Tornados im Blindflug

Tornados im Blindflug

Der erste Kriegseinsatz der Bundeswehr lief an Parlament und Verfassungsgericht vorbei

von Reinhard Mutz

Auf dem Weg der Bundeswehr von einer Verteidigungsarmee zu einer Streitmacht mit erweitertem Aufgabenspektrum markieren zwei Daten tiefgreifende Einschnitte. Am 12. Juli 1994 erlegte das Bundesverfassungsgericht der Bundesregierung auf, vor einem Einsatz bewaffneter Streitkräfte die Zustimmung des Bundestages einzuholen. Am 30. Juni 1995 wandten Regierung und Parlament das Karlsruher Urteil zum ersten Mal an und führten es gleich ad absurdum: Was der Bundestag an diesem Tag auf Antrag der Bundesregierung nach kontroverser Debatte beschloß, deckte den nachfolgenden Einsatz der Bundeswehr nicht.

Die zweiwöchigen Luftschläge gegen die bosnischen Serben im Spätsommer 1995 (Operation Deliberate Force) waren die aufwendigste militärische Intervention im ehemaligen Jugoslawien und die massivste Kriegshandlung gegen eine der Konfliktparteien. Die Bundesluftwaffe nahm mit 14 Tornado-Kampfflugzeugen daran teil. Was immer der politische Zweck der Operation gewesen sein mag und inwiefern sie zur Beendigung des Balkankrieges beigetragen haben könnte – für die militärische Ausgestaltung deutscher Außenpolitik, die den Auflagen des Karlsruher Richterspruchs nachkommen muß, war sie der Präzedenzfall eines Kriegseinsatzes der Bundeswehr ohne parlamentarische Billigung.

Die Involvierung der Bundeswehr in den bosnischen Aufteilungs- und Aneignungskrieg erfolgte etappenweise, wobei die Übergänge zwischen humanitären, nichtmilitärischen und militärischen Aktivitäten fließend waren. Am einfachsten fällt die Zuordnung bei den Hilfsflügen für die Zivilbevölkerung. Ab Juli 1992 beteiligte sich die Bundeswehr an der Luftbrücke von Zagreb nach Sarajevo zur Versorgung der moslemischen Viertel der bosnischen Hauptstadt und ab März 1993 am Abwurf von Lebensmitteln und Hilfsgütern über unzugänglichen Kampfgebieten in Bosnien. Diese Versorgungseinsätze wurden von Transportmaschinen westlicher Luftwaffen geflogen, aber vom Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) koordiniert.

Unter der Regie der NATO standen vier Missionen im Luftraum bzw. an der Peripherie des Kriegsschauplatzes. Seit Juli 1992 überwachten Schiffe und Marineaufklärungsflugzeuge in der Adria das Embargo gegen Serbien und Montenegro. Im Oktober 1992 übernahm das integrierte NATO-Frühwarn- und Aufkärungsgeschwader AWACS die kontinuierliche Beobachtung des Konfliktgebietes aus der Luft (Operation Sharp Guard). Gegen die Mitwirkung der Bundeswehr an diesen beiden Missionen wandten sich die Organklagen der Bonner Opposition beim Bundesverfassungsgericht, die klären sollten, welche Grenzen das Grundgesetz Auslandseinsätzen deutscher Streitkräfte zieht. Mit den ersten Gefechten amerikanischer Kampfjets gegen serbische Luft- und Bodenziele in Bosnien im Februar bzw. April 1994 wurden die Maschinen des AWACS-Geschwaders in ihrer Zweitrolle als Feuerleitzentralen Teil aktiver Kriegshandlungen – und damit auch die deutschen Besatzungsmitglieder in den Aufklärungsflugzeugen.

Die anderen beiden NATO-Missionen fanden ohne Beteiligung der Bundeswehr statt: die Kontrolle des militärischen Flugverbots über Bosnien-Herzegowina durch Luftpatrouillen mit Kampfflugzeugen seit April 1993 (Operation Deny Flight) und die Vorbereitung bzw. Übung von Luftangriffen auf militärische Ziele in Bosnien. Die Bundesregierung vertrat die Auffassung, daß schon nach geltendem Verfassungsrecht Kampfeinsätze der Bundeswehr außerhalb des Bundes- wie des Bündnisgebietes zulässig seien und daß es ihr zukomme, nach Ermessen davon Gebrauch zu machen. Sie enthielt sich aber wegen der unrühmlichen Rolle der Wehrmacht während des Zweiten Weltkrieges in Jugoslawien einer direkten deutschen Mitwirkung an den im engeren Sinne militärischen Missionen der westlichen Allianz. Mit derselben Begründung stellte die Bundesrepublik auch kein eigenes Kontingent für UNPROFOR, die Blauhelm-Truppe der Vereinten Nationen, die mit einem lediglich friedenserhaltenden Mandat ohne Kampfauftrag in Kroatien und Bosnien stationiert war.

Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom Sommer 1994 machte sich in der Sache den Standpunkt der Bundesregierung zu eigen. Waren die rechtlichen Hindernisse nun entfallen, konnte es nur noch eine Frage der Zeit sein, bis auch die politischen Bedenken gegen deutsche Soldaten auf dem Balkan schwinden würden. Drei gleichgerichtete Interessenlagen griffen ineinander. Die westlichen Verbündeten ließen an ihrem Wunsch nach einem stärkeren – auch bewaffneten – Engagement der Bundesrepublik keinen Zweifel. In der Bonner Koalition fehlte es nicht an prinzipieller Bereitschaft, der deutschen Sicherheitspolitik ein militärisch schärferes Profil zu geben. Und schließlich waren da noch die Streitkräfte selbst. Einen Segen für die Bundeswehr, nannte ein Kommandierender General des deutschen Heeres die im Frühjahr 1994 glücklos beendete Somalia-Expedition: Müsse doch eine Armee nicht nur wissen, sondern auch erleben können, wofür sie da sei.

Eine Armee muß erleben, wofür sie da ist

Am 20. Dezember 1994 beschloß das Bundeskabinett, dem Bündnis ein deutsches Kontingent von rund 2.000 Soldaden aller drei Teilstreitkräfte in Aussicht zu stellen, unter Einschluß von zwölf bis vierzehn Tornado-Flugzeugen. Die Zusage bezog sich auf den hypothetischen Fall, daß im Gefolge einer dramatischen Verschlechterung der Kriegslage in Bosnien die UNPROFOR-Truppe abgezogen und die Evakuierung militärisch gesichert werden müßte.

Dabei war die Abstimmung mit den NATO-Gremien nicht ganz reibungslos verlaufen. Eine erste Anfrage aus Brüssel hatte schlicht eine Staffel deutscher Tornado-Jets geordert, die in das alliierte Aufgebot für die laufenden NATO-Missionen eingefügt werden sollte. Darin sah in Bonn insbesondere der kleinere Koalitionspartner vor wichtigen Landtagswahlen keinen hinreichend öffentlichkeitswirksamen Verwendungszweck. Folglich stellte die nachgebesserte Anfrage des NATO-Hauptquartiers gezielt auf die deutsche Unterstützung der westlichen Eventualplanung ab, d.h. auf Hilfeleistung für Verbündete in Not, ein Ansuchen, das sich schlecht ablehnen ließ.

Was in der deutschen Debatte gänzlich außer Betracht blieb: Die erforderliche Zuspitzung des Krieges, der Rückzugsgrund für UNPROFOR, war nur herbeizuführen durch Wahl einer »Lift-and-Strike-Strategie«, wie sie in Washington befürwortet wurde, in Paris und London jedoch auf Skepsis stieß. »Lift« hieß Aufhebung des Waffenembargos für die kroatischen und moslemischen Bosnier, »Strike« massive Luftschläge gegen die bosnischen Serben. Doch es sollte sich noch ein griffigerer Ansatz finden, die deutsche Kriegsbeteiligung ins Spiel zu bringen.

Im Mai 1995 führte das permanente Nebeneinander der beiden unvereinbaren Operationsformen – gewaltfrei zu Lande, kriegführend aus der Luft – zu einer neuerlichen Eskalation. Als NATO-Bomber Munitionslager bei Pale angriffen, reagierten die Serben mit der spektakulären Geiselnahme von UNO-Soldaten. Die Regierungen in London und Paris, verständlicherweise besorgt um ihre Blauhelm-Einheiten, verlangten die »Restrukturierung« von UNPROFOR. Die Friedenstruppe der Vereinten Nationen sollte umgruppiert und so dem serbischen Zugriff entzogen werden, zusätzlich beschützt von einem schnellen Eingreifverband aus zwei Brigaden regulärer britisch-französisch-niederländischer Kampftruppen.

Mittels der Eingreiftruppe ließ sich die Frage des Schicksals von UNPROFOR nunmehr ins Positive wenden: Nicht mehr den Abzug, sondern den Verbleib der trotz (oder wegen) aller Schlappen immer noch populären Blauhelm-Soldaten gelte es abzusichern. Mit diesem Argument trat die Bundesregierung am 30. Juni vor den Bundestag und gewann sechzig Prozent der Abgeordneten – auch aus den Reihen der Opposition – für ihren Vorschlag der Entsendung eines Bundeswehrkontingents in das Konfliktgebiet. Die Mehrheit wäre noch deutlicher ausgefallen, hätte der Antrag nicht auch die umstrittene Tornado-Komponente enthalten.

Worin genau bestand der Auftrag der deutschen Tornados? Es war nicht gerade ein Muster an Klarheit, was die Beschlußvorlage dreifach verschachtelt umschrieb: Die Flugzeuge sollten die NATO unterstützen, wenn diese den schnellen Einsatzverband unterstützte, der seinerseits die UN-Friedenstruppe darin zu unterstützen hatte, ihren Aufgaben nachzukommen. Wohl ahnend, daß daraus kein Abgeordneter klug werden konnte, zog die Regierungsvorlage an anderer Stelle zur Verdeutlichung die Resolution 998 des UN-Sicherheitsrats vom 16. Juni heran. Dort wird der Auftrag des Einsatzverbandes in drei konkreten Aufgaben fixiert: Notfallhilfe für isolierte oder bedrohte Einheiten der Vereinten Nationen, Unterstützung bei der Umgruppierung von UNPROFOR-Elementen, Erleichterung der Bewegungsfreiheit, wo erforderlich.

In dieser sehr engen Eingrenzung warb die Bundesregierung vor dem Parlament für ihren Antrag. Nur zur Hilfestellung für UNPROFOR werde das Tornado-Geschwader eingesetzt, so hieß es, nicht in Frage komme die Mitwirkung an älteren NATO-Aufträgen, insbesondere an Luftschlägen. Daran werde sich die Bundeswehr nicht beteiligen, erklärte der Verteidigungsminister auf Vorhalt in der Debatte. Genau zwei Monate sollte es dauern, bis die Versicherungen Makulatur waren.

Den Tornado-Piloten wurden exakt die Einsätze befohlen, die ihr Minister kategorisch ausgeschlossen hatte. Kein Blauhelm-Soldat war angegriffen, bedroht oder in seiner Bewegungsfreiheit behindert, als am 30. August 1995 das NATO-Bombardement »Deliberate Force« losbrach. Zweck der Operation war, ein Exempel zu statuieren – weitab jeden UN-Mandats zur Anwendung militärischen Zwangs und ohne erkennbaren Nutzen für das Ziel der Beendigung des Krieges in Bosnien. Gewiß spielte die Bundeswehr darin keine tragende Rolle: Sie bestritt gerade 59 der insgesamt 3.515 Lufteinsätze. Auch hat sie selbst keinen Schuß abgefeuert. Aber an einer Kriegshandlung nimmt auch teil, wer militärische Ziele nur aufklärt, damit andere sie bombardieren.

Das Karlsruher Urteil vom Sommer 1994 beseitigte die verfassungsrechtlichen Hindernisse exterritorialer Einsätze deutscher Streitkräfte. Als neue Schranke schuf es die parlamentarische Zustimmungspflicht. Ein Fall, wie der vom Januar 1991 während des Golfkonflikts, als das Bonner Kabinett im Umlaufverfahren ohne Beratung und am Bundestag vorbei über die Entsendung von Jagdbombern des Typs Alpha Jet in das Krisengebiet entschied, sollte sich nicht wiederholen. Aber das Konzept der Parlamentsarmee strandete schon im ersten Anlauf. Den meisten Abgeordneten entging, daß die Tornados in Bosnien ganz andere Aufträge ausführten, als sie beschlossen hatten, und die politische Öffentlichkeit hat es nicht einmal registriert: kein gutes Omen für die Zukunft demokratischer Kontrolle der bewaffneten Macht in der Bundesrepublik.

Reinhard Mutz ist stellvertrtender wissenschaftlicher Direktor am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitk, Hamburg

MEADS oder: Schutz für unsere Expeditions-Truppen

MEADS oder: Schutz für unsere Expeditions-Truppen

von Paul Schäfer

Es ist eine Binsenweisheit: Je weiter ein militärisches Großprojekt vorangeschritten ist, desto unwahrscheinlicher ist, daß es abgebrochen wird. Auf diese Art und Weise entzieht sich die Wehrbeschaffungsallianz aus Rüstungsfirmen, Armee und politischer Exekutive weitgehend der parlamentarischen Kontrolle. Weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit werden neue Waffensysteme erforscht, entwickelt und erprobt, bevor die Parlamente nicht selten mit der Beschaffungsentscheidung überrumpelt werden. Nur die Insider in den Ausschüssen sind bis zu diesem Zeitpunkt mit solchen Kürzeln wie TLVS, MEADS oder FTA befasst. In Ausnahmefällen findet eine kritische Auseinandersetzung mit solchen Beschaffungsvorhaben statt: So mit dem Jäger 90, jetzt Eurofighter 2000. In der Öffentlichkeit noch nicht zur Kenntnis genommen wurde die Absicht der Bundesregierung, auch in die Raketenabwehr einzusteigen.

Dabei ist an der Legitimation für ein solches Rüstungsprojekt bereits kräftig vorgearbeitet worden. Die NATO hat bereits 1991 in Rom die Ausbreitung von Massenvernichtungswaffen als eine der wichtigsten Bedrohungen ausgemacht.1 Im Verlauf der letzten Jahre wurde dieser Proliferationsgefahr immer größeres Gewicht beigemessen und dabei die Notwendigkeit einer »verteidigungspolitischen«, sprich: militärischen Antwort herausgearbeitet. Von der Proliferation moderner Raketentechnologie gehe eine doppelte Bedrohung aus, wird suggeriert. Zum einen könnten feindliche Raketen das Territorium von NATO-Mitgliedsstaaten, vor allem die Südflanke, angreifen. Zum anderen bestehe ein großes Risiko für eigene Streitkräfte, die out-of-area »Frieden stiften« bzw. »Ordnung schaffen« sollen. Es ist in der Strategic Community der Rüstungsplaner ein offenes Geheimnis, daß die neuen Abwehrsysteme vor allem für dieses »Gefechtsfeld« gebraucht werden.

USA: Der Wunsch nach Unverwundbarkeit

Nachdem US-Präsident Reagan noch 1983 das Projekt eines umfassenden Schutzes der USA verkündete, waren diese Vorstellungen bald maßvolleren Plänen einer begrenzten Verteidigung gewichen.2 Aber der Realitätsbezug selbst dieser Szenarien blieb zweifelhaft: Auf absehbare Zeit ist weder das Territorium der USA, noch das der Länder Westeuropas durch eine »feindliche« Flugzeug- oder Raketenarmada bedroht. Man spricht von zehn bis zwanzig Jahren, innerhalb derer ca. 20 überwiegend antiwestliche Länder sich in den Besitz von längerreichweitigen Raketen oder Marschflugkörpern bringen könnten. Solche Szenarien sind für die Anhänger des worst case-Denkens in den USA allemal Grund genug, am Ziel einer »National Missile Defense« (NMD) festzuhalten. Noch aber steht der ABM-Vertrag von 1972 dem Aufbau eines solchen Abwehrsystems im Wege. Er läßt nur eine sehr begrenzte Anzahl von Systemen zu.3 Daher wollte der republikanische Senator Jesse Helms schon per Gesetz den einseitigen Ausstieg aus dem Vertrag erreichen. Die Clinton-Administration versucht, etwas moderater vorzugehen. Verteidigungsminister Charles Perry hat am 16. Februar d.J. folgende Linie verkündet:

  • Priorität hat die frühestmögliche Stationierung von Systemen zur Abwehr taktischer ballistischer Raketen.
  • Bis zum Jahre 2000 sollen die Möglichkeiten einer NMD weiter erforscht und erprobt werden, um dann eine endgültige Entscheidung treffen zu können. Man will vor allem verhindern, daß ein Ausbruch aus dem ABM-Regime von der russischen Seite zum Anlaß genommen wird, die Ratifizierung von START 2 weiter hinauszuzögern.
  • Alle Forschungsprogramme und Tests sollen nur im Einklang mit dem ABM-Vertrag durchgeführt werden.

Die Clinton-Regierung setzt offensichtlich darauf, daß eine zwischen russischen und amerikanischen Regierungsvertretern im November 1995 erzielte vorläufige Übereinkunft verbindlich vereinbart wird, die den Weg für den ungehinderten Aufbau taktischer Raketenabwehrsysteme freimachen würde. Kernpunkt dieser Einigung: Mithilfe technischer Kriterien (Reichweite und Geschwindigkeit) wird präziser zwischen taktischer und strategischer Abwehr unterschieden. Die USA könnten danach die in der Entwicklung befindlichen Waffenprojekte Patriot (PAC 3) und THAAD weiterverfolgen, müßten allerdings auf ein Abwehrsystem der Marine »Upper Tier« (das über eine zu große Geschwindigkeit – über 3 km/Sek. – verfügen würde) verzichten.

Abwehrsysteme für das künftige Gefechtsfeld

Das Hauptgewicht wird ohnehin auf die Entwicklung von Raketenabwehrsystemen für die Kriegsschauplätze der Zukunft gelegt. Mit der »Theatre Missile Defense« (TMD) sollen die US-Truppen bei ihren Auslandseinsätzen »geschützt« werden. Die Logik liegt auf der Hand: Angriffsoptionen, die dem Gegner verweigert werden, eröffnen größere Handlungsspielräume für den eigenen Angriff. Am besten natürlich, wenn die Expeditionsstreitkräfte nahezu unverwundbar bleiben. Der Golfkrieg gilt in dieser Hinsicht als Musterbeispiel. Je geringer die eigenen Verluste, desto besser lassen sich Kriege auch in den westlichen Demokratien verkaufen.

Nachdem die USA seit 1993 darauf drängten, eine Initiative der NATO zur Raketenabwehr zustande zu bringen, beschäftigten sich die Gremien der Atlantischen Allianz 1994 intensiver mit sog.counter-proliferation-Strategien. Beim Ministertreffen in Istanbul (Juni 1994) wurde ein politischer Rahmen verabschiedet, der die Intensivierung der gemeinsamen Anstrengungen festschreibt. Zwei Arbeitsgruppen wurden geschaffen, von denen sich die eine mit den politisch-strategischen, die andere sich mit militärisch-technischen Aspekten befasst. Die Bundesregierung hat sich nach eigenen Aussagen aktiv an diesen Entwicklungen beteiligt.

Im vergangenen Jahr wurde ein weiterer Schritt vollzogen: Die USA, Frankreich, die Bundesrepublik Deutschland und Italien vereinbarten, bei der Entwicklung der Raketenabwehr zu kooperieren und gründeten die »Medium Extended Air Defense System«-Initiative (MEADS).4

Mit MEADS sollen die veralteten HAWK-Raketen, die primär zur Abwehr feindlicher Flugzeuge gedacht waren, innerhalb des nächsten Jahrzehnts ersetzt werden. MEADS wird als komplementär zu den weiter reichenden Systemen wie PATRIOT und der in der Entwicklung befindlichen »Theater High Altitude Air Defense« (THAAD) verstanden.5 Es soll im Rahmen eines Zwei-Schichten-Abfangmodells die Flugkörper bekämpfen, die den beiden anderen Systemen entkommen sind. Die MEADS-Abwehrsysteme sollen gleichwohl autonom einsetzbar sein: Zum „Schutz der Korpselemente einer Expeditionsmacht“ 6 vor ballistischen Raketen mit kürzerer Reichweite, vor Cruise Missiles und anderen unbemannten Flugkörpern.

Über die Kosten hat man bisher wenig gehört. Die Fachzeitschrift Defense News berichtete Anfang 1995 noch von geschätzten 20 Mrd. Dollar. Jetzt wird aus Industrie- und Militärkreisen die Zahl von 40 Mrd. Dollar für die Entwicklung und Stationierung von 100 MEADS-Systemen innerhalb der nächsten fünfzehn Jahre kolportiert.7 Aller Lebenserfahrung nach dürfte dieser Betrag kaum ausreichen. Dies erklärt u.a. die bisherige Reserviertheit der meisten europäischen Staaten dem Projekt gegenüber.

Der derzeitige Stand des Rüstungsprojekts ist schnell referiert:

  • Im Februar 1995 wurde zwischen USA, F, D und I ein vierseitiges Memorandum of Understanding unterzeichnet, das die Kosten- und Arbeitsanteile auf 50:20:20:10 festschrieb.8
  • Fünf der größten europäischen Raketenproduzenten – Aerospatiale, Paris; Alenia, Rom, Daimler Benz Aerospace, Siemens, München; Thomson CSF, Paris – haben sich bereits arrangiert und wollen den Auftrag zu je einem Fünftel unter sich aufteilen. Sie wollen zwei strikt getrennte Teams bilden, die jeweils mit verschiedenen US-Partnern kooperieren und zum Abschluß der Definitionsphase konkurrierende Konzeptentwürfe vorlegen sollen.
  • Eine bei der NATO angebundene Agentur wurde mit dem Management dieses Rüstungsprojekts betraut.
  • Mittlerweile steht das Memorandum of Understanding 2 über den Eintritt in die Definitionsphase vor der Unterzeichnung.

Allerdings ist MEADS durch den jüngst von Präsident Chirac verkündeten Ausstieg Frankreichs ins Stocken geraten.9 Die USA, Italien und Deutschland wollen nun MEADS trilateral weiterführen.10 Die Arbeitsanteile der beteiligten Partner sollen danach mit 62<0> <>% (USA), 25<0> <>% (Deutschland) und 13<0> <>% (Italien) neu festgesetzt werden. Ob sich der mehrfach korrigierte Zeitplan noch aufrechterhalten läßt, muß bezweifelt werden. Allein in Deutschland ergeben sich durch die komplizierten Haushaltsberatungen Verzögerungen. Soviel steht immerhin fest: An eine knapp dreijährige Projektdefinitionsphase soll sich eine siebenjährige Entwicklungsphase anschließen. Die Serienproduktion könnte dann ab dem Jahre 2006 erfolgen.

Aber selbst wenn das MoU 2 unterzeichnet werden sollte, steht das Projekt noch auf wackligen Füßen. Im vergangenen Jahr bedurfte es einer Kraftanstrengung des Pentagon und des einflußreichen Senators Sam Nunn, um den Ausstieg der USA zu verhindern. Der Verteidigungsausschuß hatte bei den Etatberatungen für das Finanzjahr 1996 die Mittel erheblich gekürzt, der Haushaltsausschuß für gänzliche Streichung plädiert. MEADS mußte zum Exempel für die Zukunft transatlantischer Zusammenarbeit hochstilisiert werden, um die Finanzierung zu retten. Was die Zukunft bringen wird, ist dennoch offen: Nach Ablauf der Definitionsphase haben alle Beteiligten noch die Möglichkeit auszusteigen. Ob dann, wenn es ums große Geschäft geht, der transatlantische Verbund noch Bestand hat, bleibt abzuwarten.11

Auch Bonn zunehmend engagiert

Die Bundesregierung hat sich beim Thema Raketenabwehr bis vor kurzem sehr zurückgehalten. Nach offizieller Lesart befürchtete man vor allem die Aushebelung des ABM-Vertrages, der als unverzichtbarer rüstungskontrollpolitischer Eckstein angesehen wurde. In der Tat hat vor allem die Russische Föderation immer wieder davor gewarnt, daß der Aufbau einer Raketenabwehr zu einem neuen Wettrüsten bei nuklearen Angriffswaffen führen würde. Mit dem sich nunmehr abzeichnenden amerikanisch-russischen Kompromiß würde dieser Grund entfallen. Tatsächlich deutet einiges daraufhin, daß die Kohl-Regierung auf diesem Feld ihre Vorsicht aufgeben will und neue Ambitionen entwickelt.

Die Bundesrepublik betritt mit dem Einstieg in die Raketenabwehr rüstungspolitisches Neuland. Dies bedeutet keineswegs, daß sie rüstungstechnologisch am Punkte Null anfangen muß. Der führende deutsche Rüstungskonzern – früher MBB, dann DASA, heute Daimler Benz AG – ist seit langem auf diesem Feld aktiv. In langjähriger Kooperation mit den USA und Frankreich haben sich die deutschen Waffenproduzenten das nötige Know-how angeeignet. Auch die Bundeswehr ist zumindest »planerisch« seit Beginn der achtziger Jahre mit diesem Thema befaßt. 1987 wurde die »Taktische Forderung« (TaF)für die Entwicklung eines »Taktischen Luftverteidigungssystems« (TLVS)erlassen, in der die Streitkräfte die Anforderungen an das künftige Waffensystem formulierten. Messerschmidt-Bölkow-Blohm wurde mit der Durchführung erster Konzeptstudien beauftragt. Die Arbeiten führten schließlich 1992 zur »Militärisch-Technischen Zielsetzung« (MTZ), in der bereits berücksichtigt wurde, daß Streitkräfte künftig auch außerhalb der Zentralregion eingesetzt werden könnten. Daher wurde neben der Einsatzwirksamkeit Wert auf solche Eigenschaften wie Beweglichkeit und Lufttransportfähigkeit gelegt.

Das BMVg hat seit 1992 keinen Hehl daraus gemacht, daß man neben der nur eingeschränkt mobilen Patriot ein FlaRak-Abwehrsystem zum Schutz außerhalb Deutschlands eingesetzter Truppenkontingente brauche. Im Weißbuch 1994 wurde die Flugkörperabwehr zu den „erforderlichen militärischen Kernfähigkeiten“ gerechnet.12 Auch das Auswärtige Amt spricht inzwischen – zumindest in Insider-Kreisen – von »unserem Interesse«, die Bundeswehr beim Einsatz in anderen Regionen zu schützen. Auch die bisher erkennbare Konzeption legt den Schluß nahe, daß das TLVS für den out-of-area-Einsatz der Bundeswehr optimiert werden soll.13 Da TLVS den Nahbereich in unteren Höhen abdecken würde, ist es für die Abwehr von ballistischen Flugkörpern mit Massenvernichtungswaffen ungeeignet. Zum Schutz der Bundesrepublik trägt es also herzlich wenig bei.

Anmerkungen

1) Tagung der Staats- und Regierungschefs des Nordatlantikrats am 7. und 8. November 1991, Ziff. 13 und 50 der Gipfelerklärung. Zurück

2) Inwieweit diese Szenarien im Sinne technischer Machbarkeit realistisch waren, sei hier dahingestellt. Siehe dazu: Jürgen Scheffran, Raketenabwehr contra Proliferation, in: Wissenschaft und Frieden 1/94, S. 51-56. Zurück

3) Genau: 100 Abfangraketen an einem Ort. Zurück

4) Großbritannien verhält sich abwartend, hat aber einen späteren Einstieg in das Projekt nicht ausgeschlossen. Siehe: Britain endorses NATO Missile Defense Effort, in: Defense News, June 12-18, 1995. Zurück

5) Eine verbesserte Variante der Patriot (PAC 3) soll ab 1998 stationiert werden, THAAD ab 2002. Zurück

6) Sidney E. Dean, MEADS: Mehr als ein Luftabwehrsystem, in: Europäische Sicherheit 3/96, S. 25. Siehe auch: „Europäer und Amerikaner planen Bau eines Raketensystems“, FAZ v. 22. Februar 1995. Zurück

7) S. Defense News, April 15-22, 1996 p. 1. Zurück

8) U.S., Allies join on Meads, in: Aviation Week & Space Technology, Februar 27, 1995, p. 23. Zurück

9) Für Frankreich geht es dabei nicht nur um finanzielle Sparerwägungen. In diesem wichtigen Feld möchte man sich nicht von den Amerikanern abhängig machen. Man erwägt daher die Konzentration auf die Fortführung des bisher mit Italien betriebenen Projekts Sol-Air Moyenne-Portee/Terre (SAMP/T). Auch Aspekte der Vermarktung dieser Waffen spielen für Paris eine Rolle. Der mögliche Exportmarkt für SAMP/T wird in frz. Fachkreisen mit 20 Mrd. Dollar angegeben. (Vgl. Defense News, April 15-21, 1996, p. 26). Zurück

10) Defense News, April 1996. Zurück

11) Die Bundesrepublik nutzt traditionell transatlantische Kooperationen im Forschungs- und Entwicklungsbereich, um ihr Know-how in High-Tech-Rüstungssektoren zu vertiefen. Jüngstes Beispiel: Das X-31-Experimentalflugzeug. Zugleich hat der nationale Champion in der Luft- und Raumfahrt, die Daimler-Benz AG, längst eine strategische Allianz mit der französischen Aerospatiale (Euromissile!) gebildet. (Auch mit Thomson wurden jüngst die Verbindungen enger geknüpft.) Daher ist das letzte Wort darüber, in welchem Rahmen die neuen Waffensysteme gebaut werden, noch lange nicht gefallen. Auch hat sich das BMVg bereits 1992 über die völlige Abhängigkeit von den USA (durch die Aufkäufe von Hawk und Patriot) beklagt und eine Entwicklung im europäischen Verbund befürwortet. Zurück

12) Weißbuch zur Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland und zur Lage und Zukunft der Bundeswehr, 1994, Ziff. 551. Zurück

13) Siehe dazu den kritischen Beitrag von Hermann Hagena und Niklas von Witzendorff: Flugkörperabwehr. Kernfähigkeit der Bundeswehr oder Faß ohne Boden? In: Europäische Sicherheit 11/94, S. 554 ff. Zurück

Paul Schäfer ist wiss. Mitarbeiter des Bundestagsabgeordneten G. Zwerenz, PDS

Vor neuer Aufrüstungsrunde

Vor neuer Aufrüstungsrunde

Debatte um deutschen Rüstungshaushalt durchwehte ein Hauch von Vaterlandsverrat

von Paul Schäfer

Bereits der erste Tag der diesjährigen Haushaltsdebatte im Bundestag förderte Erhellendes zutage. Die Abgeordnete Matthäus-Maier (SPD) hatte den Anstieg bei den Rüstungsausgaben hinterfragt. Der Fraktionsvize der CDU/CSU, Hans-Peter Repnik, hielt ihr daraufhin vor, dies müsse sie erstmal » unseren« TORNADO-Piloten, die in Bosnien im Einsatz seien, erklären. Ein Hauch von Vaterlandsverrat durchwehte das Bundestagsplenum. Matthäus-Maier beeilte sich denn auch richtigzustellen, sie habe keineswegs eine Kürzung des Wehretats gefordert. Wie in den schlimmeren Tagen des Kalten Krieges scheint der Rüstungshaushalt tabu zu sein. Wer hier Streichungen fordert, der kann nur wollen, daß sich Deutschland aus seiner internationalen Verantwortung stiehlt. Die Krisen und Konflikte in der Welt werden auf diese Weise genutzt, um die horrend hohen und gar wieder ansteigenden Rüstungsausgaben zu rechtfertigen.

Und die Rüstungslasten sind auch nach dem Zusammenbruch des Warschauer Pakts auf astronomischer Höhe geblieben. Alle sind sich einig: Die Bundesrepublik ist seitdem nur noch von Freunden und Partnern umgeben. Ein Angriff auf ihr Territorium ist auf absehbare Zeit nicht zu erwarten! Weit über den Abrüstungsvertrag bei konventionellen Streitkräften (KSE) hinaus, wurden bei unseren ehemaligen Feinden im Osten Waffensysteme verschrottet. Eine „dramatisch veränderte Sicherheitslage“ (Rühe) also. Aber in puncto Abrüstung: Fehlanzeige. Die Rüstungslobby weist gerne jammervoll darauf hin, daß es doch Einschnitte beim Wehretat gegeben habe. Jetzt aber sei das Ende der Fahnenstange erreicht. Das Minimum, das die Bundeswehr braucht“, sagt der zuständige Minister zu seinem 48,4 Mrd.-Haushalt. Ein historischer Vergleich mag verdeutlichen, was davon zu halten ist: Mit dem Rückgang von 53,6 Mrd. DM im Jahre 1991 auf 47,26 Mrd. DM 1994 wurde inflationsbereinigt etwa der Stand Mitte der achtziger Jahre erreicht. Damals hatten bekanntlich die Ost-West-Beziehungen – nach der sog. Nachrüstung der NATO und den SDI-Bestrebungen – gerade ein neues Eiszeit-Stadium erreicht!

Es ist leider wahr, daß das Ende der Kalten-Kriegs-Konfrontation nicht ein Ende der Konflikte in der Welt gebracht hat. Eher hat die Anzahl der gewalttätigen Konflikte zugenommen. Für die konservativen Hardliner liegen die Dinge auf der Hand. Militärisches Krisenmanagement durch NATO/WEU ist gefragt und zwar weltweit. Das Credo der militärischen Abschreckung bleibt daher ungebrochen gültig. Auf diese Weise aber gibt es kein Entrinnen aus der alten Spirale „Aufrüstung führt zu Krieg – Krieg führt zu Aufrüstung“. Dabei wäre es an der Zeit, sich den Ursachen dieser Konflikte und Kriege zuzuwenden. Nur eine präventiv ausgerichtete Politik der Konfliktverhütung kann auf Dauer zu Problemlösungen führen. Doch dies würde z.B. bedeuten, den Etat für Entwicklungszusammenarbeit kräftig zu erhöhen. Mit dem jetzt vorliegenden Haushalt erreicht die öffentliche Entwicklungshilfe der Bundesrepublik gerade einen Anteil von 0,33<0> <>% am Bruttosozialprodukt. In Rio hat Kohl 0,7<0> <>% versprochen. Zudem fließt ein Teil der veranschlagten 8 Mrd. DM als Darlehensrückzahlungen, als Aufträge für die bundesdeutsche Wirtschaft etc. zurück. Maßstab der Entwicklungspolitik ist vor allem, ob sie der deutschen Wirtschaft nützt und weniger, ob sie nachhaltige Entwicklung fördert.

Der Haushaltsentwurf 1996 belegt einmal mehr, daß die Bundesregierung nicht die Chancen der Abrüstung nutzt und auch nicht die Frage ziviler Konfliktlösungen in den Mittelpunkt rückt. Im Gegenteil: Sie setzt auf Rüstungsmodernisierung und baut die Bundeswehr für ihre neue Rolle als Interventionsarmee um.

Das Credo militärischer Abschreckung bleibt unverändert

Mit dem Entwurf zum Rüstungshaushalt 1996 wird fortgesetzt, was von den Rüstungslobbyisten 1995 als »Trendwende« überschwenglich begrüßt wurde. Die Militärausgaben weisen wieder nach oben. Der Höhepunkt war 1991 mit 53,6 Mrd. DM erreicht. Nach einem kurzen Tief 1994 mit 47,2 Mrd. steigen die Aufwendungen jetzt wieder auf 48,4 Mrd. Damit steigt auch der Anteil der Rüstungsausgaben am Bundeshaushalt wieder an. Rüstungslobbyisten verweisen gerne darauf, daß dieser Anteil in den achtziger Jahren ca. 18<0> <>% betragen habe und in den neunziger Jahren auf die 10<0> <>%-Marke gefallen ist. Doch diese prozentuale Absenkung hat mit Abrüstung wenig bis gar nichts zu tun. Sie ist vor allem Resultat des aufgeblähten Gesamtetats – die hohen Transferzahlungen Richtung Osten schlugen ordentlich zu Buche. 1988 betrug der Umfang des Bundeshaushalts noch ca. 275 Mrd. DM. Er sprang 1991 auf über 400 Mrd. und erreichte 1994 über 470 Mrd.!

Einen wirklichen Einschnitt bei der Rüstung hat es auch nach der »Zeitenwende« 1989/90 nicht gegeben. Richtig ist: Die deutsche Armee ist bis Ende 1994 auf 370.000 Mann (1989: 483.000 Bundeswehr-Soldaten, 155.000 NVA-Soldaten) reduziert worden. Dies war der Preis, der für die »Wiedervereinigung« entrichtet werden mußte. Richtig ist, daß die »vereinigte Bundeswehr« nach dem KSE-Vertrag über 10.000 Großwaffensysteme reduzieren mußte. Das Gros davon allerdings bei den NVA-Beständen. KSE-Reduzierungen und die völlige Abwicklung der NVA wurden genutzt, um sich von einem Riesenarsenal an Waffen zu trennen, die nicht mehr »up-to-date« waren. Ein beträchtlicher Teil davon findet sich heute in Konfliktregionen der Welt wieder: in der Türkei, in Griechenland und in Indonesien. Richtig ist, daß es in den Haushalten 1993 und 1994 Kürzungen von einigen Milliarden DM gegeben hat. Aber diese Sparmaßnahmen hatten mit vorsätzlicher, längerfristig geplanter Abrüstungspolitik nichts zu tun. Sie waren den immensen Haushaltszwängen in Folge der deutschen Einheit und der krisenhaften Wirtschaftsentwicklung geschuldet.

In die Zeit zwischen 1991 und 1995 fallen auch beträchtliche Rüstungsaufwendungen, die nicht über den Etat des Verteidigungsministers abgewickelt wurden. Im Jahre 1991 wurden den westlichen Verbündeten 10 Mrd. DM für den Golfkrieg überwiesen. Die Bundeswehr hat sich in diesem Zusammenhang über denselben Einzelplan (EP 60; Allgemeine Finanzverwaltung) über 1,2 Milliarden für sog. Ersatzbeschaffungen besorgt. Für die Beschaffungen von Waffensystemen für Israel wurden in diesem Einzelplan seitdem ca. 900 Mio. DM eingestellt.

Ein realistischeres Bild über den Umfang der Rüstungslasten gewinnt man auch nur, wenn man die Gesamtheit der Militärausgaben erfasst. Werden die Kriterien zugrunde gelegt, nach denen die NATO die Militärausgaben ihrer Mitglieder erfaßt (darin sind auch die Militärruhestandsgehälter, Ausgaben für den Bundesgrenzschutz, Beiträge für die NATO- und WEU-Zivilhaushalte, für Rüstungshilfe an andere Staaten etc. erfaßt), so ergibt sich, daß 1995 knapp 60 Mrd. (59,23) DM für die Verteidigung ausgegeben wurden. Der Vergleich der Ausgaben nach NATO-Kriterien von 1989 und von 1994 fördert zutage, daß eine Reduzierung um lediglich 900 Mio. DM stattgefunden hat. Nur in der Zwischenzeit, in den Jahren 1990-1992, lagen die Ausgaben durch die Übernahme der NVA weit darüber – zwischen 68 und 65 Mrd. DM.

Doch selbst die Militärausgaben nach NATO-Kriterien umfassen nicht die Gesamtheit der militärisch bedingten Ausgaben. In nahezu allen anderen Einzelplänen ist noch eine Vielzahl von Ausgaben versteckt, die direkt oder indirekt mit Bundeswehr und Rüstung zu tun haben.

Von erheblicher Bedeutung und finanziellem Gewicht sind:

  • Die im Etat des Kanzleramts veranschlagten 236 Mio. DM für den BND müssen mindest zu Teilen dem Rüstungshaushalt zugerechnet werden.
  • Die im EP 05 ausgewiesene Ausstattungshilfe von 50 Mio. DM (u.a. Lieferung von ausgemustertem Kriegsgerät an andere Länder), muß teilweise dem Militäretat zugeschlagen werden. Hinzu kommen 65 Mio. DM für Fregattenlieferungen an die Türkei.
  • Beträchtliche Finanzmittel werden für militärisch relevante Forschung & Entwicklung außerhalb des EP 14 aufgebracht. Zu nennen ist hier natürlich der Haushaltstitel 3008 beim BM für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie Weltraum- und Luftfahrtforschung. 1996 sind hierfür 1,88 Mrd. DM veranschlagt. Aber auch das Wirtschaftsministerium tut einiges zur Förderung der Luftfahrttechnik. Es ist ein offenes Geheimnis, daß im Zeitalter der elektronisch bestimmten Rüstungsmodernisierung eine enge Abstimmung zwischen BMVg und BMFT stattfindet. Erst jüngst hat der Generalbevollmächtigte der Daimler-Benz Aerospace nachdrücklich gefordert, die Trennung zwischen militärischer und ziviler Forschung und Technologie so rasch wie möglich aufzugeben.
  • Einen nicht gerade kleinen Batzen verschlingen Ausgaben im Rahmen für die sog. zivile Verteidigung. 1995 immerhin noch über eine halbe Milliarde. Darunter verstecken sich zwar auch viele Aufwendungen für die Katastrophenhilfe, aber auch Mittel zur Vorbereitung auf den »Verteidigungsfall« (wie Bunkerbau etc.).
  • Last but not least darf nicht vergessen werden, daß die Rüstungsausgaben ja einen beträchtlichen Anteil daran haben, daß der Bund jährlich viel Geld für Schuldentilgung plus Zinsen aufbringen muß. 1996 müssen 56 Mrd. DM Bundesschulden abgetragen werden. 10<0> <>% davon wären 5,6 Mrd. DM.

In der Summe ergibt sich also ein Betrag, der an 70 Milliarden DM heranreichen dürfte. 70 Milliarden für Militär und Rüstung nach dem Wegfall des Warschauer Pakts – welch ein Aberwitz!

Überdimensionierte Militärausgaben zu Lasten von Ausgaben zur friedlichen Konfliktprävention

Schon ein erster Zahlenvergleich zeigt, in welch krassem Mißverhältnis die hohen Aufwendungen für militärische Beschaffungen und Einrichtungen zu den weiterhin geringen Beiträgen für eine zivil ausgerichtete, vorbeugende Konfliktbewältigung stehen: Trotz lautstarker Bekundungen über die bedeutende Rolle der OSZE bleiben die Mittel für die OSZE auf skandalös niedrigem Niveau. Ganze 4,5 Mio. DM sind im Einzelplan 05 für die OSZE-Einrichtungen, Seminare und Missionen veranschlagt. Allein der Beitrag für den zivilen Teil des NATO-Haushaltes im Etat des Auswärtigen Amtes ist mit über 40 Mio. fast zehnmal so hoch. Aussagekräftiger ist es, wenn wir die kärglichen 4,5 Mio. mit dem Abschnitt „Bewilligungen im Rahmen der Mitgliedschaft zur NATO und zu anderen internationalen Organisationen“ vergleichen. Dort ist für 1996 fast 1 Milliarde DM ausgewiesen. Was könnte von nur 10<0> <>% dieser Aufwendungen (immerhin knapp 100 Mio.) für eine vernünftige Konflikprävention getan werden?!

Der Beitrag für die OSZE wird auch durch eine andere Zahl ins rechte Licht gerückt: An den Verband der Reservisten überweist das BMVg einen Zuschuß von über 27 Mio. DM (1403).

Die Unterstützung bei der Beseitigung ehemals sowjetischer Massenvernichtungswaffen ist der Bundesregierung gerade 18 Mio. DM wert. (EP 05, Kap. 02) Immerhin eine Steigerung gegenüber dem 95er-Etat um 5 Mio. Doch auch hier wäre ein erheblich größerer Beitrag eine sinnvolle Investition in eine sicherere Zukunft.

Rüsten für die Kriege der Zukunft

Nach den Anmeldungen zum 29. Finanzplan des Bundes (1995-1999) sollten die Ausgaben 1996/97 bei 48 Mrd. stabilisiert werden, um dann ab 1998 wieder zu steigen. 1999 sollten allein im Einzelplan 14 des BMVg 49 Mrd. DM eingestellt werden. Die jetzt bei der OSZE eingereichten Haushaltszahlen im Rahmen des jährlichen Informationsaustausches über Verteidigungsplanung korrigieren diese Angaben bereits nach oben. 1997 und 1998 sind Steigerungen von jeweils 1,2 Mrd. DM angesetzt.

Das BMVg bagatellisiert: Eine 2,5<0> <>%-Inflationsrate einberechnet, ergäbe sich praktisch eine Ausgabenminderung. Auffällig ist aber die Tatsache, daß es kontinuierlichen Aufwuchs bei den FE- und Beschaffungsausgaben gibt. Insbesondere bei dem Beschaffungstitel sind nach der Jahrhundertwende erhebliche Sprünge vorprogrammiert. Denn, wie Minister Rühe seit geraumer Zeit verlauten läßt, kommt auf die Bundeswehr „auf mittlere Sicht praktisch eine Runderneuerung des Großgeräts“ zu.

Nach der zweiten großen Beschaffungswelle Ende der 70er/Anfang der 80er Jahre (Leopard 2, TORNADO etc.) wird der Zulauf neuer, noch effizienterer Großwaffensysteme für die Zeit nach der Jahrhundertwende fest angepeilt. Die alte Geschichte eines Rüstungsautomatismus wiederholt sich: Industrie und Militärs gehen schlicht von einem technologisch bedingten Erneuerungszyklus aus. Alle Waffengattungen sind an dieser neuen Aufrüstungsrunde beteiligt. Hinzu kommen wachsende Mittel für die teilstreitkräfteübergreifenden Aufklärungs-, Kommando- und Gefechtsfeldführungssysteme, mit denen die Schlachten der Zukunft geschlagen werden sollen.

Wehrtechnische Forschung & Entwicklung

Mit den Haushalten 1996-1999 werden gewissermaßen die Weichen gestellt, um diese Beschaffungen einzuleiten. Dies drückt sich vor allem in den steigenden Aufwendungen für wehrtechnische Forschung & Entwicklung aus. Nachdem die Ausgaben für wehrtechnische Entwicklung 1993 auf ca. 2,5 Mrd. DM gefallen waren, wird im Haushalt 1996 erstmals wieder die 3 Mrd. DM-Grenze überschritten. Bis 1999 ist eine weitere Steigerung auf 3,5 Mrd. DM vorgesehen. Wenn wir von konservativ geschätzten 4 Mrd. DM militärischer F&E (s.o.) ausgehen, dann werden damit die Rekordmarken der Jahre 1989-1991 wieder erreicht. Damals wurden erstmals in größerem Umfang Mittel für F&E des neuen Jagdflugzeuges (Jäger 90) eingestellt, der auch jetzt wieder mit 650 Mio. DM einen erheblichen Teil der wehrtechnischen Forschungsmittel frißt.

Mit dem Etat 1996 soll auch eine Trendwende im Verhältnis Betriebsausgaben ./. investive Ausgaben (Forschung & Entwicklung, Beschaffungen) eingeleitet werden. Die Investitionsausgaben sind in den vergangenen Jahren anteilig tatsächlich von ca. 30 auf etwas über 20<0> <>% zurückgegangen. Sie konnten dies, weil keine großen Beschaffungsvorhaben in diesem Zeitraum anstanden. Außerdem hat die im Zuge der Wiedervereinigung fällige Umstrukturierung der Bundeswehr die Betriebsausgaben erheblich in die Höhe schnellen lassen (Baumaßnahmen im Osten!). Mit der inzwischen beschlossenen Festschreibung des tatsächlichen Personalbestandes der Bundeswehr auf 340.000 Soldaten, mit der Verkürzung der Wehrpflichtdauer ab Anfang 1996, mit dem weiteren Abbau der zivilen Beschäftigten und einer rabiaten Durchrationalisierung des Betriebes sollen ab sofort die Mittel frei werden, um den Anteil der Investitionsausgaben weiter kräftig steigern zu können. Vorgesehen ist, daß die Investitionsquote nach der Steigerung auf 24<0> <>% im vorliegenden Haushalt auf 29<0> <>% im Eckjahr 1999 angehoben wird. Einer umfassenden Rüstungsmodernisierung dürfte dann nichts mehr im Wege stehen.

Die Bundeswehr wird zur Interventionsarmee umgebaut

Diese Runderneuerung fällt zusammen mit der „Umrüstung auf Krisenreaktionsfähigkeit“ (Rühe) – im Klartext: des Umbaus der Bundeswehr zu einer weltweit interventionsfähigen Armee. Der Minister hat auch eine Liste der Großvorhaben präsentiert, die im Laufe der nächsten zehn Jahre neu beschafft werden sollen: Die Liste enthält entsprechende Transportfähigkeiten in der Luft, zu Lande und auf See, sog. strategische Aufklärungskapazitäten (Spionagesatelliten), das neue Jagdflugzeug EF 2000 (Jäger 90), neue Fregatten und U-Boote der Marine und neue Hubschrauber und Panzerhaubitzen des Heeres. Nicht zu vergessen die Pläne zur Beschaffung von Raketenabwehrsystemen, mit denen Interventionskorps unangreifbarer gemacht werden sollen. Im Haushaltsentwurf 1996 sind erstmals Mittel für eine multilaterale Agentur ausgewiesen, die dieses Rüstungsprojekt vorantreiben soll.

Für das neue Jagdflugzeug Eurofighter 2000 sind im kommenden Haushalt wieder 635 Mio. vorgesehen. Dieses Projekt allein wird ca. 8 Mrd. DM Entwicklungskosten verschlingen. Welche Kosten mit der Beschaffung auf uns zukommen werden, ist immer noch offen. Die geplante Beschaffung von 140 Maschinen wird nach den offiziellen Industrieangaben mindestens 20 Mrd. DM kosten. Ein Betrag, der doppelt so hoch ist, ist aber nicht auszuschließen. Für eine neue Generation von Hubschraubern (NH 90, UHU) müssen für die nächsten Jahre Beträge zwischen 15 und 20 Mrd. DM veranschlagt werden. Mit dem vorliegenden Haushaltsentwurf sollen erstmals Mittel für die Serienvorbereitung des Unterstützungshubschraubers TIGER (UHU), der gemeinsam mit Frankreich entwickelt wird, eingestellt werden.

Gar nicht einberechnet in die mittelfristige Haushaltsplanung sind die Kosten für den Einstieg in die Weltraumrüstung und für Entwicklung und Beschaffung neuer Raketenabwehrsysteme. Von einem zweistelligen Milliardenbetrag für die Beteiligung an einem WEU-Satellitensystem innerhalb der nächsten zehn Jahre ist auszugehen. Das BMVg hat bereits signalisiert, daß es diese Mittel nicht allein aufbringen will. Auch andere Etats müssen also für diese Militarisierung bluten.

Die Aufrüstung für out-of-area-Kampfeinsätze der Bundeswehr in der Zukunft sind das Eine; die laufenden Kosten das Andere. Schon heute fallen bereits erhebliche Beträge fürAuslandseinsätze an. Dies gilt natürlich besonders für den Einsatz deutscher Soldaten im ehemaligen Jugoslawien. Anläßlich der Entscheidung der Bundesregierung, deutsche Truppenkontingente zu entsenden, hat Min. Rühe von 345 Mio. DM Zusatzkosten für die Dauer von sechs Monaten gesprochen. „Auch das BMVg“ müsse davon einen Teil übernehmen. Von 200 Millionen ist die Rede. Bisher sind im Einzelplan 14 nur 65 Mio. DM für solche Einsätze bereitgestellt.

Abrüstung ist das Gebot der Stunde

In den nächsten Jahren steht also eine große Auseinandersetzung um die genannten militärischen Beschaffungsprogramme und die Umrüstung der Bundeswehr an. Noch überwiegt in der Öffentlichkeit die Auffassung, es werde abgerüstet. Für den November war die Entscheidung über das neue Jagdflugzeug EF 2000 angesetzt. Möglicherweise ebenfalls Ende des Jahres soll über die deutsche Beteiligung am WEU-Spionage-Satellitenprojekt entschieden werden.

Die Friedensinitiativen haben sich in den letzten Jahren vor allem mit den Fragen ziviler Konfliktlösungen beschäftigt. Und dies völlig zu recht. Die alte, mühselige Arbeit des »Erbsenzählens« bei Raketen, Hubschraubern und Geschützen scheint aber doch wieder auf uns zuzukommen.

Paul Schäfer ist wiss. Mitarbeiter des PDS-Bundestagsabgeordneten Gerhard Zwerenz

Nachholender Globalismus

Nachholender Globalismus

Bundesregierung und Opposition im Streit um die außenpolitische Standortsicherung

von Lothar Gutjahr

Ein knapper Sieg sei ihm lieber als eine klare Niederlage, meinte der CDU-Fraktionsvorsitzende in der Wahlnacht. Am Ende reichte es der CDU knapp für eine weitere Legislaturperiode. Sie regiert nun mit etwa zweieinhalb Prozent weniger als vier Jahre zuvor; das schlechteste Ergebnis seit 1949, auch wenn sich der Kanzler in der Öffentlichkeit als strahlender Sieger darstellt.

Gerhard Schröder brachte das Resultat denn auch auf den Punkt: Er konstatierte eine „lächerliche Mehrheit“. Die Kanzlermajorität wurde zum einen durch die wider Erwarten erfolgreichen Liberalen gerettet – auch sie Sieger des Abends nach eigenem Bekunden. Zum anderen hätte die Regierungskoalition ohne die Überhangmandate im Bundestag nur mit zwei Stimmen vorn gelegen. Von der Stabilität, die sie im Ausland versprochen hatte, wäre dann nicht viel übrig geblieben. Welche außenpolitischen Ziele werden CDU/CSU und FDP auf der Grundlage ihres knappen Sieges verfolgen?

Das Ende der Wende?

Die Arbeit der CDU/CSU-Fraktion werde nun disziplinierter meinte ihr Vorsitzender; d.h. die Abweichler rechtsaußen werden noch stärker an die Leine des Bundeskanzleramtes gelegt. Mit den Ergebnissen des 1982 angekündigten Wendeprojekts kann jener Teil des konservativen Spektrums trotz aller Kritik an ihrem Kanzler sowieso insgesamt zufrieden sein. Seinerzeit war der Oggersheimer Enkel mit dem Vorsatz angetreten, die Adenauersche Außenpolitik fortzusetzen: Seit der Gründung der Bundesrepublik war die konservative Außenpolitik von dem Ziel bestimmt, das westdeutsche Provisorium zu einem gleichberechtigten Bestandteil im Konzert der Westmächte zu machen, um so eine territoriale Revision zu bewerkstelligen. Nur die Instrumente zur Erreichung der Ambitionen wechselten je nach der internationalen Konstellation.

1990 wurde die Deutsche Frage beantwortet, d.h. die Anormalität der nationalen Teilung ist überwunden. Was bleibt, ist ein Selbstverständnis, das weit weniger auf Blut-und-Boden-Patriotismus baut, als es die öffentliche Rhetorik der Union zuweilen suggeriert. Jenseits seines parteipolitischen Interesses, das nationalkonservative Spektrum für die Mehrheits- und Regierungsfähigkeit zu integrieren, zielt die Logik der Kohlschen Politik auf die Sicherung des Wirtschafts- und Wohlstandsstandortes Deutschland. Der zugrundeliegende Chauvinismus ist eigentlich nicht national sondern ökonomisch, auch wenn er mit der identitätsstiftenden Wirkung eines Nationalismus à la Schäuble kokettiert.

Ein Bruchpunkt gegenüber älteren Konservatismen liegt denn auch eher 1986/87. Damals erkannte die Führung der Union – mit sanftem Druck des liberalen Außenministers – das ein ostpolitischer Wende-Revisionismus unter dem Stichwort „Schlesien bleibt unser“ bei den Alliierten und Partnern nicht durchzusetzen sein würde. Seither reagiert die CDU/CSU auf die Zäsuren im internationalen System mit einer modifizierten Fortschreibung ihres machtpolitischen Standortkonzepts.

Die Interessendefinition als Wirtschafts- und Wohlstandsstandort wird wohl auch künftig der Angelpunkt deutscher Innen- wie Außenpolitik bleiben. Das Wort von der deutschen Normalität ist jüngeren Datums. Inhaltlich ist es eine Umformulierung dessen, was Franz Josef Strauß in den achtziger Jahren forderte: die Bundesrepublik müsse endlich aus dem Schatten Hitlers heraustreten. Nationale Normalität bedeutet zum einen Abschied von der Erblast des deutschen Faschismus (die „Gnade der späten Geburt“) sowie zum anderen die Übersteigerung der Wirtschaftswundermentalität. Ein wirtschaftlicher Riese braucht auch die Instrumente politischer Mitsprachemöglichkeiten – herkömmliche Fixpunkte konservativer Außenpolitik, wie die Verteidigung staatlicher Souveränität werden nicht mehr legalistisch sondern rein ökonomisch-machtpolitisch gefaßt. Was hinten rauskommt zählt.

Die nächsten vier Jahre Kohl werden die Fortschreibung des »nachholenden Globalismus« bringen, der in der Tradition Adenauers nicht auf ein Endziel abstellt, sondern pragmatisch die Ausweitung machtpolitischer Optionen betreibt. Zunächst wird es also wohl nicht um ein weltweites militärisches Engagement gehen, wie einige KritikerInnen bereits befürchten. Unter Umständen wird es in den kommenden Jahren gar keinen weiteren Somalia-ähnlichen Einsatz der Bundeswehr geben. Solche Unternehmungen haben ihren innenpolitischen Zweck als PR-Kampagne erfüllt. In der kommenden Phase der Ausweitung machtpolitischer Handlungsfähigkeit »in und für Europa« ist es für die Regierung Kohl wesentlicher, die eigenen Optionen strukturell zu verbessern.

In diesem Zusammenhang war die Auseinandersetzung über die Rolle der Bundeswehr von strategischer Bedeutung. Im Zwist um die grundgesetzliche Zulässigkeit von Auslandseinsätzen der Bundeswehr wurde eigentlich der politische Streit um die zivile Orientierung des ehemaligen Handelsstaates ausgetragen. Die Entscheidung des Bundesverfasungsgerichts vom Sommer 1994 hat den Kampf um die Legalität beendet. Der nächste Baustein konservativer Strategen ist die politisch-faktische Normalisierung. Deutschlands akzeptierte Rolle in internationalen Organisationen, wie dem UN-Sicherheitsrat, der Atlantischen Allianz oder der gemeinsamen europäischen Außenpolitik (GASP) soll ausgebaut werden. Dennoch wird die Bundesrepublik noch auf längere Sicht kein normaler Staat sein und vielleicht nie werden: das historisch begründete Mißtrauen der Partner/Nachbarn, die andauernde Konzentration auf den Aufbau-Ost und die keineswegs eindeutige Unterstützung der WählerInnen für den Kurs des Kanzlers werden dies be- oder verhindern.

Beinahe vierzig Jahre nach der (west) deutschen Wiederbewaffnung entscheidet sich in der Debatte über den künftigen Auftrag und die Struktur der Bundeswehr, ihre Größe, Bewaffnung und innere Führung sowie ihre Vernetzung mit den Streitkräften anderer euro-atlantischer Länder der Charakter der Republik. Die öffentliche Auseinandersetzung wird wahrscheinlich weniger spektakulär verlaufen als seinerzeit zwischen Adenauer und Schumacher. Auch gibt es brisantere Kontroversen im Sozial- und Wirtschaftsbereich. Aber materiell wird die Heeresreform zum Fundament der künftigen Rolle Deutschlands in der Welt. Setzen sich die Konservativen, getrieben von Naumanns Hardthöhe durch, wird die Bundesrepublik strukturell dazu in der Lage sein, militärische Macht über größere Entfernungen zu projezieren. Zwar erlangt sie auf absehbare Zeit kaum eine einseitige Interventionsfähigkeit. Ihr fehlen die Beschaffungsressourcen für einen schnellen Umbau, die Truppentransporter sowie die technische Infrastruktur für ein modernes Schlachtfeldmanagement. Im Rahmen multinationaler Verbände der WEU und/oder NATO, politisch koordiniert durch KSZE und/oder UNO, wäre Deutschland dennoch mehr als nur ein normaler Bestandteil der dominierenden Industriestaatenlobby. Ohne die alarmistische Wende-Rhetorik der frühen Jahre schaffen CDU, CSU und FDP machtpolitische Instrumente, deren Erhaltung sich im Hinblick auf den weltweiten Konkurrenzkampf lohnt. Eine konservative Revolution im High-tech-Zeitalter.

Die zweite, unter strategischen Gesichtspunkten relevante Debatte der kommenden vier Jahre zeichnete sich bereits vor dem Wahltag im Oktober ab. Mit ihren Thesen zu einem Kerneuropa setzten Schäuble und Lamers erste Signale. Beide sind keine unbedarften Hinterbänkler, wohl aber ausgewiesene National- bzw. Eurokonservative mit Gespür für machtpolitische Chancen. Ihre Vorstellungen liegen im Trend der konservativen Europadiskussion, die seit Mitte der achtziger Jahre das Schwinden amerikanischer Hegemonie verarbeitet. Seit Dreggers Thesen zur „Selbstbehauptung Europas“ 1987 wird der ehemals vorherrschende Atlantizismus durch eine Europäisierung der Politik ersetzt. Die EG/EU soll mittelfristig zu einer handlungsfähigen Einheit werden, die ihre Interessen v.a. gegenüber den nordamerikanischen und südostasiatischen Wirtschaftskonkurrenten behauptet. Hierzu bedarf es einer Bündelung der ökonomischen und technologischen Innovationspotentiale sowie einer politischen Regulierung, zu der die europäischen Einzelstaaten kaum noch in der Lage sind. VertreterInnen einer EU-Freihandelszone, wie der britische Premier Major haben dieser Strategie kaum etwas entgegenzusetzen, als ihren Selbstausschluß bzw. ihre Veto-Macht, jedenfalls solange Paris und Bonn am gleichen Strang und auf derselben Seite ziehen.

Ob und wann die vom politischen Partner so titulierten „wehleidigen Zweitstimmenschnorrer“ wiedereinmal auf die CDU/ CSU-Linie einschwenken, bleibt abzuwarten. Ein solches Verhalten ist wahrscheinlich, da die FDP die Formulierung deutscher Außenpolitik bereits in den letzten Jahren der Genscher-Ära an die Hardhöhe abgetreten hatte. Akuten Handlungsbedarf gibt es sowieso erst in Vorbereitung auf die Regierungskonferenz 1996. Dann werden Kohl, Waigel und Kinkel Stellung beziehen müssen zu den Fragen der Osterweiterung, Integrationsvertiefung und Demokratisierung. Die Knackpunkte bleiben das Verhältnis zu Rußland, die Gestaltung der gemeinsamen europäischen Außenpolitik (GASP), die Rolle der WEU und die Entscheidungsrechte des Europäischen Parlaments.

Politikwandel oder nur Kanzlerwechsel?

In seiner Münchner Rede bekannte der Kanzlerkandidat, daß es zwischen ihm und dem Amtsinhaber keine außenpolitischen Differenzen gebe. Vielleicht hatte dies mehr mit seiner Wahltaktik als mit seinen Überzeugungen zu tun. Denn von dieser Ausnahme abgesehen hielt sich Rudolf Scharping an die Wiesbadener Beschlüsse seiner Partei: Die Bundeswehr solle sich auch künftig nur an Blauhelmmissionen beteiligen dürfen, nicht aber an Kampfeinsätzen. Weil die innerparteilichen Auseinandersetzung seit dem Golfkrieg allzu heftig gewesen waren, blieb die SPD-Außenpolitik während des gesamten Wahlkampfes profillos.

Diese Konturenlosigkeit hatte ihren Ausgangspunkt eigentlich bereits 1989, als die Orientierungsmarken der Brandtschen Ostpolitik, der Gemeinsamen Sicherheit und der ost-westlichen Streitkultur nicht länger gültig waren. Ohne einen Gegenpol im Osten, der zugleich politischer Gegner und Überlebens-Partner war, fehlte den SozialdemokratInnen das realistische Gestaltungskonzept. Beim Berliner Parteitag überschattete die Aura des Ehrenvorsitzenden diesen programmatischen Mangel. Aber die bald eingesetzten Kommissionen konnten das konzeptionelle Defizit nicht verhehlen: Die Gemeinsame Sicherheit in Europa war zu einer Worthülse geworden, weil ihre VertreterInnen in der neuen Staatenkonstellation keine zwingenden Interessen mehr zum Verzicht auf Krieg feststellen konnten. Ohne den Druck einer vertikalen Atomeskalation wurde Krieg wieder zu einem Mittel der Politik.

Die diversen Konstruktionspläne der SPD einer neuen europäischen Friedensordnung jenseits der Blockkonfrontation stützen sich noch zu wenig auf machtpolitische Analysen. Für ihre Forderungen, die aufflammenden ethno-sozialen Konflikte zu zivilisieren, konnten OppositionsvertreterInnen keine relevanten politischen Instrumente und kaum internationale Partner für Bonn nennen. Die Überwindung der ökonomischen Teilung zwischen Ost und West, Nord und Süd, die Reform der UNO, die gleichzeitige Auflösung von NATO und Warschauer Vertrag, die Stärkung der KSZE-Strukturen oder die Überwindung der Nationalstaaten in Europa blieben Forderungen ohne Durchsetzungsperspektive.

Die Unschlüssigkeit des ehemals dominierenden Frankfurter Kreises nutzten andere Teile der SPD dazu, die Tagespolitik der Regierung zu unterstützen. Langfristig setzten sie auf eine Große Koalition. Dieser (außenpolitische) Strategieansatz vertrug sich zwar kaum mit einem Verzicht auf jede Form der Machtpolitik (wie er im Berliner Progamm 1989 verankert wurde), wohl aber mit einer Normalisierung der Bundesrepublik. Diese Gemeinsamkeit der demokratischen Volksparteien wurde zurecht als politischer Sieg der CDU/CSU gewertet, weil es die SPD-Führung nicht vermochte, dem konservativen Diskurs über Standortsicherung und Normalität eigenständige Signale entgegen- oder zumindest an die Seite zu stellen. Im Kampf um die Besetzung von Begriffen und damit in der Auseinandersetzung um die politische Hegemonie hat die SPD eine Niederlage einstecken müssen, weil sie es versäumte, die eigenen Vorstellungen mit konkreten tagespolitischen Forderungen zu verknüpfen.

Mit der Verabschiedung des revidierten Grundgesetzes und nach dem Karlsruher Urteil über die Auslandseinsätze der Bundeswehr ist der Einigungsdruck auf einem wichtigen Terrain der Auseinandersetzung zwischen Konservativen und SozialdemokratInnen verschwunden. Zwar muß jeder Einsatz künftig durch das Parlament bewilligt werden, aber die einfache Mehrheit genügt hierzu. Die Opposition muß sich nun nach anderen Hebeln zur Einflußnahme auf die Regierungspolitik umsehen.

Für die SPD eröffnet sich hierdurch die Chance, eigene Überlegungen in politisch operative Konzepte umzusetzen. Sie muß sich mit ihren Vorstellungen über die neue Aufgabe und Struktur der Bundeswehr einlassen; die anstehenden Debatten zur Wehrpflicht, zur Ausrüstung oder auch zur inneren Führung der Hardthöhe verlieren den Charakter bloßer Expertenstreits. Bis 1996 steht zudem eine Entscheidung an, wie die SPD den weiteren Gang der europäischen Integration sieht; die Stichworte sind die Gleichen wie für die Bundesregierung, nämlich Osterweiterung, Verhältnis zu Rußland, Integrationsvertiefung und Rolle des Europäischen Parlaments. Die SPD täte gut daran, entsprechende Diskussionen in den Parteigremien, mit ExpertInnen und in der breiten Öffentlichkeit zu beginnen.

In den beiden Feldern Sicherheits- und Europapolitik geht es in den kommenden Jahren um politisch-praktische Prioritätensetzungen – nicht um den Entwurf eines alternativen internationalen Systems. Es könnte die Stunde der ReformerInnen sein, wenn sich Scharpings Team entscheidet, einen klaren Oppositionskurs zu steuern. Vielleicht sollten sie von den Erfahrungen der britischen Labour Party lernen, denen die Ablösung der Konservativen 1992 mißlang. Damals boten diese sich unter der Führung von Neil Kinnock als die besseren Verwalter des Status quo an. Aber ihre Bekehrung zum Atlantizismus und zur Nuklearstreitmacht wurde von der Mehrheit der WählerInnen als unglaubwürdig empfunden.

Wie die SPD, empfanden sich auch Bündnis90/Die Grünen am 16. Oktober als Gewinner. Ein Machtwechsel fand am Rhein zwar (noch) nicht statt, aber sie schafften den Wiedereinzug ins Parlament. Die Vorzeichen zwischen ihren ost- und westdeutschen Teilen sind allerdings in macher Hinsicht verkehrt: 1990 waren es die ehemaligen DDR-BürgerrechtlerInnen, die den bundesweiten grünen Mandatsverlust verhinderten; 1994 haben sich die Westgrünen erholt, aber Bündnis 90 fehlt ein Zugang zu den sozialen Themen, zu örtlich verankerten Mitgliedern und v.a. zu ihren potentiellen WählerInnen.

In der Außenpolitik wird es wohl kaum um eine »Bundesrepublik ohne Armee« (BOA) oder um eine Auflösung der NATO gehen. Vielmehr ist die bündnisgrüne Fraktion unter Joschka Fischer gefordert einen spezifischen Beitrag zur Bündelung von Reformvorstellungen zu leisten. Die Zeiten, in denen es ihre Funktion war, neue Themen auf die politische Agenda zu bringen, sind wohl passé. Wenn Kohl 1998 – oder bereits vorher – abgelöst werden soll, müssen die Oppositionsparteien jetzt damit beginnen, ihre Reformpolitik praktisch glaubwürdig zu machen. Flirts mit schwarz-grünen Konstellationen sind hierbei weniger nützlich als die Rekonstruktion der bündnisgrünen Basis in Ostdeutschland und eine konstruktive Oppositionspolitik in Bonn. Außenpolitisch gäbe es auch keine inhaltliche Basis für eine Annäherung an Kanzler Kohl.

Angesichts der PDS-Konkurrenz könnte einigen die Option einer Fundamentalopposition attraktiv erscheinen. Aber mittelfristig stehen Bündnisgrüne und SPD vor der gleichen Aufgabe: Integration der PostkommunistInnen in das politische Koordinatensystem der Bundesrepublik und demokratische Konkurrenz statt der bisherigen Vollausgrenzung. Auch ohne eine Gleichsetzung der politischen Ränder könnte die Linke von bayerischen Konservativen lernen: Dort wurde die rechtextreme Konkurrenz vor allem deshalb aufgesogen, weil sich für ihre nationalistischen Forderungen innerhalb der Union eine Durchsetzungsperspektive bot. Also: Wenn sich die Ostdeutschen mit ihren sozialen Nöten, Wünschen und Hoffnungen in der sozialdemokratischen und/oder bündnisgrünen Politik wiederfinden, wird die PDS überflüssig.

Überhaupt taugt die Debatte über rote Socken jetzt noch weniger als im Wahlkampf. Ohne und gegen die »Besser-Wessis« ist die bereits totgeglaubte Gysi-Partei zu einem ostdeutschen Pendant der CSU geworden. Auch wenn die PDS im Bezug auf ihre Mitglieder- und Besitzstruktur die Nachfolgerin der SED ist, eine solche Etikettierung wird im sechsten Jahr der Einheit unproduktiv. Die Zuordnung schreckt nicht einmal jene, die eine SED-Herrschaft in der DDR persönlich erfahren haben. Statt dessen könnte die PDS zum Sammelbecken eines linken Fundamentalismus auch im Westen werden, je länger sie sich als politischer Paria im Bundestag halten kann. Ansätze hierzu waren in einzelnen Stimmbezirken Bremens, Hamburgs oder Kölns bereits im Oktober zu beobachten.

Aus Sicht des notwendigen Reformprojekts gibt es an der PDS auch ohne eine Betonung der SED-Connection genügend Kritik. In außenpolitischer Hinsicht z.B. hat sich ein Teil ihrer Mitglieder noch nicht von den Schablonen des Kalten Krieges gelöst. Ihr Antimperialismus gleicht eher einer Traditionspflege, denn einer ernsthaften Analyse der »historischen Etappe«. Der größere Teil hat sich aus der Debatte um realistische Alternativen in der deutschen Außenpolitik verabschiedet, was umso erstaunlicher ist, da viele ihrer führenden Mitglieder eigene Regierungserfahrung sammeln konnten. Die PDS hat keine konzeptionelle Durchsetzungsperspektive aufgrund ihres eklatanten Mißverhältnisses zwischen Styling und Substanz, zwischen politischem Anspruch und realer Politikfähigkeit, zwischen dem Symbol Gysi und den Programmaussagen der Restpartei.

Ökonomie steht im Vordergrund

Zusammenfassend muß man nach dem Superwahljahr feststellen, daß die deutsche Außenpolitik von dem ökonomischen Standortkonzept der Konservativen dominiert wird. Die restliberale FDP unterstützt die Akquisition neuer machtpolitischer Instrumente im Sinne eines nachholenden Globalismus. Die Vorstellungen der Reformkräfte sind demgegenüber noch zu unspezifisch und außerdem mit dem Fundamentalismus einer regionalen Milieupartei belastet. Nun kommt es vor allem auf die Richtungsentscheidung der Sozialdemokratie an: Nutzt sie Bundesrat und Bundestag zur aktiven Gestaltung des Politikwandels oder lauert sie auf den Kanzlerwechsel?

Dr. Lothar Gutjahr ist in Hamburg als Wissenschaftlicher Referent in einer Bürogemeinschaft von SPD-Bürgerschaftsabgeordneten tätig. Dr. Lothar Gutjahr, Otto-Ernst-Straße 35, 22605 Hamburg, Tel: (040)8206030 , Fax: (040)37025072

Deutsche Soldaten in alle Welt?

Deutsche Soldaten in alle Welt?

Zur Problematik einer militärischen Instrumentierung der deutschen Außenpolitik

von Rudolf Hamann • Volker Matthies • Wolfgang R.Vogt

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 12. Juli 1994 zum Streitkräfteeinsatz markiert eine historische Zäsur der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik. Nach dem Spruch der obersten Richterinnen und Richter in Karlsruhe ist das Spektrum für weltweite Einsätze der Bundeswehr geöffnet worden.

Die juristische Diskussion ist mit dem höchstrichterlichen Urteil weitgehend abgeschlossen, aber die eigentliche politische und gesellschaftliche Debatte über mögliche Auslandseinsätze der Bundeswehr steht noch aus. Regierung und Parlament haben bislang vor allem darauf gedrängt, den verfassungsrechtlichen Aspekt derartiger Einsätze zu klären. Sie haben es aber versäumt, die außenpolitischen Ziele und Interessen Deutschlands zu präzisieren und daraus ableitend die militärischen Anteile einer am Frieden orientierten Politik zu definieren. Die Leerformel von der »größeren weltpolitischen Verantwortung« des wiedervereinigten Deutschlands erschöpft sich bisher vor allem in der Fixierung auf die militärische Option und den Anspruch auf einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen.

»Größere weltpolitische Verantwortung« durch militärische Einsätze?

Da der Auftrag der Bundeswehr nach dem Wegfall der Bedrohung durch den Warschauer Pakt nicht im Rahmen einer diese historisch einmalige Situation hinreichend reflektierenden Außen- und Sicherheitspolitik formuliert wurde, verlagerte sich diese Aufgabendiskussion zunehmend in die Bundeswehr selbst. Die Diskussion bezieht sich dabei auf den strukturellen Umbau der Bundeswehr von einer reinen Verteidigungsarmee zu einer in Teilen prinzipiell weltweit einsatzfähigen Interventionsstreitkraft und dem damit eng verbundenen sicherheitspolitischen Paradigmenwechsel von einer klar definierbaren raumzeitlichen Bedrohungssituation hin zu einer vagen, diffusen und allgegenwärtigen weltweiten Risikolage.

Dieser Paradigmenwechsel kontrastiert auf merkwürdige Weise mit dem enormen Zugewinn an Sicherheit für Deutschland und Westeuropa nach der Auflösung des Ost-West-Konfliktes und der auch mehrfach wiederholten offiziellen Aussage, daß Deutschland „von Freunden umzingelt“ (Bundeskanzler Kohl) und deshalb keine unmittelbare militärische Bedrohung mehr gegeben sei und die meisten »Risiken« nicht-militärischer Natur seien. Anstatt eine aus der Logik der internationalen Beziehungen seit 1989 sich ergebende Entmilitarisierung der Sicherheitspolitik zu betreiben und Zivilisierungsfortschritte in den internationalen Beziehungen zu erzielen, lassen sich falsche Weichenstellungen und Prioritäten für die Zukunft der Sicherheitspolitik und der Streitkräfte feststellen. Problematisch ist vor allem,

  • daß die bisherige Debatte außerhalb und innerhalb der Bundeswehr viel zu verkürzt auf die Rolle von Streitkräften und militärischer Machtausübung fixiert ist, als wenn sich hierin die Neubestimmung deutscher Sicherheitspolitik und größerer weltpolitischer Verantwortung erschöpfte. Hauptverantwortlich für die Verkürzung der Diskussion sind große Teile der Parteien, des Parlaments und der Medien, die sich aus dieser Diskussion weitgehend ausgeblendet haben;
  • daß die Zukunft der Sicherheitspolitik und Streitkräfte im Hinblick auf Aufgaben und Legitimation, Umfang und Struktur wesentlich von der militärischen Führung des Verteidigungsministeriums selbst definiert und eine eigentlich genuin politische Diskussion durch militärisches Denken übersteuert worden ist.

Gerade weil Organisationen dazu neigen, sich nach Fortfall der Aufgaben, auf die hin sie strukturiert wurden, neue zu suchen, hätte zum Beispiel das Auswärtige Amt die nicht-militärischen Anteile friedenssichernder Politik frühzeitig und eindeutig bestimmen müssen. Da das Auswärtige Amt es aber insgesamt versäumt hat, ein außen- und sicherheitspolitisches Gesamtkonzept vorzulegen, das den grundlegend gewandelten Verhältnissen nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes gerecht wird, hat das Verteidigungsministerium – und vor allem die militärische Führung – dieses Vakuum genutzt und es im Sinn militärischer Interessenwahrung und Selbstlegitimation ausgefüllt;

  • daß in den einschlägigen offiziellen sicherheitspolitischen Dokumenten und in Teilen der Debatte nationalkonservative Zungenschläge anklingen und Retraditionalisierungstendenzen aufscheinen. Dies zeigt sich unter anderem in der Betonung »nationaler Interessen« Deutschlands, in der Definition Deutschlands als einer »Mittelmacht mit weltweiten Interessen«, in der Forderung nach Rückkehr zu nationalstaatlicher »Normalität« (was immer das heißen mag) sowie in der starken Betonung des Militärs als Faktor und Instrument deutscher Außen- und Sicherheitspolitik. Bedenklich stimmt in diesem Zusammenhang auch, daß von konservativer Seite neuerdings versucht wird, einen Einsatz der Streitkräfte auch im Inneren zu propagieren. Dies ist eine unzulässige Vermischung der Aufgaben von Polizei und Militär sowie von innerer und äußerer Sicherheit. Es spricht alles dagegen, in dieser Frage eine Erosion des Grundgesetzes zuzulassen.

Auch in der Truppe gibt es deutliche Retraditionalisierungstendenzen, die auf eine Intensivierung der militärfachlichen Anteile in der Ausbildung zu Lasten der Politischen Bildung und der Inneren Führung drängen und für eine Wiederbelebung klassischer soldatischer Tugenden plädieren. Gerade das vereinte Deutschland hat jedoch allen Grund, auf dem Hintergrund seiner unseligen Militär- und Kriegsgeschichte eine Kultur äußerster Zurückhaltung beim Umgang mit dem militärischen Gewaltinstrument zu pflegen und keine mißverständlichen und irritierenden Signale auszusenden;

  • daß die neuen sicherheitspolitischen Formeln und Aufgabenstellungen für Streitkräfte, wie sie zuletzt im neuen Weißbuch dargelegt wurden, analytisch zu kurz greifen, zu vage und diffus sind, zu wenig plausibel und legitimatorisch überzogen.

Sie sind in wesentlichen Teilen abgeleitet aus den Überlegungen in der NATO selber, die ebenfalls auf der Suche nach einer neuen, alle Mitglieder verbindenden Aufgabe ist, wobei die Scheinalternative »out of area or out of business« darüber hinwegtäuscht, daß für Einsätze außerhalb des Bündnisses derzeit weder die strukturellen noch die materiellen Voraussetzungen vorliegen.

Darüber hinaus ist die Diskussion selbst zutiefst widersprüchlich:

  • Zwar wird in deklamatorischen Reden führender Politiker und Militärs immer wieder die überragende Bedeutung präventiver, nicht-militärischer Konflikt- und Krisenbearbeitung herausgestellt, tatsächlich aber zu deren Lasten nach wie vor ein kosten- und ressourcenaufwendiger Aus- und Umbau des militärischen Instruments betrieben.
  • Zwar operiert auch das Militär neuerdings zu Recht mit einem erweiterten Begriff von Sicherheit, de facto werden aber auch nicht-militärische Friedensgefährdungen (z.B. Rohstoffversorgung, Migration) unter der verkürzten Perspektive militärischer Konfliktbearbeitung diskutiert.
  • Zwar heben sowohl die offiziellen sicherheitspolitischen Stellungnahmen als auch Äußerungen von Spitzenmilitärs nachdrücklich hervor, daß den nicht-militärischen Risiken wie maroden Kernkraftwerken, fortschreitender Umweltzerstörung und wirtschaftlicher Unterentwicklung, die unsere Sicherheit bedrohen, nicht angemessen militärisch begegnet werden kann, aber dennoch dient der erweiterte Sicherheitsbegriff merkwürdigerweise dazu, eine »neue Unübersichtlichkeit« der Risikolage zu konstatieren, die auch des Zugriffs durch militärisches Krisenmanagement bedürfe. Die militärische Führung beansprucht offensichtlich eine umfassende Kompetenz für Sicherheitsfragen jedweder Art und monopolisiert auf diese Weise die Sicherheitsvorsorge.
  • Zwar besteht weitreichender Konsens darüber, daß uns nicht mehr in erster Linie feindliche Panzerarmeen, Raketen oder kriegslüsterne Diktatoren bedrohen, aber gleichzeitig richtet man sich vor dem Hintergrund einer alarmistisch aufgebauten Drohkulisse auf klassische militärische Gewaltanwendung ein. An die Stelle der ehemaligen Ost-West-Bedrohung wurde ein diffuses Risikoszenario gesetzt, das letztlich dem tiefverwurzelten und nicht aufgearbeiteten Feindbilddenken entspricht. In diesem Kontext macht die alarmistische Akzentuierung einer »neuen Gefahr aus dem Osten« (etwa in Gestalt eines großrussischen Chauvinismus oder chronisch unberechenbarer Instabilität) oder einer »neuen Gefahr aus dem Süden« (in Gestalt von Proliferationsproblemen, aufstrebender aggressiver Regionalmächte, des Islamismus, eines »Krisenbogens« von Marokko bis Indonesien) wenig Sinn, weil man auf diese Weise leicht in eine »Realismusfalle« (Czempiel) dergestalt geraten kann, daß militärisch gestützte Sicherheitspolitik durch ihr Denken und Handeln genau diejenigen Zustände mit herbeiführen hilft, mit denen sie dann ihre Legitimation begründet.
  • Zwar wird die Landesverteidigung als Hauptaufgabe des Militärs betont, aber die Legitimitätsbeschaffung vollzieht sich zur Zeit primär über eher periphere Aspekte wie humanitäre Hilfe, Umweltschutz und UNO-Einsätze. Durch eine bewußt betriebene Funktionsausweitung auf die Wahrnehmung nicht-militärischer Aufgabenfelder wird den Streitkräften eine Multifunktionalität zugeschrieben, die sie in der Öffentlichkeit zur eigenen Imagebildung geschickt vermarktet.

Schließlich ist auffällig, daß die Umrüstungen der NATO und der Bundeswehr auf weltweit einsetzbare Interventionskräfte in einem krassen Gegensatz zu dem erreichten Konsens und den Verpflichtungen (z.B. in der KSE-Vereinbarung von Wien) stehen, die eine strikte »strukturelle Nichtangriffsfähigkeit« für die zukünftigen Streitkräfte in Europa verbindlich vorschreiben.

Wachsende Dysfunktionalität von militärischer Gewalt

Am Beispiel von UNO-Operationen mit dem Versuch, durch militärische Gewaltanwendung in Bürgerkriegssituationen friedensstiftend tätig zu werden, zeigt sich die Bedeutungsminderung und tendenzielle Dysfunktionalität von militärischer Gewalt.

Die Fixierung auf militärische Großkonflikte in fernen Ländern nach dem Muster des zweiten Golfkrieges ist eine Festlegung auf eher untypische, singuläre, zwischenstaatliche Konfliktlagen mit regulärer Kriegsführung und Orientierung an einem klassischen Kriegsbild, das in den meisten Konflikten der Gegenwart und Zukunft, den innerstaatlichen Auseinandersetzungen und Bürgerkriegen, nicht anzutreffen ist. In innerstaatlichen Konfliktlagen aber vermögen klassisches Militär und auch sogenannte »robuste« Blauhelme durch Intervention von außen aus strukturellen Gründen (soziale Desintegration, Fragmentierung politischer Kräfte, unklare Fronten und schwer identifizierbare Aggressoren) keine wesentliche friedenserzwingende und schon gar keine friedensstiftende Rolle zu spielen (z.B. Somalia oder Bosnien-Herzegowina). Wie die Bilanz vergangener und gegenwärtiger UNO-Blauhelmeinsätze zeigt, agiert die UNO dort relativ erfolgreich, wo ihr die Kooperation der Konfliktparteien entgegenkommt, sie flankierend und abstützend bei der friedlichen Transformation der Konflikte behilflich ist, sie weitgehend auf Erzwingungselemente verzichtet und statt dessen vor allem Friedenssicherung und Friedenskonsolidierung betreibt. Dies aber erfordert Verbände, die nicht primär auf Kampf und Sieg ausgelegt, sondern eher auf zivile Aktionen und diplomatisch-politische Verhaltensweisen hin orientiert sind.

Angesichts der offenkundig begrenzten Möglichkeiten des Militärs bei der Lösung der zukünftig wahrscheinlichsten Konflikte und Kriege wirkt der derzeitige Umfang der Bundeswehr überdimensioniert und nicht plausibel begründet. In den am 26. November 1992 vom Bundesverteidigungsminister erlassenen »Verteidigungspolitischen Richtlinien«, der verbindlichen Planungsgrundlage für die Entwicklung der Streitkräfte, wird der Auftrag der Bundeswehr in fünf Strichaufzählungen wie folgt definiert. „Die Bundeswehr

  • schützt Deutschland und seine Staatsbürger gegen politische Erpressung und äußere Gefahr,
  • fördert die militärische Stabilität und die Integration Europas,
  • verteidigt Deutschland und seine Verbündeten,
  • dient dem Weltfrieden und der internationalen Sicherheit im Einklang mit der Charta der Vereinten Nationen,
  • hilft bei Katastrophen, rettet aus Notlagen und unterstützt humanitäre Aktionen.“

Sieht man einmal davon ab, daß die Förderung der europäischen Integration und der Dienst am Weltfrieden keine originären Aufgaben von Streitkräften sind und die Katastrophenhilfe nur eine subsidiäre Funktion darstellt, dann bleibt als gleichsam klassische Kernfunktion die Verteidigung Deutschlands und seiner Bündnispartner im Rahmen der NATO und WEU. Neu hinzugekommen ist die Beteiligung an UNO-Einsätzen. Entsprechend den Vorgaben der NATO setzt sich die Bundeswehr zusammen aus den Hauptverteidigungskräften für die Landesverteidigung und Krisenreaktionskräften, die sowohl für die Landesverteidigung als auch in NATO und WEU zur Krisenbewältigung und Konfliktverhinderung sowie zur Verteidigung und im Rahmen der UNO oder KSZE eingesetzt werden können.

Da Aufgabe und Fähigkeit, Deutschland gegen einen militärischen Angriff von außen zu verteidigen, aber nicht aus einer konkreten Bedrohung herzuleiten sind und außerdem nur als Beitrag im Rahmen des derzeitigen Systems kollektiver Verteidigung (NATO) wirksam werden, sind dafür auch Kräfte weit unterhalb des derzeitigen Soll-Umfanges von maximal 370.000 Mann (faktisch derzeit 340.000) ausreichend.

Die 50.000 Mann umfassenden Krisenreaktionskräfte sollen für ein breites Spektrum von Einsätzen, von humanitären Maßnahmen bis hin zu Kampfeinsätzen, zur Verfügung stehen. Aus diesem Reservoir sollen auch Truppen für Peace-keeping-Einsätze im Rahmen der UNO rekrutiert werden. Obwohl diese Truppen anders ausgerüstet, ausgebildet und geführt werden müssen als typische Kampfverbände, wird weder eine Unterscheidung zwischen klassischen Blauhelm-Einsätzen und Kampfeinsätzen getroffen noch ist das Ausmaß der Beteiligung hinreichend geklärt.

Aber selbst wenn man die Beteiligung an UNO-Einsätzen als eine notwendige Funktion von Streitkräften akzeptiert, müßten zunächst einmal, und das ist wiederum primär eine politische Aufgabe, die Kriterien eines möglichen Einsatzes präzisiert werden.

Dazu gehört unter den derzeitigen und absehbaren Rahmenbedingungen die Klärung einiger fundamentaler Fragen wie:

  • Stehen zentrale humanitäre bzw. internationale Rechtsgüter auf dem Spiel? (Legitimitätskriterium)
  • Basiert der Einsatz auf einer unumstrittenen völkerrechtlichen Grundlage? (Legalitätskriterium)
  • Rechtfertigt sich der Einsatz, weil die eigene Sicherheit gefährdet ist? (Sicherheitsbedrohung)
  • Ist der Einsatz ethisch-moralisch vertretbar? (Moralkriterium)
  • Gibt es einen gesellschaftlichen Konsens für den Einsatz? (Akzeptanzkriterium)
  • Ist ein Einsatz im Rahmen des Bündnisses konsensfähig? (Bündniskonsens)
  • Gibt es glaubhafte und klare politische Zielsetzungen? (Zielklarheit)
  • Lassen sich die politischen Ziele mit den einzusetzenden militärischen Mitteln realisieren? (Ziel-Mittel-Relation)
  • Sind die erforderlichen Mittel überhaupt vorhanden? (Ressourcenverfügbarkeit)
  • Lassen die spezifischen Bedingungen des Krisengebietes/Kriegsschauplatzes eine erfolgversprechende militärisch-operative Umsetzung zu? (Machbarkeitskriterium)
  • Ist sichergestellt, daß sich die politische Lage nach dem Ende des UNO-Einsatzes verbessert haben wird? (Erfolgswahrscheinlichkeit)
  • Stehen die Kosten in einem realistischen Verhältnis zu einem möglichen Erfolg? (Kosten-Nutzen-Relation)
  • Was passiert, wenn der Konflikt eskaliert? (Eskalationsrisiko)
  • Ist die politische Kontrolle durchgängig und verläßlich gewährleistet? (Primat der Politik)
  • Ist ein jederzeitiger Ausstieg bei gleichzeitiger Schadensminimierung möglich? (Ausstiegsoption)
  • Sind unbeabsichtigte Spät- und Nebenfolgen einkalkuliert? (Folgenabschätzung)

Eine prospektive Antwort auf die meisten dieser Fragen macht deutlich, daß die Rolle militärischer Gewalt zur Lösung der heute vorherrschenden Konflikte eher marginal oder sogar dysfunktional ist.

Für eine Zivilisierung von Sicherheitspolitik

Vor dem Hintergrund zunehmender Dysfunktionalität militärischer Gewalt und der nicht-militärischen Natur der meisten akuten und sich abzeichnenden Sicherheitsprobleme muß sich eine zukunftsorientierte und friedenspolitisch ausgelegte Sicherheitspolitik nach der historischen Zäsur von 1989 von vier Prinzipien leiten lassen:

1. Priorität des Ausbaus nicht-militärischer Instrumente der Konfliktbearbeitung; (Prinzip ziviler Konfliktbearbeitung)

2. Entwicklung einer präventiven Konfliktbearbeitung, die schwerpunktmäßig an gewaltträchtigen sozio-politischen und sozio-ökonomischen Strukturen als dem Nährboden von Kriegen und Katastrophen ansetzt; (Prinzip der Prävention)

3. Ausbau kollektiver Sicherheitssysteme, die mit einem Minimum an gemeinsam kontrollierter und politisch legitimierter Ordnungsgewalt auskommen; (Prinzip der Kollektivität)

4. Förderung transnationaler Vernetzungen in der »Gesellschaftswelt« und systematische Beteiligung der nicht-staatlichen Organisationen und Bewegungen (NGOs) an den politischen Entscheidungsprozessen. (Prinzip der Partizipation)

Im Kontext dieser vier Prinzipien plädieren wir:

  • für einen glaubwürdigen und konsequenten Ausbau internationaler Ordnungsstrukturen zur Krisenprävention und Konfliktbearbeitung im Rahmen kollektiver Sicherheitssysteme, namentlich der UNO und regionaler Einrichtungen nach Kapitel VIII der UNO-Charta wie z.B. der KSZE, die nicht länger zugunsten militärischer Bündnisse wie NATO und WEU vernachlässigt, ausgehöhlt und entwertet werden dürfen, um nicht Renationalisierungstendenzen von Sicherheitspolitik Vorschub zu leisten. Wie auch Altbundespräsident von Weizsäcker kürzlich betonte, kann und darf die Gewaltoption „nicht länger ein Monopol nationalstaatlicher Verfügungsmacht bleiben“. An die Stelle des Rechts des Stärkeren sollte die Stärke des Rechts treten;
  • für massive politische, ökonomische, ökologische und soziale Hilfs- und Stützungsprogramme sowie strukturelle Anpassungsleistungen der westlichen Industrieländer und Deutschlands für die Krisenregionen im Süden und Osten, um auf diese Weise die eigentlichen Wurzeln und Ursachen statt die Symptome von Unsicherheit, Instabilität und Gewalt zu bekämpfen;
  • gegen jedweden von Deutschland mitgetragenen WEU-gestützten Interventionismus in außereuropäische Regionen, der sich außerhalb des UNO-Rahmens stellt sowie gegen jeden (heute noch rein hypothetischen) eigenverantwortlichen nationalen Einsatz deutscher Streitkräfte außerhalb der Landesverteidigung. Wir warnen in diesem Zusammenhang nachdrücklich vor der sich abzeichnenden Gefahr, daß deutsche Streitkräfte durch das Drängen Frankreichs in fragwürdige Interventionen und in unübersehbare militärische Abenteuer namentlich in Afrika hineingezogen werden könnten;
  • für den umfassenden Aufbau und die praktisch-politische Erprobung von nationalen und internationalen Institutionen und Verfahren nicht-militärischer präventiver Konfliktbearbeitung, Krisenvorbeugung und Problemlösung. Dabei geht es um den kreativen Einsatz differenzierter Methoden und Mittel »sanfter Gewalt«, also ziviler Beeinflussungsinstrumente sowie der verstärkten Einbeziehung einer Infrastruktur nicht-staatlicher Akteure in dieses Handlungsfeld. Es ist immer wieder erstaunlich, wie schnell viel Geld für militärisch gestützte Sicherheitspolitik und Militäroperationen bereitgestellt wird, ganz im Unterschied etwa zu der Kürzung entwicklungspolitischer Mittel und zu der Unterfinanzierung und Vernachlässigung ziviler Aktivitäten. Im Hinblick auf die Zukunft muß ein klares Bekenntnis zur Subsidiarität militärischer Maßnahmen gegenüber nicht-militärischen Mitteln abgelegt werden und vor allem konsequent in praktische Politik umgesetzt werden;
  • für den zügigen Aufbau nationaler und internationaler ziviler Infrastrukturen und Hilfswerke zur Katastrophenvorbeugung und zur humanitären Hilfe für Menschen in Krisen- und Kriegssituationen. Insbesondere wären Bemühungen der UNO bei der Schaffung eines international zusammengesetzten und dezentral agierenden Netzwerkes ziviler Hilfswerke und eines Systems »Humanitärer Diplomatie« zu unterstützen;
  • für die rigorose Einhaltung der restriktiven Grundsätze deutscher Rüstungsexportpolitik, die auch auf europäischer Ebene nicht verwässert werden dürfen. „Will man Unfrieden schaffen mit immer mehr Waffen?“ Es erscheint als wenig sinnvolle Aufgabe, erst Waffen zu exportieren, um dann deutsche Soldaten auszuschicken, um diese Waffen unter Lebensgefahr wieder einzusammeln. Stattdessen fordern wir eine massive Reduzierung der Rüstungsexporte und darüber hinaus eine umfassende und konsequente Abrüstungs- und Rüstungskonversionspolitik;
  • wir unterstützen nachdrücklich alle Ansätze (etwa auf der Ebene des Außenministeriums oder des Ministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit), klassische Militär- und Ausrüstungshilfe sowie die Ausbildung ausländischer Offiziere speziell aus Ländern der 3. Welt an Einrichtungen der Bundeswehr zugunsten einer »Demokratisierungshilfe« und »Zivilisierungshilfe« (u.a. Rechtsstaatlichkeit, Wahlhilfe, Aufbau demokratisch und rechtsstaatlich kontrollierter Sicherheitskräfte) einzuschränken, umzuwidmen bzw. neu zu konzipieren;
  • wir fordern nachdrücklich die überfällige Auszahlung der viel beschworenen »Friedensdividende« aus Abrüstungsmaßnahmen und Einsparungen bei den Militärausgaben und Militärhilfeprogrammen.

Wir unterstützen in diesem Zusammenhang den aktuellen Vorschlag des Entwicklungsprogramms der UNO (UNDP), 20 % dieser Mittel in einen weltweiten Fonds zur Finanzierung von Maßnahmen zur Förderung menschlicher Entwicklung und sozialer Sicherungssysteme einzuzahlen. Dies wäre ein wichtiger Beitrag zur präventiven Bekämpfung von Gewalt- und Konfliktursachen. Des weiteren fordern wir mehr Mittel für eine bessere Ausstattung wissenschaftlicher und praktisch-politischer Friedensarbeit. Die Devise muß heißen:

Mehr Friedensakademien statt Militärakademien, mehr Friedensforschung statt Rüstungs- und Militärforschung.

Fazit: Falsche Weichenstellung

Die derzeitige Umrüstung der NATO und der Bundeswehr, die eine Reaktivierung und Effektivierung militärischer Gewalt als ein Mittel aktiverer Macht- und Interessenpolitik der westlichen Industrienationen zum Ziel hat, basiert letztlich auf einem tradierten Denken, das dem Militärischen eine zentrale Rolle in Politik und Gesellschaft beimißt und Kriege sowie Streitkräfte als quasi Naturkonstanten begreift. Dem Militär wird in der »post-cold-war-era« eine unangemessene ordnungsstiftende Rolle und Bedeutung zugewiesen, die in einem krassen Widerspruch zu den verteidigungspolitisch begründbaren Erfordernissen und Herausforderungen steht. Statt einer konsequenten Entmilitarisierungspolitik, die die Überrüstungen und Altlasten aus der Zeit des Kalten Krieges abbaut, wird eine potentielle militärische Vereinnahmung der Außen- und Sicherheitspolitik vollzogen.

Hamburg, im September 1994

Rudolf Hamann, Volker Matthies, Wolfgang R. Vogt (Führungsakademie der Bundeswehr Hamburg).

Luft-Boden-Schießplätze

Luft-Boden-Schießplätze

Wozu (miss)braucht die Bundeswehr Wittstock?

von Stefan Gose

Seit über zwei Jahren kämpft die Bürgerinitiative FREIe HEIDe gegen die Übernahme des ehemals russischen Luft-Boden-Schießplatzes Wittstock durch die Bundeswehr. Auch die Brandenburgische Landesregierung hat sich gegen die Weiternutzung des 142 km2 großen Militärgeländes ausgesprochen. Dennoch wurde der Schießplatz am 22. Dezember 1993 der Bundeswehr übergeben.

Raumordnungsverfahren oder Umweltverträglichkeitsprüfungen fanden nicht statt, weil es sich nach Ansicht des Bundesverteidigungsministeriums (BmVg) lediglich um die Weiternutzung einer bereits (zu DDR-Zeiten) genehmigten Anlage handelt. Seit 17. Januar trainiert die Luftwaffe Tiefflug über Wittstock. Da große Teile des Geländes seit 1950 mit Zwang in »Nacht- und Nebel-Aktionen« durch die DDR-Behörden zu unangemessenen »Entschädigungen« enteignet wurden, klagen nun der Landkreis Ostprignitz-Ruppin, zwei Gemeinden, eine Kirchengemeinde und drei Einzelpersonen vor dem Verwaltungsgericht Potsdam auf Rückgabe ihrer Liegenschaften.

Der folgende Beitrag soll beleuchten, was auf Wittstock zukommt, wenn es nach dem Willen des Verteidigungsministeriums weitergeht und welche Gefahrenpotentiale bisher kaum berücksichtigt wurden.

Luft-Boden-Schießübungen sind neben Tiefflug- und Luftkampf-Abfangübungen einer der drei zentralen Bestandteile des aktuellen Ausbildungskonzeptes der Luftwaffe.1 Geübt werden verschiedene Varianten des Angriffes mit Bomben und Bordkanonen auf statische und mobile Bodenziele.

Die deutsche Luftwaffe führte 1991 weltweit 11.330 Luft-Boden-Flüge durch, von denen ca. 9.000 (79,4%) im Ausland stattfanden. Bedingt durch den Golfkrieg kamen 1991 »nur« 500 Luft-Boden-Übungen durch NATO-Verbündete in Deutschland hinzu. Der alliierte Luft-Boden-Übungsumfang lag 1990 noch bei ca. 9.500 Flügen über Deutschland.2 Für 1993 gibt das Verteidigungsministerium 4.400 Luft-Boden-Einsätze über Deutschland an, wobei unklar ist, ob in dieser Zahl bereits die Flüge von NATO-Verbündeten eingeschlossen sind.3 Für Wittstock sind maximal 3.000 Einsätze pro Jahr geplant.4

Drei Luft-Boden-Schießplätze existieren gegenwärtig in Deutschland: Die unter britischer Verwaltung stehende »Nordhorn-Range« (1993: 2.700 Flüge), der unter amerikanischer Verwaltung stehende Schießplatz Siegenburg (1993: 1.700 Flüge) und seit Anfang 1994 der Luft-Boden-Schießplatz Wittstock.5 Bis Oktober 1992 nutzte die Luftwaffe außerdem den Schießplatz List auf der Nordseeinsel Sylt. Weitere Luft-Boden-Schießübungen finden auf verschiedenen Truppenübungsplätzen (TrÜbPl) des Heeres und der Alliierten in Deutschland statt.

Daneben trainiert die Luftwaffe Luft-Boden-Schießübungen auf den niederländischen Nordseeinseln Vlieland und Terschelling sowie auf der dänischen Insel Röme.6 Entferntere Luft-Boden-Schießplätze der Luftwaffe in Europa sind Decimomannu (Schießplatz: Capo Frasca) auf Sardinien und Beja (Schießplatz: Alcochete) in Südportugal, der aber wahrscheinlich demnächst aufgegeben wird. Darüber hinaus trainiert die Luftwaffe auf der Südarea des kanadischen Tiefstfluggeländes Goose Bay/Labrador sowie im texanischen Holloman Luft-Boden-Schießübungen.

Daß über 70% der deutschen Luft-Boden-Schießübungen im Ausland, insbesondere in Küstengebieten oder auf Meeresinseln stattfinden, ist kein Zufall. Hier lassen sich aus militärischer Sicht Schießübungen bestens mit dem dazugehörigen Tiefstflug verbinden. Risiken des Geländeprofils sind minimiert. Lärm, Emissionsbelastungen und Unfallrisiken treffen auf vergleichsweise geringe Bevölkerungsproteste.

Luftstreitkräfte-Reduzierung und verringerter Übungsbedarf

Mit dem Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE) von 1990 ist bis 1995 der Abzug von 255 Kampfflugzeugen der 1990 noch ca. 500 Alliierten Kampfflugzeuge vorgesehen.7 Hinzu kommen alliierte Kampfflugzeuge, die zu Luft-Boden-Schießübungen von Stützpunkten des benachbarten Auslands in die Bundesrepublik einfliegen.

Frankreich hat den Truppenübungsplatz Münsingen 1992 wieder unter deutsche Verwaltung zurückgegeben, übt dort allerdings mit verringerten Streitkräften weiter. Die kanadischen Luftstreitkräfte (43 CF/A-18 Hornet) sind 1993 gänzlich aus Deutschland abgezogen. Das Soltau-Lüneburg-Abkommen lief Ende Juli 1994 aus, wobei allerdings Kompensationsmöglichkeiten für künftige britische und kanadische Übungen in Deutschland diskutiert werden.

Für die großen alliierten Truppenübungsplätze Haltern, Senne (GB), Vogelsang (B), Lohheide (NL), Grafenwöhr, Wildflecken und Hohenfels (USA) sowie für die beiden Luft-Boden-Schießplätze Siegenburg (USA) und Nordhorn (GB), wurden im Rahmen der Neuverhandlungen des Zusatzabkommens zum NATO-Truppenstatut (ZA-NTS) erstmals 1994 (!) die nach Art. 48 Abs. 3 Buchstaben a und b ZA-NTS vorgeschriebenen Nutzungsvereinbarungen mit den Alliierten getroffen.

Sie sehen allerdings keine substantiellen Einschnitte gegenüber der bisherigen Nutzung dieser Truppenübungsplätze und der beiden alliierten Schießplätze vor. Die unbefristete Nutzung der Nordhorn-Range soll sich bis 1995/96 um ca. 40% verringern.

Mit der Einführung der neuen »Luftwaffenstruktur 4« ab 1995 soll sich der Bestand deutscher Kampfflugzeuge gegenüber 1990 von 642 auf 506 verringert haben.8 Da sich »nur« noch die Hälfte alliierter Kampfflugzeuge und weder die 250 Maschinen der NVA noch die 851 Kampfflugzeuge der WGT auf deutschem Boden befinden, ist dies eine Gesamtverringerung von 2.243 auf 751 Maschinen, also etwa auf ein Drittel.9 Folgerichtig müßte auch der Übungsbetrieb der verbliebenen Luftstreitkräfte auf ein Drittel abnehmen.

Rechtliche Rahmenbedingungen

Nach § 30 Abs. 1 und 2 Luftverkehrsgesetz (LuftVG) unterliegt der militärische Flugverkehr in Deutschland nicht der Luftaufsicht der Bundesverkehrsministeriums (BmV), sondern dem Bundesverteidigungsministerium »im Einvernehmen mit dem BmV«. Das BmVg ist gleichzeitig Genehmigungs- und Kontrollbehörde für den eigenen Flugbetrieb. Es ist befugt, Fluggenehmigungen zu erteilen, die wesentlich von den Vorschriften für die zivile Luftfahrt abweichen.

Luftverkehrsordnung (LuftVO) und die Luftverkehrs-Zulassungsordnung (LuftVZO) gelten für den militärischen Flugverkehr nur bedingt. Stattdessen ist die interne Zentrale Dienstvorschrift ZDv 19/2, »Flugbetriebsordnung für die Bundeswehr« maßgeblich. Neben ihr existieren noch eine Reihe anderer Konkretisierungsverordnungen, Ressortabkommen und Standardisierungsabkommen (STANAG) mit NATO-Partnern, die in der Regel nicht öffentlich zugänglich sind.

Kampfflugzeugtypen

Luft-Boden-Schießübungen werden nur von Kampfflugzeugen sowie von Kampfhubschraubern des Heeres trainiert. Die Heereshubschrauber üben in der Regel auf Truppenübungsplätzen und speziellen Helicopter Training Areas (HTA) und nur in Ausnahmefällen auf Luft-Boden-Schießplätzen der Luftstreitkräfte. Als »Kampfflugzeuge« gelten schnellfliegende Strahlflugzeuge. Hubschrauber, Propellermaschinen (Transall) oder düsengetriebene Großraumflugzeuge (Airbus) zählen also nicht als Kampfflugzeuge.

Die Bundeswehr verfügt nach BmVg-Angaben 1995 über 506 Kampfflugzeuge in 13 Geschwadern. Ein Geschwader besteht üblicherweise aus 2 Flugstaffeln mit jeweils 15-22 Kampfflugzeugen.

Gegenwärtig besitzt die Bundeswehr 4 verschiedene Kampfflugzeugtypen:

  • 159 Modelle des 20 Jahre alten Jagdbombers Phantom II F-4F, der nach BmVg-Plänen noch bis 2004 fliegen soll, um dann vom Jäger 90/Eurofighter 2000 abgelöst zu werden,
  • 35 Trainer und leichte Kampfbomber Alpha Jet A, die nur noch zu Schulungszwecken in Fürstenfeldbruck stationiert bleiben,
  • 328 MRCA PA-200 Tornado, die in zwei Varianten als Kampfbomber (interdiction strike/IDS) und Kampfaufklärer (elctronic combat reconnaissance/ECR) existieren. Gegenwärtig werden auch Teile der IDS-Kampfbomber für Aufklärungsaufgaben (Recce-Pods/RAMA) nachgerüstet. Ein Tornadogeschwader (MFG 2/Tarp-Eggebeck) ist Bestandteil der Marine.
  • Der 4. Kampfflugzeugtyp ist der Jagdbomber MiG-29 Fulcrum, von dem die Luftwaffe 24 Maschinen als einziges ostdeutsches Kampfflugzeugeschwader in Laage (Jagdgeschwader JG 73) stationiert hat.

Gemäß der Luftwaffenstruktur 4 ist die Luftwaffe in Ostdeutschland unterproportional vertreten: Von insgesamt 82.400 Luftwaffenangehörigen sollen 1995 12.000 in Ostdeutschland stationiert sein. Neben 480 westdeutschen Kampfflugzeugen stehen in Ostdeutschland lediglich die 24 MiG-29 in Laage. Ab 1997 soll das JG 73 durch die 31 Phantom II F-4F des Jagdbombergeschwaders/JaboG 35 aus Pferdsfeld/Sobernheim unterstützt werden.10

In Wittstock wird nicht nur das JG 73 aus Laage trainieren, sondern westdeutsche Kampfgeschwader werden Luft-Boden-Schießübungen nach Ostdeutschland exportieren. Für den Standort Wittstock bedeutet dies zusätzliche Lärm-, Emissions- und Unfallbelastungen ohne entsprechenden ökonomischen Nutzen. Die einfliegenden Verbände werden lediglich ihre Waffenlast in Wittstock »entsorgen« und wieder auf ihre Heimatbasen zurückkehren.

Daß alliierte NATO-Verbände gemäß Art. 5 Abs. 1 2+4-Vertrag bis Ende 1994 nicht in Ostdeutschland trainieren dürfen, ist nur eine scheinbare Entlastung. Da die Bundeswehrgeschwader in Westdeutschland Luft-Boden-Schießübungen auf gemeinsamen Übungsplätzen mit den Alliierten durchführen, werden bei starker Übungsfrequenz nicht die Alliierten, sondern die Bundeswehrverbände auf Wittstock ausweichen. Der Umfang der NATO-Streitkräfte in Westdeutschland hat daher direkte Auswirkungen auf Ostdeutschland, auch wenn hier augenblicklich nur die Bundeswehr trainieren darf.

Tiefflug Tag und Nacht

In Wittstock sollen fünf Luft-Boden-Schießverfahren trainiert werden. Bei Tag und bei Nacht werden zwei Formen der »Standard-Übungsangriffe« trainiert: der »Geradeaus-Überflug« und der sog. »Schulterwurf«. Beim »Geradeaus-Überflug« werden im Dauertiefflug bei einer Mindestflughöhe von 150 m Übungsbomben auf einem vorher festgelegten Punkt abgeworfen. Beim »Schulterwurf« fliegt das Kampfflugzeug im Tiefflug an einen bekannten Zielpunkt heran, zieht kurz vor Erreichen auf eine Höhe bis zu 1.200 m rauf, um dann im Sturzflug bis auf 150 m hinabzustoßen und dabei die Bombenlast abzuwerfen.

Drei weitere, vorwiegend Standard-Angriffsarten (mit Festzielen) sind nur am Tage in Wittstock vorgesehen: Das Schießen mit Bordkanonen aus einer Minimalflughöhe bis hinunter auf 60 m für den Erdkampf; der Abwurf von Übungsbomben wird im »Bahnneigungsflug« (Sturzflug) von 100> sowie von 200 im Höhenband zwischen 150 und 1.700 m geübt.

Trainiert wird mit verschiedener Übungsmunition, Streugeschossen, freifallenden und Außenlast-Übungsbomben bis zu 12,5 kg.11 In Ausnahmefällen wird auch mit scharfer Munition geschossen.

Luft-Boden-Schießübungen werden vorwiegend bei guten Sichtverhältnissen in 20-Minuten-Blöcken durchgeführt. Üblicherweise trainieren 4 Maschinen mit jeweils 8 Übungsbomben gleichzeitig als Vierer-Formation. Das bedeutet 32 Anflüge in 20 Minuten, stets auf das gleiche Ziel. Alle 40 Sekunden bombardiert ein Kampfflugzeug aus einer Höhe zwischen 70 und 300 m mit einer Geschwindigkeit bis zu 890 km/h (480 Knoten/kt/Tornado) das Bodenziel.

Auf Wittstock sind bei Tag Anflüge aus westlicher, östlicher und nördlicher Richtung vorgesehen. Bei Nacht darf nur von Norden her angeflogen werden. Der Abflug vom Schießplatz erfolgt ausschließlich in südliche Richtung. 12 Neben diesen Luftwaffenbombardements soll Wittstock auch noch zu Artillerie-Schießübungen des Heeres genutzt werden.13

Seit 1. September 1991 fliegt die Luftwaffe in Ostdeutschland auf einem festgelegten Streckennetz von ca. 2.500 km.14

Im regulären Tiefflugband zwischen 300 und 450 m sind seit 1.9.1991 täglich 10 Flüge, seit 1. Januar 1992 täglich 20 Flüge erlaubt.15 Unterhalb von 300 m ist auch militärischer Flugbetrieb verboten.

Allerdings existieren Dauerausnahmegenehmigungen des Verteidigungsministeriums für sechs spezielle Tieffluggebiete (Low Flying Areas/LFA) in Westdeutschland, für die drei Luft-Boden-Schießplätze und einzelne andere Anlässe (Industrieerprobungsflüge, AMF-Staffel, TLP, Großmanöver).

Seit 17. September 1990 gilt für das reguläre Tiefflugband von 300-450 m, daß dort von Montag bis Freitag ab 30 Minuten vor Sonnenaufgang (frühestens aber 7 Uhr) bis 30 Minuten nach Sonnenuntergang (spätestens 17 Uhr) geflogen werden darf. Eine Mittagspause von 12.30 bis 13.30 Uhr ist vom 1. Mai bis 31. Oktober einzuhalten, in der die Minimalflughöhe 450 m beträgt. Zum Nachtflug ist für Strahlflugzeuge ein vorgeschriebenes Streckennetz zwischen 17 und 24 Uhr oberhalb von 300 m zugelassen. Bei all diesen Beschränkungen sind jedoch Ausnahmegenehmigungen des BmVg möglich.16

Für Luft-Boden-Schießplätze sind keine generellen Übungszeiten und Flughöhen festgelegt. Über Nordhorn darf bis 23.30 Uhr in einer Minimalhöhe von 150 m statt der bei Nachtflug üblichen 300 m geflogen werden. Im Zielendanflug dürfen Kampfflugzeuge sogar auf 70 m heruntergehen.

Für den amerikanischen Schießplatz Siegenburg existiert für die zugelassenen 90 Minuten Nachtflugzeit überhaupt keine Mindestflughöhe. Da für Wittstock der Umfang der geplanten dauerhaften Nutzung noch nicht feststeht,17 existiert auch kein Begrenzungsrahmen für die Schießübungen.

Nach Angaben von Bundeswehrpiloten variiert die übliche Bombenabwurfhöhe zwischen 70 und 300 m.18 Damit machen aus militärischer Sicht Luft-Boden-Schießübungen nur Sinn, wenn das zulässige Tiefflugband unterschritten werden darf. Im Umkehrschluß stellen selbst Militärs den Sinn des gegenwärtigen Tieffluges in Deutschland bereits in Frage, da im Ernstfall in einer Minimalhöhe zwischen 30 und 45 m geflogen würde.19 Das aber erlaubt sich das BmVg nur in Kanada.

Die durchschnittliche Jahresflugzeit eines Kampfflugzeugpiloten liegt nach NATO-Anforderungen zwischen 180 bis 240 Stunden. Tatsächlich liegt sie bei der Luftwaffe bei ca. 165 Stunden pro Jahr und Pilot.20

Je nach Flugmuster dauert ein durchschnittlicher Flug zwischen 54 Minuten (MiG-29) und 1,5 Stunden (Tornado) [F-4F: 1 Stunde 10 Minuten, Alpha Jet: 1 Stunde 20 Minuten].21 Von der für Tornado festgelegten Übungsflugdauer von 1:45h (Soll), dürfen 50 Minuten (ca. 50%) im Tiefflug absolviert werden.22 Der durchschnittliche Tieffluganteil am Gesamtumfang der Kampfflugzeugübungen beträgt 25%.23

Die Fluggeschwindigkeiten der Kampfflugzeuge bei Luft-Boden Schießübungen varriieren mit den Flugmustern und den Angriffsarten. Es wird zwischen Plangeschwindigkeit, Höchstgeschwindigkeit und Endanfluggeschwindigkeit unterschieden.

Bei den in Wittstock in Frage kommenden 4 Flugmustern ergibt sich eine Geschwindigkeitsbreite zwischen ca. 670 km/h (360 kt Alpha Jet/Plan) und 1.000 km/h (0,8 Mach Tornado/Endanflug).24 Überschallflüge sind nur oberhalb von 11.000 m zeitlich eingeschränkt erlaubt.25

Belastungen und Risiken

Bei den genannten Fluggeschwindigkeiten treten je nach Flugzeugtyp und einer Ausgangsflughöhe von 75 m am Boden Schallpegelwerte zwischen 98 und 123 dB(A) auf. Das entspricht dem Geräuschpegel in einem Metallverarbeitungsbetrieb (ca. 100 dB(A)), einem Preßlufthammer (ca. 105 dB(A)) oder einem großen Schmiedehammer (ca. 115 dB(A)). Eine akute Gehörgefährdung setzt bereits ab 85 dB (A) ein, bei 120 dB(A) muß mit dauerhaften Gehörschäden gerechnet werden.26

Bei Tiefflug und Bombenabwürfen kommt, etwa im Gegensatz zu einem Preßlufthammer, das plötzliche Überraschungsmoment als Schockpotential hinzu. Gehörstürze, Bluthochdruck, unkontrollierbares Zittern, Hörschwellenverschiebung, Kreislaufkollapse, panische Angstzustände, Aggressionen, Depressionen oder dauerhafte Schlaf- und Konzentrationsstörungen sind nur einige Symptome27, von denen Anwohner von Tieffluggebieten immer wieder berichten. Jeder Körper besitzt eine andere Konstitution, doch besonders Kinder und ältere Menschen reagieren nicht nur am empfindlichsten gegenüber derartigem Lärmstreß, sie können sich auch am schlechtesten gegen ihn schützen.28 1982-86 entstanden mit Unterstützung des Verteidigungsministeriums an der Tierärztlichen Hochschule Hannover mehrere Doktorarbeiten, die in Tierversuchen mit trächtigen Stuten, Hunden, Hühnern und Nerzmutationen u.a. Fehlgeburten und Todesfolge durch Tieffluglärm belegten.29

Neben fluglärmbedingten Personenschäden treten durch den Schallwellendruck auch Sachschäden wie zersplitterte Scheiben oder Mauerwerksrisse auf. In der Regel ist jedoch sowohl bei Personen- als auch bei Sachschäden der Nachweis von den Geschädigten kaum zu erbringen, daß beispielsweise ein Herzinfarkt durch einen Bombenabwurf ausgelöst wurde. Entsprechend gering ist die Anerkennungspraxis von Schadensansprüchen durch Gerichte und das Bundesverteidigungsministerium.

Für Luft-Boden-Schießübungen liegen keine detailierten Emissionsmessungen vor. Da die Flugmanöver jedoch Tiefflug, kombiniert mit Starts, Landungen und Platzrunden ähneln, besteht eine begrenzte Vergleichbarkeit mit vorhandenen Daten.

Je nach Flugmuster, Flugmanöver und Außenlasten ist der Kerosinverbrauch eines Kampfflugzeuges sehr unterschiedlich. Für 1984 wurden im Auftrag des BmVg die Emissionswerte des gesamten militärischen Flugverkehrs ermittelt. Auf Tiefflug mit Strahlflugzeugen entfielen 27% des gesamten Treibstoffverbrauches (Ges: 1.205.875 t Kerosin) der Militärflugzeuge, bei Starts, Landungen und Platzrunden wurden 21,2% des Kerosins verbraucht.

Die höchsten Kohlenmonoxid-(CO) [35,5% der CO-Gesamtemmisionen] und Kohlenwasserstoff-Emissionen (HC) [48,6%] traten bei Starts und Landungen auf, was vor allem auf Vollschub und den Einsatz von Nachbrennern zur Schubsteigerung zurückzuführen ist. Im Jet-Tiefflug (150-450 m) traten die höchsten Stickoxidwerte (SOx) mit 34,7% der SOx-Gesamtemissionen auf.

Alleine bei Start, Landungen und Platzrunden belasteten 8.856 t Kohlenmonoxid, 2.465 t Kohlenwasserstoffe, 1.866 t Stickoxide (NOx) und 254 t Schwefeldioxid (SO2) die Luft. Durch Jet-Tiefflug kamen weitere 3.263 t CO, 398 t HC, 3.531 t NOx und 302 t SO2 hinzu.30

Stickstoffdioxid wirkt als Reizgas auf die Atemwege und kann zu chronischem Asthma oder Bronchitis führen. Von vielen weiteren der anfallenden Substanzen, etwa dem im Kerosin enthaltenen Benzol, dem Kohlenwasserstoff Benzo-a-pyren oder von Kohlenmonoxid ist ihre krebserzeugende Wirkung bekannt.31

Obwohl der militärische Flugbetrieb in Deutschland nur etwa 20% des Gesamtflugbetriebes (1991 ca. 850.000 von 4,3 Mio. Flugbewegungen) ausmacht,32 liegt der Emissionsanteil im Vergleich zur Zivilluftfahrt bei durchschnittlich etwa 50% der Gesamtemissionen (Militäranteil 1984: Kerosinverbrauch 43%, CO 52%, HC 56%, NOx 35%, SO2 42%).33 Kampfflugzeuge verursachen also etwa 150% mehr Schadstoffe als ein Querschnittmodell der Zivilluftfahrt.

Bei einem voll bestückten 75-minütigen Tornado-Ausbildungsflug (Abfluggewicht: 22,5<|>t) im Rahmen der üblichen Geschwindigkeiten (420 kt/Plan, 480 kt/Endanflug) mit 50 Minuten im Tiefflug verbraucht die Maschine ca. 4.742 kg Kerosin. Jedes der beiden Triebwerke verbrennt 28 kg Treibstoff pro Minute.34

Jedes der beiden Phantom-Triebwerke J-79 GE-10 emittiert im Leerlauf, also beim Warmlauf vor dem Start, 43 kg Kohlenmonoxid pro Stunde. Gleichzeitig werden etwa 4 kg Stickoxide ausgestoßen. Im Vollastbetrieb liegt der CO-Ausstoß bei 5 kg/h, während der NOx-Ausstoß auf 15 kg/h ansteigt. Wird zusätzlich der Nachbrenner bei Vollast eingeschaltet, steigt der CO-Ausstoß aufgrund von Sauerstoffmangel bei dieser zweiten Gasverbrennung auf 17 kg/h, während der NOx-Ausstoß auf etwa 6 kg/h sinkt.35

Verschärfend kommt bei Luft-Boden-Schießübungen hinzu, daß sich durch die Flugkonzentration und die geringe Flughöhe Emissionen nicht weiträumig verteilen können. Die Schadstoffe lagern sich dauerhaft bei den Anwohnern des Schießplatzes ab und entfalten chronisch und akkumulierend ihre Wirkung.

Bis zu 60 Handlungen pro Minute muß ein Kampfflugzeugpilot bei Luft-Boden-Schießmanövern durchführen, theoretisch also pro Sekunde eine Entscheidung treffen und ausführen.36 In dieser Sekunde hat er bei einer Anfluggeschwindigkeit von 480 kt bereits eine Strecke von 250 Metern zurückgelegt.

Da er in einer Maximalhöhe von 300 m fliegt und ihm die nächste Maschine mit ca. 40 Sekunden Abstand folgt, kann er sich keine Fehlentscheidung leisten. Nicht umsonst werden Bundeswehrpiloten üblicherweise mit 41 Jahren pensioniert. Im Jargon gelten sie als »abgeflogen«, keine zivile Airline würde sie noch fliegen lassen.

Zwar liegt die statististische Absturzwahrscheinlichkeit im fraglichen Höhenband zwischen 70 und 300 m bereits außerhalb des extrem kritischen Spektrums, das beispielsweise beim 100 ft-Tiefstflug in Kanada eine Absturzwahrscheinlichkeit von ca. 28% aufweist.37

Dennoch ist die Absturzhäufigkeit im Platzrundenbereich und bis zu einer Höhe von 200 m mit 85% der Gesamtabstürze gravierend hoch.38 Neben Gefahren wie Bodenberührung, Bäumen, Hochspannungsmasten und Kollisionen mit anderen Flugzeugen wirken im niedrigen Höhenband Umwelteinflüsse wie Vogelschlag oder Radiowellen am stärksten.

Eine Zuordnung von Abstürzen bei Luft-Boden-Schießübungen wird vom zuständigen »General Flugsicherheit« beim Kölner Luftwaffenamt nicht vorgenommen. Nur selten gelangen eindeutige Zuordnungen von Abstürzen bei Luft-Boden-Übungen, wie etwa beim Absturz einer MiG-27 Flogger am 31.1.1991 beim Schießplatz Heidehof (Absturzort Schöbendorf) oder dem Tornado des JaboG 38, der am 18.11.1991 bei Schießübungen auf Vlieland in die Nordsee stürzte, an die Presse.

Das Absturzregister der letzten 15 Jahre liest sich allerdings wie ein who's who deutscher Flugplätze, Truppenübungsplätze und Luft-Boden-Schießplätze. Zwischen 1980 und Juni 1993 stürzten über der Bundesrepublik und durch die Bundeswehr im Ausland etwa 325 Militärmaschinen ab. 81 dieser Abstürze (ca. 30%) lagen im direkten Flughafenumfeld, mindestens 15 bei Luft-Boden-Schießplätzen, wobei diese Zahlen deshalb zu niedrig sind, weil für den Statistiker nicht an jedem kleinen Absturzdorf zu erkennen ist, daß es in einem Schießplatzbereich liegt.39

Bereits im alltäglichen Übungsbetrieb verlieren Militärflugzeuge Flugzeugteile, Waffen oder Treibstofftanks. In einer zufälligen Sammlung derartiger Komponentenverluste aus Presseberichten zwischen 1981 und 1993 finden sich u.a. 6 Raketen, über 10 Bomben, mehrere Granaten, 15 Tanks mit über 12.000 Litern Kerosin, ein 5-Tonnen-Betonblock und eine 4-Tonnen-Laderampe, die von Militärflugzeugen im Flug verloren wurden.

Hinzu kommen Flugzeugteile wie Kanzeldach, Radarnase, Stahlbolzen, Flugschreiber oder Heckteile, die aktenkundig vom Himmel fielen.

Bei Luft-Boden-Schießplätzen ist für Anwohner das Risiko von Komponentenverlusten erhöht, weil Bomben immer wieder zu früh ausgelöst werden und gelegentlich außerhalb der Schießplätze detonieren. 1988 verfehlte eine Übungsbombe bei Wittstock nur um 100 Meter den Zechliner Kindergarten.40 Alleine im südlichen Teil des Bombodroms sollen ca. 30.000 Blindgänger liegen.41

Weitere Gesundheitsrisiken ergeben sich durch das im Zielendanflug, bei »touch downs« und im Landeanflug nicht seltene Ablassen von Kerosin. Wenn Piloten sich beim Zielanflug mit ihrer Flugbahn und Geschwindigkeit verkalkuliert haben, verrieseln sie gelegentlich Treibstoff, um das Schubgewicht ihrer Maschine zu verringern. Nach Regierungsangaben haben zwischen 1983 und 1986 Bundeswehrmaschinen in 53 Notfällen Kerosin abgelassen.42 Über 513.000 Liter Kerosin regneten zwischen 1987 und 1990 alleine über Hessen bei Notlandungen vom Himmel.43

Was bedeutet das für Wittstock?

Aus militärischer Sicht sind Luft-Boden-Schießplätze unverzichtbar, wenn eine Luftflotte die Möglichkeit zu Bombenangriffen besitzen soll. Geht mensch davon aus, daß sich die 1991 11.330 Luft-Boden-Einsätze der Luftwaffe entsprechend der Reduzierung des deutschen Flugparkes um ca. 20% 1995 auf etwa 9.000 verringern, von denen nach BmVg-Plänen 75% im Ausland stattfinden sollen, so entsprechen die verbleibenden 2.250 Schießübungen etwa der Hälfte dessen, was 1993 in Nordhorn und Siegenburg trainiert wurde.

Addiert mensch die auf ein Drittel verringerten Schießübungen der Alliierten in Deutschland von etwa 3.150 hinzu, ergibt sich ein rechnerischer Übungsumfang von ca. 5.400 Luft-Boden-Schießübungen, der bereits um 1.000 Einsätze über der tatsächlichen Gesamtzahl für 1993 in Deutschland liegt. Mit anderen Worten, wenn der gegenwärtige Luft-Boden-Schießumfang in Deutschland nicht erhöht werden soll, wird der Schießplatz Wittstock aus trainingstechnischer Sicht nicht benötigt.

Tatsächlich hat das BmVg aber alleine 3.000 Luft-Boden-Schießübungen pro Jahr für Wittstock angekündigt.44 Da außer den Schießübungen in Beja keine deutschen Luft-Boden-Übungen im Ausland verringert werden sollen, bedeutet dies eine grundsätzliche Ausweitung deutscher Luft-Boden-Schießübungen bei Verringerung des Luftwaffen-Flugparkes.

Die Bundeswehr hat bisher keinerlei Nachweis für eine sicherheitspolitische Notwendigkeit zur Nutzung von Wittstock erbracht. Was in Westdeutschland als »Entzerrung« und »Entlastung« des Übungsbetriebes durch Streuung verkauft wird, wird in Ostdeutschland als »Verminderung« im Vergleich zur NVA- und WGT-Nutzung präsentiert. Tatsächlich verdoppelt die Bundeswehr mit der Inbetriebnahme von Wittstock ihre LBS-Übungskapazitäten. Dahinter steht auch das Kalkül von Besitzstandswahrung. Denn ein einmal aufgegebener Schießplatz wäre bei späterem »Bedarf« nur noch gegen erhebliche Widerstände erneut aufzubauen. Zwar gibt es bisher keine Ankündigungen über alliierte Luft-Boden-Schießübungen in Ostdeutschland. Ab 1995 sind sie rechtlich jedoch möglich.

Der Widerstand um Wittstock darf sich nicht darauf ausruhen, daß die Bundeswehr auch ohne diesen Schießplatz auskommt, wenn mensch diese Risiken gleichzeitig anderen Regionen zumutet. Solange Wittstock ohne den militärpolitischen Kontext betrachtet wird, kann das Verteidigungsministerium eine belastete Region gegen die andere ausspielen. Aber wozu übt die Bundeswehr Bombenangriffe? Dienen Bombenangriffe der Verteidigung meiner Sicherheit?

Es ist nicht genug, mit Altbesitzansprüchen gegen Wittstock vorzugehen. Selbst wenn die KlägerInnen Recht bekämen, könnte das Verteidigungsministerium auf dem Wege von Bundesleistungsgesetz, Landbeschaffungsgesetz und Schutzbereichsgesetz die Liegenschaften im »Interesse der nationalen Sicherheit« erneut requirieren. Doch auch wenn es keine Altbesitzansprüche für Wittstock gäbe, gehen von dem Schießplatz unzumutbare Risiken aus.

Deshalb muß der Schießplatz politisch im Rahmen des Verteidigungskonzeptes und seiner Verantwortbarkeit in Frage gestellt werden. Bei Wittstock geht es um mehr als Altbesitzprozesse oder Krebsgefahren: es geht um die Einforderung und Übernahme von demokratischer Verantwortung für eine Sicherheitspolitik, für deren Risiken der Standort Wittstock nur ein Beispiel unter vielen ist.

Stefan Gose, Dipl.-Pol., ist Redakteur der Monatszeitschrift antimilitarismus information. (Willdenowstr. 10, 13353 Berlin)

Bundeswehr in Somalia

Bundeswehr in Somalia

Meilenstein neuer deutscher Machtpolitik

von Volker Böge

Nun sind sie wieder zu Hause, die Helden von Belet Huen. Mit Glück sind sie ohne deutsche Verluste zurückgekehrt. In der Heimat werden sie jetzt vom Verteidigungsminister und der Bundeswehrführung in markigen Reden gefeiert. Und unsere Regierung wird ihren Einsatz den Bürgerinnen und Bürgern als »vollen Erfolg« verkaufen. Doch was sind die Maßstäbe einer solchen Erfolgsmeldung?!

T<>rotz allen »humanitären« Geredes, trotz aller vollmundig bekundeten Sorge um das Wohlergehen der Menschen und um die Wiederherstellung des Friedens in Somalia liegt der tatsächliche »Erfolg« dieser Mission darin, daß es der Bundesregierung gelungen ist, Deutschland als Militärmacht auf der Bühne internationaler Politik zurückzumelden: Wir sind wieder wer – auch militärisch. Das ist die Botschaft des Somalia-Einsatzes nach außen. Und innenpolitisch ist ein weiterer Schritt getan, die deutsche Öffentlichkeit an weltweite Einsätze der Bundeswehr zu gewöhnen, Akzeptanz und Legitimation für deutsche Streitkräfte zu beschaffen, die sich jenseits des ursprünglichen Auftrags der Landesverteidigung völlig neuen Aufgaben zuwenden. In einer Zeit der Weichenstellung, in der es um die künftige Gestalt des neuen vereinigten Deutschland und um seine Rolle in der Welt geht, ist mit dem Bundeswehr-Einsatz in Somalia ein falsches Signal gesetzt worden. »Somalia« war ein wichtiger Schritt auf dem Weg der Militarisierung der deutschen Außenpolitik.

Damit reiht sich diese Mission als bisher umfassendster Auslandseinsatz der Bundeswehr ein in die Kette jener Einsätze, mit denen gemäß einer »Salamitaktik« die bisherigen Beschränkungen der Verwendung deutschen Militärs nach und nach überwunden werden sollen.

Somalia ist aber nur die vorerst letzte – und bedeutendste – Station in diesem Prozeß. Die vorausgegangenen Stationen seien an dieser Stelle kurz in Erinnerung gerufen.

Golfkrieg II

Der Startschuß zur »salamitaktischen« Ausweitung des Operationsradius der Bundeswehr fiel im Zusammenhang mit dem Golfkrieg II. Zwar sah sich etablierte Politik damals noch an das verfassungsmäßige Verbot von Einsätzen »out-of-area« gebunden, doch eröffnete sich jetzt die Chance, unter Verweis auf die Forderungen der Bündnispartner, die die deutsche militärische Zurückhaltung kritisierten, die Grenzen für Bundeswehr-Einsätze hinauszuschieben.

Faktisch erweiterte man den Handlungsraum der Bundeswehr, interpretierte die Bundeswehr-Einsätze aber nach wie vor restriktiv, um behaupten zu können, es handle sich nicht um (verfassungsmäßig als verboten geltende) Einsätze »out-of-area«. Im einzelnen ergriff man folgende Maßnahmen:

  • Einheiten der Bundesmarine wurden im August 1990 ins östliche Mittelmeer verlegt, wo sie Aufgaben von US-Kriegsschiffen übernahmen, die im Rahmen des Aufmarsches gegen den Irak in den Persischen Golf abgezogen worden waren (also ein Einsatz »in area«, aber in klarem Zusammenhang mit dem Golfkrieg »out-of-area«);
  • im Rahmen der »Allied Mobile Force« der NATO wurden im Januar 1991 Luftabwehr- und Luftwaffeneinheiten (18 Alpha Jets) in den Südosten der Türkei verlegt, um der Türkei bei einem etwaigen Angriff des Irak beizustehen (»in area«, aber noch klarer im Zusammenhang mit dem Krieg »out-of-area«: von türkischen Basen aus starteten Kampfflugzeuge der Alliierten zu Angriffen auf den Irak, indirekt waren deutsche Soldaten mithin an Kampfhandlungen beteiligt);
  • während des Krieges gegen den Irak beteiligten sich im Rahmen des Einsatzes von AWACS-Radarflugzeugen der NATO auch Bundeswehrsoldaten an der Luftraumüberwachung und Feuerleitplanung im Luftkrieg gegen den Irak (eindeutig »out-of-area«, wurde daher auch der deutschen Öffentlichkeit verheimlicht und kam erst im Januar 1993 an den Tag);
  • zur Versorgung von kurdischen Flüchtlingen aus dem Irak im Iran wurden Bundeswehr-Transporthubschrauber eingesetzt (begründet als »humanitärer Einsatz«, aber im Zusammenhang mit den Kriegshandlungen);
  • unmittelbar nach Beendigung der Kampfhandlungen beteiligten sich Einheiten der Bundesmarine von März bis Juli 1991 am Minensuchen und -räumen im Persischen Golf (eindeutig »out-of-area«, aber als »humanitäre Hilfe« deklariert);
  • zur Unterstützung von UN-Inspektionen im Irak nach dessen Niederlage wurden (und werden noch) seit dem Oktober 1991 Heeresflieger der Bundeswehr eingesetzt (eindeutig »out-of-area«, doch wurden die Soldaten kurzerhand zu »experts on mission« erklärt und bekamen damit als Sachverständige der UN mit »abrüstungsspezifischen« Aufgaben einen Sonder-Status).

Kambodscha

Die nächste Station war Kambodscha. Von Mai 1992 bis November 1993 waren 150 Bundeswehr-Sanitätssoldaten im Rahmen der UN-Mission UNTAC in Kambodscha eingesetzt (ein Vorauskommando schon seit November 1991). Und obgleich sie in Zusammenarbeit mit den Blauhelmen anderer Staaten tätig waren, für deren sanitätsdienstliche Versorgung sie zuständig waren, traten sie nicht als UN-Blauhelme auf – waren also auch nicht dem UN-Kommando im Lande unterstellt – sondern agierten wiederum unter dem Etikett »humanitärer Einsatz«. In Kambodscha kam am 14.10.1993 der erste Bundeswehr-Soldat, der Sanitätsfeldwebel Alexander Arndt, »out-of-area« gewaltsam zu Tode. Verteidigungsminister Rühe hatte den Einsatz im Sommer 1992 nicht nur als Vorstufe für »generelle Blauhelm-Missionen« der Bundeswehr bezeichnet und eingeräumt, daß er mit der Kambodscha-Entscheidung an die Grenze der Verfassung gegangen sei, sondern auch klargestellt, daß sich die deutsche Öffentlichkeit an tote deutsche Soldaten gewöhnen müsse. Der Tod eines Soldaten gehöre zur „Normalität“, auf die er die BundesbürgerInnen Schritt für Schritt vorbereiten müsse (Die Zeit, 10.7.1992).

Jugoslawien

Seit Juli 1992 beteiligt sich die Bundeswehr zur Unterstützung der UN an Hilfsflügen nach Sarajewo (begründet als »humanitäre« Aktion) und an der Überwachung des über Serbien und Montenegro verhängten Embargos durch Marineeinheiten der NATO und der WEU in der Adria. Letzteres wurde als noch gerade verfassungskonform dargestellt, weil die Schiffe der Bundesmarine nur »überwachen« sollen, nicht aber – wie die Schiffe der anderen beteiligten Staaten – Embargobrecher auch mit Gewalt aufbringen sollen. Seit Oktober 1992 schließlich sind auch deutsche Soldaten in den AWACS-Flugzeugen der NATO dabei, die das von den UN über Bosnien-Herzegowina verhängte Flugverbot überwachen sollen. Im März 1993 wurde dieser Auftrag ausgeweitet: seither geht es nicht mehr nur um die Überwachung, sondern auch um die militärische Durchsetzung des Flugverbots. Die AWACS-Maschinen sind nun nicht mehr allein zur Beobachtung da, sondern wenn nötig auch zur Feuerleitung (wie im Krieg gegen den Irak). Das deutsche Bodenpersonal und die deutschen Soldaten an Bord der Maschinen können also direkt an Kampfeinsätzen beteiligt sein.

Selbst der FDP kamen jetzt verfassungsmäßige Bedenken. Politisch war sie zwar für diesen Einsatz, wollte aber eine rechtliche Klarstellung. Daher reichte sie – ebenso wie die SPD – Klage beim Bundesverfassungsgericht (BVerfG) ein und beantragte eine einstweilige Verfügung gegen die deutsche Beteiligung am AWACS-Einsatz. Das Gericht lehnte am 8.4.1993 den Antrag auf einstweilige Verfügung ab und verwies auf eine spätere Entscheidung in der Hauptsache. Bei der Begründung folgte es im wesentlichen den Argumenten der Bundesregierung: Ohne die deutsche Beteiligung sei die Einsatzfähigkeit der AWACS und damit die Durchsetzung des Flugverbots gefährdet. Das wiederum würde zu einem Vertrauensverlust bei den Bündnispartnern in bezug auf die deutsche Zuverlässigkeit führen und somit erheblichen außenpolitischen Schaden verursachen (siehe hierzu das Bundesverfassungsgerichtsurteil in W&F, 3/93, Dossier 14).

Somalia

Derart vom Verfassungsgericht bestärkt, ging die Bundesregierung in das bisher größte »out-of-area“–Abenteuer: den Einsatz von 1700 Bundeswehrsoldaten in Somalia seit Juli 1993 (ein Vorauskommando war schon im Mai in Belet Huen eingetroffen). Auch hier hat die Bundeswehr angeblich wieder eine »humanitäre Aufgabe« und keinen »militärischen Einsatz« auszuführen; allerdings sind die Soldaten zum »Selbstschutz« bewaffnet, und die ausschließlich zum »Selbstschutz« vorgesehenen Einheiten des Kontingents machen einen erheblichen Teil der Truppe aus. Solche bewaffneten »humanitären« Einsätze haben nichts mehr zu tun mit dem, was früher unter »humanitärem Einsatz« verstanden wurde: Hilfe bei Naturkatastrophen wie Erdbeben, Überschwemmungen usw. Der Übergang zum Kampfeinsatz – verharmlosend als »humanitäre Intervention« bezeichnet – verschwimmt.

Fast genau 50 Jahre nach der Vertreibung des hitlerdeutschen Afrika-Korps aus Nordafrika durch die alliierten Truppen stand also erstmals wieder ein größeres Kontingent von deutschen Soldaten in Afrika. Sie beteiligen sich an einem UN-Einsatz, der zwar begonnen wurde mit dem Argument, der notleidenden somalischen Bevölkerung Hilfe leisten zu wollen, der sich aber mittlerweile zum Kriegseinsatz entwickelt hat. UN-Soldaten haben in Somalia Hunderte von Menschen getötet – und wurden zu Dutzenden getötet. Die somalische Bevölkerung steht mittlerweile der UN-Präsenz größtenteils ablehnend gegenüber. Denn UN-Einheiten führen sich auf wie Besatzer aus Kolonialtagen. Überhebliches Auftreten, Repressionen und Schikanen gegen die Zivilbevölkerung, ja sogar Folterungen von Zivilisten, militärische Racheakte und Vergeltungsschläge sowie massive militärische Parteinahme im Bürgerkrieg – so haben sich die Somalis die »humanitäre Hilfe« nicht vorgestellt. „Die UNO-Streitmacht ist zur Besatzungsmacht geworden, die auch vor Massakern nicht zurückschreckt – und so die Rebellion erst recht schürt“ schrieb der Spiegel am 20.9.1993.

In diesem Zusammenhang hat auch der Bundeswehr-Einsatz in Somalia keinen humanitären Charakter. Mit ihrer Beteiligung an der UN-Mission hat die Bundeswehr vielmehr erstmals in großem Maßstab die Grenze zu Kampfeinsätzen »out-of-area« faktisch überschritten – trotz aller anderslautenden Erklärungen aus den Reihen der Regierung. Sollte doch die wesentliche Aufgabe des deutschen Kontingents die Versorgung anderer Blauhelm-Einheiten sein, die für die »Befriedung« weiterer somalischer Landesteile eingesetzt werden sollten. Die deutschen Truppen sollten also direkt kampfunterstützend tätig werden. Ironie der Geschichte: Jenes Kontingent von 4500 indischen Blauhelm-Soldaten, welches die 1700 Deutschen unterstützen sollten, kam gar nicht. Es kamen ganze drei Inder anstelle der erwarteten indischen Brigade (siehe hierzu W&F, 3/93, Dossier 14). Folge: die deutschen Soldaten mußten nutz- und sinnlos monatelang die Zeit in ihrem Camp totschlagen. Daß sie zusätzlich auch gewisse Hilfsleistungen für die Bevölkerung vor Ort erbrachten, geschah eher zufällig, weil ihr eigentlicher Auftrag entfallen war. Und schließlich haben auch deutsche Soldaten auf Somalis geschossen – und getötet.

Daß es nicht um »humanitäre Hilfe« ging, wird auch an folgendem deutlich: Die UNO hatte im Vorfeld des Einsatzes der Bundesregierung vorgeschlagen, die Bundeswehr solle im Hafen von Mogadischu die Verladung von Gütern und Ausrüstungen übernehmen. Das lehnte Verteidigungsminister Rühe mit dem Argument ab, seine Soldaten seien keine Schauerleute. Für einen so unattraktiven und wenig öffentlichkeitswirksamen Einsatz stehe man nicht zur Verfügung. Stattdessen wurde vom BMVg ein umfassenderer und öffentlich wirksamer Einsatz der Bundeswehr gefordert – woraufhin die 1700 deutschen Soldaten nach Belet Huen kamen.

Das Argument der Hilfe für notleidende Menschen muß also als vorgeschoben bewertet werden. Wäre es tatsächlich um Hilfe gegangen, dann wäre anderes vonnöten gewesen als die Entsendung von Soldaten. Unter dem Aspekt der Hilfe ist deren Anwesenheit in Somalia sinnlos – und Geldverschwendung dazu. Ginge es doch darum, die Infrastruktur des Landes wiederaufzubauen, um die materiellen Grundlagen für einen dauerhaften Frieden zu schaffen. Dazu würden zivile Experten benötigt, dazu bräuchte es finanzielle Unterstützung und dazu bedürfte es der engen und vertrauensvollen Zusammenarbeit mit der Bevölkerung. Die 360 Mio. DM, die der Bundeswehr-Einsatz in Somalia bisher gekostet hat, hätten sehr viel sinnvoller für zivile Zwecke eingesetzt werden können. Die humanitären Nebenprodukte der militärischen Somalia-Mission sind sehr teuer bezahlt, zivile Hilfsorganisationen hätten sehr viel besser und billiger gearbeitet. Es ist beschämend, daß erst mit der Entscheidung für den Abzug der Bundeswehr aus Somalia vom Dezember 1993 auch beschlossen wurde, einen kleinen Bruchteil der für das militärische Abenteuer verausgabten Gelder nun auch für zivile Hilfe bereitzustellen – gewissermaßen als »Nachschlag« zum militärischen Einsatz – , wo doch schon lange vor der Entsendung der Bundeswehr nach Somalia von Oppositionspolitikern und zivilen Hilfsorganisationen humanitäre Hilfe für Somalia gefordert worden war – vergeblich. Die Bundesregierung hatte diese Ansinnen immer wieder zurückgewiesen, ebenso wie sie die z.T. massive Kritik der Hilfsorganisationen am Militäreinsatz ignorierte.

Doch um wirksame Hilfe ging es nicht. Es ging darum, die Öffentlichkeit im eigenen Land an den Anblick deutscher Soldaten in diversen Weltgegenden zu gewöhnen und dafür Akzeptanz zu schaffen. Und es ging darum, der Weltöffentlichkeit zu demonstrieren, daß die Deutschen »wieder da« und bereit und in der Lage sind, auch militärisch wieder mitzumischen. (Das heißt aber auch: Es ging auch nicht um deutsche »imperialistische« Interessen in Somalia selbst; vielmehr waren es innen- und bündnispolitische Interessen).

Das BVerfG hat auch im Fall Somalia wieder mitgespielt. Eine Klage der SPD-Fraktion gegen den Somalia-Einsatz und ihr Antrag auf einstweilige Anordnung wurden im Juni 1993 abgelehnt. Lediglich einen Beschluß des Bundestages für den Somalia-Einsatz verlangten die Verfassungsrichter. Dieser Beschluß kam am 2. Juli 1993 mit den Stimmen der Regierungsmehrheit zustande. Zwar steht noch eine endgültige Entscheidung des BVerfG über die Somalia-, AWACS- und Adria-Klagen (die zu einem Verfahren zusammengefaßt werden) aus, doch muß nach dem bisherigen Verhalten des Gerichts befürchtet werden, daß diese im Sinne der Regierung ausfallen wird.

Der Streit ums Grundgesetz

Jedenfalls zeigten sich Regierung und Bundeswehr-Führung mit den bisherigen Verfassungsgerichtsentscheidungen hochzufrieden und feierten sie öffentlich als politischen Sieg. Gleichwohl streben die Regierungsparteien nach wie vor eine Änderung des GG an, um im eigenen Sinne Klarheit zu schaffen. Man will nicht noch lange Zeit weiter wie bisher »herumeiern« müssen und immer wieder die Begründung »humanitärer Einsatz« strapazieren müssen, wenn man die Bundeswehr in die weite Welt hinausschickt. Sondern man möchte klar sagen dürfen, was man tut und was man will: Mitkämpfen. Eine »klarstellende Ergänzung« des GG wird daher gewünscht.

Das erscheint notwendig, weil die Selbstbeschränkung deutscher Macht in der alten Bundesrepublik auch im GG ihren Niederschlag gefunden hatte. Erinnert sei nur an die GG-Artikel 26 (Verbot des Angriffskriegs), 24 (Einbindung in ein System kollektiver Sicherheit), 87a (Aufstellung von Streitkräften ausschließlich zur Verteidigung) und 115a (Feststellung des Verteidigungsfalles bei Angriff auf das Bundesgebiet mit Zweidrittelmehrheit des Bundestages). Die herrschende Meinung in Recht und Politik legte jahrzehntelang diese Artikel so aus, daß die Bundeswehr lediglich im Bündnisfall zur Verteidigung in dem sog. NATO-Vertragsgebiet (Europa, Nordamerika und Nordatlantik bis zum Wendekreis des Krebses) eingesetzt werden dürfe. Außerhalb dieses NATO-Vertragsgebiets – »out-of-area« – sei ein militärischer Einsatz der Bundeswehr verfassungsrechtlich nicht statthaft. Diese Position wurde in einem Beschluß des Bundessicherheitsrats vom 3.11.1982 eindeutig fixiert und in der Folge von den Bundesregierungen und allen großen Parteien als bindend bestätigt. Immer wieder erklärten bis Anfang der 90er Jahre deutsche Regierungen den Bündnispartnern und der eigenen Öffentlichkeit mit Verweis auf diese GG-Interpretation, daß eine Teilnahme deutscher Streitkräfte an Einsätzen »out-of-area« nicht möglich sei.

Allerdings muß man hier einschränkend klar unterscheiden zwischen militärischem »Einsatz« und sonstigen »Verwendungen« von Bundeswehrsoldaten in aller Welt. „Einsatz bedeutet Verwendung der Streitkräfte als Mittel der vollziehenden Gewalt … Eine gewaltneutrale Verwendung ist kein Einsatz i.S. des Art. 87a Abs. 2 GG. Verwendungen der Streitkräfte ausschließlich im Rahmen logistischer Operationen, Unterstützung öffentlicher Dienste, allgemeiner Katastrophenhilfe oder humanitärer Einsätze unterliegen nicht dem verfassungsrechtlichen Vorbehalt“ (so eine Studie aus dem Bundesverteidigungsministerium vom 16.10.1987). In „Verwendung“ befanden und befinden sich deutsche Soldaten im Rahmen deutscher Ausstattungs- und Ausbildungshilfe in zahlreichen Ländern der sog. Dritten Welt, auch in diversen diktatorisch regierten und/oder sich im (Bürger-)Krieg befindlichen: Sudan, Marokko, Burundi, Mali, Kolumbien, … usw.. Sie sind dort als Ausbilder, beim Straßenbau, in der KFZ-Instandsetzung und der sanitätsdienstlichen Versorgung usw. tätig. Ebenso üblich war es schon seit den 60er Jahren, daß die Bundeswehr bei Erdbeben oder anderen Naturkatastrophen in der sog. Dritten Welt half, was als »humanitärer Einsatz« galt (Beispiele: Hochwasserkatastrophe in Algerien und Tunesien 1970, Hungerkatastrophe im Sudan 1985, Erdbeben in Armenien 1988).

Jetzt, da es für Deutschland um den Einstieg in eine neue Phase weltweiter Machtpolitik geht und Einschränkungen militärischer Möglichkeiten fallen sollen, ist die alte GG-Interpretation selbstverständlich ein gewichtiger Klotz am Bein. Daher die Bestrebungen der Parteien der Regierungskoalition, das GG bzw. die herrschende Interpretation des GG zu ändern.

Am 13. Januar 1993 legte die Regierungskoalition einen Antrag vor, wonach die Bundeswehr künftig sowohl im Rahmen der UNO bei »friedenserhaltenden« und »friedensherstellenden« Maßnahmen als auch unabhängig von der UNO „im Rahmen von regionalen Abmachungen“ oder „gemeinsam mit anderen Staaten“ »out-of-area« eingesetzt werden dürfen soll. Letztlich sollen mithin alle Einsatzformen erlaubt sein, wenn sie nur »multinational« sind, d.h.: lediglich deutsche Alleingänge »out-of-area« sollen ausgeschlossen bleiben.

Die FDP-Position war bis zu diesem Zeitpunkt etwas moderater gewesen. Sie wollte nur Aktivitäten »out-of-area« im Rahmen der UNO erlauben (»friedenserhaltende« und »friedensherstellende« Maßnahmen). Damit berührte sich ihre Position mit der einer Minderheit in der SPD, die ebenfalls bereits seit 1988 für die Beteiligung der Bundeswehr an friedenserhaltenden und friedensschaffenden UN-Maßnahmen eintritt. Diese Position ist aber bis heute in der SPD (noch) nicht mehrheitsfähig, obgleich so exponierte SPD-Politiker wie Klose, Voigt, Gansel, Bahr sie vertreten. Noch auf dem SPD-Parteitag in Münster 1988 hatte sich die Mehrheit gegen jegliche »out-of-area“–Einsätze ausgesprochen. Auf dem Parteitag in Bremen 1991 war die Mehrheit schon für Einsätze lediglich im Rahmen sehr eng definierter Blauhelm-Aufgaben. Seit dem Parteitag 1992 will sie allerdings den Aufgabenbereich von Blauhelmen umfassender verstanden wissen. Dazu sollen nun auch gehören: Die Sicherung von Hilfskonvois und der Schutz von UNO-Mandatsgebieten sowie die Durchsetzung von Embargo- und Blockademaßnahmen – Aufgaben, deren Bewältigung den fließenden Übergang zu Kampfhandlungen beinhalten kann. Dieses Votum für eine Beteiligung an weitgefaßten Blauhelm-Einsätzen ist gegenwärtig offizielle Position der SPD. Den Parteien der Regierungskoalition ist das immer noch zu wenig. Sie lehnen eine »Nur-Blauhelm«-Änderung des GG ab, weil deutscher Politik damit die Hände gebunden würden.

Da für eine GG-Änderung eine Zweidrittelmehrheit erforderlich ist, die Regierungsparteien sich also mit der SPD einigen müssen, kommt das Unternehmen GG-Änderung solange nicht voran, wie die SPD auf dieser Position verharrt. Umgekehrt argumentiert die SPD, man könne in der out-of-area-Frage einen großen Schritt weiter kommen, wenn die Regierungsparteien von ihren Maximalpositionen abgehen würden und sich auf die Position der SPD einließen. Bündnis 90/Die Grünen und die PDS lehnen jegliche GG-Änderung zur Ausweitung der Einsatzmöglichkeiten der Bundeswehr ohnehin ab (allerdings hat die BT-Gruppe von Bündnis 90 im Bundestag einen Antrag eingebracht, der die Beteiligung der Bundeswehr an Blauhelm-Einsätzen möglich machen soll).

Das immer wieder von der Regierungsseite angeführte Argument übrigens, als UN-Mitglied müsse Deutschland neben den Rechten auch »alle Pflichten« einer Mitgliedschaft tragen (sich also auch an Militäraktionen der UNO beteiligen), ist fadenscheinig: „Es gibt eine Vielzahl von Staaten, die keine militärischen Beiträge liefern können oder wollen. Es gibt Staaten, die können das gar nicht, weil sie finanziell nicht dazu in der Lage sind. Es gibt Staaten, die haben gar keine Soldaten. Es gibt Staaten, denen verbietet das die Verfassung“ (D. Deiseroth, zit.n.: Bundeswehr in alle Welt? Eine Argumentationshilfe. 2.überarbeitete Auflage, hg.v. Netzwerk Friedenskooperative. Bonn o.J., S. 7). Auch Deutschland könnte von den UN nicht gezwungen werden, gegen seine eigene Verfassung zu verstoßen.

Blauhelme – harmlos?

Gerade in jüngster Zeit hat sich gezeigt, daß selbst die auf den ersten Blick »harmloseste« Einsatzform, nämlich das peace keeping durch Blauhelme, friedenspolitisch bedenkliche Seiten hat. Zweifellos: Blauhelme bei UN-Friedensmissionen, die ausdrücklich nicht für militärische Aufgaben im Sinne kriegerischer Aktionen vorgesehen waren, haben vielfach einen wichtigen Beitrag zur Friedenssicherung geleistet. Gegenwärtig verwischt sich jedoch die Rolle der Blauhelme, die in der Charta der UN ohnehin nicht festgelegt ist. So wünschenswert der deeskalierende Einsatz von Blauhelmen zur Überwachung von Waffenstillständen usw. auch sein mag, so groß ist doch auch die Gefahr des fließenden Übergangs von derartigen »friedenserhaltenden« Aktivitäten zu Kampfeinsätzen. Gerade die jüngste Diskussion über Kampfeinsätze von Blauhelmen in Bosnien und die realen Kämpfe in Somalia weisen darauf hin, wie leicht sich Blauhelme in Weltpolizisten verwandeln können. Schon einmal, Anfang der 60er Jahre im damaligen Kongo, hat sich das, was als Blauhelm-Einsatz begann, zu einem umfassenden Krieg unter Beteiligung der UN-Truppen auf der Seite einer der Kriegsparteien ausgewachsen. Eben dieses geschieht heute wieder in Somalia. Auch hier sind die Blauhelme wieder zur Kriegspartei geworden. Statt systematisch den dortigen Konflikt zu dämpfen, wurde er ständig in seiner Gewalthaftigkeit gesteigert.

Interessenpolitik

Diese Gefahr einer Eskalation von anfangs »harmlosen« Blauhelm-Einsätzen zu Kriegseinsätzen ist immer dann besonders groß, wenn sich Streitkräfte militärisch starker und weltpolitisch bedeutender Staaten an den friedenserhaltenden Aktionen beteiligen. Denn diese Staaten verfolgen i.d.R. eigene Interessen, und vor allem: sie sind militärisch zur Eskalation fähig (und sehen sich dazu manchmal »gezwungen«, z.B. wenn Mißerfolge der eigenen Truppen zum Anlaß genommen werden, »Stärke« zu demonstrieren und »richtig« zuzuschlagen). Deswegen stellten früher auch bevorzugt kleine, neutrale Staaten (Österreich, Finnland, Fidschi, Nepal,…) Blauhelm-Kontingente. In jüngster Zeit aber besteht die Tendenz – siehe Somalia oder ehemaliges Jugoslawien – großer Mächte, Streitkräfte zu den friedenserhaltenden Aktionen abzustellen und sie damit auch zu dominieren. Blauhelme werden gegenwärtig immer mehr zur Interventionstruppe der G7 (der Gruppe der sieben reichsten Staaten), die weitgehend die Politik des Sicherheitsrates der UN bestimmen. Wer also die Erhaltung deeskalierender Blauhelme wünscht, muß die Großmächte heraushalten.

Auch Deutschland ist eine Großmacht, auch für eine Bundeswehr-Beteiligung an den Blauhelmen gelten also die obigen Einwände – einmal ganz davon abgesehen, daß deutsche Soldaten in weiten Teilen der Welt aus historischen Gründen ohnehin kaum als Friedensstifter begrüßt werden würden. Die angemessene Hilfe von Staaten wie Deutschland bestünde in zivilen, also in finanziellen und diplomatischen Beiträgen für die Friedensaktionen der UN. Die Blauhelme brauchen keine Bundeswehr-Kontingente. (Hier geht es wohlgemerkt um die direkte Beteiligung von Bundeswehr-Einheiten an Blauhelm-Einsätzen, nicht um finanzielle oder logistische Unterstützung. Die hat die Bundeswehr für »peace-keeping-operations« schon mehrfach geleistet, z.B. hat sie 1974 ghanesische und senegalesische Blauhelm-Soldaten nach Kairo transportiert, 1978 norwegische Soldaten nach Tel Aviv gebracht sowie dem nepalesischen Blauhelm-Kontingent Bundeswehr-LKWs usw. geliefert und sogar fachliche Einweisung durch deutsche Soldaten vor Ort durchgeführt).

Was aus einem friedenspolitischen Blickwinkel als große Gefahr erscheint – der fließende Übergang von friedenserhaltenden Maßnahmen zu Kampfeinsätzen –, das wird von der Regierungspolitik gerade gewollt und als Argument gegen eine »künstliche Trennung« beider Einsatzformen angeführt: Die Erfahrung habe gezeigt, daß man »peace-keeping« und »peace-enforcing« oft nicht trennen könne. Deswegen mache es auch keinen Sinn, die Beteiligung der Bundeswehr nur auf »peace-keeping« zu beschränken wie es die SPD fordere. Die SPD ihrerseits hält zwar an der Unterscheidung fest, kommt obiger Argumentation aber entgegen, indem sie den Aufgabenbereich der Blauhelme immer umfassender verstanden wissen will (s.o.). »Robustes peace keeping« ist die verharmlosende Bezeichnung für den Übergang von den alten Blauhelm-Einsätzen zu den qualitativ neuen, die sich von Kampfeinsätzen, also Kriegführung, nicht mehr unterscheiden.

Die Friedensbewegung tut also gut daran, eine Beteiligung der Bundeswehr an Blauhelm-Aktionen abzulehnen.

Eine deutsche Beteiligung an den Blauhelmen stellt ohnehin lediglich den Türöffner für weitergehende Einsatzformen dar. Denn wenn man einmal die Notwendigkeit der Übernahme militärischer »Verantwortung« akzeptiert hat, ist die Begründung für die Verweigerung des nächsten Schrittes schwer zu vermitteln. Daraus resultiert die große politische Bedeutung des eher klein anmutenden Schrittes einer Zustimmung zu Blauhelm-Einsätzen der Bundeswehr.

Keine Illusionen über die UNO

Von jenen Kräften, die eine Ausweitung der Einsatzmöglichkeiten der Bundeswehr betreiben, wird die Blauhelm-Option so stark betont, weil man auf den guten Ruf der UNO als »Friedensmacht« in der Öffentlichkeit spekuliert. Doch sollte man sich keine Illusionen über den gegenwärtigen Charakter der UNO machen. Die UNO ist von den Interessen und Entscheidungen der großen nordwestlichen Mächte, der G7, abhängig. Ob die UN in einen Konflikt militärisch »friedenschaffend« oder »-erzwingend« eingreift oder nicht, hängt von den G7 ab. Nur sie – und hier insbesondere die USA – können die finanziellen und militärischen Mittel für ein solches Eingreifen bereitstellen, und andererseits können sie mit ihrem Veto im Sicherheitsrat ein solches Eingreifen verhindern, wenn es nicht in ihrem Interesse liegt. Sie werden sich der UNO mithin von Fall zu Fall bedienen, sich aber für den Fall, daß das einmal nicht möglich sein sollte, auch die Möglichkeit offenhalten, an der UNO vorbei militärisch aktiv zu werden.

Daß sich in absehbarer Zeit an der beherrschenden Stellung der G7 im UN-System etwas ändern ließe, ist nicht absehbar. Deswegen sind die UN auch nicht als Garant einer neuen gerechten und friedlichen Weltordnung für etablierte Politik in Deutschland interessant, sondern als Institution traditioneller Machtpolitik (neben anderen wie NATO, WEU und EU). Weil man auf der Bühne der Weltpolitik stärker präsent sein will und sie stärker mitgestalten will, drängt man auch auf verstärktes Engagement in den UN. Die Rede von der UNO im heutigen Deutschland muß also in den Zusammenhang der Rede über militärisch abgestützte deutsche Machtpolitik gestellt werden. Es geht herrschender Politik nicht um die Stärkung der UNO als alternative Weltfriedensorganisation an sich, sondern um deutsches Ausgreifen in die Weltpolitik – und erst in diesem Zusammenhang wird die UNO für herrschende Politik interessant: zur innenpolitischen Legitimation eigener Ambitionen (Militärinterventionen im Namen der UNO lassen sich den eigenen Bürgerinnen und Bürgern wegen des hohen Ansehens der UNO leichter verkaufen) und als Handlungsrahmen für eigene Machtentfaltung. Der Somalia-Einsatz der Bundeswehr und andere »out-of-area« – Aktivitäten sind nicht zuletzt darauf zurückzuführen, daß Deutschland Anspruch auf einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat anmeldet. Die offizielle Bewerbung um einen solchen Sitz gab die Bundesregierung übrigens einen Tag nach der Entscheidung über den Somalia-Einsatz im Juni 1993 im UN-Hauptquartier in New York ab! Damit will Deutschland auch offiziell (wieder) in den Kreis der Weltmächte aufgenommen werden. Der Spiegel sprach es aus: „Der schöne Traum von der Rückkehr Deutschlands in die Weltpolitik (ist) der eigentliche Grund des Somalia-Einsatzes“ (19.7.1993, S. 21) – wobei es sich eher um einen Alptraum denn um einen »schönen Traum« handelt.

Worum es etablierter Politik in Deutschland heute letztlich geht, ist: künftig weltweite Machtpolitik auch militärisch abstützen zu können. In den Verteidigungspolitischen Richtlinien der Bundesregierung vom 26. November 1992 wird militärischer Macht u.a. die Aufgabe zugewiesen: „Aufrechterhaltung des freien Welthandels und des ungehinderten Zugangs zu Märkten und Rohstoffen in aller Welt im Rahmen einer gerechten Weltwirtschaftsordnung.“ Das sind Töne, die man durchaus als imperialistisch bezeichnen kann.

Militarisierung der deutschen Außenpolitik

Der Trend zur Militarisierung der deutschen Außenpolitik ist unverkennbar (und mit dem Schäuble-Vorstoß vom Jahresende 1993, der auf die Zuweisung zusätzlicher Aufgaben für die Bundeswehr im Inneren abzielt, ist darüber hinaus die Perspektive einer Militarisierung auch der Innenpolitik eröffnet). Zwar ist die BRD in den letzten Jahrzehnten recht erfolgreich gewesen mit einer Politik der nicht militärisch, sondern vor allem wirtschaftlich abgestützten Einflußnahme und Interessendurchsetzung (was ihr im Vergleich zu den USA oder den alten europäischen Kolonialmächten Frankreich und Großbritannien den Ruf einer »zivilen« Macht beschert hat). Und auch künftig wird Deutschland wohl überwiegend weiter so verfahren wollen. Doch derart weitgehende militärische Zurückhaltung wie bisher scheint nicht mehr angemessen. In die kommenden Auseinandersetzungen um die Machtverteilung in der neuen Welt(un)ordnung nach dem Ende des Ost-West-Konflikts will herrschende deutsche Politik ohne die alten militärischen (Selbst-)Beschränkungen hineingehen. In der Konkurrenz innerhalb Westeuropas um Rang, Einfluß und Positionen in der neuen Großmacht »Europäische Union« wären diese Beschränkungen ebenso eine lästige Fessel wie in der Konkurrenz dieser Großmacht Westeuropa mit den USA und Japan im Weltmaßstab.

Im Rahmen einer Weltmilitärmacht Europäische Union sollen die deutschen Streitkräfte eine maßgebliche Rolle spielen. Daher zum einen die Bereitschaft der Bundesregierung zur »multinationalen« Einbindung deutscher »out-of-area«-Aktionen, und zum anderen die Forderung nach »Europafähigkeit«. Wer »ja« zur Europäischen Union sage, der müsse auch »ja« sagen zu einer gemeinsamen europäischen Sicherheits- und Militärpolitik inklusive »out-of-area«-Einsätzen.

Bei der Verfolgung dieses machtpolitischen Kurses befindet sich die Bundesregierung in der komfortablen Lage, die eigenen Ansprüche hinter den Anforderungen der Anderen, der »Freunde und Partner« verbergen zu können. Denn diese rufen ja in der letzten Zeit immer wieder danach, daß die Deutschen endlich mehr »Verantwortung« in der Weltpolitik übernehmen sollten – wobei unter »Verantwortung« vornehmlich militärische Interventionsbereitschaft verstanden wird.

Umrüstung statt Abrüstung bei der Bundeswehr

Der Bundeswehr hilft diese Entwicklung aus der Akzeptanz- und Legitimationskrise heraus, in die sie nach dem Ende des Ost-West-Konflikts geraten war. Hatte sie früher ihre Daseinsberechtigung wesentlich aus der »Bedrohung aus dem Osten« gezogen, so mußten nach dem offensichtlichen Wegfall dieser Bedrohung neue Rechtfertigungen für ihren Erhalt gefunden werden. Hier traten angebliche neue »Bedrohungen aus dem Süden« auf den Plan: islamischer Fundamentalismus, Terrorismus, Süd-Nord-Migration, »verrückte Diktatoren«. Der Bundeswehr-Generalinspekteur Naumann liebt es, in diesem Zusammenhang vom „Krisenbogen von Marokko zum Indischen Ozean“ zu sprechen (so zuletzt in seiner Rede auf der 34. Kommandeurtagung der Bundeswehr am 5.10.1993 in Mainz). Und hier trat die Anforderung auf den Plan, in diversen Krisen- und Kriegsgebieten der Welt gemeinsam mit anderen Staaten militärisch »humanitär« zu intervenieren und »Frieden zu stiften« (oder zu »schaffen«, »herzustellen«, »erhalten«, »erzwingen« usw.).

Mit dieser neuen Aufgabenbestimmung liegen die deutschen Streitkräfte voll im NATO-Trend. Die NATO hat sich auf der Gipfelkonferenz ihrer Mitgliedstaaten im November 1991 ein „neues strategisches Konzept“ verpaßt, welches sie von der Fixierung auf den (abhanden gekommenen) Gegner im Osten befreit und ihr neue Betätigungsfelder in der Welt nach Ende der Ost-West-Konfrontation zuweist. Sie wendet sich seither angeblichen neuen Sicherheitsrisiken zu, die „ihrer Natur nach vielgestaltig (sind) und … aus vielen Richtungen“ kommen. Die NATO versteht sich seit Verabschiedung ihres neuen strategischen Konzepts im November 1991 als militärische Ordnungsmacht für Europa und die angrenzenden Regionen, auf ihren Frühjahrs- bzw. Herbsttagungen 1992 hat sie ihre Bereitschaft erklärt, der KSZE bzw. den UN bei Friedenserhaltung, -schaffung usw. beiseite zu stehen. Auf dem NATO-Gipfel im Januar 1994 ist die out-of-area-Orientierung mit Annahme des Dokuments MC 327 offiziell abgesegnet worden.

Zur Bewältigung dieser neuen Aufgaben müssen die NATO-Truppen im allgemeinen und die deutschen Streitkräfte im besonderen umorganisiert und umgerüstet werden. Hohe Mobilität und hohe Flexibilität sind die Schlagworte, die dabei die Richtung angeben. Deutsche Truppen sollen für vielfältige Eventualfälle in weit entfernten Regionen verwendbar sein. Es bedarf also mobiler Streitkräfte, die rasch an Krisenherde transportiert werden können. Die Bundeswehr bereitet sich auf „exterritoriale Einsätze“ oder – wie es in den Verteidigungspolitischen Richtlinien in schönstem Beamtendeutsch heißt: auf „politisches und militärisches Krisen- und Konfliktmanagement im erweiterten geographischen Umfeld“ vor. Dazu wird die Bundeswehr zur Zeit umgerüstet (statt abgerüstet). Das geht von der Ausstattung des einzelnen Soldaten mit tropentauglicher Bekleidung bis zur Verbesserung der Lufttransportkapazitäten, um Truppen schnell über große Entfernungen verlegen zu können.

Mit den im Aufbau befindlichen Krisenreaktionskräften (KRK) der Bundeswehr schmiedet sich deutsche Politik das Instrument für Militärinterventionen – auch »out-of-area«. Verteidigungsminister Rühe auf der Kommandeurstagung der Bundeswehr im Oktober 1993 in Mainz: „Der Aufbau der Krisenreaktionskräfte hat Priorität … Schlüsselbedeutung haben Mobilität, Aufklärungs-, Führungs- und Transportfähigkeit.“ Die KRK – die Rede ist von mindestens 40.000, eher 80.000 Mann – sollen sich sowohl an Aktionen der Schnellen Eingreiftruppen der NATO (Rapid Reaction Forces) oder »out-of-area« – Abenteuern der WEU als auch an UN-Einsätzen (seien das nun »friedenserhaltende« Blauhelm- oder »friedenschaffende« Kampfeinsätze oder ein Mittelding) beteiligen können. Dabei ist der Anteil der für klassische Blauhelm-Einsätze vorgesehenen Einheiten nur gering: 2-4 Bataillone, insgesamt rund 2000 Mann. Das Schwergewicht liegt auf jenen schwerbewaffneten hochbeweglichen KRK, die für Blauhelm-Einsätze nicht, sehr wohl aber für Militärinterventionen geeignet sind.

Das heißt: Schon vor der verfassungsmäßigen Klärung werden vom Militär im Bereich Rüstung und Streitkräftestrukturen Fakten geschaffen.

Es geht um Weichenstellung

Etablierte Politik setzt gegenwärtig alles daran, die Weichen in die falsche Richtung zu stellen: Statt Abrüstung Umrüstung, statt Selbstbeschränkung »Ausgreifen in die Weltpolitik«, statt Entfaltung ziviler Konfliktbearbeitungsmöglichkeiten Vorbereitung auf militärische Konfliktlösung. Wo doch offensichtlich ist, daß die wirklichen Probleme des Friedens, der Umwelt und der Überwindung von Armut militärisch nicht gelöst werden können.

Die Friedensbewegung und mit ihr ein großer Teil der deutschen Gesellschaft setzen auf die Entwicklung ziviler, nicht-militärischer Konfliktbearbeitung, in der es um Vorbeugung und die Lösung der großen Menschheitsprobleme im konkret einzelnen Fall geht. Nur wenn wir uns den Aufgaben der Zeit stellen, sie nicht länger militärisch abschotten und verschieben, haben wir eine Chance, mit ihnen fertig zu werden. Diese Weichenstellung vollzieht sich nicht durch einen großen einmaligen Akt, sondern über viele Schritte: Helfen wir Flüchtlingen und Asylsuchenden oder machen wir die Grenzen dicht? Reagieren wir auf Konflikte wie in Bosnien oder Somalia mit Waffengewalt oder durch humanitäre Hilfe und positive Sanktionen, was heißt: Verständigung, Aufbau einer menschenrechtlichen Politik werden politisch und wirtschaftlich unterstützt, Kriegstreiberei wird durch Boykott und Embargo beantwortet? Entscheiden wir uns für Demokratisierungs- oder Entdemokratisierungstendenzen in der EG-Integration? Richten wir unsere Gesellschaft und unser Leben weiterhin auf die Spaltungen der Gesellschaften in arm und reich aus oder entscheiden wir uns für eine solidarische Welt?

Die Friedensbewegung ist zur Zeit dabei, ihre Orientierung und ihre neuen Aufgaben nach dem Ende des Ost-West-Konflikts auszuarbeiten. Dabei besteht große Übereinstimmung, die Durchsetzung von Menschenrechten und die Bewältigung der großen sozialen, ökologischen und wirtschaftlichen Probleme durch Strategien der zivilen Konfliktbearbeitung anzugehen. Gleichzeitig wird die Friedensbewegung daran arbeiten, die Möglichkeiten grenzüberschreitender Friedensarbeit auszubauen und einen europäischen Kooperationsrahmen dafür zu schaffen. Dabei wird davon ausgegangen, daß die angewandten Mittel der Konfliktbewältigung in hohem Maße die erreichbaren Ziele bestimmen und daß die Tendenz zu anhaltender Militarisierung der Weltpolitik nur beendet werden kann, wenn alternative Formen der Konfliktbearbeitung eingeführt werden. In der Friedensbewegung werden dementsprechend gegenwärtig drei große Aufgabenfelder gesehen: 1. Für Abrüstung einzutreten mit dem Ziel einer Bundesrepublik ohne Armee; 2. Die Entfaltung ziviler Konfliktbearbeitung voranzutreiben; 3. Möglichkeiten grenzüberschreitender Friedensarbeit zu entwickeln.

Ausweitung des Operationsgebiets der Bundeswehr »out-of-area« und Entwicklung einer militärinterventionistischen Politik einerseits oder beharrliche Arbeit für die Entmilitarisierung und Zivilisierung der eigenen Gesellschaft sowie für zivile Konfliktbearbeitungsformen international – das ist zugleich eine Entscheidung der Weichenstellung für unsere Zukunft und für die nachfolgender Generationen.

Volker Böge ist Historiker und arbeitet an der Forschungsstelle Kriege, Rüstung und Entwicklung in einem internationalen Forschungsprojekt über Ökologie und Konflikt (ENCOP).

Kontroverse: Die Wehrpflicht ist überholt

Kontroverse: Die Wehrpflicht ist überholt

von Ingrid Anker • Jürgen Kuhlmann

Seit der Ost-West-Konflikt zusammengebrochen ist, macht die allgemeine Wehrpflicht in Deutschland militärisch, ökonomisch und politisch kaum noch einen Sinn. Sie sollte abgeschafft, zumindest aber ausgesetzt werden.
Massenarmeen alten Zuschnitts – auf zwangsverpflichete junge Männer angewiesen, um ihre Mannschaftsstärke zu halten – sind heute militärisch sinnlos. Die in Zukunft anstehenden militärischen Aufgaben können sie nicht mehr leisten. Die verbleibende geringe militärische »Grundsicherung« des NATO Territoriums, zukünftige Verifikationsaufgaben in Abrüstungsprozessen ebenso wie friedensüberwachende UN Einsätze – wenn sie denn verfassungrechtlich endgültig zugelassen würden – fordern einen spezialisierten und professionell ausgebildeten Soldaten.

Angelernte Dilletanten

Der Wehrdienstleistende ist dies noch nie gewesen, wird es in Zukunft auch nicht sein können. Schon im Jahre 1973 (damals gab es noch den W-18) rechnete die Wehrstrukturkommission der Bundesregierung vor, daß zwölf Monate Wehrdienst 75% der für Wehrpflichtige bereitgehaltenen Dienstposten unzureichend, das heißt mit angelernten Dilletanten besetzen würden. Die seitdem eingetretene und auch heute immer noch zunehmende Technisierung des Militärs wird die Anforderungen an den einsatzfähigen Soldaten weiter steigern. Und eine Verlängerung des Wehrdienstes wird sich politisch nicht durchsetzen lassen – eher muß man mit noch kürzeren Zeiten rechnen, wie dies jetzt schon in Frankreich, Spanien, gar in Österreich der Fall ist.

Die Schere zwischen Anforderungen und verfügbarer Ausbildungszeit wird sich mithin weiter öffnen. Ohnehin gilt bereits heute, daß die dem öffentlichen Dienst vergleichbare Regelarbeitswoche der Soldaten die tatsächliche Präsenz der Soldaten verringert. Sogenannter Dienst zu ungünstigen Zeiten, im Manöver, auf See etc. wird mit 100% Freizeit ausgeglichen (ein Tag Dienst=ein Tag frei). Der ebenfalls zulässige finanzielle Ausgleich ist – zumindest für Wehrdienstleistende – unattraktiv und kann zudem wegen leerer Kassen kaum noch gezahlt werden.

Der Wehrpflichtige in der Bundeswehr ist zunehmend »marginalisiert«: als billige Arbeitskraft macht er die »monkey jobs«. Er geht die – weitgehend zum inhaltlosen Ritual erstarrte – militärische Wache; dient als Cheffahrer, weil der Chef sein Dienstfahrzeug nicht selbst fahren soll, obwohl er einen Bundeswehrführerschein besitzt; putzt und reinigt die Unterkünfte; wartet das Gerät; bedient in der Messe, im Unteroffiziers- und Offiziersheim, weil ohne seine wohlfeilen Dienste »standesgemäßes« Leben im Offiziers- und Unteroffizierskorps nicht erschwinglich wäre. Ein Großteil dieser Aufgaben würde entfallen, die verbleibenden effektiver organisiert, müßte man anstatt preiswerter Wehrdiensleistender voll bezahlte manpower einsetzen.

Das Problem der Wehrgerechtigkeit

In einer Bundeswehr, die von der Bonner Hardthöhe ab 1995 immer noch mit einer Personalstärke von stolzen 370.000 Soldaten geplant ist – wider besseren Wissens um die zukünftigen finanziellen Möglichkeiten im Bundeshaushalt –, sind nur noch höchstens 100.000 Dienstposten auszumachen, in denen Wehrpflichtige untergebracht werden können. Wehrdienstleistende werden sich in Einheiten der Infanterie, der Pioniere, der Transport- und Sanitätseinheiten wiederfinden, eben dort, wo es die typischen »monkey jobs« gibt. Jahr für Jahr sollen jedoch ab 1995 rund 150.000 junge Männer zum Wehrdienst heranstehen. Das Problem der Wehrgerechtigkeit – ohnehin nur auf den männlichen Teil unserer Gesellschaft definiert – wird sich weiter verschärfen.

Die Wehrpflicht ist nicht mehr bezahlbar

Spätestens nach den Wahlen des Jahres 1994 wird Minister Rühe – wenn er dann noch in diesem Amt sein sollte – dann aber auch öffentlich zugeben müssen, was die Spatzen auf der Hardthöhe jetzt schon von den Dächern pfeifen: bezahlbar sind nur erheblich weniger als 370.000 Soldaten. Es spielt dann keine Rolle mehr, ob es letztendlich 250.000 oder 200.000 Mann (und Frauen ?) sein werden – die Wehrpflicht wird fallen. Die jetzt schon eingeschränkten Verwendungsmöglichkeiten der »Bundis« werden in derartigen Streitkräften dann vollends schwinden. Daß Minister Rühe im Somaliaverband der Bundeswehr auf mehr freiwillige Wehrpflichtige zurückgreifen könnte, als die Truppe dort wirklich einsetzen will – tatsächlich sind nur 24 (!) Wehrdienstleistende vor Ort – , bedeutet keinen Widerspruch. Das – steuerfreie – Salär für einen sechsmonatigen Einsatz beläuft sich auf rund 55.000 DM. Dies hat sich in der Truppe herumgesprochen und motiviert nicht nur Wehrdienstleistende.

Das immer wieder ins Feld geführte Argument, eine Wehrpflichtarmee sei billiger als eine Freiwilligenarmee, mag für Massenarmeen gegolten haben, trifft den ökonomischen Kern reduzierter und effektiv organisierter Streitkräfte der Zukunft aber nicht. Freiwillige Mannschaftsdienstgrade (und nur um diese geht es hier) sind besser motiviert, haben längere Stehzeiten in ihren Verwendungen und können deshalb besser ausgebildet werden. Für die Bundeswehr schafft ein Freiwilliger so gut wie zwei Wehrpflichtige. Ein Freiwilliger belastet die Staatskasse mit etwa 34.000 DM jährlich, zwei Wehrpflichtige bringen es zusammen immerhin auf 48.000 DM – jeweils alle Nebenkosten eingerechnet.

Zudem produziert die Wehrpflicht weitere Kosten: Wehrerfassung und -überwachung, ständig neu zu beginnende Ausbildungsprozesse, die Administration der Kriegsdienstverweigerer und der Zivildienstleistenden verschlingen Milliardensummen – im Verteidigungsbudget und in dem der Bundesministerin für Frauen, Jugend und Familie. Nicht in Mark und Pfennig erscheinen in den Budgets all jene volkswirtschaftlichen Opportunitätskosten, die der Wehrpflichtige und die Gesamtwirtschaft zusätzlich zu tragen haben: Einkommensverlust, Zeitverlust, ökonomische Fehlallokationen, weil der Wehrsold – nicht marktgerecht – staatlich festgelegt ist. Daß Wehrdienstleistende an der Erwirtschaftung des Sozialprodukts nur begrenzt teilnehmen können, mag nebensächlich erscheinen, ist angesichts leerer Staatskassen aber nicht zu vernachlässigen: Wer nicht verdient, zahlt auch keine Steuern.

Zivildienstleistende als Billiganbieter

Jene segensreichen Dienste, die Kriegsdienstverweigerer als Zivildienstleistende den hilfs- und pflegebedürftigen Menschen bringen, sind gewiß kein Argument gegen die Wehrpflicht. Immerhin 130.000 entscheiden sich gegenwärtig Jahr für Jahr für diese Alternative, „weil es besser ist Menschen zu helfen, als sie zu töten“ (O-Ton eines Zivi im Jahr 1993). Jedoch hindert das praktizierte Zivildienstsystem die Entwicklung einer leistungsfähigen staatlichen Pflege- und Betreuungswohlfahrt mehr, als es sie fördert. Weil Zivis billige Arbeitskräfte sind (sie werden bezahlt wie Wehrdienstleistende), kann die vorhandene Nachfrage nach Pflege- und Betreuungsleistungen auf dem Markt kaum akzeptable Preise, das heißt Einkommen für die Pflegekräfte bewirken: die Konkurrenz des Billiganbieters »Zivi« ist zu groß. Der ursprünglich positive Nebeneffekt der Wehrpflicht kehrt sich so ins Gegenteil.

Mit der Wehrpflicht würde auch der Zivildienst entfallen – und es bestünde eine reelle Chance, Pflege- und Betreuungsdienste von professionell arbeitenden und marktgerecht bezahlten Kräften erbringen lassen zu können. Was man beim Wehr- und Zivildienst einsparte, wäre sinnvoll hier zu verwenden – insgesamt etwa sechs Milliarden DM jährlich, einschließlich der etwa zwei Millarden DM, die die Wohlfahrtsverbände als Träger der Zivildienststellen immer noch jährlich aus den Zivis an Reingewinn herausholen.

Wehrpflicht und Demokratie

Bereits die Wehrstrukturkommission im Jahre 1973 hat ebenso wie die sogenannte Jacobsen-Kommission der derzeitigen Bundesregierung im Jahre 1991 wohlfeilen Argumenten eine Absage erteilt, wonach die Wehrpflicht das legitime Kind der Demokratie sei und eine Freiwilligenarmee dazu neige, sich ähnlich dem 100.000-Mann-Heer der Weimarer Reichswehr zu einem Staate im Staate zu entwickeln. Gleichwohl haben beide Argumente eine zähe Überlebensfähigkeit gezeigt – kaum ein Disput, welch politischer Coleur auch immer, in dem sie nicht fröhliche Urständ feierten.

Wer jedoch meint, nur die Wehrpflicht stünde einer Demokratie als Wehrform gut zu Gesicht, möge seinen Blick nach den USA, nach Kanada und Großbritannien und demnächt auf die Niederlande und auf Belgien richten: Sie haben Berufsarmeen bzw. werden sie demnächst einrichten. Wer meint, Wehrpflicht könne Demokratie fördern, erinnere sich an die Wehrpflicht unter Hitler und Honecker in Deutschland, unter Stalin in der UdSSR, unter Pinochet in Chile.

Die Offiziere der Reichswehr, im wilhelminischen Kastengeist erzogen, dienten der ihnen verhaßten Demokratie unwillig, gewiß! Zum Staat im Staate entwickelte sich die Reichswehr aber nicht, weil sie aus Freiwilligen bestand, sondern weil das Offiziershandwerk eben jenen Junkern besonders attraktiv erschien. Hier eine Analogie zu einer Freiwilligen-Bundeswehr ziehen zu wollen, hieße die Wirksamkeit der politischen Kontrolle über die Bundeswehr etwa im Verteidigungs- und Haushaltsausschuß, in der Person des Wehrbeauftragten und im Primat der Politik über das Militär verkennen. Die Zeit- und Berufssoldaten der Bundeswehr mögen politisch eher rechts orientiert sein (47% der Offiziere bekennen sich dazu). Ihre politischen Orientierungen spiegeln jedoch insofern pluralistische gesellschaftliche Realität wider, als sie in ihrer Person den Austausch von Werten, Meinungen und Anschauungen zwischen der Gesellschaft und der Bundeswehr leisten – intensiver und länger, als es Wehrdienstleistende können. Käme eine Freiwilligen-Bundeswehr als Staat im Staate zustande, hätte sich zuvörderst die Politik vorhalten zu lassen, ihre Kontrollaufgabe unzureichend wahrgenommen zu haben.

Offiziere der Bundeswehr halten – abschließend bemerkt – nicht an der Wehrpflicht fest, weil sie anderenfalls einen Staat im Staat fürchten. Sie befürchten vielmehr, die Gesellschaft könne sich noch mehr von den Soldaten entfernen, als dies jetzt schon der Fall ist. Die Wehrpflicht wird daher instrumentalisiert: Man will nicht zu »Türken« für die Verteidigung werden, „so wie man sich ja der Ausländer für andere ungeliebte Aufgaben, etwa der Müllbeseitigung, bedient“ (O-Ton eines Bataillonskommandeurs, 1990).

Dr. Ingrid Anker und Dr. Jürgen Kuhlmann, Sozialwissenschaftliches Institut der Bundeswehr, 80799 München, Winzererstraße 52.

Kontroverse: Die Wehrpflicht als kleineres Übel

Kontroverse: Die Wehrpflicht als kleineres Übel

von Ottfried Nassauer

Eine öffentliche politische Debatte über das »Ende der Wehrpflicht« ist auf mittlere Sicht unausweichlich. Mit dem Ende des Kalten Krieges, der Umstrukturierung und Verkleinerung der Bundeswehr und den veränderten Haushaltsrealitäten des wiedervereinigten Deutschland sind Rahmenbedingungen vorgegeben, unter denen nicht länger allein Pazifisten und Anarchisten, sondern nun gerade auch Konservative und Militärs, die aus den vorhersehbar geringeren verfügbaren Ressourcen das Beste machen, das Ende der Wehrpflicht fordern. Mit den unvermeidlichen weiteren Reduzierungen, die der Bundeswehr aus finanziellen Gründen ins Haus stehen, ist mit einer weiteren Stärkung der Gruppe der Wehrpflichtgegner auch in der Bundeswehr zu rechnen.

Massenarmeen mit der Aufgabenstellung »Heimatverteidigung« lassen sich nur noch schwer gegenüber wachsenden Teilen der Öffentlichkeit verkaufen. Deshalb wird nun das Militär verstärkt mittels der Argumentationsfiguren »Streitkräfte als integraler Bestandteil der Staatsräson«, als »legitimes Mittel staatlicher Außenpolitik« und als »militärische Rückversicherung gegen vielfältige, unvorhersehbare Risiken« sowie »als Mittel zur Wiederherstellung des Völkerrechts« legitimiert. Längst ist die Debatte über Wehrpflicht damit Bestandteil und Argumentationsmittel in der Diskussion über eine Neulegitimation von Streitkräften und deren künftige Aufgaben geworden.

Während die Enttabuisierung der Diskussion über die Wehrpflicht zu begrüßen ist, soll einer sofortigen Abschaffung derselben in diesem Beitrag widersprochen werden. Die verbleibende Zeit muß genutzt werden, um dafür zu sorgen, daß mit der Abschaffung der Wehrpflicht nicht zugleich alternative Modelle der Bundeswehrpersonalbeschaffung implementiert werden, deren Nachteile oder Auswirkungen politisch gravierender negativ ins Gewicht fallen als beim heutigen Wehrpflicht-Modell.

Anders gesagt: Wer heute aus pazifistischen oder antimilitaristischen Gründen die sofortige Abschaffung der Wehrpflicht fordert, vertritt zwar eine moralisch ehrenwerte Position, könnte aber unter realpolitischen Gesichtspunkten möglicherweise einen taktischen Fehler mit ungewollten friedenspolitisch negativen Konsequenzen begehen.

Legitimationsmuster

Viele der für die Wehrpflicht in den vergangenen Tagen zur Genüge ins »Feld« geführten Argumente klingen angesichts der Fakten eher lächerlich: Die Wehrpflicht-Bundeswehr war, ist und wird nicht ein »Spiegelbild unserer Gesellschaft« sein; die Wehrpflicht war, ist und wird auch nicht »Garant der demokratischen Haltung der Streitkräfte« sein können. »Wehrgerechtigkeit« war über große Teile auch in der bundesrepublikanischen Geschichte eher Anspruch denn Wirklichkeit. Das alles sind und bleiben Ammenmärchen mit vor allem legitimatorischem Charakter. Bewaffnete Formationen können vermutlich schon aufgrund der ihnen eigenen Organisationsform solche Funktionen nicht oder nur für kurze Übergangszeiten erfüllen. Auf Dauer aber wirken sie gegenüber emanizapatorischen und demokratischen Zielen u.a. aufgrund ihres hierarchischen, auf Befehl und Gehorsam basierenden Charakters sicher kontraproduktiv.

In diesem Beitrag geht es nicht darum, die Wehrpflicht neu positiv zu begründen, sondern darum, daß es zur Zeit noch klüger sein könnte, begrenzt an der Wehrpflicht festzuhalten, manche Vorteile der Wehrpflicht gegenüber dem Modell einer Berufarmee noch einmal zu betonen und dafür Sorge zu tragen, daß mit Berufsarmeestrukturen möglicherweise verbundene Nachteile nicht zum Tragen kommen. Anders formuliert: Es gilt, einige Standards zu sichern, die bei jeder künftigen Militärstruktur in der Bundesrepublik nicht unterschritten werden sollten.

Vor einiger Zeit sprach ich mit einem Offizier, einem Berufssoldat, Kommandeur einer Einheit, die als Bestandteil der »Krisenreaktionskräfte« der Bundeswehr benannt wurde und zu jenen gehört, die auch bei Kampfeinsätzen der Bundeswehr mit eingesetzt werden könnten. Er wußte von vier Erfahrungen zu berichten: Erstens: Zum Dienst in seiner Einheit habe er weit mehr Freiwillige, als Planstellen. Zweitens gebe es eine deutlich wachsende Zahl von Freiwilligen, mit politisch rechter, wenn nicht rechtsextremer Grundeinstellung. Drittens wisse er immer weniger Mittel, um im Rahmen der »inneren Führung« solchen Tendenzen wirklich wirksam entgegenzutreten, und viertens beobachte er, wie immer mehr gerade liberale Offizierskollegen von den Möglichkeiten des frühzeitigen, finanziell vergoldeten Ausscheidens aus der Bundeswehr Gebrauch machen würden. Ein direkter Zusammenhäng zwischen den einzelnen Beobachtungen wurde bejaht.

Im folgenden möchte ich diese Beobachtungen als Folie benutzen, auf deren Hintergrund einige Argumente verdeutlicht werden können.

Das soziale untere Drittel wird in den Krieg geschickt

Erstens: Der Ruf nach professionellen Streitkräften wird von konservativer Seite oft damit begründet, daß nur Zeit- und Berufssoldaten für Einsätze im Rahmen der Krisenreaktionskräfte wirklich geeignet seien. Sicher ist unter militärischen Funktions- und Effektivitätsgesichtspunkten Wahres an dieser Argumentation. Die erforderliche öffentliche Diskussion über die künftigen Aufgaben der Bundeswehr – wäre die Bundeswehr eine reine Berufsarmee – würde vermutlich auf noch geringeres öffentliches Interesse stoßen.

Der Zeitpunkt der von den Konservativen eröffneten Debatte um die Abschaffung der Wehrpflicht ist nicht zufällig gewählt; denn zur gleichen Zeit schickt sich unsere Gesellschaft an, ihre Kinder zur »Verteidigung« ihrer Wohlstandsinteressen und ihres Lebenstandards (»Friedensunterstützenden Maßnahmen« genannt) in Krisen- und Kriegsgebiete auf der südlichen Hälfte und im nordöstlichen Viertel unseres Globus' zu schicken, wo sie u.U. ihr Leben lassen müssen. Hier würde es sich aber mit der Aufhebung der Wehrpflicht nicht mehr um jedermans Kinder handeln, sondern nur um jene, die finanzielle oder andere Gründe haben, sich »freiwillig« zu melden. Das Modell »Berufsarmee« impliziert, daß unsere reichen Gesellschaften einen Teil ihres »unteren« Drittels, daß sie nicht länger ernähren wollen oder können, aussenden, um die eigenen priviliegierten Lebensbedingungen »notfalls« gewaltsam perpetuieren zu können.

Alle Modelle, die den Personalbedarf der Bundeswehr ohne Wehrpflicht decken wollen, müssen explizit sicherstellen können, daß die Bundeswehr weder zur deutschen Version einer Fremdenlegion noch zu einem Auffangbecken für sozial schwächere Schichten unserer Gesellschaft wird. Nur dann kann gesellschaftliches Interesse an Aufgabe und Einsätzen der Bundeswehr erhalten werden, nur dann kann das Instrument Bundeswehr auch öffentlicher Diskussion und damit Kontrolle unterworfen bleiben. Diese Gefahren scheinen mir in der gegenwärtigen Diskussion nicht gebannt.

Zweitens: Sicher war und ist die Bundeswehr kein Ort »demokratischer« Weiterbildung. Die Bundeswehr ist nicht pluralistisch genug und zu sehr Spiegelbild der konservativen Hälfte bundesdeutscher Gesellschaft. Ganz sicher aber lohnt es, die Frage nach der Rolle der Bundeswehr für die Demokratie umgekehrt aufzuwerfen: Leistet man durch die Abschaffung der Wehrpflicht einer bereits vorhandenen Tendenz Vorschub, in deren Kontext die Bundeswehr Hort »antidemokratischer« Wertvorstellungen werden könnte? Es dürfte schwer sein, zu beweisen, daß eine Bundeswehr ohne Wehrpflicht nicht undemokratischer sein würde, als eine Bundeswehr mit derselben. Einer Entwicklung Vorschub zu leisten, in der diese Bundeswehr weiter entzivilisiert wird, in der ihr durch Entzug der Wehrpflichtigen die Begegnung mit der Realität der zivilen Gesellschaft Bundesrepublik weitgehend erspart wird, die vorrangig den rechten Rand des Gesellschaftssystems Bundesrepublik und dessen Wertvorstellungen spiegelt, ist kaum sinnvoll. Die heutige Bundeswehr gibt keinen Anlaß, sie als Hort von Rechtsradikalismus zu diffamieren; sie gibt aber auch keinen Anlaß zu unterschlagen, daß sie auf Rechtsradikale eine hohe Attraktivität ausübt. Schon Letzteres müßte als Warnung genügen, eine Freiwilligen- wie Berufsbundeswehr erst dann anzudenken, wenn gesichert dafür gesorgt worden ist, daß politischen Rechtstendenzen vorgebeugt und dem Ausbau politischen Pluralismus innerhalb der Streitkräfte erheblich mehr Aufmerksamkeit gewidmet wird.

Drittens: Viele – gerade liberal oder technokratisch orientierte Befürworter – machen die Forderung nach Abschaffung der Wehrpflicht zu einem Bestandteil einer wie auch immer bezeichneten großen Bundeswehr-Reform. Sie sehen hier eine Chance, auf der Personalseite endlich jenen Strukturkonservativismus aufzubrechen, der seit dem Ende des Kalten Krieges versucht, die Abrüstung von Personal, Material und Infrastruktur der Bundeswehr zu begrenzen. Intendiert wird von diesen Befürwortern eine Bundeswehr, die deutlich kleiner, der sicherheitspolitischen Lage angepaßter und »leaner but meaner« ist. Je nach Position werden Gesamtstärken zwischen 280.000 und knapp 200.000 Soldaten für die Zukunft für hinreichend gehalten. Nach einem tiefen Einschnitt – so die Auffassung – gebe es dann neue Planungsspielräume für die mittel- und längerfristige Zukunft.

Auch dieser Argumentation sind gewichtige Fragen entgegenzuhalten: Wer über eine kontinuierliche abrüstungs- und demokratieverträgliche Variante radikaler Bundeswehrreform nachdenkt, sollte m.E. nicht bei der Frage nach Wehrpflicht- oder Berufsarmee beginnen. Er sollte – genau umgekehrt – bei der Infragestellung der Stellung und Rolle des Berufsoffizierkorps anfangen. Hier liegt ein wesentliches Hindernis für flexible Umstrukturierungen der Bundeswehr. Dies hat sich in den vergangenen Jahren mehrfach gezeigt. Ob »Goldener Handschlag« oder »Personalstrukturgesetz«: Der politischen Lage angepaßte Reduzierungen der Bundeswehr wurden – auch wegen der damit verbundenen kurzfristigen Kosten – immer nur strukturkonservativ in der kleinstmöglichen Variante und überproportional zu Lasten der Wehrpflichtigen und Zeitsoldaten realisiert. Eine reine Berufsarmee ist im Blick auf künftige weitergehende Reduzierungen tendentiell abrüstungsunfreundlicher und inflexibler als eine gemischte Struktur aus Berufs-, Zeit- und Wehrpflichtsoldaten. Hier unterscheidet sich die Bundeswehr – was selten beachtet wird – von den oft zum Vergleich herangezogenen Streitkräften der USA oder Großbritanniens. Die Tatsache, daß in Deutschland alle mittleren und höheren Offiziersränge der Bundeswehr gleich zweifach – da auch unkündbare Beamte – in die Privilegienstruktur des Staatsapparates der Bundesrepublik eingebunden sind, hat sich für eine an den sicherheitspolitischen Wandlungen angepaßte Personal(abbau)politik der Bundeswehr als weit hinderlicher erwiesen, als die Frage, ob die Bundeswehr als Wehrpflicht- oder als Berufsarmee strukturiert ist.

Die Lösung dieses Problems bedarf gründlicher Vorbereitung: Bestünde die Bundeswehr künftig allein aus einer Mischung von zeitlich gestaffelt strukturierten Freiwilligengruppen mit einem deutlichen Schwerpunkt bei kurzzeitigen Verpflichtungen und einer Obergrenze bei der Verpflichtungsdauer von 15 Jahren (bedarfs- und qualifikationsorientiert für höhere Dienstränge verlängerbar) und würde es sich bei diesen Verträgen um Bundesangestelltenverträge handeln, so wäre die Bundeswehrpersonalplanung erheblich flexibler und abrüstungsverträglicher.

In diesem Sinne gilt zur Zeit: Die Wehrpflicht ist – noch – das vielleicht kleinere Übel, sichert sie doch die erwähnten Standards zumindest derzeit besser als die Alternativmodelle.

Ottfried Nassauer ist Leiter des Berliner Informationszentrums für Transatlantische Sicherheit (BITS)

Streitkräfte – Fremde im eigenen Land

Streitkräfte – Fremde im eigenen Land

Glosse

Erich Schmidt-Eenboom

Auf brennende Fragen aus den fünf neuen Ländern weiß uns die Hardthöhe stets treffende Antwort. Im Februar 1993 zum Beispiel auf die, wie die vor der deutschen Einheit entlassenen Soldaten der NVA zu betrachten seien: Als „Gediente in fremden Streitkräften“. Ihren NVA-Dienstgrad mit a.D. oder d.R. dürfen die ehemaligen Besatzer Mitteldeutschlands nicht führen. Recht so, Herr Rühe!

Wenn schon im eigensten Dienstbereich die Wehrgerichte Gesetzesbrechern Rang und Rente verweigern dürfen, dann muß wohl erst recht das scheindeutsche Überfallkommando Moskaus in dieser Weise entmilitarisiert werden. Daß die NATO-Streitkräfte in Westdeutschland so abschreckend sein mußten, war doch unbestritten Fremdverschulden dieser Diener der Roten Armee!

Erleichtert haben die alten Träger deutschen Soldatentums die Arbeitsunterlage Nr. 51 aus dem Verteidigungsministerium aufgenommen. Offiziere und Obergefreite a.D. der Wehrmacht, die ihre Tapferkeit vor Warschau oder El Alamein bewiesen, müssen nun im Protokoll nicht mehr hinter Potsdamer Arbeiter-und-Bauern-Generalen rangieren.

Was sollten unsere Söhne – ohne Rühes Sichelschnitt – auf Friedensmission zwischen Casablanca und Kasachstan wohl fühlen, wenn in den Traditionskellern ihrer Garnison ein Generalmajor Goldbach a.D. neben Reichsmarschall Göring würde hängen können? Wer sonst schützte unsere Töchter vor Heiratsschwindlern aus Halberstadt, die straffrei ihren Vater als echten General ausgäben?

Federfuchser mögen bedauern, daß Laien möglicherweise „Gediente in fremden Streitkräften“ mit den deutschen Helden in der Fremdenlegion verwechseln, die oft in tätiger Reue für ihre nicht ganz kavaliersmäßigen Delikte weltweit das französische Vaterland verteidigen. Hier gilt es, darauf hinzuweisen, daß die Sergeants aus Singen oder Solingen bei Manövern in der Heimat Gott sei Dank Immunität genießen. Sind sie im Fahndungscomputer auch oft staatenlos, ehrlos sind sie nicht! Hoffen wir nur, daß sich – um Verwechslungen vorzubeugen – für die Ex-Söldner des Kreml die Abkürzung GIFSKE schneller einbürgert als Berlin Hauptstadt wird.

Linke Kritikaster mit ihrem kriegsgeschichtlichen Halbwissen bemühen bereits den hinkenden Vergleich, daß die Wehrmacht ab 1934 jüdischen Soldaten aus Kaiserheer und Reichswehr Pension und Portepee entzog. Aber solchen Rassismus kann man dem mutigen Minister an der Bundeswehrspitze wohl kaum vorwerfen. Der BMVg steht dafür gerade, daß niemand seiner Abstammung oder Heimat, seiner Herkunft oder politischen Anschauung wegen weitere Nachteile erleidet.

Noch wirft dieser kühne Vorstoß gegen die Fremdstaatler einzelne Probleme auf: Wie säubern wir die „Gesellschaft für Wehr- und Sicherheitspolitik e.V.“, deren Landesbereich Ost von Ex-NVAlern bereits überfremdet ist? Wie bewerten wir den GIFSKE-Oberst, der in Mischehe mit einer Pfarrersfrau aus Plauen zwei halbfremde Reichsbahnschaffner zeugte? Auch durch klarstellende Ergänzungen kann die Hardthöhe hier bei der Wiederherstellung gesamtdeutschen Berufsbeamtentums vorausmarschieren.

Und eigentlich könnte die ganze Nation durch die hohe Schule des (Englisch-) Lehrers Volker Rühe gehen. Noch hat der Nachfolger als Vordenker der Christdemokraten, Peter Hintze, dessen tiefen Einbruch in die Reihen des Gegners nicht erkannt. Zulange wohl war er Bundesbeauftragter für den Zivildienst. Schon in eigenem Interesse müßte der CDU-Generalsekretär Erich Honecker doch verbieten lassen, sich Generalsekretär a.D. zu nennen – selbst auf chilenisch.

Fürs ganze Volk könnte das Adenauer-Haus den Aufschwung Ost anfachen: Kann doch der arbeitslose Trabi-Bauer aus Zwickau sich nun auslandserfahren in Wolfsburg bewerben – mit 20jähriger Erfahrung in fremden Produktionsstätten. Abgewickelte Wissenschaftler aus den DDR-Universitäten könnten über den Deutschen Akademischen Austauschdienst als Gastdozenten wieder in die Hochschulen in Gera und Greifswald gelangen.

Gewiß können nicht alle gewinnen. Angela Merkel müßte als GIFPA (Gediente in fremden Parteien) noch lange ihrer goldenen CDU-Parteinadel harren und bei Lothar de Maizière, dem ersten Diener fremder Staaten, würde die Altersversorgung bröckeln. Mancher Bundesligaverein müßte womöglich DDR-Oberligaspieler wieder auf die Transferliste setzen, um nicht den vorgeschriebenen Ausländeranteil zu überschreiten. Aber, – und das haben selbst die beigetretenen Bürgerinnen und Bürger bereits begriffen – man kann nicht alles haben! Nicht einmal von Volker Rühe.

In Stahlgewittern läßt der Generalbundesanwalt gerade den Generalobersten a.D. des MfS, Markus Wolf, in Düsseldorf erzittern. Doch dieser hinterlistige Agenten-Multi führt ungerührt zu seiner Verteidigung an, er sei „Gedienter in fremden Geheimdiensten“, also schuldlos. Schon wieder holt er sich, was er braucht, aus einem Bonner Ministerium. Doch selbst in schlechter Verfassung will Karlsruhe siegen – mit entsprechendem Recht. Das hält die deutsche Zunge schon ewig bereit: Strafe muß sein! So oder so!