Von der kämpfenden Truppe zur zivilen Ordnungsmacht

Von der kämpfenden Truppe zur zivilen Ordnungsmacht

von Werner Dierlamm

Die deutsche Übersetzung der 1993 in London und New York veröffentlichten »History of Warfare« des britischen Militärhistorikers John Keegan nimmt Werner Dierlamm, Diskussionspartner unserer Pazifismusdebatte (Dierlamm 1995), zum Anlaß, sein zentrales, von seinem Kontrahenten (Fuchs 1996) vielleicht nicht hinreichend gewürdigtes Anliegen erneut zur Sprache zu bringen. Dieses Anliegen heißt: von einer pazifistischen Position aus im Gespräch bleiben bzw. ins Gespräch kommen mit dem Gegenüber; mit Staat, Militär und Kirche, mit der herrschenden Politik. Dierlamms Stellungnahme beinhaltet einen referierenden Teil und einen kritisch-kommentierenden. Wir veröffentlichen hier den kommentierenden Teil, redaktionell geringfügig überarbeitet, als weiteren Beitrag zur Pazifismusdebatte.

Die New York Times beurteilte John Keegans (1993) »A History of Warfare« als „die wohl bemerkenswerteste Darstellung der Kriegführung, die je geschrieben wurde“. Was immer man von solchen Urteilen halten mag, Keegan nimmt als Kenner der Materie zu zentralen Fragen, die Pazifisten heute bewegen, in einer Weise Stellung, die besondere Aufmerksamkeit verdient. Es sei versucht, die Bedeutung seiner Arbeit für die Friedensbewegung in Thesenform auf den Punkt zu bringen.

1. Zunächst werden wir durch Keegans Buch nachdrücklich daran erinnert, daß es Kriege gegeben hat, seit Geschichte aufgezeichnet wurde, d.h. seit 5.000 Jahren. Es ist also ein außerordentlich anspruchsvolles Vorhaben, wenn wir in unserer Zeit die »Institution des Krieges« überwinden wollen.

2. Bei aller Vielgestaltigkeit der Kriegführung sind nach Keegan zwei wichtige Unterscheidungen zu treffen: a) Mit dem Theologen Aurelius Augustinus (354-430) und dem Rechtsgelehrten Hugo Grotius (1583-1645) ist zwischen »gerechten« und »ungerechten« Kriegen zu unterscheiden. b) Ebenso deutlich ist zwischen Kriegen bei »Primitiven« oder bei den »Orientalen«, die durch verschiedene Faktoren wie Rituale und Überlebenswillen begrenzt werden, und dem »westlichen«, »modernen« und »absoluten« Krieg, der in der Logik von Clausewitz (1994) die totale Vernichtung des Gegners mit unbegrenzten Gewaltmitteln anstrebt (vgl. Erster und Zweiter Weltkrieg), zu unterscheiden.

3. Trotz dieser Differenzierungen ist John Keegan weit davon entfernt, den Krieg zu verherrlichen. Er wünscht sich, daß er abgeschafft wird, wie die Sklaverei abgeschafft wurde. Dieses deutliche Nein zur Institution des Krieges verbindet er mit einem klaren Ja zum „gut ausgebildeten und disziplinierten“ Soldaten. Seine Aufgabe sei es nicht, Vernichtungskriege zu führen, sondern Vernichtungskriege zu verhindern oder zu begrenzen. Keegan sieht in ihnen „Friedenserhalter und Friedensstifter der Zukunft“. Sie sollen daher „gerechterweise als Beschützer der Zivilisation und nicht als deren Feinde betrachtet werden“ (a.a.O., S. 553).

4. Die Position von John Keegan deckt sich m.E. mit dem Selbstverständnis der UNO, wie sie in der UN-Charta zum Ausdruck kommt. Die Vereinten Nationen wollen der Präambel zufolge „künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges bewahren“; der Sicherheitsrat kann aber auch „mit Luft-, See- oder Landstreitkräften die zur Wahrung oder Wiederherstellung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen durchführen“ (Art. 42 UN-Charta).

5. Die Schwäche dieser Position wird deutlich, wenn Keegan im Zweiten Golfkrieg gegen Saddam Hussein „den ersten Sieg der Ethik des gerechten Krieges“ sieht, „seit Grotius auf dem Höhepunkt des Dreißigjährigen Krieges dessen Prinzipien festgelegt hatte“ (a.a.O., S. 542). Zwar ist unbestreitbar, daß dieser Krieg auf seiten der Alliierten nicht mit dem totalen Vernichtungswillen der beiden Weltkriege geführt wurde – er war in wenigen Monaten beendet, und der fliehende Feind wurde auch nicht bis Bagdad verfolgt. Doch hat dieser Krieg mit seinen Folgelasten große Opfer unter der Zivilbevölkerung gefordert und die Gefahr, die von dem Diktator ausgeht, überhaupt nicht beseitigt. Sollte es zu einem abermaligen »Militärschlag« kommen, würden dadurch die Probleme des Nahen und Mittleren Ostens erst recht nicht gelöst, sondern noch weiter verschärft.

6. Trotz dieser notwendigen Kritik stellt die Position von John Keegan (und der UNO) eine Herausforderung für Pazifisten dar, in den Dialog mit den Soldaten einzutreten, die sich als »Friedenserhalter und Friedensstifter der Zukunft« verstehen. Dieses Selbstverständnis sollte nicht als Maskierung ironisiert, sondern beim Wort genommen werden. Das heißt aber, Antwort einfordern auf folgende Fragen, u.a.: Wie wollt ihr in Zukunft den Frieden erhalten und stiften? Wie wollt ihr die militärische Gewalt (im Sinne Keegans) begrenzen, wenn ihr sie grundsätzlich bejaht? Glaubt ihr, die B- und die C-Waffen aus der Welt schaffen zu können, wenn ihr an den A-Waffen festhaltet? Wie wollt ihr den Terrorismus überwinden, wenn Eure Fabriken massenhaft Gewehre und alle möglichen Kleinwaffen produzieren?

7. Auch wir Pazifisten wollen den Frieden erhalten und Frieden stiften. Wir schlagen vor, ein „Gesamtkonzept ziviler Konfliktbearbeitung als Perspektive für das 21 Jahrhundert in Theorie und Praxis zu entwickeln“ – wie es in dem Memorandum des Europäischen Friedenskongresses 1998 heißt. Diese Position gilt es auf allen politischen und gesellschaftlichen Ebenen zu vertreten und umzusetzen, auch und nicht zuletzt in Auseinandersetzung mit dem Militär.

8. Für Pazifisten, die das Christentum als friedenspolitische Kraft noch nicht abgeschrieben haben, mag von besonderem Interesse sein, daß John Keegan wiederholt die Ambivalenz der Christenheit – im Gegensatz zur Eindeutigkeit des Islam – in der Frage konstatiert, ob militärische Gewalt moralisch zulässig sei oder nicht: „Christen haben sich nie einhellig zu der Ansicht durchringen können, ein Mann des Krieges könne auch eine Mann des Glaubens sein.“ (a.a.O., S. 287). So notwendig die Diskussion mit dem Militär ist, so notwendig ist daher der Dialog mit den christlichen Kirchen. Von ihnen sollten (christliche) Pazifisten unermüdlich die Konsequenzen daraus einfordern, daß Christus – wiederum im Gegensatz zu Mohammed – sich nach allem, was wir darüber wissen, nicht als Krieger, sondern als »Fürst des Friedens« verstanden hat.

All das läuft darauf hinaus, mit Keegan und über Keegan hinaus, an das »Wunder« zu glauben, daß eine »Konversion« der Armee als kämpfende Truppe in eine zivile Ordnungsmacht möglich ist.

Literatur

Clausewitz, C.v. (1994): Vom Kriege, Frankfurt/M. (Original: Vom Kriege, Hinterlassenes Werk des Generals Carl von Clausewitz, Berlin, Dümmler, 1832).

Dierlamm, W. (1995): Gewalt für Frieden? „Eigentlich„ Schutzmacht für die Schwachen, Wissenschaft und Frieden, 13 (3), S. 45.

European Peace Congress Osnabrück ‘98 (1998): Für eine Friedenspolitik ohne Militär, Memorandum anläßlich »350 Jahre Westfälischer Friede«, Osnabrück.

Fuchs, A. (1996): Gewalt für Frieden? Skeptisch-utopischer Nachtrag zu Pfarrer Dierlamms und anderer Vertrauensbekundung gegenüber der Staatsgewalt, Wissenschaft und Frieden, 14 (4), S. 55-58.

Keegan, J. (1997): Die Kultur des Krieges, Reinbek (Original: A History of Warfare. London/New York, 1993).

Werner Dierlamm, Pfarrer i.R., ist Mitbegründer und langjähriger Vorsitzender von »Ohne Rüstung Leben«.

Neotraditionalismus in der Bundeswehr

Neotraditionalismus in der Bundeswehr

von Detlef Bald

Zwei Tage nach der Bundestagswahl vom 27.September teilte der scheidende Verteidigungsminister in einer Presseerklärung der Öffentlichkeit noch Personalveränderungen auf achtunddreißig „militärischen Spitzenstellen„ mit. Darunter Brigadegeneral Christian Millotat, bisher Stabsabteilungsleiter III im Führungsstab des Heeres im Bundesministerium der Verteidigung, jetzt – ab 01. Oktober 1998 – Direktor Bereich Lehre an der Führungsakademie der Bundeswehr, Hamburg. Mit ihm übernimmt ein Brigadegeneral Führungsaufgaben bei der Ausbildung junger Offiziere, dessen Arbeit über »Das preußisch-deutsche Generalstabssystem« nach Meinung unseres Autors „neotradionalistische und restaurative Tendenzen in der Bundewehr„ fördert.

Als Einzelfälle des Rechtsextremismus die Bundeswehr ins Gerede brachten und daher der innere Zustand der Armee näher betrachtet wurde, forderte der ehemalige Bundeskanzler und Verteidigungsminister Helmut Schmidt in der ZEIT im Dezember 1997 eine umfassende „Selbsterforschung“ der Bundeswehr. Die hatte es schon einmal gegeben.

In den ersten Jahren der sozialliberalen Koalition nach 1969 hatte Schmidt die Verhältnisse in der Bundeswehr von mehreren Kommissionen durchleuchten lassen. Dabei war es sowohl um Wehrstruktur und -funktion als auch um Ausbildung und Bildung gegangen. Die Reform erwies sich als dringend nötig, hatten doch die wichtigsten Repräsentanten der Gründer der Bundeswehr, die Generale Adolf Heusinger, Hans Speidel und Wolf Graf von Baudissin einmütig das Scheitern der grundlegenden Militärreform der Bonner Republik festgestellt. Das war im Jahr 1969. Die Bundeswehr war seit den Planungen 1950 in die Hände der »Traditionalisten« geraten, wie Gert Schmückle die restaurativen Tendenzen gegen die Reform bezeichnete und nun hoffte, daß es mit dem »Kommiß« endlich vorbei wäre.

Der innere Zustand der Bundeswehr entsprach damals keineswegs den Zielen der Inneren Führung; diese wurde von obersten Generalen offen abgelehnt und als »Maske«, die man nunmehr ablegen könne, diffamiert. Zustände die bereits die konservativen Minister auf der Hardthöhe Kai-Uwe von Hassel und Gerhard Schröder beunruhigt hatten, ohne daß diese das Steuer gegen die Traditionalisten herumwarfen. Erst Helmut Schmidt konfrontierte die Traditionalisten mit dem Primat der parlamentarischen Politik und forderte, daß die so gerne zitierten Ideale der Scharnhorstschen Reformen – im Begriff des »Staatsbürgers in Uniform« Vorbild für die Militärreform nach 1950 – endlich ernst genommen wurden.

Das Ergebnis der Reformen nach 1969 war weitreichend. Helmut Schmidt ergänzte den ersten Teil der Militärreform, das legalistisch formale Korsett der Wehrgesetzgebung von 1955, um wichtige Elemente, damit die Bundeswehr sich zur Gesellschaft öffnen konnte. Nach Abschluß dieser Reformen des militäreigenen Bildungssystems und der sozialen Rekrutierung war vieles verändert: in der Bundeswehr spürte man einen staatsbürgerlichen Geist, die »civil mind«. Der Einfluß der Traditionalisten wurde zurückgedrängt. Die Bundeswehr gewann ihre normale Gestalt der Bonner Republik. Das hatte große historische Bedeutung. Denn was Baudissin bei der eigentlichen Gründung der Bundeswehr in Himmerod im Herbst 1950 angestrebt hatte, der »vierte Anfang« (Lutz und Linnenkamp 1995: 21ff) der demokratischen Reform des Militärs nach 1806, war schließlich in der zweiten Phase erneut das Ziel der Militärpolitik geworden.

Es gibt also, wie diese wenigen Hinweise verdeutlichen, keine geradlinige Tradition der Bundeswehr, an der direkt und einfach angeknüpft werden könnte. Auch ist selbstverständlich, daß in den späteren Jahrzehnten der militärischen Entwicklung in der Bonner Republik und nach der Einigung der deutschen Staaten sich erneut vieles verändert hat. Jede Zeit hat ihre Spuren hinterlassen, es gilt daher der Anspruch von Baudissin, die »Innere Führung« immer wieder „zeitgemäß“ zu interpretieren und umzusetzen. Das heißt, jede Generation muß die Normen an der Wirklichkeit neu messen und nach der angemessenen Übereinstimmung fragen.

Allein, in den letzten Jahren hat sich erneut ein Geschichts- und Traditionsverständnis in der Bundeswehr verbreitet, das bedenklich ist, weil man glaubt, ganz bewußt, aber scheinbar unbedarft an der Wehrmacht anknüpfen und die Militärgeschichte neu für die Bundeswehr aufbereiten zu können. Damit formt man Tradition. Tradition ist ein wesentlicher Bestandteil des Selbstverständnisses und der Geisteshaltung. Insofern steht sie in einem unabdingbaren Zusammenhang mit der Inneren Führung. Daher ist es gerechtfertigt, diesen Entwicklungen innerhalb der Bundeswehr Aufmerksamkeit zu schenken.

Eine Arbeit zur Militärgeschichte mit dem anspruchsvollen Titel »Das preußisch-deutsche Generalstabssystem« wird hier beispielhaft angesprochen, da sie eine amtliche Publikation ist. Sie wird vom Streitkräfteamt des Ministeriums hergestellt, vertrieben und Offizieren zur Verfügung gestellt. Darüber hinaus wird die dienstliche Stellung des Autors mit „Staatsabteilungsleiter III im Führungsstab des Heeres. Bundesministerium der Verteidigung“ (Millotat o.Jg.: Deckblatt) angegeben. Allein diese Nennung ist nicht ohne Brisanz, weil das Ministerium bisher in einer ganzen Reihe ähnlich gelagerter Fälle die Auffassung vertreten hat, solches sei unzulässig. Es wurde stets gefordert, jeden Hinweis auf die dienstliche Stellung zu vermeiden, da es sich um persönliche Ausarbeitungen handele, die nicht die offizielle Stellungnahme des Ministeriums zur Sache darstellten. Bei Verstößen gegen diese Anordnung hat das Ministerium bisher rigide durchgegriffen, bis hin zu Strafversetzungen (das geht jedenfalls aus verschiedenen Zeitungsberichten hervor). Im Falle des »Generalstabssystems« liegt der Sachverhalt offenbar anders und der Autor – ein Brigadegeneral – konnte ausgestattet mit dieser neuen Autorität am 1. Oktober sogar eine wichtige Funktion an einer führenden Ausbildungsstätte der Bundeswehr übernehmen.

Wenden wir uns dem Inhalt der Arbeit zu. Im »Generalstabssystem« spiegeln sich die in der neueren Phase der Bundeswehr vielfach aufgetretenen Tendenzen des Neotraditionalismus(Bald 1998: 271ff) wider. Es werden neue Traditionslinien aufgemacht, wo die historische Wissenschaft und die politische Bildung bislang Distanz empfohlen hatten. Durch scheinbar sachliche Darstellung wird ein Zugang zu einer Vergangenheit eröffnet, die bislang aus guten Gründen verschlossen war. Im Unterschied zur Hauptphase des Traditionalismus in den fünfziger Jahren werden nun Themen aufgegriffen, deren positive Bewertung damals tabuisiert war. Der deutsche Generalstab gehört dazu.

Die Schrift zum »Generalstabssystem« bietet solche Beispiele durch Weglassen oder Verkürzen der historischen Verhältnisse. Greifen wir einen Satz auf, der die Zeit des Nationalsozialismus mit den Worten charakterisiert: „In den Schlachten des Zweiten Weltkriegs zeigte der deutsche Generalstabsoffizier wiederum herausragendes Können.“ (Millotat, o.Jg.: 59) Hier wird das Fehlen vieler notwendiger Fakten und Urteile, die zur Einordnung und Problematisierung unabdingbar sind, besonders kraß deutlich. Das „herausragende Können“ kann nicht die typische Bewertung sein, auch wenn die Stäbe fachlich noch so vorzügliche Planungen vorlegten. Aber der Autor gibt keinerlei Hinweise auf die völkerrechtswidrigen Eroberungen, die sozialdarwinistische Ideologie, den Revisionismus oder die auch von Generalstabsoffizieren angeordneten Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Es fehlen jegliche Hinweise auf die Bindung durch den Eid, die Problematik der militärischen Tugenden wie Ehre, Pflicht oder Verantwortung.

Auch wenn der Autor sich nicht mit der Ausstellung über Verbrechen der Wehrmacht auseinandersetzen muß, ein so begrenztes, einseitiges und unreflektiertes, eklektizistisches Urteil über „den deutschen Generalstabsoffizier“ kann und darf nach Stalingrad heutzutage keiner abgeben. Es ist unzulässig, über das Generalstabssystem im Nationalsozialismus zu schreiben und kein Wort über die »Verquickung« mit dem NS-System zu verlieren. Zuordnungen und Abgrenzungen fehlen. So entsteht eine von inhaltlichen Problemen gereinigte Geschichtsamputation, in der das Wichtigste aus dieser Zeit ausgeblendet wird. Die Geschichte wird gesäubert und geklittert.

Herausragendes Können“ reicht nicht zur angemessenen Einordnung des Wirkens der Generalstabsoffiziere im NS-System. Denn diese Schrift wird in dieser Form, abschließend und ausschließlich, dem Leser – Offizieren an Ausbildungsstätten der Bundeswehr – zur Verfügung gestellt. Die Pauschalität des Urteils über das Generalstabssystem deckt sich kaum mit dem Traditionserlaß der Bundeswehr, nach dem das Grundgesetz den Maßstab für die Traditionspflege bildet. Auch kann die historische Zunft nicht ganz übergangen werden, deren Bewertung bei aller Differenziertheit der Aussagen nicht hinter das Urteil der Vertreter der alten Generation wie Friedrich Meinecke, Hans Herzfeld und Gerhard Ritter zurückgefallen ist, daß es im Nationalsozialismus einen besonderen Militarismus festzustellen gab. Über diese Probleme kein Wort anzudeuten, ist mehr als ein wesentlicher Mangel – es stellt einen Mangel an Wissenschaftlichkeit schlechthin dar. Solche Unterlassungen verdeutlichen jedoch die Tendenz des »Generalstabssystems«.

Das »Generalstabssystem« leistet darüber hinaus Fehldeutungen Vorschub, da es eine ganze Anzahl falscher Aussagen enthält. Beispiele aus den langen Abhandlungen zur Geschichte ließen sich viele geben, so zur bayerischen Entwicklung (S. 49) oder zu den Weimarer Verhältnissen (S. 54f). Zur Illustration ein Satz zum 19. Jahrhundert: „Die kontroversen Auseinandersetzungen um den Offiziernachwuchs und die geistige Bildung der Offiziere im 19. Jahrhundert berührten nie die Generalstabsoffiziere und ihre Rekrutierung durch Bestenauslese mittels Prüfungen.“ (S. 40) Es mag ja sein, daß der Autor einem solchen Wunschbild anhängt und die Hoffnung hegt, es hätte für die Generalstabsoffiziere eine derartige von allen Interessen und Gegensätzen befreite Welt gegeben. Ob die getroffene Aussage mehr für Illusionierung oder Idealisierung steht, mag hier gar nicht entschieden werden. Doch an diesem Zitat ist fast jedes Wort falsch.

Die Geschichte der Allgemeinen Kriegsschule sowie die Neugründungen der Kriegsakademien und der Marine-Akademie in den sechziger und siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts bezeugen das Gegenteil (vgl. Bald u.a., 1985). Schärfste Kontroversen um die Lernziele der Bildung und um ihre Notwendigkeit überhaupt kennzeichnen wiederholt lange Epochen des 19. Jahrhunderts. Reform und Restauration sind die Kennzeichen, die dann 1890 nicht zufällig ihren Niedergang mit dem Ziel fanden, im militäreigenen Ausbildungssystem den »Gesinnungsoffizier« zu erzeugen (vgl. Demeter 1962 und Bald 1982). Die Militärpolitik kreiste permanent um die Bestimmung der Generalstabsoffiziere. Es war zugleich die Kontroverse um bürgerliche Akzeptanz durch Bildungsnachweise gegen die Privilegien des Adels. Er erhielt bis 1914 tausendfachen Dispens schon von der schulischen Leistung des Abiturs; von relevanten und obligatorischen Prüfungen für alle auf diesen Akademien ganz zu schweigen. Die „Bestenauslese“ sah in der Realität völlig anders aus, als im »Generalstabssystem« behauptet wird. Die Rekrutierung folgte nämlich den klar definierten sozialen und ideologischen Kriterien des »Adels der Gesinnung« aus den »erwünschten Kreisen«, deren Umsetzung als militärpolitische Entscheidung in meterlangen Aktenbeständen im Bundesarchiv nachlesbar ist. Es gab eine dezidierte Politik der Selektion.

Sozialgeschichtliche Analysen darüber liegen seit den dreißiger Jahren vor; bildungspolitische bereits seit Ende des letzten Jahrhunderts. Es kann also nicht auf neuere, dem Autor entgangene historische Erkenntnisse zurückgeführt werden, wenn im »Generalstabssystem« eine historische Legendenbildung konstruiert wird. Das »Generalstabssystem« leidet also an faktischen Fehlern und an tendenziöser Darstellung. Beide zusammen unterstreichen den Eindruck der Geschichtsklitterung.

Nimmt man dann noch zur Kenntnis, daß diese Ausarbeitung das historische »Erbe« (S. 59) anspricht und die »Irrwege« nicht in der Zeit des Militarismus sieht, wie ein Leser erwarten könnte, sondern Irrwege nachdrücklich in Einzelbeiträgen aus der Zeit der Reformkommission von Helmut Schmidt findet, wird die vordergründige Botschaft erkennbar. Der Autor ist bestrebt, mit seiner fragwürdigen Ableitung aus der Geschichte die wesentlichen Kriterien für „die bewährte deutsche Führergehilfenausbildung“ (S. 67) zu skizzieren, um militär- und bildungspolitisch notwendige Reformen zu verhindern. Dieses „Bewährte“ wird gegen „Theorien von „Bildungspolitikern und ideologisch bestimmten Pädagogen“ (S. 69) gestellt. Daher wird nicht systematisch auf die Probleme der Ausbildungskonzeption für Generalstabsoffiziere in der Moderne eingegangen, sondern es wird aus dem Zusammenhang eine einzige aus mehreren Überlegungen in der Diskussion nach 1969 aufgegriffen und als „bildungspolitische Posse“ (S. 67) abqualifiziert.

Der Autor leitet seine aktuellen bildungspolitischen Forderungen von einem vermeintlich objektiven, epochenübergreifenden »System« ab. Dabei bedient er sich eines höchst fragwürdigen neotraditionalistischen Konstrukts der Geschichte. So leichtfüßig darf man nicht über die historische Wirklichkeit springen: die Ausbildung für die Generalstabsoffiziere war in diesen zwei Jahrhunderten in nur wenigen Phasen demokratietauglich und fachlich optimal konzipiert, in anderen gerade nur noch technokratisch-handwerklich, in den meisten Phasen jedoch von einem antidemokratischen und antiliberalen Geist so geprägt, daß dies nicht „das Bewährte“ sein kann, das in der Bundeswehr gelten soll. Ebenso ist unzweideutig, daß das Konzept der fünfziger und sechziger Jahre nicht ohne weiteres für die Bundeswehr vorbildlich sein kann. Denn es folgte in hohem Maße dem Modell der Wehrmacht (vgl. Bald 1997). Daher hatte Heusinger nach 1959 als Generalinspekteur versucht, diese traditionalistische Ausbildung abzuschaffen und handwerklich modern (gemeinsame Ausbildung) und im Geist der »Inneren Führung« zu reformieren. Er mußte 1969 feststellen, daß er gescheitert war. An der Führungsakademie erstellte Analysen haben diesen Sachverhalt selbst festgestellt (vgl. Reinhardt 1977). Den Autor des »Generalstabssystems« hindert das allerdings nicht daran, das Alte einfach als „bewährt“ zu deklarieren und damit die Geschichte der Bundeswehr zu verbiegen.

Die Schrift zum »Generalstabssystem« versteht sich im Grunde als Beitrag zur militärischen Traditionsbildung. Hinsichtlich der zitierten Passage von Hans von Seeckt, „Die Form wechselt, der Geist bleibt der alte…“ – wird angefügt: „Prägnanter können (sic) die Verknüpfung von Vergangenheit und Gegenwart des Generalstabsdienstes in den deutschen Streitkräften kaum ausgedrückt werden. Vielfältig wirkt das Erbe früherer Generalstabsoffiziere in der Bundeswehr weiter.“ (S. 60)

Zusammenfassend muß festgestellt werden: Der methodisch fragwürdige Umgang des Autors mit der Geschichte führt zu deren unzulässiger Verkürzung. Indem er ein »sauberes« Bild des Generalstabssystems im 19. und 20. Jahrhundert zeichnet und es mit schlimmen Einseitigkeiten und Fehldeutungen verbindet, fördert er neotraditionalistische und restaurative Tendenzen in der Bundeswehr.

Literatur

Bald, Detlef (1982): Der deutsche Offizier. Sozial- und BIldungsgeschichte des deutschen Offizierkorps im 20. Jahrhundert, München.

Bald, Detlef u.a. (Hrsg.) (1985): Tradition und Reform im militärischen Bildungswesen. Von der Allgemeinen Kriegsschule zur Führungsakademie der Bundeswehr. Eine Dokumentation 1810-1985, Baden-Baden.

Bald, Detlef (1997): Eine überfällige Bildungsreform: Zur Sache der Militärelite der Bundeswehr, Zusammenfassung der Literatur in: Vierteljahresschrift für Sicherheit und Frieden, Jg. 15, 3/1997, Auszüge davon: Wo ist sie geblieben, die gebildete Persönlickeit in Uniform? In: Frankfurter Rundschau, 24. Febr. 1998

Bald, Detlef (1998): Neotraditionalismus und Extremismus – eine Gefährdung für die Bundeswehr, in: Mutz, Reinhard u.a. (Hrsg.) (1998): Friedensgutachten 1998, Münster.

Demeter, Karl (1962): Das deutsche Offizierkorps in Gesellschaft und Staat 1650-1945, Frankfurt/M.

Lutz, Dieter S. und Linnenkamp, Hilmar (1995): Innere Führung. Zum Gedenken an Wolf Graf von Baudissin, Baden-Baden.

Millotat, Christian (o-D.): Das preußisch-deutsche Generalstabssystem. Wurzeln, Entwicklung, Fortwirken, Köln.

Reinhardt, Klaus (1977): Generalstabsausbildung in der Bundeswehr. Zur Konzeption und Entwicklung der Führungsakademie der Bundeswehr, Herford.

Schäfer, Paul (1998): Bundeswehr und Rechtsextremismus, Dossier Nr. 28, Beilage zu Wissenschaft und Frieden, Nr. 2/98, Bonn.

Dr. Detlef Bald war bis 1996 Wissenschaftlicher Direktor am Sozialwissenschaftlichen Institut der Bundeswehr, er arbeitet jetzt als freier Autor.

Kontinuität – Diskontinuität Bundeswehr – Wehrmacht

Kontinuität – Diskontinuität
Bundeswehr – Wehrmacht

Gespräch zwischen Klaus Naumann und Tobias Pflüger

von Klaus Naumann und Tobias Pflüger

»Alte Kameraden« und die extreme Rechte protestierten – zum Teil gewalttätig – gegen die Ausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung: Vernichtungskrieg, Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944, die seit 1995 in verschiedenen deutschen und österreichischen Städten gezeigt wurde. Doch auch von links, aus dem pazifistischen Lager gab es Kritik. Klaus Naumann vom Hamburger Institut für Sozialforschung und Tobias Pflüger von der Informationsstelle Militarisierung e.V. diskutieren das Verhältnis Bundeswehr – Wehrmacht und die Ausstellungskonzeption.

Frage: Können Sie zugespitzt formulieren, ob es Ihrer Ansicht nach eine Kontinuität zwischen Bundeswehr und Wehrmacht gibt?

K. Naumann: Die Bundeswehr ist zu recht eine »Kompromißarmee« (Martin Kutz) genannt worden. Wie die Republikgründung im Westen vereint(e) sie widerstreitende Tendenzen, die denn auch dafür gesorgt haben, daß die Streitkräfte über die ersten Jahrzehnte hinweg eine Art »Skandalarmee« geblieben sind. Neben dem restaurativen Impuls, bekräftigt durch die hohe personelle Kontinuität und mentale Reserven im Offizierskorps, stand immer auch eine beachtliche reformerische Entschlossenheit – und nicht zuletzt der Hintergrundkonsens, daß es ein zurück zur Wehrmacht wohl oder übel nicht geben könne und dürfe. Wie Arnulf Baring von einer schubweisen Staatsgründung der Bundesrepublik gesprochen hat, könnte man vielleicht auch von einer etappenweisen Gründungsgeschichte der Bundeswehr sprechen; etwa wenn man die bescheidenen Anfänge der »Himmelroder Denkschrift« von 1950 mit der Wehrverfassung der mittfünfziger Jahre und diese dann mit den strukturellen Umbrüchen der Reformperiode am Ende der sechziger Jahre (Weißbuch, 1970) vergleicht. Die große Herausforderung, gleichsam die späte Probe auf die reformerische Gründungsidee, kommt erst in den letzten Jahren nach der deutschen Vereinigung, Auslandseinsätzen, Truppenintegration, NVA-Auflösung und dem veränderten Verteidigungskonzept auf die Bundeswehr zu.

T. Pflüger: Es gibt einen Unterschied zwischen dem praktizierten und dem proklamierten Traditionsverständnis der neuen Bundeswehr. Volker Rühe formulierte auf der Wehrkundetagung 1995 in München als Grundsatzposition: „Die Wehrmacht war als Organisation des Dritten Reiches, in ihrer Spitze, mit Truppenteilen und mit Soldaten in Verbrechen des Nationalsozialismus verstrickt. Als Institution kann sie deshalb keine Tradition begründen. Nicht die Wehrmacht, aber einzelne Soldaten können traditionsbildend sein – wie die Offiziere des 20. Juli, aber auch wie viele Soldaten im Einsatz an der Front.“ In der Praxis gewinnt der letzte Teilsatz – „wie viele Soldaten im Einsatz an der Front“ – immer mehr an Bedeutung. Trotz aller Diskussion sind Kasernen, Schiffe und Einheiten der Bundeswehr nach Wehrmachtsgrößen benannt. Es gibt bei der Bundeswehr eine intensive Traditionspflege mit »Alten Kameraden« der Wehrmacht. Dabei werden rechtskonservative und rechtsextreme Haltungen vermittelt und gepflegt. Selbst die Wehrbeauftragte, Claire Marienfeld, sagt im Jahresbericht 1997: „Um so mehr beobachte ich mit Sorge, daß innerhalb der Bundeswehr gleichwohl die gebotene Distanz zur deutschen Wehrmacht insgesamt, aber auch zu einzelnen Personen aus der deutschen Wehrmacht nicht immer und überall eingehalten wird.“ Meine These ist: Es fehlt nicht nur an einigen Stellen die Distanz zur Wehrmacht, die Distanz ist nicht (mehr) gewollt. Die alte Bundeswehr, offiziell zur Landesverteidigung da, hat geschichtlich gesehen nur den Charakter einer Übergangsarmee gehabt. Die neue Bundeswehr wird kriegsfähig gemacht, dazu knüpft sie bewußt auch an Traditionen der Wehrmacht an. Ein Beispiel: Die Elitetruppe der Bundeswehr, das Kommando Spezialkräfte (KSK) hat offiziell die Patenschaft für das Kamaradenhilfswerk der ehemaligen 78. Sturm- und Infanteriedivision der Wehrmacht übernommen, einer Eliteeinheit, die 1943 nachweislich Verbrechen auch an der sowjetischen Zivilbevölkerung begangen hat. Die Bundeswehr selbst stellt hier Verbindungen her, die skandalös sind!

Frage: Im Zusammenhang mit der Ausstellung »Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944«, die Sie, Klaus Naumann, mit konzipiert haben, gibt es in Deutschland eine Debatte um die Wehrmacht, die zum Teil auch eine Debatte um Militär als solches ist. Sollte die Debatte um die Wehrmacht ausgedehnt werden auf das derzeitige deutsche Militär, die Bundeswehr, oder sollte nur über die Rolle der Wehrmacht diskutiert werden?

T. Pflüger: Eine ausschließliche Debatte über die Wehrmacht ist meiner Ansicht nach gar nicht möglich. Wir haben es mit zwei ineinander verwobenen Debatten zu tun. Durch die Ausstellung »Vernichtungskrieg« wurde etwas erreicht, was zuvor nicht möglich war: Der Mythos der »sauberen Wehrmacht« wurde gebrochen. Die Wehrmacht wurde enttabuisiert. Das ist das Verdienst der Ausstellungsmacher und ein Ergebnis der gesellschaftlichen Debatte, die sich anhand der Ausstellung entwickelte. In vielen Familien wurde (endlich) über die damalige Zeit und die Wehrmacht gesprochen oder gestritten. Der nächste Schritt ist nun, aus der Geschichte der Wehrmacht Lehren zu ziehen, Lehren für heute. Und dann sind wir mitten drin in der Diskussion um Militär als solches und die Bundeswehr. Die Rolle der Wehrmacht für die Bundeswehr muß im Zusammenhang mit den rechtsextremen Vorfällen dringend diskutiert werden.

K. Naumann: Was die Intention der Ausstellung betrifft, möchte ich etwas anders argumentieren als Tobias Pflüger. Ich halte es für dringend geboten, sich diesen – historischen – Befunden überhaupt erst einmal auszusetzen, bevor der Ruf nach den »Lehren« laut wird. Die Ausstellung ist ja im Kern ganz und gar keine »Wehrmachts-Ausstellung«, obwohl sie oft so tituliert wird. Vielmehr will sie ein deutsches Bevölkerungssegment zeigen, das wohl am nachhaltigsten in die NS-Verbrechen involviert war – als Täter und Tatgehilfen, Zeugen, Zuschauer und Mitwisser. Die Enttabuisierung der »sauberen« Wehrmacht ist in diesem Sinne ein »Abfallprodukt« der Ausstellung. Noch einmal gesagt: dem Hamburger Institut geht es hier in erster Linie um ein – freilich umfangreiches! – Segment der deutschen »Volksgemeinschaft«. Insofern kann und sollte man unter diesem Aspekt durchaus »nur« über die Wehrmacht, über die Erfahrungen unserer Eltern- und Großelterngeneration und über die familiären Traditionen sprechen! Die Schlußfolgerungen für heute werden dann auch sehr vielfältig sein – und keineswegs nur militärischer oder militärpolitischer Natur! Das erübrigt nicht die Eigenproblematik des deutschen Militärs; ich möchte hier nur die Relationen anders ziehen…

Frage: Sie, Tobias Pflüger, haben „Kritik an der Grundthese der Ausstellung zur Wehrmacht“ geübt. Was meinen Sie genau damit?

T. Pflüger: In der Einleitung des Ausstellungskataloges heißt es: „Die Wehrmacht führte 1941 bis 1944 auf dem Balkan und in der Sowjetunion keinen »normalen Krieg«, sondern einen Vernichtungskrieg gegen Juden, Kriegsgefangene und Zivilbevölkerung, dem Millionen zum Opfer fielen“ (Hannes Heer / Ausstellungskatalog, Seite 7). Besser wäre meiner Ansicht nach zu sagen: Die Wehrmacht führte 1941 bis 1944 auf dem Balkan und in der Sowjetunion einen Vernichtungskrieg gegen Juden, Kriegsgefangene und Zivilbevölkerung, dem Millionen zum Opfer fielen; dieser Vernichtungskrieg unterschied sich von anderen Kriegen. Die Grundthese der Ausstellungsmacher könnte so verstanden werden: Dieser Vernichtungskrieg war absolut zu verurteilen, andere Kriege können notwendig sein. Aber: Ist nicht jeder Krieg ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, unabhängig von seiner Schärfe? Es wird – wenn auch in Anführungszeichen – von »normalen Kriegen« im Gegensatz zum Vernichtungskrieg gesprochen. Können Kriege normal sein? Ein Ziel der Ausstellung ist es wohl auch, daß der Vernichtungskrieg aufgearbeitet werden muß, verbunden mit dem Wunsch, daß für die Zukunft solche Vernichtungskriege verhindert werden müssen, ohne gleichzeitig die grundsätzliche Frage nach Sinnhaftigkeit von Krieg und Militär als solchem stellen zu müssen. Die offizielle Politik hätte das »Angebot« der Ausstellungsmacher eigentlich begierig aufgreifen müssen, es würde in die von dort (u.a. durch die Herzog-Rede zur Außenpolitik) miterzeugte Grundstimmung (»Wir sind wieder wer!«) hineinpassen. Doch es kam anders: Auch von den Ausstellungsmachern wurde die Schärfe und gesellschaftliche Relevanz der geschichtlichen Leugnung der Wehrmachtsverbrechen unterschätzt. Der zweite Teil der Grundthese der Ausstellung ist zwischen uns natürlich absoluter Konsens: „Die deutsche Militärgeschichtsschreibung hat zwar viel zur Aufklärung dieses Tatbestandes beigetragen, sie weigert sich aber einzugestehen, daß die Wehrmacht an allen diesen Verbrechen aktiv und als Gesamtorganisation beteiligt war“ (Hannes Heer / Ausstellungskatalog, Seite 7).

K. Naumann: Tatsächlich liegen unsere Differenzen nicht in der Bewertung der Historiographie, sondern in der Wahrnehmung der Ausstellung und ihrer »Aussagen«. Die Ausstellung fokussiert allein und ausschließlich den »Vernichtungskrieg«, und sie dringt damit implizit auf eine Differenzierung, die an den zivilisatorischen Normen der Moderne orientiert ist. Sie formuliert keine These über den Krieg »als solchen«, sondern macht diese Normüberschreitung zum Skandalon. Die »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« (bzw. „gegen die Menschheit“; wie in Nürnberg formuliert) würden m.E. zur billigen Münze verkommen, wenn man daraus eine moralphilosophische Allaussage machen würde! Wohl gemerkt, das kann man tun – aber man vergibt sich damit der Möglichkeit zu moralischer und politischer Differenzierung, also all jener Möglichkeiten, die wir in der Debatte um Bosnien, den Kosovo, UN-Einsätze u.a.m. so rasch im Munde führen. Im übrigen erinnert dieses Argument, es gebe keinen »normalen« Krieg, an das Kernargument der überzeugten Militärs, die mit dem US-General Sherman die »war is hell«-These vertreten. Krieg ist, wenn er einmal begonnen hat, die Hölle, denn es gibt nichts und kann nichts geben, was dann noch seinen Selbstlauf aufhält. Also, so die hard-core-Militärs, ist alles erlaubt – oder dezenter formuliert: leider unvermeidlich. Diese Art von Grundkonsens würde ich allerdings gerne aufkündigen…

Frage: Jan Philipp Reemtsma formuliert in seinem Essay »Trauma und Moral«: „So bildeten auf einmal ein Teil der Veteranen dieses Krieges (ein Teil, der andere Teil schrieb Dankesbriefe und bot weiteres Archivmaterial an) und die Träger des pazifistischen Affekts eine Koalition der Verleugnung. Bestanden die einen darauf, in einem ganz normalen Krieg gekämpft zu haben, an dessen Rändern allenfalls von der Wehrmacht säuberlich getrennte Kommandos Unerfreuliches angerichtet hätten, so wollten die anderen gleichfalls nicht gelten lassen, daß in diesem Krieg anderes geschehen sei, als in Kriegen immer geschehe“ (zit. nach Kursbuch 126, Berlin 1996). Klaus Naumann, Sie haben sich einmal ähnlich geäußert: „Das Bezeichnende lag im Hintergrundkonsens, denn sowohl für die skizzierte Veteranenmeinung wie für jene Nachgeborenen, die einem“pazifistischen Affekt« folgten, in dem sich alle Kriege als Kriege ineinanderschoben, und auch für den kalten Analytiker war das Resultat das gleiche: Die differentia specifica des Vernichtungskrieges verschwand. Der Blick war getrübt“ (zit. nach Blätter für deutsche und internationale Politik 12/97).

K. Naumann: In der Debatte um die Ausstellung sind diese Argumente, angesiedelt bspw. im Umkreis der »Soldaten sind Mörder«-These, immer wieder aufgetreten. Das Interessante daran ist eine Art stillschweigendes Kommunikationsbündnis, wenn man diese paradoxe Formulierung einmal riskieren will. Schließlich ist die Tatsache erklärungsbedürftig, warum die Legende von der »sauberen« Wehrmacht gut fünfzig Jahre überdauern konnte – obwohl doch die Nürnberger Prozesse und später die historische Forschung (seit den 80er Jahren) längst den Gegenbeweis angetreten hatten. Dahinter verbirgt sich offenbar ein schwerwiegendes moralisches Problem, das wiederum von Fragen der Urteilskraft nicht zu trennen ist. Kriegsächtung fällt in diesem Horizont »leichter« als die explizite Konfrontation, das »Durcharbeiten« einer singulären Gewalterfahrung. Man kann darin sicher auch den Reflex einer fortdauernden Verstörung erkennen, der sich über die Teilnehmergeneration bis in die Folgegeneration ausdehnt (vgl. meinen Beitrag Die »saubere« Wehrmacht. Gesellschaftsgeschichte einer Legende, in: Mittelweg 36, 4/1998). Insofern geht der »pazifistische Affekt« viel weiter als der organisierte und unorganisierte Pazifismus. Auswirkungen auf die Friedensforschung – etwa der 80er Jahre bzw. ihrer konzeptionellen Lücken in den 90er Jahren – vermute ich darin, daß sie sich jenseits der Abrüstungsforderungen, Konversionsmodelle und »Raketenzählerei« auf eine immanente Auseinandersetzung mit Streitkräftekonzepten, Fragen der Wehrstruktur, Verteidigungsstrategien usw. selten wirklich eingelassen hat. Es reicht einfach nicht aus, wie Jürgen Grässlin (Lizenz zum Töten. Wie die Bundeswehr zur internationalen Eingreiftruppe gemacht wurde. Knaur: München, 1997) der Bundeswehr eine Forderung nach fünfprozentiger Abrüstung pro Jahr vor die Füße zu werfen, der Frage danach, was eigentlich als »Verteidigungsauftrag« zu gelten hätte, aber auszuweichen.

T. Pflüger: Erschreckend ist, daß ihr den sogenannten »pazifistischen Affekt« für die lange Haltezeit des »Mythos der sauberen Wehrmacht« mitverantwortlich macht. Ihr stellt völlig verschiedene Personen (hier Verbrechen leugnende Wehrmachtssoldaten, dort PazifistInnen) auf eine Ebene. Notwendig wäre statt dessen, die offenbar noch vorhandene militärkritische Grundstimmung aufzugreifen und zu fundieren. Wir sind uns einig, daß eine (grundlegende, nicht nur immanente) Auseinandersetzung (auch Friedensforschung und -bewegung haben hier ein Aufgabenfeld) mit Strategie und Struktur der neuen Bundeswehr notwendig ist. Es geht nicht mehr nur um Verteidigung sondern auch um Krieg. Die Bundeswehr wurde und wird qualitativ aufgerüstet (neue Strategie, Struktur, Bewaffnung), sie ist kleiner, aber schlagkräftiger geworden. Forderungen nach quantitativer Abrüstung alleine gehen deshalb an den tatsächlichen Problemen vorbei. Notwendig sind erste Schritte qualitativer Abrüstung. Konkret: Rücknahme der »Verteidigungspolitischen Richtlinien«, Stopp des Exports neuer und alter Waffensysteme, Stopp derzeit laufender Beschaffungsprojekte, Auflösung der Krisenreaktionskräfte und des Kommandos Spezialkräfte.

Frage: Der Münchner Oberbürgermeister Christian Ude hat in seiner Rede zur Eröffnung der Ausstellung »Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944« im Auditorium Maximum der Ludwig-Maximilians-Universität München u.a. gesagt: „Aber ich frage mich ernsthaft, was heutzutage in Köpfen vorgeht, die allen Ernstes behaupten, die Dokumentation von Kriegsverbrechen in Hitlers Vernichtungskrieg treffe auch die Bundeswehr. Wer so daherredet, hat weder die Fundamente des demokratischen Neubeginns 1945 begriffen, noch Wesen und Auftrag der Bundeswehr. Die auf das Grundgesetz vereidigte Armee eines demokratischen Rechtsstaats, die in die Völkerfamilie eingebettet ist und einen ausschließlichen Verteidigungsauftrag hat, hat doch wirklich nichts gemein mit einer Armee, die auf Adolf Hitler persönlich geschworen hat, sich selbst zur zweiten Säule des nationalsozialistischen Regimes erklärte und auf Befehl dieses totalitären Regimes einen Angriffs- und Vernichtungskrieg in viele Länder getragen hat. Gerade diese Dokumentation zeigt, wozu eine Gewaltherrschaft und ein Unrechtsregime fähig sind, und daß sie nur mit den Mitteln bewaffneter Gewalt gestoppt und zurückgeworfen werden können. Aus dieser Erfahrung schöpft die Bundeswehr als Armee eines demokratischen Rechtsstaates, die den Prinzipien des humanitären Völkerrechts verpflichtet ist, ihre Legitimation. Diese Bundeswehr ist zur Wehrmacht des »Dritten Reichs« geradezu ein Gegenentwurf.“  Was meinen Sie dazu?

K. Naumann: Ich möchte der emphathischen Seite von Christian Udes Formulierung zustimmen, zugleich aber auf Defizite im Ist-Zustand hinweisen. Die Crux liegt in dem eingangs erörterten Doppelcharakter der Bundeswehr als einer »Kompromißarmee«. Gerade dieser Kompromiß hat – neben allen seinen Verdiensten – auch verhindert, daß sich die Streitkräfte offensiv und schonungslos der sog. Traditionsfrage gestellt haben, mit der ja höflich umschrieben ist, daß jegliche deutsche Armeegründung auf einem historischen Hintergrund erfolgen mußte, der nur geringste »positive Werte« und bestandsfähige Traditionen anbieten konnte. Man denke an die jahrelange, zunächst dreiste und dann gequälte Debatte um den 20. Juli und den militärischen Widerstand, der sich dann übrigens wie eine Deck-Erinnerung vor die vielen Untiefen der Traditionsfrage geschoben und diese verdeckt hat. Eine Auseinandersetzung mit militärischem Ungehorsam jenseits des Elite-Widerstandes hat die Bundeswehr – Stichwort Deserteure – bis heute gescheut. Und genauso ist keine Auseinandersetzung geführt worden über die Konsequenzen des Vernichtungskrieges für die Truppenverfassung, Ausbildung, Innere Führung usw. Die Argumentationspraxis läuft vielmehr häufig so, daß agile Militärdozenten versichern, durch die Innere Führung sei eigentlich alles »abgedeckt«. Beunruhigend sind in diesem Zusammenhang alle jene Hoffnungen oder Erwartungen, mit Auslandseinsätzen und dergleichen werde sich zukünftig eine Art »Rückkehr« zum »Eigentlichen« (Ernstfall, Bewährung, Kampf, Soldatentum) vollziehen. Gerade solche Tendenzen gegenüber sollte die Formulierung von Christian Ude, die Bundeswehr sei ein »Gegenentwurf« zur Wehrmacht, ernst genommen werden.

T. Pflüger: Es gibt einen »Mythos der sauberen Bundeswehr« und die Äußerung von Christian Ude ist ein typischer Beleg dafür. So einfach ist es eben nicht. Man kann nicht außer acht lassen, daß in der Bundeswehr heute auch Angriffe geübt werden (Kommando Spezialkräfte und andere Krisenreaktionskräfte), einen „ausschließlichen Verteidigungsauftrag“ gibt es nicht (mehr).

Frage: Am 10. November 1997 gab es folgende dpa-Meldung: Freising (dpa) – Die jüngsten Fälle von Rechtsextremismus in den deutschen Streitkräften (Bundeswehr) sind nach Ansicht katholischer Militärseelsorger auch eine Folge der Auslandseinsätze der Truppe. Der Ernstfall ändere das Selbstverständnis der Soldaten, sagte der Chef des Grundsatzreferats im Katholischen Militärbischofsamt, Harald Oberhem, in einem dpa-Gespräch am Montag. Im Auslandseinsatz frage ein Soldat nicht, wie sein Vater in der Bundeswehr diente, sondern was sein Großvater in der Wehrmacht des Dritten Reichs gemacht habe. „Da geht es dann um deutsche Soldaten im Krieg bis zum Nachsingen von Wehrmachtsliedern, die in der Bundeswehr bisher keine Rolle spielten.“ Was meinen Sie dazu?

T. Pflüger: Diese Aussage geht in die gleiche Richtung wie meine These, daß nun, mit dem erweiterten Auftrag der neuen Bundeswehr, wieder verstärkt auf Traditionen der Wehrmacht gesetzt wird. Offensichtlich wird dieses Phänomen auch innerhalb der Bundeswehr diskutiert. In einer nichtöffentlichen Studie des Oberstleutnants Henning Hars von der Führungsakademie der Bundeswehr heißt es z.B.: „Die im engeren Sinne militärischen Leistungen der Soldaten der Wehrmacht gewinnen hier Vorbildcharakter, der auf Verbände, Großverbände und die Wehrmacht in ihrer Gesamtheit ausgedehnt wird. Deren militärhandwerkliche Qualitäten werden als Meßlatte an die eigene soldatische Professionalität angelegt. Die im gültigen Traditionserlaß gemachte Differenzierung, die durchaus zwischen tugendhafter Pflichterfüllung des einzelnen und der Rolle der Wehrmacht als militärischem Instrument des Dritten Reichs unterscheidet, wird durch die Betonung der Gemeinsamkeiten der Kriegsführungsmerkmale überlagert. … Die Generale und Admirale der Wehrmacht mögen noch so überzeugende Operationen geführt haben; ihre Demokratiefeindlichkeit hat überhaupt erst möglich gemacht, daß sich ein NS-Regime etablieren konnte. … Der Schritt von unreflektierter Bewunderung der Wehrmacht und ihrer Truppen bis hin zu rechtlich fragwürdigem und politisch extremem Verhalten ist deshalb klein.“

K. Naumann: Dem möchte ich grundsätzlich zustimmen. Das »operative Denken«, das im deutschen Militär seit langem im Vordergrund stand, ist wieder auf dem Vormarsch, und mit dem Rückblick auf die – sozusagen unschuldigen – operativen Highlights der deutschen Wehrmacht. Im Grunde genommen haben wir es hier mit einer argumentativen Kippfigur zu tun. Für die einen reduziert sich die Wehrmacht dann auf ihre Kampfkraft, für die anderen ist eben diese Reduzierung das Brückenargument, um auch den »ganzen Rest« (an Tugenden, Ehrvorstellungen, Soldatenbild usw.) für akzeptabel zu halten. Je mehr die soldatischen Phantasien sich einem hypostasierten »Ernstfall« zuwenden, desto deutlicher wird der schmale Grad, der bisweilen zwischen Kameradschaft und Komplizentum verläuft. Das konnte man übrigens bei Interviews mit Soldaten während der Ausstellung deutlich beobachten (vgl. meinen Beitrag: Kameraden oder Komplizen. Der Zweispalt ganz normaler Berufssoldaten, in: Hamburger Institut (Hg.), Besucher einer Ausstellung. Hamburger Edition: Hamburg, 1998 i.E.).

Frage: Welche Konsequenzen sollte die Bundeswehr grundsätzlich aus den Erfahrungen (mit) der Wehrmacht ziehen?

K. Naumann: Ich möchte noch einmal hervorheben, daß die Bundeswehr, besser gesagt, die Politik, mit der Wehrverfassung und der Inneren Führung, dem Leitbild des »Bürgers in Uniform« und der parlamentarischen Kontrolle der Bundeswehr (inkl. Wehrbeauftragten) grundsätzliche Konsequenzen aus der Wehrmachtserfahrung gezogen hat. Das ist das eine. Brisant wird die Bezugnahme auf die Wehrmacht in der gegenwärtigen Phase durch die vielfältigen Umbrüche, die zu einer Prüfung einer ganzen Reihe sicherheits- und militärpolitischer Grundentscheidungen herausfordern. In einer solchen Situation ist es nicht allein sinnvoll, sondern auch politisch dringend geboten, sich erneut über die Gründungsformeln und deren »Gegendaten« zu verständigen. Im Falle der Bundeswehr ist das der doppelte Rückblick auf Wehrmacht undBundeswehrgründung. Im Lichte neuer – zu erörternder – sicherheitspolitischer Anforderungen und (nicht immer ganz) neuer historischer Befunde sollten die Bestände überprüft, Bilanz gezogen und eine Reihe von Entscheidungen vordiskutiert werden – etwa die »Einsatztauglichkeit« der inneren Führung, die Frage des Übergangs zur veränderten Wehrstruktur mit einem Kern von Berufssoldaten, die Zukunft des »Bürgers in Uniform« (der Bürger, nicht Staatsbürger ist!) in einem solchen Fall, die Auseinandersetzung mit den Konsequenzen der neuen Konflikt- und Kriegsbilder (man lese nur die pessimistische Prognose von Martin von Crefeld, die Zukunft des Krieges. München, 1998.).

T. Pflüger: Die Frage nach einer aktiven Kriegsteilnahme stellte sich in Deutschland lange Zeit nicht. Jetzt steht das Thema wieder auf der Tagesordnung, wenn auch unter anderen Vorzeichen. Die angesprochenen »Kämpfertypen« sind ein Teil der neuen Bundeswehr. Genau dort sehe ich derzeit die größte Gefahr (vgl. hierzu u.a. mein Buch: Die neue Bundeswehr, Neuer ISP-Verlag, Köln, 1997). Bei den Kampftruppen wird auch die Tradition der Wehrmacht aufgegriffen, Henning Hars schreibt dazu: „Die Kampfmotivation könnte sich rein theoretisch zu einem erheblichen Teil aus der gemeinsamen, erfolgreichen Bewältigung von fordernden Ausbildungs- und Übungsabschnitten entwickeln. Die auffällig gewordenen speziellen Einheiten und Verbände pflegen aber in bewußter Abgrenzung zu anderen Truppen ein Ethos des Kampfes, das sich nur partiell auf eigene Erfolge, sondern in starkem Maße auf die dokumentierten, im engsten Sinne militärischen Leistungen der »Waffengattung« in der Wehrmacht abstützt.“ Fallschirmjäger, Gebirgsjäger, Kampfschwimmer, Grenadiere oder das Kommando Spezialkräfte sind für Rechte Anziehungspunkte. Es ist deshalb das Gebot der Stunde, daß eine andere Bundesregierung als erstes diese Kampftruppen auflöst.

Frage: Welche Konsequenzen müßten Ihrer Ansicht nach für die Bereiche Militär und Außenpolitik aus der Verquickung der Wehrmacht in die Verbrechen der Deutschen im »Dritten Reich« gezogen werden?

K. Naumann: In der Bosnien-Debatte von 1995 hatte sich m.E. wieder einmal schlagend gezeigt, daß der Umgang mit den »Lehren« der Geschichte nicht eindeutig ist. Soll die Bundeswehr sich – nach Srebrenica – wegen oder trotz des Angriffskrieges und des Okkupationsregimes der vierziger Jahre an einer internationalen Friedenstruppe beteiligen? Gebietet »die Geschichte« besondere Zurückhaltung oder entschiedenes Engagement? Nach 1990 stellt sich diese Frage wiederum modifiziert: Was kann und soll die »neue« Bundesrepublik aus dem Erbe der »alten« mitnehmen – und wo kann und muß sie anders agieren? Wie kann sie ihre unübersehbare Stärke am besten und sinnvollsten einbringen? (Andrei Markovits und Simon Reich diskutieren diese Fragen gerade in ihrem neuen Buch: Das deutsche Dilemma. Die Berliner Republik zwischen Macht und Machtverzicht. Fest, Berlin, 1998). Kurzum, die Konsequenzen für Militär und Außenpolitik sind zwar normativ eindeutig (und erfordern die zuvor diskutierten Strukturen), entscheidungspraktisch aber vieldeutig. Entscheidend ist die normative Rückbindung an Verfassung und Menschenrechte – aber auf dieser Grundlage geht die Debatte erst richtig los!

Pflüger: Ich stimme dem zu, daß die Debatte jetzt erst richtig losgeht. Eine Frage könnte sein: Wollen wir eine Bundeswehr, die in ihren Kernteilen eigentlich für Kampfeinsätze ausgebildet wird, aber ihre Akzeptanz durch Einsätze an der »Oder-Front« bekommt? Ich für meinen Teil sage dazu nein, diese neue Bundeswehr will ich nicht. Die deutsche Regierung sollte auf dem Hintergrund des Dritten Reiches, von Auschwitz und dem Vernichtungskrieg eine sehr sensible Haltung zu weltweiten Militäreinsätzen einnehmen. In Japan ist es bis heute weitgehend gesellschaftlicher Konsens, daß aufgrund von Hiroshima und Nagasaki eine sehr zurückhaltende Militärpolitik betrieben wird. Warum gibt es in Deutschland nicht diesen gesellschaftlichen Konsens? Oder ist er doch latent vorhanden? Eine Lehre aus der Geschichte könnte eine allgemein militärkritische Haltung sein. Für mich stehen Ideen wie »Deutschland als internationaler Zivildienstleistender« (mit dem Problem, daß ZDL immer auch in Kriegsplanungen eingebunden sind) oder »Bundesrepublik ohne Armee« nach wie vor auf der Tagesordnung. Im Sinne des diesjährigen Mottos der Friedensdekade könnte man/frau sagen: „Eine/r muß anfangen – aufzuhören“.

Dr. Klaus Naumann ist Historiker und Journalist; seit 1992 wissenschaftlicher Mitarbeiter des Hamburger Instituts für Sozialforschung; Mitherausgeber der „Blätter für deutsche und internationale Politik“ (Bonn).
Tobias Pflüger ist geschäftsführendes Vorstandsmitglied der Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V., Mitglied der W&F-Redaktion.

Geloben? Öffentlich?

Geloben? Öffentlich?

von Till Bastian

In Bremen wurde ein geplantes öffentliches Gelöbnis von der Bundeswehrführung abgesagt – der Senat hatte es im Saale stattfinden lassen wollen; das Militär reagierte beleidigt. In Frankfurt an der Oder hat die Stadtverwaltung das für den 15. August geplante Gelöbnis gleich ganz platzen lassen – und Minister Rühe konterte säuerlich: Eine Beleidigung der »Hochwasserhelden« sei das. Von »Undankbarkeit« kündete denn auch die Schlagzeile der BILD-Zeitung am 7. Mai.

In der Tat: Schlechte Zeiten für die Traditionspflege, für das öffentliche Auftreten einer krisengeschüttelten Armee. Der »Verteidigungsfall« an den deutschen Grenzen ist den Bürgern kaum noch plausibel zu machen – sollen wir ernsthaft glauben, die Dänen wollten Kiel, die Österreicher Lindau, die Tschechen Bayreuth erobern? Aber offenbar fällt es uns leichter, auf die DM zu verzichten als auf die Bundeswehr.

Das politische Establishment setzt ohnehin ganz auf den Einsatz in Übersee, da ja – so die »Verteidigungspolitischen Richtlinien« des Ministers Rühe vom Dezember 1992 – die Aufrechterhaltung des freien Welthandels und der Zugang zu den Rohstoffen in aller Welt als „vitales Sicherheitsinteresse“ Deutschlands zu betrachten sind. Ein solcher Einsatz – gedacht wohl mehr als Befähigungsnachweis, um endlich den heißersehnten ständigen Sitz im UNO-Sicherheitsrat antreten zu dürfen – war ja schon in Somalia über 500 Millionen DM wert, die im wahrsten Wortsinn »in den Sand« gesetzt wurden: Das ehemalige Lazarett der »Engel von Belet Huen« verrottet heute nutzlos in der Wüste Somalias…

Währenddessen wurde – und sicher zu Recht – mehrfach darauf aufmerksam gemacht, daß das Anwachsen rechtsradikaler Umtriebe in der Truppe durchaus zusammenhängt mit dem neuen Geist, der den »Ernstfall Übersee« zum Normaleinsatz stilisieren möchte – es scheint allerdings, daß manche Soldaten, vom Offensivdrang beflügelt, den Feind, den diese Armee seit Ende des Kalten Krieges entbehrt, schneller im eigenen Land finden als anderenorts.

Was also gibt es in dieser Situation zu zelebrieren? Was zu geloben? Den Kampf gegen die Oderfluten bei Bedarf fortzusetzen? Oder die Treue zum Grundgesetz – das aber wohl kaum in Somalia verteidigt werden muß?

Deutschland hat, seit dem Beitritt der ehemaligen DDR-Länder zum Geltungsbereich des Grundgesetzes am 3. Oktober 1990, neun Nachbarländer: Belgien, Dänemark, Frankreich, Luxemburg, Niederlande, Österreich, Polen, Schweiz und Tschechien. Mit sechs seiner Nachbarn ist Deutschland in supranationalen Bündnissen und Zusammenschlüssen, Nato und Europäischer Union, verbunden; im Falle der EU sind bereits nationale Machtbefugnisse auf höhere Instanzen übertragen worden; die Währungsunion ist beschlossene Sache. Die Nachbarstaaten Polen und Tschechien würden sich erklärtermaßen lieber heute als morgen voll in diese Bindungen einfügen. Mit dem einzigen Nachbarland, das EU und NATO fernsteht, der Schweiz, ist eine militärische Konfrontation gewiß nicht zu fürchten. Deutschland ist also, wie schon erwähnt, „von Freunden umstellt“. Und auch mit den Ländern, die – quasi in einem zweiten konzentrischen Kreis – Nachbarn unserer Nachbarn sind (Schweden, Spanien, Italien, Slowenien, Slowakei, Weißrußland, Ukraine, Rußland), müssen kriegerische Konflikte nicht erwartet werden; die wirtschaftliche Verflechtung ist hochentwickelt und knüpft sich jeden Tag fester.

Was spräche also dagegen, daß Deutschland dem Beispiel Costa Ricas, Haitis und Panamas folgte und seine bewaffneten Streitkräfte abschaffte – als vierter Mitgliedstaat der Vereinten Nationen? Die Signalwirkung, die dieser Schritt weltpolitisch entfalten würde, wäre gewiß unvergleichlich. Sie stünde einem Land nicht schlecht zu Gesicht, dessen Soldaten 1914 und 1939 mit der gewaltsamen Überschreitung der belgischen bzw. der polnischen Grenze die beiden blutigsten Kriege dieses Jahrhunderts begonnen haben.

Es sei klargestellt, daß einer solchen Initiative keinesfalls der konsequent pazifistische Standpunkt, d.h. die prinzipielle Ablehnung jeglicher Gewaltmittel im Falle zwischenstaatlicher Konflikte, zugrunde liegen muß. Solche Konflikte werden durch weltweite Abrüstung und, vor allem, durch eine endlich wirksam gestaltete Eindämmung des internationalen Waffenhandels zwar unwahrscheinlicher, bleiben aber prinzipiell möglich. Hier, falls unbedingt erforderlich, zu intervenieren, sollte den Vereinten Nationen vorbehalten bleiben, deren Reform nicht zuletzt aus eben diesem Grund auf der Tagesordnung steht. In seiner leider fast schon vergessenen »Agenda für den Frieden« hatte der damalige Generalsekretär Butros Butros Ghali eigene Streitkräfte für die Vereinten Nationen gefordert (worin ihm übrigens auch der Bericht der von Richard Weizsäcker geleiteten »Reformkommission« bekräftigt hat). Daß eine solche »ultima ratio« der Weltgemeinschaft Wirklichkeit werde, dagegen wehren sich vor allem solche Staaten, die die Rolle des Weltpolizisten aus durchaus eigennützigen Motiven seit jeher für sich reklamieren. Darüber muß hier nicht weiter debattiert werden; eine Bundesrepublik Deutschland ohne Bundeswehr, etwa im 50. Bestandsjahr des Grundgesetzes (1999) verwirklicht, würde jedenfalls die Sicherheitslage unseres Landes nicht verschlechtern, die Chancen für den Weltfrieden jedoch erheblich verbessern. Sie könnte zudem erhebliche Kräfte und Mittel freisetzen zur Entwicklung jenes Weltbürgertums, ohne dessen Heranbildung jeder dauerhafte Friede in der Tat bloße Chimäre bleiben muß.

Dr. Till Bastian, Arzt und Publizist

Augen auf statt »Rechts um«!

Augen auf statt »Rechts um«!

Rechtsextremistische Skandale in der Bundeswehr – wohin driften die Streitkräfte? Interview mit Wolfgang Vogt

von Dr. Wolfgang Vogt und Tobias Pflüger

Tobias Pflüger interviewte für W&F Dr. Wolfgang Vogt, Dipl.-Soziologe, ziviler Dozent und Leitender Wissenschaftlicher Direktor im Fachbereich Sozialwissenschaften an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg, Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung und des Vorstandes von W&F zum Fall Roeder an der Führungsakademie und zu den rechtsextremistischen Umtrieben in der Bundeswehr.

W&F: Wie ist zur Zeit das Klima an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg, nachdem der Ruf der Einrichtung durch den Roeder-Skandal so grundsätzlich ramponiert ist?

W. V.: Es herrscht – soweit ich dies ausmachen kann – in weiten Bereichen ein Klima der tiefen Betroffenheit, der Scham und teilweise auch der blanken Wut über die skandalöse Einladung und Unterstützung von Roeder durch den Stabs- und Organisationsbereich der Führungsakademie. Viele Dozenten – insbesondere meine zivilen wissenschaftlichen KollegInnen aus dem Fachbereich Sozialwissenschaften – sind vor allem deshalb so empört über diesen Vorgang, weil ihre jahrelange, oft mühevolle Arbeit für mehr Pluralität, Offenheit, Zivilcourage und Reflektivität an der Führungsakademie durch das unverantwortliche Handeln eines Obristen aus dem Organisationsstab des damaligen Kommandeurs konterkariert worden ist.

W&F: War es verwunderlich, daß jemand wie Manfred Roeder von der Führungsakademie der Bundeswehr eingeladen wurde?

W. V.: Wenn mir vorher jemand gesagt hätte, daß eine solche Einladung an der Akademie möglich wäre, hätte ich das für absurd gehalten und als üble Unterstellung zurückgewiesen. Ich habe mich persönlich gefragt, wie das passieren konnte bzw. weshalb es erst durch die Presse aufgedeckt worden ist. Warum habe ich selbst erst durch die Presse von dem Skandal erfahren? Als ziviler wissenschaftlicher Dozent für Friedens- und Konfliktforschung bekommt man normalerweise nicht mit, was im Führungskreis und Organisationsstab der Führungsakademie im Detail vor sich geht. Die dort ablaufenden bürokratischen Routineprozesse und militärischen Verwaltungsrituale sind normalerweise auch nicht so erregend oder bedeutsam, daß sie mehr als ein nebensächliches Interesse seitens der wissenschaftlichen DozentInnen finden. Die Organisationsbereiche sind eine Welt für sich, die in relativer Distanz zu den Fachbereichen und Dozenten vorwiegend administrative Aufgaben und keine direkten Lehr- und Forschungsaufgaben wahrnehmen. In diesem Administrativbereich hat der Gastvortrag von Roeder auf Einladung des damals amtierenden Chefs des Stabes stattgefunden. Normalerweise gibt es ein Verfahren für die Einladung von Gastreferenten, das die Einschaltung verschiedener Ebenen und Bereiche vorsieht. Offenkundig erfolgte die Einladung an den vorbestraften Neonazi Roeder, jedoch ohne irgendeine Prüfung und damit außerhalb der üblichen Prozeduren.

W&F: Ist die Einladung Ihrer Einschätzung nach aus rechtsextremistischen Motiven erfolgt?

W. V.: Meine persönliche Einschätzung ist, daß die Einladung nicht aufgrund einer rechtsextremen Gesinnung stattgefunden hat, sondern wohl eher fachliches Unvermögen, intellektuelle Begrenztheit und politische Blindheit die Regie geführt haben. Es liegt aber nicht nur individuelles Versagen vor, sondern der Skandal ist letztlich auf strukturelle Ursachen zurückzuführen, die zum einen in militärspezifischen Strukturmerkmalen und zum anderen in Fehlentwicklungen innerhalb der Bundeswehr liegen.

W&F: War den Verantwortlichen an der Führungsakademie tatsächlich nicht bekannt, wen sie da eingeladen haben? Wer wußte von der Einladung?

W. V.: Wer von der Einladung gewußt hat und was über Roeder bekannt war, das müßte durch die laufenden Untersuchungen herausgefunden werden. Mir scheint jedoch eine unentschuldbare Fahrlässigkeit bei dem/den Verantwortlichen für diese unsägliche Veranstaltung vorgelegen zu haben. Für mich ist die entscheidende Frage, wie jemand in der Bundeswehr zum Oberst befördert und auf eine wichtige (G 3-) Organisationsstelle an der höchsten Ausbildungsstätte der Bundeswehr gesetzt werden kann, dem der landauf und landab bekannte neofaschistische Gewalttäter angeblich nicht bekannt gewesen sein soll. Spätestens bei dem abgesprochenen Vortragsthema (»Übersiedlung von Rußlanddeutschen in den Raum Königsberg«) hätten bei einem halbwegs politisch-demokratisch gebildeten Stabsoffizier sämtliche Lichter aufgehen müssen. Welch ein Abgrund an politisch-demokratischer Nicht-Aufgeklärtheit bei einem Repräsentanten des höheren Offizierkorps! Hier sind für meine Begriffe politische Maßnahmen geboten, die weit über die erforderlichen rechtlichen Disziplinarverfahren hinaus reichen. Nicht ausreichend sind die eingeleiteten Einzelfallbearbeitungen im Stile medienwirksamer, aber unzureichender Symptombehandlung. Notwendig sind vielmehr kritische Aufklärungen und Aufarbeitungen im Sinne einer wirkungsvollen und nachhaltigen Ursachenbeseitigung.

W&F: Ist die Bundeswehr von ihren Strukturen her rechtslastig?

W. V.: Wie jede Armee zieht auch die Bundeswehr tendenziell eher jene Gruppe von Menschen verstärkt an, die den Merkmalen militärischer Organisationen – Befehl und Gehorsam, Sicherheit und Ordnung, Rangordnung und Dienstgrad, Uniform und Disziplin (also den sogenannten »Sekundärtugenden«) – mehr verbunden sind als solche, die eher nach Individualität und Kreativität, Pluralität und Reflexivität streben. Verkürzt gesagt, Streitkräfte rekrutieren durch ihr funktionsbedingtes »Anreizsystem« eher Konservative als Progressive, eher »Rechte« als »Linke«, eher Anpassungstypen als Entfaltungstypen, eher Mitmacher als Bedenkenträger. Alle bekannten empirischen Untersuchungen über die politischen und gesellschaftspolitischen Einstellungen und Haltungen von Soldaten – insbesondere von Unteroffizieren und Offizieren – belegen, daß es in allen Streitkräften eine im Vergleich zur Bevölkerung deutlich rechtsverschobene Verteilung im Einstellungsspektrum gibt. Links von der Mitte existiert eine auffällige Ausdünnung. Insgesamt ist eine geringere Einstellungspluralität und Meinungsvielfalt im Vergleich zum gesamtgesellschaftlichen Verteilungsspektrum auszumachen. Diese Einschränkung der Vielfalt führt zu einem Verlust an kritisch-reflexiver Kontrolle. Bei den Diskussionen in den Kasernen, Kantinen und Kasinos ist man »unter seinesgleichen« und schneller einer Meinung. Erheblich unterrepräsentiert in der Bundeswehr und anderen Armeen sind vor allem die kritischen Geister, die unbequemen Querdenker, die individuellen Unangepaßten, die autonomen Kreativen, die konsequenten Nachfrager und die visionären Frühmerker.

W&F: Wie wirken sich die spezifischen Strukturmerkmale der Streitkräfte auf die Soldaten und deren Prägungen, Einstellungen und Haltungen aus?

W. V.: Der strukturell bedingte Rechtsdrall, der schon durch die relativ einseitige Rekrutierung des Personals zustande kommt (Friedensbewegte verweigern den Wehrdienst, »Linke« meiden den Eintritt in die Armee, »Grüne« halten (noch) kritische Distanz zum Militär) wird noch nachhaltig durch die militärischen Sozialisationsprozesse und durch die vorherrschende Beförderungspraxis verstärkt. Auch moderne Armeen verfügen über ein differenziertes System militärischer Mechanismen, das durch Musterungs-, Einkleidungs-, Gehorsams-, Kontroll- und Sanktionsverfahren aus Zivilisten einsatz- und kampffähige Soldaten macht. Wer diesen militärischen Ritualen und Mechanismen am besten entspricht, hat die größten Chancen auf gute Beurteilungen, schnelle Beförderung und steile Karriere. So ist es nicht verwunderlich, daß die am schnellsten und am höchsten Beförderten in der Regel auch die am besten an die militärischen Regeln Angepaßten sind. Auf diese Weise nimmt die Pluralität der Ansichten und Haltungen in der Tendenz desto mehr ab, je höher die Stufe des erreichten Ranges ist. Die größten Chancen auf die höchsten Posten haben diejenigen, die sich durch besondere Systemanpassung plus Apparattreue ausgezeichnet haben.

W&F: Gibt es Zusammenhänge oder Verbindungen zwischen stark ausgeprägten konservativen bzw. technokratischen Einstellungen in der Bundeswehr und rechstextremistischen Gesinnungen und Gruppierungen in der Gesellschaft?

W. V.: Wenn starken konservativen Effekten und Tendenzen in der Armee (personal-)politisch nicht bewußt entgegengesteuert wird, ist dieses auf Dauer fatal für die Entwicklung und Orientierung eines Unteroffizier- und Offizierkorps. Dann entstehen am rechten Rand der Streitkräfte ultrakonservative Milieus, die von Rechtsextremen als Kontaktfelder und Resonanzböden genutzt werden können. Hier entstehen Grauzonen im Übergang zum Rechtsextremismus. Es gibt Informationskanäle und Beziehungsgeflechte zu »alten« Kameraden und »rechten« Bekannten, die ihrerseits im Dunstkreis rechtsextremer Kreise angesiedelt sind. Deshalb ist es so wichtig, sehr klare und harte Trennungslinien zwischen rechts-konservativen und rechts-extremistischen Haltungen und Gruppierungen zu ziehen. Es muß mit allen politischen und rechtsstaatlichen Mitteln verhindert werden, daß dem wiedererstarkenden Rechtsextremismus über diese Einfallstore und Gesinnungsbrücken eine zunehmende Einschleusung ihrer Ideologien und Propaganda in die Bundeswehr gelingt.

W&F: Was ist von der These zu halten, daß die Begriffe der »Inneren Führung« und des »Staatsbürgers in Uniform« seit der Veränderung des Auftrages der Bundeswehr zu reinen Schlagwörtern geworden sind?

W. V.: Durch die Militarisierung der Sicherheitspolitik – das Militär ist wieder ein »normales« Instrument zur Fortsetzung der Politik mit anderen (Gewalt-)Mitteln geworden – hat sich auch der Charakter der Bundeswehr grundlegend geändert. Die Bundeswehr hat nicht mehr – wie zu Zeiten des Ost-West-Konfliktes – ausschließlich eine defensive Abhalte- und Abschreckungsfunktion, sondern ihr erweitertes Aufgabenspektrum sieht bekannterweise auch offensive Kampfeinsätze im Rahmen von »out-of-area-Missionen« vor. Mit der Aufstellung von sog. Krisenreaktionskräften (KRK) und Kommandospezialkräften (KSK) sind Offensiv- und Interventionspotentiale geschaffen worden – obwohl die Verfassung eigentlich nur die Aufstellung von Streitkräften ausschließlich zur Verteidigung vorsieht. Diese grundlegende Aufgabenveränderung der Bundeswehr hat zu einer Veränderung der Ausbildungsschwerpunkte und zu einer Wandlung des Selbstverständnisses vom Soldaten in den Streitkräften geführt.

W&F: Und wie hat sich die Aufgabenveränderung auf die Ausbildung und das Selbstverständnis in der Bundeswehr ausgewirkt?

W. V.: Im Zuge dieser Umstrukturierungen hat die ursprüngliche Konzeption der Inneren Führung einen drastischen Bedeutungsverlust erfahren. Sie hat in der Praxis längst nicht mehr die übergeordnete Funktion eines sinnstiftenden Reformkonzepts, als das es nach wie vor in vollmundigen Bekundungen der politischen Leitung und der militärischen Führung ausgegeben wird. Spätestens seit dem Amtsantritt des früheren Verteidigungsministers Manfred Wörner ist ein schleichender Verfall der Inneren Führung und der Idee vom Staatsbürger in Uniform zu beobachten, der sich seit Beginn der 90er Jahre beschleunigt hat. Inzwischen ist die Innere Führung zu einer Art technokratischer Managementmethode mutiert, die mehr dem Zweck der Kampfkraftsteigerung als der demokratisch-politischen Bildung und Förderung von »Staatsbügern in Uniform« dient.

W&F: Hat die Innere Führung, die ja ehemals als Reformwerk angelegt war, im Alltag der Bundeswehr überhaupt noch eine Bedeutung?

W. V.: Die Innere Führung und die Politische Bildung haben – wie etwa auch die Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages feststellt – in der Truppenpraxis ihre zentrale Leit- und Wertfunktion im Sinne einer umfassenden Entfaltung und Bildung der individuellen Persönlichkeit der Soldaten als demokratisch eingestellte »Staatsbürger in Uniform« weitgehend verloren. Ihre Prinzipien und Normen sind im Truppenalltag oft nicht mehr die zentralen Bezugspunkte für alles militärische Verhalten. Die Ausbildung von »Kämpfern«, die Vermittlung von sog. »soldatischen Tugenden« (Disziplin, Gehorsam, Kameradschaft etc.) und die Einübung militärischer Techniken und Verfahren (»Handwerkszeug«) ist im Zuge der Funktionsveränderung der Streitkräfte mehr und mehr in den Vordergrund getreten. Das zeigt u.a. die Zunahme entsprechender Themen und Artikel in den einschlägigen militärischen Fachzeitschriften. Das ursprüngliche Reformkonzept ist tendenziell zu einem peripheren Ausbildungsfach geworden. Es wird eher als eine Managementtechnik begriffen und gelehrt denn als »Reformphilosophie« und »Organisationskultur« begriffen und gelebt. General Graf von Baudissin, der »Erfinder« der Inneren Führung und des Leitbilds vom Staatsbürger in Uniform würde »sich im Grabe umdrehen«, wenn er erleben würde, daß die Vorstellungen seiner damaligen Erz-Kontrahenten – der sog. »Traditionalisten« (Karst, Wagemann u.a.) – durch die Neuausrichtung der Streitkräfte mehr und mehr Gewicht bekommen und sich durchgesetzt haben.

W&F: Inwieweit ist eine sozialwissenschaftliche Untersuchung über Bundeswehr und Rechstextremismus notwendig und sinnvoll?

W. V.: Eine solche Untersuchung ist meiner Auffassung nach nicht nur erforderlich, sondern längst überfällig, denn niemand hat ein hinreichend klares und repräsentatives Bild über die Mentalitäten, Entwicklungen und Tendenzen in der Bundeswehr. Die im Militär üblichen Melde- und Informationsverfahren reichen nicht aus, um der Leitung und Führung der Streitkräfte ein hinreichend umfassendes und verläßliches Bild über das Denken und Handeln in den weit verzweigten Truppenteilen zu ermöglichen. Auf den langen Dienst- und Berichtswegen von unten nach oben werden – wie in allen großen Organisationen üblich – oft geschönte Informationen befördert. Bei angekündigten und intensiv vorbereiteten Truppenbesuchen wird in aller Regel eine perfekte Show abgezogen, die mehr von den tatsächlichen Zuständen und Problemen vor Ort verbirgt als aufzeigt. Und bei den kurzen – oft sehr formalisiert ablaufenden – Gesprächen und Zusammentreffen mit höheren Vorgesetzten oder Politikern ist auch nicht viel mehr zu erfahren als das, was nach den Regeln der »political correctness« gesagt und gehört werden soll. Ich halte es für unerläßlich, daß die Verhältnisse und Entwicklungen in der Bundeswehr mit geeigneten Methoden von außen untersucht werden.

W&F: Wie müßte eine solche Untersuchung angelegt und durchgeführt werden?

W. V.:Eine solche Untersuchung sollte nicht nur mögliche rechtsextremistische Tendenzen zum Analysegegenstand haben, sondern breiter angelegt sein. Sie sollte eine kritische Bestandsaufnahme über die Entwicklung und den Stand der Inneren Führung in der Bundeswehr zum Thema haben. Deshalb hielte ich es für angemessener, eine Enquete-Kommission von unabhängigen Experten mit der Untersuchung der Zustände in der Bundeswehr zu beauftragen. Aufzudecken wären Risikokonstellationen, die durch das Zusammenwirken von strukturellen Bedingungen, institutionellen Regelungen und personellen Konstellationen systematisch dazu führen, daß dem Rechtsextremismus Raum und Klima zur Entfaltung bereitet wird. Die demokratische Gesellschaft hat einen legitimen Anspruch zu wissen, was in der Institution vor sich geht, die mit dem massivsten Gewaltmonopol ausgestattet ist.

W&F: Macht eine solche Untersuchung Sinn, wenn sie vom »Sozialwissenschaftlichen Institut der Bundeswehr« durchgeführt wird, oder ist es sinnvoll, eine solche Untersuchung nach »außen« zu geben?

W. V.: Eine solche Studie macht nur Sinn, wenn sie von »außen« – z.B. durch die unabhängige Forschungsgruppe von Prof. Wilhelm Heitmeyer aus Bielefeld – durchgeführt wird. Dieses renommierte Forschungsteam hat in den letzten Jahren einschlägige Untersuchungen über Rechtsextremismus und Gewalt vorgelegt, die durch ihre professionelle Qualität ausgewiesen sind. Das Sozialwissenschaftliche Institut der Bundeswehr (SOWI) scheint mir dagegen nicht geeignet, da es durch die in den letzten Jahren politisch verordneten »Reformen« nachhaltig an Unabhängigkeit vom dienstlichen Auftraggeber verloren hat. Das SOWI wurde nicht nur an die Akademie für Kommunikation (ehemals Psychologische Verteidigung) angegliedert und in seinen ursprünglichen Kompetenzen stark beschnitten, sondern auch anstelle der zivilen wissenschaftlichen Leitung mit einer militärischen Führung versehen. Ein in die militärische Hierarchie eingebundener, wissenschaftlich nicht einschlägig ausgewiesener Oberst wurde als SOWI-Leiter eingesetzt. Unter diesen strukturellen und personellen Bedingungen läßt sich leicht vorstellen, welche politisch genehmen Ergebnisse eine interne Untersuchung durch das SOWI aller Voraussicht nach erbringen würde. Die rechtsextremen Skandale in der Bundeswehr sind aber ein gesellschaftspolitisch zu ernstes Problem, als daß man ihre Untersuchung militärinternen und hierarchieverpflichteten Instanzen überlassen oder übertragen sollte. Es bedarf der kritischen, unabhängigen und professionellen Expertise von außen.

W&F: Wie sind die bisherigen Reaktionen und Maßnahmen der Bundeswehrführung zu beurteilen?

W. V.: Das vermag ich im Detail nicht zu beurteilen, weil mir dazu nicht alle inzwischen getroffenen Maßnahmen hinreichend bekannt sind. Aber eine Reihe der offensichtlichen Strategien scheinen mir wenig geeignet, die Skandale politisch und praktisch angemessen zu bewältigen und in ihren Ursachen wirkungsvoll zu behandeln. So wurden durch die sog. Einzelfallthese die Skandale seitens der Bundeswehrführung nicht nur verharmlost, sondern durch eine Personalisierung auch auf eine ungebührliche Weise entpolitisiert. Durch die Abschirmung der Bundeswehr gegen eine empirische Untersuchung wurde der Verdacht genährt, daß man etwas zu verbergen hätte. Und durch die teilweise heftig vorgetragene Presseschelte (»Dreckschleuder«, »Trittbrettfahrer« etc.) wurde – nach dem fragwürdigen Motto »Angriff ist die beste Selbstverteidigung« – der durchsichtige Versuch unternommen, die kritischen Blicke von den eigentlichen Problemen abzulenken. Schließlich scheinen mir auch demonstrative Truppenbesuche im Kampfanzug nicht sonderlich geeignet, um das angeknackste Vertrauen in die Bundeswehr (und ihre Leitung) wiederherzustellen.

W&F: Was wären angemessene Reaktionen auf den Roeder-Skandal?

W. V.: Der Skandal und die ihn bedingenden Umstände bestärken mich in meiner seit Jahren intern immer wieder zum Ausdruck gebrachten Einschätzung, daß die Führungsakademie einer einschneidenden Reform bedarf. Es geht dabei um eine Reduzierung überholter militärischer Organisations- und Disziplinierungsstrukturen zugunsten einer Stärkung akademischer Qualifizierungs- und Professionalisierungsstrukturen, damit die Akademie endlich auf ein »post-universitäres« Hochschulniveau gebracht wird. Die »höchste militärische Ausbildungsstätte« – wie sie gerne in Festreden führender Politiker und Militärs bezeichnet wird – müßte endlich durch eine generelle Anhebung der wissenschaftlichen Qualität in der Lehre, durch eine professionellere Besetzung der Dozenturen und durch eine angemessene Ausstattung mit Ressourcen für eine qualifizierte Forschung so grunderneuert werden, daß die schmückende Bezeichnung »Akademie« nicht nur in großen Buchstaben auf einer eindrucksvollen Bronzetafel am Eingang zu lesen ist, sondern der darin enthaltene Anspruch auch durchgängig in Lehre und Forschung praktiziert wird. Es bedarf einer Durchlüftung und Entstaubung vieler Traditionsecken, -wände und -räume in der Akademie und der Einrichtung von Innovationszentren für die Optimierung der Inneren Führung und der Politischen Bildung. Darüber hinaus geht es um die Mobilisierung von Ideen und Visionen zur Zivilisierung der Sicherheitspolitik.

W&F: Und wie müßte auf die Serie der rechtsextremistischen Vorfälle in der Bundeswehr reagiert werden?

W. V.: Neben einer rückhaltlosen Aufklärung der rechtsextremistischen Vorfälle in der Bundeswehr und der Hintergründe der Roeder-Affäre an der Führungsakademie durch die zuständigen Stellen im Verteidigungsministerium und durch den Parlamentarischen Untersuchungsausschuß ist eine disziplinare Prüfung bzw. Bestrafung derjenigen Vorgesetzten und Soldaten vorzunehmen, die in irgendeiner schuldhaften oder fahrlässigen Weise in die rechtsradikalen Vorfälle verwickelt sind.

Die straf- oder disziplinarrechtliche Verfolgung der »Einzelfälle«, die durch ihre große Zahl und zeitliche Häufung in der Tat längst zu einer Serie rechtsextremistischer Vorfälle geworden sind, ist eine notwendige, aber bei weitem nicht hinreichende Maßnahme. Es bedarf eines ganzen Bündels von Reformen, die der Verteidigungsminister endlich entwickeln und durchsetzen müßte. Damit die Ursachen beseitigt werden, die letztlich zu den rechtsextremistischen Vorfällen in den Streitkräften geführt haben, müßten folgende Reformschritte erfolgen:

  • Die Reaktivierung des Leitbildes vom Staatsbürger in Uniform und der Ausbau des Konzeptes der Inneren Führung zu einer umfassenden demokratischen Organisationskultur im ursprünglichen Sinne der Vorstellungen des Reformgenerals Wolf Graf von Baudissins;
  • die Aktivierung, Pluralisierung und Demokratisierung der politischen, historischen und demokratischen Bildung u.a. durch eine institutionalisierte Zusammenarbeit zwischen den Bundes- und Landeszentralen der politischen Bildung und den Truppenteilen und Organisationseinheiten der Bundeswehr;
  • die Einstellung von Werbekampagnen für die Bundeswehr, die mit Hinweisen auf Abenteuerlust, Technikfaszination und Sekundärtugenden eine fragwürdige Rekrutierungspolitik betreiben und damit besonders jene rechtsextremen Kreise ansprechen, über deren Wirken und Auftreten in der Bundeswehr man sich dann verwundert zeigt;
  • die grundlegende Überarbeitung der personalpolitischen Auswahl- und Beförderungskriterien, damit die Einstellungen und Befähigungen von Vorgesetzten zur Anerkennung und Umsetzung der Grundsätze der Inneren Führung wesentlich stärkere Berücksichtigung in der Beförderungspraxis finden und die vorbildliche Befolgung dieser Prinzipien mit einem karriererelevanten Anreiz versehen wird; und schließlich
  • die Einsetzung einer Enquete-Kommission von unabhängigen Experten aller politisch-demokratischen Schattierungen mit dem Ziel einer generellen Bestandsaufnahme über »Geist und Klima« in der Bundeswehr.

Noch ein Wort zum Abschluß: So wichtig die Aufklärung und Abstellung rechtsextremistischer Vorgänge in der Bundeswehr ist, sollte das aber nicht verhindern, wieder intensiver über die wesentlichen Fragen nachzudenken: wie das Militärische in der Politik abgebaut, wie die Streitkräfte weiter reduziert und wie die Abrüstung vorangebracht werden kann. Am Ende unseres Jahrhundert geht es vor allem um die politische Umsetzung der Vision einer Zivilisierung, d.h. um präventive Gewaltreduzierung, zivile Konfliktregulierung und nachhaltige Friedensgestaltung.

Rechtsextreme und Bundeswehr

Rechtsextreme und Bundeswehr

Verteidigungsausschuß tagt als Untersuchungsausschuß / Bundestagsanfragen SPD und Bündnis 90/Die Grünen

von SPD – Bündnis 90/Die Grünen

Auf Antrag der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/ Die Grünen hat sich der Verteidigungsausschuß des Bundestages nach den Vorfällen in der Führungsakademie der Bundeswehr als Untersuchungsausschuß konstituiert. Grundlage der Arbeit ist ein Antrag der SPD. Obwohl die Anträge der SPD und der Grünen in weiten Bereichen übereinstimmen, konnten sich beide Parteien nicht auf einen gemeinsamen Antrag einigen. Dabei gibt es eine weitgehende inhaltliche Übereinstimmung in den Komplexen

  • »Innere Führung« und politische Bildung
  • Praxis der Traditionspflege
  • Verhältnis Armee – Gesellschaft

Der wesentlich umfangreichere Antrag der Grünen geht in einigen Bereichen über diese Gemeinsamkeit hinaus. Er fragt auch

  • nach Umfang und Hinlänglichkeiten der Frühwarn- und Verhinderungsmechanismen, nach wissenschaftlichen Analysen und MAD-Aktivitäten
  • nach den Kriterien bei der Auswahl des Nachwuchses und
  • nach dem Reformbedarf der Streitkräfte.

Wir dokumentieren im folgenden die beiden Anträge im Wortlaut

Antrag der SPD Fraktion

Konstituierung des Verteidigungsausschusses als Untersuchungsausschuß nach Artikel 45a,<0> <>Abs.<0> <>2 des Grundgesetzes

Der Verteidigungsausschuß als Untersuchungsausschuß wolle beschließen:

Der Verteidigungsausschuß konstituiert sich zur parlamentarischen Untersuchung von rechtsextremistischen Vorkommnissen an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg und an anderen Standorten der Bundeswehr als Untersuchungsausschuß nach Art.<0> <>45a, Abs.<0> <>2GG.

Gegenstand der Untersuchungen

soll dabei sein:

1. die gegenwärtige innere Lage der Bundeswehr anhand

1.1 der geistigen Orientierung der Vorgesetzten und ihrer Bindung an die freiheitlich demokratische Grundordnung und an das Leitbild des Staatsbürgers in Uniform, u. a. am Beispiel der Einladung eines Rechtsterroristen und seines Vortrages an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg und seiner weiteren Kontakte zur Bundeswehr und in diesem Zusammenhang:

1.1.1. Materiallieferungen der Bundeswehr und Nutzung von Bundeswehrliegenschaften durch verfassungsfeindliche Organisationen, u. a. am Beispiel des »Deutsch-Russischen Gemeinschaftswerkes«.

1.1.2. die damit in Verbindung stehenden Vorgänge zwischen anderen Bundesbehörden und Dienststellen des Bundesministers der Verteidigung und den Nachrichtendiensten.

1.2. des Menschenbildes, des Führungsverhaltens und des Stellenwertes der Aus- und Weiterbildung, u. a. an den Beispielen der ausländerfeindlichen Vorfälle in Detmold, der Video-Skandale in Hammelburg und Schneeberg sowie der rechtsextremistischen Vorfälle in Altenstadt/Schongau, Landsberg und Varel;

2. die Rahmenbedingungen für die Innere Führung und die politische Bildung,

2.1. ob angepaßtes Verhalten in der Führungshierarchie immer mehr die Zivil- bzw. Militärcourage ersetzt;

2.2. ob der erweiterte Auftrag der Bundeswehr und ob beispielsweise die Einsätze in Kambodscha, Somalia und Bosnien das Verständnis von Innerer Führung verändert haben;

2.3. ob Wehrbeschwerde und Wehrdisziplinarordnung noch strikt nach ihrem Wesensgehalt und vor allem nach dem Leitbild des Staatsbürgers in Uniform angewendet werden.

3. die Konsequenzen, die aus den Berichten des/der Wehrbeauftragten zu rechtsextremistischem Verhalten von Soldaten, zur Verschlechterung der Rahmenbedingungen für die Innere Führung und die politische Bildung und zu unzulässigen Formen der Traditionspflege gezogen wurden.

4. die Realität des Traditionsverhaltens,

4.1. die Formen der Traditionspflege, u.a. am Beispiel des Traditionsraumes beim Jagdbombergeschwader 33 in Büchel;

4.2. ob die Traditionspflege und das Traditionsverhalten noch mit dem Traditionserlaß von 1982 übereinstimmen.

5. ob und zu welchem Zeitpunkt die Bundesregierung über die rechtsextremistischen Vorfälle informiert war und was sie unternommen bzw. unterlassen hat, um diesem Sachverhalt zuvorzukommen bzw. abzuhelfen.

6. die Verantwortung des Bundesministeriums der Verteidigung für die vorgenannten Fälle und das Führungsverhalten des Ministers und die Auswirkungen seiner Personalentscheidungen auf das Vertrauen der Angehörigen der Bundeswehr.

Antrag der Fraktion

Bündnis 90/Die Grünen

Konstituierung des Verteidigungsausschusses als Untersuchungsausschuß nach Art. 45a, Abs. 2 GG

Der Verteidigungsausschuß wolle beschließen:

Der Verteidigungsausschuß konstituiert sich zur parlamentarischen Untersuchung von gewalttätigen, rechtsextremen, nationalautoritären oder fremdenfeindlichen Vorkommnissen, die an Standorten und Einrichtungen der Bundeswehr sowie im Verantwortungsbereich des Bundesministers der Verteidigung oder unter Beteiligung von Bundeswehrangehörigen stattgefunden haben, als Untersuchungsausschuß nach Art 45a Abs. 2GG.

Gegenstand der Untersuchung

soll dabei sein:

I. Umfang und Charakter der Vorkommnisse, insbesondere

1. ob Zusammenhänge zwischen den Vorfällen mit rechtsextremem, gewalttätigem, fremdenfeindlichem oder nationalautoritärem Hintergrund zu erkennen sind und ggf. welche und ob daraus auf eine gezielte Durchdringung bzw. Ausnutzung der Bundeswehr oder auf die Herausbildung subkultureller Netzwerke oder Gruppen in der Bundeswehr durch Personen oder Organisationen rechtsextremen, fremdenfeindlichen oder nationalautoritären Hintergrundes zu schließen ist;

2. ob und in welchem Umfang Liegenschaften des Bundesministeriums der Verteidigung bei Vorfällen oder durch Personen und Organisationen mit rechtsextremem, gewalttätigem, fremdenfeindlichem oder nationalautoritärem Hintergrund genutzt wurden;

3. ob und in welchem Umfang Erkenntnisse der zuständigen Verfassungsschutzorgane, der Polizei, des Militärischen Abschirmdienstes, des BND, der Stabsabteilungen des BMVg und aus öffentlich zugänglichen Quellen zu Frage I.1 vorliegen, und seitens der staatlichen Organe bewertet werden;

4. ob, wie, in welchem Umfang und mit welcher Zielsetzung seitens des BMVg eine Auswertung dieser Erkenntnisse erfolgt sowie welche Maßnahmen diesbezüglich eingeleitet wurden und werden.

II. Die Praxis der Traditionspflege in den Streitkräften, insbesondere

1. ob und welchem Umfang diese der Erlaßlage entspricht;

2. ob und welche Erkenntnisse der zuständigen Stabsabteilungen des BMVg (z.B. Fü S I, Fü H I, Fü L I, Fü M I) und aus öffentlich zugänglichen Quellen zu Frage II.1 vorliegen und wie diese dort bewertet werden;

3. ob, wie, in welchem Umfang und mit welcher Zielstellung seitens des BMVg eine Auswertung dieser Erkenntnisse erfolgt und welche konkreten Maßnahmen diesbezüglich eingeleitet wurden bzw. werden;

4. die Praxis und Formen der Traditionspflege in den drei Teilstreitkräften an ausgewählten Beispielen und im Hinblick auf soldatische Vorbilder;

5. Umfang und Charakter von sowie Gründe und Begründungen für Patenschaften und Aktivitäten zwischen Einheiten, Verbänden und Einrichtungen der Bundeswehr mit Traditionsverbänden oder Organisationen der ehemaligen Wehrmacht;

6. ob, in welchem Umfang und mit welchen Themen und Vorbildern bei der Aus- und Weiterbildung von Soldaten und Vorgesetzten Traditionsbezug auf die Wehrmacht genommen wird;

7. die Auswirkungen, welche die Praxis von Traditionspflege, Traditionsverhalten und Vorbildauswahl auf das Verständnis der Soldaten aller Dienstgrade von zulässigen und unzulässigen Formen von Traditionspflege und -verhalten haben.

III. Die Rahmenbedingungen und das Umfeld, welches die Bundeswehr für o.g. Vorkommnisse vorgibt, insbesondere

1. welche Konsequenzen und Ergebnisse der bundeswehrinternen Auseinandersetzung zwischen »Traditionalisten« und »Funktionalisten« auf der einen sowie »Reformern« auf der anderen Seite festzustellen sind und welche Auswirkungen diese auf Verhalten und Sozialisation insbesondere des Führungspersonals haben;

2. ob, in welchem Umfang und welche Mängel bei Konzeption und Umsetzung der Inneren Führung die o.g. Vorkommnisse begünstigt und unzulänglich verhindert haben;

3. ob, in welchem Umfang und welche Mängel bei der Ausbildung, Erziehung und politischen Bildung sowie der Vermittlung von Traditionsverständnis die o.g. Vorkommnisse begünstigt oder unzulänglich verhindert haben; dies schließt die Frage ein, ob und in welchem Umfang o.g. Vorkommnisse durch Vorgesetzte toleriert, gefördert oder gar herbeigeführt wurden;

4. ob und in welchem Umfang Bürokratisierung und Aufgabenüberfrachtung dazu beigetragen haben, daß die o.g. Vorkommnisse begünstigt oder unzulänglich verhindert wurden;

5. ob und in welchem Umfang die politische Leitung und/oder die militärische Führung der Bundeswehr die Erziehung zum »Staatsbürger in Uniform« und das Verständnis von »Innerer Führung« sowie das Soldatenbild im Kontext der Erweiterung der Aufgaben der Bundeswehr (Auslandseinsätze, Aufbau der KRK und des KSK) »Ausbildungserfordernissen« hintangestellt und dadurch dazu beigetragen haben, daß die o.g. Vorkommnisse begünstigt oder unzulänglich verhindert wurden;

6. ob und in welchem Umfang die Veränderungen in der sozialen Zusammensetzung der Bundeswehr zu einer Verschlechterung der Rahmenbedingungen für die Umsetzung der Konzeption der Inneren Führung sowie des Leitbildes vom Staatsbürger in Uniform beigetragen haben;

7. ob und in welchem Umfang sich der Stellenwert des Menschenbildes des Grundgesetzes in der Aus- und Weiterbildung der Führer verändert hat;

8. ob und welche Erklärungsansätze für die rechtsextremen, gewalttätigen, fremdenfeindlichen und nationalautoritären Vorkommnisse im Zuständigkeitsbereich des BMVg erarbeitet wurden und welche Schlußfolgerungen daraus gezogen wurden;

9. ob und in welchem Umfang die Handhabung der Wehrdisziplinarordnung und der Wehrbeschwerdeordnung auf Mängel in der Ausbildung schließen läßt;

10. ob und in welchem Umfang Zivilcourage zur Offenlegung o.g. Vorkommnisse in der Bundeswehr gefördert wird und inwieweit Reaktionen vorgesetzter Stellen auf die Offenlegung solcher Vorkommnisse geeignet sind zivil-couragiertes Verhalten zu unterbinden;

11. wie und mit welchen Weisungen mitbestimmungsgesetzliche Regelungen des novellierten Soldatenbeteiligungsgesetzes (SBG neu) in den Gesamtstreitkräften und in den einzelnen Teilstreitkräften umgesetzt, durchgesetzt oder konterkariert wurden?

IV. Umfang und Hinlänglichkeit der Frühwarn- und Verhinderungsmechanismen für o.g. Vorkommnisse im Verantwortungsbereich des BMVg, insbesondere

1. ob und welche Untersuchungen dem BMVg über die geistige und politische Orientierung der Soldaten, von Vorgesetzten und Führern sowie von ausscheidenden bzw. ausgeschiedenen Offizieren vorliegen und zu welchen Aussagen diese ggf. bezüglich der Orientierung auf die freiheitlich demokratische Grundordnung, die Prinzipien der Inneren Führung und das Leitbild des Staatsbürgers in Uniform sowie bzgl. eines ggf. bestehenden Nachsteuerungsbedarfes kommen;

2. ob und in welchem Umfang das Bundesministerium der Verteidigung die Möglichkeiten

  • der Führungsstäbe Fü S I, Fü H I, Fü L I, Fü M I
  • des Zentrums für Innere Führung
  • des Sozialwissenschaftlichen Institutes der Bundeswehr
  • der Akademie für Information und Kommunikation
  • des Fachbereiches Sozialwissenschaften der Führungsakademie
  • der sozialwissenschaftlichen Fachbereiche der Bundeswehr-Hochschulen

zur Früherkennung, Prävention und Verhinderung o.g. Vorkommnisse genutzt bzw. nicht genutzt hat;

3. ob und in welchem Umfang der MAD und/oder ggf. andere dienstliche Stellen bei der Früherkennung, der Erkenntnisgewinnung und der Prävention von rechtsextremen, fremdenfeindlichen, gewalttätigen oder nationalautoritären Tendenzen bei Bundeswehrsoldaten tätig geworden sind und das BMVg inwieweit gewonnene Informationen zur Prävention und Verhinderung o.g. Vorkommnisse genutzt bzw. nicht genutzt hat;

4. ob und welche Vorkehrungen das BMVg getroffen hat, um sich bei der Anwerbung und Rekrutierung neuer Soldaten vor Rechtsextremisten und für fremdenfeindliche, rechtsradikale, gewalttätige und nationalautoritäre Positionen bzw. Handlungen anfällige Personenkreisen zu schützen sowie Frühwarnung zu erhalten, wenn Soldaten ein extremes, sogenanntes atavistisches (Stichworte: Jünger, Rambo), soldatisches Selbstverständnis zeigen;

5. welche qualitativen Kriterien für die Auswahl des rekrutierenden Personals von wem bzw. welchen Stellen festgelegt wurden;

6. welche Schlüsse im Einzelnen das BMVg aus den Berichten der jeweiligen Wehrbeauftragten gezogen und welche Maßnahmen zur Abhilfe es mit welchen Ergebnissen und Überprüfungen geschaffen hat?

V. Der Reformbedarf im Verantwortungsbereich des Bundesministers der Verteidigung nach Art, Umfang und Qualität, insbesondere in den Bereichen

1. Weiterentwicklung und Umsetzung des Leitbildes vom Staatsbürger in Uniform;

2. Weiterentwicklung und Umsetzung des Konzeptes der »Inneren Führung«, incl. deren sozialwissenschaftliche Grundlegung und die Rolle der Wissenschaft dabei;

3. Bildungs- und Erziehungskonzept,

4. Traditionsbezug, sowie

5. Auswahlverfahren für Unteroffiziere, Offiziere und insbesondere Stabsoffiziere und Generalstabsoffiziere sowie deren jeweilige Ausbildung.

VI. Exemplarische Vorfälle von gewalttätigen, rechtsextremen, nationalautoritären bzw. fremdenfeindlichen Vorkommnissen oder fragwürdigen Formen der Traditionspflege wie z.B. in Altenstadt, Hammelburg, Schneeberg, Hamburg (Auftritt M. Roeder an der Führungsakademie), Hamburg-Neuengamme, Landsberg, Detmold, Magdeburg und andernorts.

VII. Die Verantwortung der politischen und militärischen Führung für derlei Vorkommnisse sowie für Faktoren, die solche Vorkommnisse in der Bundeswehr begünstigen oder nicht verhindern.

Ein Gespenst geht um in Deutschland

Ein Gespenst geht um in Deutschland

Der Traditionalismus in der Bundeswehr

von Detlef Bald

Nimmt man dieSüddeutsche Zeitung (SZ), dann hat „die demokratische Gesellschaft… die Armee zivilisiert.“ So jedenfalls der Tenor eines Kommentars, der im Dezember 1997 zu den politisch auffälligen Ereignissen im deutschen Militär erschien. Die SZ spielte damit auf die grundlegend neue Gestalt an, die die Bundeswehr im Verhältnis zur langen Geschichte des vorausgehenden Militarismus eingenommen hat. Diese Aussage ist zutreffend, wenn damit allgemein die Anerkennung, die Gültigkeit, der Primat der grundgesetzlichen Werte gemeint ist. Fünfzig Jahre nach dem Ende des Nationalsozialismus sind die Republik und ihr parlamentarisches Geflecht an politischen Institutionen zweifelsohne vom Militär akzeptiert. Die Bundeswehr ist nicht putschverdächtig.

Ob solche fundamentalen Feststellungen, wie die Bundeswehr sei durch die Gesellschaft zivilisiert, angemessen sind, das kennzeichnend Relevante der 170 dokumentierten Vorfälle rechtsextremer Art in der Bundeswehr zu erfassen, steht auf einem ganz anderen Blatt. Die Aussage, wenn sie nicht als These überhaupt zu befragen ist, überzieht. Sie ist hinsichtlich der konkreten Details zu verallgemeinernd, zu übertreibend, folglich – tendenziell – zu verharmlosend; die »Gesellschaft« ist halt so – Menschen aus dem Ausland wurden durch Straßen gejagt, ihre Häuser angezündet, Witze verbreitet… Daher natürlich auch in der Bundeswehr?

„Jetzt schlägt in der Bundeswehr die Stunde der Inneren Führung“, ließ General Günther Kießling zur gleichen Zeit im Hamburger Abendblatt seine Klärung der öffentlichen Ärgernisse aus dem deutschen Militär ausklingen und präzisierte: „Ihrer Herausforderung gerecht zu werden, bedingt auch, daß die Führung in Krisen die Nerven behält.“ Das ist die Reaktion auf Friktionen im Gebälk des Militärs; es knirscht und was geschieht? Ruhe behalten, nicht die Nerven verlieren. Die Aussagen beider Zeitungen sind bezeichnend für den Umgang mit dem Militär, jedoch oberflächlich, Sprachhülsen gleich, deren große Zahl die Jahrzehnte der Bundeswehr umkränzen – doch eine Sprachlosigkeit gegenüber der Bundeswehr belegen. Es fällt schwer, mit der Bundeswehr umzugehen.

Das wichtigste Mißverständnis, wenn nicht die verschleiernde Absicht, liegt darin, der Gesellschaft pauschal die ursächliche Verantwortung für Verhältnisse in der Bundeswehr zu geben. Es geht jedoch um das wichtigste Machtinstrument des Staates. Handelnd und verantwortlich sind Parlament, Parteien, Politik. Kanzler und Kabinett, Minister und Ministerium haben die Kompetenz der Richtlinien und der Erlasse. Mit dem Jahr 1982 und der »Politik der Wende« begann die restaurative Ära. Fünfzehn Jahre einer intendierten Politik bestimmter als konservativ proklamierter Werte, wie sie programmatisch vorgestellt worden sind. Es geht nicht um »konservativ« überhaupt, sondern um die Parteipolitik der »konservativen Wende«. Das muß unterschieden werden. Die »konservative Wende« verstand sich als Politik der restaurativen Korrektur. Sie wollte Orientierung bieten, indem das traditionalistische Soldatenbild der Vergangenheit rekultiviert wurde. Schon Manfred Wörner, der erste Minister der Wende auf der Hardthöhe, griff massiv richtungsbestimmend und meinungsprägend ein, als er umgehend Ziele und Strukturen des militäreigenen Bildungswesens neu akzentuierte. Alle wesentlichen Ebenen waren davon betroffen: die Unteroffizier- und Offiziersschulen, die Bedingungen zum Studium an den Universitäten, die Lehrgänge für Stabsoffiziere und die für den Generalstabsdienst an der Führungsakademie der Bundeswehr. Die gesamte Ausbildung, die handwerklich-taktische sowie die historische und die politische Bildung, wurden traditionalistisch mit dem Ideal des »Kämpfer«-Soldaten »kriegsnah« ausgerichtet. Das hatte weitreichende Auswirkungen für das Selbstverständnis, das Berufsbild, die Tradition und das Auftreten der Militärs. Dieses Umschleifen der Bildungspolitik in der Bundeswehr bewirkte über die Reduktion der Pädagogik im Militär die Reduktion der Inneren Führung.

Wende öffnete Traditionalisten die Tore

Die »Wendepolitik« öffnete dem »Traditionalismus« des Militärs die Tore. Sie brauchte dabei gar nicht weit in die Geschichte zu gehen, sie konnte sich auf die Jahrzehnte des Anfangs der Bundeswehr beziehen. Denn die Geschichte des Militärs der Bonner Republik ist zwiespältig. Ein Blick zurück kann dies verdeutlichen. Da steht am Anfang der Begriff »Staatsbürger in Uniform«. Im Jahr 1950 hatte General Wolf Graf von Baudissin ihn aufgegriffen, um die Militärreform in der Bundesrepublik leitend zu bestimmen. »Staatsbürger in Uniform« war weder willkürlich noch zufällig. Es ging darum, auf den Militarismus im Nationalsozialismus eine Antwort zu geben, genau so wie General Gerhard von Scharnhorst nach 1806 gegen den damaligen Militarismus, den auch er als »Staat im Staate« erkannte, antrat. Was ist das Fortschrittliche, für die Demokratie von Bonn Vorbildhafte, wenn Baudissin an der, wie er damals sagte, „steckengebliebenen Reform“ von 1819 anzuknüpfen bestrebt blieb? Damit ist mehr als die einfache Sinnfrage für das Militär gestellt.

»Staatsbürger in Uniform« ist das Synonym für die Militärreform, gern als Ideal vom zivilen Bürger im militärischen Dienst bezeichnet, oder: um das Militär angemessen in den demokratisch-parlamentarischen Staatsaufbau einzugliedern und um es schließlich in grundsätzlicher Übereinstimmung mit der pluralistischen Vielfalt einer offenen Gesellschaft zu halten. Wie zuvor Scharnhorst die freiheitlichen, gleichheitlichen und gleichberechtigten Normen der bürgerlichen Revolution wollte nach 1949 Baudissin die Grundwerte des Grundgesetzes im Militär verwirklichen, um durch die Reform den »military mind«, den Untertanengeist, die Unterdrückung zu überwinden und eine zivil verträgliche, eine pluralistische Konstitution herzustellen. Damit sollte die politische Abgeschlossenheit des Korps der Offiziere – dienstlich durch Sozialprotektionismus und Verpflichtung durch den »Adel der Gesinnung« vom Kaiserreich bis zum Nationalsozialismus ideologisiert – ein für alle Male aufgehoben werden. Es sollte der Nährboden für das Milieu soldatischer »Gesinnung« beseitigt werden. Das Militär sollte demokratietauglich und gesellschaftsfähig werden. Wie dies Phänomen der »Kongruenz« zeitgemäß von Baudissin bezeichnet wurde. In dieser Bestimmung liegt der historisch tatsächlich revolutionäre Ansatz der Militärreform, die nach 1950 versucht wurde. Schon das Wort vom »Staatsbürger in Uniform« ist ein Programm, das in der deutschen militärischen Geschichte immer nur bruchstückhaft und zu wenigen Zeiten Geltung hatte: wie nach 1806, so nach 1848 und nach 1918 – und jeweils gescheitert war.

Der »vierte Ansatz« zur Reform des Militärs hatte jedoch, außer im legislativen, um 1955 geschmiedeten Korsett, bis zum Ende der sechziger Jahre fast keinen Erfolg. Am Anfang der Bundeswehr stand die Zwiespältigkeit. Die Mehrheit der Offiziere lehnte die Gültigkeit der Reform als Maßstab des inneren Aufbaus ab. Im Jahr 1969 waren maßgebliche Generale, auch Baudissin, im Rückblick auf fast 20 Jahre Arbeit resignierend zu der Feststellung gelangt, die Reform – ihr Werk – sei gescheitert. Helmut Schmidt hat dann nach 1969 als Verteidigungsminister auf der Hardthöhe die entscheidende Politik zur Reform des Militärs im Einklang mit dem alten Konzept von Baudissin umgesetzt. Gegen heftige Widerstände, angeführt von der damaligen Opposition von CDU/CSU. Nach 1982 wurde bewußt die »Wende« durch die bildungspolitische Gegensteuerung eingeleitet, offensichtlich mit viel Schwung.

Das ist ein Teil der deutschen Militärgeschichte – der Bundeswehr der Bonner Republik, nicht der Wehrmacht. Und mit dieser Geschichte umgehen heißt kritisch und klar fragen, warum die Bundeswehr seit den fünfziger Jahren mit ihrer demokratischen Militärreform derartige Probleme hatte und warum sie den Kräften gegen die Reform, den »Traditionalisten«, politisch und organisatorisch Handlungs- und Entscheidungsraum gab. Die Probleme am Ende der neunziger Jahre liegen auch im Anknüpfen an die »traditionalistischen« Anfänge der Bundeswehr. Man kann sie von daher miterklären, ohne sie von daher allein begründen zu wollen.

Einige Beispiele aus der Geschichte der Bonner Republik mögen dies verdeutlichen. Als Baudissin seine Arbeit im Amt Blank begann, wurde sein Referat »Inneres Gefüge« genannt. Nomen est omen; die Militärreform sollte auf Fragen der sozialen Beziehungen zwischen den Soldaten beschränkt werden, bevor sie überhaupt entworfen worden war. Dann kam noch etwas hinzu, das mehr als eine semantische Frage war. »Inneres Gefüge« war kein Wort der Reform. Es war der Begriff, der in der Wehrmacht 1942 von nationalsozialistischer Seite eingeführt worden war, um Elemente der »feudalen« Struktur aus der Reichswehrvergangenheit der Wehrmacht zu beseitigen. »Inneres Gefüge« wollte den verdeckten Bezug zur Wehrmacht. Kein demokratischer Neuanfang, keine demokratische Stunde Null war hiermit verbunden. Baudissin benötigte zwei Jahre Auseinandersetzungen, bevor er im Jahre 1953 die Neuorientierung für die Bundeswehr mit dem Begriff der »Inneren Führung« verbinden konnte.

Reformer contra Traditionalisten

Die kleine Gruppe der Reformer stand den »Traditionalisten« gegenüber, die die Mehrheit und die Macht hatten. Sie knüpften direkt an ihrem Vorbild, der gerade erlebten Form des Militärs, also der Wehrmacht, an. Das heißt, sie übernahmen das Offiziersbild, das Kriegs- und Berufsverständnis, die operativen Vorstellungen für den militärischen Einsatz, aber natürlich auch die Organisationsvorbilder, die Ausbildungsstrukturen und

-ziele, die soziale Abgrenzung, die Distanz zur pluralistischen Gesellschaft und vieles mehr. In dem Gründungsdokument der Bundeswehr, der Himmeroder Denkschrift von 1950, ist das alles nachzulesen. Im wesentlichen ein Aufguß der Wehrmacht, auch ihrer Gesinnung, von beteiligten NS-Ideologen wie General Foertsch (»Die Wehrmacht im Nationalsozialismus« heißt sein frühes Buch) geprägt, mit kleinen Einsprengseln der Reform, die Baudissin ultimativ ertrotzt hatte. Der Keim des Zwiespalts – die dominante Orientierung an der Wehrmacht versus Militärreform – war früh eingepflanzt, bevor die administrative Arbeit Ende 1950 im Amt Blank begann.

Die »Traditionalisten« bildeten den Kern der militärischen Gruppe in Zivil, die viele Jahre vor der Gründung der Bundeswehr im Jahre 1955 die »besten« soldatischen Traditionen des »Kämpfers« in die Planungen für die Bundeswehr transportierten, manche ganz handwerklich oder technokratisch – andere mit Eifer, dem »Besonderen« des Berufs verbunden, dem »Soldatenstand«, der soldatischen Gesinnung. Dieses Anknüpfen an die Vergangenheit wird als traditionalistisch bezeichnet. Allein, es ist dadurch charakterisiert, daß es sich nicht an der langen Geschichte des Militärs orientierte, sondern mit dem Bezug zur Wehrmacht und zur Reichswehr der Weimarer Republik (und mit dem hochgerühmten General Seeckt) gerade keine demokratischen, rechtsstaatlichen und pluralistischen Traditionen begründete. Die Fiktion wurde in die Bundeswehr gepflanzt, soldatische Tugenden an sich aus der Wehrmacht ableiten zu können; geradezu chirurgisch präzis wurden nationalsozialistische Angriffskriege, Verbrechen, Völkerrechtsbruch, Militärjustiz und vieles andere mehr von der Pflicht des Dienens des Soldaten geschieden. Das Ideal des »Kämpfers« unterstrich die vermeintlich »unpolitische« Seite.

Das Fatale an diesem Vorbild ist das unbedarfte Anknüpfen an der damit verbundenen politischen Tradition zum Staat oder zur Gesellschaft. Das ist nicht abstrakt. Nach acht Jahren Beratung der Politik zur Vorbereitung der Aufrüstung konnten es – noch 1955 – die höchstbezahlten Militärs der Bonner Republik, die Generale Heusinger und Speidel, wagen, ihrem Kanzler, Konrad Adenauer, schriftlich ihre Bedenken gegen eine »zivile« Kontrolle der Bundeswehr zu übermitteln. Eine Kleinigkeit, mag man einwenden; aber es ist symptomatisch für die reale Macht und das politische Selbstverständnis der »Traditionalisten«.

Politisch bedeutsam ist, daß nicht nur der Aufbau der Bundeswehr, sondern auch ihre Gestalt nach einem aus jenen Jahrzehnten entlehnten Vorbild gezimmert wurde – nur eines war klar, man wollte nicht die Reform in den eigenen Reihen. Blank durchschaute nicht das Machtkartell der »Traditionalisten« in seinem Amt, denen es gelang, die Reformer als protestantisch-preußische Reaktionäre bis hin zum Kanzler zu diffamieren. Blank wollte die Reform, ganz eindeutig. Der Nachfolger, Minister Franz Josef Strauß, leitete die erste Wende; er konnte seinen Dienst mit der Zurückweisung der Reformer antreten, nachdem das legislative Korsett gegeben war, und bewußt an die Armee – „im alten Geiste, im Drill der Reichswehr und der Wehrmacht ausgebildet“ – erinnern. Er, der sonst zögerliche Macher, erwies sich eindeutig, er förderte lauthals und ungeschminkt die »Traditionalisten« und ließ die Ziele der Reform – mit dem Schlagwort der Inneren Führung – verkommen. So hatte die lange Kette dicke Glieder, die dann nach den jahrelangen Affären mit der die Soldaten schindenden, technokratischen »kriegsnahen« Ausbildung im Frühjahr 1969 in den skandalträchtigen Generalsaussprüchen kulminierte, man könne in der Bundeswehr endlich „die Maske der Inneren Führung“ ablegen.

Konkret mit dieser Konstruktion der »traditionalistischen« Bundeswehr wurde das sehr umfangreiche militäreigene Ausbildungssystem aufgebaut, wirklich nach dem Vorbild der dreißiger Jahre. Abkapselung von der Gesellschaft als Ideal des Offiziers sowie die extrem einseitige, taktisch-handwerkliche Ausrichtung und die erklärte Distanz zur politischen Parteienlandschaft der Republik sind ausgeprägte Merkmale, die beispielsweise die Führungsakademie der Bundeswehr (nicht nur) in den sechziger Jahren bestimmte. Sie hatte die Funktion eines Leitbildes. Ein Kommandeur »meldete« stolz auf dem Dienstweg seinem Minister, endlich das Vorbild der Kriegsakademie der Vorkriegszeit erfüllt zu haben. Er wurde nicht gerügt. Solche Äußerungen waren kein Anlaß, Aufklärung zu betreiben und den »Ungeist« der Praxis dieser Tradition, die zur Unterscheidung nur »Traditionalismus« genannt werden darf, ins Bewußtsein zu rücken. Da entstanden mehr als nur Tendenzen der rechten, der militaristischen Orientierung. Wenn sogar der national-konservative Generalinspekteur Adolf Heusinger erschreckt die politische Dimension dieses historischen Aufbaus erkannte und daher Abhilfe schaffen wollte, konnte er – tatsächlich vorbildliche – Befehle für die Reform des gesamten militäreigenen Ausbildungssystems erlassen. Nur wurden sie einfach nicht befolgt, am Anfang und am Ende von der Politik toleriert. Sabotage oder Boykott?

Die Bundeswehr scheut – gerade in den neunziger Jahren – die Auseinandersetzung um diesen Teil der Geschichte. Dies wird gerne verschleiert, denn hinter dieser Realität verbarg sich nicht nur damals ein Machtkampf, den die »traditionalistischen« Kräfte – der über die Inspekteure von Heer, Marine und Luftwaffe eigenständig organisierten Teilstreitkräfte – führten, um ihre Autarkie, Anteile am Budget usw. durchzusetzen. Politische und militärische Führung arrangierten sich »traditionalistisch«, letztlich stellten sie sich mit aller Konsequenz gegen die Reform. Diese Konstellation hat bis heute verhindern können, daß einige der »traditionalistischen« Strukturen und Ideale hinterfragt und reformiert wurden. Die politische Brisanz dieser Fragen nach der Organisation des Militärs konnte bei der Formulierung des neuen Auftrags der Bundeswehr nach 1990 und der Forderung nach einer einsatzgerechten Militärstruktur gerade noch umgangen werden.

Die Bedeutung der »Traditionalisten« für die Bundeswehr bietet einen Schlüssel, um das in den neunziger Jahren in neuer Form ausgerichtete Milieu zu begreifen. Die »Armee der Einheit« hat sich den Begriff der »Armee« wieder angeeignet, eine nationale und machtbestimmte Konnotation. Alle, fast alle Bezüge, die die neuere Militärgeschichte dafür herstellt, haben »Ladungen«, die nicht sehr günstig für eine Begründung des »civil mind« im Militär, in der Armee, sind.

Es fällt auf, daß in der aktuellen Diskussion um die rechten Vorfälle in der Bundeswehr sowohl General Kießling als auch Minister Rühe dieselbe Orientierung bieten, indem beide General Steinhoff herausstellen. Sie rühmen den „tapferen Soldaten des Zweiten Weltkrieges“ (Rühe) und seine „Leistung und Tapferkeit als Jagdflieger“ (Kießling). Er ist für beide das klare Vorbild; Wehrmacht, Krieg und Nationalsozialismus sind kein Thema. »Tapferkeit« an sich, als Tugend des Soldaten. Damit sind sie schwungvoll in der Realität der fünfziger Jahre gelandet.

Sie suchen, gerade zu diesem Zeitpunkt, der Bundeswehr die Richtung zu weisen. Die »braunen« Turbulenzen der Gegenwart leiten über den Kontext der Biografie dieses Soldaten der Bundeswehr und der Wehrmacht einen »normalen« Bezug zur Vergangenheit her. Der reine, der politisch neutrale, der fachliche »Kämpfer« wird zum obersten Ideal, zum Lernziel der Bundeswehr gemacht. Dahinter steckt manche Unschärfe – eine politische Fahrlässigkeit, wenn die Nähe zum Nationalsozialismus historisch derart diffus bleibt. Aber es ist die Praxis dieser Politik, die »traditionalistisch« Versionen der »realitätsnahen«, der »kriegsnahen« Ausbildung im Vorbild der Wehrmacht mit der militäreigenen Bildungspolitik verknüpfte; dies ist der Geist, der die Probleme in der Bundeswehr selbst erzeugte.

»Innere Führung« ist die Herausforderung

Die »Innere Führung« ist tatsächlich die Herausforderung. Die Aussage führt zu der These, daß der demokratische, pluralistische Kanon einer streitbaren Republik in Teilen der Bundeswehr undeutlich geworden ist. Das Synonym dafür ist die Innere Führung oder der »Staatsbürger in Uniform«. Dem mangelt es an Vitalität, da eineinhalb Jahrzehnte der Politik des »Traditionalismus« eine restaurative Beengung erzeugt haben. Die Bundeswehr pflegt wieder eine Akzeptanz der »Traditionalisten«, die sie zur Wehrmacht führte, ohne – ganz einfach – das Nationalsozialistische zu meinen. Der Bezug der »Traditionalisten« ist das Modell der dreißiger oder zwanziger Jahre – übernommen in die Bundeswehr in den fünfziger Jahren im Selbstverständnis, in den Tugenden des Offiziersbildes, im Ideal des Soldatischen. Da tut (Unter-) Scheidung not.

Der Kontrast zum »Staatsbürger in Uniform« ist fundamental. Er ist einem Menschen- und Soldatenbild der Selbständigkeit, Kritik- und Urteilsfähigkeit, der Offenheit, der Fachlichkeit und der Verantwortungsfähigkeit u.ä. verpflichtet; es geht um wesentlich mehr als die Förderung der politischen Bildung. Ihr Bezug, die Normen des Grundgesetzes, bieten keine willkürliche Auswahl. Das ist im Umgang, auch im dienstlichen Betrieb, zu verwirklichen. Zu begründen ist es – kritisch diskursiv – im Konzept des militäreigenen Bildungssystems, gerade dort. Es wird leicht übersehen, daß Prägungen und Identitäten in den monatelangen Lehrgängen gestiftet werden, die für die Offiziere und Unteroffiziere eingerichtet sind. Im besonderen gilt das für die etwa zweijährige Ausbildung zum Generalstabsdienst. Diese Personengruppen, die Zeit- und Berufssoldaten, verdienen das besondere Augenmerk, denn sie bestimmen im wesentlichen die zivil-militärischen Verhältnisse, sie geben der Gestalt des Militärs die Dauer.

Neben dem (Aus-) Bildungssystem ist die Politik der Personalrekrutierung einer Prüfung zu unterziehen. Als Ergebnis der Wende hat sich eine Priorität herausgeschält, die keine akzeptable Interpretation der Inneren Führung im Sinne der pluralistischen Repräsentanz im Militär bietet. Nach alter Weise hat man denn »Kämpfer« gegen den gebildeten Soldaten gestellt, Handeln und Gesinnung bevorzugt. Die stetigen politisch-militärischen Eingriffe haben das Pendel des restaurativen »Traditionalismus« bei der sozialen Rekrutierung weit ausschlagen lassen. Eine politische Korrektur tut not. Ein Beispiel mag dies illustrieren: die jungen Berufsoffiziere haben bis zu sechzig Prozent kein volles Studium absolviert. Ohne die ganze Problematik dieser Aussagen andeuten zu können, hilft sicher die Frage weiter: wie würde ein multinationaler Konzern reagieren, wenn er seine Manageretage nach derartigen Kriterien besetzen müßte?

Der Bundeswehr ist mit dem Beharren auf dem simplifizierten Bild des »Kämpfers« das Berufsprofil verloren gegangen und somit die Fähigkeit, berufsbezogen und -angemessen ihr Leitungspersonal zu bestimmen. Hier liegt das Problem, nicht bei den Wehrpflichtigen.

Der aktuelle Mangel der Bundeswehr ist gravierend, da er an die Basis geht. Er hat Konsequenzen für viele Bereiche. Der Umgang mit den »braunen«, radikalen und extremistischen Erscheinungen zählt dazu. Es geht nicht um einen neue, relative Ausgewogenheit. Die Auseinandersetzungen (1998) um die rechte Bestimmung des Militärs sind kontrovers, da sie die Spitze des Eisbergs treffen. Es geht darum, die Einzelfälle auf das Grunddefizit zutreffend zu beziehen. Im Gegensatz zur Hektik der administrierten Meldung von Vorfällen benötigt die Bundeswehr eine politische Strategie der Reform; ein erster Schritt wäre, auf die diskursive Offenheit, die Erörterung der widersprüchlichen Vielfalt, die Schärfung des Urteils durch Differenzierungsvermögen zu setzen. Das immer beschworene Maß der »Inneren Führung« muß aus der klemmenden Praxis der regressiven Einpassung heraus. Der Bundeswehr mangelt es an gesellschaftlicher Zivilisierung. Allerdings ist das ein weites Feld.

Literatur

Bald, Detlef (1994): Militär und Gesellschaft 1945 -1990. Die Bundeswehr der Bonner Republik, Baden-Baden.

Bald, Detlef (1982): Der deutsche Offizier. Sozial- und Bildungsgeschichte des deutschen Offizierskorps im 20. Jahrhundert, München.

Frevert, Ute, Hrsg. (1997): Militär und Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart.

Opitz, Eckardt / Rödiger, Frank S., Hrsg. (1995): Allgemeine Wehrpflicht. Geschichte – Probleme – Perspektiven, Bremen.

Vogt, Wolfgang R., Hrsg. (1988): Militär als Lebenswelt, Leverkusen.

S+F, Vierteljahreszeitschrift für Sicherheit und Frieden, Jg. 15, 3/1997: Themenschwerpunkt Bundeswehr.

Dr. Detlef Bald war bis 1997 Wissenschaftlicher Direktor am Sozialwissenschaftlichen Institut der Bundeswehr, er arbeitet jetzt als freier Autor.

Die Legende vom saub’ren Soldaten

Die Legende vom saub’ren Soldaten

von Astrid Albrecht-Heide

Eine offenbar allzu kurzatmige Irritation wurde durch Soldaten in Hammelburg ausgelöst. Der Flut-Katastropheneinsatz an Oder und Neiße legt sich danach rasch wie ein ziviler Heldenmantel über die gesamte Truppe. Dabei gilt es Irritation und Entsetzen wachzuhalten. Als die Videos über Scheinhinrichtungen und -vergewaltigungen bekannt wurden, waren Zeitungs- und Kommentarüberschriften selbst in gemeinhin demokratisch aufmerksameren und sensibleren Blättern, wie etwa der »Frankfurter Rundschau« eher im Wortsinne »daneben«. Dort war z.B. zu lesen: „Ein kleines bißchen Horrorshow“ (8.7.97) oder „Der Video-Skandal“ (9.7.97). Gewollt oder ungewollt wird mit solchen Formulierungen skandalisiert und entwirklicht zugleich. Die virtuelle Realität läßt grüßen; denn die Wirklichkeit des gewaltsamen »Spiels« wird gleichsam aus dem Blick geräumt.

Durch eine skandalisierende Entwirklichung können die Hammelburger Ereignisse – und das ist gravierender – jedoch auch als Unfälle oder ein »Aus-der-Rolle-fallen« aus einem eigentlich friedlichen »Spiel« begriffen werden. Die potentiell tödliche und selbstmörderische Realität, auf die jede Militärausbildung vorbereitet, kann auf diese Weise nicht Entsetzen auslösen, sondern wird auf das Hammelburger »Spiel« verschoben.

Eine der Kernfragen ist, ob die gespielten Gewaltszenen etwas mit der militärischen Normalität zu tun haben. Hält man sich vor Augen, daß jedes Militärmanöver nichts anderes als ein »gespieltes« Gewaltszenario ist, so liegt der Verdacht nahe, daß Hammelburg für etwas anderes steht. Das dorthin verschobene Entsetzen müßte sich vielleicht eher darauf richten, daß junge Männer im Militär lernen müssen, sich vom zivilen Tötungsverbot zur militärischen Tötungserlaubnis (gegebenenfalls auch zum Tötungsgebot) zu bewegen. Soldaten lernen zu töten und werden auf einen möglichen Selbstmord vorbereitet. Die handwerklichen und technischen Voraussetzungen ebenso wie die psychische Bereitschaft müssen erlernt werden. Dies kann nur gelingen, wenn das eigene und das andere Leben und deren Lebendigkeit ihren spürbaren Wert verloren haben. Dies erfordert als »minimale« emotionale Voraussetzung Abspaltung der Gefühle, kann jedoch auch durch Abstumpfung und Vergleichgültigung möglich werden. Schließlich kann aber auch eine emotional lustvolle Besetzung dieses Handlungsfeldes erfolgen.

Nun kann mit Recht darauf verwiesen werden, daß es in der alltäglichen militärischen Ausbildung nicht um das Einüben von Hinrichtung und Folter geht. Die militärische Ausbildung schafft jedoch eine emotionale Abspaltung, Entgrenzung oder auch Brutalisierung gegenüber der Wertschätzung des individuellen Lebens, so daß ein emotionales Unterfutter für entsprechende Handlungen mit hergestellt wird.

Die militärische Sozialisation, besonders in der Grundausbildung, ist stark reglementiert und erfolgt serienmäßig. Dabei spielt Entindividualisierung eine entscheidende Rolle. An die Stelle der zivilen Identität soll die militärische Identität treten. Jede militärische Sozialisation arbeitet mit Demütigungen, ohne daß diese im übrigen »dramatisch« sein müssen: Kleiderordnung, Schrankordnung, Zimmersauberkeit und Bettenmachen – um die zivile Terminologie zu verwenden – werden kontrolliert und überprüft. Dies ist mit Unterwerfungsleistungen verbunden. Als Preis winkt eine Steigerung von Männlichkeit insbesondere durch die Ausbildung an Waffen. Erkauft wird diese Steigerung von Männlichkeit durch Gehorsam und Unterwerfung.

Diese Elemente müssen mitgedacht werden, wenn die militärische Tötungserlaubnis und das dazugehörige seelische Unterfutter ungesicherte Grenzen gegenüber anderer Gewalt einschließt. Diese ungesicherten Grenzen haben z.B. Menschen wie Baudissin (wer war das überhaupt, werden viele jüngere Leute fragen…) dazu bewogen, mit dem Konzept vom »Bürger in Uniform« hohen Wert auf eine zivil-identische Verortung des einzelnen Soldaten in der demokratischen Gesellschaft zu legen – auch wenn es dabei um so etwas wie die Quadratur des Kreises geht.

Mit der »Normalisierung« eines deutschen Militärs nach dem Ende des kalten Krieges erfolgt eine Normalisierung des Soldatenberufes, in der die Besonderheiten – Töten und Zerstören als unaufhebbare Berufspotentiale – drohen, zum Nicht-Thema gemacht zu werden. Und spätestens Hammelburg zeigt, daß dies nicht gelingen kann.

Hammelburg zeigt jedoch auch noch ein zweites. Dort wurden ja nicht nur Scheinhinrichtungen sondern auch -vergewaltigungen »gespielt«. Der Frage, ob und gegebenenfalls wie Vergewaltigungen »lediglich« Ausfälle sind, oder zur (militärischen) Männlichkeit gehören, kann daher kaum ausgewichen werden.1 Um diese Frage beantworten zu können, müssen einige Gedanken zusammengeführt werden.

Viele soldatische Tätigkeiten, wie z.B. Putzen, Ordnung halten/herstellen, das passive Bewegtwerden, gelten im zivilen Leben keineswegs als »männlich«, sondern sie sind im kulturellen Sinne weit eher »weiblich« kodiert. Daher vermögen diese Tätigkeiten unterschwellige Ängste bei den Soldaten auszulösen, d.h. das Militär arbeitet systematisch mit Verweiblichungsangst, nicht unbedingt bewußt oder gar mit strategischem Kalkül. Dieser ständigen Bedrohung seiner Männlichkeit gilt es auf Seiten des Soldaten u.a. durch Straffheit und Härte immer wieder zu begegnen. Sie kann nicht ein für alle mal gebannt werden; die dadurch ausgelöste und in Gang gehaltene Dynamik entspricht einer Suchtstruktur.

Hinzu kommt, daß die Verweiblichungsangst eine zivile Grundlage hat; sonst könnte das Militär nicht mit ihr arbeiten. Sie ist darin begründet, daß dem kleinen Jungen in unserer Gesellschaft durch die privat meist abwesenden Väter zugemutet wird, seine Identität durch die Abgrenzung von einer Frau (meist seiner Mutter) zu bestimmen. Es geht für ihn darum, daß er nicht so wird wie sie. Der besondere Charakter ergibt sich daraus, daß die Frau in unserer Kultur als Nicht-Mann definiert ist, weil sie (als Kategorie) durch all das definiert ist, was der Mann nicht verkörpert. Die Aufgabe des kleinen Jungen ist also eine doppelte negative Abgrenzung, nämlich nicht so zu werden wie der Nicht-Mann. Und das ist mit Angst verbunden, mit der u.a. das Militär arbeiten kann. Die Abgrenzungsbemühungen gegenüber dem Weiblichen gelingen am ehesten durch Abwertung, die ja in unserer Kultur zudem nicht vom einzelnen gefunden werden muß, sondern quasi auf der Straße liegt. Die abwertende Abgrenzung ist bei Vergewaltigungen mitzudenken. Vorliegende Untersuchungen sprechen außerdem dafür, daß es im Militär zu einer Brutalisierung und Simplifizierung im Verhältnis von Soldaten zu Frauen kommt. Frauen werden oft verstärkt auf »Sexual«-Objekte reduziert. Ob es nun gefällt oder nicht: Sexuelle Potenz als Ausdruck von Kämpfertum (im Kampf gegen die Verweiblichungsangst) ist eine im Militär verbreitete Ansicht.

Eine weitere Tatsache, die in dem Zusammenhang von (militärischer) Männlichkeit und Vergewaltigung herangezogen werden muß, ist jene vor allem in Männerbünden verbreitete Spaltungslogik in sog. gute und sog. böse Frauen. Die Frauen im Feindesland – und dies wurde in Hammelburg phantasierend geübt – werden in aller Regel den sog. bösen Frauen zugeordnet. Und spätestens durch die Vergewaltigung werden sie in diesem Verständnis zu Huren gemacht. Dies ist die Botschaft von Männerbund zu Männerbund. Den »feindlichen« Männern wird vorgeführt, daß die Beziehung zu ihren Frauen nichts (mehr) wert ist. Die gewalttätige Spaltungslogik bewegt sich so in einem Zirkel einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung.

Schließlich gehört hier ein noch abgründigerer Aspekt her, mit dem deutlich wird, daß im Hinblick auf einen »saub`ren Soldaten« kein Land und kein sicherer Boden zu gewinnen ist. In der Militärlogik sind männliche Wehrfähigkeit mit Tötungsprivileg und weibliche Gebärfähigkeit aufeinander bezogen. Das männliche Tötungsprivileg obsiegt im Krieg über das Leben. Indem bei Vergewaltigungen im sogenannten Feindesland – ohne die kein neuzeitlicher Krieg »auskam« – dem Ort des Gebärens Gewalt angetan wird, erhält der Sieg des Tötungsprivilegs über die Gebärfähigkeit Ausdruck.

Anmerkungen

1) Wesentliche Gedanken hierzu verdanke ich Mario Erdheim, Carol Hagemann-White, Doris Janshen u. Klaus Theweleit. Zurück

Profn. Dr. Astrid Albrecht-Heide lehrt an der Technischen Universität Berlin Sozialisationsforschung aus der heraus sie u.a. Friedens- und Konfliktforschung betreibt. Sie gehört zum Netzwerk Friedensforscherinnen.

Tucholsky und die Soldatenehre

Tucholsky und die Soldatenehre

Zur historischen Vorgeschichte des geplanten Ehrenschutz-Gesetzes

von Michael Hepp

Im März dieses Jahres hat die Regierungskoalition eine Gesetzesinitiative zum Ehrenschutz für Bundeswehrsoldaten eingebracht. Eine Gesetzesinitiative mit Vorgeschichte, denn schon einmal wurde – erfolgreich – versucht, Kritiker des Soldatentums mit Hilfe eines Gesetzes mundtot zu machen. Der Vorsitzende der Kurt Tucholsky Gesellschaft, Michael Hepp, skizziert die Entstehungsgeschichte des »Ehrenschutzgesetzes« von 1931-32 und den Einsatz des damaligen Paragraphen 134a zur Unterdrückung jedweder Kritik an Staat, Regierung und Partei im Dritten Reich.

Seit 1919 hatte der Schriftsteller und spätere Mitherausgeber der Zeitschrift »Die Weltbühne«, Kurt Tucholsky, Soldaten, vor allem Offiziere, immer wieder als »professionelle Mörder« oder »ermordete Mörder« bezeichnet. 1925 schrieb er beispielsweise: „Sie sind ermordet worden. Denn man soll sich doch ja abgewöhnen, einen Kollektivtod anders als mit den Worten des Strafgesetzbuches und der Bibel zu bezeichnen, die beide die gewaltsame Tötung eines Menschen durch den Menschen verhindern wollen. Mord bleibt Mord, auch wenn man sich vorher andere Kleider anzieht, um ihn zu verüben.“ Zwar hatte die Reichswehrführung in anderem Zusammenhang wiederholt versucht, Tucholsky mit juristischen Mitteln zum Schweigen zu bringen (wenn auch erfolglos), die Aussage »Soldaten sind Mörder« blieb jedoch bis 1931 unbeanstandet. Erst nachdem General Kurt von Schleicher als graue Eminenz im Hintergrund weitgehend die Geschicke der Noch-Demokratie mitbestimmte, reagierte die Reichswehr auch auf diesen Satz mit einem Strafantrag wegen Beleidigung.

Ihr durch den verlorenen Krieg beschädigter »Ehrenschild« sollte wenigstens in der Erinnerung und in der politischen Tagesauseinandersetzung wieder sauber geputzt werden. So ist es nicht verwunderlich, daß die derzeitige Diskussion um einen besonderen Ehrenschutz für das Militär auch damals schon auf der Tagesordnung stand : parteiübergreifend. Die NSDAP brachte beispielsweise im März 1930 ein »Gesetz zum Schutz der deutschen Nation« in den Reichstag ein, das vorwegnahm, was drei Jahre später weitgehend Wirklichkeit werden sollte: „Wer den sittlichen Grundsatz der allgemeinen Wehr- oder sonstigen Staatsdienstpflicht der Deutschen in Wort, Schrift, Druck, Bild oder in anderer Weise bekämpft, leugnet oder verächtlicht macht, oder wer für die geistige, körperliche oder materielle Abrüstung des deutschen Volkes wirbt, […] oder wer sonst es unternimmt, die Wehrkraft oder den Wehrwillen des deutschen Volkes zu untergraben, wird wegen Wehrverrats mit dem Tode bestraft. […] Wer lebende oder tote deutsche Nationalhelden, Heerführer oder Inhaber der höchsten deutschen Tapferkeitsorden, oder wer die frühere oder die jetzige deutsche Wehrmacht oder Abzeichen oder Symbole der Landesverteidigung, insbesondere Ehrenzeichen, Uniformen, Flaggen, oder wer die Nationalhymne öffentlich beschimpft, verächtlich macht oder in Ärgernis erregender Weise mißachtet […] oder wer auf andere Weise Ehre, Würde und Ansehen der Nation besudelt, wird mit Zuchthaus, und in Fällen, die von besonderer Roheit und Gemeinheit der Gesinnung zeugen, daneben mit körperlicher Züchtigung bestraft.“ Pazifismus sollte also mit dem Tod bestraft werden. Ein Jahr später brachte eine Koalition aus Konservativer Volkspartei, Deutscher Volkspartei, Deutscher Staatspartei usw., angeführt vom Pfarrer Mumm und dem Grafen Westarp, ein Ehrenschutzgesetz in den Reichstag ein, das Beleidigung, üble Nachrede usw., „die geeignet sind, den Betroffenen in seiner persönlichen und politischen Ehre in der Öffentlichkeit herabzuwürdigen, als Diebstahl am höchsten Gut, an der Ehre“ nach dem Diebstahlsparagraphen bestrafen sollte. Kurz darauf betrieb dann der damalige Reichswehrminister Groener eine Ehrenschutzkampagne, die allerdings die ganze Problematik des Ehrbegriffs auch im demokratischen Umfeld zeigt.

Die zunehmenden Veröffentlichungen über die geheime Aufrüstung der Reichswehr hatten Groener 1931 veranlaßt, gegen diese angeblichen »Verleumdungen« ein besonderes Gesetz zu fordern. In einem späteren Artikel1 nahm er dabei ausdrücklich auch Bezug auf die angeblichen »Verleumdungstaten« der »Weltbühne«: „Hemmungsloser Haß gegen alles Militärische“ lasse die Kritiker die Grenzen zwischen Kritik und Hetze nicht mehr erkennen. Daß dagegen alle Parteien, bis auf die Kommunisten, treu und in „warmer und zustimmender Weise“ zur Wehrmacht standen, hob Groener in der Etatdebatte 1931 dankbar hervor.

Obwohl der damalige Reichsjustizminister Joël zuvor die Möglichkeiten eines »verbesserten Ehrenschutzes« insgesamt sehr skeptisch beurteilt hatte, legte er Anfang Dezember 1931 doch einen Entwurf zum Thema »Politischer Ehrenschutz« vor, der dann wenige Tage später Gesetz wurde: In der 4. Notverordnung des Reichspräsidenten vom 8.12.1931 wurden zur »Verstärkung des Ehrenschutzes« einige Paragraphen aufgenommen, die Kritiker wie Tucholsky und Ossietzky mundtot machen sollten. Üble Nachrede oder Verleumdung im »politischen Kampf« (dazu zählte der Minister auch die Angriffe auf die Reichswehr) sollten mit Gefängnis nicht unter sechs Monaten bestraft werden. Zusätzlich konnte eine »Buße« bis zu 100.000 Reichsmark verhängt werden. Außerdem sollten die Prozesse im Schnellverfahren bei verkürzter Beweisaufnahme durchgeführt werden können. Die Verteidigungsmöglichkeiten sollten also weitgehend eingeschränkt werden.2

Eine Woche zuvor hatte die Presse ausführlich über ein neues Strafverfahren gegen die »Weltbühne« berichtet: Anlaß war Tucholskys Artikel »Der bewachte Kriegsschauplatz« mit dem Satz: »Soldaten sind Mörder«. Der Reichswehrminister erblickte in dieser Formulierung nun eine schwere Verunglimpfung des Soldatenstandes, und die Staatsanwaltschaft erhob daraufhin Anklage wegen Beleidigung der Reichswehr.

Anfang April 1932 lehnte das Schöffengericht Charlottenburg die Eröffnung des Hauptverfahrens ab, die Staatsanwaltschaft legte jedoch sofort Beschwerde dagegen ein. Am 1. Juli 1932 sprach das Schöffengericht den verantwortlichen Redakteur Carl von Ossietzky schließlich frei, da bei dem Begriff »Soldaten« ein bestimmbarer Kreis von Beleidigten fehle. Im Prozeß von 1932 ging es im Prinzip um die gleiche Frage wie heute: „daß in dem Artikel [Tucholskys] schon deshalb von der deutschen Armee nicht die Rede sein kann, als die Reichswehr bisher noch keinen Krieg geführt hat. Es wird ja immer betont, daß sie nur zur Verteidigung da sei.“ Damals begegnete der Richter diesem Argument der Verteidigung: „Es kann aber doch eines Tages der Fall eintreten, daß der Soldat wieder in die Lage kommen kann […] einen Menschen zu töten.“ 3 Trotzdem entschied sich der Richter für einen Freispruch, denn eine „schwere Ehrenkränkung“ könne nur dann bestraft werden, „wenn sie sich auf Personen, nicht aber auf eine unbestimmte Gesamtheit“ bezöge. Dies war ständige Rechtssprechung, die im Prinzip erst durch die Nationalsozialisten aufgehoben wurde. Das »Berliner Tageblatt« meinte, dies sei das „selbstverständliche Ende eines überflüssigen Prozesses,“ auch die meisten anderen demokratischen Zeitungen begrüßten in ausführlichen Berichten den Freispruch, die Staatsanwaltschaft ging indes sofort in Revision. Am 17. November 1932 entschied der 2. Strafsenat des Kammergerichts Berlin jedoch, daß die Revision zu verwerfen sei, da sich Tucholskys Satz nicht auf konkrete Personen, sondern auf eine unbestimmte Gesamtheit beziehe.

Nach den beiden juristischen Niederlagen der Reichswehr wurde nur einen Monat später der Ehrenschutz für die Reichswehr-Soldaten per Notverordnung des Reichspräsidenten zum Gesetz erhoben. Von Vorteil war dabei, daß der neue Reichswehrminister Kurt von Schleicher seit dem 3. Dezember zugleich auch Reichskanzler war.4

In seiner Regierungserklärung kündigte er an, zahlreiche Notverordnungen außer Kraft zu setzen, „um endlich einmal wieder zu normalen Rechtsverhältnissen zurückzukehren.“ In der Notverordnung des Reichspräsidenten »zur Erhaltung des inneren Friedens« vom 19. Dezember 1932 wurden denn auch fast alle Vorschriften gegen politische Ausschreitungen außer Kraft gesetzt, ebenfalls das berüchtigte »Gesetz zum Schutz der Republik« vom März 1930; dieses allerdings mit kleinen Einschränkungen: der Paragraph mit den Bestimmungen zum Schutz des Reiches und der Länder sowie der Landesfarben und Flaggen vor böswilliger Beschimpfung und Herabwürdigung wurden in das neue Gesetz übernommen. Mit einer winzigkleinen zusätzlichen Abänderung hieß es nun in dem als neuer § 134a in das Strafgesetzbuch eingefügten Straftatbestand: „Wer öffentlich das Reich oder eines der Länder, ihre Verfassung, ihre Farben oder Flaggen oder die deutsche Wehrmacht beschimpft oder böswillig und mit Überlegung verächtlich macht, wird mit Gefängnis bestraft.“ 5

In der amtlichen Mitteilung für die Presse hieß es dazu, daß auch weiterhin „zur Aufrechterhaltung der Staatsautorität ein dauernder Schutz des Staates, seiner Symbole und der sich in der Wehrmacht verkörpernden Hoheitsbefugnisse des Staates gegen Verhetzungen notwendig“ 6 seien. Abgeleitet war dieser Paragraph aus dem Gesetz über die Bestrafung der Majestätsbeleidigung vom Februar 1908. Interessanterweise wurde der Ehrenschutz für die Reichswehr im Strafgesetzbuch auch 1932 schon nicht bei Beleidigungen eingefügt, der § 134a stand bei »Verbrechen und Vergehen wider die Öffentliche Ordnung«.

Tucholskys Satz »Soldaten sind Mörder« wäre demnach künftig auch in der vom Reichswehrminister kurz zuvor noch gepriesenen »freiesten Verfassung« strafbar gewesen, aber Tucholskys und Ossietzkys Werke wurden nur wenig später ohnehin verbrannt, Ossietzky im KZ eingesperrt und Tucholsky ausgebürgert. Der Paragraph 134a blieb indes auch nach dem Untergang der Weimarer Republik bestehen.

Der neue Reichspropagandaminister Joseph Goebbels machte am 31. März 1933 im Zusammenhang mit dem berüchtigten »Boykott aller jüdischen Geschäfte in Deutschland« deutlich, was er von Radikaldemokraten wie Tucholsky hielt. In seiner Ansprache, die über alle Sender ging, mißbrauchte er die Gefallenen des 1. Weltkriegs für seine Ideologie: „Aus den Gräbern von Flandern und Polen stehen zwei Millionen deutsche Soldaten auf und klagen an, daß der Jude Toller in Deutschland schreiben durfte, das Heldenideal sei das dümmste aller Ideale. Zwei Millionen stehen auf und klagen an, daß die jüdische Zeitschrift Weltbühne schreiben durfte: 'Soldaten sind immer Mörder', daß der jüdische Professor Lessing schreiben durfte: 'Unsere Soldaten sind für einen Dreck gefallen'. 7 (Hier wurde übrigens erstmals verfälschend ausgesprochen, was heute heimlich meist intendiert wird. Tucholsky schrieb »Soldaten sind Mörder« und eben nicht »Soldaten sind immer Mörder«.)

Als »wichtigste Schutzobjekte« galten nun die ideellen Werte „und unter diesen ragt als Grundwert […] nach deutscher Auffassung die Ehre hervor“, hieß es in der 1935 von dem Juristen Gerd Passauer verfaßten Abhandlung über den »Strafrechtlichen Schutz der Volksehre«8. Die Ehre von Volk und Nation sollte demnach „das erste und höchste Gut [sein], dem alles andere sich unterzuordnen und zu dienen hat“, und dabei leistete der § 134a gute Dienste: Geschützt waren durch ihn die NSDAP ebenso wie das »Horst Wessel-Lied« und natürlich die Hakenkreuzflagge, die »zum höchsten Zeichen der deutschen Ehre geworden« war.

Der Staatsrechtler Carl Schmitt hatte als oberstes Auslegungsprinzip der Gesetze gefordert, daß das gesamte deutsche Recht, „einschließlich der weiter geltenden, nicht aufgehobenen Bestimmungen“, ausschließlich und allein „vom Geist des Nationalsozialismus beherrscht“ 9 sein müsse. Dementsprechend stellte Gerd Passauer in seiner Ehrenschutzmonographie zu dem Gesetz fest, daß jeder „Ehrangriff“, jede Beschimpfung und Verächtlichmachung der staatlichen Grundordnung ebenso „wie jede Kundgebung der Mißachtung gegen den Nationalsozialismus als Grundlage und Ausgangspunkt des deutschen Staates“ ein strafrechtlicher Tatbestand sei.

Das war jedoch erst der Anfang. Nach Passauer war jede Beschimpfung „des Führers schlechthin“ nach § 134a zu bestrafen, da dieser die Einheit von Staat und »Bewegung« verkörpere. „Ebenso ist ein Angriff auf die deutsche Wehrmacht, durch den sie beschimpft oder verächtlich gemacht wird, ein solcher auf die deutsche Ehr.“ Ohlshausen stellte 1942 in seinem Kommentar zum Strafgesetzbuch10 lapidar fest: „Das im § 134a enthaltene Anerkenntnis, daß eine solche Gemeinschaft fähig ist, beleidigt zu werden, und Schutz gegen Beleidigung genießt, hat allgemeine Bedeutung,“ auch wenn die Strafbarkeit bei Kollektivbeleidigungen an sich zweifelhaft sei, wie Hans von Dohnanyi in seinem Kommentar11 zu dieser Strafnorm festhielt. Aber „die Vorschrift beseitigt diese Zweifel für die Wehrmacht als solche.“

Trotz dieser extensiven Auslegung hatten die Nationalsozialisten weiteren Bedarf an einem eigenen Ehrenschutz: Im Juni 1935 wurde der § 134b in das Strafgesetzbuch eingefügt, der sich speziell mit der »Beschimpfung der NSDAP« beschäftigte. Was der Reichswehr recht war, sollte der NSDAP und ihren Gliederungen wie SA und SS billig sein: auch diese waren künftig als Kollektiv beleidigungsfähig. 1936 kam Dohnanyi allerdings zu der Überzeugung, daß diese Ergänzung völlig überflüssig gewesen sei, denn durch das »Gesetz zur Sicherung der Einheit von Partei und Staat« von 1933 seien beide bereits „unlöslich verbunden.“

Der später als Widerstandskämpfer verhaftete Mitarbeiter im Reichsjustizministerium Dohnanyi hatte aber auch noch auf einen anderen Umstand aufmerksam gemacht: Der Ehrenschutzparagraph war so in die Systematik des StGB eingebaut, daß zum einen die Wahrnehmung berechtigter Interessen als Rechtfertigungsgrund ausschied und daß zum anderen böswillige Verächtlichmachung auch dann vorlag, „wenn der Täter von der inhaltlichen Richtigkeit seiner Äußerung überzeugt“ war. Tucholsky hätte also keine Chance mehr gehabt, sich auf seine Erfahrungen als Offizier im 1. Weltkrieg zu berufen oder etwa seine pazifistischen Ansichten als legitimen oder gar schützenswerten Rechtfertigungsgrund vorzubringen. Eine Verurteilung wäre nach diesem Gesetz zwingend gewesen. Vorsorglich zensierte denn auch der in Deutschland gebliebene Gerhard Hauptmann sein 1889 in Berlin uraufgeführtes Stück »Vor Sonnenaufgang« selbst und tilgte 1941 für die Gesamtausgabe die Stelle mit dem scharfen Angriff auf den Soldatenstand: „Es ist verkehrt, den Mord im Frieden zu bestrafen und den Mord im Kriege zu belohnen. Es ist verkehrt, den Henker zu verachten und selbst, wie es die Soldaten tun, mit einem Menschenabschlachtungs-Instrument, wie es der Degen oder der Säbel ist, an der Seite stolz herumzulaufen. Den Henker, der das mit dem Beile täte, würde man zweifelsohne steinigen. Verkehrt ist es dann, die Religion Christi, diese Religion der Duldung, Vergebung und Liebe, als Staatsreligion zu haben und dabei ganze Völker zu vollendeten Menschenschlächtern heranzubilden.“

Der Bayreuther Verwaltungsjurist Bernhard Weck fand kürzlich überdies Belege dafür, daß das Gesetz 1940/41 schließlich bis zur Vollendung pervertiert wurde: Aufgrund der analogen Anwendung der Strafnorm galt eine Rechtslage, derzufolge im »Protektorat Böhmen und Mähren« und später auch im sogenannten »Generalgouvernement« über den § 134a das Deutsche Reich sogar dann schon beleidigt sei, wenn nur ein einzelner »deutscher Volksgenosse« durch einen »Nicht-Deutschen« beschimpft wurde. Zuständig waren für diese »Delikte« unter anderem die berüchtigten Sondergerichte. Deutlicher kann man nicht mehr machen, zu welchen Auswüchsen die Überhöhung des Ehrbegriffes führen kann.

Am 30. Januar 1946 wurde der § 134 a+b durch Verfügung des alliierten Kontrollrats aufgehoben. Ausdrücklich wurde auch darauf hingewiesen, daß dadurch das ursprüngliche Gesetz nicht wieder in Kraft trete.

Anmerkungen

1) Staatsverleumdung. Deutsche Allgemeine Zeitung, 29.11.1931. Zurück

2) s. dazu: Akten der Reichskanzlei. Das Kabinett Brüning I und II. Boppard/Rhein 1982/90; Reichsgesetzblatt 1931 I, S. 743. Zurück

3) 8Uhr-Abendblatt, 1.7.1932. Zurück

4) Zur Vorgeschichte s.: Akten der Reichskanzlei. Das Kabinett Schleicher. Boppard/Rhein 1986. Bes. Dok. 1, 25, 26. Zurück

5) Reichsgesetzblatt 1932 I, S. 549; Hervorhebung durch den Verf. Zurück

6) Frankfurter Zeitung, 21.12.1932. Zurück

7) Joseph Goebbels, Revolution der Deutschen. Oldenburg 1933, S. 158ff. Zurück

8) Breslau-Neukirch 1935. Zurück

9) Juristische Wochenschrift 63, 717. Zurück

10) J.v. Olshausen, Kommentar zum Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich. Berlin 1942, S. 585f. Zurück

11) Reinhard Frank, Das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich. Nachtrag zur achtzehnten Auflage. Die Strafgesetzgebung der Jahre 1931 bis 1935. Herausgegeben und erläutert von Ernst Schäfer und Dr. Hans v. Dohnanyi. Tübingen 1936, S. 20ff. Zurück

Michael Hepp, Historiker, Vorsitzender der Kurt Tucholsky Gesellschaft und Mitherausgeber der Tucholsky Gesamtausgabe bei Rowohlt.

Beobachtungen: Zum Verhältnis Bundeswehr und Gesellschaft

Beobachtungen: Zum Verhältnis Bundeswehr und Gesellschaft

von Jutta Koch

Eigentlich müßte zum Thema derzeit heftig diskutiert werden, weil sich politisch viel bewegt hat, was Konsequenzen für das bezeichnete Verhältnis erwarten läßt: Die Bundeswehr hat in den letzten fünf Jahren Erfahrungen bei Einsätzen in Asien, Nahost, Afrika und Südosteuropa gesammelt; Krieg ist als mögliche Konsequenz gescheiterter Politik – zwar jenseits unserer Grenzen, aber doch – wieder deutlicher ins Bewußtsein geraten. International gibt es eine wichtige Debatte über Vorteile und Dilemmata humanitär begründeter Interventionen, über die Rolle der VN, über die Zukunft traditionellen und »robusten« Peacekeepings, über kollektive versus kooperative Sicherheit.

Unsere nationale Debatte zum Thema Bundeswehr und Gesellschaft konzentriert sich im wesentlichen auf das fallweise Aufflackern der Frage Wehrpflicht versus Berufsarmee. Weshalb diese Beschränktheit auf eine zwar nicht unpolitische, aber doch spezielle Frage?

Es zeichnet sich keine Neigung relevanter gesellschaftlicher Akteure ab, die aktuellen sicherheits- und verteidigungspolitischen Fragen auch in Deutschland so zu problematisieren, daß öffentliche Resonanz erzeugt werden könnte (Ausnahmen sind einige Bemühungen seitens der Bündnis 90/Die Grünen-Fraktion, welche z.B. zur NATO-Osterweiterung ein »Expertengespräch« und eine Anhörung initiiert hat).

Warum diese »ongoing non-debate« (Lutz Unterseher)? Sie setzt die Nachkriegstradition fort, die mit dem Einstieg der entstehenden Bundeswehr in eine bereits mit Doktrinen versehene NATO begründet wurde. Da gab's aus Regierungssicht nichts mehr zu diskutieren, und die Opposition fügte sich. Ein weiterer Grund mag in der Diffusität und Unübersichtlichkeit der internationalen Situation liegen; ein dritter in dem Dilemma zwischen dem Druck, humanitär zu intervenieren und der Sorge, damit einer militärfixierten Außenpolitik Vorschub zu leisten. Daß beide eine komplette politische Lähmung erzeugen, ist unplausibel.

Vielleicht können Vermutungen weiterhelfen, die sich besonders auf die deutschen Verhältnisse beziehen:

  • Das Militär ist seit 1990 in Deutschland unbedeutender geworden. Das läßt sich am deutlich verringerten Umfang der Streitkräfte wie auch an dem absolut und relativ gesunkenen Verteidigungshaushalt ablesen. Überdies sind Soldaten weniger sichtbar im Stadtbild; die Auflösung etlicher Standorte hat regionale wirtschaftliche Probleme aufgeworfen.
  • Es gibt heute in Deutschland ein großes Ausmaß an Interesselosigkeit gegenüber den Fragen, welche die Streitkräfte betreffen. Anders verhält sich das nur bei den Soldaten selbst, den Angehörigen und beim harten Kern sicherheitspolitisch interessierter oder befaßter Menschen in der Bundesrepublik – wohl nicht viel mehr als einige hundert Personen. Die Debatte ist Experten-Angelegenheit (der männliche Terminus beschreibt wohl den empirischen Sachverhalt).
  • Es fehlen heute die mobilisierenden Streitfragen, welche die breitere Öffentlichkeit – KritikerInnen und die Friedensbewegung – in den 1980er Jahren antrieb: Folgen des NATO-Doppelbeschlusses, Modernisierung atomarer Kurzstrecken auf westdeutschem Territorium waren Themen, welche sehr strittig öffentlich behandelt wurden. Zum Streiten gab es allen Anlaß, verbargen sich hinter ihnen doch grundlegende Differenzen zwischen USA und Bundesrepublik über Kriegführung auf deutschem Territorium.

Zudem gibt es aber noch zwei konkret angebbare – und kritisierenswerte – Gründe, weshalb sicherheitspolitische Kontroversen in den 1990er Jahren in Deutschland einfach nicht aufkommen. Der eine Grund ist politischer, der andere gesellschaftlicher Natur. Und beide weisen auf Mängel in der Struktur unserer Öffentlichkeit hin:

Erstens ist es dem seit gut vier Jahren als Verteidigungsminister amtierenden Volker Rühe gelungen, die Darstellung seiner Politik in die von den Deutschen mehrheitlich gewünschte »Kultur der Zurückhaltung« einzufügen. Ob sie das faktisch tut, ist von untergeordneter Bedeutung.

Der politische Konsens, den Rühe vor allem mit der Mehrheit der eher konservativen sozialdemokratischen Abgeordneten, die sich zu sicherheits- und verteidigungspolitischen Themen äußern, erarbeitet hat und dessen Vorteile er zu betonen nicht müde wird, ist eine Säule dieser auf Harmonie der Standpunkte gerichteten Politik.

Eine wesentliche Voraussetzung für diese »Harmonie« ist die inhaltliche Zerrissenheit der SPD in Fragen der Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Das betrifft sowohl Personen als auch Themen und Konzepte: Wenn Karsten Vogt die NATO-Osterweiterung enthusiastisch begrüßt, Peter Glotz sie als gefährlichen Unsinn kritisiert; wenn 1993/94 gegen die Teilnahme deutscher Soldaten an Aufklärungsflügen über Bosnien vor dem Bundesverfassungsgericht geklagt, heute aber die gleichberechtigte deutsche Teilnahme am SFOR-Einsatz begrüßt wird.

Da müssen sich auch geneigte Beobachter fragen: Wer verkörpert die sicherheits- und verteidigungspolitische Willensbildung? Hat die Sozialdemokratie ein Konzept, was sich von dem Rühes wesentlich unterscheidet? Versucht sie ein solches in der erwähnten Kommission zu formulieren? Wenn ja, warum ist dann die Kommissionsarbeit so vergleichsweise geräuschlos, um nicht zu sagen untransparent? Welche Rolle spielen die weiteren Gliederungen der Partei, welche die Fraktion?

So gravierende Unterschiede der Positionen, obwohl (oder weil) die Partei kaum mitdiskutiert, machen es unwahrscheinlich, daß es der SPD – bei ihrer Tradition der Verbindung kritischer und affirmativer Aspekte in der Verteidigungspolitik – gelingen wird, ein politisch wie militärisch stimmiges, auch Außenstehende überzeugendes sicherheitspolitisches Konzept zu formulieren, das selbstbewußt Akzente setzt, ohne in Provinzialität zu verfallen.

Die Oppositionsfraktionen unterziehen sich nicht der Mühe, konzeptionelle Alternativen zu formulieren.

Die politische Harmonie im Parlament ist also nicht nur ein Erfolg Rühescher Politik, sondern auch das Ergebnis der – bestürzenden – Tatsache, daß sich die Oppositionsfraktionen nicht der Mühe unterziehen, konzeptionelle Alternativen zu formulieren. Das sein zu lassen fällt SPD und Bündnis 90/Die Grünen auch deshalb leicht, weil Rühe leise und gesprächsbereit agiert.

Die »Kultur der Zurückhaltung« spiegelt sich vor allem im terminologischen Reglement des Verteidigungsministeriums. Begriffe, die an Kriegsführung, Todesopfer gemahnen, sind verbannt zugunsten einer sprachlichen Kodifizierung, die sich von jener der kritischen Friedensforschung kaum mehr unterscheidet. Konfliktprävention, Friedensstabilisierung und Multinationalität unter Einbeziehung des Partners Rußland signalisieren ein Verschwinden des Militärs aus der Verteidigungspolitik. Deshalb konnte Rühe auch die Interview-Frage der SPIEGEL-Redakteure nach der Anzahl deutscher Bataillone im kommenden SFOR-Einsatz im Brustton der Überzeugung zurückweisen, diese Frage sei ihm „zu militärisch“.

Das ist die Essenz von Rühes Politik: Über Militärisches lohnt sich nicht mehr zu sprechen. Ob die Militärpolitik den deklarierten Vorstellungen entspricht, ob es nicht andere Konzeptionen gibt, die akzeptablere politische Folgen mit verhältnismäßig geringerem Mitteleinsatz das gewünschte Ergebnis erzielen hülfen, interessiert nicht mehr so sonderlich.

Der zweite Grund für die Abwesenheit sicherheitspolitischer Kontroversen ist ein sozialer: Sicherheitspolitische Themen scheinen in der deutschen Diskussionskultur nur dann öffentliche Resonanz zu erzeugen, wenn sie an absolute moralische Positionen geknüpft werden.

Das ist das Problem der grünen Debatte, deren antimilitaristische Traditionen sie auf den Holzweg führen, militärisch gestützte Politik schon »an sich« für schlecht zu halten – militärische Interventionen sind antimoralisch. Wenn nur ein solches Argumentationsmuster zur Verfügung steht, wenn keine Abstufungen vorstellbar sind, dann sind die Kritiker jener Position – die, wie Joschka Fischer, anläßlich der Morde an schutzlosen Menschen in der VN-„Schutzzone« Srbrenica ihre antiinterventionistische Position revidierten – »gezwungen« auf NATO-Kurs einzuschwenken.

Diese Alles-oder-Nichts-Strategie trägt dazu bei, daß über konzeptionelle Lehren aus erfolgreichen Peacekeeping-Operationen kaum gesprochen wird.

Denn auch die Realos denken schwarz-weiß, haben sich nie ernsthaft der politischen wie intellektuellen Herausforderung unterzogen, eine sicherheits- und verteidigungspolitische Position zu formulieren, die Kritik mit Konsistenz und ihrem Streben nach Regierungsübernahme selbstbewußt verbindet. Wenn man so etwas vermeidet, macht man sich politisch extrem angreifbar, und führt willentlich die Situation herbei, im Regierungsfalle eine christdemokratische Verteidigungspolitik fortzuführen.

Diese Alles-oder-Nichts-Strategie ist nicht nur politischer Hazard, sondern trägt maßgeblich dazu bei, daß in der deutschen Öffentlichkeit über konzeptionelle Lehren etwa aus Somalia und Bosnien (aber auch aus erfolgreichen »traditionellen« Peacekeeping-Operationen wie UNOMOZ in Mozambique) kaum gesprochen wird.

Wäre es denn nicht eine angemessene Konsequenz aus der deutschen Geschichte, kontrovers zu bereden, welche sinnvollen militärischen Aufgaben deutsche Soldaten bei künftigen internationalen Einsätzen im Auftrag der VN übernehmen sollten? Ist denn nicht die selbstbewußte Teilnahme an »traditionellem« Peacekeeping, der militärische Schutz von Konvois, der militärische Schutz von VN-Schutzzonen, das frühzeitige militärische »preventive deployment« in Krisensituationen, die zu eskalieren drohen, notwendig? Oder hat eine Konzeption, die an Bewahrung/Stabilisierung/Schutz ausgerichtet ist, zu wenig Glamour?

Der geeignete Ort für Streit über diese Themen ist auch das Parlament. Dort würde es – wenn die Abgeordneten sich so ein Stück konzeptioneller Verteidigungspolitik (zurück)erobert hätten – dann auch Sinn machen, über Aufgaben, Größe und Ausrüstung der Krisenreaktionskräfte zu reden, anstatt Zahlen von 50.000 Mann plus einfach hinzunehmen. Dies ergäbe für interessierte Journalisten auch den Anlaß zur hintergründigen Berichterstattung…

Das Parlament ist als Ort einer öffentlichen Auseinandersetzung mit konzeptioneller Perspektive wiederzuentdecken. Dieser Weg verriete auch ein größeres politisches Selbstbewußtsein, als es die Durchsetzung der NATO-Osterweiterung anzeigt: Für die hat sich Rühe, zum großen Ärger der wichtigen Partner, in der NATO seit 1993 eingesetzt; seit dem abrupten Schwenk der USA im Herbst 1994 auf die Rühe-Position ist sie im Prinzip beschlossene Sache. So kam diese Politik via NATO als Fait accompli in der Bundesrepublik an. Eine parlamentarische Debatte hat sich erübrigt, oder?

Jutta Koch ist freie Publizistin und Mitarbeiterin im Deutschen Bundestag.