Zur Entwicklung militärischer Aufklärungssatelliten in Europa

Zur Entwicklung militärischer Aufklärungssatelliten in Europa

Offener Brief an den Bundesminister für Verteidigung, Rudolf Scharping

von NaturwissenschaftlerInnen-Initiative

Sehr geehrter Herr Minister,

im Zuge des Kososo-Konfliktes sind in den letzten Wochen erneut Stimmen zu hören, die eine von den USA unabhängige, satellitengestützte militärische Aufklärungskapazität für Europa fordern. Der Hintergrund dieser Forderung sind u.a. die unzuverlässigen Informationen über die Lage der Flüchtlinge im Kosovo und die wiederholt vorgebrachte Klage, dass die USA ihre Informationen nicht uneingeschränkt mit ihren NATO-Verbündeten teilen.

Wir wollen das berechtigte Interesse der europäischen Politik und Öffentlichkeit an zuverlässigen und unabhängigen Informationsquellen zur Beurteilung von Krisensitutationen nicht grundsätzlich bestreiten. Wir sind jedoch der Ansicht, dass die Lösung dieser Probleme mit eigenen militärischen Aufklärungssatelliten weder hinreichend möglich, noch erforderlich ist. Sie wären eine milliardenschwere Investition, deren langfristige negative Folgen für die Abrüstung auf der Erde und für die Begrenzung der militärischen Nutzung des Weltraums in keinem Verhältnis zu dem zu erwartenden Nutzen stehen. Für sinnvolle Aufgaben der Satellitenfernerkundung sind die in Zukunft verfügbaren zivilen Systeme hinreichend, zudem kostengünstiger und öffentlich zugänglich.

Der Nutzen eines militärischen Aufklärungssatelliten-Systems wird in Deutschland seit über einem Jahrzehnt debattiert. Diese Debatte schien 1998 mit dem Ende der Planungen für den deutsch-französischen Radar-Satelliten Horus ein vorläufiges Ende gefunden zu haben. Die Gründe, warum auf solche Satelliten besser verzichtet werden sollte, werden durch die Erfahrungen mit dem Kosovo-Krieg eher bestätigt.

Die militärische Nutzung des Weltraums ist ein Konzept des Kalten Krieges, das nicht unhinterfragt auf die neue Weltlage übertragen werden darf. Denkbaren militärischen Bedrohungen lässt sich wirkungsvoller durch umfassende, kontrollierte Abrüstung und Rüstungsexportkontrolle sowie durch vorbeugende Vermeidung von Konfliktursachen und durch Konfliktschlichtung begegnen. Um Konflikten wie im Kosovo wirksam entgegenzutreten, sind frühzeitig politische und wirtschaftliche Maßnahmen sowie geeignete humanitäre Hilfe zu ergreifen, die gewaltsamen Auseinandersetzungen entgegenwirken. Es wäre kurzsichtig, die beträchtlichen Möglichkeiten Deutschlands und Europas auf diesem Gebiet einzuschränken, indem dafür benötigte finanzielle Mittel in fragwürdigen militärischen Projekten gebunden werden.

Deutschlands neuer Verantwortung in der Welt wäre bestens gedient, wenn es seine wissenschaftliche und wirtschaftliche Kapazität in zukunftweisenden, innovativen Projekten bündelt, die wirksame Methoden für die Beilegung von innerstaatlichen und ethnischen Konflikten entwickeln. Wir würden es begrüßen, wenn Sie Ihren Einfluss in Ihrer Partei und in der Bundesregierung dafür geltend machen würden, dass die strikte Beschränkung Deutschlands auf zivile Weltraumforschung erhalten bleibt…

Erläuterungen:

Die meisten Aufgaben zur Informationsbeschaffung, bei denen Satelliten sinnvoll einsetzbar sind (Klima- und Umweltbeobachtung, Verifikation, Krisenprävention), können bereits von existierenden oder geplanten zivilen Beobachtungssatelliten bewältigt werden. Preiswerte und aktuelle Satellitenaufnahmen hoher Qualität und von jedem Gebiet der Erde werden in naher Zukunft kommerziell zu erwerben sein. Wie der Golfkrieg gezeigt hat, greifen auch militärische Stellen zunehmend auf zivile Satellitendaten zurück. Jeder darüber hinausgehende militärische Informationsbedarf wird durch einen starken Zuwachs an Kosten erkauft, der durch die meist höheren Anforderungen an militärische Systeme (Genauigkeit, Verfügbarkeit, Redundanz, Schutzmaßnahmen, Lebensdauer, Datenverschlüsselung) bedingt ist. Diese Kosten stehen in keinem Verhältnis zu dem damit gewonnenen Nutzen, der zudem auf einen militärischen Anwendungskreis beschränkt ist.

Es sollte klar sein, dass eine zeitgerechte Aufklärung eines Gebietes mit mehreren Satelliten erfolgen muss, da ein einzelner Satellit sich nur für eine kurze Zeit über dem aufzuklärenden Gebiet befindet. Die USA haben derzeit sechs bis sieben Satelliten im Einsatz und erhalten ca. zweimal am Tag Aufnahmen aus dem Kosovo. Jeder dieser Satelliten kostet ca. eine Milliarde Dollar und wird vom National Reconnaissance Office (NRO) betrieben. Das jährliche Budget dieser Agentur übertrifft mit 6-7 Mrd. US-Dollar die Aufwendungen des US-amerikanischen Geheimdienstes CIA um das Doppelte. Zur Übertragung der Aufklärungsdaten werden zusätzlich Kommunikationssatelliten und Bodenempfangsstationen benötigt. Diese Zahlen sollten deutlich machen, dass jedweder Versuch Europas eine mit den USA zu vergleichende Aufklärungskapazität zu schaffen, jährliche Aufwendungen von mehreren Milliarden Euro erfordern würde. Berechnungen der WEU, die vor einigen Jahren angestellt wurden, kamen auf einen Gesamtbetrag von 20 Mrd. DM für eine Gesamtsystem aus vier Satelliten.

Ein neues zusätzliches System von militärischen Aufklärungssatelliten übersteigt den berechtigten Informationsbedarf in Europa. Die Überwachung von Rüstungskontroll-Verträgen erfolgt in Europa kooperativ im Rahmen der OSZE, durch die Vereinbarung von Vor-Ort-Inspektionen und den »Open Skies«-Vertrag, in dem weit kostengünstigere luftgestützte Aufklärungsmittel Verwendung finden. Mögliche militärische Bedrohungen in anderen Regionen, insbesondere die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, können bereits mit zivilen Beobachtungssatelliten weitgehend eingegrenzt werden. Eine Verbesserung der Genauigkeit von Aufklärungssatelliten kann keine letzte Sicherheit bringen und durch Tarn- und Täuschmaßnahmen teilweise umgangen werden. Selbst möglicherweise bedrohliche Rüstungprojekte werden oft nicht erkannt. Jüngste Beispiele sind der Atomwaffentest in Indien 1998, der selbst die US-Regierung unvorbereitet traf, und der Abschuss einer dreistufigen Rakete durch Nordkorea, die japanisches Territorium überquerte. Auch ohne Satelliten sind die potenziellen Krisenherde der Zukunft schon heute bekannt. Für die frühzeitige Erkennung von Krisen in unterschiedlichen Weltregionen genügt die bessere Ausnutzung und Integration verfügbarer Daten, wobei Satelliten nur eine von mehreren Informationsquellen sind. Die Begrenztheit der Möglichkeiten von Aufklärungssatelliten zeigt auch der französische Satellit Helios, über den in der Öffentlichkeit bisher nur wenig Informationen verfügbar sind.

Hochgenaue Militärsatelliten werden heute v.a. dann bedeutsam, wenn es um konkrete kriegerische Auseinandersetzungen geht, in die rasch eingegriffen werden soll, etwa mit »Krisenreaktions-Streitkräften«, die für die militärische Einsatzplanung und -durchführung Daten nahezu in Echtzeit benötigen. Nach dem Golfkrieg sind die US-amerikanischen Aufklärungssysteme für diesen Zweck optimiert worden. Auch im Kosovo-Krieg werden die Satelliten weniger zur Hilfestellung für Flüchtlinge benutzt, als vielmehr zur Zielbestimmung und Schadensfeststellung bei NATO-Luftangriffen auf Serbien.

Der wachsende Einsatz militärischer Weltraumsysteme kann von anderen Staaten als Bedrohung wahrgenommen werden und diese zu entsprechenden Gegenmaßnahmen veranlassen, die das Wettrüsten im Weltraum und auf der Erde verstärken. Folgt Europa dem Vorbild der USA und Russlands, werden weitere Staaten dies als Argument für die Beschaffung eigener Aufklärungssatelliten benutzen. Eine Reihe von Staaten hat durchaus die Fähigkeit, solche Satelliten zu bauen, andere hätten das Geld, sie zu kaufen. Die militärische Relevanz dieser Satelliten würde Tendenzen insbesondere in den USA fördern, ihre Pläne für den Bau von Anti-Satelliten-Waffen wiederzubeleben. Die zivile Weltraumnutzung würde dadurch gefährdet. Es wäre deshalb konsequent, den Weltraum soweit wie möglich von militärischen Aktivitäten freizuhalten. Seit vielen Jahren haben Naturwissenschaftler auf die Gefahren einer Rüstungsdynamik im Weltraum hingewiesen und Vorschläge zu ihrer Begrenzung ausgearbeitet. Statt das derzeit herrschende Zwei-Klassen-System des Zugangs zu Bildinformationen zu verstärken, wäre es besser, ein internationales, allen Staaten zugängliches System zu schaffen, wie die von Frankreich bereits 1978 vorgeschlagene International Satellite Monitoring Agency (ISMA) oder eine entsprechende europäische Satellitenagentur.

Mit Sorge stellen wir fest, dass mit Aufklärungssatelliten der Einstieg Deutschlands in die militärische Nutzung des Weltraums eingeleitet wird. Damit würde eine lange Tradition deutscher Weltraumforschung durchbrochen, die mit zivilen Projekten national wie auch im internationalen Rahmen Sehenswertes geleistet hat. Der Einstieg in raumgestützte Militärprojekte wird bei Aufklärungssatelliten nicht stehenbleiben. Weitere Projekte im Bereich raumgestützter Kommunikation, Raketen-Frühwarnung und Navigation würden folgen, wie es entsprechende Entwicklungsprojekte zwischen Deutschland, Frankreich und Großbritannien belegen.

Die militärische Weltraumnutzung würde auch tiefgreifende Folgen für die zivile Weltraumforschung haben. Obgleich die Europäische Weltraumbehörde (ESA) die ausschließliche zivile Nutzung in ihren Statuten verankert hat, weisen alle bisher zugänglichen Unterlagen z.B. der WEU aus, dass bei solchen Projekten der engen Zusammenarbeit mit der ESA aus Gründen der Kostenersparnis hohe Priorität eingeräumt wird. Jedes Projekt der Weltraumforschung würde so auf seine militärische Verwendbarkeit überprüft werden. Die zu erwartenden hohen Ausgabensteigerungen im militärischen Bereich werden in denselben Zeitraum fallen, in dem die ESA ohnehin schon erhebliche Steigerungen im zivilen Raumfahrtbudget der Teilnehmerländer erwartet. Die Streichung sinnvoller und zukunfträchtiger Forschungsprojekte wäre abzusehen.

NaturwissenschaftlerInnen-Initiative – Verantwortung für Friedens- und Zukunftsfähigkeit


Antwort des Bundesverteidigungs-
ministeriums

Sehr geehrter Herr Braun,

für Ihren Brief vom 25. Mai 1999 danke ich Ihnen. Ihrer Forderung zum Verzicht auf eine europäische Fähigkeit zur satellitengestützten Aufklärung vermag ich mich jedoch nicht anzuschließen.

Eine verantwortliche und wirkungsvolle deutsche und europäische Sicherheitspolitik erfordert die ganzheitliche Betrachtung politischer, wirtschaftlicher, ökologischer und militärischer Faktoren. Zur Deckung des hieraus resultierenden Informationsbedarfs ist ein Verbund aller Möglichkeiten der Informationsgewinnung und -analyse erforderlich. In diesem Verbund ist ein System zur satellitengestützten Aufklärung besonders geeignet, derzeit bestehende Defizite in der Informationsgewinnung zu minimieren. Nur durch Satelliten ist eine weltweite, zuverlässige und zeitgerechte Informationsgewinnung ohne rechtliche Beschränkungen möglich.

Satellitenaufklärung ist kein Werkzeug des Kalten Krieges. Sie ist vielmehr als »national technical means« in der Rüstungskontrolle und Verifikation allgemein anerkannt. Sie trägt nicht zur Konfrontation bei, sondern ist ein wirkungsvolles Mittel zur Ergänzung bestehender internationaler Mechanismen der Verifikation. Das Vorhandensein von Aufklärungssatelliten hat in der Vergangenheit den Abschluss von Rüstungskontrollvereinbarungen erleichtert und zum Teil erst möglich gemacht. Vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen können in ihrer Wirksamkeit noch verstärkt werden, wenn die Möglichkeit besteht, die Einhaltung von Vereinbarungen auch durch Satellitenaufklärung zu überprüfen. Satellitenaufklärung unterstützt die von Ihnen aufgeführten Möglichkeiten der Verifikation. Sie ist dabei nicht von der Mitwirkung von Vertragspartnern abhängig und bietet damit eine Rückversicherung für den Fall von Beeinträchtigungen der kooperativen Verifikation.

Ein politisch zusammenwachsendes Europa muss einen angemessenen Beitrag zur Krisenbewältigung leisten können und dazu als verantwortungsbewusster Akteur über die entsprechenden Instrumente verfügen. Satellitenaufklärung trägt wesentlich zum frühzeitigen Erkennen krisenhafter Entwicklungen bei und schafft damit die Voraussetzungen für rechtzeitige und gezielte politische Maßnahmen präventiver Krisenbewältigung. Sie kann darüber hinaus rasch das Ausmaß von Zerstörungen bei Naturkatastrophen feststellen. Dadurch können Hilfsmaßnahmen gezielt eingeleitet und die eigenen Kräfte mit einsatzrelevanten Informationen versorgt werden.

Satellitenaufklärung stellt für kein anderes Land eine Bedrohung dar und ist damit auch kein Schritt zur Weltraumrüstung. Vielmehr ist sie nach internationalem Verständnis, bekräftigt durch die VN, als nicht intrusive Aufklärungsform legitimiert.

Wie Sie richtig darlegen, nimmt das Angebot an kommerziellem Satellitenbildmaterial zu. US-Firmen wollen in Kürze optische Bilder mit einer Auflösung von ca. 1m anbieten. Gleichwohl reicht diese Auflösung für sicherheitspolitische Aufgabenstellungen nicht aus. Radarbilder mit entsprechender Auflösung werden auf absehbare Zeit nicht kommerziell verfügbar sein.

Hinsichtlich der Kosten eines Systems zur satellitengestützten Aufklärung sind die Schätzungen der Vergangenheit aufgrund der technologischen Entwicklung überholt. Neuartige technische Lösungsansätze lassen es heute realistisch erscheinen, ein leistungsfähiges System mit komplementärer Sensorik zu einem Bruchteil der Kostenschätzung der WEU zu realisieren. Durch die Investitionen in diesen zukunftsweisenden und innovativen Sektor der Hochtechnologie wird die Position der deutschen und europäischen Industrie im internationalen Wettbewerb gestärkt. Damit werden auch langfristig Arbeitsplätze gesichert.

Die Regierungen der EU sind sich einig in dem Bestreben, eine Stärkung des europäischen Beitrages zur internationalen Krisenbewältigung herbeizuführen. Dabei bleiben die Kooperation und das Zusammenwirken mit den USA weiterhin ein wesentlicher Eckpfeiler. Eigenständige europäische Fähigkeiten in Schlüsselbereichen sind Voraussetzung für gleichberechtigte Kooperation und für eigenverantwortliche Aufgabenwahrnehmung. Vor diesem Hintergrund bleibt die Realisierung eines europäischen Systems zur satellitengestützten Aufklärung ein wichtiges Ziel.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Walther Stützle, Staatssekretär des Bundesministeriums der Verteidigung

Bonn, 14. Juli 1999

Bundeswehr und »alte Kameraden«

Bundeswehr und »alte Kameraden«

Patenschaft oder nicht?

von Tobias Pflüger

In W&F 3/98 veröffentlichten wir ein Gespräch zwischen Klaus Naumann vom Hamburger Institut für Sozialforschung und Tobias Pflüger von der Informationsstelle Militarisierung zum Thema »Kontinuität – Diskontinuität Bundeswehr – Wehrmacht«. In diesem Gespräch erklärte Tobias Pflüger: „Die Elitetruppe der Bundeswehr – das Kommando Spezialkräfte (KSK) – hat offiziell die Patenschaft für das Kameradenhilfswerk der ehemaligen 78. Sturm- und Infanteriedivision der Wehrmacht übernommen, einer Eliteeinheit, die 1943 nachweislich Verbrechen auch an der sowjetischen Zivilbevölkerung begangen hat.“ Unser Leser Wolfgang Deixler, Sprecher von Pax Christi München, schrieb daraufhin an das Bundesministerium der Verteidigung (BMVg) mit der Bitte um Aufklärung. Das BMVg antwortete, die „durch Herrn Tobias Pflüger aufgestellte Behauptung, das Kommando Spezialkräfte (KSK) habe offiziell die Patenschaft für das Kameradenhilfswerk der ehemaligen 78. Sturm- und Infanteriedivision der Wehrmacht übernommen, ist falsch. Das Kommando Spezialkräfte unterhält keine Patenschaft zum Kameradenhilfswerk der 78. Sturm- und Infanteriedivision, noch wird das Kommando eine solche Verbindung eingehen.“ Wir baten Tobias Pflüger, dem nach zu gehen. Hier sein Bericht:

In dem Gespräch habe ich mich damals auf einen Bericht in der Zeitschrift Alte Kameraden (inzwischen Kameraden) bezogen, in dem es über das 19. Divisionstreffen am 14. September 1996 wörtlich hieß: „Zum letzten Mal wurden wir von unserem Paten-Btl., der 251er Fallschirmjäger in der Graf-Zeppelin-Kaserne nach Calw eingeladen.“

In der Zeitschrift »Alte Kameraden« hieß es weiter: „Am Gedenkstein der Fallschirmjäger begrüßte unser Vorstand, Kamerad Kullen, den letzten Kommandeur 251, Major May, Herrn Pfarrer Bier und alle Kameraden. … Grüße gehen an Herrn Oberstlt. von Pescatore mit Gattin und OStFw. a.D. Petrus, Kamerad Kullen bedankt sich bei General Schulz für dessen immerwährende Zusage, unsere Treffen hier in Calw abhalten zu können. Herr Major May übergibt unsere Betreuung an die 1. KSK. Unser Ehrenvorsitzender, Herr Oberst a.D. Kohler, spricht über Tradition und ihre Wichtigkeit zur Erhaltung der Bundeswehr. Herr Oberst a.D Schirmer, der erste Kommandeur des 251. FlschJgBtl., übergibt den Traditionsraum an die 1. KSK, Herrn Hptm. Rachmann, der in Vertretung von Herrn Major Klein, dem Kp.Chef des 1. KSK, uns anschließend die zukünftige Gliederung und die Aufgaben der KSK sehr anschaulich erklärt.“

Vertreter der Informationsstelle Militarisierung haben nach dieser Veröffentlichung den damaligen Kommandanten des KSK um Auskunft und ein Gespräch in der Sache gebeten. Sie bekamen keine Antwort. Am Antikriegstag (01.09.) 1996 machte ein Bündnis verschiedener Gruppen mit Unterstützung des DGB Reutlingen/Tübingen in Tübingen beim dortigen »Heldengedenkstein« der 78. Wehrmachtsdivision auf den Sachverhalt dieser speziellen Traditionspflege aufmerksam (vgl. Schwäbisches Tagblatt 02.09.1999). Auch beim Ostermarsch 1997 in Calw, der sich u.a. gegen die Aufstellung des Kommando Spezialkräfte (KSK) richtete, kam die Patenschaft zur Sprache.

Dennoch fand am 20.09.1997 das nächste, das »20. Disivionstreffen« des Kameradenhilfswerks in der Kaserne Nagold statt, die vom Kommando Spezialkräfte zu diesem Zeitpunkt mit verwaltet und mit genutzt wurde. Anwesend waren von Bundeswehrseite (dem Gastgeber): General Schulz, der Chef des Kommando Spezialkräfte (KSK), der Standortfeldwebel, der Kompaniefeldwebel 1. Kommando Spezialkräfte, 25 Soldaten und zivile Küchenkräfte. (vgl. Bundestagsdrucksache 13/9674).

Zu den Veröffentlichungen in den »Alten Kameraden« wollte der zuständige Sprecher des BMVg, Dr. Trapp, am 13.08.1999 keine Aussagen machen. Er erklärte, dass es von 1985 bis zum 30.09.96 eine Patenschaft mit dem Fallschirmjägerbataillon 251 gegeben habe, aber keine mit dem seit dem 01.04.96 in Dienst gestellten Kommando Spezialkräfte (KSK). Eine Mitteilung für die Öffentlichkeit habe es hierzu nicht gegeben.

Zu dem Treffen am 20.09.1997 meinte Dr. Trapp: General Schulz habe zwar eingeladen, jedoch nicht in seiner Funktion als Kommandeur des Kommando Spezialkräfte, sondern als Kasernenkommandant.

Veränderugen

In der Zeitschrift Kameraden 10/98 wird über das 21. Divisionstreffen in Freudenstadt (!) berichtet. Erstmals tagten die alten Herren nicht mehr in der Calwer oder Nagolder Kaserne. Es wird u.a. mitgeteilt, dass die Gestaltung des Traditionsraums in Nagold geändert werden solle.

Das Schwäbische Tagblatt vom 16.11.1998 informiert über die alljährliche Kranzablegung der offiziellen VertreterInnen der Stadt Tübingen (Kulturamtsleiter Prof. Dr. Wilfried Setzler u.a.) am Volkstrauertrag am »Heldengedenkstein« der 78. Wehrmachtsdivision: Dabei sind auch – wie jedes Jahr – Bundeswehrsoldaten, die sich zur „Ehrenformation“ aufstellen. Und an anderer Stelle: „Zum Kameradenhilfswerk haben die beiden Bundeswehroffiziere seit ihrer Soldatenzeit in Calw Kontakt. Die dortigen Fallschirmjäger hatten jahrelang eine offizielle Patenschaft für die Wehrmachts-Veteranen gepflegt. Nun aber fühlt sich das Kameradenhilfswerk nicht mehr wohlgelitten. Der »Traditionsraum« der 78. Wehrmachts-Division in der Nagolder Bundeswehrkaserne wurde vor wenigen Wochen geräumt und sein Inhalt zu einem befreudeten Kameraden nach Münsingen gebracht.“

Am 09.08.1999 berichtet das Schwäbische Tagblatt schließlich über die vorübergehende Einmottung des »Heldengedenksteins« der 78. Wehrmachtsdivision, der in Tübingen stand. Später soll er nach Münsingen, einem Bundeswehrstandort, in ein privates Militaria-Museum verbracht werden. Ob der neue Standort des Traditionsraumes sich auf Bundeswehrgelände in Münsingen befindet, war nicht festzustellen. Dr. Trapp vom BMVg »konnte« auch nicht zum Traditionsraum in Nagold Stellung nehmen. Er blieb bei seiner Formulierung, dass der Traditionsraum im Nachbarort Calw am 30.09.1996 aufgelöst worden sei.

Aus einem Bericht im Schwäbischen Tagblatt vom 09.08.1999 geht schließlich hervor, dass die »Patenschaft« 1998 aufgelöst wurde.

Fazit

Die jahrelange Patenschaft zwischen der Bundeswehr und dem Kameradenhilfswerk der ehemaligen 78. Sturm- und Infanteriedivision der Wehrmacht ist inzwischen offensichtlich beendet worden, ob 1996 oder 1998 mag dahin gestellt bleiben. Erfreulich ist, dass sie endlich beendet wurde.

Soldatische Identitäten und neue Auftragslage

Soldatische Identitäten und neue Auftragslage

von Anja Seiffert

Die erweiterte Auftragslage der Bundeswehr und damit die Möglichkeit vor allem für Zeit- und Berufssoldaten, im Ausland eingesetzt zu werden, führt nicht nur zu einer grundlegenden Überprüfung bisheriger Wert- und Normvorstellungen, sondern auch der soldatischen Berufsidentität bzw. des soldatischen Selbstverständnisses. Das Selbstverständnis von Bundeswehrsoldaten war fast vier Jahrzehnte an den sicherheitspolitischen Vorgaben des Ost-West-Konfliktes zum einen und den Auftrag der Friedenssicherung zum anderen gebunden. Mit den veränderten sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen zu Beginn der 90er Jahre befindet sich die Bundeswehr in einem tiefgreifenden Veränderungsprozess, der nicht nur Umfang, Auftrag und Einsatzräume betrifft, sondern auch das soldatische Selbstverständnis nicht unberührt lässt.

Spätestens mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes vom 12. Juli 1994 stand einer Ausweitung von Einsatzoptionen der Bundeswehr auch außerhalb des NATO-Gebietes kaum noch etwas entgegen: Die Bundeswehr kann, so entschieden die Verfassungsrichter, an friedenserhaltenden und friedenssichernden Maßnahmen der UN, KSZE sowie der NATO teilnehmen. Auch die Beteiligung an Kampfeinsätzen im Rahmen des Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen wurden als rechtlich zulässig interpretiert.

Die politische Umorientierung in der bundesdeutschen Außen- und Sicherheitspolitik und damit einhergehend die Erweiterung bzw. Redefinition des Bundeswehrauftrages von der Landes- und Bündnisverteidigung hin zu einer Beteiligung an friedenserhaltenden Einsätzen auch außerhalb des NATO-Gebietes – im Kosovo nun auch an »peace enforcement-Einsätzen«, das heißt an friedenserzwingenden Maßnahmen – zeitigte bzw. zeitigt dabei nicht nur umfassende Umstrukturierungen der Bundeswehr selbst1, sondern schließt auch soldatische Umorientierungen mit ein: Der Soldat der Bundeswehr ist nicht mehr nur, wie noch zu Zeiten des Kalten Krieges, Landes- und Bündnisverteidiger, der die territoriale Integrität der Bundesrepublik und ihrer NATO-Partner im Handlungsrahmen der Abschreckung und Selbstverteidigung wahrt. Neben diesen traditionellen militärischen Aufgaben übernehmen Bundeswehrsoldaten zugleich komplexe Aufgaben als »Konfliktvermittler«, »Konfliktschlichter«, »Ordnungshüter«, »Humanitärer Helfer« etc. in den »Unruheherden« des internationalen Systems mit jeweils steigendem Gefährdungsgrad und wachsenden militärischen Anforderungen: von Kambodscha über Somalia, Bosnien und Herzegowina bis zum Kosovo.

Damit stellen sich eine Reihe von Fragen, die keineswegs nur das Militär betreffen, sondern ebenso politische Relevanz für die Gesamtgesellschaft haben, denn Soldaten sind nicht nur »Funktionsträger«, deren Aufgaben innerhalb eines politischen und sozialen Systems »ausgehandelt« und »verhandelt« werden, sondern ebenso an diesen gesellschaftlichen Verhandlungs- und Aushandlungsprozessen beteiligt.

Politische und soziale Wandlungsprozesse stellen dabei, zumindest forschungsstrategisch, eine günstige Ausgangsposition dar. Ein auch nur teilweises Aufbrechen bisheriger Selbstverständlichkeiten stellt die an dem Wandlungsprozess beteiligten Subjekte vor die Notwendigkeit, sich bisherige Selbstverständlichkeiten und neue Anforderungen zu vergegenwärtigen. Hat der militärische und politische Wandel Konsequenzen für das soldatische Selbstverständnis bzw. die soldatische Berufsidentität? Und wenn ja, wie werden diese veränderten Anforderungen in das soldatische Selbstbild integriert? Sind Verunsicherungen und Brüche zu verzeichnen?

Soldatische Subjektpositionierungen

Beschäftigt man sich mit soldatischer Identität ist es notwendig, sich auch theoretisch mit Fragen der Identität in Gesellschaften, die durch Individualisierungs- und Modernisierungstendenzen und im internationalen Rahmen durch Globalisierungsprozesse gekennzeichnet sind, auseinanderzusetzen. Am Anfang dieser Auseinandersetzung steht zunächst eine Enttäuschung: Eine universelle Identitätskategorie, die fest schreibt, wie und was Soldaten sind, bleibt grundsätzlich in Frage zu stellen. Identitäten sind weder unveränderlich noch widerspruchsfrei oder abschließend definiert. Identitäten sind historisch-spezifische Konstruktionen, die in und durch diskursive Praktiken hergestellt werden (vgl. Butler 1993 und Lorey 1996). Identitäten werden demnach weder anthropologisch noch biologisch verortet, das heißt als wesenhaft begriffen, sondern Identitäten werden innerhalb und durch spezifische gesellschaftliche Bedingungen konstituiert. Identitäten befinden sich damit immer auch in einem Prozess des Herausbildens.

Das, was ein Soldat ist oder wie er sich versteht, ist demzufolge keine faktische Gegebenheit, die ihm als Individuum in Gestalt einer festgelegten Identität innewohnt. Soldatische Berufsidentität ist zum einen Ergebnis einer sozialen Interaktion mit vielfältigsten Akteuren, in der die Subjektpositionierungen immer wieder neu hergestellt werden. Zum anderen verschieben sich soldatische Subjektpositionierungen ebenso wie andere spezifische Positionierungen (wie beispielsweise ethnische oder geschlechtliche) durch die jeweiligen gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse (Clauß 1997 und Hall 1994). Es stellt sich dann auch die Frage, wie soldatische Selbstverhältnisse, durch die sich das Individuum »Soldat« als Subjekt konstituiert, mit den gesellschaftlichen und politischen Diskursen zusammenhängen. Begreift man nun im Sinne konstruktivistischer Ansätze Soldaten sowohl als kompetente Konstrukteure von Wirklichkeit als auch die Konzeption selbst, also das was Soldat-Sein ist und heißt, als soziale und kulturelle Konstruktion, gilt es den Blick für Kriterien, an denen soldatische Zuschreibungen orientiert sind, bzw. die Entstehungsbedingungen soldatischer Subjektpositionierungen zu schärfen.

Individualisierung des Militärs?

Der gesellschaftliche und politische Kontext soldatischer Subjektpositionierungen hat sich in der Bundesrepublik unbestritten in mehrfacher Hinsicht grundlegend verschoben. Angesichts einer sich stetig sowohl sozial als auch kulturell ausdifferenzierenden Gesellschaft lösen sich kollektive Wertvorstellungen zunehmend zugunsten von Selbstentfaltungs- und Selbstverwirklichungsansprüchen auf. Dieser gesellschaftliche Individualisierungsprozess betrifft auch Soldaten: Nicht nur die »Normalbiographie«, sondern auch die soldatische Biographie wird zur »Risiko-Biographie« (Beck 1995: 191). Selbst der Wehrdienst lanciert so beispielsweise von der Gewissens- zur Entscheidungsfrage.

Gesellschaftliche und institutionelle Anforderungen stehen dabei in einem ambivalenten Verhältnis ziviler und militärischer Orientierungen: Zum einen konstituieren Soldaten ihr »Selbst« innerhalb gesellschaftlicher Tendenzen der Desintegration. Zum anderen ist das Militär nach wie vor eine zentrale gesellschaftliche Disziplinarinstitution, die nicht nur maßgeblichen Anteil an der Produktion von gesellschaftlicher Subjektivität hat, sondern Subjektivität normiert, kontrolliert und einhegt. (Seifert 1994: 69f) Die Herstellung kollektiver Disziplin ist im Militär keineswegs untergeordnet, sondern zentrales Moment militärischer Sozialisation.

Die Streitkräfte in modernen Gesellschaften, aber auch der Soldat selbst, geraten angesichts gesellschaftlicher Veränderungen in einen Handlungs- und Begründungszwang denn kollektive Disziplin und kollektive Identität sind zwar gewollt, aber immer schwerer herstellbar. Die Diskrepanz von militärischen und zivilen Wertvorstellungen einerseits und die Existenz komplexer, auch widersprüchlicher und konflikthafter Deutungen militärischer Wert- und Sinnvorstellungen andererseits nehmen zu. Die soldatische Existenz wird deutungsabhängig, gleichwohl unter spezifischen institutionellen Bindungen zu denen auch die soldatische Gehorsamspflicht zählt.

Die Vorstellung eines Soldaten mit spezifischen Normen und Werten im Sinne des »Professional Soldier« (Huntington) ist in individualisierten Gesellschaften zwar nur schwer vorstellbar. Zumindest wäre dieses Szenario gänzlich ungeeignet einen breiten gesellschaftlichen Konsens militärischer Existenz und Handelns zu erzielen. Angesichts des erweiterten Einsatzspektrums der Bundeswehr vergrößert sich jedoch das Dilemma institutioneller und gesellschaftlicher Anforderungen für den Soldaten.

Das Konzept der »Inneren Führung«, mit realem Bezug zu gesamtgesellschaftlichen Wert- und Normvorstellungen, gilt der Bundeswehr nach wie vor als Orientierungsrahmen soldatischen Handelns. Die »Innere Führung« berührt dabei nicht nur die Bindung militärischer Wert- und Normvorstellungen an das Grundgesetz und damit auch das Verständnis des Verhältnisses von Militär und Gesellschaft als konvergentes, sondern zentral ist in ihr auch die Konzeption des Soldaten. Der »Staatsbürger in Uniform« als Versöhnung von »Bürger« und »Soldat« konzipiert, zielt auf eine Demokratisierung der Streitkräfte und gilt für den Soldaten als Identifikationsfolie. Allein so einfach ist es nicht. Schon heißt es: „Das Zeitalter des Bürgers in Uniform … ist vorbei.“ (Die Welt 4.5.1999). Vor dem Hintergrund des erweiterten Aufgabenspektrums kann es nicht verwundern, wenn gebrochene Deutungsmuster des »Staatsbürgers in Uniform« existieren. Auszuschließen ist im Mindesten nicht, dass sich der Soldat im Einsatz als Bezugspunkt soldatischer Orientierungen mit zunehmenden Einsatzerfahrungen mehr und mehr herauskristallisiert. Der Konzeption des »Staatsbürgers in Uniform« muss das Augenmerk gelten. Es wird leicht vergessen, dass Prägungen und Identitäten in den monatelangen Einsätzen erzielt werden. Im Besonderen gilt dies für die Vorstellungen von Disziplin. Die Annahme, eine Einsatzsituation sei nicht vergleichbar mit einer »Armee im Frieden«, kann nur allzu leicht dazu führen, dass die militärische Praxis von Befehl und Gehorsam in den Vordergrund rückt und zivile Wertorientierungen zurücktreten.

Im Spannungsfeld militärischer und ziviler Aufgaben

Die gesellschaftliche Entwicklung wird darüber hinaus durch einen umfassenden Wandlungs- und Transformationsprozess der Streitkräfte in westlichen Gesellschaften ergänzt. Damit einher geht nicht nur ein Bedeutungsverlust der Rolle von Streitkräften in der Gesellschaft, sondern auch eine Veränderung der strukturellen Organisation der Streitkräfte. In der sozialwissenschaftlichen Forschung über das Militär wird inzwischen die Auffassung geteilt, dass im Zuge des sozio-ökonomischen Wandels das hochtechnisierte Militär sich zunehmend zivilen Organisationsformen annähert und das Ende der Massenarmeen diesen Prozess dynamisch vorantreibt (Moskos, 1992).

Die Bürokratisierung des Militärs hat nicht nur Auswirkungen auf die Institution selbst, sondern auch auf die Anforderungen an das Selbstverständnis der soldatischen Profession: „Denn die gestiegene waffentechnologische Komplexität und die geostrategische Situation der Nachkriegszeit drängen den militärischen Profi geradezu in die Rolle des Politikberaters.“ (Haltiner, 1996: 5) Der Soldat als »Politikberater« und als »Konstabler« (Janowitz), der Konflikte zu schlichten und zu deeskalieren sucht, die Verhältnismäßigkeit der Mittel als Grundsatz verinnerlicht hat und polizeiliche Ordnungsfunktionen ausübt, kristallisiert sich realiter als soldatisches Leitbild heraus. Militärische Abschreckungs- und Kampfaufgaben sind nach wie vor zentral, hinzu kommen jedoch zunehmend intervenierende und ordnende Funktionen. Der Soldat übt sich nun, so könnte formuliert werden, an den Maximen der Friedenswahrung und Friedensherstellung. Die Funktionserweiterung soldatischen Handelns fasst Linnenkamp zusammen: „Soldaten werden immer häufiger nicht, wie in der ganzen Geschichte bisher, als notwendigerweise gewaltbereite Partei auftreten, sondern als Partner der Zivilbevölkerung, Kooperationsinstrument für Nichtregierungsorganisationen, neutrale Vermittler zwischen sich gegenüberstehenden Parteien und schließlich als Gäste in fremden Ländern.“ (Linnenkamp, 1997: 168)

Der »Prozess der Zivilisierung« des Militärs und die Erweiterung des Aufgabenspektrums führen jedoch nicht dazu, dass der militärische Charakter der soldatischen Profession gänzlich aufgelöst wird. Die Zielsetzung des Militärs der Gewaltandrohung und -ausübung, »des Management of Violence« (Moskos) im Interesse eines Staates oder Bündnisses bleibt letztlich als genuin militärische Handlungsmaxime bestehen. Unabhängig davon, ob militärische Gewaltanwendung die Ausnahme und Polizeieinsätze die Regel sind. Der moralische bzw. ethische Aspekt ist auch dann existent wenn Streitkräfte neben militärischen ebenso (welt)-polizeiliche Aufgaben übernehmen. In der Komplementarität militärischer und ziviler Fähigkeiten sieht dann auch General Naumann die zukünftigen Anforderungen an den Soldaten: „Vom Verhalten des einzelnen Soldaten, von der Fähigkeit der Offiziere und Unteroffiziere in den unterschiedlichsten Konfliktsituationen zu handeln, hängt vielfach der Erfolg von Friedensmissionen ab. Zu begreifen, dass aus dem Kämpfer mit Ende der Kampfhandlungen der gefechtsbereite »miles protector«, der schützende Soldat wird, stellt hohe Anforderungen an die Fähigkeit als Führer, Ausbilder und Erzieher.“2 Soldatische Orientierungssicherheit sieht sich im Zuge der Aufgabenerweiterung einer enormen Belastung ausgesetzt. Auf der einen Seite steht der Soldat unter dem Erwartungsdruck sich im Sinne sozialer und kultureller Kompetenz zu zivilisieren. Auf der anderen Seite erfordern die Umstände, die herkömmlichen »war fighting capabilities« uneingeschränkt beizubehalten.

Im Spannungsverhältnis von »Kämpfer« und »polizeilicher Konfliktmanager« gilt es schließlich das soldatische Selbstverständnis zu lokalisieren. Der Soldat der Zukunft hat nicht nur die militärischen Fertigkeiten zu beherrschen, sondern muss darüber hinaus über umfassende soziale und kulturelle Kompetenzen verfügen. Eine Beschränkung soldatischer Kompetenz im Sinne traditioneller soldatischer Kämpfervorstellungen dürfte angesichts gesellschaftlicher Veränderungen und der erweiterten Aufgaben geradezu kontraproduktiv sein.

Indes unproblematisch ist diese spannungsgeladene soldatische Berufsidentität nicht. Haas und Kernic haben in ihrer Untersuchung über österreichische UN-Soldaten sowohl das Selbstverständnis des typischen Soldaten im Einsatz als auch die Risiken von Einsätzen für das Selbstverständnis der soldatischen Profession konkretisiert. Dieser Soldat ist familiär eher ungebunden und in seinem Heimatland sozial schwach verwurzelt. Er hat mit der militärischen Hierarchie und den oft auch primitiven Lebensbedingungen im Einsatz eher geringe Probleme. Der finanzielle Anreiz spielt darüber hinaus für eine Freiwilligenmeldung eine nicht untergeordnete Stellung. Haas und Kernic kommen dann auch zu dem Schluss: „Jeder Entsendestaat hat sich letztlich die Frage zu stellen, welchen Menschentypus er eigentlich für eine bestimmte UN-Mission möchte.“ (Kernic, 1998: 80) Dies gilt auch für die Bundeswehr. Besteht doch die Möglichkeit, dass sich mit zunehmenden Einsatzoptionen und Verwendungen ein »Einsatz-Profi« herauskristallisiert, der auf den Einsatz spezialisiert und dessen Selbstverständnis am Soldaten im Einsatz orientiert ist.

Der soldatische Bezugsrahmen verschiebt sich angesichts der erweiterten Aufgaben darüber hinaus in einem nicht minder zentralen Aspekt des soldatischen Selbstverständnisses. Die Landesverteidigung ist nach wie vor politisch und moralisch zwar legitimiert. In der globalen sicherheitspolitischen Landschaft kann sie aber zumindest für die westeuropäischen Staaten als nicht wahrscheinlich gelten. Der Dienst im Einsatz, der abstraktere Ziele der Stabilität und Sicherheit in anderen Regionen und Ländern im Blick hat, bildet inzwischen vielmehr die Basis soldatischer Legitimitätsanforderungen. Dies bedingt geradezu ein verändertes Selbstverständnis das nicht begrenzt ist auf die Verpflichtung gegenüber Staat und Vaterland, sondern basiert „auf einer Art humanitären Kosmopolitismus, der nationalen Interessen nicht widerspricht, sondern sie übersteigt“. (Bredow/Kümmel, 1999) Die Frage der Legitimität eines Einsatzes führt dann auch in das Zentrum soldatischen Selbstverständnisses. Ein soldatisches Selbstverständnis als »Gewaltexperte« oder ein unpolitisches Verständnis der soldatischen Profession, in denen Sinn und Zweck eines Einsatzes unhinterfragt akzeptiert werden, sind wenig hinreichend. Die erweiterten Aufgaben erfordern vielmehr komplexe Deutungen der Sinnfrage eines Einsatzes für das Selbstbild, geht es doch nicht um die Möglichkeiten militärischer Verwendung, sondern um die ethisch-moralische Dimension militärischer Profession.

Wohin geht die Bundeswehr?

Die Bundeswehr wird nach dem Ost-West-Konflikt nicht nur restrukturiert und reduziert, sondern auch in den internationalen Rahmen multinationaler Interventionsoptionen eingepasst.3 Dabei ist keineswegs geklärt wie die Zukunft der Bundeswehr aussieht. Bislang sind die Fragen, wofür die Bundeswehr steht und wohin sie geht, nicht ausreichend beantwortet. Die Bundeswehr hat ihre erweiterten Aufgaben bisher in einem Provisorium geleistet. Obwohl Bundesverteidigungsminister Scharping betont, „Die Bundeswehr ist kein weltweites Interventionsinstrument. Sie soll es auch nie werden.“4, werden die Krisenreaktionseinsätze zukünftig das Aufgabenspektrum der Bundeswehr bestimmen. Darauf haben sich auch die Soldaten eingestellt. Handlungs- und Planungssicherheit für den Einzelnen besteht angsichts finanzieller Engpässe und weiteren Umstrukturierungen jedoch nicht. Die Aufstellung der professionalisierten und materiell lancierten Krisenreaktionskräfte reicht für die Anforderungen einer modernen Bündnisarmee kaum aus. Auch existiert bisher eine Gesamtkonzeption für deutsche Außen- und Sicherheitspolitik und deren Ziele und Interessen nur rudimentär. Die von Scharping eingeforderte „gemeinsame europäische Sicherheits- und Verteidigungsidentität“ bleibt als zentrale Vorgabe für die Ausrichtung der Bundeswehr und des soldatischen Selbstverständnisses ebenso undeutlich wie ein gesellschaftlicher Konsens: Zwischen der Überzeugung, die Bundeswehr sei ein politisches Instrument im Rahmen der europäischen Krisenbewältigung oder ein weltweite Interventionsinstrument im Rahmen der NATO, liegen nicht nur Welten, sondern es besteht auch Entscheidungsbedarf. Schließlich bleibt abzuwarten, inwiefern der Auftrag die Struktur der Bundeswehr bestimmen wird. Die Bundeswehr wird jedoch, ebenso wie die Armeen anderer westeuropäischer Länder, die auf die veränderte sicherheitspolitische Lage mit der Aussetzung der Wehrpflicht reagiert haben, nicht umhin kommen, den beschrittenen Weg zu einer deutlich verringerten, professionalisierten und spezialisierten Armee weiter zu gehen.

Inwieweit am Ende dieses Prozesses der Internationalisierung der Streitkräfte die Funktionserweiterung noch weiter zunimmt oder eine verstärkte Spezialisierung und Multinationalsierung steht, könnte für das soldatische Selbstverständnis dann die zentrale Frage werden. Unabhängig davon, gehen die strukturellen Umbauten der Bundeswehr und die Einsatzszenarien nicht spurlos am Soldaten vorbei. Die »Innere Führung« steht zweifelsfrei vor großen Herausforderungen. Es bleibt abzuwarten, inwiefern sich diese bundeswehrspezifische Führungsphilosophie in den multinationalen Einsätzen als gültig erweist und der »Weltbürger in Uniform« sich tatsächlich als Orientierungs- und Identifikationsfolie für das künftige soldatische Selbstbild der Bundeswehr darstellt.

Literatur:

Beck, Ulrich (1995): Die »Individualisierungsdebatte«, in: Schäfers, Bernhard (Hrsg.): Soziologie in Deutschland, Opladen.

Bennington, Geoffrey (1994): Jaques Derrida. Ein Portrait, Frankfurt/Main.

Bredow von, Wilfried/Kümmel, Gerhard (1999): Das Militär und die Herausforderungen globaler Sicherheit: Der Spagat zwischen traditionellen und nicht-traditionellen Rollen. SOWI-Arbeitspapier i.E.

Butler, Judith (1996): Kontingente Grundlagen. Der Feminismus und die Frage der »Postmoderne«, in: Benhabib, Seyla/Butler, Judith/Cornell, Drucilla und Fraser, Nancy: Der Streit um Differenz. Feminismus und Postmoderne in der Gegenwart, Frankfurt/M., S. 31-35.

Clauß, Sonja (1997): Die Ambivalenz der Ordnung, in: Bardsmann, Theodor M.(Hrsg.): Zirkuläre Positionen. Konstruktivismus als praktische Theorie, Opladen, S.129-134.

Hall, Stuart (1994): Alte und neue Identitäten, alte und neue Ethnizitäten, in: Hall, Stuart: Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2, Hamburg, S.66-88.

Haltiner, Karl (1996): Militär: Sonderfall oder Organisation wie jede andere auch?, in: Allgemeine Schweizerische Militärzeitschrift (11) November.

Haas, Harald/Kernic, Franz (1998): Zur Soziologie von UN-Peacekeeping-Einsätzen. Ergebnisse sozialempirischer Erhebungen bei österreichischen UN-Kontingenten, Baden-Baden.

Linenkamp, Hilmar (1997): Neue Aufgaben der Bundeswehr – alte Ausbildung?, in: Sicherheit und Frieden, 3/1997, S.166-171.

Lorey, Isabell (1996): Immer Ärger mit dem Subjekt. Theoretische und politische Konsequenzen eines juridischen Machtmodells: Judith Butler, Tübingen.

Moskos, Charles (1992): Armed Forces in a Warless Society, in: Kuhlmann/Dandecker (Hrsg.): Armed Forces After The Cold War, Forum International (13), München.

Seifert, Ruth (1996): Militär – Kultur – Identität. Individualisierung, Geschlechterverhältnis und die soziale Konstruktion des Soldaten, Bremen.

Anmerkungen

1) Der Modernisierungs- und Umstrukturierungsprozess der Bundeswehr für die neuen Aufgaben im internationalen Rahmen ist dabei weit gefasst: Auftrag, Umfang, Wehrform, Ausbildung und Ausrüstung der Bundeswehr stehen zur Disposition. Ob es allerdings zu einer grundlegenden Streitkräftereform kommt, bleibt abzuwarten: Derzeit ist eine Aussetzung bzw. Abschaffung der Wehrpflicht noch nicht absehbar, gleichwohl wissen Soldaten und VerteidigungspolitikerInnen aller Parteien, dass die Streitkräfte in ihrer jetzigen Struktur auf die erweiterten Aufgaben nur ungenügend vorbereitet sind. Angesichts von Haushaltsdefiziten und neue Einsatzoptionen der Bundeswehr ist es dann auch fraglich, ob die an die Landesverteidigung gebundene Wehrpflicht überhaupt aufrecht erhalten werden kann.

2) General Klaus Naumann, ehemaliger Vorsitzender des Militärausschusses der NATO, in: Truppenpraxis/Wehrausbildung, 5/1999, S.308-312.

3) Hierzu zählen u.a. die Aufstellung eines Deutsch-Dänisch-Polnischen Korps, die Umwandlung des Eurokorps in ein »Rapid-Reaction-Corps«, das Kommando Spzialkräfte (KSK) und die von der Regierungskoalition zugesicherte 5.000 Mann starke »Stand-by-Truppe« für UN-Einsätze.

4) Bundesverteidigungsminister Rudolf Scharping, in: Süddeutsche Zeitung, 16.3.1999.

Anja Seiffert ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Sozialwissenschaftlichen Institut der Bundeswehr in Strausberg und arbeitet im Rahmen des Forschungsprojektes »Soldatisches Selbstverständnis. Sozialwissenschaftliche Begleituntersuchung des Auslandseinsatzes der Bundeswehr (5. GECON SFOR(L))«

Der Preis des Krieges

Der Preis des Krieges

Die Bundeswehr wird noch teurer

von Paul Schäfer

Dass die Bundeswehr nach dem Kosovo-Krieg nicht mehr dieselbe sein wird, pfeifen die Spatzen von den Dächern. Mehr noch. Weitreichende Änderungen hat der für Verteidigungs- und Kriegsangelegenheiten zuständige Mann am Kabinettstisch, Minister Scharping, bereits öffentlich angekündigt:

  • Der Anteil der sog. Krisenreaktionskräfte soll beträchtlich erhöht werden. Bisher sind dafür etwas über 50.000 Soldaten eingeplant.
  • Die Bundeswehr brauche neue, längerreichweitige Transportkapazitäten und müsse endlich über eine eigenständige strategische Satellitenaufklärung verfügen.

Zu rechnen ist also mit dem beschleunigten Umbau der Bundeswehr in eine Interventionsarmee und neuen Beschaffungsprogrammen, die die in den letzten Jahren eingeleitete dritte große Beschaffungswelle der Bundeswehr ergänzen.

Der Kosovo-Krieg habe deutlich gemacht, wie sehr die Westeuropäer rüstungstechnologisch den USA hinterherhinkten, heißt es nicht nur in Fachkreisen. In der Tat stellen die USA auf dem Balkan das Gros der Flugzeuge, mehr als 70 % der eingesetzten »Feuerkraft«, einen Großteil der High-Tech-Waffen und der benötigten Aufklärungs- und Gefechtsführungssysteme. In der »Bremen-Erklärung« des WEU-Ministerrats vom 11. Mai dieses Jahres haben die europäischen NATO-Mitglieder gerade wieder die Notwendigkeit einer europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik beschworen. Man kann davon ausgehen, dass sich die europäischen Rüstungsanstrengungen nach dem Krieg verstärken werden, d.h. steigende Rüstungsetats. Ob die Bürgerinnen und Bürger von London bis Athen diese Zumutung akzeptieren werden, steht allerdings auf einem anderen Blatt.

Mit den neuesten Schreckensmeldungen über zu erwartende Mindereinnahmen der öffentlichen Hand von 35,4 Mrd. DM in den Jahren 2000 bis 2002, spitzen sich die ohnehin riesigen Finanzprobleme des Bundes noch weiter zu. An einem »strikten Sparkurs« führe kein Weg vorbei, meint der neue Finanzminister. Die Absicht der Militärplaner, den Wehretat überplanmäßig aufzustocken, erscheinen unter diesen Vorzeichen als kühn. Selbst in SPD-Kreisen, die bisher strikt an dem derzeitigen Streitkräfteumfang festhalten wollten, setzt sich langsam die Erkenntnis durch, dass man zu Personalkürzungen kommen müsse, wenn man die ehrgeizigen Rüstungs-Investitionsprogramme aufrechterhalten wolle. Die Zahl von 270.000 Soldaten geistert herum. Ob sich eine solche Verschlankung der Bundeswehr als Abrüstungspolitik verkaufen ließe, sei dahingestellt. Tatsache wäre, dass die Einsparungen bei den Personalkosten für die interventionistisch ausgerichtete Umrüstung und die Finanzierung der Kriegseinsätze verwandt würden.

Was kostet uns der Krieg?

Schon beim jetzt verabschiedeten Rüstungsetat 1999 war ein heftiges Gezerre hinter den Kulissen im Gange. Dabei ging es vor allem um die Frage, zu welchen Anteilen der laufende Kriegseinsatz auf dem Balkan aus dem Einzelplan des Ministers Scharping bzw. der Allgemeinen Finanzverwaltung (Einzelplan 60) finanziert werden sollte. Wie man hört, trug zum überraschenden Rücktritt Oskar Lafontaine nicht zuletzt bei, dass sich Scharping die Unterstützung des Kanzlers sichern konnte, die Kriegskosten auf die Allgemeinheit abzuwälzen. Während der SFOR-Einsatz in Bosnien mit ca. 300 Millionen DM und die Einsätze der Luftwaffe (gegenwärtig mit knapp 300 Mio. DM veranschlagt) noch aus dem Einzelplan 14 (BMVg) zu erwirtschaften sind, soll der Finanzminister den Einsatz des Heeres (mit 441 Mio. DM angesetzt) übernehmen. Auch der jüngste Bundestagsbeschluss über »humanitäre Hilfe« der Bundeswehr in Albanien und Mazedonien soll mit etwa 360 Mio. DM dem Einzelplan 60 zugeschlagen werden.

Insgesamt soll der Balkan-Einsatz der Bundeswehr nach jetziger Vorstellung 1999 ca. 1,5 Milliarden DM kosten. Diese Rechnung enthält einige Unbekannte. Noch nicht eingeschlossen sind die Aufwendungen für die Wiederauffüllung der verbrauchten Waffenarsenale. Bisher wurden zum Beispiel durch die deutschen Tornado-Piloten knapp 200 HARM-Raketen verschossen, deren Wiederbeschaffungswert gegenwärtig pro Stück 1,2 Mio. DM beträgt. Die wirklichen Ausgaben werden also in diesem und im nächsten Haushaltsjahr noch weiter steigen.

Rüstungsausgaben
bleiben im Aufwärtstrend

Der jetzige Haushaltsansatz sieht einen Plafonds des Einzelplans 14 von 47,049 Mrd. DM vor. Damit musste der Rüstungsminister im Rahmen der sog. globalen Minderausgabe (minus 450 Mio. DM) sein Scherflein zur Sanierung des Gesamtetats beitragen. Nach dem Ausscheiden Lafontaines konnte sich Scharping aber eine Kompensation von 232 Mio. DM sichern: Durch die erhöhte Beteiligung des Ressorts am Verkauf von Material und Grundstücken soll dieser Betrag zur Verstärkung investiver Ausgaben genutzt werden. Damit erreicht der EP 14 fast wieder den in der mittelfristigen Planung eingesetzten Betrag und liegt nur ca. 200 Mio. DM unter dem Ansatz des CSU-Finanzministers Waigel aus dem Sommer 1998.

Addiert mit den Verstärkungsmitteln (gemeint sind hier Lohnerhöhungen) für militärische und humanitäre Aufgaben steigt er um 1,8 Prozent.

Bleibt es bei der bisherigen Planung bewegt sich der Wehretat in den nächsten Jahren wieder auf die 50 Milliarden-Grenze zu. Nach NATO-Kriterien liegt er ohnehin weit darüber. Mehr als 58 Milliarden DM schlagen demnach für das Militär zu Buche. Addieren wir die aus anderen Ressorts zu bestreitenden aktuellen Kriegskosten hinzu, so kann festgestellt werden: Zehn Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges leisten wir uns eine Summe von über sechzig Milliarden DM für Soldaten und Waffen.

Gleichzeitig wird zur Zeit die Diskussion über einen »Marshall-Plan« für Südosteuropa geführt. Während täglich immense Kriegsschäden angerichtet werden, wird darüber gesprochen, dass umfangreiche Milliarden-Beträge für den Wiederaufbau mobilisiert werden müssten.

Anstieg vor allem bei den militärischen Beschaffungen

Die Schröder-Regierung setzt auch die Vorgabe der alten Regierung um, den verteidigungsintensiven Teil am Gesamtplafond schrittweise anzuheben. Er steigt von 23,9 % auf 25,4 % in 1999. Das Ziel bleibt ein Anteil von 30%. Nur so lassen sich auch die aufwendigen Beschaffungsprogramme zur Modernisierung und Umrüstung der Bundeswehr finanzieren. Während sich die Ausgaben für Materialerhaltung, militärische Forschung & Entwicklung nur geringfügig verändern, steigt der Posten militärische Beschaffung um knapp 1 Mrd. DM auf rund 7,3 Mrd. DM an. Mit weiteren Steigerungen ist angesichts der umfangreichen Verpflichtungsermächtigungen (Eurofighter, Hubschrauber TIGER, neue Fregatten, Gepanzertes Transportfahrzeug GTK etc.) für die nächsten Jahre zu rechnen. Allein zwei Großprojekte der Luftwaffe – die neuen Jagdflugzeuge und die neuen Hubschrauber – beanspruchen innerhalb der nächsten zehn Jahre Beträge zwischen 40 und 50 Milliarden DM. Auch bei den diesjährigen Zuwachsraten liegt die Luftwaffe mit einem Plus von 630 Mio. DM vorne. Davon wiederum fließen 375 Mio. DM allein in den planmäßigen Aufwuchs bei der Eurofighter-Beschaffung. Die leichte Absenkung des Haushaltsansatzes im Bereich militärische Forschung, Entwicklung und Erprobung um 70 Mio. DM ändert nichts daran, dass erhebliche Summen aufgewandt werden um die Tötungs- und Zerstörungsinstrumente der Streitkräfte weiter zu effektivieren. Der Etatrückgang ist nahezu ausschließlich auf auslaufende Entwicklungsprogramme beim Eurofighter und beim Kampfflugzeug MRCA zurückzuführen. Das Ministerium kann folgerichtig und mit Stolz verkünden, dass die laufenden Entwicklungsvorhaben weitgehend plangerecht fortgeführt werden können. Dies betrifft vor allem ein neues Satellitenkommunikationssystem der Bundeswehr (SATCOM), das Gepanzerte Transport-Kraftfahrzeug (GTK), die Kampfdrohne TAIFUN des Heeres , die Modulare Abstandswaffe (MAW-Taurus) und die Luft/Luft-Lenkflugkörper kurzer (IRIS-T) und mittlerer Reichweite (EURAAM/METEOR), die für die Bewaffnung des Eurofighter vorgesehen sind. 2 Milliarden DM für militärische Forschung, fünf Millionen DM für Zivilen Friedensdienst – das soll zukunftsorientierte Politik sein?

Die Friedensdividende
kommt nicht von allein

Friedensforschung und Friedensbewegung müssen sich durch diese Entwicklungen herausgefordert fühlen: Der Preis dafür, dass Deutschland seit dem 24. März 1999 neue Kriegsführungsmacht ist, ist hoch. Die Wahrscheinlichkeit spricht dafür, dass der Balkan-Krieg Katalysator für weitere Rüstungsrunden sein wird. Hier und in anderen Teilen der Welt. Damit kann dann wieder die Steigerung der Ausgaben hierzulande begründet werden. Neue Initiativen gegen den Umbau der Bundeswehr, für konsequente und qualitative Abrüstung sind überfällig.

Paul Schäfer ist Wiss. Mitarbeiter im Deutschen Bundestag.

Die Konsens-Kommission oder das Wagnis der Militärreform

Die Konsens-Kommission oder das Wagnis der Militärreform

von Detlef Bald

„Was wir beginnen, wird die Bundeswehr nachhaltig und voraussichtlich für einen Zeitraum von länger als einem Jahrzehnt prägen.“ Mit diesen Worten leitete Verteidigungsminister Rudolf Scharping am 3. Mai die Arbeit der Kommission ein, die er vor einem halben Jahr bei seiner Ernennung angekündigt hatte. Damit erfüllte er eine alte Forderung der SPD, die nach dem Ende des Kalten Krieges die gesamte Planung der Bundeswehr auf den Prüfstand stellen wollte. Doch worum geht es, wenn im September 2000 das Gutachten zur »Gemeinsamen Sicherheit und Zukunft der Bundeswehr« vorgelegt wird?

Greifen wir den ersten Teil, den Schwerpunkt »Gemeinsame Sicherheit«, heraus. Der Begriff stand am Ende des Kalten Krieges für Entspannung, Verständigung und Vertrauensbildung. Es ging um Kooperation über die feindbildgeprägte Perzeption der Blöcke hinweg zu einer Sicherheit in wechselseitiger Akzeptanz, es ging um eine europäische Friedensordnung. Der friedenspolitische Akzent lag in der Stärkung der Rolle von UNO und OSZE. Dazu gehörte die Anbindung eines Militärseinsatzes an das Mandat der Völkergemeinschaft und es schien auf den ersten Blick so, dass dem auch der »politische« Charakter der im Sommer 1990 umgewandelten NATO entsprach.

Tatsächlich aber hat die NATO ihr militärisches Einsatzkonzept, im Unterschied zu diesem Verständnis der »Gemeinsamen Sicherheit«, seit 1991 systematisch weiterentwickelt. Bereits im damaligen »Neuen Strategischen Konzept« wurden Krisen-Reaktionskräfte als zukünftig das Militär bestimmender Typ definiert. Die »Bedrohung« wurde durch »Instabilität« ersetzt. Europa war mit einem Male von einem „Gürtel von Instabilitäten“ umzogen. Die „Entstehung regionaler Krisen an der Peripherie des Bündnisses“, heißt es im »Strategischen Konzept« der NATO vom April 1999, bedrohe die Sicherheit im atlantisch-europäischen Raum. Mit diesen Festlegungen wurde vorerst ein beinahe zehnjähriger Politikwandel der NATO abgeschlossen. Sie haben zur Folge, dass erstens der neue Typ des mobilen, interventionsfähigen Militärs weiter entwickelt wird, dass zweitens dieses Militär im Bündnisrahmen „für alle Herausforderungen“ außerhalb des Bündnisgebietes gewappnet sein muss, und dass drittens Einsatzszenarien ohne Mandatierung durch die UNO Realität werden können.

Diesem Konzept der Interventionsstrategie hat die rot-grüne-Bundesregierung im April zugestimmt. Die Kontinuität, die seit einem halben Jahr in der Sicherheits- und Außenpolitik geradezu dramatisch beschworen wird, steht in einer Linie mit der Politik, die nicht nur die sozialdemokratischen Verteidigungsexperten – mindestens seit 1994 – im Konsens mit Kanzler Kohl und Minister Rühe betrieben haben. Für große Teile der SPD und der Öffentlichkeit enthält diese neue NATO- und USA-bezogene Militärpolitik aber (noch) viele Fragezeichen. Diese Klärungsarbeit möchte Scharping der Kommission übertragen. Sie soll dabei Unvereinbares miteinander in Einklang bringen: „Die Grundlagen ihrer Arbeit sind die Einbindung Deutschlands in die NATO, die Verstärkung der außen- und sicherheitspolitischen Fähigkeiten der europäischen Union und die Unterstützung der Vereinten Nationen, der OSZE und der Programme für Partnerschaft und Kooperation durch Deutschland.“

Schaut man genauer auf diese Ausführungen Scharpings, wird die immanente Priorität des Auftrags für die Kommission deutlich. Die NATO bildet die Grundlage, die UNO wird unterstützt. Daher die Leitlinie der Politik: „Die Reform muss der veränderten geopolitischen und strategischen Lage Deutschlands, dem neuen strategischen Konzept der Allianz und den aus der sicherheits- und verteidigungspolitischen Integration Europas abzuleitenden Aufgaben Rechnung tragen.“ Also: Neue NATO plus neue WEU gleich Militärkonzept 2.000.

Das Muster, dem Scharping folgt, ist plausibel: Er sieht, dass die von der SPD-Führung seit langem mitgetragene Militärpolitik vor großen Akzeptanzproblemen steht, sowohl in der Bevölkerung wie auch in den kritischen Teilen der politischen Parteien, von der CDU über die Sozialdemokratie bis hin zu Bündnis 90/Grünen. Es wäre verhängnisvoll für die Regierung, würde sich aus der Akzeptanz- eine Legitimitätskrise bilden. Die Potenziale dafür sind vorhanden. Folglich ist die erste Aufgabe der Kommission in der Öffentlichkeitswirkung zu sehen. Sie soll die Spannung erträglich machen, damit Moral und Macht der Politik angenommen werden können.

Die Tagesordnung der Kommission ist recht eindeutig vorgegeben und die Zielsetzung steht so gut wie fest. Sie hat nicht den prinzipiellen Freiraum, beliebige Sicherheitsmodelle zu entwerfen. Die deutsche Politik ist dafür viel zu sehr multilateral verzahnt und eingebunden. Das Engagement der USA in den Jahren 1989/90 wird als neue Phase der Westintegration bezeichnet, aber von der Bevölkerung bisher nicht als solche angenommen. Die in den fünfziger Jahren von Kanzler Adenauer unter dem Besatzungsstatut durchgesetzte Westintegration fand in den neunziger Jahren unter Kanzler Kohl im Bewusstsein der Souveränität des Landes ihre Bestätigung. Kanzler Schröder will diese Phase der verstärkten Rolle Deutschlands im Bündnis vorerst zum Abschluss bringen.

Hier hat die Kommission ihre sinnstiftende Aufgabe: Sie soll einen gesellschaftlichen Konsens herstellen. Daraus folgt die repräsentative Auswahl der altehrwürdigen Mitglieder. Die Instanz der moralischen Konnotation eint diese Gruppe, die eine höhere Staatsräson, das allgemein Gute oder das anerkannte Gemeinwohl vermitteln soll. Es geht allerdings ums Militär, wo die Stärke des Rechts nicht der Macht des Stärkeren geopfert werden darf. Die Kommission soll den Frieden im Lande sichern – den inneren Frieden der Berliner Republik.

Daneben, aber keineswegs unwichtig, sind praktische Aufgaben für die »Zukunft der Bundeswehr« zu erledigen. Die Stichworte sind Wehrpflicht, Zivildienst, Standorte, Freiwilligenarmee, Berufsheer, Militärumfang, Finanzierung. Das ist der Platz der Lobbyisten und Militärexperten; da wird es demnächst rund gehen. Hier zeigt sich die Raffinesse der Konstruktion der Kommission. In ihr sind nur wenige Fachleute, die die Strukturen und Probleme der Bundeswehr kennen. Alleine die ehemaligen Generäle stehen für diese Expertise, einer gilt als liberal, einer als knackig, der dritte als knochenkonservativ. Was sie verbindet und wohl geeignet gemacht hat, war ihre frühere Tätigkeit, in der sie die Umwandlung der Bundeswehr des Kalten Krieges hin zu einer Armee der Interventionsfähigkeit betrieben haben. Dieses Provisorium des Übergangs in den neunziger Jahren soll nun verschlankt werden. Es geht um Effizienz und Modernisierung.

In diesen Fragen, sie werden von Scharping »sicherheitspolitische Beratungsfelder« genannt, kann die Kommission „ohne Denkverbote“ aktiv werden. Es soll Anhörungen von Experten geben; es wird zu Arbeitsseminaren eingeladen, es werden Gutachten vergeben werden. Die Spinne im Netz dieser Organisation ist das Sekretariat der Kommission; dort wird koodiniert, organisiert, selektiert. Hier schlägt das Herz dessen, was als »Reform« bezeichnet wird. Eine verdeckte Arbeit im Ministerium; oder wie sollte sich jemand wie Ignatz Bubis, Knut Ipsen oder Jürgen Schmude – um ganz willkürlich drei Mitglieder der Kommission beim Namen zu nennen – um Ausbildungsfragen an Unteroffiziersschulen, um Beteiligungsrechte oder um die Bewaffnung von Hubschraubern, um Befehlskompetenzen und Ähnliches mehr kümmern und auch noch fachkundig entscheiden?

Die Kommission unter Leitung des ehemaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker soll mit ihrem Renommé die Vorschläge machen, damit die Regionen der Republik, die Mehrheitsparteien der Politik, die Fraktionen innerhalb der Bundeswehr, die Macher in den Medien und schließlich die Öffentlichkeit ohne Konfrontation das Beschlusspaket akzeptieren. Allein so einfach ist das nicht.

In der Geschichte der Bundeswehr hat sich manches zwiespältig entwickelt. Das Konzept der Demokratisierung des Militärs, wie es von Wolf Graf von Baudissin mit dem Begriff des »Staatsbürgers in Uniform« oder synonym der »Inneren Führung« entworfen worden war, sollte ein permanenter Auftrag an die politisch Verantwortlichen sein. In diesem umfangreichen Feld der inneren Konstitution des Militärs haben sich aber nicht nur Defizite des Alltags eingeschlichen, sondern hier wurde auch mit restaurativen Intentionen die »military mind« organisiert. Tendenzen der Abkapselung von der Gesellschaft, der Einseitigkeit und der Rechtslastigkeit sind in der Bundeswehr Realität geworden. Schon ein flüchtiger Blick in die Berichte aus dem Amt des Wehrbeauftragten bestätigt, in welchem Desaster sich die Bundeswehr – vom Rekruten bis zur Generalität – befindet.

Dieser Komplex kann die Achillesferse werden, wenn die Unkenrufe der politischen Reaktion zutreffen, die bereits bei der Vorstellung der Kommission laut wurden. In der Welt vom 04.05.99 klang es lapidar an: „Das Zeitalter des Bürgers in Uniform… ist vorbei.“

Am Ende der Bonner Republik soll das aufgegeben werden was die Normalität dieser Republik ausgezeichnet hatte: Die Zivilisierung der Macht. »Staatsbürger in Uniform« bedeutet die Gesellschaftsverträglichkeit des Militärs in der Demokratie oder anders formuliert die Gültigkeit der Werte und Normen des Grundgesetzes in der Bundeswehr und für die Bundeswehr. Nur dann, wenn sich die Strukturkommission auf eine Stärkung dieser Werte konzentrieren würde, hätte sie den Namen einer Reformkommission verdient.

Mitglieder der Kommission
»Gemeinsame Sicherheit und Zukunft der Bundeswehr«

  • Dr. Richard Freiherr von Weizsäcker, Bundespräsident a.D. (Vorsitzender der Kommission);
  • Prof. Dr. Christian Bernzen, Vizepräsident des ZK der Deutschen Katholiken;
  • Dr. Christoph Bertram, Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik;
  • Ignatz Bubis, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland;
  • Peter-Heinrich Carstens, General a.D.;
  • Dr. Eckhard Cordes, Mitglied des Vorstands der Daiumler-Chrysler AG;
  • Manfred Eisele, Generalmajor a.D.;
  • Prof. Dr. Helga Haftendorn, Politikwissenschaftlerin;
  • Helge Hansen, General a.D.;
  • Agnes Hürland-Büning, Parlamentarische Staatssekretärin a.D.;
  • Prof. Dr. Knut Ipsen, Präsident des Deutschen Roten Kreuzes;
  • Dr. Walter Kromm, M.S.P., Arzt für Allgemeinmedizin;
  • Hermann Lutz, ehem. Bundesvorsitzender der Gewerkschaft der Polizei;
  • Dr. Arno Mahlert, Mitglied der Geschäftsführung der Verlagsgruppe G. v. Holtzbrinck GmbH;
  • Lothar de Maizière, Ministerpräsident a.D.;
  • Dr. Harald Müller, Geschäftsführendes Mitglied der HSFK;
  • Dr. Jürgen Schmude, Präsident der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland;
  • Waltraud Schoppe, ehem. Mitglied des Deutschen Bundestages, Ministerin a.D.;
  • Prof. Dr. Richard Schröder, Philosoph und Theologe;
  • Dr. Theo Sommer, Herausgeber Die Zeit;
  • Prof. Dr. Peter Steinbach, Politikwissenschaftler und Historiker

Dr. Detlef Bald war bis 1996 Wissenschaftlicher Direktor am Sozialwissenschaftlichen Institut der Bundeswehr, er arbeitet jetzt als freier Autor.

Zurück in die Zukunft?

Zurück in die Zukunft?

Mit der Wehrstrukturkommission zu neuen Ufern?

von Andreas Körner

In ihrer Koalitionsvereinbarung vom Oktober 1998 haben SPD und Bündnisgrüne sich darauf verständigt, dass die neue Bundesregierung eine Wehrstrukturkommission einsetzen wird, die „auf der Grundlage einer aktualisierten Bedrohungsanalyse und eines erweiterten Sicherheitsbegriffs Auftrag, Umfang, Wehrform, Ausbildung und Ausrüstung der Streitkräfte überprüfen und Optionen einer zukünftigen Bundeswehrstruktur bis zu Mitte der Legislaturperiode vorlegen“ wird. „Vor Abschluss der Arbeit der Wehrstrukturkommission werden unbeschadet des allgemeinen Haushaltsvorbehalts keine Sach- und Haushaltsentscheidungen getroffen, die die zu untersuchenden Bereiche wesentlich verändern oder neue Fakten schaffen.“ Nach den öffentlichen Bekundungen des Verteidigungsministers soll diese Kommission ergebnisoffen arbeiten, d. h. dass es für die Kommission vorab keine Vorgaben bezüglich des anzustrebenden Umfangs oder der Wehrform geben wird. Was darf man von einer solchen Kommission, was von der neuen Regierung erwarten? Liegen die Optionen für die Zukunft der neuen Bundeswehr nicht längst schon auf dem Tisch oder zumindest in den Schubladen der neuen Leitung des BMVg? Vieles spricht dafür, dass die Bundeswehr nach den Vorstellungen der größten Regierungspartei eine europäischere, technologisch modernisiertere und moderat verkleinerte Armee mit kurzdienenden Wehrpflichtigen sein wird.

Mit der Einrichtung der »Kommission für die Zukunft der Bundeswehr« wird eine Forderung umgesetzt, die von der SPD seit 1991 immer wieder gestellt und von der alten Regierung immer wieder zurückgewiesen wurde. Angesichts der dramatischen außen- und sicherheitspolitischen Veränderungen und der allgegenwärtigen Legitimations- und Sinnkrise der Bundeswehr wäre Anfang der 90er Jahre ein solches Expertengremium hilfreich gewesen. Die von Verteidigungsminister Stoltenberg im Januar 1990 erlassene »Gesamtkonzeption der militärischen Verteidigung« hatte wenig Substanz. Vor dem Hintergrund der innenpolitischen Auseinandersetzung um die damals fast ausschließlich machtpolitisch begründete Notwendigkeit von out-of-area-Einsätzen der Bundeswehr, betrachtete die Kohl-Regierung eine solche Kommission als latente Beschränkung des eigenen Handlungsspielraums. Die 1990 eingesetzte »Unabhängige Kommission für die künftigen Aufgaben der Bundeswehr« (Jacobsen-Kommission) hatte weder den Auftrag noch die Ressourcen, eine solche grundsätzliche Orts- und Zielbestimmung vorzunehmen. Sie sollte lediglich die Bundesregierung in ihrem eingeschlagenen Kurs der »Normalisierung« unterstützen. Das Risiko, dass eine solche Kommission z. B. in der Frage der Wehrpflicht, des Streitkräfteumfangs oder der außenpolitischen Rolle der Bundeswehr zu ganz anderen politischen Einschätzungen kommen würde, als es der Regierung lieb ist, wollte man nicht eingehen.

Bevor wir uns mit den Aufgaben der »Zukunftskommission« beschäftigen, soll vorab ein Rückblick auf die Arbeit der alten Wehrstruktur-Kommission erfolgen.

Was leistete die Wehrstruktur-Kommission 1970?

Am 9. Juli 1970 erteilte die sozialliberale Koalition mit ihrem Verteidigungsminister Helmut Schmidt einer 18-köpfigen Wehrstruktur-Kommission unter Vorsitz des ehemaligen Vizepräsidenten des Deutschen Bundestages, Dr. Karl Mommer, den Doppelauftrag je einen Bericht zur Wehrgerechtigkeit und einen zur Entwicklung der Wehrstruktur vorzulegen. Mitglieder der Kommission waren u. a. Theo Sommer (der auch den Vorsitz der Redaktionsgruppe hatte), Christoph Bertram, Karl Kaiser, Johann Adolf Kielmansegg.

Wie das Beispiel der alten Wehrstrukturkommission zeigt, waren die Empfehlungen zwar nicht wertlos, aber auch nicht bindend. Die damalige Bundesregierung ist der Option der Kommission nicht gefolgt. Der erste ca. 80-seitige Bericht betraf die Aufgabe, bei gleichbleibendem Streitkräfteumfang, vorgegebenem Finanzrahmen und der Wahrung der Einsatzbereitschaft eine größere Wehrgerechtigkeit zu erreichen. Wesentlich umfangreicher und zeitintensiver war der Bericht zur Zukunft der Wehrstruktur. In diesem Bericht wurde vor dem Hintergrund der Bündnisverpflichtungen eine über weite Strecken faktenreiche Bestandsaufnahme der Situation der Bundeswehr präsentiert. Zahlreiche Militär-Experten, Militärhistoriker, Sozialwissenschaftler und Verbände wurden gehört, befragt oder um Stellungnahmen gebeten. Unter dem Gesichtspunkt einer militärimmanenten Optimierung wurden zahlreiche Problembereiche und Widersprüchlichkeiten offen angesprochen. Über weite Strecken wurde aber auch nur über fehlende Finanzen, die NATO-Forderungen und die Behinderung der militärischen Wunschvorstellungen durch gesellschaftspolitische Rahmenbedingungen geklagt.

Die Kommission lehnte es ab, eine allgemeine Dienstpflicht als Lösung für die sicherheitspolitischen Aufgaben bzw. zur Erreichung der Wehrgerechtigkeit vorzuschlagen, da dann weitere 100.000 bis 150.000 Männer ohne Sicherheitsgewinn finanziert werden müssten und „zwingende Aufgaben für das Gemeinwohl“ derzeit nicht erkennbar wären. Auch die Einführung einer Milizarmee, die fast vollkommen auf stehende Einheiten verzichtet, wurde abgelehnt. Die Kommission hat für den Zeitraum von 1972 bis 1981 drei Grundmodelle (Freiwilligenarmee, Kern-/Mantelarmee, Wehrpflicht-Armee) überprüft. Hierfür hatte sie zentrale Zielparameter festgelegt (30 % Investitionsanteil, Erfüllung der SACEUR-Forderung von 36 Heeresbrigaden, Wehrgerechtigkeit, Erhalt der Verteidigungsfähigkeit, wahrscheinlich erreichbare Zahl der Längerdienenden, flexibel für Abrüstungsverhandlungen). Alle Modelle wurden vor dem Hintergrund von drei Haushaltsvarianten bezüglich der »Staatsausgaben«, d. h. nicht bezogen auf das Bruttosozialprodukt (Anteil 3,2 %) oder den Bundeshaushalt (22,5 %), sondern auf die Summe aller Ausgaben der öffentlichen Hand für Güter und Dienstleistungen bewertet (gleichbleibender Anteil von 16 %, jährliche Abnahme des Anteils um 0,3 bzw. 0,6 %). Es wurde betont, dass die Beibehaltung des 16 % Anteils unverzichtbar wäre.

Modell A: Freiwilligenarmee aus Zeit- und Berufssoldaten

Die Kommission kam zu dem Ergebnis, dass eine Freiwilligenarmee von 418.000 bzw. 472.000 Soldaten unter den damaligen sicherheitspolitischen, personellen und finanziellen Rahmenbedingungen nicht zu empfehlen sei.

Der Anteil der Längerdienenden hätte bereits bei 27 Brigaden um 70 % auf ca. 420.000 Soldaten erhöht werden müssen. Der jährliche Ergänzungsbedarf müsste um das dreifache auf 150.000 Mann anwachsen. Die Kommission ging davon aus, dass mit mehr Werbung und in Anlehnung an das britische Rekrutierungsmodell mehr Freiwillige gewonnen werden könnten, zweifelte aber daran, dass das Soll erreicht werden könne. „Das Nachswuchsproblem scheint unter den gesellschaftspolitischen Bedingungen von heute nicht lösbar.“ Allerdings war die Kommission der Auffassung, dass bei einem Verpflichtungsprofil mit einem hohen Anteil Kurzdienender das Reservistenpotential erreicht werden könnte. Ein Lockmittel könnte eine bessere Bezahlung sein. Die amerikanische Gates-Kommission ging davon aus, dass für die Gewinnung von zwei Prozent zusätzlicher Freiwilliger die Besoldung aller Soldaten um ein Prozent angehoben werden müsste. Zu ähnlichen Ergebnissen kam auch die Wehrstrukturkommission.

Insgesamt war die Kommission der Auffassung, dass eine Freiwilligenarmee leistungsfähig und kosteneffektiv und in der Bundesrepublik „grundsätzlich möglich“ wäre. Darüber hinaus hätte man nicht die Probleme mit der Wehrgerechtigkeit und den Kriegsdienstverweigerern. Deshalb kam die Kommission zu dem Urteil, „im Falle einer wesentlichen Veränderung der sicherheitspolitischen Lage, die eine beträchtliche Verringerung der Präsenz ermöglicht, die Frage der Umwandlung der Bundeswehr in Freiwilligen-Streitkräfte“ abermals zu prüfen.

Modell B: Wehrpflichtarmee mit Heranziehung aller Wehrdienstfähigen

Hier wurden zwei Versionen mit sehr anspruchsvollen militärischen Voraussetzungen und wenig Spielraum diskutiert und folglich beide verworfen.

  • Wehrpflichtstreitkräfte mit Vollbrigaden:
    Hier berechnete die Kommission die Auswirkungen der Einberufung von jährlich 260.000 Wehrpflichtigen zu einem 12 bzw. 15-monatigen Wehrdienst auf die Streitkräfte. Dies hätte zur Folge, dass die Zahl der präsenten Verbände gekürzt, Marinegeschwader und Luftwaffenstaffeln stillgelegt und die Zahl der Sicherungskompanien deutlich erhöht werden müsste. Weil dies erhebliche Kampfkrafteinbußen bedeuten würde, wurde diese Variante abgelehnt. Die Kommission kam zu dem Ergebnis, dass der Wehrdienst nicht unter 15 Monate gesenkt werden sollte. „Diese Struktur schafft mehr Probleme als sie löst; sie überwindet keine Schwierigkeiten der heutigen Bundeswehr, mit Ausnahme der Wehrungerechtigkeit.“
  • Unterteilung in getrennte Kern- und Mantelverbände:
    Die Kernverbände sollten ausschließlich aus Längerdienenden bestehen, besser ausgerüstet sein und von Ausbildungsaufgaben entlastet werden. Die Mantelverbände/Ergänzungskräfte sollten aus Wehrpflichtigen mit einer Dienstzeit von sechs Monaten bestehen. Weil bei einer derart kurzen Dienstzeit von den 260.000 Wehrdienstleistenden nur Sicherheitsaufgaben wahrgenommen werden könnten, müssten 800 Sicherheitskompanien aufgestellt und zusätzliche Längerdienende als Ausbilder eingestellt und bezahlt werden. Darüberhinaus hätten damit die Kernverbände keine Kaderverbände und Reservisten und könnten dann die NATO-Anforderungen nicht mehr erfüllen. Das Urteil lautete damals: „Die Kommission kann eine solche Wehrstruktur nicht empfehlen.“

Modell C: Ausgleichs-Wehrpflicht

Da bei den anderen Modellen entweder das Kriterium der Bündnisverpflichtung/Kampfkraft, der Wehrgerechtigkeit oder der personellen/finanziellen Machbarkeit nicht erfüllt wurde, sollte in diesem Modell auf die Heranziehung aller Wehrdienstfähigen verzichtet werden. Nach dieser Ausgleichswehrpflicht erhalten die Wehrdienstleistenden gegenüber den ungedienten Wehrpflichtigen Vergünstigungen: Gediente werden beruflich gefördert (Anerkennung von Ausbildungsleistungen und Wartezeiten, Bevorzugung bei staatlichen Sozialleistungen) und erhalten einen Steuerbonus von ca. 1.500 DM, Ungediente bezahlen eine Ausgleichsabgabe in Höhe von ca. 1.500 DM. Die Kommission sprach sich dafür aus, „dieses Wehrsystem zu empfehlen.“

Realer Veränderungsbedarf

Von Kritikerinnen und Kritikern wird häufig gefragt, ob angesichts der fortgeschrittenen Neuausrichtung der Bundeswehr, der Konzeptionslosigkeit der SPD und der langen Beratungszeit von eineinhalb Jahren die Einsetzung einer Kommission überhaupt einen Sinn ergibt. In der Tat hat die alte Bundesregierung seit 1991 eine Vielzahl von Entwicklungen gefördert und Fakten geschaffen, die von der neuen Regierung sicherlich so nicht verabschiedet worden wären. Vor dem Hintergrund der multinationalen Verflechtungen und innenpolitischen Widerstände wäre es vermessen, von der neuen Bundesregierung dort Kurskorrekturen zu verlangen, wo die Entwicklung den »Point of No Return« längst erreicht hat:1 Dies gilt zum Beispiel für die Frage der Osterweiterung der NATO, die Festschreibung der Petersberg-Aufgaben im Amsterdamer Vertrag2 oder die Frage der rechtlichen Zulässigkeit von Auslandseinsätzen der Bundeswehr. In anderen, eher tagesaktuellen oder zukünftigen Bereichen, wie etwa der weiteren Ausgestaltung der internationalen Organisationen oder der Weiterentwicklung der Bundeswehr, gibt es reale Handlungsspielräume, die genutzt werden können, um Veränderungen anzustoßen. In anderen Bereichen gibt es nicht nur Handlungsspielräume, sondern auch zwingenden Handlungsbedarf.

Veränderung des Verständnisses von Sicherheitspolitik

Der seit Mitte der 80er Jahre geführte politische Richtungsstreit über die Beteiligung der Bundeswehr an Einsätzen außerhalb des NATO-Gebietes ist mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1994 nur teilweise beigelegt. Die Grundsatzfrage, welche sicherheitspolitischen Bedrohungen und Herausforderungen mit welchen Instrumenten und von welchen Akteuren am wirksamsten bewältigt werden sollten, wurde bislang nicht hinreichend beantwortet. Verbal huldigte die alte Regierung dem Primat der Politik, der militärischen Zurückhaltung und zivilen Konfliktlösung (nicht zuletzt durch UNO und OSZE); faktisch betrieb man aber fast ausschließlich eine NATO- und Bundeswehr-First-Politik.

Der aus der Friedensforschung stammende »erweiterte Sicherheitsbegriff«, der im Kern auf eine Priorisierung von nichtmilitärischen Konfliktlösungskonzepten abzielte, wurde in der offiziellen Regierungspolitik ins Gegenteil verkehrt. In Ermangelung einer klaren Bedrohungslage wurden immer mehr Problembereiche und Weltregionen zu potentiellen Konfliktfeldern erklärt, die man künftig auch mit militärischen Mitteln einzudämmen und zu bekämpfen trachtete. Das militärisch verengte Verständnis von Landes- und Bündnisverteidigung wurde global und inhaltlich in Richtung Verteidigung von Interessen entgrenzt. Gleichzeitig wurde in Ex-Jugoslawien und anderen Kriegs- und Krisengebieten die Beschränktheit des Beitrags militärischer Mittel zur Etablierung eines nachhaltigen Friedens offensichtlich.

Um dem Primat der Politik wieder zum Durchbruch zu verhelfen, bedarf die Aufgabe der Krisenprävention und Friedenskonsolidierung weit mehr als in der Vergangenheit der aktiven Unterstützung von Seiten der Regierung und internationalen Staatengemeinschaft. Im Aufbau einer Infrastruktur für Krisenprävention und zivile Konfliktbearbeitung liegt die große politische Herausforderung der nächsten 15 bis 20 Jahre. Diesen Aufbau einzuleiten, ist die zentrale sicherheits- und friedenspolitische Herausforderung der neuen Regierung. Die Entwicklung in Bosnien-Herzegowina hat gezeigt, dass auch die Bundeswehr einen Beitrag zum Frieden leisten kann. Im Sinne eines erweiterten Sicherheitsverständnisses wird künftig nicht nur die Erfahrung der Bundeswehr, sondern verstärkt auch die Erfahrung der Polizei, der OSZE, von Wirtschafts- und Verwaltungsexperten sowie von Nichtregierungsorganisationen unabdingbar sein.

Veränderung der Anforderungen an die Bundeswehr

Um Deutschlands Gewicht in der NATO zu stärken hatte die Kohl-Regierung sich dafür entschieden, dass die neue Bundeswehr eine »alles-zugleich«-Armee sein sollte: Armee der Einheit, Verteidigungsarmee, Bündnisarmee, internationale Friedenstruppe, schlagkräftige Kampftruppe, Wehrpflichtarmee, Katastrophenhelfer, usw. Neben einer angeblich weiterhin im Mittelpunkt stehenden Landes- und Bündnisverteidigung als Kernaufgabe sollte die Bundeswehr die diversen internationalen Aufgaben mit Hilfe der im Aufbau befindlichen Krisenreaktionskräfte bewältigen. Doch für die Realisierung dieser Aufgabenfülle war und ist bislang weder der Bundesfinanzminister noch die Bundeswehr gerüstet.

Trotz fehlender territorialer Bedrohung ist zehn Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges die Bundeswehr noch über weite Strecken eine an den Panzerschlachten des Zweiten Weltkrieges orientierte, d. h. heereslastige und auf Panzer- und Landkriegführung spezialisierte Armee. Nach wie vor hält die Bundeswehr mehr als 2.800 Kampfpanzer, 5.250 Gepanzerte Kampffahrzeuge, 570 Abschussanlagen für Panzerabwehrlenkraketen, 2.070 Artilleriesysteme und 300 Panzerabwehr- bzw. Angriffshubschrauber im Dienst. Mit ca. 235.000 Soldaten, davon die Hälfte Wehrdienstleistende, beansprucht das Heer immer noch ca. 70 % aller personellen Ressourcen.

Dort, wo sich die alte Regierung für eine Modernisierung der Bundeswehr für die neuen Aufgaben im internationalen Rahmen entschieden hat, folgte man dem Vorbild der führenden NATO-Staaten. Der Aufbau der Krisenreaktionskräfte und des Kommandos Spezialkräfte wurde nicht den defensiveren Skandinaviern nachempfunden sondern weitgehend den Expeditionskräften der USA bzw. denen der Ex-Kolonialmächte Frankreich, Großbritannien, Belgien, Niederlande. Die Ausbildung legt verstärkt den Schwerpunkt auf militärische Konfrontation und Kampf. In den vergangenen Jahren wurde wiederholt beklagt, dass bei der Neuausrichtung der Bundeswehr die Grundsätze der Inneren Führung und das Leitbild vom Staatsbürger in Uniform deutlich vernachlässigt wurden.

Die hohen Personalkosten und überdimensionierte und industriepolitisch begründete Rüstungsprojekte sorgen dafür, dass die Bundeswehr, wäre sie ein Industrieunternehmen, über kurz oder lang den Konkurs anmelden müsste. Will man diesen Konkurs vermeiden, muss auch hier ein Kurswechsel erfolgen. Auftrag, Ausrüstung und Struktur der Bundeswehr müssen endlich mit der Bedrohungs- und Haushaltslage in Einklang gebracht werden. Dies erfordert eine gründliche Korrektur der bisherigen Bundeswehrplanung.

Eine zeitgemäße Bundeswehrplanung muss folgende Faktoren berücksichtigen

  • (Völker-)rechtliche Grundlagen
  • Entwicklung der Bedrohungs- und Sicherheitslage
  • Demographische und ökonomische Entwicklung
  • (Militär-)Technologische Entwicklung
  • Anforderungen der UNO, OSZE, NATO, GASP/WEU

Je nach Definition der Sicherheits- und machtpolitischen Interessen werden hieraus die Aufgaben und Fähigkeiten der Streitkräfte abzuleiten sein. Die meisten Nachbarstaaten haben aus der sicherheitspolitischen Wende und den revolutionären Entwicklungen im Bereich der Informationstechnologie die Folgerung gezogen, dass ihre Streitkräfte unter Verzicht auf die Wehrpflicht weiter verkleinert werden können. Die Aufgabe der Landesverteidigung spielt in ihren Überlegungen nur noch eine untergeordnete Rolle.3 Die Fähigkeit zur »Bündnisverteidigung« und Unterstützung internationaler Friedensmissionen stehen im Vordergrund.

Staaten wie Großbritannien, Frankreich und die USA haben weitergehende Ambitionen. Sie sehen in der Fähigkeit zur »militärischen Machtprojektion« eine neue Aufgabe für ihre Streitkräfte. Insbesondere die USA stützen sich dabei auf eine allumfassende militärische Überlegenheit, die mit Hilfe der »Revolution in Military Affairs« und wachsender Militärhaushalte noch weiter ausgebaut werden soll. Dort, wo es – wie im Irak – im eigenen machtpolitischen Interesse liegt, wird auch ohne das Vorliegen eines völkerrechtlichen Mandats militärisch interveniert. Die Bundesrepublik darf sich bei aller Bündnissolidarität nicht an falschen Vorbildern orientieren, sondern sollte auch weiterhin eine Politik der Selbstbeschränkung und militärischen Zurückhaltung betreiben. Die Förderung der Entwicklung einer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsidentität darf nicht dazu führen, dass es unter dem Vorwand der Selbstbehauptung Europas gegenüber der Dominanz der USA zu einem verstärkten transatlantischen Wettrüsten kommt.

Eine zeitgemäße multinationale Sicherheitspolitik setzt voraus, dass die Bundeswehr kleiner und – wo es angebracht ist – auch feiner wird. Die Soldaten, die heute mit der Bundeswehr im multinationalen Auslandseinsatz sind, benötigen für ihren friedenserhaltenden Einsatz eine völlig andere, an polizeilichen Aufgaben orientierte Spezial-Ausbildung. Es ist ein völlig neuer Soldatentypus gefragt. Wehrpflichtige haben hier nichts zu suchen. Die verstärkte Einbeziehung von lebenserfahrenen Frauen und Männern und die verstärkte Zusammenarbeit mit Nichtregierungsorganisationen wäre demgegenüber zu begrüßen.

Wohin soll die Reise gehen?

Das Einsetzen einer Kommission ist in der Regel mit dem Ziel verbunden, von Sachverständigen entweder empfohlen zu bekommen, wohin die Reise gehen soll bzw. sich bestätigen zu lassen, dass man auf dem richtigen Weg ist. Allen Verteidigungsexperten ist seit Jahren klar, dass die Bundeswehr angesichts der Bedrohungs- und Haushaltslage zu groß und zu teuer ist. Die Grünen schlugen vor der Bundestagswahl vor, angesichts der veränderten Bedrohungslage die Bundeswehr mittelfristig auf ca. 150.000 Soldaten zu reduzieren und auf die Wehrpflicht zu verzichten.4 Man hätte erwarten können, dass auch die SPD einen solchen Kurswechsel eingefordert hätte. Doch diese begnügte sich damit, Verteidigungsminister Rühe darauf hinzuweisen, dass Auftrag, Struktur und Mittel der Bundeswehr nicht mehr zusammenpassten. Da die SPD weder am Auftrag noch an der Struktur etwas auszusetzen hatte, bedeutete die Klage, wie Rühe süffisant bemerkte, de facto den Ruf nach einer Steigerung des Verteidigungshaushaltes. Änderungsvorschläge wollte man nicht einbringen.5

Was soll aber eine Kommission, wenn man nicht weiß, ob man überhaupt etwas verändern will? Welche Bundeswehr will die SPD? In der Vergangenheit haben sich einzelne SPD-Abgeordnete offen und wiederholt für eine Freiwilligenarmee ausgesprochen. Andere plädieren für ein milizähnliches Modell. Und wieder andere wollen, dass alles so bleibt wie es ist.6 Die Arbeitsgruppe Sicherheitsfragen der SPD-Bundestagsfraktion, hat 1995 unter der Verantwortung des heutigen Staatssekretärs im BMVg, Walter Kolbow, in ihren »Verteidigungspolitischen Leitlinien« die Sprachregelung in der Wehrpflicht-Frage vorgegeben: „Die SPD will die Wehrpflicht solange wie möglich erhalten. Sie darf jedoch einer Verringerung unserer Streitkräfte nicht im Wege stehen.“7 In ihrem Leipziger Bundestagswahlprogramm heißt es: „… Die SPD wird an der Wehrpflicht festhalten. Die Wehrpflicht darf einer Verringerung der Bundeswehrstärke nicht im Wege stehen. Wenn neue Entwicklungen es erfordern, kommt eine weitere Verkürzung der Wehrpflicht oder ihre Aussetzung in Betracht.“ Auch in ihren »Überlegungen zur künftigen Verteidigungspolitik«8 macht die SPD deutlich, dass es ihr um keine grundlegende Streitkräftereform geht. Ende 1996 testete der heutige Verteidigungsminister Scharping die öffentliche Reaktionen auf den Vorschlag, die Bundeswehr auf 300.000 Mann zu verkleinern und den Wehrdienst auf vier oder sechs Monate zu verkürzen.9 Gegenüber der Süddeutschen Zeitung (20.12.1996) plädierte er für eine flexible Wehrpflicht, bei der die „Zeitdauer des Wehrdienstes auch ein Stück variieren kann – nach den Stärken eines Geburtsjahrganges, nach Anforderung an die Ausbildung, nach politischer Sicherheitslage.“ Bei kürzerer Dienstzeit, z. B. in Form einer rein infanteristischen Grundausbildung solle eine regelmäßige Auffrischung in Wehrübungen erfolgen. „Ich persönlich halte nichts von Berufsarmeen. Mein Vorschlag soll Optionen öffnen, nicht Einzelheiten festlegen. Die müssen sich aus der Diskussion ergeben.“

Diese Option ist nicht neu und wurde in der Folge auch von anderen Verteidigungspolitikern der SPD ins Gespräch gebracht.10 Die alte Wehrstrukturkommission hatte sich mit der sechsmonatigen Wehrpflicht beschäftigt und diese Option wegen der Einschränkung der Kampfkraft bzw. der Anhebung des Personalumfangs damals als unrealistisch verworfen. Vor dem Hintergrund der veränderten Bedrohungslage und der Reduzierung des Personalumfangs entfallen einige der damaligen Gegenargumente. Zum Teil hat die alte Bundesregierung bereits den Grundstein für eine solche Kurzzeit-Wehrpflicht-Armee gelegt. Die Bundeswehr von heute kommt mit ihren Krisenreaktions- und Hauptverteidigungskräften der Aufteilung in Kern- und Mantelverbände entgegen. Die Flexibilisierung der Wehrdienstdauer hat dazu beigetragen, dass unter den Wehrdienstleistenden eine Aufteilung in freiwillig längerdienende (bis 23 Monate) und Grundwehrdiensleistende (10 Monate) stattgefunden hat. Die zehnmonatige Ausbildungsdauer reicht für eine Einsatzverwendung nicht aus, d. h. im Ernstfall muss eine Einsatzausbildung nachgeschoben werden. Wenn dem so ist, so die Überlegung der SPD, spricht doch nichts dagegen, den Personalumfang des Heeres leicht zu senken und die Ausbildungsdauer noch weiter auf neun oder sechs oder drei Monate zu reduzieren. Interessanterweise wurde bereits vor dem Regierungswechsel selbst vom Planungsstab des Auswärtigen Amtes an Plänen für eine verkleinerte Wehrpflichtarmee mit sechs Monaten Miliz-Wehrpflicht gebastelt.11

Laut Berechnungen der Bundeswehruniversität in München, wäre eine 20-prozentige Reduzierung des Heeres von derzeit 234.000 auf 186.000 Soldaten problemlos möglich. „Gemessen an der Fähigkeit zur Teilnahme an Einsätzen im internationalen Krisenmanagement einerseits und den Personalkosten andererseits, nimmt die Effizienz von Strukturoptionen des Heeres mit abnehmender Dauer des Grundwehrdienstes zu.“12 „Die Option mit der größten Kostenwirksamkeit“, so die Studie der Bundeswehruni, „beinhaltet eine Freiwilligenarmee unter Aussetzung der Wehrpflicht.“ Von der Aussetzung der Wehrpflicht will die SPD derzeit jedoch noch nichts wissen.

Man darf also getrost davon ausgehen, dass auch in den Schubladen der Hardthöhe diverse Modelle für eine Reform der Streitkräfte schlummern. Da die Aufrechterhaltung der Allgemeinen Wehrpflicht auch bundeswehrintern als Hindernis gesehen wird, plädieren auch Bundeswehroffziere für eine »intelligente Wehrpflicht«:„Die Gretchen-Frage lautet: Wieviel HVK [Hauptverteidigungskräfte] braucht das deutsche Heer heute und zu welchem Zeitpunkt? An der Antwort hängt die weitere Legitimation der Wehrpflicht. … Und genau dieser Friedensumfang der HVK muss kritisch überprüft werden. … Der reguläre Wehrpflichtige steht nicht länger als Funktioner in den HVK zur Verfügung… Damit reduziert sich die Länge des minimal abzuleistenden Wehrdienstes erheblich – wahrscheinlich zwischen drei und sechs Monaten.“13

Zurecht fragte aber die ZEIT (27.12.1996) besorgt: „Mit welchem Auftrag wäre denn ein sechsmonatiger Zwangsdienst noch zu rechtfertigen?“ Mit einer weiteren Reduzierung der Bundeswehr und der Verkürzung der Wehrdienstzeit, dürfte es der Bundesregierung schwer fallen, die Karlsruher Verfassungsrichter davon zu überzeugen, dass der Eingriff in die Grundrechte noch verfassungskonform ist. Die Wehrstrukturkommission wird deshalb bei ihrer Arbeit die Frage berücksichtigen müssen, ob die Beibehaltung der Wehrpflicht überhaupt noch verfassungsgemäß ist. Wenn die verfassungsrechtliche Schutzpflicht zur militärischen Landesverteidigung auch mit Hilfe von Freiwilligenstreitkräften realisiert werden kann, hat der Gesetzgeber kein Recht mehr, das Wehrpflichtsystem beizubehalten. 14

Wie weiter?

Der Verteidigungsminister hat den General a. D. Peter Heinrich Carstens mit der Bildung der Kommission beauftragt. Carstens war in den 70er Jahren Adjutant von Verteidigungsminister Leber, 1982 kurzzeitig stellvertretender Leiter des Planungsstabes und bis April 1998 Chef des Stabes im NATO-Hauptquartier EUROPA in Mons/Belgien. Gegenüber der Öffentlichkeit und dem Verteidigungsausschuss hat der Verteidigungsminister betont, dass es einen intensiven, umfassenden, ergebnisoffenen Dialog ohne Vorfestlegungen und Scheuklappen geben soll. Fest steht, dass es sich bei der Kommission um eine Ministerkommission und keine parlamentarische Enquetekommission handeln wird. Die ca. zwanzigköpfige Kommission soll nach dem Wunsch Scharpings den gesamten außen- und sicherheitspolitischen und militärischen Sachverstand des Landes versammeln und eine möglichst breite Beteiligung aller politischen und gesellschaftlichen Gruppen gewährleisten. In welcher Form dieses hehre Ziel umgesetzt werden soll, ist bislang nicht geklärt. Alle politischen und gesellschaftlichen Gruppen, die Interesse an einer politischen Beteiligung haben, sollten das Angebot des Verteidigungsministers ernst nehmen und ihm die Mitarbeit anbieten.

Scharping hat angeordnet, dass die Kommission erst dann an die Arbeit gehen soll, wenn die Ergebnisse des NATO-Gipfels aus Washington vorliegen. Um die Zeit bis dahin sinnvoll zu überbrücken, hat er am 2. November 1998 den Generalinspekteur beauftragt, eine Bestandsaufnahme zu erstellen über die personelle, materielle, finanzielle, strukturelle und organisatorische Lage der Bundeswehr. Diese Bestandsaufnahme wird eine Grundlage für die Zukunftskommission sein.

Noch ist unklar, wie die Kommission aussehen und wie sie arbeiten wird. Klar ist jedoch, dass auch eine Kommission der Politik die Verantwortung nicht abnehmen kann, die Entscheidung zu übernehmen. Kritische Beobachter bezweifeln, dass die Bundesregierung vor der nächsten Bundestagswahl überhaupt zu einer Strukturentscheidung kommen wird. Die SPD hat bereits ebenso vollmundig wie hasenherzig angekündigt, dass es in dieser Legislaturperiode zu keinen Standortschließungen kommen wird. Eines wird aber auch der SPD noch klar werden: das Rühesche Weiterwursteln kann die Bundeswehr nicht mehr lange verkraften. Der derzeitige Wehretat lässt nach Schätzungen von Beobachtern nur noch eine Truppe von 220.000 bis 240.000 Soldaten zu. Die Wahrscheinlichkeit, dass Oskar seinem Freund Rudi die nötigen Milliarden für die Beibehaltung des gegenwärtigen Kurses spendieren wird, ist äußerst gering. So bleibt denn doch die Hoffnung, dass wenn nicht Einsicht so denn das Geld und die verfassungsmäßige Delegitimation der undemokratischen und überflüssigen Wehrpflicht den Garaus machen werden.

Anmerkungen

1) Vor allem die Bündnisgrünen bewegen sich vor dem Hintergrund des hohen Veränderungsanspruchs der eigenen Basis und der beschränkten nationalen und internationalen Durchsetzungsfähigkeit in dicht vermintem Gelände. Das hessische Landtagswahlergebnis hat gezeigt, wie kritisch das eigene Wählerklientel die bündnisgrüne Regierungspolitik bewertet.

2) Der Vertrag von Amsterdam hat die sog. Petersberg-Aufgaben der WEU in den EU-Vertrag übernommen. Danach schließen die Sicherheitsfragen der GASP die „humanitären Aufgaben und Rettungseinsätze, friedenserhaltende Aufgaben sowie Kampfeinsätze bei der Krisenbewältigung einschließlich friedensschaffender Maßnahmen“ mit ein (Artikel 17 Abs. 2 EUV).

3) Wissenschaftlicher Dienst des Deutschen Bundestages: Die Umstrukturierung der britischen, französischen und niederländischen Streitkräfte ein Vergleich und Konsequenzen für deutsche Streitkräfte. Bonn, Oktober 1998.

4) Winfried Nachtwei: Abrüstungschance nutzen, Frieden fördern. BiA 2006: Eckpunkte für ein Abrüstungskonzept der Bundeswehr, in: 4/3. Fachzeitschrift für Kriegsdienstverweigerung, Wehrdienst und Zivildienst, 3/1998, S. 108-117.

5) Entschließungsantrag der Fraktion der SPD zur Großen Anfrage der Fraktion der SPD „Lage und Zustand der Bundeswehr“, Drs. 13/10443 v. 21.04.1998.

6) Florian Gerster: Hat die Wehrpflicht eine Zukunft?, in: Europäische Sicherheit 8/96; Volker Kröning, in Neue Gesellschaft 11/96; Manfred Opel: Auslaufmodell Wehrpflichtarmee – Eckdaten zur Kontrolle einer Freiwilligenarmee, in: Zentralstelle KDV/ Ev. Akademie Thüringen(Hrsg.): Auslaufmodell Wehrpflicht. Dokumentation einer Fachtagung im November 1996, Bremen, S. 22 ff.; Egon Bahr: Das Ende der Bundeswehr, in: Der Spiegel, 9/98, S. 53 ff.

7) Arbeitsgruppe Sicherheitsfragen der SPD-Bundestagsfraktion: Verteidigungspolitische Leitlinien, Bonn 08.12.1995.

8) Walter Kolbow: Überlegungen zur künftigen Verteidigungspolitik, in: 40 Jahre Bundeswehr, hrsg. v. SPD-Bundestagsfraktion, Oktober 1995, S. 26 ff.

9) Focus 18.11.1996, FAZ 16.12.1996, Die Zeit 27.12.1996.

10) Walter Kolbow: Bestandsaufnahme notwendig, in: Europäische Sicherheit 1/98, S. 15f.

11) Schnupperkurs beim Bund, Der Spiegel, 18.01.1999.

12) Reiner K. Huber: Streitkräfteumfang und Wehrstruktur: Ein systemanalytischer Beitrag zur Diskussion längerfristiger Zielvorstellungen am Beispiel des deutschen Heeres, Universität der Bundeswehr, München, Mai 1998; siehe auch ders. In: Europäische Sicherheit 10/98, S. 43-47; ders.: Erneute Umfangsreduzierung der Bundeswehr, in: Wehrtechnik 8-9/97, S. 29-34.

13) Neue Struktur für neue Aufgaben. Plädoyer für eine intelligente Wehrpflicht, Griephan Special/Wehrdienst, Bonn, Oktober 1998.

14) Oliver Fröhler: Grenzen legislativer Gestaltungsfreiheit in zentralen Fragen des Wehrverfassungsrechts, Berlin 1995, S. 451.

Andreas Körner ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des bündnisgrünen Bundestagsabgeordneten Winfried Nachtwei.

Nicht unter »Generalverdacht«, aber unter kritischem Blick

Nicht unter »Generalverdacht«, aber unter kritischem Blick

Was Sozialwissenschaftler im Detail am Thema Bundeswehr und Rechtsextremismus interessieren könnte

von Albert Fuchs

Der vorliegende Entwurf eines sozialwissenschaftlichen Forschungsprogramms zum Thema Bundeswehr und Rechtsextremismus entstand in Aufarbeitung des vergeblichen Versuchs, einen entsprechenden Beitrag für W&F zu akquirieren. Darin sollte aus gegebenem Anlaß die einschlägige Forschungslage dargestellt werden. Der Versuch scheiterte mangels relevanter, empirisch fundierter Erkenntnisse. Vor diesem Hintergrund werden zentrale Forschungsdesiderate skizziert: eine hinlängliche Begriffsklärung, die Erarbeitung eines geeigneten Untersuchungsinstrumentariums, die Bestimmung der Prävalenz und Entwicklung rechtsextremistischer Vorkommnisse, Vernetzungen, und Orientierungsmuster im Bereich der Bundeswehr, die Prüfung spezifischer Erklärungsansätze sowie die Bewertung und Entwicklung geeigneter Auseinandersetzungsstrategien. Zum Abschluss werden einige Bedingungen der Realisierung des skizzierten Programms zur Diskussion gestellt.

Die Nachricht vom Auftritt des bundesweit bekannten, einschlägig vorbestraften Neonazis Manfred Roeder als Vortragsredner im Rahmen der »Offiziersweiterbildung« an der Führungsakademie der Bundeswehr (z.B. Der Spiegel vom 08.12.97, S. 16) führte Ende 97/Anfang 98 zu einem mächtigen Rauschen des Themas Bundeswehr und Rechtsextremismus durch den deutschen Blätterwald. Nach einigem Hin und Her reagierte die politische Klasse mit der (erstmaligen) Konstituierung des Verteidigungsausschusses des Bundestags als Untersuchungsausschuss (vgl. Wissenschaft und Frieden, 1998). Im Juni 98 legte dieser Verteidigungs-Untersuchungsauschuss einen voluminösen Abschlussbericht vor; die AusschussvertreterInnnen von Bündnis 90/Die Grünen unterbreiteten zur gleichen Zeit einen Minderheitenbericht. Seither herrscht praktisch wieder »Schweigen im Wald«.

Ist mit den besagten Berichten dem Aufklärungsbedarf der Gesellschaft zu dem heiklen Thema Bundeswehr und Rechtsextremismus Genüge getan? Hat sich das Problem aufgrund der Arbeit des Untersuchungsausschusses vielleicht sogar erledigt? Letzteres mit Sicherheit nicht, ersteres höchstwahrscheinlich auch nicht. Nach wie vor stellen die meisten Behauptungen und Erklärungen zu diesem Thema, die mit dem Anspruch gesicherter Erkenntnis angeboten werden, letztlich nur subjektive Einschätzungen und Vermutungen dar und dürften dementsprechend vor allem die jeweilige politische Interessenlage widerspiegeln. Einen Ausweg aus dieser Verquickung von Fakt, Fiktion und Interesse bietet nur solide empirische Forschung.

Was aber könnte und sollte Sozialwissenschaftler am Thema Bundeswehr und Rechtsextremismus im Detail interessieren? In der öffentlichen Diskussion des vergangenen Jahres wurden vor allem zwei politisch brisante Fragenkomplexe ventiliert: die Frage der Entwicklung rechtsextremer Vorfälle und Orientierungen in der »Armee der Einheit« und die Frage der Bedeutung der Neuformierung der Bundeswehr für diese Entwicklung. Doch bevor man sich an die Klärung solcher Fragen machen kann, ist einige Vorarbeit zu leisten, und außer diesen beiden gibt es andere substantielle Fragen, die die intrinsische Neugier von Sozialwissenschaftlern stimulieren können. Das beginnt mit der Begriffsbestimmung.

Probleme der Begriffsbestimmung

Der Rechtsextremismusbegriff ist weder in der öffentlichen noch in der wissenschaftlichen Diskussion so weit normiert, dass man hinlängliche Übereinstimmung der Diskussionteilnehmer im Begriffsverständnis voraussetzen kann. Aus methodisch-forschungstechnischen, theoretischen und auch politisch-praktischen Gründen ist es daher unabdingbar, sich zunächst eingehend mit der Definitionsproblematik auseinanderzusetzen (vgl. Druwe & Mantino, 1996). Hier sei nur hingewiesen auf einige konzeptionelle Entscheidungspunkte, die man im analytischen Vorfeld zu passieren hat.

Auf einer ersten Ebene geht es um die Frage der Untersuchungseinheit. Hier steht ein institutionsbezogener, sich an den auf der gesellschaftlich-politischen Bühne zu beobachtenden organisatorischen Verfestigungen (Parteien, Verbände, Subkulturen . . .) orientierender Ansatz einem individuumbezogenen Ansatz gegenüber. Soweit man diesen Ansatz zugrundelegt, mag man sich mit manifestem Verhalten (Wahlverhalten, Mitgliedschaften, Protestverhalten . . .) begnügen oder aber Orientierungen (Einstellungen und Einstellungsmuster) einbeziehen. Auf der Einstellungs-Ebene steht zur Diskussion, wie die rechtsextreme Orientierung genauer zu konzipieren ist: als Verbindung einer Ideologie der Ungleichheit und Ungleichwertigkeit mit Gewaltakzeptanz und Gewaltbereitschaft, wie es vor allem Heitmeyer (z.B. 1992, S. 10) propagiert, oder als Kombination diverser Komponenten einer Ideologie der Ungleichheit und Ungleichwertigkeit mit bestimmten formalen oder strukturellen Merkmalen des Denkens (wie Rigidität, Intoleranz gegen Mehrdeutigkeit . . .), wie es Forscher vertreten, die der Totalitarismustheorie nahezustehen scheinen (z.B. Backes, 1998). Wie immer man sich auf dieser dritten Ebene entscheidet, auf einer vierten ist darüber zu befinden, was die Ideologie der Ungleichheit und Ungleichwertigkeit im einzelnen beinhalten soll. In der Literatur zu findende diesbezügliche »Angebote« sind in Abbildung 1 dargestellt.

Zum Rechtsextremismuskonzept
Abb. 1: Entscheidungsalternativen zum Rechtsextremismuskonzept

Für alle Optionen in dem skizzierten Entscheidungsraum gibt es mehr oder weniger überzeugende Argumente, die zu sichten und zu bewerten sind, um zu einem fundierten Rahmenkonzept zu gelangen. Die angesprochenen Alternativen schließen sich allerdings nicht gegenseitig aus, sondern sind eher komplementär; insofern sollte man diesen Entscheidungsraum vor allem als einen durch empirische Forschung zu füllenden Suchraum betrachten. Eine besonders diffizile konzeptuelle Vorfrage scheint mir zu sein, wie man den alten und neuen militärpolitischen Traditionalismus in der Bundeswehrführung einordnen soll: als rechtsextremistische Orientierungsvariante eigener Art oder als (potentiellen) Bestimmungsfaktor der ansonsten zu konstatierenden rechtsextremistischen Vorkommnisse und Tendenzen (vgl. Bald, 1998a, 1998b).

Mit ähnlichen analytischen Unsicherheiten ist die sogenannte Traditionspflege behaftet, die durch Erlasse und Dienstvorschriften vorgesehene normative, vor allem aber die faktisch vorzufindende und von den Vorgesetzten geduldete. Schließlich ist zu prüfen, ob für das gegebene Problemfeld nicht Spezifikationen der in Abbildung 1 aufgeführten Komponenten der Ideologie der Ungleichheit und Ungleichwertigkeit angezeigt sind, z.B eine Spezifikation der Komponente Geschichtsrevisionismus unter dem Gesichtspunkt „Wie hältst du's mit der Wehrmacht?“ (Vogel, 1990).

Untersuchungsinstrumentarium

Nach hinlänglicher Klärung der Definitionsfrage kann man sich an die Entwicklung eines geeigneten Untersuchungsinstrumentariums machen. Angesichts der angedeuteten konzeptuellen Probleme ist auch bei diesem Schritt mit einigem Arbeitsaufwand zu rechnen. Zudem sind die meisten der vorliegenden Instrumente in messtheoretischer Hinsicht eher anspruchslos; beispielsweise begnügt man sich vielfach mit einem oder zwei Items als Indikatoren von Konstrukten mit erheblichem Bedeutungsüberschuss. Man wird sich also bei diesem Schritt kaum auf die Prüfung und Zusammenstellung vorliegender Skalen beschränken können, sondern eigene Konstruktionsarbeit leisten müssen. Der durchgehend gesehene Syndrom-Charakter des rechtsextremen Denkens könnte in methodischer Hinsicht eine besondere Herausforderung darstellen.

Eine besondere methodische Herausforderung ergibt sich auch daraus, dass es sich bei vielen Bundeswehrangehörigen um eine der »politischen Korrektheit« ihrer Äußerungen und Stellungnahmen wohl bewußte Klientel handeln dürfte. Die üblichen Einstellungsskalen erscheinen folglich aufgrund ihrer Transparenz wenig geeignet für eine Anwendung im vorliegenden Problemfeld; zumindest sollte ihre Eignung nicht einfach unterstellt, sondern zunächst geprüft werden.

Ein weitere methodische Herausforderung ergibt sich daraus, dass nicht jedes rechtsextremistisch motivierte »besondere Vorkommnis« (MAD-Terminologie) jedem anderen im Hinblick auf seinen Rechtsextremismusgehalt gleichwertig ist und damit auch nicht gleich aufschlussreich für den Zustand der Truppe. Man benötigt demnach zur Erfassung des Rechtsextremismusgehalts der »besonderen Vorkommnisse« eine Skala von der Art von Thurstones (1927) Metrik für die Schwere von Verbrechen. Erst in Verbindung mit metrischer Information dieser Art können Häufigkeitsangaben validen Aufschluss geben über die Rechtsextremismusbelastung der Bundeswehr. Die simple Unterscheidung von Propagandadelikten und Fällen von Bedrohung und Gewaltanwendung ist bestenfalls ein erster Schritt in diese Richtung.

Ein solcher quantifizierender Ansatz könnte auch dazu beitragen, manches konzeptuelle Abgrenzungsproblem wie im Falle fragwürdiger Traditionspflege zumindest zu entschärfen. Zum andern könnte eine derartige Standardmetrik zur indirekten Erfassung rechtsextremistischer Einstellungen Verwendung finden und damit die Schwierigkeiten beheben helfen, die dem Versuch anhaften, mit leicht durchschaubaren Instrumenten der herkömmlichen Machart die Einstellungen von Bundeswehrangehörigen zu erfassen. Dabei würde man sich den spätestens mit der Arbeit von Hovland & Sherif (1952) nachgewiesenen Einfluss von Einstellungen auf Beurteilungsleistungen diagnostisch bzw. forschungsstrategisch zunutze machen.

Zur Sache

Nach der skizzierten, m.E. unabdingbaren Vorarbeit kann man die Bearbeitung der eigentlichen Fragen zur Sache aufnehmen. Ich sehe drei umschriebene, wenngleich interdependente Komplexe: 1. Prävalenz und Entwicklung der besonderen Vorkommnisse, rechtsextremistischer Orientierungsmuster und einschlägiger Assoziationen und Vernetzungen im Bereich der Bundeswehr; 2. spezifische Erklärungsansätze; 3. Wirkungen offiziöser Strategien gegen Rechtsextremismus in der Bundeswehr.

  1. 1. Der Komplex Prävalenz und Entwicklung rechtsextremistischer Vorfälle und Orientierungen im Bereich der Bundeswehr steht in der öffentlichen Diskussion im Vordergrund, und die beiden Teilkomplexe werden als zwei Seiten einer Medaille gehandelt. Aus forschungsstrategischer Perspektive sind Prävalenzfragen jedoch Entwicklungsfragen vorgeordnet, d.h. um zu wissenschaftlich vertretbaren Aussagen über Entwicklungsverläufe zu gelangen, muss man zumindest über zwei (unter vergleichbaren Bedingungen gewonnene) Prävalenzbefunde im Querschnitt verfügen. Im übrigen lässt sich der Komplex Prävalenz und Entwicklung zwar analytisch von dem Komplex Erklärungen trennen, kann aber forschungstrategisch und forschungspraktisch kaum anders als in Wechselwirkung mit der Bearbeitung dieses Komplexes bearbeitet werden.
  2. 2. Die von der sozialwissenschaftlichen Rechtsextremismusforschung diskutierten allgemeinen Erklärungsansätze (vgl. Eckert, Willems & Würtz, 1996; Stöss, 1994; Winkler, 1996) scheinen mir im Falle der Bundeswehr von nachgeordneter Bedeutung zu sein. Im Vordergrund stehen hier Ansätze, die in der politischen Diskussion ventiliert werden. Von seiten der für die deutsche Militär- und Sicherheitspolitik Verantwortlichen – einschließlich der Wehrbeauftragten des Bundestags – bemüht man meist eine etwas naiv anmutende »Spiegeltheorie«. Danach kommen in der Bundeswehr als Teil der deutschen Gesellschaft rechtsextremistische Orientierungen und Verhaltensweisen in Art und Ausmaß zur Geltung, wie sie auch in der Gesamtgesellschaft vorhanden sind. Der instrumentelle – genauer: defensive – Charakter dieser These liegt auf der Hand; schlichtweg ignoriert wird dabei, dass sich ein Großteil der Wehrpflichtigen gemäß Art. 4 Abs. 3 GG für den Zivildienst statt für den Dienst mit der Waffe entscheidet. Zudem legen die Befunde einschlägiger Einstellungsuntersuchungen, so spärlich diese auch sind, einen selektionstheoretischen Ansatz nahe (vgl. Bonnemann & Hofmann-Broll, 1997; Gessenharter, Fröchling & Krupp, 1978; Kohr, Lippert, Meyer & Sauter, 1993; Seifert, 1994).

Das besagt zunächst (nur), dass die Institution Bundeswehr vor allem für Leute attraktiv ist, die politisch eher rechts orientiert sind, national und machtpolitisch denken. Ob darüber hinaus seitens der militärischen Vorgesetzten auch eine aktive Selektion betrieben wird dergestalt, dass Leute der besagten Orientierung „die größten Chancen auf gute Beurteilungen, schnelle Beförderung und steile Karriere“ haben (Vogt, 1998, S. 53), mag ein Insider wohlbegründet vermuten und auch durch kasuistische Evidenz erhärten können; Mechanismen und Tragweite dieser aktiven Selektion aber bleiben genauer zu erforschen. Schließlich ist zu klären, ob die Attraktivität der Bundeswehr für rechts Orientierte und das Gewicht der unterstellten aktiven Selektion mit der Umstrukturierung der Bundeswehr in der ersten Hälfte der 90er Jahre zugenommen haben.

Diese zuletzt charakterisierte Variante der Selektionsthese geht unmerklich über in einen Erklärungsansatz, den man als »Induktionsthese« bezeichnen kann. Dieser These zufolge schafft die Bundeswehrführung selber die Bedingungen für rechtsextremistische Skandale und Orientierungen, sind diese im besonderen ein Ergebnis der Neuformierung und Neustrukturierung der Streitkräfte, ist das rechtsextreme Gedankengut geradezu ein Entwicklungsprodukt der »Kampfspiele« der Soldaten der Krisenreaktionskräfte, d.h. ihrer Vorbereitungsübungen im Inland.

Für Sozialwissenschaftler dürfte es wiederum eine interessante Herausforderung darstellen, die konkurrierenden Erklärungsansätze empirisch gegeneinander zu testen. Mit den skizzierten Ansätzen ist allerdings nur ein grober Rahmen abgesteckt. Dem Minderheitenbericht der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen im 1. Untersuchungsausschuss des Verteidigungsausschusses sind interessante weitere Hypothesen zu entnehmen (u.a. zur Rolle des Führungsstils des Verteidigungsministers, zum aktuellen Status der Inneren Führung und zur herrschenden Praxis der Politischen Bildung, zum Traditionsverständnis und zur Traditionspflege . . .), die geeignet erscheinen, das Bild wesentlich zu differenzieren und zwischen den globalen Erklärungsansätzen zu vermitteln (Bündnis 90/Die Grünen, 1998; vgl. auch Wette, 1998).

Bei aller notwendigen Konzentration auf die spezifische Erklärungsproblematik sollte man schließlich den (möglichen) Zusammenhang diverser Formen von Rechtsextremismus in der Bundeswehr mit der einschlägigen politischen und gesamtgesellschaftlichen Entwicklung seit der Epochenwende, die Gessenharter & Fröchling (1998) eine „Neuvermessung des politisch-ideologischen Raumes“ erforderlich erscheinen lässt, nicht außer Acht lassen. Ob und in welchem Ausmaß dieser »distale Faktor« von Bedeutung ist, kann ebenso wenig a priori entschieden werden wie in den anderen Fällen.

3. Eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema Bundeswehr und Rechtsextremismus kann sich nicht auf Fragen der Verbreitung und Entwicklung von rechtsextremistischen Vorkommnissen, Orientierungen und Zusammenschlüssen und auf die Klärung der Ursachen dafür beschränken; es geht auch um angemessene Strategien gegen eine Unterwanderung der Bundeswehr von rechts bzw. um die Angemessenheit der von den politisch Verantwortlichen entworfenen und realisierten Gegenstrategien. Aus der Perspektive des »concerned scientist« ist dieses Forschungsinteresse dem wissenschaftlichen Interesse i.e.S. sogar übergeordnet.

Eine indirekte Evaluierung von Strategien der Auseinandersetzung mit rechtsextremistischen Tendenzen in der Bundeswehr ergibt sich aus der geforderten Ursachenforschung. Sollte sich beispielsweise die These der aktiven Selektion oder gar die Induktionsthese empirisch bewähren, wären damit die diversen pädagogischen, dienst-, disziplinar- und strafrechtlichen Maßnahmen, mit denen die Bundeswehrführung Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit in der Truppe entgegenwirken will (vgl. Bagger, 1997), weitgehend diskreditiert. Denn ein solcher Befund würde bedeuten, dass man mit einem Feuerwerk von besonderen Maßnahmen verhindern bzw. beheben will, was man durch die sogenannte Normalisierung der deutschen Militärpolitik befördert. Eine derartige Inkongruenz von latentem und manifestem »Lehrplan« in Sachen Rechtsextremismus könnte aber im Sinne der Leitidee Staatsbürger in Uniform nur kontraproduktiv sein

Eine direktere Evaluierung erfordert der politische Umgang der Bundeswehrführung mit der Problematik – von der Weigerung, die Bundeswehr für sozialwissenschaftliche Untersuchungen »von außen« zu öffnen, über diverse Formen eventueller Problemverleugnung (»Einzelfallthese«, »Spiegeltheorie« . . .) bis zur Diffamierung und politischen Bekämpfung derjenigen, die das Problem immer wieder aufgreifen, die »besonderen Vorkommnisse« an die Öffentlichkeit bringen oder andere Formen der Auseinandersetzung fordern. Auch in dieser Evaluationshinsicht verdient die Frage nach dem Verhältnis von latentem und manifestem Lehrplan besondere Aufmerksamkeit.

Drittens stehen die Auswirkungen der expliziten und offiziösen Versuche, die Gefahr einer »Rechtsdrehung« der Bundeswehr zu bannen, zur Diskussion. Das oben angesprochene Papier des »Arbeitskreises Rechtsextremismus« der Bundeswehrführung (Bagger, 1997) enthält einen auf den ersten Blick beeindruckenden Katalog von Maßnahmen und Zielsetzungen. Aufzuzeigen wäre jedoch, wie das alles mit Prinzipien der Inneren Führung zusammenhängt und mit dem Leitbild des Staatsbürgers in Uniform in Einklang steht. Das wiederum hat zur Voraussetzung dass diese normativen Vorstellungen soweit geklärt werden, dass sie – wenn man ernsthaft empirische Evidenz zur Effektivität bestimmter Interventionen gewinnen will – »operationalisierbar« sind. Besondere Aufmerksamkeit verdient auch in diesem Zusammenhang die Frage, ob die avisierten Maßnahmen sich nicht als kontraproduktiv herausstellen.

Schließlich sollte die skizzierte deskriptive Forschung auch dazu führen, Strategien der Auseinandersetzung mit rechtsextremistischen Tendenzen in den Streitkräften zu entwickeln, die sich am Leitbild des Staatsbürgers in Uniform und den Prinzipien der Inneren Führung orientieren und zu deren Weiterentwicklung unter der Perspektive einer transnationalen Verwendung der Bundeswehr beitragen.

Fazit

Es ist kaum zu verstehen, warum die politisch Verantwortlichen angesichts der Verquickung von Fakt, Fiktion und Interesse in Sachen Bundeswehr und Rechtsextremismus nicht längst den skizzierten Ausweg solider empirischer Forschung gesucht und statt dessen relevante Forschungsvorhaben selbst von Angehörigen von Forschungseinrichtungen der Bundeswehr anscheinend eher behindert als unterstützt haben. Dieser obstruktiven Handlungsweise liegt bestenfalls die Befürchtung zugrunde, ein wissenschaftlicher Diskurs zum Thema Bundeswehr und Rechtsextremismus werde ein entsprechendes Problem erst produzieren. Schlimmstenfalls möchte man eigene politische Ziele befördern, indem man dieses Problemfeld wissenschaftlich unbeackert läßt. Vielleicht glaubt man aber auch nur, es sich irgendwie schuldig zu sein, die Probleme ohne Unterstützung »von außen« zu bewältigen. Sich aus diesen und anderen Mehrdeutigkeiten befreien und in Sachen Bundeswehr und Rechtsextremismus Glaubwürdigkeit gewinnen können die politisch Verantwortlichen m.E. nur, indem sie ihre Obstruktion aufgeben. Nach dem Regierungswechsel sollte das leichter fallen, da die nun Verantwortlichen mit einer Neuorientierung nicht eigenes früheres Verhalten in Frage zu stellen brauchen.

Andererseits ist es kaum realistisch, diesbezüglich besondere Erwartungen zu hegen und auf den großen Auftrag – mit einem alle Kasernentore öffnenden Empfehlungsschreiben der Bundeswehrführung und mit großzügig bemessenen Forschungsmitteln – zu spekulieren; dafür ist die Bundeswehrführung vermutlich selbst zu sehr in die Problematik verstrickt. Man muss also eine möglichst autonome Arbeitsmotivation entwickeln. Im vorausgehenden wurde demgemäß zu erläutern versucht, dass eine sozialwissenschaftliche Bearbeitung des Problemfeldes Bundeswehr und Rechtsextremismus in disziplinärer Perspektive sehr reizvoll sein könnte. Die eigentliche Aufgabe ist damit jedoch erst grob skizziert. Um weiterzukommen, sollte man ein entsprechendes Forschungsprogramm interdisziplinär und soweit möglich modular konzipieren und mit den verfügbaren Mitteln in Angriff nehmen.

Damit man die trotz bestenfalls bedingter und eingeschränkter Kooperationsbereitschaft der Bundeswehrführung gegebenen Mittel und Möglichkeiten überhaupt wahrzunehmen vermag, muss man sich wahrscheinlich auch mit Blockaden bei sich selbst auseinandersetzen. Um eine »fundierte Position« in Sachen Bundeswehr und Rechtsextremismus zu erarbeiten, muss man als zivilistischer Wissenschaftler oder zivilistische Wissenschaftlerin, denke ich, sowohl Blockaden aufgrund der Angst vor einer missdeutbaren Nähe zum Militärischen überwinden als auch Blockaden aufgrund des Bedürfnisses nach einer illusionären Distanz.

Literaturverzeichnis

Backes, U. (1998): Rechtsextremismus in Deutschland. Ideologien, Organisation und Strategien. Aus Politik und Zeitgeschichte, B 9-10/98, S. 27-35.

Bagger, H. (1997): Statement des Generalinspekteurs der Bundeswehr anläßlich der Pressekonferenz am 19.11.1997 zum Thema »Ergebnisse des Arbeitskreises Rechtsextremismus«. Bonn, Bundesministerium der Verteidigung.

Bald, D. (1998a): Ein Gespenst geht um in Deutschland. Der Traditionalismus in der Bundeswehr. Wissenschaft und Frieden, 16 (1), S. 48-51.

Bald, D. (1998b): Neotraditionalismus und Extremismus – eine Gefährdung für die Bundeswehr. In R. Mutz, B. Schoch & F. Solms (Hrsg.), Friedensgutachten 1998 (S. 277-288). Münster, Lit.

Bonnemann, A.U. & Hofmann-Broll, U. (1997): Studierende und Politik: Wo stehen die Studierenden der Bundeswehruniversitäten? Sicherheit und Frieden, 15, S. 145-162.

Bündnis 90/Die Grünen (1998): Tischvorlage Minderheitenbericht für die Sitzung des 1. Untersuchungsausschusses des Verteidigungsausschusses am 17.6.1998. Bonn, Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Druwe, U. & Mantino, S. (1996): »Rechtsextremismus«, Methodologische Bemerkungen zu einem politikwissenschaftlichen Begriff. In J.W. Falter, G. Jaschke & J.R. Winkler (Hrsg.), Rechtsextremismus. Ergebnisse und Perspektiven der Forschung (S. 66-80). Opladen, Westdeutscher Verlag.

Eckert, R., Willems, H. & Würtz, S. (1996): Erklärungsmuster fremdenfeindlicher Gewalt im empirischen Test. In J.W. Falter, G. Jaschke & J.R. Winkler (Hrsg.), Rechtsextremismus. Ergebnisse und Perspektiven der Forschung (S. 152-167). Opladen, Westdeutscher Verlag.

Gessenharter, W. & Fröchling, H. (Hrsg.) (1998): Rechtsextremismus und Neue Rechte in Deutschland. Neuvermessung eines politisch-ideologischen Raumes?. Opladen, Leske & Budrich.

Gessenharter, W., Fröchling, H. & Krupp, B. (1978): Rechtsextremismus als normativ-praktisches Forschungsproblem. Eine empirische Analyse der Einstellungen von studierenden Offizieren der Hochschule der Bundeswehr Hamburg sowie von militärischen und zivilen Vergleichsgruppen. Weinheim, Beltz.

Heitmeyer, W. (1992): Rechtsextremistische Orientierungen bei Jugendlichen. Weinheim/München, Juventa.

Hovland, C.I. & Sherif, M. (1952): Judgmental phenomena and scales of attitude measurement: item displacement in Thurstone scales. Journal of Abnormal and Social Psychology, 47, S. 822-832.

Kohr, H.-U., Lippert, E., Meyer, G.-M. & Sauter, J. (1993): Jugend, Bundeswehr und deutsche Einheit. Berichte 62. München, Sozialwissenschaftliches Institut der Bundeswehr.

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Stöss, R. (1994): Forschungs- und Erklärungsansätze – ein Überblick. In W. Kowalsky & W. Schroeder (Hrsg.), Rechtsextremismus. Einführung und Forschungsbilanz (S. 23-66). Opladen, Westdeutscher Verlag.

Thurstone, L.L. (1927): Method of paired comparisons for social values. Journal of Abnormal and Social Psychology, 21, S. 384-400.

Vogel, W. (1990): Wie hältst du's mit der Wehrmacht? Truppenpraxis, 34, S. 268-271.

Vogt, W. (1998): Augen auf statt »Rechts um«! – Interview mit Wolfgang Vogt. Wissenschaft und Frieden, 16 (1), S. 52-55.

Wette, W. (1998): Wehrmachtstraditionen und Bundeswehr. Deutsche Machtphantasien im Zeichen der Neuen Militärpolitik und des Rechtsradikalismus. In J. Klotz (Hrsg.), Vorbild Wehrmacht? (S. 126-154). Köln, Papy Rossa.

Winkler, J.R. (1996): Bausteine einer allgemeinen Theorie des Rechtsextremismus. Zur Stellung und Integration von Persönlichkeits- und Umweltfaktoren. In J.W. Falter, G. Jaschke & J.R. Winkler (Hrsg.): Rechtsextremismus. Ergebnisse und Perspektiven der Forschung (S. 25-48). Opladen, Westdeutscher Verlag.

Wissenschaft und Frieden (1998). Rechtsextreme und Bundeswehr. Verteidigungsausschuss tagt als Untersuchungsausschuss. Wissenschaft und Frieden, 16 (1), S. 56-58.

Eine ausführliche Version des vorliegenden Beitrags, die vor allem auch politisch-normative Überlegungen zur Begründung des skizzierten Programms einschließt, erscheint als Arbeitspapier des Instituts für Friedensarbeit und Gewaltfreie Konfliktaustragung (IFGK).

PD Dr. Albert Fuchs ist Mitglied des Redaktionsteams von W&F und lehrt Kognitions- und Sozialpsychologie an der RU Bochum und der PH Erfurt.

Von der kämpfenden Truppe zur zivilen Ordnungsmacht

Von der kämpfenden Truppe zur zivilen Ordnungsmacht

von Werner Dierlamm

Die deutsche Übersetzung der 1993 in London und New York veröffentlichten »History of Warfare« des britischen Militärhistorikers John Keegan nimmt Werner Dierlamm, Diskussionspartner unserer Pazifismusdebatte (Dierlamm 1995), zum Anlaß, sein zentrales, von seinem Kontrahenten (Fuchs 1996) vielleicht nicht hinreichend gewürdigtes Anliegen erneut zur Sprache zu bringen. Dieses Anliegen heißt: von einer pazifistischen Position aus im Gespräch bleiben bzw. ins Gespräch kommen mit dem Gegenüber; mit Staat, Militär und Kirche, mit der herrschenden Politik. Dierlamms Stellungnahme beinhaltet einen referierenden Teil und einen kritisch-kommentierenden. Wir veröffentlichen hier den kommentierenden Teil, redaktionell geringfügig überarbeitet, als weiteren Beitrag zur Pazifismusdebatte.

Die New York Times beurteilte John Keegans (1993) »A History of Warfare« als „die wohl bemerkenswerteste Darstellung der Kriegführung, die je geschrieben wurde“. Was immer man von solchen Urteilen halten mag, Keegan nimmt als Kenner der Materie zu zentralen Fragen, die Pazifisten heute bewegen, in einer Weise Stellung, die besondere Aufmerksamkeit verdient. Es sei versucht, die Bedeutung seiner Arbeit für die Friedensbewegung in Thesenform auf den Punkt zu bringen.

1. Zunächst werden wir durch Keegans Buch nachdrücklich daran erinnert, daß es Kriege gegeben hat, seit Geschichte aufgezeichnet wurde, d.h. seit 5.000 Jahren. Es ist also ein außerordentlich anspruchsvolles Vorhaben, wenn wir in unserer Zeit die »Institution des Krieges« überwinden wollen.

2. Bei aller Vielgestaltigkeit der Kriegführung sind nach Keegan zwei wichtige Unterscheidungen zu treffen: a) Mit dem Theologen Aurelius Augustinus (354-430) und dem Rechtsgelehrten Hugo Grotius (1583-1645) ist zwischen »gerechten« und »ungerechten« Kriegen zu unterscheiden. b) Ebenso deutlich ist zwischen Kriegen bei »Primitiven« oder bei den »Orientalen«, die durch verschiedene Faktoren wie Rituale und Überlebenswillen begrenzt werden, und dem »westlichen«, »modernen« und »absoluten« Krieg, der in der Logik von Clausewitz (1994) die totale Vernichtung des Gegners mit unbegrenzten Gewaltmitteln anstrebt (vgl. Erster und Zweiter Weltkrieg), zu unterscheiden.

3. Trotz dieser Differenzierungen ist John Keegan weit davon entfernt, den Krieg zu verherrlichen. Er wünscht sich, daß er abgeschafft wird, wie die Sklaverei abgeschafft wurde. Dieses deutliche Nein zur Institution des Krieges verbindet er mit einem klaren Ja zum „gut ausgebildeten und disziplinierten“ Soldaten. Seine Aufgabe sei es nicht, Vernichtungskriege zu führen, sondern Vernichtungskriege zu verhindern oder zu begrenzen. Keegan sieht in ihnen „Friedenserhalter und Friedensstifter der Zukunft“. Sie sollen daher „gerechterweise als Beschützer der Zivilisation und nicht als deren Feinde betrachtet werden“ (a.a.O., S. 553).

4. Die Position von John Keegan deckt sich m.E. mit dem Selbstverständnis der UNO, wie sie in der UN-Charta zum Ausdruck kommt. Die Vereinten Nationen wollen der Präambel zufolge „künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges bewahren“; der Sicherheitsrat kann aber auch „mit Luft-, See- oder Landstreitkräften die zur Wahrung oder Wiederherstellung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen durchführen“ (Art. 42 UN-Charta).

5. Die Schwäche dieser Position wird deutlich, wenn Keegan im Zweiten Golfkrieg gegen Saddam Hussein „den ersten Sieg der Ethik des gerechten Krieges“ sieht, „seit Grotius auf dem Höhepunkt des Dreißigjährigen Krieges dessen Prinzipien festgelegt hatte“ (a.a.O., S. 542). Zwar ist unbestreitbar, daß dieser Krieg auf seiten der Alliierten nicht mit dem totalen Vernichtungswillen der beiden Weltkriege geführt wurde – er war in wenigen Monaten beendet, und der fliehende Feind wurde auch nicht bis Bagdad verfolgt. Doch hat dieser Krieg mit seinen Folgelasten große Opfer unter der Zivilbevölkerung gefordert und die Gefahr, die von dem Diktator ausgeht, überhaupt nicht beseitigt. Sollte es zu einem abermaligen »Militärschlag« kommen, würden dadurch die Probleme des Nahen und Mittleren Ostens erst recht nicht gelöst, sondern noch weiter verschärft.

6. Trotz dieser notwendigen Kritik stellt die Position von John Keegan (und der UNO) eine Herausforderung für Pazifisten dar, in den Dialog mit den Soldaten einzutreten, die sich als »Friedenserhalter und Friedensstifter der Zukunft« verstehen. Dieses Selbstverständnis sollte nicht als Maskierung ironisiert, sondern beim Wort genommen werden. Das heißt aber, Antwort einfordern auf folgende Fragen, u.a.: Wie wollt ihr in Zukunft den Frieden erhalten und stiften? Wie wollt ihr die militärische Gewalt (im Sinne Keegans) begrenzen, wenn ihr sie grundsätzlich bejaht? Glaubt ihr, die B- und die C-Waffen aus der Welt schaffen zu können, wenn ihr an den A-Waffen festhaltet? Wie wollt ihr den Terrorismus überwinden, wenn Eure Fabriken massenhaft Gewehre und alle möglichen Kleinwaffen produzieren?

7. Auch wir Pazifisten wollen den Frieden erhalten und Frieden stiften. Wir schlagen vor, ein „Gesamtkonzept ziviler Konfliktbearbeitung als Perspektive für das 21 Jahrhundert in Theorie und Praxis zu entwickeln“ – wie es in dem Memorandum des Europäischen Friedenskongresses 1998 heißt. Diese Position gilt es auf allen politischen und gesellschaftlichen Ebenen zu vertreten und umzusetzen, auch und nicht zuletzt in Auseinandersetzung mit dem Militär.

8. Für Pazifisten, die das Christentum als friedenspolitische Kraft noch nicht abgeschrieben haben, mag von besonderem Interesse sein, daß John Keegan wiederholt die Ambivalenz der Christenheit – im Gegensatz zur Eindeutigkeit des Islam – in der Frage konstatiert, ob militärische Gewalt moralisch zulässig sei oder nicht: „Christen haben sich nie einhellig zu der Ansicht durchringen können, ein Mann des Krieges könne auch eine Mann des Glaubens sein.“ (a.a.O., S. 287). So notwendig die Diskussion mit dem Militär ist, so notwendig ist daher der Dialog mit den christlichen Kirchen. Von ihnen sollten (christliche) Pazifisten unermüdlich die Konsequenzen daraus einfordern, daß Christus – wiederum im Gegensatz zu Mohammed – sich nach allem, was wir darüber wissen, nicht als Krieger, sondern als »Fürst des Friedens« verstanden hat.

All das läuft darauf hinaus, mit Keegan und über Keegan hinaus, an das »Wunder« zu glauben, daß eine »Konversion« der Armee als kämpfende Truppe in eine zivile Ordnungsmacht möglich ist.

Literatur

Clausewitz, C.v. (1994): Vom Kriege, Frankfurt/M. (Original: Vom Kriege, Hinterlassenes Werk des Generals Carl von Clausewitz, Berlin, Dümmler, 1832).

Dierlamm, W. (1995): Gewalt für Frieden? „Eigentlich„ Schutzmacht für die Schwachen, Wissenschaft und Frieden, 13 (3), S. 45.

European Peace Congress Osnabrück ‘98 (1998): Für eine Friedenspolitik ohne Militär, Memorandum anläßlich »350 Jahre Westfälischer Friede«, Osnabrück.

Fuchs, A. (1996): Gewalt für Frieden? Skeptisch-utopischer Nachtrag zu Pfarrer Dierlamms und anderer Vertrauensbekundung gegenüber der Staatsgewalt, Wissenschaft und Frieden, 14 (4), S. 55-58.

Keegan, J. (1997): Die Kultur des Krieges, Reinbek (Original: A History of Warfare. London/New York, 1993).

Werner Dierlamm, Pfarrer i.R., ist Mitbegründer und langjähriger Vorsitzender von »Ohne Rüstung Leben«.

Neotraditionalismus in der Bundeswehr

Neotraditionalismus in der Bundeswehr

von Detlef Bald

Zwei Tage nach der Bundestagswahl vom 27.September teilte der scheidende Verteidigungsminister in einer Presseerklärung der Öffentlichkeit noch Personalveränderungen auf achtunddreißig „militärischen Spitzenstellen„ mit. Darunter Brigadegeneral Christian Millotat, bisher Stabsabteilungsleiter III im Führungsstab des Heeres im Bundesministerium der Verteidigung, jetzt – ab 01. Oktober 1998 – Direktor Bereich Lehre an der Führungsakademie der Bundeswehr, Hamburg. Mit ihm übernimmt ein Brigadegeneral Führungsaufgaben bei der Ausbildung junger Offiziere, dessen Arbeit über »Das preußisch-deutsche Generalstabssystem« nach Meinung unseres Autors „neotradionalistische und restaurative Tendenzen in der Bundewehr„ fördert.

Als Einzelfälle des Rechtsextremismus die Bundeswehr ins Gerede brachten und daher der innere Zustand der Armee näher betrachtet wurde, forderte der ehemalige Bundeskanzler und Verteidigungsminister Helmut Schmidt in der ZEIT im Dezember 1997 eine umfassende „Selbsterforschung“ der Bundeswehr. Die hatte es schon einmal gegeben.

In den ersten Jahren der sozialliberalen Koalition nach 1969 hatte Schmidt die Verhältnisse in der Bundeswehr von mehreren Kommissionen durchleuchten lassen. Dabei war es sowohl um Wehrstruktur und -funktion als auch um Ausbildung und Bildung gegangen. Die Reform erwies sich als dringend nötig, hatten doch die wichtigsten Repräsentanten der Gründer der Bundeswehr, die Generale Adolf Heusinger, Hans Speidel und Wolf Graf von Baudissin einmütig das Scheitern der grundlegenden Militärreform der Bonner Republik festgestellt. Das war im Jahr 1969. Die Bundeswehr war seit den Planungen 1950 in die Hände der »Traditionalisten« geraten, wie Gert Schmückle die restaurativen Tendenzen gegen die Reform bezeichnete und nun hoffte, daß es mit dem »Kommiß« endlich vorbei wäre.

Der innere Zustand der Bundeswehr entsprach damals keineswegs den Zielen der Inneren Führung; diese wurde von obersten Generalen offen abgelehnt und als »Maske«, die man nunmehr ablegen könne, diffamiert. Zustände die bereits die konservativen Minister auf der Hardthöhe Kai-Uwe von Hassel und Gerhard Schröder beunruhigt hatten, ohne daß diese das Steuer gegen die Traditionalisten herumwarfen. Erst Helmut Schmidt konfrontierte die Traditionalisten mit dem Primat der parlamentarischen Politik und forderte, daß die so gerne zitierten Ideale der Scharnhorstschen Reformen – im Begriff des »Staatsbürgers in Uniform« Vorbild für die Militärreform nach 1950 – endlich ernst genommen wurden.

Das Ergebnis der Reformen nach 1969 war weitreichend. Helmut Schmidt ergänzte den ersten Teil der Militärreform, das legalistisch formale Korsett der Wehrgesetzgebung von 1955, um wichtige Elemente, damit die Bundeswehr sich zur Gesellschaft öffnen konnte. Nach Abschluß dieser Reformen des militäreigenen Bildungssystems und der sozialen Rekrutierung war vieles verändert: in der Bundeswehr spürte man einen staatsbürgerlichen Geist, die »civil mind«. Der Einfluß der Traditionalisten wurde zurückgedrängt. Die Bundeswehr gewann ihre normale Gestalt der Bonner Republik. Das hatte große historische Bedeutung. Denn was Baudissin bei der eigentlichen Gründung der Bundeswehr in Himmerod im Herbst 1950 angestrebt hatte, der »vierte Anfang« (Lutz und Linnenkamp 1995: 21ff) der demokratischen Reform des Militärs nach 1806, war schließlich in der zweiten Phase erneut das Ziel der Militärpolitik geworden.

Es gibt also, wie diese wenigen Hinweise verdeutlichen, keine geradlinige Tradition der Bundeswehr, an der direkt und einfach angeknüpft werden könnte. Auch ist selbstverständlich, daß in den späteren Jahrzehnten der militärischen Entwicklung in der Bonner Republik und nach der Einigung der deutschen Staaten sich erneut vieles verändert hat. Jede Zeit hat ihre Spuren hinterlassen, es gilt daher der Anspruch von Baudissin, die »Innere Führung« immer wieder „zeitgemäß“ zu interpretieren und umzusetzen. Das heißt, jede Generation muß die Normen an der Wirklichkeit neu messen und nach der angemessenen Übereinstimmung fragen.

Allein, in den letzten Jahren hat sich erneut ein Geschichts- und Traditionsverständnis in der Bundeswehr verbreitet, das bedenklich ist, weil man glaubt, ganz bewußt, aber scheinbar unbedarft an der Wehrmacht anknüpfen und die Militärgeschichte neu für die Bundeswehr aufbereiten zu können. Damit formt man Tradition. Tradition ist ein wesentlicher Bestandteil des Selbstverständnisses und der Geisteshaltung. Insofern steht sie in einem unabdingbaren Zusammenhang mit der Inneren Führung. Daher ist es gerechtfertigt, diesen Entwicklungen innerhalb der Bundeswehr Aufmerksamkeit zu schenken.

Eine Arbeit zur Militärgeschichte mit dem anspruchsvollen Titel »Das preußisch-deutsche Generalstabssystem« wird hier beispielhaft angesprochen, da sie eine amtliche Publikation ist. Sie wird vom Streitkräfteamt des Ministeriums hergestellt, vertrieben und Offizieren zur Verfügung gestellt. Darüber hinaus wird die dienstliche Stellung des Autors mit „Staatsabteilungsleiter III im Führungsstab des Heeres. Bundesministerium der Verteidigung“ (Millotat o.Jg.: Deckblatt) angegeben. Allein diese Nennung ist nicht ohne Brisanz, weil das Ministerium bisher in einer ganzen Reihe ähnlich gelagerter Fälle die Auffassung vertreten hat, solches sei unzulässig. Es wurde stets gefordert, jeden Hinweis auf die dienstliche Stellung zu vermeiden, da es sich um persönliche Ausarbeitungen handele, die nicht die offizielle Stellungnahme des Ministeriums zur Sache darstellten. Bei Verstößen gegen diese Anordnung hat das Ministerium bisher rigide durchgegriffen, bis hin zu Strafversetzungen (das geht jedenfalls aus verschiedenen Zeitungsberichten hervor). Im Falle des »Generalstabssystems« liegt der Sachverhalt offenbar anders und der Autor – ein Brigadegeneral – konnte ausgestattet mit dieser neuen Autorität am 1. Oktober sogar eine wichtige Funktion an einer führenden Ausbildungsstätte der Bundeswehr übernehmen.

Wenden wir uns dem Inhalt der Arbeit zu. Im »Generalstabssystem« spiegeln sich die in der neueren Phase der Bundeswehr vielfach aufgetretenen Tendenzen des Neotraditionalismus(Bald 1998: 271ff) wider. Es werden neue Traditionslinien aufgemacht, wo die historische Wissenschaft und die politische Bildung bislang Distanz empfohlen hatten. Durch scheinbar sachliche Darstellung wird ein Zugang zu einer Vergangenheit eröffnet, die bislang aus guten Gründen verschlossen war. Im Unterschied zur Hauptphase des Traditionalismus in den fünfziger Jahren werden nun Themen aufgegriffen, deren positive Bewertung damals tabuisiert war. Der deutsche Generalstab gehört dazu.

Die Schrift zum »Generalstabssystem« bietet solche Beispiele durch Weglassen oder Verkürzen der historischen Verhältnisse. Greifen wir einen Satz auf, der die Zeit des Nationalsozialismus mit den Worten charakterisiert: „In den Schlachten des Zweiten Weltkriegs zeigte der deutsche Generalstabsoffizier wiederum herausragendes Können.“ (Millotat, o.Jg.: 59) Hier wird das Fehlen vieler notwendiger Fakten und Urteile, die zur Einordnung und Problematisierung unabdingbar sind, besonders kraß deutlich. Das „herausragende Können“ kann nicht die typische Bewertung sein, auch wenn die Stäbe fachlich noch so vorzügliche Planungen vorlegten. Aber der Autor gibt keinerlei Hinweise auf die völkerrechtswidrigen Eroberungen, die sozialdarwinistische Ideologie, den Revisionismus oder die auch von Generalstabsoffizieren angeordneten Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Es fehlen jegliche Hinweise auf die Bindung durch den Eid, die Problematik der militärischen Tugenden wie Ehre, Pflicht oder Verantwortung.

Auch wenn der Autor sich nicht mit der Ausstellung über Verbrechen der Wehrmacht auseinandersetzen muß, ein so begrenztes, einseitiges und unreflektiertes, eklektizistisches Urteil über „den deutschen Generalstabsoffizier“ kann und darf nach Stalingrad heutzutage keiner abgeben. Es ist unzulässig, über das Generalstabssystem im Nationalsozialismus zu schreiben und kein Wort über die »Verquickung« mit dem NS-System zu verlieren. Zuordnungen und Abgrenzungen fehlen. So entsteht eine von inhaltlichen Problemen gereinigte Geschichtsamputation, in der das Wichtigste aus dieser Zeit ausgeblendet wird. Die Geschichte wird gesäubert und geklittert.

Herausragendes Können“ reicht nicht zur angemessenen Einordnung des Wirkens der Generalstabsoffiziere im NS-System. Denn diese Schrift wird in dieser Form, abschließend und ausschließlich, dem Leser – Offizieren an Ausbildungsstätten der Bundeswehr – zur Verfügung gestellt. Die Pauschalität des Urteils über das Generalstabssystem deckt sich kaum mit dem Traditionserlaß der Bundeswehr, nach dem das Grundgesetz den Maßstab für die Traditionspflege bildet. Auch kann die historische Zunft nicht ganz übergangen werden, deren Bewertung bei aller Differenziertheit der Aussagen nicht hinter das Urteil der Vertreter der alten Generation wie Friedrich Meinecke, Hans Herzfeld und Gerhard Ritter zurückgefallen ist, daß es im Nationalsozialismus einen besonderen Militarismus festzustellen gab. Über diese Probleme kein Wort anzudeuten, ist mehr als ein wesentlicher Mangel – es stellt einen Mangel an Wissenschaftlichkeit schlechthin dar. Solche Unterlassungen verdeutlichen jedoch die Tendenz des »Generalstabssystems«.

Das »Generalstabssystem« leistet darüber hinaus Fehldeutungen Vorschub, da es eine ganze Anzahl falscher Aussagen enthält. Beispiele aus den langen Abhandlungen zur Geschichte ließen sich viele geben, so zur bayerischen Entwicklung (S. 49) oder zu den Weimarer Verhältnissen (S. 54f). Zur Illustration ein Satz zum 19. Jahrhundert: „Die kontroversen Auseinandersetzungen um den Offiziernachwuchs und die geistige Bildung der Offiziere im 19. Jahrhundert berührten nie die Generalstabsoffiziere und ihre Rekrutierung durch Bestenauslese mittels Prüfungen.“ (S. 40) Es mag ja sein, daß der Autor einem solchen Wunschbild anhängt und die Hoffnung hegt, es hätte für die Generalstabsoffiziere eine derartige von allen Interessen und Gegensätzen befreite Welt gegeben. Ob die getroffene Aussage mehr für Illusionierung oder Idealisierung steht, mag hier gar nicht entschieden werden. Doch an diesem Zitat ist fast jedes Wort falsch.

Die Geschichte der Allgemeinen Kriegsschule sowie die Neugründungen der Kriegsakademien und der Marine-Akademie in den sechziger und siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts bezeugen das Gegenteil (vgl. Bald u.a., 1985). Schärfste Kontroversen um die Lernziele der Bildung und um ihre Notwendigkeit überhaupt kennzeichnen wiederholt lange Epochen des 19. Jahrhunderts. Reform und Restauration sind die Kennzeichen, die dann 1890 nicht zufällig ihren Niedergang mit dem Ziel fanden, im militäreigenen Ausbildungssystem den »Gesinnungsoffizier« zu erzeugen (vgl. Demeter 1962 und Bald 1982). Die Militärpolitik kreiste permanent um die Bestimmung der Generalstabsoffiziere. Es war zugleich die Kontroverse um bürgerliche Akzeptanz durch Bildungsnachweise gegen die Privilegien des Adels. Er erhielt bis 1914 tausendfachen Dispens schon von der schulischen Leistung des Abiturs; von relevanten und obligatorischen Prüfungen für alle auf diesen Akademien ganz zu schweigen. Die „Bestenauslese“ sah in der Realität völlig anders aus, als im »Generalstabssystem« behauptet wird. Die Rekrutierung folgte nämlich den klar definierten sozialen und ideologischen Kriterien des »Adels der Gesinnung« aus den »erwünschten Kreisen«, deren Umsetzung als militärpolitische Entscheidung in meterlangen Aktenbeständen im Bundesarchiv nachlesbar ist. Es gab eine dezidierte Politik der Selektion.

Sozialgeschichtliche Analysen darüber liegen seit den dreißiger Jahren vor; bildungspolitische bereits seit Ende des letzten Jahrhunderts. Es kann also nicht auf neuere, dem Autor entgangene historische Erkenntnisse zurückgeführt werden, wenn im »Generalstabssystem« eine historische Legendenbildung konstruiert wird. Das »Generalstabssystem« leidet also an faktischen Fehlern und an tendenziöser Darstellung. Beide zusammen unterstreichen den Eindruck der Geschichtsklitterung.

Nimmt man dann noch zur Kenntnis, daß diese Ausarbeitung das historische »Erbe« (S. 59) anspricht und die »Irrwege« nicht in der Zeit des Militarismus sieht, wie ein Leser erwarten könnte, sondern Irrwege nachdrücklich in Einzelbeiträgen aus der Zeit der Reformkommission von Helmut Schmidt findet, wird die vordergründige Botschaft erkennbar. Der Autor ist bestrebt, mit seiner fragwürdigen Ableitung aus der Geschichte die wesentlichen Kriterien für „die bewährte deutsche Führergehilfenausbildung“ (S. 67) zu skizzieren, um militär- und bildungspolitisch notwendige Reformen zu verhindern. Dieses „Bewährte“ wird gegen „Theorien von „Bildungspolitikern und ideologisch bestimmten Pädagogen“ (S. 69) gestellt. Daher wird nicht systematisch auf die Probleme der Ausbildungskonzeption für Generalstabsoffiziere in der Moderne eingegangen, sondern es wird aus dem Zusammenhang eine einzige aus mehreren Überlegungen in der Diskussion nach 1969 aufgegriffen und als „bildungspolitische Posse“ (S. 67) abqualifiziert.

Der Autor leitet seine aktuellen bildungspolitischen Forderungen von einem vermeintlich objektiven, epochenübergreifenden »System« ab. Dabei bedient er sich eines höchst fragwürdigen neotraditionalistischen Konstrukts der Geschichte. So leichtfüßig darf man nicht über die historische Wirklichkeit springen: die Ausbildung für die Generalstabsoffiziere war in diesen zwei Jahrhunderten in nur wenigen Phasen demokratietauglich und fachlich optimal konzipiert, in anderen gerade nur noch technokratisch-handwerklich, in den meisten Phasen jedoch von einem antidemokratischen und antiliberalen Geist so geprägt, daß dies nicht „das Bewährte“ sein kann, das in der Bundeswehr gelten soll. Ebenso ist unzweideutig, daß das Konzept der fünfziger und sechziger Jahre nicht ohne weiteres für die Bundeswehr vorbildlich sein kann. Denn es folgte in hohem Maße dem Modell der Wehrmacht (vgl. Bald 1997). Daher hatte Heusinger nach 1959 als Generalinspekteur versucht, diese traditionalistische Ausbildung abzuschaffen und handwerklich modern (gemeinsame Ausbildung) und im Geist der »Inneren Führung« zu reformieren. Er mußte 1969 feststellen, daß er gescheitert war. An der Führungsakademie erstellte Analysen haben diesen Sachverhalt selbst festgestellt (vgl. Reinhardt 1977). Den Autor des »Generalstabssystems« hindert das allerdings nicht daran, das Alte einfach als „bewährt“ zu deklarieren und damit die Geschichte der Bundeswehr zu verbiegen.

Die Schrift zum »Generalstabssystem« versteht sich im Grunde als Beitrag zur militärischen Traditionsbildung. Hinsichtlich der zitierten Passage von Hans von Seeckt, „Die Form wechselt, der Geist bleibt der alte…“ – wird angefügt: „Prägnanter können (sic) die Verknüpfung von Vergangenheit und Gegenwart des Generalstabsdienstes in den deutschen Streitkräften kaum ausgedrückt werden. Vielfältig wirkt das Erbe früherer Generalstabsoffiziere in der Bundeswehr weiter.“ (S. 60)

Zusammenfassend muß festgestellt werden: Der methodisch fragwürdige Umgang des Autors mit der Geschichte führt zu deren unzulässiger Verkürzung. Indem er ein »sauberes« Bild des Generalstabssystems im 19. und 20. Jahrhundert zeichnet und es mit schlimmen Einseitigkeiten und Fehldeutungen verbindet, fördert er neotraditionalistische und restaurative Tendenzen in der Bundeswehr.

Literatur

Bald, Detlef (1982): Der deutsche Offizier. Sozial- und BIldungsgeschichte des deutschen Offizierkorps im 20. Jahrhundert, München.

Bald, Detlef u.a. (Hrsg.) (1985): Tradition und Reform im militärischen Bildungswesen. Von der Allgemeinen Kriegsschule zur Führungsakademie der Bundeswehr. Eine Dokumentation 1810-1985, Baden-Baden.

Bald, Detlef (1997): Eine überfällige Bildungsreform: Zur Sache der Militärelite der Bundeswehr, Zusammenfassung der Literatur in: Vierteljahresschrift für Sicherheit und Frieden, Jg. 15, 3/1997, Auszüge davon: Wo ist sie geblieben, die gebildete Persönlickeit in Uniform? In: Frankfurter Rundschau, 24. Febr. 1998

Bald, Detlef (1998): Neotraditionalismus und Extremismus – eine Gefährdung für die Bundeswehr, in: Mutz, Reinhard u.a. (Hrsg.) (1998): Friedensgutachten 1998, Münster.

Demeter, Karl (1962): Das deutsche Offizierkorps in Gesellschaft und Staat 1650-1945, Frankfurt/M.

Lutz, Dieter S. und Linnenkamp, Hilmar (1995): Innere Führung. Zum Gedenken an Wolf Graf von Baudissin, Baden-Baden.

Millotat, Christian (o-D.): Das preußisch-deutsche Generalstabssystem. Wurzeln, Entwicklung, Fortwirken, Köln.

Reinhardt, Klaus (1977): Generalstabsausbildung in der Bundeswehr. Zur Konzeption und Entwicklung der Führungsakademie der Bundeswehr, Herford.

Schäfer, Paul (1998): Bundeswehr und Rechtsextremismus, Dossier Nr. 28, Beilage zu Wissenschaft und Frieden, Nr. 2/98, Bonn.

Dr. Detlef Bald war bis 1996 Wissenschaftlicher Direktor am Sozialwissenschaftlichen Institut der Bundeswehr, er arbeitet jetzt als freier Autor.

Kontinuität – Diskontinuität Bundeswehr – Wehrmacht

Kontinuität – Diskontinuität
Bundeswehr – Wehrmacht

Gespräch zwischen Klaus Naumann und Tobias Pflüger

von Klaus Naumann und Tobias Pflüger

»Alte Kameraden« und die extreme Rechte protestierten – zum Teil gewalttätig – gegen die Ausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung: Vernichtungskrieg, Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944, die seit 1995 in verschiedenen deutschen und österreichischen Städten gezeigt wurde. Doch auch von links, aus dem pazifistischen Lager gab es Kritik. Klaus Naumann vom Hamburger Institut für Sozialforschung und Tobias Pflüger von der Informationsstelle Militarisierung e.V. diskutieren das Verhältnis Bundeswehr – Wehrmacht und die Ausstellungskonzeption.

Frage: Können Sie zugespitzt formulieren, ob es Ihrer Ansicht nach eine Kontinuität zwischen Bundeswehr und Wehrmacht gibt?

K. Naumann: Die Bundeswehr ist zu recht eine »Kompromißarmee« (Martin Kutz) genannt worden. Wie die Republikgründung im Westen vereint(e) sie widerstreitende Tendenzen, die denn auch dafür gesorgt haben, daß die Streitkräfte über die ersten Jahrzehnte hinweg eine Art »Skandalarmee« geblieben sind. Neben dem restaurativen Impuls, bekräftigt durch die hohe personelle Kontinuität und mentale Reserven im Offizierskorps, stand immer auch eine beachtliche reformerische Entschlossenheit – und nicht zuletzt der Hintergrundkonsens, daß es ein zurück zur Wehrmacht wohl oder übel nicht geben könne und dürfe. Wie Arnulf Baring von einer schubweisen Staatsgründung der Bundesrepublik gesprochen hat, könnte man vielleicht auch von einer etappenweisen Gründungsgeschichte der Bundeswehr sprechen; etwa wenn man die bescheidenen Anfänge der »Himmelroder Denkschrift« von 1950 mit der Wehrverfassung der mittfünfziger Jahre und diese dann mit den strukturellen Umbrüchen der Reformperiode am Ende der sechziger Jahre (Weißbuch, 1970) vergleicht. Die große Herausforderung, gleichsam die späte Probe auf die reformerische Gründungsidee, kommt erst in den letzten Jahren nach der deutschen Vereinigung, Auslandseinsätzen, Truppenintegration, NVA-Auflösung und dem veränderten Verteidigungskonzept auf die Bundeswehr zu.

T. Pflüger: Es gibt einen Unterschied zwischen dem praktizierten und dem proklamierten Traditionsverständnis der neuen Bundeswehr. Volker Rühe formulierte auf der Wehrkundetagung 1995 in München als Grundsatzposition: „Die Wehrmacht war als Organisation des Dritten Reiches, in ihrer Spitze, mit Truppenteilen und mit Soldaten in Verbrechen des Nationalsozialismus verstrickt. Als Institution kann sie deshalb keine Tradition begründen. Nicht die Wehrmacht, aber einzelne Soldaten können traditionsbildend sein – wie die Offiziere des 20. Juli, aber auch wie viele Soldaten im Einsatz an der Front.“ In der Praxis gewinnt der letzte Teilsatz – „wie viele Soldaten im Einsatz an der Front“ – immer mehr an Bedeutung. Trotz aller Diskussion sind Kasernen, Schiffe und Einheiten der Bundeswehr nach Wehrmachtsgrößen benannt. Es gibt bei der Bundeswehr eine intensive Traditionspflege mit »Alten Kameraden« der Wehrmacht. Dabei werden rechtskonservative und rechtsextreme Haltungen vermittelt und gepflegt. Selbst die Wehrbeauftragte, Claire Marienfeld, sagt im Jahresbericht 1997: „Um so mehr beobachte ich mit Sorge, daß innerhalb der Bundeswehr gleichwohl die gebotene Distanz zur deutschen Wehrmacht insgesamt, aber auch zu einzelnen Personen aus der deutschen Wehrmacht nicht immer und überall eingehalten wird.“ Meine These ist: Es fehlt nicht nur an einigen Stellen die Distanz zur Wehrmacht, die Distanz ist nicht (mehr) gewollt. Die alte Bundeswehr, offiziell zur Landesverteidigung da, hat geschichtlich gesehen nur den Charakter einer Übergangsarmee gehabt. Die neue Bundeswehr wird kriegsfähig gemacht, dazu knüpft sie bewußt auch an Traditionen der Wehrmacht an. Ein Beispiel: Die Elitetruppe der Bundeswehr, das Kommando Spezialkräfte (KSK) hat offiziell die Patenschaft für das Kamaradenhilfswerk der ehemaligen 78. Sturm- und Infanteriedivision der Wehrmacht übernommen, einer Eliteeinheit, die 1943 nachweislich Verbrechen auch an der sowjetischen Zivilbevölkerung begangen hat. Die Bundeswehr selbst stellt hier Verbindungen her, die skandalös sind!

Frage: Im Zusammenhang mit der Ausstellung »Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944«, die Sie, Klaus Naumann, mit konzipiert haben, gibt es in Deutschland eine Debatte um die Wehrmacht, die zum Teil auch eine Debatte um Militär als solches ist. Sollte die Debatte um die Wehrmacht ausgedehnt werden auf das derzeitige deutsche Militär, die Bundeswehr, oder sollte nur über die Rolle der Wehrmacht diskutiert werden?

T. Pflüger: Eine ausschließliche Debatte über die Wehrmacht ist meiner Ansicht nach gar nicht möglich. Wir haben es mit zwei ineinander verwobenen Debatten zu tun. Durch die Ausstellung »Vernichtungskrieg« wurde etwas erreicht, was zuvor nicht möglich war: Der Mythos der »sauberen Wehrmacht« wurde gebrochen. Die Wehrmacht wurde enttabuisiert. Das ist das Verdienst der Ausstellungsmacher und ein Ergebnis der gesellschaftlichen Debatte, die sich anhand der Ausstellung entwickelte. In vielen Familien wurde (endlich) über die damalige Zeit und die Wehrmacht gesprochen oder gestritten. Der nächste Schritt ist nun, aus der Geschichte der Wehrmacht Lehren zu ziehen, Lehren für heute. Und dann sind wir mitten drin in der Diskussion um Militär als solches und die Bundeswehr. Die Rolle der Wehrmacht für die Bundeswehr muß im Zusammenhang mit den rechtsextremen Vorfällen dringend diskutiert werden.

K. Naumann: Was die Intention der Ausstellung betrifft, möchte ich etwas anders argumentieren als Tobias Pflüger. Ich halte es für dringend geboten, sich diesen – historischen – Befunden überhaupt erst einmal auszusetzen, bevor der Ruf nach den »Lehren« laut wird. Die Ausstellung ist ja im Kern ganz und gar keine »Wehrmachts-Ausstellung«, obwohl sie oft so tituliert wird. Vielmehr will sie ein deutsches Bevölkerungssegment zeigen, das wohl am nachhaltigsten in die NS-Verbrechen involviert war – als Täter und Tatgehilfen, Zeugen, Zuschauer und Mitwisser. Die Enttabuisierung der »sauberen« Wehrmacht ist in diesem Sinne ein »Abfallprodukt« der Ausstellung. Noch einmal gesagt: dem Hamburger Institut geht es hier in erster Linie um ein – freilich umfangreiches! – Segment der deutschen »Volksgemeinschaft«. Insofern kann und sollte man unter diesem Aspekt durchaus »nur« über die Wehrmacht, über die Erfahrungen unserer Eltern- und Großelterngeneration und über die familiären Traditionen sprechen! Die Schlußfolgerungen für heute werden dann auch sehr vielfältig sein – und keineswegs nur militärischer oder militärpolitischer Natur! Das erübrigt nicht die Eigenproblematik des deutschen Militärs; ich möchte hier nur die Relationen anders ziehen…

Frage: Sie, Tobias Pflüger, haben „Kritik an der Grundthese der Ausstellung zur Wehrmacht“ geübt. Was meinen Sie genau damit?

T. Pflüger: In der Einleitung des Ausstellungskataloges heißt es: „Die Wehrmacht führte 1941 bis 1944 auf dem Balkan und in der Sowjetunion keinen »normalen Krieg«, sondern einen Vernichtungskrieg gegen Juden, Kriegsgefangene und Zivilbevölkerung, dem Millionen zum Opfer fielen“ (Hannes Heer / Ausstellungskatalog, Seite 7). Besser wäre meiner Ansicht nach zu sagen: Die Wehrmacht führte 1941 bis 1944 auf dem Balkan und in der Sowjetunion einen Vernichtungskrieg gegen Juden, Kriegsgefangene und Zivilbevölkerung, dem Millionen zum Opfer fielen; dieser Vernichtungskrieg unterschied sich von anderen Kriegen. Die Grundthese der Ausstellungsmacher könnte so verstanden werden: Dieser Vernichtungskrieg war absolut zu verurteilen, andere Kriege können notwendig sein. Aber: Ist nicht jeder Krieg ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, unabhängig von seiner Schärfe? Es wird – wenn auch in Anführungszeichen – von »normalen Kriegen« im Gegensatz zum Vernichtungskrieg gesprochen. Können Kriege normal sein? Ein Ziel der Ausstellung ist es wohl auch, daß der Vernichtungskrieg aufgearbeitet werden muß, verbunden mit dem Wunsch, daß für die Zukunft solche Vernichtungskriege verhindert werden müssen, ohne gleichzeitig die grundsätzliche Frage nach Sinnhaftigkeit von Krieg und Militär als solchem stellen zu müssen. Die offizielle Politik hätte das »Angebot« der Ausstellungsmacher eigentlich begierig aufgreifen müssen, es würde in die von dort (u.a. durch die Herzog-Rede zur Außenpolitik) miterzeugte Grundstimmung (»Wir sind wieder wer!«) hineinpassen. Doch es kam anders: Auch von den Ausstellungsmachern wurde die Schärfe und gesellschaftliche Relevanz der geschichtlichen Leugnung der Wehrmachtsverbrechen unterschätzt. Der zweite Teil der Grundthese der Ausstellung ist zwischen uns natürlich absoluter Konsens: „Die deutsche Militärgeschichtsschreibung hat zwar viel zur Aufklärung dieses Tatbestandes beigetragen, sie weigert sich aber einzugestehen, daß die Wehrmacht an allen diesen Verbrechen aktiv und als Gesamtorganisation beteiligt war“ (Hannes Heer / Ausstellungskatalog, Seite 7).

K. Naumann: Tatsächlich liegen unsere Differenzen nicht in der Bewertung der Historiographie, sondern in der Wahrnehmung der Ausstellung und ihrer »Aussagen«. Die Ausstellung fokussiert allein und ausschließlich den »Vernichtungskrieg«, und sie dringt damit implizit auf eine Differenzierung, die an den zivilisatorischen Normen der Moderne orientiert ist. Sie formuliert keine These über den Krieg »als solchen«, sondern macht diese Normüberschreitung zum Skandalon. Die »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« (bzw. „gegen die Menschheit“; wie in Nürnberg formuliert) würden m.E. zur billigen Münze verkommen, wenn man daraus eine moralphilosophische Allaussage machen würde! Wohl gemerkt, das kann man tun – aber man vergibt sich damit der Möglichkeit zu moralischer und politischer Differenzierung, also all jener Möglichkeiten, die wir in der Debatte um Bosnien, den Kosovo, UN-Einsätze u.a.m. so rasch im Munde führen. Im übrigen erinnert dieses Argument, es gebe keinen »normalen« Krieg, an das Kernargument der überzeugten Militärs, die mit dem US-General Sherman die »war is hell«-These vertreten. Krieg ist, wenn er einmal begonnen hat, die Hölle, denn es gibt nichts und kann nichts geben, was dann noch seinen Selbstlauf aufhält. Also, so die hard-core-Militärs, ist alles erlaubt – oder dezenter formuliert: leider unvermeidlich. Diese Art von Grundkonsens würde ich allerdings gerne aufkündigen…

Frage: Jan Philipp Reemtsma formuliert in seinem Essay »Trauma und Moral«: „So bildeten auf einmal ein Teil der Veteranen dieses Krieges (ein Teil, der andere Teil schrieb Dankesbriefe und bot weiteres Archivmaterial an) und die Träger des pazifistischen Affekts eine Koalition der Verleugnung. Bestanden die einen darauf, in einem ganz normalen Krieg gekämpft zu haben, an dessen Rändern allenfalls von der Wehrmacht säuberlich getrennte Kommandos Unerfreuliches angerichtet hätten, so wollten die anderen gleichfalls nicht gelten lassen, daß in diesem Krieg anderes geschehen sei, als in Kriegen immer geschehe“ (zit. nach Kursbuch 126, Berlin 1996). Klaus Naumann, Sie haben sich einmal ähnlich geäußert: „Das Bezeichnende lag im Hintergrundkonsens, denn sowohl für die skizzierte Veteranenmeinung wie für jene Nachgeborenen, die einem“pazifistischen Affekt« folgten, in dem sich alle Kriege als Kriege ineinanderschoben, und auch für den kalten Analytiker war das Resultat das gleiche: Die differentia specifica des Vernichtungskrieges verschwand. Der Blick war getrübt“ (zit. nach Blätter für deutsche und internationale Politik 12/97).

K. Naumann: In der Debatte um die Ausstellung sind diese Argumente, angesiedelt bspw. im Umkreis der »Soldaten sind Mörder«-These, immer wieder aufgetreten. Das Interessante daran ist eine Art stillschweigendes Kommunikationsbündnis, wenn man diese paradoxe Formulierung einmal riskieren will. Schließlich ist die Tatsache erklärungsbedürftig, warum die Legende von der »sauberen« Wehrmacht gut fünfzig Jahre überdauern konnte – obwohl doch die Nürnberger Prozesse und später die historische Forschung (seit den 80er Jahren) längst den Gegenbeweis angetreten hatten. Dahinter verbirgt sich offenbar ein schwerwiegendes moralisches Problem, das wiederum von Fragen der Urteilskraft nicht zu trennen ist. Kriegsächtung fällt in diesem Horizont »leichter« als die explizite Konfrontation, das »Durcharbeiten« einer singulären Gewalterfahrung. Man kann darin sicher auch den Reflex einer fortdauernden Verstörung erkennen, der sich über die Teilnehmergeneration bis in die Folgegeneration ausdehnt (vgl. meinen Beitrag Die »saubere« Wehrmacht. Gesellschaftsgeschichte einer Legende, in: Mittelweg 36, 4/1998). Insofern geht der »pazifistische Affekt« viel weiter als der organisierte und unorganisierte Pazifismus. Auswirkungen auf die Friedensforschung – etwa der 80er Jahre bzw. ihrer konzeptionellen Lücken in den 90er Jahren – vermute ich darin, daß sie sich jenseits der Abrüstungsforderungen, Konversionsmodelle und »Raketenzählerei« auf eine immanente Auseinandersetzung mit Streitkräftekonzepten, Fragen der Wehrstruktur, Verteidigungsstrategien usw. selten wirklich eingelassen hat. Es reicht einfach nicht aus, wie Jürgen Grässlin (Lizenz zum Töten. Wie die Bundeswehr zur internationalen Eingreiftruppe gemacht wurde. Knaur: München, 1997) der Bundeswehr eine Forderung nach fünfprozentiger Abrüstung pro Jahr vor die Füße zu werfen, der Frage danach, was eigentlich als »Verteidigungsauftrag« zu gelten hätte, aber auszuweichen.

T. Pflüger: Erschreckend ist, daß ihr den sogenannten »pazifistischen Affekt« für die lange Haltezeit des »Mythos der sauberen Wehrmacht« mitverantwortlich macht. Ihr stellt völlig verschiedene Personen (hier Verbrechen leugnende Wehrmachtssoldaten, dort PazifistInnen) auf eine Ebene. Notwendig wäre statt dessen, die offenbar noch vorhandene militärkritische Grundstimmung aufzugreifen und zu fundieren. Wir sind uns einig, daß eine (grundlegende, nicht nur immanente) Auseinandersetzung (auch Friedensforschung und -bewegung haben hier ein Aufgabenfeld) mit Strategie und Struktur der neuen Bundeswehr notwendig ist. Es geht nicht mehr nur um Verteidigung sondern auch um Krieg. Die Bundeswehr wurde und wird qualitativ aufgerüstet (neue Strategie, Struktur, Bewaffnung), sie ist kleiner, aber schlagkräftiger geworden. Forderungen nach quantitativer Abrüstung alleine gehen deshalb an den tatsächlichen Problemen vorbei. Notwendig sind erste Schritte qualitativer Abrüstung. Konkret: Rücknahme der »Verteidigungspolitischen Richtlinien«, Stopp des Exports neuer und alter Waffensysteme, Stopp derzeit laufender Beschaffungsprojekte, Auflösung der Krisenreaktionskräfte und des Kommandos Spezialkräfte.

Frage: Der Münchner Oberbürgermeister Christian Ude hat in seiner Rede zur Eröffnung der Ausstellung »Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944« im Auditorium Maximum der Ludwig-Maximilians-Universität München u.a. gesagt: „Aber ich frage mich ernsthaft, was heutzutage in Köpfen vorgeht, die allen Ernstes behaupten, die Dokumentation von Kriegsverbrechen in Hitlers Vernichtungskrieg treffe auch die Bundeswehr. Wer so daherredet, hat weder die Fundamente des demokratischen Neubeginns 1945 begriffen, noch Wesen und Auftrag der Bundeswehr. Die auf das Grundgesetz vereidigte Armee eines demokratischen Rechtsstaats, die in die Völkerfamilie eingebettet ist und einen ausschließlichen Verteidigungsauftrag hat, hat doch wirklich nichts gemein mit einer Armee, die auf Adolf Hitler persönlich geschworen hat, sich selbst zur zweiten Säule des nationalsozialistischen Regimes erklärte und auf Befehl dieses totalitären Regimes einen Angriffs- und Vernichtungskrieg in viele Länder getragen hat. Gerade diese Dokumentation zeigt, wozu eine Gewaltherrschaft und ein Unrechtsregime fähig sind, und daß sie nur mit den Mitteln bewaffneter Gewalt gestoppt und zurückgeworfen werden können. Aus dieser Erfahrung schöpft die Bundeswehr als Armee eines demokratischen Rechtsstaates, die den Prinzipien des humanitären Völkerrechts verpflichtet ist, ihre Legitimation. Diese Bundeswehr ist zur Wehrmacht des »Dritten Reichs« geradezu ein Gegenentwurf.“  Was meinen Sie dazu?

K. Naumann: Ich möchte der emphathischen Seite von Christian Udes Formulierung zustimmen, zugleich aber auf Defizite im Ist-Zustand hinweisen. Die Crux liegt in dem eingangs erörterten Doppelcharakter der Bundeswehr als einer »Kompromißarmee«. Gerade dieser Kompromiß hat – neben allen seinen Verdiensten – auch verhindert, daß sich die Streitkräfte offensiv und schonungslos der sog. Traditionsfrage gestellt haben, mit der ja höflich umschrieben ist, daß jegliche deutsche Armeegründung auf einem historischen Hintergrund erfolgen mußte, der nur geringste »positive Werte« und bestandsfähige Traditionen anbieten konnte. Man denke an die jahrelange, zunächst dreiste und dann gequälte Debatte um den 20. Juli und den militärischen Widerstand, der sich dann übrigens wie eine Deck-Erinnerung vor die vielen Untiefen der Traditionsfrage geschoben und diese verdeckt hat. Eine Auseinandersetzung mit militärischem Ungehorsam jenseits des Elite-Widerstandes hat die Bundeswehr – Stichwort Deserteure – bis heute gescheut. Und genauso ist keine Auseinandersetzung geführt worden über die Konsequenzen des Vernichtungskrieges für die Truppenverfassung, Ausbildung, Innere Führung usw. Die Argumentationspraxis läuft vielmehr häufig so, daß agile Militärdozenten versichern, durch die Innere Führung sei eigentlich alles »abgedeckt«. Beunruhigend sind in diesem Zusammenhang alle jene Hoffnungen oder Erwartungen, mit Auslandseinsätzen und dergleichen werde sich zukünftig eine Art »Rückkehr« zum »Eigentlichen« (Ernstfall, Bewährung, Kampf, Soldatentum) vollziehen. Gerade solche Tendenzen gegenüber sollte die Formulierung von Christian Ude, die Bundeswehr sei ein »Gegenentwurf« zur Wehrmacht, ernst genommen werden.

T. Pflüger: Es gibt einen »Mythos der sauberen Bundeswehr« und die Äußerung von Christian Ude ist ein typischer Beleg dafür. So einfach ist es eben nicht. Man kann nicht außer acht lassen, daß in der Bundeswehr heute auch Angriffe geübt werden (Kommando Spezialkräfte und andere Krisenreaktionskräfte), einen „ausschließlichen Verteidigungsauftrag“ gibt es nicht (mehr).

Frage: Am 10. November 1997 gab es folgende dpa-Meldung: Freising (dpa) – Die jüngsten Fälle von Rechtsextremismus in den deutschen Streitkräften (Bundeswehr) sind nach Ansicht katholischer Militärseelsorger auch eine Folge der Auslandseinsätze der Truppe. Der Ernstfall ändere das Selbstverständnis der Soldaten, sagte der Chef des Grundsatzreferats im Katholischen Militärbischofsamt, Harald Oberhem, in einem dpa-Gespräch am Montag. Im Auslandseinsatz frage ein Soldat nicht, wie sein Vater in der Bundeswehr diente, sondern was sein Großvater in der Wehrmacht des Dritten Reichs gemacht habe. „Da geht es dann um deutsche Soldaten im Krieg bis zum Nachsingen von Wehrmachtsliedern, die in der Bundeswehr bisher keine Rolle spielten.“ Was meinen Sie dazu?

T. Pflüger: Diese Aussage geht in die gleiche Richtung wie meine These, daß nun, mit dem erweiterten Auftrag der neuen Bundeswehr, wieder verstärkt auf Traditionen der Wehrmacht gesetzt wird. Offensichtlich wird dieses Phänomen auch innerhalb der Bundeswehr diskutiert. In einer nichtöffentlichen Studie des Oberstleutnants Henning Hars von der Führungsakademie der Bundeswehr heißt es z.B.: „Die im engeren Sinne militärischen Leistungen der Soldaten der Wehrmacht gewinnen hier Vorbildcharakter, der auf Verbände, Großverbände und die Wehrmacht in ihrer Gesamtheit ausgedehnt wird. Deren militärhandwerkliche Qualitäten werden als Meßlatte an die eigene soldatische Professionalität angelegt. Die im gültigen Traditionserlaß gemachte Differenzierung, die durchaus zwischen tugendhafter Pflichterfüllung des einzelnen und der Rolle der Wehrmacht als militärischem Instrument des Dritten Reichs unterscheidet, wird durch die Betonung der Gemeinsamkeiten der Kriegsführungsmerkmale überlagert. … Die Generale und Admirale der Wehrmacht mögen noch so überzeugende Operationen geführt haben; ihre Demokratiefeindlichkeit hat überhaupt erst möglich gemacht, daß sich ein NS-Regime etablieren konnte. … Der Schritt von unreflektierter Bewunderung der Wehrmacht und ihrer Truppen bis hin zu rechtlich fragwürdigem und politisch extremem Verhalten ist deshalb klein.“

K. Naumann: Dem möchte ich grundsätzlich zustimmen. Das »operative Denken«, das im deutschen Militär seit langem im Vordergrund stand, ist wieder auf dem Vormarsch, und mit dem Rückblick auf die – sozusagen unschuldigen – operativen Highlights der deutschen Wehrmacht. Im Grunde genommen haben wir es hier mit einer argumentativen Kippfigur zu tun. Für die einen reduziert sich die Wehrmacht dann auf ihre Kampfkraft, für die anderen ist eben diese Reduzierung das Brückenargument, um auch den »ganzen Rest« (an Tugenden, Ehrvorstellungen, Soldatenbild usw.) für akzeptabel zu halten. Je mehr die soldatischen Phantasien sich einem hypostasierten »Ernstfall« zuwenden, desto deutlicher wird der schmale Grad, der bisweilen zwischen Kameradschaft und Komplizentum verläuft. Das konnte man übrigens bei Interviews mit Soldaten während der Ausstellung deutlich beobachten (vgl. meinen Beitrag: Kameraden oder Komplizen. Der Zweispalt ganz normaler Berufssoldaten, in: Hamburger Institut (Hg.), Besucher einer Ausstellung. Hamburger Edition: Hamburg, 1998 i.E.).

Frage: Welche Konsequenzen sollte die Bundeswehr grundsätzlich aus den Erfahrungen (mit) der Wehrmacht ziehen?

K. Naumann: Ich möchte noch einmal hervorheben, daß die Bundeswehr, besser gesagt, die Politik, mit der Wehrverfassung und der Inneren Führung, dem Leitbild des »Bürgers in Uniform« und der parlamentarischen Kontrolle der Bundeswehr (inkl. Wehrbeauftragten) grundsätzliche Konsequenzen aus der Wehrmachtserfahrung gezogen hat. Das ist das eine. Brisant wird die Bezugnahme auf die Wehrmacht in der gegenwärtigen Phase durch die vielfältigen Umbrüche, die zu einer Prüfung einer ganzen Reihe sicherheits- und militärpolitischer Grundentscheidungen herausfordern. In einer solchen Situation ist es nicht allein sinnvoll, sondern auch politisch dringend geboten, sich erneut über die Gründungsformeln und deren »Gegendaten« zu verständigen. Im Falle der Bundeswehr ist das der doppelte Rückblick auf Wehrmacht undBundeswehrgründung. Im Lichte neuer – zu erörternder – sicherheitspolitischer Anforderungen und (nicht immer ganz) neuer historischer Befunde sollten die Bestände überprüft, Bilanz gezogen und eine Reihe von Entscheidungen vordiskutiert werden – etwa die »Einsatztauglichkeit« der inneren Führung, die Frage des Übergangs zur veränderten Wehrstruktur mit einem Kern von Berufssoldaten, die Zukunft des »Bürgers in Uniform« (der Bürger, nicht Staatsbürger ist!) in einem solchen Fall, die Auseinandersetzung mit den Konsequenzen der neuen Konflikt- und Kriegsbilder (man lese nur die pessimistische Prognose von Martin von Crefeld, die Zukunft des Krieges. München, 1998.).

T. Pflüger: Die Frage nach einer aktiven Kriegsteilnahme stellte sich in Deutschland lange Zeit nicht. Jetzt steht das Thema wieder auf der Tagesordnung, wenn auch unter anderen Vorzeichen. Die angesprochenen »Kämpfertypen« sind ein Teil der neuen Bundeswehr. Genau dort sehe ich derzeit die größte Gefahr (vgl. hierzu u.a. mein Buch: Die neue Bundeswehr, Neuer ISP-Verlag, Köln, 1997). Bei den Kampftruppen wird auch die Tradition der Wehrmacht aufgegriffen, Henning Hars schreibt dazu: „Die Kampfmotivation könnte sich rein theoretisch zu einem erheblichen Teil aus der gemeinsamen, erfolgreichen Bewältigung von fordernden Ausbildungs- und Übungsabschnitten entwickeln. Die auffällig gewordenen speziellen Einheiten und Verbände pflegen aber in bewußter Abgrenzung zu anderen Truppen ein Ethos des Kampfes, das sich nur partiell auf eigene Erfolge, sondern in starkem Maße auf die dokumentierten, im engsten Sinne militärischen Leistungen der »Waffengattung« in der Wehrmacht abstützt.“ Fallschirmjäger, Gebirgsjäger, Kampfschwimmer, Grenadiere oder das Kommando Spezialkräfte sind für Rechte Anziehungspunkte. Es ist deshalb das Gebot der Stunde, daß eine andere Bundesregierung als erstes diese Kampftruppen auflöst.

Frage: Welche Konsequenzen müßten Ihrer Ansicht nach für die Bereiche Militär und Außenpolitik aus der Verquickung der Wehrmacht in die Verbrechen der Deutschen im »Dritten Reich« gezogen werden?

K. Naumann: In der Bosnien-Debatte von 1995 hatte sich m.E. wieder einmal schlagend gezeigt, daß der Umgang mit den »Lehren« der Geschichte nicht eindeutig ist. Soll die Bundeswehr sich – nach Srebrenica – wegen oder trotz des Angriffskrieges und des Okkupationsregimes der vierziger Jahre an einer internationalen Friedenstruppe beteiligen? Gebietet »die Geschichte« besondere Zurückhaltung oder entschiedenes Engagement? Nach 1990 stellt sich diese Frage wiederum modifiziert: Was kann und soll die »neue« Bundesrepublik aus dem Erbe der »alten« mitnehmen – und wo kann und muß sie anders agieren? Wie kann sie ihre unübersehbare Stärke am besten und sinnvollsten einbringen? (Andrei Markovits und Simon Reich diskutieren diese Fragen gerade in ihrem neuen Buch: Das deutsche Dilemma. Die Berliner Republik zwischen Macht und Machtverzicht. Fest, Berlin, 1998). Kurzum, die Konsequenzen für Militär und Außenpolitik sind zwar normativ eindeutig (und erfordern die zuvor diskutierten Strukturen), entscheidungspraktisch aber vieldeutig. Entscheidend ist die normative Rückbindung an Verfassung und Menschenrechte – aber auf dieser Grundlage geht die Debatte erst richtig los!

Pflüger: Ich stimme dem zu, daß die Debatte jetzt erst richtig losgeht. Eine Frage könnte sein: Wollen wir eine Bundeswehr, die in ihren Kernteilen eigentlich für Kampfeinsätze ausgebildet wird, aber ihre Akzeptanz durch Einsätze an der »Oder-Front« bekommt? Ich für meinen Teil sage dazu nein, diese neue Bundeswehr will ich nicht. Die deutsche Regierung sollte auf dem Hintergrund des Dritten Reiches, von Auschwitz und dem Vernichtungskrieg eine sehr sensible Haltung zu weltweiten Militäreinsätzen einnehmen. In Japan ist es bis heute weitgehend gesellschaftlicher Konsens, daß aufgrund von Hiroshima und Nagasaki eine sehr zurückhaltende Militärpolitik betrieben wird. Warum gibt es in Deutschland nicht diesen gesellschaftlichen Konsens? Oder ist er doch latent vorhanden? Eine Lehre aus der Geschichte könnte eine allgemein militärkritische Haltung sein. Für mich stehen Ideen wie »Deutschland als internationaler Zivildienstleistender« (mit dem Problem, daß ZDL immer auch in Kriegsplanungen eingebunden sind) oder »Bundesrepublik ohne Armee« nach wie vor auf der Tagesordnung. Im Sinne des diesjährigen Mottos der Friedensdekade könnte man/frau sagen: „Eine/r muß anfangen – aufzuhören“.

Dr. Klaus Naumann ist Historiker und Journalist; seit 1992 wissenschaftlicher Mitarbeiter des Hamburger Instituts für Sozialforschung; Mitherausgeber der „Blätter für deutsche und internationale Politik“ (Bonn).
Tobias Pflüger ist geschäftsführendes Vorstandsmitglied der Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V., Mitglied der W&F-Redaktion.