zu Beginn eines Krieges also gilt es, des Gegners Haupteinsatzflugplätze auszuschalten. (Hier lauert die Gefahr eines Wettlaufes um einen Präventivschlag.) Dies geschieht im Tiefflug, da diese Flugplätze tief im gegnerischen Hinterland liegen und über eine ihrer Bedeutung entsprechende eigene Luftabwehr verfügen. Moderne, wirksame, konventionelle Submunitionen, speziell für die Zerstörung von Startbahnen und Flugzeugbunkern ausgelegt, gehören deshalb schon heute zur Bewaffnung der Jagdbomber. Zukünftig sollen Abstandswaffen, also Raketen und Cruise Missiles mit diesen Submunitionen bestückt werden, um die Wirksamkeit der Luftwaffe im Kampf gegen die gegnerischen Luftstreitkräfte am Boden weiter zu verstärken.

FOFA – Der Tiefflug gewinnt an Bedeutung

FOFA – der Angriff auf die nachfolgenden Kräfte – ist seit 1984 Bestandteil der NATO-Strategie und der Luftwaffendoktrinen. Im Gefolge der Einführung der AirLand Battle Doktrin beim US-Heer und der Air Superiority Doktrin bei der US-Luftwaffe mit ihren Akzentsetzungen bei Angriffen auf Ziele im gegnerischen Hinterland, ist FOFA die komplementäre Ergänzung und Anpassung auf NATO-Ebene. FOFA beinhaltet eine deutliche Schwerpunktsetzung bei Angriffen der Land- und vor allem Luftstreitkräfte auf Ziele tief im gegnerischen Hinterland und verstärkt die Offensivorientierung der NATO-Luftwaffendoktrin. Vorrangig sind die Bekämpfung gegnerischer Luftstreitkräfte am Boden und Abriegelungseinsätze, je nach Definition fallen auch Einsätze zur Gefechtsfeldabriegelung darunter.

Dieser neue Akzent erfordert in erheblich gesteigertem Umfang Tiefflugeinsätze.

Der INF-Vertrag wird durch Tiefflug kompensiert

Der INF-Vertrag führt zur Beseitigung atomarer Mittelstreckenraketen mit 500-5500 km Reichweite, soweit diese an Land stationiert sind. Die NATO verliert dadurch wesentliche Teile ihrer Möglichkeiten, Ziele tief im Gebiet der Warschauer Vertragsorganisation und insbesondere in der UdSSR von Westeuropa aus atomar bedrohen zu können. Seit Abschluß des Vertrages laufen deshalb intensive Gespräche und Untersuchungen, wie die verlorenen Möglichkeiten zurückgewonnen werden können.

Unter der irreführenden Überschrift »nukleare Modernisierung« plant die NATO, dies im Kern durch folgende Schritte zu erreichen:

  • durch die Stationierung zusätzlicher nuklearfähiger Jagdbomber
  • durch die Einführung nuklearer Abstandsflugkörper für Flugzeuge
  • und ein Lance-Nachfolgesystem mit knapp 500 km Reichweite für Ziele in geringerer Entfernung.

Der Schwerpunkt liegt eindeutig bei den luftgestützten Systmen. Sie sollen, soweit möglich, die Aufgaben der »Nach“Rüstungswaffen übernehmen. Hier liegt auch eine Ursache dafür, daß die NATO bei den Wiener Verhandlungen über konventionelle Rüstung nicht über ihre überlegenen Jagdbomberstreitkräfte verhandeln will; hier liegt eine Ursache dafür, daß die USA bei den START-Verhandlungen luftgestützte Atomwaffen mit weniger als 1500 km Reichweite ausklammern und eine neue Grauzonen-Rüstung schaffen wollen.

Diese Rückverlagerung wichtiger nuklearer Abschreckungsaufgaben zu den Jagdbomberverbänden wird die Tiefflug„notwendigkeit“ erneut steigern. Dies kommt bereits in der Absicht der USA zum Ausdruck, neue F-15E Jagdbomber in Bitburg und zusätzliche F-111 in Großbritannien zu stationieren. Es wird den Ruf nach zusätzlichen Tornados in nuklearer Rolle bei der Luftwaffe lauter werden lassen, da beim Schwerpunkt FOFA mit der Hauptwaffe Tornado mit konventioneller Munition ja keine Abstriche gemacht werden sollen.

Der Tornado braucht Hilfe

Die Aufgaben des Tornados wachsen, seine Qualität als Tiefflugjagdbomber wird immer mehr gefragt. Im Gegensatz dazu aber wachsen die Zweifel, ob der Tornado kann, was er soll.

Schon seit geraumer Zeit fürchtet die Bundesluftwaffe, daß gesteigerte Fähigkeiten der gegnerischen Luftabwehr ihr die Freude am Besitz des noch „teuersten Waffensystems seit Christi Geburt“ vergällen könnte. Man fürchtet, zu viele der Milliardenvögel würden abgeschossen, wenn sie für ihre umfangreichen FOFA-Aufgaben immer wieder und in großer Zahl in den gegnerischen Luftraum eindringen müssen. Gefahr droht insbesondere

  • von der gegnerischen Luftabwehr in Frontnähe
  • von starker Luftverteidigung rund um wichtige Ziele im Hinterland
  • von den Jagdfluzeugen der Warschauer Vertragsorganisation, die jetzt auch mit "look down shoot down" – Radaren ausgerüstet werden.

Die Luftabwehr rund um wichtige Ziele soll der Tornado künftig meiden, indem er mit Abstandswaffen ausgerüstet wird. Er braucht das Ziel dann nicht mehr direkt zu überfliegen. Gegen die Luftverteidigung in Frontnähe bekommt der Tornado einen Verwandten als Begleiter, den ECR-Tornado, von dem gerade 35 für über 3 Mrd. DM beschafft werden. Der ECR-Tornado (Electronic Combat and Reconnaissance) soll die gegenerische Luftverteidigung elektronisch blenden und durch moderne Raketen bekämpfen, eine Schneise für nachfolgende normale Tornados schlagen und zugleich Aufklärung betreiben. Gegen moderne Jagdflugzeuge aber hilft das alles nichts. Diese können dem Tornado nur durch eigene Jäger als Begleitschutz vom Halse gehalten werden. Deshalb hat der Jäger 90 die Aufgabe, bis zu Entfernungen über 1000 km für den Tornado Begleitschutz zu fliegen.

Der Jäger 90 ist ein Mehrzweckflugzeug

Und welche Rolle hat der Jäger 90 nun bei alledem? In wieweit muß er zum Tiefflug geeignet sein? Hier sind mehrere Aufgabenfelder zu unterscheiden.

1. In seiner Primäraufgabe »Jagdkampf« wird der Jäger 90 (s.o.) erheblich weniger Tiefflug absolvieren müssen als eine Phantom heute. Dies ist die Folge moderner Bewaffnungen und moderner Bordradare.

Das gilt nicht, wenn der Jäger 90 als Begleitschutz für den Tornado eingesetzt wird. Auch er muß dann im Tiefflug in den gegnerischen Luftraum eindringen, danach allerdings steigt er, um seine Schutzaufgabe wirkungsvoll erfüllen zu können, auf mittlere Höhe auf.

2. In seiner "Zweitrolle" als Jagdbomber wird der Jäger 90 seine Tiefflugeigenschaften beweisen müssen. Diese Zweitrolle wird seitens der Bundesluftwaffe schamhaft versteckt. Sie sei ein »Abfallprodukt«, da jedes Jagdfluzeug auch Jagdbomberaufgaben erfüllen könne. Die Konstruktion des Flugzeuges werde nur von der Jagdrolle bestimmt, nicht aber von der Jagdbomberrolle.

Doch was scheinbar nur ein Nebenprodukt modernen Kampfflugzeugbaues ist, spielt nur in der Öffentlichkeit keine Rolle. Wer hinter die Kulissen schaut, wird schnell feststellen, daß der Jäger 90 ein Mehrzweckkampfflugzeug sein wird und ein ganz schön formidabler Jagdbomber. Dafür sprechen eine ganze Reihe von Fakten: Die Bundesluftwaffe führt seit geraumer Zeit ein Untersuchungsprogramm für die Luft-Boden-Bewaffnung des Jägers durch, also für die Jagdbomberrolle. Zu den industrieseitig für den Jäger 90 vorgesehenen Bewaffnungen gehört auch die Modulare Abstandswaffe (MSOW/ MAW), eine zukünftige Hauptwaffe für den Tornado. Der Jäger 90 erhält ein Radar, das insbesondere Forderungen nach einer guten Zielauflösung am Boden entsprechen soll und mit entsprechenden Betriebsarten ausgestattet sein soll. Argumente, der Jäger erhalte nicht einmal einen Bombenrechner, sind irreführend, denn das integrierte Steuerungs- und Operationsführungssystem eines modernen Kampfflugzeuges ist in Verbindung mit einem modernen Radar in der Lage, diese Aufgabe mit zu erfüllen. Und – zuguterletzt – das Jagdflugzeug 90 wird von Gewicht, Größe und Zuladungskapazität so ausgelegt, daß seine Eignung zum Jagdbomber kaum in Zweifel gezogen werden kann. Exportinteressen werden ein Übriges tun, die Betonung der Jagdbomberrolle nicht zu kurz kommen zu lassen, denn Luftangriffsflugzeuge lassen sich nun einmal besser verkaufen als „reine“ Luftverteidigungsflugzeuge.

Im Kontext der Veränderungen der Schwerpunktsetzungen in der NATO-Luftwaffendoktrin wird also auch der Jäger 90 zu einer Aufrechterhaltung der Tiefflugbelastung in der Bundesrepublik erheblich beitragen.

Ansätze für Schlußfolgerungen

Tiefflug ist – in der Logik der NATO-Strategie – zwingend notwendig. Ohne Tiefflug läßt sich die Luftwaffendoktrin der NATO-Staaten in ihren wesentlichen Teilen nicht durchführen. Diese wesentlichen Teile sind die offensiv-orientierten, gegen Ziele tief im gegnerischen Hinterland gerichteten Luftwaffeneinsätze. Die Tiefflugnotwendigkeit orientiert sich durch die technologischen Entwicklungen immer weitergehend auf die Durchführung dieser offensiven Doktrinbestandteile. Für die defensiven Doktrinanteile wird er zukünftig noch weniger Bedeutung haben. So standen schon Mitte der achtziger Jahre trotz der älteren Radare nur etwa 30 Tiefflugeinsätze bei Jagdflugzeugen etwa 80 solchen beim Tornado im taktischen Jahresausbildungsprogramm gegenüber. Der Jäger 90 ist zukünftig in die Durchführung solcher offensiven Operationen eingebunden. Argumentationen, die dieses Flugzeug öffentlich als »Defensivsystem« par excellence rechtfertigen, stehen auf tönernen Füßen. Dasselbe gilt für Behauptungen, die Einführung des Jäger 90 werde eine signifikante Reduzierung des Tieffluges zur Folge haben. Die Bedeutung offensiv orientierter Tiefflugeinsätze steigt:

  • Im Rahmen von FOFA werden konventionelle Einsätze gegen wichtige militärische Ziele im Hinterland immer wichtiger. Dies wird verstärkt, weil der INF-Vertrag konventionelle landgestützte Mittelstreckenraketen ebenso wie atomare verbietet.
  • Nach dem INF-Abkommen spielen nuklear verwendbare Flugzeuge mit hoher Eindringfähigkeit ins gegnerische Hinterland eine entscheidende Rolle bei der Wiedergewinnung der durch den INF-Vertrag verloren gehenden militärischen Optionen, Ziele in Polen und bis tief in die UdSSR selektiv und nuklear bedrohen zu können. Für die Bundesregierung kommt der Bereithaltung solcher Systeme unter dem Gesichtspunkt der Erhaltung und Ausweitung ihrer »nuklearen Teilhabe« große Bedeutung zu. Sie wird ihr Engagement zu erhöhen suchen.

Eine Kritik, die schlicht am Fluglärm ansetzt, nicht aber nach den Ursachen, nach der Begründung für Tiefflug fragt, greift deshalb zu kurz. Im Rahmen geltender NATO-Strategie kann nur an den Symptomen kuriert, über Tiefflugbe- und einschränkungen diskutiert werden. Wünschen nach Reduzierung werden zurecht immer wieder Forderungen nach Intensivierung als von der fliegerischen Auftragserfüllung her geboten entgegengehalten werden können. Und das Ergebnis ist vorgezeichnet: Ein Kompromiß, der keinesfalls das Ende des Tieffluges, allenfalls dessen Beschränkung, Verlagerung ins Ausland oder »gerechtere Verteilung« zur Folge haben wird.

Die Kritik in neue Bahnen lenken

Es mag ein Vermittlungsproblem bestehen. Aber ohne an der Kritik der NATO-Strategie der flexiblen Antwort und deren Umsetzung in der Luftwaffendoktrin anzusetzen, kann ein „Stopp aller Tiefflüge“ einschließlich des Verzichtes auf den Lärmexport ins Ausland nicht begründet, geschweige denn durchgesetzt werden. Überspitzt formuliert, kann gesagt werden: Gleichgültig ob

  • es um den Verzicht auf den Jäger 90
  • um einen Stopp der Tiefflüge
  • oder um eine Verhinderung der als »Modernisierung« getarnten neuen Runde atomarer Aufrüstung

geht: Diese Ziele sind nur überzeugend proklamierbar, wenn die Kritik der NATO-Strategie in den Vordergrund rückt. Sie sind nur rational begründbar im Hinblick auf einen Abschied von der Strategie der flexiblen Antwort. Dies schließt die notwendige Überwindung der Abschreckung zwangsläufig mit ein. Immanente Kritik bei scheinbarer oder indirekter Anerkennung der NATO-Strategie greift zu kurz und leitet Motivationen, Energien und Phantasien vieler Menschen fehl.

Betroffenheit mobilisiert vergleichsweise kurzfristigen Widerstand. Langer Atem in der Opposition bedarf der Motivation durch rationale Analyse, durch Kritik, die an die Ursachen geht. Langer Atem braucht manchmal gar den Mut, auf den schnellen Mobilisierungserfolg zu verzichten, damit eine langfristige wirkungsvolle Orientierung entstehen kann. Diese Chance besteht – es gilt sie zu nutzen, damit unser Herr Professor Doktor Bundesminister a.D. auch wirklich recht behält, wo er gar nicht so unrecht hat. Abgewandelt: „Machen wir uns keine Illusionen. Heute sind es die Tiefflüge, morgen ist es der Jäger 90 und die Luftwaffe, und übermorgen wird die gesamte NATO und ihre Strategie in Frage gestellt.“

Otfried Nassauer ist Militärexperte und Journalist in Hamburg

Was heißt und zu welchem Ende betreiben wir die BoA?

Was heißt und zu welchem Ende betreiben wir die BoA?

von Ekkehart Krippendorff

Friedrich Schiller, von dem diese klassisch gewordene (wenn auch, wegen ihres grammatischen Fehlers zeitgenössisch kritisierte) Formulierung für seine Jenaer Antrittsvorlesung über »Universalgeschichte« stammt, hatte es schwerer was den ersten und leichter was den zweiten Teil der Frage anbetrifft. BoA – es hat sich inzwischen herumgesprochen – heißt schlicht der heutigen Abkürzungsmode folgend (NATO, KSZE, MBFR …) „Bundesrepublik ohne Armee“. BoA steht für eine Perspektive, eine langfristige Zielvorstellung, eine realistische Utopie, eine strategische Orientierung in der Konfusion, der Vielfalt, dem unübersichtlich gewordenen Dickicht der gegenwärtig gehandelten Friedenskonzepte für Mitteleuropa und darüber hinaus – als da sind: atomwaffenfreie Zonen, defensive Verteidigung, Aufkündigung von Jalta, vertrauensbildende Maßnahmen, Frieden schaffen ohne Waffen, doppelte und dreifache Null-Lösung, Gemeinsame Sicherheit usw.

Übernommen bzw. übertragen wurde das BoA-Kürzel von der beachtlichen und mutigen „Gesetzesinitiative Schweiz ohne Armee“ (GSoA), die in diesem kleinen und hochmilitarisierten Land immerhin die besten und bekanntesten Schweizer zu ihren Befürwortern hat (Dürrenmatt und Frisch z.B.), d.h. die, denen dieses Land seinen Respekt und seine Anerkennung als Kulturvolk verdankt, was man von der Schweizer Schokolade oder den Banken nicht wird behaupten können. Darin steckt auch die Besinnung auf eine Umwertung der Werte, oder richtiger: auf ein Zurechtrücken, eine Richtigstellung von Werten, die ein Volk und eine Kultur auszeichnen und ihnen Würde verleihen – Literatur, Dichtung, Kunst, aber auch Zivilität, Humanität, Demokratie, Menschenwürde, Rechtssicherheit.

Nach 1945 unvorstellbar: ein hochgerüsteter deutscher Staat

1945 schien auch in Deutschland – endlich – der Boden bereitet, um Abschied zu nehmen von einer fatalen, zerstörerischen Werte-Verkehrung, die nationale Größe ausschließlich auf Machtstaatlichkeit, Blut und Eisen – konkret: auf eine starke Armee als Garant internationalen Respekts – gegründet gesehen hatte. Dieses Deutschland wollte und sollte nie wieder als bewaffnete Macht zur Völkerfamilie gehören, sondern sich beweisen, seine neue Identität finden durch eine ernsthafte und radikale Neu- und Rückbesinnung auf echte, dauerhafte und vor allem friedliche Werte. Dann aber änderte sich bekanntlich die sog. Weltlage, d.h. sie wurde geändert, und zwar aus der alten Logik der Machtpolitik heraus, deren Spielregeln folgend, die trotz der Kriegskatastrophe nicht wirklich infrage gestellt wurden (die UNO war ein halbherziger Ansatz dazu gewesen). Den beiden deutschen Teilstaaten wurde es nicht gestattet, einen radikalen Weg zu einer neuen, u.a. nicht bewaffneten Identität weiterzugehen, was den politischen Klassen durchaus entgegenkam, denn Weniges ist so schwierig wie Umdenken, Neubeginnen, Radikalität in Gesellschaft und Politik. Damals, in den 50er Jahren, war das Volk, das eine Wiederbewaffnung nicht wollte und sich so gut es unter den Umständen möglich war, dagegen wehrte, radikaler, politisch lernfähiger als seine Regierungen, deren taktischem Geschick bei der Wiederaufstellung von Militär es schließlich unterlag. Eine „Bundesrepublik ohne Armee“ war einer Mehrheit der westdeutschen Bevölkerung noch vor vierzig Jahren keineswegs unvorstellbar – im Gegenteil: unvorstellbar erschien damals ein hochgerüsteter deutscher Staat. Trotzdem wurde er durchgesetzt. Daran ist politisch und historisch nicht nur immer wieder zu erinnern, sondern auch zukunftsorientiert anzuknüpfen.

Natürlich ist die Geschichte nicht ungeschehen zu machen, kann sie nicht schlicht revidiert werden. Aber Geschichte enthält auch, wenn sie überhaupt eine bewußtseinsbildende Funktion hat – und die hat sie – uneingelöste Versprechen, Möglichkeiten, zu reflektierende Alternativen. Nichts hat so kommen müssen, wie es kam, Zukunft ist immer offen für verschiedene Optionen – vorausgesetzt, wir überlassen uns nicht einem blinden »Durchwursteln« und haben eine generelle strategische Perspektive, innerhalb derer wir unsere taktischen-praktischen Schritte machen und unsere Entscheidungen treffen. Sich vorzustellen, es könne eine entmilitarisierte Bundesrepublik, eine „Bundesrepublik ohne Armee“ geben, ist eine ebenso noble und erstrebenswerte Zielvorstellung wie die einer „Schweiz ohne Armee“ und für andere Länder und Staaten um uns und darüber hinaus gleichermaßen.

Vorbereitendes Denkbarmachen

Um nicht mehr – aber auch nicht weniger – als um das vorbereitende Denkbarmachen einer solchen Möglichkeit geht es bei BoA. Dieses Denkbarmachen selbst, wenn es die Schreibtische und die mit kleinen Auflagen zirkulierenden Friedenszeitschriften verläßt und zum öffentlichen Topos wird, wenn BoA in sich erweiternden Kreisen und von immer mehr Menschen diskutiert wird – und zwar durchaus kontrovers, im Für und Wider – das allein ist schon ein Stück wichtiger Politik, dazu angetan, mit der Brechung eines alten Tabus den Boden zu bereiten für konkrete Veränderungen und zu entwickelnde Alternativen zu Abschreckung und zu den auch noch in den Konzepten von defensiver Verteidigung z.B. enthaltenen letztlich militärisch konditionierten Vorstellungen von Sicherheit. Militär ist immer ein Sicherheitsrisiko, enthält immer den fruchtbaren Schoß für kriegerische Konflikte, für herrschaftliche Gewaltausübung. BoA ist ein »idealistisches« Projekt – aber im Sinne Hegels: „Ist das Reich der Ideen erst genügend revolutioniert, hält die Wirklichkeit nicht mehr lange stand.“ Ist die Armee als vermeintlich unverzichtbare Sicherheitsgarantie für das Überleben einer Gesellschaft erst genügend delegitimiert, hält sie selbst nicht mehr lange stand.

Delegitimierung der Bundeswehr

In der Bundesrepublik beobachten wir neuerdings einen solchen, fast »naturwüchsig« zu nennenden Prozeß der Delegitimation der Bundeswehr, wozu »Ramstein« und die Tiefflüge nur symptomatische Auslöser waren. Mit diesem Pfunde gilt es zu wuchern. Eine nicht mehr wehrwillige Bevölkerung – den Regierenden und vor allem den Bundeswehr-Professionellem ein offen ausgesprochener Alptraum – bedeutet, auch wenn sich an den tatsächlichen Strukturen und militärischen Potentialen zunächst nichts ändert, eine Reduktion von Bedrohung des potentiellen Gegners, des Warschauer Paktes und der DDR insbesondere, was zur Delegitimation von dessen »Volksverteidigungsarmeen« führen muß und entsprechende Wehrwiderwilligkeit dort offener als bisher artikulierbar macht. Wir erleben ja schließlich denselben Zusammenhang derzeit in umgekehrter Richtung, indem die mit »Perestroika« verbundene Reduktion einer immer schon mehr propagandistischen als realen Gefahr sowjetisch-kommunistischer Europa-Eroberung zur Freisetzung jenes historisch gut begründeten Unbehagens am Militär in der Bundesrepublik geführt hat. Über BoA laut und öffentlich nachdenken, heißt also nicht nur aktive Politik zu betreiben, und zwar Friedenspolitik, sondern solches Nachdenken ist auch weit davon entfernt, schematisch-blauäugig zu sein: die BoA-„Kampagne« ist ein Prozeß, kein von heute auf morgen durch schlichte „Abschaffung der Bundeswehr“ zu verwirklichendes reales Nahziel. Sie ist ebenso ein politischer Prozeß der Bewußtseinsveränderung, dem die konkrete Politik wird nachgeben müssen, wie es die Friedensbewegung in ihrer Mobilisation gegen die Raketen-Hochrüstung war, die immerhin einen zwar problematischen aber doch realen Abrüstungsschritt zur Folge hatte. Nur geht BoA weiter, ist radikaler, geht mehr an die Wurzel des Kriegsproblems und der unverwirklichten Friedenshoffnungen als es der Kampagne gegen Pershing, Cruise und SS-20 möglich war.

Von der Militär- zur Staatskritik

Ist die Armee, ist Militär »die« Wurzel des »Übels«, des Problems latenter Kriegs- und nuklearer Holocaust-Gefahr? Das können wir zu diesem Zeitpunkt offenlassen. Vorsicht und Skepsis ist immer geboten gegen monokausale Ursachenbestimmungen. Ich selbst habe mich durch meine Studien davon überzeugen lassen, daß das Militär eher Symptom denn Ursache ist – aber ein Symptom, das, wenn ernsthaft diskutiert und ent-tabuisiert, neue und tieferliegende Ursachen freilegen wird. Sie liegen, so meine ich, in staatlich organisierter Herrschaft von Menschen über Menschen, von Strukturen, die aber erst dann in ihrer ganzen Komplexität in den Blick kommen, wenn wir wenigstens einige Schritte weit gekommen sind im effektiven Abbau ihrer militärischen, d.h. als Armeen institutionalisierten Erscheinungsform. Wenn ein Vergleich erlaubt ist: auf dem »Umweg« über die dramatischen Umweltzerstörungen ist der Kapitalismus wieder und schließlich das Industriesystem als Problem neuzeitlich-europäischer Naturunterwerfung freigelegt worden. Auf dem »Umweg« über die Militärkritik dürfte auch die Staats- und schließlich die Herrschaftsfrage wieder freigelegt werden, die in der europäischen Neuzeit – übrigens nicht zufällig zeitlich parallel zur modernen Naturwissenschaft und Technik – als mit dem modernen Staat beantwortet und „gelöst“ erschien. Diese sich aus einer gründlichen BoA-Diskussion ergebenden komplizierten Fragen können und sollten wir getrost dieser Diskussion selbst überlassen; sie sind intellektuell spannend und gleichzeitig politisch höchst brisant, wie überhaupt ernsthaftes Nachdenken über Perspektiven und reale Utopien, wie BoA sie darstellt, intellektuell aufregend und zugleich politisch aktuell sind. Wäre es das nicht, würde BoA nicht so massiv öffentlich denunziert oder als gefährliche Träumerei verurteilt werden – so wie die nervösen Reaktionen von Politik und Bundeswehr auf die deutlich nachlassende Armee-Akzeptanz in der Bevölkerung ein Gespür dieser Herren dafür signalisieren, daß sich hier für sie und für ihre Vorstellungen von Ordnung, Staat und Herrschaft höchst gefährliche, vielleicht dürfen wir sogar sagen »revolutionäre«? Perspektiven auftun.

Dr. Ekkehart Krippendorff ist Hochschullehrer am John F. Kennedy-Institut für Nordamerikanische Studien an der Freien Universität Berlin.

Traditionspflege in der Bundeswehr (II)

Traditionspflege in der Bundeswehr (II)

von Jörg Schulz-Trieglaff

Wem gehört Scharnhorst?

Weit unverfänglicher als eine Beschäftigung mit der Wehrmacht ist offenbar eine Anknüpfung an weiter zurückliegende Ereignisse der Militärgeschichte. Die Heeresform in Preußen scheint sich für die Traditionspflege geradezu anzubieten. Im Traditionserlaß von 1965 wird festgestellt: „Politisches Mitdenken und Mitverantwortung gehören seit den preußischen Reformen zur guten Tradition deutschen Soldatentums.“ (Nr. 17) Man erinnert sich gern an Scharnhorst, Gneisenau und Clausewitz. Mehrere Bundeswehrkasernen sind nach den Reformen benannt.

Ihr besonderer Verdienst liegt darin, daß sie die barbarischen Prügelstrafen und die selektive und mitunter gewaltsame Rekrutierung, von der überwiegend Nichtpreußen betroffen waren, abschafften. Durch eine menschenwürdige Behandlung der Soldaten, aber auch durch die allgemeine Wehrpflicht der Preußen und die Aufhebung der Adelsprivilegien bei der Besetzung der Offiziersstellen sollte die Armee im Volk verankert werden. Dem Bürgertum eröffneten sich neue Möglichkeiten, im Staat an Einfluß zu gewinnen und den Krieg als Mittel absolutistischer Machtpolitik zu überwinden.

Die Heeresreform ist als ein Bestandteil der Staats- und Verwaltungsreform in Preußen zu verstehen. Wie diese erhielt sie ihren Anstoß durch die katastrophale Niederlage, die dem preußischen Heer 1806 durch die Franzosen bei Jena und Auerstädt zugefügt wurde. Die Reform diente dazu, den Staat effektiver zu machen, um die Folgen des Desasters schneller zu überwinden und die französische Vorherrschaft abzuschütteln. Aber die Reformer waren auch vom Geist der Aufklärung geprägt und verfolgten bei ihrer „Revolution von oben“ humane und fortschrittliche Ziele.

Nach Reformmaßnahmen und Befreiungskriegen setzte alsbald die Reaktion ein, wodurch die Wirkungen verwässert und zum großen Teil wieder rückgängig gemacht wurden. Die preußisch-deutsche Armee blieb bis in den 2. Weltkrieg vom Adel geprägt, der die höheren Führungspositionen innehatte, wenn auch der absolute Anteil adliger Offiziere zurückging. Auch eine menschenwürdige Behandlung der Soldaten setzte sich nur sehr zögernd durch, weil sie rechtlich zu wenig geschützt waren. Es blieb die allgemeine Wehrpflicht, die sich als Rekrutierungsform für das Heer des Nationalstaates bewährte. Ein Mißbrauch des Militärs ließ sich dadurch nicht verhindern. Schließlich wurde der 1. Weltkrieg – und nicht nur auf deutscher Seite – von Wehrpflichtigenarmeen geführt. Nach kurzer vom Versailler Vertrag auferlegter Zwangspause führten die Nationalsozialisten die Wehrpflicht wieder ein. Sie konnten dadurch Soldaten in großer Zahl für ihre Ziele mobilisieren. Die Wehrpflicht ist also keineswegs ein Merkmal der „wehrhaften Demokratie“, wie es gern behauptet wird. Sie kann ebenso von autoritären Staaten und von Diktaturen zur Rekrutierung und zur Sozialisation genutzt werden.

Wenn sich die Bundeswehrführung heute so gern auf die Heeresreform beruft, muß sie sich fragen lassen, wie sie mit ihren eigenen Reformen umgeht. Und da zeigt sie sich sehr inkonsequent. Jede Kritik an der „gültigen“ Militärdoktrin und alle Konzepte alternativer Verteidigungsstrategien werden abgewehrt. Kritiker werden diffamiert und als leichtfertig dargestellt, weil sie die Wirkung der Abschreckung schwächen und angeblich den gesicherten Frieden aufs Spiel setzen. „Die Raumverteidigung ist eher eine Kriegsführungsstrategie als eine Kriegsverhinderungsstrategie (…). In Wahrheit nehmen solche realitätsfremden Vorstellungen (die soziale Verteidigung, S.-T.) den Verlust der Freiheit ohne Risiko für den Aggressor in Kauf – möglicherweise für Generationen (…). Die unausweichliche Konsequenz wäre eine erhöhte Kriegsgefahr für unser Land.“9

Die öffentliche Kritik der letzten Jahre richtete sich vorwiegend gegen die Rüstung und gegen die Strategie der atomaren Abschreckung. Erst vereinzelt setzt sich die Erkenntnis durch, daß eine Abschaffung der Massenvernichtungsmittel, eine Truppenreduzierung und eine alternative Verteidigungsstrategie, alles Voraussetzungen für eine Friedensregelung in Europa, mit der Bundeswehr in ihrer derzeitigen Form nicht zu haben sind. Neuerdings wird daher auch die Forderung nach einer Armeereform erhoben.10 Die Bundeswehrführung ist aber in ihrer Haltung zur Zeit so verfestigt und erstarrt, daß sie eine an Militärfragen interessierte Öffentlichkeit, aber auch militärpolitisch engagierte Soldaten nicht als Chance, sondern als Bedrohung sicherer Positionen wahrnimmt. Daher erscheint die Bundeswehr als ein typisches Beispiel für eine Armee der Reaktion. Einer solchen Armee ist die Rückbesinnung auf die Reformer nur bei der Preisgabe der historischen Wahrheit möglich. Diese Art von Traditionspflege ist vergleichbar mit derjenigen der kaiserlichen Armee oder der Wehrmacht. Damals waren die größten Kriegsschiffe nach Scharnhorst und Gneisenau benannt, obgleich gerade der Flottenbau in jenen Zeiten ein Merkmal des friedensgefährdenden Wettrüstens war und sich kaum mit den Absichten der Heeresreformer in einen Zusammenhang bringen ließ.

Widerstand gegen den Totalitarismus

Als die Bundeswehr aufgestellt wurde, sollte sie sich als Armee in der Demokratie deutlich von der Wehrmacht des nationalsozialistischen Staates unterscheiden. Was lag näher, als sich in der Traditionspflege auf Offiziere zu besinnen, die aktiven Widerstand gegen die Diktatur geleistet hatten? Doch diese Anknüpfung war in den ersten Jahren der Bundeswehr nicht unumstritten. Die Offiziere des Widerstands galten vielen ehemaligen Wehrmachtsoldaten als Meuterer, die sich in der Zeit höchster Gefahr gegen ihren Obersten Befehlshaber aufgelehnt hatten. Und selbst bei denen, die dem Widerstand als letzter Maßnahme gegen die Diktatur seine Berechtigung nicht absprechen konnten, blieb die Skepsis, ob er als Basis für eine Tradition geeignet sei. In seiner Polemik gegen von ihm ausgemachte liberale Verfallserscheinungen der Bundeswehr wandte sich damals Hans-Georg Studnitz gegen jene Traditionspflege. Nach seiner Auffassung stellte der 20. Juli „den Soldaten (…) vor Abgründe der Geschichte, vor die politische Anarchie und die militärische Katastrophe (…) Aus solchen Reminiszenzen kann die Armee keine Kraft gewinnen. Der 20. Juli führt nicht zum Staat, sondern von ihm weg. Er ist kein Quell, aus dem der mit der geschichtlichen Entwicklung genügend vertraute einfache Mann Mut und Vertrauen in seine Führung schöpfen könnte.“11

Das Vorbild der Offiziere des Widerstands schien im Lauf der Zeit zu verblassen. Denn den kritischen Soldaten wurde deutlich, daß Beck, Stauffenberg, Tresckow und andere keineswegs Demokraten waren. Sie waren anfangs durchaus bereit, mit den Nationalsozialisten zusammenzuarbeiten. Sie begrüßten die Wehrhaftmachung des Volkes und die Aufrüstung; eine territoriale Revision des Versailler Vertrags und eine Hegemonialpolitik gegenüber Osteuropa fand ihre Zustimmung. Zu einer Militäropposition kam es erst ab 1938, als ein Kriegsausbruch bevorstand und wegen des als unzureichend beurteilten Ausbildungs- und Ausrüstungsstands der Wehrmacht eine Niederlage zu befürchten war. Die Erfolge der Blitzkriegsstrategie zu Beginn des Krieges zerstreuten den Pessismismus und entzogen den Staatsstreichplänen die Voraussetzung.

Zu konkreten Widerstandsaktionen kam es erst wieder, als sich 1944 nach den Erfolgen der sowjetischen Armee und nach der Landung der Westalliierten in der Normandie die endgültige Niederlage abzeichnete. Erst diese Aussicht trieb die Offiziere zu entschlossenem Handeln. Der Widerstand ist also dadurch belastet, daß er zu spät kam und schließlich scheiterte.

Doch seine sittliche Bedeutung kann nicht am politischen Erfolg gemessen werden. Über die Motive der Offiziere des Widerstands gibt es keinen Zweifel, auch wenn sie noch vordemokratischen Ordnungsvorstellungen verhaftet waren. Es ist ferner zu berücksichtigen, daß die von ihnen nach dem Staatsstreich vorgesehene Militärregierung nur als Übergangslösung dienen sollte. Sie waren bereit, mit den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen zusammenzugehen.

In den letzten Jahren wurde die Tradition des Widerstands in der Bundeswehr stärker hervorgewoben. Das Militärgeschichtliche Forschungsamt veranstaltete 1983 eine Fachtagung zu diesem Thema und organisierte eine Wanderausstellung, die in großen Garnisonsstädten gezeigt wurde. Im Geleitwort zum Ausstellungskatalog äußerte sich Verteidigungsminister Wörner: „Widerstand war im Dritten Reich, insbesondere während der Zeit des Zweiten Weltkriegs, ein gefährliches und höchst risikoreiches Unterfangen. Solcher Widerstand unterscheidet sich von der öffentlich zur Schau getragenen und durch kein Risiko belasteten Attitüde, die uns heute gelegentlich als „Widerstand“ begegnet.“12 Hier wird deutlich, welchem Zweck die heutige Widerstandstradition dienen soll. Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus wird also gegen ein modernes Widerstandsverständnis – Widerstand gegen Atomkraftwerke, gegen die Nachrüstung usw. – ausgespielt. Das Kriterium für den richtigen Widerstand ist die Lebensgefahr, in die man sich dabei begibt. „Damals kostete es den Kopf. Heute komme man dadurch ins Fernsehen“ – sagt der ehemalige Bundeswehrgeneral von Kielmannsegg 13, als junger Wehrmachtsoffizier selbst am Widerstand beteiligt.

Wer heute die Tradition des 20. Juli fortsetzen will, soll Widerstand gegen den Totalitarismus leisten. Diesen Widerstand sieht nach Karl Dietrich Bracher das Grundgesetz in Art. 20(4) vor, „nämlich den Widerstand gegen die diktatorischen Mächte unserer Zeit – diesmal an der Seite jener Demokratien Europas und der Atlantischen Gemeinschaft, die für Menschenrechte und für Frieden in Freiheit stehen.“14 Der verstorbene Minister Alois Mertes versteht sogar „die Abschreckungsstrategie als eine Form rechtzeitigen Widerstands gegen totalitäre Herrschaft. Abschreckungsstrategie ist prophylaktischer Widerstand, damit er nicht hinterher so erfolgen muß, wie er nach 1933 notwendig war.“15

Tradition auf Frieden bezogen

Wir können den Oberblick über die Traditionspflege hier abbrechen. Es hat sich gezeigt, daß sie in der Bundeswehr nur auf Kosten der Vielfalt militärgeschichtlicher Fakten und Zusammenhänge möglich ist. Als überlieferungswürdig gilt nicht das Andenken an solche Personen, die sich engagiert für den Frieden einsetzten, sondern vorbildlich sind Truppenführer, die die Staatsmacht stärkten und im Krieg militärische Erfolge erzielten. Heeresreform und militärischer Widerstand werden verfälscht Revolutionen kommen in der Traditionspflege nicht vor.

Daraus ergeben sich für die Einschätzung der Bundeswehr zwei Folgerungen:

a) Der Idealstaat für die Bundeswehrführung ist der autoritäre Obrigkeitsstaat. Wer nicht die Erinnerung an Ereignisse und Personen wachhält, die auf Demokratie und Befreiung hinwirkten – man denke an die Soldaten, die an den Revolutionen 1848/49 und 1918/19 teilnahmen -, stellt sich in die Tradition der Armeen, die die Freiheitsbewegungen unterdrückten.

b) Die Bundeswehrführung versteht den Krieg immer noch als legitimes Mittel der Politik. Wer erfolgreiche Truppenführer verehrt, aber diejenigen Menschen, die sich gegen Staatsmacht und Armee gewandt hatten, um den Frieden zu retten – als Beispiel sei Hans Paasche genannt, kaiserlicher Marineoffizier, dann Pazifist und 1920 Opfer rechtsradikaler Mörder-, wer diese Menschen vergißt und sich an ihren Taten desinteressiert zeigt, ist in seinem Dienst für den Frieden wenig glaubwürdig.

„Tradition in der Bundeswehr muß auf Frieden bezogen sein.“16 Dieser Anspruch ist noch nicht eingelöst. Doch dazu bedarf es nicht einer anderen Traditionspflege, sondern einer anderen Politik – einer Friedenspolitik, die Frieden nicht als Ergebnis militärischen Drucks, sondern als Folge eines politischen Interessenausgleichs versteht und die zugleich stark genug ist, sich gegenüber dem Militär durchzusetzen.

Anmerkungen

9 Weißbuch 1983, Nr. 308, S. 163; Nr. 316, 317, S. 166. Zurück

10 Vgl. das Spiegel-Gespräch „Wir wollen eine andere Armee.“ Vier Soldaten und Ausbilder zu Sinn und Zukunft der Bundeswehr. In: Der Spiegel 46/1985 vom 11.11.1985. Zurück

11 Rettet die Bundeswehr! Stuttgart 1967, S. 59. Zurück

12 Aufstand des Gewissens. Militärischer Widerstand gegen Hitler und das NS-Regime 1933-45. Katalog zur Wanderausstellung des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes, Herford o. J., S. 7. Zurück

13 Johann Adolf Graf von Kielmannsegg: Gedanken eines Soldaten zum Widerstand. In: Der militärische Widerstand gegen Hitler und das NS-Regime (Vorträge zur Militärgeschichte Band 5). Hrsg. v. Mititärgeschichtlichen Forschungsamt, Herford 1984, S. 18. Zurück

14 Die Lektion von Weimar und die Aktualität des Widerstands-Problems. In: Basilius Streithofen (Hrsg.): Frieden im Lande. Vom Recht auf Widerstand. Bergisch Gladbach 1983, S. 95. Zurück

15 Abschreckung ist prophylaktischer Widerstand. Das ethische Dilemma des Politikers, in: Streithofen, S. 202. Zurück

16 Weißbuch 1979, S. 196 (Zehn Grundsätze zur Tradition, Satz 3). Zurück

Jörg Schulz-Trieglaff, geb. 1939, aktiver Offizier der Bundeswehr (Hauptmann), Studium der Philosophie, Geschichte und Theologie in Bielefeld und München, M.A., 1981-85 Wehrgeschichtslehrer an der Offizierschule in Hannover, Mitbegründer und einer der Sprecher des Darmstädter Signals.

Traditionspflege in der Bundeswehr. 30 Jahre Bundeswehr – 50 Jahre Luftwaffe

Traditionspflege in der Bundeswehr. 30 Jahre Bundeswehr – 50 Jahre Luftwaffe

von Jörg Schulz-Trieglaff

Im November 1985 feierte die Bundeswehr ihr 30jähriges Bestehen. Sie hat inzwischen ihre Geschichte, die unter anderen politischen Umständen, wenn die Armee in der Gesellschaft allseitig akzeptiert wäre, genügend Stoff für eine eigene Tradition abgeben könnte. Doch das Jubiläum wurde nicht genutzt, um über die Rolle der Armee in einer Demokratie nachzudenken, sondern es diente der Öffentlichkeitsarbeit, mit der möglichst viel Zustimmung zu einer umstrittenen Militärpolitik eingeholt werden soll. Dabei waren wieder einmal die stereotypen Phrasen zu hören, 30 Jahre „Frieden in Freiheit“ wären vor allem der militärischen Absicherung zu verdanken und der drohende Krieg sei ebenso wie die politische Erpressung in erster Linie durch die Bundeswehr und ihre verbündeten Armeen verhindert worden.

Neben diesen Selbstbelobigungen in propagandistischer Absicht gibt es immer wieder Bestrebungen, an eine weiter zurückliegende Vergangenheit anzuknüpfen. So wurde ebenfalls im vergangenen Jahr das 50jährige Bestehen des Fliegerhorstes Wunstorf (bei Hannover) mit einem Tag der offenen Tür und Großem Zapfenstreich begangen. In Gegenwart des Inspekteurs der Luftwaffe übergab der niedersächsische Minister Masselmann der Truppe ein Fahnenband.1

Die Veranstaltung rief heftigen Widerspruch hervor, denn 1935 hatte sich das NS-Regime mit der Aufstellung von Luftwaffenverbänden und mit dem Bau von Militärflugplätzen offen über die Rüstungsbeschränkungen des Versailler Vertrages hinweggesetzt. Er war allerdings auch schon in der Zeit der Weimarer Republik mehrfach gebrochen worden, was der politischen Rechten als patriotische Pflicht galt, aber von den Demokraten entschieden kritisiert wurde. Denn bei aller Benachteiligung Deutschlands war der Versailler Vertrag doch ein Friedensvertrag. Er bot die Chance, in Europa zu einer Abrüstung zu kommen und in Deutschland selbst den traditionell übermäßigen Einfluß des Militärs zurückzudrängen. Mit seiner Aufkündigung begannen die Nationalsozialisten, aktiv unterstützt durch die Wehrmacht wie durch alle anderen einflußreichen Gruppen, eine Großmachtspolitik, die schließlich zum Zweiten Weltkrieg führte. Die moderne Kriegführung wurde von der nationalsozialistischen Luftwaffe, an deren Geschichte die Bundeswehr mit der erwähnten Feier in Wunstorf anknüpft, im Spanischen Bürgerkrieg einschließlich der Terrorangriffe auf die Zivilbevölkerung vorgeübt.

Die Glorie der Vergangenheit

Wie kann es dazu kommen, daß hier Traditionen gepflegt werden, die sich von den in der Gesellschaft vorhandenen Leitbildern und Wertvorstellungen so sehr unterscheiden, ja ihnen sogar deutlich widersprechen?

Offenbar haben viele Soldaten, vor allem die Längerdienenden unter ihnen, also die Offiziere und Unteroffiziere, den ausgeprägten Wunsch, sich in größere Zusammenhänge eingefügt zu sehen. Sie möchten sich als Glied einer Generationenfolge von Soldaten verstehen, die – wie sie meinen – dasselbe gedacht haben und nach denselben Maßstäben handelten wie sie heute. Aus diesem Selbstverständnis entsteht für die Soldaten erst die Berufsmotivation. General Hans von Seeckt, in der Weimarer Republik langjähriger Chef der Heeresleitung, stellte dazu fest: „Das Bewußtsein, Mitträger eines großen historischen Ruhmes zu sein und sich hierdurch von anderen auszuzeichnen, hat einen ganz unleugbaren Einfluß auf den Wert der Truppe. Diese Erkenntnis hat in den Heeren zu einer Pflege der Tradition geführt (…).2 Der vorgegebene sachliche Auftrag scheint nicht auszureichen, um den Soldaten den Sinn ihres Dienstes zu vermitteln.

Die moderne Militärsoziologie erklärt den Traditionalismus aus den Unsicherheiten die aus der mangelnden Vorhersehbarkelt des Krieges, aus der ständigen Kriegsbereitschaft und der Unmöglichkeit einer Erfolgskontrolle in Friedenszeiten entstehen. Die Folgen sind „Zeremonialismus, Weitergabe der Verantwortung, Beharren auf traditionellen Regeln und Widerstand gegen Neuerungen.“3 Diese Erscheinungen prägen nicht nur das Innenleben der Armee, sondern auch das strategische Denken und nicht zuletzt das Verhältnis der Soldaten zur Gesellschaft und zur Politik. Auf die geistig-ideologischen Probleme des Traditionalismus und auf seine politischen Auswirkungen soll hier hingewiesen werden. Auf die militärsoziologischen Fragen kann ich nicht weiter eingehen, und auch Das militärische Brauchtum, Symbole und Zeremoniell als die von außen sichtbare Seite der militärischen Tradition, bleiben außerhalb der Betrachtung.

Die Tradition des unpolitischen Soldatentums

Einer demokratischen Gesellschaft kann es nicht gleichgültig sein, an welchen Vorbildern sich die Soldaten orientieren und welche Taten sie als nachahmenswert ansehen. Um den Primat der Politik durchzusetzen, muß gelegentlich steuernd eingegriffen und ein Wildwuchs undemokratischer Traditionselemente verhindert werden. Als so verstandene Führungsmittel können Traditionserlasse des Verteidigungsministeriums durchaus ihre Berechtigung haben.

Der erste wurde 1965 vom damaligen Verteidigungsminister Kai-Uwe von Hassel herausgegeben.4 Er versuchte allerdings, dem Wunsch nach Einbindung der Soldaten in die Demokratie Rechnung zu tragen und zugleich den Umstand zu berücksichtigen, daß die Offiziere und Unteroffiziere, die anfangs die Bundeswehr aufbauten, von der Wehrmacht geprägt waren.

Maßstab für die Überlieferungswürdigkeit sollte die Eidesverpflichtung sein, „der Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen und das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen.“ (Nr. 2) Es durften nur solche Personen als Vorbilder dienen, „die auch,als Menschen ihrer Verantwortung genügt haben.“ (Nr. 5)

Der Versuch, die belastete Wehrmacht nicht zum Gegenstand der Traditionspflege zu machen, bleibt halbherzig. An anderen Stellen wird festgestellt: „Rechte Traditionspflege ist nur möglich in Dankbarkeit und Ehrfurcht vor den Leistungen und Leiden der Vergangenheit (…) Die deutsche Wehrgeschichte umfaßt in Frieden und Krieg zahllose soldatische Leistungen und menschliche Bewährungen (…) Zur besten Tradition deutschen Soldatentums gehört gewissenhafte Pflichterfüllung um des sachlichen Auftrages willen.“ (Nr. 8, 9, 12)

Die soldatische Leistung wird von den politischen Zielen, für die sie erbracht wurde, bei dieser Betrachtung abgetrennt und als etwas Vorbildliches für sich angesehen. Die Wertschätzung soldatischer Tapferkeit gehöre zum gemeinsamen Kulturerbe der Menschheit, kann heute noch ein Bundeswehrgeneral behaupten.5 Hier fehlt ganz und gar der Blick dafür, daß die Leistung der Soldaten, vor allem aber die der höheren Truppenführer, mit Tod und Verstümmelung zahlreicher Menschen und mit der Zerstörung vieler materieller Güter verbunden ist. Ob sich militärische Einsätze heute angesichts der Wirkung der modernen Waffen überhaupt noch rechtfertigen lassen, ist sehr umstritten. Dann werden auch die Tugenden der Soldaten wie Treue, Kameradschaft, Tapferkeit und Gehorsam fragwürdig. „Kein Job wird dadurch, daß man ihn gewissenhaft ausfüllt, ein moralischer Job, bei dem man ein gutes Gewissen haben dürfte.(…) Solidarität mit Gruppenmitgliedern, gleich welche Ziele diese Gruppe verfolgt, ist eine Mafiatugend.(…) An sich ist Treue keine Tugend.(…) Unter Umständen kann Untreue viel verdienstvoller sein, denn sie erfordert persönlichen Mut und moralische Selbständigkeit, die freilich nicht jedermanns Sache ist.“6

Die historischen Tatsachen erlauben es nicht, im Hinblick auf die Wehrmacht von „tragischen Soldatenschicksalen“ oder „Mißbrauch durch das Unrechtsregime“7 zu sprechen. Eine derartige Einschätzung wird vielleicht noch den aufgrund der Wehrpflicht eingezogenen Mannschaften gerecht. Aber die Offiziere haben – sicher abgestuft nach Rang und Einfluß – eine sehr entscheidende Mitverantwortung getragen. Es gab unter ihnen sehr viel Bereitschaft, dem Regime freiwillig zu dienen. Auch unter Adolf Hitler wurde niemand gezwungen, Generalstabsoffizier, Marinerichter oder Militärpfarrer zu werden.

Die Wehrmacht ist also wegen des historischen Versagens ihrer Offiziere nicht als Gegenstand für die Traditionspflege geeignet.8 Nimmt man diesen kritischen Standpunkt ein, muß man sich deshalb noch nicht dem Vorwurf der Überheblichkeit oder der Besserwisserei aussetzen. Dazu besteht kein Anlaß, denn niemand von uns weiß, wie er sich in vergleichbaren Situationen verhalten würde. Aber ebensowenig gibt es einen Grund für eine Heldenverehrung. Uns bleibt nur die Erfahrung menschlicher Unzulänglichkeit. Wir müssen aus jenen Fehlentscheidungen lernen, daß sie sich nicht wiederholen dürfen. Sollten wir ebenso versagen wie die Soldatengeneration vor uns und uns leichtfertig in einen Krieg hineinziehen lassen für welche angeblich bedeutenden und lebenswichtigen Ziele auch immer -, dann wird danach niemand mehr da sein, der sich über Fragen militärischer Traditionspflege noch Gedanken machen könnte.

(Dieser Beitrag wird im Informationsdienst Wissenschaft & Frieden. 2/87 fortgesetzt.)

Anmerkungen

1 Vgl. die Berichte der Hannoverschen Zeitungen: Neue Presse vom 10.9.85 und Hannoversche Allgemeine Zeitung vom 16.9.85. Zurück

2 Die Reichswehr. Leipzig 1933, S. 47.Zurück

3 Klaus Roghmann, Rolf Ziegler: Militärsoziologie. In: Handbuch der empirischen Sozialforschung. Hrsg. v. Rene König. Band 9, Stuttgart 1977, S. 157.Zurück

4 Bundeswehr und Tradition. BMVg Fu B 14 Az 35-08-07 vom 1.7.1965.Zurück

5 Vgl. Adalbert von der Recke: Last und Chance unserer Geschichte. Gedanken zur Traditionspflege der Bundeswehr. In: De officio. Zu den ethischen Herausforderungen des Offizierberufs. Hrsg. v. Evangelischen Kirchenamt für die Bundeswehr. Hannover 1985, S. 253.Zurück

6 Gunther Anders: Das fürchterliche Nur. Ein imaginares Interview. In: die tageszeitung vom 31.7.86. – Anders setzt sich hier mit der nationalsozialistischen Vergangenheit des österreichischen Bundesprasidenten Waldheim auseinander.Zurück

7 von der Recke, S. 250 f.Zurück

8 Vgl. Manfred Messerschmidt: Das Verhältnis von Wehrmacht und NS-Staat und die Frage der Traditionsbildung. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zu Das Parlament B 17/81 vom 25.4.81, S. 11 ff. Zurück

Jörg Schulz-Trieglaff, geb. 1939, aktiver Offizier der Bundeswehr (Hauptmann), Studium der Philosophie, Geschichte und Theologie in Bielefeld und München, M.A., 1981-85 Wehrgeschichtslehrer an der Offizierschule in Hannover, Mitbegründer und einer der Sprecher des Darmstädter Signals

Der Bundeswehrlangzeitplan 1985 – 1997

Der Bundeswehrlangzeitplan 1985 – 1997

von Andreas Zumach

Vor gut einem Jahr, am 17. Oktober 1984, beschloß das Bundeskabinett ein Dokument, dessen weichenstellende Bedeutung, ja Sprengkraft bis heute weder in der Friedensbewegung, geschweige denn in der breiten Öffentlichkeit ausreichend zur Kenntnis genommen worden ist. Das geschah unter konspirativer Geheimniskrämerei, die einem demokratischen Staatswesen Hohn spricht: die Tischvorlage für die Kabinettssitzung vom 17.10.84 trägt den Stempel „Verschlußsache – nur für den Dienstgebrauch“, die Abgeordneten des federführend zuständigen Haushaltsausschusses des Deutschen Bundestages erhielten das Dokument am Vortag erst wenige Stunden vor einer ersten Ausschußberatung, die Redaktionsräume der Fernsehsendung „Report“ beim Bayrischen Rundfunk wurden vom Staatsanwalt durchsucht nach einem Exemplar des Dokuments, aus dem angeblich zitiert worden war, und der stellvertretende Vorsitzende des Verteidigungsausschusses des Bundestages, Walter Kolbow (SPD) erhielt eine Anzeige wegen Geheimnisverrat, weil er das Dokument dem Bayrischen Rundfunk zugespielt haben soll.

Die Rede ist vom „Bundeswehr-Langzeitplan 1985-1997“. Dieser Bundeswehrplan enthält 1) die Personalplanung der Bundeswehr und 2) die Pläne zur Beschaffung der 3. Waffengeneration der Bundeswehr für den Zeitraum der nächsten zwölf Jahre. Zum erstenmal in der Geschichte der Bundeswehr wurde eine so langfristig angelegte Bundeswehrplanung verabschiedet, deren Auswirkungen bis weit über das Jahr 2000 reichen werden.

Inzwischen ins Gerede gekommen bei Experten aller politischen Couleur, die rechnen können, ist die Wörnersche Personalplanung, Teil 1 des Bundeswehrlangzeitplanes. Wörner geht davon aus, daß die heutige Präsenzstärke der Bundeswehr der sogenannte Friedensumfang – in Höhe von 496.000 Soldaten auch in den 90er Jahren gehalten werden kann – und muß. Alle demographischen Berechnungen über die Bevölkerungsentwicklung beweisen das Gegenteil: die Zahl der 18jährigen Männer, die für die Bundeswehr zur Verfügung stehen, sinkt von 481.000 in diesem Jahr auf 240.000 im Jahre 1997. Anstatt diese Chance zu nutzen und diese Entwicklung als politisches Angebot mit einzubringen in die seit Jahren festgefahrenen Wiener Truppenreduzierungsverhandlungen MBFR, sollen die entstehenden Löcher mit allen möglichen Tricks gestopft werden, die 1) sehr kostspielig sind und b) zu einer weiteren Militarisierung unserer Gesellschaft führen; die Verlängerung des Wehrdienstes von heute 15 Monaten auf 18 Monate im Jahre 1989 ist bereits beschlossen. Allein das reicht nicht: spätestens 1997 wird um weitere drei Monate auf 21 Monate erhöht werden müssen, um die angestrebte Zahl der Grundwehrdienstleistenden zu halten. Weitere Maßnahmen sind die Verschärfung der Tauglichkeitskriterien sowie eine Erhöhung der Zahl der freiwillig Längerdienenden und der Wehrübungen. Der Bundeswehrdienst für Frauen wird als „weitere Option“ im Bundeswehrplan ausdrücklich genannt.

Noch viel brisanter als diese Personalplanungsvorstellungen aber ist Teil 2 des Bundeswehrplanes – über die Beschaffung der 3. Waffengeneration der Bundeswehr. Er sieht bis zur Jahrtausendwende Ausgaben für neue Waffen in Höhe von 240 Milliarden DM vor. Das ist etwa soviel wie der gesamte Bundeshaushalt 1982 betrug. Diese gigantische Summe sprengt alle bisherigen Dimensionen – doch es könnte noch viel mehr werden. Denn die Erfahrung mit allen Waffenbeschaffungen seit es die Bundeswehr gibt, zeigt, daß sich die einmal beschlossenen Ausgabensummen in der mehrjährigen Phase der Anschaffung verzwei- bis vervierfachen: auf Grund allgemeiner Kostensteigerungen, rüstungsproduktionsspezifischer Inflation, falscher Kostenkalkulationen und anderer Ursachen. In dem berüchtigsten Fall des Tornado-Flugzeuges haben sich die ursprünglich veranschlagten 3 Milliarden DM für die 322 Maschinen inzwischen auf rund 30 Milliarden DM sogar verzehnfacht. Für den Bundeswehrplan 1985 – 1997 heißt dies, daß sich die beschlossenen Ausgaben von 240 Milliarden DM bis zur Auslieferung der Waffen auf 500 Milliarden bis im schlimmsten Falle 1 Billion DM erhöhen würden. Die entscheidenden Weichenstellungen geschehen in den Haushaltsberatungen des Deutschen Bundestages in diesem und den nächsten vier Jahren: all die neuen Waffensysteme durchlaufen vier Phasen: die Definitions-, die Konzeptions-, die Entwicklungs- und die Produktionsphase. In jeder dieser vier Phasen werden wachsende Geldsummen für die einzelnen Projekte durch Haushaltsausschuß und Plenum des Parlamentes bewilligt, die zu immer weiteren Festlegungen führen. So sind zum Beispiel für den geplanten Tornado-Nachfolger „Jäger 90“ – das „Europäische Jagdflugzeug für die 90er Jahre“ bei den Haushaltsberatungen im Herbst 1984 „nur“ rund 100 Millionen DM für die erste, die Definitionsphase beschlossen worden; für die jetzt anstehende Konzeptionsphase ist gleich ein vielfaches dieser Summe fällig und zu Beginn der Entwicklungsphase soll der Bundestag rund 3,5 Milliarden DM bewilligen. Der veranschlagte Endpreis von 20 Milliarden DM für die ursprünglich geplanten 250 „Jäger 90“ ist bereits heute Makulatur. Damit wäre das neue Flugzeug bei einem Stückpreis von rund 70 Millionen DM rund 30 Prozent billiger als sein Vorgänger Tornado, der rund 100 Millionen DM kostet. Dies wäre ein einmaliger Vorgang Inder Geschichte der modernen Waffenbeschaffung.. So werden – egal was das Flugzeug schließlich kostet – die Zwänge, dies dann auch zu bezahlen, fast unüberwindbar groß sein, angesichts der bis dahin schon während der ersten drei Phasen ausgegebenen Milliardenbeträge. Zumal, wenn bereits Verträge mit den Rüstungsproduktionsfirmen abgeschlossen sind. Um es deutlich zu machen: selbst ein Bundeskanzler Oskar Lafontaine, käme er 1991 an die Macht, mit einem Außenminister Schily und einer Verteidigungsministerin Petra Kelly, hätte – bei bestem politischem Willen – größte Schwierigkeiten, aus dieser verhängnisvollen Entwicklungslogik auszusteigen.

Doch dieser Beschaffungsteil des Bundeswehrplanes ist nicht nur so brisant wegen seiner horrenden Kosten, sondern auch wegen der Waffensysteme, die hier angeschafft werden sollen. Es geht vor allem um die Waffen- und Munitionstypen, die für einen „Schlag in die Tiefe des gegnerischen Raumes“ benötigt werden. Zwar ist die US-amerikanische Heeres-Doktrin „Air Land Battle“ (Luft-Land-Schlacht) noch nicht offizielle NATO-Strategie. Doch auf der Ebene der „hardware“, also der Bewaffnung der Streitkräfte, soll diese Doktrin de facto umgesetzt werden. So gehören zu den wichtigsten Beschaffungsvorhaben des Bundeswehrplanes neben

  • dem bereits erwähnten Flugzeug „Jäger 90“, mit dem Jagdvorstöße und Begleitschutzeinsätze zum Schutz eigener offensiver Luftkriegsoperationen möglich gemacht werden sollen, u.a.
  • das Mittlere Artillerieraketenwerfersystem MARS – eines der ersten und wichtigsten Systeme, das im Rahmen der Konzeption des ausgeweiteten Schlachtfeldes bzw. das Angriffs in die Tiefe beschafft und 1986/ 87 in der Bundesrepublik eingeführt wird
  • das Flugabwehrsystem „Patriot“, das bereits in der Bundesrepublik eingeführt wird, und das uns besonders interessieren muß, da es eines Tages möglicherweise eine zentrale Rolle in einem westeuropäischen SDI spielen soll. Konkrete Indizien hierfür: die Umstrukturierung dieses Systems zu einem ABM-fähigen Raketenabwehrsystem durch die USA, seine Bestückung mit Nuklearsprengköpfen anstatt wie bisher mit konventionellen Sprengköpfen und die erwogene Stationierung rund um den Cruise-Missiles Stationienungsort Hasselbach im Hunsrück
  • – der – nur vorerst verschobene – Panzer Leopard III und die von den Militärs so bezeichnete „Kampfwagenfamilie 90“, bestehend aus 5.000 neuen Panzerabwehr-, Schützen-, Panzerjäger- und Hubschrauberabwehr-Kampfwagen.

Im Zusammenhang mit dem von der NATO inzwischen offiziell beschlossenen „Follow on force attack“-Konzept, einem wichtigen Kernstück des Rogersplan, das militärische Schläge gegen die zweiten Angriffswellen des Gegners vorsieht, wird die Anschaffung dieser neuen Waffensysteme sowie großer Mengen sogenannter „intelligenter Munition“ gern mit dem Etikett der Konventionalisierung in der Öffentlichkeit versehen. Vorgegaukelt werden soll – z. B. auch mit dem von Minister Wörner angekündigten Abzug von Atomminen – eine „Hebung der Nuklearschwelle“. Dies ist ein Ammenmärchen. Tatsächlich wird unter Beibehaltung und Modernisierung der Atomwaffen bei Abzug einiger veralteter und nicht mehr ins Konzept passender Minen und Sprengköpfe durch die massive Beschaffung mit offensivfähigen konventionellen Waffen eine konventionelle Option geschaffen, zusätzlich zu der bereits existierenden atomaren Option.

Zurück zu den finanziellen Folgen des Bundeswehrplanes 1985 – 1997. Schon beim Vergleich der Haushaltsansätze des lebten Jahres mit den jetzt dem Bundestag vorliegenden Entwürfen für 1986 zeigen sich bei einigen der zu beschaffenden Waffen große Kostensprünge …

Die renommierte „Studiengruppe Alternative Sicherheitspolitik“ kommt zu dem Ergebnis, daß sich im Falle der Realisierung der Beschaffungsvorhaben des Bundeswehrplanes in den ins Auge gefaßten Zeiträumen der Anteil des Verteidigungshaushaltes am Gesamt-Bundeshaushalt von heute 18,9 Prozent im ungünstigsten Fall auf 38,2 Prozent im Jahre 1995 mehr als verdoppeln wird. Dieser Berechnung liegt die Annahme zu Grunde, daß der Bundeshaushalt in den nächsten Jahren um durchschnittlich 3 Prozent jährlich steigt. Es wird dann – so die Wissenschaftler – nicht mehr möglich sein, daß auch der Sozialetat um 4,5 Prozent jährlich steigt, wie dies in der Finanzplanung des Bundesfinanzministeriums für die nächsten Jahre eingeplant ist – übrigens unter der optimistischen Annahme eines tendenziellen Rückgangs der Massenarbeitslosigkeit. Stiegen Verteidigungs- und Sozialetat in den nächsten Jahren tatsächlich um die beschriebenen Prozentsätze, würden diese beiden Etats allein 1995 rund 74 Prozent des gesamten Bundeshaushaltes ausmachen (zum Vergleich: heute sind es rund 50 Prozent). Dies ginge voll zu Lasten anderer heute vom Staat finanzierter Aufgaben. Es ist also völlig unseriöse und gefährliche Augenwischerei, wenn die Regierung uns weismachen will, die geplanten Anschaffungen und Personalausgaben im Verteidigungsbereich und die anfallenden Aufgaben im Sozialbereich ließen sich in den nächsten Jahren auch nur annähernd finanzieren. Es besteht die große Gefahr, daß dieser sich verschärfende Zielkonflikt eher zugunsten der militärischen Ausgaben entschieden wird – wegen der vorher beschriebenen massiven Zwänge in diesem Bereich. Geschähe dies, würde das soziale Netz zerstört und das soziale Gefüge der Bundesrepublik grundlegend verändert werden.

Friedensbewegung und Bundeswehr

Friedensbewegung und Bundeswehr

von Rolf Schellhase

Während für die Friedensbewegung der 50er fahre in ihrem politischen Kampf gegen die Wiederbewaffnung und die NATO-Integration der Bundeswehr, deren zu großen Teilen wehrmachterfahrenes Offizierkorps, deren ideologische Ausrichtung und die mit ihr und von ihr verfolgten Ziele im Zentrum der Kritik standen, hat die neue Friedensbewegung in ihrer weitgehenden Fixierung auf die US-Politik die nationalen Streitkräfte der Bundesrepublik bisher nur unzureichend als Instrument der Interessen ihres politischen Opponenten beziehungsweise als relativ eigenständigen Faktor im gesellschaftlichen und politischen System der BRD wahrgenommen und sich bislang kaum intensiver – von wenigen Ausnahmen abgesehen 1 – mit dieser von ihrem Selbstverständnis her „eigentlichen“ Friedensbewegung auseinandergesetzt.

Die Haltung der in ihrer sozialen und politisch-ideologischen Struktur sehr breit angelegten Friedensbewegung zur Bundeswehr bewegt sich, grob umrissen, zwischen den Polen der Akzeptanz einer noch bis auf weiteres für notwendig angesehenen Existenz der Streitkräfte einerseits und deren strikter politischer oder moralisch-pazifistischer Ablehnung andererseits. Während sich etwa die Jugendverbände der Gewerkschaften, der SPD und F.D.P. und der Kirchen teilweise sehr kritisch gegenüber der Bundeswehr und ihren Funktionen und Aktivitäten artikulieren, ist die Haltung der Mutterorganisationen, die gelegentlich versuchen, sich als Teil der Friedensbewegung darzustellen bzw. diese partiell zu vereinnahmen, nicht nur programmatisch ohne Abstriche Bundeswehr – und NATO-minded.

Die von der Friedensbewegung bislang weitgehend vernachlässigte differenzierte Auseinandersetzung mit Charakter, Funktionen und Aktivitäten der Bundeswehr in den verschiedenen Bereichen von Gesellschaft und Politik in der Bundesrepublik ist nicht zuletzt darin begründet, daß gerade auch von ihrem Selbstverständnis her kritische Autoren und Wissenschaftler das Thema „Bundeswehr“ aus verschiedenen, hier nicht näher zu erörternden Gründen gemieden haben 2 und u. a. deshalb innerhalb der Friedensbewegung über eine hauptsächlich emotional bestimmte Ablehnung der Bundeswehr hinaus bislang kaum effektives Wissen über die weitverzweigte gesellschaftliche Präsenz und Aktivität der Bundeswehr vorhanden ist. Dieses „Vermeidungsverhalten“ der Friedensbewegung den Streitkräften gegenüber geht nicht selten einher mit völlig unzeitgemäßen und in ihren Folgen für friedenspolitisches Handeln gegenüber der Bundeswehr fatalen Barras-Vorstellungen. Einen solchermaßen „hilflosen Antimilitarismus“ 3 gegenüber der Armee der Bundesrepublik kann sich eine Friedensbewegung, deren erklärtes Ziel es ist, zum möglichst raschen und umfassenden Abbau bestehender Gewaltpotentiale beizutragen, angesichts eines professionell konzipierten und wieder verstärkt und offen zu Tage tretenden gesellschaftlichen Gestaltungsanspruchs der Streitkräfte kaum mehr leisten. Vor dem Hintergrund der von Verteidigungsminister Wörner vor Offizierschülern vertretenen Position: „Nicht nur die Gesellschaft hat Ansprüche an die Bundeswehr. Auch die Bundeswehr hat Ansprüche an die Gesellschaft“ 4, tut die Friedensbewegung gut daran, sorgfältig darauf zu achten, welcher Art diese Ansprüche sind und in welchen Bereichen sie mit welchen Mitteln durchgesetzt werden sollen. Die Frage nach Bedingungen und Möglichkeiten des Umgangs der Friedensbewegung mit der Bundeswehr und den verschiedenen in ihr wirkenden Kräften sollte Bestandteil des derzeit verstärkt geforderten bzw. bereits stattfindenden Nachdenkens über eine erweiterte „Perspektive der Entmilitarisierung“ 5 unter den Bedingungen der erfolgten Stationierung und der mit der sogenannten Konventionalisierung drohenden weiteren Aufrüstung sein.

Für die Friedensbewegung ist erhöhte Aufmerksamkeit hinsichtlich der Gefahr einer verstärkten militärischen Einflußnahme auf verschiedene Bereiche der gesellschaftlichen und politischen Kultur nicht zuletzt deshalb geboten, weil das Militär, wie die zahlreichen und gut dokumentierten Affären und Skandale der Bundeswehr gezeigt haben, seine spezifischen Gestaltungsinteressen nicht nur innerhalb seines ureigensten Terrains, den Kasernen, durchzusetzen versteht, sondern sich effektiver demokratischer Kontrolle immer wieder weitgehend mit Erfolg zu entziehen vermochte.6

Die Tatsache, daß in großen Teilen der Bundeswehr unter gewendeten Verhältnissen Begriffe wie soldatische Ehre, Stolz, Mut und Tapferkeit, zynisch und maliziös strapaziert auch in der sogenannten Wörner-Kießling-Affäre, wieder ihren Aufschwung erfahren und unter einem CDU-Verteidigungsminister wieder explizit an bewährte Traditionen deutschen Soldatentums angeknüpft werden soll, kann von der Friedensbewegung nicht in der Weise interpretiert werden, als habe sie es bei der Bundeswehr mit einer nach längst überkommenen Managementmethoden geführten und völlig unflexiblen Institution zu tun.

Während sich die Friedensbewegung mit den Streitkräften häufig nur oberflächlich oder aktionistisch auseinandersetzt, geht die Bundeswehr, armiert mit aktuellen Forschungsergebnissen ihres Sozialwissenschaftlichen Instituts, zweckrational und verwissenschaftlicht an das den Streitkräften kritisch bis ablehnend gegenüber eingestellte Protestpotential heran. Hier widmet sich eine keineswegs nur kryptisch verfahrende militärisch orientierte Sozialforschung kontinuierlich, in der Funktion vergleichbar einem Frühwarnsystem, verschiedenen, jeweils aktuellen Struktur-, Legitimations- und Akzeptanzproblemen der Bundeswehr und präsentiert bestimmte Ergebnisse auch als Teil ihrer Öffentlichkeitsarbeit unter anderm in der Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament“, die als Medium zur gezielten und aktuellen Informationsvermittlung für politische Akteure verschiedener Coleur erhebliche Wirksamkeit besitzt 7.

Das nicht nur von externen Kritikern der Bundeswehr monierte Faktum, daß die Konzeption vom „Staatsbürger in Uniform“ kaum mehr als die Wünsche und Hoffnungen einiger weniger Reformer darstellt 8 und die Realität der Bundeswehr allenfalls marginal berührt 9, die Tatsache, daß jedes Jahr etwa 200 000 Wehrpflichtige einen staatsbürgerlichen Unterricht erhalten, der kaum mehr zu vermitteln hat als eine modernisierte „geistige Rüstung“ 10, die Erfahrung, daß das Bundesministerium der Verteidigung einem Teil seiner Soldaten die Diskussion mit der Friedensbewegung unter Hinweis auf die gebotene parteipolitische Zurückhaltung des Militärs verbieten will, während hohe Offiziere sich unbehelligt und unkorrigiert in konservativen bis reaktionären und dem Militär gefälligen politischen Kreisen bewegen und den entsprechenden Medien äußern können, lassen die in dem von Jakob Moneta, Erwin Horn und Karl-Heinz Hansen 1974 aus aktuellem Anlaß veröffentlichten Buch Bundeswehr und Demokratie. Macht ohne Kontrolle? aufgeworfene Frage: „Ist die Bundeswehr zuverlässig demokratisch?“ 11 bis heute nicht befriedigend beantwortet und weiterhin aktuell erscheinen. Die von Immanuel Geiss im Vorwort zu dieser Publikation formulierte These: „Wie die Führer der Bundeswehr in einer Situation sich verschärfender ökonomischer und sozialer Krise und einer sich zuspitzenden politischen Polarisierung, wie sie immerhin auch bei uns denkbar geworden ist, handeln werden, dafür kann heute niemand garantieren“ 12, ist angesichts der Krise der Gesellschaft der BRD und der scheinbar fast vergessenen Tatsache, daß die Bundeswehr laut Notstandsgesetzgebung auch nach innen' eingesetzt werden kann, nach wie vor als ein dringender Hinweis zu demokratischer Wachsamkeit zu verstehen.

Wie dauerhaft resistent die Streitkräfte gegen ideologische Erneuerungen sind, verdeutlichen nicht nur die wieder offen und im Anschluß an Schnezsches Gedankengut beanspruchte sowie von Verteidigungsminister Wörner unterstrichene „Besonderheit des Soldatenberufs“ 13 und das Scheitern der Konzeption vom „Staatsbürger in Uniform“ bis auf den heutigen Tag; insbesondere die sukzessive und beharrliche Zurückdrängung fortschrittlicher Studieninhalte an den Hochschulen der Bundeswehr durch einflußreiche konservative Offiziere, die in einer ausgezeichneten empirischen Studie von Jopp nachgezeichnet und belegt wird 14, wirft ein weiteres Schlaglicht auf den in maßgeblichen Kreisen der Bundeswehr vorherrschenden politisch-ideologischen Geist.

Zieht man weiterhin in Betracht, daß der Einfluß der Bundeswehr über ihre eigenen Hochschulen hinaus auch andere Bereiche des zivilen Bildungswesens 15 erreicht und insbesondere der schulische Sektor 16 zum Teil in forcierter Kooperation mit der Schulverwaltung Gegenstand verstärkter ideologischer Anstrengungen und Einflüsse ist, daß die Bundeswehr sich, bedingt durch die noch weiter ansteigende Arbeitslosigkeit, um den Zulauf anpassungwilliger Freiwilliger, eventuell auch noch weiblicher Bewerberinnen, die dort einen „sicheren“ Arbeitsplatz suchen, keine wirklichen Sorgen zu machen braucht, so dürften bereits diese wenigen Hinweise deutlich werden lassen, daß die Friedensbewegung in Zusammenarbeit mit ihr verbundenen Wissenschaftlern der tendenziell wachsenden gesellschaftlichen Einflußnahme des Militärs erheblich mehr und differenzierte Aufmerksamkeit widmen und zur permanenten Veröffentlichung des „ubiquitären Militarismus“ 17 beitragen sollte, wenn sie an politischer Wirksamkeit gewinnen will.

Bei ihrer Auseinandersetzung mit der Bundeswehr hat die Friedensbewegung von der Tatsache auszugehen, daß die Streitkräfte der Bundesrepublik keinen monolithischen Block darstellen, sondern – wie verschiedene Initiativen kritischer Soldaten mit jeweils unterschiedlichen Anliegen gezeigt haben – auch innerhalb der Armee fortschrittliche und demokratische Kräfte existieren, die als genuine Ansprechpartner und Verbündete der Friedensbewegung anzusehen sind.

In den 70er Jahren sind kritische Impulse innerhalb der Bundeswehr vorwiegend von gewerkschaftlich orientierten wehrpflichtigen Mannschaftsdienstgraden ausgegangen. 18 Gleichzeitig haben aber auch fortschrittliche junge Offiziere, motiviert durch eigene Erfahrungen als Einheitsführer auf unterer Ebene und als Jugendoffiziere, durch die Publizierung ihrer Kenntnisse und Positionen einen erheblichen Beitrag zur Veröffentlichung der in der Bundeswehr herrschenden restriktiven politischen und ideologischen Verhältnisse und zur Entwicklung kritischer öffentlicher Aufmerksamkeit gegenüber den Streitkräften geleistet. 19 In der Diskussion um die zunehmende Verschärfung der US-Positionen innerhalb der NATO und die Folgen der Stationierung neuer Mittelstreckenwaffen haben sich darüber hinaus weitere Offiziere und Unteroffiziere zu Wort gemeldet und unter Bezugnahme auf die Verfassung und Souveränität der Bundesrepublik die Stationierung als der Sicherheit unseres Landes und des Friedens insgesamt abträglich kritisiert. 20

Teilweise arbeiten bereits Offiziere in lokalen Friedensinitiativen mit. 21 Mindestens ein Drittel der etwa 7000 jungen Offiziere, die in den letzten Jahren die Hochschulen der Bundeswehr absolviert haben, betrachtet nach einer Untersuchung des Verteidigungsministeriums die Friedensbewegung immerhin „mit skeptischer Sympathie“. 22

Die am weitesten entwickelte Position innerhalb dieser demokratischen Initiativen von Berufs- und Zeitsoldaten dürfte mit dem sogenannten „Darmstädter Signal“ markiert worden sein 23, und es kann vermutet werden, daß die Zahl derer, die die inhaltlichen Positionen des „Darmstädter Signals“ teilen, innerhalb der Bundeswehr erheblich größer ist, als die Zahl derjenigen, die sich bisher offen dazu zu äußern gewagt haben.

Für die Friedensbewegung der 80er Jahre. besteht zunächst einmal die Notwendigkeit, sich hinreichende Kenntnisse über die Entstehung, Geschichte und Rolle der Bundeswehr im gesellschaftlichen und politischen System der Bundesrepublik zu verschaffen. Die wenigen kritischen Publikationen zu diesem Themenkomplex verdeutlichen schnell, daß hier von praktisch orientierten und sachlich wie didaktisch kompetenten Historikern, Soziologen, Psychologen u.a.m. noch ein erhebliches Pensum an „Aufklärungsarbeit“ zu leisten ist.

Eine von ihrem Selbstverständnis her praktisch-politische Friedensbewegung findet in der Analyse der gesellschaftlichen Präsenz und Aktivität der Bundeswehr 24, in der Auseinandersetzung mit Funktionen, Techniken und individuellen und gesellschaftlichen Konsequenzen militärischer Qualifikation und Sozialisation, in der konkreten und fallstudienartig durchzuführenden Untersuchung vermuteter Militarisierungsprozesse, in der Thematisierung des Verhältnisses von Militär und Medien in der BRD, in kontinuierlichen regionalen und lokalen Militäranalysen u.v.a.m. ein weites und bislang wenig beschrittenes Feld für Forschungs-, Lehr- und Lernprozesse, die nicht im überkommenen Sinne akademisch sind und als Beitrag zur Qualifizierung der Friedensbewegung einen Teil der Verantwortung der Wissenschaftler für den Frieden realisieren können.

Nicht zuletzt könnte die Tatsache, daß gerade Sozialwissenschaftler aus dem Umfeld der Bundeswehr auf den miserablen Zustand der mit dem Militär befaßten Soziologie hinweisen, in der Friedensbewegung engagierte Wissenschaftler dazu motivieren, über eine eben nicht „für den Dienstgebrauch“ gedachte Sozialforschung nachzudenken und sich dem Themenkomplex „Bundeswehr in Politik und Gesellschaft der BRD“ in Forschung, Lehre und Publikation intensiver und von der Form her zugänglicher zu engagieren 25.

Anmerkungen

1 Vgl. Steinweg, R. (Hg) 1981. Unsere Bundeswehr? Zum 25jährigen Bestehen einer umstrittenen Institution. Frankfurt/M. Das Verdienst, sich als Teil der Friedensbewegung von Anfang an vehement gegen die Militarisierung weiterer Arbeits- und Lebensbereiche gewehrt zu haben, kommt ohne Frage der demokratischen Frauenbewegung zu. Vgl. Janken, R. 1980. Frauen ans Gewehr? Köln (erweiterte Auflage 1983).Zurück

2 Eine der wenigen Ausnahmen stellt das bereits 1973 erschienene Buch von W. von Bredow, Die unbewältigte Bundeswehr. Zur Perfektionierung eines Anachronismus. Frankfurt/M., dar. Siehe dazu weiter Münch, M. 1983. Bundeswehr – Gefahr für die Demokratie? Köln.Zurück

3 von Bredow, W. 1983. Moderner Militarismus. Analyse und Kritik. Stuttgart. S. 98.Zurück

4 Der Spiegel. 10.10.1983, S. 22.Zurück

5 Delle, V. 1984. Die Zeichen werden nicht zurückgenommen. Zur Situation der Friedensbewegung. Blätter für deutsche und internationale Politik. 3/1984. S. 262. Siehe weiterhin Beck Oberdorf, M./ Bredthauer, K./ Delle, V./ Dietzel, P./ Leinen, J. / Matthiessen, G./ Stammer, S. 1984. Bestandsaufnahme. Die Friedensbewegung und die neue Lage nach Stationierungsbeginn. Blätter für deutsche und internationale Politik. 5/1984.Zurück

6 Siehe dazu u.a. von Bredow, W. 1969. Der Primat des militärischen Denkens. Die Bundeswehr und das Problem der okkupierten Öffentlichkeit. Köln; von Bredow 1973. a.a.O. München 1983. a.a.O.Zurück

7 Vgl. u.a. Zoll, R./ Lippert, E./ Rössler, T. (Hg.) 1977. Bundeswehr und Gesellschaft. Ein Wörterbuch. Opladen; Zoll, R. (Hg.) 1979. Wie integriert ist die Bundeswehr? Zum Verhältnis von Militär und Gesellschaft in der Bundesrepublik. München; Zoll, R. (Hg.) 1982. Sicherheit und Militär. Genese, Struktur und Wandel von Meinungsbildern in Militär und Gesellschaft. Opladen. Das Heft B 16/82 der Publikation „Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament“ vom 24.4.1982 enthält ausschließlich Beiträge zur Thematik Bundeswehr. Vgl. Kutz, M. Offiziersausbildung in der Bundeswehr. Historische und strukturelle Probleme. Zimmermann, P. Die Hochschulen der Bundeswehr. Ein Reformmodell in der Bewährung; Barth, P. Jugend und Bundeswehr. a.a.O.Zurück

8 Zur Kritik der Leistungsfähigkeit verschiedener MIK-Ansätze siehe von Bredow 1983. a.a.O. S. 65 ff. Zurück

9 Vgl. Ganser, H. W. (Hg.) 1980. Technokraten in Uniform. Die innere Krise der Bundeswehr. Reinbek; Hesslein, B. C. (Hg.) 1977. Die unbewältigte Vergangenheit der Bundeswehr. Fünf Offiziere zur Krise der Inneren Führung. Reinbek; Senger, R./ Wakenhut, R. 1982. Moralische Segmentierung und der Anspruch der Inneren Führung. Zoll (Hg.) 1982. a.a.O.Zurück

10 Vgl. Bald, D./ Krämer-Badoni, T./ Wakenhut, R. 1981. Innere Führung und Sozialisation. Steinweg (Hg.) 1981, a.a.O., S. 134 ff.Zurück

11 Moneta, J./ Horn, E./ Hansen, K.H. 1974 Bundeswehr in der Demokratie – Macht ohne Kontrolle? Frankfurt/M., S. 70.Zurück

12 Geiss, I. 1974. Bundeswehr und Demokratie. Moneta/Horn/Hansen 1974. a.a.O.S. X.Zurück

13 Der Spiegel. 10.10. 1983. S. 21.Zurück

14 Jopp, M. 1983. Militär und Gesellschaft in der Bundesrepublik Deutschland. Das Beispiel der Bildungsreform in der Bundeswehr. Frankfurt/M./New York. Die sogenannte „Schnez-Studie“, in der Albert Schnez, seinerzeit Inspekteur des Heeres, 1969 seine reaktionären Vorstellungen von der Bundeswehr als „Kampf-, Schicksals- und Notgemeinschaft“ dargelegt hat, ist unter dem Titel „Gedanken zur Verbesserung der Inneren Ordnung des Heeres“ in dem von K. Heßler herausgegebenen Band Militär – Gehorsam – Meinung. Berlin/New York, 1971 abgedruckt.Zurück

15 Siehe u.a. Rilling, R. 1983. Militärische Forschung an den Hochschulen. Informationsdienst Wissenschaft und Frieden. 1/83 und 1/84.Zurück

16 Kerbst R./ Witt, G. 1983. Militarisierung des Bildungswesens. Englisch Amerikanische Studien. 2,3/83. Kerbst, R./Witt, G. (Hg.) 1984. Bundeswehr und Schule. Militarisierung – Jugendoffiziere – Friedenserziehung. Köln.Zurück

17 von Bredow 1983. a.a.O. S.111.Zurück

18 In diesem Zusammenhang sind insbesondere die unter den Titeln „Soldat 70“ und „Soldat 74“ bekanntgewordenen Positionspapiere wehrpflichtiger Soldaten zu nennen. Beide Papiere sind als Sonderdruck der in Dortmund erscheinenden Zeitschrift „elan“ erschienen. Demgegenüber sind die unter dem Titel „Leutnant 70“ erschienenen Thesen eindeutig affirmativer Art; „Leutnant 70“ ist abgedruckt in Blätter für deutsche und internationale Politik. 3/1970.Zurück

19 Vgl. dazu Hesslein 1977. a.a.O. und Ganser 1980. a.a.O.Zurück

20 Vgl. den Bericht im Stern vom 23.2.1984 unter dem Titel „Jetzt reden wir. Soldaten der Bundeswehr über Nachrüstung. MAD und Innere Führung“.Zurück

21 Der Spiegel. 6.12. 1982. S. 74.Zurück

22 Der Spiegel. 10.10. 1983. S. 21.Zurück

23 Vgl. „Darmstädter Signal“. Aktive Soldaten und Mitarbeiter der Bundeswehr sagen NEIN zur Stationierung neuer Atomraketen in unserem Land. Blätter für deutsche und internationale Politik. 4/1984.Zurück

24 Die Präsenz der Bundeswehr beschränkt sich keineswegs nur auf militärische Ausstellungen oder Schauveranstaltungen; vgl. dazu den Bericht „Ein wehrhaftes Volk“ in Konkret 12/1983. Gewissermaßen auf „leisen Sohlen“ gewinnt die Bundeswehr an Akzeptanz und politisch-ideologischem Einfluß über Kontakte z.B. zu Managerclubs, gezielte Einladungen zu Truppenbesuchen an bestimmte Personenkreise, über Einladungen von Offizieren zu lokalen politischen „Ereignissen“, Kultur- und Sportveranstaltungen oder „Sommerfesten“ von Behörden und anderen Institutionen, über informelle Gesprächs- und Arbeitskreise u.a.m. Diese aus einer anderen Perspektive auch als Verzivilisierung des Militärs beschriebenen Prozesse, die hier als latente Einflußnahme des Militärs auf verschiedenste gesellschaftliche Bereiche angenommen werden, sind bislang nur wenig untersucht und dargestellt worden.Zurück

25 „Nur für den Dienstgebrauch“ ist eine bundeswehrspezifische Bezeichnung für die niedrigste Einstufung von Verschlußsachen. Vgl. Lippert, E./Wachtler, G. 1982. Militärsoziologie – eine Soziologie „nur für den Dienstgebrauch?“. Beck, U. (Hg.) Soziologie und Praxis. Göttingen (Sonderband I der Zeitschrift Soziale Welt) Zurück

Dr. Rolf Schellhase ist Soziologe in Münster

Zu militärpolitischen Aspekten des Bundeshaushaltes 1985

Zu militärpolitischen Aspekten des Bundeshaushaltes 1985

von Forum Naturwissenschaftler für Frieden und Abrüstung

I. Stationierungskosten von Pershing II Raketen und Cruise Missile

Für alle in Westeuropa zu stationierende Systeme wird der Posten von der Bundesregierung mit 540 Millionen DM veranschlagt. Die Gelder sind von allen NATO Staaten entsprechend ihrer Beteiligung am Infrastrukturprogramm aufzubringen. Der Anteil der Bundesrepublik beträgt 26,5 Prozent.

Den Steuerzahler wird die Stationierung von Pershing II Raketen und Marschflugkörpern also 143,1 Millionen DM kosten. Der Betrag wird im nächsten und in den kommenden Haushaltsjahren fällig sein. Der Anteil für 1985 findet sich in der Titelgruppe 01 (NATO-Infrastruktur), Kapitel 22 (Bewilligung im Rahmen der Mitgliedschaft zur NATO und zu anderen internationalen Organisationen), Einzelplan 14 (Bundesminister der Verteidigung).

Empfehlung: Rücknahme des Beschlusses zur Stationierung von Pershing II und Cruise Missile; Streichung der Gelder.

II. Entwicklung von Marschflugkörpern

Die Bundesrepublik entwickelt gemeinsam mit den USA und Großbritannien einen Marschflugkörper, der von Flugzeugen wie dem Tornado oder der F 111 abzuschießen sein wird. Der Flugkörper soll mit konventioneller Munition ausgerüstet werden und eine Reichweite zwischen 100 und 600 Kilometern haben. Die Stationierung auf Flugzeugen würde die Reichweite bis in strategische Größenordnungen erhöhen. Im augenblicklichen Entwicklungsstadium trägt der Flugkörper den Namen Long-Range-Stand-Off-Missile (LRSOM). Politisch ordnet sich das Forschungsvorhaben in das Air Land Battle Konzept (Luft-Land-Schlacht) ein. Die neuen Waffensysteme der NATO sollen danach bis tief in die Länder des Warschauer Pakts hineinreichen, um im Fall einer kriegerischen Auseinandersetzung Versorgungs- und Nachschubstaffeln zu zerstören.

Die Vereinigten Staaten und Großbritannien sind Atommächte, und es würde bei einer Stationierung der Flugkörper technisch nicht möglich sein zu entscheiden, ob sie einen konventionellen oder atomaren Sprengkopf tragen. Diese Waffe würde ohnehin schon schwierige Verhandlungen über atomare Abrüstung in Europa noch komplizierter, wenn nicht gar unmöglich machen (am Problem der Überprüfbarkeit hat sich auch eine Kontroverse zwischen Kongreß und Senat um die Stationierung konventioneller Cruise Missile für die US Marine entzündet).

Die im nächsten Jahr fälligen Kosten für Forschung und Entwicklung finden sich im Kapitel 20 (Wehrforschung…) des Einzelplan 14 (Bundesminister der Verteidigung). Eine Fachzeitschrift gibt für die Gesamtentwicklung eine Summe von 400 Millionen und für die spätere Anschaffung von 500 Flugkörpern 1,5 Milliarden DM an.

Empfehlung: Entwicklung einstellen; Streichung der Gelder.

III. Atomtaugliche Panzerhaubitzen

Gemeinsam mit italienischen und britischen Partnern hat die Bundesrepublik eine NATO-einheitliche Panzerhaubitze vom Kaliber 155 Millimeter entwickelt. Mit der Produktion der Panzerhaubitze 155-1 soll im Haushaltsjahr 1985 begonnen werden.

Die Haubitze ist ein neues Atomwaffenträgersystem. Sie eignet sich selbstverständlich auch zum Verschießen konventioneller Munition, entscheidend ist jedoch ihre atomare Kapazität. In der Bundesrepublik lagern nach Angaben US amerikanischer Kongreßkreise ca. 1000 Atomgranaten des entsprechenden Kalibers.

Die Reichweite der Panzerhaubitze 155-1 wird nur 24 bis 30 Kilometer betragen, so daß die mit ihr verschossenen Atomgranaten über die Landesgrenzen kaum hinaus kämen.

Im Lehrbuch der US Armee 100-30 „Konventionell-atomare Operationen“ ist nachzulesen, daß kurzreichweitige (taktische) Atomwaffen grundsätzlich nicht einzeln, sondern als „Pakete“ eingesetzt werden sollen. Es findet sich dort das Planspiel der Operation „Zebra“, bei der zur Zurückschlagung eines drohenden Durchbruchs von Warschauer Pakt Truppen innerhalb von 90 Minuten 141 Atombomben gezündet werden, von denen 14 über dem Territorium der DDR und 127 über dem der Bundesrepublik Deutschland explodieren. Neben anderen Systemen, wie z. B. „Lance“ Raketen, wären Haubitzen vom Kaliber 155 Millimeter an solchen Einsätzen beteiligt.

Diese Planungen haben mit Verteidigung nichts mehr gemeinsam, eher schon mit einer Strategie der verbrannten Erde. Allein durch das bei den Atombombenexplosionen freiwerdende nicht gespaltene Plutonium wird der „verteidigte“ Landstrich völlig verseucht und unbewohnbar werden, und die massenhafte Explosion der Atomwaffen wird die zu schützende Zivilbevölkerung zum größten Teil töten. Mit solchen Waffen würde alles zerstört, was verteidigt werden sollte.

Zu ergänzen ist, daß in den USA bereits 1000 produzierte Neutronenbomben des Kalibers 155 Millimeter lagern, und daß ein Großteil der chemischen Waffen der USA in Depots auf bundesdeutschem Boden Munition dieses Kalibers ist. Auch diese hätten keine höhere Reichweite als 30 Kilometer und würden vor allem unserer Zivilbevölkerung großen Schaden zufügen.

Der Einsatz atomarer und chemischer Waffen durch die NATO in der Bundesrepublik verstieße auch gegen ein völkerrechtliches Abkommen, das im Deutschen Bundestag gerade zur Ratifikation ansteht: das Zusatzprotokoll 1 von 1977 zu den Genfer Rotkreuz-Abkommen von 1949. Artikel 51 schützt die Zivilbevölkerung und verbietet „unterschiedslose Angriffe“, also den Einsatz von Waffen, die nicht zwischen angreifenden Soldaten und der Zivilbevölkerung unterscheiden. Atomare und chemische Massenvernichtungsmittel wären nur in „unterschiedslosen Angriffen“ verwendbar und verstießen gegen diesen Völkerrechtsvertrag, der 1977 von der Bundesregierung unterzeichnet wurde.

Empfehlung: „Sofortiges Einfrieren der atomaren Rüstung in Ost und West“ heißt konkret, die Produktion der Panzerhaubitze 155-1 nicht aufzunehmen Streichung der Gelder.