Geloben? Öffentlich?

Geloben? Öffentlich?

von Till Bastian

In Bremen wurde ein geplantes öffentliches Gelöbnis von der Bundeswehrführung abgesagt – der Senat hatte es im Saale stattfinden lassen wollen; das Militär reagierte beleidigt. In Frankfurt an der Oder hat die Stadtverwaltung das für den 15. August geplante Gelöbnis gleich ganz platzen lassen – und Minister Rühe konterte säuerlich: Eine Beleidigung der »Hochwasserhelden« sei das. Von »Undankbarkeit« kündete denn auch die Schlagzeile der BILD-Zeitung am 7. Mai.

In der Tat: Schlechte Zeiten für die Traditionspflege, für das öffentliche Auftreten einer krisengeschüttelten Armee. Der »Verteidigungsfall« an den deutschen Grenzen ist den Bürgern kaum noch plausibel zu machen – sollen wir ernsthaft glauben, die Dänen wollten Kiel, die Österreicher Lindau, die Tschechen Bayreuth erobern? Aber offenbar fällt es uns leichter, auf die DM zu verzichten als auf die Bundeswehr.

Das politische Establishment setzt ohnehin ganz auf den Einsatz in Übersee, da ja – so die »Verteidigungspolitischen Richtlinien« des Ministers Rühe vom Dezember 1992 – die Aufrechterhaltung des freien Welthandels und der Zugang zu den Rohstoffen in aller Welt als „vitales Sicherheitsinteresse“ Deutschlands zu betrachten sind. Ein solcher Einsatz – gedacht wohl mehr als Befähigungsnachweis, um endlich den heißersehnten ständigen Sitz im UNO-Sicherheitsrat antreten zu dürfen – war ja schon in Somalia über 500 Millionen DM wert, die im wahrsten Wortsinn »in den Sand« gesetzt wurden: Das ehemalige Lazarett der »Engel von Belet Huen« verrottet heute nutzlos in der Wüste Somalias…

Währenddessen wurde – und sicher zu Recht – mehrfach darauf aufmerksam gemacht, daß das Anwachsen rechtsradikaler Umtriebe in der Truppe durchaus zusammenhängt mit dem neuen Geist, der den »Ernstfall Übersee« zum Normaleinsatz stilisieren möchte – es scheint allerdings, daß manche Soldaten, vom Offensivdrang beflügelt, den Feind, den diese Armee seit Ende des Kalten Krieges entbehrt, schneller im eigenen Land finden als anderenorts.

Was also gibt es in dieser Situation zu zelebrieren? Was zu geloben? Den Kampf gegen die Oderfluten bei Bedarf fortzusetzen? Oder die Treue zum Grundgesetz – das aber wohl kaum in Somalia verteidigt werden muß?

Deutschland hat, seit dem Beitritt der ehemaligen DDR-Länder zum Geltungsbereich des Grundgesetzes am 3. Oktober 1990, neun Nachbarländer: Belgien, Dänemark, Frankreich, Luxemburg, Niederlande, Österreich, Polen, Schweiz und Tschechien. Mit sechs seiner Nachbarn ist Deutschland in supranationalen Bündnissen und Zusammenschlüssen, Nato und Europäischer Union, verbunden; im Falle der EU sind bereits nationale Machtbefugnisse auf höhere Instanzen übertragen worden; die Währungsunion ist beschlossene Sache. Die Nachbarstaaten Polen und Tschechien würden sich erklärtermaßen lieber heute als morgen voll in diese Bindungen einfügen. Mit dem einzigen Nachbarland, das EU und NATO fernsteht, der Schweiz, ist eine militärische Konfrontation gewiß nicht zu fürchten. Deutschland ist also, wie schon erwähnt, „von Freunden umstellt“. Und auch mit den Ländern, die – quasi in einem zweiten konzentrischen Kreis – Nachbarn unserer Nachbarn sind (Schweden, Spanien, Italien, Slowenien, Slowakei, Weißrußland, Ukraine, Rußland), müssen kriegerische Konflikte nicht erwartet werden; die wirtschaftliche Verflechtung ist hochentwickelt und knüpft sich jeden Tag fester.

Was spräche also dagegen, daß Deutschland dem Beispiel Costa Ricas, Haitis und Panamas folgte und seine bewaffneten Streitkräfte abschaffte – als vierter Mitgliedstaat der Vereinten Nationen? Die Signalwirkung, die dieser Schritt weltpolitisch entfalten würde, wäre gewiß unvergleichlich. Sie stünde einem Land nicht schlecht zu Gesicht, dessen Soldaten 1914 und 1939 mit der gewaltsamen Überschreitung der belgischen bzw. der polnischen Grenze die beiden blutigsten Kriege dieses Jahrhunderts begonnen haben.

Es sei klargestellt, daß einer solchen Initiative keinesfalls der konsequent pazifistische Standpunkt, d.h. die prinzipielle Ablehnung jeglicher Gewaltmittel im Falle zwischenstaatlicher Konflikte, zugrunde liegen muß. Solche Konflikte werden durch weltweite Abrüstung und, vor allem, durch eine endlich wirksam gestaltete Eindämmung des internationalen Waffenhandels zwar unwahrscheinlicher, bleiben aber prinzipiell möglich. Hier, falls unbedingt erforderlich, zu intervenieren, sollte den Vereinten Nationen vorbehalten bleiben, deren Reform nicht zuletzt aus eben diesem Grund auf der Tagesordnung steht. In seiner leider fast schon vergessenen »Agenda für den Frieden« hatte der damalige Generalsekretär Butros Butros Ghali eigene Streitkräfte für die Vereinten Nationen gefordert (worin ihm übrigens auch der Bericht der von Richard Weizsäcker geleiteten »Reformkommission« bekräftigt hat). Daß eine solche »ultima ratio« der Weltgemeinschaft Wirklichkeit werde, dagegen wehren sich vor allem solche Staaten, die die Rolle des Weltpolizisten aus durchaus eigennützigen Motiven seit jeher für sich reklamieren. Darüber muß hier nicht weiter debattiert werden; eine Bundesrepublik Deutschland ohne Bundeswehr, etwa im 50. Bestandsjahr des Grundgesetzes (1999) verwirklicht, würde jedenfalls die Sicherheitslage unseres Landes nicht verschlechtern, die Chancen für den Weltfrieden jedoch erheblich verbessern. Sie könnte zudem erhebliche Kräfte und Mittel freisetzen zur Entwicklung jenes Weltbürgertums, ohne dessen Heranbildung jeder dauerhafte Friede in der Tat bloße Chimäre bleiben muß.

Dr. Till Bastian, Arzt und Publizist

Augen auf statt »Rechts um«!

Augen auf statt »Rechts um«!

Rechtsextremistische Skandale in der Bundeswehr – wohin driften die Streitkräfte? Interview mit Wolfgang Vogt

von Dr. Wolfgang Vogt und Tobias Pflüger

Tobias Pflüger interviewte für W&F Dr. Wolfgang Vogt, Dipl.-Soziologe, ziviler Dozent und Leitender Wissenschaftlicher Direktor im Fachbereich Sozialwissenschaften an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg, Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung und des Vorstandes von W&F zum Fall Roeder an der Führungsakademie und zu den rechtsextremistischen Umtrieben in der Bundeswehr.

W&F: Wie ist zur Zeit das Klima an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg, nachdem der Ruf der Einrichtung durch den Roeder-Skandal so grundsätzlich ramponiert ist?

W. V.: Es herrscht – soweit ich dies ausmachen kann – in weiten Bereichen ein Klima der tiefen Betroffenheit, der Scham und teilweise auch der blanken Wut über die skandalöse Einladung und Unterstützung von Roeder durch den Stabs- und Organisationsbereich der Führungsakademie. Viele Dozenten – insbesondere meine zivilen wissenschaftlichen KollegInnen aus dem Fachbereich Sozialwissenschaften – sind vor allem deshalb so empört über diesen Vorgang, weil ihre jahrelange, oft mühevolle Arbeit für mehr Pluralität, Offenheit, Zivilcourage und Reflektivität an der Führungsakademie durch das unverantwortliche Handeln eines Obristen aus dem Organisationsstab des damaligen Kommandeurs konterkariert worden ist.

W&F: War es verwunderlich, daß jemand wie Manfred Roeder von der Führungsakademie der Bundeswehr eingeladen wurde?

W. V.: Wenn mir vorher jemand gesagt hätte, daß eine solche Einladung an der Akademie möglich wäre, hätte ich das für absurd gehalten und als üble Unterstellung zurückgewiesen. Ich habe mich persönlich gefragt, wie das passieren konnte bzw. weshalb es erst durch die Presse aufgedeckt worden ist. Warum habe ich selbst erst durch die Presse von dem Skandal erfahren? Als ziviler wissenschaftlicher Dozent für Friedens- und Konfliktforschung bekommt man normalerweise nicht mit, was im Führungskreis und Organisationsstab der Führungsakademie im Detail vor sich geht. Die dort ablaufenden bürokratischen Routineprozesse und militärischen Verwaltungsrituale sind normalerweise auch nicht so erregend oder bedeutsam, daß sie mehr als ein nebensächliches Interesse seitens der wissenschaftlichen DozentInnen finden. Die Organisationsbereiche sind eine Welt für sich, die in relativer Distanz zu den Fachbereichen und Dozenten vorwiegend administrative Aufgaben und keine direkten Lehr- und Forschungsaufgaben wahrnehmen. In diesem Administrativbereich hat der Gastvortrag von Roeder auf Einladung des damals amtierenden Chefs des Stabes stattgefunden. Normalerweise gibt es ein Verfahren für die Einladung von Gastreferenten, das die Einschaltung verschiedener Ebenen und Bereiche vorsieht. Offenkundig erfolgte die Einladung an den vorbestraften Neonazi Roeder, jedoch ohne irgendeine Prüfung und damit außerhalb der üblichen Prozeduren.

W&F: Ist die Einladung Ihrer Einschätzung nach aus rechtsextremistischen Motiven erfolgt?

W. V.: Meine persönliche Einschätzung ist, daß die Einladung nicht aufgrund einer rechtsextremen Gesinnung stattgefunden hat, sondern wohl eher fachliches Unvermögen, intellektuelle Begrenztheit und politische Blindheit die Regie geführt haben. Es liegt aber nicht nur individuelles Versagen vor, sondern der Skandal ist letztlich auf strukturelle Ursachen zurückzuführen, die zum einen in militärspezifischen Strukturmerkmalen und zum anderen in Fehlentwicklungen innerhalb der Bundeswehr liegen.

W&F: War den Verantwortlichen an der Führungsakademie tatsächlich nicht bekannt, wen sie da eingeladen haben? Wer wußte von der Einladung?

W. V.: Wer von der Einladung gewußt hat und was über Roeder bekannt war, das müßte durch die laufenden Untersuchungen herausgefunden werden. Mir scheint jedoch eine unentschuldbare Fahrlässigkeit bei dem/den Verantwortlichen für diese unsägliche Veranstaltung vorgelegen zu haben. Für mich ist die entscheidende Frage, wie jemand in der Bundeswehr zum Oberst befördert und auf eine wichtige (G 3-) Organisationsstelle an der höchsten Ausbildungsstätte der Bundeswehr gesetzt werden kann, dem der landauf und landab bekannte neofaschistische Gewalttäter angeblich nicht bekannt gewesen sein soll. Spätestens bei dem abgesprochenen Vortragsthema (»Übersiedlung von Rußlanddeutschen in den Raum Königsberg«) hätten bei einem halbwegs politisch-demokratisch gebildeten Stabsoffizier sämtliche Lichter aufgehen müssen. Welch ein Abgrund an politisch-demokratischer Nicht-Aufgeklärtheit bei einem Repräsentanten des höheren Offizierkorps! Hier sind für meine Begriffe politische Maßnahmen geboten, die weit über die erforderlichen rechtlichen Disziplinarverfahren hinaus reichen. Nicht ausreichend sind die eingeleiteten Einzelfallbearbeitungen im Stile medienwirksamer, aber unzureichender Symptombehandlung. Notwendig sind vielmehr kritische Aufklärungen und Aufarbeitungen im Sinne einer wirkungsvollen und nachhaltigen Ursachenbeseitigung.

W&F: Ist die Bundeswehr von ihren Strukturen her rechtslastig?

W. V.: Wie jede Armee zieht auch die Bundeswehr tendenziell eher jene Gruppe von Menschen verstärkt an, die den Merkmalen militärischer Organisationen – Befehl und Gehorsam, Sicherheit und Ordnung, Rangordnung und Dienstgrad, Uniform und Disziplin (also den sogenannten »Sekundärtugenden«) – mehr verbunden sind als solche, die eher nach Individualität und Kreativität, Pluralität und Reflexivität streben. Verkürzt gesagt, Streitkräfte rekrutieren durch ihr funktionsbedingtes »Anreizsystem« eher Konservative als Progressive, eher »Rechte« als »Linke«, eher Anpassungstypen als Entfaltungstypen, eher Mitmacher als Bedenkenträger. Alle bekannten empirischen Untersuchungen über die politischen und gesellschaftspolitischen Einstellungen und Haltungen von Soldaten – insbesondere von Unteroffizieren und Offizieren – belegen, daß es in allen Streitkräften eine im Vergleich zur Bevölkerung deutlich rechtsverschobene Verteilung im Einstellungsspektrum gibt. Links von der Mitte existiert eine auffällige Ausdünnung. Insgesamt ist eine geringere Einstellungspluralität und Meinungsvielfalt im Vergleich zum gesamtgesellschaftlichen Verteilungsspektrum auszumachen. Diese Einschränkung der Vielfalt führt zu einem Verlust an kritisch-reflexiver Kontrolle. Bei den Diskussionen in den Kasernen, Kantinen und Kasinos ist man »unter seinesgleichen« und schneller einer Meinung. Erheblich unterrepräsentiert in der Bundeswehr und anderen Armeen sind vor allem die kritischen Geister, die unbequemen Querdenker, die individuellen Unangepaßten, die autonomen Kreativen, die konsequenten Nachfrager und die visionären Frühmerker.

W&F: Wie wirken sich die spezifischen Strukturmerkmale der Streitkräfte auf die Soldaten und deren Prägungen, Einstellungen und Haltungen aus?

W. V.: Der strukturell bedingte Rechtsdrall, der schon durch die relativ einseitige Rekrutierung des Personals zustande kommt (Friedensbewegte verweigern den Wehrdienst, »Linke« meiden den Eintritt in die Armee, »Grüne« halten (noch) kritische Distanz zum Militär) wird noch nachhaltig durch die militärischen Sozialisationsprozesse und durch die vorherrschende Beförderungspraxis verstärkt. Auch moderne Armeen verfügen über ein differenziertes System militärischer Mechanismen, das durch Musterungs-, Einkleidungs-, Gehorsams-, Kontroll- und Sanktionsverfahren aus Zivilisten einsatz- und kampffähige Soldaten macht. Wer diesen militärischen Ritualen und Mechanismen am besten entspricht, hat die größten Chancen auf gute Beurteilungen, schnelle Beförderung und steile Karriere. So ist es nicht verwunderlich, daß die am schnellsten und am höchsten Beförderten in der Regel auch die am besten an die militärischen Regeln Angepaßten sind. Auf diese Weise nimmt die Pluralität der Ansichten und Haltungen in der Tendenz desto mehr ab, je höher die Stufe des erreichten Ranges ist. Die größten Chancen auf die höchsten Posten haben diejenigen, die sich durch besondere Systemanpassung plus Apparattreue ausgezeichnet haben.

W&F: Gibt es Zusammenhänge oder Verbindungen zwischen stark ausgeprägten konservativen bzw. technokratischen Einstellungen in der Bundeswehr und rechstextremistischen Gesinnungen und Gruppierungen in der Gesellschaft?

W. V.: Wenn starken konservativen Effekten und Tendenzen in der Armee (personal-)politisch nicht bewußt entgegengesteuert wird, ist dieses auf Dauer fatal für die Entwicklung und Orientierung eines Unteroffizier- und Offizierkorps. Dann entstehen am rechten Rand der Streitkräfte ultrakonservative Milieus, die von Rechtsextremen als Kontaktfelder und Resonanzböden genutzt werden können. Hier entstehen Grauzonen im Übergang zum Rechtsextremismus. Es gibt Informationskanäle und Beziehungsgeflechte zu »alten« Kameraden und »rechten« Bekannten, die ihrerseits im Dunstkreis rechtsextremer Kreise angesiedelt sind. Deshalb ist es so wichtig, sehr klare und harte Trennungslinien zwischen rechts-konservativen und rechts-extremistischen Haltungen und Gruppierungen zu ziehen. Es muß mit allen politischen und rechtsstaatlichen Mitteln verhindert werden, daß dem wiedererstarkenden Rechtsextremismus über diese Einfallstore und Gesinnungsbrücken eine zunehmende Einschleusung ihrer Ideologien und Propaganda in die Bundeswehr gelingt.

W&F: Was ist von der These zu halten, daß die Begriffe der »Inneren Führung« und des »Staatsbürgers in Uniform« seit der Veränderung des Auftrages der Bundeswehr zu reinen Schlagwörtern geworden sind?

W. V.: Durch die Militarisierung der Sicherheitspolitik – das Militär ist wieder ein »normales« Instrument zur Fortsetzung der Politik mit anderen (Gewalt-)Mitteln geworden – hat sich auch der Charakter der Bundeswehr grundlegend geändert. Die Bundeswehr hat nicht mehr – wie zu Zeiten des Ost-West-Konfliktes – ausschließlich eine defensive Abhalte- und Abschreckungsfunktion, sondern ihr erweitertes Aufgabenspektrum sieht bekannterweise auch offensive Kampfeinsätze im Rahmen von »out-of-area-Missionen« vor. Mit der Aufstellung von sog. Krisenreaktionskräften (KRK) und Kommandospezialkräften (KSK) sind Offensiv- und Interventionspotentiale geschaffen worden – obwohl die Verfassung eigentlich nur die Aufstellung von Streitkräften ausschließlich zur Verteidigung vorsieht. Diese grundlegende Aufgabenveränderung der Bundeswehr hat zu einer Veränderung der Ausbildungsschwerpunkte und zu einer Wandlung des Selbstverständnisses vom Soldaten in den Streitkräften geführt.

W&F: Und wie hat sich die Aufgabenveränderung auf die Ausbildung und das Selbstverständnis in der Bundeswehr ausgewirkt?

W. V.: Im Zuge dieser Umstrukturierungen hat die ursprüngliche Konzeption der Inneren Führung einen drastischen Bedeutungsverlust erfahren. Sie hat in der Praxis längst nicht mehr die übergeordnete Funktion eines sinnstiftenden Reformkonzepts, als das es nach wie vor in vollmundigen Bekundungen der politischen Leitung und der militärischen Führung ausgegeben wird. Spätestens seit dem Amtsantritt des früheren Verteidigungsministers Manfred Wörner ist ein schleichender Verfall der Inneren Führung und der Idee vom Staatsbürger in Uniform zu beobachten, der sich seit Beginn der 90er Jahre beschleunigt hat. Inzwischen ist die Innere Führung zu einer Art technokratischer Managementmethode mutiert, die mehr dem Zweck der Kampfkraftsteigerung als der demokratisch-politischen Bildung und Förderung von »Staatsbügern in Uniform« dient.

W&F: Hat die Innere Führung, die ja ehemals als Reformwerk angelegt war, im Alltag der Bundeswehr überhaupt noch eine Bedeutung?

W. V.: Die Innere Führung und die Politische Bildung haben – wie etwa auch die Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages feststellt – in der Truppenpraxis ihre zentrale Leit- und Wertfunktion im Sinne einer umfassenden Entfaltung und Bildung der individuellen Persönlichkeit der Soldaten als demokratisch eingestellte »Staatsbürger in Uniform« weitgehend verloren. Ihre Prinzipien und Normen sind im Truppenalltag oft nicht mehr die zentralen Bezugspunkte für alles militärische Verhalten. Die Ausbildung von »Kämpfern«, die Vermittlung von sog. »soldatischen Tugenden« (Disziplin, Gehorsam, Kameradschaft etc.) und die Einübung militärischer Techniken und Verfahren (»Handwerkszeug«) ist im Zuge der Funktionsveränderung der Streitkräfte mehr und mehr in den Vordergrund getreten. Das zeigt u.a. die Zunahme entsprechender Themen und Artikel in den einschlägigen militärischen Fachzeitschriften. Das ursprüngliche Reformkonzept ist tendenziell zu einem peripheren Ausbildungsfach geworden. Es wird eher als eine Managementtechnik begriffen und gelehrt denn als »Reformphilosophie« und »Organisationskultur« begriffen und gelebt. General Graf von Baudissin, der »Erfinder« der Inneren Führung und des Leitbilds vom Staatsbürger in Uniform würde »sich im Grabe umdrehen«, wenn er erleben würde, daß die Vorstellungen seiner damaligen Erz-Kontrahenten – der sog. »Traditionalisten« (Karst, Wagemann u.a.) – durch die Neuausrichtung der Streitkräfte mehr und mehr Gewicht bekommen und sich durchgesetzt haben.

W&F: Inwieweit ist eine sozialwissenschaftliche Untersuchung über Bundeswehr und Rechstextremismus notwendig und sinnvoll?

W. V.: Eine solche Untersuchung ist meiner Auffassung nach nicht nur erforderlich, sondern längst überfällig, denn niemand hat ein hinreichend klares und repräsentatives Bild über die Mentalitäten, Entwicklungen und Tendenzen in der Bundeswehr. Die im Militär üblichen Melde- und Informationsverfahren reichen nicht aus, um der Leitung und Führung der Streitkräfte ein hinreichend umfassendes und verläßliches Bild über das Denken und Handeln in den weit verzweigten Truppenteilen zu ermöglichen. Auf den langen Dienst- und Berichtswegen von unten nach oben werden – wie in allen großen Organisationen üblich – oft geschönte Informationen befördert. Bei angekündigten und intensiv vorbereiteten Truppenbesuchen wird in aller Regel eine perfekte Show abgezogen, die mehr von den tatsächlichen Zuständen und Problemen vor Ort verbirgt als aufzeigt. Und bei den kurzen – oft sehr formalisiert ablaufenden – Gesprächen und Zusammentreffen mit höheren Vorgesetzten oder Politikern ist auch nicht viel mehr zu erfahren als das, was nach den Regeln der »political correctness« gesagt und gehört werden soll. Ich halte es für unerläßlich, daß die Verhältnisse und Entwicklungen in der Bundeswehr mit geeigneten Methoden von außen untersucht werden.

W&F: Wie müßte eine solche Untersuchung angelegt und durchgeführt werden?

W. V.:Eine solche Untersuchung sollte nicht nur mögliche rechtsextremistische Tendenzen zum Analysegegenstand haben, sondern breiter angelegt sein. Sie sollte eine kritische Bestandsaufnahme über die Entwicklung und den Stand der Inneren Führung in der Bundeswehr zum Thema haben. Deshalb hielte ich es für angemessener, eine Enquete-Kommission von unabhängigen Experten mit der Untersuchung der Zustände in der Bundeswehr zu beauftragen. Aufzudecken wären Risikokonstellationen, die durch das Zusammenwirken von strukturellen Bedingungen, institutionellen Regelungen und personellen Konstellationen systematisch dazu führen, daß dem Rechtsextremismus Raum und Klima zur Entfaltung bereitet wird. Die demokratische Gesellschaft hat einen legitimen Anspruch zu wissen, was in der Institution vor sich geht, die mit dem massivsten Gewaltmonopol ausgestattet ist.

W&F: Macht eine solche Untersuchung Sinn, wenn sie vom »Sozialwissenschaftlichen Institut der Bundeswehr« durchgeführt wird, oder ist es sinnvoll, eine solche Untersuchung nach »außen« zu geben?

W. V.: Eine solche Studie macht nur Sinn, wenn sie von »außen« – z.B. durch die unabhängige Forschungsgruppe von Prof. Wilhelm Heitmeyer aus Bielefeld – durchgeführt wird. Dieses renommierte Forschungsteam hat in den letzten Jahren einschlägige Untersuchungen über Rechtsextremismus und Gewalt vorgelegt, die durch ihre professionelle Qualität ausgewiesen sind. Das Sozialwissenschaftliche Institut der Bundeswehr (SOWI) scheint mir dagegen nicht geeignet, da es durch die in den letzten Jahren politisch verordneten »Reformen« nachhaltig an Unabhängigkeit vom dienstlichen Auftraggeber verloren hat. Das SOWI wurde nicht nur an die Akademie für Kommunikation (ehemals Psychologische Verteidigung) angegliedert und in seinen ursprünglichen Kompetenzen stark beschnitten, sondern auch anstelle der zivilen wissenschaftlichen Leitung mit einer militärischen Führung versehen. Ein in die militärische Hierarchie eingebundener, wissenschaftlich nicht einschlägig ausgewiesener Oberst wurde als SOWI-Leiter eingesetzt. Unter diesen strukturellen und personellen Bedingungen läßt sich leicht vorstellen, welche politisch genehmen Ergebnisse eine interne Untersuchung durch das SOWI aller Voraussicht nach erbringen würde. Die rechtsextremen Skandale in der Bundeswehr sind aber ein gesellschaftspolitisch zu ernstes Problem, als daß man ihre Untersuchung militärinternen und hierarchieverpflichteten Instanzen überlassen oder übertragen sollte. Es bedarf der kritischen, unabhängigen und professionellen Expertise von außen.

W&F: Wie sind die bisherigen Reaktionen und Maßnahmen der Bundeswehrführung zu beurteilen?

W. V.: Das vermag ich im Detail nicht zu beurteilen, weil mir dazu nicht alle inzwischen getroffenen Maßnahmen hinreichend bekannt sind. Aber eine Reihe der offensichtlichen Strategien scheinen mir wenig geeignet, die Skandale politisch und praktisch angemessen zu bewältigen und in ihren Ursachen wirkungsvoll zu behandeln. So wurden durch die sog. Einzelfallthese die Skandale seitens der Bundeswehrführung nicht nur verharmlost, sondern durch eine Personalisierung auch auf eine ungebührliche Weise entpolitisiert. Durch die Abschirmung der Bundeswehr gegen eine empirische Untersuchung wurde der Verdacht genährt, daß man etwas zu verbergen hätte. Und durch die teilweise heftig vorgetragene Presseschelte (»Dreckschleuder«, »Trittbrettfahrer« etc.) wurde – nach dem fragwürdigen Motto »Angriff ist die beste Selbstverteidigung« – der durchsichtige Versuch unternommen, die kritischen Blicke von den eigentlichen Problemen abzulenken. Schließlich scheinen mir auch demonstrative Truppenbesuche im Kampfanzug nicht sonderlich geeignet, um das angeknackste Vertrauen in die Bundeswehr (und ihre Leitung) wiederherzustellen.

W&F: Was wären angemessene Reaktionen auf den Roeder-Skandal?

W. V.: Der Skandal und die ihn bedingenden Umstände bestärken mich in meiner seit Jahren intern immer wieder zum Ausdruck gebrachten Einschätzung, daß die Führungsakademie einer einschneidenden Reform bedarf. Es geht dabei um eine Reduzierung überholter militärischer Organisations- und Disziplinierungsstrukturen zugunsten einer Stärkung akademischer Qualifizierungs- und Professionalisierungsstrukturen, damit die Akademie endlich auf ein »post-universitäres« Hochschulniveau gebracht wird. Die »höchste militärische Ausbildungsstätte« – wie sie gerne in Festreden führender Politiker und Militärs bezeichnet wird – müßte endlich durch eine generelle Anhebung der wissenschaftlichen Qualität in der Lehre, durch eine professionellere Besetzung der Dozenturen und durch eine angemessene Ausstattung mit Ressourcen für eine qualifizierte Forschung so grunderneuert werden, daß die schmückende Bezeichnung »Akademie« nicht nur in großen Buchstaben auf einer eindrucksvollen Bronzetafel am Eingang zu lesen ist, sondern der darin enthaltene Anspruch auch durchgängig in Lehre und Forschung praktiziert wird. Es bedarf einer Durchlüftung und Entstaubung vieler Traditionsecken, -wände und -räume in der Akademie und der Einrichtung von Innovationszentren für die Optimierung der Inneren Führung und der Politischen Bildung. Darüber hinaus geht es um die Mobilisierung von Ideen und Visionen zur Zivilisierung der Sicherheitspolitik.

W&F: Und wie müßte auf die Serie der rechtsextremistischen Vorfälle in der Bundeswehr reagiert werden?

W. V.: Neben einer rückhaltlosen Aufklärung der rechtsextremistischen Vorfälle in der Bundeswehr und der Hintergründe der Roeder-Affäre an der Führungsakademie durch die zuständigen Stellen im Verteidigungsministerium und durch den Parlamentarischen Untersuchungsausschuß ist eine disziplinare Prüfung bzw. Bestrafung derjenigen Vorgesetzten und Soldaten vorzunehmen, die in irgendeiner schuldhaften oder fahrlässigen Weise in die rechtsradikalen Vorfälle verwickelt sind.

Die straf- oder disziplinarrechtliche Verfolgung der »Einzelfälle«, die durch ihre große Zahl und zeitliche Häufung in der Tat längst zu einer Serie rechtsextremistischer Vorfälle geworden sind, ist eine notwendige, aber bei weitem nicht hinreichende Maßnahme. Es bedarf eines ganzen Bündels von Reformen, die der Verteidigungsminister endlich entwickeln und durchsetzen müßte. Damit die Ursachen beseitigt werden, die letztlich zu den rechtsextremistischen Vorfällen in den Streitkräften geführt haben, müßten folgende Reformschritte erfolgen:

  • Die Reaktivierung des Leitbildes vom Staatsbürger in Uniform und der Ausbau des Konzeptes der Inneren Führung zu einer umfassenden demokratischen Organisationskultur im ursprünglichen Sinne der Vorstellungen des Reformgenerals Wolf Graf von Baudissins;
  • die Aktivierung, Pluralisierung und Demokratisierung der politischen, historischen und demokratischen Bildung u.a. durch eine institutionalisierte Zusammenarbeit zwischen den Bundes- und Landeszentralen der politischen Bildung und den Truppenteilen und Organisationseinheiten der Bundeswehr;
  • die Einstellung von Werbekampagnen für die Bundeswehr, die mit Hinweisen auf Abenteuerlust, Technikfaszination und Sekundärtugenden eine fragwürdige Rekrutierungspolitik betreiben und damit besonders jene rechtsextremen Kreise ansprechen, über deren Wirken und Auftreten in der Bundeswehr man sich dann verwundert zeigt;
  • die grundlegende Überarbeitung der personalpolitischen Auswahl- und Beförderungskriterien, damit die Einstellungen und Befähigungen von Vorgesetzten zur Anerkennung und Umsetzung der Grundsätze der Inneren Führung wesentlich stärkere Berücksichtigung in der Beförderungspraxis finden und die vorbildliche Befolgung dieser Prinzipien mit einem karriererelevanten Anreiz versehen wird; und schließlich
  • die Einsetzung einer Enquete-Kommission von unabhängigen Experten aller politisch-demokratischen Schattierungen mit dem Ziel einer generellen Bestandsaufnahme über »Geist und Klima« in der Bundeswehr.

Noch ein Wort zum Abschluß: So wichtig die Aufklärung und Abstellung rechtsextremistischer Vorgänge in der Bundeswehr ist, sollte das aber nicht verhindern, wieder intensiver über die wesentlichen Fragen nachzudenken: wie das Militärische in der Politik abgebaut, wie die Streitkräfte weiter reduziert und wie die Abrüstung vorangebracht werden kann. Am Ende unseres Jahrhundert geht es vor allem um die politische Umsetzung der Vision einer Zivilisierung, d.h. um präventive Gewaltreduzierung, zivile Konfliktregulierung und nachhaltige Friedensgestaltung.

Rechtsextreme und Bundeswehr

Rechtsextreme und Bundeswehr

Verteidigungsausschuß tagt als Untersuchungsausschuß / Bundestagsanfragen SPD und Bündnis 90/Die Grünen

von SPD – Bündnis 90/Die Grünen

Auf Antrag der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/ Die Grünen hat sich der Verteidigungsausschuß des Bundestages nach den Vorfällen in der Führungsakademie der Bundeswehr als Untersuchungsausschuß konstituiert. Grundlage der Arbeit ist ein Antrag der SPD. Obwohl die Anträge der SPD und der Grünen in weiten Bereichen übereinstimmen, konnten sich beide Parteien nicht auf einen gemeinsamen Antrag einigen. Dabei gibt es eine weitgehende inhaltliche Übereinstimmung in den Komplexen

  • »Innere Führung« und politische Bildung
  • Praxis der Traditionspflege
  • Verhältnis Armee – Gesellschaft

Der wesentlich umfangreichere Antrag der Grünen geht in einigen Bereichen über diese Gemeinsamkeit hinaus. Er fragt auch

  • nach Umfang und Hinlänglichkeiten der Frühwarn- und Verhinderungsmechanismen, nach wissenschaftlichen Analysen und MAD-Aktivitäten
  • nach den Kriterien bei der Auswahl des Nachwuchses und
  • nach dem Reformbedarf der Streitkräfte.

Wir dokumentieren im folgenden die beiden Anträge im Wortlaut

Antrag der SPD Fraktion

Konstituierung des Verteidigungsausschusses als Untersuchungsausschuß nach Artikel 45a,<0> <>Abs.<0> <>2 des Grundgesetzes

Der Verteidigungsausschuß als Untersuchungsausschuß wolle beschließen:

Der Verteidigungsausschuß konstituiert sich zur parlamentarischen Untersuchung von rechtsextremistischen Vorkommnissen an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg und an anderen Standorten der Bundeswehr als Untersuchungsausschuß nach Art.<0> <>45a, Abs.<0> <>2GG.

Gegenstand der Untersuchungen

soll dabei sein:

1. die gegenwärtige innere Lage der Bundeswehr anhand

1.1 der geistigen Orientierung der Vorgesetzten und ihrer Bindung an die freiheitlich demokratische Grundordnung und an das Leitbild des Staatsbürgers in Uniform, u. a. am Beispiel der Einladung eines Rechtsterroristen und seines Vortrages an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg und seiner weiteren Kontakte zur Bundeswehr und in diesem Zusammenhang:

1.1.1. Materiallieferungen der Bundeswehr und Nutzung von Bundeswehrliegenschaften durch verfassungsfeindliche Organisationen, u. a. am Beispiel des »Deutsch-Russischen Gemeinschaftswerkes«.

1.1.2. die damit in Verbindung stehenden Vorgänge zwischen anderen Bundesbehörden und Dienststellen des Bundesministers der Verteidigung und den Nachrichtendiensten.

1.2. des Menschenbildes, des Führungsverhaltens und des Stellenwertes der Aus- und Weiterbildung, u. a. an den Beispielen der ausländerfeindlichen Vorfälle in Detmold, der Video-Skandale in Hammelburg und Schneeberg sowie der rechtsextremistischen Vorfälle in Altenstadt/Schongau, Landsberg und Varel;

2. die Rahmenbedingungen für die Innere Führung und die politische Bildung,

2.1. ob angepaßtes Verhalten in der Führungshierarchie immer mehr die Zivil- bzw. Militärcourage ersetzt;

2.2. ob der erweiterte Auftrag der Bundeswehr und ob beispielsweise die Einsätze in Kambodscha, Somalia und Bosnien das Verständnis von Innerer Führung verändert haben;

2.3. ob Wehrbeschwerde und Wehrdisziplinarordnung noch strikt nach ihrem Wesensgehalt und vor allem nach dem Leitbild des Staatsbürgers in Uniform angewendet werden.

3. die Konsequenzen, die aus den Berichten des/der Wehrbeauftragten zu rechtsextremistischem Verhalten von Soldaten, zur Verschlechterung der Rahmenbedingungen für die Innere Führung und die politische Bildung und zu unzulässigen Formen der Traditionspflege gezogen wurden.

4. die Realität des Traditionsverhaltens,

4.1. die Formen der Traditionspflege, u.a. am Beispiel des Traditionsraumes beim Jagdbombergeschwader 33 in Büchel;

4.2. ob die Traditionspflege und das Traditionsverhalten noch mit dem Traditionserlaß von 1982 übereinstimmen.

5. ob und zu welchem Zeitpunkt die Bundesregierung über die rechtsextremistischen Vorfälle informiert war und was sie unternommen bzw. unterlassen hat, um diesem Sachverhalt zuvorzukommen bzw. abzuhelfen.

6. die Verantwortung des Bundesministeriums der Verteidigung für die vorgenannten Fälle und das Führungsverhalten des Ministers und die Auswirkungen seiner Personalentscheidungen auf das Vertrauen der Angehörigen der Bundeswehr.

Antrag der Fraktion

Bündnis 90/Die Grünen

Konstituierung des Verteidigungsausschusses als Untersuchungsausschuß nach Art. 45a, Abs. 2 GG

Der Verteidigungsausschuß wolle beschließen:

Der Verteidigungsausschuß konstituiert sich zur parlamentarischen Untersuchung von gewalttätigen, rechtsextremen, nationalautoritären oder fremdenfeindlichen Vorkommnissen, die an Standorten und Einrichtungen der Bundeswehr sowie im Verantwortungsbereich des Bundesministers der Verteidigung oder unter Beteiligung von Bundeswehrangehörigen stattgefunden haben, als Untersuchungsausschuß nach Art 45a Abs. 2GG.

Gegenstand der Untersuchung

soll dabei sein:

I. Umfang und Charakter der Vorkommnisse, insbesondere

1. ob Zusammenhänge zwischen den Vorfällen mit rechtsextremem, gewalttätigem, fremdenfeindlichem oder nationalautoritärem Hintergrund zu erkennen sind und ggf. welche und ob daraus auf eine gezielte Durchdringung bzw. Ausnutzung der Bundeswehr oder auf die Herausbildung subkultureller Netzwerke oder Gruppen in der Bundeswehr durch Personen oder Organisationen rechtsextremen, fremdenfeindlichen oder nationalautoritären Hintergrundes zu schließen ist;

2. ob und in welchem Umfang Liegenschaften des Bundesministeriums der Verteidigung bei Vorfällen oder durch Personen und Organisationen mit rechtsextremem, gewalttätigem, fremdenfeindlichem oder nationalautoritärem Hintergrund genutzt wurden;

3. ob und in welchem Umfang Erkenntnisse der zuständigen Verfassungsschutzorgane, der Polizei, des Militärischen Abschirmdienstes, des BND, der Stabsabteilungen des BMVg und aus öffentlich zugänglichen Quellen zu Frage I.1 vorliegen, und seitens der staatlichen Organe bewertet werden;

4. ob, wie, in welchem Umfang und mit welcher Zielsetzung seitens des BMVg eine Auswertung dieser Erkenntnisse erfolgt sowie welche Maßnahmen diesbezüglich eingeleitet wurden und werden.

II. Die Praxis der Traditionspflege in den Streitkräften, insbesondere

1. ob und welchem Umfang diese der Erlaßlage entspricht;

2. ob und welche Erkenntnisse der zuständigen Stabsabteilungen des BMVg (z.B. Fü S I, Fü H I, Fü L I, Fü M I) und aus öffentlich zugänglichen Quellen zu Frage II.1 vorliegen und wie diese dort bewertet werden;

3. ob, wie, in welchem Umfang und mit welcher Zielstellung seitens des BMVg eine Auswertung dieser Erkenntnisse erfolgt und welche konkreten Maßnahmen diesbezüglich eingeleitet wurden bzw. werden;

4. die Praxis und Formen der Traditionspflege in den drei Teilstreitkräften an ausgewählten Beispielen und im Hinblick auf soldatische Vorbilder;

5. Umfang und Charakter von sowie Gründe und Begründungen für Patenschaften und Aktivitäten zwischen Einheiten, Verbänden und Einrichtungen der Bundeswehr mit Traditionsverbänden oder Organisationen der ehemaligen Wehrmacht;

6. ob, in welchem Umfang und mit welchen Themen und Vorbildern bei der Aus- und Weiterbildung von Soldaten und Vorgesetzten Traditionsbezug auf die Wehrmacht genommen wird;

7. die Auswirkungen, welche die Praxis von Traditionspflege, Traditionsverhalten und Vorbildauswahl auf das Verständnis der Soldaten aller Dienstgrade von zulässigen und unzulässigen Formen von Traditionspflege und -verhalten haben.

III. Die Rahmenbedingungen und das Umfeld, welches die Bundeswehr für o.g. Vorkommnisse vorgibt, insbesondere

1. welche Konsequenzen und Ergebnisse der bundeswehrinternen Auseinandersetzung zwischen »Traditionalisten« und »Funktionalisten« auf der einen sowie »Reformern« auf der anderen Seite festzustellen sind und welche Auswirkungen diese auf Verhalten und Sozialisation insbesondere des Führungspersonals haben;

2. ob, in welchem Umfang und welche Mängel bei Konzeption und Umsetzung der Inneren Führung die o.g. Vorkommnisse begünstigt und unzulänglich verhindert haben;

3. ob, in welchem Umfang und welche Mängel bei der Ausbildung, Erziehung und politischen Bildung sowie der Vermittlung von Traditionsverständnis die o.g. Vorkommnisse begünstigt oder unzulänglich verhindert haben; dies schließt die Frage ein, ob und in welchem Umfang o.g. Vorkommnisse durch Vorgesetzte toleriert, gefördert oder gar herbeigeführt wurden;

4. ob und in welchem Umfang Bürokratisierung und Aufgabenüberfrachtung dazu beigetragen haben, daß die o.g. Vorkommnisse begünstigt oder unzulänglich verhindert wurden;

5. ob und in welchem Umfang die politische Leitung und/oder die militärische Führung der Bundeswehr die Erziehung zum »Staatsbürger in Uniform« und das Verständnis von »Innerer Führung« sowie das Soldatenbild im Kontext der Erweiterung der Aufgaben der Bundeswehr (Auslandseinsätze, Aufbau der KRK und des KSK) »Ausbildungserfordernissen« hintangestellt und dadurch dazu beigetragen haben, daß die o.g. Vorkommnisse begünstigt oder unzulänglich verhindert wurden;

6. ob und in welchem Umfang die Veränderungen in der sozialen Zusammensetzung der Bundeswehr zu einer Verschlechterung der Rahmenbedingungen für die Umsetzung der Konzeption der Inneren Führung sowie des Leitbildes vom Staatsbürger in Uniform beigetragen haben;

7. ob und in welchem Umfang sich der Stellenwert des Menschenbildes des Grundgesetzes in der Aus- und Weiterbildung der Führer verändert hat;

8. ob und welche Erklärungsansätze für die rechtsextremen, gewalttätigen, fremdenfeindlichen und nationalautoritären Vorkommnisse im Zuständigkeitsbereich des BMVg erarbeitet wurden und welche Schlußfolgerungen daraus gezogen wurden;

9. ob und in welchem Umfang die Handhabung der Wehrdisziplinarordnung und der Wehrbeschwerdeordnung auf Mängel in der Ausbildung schließen läßt;

10. ob und in welchem Umfang Zivilcourage zur Offenlegung o.g. Vorkommnisse in der Bundeswehr gefördert wird und inwieweit Reaktionen vorgesetzter Stellen auf die Offenlegung solcher Vorkommnisse geeignet sind zivil-couragiertes Verhalten zu unterbinden;

11. wie und mit welchen Weisungen mitbestimmungsgesetzliche Regelungen des novellierten Soldatenbeteiligungsgesetzes (SBG neu) in den Gesamtstreitkräften und in den einzelnen Teilstreitkräften umgesetzt, durchgesetzt oder konterkariert wurden?

IV. Umfang und Hinlänglichkeit der Frühwarn- und Verhinderungsmechanismen für o.g. Vorkommnisse im Verantwortungsbereich des BMVg, insbesondere

1. ob und welche Untersuchungen dem BMVg über die geistige und politische Orientierung der Soldaten, von Vorgesetzten und Führern sowie von ausscheidenden bzw. ausgeschiedenen Offizieren vorliegen und zu welchen Aussagen diese ggf. bezüglich der Orientierung auf die freiheitlich demokratische Grundordnung, die Prinzipien der Inneren Führung und das Leitbild des Staatsbürgers in Uniform sowie bzgl. eines ggf. bestehenden Nachsteuerungsbedarfes kommen;

2. ob und in welchem Umfang das Bundesministerium der Verteidigung die Möglichkeiten

  • der Führungsstäbe Fü S I, Fü H I, Fü L I, Fü M I
  • des Zentrums für Innere Führung
  • des Sozialwissenschaftlichen Institutes der Bundeswehr
  • der Akademie für Information und Kommunikation
  • des Fachbereiches Sozialwissenschaften der Führungsakademie
  • der sozialwissenschaftlichen Fachbereiche der Bundeswehr-Hochschulen

zur Früherkennung, Prävention und Verhinderung o.g. Vorkommnisse genutzt bzw. nicht genutzt hat;

3. ob und in welchem Umfang der MAD und/oder ggf. andere dienstliche Stellen bei der Früherkennung, der Erkenntnisgewinnung und der Prävention von rechtsextremen, fremdenfeindlichen, gewalttätigen oder nationalautoritären Tendenzen bei Bundeswehrsoldaten tätig geworden sind und das BMVg inwieweit gewonnene Informationen zur Prävention und Verhinderung o.g. Vorkommnisse genutzt bzw. nicht genutzt hat;

4. ob und welche Vorkehrungen das BMVg getroffen hat, um sich bei der Anwerbung und Rekrutierung neuer Soldaten vor Rechtsextremisten und für fremdenfeindliche, rechtsradikale, gewalttätige und nationalautoritäre Positionen bzw. Handlungen anfällige Personenkreisen zu schützen sowie Frühwarnung zu erhalten, wenn Soldaten ein extremes, sogenanntes atavistisches (Stichworte: Jünger, Rambo), soldatisches Selbstverständnis zeigen;

5. welche qualitativen Kriterien für die Auswahl des rekrutierenden Personals von wem bzw. welchen Stellen festgelegt wurden;

6. welche Schlüsse im Einzelnen das BMVg aus den Berichten der jeweiligen Wehrbeauftragten gezogen und welche Maßnahmen zur Abhilfe es mit welchen Ergebnissen und Überprüfungen geschaffen hat?

V. Der Reformbedarf im Verantwortungsbereich des Bundesministers der Verteidigung nach Art, Umfang und Qualität, insbesondere in den Bereichen

1. Weiterentwicklung und Umsetzung des Leitbildes vom Staatsbürger in Uniform;

2. Weiterentwicklung und Umsetzung des Konzeptes der »Inneren Führung«, incl. deren sozialwissenschaftliche Grundlegung und die Rolle der Wissenschaft dabei;

3. Bildungs- und Erziehungskonzept,

4. Traditionsbezug, sowie

5. Auswahlverfahren für Unteroffiziere, Offiziere und insbesondere Stabsoffiziere und Generalstabsoffiziere sowie deren jeweilige Ausbildung.

VI. Exemplarische Vorfälle von gewalttätigen, rechtsextremen, nationalautoritären bzw. fremdenfeindlichen Vorkommnissen oder fragwürdigen Formen der Traditionspflege wie z.B. in Altenstadt, Hammelburg, Schneeberg, Hamburg (Auftritt M. Roeder an der Führungsakademie), Hamburg-Neuengamme, Landsberg, Detmold, Magdeburg und andernorts.

VII. Die Verantwortung der politischen und militärischen Führung für derlei Vorkommnisse sowie für Faktoren, die solche Vorkommnisse in der Bundeswehr begünstigen oder nicht verhindern.

Ein Gespenst geht um in Deutschland

Ein Gespenst geht um in Deutschland

Der Traditionalismus in der Bundeswehr

von Detlef Bald

Nimmt man dieSüddeutsche Zeitung (SZ), dann hat „die demokratische Gesellschaft… die Armee zivilisiert.“ So jedenfalls der Tenor eines Kommentars, der im Dezember 1997 zu den politisch auffälligen Ereignissen im deutschen Militär erschien. Die SZ spielte damit auf die grundlegend neue Gestalt an, die die Bundeswehr im Verhältnis zur langen Geschichte des vorausgehenden Militarismus eingenommen hat. Diese Aussage ist zutreffend, wenn damit allgemein die Anerkennung, die Gültigkeit, der Primat der grundgesetzlichen Werte gemeint ist. Fünfzig Jahre nach dem Ende des Nationalsozialismus sind die Republik und ihr parlamentarisches Geflecht an politischen Institutionen zweifelsohne vom Militär akzeptiert. Die Bundeswehr ist nicht putschverdächtig.

Ob solche fundamentalen Feststellungen, wie die Bundeswehr sei durch die Gesellschaft zivilisiert, angemessen sind, das kennzeichnend Relevante der 170 dokumentierten Vorfälle rechtsextremer Art in der Bundeswehr zu erfassen, steht auf einem ganz anderen Blatt. Die Aussage, wenn sie nicht als These überhaupt zu befragen ist, überzieht. Sie ist hinsichtlich der konkreten Details zu verallgemeinernd, zu übertreibend, folglich – tendenziell – zu verharmlosend; die »Gesellschaft« ist halt so – Menschen aus dem Ausland wurden durch Straßen gejagt, ihre Häuser angezündet, Witze verbreitet… Daher natürlich auch in der Bundeswehr?

„Jetzt schlägt in der Bundeswehr die Stunde der Inneren Führung“, ließ General Günther Kießling zur gleichen Zeit im Hamburger Abendblatt seine Klärung der öffentlichen Ärgernisse aus dem deutschen Militär ausklingen und präzisierte: „Ihrer Herausforderung gerecht zu werden, bedingt auch, daß die Führung in Krisen die Nerven behält.“ Das ist die Reaktion auf Friktionen im Gebälk des Militärs; es knirscht und was geschieht? Ruhe behalten, nicht die Nerven verlieren. Die Aussagen beider Zeitungen sind bezeichnend für den Umgang mit dem Militär, jedoch oberflächlich, Sprachhülsen gleich, deren große Zahl die Jahrzehnte der Bundeswehr umkränzen – doch eine Sprachlosigkeit gegenüber der Bundeswehr belegen. Es fällt schwer, mit der Bundeswehr umzugehen.

Das wichtigste Mißverständnis, wenn nicht die verschleiernde Absicht, liegt darin, der Gesellschaft pauschal die ursächliche Verantwortung für Verhältnisse in der Bundeswehr zu geben. Es geht jedoch um das wichtigste Machtinstrument des Staates. Handelnd und verantwortlich sind Parlament, Parteien, Politik. Kanzler und Kabinett, Minister und Ministerium haben die Kompetenz der Richtlinien und der Erlasse. Mit dem Jahr 1982 und der »Politik der Wende« begann die restaurative Ära. Fünfzehn Jahre einer intendierten Politik bestimmter als konservativ proklamierter Werte, wie sie programmatisch vorgestellt worden sind. Es geht nicht um »konservativ« überhaupt, sondern um die Parteipolitik der »konservativen Wende«. Das muß unterschieden werden. Die »konservative Wende« verstand sich als Politik der restaurativen Korrektur. Sie wollte Orientierung bieten, indem das traditionalistische Soldatenbild der Vergangenheit rekultiviert wurde. Schon Manfred Wörner, der erste Minister der Wende auf der Hardthöhe, griff massiv richtungsbestimmend und meinungsprägend ein, als er umgehend Ziele und Strukturen des militäreigenen Bildungswesens neu akzentuierte. Alle wesentlichen Ebenen waren davon betroffen: die Unteroffizier- und Offiziersschulen, die Bedingungen zum Studium an den Universitäten, die Lehrgänge für Stabsoffiziere und die für den Generalstabsdienst an der Führungsakademie der Bundeswehr. Die gesamte Ausbildung, die handwerklich-taktische sowie die historische und die politische Bildung, wurden traditionalistisch mit dem Ideal des »Kämpfer«-Soldaten »kriegsnah« ausgerichtet. Das hatte weitreichende Auswirkungen für das Selbstverständnis, das Berufsbild, die Tradition und das Auftreten der Militärs. Dieses Umschleifen der Bildungspolitik in der Bundeswehr bewirkte über die Reduktion der Pädagogik im Militär die Reduktion der Inneren Führung.

Wende öffnete Traditionalisten die Tore

Die »Wendepolitik« öffnete dem »Traditionalismus« des Militärs die Tore. Sie brauchte dabei gar nicht weit in die Geschichte zu gehen, sie konnte sich auf die Jahrzehnte des Anfangs der Bundeswehr beziehen. Denn die Geschichte des Militärs der Bonner Republik ist zwiespältig. Ein Blick zurück kann dies verdeutlichen. Da steht am Anfang der Begriff »Staatsbürger in Uniform«. Im Jahr 1950 hatte General Wolf Graf von Baudissin ihn aufgegriffen, um die Militärreform in der Bundesrepublik leitend zu bestimmen. »Staatsbürger in Uniform« war weder willkürlich noch zufällig. Es ging darum, auf den Militarismus im Nationalsozialismus eine Antwort zu geben, genau so wie General Gerhard von Scharnhorst nach 1806 gegen den damaligen Militarismus, den auch er als »Staat im Staate« erkannte, antrat. Was ist das Fortschrittliche, für die Demokratie von Bonn Vorbildhafte, wenn Baudissin an der, wie er damals sagte, „steckengebliebenen Reform“ von 1819 anzuknüpfen bestrebt blieb? Damit ist mehr als die einfache Sinnfrage für das Militär gestellt.

»Staatsbürger in Uniform« ist das Synonym für die Militärreform, gern als Ideal vom zivilen Bürger im militärischen Dienst bezeichnet, oder: um das Militär angemessen in den demokratisch-parlamentarischen Staatsaufbau einzugliedern und um es schließlich in grundsätzlicher Übereinstimmung mit der pluralistischen Vielfalt einer offenen Gesellschaft zu halten. Wie zuvor Scharnhorst die freiheitlichen, gleichheitlichen und gleichberechtigten Normen der bürgerlichen Revolution wollte nach 1949 Baudissin die Grundwerte des Grundgesetzes im Militär verwirklichen, um durch die Reform den »military mind«, den Untertanengeist, die Unterdrückung zu überwinden und eine zivil verträgliche, eine pluralistische Konstitution herzustellen. Damit sollte die politische Abgeschlossenheit des Korps der Offiziere – dienstlich durch Sozialprotektionismus und Verpflichtung durch den »Adel der Gesinnung« vom Kaiserreich bis zum Nationalsozialismus ideologisiert – ein für alle Male aufgehoben werden. Es sollte der Nährboden für das Milieu soldatischer »Gesinnung« beseitigt werden. Das Militär sollte demokratietauglich und gesellschaftsfähig werden. Wie dies Phänomen der »Kongruenz« zeitgemäß von Baudissin bezeichnet wurde. In dieser Bestimmung liegt der historisch tatsächlich revolutionäre Ansatz der Militärreform, die nach 1950 versucht wurde. Schon das Wort vom »Staatsbürger in Uniform« ist ein Programm, das in der deutschen militärischen Geschichte immer nur bruchstückhaft und zu wenigen Zeiten Geltung hatte: wie nach 1806, so nach 1848 und nach 1918 – und jeweils gescheitert war.

Der »vierte Ansatz« zur Reform des Militärs hatte jedoch, außer im legislativen, um 1955 geschmiedeten Korsett, bis zum Ende der sechziger Jahre fast keinen Erfolg. Am Anfang der Bundeswehr stand die Zwiespältigkeit. Die Mehrheit der Offiziere lehnte die Gültigkeit der Reform als Maßstab des inneren Aufbaus ab. Im Jahr 1969 waren maßgebliche Generale, auch Baudissin, im Rückblick auf fast 20 Jahre Arbeit resignierend zu der Feststellung gelangt, die Reform – ihr Werk – sei gescheitert. Helmut Schmidt hat dann nach 1969 als Verteidigungsminister auf der Hardthöhe die entscheidende Politik zur Reform des Militärs im Einklang mit dem alten Konzept von Baudissin umgesetzt. Gegen heftige Widerstände, angeführt von der damaligen Opposition von CDU/CSU. Nach 1982 wurde bewußt die »Wende« durch die bildungspolitische Gegensteuerung eingeleitet, offensichtlich mit viel Schwung.

Das ist ein Teil der deutschen Militärgeschichte – der Bundeswehr der Bonner Republik, nicht der Wehrmacht. Und mit dieser Geschichte umgehen heißt kritisch und klar fragen, warum die Bundeswehr seit den fünfziger Jahren mit ihrer demokratischen Militärreform derartige Probleme hatte und warum sie den Kräften gegen die Reform, den »Traditionalisten«, politisch und organisatorisch Handlungs- und Entscheidungsraum gab. Die Probleme am Ende der neunziger Jahre liegen auch im Anknüpfen an die »traditionalistischen« Anfänge der Bundeswehr. Man kann sie von daher miterklären, ohne sie von daher allein begründen zu wollen.

Einige Beispiele aus der Geschichte der Bonner Republik mögen dies verdeutlichen. Als Baudissin seine Arbeit im Amt Blank begann, wurde sein Referat »Inneres Gefüge« genannt. Nomen est omen; die Militärreform sollte auf Fragen der sozialen Beziehungen zwischen den Soldaten beschränkt werden, bevor sie überhaupt entworfen worden war. Dann kam noch etwas hinzu, das mehr als eine semantische Frage war. »Inneres Gefüge« war kein Wort der Reform. Es war der Begriff, der in der Wehrmacht 1942 von nationalsozialistischer Seite eingeführt worden war, um Elemente der »feudalen« Struktur aus der Reichswehrvergangenheit der Wehrmacht zu beseitigen. »Inneres Gefüge« wollte den verdeckten Bezug zur Wehrmacht. Kein demokratischer Neuanfang, keine demokratische Stunde Null war hiermit verbunden. Baudissin benötigte zwei Jahre Auseinandersetzungen, bevor er im Jahre 1953 die Neuorientierung für die Bundeswehr mit dem Begriff der »Inneren Führung« verbinden konnte.

Reformer contra Traditionalisten

Die kleine Gruppe der Reformer stand den »Traditionalisten« gegenüber, die die Mehrheit und die Macht hatten. Sie knüpften direkt an ihrem Vorbild, der gerade erlebten Form des Militärs, also der Wehrmacht, an. Das heißt, sie übernahmen das Offiziersbild, das Kriegs- und Berufsverständnis, die operativen Vorstellungen für den militärischen Einsatz, aber natürlich auch die Organisationsvorbilder, die Ausbildungsstrukturen und

-ziele, die soziale Abgrenzung, die Distanz zur pluralistischen Gesellschaft und vieles mehr. In dem Gründungsdokument der Bundeswehr, der Himmeroder Denkschrift von 1950, ist das alles nachzulesen. Im wesentlichen ein Aufguß der Wehrmacht, auch ihrer Gesinnung, von beteiligten NS-Ideologen wie General Foertsch (»Die Wehrmacht im Nationalsozialismus« heißt sein frühes Buch) geprägt, mit kleinen Einsprengseln der Reform, die Baudissin ultimativ ertrotzt hatte. Der Keim des Zwiespalts – die dominante Orientierung an der Wehrmacht versus Militärreform – war früh eingepflanzt, bevor die administrative Arbeit Ende 1950 im Amt Blank begann.

Die »Traditionalisten« bildeten den Kern der militärischen Gruppe in Zivil, die viele Jahre vor der Gründung der Bundeswehr im Jahre 1955 die »besten« soldatischen Traditionen des »Kämpfers« in die Planungen für die Bundeswehr transportierten, manche ganz handwerklich oder technokratisch – andere mit Eifer, dem »Besonderen« des Berufs verbunden, dem »Soldatenstand«, der soldatischen Gesinnung. Dieses Anknüpfen an die Vergangenheit wird als traditionalistisch bezeichnet. Allein, es ist dadurch charakterisiert, daß es sich nicht an der langen Geschichte des Militärs orientierte, sondern mit dem Bezug zur Wehrmacht und zur Reichswehr der Weimarer Republik (und mit dem hochgerühmten General Seeckt) gerade keine demokratischen, rechtsstaatlichen und pluralistischen Traditionen begründete. Die Fiktion wurde in die Bundeswehr gepflanzt, soldatische Tugenden an sich aus der Wehrmacht ableiten zu können; geradezu chirurgisch präzis wurden nationalsozialistische Angriffskriege, Verbrechen, Völkerrechtsbruch, Militärjustiz und vieles andere mehr von der Pflicht des Dienens des Soldaten geschieden. Das Ideal des »Kämpfers« unterstrich die vermeintlich »unpolitische« Seite.

Das Fatale an diesem Vorbild ist das unbedarfte Anknüpfen an der damit verbundenen politischen Tradition zum Staat oder zur Gesellschaft. Das ist nicht abstrakt. Nach acht Jahren Beratung der Politik zur Vorbereitung der Aufrüstung konnten es – noch 1955 – die höchstbezahlten Militärs der Bonner Republik, die Generale Heusinger und Speidel, wagen, ihrem Kanzler, Konrad Adenauer, schriftlich ihre Bedenken gegen eine »zivile« Kontrolle der Bundeswehr zu übermitteln. Eine Kleinigkeit, mag man einwenden; aber es ist symptomatisch für die reale Macht und das politische Selbstverständnis der »Traditionalisten«.

Politisch bedeutsam ist, daß nicht nur der Aufbau der Bundeswehr, sondern auch ihre Gestalt nach einem aus jenen Jahrzehnten entlehnten Vorbild gezimmert wurde – nur eines war klar, man wollte nicht die Reform in den eigenen Reihen. Blank durchschaute nicht das Machtkartell der »Traditionalisten« in seinem Amt, denen es gelang, die Reformer als protestantisch-preußische Reaktionäre bis hin zum Kanzler zu diffamieren. Blank wollte die Reform, ganz eindeutig. Der Nachfolger, Minister Franz Josef Strauß, leitete die erste Wende; er konnte seinen Dienst mit der Zurückweisung der Reformer antreten, nachdem das legislative Korsett gegeben war, und bewußt an die Armee – „im alten Geiste, im Drill der Reichswehr und der Wehrmacht ausgebildet“ – erinnern. Er, der sonst zögerliche Macher, erwies sich eindeutig, er förderte lauthals und ungeschminkt die »Traditionalisten« und ließ die Ziele der Reform – mit dem Schlagwort der Inneren Führung – verkommen. So hatte die lange Kette dicke Glieder, die dann nach den jahrelangen Affären mit der die Soldaten schindenden, technokratischen »kriegsnahen« Ausbildung im Frühjahr 1969 in den skandalträchtigen Generalsaussprüchen kulminierte, man könne in der Bundeswehr endlich „die Maske der Inneren Führung“ ablegen.

Konkret mit dieser Konstruktion der »traditionalistischen« Bundeswehr wurde das sehr umfangreiche militäreigene Ausbildungssystem aufgebaut, wirklich nach dem Vorbild der dreißiger Jahre. Abkapselung von der Gesellschaft als Ideal des Offiziers sowie die extrem einseitige, taktisch-handwerkliche Ausrichtung und die erklärte Distanz zur politischen Parteienlandschaft der Republik sind ausgeprägte Merkmale, die beispielsweise die Führungsakademie der Bundeswehr (nicht nur) in den sechziger Jahren bestimmte. Sie hatte die Funktion eines Leitbildes. Ein Kommandeur »meldete« stolz auf dem Dienstweg seinem Minister, endlich das Vorbild der Kriegsakademie der Vorkriegszeit erfüllt zu haben. Er wurde nicht gerügt. Solche Äußerungen waren kein Anlaß, Aufklärung zu betreiben und den »Ungeist« der Praxis dieser Tradition, die zur Unterscheidung nur »Traditionalismus« genannt werden darf, ins Bewußtsein zu rücken. Da entstanden mehr als nur Tendenzen der rechten, der militaristischen Orientierung. Wenn sogar der national-konservative Generalinspekteur Adolf Heusinger erschreckt die politische Dimension dieses historischen Aufbaus erkannte und daher Abhilfe schaffen wollte, konnte er – tatsächlich vorbildliche – Befehle für die Reform des gesamten militäreigenen Ausbildungssystems erlassen. Nur wurden sie einfach nicht befolgt, am Anfang und am Ende von der Politik toleriert. Sabotage oder Boykott?

Die Bundeswehr scheut – gerade in den neunziger Jahren – die Auseinandersetzung um diesen Teil der Geschichte. Dies wird gerne verschleiert, denn hinter dieser Realität verbarg sich nicht nur damals ein Machtkampf, den die »traditionalistischen« Kräfte – der über die Inspekteure von Heer, Marine und Luftwaffe eigenständig organisierten Teilstreitkräfte – führten, um ihre Autarkie, Anteile am Budget usw. durchzusetzen. Politische und militärische Führung arrangierten sich »traditionalistisch«, letztlich stellten sie sich mit aller Konsequenz gegen die Reform. Diese Konstellation hat bis heute verhindern können, daß einige der »traditionalistischen« Strukturen und Ideale hinterfragt und reformiert wurden. Die politische Brisanz dieser Fragen nach der Organisation des Militärs konnte bei der Formulierung des neuen Auftrags der Bundeswehr nach 1990 und der Forderung nach einer einsatzgerechten Militärstruktur gerade noch umgangen werden.

Die Bedeutung der »Traditionalisten« für die Bundeswehr bietet einen Schlüssel, um das in den neunziger Jahren in neuer Form ausgerichtete Milieu zu begreifen. Die »Armee der Einheit« hat sich den Begriff der »Armee« wieder angeeignet, eine nationale und machtbestimmte Konnotation. Alle, fast alle Bezüge, die die neuere Militärgeschichte dafür herstellt, haben »Ladungen«, die nicht sehr günstig für eine Begründung des »civil mind« im Militär, in der Armee, sind.

Es fällt auf, daß in der aktuellen Diskussion um die rechten Vorfälle in der Bundeswehr sowohl General Kießling als auch Minister Rühe dieselbe Orientierung bieten, indem beide General Steinhoff herausstellen. Sie rühmen den „tapferen Soldaten des Zweiten Weltkrieges“ (Rühe) und seine „Leistung und Tapferkeit als Jagdflieger“ (Kießling). Er ist für beide das klare Vorbild; Wehrmacht, Krieg und Nationalsozialismus sind kein Thema. »Tapferkeit« an sich, als Tugend des Soldaten. Damit sind sie schwungvoll in der Realität der fünfziger Jahre gelandet.

Sie suchen, gerade zu diesem Zeitpunkt, der Bundeswehr die Richtung zu weisen. Die »braunen« Turbulenzen der Gegenwart leiten über den Kontext der Biografie dieses Soldaten der Bundeswehr und der Wehrmacht einen »normalen« Bezug zur Vergangenheit her. Der reine, der politisch neutrale, der fachliche »Kämpfer« wird zum obersten Ideal, zum Lernziel der Bundeswehr gemacht. Dahinter steckt manche Unschärfe – eine politische Fahrlässigkeit, wenn die Nähe zum Nationalsozialismus historisch derart diffus bleibt. Aber es ist die Praxis dieser Politik, die »traditionalistisch« Versionen der »realitätsnahen«, der »kriegsnahen« Ausbildung im Vorbild der Wehrmacht mit der militäreigenen Bildungspolitik verknüpfte; dies ist der Geist, der die Probleme in der Bundeswehr selbst erzeugte.

»Innere Führung« ist die Herausforderung

Die »Innere Führung« ist tatsächlich die Herausforderung. Die Aussage führt zu der These, daß der demokratische, pluralistische Kanon einer streitbaren Republik in Teilen der Bundeswehr undeutlich geworden ist. Das Synonym dafür ist die Innere Führung oder der »Staatsbürger in Uniform«. Dem mangelt es an Vitalität, da eineinhalb Jahrzehnte der Politik des »Traditionalismus« eine restaurative Beengung erzeugt haben. Die Bundeswehr pflegt wieder eine Akzeptanz der »Traditionalisten«, die sie zur Wehrmacht führte, ohne – ganz einfach – das Nationalsozialistische zu meinen. Der Bezug der »Traditionalisten« ist das Modell der dreißiger oder zwanziger Jahre – übernommen in die Bundeswehr in den fünfziger Jahren im Selbstverständnis, in den Tugenden des Offiziersbildes, im Ideal des Soldatischen. Da tut (Unter-) Scheidung not.

Der Kontrast zum »Staatsbürger in Uniform« ist fundamental. Er ist einem Menschen- und Soldatenbild der Selbständigkeit, Kritik- und Urteilsfähigkeit, der Offenheit, der Fachlichkeit und der Verantwortungsfähigkeit u.ä. verpflichtet; es geht um wesentlich mehr als die Förderung der politischen Bildung. Ihr Bezug, die Normen des Grundgesetzes, bieten keine willkürliche Auswahl. Das ist im Umgang, auch im dienstlichen Betrieb, zu verwirklichen. Zu begründen ist es – kritisch diskursiv – im Konzept des militäreigenen Bildungssystems, gerade dort. Es wird leicht übersehen, daß Prägungen und Identitäten in den monatelangen Lehrgängen gestiftet werden, die für die Offiziere und Unteroffiziere eingerichtet sind. Im besonderen gilt das für die etwa zweijährige Ausbildung zum Generalstabsdienst. Diese Personengruppen, die Zeit- und Berufssoldaten, verdienen das besondere Augenmerk, denn sie bestimmen im wesentlichen die zivil-militärischen Verhältnisse, sie geben der Gestalt des Militärs die Dauer.

Neben dem (Aus-) Bildungssystem ist die Politik der Personalrekrutierung einer Prüfung zu unterziehen. Als Ergebnis der Wende hat sich eine Priorität herausgeschält, die keine akzeptable Interpretation der Inneren Führung im Sinne der pluralistischen Repräsentanz im Militär bietet. Nach alter Weise hat man denn »Kämpfer« gegen den gebildeten Soldaten gestellt, Handeln und Gesinnung bevorzugt. Die stetigen politisch-militärischen Eingriffe haben das Pendel des restaurativen »Traditionalismus« bei der sozialen Rekrutierung weit ausschlagen lassen. Eine politische Korrektur tut not. Ein Beispiel mag dies illustrieren: die jungen Berufsoffiziere haben bis zu sechzig Prozent kein volles Studium absolviert. Ohne die ganze Problematik dieser Aussagen andeuten zu können, hilft sicher die Frage weiter: wie würde ein multinationaler Konzern reagieren, wenn er seine Manageretage nach derartigen Kriterien besetzen müßte?

Der Bundeswehr ist mit dem Beharren auf dem simplifizierten Bild des »Kämpfers« das Berufsprofil verloren gegangen und somit die Fähigkeit, berufsbezogen und -angemessen ihr Leitungspersonal zu bestimmen. Hier liegt das Problem, nicht bei den Wehrpflichtigen.

Der aktuelle Mangel der Bundeswehr ist gravierend, da er an die Basis geht. Er hat Konsequenzen für viele Bereiche. Der Umgang mit den »braunen«, radikalen und extremistischen Erscheinungen zählt dazu. Es geht nicht um einen neue, relative Ausgewogenheit. Die Auseinandersetzungen (1998) um die rechte Bestimmung des Militärs sind kontrovers, da sie die Spitze des Eisbergs treffen. Es geht darum, die Einzelfälle auf das Grunddefizit zutreffend zu beziehen. Im Gegensatz zur Hektik der administrierten Meldung von Vorfällen benötigt die Bundeswehr eine politische Strategie der Reform; ein erster Schritt wäre, auf die diskursive Offenheit, die Erörterung der widersprüchlichen Vielfalt, die Schärfung des Urteils durch Differenzierungsvermögen zu setzen. Das immer beschworene Maß der »Inneren Führung« muß aus der klemmenden Praxis der regressiven Einpassung heraus. Der Bundeswehr mangelt es an gesellschaftlicher Zivilisierung. Allerdings ist das ein weites Feld.

Literatur

Bald, Detlef (1994): Militär und Gesellschaft 1945 -1990. Die Bundeswehr der Bonner Republik, Baden-Baden.

Bald, Detlef (1982): Der deutsche Offizier. Sozial- und Bildungsgeschichte des deutschen Offizierskorps im 20. Jahrhundert, München.

Frevert, Ute, Hrsg. (1997): Militär und Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart.

Opitz, Eckardt / Rödiger, Frank S., Hrsg. (1995): Allgemeine Wehrpflicht. Geschichte – Probleme – Perspektiven, Bremen.

Vogt, Wolfgang R., Hrsg. (1988): Militär als Lebenswelt, Leverkusen.

S+F, Vierteljahreszeitschrift für Sicherheit und Frieden, Jg. 15, 3/1997: Themenschwerpunkt Bundeswehr.

Dr. Detlef Bald war bis 1997 Wissenschaftlicher Direktor am Sozialwissenschaftlichen Institut der Bundeswehr, er arbeitet jetzt als freier Autor.

Die Legende vom saub’ren Soldaten

Die Legende vom saub’ren Soldaten

von Astrid Albrecht-Heide

Eine offenbar allzu kurzatmige Irritation wurde durch Soldaten in Hammelburg ausgelöst. Der Flut-Katastropheneinsatz an Oder und Neiße legt sich danach rasch wie ein ziviler Heldenmantel über die gesamte Truppe. Dabei gilt es Irritation und Entsetzen wachzuhalten. Als die Videos über Scheinhinrichtungen und -vergewaltigungen bekannt wurden, waren Zeitungs- und Kommentarüberschriften selbst in gemeinhin demokratisch aufmerksameren und sensibleren Blättern, wie etwa der »Frankfurter Rundschau« eher im Wortsinne »daneben«. Dort war z.B. zu lesen: „Ein kleines bißchen Horrorshow“ (8.7.97) oder „Der Video-Skandal“ (9.7.97). Gewollt oder ungewollt wird mit solchen Formulierungen skandalisiert und entwirklicht zugleich. Die virtuelle Realität läßt grüßen; denn die Wirklichkeit des gewaltsamen »Spiels« wird gleichsam aus dem Blick geräumt.

Durch eine skandalisierende Entwirklichung können die Hammelburger Ereignisse – und das ist gravierender – jedoch auch als Unfälle oder ein »Aus-der-Rolle-fallen« aus einem eigentlich friedlichen »Spiel« begriffen werden. Die potentiell tödliche und selbstmörderische Realität, auf die jede Militärausbildung vorbereitet, kann auf diese Weise nicht Entsetzen auslösen, sondern wird auf das Hammelburger »Spiel« verschoben.

Eine der Kernfragen ist, ob die gespielten Gewaltszenen etwas mit der militärischen Normalität zu tun haben. Hält man sich vor Augen, daß jedes Militärmanöver nichts anderes als ein »gespieltes« Gewaltszenario ist, so liegt der Verdacht nahe, daß Hammelburg für etwas anderes steht. Das dorthin verschobene Entsetzen müßte sich vielleicht eher darauf richten, daß junge Männer im Militär lernen müssen, sich vom zivilen Tötungsverbot zur militärischen Tötungserlaubnis (gegebenenfalls auch zum Tötungsgebot) zu bewegen. Soldaten lernen zu töten und werden auf einen möglichen Selbstmord vorbereitet. Die handwerklichen und technischen Voraussetzungen ebenso wie die psychische Bereitschaft müssen erlernt werden. Dies kann nur gelingen, wenn das eigene und das andere Leben und deren Lebendigkeit ihren spürbaren Wert verloren haben. Dies erfordert als »minimale« emotionale Voraussetzung Abspaltung der Gefühle, kann jedoch auch durch Abstumpfung und Vergleichgültigung möglich werden. Schließlich kann aber auch eine emotional lustvolle Besetzung dieses Handlungsfeldes erfolgen.

Nun kann mit Recht darauf verwiesen werden, daß es in der alltäglichen militärischen Ausbildung nicht um das Einüben von Hinrichtung und Folter geht. Die militärische Ausbildung schafft jedoch eine emotionale Abspaltung, Entgrenzung oder auch Brutalisierung gegenüber der Wertschätzung des individuellen Lebens, so daß ein emotionales Unterfutter für entsprechende Handlungen mit hergestellt wird.

Die militärische Sozialisation, besonders in der Grundausbildung, ist stark reglementiert und erfolgt serienmäßig. Dabei spielt Entindividualisierung eine entscheidende Rolle. An die Stelle der zivilen Identität soll die militärische Identität treten. Jede militärische Sozialisation arbeitet mit Demütigungen, ohne daß diese im übrigen »dramatisch« sein müssen: Kleiderordnung, Schrankordnung, Zimmersauberkeit und Bettenmachen – um die zivile Terminologie zu verwenden – werden kontrolliert und überprüft. Dies ist mit Unterwerfungsleistungen verbunden. Als Preis winkt eine Steigerung von Männlichkeit insbesondere durch die Ausbildung an Waffen. Erkauft wird diese Steigerung von Männlichkeit durch Gehorsam und Unterwerfung.

Diese Elemente müssen mitgedacht werden, wenn die militärische Tötungserlaubnis und das dazugehörige seelische Unterfutter ungesicherte Grenzen gegenüber anderer Gewalt einschließt. Diese ungesicherten Grenzen haben z.B. Menschen wie Baudissin (wer war das überhaupt, werden viele jüngere Leute fragen…) dazu bewogen, mit dem Konzept vom »Bürger in Uniform« hohen Wert auf eine zivil-identische Verortung des einzelnen Soldaten in der demokratischen Gesellschaft zu legen – auch wenn es dabei um so etwas wie die Quadratur des Kreises geht.

Mit der »Normalisierung« eines deutschen Militärs nach dem Ende des kalten Krieges erfolgt eine Normalisierung des Soldatenberufes, in der die Besonderheiten – Töten und Zerstören als unaufhebbare Berufspotentiale – drohen, zum Nicht-Thema gemacht zu werden. Und spätestens Hammelburg zeigt, daß dies nicht gelingen kann.

Hammelburg zeigt jedoch auch noch ein zweites. Dort wurden ja nicht nur Scheinhinrichtungen sondern auch -vergewaltigungen »gespielt«. Der Frage, ob und gegebenenfalls wie Vergewaltigungen »lediglich« Ausfälle sind, oder zur (militärischen) Männlichkeit gehören, kann daher kaum ausgewichen werden.1 Um diese Frage beantworten zu können, müssen einige Gedanken zusammengeführt werden.

Viele soldatische Tätigkeiten, wie z.B. Putzen, Ordnung halten/herstellen, das passive Bewegtwerden, gelten im zivilen Leben keineswegs als »männlich«, sondern sie sind im kulturellen Sinne weit eher »weiblich« kodiert. Daher vermögen diese Tätigkeiten unterschwellige Ängste bei den Soldaten auszulösen, d.h. das Militär arbeitet systematisch mit Verweiblichungsangst, nicht unbedingt bewußt oder gar mit strategischem Kalkül. Dieser ständigen Bedrohung seiner Männlichkeit gilt es auf Seiten des Soldaten u.a. durch Straffheit und Härte immer wieder zu begegnen. Sie kann nicht ein für alle mal gebannt werden; die dadurch ausgelöste und in Gang gehaltene Dynamik entspricht einer Suchtstruktur.

Hinzu kommt, daß die Verweiblichungsangst eine zivile Grundlage hat; sonst könnte das Militär nicht mit ihr arbeiten. Sie ist darin begründet, daß dem kleinen Jungen in unserer Gesellschaft durch die privat meist abwesenden Väter zugemutet wird, seine Identität durch die Abgrenzung von einer Frau (meist seiner Mutter) zu bestimmen. Es geht für ihn darum, daß er nicht so wird wie sie. Der besondere Charakter ergibt sich daraus, daß die Frau in unserer Kultur als Nicht-Mann definiert ist, weil sie (als Kategorie) durch all das definiert ist, was der Mann nicht verkörpert. Die Aufgabe des kleinen Jungen ist also eine doppelte negative Abgrenzung, nämlich nicht so zu werden wie der Nicht-Mann. Und das ist mit Angst verbunden, mit der u.a. das Militär arbeiten kann. Die Abgrenzungsbemühungen gegenüber dem Weiblichen gelingen am ehesten durch Abwertung, die ja in unserer Kultur zudem nicht vom einzelnen gefunden werden muß, sondern quasi auf der Straße liegt. Die abwertende Abgrenzung ist bei Vergewaltigungen mitzudenken. Vorliegende Untersuchungen sprechen außerdem dafür, daß es im Militär zu einer Brutalisierung und Simplifizierung im Verhältnis von Soldaten zu Frauen kommt. Frauen werden oft verstärkt auf »Sexual«-Objekte reduziert. Ob es nun gefällt oder nicht: Sexuelle Potenz als Ausdruck von Kämpfertum (im Kampf gegen die Verweiblichungsangst) ist eine im Militär verbreitete Ansicht.

Eine weitere Tatsache, die in dem Zusammenhang von (militärischer) Männlichkeit und Vergewaltigung herangezogen werden muß, ist jene vor allem in Männerbünden verbreitete Spaltungslogik in sog. gute und sog. böse Frauen. Die Frauen im Feindesland – und dies wurde in Hammelburg phantasierend geübt – werden in aller Regel den sog. bösen Frauen zugeordnet. Und spätestens durch die Vergewaltigung werden sie in diesem Verständnis zu Huren gemacht. Dies ist die Botschaft von Männerbund zu Männerbund. Den »feindlichen« Männern wird vorgeführt, daß die Beziehung zu ihren Frauen nichts (mehr) wert ist. Die gewalttätige Spaltungslogik bewegt sich so in einem Zirkel einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung.

Schließlich gehört hier ein noch abgründigerer Aspekt her, mit dem deutlich wird, daß im Hinblick auf einen »saub`ren Soldaten« kein Land und kein sicherer Boden zu gewinnen ist. In der Militärlogik sind männliche Wehrfähigkeit mit Tötungsprivileg und weibliche Gebärfähigkeit aufeinander bezogen. Das männliche Tötungsprivileg obsiegt im Krieg über das Leben. Indem bei Vergewaltigungen im sogenannten Feindesland – ohne die kein neuzeitlicher Krieg »auskam« – dem Ort des Gebärens Gewalt angetan wird, erhält der Sieg des Tötungsprivilegs über die Gebärfähigkeit Ausdruck.

Anmerkungen

1) Wesentliche Gedanken hierzu verdanke ich Mario Erdheim, Carol Hagemann-White, Doris Janshen u. Klaus Theweleit. Zurück

Profn. Dr. Astrid Albrecht-Heide lehrt an der Technischen Universität Berlin Sozialisationsforschung aus der heraus sie u.a. Friedens- und Konfliktforschung betreibt. Sie gehört zum Netzwerk Friedensforscherinnen.

Tucholsky und die Soldatenehre

Tucholsky und die Soldatenehre

Zur historischen Vorgeschichte des geplanten Ehrenschutz-Gesetzes

von Michael Hepp

Im März dieses Jahres hat die Regierungskoalition eine Gesetzesinitiative zum Ehrenschutz für Bundeswehrsoldaten eingebracht. Eine Gesetzesinitiative mit Vorgeschichte, denn schon einmal wurde – erfolgreich – versucht, Kritiker des Soldatentums mit Hilfe eines Gesetzes mundtot zu machen. Der Vorsitzende der Kurt Tucholsky Gesellschaft, Michael Hepp, skizziert die Entstehungsgeschichte des »Ehrenschutzgesetzes« von 1931-32 und den Einsatz des damaligen Paragraphen 134a zur Unterdrückung jedweder Kritik an Staat, Regierung und Partei im Dritten Reich.

Seit 1919 hatte der Schriftsteller und spätere Mitherausgeber der Zeitschrift »Die Weltbühne«, Kurt Tucholsky, Soldaten, vor allem Offiziere, immer wieder als »professionelle Mörder« oder »ermordete Mörder« bezeichnet. 1925 schrieb er beispielsweise: „Sie sind ermordet worden. Denn man soll sich doch ja abgewöhnen, einen Kollektivtod anders als mit den Worten des Strafgesetzbuches und der Bibel zu bezeichnen, die beide die gewaltsame Tötung eines Menschen durch den Menschen verhindern wollen. Mord bleibt Mord, auch wenn man sich vorher andere Kleider anzieht, um ihn zu verüben.“ Zwar hatte die Reichswehrführung in anderem Zusammenhang wiederholt versucht, Tucholsky mit juristischen Mitteln zum Schweigen zu bringen (wenn auch erfolglos), die Aussage »Soldaten sind Mörder« blieb jedoch bis 1931 unbeanstandet. Erst nachdem General Kurt von Schleicher als graue Eminenz im Hintergrund weitgehend die Geschicke der Noch-Demokratie mitbestimmte, reagierte die Reichswehr auch auf diesen Satz mit einem Strafantrag wegen Beleidigung.

Ihr durch den verlorenen Krieg beschädigter »Ehrenschild« sollte wenigstens in der Erinnerung und in der politischen Tagesauseinandersetzung wieder sauber geputzt werden. So ist es nicht verwunderlich, daß die derzeitige Diskussion um einen besonderen Ehrenschutz für das Militär auch damals schon auf der Tagesordnung stand : parteiübergreifend. Die NSDAP brachte beispielsweise im März 1930 ein »Gesetz zum Schutz der deutschen Nation« in den Reichstag ein, das vorwegnahm, was drei Jahre später weitgehend Wirklichkeit werden sollte: „Wer den sittlichen Grundsatz der allgemeinen Wehr- oder sonstigen Staatsdienstpflicht der Deutschen in Wort, Schrift, Druck, Bild oder in anderer Weise bekämpft, leugnet oder verächtlicht macht, oder wer für die geistige, körperliche oder materielle Abrüstung des deutschen Volkes wirbt, […] oder wer sonst es unternimmt, die Wehrkraft oder den Wehrwillen des deutschen Volkes zu untergraben, wird wegen Wehrverrats mit dem Tode bestraft. […] Wer lebende oder tote deutsche Nationalhelden, Heerführer oder Inhaber der höchsten deutschen Tapferkeitsorden, oder wer die frühere oder die jetzige deutsche Wehrmacht oder Abzeichen oder Symbole der Landesverteidigung, insbesondere Ehrenzeichen, Uniformen, Flaggen, oder wer die Nationalhymne öffentlich beschimpft, verächtlich macht oder in Ärgernis erregender Weise mißachtet […] oder wer auf andere Weise Ehre, Würde und Ansehen der Nation besudelt, wird mit Zuchthaus, und in Fällen, die von besonderer Roheit und Gemeinheit der Gesinnung zeugen, daneben mit körperlicher Züchtigung bestraft.“ Pazifismus sollte also mit dem Tod bestraft werden. Ein Jahr später brachte eine Koalition aus Konservativer Volkspartei, Deutscher Volkspartei, Deutscher Staatspartei usw., angeführt vom Pfarrer Mumm und dem Grafen Westarp, ein Ehrenschutzgesetz in den Reichstag ein, das Beleidigung, üble Nachrede usw., „die geeignet sind, den Betroffenen in seiner persönlichen und politischen Ehre in der Öffentlichkeit herabzuwürdigen, als Diebstahl am höchsten Gut, an der Ehre“ nach dem Diebstahlsparagraphen bestrafen sollte. Kurz darauf betrieb dann der damalige Reichswehrminister Groener eine Ehrenschutzkampagne, die allerdings die ganze Problematik des Ehrbegriffs auch im demokratischen Umfeld zeigt.

Die zunehmenden Veröffentlichungen über die geheime Aufrüstung der Reichswehr hatten Groener 1931 veranlaßt, gegen diese angeblichen »Verleumdungen« ein besonderes Gesetz zu fordern. In einem späteren Artikel1 nahm er dabei ausdrücklich auch Bezug auf die angeblichen »Verleumdungstaten« der »Weltbühne«: „Hemmungsloser Haß gegen alles Militärische“ lasse die Kritiker die Grenzen zwischen Kritik und Hetze nicht mehr erkennen. Daß dagegen alle Parteien, bis auf die Kommunisten, treu und in „warmer und zustimmender Weise“ zur Wehrmacht standen, hob Groener in der Etatdebatte 1931 dankbar hervor.

Obwohl der damalige Reichsjustizminister Joël zuvor die Möglichkeiten eines »verbesserten Ehrenschutzes« insgesamt sehr skeptisch beurteilt hatte, legte er Anfang Dezember 1931 doch einen Entwurf zum Thema »Politischer Ehrenschutz« vor, der dann wenige Tage später Gesetz wurde: In der 4. Notverordnung des Reichspräsidenten vom 8.12.1931 wurden zur »Verstärkung des Ehrenschutzes« einige Paragraphen aufgenommen, die Kritiker wie Tucholsky und Ossietzky mundtot machen sollten. Üble Nachrede oder Verleumdung im »politischen Kampf« (dazu zählte der Minister auch die Angriffe auf die Reichswehr) sollten mit Gefängnis nicht unter sechs Monaten bestraft werden. Zusätzlich konnte eine »Buße« bis zu 100.000 Reichsmark verhängt werden. Außerdem sollten die Prozesse im Schnellverfahren bei verkürzter Beweisaufnahme durchgeführt werden können. Die Verteidigungsmöglichkeiten sollten also weitgehend eingeschränkt werden.2

Eine Woche zuvor hatte die Presse ausführlich über ein neues Strafverfahren gegen die »Weltbühne« berichtet: Anlaß war Tucholskys Artikel »Der bewachte Kriegsschauplatz« mit dem Satz: »Soldaten sind Mörder«. Der Reichswehrminister erblickte in dieser Formulierung nun eine schwere Verunglimpfung des Soldatenstandes, und die Staatsanwaltschaft erhob daraufhin Anklage wegen Beleidigung der Reichswehr.

Anfang April 1932 lehnte das Schöffengericht Charlottenburg die Eröffnung des Hauptverfahrens ab, die Staatsanwaltschaft legte jedoch sofort Beschwerde dagegen ein. Am 1. Juli 1932 sprach das Schöffengericht den verantwortlichen Redakteur Carl von Ossietzky schließlich frei, da bei dem Begriff »Soldaten« ein bestimmbarer Kreis von Beleidigten fehle. Im Prozeß von 1932 ging es im Prinzip um die gleiche Frage wie heute: „daß in dem Artikel [Tucholskys] schon deshalb von der deutschen Armee nicht die Rede sein kann, als die Reichswehr bisher noch keinen Krieg geführt hat. Es wird ja immer betont, daß sie nur zur Verteidigung da sei.“ Damals begegnete der Richter diesem Argument der Verteidigung: „Es kann aber doch eines Tages der Fall eintreten, daß der Soldat wieder in die Lage kommen kann […] einen Menschen zu töten.“ 3 Trotzdem entschied sich der Richter für einen Freispruch, denn eine „schwere Ehrenkränkung“ könne nur dann bestraft werden, „wenn sie sich auf Personen, nicht aber auf eine unbestimmte Gesamtheit“ bezöge. Dies war ständige Rechtssprechung, die im Prinzip erst durch die Nationalsozialisten aufgehoben wurde. Das »Berliner Tageblatt« meinte, dies sei das „selbstverständliche Ende eines überflüssigen Prozesses,“ auch die meisten anderen demokratischen Zeitungen begrüßten in ausführlichen Berichten den Freispruch, die Staatsanwaltschaft ging indes sofort in Revision. Am 17. November 1932 entschied der 2. Strafsenat des Kammergerichts Berlin jedoch, daß die Revision zu verwerfen sei, da sich Tucholskys Satz nicht auf konkrete Personen, sondern auf eine unbestimmte Gesamtheit beziehe.

Nach den beiden juristischen Niederlagen der Reichswehr wurde nur einen Monat später der Ehrenschutz für die Reichswehr-Soldaten per Notverordnung des Reichspräsidenten zum Gesetz erhoben. Von Vorteil war dabei, daß der neue Reichswehrminister Kurt von Schleicher seit dem 3. Dezember zugleich auch Reichskanzler war.4

In seiner Regierungserklärung kündigte er an, zahlreiche Notverordnungen außer Kraft zu setzen, „um endlich einmal wieder zu normalen Rechtsverhältnissen zurückzukehren.“ In der Notverordnung des Reichspräsidenten »zur Erhaltung des inneren Friedens« vom 19. Dezember 1932 wurden denn auch fast alle Vorschriften gegen politische Ausschreitungen außer Kraft gesetzt, ebenfalls das berüchtigte »Gesetz zum Schutz der Republik« vom März 1930; dieses allerdings mit kleinen Einschränkungen: der Paragraph mit den Bestimmungen zum Schutz des Reiches und der Länder sowie der Landesfarben und Flaggen vor böswilliger Beschimpfung und Herabwürdigung wurden in das neue Gesetz übernommen. Mit einer winzigkleinen zusätzlichen Abänderung hieß es nun in dem als neuer § 134a in das Strafgesetzbuch eingefügten Straftatbestand: „Wer öffentlich das Reich oder eines der Länder, ihre Verfassung, ihre Farben oder Flaggen oder die deutsche Wehrmacht beschimpft oder böswillig und mit Überlegung verächtlich macht, wird mit Gefängnis bestraft.“ 5

In der amtlichen Mitteilung für die Presse hieß es dazu, daß auch weiterhin „zur Aufrechterhaltung der Staatsautorität ein dauernder Schutz des Staates, seiner Symbole und der sich in der Wehrmacht verkörpernden Hoheitsbefugnisse des Staates gegen Verhetzungen notwendig“ 6 seien. Abgeleitet war dieser Paragraph aus dem Gesetz über die Bestrafung der Majestätsbeleidigung vom Februar 1908. Interessanterweise wurde der Ehrenschutz für die Reichswehr im Strafgesetzbuch auch 1932 schon nicht bei Beleidigungen eingefügt, der § 134a stand bei »Verbrechen und Vergehen wider die Öffentliche Ordnung«.

Tucholskys Satz »Soldaten sind Mörder« wäre demnach künftig auch in der vom Reichswehrminister kurz zuvor noch gepriesenen »freiesten Verfassung« strafbar gewesen, aber Tucholskys und Ossietzkys Werke wurden nur wenig später ohnehin verbrannt, Ossietzky im KZ eingesperrt und Tucholsky ausgebürgert. Der Paragraph 134a blieb indes auch nach dem Untergang der Weimarer Republik bestehen.

Der neue Reichspropagandaminister Joseph Goebbels machte am 31. März 1933 im Zusammenhang mit dem berüchtigten »Boykott aller jüdischen Geschäfte in Deutschland« deutlich, was er von Radikaldemokraten wie Tucholsky hielt. In seiner Ansprache, die über alle Sender ging, mißbrauchte er die Gefallenen des 1. Weltkriegs für seine Ideologie: „Aus den Gräbern von Flandern und Polen stehen zwei Millionen deutsche Soldaten auf und klagen an, daß der Jude Toller in Deutschland schreiben durfte, das Heldenideal sei das dümmste aller Ideale. Zwei Millionen stehen auf und klagen an, daß die jüdische Zeitschrift Weltbühne schreiben durfte: 'Soldaten sind immer Mörder', daß der jüdische Professor Lessing schreiben durfte: 'Unsere Soldaten sind für einen Dreck gefallen'. 7 (Hier wurde übrigens erstmals verfälschend ausgesprochen, was heute heimlich meist intendiert wird. Tucholsky schrieb »Soldaten sind Mörder« und eben nicht »Soldaten sind immer Mörder«.)

Als »wichtigste Schutzobjekte« galten nun die ideellen Werte „und unter diesen ragt als Grundwert […] nach deutscher Auffassung die Ehre hervor“, hieß es in der 1935 von dem Juristen Gerd Passauer verfaßten Abhandlung über den »Strafrechtlichen Schutz der Volksehre«8. Die Ehre von Volk und Nation sollte demnach „das erste und höchste Gut [sein], dem alles andere sich unterzuordnen und zu dienen hat“, und dabei leistete der § 134a gute Dienste: Geschützt waren durch ihn die NSDAP ebenso wie das »Horst Wessel-Lied« und natürlich die Hakenkreuzflagge, die »zum höchsten Zeichen der deutschen Ehre geworden« war.

Der Staatsrechtler Carl Schmitt hatte als oberstes Auslegungsprinzip der Gesetze gefordert, daß das gesamte deutsche Recht, „einschließlich der weiter geltenden, nicht aufgehobenen Bestimmungen“, ausschließlich und allein „vom Geist des Nationalsozialismus beherrscht“ 9 sein müsse. Dementsprechend stellte Gerd Passauer in seiner Ehrenschutzmonographie zu dem Gesetz fest, daß jeder „Ehrangriff“, jede Beschimpfung und Verächtlichmachung der staatlichen Grundordnung ebenso „wie jede Kundgebung der Mißachtung gegen den Nationalsozialismus als Grundlage und Ausgangspunkt des deutschen Staates“ ein strafrechtlicher Tatbestand sei.

Das war jedoch erst der Anfang. Nach Passauer war jede Beschimpfung „des Führers schlechthin“ nach § 134a zu bestrafen, da dieser die Einheit von Staat und »Bewegung« verkörpere. „Ebenso ist ein Angriff auf die deutsche Wehrmacht, durch den sie beschimpft oder verächtlich gemacht wird, ein solcher auf die deutsche Ehr.“ Ohlshausen stellte 1942 in seinem Kommentar zum Strafgesetzbuch10 lapidar fest: „Das im § 134a enthaltene Anerkenntnis, daß eine solche Gemeinschaft fähig ist, beleidigt zu werden, und Schutz gegen Beleidigung genießt, hat allgemeine Bedeutung,“ auch wenn die Strafbarkeit bei Kollektivbeleidigungen an sich zweifelhaft sei, wie Hans von Dohnanyi in seinem Kommentar11 zu dieser Strafnorm festhielt. Aber „die Vorschrift beseitigt diese Zweifel für die Wehrmacht als solche.“

Trotz dieser extensiven Auslegung hatten die Nationalsozialisten weiteren Bedarf an einem eigenen Ehrenschutz: Im Juni 1935 wurde der § 134b in das Strafgesetzbuch eingefügt, der sich speziell mit der »Beschimpfung der NSDAP« beschäftigte. Was der Reichswehr recht war, sollte der NSDAP und ihren Gliederungen wie SA und SS billig sein: auch diese waren künftig als Kollektiv beleidigungsfähig. 1936 kam Dohnanyi allerdings zu der Überzeugung, daß diese Ergänzung völlig überflüssig gewesen sei, denn durch das »Gesetz zur Sicherung der Einheit von Partei und Staat« von 1933 seien beide bereits „unlöslich verbunden.“

Der später als Widerstandskämpfer verhaftete Mitarbeiter im Reichsjustizministerium Dohnanyi hatte aber auch noch auf einen anderen Umstand aufmerksam gemacht: Der Ehrenschutzparagraph war so in die Systematik des StGB eingebaut, daß zum einen die Wahrnehmung berechtigter Interessen als Rechtfertigungsgrund ausschied und daß zum anderen böswillige Verächtlichmachung auch dann vorlag, „wenn der Täter von der inhaltlichen Richtigkeit seiner Äußerung überzeugt“ war. Tucholsky hätte also keine Chance mehr gehabt, sich auf seine Erfahrungen als Offizier im 1. Weltkrieg zu berufen oder etwa seine pazifistischen Ansichten als legitimen oder gar schützenswerten Rechtfertigungsgrund vorzubringen. Eine Verurteilung wäre nach diesem Gesetz zwingend gewesen. Vorsorglich zensierte denn auch der in Deutschland gebliebene Gerhard Hauptmann sein 1889 in Berlin uraufgeführtes Stück »Vor Sonnenaufgang« selbst und tilgte 1941 für die Gesamtausgabe die Stelle mit dem scharfen Angriff auf den Soldatenstand: „Es ist verkehrt, den Mord im Frieden zu bestrafen und den Mord im Kriege zu belohnen. Es ist verkehrt, den Henker zu verachten und selbst, wie es die Soldaten tun, mit einem Menschenabschlachtungs-Instrument, wie es der Degen oder der Säbel ist, an der Seite stolz herumzulaufen. Den Henker, der das mit dem Beile täte, würde man zweifelsohne steinigen. Verkehrt ist es dann, die Religion Christi, diese Religion der Duldung, Vergebung und Liebe, als Staatsreligion zu haben und dabei ganze Völker zu vollendeten Menschenschlächtern heranzubilden.“

Der Bayreuther Verwaltungsjurist Bernhard Weck fand kürzlich überdies Belege dafür, daß das Gesetz 1940/41 schließlich bis zur Vollendung pervertiert wurde: Aufgrund der analogen Anwendung der Strafnorm galt eine Rechtslage, derzufolge im »Protektorat Böhmen und Mähren« und später auch im sogenannten »Generalgouvernement« über den § 134a das Deutsche Reich sogar dann schon beleidigt sei, wenn nur ein einzelner »deutscher Volksgenosse« durch einen »Nicht-Deutschen« beschimpft wurde. Zuständig waren für diese »Delikte« unter anderem die berüchtigten Sondergerichte. Deutlicher kann man nicht mehr machen, zu welchen Auswüchsen die Überhöhung des Ehrbegriffes führen kann.

Am 30. Januar 1946 wurde der § 134 a+b durch Verfügung des alliierten Kontrollrats aufgehoben. Ausdrücklich wurde auch darauf hingewiesen, daß dadurch das ursprüngliche Gesetz nicht wieder in Kraft trete.

Anmerkungen

1) Staatsverleumdung. Deutsche Allgemeine Zeitung, 29.11.1931. Zurück

2) s. dazu: Akten der Reichskanzlei. Das Kabinett Brüning I und II. Boppard/Rhein 1982/90; Reichsgesetzblatt 1931 I, S. 743. Zurück

3) 8Uhr-Abendblatt, 1.7.1932. Zurück

4) Zur Vorgeschichte s.: Akten der Reichskanzlei. Das Kabinett Schleicher. Boppard/Rhein 1986. Bes. Dok. 1, 25, 26. Zurück

5) Reichsgesetzblatt 1932 I, S. 549; Hervorhebung durch den Verf. Zurück

6) Frankfurter Zeitung, 21.12.1932. Zurück

7) Joseph Goebbels, Revolution der Deutschen. Oldenburg 1933, S. 158ff. Zurück

8) Breslau-Neukirch 1935. Zurück

9) Juristische Wochenschrift 63, 717. Zurück

10) J.v. Olshausen, Kommentar zum Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich. Berlin 1942, S. 585f. Zurück

11) Reinhard Frank, Das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich. Nachtrag zur achtzehnten Auflage. Die Strafgesetzgebung der Jahre 1931 bis 1935. Herausgegeben und erläutert von Ernst Schäfer und Dr. Hans v. Dohnanyi. Tübingen 1936, S. 20ff. Zurück

Michael Hepp, Historiker, Vorsitzender der Kurt Tucholsky Gesellschaft und Mitherausgeber der Tucholsky Gesamtausgabe bei Rowohlt.

Beobachtungen: Zum Verhältnis Bundeswehr und Gesellschaft

Beobachtungen: Zum Verhältnis Bundeswehr und Gesellschaft

von Jutta Koch

Eigentlich müßte zum Thema derzeit heftig diskutiert werden, weil sich politisch viel bewegt hat, was Konsequenzen für das bezeichnete Verhältnis erwarten läßt: Die Bundeswehr hat in den letzten fünf Jahren Erfahrungen bei Einsätzen in Asien, Nahost, Afrika und Südosteuropa gesammelt; Krieg ist als mögliche Konsequenz gescheiterter Politik – zwar jenseits unserer Grenzen, aber doch – wieder deutlicher ins Bewußtsein geraten. International gibt es eine wichtige Debatte über Vorteile und Dilemmata humanitär begründeter Interventionen, über die Rolle der VN, über die Zukunft traditionellen und »robusten« Peacekeepings, über kollektive versus kooperative Sicherheit.

Unsere nationale Debatte zum Thema Bundeswehr und Gesellschaft konzentriert sich im wesentlichen auf das fallweise Aufflackern der Frage Wehrpflicht versus Berufsarmee. Weshalb diese Beschränktheit auf eine zwar nicht unpolitische, aber doch spezielle Frage?

Es zeichnet sich keine Neigung relevanter gesellschaftlicher Akteure ab, die aktuellen sicherheits- und verteidigungspolitischen Fragen auch in Deutschland so zu problematisieren, daß öffentliche Resonanz erzeugt werden könnte (Ausnahmen sind einige Bemühungen seitens der Bündnis 90/Die Grünen-Fraktion, welche z.B. zur NATO-Osterweiterung ein »Expertengespräch« und eine Anhörung initiiert hat).

Warum diese »ongoing non-debate« (Lutz Unterseher)? Sie setzt die Nachkriegstradition fort, die mit dem Einstieg der entstehenden Bundeswehr in eine bereits mit Doktrinen versehene NATO begründet wurde. Da gab's aus Regierungssicht nichts mehr zu diskutieren, und die Opposition fügte sich. Ein weiterer Grund mag in der Diffusität und Unübersichtlichkeit der internationalen Situation liegen; ein dritter in dem Dilemma zwischen dem Druck, humanitär zu intervenieren und der Sorge, damit einer militärfixierten Außenpolitik Vorschub zu leisten. Daß beide eine komplette politische Lähmung erzeugen, ist unplausibel.

Vielleicht können Vermutungen weiterhelfen, die sich besonders auf die deutschen Verhältnisse beziehen:

  • Das Militär ist seit 1990 in Deutschland unbedeutender geworden. Das läßt sich am deutlich verringerten Umfang der Streitkräfte wie auch an dem absolut und relativ gesunkenen Verteidigungshaushalt ablesen. Überdies sind Soldaten weniger sichtbar im Stadtbild; die Auflösung etlicher Standorte hat regionale wirtschaftliche Probleme aufgeworfen.
  • Es gibt heute in Deutschland ein großes Ausmaß an Interesselosigkeit gegenüber den Fragen, welche die Streitkräfte betreffen. Anders verhält sich das nur bei den Soldaten selbst, den Angehörigen und beim harten Kern sicherheitspolitisch interessierter oder befaßter Menschen in der Bundesrepublik – wohl nicht viel mehr als einige hundert Personen. Die Debatte ist Experten-Angelegenheit (der männliche Terminus beschreibt wohl den empirischen Sachverhalt).
  • Es fehlen heute die mobilisierenden Streitfragen, welche die breitere Öffentlichkeit – KritikerInnen und die Friedensbewegung – in den 1980er Jahren antrieb: Folgen des NATO-Doppelbeschlusses, Modernisierung atomarer Kurzstrecken auf westdeutschem Territorium waren Themen, welche sehr strittig öffentlich behandelt wurden. Zum Streiten gab es allen Anlaß, verbargen sich hinter ihnen doch grundlegende Differenzen zwischen USA und Bundesrepublik über Kriegführung auf deutschem Territorium.

Zudem gibt es aber noch zwei konkret angebbare – und kritisierenswerte – Gründe, weshalb sicherheitspolitische Kontroversen in den 1990er Jahren in Deutschland einfach nicht aufkommen. Der eine Grund ist politischer, der andere gesellschaftlicher Natur. Und beide weisen auf Mängel in der Struktur unserer Öffentlichkeit hin:

Erstens ist es dem seit gut vier Jahren als Verteidigungsminister amtierenden Volker Rühe gelungen, die Darstellung seiner Politik in die von den Deutschen mehrheitlich gewünschte »Kultur der Zurückhaltung« einzufügen. Ob sie das faktisch tut, ist von untergeordneter Bedeutung.

Der politische Konsens, den Rühe vor allem mit der Mehrheit der eher konservativen sozialdemokratischen Abgeordneten, die sich zu sicherheits- und verteidigungspolitischen Themen äußern, erarbeitet hat und dessen Vorteile er zu betonen nicht müde wird, ist eine Säule dieser auf Harmonie der Standpunkte gerichteten Politik.

Eine wesentliche Voraussetzung für diese »Harmonie« ist die inhaltliche Zerrissenheit der SPD in Fragen der Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Das betrifft sowohl Personen als auch Themen und Konzepte: Wenn Karsten Vogt die NATO-Osterweiterung enthusiastisch begrüßt, Peter Glotz sie als gefährlichen Unsinn kritisiert; wenn 1993/94 gegen die Teilnahme deutscher Soldaten an Aufklärungsflügen über Bosnien vor dem Bundesverfassungsgericht geklagt, heute aber die gleichberechtigte deutsche Teilnahme am SFOR-Einsatz begrüßt wird.

Da müssen sich auch geneigte Beobachter fragen: Wer verkörpert die sicherheits- und verteidigungspolitische Willensbildung? Hat die Sozialdemokratie ein Konzept, was sich von dem Rühes wesentlich unterscheidet? Versucht sie ein solches in der erwähnten Kommission zu formulieren? Wenn ja, warum ist dann die Kommissionsarbeit so vergleichsweise geräuschlos, um nicht zu sagen untransparent? Welche Rolle spielen die weiteren Gliederungen der Partei, welche die Fraktion?

So gravierende Unterschiede der Positionen, obwohl (oder weil) die Partei kaum mitdiskutiert, machen es unwahrscheinlich, daß es der SPD – bei ihrer Tradition der Verbindung kritischer und affirmativer Aspekte in der Verteidigungspolitik – gelingen wird, ein politisch wie militärisch stimmiges, auch Außenstehende überzeugendes sicherheitspolitisches Konzept zu formulieren, das selbstbewußt Akzente setzt, ohne in Provinzialität zu verfallen.

Die Oppositionsfraktionen unterziehen sich nicht der Mühe, konzeptionelle Alternativen zu formulieren.

Die politische Harmonie im Parlament ist also nicht nur ein Erfolg Rühescher Politik, sondern auch das Ergebnis der – bestürzenden – Tatsache, daß sich die Oppositionsfraktionen nicht der Mühe unterziehen, konzeptionelle Alternativen zu formulieren. Das sein zu lassen fällt SPD und Bündnis 90/Die Grünen auch deshalb leicht, weil Rühe leise und gesprächsbereit agiert.

Die »Kultur der Zurückhaltung« spiegelt sich vor allem im terminologischen Reglement des Verteidigungsministeriums. Begriffe, die an Kriegsführung, Todesopfer gemahnen, sind verbannt zugunsten einer sprachlichen Kodifizierung, die sich von jener der kritischen Friedensforschung kaum mehr unterscheidet. Konfliktprävention, Friedensstabilisierung und Multinationalität unter Einbeziehung des Partners Rußland signalisieren ein Verschwinden des Militärs aus der Verteidigungspolitik. Deshalb konnte Rühe auch die Interview-Frage der SPIEGEL-Redakteure nach der Anzahl deutscher Bataillone im kommenden SFOR-Einsatz im Brustton der Überzeugung zurückweisen, diese Frage sei ihm „zu militärisch“.

Das ist die Essenz von Rühes Politik: Über Militärisches lohnt sich nicht mehr zu sprechen. Ob die Militärpolitik den deklarierten Vorstellungen entspricht, ob es nicht andere Konzeptionen gibt, die akzeptablere politische Folgen mit verhältnismäßig geringerem Mitteleinsatz das gewünschte Ergebnis erzielen hülfen, interessiert nicht mehr so sonderlich.

Der zweite Grund für die Abwesenheit sicherheitspolitischer Kontroversen ist ein sozialer: Sicherheitspolitische Themen scheinen in der deutschen Diskussionskultur nur dann öffentliche Resonanz zu erzeugen, wenn sie an absolute moralische Positionen geknüpft werden.

Das ist das Problem der grünen Debatte, deren antimilitaristische Traditionen sie auf den Holzweg führen, militärisch gestützte Politik schon »an sich« für schlecht zu halten – militärische Interventionen sind antimoralisch. Wenn nur ein solches Argumentationsmuster zur Verfügung steht, wenn keine Abstufungen vorstellbar sind, dann sind die Kritiker jener Position – die, wie Joschka Fischer, anläßlich der Morde an schutzlosen Menschen in der VN-„Schutzzone« Srbrenica ihre antiinterventionistische Position revidierten – »gezwungen« auf NATO-Kurs einzuschwenken.

Diese Alles-oder-Nichts-Strategie trägt dazu bei, daß über konzeptionelle Lehren aus erfolgreichen Peacekeeping-Operationen kaum gesprochen wird.

Denn auch die Realos denken schwarz-weiß, haben sich nie ernsthaft der politischen wie intellektuellen Herausforderung unterzogen, eine sicherheits- und verteidigungspolitische Position zu formulieren, die Kritik mit Konsistenz und ihrem Streben nach Regierungsübernahme selbstbewußt verbindet. Wenn man so etwas vermeidet, macht man sich politisch extrem angreifbar, und führt willentlich die Situation herbei, im Regierungsfalle eine christdemokratische Verteidigungspolitik fortzuführen.

Diese Alles-oder-Nichts-Strategie ist nicht nur politischer Hazard, sondern trägt maßgeblich dazu bei, daß in der deutschen Öffentlichkeit über konzeptionelle Lehren etwa aus Somalia und Bosnien (aber auch aus erfolgreichen »traditionellen« Peacekeeping-Operationen wie UNOMOZ in Mozambique) kaum gesprochen wird.

Wäre es denn nicht eine angemessene Konsequenz aus der deutschen Geschichte, kontrovers zu bereden, welche sinnvollen militärischen Aufgaben deutsche Soldaten bei künftigen internationalen Einsätzen im Auftrag der VN übernehmen sollten? Ist denn nicht die selbstbewußte Teilnahme an »traditionellem« Peacekeeping, der militärische Schutz von Konvois, der militärische Schutz von VN-Schutzzonen, das frühzeitige militärische »preventive deployment« in Krisensituationen, die zu eskalieren drohen, notwendig? Oder hat eine Konzeption, die an Bewahrung/Stabilisierung/Schutz ausgerichtet ist, zu wenig Glamour?

Der geeignete Ort für Streit über diese Themen ist auch das Parlament. Dort würde es – wenn die Abgeordneten sich so ein Stück konzeptioneller Verteidigungspolitik (zurück)erobert hätten – dann auch Sinn machen, über Aufgaben, Größe und Ausrüstung der Krisenreaktionskräfte zu reden, anstatt Zahlen von 50.000 Mann plus einfach hinzunehmen. Dies ergäbe für interessierte Journalisten auch den Anlaß zur hintergründigen Berichterstattung…

Das Parlament ist als Ort einer öffentlichen Auseinandersetzung mit konzeptioneller Perspektive wiederzuentdecken. Dieser Weg verriete auch ein größeres politisches Selbstbewußtsein, als es die Durchsetzung der NATO-Osterweiterung anzeigt: Für die hat sich Rühe, zum großen Ärger der wichtigen Partner, in der NATO seit 1993 eingesetzt; seit dem abrupten Schwenk der USA im Herbst 1994 auf die Rühe-Position ist sie im Prinzip beschlossene Sache. So kam diese Politik via NATO als Fait accompli in der Bundesrepublik an. Eine parlamentarische Debatte hat sich erübrigt, oder?

Jutta Koch ist freie Publizistin und Mitarbeiterin im Deutschen Bundestag.

Frauen an den »Brand«-Herd?

Frauen an den »Brand«-Herd?

Kriegsdienst und Gleichberechtigung

von Mechtild Jansen

Links – Rechts, Mann – Frau, Pazifist – Militarist sind Dichotomien, deren Realitätsnähe heute sehr unterschiedlich eingeschätzt wird. Der Umgang mit schematischen Einordnungen bietet jedoch – es sei denn, sie werden als gänzlich überholt angesehen – die Chance, Tendenzen klarer zu erkennen. Mag sein, daß der folgende Beitrag von Mechtild Jansen manchem/mancher LeserIn Mühe macht, weniger weil seine Form für W&F ungewöhnlich ist, als vielmehr, weil Verwicklungen, Widersprüchlichkeiten und Ansprüche thematisiert werden, die unbequem zu reflexieren sind in Zeiten, in denen mit alter Eindeutigkeit auch zukunftsentwickelnde Positionen verloren gegangen sind.

Frauen und die Bundeswehr, Frauen, Männer und das Militär – das Thema ist mythologisch und ein politisches Exempel. Wieder einmal beschäftigt es die Öffentlichkeit, wenn auch ob der momentanen Lage der Dinge nur als Abglanz dramatischerer Augenblicke. Das Lied vom »raus oder rein«, das da gespielt wird, ist schon alt. Das nennenswerte Ereignis liegt allein darin, daß heute die Rechte den Ton der Musik angibt, den sie der Linken abgehört und für ihre Interpretation geklaut hat. Das Blatt hat sich gewendet. Auch die Frauenbewegung übertönt nicht den Gesang. Tonangebend war sie sowieso noch nie, obwohl sie reichlich eigene gute Töne hatte. Aber die Frauen hatten schon mal lauter gesungen als die richtigen Männer. Wenn man die politische Welt des Landes einmal grob aufteilt, so stellt man fest: Die Rechte ist sich treu und treuer und die Linke weiß nicht mehr, wer sie ist.

Die Rechte hat den Frauen immer eine klare Rolle zugewiesen, ihren Teil an einem Ganzen, das auf Tradition und Herrschaft der Oberen basiert. Gebärerin, Mutter, Familienstifterin, Arbeitskraft, Reservearmee – von da aus ließ sich die Frau einsetzen. Und wenn die Frau tat, was man verlangte, hatte sie auch ihren (Vor-)Teil davon. Die Rechte ist sogar mit der Zeit gegangen und hat ihre Rolle modernisiert. Gleichberechtigung und Partnerschaft von zweien, die nicht als dasselbe aufgehen, sondern auch Verschiedenes bleiben, nennt sie das. Dabei übersetzt sich unter der Hand »Recht« in »Wert« und Wert in »Moral«, die vor allem immer dann beansprucht wird, wenn die Verhältnisse nicht so sind, wie sie sein sollen. Die inneren Ungereimtheiten und Widersprüche dieses Modells sind dennoch vergleichweise gering.

Modern ist die Rechte auch in ihrem Militärkonzept. Der Sicherheitsbegriff ist längst umfassend – ökologisch, sozial, politisch und militärisch. Das Instrumentarium wird demgemäß umgebaut, und die Bundeswehr rüstet sich für strategische, chirurgische, flexible und vor allem schnelle Eingriffe an möglichst jedem Ort der Welt. Was fehlt, sind nur noch die ausreichenden Finanzmittel, das qualifizierte (weibliche und männliche) Personal und die öffentliche Billigung für die Verwirklichung und Anwendung dieses militärpolitischen Konzepts.

Die Linke sagt, sie sei für »Gleichberechtigung der Frau«. Sie empfiehlt damit, als Frau zu leben wie ein Mann obendrein. Das aber bedeutet, beide sollen patriarchal leben, was verallgemeinert gar nicht machbar ist und zudem das konterkariert, was sein soll. Die Linke hat die Frauenbewegung bis heute nicht richtig verstanden und sich ihr Anliegen nicht wirklich zu eigen gemacht. Sie hat sich eher nur deren Worten und Forderungen angehängt, um schöner dazustehen.

Die Linke hat auch kein modernes sicherheits- und friedenspolitisches Konzept. »Abrüsten in Ost und West« ist passé, seit kein Ostblock mehr existiert. Das Konzept von »Gegenmacht gegen Macht« für das »ganz andere« und die gute Gesellschaft hat sein realsozialistisches Hinterland verloren und trägt im übrigen so oder so nicht. »Weg mit all dem Schrott« von Militär, diese Idee ist wünschenswert oder auch nur ein frommer Wunsch, jedenfalls kein Weg. Ein oder besser mehrere ausgearbeitete Konzepte für Entmilitarisierung, Deeskalation und zivile Konfliktlösung im Kontext mit gesellschaftlichem Umbau als einer Aufgabe von Dauer hat die Linke als ihr Allgemeingut nicht. Deshalb bleibt der Linken unter dem Strich häufig nur ein hilfloser Pazifismus oder ein Überlaufen zur anderen Seite. Sie verwickelt sich in innere Widersprüche, die die eigene Sache aus dem Lot bringen.

Aus all dem ergibt sich eine paradoxe Situation. Die Gesellschaft ist so unmilitärisch wie kaum je und die regionalen, komplexen, hochdifferenzierten Sicherheitskonflikte oder Kriege laden so wenig zur Intervention ein wie selten. Die Bereitschaft, Notwendigkeit und Überzeugung zum Krieg scheint auf einem historischen Tiefpunkt. Aber die Linke, die die öffentliche Billigung hat, kann diese nicht für sich nutzen. Die Rechte dagegen tut es peu à peu und sehr geschickt. Der Fortschritt ist zur Routine und zum Klischee geworden, so aber kann er nicht mehr tragen.

Völlig logisch kommt da erneut die Diskussion um Frauen in die Bundeswehr auf. Die Frauen sind Seismograph für die Verfassung einer Gesellschaft. Die grundsätzlichen Argumentationsmuster um die Position der Frau wie um die des Militärs sind alt, interessant ist allein ihre Kleidermode und die politischen Gewichtsverlagerungen hinter ihnen.

Die grundsätzlichen Tabus von einst sind längst gebrochen. Die Frau gehört nicht nur an den heimatlichen Herd, sondern auch an alle öffentlichen Herde, bis hin zum Brandherd des Kriegs.

Die Rechte will die Frauen in die Bundeswehr einbeziehen und empört damit niemanden mehr. Man läßt sich öffentlich damit unterhalten, wie die moderne Rechte von heute mit den eigenen Altkonservativen von gestern aufräumt. Die grundsätzlichen Tabus von einst sind längst gebrochen. Die Frau gehört nicht nur an den heimatlichen Herd, sondern auch an alle öffentlichen Herde, bis hin zum Brandherd des Kriegs. Der Krieg gilt wieder als führbar, das Militär ist relegitimiert. Daß Frauen genauso »schlecht« sein können wie Männer, erschreckt dort niemanden besonders, wo der Mensch sowieso eher als »schlecht« angesehen und die Frau im besonderen im heftigen Bilderwechsel zwischen Heiliger und Sünderin im Zweifel allemal als die »schlechtere« gegenüber dem Mann eingeschätzt wird. Die Frauen mischen bei allem fröhlich mit, umso mehr. Die Anhängerinnen der Bundeswehr treten auf als Vorkämpferinnen der Gleichberechtigung. Deren Vorkämpferinnen wiederum sind die Zögerlichen und erscheinen deshalb als die von gestern. Sie wenden ein, daß Frauen immer noch die höheren Lasten tragen, während es doch schon längst um mehr Teilhabe durch größere Unterwerfung geht.

Die Linke, das heißt linke Männer – sofern sie nicht die ganze Sprache verloren haben – empören sich, daß Frauen nun genauso scheußliche Soldaten sein sollen, ja sogar sein wollen, wie Männer. Aber irgendeinen Rat haben sie nicht. Sie verschieben das Problem auf die Frauen. Die feministische Diskussion, deren Analyse umfassender Gewalt bis hinein ins vermeintlich Private und der sich bedingenden Männlichkeits- bzw. Weiblichkeitsmythen, kennen sie immer noch nicht wirklich. Unter den Frauen »protestieren« einige wenige wacker und mit einem bisweilen seltsamen Gemisch von Argumentationen, die sich aus Frauen »als Opfer von Sozialabbau und Krieg« und, gewendet, als Friedensbringerinnen per se zusammensetzen. Diese Frauen haben die linke Lektion zu gut gelernt. Andere wollen munter hinein in die Bundeswehr, der Männlichkeit und Weiblichkeit gleichzeitig den Garaus machen. Die meisten finden allem Anschein nach weder das eine noch das andere sonderlich überzeugend. Die Linke also gibt ein Bild der Verwirrung und Handlungsunfähigkeit.

Ihre klare Antwort auf die Problematik »Frauen und Militär« hatte nur Bestand, solange es hinter und unter dem männlichen Antimilitarismus, der seinem Gegenüber noch spiegelbildlich verhaftet blieb, einen weiblichen Pazifismus gab, der traditionelle Rollenbilder mit sich trug, und beide die männliche bzw. weibliche Friedensbewegung dominierte.Die Frauenfriedensbewegung war dabei ein höchst eigenes Gemisch aus konservativen und partnerschaftsorientierten Frauen und Feministinnen zweier Schulen, einer antipatriarchalen und einer, die die Vielfalt des Menschen betont. Die Enttäuschung über »die Friedensbewegung« und »die Frauenbewegung«, in der pauschalisierenden Quintessenz, ist groß.

Eine laute Diskussion um Gleichberechtigung auf dem Exerzierplatz entflammt, wo dieselbe in der Gesellschaft leise, still und heimlich demontiert wird.

Vor diesem Hintergrund erklären sich Erscheinung und Verlauf der verwirrenden aktuellen Diskussion um das Thema »Frauen in die Bundeswehr – ja oder nein?«, das seltsam verteilte Schweigen und Reden und deren Inhalt. Rechte argumentieren dabei »links« und Linke »rechts«. Es scheint zu schlingern, wer sich schlichtem Pro und Contra verweigert. Frauen in die Bundeswehr, Gleichberechtigung in der Armee – ja oder nein? Die Fragestellung und Argumentationsmuster sind retardierend. Hinsichtlich der Akzeptanz der Bundeswehr sind sie ein »Nachhutgefecht«, bezogen auf die Gleichberechtigung im hier und heute ein »Nebenkriegsschauplatz«.

Merkwürdig ist allenfalls, welche Notfälle sich da gegenseitig aus derPatsche helfen sollen. Junge Männer haben keinen Bock mehr und lassen die Bundeswehr leerlaufen. Junge Frauen haben dagegen noch richtig Power und finden keinen Platz, sie auszutoben. Eine laute Diskussion um Gleichberechtigung auf dem Exerzierplatz entflammt, wo dieselbe in der Gesellschaft leise, still und heimlich demontiert wird.

Zwei Positionen lassen die Sache – trotz mangelnder Originalität – für manche reflexartig spannend erscheinen, eben weil mit ihnen die gewohnten Einteilungsmuster durchbrochen werden. LobbyistInnen der Bundeswehr fechten gegen das Traditionsmilitär und deren zurückgebliebenes Frauenbild und Feministinnen wenden ihre Patriarchatskritik gegen linken Antimilitarismus. Die Debatte wäre schnell zu den Akten zu legen, wären nicht doch noch neue Anstöße aus ihr herauszuschälen.

Diskriminiert werden Frauen im Militär noch mehr als außerhalb. Die sich trotzdem durchsetzen, schaffen es nur als gesteigerter Mann.

Taucht das Wort »Frau« auf, läßt – im Kontext der Bundeswehr anders als bei schöpferischer Arbeit, Geld und Macht – das Wort Gleichberechtigung nie auf sich warten. Ersatzobjekt, Trick oder Überzeugung? Jedenfalls sind Zweifel angebracht, wo Gleichberechtigung angedient und nachgetragen wird. Selten steht noch zur Debatte, worin und wofür da wer mit wem gleichberechtigt sein soll und ob die Sache selbst gleichberechtigt funktionieren kann. Stattdessen wird Gleichstellung als Gleichberechtigung untergejubelt. Nicht jede Gleichstellung endet aber schon in Gleichberechtigung, die ihrem Wesen nach unteilbar ist. Sachlich bemessen darf die Metapher bislang fast ausschließlich als Vorwand und Instrumentalisierung qualifiziert werden.

Die Armeen funktionieren nach dem Prinzip von Befehl und Gehorsam. Noch keine Regierung oder Parlamentsfraktion hat quantitativ die hälftige Beteiligung und qualitativ den gleichen Kombatantenstatus für Frauen gefordert. Frauen sind Minderheiten in den Armeen. Ihre freiwilligen Dienste schließen Lücken, die Männer lassen. Diese »Chance« wird erfahrungsgemäß meist von den Deprivilegiertesten oder den Aufstiegsseligsten wahrgenommen. Diskriminiert werden Frauen im Militär noch mehr als außerhalb. Die sich trotzdem durchsetzen, schaffen es nur als gesteigerter Mann. Gleiche Aufstiegschancen müssen sie sich im Zweifel vor Gericht erkämpfen, nachdem ihnen die Gleichstellungspolitik dazu die Chance überhaupt erst eröffnet hat.

Alles wie überall im Patriarchat, nur halt seine letzte Domäne? Oder noch mehr, eine andere Systematik? Zieht die Soldatinnen militärtechnische Macht und Stärke oder Demokratie und Emanzipation an? Jedenfalls haben sich Frauen im Militär bisher nicht als »Speerspitze« des Feminismus ausgezeichnet, eher als dessen Troß oder Nutznießerinnen.

Das Argument der Gleichberechtigung fungierte bislang vor allem als Hilfsargument zur Bejahung des Militärs. Es können aber auch die zu ihm stehen, die der Bundeswehr Positives so oder so zubilligen: Aus Überzeugung vom Sinn von Armeen, von dieser Bundeswehr und ihren Militärstrategien; als unvermeidbares Übel oder schlichte Realität, von denen niemand abgehalten werden soll; als Tabubruch gegen das offizielle Waffenverbot für Frauen, das ausschließt vom Können und der Macht auch zum Töten; im Glauben, Frauen humanisierten qua Natur das Militär, aus der Erkenntnis, daß polare Geschlechterbilder – männliche Stärke und weibliche Schwäche, Beschützer und Beschützte – selbst Bestandteil des Militarismus sind, und sie zu dementieren ihn schwächt.

Unter dem Aspekt der Gleichberechtigung gab es gegen die Einbeziehung von Frauen in die Bundeswehr nie ein Argument, außer daß Militär und Militarismus mit Gleichberechtigung und Emanzipation nicht viel zu tun hatten. Die Frage lautet deshalb, ob Gleichberechtigung das Militär verändern kann oder das Militär die Gleichberechtigung. Wer Militärapperate für teuer, unproduktiv, gefährlich oder gar überflüssig hält, sollte sie minimieren. Wer den Einsatz von Gewaltmitteln zum Töten und Besiegen möglichst ausschließen will, sollte entmilitarisieren. Wer »Out of area«-Einsätze nicht sinnvoll findet, braucht nicht unbedingt Frauen noch hinterherzuschicken. Wer die »Natur der Frau« nicht umgedreht mythologisieren will, sollte Männer ihre humanen Potentiale entfalten lassen. Wer Machttabus brechen will, sollte Friedenspolitikerinnen zu Regierungschefs machen. Wer polare Geschlechtermuster abschaffen, zugleich neue Überlegen- und Unterlegenheits-Muster vermeiden will, muß auch ihre Institutionen umwandeln. Wer auf den Zusammenhang von Hierarchie und Spaltung zwischen den Geschlechtern, zwischen personaler, kultureller, struktureller und militärischer Gewalt pochen will, muß alle diese Gewaltverhältnisse zurücknehmen und für allgemeine Gleichberechtigung sorgen. Andernfalls wird mensch hinnehmen müssen, daß Frauen im Militär nicht den Effekt haben, dieses einzuschläfern, sondern zu beleben.

Mit einem bestimmten Quantum Frau funktioniert heute fast alles besser als ohne sie: Klima, Organisation, Disziplin, Motivation etc., während gleichzeitig soziale Spaltung, politische Regression und verdeckte Handelskriege wachsen. Vorsorglich wäre deshalb das Ziel der Gleichberechtigung auf das Militär selbst anzuwenden. Es müßte ihr dienen und so gestaltet werden, daß es das vermag. Notwendigerweise würde es dann als Militär transformiert und als Exekutionsmaschine von Gewalt demobilisiert. In diesem Fall würde Gleichberechtigung mit der Entmilitarisierung der männlichen Soldaten beginnen.

Wer Männer aus der Wehrpflicht nicht herausholt, kann die Bundeswehr Frauen nicht verweigern. Wer zivile Konfliktlösung nicht verwirklicht, kann Frauen keinen Waffenstatus und Generalstab versagen. Wer gleiche Menschenrechte nicht zu realisieren sucht, kann Frauen nicht verwehren, zu befehlen oder zu gehorchen. Die zeitgemäße Frage heißt: Mit welcher demilitarisierten Sicherheitspolitik in welcher konvertierten »Armee« können oder müssen Frauen und Männer welchen demokratischen Dienst tun, um gewaltträchtige oder -tätige Konflikte zu deeskalieren und friedlich zu lösen? Wünschenswert wäre eine neue Diskussion etwa über defensive Umrüstung, zivile Konfliktlösung, Berufsarmee auf Zeit, einen Grunddienst für alle in Selbstverteidigung, im Schutz Angegriffener und Unterstützung zur Selbsthilfe, in der Sorge für Alte, Kinder, Kranke. Das wäre eine neue Sicherheitspolitik und mehr und tiefere Gleichberechtigung.

Mechtild Jansen arbeitet als freie Publizistin

Zur neuen Rolle der Bundeswehr

Zur neuen Rolle der Bundeswehr

von Arbeitskreis »Darmstädter Signal«

Mit dem »Darmstädter Signal« wandte sich im September 1983 eine Gruppe von 20 Zeit- und Berufssoldaten und Mitarbeiter/Innen der Bundeswehr erstmals an die Öffentlichkeit, um ihr NEIN zur Stationierung neuer Atomraketen in Ost und West zum Ausdruck zu bringen. Hieraus entwickelte sich der Arbeitskreis Darmstädter Signal (Ak ds) mit mehr als 200 Mitgliedern. Der Arbeitskreis hat im Oktober in Erfurt ein Positionspapier »Zur neuen Rolle der Bundeswehr« verabschiedet, das wir im folgenden dokumentieren:

Mit großer Besorgnis stellen wir fest, daß sich die Bundeswehr hinsichtlich ihres Auftrags genau in die Richtung entwickelt, vor der wir Soldaten des Ak ds immer gewarnt haben:

Nach Beendigung der Blickkonfrontation besteht für Deutschland jetzt und in absehbarer Zukunft keine militärische

Bedrohung. Dennoch unterhält Deutschland mit 340.000 Soldaten einen Streitkräfteumfang, der weder militärisch noch finanziell gerechtfertigt ist.

Deutsche Soldaten dürfen nunmehr mit einfachem Mehrheitsbeschluß des Bundestages überall in der Welt kämpfen, nur für die Verteidigung unseres eigenen Vaterlandes gilt weiterhin Art. 115a des Grundgesetzes, wonach der Bundestag mit 2/3-Mehrheit den Verteidigungsfall feststellen muß.

Deutsche Truppen werden zu internationalen militärischen Einsätzen entsandt, ohne auf diese schwierigen Aufgaben ausreichend vorbereitet zu sein. Während beispielsweise skandinavische Länder oder Österreich ihre Soldaten in speziellen Zentren jahrelang auf derartige Einsätze vorbereiten, durchlaufen Bundeswehrsoldaten lediglich einige Wochenkurse.

Statt die für Auslandseinsätze vorgesehenen »Krisenreaktionskräfte« einzusetzen, besteht z.B. das deutsche Kontingent für den I F O R (Implementation forces)-Einsatz zu großen Teilen aus Soldaten anderer Einheiten der Bundeswehr, die dazu kurzfristig abkommandiert wurden. Selbst aus Ausbildungseinheiten werden bedenkenlos Kompaniechefs, Kompaniefeldwebel oder erfahrene Zugführer herausgelöst, ohne an die Folgen für den Ausbildungs- und Dienstbetrieb zu denken.

Insgesamt ist die Bundeswehr zum Instrument einer Politik geworden, die

  • statt der Lösung der wahren Ursachen vieler Konflikte überwiegend das eigene internationale Prestige im Auge hat;
  • Menschenrechtsverletzungen nachdrücklich nur dann anprangert, wenn ein weiterer internationaler militärischer Einsatz begründet werden soll;
  • bei Rüstungsgeschäften in Kauf nimmt, daß auch deutsche Soldaten mit deutschen Waffen getötet werden.

Statt sich dafür einzusetzen, Menschenrechtsverletzungen, die auch von Soldaten weltweit begangen werden, überall zu verfolgen, wird darüber nachgedacht, wie man für die Soldaten der Bundeswehr einen besonderen »Ehrenschutz« gesetzlich schaffen könne. Das nötige Selbstbewußtsein, sich als Staatsbürger in Uniform auch mit radikalen Kritikern unseres Berufs auf demokratische Weise selbst auseinanderzusetzen, wird uns Soldaten damit abgesprochen.

Auch im Hinblick auf die Entwicklung neuer europäischer und weltweiter Sicherheitsstrukturen vermissen wir Soldaten vom Ak ds hoffnungsvolle Ansätze:

  • Die unsensibel geführte Diskussion über die geplante Erweiterung der NATO gefährdet die Zusammenarbeit mit Rußland.
  • Die Chance zur Entwicklung eines europäischen Systems kollektiver Sicherheit auf der Grundlage der Organisationen für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) scheint vertan. Die NATO als Verteidigungsbündnis aus der Phase der Blockkonfrontation ist nicht geeignet, diese Aufgaben zu erfüllen.
  • Die UNO wird mehr und mehr in die Rolle des »Erfüllungsgehilfen« der NATO gedrängt. Statt das zwangsläufige Scheitern der Blauhelm-Mission in Bosnien auf den mangelnden Friedens- und Verständigungswillen der verschiedenen Großmächte zurückzuführen, wirft man der UNO Unfähigkeit vor und legitimiert so die NATO als Instrument zukünftiger Konfliktlösungen.
  • Umfassende Reformen der UNO sind nicht erkennbar. Weiterhin wird der Weltsicherheitsrat dominiert von wenigen atomaren Großmächten, weiterhin gibt es keinen militärischen UN-Führungsstab und keine den Vereinten Nationen direkt unterstellten Streitkräfte. Bemühungen zur nichtmilitärischen Konfliktvorbeugung lassen sich kaum erkennen.
  • Durch die unveränderte Politik der Industriestaaten verstärken sich globale Verteidigungskämpfe und Fluchtbewegungen.

Der Auftrag von Streitkräften in unserer Zeit

Streitkräfte sind grundsätzlich nur zur Landesverteidigung gerechtfertigt. Sie müssen nicht-angriffsfähig strukturiert sein!

Sie jedoch als alleinigen und unverzichtbaren Ausdruck staatlicher Sicherheit zu betrachten, hieße, die Augen zu verschließen vor den nicht-militärischen Problemen, die die Selbstbestimmung der Völker bedrohen, besonders Hunger, Energieknappheit, Bevölkerungswachstum, soziale Ungerechtigkeit und ungleiche Bildungschancen.

Ziel muß die konsequente Verringerung aller Streitkräfte auf der Welt sein!

Jeder Soldat auf dieser Welt ist ein Soldat zuviel!

Der Einsatz von Soldaten zur Sicherung nationaler Interessen wie z.B. zum „Schutz des (sogenannten) freien Welthandels oder der strategischen Rohstoffreserven“ (aus: Verteidigungspolitische Richtlinien der Bundesregierung 1992) ist weder politisch noch moralisch gerechtfertigt, und stellt einen Rückfall in kolonialistisches Handeln dar!

Für zivile Aufgaben wie Katastrophen- oder Umweltschutz, Entwicklungshilfe oder polizeiliche Arbeit sind Streitkräfte wenig geeignet. Diese, für die Lösung weltweiter Konflikte zweifellos wichtigen Aufgaben, müssen von anderen Kräften bewältigt werden.

Friedenssicherung gelingt am besten in einem System kollektiver Sicherheit. Für unseren Kontinent bietet sich die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) als Rahmen an. Die Osterweiterung der NATO lehnen wir ab. Parallel zum Ausbau der OSZE sind NATO und WEU im gleichen Maße aufzulösen. Diese Verteidigungsbündnisse aus der Phase der Blockkonfrontation sind historisch und ideologisch vorbelastet und überholt, die WEU ist darüberhinaus als militärischer Arm der zentralistisch-bürokratischen Europäischen Union derzeit aufgrund der weitgehenden Machtlosigkeit des Europäischen Parlaments nicht demokratisch kontrollierbar.

Die UNO muß als globales System kollektiver Sicherheit politisch gestärkt und ausgebaut werden. Hierzu sind tiefgreifende Reformen der UNO erforderlich:

  • Die Möglichkeiten der UNO zur Konflikt-Vorbeugung und zur Krisenfrüherkennung müssen deutlich ausgebaut werden.
  • Die Besetzung des Weltsicherheitsrates muß ausgewogener erfolgen.
  • Das Vetorecht der Großmächte muß abgeschafft werden.
  • Zur Durchführung von friedenserhaltenden UN-Einsätzen sind Streitkräfte einem UN-Führungsstab ständig in ausreichender Stärke und Verlegefähigkeit zu unterstellen. Ziel sind gemeinsam ausgebildete Spezialeinheiten, die die Möglichkeiten der UNO zur Konflikteindämmung stärken.
  • Die Unterstellung von nationalen Streikräften unter alleinigen UN-Befehl muß gemäß Art. 43 der UN-Charta durch Sonderabkommen geregelt sein.

Konsequenzen

für die Bundeswehr

Spätestens innerhalb der nächsten 10 Jahre ist der Personalumfang stufenweise und sozial verträglich auf ca. 1/3 der jetzigen Stärke abzubauen, weil

  • unser Land nicht mehr militärisch bedroht ist,
  • aus strukturellen Gründen das Prinzip der Wehrpflichtarmee nicht mehr aufrecht erhalten werden kann (Wehrgerechtigkeit),
  • immer komplexere und schwierigere Aufgaben besser ausgebildete Soldaten erfordern (klassische friedenserhaltende Einsätze),
  • durch freiwerdende Finanzmittel Gelder für vorbeugende Konfliktregelung und soziale Dienste verfügbar werden.

Daher ist die Bundeswehr in eine Freiwilligenarmee umzuwandeln.

Der Zugang von Frauen muß zu allen Bereichen der Bundeswehr möglich sein. (Diese Forderung wird von einer Minderheit im Ak ds abgelehnt.)

Der Dienst in den Streitkräften muß für die Soldaten attraktiv sein und auch den Anforderungen der modernen Arbeitswelt entsprechen:

Die Mitbestimmungsrechte für Bundeswehrangehörige sind auszubauen (z.B. im Beurteilungswesen, Mitbeurteilung durch Gleichgestellte und Untergebene). Die Weiterentwicklung von Prinzipien zeitgemäßer Menschenführung (Anwendung des kooperativen Führungsstils, ziviler Umgangston in militärischen Einrichtungen), familienfreundliche Dienstgestaltung, demokratische politische Bildung (Vorrang vor anderen Diensterfordernissen, Einbeziehung ziviler Lehrkräfte, Teilnahme aller Vorgesetzter) und konsequente Ausbildung in nationalem und internationalem Recht (z.B. Kriegsvölkerrecht) sowie Fremdsprachenausbildung müssen Schwerpunkte des dienstlichen Alltages sein. Glaubwürdige Demokratie verlangt den freien und ungehinderten Gedankenaustausch über moralisch-ethische Grundfragen des Soldatenberufs.

Die medizinische (Friedens-) Versorgung von Soldaten muß dem zivilen Standard entsprechen.

UN-Einsätze der Bundeswehr

Vorrang vor jedem UN-Einsatz von Bundeswehrsoldaten hat für Deutschland das nachdrückliche Eintreten für nicht-militärische Maßnahmen der Konfliktvorbeugung und -beilegung!

Auch nach Reform der UNO sollte der Deutsche Bundestag nur nach ausgiebiger Prüfung und nur in Einzelfällen einer Entsendung deutscher Soldaten zu UN-Missionen zustimmen!

Dabei ist zu berücksichtigen:

  • Sollten in der jeweiligen Krisenregion deutsche Interessen (wirtschaftlich, politisch, historisch) nachhaltig berührt werden, muß auf die Entsendung deutscher Streitkräfte verzichtet werden.
  • Soldaten der Bundeswehr dürfen nur für klassische friedenserhaltende (Blauhelm-)Einsätze der UNO zur Verfügung gestellt werden! Für Einsätze wie etwa den Golfkrieg darf die Bundeswehr nicht zur Verfügung stehen, da hier die UNO für fragwürdige Großmachtinteressen instrumentalisiert wurde.

Frieden mit Waffen »erzwingen« zu wollen, ist eine gefährliche Illusion!

Frieden »erzwingen« kann man nur durch frühzeitiges Erkennen von Krisen, entschlossenes und einmütiges Handeln der Weltgemeinschaft, Stop aller Rüstungsexporte, Wirtschafts- und Energie-Embargos, etc.

Wo diese Voraussetzungen fehlen, können Soldaten keinen »Frieden« herbeischießen!

  • Die Bundeswehr sollte Einheiten aufstellen, die ausschließlich für Blauhelm-Missionen vorgesehen sind. Diese Soldaten der Bundeswehr sind an nationalen und internationalen Ausbildungszentren gründlich und ausreichend zu schulen. Nur so sind ein optimaler Ausbildungsstand, hohe Motivation, Teamgeist, Sprachkenntnisse, schnelle Einsatzfähigkeit und eine Sensibilität für die besonders schwierigen Anforderungen im Einsatz (z.B. Umgang mit Zivilisten und fremden Kulturen, Befähigung zur gewaltfreien Konfliktbewältigung) zu erreichen.
  • Ändern sich während eines aktiven Blauhelm-Einsatzes die Voraussetzungen (z.B. Nicht-Akzeptanz durch die Konfliktparteien, mangelnde materielle und personelle Unterstützung vor Ort), sind die UN-Soldaten konsequent aus dem Krisengebiet abzuziehen.

Wo der Friedenswille fehlt, kann kein Soldat der Welt Frieden erhalten!

Deutsche Impulse zur friedlichen Konfliktlösung

Wegen der besonderen Vergangenheit Deutschlands, und unserer festen Überzeugung, daß der Einsatz militärischer Mittel die teuerste, gefährlichste und schlechteste Form der Konfliktlösung darstellt, fordern wir, daß sich die Bundesrepublik verpflichtet, auf neuen Wegen ihrer internationalen Verantwortung gerecht zu werden:

  • Deutschland stellt ein unbewaffnetes »Friedenskorps« auf, das allein der Katastrophen- und humanitären Hilfe dienen soll, dieses Korps soll in Umfang, Einsatzbereitschaft und Mobilität weltweit beispielgebend sein und der UNO schnell und unbürokratisch zur Verfügung stehen.
  • Deutschland baut seine Friedens- und Konfliktforschung massiv aus und setzt sich dafür ein, daß die Vereinten Nationen stärker als bisher Konflikt-Vorbeugung betreiben. Außerdem wird ein »Zentrum für Krisen-Früherkennung« eingerichtet, das
    • dem Bundesaußenminister untersteht
    • zur Wahrnehmung seiner Aufgaben auf moderne Aufklärungstechniken (z.B. Satelliten), nachrichtendienstliche Erkenntnisse, und einen Stab von erfahrenen Mitarbeitern zurückgreifen kann
    • Krisen frühzeitig erkennt, analysiert und der Bundesregierung Handlungsalternativen anbietet
  • Da Konflikte zumeist tiefsitzende wirtschaftliche, soziale oder ethnische Ursachen haben, sollte die Bundesrepublik beginnen, hier anzusetzen:

    • Beseitung des Nord-Süd-Gefälles durch aktives Eintreten für eine gerechte Weltwirtschaftsordnung (z.B. Schuldenerlaß für Entwicklungsländer)
    • Schutz bzw. Wiederherstellung der natürlichen Lebensgrundlagen
    • Verbot von Rüstungsexporten und Militärhilfen
    • Ausbau des Internationalen Gerichtshofs zur Ahndung von Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen
  • Da die Gefahr des Einsatzes von Massenvernichtungsmitteln nach wie vor besteht, muß Deutschland sich dafür einsetzen, daß

    • alle ABC-Waffen geächtet werden
    • alle ABC-Waffen aus Deutschland abgezogen werden
    • Deutschland sich an keiner »europäischen A-Waffe« beteiligt
    • die NATO auf den Ersteinsatz von Atomwaffen verzichtet
    • der »Nichtweiterverbreitungsvertrag« von Atomwaffen verstärkt durchgesetzt wird.

Frieden ist nicht das Ende aller Konflikte, sondern der Anfang einer neuen Art und Weise, wie man sie austrägt.

Der Frieden ist der Ernstfall!

Die Neukonstruktion des Bundeswehrsoldaten: Subjektive Reaktionen und politisch-gesellschaftliche Implikationen

Die Neukonstruktion des Bundeswehrsoldaten: Subjektive Reaktionen und politisch-gesellschaftliche Implikationen

von Ruth Seifert

In der Zeit nach 1989 war die Rede vom »Umbruch in der Bundeswehr« in aller Munde. Was dabei merkwürdig im Dunkeln blieb, ist einerseits die Frage, wie diese Umbruchprozesse von Offizieren der Bundeswehr erlebt werden und wie sie sich in ihrem Bewußtsein abbilden, und andererseits die Frage nach den politischen Konsequenzen dieser Neukonstruktionen der Bundeswehr.

Welcher Art die Veränderungen für die Soldaten der Bundeswehr sind, zeigt sich plastisch, wenn man die bis 1989 gültigen Bestimmungen des Soldatenbildes mit neu entwickelten Ideen vergleicht. Folgt man den Vorgaben der Bundeswehr selbst, so war nahezu vierzig Jahre lang einer der wichtigsten Identitätsbausteine für den Bundeswehrsoldaten die »Innere Führung«. In der »Organisationsphilosophie« der »Inneren Führung«, wie sie insbesondere in den Schriften von Baudissin (1982) ausformuliert wurde, waren die wichtigsten Kriterien festgelegt, die ein Soldat der Bundeswehr erfüllen sollte.

Vom »Bürger in Uniform« zum… – wohin eigentlich?

Eine der zentralen Forderungen war, daß die Bundeswehr nicht aus unpolitischen Kämpfertypen bestehen sollte. Der Soldatenberuf sollte vielmehr mit ethischen Elementen angereichert werden. An die Stelle unüberlegten Gehorsams sollte werteorientiertes Handeln treten. Schließlich forderte Baudissin, daß der neu zu schaffende Soldat mit dem pluralistischen Staats- und Menschenbild der Bundesrepublik und mit demokratischen Vorstellungen in Einklang stehen müsse und sich die Bundeswehr zur Gesellschaft hin öffnen und die Werte der Zivilgesellschaft in der Armee verwirklichen solle. Zu den Forderungen, die im Rahmen der »Inneren Führung« erhoben wurden, gehörte nicht zuletzt, daß der Bundeswehrsoldat sich stark am Auftrag der Friedenssicherung auszurichten habe – was auch in den Slogans Ausdruck fand, der Bundeswehrsoldat müsse kämpfen können, um nicht kämpfen zu müssen, oder die Bundeswehr habe ihren Auftrag verfehlt, wenn es zum Einsatz komme. Friedenssicherung sollte in diesem Kontext in erster Linie Abschreckung bedeuten.

Hier kann nicht auf die brisante Frage der generellen Realisierbarkeit dieser Vorstellungen oder auf das Problem von Anspruch und Wirklichkeit der »Inneren Führung« eingegangen werden. Festzuhalten bleibt, daß die »Innere Führung« als Leitlinie der Bundeswehr fungierte und empirischen Untersuchungen zufolge das Selbstverständnis von Soldaten der Bundeswehr zumindest nicht unbeeinflußt gelassen hat (vgl. z.B. Seifert, 1996).

Ein weiterer Faktor, der das Selbstverständis von Soldaten der Bundeswehr nachdrücklich prägte, war die Ausrichtung am Paradigma des Ost-West-Gegensatzes. Den Bruch mit diesem Paradigma drückte ein älterer Offizier der Bundeswehr im Jahre 1992 folgendermaßen aus:

Als ich selbst eingetreten bin und dann auch Unterricht gehalten habe über das feierliche Gelöbnis, der Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen, da hieß es eindeutig, es ginge um die Grenzen der Bundesrepublik. Und sang- und klanglos heißt es heutzutage, daß wir schon immer davon gesprochen haben, daß der Auftrag darüber hinausgeht. Und es wird solange geredet, bis jedermann meint, ja eigentlich war das ja früher schon klar… Ich weiß nur, daß davon nie die Rede war! So. Und jetzt wird so getan, als ob da immer schon die Rede davon gewesen wäre.“

Parallel zu diesen Entwicklungen und ohne nennenswerte öffentliche Diskussion veränderte sich auch der Tenor in Bundeswehrzeitschriften bzw. bundeswehrnahen Publikationen. In zunehmenden Maße wurde nun ein Soldatentyp propagiert, der mit den Vorstellungen der Inneren Führung nicht mehr viel gemein hat. Es wurde der Ruf nach einem »robusteren Soldatentyp« laut, man forderte die Besinnung auf den Soldaten als »Kämpfer« oder, wie in einem Artikel zu lesen stand, der in einer wissenschaftlichen Publikation erschien, den „etwas derberen Soldatentyp“, der im Dschungel, in der Wüste, in einem Flußdelta eingesetzt werden kann, wo „andere Gesetze (gelten) als die UN-Charta, die Genfer-Konvention oder die Prinzipien der `Inneren Führung'“ (vgl. Ahrendt & Westphal, 1993).

Das heißt: Es wird in einschlägigen Kreisen und weitgehend im Windschatten der Öffentlichkeit ein neues Soldatenbild erörtert, das erheblich von dem abweicht, das bisher in der Bundeswehr gepflegt wurde. Damit stellen sich eine Reihe von gesamtgesellschaftlich relevanten Fragen wie: Welcher neue Soldatentyp wird in Zukunft für die Bundeswehr charakteristisch sein? Für welche Art von Politik ist dieser Soldatentyp vorgesehen, und wie beeinflußt er seinerseits die Politik? Wie wirkt diese neue Sozialfigur auf die gesellschaftlichen Verhältnisse zurück? Da die Bundeswehr als ausschließlich männlich konstruiert ist, betreffen Veränderungen dieser Art auch die Geschlechterverhältnisse und werfen die Frage auf, welcher neue Männlichkeitstypus auf diese Weise in die Bundesrepublik eingeführt wird und was dies für die Konstruktion von Männlichkeit in der Bundeswehr bedeutet. Daneben stellt sich aber auch eine unmittelbar empirische Frage:

Wie verarbeiten die unmittelbar Betroffenen die neue Situation?

Erste Ansätze zur Klärung dieser Frage können auf der Grundlage einer Befragung von Truppenoffizieren, die zwischen November 1992 und Frühjahr 1993 durchgeführt wurde, angeboten werden. Folgeuntersuchungen wurden seither nicht angestrengt. D.h. über die Entwickung der letzten 3-4 Jahre läßt sich keine gesicherte Aussage machen. Für die Jahre davor ist zu sagen: Die Veränderung der sicherheitspolitischen Lage und die Veränderung des Soldatenbildes führten zu Problemen im Berufsverständnis der befragten Offiziere und veranlaßten sie, dieses Verständnis neu zu definieren und neu zu verhandeln. Dabei ergaben sich grob drei Reaktions- oder Bewältigungsmuster.

Ein Reaktionsmuster bestand im Rückzug auf eine handwerkliche Definition des Soldatenberufes. Der Soldat wird dabei als Experte definiert, der im Auftrag des Staates bestimmte Fertigkeiten zur Verfügung stellt. In seiner Berufsausübung hat er aus dieser Sicht der Dinge keine politische Meinung zu haben. Das heißt nicht notwendigerweise, daß man mit den Entscheidungen der politischen und militärischen Führung immer einverstanden ist. Die sozusagen »private Einschätzung« politischer Situationen gilt aber als irrelevant für die Auftragserfüllung. Diese Position hat entlastende Effekte, wie der Kommentar eines Stabsoffiziers zeigt, der meinte, „wenn jemand sich mal freiwillig entschieden hat, den Streitkräften beizutreten, muß er wissen, auf was er sich einläßt. Und danach kann man natürlich nicht permanent wieder in irgendwelche Zweifel geraten.“

Es zeigen sich hier gewisse Anklänge an das amerikanische Modell des Berufssoldaten als »expert in violence«, als eines »Experten für Gewaltausübung«. Dahinter steht die Idee, daß Soldaten bestimmte Fertigkeiten, die alle die Ausübung von Gewalt beinhalten, zur Verfügung stellen, die Bedingungen ihres Einsatzes aber nicht zu befragen haben. Die differentia specifica des deutschen Musters besteht darin, daß sich hier keine Selbstdefinition als Experten in Gewaltausübung findet. Diese Offiziere sehen sich eher als »experts in technology«, wobei die Berufsidentität tendenziell die eines militärischen Ingenieurs oder Technikers ist. Was neue Einsatzszenarien angeht, so bestehen in dieser Gruppe damit geringe Probleme. Spezielle Anforderungen an die Legitimation des Einsatzes, die über den formalrechtlichen Aspekt hinausgehen, werden nicht gestellt. Die Kombination von »Soldat« und »Staatsbürger« wird so bestimmt, daß dem Soldaten der Vorrang gegenüber dem Staatsbürger eingeräumt wird.

Als zweites Muster zeigte sich eine Definition des Offizierberufes über eine Identifikation mit dem Staat. Eine Hilfskonstruktion dabei ist die Überzeugung, daß es ein Berufsmerkmal sei, Vertrauen in politische Entscheidungen zu haben. Aufgrund dieser vorgängigen Identifikation werden die Vorgaben der politischen Führung auch subjektiv als richtig empfunden. Die Tatsache, daß man mit den Entscheidungen der Führung übereinstimmt, ist nicht dem Zufall geschuldet, sondern der Tatsache, daß ein persönlicher Entschluß gefaßt wurde, den politisch legitimierten Entscheidungsträgern ein grundsätzliches Vertrauen entgegenzubringen. So meinte ein junger Hauptmann: „Die Loyalität zum Staat – das ist eine Ideologie für mich. Und die muß man akzeptieren, wenn man Soldat wird.“

Von diesem Standpunkt aus gesehen ist die Loyalität zum Staat und zur Politik ein Grundsatz, auf dem die Überzeugung von der Richtigkeit des eigenen Standpunktes beruht. Die Identifikation mit dem Staat macht es möglich, Staatsbürger und Soldat nicht trennen zu müssen, sondern in eins zu setzen. Was neue Einsatzmöglichkeiten betrifft, so werden sie in dieser Gruppe als legitimes Mittel betrachtet, um den internationalen Stellenwert der Bundesrepublik zu forcieren. Oder in den Worten eines älteren Offiziers: „Wenn wir einen Platz finden wollen in dieser Völkergemeinschaft, müssen wir uns aus diesem fast schon pazifistischen Abseits lösen.“ Die Frage der Legitimation von Einsätzen ist aus dieser Perspektive ebenfalls kein gesteigertes Problem. Auch hier gilt die Legitimation durch das Parlament als ausreichend.

Drittens zeigt sich schließlich eine Gruppe, bei der mit dem Umbruch in der Bundeswehr ein deutliches Spannungsverhältnis zwischen tradierter soldatischer Identität und möglichen neuen militärischen Anforderungen einhergeht. Diese Offiziere sind folgendermaßen zu charakterisieren: Sie haben ebenso wie alle anderen eine militärische Sozialisation durchlaufen und bestimmte soldatische Werte verinnerlicht. Insbesondere das Prinzip der Loyalität rangiert hoch in ihrem Berufsverständnis. Darüberhinaus ist ihr Selbstverständnis und ihre berufliche Identität meist an den Ost-West-Konflikt und an die Vorstellung der Verteidigung der Bundesrepublik Deutschland gebunden. Zum anderen hatten die Vorstellungen der Inneren Führung für sie einen identitätsstiftenden Stellenwert: D.h. der »entpolitisierte« Soldat entspricht nicht ihrer Vorstellung vom Soldatenberuf. Schließlich kennzeichnet diesen Typus, daß er einer Vorgabe der »Inneren Führung« – nämlich der Forderung, der Soldat der Bundeswehr müsse in die Entwicklung der Zivilgesellschaft eingebunden sein, prinzipiell entspricht.

Der Offizier dieses Typs hat die in den letzten 20 Jahren entstandenen Individualisierungsanforderungen, wie sie von Beck (1986) beschrieben worden sind, in großem Maße verinnerlicht. Das heißt: Diese Offiziere legen Wert auf ihre Urteilsfähigkeit und auf selbstbestimmtes Handeln. Sie verstehen sich als Staatsbürger mit eigenem, autonomem Urteil und nicht als ausführendes Organ. In der neuen Situation entstehen dadurch Zerreißproben. Diese Soldaten schwanken hin und her zwischen ihren zivilen und ihren militärischen Persönlichkeitsanteilen, zwischen Staatsbürger und Soldat. Der zivile Teil der Persönlichkeit betont die persönliche Autonomie und die individuelle Urteilskraft, der militärische betont die Treue zum Dienstherren, die soldatische Loyalität und Dienstpflicht.

Die politisch-ideologischen Rahmenbedingungen des Berufs schließlich hatten die Soldaten bereits vor ihrem Eintritt in die Bundeswehr über die Ost-West-Konfrontation akzeptiert. Sie spielte dann im beruflichen Alltagsleben keine wichtige Rolle mehr. Mit der Möglichkeit diverser Einsatzszenarien tritt eine Veränderung ein, die zu einer Zuspitzung des Konflikts zwischen individualisiertem Staatsbürger und Soldat führt. Gerade weil Loyalität zum Staat auch ein wichtiger Identitätsbaustein ist, entstehen in dieser Gruppe Zerreißproben. Denn diese Offiziere sehen sich mit einer Erodierung ihres Berufsverständnisses durch den Staat, dem die Loyalität gilt, konfrontiert. Die zivilen Persönlichkeitsanteile machen einen Rückzug auf eine technische Berufsdefinition ebenso unmöglich wie ein grundsätzliches und vorgängiges Vertrauen in staatliche Entscheidungen. Manche ziehen in dieser Situation den Schluß, die Bundeswehr zu verlassen. Die Positionen »loyaler Soldat« und »kritischer Staatsbürger« können aber auch unverbunden nebeneinander stehen bleiben. Dies scheint vor allem dann möglich zu sein, wenn die Betroffenen keine praktischen Konsequenzen erwarten – wenn sie sich z.B. in einem »einsatzfernen« Truppenteil wähnen – oder aber bestimmte Altersgrenzen überschritten haben. Der Rest ist auf seine individuelle Kreativität verwiesen, um diese Situation für sich lebbar zu machen.

Auf diesem Hintergrund gewinnt die Frage nach der Legitimität eine gesteigerte Bedeutung. Sie beantwortet sich für diese Offiziere nicht mit einer formalrechtlichen Abklärung durch das Verfassungsgericht. Legitimität bedeutet für sie vielmehr, daß a) ein Konsens über die Richtigkeit des Einsatzes bei der Mehrheit der Bevölkerung vorhanden ist und/oder daß b) der Einsatz mit ihren persönlichen moralischen Beurteilungen nicht konfligiert.

Was das heißt, läßt sich am Kommentar eines jüngeren Offiziers illustrieren. Er analogisierte das Problem der Mauerschützen mit der Möglichkeit eines Einsatzes der Bundeswehr an den deutschen Grenzen und entwarf ein Schießbefehlsszenario: „Und das wäre für mich der Punkt, wo ich sage, Leute mit mir nicht! Also, ich würde den Schießbefehl nicht geben. Ohne Einschränkung. Aber – und jetzt kommt's: Die Fiesheit ist ja die, daß die Soldaten, die diesen Schießbefehl dann geben würden, fünf oder zehn Jahre später vor Gericht stehen und von Leuten verurteilt werden, die selbst das System entwickelt haben.“

Dieser junge Offizier befürchtete, daß er als Soldat für Einsatzbefehle instrumentalisiert werden könnte, die er als individuell urteilender Staatsbürger nicht mittragen würde. Der Rückzug vom »Staatsbürger« auf den »expert in technology« oder den vertrauensvollen Staatsbürger in Uniform ist aber ebenfalls keine gangbare Alternative. Denn er antizipierte, daß Soldaten für ihre Aufträge und Einsätze zu einem späteren Zeitpunkt individuell verantwortlich gemacht werden. Aus dieser Situation zog dieser Offizier die Konsequenz, daß der einzelne Soldat höchste rechtliche und moralische Maßstäbe an die Legitimation des Einsatzes anzulegen habe. Da er eine Erfüllung dieser Ansprüche durch die Politik nicht antizipierte, löste er den Konflikt, indem er die Bundeswehr verließ.

Der Ost-West-Gegensatz war die Klammer für den politisch-ideologischen Konsens.

Die Frage nach der Legitimität von Einsätzen, die in dieser Gruppe von Offizieren eine gesteigerte Rolle spielt, hat noch einen weiteren Effekt. An diesem Punkt zeigte sich, daß sich unter Soldaten eine Pluralität von Werten entwickelt hat, die jenseits der übergreifenden Klammer des Ost-West-Gegensatzes einen politisch-ideologischen Konsens außerordentlich schwierig macht. Es zeigte sich weiter, daß das, was dem einen ein moralisch gerechtfertigter Einsatz war, dem anderen höchst fragwürdig erschien. Die Unterschiedlichkeit der Einschätzungen betraf alle potentiellen Szenarien und reichte von emphatischen Plädoyers für spezifische Einsätze bis hin zur Ankündigung, den Rock beim Eintreffen eines bestimmten Einsatzbefehls an den Nagel zu hängen (eine genauere Darstellung findet sich in Seifert, 1996).

Implikationen und Fragen

Es findet sich also innerhalb des Offizierkorps eine erhebliche Spannbreite von zum Teil völlig entgegengesetzten Einschätzungen hinsichtlich konkreter Konfliktherde. Das heißt: Während die neue sicherheitspolitische Situation auf individueller Ebene eine Identitätskrise auslösen kann, führt sie auf kollektiver Ebene zu einem Auseinanderbrechen des ideologischen Konsenses des Offizierkorps. Gerade dieser ideologische Konsens aber stellte in der Bundeswehr stärker als in anderen Armeen, in denen andere Kohäsionsmechanismen – z.B. eine stärkere Einheitlichkeit der Lebensformen – eine Rolle spielen, eine gemeinsame Spange her.

Ein technizistischer und sinnentleerter Professionalisierungsbegriff wird zum Schmiermittel der Armee stilisiert<>

Die Frage ist also: Wie gestaltet sich eine Armee, in der es eine Pluralität an Lebensformen gibt, eine Pluralität an Wertvorstellungen und in der der politische Konsens über Sinn und Zweck der Armee und der Legitimität des Einsatzes verlorengegangen ist? Das ist zum einen eine normativ-politische Frage, die an alle politischen Akteure gerichtet werden muß. Es ist andererseits aber auch eine empirische Frage. Allerdings gibt es keine Untersuchungen, die es erlauben würden, eine fundierte Antwort darauf zu geben.

Anekdotische Eindrücke sowie eine Untersuchung der Rand-Corporation unter Angehörigen der deutschen Elite (Infratest Burke, 1996) liefern aber Anhaltspunkte für begründete Spekulationen und deuten darauf hin, daß sich in den Führungsriegen der Bundeswehr eine Präferenz für das Modell 1 des »Militärprofis« herauskristallisiert. Damit einher geht notwendigerweise eine weitgehende Erodierung der Ideen der »Inneren Führung« und der politisch-moralischen Dimensionen des Soldatenberufs. Diese weichen einer apolitischen und amoralischen Vorstellung von soldatischer Effizienz, die vollständig von ethischen Erwägungen abgekoppelt wird. Das heißt: In Ermangelung einer politisch-inhaltlichen Diskussion zur Klärung der entstandenen Fragen und Differenzen wird ein technizistischer und sinnentleerter Professionalisierungsbegriff – der, nebenbei bemerkt, weit hinter den Stand der international geführten Professionalisierungsdebatte zurückfällt – zum Schmiermittel der Armee stilisiert.

Betrachtet man hier noch die gender-spezifischen Dimensionen dieser Konstruktion, so ist festzuhalten, daß damit gleichzeitig eine amoralische, an Technik und technischen Effizienzvorstellungen orientierte und tendenziell auf gewaltförmiges Expertentum ausgerichtete Männlichkeit konstruiert wird. Diese Männlichkeitskonstruktion fungiert somit ebenfalls als Kohäsionsmittel, oder anders gesagt: Dieses (neue) männliche Subjektivitätsmodell wird zu einer Identifikationsfolie für alle männlichen Soldaten. Über die möglichen Auswirkungen dieser Konstruktion auf der Geschlechterebene darf (muß) spekuliert werden – welche Folgen der kulturelle Zusammenbau von kollektiver Gewalt und einer amoralisch konstruierten militärischen Männlichkeit unter bestimmten Bedingungen haben kann, war in den letzten Jahren in einigen Kriegsszenarien zu beobachten.

Schließlich stellt sich auch die Frage: Wie verhält sich dieser Typus zu den neuen Anforderungen an Streitkräfte, die im Zuge von UN-Einsatzszenarien deutlich wurden und die Boutros-Ghali anläßlich der Menschenrechtskonferenz in Wien 1993 fixierte. In einem von Ghali vorgelegten Papier, in dem auch der Soldatentyp der Zukunft angesprochen wurde, war kaum die Rede vom Techniker oder Kämpfer, aber umso mehr von der VerhandlungssoldatIn, die/der diplomatisches Geschick, Problemlösungsfähigkeiten und Sprachkompetenz mitbringt (und, so das Ghali-Papier, in der weiblichen Erscheinungsform diese Anforderungen möglicherweise eher erfüllt). Erste Auswertungen des Somalia-Einsatzes belegen, daß der »Kämpfertypus« dort überwiegend dysfunktional – also nicht konfliktdämpfend – wirkte (vgl. Moskos & Miller, 1995).

Angesichts dieser für die gesellschaftliche und politische Entwicklung nicht unwesentlichen Fragen erstaunt es, daß kaum politische Akteure jenseits der Bundeswehr auszumachen sind, die an diesen Konstruktionsprozessen beteiligt sind oder sie auch nur kritisch verfolgen. Die innen- und außenpolitischen Folgewirkungen dieser Neukonstruktion des Soldaten könnten gravierend sein.

Literatur

Ahrendt, J. & Westphal, S. (1993). Staatsbürger in Uniform + Out of area=Weltbürger in Uniform? In: U. Hartmann & M. Strittmatter (Hrsg.), Reform und Beteiligung. Ideen und innovative Konzepte für die Innere Führung der Bundeswehr. Hamburg.

Baudissin, W. Graf v. (1982). Nie wieder Sieg! Programmatische Schriften 1951-1981. München.

Beck, U. (1986). Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt/M.

Boutros-Ghali, B. (1993). Women in the peace process. New York: United Nations. Infratest Burke (1996). Das Meinungsbild der Elite in Deutschland zur Außen- und Sicherheitspolitik. Berlin: Infratest Burke.

Moskos, C. & Miller, L. (1995). Humanitarians or warriors? Gender, race and combat status in operation „Restore Hope“. Armed Forces and Society, Nr. 4, S. 636-648.

Seifert, R. (1996). Militär-Kultur-Identität. Individualisierung, Geschlechterverhältnisse und die soziale Konstruktion des Soldaten, Bremen.

Dr. Ruth Seifert ist Dozentin an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg