Bundeswehrplanung für das neue Deutschland

Bundeswehrplanung für das neue Deutschland

von Otfried Nassauer

Für die Bundesrepublik stellt sich nach Wegfall der aus dem verlorenen Zweiten Weltkrieg resultierenden außen- und sicherheitspolitischen Beschränkungen und Souveränitätseinschränkungen eine grundsätzliche Frage: Wie wird das größer gewordene Deutschland seine neue Rolle im westlichen Bündnis und darüber hinaus festlegen? Wieviel militärische Einbindung soll künftig akzeptiert werden, wieviel Spielraum für nationale Entscheidungen reserviert werden? Welche nationalen und sicherheitspolitischen Interessen wird die Bundesrepublik für sich selbst definieren?

Diese Diskussion betrifft mehr als nur die in diesem Beitrag behandelte Sicherheitspolitik im engeren Sinne. Und: Sie ist keinesfalls abgeschlossen und dürfte erst peu a peu in den neunziger Jahren zu neuen Festlegungen und Orientierungen führen. Nicht eine Wende in der deutschen Außenpolitik – wie jene zur Ostpolitik – steht an, sondern das schrittweise Ziehen der politischen wie machtpolitischen Konsequenzen aus dem Ende der Ost-West-Konfrontation, dem Ende der bundesdeutschen Sonderrolle in der westlichen Militär-Allianz und einer neuen geographisch-politischen Situation.

„Planung“, so Brigadegeneral Axel Kleppien, Stabsabteilungsleiter im Führungsstab der Luftwaffe, am 11. Juni 1991 in Bonn, sei „der gedankliche Vorgang, bei dem versucht wird, mit einer endlichen Menge an Ressourcen ein genau bestimmtes Ziel auf dem kosteneffektivsten Weg zu erreichen.“ Kleppien fuhr – mit Blick auf die bundesdeutsche Wirklichkeit nach der Wiedervereinigung – fort: „Dieser klassische Planungsansatz war uns leider verwehrt.“ 2

In der Tat: Im vereinten Deutschland und in einem sein Gesicht schnell wandelnden Europa findet Bundeswehrplanung zur Zeit unter erschwerten Bedingungen statt: mehr als 40 Jahre »verläßlicher« Ost-West-Konflikt sind keine Planungsgrundlage mehr.

Nach der Festlegung der Obergrenze ihrer Personalstärke auf 370.000 Mann durch die Politik begann man in der Bundeswehr mit ernsthaften Struktur-Planungen.

Im November 1990 hatten Alt-Bundeswehr und ehemalige Nationale Volksarmee (NVA) zusammen etwas mehr als 510.000 Soldaten. Der bis 1994 zu bewerkstelligende Abbau an Personal betrifft also rund 140.000 bis 150.000 Mann. Da im Rahmen der Übernahme der NVA deren Personal im Umfang von damals 82.500 Soldaten aufgrund der Regelungen des Einigungsvertrages zum größten Teil problemlos abgewickelt werden konnte, liegt die Größenordnung der Reduzierung für die Alt-Bundeswehr zwischen 60.000 und 80.000 Mann. Finanziell problematisch – erinnert man sich an die Erfahrungen mit der »Goldener Handschlag« genannten Frühpensionierungs-Aktion – ist dabei vor allem der Abbau von Zeit- und Berufssoldaten. Innerhalb der Bundeswehr ist auch deshalb eine Verschiebung zugunsten von Längerdienenden und Berufssoldaten geplant. Künftig sollen 155.000 Wehrpflichtige 211.000 Zeit- und Berufssoldaten gegenüberstehen. Hinzu kommen 4.000 Wehrübungsplätze. Dadurch verringert sich die Zahl der zu entlassenden Berufs- und Zeitsoldaten, gleichzeitig steigt aber auch der Anteil der Personalausgaben im Verteidigungsetat. Das flankierende Personalstärkegesetz wurde im Bundestag trotz anfänglichen Unbehagens und nach einigen Veränderungen verabschiedet.

Die Stärke der voll mobilisierten Bundeswehr sollte zunächst von ehemals 1,34 Mio. Mann auf 950.000 Mann, dann auf 900.000 abgesenkt werden; mittlerweile geht auch die Bundeswehrführung davon aus, daß die derzeit noch geplante Kriegshöchststärke von heute 845.000 Soldaten erneut nach unten korrigiert werden muß. Das Verhältnis der Friedensstärke zur Kriegsstärke macht aber weiterhin den mobilmachungsorientierten Charakter des Planungsentwurfes deutlich.

Das Heer

Die größte Teilstreitkraft der Bundeswehr, das Heer, steht vor der größten Umstrukturierung. Ihm sollen 1994 noch 255.400, später 260.000 Soldaten angehören, so die derzeitige Planung. Zunächst wird es im Rahmen vorgezogener Maßnahmen die Verkürzung der Wehrdienstdauer auf 12 Monate umsetzen, dann im Rahmen des Übergangs zur »Heeresstruktur 5« die friedensmäßige Trennung in Feld- und Territorialheer aufgeben.

Die »Heeresstruktur 5« basiert auf hochmobilen Präsenzstreitkräfte, die – aufgrund verlängerter Vorwarnzeiten nach Ende des Ost-West-Konfliktes – durch mobilmachungsabhängige starke Hauptstreitkräfte ergänzt werden sollen. »Kaderung und rascher Aufwuchs« wurde die Konzeption zunächst genannt, dann verzichtete man aus Gründen politischer Sensibilität auf das Wort »rasch«.

Es werden drei Heereskommandos gebildet: Nord, Süd und Ost. Zwei davon entstehen in der Alt-Bundesrepublik aus den Stäben des I. und II. Korps unter Verschmelzung mit den Territorialkommandos Nord und Süd. Das Heereskommando Ost wird neu gebildet, einbezogen werden die Infrastruktur des Kommandos der NVA-Landstreitkräfte sowie Planstellen des III. Korps in Koblenz.

Den Heereskommandos unterstehen im Norden und Süden je drei Generalkommandos, die wiederum aus den zusammengelegten Stäben je einer Division und eines Wehrbereichskommandos bestehen. Im Zuständigkeitsbereich der beiden Heereskommandos in der Alt-Bundesrepublik wird je ein zusätzlicher Divisionsstab für besondere taktisch-operative Aufgaben in Regensburg und Oldenburg aufgebaut. Dem Heereskommando Ost dagegen unterstehen im Frieden zwei Wehrbereichs-/Divisionsstäbe.

Hinzu kommen jeweils die Korps-Unterstützungstruppen, eine Luftlandebrigade (Auflösung der Luftlandedivision) und als neues Gliederungselement je eine Heeresfliegerbrigade, die die Forderung nach erhöhter Mobilität und Kampfkraft aus der Luft zu reaisieren helfen soll.

In der neuen Heeresstruktur sind künftig insgesamt 28 Brigaden vorgesehen. Präsent werden davon sieben Brigaden sein, drei mechanisierte Brigaden, die Gebirgsjägerbrigade, zwei Luftlandebrigaden sowie die deutsch-französische Brigade. 18 mechanisierte Brigaden sollen für den raschen Aufwuchs gekadert (ca. 60 Prozent Präsenz), zwei weitere werden voll mobilmachungsabhängig sein. Hinzu kommen die Heimatschutzverbände.

Das Heer gibt seine Beteiligung an der nuklearen Teilhabe auf, weil die NATO künftig auf atomare Kurzstreckenwaffen verzichtet.

Die Stoßrichtung der Heeresplanung verdeutlicht Heeresinspekteur Henning von Ondarza: „Aus der Aufgabenstellung für das deutsche Heer haben wir eine Konzeption entwickelt, die bei verringerten Kräften, aber erweitertem Territorium und breiterem Einsatzspektrum auf die hohe Beweglichkeit der Verbände setzt und setzen muß.“3

Die Luftwaffe

Die Luftwaffe wird bis 1994 zunächst auf 82.400 Mann reduziert und soll später 83.300 Soldaten umfassen. Sie wird von ihrer aufgabenorientierten Gliederung in eine regionale überführt. Derzeit wird neben vier in der alten Bundesrepublik bestehenden in den fünf neuen Bundesländern die 5. Luftwaffendivision aufgebaut.

Aufklärungs- und Jagdbombergeschwader bekommen je eine Erst- und eine Zweitrolle, um die operative Flexibilität zu erhöhen. Die Zahl der Flugzeuge wird aus Personal- und Finanzgründen auf weniger als 500 reduziert. Das bedeutet:

  • Die Jagdbomberverbände Alpha Jet werden aufgelöst, die Flugzeuge weitestgehend abgegeben.
  • Die Auklärer des Typs Phantom werden ebenfalls aufgegeben.
  • Die Lufttransportgeschwader werden auf drei reduziert und als gemischte, d.h. mit Hubschraubern und Flugzeugen ausgestattete, den Bereichen Nord, Süd und Ost zugeordnet.
  • Alle Flugzeuge vom Typ Phantom werden in vier Jagd-Geschwadern eingesetzt.
  • Vorläufig werden sie durch 24 MIG 29 aus Beständen der NVA in dieser Rolle unterstützt.
  • Fünf Tornado-Geschwader werden in Erstrolle als Gegenangriffskräfte eingesetzt, ein sechstes in Zweitrolle. Drei Geschwader Tornado führen Aufklärung durch, zwei davon in Zweitrolle, eines in Erstrolle. Letzteres, die Tornado ECR, bekämpft zudem die gegnerische Luftabwehr. Die Luftwaffe wird ein Tornado-Geschwader von der Marine übernehmen.
  • Die bodengestützte Luftverteidigung wird reorganisiert: 36 Staffeln Patriot und 24 Staffeln Hawk bleiben aktiv, 12 weitere Staffeln Hawk werden gekadert, drei Gruppen Roland teilgekadert,
  • Im Bereich der Luftwaffenunterstützung und Versorgung wird deutlich gestrafft.

Die Luftwaffe geht davon aus, daß ihr künftig ein „insgesamt höherer Stellenwert“ zukommt und daß insbesondere der Golfkrieg erneut bestätigt hat, „daß der Einfluß einer starken Gegenangriffskomponente auf die Gesamtkriegführung seit den jüngsten militärischen Auseinandersetzungen noch gewachsen ist, kriegsentscheidend sein kann.4

Die Luftwaffe wird die einzige Teilstreitkraft mit nuklearen Aufgaben sein. Dafür stellt sie weiterhin drei Tornado-Geschwader bereit. Künftig wird über die umstrittene Stationierung nuklearer Abstandswaffen für den Tornado zu entscheiden sein. Trotz der Rüstungskontrollinitiative George Bushs vom 27. September 1991 hat die NATO ihr »Requirement« für eine solche Waffe nicht aufgegeben. Die Entwicklung des bislang vorgesehenen Nuklearsprengkopfes W89 soll auch 1993 weitergeführt werden.

Die Marine

Die Bundesmarine soll bis 1994 auf 32.200, längerfristig auf 26.200 Soldaten reduziert werden. Aus den heutigen Flottillen und Geschwaderstäben wird ein Flottenkommando mit sechs Typkommandos gebildet. Dem Flottenkommando unterstehen zudem zwei Marinefliegergeschwader (MFG 3 und 5 werden in Nordholz zusammengezogen), drei Marinefernmeldeabschnitte und zehn Schiffs- bzw. Bootsgeschwader. Unter Führung des Marinelogistikkommandos gibt es drei Marinestützpunkte, zwei aktive und zwei gekaderte Sicherungsbataillone sowie sieben Anlaufpunkte, d.h. ehemalige Marinestützpunkte. Dem Marineamt schließlich unterstehen fünf Schulen, das Personalwesen und die Öffentlichkeitsarbeit.

Waffensystem-Planung der Bundesmarine:1
Planung im Planung im
Waffensystem Ist-Bestand März 1990 März 1991
Fregatten 15 15-16 16-20
U-Boote 24 12-18 10-14
Schnell-/Patrouillenboote 40 20-26 20-30
Minenabwehreinheiten 54 26 20-30
U-Jagdflugzeuge 19 12-14 12-14
Marine-Jagdbomber 105 weniger 60-65
Unterstützungseinh. 28 10 15-17
Hubschrauber 40 38 38-42

Mit diesen Umstrukturierungen wird bis zum Jahre 2005 eine Verringerung der Gesamtzahl der Schiffe auf etwa 90 einhergehen. Während der Ostseeraum künftig als weniger wichtig angesehen wird, „gewinnt das Potential für die offene See Vorrang vor dem Küstenvorfeld“, so Brigadegeneral Peter Vogler, Stabsabteilungsleiter Planung im Bundesverteidigungsministerium. Die Betonung liege in Zukunft stärker „auf der maritimen Präsenz an den Flanken unseres Bündnisses.5 Dies wird auch an der geplanten Waffensystemausstattung deutlich.

Kompatibel mit der NATO

Die künftigen Bundeswehrstrukturen sind mit der bislang bekanntgewordenen NATO-Planungen kompatibel. Die in der Alt-Bundesrepublik verbleibenden nationalen und NATO-Verbände werden zusammen mit Verstärkungsstreitkräften in drei Kategorien künftiger Streitkräfte in der NATO eingeordnet:

  • den Reaction Forces (Eingreifkräften)
  • den Main Defense Forces (Hauptverteidigungskräften)
  • den Augmentation Forces (Verstärkungskräften).

Diese neue Streitkräftestruktur dient zugleich als ein Mittel, die multinationale Integration der alliierten Streitkräfte als Zeichen der Solidarität und die Einbindung der Bundeswehr durch Integration fortzuschreiben sowie eine multinationale Präsenz vor allem auch US-amerikanischer Truppen in Europa sicherzustellen.

Die Multinationalität der Landstreitkräfte wird dadurch gesichert, daß die verfügbaren Streitkräfte in einer verschachtelten Struktur einem multinationalen Rapid Reaction Corps sowie sechs multinationalen Korps in den Main Defense Forces und einem rein deutschen Korps in Zentraleuropa zugeordnet werden. Daneben ensteht separat ein deutsch-französisches Korps. Dieser Verband – oft auch als Eurokorps bezeichnet, soll sowohl bilateral im Rahmen der humanitären Hilfe, als auch im Kontext der WEU oder im Zusammenhang der NATO einsetzbar sein.

Erreicht wird eine weitgehende Einbindung deutscher Streitkräfte: Zumindest 13 der 28 Bundeswehrbrigaden stehen in alliiert geführten Korps, weitere werden durch das deutsch-französische Korps gebunden. Dies soll den Spielraum der Bundeswehr für nationale, operative oder strategische Planungen oberhalb der Korpsebene begrenzen.

Die Wiedervereinigung und die veränderte strategische Lage in Europa bringen fast zwangsläufig auch neue Diskussionen über strategische und operative Konzeptionen für Bundeswehr und Bündnis mit sich. Das zeigt auch die Verabschiedung einer neuen NATO-Strategie.

Die neue Rolle der Bundeswehr

Die Diskussion um die Rolle der Bundeswehr steht unter dem Zwang der Erarbeitung einer breit konsensfähigen Legitimation. „Das vereinte Deutschland muß in der sich nun herausbildenden politisch-ökonomisch-strategischen Gesamtkonstellation seine Rolle neu bestimmen. Verantwortung ist das Schlüsselwort für die künftige Rolle Deutschlands.“ 6

Der Begriff der »Risikoanalyse« hat in Bundeswehr und NATO den der »Bedrohungsanalyse« abgelöst. Verdeutlichen will man damit, daß eine akute militärische Bedrohung des Territoriums der Bundesrepublik bzw. der NATO nicht als gegeben erachtet wird. Auffällig aber ist, daß den analysierten Risiken nicht politische Risikominderungskonzepte entgegengestellt werden, sondern mit ihrer Hilfe Streitkräftestärken und -strukturen legitimiert werden. Bereits der ehemalige Generalinspekteur Wellershoff unterschied 1991 drei Risikokategorien, die deutlich auf ein erweitertes geographisches Spektrum für die Bundeswehr ausgerichtet sind:

l<~>Risiken, die sich aus der militärischen Macht der UdSSR, die möglicherweise in eine Phase zunehmender Instabilität geraten wird, ergeben,

l<~>Risiken, die aus regionalen Konflikten in Europa erwachsen,

l<~>Risiken, die aus der zunehmend konfliktträchtigen Zone von Nordafrika bis zum Indischen Ozean nach Europa überspringen können und darüber hinaus solche, die sich aus der extremen Abhängigkeit der hochindustrialisierten und rohstoffarmen Staaten Europas vom freien Welthandel ergeben.“ 7

Klaus Naumann, Wellershoffs Nachfolger, sieht im Hinblick auf das Risikopotential der ehemaligen UdSSR für die Bundeswehr die Aufgabe der »Friedensabsicherung«, im Hinblick auf die instabilen osteuropäischen Staaten die Aufgabe der »Friedensdurchsetzung« und im Hinblick auf potentielle Risiken im Süden die Aufgabe der »Friedenserzwingung«.8

Nach Wellershoff „kann es nunmehr erforderlich werden, eher wahrscheinliche kleine, regional begrenzte Konflikte national allein, bilateral oder multinational in bestehenden NATO- oder anderen Strukturen lösen zu müssen.“ Wellershoff folgert: „Die Bundeswehr wird sich daher für die Streitkräfte eine nationale Führungsstruktur schaffen müssen, die eine operative Einsatzführung auch außerhalb der NATO-Kommandostruktur ermöglicht, wobei, wo immer möglich, die Doppelfunktion von NATO und nationalen Führungselementen angestrebt wird.“ 9 Das »diskriminierende« Stigma begrenzter Souveränität, symbolisiert durch das Fehlen eines Generalstabes (der verschämte Planungsbegriff in einigen Bundeswehr-Schaubildern »Joint Chiefs of Staff« aus dem Frühjahr 1991), soll ein Ende haben. Zur Zeit ist geplant, für das Heer in Koblenz ein Teilstreitkraftkommando aufzubauen und sodann über die Kommandos der Teilstreitkräfte ein neues »Führungskommando« der Streitkräfte zu stellen.

Damit sind die künftige operative Planung für den europäischen Zentralbereich und Planungen für die Flanken der NATO sowie Aufgaben außerhalb des NATO-Gebietes zu unterscheiden. Der erste Bereich verliert mangels konkreter Bedrohung tendentiell an Bedeutung; zweiterer wird immer wichtiger. „Deutschland ist militärisch nicht mehr in der strategischen Reichweite eines zur strategischen Offensive und zur Landnahme befähigten Staates… damit dürfte sich die strategische Rolle Mitteleuropas fundamental verändern, es könnte Drehscheibe der westlichen Verteidigungsgemeinschaft, aber nicht mehr Schauplatz der Konfrontation werden“, machte Generalinspekteur Klaus Naumann deutlich.10 Gemeint ist damit zunächst und vorrangig eine wachsende Bedeutung von Einsätzen der Bundeswehr an den Flanken des Bündnisses, Einsätze out of region: „Machen Sie – auch sich selbst – dabei deutlich, daß Landesverteidigung aufgrund der geänderten sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen sowie der sich wandelnden Risikolage bündnisweit zu verstehen ist“, führte Heeresinspekteur Helge Hansen am 5.März dieses Jahres vor Offizieren an der Führungsakademie der Bundeswehr aus und fuhr fort: „… mit anderen Worten: Während ein Teil unserer Bevölkerung im Urlaub ist oder Karneval feiert…könnte sich ein anderer Teil, nämlich aus den Reaktionskräften im Einsatz im Rahmen des Krisenmanagments oder zur Konflikteindämmung an den Flanken des Bündnisses befinden“. 11

Operative Planungen der Bundeswehr in Zentraleuropa

Werfen wir zunächst einen Blick auf Zentraleuropa: Mit der Wiedervereinigung entfielen die Voraussetzungen für das traditionelle Modell der »Vorneverteidigung« nach dem Schichttortenmodell, ebenso wie die »General Defense Plans« der NATO. Das Nachdenken in der Bundeswehr über künftige Operationskonzepte begann mit der Festlegung der »Zwei plus Vier«-Regelungen, keine alliierten Streitkräftestationierungen auf dem Territorium der fünf neuen Länder zuzulassen und der Bundesrepublik volle Souveränität zu gewähren. Der Prozeß der Entwicklung einer neuen operativen Konzeption für die Bundeswehr und im Bündnis ist bislang nicht abgeschlossen. Er ist u.a. von folgenden Überlegungen gekennzeichnet:

Das operative Konzept der Bundeswehr muß eine stabile, flexible und auf mobile, schlagkräftige Verbände abgestützte nationale Anfangsverteidigung vorsehen. Dazu sollte ein Konzept grenznaher, beweglicher Operationsführung entwickelt werden, das es erlaubt, jedweden Angriff so grenznah wie möglich abzufangen und zurückzuschlagen.

Das Konzept muß davon ausgehen, daß mit weniger Kräften ein größerer Raum abgedeckt werden muß und sollte deshalb neben nationalen Kräften zur Anfangsverteidigung auf erheblich größere, bewegliche und sehr schlagkräftige bündnisgetragene Hauptkräfte gestützt sein, die großenteils erst nach Mobilisierungsmaßnahmen zur Verfügung stehen können.

Die neu gewonnene Souveränität, also die Möglichkeit zu nationaler Verteidigungsplanung sollte genutzt werden, auch (soweit möglich) gegenüber den NATO-Partnern, deren Gewicht aufgrund ihrer Truppenreduzierungen tendenziell sinkt.

Die Bundeswehr sucht eine nationale Strategie, die mit der neuen NATO-Strategie kompatibel ist, größere nationale Unabhängigkeit sichert und zugleich, soweit es um Zentraleuropa geht, im Kern weiter ostwärts orientiert ist. Dazu werden – in der Implementierung variiert und an die neue Lage angepaßt – Konzepte weiterverfolgt und zum Teil radikalisiert, die in den 80er Jahren im Rahmen einer Offensivierung der Doktrinen auf NATO-Seite entwickelt wurden. Die Unterschiede zwischen der vorläufig »land-air campaign« genannten Bundeswehr-Konzeption und dem britischen Land-Air-Battle-Konzept sind genausowenig prinzipieller Natur wie jene zur amerikanischen AirLand Battle-/AirLand Battle-Future-Konzeption. Auf NATO-Ebene wurde eine entsprechende Konzeption im Kontext des SACEUR »Operational Concept for Mobile Counter-Concentrations« entwickelt und mit der Verabschiedung eines neuen strategischen Grundlagen-Dokumentes, der MC 400, bei der Sitzung des Verteidigungsplanungsausschusses im Dezember 1991 gebilligt.

Die Konzeption soll eine bewegliche auf die Tiefe des gegnerischen Hinterlandes orientierte (gegen)offensive Gefechtsführung auch mit Bodentruppen erlauben. Dieses zu Beginn der 80er Jahre noch nicht durchsetzbare Element der US-amerikanischen Doktrin wird ergänzt durch eine Weiterentwicklung der 1984 eingeführten FOFA-Konzeption. FOFA wurde NATO-Oberbefehlshaber Galvin zufolge „entwickelt, um die Truppen-Massierungen und das Angriffstempo eines numerisch überlegenen und technologisch unterlegenen Gegners aufzubrechen, bevor es zum direkten Gefecht in der Bodenschlacht kam. Während das Konzept heute auf anderen Kriegsschauplätzen noch angemessen sein mag, erfordern das Kräftegleichgewicht und technische Fortschritte auf beiden Seiten in Europa heute eine Überarbeitung des FOFA-Konzeptes, die wir Joint Precision Interdiction oder JPI nennen.“ 12 Gemeint ist damit eine Abriegelung durch Land- und Luftstreitkräfte in der Tiefes des gegnerischen Hinterlandes, die sich Fortschritte in modernen konventionellen Aufklärungs-, Datenübermittlungs-, Feuerleit- und Munitionstechnologien zunutze macht.

Ihre militärische Legitimation finden diese Ansätze für operative Modelle in zwei Grundüberlegungen: Zum einen wird darauf verwiesen, daß Flexibilität und Mobilität die Verteidigung des Bündnisses nicht nur in Zentraleuropa, sondern an allen seinen Grenzen ermöglicht, wo auch immer das geographisch breiter erachtete Risikospektrum dies erforderlich machen könnte. Zum anderen sei man auch in einem Ost-West-Konfliktszenario künftig auf Gegenkonzentrationsfähigkeit, Flexibilität und Mobilität angewiesen. Einen gewichtigen Unterschied zur Situation der 80er Jahre allerdings gilt es zu beachten: Bei geringerer Kräftekonzentration und numerisch nicht mehr überlegenem Gegner werden operative (gegen-)offensiv orientierte Konzepte militärisch erheblich erfolgversprechender und wirken derhalben in politisch instabiler werdenden Umfeld leichter bedrohlich.

Mindestens vier Bedenken kann man gegen die operativen Planungen der Bundeswehr in Zentraleuropa artikulieren:

1. Operative (gegen-)offensiv ausgelegte Konzepte, die auf Mobilität, Flexibilität zur Schwerpunktverlagerung und hoher Schlagkraft der eingesetzten Truppenteile beruhen, können in Nachbarländern Bedrohtheitsvorstellungen reaktivieren oder neu aufkommen lassen, gerade, wenn deren eigene Lage nicht durch Stabilität gekennzeichnet ist;

2. Die Fähigkeit zu raschem Aufwuchs zur Kriegsstärke und das seitens der NATO verfolgte Konzept einer »reconstitution« dürften eine solche Wahrnehmung verstärken. Dies gilt vor allem in Krisen. „Keinesfalls darf eine Situation entstehen, wie vor dem Ersten Weltkrieg, als umfangreiche Mobilisierungsmaßnahmen unausweichlich in einen Krieg mündeten“, mahnt der Stellvertretende NATO-Oberkommandierende Dieter Clauß zu Recht.13

3. Die Verträglichkeit dieser beiden Ansätze mit konstruktiver Vertrauensbildung auf gesamteuropäischer Ebene kann in Zweifel gezogen werden.

4. Streitkräftestruktur, Streitkräftedispositiv und operative Konzeption im Zusammenhang mit den entsprechenden NATO-Planungen können zu dem Vorwurf führen, die europäischen NATO-Staaten würden auf ein »Anderthalb-Kriege-Konzept« hinarbeiten – auf regionale und gleichzeitig auf europäische Konflikte bezogen.

Immer stärker betont die Bundeswehr ihre potentielle Rolle bei Konflikten an den Rändern des NATO-Gebietes und darüber hinaus. Die »Verteidigung Europas an seinen Grenzen« und die »Beteiligung an internationalen Aufgaben« sind zum festen Bestandteil der Argumentation geworden. Der Disput um »Wie« und »Ob« einer Grundgesetzänderung ist noch nicht entschieden. Eine geschlossene operative Konzeption für solche Bundeswehreinsätze liegt dementsprechend nicht vor. Die Absicht, sich unter UN- bzw. KSZE-Ägide im westlichen Verbund außerhalb des NATO-Gebietes zu engagieren, wird auf zwei Ebenen deutlich: Zum einen verweisen verschiedene Elemente der Bundeswehrplanung in »vorauseilendem Gehorsam« auf solche Operationsoptionen. Zum anderen wird die Öffentlichkeit schrittweise durch erweiterte Bundeswehreinsätze auf solche Optionen vorbereitet. Der Kambodscha-Einsatz deutscher Sanitätssoldaten ist hierfür ebenso Beleg wie die Beteiligung deutscher Marineeinheiten an Operationen vor der Küste Jugoslawiens.

Neben grundlegenden politischen Bedenken gegen eine Beteiligung gerade der Bundesrepublik an militärischen Einsätzen außerhalb des Bundes- oder Bündnisgebietes und gegen die Vorstellung, militärische Verbände könnten zu einem effektiven politischen Krisenmanagment so massiv beitragen, wie es sich in diesen Streitkräfteplanungen spiegelt, sind u.a. folgende Einwände geltend zu machen:

1. Auch die Krisenreaktionskräfte werden von ihrer operativen Ausrichtung her durch die Kennzeichen Flexibilität, Mobilität und (Gegen)konzentrationsfähigkeit gekennzeichnet sein. Eine solche (gegen)offensive Kapazität kann leicht neben einer abschreckenden gerade auch eine eskalative Rolle zur Folge haben. Damit aber läuft jeder Einsatz solcher Kräfte Gefahr, seinem eigenen Ziel nichtkriegerischen Krisenmanagments kontraproduktiv zu werden.

2. Der sicher auch aus dem Wettbewerb westlicher sicherheitspolitischer Organisationen geborene Wettlauf um künftige sicherheitspolitische Funktionen führt im Nebeneinander von nationalen amerikanischen, europäischen und NATO-Eingreifverbänden zu Streitkräftestärken in diesem Bereich, die sicher eher als Interventionskräfte denn als Krisenmanagment-Truppen verstanden werden.

3. Die schlichte Existenz solch umfangreicher militärischer Instrumente im nationalen wie internationalen Rahmen, kann Militär verstärkt wieder zum Mittel der Politik werden lassen, ja dazu führen, daß politische Instrumente des Krisenmanagments statt weiterentwickelt zu werden in den Hintergrund gedrängt werden.

4. In der Bundesrepublik wird die Aufstellung der Reaktionskräfte darüberhinaus gesichert in eine Debatte über die Wehrpflicht führen, da Kräfte im angestrebten Umfang mit einer Wehrpflichtdauer von 12 Monaten weder zu realisieren noch geeignet auszubilden sind. Zwar wäre es durchaus zu begrüßen, wenn es zu einer Debatte über die noch sakrosankt gehandelte Bundeswehrgröße von 370.000 Mann käme, doch wäre es wohl verheerend, wenn allein oder vorrangig unter dem Gesichtspunkt der Fähigkeit zur Beteiligung an internationalem Krisenmanagament eine für Bundeswehr wie demokratische Ordnung in der Bundesrepublik so weitreichende Frage wie Wehrpflichtarmee versus Berufsarmee entschieden würde.

Finanzierung

Bleibt die Frage nach den Finanzen: Zwei Armeen aus dem Haushalt einer zu finanzieren ist sicher keine leichte Aufgabe. Die Regierungskoalition hat einen Plafond von 52,6 Mrd. DM für 1991 und von 52,5 Mrd. DM für 1992 vorgegeben. Anhand der Mittelfristigen Finanzplanung ist zu erkennen, daß der Einzelplan 14 bis 1994 jährlich um real 1,5 Mrd. DM schrumpfen soll. Die Reduzierungen gehen nicht unerheblich zu Lasten des Anteils der Investitionen. Ihr Anteil am Einzelplan 14 sank in der Planung des Jahres 1991 von 31,9 Prozent (1990) auf rund 26,5 Prozent 1994. In der Planung des Jahres 1992 war dies bereits Makulatur: Der Investitionsanteil im Einzelplan 14 liegt 1992 bei 25,2 Prozent.

Das Bild korrigiert sich etwas, wenn man die Ausgliederung von bislang im Einzelplan 14 verbuchten Investitions-Ausgaben – z.B. Teile der Flugbereitschaft – berücksichtigt. Ein Blick auf den Einzelplan 60 führt zu einer weiteren Korrektur. Dort finden sich Entwicklungs- und Beschaffungsvorhaben der Hardthöhe, deren Wert sich über die Jahre auf knapp 3,5 Mrd. DM beläuft. Sie werden als Ersatzbeschaffungen für den deutschen Beitrag zum Golfkrieg bzw. als Konsequenz aus diesem bezeichnet. Es finden sich wirkliche Ersatzbeschaffungen, aber auch altbekannte Entwicklungsvorhaben, deren Finanzierung simpel aus dem Einzelplan 14 ausgegliedert wurde (z.B. Seezielflugkörper ANS, Modulare Abstandswaffe, Umbau von vier Boeing 707 zu Tankflugzeugen). Auch die infrastrukturellen Investitionen wurden zumindest 1991 aus dem Einzelplan 60 mit zusätzlichen 120 Mio. DM gestärkt, Luftwaffe und Marine suchten um weitere Mittel nach. Fundort: Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost. Die mittelfristig angelegte Schaffung eines weiteren »kleinen investiven Verteidigungshaushaltes« im Einzelplan 60 wurde parlamentarisch fast widerspruchslos hingenommen.

Der Haushaltsdirektor des Bundesverteidigungsministeriums, Alf Fischer, sieht in dieser auf Jahre ausgelegten »Seitenfinanzierung« Gründe für »das Prinzip Hoffnung«, „Ansätze einer mittelfristigen Trendwende“ durchsetzen zu können.14

Die Entwicklung der Ausgaben für Investitionen läßt die Erwartung aufkommen, daß kräftige Einschnitte in die Großvorhaben-Planung der Bundeswehr erfolgt sein müßten. Die Haushalte 1991 und 1992 – wie auch der Bundeswehrplan 1993 – deuten allerdings nicht auf eine grundsätzliche Veränderung hin: Nach Meldungen über eine Finanzierungslücke von rund 35 bis 40 Mrd. DM im Planungszeitraum bis 2005 werden zwar einige Großvorhaben (darunter Leopard 3, DAVID, KDAR, eine neue Panzerfestbrücke und die Aufklärungsdrohne der Luftwaffe) für den Planungszeitraum gestrichen und andere Vorhaben (z.B. PAH-2, NATO-Hubschrauber 90) so gestreckt bzw. im Planungszeitraum gekürzt, daß auf dem Papier eine Kürzung der geplanten Beschaffungs- und Entwicklungsausgaben in Höhe von fast 44 Mrd. DM zusammenkommt. Doch handelt es sich im wesentlichen um eine Verlangsamung des wehrtechnischen Modernisierungstempos im Planungszeitraum und um eine Vertagung bestimmter Vorhaben auf die Jahre danach. Hinzu kommt: Durch die scheinbare Aufgabe des Jäger-90 werden ebenso scheinbar neue Planungsspielräume für andere Vorhaben eröffnet. Doch gleichgültig, ob die Bundeswehr letztlich einen angedachten Euro-Jäger »Light« beschafft oder ein fertiges Flugzeug im Ausland kauft – solange der Bedarf für ein Jagdflugzeug nicht aufgegeben wird, werden die Kosten aufgeschoben, aber nicht aufgehoben.

Die Rüstungsplanung wie die Infrastrukturplanung zeigen ein fast traditionelles Bild: Strukturellen Eingriffen wird ausgewichen. Man versucht, möglichst viele Vorhaben am Leben zu erhalten und das Prinzip »Hoffnung auf die Trendwende« zur Planungsgrundlage zu erheben.

In nicht allzu ferner Zukunft – so kann schon jetzt für den Fall, daß das Militärbudget nicht entgegen derzeitigen Ankündigungen erheblich erhöht wird, vorhergesagt werden – wird der Konflikt zwischen Personal- und Investitionsausgaben zu erheblich weitergehenden Entscheidungen zwingen. Bis dahin aber scheint die Hardthöhe auf Krisen und damit günstigere politische Rahmenbedingungen für ihre Forderungen nach höheren Ausgaben zu hoffen.

Bewertung

Wie ist die Planung der Bundeswehr für ihre Zukunft zu bewerten?

Die Priorität der Strukturerhaltung und der Einstellung auf neue Aufgaben außerhalb des Bundesgebietes zeigt sich in fast allen Bereichen:

Die Integrationsfähigkeit der Bundeswehr der Zukunft ist deutlich auf die bestehenden westeuropäischen und NATO-Strukturen ausgerichtet. Und »if integration fails«, so erlauben die künftigen Strukturen eher einen renationalisierten sicherheitspolitischen Ansatz als eine Integration im gesamteuropäischen Zusammenhang.

Die Planungen für Streitkräftestrukturen, operative und strategische Konzeptionen weisen viel deutlicher die Handschrift der 80er Jahre in angepaßter Fortschreibung auf als die eines konzeptionellen Neuansatzes. Lediglich die Bemühungen der Hardthöhe, eine Grundgesetzänderung oder einen geographisch erweiterten Handlungsspielraum durchzusetzen, führen zu Neuansätzen.

Die Infrastruktur- und Stationierungsplanung der Bundeswehr ist darauf gerichtet, eine möglichst große Zahl von Liegenschaften und Einrichtungen zu erhalten. Künftig wird pro Soldat eine erheblich größere Fläche militärisch genutzt werden als vor der Vereinigung Deutschlands.

Die Rüstungsplanung der Bundeswehr ist im Kern ebenfalls strukturkonservativ überarbeitet worden. Zumeist wurde das Modernisierungstempo verlangsamt. Lediglich der kleinere Teil aller Streichungen und Streckungen findet seine Begründung in der veränderten politischen Lage in Europa; der größere wird unter Bedauern als Ergebnis finanzieller Restriktionen lediglich hingenommen. Konzeptionelle Neuansätze werden nur im Blick auf ein nach Süden erweitertes Operationsspektrum vorgenommen.

Der Bestand von 370.000 deutsche Soldaten läßt sich kaum begründen, wenn in der sicherheitspolitischen Ausgangslage nicht größere innereuropäische Konflikte angenommen werden. Zugleich läßt sich dieser Bestand mittelfristig nicht halten. Die Planung der Bundeswehr zielt auf die Erhaltung von Streitkräftestärken und -strukturen, die nicht nur aus Sicht unserer Nachbarn deutlich überdimensioniert wirken. Viele Beobachter erwarten zudem (mit einem gewissen Bangen), daß die vergrößerte Bundesrepublik ihre nationalen Interessen und machtpolitischen Ansprüche nur Schritt für Schritt anmelden und erst nach Beendingung der Truppenabzüge deutlich artikulieren wird.

Mit der gegenwärtigen Bundeswehrplanung – so ist zu konstatieren – entsteht ein konzeptioneller Widerspruch zu hehren politisch-deklaratorischen Zielen einer anzustrebenden gesamteuropäischen Sicherheitsarchitektur.

Dieser Aufsatz ist ein Vorabdruck des im November erscheinenden Buches Schmidt-Eenboom, Erich; Angerer, Jo (Hrg.): „Siegermacht NATO – Dachverband der neuen Weltordnung“, Verlagsgemeinschaft Berg. Genaue Quelleangaben, die über die in den Fußnoten angegebenen hinaus gehen, können beim Autor oder bei der Redaktion angefordert werden.

Anmerkungen

1) Vgl. Hans-Joachim Mann, Die deutsche Marine heute und morgen, 28.5.1990, Bonn, S. 25 f.; ders., Zielvorstellungen der Marine, 26.3.1991, Bonn, S. 32 Zurück

2) Axel Kleppien, Planung der Luftwaffe, Vortrag, Bonn, 11.6.1991, S.1 Zurück

3) Henning von Ondarza, Ziel ist das vom Umfang her kleinere, professionelle Heer, Interview in: Wehrtechnik (WT) 12/1990, S. 18 Zurück

4) Botho Engelien, Die operative Bedeutung von Luftstreitkräften, a.a.O., S. 15 Zurück

5) Siehe Peter Vogler, Streitkräfte für eine kooperative Sicherheitsstruktur, dargestellt am Beispiel der Bundeswehr, Vortrag anläßlich eines KSZE-Experten-Seminars an der Führungsakademie der Bundeswehr, 20.2.1991, S. 19 u. 23 Zurück

6) Peter Vogler, Streitkräfte für eine kooperative Sicherheitsstruktur, dargestellt am Beispiel der Bundeswehr, a.a.O., S. 2 Zurück

7) Klaus Dieter Wellershoff, Die Reform der Bundeswehr – Ein Bericht des Generalinspekteurs, Bonn, Juni 1991, S. 13 f. Zurück

8) Naumann machte diese Unterscheidung anläßlich eines Vortrages am 29. Januar 1992 in Berlin (private Mitschrift) Zurück

9) Klaus Dieter Wellershoff, a.a.O. S. 23 Zurück

10) BMVg, Standortbestimmung des Generalinspekteurs der Bundeswehr, General Klaus Naumann, vor den Teilnehmern der 33. Kommandeurstagung der Bundeswehr am 12.5.1992 in Leipzig, Bonn/Leipzig, 12.5.1992, S.7 Zurück

11) Inspekteur des Heeres: Das Heer im Umbruch, Punktation für den Vortrag an der Führungsakademie der Bundeswehr am 5.3.92, Bonn, 3.3.92, S.22f. Zurück

12) John R. Galvin, Statement before the U.S. Senate Committee for Appropriations, S. 10 f Zurück

13) Siehe Dieter Clauß, Bausteine der NATO-Strategie des beschützten Friedens, S. 322 Zurück

14) Siehe Alf Fischer, Rückläufige Haushaltsentwicklung – Die Zukunft der investiven Ausgaben, in: WT 6/1991, S. 15 Zurück

Otfried Nassauer ist freier Journalist in Hamburg.

Die BRD als »normale« militärische Mittelmacht? (II)

Die BRD als »normale« militärische Mittelmacht? (II)

Vor einem neuen militärischen Interventionismus?

von Randolph Nikutta • Caroline Thomas

Während seit dem Umbruch in Osteuropa eine Neuorientierung der Außen- und Sicherheitspolitik in den westlichen Industriestaaten erkennbar wird, die sich in dem Bestreben nach militärischer Zusammenarbeit insbesondere in Westeuropa gegen die neuen »Risiken« im Süden und Osten niederschlägt, intensivierte sich auch die politische Diskussion um eine neue außenpolitische Rolle der Bundesrepublik. Insbesondere seit der Vereinnahmung der DDR im Herbst 1990 sprechen immer mehr Politiker von der »neuen internationalen Verantwortung« des neuen Deutschlands. Dahinter verbirgt sich eine Debatte um künftige Ziele und Mittel, in der vor allem die Bestimmung des Stellenwertes und der Funktion der militärischen Komponente in der zukünftigen Außen- und Sicherheitspolitik der Bundesrepublik einen Diskussionsgegenstand von eminenter politischer Bedeutung darstellt.

So war es auch nicht verwunderlich, daß die militärischen Interventionen '87/ '88 und '91 im Mittleren Osten in der BRD Anlaß zu heftigen innenpolitischen Auseinandersetzungen war. Teile der Parteien und der Bundesregierung arbeiteten seit 1987 kontinuierlich daran, einen Einsatz bundesdeutscher Streitkräfte »out-of-area« zu ermöglichen. Sie hatten es allerdings nicht leicht, denn es gibt wenig außen- und sicherheitspolitische Fragen, die in der Bundesrepublik über Jahrzehnte, unabhängig von den jeweiligen Regierungsparteien, konstant in gleicher Art und Weise beantwortet worden sind. Das militärische Engagement der Bundesrepublik außerhalb Europas war eine dieser Fragen. Hier lag seit Gründung der BRD ein fast einmaliger politischer Konsens zwischen Parteien, Regierungen und Bevölkerung vor. Von der CDU/CSU (abgesehen von extrem Konservativen/Rechten) über die SPD und FDP, bis hin zu den GRÜNEN, und auch in der Bevölkerung von konservativ bis progressiv, war eine Ablehnung jeglicher »out-of-area«-Aktivität seitens der BRD – egal unter welchen Bedingungen und in welchen Zusammenhängen – erkennbar.

Der Beschluß des Bundessicherheitsrates 1982

Um diese Position nach außen und nach innen festzuschreiben, gab die Bundesregierung 1981 ein Gutachten über die Unterstützungsmöglichkeiten der BRD an militärischen Interventionen außerhalb des NATO-Geltungsgebietes in Auftrag, das die Grundlage des Beschlusses des Bundessicherheitsrates vom 3.11.1982 bildete. Dieser legte fest, daß

„militärische Einsätze der Bundeswehr außerhalb des NATO-Bereiches grundsätzlich nicht in Frage kommen, es sei denn es läge ein Konflikt zugrunde, der sich gleichzeitig als ein völkerrechtswidriger Angriff auf die Bundesrepublik Deutschland darstellt.“ Und weiter: „Eine Beteiligung der Bundeswehr an einer internationalen Streitmacht im Persischen Golf wäre daher, wenn überhaupt, jedenfalls im gegenwärtigen Zeitpunkt verfassungsrechtlich nicht gedeckt.1

Nachdem dieser Beschluß nach dem Regierungswechsel von der CDU/CSU nochmals ausdrücklich bestätigt worden ist, bildet er bis heute offiziell die Grundlage der Außen- und Sicherheitspolitik der Bundesregierung.

Mit diesem Konsens im Regierungs- und Parteiensystem der Bundesrepublik ging auch auch eine eindeutig ablehnende Einstellung in der Bevölkerung einher. Dieses belegt eine Umfrage des STERN vom 3./4. November 1987. Auf die Frage „Soll die Bundeswehr ihrer Meinung nach Minensuchboote in den Golf entsenden?“ sprachen sich 87% dagegen aus. Diese Ablehnung in der Gesamtbevölkerung war immens hoch und bestätigte sich auch noch nach dem irakischen Einmarsch in Kuwait. So hatte auch eine Umfrage vom Dezember '90 zum Ergebnis, daß 75% der westdeutschen Bevölkerung eine bundesdeutsche Einmischung in internationale Konflikte ablehnt2. Dieser innenpolitische Widerstand, der auch in den Demonstrationen im Januar '91 gegen den zweiten Golfkrieg wieder deutlich wurde, bildete eines der Haupthindernisse in der Diskussion um einen Einsatz der Bundeswehr außerhalb des NATO-Vertragsgebietes und spielte eine entscheidende Rolle bei dem Verlauf der Debatte im politischen System der BRD.

Der Aufbruch des politischen Konsenses

Spätestens im Oktober 1987 aber wurde dieser beschriebene Konsens aufgebrochen und es entwickelte sich ein neuer Basiskonsens mit entgegengesetzten Vorzeichen. Eine auslösende und impulsgebende Rolle bei dieser Entwicklung spielte ein Gutachten des BMVg, welches im Oktober '87 einigen außen- und sicherheitspolitischen Entscheidungsträgern der Bundesregierung zugänglich gemacht wurde und verfassungsrechtliche Restriktionen bezüglich eines militärischen Einsatzes der Bundeswehr z.B. im Arabisch/Persischen Golf weitgehend negierte. Das Gutachten hatte aber nur deshalb diese entscheidende Wirkung, weil es Akteure in der CDU/CSU gab, die die Neubewertung in dem Gutachten für ihre eigenen politischen Anschauungen zu verwenden wußten.

Nachdem absehbar wurde, welche Probleme die Bundesregierung innen- wie außenpolitisch3 bekommen könnte, wenn diese Debatte exklusiv auf den NATO-„out-of-area« Aspekt zentriert bleiben und größere Ausmaße annehmen würde, schoben die entsprechenden Interessenten ab Anfang 1988 nicht mehr eine »out-of-area« Rolle der BRD im NATO-Kontext in den Vordergrund, sondern einen Einsatz der Bundeswehr außerhalb des NATO-Gebietes im UN-Kontext.

Eine Positionsänderung bei einigen außen- und sicherheitspolitischen Experten der SPD-Fraktion (Norbert Gansel, Karsten Voigt, Egon Bahr etc.) wurde im Frühjahr 1988 erkennbar und fand ihren Ausdruck in einer Grundgesetzänderungsinitiative des Arbeitskreises »Bundeswehreinsätze im Rahmen der UN-Friedenssicherung«. Durch eine Grundgesetzänderung sollte ein Einsatz der Bundeswehr im UN-Rahmen, welcher sowohl Peace-keeping-Operationen als auch Einsätze nach Kapitel VII (militärische Zwangsmaßnahmen) mit einschließen sollte, verfassungsrechtlich abgedeckt, ein Einsatz im NATO-Kontext aber ausdrücklich verboten werden. Wichtig hierbei ist der Zeitpunkt der Initiative. So hatte die Debatte in der Öffentlichkeit bis zu diesem Zeitpunkt noch überhaupt keine Relevanz und die genannten SPD-Akteure waren somit die ersten, die als eine gewichtige Gruppe an die Öffentlichkeit gingen, um eine Grundgesetzänderung mit dem Ziel einer Ausweitung des bundesrepublikanischen militärischen Handlungsspielraumes zu fordern.

Hans-Dietrich Genscher war das letzte personale und institutionelle Hindernis auf dem Weg zu einem Bundeswehr-Einsatz außerhalb Westeuropas. Während er bis Anfang 1989 noch eine strikt ablehnende Haltung im Hinblick auf jegliche Einsätze der Bundeswehr außerhalb des NATO-Vertragsgebiet zum Ausdruck brachte4, änderte er seine Position ab Frühjahr 1989 und forderte eine Grundgesetzänderung, um eine Beteiligung an UN-Friedenstruppen zu ermöglichen5. Seit Februar 1991 hat sich seine Position sogar dahingehend verändert, daß er alle unter UN legitimierten militärischen Interventionen für die Bundeswehr befürwortet.6

Der Krieg gegen den Irak

Die militärische Intervention des Iraks in Kuwait am 2. August 1990 erschreckte die gesamte internationale Staatenwelt und beeinflußte (natürlich auch) die Diskussion in der Bundesrepublik um eine bundesdeutsche »out-of-area«-Politik. Bisher ist allerdings eine abschließende Einschätzung, welche Positionen durch die Aggression des Iraks eine Stärkung erfuhren und noch erfahren werden, nicht vorzunehmen.

Teile der CDU versuchten die außenpolitischen Anforderungen und die überwiegende Stimmung in der westlichen Öffentlichkeit, welche ein starkes Eingreifen gegen den irakischen Diktator einforderte, zu nutzen, um in der bundesdeutschen politischen Diskussion eine Mehrheit für einen »out-of-area«-Einsatz der Bundeswehr zu erreichen. So war in der FAZ am 16.8.'91 zu lesen:

„Bundeskanzler Kohl habe die italienische Regierung telefonisch wissen lassen, daß die Bundesregierung unter bestimmten Voraussetzungen bereit sei, Schiffe der Bundesmarine – nicht nur wie bisher beschlossen – ins Mittelmeer, sondern auch in den Persischen Golf zu entsenden. (…) Die Äußerung De Michelis (italienischer Außenminister; d.Verf.) war von der Bundesregierung nicht dementiert worden.“

Dieser offensichtliche Alleingang Kohls, der die Stimmungslage und Mehrheitsverhältnisse in der Bundesrepublik kurz nach dem irakischen Einmarsch in Kuwait falsch eingeschätzt hatte, hatte noch ein lautes Dementi von Seiten des kleinen Koalitionspartners FDP zur Folge. Ein Einsatz der Bundesmarine außerhalb des NATO-Vertragsgebiets verstieße gegen das Grundgesetz. Die ablehnende Haltung des Auswärtigen Amtes und der FDP sei bekannt. Die FDP sei allerdings bereit, den Einsatz der Bundeswehr im Rahmen von Aktionen der UN-Friedenstruppe durch eine Grundgesetzänderung zu ermöglichen.7

Wieder kam eine Diskussionswelle in den Parteien auf, welche mit den gleichen Argumenten und in ähnlicher Rollenverteilung geführt wurde wie zum Einsatz im Arabisch/Persischen Golf 1987. Auch die Kompensationsleistung der Bundesregierung, welche sie den NATO-Verbündeten als symbolischen Akt anbot, war nahezu die gleiche wie 1988. Am 16. August 1990 wurden 5 Minensuchboote und 2 Versorgungsschiffe mit 500 Marinesoldaten (von denen 111 Wehrdienstleistende waren) ins östliche Mittelmeer entsandt.8 Diese Entsendung unterschied sich aber insofern von der 1987, als daß diese Kriegsschiffe „zumindest vorerst“ in das Mittelmeer entsandt wurden. Wie der Regierungssprecher betonte, sei es nicht ausgeschlossen, daß die Schiffe bei Bedarf auch in den Persisch/Arabischen Golf verlegt werden.9

Ein neuer Minimalkonsens?

Nach Vorstößen von CDU-Seite und darauffolgender innenpolitischer Kritik versuchten entscheidende Mitglieder der Bundesregierung die Diskussion noch einmal zu vertagen und damit zu unterbinden. So versuchte die Regierung den Spekulationen um einen Einsatz bundesdeutscher Streitkräfte im Kriegsgebiet ein Ende zu machen. Am 21.8. war in der Presse zu lesen, daß die Bundesregierung nicht die Absicht hat, die Bundeswehr am Golf einzusetzen, da die Verfassung es nicht zuließe. Dieses würde auch im Falle einer Verschärfung der Krise Grundlage ihre Politik bleiben. In diesen Kompromiss ließ sich auch die SPD einbinden. Die Vertreter der »Alt-Parteien« stimmten darin überein, das Grundgesetz so zu ändern, daß künftig Bundeswehreinsätze im Rahmen von UNO-Friedensmissionen außerhalb des NATO-Gebietes möglich werden. Das war das Ergebnis eines Treffens zwischen Lambsdorff, Lafontaine und Kohl. Trotz gegenteiligem, noch bindendem Parteitagsbeschluß der SPD10 sprach sich Lafontaine für eine Grundgesetzänderung aus. Strittig war lediglich noch, ob diese Änderung vor oder nach der Vereinigung durchgeführt wird. Mit dieser Vereinbarung wurde der neue Minimalkonsens besiegelt, der sich 1989 bereits abgezeichnet hatte.

Auffällig ist, daß die CDU/CSU wieder von ihren anfänglichen, relativ weitgehenden – Forderungen im Laufe der Diskussion Abstand nehmen mußte. Sie ist durch die Einbindung in den Kompromiss von ihrer Forderung nach einer schnellstmöglichen Grundgesetzänderung, um auch in dem Golf-Konflikt '90/91 noch handlungsfähig zu werden, wieder abgekommen11.

Bei diesem Wandel spielte wiederum der innergesellschaftliche Widerstand als Einflußfaktor eine große Rolle. Seitdem die Debatte um eine Grundgesetzänderung verkoppelt wurde mit dem konkreten militärischen Einsatz im Kriegsgebiet des Mittleren Ostens und seitdem offensichtlich geworden ist, daß auch ein Krieg im UN-Kontext genauso brutal, menschenverachtend und mörderisch sein kann wie jeder andere Krieg, verschwand das Interesse der politischen Akteure, welche eine Grundgesetzänderung so schnell wie möglich auf die Tagesordnung der politischen Entscheidungsträger bringen wollten.

Stand der Debatte

Die Befürworter einer »out-of-area« Rolle der BRD haben bis heute eine wichtige Zwischenetappe erreicht. Es zeichnet sich ein breiter Konsens im politischen System der BRD zur »out-of-area« Rolle der Bundeswehr ab. Eine eindeutige Ablehnung jeglicher militärischen Interventionspolitik außerhalb Europas war in keiner im Bundestag vertretenen Partei mit Ausnahme der GRÜNEN mehr zu vernehmen. Es geht lediglich noch um den Dissens zwischen den verschiedenen Parteien, welcher sich auf die institutionellen Zusammenhänge bezieht, in denen eine Bundeswehrbeteiligung gefordert wird. In der SPD und in der FDP ist zu diesem Zeitpunkt keine Mehrheit für eine Grundgesetzänderung zu erreichen, die über eine UNO-Beteiligung hinausgeht. So beschloß die FDP auf ihrem kleinen Parteitag am 25.5.1991 eine Beteiligung im UN-Kontext zu unterstützen; die SPD votierte am 30.5. '91 auf dem Bremer Parteitag für eine Grundgesetzänderung, die eine Beteiligung nur an UN-Friedenstruppen ermöglicht. In der CDU/CSU ist wiederum eine Verfassungsänderung, welche auch in Zukunft eine Einschränkung der Handlungsfähigkeit für die Bundesregierung bedeuten würde, nicht mehrheitsfähig. Eine Einschränkung auf die UNO, welche andere institutionelle Zusammenhänge, wie die EG, die WEU und die NATO ausschließt, ist für die Mehrzahl der CDU/CSU-Abgeordneten unvorstellbar.

Aufgrund dieses Dissenses wird es nicht so bald zu einer Änderung des Grundgesetzes in dieser Frage kommen, wie es manche Akteure im Sommer 1990 noch propagiert haben. Die Regierungskoalition wird sich eher auf eine langsame Aushöhlung des Grundgesetzes einlassen, wie sie es jetzt schon praktiziert. Hatte 1987 die Entsendung von Minensuchbooten ins Mittelmeer schon eine innenpolitische Auseinandersetzung zur Folge und wurde 1987 eine Entsendung an den Arabisch/Persischen Golf ohne Diskussion brüsk abgelehnt, da dieses auf jeden Fall verfassungswidrig wäre12, wurden im Februar '91 unter nationalem Kommando Minensuchboote der Bundeswehr ins Kriegsgebiet Mittlerer/Naher Osten entsandt. Sogar die SPD blieb stumm, obwohl dieser Einsatz zum Präzedenzfall werden kann und der Argumentation der SPD, das Grundgesetz müsse für solche Einsätze geändert werden, den Boden entzieht. Bis zu welcher Schwelle die FDP allerdings diese langsame Aushöhlungs- und Gewöhnungspolitik der CDU/CSU-Fraktion mittragen wird, ist zur Zeit unklar. Eine militärische Verwicklung in Kampfhandlungen wird Hans-Dietrich Genscher aller Wahrscheinlichkeit nach nicht mittragen.

Aber auch bei diesem Einsatz sollte es nicht bleiben. So wurden im April 1991 Pioniereinheiten der Bundeswehr unter UN-Flagge in den Iran entsandt. Obwohl noch während des Krieges betont wurde, das Grundgesetz vor einem Einsatz zu ändern und ein breiter Konsens Voraussetzung für eine solche Änderung sein sollte, wurden diese Interventionen ohne öffentliche Debatte umgesetzt. Die Chiffre, unter der diese Einsätze der Öffentlichkeit nähergebracht werden sollten, war »humanitäre Intervention«. Die positive Konnotation wurde hier genutzt, obwohl in dem Bundessicherheitsratsbeschluß 1982 ausdrücklich festgehalten wird, daß Minensuchboote im Persischen/Arabischen Golf nicht darunter fallen würden.

Diese beiden Fälle sind ein deutlicher Beleg für die These, daß die CDU/CSU-Regierung mit Unterstützung der FDP einen langsamen Gewöhnungseffekt erreichen will, der mit einer Aushöhlung des Grundgesetzes einhergeht.

Motive und Ziele

1. Das Motiv der politischen Akteure, die eine Diskussion über eine militärische »out-of-area«-Rolle der Bundeswehr in der Bundesrepublik initiiert haben, ist die Aufhebung der außen- und militärpolitischen Restriktionen, die der BRD nach dem Zweiten Weltkrieg auferlegt wurden. Aufgrund der Entwicklung in Europa, der offiziellen Beendigung der Nachkriegsordnung auf dem KSZE-Gipfel in Paris im November '90, hat die BRD zwar das lang ersehnte Ziel einer Erlangung völkerrechtlich uneingeschränkter außen- und sicherheitspolitischer Souveränität erreicht. Damit scheint auf den ersten Blick ein Zweck der »out-of-area«-Frage für die BRD verloren gegangen zu sein. Die Einschränkungen, die jedoch im Grundgesetz verankert sind, wie die Einsatzbeschränkungen bundesdeutscher Streitkräfte, sind immer noch in Kraft. Das angestrebte Ziel ist der Status einer »normalen« militärischen Mittelmacht, welcher dem Status der wirtschaftlichen Großmacht wenigstens in Ansätzen gerecht wird und die keine Bürde der Geschichte mehr tragen muß. Hierzu gehört nach Meinung der genannten politischen Akteure auch die Option einer militärischen Interessenssicherung in Regionen außerhalb des NATO-Vertragsgebietes. Es geht also um einen Machtzuwachs unter Einsatz auch militärischer Potenz. So Helmut Kohl in seiner Regierungserklärung am 30.1.1991:

„Deutschland hat mit seiner Geschichte abgeschlossen, es kann sich künftig offen zu seiner Weltmachtrolle bekennen und soll diese ausweiten. (…) Dazu gehört, daß sich auch in Deutschland entfalten kann, was in anderen Nationen selbstverständlich ist: gelebter Patriotismus.“

2. Ein zweites Motiv, das insbesondere seit 1989 immer wieder erkennbar wird, ist die Wiederherstellung einer Legitimation bundesdeutscher Streitkräfte. Während das erstgenannte Motiv überwiegend politischen Entscheidungsträgern zuzuordnen ist, ist die Legitimationserneuerung hauptsächlich ein Anliegen militärischer Entscheidungsträger, die dadurch für den Organisationserhalt ihrer Institution Sorge tragen wollen. Durch eine neue Aufgabe für die Bundeswehr, welche den Frieden in Krisenregionen der Welt sichert und die nationalen Interessen außerhalb Europas militärisch »verteidigt«, soll versucht werden der Akzeptanzkrise der Bundeswehr entgegenzuwirken.

3. Das dritte Motiv bezieht sich auf die zukünftige Einflußverteilung im internationalen System. Mit der Auflösung des traditionellen Ost-West-Konflikts wird ein Bedeutungsverlust der NATO einhergehen, der eine Neubewertung der Notwendigkeit und Dringlichkeit des Integrationsprozesses der westeuropäischen Staaten hin zu einer koordinierten Außen- und Sicherheitspolitik zur Folge hat.13

Im westeuropäischen Integrationsprozeß geht es bereits um die Neuverteilung der künftigen sicherheitspolitischen Rollen und damit um die Etablierung einer entsprechenden Rangordnung und Einflußverteilung in der Außen- und Sicherheitspolitik unter den Mitgliedsstaaten in einem politisch geeinten Westeuropa. Bei diesem Aushandlungsprozeß wird die Option eines »out-of-area« Einsatzes eine sehr wichtige Rolle spielen. Mit der Auflösung des traditionellen Ost-West-Konfliktes und den neu definierten Bedrohungsperzeptionen bezogen auf die sog. Dritte Welt und Osteuropa, werden militärische Interventionen in Regionen außerhalb Westeuropas einen neuen entscheidenden Stellenwert erhalten.

Die Frage, die sich die bundesdeutschen politischen Eliten stellen, wird sein, ob die BRD unter diesen Umständen auch in Zukunft ihren Einfluß allein über ihre wirtschaftliche Größe aufrechterhalten kann. Es ist offensichtlich, daß die Bundesregierung kein Interesse daran hat, diesem Aushandlungsprozess mit Grundgesetz-Fesseln »geknebelt« entgegenzugehen.

So stellte Bundesverteidigungsminister Stoltenberg die Pläne der Bundesregierung für die Bundeswehrplanung der Öffentlichkeit am 12.11.1990 vor.

„Stoltenberg fügte (…) eine dritte Kategorie hinzu, die für den Fall regionaler Konflikte in Europa sowie als deutscher Beitrag zu multinationalen Einsätzen des Bündnisses und … im Rahmen internationaler militärischer Missionen der UN“ eingesetzt werden solle. Hierzu seien „schnell verfügbare Kräfte“ nötig.“ 14

Und im März '91:

„Schon vor dem Golfkonflikt war es für uns erkennbar, daß wir bei der tiefgreifenden Strukturveränderung der Bundeswehr zwei Dinge tun müssen. Einmal (…). Aber für bestimmte, noch genau im Umfang zu beschreibende Verbände, vor allem bei Heer und Luftwaffe, müssen wir auch die Möglichkeit haben, sie mobil und gut ausgerüstet zu organisieren, falls es im Bündnisgebiet oder über das Bündnisgebiet hinaus zu kurzfristigen Einsätzen kommt.“15

Wieder deutsche Truppen in Polen?

Die Forderungen der genannten politischen Akteure mögen für viele auf den ersten Blick unproblematisch erscheinen. Aber auch für den Fall, daß der Kompromiß der Parteien auf eine Grundgesetzänderung in Richtung einer UN-Beteiligung hinauslaufen würde, wäre dies als eine der wichtigsten Weichenstellungen in der Außen- und Sicherheitspolitik der BRD anzusehen. Dadurch würde von einem Grundsatz Abschied genommen, der diese Politik seit dem Zweiten Weltkrieg entscheidend geprägt hat und die dem Friedensgebot des Grundgesetzes auch entsprach.

Allerdings gehen die Ambitionen aller drei Altparteien über eine UN-Beteiligung deutlich hinaus. Einige CDU-Politiker fordern insbesondere seit der Intervention im Persischen/Arabischen Golf eine Beteiligung an WEU- oder EG-Eingreiftruppen. Aber auch der SPD-Abgeordnete Opel fordert eine europäische Eingreiftruppe, um auf Krisenentwicklungen in Zukunft angemessen reagieren zu können16. Sowohl die SPD als auch die FDP fordern eine integrierte Außen- und Sicherheitspolitik mit entsprechendem bundesdeutschem Beitrag17.

Ein Aspekt, der bisher in der öffentlichen Debatte keine Beachtung findet, ist die Tatsache, daß sich mögliche »out-of-Area«-Einsätze nicht nur auf die südliche Halbkugel beziehen, sondern auch Osteuropa mit einschließen. So wird die Bundesrepublik wieder mit ihrer Geschichte konfrontiert, wenn Stoltenberg im Zusammenhang mit den neuen Aufgaben der Bundeswehr davon spricht, daß die instabilen Entwicklungen in der Sowjetunion einer „militärischen Absicherung“ bedürfen. Unter der Überschrift „Moskau muß wissen, daß fortgesetzte innere Gewalt außenpolitische Konsequenzen hat“ schreibt er:

„Die Anwendung militärischer Gewalt in den baltischen Republiken hat eine Schockwirkung weit über die westliche Welt hinaus ausgelöst und manche Illusionen, aber auch verständliche Hoffnung zerstört. Frieden in Freiheit, die Anerkennung der Rechts- und Gewaltlosigkeit sind auch in Europa von heute und morgen keine Selbstverständlichkeit geworden. Sie müssen durch politisches Handeln und militärische Absicherung vielmehr immer wieder errungen werden.“ 18

Daß bundesdeutsche militärische Interventionen in Osteuropa kein Tabu mehr sind, spricht aber auch der außenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion Lamers sehr deutlich aus:

„Welche Möglichkeiten gäbe es denn für Aktionen europäischer Truppen auf europäischer Ebene?

Lamers: Es gäbe sie auf europäischer wie außereuropäischer Ebene. In Europa wäre für mich ein friedensstiftender Einsatz etwa auf dem Balkan denkbar, (…). Das scheint mir ein gutes Beispiel dafür, daß eine deutsche Beteiligung in einem multinationalem Rahmen viel leichter möglich wäre. Denn es ist ja noch nicht so lange her, daß dort deutsche Truppen standen.“ 19

Muß die polnische oder tschechoslowakische Bevölkerung sich in Zukunft wieder auf deutsche Soldaten einstellen? Wenn die Bundeswehrplanung, wie sie im November '90 vorgestellt wurde, umgesetzt wird, und die Forderung Stoltenbergs »nach einem Ausbau der Lufttransportkapazitäten« erfüllt wird, stehen die deutschen Truppen für eine solche Aufgabe unter Umständen sehr bald zur Verfügung.

Trotz dieser beschriebenen Tendenzen soll hier allerdings der These widersprochen werden, welche der Bundesrepublik eine nationale militärische Weltmachtrolle für die Zukunft voraussagt. Das Gespenst eines »vierten Reiches«, welches sowohl in der innenpolitischen als auch in der internationalen Debatte vereinzelt aufkam, ist keine reale Gefahr. Eine vollständige Renationalisierung der Außen- und Sicherheitspolitik in diesem Sinne ist für die politischen Eliten der Bundesrepublik keine Option. Sowohl die Wirtschaftsinteressen der BRD mit ihrer extrem hohen außenwirtschaftlichen Abhängigkeit als auch der innenpolitische Druck würden einem solchen Trend widersprechen.

Schlußbemerkung

Extrapoliert man die gegenwärtigen Interessenlagen und Entwicklungstrends auf der nördlichen Halbkugel, wie sie im ersten Teil des Aufsatzes in der vorhergehenden Ausgabe beschrieben wurden, dann zeichnet sich als wahrscheinlichste Entwicklung für die westliche »out-of-Area«-Politik während der 90er Jahre das Modell einer »funktionalen Interventionspolitik« ab: es bilden sich wechselnde, flexible Allianzen, die sich je nach Interessenlage und dem funktionellen Erfordernis der Probleme nicht in einem dauerhaften und politisch verpflichtenden institutionellen Handlungszusammenhang (NATO, WEU, EG) organisieren, sondern es werden unter Nutzung z.B. von NATO-Infrastruktur20, politischer und militärischer Kooperationsmechanismen der WEU oder politischer Legitimation der UNO, bi- oder multilateral organisierte militärische Interventionen durchgeführt. Die herrschende Politik in der Bundesrepublik versucht alle Bedingungen zu schaffen, um in Zukunft an diesen Kriegen teilnehmen zu können.

Friedenspolitische Aufgabe in der BRD ist es, politische Mehrheiten dafür zu schaffen, daß die Bundesrepublik in Zukunft ihrer »Verantwortung« dadurch gerecht wird, indem sie z.B. ihr ökonomisches Potential für einen gerechten Nord-Süd-Ausgleich einsetzt, um die sozio-ökonomischen Ursachen für innergesellschaftliche und zwischenstaatliche Konflikte in Süd und Ost, die unter bestimmten Bedingungen militärische Interventionen auswärtiger Mächte provozieren, abzubauen. Dem Friedensgebot des Grundgesetzes und ihrer Geschichte würde sie damit eher gerecht.

Teil 1

Anmerkungen

1) Beschluß des Bundessicherheitsrates, 3.11.1982 Zurück

2) Süddeutsche Zeitung Magazin 1/1991 Zurück

3) Durch das Anzweifeln der verfassungsrechtlichen Restriktionen bei Teilen der Bundesregierung (BMVg, Kanzleramt) wirkte die Politik der Bundesregierung nach außen nicht mehr sehr glaubhaft, da sie eine Beteiligung an militärischen Operationen 'out-of-Area' immer mit dem Verweis auf die Verfassung abgelehnt hatte. Zurück

4) 'Genscher: Keine Soldaten für UNO-Friedenstruppe', Süddeutsche Zeitung, 25.10.1988, 'FDP-Präsidium lehnt Beteiligung an UN-Friedenstruppen strikt ab', Frankfurter Allgemeine, 6.9.1988 Zurück

5) 'Union will Soldaten zur UNO-Friedenstruppe entsenden. Bald mit blauem Helm? Auch Genscher stimmt zu', Stuttgarter Nachrichten 11.5.1989 Zurück

6) „Ich habe Kurs gehalten“, Interview mit Hans-Dietrich Genscher, Spiegel, 6/1991, S.22-25 Zurück

7) Frankfurter Allgemeine, 16.8.1991 Zurück

8) Tagesspiegel, 15.8.1990 Zurück

9) Frankfurter Rundschau, 11.8.1990; Die Zeit, 17.8.1990 Zurück

10) Parteitagsbeschluß in Münster 1988: „Jeglicher militärischer Einsatz der Bundeswehr außerhalb des Vertragsbereiches des Bündnisses ist verfassungsrechtlich unzulässig. Die SPD wird sich jedem Versuch widersetzen, den bisher in dieser Frage bestehenden Konsens aller Parteien und Regierung in Frage zu stellen. Selbst die Beteiligung der Bundeswehr an friedenssichernden Aktionen der Vereinten Nationen würde eine Ergänzung der Verfassung erfordern. Wir lehnen eine solche Beteiligung ab.“ Zurück

11) Während die Grundgesetzänderung noch im Oktober als eines der dringendsten Probleme, welche in den Koalitionsverhandlungen entschieden werden müssen, angesehen wurde (Tagesspiegel, 28.10.1990), wurde am 12.12. der Presse mitgeteilt, daß dieses Problem aus den Koalitionsverhandlungen herausgenommen wurde, da hier zur Zeit kein Handlungsbedarf bestehe. Eine Grundgesetzänderung während der Golfkrise wurde in Bonn ausgeschlossen (Frankfurter Allgemeine, 13.12.1990). Zurück

12) Helmut Kohl, 7.6.1987, Interview in den Tagesthemen Zurück

13) Siehe hierzu den ersten Teil des Aufsatzes in der vorhergehenden Ausgabe. Zurück

14) FAZ, 13.11.1990. Die Frage nach einer Grundgesetzänderung ist für ihn offensichtlich schon kein Thema mehr. Zurück

15) Stoltenberg, Hallo Europa, RTL plus, 14.3.1991

16) Tagesspiegel, 12.8.1990, taz, 14.11.1990, CDU/CSU Fraktion im Deutschen Bundestag, Pressedienst vom 13.11.1990, 5769p Zurück

17) Siehe hierzu Leitantrag des Vorstandes der SPD zum Bremer Parteitag im Mai '91. Zurück

18) Stoltenberg, Die Welt, 1.2.1991 Zurück

19) Lamers, Augsburger Allgemeine, 18.3.1991 Zurück

20) In diesem Zusammenhang hat natürlich die im Juni '91 beschlossene 'Rapid-Reaction-Force' der NATO ihren wichtigen Stellenwert. Zurück

Randolph Nikutta und Caroline Thomas, Friedensforscher und Politikwissenschaftler, arbeiten am Berghof-Institut für Friedens- und Konfliktforschung in Berlin.

Vor einer neuen Interventionspolitik gegenüber der Dritten Welt? (I)

Vor einer neuen Interventionspolitik gegenüber der Dritten Welt? (I)

NATO • WEU • EG • Bundeswehr

von Randolph Nikutta • Caroline Thomas

Militärische Instrumentarien zur Konfliktlösung rückten schneller als gedacht und in einem seit dem Zweiten Weltkrieg nie dagewesenen Umfang wieder in den Vordergrund, diesmal im Nord-Süd-Konflikt. Globalistisch orientierte Auffassungen internationaler Politik, denen zufolge das Ende des traditionellen, vom politisch-ideologischen Systemgegensatz gekennzeichneten Ost-West-Konflikts auch zu einer stetigen Verminderung lokaler und regionaler Konflikte in der »Dritten Welt« führen wird, erwiesen sich als trügerisch. Die Vorstellung, daß in einer Zeit der neuen Entspannung zwischen den beiden Weltmächten »lediglich« Konflikte und Kriege mit »geringer« oder höchstens »mittlerer« Intensität (»Low-intensity Warfare«) in der »Dritten Welt« zu »bewältigen« seien, wurde durch den Krieg des Jahres 1991 schnell widerlegt. Vielmehr wird noch genauer zu prüfen sein, ob nicht gerade das Ende des Kalten Krieges zwischen Ost und West ein wesentlicher Faktor ist, der künftig den militärischen Konfliktaustrag mit größerer Intensität als bisher und neuer Qualität sowohl zwischen Nord und Süd als auch auf lokaler und regionaler Ebene in der »Dritten Welt« fördern wird.

An dem Krieg im Arabischen/Persischen Golf wurde weiter deutlich, daß Europa auch nach dem Ende des Kalten Krieges keine Insel ist, die sich unbeeinflußt vom »Rest« der Welt zu einer »Zone des Friedens« entwickeln läßt.

Neuorientierung westlicher Sicherheitspolitik

Seit dem Ende des Kalten Krieges ist eine sicherheitspolitische Neuorientierung der westlichen Industriestaaten in Richtung Süden deutlich erkennbar. Zwar wurde 1980 von der Carter-Administration eine neue Interventionsdoktrin verkündet, doch Absichtserklärungen und militärische Fähigkeiten der Streitkräfte für solch eine Rolle klafften lange Zeit merklich auseinander, weil der Schwerpunkt der Rüstungsanstrengungen an einer Ost-West-Konfrontation ausgerichtet war. Dies änderte sich angesichts der sich wandelnden internationalen Rahmenbedingungen erst in den letzten beiden Jahren. Ähnliches gilt für die westeuropäischen Staaten. Die beiden traditionellen europäischen Interventionsmächte Frankreich und Großbritannien verstärkten ihre militärischen Anstrengungen in dieser Hinsicht während der zweiten Hälfte der 80er Jahre. Darüber hinaus versuchten auch kleinere westeuropäische Mächte wie Italien und Spanien, sich in einem recht bescheidenen Umfang Interventionsstreitkräfte zuzulegen.

Ein entscheidender Einflußfaktor für diese Neuadjustierung der Sicherheits- und Militärpolitik sind die wachsenden Legitimationsprobleme des Militärs, die in der »Dritten Welt« jetzt »plötzlich« ein neues Gefahrenpotential entdecken, dem »natürlich« auch mit militärischen Mitteln entgegengewirkt werden soll. Die USA betreiben in diesem Kontext weiterhin eine primär nationalstaatlich orientierte Interventionspolitik, die auch während der Krise und des Krieges im Arabischen/Persischen Golf deutlich sichtbar war. Gleiches gilt auch für Frankreich und Großbritannien. Jedoch verstärkte der Beginn der Krise im Arabischen/Persischen Golf zwischen den westeuropäischen Staaten die schon seit einiger Zeit existierende Diskussion über eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik im EG/WEU-Rahmen1, die auch die Erörterung der Option für eine gemeinsame Interventionspolitik einschließt.

Auch in der Bundesrepublik zeichnet sich eine Umorientierung ihrer Außen- und Sicherheitspolitik in bezug auf die »Dritte Welt« ab. Während diese Politik bisher zumindest von einer direkten militärischen Zurückhaltung geprägt war, was durch das Grundgesetz der BRD vorgegeben wurde, soll sich die Bundesrepublik in Zukunft dem Willen der Regierungsparteien und auch von Teilen der Sozialdemokratie nach auch mit eigenen Truppen an Interventionen beteiligen, um der behaupteten gestiegenen Verantwortung insbesondere in der »Dritten Welt« gerecht zu werden.

Angesichts der zuvor kurz skizzierten Problemlage möchten wir uns in den nachfolgenden Ausführungen näher mit zwei Fragestellungen auseinandersetzen, auf die wir teilweise gesicherte Antworten und zum Teil nur begründete Trendprognosen geben können.

  • Wird die NATO oder EG/WEU eine institutionalisierte gemeinsame Interventionspolitik entwickeln und in der Folge eine »Weltpolizisten«-Rolle annehmen? Wie übereinstimmend sind die Interessen und Ziele der politischen Akteure in diesem Politikfeld? Oder ist in absehbarer Zeit weiter mit primär nationalstaatlich aufgelösten Interventionspolitiken der NATO-Länder zu rechnen?
  • Wie hat sich die Diskussion im politischen System der BRD auf der einen Seite und dem gesellschaftlichen Umfeld auf der anderen Seite in der Frage eines Einsatzes der Bundeswehr außerhalb des NATO-Vertragsgebietes entwickelt? Hat sich die Außen- und Sicherheitspolitik der Bundesrepublik unter den sich wandelnden Rahmenbedingungen des internationalen Systems verändert? Welche Tendenzen lassen sich erkennen?

Globale Rolle für die NATO nach dem Ende des Kalten Krieges?

Ähnlich wie Anfang der 80er Jahre versucht die US-Regierung seit 1989 erneut, ihre europäischen Verbündeten politisch auf eine schrittweise Institutionalisierung von »out-of-area«-Funktionen im Rahmen der NATO zu verpflichten.2 Institutionalisierte »out-of-area«-Funktionen der NATO betrachtet die US-Administration dabei als ein Mittel zur langfristigen Aufrechterhaltung des westlichen Bündnisses und zumindest teilweisen Sicherung ihrer Vormachtstellung. Nach ihrer schnellen Entscheidung für einen massiven militärischen Aufmarsch im Arabischen/Persischen Golf als Antwort auf die irakische Annexion Kuwait's übte die Bush-Administration vermehrten politischen Druck aus, die NATO als Institution direkt in diese konkrete »out-of-area«-Intervention hineinzuziehen. Eine Positionsverschiebung des westlichen Bündnisses in dieser Frage konnte die US-Regierung jedoch nicht erreichen.

Erhalt nationaler Entscheidungsautonomie und Handlungsfreiheiten, unverbindliche Konsultationen und die mögliche Bereitschaft zu einer nicht näher spezifizierten Kooperation – mit diesen politischen Setzungen der westeuropäischen Regierungen im Rahmen der NATO muß sich die US-Administration weiterhin begnügen.3 Die alten Motive der europäischen Verbündeten für die Ablehnung einer institutionalisierten globalen Rolle der NATO behalten weiterhin Gültigkeit: die schwindende, aber immer noch vorhandene Dominanz der USA im westlichen Bündnis würde wesentlich die Ausgestaltung einer Interventionspolitik und ihrer Mittel in diesem Rahmen bestimmen. Die militärischen Eskalationsgefahren und die politischen und ökonomischen Folgekosten sind den westeuropäischen Regierungen dabei schlicht zu hoch.4

Eine Änderung der das Vertragsgebiet der westlichen Allianz beschränkenden Klauseln des NATO-Vertrages ist in der Zukunft wenig wahrscheinlich. Eine Neuverhandlung des NATO-Vertrages mit dieser Zielrichtung wäre in der Sicht der überwiegenden Mehrheit der Mitglieder vermutlich ein zu risikoreiches Unterfangen, das durchaus das Ende des westlichen Bündnisses bedeuten könnte. Da die NATO ein Bündnis von sechzehn souveränen Einzelstaaten ist, würde eine geographische Vertragserweiterung Konsens unter allen Mitgliedsstaaten voraussetzen, der in dieser Frage kaum herzustellen sein dürfte.5 Die Präferenz der Mitgliedsstaaten wird daher bezogen auf das westliche Bündnis in Zukunft weiter bei nationalen Handlungsoptionen in der »out-of-area«-Frage liegen, die jedoch bi- oder multilaterale Kooperation außerhalb des NATO-Kontextes nicht ausschließt.6 So blieb NATO-Generalsekretär Wörner in einem Interview Ende Februar 1991 nicht anderes übrig, als diesen aus seiner persönlichen Sicht unbefriedigenden Zustand als künftig weitergeltenden Status quo in der »out-of-area«-Frage festzustellen:

„Q. The gulf crisis has precipitated a debate within NATO about acting 'out of area.' You have apparently written [in a confidential memo] that there is profound disagreement on this issue. >

>

>A. ….. Our treaty clearly defines the limits of our area of action. To change that, you would need the consensus of all 16 members. That consensus does not exist ….. Nato will of course politically deal with a crisis if it affects the security of our member states. We will consult, try to coordinate and even support member nations where possible. But when action out of area is needed, it will not be taken by NATO as such but by those of our member nations that are prepared to do so. It would need a special case to reach consensus of all our member nations on NATO acting out of area …. the discussions we had, they show that member nations want to deal with it in a way that does not involve the NATO alliance as such.“ 7

Die Zukunft der NATO wird daher wohl nicht in einer globalen Rolle, sondern wahrscheinlich in dem Aufbau eines von westlichen Interessen dominierten europäischen Sicherheitssystems liegen. Im Rahmen eines solchen graduellen Anpassungsprozesses könnte die NATO allerdings eine Interventionsrolle bei inner- und zwischengesellschaftlichen Konflikten in Osteuropa entwickeln.8 Eine Hauptvariable für die künftige Struktur der NATO spielt zweifelsohne die weitere Entwicklung in der Sowjetunion. Darüber hinaus wird wahrscheinlich die südliche Region der NATO in Zukunft eine stärkere sicherheitspolitische Bedeutung annehmen. Als Folge des Krieges im Arabischen/Persischen Golf werden sich vor allem Sicherheitsbedürfnisse und -anforderungen der NATO-Mittelmeerstaaten stark erhöhen.9

Integration der Außen- und Sicherheitspolitik im Rahmen der EG und WEU

Die Krise im Arabischen/Persischen Golf fungierte als Katalysator für eine Verstärkung politischer Initiativen und Vorschläge zur Integration der Außen- und Sicherheitspolitik der EG- und WEU-Mitgliedsstaaten. Mit dem Ende des Kalten Krieges ist eine sich zunächst vorsichtig vorantastende Diskussion um eine über das Ökonomische hinausreichende Rolle und Funktion der Europäischen Gemeinschaft im internationalen Herrschafts- und Machtgefüge in Gang gekommen. Die Diskussion über dieses Thema bewegt sich jedoch noch ausschließlich auf der deklaratorischen Ebene. Doch sie wird gegenwärtig ernsthafter geführt als zuvor. Dies verdeutlicht allein schon die Vielzahl der seit September 1990 publik gemachten Ideen und Vorschläge, unter denen sich auch die Forderung nach Schaffung einer militärischen Eingreiftruppe der EG vornehmlich für das Krisengebiet Naher und Mittlerer Osten befand.10

EG-Kommissionspräsident Delors brachte das gemeinsam anzustrebende Ziel deutlich auf den Punkt:

„…Mr Delors said Europe must become an 'actor on the world stage, which is prepared to assume its full responsibilities'. Failure to so would mean jeopardizing all the work done towards building a new Europe, he said.“ 11

Aufgrund dem mit seiner Funktion verbundenen Organisationsinteresse dürfte Delors sicherlich ein besonderes Interesse an diesem Ziel und seiner schnellen Realisierung haben. Neben Anforderungen aus der äußeren (internationalen) Umwelt Westeuropas12 existieren auch inner-westeuropäische Anforderungen für eine integrierte Außen- und Sicherheitspolitik. So wird von politischen Entscheidungsträgern unter Bezugnahme auf die Krise im Arabischen/Persischen Golf die langsame Reaktions- und Handlungsge- schwindigkeit Westeuropas bei »out-of-area«-Konflikten beklagt.13 Dieses perzipierte Defizit hängt mit einer institutionellen »Arbeitsteilung« zwischen EG, EPZ und WEU zusammen, die unterschiedliche Integrations- oder Koordinationsdichten reflektiert und zu politischen Reibungsverlusten führt.14

Es war vor allem die italienische Regierung, die vertreten durch Außenminister De Michelis im zweiten Halbjahr 1990 die politische Diskussion über eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik in der EG durch entsprechende Initiativen konkreter voranzutreiben und dem EG-Gipfel über die Politische Union Mitte Dezember einen »blueprint« vorzugeben versuchte. Dabei kam De Michelis der turnusgemäße Vorsitz Italiens in der EG stark zu Hilfe. Die Aktivitäten der italienischen Regierung für eine gemeinsame EG-Außen- und Sicherheitspolitik waren vorrangig von dem funktionalen Interesse geleitet, den Einfluß eines sich in den letzten Jahren politisch und ökonomisch stärker Europa zuwendenden Mittelmeerlandes auf die künftig geplanten erweiterten Integrationszusammenhänge im wirtschaftlichen und politischen Bereich durch die Verknüpfung mit außen- und sicherheitspolitischen Problemfeldern zu erhöhen.15

Die grundlegende Sitzung des Europäischen Rates in Rom Mitte Dezember 1990 brachte jedoch deutlich zum Vorschein, daß über Ziele und Inhalt des Politikfeldes »gemeinsame Sicherheit« noch lange kein Einvernehmen herrscht. Weit entfernt von einem Konsens ist vor allem die militärische Dimension einer gemeinsamen Sicherheitspolitik, die den tiefgreifendsten Eingriff in die nationale Souveränität der Mitgliedstaaten und die Entscheidungsstrukturen der EG bedeuten würde. Ob die WEU als Hilfsmittel oder »Geburtshelfer« für eine militärisch abgestützte gemeinsame Sicherheitspolitik der EG mit einer entsprechenden Beistandsverpflichtung, so der Vorschlag des italienischen Außenministers, dienen kann oder soll, ist zwischen den Regierungen der Mitgliedsstaaten gegenwärtig höchst umstritten.16

Die Positionen der einzelnen Mitgliedsstaaten lassen sich grob in drei Kategorien einteilen.

Die maximalistische Position

Eine »maximalistische« Position, d.h. eine zügige Verschmelzung der EG mit der EPZ und WEU mit dem Ziel einer alle Bereiche umspannenden gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, vertreten in erster Linie Italien und Belgien, aber auch Luxemburg, Griechenland und Spanien lassen sich dieser Gruppe zuordnen. Militärische Schutzbedürfnisse als auch das funktionale Interesse, über eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik größeren Einfluß auf die Ausgestaltung der angestrebten Politischen Union zu nehmen als es ihnen sonst möglich wäre und auf diesem Wege möglicherweise »Linkage«-Politik mit wirtschaftspolitischen »issues« betreiben zu können, bilden vor allem die Antriebsfaktoren für die Regierungen der genannten Mittelmeer-Länder.17

Die mittlere Position

Eine mittlere Position nehmen die bundesrepublikanische und französische Regierung ein. Sie möchten den Prozeß einer Vergemeinschaftung der Außen- und Sicherheitspolitik, vor allem in der militärischen Dimension, zeitlich verzögern. In einer gemeinsamen Botschaft an den amtierenden EG-Ratspräsidenten Andreotti Anfang Dezember 1990 legten Bundeskanzler Kohl und Staatspräsident Mitterrand ihre abgestimmte Position dar. Ihrer Einstellung zufolge sollte die Politische Union mittel- oder langfristig „eine echte gemeinsame Sicherheitspolitik umfassen, die am Ende zu einer gemeinsamen Verteidigung führen sollte.“ 18 Dieses Ziel soll über ein stufenweises institutionelles Zusammenführen von EG und WEU erreicht werden. Allerdings formulierten beide Seiten zugleich auch retardierende Faktoren oder potentielle Zielinkompatibiltäten, wenn sie darauf bestehen, daß die Entscheidungen für eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik „die gegenüber den Alliierten der Atlantischen Allianz eingegangenen Verpflichtungen respektieren [sollten]. Gleiches gilt für die Besonderheiten der Verteidigungspolitik jedes Mitgliedsstaates.“ 19 Auch das angesprochene Ziel einer Stärkung des sogenannten europäischen Pfeilers innerhalb der NATO ist nicht ohne weiteres kompatibel mit der Sicherheitspolitik Frankreichs und der zumindest deklaratorisch angestrebten Politischen Union mit einer vollständig integrierten und damit gegenüber der NATO selbständigen Außen- und Sicherheitspolitik.

Vorrang hat zumindest für die Bundesregierung zunächst das Vorantreiben des Prozesses der Währungsunion. Vor weitergehenden Integrationsschritten möchte die Bundesregierung erst einmal Zeit für die innenpolitische Klärung über die künftigen nationalen außen- und sicherheitspolitischen Zielprioritäten eines vereinten Deutschlands gewinnen, d.h. vor allem die künftige Richtung und Ausgestaltung ihrer Beziehungen zu den USA und der Sowjetunion. Die Bundesregierung wird sich auf der Grundlage einer Re-Nationalisierung der Sicherheitspolitik zunächst wohl zwischen nationaler Interessenbehauptung und stufenweiser politischer Integrationsbereitschaft bewegen.20

Im politischen System Frankreichs steht die angesichts der deutschen Einheit und dem Ende des traditionellen Ost-West-Konflikts notwendige innenpolitische Diskussion21 über die künftigen nationalen sicherheitspolitischen Prioritäten und Orientierungen und in Verbindung damit über das Ausmaß von Integrationsbereitschaft auch in militärpolitischer Hinsicht erst noch aus. Gegenwärtig ist Staatspräsident Mitterrand noch nicht zu einer grundlegenden Revision der französischen Sicherheitspolitik bereit. Er geht von der Prämisse aus, daß eine gemeinsame europäische Sicherheitspolitik zuvor den Aufbau eines politisch geeinten Europas voraussetzt. Zur strukturellen Abstützung und finanziellen Aufrechterhaltung seiner Großmachtrolle wird Frankreich – und sehr viel stärker noch Großbritannien – mittelfristig in jedem Fall auf ein größeres Maß an sicherheitspolitischer Integration im westeuropäischen Kontext angewiesen sein, wobei in diesem außenpolitischen Anpassungsprozeß natürlich eine Führungsrolle des Landes sichergestellt sein soll. Aus diesem Grund hat Frankreich eine Präferenz für die Entwicklung einer stärkeren Verbindung von WEU und EG, und nicht von WEU und NATO, um den (über)mächtigen Konkurrenten USA auf Distanz zu halten. Die WEU als eine Art »Unterabteilung« der NATO ist daher für die französische Regierung wenig akzeptabel.22

Vorsichtige bis distanzierte Positionen

Das außen- und sicherheitspolitische »Fusions-Projekt« stößt vor allem in Großbritannien, aber auch in den Niederlanden sowie den Nicht-WEU-Mitgliedsstaaten Dänemark und Irland auf stärkere Vorbehalte oder Widerstand. Die Haltung der britischen Regierung, die auch nach dem Regierungswechsel dem Vorhaben einer Währungsunion und Politischen Union weiterhin skeptisch gegenübersteht, ist von der Sorge getragen, daß mit der Heranziehung der WEU als Hilfsmittel für eine westeuropäische Sicherheitsunion die NATO mit Sicherheit einen drastischen Funktionsverlust erleiden wird. Ein traditionelles Militärbündnis mit souveränen Mitgliedsstaaten zieht die herrschende britische Politik einem Abtreten von nationalen Souveränitätsrechten und der Beugung vor Mehrheitsentscheidungen insbesondere in sicherheitspolitischen Angelegenheiten auf jeden Fall vor. Aus diesem Grunde möchte Großbritannien die sicherheitspolitischen Handlungszusammenhänge exklusiv bei der NATO und der WEU, die als separates westeuropäisches Militärbündnis weiterbestehen und ausgebaut werden soll, belassen und ist eindeutig gegen eine militärische Beistandsklausel in einem EG-Vertrag, wie sie etwa von dem italienischen Außenminister De Michelis vorgeschlagen worden ist. Die WEU soll primär zur Stärkung des »europäischen Pfeilers« in der NATO und zur Koordinierung westeuropäischer »out-of-area«-Interventionen genutzt werden. Frankreich soll über eine grundlegende Reform der Strukturen und Kommandoorgane der NATO politisch die Rückkehr in den militärischen Teil der westlichen Bündnisses ermöglicht werden. Allerdings sperrt sich die britische Regierung nicht gegen die Behandlung primär politischer Aspekte von Sicherheitsfragen im Rahmen der EG (z.B. Rüstungskontrollpolitik), solange dadurch nicht die bestehenden Kernfunktionen der NATO oder WEU unterminiert werden. Darüber hinaus tritt sie durchaus für stärkere politische Kontakte, aber keine Funktionsüberschneidungen oder -übertragungen zwischen EG und WEU ein.23

Irland ist aufgrund seiner politischen Neutralität strikt gegen jegliche Integration von Außen- und Sicherheitspolitik im EG-Kontext. Auch die dänische Regierung vertritt eine ablehnende Haltung. Sie möchte jede Ausdehnung einer politischen Zusammenarbeit innerhalb der EG auf den außen- und sicherheitspolitischen Bereich vermeiden, weil ihrer Ansicht nach dadurch Staaten aus dem Kreis der neutralen Efta-Länder und aus Osteuropa der Weg zu einer EG-Mitgliedschaft versperrt werden könnte.24

Interessenwidersprüche in Westeuropa

Der Krieg im Arabischen/Persischen Golf demonstrierte jedoch eindringlich, wie tiefgreifend die Interessenwidersprüche zwischen den westeuropäischen Staaten im »Ernstfall« hinsichtlich eines gemeinsamen außen- und sicherheitspolitischen Handelns noch sind. EG-Kommissionspräsident Delors sah sich zu der skeptischen Äußerung veranlaßt, daß die Reaktionen der EG-Mitgliedsstaaten auf den »Golf-Krieg« Zweifel an dem ganzen Prozeß der Politischen Union geweckt habe.25 Zwar fungierte der Krieg im Arabischen/Persischen Golf als Katalysator für eine Reihe weiterer Vorschläge und Initiativen im Februar und März mit dem Ziel, eine eigenständige, vereinheitlichte westeuropäische Außen- und Sicherheitspolitik angesichts des »Golf-Desasters« nun endlich in den ersten Schritten einzuleiten und organisatorisch umzusetzen. Doch an den zuvor beschriebenen Divergenzen in den Positionen der verschiedene EG-Mitgliedsstaaten hat sich bislang noch nichts grundlegend geändert. Kristallisationspunkt einer westeuropäischen Sicherheitspolitik und hauptsächliches Streitobjekt ist weiterhin die künftige Rolle und Funktion der WEU. Die ihr zugedachte Brückenfunktion zwischen der EG auf der einen, und der NATO auf der anderen Seite definieren die Akteure immer noch höchst unterschiedlich.

Brückenfunktion der WEU?

Anfang Februar unterbreiteten Außenminister Genscher und sein französischer Amtskollege Dumas einen als Zwischenlösung gedachten Vorschlag, die WEU in einem ersten Schritt faktisch dem Europäischen Rat (halbjährliches Gipfeltreffen der zwölf EG-Staats- und Regierungschefs) zu unterstellen: Der Europäische Rat soll Prinzipien und Orientierungen für eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik vorgeben, die dann als Richtlinien für die militärpolitische Kooperation im Rahmen des Brüsseler Vertrages (WEU) dienen sollen. Die eigentliche militärische Koordination soll in der WEU selber abgewickelt werden.26 Durch solch einen Schritt würde die WEU praktisch zum sicherheits- und militärpolitischen Arm der EG und auf diesem Weg eines Tages schließlich ganz von der EG absorbiert werden.

Der deutsch-französische Vorschlag taucht auch in einem Bericht auf, der als Grundlage für eine außerordentliche Sitzung des WEU-Ministerrats am 22. Februar diente, auf der die Rolle und der Platz der WEU in einer »neuen europäischen Sicherheitsarchitektur« behandelt wurde. Im Vorspann dieses Berichts ist festgehalten, daß die Mitgliedsregierungen über diesen einen »near consensus« herstellen konnten. Was jedoch nicht konsensfähig war, stellt den entscheidenden politischen Knackpunkt dar: die Natur der Verbindung (Institutionalisierung) der WEU zur Politischen Union auf der einen, und zur NATO auf der anderen Seite. Der Bericht enthält eine Reihe von Kompromißformulierungen, die miteinander nicht verträgliche Zielvorstellungen enthalten und Ausdruck des bestehenden Dissens sind. So wird allgemein die wichtige Bedeutung der Aufrechterhaltung der NATO als transatlantisches Bindeglied, auch in militärischer Hinsicht, für die kommenden Jahre betont.27 Allerdings müßten die Organisation NATO und ihre Strukturen reformiert werden. Als Bedingung für eine solche Reform soll jedoch gelten:

„The outcome of this reappraisal must ensure that there is no weakening of the Alliance commitments on the part of either North America or Europe which could lead to a narrower national view of defence. This would involve, in particular, reaffirming the importance of retaining North American forces in Europe and ensuring that all allies refrain from taking unilateral, uncoordinated decisions to reduce their defence effort.“»28

Dem Bericht zufolge sollen die Westeuropäer zum einen den europäischen Pfeiler innerhalb der NATO stärken, zum anderen erfordert dies aber „an identifiable European component which will only be achieved if it is linked to the broader process of achieving a European union.“ 29 Die Umsetzung des zweiten Ziels würde jedoch im Ergebnis eine schrittweise »Entmachtung« der NATO und damit eine Neudefintion des amerikanisch-westeuropäischen Machtverhältnisses bedeuten, weil die Verstärkung der westeuropäischen Militärkomponente als integraler Bestandteil der angestrebten Politischen Union definiert wird. Die WEU wird dabei als ein wichtiges institutionelles Hilfsinstrument zur graduellen Herausbildung einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EG angesehen. Doch darauf können sich die EG-Mitgliedsstaaten auch nach dem Ende des »Golf-Krieges« und den damit verbundenen politischen Erfahrungen noch nicht verständigen: „there ist yet no unanimity within the Twelve on the role the Political Union might … play in defence matters.“ 30 So enthält der Bericht, der als Diskussionsvorlage für die nächste inter-gouvernementale Konferenz der EG-Mitgliedsstaaten über die institutionellen Arrangements einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitk im Rahmen einer Politischen Union dienen soll, in dem Paragraphen, in dem die Unterstellung der WEU unter den Europäischen Rat vorgeschlagen wird, zwei Fußnoten: einige Mitgliedsstaaten bestanden auf dem Erhalt dieses Paragraphen, während zumindest eine Regierung (vermutlich die niederländische) offen seine Streichung wünschte, weil sie ansonsten eine Präjudizierung der kommenden Diskussion befürchtet.31

Gegen die Schirmherrschaft des Europäischen Rates über die WEU sperren sich unverändert vehement die britische und niederländische Regierung. Sie befürchten, daß dies der erste Schritt zu einer institutionellen »Verschwisterung« von EG und WEU ist, der gleichzeitig den Beginn der Unterminierung der NATO markieren und den Prozeß eines sicherheitspolitischen und militärischen Rückzugs der USA aus Europa einleiten würde. Schwierigkeiten mit einer Unterstellung der WEU unter den Europäischen Rat dürfte es auch mit den Nicht-WEU-, aber EG-Mitgliedern Irland, Dänemark und Griechenland geben. Aufgrund ihrer Ablehung zumindest einer gemeinsamen Sicherheitspolitik werden auch die irländische und dänische Regierung gegen die Umsetzung dieses Vorschlages opponieren. Solange der Europäische Rat zudem bei seinen Beschlüssen an das Einstimmigkeitsprinzip gebunden ist, können diese beiden WEU-„Außenseiter« jederzeit gegen Beschlüsse, die WEU-Politik betreffen, ihr Veto einlegen. Griechenland ist dagegen an einer schnellen Aufnahme in die WEU interessiert. Darüber hinaus wendet die niederländische Regierung noch ein, daß man bei einer Politischen Union mit einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik nicht die drei europäischen NATO-Staaten, die weder Mitglied der WEU noch der EG sind (Island, Norwegen, Türkei), einfach aus dem Integrationsprozeß ausperren könne.32

Arbeitsteilung zwischen NATO und WEU?

Auch WEU-Generalsekretär van Eekelen setzt sich – nicht zuletzt aufgrund seiner Funktion – für einen Rollen- und Funktionszuwachs der WEU ein und unterstützt den Vorschlag einer Schirmherrschaft des Europäischen Rates über dieses bislang »zahnlose« Militärbündnis. Das kritische Datum für die Umsetzung einer gemeinsamen westeuropäischen Sicherheitspolitik ist für den ehemaligen niederländischen Verteidigungsminister van Eekelen der im Jahr 1994 geplante Abschluß des sowjetischen Truppenabzugs aus Mitteleuropa. Falls die westeuropäischen Staaten bis dahin keine eigenständigen militärpolitischen Strukturen aufgebaut haben, droht seiner Ansicht nach ein gefährlicher Rückfall in enges nationalstaatliches Denken in der Sicherheitspolitik. Der WEU-Generalsekretär schlägt als Kompromiß eine Art Arbeitsteilung zwischen NATO und WEU vor, um vor allem mit den USA einen Konflikt über die WEU als europäische Ersatz- oder Gegen-NATO zu vermeiden: die zukünftige Aufgabe der NATO soll primär die strategische »Abschreckung« und Verteidigung gegen den vom Zerfall bedrohten Vielvölkerstaat UdSSR sein. Auf diese Weise soll auch die amerikanische Nukleargarantie für Europa bewahrt werden. Dagegen soll die WEU primär für »out-of-area«-Aufgaben zuständig werden, d.h. vorrangig militärische Interventionseinsätze der westeuropäischen Staaten im Nahen und Mittleren Osten und Nordafrika, aber eventuell auch in Osteuropa, wo die Auflösung des Warschauer Vertrages ein gefährliches »Sicherheitsvakuum« hervorgerufen habe. Van Eekelen fordert dafür den Aufbau entsprechend geeigneter westeuropäischer Interventionsstreitkräfte. Dabei schwebt ihm ein Modell mit multinationalen Streitkräftestrukturen und einer doppelten Kommandosstruktur vor, demzufolge die Truppen je nach Bedarf entweder der NATO oder der WEU unterstellt werden. Ohne eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik einschließlich der militärischen Komponente droht von der ökonomischen Weltmacht Westeuropa Eekelen zufolge der Abstieg in die »weltpolitische Ohnmacht«.33

Der Vorschlag Delors

Der jüngste Vorschlag stammt von EG-Kommissionspräsident Delors. Neben der Forderung nach einem baldigen Aufbau von multi-nationalen Streitkräften für »out-of-area«-Einsätze legte er einen Vertragsentwurf für ein Abkommen zur Politischen Union vor, der die Übernahme des Beistandsartikels des WEU-Vertrages (Art.5) beinhaltet. Mit dieser Forderung knüpft Delors an die maximalistische Position der italienischen Regierung an. Weiter fordert Delors die Entwicklung einer gemeinsamen Rüstungsforschungs- und produktionspolitik der EG-Mitgliedsstaaten. Sein hinter diesen Vorschlägen stehendes Hauptinteresse ist, der Kommission eine ausreichende Mitwirkung bzw. Mitbestimmung in diesen Politikfeldern zu sichern. Delors` sehr weitgehender Vorschlag dürfte wohl in nächster Zukunft keine Aussicht auf eine erfolgreiche Umsetzung haben. Eine kategorische Ablehnung Großbritanniens, der Niederlande, Irlands und Dänemarks ist hier gewiß.34

Angesichts der zuvor beschriebenen Ausgangslage kann der Befund und die Prognose gegenwärtig nur lauten, daß das Projekt einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik vermittels einer institutionellen Verschmelzung von EG/EPZ und WEU nicht als ein realistisches politisches Vorhaben gelten kann, welches in den nächsten Jahren umsetzbar ist. Aus einem gemeinsamen Binnenmarkt läßt sich offensichtlich noch lange keine neue Weltmacht bilden. Die Nutzung sicherheitspolitischer oder militärischer Integration als Motor für politische Integration, wie es einigen Akteuren offenbar vorschwebt, ist kein funktionsfähiges Modell, weil die essentiellen Voraussetzungen fehlen. Der vorhandene Konsens über außen- und sicherheitspolitische Interessen und Ziele zwischen den EG-Mitgliedsstaaten ist gegenwärtig von recht bechränkter Natur.

Die Interessen im Politikfeld Sicherheit, die politisch-kulturellen Grundlagen, die innenpolitischen Anforderungen als auch die primären geographischen Bezugsfelder nationaler Außen- und Sicherheitspolitik der westeuropäischen Staaten weichen partiell erheblich voneinander ab und werden noch für einige Zeit strukturelle Limitierungen der weltpolitischen Handlungsfähigkeit der EG und WEU bedingen. Nicht zuletzt die geographische Lage bringt sehr unterschiedliche Blickwinkel und Interessen hervor: Frankreich ist stark auf seine »Sonderbeziehungen« zur frankophonen Welt seiner ehemaligen Kolonien primär in Nordafrika fixiert, Italien blickt ebenfalls stark auf Nordafrika und den Nahen Osten, Großbritannien versucht die »special relationship« zu den USA sowie zu den Commonwealth-Staaten aufrechtzuerhalten und zu pflegen, Spanien sieht sich als ein Band zwischen Westeuropa und Lateinamerika, Griechenlands Perspektive ist vorrangig auf den »Erzfeind« Türkei ausgerichtet, Dänemark hat primär die skandinavischen Länder im Blick und die Bundesrepublik ist stark dem östlichen Europa zugewandt. Aus dem vorhandenen heterogenen Akteurskonglomerat und Interessenbündel ein kohärentes sicherheitspolitisches Gesamtkonzept und -strategie zu bilden, wird trotz der aktuellen Willensbekundungen etlicher politischer Entscheidungsträger für eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik aufgrund der bislang nur äußerst schwach ausgeprägten gemeinsamen Interessen in diesem Politikfeld noch einen längeren Zeitraum in Anspruch nehmen. Zeitweise integrationspolitische Rückschläge sind dabei vorprogrammiert. Ein gemeinsam geteiltes Antriebsmotiv für eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik könnte jedoch in langfristiger Perspektive darin bestehen, daß die Regierungen durch eine Verlagerung der nationalen in supranationale Handlungszusammenhänge den innenpolitischen Restriktionen und Legitimationsproblemen (demokratische Kontrolle) in diesem Sachbereich zu entgehen versuchen – vorausgesetzt die Kosten-Nutzen-Relationen weisen dabei für die Akteure einen positiven Saldo auf.

Der von EG-Kommissionspräsident Delors gewünschten Etablierung von EG/WEU-Europa als dritter Weltmacht (»Vereinigte Staaten von Europa«) und einem militärisch gemeinsam handelnden »out-of-area«-Akteur in der internationalen Politik stehen somit noch viele Hürden entgegen. Über dieses langfristige Ziel muß erst noch ein Konsens zwischen allen Mitgliedsstaaten hergestellt werden, ehe überhaupt an dessen graduelle Realisierung gedacht werden kann. Gegenwärtig ist es zumindest schwer vorstellbar, daß sich Frankreich und Großbritannien z.B. Mehrheitsentscheidungen in der EG beugen werden, wenn es um die Wahrung der Reste ihres Großmachtstatus geht, vor allem im nuklearen Bereich. Ob die existierenden Hindernisse eine umfassende Militarisierung der bislang zivilen EG verhindern, ist aufgrund der zahlreich zu wägenden exogenen und endogenen Einflußfaktoren momentan schwierig zu prognostizieren. Eine graduelle Militarisierung der Europäischen Gemeinschaft mit entsprechenden Zeitetappen bis zu einer konsensual vereinbarten Stufe (z.B. bis zur Ausklammerung der französischen und britischen Nuklearwaffen) liegt aber durchaus im Bereich des Möglichen.

Im Bereich der Sicherheitspolitik könnte ein konsensfähiges Ziel in mittelfristiger Perspektive darin bestehen, die militärpolitische Koordination und Zusammenarbeit innerhalb der WEU auszubauen und allmählich politische Querverbindungen zum außenpolitischen Kooperationsmechanismus der EG zu entwickeln, um die in beiden Institutionen erörterten Ziele und Maßnahmen besser aufeinander abzustimmen. Auf dieses zunächst begrenzte Ziel können sich die entscheidenden politischen Akteure Westeuropas – Bundesrepublik, Frankreich und Großbritannien – wahrscheinlich verständigen.<>

WEU-Versammlung November 1990

In einem Bericht der WEU-Versammlung vom November 1990 mit dem Titel »Europäische Sicherheit und die Golf-Krise« wird solch ein Vorgehen mit einer besonderen Konzentration auf »out-of-area«-Operationen der Mitgliedsstaaten angeregt, das nicht unrealistisch erscheint, weil die politisch äußerst sensible Frage einer Verklammerung mit der EG zeitlich unbestimmt nach hinten verschoben wird.35 Die Präferenz für die WEU wird u.a. damit begründet, daß in der NATO kein ausreichender Konsens über »out-of-area«-Operationen zu erreichen sei und die EG trotz gemeinsamer politischer und diplomatischer Aktivitäten gegenwärtig nicht über die Fähigkeit und notwendige Flexibilität für die Koordinierung von militärischen Interventionsmaßnahmen, die zunächst weiterhin in nationaler Entscheidungsverantwortung bleiben müßten, verfüge.36

Bemerkenswert an diesem Bericht ist u.a., daß für die Zukunft von einem EG-Europa der Zwölf ausgegangen wird und damit die Option einer gemeinsamen Sicherheitspolitik auf diesen Kreis eingeengt wird. Den Schwerpunkt zukünftiger militärischer Zusammenarbeit im WEU-Rahmen sieht der Berichterstatter im Bereich von Interventionen in der Dritten Welt. Geographisch bedeute dies für Westeuropa hauptsächlich die Region Mittlerer Osten und Afrika. Um für eine schnelle und flexible Reaktion auf künftige Interventionsfälle gewappnet zu sein, sollten jetzt Maßnahmen für eine effiziente Koordination vorbereitet werden, die dann im Bedarfsfalle in Kraft treten können. Dazu wird ein aus drei »Bausteinen« bestehendes Maßnahmenpaket vorgeschlagen:

„… first …. defining the framework of co-operation between the mobile forces of each member country in the event of the governments deciding on joint action .. >

>

>Second … work out the procedures necessary for conducting possible co-ordinated operations. They will then have to consider all the hypothetical cases of hostilities in which any of them might be obliged to participate in order to plan the conditions for effective co-ordination …. Finally … examine what arms equipment and means of transport each one will have to provide for its mobile force to ensure the fullest possible interoperability of the various national units.“37

Eine entscheidende Voraussetzung zur Implementierung dieses Maßnahmenpakets sei jedoch die vorherige Assignierung von geeigneten Truppenkontingenten der Mitgliedsstaaten für Interventionsoperationen, solange es keine integrierte europäische Armee für »out-of-area«-Einsätze gebe. Gedacht wird dabei an eine Größenordnung von mindestens 100 000 Soldaten. Ziel dieser Vorkehrungen im Rahmen der WEU sei, „to allow joint action by national forces, under national or European command, in joint arrangements in the event of the governments of the WEU Council deciding to take such action.“38 Dieses vorgeschlagene Handlungsmuster erscheint in den nächsten Jahren politisch konsensfähig, weil es die nationalen Entscheidungsstrukturen in diesem Politikfeld noch nicht grundlegend antastet. Die WEU könnte sich auf diesem Wege mittelfristig als homogener handelnder institutioneller Interventionsakteur als zuvor in der internationalen Politik etablieren, der jedoch im Gegensatz zu den USA eine stark regional konzentrierte Einmischungspolitik aufgrund der beschränkten militärischen Kapazitäten sowie der geographischen Schwerpunkte der außenpolitischen und -wirtschaftlichen Interessen (Naher und Mittlerer Osten, Nordafrika und Osteuropa) verfolgen wird.

Parallel zu diesem Prozeß könnten die interessierten Akteure eine etappenweise Integration der Außen- und Sicherheitspolitik ohne die militärische Dimension im Rahmen der EG auf der Basis des Konsensprinzips vorantreiben. Ende der 90er Jahre wäre dann vielleicht die Einleitung einer allmählichen institutionellen Zusammenführung von EG/EPZ und WEU denkbar, wenn der Prozeß der sicherheitspolitischen Interessensabgleichung hinreichend genug vorangeschritten ist. Der größte Hemmschuh für eine vollständig integrierte Sicherheitspolitik im EG/WEU-Rahmen wird zweifelsohne die nukleare Dimension sein.

Äußere Anforderungen, wie z.B. das Entstehen neuer oder die Eskalation existierender Konflikte im Nahen und Mittleren Osten oder eine in einen Bürgerkrieg versinkende Sowjetunion, die ein militärisches Eingreifen des Westens hervorrufen könnten, könnten aufgrund ihres Handlungsdrucks eine beschleunigende Wirkung auf die sicherheitspolitische Integration von EG-Europa ausüben. Auf der anderen Seite könnte der Implementierungsprozeß der Währungsunion aufgrund der vielfältigen Interessen, die in diesem Bereich erst einmal auf einen Nenner zu bringen sind (z.B. die Frage der Mitglieder-Ausweitung der EG, der Ausgleich ökonomischer Disparitäten im Nord-Süd-Kontext der EG etc.), eher einen retadierenden Einfluß für eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Gemeinschaft zeitigen.

Golfkrise und Versagen der EG

Die Krise im Arabischen/Persischen Golf und ihre Eskalation zu einer kriegerischen Auseinandersetzung zeigt jedoch sehr deutlich, daß die Vorstellung von einem politisch und militärisch homogener handelnden Akteur Westeuropa gegenwärtig nur eine recht begrenzte Grundlage hat. Vielmehr erwies sich das sicherheitspolitische Interessens- und Handlungsgefüge im Rahmen der EG und WEU (noch) als zu fragil, um den Anforderungsdruck einer in einen militärischen Konflikt umschlagenden Krise unbeschadet zu überstehen.39 Bezeichnend ist vor allem das eklatante politische Versagen der EG, die viel zu spät politisch erwachte und einen von den USA unabhängigeren Kurs einzuschlagen versuchte, um eine diplomatische Lösung für die Krise zu finden. Zur Ausübung eines entsprechenden Drucks in dieser Hinsicht erwies sich die EG als handlungsunfähig. Der Krieg im Arabischen/Persischen Golf führte wie schon zuvor bei anderen Krisen zur Segmentierung in einzelstaatliche Außen- und Sicherheitspolitiken der EG/WEU-Mitgliedsstaaten. Die Regierungen der drei politischen Hauptakteure Westeuropas – Bundesrepublik, Frankreich und Großbritannien – versuchen auch unter dem Druck divergierender innenpolitischer Anforderungen primär ihre jeweiligen nationalen Interessen zu wahren, die zu unterschiedlichen außenpolitischen und militärischen Handlungsweisen in diesem Krieg führen.40 Der belgische Außenminister Eyskens brachte die Situation auf folgende griffige Formel: „Die Zwölf sind ein wirtschaftlicher Riese, ein politischer Zwerg und ein militärischer Wurm“ .41 Langfristig betrachtet hat allerdings die Perspektive einer Etablierung von EG/WEU-Europa als Weltmacht mit einer supranationalen Sicherheits- und allerdings regional beschränkten militärischen Interventionspolitik aufgrund des sich abzeichnenden Niedergangs der UdSSR und auch der USA als bestimmende weltpolitische (militärische) Ordnungskräfte durchaus Realitätsgehalt.

Gemeinsame Interventionspolitik der Industrieländer eher fraglich

Die Entwicklung einer gemeinsamen militärischen Interventionspolitik der westlichen Industrieländer gegenüber der Dritten Welt ist eher mit Fragezeichen zu versehen. Zwischen den USA und den westeuropäischen Staaten als auch zwischen den Westeuropäern untereinander bestehen gewichtige Interessenunterschiede, die während der Krise und des Krieges im Arabischen/Persischen Golf nur allzu manifest geworden sind.

Für die transatlantischen Beziehungen gilt, daß eine amerikanisch-westeuropäische Kluft in der konkreten Ziel-Mittel-Setzung in bezug auf »Out-of-area«-Operationen wohl weiterhin bestehen bleiben wird und sich eventuell auch vergrößern wird. Für die USA wird aufgrund ihrer wachsenden ökonomischen Krise (fortschreitender Deindustrialisierungsprozeß, wachsendes Haushaltsdefizit, außenwirtschaftliche Verschuldung) die Bedeutung des militärischen Interventionsinstruments zur Aufrechterhaltung des Weltmachtstatus zunehmen. Doch die USA bewegen sich in mittelfristiger Perspektive strukturell auf dieselben Probleme zu, mit denen die UdSSR akut konfrontiert ist: Gefährdung der Weltmachtposition durch ein zunehmend auseinanderdriftendes Verhältnis zwischen politischer/militärischer und ökonomischer Macht. Das Ende des Krieges im Arabischen/Persischen Golf könnte bereits den Beginn des Prozesses eines allmählichen Niedergangs der USA als Weltmacht bedeuten, weil die westliche Vormacht mit dem Krieg keines ihrer zuvor benannten strukturellen Probleme lösen wird, sondern diese eher verschärfen wird.42

Die in der EG/WEU zusammengeschlossenen Staaten werden langfristig gesehen trotz einem auch von etlichen Rückschlägen begleiteten Integrationsprozesses auf dem Gebiet der Sicherheit in der internationalen Politik zunehmend als einheitlicher Akteur auftreten und stärker als zuvor eine globale Interessensperspektive entwickeln. Schwierig wird vor allem die Angleichung der bislang diametral entgegengesetzten Interessen der beiden europäischen Großmächte Frankreich und Großbritannien in bezug auf die »westeuropäische Option« sein. Doch in mittelfristiger Perspektive wird Großbritannien aufgrund seiner desolaten ökonomischen Lage nicht viel anderes übrigbleiben, als sich einer integrierten militärischen Sicherheitspolitik im EG/WEU-Rahmen anzuschließen.

Ein neu zu füllendes Machtvakuum

Ein wesentlicher äußerer Einflußfaktor für die »Harmonisierung« oder Angleichung der außen- und sicherheitspolitischen Interessen der westeuropäischen Staaten werden der allmähliche Niedergang der beiden Weltmächte UdSSR und USA und das im Gefolge dieses Prozesses entstehende und neu aufzufüllende »Machtvakuum« im internationalen System sein. Wollen die westeuropäischen Staaten eine nach westlichen Interessensmaßstäben definierte Herrschaftsordnung und Stabilität des internationalen Systems weiter aufrechterhalten, dann sind sie zu einer Bündelung und Vereinheitlichung ihrer Interessen und Handlungen gezwungen. Im Ergebnis bedeutet eine solche Entwicklung zwar eine Umschichtung in der Einflußverteilung zwischen den alten (USA und UdSSR) und neuen (EG/WEU und Japan) Kräftezentren auf die Weltpolitik, doch zugleich verfestigt und verstärkt sie die auf die Nord-Süd-Achse bezogenen Herrschaftsstrukturen im internationalen System.

Die wahrscheinlich auch in Zukunft vorhandene Begrenztheit der militärischen Mittel der Westeuropäer für eine Interventionspolitik, die in der Vergangenheit mehr zu einer Betonung der diplomatisch-politischen und ökonomischen Mittel zur Bearbeitung von Konflikten in der »Dritten Welt« geführt hat, wird im Vergleich zu den USA zu einer niedrigeren Bedeutung dieses Instruments führen. Zudem steht eine entsprechende militär- und rüstungspolitische Umsetzung einer westeuropäischen Interventionspolitik und die dafür notwendige Mobilisierung finanzieller Ressourcen noch aus. Geographisch wird sich eine mögliche militärische Interventionspolitik der EG/WEU aufgrund der auch in Zukunft begrenzten militärischen Kapazitäten sowie vorhandenen politischen und ökonomischen Interessen primär auf die Region Naher und Mittlerer Osten, Nordafrika und Osteuropa konzentrieren. Denkbar ist in diesem Zusammenhang als Übergangslösung eine militärische Arbeitsteilung zwischen den Mitgliedsstaaten. Darüber hinaus bringt die stärkere außenwirtschaftliche Orientierung und die damit verbundene Weltmarktverflechtung und Abhängigkeit Westeuropas im Vergleich zu den USA ein größeres Maß an Inkompabilität zwischen militärischer Interventionspolitik und ökonomischen (einschließlich Energieversorgungs-) Interessen hervor. Zudem steht EG/WEU-Europa aufgrund der stärkeren ökonomischen Basis über die Außenwirtschaftsinstrumente ein leichteres und effizienteres funktionales Äquivalent in der Form von ökonomischen Einmischungen zur Stabilisierung lokaler oder regionaler Konfliktlagen in der »Dritten Welt« und Osteuropa zur Verfügung. Allgemein dürften die westeuropäischen Staaten aufgrund ihres Interesse an möglichst störungsfreien weltwirtschaftlichen Austauschprozessen ein größeres Interesse als die USA haben, Konflikte in der »Dritten Welt« und Osteuropa möglichst ohne den Rückgriff auf militärische Mittel zu lösen. Daher könnten sie stärker als zumindest die gegenwärtige US-Politik an einer Stärkung des UN-Systems in Richtung einer primär gewaltfreien Streitbeilegung interessiert sein.

Teil 2: Bundesrepublik

Anmerkungen

1) Vgl. dazu die von der WEU 1987 verabschiedete »Platform on European Security Interests« Zurück

2) Vgl. z.B. die Initiative des US-Außenministers Baker vom Dezember 1989, in der er intensivierte Konsultationen in der NATO über »out-of-area«-Fragen als eine der neuen Hauptaufgaben für das westliche Bündnis vorschlägt, in: The Arms Control Reporter 1989, S.407.B.276 Zurück

3) Vgl. Kommunique der Ministertagung des Nordatlantikrates vom 17. bis 18. Dezember 1990 in Brüssel, in: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Bulletin, (147)20.12.1990, S.1540
Auf westeuropäischer Seite nahm jedoch die damalige britische Premierministerin Thatcher eine Ausnahmeposition ein, als sie Ende August 1990 öffentlich Bereitschaft von der NATO forderte, »Verantwortung« auch außerhalb des Vertragsgebietes zu übernehmen, da die USA nicht allein als Weltpolizist handeln könnten. Vgl. „Westeuropas militärischer Einsatz zu gering“>, in: FAZ v. 31.8.1990. Vorbehalte gegenüber einer die USA ausschließenden sicherheitspolitischen Integration Westeuropas, die Pflege der »besonderen Beziehungen« zu den USA, die durch die amerikanische Unterstützung für die Vereinigung Deutschlands gelitten hatten, Demonstration einer souveränen Großmachtrolle sind einige der Gründe für diese britische Forderung. Zurück

4)Unter Berufung auf »Experten« aus der »strategic community« schreibt das britische Militärfachblatt »Jane's Defence Weekly« zu dieser transatlantischen Positionsdifferenz folgendes: „As for why many European partners are fundamentally opposed to NATO acting outside Europe, the answer, say analysts, is simple: in an alliance traditionally dominated by the USA, European NATO members fear being dragged into a controversial Vietnam-type conflict.“ Lewis [Jane's Defence Weekly 14(12)22.9.1990,] S.515 Zurück

5) Vgl. Secret memo reveals deep divisions on NATO role, in: Financial Times v. 8.2.1991, S.3. Die kontroverse Diskussion über den möglichen Eintritt des sogenannten Bündnisfalls inbezug auf die Türkei zwischen den Mitgliedsstaaten deutet bereits an, auf welche Hindernisse gar der Versuch einer förmlichen Ausweitung des NATO-Vertragsgebietes stoßen würde. Zurück

6) Das britische Militärfachblatt »Jane's Defence Weekly« schließt sich dieser Argumentation mit Verweis auf einen niederländischen Strategieexperten an: „NATO reaches decision by consensus among its 16 members; there would be no consensus in favour of playing the world's policeman. 'Given that position, any broadening of the Alliance role would be more likely to divide NATO than lend it a new sense of purpose,' said Samuel Rozemond of the Clingendael Institute, a Dutch 'think tank' based in The Hague.“ Lewis [Jane's Defence Weekly 14(12)22.9.1990,] S.515 Zurück

7)We Need Each Other Badly“, Interview with NATO Secretary-General Manfred Wörner, in: Time v. 25.2.1991, S.52 Zurück

8) Im letzten Kommunique der Ministertagung des Verteidigungs-Planungsauschusses der NATO heißt es u.a.: „Wir streben an, …. in dem neuen kooperativen europäischen Sicherheitsumfeld erhöhte Stabilität und Sicherheit zu gewährleisten. Unsere künftige Streitkräftestruktur wird sich auf kleinere, mobilere und flexiblere aktive Verbände abstützen, die in der Lage sind, auf Angriffe, gleich aus welcher Richtung, zu reagieren.“;, in: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Bulletin, (145)14.12.1990, S.1525. Diese Verknüpfung zwischen dem künftigen europäischen Sicherheitsumfeld und einer neuen, für diesen Interventionszweck optimierten Streitkräftestruktur könnte in Verbindung mit Äußerungen von NATO-Generalsekretär Wörner Ende November 1990, in denen er vor der Gefahr eines „explosionsartigen“ Ausbruchs zwischenstaatlicher und ethnischer Konflikte in Osteuropa warnte, als ein Indikator für eine beabsichtigte Interventionsrolle der NATO im Osten Europas angesehen werden, vgl. Wörner: NATO auf absehbare Zeit nötig, in: Süddeutsche Zeitung v. 30.11.1990 Zurück

9) Vgl. NATO seen as a pillar of future European security, in: International Defense Review, 23(12)1990, S.1326 Zurück

10) Vgl. Delors seeks to cast EC in a bigger role, in: Financial Times v. 13.9.1990, S.6; EG geht gegen Iraks Diplomaten vor, in: Frankfurter Rundschau v. 18.9.1990, S.1; Andreotti schlägt Mitgliedschaft der EG im Sicherheitsrat vor, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 19.9.1990, S.1; De Michelis wants EC to take over defence policy role, in: Financial Times v. 19.9.1990, S.4; Heath für ständige Streitmacht der EG, in: Der Tagesspiegel v. 9.10.1990, S.6; The Gulf prods EC unity, in: Financial Times v. 15.10.1990, S.38 Zurück

11) Delors seeks to cast EC in a bigger role, in: Financial Times v. 13.9.1990, S.6; ähnlich äußerte sich auch der italienische Ministerpräsident Andreotti: im Hinblick auf die Entwicklungen in Osteuropa und am Arabischen/Persischen Golf betonte er die Notwendigkeit für die EG, „als autonomes Subjekt auf der internationalen Bühne handeln zu können“. Italien will Einigung Europas vorantreiben, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 19.10.1990 Zurück

12) Die in der Region des Nahen und Mittleren Ostens zahlreich vorhandenen virulenten Konflikte, vor allem der israelisch-arabische Konflikt, und die geographische Nähe zu Europa, mögliche Migrationsströme aus dieser Region sowie den nordafrikanischen Staaten, das Erdöl und die aufgrund ihres ökonomischen Niedergangs verstärkt auf militärische Konfliktlösungen setzende Politik der Weltmacht USA, die aus der Sicht der westeuropäischen Staaten zu für sie erheblich nachteiligen Störungen weltwirtschaftlicher Austauschprozesse führen kann, sind die wichtigsten äußeren Anforderungen, die einen starken strukturellen Zwang auf eine größere Interessenharmonisierung zwischen den westeuropäischen Staaten in der Außen- und Sicherheitspolitik ausüben. Zurück

13) Delors seeks to cast EC in a bigger role, in: Financial Times v. 13.9.1990, S.6 Zurück

14) Vgl. ausführlicher Werner Weidenfeld, Zur Handlungsfähigkeit Westeuropas in der internationalen Politik, in: Peter Haungs (Hrsg.): Europäisierung Europas?, Baden-Baden 1989, S.109-121 Zurück

15) Vgl. für die im Vorfeld der Tagung des Europäischen Rates Mitte Dezember diskutierten Vorschläge für eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EG: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 8.10.1990 Zurück

16) Vgl. Europäischer Rat in Rom. Tagung der Staats- und Regierungschefs der EG am 14. und 15. Dezember 1990. Schlußfolgerungen des Vorsitzes, in: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Bulletin (149)21.12.1990, S.1553/1554 Zurück

17) Ambitious aims for political union, in: Financial Times v. 27.10.1990, S.6; Italy's EC proposals run into trouble, in: Financial Times v. 23.11.1990; Who wants what in the brave new Europe, in: The Economist 317(7683)1.12.1990, S.24/25 Zurück

18) Vgl. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Bulletin (144)11.12.1990, S.1513/1514 Zurück

19) Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Bulletin (144)11.12.1990, S.1513; Claire Trean, Race between NATO priorities and EC priorities, in: Le Monde (English Section), The Guardian Weekly v.16.12.1990, S.13 Zurück

20) Vgl. zur nationalen Neubestimmung bundesdeutscher Sicherheitspolitik und den damit verbundenen Re-Nationalisierungstendenzen z.B. das aufschlußreiche Buch von Lennart Souchon, Neue deutsche Sicherheitspolitik, Herford und Bonn 1990 Zurück

21) Sicherheitspolitische Themen sind in Frankreich zwischen dem politischen System und seinem gesellschaftlichen Umfeld so gut wie kein Thema. Die sicherheitspolitische Diskussion findet quasi unter Ausschluß der Öffentlichkeit fast ausschließlich innerhalb der politischen Klasse statt. Der breite innergesellschaftliche Konsens über die außen- und sicherheitspolitische Ziele Frankreichs ist ein wesentlicher Grund für eine fehlende sicherheitspolitische Debatte in der Öffentlichkeit. Eine Änderung der grundlegenden außen- und sicherheitspolitischen Zielprioritäten durch die Regierung könnte jedoch zu einem innenpolitischen Konflikt führen, wenn das politische System sich auf neue Zielprioritäten einigt, die den mehrheitlich vorhandenen gesellschaftlichen Anforderungen widersprechen. Zurück

22) Zurückhaltung bei der Politischen Union, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 23.10.1990; Politics Today: Twin tracks that might converge, in: Financial Times v. 26.10.1990, S.19; Ambitious aims for political union, in: Financial Times v. 27.10.1990, S.6; Who wants what in the brave new Europe, in: The Economist 317(7683)1.12.1990, S.24/25 Zurück

23) Vgl. „Europa im Bündnis stärken“. Der britische Außenminister Hurd über Nato, WEU und EG, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 11.12.1990, S.4 und Hurd seeks to keep defence out of Rome Treaty, in: Financial Times v. 20.2.1991, S.5 Zurück

24) Vgl. Zurückhaltung bei der Politischen Union, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 23.10.1990; Who wants what in the brave new Europe, in: The Economist 317(7683)1.12.1990, S.24/25 Zurück

25) Vgl. näher David Buchan, A gulf in Europe, in: Financial Times v. 8.2.1991, S.14 und Jac Lewis, Gulf War: European unity fails its first test, in: Jane's Defence Weekly, 15(6)9.2.1991, S.177 Zurück

26) Vgl. Tragen Europas Generale bald auch eine WEU-Mütze?, in: Frankfurter Rundschau v. 13.3.1991 Zurück

27) „(a) as the framework for the collective defence of all allies …, (b) as a framwork for broad political cooperation among the Allies and as a forum where North America and Western Europe can discuss common security concerns, (c) as a stabilizing factor on the continent of Europe where the Soviet Union retains the largest military capabilities…“. Western European Union, The Future of European Security and Defence Cooperation. Security Architecture in the 1990's, 1990 Zurück

28) Western European Union, The Future of European Security and Defence Cooperation. Security Architecture in the 1990's, 1990, S.4 Zurück

29) Ebenda, S.4 Zurück

30) Ebenda, S.6 Zurück

31) Ebenda, S.8 Zurück

32) Vgl. European ministers propel WEU into front line, in: Financial Times v. 23/24.2.1991; Dutch warning on EC defence policy, in: Financial Times v. 27.3.1991; Tragen Europas Generale bald auch eine WEU-Mütze?, in: Frankfurter Rundschau v. 13.3.1991 Zurück

33) Vgl. Willem van Eekelen, Generalsekretär der Westeuropäischen Union, Die Westeuropäische Union und das Atlantische Bündnis im Rahmen neuer europäischer Sicherheitsstrukturen, Papier für: Sicherheitspolitisches Symposium: Künftige Aufgaben der Atlantischen Allianz, 24.2.1991, Deutsche Atlantische Gesellschaft e.V., mimeo Zurück

34) Vgl. Delors calls for a common European defence policy, in: Financial Times v. 8.3.1991; Delors argues for common defence policy, in: Jane's Defence Weekly, 15(11)16.3.1991, S.367; Dutch warning on EC defence policy, in: Financial Times v. 27.3.1991 Zurück

35) Die Präferenz für dWEU-Versammlung und WEU-Generalsekretär van Eekelen sprachen sich zur Wahrung der spezifischen Organisationsinteressen im Dezember 1990 explizit gegen übereilte Veränderungen in dem existierenden institutionellen Beziehungsverhältnis zwischen NATO, EG und WEU aus. Vgl. WEU gegen Integration in die EG, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 5.12.1990 Zurück

36) Western European Union, Assembly (36th Ordinary Session, 2nd Part), European Security and the Gulf Crisis, Report submitted on behalf of the Political Committee by Mr. De Decker, Rapporteur (Document 1244), Brüssel, 14.11.1990, S.22 Zurück

37) Ebenda, S.16/17 Zurück

38) Ebenda, S.17 Zurück

39) Vgl. näher David Buchan, A gulf in Europe, in: Financial Times v. 8.2.1991, S.14 Zurück

40) Vgl. Der Golf-Krieg entzweit die Europäer, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 22.1.1991 Zurück

41) Europäische Integration steckengeblieben, in: die tageszeitung v. 26.1.1991 Zurück

42) Vgl. Golfkrieg: Auch ein Sieg würde Washingtons Probleme nicht lösen, in: Wirtschaftswoche 25(5)25.1.1991, S.36-45 Zurück

Randolph Nikutta und Caroline Thomas sind wissenschaftliche Mitarbeiter am Berghof-Institut für Friedens- und Konfliktforschung Berlin.

Umweltverbände und Streitkräfte – Konflikte und Zusammenarbeit

Umweltverbände und Streitkräfte – Konflikte und Zusammenarbeit

Reinhard Sander

Prof. Reinhard Sander, zweiter Vorsitzender des Deutschen Naturschutzrings, hielt auf dem Symposion »Bundeswehr und Umweltschutz« eine Rede zum vorgegebenen Thema: . Dabei wurde wohl erstmalig die Bundeswehr offiziell von den Umweltverbänden in die Pflicht genommen. Wir dokumentieren in Auszügen. Die vollständige Rede ist beim DNR anzufordern.

„Gerne habe ich Ihre Einladung angenommen, um hier vor und mit Ihnen den Bereich Militär und Umwelt aus unserer Sicht zu diskutieren. Das Thema heißt im Untertitel »Konflikte und Zusammenarbeit«. Ich möchte mich in meinem Beitrag mehr den nicht unerheblichen Konflikten zuwenden, deshalb aber am Anfang dankbar anerkennen, daß es an der Basis unserer Umweltorganisationen vielfältige Formen der Zusammenarbeit mit einzelnen Vertretern der Bundeswehr gibt. Sie sind Mitglieder in unseren Umweltverbänden, sie beteiligen sich an unseren Aktionen, manche bekleiden sogar Funktionen.

(…) Deshalb einige Bemerkungen zu unserer Organisation, dem DNR, Dachverband der deutschen Natur- und Umweltschutzverbände, der 1950 gegründet wurde. Die 96 Mitgliedsverbände weisen eine sehr unterschiedliche Größe auf – von Großverbänden wie dem Deutschen Alpenverein mit über 500.000 Mitgliedern oder dem Verband der Gebirgs- und Wandervereine mit sogar über 800.000 Mitgliedern – gibt es kleine, gleichwohl sehr leistungsstarke Organisationen, wie z.B. die hessische Gesellschaft für Ornitologie und Naturschutz, die mit ihren paar Hundert Mitgliedern mehr zustande bringt als mancher große Verband. Sie alle haben sich auf unser Grundsatzprogramm verpflichtet, das unter Federführung des leider viel zu früh verstorbenen, vormaligen Staatssekretärs im Bundesinnenministerium, Herrn Dr. Günter Hartkopf, 1987 verabschiedet wurde.

Ich zitiere aus diesem Grundsatzprogramm: „In Verantwortung vor der Schöpfung ist es unser ethischer Auftrag, die Umwelt um ihrer selbst willen zu sichern und alles menschliche Leben umfassend zu schützen. Das ökologische Gleichgewicht ist zukünftig auf hohem Niveau zu stabilisieren und die dynamischen Prozesse sind zu erhalten. Die Nutzung der Natur und ihrer erneuerbaren Ressourcen darf deren Regenerierungsfähigkeit nicht übersteigen. Wasser, Boden, Luft und die freilebende Pflanzen- und Tierwelt sind sozial verpflichtende Güter des Allgemeinwohls, denen sich die private Nutzung unterzuordnen hat“.

Alle aktuellen globalen und regionalen Umweltprobleme zusammen haben die ökologische Krise unseres Planeten verursacht. Die Zerstörung der Ozonschicht, der Treibhauseffekt, die Klimaveränderung, die rasche Ausdehnung der Wüsten nicht nur in der Sahelzone; die Vernichtung der Regenwälder, des reichsten Ökosystems der Erde, der dramatische Anstieg der Zahlen aussterbender Tier- und Pflanzenarten, der Verlust schützenswerter Biotope, kurz: die Übernutzung der Lebensgrundlage der Erde durch die Menschen bedroht alles Leben.

In unserem Grundsatzprogramm heißt es u.a.: „Wirksamer Umweltschutz fordert von allen Menschen, umweltbewußter zu leben und unsere Existenzgrundlagen so pfleglich zu behandeln, daß auch künftige Generationen eine lebenswerte Umwelt vorfinden.“ Sie sehen, der DNR hat einen globalen und gleichzeitig lokalen Ansatz. Alle Umweltprobleme müssen entsprechend global und lokal erkannt und angegangen werden!

Das Militär als globaler Belastungsfaktor

Diese grundlegenden Gedanken und Maßstäbe müssen auch für das Militär gelten! Reden wir über das Militär, so müssen wir es weltweit als Faktor betrachten. Lassen Sie mich daher zuerst zur globalen Fragestellung äußern: Die Militärausgaben haben derzeit einen Anteil am Weltbruttosozialprodukt von 6,15%. Sie belaufen sich weltweit auf ca. 1000 Mrd. US-Dollar. Eine Umweltrelevanz ergibt sich allein schon daraus, da diese Gelder gebunden sind und nicht z.B. im dringend gebotenem internationalem Klimaschutz investiert werden.

Der Militär-Anteil an den Staatsausgaben beträgt weltweit nach UNO-Angaben ca. 25-28 %, in der Bundesrepublik sind es 1990 nach NATO-Kriterien offiziell 21,6% am Bundeshaushalt. (…) Die Folgen einer Klimaänderung lassen sich mit den Folgen eines Atomkrieges vergleichen. So kam Gro Harlem Brundtland auf der Konferenz »The Changing Atmosphere« 1988 in Toronto zu der Feststellung, daß nur ein Atomkrieg die zu erwartenden Auswirkungen der Klimaveränderungen übertreffen könne. Das Militär kann uns beides bescheren. Deshalb ist es mir ein besonderes Anliegen, hier noch einmal zu verdeutlichen, daß die Bundeswehr Mitglied eines Militärvertragssystems ist, das auf die Produktion, Erprobung und schlimmstenfalls Einsatz von Atomwaffen und biologischen sowie chemischen Waffen setzt. Atombombentests verseuchten die halbe Hemisphäre unseres Planeten. Eine UN-Kommission errechnete 1980, daß an den Folgen von 441 oberirdischen Tests in den 50er und 60er Jahren 150 000 Menschen gestorben sind oder noch daran sterben werden. Die radioaktiven Werte des Bodens, der Luft und im Wasser der Bundesrepublik waren in den 60er Jahren teilweise höher, als nach Tschernobyl. Landstriche wurden unbewohnbar, Tausende von Menschen wurden zwangsumgesiedelt (Bikini-Atoll). Allein die Atomwaffenproduktion in den USA hat ungeheure Folgen: Über 100 Milliarden US-Dollar, dies entspricht mehr als Zweidrittel des gesamten Haushalts der bisherigen Bundesrepublik, soll die Entseuchung der 280 Fabriken und 20 Waffenproduktionsgebiete in den USA kosten. (Inzwischen werden schon 200 Milliarden Dollar Kosten genannt!). Mit einer Infrastruktur im Werte von 24 Milliarden US-Dollar, auf einer Fläche von fast viermal der Größe wie des Saarlandes und mit einem jährlichen Etat von 8 Milliarden US-Dollar eine makabre Bilanz der Sicherheit! Nachdem in einzelnen Gebieten bewußt Millionen Liter schwer radioaktiv verseuchten Wassers freigesetzt wurden, u.a. wurden sie direkt ins Grundwasser gepumpt (!), ist eine Entseuchung dennoch nicht zu erreichen. Bei ihren Manövern zu Wasser verloren die Militärs bisher weltweit ein ganzes Atomwaffenarsenal. Über 50 Atomsprengköpfe und neun U-Boot-Reaktoren sollen laut Greenpeace auf dem Meeresgrund liegen. Insgesamt gab es über 1200 Unfälle an Bord dieser Schiffe. Alles potentielle Tschernobyls!

Auch auf dem Land fanden derartige Unfälle statt. Noch heute ist in Palomares in Spanien die Strahlung eines Atomwaffenunfalls von 1966 vorhanden. Das Militär krankt an einer zweifachen Irrationalität. Kommt es mit seinen Waffen zum Einsatz, zerstört es was es verteidigen soll. Atomwaffen, bio-chemische Waffen, aber auch großflächig einsetzbare konventionelle Waffen, stehen für die potentielle globale Vernichtung, den potentiellen Massenmord bereit.

Zivilisationsunverträglichkeit

Mit der Vorbereitung dieser vernichtenden Verteidigung wird das zu Verteidigende bereits schwer geschädigt. Das Militär vernutzt lebensnotwendige Ressourcen im gigantischen Ausmaß, belastet und zerstört regionale und globale Ökosysteme. Und ergänzend sei noch erwähnt, daß die Friedensforschung inzwischen nachweist, daß ein Industrieland, wie die Bundesrepublik, strukturell nicht verteidigungsfähig ist. Atomkraftwerke, zentrale Stromversorgung wie dezentrale Öllagerung in Häusern, Chemiefabriken – sie alle lassen einen Verteidigungsplaner erschauern. Die Zivilisationsverträglichkeit von Militärmaßnahmen scheint ebenso wenig gegeben wie eine Umweltverträglichkeit.

Die Umweltbelastung des Militärapparates in der Bundesrepublik wurde bisher weder vom Umweltminister (z.B. im Umweltbericht 1990), noch vom Umweltbundesamt (z.B. im Jahresbericht 1990) noch von Seiten des Raumordnungsminister (z.B. im Raumordnungsbericht 1990) dem Ausmaß entsprechend eingehend thematisiert. Will man auf bundesweite Daten und Fakten in diesem Bereich zurückgreifen, ist man auf Informationen der Bundeswehr selbst angewiesen.

Die Bundeswehr als Umweltschützer?

Die Bundeswehr ist seit Mitte der achtziger Jahre darauf bedacht, sich nach außen hin als sehr aktiven Umweltschützer darzustellen. Berichte und Studien zur Umweltsituation bleiben jedoch intern bzw. geheim oder werden äußerst beschönigt der Öffentlichkeit dargestellt. Angesichts der Tatsache, daß wir anteilig am Staatshaushalt über 21% dem Militär zur Verfügung stellen, halten wir diesen Zustand für nicht mehr tragbar. Selbst die parlamentarische Kontrolle versagt. Anfragen im Bundestag werden nur ungenügend beantwortet. Wir wissen von Beschwerden der Grünen und der SPD in diesem Bereich. Abgeordnete haben am meisten Einfluß auf die Gestaltung der Staatsausgaben. Will man umwelt- oder sogar klimaverträgliche Politik gestalten, brauchen sie zumindestens Basisinformationen und Kontrollmöglichkeiten. Hiervon kann im Bereich Militär und Umwelt nicht ausgegangen werden. Im Ausland dagegen, z.B. in Holland oder den USA, gibt es bereits umfassende, detailierte und teilweise jährliche Berichte über die Umweltsituation bei den Streitkräften. Angesichts der zugespitzten ökologischen Weltsitutation (vgl. den neuen Bericht der Enquete-Kommission zur Vorsorge und zumSchutz der Erdatmosphäre) und dem historischen Kontext (Wiedervereinigung/ Wiener Verhandlungen u.a.) ist es nicht mehr zu verantworten, daß grundsätzliche und lebenswichtige Fragen, welche man muß es wiederholen allein durch die Bundeswehr bisher 21% der Staatsausgaben betrafen, nicht mehr allein den Militärs zu überlassen. (…) Die US-Streitkräfte widmen sich, bedingt durch enorme Umweltbelastungen ihres Militärbetriebes, verstärkt der Problematik in den USA, ohne allerdings auf die Umweltbelastung ihrer Liegenschaften im Ausland einzugehen. Wir wissen inzwischen, wie schlimm es bei uns auf einigen Liegenschaften aussieht und fordern energisch, daß nun endlich ein Erhebung von Seiten der Bundesregierung durchgeführt wird. (…) Gerade auch angesichts der eklatanten Umweltprobleme der Militärs in der ehemaligen DDR und auf den alliierten Liegenschaften in der westlichen BRD muß die Forderung von Umweltschützern und Friedensforschernendlich umgesetzt werden: Wir brauchen sofort ein Sondergutachten des Rates für Umweltfragen der Bundesregierung zum Bereich Militär. Nun ist der Zeitpunkt gekommen, wo wir die Umsetzung verstärkt einfordern werden.

Offenheit

In unserem Grundsatzprogramm heißt es unter dem Punkt »Offenheitsprinzip«:

„Jedes Verschweigen oder Verniedlichen von Umweltschädigungen ist als kriminelles Unrecht zu behandeln. Nur absolute Offenheit von Politik, Staat und Wirtschaft mit unbeschränktem Akteneinsichtsrecht hilft, die verlorene Glaubwürdigkeit wiederzugewinnen.“ Dies gilt natürlich auch für die Bundeswehr! Nicht nur die USA verfügt über sehr interessante und umfangreiche und vor allem öffentlich nachzuvollziehende Umweltprogramme im Bereich ihrer militärischen Liegenschaften. Auch in der UdSSR gibt es solche Ansätze, aber auch Hinweise die befürchten lassen, daß es dort ebenfalls katastrophale Zustände gibt. Wenn wir uns die Hinterlassenschaften in der ehemaligen DDR betrachten, ist dieses nicht verwunderlich. 1988 kam ein Vorstoß von dem politisch beratenden Ausschuß der Warschauer-Pakt Staaten. Eine am 16. Juli 1988 veröffentlichte Erklärung widmete sich den »Folgen des Wettrüstens für die Umwelt und andere Aspekte der ökologischen Sicherheit«. Dort heißt es: „Das Wettrüsten zerstört in immer stärkerem Maße die Umwelt, läuft den Anstrengungen zum Umweltschutz zuwider und verhindert die Lösung der bedeutsamen Aufgabe, ein harmonisches Gleichgewicht von Gesellschaft, Technik und Natur auf der Erde herzustellen. Die Produktion, Lagerung und der Transport verschiedener Waffenarten, der Bau von Militärobjekten und die Durchführung militärischer Übungen haben unmittelbare, negative Auswirkungen auf die Umwelt“ (S. 23). Obwohl die NATO seit 1969 einen Umweltausschuß »CCMS« eingerichtet hat, vermissen wir bis heute eine Stellungnahme zum Bereich Militär und Umwelt.

Keine Privilegien für die Bundeswehr

Des weiteren fordert der DNR, daß alle Privilegien der Bundeswehr und der Alliierten Streitkräfte innerhalb des Umweltrechts gestrichen werden. So heißt es in unserem Grundsatzprogramm unter dem Punkt Gleichheitsprinzip: „Auch die Bundeswehr als integraler Bestandteil von Bürgern und Staat und die Alliierten Streitkräfte haben sich an den allgemein gültigen Umweltvorschriften zu orientieren“. Die Zusammenarbeit mit den Umweltverbänden setzt daher voraus, daß die Bundeswehr gewillt ist, sich wie alle Träger öffentlicher Belange innerhalb der Planung demokratisch einem Abwägungsprozeß zu stellen, ihre Umweltsituation zu veröffentlichen und Schädigungen zu stoppen, sowie alte und neue Altlasten mit Priorität anzugehen. Alle Maßnahmen, von der Müllsammelaktion einer Kompanie, über die Baumpflanzungen zum Tag der Umwelt, bis hin zur sogenannten Ölüberwachung mit Bundeswehrflugzeugen über der Nordsee sind sicher wertvoll. Aber andererseits gibt es Schießübungen der Bundeswehr in der Melldorfer Bucht bis in die jüngsten Tage. In der ehemaligen DDR sollen fast alle Truppenübungsplätze, auch die in Naturschutzgebieten gelegenen, übernommen werden wie z.B. das 250 ha große Gebiet in der Collwitz-Letzinger Heide nördlich von Magdeburg sowie die 1000 ha große »Sandische Wiese« auf der Halbinsel Zingst. Die Teilnehmer des 10. internationalen Wattenmeertages in Bremen haben bereits am 17.9. dagegen energisch protestiert und es wurden bereits über 34. 000 Unterschriften gegen Ihre Absichten gesammelt! In unserem Grundsatzprogramm heißt es zum schon erwähnten Punkt Offenheitsprinzip: „Erst wenn durch offengelegte Probleme und glaubwürdiges Verhalten der Verantwortlichen eine Basis des neuen Vertrauens geschaffen worden ist, können die Verantwortlichen ihren Anspruch auf Solidarität der Bürger zu ihren Gunsten mit Recht erheben. Der DNR wird diesen Weg von Offenheit zur Solidarität mitgestalten.“

Ich habe heute diese Gelegenheit genutzt, offen mit Ihnen zu reden und die Konflikte, wie sie sich mir aus der Sicht der Deutschen Umweltverbände darstellen, in aller Schonungslosigkeit anzusprechen. Angesichts der globalen Umweltsituation werden von uns allen wesentlich höhere Anstrengungen gefordert. Ernst Ulrich von Weizäcker beziffert sie in seinem neuen Buch »Erdpolitik« auf die fünf- bis achtfache Potenz, wenn wir den Wettlauf gewinnen wollen. Sie werden mir sicher zustimmen, daß dies in erhöhtem Maße für eine zahlenmäßig so starke und mächtige gesellschaftliche Kraft, wie die Bundeswehr gilt. Wir alle müßen auch tagtäglich auf dem komplizierten ökologischen Gebiet dazulernen und umdenken. Auf diese ständige Bereitschaft zum Umdenken kommt es an. Die deutschen Umweltschutzverbände leisten dabei der Bundeswehr gerne Hilfestellung, soweit das in ihren Kräften steht. Der DNR und seine Mitgliedsverbände sind jedenfalls zur Zusammenarbeit auf allen Ebenen herzlich gerne bereit, wenn es dadurch geht, den Umweltschutz konsequent voranzutreiben.

Umweltschutz auf Liegenschaften der Bundeswehr

Entsorgen durch Verschweigen

Umweltschutz auf Liegenschaften der Bundeswehr

von MÖP

Im April gab es Einiges zum Thema Umweltschutz bei der Bundeswehr zu lesen und den Bericht mit dem Titel: „Umweltschutz in der Bundeswehr – Grundlagen, Maßnahmen und Absichten“, der an den Verteidigungsausschuß ging. Den Parlamentariern wurde hierbei versucht darzustellen, wie gut organisatorisch die Bundeswehr gerüstet sei.

Umweltschutzkonzeption I

Dieses Dokument ist bei genauerer Analyse eine absolute Schönfärberei. Wie überall, wird über allgemeine Aussagen nicht hinausgegangen. 1990 sollen erstmals 30 hauptamtliche Sachbearbeiter für Umweltschutz (Umweltingeneure) eingestellt werden. „Ziel ist es, im Zuständigkeitsbereich der durch Umweltprobleme besonders belasteten Standortverwaltungen (!) einen fachlich qualifizierten Sachbearbeiter für Umweltschutz (Umweltingeneur/FH) einzusetzen, der bis zu drei (!) Standortverwaltungen zu betreuen hat. Es ist nicht beabsichtigt, bei jeder der 184 Standortverwaltungen einen Umweltingeneur einzusetzten“ (S.9).

In den Streitkräften selbst bestehe bisher keine eigene hauptamtliche Umweltschutzorganisation. „In Truppe und Wehrverwaltung wurden in den letzten Jahren mehr als 600 nebenamtliche (!) »Umweltbeauftragte« von ihren Kommandeuren/Dienststellenleitern bestimmt. Sie stehen in keinem Organisationsplan und sind für diese Aufgabe weder ausgebildet noch in Informationsprozesse einbezogen. Auf diese Beauftragten kann nach Ausbau der hauptamtlichen Umweltschutzorganisation zu einem großen Teil verzichtet werden“ (S.11). Weiterhin ist zu erfahren, daß seit 1978 39 Straf- und Verwaltungsverfahren wegen Umweltverstößen eingeleitet wurden. Der größte Teil endete mit Freispruch oder Einstellung.

Es folgen zum Thema Luftreinhaltung, Gewässerschutz, Abfallwirtschaft, Naturschutz auf Übungsplätzen etc. Maßnahmenbeschreibungen ohne jedoch die gegebene Situation zu schildern. Dies ist aber erforderlich, um überhaupt Aussagen zu den Maßnahmen zu machen. Es gibt aber für die Bundeswehr keine derartige Erhebung; dies muß man sich immer wieder vergegenwärtigen! Im Anhang der Berichtes finden sich Organisationsschemata der Umweltorganisation in den Streitkräften. Dies ist der erste Schritt, um überhaupt einmal organisatorische Ordnung in den Umweltbereich zu bringen.

Umweltschutzkonzeption II

Bereits im Oktober dieses Jahres wurde eine weitere »Fachkonzeption Umweltschutz der Bundeswehr« vorgestellt. Sie wurde am 24.10. im Verteidigungsausschuß beraten und soll Verteidigungsfähigkeit und Umweltschutz glaubhaft miteinander verknüpfen. Es müsse ein „verantwortbarer Weg“ gefunden werden. Die Verteidigungsfähigkeit dürfe allerdings nicht leiden. Die Konzeption wurde von dem BMVg erlassen (SIV 3 – Az 63-25-00/20.

Diese Konzeption (Nomen est Omen) gilt für den gesamten Verantwortungsbreich des BMVg. Wichtig ist, daß erstmals der Begriff »ökologische Sicherheit« von den bundesdeutschen Militärs besetzt wird. „Die Erhaltung des Friedens und die Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen müssen als gemeinsame Aufgaben verteidigungspolitischer und ökologischer Sicherheitsvorsorge gesehen werden“.

In der Fachkonzeption wird darauf hingewiesen, daß das immer dichter werdende Netz von Umweltauflagen offenkundig gemacht habe, daß bei der Umweltschutzpraxis in der Bundeswehr bisher eine grundlegende Konzeption gefehlt habe, die Ziele, Prioritäten, Aufgaben und Zuständigkeiten für die Bundeswehr bestimmt hätte. Noch einmal wird auf die 30 Umweltingeneure abgehoben. Sie sollen hier Abhilfe schaffen – nicht viel bei (ehemals) 670.000 Mitarbeitern. Die in der Fachkonzeption verwendeten Begriffe weichen zum Teil von gültigen Dienstvorschriften ab. „Folgedokumente haben sich an diesen Begriffen zu orientieren. Über deren Definition und Aufnahme in Dienstvorschriften wird gesondert entschieden“.

Unter dem Punkt »Zielsetzung und Geldzungsbereich« heißt es: „Angesichts abnehmender militärischer Bedrohung und zunehmender Umweltschäden und -gefährdungen werden Streitkräfte nicht allein nach ihrer Fähigkeit bewertet, den Frieden zu erhalten, sondern auch danach, welche Rücksicht sie dabei auf die Umwelt nehmen und welchen aktiven Beitrag sie zu ihrem Schutz leisten können.

Es ist notwendig, militärisches Handeln mit ökologischer Verantwortung zu verbinden. Umweltschutz ist integraler Bestandteil von Führungsverantwortung. Dabei gilt es, den Verfassungsauftrag Verteidigung trotz wachsender und einschränkender Regelungen und Erfordernisse zum Schutz der Umwelt unter den geringst möglichen Belastungen von Mensch und Natur sicherzustellen“.

Dieser Einleitungsabschnitt enttarnt die Bundeswehr und ihre Umweltschutzabsichten. Jahre des Nichtstuns sind nun offiziell aus legitimatorischen Gründen beendet worden. Es folgen auf 40 Seiten interessante Absichtserklärungen. Teilweise wird bewußt Öko-Vokabular gebraucht. Unter dem Punkt »Kooperationsprinzip« heißt es: „Die Kooperation mit gesellschaftlich relevanten Gruppen und Instutionen ist auf allen Ebenen zu verstärken. Die Zusammenarbeit mit Kommunen und Kontakte zu anerkannten Umweltverbänden heben das gegenseitige Verständnis (…)“.

Militärische Offensive hat sich bisher immer bewährt. Interessant ist, daß es eine „Bestandsaufname von Altlastenverdachtsflächen“ geben soll. „Diese Verdachtsflächen sind durch wissenschaftlich fundierte Gefährdungsabschätzungen zu bewerten. Danach ist ein Sanierungsprogramm zu erstellen. Diese Arbeiten sind begonnen worden; sie werden als vordringlich betrachtet. Zur Ermittlung möglicher Bodenkontaminationen durch militärische Nutzung sind intensive Untersuchungen angelaufen“.

Diese Aussage widerspricht allen bisher gemachten Angaben. Leider wird nicht bekannt gegeben, wieviel Untersuchungen wo gemacht werden, und warum diese »intensiv« sind. Die Studientätigkeit der Bundeswehr nimmt (verbal) enorm zu, doch die Abhilfemaßnahmen werden nicht geschildert. Nach „intensiven Vorarbeiten“ soll noch in diesem Jahr eine Erhebung über den teilweise schlechten Zustand des 5500 km langen Kanalnetzes der Bundeswehr erfolgen. Und zum Thema Abfall heißt es: „Eine geordnete Abfallwirtschaft ist zum Schutz von Boden und Grundwasser dringlich erforderlich. Fachaufsicht und Koordinierung sind zu intensivieren. Eine erste Voraussetzung ist die bereits erfolgte Einrichtung eines entsprechenden Dienstpostens für einen Sachbearbeiter (Umweltingeneur) bei jeder Wehrbereichsverwaltung“.

Erstmalig wird auch auf die »Gaststreitkräfte« in einem solchen Papier eingegangen: „Zu dem deutschen Recht (…) dem die Gaststreitkräfte genüge tun müssen (…), gehört auch das Umweltrecht, insbesondere die Vorschriften des Immissionsschutz-, Abfall- und Wasserrechts. (…) Die Verpflichtung der Gaststreitkräfte, das deutsche Recht zu achten, schließt auch die Verpflichtung ein, zu ständigen deutschen Behörden im Rahmen ihrer Aufgabenwahrnehmung Zutritt zu Liegenschaften zu gewähren“.

Auf die neue östliche Bundeswehr wird in diesem Bericht nicht eingegangen. Auch in ihrem Recht will sich die Bundeswehr verbal beschneiden, auch wenn sie keine einzige Privilegierungsklausen im Umweltrecht aufgeben will: „Dabei (bei der Abwägung) haben die Belange der Verteidigung gegenüber denen des Umweltschutzes grundsätzlich Gleichrang“. Auch der Punkt „Ausblick“ scheint von einem internen, kritischen Umweltschützer der Bundeswehr verfasst worden zu sein: „Der Handlungsbedarf zum Schutz Umwelt wird weiter steigen. Erhebliche Finanzmittel zur Sanierung und für die Umweltvorsorge werden notwendig werden,. Eine neue, umfassende Sicherheitskultur für die Industriegesellschaft in Deutschland zeichnet sich ab, um die Umwelt nachhaltig wiederherzustellen“. Auch der Schlußsatz dieser Konzeption verdeutlicht, daß bis heute wenig im Umweltbereich der Bundeswehr passiert ist: „Mit dieser Fachkonzeption erhält der Umweltschutz der Bundeswehr den Stellenwert, der ihm aufgrund der gesellschaftspolitischen, naturwissenschaftlich-technischen und aktuellen militärischen Entwicklung zugestanden werden muß. Dies setzt ein neues mitverantwortliches Denken bei allen Bundeswehrangehörigen voraus. Eine intakte Umwelt vermittelt dem Frieden in Freiheit höhere Qualität“.

Dies ist also eine offizielle Darstellung. Anhand von drei anderen Dokumenten zeigt sich schnell, daß die oben geschilderten bescheidenen Einsichten relativiert werden müssen. In Studien und Antworten auf Anfragen von Abgeordneten wird wie bisher verharmlosend und beschönigend die Umweltmisere der Streitkräfte dargestellt.

Interne Umweltstudie 1990

Für die »Ökologischen Briefe« hat die MÖP einen internen Bericht der Bundeswehr über deren „liegenschaftsbezogenen Umweltschutz“ analysiert. Diese »verschwiegene Umweltbilanz der Bundeswehr«, so der Titel des Artikels, zeugt von großen Widersprüchen. In einem 1989 von der MÖP veröffentlichten internen Bundeswehrschreiben hieß es bereits in amtsdeutsch zum Thema Öffentlichkeitsarbeit: „Informationsschriften zeigen teilweise ein unrealistisch günstiges Bild vom geschilderten Umweltzustand, weil Betroffene klare Aussagen zu hindern suchen“. Dies hat sich mit dem vorliegenden internen Bericht vom Juni 1990, welcher zur Zeit in der Bundeswehr verteilt wird, nicht geändert. Er hat zur Aufgabe dem Vorwurf entgegenzutreten, die Bundeswehr verschweige gravierende Umweltdefizite oder verdecke diese mit positiven Ergebnissen. Er baut auf die Untersuchung von 1988 auf, wobei jedoch konsequent alle verfänglichen Angaben zugunsten einer aufwendigen, inhaltsleeren Gestaltung herausgestrichen wurden. Der Bericht beginnt schon im Vorwort mit einer Hochstapelei: alle Zahlen und Fakten seien größtenteils einer eigens für die Umweltschutzbelange erstellten „Umweltdatei der Bundeswehr“ entnommen worden. Es handelt sich hierbei lediglich um das »Unterbringungs-Fachinformationssystem-Physischer Umfang (UFIS-PU)«, welches in erster Linie für die „Unterstützung der Managementaufgaben bei der Realisierung großer Bauvorhaben der Bundeswehr sowie der Erarbeitung und Durchführung der Infrastrukturgesamtplanung“ eingerichtet wurde und Ende 1988 noch in der Einführungsphase stand.

Zum Thema Luftbelastung:

Der Stromverbrauch stieg von 1159 MWh 1979 auf 1572 MWh 1988, wobei er am Gesamtenergieverbrauch nur ca. 10% nach Berechnung der Bundeswehr beteiligt sei. Der Gesamtwärmeenergieverbrauch der Bundeswehr betrug 1988 9,47 Mio MWh. Demnach muß aber der Stromanteil am Gesamtenergieverbrauch bei ca. 16,6% liegen!

Zum Thema Wasserbelastung:

In dem Kapitel „Die Nutzung des Wassers durch die Bundeswehr“ wird eine Frischwasserzufuhr von 70.000 m3 pro Tag für die Bundeswehr angegeben. Insgesamt werden 27.628.594 m3 Wasser pro Jahr verbraucht. 63 Liter pro Tag und Person wurden in der Studie ebenfalls errechnet. Nimmt man die Gesamtverbrauchszahl als Berechnungsgrundlage, so ergibt sich ein täglicher Wasserverbrauch von 75694,8 m3 pro Tag, 5000 m3 pro Tag mehr, als die Bundeswehr selbst errechnet. Demnach liegt der Tagesbedarf jedoch bei ca. 113 Liter pro Person. Vom Gesamtwasserverbrauch werden 10.416.717 m3 (37,70%) selbst gefördert. Insgesamt sind 21.397.900 m3 (77,45%) Grundwasser und nur 6.231.694 m3 (22,55%) „sonstige Förderung“. Die Trinkwasserversorgung wird im Bundesdurchschnitt im zivilen Bereich mit nur 65% durch Grundwasser gedeckt. Anscheinend werden nichteinmal 15% der Bundeswehr-Abwässer in den vorhandenen Anlagen erfasst.

Der Bericht von 1990 unterschlägt die Angaben zu den anfallenden Rückständen insbesondere den Sonderabfällen und die fehlenden Wasserrechtsbescheide. Insgesamt ist der Bericht weniger konkret als der von 1988. Die aufwendige Gestaltung läßt den Schluß nahe liegen, daß es sich hier lediglich um Argumentations- denn um Grundlagenmaterial für eine wirkliche und notwendige Umweltvorsorge handelt. Der Bericht macht überhaupt keine Aussagen zu Problemfeldern wie dem Fahrzeugbestand und -gebrauch, Flugbetrieb, Lärm insb. Betriebs- und Schießlärm, Altlasten und neue Altlasten von den z.B. 900 verschiedenen Munitionsarten, Manöverschäden oder Gebrauch von FCKW u.a.

Somit reiht sich der Bericht in die vielen anderen Berichte ein. Er wurde dem Verteidigungsauschuß erst zwei Tage nach der letzten Sitzung am 26.10.90 übergeben, vier Monate nach Erscheinen.

Antwort auf Anfrage der SPD ungenügend und falsch

Für die SPD hat die MÖP eine Stellungnahme zu der Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der SPD-Fraktion Zivilisationsverträglichkeit von Verteidigungsvorbereitungen im Frieden (Bt-Drs. 11/7826) erstellt. Die gesamte Antwort ist nur als ein weiterer, untauglicher Versuch zu werten, die katastrophalen Zustände im militär-ökologischen Bereich zu tarnen. Einige Antworten sind derartig »Schönfärberei«, daß von einer objektiven Antwort, die jedem Parlamentarier zustehen, nicht gesprochen werden kann. Da die Fragen nicht detailliert genug gestellt wurden, hat die Hardthöhe es zum Anlaß genommen, Allgemeinplätze statt wirkliche Zustandsbeschreibungen zu liefern. Es handelt sich eigentlich nicht um eine Beantwortung im herkömmlichen Sinne, sondern um eine Kommentierung, die den wirklichen Umweltnotstand verdecken soll. Es wurde empfohlen, Beschwerde bei Frau Bundestagspräsidentin Rita Süßmuth einzulegen. So heißt es z.B.: „Es gibt keinen Anhalt für Bodenverseuchungen durch Übungs- und Ausbildungsmunition auf Übungsplätzen der Bundeswehr und der Streitkräfte der Entsendestreitkräfte“. Es existieren jedoch bereits mind. vier Studien, die hier einen Zusammenhang nachweisen. Die ausführliche Anfragenanalyse kann für 10 DM incl. Porto bei der MÖP bestellt werden.

Einer weiteren Antwort auf eine SPD-Anfrage »Altlasten auf Liegenschaften der in Deutschland stationierten ausländischen Streitkräfte« (11/8101) kann man ebenfalls wenig entnehmen. Immerhin konnte sich die Bundesregierung zu folgender Aussage hinreißen lassen: „Durch den militärischen Betrieb auf den Liegenschaften der Streitkräfte sind bisher Gewässer- und Bodenbelastungen insbesondere durch Treib- und Schmierstoffe, chemische Lösungs- und Reinigungsmittel sowie durch Bleischrot beim Betrieb von Tontaubenschießständen bekannt geworden“.

Antwort auf Anfrage der GRÜNEN ungenügend und falsch

Einer Anfrage der GRÜNEN zum Thema »Militär und Klima« erging es bei der Beantwortung nicht viel besser. Zahlen und Aussagen stimmen wenig überein. Wie immer liegen der Bundesregierung keine Angaben zu den alliierten Streitkräften vor. Selbst beim Kerosinverbrauch, der sonst immer mit 900.000 t/a angegeben wurde, schweigt sie sich aus. Mengenangaben zum FCKW-Verbrauch gibt es nicht einmal für die Bundeswehr. Die Angaben zum Betriebsstoffverbrauch zeigen im Vergleich mit anderen bekannten Zahlen von 1985 und 1986 eine Zunahme. Das sie jetzt „tendenziell rückläufig“ seien, liegt wohl eher an der erwarteten Abrüstung. Die Angabe, die Bundeswehr produziere im Jahr ca. eine Milliarde m3 CO2 kann ebenfalls nicht stimmen. Umgerechnet ergebe dies ungefähr 2 Mio t CO2. Diese werden aber allein schon beim Kerosinverbrauch erzeugt. Daß die Bundesregierung nichts über die Klimawirksamkeit von Raketenstarts sagen will, ist angesichts der so groß angelegten Forschungs- und Aufklärungsaufgabe der Bundestags-Klima-Enquete-Kommission schlicht eine Farce. Nur oberirdische Atomwaffenexplosionen, Vulkantätigkeiten, Flugzeuge und Raketen können überhaupt direkt in die oberen Schichten der Atmosphäre eingreifen. Auch die vorgeschobene Unwissensheit gegenüber stark ozonvernichtenden Treibstoffadditiven ist in diesem Zusammenhang nicht zu akzeptieren. Obwohl die Bundesregierung spätestens durch die Anfrage für diese Thematik sensibilisiert sein müßte, gibt es keinerlei Hinweise auf geplante bzw. stattfindende Forschungsvorhaben.

Hintergrund dieser Anfrage der GRÜNEN ist eine Studie, die sie bei der Arbeits- und Forschungsstelle »Militär, Ökologie und Planung« (MÖP) e.V. in Bonn in Auftrag gegeben haben. Sie hat die Klimaverträglichkeit des Rüstungs- und Militärapparates zum Untersuchungsgegenstand.

Abschlußbericht des Unterausschusses »Militärischer Fluglärm/Truppenübungsplätze«

Ebenfalls am 24.10. wurde der Abschlußbericht des inzwischen dritten Unterauschußes »Militärischer Fluglärm/Truppenübungsplätze« beraten. Der Bericht ist äußerst mager (23 Seiten + Anhang) und gibt im wesentlichen die Presseverlautbarungen zum Thema Tiefflug, Soltau-Lüneburg-Abkommen, Truppenübungsplatz Grafenwöhr und Schießplatz Nordhorn-Range wieder. Im übrigen wird auf den umfangreichen Zwischenbericht verwiesen, den wir im MÖP-Rundbrief ausreichend kritisiert hatten. Interessant ist, daß es 104 Petitionen, davon zahlreiche von Gemeinden zum Thema Tiefflug, Lärm etc. gegeben hat. Unter dem Punkt Folgerungen und Ausblick heißt es: „Neben den dargestellten noch offenen Problemen zum militärischen Flugbetrieb und zu den Truppenübungsplätzen wird die weitere paralmentarische Aufmerksamkeit besonders den Altlasten auf Liegenschaften der in Deutschland stationierten ausländischen Streitkräfte gelten müssen“. Ob es allerdings in der nächsten Wahlperiode wieder einen Ausschuß geben wird, ist noch nicht bekannt.

Literatur

Olaf Achilles/Die GRÜNEN im Bundestag (Hg.): »Militär, Klima und Rüstung«; KÖF-Reihe Bd. 6; Alheim 1990
ders./MÖP e.V.: Stellungnahme zu der Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der SPD-Fraktion Zivilisationsverträglichkeit von Verteidigungsvorbereitungen im Frieden (Bt-Drs 11/7826); Bonn 1990
ders./dies.: »Verschwiegene Umweltbilanz der Bundeswehr« in: Ökologische Briefe 42; Frankfurt a.M. 1990
Bundesminster der Verteidigung: »Umweltschutz in Liegenschaften der Bundeswehr – Reinhaltung von Luft und Wasser Abfallwirtschaft«; Bonn November 1988
ders: »Umweltschutz in Liegenschaften der Bundeswehr – Luft, Wasser, Boden«; Bonn Juni 1990 1990
ders.: »Umweltschutz in der Bundeswehr – Grundlagen, Maßnahmen, Absichten«; Bericht des BMVg an den Verteidigungsausschuß des Deutschen Bundestages; Bonn 10.4.90
ders.: »Fachkonzeption Umweltschutz der Bundeswehr«, Bonn 4.10.90
Bundesregierung: „Antwort auf die Kleine Anfrage der SPD – »Altlasten der auf Liegenschaften der Deutschland stationierten ausländischen Streitkräfte““ (Bt-Drs. 11/8101)
dies.: „Antwort auf die Kleine Anfrage der SPD-Fraktion – Zivilisationsverträglichkeit von Verteidigungsvorbereitungen im Frieden (Bt-Drs 11/7826); Bonn 1990
dies.: „Antwort auf die Kleine Anfrage der GRÜNEN im Bundestag Militär und Klima“ (Bt.Drs. 11/8337)

Gerade auch angesichts der eklatanten Umweltprobleme der Militärs in der ehemaligen DDR und auf den alliierten Liegenschaften in der ehemaligen BRD muß die Forderung von Umweltschützern und Friedensforschern endlich umgesetzt werden: ein Sondergutachten des Rates für Umweltfragen der Bundesregierung zum Bereich Militär.

Aufruf: Bundesrepublik ohne Armee

Aufruf: Bundesrepublik ohne Armee

Aufruf für eine zivile Bundesrepublik Deutschland, eine Bundesrepublik ohne Armee (BoA)

von BoA

In vielen Initiativen der Friedensbewegung wird gegenwärtig das weitreichende Projekt einer Bundesrepublik ohne Armee (BoA) diskutiert und an einigen Orten bereits konkret vorbereitet. Unser Aufruf für eine zivile Bundesrepublik Deutschland soll diese Bemühungen ermutigen und das Anliegen überall bekanntmachen, damit sich viele und immer mehr Bürgerinnen und Bürger an seiner Verwirklichung beteiligen.
Seit Jahren hat die Friedensbewegung und haben mit ihr einsichtige PublizistInnen und PolitikerInnen festgestellt: jede Form eines Krieges der hochgerüsteten Blöcke in Europa ist beiderseits so sinnlos wie tödlich. Die dramatische Ereignisse der letzten Monate haben nunmehr den letzten Rest einer politischen Rechtfertigung für die Szenarien der Unvernunft beseitigt. Wenigstens eine europäische Welt ohne Rüstung und Militär ist eine realistische Perspektive geworden. Sie bietet erstmals tatsächliche Sicherheit vor einer Kriegsgefahr, die in jeder – auch der reduzierten und kontrollierten – Rüstung enthalten ist. Die Bundesrepublik Deutschland braucht ebensowenig eine Bundeswehr, wie die Deutsche Demokratische Republik eine Nationale Volksarmee.

Für beide deutsche Staaten eröffnet sich heute die historische Chance, vollständig abzurüsten. Dadurch können sie beide für sich und ihre Nachbarn unter Beweis stellen, daß wir Deutschen aus der Geschichte gelernt haben. Die Bundesrepublik kann hier und heute ohne jedes Risiko für die Sicherheit der Bevölkerung einseitig auf bewaffnete Streitkräfte – die Bundeswehr – verzichten. Sie leistete damit auch ihren besten und sichtbarsten Beitrag zur Entmilitarisierung und Demokratisierung der Deutschen Demokratischen Republik. Eine zivile Bundesrepublik und eine ihr folgende zivile Deutsche Demokratische Republik würden jenseits aller Zweifel beweisen, daß von den Deutschen keine Bedrohung ihrer Nachbarn mehr ausgehen kann. Nicht nur partielle Rüstung und Truppenverminderung, sondern die vollständige Auflösung der Bundeswehr – und parallel dazu der Nationalen Volksarmee – muß unsere konkrete politische Antwort sein auf die Erkämpfung der Demokratie durch das Volk der DDR.

Wir rufen die Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik auf, mit denselben Energien, die sie noch vor kurzem in der großen Friedensbewegung der achtziger Jahre entfaltet hatten, mit derselben Phantasie und Kreativität alle verfügbaren demokratischen und gewaltfreien Mittel zu mobilisieren, um die politischen Repräsentanten zu der historischen Entscheidung einer ersatzlosen Auflösung der Bundeswehr zu drängen. Die dadurch freikommenden Mittel werden zur sozialen Sicherheit, zum Umweltschutz, zur Hilfe für osteuropäische Länder, vor allem aber auch der armen und ausgebeuteten Völker der sogenannten Dritten und Vierten Welt und nicht zuletzt in der DDR dringend gebraucht.

Der Bundespräsident könnte selbst einen wichtigen ersten, wenn auch zunächst nur symbolischen Schritt in Richtung auf eine zivile Bundesrepublik Deutschland machen: wir bitten ihn, das bisherige militärische Zeremoniell bei Staatsempfängen durch zivile Formen der Begrüßung seiner, unserer Gäste zu ersetzen.

Komitee für Grundrechte und Demokratie, An der Gasse 1, 6121 Sensbachtal

Wie tief fliegt der Jäger ’90?

Wie tief fliegt der Jäger ’90?

Der Jäger 90 im Einsatzkonzept der Luftwaffe

von Otfried Nassauer

„Machen wir uns keine Illusionen. Heute sind es die Tiefflüge, morgen sind es die Manöver, übermorgen wird die gesamte Bundeswehr in Frage gestellt.“ Wo Herr Professor Doktor Scholz, Bundesminister der Verteidigung a.D., recht hat, da hat er recht. Und mit obigen Worten hat der Herr Minister ade Professor Doktor gar nicht so unrecht. Er weist nämlich darauf hin, daß der Ärger über die Symptome des Molochs Militär schnell zum politischen Widerstand gegen die Ursache, also das Militärische selbst werden kann. Ganz soweit führt dieser Artikel nicht, wohl aber möchte er die Notwendigkeit verdeutlichen, den Ärger über das verschwenderische Jagdflugzeug der neunziger Jahre und über den Lärmterror des Tieffluges in politische Opposition gegen eine der wesentlichen Ursachen beider Ärgernisse zu verwandeln: die nukleare Abschreckung, die NATO-Strategie der flexiblen Antwort und die in diese eingebettete Luftwaffendoktrin der NATO-Staaten.Diese politisch festgelegten militärischen Konzepte nämlich, machen beide, den Tiefflug und den Jäger 90 erforderlich und die sogenannte atomare »Modernisierung« darüberhinaus ebenso.

Die Phantom ist für ihr überaus lautes Triebwerk bekannt. Es ist so laut, daß gegen Ende der siebziger Jahre zwecks Lärmreduzierung eigens für die Phantom und den Starfighter eine gesonderte Mindestflughöhe im Tiefflug von 245 Metern (sonst gilt 150 Meter) verordnet wurde. 1980 wurde diese Maßnahme wieder aufgehoben; das Triebwerk aber blieb unverändert. Heute fliegt der Donnervogel – laut wie eh und je – so tief wie alle anderen Kampfflugzeuge auch: 150 m bzw 75 m in den Tieffluggebieten.

Fliegt der Jäger 90 tief?

Wenn er nicht vorher aus politischen oder wirtschaftlichen Gründen abstürzt, lautet die Antwort „JA!“. Das neue Jagdflugzeug soll in einer »Zweitrolle« als Jagdbomber dienen, es soll zudem „Begleitschutz für den Tornado“ fliegen. Zumindest für diese beiden Aufgaben ist es erforderlich, tief zu fliegen. So stehen denn auch „gute Tiefflugeigenschaften“ in der taktischen Forderung für das neue Milliardenprojekt.

Aber so einfach wollen und können wir es uns nicht machen. Denn mit guten Argumenten behaupten militärische Fachleute, daß moderne Jagdflugzeug-Technik die Tiefflugnotwendigkeit reduziert und modernste Triebwerke leiseren Lärm machen.

Dies macht eine genauere Betrachtung des Einsatz- und Aufgabenspektrums für das neue Jagdflugzeug sowie der Luftwaffendoktrin der NATO erforderlich.

Luftverteidigung im Tiefflug?

Hauptaufgabe des Jäger 90 ist – laut Darstellung der Bundeswehr – der Jagdkampf, also die Bekämpfung gegnerischer Flugzeuge in der Luft, vorrangig über dem Gebiet der Bundesrepublik. Jäger sollen Luftüberlegenheit herstellen, möglichst gar Luftherrschaft, über eigenem Territorium, aber auch in den gegnerischen Luftraum hinein. Das bemannte Flugzeug ergänzt dabei Flugabwehrgeschütze und -raketen, schließt Lücken in der Luftverteidigung, wenn der Gegner die bodengestützte Flugabwehr überwindet, eilt zu Hilfe, wenn mehr gegnerische Flugzeuge angreifen, als die Raketen und Geschütze bekämpfen können.

Weder dieses Bedrohungsbild noch die daraus abgeleitete Rechtfertigung der Arbeiten am Jäger 90 sind hier Gegenstand der Argumentation und Kritik. Gefragt werden soll nach der Rolle des Tieffluges bei diesen Aufgaben.

Heute ist für diese Aufgabe Tiefflug erforderlich. Der Jäger und Jagdbomber Phantom F-4F erfüllt sie zur Zeit. Die Bundesluftwaffe setzt ihn in vier Geschwadern dazu ein.

Gegnerische Jagdbomber fliegen zum Schutz vor frühzeitiger Entdeckung und zur Verkürzung der Zeit, in der sie von der Flugabwehr bekämpft werden können, so tief und so schnell wie möglich. Im Krieg liegen die Einsatzgeschwindigkeiten um 1000 km/h und die Einsatzhöhen zwischen 30 und 60 Meter, wenn möglich sogar darunter. Im Frieden ist die Ausbildung eingeschränkt. Mindestens 150 Meter Höhe (75 m für den simulierten Zielanflug in 7 Areas) und maximal 835 km/h, so lauten die Vorschriften.

In der Jagdflugaufgabe ist Tiefflug vor allem wegen der technischen Auslegung der Phantom erforderlich. Das ältere Radar hat eine relativ kurze Reichweite und kann tieffliegende Flugzeuge aus größerer Höhe nicht eigenständig gegen den Erdhintergrund von oben orten. Zudem unterstützt es nur Luft- Luftraketen relativ geringer Bekämpfungsreichweite. Eine Phantom muß Tiefflieger im Tiefflug bekämpfen, nachdem sie aus ihrem Warteraum an sie herangeführt worden ist. Wie ein Habicht stürzt sie dann auf ihren Gegner herab und versucht durch komplizierte Flugmanöver in eine günstige Schußposition für ihre Bordwaffen zu kommen.

Jagdflugzeuge modernerer Bauart – oder besser mit moderneren Radaren und Bordwaffen – können auf viele dieser Tiefflugmanöver verzichten: Ihre Radare erkennen auch den tieffliegenden Gegner schon aus großer Höhe und erlauben die Bekämpfung mehrerer Flugzeuge aus vielen Winkeln sowie auf große Entfernungen, selbst jenseits des optischen Horizontes, auf 50-80 km Entfernung. Das alles geht sehr schnell. Für den eigentlichen Luftkampf z.B. des Jägers 90 werden Treibstoffreserven für nur 2-3 Minuten als ausreichend erachtet.

Beim Jäger 90 ist ein solch modernes Hochleistungsradar vorgesehen; zwei Firmenkonsortien wetteifern seit Jahren verbissen um den Auftrag. Der Jäger 90 wird ein »look down shoot down« Radar erhalten. Beide Radarvorschläge unterstützen Jagdflugzeuge bei der Bekämpfung von oben nach unten und über große Distanzen mit Luft-Luft-Raketen mittlerer Reichweite. Die für den Jäger 90 vorgesehene Waffe dieser Art heißt AMRAAM (Advanced Medium Range Air to Air Missile).

Die neuen Fähigkeiten des Radars werden sicher viele heute im Tiefflug stattfindende Luftkämpfe überflüssig machen. Der Jäger 90 wird also weniger Tiefflug für die Luftverteidigungsaufgabe absolvieren müssen als die Phantom heute. Jedoch: Die Einrüstung des modernen amerikanischen APG-65-Radars (dessen Weiterentwicklung auch für den Jäger 90 angeboten wird) und der AMRAAM-Rakete sind auch schon bei der Kampfwertsteigerung der für den Jagdauftrag eingeplanten Phantom F4-F vorgesehen, die die Bundesluftwaffe ab 1991 durchführen will. Mit der Einführung des Jäger 90 wird die Tiefflugnotwendigkeit im Jagdkampf im Vergleich zur kampfwertgesteigerten Phantom also nicht nochmals wesentlich reduziert. Abzuwarten bleibt, ob des Jägers Triebwerk leiser Lärm machen wird.

Luftangriff – der Kern der Tiefflugaufgabe

Die von der NATO angenommene Bedrohungslage spiegelt auch die eigenen operativen Pläne. Man unterstellt dem Gegner ein Konzept, das man selbst durchzuführen gedenkt. „Unter dem Zaun der gegnerischen Luftabwehr hindurch“, die Deckung durch das Gelände nutzend, sollen NATO-Jagdbomber wie die F-16, der Tornado oder zukünftig die F-15E Strike Eagle ihre Ziele in der DDR, CSSR, in Polen und der UdSSR anfliegen. Der Jagdbomber bekämpft gegnerische Streitkräfte am Boden. Er stellt das eindeutig offensiv operierende Element der Luftstreitkräfte dar. Dabei sind verschiedene Aufgabenbereiche und Zielkategorien in verschiedener Tiefe im gegnerischen Hinterland zu unterscheiden.

1. Jagdbomber fliegen Luftnahunterstützung. Dies beinhaltet die direkte Bekämpfung gegnerischer Truppen aus der Luft in Unterstützung der eigenen Frontverbände. So kann man die eigene Verteidigung stärken, aber auch eigene Angriffe zu verwirklichen helfen. Feindliche Panzer und Kampftruppen sind die Hauptziele. Während die USA diese Aufgabe mit dem teilgepanzerten A-10 Kampfflugzeug (Remscheid) wahrnehmen, setzt die Bundesluftwaffe Alpha Jets und Phantom für diese Aufgabe ein.

Der tieffliegende Jagdbomber über oder knapp jenseits der Front ist Gefährdung durch die massierte Frontluftabwehr ausgesetzt. Je moderner die kleinen, tragbaren Flugabwehrraketen in der Vergangenheit wurden, desto gefährlicher wurden diese Einsätze. Die USA diskutieren noch, ob sie in der Zukunft ein speziell für diese Aufgabe konstruiertes Flugzeug weiter einsetzen wollen. Die Bundesluftwaffe hat entschieden, den leichten Jagdbomber Alpha Jet nicht zu modernisieren und diese Luftwaffenaufgabe zu reduzieren. Phantom und zusätzlich geplante Tornados sollen die Aufgabe – wo unbedingt erforderlich – übernehmen.

Diese Entscheidung fiel angesichts der steigenden Fähigkeit der Heeresartillerie, präzise und genau auch weiter entfernte Ziele zu bekämpfen. Die evolutionär-revolutionär verlaufende Entwicklung halb- und intelligenter Munition, zeitverzugsloser Aufklärung und moderner Raketenwaffen hat dies ermöglicht. Das Gefecht „in die Tiefe“ – wie in der US-amerikanischen AirLand Battle-Doktrin und der FOFA (Follow on Forces)- Doktrin der NATO angelegt – kann heute bereits mit moderner Artilleriemunition und Raketenwerfern wie MARS sehr effektiv geführt werden. Die Leistungskraft der Landstreitkräfte wird durch die Einführung konventioneller ATACMS-Systeme (Army Tactical Missile System, ein Zweifachraketenwerfer mit ca 150-200 km Reichweite, der zu Beginn der 90er Jahre eingeführt werden soll) weiter steigen. Eine enorme Steigerung der Heereskampfkraft entwickelt sich auch aus der zunehmenden Einführung von Kampfhubschraubern.

Sowohl in den USA als auch z.B. bei der Bundeswehr sind aus diesen Entwicklungen erste Schlußfolgerungen gezogen worden. Begann in der Vergangenheit die Planungshoheit der Luftwaffen (gegenüber der der Heere) ca 30 km jenseits der vorderen Linie der eigenen Verbände, so wird der Planungsbereich des Heeres nunmehr auf 100 km erweitert, eine Auswirkung der zunehmenden Durchsetzung der offensiven operativen und taktischen Vorstellungen der AirLand Battle Doktrin in der NATO.

In der Zukunft wird mit dem weiteren Zulauf modernster und effektiver Heeresartillerie der Bedarf an Luftnahunterstützung zurückgehen. Die Luftwaffe wird vor allem und wenn möglich nur noch bei Bedarf einer umfangreichen Schwerpunktbildung in dieser Aufgabe eingesetzt werden. Dies gilt insbesondere, wenn ein feindlicher Durchbruch durch die eigenen Reihen verhindert werden soll oder wenn eigene Verbände einen Durchbruch durch die gegnerische Front durchführen wollen. Die Einführung von Abstandswaffen mit intelligenten Submunitionen auch bei den Luftwaffen soll dabei die Notwendigkeit reduzieren, in den Wirkungsbereich der gegnerischen Luftabwehrwaffen einfliegen zu müssen. Der Anflug zum Einsatzgebiet wird trotzdem weiter im Tiefflug geschehen.

2. Jagdbomber riegeln das Gefechtsfeld ab. Hier werden Flugzeuge eingesetzt, um die gegnerischen Fronttruppen von ihrem Nachschub abzuschneiden. Treibstoffe, Munition, Material und frische Verbände, die in großer Zahl an die Front herangeführt werden müssen, sollen angegriffen und zerstört werden, bevor sie die Front erreichen. Mobile Ziele wie LKWs, Tankfahrzeuge, Truppentransporter und Kampffahrzeuge sind in großer Zahl zu bekämpfen, ebenso wie stationäre Ziele, z.B. frontnahe Depots, Befehlszentralen, Verkehrsknotenpunkte und -engpässe oder Einsatzflugplätze. Diese Ziele liegen bereits tiefer auf gegnerischem Territorium, 15, 30, 100 km von der eigentlichen Front entfernt. Moderne konventionelle Munitionen und Aufklärungsmittel machen auch auf diese Entfernungen schon heute effektive Bekämpfung möglich. In der Zukunft werden diese Möglichkeiten weiter steigen, nicht nur für die Luftwaffen, sondern auch für die Heeresraketenartillerie.

Der Flug ins gegnerische Hinterland erfolgt im Tiefstflug. Je weiter die Ausrüstung der Luftwaffen mit modernsten konventionellen Munitionen voranschreitet, desto deutlicher werden hier Schwerpunkte gesetzt werden. Dem Erfolg der Abriegelungseinsätze wird entscheidender Einfluß auf den Erfolg der Bodentruppen beigemessen. Die Bundesluftwaffe setzt für diese Aufgabe alle Typen von Jagdbombern ein, die ihr zur Verfügung stehen, den Alpha Jet, die Phantom und den Tornado. Auch der Jäger 90 – in seiner Zweitrolle als Jagdbomber – wird in diesem Aufgabenspektrum zum Einsatz kommen.

3. Jagdbomber haben die Aufgabe der Abriegelung. Die Abriegelung unterscheidet sich von der Gefechtsfeldabriegelung vor allem durch die noch größere Entfernung der Ziele, die bekämpft werden sollen. Diese liegen oft Hunderte von Kilometern jenseits der Front. Es handelt sich auch hier um stationäre Ziele wie Depots, Verkehrsknotenpunkte, Engpässe wie z.B.die Eisenbahnspurwechselzone zwischen der UdSSR und Polen oder wichtige Flußbrücken, bedeutende Infrastruktureinrichtungen und Kommandozentralen. Zum Teil gilt es auch, Verstärkungen der Frontkampftruppen auf dem Wege nach vorne zur Front zu bekämpfen. Schwerpunktwaffe der Bundesluftwaffe für diesen Aufgabenbereich ist der Tornado. Andere Jagdbomber können ergänzungsweise eingesetzt werden.

Erneut ist der Tiefflug das wesentliche Mittel zur Durchsetzung gegen die gegnerische Luftverteidigung. Abriegelungseinsätze haben einen sehr hohen Tieffluganteil.

4. Jagdbomber bekämpfen die gegnerische Luftwaffe am Boden. Gleich zu Beginn eines Krieges wird ein entscheidendes Gefecht ausgetragen – das um die Luftüberlegenheit. Dieses findet aber nicht nur in der Luft – Kampfflugzeug gegen Kampfflugzeug – statt. Der ehemalige Luftwaffeninspekteur und heutige stellvertretende NATO-Oberbefehlshaber Eberhard Eimler machte dies schon im Juni 1984 so deutlich: „Der Durchbruch im Kampf um die Luftüberlegenheit muß jedoch durch Initiative und ständige Offensive erreicht werden. Diese Forderung steht am Anfang der Luftkriegslehre.(…) Alle Kampfflugzeuge der Luftwaffe haben die Fähigkeit, zum initiativ geführten Kampf gegen Luftstreitkräfte beizutragen. Mit dem Tornado und seiner modernen Bewaffnung werden wir auf lange Sicht ein hervorragendes System mit guter Erfolgsaussicht auch im Kampf gegen die Basen (d.h. Flugplätze) einsetzen können.“

Der Gedanke ist klar und einfach: Entscheidend ist, die gegnerische Luftwaffe zu bekämpfen bevor sie abheben kann, sie zumindest aber zu zwingen, auf Hilfsflugplätze auszuweichen. Gleich zu Beginn eines Krieges also gilt es, des Gegners Haupteinsatzflugplätze auszuschalten. (Hier lauert die Gefahr eines Wettlaufes um einen Präventivschlag.) Dies geschieht im Tiefflug, da diese Flugplätze tief im gegnerischen Hinterland liegen und über eine ihrer Bedeutung entsprechende eigene Luftabwehr verfügen. Moderne, wirksame, konventionelle Submunitionen, speziell für die Zerstörung von Startbahnen und Flugzeugbunkern ausgelegt, gehören deshalb schon heute zur Bewaffnung der Jagdbomber. Zukünftig sollen Abstandswaffen, also Raketen und Cruise Missiles mit diesen Submunitionen bestückt werden, um die Wirksamkeit der Luftwaffe im Kampf gegen die gegnerischen Luftstreitkräfte am Boden weiter zu verstärken.

FOFA – Der Tiefflug gewinnt an Bedeutung

FOFA – der Angriff auf die nachfolgenden Kräfte – ist seit 1984 Bestandteil der NATO-Strategie und der Luftwaffendoktrinen. Im Gefolge der Einführung der AirLand Battle Doktrin beim US-Heer und der Air Superiority Doktrin bei der US-Luftwaffe mit ihren Akzentsetzungen bei Angriffen auf Ziele im gegnerischen Hinterland, ist FOFA die komplementäre Ergänzung und Anpassung auf NATO-Ebene. FOFA beinhaltet eine deutliche Schwerpunktsetzung bei Angriffen der Land- und vor allem Luftstreitkräfte auf Ziele tief im gegnerischen Hinterland und verstärkt die Offensivorientierung der NATO-Luftwaffendoktrin. Vorrangig sind die Bekämpfung gegnerischer Luftstreitkräfte am Boden und Abriegelungseinsätze, je nach Definition fallen auch Einsätze zur Gefechtsfeldabriegelung darunter.

Dieser neue Akzent erfordert in erheblich gesteigertem Umfang Tiefflugeinsätze.

Der INF-Vertrag wird durch Tiefflug kompensiert

Der INF-Vertrag führt zur Beseitigung atomarer Mittelstreckenraketen mit 500-5500 km Reichweite, soweit diese an Land stationiert sind. Die NATO verliert dadurch wesentliche Teile ihrer Möglichkeiten, Ziele tief im Gebiet der Warschauer Vertragsorganisation und insbesondere in der UdSSR von Westeuropa aus atomar bedrohen zu können. Seit Abschluß des Vertrages laufen deshalb intensive Gespräche und Untersuchungen, wie die verlorenen Möglichkeiten zurückgewonnen werden können.

Unter der irreführenden Überschrift »nukleare Modernisierung« plant die NATO, dies im Kern durch folgende Schritte zu erreichen:

  • durch die Stationierung zusätzlicher nuklearfähiger Jagdbomber
  • durch die Einführung nuklearer Abstandsflugkörper für Flugzeuge
  • und ein Lance-Nachfolgesystem mit knapp 500 km Reichweite für Ziele in geringerer Entfernung.

Der Schwerpunkt liegt eindeutig bei den luftgestützten Systmen. Sie sollen, soweit möglich, die Aufgaben der »Nach“Rüstungswaffen übernehmen. Hier liegt auch eine Ursache dafür, daß die NATO bei den Wiener Verhandlungen über konventionelle Rüstung nicht über ihre überlegenen Jagdbomberstreitkräfte verhandeln will; hier liegt eine Ursache dafür, daß die USA bei den START-Verhandlungen luftgestützte Atomwaffen mit weniger als 1500 km Reichweite ausklammern und eine neue Grauzonen-Rüstung schaffen wollen.

Diese Rückverlagerung wichtiger nuklearer Abschreckungsaufgaben zu den Jagdbomberverbänden wird die Tiefflug„notwendigkeit“ erneut steigern. Dies kommt bereits in der Absicht der USA zum Ausdruck, neue F-15E Jagdbomber in Bitburg und zusätzliche F-111 in Großbritannien zu stationieren. Es wird den Ruf nach zusätzlichen Tornados in nuklearer Rolle bei der Luftwaffe lauter werden lassen, da beim Schwerpunkt FOFA mit der Hauptwaffe Tornado mit konventioneller Munition ja keine Abstriche gemacht werden sollen.

Der Tornado braucht Hilfe

Die Aufgaben des Tornados wachsen, seine Qualität als Tiefflugjagdbomber wird immer mehr gefragt. Im Gegensatz dazu aber wachsen die Zweifel, ob der Tornado kann, was er soll.

Schon seit geraumer Zeit fürchtet die Bundesluftwaffe, daß gesteigerte Fähigkeiten der gegnerischen Luftabwehr ihr die Freude am Besitz des noch „teuersten Waffensystems seit Christi Geburt“ vergällen könnte. Man fürchtet, zu viele der Milliardenvögel würden abgeschossen, wenn sie für ihre umfangreichen FOFA-Aufgaben immer wieder und in großer Zahl in den gegnerischen Luftraum eindringen müssen. Gefahr droht insbesondere

  • von der gegnerischen Luftabwehr in Frontnähe
  • von starker Luftverteidigung rund um wichtige Ziele im Hinterland
  • von den Jagdfluzeugen der Warschauer Vertragsorganisation, die jetzt auch mit "look down shoot down" – Radaren ausgerüstet werden.

Die Luftabwehr rund um wichtige Ziele soll der Tornado künftig meiden, indem er mit Abstandswaffen ausgerüstet wird. Er braucht das Ziel dann nicht mehr direkt zu überfliegen. Gegen die Luftverteidigung in Frontnähe bekommt der Tornado einen Verwandten als Begleiter, den ECR-Tornado, von dem gerade 35 für über 3 Mrd. DM beschafft werden. Der ECR-Tornado (Electronic Combat and Reconnaissance) soll die gegenerische Luftverteidigung elektronisch blenden und durch moderne Raketen bekämpfen, eine Schneise für nachfolgende normale Tornados schlagen und zugleich Aufklärung betreiben. Gegen moderne Jagdflugzeuge aber hilft das alles nichts. Diese können dem Tornado nur durch eigene Jäger als Begleitschutz vom Halse gehalten werden. Deshalb hat der Jäger 90 die Aufgabe, bis zu Entfernungen über 1000 km für den Tornado Begleitschutz zu fliegen.

Der Jäger 90 ist ein Mehrzweckflugzeug

Und welche Rolle hat der Jäger 90 nun bei alledem? In wieweit muß er zum Tiefflug geeignet sein? Hier sind mehrere Aufgabenfelder zu unterscheiden.

1. In seiner Primäraufgabe »Jagdkampf« wird der Jäger 90 (s.o.) erheblich weniger Tiefflug absolvieren müssen als eine Phantom heute. Dies ist die Folge moderner Bewaffnungen und moderner Bordradare.

Das gilt nicht, wenn der Jäger 90 als Begleitschutz für den Tornado eingesetzt wird. Auch er muß dann im Tiefflug in den gegnerischen Luftraum eindringen, danach allerdings steigt er, um seine Schutzaufgabe wirkungsvoll erfüllen zu können, auf mittlere Höhe auf.

2. In seiner "Zweitrolle" als Jagdbomber wird der Jäger 90 seine Tiefflugeigenschaften beweisen müssen. Diese Zweitrolle wird seitens der Bundesluftwaffe schamhaft versteckt. Sie sei ein »Abfallprodukt«, da jedes Jagdfluzeug auch Jagdbomberaufgaben erfüllen könne. Die Konstruktion des Flugzeuges werde nur von der Jagdrolle bestimmt, nicht aber von der Jagdbomberrolle.

Doch was scheinbar nur ein Nebenprodukt modernen Kampfflugzeugbaues ist, spielt nur in der Öffentlichkeit keine Rolle. Wer hinter die Kulissen schaut, wird schnell feststellen, daß der Jäger 90 ein Mehrzweckkampfflugzeug sein wird und ein ganz schön formidabler Jagdbomber. Dafür sprechen eine ganze Reihe von Fakten: Die Bundesluftwaffe führt seit geraumer Zeit ein Untersuchungsprogramm für die Luft-Boden-Bewaffnung des Jägers durch, also für die Jagdbomberrolle. Zu den industrieseitig für den Jäger 90 vorgesehenen Bewaffnungen gehört auch die Modulare Abstandswaffe (MSOW/ MAW), eine zukünftige Hauptwaffe für den Tornado. Der Jäger 90 erhält ein Radar, das insbesondere Forderungen nach einer guten Zielauflösung am Boden entsprechen soll und mit entsprechenden Betriebsarten ausgestattet sein soll. Argumente, der Jäger erhalte nicht einmal einen Bombenrechner, sind irreführend, denn das integrierte Steuerungs- und Operationsführungssystem eines modernen Kampfflugzeuges ist in Verbindung mit einem modernen Radar in der Lage, diese Aufgabe mit zu erfüllen. Und – zuguterletzt – das Jagdflugzeug 90 wird von Gewicht, Größe und Zuladungskapazität so ausgelegt, daß seine Eignung zum Jagdbomber kaum in Zweifel gezogen werden kann. Exportinteressen werden ein Übriges tun, die Betonung der Jagdbomberrolle nicht zu kurz kommen zu lassen, denn Luftangriffsflugzeuge lassen sich nun einmal besser verkaufen als „reine“ Luftverteidigungsflugzeuge.

Im Kontext der Veränderungen der Schwerpunktsetzungen in der NATO-Luftwaffendoktrin wird also auch der Jäger 90 zu einer Aufrechterhaltung der Tiefflugbelastung in der Bundesrepublik erheblich beitragen.

Ansätze für Schlußfolgerungen

Tiefflug ist – in der Logik der NATO-Strategie – zwingend notwendig. Ohne Tiefflug läßt sich die Luftwaffendoktrin der NATO-Staaten in ihren wesentlichen Teilen nicht durchführen. Diese wesentlichen Teile sind die offensiv-orientierten, gegen Ziele tief im gegnerischen Hinterland gerichteten Luftwaffeneinsätze. Die Tiefflugnotwendigkeit orientiert sich durch die technologischen Entwicklungen immer weitergehend auf die Durchführung dieser offensiven Doktrinbestandteile. Für die defensiven Doktrinanteile wird er zukünftig noch weniger Bedeutung haben. So standen schon Mitte der achtziger Jahre trotz der älteren Radare nur etwa 30 Tiefflugeinsätze bei Jagdflugzeugen etwa 80 solchen beim Tornado im taktischen Jahresausbildungsprogramm gegenüber. Der Jäger 90 ist zukünftig in die Durchführung solcher offensiven Operationen eingebunden. Argumentationen, die dieses Flugzeug öffentlich als »Defensivsystem« par excellence rechtfertigen, stehen auf tönernen Füßen. Dasselbe gilt für Behauptungen, die Einführung des Jäger 90 werde eine signifikante Reduzierung des Tieffluges zur Folge haben. Die Bedeutung offensiv orientierter Tiefflugeinsätze steigt:

  • Im Rahmen von FOFA werden konventionelle Einsätze gegen wichtige militärische Ziele im Hinterland immer wichtiger. Dies wird verstärkt, weil der INF-Vertrag konventionelle landgestützte Mittelstreckenraketen ebenso wie atomare verbietet.
  • Nach dem INF-Abkommen spielen nuklear verwendbare Flugzeuge mit hoher Eindringfähigkeit ins gegnerische Hinterland eine entscheidende Rolle bei der Wiedergewinnung der durch den INF-Vertrag verloren gehenden militärischen Optionen, Ziele in Polen und bis tief in die UdSSR selektiv und nuklear bedrohen zu können. Für die Bundesregierung kommt der Bereithaltung solcher Systeme unter dem Gesichtspunkt der Erhaltung und Ausweitung ihrer »nuklearen Teilhabe« große Bedeutung zu. Sie wird ihr Engagement zu erhöhen suchen.

Eine Kritik, die schlicht am Fluglärm ansetzt, nicht aber nach den Ursachen, nach der Begründung für Tiefflug fragt, greift deshalb zu kurz. Im Rahmen geltender NATO-Strategie kann nur an den Symptomen kuriert, über Tiefflugbe- und einschränkungen diskutiert werden. Wünschen nach Reduzierung werden zurecht immer wieder Forderungen nach Intensivierung als von der fliegerischen Auftragserfüllung her geboten entgegengehalten werden können. Und das Ergebnis ist vorgezeichnet: Ein Kompromiß, der keinesfalls das Ende des Tieffluges, allenfalls dessen Beschränkung, Verlagerung ins Ausland oder »gerechtere Verteilung« zur Folge haben wird.

Die Kritik in neue Bahnen lenken

Es mag ein Vermittlungsproblem bestehen. Aber ohne an der Kritik der NATO-Strategie der flexiblen Antwort und deren Umsetzung in der Luftwaffendoktrin anzusetzen, kann ein „Stopp aller Tiefflüge“ einschließlich des Verzichtes auf den Lärmexport ins Ausland nicht begründet, geschweige denn durchgesetzt werden. Überspitzt formuliert, kann gesagt werden: Gleichgültig ob

  • es um den Verzicht auf den Jäger 90
  • um einen Stopp der Tiefflüge
  • oder um eine Verhinderung der als »Modernisierung« getarnten neuen Runde atomarer Aufrüstung

geht: Diese Ziele sind nur überzeugend proklamierbar, wenn die Kritik der NATO-Strategie in den Vordergrund rückt. Sie sind nur rational begründbar im Hinblick auf einen Abschied von der Strategie der flexiblen Antwort. Dies schließt die notwendige Überwindung der Abschreckung zwangsläufig mit ein. Immanente Kritik bei scheinbarer oder indirekter Anerkennung der NATO-Strategie greift zu kurz und leitet Motivationen, Energien und Phantasien vieler Menschen fehl.

Betroffenheit mobilisiert vergleichsweise kurzfristigen Widerstand. Langer Atem in der Opposition bedarf der Motivation durch rationale Analyse, durch Kritik, die an die Ursachen geht. Langer Atem braucht manchmal gar den Mut, auf den schnellen Mobilisierungserfolg zu verzichten, damit eine langfristige wirkungsvolle Orientierung entstehen kann. Diese Chance besteht – es gilt sie zu nutzen, damit unser Herr Professor Doktor Bundesminister a.D. auch wirklich recht behält, wo er gar nicht so unrecht hat. Abgewandelt: „Machen wir uns keine Illusionen. Heute sind es die Tiefflüge, morgen ist es der Jäger 90 und die Luftwaffe, und übermorgen wird die gesamte NATO und ihre Strategie in Frage gestellt.“

Otfried Nassauer ist Militärexperte und Journalist in Hamburg

Was heißt und zu welchem Ende betreiben wir die BoA?

Was heißt und zu welchem Ende betreiben wir die BoA?

von Ekkehart Krippendorff

Friedrich Schiller, von dem diese klassisch gewordene (wenn auch, wegen ihres grammatischen Fehlers zeitgenössisch kritisierte) Formulierung für seine Jenaer Antrittsvorlesung über »Universalgeschichte« stammt, hatte es schwerer was den ersten und leichter was den zweiten Teil der Frage anbetrifft. BoA – es hat sich inzwischen herumgesprochen – heißt schlicht der heutigen Abkürzungsmode folgend (NATO, KSZE, MBFR …) „Bundesrepublik ohne Armee“. BoA steht für eine Perspektive, eine langfristige Zielvorstellung, eine realistische Utopie, eine strategische Orientierung in der Konfusion, der Vielfalt, dem unübersichtlich gewordenen Dickicht der gegenwärtig gehandelten Friedenskonzepte für Mitteleuropa und darüber hinaus – als da sind: atomwaffenfreie Zonen, defensive Verteidigung, Aufkündigung von Jalta, vertrauensbildende Maßnahmen, Frieden schaffen ohne Waffen, doppelte und dreifache Null-Lösung, Gemeinsame Sicherheit usw.

Übernommen bzw. übertragen wurde das BoA-Kürzel von der beachtlichen und mutigen „Gesetzesinitiative Schweiz ohne Armee“ (GSoA), die in diesem kleinen und hochmilitarisierten Land immerhin die besten und bekanntesten Schweizer zu ihren Befürwortern hat (Dürrenmatt und Frisch z.B.), d.h. die, denen dieses Land seinen Respekt und seine Anerkennung als Kulturvolk verdankt, was man von der Schweizer Schokolade oder den Banken nicht wird behaupten können. Darin steckt auch die Besinnung auf eine Umwertung der Werte, oder richtiger: auf ein Zurechtrücken, eine Richtigstellung von Werten, die ein Volk und eine Kultur auszeichnen und ihnen Würde verleihen – Literatur, Dichtung, Kunst, aber auch Zivilität, Humanität, Demokratie, Menschenwürde, Rechtssicherheit.

Nach 1945 unvorstellbar: ein hochgerüsteter deutscher Staat

1945 schien auch in Deutschland – endlich – der Boden bereitet, um Abschied zu nehmen von einer fatalen, zerstörerischen Werte-Verkehrung, die nationale Größe ausschließlich auf Machtstaatlichkeit, Blut und Eisen – konkret: auf eine starke Armee als Garant internationalen Respekts – gegründet gesehen hatte. Dieses Deutschland wollte und sollte nie wieder als bewaffnete Macht zur Völkerfamilie gehören, sondern sich beweisen, seine neue Identität finden durch eine ernsthafte und radikale Neu- und Rückbesinnung auf echte, dauerhafte und vor allem friedliche Werte. Dann aber änderte sich bekanntlich die sog. Weltlage, d.h. sie wurde geändert, und zwar aus der alten Logik der Machtpolitik heraus, deren Spielregeln folgend, die trotz der Kriegskatastrophe nicht wirklich infrage gestellt wurden (die UNO war ein halbherziger Ansatz dazu gewesen). Den beiden deutschen Teilstaaten wurde es nicht gestattet, einen radikalen Weg zu einer neuen, u.a. nicht bewaffneten Identität weiterzugehen, was den politischen Klassen durchaus entgegenkam, denn Weniges ist so schwierig wie Umdenken, Neubeginnen, Radikalität in Gesellschaft und Politik. Damals, in den 50er Jahren, war das Volk, das eine Wiederbewaffnung nicht wollte und sich so gut es unter den Umständen möglich war, dagegen wehrte, radikaler, politisch lernfähiger als seine Regierungen, deren taktischem Geschick bei der Wiederaufstellung von Militär es schließlich unterlag. Eine „Bundesrepublik ohne Armee“ war einer Mehrheit der westdeutschen Bevölkerung noch vor vierzig Jahren keineswegs unvorstellbar – im Gegenteil: unvorstellbar erschien damals ein hochgerüsteter deutscher Staat. Trotzdem wurde er durchgesetzt. Daran ist politisch und historisch nicht nur immer wieder zu erinnern, sondern auch zukunftsorientiert anzuknüpfen.

Natürlich ist die Geschichte nicht ungeschehen zu machen, kann sie nicht schlicht revidiert werden. Aber Geschichte enthält auch, wenn sie überhaupt eine bewußtseinsbildende Funktion hat – und die hat sie – uneingelöste Versprechen, Möglichkeiten, zu reflektierende Alternativen. Nichts hat so kommen müssen, wie es kam, Zukunft ist immer offen für verschiedene Optionen – vorausgesetzt, wir überlassen uns nicht einem blinden »Durchwursteln« und haben eine generelle strategische Perspektive, innerhalb derer wir unsere taktischen-praktischen Schritte machen und unsere Entscheidungen treffen. Sich vorzustellen, es könne eine entmilitarisierte Bundesrepublik, eine „Bundesrepublik ohne Armee“ geben, ist eine ebenso noble und erstrebenswerte Zielvorstellung wie die einer „Schweiz ohne Armee“ und für andere Länder und Staaten um uns und darüber hinaus gleichermaßen.

Vorbereitendes Denkbarmachen

Um nicht mehr – aber auch nicht weniger – als um das vorbereitende Denkbarmachen einer solchen Möglichkeit geht es bei BoA. Dieses Denkbarmachen selbst, wenn es die Schreibtische und die mit kleinen Auflagen zirkulierenden Friedenszeitschriften verläßt und zum öffentlichen Topos wird, wenn BoA in sich erweiternden Kreisen und von immer mehr Menschen diskutiert wird – und zwar durchaus kontrovers, im Für und Wider – das allein ist schon ein Stück wichtiger Politik, dazu angetan, mit der Brechung eines alten Tabus den Boden zu bereiten für konkrete Veränderungen und zu entwickelnde Alternativen zu Abschreckung und zu den auch noch in den Konzepten von defensiver Verteidigung z.B. enthaltenen letztlich militärisch konditionierten Vorstellungen von Sicherheit. Militär ist immer ein Sicherheitsrisiko, enthält immer den fruchtbaren Schoß für kriegerische Konflikte, für herrschaftliche Gewaltausübung. BoA ist ein »idealistisches« Projekt – aber im Sinne Hegels: „Ist das Reich der Ideen erst genügend revolutioniert, hält die Wirklichkeit nicht mehr lange stand.“ Ist die Armee als vermeintlich unverzichtbare Sicherheitsgarantie für das Überleben einer Gesellschaft erst genügend delegitimiert, hält sie selbst nicht mehr lange stand.

Delegitimierung der Bundeswehr

In der Bundesrepublik beobachten wir neuerdings einen solchen, fast »naturwüchsig« zu nennenden Prozeß der Delegitimation der Bundeswehr, wozu »Ramstein« und die Tiefflüge nur symptomatische Auslöser waren. Mit diesem Pfunde gilt es zu wuchern. Eine nicht mehr wehrwillige Bevölkerung – den Regierenden und vor allem den Bundeswehr-Professionellem ein offen ausgesprochener Alptraum – bedeutet, auch wenn sich an den tatsächlichen Strukturen und militärischen Potentialen zunächst nichts ändert, eine Reduktion von Bedrohung des potentiellen Gegners, des Warschauer Paktes und der DDR insbesondere, was zur Delegitimation von dessen »Volksverteidigungsarmeen« führen muß und entsprechende Wehrwiderwilligkeit dort offener als bisher artikulierbar macht. Wir erleben ja schließlich denselben Zusammenhang derzeit in umgekehrter Richtung, indem die mit »Perestroika« verbundene Reduktion einer immer schon mehr propagandistischen als realen Gefahr sowjetisch-kommunistischer Europa-Eroberung zur Freisetzung jenes historisch gut begründeten Unbehagens am Militär in der Bundesrepublik geführt hat. Über BoA laut und öffentlich nachdenken, heißt also nicht nur aktive Politik zu betreiben, und zwar Friedenspolitik, sondern solches Nachdenken ist auch weit davon entfernt, schematisch-blauäugig zu sein: die BoA-„Kampagne« ist ein Prozeß, kein von heute auf morgen durch schlichte „Abschaffung der Bundeswehr“ zu verwirklichendes reales Nahziel. Sie ist ebenso ein politischer Prozeß der Bewußtseinsveränderung, dem die konkrete Politik wird nachgeben müssen, wie es die Friedensbewegung in ihrer Mobilisation gegen die Raketen-Hochrüstung war, die immerhin einen zwar problematischen aber doch realen Abrüstungsschritt zur Folge hatte. Nur geht BoA weiter, ist radikaler, geht mehr an die Wurzel des Kriegsproblems und der unverwirklichten Friedenshoffnungen als es der Kampagne gegen Pershing, Cruise und SS-20 möglich war.

Von der Militär- zur Staatskritik

Ist die Armee, ist Militär »die« Wurzel des »Übels«, des Problems latenter Kriegs- und nuklearer Holocaust-Gefahr? Das können wir zu diesem Zeitpunkt offenlassen. Vorsicht und Skepsis ist immer geboten gegen monokausale Ursachenbestimmungen. Ich selbst habe mich durch meine Studien davon überzeugen lassen, daß das Militär eher Symptom denn Ursache ist – aber ein Symptom, das, wenn ernsthaft diskutiert und ent-tabuisiert, neue und tieferliegende Ursachen freilegen wird. Sie liegen, so meine ich, in staatlich organisierter Herrschaft von Menschen über Menschen, von Strukturen, die aber erst dann in ihrer ganzen Komplexität in den Blick kommen, wenn wir wenigstens einige Schritte weit gekommen sind im effektiven Abbau ihrer militärischen, d.h. als Armeen institutionalisierten Erscheinungsform. Wenn ein Vergleich erlaubt ist: auf dem »Umweg« über die dramatischen Umweltzerstörungen ist der Kapitalismus wieder und schließlich das Industriesystem als Problem neuzeitlich-europäischer Naturunterwerfung freigelegt worden. Auf dem »Umweg« über die Militärkritik dürfte auch die Staats- und schließlich die Herrschaftsfrage wieder freigelegt werden, die in der europäischen Neuzeit – übrigens nicht zufällig zeitlich parallel zur modernen Naturwissenschaft und Technik – als mit dem modernen Staat beantwortet und „gelöst“ erschien. Diese sich aus einer gründlichen BoA-Diskussion ergebenden komplizierten Fragen können und sollten wir getrost dieser Diskussion selbst überlassen; sie sind intellektuell spannend und gleichzeitig politisch höchst brisant, wie überhaupt ernsthaftes Nachdenken über Perspektiven und reale Utopien, wie BoA sie darstellt, intellektuell aufregend und zugleich politisch aktuell sind. Wäre es das nicht, würde BoA nicht so massiv öffentlich denunziert oder als gefährliche Träumerei verurteilt werden – so wie die nervösen Reaktionen von Politik und Bundeswehr auf die deutlich nachlassende Armee-Akzeptanz in der Bevölkerung ein Gespür dieser Herren dafür signalisieren, daß sich hier für sie und für ihre Vorstellungen von Ordnung, Staat und Herrschaft höchst gefährliche, vielleicht dürfen wir sogar sagen »revolutionäre«? Perspektiven auftun.

Dr. Ekkehart Krippendorff ist Hochschullehrer am John F. Kennedy-Institut für Nordamerikanische Studien an der Freien Universität Berlin.

Traditionspflege in der Bundeswehr (II)

Traditionspflege in der Bundeswehr (II)

von Jörg Schulz-Trieglaff

Wem gehört Scharnhorst?

Weit unverfänglicher als eine Beschäftigung mit der Wehrmacht ist offenbar eine Anknüpfung an weiter zurückliegende Ereignisse der Militärgeschichte. Die Heeresform in Preußen scheint sich für die Traditionspflege geradezu anzubieten. Im Traditionserlaß von 1965 wird festgestellt: „Politisches Mitdenken und Mitverantwortung gehören seit den preußischen Reformen zur guten Tradition deutschen Soldatentums.“ (Nr. 17) Man erinnert sich gern an Scharnhorst, Gneisenau und Clausewitz. Mehrere Bundeswehrkasernen sind nach den Reformen benannt.

Ihr besonderer Verdienst liegt darin, daß sie die barbarischen Prügelstrafen und die selektive und mitunter gewaltsame Rekrutierung, von der überwiegend Nichtpreußen betroffen waren, abschafften. Durch eine menschenwürdige Behandlung der Soldaten, aber auch durch die allgemeine Wehrpflicht der Preußen und die Aufhebung der Adelsprivilegien bei der Besetzung der Offiziersstellen sollte die Armee im Volk verankert werden. Dem Bürgertum eröffneten sich neue Möglichkeiten, im Staat an Einfluß zu gewinnen und den Krieg als Mittel absolutistischer Machtpolitik zu überwinden.

Die Heeresreform ist als ein Bestandteil der Staats- und Verwaltungsreform in Preußen zu verstehen. Wie diese erhielt sie ihren Anstoß durch die katastrophale Niederlage, die dem preußischen Heer 1806 durch die Franzosen bei Jena und Auerstädt zugefügt wurde. Die Reform diente dazu, den Staat effektiver zu machen, um die Folgen des Desasters schneller zu überwinden und die französische Vorherrschaft abzuschütteln. Aber die Reformer waren auch vom Geist der Aufklärung geprägt und verfolgten bei ihrer „Revolution von oben“ humane und fortschrittliche Ziele.

Nach Reformmaßnahmen und Befreiungskriegen setzte alsbald die Reaktion ein, wodurch die Wirkungen verwässert und zum großen Teil wieder rückgängig gemacht wurden. Die preußisch-deutsche Armee blieb bis in den 2. Weltkrieg vom Adel geprägt, der die höheren Führungspositionen innehatte, wenn auch der absolute Anteil adliger Offiziere zurückging. Auch eine menschenwürdige Behandlung der Soldaten setzte sich nur sehr zögernd durch, weil sie rechtlich zu wenig geschützt waren. Es blieb die allgemeine Wehrpflicht, die sich als Rekrutierungsform für das Heer des Nationalstaates bewährte. Ein Mißbrauch des Militärs ließ sich dadurch nicht verhindern. Schließlich wurde der 1. Weltkrieg – und nicht nur auf deutscher Seite – von Wehrpflichtigenarmeen geführt. Nach kurzer vom Versailler Vertrag auferlegter Zwangspause führten die Nationalsozialisten die Wehrpflicht wieder ein. Sie konnten dadurch Soldaten in großer Zahl für ihre Ziele mobilisieren. Die Wehrpflicht ist also keineswegs ein Merkmal der „wehrhaften Demokratie“, wie es gern behauptet wird. Sie kann ebenso von autoritären Staaten und von Diktaturen zur Rekrutierung und zur Sozialisation genutzt werden.

Wenn sich die Bundeswehrführung heute so gern auf die Heeresreform beruft, muß sie sich fragen lassen, wie sie mit ihren eigenen Reformen umgeht. Und da zeigt sie sich sehr inkonsequent. Jede Kritik an der „gültigen“ Militärdoktrin und alle Konzepte alternativer Verteidigungsstrategien werden abgewehrt. Kritiker werden diffamiert und als leichtfertig dargestellt, weil sie die Wirkung der Abschreckung schwächen und angeblich den gesicherten Frieden aufs Spiel setzen. „Die Raumverteidigung ist eher eine Kriegsführungsstrategie als eine Kriegsverhinderungsstrategie (…). In Wahrheit nehmen solche realitätsfremden Vorstellungen (die soziale Verteidigung, S.-T.) den Verlust der Freiheit ohne Risiko für den Aggressor in Kauf – möglicherweise für Generationen (…). Die unausweichliche Konsequenz wäre eine erhöhte Kriegsgefahr für unser Land.“9

Die öffentliche Kritik der letzten Jahre richtete sich vorwiegend gegen die Rüstung und gegen die Strategie der atomaren Abschreckung. Erst vereinzelt setzt sich die Erkenntnis durch, daß eine Abschaffung der Massenvernichtungsmittel, eine Truppenreduzierung und eine alternative Verteidigungsstrategie, alles Voraussetzungen für eine Friedensregelung in Europa, mit der Bundeswehr in ihrer derzeitigen Form nicht zu haben sind. Neuerdings wird daher auch die Forderung nach einer Armeereform erhoben.10 Die Bundeswehrführung ist aber in ihrer Haltung zur Zeit so verfestigt und erstarrt, daß sie eine an Militärfragen interessierte Öffentlichkeit, aber auch militärpolitisch engagierte Soldaten nicht als Chance, sondern als Bedrohung sicherer Positionen wahrnimmt. Daher erscheint die Bundeswehr als ein typisches Beispiel für eine Armee der Reaktion. Einer solchen Armee ist die Rückbesinnung auf die Reformer nur bei der Preisgabe der historischen Wahrheit möglich. Diese Art von Traditionspflege ist vergleichbar mit derjenigen der kaiserlichen Armee oder der Wehrmacht. Damals waren die größten Kriegsschiffe nach Scharnhorst und Gneisenau benannt, obgleich gerade der Flottenbau in jenen Zeiten ein Merkmal des friedensgefährdenden Wettrüstens war und sich kaum mit den Absichten der Heeresreformer in einen Zusammenhang bringen ließ.

Widerstand gegen den Totalitarismus

Als die Bundeswehr aufgestellt wurde, sollte sie sich als Armee in der Demokratie deutlich von der Wehrmacht des nationalsozialistischen Staates unterscheiden. Was lag näher, als sich in der Traditionspflege auf Offiziere zu besinnen, die aktiven Widerstand gegen die Diktatur geleistet hatten? Doch diese Anknüpfung war in den ersten Jahren der Bundeswehr nicht unumstritten. Die Offiziere des Widerstands galten vielen ehemaligen Wehrmachtsoldaten als Meuterer, die sich in der Zeit höchster Gefahr gegen ihren Obersten Befehlshaber aufgelehnt hatten. Und selbst bei denen, die dem Widerstand als letzter Maßnahme gegen die Diktatur seine Berechtigung nicht absprechen konnten, blieb die Skepsis, ob er als Basis für eine Tradition geeignet sei. In seiner Polemik gegen von ihm ausgemachte liberale Verfallserscheinungen der Bundeswehr wandte sich damals Hans-Georg Studnitz gegen jene Traditionspflege. Nach seiner Auffassung stellte der 20. Juli „den Soldaten (…) vor Abgründe der Geschichte, vor die politische Anarchie und die militärische Katastrophe (…) Aus solchen Reminiszenzen kann die Armee keine Kraft gewinnen. Der 20. Juli führt nicht zum Staat, sondern von ihm weg. Er ist kein Quell, aus dem der mit der geschichtlichen Entwicklung genügend vertraute einfache Mann Mut und Vertrauen in seine Führung schöpfen könnte.“11

Das Vorbild der Offiziere des Widerstands schien im Lauf der Zeit zu verblassen. Denn den kritischen Soldaten wurde deutlich, daß Beck, Stauffenberg, Tresckow und andere keineswegs Demokraten waren. Sie waren anfangs durchaus bereit, mit den Nationalsozialisten zusammenzuarbeiten. Sie begrüßten die Wehrhaftmachung des Volkes und die Aufrüstung; eine territoriale Revision des Versailler Vertrags und eine Hegemonialpolitik gegenüber Osteuropa fand ihre Zustimmung. Zu einer Militäropposition kam es erst ab 1938, als ein Kriegsausbruch bevorstand und wegen des als unzureichend beurteilten Ausbildungs- und Ausrüstungsstands der Wehrmacht eine Niederlage zu befürchten war. Die Erfolge der Blitzkriegsstrategie zu Beginn des Krieges zerstreuten den Pessismismus und entzogen den Staatsstreichplänen die Voraussetzung.

Zu konkreten Widerstandsaktionen kam es erst wieder, als sich 1944 nach den Erfolgen der sowjetischen Armee und nach der Landung der Westalliierten in der Normandie die endgültige Niederlage abzeichnete. Erst diese Aussicht trieb die Offiziere zu entschlossenem Handeln. Der Widerstand ist also dadurch belastet, daß er zu spät kam und schließlich scheiterte.

Doch seine sittliche Bedeutung kann nicht am politischen Erfolg gemessen werden. Über die Motive der Offiziere des Widerstands gibt es keinen Zweifel, auch wenn sie noch vordemokratischen Ordnungsvorstellungen verhaftet waren. Es ist ferner zu berücksichtigen, daß die von ihnen nach dem Staatsstreich vorgesehene Militärregierung nur als Übergangslösung dienen sollte. Sie waren bereit, mit den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen zusammenzugehen.

In den letzten Jahren wurde die Tradition des Widerstands in der Bundeswehr stärker hervorgewoben. Das Militärgeschichtliche Forschungsamt veranstaltete 1983 eine Fachtagung zu diesem Thema und organisierte eine Wanderausstellung, die in großen Garnisonsstädten gezeigt wurde. Im Geleitwort zum Ausstellungskatalog äußerte sich Verteidigungsminister Wörner: „Widerstand war im Dritten Reich, insbesondere während der Zeit des Zweiten Weltkriegs, ein gefährliches und höchst risikoreiches Unterfangen. Solcher Widerstand unterscheidet sich von der öffentlich zur Schau getragenen und durch kein Risiko belasteten Attitüde, die uns heute gelegentlich als „Widerstand“ begegnet.“12 Hier wird deutlich, welchem Zweck die heutige Widerstandstradition dienen soll. Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus wird also gegen ein modernes Widerstandsverständnis – Widerstand gegen Atomkraftwerke, gegen die Nachrüstung usw. – ausgespielt. Das Kriterium für den richtigen Widerstand ist die Lebensgefahr, in die man sich dabei begibt. „Damals kostete es den Kopf. Heute komme man dadurch ins Fernsehen“ – sagt der ehemalige Bundeswehrgeneral von Kielmannsegg 13, als junger Wehrmachtsoffizier selbst am Widerstand beteiligt.

Wer heute die Tradition des 20. Juli fortsetzen will, soll Widerstand gegen den Totalitarismus leisten. Diesen Widerstand sieht nach Karl Dietrich Bracher das Grundgesetz in Art. 20(4) vor, „nämlich den Widerstand gegen die diktatorischen Mächte unserer Zeit – diesmal an der Seite jener Demokratien Europas und der Atlantischen Gemeinschaft, die für Menschenrechte und für Frieden in Freiheit stehen.“14 Der verstorbene Minister Alois Mertes versteht sogar „die Abschreckungsstrategie als eine Form rechtzeitigen Widerstands gegen totalitäre Herrschaft. Abschreckungsstrategie ist prophylaktischer Widerstand, damit er nicht hinterher so erfolgen muß, wie er nach 1933 notwendig war.“15

Tradition auf Frieden bezogen

Wir können den Oberblick über die Traditionspflege hier abbrechen. Es hat sich gezeigt, daß sie in der Bundeswehr nur auf Kosten der Vielfalt militärgeschichtlicher Fakten und Zusammenhänge möglich ist. Als überlieferungswürdig gilt nicht das Andenken an solche Personen, die sich engagiert für den Frieden einsetzten, sondern vorbildlich sind Truppenführer, die die Staatsmacht stärkten und im Krieg militärische Erfolge erzielten. Heeresreform und militärischer Widerstand werden verfälscht Revolutionen kommen in der Traditionspflege nicht vor.

Daraus ergeben sich für die Einschätzung der Bundeswehr zwei Folgerungen:

a) Der Idealstaat für die Bundeswehrführung ist der autoritäre Obrigkeitsstaat. Wer nicht die Erinnerung an Ereignisse und Personen wachhält, die auf Demokratie und Befreiung hinwirkten – man denke an die Soldaten, die an den Revolutionen 1848/49 und 1918/19 teilnahmen -, stellt sich in die Tradition der Armeen, die die Freiheitsbewegungen unterdrückten.

b) Die Bundeswehrführung versteht den Krieg immer noch als legitimes Mittel der Politik. Wer erfolgreiche Truppenführer verehrt, aber diejenigen Menschen, die sich gegen Staatsmacht und Armee gewandt hatten, um den Frieden zu retten – als Beispiel sei Hans Paasche genannt, kaiserlicher Marineoffizier, dann Pazifist und 1920 Opfer rechtsradikaler Mörder-, wer diese Menschen vergißt und sich an ihren Taten desinteressiert zeigt, ist in seinem Dienst für den Frieden wenig glaubwürdig.

„Tradition in der Bundeswehr muß auf Frieden bezogen sein.“16 Dieser Anspruch ist noch nicht eingelöst. Doch dazu bedarf es nicht einer anderen Traditionspflege, sondern einer anderen Politik – einer Friedenspolitik, die Frieden nicht als Ergebnis militärischen Drucks, sondern als Folge eines politischen Interessenausgleichs versteht und die zugleich stark genug ist, sich gegenüber dem Militär durchzusetzen.

Anmerkungen

9 Weißbuch 1983, Nr. 308, S. 163; Nr. 316, 317, S. 166. Zurück

10 Vgl. das Spiegel-Gespräch „Wir wollen eine andere Armee.“ Vier Soldaten und Ausbilder zu Sinn und Zukunft der Bundeswehr. In: Der Spiegel 46/1985 vom 11.11.1985. Zurück

11 Rettet die Bundeswehr! Stuttgart 1967, S. 59. Zurück

12 Aufstand des Gewissens. Militärischer Widerstand gegen Hitler und das NS-Regime 1933-45. Katalog zur Wanderausstellung des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes, Herford o. J., S. 7. Zurück

13 Johann Adolf Graf von Kielmannsegg: Gedanken eines Soldaten zum Widerstand. In: Der militärische Widerstand gegen Hitler und das NS-Regime (Vorträge zur Militärgeschichte Band 5). Hrsg. v. Mititärgeschichtlichen Forschungsamt, Herford 1984, S. 18. Zurück

14 Die Lektion von Weimar und die Aktualität des Widerstands-Problems. In: Basilius Streithofen (Hrsg.): Frieden im Lande. Vom Recht auf Widerstand. Bergisch Gladbach 1983, S. 95. Zurück

15 Abschreckung ist prophylaktischer Widerstand. Das ethische Dilemma des Politikers, in: Streithofen, S. 202. Zurück

16 Weißbuch 1979, S. 196 (Zehn Grundsätze zur Tradition, Satz 3). Zurück

Jörg Schulz-Trieglaff, geb. 1939, aktiver Offizier der Bundeswehr (Hauptmann), Studium der Philosophie, Geschichte und Theologie in Bielefeld und München, M.A., 1981-85 Wehrgeschichtslehrer an der Offizierschule in Hannover, Mitbegründer und einer der Sprecher des Darmstädter Signals.

Traditionspflege in der Bundeswehr. 30 Jahre Bundeswehr – 50 Jahre Luftwaffe

Traditionspflege in der Bundeswehr. 30 Jahre Bundeswehr – 50 Jahre Luftwaffe

von Jörg Schulz-Trieglaff

Im November 1985 feierte die Bundeswehr ihr 30jähriges Bestehen. Sie hat inzwischen ihre Geschichte, die unter anderen politischen Umständen, wenn die Armee in der Gesellschaft allseitig akzeptiert wäre, genügend Stoff für eine eigene Tradition abgeben könnte. Doch das Jubiläum wurde nicht genutzt, um über die Rolle der Armee in einer Demokratie nachzudenken, sondern es diente der Öffentlichkeitsarbeit, mit der möglichst viel Zustimmung zu einer umstrittenen Militärpolitik eingeholt werden soll. Dabei waren wieder einmal die stereotypen Phrasen zu hören, 30 Jahre „Frieden in Freiheit“ wären vor allem der militärischen Absicherung zu verdanken und der drohende Krieg sei ebenso wie die politische Erpressung in erster Linie durch die Bundeswehr und ihre verbündeten Armeen verhindert worden.

Neben diesen Selbstbelobigungen in propagandistischer Absicht gibt es immer wieder Bestrebungen, an eine weiter zurückliegende Vergangenheit anzuknüpfen. So wurde ebenfalls im vergangenen Jahr das 50jährige Bestehen des Fliegerhorstes Wunstorf (bei Hannover) mit einem Tag der offenen Tür und Großem Zapfenstreich begangen. In Gegenwart des Inspekteurs der Luftwaffe übergab der niedersächsische Minister Masselmann der Truppe ein Fahnenband.1

Die Veranstaltung rief heftigen Widerspruch hervor, denn 1935 hatte sich das NS-Regime mit der Aufstellung von Luftwaffenverbänden und mit dem Bau von Militärflugplätzen offen über die Rüstungsbeschränkungen des Versailler Vertrages hinweggesetzt. Er war allerdings auch schon in der Zeit der Weimarer Republik mehrfach gebrochen worden, was der politischen Rechten als patriotische Pflicht galt, aber von den Demokraten entschieden kritisiert wurde. Denn bei aller Benachteiligung Deutschlands war der Versailler Vertrag doch ein Friedensvertrag. Er bot die Chance, in Europa zu einer Abrüstung zu kommen und in Deutschland selbst den traditionell übermäßigen Einfluß des Militärs zurückzudrängen. Mit seiner Aufkündigung begannen die Nationalsozialisten, aktiv unterstützt durch die Wehrmacht wie durch alle anderen einflußreichen Gruppen, eine Großmachtspolitik, die schließlich zum Zweiten Weltkrieg führte. Die moderne Kriegführung wurde von der nationalsozialistischen Luftwaffe, an deren Geschichte die Bundeswehr mit der erwähnten Feier in Wunstorf anknüpft, im Spanischen Bürgerkrieg einschließlich der Terrorangriffe auf die Zivilbevölkerung vorgeübt.

Die Glorie der Vergangenheit

Wie kann es dazu kommen, daß hier Traditionen gepflegt werden, die sich von den in der Gesellschaft vorhandenen Leitbildern und Wertvorstellungen so sehr unterscheiden, ja ihnen sogar deutlich widersprechen?

Offenbar haben viele Soldaten, vor allem die Längerdienenden unter ihnen, also die Offiziere und Unteroffiziere, den ausgeprägten Wunsch, sich in größere Zusammenhänge eingefügt zu sehen. Sie möchten sich als Glied einer Generationenfolge von Soldaten verstehen, die – wie sie meinen – dasselbe gedacht haben und nach denselben Maßstäben handelten wie sie heute. Aus diesem Selbstverständnis entsteht für die Soldaten erst die Berufsmotivation. General Hans von Seeckt, in der Weimarer Republik langjähriger Chef der Heeresleitung, stellte dazu fest: „Das Bewußtsein, Mitträger eines großen historischen Ruhmes zu sein und sich hierdurch von anderen auszuzeichnen, hat einen ganz unleugbaren Einfluß auf den Wert der Truppe. Diese Erkenntnis hat in den Heeren zu einer Pflege der Tradition geführt (…).2 Der vorgegebene sachliche Auftrag scheint nicht auszureichen, um den Soldaten den Sinn ihres Dienstes zu vermitteln.

Die moderne Militärsoziologie erklärt den Traditionalismus aus den Unsicherheiten die aus der mangelnden Vorhersehbarkelt des Krieges, aus der ständigen Kriegsbereitschaft und der Unmöglichkeit einer Erfolgskontrolle in Friedenszeiten entstehen. Die Folgen sind „Zeremonialismus, Weitergabe der Verantwortung, Beharren auf traditionellen Regeln und Widerstand gegen Neuerungen.“3 Diese Erscheinungen prägen nicht nur das Innenleben der Armee, sondern auch das strategische Denken und nicht zuletzt das Verhältnis der Soldaten zur Gesellschaft und zur Politik. Auf die geistig-ideologischen Probleme des Traditionalismus und auf seine politischen Auswirkungen soll hier hingewiesen werden. Auf die militärsoziologischen Fragen kann ich nicht weiter eingehen, und auch Das militärische Brauchtum, Symbole und Zeremoniell als die von außen sichtbare Seite der militärischen Tradition, bleiben außerhalb der Betrachtung.

Die Tradition des unpolitischen Soldatentums

Einer demokratischen Gesellschaft kann es nicht gleichgültig sein, an welchen Vorbildern sich die Soldaten orientieren und welche Taten sie als nachahmenswert ansehen. Um den Primat der Politik durchzusetzen, muß gelegentlich steuernd eingegriffen und ein Wildwuchs undemokratischer Traditionselemente verhindert werden. Als so verstandene Führungsmittel können Traditionserlasse des Verteidigungsministeriums durchaus ihre Berechtigung haben.

Der erste wurde 1965 vom damaligen Verteidigungsminister Kai-Uwe von Hassel herausgegeben.4 Er versuchte allerdings, dem Wunsch nach Einbindung der Soldaten in die Demokratie Rechnung zu tragen und zugleich den Umstand zu berücksichtigen, daß die Offiziere und Unteroffiziere, die anfangs die Bundeswehr aufbauten, von der Wehrmacht geprägt waren.

Maßstab für die Überlieferungswürdigkeit sollte die Eidesverpflichtung sein, „der Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen und das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen.“ (Nr. 2) Es durften nur solche Personen als Vorbilder dienen, „die auch,als Menschen ihrer Verantwortung genügt haben.“ (Nr. 5)

Der Versuch, die belastete Wehrmacht nicht zum Gegenstand der Traditionspflege zu machen, bleibt halbherzig. An anderen Stellen wird festgestellt: „Rechte Traditionspflege ist nur möglich in Dankbarkeit und Ehrfurcht vor den Leistungen und Leiden der Vergangenheit (…) Die deutsche Wehrgeschichte umfaßt in Frieden und Krieg zahllose soldatische Leistungen und menschliche Bewährungen (…) Zur besten Tradition deutschen Soldatentums gehört gewissenhafte Pflichterfüllung um des sachlichen Auftrages willen.“ (Nr. 8, 9, 12)

Die soldatische Leistung wird von den politischen Zielen, für die sie erbracht wurde, bei dieser Betrachtung abgetrennt und als etwas Vorbildliches für sich angesehen. Die Wertschätzung soldatischer Tapferkeit gehöre zum gemeinsamen Kulturerbe der Menschheit, kann heute noch ein Bundeswehrgeneral behaupten.5 Hier fehlt ganz und gar der Blick dafür, daß die Leistung der Soldaten, vor allem aber die der höheren Truppenführer, mit Tod und Verstümmelung zahlreicher Menschen und mit der Zerstörung vieler materieller Güter verbunden ist. Ob sich militärische Einsätze heute angesichts der Wirkung der modernen Waffen überhaupt noch rechtfertigen lassen, ist sehr umstritten. Dann werden auch die Tugenden der Soldaten wie Treue, Kameradschaft, Tapferkeit und Gehorsam fragwürdig. „Kein Job wird dadurch, daß man ihn gewissenhaft ausfüllt, ein moralischer Job, bei dem man ein gutes Gewissen haben dürfte.(…) Solidarität mit Gruppenmitgliedern, gleich welche Ziele diese Gruppe verfolgt, ist eine Mafiatugend.(…) An sich ist Treue keine Tugend.(…) Unter Umständen kann Untreue viel verdienstvoller sein, denn sie erfordert persönlichen Mut und moralische Selbständigkeit, die freilich nicht jedermanns Sache ist.“6

Die historischen Tatsachen erlauben es nicht, im Hinblick auf die Wehrmacht von „tragischen Soldatenschicksalen“ oder „Mißbrauch durch das Unrechtsregime“7 zu sprechen. Eine derartige Einschätzung wird vielleicht noch den aufgrund der Wehrpflicht eingezogenen Mannschaften gerecht. Aber die Offiziere haben – sicher abgestuft nach Rang und Einfluß – eine sehr entscheidende Mitverantwortung getragen. Es gab unter ihnen sehr viel Bereitschaft, dem Regime freiwillig zu dienen. Auch unter Adolf Hitler wurde niemand gezwungen, Generalstabsoffizier, Marinerichter oder Militärpfarrer zu werden.

Die Wehrmacht ist also wegen des historischen Versagens ihrer Offiziere nicht als Gegenstand für die Traditionspflege geeignet.8 Nimmt man diesen kritischen Standpunkt ein, muß man sich deshalb noch nicht dem Vorwurf der Überheblichkeit oder der Besserwisserei aussetzen. Dazu besteht kein Anlaß, denn niemand von uns weiß, wie er sich in vergleichbaren Situationen verhalten würde. Aber ebensowenig gibt es einen Grund für eine Heldenverehrung. Uns bleibt nur die Erfahrung menschlicher Unzulänglichkeit. Wir müssen aus jenen Fehlentscheidungen lernen, daß sie sich nicht wiederholen dürfen. Sollten wir ebenso versagen wie die Soldatengeneration vor uns und uns leichtfertig in einen Krieg hineinziehen lassen für welche angeblich bedeutenden und lebenswichtigen Ziele auch immer -, dann wird danach niemand mehr da sein, der sich über Fragen militärischer Traditionspflege noch Gedanken machen könnte.

(Dieser Beitrag wird im Informationsdienst Wissenschaft & Frieden. 2/87 fortgesetzt.)

Anmerkungen

1 Vgl. die Berichte der Hannoverschen Zeitungen: Neue Presse vom 10.9.85 und Hannoversche Allgemeine Zeitung vom 16.9.85. Zurück

2 Die Reichswehr. Leipzig 1933, S. 47.Zurück

3 Klaus Roghmann, Rolf Ziegler: Militärsoziologie. In: Handbuch der empirischen Sozialforschung. Hrsg. v. Rene König. Band 9, Stuttgart 1977, S. 157.Zurück

4 Bundeswehr und Tradition. BMVg Fu B 14 Az 35-08-07 vom 1.7.1965.Zurück

5 Vgl. Adalbert von der Recke: Last und Chance unserer Geschichte. Gedanken zur Traditionspflege der Bundeswehr. In: De officio. Zu den ethischen Herausforderungen des Offizierberufs. Hrsg. v. Evangelischen Kirchenamt für die Bundeswehr. Hannover 1985, S. 253.Zurück

6 Gunther Anders: Das fürchterliche Nur. Ein imaginares Interview. In: die tageszeitung vom 31.7.86. – Anders setzt sich hier mit der nationalsozialistischen Vergangenheit des österreichischen Bundesprasidenten Waldheim auseinander.Zurück

7 von der Recke, S. 250 f.Zurück

8 Vgl. Manfred Messerschmidt: Das Verhältnis von Wehrmacht und NS-Staat und die Frage der Traditionsbildung. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zu Das Parlament B 17/81 vom 25.4.81, S. 11 ff. Zurück

Jörg Schulz-Trieglaff, geb. 1939, aktiver Offizier der Bundeswehr (Hauptmann), Studium der Philosophie, Geschichte und Theologie in Bielefeld und München, M.A., 1981-85 Wehrgeschichtslehrer an der Offizierschule in Hannover, Mitbegründer und einer der Sprecher des Darmstädter Signals