Unsichtbare Wunden

Unsichtbare Wunden

Posttraumatische Belastungsstörungen als Folge von Krieg und Gewalt

von Fabian Virchow, Willi Butollo, Roger Braas und Karin Griese

Beilage zu Wissenschaft und Frieden 3/2009
Herausgegeben von der Informationsstelle Wissenschaft und Frieden

»Sprechen über PTBS«

von Fabian Virchow

Sprechen über PTBS – so überschrieb das Monatsmagazin des Deutschen BundeswehrVerbandes im Juni einen Beitrag über „einsatzbedingte psychische Störungen bei Soldaten“ und konzedierte, dass dieses Problem in den letzten Monaten verstärkt öffentlich wahrgenommen und diskutiert würde.1 Dass unter den SoldatInnen Unzufriedenheit über die von der Bundeswehr angebotene medizinische Betreuung in Sachen »Posttraumatische Belastungsstörung« (PTBS bzw. engl. PTSD/Post-Traumatic Stress Disorder) herrscht, ging aus einem kurz darauf veröffentlichten Beitrag hervor: „So müssten sich eigentlich 40 Bundeswehr-Ärzte um das Problem kümmern, es seien jedoch nur 22 Stellen besetzt. Am Einsatzort sei es fast unmöglich, kompetente Ansprechpartner zu finden“.2 Aufgrund dieser Situation sei die Gefahr einer (zu) späten Diagnostizierung gegeben.

Die Bundeswehr sieht sich im Zuge der Umwandlung der Bundeswehr zu einer »Armee im Einsatz« auch mit einer wachsenden Zahl von Todesfällen oder kriegsbedingten Erkrankungen in den eigenen Reihen konfrontiert. Zu letzteren zählt die PTBS/PTSD „als eine verzögerte oder protrahierte Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation kürzerer oder längerer Dauer, mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde“.3 PTBS/PTSD umfasst verschiedene psychische bzw. psychosomatische Symptome, die chronisch werden können oder als Trauma relevant werden. PTBS/PTSD tritt nicht nur als Folge von Kriegshandlungen auf, sondern insbesondere in Verbindung mit tief in die Persönlichkeit des betroffenen Individuums eingreifenden Gewalterfahrungen, z.B. bei KZ-Häftlingen oder in Fällen sexualisierter Gewalt. Im Unterschied zur akuten Belastungsreaktion spricht man von PTBS/PTSD ab einer Dauer von einem Monat.

Die PTBS/PTSD-Symptome wurden bereits früh vom Freud-Schüler Abram Kardiner aufgeführt4; zu diesen gehört das wiederholte Erleben des Traumas mit Gefühlen extremer Angst, von Entsetzen und Hilflosigkeit. PTBS/PTSD wird erlebt als Gefühl des Betäubtseins und emotionale Abstumpfung bzw. Gleichgültigkeit und Teilnahmslosigkeit gegenüber der Umwelt. Häufig kommt es auch zu übermäßiger Schreckhaftigkeit und Schlafstörung sowie zu Depressionen, die bis zu Suizidgedanken reichen. In manchen Fällen chronifiziert sich die Störung und geht in andauernde Persönlichkeitsveränderungen über. Als Diagnose fand PTBS/PTSD erstmals 1980 Eingang in das international relevante, von der American Psychiatric Association (APA) herausgegebene Diagnose-Handbuch DSM III (aktuelle Fassung: DSM IV), wo es unter 309.81 als Form der Angststörung aufgeführt wird.

In der Forschung sind Risikofaktoren identifiziert worden, die einzeln oder in Kombination das Auftreten von PTBS/PTSD wahrscheinlichkeitstheoretisch begünstigen; als prätraumatische Risikofaktoren liegen diese zeitlich vor dem traumatischen Ereignis (z.B. bereits existierende psychische Probleme, sozial Isolation, Aufwachsen in Armut, soziale Marginalisierung, Dissozialität eines Elternteils, autoritäres elterliches Verhalten).5 Die Risikofaktoren können jedoch auch in der traumatischen Erfahrung selbst begründet sein oder als posttraumatische Risikofaktoren auftreten.

Vom »Kriegszitterer« zu PTSB/PTSD

Auch wenn PTBS/PTSD erst im Jahr 1980 als klinischer Zustand offiziell anerkannt wurde, gab es für das Krankheitsbild bereits in den früh(er)en Kriegen des 20. Jahrhunderts die Bezeichnung »Kriegsneurose« (»shell shock«). Als »Kriegszitterer« wurden jene Soldaten des Ersten Weltkriegs bezeichnet, die von schwerem Schüttelfrost gebeutelt wurden. Während für die Erkrankung die spezifische Konstellation eines lang andauernden Stellungs- und Grabenkrieges mit massivem Granatbeschuss verantwortlich gemacht werden kann6, wurden die betroffenen Soldaten – erleichtert durch die Vielzahl der auftretenden Krankheitsbilder, die sich nicht auf Bewegungsstörungen beschränkten – häufig als »Drückeberger« denunziert. Entsprechend sollten die Soldaten mit Eiswasserergüssen, wochenlangen Isolationsfoltern oder Elektroschocks zur Räson gebracht (»behandelt«) werden. Die Methode der Faradisation mittels elektrischer Ströme trat dabei in den Vordergrund: die betroffenen Soldaten erhielten Elektroschocks, denen sich militärische Kommandos anschlossen bis sie die Flucht aus der Krankheit in die Gesundheit antraten und »freiwillig« an die Front zurückkehrten.7 Auch mit anderen Methoden wie Hypnose konnte die sogenannte »Frontfähigkeit« nur in wenigen Fällen wieder hergestellt werden. Daher lag das Interesse des Kriegsministeriums bald beim Bemühen, die Erkrankten wieder arbeitsfähig zu machen – etwa in den rückwärtigen Munitionsfabriken –, um die mit etwaigen Rentenansprüchen verbundenen ökonomischen Kosten möglichst gering zu halten. Hinsichtlich der sogenannten »Kriegsneurosen« in Deutschland während und nach dem Ersten Weltkrieg war sich die deutsche Kriegspsychiatrie mit der großen Mehrheit der bürgerlichen Intelligenz, des Offizierskorps und der Generalität darin einig, der vermuteten kontraselektorischen Auswahl des Krieges gegenzusteuern.

Mit den ersten militärischen Niederlagen der Nazi-Wehrmacht stellten sich erneut spezifische »Kriegsneurosen« ein; die Häufung von Übelkeit und Erbrechen führte zur Aufstellung sogenannter »Magenbataillone«. Quasi in Radikalisierung der bereits im Ersten Weltkrieg anzutreffenden starken Tendenz der Kriminalisierung kriegsneurotischer Patienten8 bemühten sich Militärpsychiatrie und eine rücksichtslose Kriegsgerichtsbarkeit darum, dass die Angst vor Bestrafung größer war als die Angst vor dem Krieg.9

Nach Schätzungen des dem US-Amt für Veteranen-Angelegenheiten zugeordneten » National Center for Post-Traumatic Stress Disorder« (http://www.ncptsd.va.gov/ncmain/index.jsp) litt jeder Zwanzigste der US-Soldaten des Zweiten Weltkrieges an PTBS/PTSD-Symptomen; noch im Jahr 2004 erhielten 25.000 Veteranen dieses Krieges Kompensationszahlungen wegen PTBS/PTSD-Erkrankungen. Aus einer Zusammenstellung verschiedener Studien durch den »San Francisco Chronicle« ergeben sich für den Vietnam-Krieg, die Golfkriege 1991 und 2003 sowie den Krieg in Afghanistan folgende Zahlen zum Auftreten von PTBS/PTSD bei US-amerikanischen SoldatInnen10:

bei 15,2% der eingesetzten männlichen und 8,1% der weiblichen Vietnam-SoldatInnen (479.000 bzw. 610) wurden PTBS/PTSD-Symptome festgestellt;

34% aller männlichen Vietnamkriegsteilnehmer waren nach ihrer Rückkehr mehr als einmal inhaftiert; 11,5% wurden wegen schwerer Verbrechen verurteilt;

im Jahr 2004 erhielten noch 161.000 Vietnam-Veteranen Kompensationen wegen Berufsunfähigkeit;

nach dem Golfkrieg 1991 zeigten 3% der Männer und 8% der Frauen unmittelbar nach der Rückkehr aus dem Einsatz PTBS/PTSD-Symptome; deren Zahl stieg auf 7% bzw. 16% in der Zeitspanne von 18 bis 24 Monaten nach Rückkehr;

von 45.880 ehemals in Afghanistan eingesetzten SoldatInnen zeigten 18% psychologische Auffälligkeiten, darunter 183 Personen mit PTBS/PTSD-Symptomen;

nach dem Irak-Krieg 2003 zeigten 20% der 168.528 VeteranInnen psychologische Fehlsteuerungen, darunter 1.641 mit PTBS/PTSD (Veterans Affairs); eine vorhergehende Untersuchung kam zum Ergebnis, dass 12.500 von knapp 245.000 VeteranInnen Beratungszentren zur Behandlung entsprechender Probleme aufgesucht hatten; aufgrund der stärkeren Beteiligung an Kampfhandlungen waren SoldatInnen der Marines und des Heeres viermal öfter von PTBS/PTSD betroffen als andere Truppenteile;

60% der Irak-SoldatInnen aus Kampfeinheiten, die ernsthafte Symptome wie schwere Depression und PTBS/PTSD zeigten, vermieden es, sich medizinischer Betreuung anzuvertrauen, weil sie befürchteten, sie würden von den Kommandeuren und ihren Kameraden dann anders behandelt.

Mit Blick auf die beiden Kriegseinsätze im Irak und in Afghanistan drückt der Mitarbeiter des »Boston Veterans Affairs Healthcare System« Brett T. Litz seine Besorgnis aus: da zahlreiche Studien gezeigt hätten, dass die Häufigkeit und die Intensität der Teilnahme an Kampfhandlungen linear korreliert mit dem Risiko chronischer PTBS/PTSD-Erkrankung und in beiden Ländern die seit langem stärksten Kämpfe mit US-Beteiligung stattfänden, gäbe es Grund zur Annahme, dass eine neue Generation von PTBS/PTSD-geschädigten VeteranInnen entstehe.11

Deutschland

Die Zahl der soldatischen PTBS/PTSD-Erkrankungen hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen: der Wehrbeauftragte spricht – unter Hinweis auf eine zusätzliche hohe Dunkelziffer – von einer Verdreifachung der Fälle vom Jahr 2006 (83) bis zum Jahr 2008 (245), wobei die große Mehrzahl in Verbindung mit dem ISAF-Einsatz aufgetreten sei.12 Die Bundeswehr widmet dem Problem vermehrt Aufmerksamkeit13 und das Thema – einschließlich der auch wissenschaftlich belegten zerstörerischen Auswirkungen, die PTBS/PTSD auf das familiäre Umfeld von SoldatInnen haben kann14 – ist inzwischen Gegenstand populärkultureller Fernsehproduktionen wie etwa in dem Film »Nacht vor Augen«, der von Seiten der Bundeswehr für seine realistische Darstellung gelobt wurde. Einen Anlass dazu, die zerstörerische Wirkung des Krieges auch auf jene, die an ihm aktiv beteiligt sind, ganz grundsätzlich zu überdenken, sehen die politisch und militärisch Verantwortlichen offenbar nicht. Wird man von der Bundeswehr also keine grundsätzlich kritische Auseinandersetzung mit der durch Krieg erzeugten Brutalisierung erwarten können, so erstaunt doch, dass angesichts der vorliegenden Forschungsergebnisse zu den Ursachen und Kontextvariablen von PTBS/PTSD die Anforderungen an zukünftige BundeswehrsoldatInnen hinsichtlich ihrer Stressresistenz abgesenkt wurden.

Anmerkungen

1) Sprechen über PTBS, in: Die Bundeswehr 6/2009, S.65.

2) PTBS – Es muss noch einiges getan werden, in: Die Bundeswehr 7/2009, S.39.

3) Klassifikation »Posttraumatische Belastungsstörung« nach ICD10 F43.1; die ICD 10 ist die von der WHO erstellte internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme.

4) Vgl. Theo Meißel (2006): Freud, die Wiener Psychiatrie und die »Kriegszitterer« des Ersten Weltkrieges, in: Wiener Zeitschrift zur Geschichte der Neuzeit Heft 1: 40-56.

5) Vgl. Gottfried Fischer & Peter Riedesser (2003): Lehrbuch der Psychotraumatologie, Stuttgart, S.148; Jennifer L. Price (2004): Findings from the National Vietnam Veterans‘ Readjustment Study – Factsheet. National Center for PTSD; Gina P. Owens et al. (2009): The Relationship Between Childhood Trauma, Combat Exposure, and Posttraumatic Stress Disorder in Male Veterans, in: Military Psychology 21(1): 114-125.

6) Peter Leese (2002): Shell Shock: Traumatic Neurosis and the British Soldiers of the First World War, Basingstoke.

7) Vgl. die Dissertation von Frank Heinz Lembach mit dem Titel »Die ‚Kriegsneurose‘ in deutschsprachigen Fachzeitschriften der Psychiatrie und Neurologie von 1889-1922« (Universität Heidelberg) sowie Paul Lerner (2003): Hysterical men: war, psychiatry, and the politics of trauma in Germany, 1890-1930, Ithaca, N.Y.

8) Peter Riedesser & Axel Verderber (1985): Aufrüstung der Seelen: Militärpsychiatrie und Militärpsychologie in Deutschland und Amerika, Freiburg i. Br.

9) Klaus Blaßneck (2000): Militärpsychiatrie im Nationalsozialismus. Kriegsneurotiker im Zweiten Weltkrieg, Baden-Baden; Roland Müller (2001): Wege zum Ruhm: Militärpsychiatrie im Zweiten Weltkrieg. Das Beispiel Marburg. Köln.

10) Jack Epstein & Johnny Miller (2005): U.S. wars and post-traumatic stress disorder, in: San Francisco Chronicle vom 22.06.2005, URL: http://www.sfgate.com/cgi-bin/article.cgi?f=/c/a/2005/06/22/MNGJ7DCKR71.DTL&type=health

11) Brett T. Litz (2007): Research on the Impact of Military Trauma: Current Status and Future Directions, in: Military Psychology 19(3): 217-238.

12) Bericht des Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages 2008, BT-Drucksache 16/220, S.46.

13) Vgl. auch die entsprechenden Beiträge von Klaus M. Barre und Karl-Heinz Biesold im Band von Klaus J. Puzicha et al. (2001): Psychologie für Einsatz und Notfall, Bonn.

14) Jeffrey I. Gold et al. (2007): PTSD Symptom Severity and Family Adjustment Among Female Vietnam Veterans, in: Military Psychology 19(2): 71-81.

Wissenschaftliche Grundlagen der Posttraumatischen Belastungsstörung

von Willi Butollo

Die Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS oder PTSD für »Posttraumatic Stress Disorder«) ist eine extreme Reaktion auf eine ebenso extreme Belastung. Die Betroffenen entwickeln starke Ängste, vermeiden i.B. Situationen, die an das Schreckerlebnis erinnern. Die Diagnose der PTBS wurde 1980 in das Diagnosemanual der American Psychiatric Association, das DSM-III, aufgenommen (APA, 1980) und fand als diagnostische Kategorie 1992 Eingang in das europäische Pendant, das ICD-10 der Weltgesundheitsorganisation (WHO, 1992). Während zuvor also keine explizite Übereinkunft in Forschung und Praxis hinsichtlich der Definition einer traumabedingten Störung bestand, ermöglichte dies nun die Vergabe einer entsprechenden Diagnose und stimulierte damit die Darstellung und Erforschung dieses Störungsbereiches ungemein.

»Entwicklungsgeschichte«

Natürlich war schon vor der offiziellen Einführung der Posttraumatischen Belastungsstörung als eigenständige diagnostische Kategorie bekannt, dass und wie sich katastrophale Ereignisse auf die Psyche auswirken können. Die moderne »Entwicklungsgeschichte« der PTBS beginnt im ausgehenden 19. Jahrhundert mit Beschreibungen über nervöse Syndrome nach Zugunglücken und Erdbeben und bei Soldaten auf der einen Seite. Auf der anderen Seite sind hier die grundlegenden Arbeiten zur Hysterie zu nennen, z.B. durch Charcot (1887 – »choc nerveux«), Janet (1889) und natürlich auch durch Freud (1896/1977). Die phänomenologischen Parallelen zwischen diesen unterschiedlichen Patientengruppen, nämlich den meist weiblichen hysterischen Patienten, dann den auf Schadenersatz klagenden Unfallopfern und schließlich den so genannten »Kriegszitterern« waren nicht zu übersehen. Nicht zuletzt angesichts der mit der Zunahme solcher Diagnosen verbundenen gesellschaftlichen Kosten entbrannte bereits um die Jahrhundertwende eine rege Diskussion zur Verursachung der »traumatischen Neurose«. Den Begriff prägte der deutsche Neurologe Oppenheim, der die Symptomatik als organische Folge einer tiefgreifenden Erschütterung des zentralen Nervensystems betrachtete. Lag also eine organisch-neurologische Erschütterung zu Grunde, wie es die Konzepte des »railroad spine« im zivilen oder des »shell shock« im militärischen Bereich vertraten? Wieso traf das Syndrom aber nicht alle gleichermaßen und wieso zeigten manche Soldaten die Symptomatik, obwohl sie gar nicht in der Nähe einer Explosion gewesen waren? Gab es konstitutionelle Prädispositionen, lag eine Schwäche der Persönlichkeit vor oder waren manche der Betroffenen sogar Simulanten, die auf Freistellung vom Fronteinsatz, Schadenersatzzahlungen oder Rente hofften? In Deutschland entwickelte sich dazu eine denkwürdige Fachdiskussion, die sich in dem vielzitierten Diktum »Das Gesetz ist die Ursache der Unfallneurosen« zusammenfassen lässt. So schreibt der Psychiater Bonhoeffer (1926, S.180): „Es handelt sich gar nicht um einen Krankheitsvorgang im eigentlichen Sinn, sondern um eine in letzter Instanz psychologisch bedingte Reaktion, die eintritt bei bestimmten Wünschen und Begehrungen und die fortfällt bei deren Wegfall.“ Und sein Kollege His (1926, S.185) fordert im selben Fachblatt eine entsprechende Anpassung in der damaligen Reichsversicherungsordnung (RVO), um der traumatischen Neurosen Herr zu werden, die sich „gleich einer Infektion“ ausbreiten. Dies prägte nicht nur den Umgang mit den Unfall- und Kriegsversehrten dieser Zeit, sondern später auch den bundesdeutschen Umgang mit Opfern nationalsozialistischer Verfolgung (Fischer-Hübner & Fischer-Hübner, 1990).

Nach Weisæth (2002 – zit. nach Butollo & Hagel, 2003) spielte es in der weiteren Forschung zu Traumafolgen eine maßgebliche Rolle, welche spezifischen Erfahrungen die einzelnen Länder im Zweiten Weltkrieg machten. So konzentrierten sich US-amerikanische Veröffentlichungen auf die Folgen von Kampfeinsätzen und Kriegsgefangenschaft, während sich z.B. britische Untersuchungen auch mit den Folgen der Bombardierungen ziviler Städte beschäftigten. Die vergleichsweise geringe Zahl deutschsprachiger Veröffentlichungen zu den Folgen des Zweiten Weltkrieges in der Nachkriegszeit lässt Weisæth unkommentiert. In persönlichen Gesprächen (Anmerkung des Verfassers, 1996) wies er jedoch auf die bedauernswerte Unterversorgung deutscher Kriegsheimkehrer hin, die als »Kriegsverlierer« und »Aggressoren« sowohl im Nachkriegs-geschüttelten Inland wie auch aus dem Ausland nicht die Anerkennung ihrer Leiden erfuhren, die zu deren Linderung bitter nötig gewesen wären.

Die Aufnahme der Diagnose »Posttraumatic Stress Disorder« in das Manual der APA und deren Übernahme durch die WHO kann in mehrerer Hinsicht als politisch betrachtet werden: Die gesellschaftlichen Kosten staatlicher Gewalt (Krieg und Diktatur) und der Gewalt in den Familien und auf den Straßen konnten nicht länger in dem Maße tabuisiert werden, wie das bisher der Fall gewesen war und ebenso wenig die gesellschaftlichen Kosten des Fortschritts (ökologische und technische Katastrophen, z.B. Staudammbrüche oder Industrieunglücke). Zugleich wurde in einer Zeit, als sich vor allem die US-amerikanische Psychiatrie bemühte, psychische Störungen möglichst nur phänomenologisch zu beschreiben, um das unscharfe Konzept der neurotischen Verursachung zu verlassen, ein Störungsbild in das DSM aufgenommen, das explizit mit einem festgeschriebenen persönlichkeitsunabhängigen ätiologischen Moment konzipiert wurde, nämlich dem traumatischen Ereignis als Auslöser.

So spielte bei kaum einer anderen psychischen Störung das jeweilige gesellschaftliche Klima eine derart entscheidende Rolle für deren Interpretation, wie dies bei der PTBS der Fall ist, und auch die heutige Diskussion ist geprägt von den immer gleichen Fragen:

1. Werden die Symptome in der Hauptsache durch die vorausgehenden Stressoren verursacht? 2. Oder handelt es sich bei posttraumatischen Stresserkrankungen um den Ausdruck individueller Vulnerabilität, so dass der traumatische Stressor eher als auslösender Faktor für eine bereits angelegte Pathologie verstanden werden kann? Die Annahme, dass es die Empfindlichkeit der Opfer sei, die zu ihren stressbedingten Symptomen führte, kann erklären, wieso Individuen so unterschiedlich auf ähnliche traumatische Erfahrungen reagierten und viele symptomfrei bleiben.

3. Damit unmittelbar verbunden ist die Frage, wer im Falle des zugefügten Leides die Kosten für die daraus resultierende psychische Störung übernimmt. Gemäß dem Verursacherprinzip können Versicherungen, wie auch Privatpersonen in solchen Fällen belangt werden, wo ein Verursacher zu finden ist. Und Patienten finden sich in einer Situation wieder, in der sie die Herkunft ihres Leidens belegen müssen (siehe auch Butollo & Hagl, 2003; Hagl, 2008).

Kriterien und Befunde

Um die Diagnose Posttraumatische Belastungsstörung, PTBS (bzw. PTSD) stellen zu können, muss zuerst einmal das »Ereigniskriterium« (Kriterium A) erfüllt sein, eine oder mehrere traumatische Erfahrungen, die direkt erlebt oder beobachtet wurden und zu intensiver Furcht, Hilflosigkeit oder Entsetzen geführt haben. Weiters müssen die sogenannten Leitsymptome vorhanden sein: Mindestens ein Symptom des Wiedererlebens (Kriterium B), drei Symptome des Rückzugs- oder Vermeidungsverhaltens (Kriterium C) und zwei Symptome der Übererregung (Kriterium D). Außerdem muss das Störungsbild länger als einen Monat anhalten (Kriterium E) und in klinisch bedeutsamer Weise Leiden oder Dysfunktionalität beinhalten (Kriterium F). Die Bedingungen, unter denen eine PTBS nach DSM-IV als Diagnose vergeben werden kann, sind also recht genau festgelegt. Im Gegensatz zum DSM-IV ist die Operationalisierung in der ICD-10 weniger restriktiv. Die Betonung der intrusiven Symptomatik als Kardinalssymptom, die im ICD-10 enthalten ist, hat zur Folge, dass eine Person, die kein ausgeprägtes Vermeidungsverhalten zeigt oder keine deutlichen Anzeichen eines erhöhten Erregungsniveaus, gemäß ICD-10 trotzdem die Diagnose PTBS erhalten kann.

Die Prävalenz der PTBS hängt zunächst naturgemäß von der Häufigkeit potentiell traumatisierender Ereignisse ab. Diese ist je nach Ort, Zeit und Bevölkerungsgruppe unterschiedlich. In einem politisch instabilen Land mit hoher Straßenkriminalität, das an bewaffneten Konflikten mit anderen Nationen teilnimmt, ist das Risiko besonders hoch, ein traumatisches Erlebnis zu erfahren – und zwar vor allem für junge Männer. In einem stabilen, reichen Land ohne internationale Konflikte fällt das Risiko für alle grundsätzlich geringer aus, aber ist dennoch je nach Geschlecht, Alter und gesellschaftlicher Position unterschiedlich. Die wahre Prävalenz lässt sich nur schätzen, denn wer zählte je in einem Krieg wirklich alle Opfer und wie ließe sich die hohe Dunkelziffer sexualisierter und innerfamiliärer Gewalt jemals exakt bestimmen? Katastrophale Ereignisse wie der Anschlag auf das World Trade Center im Jahr 2001, die Tsunami Ende des Jahres 2004 oder der Hurrikan Katrina im Jahr 2005 traumatisieren auf einen Schlag ganze Städte oder Regionen – als besonders schreckliche Beispiele für eine Traumatisierung des Typs I, also unerwartet und kurzfristig. Dort wo Not herrscht oder – wie in manchen Katastrophengebieten – weiterherrscht, wird aus der kurzfristigen Traumatisierung eine längerfristige und sich wiederholende im Sinne einer Typ-II-Traumatisierung. Ebenso anhaltend und damit in gewisser Weise für das Opfer vorhersehbar sind in der Regel viele Formen der zwischenmenschlichen Gewalt, im Krieg, bei Terror und Folter und in Form der Gewalt auf den Straßen und in den Familien.

In Europa ist die Lebenszeitprävalenz der PTBS einer neueren Studie zufolge (Alonso et al., 2004) überraschend gering, obwohl das methodische Vorgehen durchaus mit den bisher geschilderten Studien vergleichbar ist: Die Lebenszeitprävalenz für Männer betrug 0.9% (mit einer 12-Monatsprävalenz von 0.4%) und 2.9% bei den Frauen (mit einer 12-Monatsprävalenz von 1.3%). Dieses für alle Altersklassen repräsentative Ergebnis ist damit relativ gesehen niedriger als die Zahlen aus den rein deutschen Studien zum Thema.

Männer erleben in der Tendenz mehr traumatische Ereignisse als Frauen, aber das Erkrankungsrisiko ist für Frauen höher und ähnlich wie es für andere Angststörungen und für depressive Erkrankungen gilt, ist PTBS bei Frauen häufiger als bei Männern. Auch wenn die Zahlen in den einzelnen Studien je nach Land, Vorgehensweise und möglicherweise Studienziel differieren, kann man sagen, dass PTBS keine seltene psychische Störung ist, wenn auch nicht so häufig wie affektive Störungen.

Betrachtet man die Verläufe von PTBS differenziert, zeigt sich, dass Betroffene, die PTBS entwickeln mit einer höheren Ausgangssymptomatik starten, die zunächst sogar noch zunimmt, um im Laufe der Monate und Jahre abzunehmen. Personen, die keine PTBS entwickeln, zeigen dagegen nach der Traumatisierung durchaus auch posttraumatische Symptomatik, aber eben auch die gerade beschriebene kontinuierliche Abnahme derselben. Darüber hinaus gibt es durchaus Fälle, die zunächst kaum Symptomatik zeigen und im ersten halben Jahr keine PTBS entwickeln, jedoch später, also Fälle mit so genanntem verzögertem Beginn (»delayed onset«). Ein solches Krankheitsgeschehen wurde z.B. von Versicherungen angezweifelt, hat sich aber in einer Reihe von Studien bestätigt.

Grundsätzlich scheint PTBS häufig mit einer Reihe anderer Störungen einherzugehen, sämtliche epidemiologische Studien finden eine verhältnismäßig hohe Komorbidität, insbesondere affektive Störungen, Angststörung und Substanzmittelmissbrauch bzw. -abhängigkeit. Zum einen können traumatische Ereignisse nicht nur zu einer PTBS führen, sondern auch zu anderen psychischen Störungen, bzw. bilden langfristig eine unspezifische Vulnerabilität. Diese Erklärung ist naheliegend und lässt sich in zahlreichen Studien belegen. In einer Zusammenfassung von fünf Studien zu den Folgen ziviler Traumata zeigte sich unabhängig von der hohen Komorbidität mit PTBS die erhöhte Wahrscheinlichkeit folgender psychischer Störungen: Major Depression, Generalisierte Angststörung, Substanzmissbrauch und Phobie. Neben affektiven Störungen und Angststörungen sind hier natürlich auch solche Störungen zu nennen, von denen lange bekannt ist, dass sie eng mit traumatischen Erlebnissen in Verbindung stehen, die aber in den bisherigen großen epidemiologischen Studien nicht berücksichtigt wurden: Dissoziative Störungen, Somatoforme Störungen und Persönlichkeitsstörungen, vor allem die Borderline-Persönlichkeitsstörung (Übersicht bei Butollo & Hagl, 2003). Alle diese genannten Störungen können also als Folge posttraumatischer Entwicklung auftreten und stellen damit oft komorbide Störungen der PTBS da, treten aber auch ohne eigentliche posttraumatische Symptomatik auf. Möglicherweise zeigen sich dabei unterschiedliche posttraumatische Entwicklungspfade, die neben der basalen Vulnerabilisierung des stressverarbeitenden Systems auf individuellen Lernerfahrungen und Bewältigungsstrategien fußen. Eine bereits bestehende psychische Störung erhöht in jedem Fall das Risiko, nach einem traumatischen Ereignis eine PTBS zu entwickeln.

Therapeutische Ansätze

Eine einheitliche PTBS-Therapie gibt es nicht, obwohl im Mainstream der psychotraumatologischen Forschung weitgehend Konsens hinsichtlich der therapeutischen Methode der Wahl herrscht: In einem gemeinsamen Positionspapier der »International Consensus Group on Depression and Anxiety«, zu dem auch herausragende PTBS-Experten gehört wurden, wird die Bedeutung der kognitiv-behavioralen Therapien in der psychotherapeutischen Behandlung unterstrichen (Ballenger et al., 2000). Ebenso wird die pharmakologische Behandlung mit den so genannten SSRI (also Antidepressiva der Gruppe der selektiven Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer) empfohlen. Tatsächlich aber kommt in der klinischen Praxis eine ganze Reihe von Methoden aus den unterschiedlichsten Schulrichtungen zur Anwendung, die auf einem mehr oder weniger starken empirischen Fundament und auf klinischem Erfahrungswissen basieren. Dies hat zwei Gründe: Zum einen neigen psychotherapeutisch Tätige dazu, solche Interventionen zu verwenden, mit denen sie sich gemäß ihrer Ausbildung identifizieren können – und die sie beherrschen. So kommen manche Verfahren zur Anwendung, deren Wirksamkeit speziell für PTBS nicht unbedingt hinreichend belegt ist, die aber eine lange Tradition in der Behandlung psychischer Störungen vorweisen können. Dies gilt für die psychodynamischen und humanistischen Verfahren, ebenso wie für die Hypnotherapie. Zum anderem kann chronische posttraumatische Symptomatik recht hartnäckig sein und bietet gleichzeitig ein anrührendes Bild hohen Leidensdrucks, so dass sich psychotherapeutisch Tätige nach allen Seiten umsehen, um Hilfe für ihre Patienten und Patientinnen zu finden. Das führt zur Anwendung neuerer, noch kaum evaluierter Verfahren und einem manchmal etwas getrieben anmutenden Eklektizismus.

Solche Methodenvielfalt ist dann ein Vorteil, wenn sie gezielt eingesetzt wird, um den vielfältigen Erscheinungsbildern und Symptombereichen posttraumatischer Störungen gerecht zu werden, und wenn man dabei empirische Ergebnisse und bestehendes klinisches Wissen berücksichtigt. Letztlich gilt es, eine Passung zu erreichen, zwischen den ganz individuellen Behandlungsbedürfnissen eines Patienten und der Neigung sowie dem Behandlungsgeschick eines Therapeuten, und dies alles auf dem Boden eines funktionierenden Störungsmodells und Therapierationals.

Behandlungsmanuale, wie sie z.B. von Ehlers (1999), Resick und Schnicke (1993) oder Foa und Rothbaum (1998) für den kognitiv-behavioralen Bereich vorgestellt wurden, halten wir durchaus für hilfreich. Tatsächlich beruhen praktisch sämtliche Effektivitätsstudien auf solchen manualisierten Therapien mit eher geringer Sitzungszahl. In diesen Studien handelte es sich aber in der Regel auch um eine recht ausgelesene Population. Meist sind dies Personen, die sich auf einen Studienaufruf hin meldeten oder von Ambulanzen für solche Studien aus der Gesamt-Klientel ausgewählt wurden. Schwierige, chronifizierte Fälle mit hoher Komorbidität und extremer Symptomatik (z.B. Suizidalität oder Sucht) wurden in der Regel ausgeschlossen. Überspitzt formuliert handelt es sich in solchen Psychotherapiestudien oft um eine Idealtherapie für Idealfälle. Diese Forschung hat jedoch in jedem Fall ihre Berechtigung, denn so lassen sich die Ergebnisse für die einzelnen Therapiemethoden besser vergleichen und deren Effektivität überhaupt unter einigermaßen kontrollierten Bedingungen evaluieren. In der klinischen Praxis können manualisierte Kurzzeitinterventionen schnelle und effektive Therapieangebote für Patienten sein, die vor allem die klassische PTBS-Symptomatik zeigen und das noch nicht allzu chronifiziert und bei geringer anderweitiger Symptomatik. Für Patienten mit komplizierter Symptomlage sind sie nicht selten ein effizienter Baustein in einem breiteren und individuell zugeschnittenen Angebot.

Bevor wir uns aber rückhaltlos an den Ergebnissen von Psychotherapiestudien orientieren und dabei möglicherweise hilfreiche Methoden verwerfen, weil sie nicht ausreichend evaluiert wurden, sollten wir daran denken, dass die Ergebnisse dieser Studien auf einem bestimmten Boden geerntet werden. Solche Studien stellen auf der einen Seite aber den Optimalfall in der Behandlung dar. Andererseits beinhaltet die Anwendung manualisierter Therapien mit meist geringer Sitzungszahl auch die Gefahr, die Kraft bestimmter Interventionen zu unterschätzen. Psychotherapie ist nicht zuletzt die Kunst, eine funktionierende Modifikationsmethode in flexibler Weise für einen ganz bestimmten Patienten anzupassen, so dass er sie erfolgreich anwenden kann. Und manche Patienten brauchen vielleicht einfach nur etwas länger und hätten von einer höheren Sitzungszahl profitiert. Grundsätzlich präsentieren Psychotherapiestudien den durchschnittlichen Erfolg aller Teilnehmer und berücksichtigen dabei nicht immer die Unterscheidung nach möglichen Subgruppen von Respondern und Non-Respondern. Für die Praxis gilt also: Die Ergebnisse aus der Psychotherapieforschung sollen beachtet werden, beantworten aber (noch) nicht die Frage nach der spezifischen Indikation für eine bestimmte Patientin. Und die Verwendung einer »Methode der Wahl« erspart keinesfalls die möglichst objektive Evaluation im Einzelfall und die Supervision der eigenen Therapieleistung. Besonders wichtig ist dabei eine katamnestische Bearbeitung der Fälle, sei es in der eigenen Praxis oder im Rahmen von Therapiestudien: War ein Therapieerfolg von Dauer? Diesen Vorbehalten unterliegen auch die am meisten untersuchten Therapieverfahren, die im Weiteren kurz dargestellt seien.

Die kognitiv-behavioralen Verfahren gelten in ihrer Wirksamkeit bei der Behandlung der PTBS als empirisch am besten belegt. Dies entspricht dem erwähnten Positionspapier einer recht angesehenen Gruppe von Klinischen Psychologen und Psychiatern und den »Practice Guidelines« der ISTSS (Foa et al., 2000). Allerdings könnte man auch argumentieren, dass die kognitiv-behavioralen Verfahren einfach am längsten beforscht und am stärksten vertreten werden, z.B. durch so herausragende Forscherinnen wie Edna Foa. Die »Leitlinie Posttraumatische Belastungsstörung« der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (Flatten, Hofmann, Liebermann et al., 2001) liefert eine Zusammenfassung und Bewertung von sieben Übersichtsartikeln/Meta-Analysen zu den Ergebnissen der Therapieforschung im Bereich PTBS (Flatten, Wöller & Hofmann, 2001). Die Autoren kommen dabei zu dem Schluss, dass speziell zur konkreten Traumabearbeitung als einer der Phasen effektiver Traumatherapie, kognitiv-behaviorale Verfahren in ihrer Wirksamkeit belegt sind. In ihrer grundsätzlichen Überlegenheit als Verfahren in der Behandlung einer PTBS sind sie jedoch nicht bestätigt und die Autoren empfehlen ein multimodales Vorgehen, bei dem verschiedene Techniken kombiniert werden.

»Eye Movement Desensitization and Reprocessing« (EMDR) ist eine Methode, die man von den Inhalten her eigentlich den kognitiv-behavioralen Verfahren zuordnen könnte, die von ihren Vertretern aber als eigenständige Methode begriffen und vermarktet wird. Auch hier steht die Konfrontation mit der traumatischen Erinnerung und angstauslösenden Stimuli zusammen mit einer kognitiven Umbewertung im Vordergrund. EMDR ist eine vergleichbar junge Behandlungsmethode, die speziell zur Bearbeitung von traumatischen Erinnerungen entwickelt wurde (Shapiro, 1989). Von ihren Vertretern stark propagiert, erfuhr diese Methode schnell Akzeptanz bei praktisch tätigen Therapeuten, noch bevor ihre Wirksamkeit als ausreichend empirisch gesichert galt. Von anderer Seite wurde der Methode einiges an Skepsis entgegengebracht, nicht zuletzt deshalb, weil bis heute kein überzeugendes Erklärungsmodell speziell zur Wirkung der Augenbewegungen oder allgemein der alternierenden Stimuli existiert. So fehlt aus experimentellen Studien der Nachweis, dass die Augenbewegungen überhaupt einen zusätzlichen Effekt haben. Einige besonders kritische Autoren sehen in EMDR deshalb nichts anderes als eine eher schlecht durchgeführte Expositionsbehandlung und vermuten weitgehend unspezifische oder gar Placebo-Faktoren als Grundlage der Wirkung (u.a. Lohr et al., 1999). Inzwischen existiert eine Reihe von randomisierten und kontrollierten Studien, die die Wirksamkeit des Verfahrens in der Behandlung der posttraumatischen Symptomatik belegen. In ihrer Meta-Analyse kommen van Etten und Taylor (1998) zu dem Schluss, dass EMDR in seiner Wirksamkeit der Kognitiven Verhaltenstherapie in der Behandlung von PTBS ebenbürtig ist. Allerdings gibt es unseres Wissens bisher nur drei Veröffentlichungen, die beide Verfahren direkt vergleichen.

Hypnose wurde schon lange bevor das heutige PTBS-Konzept existierte, bereits um die Jahrhundertwende z.B. von Pierre Janet, zur Behandlung traumatischer Erinnerungen angewendet. Dementsprechend beschreibt eine lange Reihe von Fallstudien deren Effekt. Umso erstaunlicher ist es, dass es bis heute nur eine einzige kontrollierte Studie zur Wirksamkeit einer Hypnotherapie bei posttraumatischer Symptomatik gibt (Brom et al., 1989). Die Autoren verglichen bei insgesamt 112 Personen Hypnose, systematische Desensibilisierung und psychodynamische Therapie mit einer Wartelistenkontrollgruppe (im Durchschnitt 16 Sitzungen). Alle drei Behandlungsgruppen brachten signifikante und klinisch relevante Verbesserungen der Symptomatik.

Imaginative Techniken werden natürlich nicht nur im Rahmen der Hypnotherapie genutzt. Eine klassische und vielverwendete Vorstellungsübung, die z.B. auch von Shapiro (1995) ins EMDR-Protokoll übernommen wurde, ist die Erschaffung eines inneren sicheren Ortes (Beispiel bei Reddemann, 2001a, S.40). Ein derartiges Phantasiebild dient als eine Art inneres Rückzugsgebiet und ermöglicht der Patientin ein Gefühl der Ruhe und des Schutzes. In der Traumatherapie hat die Arbeit mit Vorstellungsbildern grundsätzlich einen großen Stellenwert, was nach Flatten, Wöller und Hofmann (2001) auch unmittelbar mit der Phänomenologie der posttraumatischen Symptomatik zusammenhängt: Traumatische Ereignisse bleiben oft in einer bildlichen bzw. sensorischen Modalität verhaftet, ohne ausreichend sprachlich verarbeitet zu werden. In ähnlicher Weise lässt sich so auch die Anwendung kunst- und körpertherapeutischer Techniken begründen. Nach Flatten et al. handelt es sich bei all diesen Techniken um adjuvante Verfahren, die eine Behandlung von PTBS ergänzen können, aber nicht als Einzelverfahren belegt sind. Die Autoren unterstreichen die besondere Bedeutung dieser Techniken für die Behandlung von Gewaltopfern, also von Personen, bei denen es zu einem traumatischen Überschreiten der Körpergrenzen kam, sei es durch physische oder sexuelle Gewalt. Grundsätzlich dürften nonverbale Methoden immer dort von Nutzen sein, wo die traumatische Erfahrung schwer verbal zugänglich ist, aus welchen Gründen auch immer (z.B. sehr frühe Traumatisierung, hohe Dissoziation). Gleichzeitig ermöglichen solche, den kreativen Ausdruck fördernde Methoden eine Stärkung des Selbstgefühls und Selbstbewusstseins. Eine systematische Evaluation solcher Therapiebausteine, die gerade im stationären Setting rege Anwendung finden, ist bisher nicht erfolgt und daher dringend erforderlich. Es fehlt der Beleg, dass sie tatsächlich den Zugang zu Ressourcen des Patienten erleichtern bzw. eine Weiterverarbeitung und Integration der traumatischen Erfahrungen ermöglichen.

Fischer (2000) entwickelte auf psychoanalytischer/tiefenpsychologischer Grundlage ein integratives Therapiemanual, die »Mehrdimensionale Psychodynamische Traumatherapie« (MPTT). Die MPTT setzt neben Kenntnissen in den in sie integrierten Verfahren eine psychoanalytische Ausbildung voraus und ist in ihrer Darstellung zumindest für Nicht-Analytiker etwas undurchsichtig. Trotz des hohen Stellenwertes, der Dokumentation und Erfolgskontrolle beigemessen wird, steht die Veröffentlichung einer kontrollierten Studie mit Darstellung der Forschungsmethodik noch aus.

Die »Traumazentrierte Psychotherapie« von Reddemann und Sachsse (1997; 2000) bzw. »Psychodynamisch imaginative Traumatherapie« (Reddemann, 2001a; 2001b) ist ein integrativer Ansatz, der vor allem aus der Erfahrung in der stationären Arbeit mit schwer traumatisierten Patientinnen entstand. Ausgehend von einem tiefenpsychologischen Verständnis wurden vor allem imaginative Verfahren integriert. Die Methode folgt dem klassischen Phasenansatz mit einer Stabilisierungsphase (auf die in der Arbeit mit komplexen posttraumatischen Störungen besonderer Wert gelegt wird), dann einer Phase der Traumasynthese und schließlich der Phase des Trauerns und der Neuorientierung. Das Vorgehen von Reddemann und Sachsse hat im deutschen Sprachraum großen Anklang gefunden, obwohl die empirischen Belege zur Wirksamkeit noch spärlich sind.

Das integrative Vorgehen von Reddemann steht in seiner ganzen Haltung (Transparenz, Ressourcen- und Wachstumsorientierung) deutlich einem humanistischen Psychotherapieverständnis nahe. Klassische humanistische Psychotherapieverfahren, wie die Gestalttherapie oder die Gesprächstherapie nach Rogers, scheinen explizit in der Behandlung traumabedingter Störungen eine untergeordnete Rolle zu spielen. Tatsächlich ist es wohl eher so, dass zumindest die heute üblicherweise angewandte Kognitive Verhaltenstherapie sich sowohl die Rogers’schen Basisvariablen als auch eine Reihe gestalttherapeutischer Techniken einverleibt hat. Niedergelassene Psychotherapeuten und Psychotherapeutinnen in Deutschland haben nicht selten eine entsprechende Zusatzausbildung (Butollo et al., 1996). Explizit humanistisch in seiner Basis ist der von unserer Arbeitsgruppe vorgelegte Behandlungsansatz »Integrative Traumatherapie und Dialogische Exposition« (Butollo, 1997; Butollo et al., 1998; Butollo & Karl, 2009), in dem gestalttherapeutische und verhaltenstherapeutische Ansätze integriert wurden. Basis dieses Ansatzes ist die Überlegung, dass traumatische Erfahrungen in der Regel einem entstellten Interaktionsgeschehen zwischen Individuum und seiner sozialen bzw. physischen Umfeld entspringen und so die gewachsenen, sozial-interaktionellen Erfahrungen Traumatisierter erschüttern. Die Therapie ist demzufolge als sozial-interaktives Geschehen anzusetzen, in dem die Selbstprozesse der Betroffenen neu konfiguriert werden.

Literatur

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Prof. Dr. Willi Butollo ist Leiter der Abteilung Klinische Psychologie und Psychotherapie der LMU München und Gründer des Münchner Instituts für Traumatherapie.

Posttraumatische Belastungsstörungen bei deutschen Soldaten nach Auslandseinsätzen

Flottenarzt Dr. Roger Braas im Interview

Für deutsche Soldaten, die nach Auslandseinsätzen PTBS aufweisen, gibt es in der Bundesrepublik zwei Behandlungszentren, eines davon am Bundeswehrzentralkrankenhaus in Koblenz. In der Abteilung »Psychotherapie und Psychologie« mit dem Schwerpunkt Psychotraumatologie werden im Jahr 700 bis 1.000 Patienten stationär aufgenommen, pro Monat gibt es 700 ambulante Patientenkontakte. Geleitet wird die Abteilung von Flottenarzt Dr. Roger Braas, seit 30 Jahren im Dienst der Bundeswehr.

W&F: Der Wehrbeauftragte des Bundestages hat in seinem Bericht eine Verdreifachung der Fälle von PTSB von 2006 bis 2008 festgestellt, können Sie das bestätigen?

Braas: Wir erleben eine steigende Tendenz, die man aber genauer betrachten muss. Wir diagnostizieren die Störung eher, weil wir genau wissen, wovon wir reden. Es kommen inzwischen auch Patienten zu uns, die schon länger unter Störungen leiden, erst jetzt aber wissen, was das eigentlich ist. Und wir haben bei den Einsätzen, insbesondere in Afghanistan, eine höhere Quote von Ereignissen. Die deutschen Soldaten werden heute öfter beschossen, und das führt dazu, dass die Fälle zunehmen. Wir wissen aus amerikanischen Untersuchungen, dass ab einer Stärke von vier bis fünf Feuergefechten zwanzig Prozent der Soldaten eine PTBS bekommen. Und wenn sie häufiger ein Feuergefecht haben, dann erfüllen Sie irgendwann die Kriterien, dann ist eben ein Fünftel der Soldaten auch betroffen.

W&F: Machen Sie immer noch die Erfahrung, dass es den Soldaten schwer fällt, sich seelische Schäden einzugestehen?

Braas: Es gibt immer eine Hemmschwelle, zum Psychiater zu gehen. Wir haben vor Ort einen eigenen Psychiater, in Masar-i-Sharif und im Kosovo, wir haben Truppenpsychologen vor Ort, aber es dauert schon eine Weile, bis die in Anspruch genommen werden. So stark wie früher ist die Angst, ein »Weichei« zu sein, jedoch nicht mehr. Wenn jemand heute weiß, ich habe eine psychische Verwundung davongetragen, dann geht man auch zum Spezialisten. Bei offenkundigen Ereignissen, z.B. einem Bombenattentat, werden wir in der betroffenen Einheit aktiv. Wir ziehen die Soldaten zusammen, und erklären: „Das und das habt ihr jetzt erlebt, das und das ist jetzt passiert, und das und das kann mit Euch noch passieren: ihr könnt Schlafstörungen bekommen, ihr könnt das albtraumhaft immer wieder erleben, also flash backs bekommen, ihr könnt unspezifische Symptome wie Angstzustände bekommen, und dann hat das vielleicht mit dem Einsatz zu tun. Und wenn solche Störungen auftreten, solltet ihr zum Spezialisten vor Ort gehen, oder euch nach der Rückführung an uns wenden.“

Wir haben an vielen Standorten psychosoziale Netzwerke eingerichtet, die den Soldaten und ihren Angehörigen Hilfestellung geben, wenn etwas im Miteinander auffällig wird. Manchmal ist es ja so, dass die betroffenen Soldaten selbst nicht merken, wie sehr sie sich verändern, aber sie kommen verändert von den Einsätzen zurück, und plötzlich stellt die Familie fest: „Papi ist so komisch, der ist so dünnhäutig und explodiert immer sofort.“

Dann nehmen die Angehörigen mit uns Kontakt auf. Hier in Koblenz-Lahnstein haben wir ein gut funktionierendes psychosoziales Netzwerk. Dazu gehören die Militärseelsorge, der Sozialdienst, der truppenärztliche Dienst und wir im Bundeswehrzentralkrankenhaus.

W&F: Können Sie einen typischen Fall eines Soldaten mit PTBS schildern?

Braas: Wir hatten einen Offizier, der verwickelt war in Aufstände im Kosovo. Dort kam es immer wieder zu gewalttätigen Auseinandersetzungen und Feuergefechten, mit Einsatz von Handgranaten. Der Soldat hat das vor Ort sehr hautnah miterlebt, aber den Einsatz noch zu Ende gebracht, ohne zu wissen, wie sehr ihn das beeinträchtigt hat. Erst nach der Rückkehr zu seiner Familie ist er durch seine Verhaltensänderung auffällig geworden. Zusätzlich bekam er somatoforme Störungen, die er nicht verstand, unspezifische Schmerzen. Keiner fand etwas, organisch war alles in Ordnung. Nur durch einen Zufall wurde er von einem Kollegen zu uns weitergeleitet. Nach der Diagnose haben wir ihn stationär aufgenommen, in vier Wochen stabilisiert, dann in der Tagesklinik und schließlich ambulant weiter betreut, so dass er seine Symptome los wurde, oder sie zumindest einordnen konnte. Das hat ein drei Viertel Jahr gedauert. Er macht jetzt allerdings eine Schreibtischtätigkeit.

W&F: Wie sieht die Behandlung der Soldaten mit PTBS konkret aus?

Braas: Wir verwenden erst mal viel Zeit auf eine genaue Diagnose, mit psychologischen Fragebögen und Anamnese. Dann müssen die Betroffenen informiert werden über das, was die Umstrukturierung im Gehirn bewirkt. Als zweiter Schritt ist es wichtig, eine Stabilität zu erreichen. Die betroffenen Soldaten merken selbst, sie explodieren bei Nichtigkeiten, und wissen nicht, woran das liegt. Dann bekommen sie Werkzeuge an die Hand, mit denen sie sich in solchen Situationen »runterfahren« können.

Das klingt banal, nimmt aber einen großen Raum in der Therapie ein. Die bekommen manchmal nur ein kleines Gummi ans Handgelenk, mit dem sie sich schnippen können, und daran merken sie, ich komme wieder ins Hier und Jetzt. Oder sie lernen, durch Rückwärtszählen, wieder im Jetzt anzukommen. Oder sie lernen, Dinge im Raum zu benennen, die sie aus der Aufgeregtheit wieder herausholen.

Das klingt wirklich banal. Es ist aber ein schwieriger pädagogischer Prozess, ihnen das beizubringen. Die Patienten sind ungeheuer glücklich, wenn sie das dann können, wenn sie merken: jetzt war was mit mir, aber ich kriege mich wieder ein.

W&F: Setzen Sie in der Trauma-Therapie auch anerkannte Techniken ein wie EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing), bei denen der Therapeut seine Hand unmittelbar vor den Augen des Patienten schnell hin und her bewegt, so dass die Erinnerungsbilder beim Patienten schneller entstehen?

Braas: Ja, wobei man sagen muss, wenn wir EMDR einsetzen, dann sind wir schon ganz weit. Denn das beinhaltet ja eine Konfrontation mit dem erlittenen Trauma, und das ist das Schlimmste. Wenn Sie das schaffen können in der Therapie, dass die Patienten sich tatsächlich an das Ereignis erinnern können, an Gerüche, an Laute, an Erleben, dann haben Sie schon fast gewonnen, dann ist fast die Therapie zu Ende.

W&F: Wie lange dauert die Behandlung?

Braas: Das ist unterschiedlich, bis zu einem drei Viertel Jahr, oft in einem Wechsel von Tagesklinik, stationärem und ambulantem Aufenthalt.

W&F: Nach dem Stabilisieren und dem Behandeln kommt das Reintegrieren, wie gut gelingt das?

Braas: Das kommt darauf an. Es gibt Soldaten, die haben mehrere Traumatisierungen erlitten, da schauen wir nach Alternativen. Es gibt ja Jobs bei den Streitkräften, die weniger exponiert sind. Und es gibt auch durchaus Fälle, da kann man wieder einen Auslandseinsatz in Betracht ziehen.

Das Trauma selbst ist nie weg. Es ist immer eine Narbe, die bleibt. Narben können verheilen und funktionieren, tun aber auch immer mal wieder weh.

W&F: Laut einer Statistik gehen 30 Prozent der Soldaten nach erfolgreich behandelter PTBS wieder zurück in den Kriseneinsatz…

Braas: Diese Zahl kann ich nicht bestätigen. Das ist auch schwierig zu ermitteln. Der Großteil der Soldaten, die wir betreuen, das sind freiwillig länger Dienende, und die scheiden nach einer gewissen Zeit wieder aus, weil ihre Dienstzeit vorüber ist. Die Berufs- und Zeitsoldaten gehen wieder in den Einsatz. Aber 30 Prozent scheint mir hoch gegriffen.

W&F: Der Wehrbeauftragte des Bundestages hat beklagt, dass wir von einer umfassenden Rundumbetreuung der Einsatzkräfte nach Schocksituationen weit entfernt sind, wie beurteilen Sie das?

Braas: Ich glaube, dass wir gut aufgestellt sind. Wir haben eine gute Expertise im Umgang mit dem Störungsbild. Wir sind dicht dran, wir haben Kontakt vor Ort, wir wissen, wenn Soldaten repatriiert werden aus psychischen Gründen und nehmen die auch in Empfang. Natürlich kann man das nicht umfassend für alle Betroffenen sagen. Das geht schon deshalb nicht, weil manchmal in den Wirren der Ereignisse vor Ort die Beteiligten nicht alle erfasst werden. Das sind so Viele: die Patrouille, die angesprengt wird, die Hilfskräfte, die sie rausholen, die Sicherungskräfte sind beteiligt, es sind Sanitäter im Einsatz… Eigentlich müssten sie jeden Einzelnen screenen, ob er was hat. Das ist nicht leistbar. Rein theoretisch muss jeder Soldat nach seiner Rückkehr einen Fragebogen ausfüllen. Aber da rutschen uns viele Betroffene durch. Auch weil die Symptome einer PTBS erst oft bis zu einem halben Jahr nach dem Ereignis auftreten.

Ein Mitglied des Technischen Dienstes der sog. Friedenstruppen für Kosovo meldete sich auf Drängen einer Nachbarin in der Trauma-Ambulanz. Er hatte vor sechs Monaten mit seinem Jeep eine unachtsame Passantin angefahren, die eine schwere Kopfverletzung erlitt. Die Angehörigen der Frau waren sehr aufgebracht und der Soldat entging der Lynchjustiz nur dank dem Eingreifen seiner Kameraden. Er war unmittelbar nach dem Ereignis gefasst und konnte detailliert Auskunft über den Unfallhergang geben. Allerdings erlebte er an den Tagen nach diesem Geschehen eine ihm bisher unbekannte eigenartige Unruhe. Er wurde zwei Wochen krank geschrieben und fuhr danach, als er sich noch nicht fit fühlte, drei Wochen in den Urlaub, wo es ihm besser ging. Anschließend wurde ein »Arbeitsversuch« gestartet, der anfangs gut verlief. Allerdings vermied er nach Möglichkeit Einsätze außerhalb der Werkstätte. Ließ es sich nicht vermeiden, steigerte sich seine Nervosität und Fahrigkeit, so dass einer dieser Einsätze aus diesem Grund abgebrochen werden musste.

Danach wurde er zu einer als vorübergehend geplanten Einsatztätigkeit in eine Werkstätte außerhalb des Konfliktgebietes versetzt. Sein Zustand besserte sich jedoch nicht, im Gegenteil. Er schreckte nachts nach Albträumen auf, musste immer wieder an den Hergang des Unfalles und den bedrohlichen Aufruhr danach denken. Er haderte mit seinem Schicksal und empfand die Versetzung als persönliche Niederlage: Darüber war er tief deprimiert, Medikamente waren ineffektiv und er begann in der Folge vermehrt Alkohol zu trinken, um sich zu beruhigen und um einschlafen zu können. Er vermied den Kontakt mit den Kollegen von früher, zog sich von sozialen Aktivitäten zurück und quittierte bald darauf den Dienst.

Wieder zuhause, erlebte er eine Panikattacke, als er unmittelbar dabei war, als vor seinem Haus eine unbekannte Frau zusammenbrach und noch vor dem Eintreffen der Rettung verstarb. Danach hatte sich sein Zustand so verschlechtert, dass er dem Drängen der Nachbarin folgte und therapeutische Hilfe suchte.

W&F: Einige Mediziner beklagen, PTBS sei durch viele Medienberichte eine Art Modediagnose geworden. Wird das Phänomen überbewertet?

Braas: Von Modediagnose kann nicht die Rede sein, dafür ist das Thema zu ernst. Die Einsätze der US-Amerikaner im Irak-Krieg haben gezeigt, dass zwanzig Prozent der Kampftruppen betroffen sind, also jeder fünfte Soldat erleidet eine PTBS. Wir Deutschen haben zwar überwiegend noch Peace-Keeping-Missions, nur vereinzelt Kampfeinsätze. Wenn es jetzt aber immer mehr »robustere Einsätze« gibt, wird die Zahl zunehmen. Und dann müssen wir uns noch besser darauf vorbereiten – mit Bettenausstattung, Facharztausstattung, etc. Deshalb finde ich den mahnenden Zeigefinger des Wehrbeauftragten sehr berechtigt.

W&F: Warum wirken gewalttätige Ereignisse wie Kriegsgeschehen so viel traumatisierender als Naturkatastrophen?

Braas: Naturkatastrophen sind schicksalhaft. Man kann niemandem unterstellen, dass er das gewollt hat. Ein Tsunami passiert, weil die Erde so ist, wie sie ist. Bei dem Erleben durch Menschen gemachter Gewalt ist ja das Gewollte dahinter: Ich will Dich verletzten, ich will Dich existenziell bedrohen, vielleicht sogar Deine Existenz auslöschen. Es gibt ein Gegenüber, eine menschliche Kreatur, die das beabsichtigt. Und ich glaube, auch wenn der Mensch schon solange auf diesem Planeten wandelt, hat es immer eine ganz besondere Dimension, wenn er von der eigenen Spezies bedroht wird.

Das Interview führte Dr. Daniela Engelhardt

Afghanistan: Menschenrechtsverletzungen an Frauen und ihre Folgen

von Karin Griese

Drei Jahrzehnte Krieg haben ihre Spuren in der afghanischen Zivilgesellschaft hinterlassen. Es gibt kaum eine Familie in Afghanistan, die nicht über den Tod von Angehörigen hinaus zahlreiche kriegsbedingte traumatische Ereignisse verarbeiten muss. Immer noch gibt es keinen tatsächlichen Frieden in dem Land, in dem im August 2009 Präsidentschaftswahlen stattfinden werden. Unsicherheit und Gewalt sind an der Tagesordnung. Die Situation von Frauen und Mädchen in Afghanistan hat sich seit dem gewaltsamen Sturz des Talibanregimes – durch den so genannten Krieg gegen den Terror – nach anfänglichen Verbesserungen wieder verschlechtert und ist heute kaum besser als vor der internationalen Militärintervention. Mit den Kriegen und unregulierten Nachkriegswirren ist die Gewalt gegen Frauen und Mädchen eskaliert: Sie waren und sind Kriegsvergewaltigungen, Menschenhandel und einem Anstieg von oft lebensbedrohlicher häuslicher Gewalt ausgesetzt (Ertürk 2006). Hinzu kommt ökonomische Not gepaart mit der alltäglichen strukturellen Gewalt gegen Frauen und Mädchen, die unter anderem auf frauenfeindlichen patriarchalen Traditionen und einem Mangel an Rechtsstaatlichkeit basiert. Seit 2003 engagiert sich die Frauen- und Menschenrechtsorganisation »medica mondiale« für von Gewalt und Traumatisierung betroffene Frauen und Mädchen in Afghanistan mit verschiedenen Projekten.

Versucht man sich im Internet einen Überblick über aktuelle Artikel zum Thema Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS oder engl. PTSD) und Afghanistan zu verschaffen, fällt auf: Wenn derzeit über PTSD berichtet wird, geht es fast ausschließlich um zurück gekehrte Soldaten (u.a. Deutscher Bundestag 2009). Fügen wir im Internet den Begriff Frauen hinzu, erscheinen Artikel über die hohe Rate der weiblichen Kriegsveteraninnen mit kriegsbedingten Traumatisierungen, u.a. auch durch sexualisierte Gewalt (Dotinga 2008). Die Verzweiflung afghanischer Frauen und Mädchen angesichts Jahrzehnte langer Kriege und massiver Gewalt in Gesellschaft und Familie besitzt keinen hohen Nachrichtenwert mehr. Es sei denn, es geht um Nachrichten mit Sensationswert wie z.B. die Verabschiedung eines frauenfeindlichen schiitischen Familiengesetzes im Vorfeld der Wahlen durch den afghanischen Präsidenten Karzai oder um anschauliche Berichte zu den Selbstverbrennungen von afghanischen Frauen. Oder aber Politiker jeglicher Couleur nutzen die miserablen Lebensbedingungen der afghanischen Frauen als Argument in der öffentlichen Debatte, wenn es um die Rechtfertigung einer weiteren militärischen Aufrüstung geht.

Kriegsgewalt und Traumatisierung

Traumatische Ereignisse sind gekennzeichnet von der Angst um das eigene Leben oder die eigene körperliche Unversehrtheit oder aber das Miterleben des Todes oder der schweren Verletzung anderer, gepaart mit extremer Hilflosigkeit und Ohnmacht. Es sind kein Kampf und keine Flucht möglich, die Situation ist ausweglos.

Durch den extremen Stress, der das Leben und die Identität des Menschen bedroht, sprengt ein Trauma die normalen Prozesse, wie Erfahrungen verarbeitet werden können. Die Folge: Funktionsstörungen, Panikattacken, Depressionen, chronische Schmerzen oder eine PTSD) können das Leben der Betroffenen über Jahre hinweg massiv beeinträchtigen (Griese 2009).

Die Diagnose der PTSD muss für die Erfassung der psychischen Folgen von Gewalt gegen Frauen und Mädchen in Kriegs- oder Nachkriegszeiten unzureichend bleiben. Sie zielt auf die Folgen einzelner traumatischer Ereignisse ab und erfasst nicht den längerfristigen komplexen Prozess, in dem sich das Trauma im sozialen Bezugsrahmen entwickelt (Joachim 2006). In Kriegs- und Nachkriegssituationen sind Frauen und Mädchen jedoch einer Vielzahl von traumatischen Ereignissen über einen längeren Zeitraum ausgesetzt, so dass von einer hohen Langzeitbelastung ausgegangen werden muss. Deshalb liegt die Vermutung nahe, dass viele Frauen in Kriegs- und Nachkriegsregionen unter einer komplexen PTSD (Herman 1994) oder einer sequentiellen Traumatisierung (Keilson 1979) mit entsprechend weitreichenderen Folgen sowie anderen stressbedingten psychosozialen Problemen leiden.

Häufig treten in Verbindung mit der PTSD auch andere psychische Folgen auf, sogenannte Komorbiditäten wie z.B. Depressionen, Panikattacken oder Zwangsstörungen, selbstverletzendes Verhalten, psychosomatische Erkrankungen. Wichtig sind darüber hinaus spezifische Unterschiede in der Symptomentwicklung, die unter anderem mit der jeweiligen (sozialen) Bewertung der Ereignisse und unterschiedlich vorhandenen Bewältigungsstrategien zusammen hängen (Joachim 2006, Zemp 2006).

Gewalt und Gewaltfolgen in Afghanistan

Betrachten wir die Gegenwart von Frauen und Mädchen in Afghanistan, scheint es fast fragwürdig, sich angesichts der verheerenden tagtäglichen Menschenrechtsverletzungen an Frauen und Mädchen in Afghanistan der Problematik mittels einer klinischen Diagnostik zu nähern. Groß ist die Gefahr, die Frauen – wie traditionell üblich – als Opfer zu pathologisieren, damit das »Problem« bei ihnen zu sehen und die Ursachen und damit die Täter aus dem Blick zu verlieren.

So schreibt Azimi 2004: „The most devastating and crippling psychological difficulties most women and children of Afghanistan face today are the horrors of Posttraumatic Stress Disorder (PTSD).“ Der Autor bezieht sich dabei vor allem auf die Traumatisierung durch die Kriegsereignisse und die spezifischen Leiden der Frauen unter den Taliban. Die im Vergleich zu den Männern außergewöhnlich hohe Rate an PTSD-Symptomen unter Frauen führt er darauf zurück, dass Frauen in der Regel sensibler und verletzlicher seien als Männer. Mit keinem Wort wird die immer noch andauernde, oft lebensbedrohliche alltägliche Gewalt gegen Frauen erwähnt.

Gleichzeitig weist die mittels der klinischen Diagnostik auf die Perspektive der psychischen Folgen fokussierte Betrachtung der gegenwärtigen Situation von Frauen und Mädchen in Afghanistan in alarmierender Weise auf ihre Notlage und den deutlichen Unterstützungsbedarf hin und ist deshalb ausgesprochen wichtig.

Wesentliche Voraussetzung zur Verarbeitung traumatischer Erfahrungen wie z.B. Kriegserlebnisse sind materielle und physische Sicherheit, soziale Anbindung und Unterstützung. In Afghanistan setzt sich aber für die Frauen und Mädchen die Gewalt im Alltag fort. 57% der afghanischen Frauen heiraten vor dem Mindestalter von 16 Jahren, 70 – 80% aller Frauen werden zur Heirat gezwungen (UNIFEM 2008a). Kindes- und Zwangsheirat sind die Ursache für verschiedenste Formen von Gewalt gegen Frauen und Mädchen (UNIFEM 2008b). Vergewaltigungen, sexuelle Übergriffe und andere Formen der Gewalt im familiären Rahmen sind zum einen ein Tabu, entsprechen zum anderen einer akzeptierten gesellschaftlichen Norm (Ertürk 2006). Hinzu kommen Freiheitsentzug, in bestimmten Regionen verschiedene Formen der traditionsbedingten Gewalt wie z.B. »badal« oder »bad« (Übergabe eines Mädchens an eine andere Familie, um z.B. Blutrache zu beenden). Mangelernährung, frühe und zahlreiche Schwangerschaften und unzureichende medizinische Versorgung tragen dazu bei, dass Afghanistan das einzige Land der Welt ist, in dem die Lebenserwartung der Frauen mit 44 Jahren in 2008 noch niedriger ist als die der Männer (UNIFEM 2008). Vielen erscheint ihre Lage so aussichtslos, dass sie sich selbst das Leben nehmen. So ist z.B. die Selbstverbrennung unter Frauen und Mädchen unter anderem im Raum Herat sehr verbreitet (medica mondiale 2006-2007).

Es gibt nur eine verschwindend geringe Anzahl von ausgebildeten Psychiatern oder PsychotherapeutInnen, nur wenige Anlaufstellen stehen Menschen mit psychischen oder psychosozialen Problemen zur Verfügung, die wenigsten Frauen haben überhaupt aufgrund ihrer geringen Mobilität die Möglichkeit, entsprechende Beratungsstellen aufzusuchen.

Ebenso wichtig ist es, die Folgen der fast drei Jahrzehnte andauernden Kriege für Frauen nicht nur auf individueller Ebene, sondern auch im sozialen Kontext zu betrachten. So sind die Ursachen der massiven häuslichen Gewalt gegen Frauen und Mädchen in Afghanistan zum einen in frauenfeindlicher Tradition, Politik und einer entsprechend ausgelegten Religiosität zu sehen. Neben den individuellen, psychischen Folgen haben die kriegsbedingten Traumafolgen auch eine zerstörerische Wirkung auf die soziale Gemeinschaft insgesamt. So wird durch die massive zwischenmenschliche Gewalt und Brutalität in Kriegszeiten das Vertrauen in andere Menschen tief erschüttert. Wie in anderen Kriegs- und Nachkriegsgesellschaften auch, ist in Afghanistan zu beobachten, dass die zwischenmenschliche Gewalt im Vergleich zu Friedenszeiten extrem hoch ist. Auch das kann u.a. mit unverarbeiteten Traumata zusammen hängen. Ohnmacht und damit verbundene Wut und Aggression setzen sich in der oftmals schwierigen ökonomischen Situation fort – und entladen sich häufig gegenüber jungen Frauen und Kindern, die gesellschaftlich die schwächste Position haben.

Gewalt und Traumatisierung

Seit 2004 bietet »medica mondiale Afghanistan« in Kabul psychosoziale Beratungsgruppen für Frauen an. Die Teilnehmerinnen sind Überlebende mit kriegsbedingten Traumatisierungen, darunter viele Witwen, sowie Frauen, die häusliche Gewalt durch Ehemänner oder Schwiegerfamilien erfahren mussten

Die qualitative Auswertung der Angaben von 109 Teilnehmerinnen, die über ein halbes Jahr lang ein Mal wöchentlich an den Beratungsgruppen von »medica mondiale Afghanistan« teilnahmen, zeigt, dass die Mehrheit der Teilnehmerinnen in den Beratungsgruppen Erleichterung von psychischen oder körperlichen Problemen/Symptomen suchte.

So nannten 28,6% der Befragten als Grund, eine Beratungsgruppe aufzusuchen, eine generalisierte oder spezifische Schmerzsymptomatik, Zittern, ein Gefühl von Lähmung oder auch Betäubung und Kurzatmigkeit. 24,1% aller Befragten gaben Frustration, Depression, Nervosität, extreme Besorgnis, Angstgefühle, Aggression, Selbstverletzung oder die Angst verrückt zu werden als Grund zur Teilnahme an der Gruppe an. Generell zeigte sich eine auffällig hohe Anzahl depressiver Symptome sowie auch psychosomatisch bedingte Schmerzsymptome1 (siehe auch Zemp 2006).

Für Afghanistan beschreiben wissenschaftliche Studien mit unterschiedlichen thematischen und regionalen Schwerpunkten hohe Raten an PTSD bei Frauen, variierend zwischen 30 bis 48 Prozent der jeweiligen Stichproben (Seino et. al 2008, Scholte et. al 2004). In der ersten landesweiten repräsentativen Erhebung zu psychischer Gesundheit in Afghanistan 2002 zeigten 48,33% der befragten Frauen eine PTSD Symptomatik gegenüber 32,14% der Männer. Bei einer Stichprobe von Menschen dieser Studie, die als »disabled«, also aus verschiedenen Gründen als für die Alltagsbewältigung beeinträchtigt eingestuft wurden, lag die Rate bei 55% bei den Frauen und bei 26% bei den Männern (Lopes Cardozo 2004).

Verschiedene Artikel und Studien weisen aber darauf hin, dass in Afghanistan neben PTSD-Symptomen auch andere Folgen traumatischer Ereignisse wie Depressionen sehr häufig auftreten (u.a. Miller et. al 2008, Miller et. al 2009, Lopes Cardozo 2004, Zemp 2006). Die Rate an PTSD liegt dabei niedriger als die von Depression und Angststörungen.

So beschreibt auch Missmahl (2006), basierend auf der praktischen Arbeit in einem Beratungszentrum in Kabul, dass sich bei den Klientinnen und Klienten nur selten ein voll ausgebildetes Bild einer Posttraumatischen Belastungsstörung zeige (allerdings ohne zwischen Angaben zu Männern und Frauen zu unterscheiden). Dagegen litten viele Menschen an einer oder mehreren Langzeitfolgen unbehandelter traumatischer Erfahrungen, neben verschiedenen Symptomen, die dem Symptombild der PTSD zugeordnet werden können, erwähnt sie Somatisierung, körperliche Erkrankung, chronische Schmerzen.

Zusammenfassend legen die oben aufgeführten Ergebnisse nahe, dass im Fall von Gewalterfahrungen von Frauen in Afghanistan PTSD-Symptome nur einen Ausschnitt der möglichen psychischen Folgen darstellen (Joachim 2008).

Gesellschaftlicher Umgang mit Gewalt und Traumatisierung

2004 wurde die »Mental Health Task Force« ins Leben gerufen, eine Arbeitsgruppe, die angliedert ist an das afghanische »Ministry of Public Health« (Ditmann 2004). Seit Beginn 2007 nehmen afghanische Mitarbeiterinnen von »medica mondiale Afghanistan« regelmäßig an dieser Arbeitsgruppe teil, die sich zusammensetzt aus Regierungsmitarbeitern aus den Bereichen Gesundheit und Erziehung sowie aus VertreterInnen ausgewählter afghanischer und internationaler Hilfs- und Nichtregierungsorganisationen sowie der Weltgesundheitsorganisation WHO. Die Relevanz psychischer Störungen, einschließlich Traumafolgestörungen, sowie der Bedarf an breiter Unterstützung für die Betroffenen jenseits von psychiatrischer Versorgung wird auch von der afghanischen Regierung mittlerweile als hoch eingeschätzt. Das zeigt sich u.a. daran, dass die »Mental Health Task Force« in 2008-2009 intensiv an der Integration einer ausgearbeiteten Komponente zu psychosozialer Begleitung als Teilbereich zum Thema Psychische Gesundheit im offiziellen »Basic Package of Health Services« (BPHS) (Ministry of Public Health 2005, Acera et. al 2009) der afghanischen Regierung gearbeitet hat. Diese schließt Trainingsmanuale für Gesundheitsfachkräfte ein und soll über die staatlichen Gesundheitsdienste in ganz Afghanistan umgesetzt werden. Die Gruppe hat erreicht, dass das Thema »Psychische Gesundheit« jetzt nicht mehr mit niedriger, sondern mit hoher Priorität im BPHS enthalten ist.

Wie schwierig es ist, Gewalt gegen Frauen und ihre Folgen im Zusammenhang mit psychischer Gesundheit als Thema einzubringen, zeigten allerdings die zähen Verhandlungen in der »Mental Health Task Force« dazu, wie dieses Thema in den Ausbildungscurricula und Trainingsmanualen für Gesundheitsfachkräfte angemessen berücksichtigt werden kann. Immer noch wird deutlich lieber von »innerfamiliärer Gewalt« gesprochen anstatt Gewalt gegen Frauen explizit zu benennen und das Thema sexualisierte Gewalt ist nach wie vor tabuisiert. Letztendlich ist es gelungen, dass zumindest das Thema Gewalt gegen Frauen und Mädchen basierend auf einem Minimalkonsens als Querschnittsthema in die Manuale aufgenommen wurde.

In wie fern traumatische Erlebnisse auch tatsächlich zu einer chronifizierten Stress-Symptomatik wie PTSD oder anderen Stressfolgeerkrankungen führen, hängt maßgeblich davon ab, wie diese – gesellschaftlich und individuell – bewertet werden. Das macht z.B. in Afghanistan die Verarbeitung von extrem erniedrigenden und stigmatisierenden Gewalttaten wie Vergewaltigungen oder aber auch der sozial akzeptierten häuslichen Gewalt sehr problematisch.

Die afghanischen Mitarbeiterinnen von »medica mondiale« bieten seit 2005 Trainings zum Thema »Psychosoziale Beratung« an, die den Umgang mit Traumatisierung und Gewalt gegen Frauen einschließen – die Nachfrage ist groß. Dabei ist aber auch zu beobachten, dass die eigene Identifizierung als »Traumaopfer« auch einen Prozess der Hilflosigkeit auslösen kann: „Wir in Afghanistan sind alle traumatisiert? Was sollen wir schon tun?“.2

In der Arbeit von »medica mondiale« in Afghanistan ist es daher wichtig, immer den Blick auf die eigenen und sozialen Ressourcen zu öffnen, kleine Veränderungen und Fortschritte wahrzunehmen und auf die Stärke der Überlebenden zu fokussieren. So ist es essentiell, immer wieder auch ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, dass auch schwierige Lebenssituationen zu meistern sind. Schließlich ist es vielen Frauen und Mädchen in Afghanistan gelungen, trotz Jahrzehnte andauernden Kriegen, Konflikten und Unterdrückung und vielen körperlichen und psychischen Problemen immer noch ihre Alltagsanforderungen zu bewältigen und niemals vollständig die Hoffnung zu verlieren. Das ist ein Aspekt der psychischen Gesundheit, der nur selten in Studien untersucht wird (Miller nach Dittmann 2004).

Praktische Unterstützung vor Ort

Ruft man sich in Erinnerung, dass die Kriegserklärung an Afghanistan unter anderem mit den massiven Menschenrechtsverletzungen an Frauen und Mädchen unter den Taliban begründet wurde, ist die Anzahl an zivilgesellschaftlichen und internationalen Projekten in Afghanistan, die sich gezielt für Frauen einsetzen, verschwindend gering. Zudem setzen sich gerade einheimische Frauen, die sich für Frauenrechte engagieren – sei es in internationalen und lokalen Nichtregierungsorganisationen – massiven Anfeindungen, lebensgefährlichen Bedrohungen und auch Attentaten aus.

So ist »medica mondiale Afghanistan« eines der wenigen Projekte, das konkrete Unterstützungsangebote für von Gewalt und Traumatisierung betroffene Frauen und Mädchen anbietet.

Dabei ist das Thema »Trauma« auch ein Türöffner z.B. für Trainingsangebote für Gesundheitsfachkräfte in Krankenhäusern. Es bietet den Mitarbeiterinnen – und auch den Teilnehmerinnen – einen gewissen Schutz davor, sofort als Frauenrechtlicherinnen abgestempelt zu werden und damit ungleich mehr gefährdet zu sein.

Seit 2003 engagiert sich »medica mondiale« für Frauen und Mädchen in Afghanistan mit verschiedenen Projekten: Die Mitarbeiterinnen vor Ort bieten Frauen direkte psychosoziale und rechtliche Unterstützung an. Mit politischer Arbeit setzt sich »medica mondiale« zudem offensiv für die Durchsetzung der Rechte von Frauen und Mädchen in Afghanistan ein. Die Projektarbeit konzentriert sich auf die Städte Kabul, Herat, Mazar-i-Sharif (bis 2008 auch Kandahar) sowie auf einige angrenzende Provinzen. So bietet »medica mondiale« Rechtshilfe für Frauen an, die in den Frauengefängnissen in Kabul, Herat und Mazar-i-Sharif inhaftiert sind. Die Mehrzahl dieser Frauen sind wegen so genannter moralischer Verbrechen im Gefängnis – zum Beispiel weil sie aus Angst vor einer Zwangsverheiratung von zu Hause geflohen sind oder nach einer Vergewaltigung der Unzucht bezichtigt werden. »medica mondiale Afghanistan« stellt den Frauen Anwältinnen zur Seite, die dafür sorgen, dass sie einen fairen Prozess erhalten und nicht für Jahre im Gefängnis verschwinden.

In sechs Stadtteilen Kabuls hat »medica mondiale Afghanistan« Beratungsräume eingerichtet, die Frauen eine psychosoziale Unterstützung in ihrer Nähe und einen Treffpunkt an einem geschützten Ort bieten. In mehreren Schutzhäusern, in Krankenhäusern in Herat und Kabul sowie in den Frauengefängnissen in Kabul und Herat bieten afghanischen Psychologinnen von »medica mondiale« ebenfalls Einzel- und Gruppenberatungen an. Die Nachfrage ist groß, da es in Afghanistan kaum qualifizierte Anlaufstellen für von Gewalt betroffene oder traumatsisierte Frauen gibt. Deshalb trainiert »medica mondiale Afghanistan« auch fortlaufend afghanische Fachkräfte wie Rechtsanwältinnen, Gesundheitsfachkräfte und Sozialarbeiterinnen im kompetenten Umgang mit von Gewalt betroffenen Afghaninnen.

Der Schwerpunkt liegt derzeit auf der intensiven Weiterbildung und Sensibilisierung medizinischen Fachpersonals von Krankenhäusern in Kabul und Herat. Viele Ereignisse der Gegenwart – wie etwa eine medizinische Untersuchung bei Frauen, die vergewaltigt wurden – bewirken eine Reaktualisierung der traumatischen Erfahrung. Sie rufen die schmerzhaften Erinnerungen so lebendig hervor, dass die Frauen das Gefühl haben, alles noch einmal zu erleben. Leider treffen Überlebende von (Kriegs-)Gewalt in Afghanistan in der Regel eher auf Menschen, die ihrer Problematik unvorbereitet gegenüberstehen – in Kliniken, vor Gerichten, Ministerien und auch bei Hilfsorganisationen. Dabei hängen die Verarbeitungsmöglichkeiten der körperlichen und seelischen Verletzungen elementar von den Hilfsangeboten und dem umsichtigen Handeln der Fachkräfte ab. Durch die Berücksichtigung einfacher, in Trainings vermittelter Grundprinzipien können z.B. Retraumatisierungen eingegrenzt oder vermieden werden.

Darüber bieten die Seminare die Möglichkeit zur intensiven Auseinandersetzung mit dem Thema Gewalt gegen Frauen und sensibilisieren für angemessene Unterstützung und Hilfsmaßnahmen.

Ausblick

Die psychischen Folgen von Traumatisierungen müssen immer im Kontext mit den massiven Menschenrechtsverletzungen gesehen werden, in dem sie entstanden sind. Sehr viele Frauen, mit denen »medica mondiale« in Afghanistan zu tun hat, haben Schreckliches erlebt und leiden täglich unter der zermürbenden Gewalt der Unterdrückung. Trotzdem gibt es Heldinnen des Alltags wie z.B. Malalai Joya, Mitglied des Parlaments, die sich trotz massiver Widerstände beharrlich aufgelehnt hat. Oder diejenigen, die gegen die Verabschiedung des international und in Afghanistan massiv kritisierten schiitischen Familiengesetzes auf den Straßen Kabuls protestiert haben. Oder die afghanischen MitarbeiterInnen von »medica mondiale« vor Ort, die sich trotz der Gefahren und Anfeindungen immer wieder engagiert einsetzen für die Umsetzung von Frauenrechten und für ihre Klientinnen. Oder die betagte Oberärztin des Universitätskrankenhauses in Kabul, die die Arbeit von »medica mondiale« schon seit 2004 unterstützt und es geschafft hat, ihr Leben lang sich auch unverheiratet Respekt zu verschaffen.

Auswertungen zeigen, dass die Angebote von »medica mondiale Afghanistan«, in denen Frauen sich in psychosozialen Beratungsgruppen regelmäßig in geschütztem Rahmen unter Begleitung einer afghanischen Psychologin treffen, mit verhältnismäßig wenig Aufwand eine schon fast überraschend positive Wirkung haben. Über 90% der Frauen beschreiben, dass sich durch die Teilnahme in der Gruppe ihre gesundheitliche oder soziale Situation deutlich verbessert hat. Ein ganz wesentlicher Faktor ist dabei die Aufhebung ihrer Isolation und die Begleitung beim Aufbau von Unterstützungssystemen, die über die Familie hinausgehen. Zum anderen bewirken der angeleitete Erfahrungsaustausch, die Aufklärung über den Zusammenhang von körperlichen und psychischen Problemen und die Übungen zu Stressreduktion und Problemlösungsstrategien eine deutliche Entlastung und Stärkung der Teilnehmerinnen, die sich unter anderem in einem Rückgang von körperlichen und psychischen Beschwerden, Stress- und auch Traumasymptomen widerspiegelt.

Viele Frauen treffen sich auch nach Beendigung der Gruppenarbeit weiter und nutzen u.a. gemeinsam Alphabetisierungskurse von »medica mondiale Afghanistan«. Was fehlt sind andere, auf einkommensschaffende Maßnahmen für Frauen spezialisierte Organisationen, die auch wenig gebildeten und vor allem wenig mobilen Frauen aus den Distrikten die Chance geben, größere ökonomische Sicherheit und damit auch größere Handlungsspielräume zu bekommen und damit mehr Schutz vor ausbeuterischen Abhängigkeits- und Gewaltverhältnissen. Darüber hinaus sind psychosoziale Angebote zur Traumabearbeitung und Sensibilisierung zu geschlechtsspezifischer Gewalt für Jungen und Männer als vorbeugende Maßnahme gegen häusliche Gewalt, familiäre Konflikte und bewaffnete Gewalt dringend erforderlich.

Gegenwärtig werden aus dem Bundeshaushalt pro Jahr mehr als 530 Millionen Euro für den Militäreinsatz ausgegeben. Für den zivilen Aufbau steht weniger als ein Viertel dieser Summe zur Verfügung. Das Budget für die Förderung von Frauenrechten und Unterstützung von Frauen unter anderem im Gesundheits- und Bildungswesen lag 2007 nur bei 1,7 Millionen Euro.

Die aggressive militärische Strategie der Anti-Terrorbekämpfung hat den Frauen bislang nur eines gebracht: eine sich dramatisch verschlechternde Sicherheitssituation, die immer mehr Frauen und Mädchen in ihre Häuser zurück zwingt – und sie dabei zu Zielscheiben fundamentalistischer Mächte macht. »medica mondiale« fordert einen nachhaltigen Strategiewechsel beim Wiederaufbau Afghanistans. Frieden, Entwicklung und Wiederaufbau können nur gelingen, wenn die militärische Gewaltspirale beendet und das Primat der militärischen Konfliktlösung durch einen deutlich verstärkten zivilen Wiederaufbau abgelöst wird, an dem Frauen maßgeblich beteiligt werden.

Dabei schaffen psychische Stabilisierung und Stärkung durch Traumaarbeit, psychosoziale Arbeit oder Selbsthilfegruppen für viele Frauen überhaupt erst die Möglichkeit, sich aktiv an der friedensfördernden Bewältigung gesellschaftlicher Konflikte und am gesellschaftlichen Wiederaufbau zu beteiligen. Die inhaltliche Verknüpfung von Friedensaufbau und der Prävention von neuer Gewalt gegen Frauen und bewaffneter Gewalt muss bei internationalen und nationalen Konzepten endlich berücksichtigt werden.

Anmerkungen

1) Eine detaillierte klinische Diagnostik der PTDS wird von »medica mondiale« in Afghanistan aus verschiedenen Gründen nicht durchgeführt.

2) Aussage der Teilnehmerin zu Beginn eines Trainings von Gesundheitsfachkräften in Kabul 2006 durch »medica mondiale«.

Literatur

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Herman, Judith Lewis (1994): Traumatische Erfahrungen verstehen und überwinden, München.

Islamic Republic of Afghanistan, Ministry of Public Health (2005): A Basic Package of Health Services for Afghanistan, 2005/1384.

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Miller, Keneth E. et. al (2009): The Validity and Clinical Utility of Post-traumatic Stress Disorder in Afghanistan, in: Transcultural Psychiatry, Vol. 46, No. 2, 219-237.

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Missmahl, Inge (2006): Psychosoziale Hilfe und Traumaarbeit als ein Beitrag zur Friedens- und Versöhnungsarbeit am Beispiel Afghanistans, in: Psychotherapieforum 2006.

Scholte, Willem F. et al (2004): Mental Health Symptoms Following War and Repression in Eastern Afghanistan, in: JAMA 2004; 292: 585-593.

Seino, Kaoruko et al (2008): Prevalence of and factors influencing posttraumatic stress disorder among mothers of children under five in Kabul, Afghanistan, after decades of armed conflicts, in: Health and Quality of Life Outcomes, 23. April.

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Zemp, Maria (2006): Afghanische Frauen leben mit ihren Schmerzen; in: Lachesis, Zeitschrift Nr. 34.

Karin Griese arbeitet als Referentin für Traumaarbeit bei der Frauen- und Menschenrechtsorganisation »medica mondiale« mit Sitz in Köln. »medica mondiale« unterstützt vergewaltigte und von Gewalt betroffene Frauen und Mädchen in Kriegs- und Konfliktgebieten wie in Afghanistan, Kosovo und Liberia mit eigenen Frauenberatungszentren, in anderen Regionen, wie der Demokratischen Republik Kongo, in Kooperation mit Frauenorganisationen vor Ort. Die Geschäftsführerin Monika Hauser erhielt 2008 für ihre Arbeit und die ihrer Organisation den Alternativen Nobelpreis.

Bundeswehr und Rechtsextremismus

Bundeswehr und Rechtsextremismus

von Paul Schäfer

in Zusammenarbeit mit der Informationsstelle Wissenschaft und Frieden e.V. (IWIF) und der Informationsstelle Militarisierung e.V. (IMI)

»Eine Serie von Einzelfällen«

Am 17. März 1997 zieht eine Gruppe von neun Soldaten eines Panzeraufklärungsbataillons durch die Innenstadt von Detmold, grölt ausländerfeindliche Parolen und mißhandelt Türken, einen US-Amerikaner, einen Italiener.

Zwei Tage später wird bekannt, daß Soldaten während einer Ausbildung für Kriseneinsätze 1996 in Hammelburg Videos mit abstoßenden Gewalt- und Nazi-Szenen gedreht haben.

Etwa ein halbes Jahr später werden bei den Gebirgsjägern in Schneeberg ähnliche Videos entdeckt.

Am 28.11.1997 registriert die Bundestagsabgeordnete der GRÜNEN, Angelika Beer, im Traditionsraum der Luftlandetruppe in Büchel NS-Wehrmacht-Darstellungen – ohne jegliche kritische Einordnung.

Am 1.12.97 posieren Soldaten mit Reichskriegsflagge und Nazi-Symbolen auf der Titelseite des STERN. Aufgenommen auf einer Unteroffiziers-Beförderungsfeier an der Luftlande-Schule in Altenstadt.

Am 6.12.97 wird ruchbar, daß der bekannte Rechtsterrorist und Nazi Manfred Roeder im Januar 1995 an der Führungsakademie (FüAk) in Hamburg einen Vortrag gehalten hat. Auch Materiallieferungen der Bundeswehr an Roeder und Co. werden bekannt. Eine Veranstaltung mit Kriegsveteranen, einschließlich eines Angehörigen der Waffen-SS, soll an der FüAk stattgefunden haben.

Am 21.12.97 veröffentlicht die BILD-Zeitung die Eidesstattliche Erklärung eines Gefreiten, der schwere Beschuldigungen über Vorfälle bei den Fallschirmjägern in Varel erhebt. Weitere Zeugen bestätigen, daß es „rechtsradikale Feiern“ bzw. Entgleisungen gegeben habe.

Nach und nach sickern immer mehr Meldungen über rechtsextremistische Vorfälle in der Bundeswehr durch. Der SPIEGEL informiert seine Leserinnen und Leser am 2.2.1998 über einen vertraulichen Bericht des Militärischen Abschirmdienstes für das Verteidigungsministerium, in dem die Zunahme rechtsradikaler Propaganda- und Gewaltdelikte dokumentiert sei.

Die Reaktion des Bundesministeriums der Verteidigung (BMVg) auf diese Ereignisse, bzw. die vermuteten Ereignisse ist stereotyp:

Es handele sich um Einzelfälle; für Rechtsextremismus in der Bundeswehr gäbe es ansonsten keinerlei Indizien. Alles werde schonungslos aufgeklärt und geahndet. Im übrigen, wird hinzugefügt, sei die Bundeswehr ein Spiegelbild der Gesellschaft. Die Vorkommnisse zeigten nur, daß Probleme und Fehlentwicklungen der Gesellschaft in die Bundeswehr hineingetragen würden.

Immerhin sieht sich die Hardthöhe zu hektischer Betriebsamkeit veranlaßt; der Minister sucht sich als Herr der Lage zu präsentieren. Soldaten werden disziplinarrechtlich belangt bzw. entlassen und strafversetzt. Durch die Verschärfung der Dienstaufsicht auf allen Ebenen sollen künftige Vorkommnisse im Keim erstickt werden. Minister Rühe will Rechtsextreme durch eine Art Gesinnungs-TÜV für einzuziehende Wehrpflichtige fernhalten. Übrig bleibt davon die bessere Information der Truppe über straffällig gewordene Rechtsextremisten bzw. über Funktionäre rechtsextremistischer Parteien. Der Generalinspekteur des Bundeswehr beruft in Windeseile eine Arbeitsgruppe »Rechtsextremismus« ein und legt einen ersten Maßnahmekatalog vor, der die Bereiche Aufklärung, Politische Bildung, Öffentlichkeitsarbeit und Führungspraxis umfaßt.

I. Die Einsetzung des Untersuchungsausschusses des Deutschen Bundestages

Alarmiert durch den Roeder-Auftritt an der FüAk berät der Verteidigungsausschuß am 10. Dezember 1997 ausführlich über das Thema »Rechtsextremismus in der Bundeswehr«. Die Oppositionsparteien fordern zu diesem Zeitpunkt die Einsetzung einer Unabhängigen Kommisssion. Die GRÜNEN verschärfen im Anschluß an die Beratungen ihre Kritik und fordern die Einsetzung des Verteidigungsausschusses als Untersuchungsausschuß des Parlaments gemäß Artikel 45a, Abs. 2, GG. Die SPD schließt sich diesem Verlangen nach einigem Zögern an.

Bereits zwei Tage später, am 12.12.1997, wird die Einsetzung beschlossen. Da dafür nur die Zustimmung eines Viertels der Mitglieder des Parlaments nötig ist, kann die Regierungskoalition nichts dagegen tun. Die Konstituierung wird auf den 14. Januar 1998 festgelegt.

Dort verständigt sich der Ausschuß auf Basis eines Antrags der SPD-Fraktion über den Untersuchungsauftrag.

Gegenstand soll die innere Lage der Bundeswehr anhand der geistigen Orientierung der Vorgesetzten und ihrer Bindung an die freiheitlich-demokratische Grundordnung sein, untersucht am Beispiel der Vorfälle »Roeder« und der Materiallieferungen an dessen Deutsch-Russisches Gemeinschaftswerk (DRGW). Weiter soll es um Menschenbild, Führungsverhalten, Stellenwert von Aus- und Weiterbildung, vor allem anhand der Ereignisse in Schneeberg, Hammelburg, Detmold, Altenstadt, Landsberg und Varel, gehen. Die SPD will den Zustand der Inneren Führung und die Realität des Traditionsverhaltens in den Streitkräften geprüft wissen. Schließlich soll die Verantwortung des Ministers der Verteidigung für diese Vorfälle ins Visier genommen werden.

Die GRÜNEN setzen in ihrem Antrag etwas andere Akzente. Untersucht werden sollten u.a.

  • rechtsextreme, gewalttätige, fremdenfeindliche oder nationalautoritäre Vorkommnisse;
  • die Frage der Herausbildung subkultureller Netzwerke oder Gruppen in der Bundeswehr;
  • die Praxis der Traditionspflege, auch anhand des Bezugs zur Wehrmacht, z.B. anhand der Verbindungen zwischen Traditionsverbänden der Wehrmacht und Bundeswehr;
  • die Frage, inwieweit der veränderte Auftrag der Bundeswehr sich begünstigend auf die Vorkommnisse ausgewirkt habe.

CDU/CSU und FDP machen von vornherein deutlich, daß sie die Einsetzung des Untersuchungsausschusses für überflüssig halten. Die Bundeswehr werde damit nur unter „Generalverdacht“ gestellt. Teile der Medien und die Opposition betrieben eine gezielte Kampagne gegen die Bundeswehr, um den Imagegewinn, den die Truppe durch die Einsätze in Bosnien und an der Oder erringen konnte, wieder wettzumachen.

Inzwischen ist die Beweisaufnahme des Untersuchungsausschusses abgeschlossen. Die unterschiedlichen Bewertungen der Ergebnisse sollen bis zur Sommerpause vorgelegt werden.

Die Grundaussagen stehen bereits fest:

l<~>Die Sprecher der Koalition werten die Einsetzung des Ausschusses als „Schlag ins Wasser“. Die Vorwürfe über „braune Strukturen“ in der Bundeswehr seien nicht bestätigt worden.

l<~>Die SPD ist bemüht, bei den Rechtsextremismus-Vorwürfen zurückzurudern. Ihr war es ohnehin mehr darum gegangen, sich im Wahljahr als Kraft zur Modernisierung der Streitkräfte zu präsentieren. Reformen in den Bereichen Innere Führung, Ausbildung, Effektivierung der Strukturen geraten daher in den Vordergrund. Die SPD verweist auf eine Reihe von Weisungen und Erlasse der politischen und militärischen Führung der Bundeswehr, mit denen seit Dezember 1997 die Politische Bildung verbessert, bei der Traditionspflege nachgesteuert und Maßnahmen gegen den Rechtsextremismus eingeleitet worden sind. Dies sei auch Ergebnis des von der Opposition durchgesetzen Untersuchungsausschusses.

l<~>Die Grünen merken nach den Beweiserhebungen zwar an, daß „der Rechtsextremismus kein Problem der Bundeswehr“ sei. Sie bleiben aber der Meinung, daß es in der Bundeswehr eine Grauzone gebe, in der sich strukturbegünstigt Rechtsextremismus ausbreiten könne.

l<~>Die Meinung, daß es keinen Grund zur Entwarnung gebe, wird durch die Abgeordneten der PDS geteilt.

II. Bestandsaufnahme

Der Vorwurf des Rechtsextremismus ist in Bezug auf die Bundeswehr natürlich besonders brisant. Es liegt auf der Hand, welche Gefahren daraus für die Demokratie erwachsen würden. Daher muß der Frage, wie es tatsächlich mit rechtsextremistischen Tendenzen und Gefährdungen in dieser Großorganisation steht, sorgfältig nachgegangen werden.

l<~>Mißt man diese Tendenzen nur anhand der Vorfälle, die vom Militärischen Abschirmdienst als »Besondere Vorkommnisse« (BV) registriert sind? Wenn man um quantitative Erfassung bemüht ist, stellt sich die Frage: Wie hoch ist die Dunkelziffer der nicht gemeldeten Vorfälle? Wieviele Meldungen über Vorfälle wurden durch Drohungen oder Disziplinarmaßnahmen im Vorfeld unter den Teppich gekehrt?

l<~>Oder müssen andere Indikatoren ins Spiel gebracht werden, um verläßliche Aussagen über mögliche »Fehlentwicklungen« zu erhalten?

1. Die Besonderen Vorkommnisse (BV)

Geht man von den erfaßten Vorfällen aus, ergibt sich folgendes Bild:

  • In den Jahren 1990/91 wird gerade mal eine Handvoll Vorfälle gemeldet.
  • Ab 1992 ergibt sich eine sprunghafte Zunahme von Delikten – offensichtlich parallel zur Zunahme rechter Gewalttaten in der Gesellschaft.
  • Zwischen 1992 und 1996 werden knapp 300 Fälle gemeldet, die Zahl der beweisbaren Vorkommnisse liegt etwas unter 200.
  • Eine erhebliche Zunahme ergibt sich beim Meldeaufkommen 1997: Fast zweihundert Vorkommnisse werden identifiziert. Darunter vorwiegend Propagandadelikte, allerdings auch 11 Fälle von Gewaltanwendung.
  • Für den ganzen Zeitraum gilt: Die Taten wurden überwiegend von Wehrpflichtigen ausgeübt, darunter wieder mehrheitlich von Grundwehrdienstleistenden. Der Anteil von Zeitsoldaten an dieser Tätergruppe ist gering. Nur ein Teil der Vergehen wurde im Dienst begangen. Rechte Gesinnungs- und Gewalttäter haben sich meist mit ihren Kameraden in Zivil zu Straftaten zusammengefunden.

Um den qualitativen Sprung 1997 richtig einordnen zu können, muß beachtet werden, daß die Enthüllungen in der Öffentlichkeit und die ersten Reaktionen der militärischen Führung (u.a. Brief des Generalinspekteurs in der ersten Jahreshälfte) eine Sensibilisierung in den Streitkräften bewirkt haben. Dies führte dazu, daß viel mehr gemeldet wird. Daß sich die Zahl der BV wirklich in dieser Größenordnung vermehrt hat, ist daher nur bedingt anzunehmen. Weiter ist darauf zu achten, daß das Medienecho auch »übersensible« Reaktionen hervorgerufen hat. Manche Vorwürfe bestätigten sich nicht. Mitunter waren Mißverständnisse im Spiel (die „Sieg Heil“–Rufe bei einer Reservisten-Feier an der FüAk entpuppten sich als Reservisten-Vereins-Ruf „Wild-Sau“). In einigen Fällen wurde die kritisch gewordene Öffentlichkeit von Rekruten mißbraucht, die sich beim Bund benachteiligt fühlten und »heimzahlen« wollten.

Dennoch muß von einer Zunahme rechtsradikaler Vorfälle ausgegangen werden. Die Liste der Fälle ist mehr als unerfreulich. Die Palette reicht von rechtsradikalen, rassistischen, antisemitischen Äußerungen („Heil Hitler“– oder „Sieg Heil“-Rufe, „Türkenschwein“, „Polacken“) über ausländerfeindliche, neonazistische Agitation (Nazi-Symbole am Körper oder am Spind, Zeigen der Reichskriegsflagge, Vertrieb von rechten Zeitschriften) bis zu Schlägereien mit Ausländern und der Beteiligung an Brandanschlägen auf Asylantenheime.

Eine Parallelbewegung zwischen den registrierten Vorfällen in der Bundeswehr und in der Gesellschaft ist unverkennbar. Zwischen 1991 und 1993 erleben wir eine starke Zunahme der Fremdenfeindlichkeit in der deutschen Gesellschaft, die den rechtsradikalen Organisationen Auftrieb verschafft und sie zu Gewaltaktionen anstachelt. Erst die Gegenaktionen der kritischen Öffentlichkeit und dadurch bewirkte Maßnahmen des Staates (Organisationsverbote, polizeiliches Eingreifen etc.) bringen ein zeitweiliges Abschwellen der rechten Straftaten. Auch die rechtstaatlich fragwürdige und moralisch nicht hinnehmbare Aushebelung des Grundrechts auf Asyl im Oktober 1993 führt dazu, daß das Thema der rechten Brandstifter vorübergehend in den Hintergrund gerät.

In den letzten beiden Jahren sind wir mit einer neuerlichen Eskalation rechter Gewalt konfrontiert. Die anhaltende Massenarbeitslosigkeit und soziale Zerrüttungen, vor allem in den neuen Bundesländern, haben das ihre dazu getan, daß sich rechtes Protestpotential bilden konnte. Der Verfassungsschutz hat daher im Jahre 1997 einen erheblichen Zulauf in der Neonazi- und Skinheadszene registriert. Dieser starke Anstieg läßt sich anhand der Berichte des Bundesamtes für den Verfassungsschutz auch bei den Gewalt- und sonstigen Straftaten feststellen.

Die Vertreter der Regierungsparteien kamen im Untersuchungsausschuß zu dem Schluß: Natürlich seien die Streitkräfte mit diesem gesellschaftlichen Problem konfrontiert. Aber die Anzahl der Delikte sei im Bereich der Bundeswehr vergleichsweise niedrig. Auch sei die Gesamtzahl der vom MAD erfaßten Rechtsextremisten in der Bundeswehr gering.

Doch solche Schlüsse sind voreilig. Zum einen haben die Recherchen des Untersuchungsausschusses offengelegt, daß einige Vorkommnisse lange unter der Decke gehalten werden konnten. In einer Truppe, in der Korpsgeist gefragt ist, in der starke Unterordnungsverhältnisse herrschen, kann davon ausgegangen werden, daß die Dunkelziffer erheblich ist.

Zum anderen wußte der MAD davon zu berichten, daß seit einiger Zeit in der rechten Szene die Losung ausgegeben worden sei, beim Bund „auf Sehrohrtiefe“ zu gehen. Tarnen und täuschen ist also angesagt.

Vor allem aber darf entschieden bezweifelt werden, ob man mit der Auflistung der Besonderen Vorkommnisse das wirkliche Ausmaß rechtsextremistischer Gefahren zureichend erfassen kann. Vielleicht muß sich rechtsradikale Gesinnung gar nicht durch besonders abweichendes Verhalten äußern?

2. Orientierungen und Einstellungen

Erforderlich wären verläßliche Erhebungen über Einstellungen der Soldaten und deren Entwicklungen während der Dienstzeit. Genau solche Untersuchungen werden aber im Rahmen der Bundeswehr seit einigen Jahren nicht mehr durchgeführt. Minister Rühe steht auf dem obskuren Standpunkt, er wolle nicht, daß auf diese Weise die Bundeswehr verdächtigt werde: An empirischen Untersuchungen über Jugendliche, die zum Bund wollen, sei man interessiert, aber nicht an gesonderten Befragungen innerhalb der Truppe.

Wegen dieser (auch im Rahmen des Untersuchungsausschusses wiederholt beklagten »Forschungsebbe«) weiß man zu wenig über Einstellungen und Orientierungen der Wehrpflichtigen, der Unteroffiziere und des Offizierskorps. Da in einer hierarchischen Großorganisation die Vorgesetztenebene entscheidend ist, wären gerade hier Analysen interessant. Aber auch die Frage, wie es bei den Unteroffizieren aussieht, ist wichtig, bilden diese doch das entscheidende Bindeglied zwischen Führung und Mannschaften.

In der militärsoziologischen Forschung ist eine Typologisierung der verschiedenen Orientierungsmuster unter den Soldaten versucht worden. Gessenharter/Fröchling etwa unterscheiden zwischen

a) dem demokratisch-reformierten Typus,

b) dem „Militär sui generis“Typus (an autoritären Attüden orientiert, das Besondere des Soldatentums akzentuierend, zum Geschichtsrevisionismus neigend und „extremistisch gefährdet“),

und c) dem technokratisch-funktionalistischen Typus.1

Nur eine differenzierte sozialwissenschaftliche Studie könnte ermessen, inwieweit diese Typologisierung trägt und welchen Anteil der jeweilige Typ unter den Bundeswehr-Angehörigen hätte. Das BMVg scheint daran nicht interessiert.

Im Oktober 1997 zog eine Untersuchung über Studierende an den Bundeswehrhochschulen (Offizierslaufbahn!) die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich.2 Die Studie, die am Hochschuldidaktischen Zentrum der Bundeswehrhochschule Hamburg in Verbindung mit der Universität Konstanz durchgeführt wurde, verglich die Einstellungen bei Studierenden an Bundeswehreinrichtungen und zivilen Universitäten. Die Ergebnisse überraschen nicht.

l<~>Mit großem Abstand wird von den Studierenden der Bundeswehr die christlich-konservative Position favorisiert (75%).

l<~>21% kennzeichnen ihre Einstellung als „national-konservativ“. Bei den Soldaten mit dem Berufsziel Offizier (im Unterschied zu Soldat auf Zeit) ist diese Verortung besonders stark ausgeprägt.

l<~>Die Cluster-Analyse der Forschungsgruppe bestätigt diese Zuordnungen. Über 10 % der Studierenden der UniBw werden als „rechtskonservativ“ eingestuft. Zur rechtesten Gruppe „nationalkonservativ“ werden 6,2 Prozent gerechnet.

l<~>Die Studie bestätigt bekannte Erfahrungswerte: Die Soldaten stellen, verglichen mit der Gesellschaft, eine nicht unbeträchtlich nach rechts verschobene »Population« dar. Dies ist auch leicht nachvollziehbar. Zeit- und Berufssoldaten hängen an Werten, die gemeinhin als konservativ gelten: Hierarchische Führungsstrukturen, das Prinzip von Befehl und Gehorsam, Sekundärtugenden wie Ordnung und Disziplin, usw.3 Diese »Rechtsverschiebung« wird vor allem im Bereich der Unteroffiziere auch dadurch verstärkt, daß deren Rekrutierungsbasis überwiegend im ländlichen Milieu liegt.4 Insoweit werden mit der Studie »Normalitäten« beschrieben, die für alle Streitkräfte der Welt gelten dürften.

Daß aber über 20 % der befragten Bundeswehr-Studierenden als national-konservativ, bzw. rechtskonservativ eingeordnet werden, läßt aufmerken. Leider bricht die Untersuchung an dem Punkt ab, der hier von besonderem Interesse ist: Wieviel Prozent des festgestellten Typus des nationalkonservativen Soldaten sind als rechtsextrem einzuschätzen? Und wo sind die möglichen Übergänge?

Wir sind also bis dato auf Vermutungen angewiesen. Rechtsextreme Orientierungen fänden sich in der Bundeswehr nur zu gleichen Teilen oder schlimmstenfalls etwas oberhalb der Werte der gesamten männlichen Altersgruppe, haben Vertreter von Verfassungsschutz und MAD gemutmaßt. Es sei von einer Zahl zwischen 3 und 4 % auszugehen. Die jüngsten Wahlergebnisse in Sachsen-Anhalt (30 % der Wähler zwischen 18 und 30 Jahren stimmten für die rechtsradikale DVU) sind ein Indiz dafür, daß sich diese Werte auch rasch verschieben können.

3. Die besondere Militärkultur

Die Frage, ob die Bundeswehr rechtslastig und rechtsextrem gefährdet ist, kann mit Bezug auf die Erkenntnisse der staatlichen Beobachtungsbehörden und der empirischen Sozialforschung nicht hinreichend beantwortet werden. Erforderlich wären strukturell-funktionale Untersuchungen über die politische Entwicklung der Streitkräfte im gesamtgesellschaftlichen und internationalen Kontext (Definition des Auftrags, der Rolle der Armee, ihrer Legitimation), über die damit verbundenen ideologischen Prozesse (geistige Orientierung, historische Einordnung etc.) und über das auf die Streitkräfte unmittelbar einwirkende gesellschaftliche Umfeld.

Dabei müßte natürlich die diesbezüglichen Deklarationen von Regierung und Militärführung (Reden, Weisungen, Erlasse) und die wehrbezogene Publizistik ausgewertet werden. Wissenschaftler wie Detlef Bald, Wolfgang R. Vogt oder Wolfram Wette haben seit 1990 Studien vorgelegt, die sich mit der seitdem sukzessive veränderten Rolle und Funktion der deutschen Streitkräfte beschäftigt haben. Eine Kette von Indizien hat sie dazu gebracht, Alarm zu schlagen. Der neue Auftrag der Bundeswehr, sich an Kriegen auch außerhalb der Landes- und Bündnisverteidigung zu beteiligen, bringe auch die Wiederbelebung des militärischen Traditionalismus mit sich. Es sei wieder der Typus des »Kämpfers« gefragt sei, der sich vor allem auf seine handwerklich-technischen Fähigkeiten stütze, der die Normen und Werte der Zivilgesellschaft als Beschränkung seiner Handlungsfähigkeit empfinde.5

Diese Frage wurde im Untersuchungsausschuß zwar immer wieder gestreift, aber letztlich spielte sie eine untergeordnete Rolle. Dabei liegt hier ein Kern des Problems: Inwieweit sind Streitkräfte, die auf Kriegseinsätze konditioniert werden, für rechtsextreme Orientierungen »strukturell« besonders anfällig. Der Politologe Ernst O. Czempiel hat zu Recht daraufhingewiesen, daß eine Betrachtung der Oberflächenerscheinungen (faschistoides Gebaren von Soldaten, Beteiligung an Gewaltakten) viel zu kurz greift. Die Strukturprobleme, die mit der Besonderheit des Militärs verbunden sind, müssen in den Blick genommen werden.

Die Spezifik des Militärischen ergibt sich bereits aus dem Tötungsauftrag des Soldaten. Was in der Gesellschaft verabscheuungs- und strafwürdig ist, gereicht Soldaten zu Ruhm und Ehre. Der Heldenkult ist offenkundig ein Versuch, diese ethische Diskrepanz zu überbrücken. Damit ist aber nur ein Teil einer besonderen Militärkultur, eines besonderen militärischen Geistes (»military mind«) angesprochen.

„Dieses militärische Denken ist nicht kriegstreibend, jedenfalls nicht per se. Aber es wird geprägt von der ständigen Nähe zur Gewalt, zur ständigen Präsenz des Krieges.

Zwischen der militärischen Kultur und den Oberflächenerscheinungen von Rechtsradikalismus und Gewaltanwendung an den sozialen Rändern der Bundeswehr gibt es keine direkte Beziehung. Eine indirekte gibt es aber sehr wohl.“ 6 In einer „Wiederbelebung einer eigenen militärischen Kultur“ sieht Czempiel die eigentliche Gefährdung der Bundeswehr.

Die Defizite der parlamentarischen Untersuchung sind damit benannt. Von interessierter Seite auf die Klärung besonders spektakulärer Vorfälle eingeengt, gerieten diese strukturellen Anfälligkeiten der Streitkräfte, die indirekten Beziehungen zwischen Militärkultur und Rechtsextremismus, nahezu völlig aus dem Blick. Erhellend waren in dieser Hinsicht indes die Erörterungen über das Traditionsverständnis der Fallschirmjäger. Vor diesem Hintergrund beeilten sich Minister und Generalinspekteur, zu erklären, daß von einer „Wiederbelebung einer eigenen militärischen Kultur“ nicht die Rede sein könne. Richtig sei vielmehr, daß sich die Ausrichtung der Truppe an den Prinzipien der Inneren Führung, am Leitbild des »Staatsbürgers in Uniform« bei den Auslandseinsätzen bewährt habe. Daran würde festgehalten. Zweifel an dieser These sind erlaubt.

4. Die untersuchten Vorfälle

Der Untersuchungsausschuß hat sich vor allem um fünf Vorgänge gekümmert:

  • die Materiallieferungen aus Bundeswehrbeständen an das »Deutsch-Russische Gemeinschaftswerk« (DRGW) des Nazis Manfred Roeder im Jahre 1994/95,
  • dessen Vortrag an der Hamburger Führungsakademie der Bundeswehr am 24. Januar 1995,
  • die Anwesenheit eines ehemaligen Mitglieds der Waffen-SS in der FüAk bei einer Vortragsveranstaltung »Hilfe für Parfino«,
  • die Vorfälle an der Luftlandeschule Altenstadt/Schongau bzw. bei der Fallschirmjägertruppe in Landsberg/Lech,
  • die Vorfälle im Fallschirmjägerbataillon (FSchJgBtl) 313 in Varel.

· Materiallieferungen an das DRGW

Mit Schreiben vom 21.12.1993 hatte Roeders DRGW beim Materialamt des Heeres um die Überlassung von Bundeswehr-Material (Fahrzeuge, Werkzeuge etc.) gebeten. Es sollte um humanitäre Hilfe für »Nord-Ostpreußen« gehen. Nach einigem Hin und Her und kaum nachvollziehbaren organisatorischen Pannen erhalten Roeders Gesinnungsfreunde u.a. einen LKW und einen Kübelwagen. Sie holen die Fahrzeuge am 2. Januar 1995 ab und deponieren sie auf dem Gelände der Führungsakademie in Hamburg!

Keiner der beteiligten Stellen ist der verurteilte Terrorist Roeder ein Begriff; die Erwähnung Roeders und des DRGW im Verfassungsschutzbericht 1993 ist unbekannt. Im Materialamt des Heeres und beim Führungsstab des Heeres finden sich nur bereitwillige Helfer für die „bedrängten Rußlanddeutschen in Königsberg“. Die Diktion „Nord-Ostpreußen“ erregt keinerlei Verdacht. Dieser Vorgang wird sich beim Roeder-Vortrag an der FüAk wiederholen.

Eine Weisung des damaligen Parlamentarischen Staatssekretärs Schönbohm im BMVg 1993, bei der humanitären Hilfe für Mittel- und Osteuropa auf rechtsradikale Bestrebungen aufzupassen, erweist sich als wirkungslos. Warnungen aus der Deutschen Botschaft in Moskau werden ebensowenig beachtet, kritische Presseberichte über rechtslastige Bestrebungen in der russischen Oblast Kaliningrad nicht zur Kenntnis genommen.

Das Auswärtige Amt bestätigt stattdessen „das dringende Bundesinteresse“ bei dem Hilfsbegehren des DRGW.

Außenminister Kinkel hat die Fehler inzwischen bedauert. Die deutsche Außenpolitik unterstütze zwar die Hilfe für Rußlanddeutsche. Eine gezielte deutsche Ansiedlungspolitik im Raum um Kaliningrad gäbe es jedoch nicht. Auch Minister Rühe behauptete, die Lieferungen an Roeder stünden diametral zur deutschen Außenpolitik. Belastete Zeugen haben im Untersuchungsausschuß jedoch wiederholt auf die Initiativen des Staatssekretärs Waffenschmidt aus dem BMI für die Rußlanddeutschen hingewiesen; dies sei gerade 1993 politisches Thema gewesen. Auch bei dem Roeder-Vortrag an der FüAk wird dies eine Rolle spielen.

Sind die Hilfsleistungen an rechtsradikale Kreise wirklich nur ein Versehen? Schon wieder kann ein prominenter »rechtskonservativer« Wortführer unter der Überschrift „Moskau muß Königsberg wieder freigeben“ schreiben:

„Die geopolitische Logik verlangt eine klare Entscheidung … Stabilität kann es in der Region nur geben, wenn Rußland diese Beute des Zweiten Weltkrieges aufgibt 7

Es steht zu fürchten, daß Prof. Werner Kaltefleiter nur ausspricht, was im konservativen Milieu gedacht wird. Der rechte Nationalismus nährt sich schon lange davon, daß deutsche Außen- und Innenpolitik vor »Deutschtümelei« nicht zurückschreckt.

· Vortrag »Hilfe für Parfino«

Am 5.3.1994 hält ein angesehener Hamburger Kaufmann einen Vortrag in den Räumen der FüAk. Es geht um Kriegsgräberfürsorge in Rußland und humanitäre Hilfe. Das ganze entwickelt sich zu einem Kameradschaftsabend der im Gebiet von Demjansk beteiligten Wehrmachtstruppen. Eingeschlossen ein Vertreter der 3. SS-Division Totenkopf.

Aus dieser Veranstaltung entwickelt sich der Kontakt, der Röder den Weg in die FüAk ebnet. Es ist müßig, die gesamten Vorgänge rekonstruieren zu wollen. Drei Erkenntnisse lassen sich dennoch ziehen:

  • Aus dem rechten Traditionsmilieu wurden und werden Versuche unternommen, enge Verbindungen zum Offizierskorps der Bundeswehr herzustellen.
  • Vertreter dieses Korps erweisen sich als naiv-konservativ genug, um diesen Herren die Tür zu öffnen.
  • Die oberen Etagen der Bundeswehr sind bemüht, solche Verbindungen nach Möglichkeit zu unterbinden oder zu begrenzen (in diesem Falle gab es Auflagen, gegen die verstoßen wurde), drücken aber bei Vorkommnissen schon mal beide Augen zu.

· Roeder-Vortrag an der Führungsakademie der Bundeswehr

Manfred Röder spricht am 24. Januar 1995 an der FüAk zum Thema: „Die Übersiedelung der Rußlanddeutschen in den Raum Königsberg“. Es handelt sich dabei nicht um eine Veranstaltung im Bereich Lehre, sondern um eine Weiterbildungsveranstaltung im Bereich der Stabsoffiziere. Den Beteiligten fallen keinerlei rechtsextreme Tendenzen bei dem Vortragenden auf. Monate später wird per Zufall ein Lehrgangsteilnehmer an der Akademie auf den Vorfall aufmerksam. Er informiert den Chef des Stabes über Roeder. Beratungen im Kreis der Stabsoffiziere enden damit, daß dem Leiter der Akademie bzw. dessen Vorgesetzten nicht gemeldet wird. Über die Sache soll »Gras wachsen«.

Die Befragungen im UA haben sich auch damit beschäftigt, wieso der Vorgang so lange verborgen bleiben konnte. Der Kommandeurder FüAk zeigte sich bestürzt und konnte sich nicht erklären, wieso nicht gemeldet wurde. Dieser Vorgang wird sich in anderen Fällen wiederholen. Wie aber ist es um die geistige Offenheit einer Einrichtung bestellt, wenn Untergebene und Vorgesetzte schweigen, statt sich der Auseinandersetzung zu stellen?

Rühe und die Kommandeure der FüAk haben den Vorfall damit relativiert, daß es sich bei dem Stab nur um den »Hinterhof« der Akademie handele. Im Bereich der Lehre, der international renommiert, kompetent und pluralistisch ausgerichtet sei, hätte dies nicht vorkommen können. Dies mag sein. Der neue Leiter der Akademie präsentiert sich als redegewandter und weltläufiger Mann. Doch die Frage bleibt, wie es kommt, daß Stabsoffiziere, die sich mit Militärgeschichte beschäftigt haben, bei entscheidenden Fragen (der Wehrmacht-Vergangenheit) passen müssen und, daß gerade die aufzurücken scheinen, deren besondere Eigenschaft »besondere Loyalität« zu sein scheint.8

· Die Vorgänge in Altenstadt/Landsberg

Aus Altenstadt, Landsberg und Varel wurde eine ganze Reihe von Vorfällen mit rechtsradikalem Hintergrund bekannt. Zum Teil reichten diese Vorgänge bis Anfang der 90er Jahre zurück. Dies legte die Frage nahe, inwieweit Fallschirmjäger- und Luftlandetruppen besonders anfällig für rechte Einstellungen und Verhaltensmuster sind. Zugleich drängte sich gerade bei diesen Truppenteilen der Verdacht auf, dies könnte mit dem veränderten Auftrag der Truppe zu tun haben: Der Einsatz von Fallschirmjägern und Luftlandeeinheiten steht ja meist am Beginn militärischer Interventionen.

Am 13. Dezember 1994 schrieb der damalige Wehrbeauftragte Alfred Biehle, in Ergänzung seines Jahresberichts, einen Brief an Minister Rühe, in dem er auf Fehlentwicklungen im Traditionsverständnis der Bundeswehr hinwies. „Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, daß Soldaten der Bundeswehr – nicht nur in diesen Fällen – völlig unreflektiert Zuflucht in eine überkommene Tradition der früheren Wehrmacht suchen. Biehle hatte u.a. darüber berichtet, daß Rekruten in einem Bataillon Erinnerungsurkunden mit den »Zehn Geboten des Fallschirmjägers« ausgehändigt worden seien und daß in einem Traditionsraum der Unteroffiziere einer Luftlandeeinheit der letzte Wehrmachtsbericht vom 9.Mai 1945 und der letzte Tagesbefehl des Generals Heidrich an seine Fallschirmjäger (“Wir … fühlen uns nicht geschlagen) aushänge. In den »Zehn Geboten« finden sich solch martialischen Sätze wie:

„Für Dich soll die Schlacht Erfüllung sein…. Sei behende wie ein Windhund, so zäh wie Leder, so hart wie Kruppstahl, nur so wirst du die Verkörperung des deutschen Kriegers sein.

Rühe antwortete am 20. Januar 1995, daß die geschilderten Fälle in krasser Weise den Richtlinien zum Traditionsverständnis und dem demokratischen Selbstverständnis der Streitkräfte widersprächen.

Weiter heißt es: „Die in Ihrem Schreiben aufgeführten Fälle sind nicht symptomatisch für die gesamte Bundeswehr. Die Beispiele zeigen aber eine Fehlentwicklung im Bereich der Luftlandeverbände auf. Gegen diese Entwicklung hat der Inspekteur des Heeres Maßnahmen eingeleitet.

Der Minister glaubt das Problem erledigt. 1995 kann Rühe bei der Verabschiedung des Wehrbeauftragten Biehle stolz verkünden: „Gemeinsam mit dem Wehrbauftragten habe ich in den letzten Jahren alles getan, um rechtsextremistisches Gedankengut aus der Bundeswehr fernzuhalten. Dies ist gelungen. Der Minister irrte. Die Rechtsdrift konnte sich fortsetzen. Auch und gerade unter den Fallschirmjägern.

Minister Rühe und die Kommandeure der betreffenden Truppenteile haben im Ausschuß wiederholt betont, daß ihnen die besonderen Probleme der FSchJg bewußt seien.

  • FSchJg verstünden sich als Elitetruppe. Ihr Einsatz verlange nicht nur besonderen Mut, sondern auch absolute Verläßlichkeit untereinander. Dies erkläre den besonderen Korpsgeist in diesen Einheiten;
  • da Fallschirmjäger erstmals im Zweiten Weltkrieg eingesetzt worden seien, hätten die deutschen FSchJg keine andere Tradition als die der Wehrmacht.

Damit wurde freilich das Problem wieder auf das falsche Gleis geschoben. Als ob es die »strukturellen Anfälligkeiten« nur in diesem Bereich gäbe.

Richtig ist, und dies haben die Untersuchungen des Ausschusses zweifelsfrei ergeben, daß die FSchJg-Truppen ein besonders eigentümliches Verhältnis zur Tradition haben.

  • Die »Zehn Gebote der deutschen Fallschirmjäger« zirkulierten in großem Umfange in den Kasernen.
  • Ein markiges Poster »Klage nicht, kämpfe« mit der Abbildung eines Wehrmacht-Fallschirmspringers war in früheren Jahren äußerst beliebt und klebte an zahlreichen Spinden.
  • CDs und Platten mit verbotenen Wehrmachtsliedern wurden in den Kasinos vertrieben.
  • „Landser-Hefte werden viel gelesen bei uns“, so ein als Zeuge vernommener Rekrut.
  • Die Luftlandeschule beging (wie auch der Bund Deutscher Fallschirmjäger) alljährlich den »Kreta-Tag«. Am 20. Mai, dem Jahrestag des Beginns der wahnwitzigen »Operation Merkur« zur Eroberung der Insel Kreta 1941, bei der 3000 von 8000 beteiligten FSchJg den Tod fanden, wurde der Opfer unter den deutschen Soldaten gedacht und ihr Heldenmut gerühmt. Aufklärung über die unsinnige wie verbrecherische Aktion und über die Folge-Opfer unter der Zivilbevölkerung? Fehlanzeige.

Die abstoßenden Bilder, die der STERN und FOCUS-TV im Dezember 97 zeigten, waren bei Feiern in den Jahren 1991 und 1993 an der Luftlandeschule Altenstadt im Schongau aufgenommen worden. Zwischen 1990 und 1998 gab es in Altenstadt 14 rechtsextremistische Vorfälle, bei denen fast immer eine Gruppe von Unteroffizieren eine »tragende Rolle« spielte. Nachdem die »Entgleisungen« bei diversen Feiern und Saufgelagen ans Tageslicht gekommen waren, fanden die schließlich eingeschalteten staatlichen Behörden bei den Beschuldigten nicht nur reichhaltiges NS-Propagandamaterial, sondern z.T. auch erhebliche Waffenbestände. Es kann angenommen werden, daß diese »informellen Führer« auch auf Rekruten einwirken konnten.

Zuletzt war anläßlich eines Lehrgangs in Altenstadt eine Gruppe auf dem Oktoberfest 1995 von der Theresienwiese zum Hauptbahnhof gezogen, hatte Wehrmachtslieder gegrölt und wiederholt „Jude verrecke“ und „Sieg Heil“ gerufen. Angeführt wurde sie von einem Oberfeldwebel, der auch im STERN abgelichtet war und der bei nahezu allen Vorkommnissen eine Rolle spielte. Die beteiligten Soldaten kamen aus den Truppenstandorten Landsberg, Calw, Saarlouis und Varel. In der Öffentlichkeit wurde bei der Aufdeckung der Ereignisse besonders registriert, daß zu diesem Zeitpunkt drei der beteiligten Soldaten beim Kommando Spezialkräfte in Calw tätig waren. Immerhin: Inzwischen sind alle verstrickten »Kameraden« aus der Bundeswehr entlassen worden.

Bemerkenswert aber auch: Einer von ihnen war ausdrücklich zur »höheren Verwendung« empfohlen worden. Ein ausgezeichnetes Zeugnis wurde auch dem erwähnten Oberfeldwebel von seinen Vorgesetzten ausgestellt. Die von dem damaligen Kommandeur der LLS Altenstadt mitgezeichnete Beurteilung schwelgt in gestanzten Formulierungen: „pflichtbewußter“, „verantwortungsvoller und anstrengungsbereiter Führer“, „stets vorbildlich“, „solides Fachwissen“, „begeisterter Fallschirmjäger“ usw. Der Soldat sei „rege am Zeitgeschehen interessiert. Sein besonderes Interesse gilt der Militärgeschichte.“ Sein Kommandeur, Oberst Quante, aber auch die anderen Vorgesetzten wollen von den rechtsradikalen Obsessionen ihres Zöglings nichts gewußt haben.

Vielleicht hat der Oberst auch mit verhohlener Sympathie weggeschaut. Er präsentiert sich bei den Vernehmungen als schneidiger Offizier alten Schlages. Nach seiner Pensionierung hat er eine neue Betätigung gefunden. Er ist jetzt als Berater des scharf rechtsorientierten „Bundes Freier Bürger“ tätig. Die Frage ist nur allzu berechtigt, welche Signale eine Luftlandeschule an die Soldaten aussendet, die alljährlich einen »Kreta-Appell« abhält, die dem Chef der damaligen FSchJg-Truppe der Wehrmacht, Generaloberst Student, mit einer Gedenktafel unkritisch Reverenz erweist und in der eine Straße nach dem in Griechenland nach 1945 hingerichteten Kriegsverbrecher Bruno Bräuer benannt ist.

Immerhin: Der Nachfolger Quantes, Oberst Friedrich Jeschonnek, hat den Kreta-Tag 1998 abgeschafft („ich halte nichts von Antreteappellen“) und durch Diskusssionen über Hintergründe und Zusammenhänge der fatalen Operation ersetzt. Die Traditionssammlung an der Schule ist überprüft worden. Über die Umbenennung der Straßennamen wird derzeit diskutiert.

Erst in den letzten beiden Jahren wird – so der Eindruck – der allzu krassen, »rechten“ Traditionspflege entgegengetreten. Wie konsequent, wird sich zeigen.

· Frieslandkaserne Varel

Durch zwei Berichte in der BILD-Zeitung am 21.12.1997 und am 4.1.1998 waren Varel und das 3. FSchJgBtl 313 ins Zwielicht geraten. Der Sohn des früheren Ministers Krause hatte über Verstöße gegen die Prinzipien der Inneren Führung und über rechtsradikale Aktionen berichtet. Andere Rekruten konnten diese Vorwürfe nur teilweise bestätigen, meldeten aber zugleich andere Vorkommnisse. Die sofort vom BMVg eingesetzte Riechmann-Kommission kam nach der Befragung von 650 Soldaten Anfang Februar 1998 zu dem Ergebnis, daß durch einige Gruppenführer in erheblichem Umfang gegen vernünftige Grundsätze der Menschenführung verstoßen worden war, die Behauptungen über Rechtsextremismus in dieser Truppe aber nicht belegt werden könnten. (Das Verteidigungsministerium brauchte die Ergebnisse dieser Untersuchung nicht abzuwarten. Am 22.12.1997, drei Tage nach der BILD-Veröffentlichung, erklärte der Pressesprecher des BMVg, Hans-Dieter Wichter: „Das Ergebnis: Auch nachdem rund achtzig Soldaten des Fallschirmjägerbataillons noch am Wochenende intensiv vernommen bzw. angehört wurden, lassen sich die schweren Beschuldigungen von Krause nicht aufrecht erhalten. Stattdessen, so wurde gesagt, wolle sich der Gefreite nur an der Bundeswehr rächen.)

Immerhin wurde eingeräumt, daß sich nicht mehr zweifelsfrei klären lasse, ob bei einer Feier im August 1997 rechtsradikale Musik gespielt worden sei oder nicht.

Die ganze Wahrheit wird nicht mehr ans Tageslicht kommen. Durch die Weihnachtszeit konnten Zeugen erst mit erheblichem zeitlichen Abstand zu den »Enthüllungsberichten« vernommen werden. Eine Truppe von Zeugen mußte vor der Vernehmung antreten! (diese Praxis wurde nach diesem Mißgriff abgestellt). Schließlich: Die Vernehmungsprotokolle machen nicht den Eindruck, daß in allen Fällen besonders tiefschürfend ermittelt wurde.

Die Vorwürfe bezüglich Vandalismus, Schikanen gegen Untergebene und dgl., Verstöße im Bereich der Inneren Führung also, haben sich zum Teil bestätigt; die Beteiligten wurden disziplinar geahndet. Auffallend, daß alle Vorwürfe, die auf Rechtsextremismus hindeuten, von den Befragten der Riechmann-Kommission schnell und pauschal, z.T. ungefragt, dementiert werden („habe nichts Rechtsradikales bemerkt“ usw.). Offensichtlich hat das Klima während des Presserummels im Dezember bei den Soldaten in der Weise gewirkt, daß man meinte, vor allem an diesem (Angriffs-)Punkt dichthalten zu müssen.

Der Eindruck bleibt, daß BMVg und MAD um Bagatellisierung bemüht sind. Dabei sind rechtsradikale Affinitäten beschuldigter Stabsunteroffiziere nur schwer zu übersehen. Bei einem der Unteroffiziere wurde ein Axtstiel mit der Bezeichnung »Zigullenkeule« und Inschriften aufgefunden, die auf rechtsradikale und ausländerfeindliche Gesinnung schließen lassen. Ein Gefreiter berichtete über Bezeichnungen wie »Losungswort: Alpha Hotel« (= Adolf Hitler), »Wolfsschanze« (Führers Hauptquartier), die im betreffenden Bataillon gang und gäbe gewesen seien. Auch soll ein Ausbilder bei Schießübungen mal gesagt haben: „Stell` Dir vor, es wäre ein Jude, dann triffst Du! Solche Dinge, die zeigen, daß Wehrmacht- oder NS-Bezüge im Bundeswehr-Alltag häufig vorkommen dürften, lassen sich schwer nachweisen – und vielen Rekruten wird dabei nichts Besonderes auffallen. Auch in Varel wurde bis 1996 der »Kreta-Tag« begangen.

III. Begriffsklärungen

1. Rechtsextremismus

Bevor man sich einer genaueren Bewertung der Vorgänge nähern kann, sollte geklärt werden, was unter Rechtsextremismus zu verstehen ist. An dieser Stelle kann natürlich kein umfassender Einblick in die aktuelle Forschungslage gegeben werden. Es seien daher nur die Bestimmungsmerkmale „Nationalismus, Autoritarismus, Antipluralismus und die Ideologie der Ungleichheit“ 9 genannt. Backes/Moreau bezeichnen die „Abwehrhaltung gegenüber dem Ethos fundamentaler Menschengleichheit“ als „den Generalnenner aller rechtsextremen Kräfte.“10 In die gleiche Richtung zielt die von Gessenharter/Fröchling vorgenommene Bestimmung, der Kern rechtsextremer Ideologie sei die Bevorzugung des Kollektivs vor dem Individuum. Von da aus führe der Weg zur Ablehnung einer pluralistischen, freiheitlichen Gesellschaftsverfassung.

Der Verfassungsschutz gibt folgende Definition „Rechtsextremistische Bestrebungen sind von der ideologischen Vorstellung geprägt, daß die ethnische Zugehörigkeit zu einer Nation, Rasse oder Region die größte Bedeutung für das Individuum besitzt. Ihr sind alle anderen Interessen und Werte, auch Menschenrechte, untergeordnet. Diese Weltanschauung lehnt es ab, alle Menschen als grundsätzlich gleich anzusehen, und wertet Minderheiten durch Rassismus und Fremdenfeindlichkeit ab. Rechtsextremisten streben ein politisches System an, in dem als angeblich natürliche Ordnung Staat und Volk als Einheit verschmelzen Volksgemeinschafts«-Ideologie).11

Die Rechtsprechung hat bisweilen zwischen Extremismus und Radikalismus unterschieden und dafür das Unterscheidungsmerkmal »Gewalt« bzw. »Gewaltbereitschaft« bemüht. Das Kriterium mag für strafrechtliche Grenzziehungen relevant sein; in der geistig-politischen Auseinandersetzung hilft es nicht weiter. Schließlich gab und gibt es eine Arbeitsteilung zwischen rechten Schlägertrupps und geistigen Wegbereitern.

2. Neue radikale Rechte

Die Extremismusforscher Gessenharter und Fröchling, aber auch andere, sprechen von einer zweiten Strömung, die sich vor allem in den achtziger Jahren herausgebildet habe: Die Neue Rechte. Sie wird im ideologischen und organisatorischen Zwischen- und Übergangsbereich zwischen Konservatismus und Rechtsextremismus angesiedelt. Das Markenzeichen dieser neuen radikalen Rechten ist, daß sie in dieser Hinsicht eine Scharnierfunktion ausübt.

Die Neue Rechte wird zum einen als Organisationsgeflecht (Studienzentrum Weikersheim, Zeitschriften criticon, Nation Europa, Junge Freiheit), zum anderen als Akteur einer politisch-kulturellen Implementationsstrategie angesehen.

Die Neue Rechte teilt mit dem Rechtsextremismus die Gegnerschaft zum demokratischen Verfassungsstaat. Als gemeinsame ideologische Wurzel aller Akteure im rechten Lager sind anzusehen: Antiliberalismus, elitäre Ideologie der Ungleichheit, Staatsautoritarismus, Homogenitätsstreben, Freund-Feind-Politikverständnis und völkischer Nationalismus. Die Neue Rechte bezieht sich dabei vorzugsweise auf die Vertreter der sog. »Konservativen Revolution« in der Weimarer Republik (E.J. Jung,. A. Moeller van den Bruck, Carl Schmitt), die ihrerseits geistige Wegbereiter des Nationalsozialismus waren. Sie ist dabei bemüht, diese Thesen im modernen und moderaten Gewand zu präsentieren.

Auch der Verfassungsschutz mußte sich in jüngerer Zeit dieser Strömung zuwenden. Unter der Rubrik „Intellektualisierung des Rechtsextremismus“ heißt es:

„Die Vertreter des intellektuellen Rechtsextremismus vermeiden es, ihre ideologischen Fernziele deutlich zu nennen und konkret die Forderung nach Überwindung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu stellen. Ihre Taktik besteht vielmehr darin, die Grenzen zwischen konservativen Vorstellungen einerseits und extremistischen Ideologieelementen zu verwischen. Als Beispiel dieser „Erosion der Abgrenzung zwischen Demokraten und Extremisten“ wird die Zeitschrift Junge Freiheit genannt.12

Insgesamt bleibt dieser Bereich aber unausgeleuchtet. Warum? In konservativen Publikationen wird bisweilen die Existenz dieser Richtung ganz geleugnet. Dort ist die Rede von einer „ominösen neuen, radikalen Rechten“.13

Von Bedeutung ist die Neue Rechte nicht nur wegen ihrer Funktion, rechtsradikale Auffassungen im konservativen Lager hoffähig zu machen. Sie hat auf die gesamte Rechte beispielgebend gewirkt. Als ihre Spezialität hat sie die Methode der politischen Mimikry ausgebildet: „Die Fähigkeit, in die Offensive zu gehen, muß entwickelt werden und dazu die Fähigkeit, die Situation zu beurteilen, ob hier der offene Angriff oder die politische Mimikry gefordert ist. 14

Auch die Republikaner und andere Organisationen und Vertreter der rechten Publizistik haben es sich angewöhnt, in der Regel Aussagen zu vermeiden, die verfassungs- und strafrechtliche Verfolgungen nach sich ziehen könnten. Beispiel: Ausschwitz wird nicht pauschal geleugnet, aber relativiert.

3. Ideologische Übergänge zwischen Rechtsextremismus und Konservatismus

Auf die Antifa-Szene ist der Verfassungsschutz nicht gut zu sprechen:

„Unterschiede zwischen Demokraten und Rechtsextremisten werden systematisch ausgeblendet, um Teile des konservativen politischen Spektrums als rechtsextremistisch diffamieren zu können.“ 15

Es soll an dieser Stelle nicht über das Differenzierungs(un)vermögen auf der Linken gesprochen werden. Natürlich muß zwischen konservativen und rechtsradikalen, bzw. rechtsextremistischen Auffassungen klar getrennt werden. Wenn aber der konservativ geprägte Verfassungsschutz nach Unterscheidung ruft, muß der Verdacht aufkommen, daß die Erosion der Abgrenzung zwischen Konservatismus und Rechtsextremismus weiter tabu bleiben sollen.

Wo sind die Unterschiede, wo die Gemeinsamkeiten?

Die vom BVerfG im Verbot der SRP 1952 entwickelte Formel von der Freiheitlich-Demokratischen Grundordnung – die Bundesrepublik als demokratischer Verfassungsstaat mit dem Kanon der Grundrechte als Kern – ist sicher ein wichtiges Instrument, um zwischen Demokraten und Rechtsextremisten zu unterscheiden. In der Wirklichkeit allerdings sieht es komplizierter aus. Die o.g. Merkmale rechtsradikaler Gesinnung kommen nicht nur in reiner Gestalt vor. Es gibt »Teilidentitäten«. Sind völkisch-nationale Anwandlungen noch verfassungskonform oder nicht?

Zum anderen wird es bei der Bewertung politischer Vorgänge bzw. staatlicher Handlungen immer wieder sehr unterschiedliche Interpretationen geben. Also: Welche Rolle spielen Menschenrechte in der aktuellen Asyl- und Ausländerpolitik in Deutschland? Sind Verschärfungen im Asylbewerberleistungsgesetz oder die Forderung nach der Abschiebung straffällig gewordener Ausländer mit dem Menschenrechtskanon des GG vereinbar oder nicht?

Man erkennt daran, daß die Schwäche solcher, an der Jurisdiktion ausgerichteter Normierungen darin liegt, daß der breite Grauzonenbereich zwischen Rechtskonservatismus und Extremismus nicht ausreichend erfaßt wird.

· Nationalismus

Rechte sehen die Nation als »Abstammungsgemeinschaft«, als eine Entität, die folgerichtig die Angehörigen anderer Völker bzw. Ethnien ausschließt. Die Nation ist so Ergebnis einer quasi-natürlichen Ordnung. Der Stellenwert der Nation mag »rechts von der Mitte« unterschiedlich bewertet werden; gemeinsam ist der feste Glaube, daß der Zusammenhalt der Individuen eines Gemeinwesens nur durch die Nation und starke Nationalstaaten gewährleistet werden kann. Wenn der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU die Nation als „Not- und Schicksalsgemeinschaft“ beschwört, General a.D. Schultze-Rhonhof zur Entwicklung eines deutschen „Solidaritätspatriotismus“ aufruft, geht es immer um das gleiche Thema: Die Nation wird als das Bindemittel angesehen, das die Bevölkerung gerade in Krisenzeiten zusammen halten und soziale Widersprüche vergessen machen soll.

Ein Grundthema des rechten Diskurses in Deutschland ist die Klage darüber, daß sich in der Bundesrepublik Deutschland, aber auch in der DDR, nach 1945 eine »Büßermentalität« herausgebildet habe, die bis heute das Wiederentstehen eines »normalen« Nationalbewußtseins verhindert habe. Diese unterdrückte deutsche Identität wird zugleich verantwortlich für jene machtpolitische Beschränkung gemacht, die es gerade zu überwinden gelte.

Alle Publikationen auf der Rechten bemühen diese These unaufhörlich. Widerhall haben haben sie bereits in den achtziger Jahren bei konservativen Politikern wie seinerzeit Franz Josef Strauß, bei konservativen Wissenschaftlern und Publizisten wie Hans-Peter Schwarz („Von der Machtbesessenheit zur Machtvergessenheit“) und Arnulf Baring gefunden. Mit den Umbrüchen 1989/90 hat sich diese Resonanz in die »gesellschaftliche Mitte« ausgedehnt.

Häufig wird dieser Befund mit der »Umerziehung« durch die Alliierten nach 1945 in Verbindung gebracht. Der Haß auf die Re-Education ist Rechtsextremisten und der Neuen Rechten (gegen die »Westbindung« Deutschlands) gemein, wird in abgeschwächter Form aber auch von Rechtskonservativen übernommen (s.u.).

· Fremden- und Ausländerfeindlichkeit

Die Kehrseite dieses Nationalismus ist eine latente bis manifeste Fremdenfeindlichkeit, die sich bis weit in die Reihen der Unionsparteien als Ablehnung einer multikulturellen Gesellschaft zeigt. Die Warnungen eines Edmund Stoiber vor der „durchraßten Gesellschaft“ waren kein einmaliger Ausrutscher, sondern Ausdruck einer geistigen Befindlichkeit eines Teils des konservativen Lagers. Berlins Innensenator Jörg Schönbohm, zuvor Generalleutnant, Inspekteur des Heeres und Staatssekretär auf der Hardthöhe, verlangt von den in Deutschland lebenden ausländischen Mitbürgern eine Identifizierung mit dem deutschen Staat und „dem deutschen Kulturkreis“. Er warnt vor einer „Fremdkörperbildung“, die die deutsche Lebenswelt und Kultur mehr und mehr zurückdränge.16

Während die Politik der Bundesregierung deklaratorisch um Mäßigung und Toleranz bemüht ist, setzt die praktische Politik auf Abschottung, Abschreckung und Abschiebung. Und gibt damit Stichworte für ganz Rechtsaußen.

· Geschichtsrevisionismus

„Der zeitgeschichtliche Revisionismus blieb ein wichtiges rechtsextremistisches Agitationsthema., stellt der letzte Verfassungsschutzbericht fest. Davon zeugte nicht nur der Sturmlauf gegen die Ausstellung »Vernichtungskrieg – Verbrechen der Wehrmacht 1941-1944«. Die Relativierung der NS-Verbrechen nimmt in allen rechten Publikationen breiten Raum ein, wird in immergleichen Varianten wiederholt. Die Rechtsextremisten und die Neue Rechte spüren, daß sie politisch nur eine Chance haben, wenn sie den Makel der deutschen Vergangenheit vergessen machen können. Aber auch in den militärischen Traditionalistenkreisen ist der Geschichtsrevisionismus von überragender Bedeutung. Davon wird weiter unten noch die Rede sein. Thesen der Revisionisten sind auch im rechtskonservativen Lager kein Tabu. So benutzte der rechtspolitische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion, Norbert Geis, in einer Bundestagsdebatte umstandslos den Terminus „Stalins Vernichtungskrieg“ und griff damit den Titel eines Buches auf, das ein früherer Direktor des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes 1995 veröffentlicht hatte. Inhalt: Der von Hitler befohlene Überfall sei nur ein Präventivkrieg gewesen, um dem drohenden Überfall durch Stalins Truppen zuvorzukommen.

· Antiliberalismus

Während die Neonazis unverhohlen ihre Abscheu gegenüber dem demokratischen Verfassungsstaat formulieren, belassen es die Neurechten bei Andeutungen und Verbrämungen. In Veröffentlichungen der REPs (Die Republikaner) findet sich z.B. Invektiven gegen „das Gift des Liberalismus“. Ein Autor der Jungen Freiheit bspw. bemerkt lakonisch, daß der Artikel 1 des Grundgesetzes („Die Würde des Menschen ist unantastbar.) eine liebenswerte Floskel sei, der man nicht allzu viel Bedeutung zumessen sollte. Individualrechte und »Wertepluralismus« werden gerne als Produkte einer Schönwetterdemokratie verspottet. Spätestens in Krisenzeiten jedoch müßten die Gemeinschaftswerte, deren Verkörperung v.a. im starken Staat gesehen wird, in den Vordergrund treten.

Auch die Mehrzahl der Konservativen hat einen starken Hang zum Vorrang der Gemeinschaftswerte. Auch sie betont den starken Staat, der, weil er seine Bürger schütze, auch deren Loyalität und Einordnung verlange dürfe. Die Tür nach rechts wird mit der »wehrhaften Demokratie«, die sich im Großen Lauschangriff, im Ausbau polizeilicher Befugnisse und der weiteren Aushöhlung des Grundgesetzes zeigt, weit aufgemacht.

IV. Zwischen Kontinuität und Bruch

In ihrem jüngsten Jahresbericht (1997) schrieb die Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages, Claire Marienfeld (CDU): beobachte ich mit Sorge, daß innerhalb der Bundeswehr gleichwohl die gebotene Distanz zur deutschen Wehrmacht insgesamt, aber auch zu einzelnen Personen aus der deutschen Wehrmacht nicht immer und überall eingehalten wird.“

Sie handelte sich dafür die Schelte des Verteidigungsministers ein. Doch Claire Marienfeld ist eine besonnene Frau, die viel in Kasernen und anderen Einrichtungen der Bundeswehr herumkommt. Sie weiß, wovon sie spricht. Sie hat ihre Sorge auch konkret belegt und auf bedenkliche Traditionssammlungen in Kasernen hingewiesen. Oft würden Darstellungen der Wehrmachtsgeschichte die angemessene historische Einordnung vermissen lassen. Die Führung der Bundeswehr hat selber ein ungutes Gefühl: Generalinspekteur Bagger bestätigte vor dem Untersuchungsausschuß, daß gegenwärtig diese Traditionsräume einer erneuten Prüfung unterzogen würden.

„Noch kritischer sollen sie unter die Lupe genommen werden, die Traditionsräume und Militarial-Sammlungen, haben Rühe und Bagger erklären lassen; „Unsicherheiten in der Handhabung von Exponaten“ gelte es „auszuräumen“.17

1. Die Anfänge: Persilschein für die Wehrmacht

Das Problem, wie sie mit der Wehrmachtsgeschichte umgehen sollte, beschäftigte die Bundeswehr von Anfang an. Kein Wunder, wurde die Armee doch vor allem mit Wehrmacht-Offizieren aufgebaut. Über 10.000 Offiziere der Wehrmacht, darunter einige hundert Ritterkreuzträger, waren führend beteiligt. Die Integration der alten Offiziere hatte ihren Preis. Die Gründergeneration verlangte, daß sie für ihre eigene militärische Vergangenheit exkulpiert werden sollte. Der spätere Generalinspekteur der Bundeswehr, Heusinger, hatte gegenüber Kanzler Adenauer kategorisch betont, der Wiederaufbau der Streitkräfte sei nicht möglich, wenn das deutsche Volk weiter „geistig entwaffnet würde“. Gemeint war, daß die Politik die Wehrmacht von allen Verdachten freisprechen sollte.

Die USA hatten schon viel früher begonnen, mit Nazi-Offizieren zusammenzuarbeiten. Deren Kenntnisse schienen im beginnenden Kalten Krieg gegen die Sowjetunion nützlich. Und bei der hinter den Kulissen seit 1949 begonnenen Aufstellung deutscher Streitkräfte waren sie ohnehin unverzichtbar.18

In der Himmeroder Denkschrift (1950), die die Re-Militarisierung öffentlich einleitete, forderten die späteren Generale Heusinger, Röttinger, Speidel u.a. eine „Ehrenerklärung für den deutschen Soldaten von seiten der Bundesregierung und der Volksvertretung“. Adenauer ließ sich nicht allzulange bitten. Die Legende von der »sauberen Wehrmacht« war geschaffen.

Auch wurde es den ehemaligen Offizieren (und nicht nur ihnen) leicht gemacht, sich unter dem Vorzeichen des sich entwickelnden Kalten Krieges in den Rahmen der »freiheitlich-demokratischen Grundordnung des Westens« einzupassen. Es ging wieder gegen den Erzfeind im Osten – gegen den (»jüdischen«) Bolschewismus. Es galt, die verlorene Schlacht wettzumachen.

Generalinspekteur Bagger hat vor dem Untersuchungsausschuß den Prozeß der Bundeswehr-Aufstellung in rosigem Licht gezeichnet. Schließlich sei mit dem Personalgutachterausschuß, in dem vom Parlament gewählte unabhängige Persönlichkeiten über die Einstellung der neuen Bundeswehr-Offiziere zu entscheiden hatten, ein einzigartiges Kontrollinstrument geschaffen worden. Keine andere Berufsgruppe habe sich solchen Exerzitien unterziehen müssen. Das trifft zu. Wie anders erklärt sich die erstaunliche Kontinuität der Eliten in Wirtschaft, Justiz und Beamtenschaft? Aber wie konnte ein Mann wie Heusinger durchrutschen, der erster Generalinspekteur der Bundeswehr werden durfte, der es bis zum Leiter der Operationsabteilung des Heeres gebracht hatte und in dieser Eigenschaften an der Ausarbeitung der Aggressionspläne der Hitler-Wehrmacht (z.B. Operation Barbarossa) beteiligt war? Richtig ist, daß die Belastung so mancher Offiziere zum Teil erst viel später ans Tageslicht kam. Aber warum? Die Aufarbeitung der Wehrmachtsvergangenheit war eben (zu) lange Zeit tabu.19

Unter den Gründervätern der Bundeswehr waren einige herausragende Personen, wie die Generäle Baudissin und de Maiziere, die einen Bruch mit Traditionen des preußisch-deutschen Militarismus und der Wehrmacht vollziehen wollten. Ihnen verdankt die Bundeswehr die Grundkonzeption der »Inneren Führung« (Staatsbürger in Uniform). Die größere Gruppe der Offiziere aber wollte die alten Traditionen bewahren. Ihr Leitbild vom »Soldaten an sich« sollte durch die Wahrheit über die Wehrmachtsverbren keinen Schaden nehmen. Die Auseinandersetzungen der beiden »Grundrichtungen« begleiten die Geschichte der Bundeswehr. Lange Zeit wurde über das Verhältnis zu den Männern des Widerstandes vom 20. Juli 1944 gestritten, denn wer von der »sauberen Wehrmacht« ausgeht, kann das Attentat auf Hitler nur als Verrat empfinden. Außerdem kollidierte der Widerstand im traditionellen Verständnis mit dem Treue-Eid der Soldaten und dem Befehl-Gehorsam-Prinzip. Ende der 60er Jahre eskalierte der Streit darüber, ob weiter an den Prinzipien der Inneren Führung festgehalten werden solle oder nicht. Die Generale Schnez und Karst wollten zurück zur Pflege des (über-)historischen Soldatentums und zur Eigenständigkeit der militärischen Sphäre. Sie verachteten die Werte und Normen der »Zivilgesellschaft«. Dieser Konflikt beschäftigt die Bundeswehr bis heute. Und immer spielt das Traditionsverständnis der Bundeswehr eine entscheidende Rolle.

2. Die Traditionserlasse 1965 und 1982

Einen ersten Versuch zur Klärung des Traditionsverständnisses wagt der christdemokratische Minister von Hassel in seinem Traditionserlaß von 1965. Die brisanten Fragen bleiben aber ausgespart. Viel ist von Vaterlandsliebe, Gehorsam und Pflichterfüllung, von soldatischer Tüchtigkeit die Rede, jedoch kein Wort über die Wehrmacht. Es finden sich nur Hinweise darauf, daß bei den Beziehungen zu ehemaligen Wehrmachtsverbänden und -soldaten Zurückhaltung geraten sei. Es dauerte siebzehn Jahre, bis der sozialdemokratische Minister Apel 1982 klarstellte: „In den Nationalsozialismus waren Streitkräfte teils schuldhaft verstrickt, teils wurden sie schuldlos mißbraucht. Ein Unrechtsregime, wie das Dritte Reich, kann Tradition nicht begründen. Auch die Aussage, daß sich alles militärische Tun an den Normen des Rechtsstaates und des Völkerrechts zu orientieren habe, hob sich wohltuend von den moraltriefenden Floskeln des Vorgänger-Erlasses ab.

Punkt 22 der Richtlinien zum Traditionsverständnis und zur Traditionspflege in der Bundeswehr besagt: „Begegnungen im Rahmen der Traditionspflege dürfen nur mit solchen Personen und Verbänden erfolgen, die in ihrer politischen Grundeinstellung den Werten und Zielvorstellungen unserer verfassungsmäßigen Ordnung verpflichtet sind.

Weiter unten werden wir sehen, ob die Praxis mit dieser Festlegung übereinstimmt.

3. Der Streit um die Wehrmachtsausstellung

Im August 1994 verkündet das Bundesverfassungsgericht sein Urteil über die Zulässigkeit der Tucholsky-Aussage „Soldaten sind Mörder“. Im Januar 1995 legen Bündnisgrüne und SPD im Bundestag Anträge zur Rehabilitierung und Entschädigung der Wehrmachtdeserteure vor. Beide Ereignisse treffen das Selbstverständnis der rechten Traditionalisten und erhitzen die Gemüter. Zum Kristallisationspunkt der Auseinandersetzung aber wird die Ausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung »Vernichtungskrieg – Verbrechen der Wehrmacht« Sie tritt im Sommer 1995 von Frankfurt über München ihre Reise durch die Republik an. Gerade in München macht das rechte Lager mobil. Alt- und Neonazis demonstrieren, die soldatischen Traditionsverbände rufen zu Kundgebungen auf und die CSU protestiert. Der Bundestag sieht sich zu einer Debatte über die Ausstellung veranlaßt, in der Verteidigungsminister Rühe wiederholt, was er auf der Kommandeurstagung im Oktober 1995 in München vorgetragen hatte: „Die Wehrmacht war als Organisation des Dritten Reiches in ihrer Spitze, mit Truppenteilen und mit Soldaten in Verbrechen des Nationalsozialismus verstrickt. Als Institution kann sie deshalb keine Tradition begründen. 20

In einer internen Beurteilung kommt der Führungsstab der Streitkräfte zu dem Urteil, daß die Ausstellung auf Tatsachen beruhe, den historischen Forschungsstand wiedergebe und infolgedessen die Aussagen des Traditionserlasses von 1982 bestätige.

Dennoch scheint der Bundeswehrführung die öffentliche Debatte nicht allzu gelegen zu kommen. Nach anfänglicher Offenheit (Soldatengruppen besichtigen in Uniform die Ausstellung in Frankfurt), tritt die Hardthöhe auf die Bremse. Über Hintergründe kann nur spekuliert werden. Vielleicht hat die Regierung rechtem Druck nachgegeben, vielleicht hat sich auch bei ihr die von rechts lancierte Auffassung durchgesetzt, die »pauschale« Kritik an der Wehrmacht zersetze am Ende auch die Wehrbereitschaft der Bundeswehr-Soldaten.

Ein anderer Grund für dieses Ausweichen könnte sein, damit der Zerrissenheit im konservativen Lager begegnen zu wollen. Denn die Auseinandersetzungen um die Ausstellung und mehr noch um die Rehabilitierung der Wehrmachtdeserteure haben deutliche Differenzierungen gezeigt. Während ein Teil der Unionsabgeordneten einer Rehabilitierung der Deserteure und »Wehrkraftzersetzer« zustimmt, andere „unter Bedenken“ zustimmen, lehnt eine beträchtliche Zahl einen solchen Schritt auch 52 Jahre nach Kriegsende ab. Darunter die Staatssekretäre im Verteidigungsministerium, Wilz und Rose (CDU) und der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses Rossmanith (CSU). Wilz erklärt dazu u.a.: „Darüberhinaus bin ich von der Sorge erfüllt, daß die Entschließung … für die Zukunft nicht ohne negative Auswirkungen für unsere Streitkräfte bleiben könnte.“ 21

4. Traditionspflege heute:

Nach der Vorlage des erwähnten Jahresberichts der Wehrbeauftragten und der Einsetzung des Unterausschusses setzte auf der Hardthöhe, aber auch in den Garnisonen, Betriebsamkeit in Sachen Traditionsverständnis ein. Nachsteuern hieß die Defensive.

Generalinspekteur Bagger mußte vor dem Untersuchungsausschuß einräumen, daß bei einigen Einheiten der Traditionserlaß von 1982 nicht bekannt oder nicht mehr auffindbar war.22

Er unternahm in seinem Statement den Versuch, das aktuelle Traditionsverständnis der Bundeswehr zu umreißen:

  • Soldatenpflichten hätten ihren sittlichen Wert erst durch die Ausrichtung an den Zielen „Frieden, Freiheit, Recht und Menschenwürde“;
  • als Konsequenz aus der deutschen Geschichte könne es keine ungebrochene deutsche militärische Tradition geben;
  • Kernpunkte des Traditionsverständnisses bildeten:
  1. die preußischen Reformer
  2. der militärische Widerstand gegen die NS-Diktatur
  3. wertebezogene soldatische Tugenden
  4. die Innere Führung
  5. die Tradition des Schützens, Rettens, Helfens
  6. die Gründerväter (Baudissin, de Maiziere, Heusinger).

Es gebe keinen Anlaß, eine Verbindung zwischen Traditionsverständnis, geistiger Orientierung der Streitkräfte und rechtsextremistischen Vorfällen herzustellen, betonte Bagger.

Es kann vermutet werden, daß Rühe, Bagger und andere »aufgeklärte« Konservative die Traditionspflege in den Streitkräften tatsächlich modernisieren wollen. Ihr Ziel ist es, die Bundeswehr als eine »normale«, interventionsfähige Armee innerhalb von NATO und WEU zu etablieren. Nach diesem Kalkül sollte die Bundeswehr verstärkt auf ihre eigene, über vierzigjährige Geschichte und auf die Erfahrungen der NATO-Verbündeten setzen. Die Wehrmacht-Vergangenheit wird in erster Linie als Ballast empfunden, der aktuelle militärische Optionen einschränke. Allzu rigoros will man bei der Modernisierung aber nicht vorgehen. Die Kritik soll nach Möglichkeit nicht auf den preußisch-deutschen Militarismus ausgeweitet werden. Damit bleibt weitgehend unerklärt, wieso die Wehrmacht sich nahezu reibungslos in Hitlers Regime einpassen ließ.

Die Formel, daß die Wehrmacht von einem verbrecherischen Regime mißbraucht worden sei, öffnet darüber hinaus den Weg, ausschließlich der Politik den Schwarzen Peter zuzuschieben. Umso leichter kann dann das Hohe Lied soldatischer Tugenden wie Treue, Tapferkeit, Pflichterfüllung und Kameradschaft gesungen werden; Tugenden, die auch „in früheren deutschen Armeen von vielen vorbildlich vorgelebt worden“ seien. (H. Bagger, ebd.)

Ein konsequenter Bruch mit Militarismus und Wehrmachttradition steht also nicht an. Dies auch deshalb nicht, weil die »Modernisierer« nicht im Traum daran denken, das Bündnis mit den alten und neuen Traditionalisten aufzukündigen. Diese Beziehungen sollen weiter gepflegt werden. „Wir müssen auch den Alten Herren eine Heimat geben“ 23 wird ein Offizier zitiert. Allerdings wird auf Mäßigung gedrängt. Brigadegeneral Christian Millotat hat die dazu passende Formel geprägt: „Die Bundeswehr darf sich nicht dazu bringen lassen, die Wehrmacht pauschal zu verdammen. Frühere Wehrmachtsangehörige dürfen aber auch die Bundeswehr nicht für ihre Zwecke instrumentalisieren.“ Und weiter: „Es wäre tragisch, wenn Angehörige der früheren Wehrmacht, die der Bundeswehr positiv gegenüberstehen, als falsche Freunde der Armee apostrophiert würden. Geschähe dies, würden die heutigen Soldaten wichtiger historischer Wurzeln beraubt. 24

Welche Wurzeln die Bundeswehr weiter pflegen möchte, dokumentieren die Namen ihrer Kasernen. Von ca. 500 Kasernen sind 37 nach »Helden« der Wehrmacht und 40 nach »Helden« wilhelminischer Eroberungen und Kriege benannt. Die Namensliste reicht von Kaiser Wilhelm, über dessen Kolonialoffizier Lettow-Vorbeck, über den Nazi-Heimatdichter Walter Flex bis zum Jagdflieger in Diensten der Legion Condor, Werner Mölders. Hinzu kommen zweifelhafte, an alte Revanchepolitik erinnernde Bezeichnungen (Ostmark, Pommern) Gerade 11 Kasernen sind nach den Männern des Widerstandes benannt.

Es bedurfte erheblichen öffentlichen Drucks, bis die nach den Nazi-Größen Dietl und Kübler benannten Kasernen im Oktober 1995 den Namen wechselten. Das BMVg setzte diese Änderung gegen erheblichen und andauernden lokalen Widerstand durch.

Brigadegeneral Millotat stellte im erwähnten Beitrag fest: „Wenn jetzt Verstrickungen enthüllt werden, die bei den Kasernenbenennungen den Verantwortlichen nicht bekannt waren, können Bundeswehrkasernen nicht länger den Namen solcher Offiziere tragen. Man darf gespannt sein, ob jetzt beispielsweise die Umbenennung der Mackensen-Kaserne ins Auge gefasst wird. Mackensen war es, der bis zuletzt an Hitler festhielt und die Verschwörung des 20. Juli als „fluchwürdiges Attentat“ 25 bezeichnete. Der Bundestag beschloß am 24.4.1998, daß Kasernen nicht nach Angehörigen der Legion Condor benannt werden sollten. Noch immer gibt es zwei Kasernen, die nach dem Jagdflieger Werner Mölders benannt sind, der von Hitler für seine Abschüsse in Spanien ausgezeichnet wurde.

Am 18. Dezember 1997 berichtete das Fernsehmagazin Monitor, daß auf dem Truppenübungsplatz Bergen-Hohne Biwak- und Gefechtsplätze nach Orten benannt seien, die in den ehemaligen deutschen Ostgebieten – vorwiegend dem ehemaligen Ostpreußen – lägen. Die Bundesregierung bestätigte den Sachverhalt (32 Biwakplätze/Versorgungspunkte) und ergänzte, dies sei auch an anderen Orten der Fall.26 Anlaß zu Änderungen sieht die Regierung nicht. Die Namensgebung diene der Erinnerung an die „verlorene Heimat“. Sie fände ihre Entsprechung auch darin, daß viele Straßen und Plätze nach ehemals deutschen Städten und Landschaften benannt seien. Dieser Begründung könnte man sich gegebenenfalls ohne Arg annähern – wäre da nicht die besondere, westdeutsche Vergangenheit: Erst mit den Ostverträgen in den 70er Jahren hat sich die BRD zur Anerkennung der Nachkriegsrealitäten verpflichtet. Noch immer gibt es im rechten Lager und bei den Vertriebenenverbänden starke Strömungen, die einer Revanchepolitik nicht gänzlich abgeschworen haben. In diesem Kontext bleiben solche Benennungen mehr als problematisch.

V. Bundeswehr und rechter Rand

1. Die soldatischen Traditionsverbände

Die in der Bundesrepublik existierenden Traditionsverbände der Wehrmacht bzw. andere soldatische Traditionsverbände sind zahlreich, nicht gerade einflußlos und scheuen das Licht der Öffentlichkeit. In Berichten der Bundesregierung sind sie nie Thema, auch nicht in den einschlägigen Berichten des Verfassungsschutzes. Auch die Wehrbeauftragten-Berichte geben darüber keine Auskunft. Ab und zu bewegt ein kleinerer Skandal die Republik: Wenn die Ordensgemeinschaft der Ritterkreuzträger bei der Bundeswehr in Hammelburg zu Gast ist oder wenn die Bundeswehr die Teilnahme an einer Veranstaltung einer Wehrmachtseinheit absagen muß.

Eine Untersuchung dieser Verbände über deren ideologisch-politische Ausrichtung, über deren mögliche rechtsextreme Durchsetzung und deren offene Zusammenarbeit mit rechtsextremen Organisationen, Denkfabriken und Zeitungen steht noch aus. In der Beantwortung diverser parlamentarischer Anfragen hat die Bundesregierung rechtsextremistische Tendenzen in diesen Traditionsverbänden bestritten oder dargelegt, daß man nichts Näheres wisse.

Im folgenden kann daher nur der Versuch gemacht werden, Material zu den Traditionsverbänden zusammenzutragen. Es soll auch aufgezeigt werden, daß es intensivere Verbindungen zur Bundeswehr gibt, als die Bundesregierung bis dato zugibt.

Die HIAG

Der»Bundesverband der Soldaten der ehemaligen Waffen-SS e.V. – Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit (HIAG)« hatte bis in die siebziger Jahre hinein erheblichen Einfluß im Netzwerk der Soldaten- und Traditionsverbände, aber auch in die Parteien hinein. Erst in den achtziger Jahren beendeten CDU-Bundestagsabgeordnete ihre Mitarbeit, die SPD fällte einen Unvereinbarkeitsbeschluß. Die HIAG löste sich Ende 1992 auf; ihre Zeitung »Der Freiwillige«, die 1992 noch eine Auflage von 8000 Exemplaren hatte und im einschlägig bekannten rechtsextremen Munin-Verlag erscheint, wird aber bis heute herausgegeben.27

Im Zentrum dieser Zeitschrift stand und steht „die Bagatellisierung der NS-Gewaltverbrechen, die Hervorhebung von 'positiven Seiten des Nationalsozialismus' unter Hitler, die Gleichsetzung der Waffen-SS mit der Wehrmacht sowie die Aufrechnungstheorie (Bombardierung Dresdens, sowjetischer Partisanenkrieg, stalinistischer Massenterror, türkische Armenierverfolgung…). Gerne wurde die Behauptung aufgestellt, die Waffen-SS sei die erste europäische Truppeneinheit im Kampf gegen den Bolschewismus gewesen. 28

Der Kyffhäuserbund

Über den Kyffhäuserbundlesenwir in Bernd Wagners »Handbuch Rechtsextremismus«:

„1945 wurde der Kyffhäuserbund wegen seiner NS-Belastung verboten. Die Wiedergründung des Kyffhäuserbundes in der Bundesrepublik Deutschland erfolgte 1951 unter der Leitung des Generals a.D. Wilhelm Reinhard, Träger des Goldenen Parteiabzeichens der NSDAP und SS-Obergruppenführer. (…) Am 20. Oktober veranstaltete der Bund am Kyffhäuser-Denkmal bei Bad Frankenhausenen einen ,Vereinigungsappell`, an dem ca. 2000 Mitglieder zum Teil in Uniformen und mit Fahnen sowie Orden und Ehrenzeichen des Ersten und Zweiten Weltkrieges teilnahmen“.29

Über die Programmatik urteilt das von Jens Mecklenburg herausgegebene „Handbuch deutscher Rechtsextremismus“:

„Unter seinem historischen Wahlspruch ,Treu Deutsch` betreibt der Kyffhäuserbund die Pflege militaristischer Traditionen und propagiert einen großdeutschen Nationalismus. Der Zweite Weltkrieg wird als notwendige Verteidigung des Vaterlandes gegen den Bolschewismus gerechtfertigt (…) Der Bund spielt noch immer eine beachtliche Rolle bei der unkritischen Pflege soldatischer Traditionen.“ 30

Die Ordensgemeinschaft

der Ritterkreuzträger

In der Bundeswehr dienten 674 Ritterkreuzträger der Wehrmacht, von denen 117 in Generalsränge aufstiegen. Die OdR ist eher eine kleine Elite-Organisation unter den Traditionsverbänden; ihre Mitglieder haben aber gerade deshalb ein hohes Ansehen bei konservativen Politikern und Angehörigen der Bundeswehr genossen. Es ist daher auch nicht zufällig, daß die Bundeswehr bei allen bis herigen Bundestreffen der OdR vertreten war. Kennzeichnend für die OdR ist die unkritische Verherrlichung soldatischer Tugenden und die Leugnung bzw. Relativierung deutscher Kriegsschuld. Die OdR gibt die Zeitschrift „Das Ritterkreuz“ heraus.31

Der Stahlhelm e.V. – Kampfbund für Europa

Dieser Kampfbund ist eine rein neofaschistische Organisation. Er verfügt über einige hundert Mitglieder, hat mehrere Landesverbände und zahlreiche lokale Gruppen. Seine Jugendorganisation ist der Jungstahlhelm (17-21 Jahre) und das Jugendkorps Scharnhorst (10- 16 Jahre). Außerdem verfügt der Stahlhelm über eine Frauengruppe, den Stahlhelm-Frauenbund Königin-Luise. Die Zeitung des Stahlhelm e.V. ist „Der Frontsoldat“. Der Stahlhelm, der 1918/19 gegründet wurde, lehnte sich nach Spaltung stark an die neofaschistische DVU an. Über seine Programmatik schreibt das Handbuch deutscher Rechtsextremismus:

„Der Stahlhelm verherrlicht in nationalistischer und militaristischer Art und Weise die deutsche Geschichte, leugnet die deutsche Schuld am Ersten und Zweiten Weltkrieg und fordert die Wiederherstellung des Deutschen Reiches in den Grenzen von 1939. Neben einer starken antisemitischen Agitation wird vehement der Holocaust geleugnet“ 32

1992 führt der niedersächsische VS-Bericht den Stahlhelm e.V. als verfassungswidrige Organisation.

Die Arbeitsgemeinschaft für Kameradenwerke und Traditionsverbände e.V.

Die ARGE ist nicht nach Landesverbänden organisiert, sondern ist ein Dachverband der einzelnen Kameradenwerke und Traditionsverbände.

Bundesvorsitzender ist Hans-Jörg Kimmich, stellv. Bundesvorsitzender Dr. Fritz Scheunemann (1996 Gründungsmitglied von Bündnis Deutschland), Beisitzer u.a.: Wolfgang van Helden, Generalmajor a.D. und Prof. Dr. Hornung, Heinz Schauwecker.33

In einem Informationsblatt schreibt die ARGE zu ihren Zielen und Aufgaben: „Die Soldaten der Kriegsgeneration sind geprägt durch die besonderen Herausforderungen einer schweren Zeit, die sie zu bestehen hatten und sie zu Kampf- und Notgemeinschaften zusammenschweißte. Deren Angehörige waren – und sind oft noch heute – durch ein starkes Band der Kameradschaft verbunden. Unsere Kameraden in Mitteldeutschland waren bis vor kurzem ausgeschlossen und zum Schweigen verurteilt (…). Abgesehen von dem persönlichen Verlangen nach Kameradschaft ist es gerade jetzt wichtig, daß die Männer der Kriegsgeneration nicht verstummen:

Zum einen deshalb, weil erneut versucht wird, die geschichtliche Wahrheit der damaligen Zeit zu verdrängen und den Weg, die Leistung und das Leiden einer Generation zu verzerren. Kaum jemand weiß noch oder spricht darüber, daß es die Wehrmacht war, die Westeuropa vor der Roten Armee und der Diktatur des Kommunismus bewahrt hat. Entgegen mancher Verleumdung hat sie nicht nur tapfer, sondern auch anständig gekämpft.

Zum anderen eröffnen sich seit den Veränderungen in Osteuropa Möglichkeiten und Aufgaben, die gerade die alten Soldaten ergreifen müssen, solange sie noch leben, z.B. die Hilfe bei der Suche nach Kriegsgräbern und die Treffen mit ehemaligen Gegnern dort, wo einst gekämpft wurde. (…)“ (Informationsblatt der ARGE ohne Datum – vermutlich 1996)

Die Arbeitsgemeinschaft gibt die Zeitschrift Alte Kameraden heraus, die seit Mai 1997 in Kameraden umbenannt worden ist. Begründet wurde dieser Schritt damit, daß 52 Jahre nach Kriegsende „nicht nur die jüngsten Soldaten der Wehrmacht 70 Jahre und älter“ sind; „auch die Gründungsjahrgänge der Bundeswehr und die folgenden sind mittlerweile aus dem aktiven Dienst ausgeschieden. So besteht entsprechend auch die Leserschaft unserer Zeitschrift mittlerweile zu großen Teilen bereits aus Veteranen, Reservisten und aktiven Soldaten der Bundeswehr und des österreichischen Bundesheeres. (…) Ihre Interessen und ihre Ehre in einer soldatenfeindlichen Zeit zu wahren, bleibt nach wie vor das Anliegen dieser ältesten deutschen Soldatenzeitschrift“ 34

Redakteur der Zeitschrift ist mittlerweile Albrecht Jebens, zwischen 1982 und 1997 Geschäftsführer des Studienzentrums Weikersheim(!). Jebens ist auch als Autor in rechtsextremen Zeitungen (Junge Freiheit, Junges Forum, Europa etc.) in Erscheinung getreten. Der Zeitschrift soll mit diesem Schritt ein eher neurechter Zuschnitt verpaßt werden; dies ist auch teilweise gelungen. In zunehmendem Maße finden sich auch hier Autoren aus der Jungen Freiheit.

Neben einem allgemeinen Teil findet sich die Rubrik Aus der Bundeswehr, in der vor allem Artikel aus Zeitschriften wie Europäische Sicherheit, Soldat und Technik etc. nachgedruckt werden.

Eine weitere Rubrik: Soldaten schreiben für Soldaten, in der die Frontkämpfererlebnisse der alten NS-Wehrmachtssoldaten ausgebreitet und in aller Regel verherrlicht werden. Teilweise werden sogar Originalberichte aus alten NS-Wehrmachts-Zeitungen nachgedruckt, wie z.B. aus Die Kriegsmarine.35 In der Rubrik Aus den Kameradenwerken wird die heutige Traditionsarbeit beschrieben. Die Rubrik Blick in neue Bücher bietet Besprechung und Empfehlung vornehmlich rechtsextremer, geschichtsrevisionistischer und kriegsverherrlichender Publikationen. So Topitschs Stalins Krieg, Walter Posts Unternehmen Barbarossa, Schustereits Gutachten zum Buch Heer, Lachenmaiers Zeitgeschichte wider den Zeitgeist oder Adolph Auffenberg-Komarows Die besten Soldaten der Welt aus dem berüchtigten FZ-Verlag des DVU-Chefs Dr. Gerhard Frey.

Daß die Arbeitsgemeinschaft weit rechts steht, haben ihre Aktivitäten – parallel zu den Bemühungen des gesamten rechtsextremen Spektrums und der rechtskonservativen Kräfte – gegen die Ausstellung „Vernichtungskrieg – Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1945“ gezeigt. Unter der Überschrift „Die Wehrmacht – eine Verbrecherorganisation?“ schaltete die ARGE eine Anzeigenkampagne, u.a. in der Jungen Freiheit.

In dem Text der Anzeige wird die „Anti-Wehrmachtsausstellung“ als „Kern einer ideologischen Kampagne“ bezeichnet, „die allen ehemaligen und heutigen Soldaten gilt. Sie verleumdet eine ganze Generation, ist historisch unhaltbar, pauschalierend und extrem einseitig. Sie schmäht die überlebenden und gefallenen Soldaten und hetzt die junge Generation gegen die alte auf. Weiter heißt es: „Von den ungeheuren Opfern und Leistungen der deutschen Soldaten, die im guten Glauben für ihr Land kämpften und fielen, ist nicht die Rede. Hätte die Wehrmacht „die Rote Armee nicht aufgehalten, so wäre Europa kommunistisch“.36

In den Kameraden schreibt Albrecht Jebens: „Welch abartige Wanderung im Reich der Wiedergänger! Reemtsma, Heer und Goldhagen wollen das schaffen, was kein Stalin und kein Nürnberger Siegertribunal fertiggebracht haben; sie wollen aus unserer Geschichte ein einziges Verbrecheralbum, aus unserem Volk ein Volk von Mördern machen.“ 37 .

Ein Herbert Müller darf die „ungedienten Nachkriegsnaseweise“ beschimpfen und zur Wehrmacht schreiben: „Dieser stillschweigende Pakt zwischen Volk und Soldaten – dessen Gültigkeit durchaus ins Mystische, Irrationale zurückreichen mag – ist deshalb von einem ehernen Tabu umgeben, das aus vielerlei Gründen nicht gebrochen werden darf.“ 38

In Kameraden 5/97 setzt sich Ex-General Franz Uhle-Wettler für den Nazi-Kriegsverbrecher SS-Hauptsturmführer Erich Priebke ein. Er wirbt um Verständnis für die Geisel-Erschießungen der SS und wirft u.a. die Frage auf, ob man von einer Armee verlangen kann, sich an herkömmliche Regeln zu halten, wenn der gegenüberstehende Gegner diese Regeln nicht mehr einhält. „Der Fall Priebke ist Beispiel für eine Moral, die das Maß verloren hat. Damit wird sie unmenschlich“ 39

Wohlwollend könnte man sagen: Die Zeitschrift Alte Kameraden/Kameraden ist über weite Strecken weder neonazistisch noch rechtsextremistisch. Sie huldigt allerdings einem dumpfen Landser-Militarismus, der dem Rechtsradikalismus geistesverwandt ist – und sie kennt keinerlei Grenzen nach rechts. Im Gegenteil: Mit der Auswahl ihrer Autoren, mit der Häufung geschichtsrevisionistischer Themen und der unkritischen Empfehlung vorwiegend rechtsradikaler Bücher, werden Trennlinien zwischen Konservatismus und Rechtsextremismus weitgehend verwischt.

Der Verband deutscher Soldaten e.V. und der Ring Deutscher Soldatenverbände

Der Verband deutscher Soldaten (VdS) wurde im September 1951 in Bonn von 50 Vertretern verschiedener Soldatenbünde gegründet. Die wichtigsten Vereinigungen, die sich hier zusammenschlossen, waren: Deutscher Soldatenbund, Schutzbund ehemaliger deutscher Soldaten, Bund ehemaliger deutscher Fallschirmjäger, Verband deutsches Afrikakorps, Organisationen der Kraftfahrtruppen, Traditionsgemeinschaft Großdeutschland und Stahlhelm-Bund der Frontsoldaten; hinzu kamen Vertreter der Waffen-SS. 1954 schloß sich der Kyffhäuserbund an, der aber seine Selbständigkeit weiterhin behielt.40

1962 schloß sich dem VdS der Bundesverband der Soldaten der ehemaligen Waffen-SS an. Der VdS verfügt gegenwärtig über ca. 80.000 Mitglieder und ist in einzelne Landesverbände gegliedert. Sein Publikationsorgan ist Soldat im Volk. Seit 1987 ist der ehemalige Bundeswehr-Generalmajor Dr. Jürgen Schreiber Bundesvorsitzender.

Mit dem Ziel der weiteren Vereinheitlichung der Verbände wurde 1957 der Ring Deutscher Soldatenverbände (RDS) gegründet.41 Als weiterer Schritt in diese Richtung erfolgte die gemeinsame Herausgabe von Soldat im Volk (SiV).

Beide Verbände sind in ihrer Zusammensetzung und in ihrer publizistischen Tätigkeit in begrenztem Maße rechtspluralistisch. Sie können daher nur bedingt als rechtsextrem bezeichnet werden. Aber wieder ist auffallend, daß die Affinitäten zu geschichtsrevisionistischen und rechtsextremen Orientierungen beträchtlich sind – und daß offen mit Personen und Organisationen des deutschen Neofaschismus zusammengearbeitet wird.42 Die Glorifizierung soldatischer Ritterlichkeit und Tapferkeit, das Herausstreichen ihrer Ergebenheit gegenüber dem Vaterland, ihrer Treue, Gehorsam und Pflichterfüllung soll den Mitgliedern verdrängen helfen, Teil eines verbrecherischen Vernichtungskriegs gewesen zu sein. Auch in Soldat im Volk dürfen die rechtsextremen Themen „Kriegsschuldlüge“ und „Umerziehung“ ausgebreitet werden. Eifernder Haß schlägt immer wieder dem sogenannten „Zeitgeist“ entgegen, worunter man vor allem pazifistische, antifaschistische und demokratische Grundeinstellungen versteht.

Der Bundesvorsitzende des Verbandes deutscher Soldaten, Generalmajor a.D. Jürgen Schreiber ist als Autor der Zeitung Der Schlesier und als Verfasser von Waren wir Täter? Gegen die Volksverdummung in unserer Zeit (Türmer Verlag) und Nicht Auschwitz, aber Stalingrad und Dresden bekannt. In einem Referat „300 Jahre Traditionspflege deutscher Streitkräfte 1648 bis 1945“ im November 1997 vor der „Arbeitsgemeinschaft der Reservisten-, Soldaten- und Traditionsverbände in Bayern“, das in Auszügen in SiV 3/98 nachgedruckt ist, hat Schreiber seine Sicht der Wehrmacht im Dritten Reich zusammengefaßt. Die Ziele und Vorstellungen, die Hitler am 3. Februar 1933 den Generälen und Admiralen vorgetragen habe – Wiedergewinnung politischer Macht, Ablehnung des Pazifismus, Gegnerschaft zum Marxismus, Bekämpfung der Bestimmungen des Versailler Vertrages, Förderung des Wehrwillens, Aufbau einer starken Wehrmacht, Einführung der allgemeinen Wehrpflicht und Festlegung einer überparteilichen Rolle der Wehrmacht sowie der „Regelung“ der innenpolitischen Auseinandersetzungen durch die NS-Organisationen – hätte die überwiegend konservative Generalität durchaus mittragen können.

„Viele ausländische und deutsche Politiker und Historiker haben bis heute den Versailler Vertrag als Grundübel bezeichnet, das weitgehend für die negative politische Entwicklung und der Welt verantwortlich war. Wie kann man es dann deutschen Generalen und Admiralen verübeln, wenn sie 1933 die Bekämpfung jenes unseligen Vertrages erfreut zur Kenntnis nahmen?“ 43 Schreiber weiter: „Sicher bedeutete die Vereidigung der Wehrmacht auf Adolf Hitler, als Hindenburg 1934 gestorben war, einen Einschnitt in der geistigmoralischen Entwicklung. Und doch muß man feststellen, daß es in der Wehrmacht einen eigentlichen NS-Geist zumindest bist 1944 nicht gegeben hat. Man kann durchaus nicht alles aus der damaligen Zeit als schlechthin traditionsunwürdig bezeichnen! 44

Auch VDS/RDS und Soldat im Volk haben in den letzten zwei Jahren eine zentrale Aufgabe darin gesehen, gegen die Wehrmachtsausstellung anzukämpfen.

Im SiV wird ein Aufruf von Generalmajor a.D. Dr. Eberhard Wagemann, „im Einvernehmen mit den Vorständen von VdS und RDS“ abgedruckt, in dem beklagt wird, daß die „Mehrzahl der deutschen Historiker der Nachkriegsgeneration“ den Einsatz der Wehrmacht im Osten als „einen Vernichtungskrieg gegen die Russen“ ansähen. Dem wird gegenübergestellt:

„Wir überlebenden Teilnehmer am Krieg gegen den Bolschewismus haben einen anderen Krieg erlebt. Wir fühlten uns als Befreier vom Stalinismus und wurden von der Bevölkerung auch so empfangenUnser Kampf war ein europäischer Krieg gegen den menschenverachtenden Bolschewismus! 45

2. Die Zusammenarbeit zwischen den Traditionsverbänden und der Bundeswehr

Was die Kooperation mit den Traditionsverbänden angeht, zeigt sich die Bundeswehrführung offiziell zurückhaltend. Zumindest sollen diese Beziehungen nicht an die große Glocke gehängt werden. In Bonn reagiert man ergo immer dann, wenn solche Begegnungen den Ruf der Bundeswehr zu schädigen drohen. Erst als sich eine kritische Öffentlichkeit an der Präsenz der Bundeswehr bei den Treffen der Ritterkreuzträger störte, hat man das Engagement etwas reduziert. Eine Teilnahme an einem Jubiläumstreffen der 97. Jägerdivision in Füssen wurde im vergangenen Jahr, nachdem die sensibler gewordenen Medien darüber berichtet hatten, kurzerhand abgesagt. Die Bundeswehrführung hat sich dafür die harsche Kritik der Traditionsverbände eingehandelt.46

Doch ihr Verhalten bleibt weiterhin doppelbödig. Während man sich „oben“ zumindest zurückhaltend zeigt, sieht die Wirklichkeit „an der Basis“ anders aus. Die Beziehungen zwischen Bundeswehr- und Traditionsverbänden der Wehrmacht sind zahlreich und vielfältig. Patenschaften zwischen vergleichbaren Verbänden, die auch die Gestaltung von Traditionsräumen umfaßt, sind an der Tagesordnung. Für die Alten Kameraden öffnen örtliche Kommandeure gerne die Pforten. Dort finden dann Kameradschaftsabende, Adventsfeiern, aber auch schon mal Schießwettbewerbe, statt. Zum vollständigen Bild gehört freilich auch, daß die Traditionsverbände von für sie negativen Erfahrungen berichten. Es gibt offensichtlich auch Kommandeure, Truppenführer etc., die der gewünschten Traditionspflege zurückhaltend bis ablehnend begegnen.

Kontakte gibt es aber nicht nur an der Basis. Soldat im Volk 3/98 berichtet unter der Überschrift „Gespräch im Bundeskanzleramt“ über ein Zusammentreffen des Kanzleramtsministers mit dem VdS-Bundesvorsitzenden Jürgen Schreiber: „Kanzleramtsminister Friedrich Bohl hatte den Bundesvorsitzenden des VdS am 26. Januar 1997 zu einem Gespräch gebeten. Anlaß waren Verärgerung und Unmut der kriegsgedienten Soldaten über die Haltung von Öffentlichkeit und Regierung ihnen gegenüber, die der Bundesvorsitzende mit einem Brief an den Bundeskanzler vorgebracht hatte. (…) Bundesminister Bohl, Mitglied des Kyffhäuserbundes, brachte zum Ausdruck, daß sowohl der Bundeskanzler als auch er selbst Gegner jeglicher Pauschalierung wären, daß sie vor den Leistungen der Kriegsteilnehmer großen Respekt hätten, die Diffamierungen nicht unterstützten und dies auch in vielen Reden betont hätten“.47

Von einer klaren Abgrenzung zu den rechtsextrem durchsetzten Traditionsverbänden sind Bundesregierung und Bundeswehr-Führung weit entfernt. Die Frage ist erlaubt, wie es die Bundeswehr mit den geschichtsrevisionistischen und rechtsextremen Positionen hält, die in diesen Verbänden gang und gäbe sind. Werden sie nur geduldet oder gar geteilt?

In den Zeitschriften Kameraden und Soldat im Volk wird regelmäßig über Kooperationen zwischen Bundeswehr, Reservistenverbänden, Burschenschaften und Traditionsverbänden berichtet. Eine lange Liste ließe sich aufstellen. Diese Berichte lesen sich zum Beispiel so:

l<~>Am 28.3.98 hält der Landesverband des VdS-Ba.-Wü. eine Delegiertenversammlung ab. „Eine Gedenkfeier für die gefallenen Kameraden findet um 17.30 Uhr in der Ehrenhalle statt. Vorträge von Dr. Jebens, Chefredakteur der Zeitschrift 'Kameraden' und Hfw d.R. Kaiser, Mitglied im Bundesvorstand, und Teilnehmer an Auslandseinsätzen der Bundeswehr runden das Programm ab“ (SiV 3/98, S. 69).

l<~>Am 13.12.97 trafen sich die Mitglieder des KV Speyer des VdS zur Weihnachtsfeier im Speisesaal der Kurpfalzkaserne; anwesend waren mehrere offizielle Vertreter der Bundeswehr, so z.B. der Standortälteste und der frühere Kommandeur des Pionierbataillons 330. In dem Bericht über die Weihnachtsversammlung heißt es: „In seiner Gedenkansprache verurteilte der Ehrenvorsitzende die Anti-Wehrmachtsausstellung dieser vaterlandslosen Gesellen und die damit verbundene Hetze gegen unsere gefallenen Kameraden und gegen die Wehrmacht“ (SiV 2/98, S. 44).

l<~>Kameradschaft 76. InfDiv e.V.: „Bundeswehr: Wir waren beim PzGrenBtl 421 anläßlich unserer Divisionstreffen zweimal zu Gast und werden auch in diesem Jahr dort sein. Im Kasernenbereich steht ein Denkmal des Infanterie-Regiments 68, an dem auch unser taktisches Zeichen, die Grenadiermütze, angebracht ist zur Erinnerung an Füsilierregiment 230. Wir danken OTL Retzer ganz herzlich für die bewiesene Verbundenheit mit unserer Kameradschaft. (Kameraden 5/97, S 32)

l<~>Die Teilnehmer des Divisionstreffens des Kameradenhilfswerks 25 e.V. 25. Inf- und PzGrenDivision begingen zusammen mit jungen Soldaten und Repräsentanten der Bundeswehr den Volkstrauertag am 17.11.96. „In der Panzertruppenschule Munsterlager wurde der Kranz der Division im Ehrenhain der gepanzerten Einheiten der Wehrmacht niedergelegt. Unser Traditionsraum dort besteht weiterhin in seiner eindrucksvollen Ausgestaltung“. (AK 12/96, S. 26).

l<~>Der Vorstand der Kameradschaft 76. InfDiv e.GV. schreibt als Rückblick und Ausblick Ende 1996: „… In Potsdam-Brandenburg und Brück hatten wir ein erlebnisreiches Divisionstreffen bei der Bundeswehr. … Nicht nur der Brigadekommandeur Oberst Gräbner, sondern auch der ehemalige Kommandierende General des IV. Korps, Generalleutnant aD von Schewen, der die schwierige Aufgabe des Aufbaus der Bundeswehr in den neuen Ländern und die Auflösung der NVA unter teilweiser Übernahme von Offizieren und Unteroffizieren glänzend bewältigt hat, gaben uns die Ehre; letzterer verteidigte in seiner Ansprache u.a. engagiert die Wehrmacht gegen die Verleumdungen, wie sie insbesondere von dem Pseudehistoriker und Erzkommunisten Hannes Heer mit seinem Buch und der berüchtigten Wanderausstellung verbreitet werden. (AK 12/96, S. 28).

l<~>Für den Kameradendienst der ehem. 329. (Hammer-)InfDiv schreibt Franz-Josef Pape: „Liebe Kameraden! Ein Jahr geht zu Ende, das uns alten 329ern ein großes Geschenk gebracht hat, das jemals zu erreichen, wir die Hoffnung schon aufgegeben hatten. Durch glückliche Umstände haben wir in dem jahrelang ergebnislos verfolgten Streben, in Anlehnung an eine Bundeswehreinheit Halt und Stütze zu erfahren, bei der Bewahrung unserer auf das Erlebnis unverbrüchlichen Kameradschaft in Krieg und Nachkriegszeit gestützten Tradition im Februar 1996 die I. Inspektion der Heeresunteroffizierschule Münster mit ihrem Chef, dem tatkräftigen Oberstleutnant Reinhold Becker, gewonnen. Über diese glückliche Fügung und die Früchte dieses verheißungsvoll begonnenen Patenschaftsverhältnisses können wir nur große Dankbarkeit empfinden“ (AK 12/96, S. 38).

3. Die alten und die neuen Traditionalisten

Daß der bundesrepublikanische Rüstungs- und Militärapparat strukturell konservativ ist, ist eine Binsenweisheit. Daß unter den verschiedenen Abteilungen der „military community“ (Traditionsverbände, Reservistenvereinigungen, Wehrpublizistik etc.) ein harter rechter Kern dominierend ist, macht die Sache gefährlich. Dies wird besonders daran deutlich, daß in diesen Strukturen des Rüstungslobbyismus ehemalige Bundeswehroffiziere weitgehend den Ton angeben. In den letzten Jahren machten mehr und mehr Offiziere von sich reden, die ihre Pensionierung dazu nutzten, sich als politisch rechtsstehend zu „outen“. So die Brüder Generalleutnant a.D. Franz und General a.D. Reinhard Uhle-Wettler, die sich in den neunziger Jahren in rechten Zeitschriften wie der Jungen Freiheit, Nation Europa, Alte Kameraden usw. häufig zu Wort meldeten.48

Für Schlagzeilen sorgte auch General Schultze-Rhonhof, der noch zu Dienstzeiten das Bundesverfassungsgericht wegen seines „Soldaten sind Mörder“-Urteils mit dem Volksgerichtshof der Nazis verglich. Inzwischen hat der pensionierte General seine Auffassungen zu Papier gebracht.49 Auch Schultze-Rhonhof singt das Hohe Lied ewiger soldatischer Tugenden. „Dennoch war die Wehrmacht trotz aller ihrer Verstrickungen auch Übermittler von Werten, Tugenden und Berufseigentümlichkeiten aus 300 Jahren deutscher Militärgeschichte an die Bundeswehr.

Sein besonderes Augenmerk aber legt der schriftstellernde General darauf, nachvollziehbar zu machen, warum das deutsche Volk „seinem Führer“ so lange und bis in den Untergang gefolgt sei. Die Weißwäscherformel damals wie heute lautet: Man müsse die Fehlentwicklungen „aus der Zeit heraus verstehen“ (Versailles, Massenarbeitslosigkeit, usw.). Daß die Mehrzahl der Bevölkerung und der Soldaten bis zum Ende des Krieges nichts vom Vernichtungsfeldzug gegen die Juden gewußt haben will, gehört zu den auch vom Ex-General kolportierten Rechtfertigungsschablonen.

Insoweit bedient Schultze-Rhonhof nur die gängigen Klischees rechter Geschichtsrevisionisten. Aber seine Besessenheit zur Entsorgung deutscher Geschichte reicht weiter.

Einen großdeutschen Expansionismus hat es angeblich nie gegeben:

„So waren die Bestrebungen, ab 1884 Kolonien zu erwerben und den Nahen Osten durch Eisenbahnbau zu erschließen, eher der Versuch, die Ernährungs- und Erwerbsgrundlage der stark angewachsenen Bevölkerung zu sichern, als das Unterfangen, Großmacht zu spielen. 50

l<~>Die Reichswehr wird zur demokratischen Armee geadelt:

„Es wird oft berichtet, daß die Offiziere der Reichswehr ein gestörtes Verhältnis zur Weimarer Republik entwickelt hätten. Aber es würde kaum registriert, daß die Reichswehr bei allen Putschversuchen von rechts und links treu zur Reichsregierung gestanden habe.51

l<~>Daß Hitler mit seinem Aufrüstungsauftrag vom 1.1.1934 (Aufstockung des Heeres von 10 auf 36 Divisionen) kriegerische Pläne gehabt habe, sei nicht erkennbar gewesen.

„Die 36 Divisionen entsprachen einem Bedürfnis der Bevölkerung nach Verteidigungsfähigkeit. Sie ließen zunächst nicht auf die Vorbereitung eines großen Krieges schließen.

„Das entsprach einem Mindestbedarf zu einer eventuellen Verteidigung des Reichsgebietes und ließ noch nicht auf Hitlers Angriffsabsichten schließen. 52

Aufschlußreich sind auch die Ausführungen Schultze-Rhonhofs zum Soldateneid. General von Seydlitz, der in russischer Gefangenschaft dem Nationalkomitee Freies Deutschland beitrat und Generalmajor Oster, der die deutschen Angriffspläne auf Frankreich, Belgien, Luxemburg und die Niederlande an den niederländischen Militärattache weitergab, sind für ihn Verräter, die sich an Wehrmacht, Volk und Vaterland vergangen haben. Zwar sei dieser Verrat von edlen Motiven getragen gewesen, aber der Verstoß gegen den Treueeid sei unentschuldbar. „Volk und Vaterland zu dienen ist die zeitlose und niemals erlöschende Grundpflicht eines jeden Offiziers.53

„Die Opposition gegen Hitler auf einen Kampf gegen die eigene Armee auszudehnen, gab dem Eidbruch jedoch eine besondere Qualität. … Diesen Verrat halte ich für schändlich“ 54

Die Auseinandersetzung um die Wehrmacht ist für Schultze-Rhonhof nur Teil des „Kulturkampfes Links gegen Rechts, der unser Land seit Jahren bewegt“.55 Der Linken ginge es um die Abtrennung der Bundeswehr von ihren Wurzeln, ihrer Verbindung zu Heimat, Volk und Land. Der völkisch-nationalistische Grundton des Generals ist nicht zu überhören.

Wo der General a.D. politisch steht, wird auch in seinen gesellschaftspolitischen Überlegungen deutlich. Alle Themen der angesprochenen neurechten Ideologie werden bedient.

l<~>Familie und Nation als Ausfluß einer natürlichen Ordnung;

l<~>die Einhegung des Wertepluralismus („Der Wertepluralismus, den uns das Grundgesetz eröffnet, ist ein liebenswerter Zustand, mit dem sich in Zeiten kräftig wachsenden Bruttosozialprodukts herrlich leben läßt.) durch eine verstärkte Bindung der Bürger an gemeinschaftsbezogene Werte. („Die 68er Bewegung hat, was Gemeinsinn und Bindung an das Gemeinwesen Staat betrifft, ein Trümmerfeld hinterlassen….“ 56);

l<~>die Pflicht zum Dienen: „Ein Grund für diese Schwierigkeiten liegt möglicherweise in unserem Grundgesetz. Es garantiert den Bürgern – je nach Zählung – 21 verschiedene Individualrechte und erlegt ihnen nur dreimal eine Pflicht auf, die Wehrpflicht, die Pflicht zur Kindererziehung und die Sozialpflichtigkeit des Eigentums. Der Schutz des Bürgers und seine Rechte, nicht seine Pflichten gegenüber der Gemeinschaft, sind das Leitthema unserer Verfassung. 57 Das Grundgesetz, als Reaktion auf die NS-Zeit, habe das Pendel zum anderen Extrem auschlagen lassen. „Es ist die Aufgabe unserer Zeit, das Pendel von diesem anderen Extrem in die Mitte zurückschwingen zu lassen und es dort anzuhalten. Individualrechte und Gemeinschaftsrechte und die ihnen zugrundliegenden Wertvorstellungen müssen wieder in die Balance kommen.… Die sogenannten Grundwerte bilden eine zu schmale Basis an Werten, als daß sie unser Gemeinwesen tragen und beleben könnten.“

Die Bundesregierung hat sich auf parlamentarische Anfrage vor Schultze-Rhonhof gestellt. Er stehe auf dem Boden des Grundgesetzes. Die Frage ist nur: Steht Schultze-Rhonhof am rechten Rande des demokratischen Verfassungskonsenses oder am gemäßigten Rand der radikalen Rechten?

Daß es nicht nur um ausgemusterte Generale geht, machen Einlassungen von Generalmajor Jürgen Reichardt deutlich, der als Chef des Heeresamtes maßgeblichen Einfluß auf die Schulen des Heeres nimmt.Er ist u.a. durch eine Rede aufgefallen, in der er den besonderen Geist der deutschen Fallschirmjägertruppe im Zweiten Weltkrieg geradezu mystisch verklärte: „Der kriegerische Geist, der Korpsgeist, der Geist der Ritterlichkeit.

Dieser Geist befähigte deutsche Fallschirmjäger im Kriege zu Leistungen, die anderen als Beispiele dienten, die vielen als unmöglich galten… Es ist ein Geist, der seine tiefen Wurzeln in unserer deutschen Militärgeschichte, in unserer abendländischen Kultur und in unserer christlichen Ethik hat.“ Die Wehrmacht-Fallschirmjäger hätten sich für ihren Kampf „unsterblichen Ruhm“ erworben.58

In jüngster Zeit machte Reichardt Schlagzeilen, weil er glaubte, sich schützend vor die Ordensgemeinschaft der Ritterkreuzträger (s.o.) stellen zu müssen. In einem Vortrag am Vorabend des Volkstrauertages 1997, der in der Zeitschrift der OdR „Das Ritterkreuz“, Dezember 1997, nachzulesen ist, schwelgt Reichardt: „Wer – in welcher Situation auch immer – anständig zu bleiben wußte, Treue zeigte, wo ein anderes Verhalten auch nicht zum Schaden gereicht hätte, und Tapferkeit, wo Feigheit vielleicht sicherer gewesen wäre, der dient uns auch heute noch als Vorbild und genießt unseren Respekt. 59 Man kann sich danach gut vorstellen, wie dieser General Volk, Vaterland und Führer gedient hätte – treu und tapfer bis in den Tod. Kriegsbilder längst vergangener Tage werden heraufbeschworen, wenn er „die herausragende militärische Einzeltat“ rühmt. Daß Reichardt kein gutes Haar an der Wehrmachtsaussstellung läßt und stattdessen ihre Kritiker als „hervorragende Fachleute“ ansieht, versteht sich.

Reichardt war es auch, der an die Heeresschulen die Schrift eines OTL Hartmann a.D. verteilen ließ, die das Soldatentum in Reichswehr, Wehrmacht und Waffen-SS in apologetischer Weise zeichnet.

Reichardt hört Ende des Jahres auf. Die ultrakonservativen Traditionalisten wirken in der Bundeswehr weiter. Es genügt dabei nicht, nur nach rechtsaußen zu schauen. Nach aller Erfahrung ist Vorsicht schon bei der Ausbreitung der „Militär sui generis“-Konzeption geboten. Wie bereits erwähnt, hat sich in diesem Zusammenhang der Untersuchungsausschuß – wenn auch ungenügend – mit der Frage beschäftigt, ob der reaktionäre Traditionalismus mit dem veränderten Auftrag der Bundeswehr Auftrieb bekommen könne.

Belege für einen Rechtstrend finden sich in der Militärpublizistik zuhauf. Die geistige Wende, die die Umorientierung der Bundeswehr auf Kriegseinsätze 1990 bis 1994 begleitete, haben der frühere Direktor des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr, Dr. Detlef Bald, und der frühere Mitarbeiter des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes, Dr. Wolfram Wette aus dem Studium der BMVg-Publikationen verfolgt.

Bald trug vor dem Ausschuß vor, der klassische Satz, der bisher die Mission der Bundeswehr beschrieb, „Kämpfen können, um nicht kämpfen zu müssen“, sei dem Satz „Kämpfen können und kämpfen wollen“ gewichen. An der gleichen Fundstelle, auf die sich Bald bezog, findet sich die Aussage: Die Zivilisierungsmöglichkeiten einer Armee, die kriegstüchtig werden wolle, seien begrenzt. Rühe und Bagger beschwichtigten an dieser Stelle. Es habe Übergangsprobleme gegeben, die aber inzwischen überwunden seien. Die Auslandseinsätze führten mitnichten zu einer „Mystifizierung“ des Soldaten, zur Kultivierung militärischer Besonderheiten.

Doch äußerste Skepsis ist angebracht. Auch in jüngster Zeit hat es Alarmzeichen gegeben. Brigadegeneral Christian Millotat, demnächst Direktor im Bereich Lehre an der Führungsakademie, legt eine Arbeit über „Das preußisch-deutsche Generalsstabssystem“ vor, in der sich die folgenden Sätze finden:

„Die »großen Chefs« Moltke und Schlieffen entwickelten den Generalstab zu hoher Vollkommenheit. In ihrer Nachfolge wahrten Seeckt, Beck und Halder das Erbe. Der Typus des Führergehilfen wurde von ihnen selbst verkörpert. Sie können in diesem Sinne noch heute als Vorbild dienen. Millotat bezieht sich natürlich „nur“ auf die Arbeitsweise und Strukturen des preußisch-deutschen Militärapparats. Aber ist es nicht genau dieser „technokratische“ Blick, der militärische Effizienz von den politischen Zielen und Inhalten ablöst, der dem revisionistischen Traditionsverständnis die Tür öffnet?

Eindeutiger hat sich vor der Bundesakademie für Sicherheitspolitik ein ehemaliger Offizier und Militärberater geäußert.60 Eine politische Korrektur im Verhältnis Bundeswehr-Gesellschaft sei fällig, heißt es dort. „Nicht mehr Integration in die Gesellschaft ist gefragt, sondern mehr Emanzipation. Hierbei wird man auch um die soldatischen Leistungen früherer Generationen keinen Umweg machen können.

Besonders lassen Passagen aufmerken, in denen von den künftigen Kriegen, an denen die Bundeswehr beteiligt sein könnte, die Rede ist. Den deutschen Soldaten werde auf den neuen Schauplätzen Feinden (z.B. islamischen Fundamentalisten) begegnen, die nicht an unseren Wertvorstellungen orientiert seien. Daraus könne sich ein Zielkonflikt zwischen Moral (Wertekanon der Bundeswehr) und militärischer Effizienz ergeben. „Das neue Leitbild vom Soldaten als Helfer und Kämpfer wird wenig zur Lösung solcher Konflikte beitragen können.

Solche Thesen waren schon zuvor, in größerer Deutlichkeit, in der Zeitschrift „Truppenpraxis“ zu lesen. Deutsche Soldaten müßten auch auf die „brutalen kleinen Kriege gegen die kleinen bösen Männer“ vorbereitet werden.61

Bis heute hat sich die Bundesregierung nicht von diesen Einlassungen distanziert. Und der Politikberater Holger Mey wird weiterhin großzügig aus den Töpfen des BMVg bedacht. Militärkritische Forschung geht derweilen leer aus.

4. Netzwerke?

BMVg und MAD sind der Auffassung, daß sich bei der Bundeswehr keine rechtsradikalen Netzwerke bzw. Subkulturen gebildet hätten. Der Untersuchungsausschuß konnte das Gegenteil nicht beweisen. Dabei ist der Blick aber nur auf die militante Neonazi- und Skinheadszene gerichtet.Was aber ist mit den subtileren Netzwerken, in denen sich die angesprochenen ideologischen Übergänge zwischen Konservatismus und Rechtsextremismus manifestieren? Konservative Politiker/Publizisten schreiben in rechtsextremen Blättern und vice versa. Auch in militärbezogenen Strukturen und Öffentlichkeiten sind vielfältige Verflechtungen erkennbar.62 Diesen Kontext aufzuhellen, dürfte eine wichtige und reizvolle Forschungsaufgabe sein. An dieser Stelle müssen zwei Hinweise genügen.

Die Reservisten werden von der Bundeswehr als entscheidender Faktor der Mobilisierungs- und Aufwuchsfähigkeit angesehen. Dementsprechend wird der Verband der Reservisten der Deutschen Bundeswehre.V. mit knapp 27 Mio. DM großzügig aus dem Etat des BMVg alimentiert. 1997 mit 44 Mio. DM. Der Zustandsbericht 1997 enthält eine Tabelle über die Verbindungen und Kontakte des Verbandes. Mit Abstand führt die Gesellschaft für Wehr- und Sicherheitspolitik (die die Zeitschrift Europäische Sicherheit herausgibt) mit 310 Kontakten. Auf den nächsten Rängen folgen mit großem Vorsprung vor allem soldatische Traditionsverbände: Deutscher Marinebund (168), Kyffhäuser-Bund (154), Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge (113), Bayrischer Soldatenbund 1874 (96), Verband Deutscher Soldaten (92) usw.

Seit 1995 erscheint im Verlag Medien-Marketing-Team GmbH die Deutsche Militärzeitschrift. Die Bücherliste des Verlages enthält neben den genreüblichen Waffen- und Kriegsgeschichten u.a.: Die Autobiographie des Nazi-Fliegergenerals H.-U. Rudel, Ernst Jüngers In Stahlgewittern und Werner Masers Revisionen der deutschen Kriegsschuld. Der Verlag betreibt außerdem einen Handel mit NS-Devotionalien. So wurde unter anderem der Vertrieb einer Telefonkarte „Leibstandarde Adolf Hitler“ angekündigt. Die Zeitschrift will sich an die Erlebnisgeneration des II.Weltkrieges, an die Soldaten und Reservisten der Bundeswehr und an zeitgeschichtlich Interessierte wenden. Dieser „Brückenschlag zwischen den Generationen“ ist in der Tat Programm. Offenkundig geht es darum, die Beschränkung der hergebrachten Traditionszeitschriften (s.o.) zu überwinden und die Verbindungslinien zwischen alten und neuen Traditionalisten enger zu knüpfen. Zu den Autoren der DMZ gehören unter anderem General a.D. Schultze-Rhonhof, der sächsische Justizminister Steffen Heitmann (CDU) und der bekannte Journalist Rolf Clement, der auch häufiger in den Zeitschriften des BMVg zu finden ist.

Diesem Grundmuster begegnen wir allenthalben. Scharfe Abgrenzungen nach rechts scheinen in einem Teil des konservativen Lagers verpönt. Auch die Bundesregierung zeigt sich in dieser Hinsicht äußerst tolerant. Nur ein Beispiel von vielen: Der Vizepräsident des Bundes der Vertriebenen ist gleichzeitig in rechtsextremen Vereinigungen führend tätig, unter anderem in der auch in Verfassungsschutzberichten erwähnten Gesellschaft für freie Publizistik. Die Bundesregierung dazu auf Anfrage: „Für die Förderungswürdigkeit des Bundes der Vertriebenen ist es nicht entscheidend, ob eines seiner Vorstandsmitglieder auch in einer anderen Organisation oder in einer Partei ein Amt hat. Vielmehr kommt es dabei auf die Bewertung der gesamten Arbeit des Verbandes an. 63 Auch auf die Frage, ob dieser Herr weiterhin Mitglied im Beirat für Vertriebenen-, Flüchtlings- und Spätaussiedlerfragen beim Bundesministerium des Innern sein könne, antwortet die Regierung ausweichend.

Im konservativen Lager wird gerne darauf verwiesen, daß man den rechten Rand zur Mitte hin integrieren müsse. Doch wenn dabei die nötige Trennschärfe verloren geht, bleibt unter dem Strich die gesteigerte Akzeptanz für rechtsradikale Auffassungen.64 Auch die stille Hoffnung, daß man den rechten Rand für eigene Zwecke instrumentalisieren (z.B. bei der Bekämpfung der Linken), im Endeffekt aber domestizieren könne, hat sich schon einmal als verhängnisvoller Irrtum erwiesen. Die deutschen Konservativen scheinen nur bedingt lernfähig.

Gewaltbereite, rechtsextremistische Jugendliche stellen nicht das Problem der Bundeswehr dar. Die Bundeswehrführung ist inzwischen auch darauf bedacht, solche »Desperados« von der Truppe fernzuhalten. Das Problem ist die Gemengelage zwischen besonderer Militärkultur, dem verstärkten Traditionalismus in der ohnehin rechtslastigen Truppe und den zum Bund drängenden rechtsorientierten Jugendlichen. Die Öffentlichkeit muß die Augen offen halten – und dabei die »normale« Bundeswehr kritisch ins Visier nehmen.

Wie sich die Bilder gleichen

Hans v. Scotti schreibt in Kameraden:

„Kein Volk verträgt es, jahrzehntelang immer nur an den dunkelsten Seiten seiner Geschichte gemessen zu werden, kein Soldat nach ehrbarer Pflichterfüllung die ständige Diffamierung. Das zur Zeit in unserem Land inszenierte Klima der Selbstzerfleischung wirkt international abstoßend, die würdelose Haltung verachtend. Werte der deutschen Geschichte wie Vaterlandsliebe, Eintreten für den Nächsten, moralische Sauberkeit und Ehrgefühl waren im Krieg 14/18 und in den Streitkräften nach 1939 von prägendem Gewicht, es waren keine Sekundärtugenden wie heute formuliert. Die umerzogene Bevölkerung, ihre Führung und Gerichtsbarkeit sind ohne klare Vorstellung von einem naturgegebenen Traditionsverständnis“. (Kameraden 5/97, S. 20).

Kapitän zur See und Referatsleiter im Führungsstab der Marine des Bundesministeriums der Verteidigung, Dieter Stockfisch, veröffentlicht in der Zeitschrift Soldat und Technik einen Artikel, in dem es heißt: „Wer die Geschichte eines Volkes kriminalisiert, macht es krank. Kein Volk verträgt es, wenn es nur an den dunklen Seiten seiner Geschichte gemessen wird. Stockfisch bejammert: „Auch die erfolgreiche Umerziehung (Reeducation) der Alliierten nach 1945 mit dem Ziel, den Deutschen alles Militärische und Soldatische gründlich auszutreiben, wirkt noch nach. Damals schrieb Ernst Jünger: _Die fremden Sieger und die einheimischen Rhetoren drängen vereint zum Tribunal'“.

Übrigens: Der Artikel wird mit freundlicher Genehmigung in der Zeitschrift Alte Kameraden (AK 12/96, S. 8-9) nachgedruckt.

Beliebte Buchtitel bei den Wehrmachttraditionalisten

Erich Schwinge, Bundeswehr und Wehrmacht (SiV 10/97, 11/97, 12/97, 1/98, 2/98, 3/98)

Erich Schwinge, Wehrmachtsgerichtsbarkeit eine Terrorjustiz? (SiV 10/97, 11/97, 12/97, 1/98, 2/98, 3/98)

Deutsches Soldatenjahrbuch 1997-45. Deutscher Soldatenkalender. Das Geleitwort schrieb Generalmajor der Waffen-SS a.D. Heinz Harmel (SiV 3/98)

Alliierte Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit (SiV 3/98)

Alfred M. de Zayas, Die Wehrmachts-Untersuchungsstelle (SiV 3/98)

Rüdiger Proske, Wider den Mißbrauch der Geschichte deutscher Soldaten zu politischen Zwecken (SiV 10/97, 11/97, 12/97, 1/98 und 3/98)

Rüdiger Proske, Vom Marsch durch die Institutionen zum Krieg gegen die Wehrmacht (SiV 10/97, 11/97, 12/97, 1/98 und 3/98)

„Er war unser Chef“ (Video-Interview mit verbliebenen Zeitzeugen aus Hitlers Stab) (SiV 2/98)

Prof. Franz W. Seidler (Hrsg.), Verbrechen an der Wehrmacht (SiV 1/98)

David Irving, Goebbels – Macht und Magie (SiV 1/98)

Heinz Magenheimer, Die Militärstrategie Deutschlands 1940-1945 (SiV 11/97)

Stimmen gegen die psychose nationaler Selbstgeißelung. Drei Generationen äußern sich zur Diffamierungskampagne der Anti-Wehrmachts-Ausstellung (SiV 11/97)

Werner Symanek, Vernichtungskrieg – Ein propagandistischer Feldzug (SiV 10/97)

Klaus Motschmann (Hg.), Abschied vom Abendland? (SiV 10/97).

Anmerkungen

1) Prof. Dr. Wolfgang Gessenharter und Dr. Helmut Fröchling sind Dozenten an der Universität der Bundeswehr in Hamburg. Sie trugen ihre Thesen als Statement vor dem Untersuchungsausschuß vor. Zurück

2) s. Arwed U. Bonnemann/Ulrike Hofmann-Broll: Studierende und Politik: Wo stehen die Studierenden der Bundeswehruniversitäten. In: S+F, Vierteljahresschrift für Sicherheit und Frieden. Heft 3, 1997, S. 145 ff. Zurück

3) siehe dazu: Arbeitskreis Darmstädter Signal: Bundeswehr und Rechtsradikalismus. Analyse, Bewertung und Maßnahmen zur Bekämpfung. Februar 1998. Zurück

4) s. Detlef Bald, Militär und Gesellschaft 1945-1990. Die Bundeswehr der Bonner Republik. Baden-Baden 1994. Zurück

5) siehe u.a. Wolfram Wette, Der Krieg des kleinen Mannes, München 1992. Zurück

6) Ernst O. Czempiel, in: FAZ, Sonntagszeitung, 29.3.1998. Zurück

7) Werner Kaltefleiter, in: Die Welt vom 6.8.1997. Zurück

8) s. dazu: Interview mit Wolfgang Vogt, Augen auf statt »Rechts um«, in W&F, 1/98, S. 52ff, aber auch Elmar Schmähling, Ohne Glanz und Gloria: Die Bundeswehr – Bilanz einer neurotischen Armee, Düsseldorf 1991. Zurück

9) Wolfgang Gessenharter/Helmut Fröchling, Neue Rechte und Rechtsextremismus in Deutschland. In: Jens Mecklenburg (Hrsg.), Handbuch deutscher Rechtsextremismus, Berlin 1996, S. 550. Zurück

10) U. Backes; P. Moreau, Die extreme Rechte in Deutschland, München 1993, S. 4. Zurück

11) VS-Bericht 1995, S.16/17. Zurück

12) Verfassungsschutzbericht 1997, S. 116. Dies hindert den CDU-Politiker H. Lummer nicht daran, die Bundesregierung besorgt anzufragen, ob es Beschränkungen für den Vertrieb der Jungen Freiheit in der Bundeswehr gebe. Siehe Bundestagsdrucksache 13/10398, S.18. Zurück

13) Michael Inacker, Bundeswehr-Streit als Symbol für Kulturkampf, in: Die Welt v. 26.4.1998. Zurück

14) K. Weißmann: Neo-Konservatismus in der Bundesrepublik? Eine Bestandsaufnahme. In: Criticon, 96 (1986), S. 179. Zurück

15) ebd. S. 55. Zurück

16) Jörg Schönbohm, in: Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik (1/1997), zit. nach: Hajo Funke, Der Marsch der neuen Rechten durch die Institutionen, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 2/98, S. 175. Zurück

17) bundeswehr aktuell vom 2.2.1998, S. 7. Zurück

18) s.zu diesem Abschnitt: Wolfram Wette, Bilder der Wehrmacht in der Bundeswehr, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 2/98, S. 186 ff.; Detlef Bald, Militär und Gesellschaft 1945-1990, Die Bundeswehr der Bonner Republik, Baden-Baden 1994; Bettina Gaus, Kampf um demokratischen Geist, in: Die tageszeitung, 17./18.1. 1998. Zurück

19) In jüngster Zeit: Gerd R. Ueberschär, Hitlers militärische Elite, Darmstadt 1998. Zurück

20) 163. Sitzung des Deutschen Bundestages am 13.3.1997. Zurück

21) 175. Sitzung des Deutschen Bundestages, 15.5.1997. Zurück

22) s. Süddeutsche Zeitung vom 23.4.1998. Zurück

23) s. Süddeutsche Zeitung vom 25.4.1998. Zurück

24) Christian Millotat, Wo steht die Bundeswehr? in: Europäische Sicherheit 4/98, S.15. Zurück

25) s. Jakob Knab, Falsche Glorie. Das Traditionsverständnis der Bundeswehr, Berlin 1995. Siehe auch: Detlef Bald/Andreas Prüfert (Hrsg.) Vom Krieg zur Militärreform. Baden-Baden, 1997. Oder: Ulrich Sander, Szenen einer Nähe. Vom großen Rechts-Um bei der Bundeswehr. Köln 1998. Zurück

26) Deutscher Bundestag, Drucksache 13/10370. Zurück

27) vgl. Jens Mecklenburg (Hrsg.), Handbuch deutscher Rechtsextremismus, a.a.O., S. 336/337). Zurück

28) Bernd Wagner (Hrsg.), Handbuch Rechtsextremismus, Hamburg 1994, S. 63. Zurück

29) ebd., S. 64. Zurück

30) a.a.O., S. 338/339. Zurück

31) s.auch Bundestagsdrucksache 13/9354, Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Abgeordneten Ulla Jelpke (PDS). Zurück

32) Jens Mecklenburg, a.a.O., S. 341. Zurück

33) Prof. Hornung ist bekannt als Autor im MUT-Verlag, in der Jungen Freiheit, in criticon und Nation Europa; engagiert im Neu-Rechten Studienzentrum Weikersheim. Zurück

34) Kameraden 5/97, S. 1. Zurück

35) Alte Kameraden 3/97, S. 20-21. Zurück

36) Junge Freiheit 13/97, 21.3.97, S. 18. Zurück

37) Kameraden 5/97. Zurück

38) ebd. Zurück

39) Kameraden 5/97, S. 11-13 Zurück

40) siehe Kurt Hirsch, Rechts von der Union, München 1989, S. 245 ff. Zurück

41) vgl. Richard Stöss, Die extreme Rechte in der Bundesrepublik, Opladen 1989, S. 129. Zurück

42) So schreibt in SiV 3/98 der REP-Funktionär Björn Clemens, auch Autor in der Jungen Freiheit und den Burschenschaftlichen Blättern: Die Wehrmachtsausstellung sei Teil einer Kampagne gegen die Bundeswehr. „Vielmehr muß man in Rechnung stellen, daß die Bundeswehr ein Ort ist, an dem gemeinschaftsbezogene Werte, Begriffe wie Pflicht- und Verantwortungsbewußtsein, Kameradschaft und Patriotismus, also all das, was Linke und Liberalisten hassen wie der Teufel das Weihwasser, einen festen Platz haben. Vielleicht ist die Bundeswehr der letzte Ort, an dem diese Werte gepflegt werden Zurück

43) SiV 3/98, S. 63. Zurück

44) ebd. Zurück

45) SiV 2/98, S. 46. Zurück

46) So in SiV 12/98 Generalleutnant a.D. Dr. Franz Uhle-Wettler, und der Bundesvorsitzende des VdS, Dr. Jürgen Schreiber. Die Brüskierung der Ritterkreuzträger schätzt Jürgen Schreiber als persönliches Zurückweichen des Ministers Rühe vor dem Druck „linker und extremlinker Gruppen“ ein (SiV 12/97, S. 295-97). Zurück

47) SiV 3/98, S. 65. Zurück

48) s. Stern vom 5.3.1998, S. 196-197. Zurück

49) Gerd Schultze-Rhonhof, Wozu noch tapfer sein? Gräfelfing 1997. Zurück

50) ebd., S. 161. Zurück

51) ebd. S. 199. Zurück

52) ebd. S. 199. Welche Blüten der Geschichtsrevisionismus des Generals treibt, zeigt seine Version des deutschen Einmarsches in Wien 1936. Nachdem er über die deutsch-österreichische Geschichte eingehender räsoniert hat, stellt er lapidar fest: Zurück

„Die Angliederung Österreichs im Jahre 1938 wäre zu ihrer Zeit also mit der deutschen Wiedervereinigung 1989 vergleichbar gewesen. Vgl. zu diesem Abschnitt: Manfred Messerschmidt, Vorwärtsverteidigung. Die „Denkschrift der Generäle“ für den Nürnberger Gerichtshof, in: Hannes Heer, Klaus Naumann (Hrsg.) Vernichtungskrieg, Verbrechen der Wehrmacht 1941-1944, Hamburg 1995.

53) ebd., S. 244. Zurück

54) ebd., S. 240. Zurück

55) Gerd Schultze-Rhonhof, Die Wehrmacht und der Kulturkampf, in: Die Welt, 30.03.1998 Zurück

56) ebd., S. 275. Zurück

57) ebd., S. 281. Zurück

58) WELT am Sonntag, 14.04.1996. Zurück

59) Thomas Kröter, Chef des Heeresamtes bringt Traditionspflege in Mißkredit, in: Der Tagesspiegel, 30.4./1.5.1998, S. 4. Zurück

60) Dr. Holger H. Mey, Herausforderungen im Erweiterten Aufgabenspektrum – Erfahrungen, Möglichkeiten und Grenzen, Vortrag am 17. Februar 1998. Dr. Mey ist Leiter des Instituts für Sicherheitsanalysen, das weitgehend aus Zuschüssen des BMVg. bestritten wird. Zurück

61) OTL Reinhard Herden, Die neuen Herausforderungen – Das Wesen künftiger Konflikte, in: Truppenpraxis/Wehrausbildung, Nr. 2 und 3/96. Siehe dazu auch: Brief von Zwerenz an Kanzler Kohl. Zurück

62) Es ist eben kein Zufall, wenn die CDU/CSU-Fraktion für die Anhörung zur Rehabilitierung der Wehrmnachtsdeserteure, auf Betreiben der Abgeordneten Norbert Geis und Rupert Scholz, die Geschichtsrevisionisten Alfred de Zayas und Franz W. Seidler und den erwähnten Vertreter der Soldatenverbände, Dr. Schreiber, einladen läßt. Zurück

63) Bundestagsdrucksache 13/10413. Zurück

64) s. Gessenharter/Fröchling, a.a.O. Zurück

Paul Schäfer ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bundestag und in der Redaktion von W&F.

Dem Militär den Boden entziehen!

Für eine FREIe HEIDe

Dem Militär den Boden entziehen!

von Mani Stenner, Annemarie Friedrich, Knut Krusewitz, Ulrich Görlitz

Gemeinsame Beilage der Zeitschriften: FriedensForum * graswurzelrevolution * W&F * in Zusammenarbeit mit der Stiftung brandung – werkstatt für politische Bildung in der Heinrich-Böll-Stiftung. Mit dieser Broschüre wollen die Redaktionen dreier Zeitschriften aus der Friedensbewegung das Beispiel Wittstock (noch) bekannter machen und zur Hilfe und zum Mittun auffordern.

freie heide

„Als wir 1945 nach Gadow kamen, stand noch dieser herrliche Wald. Ich erinnere mich noch an die sauberen und gepflegten Wege. Gadow war ein schönes Walddorf. Wir konnten alle Dörfer in kurzer Zeit erreichen, selbst nach Neuruppin war es nicht weit. Wir sind oft nach Wallitz oder Rägelin zum Tanzen gefahren.

Himmelfahrt Dings mit dem Fahrrad durch die Heide nach Boltenmühle und Bienenwalde. Damit verbinde ich schöne Erinnerungen. Mit meiner Mutter ging ich auch Blaubeeren pflücken. Sie wuchsen bis an die Weheberge. Auch Pilze haben wir viel gepflückt. Für kurze Zeit habe ich im Wald gearbeitet, in Dünamünde und Hammelstall. Dann kam das Aus für den Wald mit Raupenfraß und großen Bränden. 1950 fingen wir wieder an, den Wald aufzuforsten, aber leider nicht lange. Unsere schöne Heide wurde russischer Schießplatz.

Wir wünschen uns wieder so eine schöne Heide, wie früher.

aus den Erinnerungen von Rudolf Heiler, Gadow 1996 40 Jahre lang waren die Gemeinden im Oetzigen) Kreis Ostprigniz-Neuruppin durch den sowjetischen Schießplatz voneinander getrennt. Jetzt könnte die Wittstock-Ruppiner Heide eine Modellandschaft im Sinne der „Agenda 21″ von Rio werden, mit Windpark und „sanftem Tourismus“, wäre da nicht die Bundeswehr, die die Landschaft weiter zerbomben will, um Kampfeinsätze in aller Welt zu üben.

zum Anfang | Ganz Gallien?

Mani Stenner

Vielleicht hätte Verteidigungsminister Rühe bei den Versprechungen bleiben sollen, keine Militärstandorte der früheren Sowjetarmee in den neuen Bundesländern für die Bundeswehr zu übernehmen. Es ist nicht ausgeschlossen, daß er sich am zähen Widerstand der Bürgerinitiativen im Kreis Ostprignitz-Ruppin die Zähne ausbeißt – wenn wir alle noch ein bißchen helfen!

Dabei muß man mit unterdrücktem Zorn konzidieren, daß sich Rühe und die Bundesregierung bisher bei der politischen Durchsetzung der Erweiterung der Bundeswehraufträge hin zur militärischen Absicherung einer immer offener agierenden deutschen Machtpolitik nicht ungeschickt angestellt haben. Wir haben uns ja fast schon an deutsche Truppen bei allen möglichen Einsätzen im Ausland gewöhnt. Doch war es ein langer und in Salamitaktik geschickt angelegter Weg, der vom parteiüberpreifenden Konsens einer Beschränkung auf reine Landesverteidigung zu einer neuen Bundeswehr für interessengeleitete Einsätze in aller Welt bis zur Ausweitung des westlichen Militärbündnisses NATO auf das Gebiet des ehemaligen Ostblocks führt. Jetzt wird ungeniert das Recht des Stärkeren exekutiert. Friedensgruppen hatten vor diesen Weiterungen schon gewarnt, als über nach außen immer streng humanitär begründete Missionen der Bundeswehr (Sanitätssoldaten in Kambodscha – die „Engel von Phnom Pen“ -, Minensuchboote im Persischen Golf, der mißglückte Einsatz in Somalia und die verschiedenen Beteiligungen im ehemaligen Jugoslawien) dieser Weg eingeleitet wurde. Jetzt ist es so weit, daß gar ein Teil der Bündnisgrünen diesen Weg in die Sackgasse militärischer Machtpolitik mit einem eigenen Antragsentwurf pro NATO-Osterweiterung absegnet.

Aber noch ist nicht ganz Gallien vom Imperium besiegt. Gerade in den neuen Bundesländern gibt es weniger Lethargie und Resignation vor der Arroganz der Macht, als sich Rühe und die Bundeswehrstrategen das vorgestellt haben. Menschen, die im Kalten Krieg unter massiver sowjetischer Militärpräsenz viel aushalten mußten, wollen sich jetzt von der Bundeswehr nicht ähnlichen Bombenabwurfs-, Truppenübungs- und Tiefflugterror gefallen lassen. Sie wollen ihre Heimat aufbauen und vor Zerstörung bewahren. Sie handeln nicht nach dem St. Florians-Prinzip, sondern sie protestieren auch dagegen, wozu in ihrer Heimat Krieg geübt werden soll. Sie haben dabei ähnliche Probleme wie die aktiven Friedensgruppen überall, zu viel Arbeit für zuwenig Aktive, ein scheinbar übermächtiger Gegner, massive Geldsorgen und die stete Mühsal, politisch, insbesondere durch Verankerung in der öffentlichen Meinung in der Region, Oberwasser zu behalten.

Das Bombodrom Wittstocker Heide steht nicht nur für regionale Umwelt- und Entwicklungszerstörung, sondern ist eindringliches Beispiel für die Vorbereitungen und Übungen der BW-Luftwaffe für künftige out-of-area-Kampfeinsätze. Der Widerstand an den „Stationierungsorten“, wo die offensive Orientierung am sichtbarsten ist, ist für alle in der Friedensbewegung Engagierten von höchster Bedeutung. Es wäre wirklich nicht nur symbolisch, wenn es uns in der FREIen HEIDe gelänge, dem Militär den Boden zu entziehen.

zum Anfang | Freie Heide im Überblick: Ein Bombenabwurfplatz für die Bundeswehr

von Komitee für Grundrechte und Demokratie

Wir sind von lauter Freunden umzingelt“ und eine Bedrohung für das Staatsterritorium der Bundesrepublik ist nicht in Sicht – so heißt es einmütig in allen Bedrohungsanalysen bis hin zum Minister der Verteidigung. Dennoch will die Bundeswehr in der Region Ostprignitz-Ruppin – südlich der mecklenburgischen Seenplatte im Norden des Landes Brandenburg – einen 142qkm großen Übungsplatz für Bombenabwürfe einrichten. Die Bundeswehr will hier Tiefflieger-Angriffe üben, bei denen die Maschinen bis zu 30 m Tiefe herunterkommen, um ihre mitgeführten Bomben abzuwerfen oder Raketen abzuschießen. Für dieses sog. Bombodrom sind pro Jahr rund 3.000 Einsätze geplant. Ein Einsatz umfaßt etwa 12 einzelne Tiefsturzflüge. Es handelt sich also in Wirklichkeit um 36.000 Anflüge. Auf der Liste der Waffen, die auf dem neuen Manöverplatz eingesetzt werden sollen, stehen u.a.: Bomben, Lenkflugkörper, Raketen, Artilleriewaffen, Bordkanonen, Maschinengewehre, Panzer-Abwehrwaffen, Handgranaten. Der Kerosinverbrauch der Kampfflugzeuge kostet pro Tag 80.000,- DM. Wochentags soll tags und nachts geschossen werden, in Ausnahmefällen sogar an Wochenenden. Den Terror, den diese Tiefflugübungen auf die anwohnende Bevölkerung ausüben werden, kann man sich kaum ausmalen. Langfristige und schwerwiegende gesundheitliche Schädigungen sind vorprogrammiert. Die unerträgliche Lärmbelästigung durch Tiefflüge kann zu Kreislaufproblemen, Angstzuständen, Hörstürzen u.a.m. führen. 6.000 Menschen wohnen unmittelbar in den Dörfern am Rand des Bombodroms, etwa 30.000 in den Städten rundum.

40 Jahre Kriegsübungs-Terror durch die Rote Armee

Die betroffene Bevölkerung rund um das Bombodrom ist gebeutelt genug. Nach dem 2. Weltkrieg hatte die Rote Armee dieses Gelände besetzt, die Gemeinden und Bauern enteignet und über 40 Jahre lang Krieg geübt. Eines der größten zusammenhängenden Waldgebiete Deutschlands wurde zu einer zerbombten und ausgebrannten Region. Die Bürgerinnen und Bürger in den anliegenden Ortschaften wurden über diese ganze Zeit mit Schlachtenlärm terrorisiert. Immer wieder kam es zu Unfällen, wie z.B. zu Bombeneinschlägen auf Objekte, die außerhalb des Platzes gelegen sind. Zudem ist das Gelände ökologisch tiefgreifend geschädigt, der Grundwasserspiegel wegen des zerstörten Waldes abgesunken.

Widerstand der Bürgerinitiative FREIe HEIDe

Nach Bekanntwerden der Pläne der Bundeswehr gründete sich vor Ort – rund um das Bombodrom – eine Bürgerinitiative (BI) FREIe HEIDe. Am 15.08.1992 fand der erste große Protestmarsch mit rund 4.500 Personen statt – für diese gering besiedelte Region eine sehr hohe Beteiligung. Seitdem kämpft die BI gegen die erneute militärische Nutzung des Geländes und streitet für eine zivile Umwidmung. An den 40 Protestwanderungen durch das Gelände, die bis Ende 1996 stattfanden, haben rund 48.000 Menschen teilgenommen. In den Orten rings um das Gelände wurden Mahnsäulen errichtet. Eine umfassende Ausstellung dokumentiert den Protest der Bürgerinnen. 40.000 Unterschriften gegen das Bombodrom wurden dem Verteidigungsministerium übergeben. Bei der Landesregierung Brandenburg wurde Solidarität mit den anwohnenden Bürgerinnen und Bürgern eingefordert. 1996 fand der bundesweit größte Ostermarsch in der FRElen HEIDe statt.

Ökologische Alternativen werden verhindert

Die Region eignet sich ideal, um z.B. für einen sanften Tourismus genutzt zu werden, auf dem Platz ließen sich ökologische Modellprojekte einrichten. Der Umweltforscher Knut Krusewitz, der verschiedene Projektstudien zu dieser Region erstellt hat, spricht von der Möglichkeit, hier ein Biosphären-Reservat als Beispiel einer umwelt- und sozialverträglichen Regionalentwicklung aufzubauen. Gemäß der UN-Erklärung von Rio (1992) haben die Menschen ein Recht auf ökologische Entwicklung. Ein Kriegsübungsgelände ist mit einer solchen Entwicklungsperspektive nicht vereinbar.

Angst vor Arbeitslosigkeit soll Widerstand ersticken

Die Bundeswehr versucht in letzter Zeit verstärkt, das Arbeitsplatz-Argument in die Waagschale zu werfen und die Menschen der Region damit zu ködern. Wittstock soll eine Garnisonsstadt werden. Dadurch würden angeblich viele Arbeitsplätze geschaffen. In einer Region mit rund 23 % Arbeitslosigkeit ein verlockendes Angebot. Für die ersten 30 Arbeitsplätze bei der Bundeswehr bewarben sich 700 Personen. Die Bundeswehr stellte etwa aus jedem der umliegenden Dörfer einen Bewerber ein, um die ersten Spaltpilze in die Familien der Dörfer zu tragen. Es gibt sogar eine „Initiative Pro Bundeswehr“, die sich die Argumente der Bundeswehr zu eigen gemacht hat und sich für das Bombodrom einsetzt. Vor allem in Wittstock ist der Widerstand zu einem Teil aufgegeben worden. Das Arbeitsplatzargument ist jedoch nicht stichhaltig. Eine alternative ökologische Nutzung des riesigen Geländes, die Wiederaufforstung und die Umgestaltung der Gesamtregion zu einem touristisch attraktiven Erholungsgebiet würden langfristig viel mehr Arbeitsplätze schaffen und den ganzen Landkreis Ostprignitz-Ruppin wirtschaftlich wiederbeleben. Einige der Wirtschaftsbetriebe der Region haben dies auch erkannt und sich – neben der BI FREIe HEIDe – zur „Initiative Pro Heide“ zusammengeschlossen. Sie setzen sich vor allem aus ökonomischen Motiven für die zivile Nutzung des Geländes ein, die jedoch durch das drohende Bombodrom bislang verhindert wird.

Bombodrom vor Gericht

Neben Protestmärschen und Öffentlichkeitsarbeit hat die BI auch eine gerichtliche Klage gegen die Bundesrepublik Deutschland eingeleitet. 16 Ortsgemeinden, Kirchengemeinden und Privatpersonen haben sich zusammengetan und mit dem Ziel geklagt, daß der Bundeswehr die weitere Nutzung des Platzes untersagt werde. Ferner wird gerügt, daß bestehende Vorschriften zur Einrichtung von Manövergebieten nicht eingehalten wurden und der Einigungsvertrag verletzt worden sei. Ende August 1996 gab das Verwaltungsgericht Potsdam den Klägern weitgehend recht. Im Urteil wird der Bundeswehr auferlegt, vor der Platznutzung ein Planfeststellungsverfahren durchzuführen, bei dem das Landbeschaffungs- und Schutzbereichsgesetz zu berücksichtigen sind. Die Betroffenen können nach diesen Gesetzen Einsprüche erheben, die alle zu prüfen sind. Abwägungen müssen getroffen werden usw. All diese Erfordernisse hatte die Bundeswehr zu umgehen versucht, indem sie sich die Enteignung durch die Rote Armee selbst zu eigen machte.

Gegen das Urteil des Verwaltungsgerichtes Potsdam hat das Verteidigungsministerium Berufung eingelegt. Es will die eigenen Ansprüche gegen die Gesetze und gegen etwaige Einsprüche der Bevölkerung selbstherrlich durchsetzen. Auch die Klägerinnen selbst haben Berufung eingelegt, da das Gericht ihrem weitergehenden Antrag auf generelle Untersagung einer Nutzung seitens der Bundeswehr nicht gefolgt ist. Deshalb sind schon in der 1. Instanz für die BI hohe Prozeßkosten entstanden. Für die 2. Instanz benötigt die BI jetzt 80.000,- DM, die durch Spenden eingeworben werden müssen – hier ist ein erster konkreter Akt der Solidarität nötig!

Tiefflieger und Bombenabwürfe – wofür?

Welche Politik steht hinter den Plänen der Bundeswehr, diesen riesigen neuen und zusätzlichen Bombenabwurfplatz einzurichten? Für Zwecke der Landesverteidigung sind diese Übungen nicht nötig, da es keine Bedrohung mehr gibt. Der Warschauer Pakt ist aufgelöst. Allerdings hat sich die NATO nicht aufgelöst. Sie will nun zur Interventionsmacht außerhalb ihrer Grenzen werden. Statt in Richtung Osten geht die Orientierung der NATO und damit auch der Bundeswehr nun in Richtung Süden. Die neuen Konfliktszenarien konstruieren einen Spannungsbogen von Marokko bis Kasachstan. Sicherheitspolitik bedeutet gemäß den offiziellen neuen Dokumenten von Bundeswehr und NATO nicht mehr Landesverteidigung, sondern Bekämpfung von Krisen und Konflikten, die eine Bedrohung für die Interessen der reichen Länder darstellen könnten: Sicherung von Rohstoffen, Märkten und Wirtschaftswegen weltweit sowie letztlich auch die Verteidigung des Wohlstandes der sog. 1. gegen die sog. 3. Welt. Deshalb üben die Armeen der NATO nicht mehr die Bekämpfung potentieller Feinde an den Landesgrenzen, sondern sie üben Kriegseinsätze auf möglichen Kriegsschauplätzen fern der NATO-Länder. Dies ist der Kern der neuen „out-of-area“-Orientierung (außerhalb des Gebietes der vom NATO-Vertrag umfaßten Länder) von NATO und Bundeswehr.

Deshalb baut die Bundeswehr neue Krisenreaktionskräfte mit einem Umfang von ca. 50.000 Mann auf, die als Eliteeinheiten mit modernster Bewaffnung für solche Kriegsszenarien ausgebildet werden. Die Bundeswehr fordert also Übungsplätze für neue Formen der Kriegsführung – wie wir sie erstmals im Krieg der Alliierten am Golf 1991 erlebt haben. Damals war die Bundesrepublik nur mit einem Scheck von 18 Milliarden DM beteiligt. Inzwischen hat das Bundesverfassungsgericht (1994) die Verfassung uminterpretiert. Während früher bis hin zu Kanzler Kohl Einigkeit darüber bestand, daß Bundeswehreinsätze, die nicht der Verteidigung dienen, vom Grundgesetz verboten sind, ist diese Verfassungsnorm nun auf den Kopf gestellt worden. Die neuen Strategien von NATO und Bundeswehr, denen gemäß nun Kriege in aller Welt mit Bundeswehrbeteiligung möglich sind, wurden nicht einmal im Parlament, geschweige denn in der Bevölkerung breit vorgestellt und diskutiert. Dies ist ein beängstigender Beitrag der Militärpolitik zur Entdemokratisierung der Bundesrepublik.

Wir brauchen eine andere Politik: Frieden durch Gcrechtigkcit

Die Hoffnung auf eine friedlichere und gerechtere Welt nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes ist schnell verflogen. Wir sehen heute: die Schere zwischen Reich und Arm geht immer weiter auseinander, sowohl in unserem Land, erst recht aber weltweit. Die 358 reichsten Personen der Welt besitzen heute genausoviel wie die ärmsten 459b der Menschheit (also etwa 2,3 Milliarden Menschen), wie der neueste Bericht der UN-Entwicklungsbehörde mitteilt. Hunger und Elend sind nach wie vor weltweit verbreitet. 800 Millionen Menschen haben nicht genug zu essen; 500 Millionen sind chronisch unterernährt.

Immer deutlicher spüren auch wir, wie der Sozialstaat Schritt für Schritt abgebaut wird. Die Zahl der Arbeitslosen, Sozialhilfeempfänger und Ausgegrenzten nimmt zu – gleichzeitig steigen die Gewinne der Unternehmen immens. Der innergesellschaftlichen Spaltung in unserem Land entspricht die Nord-Süd-Spaltung im Weltmaßstab. Was bedeutet es, wenn die reichen Länder diese Spaltung nicht nur wirtschaftlich, sondern auch militärisch absichern wollen? Wessen Reichtum soll die Bundeswehr in aller Welt verteidigen? Etwa den der 358 Multimilliardäre? Wir leben in weltwirtschaftlichen Strukturen, die so sehr vom Egoismus der Reichen bestimmt sind, daß die Menschenrechte auf der Strecke bleiben. Statt diese Herrschaftsstrukturen nun noch militärisch abzusichern, sollten wir lieber alle unsere Kräfte auf die Frage konzentrieren, wie wir zu gerechterer Verteilung von Gütern, Lasten und Chancen beitragen können. Genügend Ansatzpunkte sind vorhanden:

– Wirtschaftsstrukturen müssen demokratisiert werden;

– zwischen Nord und Süd muß es einen Ausgleich geben, beginnend mit einem umfassenden Schuldenerlaß;

– Rüstungsexporte sind zu beenden;

– der Verschleuderung der Ressourcen künftiger Generationen durch immer schnellere Produktion und Konsumption muß durch eine neue Wirtschaftsweise Einhalt geboten werden;

– durch Projekte und Partnerschaffen zwischen Nord und Süd können Umorientierungen beispielhaft praktiziert werden. Nur durch Gerechtigkeit kann wirklicher Frieden geschaffen werden!

Konflikte gewaltfrei bearbeiten

Auch nach einer Veränderung der Weltwirtschaftsordnung gäbe es immer noch Konflikte. Daß sich Konflikte jedoch nicht mit kriegerischer Gewalt lösen lassen, sondern auf diese Weise immer erneut Gewaltstrukturen etabliert werden, können wir hundertfach aus der Geschichte lernen. Sollen wir trotzdem immer weiter auf solche (selbst)mörderische militärische Strategien und Mittel setzen? Friedensbewegung und Friedensforschung haben seit langem Konzepte der zivilen Konfliktbearbeitung und des gewaltfreien Widerstandes gegen Unrecht erarbeitet, die auch erfolgreich angewandt wurden. Das Konzept der zivilen Konfliktbearbeitung, das die Prävention, die Deeskalation und die Konfliktnachsorge umfaßt, kann in allen Phasen einer Krise angewandt werden. Nur machen sich die Staaten solche Konzepte nicht zu eigen, weil sich mit diesen Mitteln nicht die Ziele, die mit der Militärpolitik aktuell verfolgt werden, verwirklichen lassen. Deshalb muß mit Elementen ziviler Konfliktbearbeitung und humanitärer Hilfe von unten begonnen werden, wie es etwa das Komitee für Grundrechte und Demokratie – neben vielen anderen Friedensgruppen – ansatzweise während des Krieges im ehemaligen Jugoslawien getan hat – und nachsorgend noch tut. Hier einige Beispiele:

– Partnerschaften mit den Kräften, die sich für Frieden engagieren;

– Unterstützung von Medien, die gegen den Haß arbeiten und Feindbilddenken unterlaufen;

– Unterstützung von und Werbung für Kriegsdienstverweigerung und Desertion;

– humanitäre und medizinische Hilfe für die Opfer des Krieges;

– Hilfe für Flüchtlinge;

– Gewinnen der Bevölkerung für Alternativen und für Versöhnung;

– Überzeugungsarbeit durch mediale Öffentlichkeitsinterventionen

Dabei muß es das Ziel sein, auch Kirchen, Gewerkschaften, Kommunen, Länder, Staatsregierungen und internationale Institutionen für eine Politik der zivilen Konfliktbearbeitung zu gewinnen.

Wir brauchen kein Bombodrom – Widerstand ist notwendig

Das Bombodrom in der Region Ostprignitz-Ruppin geht nicht nur die dort wohnenden Bürgerinnen und Bürger etwas an, sondern alle Bundesbürgerinnen und -bürger. Wie in einem Brennglas zeigt sich hier die Umorientierung der Bundeswehr zu einer modernen Interventionsarmee gemäß dem out-of-area-Konzept der NATO. Dieser Politik gilt es sich zu verweigern. Herrschende Politik will auf dem Bombodrom üben, wie künftig tödliche Bomben noch genauer ihr Ziel treffen können – stattdessen wollen wir lernen, wie das Brot zu den Hungernden kommt, d.h. wie eine Weltwirtschaft dafür Sorge trägt, daß die Mittel zum Leben gerecht produziert und verteilt werden. Nur so können wir verhindern, daß eines Tages auch Deutschland wieder zum Kriegsschauplatz wird.

zum Anfang | „Mord auf Raten“

von Annemarie Friedrich

Was das Leben neben dem russischen Schießplatz 40 Jahre lang für die AnwohnerInnen bedeutete und den Zorn der Menschen in der FREIen HEIDe gegen die neue Okkupation macht Annemarie Friedrich, „die Großmutter der FREIen HEIDe“' mit oft drastischen Worten deutlich. Wir zitieren aus ihrem Bericht beim Friedensratschlag vom Dezember 1996 in Kassel:

„Hier in dieser Region geht es um einen Mord auf Raten, nämlich um ein Aus nach dem anderen: Aus mit dem Segelflug in Berlinchen, mit Musikakademie, Schloßkonzerten und Kammeropern in Rheinsberg und dem Kulturzentrum Temnitzkirche Netzeband, mit der Reha-Klinik in Dorf Zechlin (ein Therapiezentrum mit Weltgeltung!), mit Hotelbauten, Feriendörfern, Wasser- und Sporteinrichtungen, mit der Öko-Ranch Zempow durch Verseuchung von oben, um nur einiges zu nennen. Investoren springen schon jetzt ab. Die Jugend muß abwandern.

Nur wenige Flugsekunden liegt das Bombodrom entfernt von 46 Anrainerdörfern und den Städten Rheinsberg, Wittstock, Neuruppin und Kyritz, nur wenige Flugminuten von Berlin, Potsdam und Brandenburg.

Zeitlich vor der Errichtung des Bombodroms war dieser Waldabschnitt am 1. Mai 1945 der Platz eines grauenvollen Massakers an Flüchtlingen, überwiegend Frauen, Kinder und alte Leute mit ihren Pferdewagen und ihren letzten Habseligkeiten. Noch leben Zeugen, die damals die Menschen- und zerfetzten Pferdeleiber eingruben. 40 Jahre lang flogen dort dann die Skelette bei den Bombeneinschlägen in die Luft. Und genau dort ist das Europäische Großbombodrom von dem „Christen“ Rühe geplant.

Und die Krone des Wahnsinns soll gegebenenfalls noch ein Atommüllager im Anrainerdorf Netzeband werden. Schlußfolgerung: Für alles, was in Bonn beschlossen wird, sind wir der Dreckabladeplatz. Eine gekonnte Konkurrenzausschaltung dieses schönen Landes, einst besonders geschätzt von Fontane, Knobelsdorff, Schinkel, Friedrich II, Tucholsky! Also immer drüber, auch über das ausgeschaltete Atomkraftwerk Rheinsberg, in dem nach wie vor strahlendes Material in ungeschützten Kellern lagert, immer drüber mit Jagdbombern, mit giftigem Kerosin-, Benzol- und Kohlenwasserstoffausstoß. …“

Annemarie Friedrich ist Vorstandsmitglied der BI FREIe HEIDe und Senioren des Kreistags Ostprignitz-Ruppin

zum Anfang | Der Schieß- und Bombenabwurfplatz Wittstock
Ökologische, militärchemische und nutzungsalternative Aspekte

von Knut Krusewitz

1. Ökologische Aspekte

Das von der Bundeswehr 1994 widerrechtlich besetzte rund 14000 Hektar große ehemalige sowjetische Militärgebiet liegt in der Wittstock-Ruppiner Heide, einer Teillandschaft der Nordbrandenburgischen Sandflächen und Lehmplatten.

Naturräumlich wird das Areal im Norden durch die kiesige Endmoräne der Fürstenberger Platte geprägt, im Zentrum herrscht ein großer, flachwelliger Sander vor, und der südliche Teil wird durch die Ruppiner Grundmoränenplatte mit ihren leicht welligen Talsandflächen gebildet.

In diesem Gebiet herrschten ursprünglich Laubmischwaldgesellschaften als natürliche Vegetationsform vor.

Die heutige Vegetation ist Resultat einer über Jahrzehnte andauernden militärischen Nutzung, zunächst als Panzer- und Artillerieschießplatz, später zusätzlich als Luft-Bodenschießgebiet für die Luftwaffe. Wegen der Besonderheiten der militärischen Landnutzung – aus Sicherheitsgründen wurden bestimmte Bereiche des Kriegsübungsgebietes entweder gar nicht oder nur extensiv genutzt – stellt sich heute der ökologische Befund widersprüchlich dar.

So entwickelten sich durch den Militärbetrieb nicht nur große Flugsandflächen, Aufschüttungen und Bodenumlagerungen, sondern in dem von Wald völlig entblößten Zentrum auch großflächige Calluna vulgaris- und Sarothanmus scoparius – Heiden, deren landeskulturelle Bedeutung für Brandenburg beachtlich ist.

Professionelle Naturschützer beurteilen den Naturschutzwert dieses vormaligen Kriegsübungsgebietes in einer „Biotopkartierung“ zusammenfassend so:

Dies Gebiet hat „einen hohen ökologischen Wert, denn es birgt in sich eine Vielzahl wertvoller Biotope, die durch die herrschenden Bedingungen eng miteinander verbunden sind. Sie bieten einer Vielzahl von Arten Schutz, Nahrung und Lebensraum. Auch die Großflächigkeit und Nährstoffarmut des Gebietes sowie die sich daraus ergebende Bedeutung als Versickerungsraum zur Bildung hochwertigen Grundwassers sind wertbestimmend. Darüber hinaus wird der Wert des Gebietes durch das Vorkommen einer Anzahl geschützter Tiere, Pflanzen und Pflanzengesellschaften unterstrichen.“ (Institut für Ökologie, 1993, S. 34)

In diese Biotopanalyse wurden allerdings die militärisch verursachten Altlasten nicht einbezogen. Ein schwerwiegender Fehler, denn dies ehemalige Militärgelände ist erheblich kontaminiert, wodurch sein ökologischer Wert enorm geschmälert wird. Dieser Wertverlust ließe sich allenfalls durch ein aufwendiges Sanierungs- und Rekultivierungsprogramm ausgleichen.

2. Militärchemische Aspekte

Militärchemische Altlasten finden sich auf allen Truppenübungs-, Schieß- und Bombenabwurfplätzen. In einem regierungsamtlichen Altlastenbericht über das frühere ostprignitzer Militärgelände heißt es dazu:

„Ausgehend von einer sehr intensiven Munitionsbelastung und militärischen Nutzung seit mehr als vierzig Jahren ist es erforderlich, ca. 3/4 der Gesamtfläche einer Reihe spezifischer Untersuchungen des Bodens und des Grundwassers auf Folgen des Militärbetriebes zu unterziehen (z.B. Sprengstoffe und Sprengstoffmetaboliten, Schwermetalle wie Hg, Pb, Cu, Zn, Cd). In diese Untersuchungen sollten sowohl Boden- als auch Grundwasseranalysen einbezogen werden.“ (IABG, 1993, S. 56)

Was sind militärchemische Altlasten und welche Bedeutung haben sie für unser Thema?

Militärchemische Altlasten resultieren aus Inhaltsstoffen chemischer Waffen und konventioneller Kampfmittel. In unserem Fall sind allerdings nicht „chemische“, sondern „konventionelle Kampfstoffe“ von Interesse. Es handelt sich dabei um Treib-, Spreng- und Zündstoffe, um Brandmittel sowie um Nebel- und Rauchmittel. Bei ihren Rückständen – beispielhaft TNT – handelt es sich um umfangreiche, weit verzweigte und toxikologisch oft mehrfach stark wirksame chemische Schadstoffgruppen.

Militärchemische Stoffe besitzen umwelt- und gesundheitsgefährdende Eigenschaften, weil sie „nach speziellen taktischen Erfordernissen des Militärs zur gezielten Schädigung oder Zerstörung des menschlichen Organismus und der gebauten oder natürlichen Umwelt entwickelt wurden.“ (SRU, 1995, S. 171)

Militärchemische Altlasten sind für unser Thema aus umwelttoxikologischen, sanierungsplanerischen, regionalpolitischen und nicht zuletzt aus pazifistischen Gründen bedeutsam. (Krusewitz, 1996 a)

Der regierungsnahe Rat von Sachverständigen für Umweltfragen (SRU) argumentiert, daß militärchemische Stoffe in der Regel „über die akut schädigende Wirkung hinaus in mehrfacher Hinsicht chronisch toxische sowie umwelttoxische Eigenschaften (Kanzerogenität, Mutagenität, Teratogenität) aufweisen“ und daß ihre „Abbauprodukte oft gleich toxisch oder sogar stärker toxisch sind als die Ausgangs- beziehungsweise Zielsubstanzen (Toxizitätszunahme infolge der Abbauvorgänge).“

Zudem handle es sich bei ihnen um naturfremde organische Stoffe. Ihr naturfremder Charakter „äußert sich in begrenzter Bioabbaubarkeit oder als Hemmstoff beim Bioabbau, was das jahrzehntelange Verbleiben dieser Stoffe einschließlich ihrer Metaboliten in Boden und Untergrund mitbedingt.“

Deshalb stellte der Umweltrat fest: „All diese Eigenschaften sind sanierungsrelevant.“ (SRU, 1995, S. 174)

Die Forderung nach Detektion und Sanierung der militärchemischen Altlasten auf dem ostprignitzer Militärareal ist auch dann unaufgebbar, wenn Sanierungsziele von dessen zukünftiger Nutzung abhängig gemacht werden. Darauf komme ich gleich zurück.

Denn für diese frühere Militärlandschaft gilt allemal, was MitarbeiterInnen des Fraunhofer-Instituts für Chemische Technologie (ICT) kürzlich für vergleichbare Flächen ermittelten:

„TNT ist in hohem Maße giftig, krebserzeugend und mutagen, verändert also die Erbsubstanz. Gelände ehemaliger Truppenübungsplätze und Sprengstoffbetriebe, die nun brachliegen, sind oft so stark damit kontaminiert, daß sie landwirtschaftlich nicht mehr zu nutzen sind.“ (Bunte u.a., 1996, S. 102)

Diese Eigenschaften sind aber vor allem relevant für die Gesundheit und das Wohlbefinden der Menschen in der Ostprignitz. Denn die Beurteilung der von militärchemischen Altlasten ausgehenden Umwelt- und Gesundheitsgefährdung hängt nach Auffassung selbst der Bundesregierung weniger von der in den Böden enthaltenen Schadstofflast ab, sondern wesentlich von der Exposition über die fünf wichtigsten Gefährdungspfade, also Luft, Oberflächen- und Grundwasser, Boden sowie Nahrungsmittelkette. (Deutscher Bundestag, 1990, S. 23)

Über solche toxikologischen Wirkungspfade in der Region wissen wir noch immer zu wenig.

3. Konversionsaspekte

Die Leitlinien für Konversion im Land Brandenburg von 1992 erklären dies Programm zu einer „gesamtgesellschaftliche(n) Gestaltungsaufgabe im Schnittpunkt von Friedens-, Abrüstungs-, Wirtschafts-, Umwelt-, Regional-, Arbeitsmarkt-, Bildungs- und Kulturpolitik“, die nur im „Zusammenwirken von EG, Bund, Ländern und Gemeinden bewältigt werden“ könne. Diese definitorische Bestimmung verweist, wenngleich abstrakt, auf die Vielschichtigkeit der praktischen Probleme einer Konversion des ostprignitzer Kriegsübungsgebietes. Erschwerend kommt hinzu, daß dies Gebiet streitig ist.

Über zivile Nutzungsalternativen entscheiden vorrangig die Anrainergemeinden in Übereinstimmung mit landesplanerischen Vorgaben. Sie können aufgrund ihrer Planungshoheit bereits heute alternative Zweckbestimmungen der Militärfläche durch ihre jeweilige Bauleitplanung festlegen.

Von erheblicher Bedeutung für diese Gemeinden sind daher Informationen einerseits über Militäraltlasten, Sanierungsbedarf und Landbeschaffungsinteressen der Bundeswehr sowie anderseits über Möglichkeiten der geordneten kommunalen Entwicklung, Zielrichtung der nachmilitärischen Raumnutzungsstruktur, Finanzierungs- und Fördermittel.

Verbindliches Ziel der Konversion ist die Wiederherstellung der Kulturlandschaft Ostprignitz. Danach erst kann das zivile Potential dieser Region entwickelt werden, schaffen intakte Natur, gepflegte Landschaften und Wälder die Grundlage für funktionierende Dörfer, den Erhalt und die Schaffung sinnvoller Arbeitsplätze, den Ausbau umweltgerechter Formen der regionalen Erzeugung, Verarbeitung und Vermarktung.

Konversionsplanerisch sind dabei von den Gemeinden sowohl die Fragen des Bedarfs, des geeigneten Standortes, des Umfangs der nichtmilitärischen Bodennutzung als auch die Grundzüge der Erschließung und Standortgestaltung zu lösen. Dieser Entscheidungsprozeß bedarf eines Planwerkes und eines geregelten Planfeststellungsverfahrens, der „Flächennutzungsplanung“. (Hinzen u.a., 1995)

Die ostprignitzer Anrainergemeinden können aus unschwer erkennbaren Gründen weder die Altlastensanierung noch den gesamten Konversionsprozeß ohne erhebliche Hilfen von Kreis, Land und EU beginnen. Aber bereits hier und heute müssen wir verhindern, daß der Konversionsprozeß in eine falsche Richtung startet.

Aus gegebenem Anlaß befürchten wir nämlich, daß militärische Folgeprobleme in strukturschwachen ländlichen Regionen wie der Ostprignitz „passiv saniert“ werden sollen. So behaupten der Rat von Sachverständigen für Umweltfragen (SRU), der Deutsche Rat für Landespflege, aber auch der Bund Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) neuerdings, in strukturschwachen Räumen bestünde „nur ein geringes wirtschaftliches Nutzungsinteresse“ an freiwerdenden militärischen Flächen, weshalb sie „im allgemeinen nicht für Zwecke der Siedlung oder Wirtschaft“ erschließbar seien. Aus diesem Grund sehen sie beispielsweise „Truppenübungsplätze als bedeutende Potentiale für den Naturschutz“ an.

Gemeinden, die aus finanziellen Gründen solche Militärareale nicht „verwerten“ können, sollen sie als „Vorrangflächen für den Naturschutz“ sichern. (SRU, 1995, S. 197) Ohne finanzielle Ausgleichszahlung, versteht sich.

Diese Empfehlung führt nicht zufällig „zu der Überlegung, von Altlasten betroffene Flächen“ wie das ostprignitzer Kriegsübungsgebiet „Naturschutzzwecken zu widmen“, und zwar mit dem erklärten Ziel, „die Altlasten nicht (!) zu sanieren.“ (SRU, 1995, S. 73) Sie sollen also passiv saniert werden.

Sollten Anrainergemeinden, Kreis und Land sich für diese Nutzungsalternative entscheiden, dann werden die brisanten militärchemischen Altlasten auch dann nicht saniert, wenn die Bundeswehr das Gelände förmlich freigibt. Es ist nämlich absehbar, daß mangelnde öffentliche und private Nachfrage nach großen Grundstücken, kommunale Finanzmittelknappheit sowie ungeklärte militärische Altlastenprobleme sie zwingen werden, die Option „Sanierung durch Naturschutz“ zu akzeptieren.

Angesichts der skizzierten regionalen Konversionsanforderungen büßen tradierte friedenspolitische Empfehlungen und Kooperationsformen ihre Überzeugungskraft ein. Die Friedensbewegung steht indes nicht nur in der Ostprignitz vor der schwierigen Aufgabe, rasch ein aufklärerisches Verständnis von sozialgerechter, naturverträglicher und nachhaltiger regionaler Friedensarbeit zu entwickeln, das sie befähigen würde, neue friedenspolitische Bündnisse zu stiften sowie neue pazifistische Kooperationsformen zu erproben.

Schließlich „herrscht“, wenn das Militär eine Region verlassen hat, nicht Frieden. (Krusewitz, 1996 b, S. 3-24) Deshalb ist es so verdammt schwer, die Frage nach der „pazifistischen Alternative“ in der Ostprignitz empirisch gehaltvoll zu beantworten.

Literatur

Altner, Günter u.a., Hrsg., Jahrbuch Ökologie 1993, München 1992
Bunte, Gudrun u.a., Detektion von Explosivstoffen, in: Spektrum der Wissenschaft, Heft 8 (August) 1996
Deutscher Bundestag, 11. Wahlperiode, Drucksache 11/6972 vom 26. April
Hinzen, Hajo u.a., Umweltschutz in der Flächennutzungsplanung, Wiesbaden, Berlin 1995
IABG (Industrieanlagen-Betriebsgesellschaft), Ermittlung von Altlasten-Verdachtsflächen auf den Liegenschaften der Westgruppe der sowjetischen Streitkräfte (WGT): Ergebnisbericht Truppenübungsplatz Wittstock, unveröffentl. Bericht, Berlin 1993
Institut für Ökologie und Naturschutz, Biotopkartierung und Einschätzung des Naturschutzwertes militärischer Übungsgelände: Truppenübungsplatz Schweinrich/Gadow, unveröffentl. Bericht, Gosen 1993
Krusewitz, Knut (a), Warum ist militärchemische Altlastensanierung ein pazifistisches Thema? Der Hall des Truppenübungs- und Schießplatzes Wittstock, Weyhers 1996
Krusewitz, Knut (b), Rhöner Friedenswanderungen durchs UNESCO-Biosphärenreservat, in: Zeitschrift des Studienarchivs Arbeiterkultur und Ökologie Baunatal, Jg. 10, Juni 1996
SRU (Rat von Sachverständigen für Umwelttragen), Sondergutachten Altlasten II, Stuttgart 1995

zum Anfang | Gemeinden wehren sich

von Helmut Schönberg

Die Bundeswehr wird durch ihre Landnahme von den Menschen in der Wittstocker Heide nach den früheren Erfahrungen wie eine neue Besatzungsmacht erlebt. Vor Gericht gab es bisher nur einen Teilerfolg. Privatpersonen können demnach erst klagen, wenn Schäden durch den Bundeswehr-Übungsbetrieb real eintreten. Beim Planungsrecht der Gemeinden wird es eine neue Runde beim Oberverwaltungsgericht geben. Die Rechtskosten wurden bisher größtenteils den klagenden Bürgern und Gemeinden auferlegt. Die Situation aus Sicht der Gemeinden und den Zwischenstand im Rechtstreit vor den Verwaltungsgerichten beschreibt Helmut Schönberg, Bürgermeister der Gemeinde Schweinrich, bei einer Sitzung im Kreistag:

Die Schießplatzproblematik beschäftigt unsere Menschen nun schon seit 50 Jahren, und ein Ende ist noch nicht in Sicht. Als die sowjetische Besatzungsmacht mit der Einrichtung eines Schießplatzes begann, ahnten die Menschen dieser Region damals noch nicht, daß damit die Heide für sie auf lange Zeit abgeriegelt werden sollte.

Der Kalte Krieg und der beginnende Ost-West-Konflikt waren der Hintergrund für eine fortlaufende Landnahme durch die sowjetische Besatzungsmacht. In der Heide wurde für den Ernstfall geübt. Die Panzer zerwühlten den Boden und der Lärm der Artillerie und der Bomber, die tausendfach Bomben über das Zielgebiet der Heide entluden, bestimmte den Alltag. Zu Beginn der achtziger Jahre wurden, als Antwort auf die Stationierung von Pershing II Raketen in Westdeutschland, SS 20 Raketen mit Atomsprengköpfen in die Heide gebracht. Und wieder brauchten die sowjetischen Militärs mehr Platz. Jetzt wurden sogar weite Teile mit Stacheldraht abgesperrt.

Die Heide war über die Zeit längst zu einem militärischen Faktum im Ost-West-Konflikt geworden. Die Interessen der hier lebenden Menschen blieben dabei auf der Strecke. Das System erlaubte keine Fragen und keinen Widerstand. Erst mit der Auflösung des Warschauer Vertrages und der Beseitigung des Ost-West-Gegensatzes keimte bei den Menschen wieder die Hoffnung auf eine friedliche Heide. Mit dem Vertrag zum Abzug der GUS im Jahre 1990 war das Ende der militärischen Nutzung in Sichtweite gerückt. Spontan bildeten sich Initiativen für eine zivile Nachnutzung: „Rettet den Dranser See“ und „Zweckverband der Anliegergemeinden“.

So wurde das LSG um den Dranser See von Militärmüll entrümpelt, Militärstellungen eingeebnet, Badestellen angelegt und die Wege um den Schießplatz instand gesetzt. Die Gemeinde Schweinrich hat für Rekultivierungsarbeiten auf dem ehemaligen Schießplatz im Bereich des Dranser Sees in den Jahren 1990-1991 ca. 50.000 DM aufgebracht. Weiterhin waren 8 Bürger 2 Jahre lang in der ABM-Maßnahme „Dranser See“ tätig und weitere 10 Bürger ein Jahr in der ABM-Maßnahme „Schießplatzwege“. In diesen beiden Maßnahmen wurden Werte in Höhe von 2 Mill. DM geschaffen. Im Jahre 1992 waren diese Aktivitäten deutlich sichtbar geworden: Badestelle bei Griebsee, Wanderweg um den Dranser See, Instandsetzung der Wege zwischen Zempow, Dranse, Schweinrich, Zootzen und Gadow.

Auf Veranstaltungen wurde über die zivile Nachnutzung diskutiert und Nutzungskonzepte entwickelt – Vertreter der Bundeswehr, der GUS-Streitkräfte und der Landesregierung Brandenburg machten uns Mut, für eine zivile Nachnutzung zu wirken. Die Bundeswehr erklärte im Jahre 1991 schriftlich, daß grundsätzlich keine ehemaligen sowjetischen Liegenschaften übernommen werden. Die Ankündigung im Juni 1992, den Platz doch zu übernehmen, stoppte unseren Elan vehement.

Es entwickelte sich eine friedliche Protestkultur, die mit dazu beigetragen hat, daß die militärische Nutzung bislang verhindert werden konnte. Auf über fünfzig Protestveranstaltungen bekundeten ca. fünfzigtausend Bürger ihren Willen gegen eine militärische Nutzung. Bürger beiderseits des ehemaligen Schießplatzes begegneten sich wieder und wir lernten unsere schöne Umgebung auf den Wanderungen neu kennen. Es entstand ein regionales Wir-Gefühl, nach vierzigjähriger Trennung durch den russischen Übungsplatz hatten sich die Menschen wieder etwas zu sagen.

Der ehemalige Landkreis Wittstock reichte eine Klage gegen die militärische Nutzung beim Verwaltungsgericht Potsdam ein, die dann auf den späteren Landkreis OPR erweitert wurde. Weitere Gemeinden, eine Kirchengemeinde und Privatpersonen schlossen sich der Klage an. Obwohl das Verwaltungsgericht unsere Klage teilweise abgewiesen hat, bin ich dem Verwaltungsgericht für die deutlichen Aussagen dankbar. Durch das Verwaltungsgericht wurde für Recht erkannt: „Es wird festgestellt, daß für die militärische Nutzung des Truppenübungsplatzes Wittstock durch die Beklagte (Bundeswehr) zu militärischen Zwecken ein förmliches Planungsverfahren nach § 1 Abs. 2,3 des Landbeschaffungsgesetzes erforderlich ist. Im übrigen wird die Klage abgewiesen.“

In der Urteilsbegründung wurde weiter ausgeführt:

– Die Klägerin (Gemeinde Schweinrich) hat die maßgeblichen Grundlagen geschaffen, um eigenverantwortlich von ihrer Planungshoheit Gebrauch zu machen.

– Das Rechtsverhältnis ist streitig, weil Klägerin und Beklagte den vorliegenden Lebenssachverhalt in rechtlich relevanter Weise abweichend würdigen.

– Die Beklagte ist nämlich nicht berechtigt, derzeit das streitbefangene Gelände auf den Gemarkungsflächen der Klägerin als Truppenübungsplatz zu militärischen Zwecken zu nutzen.

– Wegen der Nähe des unbeplanten Innenbereiches der Klägerin zum streitbefangenen Gelände sind aufgrund des Aufstellungsbeschlusses über den Flächennutzungsplan Standortzuweisungen im Rahmen der Bauleitplanung der Klägerin denkbar, die mit der Nutzung des streitbefangenen Geländes als Truppenübungsplatz unvereinbar sind.

– Das streitbefangene Gelände ist zu militärischen Zwecken nicht (mehr) gewidmet, denn mit der Übergabe durch die sowjetischen Truppen und die Übernahme der Bundesfinanzverwaltung ist die auflösebedingte Entwidmung eingetreten.

– Die Beklagte ist schließlich nicht befugt, das streitbefangene Gelände aufgrund der Zustimmung des deutschen Bundestages zu dem Truppenübungsplatzkonzept des Bundesministers der Verteidigung militärisch zu nutzen.

– Abschließend stellt dasVerwaltungsgericht fest, daß die Unterhaltung einerfunktionsfähigen militärischen Landesverteidigung durch das geforderte Planungsverfahren nicht gefährdet ist. Angesichts einer verkleinerten Bundeswehr stehe ausreichend Übungsgelände zurVerfügung.

Die Gemeinde Schweinrich hat auf ihrer letzten Gemeindevertretersitzung einstimmig entschieden, in die Berufung zu gehen, weil die mögliche Inbetriebnahme des Luft-Boden-Schießplatzes ein in seinem Umfang noch nicht vorhersehbaren Eingriff in unseren Lebensraum darstellt. Bislang treibt die Bundeswehr mit ihrem Schießplatzkonzept ein Verwirrspiel. So erklärte der Platzkommandant im November 1995 den anwesenden Bürgermeistern das Schießplatzkonzept mit Schießbahnen für Panzer und Artillerie und vor dem Verwaltungsgericht in Potsdam erklärte die Bundeswehr, daß die Schießbahnen für Panzer und Artillerie entfallen. Zu den Flughöhen gibt es ebenfalls widersprüchliche Informationen. Bislang sollten die Flugzeuge nur auf dem ehemaligen Schießplatzgelände unter 100 m fliegen. Mit dem Schreiben der Wehrbereichsverwaltung VII vom 19.09.1996 teilt die Bundeswehr mit, daß bereits außerhalb des Übungsgeländes eine Flughöhe von derzeit 60m und in naher Zukunft auch 30m erreicht werden kann, und damit die Windkraftanlagen abgelehnt werden. Der Gemeinde Schweinrich wurde mit Schreiben vom 05.01.1996 mitgeteilt, daß die weitere Wohnbebauung 3000 m von der Schießplatzgrenze zu planen wäre. Die tatsächliche Gegebenheit sieht jedoch so aus, daß sich die vorhandene Wohnbebauung 200-800 m vom ehemaligen Übungsplatz befindet. Diese aufgezeigten Beispiele zeigen, daß genügend Konfliktstoff vorhanden ist, den es gilt, rechtlich zu klären. Auch bezüglich unserer Verantwortung gegenüber den nachfolgenden Generationen.

Daß Schweinrich als Wohnstandort angenommen wird, zeigt die rege Bautätigkeit der letzten Jahre. Durch Maßnahmen der Dorferneuerung hat sich unsere Gemeinde nach der Wende positiv entwickelt. Die gesamte Schießplatzproblematik wirkt sich jedoch negativ auf die weitere Entwicklung der Gemeinde aus. Zwar sind für die Zukunft noch fünf Baugenehmigungen beantragt bzw. erteilt, doch tragen auch potentielle Interessenten der Ungewißheit Rechnung und weichen zu unserem Leidwesen auf andere Standorte aus.

Aus diesem Grunde sind wir gefordert, Rechtssicherheit herbeizuführen. Bedauerlicherweise müssen wir uns regelrecht uns zustehendes Recht einklagen, denn die Bundeswehr will uns selbst das vom Gericht geforderte förmliche Planungsverfahren verwehren.

Unverständlicherweise gilt bei diesem Urteil nicht gleiches Recht für alle übrigen Gemeinden. So wurde einigen Gemeinden das Planungsverfahren zuerkannt, anderen dagegen nicht. Die möglichen Belastungen sind allerdings beispielsweise in Frankendorf und Flecken Zechlin ähnlich wie in Schweinrich. Da nicht alle betroffenen Gemeinden vor dem Oberverwaltungsgericht in Berufung gehen können, wäre es zu begrüßen, daß der Landkreis die Interessen aller betroffenen Gemeinden wahrnimmt.

Helmut Schönberg ist Bürgermeister der Gemeinde Schweinrich und Mitbegründer der BI FREIe HEIDe

zum Anfang | Beispiele

Arbeitskeis Frieden c/o Ursula Revermann

Bombenabwurfplatz Nordhorn-Range

Zur Geschichte

1933 Krupp von Bohlen und Halbach überläßt 2220 ha Heidegelände der Deutschen Wehrmacht zur militärischen Nutzung.

1945 Die Royal Air Force (RAF) beschlagnahmt das Gelände und nutzt es als Bombenabwurfplatz, genannt Nordhorn-Range.

1971-1973 Die 1. Bürgerinitiative Deutschlands (Notgemeinschaft) organisiert Platzbesetzungen und Demonstrationen gegen den Platz.

1973 Eine Verlagerung des Platzes ins Ramsloher Moor scheitert am Widerstand der Bevölkerung.

1985 Aussiedlung der Bewohner in der Einflugschneise (ca. 50 Häuser) wegen des Lärmterrors und der Fehlwürfe.

1988 Inbetriebnahme des AKW Lingen in der Einflugschneise.

1988 Die Bürgerinitiative Notgemeinschaft wird wieder aktiv, auf Betreiben des Arbeitskreises Frieden.

1990 BI initiert ein Klageverfahren, dem sich das Land Niedersachsen und die umliegenden Kommunen anschließen. Diese Klage ist bis heute nicht verhandelt worden.

1992 Beschuß von Demonstranten durch einen Düsenjet. 1995 Modernisierung der Flug- und Kontrolleinrichtungen auf den technisch neuesten Stand.

1996 Ankündigung des Abzugs der RAF im Jahr 2002, danach ist die Übernahme durch die Bundeswehr geplant.

Zur Situation heute

Die Bevölkerung hat resigniert, die Politiker hoffen auf eine Entlastung und evtl. Verlegung des Platzes nach Wittstock. Teile der Notgemeinschaft denken ähnlich. Alle fordern: „Die Range muß weg“. Das Militär wird aber grundsätzlich nicht in Frage gestellt. Diesem St. Floriansprinzip widersetzt sich in Nordhorn der Arbeitskreis Frieden und hat enge Kontakte zur BI Freie Heide. Wir lassen uns nicht zu Gegnern machen und fordern das Ende des lebensgefährlichen Terrors über den Köpfen der Menschen. Gemeinsame Aktionen wie die Teilnahme am Ostermarsch, die Ausstellung über das Bombodrom und die Aufstellung einer Mahnsäule der BI FREIEn HEIDe in Nordhorn sollen die Solidarität der Friedensbewegung stärken.

Arbeitskeis Frieden c/o Ursula Revermann Zedernstr. 3, 48531 Nordhorn Tel.05921/37585.

Die Bürgerinitiative

OFFENe HEIDe in der Colbitz-Letzlinger Heide

Wenn sich die Orts- und Personennamen auch unterscheiden, die Probleme in der Auseinandersetzung mit den Plänen der Bundeswehr sind in der Colbitz-Letzlinger und in der Wittstocker Heide die gleichen. Mit rund 230 qkm ist die militärisch besetzte Fläche bei uns noch größer. Unter der Heide hat sich ein riesiges Grundwasserreservoir gebildet. Es versorgt rund 600000 Menschen mit bestem Trinkwasser. Schon allein aus dieser Tatsache verbietet sich ein militärischer Mißbrauch des Gebietes.

Die Planungen der Bundeswehr sehen ein lasergestütztes Gefechtsübungszentrum vor. 1934 wurde ein Versuchsplatz für Geschütze eingerichtet, aus dem nach dem Ende des 2. Weltkrieges ein Truppenübungsplatz der Sowjetarmee entstand.

Mit der politischen Wende in der DDR wurde auch die Forderung laut, dieses Areal endlich einer friedlichen Nutzung zuzuführen. Doch die Bundeswehr zeigte Interesse an dieser großen Fläche. Politiker aller Couleur sprachen sich für eine ausschließlich zivile Nutzung der Heide aus. Der Landtag und eine Vielzahl von kommunalen Parlamenten aus der Region faßten entsprechende Beschlüsse. Während eines Protestcamps 1993 reifte die Idee, den Weg des zivilen Ungehorsams zu gehen. An jedem ersten Sonntag im Monat wird bei einem Friedensweg bewußt die Sperrausschilderung des Truppenübungsplatzes ignoriert. Am 7. September 1997 findet also der 50. Friedensweg statt, zu welchem ich schon jetzt herzlich einlade. Das Spektrum der FriedenswegteilnehmerInnen geht von Pazifisten über Umweltschützer bis hin zu Heimatfreunden.

Der „Wirtschaftsfaktor Bundeswehr“ zeigt sich bislang nur in den Aufträgen zur Entsorgung der sogenannten Manöverboxen von Rüstungsaltlasten. Die Bundeswehr stellt sich als einzig potenter Auftraggeber für diese Arbeiten dar und spielt mit der Lage auf dem Arbeitsmarkt in der Gegend. Diese Märchen der Bundeswehr werden von Teilen der Bevölkerung und der Kommunalpolitiker geglaubt. Gegen eine solche Erosion der Beschlußlage kämpfen wir gegenwärtig an.

Kontaktadressen:
Helmut Adolf, Vor der Teufelsküche 12, 39340 Haldensleben Tel.: 03904/42595, Fax 464933
Dr. Erika Drees, Beethovenstr. 13, 39576 Stendal Tel.: 03931/216267, Fax 316008
Birgit Hinz, Klosterstr. 8, 39638 Letzlingen Tel.: 039088/437

Nicht hier und nicht anderswo …

Goose Bay (Kanada)

Opfer von Kriegsspielen der Bundeswehr sind nicht nur die AnwohnerInnen von Schießplätzen in der Bundesrepublik. Eher noch ungehemmter werden Angehörige indigener Völker durch Tiefflüge und Schießübungen terrorisiert. Die Bundesluftwaffe fliegt z.B. schon lange über das Land der Innu.

Täglich donnern rund dreißig Kampflugzeuge der Bundeswehr und anderer NATO-Staaten während der Flugsaison von April bis Oktober in 30 Meter Höhe mit Geschwindigkeiten über 1000 km/h über einen 100.000 qkm großen Teil von Labrador und Ostquebec, dem Lebensraum der 12.000 Innu. Im Tiefflugübungsgebiet ist auch ein Schießplatz für Bombenabwürfe ähnlich wie die Anlage in Wittstock enthalten.

Seit 1990 besteht etwa die Hälfte der 8.000 bis 10.000 Tiefflüge, die pro Jahr vom Luftwaffenstützpunkt Goose Bay aus durchgeführt werden nur aus Flügen von Tornado- und Phantom-Flugzeugen der Bundeswehr. Das Bundesverteidigungsministerium zahlt dafür jährlich acht Millionen Dollar an die kanadische Regierung. Außerdem nutzen bislang noch andere NATO Staaten (Niederlande, Kanada und Großbritannien, Frankreich und Italien haben Interesse bekundet) das Gebiet.

Die Piloten der Düsenjäger fliegen bevorzugt durch Flußtäler und über Wasserflächen, also genau dort, wo sich die Jagdlager der Innu und die Brutgebiete und Lebensräume vieler Wildtiere befinden. Die Testpiloten loben die „idealen Tiefstflugbedingungen“, da weder Hochspannungsleitungen, Hochhäuser noch Nebel ihren Flug über der subarktischen Landschaft behindern. In einigen Gebieten üben die Piloten den Abwurf von Bomben.

Nitassinan – das heißt „unser Lande“

Die Innu leben seit etwa 9000 Jahren in dem Gebiet, das große Teile des heutigen Labrador und des nördlichen Quebec umfaßt. Sie nennen ihr Land Nitassinan. Die tiefe Verwurzelung mit dem Land zeigt sich darin, daß jeder Fluß, See oder Berg in ihrer Sprache einen eigenen Namen und eine eigene Bedeutung hat.

Innu bedeutet „Mensch“. Die Innu gehören zur Sprachgruppe der Algonquin und sind mit den Cree verwandt. Trotz des ähnlich klingenden Namens sind sie nicht mit den Inuit („Eskimo“) zu verwechseln. Die Innu haben keine Verträge mit den Kolonialmächten oder deren Rechtsnachfolgern über die Abtretung von Land geschlossen und betrachten sich als legitime Eigentümer Nitassinans. Daher bestreiten sie der kanadischen Bundesregierung das Recht, irgendwelche Nutzungsverträge über Nitassinan mit Dritten abschließen zu können. Die Innu fordern von Kanada und anderen NATO-Staaten, ihre Landrechte zu respektieren und nicht zu ihren Ungunsten in das schwebende Landrechtsverfahren einzugreifen.

Auswirkungen der Tiefflüge auf die Innu

Die Tiefflüge wirken sich auf die Innu katastrophal aus, vor allem soweit sie sich traditionell von Jagen, Fallenstellen, Fischen und Sammeln von Wildfrüchten ernähren. Einen wichtigen Faktor stellen dabei die Karibus, eine wildlebende Rentierart, dar. Die Innu haben beobachtet, daß diese Wildbestände stetig abnehmen. Die Tiere stehen durch die permanenten Tiefflüge unter Dauerstreß, eine steigende Zahl von Totgeburten ist nur eine Folge davon. Ebenso ist die Qualität des Fleisches derTiere schlechter geworden, da sie zu hastig und zu wenig Nahrung aufnehmen. Auch auf andere Tierarten wirken sich die Tiefflüge negativ aus. So fressen aufgrund der Belastung Nerz-Weibchen ihren Nachwuchs auf. Biber und Otter büßen an Gewicht ein, da sie sich nicht mehr an das Tageslicht trauen, Gänse und Enten verschwinden aus den betroffenen Gebieten.

Widerstand

Die Innu wehren sich gegen die Inbesitznahme ihres Lebensraumes. Seit den Achtzigerjahren wurden Aktionen durchgeführt. So besetzten sie mehrmals den Bombenabwurfplatz, die Startbahn des Stützpunktes in Goose Bay und klagten vor kanadischen Gerichten. Zusammen mit internationalen Umwelt-, Menschenrechts- und Friedensgruppen wird weiter daran gearbeitet, daß das Tieffluggelände geschlossen wird.

„Innu Nation“', Postoffice Box 119; Sheshatshiu, Labrador, AOP 1 Mo Cananda; Tel.: 001/709/4978398, Fax: 001/709/4978396; Für diesen Text haben wir mit Dank Informationen der „Gesellschaft Für bedrohte Völker“ verwendet, die Redaktion.

zum Anfang | Ökologische, pazifistische und regionalpolitische Argumente
FREIe HEIDe als Focus der Friedensbewegung

von Knut Krusewitz

Die Auseinandersetzung um eine FREle HEIDe ist aus mehreren tatsächlichen, aber auch potentiellen Gründen von erheblichem regionalen und überregionalen Interesse.

Ich rede zunächst über tatsächliche Gründe.

1. Die Auseinandersetzung verweist auf einen Strukturkonflikt zwischen Militär, Ökologie und Regionalbevölkerung, auf einen friedenspolitisch beachtlichen Fall also, im dem nicht bloß marginale, sondern grundsätzliche militärische, ökologische und gesellschaftliche Belange konfliktär bearbeitet und verhandelt werden.

2. Der Konfliktverlauf in der Ostprignitz hat die brisante Frage nach dem Primat des Militärischen oder des Zivilen ins öffentliche Bewußtsein gehoben.

Mit ihrem rechtswidrigen Einmarsch in die Ostprignitz im Jahre 1994 hat die Bundeswehrführung den Primat des Militärischen über das Zivile vorläufig durchgesetzt.

Streitig ist seither, ob in Brandenburg militärische Sonderinteressen von Luftwaffe, Heer und Rüstungsindustrie privilegiert werden dürfen gegenüber zivilen Mehrheitsinteressen an einer sozial und ökologisch sinnvollen Konversion des „Bombodroms Wittstock“, eines vormaligen Kriegsübungsgebietes der Westgruppe der Sowjetischen Armee.

Dieser Strukturkonflikt zielt auf den Kernbestand unserer Demokratie, denn der Primat der Politik gegenüber dem Militär zählt zu den unaufgehbaren Errungenschaften der deutschen Nach kriegspeschichte.

3. Daraus resultiert die Frage, wie lange die Mehrheit der Regionalbevölkerung wirksam Widerstand leistet gegen die rechtswidrige Privilegierung militärischer Sonderinteressen gegenüber allgemeinen gesellschaftlichen Belangen, wozu vorrangig pazifistische und ökologische gehören. Die Genese des regionalen Widerstands ist zweifellos von erheblichem überregionalen Interesse.

4. Der Konflikt um die Einrichtung eines Kriegsübungsgebietes für die Bundeswehr in der Ostprignitz hat überdies das komplexe Problem aufgeworfen, wie die Betroffenen bei Militärplanungen die Einhaltung demokratischer Spielregeln und verfahrensrechtlicher Transparenz zwischen Bund, Land, Kreis und Gemeinden friedenspolitisch einfordern und gegebenenfalls rechtlich durchsetzen können.

Das kostspielige Einklagen von Rechten vor Verwaltungsgerichten kann jedenfalls nicht der Weisheit letzter Schluß sein, weil es nicht Verallgemeinbar ist.

5. Der Strukturkonflikt im Kreis Ostprignitz-Ruppin gibt Anlaß, unter den veränderten militärstrategischen Bedingungen von NATO und Bundeswehr über die Handlungsfelder regionaler Friedensarbeit erneut zu befinden.

Regionale Friedensarbeit kann sich nicht mit der Abwehr von Militärplanungen begnügen, sondern sie muß eigenständige Beiträge zur sozialgerechten und umweltverträglichen Regionalentwicklung leisten.

In unserem Fall geht es um ein Konversionsprogramm für den Schieß- und Bombenabwurfplatz Wittstock, das allerdings mehr beinhalten müßte als die bisher vorherrschende Forderung nach Wideraufforstung der devastierten Militärflächen.

6. Die Aktivitäten der FREIe HEIDe haben die Problematik von politischen und administrativen „Abwägungsverfahren“ erneut bewußt gemacht. Hier geht es um das rational nicht lösbare, aber praxisrelevante Problem, wie Belange der „Verteidigung“ gegen Belange der „nachhaltigen Nutzung“ der Region Ostprignitz „abgewogen“ werden sollen. Kriegsplanungen und nachhaltige Regionalplanung in der Ruppiner Heide (und anderswo) sind unvereinbar, weil sie sich sachlich und logisch wechselseitig anschließen. Materiell ist deshalb die Frage streitig, ob es überhaupt möglich ist, das Interesse von Luftwaffe und Heer, die Ostprignitz als Kriegsübungsgebiet für weltweite Militäreinsätze zu nutzen, mit dem Interesse der Bevölkerung in den Anrainergemeinden an einer dauerhaft umweltverträglichen und sozial verträglichen Regionalentwicklung rational abzuwägen.

Bei zivilen Abwägungsfaktoren geht es beispielsweise um

– die Konversion des Bombodroms in die Beispiellandschaft einer nachhaltigen Regionalentwicklung,

– Sanierung der militärischen Altlasten,

– die Überwindung der regionalen Strukturschwäche,

– Kommunale Planungs- und Entwicklungsrechte

– sowie die Fortentwicklung der regionalen Friedenskultur.

– Wer militärische Nutzungsinteressen im Abwägungsverfahren höher bewertet als zivile, muß dann auch die fatalen Folgen für eine nachhaltige Regionalentwicklung der Ostprignitz rechtfertigen.

Die regionale Strukturschwäche würde verlängert, unproduktive zivil-militärische Arbeitsplätze müßten weiterhin alimentiert werden, die gesundheitsbedrohenden alten und neuen Militärlasten blieben dauerhaft erhalten und die militärische Ressourcennutzung in der Region würde zivile Ansprüche beschneiden. Fazit: Die Militarisierung der Ostprignitz würde ihre nachhaltige Entwicklung verhindern.

Die Militärpräsenz in der Region beeinträchtigt keineswegs nur ihre räumlichen, ökonomischen und ökologischen Entwicklungsmöglichkeiten, sondern sie gefährdet auch die regionale Friedenskultur. Die BI FREIe HEIDe hat mehrfach den Nachweis erbracht, daß die Bundeswehr und ihre ideologischen Dolmetscher in der Region die bereits vorhandenen und Verhaltensdispositionen verstärken, wonach kriegerische Gewaltanwendung als normale Äußerungsform national- und bündnisstaatlichen Konfliktverhaltens gilt. Wie soll Unvereinbares – Kriegskultur auf der einen Seite, Friedenskultur auf der andern – überhaupt im gesetzlich vorgeschriebenen Abwägungsverfahren vergleichbar gemacht werden?

Dies sind, wie gesagt, Problemstellungen, die von der BI FREIe HEIDe und ihren Kooperationspartnern bereits bearbeitet werden, woraus ihre tatsächliche regionale und überregionale Bedeutung resultiert.

Es gibt aber auch Themen und Problemstellungen, die erst noch zu bearbeiten wären, woraus sich ihre potentielle Bedeutung ergibt.

Ich rede deshalb jetzt über solche Problemstellungen.

1. Wichtige Themen und Ziele der ostprignitzer Friedensarbeit sind verallgemeinerbar.

Ihre ProtagonistInnen versuchen, durch theoretische und praktische Anstrengungen alle Aktivitäten in der Region zu bündeln,

– die zur sozialenGerechtigkeit,

– zur naturverträglichen Regionalentwicklung

– und zur Völkerverständigung beitragen,

– um dadurch Frieden zu schaffen.

2. Der Strukturkonflikt zwischen Region, Militär, Ökologie und Frieden zwingt uns, seine Konstellation kritisch-aufklärerisch zu Ende zu denken. Dies Argument besagt erst einmal nur: Für diesen Konflikt

– gibt es keine Lösung vom Typ „sowohl als auch“,

– sondern nur eine vom Typ „entweder oder“.

Ich verweise auf die „Rio-Deklaration“ der Vereinten Nationen vom Juni 1992. Von ihren siebenundzwanzig Grundsätzen sind für unseren Kontext die Normen 1, 8, 24 und 25 von erheblichem Interesse. Ich zitiere sie wegen ihrer Bedeutung vollständig.

GRUNDSATZ 1: „Die Menschen müssen bei allen Bemühungen, eine nachhaltige, die Umwelt nicht zerstörende Entwicklung („sustainable development“) zu sichern, im Zentrum stehen. Sie haben das Recht auf ein gesundes und produktives Leben in Harmonie mit der Natur.“

GRUNDSATZ 8: „Um eine nachhaltige Entwicklung und eine bessere Lebensqualität für alle Menschen zu erreichen, sollten die Staaten nicht tragfähige Strukturen in Produktion und Verbrauch vermindern und beseitigen.“

GRUNDSATZ 24: „Krieg zerstört die Möglichkeit der nachhaltigen Entwicklung.“

GRUNDSATZ 25: „Frieden, Entwicklung und Umweltschutz hängen eng miteinander zusammen und sind unteilbar.“ (Altner, Hrsg., 1992, S. 279 ff.)

Diese Grundsätze lassen sich unschwer zu einem pazifistischen Einwand gegen die Militärpräsenz in der Ostprignitz und anderswo bündeln:

Nicht erst Kriegsführung, sondern bereits Kriegsvorbereitung und Kriegsübung – der militärstrategische Zusammenhang – Destruieren die „Möglichkeit der nachhaltigen Entwicklung“ dieser Region.

Die methodische Implikation des Arguments vom aufklärerischen Zu-Ende-Denken besagt immerhin:

Die Entwicklungskomponenten Regionalökonomie, Ökologie und Frieden müssen ursächlich zusammengedacht werden. Sie sind sachlich und logisch als notwendige Einheit zu begreifen und dürfen deshalb politisch nicht länger gegeneinander ausgespielt werden. (Krusewitz, 1995)

Und ihre praktische lautet: Planung und Übung von Kriegen sind notwendige Bestandteile des Militärkomplexes aus Staatsbürokratie, Rüstungskapital, Streitkräften, Wissenschaftsbetrieb und Massenmedien, einer Symbiose, die wohl außer der Bundeswehrführung niemand zu den „tragfähigen Strukturen in Produktion und Verbrauch“ rechnen dürfte. Die Ostprignitz liefert deshalb den regionalen Anschauungsunterricht für die Berechtigung der pazifistischen These, wonach eine Kulturlandschaft nicht gleichzeitig als nachhaltige Modellregion und als Kriegsübungslandschaft entwickelt werden kann.

3. Aus dieser Einsicht ergibt sich der Schwerpunkt zukünftiger Friedensarbeit in der Region.

Der ehemalige Schieß- und Bombenabwurfplatz sollte zur Beispiellandschaft für die im Rahmen der Vereinten Nationen geforderte Umsetzung einer nachhaltigen Entwicklung umgestaltet werden.

Zur Erinnerung

Durch die Konferenz der Vereinten Nationen für Umwelt und Entwicklung im Juni 1992 in Rio de Janeiro ist die umfassende Zielbestimmung „sustainable development“ (nachhaltige Entwicklung) als wegweisende Programmatik für die Bewältigung der gemeinsamen Zukunft der Menschheit für die internationale Völkergemeinschaft verbindlich geworden.

Die regionale Umsetzung dieser vorbildlichen Konzeption blieb bislang in der Bundesrepublik auf UNESCO-Biosphärenreservate beschränkt. Diese im Aufbau befindlichen Biosphärenreservate spielen als Modellandschaften einer umwelt- und sozialverträglichen Regionalentwicklung eine hervorragende Rolle. Sie können sich deshalb als Beispiele für die im Rahmen der „Agenda 21“ der Vereinten Nationen heute weltweit geforderte Umsetzung einer nachhaltigen Entwicklung im ländlichen Raum profilieren.

Biosphärenreservate sollen nicht zuletzt die Entwicklung und Wiederherstellung von Kulturlandschaften wie der Ruppiner Heide fördern. Diese UNESCO-Modellandschaften dienen also der theoretischen, praktischen und ethischen Neugestaltung der Beziehung der Menschen zur Natur. In dieser Zielstellung sind allerdings dauerhaft strategische Konflikte angelegt.

Nachhaltig ist eine Regionalentwicklung nämlich erst dann, wenn sie die Herausbildung sozialgerechter, naturverträglicher und friedensfördernder Arbeitsformen, Wirtschaftsektivitäten und Lebensstile fördert und verstetigt.

Das überragende pazifistische Potential dieses Verständnisses von Nachhaltigkeit für die emanzipatorische Friedensarbeit in der Ostprignitz Ware aber friedensdidaktisch erst noch zu erschließen.

Knut Krusewitz ist Hochschullehrer an der TU Berlin im Fachbereich Umwelt und Gesellschaft und Leiter der Rhöner Friedenswerkstatt

zum Anfang | Das geht uns alle an, denn das weltweite Konzept der Bundeswehr muß die Betroffenen organisieren.

von Ulrich Görlitz

Die Menschen zwischen Wittstock, Rheinsberg und Ruppin kämpfen nicht nur für ihre eigene und ihrer Familie Gesundheit, nicht nur, um wieder Land- und Forstwirtschaft zu betreiben, nicht nur für direkte Besuchswege statt 30 km Umweg, die das Auto notwendig machen. Nein, sie wissen genau, daß das, was hier geschehen soll, auch anderen nicht zumutbar ist, nicht nur wegen der persönlichen Leiden, sondern wegen der Verbrechen gegen die Menschheit, an denen hier gearbeitet werden soll. Diese Verbrechen heißen Krieg, den wir möglich machen, wenn wir still ertragen, ohne unser Recht auf Leben und Gesundheit mit Zähnen und Klauen zu verteidigen. Das Stillhalten in diesem Lande hat wiederholt für andere Menschen das Hundertfache an Leiden ermöglicht.

Die Regierenden einschließlich ihrer Generalität sind nicht etwa der Auffassung, dieses Land müsse gegen militärische Angriffe verteidigt werden. Das war bisher, so unsinnig das für ein hochindustrialisiertes Land ist, die Legitimierung von Rüstung, wen Militär überhaupt. (Was hätten Ciba-Geigy, BASF oder ein AKW für Sarajevo bedeutet?) Merkwürdigerweise sind Kriege nach solcher Rüstung dann doch „ausgebrochen“. Militärische Feinde müssen sie uns nicht mehr suggerieren. Die ethikfreie Wertung von Lebensstandard erlaubt es, bereits dessen Bedrohung zum Verteidungsfall zu erklären.

„Verteidigung“ gegen wen, bitte? Gegen Industriekonkurrenten in den USA, in Japan oder gar in anderen europäischen Ländern? Keineswegs, die haben sich in NATO bzw. SEATO zur Wahrung gleicher Interessen zusammengetan und ihr Kapital konkurriert längst grenzüberschreitend ohne wechselseitige Vernichtung. Gegen wen also Krieg? Gegen unbotmäßige Rohstoffländer mit meist verarmtem Staatsvolk, gegen Länder, die sich dem „freien Markt“ der Industrieländer entziehen wollen, gegen Länder, die derzeit schon die meisten Flüchtlinge „liefern“. (Dieser „Rohstoff Arbeit“ schafft selbst den Industriestaaten schon genug Verteilungsprobleme.) Krieg allerdings erst, wenn die wirtschaftliche und politische Repression versagt, aber dann rentiert sich das „Bombodrom“ bei Wittstock.

Sie planen also Krieg zur Aufrechterhaltung der derzeitigen ungleichen Güterverteilung mit allen Konsequenzen fortgesetzter Zerstörung dieses Globus. Spätestens seit Milosevic und Tudjman ist militärische Problemlösung obsolet. Dennoch wird Angriff geübt. Art. 26 GG verbietet aber die Vorbereitung eines Angriffskrieges, stellt sie unter Strafe, also wird wieder Verteidigung behauptet. Die Sicherung der wirtschaftlichen Grundlagen enthielt auch Hitlers Schlagwort „Volk ohne Raum“.

Damit diese in weltweitem Maßstab blitzkriegartig möglich wird, ist in der NATO die Strategie der „schnellen Eingreiftruppe“ entwickelt worden. Außerdem behält sich die NATO den Ersteinsatz von A-Waffen vor. Beides macht die Angriffsbereitschaft als Drohung deutlich. Dennoch gilt die NATO als „System gegenseitiger kollektiver Sicherheit“, dem beizutreten der Art. 24 GG erlaubt. Offensichtlich konnten sich „die Väter des Grundgesetzes“ nicht vorstellen, daß so ein System gegenüber Nichtmitgliedern angriffsbereit sein könnte. Das Verfassungsgericht hat bei der Freigabe der Bundeswehr für weltweite Einsätze keinen Anstoß an diesen Tatsachen genommen. Recht ist der Macht sogar hierbei nachrangig.

Das eigentliche Interesse für Krieg und Rüstung wird in Industrie- und Kapitalkreisen gehegt, wie schon die Aufgabenbeschreibung der neuen Bundeswehr offenbart. Das zeigt auch, neben anderen Projekten, der „Eurofighter“, einst „Jäger 90″. Zur Hochzeit des Kalten Krieges geplant, schon in den Achtzigern fragwürdig, gibt es keinen belegbaren Bedarf mehr, nur industrie- und wissenschaftspolitische Argumente. Er muß auf dem freien Mark verkauft werden, weil er sonst zu teuer wäre. Bei Übung und Verkaufsvorführung wird er hier bei Wittstock, bei Nordhorn, in Texas oder in Kanada sinnlos Menschen quälen und Natur zerstören.

„Die allgemeinen Regeln des Völkerrechtes sind Bestandteil des Bundesrechtes. Sie gehen den Gesetzen vor und erzeugen Rechte und Pflichten unmittelbar für die Bewohner des Bundesgebietes.“ (Art. 25 GG) Unser aller Pflicht ist, die Realität zu verändern. Seit 1928 gilt allgemeines Kriegsverbot, das auch in die UN-Satzung (Art. 2 Nr. 4) als Gewaltverbot eingegangen ist. Nur Verteidigung wird den Staaten als „naturgegebenes Recht“ zugestanden. Was die Bundeswehr als „vitale“ Sicherheitsinteressen Deutschlands „verteidigen“ will, u.a. die „Aufrechterhaltung des freien Welthandels und des ungehinderten Zugangs zu Märkten und Rohstoffen in aller Welt im Rahmen einer gerechten Weltwirtschaftsordnung“, rechtfertigt gemeinsames Völkerrecht allenfalls wirtschaftliche und politische Repression, nicht militärische Aktionen. Es gibt keinen legitimen Weltpolizisten, schon gar keinen deutschen, auch nicht im NATO-Verbund!

Das friedliche Zusammenleben der Balkenvölker ist nicht im Tiefflug herbeizubomben. Die „humanitären Einsätze“ der Bundeswehr in Somalia und Kambodscha erforderten nicht das Zielwerfen von Medikamenten und Nahrung im Tiefflug. Die Bundeswehreinsätze dort waren und sind Instrumente der psychischen Gewöhnung des Staatsvolkes an unbegrenzte Bundeswehreinsätze. Hier bei Wittstock wird für die NATO-Planung gebombt, evtl. für Pläne des deutschen Stabes. Beide enthalten den Angriffskrieg einschließlich der Übung des A-Waffen-Abwurfes. Das ist völkerrechtswidrig. Betroffen sind bei solchem Angriff aller Erfahrung nach fast ausschließlich „Nichtkombattanten“, Zivilisten, und bei den Übungswürfen dafür die Menschen der Region östlich und süd-östlich von Wittstock. Völkerrecht und Bundesrecht ermutigen und verpflichten uns zum Widerstand, zum Versuch Luftbombardements unmöglich zu machen. Es ist nötig, diese Haltung über die Grenzen dieses Staates hinweg bekanntzumachen. Eine Welt ohne Krieg muß kein Traum bleiben.

Ulrich Görlitz engagiert sich in der Berlin/Potsdamer UnkrstützerInnengruppe für die FREIe HEIDe

zum Anfang | Kontaktanschriften der BI FREIe HEIDe

Kontaktadressen. Bernd Lüdemann, Ringstr.24, 16909 Wittstock, Tel.: 03394-433298

Vorstandsvorsitz: Helmut Schönberg, Tannenstr.12, 16909 Schweinrich, Tel.: 033966-60246

Pressekontakte: Annemarie Friedrich, Strandweg 3, 16837 Flecken, Zechlin

Benedikt Schirge, Dorfstr. 27, 16831 Zühlen, Tel.: 033931-2338

R. Lampe, Anger 9, 16837 Dorf Zechlin, Tel.: 033923-70469

Spendenkonto der BI FREIe HEIDe

H. Schönberg, Konto-Nr. 1680000167

Sparkasse Ostprignitz-Ruppin (BLZ: 16050202)

Unter dem Stichwort „Freie Heide“

Spendenkonto für Prozeßkosten

BI FREIe HEIDe, Kto-Nr. 162 1012022

Sparkasse Ostprignitz-Ruppin (BLZ 16050202)

Materialien zur FREIen HEIDe

Die Berlin/Potsdamer UnterstützerInnengruppe FREIe HEIde hat verschiedene Materialien erstellt, die bestellt werden können (c/o Verein Freie Kultur Aktion, Rathenower Str. 22, 10559 Berlin, Tel./Fax: 030-3946167):

– Reader zum Widerstand (48 Seiten): 5,- DM

– Diaserie zur FREIen HEIDe (50 Dias mit Text): 15,- DM (und 200,- DM Kaution)

– Aufkleber: 1,- DM

– Luftballon: -,50 DM

– Postkarten (10 versch. Motive) je Stück: 1,- DM

– Bürgerinnen-Information zur FREIen HEIDe, A5-Heftchen, gegen Vorausszahlung per Scheck oder Schein (10 Expl. DM 10,-, 25 Expl. DM 20,-; 50 Expl. DM 35,-) zu bestellen: Komitee für Grundrechte und Demokratie, An der Gasse 1, 64759 Sensbachtal

Materialien zu Truppenübungsplätzen und Konversion

– Wissenschaft und Frieden, Dossier Nr. 19, „Ökologie und Militär, Truppenübungsplatz als Biotop?“, Preis: 3,- DM zu bestellen bei W&F, Reuterstr. 44, 53113 Bonn, Tel.0228/210744, Fax: 0228/214924

– „Bericht der Landesregierung zur Realisierung des ihr durch den Landtag bezüglich des Truppenübungsplatzes Wittstock erteilten Auftrages“ (Drucksache 1/1993) in Ausführung des Beschlusses des Landtages Brandenburg vom 18. November 1994 (Drucksache 2/45-B), 24 Seiten, 4 DM Kopierkosten + Porto beim Netzwerk

– Kleines Infopaket zu den Tiefflügen Goose Bay (Kanada), 4 DM Kopier- und Versandkosten beim Netzwerk

Materialien zur out-of-area-Politik

Das Netzwerk Friedenskooperative hat in Zusammenarbeit mit dem Komitee für Grundrechte und Demokratie eine aktuelle Materialien-Zusammenstellung zur „out-of-area“ Politik der Bundesregierung/Bundeswehr erstellt. Die Texte sind zum Preis von DM 10,- incl. Porto zu bestellen. Hier sind auch zahlreiche weitere Informationen zu Themen und Kampagnen der Friedensbewegung erhältlich:

Netzwerk Friedenskooperative, Römerstr. 88,

53111 Bonn, Tel.: 0228/692904.

zum Anfang | Was tun für die FREIe HElDe!

Es gibt zahlreiche Möglichkeiten (und Notwendigkeiten), die FREIe HEIDe und die anderen Initiativen, die sich gegen Schießplätze und die out-of-area-Planungen der Bundeswehr wehren, zu unterstützen.

Finanzielle Unterstützung für die Prozeßkosten, aber auch für die Arbeit der BI ist natürlich sehr wichtig (siehe die beiden Spendenkonten). Der bundesweite Kongreß zu Wittstock im Oktober 1996 wie die BI FREIe HEIDe halten die Einrichtung eines BI-Büros für die Stabilisierung der Arbeit und zur Koordination der Kontakte zu den vielen Gruppen, die sich für den Widerstand gegen das Bombodrom interessieren, für unbedingt erforderlich. Die geplante „Heidewerkstatt“ bräuchte einen Sponsorenkreis, der regelmäßig etwa DM 6.000,- pro Monat abdeckt.

Die BI lädt ein, an den regelmäßigen Protestwanderungen wie auch bei Sommeraktionstagen und den vielen weiteren Veranstaltungen teilzunehmen (Termine bei den Kontaktadressen erfragen). Aber das Bombodrom und der Widerstand dagegen kann und soll auch in vielen anderen Regionen thematisiert und ,zur eigenen Sache“ gemacht werden. Vertreterinnen der BI sind bereit, zu Informationsveranstaltungen in andere Orten zu kommen, eine Ausstellung und eine Diaserie können ausgeliehen und weitere Informationsmaterialien für die eigene Öffentlichkeitsarbeit angefordert werden.

Man könnte von der eigenen Gruppe aus eine Partnerschaft mit der BI schließen oder das eigene Gemeindeparlament zu einem solchen Beschluß drängen. Ein wichtiges Symbol für die FREIe HEIDe sind die an verschiedenen Orten der Heide von Solidaritätsgruppen aufgestellten Mahnsäulen. Für weitere ist noch genug Platz! Und die BI freut sich immer über Besuche von Partnergruppen und solchen, die es werden wollen.

Für die ganze Region schließlich ist auch der private Besuch, der Urlaub in der schönen, gastlichen Gegend so wichtig wie weitere mit der Idee einer ökologischen Musterlandschaft verträgliche Investitionen und Neuansiedlungen.

Dies gerade auch, um schon in der zeitlichen ,Hängepartie“ bis zur letzten Instanz der Prozesse den Menschen der Region deutlich zu machen, daß ein ziviler Aufbau und die Attraktivität für an Fluglärm nicht interessierte Touristinnen auch ökonomisch nützlicher ist als vermeintliche Arbeitsplätze bei der Bundeswehr.

Ihre/Eure eigenen Ideen zur Unterstützung sind bei der BI immer willkommen. Gemeinsam können wir dem Militär den Boden entziehen!

Impressum: Gemeinsame Beilage der Zeitschriften Friedensforum, Graswurzelrevolution und Wissenschaft & Frieden, in Zusammenarbeit mit der Stiftung Brandung – Werkstatt für politische Bildung in der Heinrich-Böll-Stiftung, Lindenstr. 53, 14467 Potsdam, Tel./Fax: 0331/292092
Redaktion: Kristian Golla, Martin Singe, Mani Stenner (V.i.S.d.P.), c/o Netzwerk Friedenskooperative, Römerstr. 88, 53111 Bonn Tel. 0228/692904, Fax: 0228/692906 E-Mail: friekoop@link-k.cl.sub.de Internet: http://www.friedenskooperative.de

Bundeswehr: Ernstfall Krieg – Kommentierte Dokumentation

Bundeswehr: Ernstfall Krieg – Kommentierte Dokumentation

von Redaktion

I. Einleitung

Die Außenpolitik der Bundesrepublik hat sich seit Ende der 80er Jahre entscheidend verändert. Begriffe wie »Patriotismus«, »Machtpolitik«, »vitale deutsche Interessen« und »Verantwortung militärisch wahrnehmen« finden in Analysen und Reden der Regierungskoalition wieder Verwendung. Eine wichtige Facette dieser konservativen Wende sind die neuen Einsatzformen des deutschen Militärs im Ausland.

Während sich die friedenspolitische Öffentlichkeit nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes noch Gedanken darüber machte, welche Schritte nun zuerst eingeleitet werden, um die Bundeswehr abzuschaffen, da ihr nun endgültig der Feind und damit die Legitimation abhanden gekommen ist, begründete bereits der Bundesminister der »Verteidigung«, daß die Bundesrepublik schnell verlegbare und flexibel einsetzbare sog. Krisenreaktionskräfte von einem Umfang von bis zu 100.000 Mann bräuchte, um den neuen Risiken in der Welt etwas entgegen zu setzen (Siehe II. Verteidigungspolitische Richtlinien).

Mit dieser Wende geht es um die Wiederherstellung der Legitimation deutscher Streitkräfte, um die Mitsprache in den zukünftigen militär- und sicherheitspolitischen Handlungszusammenhängen (UNO, NATO, WEU, EG) und um die auch militärische Absicherung des deutschen Wohlstandes. Seit 1945 war deutsches Militär nicht mehr Instrument deutscher Außenpolitik; jetzt soll die Bundeswehr es wieder werden. Trotz mehrheitlich gegenteiliger Einstellungen in der Bevölkerung und in der Politik wird die Bundswehr bereits heute eingesetzt: die umstrittensten Einsätze finden zur Zeit in Kambodscha, Jugoslawien und in Somalia statt. (Siehe III. Einsatzgrundlagen laufender Kriegseinsätze).

Während die Militärs bereits handeln, hinkt die Politik hinterher. Bis heute gibt es keine im Bundestag für eine 2/3-Mehrheit konsensfähige Gesetzesvorlage, die die Einsatzmöglichkeiten der Bundeswehr verfassungsrechtlich genau festlegt (Siehe V. Gesetztesentwürfe.).

Eine öffentliche Debatte über die Ziele deutscher Außenpolitik findet nicht statt. Die Öffentlichkeit wird schleichend an Einsätze der Bundeswehr außerhalb des NATO-Bündnisgebietes (sog. out-of-Area-Einsätze) gewöhnt. Daß sich in den letzten Jahren vieles besorgniserregende tut, belegen die folgenden Auszüge aus Dokumenten.

Der Ernstfall ist für deutsche Streitkräfte nicht mehr der Frieden, sondern der Krieg.

II. Planungen der Bundesregierung

Bundesminister der Verteidigung,

Volker Rühe, Dezember 1992: Verteidigungspolitische Richtlinien

„(…)

II. Deutsche Wertvorstellungen und Interessen

8. Deutschland verfolgt als übergeordnete sicherheitspolitische Zielsetzung, Konflikte in Europa zu verhüten und Sicherheit für Europa im Rahmen einer dauerhaften und gerechten Friedensordnung zu wahren, die auf pluralistischer Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und sozialer Marktwirtschaft gründen soll.

Dabei läßt sich die deutsche Politik von vitalen Sicherheitsinteressen leiten:

  1. Schutz Deutschlands und seiner Staatsbürger vor äußerer Gefahr und politischer Erpressung.
  2. Vorbeugung, Eindämmung und Beendigung von Krisen und Konflikten, die Deutschlands Unversehrtheit und Stabilität beeinträchtigen können.
  3. Bündnisbindung an die Nuklear- und Seemächte in der Nordatlantischen Allianz, da sich Deutschland als Nichtnuklearmacht und kontinentale Mittelmacht mit weltweiten Interessen nicht allein behaupten kann.
  4. Vertiefung und Erweiterung der europäischen Integration einschließlich der Entwicklung einer europäischen Verteidigunsidentität.
  5. »Partnerschaft unter Gleichen« zwischen Europa und Nordamerika, ausgedrückt in der Teilhabe Nordamerikas an den europäischen Prozessen und in der signifikanten militärischen Präsenz der USA in Europa.
  6. Festigung und Ausbau einer global und regional wirksamen Sicherheitsstruktur komplementärer Organisationen.
  7. Förderung der Demokratisierung und des wirtschafltichen und sozialen Fortschritts in Europa und weltweit.
  8. Aufrechterhaltung des freien Welthandels und des ungehinderten Zugangs zu Märkten und Rohstoffen in aller Welt im Rahmen einer gerechten Weltwirtschaftsordnung.
  9. Fortsetzung eines stabilitätsorientierten rüstungskontrollpolitischen Prozesses in und für Europa.
  10. Einflußnahme auf die internationalen Institutionen und Prozesse im Sinne unserer Interessen und gegründet auf unserer Wirtschaftskraft, unseren militärischen Beitag und vor allem unsere Glaubwürdikeit als stabile, handlungsfähige Demokratie.

(…)

17. Der sicherheitspolitische Umbruch hat die strategische Ausgangssituation Deutschlands grundlegend verbessert. Wir haben die Chance, Frieden und Fortschritt in und für Europa entscheidend voranzubringen. Zugleich aber müssen wir neue Verantwortung übernehmen. Unser Land besitzt aufgrund seiner politischen und wirtschaftlichen Potenz eine Schlüsselrolle für die Fortentwicklung der europäischen Strukturen. Ohne Deutschland ist es unmöglich, die osteuropäischen Völker zu integrieren. Ohne Deutschland wird es keine Sicherheitsstruktur in und für Europa geben, die auch die Sicherheitsinteressen der jungen Demokratie befriedigt. Ohne Deutschland werden die durch kommunistische Kommandowirtschaft ruinierten Staaten ökonomisch und sozial nicht gesunden; denn nur mit Deutschland wird die Europäische Gemeinschaft ihre politisch-ökonomische Dynamik entfalten und als Kraftquelle für den wirtschaftlichen Gesundungsprozeß ganz Europas bereitstehen können. In dieser Situation ist Deutschland eine maßgebliche Bezugsgröße für die Politik seiner Partner. Dabei decken sich unsere Einflußmöglichkeiten mit den wichtigsten Gestaltungsaufgaben und Chancen im Europa der Zukunft:

  • Vertiefung und Erweiterung der europäischen Integration
  • Entwicklung Europas zum globalen Akteur
  • Stabilisierung der östlichen Reformprozesse
  • Reform der transatlantischen Partnerschaft
  • Fortentwicklung der euro-atlantischen Institutionen.

Die Risiken

18. Für Deutschland ist die existentielle Bedrohung des Kalten Krieges irreversibel überwunden. Der bedrohlichste Fall einer großangelegten Aggression ist höchst unwahrscheinlich geworden. Dagegen wächst die Wahrscheinlichkeit weniger bedrohlicher Konflikte im erweiterten geographischen Umfeld. Die erkennbaren Restrisiken militärischer Konflikte mit unmittelbarer Auswirkung auf Deutschland und seine Bündnispartner machen es aber auch weiterhin erforderlich, angemessene militärische Verteidigungsvorsorge zu treffen.

Nach Auflösung der bipolaren Ordnungsstruktur gewinnen regionale Krisen und Konflikte und nicht-militärische Risiken an Virulenz und Brisanz. Ihr Spektrum reicht von der innerstaatlichen Dimension sozialer, ethnischer, religöser und ökonomischer Krisen über die regionale Dimension, die auch machtpolitische Faktoren, territoriale Ansprüche und Verteilungskämpfe umfaßt, bis hin zur globalen Dimension des Wohlstands- und Entwicklungsgefälles sowie demographische, ökonomischer und ökologischer Fehlentwicklungen. Diese Risiken sind aufgrund ihres Ursachencharaktes nicht militärisch lösbar. Sie können auch nicht mit militärischen Potentialen ausbalanciert werden.

Der mögliche Verlauf von Krisen und Konflikten läßt sich kaum nach Wahrscheinlichkeit und Bedrohungsgrad voraussagen. Aus deutscher wie aus Bündnissicht können Risiken nach ihrer unmittelbaren oder mittelbaren Wirkung spezifiziert werden.

(…)

Mittelbare Risiken

23. In einer interdependenten Welt sind alle Staaten verwundbar, unterentwickelte Länder aufgrund ihrer Schwäche und hochentwickelte Industriestaaten aufgrund ihrer empfindlichen Strukturen. Jede Form internationaler Destabilisierung beeinträchtigt den sozialen und wirtschaftlichen Fortschritt, zerstört Entwicklungschancen, setzt Migrationsbewegungen in Gang, vernichtet Ressourcen, begünstigt Radikalisierungsprozesse und fördert die Gewaltbereitschaft.

Kommt es zu solchen Fehlentwicklungen, werden zerstörerische Einflüsse auch in die hochentwickelten Gesellschaften getragen. Bei insgesamt negativem Entwicklungsverlauf kann dieser Zusammenhang auch militärische Dimensionen gewinnen. Der Bedrohungsgrad mittelbarer Risiken ergibt sich jedoch weniger aus der Möglichkeit einer militärischen Eskalation. Viel schwerwiegender sind negative Einflüsse auf die wirtschaftliche und finanzielle Leistungsfähigkeit der Industriestaaten und damit verbunden Rückwirkungen auf den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritt in den Entwicklungsländern. Politisch breit angelegte Risikovorsorge darf daher nicht eurozentrisch sein, sondern muß sich vermehrt an der Interdependenz regionaler und globaler Entwicklungen orientieren. Risiken müssen schon am Ort ihres Entstehens und vor ihrer Eskalation zu einem akuten Konflikt mit einer vorbeugenden Politik aufgefangen werden.

Fazit

24. Unter den neuen sicherheitspolitischen Verhältnissen läßt sich Sicherheitspolitik weder inhaltlich noch geographisch eingrenzen. Sie muß risiko- und chancenorientiert angelegt sein, Initiative und Gestaltungskraft entwickeln und Risikoursachen abbauen. Sicherheitspolitik für unsere Zeit muß alle gestalterischen Möglichkeiten wahrnehmen, um den positiven internationalen Entwicklungsverlauf weiterzuführen.

25. Militärische Konflikte, die Deutschlands Existenz gefährden könnten, sind unwahrscheinlich geworden. Im zukünftigen strategischen Umfeld sind unmittelbare militärische Risiken nur noch Teil eines breiten Spektrums sicherheitspolitischer Einflußgrößen. Unmittelbare Risiken werden zukünftig in ihrer Bedeutung immer mehr von mittelbaren Risiken übertroffen. Risikovorsorge muß folglich als erweiterte Schutzfunktion verstanden werden. Prioritäten der Sicherheitsvorsorge sind »von außen nach innen« zu definieren.

Die Fähigkeit zur Verteidigung Deutschlands bleibt auch in diesem Sicherheitskonzept eine fundamentale Funktion der Streitkräfte. Zukünftig muß aber politisches und militärisches Krisen- und Konfliktmanagement im erweiterten geographischen Umfeld eindeutig im Vordergrund unserer Maßnahmen zur Sicherheitsvorsorge stehen.

26. Die Chancen und Risiken im veränderten Umfeld können von keinem Land und keiner der bestehenden sicherheitspolitischen Institutionen allein wahrgenommen werden. Vielmehr sind kooperative und kollektive Ansätze gefordert. Wir benötigen ein flexibles Instrumentarium internationaler Politik und eine handlungsfähige Struktur der euroatlantischen Institutionen.

27. Deutschland ist aufgrund seiner internationalen Verflechtungen und globalen Interessen vom gesamten Risikospektrum betroffen. Wir müssen daher in der Lage sein, auf entstehende Krisen im Rahmen kollektiver Sicherheitssysteme einwirken zu können.

Wenn die internationale Rechtsordnung gebrochen wird oder der Frieden gefährdet ist, muß Deutschland auf Anforderung der Völkergemeinschaft auch militärische Solidarbeiträge leisten können. Qualität und Quantität der Beiträge bestimmen den politischen Handlungsspielraum Deutschlands und das Gewicht, mit dem die deutschen Interessen international zur Geltung gebracht werden können.

28. (…) Die Entwicklung der Sicherheitsarchitektur

In einer Zeit epochalen Wandels dürfen NATO, Europäische Union, WEU, KSZE und Vereinte Nationen nicht in statischem Nebeneinander verharren. Vielmehr müssen diese Institutionen auf der Basis von Kompatibilität, Komplementarität und Transparenz zu einer tragfähigen Architektur zusammengefügt werden, in der sie ihre Kräfte synergetisch entfalten.

29. Die politische Integration zur Europäischen Union ist Grundvoraussetzung für eine tragfähige europäische Sicherheitsarchitektur. In der Union konkretisiert sich nicht nur das Streben Europas nach Einheit, Freiheit und Wohlstand. Sie steht auch für den Willen der Europäer, ihre ureigenen Sicherheitsinteressen gemeinsam zu wahren und dazu handlungsfähig zu werden. Nur als Politische Union kann Europa auf Dauer im weltweiten Kontext bestehen und zu einem gestaltenden Faktor werden. Nur die Politische Union kann ein Verhältnis gleichberechtigter Partnerschaft mit Nordamerika entwickeln. Die Entscheidung, mit der Westeuropäischen Union (WEU) die europäische Sicherheits- und Verteidigungsidentität und militärische Handlungsfähigkeit zu stärken, ist deshalb von strategischem Rang. Wichtig ist, daß diese Entwicklung in enger Abstimmung mit den nordamerikanischen Bündnispartnern erfolgt.

30. Die WEU ist Träger der europäischen Verteidigungspolitik, bis die Union in der Lage ist, diese Aufgabe zu übernehmen. In dieser Funktion stärkt die WEU zugleich den europäischen Pfeiler der Nordatlantischen Allianz. Sie ermöglicht den Europäern, mehr Verantwortung für ihre Sicherheit zu übernehmen und besonders in solchen Krisensituationen handlungsfähig zu sein, in denen die NATO nicht in der Lage oder nicht willens ist einzugreifen. Das Sicherheitskonzept der WEU wird stärker an ihre wachsende Bedeutung für die Europäische Union und die neuen Herausforderungen von Krisenbewältigung und Konfliktverhütung anzupassen sein. Die WEU muß dazu auf europäische Streitkräfte zurückgreifen und diese führen können. Streitkräfte und Führungsstrukturen können aus europäischen Kräften der NATO, aus multinationalen Kooperationsformen sowie aus nationalen Quellen bereitgestellt werden.

Deutschland muß die Voraussetzungen schaffen, um in vollem Umfang am Aufgabenspektrum der WEU partizipieren zu können. Die Bundeswehr entwickelt dazu neben ihrer festen Einbindung in die NATO auch eine europäische Dimension. Ein wichtiger Schritt dazu ist der deutsche Beitrag zum EURO-Korps.

31. Grundsätzlich soll die Unionsmitgliedschaft zur WEU-Mitgliedschaft führen. Dies gilt auch für neue Mitglieder der Europäischen Union. Uneingeschränkt kommen dafür zunächst die EFTA-Staaten in Betracht. Allerdings können Staaten, die noch nicht den ökonomischen Standard der Union erreichen, wohl aber die Kriterien für eine Sicherheitspartnerschaft erfüllen, durch neue Formen der WEU-Assoziierung an der Verantwortung für die europäische Integration teilhaben und ihren nationalen Anpassungsprozeß stabilisieren. Prioritäten für eine solche Zusammenarbeit besitzen aus deutscher Sicht die mittelosteuropäischen Staaten. Zur Aufrechterhaltung der Integrationsdynamik müssen daher flexible Arrangements mit Beitrittsperspektive entwickelt werden.

Rußland verfügt in jeder Hinsicht über Potentiale, die europäische Dimensionen sprengen. Der Versuch, Rußland oder die GUS voll zu integrieren, würde die Union und die WEU strategisch aus der Balance geraten lassen. Allerdings kann ein politisches Konzept für das »eine« Europa diese strategische Schlüsselregion Europas nicht ausgrenzen. Neben breit angelegter Kooperation sind daher übergreifende Elemente der europäischen Struktur zu nutzen, um die Nachfolgestaaten der Sowjetunion strategisch einzubinden und ihre legitimen Sicherheitsinteressen zu befriedigen.

32. Das Kooperationskonzept der WEU soll den Entwicklungsprozeß der jungen Demokratien Europas fördern und potentielle Mitglieder auf den Beitritt vorbereiten. Dabei wird das Konsultationsforum eine zentrale Rolle einnehmen. Darüber hinaus können kooperative Beziehungen zu den südlichen Mittelmeeranrainern eine wichtige Vorstufe zum präventiven Krisenmanagement in dieser strategisch bedeutsamen Region darstellen.

33. Die Nordatlantische Allianz bleibt Grundlage der Sicherheit Deutschlands. Sie verkörpert die strategische Einheit Europas und Nordamerikas. Nur im transatlantischen Verbund werden strategische Potentiale ausbalanciert und bleibt die gemeinsame Sicherheit der Bündnispartner erhalten. Die Allianz besitzt damit eine Stabilisierungsfunktion, die auf ganz Europa ausstrahlt. Auf der Basis dieser Kernfunktionen wird die europäische Dimension der NATO fortentwickelt werden und einen höheren Stellenwert erhalten. Konzepte, Kommando- und Streitkräftestrukturen müssen an künftige Erfordernisse im europäischen Rahmen angepaßt werden.

Als Rückgrat der euro-atlantischen Sicherheitspartnerschaft muß die NATO die neuen strategischen Trends stärker in ihrem Rollenverständnis reflektieren. In ihrer Schutzfunktion wird die NATO daher mehr Relevanz für Krisen und Konflikte im erweiterten geographischen Umfeld entwickeln müssen, um Stabilitätsanker für ganz Europa zu bleiben. Die NATO muß auch stärker verdeutlichen, daß ihr strategischer Gehalt neben der Schutzfunktion als System kollektiver Verteidigung den friedlichen Interessensausgleich und gemeinsamen Fortschritt umfaßt. Sie wird sich daher in ihrer politischen Rolle für ganz Europa deutlicher profilieren und über das heutige Kooperationskozept hinaus noch stärker den Staaten im Osten des Kontinents öffnen müssen. Die Kooperationsbeziehungen im Rahmen des Nordatlantischen Kooperationsrates (NAKR) müssen mit Blick auf das erforderliche künftige Rollenverständnis der NATO fortentwickelt werden.

(…)

Die Rolle der Streitkräfte

37. In der postkonfrontativen Ära bleiben Streitkräfte ein notwendiges sicherheitspolitisches Instrument, um Chancen wahrzunehmen und Risiken und Konflikte bewältigen zu können.

Aber auch die Streitkräfte müssen dem künftigen Verständnis von Sicherheitspolitik folgen und qualitativ und quantitativ auf die neuen Erfordernisse ausgerichtet werden. Nicht mehr die alleinige Fähigkeit zur umfassenden Verteidigung gegen eine ständig drohende Aggression, sonder flexible Krisen- und Konfliktbewältigung im erweiterten geographischen Umfeld, Friedensmissionen und humanitäre Einsätze bestimmen neben der Schutzfunktion gegen verbleibende unmittelbare Risiken ihr künftiges Anforderungsprofil.

38. Ein souveräner Staat muß wehrhaft und wehrbereit bleiben, um sich gegen die Unwägbarkeiten künftiger Entwicklungen zu wappnen. Verteidigung ist der politische Legitimationsrahmen für die Streitkräfte und die Allgemeine Wehrpflicht. Der Schutz unseres Landes gegen äußere Gefahr bleibt auch künftig Sache aller Bürger. Die Allgemeine Wehrpflicht ist die Klammer zwischen Bundeswehr und Gesellschaft. Die Wehrpflicht hat sich als Wehrform für unseren demokratischen Staat bewährt und bleibt auch weiterhin zentrales Element unserer Sicherheitsvorsorge. Eine an die neuen Rahmenbedingungen und langen Warnzeiten angepaßte Verteidigungsfähigkeit stellt auch in der Zukunft Grundlage der deutschen Sicherheitsvorsorge dar. Verteidigungsvorsorge kann künftig nicht auf das eigene Territorium beschränkt bleiben; denn sie ist ein kollektiver Ansatz. Für Deutschland bedeutet Verteidigung immer Verteidigung im Bündnis im Sinne einer erweiterten Landesverteidigung. Ein Teil der deutschen Streitkräfte muß daher zum Einsatz außerhalb Deutschlands befähigt sein.

39. Angesichts multidimensionaler und -direktionaler Risiken müssen Streitkräfte handlungsorientiert gestaltet werden. Das Handlungserfordernis wächst mit dem Intensitätsgrad der Risiken, der sich aus der Kombination von Wahrscheinlichkeit und Bedrohlichkeit ergibt. Streitkräfte sind prioritär auf die Wahrnehmung solcher Risiken zu optimieren, die einen hohen Intensitätsgrad aufweisen. Dies sind auf absehbare Zeit jene, die frühzeitiges Krisen- und Konfliktmanagement erfordern. Wesentliche Kennzeichen der dazu benötigten militärischen Kräfte sind rasche Verfügbarkeit sowie ein hohes Maß an Flexibilität und Mobilität.

40. Ursachen von Risiken und Konflikten werden generell nicht durch den Einsatz militärischer Mittel behoben. Jedoch können Streitkräfte gleichsam in einer »Katalysatorfunktion« die notwendigen Voraussetzungen schaffen, unter denen nicht-militärische Instrumente einer ursachen-orientierten Krisen- und Konfliktbewältigung Wirkung entfalten können. Um diese Instrumente nutzbar zu machen, wird im internationalen Krisenmanagement künftig auch ein frühzeitiger Einsatz militärischer Mittel zur Wahrung und Wiederherstellung der internationalen Sicherheit und des Völkerrechts unter einem legitimierenden Mandat der VN oder der KSZE erwogen werden müssen.

41. Streitkräfte sind auch für die Gestaltungsfunktion der Sicherheitspolitik von hohem Rang. Sie dienen der inneren Stabilität Europas und fördern die Entwicklung der europäischen Sicherheitsstrukturen. Dazu gehören auch Beiträge zur Rüstungskontrolle und Abrüstung.

Streitkräfte stellen darüber hinaus ein politisch bedeutsames Feld für Kooperations- und Integrationsbemühungen dar. Fortschritte im militärischen Bereich können sowohl als Initiator wie auch als »Schlußstein« politischer Integrationsprozesse dienen.

(…)

Der Auftrag der Bundeswehr

44. Die Bundeswehr trägt entscheidend dazu bei, die politische Handlungsfähigkeit zu erhalten. Sie leistet diesen Beitag als eine Komponente neben anderen im sicherheitspolitischen Instrumentarium unseres Landes. Ihr in der Verfassung begründeter Auftrag reflektiert die Wertegundlage der deutschen Sicherheitspolitik, die vitalen nationalen Sicherheitsinteressen, die neue Konstellation von Chancen und Risiken sowie die fundamental veränderte Lage und Rolle Deutschlands.

Die Bundeswehr

  • schützt Deutschland und seine Staatsbürger gegen politische Erpressung und äußere Gefahr,
  • fördert die militärische Stabilität und die Integration Europas,
  • verteidigt Deutschland und seine Verbündeten,
  • dient dem Weltfrieden und der internationalen Sicherheit im Einklang mit der Charta der Vereinten Nationen,
  • hilft bei Katastrophen, rettet aus Notlagen und unterstützt humanitäre Aktionen.

Vorgaben für die Bundeswehrstruktur

45. Die zukünftige Struktur der Streitkräfte besteht aus Hauptverteidigungs- und Krisenreaktionskräften sowie der Grundorganisation der Streitkräfte. Krisenreaktionskräfte sind zugleich auch der schnell verfügbare Teil der Hauptverteidigungskräfte. Die Streitkräftekomponenten bilden eine konzeptionelle Einheit, die stets eine planerische Gesamtbetrachtung erfordert.

46. Die dauerhaft verbesserte Sicherheitslage mit einer nutzbaren Warnzeit von mindestens einem Jahr für den Fall einer größeren Aggression erlaubt es, die Bundeswehr konsequent auf den Charakter einer Mobilmachungsarmee auszurichten. Die personelle und materielle Aufwuchsfähigkeit der Hauptverteidigungskräfte muß jedoch erhalten bleiben, um die Verteidigung im Bündnisrahmen sicherzustellen. Dies setzt die Verfügbarkeit von Reservisten voraus, die vor allem im Rahmen ihres Grundwehrdienstes auszubilden sind.

47. Die Notwendigkeit, bei kurzfristig auftretenden Krisen und Konflikten rasch, flexibel und solidarisch reagieren zu können, erfordert präsente Kräfte. Deutlich begrenzte Teilkomponenten dieser Krisenreaktionskräfte werden, nach Vorliegen der Voraussetzungen, Friedensmissionen im Einklang mit der UN-Charta übernehmen, um der deutschen Mitverantwortung in der Völkergemeinschaft gerecht zu werden.

Vorgaben für die Fähigkeiten der Bundeswehr

48. Krisenmanagement wird als künftige Schwerpunktaufgabe an die Stelle der bisherigen Ausrichtung auf die Abwehr einer großangelegten Aggression treten. Im Gegensatz zur umfassenden Verteidigungsfähigkeit besteht bei der Fähigkeit zum flexiblen Krisen- und Konfliktmanagement ein eindeutiges Defizit, das es konsequent und schnell abzubauen gilt. Die Eignung der Streitkräfte zum Kriseneinsatz muß auf breiter Grundlage verbessert werden. Krisenreaktionskräfte müssen befähigt werden, nach Art, Intensität sowie Warnzeit, Dauer und Ort unterschiedliche Krisen und Konflikte im Bündnis und anderen internationelen Kooperationsformen erfolgreich zu bewältigen. Sie müssen den daraus resultierenden neuen Anforderungen an Ausbildung, Ausrüstung, Flexibilität und Mobilität gerecht werden. Dazu gehört auch eine ständige, zentrale, teilstreitkraft-übergreifende Planungs- und Führungsfähigkeit.

49. Strategisches Denken in Phasen ist angesichts zukünftiger Konstellationen von Chancen und militärischen und nichtmilitärischen Risiken überholt. Daher verbietet sich auch eine starre Zuordnung militärischer Fähigkeiten zu den Kategorien Frieden, Krise und Krieg. Ebenso stellen die verschiedenen Stufen von Aufwuchs, Verfügbarkeit und Einsatzbereitschaft ein Kontinuum von Aggregatzuständen dar.

Vorgabe für die Bundeswehrplanung

50. Das neue Auftrags- und Fähigkeitsspektrum führt zu einer völlig veränderten Planungssituation. Erforderlich ist eine Bundeswehrplanung als ganzheitlicher Ansatz und aus einem Guß. Planerischer Schwerpunkt sind dabei die Krisenreaktionskräfte. Sie müssen mit allen nötigen Komponenten für einen flexiblen Einsatz versehen werden. Der notwendige planerische Spielraum ist bei den Hauptverteidigungskräften, bei der Grundorganisation und durch Förderung kostensparender Methoden internationaler Zusammenarbeit zu gewinnen. Bei der Aufstellung der Krisenreaktionskräfte ist der Qualität Vorrang vor schnell erreichter Quantität zu geben, auch wenn der Aufbau dann nur schrittweise erfolgen kann.

51. Vorrang für den Mitteleinsatz besitzen:

  • unabweisbare Investitionen in Truppenteile, die auf akute Handlungserfordernisse ausgerichtet werden;
  • Investitionen in eine sinnvolle, fordernde und motivierende Ausbildung;
  • Investitionen in die Lebens-, Ausbildungs- und Dienstbedingungen der Soldaten in den neuen Bundesländern.

52. Eckwerte der Bundeswehrplanung sind:

  • die Begrenzung des Friedensumfangs auf 370.000 Soldaten ab 1995 sowie die Rüstungskontrollvereinbarungen zu Obergrenzen bei vertragsrelevantem Großgerät;
  • die politischen Vorgaben zur Wehrform, Wehrdienstzeit, Personalstruktur und Finanzausstattung;
  • die Verpflichtungen, die Deutschland im internationalen Rahmen eingegangen ist (NATO, WEU, KSZE, VN).

(…)“

III. Einsatzgrundlagen laufender Kriegseinsätze der Bundeswehr

Mit den Namen Kambodscha, Jugoslawien und Somalia sind die drei Einsätze der Bundeswehr verbunden, denen auch die Bundesregierung einen besonderen Stellenwert einräumt. Während bisher sog. out-of-Area-Einsätze, wie z.B. die Minensuche der Bundeswehr im Sommer 1990 im Persisch/Arabischen Golf, noch als »normaler« Bundeswehr-Alltag verkauft wurde, muß sowohl die Bundesregierung als auch die Opposition eingestehen, daß diese Einsätze nun endgültig eine neue Qualität erreicht haben.

Interessant an dem Dokument zum Einsatz in Kambodscha ist u.a. die verfassungsrechtliche Begründung. Einerseits wird festgestellt, daß es sich um einen ganz normalen humanitären Einsatz handelt, also nicht um einen Einsatz im Sinne Art. 87a(2) GG. Andererseits wird betont, daß die Bundeswehr zum ersten Mal direkt und aktiv in einem solchen Umfang an einer VN-Mission teilnimmt und er zur Klarstellung des Verhältnisses zwischen VN und der Bundesrepublik Deutschland beiträgt. Spätestens der Tod des Feldwebels A. Arndt und sein „Staatsbegräbnis“ machte die neue Qualität dieses Einsatzes deutlich. Neben der verfassungsrechtlichen Einordnung des Einsatzes werden in dem Dokument z.B. die Probleme bei der Auswahl der Freiwilligen, die Richtlinien zum Tragen und Gebrauch von Waffen und die Kosten dieses Einsatzes beschrieben.

Das Bundesverfassungsgerichtsurteil zum AWACS-Einsatz der Bundeswehr im ehemaligen Jugoslawien dokumentiert nach den Einsatzgrundlagen (Resolution 816 VN, Regierungsentscheid) die Sichtweise der Kläger (SPD/FDP) und des Klagegegners (CDU/CSU). In der darauf folgenden Begründung der Klageablehnung wird deutlich gemacht, daß in der Frage, ob dieser Einsatz verfassungskonform oder -widrig ist, nicht entschieden wurde (das Urteil hierzu wird Ende des Jahres erwartet). Das Bundesverfassungsgericht hat ausschließlich die Nachteile gegeneinander abgewogen, die sich für die Bundesrepublik ergeben, wenn sie die Bundeswehrsoldaten aus den AWACS-Flugzeugen herausholt, bzw. wenn sie sie dort beläßt und damit an den Einsätzen teilnehmen läßt.

Interessant ist aber trotzdem zweierlei an diesem Urteil. Zum einen spricht auch die Bundesregierung selber bezüglich dieses Einsatzes – im Gegensatz zum Kambodscha-Einsatz – von einem Kampfeinsatz der Bundeswehr außerhalb des NATO-Vertragsgebietes im Rahmen der NATO, der aufgrund Artikel 24 nicht verfassungswidrig sei. Zum zweiten ist interessant, daß sich das Gericht der Einschätzung der Bundesregierung anschloß, daß ohne die deutsche Beteiligung die Durchsetzung des Flugverbotes gefährdet wäre und daß das Vertrauen der Bündnispartner in einer nichtwiedergutzumachenden Weise durch einen Abzug erschüttert würde. Insbesondere durch die Bekundungen (nicht Verpflichtungen), die die Bundesregierung in den letzten Monaten von sich gegeben hätte, sich an friedenserhaltenden und friedensschaffenden Maßnahmen zu beteiligen, wären Erwartungen bei den Verbündeten aufgebaut worden, die jetzt nicht enttäuscht werden dürften.

Jetzt zahlt sich offensichtlich das aus, worauf die Friedensbewegung schon lange kritisch hingewiesen hat: Die Bundesregierung hat durch ihre »out-of-Area«-Politik Fakten geschaffen, obwohl politisch und juristisch formal noch keine Entscheidung vorliegt.

Die drei zum Somalia-Einsatz folgenden Dokumente machen deutlich, daß es der Bundesregierung überhaupt nicht um die humanitäre Hilfe, sondern um einen Gewöhnungs- und Publicity-Effekt nach dem Motto »Dabeisein ist alles« ging. Die Aufgabenstellung und damit die Einsatzgrundlage der Soldaten hat sich während des Einsatzes immens verändert (Vergleiche den ersten mit dem bisher letzten Bericht der Bundesregierung zur Lage in Somalia.). Insbesondere das händeringende Warten auf die indischen Soldaten machen dies deutlich. Daß die humanitäre Hilfe, die die Soldaten in Somalia geleistet haben, billiger und sinnvoller von Entwicklungshilfeorganisationen hätten vollbracht werden können, steht wohl heute außer Frage.

1. Kambodscha

Bundesministerium der Verteidigung: Sanitätsdienstliche Unterstützung der VN-Mission UNTAC durch die Bundeswehr

1. Internationale Rahmenbedingungen

1.1. Zielsetzung

„Die Übergangsverwaltung der Vereinten Nationen in Kambodscha UNTAC (UN Transitional Authority in Cambodia) ist die zahlenmäßig größte und umfassendste friedenserhaltende Mission in der Geschichte der VN. Der Gesamtumfang wird voraussichtlich 15.900 Soldaten, 3.600 Polizisten und 750 zivile Mitarbeiter umfassen. Dieses Personal wird durch ein international zusammengestelltes Sanitätsbataillon (Stärke ca. 550 Mann) und den Truppensanitätsdienst der einzelnen Nationen medizinisch versorgt werden.

Ziel der Mission ist die Hilfestellung bei der Befriedung des Landes sowie Vorbereitung und Durchführung freier Wahlen im Frühjahr 1993, aus denen eine neue kambodschanische Regierung hervorgehen soll.

Die Übergangsverwaltung besteht aus einem militärischen und zivilen Teil. Den VN soll die Leitung der Schlüsselministerien während der Übergangszeit übertragen werden. In allen Bereichen der zivilen und militärischen Verwaltung wird UNTAC umfangreiche Aufsichts-, Kontroll- und Eingriffsbefugnisse erhalten.

1.2. Aufgaben von UNTAC

Die wesentlichen Aufgaben von UNTAC sind:

  • Verifizieren des Abzuges aller fremden Truppen aus dem Lande,
  • Überwachen der Unterbrechung äußeren militärischen Beistandes gegenüber den ehemals verfeindeten Parteien in Kambodscha,
  • Aufspüren von Waffenverstecken und Beschlagnahme der Waffen,
  • Hilfe beim Minenräumen und bei der Unterrichtung der Bevölkerung über Vorsichtsmaßnahmen gegenüber Minen,
  • Überwachen der Zusammenfassung der ehemals verfeindeten Gruppierungen in räumlich getrennten Stationierungsbereichen,
  • Überwachen der Entwaffnung und der Demobilisierung der bewaffneten Gruppierungen,
  • Hilfe bei der Repatriierung der Flüchtlinge, insbesondere durch Räumen der Repatriierungsstraßen von Minen.

(…)

2. Beteiligung der Bundeswehr

2.1. Frühere Leistungen der Bundesregierung für die VN

Die jetzt zugesagte Unterstützung setzt frühere Leistungen für die Vereinten Nationen fort:

  • UNEF, United Nations Emergency Force (1973): Nahost (Transportleistungen der Bundeswehr),
  • UNIFIL, United Nations Interim Force in Libanon (1978): Libanon (vorwiegend Transportleistungen der Bw),
  • UNTAG, United Nations Transition Assistance Group in Namibia (1988); Namibia (Wahlhilfe, Bundesgrenzschutz, Transportleistungen der Bw),
  • UNOCA, United Nations Observer Group in Central America (1989-1991): Mittelamerika (Medizinisches Personal, Lufttransport),

MINURSO, Mission des Nations Unies pour le Réferendum au Sahara Occidental (seit 1991): Westsahara (Bundesgrenzschutz),

UNSCOM, United Nations Special Commission for the Disarmement of Iraq (seit 1991): Irak (Bundeswehr: Spezialisten für Verifikation und Abrüstung sowie Transportunterstützung).

2.2. UNAMIC

Die Bundeswehr war seit Beginn der Mission UNAMIC im November 1991 mit einer kleinen Gruppe von Sanitätspersonal in Kambodscha vertreten. Dem deutschen Team gehörten zunächst 6 Sanitätssoldaten (3 SanOffz, 3 SanUffz) an, zu denen Mitte Februar 1992 weitere 9 Sanitätssoldaten (3 SanOffz, 4 SanUffz, 2 Mannsch.) hinzukamen. Zuletzt befanden sich in Kambodscha bis zum Eintreffen des UNTAC-Kontingentes 12 Sanitätssoldaten der Bundeswehr.

2.3. UNTAC

Die Bundesregierung hat am 08.04.1992 beschlossen, der Bitte des Generalsekretärs der VN zu entsprechen und Ärzte und Pfleger der Bundeswehr zur Unterstützung der Übergangsverwaltung der VN (UNTAC) zu entsenden.

In Abstimmung mit den VN werden in der Hauptstadt Phnom Penh ca. 140 Sanitätssoldaten ein zentrales Militärkrankenhaus unter der Bezeichnung »Deutsches Hospital Phnom Penh« mit 60 Betten (Behandlungsebene 3) einrichten und betreiben, in dem die zivilen und militärischen Angehörigen der UNTAC-Mission allgemeinärztliche sowie ambulante und stationäre fachärztliche Behandlung erfahren. Die Verlegung wird nach Maßgabe der VN ab dem 22. Mai 1992 auf dem Luftwege stattfinden.

Neben Deutschland richtet Indien 3 medizinische Zentren mit jeweils 20 Betten (Behandlungsebene 2) in Provinzhauptstädten ein. Außerdem verfügt jedes im Rahmen der UNO eingesetzte ausländische Bataillon über eigenes Sanitätspersonal.

Die Gesamtleitung der medizinischen Versorgung UNTAC wird von einem deutschen Sanitätsstabsoffizier wahrgenommen werden.

3. Rahmenbedingungen für den deutschen UNTAC-Beitrag

3.1. Verfassungsrechtslage

Die deutsche Bereitschaft, auf Bitte des VN-Generalsekretärs zur Unterstützung von UNTAC Sanitätspersonal der Bundeswehr nach Kambodscha zu entsenden, entspricht nach Auffassung der Bundesregierung der größeren internationalen Verantwortung des vereinten Deutschlands. Die Verwendung deutscher Soldaten zur sanitätsdienstlichen Unterstützung der VN in Kambodscha ist verfassungskonform. Die Bundesregierung konnte daher am 08.04.1992 im Einklang mit dem Grundgesetz beschließen, daß sich deutsche Soldaten an humanitären Aufgaben der VN in Kambodscha beteiligen.

Verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab für die Untersuchung einer Friedensmission der VN durch Angehörige des Sanitätsdienstes deutscher Streitkräfte ist Art. 87a Abs. 2 GG. Hiernach dürfen die Streitkräfte außer zur Verteidigung eingestezt werden, soweit dieses das Grundgesetz ausdrücklich zuläßt. Die verfassungsrechtliche Beurteilung hängt damit entscheidend davon ab, mit welchem Bedeutungsinhalt der Begriff des Einsatzes im Sinne des Art. 87a Abs. 2 GG zu interpretieren ist. Dem Verfassungsvorbehalt des Art. 87a Abs. 2 GG unterliegen nur solche Verwendungen der Streitkräfte, die Einsatzqualität haben, mit anderen Worten: alle Verwendungen der Streitkräfte, die kein Einsatz sind, unterliegen – vom Verbot des Angriffskrieges nach Art. 26 GG abgesehen – keinen verfassungsrechtlichen Schranken.

Der Begriff des Einsatzes bezieht sich herkömmlich auf alle Verwendungen der Bundeswehr als Mittel der vollziehenden Gewalt, wobei es nicht darauf ankommt, ob die Streitkräfte als Waffenträger eingesetzt werden oder nicht.

Dementsprechend fallen unter den Einsatzbegriff nicht rein technisch/logistische Verwendungen der Bundeswehr im In- und Ausland, z.B. Transporte von Lebens- und Arzneimitteln in Erdbebengebiete; auch Verwendungen zu humanitären Zwecken oder Transportaufgaben der Bundeswehr für VN-Friedenstruppen sind nie unter verfassungsrechtlichen Einsatzgrundsätzen behandelt worden. Dies gilt für alle umfassenden humanitären Hilfen, die die Bundeswehr in den vergangenen Jahrzehnten geleistet hat.

Die Verwendung deutscher Soldaten zur sanitätsdienstlichen Unterstützung der VN in Kambodscha entspricht dem humanitären Verwendungsmuster. Sie ist kein Einsatz i.S. des Art. 87a Abs. 2 GG.

Abgesehen von der fehlenden Qualität des Vollzugs staatlicher Gewalt hat die Hilfe der Bundeswehr bei der Friedensaktion der VN ausschließlich unterstützende Funktion. Auch insoweit unterscheidet sich die Verwendung deutscher Sanitätssoldaten zur sanitätsdienstlichen Unterstützung der VN qualitativ von einem Einsatz von Soldaten bei einer VN-Friedenstruppe (»Blauhelme«).

Die Soldaten der Bundeswehr haben als Sanitätspersonal keinen eigentlichen militärischen Einsatzauftrag zu erfüllen. Ein Einsatz von Friedenstruppen hätte eine Qualität einer echten militärischen Operation zu erfüllen. So haben VN-Friedenstruppen z.B. im Sinne einer Pufferwirkung, die den Friedenstruppen der VN zugedacht ist, zu wirken. Eine solche Aufgabe kann nur dann erfüllt werden, wenn die betroffenen Einheiten auch tatsächlich in der Lage wären, eine für sie vorgesehene Zwischenzone auszufüllen. Im Unterschied zu Sanitätspersonal wären außerdem die Angehörigen einer VN-Friedenstruppe dazu vorgesehen, durch die Entwicklung militärischer Präsenz Wirkung gegen die Aufnahme von Feindseligkeiten zu entfalten. Das ist bei der humanitären Verwendung deutscher Sanitätssoldaten in Kambodscha im Rahmen ihrer VN-Unterstützung ebenfalls nicht der Fall.

Schließlich ist auch unter dem Aspekt des humanitären Völkerrechts die Aufgabe des Sanitätspersonals der Bundeswehr in Kambodscha nicht als eine Verteidigungsaufgabe im Sinne des Art. 87a Abs. 2 GG zu bewerten. In Kambodscha besteht kein bewaffneter Konflikt internationalen Charakters, der den Sanitätssoldaten den ihnen in einem solchen Falle zukommenden Status als Repräsentanten einer Konflitkpartei geben würde. Zwar sind innere Unruhen nicht auszuschließen; die auch für diese Fälle anwendbaren humanitären Schutznormen lassen aber keineswegs die Schlußfolgerung zu, daß diese humanitäre Hilfeleistung als eine Verteidigungsmaßnahme im Sinne der Charta der Vereinten Nationen oder des Grundgesetzes einzuordnen wäre.

Im Ergebnis läßt sich deshalb festhalten, daß wegen der Qualität als humanitäre Hilfe im Sinne der Praxis der Bundesregierung, wegen des Fehlens der Ausübung vollziehender Gewalt und wegen der lediglich unterstützenden Funktion die Verwendung des Sanitätspersonals der Bundeswehr in Kambodscha als verfassungsrechtlich bedenkenfrei zu bewerten ist.

3.2. Einordnung in den VN-Auftrag, Unterstellung und Status

Der deutsche militärische Sanitätsbeitrag für UNTAC stellt nach seinem Umfang eine neue Qualität der VN-Unterstützung dar. Mit den für humanitäre Ziele eingesetzten Kräften vor Ort bei einer Friedensmission nimmt Deutschland zum ersten Mal aktiv und direkt an einer derartrigen Mission teil.

Die damit gebenene neue politische Qualität trägt zur Klarstellung des Verhältnisses zwischen Deutschland und den VN bei.

Festzuhalten ist:

Die deutschen Soldaten bleiben in jeder Hinsicht ihren deutschen Vorgesetzten unterstellt; nur diese sind befugt, ihnen Befehle zu geben, die mit dem Anspruch auf Gehorsam befolgt werden müssen und im Weigerungsfall z.B. wehrstrafrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Der Vorgesetzte der VN hat den deutschen Soldaten gegenüber keine formelle Befehlsbefugnis (diese setzte eine Übertragung von Hoheitsrechten, nämlich der Befehls- und Kommandogewalt, durch Gesetz auf die VN voraus, die die Bundesrepublik Deutschland bisher nicht vorgenommen hat (Art. 24 Abs. 1 GG)).

Im Hinblick auf Ziff. 9 der »UN Guidelines for Governments Contributing Troops to UNTAC« (Command) werden die zur Unterstützung entsandten deutschen Soldaten mit Eintreffen in Kambodscha auf Zusammenarbeit mit der Kommandostruktur UNTAC angewiesen (obligatory cooperation): sie verbleiben aber unter deutschem militärischem Kommando.

Die Bundesregierung geht davon aus, daß das deutsche Kontingent im Einklang mit den erwähnten »Guidelines« als Teil von UNTAC betrachtet wird und entsprechend auch selbst den vollen Schutz, wie ihn die VN in Kambodscha bereitstellen und gewährleisten, genießt.

(…)

3.4 Tragen von Waffen

Die Erlaubnis zum Tragen von Waffen im Rahmen von UNTAC ergibt sich aus Ziff. 12 der UNTAC-Guidelines sowie aus dem Recht des »Special Representative« der VN in Kambodscha, für bestimmte Mitglieder von UNTAC das Tragen von Waffen im Dienst anzuordnen (SOFA Art. VI, Nr. 34a).

Auch deutsche Soldaten dürfen im Rahmen dieser Regelungen in Kambodscha zu ihrer Selbstverteidigung eine Waffe tragen. Die Fürsorge- und Schutzpflicht fordern vom Dienstherrn im Rahmen des Dienst- und Treueverhältnisses, daß er Schutzmaßnahmen ergreift, die Soldaten – soweit wie möglich und mit dem dienstlichen Auftrag vereinbar – insbesondere vor Gefahren für Leib und Leben bewahren, die mit der Dienstleistung verbunden sind.

Der Dienstherr hat sicherzustellen, daß Soldaten, die im Hinblick auf ihr pflichtgemäßes dienstliches Verhalten oder wegen ihrer Soldateneigenschaft voraussehbaren rechtswidrigen Angriffen ausgesetzt sind, mit geeigneten Verteidigungsmitteln ausgestattet werden. Dazu gehört die Pistole als Selbstverteidigungsmittel für den Sanitätssoldaten und die ihm anvertrauten Patienten.

(…)

6. Personal

6.1. Personalauswahl

Zentrale Erfassungsstelle aller Freiwilligenmeldungen ist das Sanitätsamt der Bundeswehr. Ausdrücklich wurden in den Aufruf zur freiwilligen Teilnahme auch die Reservisten einbezogen. Ebenso können zivile Mitarbeiter der Bundeswehr, z.B. Krankenschwestern, Schreibkräfte, Verwaltungsbeamte, an dem Einsatz teilnehmen.

6.2. Freiwilligenaufkommen

Seit dem 15.04.1992 wird eine gezielte Freiwilligenwerbung durchgeführt. Insgesamt ist das Aufkommen für die Besetzung des ersten Kontingents ausreichend. Der sich von Anfang an abzeichnende Mangel an Fachärzten konnte inzwischen zumindest für den Ersteinsatz weitgehend behoben werden; z.Zt. fehlen lediglich noch je ein Facharzt für Augenheilkunde, Gynäkologie und Hals-, Nasen-, Ohrenheilkunde.

Durch die Besetzung eines Teils der Facharztstellen mit Ärzten in der Weiterbildung ist die Arbeitsfähigkeit des Deutschen Hospitals für die ersten 6 Monate sichergestellt. Fachärzte sind offensichtlich wenig bereit, zu den aktuellen Bedingungen an dem Vorhaben in Kambodscha teilzunehmen. Es muß geprüft werden, ob ggf. die Rahmenbedingungen für diesen Personenkreis verbessert werden können, z.B. durch die Gewährung besonderer Zulagen oder Verminderung der Verweildauer.

(…)

6.5. Ausbildung

Auf einem Einweisungslehrgang wurden die Soldaten mit den geographischen, geschichtlichen, politischen und kulturellen Gegebenheiten des Landes vertraut gemacht. Sie wurden über Struktur und Aufgaben der Vereinten Nationen und der Mission UNTAC im besonderen unterrichtet. Sie lernten, die Gefährdung durch Minen und andere gesundheitliche Risiken zu vermeiden und wurden in ihren speziellen sanitätsdienstlichen Auftrag und den Umgang mit dem Material eingewiesen. Dort fanden auch die Ausstattung mit zusätzlichen Uniformteilen und die Abwicklung administrativer Maßnahmen statt.

(…)

8. Kosten

8.1. VN-Leistungen

Die Transporte von Material und Personal, Materialersatz und Abnutzung, Unterbringung und Verpflegung, handwerkliche oder andere Dienstleistungen vor Ort, Postverkehr, medizinische Versorgung usw. werden entweder von den VN unmittelbar geleistet oder kostenmäßig rückerstattet. Die Vereinten Nationen übernehmen die Reisekosten bezogen auf eine Standzeit von je 6 Monaten sowie die Kosten für den Gepäcktransport zunächst von bis zu 100 kg, bei dem später zu entsendenden Rotationspersonal von 45 kg pro Person.

Ferner erhält das entsandte Personal individuelle Tagegelder in Höhe des für die Region und Funktion geltenden Satzes der VN. In Kambodscha liegt dieser Satz bei 1,28 US-$. Als Ausgleich für die weiterzuzahlenden Gehälter bekommen die Nationen einen Ausgleich von 988 US-$ pro Mann und Monat erstattet.

8.2. Leistungen des Bundes

Im Sinne der Fürsorge und zur Garantie eines ausreichend hohen Freiwilligenaufkommens ergeben sich für den Bund bei einem Umfang von 150 Soldaten pro Jahr voraussichtlich folgende Kosten:

7,5 Mio DM für Material

1,2 Mio DM Reisekosten für vorzeitig notwendig werdenden Personalaustausch

8,1 Mio DM an Abfindung für Aufwandsentschädigung von 100 DM pro Mann und Tag + reisekostenrechtlicher Aufwandsvergütung von 13,15 DM täglich + Zulage für Dienst zu ungünstigen Zeiten von durchschnittlich ca. 440 DM je Monat + finanzieller Dienstzeitausgleich (nur BS/SaZ) für mehrgeleisteten Dienst von durchschnittlich 750 DM je Monat

1 Mio DM an Fürsorge- und Betreuungskosten

2 Mio DM für Fernmeldebetrieb

1,5 Mio DM für Vertragsärzte als Ersatz für die aus der unentgeltlichen truppenärztlichen Versorgung abgezogenen SanOffz.

Dem stehen gegenüber an Einnahmen:

2 Mio DM an Rückvergütung der VN für Personal

2 Mio DM an Rückvergütung der VN für Material

1 Mio DM Kostenerstattung für Vertragsärzte. Jahres-Kostenbilanz bei einem Umfang von 150 Soldaten:

Ausgaben: 21,3 Mio DM

Einnahmen: 6,0 Mio DM

Saldo: 15,3 Mio DM

8.3. Haushaltstechnische Regelungen

8.3.1. Haushaltstechnische Abwicklung

Für die Vorbereitung der Hilfsmission, insbesondere für erforderliche Sofortbeschaffungen, wurden sog. Vorschußkonten eingerichtet, durch die eine Vorfinanzierung der erforderlichen Mittel durchgeführt wird. Bei Erstattungsleistungen durch das AA werden die Belastungen auf den Vorschußkonten ausgeglichen.

Ein Ausgleich von hierüber hinausgehenden, d.h. von Erstattungen des AA nicht gedeckten Belastungen, bedarf eines im EPl 05 neu einzufügenden Titels, zu dessen Bewirtschaftung BMVg ermächtigt wird. Die hierfür erforderlichen Maßnahmen werden z.Zt. auf der Grundlage der HHO und ggf. im Wege eines Antrages auf überplanmäßige Haushaltsmittel (ÜPl-Antrag) mit BMF und AA erörtert.

(…)

10.2. Seelsorge

Das deutsche Kontingent wird zeitweilig von deutschen Militärgeistlichen beider Konfessionen betreut werden. Durch christliche Veranstaltungen gemeinsam mit anderen Nationen wird die Kontinuität der seelsorgerischen Betreuung angestrebt.

(…)“

2. Ehemaliges Jugoslawien

Bundesverfassungsgerichtsurteil vom 8. April 1993 zur Beteiligung von Bundeswehrsoldaten am AWACS-Einsatz über Bosnien-Herzegowina (Auszug)

A.

Die zur gemeinsamen Entscheidung verbundenen Verfahren betreffen den Beschluß der Bundesregierung über die Beteiligung deutscher Soldaten an der Durchsetzung des von den Vereinten Nationen verhängten Flugverbotes im Luftraum über Bosnien-Herzegowina.

I.

1. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen verhängte mit der Resolution 781 vom 9. Oktober 1992 ein Flugverbot für Militärflugzeuge im Luftraum über Bosnien-Herzegowina und ersuchte die Schutztruppe der Vereinten Nationen (UNPROFOR), es zu überwachen. Die Mitglieder der Nordatlantikpakt-Organisation (NATO) übernahmen diese Aufgabe und setzten dazu AWACS (Airborne Warning and Control System – luftgestütztes Frühwarn- und Kontrollsystem)-Fernaufklärer ein, in denen Soldaten verschiedener NATO-Mitgliedsländer als integrierte Einheit tätig sind. Mit diesen Flugzeugen werden Flugbewegungen aus großer Höhe erfaßt; sie können zugleich als Feuerleitstand für den Einsatz von Jagdflugzeugen gegen gegnerische Flugzeuge dienen. Etwa ein Drittel des militärischen Personals des AWACS-Verbandes sind Soldaten der Bundeswehr in verschiedenen Funktionen.

Am 31. März 1993 verabschiedete der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen die Resolution 816, deren hier maßgebliche Bestimmungen in Nrn. 1 und 4 lauten:

„Der Sicherheitsrat … in Ausführung des Kapitels VII der Charta der Vereinten Nationen …

1. beschließt, das durch die Resolution 781 (1992) erlassene Verbot auf alle Flüge mit Starrflügel oder Drehflügelluftfahrzeugen im Luftraum der Republik Bosnien und Herzegowina auszudehnen, wobei dieses Verbot nicht für von UNPROFOR nach Absatz 2 genehmigte Flüge gilt;

2. …

3. …

4. ermächtigt die Mitgliedstaaten, sieben Tage nach der Verabschiedung dieser Resolution im Auftrag des Sicherheitsrats sowie unter der Voraussetzung, daß sie eng mit dem Generalsekretär und UNPROFOR zusammenarbeiten, einzeln oder durch regionale Organisationen oder Abmachungen im Falle weiterer Verstöße alle notwendigen Maßnahmen im Luftraum der Republik Bosnien und Herzegowina zu ergreifen, um die Einhaltung des in Absatz 1 genannten Flugverbotes unter angemessener Berücksichtigung der jeweiligen Umstände sowie der Art der Flüge sicherzustellen; …

Am 2. April 1993 traf die Bundesregierung gegen die Stimmen der F.D.P.-Minister folgende Entscheidung:

4. Sie (die Bundesregierung) ist einverstanden, daß der NATO-AWACS-Verband nunmehr in Übereinstimmung mit Sicherheitsratsresolution 816 vom 31.03.1993 auch unter deutscher Beteiligung daran mitwirkt, dieses Flugverbot durchzusetzen.“

Der NATO-Rat erklärte mit Beschluß vom 2. April 1993 seine Bereitschaft, die Umsetzung der vom Sicherheitsrat beschlossenen Resolution 816 zu unterstützen. Er bestätigte darüber hinaus seine Zustimmung zu den einzelnen Durchsetzungsphasen, den Einsatzrichtlinien sowie den sonstigen Planungen.

2. Die Verfassungsmäßigkeit des Beschlusses der Bundesregierung ist zwischen den Mitgliedern, die den Unionsparteien angehören, und denen, die F.D.P.-Mitglieder sind, sowie zwischen den Koalitionsparteien umstritten. Man kam überein, daß die Bundesregierung mit der Mehrheit ihrer Mitglieder den Beschluß fassen könne, die F.D.P.-Fraktion hiergegen aber einen Antrag beim Bundesverfassungsgericht stellen werde mit dem Ziel, die Verfassungswidrigkeit dieses Beschlusses feststellen zu lassen; mit diesem Antrag sollte ein Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung verbunden werden, um den Vollzug der Regierungsentscheidung zu hindern. Solche Anträge haben die Antragsteller im Verfahren 2 BvE 5/93 gestellt.

3. Die Bundestagsfraktion der SPD hält den Beschluß der Bundesregierung ebenfalls für verfassungswidrig und beantragt den Erlaß einer einstweiligen Anordnung.

II.

1. Die Antragsteller vertreten die Auffassung, die Entscheidung der Bundesregierung verletze die Rechte des Bundestages; die Fraktionen seien befugt, diese Rechte im Wege der Prozeßstandschaft geltend zu machen. Die Abgeordneten der F.D.P.-Fraktion seien darüberhinaus in eigenen parlamentarischen Mitwirkungsrechten verletzt.

Der Kampfeinsatz von Bundeswehrsoldaten außerhalb des NATO-Bündnisgebietes ohne Eintritt des Bündnisfalles sei weder durch Art. 87 a Abs. 2 GG noch durch Art. 24 Abs. 2 GG gedeckt. Hierfür hätte es einer Änderung des Grundgesetzes bedurft. Art. 87 a Abs. 2 GG statuiete im Erfordernis eines „ausdrücklichen“ Zulassens des Streitkräfteeinsatzes einen spezifischen Übergehungsschutz zugunsten des verfassungsändernden Gesetzgebers. Die SPD-Fraktion macht darüber hinaus geltend, daß die Bundesregierung durch den angegriffenen Beschluß an einem inhaltlichen Wandel der NATO- und WEU-Verträge mitwirke und dadurch Rechte des Bundestages aus Art. 59 Abs. 2 GG verletze. Außerdem fehle die gesetzliche Grundlage, um deutsche Soldaten dem Kommando des NATO-Oberbefehlshabers Europa zu unterstellen.

2. Der Erlaß der einstweiligen Anordnung sei zur Abwehr schwerer Nachteile zum gemeinen Wohl dringend geboten. Leben und Gesundheit deutscher Soldaten würden gefährdet, ohne daß dies parlamentarisch entschieden und verantwortet worden sei. Die militärische Durchsetzung des Flugverbotes stelle eine bewaffnete kriegerische Konfrontation dar. Dies könne den Soldaten der Bundeswehr und ihren Angehörigen nur auf der Grundlage einer gesicherten Rechtslage zugemutet werden.

Sollte die einstweilige Anordnung nicht ergehen und kämen deshalb Soldaten zu Schaden, werde die angegriffene Maßnahme später jedoch im Hauptsacheverfahren für verfassungswidrig erklärt, so wäre dies für „die soziologische Verfassung des deutschen Staates, das Integrationsgefühl der Bürger und die Rechtfertigungsnachfrage der Betroffenen geradezu verheerend“.

Die SPD-Fraktion macht geltend, die Bundesrepublik schaffe durch die Beteiligung an der Militäraktion einen für sie völkerrechtlich verbindlichen Vertrauenstatbestand und enge faktisch den Spielraum des verfassungsändernden Gesetzgebers ein. Allein deshalb sei die Beteiligung des Parlamentes nach Art. 59 Abs. 2 GG erforderlich. Der Entscheidung der Bundesregierung liege eine neue Verfassungsauslegung zugrunde; sollte diese keinen Bestand haben, so beeinträchtige der neuerliche Wechsel das Vertrauen der Soldaten und der Verbündeten in die Verläßlichkeit und Berechenbarkeit der Bundesrepublik.

Das AWACS-System bleibe auch ohne deutsche Beteiligung funktionsfähig. Der wesentliche Schaden einer einstweiligen Anordnung könne nur auf politischem Gebiet liegen; sie beende jedoch den politischen Begründungsnotstand für die deutsche Zurückhaltung bei der Beteiligung an internationalen militärischen Maßnahmen zur Friedenssicherung überzeugend und belege die Kraft des deutschen Rechtsstaates.

Die verfassungsrechtlichen Beschränkungen des Einsatzes der Bundeswehr seien im Ausland bekannt. Es werde nicht erwartet, daß die Bundesrepublik sich über ihre Verfassung hinwegsetze. Umgekehrt könnte eine Änderung der Praxis ohne Änderung der Verfassung oder ohne eine verfassungsgerichtliche Klarstellung den Eindruck erwecken, die bisher vorgebrachten Bedenken seien nicht gewichtig, ja sogar nur vorgeschoben gewesen. Da zur Beteiligung an den militärischen Maßnahmen aufgrund der Sicherheitsratsresolution weder aufgrund der VN-Charta noch des NATO-Vertrages eine Verpflichtung bestehe, könne der Bundesrepublik nicht die Nichterfüllung ihrer völkerrechtlichen Verpflichtungen vorgehalten werden.

III.

Die Antragsgegner halten die Anträge für unzulässig, jedenfalls für unbegründet.

1. Den Fraktionen fehle die Antragsbefugnis, weil zwischen ihnen und der Bundesregierung nicht das erforderliche verfassungsrechtliche Rechtsverhältnis bestehe. Art. 87 a Abs. 2 GG sei nicht dazu bestimmt, Rechte des Bundestages zur Gesetzgebung zu gewährleisten.

2. a) Die Zulässigkeit von Kampfeinsätzen von Soldaten der Bundeswehr im Rahmen der NATO zur Durchsetzung von Zwangsmaßnahmen, die vom VN-Sicherheitsrat verhängt worden sind, ergebe sich aus Art. 24 Abs. 2 GG. Art. 87 a Abs. 2 GG stehe dem nicht entgegen. Dieser Einsatz der Streitkräfte verlange keine Mitwirkung des Parlaments.

b) Der Verbleib der deutschen Soldaten an Bord der AWACS-Flugzeuge führe zu keiner in die Zukunft wirkenden allgemeinen völkerrechtlichen Bindung der Bundesrepublik. Die Bundesregierung könne völkerrechtlich ihre Haltung in den NATO-Gremien und gegenüber den Vereinten Nationen ändern und die deutschen Soldaten aus dem AWACS-Verband zurückziehen. Der verfassungsändernde Gesetzgeber werde deshalb nicht vor vollendete Tatsachen gestellt.

Die Gefahren für die deutschen Soldaten in den AWACS-Flugzeugen seien nicht größer als bei den seit Monaten laufenden Überwachungsflügen und geringer als bei den humanitären Hilfsflügen. Die behaupteten konkreten Gefährdungen seien wegen der Einsatzbedingungen nicht gegeben.

Erginge die einstweilige Anordnung, bliebe der Organstreit in der Hauptsache aber erfolglos, so ergäben sich schwerwiegende Nachteile für die Bundesrepublik. Ohne deutsche Beteiligung sei die Einsatzfähigkeit des AWACS-Verbandes in Frage gestellt, jedenfalls aber nachhaltig eingeschränkt. Das von den Vereinten Nationen verhängte Flugverbot sei zeitlich und räumlich nur noch lückenhaft durchzusetzen.

Bündnispolitisch würde der Erlaß einer einstweiligen Anordnung zu einem Vertrauensverlust bei den NATO-Partnern führen, der letztlich die Verteidigungsfähigkeit Deutschlands mindere. Das Zurückziehen deutscher Kräfte aus einem integrierten Verband komme einer Aufkündigung der Bündnissolidarität gleich. Die Bundesrepublik habe die Solidarität ihrer Partner immer wieder eingefordert. Bei einem Abzug des deutschen Personals aus dem AWACS-Verband würde gerade in dem Augenblick das die NATO-Allianz ausmachende Prinzip der Gegenseitigkeit unterlaufen, in dem die Partnerstaaten Solidarität erwarteten. Zugleich werde die Entwicklung von Strategie und Organisation der NATO, die sich in Richtung auf multinationale Verbände bewege, empfindlich gestört.

IV.

In der mündlichen Verhandlung haben sich Mitglieder des Bundestages und der Bundesregierung sowie Generale der Bundeswehr geäußert. Der Generalsekretär der NATO hat zu bündnispolitischen Fragen Stellung genommen.

B.

Eine einstweilige Anordnung kann nicht ergehen.

1. Nach S 32 Abs. 1 BVerfG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Bei der Prüfung dieser Voraussetzungen ist ein besonders strenger Maßstab anzulegen, wenn eine Maßnahme mit völkerrechtlichen oder außenpolitischen Auswirkungen betroffen ist (vgl. auch BVerfGE 83, 162, 171 f.).

Dabei müssen die Gründe, welche für die Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Maßnahme sprechen, außer Betracht bleiben, es sei denn, die in der Hauptsache begehrte Feststellung erwiese sich von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet. Das Bundesverfassungsgericht wägt die Nachteile, die einträten, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, die Maßnahme aber später für verfassungswidrig erklärt würde, gegen diejenigen ab, die entstünden, wenn die Maßnahme nicht in Kraft träte, sie sich aber im Hauptsacheverfahren als verfassungsgemäß erwiese (vgl. BVerfGE 86, 390, 395; st. Rspr.)

(…)

3. a) Ergeht die einstweilige Anordnung, erweist sich aber der Einsatz deutscher Soldaten später verfassungsrechtlich als zulässig, drohen der Bundesrepublik Deutschland schwere Nachteile.

Die Bundesrepublik Deutschland unterhält und betreibt von Anfang an zusammen mit elf anderen, der NATO angehörenden Nationen den NATO-Frühwarnverband (AWACS-Verband) als voll integrierten Verband des Bündnisses. Sein allgemeiner Auftrag besteht darin, im Rahmen der integrierten NATO-Luftverteidigung Frühwarnung zu betreiben und die Luftlageerstellung zu unterstützen. Der deutsche Anteil am militärischen Personal beträgt über 30 %; die Flugsicherung wird ausschließlich von Deutschen gewährleistet. Die mündliche Verhandlung hat ergeben, daß dem Einsatz gerade dieses Verbandes für die Durchsetzung des Flugverbots eine Schlüsselrolle zukommt. Wenn die gefestigte, auf eingehender Schulung beruhende Zusammenarbeit bei den Einsätzen des AWACS-Verbandes aufgrund vorangegangener Resolutionen des VN-Sicherheitsrates gerade in dem Zeitpunkt abgebrochen würde, in dem nach Auffassung der Bündnispartner ein besonders gewichtiger Einsatz ansteht, so müßte dies nach Einschätzung der Bundesregierung, aber auch des Generalsekretärs der NATO, von den Bündnispartnern – ungeachtet etwaiger Möglichkeiten, das Ausscheiden deutscher Soldaten auszugleichen – als eine empfindliche Störung der von der Völkerrechtsgemeinschaft autorisierten und von der NATO unterstützten Maßnahme empfunden werden.

Die mündliche Verhandlung hat zudem ergeben, daß bei einem Abzug der deutschen Soldaten aus dem AWACS-Verband dessen Einsatzfähigkeit erheblich beeinträchtigt, die Durchsetzung des Flugverbots mithin gefährdet wäre. Die auf Zusammenarbeit der jeweils 17 – 18 Besatzungsmitglieder unterschiedlicher Nationen beruhende Einsatzfähigkeit des Verbandes würde nach Auskunft des Kommandeurs der Einheit, Brigadegeneral Ehmann, bei Herausnahme der deutschen Besatzungen selbst unter Ausschöpfung aller Möglichkeiten nach 14 Tagen – gemessen am Einsatzauftrag – entscheidend geschwächt. Die mit der Resolution 816 des Sicherheitsrats beabsichtigte politische Signalwirkung würde so verfehlt. Das Bundesverfassungsgericht hat keine Anhaltspunkte, die zu der Annahme zwingen, daß diese Einschätzungen fehlerhaft sein könnten.

Führt das Verfahren in der Hauptsache zu einer abschließenden Klärung dahin, daß die Verfassung die Beteiligung deutscher Streitkräfte an der Maßnahme nicht erlaubt, so muß das Bündnis das Ausscheiden deutscher Soldaten hinnehmen, selbst wenn dadurch die Einsatzfähigkeit des integrierten NATO-Verbandes empfindlich geschwächt würde und nur noch eine lückenhafte Durchsetzung des Flugverbotes möglich wäre. Es handelte sich dann um die Klärung der verfassungsrechtlichen Grundlage eines Mitgliedstaates für den Einsatz seiner Streitkräfte, wie sie auch nach Art. 11 des NATO-Vertrages jedem Bündnispartner vorbehalten ist. Solange indes die Verfassungsrechtsfrage noch offen ist, läge ein schwerer Nachteil vor, wenn die Bundesregierung entgegen ihrer Rechtsauffassung und politischen Einschätzung die deutschen Soldaten aus dem Verband abziehen müßte, sich später aber erwiese, daß die Verfassung die Mitwirkung deutscher Streitkräfte zuläßt. Dadurch würde das Vertrauen, das sich die Bundesrepublik Deutschland innerhalb des Bündnisses durch ihre bisherige stetige Mitwirkung in dem AWACS-Verband erworben hat, aufs Spiel gesetzt.

Die Haltung der Bundesregierung zum AWACS-Einsatz beruht maßgeblich auf der Tatsache, daß der Sicherheitsrat in seiner Resolution 816 diese Maßnahme im Rahmen des Friedensauftrages nach Kapitel VII VN-Charta autorisiert hat und erwartet, daß die in ihr angesprochenen Mitgliedstaaten einzeln oder durch regionale Organisationen sich daran beteiligen. Diese Erwartung wurde in der mündlichen Verhandlung sowohl vom Bundesminister des Auswärtigen wie vom Bundesminister der Verteidigung bestätigt; ihre Grundlage ist die Mitgliedschaft der Bundesrepublik Deutschland in den Vereinten Nationen und in der NATO. Unbeschadet der in der Vergangenheit und gegenwärtig geäußerten verfassungsrechtlichen Vorbehalte hat die Bundesrepublik Deutschland gerade in jüngster Zeit in einer Reihe von internationalen Dokumenten ihre Bereitschaft bekundet, im Rahmen der verschiedenen Bündnissysteme friedenserhaltende und friedensherstellende Operationen unter der Autorität des VN-Sicherheitsrats zu unterstützen (vgl. etwa das neue Strategische Konzept des Bündnisses, veröffentlicht auf der Tagung der Staats- und Regierungschefs des Nordatlantikrates am 7. und 8. November 1991 in Rom, Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 128 vom 13. November 1991, S. 1039 – 1045 unter Nr. 42; die sogenannte Petersberg-Erklärung der Westeuropäischen Union vom 19. Juni 1992, Bulletin Nr. 68 vom 23. Juni 1992, S. 649, unter I. 2., II. 4.; Kommunique der Ministertagung des Nordatlantikrates vom 17. Dezember 1992 in Brüssel, Bulletin Nr. 141 vom 29. Dezember 1992, S. 1305 – 1309 unter Nr. 6 – 8.

Erginge die einstweilige Anordnung, müßte die Bundesrepublik Deutschland, indem sie ihre Mitwirkung an dem integrierten multinationalen Verband im Rahmen einer völkerrechtlich vereinbarten Friedenssicherungsaufgabe im Augenblick der Aktion abbricht, die durch ihr bisheriges Verhalten begründete Erwartung enttäuschen. Angesichts der Unaufschiebbarkeit der Maßnahme könnte sie den ihr obliegenden Beitrag zur Friedenssicherung gerade jetzt nicht leisten, wo er gefordert ist. Ein Vertrauensverlust bei den Bündnispartnern und allen europäischen Nachbarn wäre unvermeidlich, der dadurch entstehende Schaden nicht wiedergutzumachen.

b) Demgegenüber wiegen die Nachteile weniger schwer, die entstehen, wenn die einstweilige Anordnung nicht erlassen wird, die Mitwirkung deutscher Soldaten sich später aber als unzulässig erweist.

Durch eine Mitwirkung deutscher Soldaten in dem AWACS-Verband – sie allein ist Gegenstand dieses Urteils – wird kein völkerrechtlich erheblicher Vertrauenstatbestand begründet. Eine solche Mitwirkung kann auf der Grundlage des anhängigen Verfahrens und des vorliegenden Urteils nur als vorläufige, in ihrer Fortsetzung vom Ausgang der Hauptsacheverfahren abhängige Zusammenarbeit gedeutet werden, zumal wenn die Bundesregierung dies den beteiligten auswärtigen Staaten notifizieren wird.

Ein wesentlicher Schaden erwächst dem Gemeinwohl auch nicht aus der Situation der zum Einsatz kommenden deutschen Soldaten. Nach der in der mündlichen Verhandlung vorgetragenen Einschätzung des Generalinspekteurs der Bundeswehr, General Naumann, und des Kommandeurs des AWACS-Verbandes, Brigadegeneral Ehmann, besteht für die Soldaten bei der gegebenen Einsatzplanung keine erhebliche militärische Gefährdungslage; deren Eintreten sei zudem militärpolitisch wenig wahrscheinlich.

Der Soldat trägt auch kein rechtliches Risiko, wenn sich später die Verfassungswidrigkeit des Einsatzes ergeben sollte. Die Tätigkeit des Verbandes hält sich im Rahmen des Beschlusses des Sicherheitsrates 816 vom 31. März 1993 und steht im Einklang mit der Zielsetzung der Charta der Vereinten Nationen, den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu gewährleisten, unabhängig von der abschließenden Klärung der Frage, ob die Bundesregierung seinen Einsatz anordnen durfte. Die Verantwortung für die verfassungsrechtliche Zulässigkeit dieser Anordnung tragen nicht die an dem Einsatz beteiligten Soldaten sondern die Bundesregierung. Das Gesetz stellt die Soldaten von dieser Verantwortlichkeit frei (§ 11 Soldatengesetz).

Allerdings kann in einer Lage, in der Soldaten der Bundeswehr erstmalig zu einem Kampfeinsatz geschickt werden und dieser nicht der unmittelbaren Verteidigung gegen Angriffe auf die Bundesrepublik oder einen ihrer Bündnispartner dient, ein Nachteil für das gemeine Wohl daraus erwachsen, daß bei späterer Feststellung der Verfassungswidrigkeit des Einsatzes das Vertrauen der Soldaten darauf enttäuscht wird, daß eine so weittragende Entscheidung auf einer gesicherten verfassungsrechtlichen Grundlage beruht. Dieser Nachteil tritt hier jedoch an Bedeutung zurück; die Bundeswehrführung wird darauf verweisen können, daß ihre Befehle auf einer verantwortlichen Beurteilung der komplexen Rechtslage durch die dafür zuständige, demokratisch legitimierte Bundesregierung beruhten.

Auch für die innerstaatliche Ordnung entsteht kein nicht wiedergutzumachender Nachteil. Vollendete Tatsachen werden nicht geschaffen. Erkennbar ist für die Bürger in Deutschland, daß über die Zweifel an der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit einer Mitwirkung deutscher Soldaten bei der Durchsetzung der Sicherheitsratsresolution 816 vom 31. März 1993 derzeit noch nicht entschieden ist, die in der Hauptsache zu treffende Entscheidung aber sofort befolgt werden wird. Deshalb kann weder für das Rechtsbewußtsein in Deutschland noch für das Vertrauen in die verfassungsrechtliche Gebundenheit der Bundesrepublik. Deutschland ein Schaden entstehen. Eine wie immer geartete Präjudizierung künftiger Entscheidungen von Verfassungsorganen tritt nicht ein. Entgegen der seitens der Antragsteller geäußerten Auffassung könnte daher bei der Entscheidung über die Hauptsache das Argument nicht gehört werden, der Einsatz des AWACS-Verbandes unter Beteiligung deutscher Soldaten habe als Element der Staatspraxis Gewicht für die Auslegung des NATO-Vertrages.

Die Überzeugungskraft der Argumente, mit denen die Antragsteller ihre abweichende Gewichtung der bei Nichterlaß einer einstweiligen Anordnung befürchteten Nachteile begründen, leidet im übrigen daran, daß mit den Anträgen nur der Abzug des fliegenden Personals des AWACS-Verbandes begehrt wird, obwohl die vorgetragenen Bedenken abgesehen von der Frage nach einer potentiellen Gefährdung in gleicher Weise für das Bodenpersonal gelten, dessen Einsatz sie bis zur Entscheidung in der Hauptsache hinzunehmen bereit sind. (…)“

3. Somalia

a) Wochenbericht des Bundesministers der Verteidigung zum Bundeswehreinsatz in Somalia für das Parlament, Bonn, 9. Juli 1993, Fü S III, 5

I. Beteiligung der Bundeswehr im Rahmen der humanitären Gesamtzielsetzung von UNOSOM II

„Die Bundesregierung hat am 21.04.1993 entschieden, auf Grundlage der Resolution 814 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen (VN) und der Anforderung des Generalsekretärs der VN vom 12.04.1993 die Operationen der VN in Somalia (UNOSOM II) durch Entsendung eines verstärkten Nachschub- und Transportbataillons der Bundeswehr zu unterstützen. Die VN haben die Bundesregierung am 11.05.1993 gebeten, den Unterstützungsverband auf der Grundlage des operativen Konzepts – zunächst in Zentralsomalia im Raum Belet Uen – einzusetzen. Der Deutsche Bundestag hat in seiner Sitzung am 02.07.1993 dem Beschluß der Bundesregierung zugestimmt.

UNOSOM II ist eine integrierte, in allen ihren Bestandteilen humanitären Zielen verpflichtete Operation. Zurückgehend auf den Bericht des Generalsekretärs an den Sicherheitsrat der VN im März diesen Jahres umfaßt sie politische, humanitäre und militärische Aufgaben.

Der deutsche Beitrag ordnet sich ein in die humanitären Anstrengungen von rund 30 Nationen. Bevor die VN Streitkräfte nach Somalia entsandten, waren „350.000 Somalier in einem blutigen Bürgerkrieg gestorben, der das Land in ein Leichtentuch aus Hungersnot und Krankheiten hüllte“ (Präsident Clinton am 12.06.1993).

Für alle größeren VN-Operationen sind komplexe, hochtechnisierte Logistiktruppen unabdingbare Voraussetzung für ihre Durchführbarkeit. Es ist für die VN vergleichsweise einfach, infanteristische Verbände von den Truppenstellern zu erhalten. Der Aufbau und effektive Betrieb einer Logistikorganisation kann erfahrungsgemäß nur von leistungsfähigen Industrienationen übernommen werden. Auch für UNOSOM II ist dies eine kritische Größe. Der deutsche Logistikverband ist deshalb in das komplexe Gefüge der Gesamtoperation UNOSOM II genau eingepaßt; er ist neben dem Logistikkontingent der USA der einzige vergleichbare Unterstützungsverband und trägt wesentlich dazu bei, daß die humanitären Anstrengungen der Vereinten Nationen Erfolge erzielen können.

Das Ziel UNOSOM II, der Wiederaufbau des Staates Somalia, fußt auf wirksamer humanitärer Nothilfe, Entwicklungshilfe als Hilfe zur Selbsthilfe und auf der Schaffung von Bedingungen zur Wiedererlangung der Fähigkeit zur Selbstverwaltung. Dies alles ist nur unter der Voraussetzung militärischer Absicherung möglich.

Die Soldaten des Vorkommandos leisten bereits jetzt unmittelbare humanitäre Hilfe. So versorgen sie die Bevölkerung teilweise mit Trinkwasser, halten Sprechstunden im Rahmen der medizinischen Versorgung für Somalis im Lager und im Krankenhaus Beletuen ab und stellen Unterkunftsgerät für die Schule zur Verfügung.

Nach Eintreffen des Hauptkontingents wird der Verband im Rahmen freier Kapazitäten an der vom Vorkommando begonnenen direkten humanitären Hilfe anknüpfen; es ist dann mit einer wesentlichen Steigerung des Umfangs dieser direkten Hilfe zu rechnen.

II. Durchführung des Auftrags

1. Operatives und Logistisches Konzept UNOSOM II

Die ersten Konsultationen mit den VN über die Beteiligung der Bundeswehr am Gesamtkonzept UNOSOM II sind erfolgt. Langfristiges Ziel der VN ist die Verwendung unseres Verbandes – ein verstärktes Nachschub- und Transportbataillon – im Norden Somalias. Neben unmittelbarer humanitärer Hilfe – im Rahmen freier Kapazitäten – soll von dort aus die logistische Unterstützung der im Norden und Nordosten stationierten UNOSOM II-Truppenkontingente geleistet werden. Bis zu diesem Zeitpunkt sieht das vorläufige operative Konzept die Konzentration aller Kräfte im bisherigen UNITAF-Gebiet, d.h. in Zentral- und Südsomalia vor. Hier besteht kurzfristig großer Bedarf für den Aufbau, die Unterstützung und die Sicherstellung einer Verteilerorganisation für Versorgungs- und Hilfsgüter. Wenn sich die UNOSOM II-Truppen in ihren Verantwortungsbereichen nach Übernahme von UNITAF konsolidiert haben, soll die phasenweise Ausdehnung in den Norden Somalias erfolgen. Der deutsche Unterstützungsverband soll dann den UNOSOM II-Truppen in befriedete Gebiete folgen und die Logistik beweglich sicherstellen.

Das deutsche Kontingent soll deshalb zunächst eine logistische Basis in Belet Uen einrichten und betreiben. Indische UNOSOM II-Kräfte in Brigadestärke (ca. 4000 Mann; C.T.), die zu Beginn im Raum um Belet Uen eingesetzt werden, sollen durch den deutschen Verband vornehmlich mit Mengenverbrauchsgütern (Wasser, Betriebsstoff, Verpflegung) versorgt werden. Bei Verlegung dieser Kräfte nach Norden ist die Versorgung unverändert sicherzustellen. Eine Verlegung des logistischen Verbandes nach Norden als Teil des logistischen Konzepts wird dann erforderlich werden.

Der Unterstützungsverband muß nach den Forderungen der VN autark operieren können und in der Lage sein, sich selbst zu sichern. Die Zuführung der Verbrauchsgüter (von Mogadischu nach Belet Uen) zum Deutschen Unterstützungsverband erfolgt ausschließlich in Verantwortung des US Logistics Support Command (LSC) und ist somit nicht Aufgabe des Verbandes.

(…)

3. Aufgaben des verstärkten deutschen Nachschub- und Transportbataillons

Die indischen UNOSOM II-Kräfte im Umfang von ca. 4.000 Mann sind mit Verbrauchsgütern – vornehmlich Mengenverbrauchsgüter (Wasser, Betriebsstoff, Verpflegung) – zu versorgen. Die Versorgung des deutschen Verbandes mit ca. 1.700 Mann ist darüber hinaus sicherzustellen.

Der Deutsche Unterstützungsverband muß im wesentlichen

a) täglich bis zu 450.000 Liter trinkfähiges Wasser produzieren und davon 320.000 Liter ständig kühl zwischenlagern;

b) ständig 500.000 Liter Brennstoff, 120.000 Verpflegungsrationen und die Verpflegung für den Eigenbedarf kühl lagern;

c) bis zu 600 Tonnen feste und flüssige Versorgungsgüter täglich transportieren;

d) Versorgungsgüter aller Art zur Eigen- und Fremdversorgung umschlagen und lagern;

e) die von ihm genutzten Versorgungspunkte, Versorgungsstraßen und Landepisten einsatzbereit halten und gangbar machen;

f) die Sicherung der ca. 1.700 Soldaten und der eigenen bzw. übernommenen UNOSOM II-Einrichtungen sicherstellen;

g) sich darauf einstellen, über zunehmend längere Strecken (in befriedeten Gebieten) zu versorgen sowie Teile oder das gesamnte Kontingent weiter nach Norden Somalias zu verlegen (unter Voraussetzung, daß die Gebiete befriedet sind);

h) im Rahmen freier Kapazitäten humanitäre Hilfe gegenüber der Bevölkerung leisten. Ein umfangreicher Forderungskatalog von UNOSOM II, Hilfsorganisationen und der somalischen Bevölkerung liegt vor. Er umfaßt

Unterstützung von Krankenhäusern (Wasseraufbereitung, Medikamentenhilfe, Ambulanz)

Instandsetzung von Schulen

Transport von Saatgut

technische Unterstützung der Polizei

Fernmeldeunterstützung für Hilfsorganisationen.

Über die Hilfeleistung wird im Einzelfall entschieden.

4. Kräfteansatz des Deutschen Einsatzverbandes

Neben der logistischen Versorgungsaufgabe für andere UNOSOM II-Truppen werden die Aufgaben Führung, Sicherung, logistische und sanitätsdienstliche Versorgung der eigenen Truppe sowie, im Rahmen freier Kapazitäten, humanitäre Hilfeleistungen durchgeführt werden können.

(…)

5. Ausrüstung und Bewaffnung des Verbandes

Der Verband wird bewaffnet sein mit Handwaffen und Panzerabwehrhandwaffen. An schwerer Bewaffnung sind 6 Luftlandepanzer (LLPz) WIESEL vorgesehen, von denen 4 mit 20 mm-Kanonen und 2 weitere mit der Panzerabwehrwaffe TOW ausgerüstet sind. Neben dem LLPz WIESEL ist der Transportpanzer FUCHS als gepanzertes Mannschaftstransportfahrzeug vorgesehen (Umfang 46 Stück), der jedoch lediglich mit einem lafettierten Maschinengewehr ausgestattet sein wird.

Für die Transporthubschrauber sind die leihweise von den US-Streitkräften bereitgestellten Maschinengewehre des Kalibers 7,62 mm, die in den Türen der Hubschrauber lafettiert werden können, vorgesehen.

6. Einsatzrichtlinien (Rules of Engagement)

Der deutsche Verband wird nicht die Aufgabe haben, militärischen Zwang anzuwenden oder bei der Ausübung solchen Zwangs durch andere mitzuwirken; davon unberührt bleibt sein Recht zur Selbstverteidigung. Deshalb haben auch die Regeln der VN für den Einsatz von Waffen (Rules of Engagement) für die unter Kapitel VII der VN-Charta operierenden Truppen keine Gültigkeit für den deutschen Verband. Die von den Vereinten Nationen gebilligte Fassung der Rules of Engagement für den deutschen Unterstützungsverband Somalia legt dies so fest; sie lauten:

„(1) Die Angehörigen des Deutschen Unterstützungsverbandes SOMALIA dürfen innerhalb der ihnen vorgegebenen Rahmenbedingungen (terms of reference) unmittelbaren Zwang – einschließlich des Gebrauchs der Waffe – nur anwenden, um sich selbst sowie unter ihrem Schutz stehendes anderes VN-Personal oder unter ihrem Schutz stehende Personen und Einrichtungen gegen feindliche Handlungen oder feindselige Absichten zu verteidigen.

(2) Anrufverfahren

a) Wann immer es möglich ist, muß vor der Eröffnung gezielten Feuers ein Anruf erfolgen

auf Somalisch: „UN, KO HANAGA YOOGO AMA WAA GUBAN“,

auf Englisch: „UN, STOP OR I FIRE“ oder

indem Warnschüsse in die Luft gefeuert werden.

Grundsätzlich ist der Anruf auf Somalisch vorzunehmen.

(3) Grundsätze für die Anwenung unmittelbaren Zwangs

Wenn es sich als notwendig erweist, unmittelbaren Zwang anzuwenden, sind folgende Grundsätze zu beachten:

a) Eine Handlung, von der zu erwarten ist, daß sie zu unverhältnismäßigen Nebenschäden führen wird, ist verboten.

b) Repressalien sind verboten.

c) Von mehreren möglichen und geeigneten Maßnahmen ist stets diejenige zu treffen, die unter Anwendung geringster Gewalt zum Erfolg führt.

(4) Besondere Regeln

a) Werden Angehörige des Deutschen Unterstützungsverbandes SOMALIA von Unbewaffneten, einer Volksmenge und/oder Aufrührern angegriffen oder bedroht, dürfen sie das den Umständen nach angemessene geringste Zwangsmittel einsetzen, um den Angriff oder die Bedrohung abzuwehren. Dazu gehören mündliche Warnungen gegenüber Demonstranten, das Zeigen der Abwehrmittel und Warnschüsse.

b) Verdeckte Zwangsmittel

Verdeckte Zwangsmittel einschließlich verdeckter Ladungen, Minen und Stolperschußanlagen sind verboten.

c) Festnahme von Personen

Personen, die Gewalt mit einer Gefahr für Leib oder Leben gegenüber Angehörigen des Deutschen Unterstützungsverbandes SOMALIA anwenden oder damit drohen sowie Gewalt gegenüber Hilfsgütern, Verteilerstellen oder Konvois des Deutschen Unterstützungsverbandes SOMALIA anwenden oder damit drohen, dürfen festgenommen werden. Festgenommene Personen sind unverzüglich der Militärpolizei zu überstellen.

(5) Definitionen

Es werden folgende Definitionen verwendet:

a) Selbstverteidigung

Handlung zum eigenen Schutz oder dem der eigenen Kräfte gegen einen feindlichen Angriff oder eine feindselige Absicht.

b) Feindliche Handlung

Die Anwendung von Gewalt gegenüber dem UNOSOM-Personal, dem für die Durchführung des Auftrags notwendigen Eigentum oder gegen Personen in einem Gebiet, das unter der Kontrolle von UNOSOM steht.

c) Feindselige Absicht

Die Drohung, unmittelbaren Zwang gegenüber den UNOSOM-Kräften anzuwenden oder gegenüber anderen Personen in den Gebieten, die unter Kontrolle von UNOSOM stehen.

d) Mindestmaß an Gewalt

Bei der Anwendung unmittelbaren Zwanges ist von mehreren möglichen und geeigneten Maßnahmen diejenige zu treffen, die die geringste Beeinträchtigung bewirkt.

(6) Eine Änderung der Einsatzrichtlinien ist nur mit Billigung des Kommandeurs UNOSOM II im Einvernehmen mit dem Kommandeur des Deutschen Unterstützungsverbandes SOMALIA möglich.“

(…)

III. Aktuelle militärische und militärpolitische Lage

Die gespannte Sicherheitslage in Mogadischu hat bis heute keine Auswirkungen auf die Lageentwicklung im Lande erkennen lassen. Die Lage dort ist ruhig. In Somalia ist die Sicherheitslage landesweit gesehen unverändert stabil. Nur in der Hauptstadt hat sich die Lage verschlechtert.

Aideed ist es offensichtlich gelungen, den ihm in Mogadischu verbliebenen harten Kern seiner Anhänger zu radikalisieren. So konnte er in den letzten Tagen gewaltsame Demonstrationen, Überfälle und Straßensperren auch in den Stadtteilen organisieren, die bisher nicht auf seiner Seite standen. Barrikaden versperren zeitweilig auch die Ausfallstraße nach Belet Uen, die ansonsten aber durch das als sicher geltende Gebiet der Abgal und Hawadle führt.

Aideeds Aktionen in der Hauptstadt Mogadischu steht jedoch ein erheblicher Macht- und Einflußverlust im Lande gegenüber. Seine Taktik der kompromißlosen Gewalt hat die »Somali National Alliance« (SNA) gespalten. Große Teile haben sich von Aideed distanziert. So lehnen jetzt nicht nur die Habre Gedir Subclans der Suliman und Air, sondern auch die bisher mit Aideed verbündeten Bürgerkriegsfraktionen der SDM (»Somali Democratic Movement«) und der SSNM (»Southern Somali National Movement«) seinen militanten Kurs ab. Dies Bild spiegelt sich auch im Verhalten der Bevölkerung Belet Uens wider, die sich bisher allen Bitten Aideeds und der Fundamentalisten um Unterstützung widersetzt hat. Am 01.07., dem somalischen Unabhängigkeitstag, hat sich die lokale Führung erneut und nachdrücklich für eine Zusammenarbeit mit UNOSOM ausgesprochen.

Auch im zukünftigen Operationsgebiet nördlich der heutigen VN-Verantwortungsbereiche haben die vorwiegend als Nomaden lebenden Stämme des Habre Gedir-Clans und der Darod Majertein erkennen lassen, daß sie nicht an einer Fortsetzung des Bürgerkrieges interessiert sind. In den letzten Tagen sichtbar werdende Verweigerungen ihrer Clanältesten, Aideeds Operationen von hier aus mit Reserven zu unterstützen, unterstreichen diesen Trend.

Das zukünftige Einsatzgebiet wird von drei Kräftegruppierungen bestimmt: Den SSDF-Kräften im Norden, den SNF-Kräften im Raum nördlich Dusa Mareb beiderseits der Grenze zu Äthiopien und den Kräften der USC-Aideeds im Raum ostwärts der Linie Dusa Mareb-Galcayo. Die Verlegung nennenswerter Aideed-Kräfte nach Mogadischu wurde von den Stammesältesten verhindert; die die anderen Kräfte kontrollierenden Stämme haben sich für UNOSOM ausgesprochen. Vor diesem Hintergrund ist eine aktuelle Gefährdung des deutschen Verbandes nicht zu erkennen.

Trotz der Geschehnisse von Mogadischu gibt der landesweit fortschreitende Friedensprozeß insgesamt Anlaß zu Optimismus. In Kisimayo soll die von den Vereinten Nationen geleitete Friedenskonferenz in konstruktivem Klima erste Fortschritte im Hinblick auf Waffenstillstand und Entwaffnung im Raum Kisimayo/Niederdschuba machen. In den anderen Provinzen haben UNOSOM-Vertreter bis hinauf nach Bosaso im Nordosten überall die Bereitschaft der örtlichen Führer und Clanältesten vorgefunden, sich vorbehaltlos an der Entwaffnung zu beteiligen.

(…)“

b) Bundesministerium der Verteidigung,

Fü S IV 4: Wöchentliche Unterrichtung des Parlaments zur aktuellen Lageentwicklung in SOMALIA (Nr. 16/93), Stand: 20. Oktober 1993

1. Die Allgemeine Lage

„Die politischen Grundlagen für den Friedensprozeß in SOMALIA bleiben die Sicherheitsresolution 814 vom 25.03.1993 und die Vereinbarungen von ADDIS ABEBA vom 27.03.1993. Ende Oktober 1993 endet das Mandat der Vereinten Nationen für UNOSOM II. Der Generalsekretär wird dem Sicherheitsrat voraussichtlich in der nächsten Woche einen Bericht über die Lage in SOMALIA vorlegen. Auf dieser Grundlage wird der Sicherheitsrat dann über die Verlängerung des Mandats von UNOSOM II entscheiden.

Das Bundeskabinett hat daher in seiner Sitzung am 20. Oktober 1993 nach einen Bericht des Bundesaußenministers festgestellt, daß eine Entscheidung über das deutsche Truppenkontingent in SOMALIA nach dem noch zu erfolgenden Beschluß der Vereinten Nationen über das weitere Vorgehen der UNO getroffen wird.

Die Bundesregierung erwartet diesen Beschluß der Vereinten Nationen in den nächsten Wochen. Sie wird ihre eigenen Entscheidungen unverzüglich danach in engster Abstimmung mit der UNO treffen. Sie wird in diesem Zusammenhang weitere Konsultationen mit den Partnern und Verbündeten führen, die ebenfalls Truppen in SOMALIA unterhalten. Die Bundesregierung steht mit den Regierungen dieser Länder einschließlich der indischen Regierung und mit den Vereinten Nationen in laufendem Kontakt.

Aus Sicht der Bundesregierung besteht jetzt in SOMALIA die Chance, den politischen Versöhnungsprozeß voranzubringen und auf eine dauerhafte Grundlage zu stellen. Der Dialog zwischen allen Parteien muß konsequent fortgesetzt und der Friedensprozeß durch umfassende Unterstützung beim Aufbau politischer und staatlicher Verwaltungsstrukturen stabilisiert werden.

Der Deutsche Bundestag wird ständig über die laufende Entwicklung in dieser Frage unterrichtet und entsprechend dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes eingeschaltet werden.

2. UNOSOM II-Entwicklung

Die Vereinten Nationen und die an UNOSOM II beteiligten Nationen bemühen sich zur Zeit gemeinsam mit der Organisation Afrikanischer Staaten und den somalischen Bürgerkriegsparteien, den Friedensprozeß in SOMALIA aus der politischen Sackgasse der letzten Wochen zu führen. Dies hat bereits zu einer weitgehenden Beruhigung in MOGADISCHU geführt.

Die VEREINIGTEN STAATEN wollen ihr militärisches Engagement zum 31. März 1994 beenden. FRANKREICH und BELGIEN haben angekündigt, ihre Verbände aus UNOSOM II um die Jahreswende herauszulösen. Auch ITALIEN hat inzwischen erklärt, sein Kontingent bis März/April 1994 abzuziehen. Es zeichnet sich also ab, daß im Frühjahr nächsten Jahres die UNO-Truppen im wesentlichen aus afrikanischen Staaten, INDIEN und PAKISTAN kommen. Diese Entwicklung hat dazu geführt, daß das militärische Operationskonzept von UNOSOM II auf eine neue Grundlage gestellt werden soll.

Abweichend von der ursprünglichen – mit der Bundesregierung abgestimmten – Planung soll die indische Brigade überwiegend im Süden von BELET UEN im jetzigen französischen und italienischen Sektor eingesetzt werden. In der Region BELET UEN soll neben einem italienischen Kontingent mit 500 Soldaten lediglich ein indisches Bataillon mit ca. 1.000 Soldaten stationiert werden. Die Ausdehnung des Operationsgebietes von UNOSOM II in den- Norden des Landes kann damit zunächst wohl nicht erfolgen.

Der deutsche Unterstützungsverband ist auf der Grundlage des Kabinettbeschlusses vom 21. April 1993 und des Auftrags der Vereinten Nationen maßgeschneidert (Hervorg. C.T.), um einen Großverband bis zu einer Stärke von ca. 4.500 Mann über große Strecken logistisch zu unterstützen und im Rahmen freier Kapazitäten humanitäre Hilfe zu leisten.

Die Stärke der Truppe, die künftig durch den deutschen Verband versorgt werden muß, verringert sich voraussichtlich in Vergleich zu den ursprünglichen Planungen um zwei Drittel – von geplanten 4.500 auf jetzt tatsächliche 1.500 Mann. Die Transportentfernungen werden dann deutlich reduziert, wenn es zunächst keine Ausdehnung nach Norden geben sollte.

In BMVG wurden erste Überlegungen angestellt, in welchem Umfang Stärke und Kapazität des Verbandes an diese neuen Bedingungen angepaßt werden könnten. Der Generalinspekteur untersucht die dazu erforderlichen Einzelmaßnahmen. Er prüft die Frage, wie ein möglicherweise vermindertes Kontingent zusammengesetzt sein müßte, um unter geänderten Bedingungen den Auftrag zu erfüllen. An der Sicherheit soll dabei nicht gespart werden. Auch in den Anstrengungen für humanitäre Hilfe soll nicht nachgelassen werden.

Der Zeitpunkt, jetzt über die künftige Stärke und Zusammensetzung des deutschen Verbandes nachzudenken, erscheint auch deshalb zweckmäßig, weil der planmäßige Kontingentwechsel im November und Dezember bevorsteht.

Ein sofortiges, vollständiges Herauslösen des deutschen Verbandes aus der UNOSOM-Operation kann allerdings nicht in Betracht kommen, denn es sollen die Voraussetzungen für eine fließende Übergabe an die Einrichtungen der klassischen Entwicklungshilfe weiter verbessert werden, so wie es das Konzept von UNOSOM II vorsieht.

Der militärische Schutzschirm soll zunächst aufrechterhalten bleiben, um Rückschlägen vorzubeugen. Er kann aber in den nächsten Monaten nach dem Grad politischer Fortschritte möglicherweise schrittweise zurückgenommen werden. Die Vereinten Nationen brauchen daher den deutschen Verband, bis die UNOSOM-Operation soweit fortgeschritten ist, daß die Übergabe an zivile Institutionen erfolgen kann.

3. Deutsches Kontingent

Die aktuelle Personalstärke des deutschen Unterstützungsverbandes beträgt 1.696 Soldaten, davon befinden sich 363 Soldaten im Heimaturlaub. Der Lufttransportstützpunkt (Luftwaffenanteil) in DJIBOUTI umfaßt derzeit 71 Bw-Angehörige. Im Hauptquartier UNOSOM II werden von den zehn Dienstposten z. Z. sechs wahrgenommen.

Der Schwerpunkt der aktuellen Tätigkeiten des Verbandes liegt in der Versorgung der italienischen Kräfte sowie in der unmittelbaren Hilfe und Unterstützung für die einheimische Bevölkerung. Zugleich wird die Versorgung des vorgesehenen indischen Truppenteils vorbereitet.

In den Bereichen Umschlag, Bevorratung und Transportleistungen wurden für UNOSOM II bislang folgende Leistungen erbracht:

(1) Umschlag:

– Brauchwasser: 747 cbm, davon für SOMALI 63 cbm

– Material: 620 Tonnen, davon 207 im Luftumschlag Betriebsstoff: 38 cbm.

(2) Bevorratung:

– Brauchwasser:287 cbm

– Flaschenwasser: 67 cbm (8 Tage)

– Frischverpflegung: 107.490 Rationen (63 Tage)

– Einsatzverpflegung: 30.200 Rationen (17 Tage)

– Kraftstoffe/Öle: 366 cbm

(3) Transportleistungen:

– Straßenkilometer: 1.750 km.

c) Die Inder:

Noch nie waren sie so wertvoll wie heute

Deutscher Bundestag – 12. Wahlperoide – 182. Sitzung, Bonn den 21. Oktober 1993:

Fragestunde im Deutschen Bundestag

„(…)

Rolf Binding (SPD): (…) Der Kern meiner Frage ist gewesen: Wie viele indische Soldaten haben sich am 15. Oktober im Raum Belet Uen aufgehalten? Ich darf Sie bitten, diese Frage präzise zu beantworten. Sie haben das vermischt und »insgesamt« gesagt und haben die Italiener genannt.

Michaela Geiger, Parl. Staatssekretärin: Am 15. Oktober hat sich im Raum Belet Uen ein Vorkommando von drei indischen Soldaten aufgehalten.

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Nun kommt Ihre Zusatzfrage, Herr Binding.

Rudolf Binding (SPD): Können wir dann hier gemeinsam feststellen, daß sich 1700 deutsche Soldaten seit Monaten vor Ort aufhalten, um drei indische Soldaten zu unterstützen? Denn das ist ihr Auftrag.

(Hans-Eberhard Urbaniak (SPD): Hört! Hört! Ist das zu glauben!)

Michaela Geiger, Parl. Staatssekretärin: Das können Sie nicht feststellen, weil unsere Soldaten – das habe ich Ihnen bereits ausführlich vorgetragen – sehr viele humanitäre Leistungen vollbracht haben. Sie haben die Italiener versorgt und eine Menge von sinnvollen Tätigkeiten erfüllt.

(…)

Horst Kubatschka (SPD): Frau Staatssekretärin, ursprünglich sollte eine indische Brigade mit 4500 Soldaten versorgt werden. Jetzt wissen wir: Es sind drei Soldaten. Da dieser Auftrag also nicht mehr vorhanden ist – drei Soldaten mit einem so großen Kontingent zu versorgen scheint nämlich ein sehr überdimensionierter Auftrag zu sein –, frage ich: Hat sich damit jetzt eigentlich nicht die Geschäftsgrundlage – das ist Originalton des Verteidigungsministers – verändert?

Michaela Geiger, Parl. Staatssekretärin: Herr Abgeordneter Kubatschka, die Inder werden kommen. Sie verspäten sich nur. In welcher Anzahl sie kommen werden, wird noch festgelegt. Es wird diskutiert, weil sich die Belgier und die Franzosen vermutlich aus dem südlichen Bereich zurückziehen. Die Inder werden aber kommen.

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Abgeordneter Gilges.

Konrad Gilges (SPD): Frau Parlamentarische Staatssekretärin, Sie haben uns mitgeteilt, daß das Unterstützungskommando bis jetzt Kosten in einer Größenordnung von 250 Millionen DM verursacht hat. Wäre es nicht sinnvoller gewesen, die logistische Unterstützung von drei indischen Soldaten über Zivilkräfte zu organisieren und zu finanzieren, die weitaus weniger gekostet hätten? Haben Sie das einmal gegengerechnet? Wenn dies z.B. das Technische Hilfswerk gemacht hätte, wären Sie dann nicht mit 25 Millionen DM, also einem Zehntel des Betrages, ausgekommen?

Michaela Geiger, Parl. Staatssekretärin: Herr Abgeordneter, Sie wissen genau, daß wir mit einer indischen Brigade rechnen und uns darauf vorbereiten müssen. Das haben unsere Soldaten getan. In der Zwischenzeit, die als Wartezeit entstand, haben sie sinnvolle humanitäre Aufgaben erfüllt. Ich glaube hieran kann niemand Kritik üben.

(…)

Rudolf Binding (SPD): Mit dem Hinweis darauf, daß Sie auch diese Frage nicht so beantwortet haben, wie ich sie gestellt habe, frage ich jetzt noch einmal, was hier steht, nämlich mit welcher Gesamtzahl von indischen Soldaten man nach der Planung von UNOSOM II nunmehr im Raum Belet Uen rechnet.

Michaela Geiger, Parl. Staatssekretärin: Dies wird die UNO festlegen.

Rudolf Binding (SPD): Heißt das, daß die Bundesregierung derzeit keinerlei konkrete Informationen darüber hat, wie viele indische Soldaten nach Belet Uen kommen werden?

Michaela Geiger, Parl. Staatssekretärin: Die Bundesregierung steht in engen Konsultationen mit der UN und auch mit der indischen Regierung. Sobald dies endgültig feststeht, werden wir unsere Entscheidungen treffen.

(…)

Brigitte Schulte (Hameln) (SPD): Frau Staatssekretärin, wie erklären Sie sich dann, wenn Sie noch nicht wissen, wie viele indische Soldaten nach Belet Uen kommen, daß der Bundesverteidigungsminister bereits erklärt hat, daß dort etwa 400 bis 500 Soldaten in Zukunft keinen Dienst mehr tun werden, weil dem ursprünglichen Auftrag der Unterstützung der indischen Brigade nicht mehr gefolgt werden kann?

Michaela Geiger, Parl. Staatssekretärin: Das hat er nie so gesagt. Die Inder werden ja kommen.

(Rudolf Binding (SPD): „Ich wollte es wäre Nacht oder die Inder kämen!“)“

IV. Rechtliche Grundlagen

Die verfassungsrechtlichen Grundlagen für sog. out-of-Area-Einsätze sind sicherlich nicht das wichtigste in der Debatte um die neue Rolle der Bundeswehr nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes. Da aber die Politik nicht die Debatte um Ziele deutscher Außenpolitik führt, sondern in der Regel die Diskussion um die sog. Verantwortung auf die verfassungsrechtlichen Grundlagen reduziert, sollen im Folgenden die völkerrechtlichen und verfassungsrechtlichen Möglichkeiten und Verpflichtungen von kritischer Seite beleuchtet werden.

Diese juristischen Informationen sind insbesondere auch deshalb an dieser Stelle wichtig, um die unter V. aufgeführten Grundgesetzänderungsanträge der Parteien besser einordnen zu können.

IALANA-Sektion Bundesrepublik Deutschland:

Nach der Somalia-Entscheidung des BVerfG –

Was tun? Memorandum für eine sicherheitspolitische Neuorientierung der Bundesrepublik Deutschland, IALANA-Schriftenreihe, Band 3

(…)

B. Rahmenbedingungen

1. Völkerrechtliche Verpflichtungen der BR Deutschland

Zwar sind nach Art. 43 Abs. 1 der UN-Charta alle Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen verpflichtet, dem UN-Sicherheitsrat auf sein Ersuchen zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit „nach Maßgabe eines oder mehrerer Sonderabkommen“ Streitkräfte zur Verfügung zu stellen; über Inhalt und Form dieser Sonderabkommen enthält Art. 43 Abs. 2 und 3 der UN-Charta nähere Regeln. Kein UN-Mitgliedstaat ist aber völkerrechtlich gezwungen, eine solche Vereinbarung (»Sonderabkommen«) überhaupt abzuschließen oder einen bestimmten Inhalt eines solchen Sonderabkommens zu akzeptieren. Art. 43 UN-Charta enthält lediglich eine Verhandlungspflicht. Dies ist im völkerrechtlichen Schrifttum und in der Staatspraxis weithin unstrittig.

Die Frage, welche Gründe ein UN-Mitgliedsstaat anführen darf, um die Bereitstellung der vom UN-Sicherheitsrat u.U. gewünschten nationalen Streitkräfte (Kampftruppen nach Art. 42 und 43 der UN-Charta) zu verweigern, ist bislang nicht abschließend geklärt.

Fest steht nur: Es wird in der völkerrechtlichen Praxis bisher allgemein akzeptiert, daß etwa die USA – unter Hinweis auf ihre Verfassung und allgemeine militärische Effektivitätsgesichtspunkte – sich weigern, nationale US-Streitkräfte gemäß Art. 42 und 43 der UN-Charta dem UN-Sicherheitsrat zur Verfügung zu stellen und diese dem Kommando des UN-Sicherheitsrats (und dessen Generalstabsausschuß) zu unterstellen. Im Krieg gegen das Saddam Hussein-Regime des Irak (1991) zur militärischen Befreiung Kuwaits waren die USA nur bereit, eine Ermächtigung des UN-Sicherheitsrats zu akzeptieren, die die USA zum Waffeneinsatz autorisierte. Andere UN-Mitgliedsstaaten sehen sich aufgrund ihrer Verfassungsrechtslage (z.B. Japan etc.) oder tatsächlich (zum Beispiel aus ökonomischen Gründen) außerstande, den Vereinten Nationen militärische Kampf-Verbände zur Verfügung zu stellen (z.B. Island).

Es ist dehalb allgemein anerkannt, daß UN-Mitgliedsstaaten ihre Verpflichtungen aus Art. 42 UN-Charta auch auf andere Weise als durch Bereitstellung von Militärverbänden (z.B. durch logistische oder finanzielle Hilfe) erfüllen können. Kein UN-Mitglied ist völkerrechtlich verpflichtet, dem UN-Sicherheitsrat militärische Kampfverbände zur Verfügung zu stellen. Jeder UN-Mitgliedsstaat kann – rechtlich – frei entscheiden, ob er ein Sonderabkommen nach Art. 43 der UN-Charta abschließen will oder nicht.

2. Blauhelme

2.1 Rechtsgrundlage

UN-Blauhelm-Kontingente sind in der Charta der Vereinten Nationen nicht ausdrücklich vorgesehen. Das Instrumentarium der »Blauhelme« wurde vor allem von dem zweiten UN-Generalsekretär Dag Hammarskjöld und dessen politischen Berater, Brian Urquhart, entwickelt. Seine völkerrechtlichen Wurzeln liegen im Kapitel VI der UN-Charta („friedliche Beilegung von Streitigkeiten“). Ihr Handeln fußt nach allgemeiner Auffassung auf Völkergewohnheitsrecht (Für dessen Entstehung bedarf es einer »evidence of general practice accepted by law“, also einer allgemeinen Übung von einer gewissen Dauer, Einheitlichkeit und Verbreitung in der völkerrechtlichen Praxis sowie einer Anerkennung dieser Übung als Völkerrecht durch die handelnden Völkerrechtssubjekte).

2.2 Erscheinungsformen

UN-Blauhelme sind keine in der UN-Charta festgelegte und präzise definierte Institution. Die Bezeichnung steht für sehr verschiedene, jeweils vom UN-Sicherheitsrats ad hoc festgelegte Einsatzformen. Es gibt polizeiähnliche (deeskalierende), aber auch eher militärähnliche UN-Blauhelme.

Sie sind jedoch prinzipiell rechtlich strikt von den in Art. 42 und 43 der UN-Charta zur Durchsetzung militärischer Zwangsmaßnahmen vorgesehenen Land-, Luft- und Seestreitkräften zu unterscheiden. Während militärische Zwangsmaßnahmen nach Art. 42 und 43 der UN-Charta gegen einen Staat ausgeübt werden sollen, den der UN-Sicherheitsrat gemäß Art. 39 UN-Charta förmlich zum Aggressor erklärt hat, setzt der Einsatz von »Blauhelm-Kontingenten« das Einverständnis des Staates (zumindest der dort agierenden Konfliktparteien) voraus.

Die bisherigen »klassischen« Kriterien für UN-Blauhelm-Kontingente sind:

Zustimmung der Konfliktparteien zu der Operation, ihrem Mandat und ihrer Zusammensetzung,

offene, demonstrative Präsenz der UN-Blauhelme (keine Tarnung wie bei Kampf-Einsätzen),

strikte Neutralität gegenüber den Konfliktparteien,

keine Anwendung von militärischen Zwangsmaßnahmen nach Kap. VII der UN-Charta (Art. 42 ff UN-Charta),

Verantwortung und Leitung beim UN-Sicherheitsrat,

Nichtanwendung von Gewalt außer zur eigenen Selbstverteidigung mit leichten Waffen (»self defence«).

Dabei ist jedoch umstritten, ob zur Selbstverteidigung auch die sog. »mission defence«, also der Einsatz von leichten Waffen gegen gewaltsame Versuche gehört, die Erfüllung der Blauhelm-Aufgaben (»Mission«) zu be- oder verhindern.

Eine hinreichende völkerrechtliche Klärung der Grenzen zwischen zulässigem und unzulässigem Waffengebrauch ist bislang nicht erfolgt.

Wer für konkrete UN-Blauhelm-Einsätze hinreichend präzise Grenzen für den Waffeneinsatz festlegen will, muß dafür Sorge tragen, daß dies:

in den vom UN-Sicherheitsrats jeweils ad hoc festzulegenden Einsatzrichtlinien (»rules of engagement«),

in den zwischen dem UN-Sicherheitsrat/UN-Generalsekretär einerseits und dem Entsendestaat andererseits abzuschließenden Abkommen und

in den nationalen Rechtsvorschriften (Entsende-Gesetz, Zustimmungs-Gesetz) sowie in den Einsatzrichtlinien der nationalen Oberbefehlshaber geschieht.

2.3 Völkerrechtliche Pflicht zur Bereitstellung durch die UN-Mitgliedsstaaten?

UN-Mitgliedsstaaten haben keine völkerrechtliche Verpflichtung zur Bereitstellung von »Blauhelm«-Kontingenten.

UN-Sicherheitsrat, UN-Generalsekretär, die UN-Generalversammlung und die Praxis der UN-Mitgliedsstaaten sind bisher stets davon ausgegangen, daß insoweit das Rechts-Prinzip der Freiwilligkeit herrscht.

Allerdings kann der allgemeine völkerrechtliche Grundsatz der Organisationsloyalität Verpflichtungen nach sich ziehen. Diesen kann jedoch durch die UN-Mitgliedsstaaten in vielfältiger Weise Rechnung getragen werden, z.B. durch die Gewährung von logistischer Hilfe, durch das Zurverfügungstellen erhöhter finanzieller Beiträge, durch zivile Hilfeleistungen etc.

(…)

UN-Generalsekretär Boutros-Ghali hatte bei seinem Besuch in Bonn Mitte Januar 1993 deutlich gemacht, er wünsche sich die deutsche Hilfe für den Aufbau der Polizei in Somalia.

Die Bundesregierung hatte dagegen mit Kabinetts-Beschluß vom 17. Dezember 1992 die Entsendung eines Bundeswehr-Kontingents angeboten.

„Die Entsendung der Bundeswehr unter den vom Bundeskabinett festgelegten Voraussetzungen (humanitäre Aufgaben im sicheren Umfeld) und in den vom Bundesministerium der Verteidigung bevorzugten geographischen Verwendungsraum (Nordosten Somalias, Raum Bosaso)“ stieß jedoch – wie in einem Vermerk des zuständigen Referatsleiters im Auswärtigen Amt vom 30. März 1993 festgehalten wird (Az.: 230-381-47 SOM) – »auf Schwierigkeiten«.

Eine »Mission des Auswärtigen Amtes unter Beteiligung des Bundesministeriums der Verteidigung in den Nordosten Somalias« stellte dann fest, „daß für eine bloße Verteilung der Hilfsgüter durch den angebotenen verstärkten Verband (1500 Mann der Bundeswehr) kein Bedarf mehr“ bestand „und daß in dem als Rückfallposition vorgesehenen Bereich der Flüchtlingsrepatriierung der Bedarf nicht die Entsendung eines umfangreichen Kontingents der Bundeswehr rechtfertigt“.

Vorschläge des Auswärtigen Amtes zu anderen Einsatzvarianten (u.a. Straßenbau- und Reparaturmaßnahmen, Übernahme von Aufgaben im Hafen von Mogadischu etc.) wurden – so der Aktenvermerk – vom Bundesministerium der Verteidigung abgelehnt. Hierzu heißt es in dem bereits zitierten Aktenvermerk:

„Dem Bundesministerium der Verteidigung geht es demgegenüber nach Aussagen der Arbeitsebene entweder um eine möglichst umfangreiche, öffentlichkeitswirksame Beteiligung oder eine völlige Abstinenz.“

(…)“

V. Gesetzesentwürfe

1. CDU/CSU und FDP

Artikel 1

Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949 (BGB1. S.1) wird zur Klarstellung wie folgt ergänzt:

Artikel 24 wird wie folgt ergänzt:

Nach Absatz 2 wird folgender Absatz 2a eingefügt:

„(2a) Streitkräfte des Bundes können unbeschadet des Artikels 87a eingesetzt werden

1. bei friedenserhaltenden Maßnahmen gemäß einem Beschluß des Sicherheitsrates oder im Rahmen von regionalen Abmachungen im Sinne der Charta der Vereinten Nationen, soweit ihnen die Bundesrepublik Deutschland angehört,

2. bei friedenserhaltenden Maßnahmen auf Grund der Kapitel VII und VIII der Charta der Vereinten Nationen gemäß einem Beschluß des Sicherheitsrates,

3. in Ausübung des Rechtes zur kollektiven Selbstverteidigung gemäß Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen gemeinsam mit anderen Staaten im Rahmen von Bündnissen und anderen regionalen Abmachungen, denen die Bundesrepublik Deutschland angehört.

Diese Einsätze bedürfen in den Fällen der Nummern 1 und 2 der Zustimmung der Mehrheit, im Fall der Nummer 3 der Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestages.“

Artikel 2

Dieses Gesetz tritt am Tage nach der Verkündung in Kraft.

Bonn, den 13.01.1993

Dr. Wolfgang Schäuble, Dr. Wolfgang Bötsch und Fraktion, Dr. Hermann Otto Solms und Fraktion

2. SPD

Artikel 1

Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949 (BGBl. S. 1) wird wie folgt geändert:

1. Artikel 24 wird wie folgt geändert:

a) Nach Absatz 2 wird als Absatz 3 eingefügt:

„(3) Der Bund kann den Vereinten Nationen Angehörige der Streitkräfte nur für friedenserhaltende Maßnahmen ohne Kampfauftrag unterstellen; den Vereinten Nationen oder betroffenen Staaten sollen auf Anforderung unbewaffnete Angehörige der Streitkräfte zur Bekämpfung von Umweltschäden, für humanitäre Hilfeleistungen und Maßnahmen der Katastrophenhilfe zur Verfügung gestellt werden.“

b) Der bisherige Absatz 3 wird Absatz 4.

2. Artikel 87 a wird wie folgt geändert:

Absatz 2 wird wie folgt neu gefaßt:

„(2) Außer zur Landesverteidigung und zur Verteidigung im Rahmen vertraglich vereinbarter Beistandspflichten dürfen die Streitkräfte nur eingesetzt werden, soweit dieses Grundgesetz es ausdrücklich zuläßt. Für friedenserhaltende Maßnahmen nach Artikel 24 Abs. 3 kann der Bund dem Generalsekretär der Vereinten Nationen auf sein Ersuchen und bei Vorliegen eines Beschlusses des Sicherheitsrates sowie mit Zustimmung der am Konflikt beteiligten Staaten Angehörige der Streitkräfte unterstellen, die nur mit leichten Waffen zum Selbstschutz ausgerüstet sind und sich als Berufs- und Zeitsoldaten für solche Maßnahmen freiwillig gemeldet haben. Zur Beteiligung an derartigen Maßnahmen bedarf die Bundesregierung der Zustimmung des Deutschen Bundestages.“

Artikel 2

Dieses Gesetz tritt am … in Kraft.

Bonn, den 23. Juni 1992

Norbert Gansel, (…), Hans-Ulrich Klose und Fraktion

3. Bündnis 90/Grüne

II.

Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, einen Gesetzentwurf mit folgendem Inhalt vorzulegen:

1. Der Artikel 24 GG wird wie folgt neu gefaßt:

„Artikel 24

Zwischenstaatliche Einrichtungen

(1) Der Bund kann durch Gesetz Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen übertragen. Soweit Hoheitsrechte der Länder berührt werden, bedarf das Gesetz der Zustimmung einer Mehrheit von zwei Dritteln der Mitglieder des Bundesrates.

(2) Übertragungen von Hoheitsrechten nach Absatz 1 dürfen nur vorgenommen werden, wenn der nach innerstaatlichem Recht bestehende Grundrechtsschutz sowie demokratische Mitwirkungs- und Kontrollrechte gewährleistet werden. Der Bund ist verpflichtet, darauf hinzuwirken, daß bestehende zwischenstaatliche Einrichtungen die Grundsätze der Artikel 20 und 26 wahren.

(3) Der Bund kann sich zur Wahrung des Friedens Systemen gegenseitiger kollektiver Sicherheit und Zusammenarbeit einordnen, denen Staaten angehören und beitreten, die voreinander Schutz suchen. Er wird hierbei in Beschränkungen seiner Hoheitsrechte einwilligen, die eine friedliche und dauerhafte Ordnung der Sicherheit und Zusammenarbeit zwischen den Völkern herbeiführen und gewährleisten.

(4) Zur Regelung zwischenstaatlicher Streitigkeiten wird der Bund Vereinbarungen über eine allgemeine, umfassende, obligatorische, internationale Schiedsgerichtsbarkeit beitreten.“ (Entspricht Artikel 24 Abs. 3 GG)

2. Der Artikel 87 a GG wird wie folgt neu gefaßt:

„Artikel 87 a

Aufstellung und Befugnisse der Streitkräfte

(1) Der Bund kann Streitkräfte zur Verteidigung aufstellen. Ihre zahlenmäßige Stärke und die Grundzüge ihrer Organisation müssen sich aus dem Haushaltsplan ergeben.

(2) Der Bund kann die Befugnis zur Aufstellung von Streitkräften einer überstaatlichen Einrichtung übertragen, die im Rahmen eines Systems kollektiver Sicherheit und Zusammenarbeit der Wahrung des Friedens in der Welt dient. Die Regelungen des Artikels 24 Abs. 2 gelten entsprechend.

(3) Außer zur Verteidigung der Bundesrepublik Deutschland und zur Verteidigung im Rahmen von Bündnisverpflichtungen im Falle eines unverschuldeten Angriffs dürfen Angehörige der Streitkräfte im Ausland nur für friedenserhaltende Maßnahmen nach Artikel 24 Abs. 4 GG eingesetzt werden. Für derartige Maßnahmen kann der Bund dem Generalsekretär der Vereinten Nationen auf sein Ersuchen und bei Vorliegen eines Beschlusses des Sicherheitsrates sowie mit Zustimmung der am Konflikt beteiligten Staaten Angehörige der Streitkräfte unterstellen, die nur mit leichten Waffen zum Selbstschutz ausgerüstet sind und sich als aktive Berufs- und Zeitsoldaten für solche Einsätze freiwillig gemeldet haben. Die Bundesrepublik Deutschland beteiligt sich nicht an friedenserhaltenden Maßnahmen gegenüber Anrainerstaaten. Jeder Einsatz erfolgt auf Antrag der Bundesregierung und bedarf einer Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen, mindestens der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages.

(4) Den Streitkräften kann durch Bundesgesetz für den Verteidigungsfall und den Spannungsfall die Befugnis übertragen werden, nach Maßgabe des Polizeirechts zivile Objekte zu schützen und Aufgaben der Verkehrsregelung wahrzunehmen, soweit dies zur Erfüllung des Verteidigungsauftrages erforderlich ist. Außerdem kann den Streitkräften im Verteidigungsfalle und im Spannungsfalle der Schutz ziviler Objekte auch zur Unterstützung polizeilicher Maßnahmen übertragen werden; die Streitkräfte sind an das Polizeirecht gebunden und wirken dabei mit den zuständigen Behörden zusammen.“

III.

Der Deutsche Bundestag stimmt einer Beteiligung der Bundeswehr an Peace-Keeping-Operations (Blauhelm-Missionen) zu. Die Beteiligung der Bundeswehr sollte unter folgenden Maßgaben erfolgen:

Ausschöpfung aller staatlichen und nichtstaatlichen nichtmilitärischen, gewaltfreien Möglichkeiten einer Konfliktschlichtung,

Einsatz nur im Rahmen der Vereinten Nationen als eines völkerrechtlich institutionalisierten kollektiven Sicherheitssystems, also nicht im Rahmen von Militärbündnissen wie NATO oder WEU,

Reform der VN-Charta mit dem Ziel, den Status permanenter Mitglieder im Sicherheitsrat aufzuheben, und Verzicht auf ein Vetorecht,

Einsatz nur an Peace-Keeping-Operations, die dem Kapitel VI der VN-Charta zugeordnet werden sollten,

kein Einsatz in Anrainerstaaten,

Kontingentbegrenzung auf maximal 2.000 Soldaten,

weitere Reduzierung des Bundeswehrumfanges und eine Strukturreform der Bundeswehr, die deren strukturelle Nichtangriffsfähigkeit zum Ziel hat.

Bonn, den 2. Juli 1992

Vera Wollenberger, Gerd Poppe, Dr. Wolfgang Ullmann, Konrad Weiß (Berlin), Werner Schulz (Berlin) und Gruppe

Entwurf der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Grüne ist in der Partei äußerst umstritten. Die Bundestagsfraktion Bündnis 90/Grüne fühlen sich nicht an die Parteitagsbeschlüsse der Partei Bündnis 90/Grüne gebunden.

4. PDS

Artikel 1

Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949 (BGBl. S. 1) wird wie folgt geändert:

1. In Artikel 24 werden an Absatz 2 die folgenden Sätze 2 und 3 angefügt:

„Die Übertragung von Hoheitsrechten über den militärischen und nichtmilitärischen Einsatz von Streitkräften des Bundes ist ausgeschlossen. Der Einsatz der Streitkräfte des Bundes ist außer im Verteidigungsfall nach Artikel 115 a Abs. 1 Grundgesetz ausgeschlossen.“

2. Artikel 87 a wird wie folgt geändert:

a) Absatz 2 wird wie folgt neu gefaßt:

„(2) Die Streitkräfte des Bundes dürfen ausschließlich im Verteidigungsfall nach Artikel 115 a Abs. 1 GG eingesetzt werden.“

b) Absatz 3 wird gestrichen.

c) Absatz 4 wird gestrichen.

Artikel 2

Dieses Gesetz tritt am … in Kraft.

Bonn, den 18. Juli 1992

Andrea Lederer

Dr. Gregor Gysi und Gruppe

5. IALANA

International Association of Lawyers against Nuclear Arms,

Sektion Bundesrepublik Deutschland

Vorschlag zur Neufassung der den Frieden und die Verteidigung betreffenden Verfassungsbestimmungen

Derzeitige Regelung:

Artikel 26 (1)

(Friedensstaatlichkeit)

(1) Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten, sind verfassungswidrig. Sie sind unter Strafe zu stellen.

Änderungsvorschlag IALANA:

Artikel 26 (1)

(Friedensstaatlichkeit)

(1) Die Bundesrepublik Deutschland verzichtet auf den Krieg als Mittel der Politik in den Beziehungen zu anderen Staaten.

(2) Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten, sind verfassungswidrig. Sie sind unter Strafe zu stellen.

(3) Die Bundesrepublik Deutschland ist zur Abrüstung verpflichtet. Sie beteiligt sich an der Erforschung der Ursachen kriegerischer Auseinandersetzungen, trägt vorausschauend zu ihrer Beseitigung mit friedlichen Mitteln bei und beteiligt sich an nichtmilitärischen Maßnahmen zur Schlichtung internationaler Konflikte.

Kurzbegründung

Art. 26 setzt geltendes Völkerrecht (Kellog-Pakt v. 27.8.28 – RGBl. 1929 II S. 97 – und Art. 2 Abs. 4 UN-Charta v. 26.6.45 – BGBl. 1973 II S. 431) in Verfassungsrecht um. Kampfeinsätze der Bundeswehr darf es nur zur Verteidigung des Bundesgebietes und ggf. zur Verteidigung des Staatsgebietes angegriffener Bündnispartner geben. Dabei ist Art. 26 im Zusammenhang mit Art. 87 a zu interpretieren. Verfassungsrechtlich ausgeschlossen werden soll insbesonders die in der Vergangenheit häufig zur Begründung von Kriegseinsätzen mißbrauchte Möglichkeit zur „Nothilfe“ gem. Art. 51 UN-Charta durch nationale militärische Maßnahmen, mithin jeder „out-of-area“-Einsatz, der nicht durch die Verteidigung des Bundesgebietes militärisch geboten ist. Statt dessen ist die Verpflichtung des Staates aufgenommen worden, unterhalb militärischer Aktionen alles für die Konfliktschlichtung Nötige zu tun.

Zusatzvorschlag IALANA

Artikel 26

(4) Entwicklung, Herstellung, Besitz, Beförderung, Aufstellung und Anwendung von atomaren, bakteriologischen, chemischen und anderen Massenvernichtungswaffen, die darauf gerichtete Forschung sowie die Drohung mit der Anwendung dieser Waffen sind verfassungswidrig und unter Strafe zu stellen.

Kurzbegründung

Das ABC-Waffenverbot ist verfassungsrechtlich abzusichern, da die bisherige Rechtslage unzureichend ist. Der Verzicht von '55 erfaßt nicht Besitz, Verfügungsgewalt, Forschung pp; der NV-Vertrag ist befristet, hat Rücktrittsklauseln, Kriegsvorbehalt, rebus-sic-stantibus-Problematik, europäische Option.

Derzeitige Regelung

Artikel 26 (2)

Zur Kriegsführung bestimmte Waffen dürfen nur mit Genehmigung der Bundesregierung hergestellt, befördert und in Verkehr gebracht werden. Das Nähere regelt ein Bundesgesetz.

Änderungsvorschlag IALANA

Artikel 26

(5) Zur Kriegsführung geeignete Waffen dürfen nur mit Genehmigung der Bundesregierung hergestellt, befördert und in Verkehr gebracht werden. Die Ausfuhr dieser Waffen sowie für militärische Zwecke bestimmter Technologien, Waren und Dienstleistungen in Staaten, mit denen die Bundesrepublik Deutschland kein Verteidigungsbündnis eingegangen ist, ist verboten. Dasselbe gilt auch für die Ausfuhr in Staaten, die nicht die Gewähr bieten, daß ein völkerrechtswidriger oder ein menschenrechtswidriger Einsatz ausgeschlossen ist. Die Bundesregierung muß über ihre Genehmigungspraxis öffentlich Rechenschaft geben, die nicht durch Berufung auf Geschäftsgeheimnisse eingeschränkt werden darf. Das Nähere regelt ein Bundesgesetz.

Kurzbegründung

„Geeignete“ statt „bestimmte“ entfernt das Vorsatz-Element und erhöht die Kontrollmöglichkeiten. Verfassungsrechtlich abgesichert werden materielle Genehmigungskriterien und die Verpflichtung zur Transparenz des Waffenexports. Die gesetzlichen Regelungen im Kriegswaffenkontrollgesetz, im Außenwirtschaftsgesetz und im Strafrecht sind unzureichend und können zudem mit einfacher Parlamentsmehrheit geändert werden. Die Verpflichtung zur Abrüstung ist als Zielbeschreibung zu interpretieren. Gestattet bleibt nur die Beschaffung der zur Verteidigung gem. Art. 87 a, 115 a erforderlichen Waffen.

Derzeitige Regelung

Artikel 87 a

(Aufstellung und Befugnisse der Streitkräfte)

(1) Der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf. Ihre zahlenmäßige Stärke und die Grundzüge ihrer Organisation müssen sich aus dem Haushaltsplan ergeben.

(2) Außer zur Verteidigung dürfen Streitkräfte nur eingesetzt werden, soweit das Grundgesetz es ausdrücklich zuläßt.

(3) …

(4) …

Änderungsvorschlag IALANA

Artikel 87 a

(Aufstellung und Befugnisse der Streitkräfte)

(1) Der Bund kann Streitkräfte zur Verteidigung aufstellen. Ihre zahlenmäßige Stärke und die Grundlage ihrer Organisation müssen sich aus dem Haushaltsplan ergeben.

(2) Außer zur Verteidigung dürfen die Streitkräfte nur eingesetzt werden, soweit diese Verfassung es ausdrücklich zuläßt. Außer zur Verteidigung des Bundesgebietes bedarf jeder militärische Einsatz der Streitkräfte der Zustimmung einer Mehrheit nach Artikel 79 Absatz 2.

(3) unverändert

(4) unverändert

Kurzbegründung

Der Verteidigungs-Begriff bedarf angesichts der absolut herrschenden Auffassung keiner weiteren verfassungsrechtlichen Konkretisierung. Andernfalls bestände die Gefahr, daß der Konsens aufgekündigt werden würde. Die Verteidigungsbündnisse der BRD sind im Umruch. Eine verfassungsrechtliche Festschreibung der materiellen Einsatz-Voraussetzungen ist nicht zweckmäßig und angesichts der klaren vertraglichen Regelung auch nicht erforderlich. Verfahrensrechtlich besteht jedoch Klarstellungsbedarf. Dabei ist die Entscheidung über Krieg und Frieden (Existenzfrage) auf die gleiche Stufe zu stellen, die für Verfassungsänderungen vorgesehen ist.

Derzeitige Regelung

Artikel 115 a

(1) – (5)

Änderungsvorschlag IALANA

Artikel 115 a

(1) – (5) unverändert

Kurzbegründung

Art. 115 a bedarf keiner Änderung oder Klarstellung, da nur jeder über die Verteidigung des Bundesgebietes hinausgehende „Einsatz“ der Mehrheiten nach Art. 87 a Abs. 2 bedarf. Der militärischen Verteidigung des Bundesgebietes hat die Feststellung des Verteidigungsfalles vorauszugehen, es sei denn, es handele sich um einen Überraschungsangriff. Insoweit muß die Möglichkeit des Art. 115 a Abs. 4 erhalten bleiben.

Derzeitige Regelung

Artikel 24

(Zwischenstaatliche Einrichtungen)

(1) Der Bund kann durch Gesetz Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen übertragen.

(2) Der Bund kann sich zur Wahrung des Friedens einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit einordnen; er wird hierbei in die Beschränkungen seiner Hoheitsrechte einwilligen, die eine friedliche und dauerhafte Ordnung in Europa und zwischen den Völkern der Welt herbeiführen und sichern.

(3) Zur Regelung zwischenstaatlicher Streitigkeiten wird der Bund Vereinbarungen über eine allgemeine, umfassende, obligatorische, internationale Schiedsgerichtsbarkeit beitreten.

Änderungsvorschlag IALANA

Artikel 24

(Zwischenstaatliche Einrichtungen)

(1) Die Bundesrepublik Deutschland kann durch Gesetz Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen übertragen. Soweit Hoheitsrechte der Länder berührt werden, bedarf das Gesetz der Zustimmung einer Mehrheit von zwei Dritteln der Mitglieder des Bundesrates.

(2) Übertragungen von Hoheitsrechten nach Absatz 1 dürfen nur vorgenommen werden, wenn der nach innerstaatlichem Recht bestehende Grundrechtsschutz sowie demokratische Mitwirkungs- und Kontrollrechte gewährleistet sind. Die Bundesrepublik Deutschland wirkt darauf hin, daß bestehende zwischenstaatliche Einrichtungen die Grundsätze der Artikel 20 und 26 wahren.

(3) Zur Wahrung des Friedens ordnet sich die Bundesrepublik Deutschland zumindest einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit und Zusammenarbeit ein, dem Staaten angehören und beitreten, die voreinander Schutz suchen. Dabei beteiligt sie sich ausschließlich an friedlichen Maßnahmen.

Kurzbegründung

Art. 24 ist im Zusammenhang mit Art. 26 zu sehen. Mit der Absage an den Krieg als Mittel der Politik kommt auch eine Teilnahme von Bundeswehr-Einheiten an militärischen Sanktionsmaßnahmen nach Art. 42 UN-Charta oder im Auftrag der UN nicht in Betracht. Insoweit ist die UN gehalten, eigene Verbände aufzustellen, an deren Finanzierung sich die BRD beteiligen könnte und in die auch deutsche Staatsbürger eintreten könnten.

Art. 24 Abs. 3 Satz 2 stellt sicher, daß sich die BRD auch mit Bundeswehreinheiten an sog. „Blauhelm-Einsätzen“ beteiligen kann, solange diese ohne Kampfauftrag sind. Vorrangig sind i.R. von UN-Programmen Polizei, Zoll, BGS, Medizin- und Katastrophenschutz sowie zivile Verwaltungsbeamte einzusetzen. Darüber hinaus ist die BRD nach Art. 26 Abs. 3 verpflichtet, Konfliktursachen zu erforschen, eine Prognostik und Konfliktregelungsmechanismen sowie ein System nichtmilitärischer Sanktionen zu entwickeln und Organisationen der humanitären und Katastrophenhilfe aufzubauen und bereitzuhalten.

Ökologie und Militär

Truppenübungsplatz als Biotop?

Ökologie und Militär

von Thomas Lenius

Seit einiger Zeit versucht die Bundeswehr ihre Bemühungen im Umweltschutz, bedingt auch durch die militärische Sinnkrise, verstärkt öffentlichkeitswirksam darzustellen. Mit Hilfe einer publizistischen Offensive wird ernsthaft versucht, die Bundeswehr als den größten Umweltschützer der Nation hinzustellen (siehe hierzu z.B. Ausstellung und Broschüre »Bundeswehr und Umweltschutz«). Diesen Bemühungen ist offensiv zu begegnen.
Die Natur braucht kein Militär, das sie vor den Menschen schützt. Dies wäre ein Armutszeugnis für unsere Gesellschaft, das, wenn zu Ende gedacht, zur Forderung nach Fortbestand der Streitkräfte führt, weil nur so Schutzgebiete für die Natur gesichert würden.
Seit Jahren ringen Umweltschützer, Friedensforscher und andere für eine von zivilen Stellen erstellte Umweltbilanz des Militärs, etwa in Form einer Studie des Sachverständigenrates für Umweltfragen. Würden endlich alle Daten auf den Tisch gelegt, wären wir bereits einen großen Schritt weiter gekommen.
Etliche Studien haben ergeben, daß sich z.B. auf den Truppenübungsplätzen Flächen von erheblichem ökologischem Wert entwickelt haben.

Einführung

Die Erkenntnis, daß das Militär systembedingt in keinsterweise zur Verbesserung oder auch nur zum Erhalt der derzeitigen Umweltsitutation beitragen kann, war schon immer für Umweltschützer klar. Das schwedische Friedensforschungsinstitut SIPRI rechnete Mitte der 80er Jahre 25 % aller Umweltbelastungen weltweit dem Militär an.

Die Umweltbelastungen gelten bereits für Friedenszeiten, im Krieg natürlich noch weitaus mehr. Die traurige Verbindung von Krieg und Umweltschäden ist uns ja gerade in der Bundesrepublik allzu bekannt, wo wir fünfzig Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg noch immer auf durch den Krieg verseuchten Böden und Grundwasser sitzen.

Krieg bedeutete schon immer neben Tod und Elend für die Menschen auch Notzeiten für die Natur. Unübersehbar sind die ökologischen Schäden, die – um nur einige Punkte zu nennen – durch die Atombombenabwürfe auf Hiroschima und Nagasaki entstanden sind, durch den Einsatz von Herbiziden zur Entlaubung von Wäldern in Vietnam, der Erntevernichtung (»verbrannte Erde«) seit biblischen Zeiten bis heute die Ölverseuchungen von Meer und Küsten im irakisch-iranischen Krieg, die Freisetzung gewaltiger Mengen Luftschadstoffe durch brennende Ölfelder, Treibstofflager, zerbombte Fabriken u.a., durch Einsatz von Giftgas in mehreren Kriegen der Vergangenheit wie Gegenwart, durch Naturzerstörung durch Bombenabwürfe (in Südvietnam z.B. 10 Millionen Krater von je 67 m3 Volumen), Waldschäden (im zweiten Weltkrieg in Frankreich ca. 500 000 ha schwer geschädigt) usw.

Die Antwort der Ökologiebewegung auf Krieg lautet: „Wer auf der Seite des Lebens steht, der bekennt sich auch gegen Kriege und gegen Gewalt.“ (Hubert Weinzierl, 1991)

Doch Umweltzerstörung ist nicht auf Krieg beschränkt, bereits in Friedenszeiten stellt das Militär einen massiven Belastungsfaktor dar. Bereits im Normalbetrieb (bei Unfällen verstärkt) entstehen Umweltbelastungen

  • beim Bau, der Erprobung, dem Betrieb, der Instandhaltung und der Vernichtung von Waffen;
  • bei Manövern;
  • beim Bau und Betrieb von Kasernen, Flug- und Übungsplätzen, Depots, militärischer Infrastruktur, Schieß- und Radaranlagen;
  • beim Herstellen, Lagern, Transport und Verbrauch von Munition, umwelttoxischen Chemikalien sowie Treib-, Schmier- und Brennstoffen.

Die Anlagen und Aktivitäten des Militärs wirken sich schädigend aus auf Luft, Boden, Wasser und Landschaftsbild; sie erzeugen u.a. Lärm, Abgase, Abfälle und Strahlung und verbrauchen enorme Mengen an Ressourcen.

Die Hoffnung auf eine Wende nach dem Ende des Kalten Krieges (Stichwort: »Friedensdividende«) haben sich nicht erfüllt. Derzeit toben weltweit mehr als 40 Kriege; die Auflösung des Warschauer Paktes hatte auf westlicher Seite keine Entsprechung, NATO (im ehemaligen Jugoslawien erster militärischer Einsatz seit Bestehen) und Bundeswehr (Einsatz in Kambodscha und Somalia, im ehemaligen Jugoslawien) haben sich neue Aufgaben gesucht. Das bedeutet Umrüstung statt Abrüstung und damit kaum finanzielle oder ökologische Verbesserungen. Ein Schutz der Umwelt vor militärischen Anlagen und Aktivitäten kann nur durch qualitative Abrüstung erreicht werden.

Sonderstellung des Militärs im Umweltrecht

In den letzten 20 Jahren sind die wesentlichen Umweltschutzgesetze auf Bundesebene neu entstanden bzw. modernisiert worden. In vielen Gesetzen werden die Aktivitäten der Bundeswehr behandelt.

Hierfür Beispiele:

  • § 38 Bundesnaturschutzgesetz
  • § 3 Absatz 2 UVP-Gesetz
  • § 8 Benzinbleigesetz
  • § 10 Absatz 11, § 59, § 60 BundesImmissionsSchutzGesetz
  • § 17 Absatz 1 der 1. BImSchVerordnung
  • 14. BImSchV
  • § 24 Chemikaliengesetz
  • § 17a Wasserhaushaltsgesetz
  • § 24 Absatz 3 Atomgesetz
  • § 10 Absatz 1 Strahlenschutzvorsorgegesetz
  • § 29a Abfallgesetz
  • Artikel 54 b des Zusatzabkommens zum NATO-Truppenstatuts.

Die Privilegien haben zwei Charakteristika:

1. Der Bundesminister der Verteidigung kann bei Bedarf (falls es die Sicherheit Deutschlands erfordert) pauschale und nicht weiter begrenzte Ausnahmen von der Anwendung der Gesetze anordnen. Es ist nicht bekannt, in welchem Umfang und mit welchen Gründen das Bundesverteidigungsministerium (BMVg) von diesem Privileg in der Praxis gebraucht macht.

2. Der Vollzug der meisten Gesetze liegt nicht bei den hierfür üblichen Behörden, sondern bei der Bundeswehr selbst. Damit ist die Kontrolle über die Aktivitäten des Militärs in der Hand derjenigen, die kontrollliert werden sollen: Die Kontrolleure kontrollieren sich selbst.

Doch nicht nur das Umweltrecht ist mit Ausnahmeregelungen gespickt. Das gilt genauso für eine Reihe anderer Gesetze. Einige davon haben Auswirkungen auf Umwelt- und Naturschutz, z.B.

  • § 35 Absatz 5 Straßenverkehrsordnung
  • § 30 Luftverkehrsgesetz
  • § 5 Absatz 5 Gefahrgutverordnung Straße oder
  • das Gesetz über die Landbeschaffung für Aufgaben der Verteidigung.

Da die ausländischen Truppen in Deutschland nach dem NATO-Truppenstatut sich sowohl dem deutschen Recht unterwerfen müssen als auch dem Recht ihres jeweiligen Heimatlandes, gelten diese Vorschriften und die Ausnahmen auch für diese Truppen.

Diese Ausnahmen und Privilegierungen müssen aus Sicht der Umweltschutzorganisationen ersatzlos gestrichen werden.

Altlasten, Bodenzerstörung und Flächenverbrauch

Altlasten sind Boden- und Grundwasserverunreinigungen, die durch Ablagerung von Abfällen oder durch den Umgang mit gefährlichen Chemikalien auf Industrie- und Gewerbeflächen entstanden sind.

Rüstungsaltlasten sind gefährliche Hinterlassenschaften des Ersten Weltkrieges und des Hitler-Faschismus. Schon im Juni 1987 wies der BUND auf die Bedrohungen hin, die von Rüstungsaltlasten in der Bundesrepublik Deutschland ausgehen.

Eine klare zeitliche Abgrenzung für den Begriff Rüstungsaltlasten läßt sich schwer ziehen. In der Regel kann man das Ende des Zweiten Weltkrieges als Grenze für Rüstungsaltlasten setzen. Es handelt sich um ehemalige Rüstungsbetriebe, die der Herstellung und Verarbeitung von militärischen Sprengstoffen, Kampfstoffen, Pulver sowie deren Vorprodukten dienten und noch heute durch abgelagerte oder versickerte Schadstoffe Menschen und Umwelt gefährden. Die Bundesregierung hat Rüstungsaltlasten wie folgt definiert:

»Rüstungsaltlasten« sind alle Boden-, Wasser- und Luftverunreinigungen durch Chemikalien aus konventionellen und chemischen Kampfstoffen. Hierbei handelt es sich insbesondere um

  • chemische Kampfstoffe,
  • Sprengstoffe,
  • Brand-, Nebel- und Rauchstoffe,
  • Treibmittel,
  • Chemikalien, die den Kampfstoffen zur Erreichung taktischer Erfordernisse zugesetzt wurden,
  • produktionsbedingte Vor- und Abfallprodukte sowie
  • Rückstände aus der Vernichtung konventioneller und chemischer Kampfmittel.

Produktion und Verarbeitung hochgefährlicher Spreng- und Kampfstoffe unter Kriegsbedingungen führten an einigen Standorten der Bundesrepublik zu massiven Umweltverseuchungen. Zahlreiche hochgiftige Chemikalien (wie die krebserregenden aromatischen Amine oder Nitroaromate) im Boden, in Abfallhalden und im Grund- und Trinkwasser haben diese Standorte nachhaltig vergiftet.

Einige Rüstungsstandorte sind auch nach dem Zweiten Weltkrieg weiter militärisch genutzt worden.

Angesichts der emporschnellenden Zahlen von Rüstungsaltlasten hatte das niedersächsische Umweltministerium eine Gesetzesinitiative auf Bundesebene gestartet: Das Gesetz zur Finanzierung von Rüstungsaltlasten. Der Entwurf sah vor, daß die gesamte Finanzierung der Erfassung, Gefährdungsabschätzung und Sanierung von Rüstungsaltlasten zu Lasten des Bundes geht und nicht wie momentan, Ländersache bleibt. Die Bundesregierung hatte dieses Ansinnen zurückgewiesen.

Militärische Altlasten

Als militärische Altlasten werden alle kontaminierten Flächen die nach dem Zweiten Weltkrieg verseucht worden sind, bezeichnet. Bundeswehr, NVA, NATO und sowjetische Streitkräfte haben weite Flächen Deutschlands militärisch genutzt bzw. nutzen z.T. diese Flächen weiter. Dabei sind flächige Belastungen aufgrund von Aktivitäten der Streitkräfte entstanden. Dazu zählen Ablagerungen (»Mülldeponie hinter der Kaserne«) ebenso wie Ölwechsel im Gelände oder Bodenverseuchungen durch Schießübungen (z.B. bleihaltige Munition). Kontaminationen von Flugplätzen sind die Regel. Auf Militärflächen lagern Abfälle und Chemikalien und es wird mit hochgiftigen Stoffen umgegangen. Schon aufgrund der Lage solcher Flächen, aber auch in Verbindung mit ihrer Nutzung durch Menschen können Gefahren für Menschen und Umwelt entstehen.

Die Bundesregierung hat die Erfassung kontaminierter Flächen der Bundeswehr immerhin begonnen: Das Bundesverteidigungsministerium hat darüber hinaus die Wehrbereichsverwaltungen angewiesen, eigene Ermittlungen auf Liegenschaften der Bundeswehr anzustellen und die Erhebungen der Landesbehörden in die eigenen Ermittlungen einzubeziehen.

Die Kontamination militärischer Flächen ist in den USA bereits seit Jahren Diskussionsthema. Schätzungen des amerikanischen Verteidigungsministeriums über die zu erwartenden Sanierungskosten variieren von 20 bis 200 Milliarden US-Dollar. US-Streitkräfte und andere ausländische Truppen haben jedoch auch auf Flächen in der Bundesrepublik (bzw. auf dem Gebiet der ehemaligen DDR) zahlreiche Altlasten hinterlassen. Nach einer als geheim klassifizierten Studie des Pentagon waren 364 Standorte der US-Streitkräfte 1990 in der BRD hochgradig kontaminiert. Beispielsweise lagerten die US-Streitkräfte an den Standorten Hohenfels und Grafenwöhr hochgefährliche Sonderabfälle zusammen mit alter, nicht explodierter Munition.

Auch in Friedenszeiten entstehen militärische Altlasten und Rüstungsaltlasten. Es handelt sich also keineswegs ausschließlich um sog. Kriegsfolgelasten. Allerdings werden die Schäden im Kriegsfall durch die höhere Produktion von Material verstärkt. Dies ist an einer Vielzahl von alten Rüstungsstandorten (z.B. Hirschhagen, Leverkusen/Waldsiedlung) durch enorme Grundwasser- und Bodenbelastungen deutlich sichtbar. Hier ist die bundeseigene Industrieverwaltungsgesellschaft (IVG) als Rechtsnachfolgeunternehmen des reichseigenen Rüstungskonzerns »Montan« als Verursacher von Altlasten (z.B. Hirschhagen) heranzuziehen und zur umfassenden Finanzierung von Altlastensanierungen zu verpflichten.

Die Erfassung von Altlasten ist noch nicht abgeschlossen.

Eine vorläufige Zusammenfassung (1993) der Verdachtsflächen von militärischen Altlasten nach Verursachern enthält Tabelle 1.

Die Bodenzerstörungen betreffen nicht nur Bodenverseuchung. Durch den Einsatz von schwerem Gerät werden Bodenverdichtungen oder starke Erosion verzeichnet. Außerdem sind Teilflächen (Flugplätze) versiegelt worden. Der Flächenverbrauch des Militärs in Deutschland ist erheblich: Insgesamt wurden von allen Streitkräften zusammen über eine Million Hektar militärisch genutzt (für Truppenübungsplätze, Standortübungsplätze und Truppenunterkünfte). In den neuen Bundesländern hatten Nationale Volksarmee (NVA) und Westgruppe der Sowjetischen Truppen insgesamt 4,4 % der Landesfläche in Beschlag genommen (vgl. Tabelle 2). Auch im Verhältnis zur Siedlungsfläche (ca. 10 %) hat das Militär einen extrem hohen Anteil. Es ist offensichtlich auch heute noch selbstverständlich, daß dem Militär mehr Fläche zugestanden wird als dem Naturschutz.

Zur Sanierung von militärischen Altlasten sind die Verursacher zu verpflichten. So fordert der BUND von Bundeswehr und fremden, in Deutschland stationierten Streitkräften ihre Altlastenkataster und eine Dokumentation ihrer Sanierungsmaßnahmen offenzulegen.

Des weiteren fordert er seit längerem vom Finanzministerium die Offenlegung seines Altlastenkatasters, die umweltverträgliche Sanierung und die Dokumentation seiner Sanierungsmaßnahmen.

Versenkte Kampfmittel im Meer und munitionsverseuchte Böden

In Nord- und Ostsee sind im Zweiten Weltkrieg, direkt nach Kriegsende und auch noch später – möglicherweise sogar bis in die 80er Jahre hinein – mehrere hunderttausend Tonnen an Kampfmitteln verklappt worden. Es handelt sich dabei um unterschiedlichste Munition und Behälter mit Stoffen, die zur Herstellung von Kampfmitteln vorgesehen waren. Insbesondere chemische Kampfstoffe wurden einzeln oder verstaut in ausgedienten Schiffen an tiefen Stellen im Meer versenkt. Aus den Augen aus dem Sinn.

Die ökologischen Risiken, die von diesen Giftgasdeponien am Meeresgrund ausgehen, sind zur Zeit noch schwer einzuschätzen. Es muß überdies davon ausgegangen werden, daß Kampfmittel durch Grundschleppnetze von Fischern und durch Verdriftung auch in Gebiete außerhalb der eigentlichen Versenkungsstellen transportiert worden sind. Die bisher erfolgten Untersuchungen in einigen Versenkungsgebieten geben nur ein lückenhaftes Bild der tatsächlich vorhandenen Gefahr.

Die Problematik fällt rechtlich nicht unter den Begriff »Altlasten«, und somit gibt es auch nicht die dabei anzuwendenden gesetzlich vorgeschriebenen Maßnahmen zur Untersuchung und Sanierung der Standorte. Zudem liegen die Versenkungsgebiete meist in internationalen Gewässern, so daß eine nationale Verantwortlichkeit aufgrund der territorialen Zugehörigkeit des Gebietes entfällt. Die meisten Kampfmittel aus dem Zweiten Weltkrieg stammen aus reichsdeutscher Produktion. Die Bundesrepublik Deutschland als Rechtsnachfolger des Deutschen Reiches lehnt eine Zuständigkeit jedoch ab, weil die Versenkungsfahrten überwiegend unter dem Kommando der Allierten erfolgten.

Ungeklärte Verantwortlichkeiten und die Aussicht auf enorme Kosten für eine eventuell nötige Bergung und Entsorgung der Kampfstoffe haben eine ernsthafte Auseinandersetzung bisher immer wieder hinausgezögert. Doch nichts zu tun, ist auch eine Entscheidung – möglicherweise mit viel dramatischeren Konsequenzen.

Doch nicht nur im Meer gibt es unklare Rechtssituationen. Auch der Boden, in dem Kampfmittel gefunden werden, ist trotz seiner möglichen Versuchung keine »Altlast« im juristischen Sinne. Selbst der neue Entwurf eines Bodenschutzgesetzes will diese Position weiter fortschreiben.

Kosten der Bundeswehr

Das Bundesverteidigungsministerium (BMVg) hat im sogenannten Einzelplan 14 des Haushaltes 1993 insgesamt 49,9 Milliarden DM ausgegeben. Der größte Teil dieser Ausgaben sind Personalkosten (25,8 Milliarden DM). Insgesamt wendet das Verteidigungsministerium 12 Milliarden für sogenannte verteidigungsinvestive Ausgaben auf. Dazu zählen auch militärische Bauten, Erschließungsmaßnahmen bei Grunderwerb, aber auch Altlastensanierung usw. Der Haushaltsplan 1994 ist mit 48,5 Milliarden 2,75 % unter den Jahresansatz 1993.

Nach einem Vorschlag des BMVg sollen aufgrund eines Truppenübungsplatzkonzeptes in den nächsten Jahren allein in den neuen Bundesländern mehr als 1,1 Milliarden an Altlastensanierung aufgewendet werden. Angesichts der Altlastenverdachtsflächen dürfte dies nur ein kleiner Beitrag zur Linderung der Probleme sein.

Nicht alle Kosten der Bundeswehr sind klar bezifferbar, so wurden in den letzten Jahrzehnten aus anderen Haushaltstöpfen Maßnahmen für den militärischen Bereich (z.B. militärstrategische Bauvorhaben wie die Eifelautobahn, Forschungsvorhaben zur Entwicklung neuer Waffensysteme, militärische Anforderungen beim Brückenbau) finanziert oder mitfinanziert. Diese indirekten Kosten z.B. aus den Etats des Verkehrs-, Forschungs-, oder gar Entwicklungshilfeministeriums sind bisher nicht vollständig erfaßt worden.

Rüstungsforschung

Über die deutsche Rüstungsforschung findet trotz der sich abzeichnenden allgemeinen Neuorientierung im militärischen Bereich bisher keine öffentliche Diskussion statt. Dies hängt sicherlich mit der enormen Verschlossenheit dieses Forschungsbereichs zusammen. Die staatlichen Aufwendungen für die militärische Forschung sind nicht genau bekannt. Der Bundeshaushalt ist hier genauso wenig aussagekräftig wie Antworten der Bundesregierung, da in beiden nur Teile der Gelder enthalten sind, die für Forschung in diesem Bereich aufgewendet werden. Darüber hinaus werden bei Aufstellungen immer unterschiedliche Aufwendungen dazu gerechnet.

Zum Beispiel der Bundesbericht Forschung gibt für 1993 3,2 Milliarden Mark an. 1981 waren es erst 1,5 Milliarden, im Rekordjahr 1990 knapp 3,4 Milliarden. Die Bundesregierung bezifferte die Gelder für die Rüstungsforschung im Jahr 1990 auf 3,8 Millarden Mark. Das wären 400 Millionen mehr als im Bundesbericht Forschung der gleichen Bundesregierung.

Wenn man bedenkt, daß die Kürzungen der Ausgaben von 1990 bis 1993 bei der Rüstungsforschung geringer waren als die Einbußen der Gesamtausgaben der Verteidigungshaushaltes mit mehr als sieben Prozent, wird deutlich, daß Forschung in diesem Bereich immer noch wichtig ist. Der Haushalt des Forschungsministerium insgesamt beläuft sich auf neuneinhalb Milliarden DM (1993).

Über die Forschungsziele ist von seiten der Bundesregierung nichts Konkretes zu erfahren, alles Geheimhaltung! Auch wenn andere Staaten wie die USA regelmäßig handfeste Daten zur Rüstungsforschung veröffentlichen und damit alle Sicherheitsstrategen Lügen strafen. Aber das Stillschweigen kann auch noch andere Gründe haben, so können die z.T. horrenden Kosten für einzelne Projekte nicht öffentlich diskutiert werden.

Der Trend in der Rüstungsforschung geht derweilen aber in eine andere Richtung: dual-use heißt das Stichwort. Techniken werden für zivile Zwecke entwickelt und dann auch militärisch genutzt. Zum Teil werden diese »zivilen« Produkte unter militärischen Gesichtspunkten entwickelt. Auch die Bundesregierung zählt einzelne Posten aus dem Haushalt des Forschungsministeriums den Verteidigungsausgaben nach NATO-Kriterien zu. Aber auch hier geht wieder Geheimniskrämerei vor Transparenz. Die zukünftige engere Zusammenarbeit zwischen den Ressorts Verteidigung und Forschung (Zukunft?) läßt nichts Gutes erwarten.

Aber auch die Waffenerprobung bringt Umweltbelastungen

Mindestens zwölf Wochen im Jahr finden Waffenerprobungen in der Meldorfer Bucht statt, dröhnen Hubschrauber und rasen Tiefflieger darüber hinweg. Seeschwalben und Strandvögel stieben panisch in die Luft. Die wegen der Mauser flugunfähigen Brandgänse hasten davon, überschlagen sich und bleiben entkräftet liegen. Hundertausende Vögel aus Kanada bis Sibirien rasten im Wattenmeer. 90 % der ca. 200 Störungen in einem Sommer werden hier von Militäraktivitäten verursacht.

Diese nachhaltigen Störungen für Tier und Mensch im Nationalpark sind mit den Schutzzielen des Nationalparkes nicht vereinbar.

Die Einstellung der Waffenerprobung und aller Schießübungen an der Küste und im Wasser (Ostseeküste: z.B. Todendorf, Putlos; Nordseeküste: z.B. Meldorfer Bucht) wären logische Forderungen, um diesen Umweltbelastungen ein Ende zu bereiten.

Umweltschutz bei der Bundeswehr

Bei der Bundeswehr beschäftigen sich rund 700 Soldaten und zivile Mitarbeiter haupt- und nebenamtlich mit Umweltschutzaufgaben. Mit der sogenannten »Fachkonzeption Umweltschutz und Bundeswehr« sind Ziele und Aufgaben festgelegt worden, die „eine kontinuierliche Fortentwicklung des Umweltschutzes und einen umweltverträglicheren Friedensbetrieb der Streitkräfte in den 90er Jahren gewährleisten“. Auch das Truppenübungsplatzkonzept, daß eine weitestgehende Verlagerung der Übungen aus dem freien Gelände auf Übungsplätze und damit nach Auffassung der Bundeswehr eine weitere spürbare Entlastung der Umwelt mitsichbringen sollte, gehört dazu. (Die Entlastung dürfte wohl eher bei den Entschädigungszahlungen für Manöverschäden in der Landwirtschaft bzw. Forstwirtschaft erfolgen.)

Darüber hinaus ist für die Bundeswehr eine »Richtlinie zur umweltverträglichen Nutzung von Übungsplätzen der Bundeswehr« maßgeblich. Sie hat das Ziel, den hohen ökologischen Wert der Übungsplätze trotz der höheren Belastung durch das Truppenübungsplatzkonzept zu erhalten. Die Zukunft wird wohl zeigen, daß konzeptionelle Phantastie und militärischer Alltag nicht unter einen Hut bzw. Stahlhelm passen.

Auch für den Bereich energieschonender Umgang mit Ressourcen hat die Bundeswehr eine »Konzeption zur Schonung natürlicher Ressourcen in der Bundeswehr« erarbeitet.

Die Bundeswehr hatte z.B. 1990 von der NVA 1420 völlig überalterte Heizungsanlagen neben den technisch unzureichenden Tankanlagen oder den Abwassereinrichtungen übernommen.

Tiefflüge

Als Hauptbelastungsfaktoren beim militärischen Flugbetrieb sind Lärmentwicklung und Schadstoffemissionen, sowohl von den Maschinen selbst wie von den Flugplätzen ausgehend, zu nennen.

Untersuchungen haben gezeigt, daß Menschen in Tieffluggebieten vermehrt an Herz-Kreislauferkrankungen leiden, an psychischen Störungen und Schlafstörungen. Darüber hinaus kommt es bei den plötzlichen enormen Lärmereignissen des Tieffluges immer wieder zu Unfällen.

Tiere reagieren mit panikartigen Fluchtversuchen, die bei Haustieren zu Verletzungen führen können, mit Früh- und Fehlgeburten sowie Angst- und Aggressionsverhalten.

Stark betroffen sind Vögel, und das insbesondere in den Naturschutz- und Feuchtgebieten, die eigentlich durch internationale Abkommen (z.B. Ramsar-Abkommen) oder die EG-Vogelschutzrichtlinie geschützt sind. Militärischer Tiefflug konterkariert damit den Schutzzweck dieser Gebiete. Für rastende Zugvögel mit ihrem hohen Ruhe- und Nahrungsbedürfnis bedeutet das Auffliegen beim plötzlichen Lärm vermehrten Energiebedarf und verkürzte Freßzeiten; beides führt zu einer schlechteren Kondition mit geringeren Überlebenschancen und verminderten Bruterfolgen.

Nicht aus den Augen verlieren sollte man auch die Gefahr, daß Tiefflieger auf chemische Fabriken, Atomkraftwerke, bakteriologisch und gentechnisch arbeitende Forschungsinstitute, Munitionsdepots oder Treibstofflager abstürzen können. Diese Anlagen sind in der Regel nicht gegen Flugzeugabstürze geschützt.

Allein die »Beinahetreffer« der Vergangenheit der Atomkraftwerke Ohu, Niederaichbach und Stade, der Absturz einer F-16 im Kreis Pirmasens zwischen einem Giftgas- und zwei Atomwaffenlagern sowie der Zusammenstoß zweier F-16 unweit Biblis verlangen nach einem sofortigen Verbot für Tiefflüge und damit zusammenhängenden militärischen Flugübungen.

Militär und Naturschutz

Der Naturschutz benötigt in erheblichem Umfang Flächen, auf denen seinen Zielen Vorrang vor anderen Nutzungen eingeräumt wird. Wissenschaftliche Untersuchungen, Effizienzkontrollen, Erfahrungen aus der Landschaftsplanung und Biotopkartierung sowie sonstige Beobachtungen unterstreichen, daß mindestens 15 % der Landesfläche vorrangig für den Naturschutz zur Verfügung stehen müssen. Weitere Schutzgebietsausweisungen und andere Schutzmaßnahmen sind deshalb dringend erforderlich.

Truppenübungsplätze sind meist sehr großflächige Gebiete, die sich durch eine Vielzahl von in der genutzten Kulturlandschaft selten gewordenen Lebensräumen wie Moore, Heiden und andere nährstoffarme Lebensräume sowie meist wenig forstlich beeinflußte Wälder auszeichnen. Dazu kommt die relative Störungsarmut, da sich der militärische Betrieb normalerweise auf eng umgrenzten Flächen innerhalb der Übungsplätze abspielt und große wenig gestörte Pufferzonen darum herumliegen. Dadurch erklärt sich die durch mehrere Untersuchungen nachgewiesene hohe Bedeutung der meisten größeren Übungsplätze für selten gewordene Tiere und Pflanzengesellschaften.

Damit besitzen sie eine für den Naturschutz außerordentlich wichtige landschaftsökologische Substanz von entsprechend hoher Qualität und Wertigkeit. Da es in den intensiv genutzten Landschaftsräumen Mitteleuropas aufgrund des Nutzungsdruckes zukünftig immer schwieriger werden wird, weitere großräumige Flächen mit für Naturschutzzwecke wertvollem Potential dem Naturschutz zu widmen, zählen Umwandlung von Truppenübungsplätzen in Naturschutzgebiete, aber auch die Sicherung von Naturschutzbelangen auf weiter bestehenden Truppenübungsplätzen zu den aktuell wichtigen Naturschutzaufgaben.

Vom Truppenübungsplatz zum Naturschutzgebiet

Militärische Aktivitäten erstrecken sich in der Bundesrepublik aber nicht nur auf Gebiete innerhalb militärischer Liegenschaften (v.a. Truppenübungsplätze und Standortübungsplätze), sondern auch auf die freie Landschaft, wobei hier das neue Truppenübungskonzept der Bundeswehr eine durchgängige Entlastung mit sich bringen soll. Insbesondere werden durch Militärflugzeuge Störungen über militärische Liegenschaften hinaus verursacht, besonders durch Tiefflieger.

Im Zuge dieses Abbaus militärischen Potentials wird es auch zu einer Konversion eines nennenswerten Teiles der militärisch genutzten Areale kommen, speziell in den neuen Bundesländern. Dort ist geplant, über 50 Truppenübungsplätze und 300 weitere Übungsflächen aus der militärischen Nutzung zu entlassen. Von den 65 Truppenübungsplätzen, die eine Gesamtfläche von 517.000 Hektar darstellen, sind bisher neun für die Bundeswehr definitiv reserviert.

Die 20 Truppenübungsplätze, über die die Bundeswehr und die übrigen NATO-Staaten in den alten Bundesländern verfügen, sollen voraussichtlich fast alle weiterhin militärisch genutzt werden. Hier wird nur ein Teil der insgesamt 325 Standortübungsplätze verkleinert oder ganz aufgegeben.

Die genauen Angaben über die für eine Konversion bestimmten Übungsplätze und sonstigen Liegenschaften der Bundeswehr und der anderen NATO-Staaten sind der Öffentlichkeit bisher nicht in vollem Ausmaß zugänglich.

Werden militärische Liegenschaften von Gaststreitkräften geräumt, entscheidet zunächst das Bundesministerium der Verteidigung über eine militärische Anschlußnutzung. Besteht kein militärischer Bedarf, gehen diese Flächen – ebenso wie die von der Bundeswehr selbst freigegebenen Liegenschaften – in das allgemeine Grundvermögen des Bundes und damit in die Zuständigkeit der Bundesvermögensverwaltung beim Bundesministerium der Finanzen über. Diese prüft zunächst, ob Rückerwerbsansprüche früherer Eigentümer bestehen. Ist dies nicht der Fall und besteht auch kein ziviler Bundesbedarf, galt bisher die Regelung, daß die Liegenschaften wirtschaftlich verwertet und möglichst zum Verkehrswert verkauft werden müssen (§ 63 Abs. 3 Bundeshaushaltsordnung). Ein Teil der Liegenschaften der ehemaligen Nationalen Volksarmee (NVA) und der ehemaligen Sowjetarmee wurde an die Bundesvermögensverwaltung übergeben, die durch die Bundesvermögensämter bereits mit der Abwicklung von Verkäufen beauftragt worden sind. Nur in Brandenburg ist ein eilig gezimmertes Gesetz über die Militär-Liegenschaften in Landesbesitz in Kraft.

Da es in Mitteleuropa künftig immer schwieriger werden wird, weitere großräumige Gebiete mit reichhaltigem natürlichem Potential dem Naturschutz zu überlassen, stellen sich dort aktuell besonders vordringliche Naturschutzaufgaben. Außer den militärischen Übungsflächen gibt es in der Bundesrepublik Deutschland kaum »Flächenreserven« dieser landschaftlichen Qualität in größerem Umfang. Der Konversionsproblematik kommt damit eine erhebliche Bedeutung für die Erhaltung der biologischen Vielfalt in Mitteleuropa zu. Für landes-, bundes- und europaweite Biotop-Verbundsysteme sind die Truppenübungsplätze nicht ersetzbare Knotenpunkte, Refugien für das Naturpotential, von denen aus auch eine Wiederbesiedelung heute ausgeräumter Landschaften noch möglich zu sein scheint.

Die bis vor kurzem geplante Vorgehensweise bei der Nutzungsumwidmung der militärischen Liegenschaften durch die Bundesvermögensämter bedingt, daß Naturschutzerfordernisse nicht im nötigen Maß berücksichtigt werden können. Da diese in großem Umfang frei werdenden Flächen auch für andere Nutzungen interessant sind, werden von verschiedenen Seiten Ansprüche erhoben. Dazu gehört die Nutzung für Siedlungs- und Gewerbegebiete, Verkehrs- und Deponieanlagen, Industrieansiedlung, Infrastruktur- und Freizeiteinrichtungen. Diese Nutzungen sind jedoch aus der Sicht des Naturschutzes abzulehnen.

Stattdessen sollten die freiwerdenden Truppenübungsplätze unter Beteiligung des Verbandsnaturschutzes zu Naturschutzgebieten ausgewiesen werden.

Im Jahre 1992 betrug die Gesamtfläche der in der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesenen Naturschutzgebiete (NSG) 627 000 ha, das sind 1,8 % der Fläche Deutschlands. Die durchschnittliche Flächengröße eines Naturschutzgebietes in den alten Bundesländern beträgt ca. 120 ha. Der »durchschnittliche« Truppenübungsplatz (7400 ha in den alten Bundesländern) ist damit 62 mal größer als das »durchschnittliche« Naturschutzgebiet! Von den 3288 westdeutschen NSG sind 35 % größer als 100 ha und nur 0,02 % größer als 500 ha. Die Größe von naturnahen und natürlichen Flächen ist aber ein entscheidendes Kriterium für ihre Lebensraumqualitäten. Mit der Unterschutzstellung der freiwerdenden militärischen Liegenschaften könnte die Flächenausstattung der Naturschutzgebiete in der Bundesrepublik Deutschland erheblich ausgeweitet werden.

Forderungen

Die folgenden Forderungen und Empfehlungen sind als Grundlage für eine vorausschauende und naturschutzfachlich richtige Behandlung sowohl der weiterhin militärisch zu nutzenden als auch der frei werdenden Übungsflächen zu sehen.

  • Damit sichergestellt ist, daß die militärische Nutzung möglichst extensiv und naturverträglich durchgeführt werden kann, müssen bereits bei der Entscheidung über eine weitere militärische Nutzung oder Konversion einer Übungsfläche landschafts-ökologische und naturschutzfachliche Gesichtspunkte gleichberechtigt berücksichtigt werden.
  • Alle zu konvertierenden und aus Naturschutzsicht wertvollen Übungsplätze (dazu gehören z.B. keine betonierten Kasernenplätze) sind einstweilig als Naturschutzgebiete zu sichern.
  • Ebenso ist eine umfassende Altlastenerfassung notwendig. Bei Bedarf muß ein Sanierungskonzept erstellt werden. Aus Gründen des Verursacherprinzips sind die Kosten der Sanierung vom Bund zu übernehmen. Die Kosten allein der Räumung von Minen und anderer Munition belaufen sich auf bis zu 10.000,- DM pro Hektar.
  • Um auf allen in den letzten Jahrzehnten militärisch genutzten Flächen das Potential an natürlichen und naturnahen Lebensräumen bestmöglich schützen und entwickeln zu können, sind Erhebungen und Kartierungen der biotischen Ausstattung notwendig. Darauf aufbauend sind Pflege- und Entwicklungskonzepte zu erarbeiten und umzusetzen. Dabei sind bisher schon durch das Bundesverteidigungsministerium extern in Auftrag gegebenen Konzeptionen nicht weiter in der Schublade zu belassen, sondern in solche Konzeptionen einzuarbeiten.
  • Eine enge Zusammenarbeit mit Naturschutzverbänden und -behörden ist sowohl bei einer bevorstehenden Konversion als auch ggf. bei der weiteren militärischen Nutzung erforderlich.
  • Durch eine verstärkte Öffentlichkeitsarbeit muß die Bevölkerung auf die überragende Bedeutung gerade der großflächigen Übungsplätze für den Naturhaushalt und den Ressourcenschutz, insbesondere auch den Schutz des Grundwassers, aufmerksam gemacht und möglichst frühzeitig über die Entscheidung, welche Nutzung in der Zukunft vorgesehen ist, informiert werden. Die herausragende Bedeutung dieser Flächen für die Sicherung von Naturgütern, auch als Beitrag Deutschlands zur Erhaltung des Weltnaturerbes in Erfüllung der Deklaration von Rio de Janeiro, muß für die Öffentlichkeit klar herausgestellt werden.

Militärisch genutzte Truppenübungsplätze

  • Die Möglichkeit der Konversion weiterhin genutzter Truppenübungsplätze ist im Rahmen des Abbaus militärischer Potentiale zu prüfen und ihre langfristige Unterschutzstellung zu gewährleisten. Eine langfristige Konversion aller naturschutzrelevanten Flächen ist anzustreben.
  • Die ggf. weitere militärische Nutzung hat verstärkt die Belange des Naturschutzes zu berücksichtigen und ist so extensiv wie möglich zu gestalten. Zweckmäßig ist die Erarbeitung von integrierten Nutzungskonzepten, welche die Art der Geländebetreuung und der forstwirtschaftlichen Nutzung einbeziehen und in die sog. Benutzungs- und Bodenbedeckungspläne Eingang finden. Dabei muß sichergestellt sein, daß empfindliche Biotope vor Beeinträchtigung geschützt werden.
  • Eine umfassende Altlastenerfassung ist notwendig. Bei Bedarf muß ein Sanierungskonzept erstellt und seine Umsetzung später umgesetzt werden.
  • Die Geländebetreuung, ebenso wie Land-, Forst-, Fischereiwirtschaft u.a. sollte gerade auf militärischen Flächen der Vorbildfunktion des Staates gerecht werden und möglichst naturverträglich und umweltschonend arbeiten. Dazu gehört z.B. das Verbot der Anwendung von Dünge- und Pflanzenbehandlungsmitteln.
  • Bei allen zuständigen Verwaltungen von Bundeswehr, Geländebetreuung, Forstverwaltung, Bundesministerium der Finanzen und Bundesministerium der Verteidigung müssen Fachleute für Naturschutzaufgaben hauptamtlich verantwortlich sein, die eine spezielle Ausbildung z.B. in den Bereichen Biologie, Landespflege oder Umweltschutz absolviert haben. Diese Stellen sollen in engem fachlichen Kontakt zu den Naturschutzbehörden und -verbänden arbeiten.
  • Die Versiegelung weiterer Flächen, z.B. durch den Ausbau von Straßen, ist aus naturschutzfachlichen Erwägungen völlig zu unterlassen.
  • In die Überlegungen zur naturverträglichen Nutzung der Übungsplätze sind die Randbereiche innerhalb und außerhalb der Platzgrenzen mit einzubeziehen. Sie sollten zu funktionsfähigen Übergangs- und Pufferzonen entwickelt werden.
  • Militärisch nicht notwendige »Rekultivierungen« durch die Geländebetreuung dürfen nicht mehr erfolgen.
  • Eine forstliche Nutzung hat sich an Kriterien des Naturschutzes und nicht an wirtschaftlichen Kriterien zu orientieren. Dabei sollen möglichst viele Waldflächen der natürlichen Sukzession unterliegen. Die übrigen sind naturnah zu bewirtschaften.

Zur Konversion anstehende Truppenübungsplätze

  • Die Flächen der ehemaligen West-Truppen der Sowjetarmee sind nicht durch die Bundeswehr militärisch zu nutzen, wie dies nach der deutschen Einigung von Seiten der Bundesregierung zugesagt worden ist.
  • Gebiete, die aus der militärischen Nutzung genommen werden, sollen mit der Zielsetzung »Naturschutz«, sofern sie dafür geeignet sind, in das Eigentum der Länder übergehen und in Naturschutzgebiete umgewandelt werden.
  • Für diese Flächen, die naturschutzrelevant bzw. wichtig sind, ist in der Regionalplanung die Folgenutzung als »Vorrangfläche Naturschutz« verbindlich festzulegen.
  • Etwaige notwendige Pflege- und Erhaltungsmaßnahmen sind in enger Kooperation mit Naturschutzverbänden und -behörden durchzuführen.
  • Eine intensive Nutzung von Flächen, die unter die oben genannten Naturschutzgesichtspunkten fallen, durch Dritte, z.B. Freizeitnutzung, ist in den meisten Fällen mit den Zielen des Naturschutzes nicht vereinbar. Eine neue Nutzung von z.B. Kasernenhöfen ist für die städtebauliche Entwicklung häufig wichtig.
  • Bei allen zuständigen Verwaltungen der Länder, Kreise und Gemeinden müssen Fachleute für Naturschutzaufgaben hauptamtlich für die Betreuung dieser Flächen verantwortlich sein und in engem fachlichen Kontakt zu den Naturschutzverbänden stehen.
Bereich Liegenschaften militärische Altlasten-
verdachtsflächen
Westgruppe der sowjetischen Truppen 1.026 700
Bundeswehr und genutzte NATO-Liegenschaften 3.500 500
US-Armee 847 364
Rüstungsaltlasten 3.500
Flächeninanspruchnahme des
Militärs
Bundeswehr (alt): ca. 402.000 ha (1,6 % der Fläche des alten Bundesgebietes); 7000
Liegenschaften
ehemalige NVA und Grenztruppen (DDR) ca. 277.000 ha bei 3.315 Liegenschaften an 900 Standorten
Alliierte Streitkräfte: ca. 253.000 ha bei 2.900 Liegenschaften
Westgruppe der Sowjetischen Streitk.: ca. 241.000 ha bei 1.026 Liegenschaften
Summe: 1.173.000 ha bei 14.241 Liegenschaften

Literatur

BUND (1993): BUND-Position Altlasten, BUND e.V., Bonn 1993

BUND (1995): BUND-Position Militär und Ökologie, BUND e.V., Bonn 1995

Bundesminister der Verteidigung (1992): Richtlinie zur umweltverträglichen Nutzung von Übungsplätzen der Bundeswehr, BMVg, Bonn 1992

Deutsche Bundesregierung (1989): Landschaftsverbrauch und Naturzerstörung durch militärische Einrichtungen in der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 1989

Deutscher Bundestag (1992): Entwurf eines Gesetzes über die Finanzierung der Sanierung von Rüstungsaltlasten in der BRD (Rüstungsaltlastenfinanzierungsgesetz – RüstAltFG), Bonn 1992

Deutscher Bundestag (1990): Gefährdung von Mensch und Umwelt durch kontaminierte Standorte der chemischen Rüstungsindustrie (Rüstungsaltlasten)

Deutscher Bundestag (1990): Altlasten auf Liegenschaften der in Deutschland stationierten ausländischen Streitkräfte, Bonn 1990

Landesregierung Niedersachsen (1988): Bestandsaufnahme und Handlungskonzept für Rüstungsaltlasten in Niedersachsen; Bericht der Interministeriellen Arbeitsgruppe »Rüstungsaltlasten«

C. Mussel, U. Philipp (1993): Beteiligung von Betroffenen bei Rüstungsaltlasten, GHK Kassel 1993

A. Oberholz (1991): Tödliche Gefahr aus der Tiefe, Bittere Erkenntnis zu Kriegs- und Rüstungsaltlasten, Kommunal-Verlag, Düsseldorf 1991

T. Schneider; E. Brandt; F. Claus; W. König; C. Wiegandt (1993): Rüstungsaltlasten. Handlungskatalog für Gemeinden und Bürgerinitiativen, BUND e.V., Bonn 1993

Aus Gründen der Landesverteidigung die Umwelt verschmutzen

Bundesminister der Verteidigung:

„Der Schutz von Leben und Gesundheit und der Schutz der Umwelt haben im Frieden Vorrang vor der Erfüllung anderer Aufgaben.

(…)

Das auch für die Bundeswehr geltende Umweltrecht umfaßt sowohl internationale Abkommen (z.B. Meeresumweltschutz) wie auch nationales Umweltrecht des Bundes, der Länder und – am Standort – der Kommunen. Mehr als 700 Gesetze, Verordnungen und Normen mit bundesweiter Verbindlichkeit bestimmen den Umweltschutz in der Bundeswehr.

Das Umweltrecht sieht Ausnahmen vor auch für den Fall, daß zwingende Gründe der Landesverteidigung oder zwischenstaatliche Verpflichtungen dies erfordern. Für die Bundeswehr gilt der Grundsatz, daß von den ihr gewährten Ausnahmen im Umweltrecht nur unter Anlegung eines strengen Maßstabs Gebrauch gemacht wird. Dies gilt sowohl in den Fällen, in denen der Bundesminister der Verteidigung die Regelungen in eigener Zuständigkeit treffen kann, als auch dort, wo das Umweltrecht für die Bundeswehr Ausnahmen im Einzelfall vorsieht. Sie sind unter sachgerechter Abwägung der widerstreitenden Interessen nur dann gerechtfertigt, wenn die Erfüllung des Verteidigungsauftrags gefährdet ist.“

(Umweltschutz in der Bundeswehr. Grundlagen, Maßnahmen und Absichten. Bericht des Bundesministers der Verteidigung an den Verteidigungsausschuß des Deutschen Bundestages, 1992)

Thomas Lenius ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des BUND (Referat Chemie) in Bonn.

Die Macht- und Militärpolitik der Bundesrepublik

Die Macht- und Militärpolitik der Bundesrepublik

von Detlef Bald

Herausgegeben von W&F in Zusammenarbeit mit der Informationsstelle Wissenschaft und Frieden (IWIF) e.V.

Der Paradigmenwechsel von der Verteidigung zur Intervention

Fünfzig Jahre Bundeswehr – das Jubiläum wurde im Jahr 2005 mit großem öffentlichen Gepränge gefeiert. Das parteiübergreifende Wort von der »Erfolgsgeschichte einer Armee in der Demokratie« überstrahlte gleichermaßen die staatlichen und parlamentarischen Repräsentanten beim morgendlichen ökumenischen Festgottesdienst im Berliner Dom wie beim Großen Zapfenstreich im abendlichen Dunkel vor dem Reichstag.1 Diese Feiern rahmten den Reigen der monatelangen Festveranstaltungen ein, deuteten das Selbstbewusstsein der öffentlichen Anerkennung und zollten, wie es allenthalben lautete, der »Armee im Einsatz« den gehörigen Respekt. Dabei wird kaum wahrgenommen, dass der in den Scheinwerfern der Medien glänzende Pomp der aktuellen Feierlichkeiten durch polizeiliche weiträumige Absperrungen unter Ausschluss der Bevölkerung in Szene gesetzt und somit eine eigenartige Akzeptanz des Militärs behauptet, aber als Distanz offenkundig wird. Ein Blick auf das Gründungsjahr 1955 zeigt, dass damals nahezu zwei Drittel der Bevölkerung ihre Aufstellung ablehnten und dass „selbst die Mehrheit derer, die meinen, Deutschland brauche eine Armee, …keine ausgesprochenen Freunde des Militärs“2 waren. Konrad Adenauer war entsetzt über den verbreiteten Widerstand, der sich in dem Slogan äußerte: „Nie wieder deutsche Soldaten!“, volkstümlich auch verstanden als: »Militär bedeutet Krieg«. Die Erinnerung daran war noch wach: „Krieg gehört für die meisten zum Furchtbarsten, was sie sich vorstellen können, sowohl für ihr eigenes Leben als auch für Deutschland.“3 Aus friedenswissenschaftlicher Sicht wird darauf im Jubiläumsjahr Bezug genommen. Da heißt es: „Grundsätzliche Kritik tut Not, und die politische Analyse aus antimilitaristischer Perspektive muss den historischen Rückblick einschließen. Was sich zeigt, sind Kontinuitäten deutscher militaristischer Politik und ihrer Umsetzung durch das Militär.“4 Solche harschen Worte geben aber ein Bild der Bundeswehr der Gegenwart ab, das augenscheinlich in der offiziell reklamierten »Erfolgsgeschichte« einer demokratischen Armee kaum vorkommt. Diese widersprüchlichen Einschätzungen lassen sich am besten beurteilen, wenn die bestimmenden Faktoren der Militärpolitik und -geschichte der Bonner Republik seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges kategorial und komparativ analysiert werden.

Das Paradigma des Kalten Krieges

Das internationale System

Das Jahr 1945 bietet für das deutsche Militär im Unterschied zu anderen staatlichen Institutionen am ehesten die Voraussetzungen der »Stunde Null«. Nach der Kapitulation im Mai 1945 löste der Alliierte Kontrollrat im Vollzug der Potsdamer Beschlüsse am 2. August 1945 alle Einrichtungen der Wehrmacht – »völlig und endgültig« – auf, damit der »Hort des Militarismus« ein für alle Male ausgelöscht werde. Es handelte sich um eine Entscheidung ex negativo. Die Alliierten wollten verhindern, dass deutsche Machtpotentiale, die ein Jahrhundert lang mit expansiven Strategien die Nachbarn bedrohten, erneut den Frieden gefährdeten.5

Die »Stunde Null« verlangte nach der Demilitarisierung auf Dauer die Abkehr von jeder Übersteigerung des Militärischen nach innen und außen, nicht aber den Verzicht auf Militär. Die Alliierten gestanden daher den Deutschen wohl Militär zu, mochten ihnen aber nicht die Verfügungsgewalt über diese Streitkräfte übertragen. Sie wurden von außen domestiziert. Hier gab es den ersten Bruch mit nationalstaatlichen Traditionen: die Bundeswehr wurde international vollständig integriert entworfen. Die Kompetenzen der deutschen, der politischen und militärischen Leitung waren strukturell gewissermaßen amputiert. Im Ernstfall hätten Bundeskanzler wie Generalinspekteur praktisch nicht über direkte Einsätze deutscher Verbände entscheiden können. Die Konstellation der Nachkriegszeit war ausschlaggebend für Existenz und Entwicklung der Bonner Republik und nota bene für ihr Machtmittel, die Bundeswehr. Die Alliierten des Krieges, an ihrer Spitze im Westen die USA (und im Osten die Sowjetunion), beherrschten die besatzungsrechtliche Ordnung in Deutschland. Die Bundesrepublik übernahm viele Vorbehaltsrechte des Besatzungsstatuts und legitimierte im Mai 1955 im völkerrechtlichen Werk der Pariser und Bonner Verträge diese alliierte Suprematie für die weitere Zukunft. Was in Potsdam 1945 von den Alliierten als einseitiges Diktat verabredet worden war, fand so in angepasster Form und in ausdrücklichem »Einverständnis« (Generalvertrag) der Deutschen seine Gültigkeit bis 1990.

Im Generalvertrag übertrugen die Alliierten den Deutschen die „volle Macht eines souveränen Staates«, also keineswegs die volle Souveränität, sondern wie es im englischen Text hieß, die „full authority«. Zugleich sicherten sie sich Vorbehaltsrechte und schränkten kaum verbrämt – aber deutlich – die Souveränität der Bonner Republik ein, um „die von den Drei Mächten bisher ausgeübten und innegehabten und weiterhin beizubehaltenden Rechte“ für das eigene Militär auf deutschem Boden geltend zu machen.6 Ihre Suprematie setzte den Rahmen für die Bundeswehr. Seit 1955 gab es die doppelte Signatur alliierter Truppen: einerseits die unter NATO-Befehl und andererseits die unter nationalem Befehl stehenden Einheiten. Die »nationalen« Verbände der USA, Großbritanniens und Frankreichs (und im Osten die sowjetischen auf dem Boden der DDR) hatten einen grundsätzlich anderen Status, mit eigenen, im Truppenvertrag, in Protokollen und Noten verbrieften Rechten und Befugnissen.7 Diese »alliierte« Signatur bedeutete eine gespaltene Machthierarchie in Deutschland, hier also: die der ehemaligen Besatzungsmächte über die deutsche Politik bzw. gegenüber einem Regierungshandeln, das nach Souveränität strebte. Im Westen hatten die Drei diese höchste Kompetenz, im Osten allein die Sowjetunion, aber alle Vier behielten Potsdamer Reservatsrechte für Deutschland als Ganzes bis 1990. Machtpolitisch kann in dieser Struktur der Suprematie der höchste Ausdruck der »Eindämmung« deutscher Hoheitsgewalt gesehen werden.8

Für die Bonner Republik ergab sich das Dilemma, immer wieder an die Grenzen der Unabhängigkeit zu stoßen. Im politischen Alltagsgeschäft traf es besonders das Kanzleramt, das Außenministerium sowie das Verteidigungsministerium. Aber auch das Innenministerium war wegen der Kompetenz der Krisen- und Notstandsplanung, die bis 1968 in den Händen der Alliierten lag, davon betroffen.9 In Berlin wurde die »nationale« Befugnis der Alliierten am deutlichsten, da in den Regelungen des Jahres 1955 die Stadt weiterhin den Status eines Besatzungsgebietes behielt. Nach dieser Völkerrechts- und Verfassungslage hatte die Bundeswehr mit der Verteidigung Berlins nichts zu tun. Da galten alliierte Kompetenzen.

Die internationale Kontrolle und Eindämmung

Das Vertragssystem der NATO und WEU, das die Kontexte und Bedingtheiten für die Bundeswehr vorgab, kann als eine Art Staatsräson bezeichnet werden. Insofern könnte man die ambivalenten Verhältnisse dieser historischen Phase der deutschen Militärgeschichte nach 1950 in Anlehnung an zeitgenössische Sprachstile als »embedded history« bezeichnen.10 Die Auswirkungen waren weitreichend. Die Bundeswehr wurde in ein komplexes internationales Kontrollregime eingebunden, das seit den fünfziger Jahren alle Materialien, Waffenbestände und Kasernenanlagen durch Vor-Ort-Inspektionen quantitativ überprüfte. Der Westen suchte Planungssicherheit vor den Deutschen, um mit den Deutschen die Stabilität des Kalten Krieges in Europa zu gewährleisten.

Die »Eindämmung« wurde auch militär- und sicherheitspolitisch – also die qualitative Seite militärischer Potentiale – von den Amerikanern strikt umgesetzt. Nach den abschließenden Verhandlungen über den Beitritt der Deutschen zum Bündnis im Oktober 1954 wurde die nur wenige Jahre zuvor errichtete Organisationsstruktur der NATO umgemodelt und festgelegt, dass nahezu alle wichtigen Daten über operative Konzepte, Einsatzplanungen usw. der anglo-amerikanischen Verfügungsgewalt – das Paradebeispiel der Aktenklassifizierung: »for American eyes only« -vorbehalten blieben. In der internationalen Stabsarbeit war so z.B. für deutsche Offiziere der Tatbestand der informatorischen Diskriminierung gegeben; wichtige Befehlsstränge wurden entsprechend konzipiert. Das wog um so schwerer, als eigenständige Stabsorganisationen (»Generalstab«) zur Planung militärischer Einsätze den Deutschen verwehrt waren. Auch im Bündnis behielten die USA das Sagen. Nur auf der nachgeordneten Leitungsebene taktischer Umsetzung gab es die Befugnis, nach den jeweils gültigen Doktrinen und vorgegeben Direktiven die Befehle für den Ernstfall vorzubereiten. Es brauchte lange Jahre, bevor aus partnerschaftlicher Kooperation Vertrauenswürdigkeit und Anerkennung entstand oder erst nach zähen Verhandlungen eine andere Mitwirkung erreicht wurde. Asymmetrische Verhältnisse innerhalb des westlichen Bündnisses kennzeichnen also in den ersten Jahrzehnten den Status der Bundeswehr.

Kontinuität zum Zweiten Weltkrieg existierte im militärstrategischen Ansatz der USA und ihrer Militärdoktrin. Die erste globale Nuklearstrategie der »massiven Vergeltung« war ganz im Geiste des Zweiten Weltkriegs entworfen. Die damaligen extremen, mit moderner Technologie organisierten Zerstörungen und die Vernichtungsoperationen wurden noch »optimiert«. Es erfolgte eine Diversifizierung des militärischen Denkens. Stalingrad, Tokio oder Dresden sowie Hiroshima und Nagasaki mochten Metaphern der Barbarei und der Vernichtung sein – Überschreitungen moralischer und völkerrechtlicher Grenzen, aber für die militärischen Experten wurden sie nach dem Krieg Beispiele künftiger und global berechenbarer Kriegführung.11 Dabei wurden die Doktrinen und Operationen der Wehrmacht wieder hoffähig, da ihre Effizienz gegen die Rote Armee – nun im Kalten Krieg – attraktiv erschien. In akribischer Arbeit hatten deutsche Stabsoffiziere die Erfahrungen des »Ostfeldzuges« für die USA aufbereitet.12 Die Kooperation funktionierte. Die konventionelle Kriegführung wurde modernisiert, allerdings der Einsatz von Atomwaffen systematisch integriert. Die USA benötigten nur wenig Zeit, diesen »revolutionären Wandel in der militärischen Denkart« konzeptionell aufzugreifen; schon 1947 waren die Weichen für die entsprechende Rüstungspolitik, Taktik und Strategie des Kalten Krieges gestellt.13 Die Auswirkungen via NATO für die Bundeswehr kamen schnell und massiv.

Diese Ordnung des Anfangs war der Bonner Regierung vorgegeben. Westbindung bedeutete Wertebindung, Freiheit bedingte Machtbindung. Kanzler Adenauer koppelte den Akt der Staatswerdung an die Aufstellung des Militärs. Die Wiederaufrüstung war für ihn die Voraussetzung zur Erlangung der Souveränität.14 Adenauer hatte sein Handeln von Beginn an darauf gerichtet, die Demilitarisierung umzukehren und zu einer Remilitarisierung zu gelangen. Wenigen ist aufgefallen, dass er z.B. schon „1947 das Instrument der Armee als ein wesentliches Element staatlicher Souveränität betrachtete.“15 Die Absicht des Kanzlers, seine Vorstellung vom »Wesen eines Staates« umzusetzen und eigenständig von der »Wehrhoheit« Gebrauch zu machen, konnte unter den gegebenen Umständen keinen vollen Erfolg haben.16 Die Einsicht, ein Staat gelte sonst eben nichts, führte deshalb zu vielfältigen Aktivitäten mit der Devise »Wandel durch Integration«, um die militärischen Fesseln abzuschütteln bzw. den politischen Spielraum zu erweitern. Schon 1950 war der erste Etappenerfolg zu verzeichnen. Die Alliierten akzeptierten, dass das Kanzleramt eine Geheimplanung zur Aufrüstung in Auftrag gab. Im Oktober 1950 wurde die Himmeroder Denkschrift fertiggestellt.17 Doch der Gleichklang der Interessen von Washington und Bonn brauchte seine Zeit, die neue Gestalt des Militärs in der Ära Adenauer entstehen zu lassen.

Die ehemaligen Generale und Admirale der Wehrmacht, die in Himmerod die militärische Zukunft entwarfen, hatten ganz das Ideal einer »neuen Wehrmacht«, wie sie die spätere Bundeswehr nannten, vor Augen. Nach dem Muster der Vernichtungsdoktrin des »Totalen Krieges« im Osten kam eine »Worst-Case«-Verteidigung zustande, welche die operativen Maximen des Generalstabs der Wehrmacht in das Panorama des Kalten Krieges stellte und eine europaweite „Gesamtverteidigung von den Dardanellen bis nach Skandinavien“ ins Visier nahm. Eine echte Massenarmee vom Typ mobiles und motorisiertes Expeditionsheer sollte „von vornherein offensiv“ und im Hinterland des Gegners mit Atombomben vorgehen können.18 Das war die Quintessenz dessen, was in der Folgezeit »Vorwärtsverteidigung« genannt wurde und im Einklang mit der massiven Vergeltung (massive retaliation) stand. Insofern war es für Kanzleramt und militärische Führung nur plausibel, für die deutschen Formationen Atomwaffen anzustreben. Die nukleare Einsatzbefugnis, gewissermaßen der zweite Schlüssel zur Freigabe im Ernstfall, blieb in amerikanischer »nationaler« Hand.

Mehr als ein Jahrzehnt lang litten die deutsch-amerikanischen Beziehungen darunter, dass im Rahmen der Integration ins Bündnis die Bonner Politik versuchte, an den Stellschrauben des Atomwaffeneinsatzes zu drehen. Das Zugriffsrecht wurde den Deutschen verweigert. Der Höhepunkt der Friktionen kam aus dem Bonner Drängen, den Wandel der Strategie hin zur »flexiblen Reaktion« zu verhindern. Diese Entwicklung leiteten die USA ein, weil nach dem Sputnik-Schock 1957 deutlich wurde, dass es für sie ein »Fenster der Verwundbarkeit« durch sowjetische Atomwaffen gab. Helfen sollte die Option der politischen Deeskalation von Krisen und Konflikten. Für die Bundeswehr hieß dies: Atombomben, auch die für die Artillerie des Heeres, sollten nicht mehr massiv sondern selektiver und flexibler die Verteidigung absichern. Bonn aber suchte an den alten Verhältnissen festzuhalten. Daher kam es während der Berlinkrise 1961 zu einer scharfen Zuspitzung, als die politisch Verantwortlichen, Kanzler Adenauer, Minister Strauß sowie die militärische Führung, u.a. auch der Vertreter bei der NATO, Generalmajor Johannes Steinhoff, in Washington wiederholt intervenierten. Sie forderten, nach der alten Doktrin massiv vorzugehen, auch deutsche Divisionen einzusetzen oder gegebenenfalls eine Atomwaffe als Warnsignal »against no target« über der Ostsee oder einem Truppenübungsplatz in der DDR zur Explosion zu bringen. Ende November noch betonte Strauß in den USA, die Deutschen bestünden auf mehr Mitsprache beim Einsatz der Atomwaffen. Dieses Vorgehen rechtfertigten beteiligte deutsche Diplomaten später auf Anfrage, sie hätten in Washington „nicht den Verdacht bestärken dürfen, dass sie risikoscheu“ seien.19

Im Ergebnis folgte aus dem deutsch-amerikanischen Kompetenzgerangel, dass die USA (1.) die eindeutigen Zuständigkeiten, die ihnen als Alliierte zugesichert waren und besonders im Besatzungsstatut von (West-) Berlin zutage traten, nicht antasten ließen und dass sie (2.) ihre politischen Interessen, die deutschen militärischen Potentiale zu »zähmen«, strikt weiter verfolgten. Die Berlin-Krise war die Lehrstunde, sich weiter in die Sicherheitsarchitektur des Westens einzupassen. Deutsche Bemühungen, diese Grenzen aufzuweichen oder zu verschieben, wurden schlussendlich in die Schranken gewiesen. Latente Widerstandskräfte erlahmten schließlich. Natürlich gab es gewisse pragmatische Verbesserungen hier und dort. Der Harmel-Bericht von 1967, militärische Macht und »Entspannung«, nach amerikanischem Verständnis also vor allem (nur) die politische Deeskalation von Krisen, mit einander zu verbinden, wies die Richtung. Das Paradigma der Bonner Sicherheitspolitik war neben »Potsdam« eben auch durch den Antagonismus des Kalten Krieges justiert – und allein von Bonn aus nicht auflösbar.

Das Dilemma der Atombewaffnung

Nicht erst 1961, in der historischen Situation der Berlin-Krise, wurde das Dilemma einer nuklear integrierten Verteidigung in Deutschland offenbar, im Ernstfall das zu vernichten, was als Ziel jeglicher Verteidigung zu erhalten galt. Die mögliche Weggabelung wurde nicht genutzt oder, wenn es eine Politikalternative denn wirklich gegeben hat, vertan. Jedenfalls hatten grundsätzlich andere Optionen der Verteidigung mit Adenauer keine Chancen. Daher wurden alternative konventionelle, defensiv orientierte oder durch Milizkomponenten bestimmte Konzepte seit 1950 verworfen und ihre Vertreter zuletzt 1955 – nur Graf Schwerin und Bogislaw von Bonin seien namentlich erwähnt20 – aus dem Personalstamm der Bundeswehr entfernt. Seitdem war die Hoffnung auf nukleare Stabilität die eigentliche Garantie der Sicherheit. Sicherheit durch Atomwaffen hing von der mit dieser Doktrin verbundenen, aber immer unkalkulierbaren Glaubwürdigkeit der Abschreckung ab. Das Sicherheitsdilemma Deutschlands blieb bestehen, auch wenn eine militärische Ratio forderte, die Atomwaffen nur »vernünftig« und nur dann einzusetzen, „wenn andere Mittel zum Erreichen des taktischen Zieles nicht ausreichen.“ Von dieser Position aus kritisierte Generalinspekteur Ulrich de Maizière „den geplanten großzügigen, fast unbekümmerten Einsatz atomarer Gefechtsfeldwaffen im jeweiligen Verteidigungsraum.“21 Im Durchschnitt der Jahre war die Bundeswehr mit 4.000 Atombomben ausgestattet, 1992 betrug ihre Anzahl noch 2.500.

Obwohl allgemein zugängliche wissenschaftliche Analysen schon 1971 erkannten, dass bei einem auch nur geringen Einsatz dieser Waffen ein zivilisiertes Überleben in Mitteleuropa für Jahrhunderte nicht mehr möglich wäre, gab es keine Wende in der Atombewaffnung.22 Die Kategorien des integrierten Atomwaffeneinsatzes blieben im Ernstfall gültige Maxime der Verteidigung. Die Tatsache, dass die Atomwaffen das vernichteten, was es zu verteidigen gilt, und dass Deutschland daher in einem flächendeckenden Atomkrieg nicht verteidigungsfähig ist, setzte sich in der Führung der Bundeswehr nicht durch. Sie suchte dem Dilemma zu entgehen, indem sie auf dem Automatismus des eskalatorischen Verbunds der Atomstrategie bestand. Es gab kein Entkommen aus der Falle der Rüstungsspirale der Abschreckung mit der gespaltenen Sicherheit, bei der Fiktion und Realität so nah bei einander lagen. Die Kontinuität ist unübersehbar. Der Denkhorizont des »Totalen Krieges«, der der Generalstabsschule der Weltkriege entstammte, begleitete die Modernisierung der Rüstung und die militärischen Doktrinen bis zum Ende des Kalten Krieges.

Die Bildung eines genuin militärischen Milieus

Das Paradigma der Militärgeschichte des Kalten Krieges hat noch seine innenpolitischen Flanken. Der Primat der demokratischen Politik und die zivil-militärischen Beziehungen sind vor dem Hintergrund der deutschen Militärgeschichte zwei wichtige Aspekte des »Militarismus der neueren Geschichte«, nämlich als Verfassungsproblem und als „Belastung des sozialen Lebens.“23 Die Einbindung des Militärs in das parlamentarische Regierungssystem erfolgte in der »Wehrgesetzgebung« von 1954 bis 1957. Gerade diese formale institutionelle Verankerungen im System der Bundesorgane spiegelt tatsächlich diesen Neuanfang als Lehre aus der Geschichte wider. Die Erfahrungen der Weimarer Republik, als die Reichswehr sich eine weitgehende Eigenständigkeit – »Staat im Staate« – reservieren konnte, und der Militarismus im Kaiserreich sowie im NS-Regime begründeten die strikte Geltung des Grundgesetzes und der politischen Verantwortung. Jede, auch nur symbolische persönliche Zuordnung (via Kaiser oder Führer) wurde gegenüber sachlichem Verwaltungshandeln und rechtsstaatlicher Bindung aufgegeben. Die radikalen Einschnitte trennten das Neue scharf vom Alten. Das Prinzip einer »legislatorisch gesteuerten Verwaltung«, um die Willensbildung des Parlaments dauerhaft umzusetzen, konnte nach schwierigen Phasen der Umsetzung Erfolge zeitigen, da eine zivile, mit Juristen besetzte Verwaltung die formalen Vorgaben schließlich umsetzte.24

Der Primat staatlicher Einbindung fand im Militär leichter Akzeptanz als die parlamentarischen Zuständigkeiten. Die formale Zuordnung wurde in den fünfziger und sechziger Jahren nur bedingt angenommen. Denn die junge Republik zeigte ein anderes Selbstverständnis. In traditionalistisch obrigkeitlicher Manier nahm das Militär einen Sonderstatus ein. Wie wäre es sonst zu verstehen, dass Regierung und Bundestag die Kompetenzen nach der Verfassung wenig und erst allmählich Stück für Stück wahrzunehmen bereit waren. Das betraf sowohl das Budgetrecht, das Recht auf Auskunft im Bundestagsausschuss oder die Respektierung des Wehrbeauftragten. Dieser Neuanfang wirkte mittelfristig lähmend, da auch Minister, z.B. Strauß, ihre Distanz zur parlamentarischen Kontrolle nicht verbargen und offen als zivile Einmischung desavouierten.25 Bis zu Beginn der siebziger Jahre forderten Vertreter der Militärelite entsprechende Änderungen des Grundgesetzes, wie eine im Einzelnen wechselvolle Militärgeschichte zeigt.

Die »Belastung des sozialen Lebens« als letzter Faktor des Paradigmas der Militärgeschichte nach 1945 stand von Anfang an unter öffentlichen Erwartungen und internationalem Druck. Die Abkehr von militaristischen Traditionen und Kontinuitäten sowie die Absage an das genuin militärische Milieu der sozialen Abkapselung und an antiparlamentarische Haltungen schien daher klar. In Widerspruch dazu hielten wichtige Repräsentanten der ehemaligen Wehrmacht das traditionalistische Selbstverständnis eines Militärs »sui generis« hoch. Hinter diesem Begriff verbirgt sich das Streben nach einer traditionalistischen sozialen und normativen Sonderstellung gegenüber Staat und Gesellschaft. Diese Welt des Primats des Militärischen stand am Anfang der Bundeswehr und wies der praktischen Politik im Amt Blank und beim Aufbau nach 1955 die Richtung. Schon die Himmeroder Denkschrift von 1950, die »Magna Charta« einer »neuen Wehrmacht«, dokumentiert diese Tendenzen einer politisch sauberen Vergangenheit im Nationalsozialismus und »zeitlos« gültiger militärischer Traditionen. Die Vergangenheit wurde entsorgt. Neben der Militärstruktur und den operativen Maximen (wie oben dargelegt) folgte auch die normative Fixierung der Bundeswehr dem Soldatenbild einer idealisierten Vergangenheit. Es wurden Traditionslinien aufgemacht, die die Grundwerte der Bonner Verfassung konterkarierten. Rückblickend wird dies gerne als »Gründungskompromiss« beschworen, was die Verhältnisse verfälscht und eine Gründungslegende des demokratischen Neuanfangs aufpoliert.

Der in diesem Dokument von Himmerod vorhandene Reformansatz von Wolf Graf von Baudissin orientierte sich an den rechtsstaatlichen, freiheitlichen und pluralistischen Werten des Grundgesetzes. Doch Baudissin konnte nur isolierte, marginale und unsystematische Einsprengsel einfügen.26 Die Geschichte der »Inneren Führung« ist daher im Anfang eine Geschichte des Defizits. Die Politik für den inneren Aufbau der Bundeswehr folgte also zunächst restaurativen und sogar reaktionären Leitbildern. Die Folgen für Norm und Realität waren verheerend. Als 1966 die Gewerkschaften erstmals in Kasernen werben durften, traten Generalinspekteur Heinz Trettner und mehrere Generäle aus Protest zurück; als der Inspekteur der Luftwaffe Johannes Steinhoff 1968 die „zeitlose Gültigkeit“ des „vorbildlichen Führertums“ von Offizieren der Wehrmacht lobte,27 fand er nur Beifall; als im Frühjahr 1969 Generalmajor Hellmut Grashey den Offizieren des 20. Juli die Ehre absprach und pointiert feststellte, nun könne man „endlich“ die „Maske“ der „Inneren Führung“ ablegen, erfuhr er an der Führungsakademie Beifall; als etwa zur gleichen Zeit der Inspekteur des Heeres, Albert Schnez, eine von der obersten militärischen Führung gebilligte Studie vorlegte, die eine „Umformung der zivilen Gesellschaft an Haupt und Gliedern“ nach militärischem Vorbild einklagte, zeigte sich das Substrat des »Sui-generis«-Denkens in aller Klarheit. Ein Journalist bezeichnete die Manifestation des Ewig-Gestrigen mit den Worten: „Die Restaurateure bliesen zum letzten Gefecht.“28 Ein anderer fand die Bewertung: „Ins Kaiserreich ließe sich auch diese Bundeswehr hervorragend integrieren.“29 Dieses Urteil über zwanzig Jahre Militäraufbau in der Bonner Republik ist nicht einmal polemisch. Selbst alte Generäle waren zutiefst vom Zustand der Bundeswehr enttäuscht; die Nationalkonservativen Hans Speidel und Adolf Heusinger sowie der Reformer Graf Baudissin stimmten darin überein, dass die Reform des Militärs in der Bonner Republik „gescheitert“ sei.30

Die Ära Adenauer hat die weitere Entwicklung der Militärgeschichte beträchtlich belastet, da der Traditionalismus seit Himmerod mit antipluralistischen und geschichtsklitternden Parolen einen sanktionierten Status gefunden hat. So wurde die Opposition zur Militärreform in die Bundeswehr regelrecht eingebaut und der Konflikt zur Demokratisierung gemäß der »Wehrgesetzgebung« und dem entsprechenden Konzept der »Inneren Führung« installiert. Im Militär konnte die Gegenposition zur Reform Erfolg haben, da sie auch als Bestandteil einer dezidierten Vergangenheits- und Geschichtspolitik auf den Ebenen der Politik festzustellen ist.31 So bildeten sich zwei „Fronten, die sich in der einen oder anderen Form“ äußerten und auch politisch die Gestalt der Bundeswehr immer wieder zwiespältig kennzeichnete.32 Die legislatorisch gesteuerte Militärreform hatte über Jahre nur formale Relevanz, sie wurde lange nicht als legitimer Rahmen der Existenz des Militärs angenommen. Die immanenten Widersprüche waren auch für die Militärführung konstitutiv.33 Diese Problematik ist stark zu betonen, da die Geschichte der Bundeswehr nicht nur in der zweiten Reformphase zu Beginn der siebziger Jahre sondern bis in die Gegenwart (nach dem Umbruch 1990) von der Auseinandersetzung um diese beiden soldatischen Leitbilder bestimmt ist.

Der Paradigmenwechsel nach 1990

Die Machtgeometrie über den Atlantik beherrschte auch nach 1990 die Militärgeschichte. Die alliierten Rechte, wie sie in Potsdam 1945 formuliert worden waren, gestalteten den Übergang vom besatzungsrechtlich »penetrierten System« hin zur Souveränität des vereinten Deutschland.34 Keine originären Rechte fremder Herrschaft beschränkten die Souveränität und also die Hoheit über das Militär. Die Doktrin von der Bedrohung aus dem Osten, die wesentlich Legitimität und Identität der alten Bundeswehr geprägt hatte, verlor schließlich jegliche Bedeutung. Verteidigungsauftrag und gesellschaftlicher Konsens erkannten eine Friedensdividende: Frieden und Sicherheit im Haus Europa unter Einschluss Russlands. Die am 19. November 1990 unterzeichnete »Charta für ein neues Europa« signalisierte den epochalen Umbruch der Sicherheitsarchitektur. Deutschland war nur noch von Freunden umgeben.

Ein neues Kapitel der Militärgeschichte wurde aufgeschlagen. Am Tag nach der Einigung ertönte bei Kanzler Helmut Kohl ein bis dahin ungewohnter Klang staatlicher Politik. Im Bundestag erklang die Terminologie der »internationalen Verantwortung« und der »nationalen Interessen« dieses Landes. Publizistisch wurde Deutschland als europäische Macht mit Begriffen beschworen wie „Großmacht wider Willen«, »Zentralmacht Europas«.35 War es Versuchung oder Realismus, als US-Präsident George Bush den Deutschen eine „partnership in leadership“ anbot?

Die Instrumentalisierung der NATO

Die Parameter der neuen Sicherheitspolitik wurden auf der NATO-Tagung am 6. Juli 1990 sichtbar. In dieser Londoner Erklärung wurde der »Blick in ein neues Jahrhundert gerichtet«, für die das Bündnis die treibende Kraft des Wandels sein werde. Da die Sowjetunion nicht mehr das Feindbild darstelle, wurde die etablierte Militärkonzeption der Integration taktischer Nuklearwaffen aufgegeben. Die Prestigewaffen der Phase des Kalten Krieges, Tausende von Atombomben wurden bis 1995 aus den Beständen der Bundeswehr entfernt und zerstört. Das Gebiet Mitteleuropas, die höchst gerüstete Zone in der Welt, war unverhofft gewaltig demilitarisiert worden. Bis 1995 zogen etwa 900.000 ausländische Soldaten ab. Es handelte sich um alliierte und Bündnistruppen, darunter auf dem Gebiet der DDR 400.000 sowjetische Soldaten. Dann wurden infolge der Wiener Abrüstungsverträge von Bundeswehr und NVA Zehntausende schwerer Waffen (Panzer, Haubitzen usw.) verschrottet. Die deutschen Soldaten von nominell 495.000 plus 180.000, also 675.000 Personen (1990 war das Personal real 445.000 plus 90.000, also 535.000), wurden in Etappen von 370.000 auf 270.000 (2005) dezimiert. Die bis 1990 errichtete Militärstruktur wurde quantitativ beseitigt. Bezeichnende militärische »Fähigkeiten« waren über Nacht obsolet geworden.

Die NATO gab auch für die zweite Hauptphase der Geschichte der Bundeswehr den Rahmen vor. Den Wendepunkt markiert das am 8. November 1991 in Rom verabschiedete »Neue Strategische Konzept«. Darin wurde zunächst bekräftig, beim Aufbau einer dauerhaften Friedensordnung in Europa eine »Schlüsselrolle« spielen zu wollen. Dafür sei eine neuartige Form der Kooperation und der Integration Ost- und Mitteleuropas sowie ein weitreichender Umbau der Organisations- und Befehlsstruktur erforderlich. Der Stellenwert dieser Strategie, die anstelle der nuklearen Ausrichtung (der MC 14-Planungen) gegen die Warschauer-Vertrags-Staaten trat, wird erkennbar, weil in diesem von den Amerikanern vorgefertigten Militärkonzept der globale Interventionsanspruch – erstmals für die NATO – formuliert wurde: „Im Gegensatz zur Hauptbedrohung der Vergangenheit sind die beiden Sicherheitsrisiken der Allianz ihrer Natur nach vielgestaltig und kommen aus allen Richtungen, was dazu führt, dass sie schwer vorherzusehen und vielgestaltig sind.“36 Als »vitale Interessen« wurden ökonomischer Wohlstand und globale Rohstoffversorgung benannt, die »out of area«, d.h. außerhalb des gültigen NATO-Verteidigungsbereichs, gesichert werden müssten: „Die Sicherheit des Bündnisses muss jedoch auch den globalen Kontext berücksichtigen. Sicherheitsinteressen des Bündnisses können von anderen Risiken berührt werden…“37 Neben den lebenswichtigen Ressourcen wurden unter den globalen Risiken vor allem Terrorattacken aufgezählt. Mit diesem Dokument bereiteten die USA die Plattform, mit militärischem Denken ihre Fähigkeit als Siegermacht des Kalten Krieges im Verbund mit den NATO-Partnern weltweit einzusetzen.38

Die römischen Beschlüsse der NATO hatten für die Bundeswehr noch weitere Auswirkungen. Im Blick auf gesicherte Kontrolle bzw. erwünschte Kalkulierbarkeit deutscher Militärverbände wurde, um zugleich auf die nach 1990 gegebene deutsche Souveränität Rücksicht zu nehmen, eine Lösung gefunden. Im Prozess der Einigung war in manchen Nachbarländern die Sorge vor deutscher Macht erneut aufgetaucht. Auch die Schwierigkeiten der Regierung Kohl, die Ostgrenze Deutschlands verbindlich anzuerkennen, brachten Unruhe. So konnten diese Probleme geradezu elegant eingefangen werden, indem die »zukünftigen Streitkräfte« auf der Ebene der Großverbände (Divisionen/Korps) multinational zu führen seien. Auf diese Weise konnte die multinationale Kooperation mit internationaler Transparenz verbunden werden. Nach einigen Erprobungszeiten nahm man sogar Staaten des ehemaligen Warschauer Vertrages (Polen, Tschechien) in diese Form der militärischen Integration auf.

Die deutschen Interessen an Interventionen.

Die Bundeswehr war auf Interventionen »out of area« nicht unvorbereitet. Der Umschwung erfolgte bereits Jahre vor der neuen Politik in der NATO und vor dem Fall der Mauer. In einem bekannt gewordenen Dokument hatte die militärische Führung schon 1987 ein Gutachten erstellen lassen, unter welchen Umständen „Einsätze im Rahmen nationaler maritimer Krisenoperationen außerhalb des NATO-Vertragsgebietes“ zulässig seien. Die „Wahrung deutscher Interessen“ wurde als hoch brisant eingestuft, jedoch könnten Truppen jederzeit zu „humanitärer und Katastrophenhilfe“ entsandt werden, Waffeneinsatz sei auch zum Schutz von Handelsschiffen möglich.39 Nach diesem Vorgeplänkel einer prinzipiellen Öffnung des Einsatzspektrums der Bundeswehr kam schon bald eine Grundsatzerklärung. Noch galt als offizieller Konsens das, was »Kultur der Zurückhaltung« genannt wurde, die Deutschen würden militärische Interventionen außer zur Verteidigung ablehnen. Im Februar 1989 gab der für Strategie und Sicherheitspolitik im Ministerium auf der Hardthöhe zuständige Generalmajor Klaus Naumann, der spätere Generalinspekteur, die ersten öffentlichen Signale: „Die deutsche Einschätzung der Rolle militärischer Macht ist es, die unsere Situation im Bündnis so ungeheuer erschwert. Staaten, die aus Tradition ein gewachsenes und gesundes Verhältnis zur Macht haben, sehen die Zukunft der Rolle militärischer Macht im globalen Kontext weit nüchterner, weit objektiver als wir. In diesem zusammenwachsenden Europa, das in einer interdependenten Welt entsteht, und das immer, in jeder seiner Handlungen, globalen Kontext zu berücksichteigen hat, muss man Macht in allen Facetten ausüben können.“ Naumann bedauerte, dass infolge der historischen Erfahrungen, aber auch wegen eines „Versöhnungs- und Friedenspathos“ die „legitime Anwendung“ von Gewalt diskreditiert sei. Solange dieser Widerspruch nicht aufgelöst sei, werde die Bonner Republik in Europa eine „untergeordnete Rolle spielen.“40 Ein neues Konzept militärisch gestützter Interessenwahrnehmung deutscher Außen- und Wirtschaftspolitik war entworfen, bevor die Welt im Zusammenbruch des Ostblocks die Wende im sicherheitspolitischen Denken fühlte.

Kaum war die Mauer in Berlin gefallen, wurde der neue Ansatz vorgestellt. Ganz im Sinne des Friedensgedankens sprach Generalinspekteur Dieter Wellershoff schon 1990 den »erweiterten Sicherheitsbegriff« – schlicht und einfach – aus: „Helfen, retten, schützen!“ sei die einzige Ausrichtung der Bundeswehr, wo immer dies erforderlich sei.41 Die Argumente wurden eingängig vorgetragen: „Und wir können nicht tatenlos bleiben, wenn anderswo Frieden gebrochen, das Völkerrecht mit Füßen getreten und Menschenrechte verletzt werden. Wir müssen bereit sein, Mitverantwortung für Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit in der Welt zu übernehmen.“42 Wer mochte sich diesem menschlich-moralischem Appell verschließen! Der Nachsatz des Ministers Volker Rühe, es ginge um Einsätze „im Dienst der Völkergemeinschaft«, eben nicht nur im Auftrag der Vereinten Nationen, war unmissverständlich. Diese Aussagen werden so ausführlich zitiert, da es notwendig erscheint zu verdeutlichen, dass bereits im Zuge der Einigung Deutschlands die sicherheitspolitisch Verantwortlichen in Militär und Politik für das Interventionskonzept aktiv und offen geworben haben. Es war schon zu Zeiten der Bonner Republik so weit vorangetrieben worden, dass es anlässlich der Geburtsstunde der Berliner Republik in den Grundzügen öffentlich vorgestellt werden konnte.

Im Januar 1992 erfolgte die amtliche Neuausrichtung des Auftrags der Bundeswehr. Das Spektrum für die »Armee im Einsatz« fand sich mit globalen »Herausforderungen« umschrieben. Nationale Interessen wurden herausgestellt, um militärische Fähigkeiten umfassend einzusetzen. Die Zielrichtung wurde präzisiert: „Förderung und Absicherung weltweiter politischer, wirtschaftlicher, militärischer und ökologischer Stabilität; die Aufrechterhaltung des freien Welthandels und der Zugang zu strategischen Rohstoffen.“43 Die Forderung nach „ungehindertem Zugang zu den Märkten und Rohstoffen in aller Welt“ stieß zwar auf heftigen Protest der SPD-Opposition im Bundestag und wurde auch zum Erbe deutscher kolonialer Weltmachtträume gerechnet. Aber die wenigen Proteste änderten nichts an der anvisierten Zielsetzung, den »Umbau« der Bundeswehr einzuleiten. Es war kein gerader, aber ein direkter Weg, der von diesen Grundentscheidungen zur Neugestaltung der Bundeswehr hin zu den Verteidigungspolitischen Richtlinien von Minister Peter Struck vom 21. Mai 2003 führten, die durch das populäre Wort, Deutschland werde am Hindukusch verteidigt, Aufsehen erregten. Im Einklang mit der ausformulierten NATO-Strategie wurde das Aufgabenfeld der Risiken für die Bundeswehr vage umrissen, „Krisen und Konflikte, Bedrohungen und deren Ursachen im erweiterten geographischen Umfeld“ (Ziffer 47) zu verhindern oder zu bekämpfen. Kollektiv, also im Zusammenwirken mit anderen Mächten, solle deutsches Militär auf diese „Anforderungen“ reagieren, „aus welcher Richtung sie auch kommen mögen.“ In terminologischer Unübersichtlichkeit sollte mit militärischen Mitteln Sicherheit hergestellt werden, „wo immer diese gefährdet ist.“

Rationalität und Effektivität der Bundeswehr leiten sich von diesem Einsatzspektrum ab und verlangen entsprechende operative Doktrinen, Rüstungsverbünde und Ausbildungskonzepte. Symbolträchtig an der Spitze dieser Modernisierung lässt sich da das Einsatzführungskommando der Bundeswehr in Potsdam benennen. Hier verwirklichte sich erstmals nach 1945 wieder, was legendär der Generalstab als operative Planungs- und Führungseinrichtung leistete oder in gewisser analoger Funktion das Oberkommando der Wehrmacht. Typisch für diese neuzeitliche Organisation können die aufgetretenen Friktionen gelten, die zugeordneten Führungskommandos von Heer, Marine und Luftwaffe einzubinden. In traditionalistischem Verständnis wird die »Souveränität« der Teilstreitkräfte hoch gehalten.

Die zivilistische Parole des Rettens ist inzwischen entfallen, nun heißt es plastisch: „Kämpfen, stabilisieren, helfen!“ Der postnationale Typ vom Militär der Moderne hat damit seinen Eingang ins deutsche Militärkonzept gefunden, zumal es Struck gelungen war, die konservativen traditionalistischen Vertreter im Heer auszuspielen, die ihre großen und schwerfälligen Panzertruppen der Kalten-Kriegs-Konzeption erhalten wollten. Struck vermochte es, sich gegen heftiges Widerstreben durchzusetzen, auch wenn noch im Januar 2006 zwei höchste Generale – der Inspekteur der Streitkräftebasis, Hans Heinrich Dieter, und der stellvertretende Inspekteur des Heeres, Jürgen Ruwe – wegen latenter Opposition ihren Hut nehmen mussten. Nach der Übergangszeit von mehr als zehn Jahren war 2003 endgültig Schluss mit der alten Bundeswehr. Im Zuge der weiteren Konkretisierung dieses Militärkonzeptes fiel 2004 eine merkwürdige Veränderung auf. Der Leitbegriff »Reform« tauchte nicht mehr auf, stattdessen fand sich für die zukünftige Militärpolitik die unspezifische Bezeichnung »Transformation«. Sie „bestimmt Denken, Ausbildung, Konzepte, Organisation und Ausrüstung, sie schafft etwas völlig Neues. Der Transformationsprozess bietet die Gelegenheit, die Bundeswehr durch innovative Lösungsansätze effizienter zu gestalten.“44

Die traditionalistische Kontinuität und Rechtslastigkeit.

Die innere Lage der Bundeswehr blieb von der Änderung des politischen Paradigmas der militärisch gestützten Außenpolitik nicht unberührt. Schon 1991 trat der Einschnitt markant hervor, als die Parole „Der Krieg ist der Ernstfall“ die neue Ausrichtung eingängig und symbolträchtig widerspiegelte. Da konnte man das Leitwort von Gustav Heinemann, der Frieden sei der Ernstfall, endlich umkehren: „Auf die Kriegstüchtigkeit der Bundeswehr hin ist also alles auszurichten, Ausbildung, Ausrüstung und Struktur. Ethos, Erziehung, Sinnvermittlung und Motivation müssen sie mit einschließen…“45 Ein Kämpferkult wurde geboren, ähnlich wie in den fünfziger Jahren kam wieder auf: „Kämpfen können und kämpfen wollen!“ 1994 wurde zu einem wichtigen Jahr der inneren Formierung der Bundeswehr. Die Abwicklung der NVA war praktisch abgeschlossen, die ausländischen Truppen aus Ost und West waren abgezogen, jetzt konnte militärische Souveränität erfahren werden. Die Armee suchte sich zu festigen, daher sollten störende Einflüsse fern gehalten werden. Das Heer schritt voran, dem Leitbild vom »Staatsbürger in Uniform« den Todesstoß zu geben. Pluralität im Militär und Integration in die Gesellschaft – die alten Ideale der »Inneren Führung« von Baudissin – wurden verfemt. In der Weisung zum Leitbild des Offiziers wurde erklärt, Militär und Gesellschaft seien unvereinbare Gegensätze. Sie hätten jeweils „unterschiedliche Werthierarchien, Leitbilder, Normen und Verhaltensweisen.“ Während hier die Verhältnisse der „freiheitlichen, pluralistischen Staats- und Gesellschaftsordnung“ gelten würden, stünden „dagegen“ auf militärischer Seite die Normen der „hierarchisch aufgebauten Armee“ mit ihrem Leitbild der „Ein- und Unterordnung.“46 Diese Weisung des damaligen Inspekteurs des Heeres und späteren Generalinspekteurs Bagger ging nach alter Weise von normativer Abkapselung und sozialer Abgeschlossenheit des Militärs aus – ein korporativer Körper sui generis.47

Der Leiter des Heeresamtes, Generalmajor Jürgen Reichardt, setzte noch eins drauf, als er 1998 die innere Ordnung nach dem NS-Prinzip der »Gefolgschaftstreue« formen wollte. Skurrile Extreme traten hervor, als dessen Dienststelle Publikationen förderte, in denen „Geist und Haltung der SS-Leibstandarte Adolf Hitler“ gelobt und ihr Kommandeur als tapferer vorbildlicher Offizier gefeiert wurde. Ein historischer Revisionismus machte rechte Traditionen zugänglich, das Erbe der Generale Halder und Seeckt wurde beschworen und „die gesamte Tradition des preußisch-deutschen Generalstabs für den Generalstabsdienst der Bundeswehr als verbindlich“ erklärt. Die Hardthöhe honorierte den traditionalistischen Autor und versetzte ihn an die Führungsakademie, zuständig für Ausbildung und Lehre; dann wurde ihm das Kommando einer Division übertragen.

Die Maximen dieser exklusiven militärischen Eigenwelt zeigten Wirkung. Einen ersten auffälligen Höhepunkt gab es 1997, als nach dem Bericht des Wehrbeauftragten 185 Fälle von Rechtsextremismus an 140 Standorten zu verzeichnen waren. Die Rechtslastigkeit und Auffassungen rechtsextremer Art nahmen gerade bei jüngeren Offizieren zu, bis zu 25 Prozent im Jahr 1999. Dazu hieß es: „Besondere Ausprägung erfahren nationalistisches und fremdendistanzierendes Gedankengut, Merkmale, die als die zentralen Dimensionen gerade auch für Rechtsextremismus gelten.“ Darüber hinaus fanden sich in dieser Gruppe, die Disziplin und Autorität sehr hoch achtete, politische Überzeugungen, die „bereits bestimmte Missachtungen der demokratischen Prinzipien und Regeln“ erkennen ließen.48 Die Übergriffe von Coesfeld im Jahr 2004 stehen für ähnliche Grenzüberschreitungen, hier als drakonische Schinderei nach 08/15-Manier. Wehrpflichtige wurden in Städtenahkampf und gemäß Folterexzessen aus dem Irak-Krieg geschult. Der Boden der Brutalität und Verrohung ermöglichte schlimme Verwerfungen verdrehter »kriegsnaher« Ausbildungsmaximen. In über 20 Kasernen zeigte sich ein düsteres Klima der organisierten Unterdrückung und zwangsweisen Einpassung in ein Kollektiv der Gewaltübung. Wie in der Mitte der neunziger Jahre war auch diese Affäre von entsprechenden Positionen aus der Generalität begleitet. Ein Heeresinspekteur versuchte 2004 die Vergangenheit revisionistisch zu interpretieren, sein Nachfolger begeisterte sich für »archaische Kämpfer« als Vorbild für den Kriegertyp der neuen Armee, andere Generale diffamierten das Leitbild der »Inneren Führung« als „unglückliche Konstruktion«. Der Kommandeur der Elitetruppe für Spezialeinsätze (KSK) knüpfte „wegen der besonderen soldatischen Elemente“ Traditionslinien zu den als Beste der Wehrmacht angesehenen Ritterkreuzträgern.49

Ein anderer Aspekt, der gerne übersehen wird, gibt wichtige Hinweise auf militärisch-gesellschaftliche Beziehungen. Dabei geht es um die Annahme, die Bundeswehr werde von der Gesellschaft als normal akzeptiert.50 Die Wehrpflicht ist das Beispiel. An ihr wird hauptsächlich festgehalten, um Zeit- und Berufssoldaten für die Bundeswehr zu rekrutieren. Die Zeichen der Ablehnung verweisen auf erhebliche Dissonanzen der jungen Generation zum Militär, werden aber von Politik und Militär bemäntelt. Seit Mitte der neunziger Jahre liegen signifikante statistische Daten vor: die Zahl der 135.000 Wehrpflichtigen war seitdem immer geringer als die der 146.000 Wehrdienstverweigerer (1994). Der Trend verfestigte sich weiter: 160.569 im Jahr 1995, sogar 189.644 im Jahr 2002. Bemerkenswert ist, dass in all den Jahren gleichermaßen einige tausend Soldaten und Reservisten – nachträglich – den Wehrdienst verweigerten. Nach eigenem Selbstverständnis müssten sie besser Kriegsdienstverweigerer genannt werden, weil sie gegen die Auslandseinsätze (Kosovo- und Irakkrieg) protestieren. Die Wehrpflicht lässt eine Erosion der gesellschaftlichen Legitimität der »Armee im Einsatz« erkennen.

Ein Milieu der militärischen Eigenwelt und kommunikativer Eigenheiten hat sich seit den neunziger Jahren in der Bundeswehr verfestigt. Die militärische Führung distanzierte sich von der Gesellschaft, aber zugleich auch von den Werten und den Zielen der Militärreform, die der Bundeswehr bei ihrer Gründung auf den Weg mitgegeben war.51 Das Konzept der »Inneren Führung«, orientiert an den Grundwerten der freiheitlichen Verfassung, wird formal insgesamt natürlich nicht bestritten. Äußerungen zur Geschichtspolitik und Weisungen aus der obersten Führungsetage haben allerdings eine enorme Deformation im Alltag des Militärs begünstigt. Am Vorabend der 50-Jahr-Feiern der Bundeswehr zeigten sich massiv »gegenkulturelle Tendenzen« mit Anzeichen einer militärischen Parallelkultur. Die Bundeswehr schottete sich allmählich von der Pluralität und Zivilität der Gesellschaft ab. Nimmt man Äußerungen der Militärelite zum Maßstab, waren es gerade herausgehobene wichtige Repräsentanten der Bundeswehr, welche die Eigenwertigkeit eines Denkens in »Sui-generis«-Kategorien untermauerten.

Die Leichtigkeit beim Umgehen mit der Gültigkeit des Rechts.

Schließlich wurde das rechtliche Fundament für internationale Einsätze der Bundeswehr gewendet. Dabei ist vorauszuschicken, dass kaum neue Rechtsmaterie der alten hinzugefügt wurde, sondern dass die Geltung gegebener nationaler und internationaler Rechtsnormen durch neue Interpretationen verändert wurde. Die Handlungsräume der Politik wurden erweitert. Auf der staatlichen Ebene hat das Grundgesetz an Verbindlichkeit verloren. Ihm liegt schon in der Präambel die große Idee zugrunde, der deutsche Staat werde dem Frieden der Welt dienen. Im Parlamentarischen Rat hatte der spätere Bundespräsident Heuss diese Ausrichtung der Verfassung mit der kriegerischen und militaristischen Vergangenheit begründet, die den »exzeptionellen Charakter« dieser friedensgebundenen Politik ausmache. Sie hatte jene »Kultur der Zurückhaltung« im Konsens der Gesellschaft ausgemacht, deutsches Militär werde niemals gegen einen anderen Staat eingesetzt. Dem entsprach, militärische Hilfs- und Schutzmissionen im Auftrag der Vereinten Nationen – die sogenannten Blauhelm-Einsätze – zu unterstützen. Das war früher selbstverständlich. In die »Militärpolitischen Grundlagen« vom Januar 1991, in denen weltweite Einsätze gemäß dem »erweiterten Sicherheitsbegriff« erstmals für möglich erklärt wurden, war entsprechend der Satz eingefügt: „Die Bundeswehr hat den Auftrag, im Zusammenwirken mit anderen staatlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Kräften Deutschlands… nach klarstellender Ergänzung des Grundgesetzes an kollektiven Einsätzen… teilzunehmen.“ Kampfeinsätze und die Entsendung »out of area« wurden damals von allen Parteien, außer von Teilen der CDU und dem Wehrpolitischen Arbeitskreis der CSU, abgelehnt. Die grundrechtliche Klärung fand nicht statt.

Statt einer Ergänzung des Grundgesetzes genügte vielen das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 12. April 1994. Jener Teil des Urteils, der die deutsche Beteiligung an friedenssichernden UN-Operationen als verfassungsrechtlich legal feststellte, war erwartet worden. Doch dass den Militärbündnissen NATO und WEU die gleiche Völkerrechtsqualität wie der UNO – »ein System kollektiver Sicherheit« – zuerkannt wurde, führte zu Irritationen. Das Gericht legitimierte Einsätze im Auftrag der NATO oder WEU. Es definierte die Bündnisse um, erklärte die wörtliche Bindung der Verträge, welche die Zielsetzung der Verteidigung und die geographisch-regionale Reichweite festlegten, de facto für obsolet. Die Regierung nutze die nun gegebene »informelle Funktionserweiterung« des Völkerrechts, um qua Bündnis weltweit mit Militär zu handeln.52 Auf dieser Basis wurde der erste Kriegseinsatz der Bundeswehr im Kosovo 1999 legitimiert.53

Der Tatbestand legaler Waffeneinsätze der Bundeswehr im Ausland und besonders »out of area«, also außerhalb des Bündnisgebietes, ist nach Geist und Wortlaut von Grundgesetz und Bündnisvertrag höchst problematisch. Allerdings wurde seit Beginn der neunziger Jahre die alte Eindeutigkeit unter Hinweis auf den »erweiterten Sicherheitsbegriff« aufgeweicht. Mit Bedacht schlugen Politiker und Militärs diesen Weg ein. Die Kritik, eine „verlotterte Politik“ mit einem „missbräuchlichen Verfassungsgebaren“ zu betreiben, scherte sie nicht.54 So erfolgte auf der Basis von Protokollen und Deklamationen nationaler und internationaler Gremien Schritt für Schritt eine Uminterpretation, bis nach einiger Zeit ein neues sicherheitspolitisches Selbstverständnis des Interventionismus entstanden war. Das geflügelte Wort des Ministers Struck, Deutschlands werde „am Hindukusch“ verteidigt, entspricht genau diesem Umgang mit der Rechtslage. So wurde das Völkerrecht transformiert. Die Stärke des Rechts wich dem Recht auf Stärke.55 Die Spannung der konkurrierenden Rechtsverständnisse besteht weiterhin fort.

Die Bundesregierung allerdings war bestrebt, die Schwächen der alten Legalität aufzuheben. Dazu diente der für diese Zwecke von deutscher Seite stark beeinflusste Entwurf der Europäischen Verfassung. In deren Text wurde eine breite Palette an Interventionen vorgestellt, die von humanitären Aufgaben, Rettungseinsätzen und Konfliktverhütung bis zu „Kampfeinsätzen im Rahmen der Krisenbewältigung einschließlich Frieden schaffender Maßnahmen“ und der „Bekämpfung des Terrorismus“ reicht.56 Die inhaltliche Übereinstimmung zwischen der NATO-Strategie, den Verteidigungspolitischen Richtlinien und der EU-Agenda ist kaum zufällig. Die Bedeutung für Deutschland liegt darin, dass diese europäische Beschlussebene die offene Flanke der völkerrechtlichen Legalisierung und Legitimierung militärischer Einsätze sichern würde. Die übergeordnete Dimension der EU-Verfassung könnte die heiklen Schwächen und Widersprüche der bestehenden Rechtslage der Entsendung »out-of-area« abmildern, wenn nicht aufheben.57 Das bestehende Völkerrecht gewänne mit dieser EU-Verfassung bzw. eines Sondervertrags mit diesen inhaltlichen Festlegungen eine neue Qualität, ohne dass die Sonderproblematik nach der unzweideutigen Geltung des Grundgesetzes mit seinem Friedensgebot damit gelöst wäre.58

Schließlich wurde das Thema des Einsatzes der Bundeswehr im Innern auf die Tagesordnung gesetzt. Im Januar 2003 bereits vernahm die erstaunte deutsche Öffentlichkeit, die Bundeswehr müsse zum Schutz von Personen und Objekten vor terroristischen Bedrohungen im Innern eingesetzt werden können. Edmund Stoiber, der bayerische Ministerpräsident, und Wolfgang Schäuble, damals Bundestagsabgeordneter, forderten dafür eine Änderung des Grundgesetzes.59 Beide bildeten die Speerspitze einer Lobby, um – in der Zeit der Fertigstellung der Verteidigungspolitischen Richtlinien des Ministers Struck – die Aufgaben der Bundeswehr auszuweiten. Sie hatten Erfolg. Erstmals erhielt die Bundeswehr im Mai 2003 den Auftrag, sich auf Einsätze im Innern vorzubereiten: „Zum Schutz Deutschlands und seiner Bürgerinnen und Bürger leistet die Bundeswehr künftig einen bedeutenden, zahlreiche neue Teilaufgaben umfassenden und damit deutlich veränderten Beitrag im Rahmen einer nationalen Sicherheitskonzeption.“ (Ziffer 80) Die »zahlreichen« Aufgaben sind nicht einzeln, enumerativ fest gehalten sondern pauschal unter Schutz der „Bevölkerung“ und der „lebenswichtigen Infrastruktur des Landes“ vor Terrorismus und „asymmetrischen Bedrohungen“ subsumiert. Die Einsatzoptionen gelten „immer dann«, wenn „nur“ die Bundeswehr über die „erforderlichen Fähigkeiten“ verfügt.

Das ist die Lage gemäß diesem administrativen und nicht parlamentarischen Akt, dem Erlass von Minister Struck. In historischer Perspektive ist ein qualitativer Punkt – das Tabu der Nachkriegsgeschichte -außer Kraft gesetzt, das Militär nicht im Innern einzusetzen. Welche dienstrechtlichen Konsequenzen sich daran fügen und welche gesellschaftlichen oder politischen Umstände für die Einsätze konkret gemeint sind, bleibt bei diesen diffusen amtlichen Worten offen. Doch damit nicht genug. Kaum war Schäuble im Herbst 2005 zum Innenminister ernannt, setzte er den Einsatz der Bundeswehr anlässlich der Fußballweltmeisterschaft auf die innenpolitische Agenda.60 Er erwies sich als treibende Kraft, für diesen Zweck das Grundgesetz zu ändern. Flankiert wurden diese Initiativen durch das Konzept, eine »sicherheitspolitische Dienstpflicht« als Teil eines erweiterten innenpolitischen Sicherheitsbegriffs durchzusetzen.61 Stoiber hatte sich in einem entsprechenden Gesetzentwurf bereits 2004 dafür eingesetzt. Seit der Bildung der Großen Koalition wurde dann pausenlos, pragmatisch und scheibchenweise dieses Ziel propagiert. Nach den Planungen des Verteidigungsministeriums sollen mindestens 7.000 Soldaten – Sanitäts- und Küchenpersonal mit »zivilen« Hilfsdiensten, aber auch militärische Spezialkräfte zum Schutz vor biologischen und chemischen Kampfstoffen – eingesetzt werden.62 Das Projekt – Einsatz des Militärs im Innern – wird vorbereitet. Bereits im Jahr 1993 hatte sich Schäuble, damals Fraktionsvorsitzender der Unionsparteien im Bundestag, in einem Brief an die Fraktionsabgeordneten gewandt. Darin waren diese Ziele schon aufgeführt. Wegen „weltweiter Wanderungsbewegungen und internationalem Terrorismus“ würden die Grenzen zwischen innerer und äußerer Sicherheit „verwischen“ ; daher müssten die „perfektionistischen Beschränkungen“ des Grundgesetzes aufgehoben werden.63 Da Struck als Minister einen entsprechenden Auftrag der Bundeswehr bereits 2003 erteilt hat, wird die SPD unter seinem Fraktionsvorsitz die entsprechenden Pläne der CDU/CSU kaum verhindern wollen, sondern gewiss mittragen.

Der Paradigmenwechsel des Auftrags der Bundeswehr nach 1990 ist gravierend. Innen- und außenpolitisch wurden die Grenzen erweitert, die einem geziemenden Machtbegriff Geltung verschafften. Nachdenkenswert ist, dass die Erfahrungen der deutschen Geschichte in ihrem normativen Gehalt nun so verstanden werden, dass das Militär als politisches Instrument offenbar einen anstrebenswerten, hohen Stellenwert gewonnen hat. Ein nationales Verständnis von Staat, Politik und Macht hat den Wandel bestimmt. Die Lehre von 1990 scheint zu sein, die deutsche Macht der Berliner Republik im Bewusstsein souveränen Handelns auszugestalten.

Deutsche Orientierung an einer militärgestützten Politik

Die Bonner Republik wurde mit Militär begründet. Die 1955 erlangte Staatlichkeit war direkt an die »Wiederbewaffnung« gekoppelt. Auch die zeitgleich konzipierte Atombewaffnung hatte im Verständnis des ersten Bundeskanzlers außergewöhnliche Bedeutung für das internationale Prestige dieses Landes – nach Westen wie nach Osten. Unter allen Kanzlern wurde der nationale Status auf militärische Potentiale gegründet. Kanzler Adenauer folgte als Realpolitiker den Spuren eines Bismarckschen Staatskonzepts, das sogar Kanzler Brandt in seiner Vision der Entspannungspolitik nicht aus den Augen verlor, sondern mit der Devise höherer Aufwendungen für die Sicherheit eine neue internationale Stabilität ausbalancierte. Der Kalte Krieg selbst war von Beginn an bis zu den neunziger Jahren eine Phase der Hochrüstung, nur vergleichbar mit der aus der Geschichte bekannten Zeitspanne, in Hochspannungszeiten Armeen für den Einsatz zu mobilisieren. Im Kalten Krieg war dies der permanente Zustand.

Die Aufwendungen für die Bundeswehr wurden damit begründet, dass Deutschland am intensivsten von einem expansiven Osten bedroht sei, da es sich im Schnittpunkt der antagonistischen Bedrohung in Europa entlang der Grenze an der Elbe befand. Deutsche Politik aus Bonn war daher von Beginn an eine Politik, die sich am simplifizierenden Actio-reactio-Schema orientierte. Der Begriff der »Kultur der Zurückhaltung« würde falsch verstanden und zu einem Friedensmythos verklärt, wenn der hohe Grad an militärgestützter Außenpolitik übersehen würde; Zurückhaltung meint im Kern nur, dass eigenständige deutsche Militärpolitik nicht zugestanden war. Auch wenn kein ernster Konflikt einen Militäreinsatz im Rahmen der Verteidigung erzwungen hat, hatte das Militär in der gesamten Epoche der Bonner Republik für die Handlungsfähigkeit nach außen einen sehr hohen Stellenwert. Das entsprach dem machtdefinierten Denken seit Moltke, den Staat durch Hochrüstung im Frieden zu sichern, um so abzuschrecken.

Die Demokratisierung des Militärs erfolgte in den ersten beiden Jahrzehnten nur rudimentär, weitgehend formalistisch. Sie wurde der Effizienz und Funktionalität untergeordnet. Die Militärpolitik entschied sich für das Vorbild der Wehrmacht als vorbildliche Tradition, nicht nur de facto sondern ausdrücklich mitgetragen von den Bedenken mancher Politiker wie Strauß. Das erklärt die Leichtigkeit, wie in Strategie oder Tradition, in Ausbildung oder Auftreten restaurative Prinzipien die modernisierte »neue Wehrmacht« prägten. Ein eigentümlich vermengtes Milieu aus Facetten militaristischer Haltungen und in Maßen antidemokratischer bzw. antipluralistischer Einsprengsel entstand und führte dazu, dass entsprechende inhaltliche Diskrepanzen zwischen Traditionalismus und Reformorientierung die Bundeswehr in all den fünfzig Jahren ihrer Existenz begleiteten. Diese »Frontstellung«, wie Baudissin früh erkannte, darf nicht mit der Antinomie von konservativ versus liberal missverstanden werden, da es sich um gegensätzliche Militärkonzepte handelt. Diese Ambivalenz belastete die Militärgeschichte seit dem geheimen, dem Parlament unbekannten Gründungsplan (aus Himmerod) von 1950, der schon im Amt Blank zur Folie der Entscheidungen wurde.

Das Jahr 1990 markiert tatsächlich einen Wendepunkt in der Militärpolitik. Das alte, von den Alliierten im wesentlichen vorgegebene und mitbestimmte Paradigma hat seine Relevanz verloren. »National« und »staatlich« wurden mit erweiterten, auch traditionellen Inhalten gefüllt. Die Bundeswehr hat einen gewandelten und politisch expliziten Status erhalten. In einem internationalen Geflecht zwischen Washington, Brüssel und Bonn wurde das vorbereitete geopolitische Interventionskonzept des »erweiterten Sicherheitsbegriffs« gleich nach der Einigung präsentiert. Eine Mehrheit der Bevölkerung hat diesen Wandel mitgetragen – ein anderer Teil hat Protest und Widerstehen deutlicher entwickelt, wie beispielsweise die Daten der Kriegsdienstverweigerung anzeigen. Die Akzeptanz der Einsätze »out of area« hat die Kritiker der militärgestützten Außenpolitik erstaunt; sie mussten feststellen, dass sich „die Militarisierung schon zu stark in allen gesellschaftlichen Bereichen festgesetzt“ hätte.64 Der »Umbau« der Bundeswehr der Berliner Republik ist unter größten Mühen und mit vielfachen Kontroversen vollzogen worden. Die Führung versuchte ihre Interessen mit hergebrachten Konzepten durchzusetzen, Konsens und Konsolidierung mit Hilfe von sozialer Anpassung und persönlicher Disziplinierung zu erzwingen. Das Leitbild des »Staatsbürgers in Uniform« verlor dabei nicht nur an Bedeutung, sondern es wurde in Wort und Schrift von Vertretern der Generalität bekämpft und an den Rand geschoben. Dabei wurde öffentlichen Initiativen und Anstößen aus der Zivilgesellschaft, militaristisch belastete Traditionsnamen aus den Kasernen zu tilgen (wie im Februar 2006 in Fürstenfeldbruck), in Maßen statt gegeben, aber zeitgleich wurde eine traditionalistische Vergangenheits- und Traditionspolitik sowie die legendengleiche Glättung der Bundeswehrgeschichte der frühen Jahre verfolgt. Diese leistete vielen rechten und rechtslastigen Ereignissen und Machtfantasien Vorschub. Ein militärisches Milieu hat sich ausgebreitet, zu dem es passt, dass – als folkloristisches Apercu – im Jubiläumsjahr 2005 das Degen tragen für Offiziere gefordert wurde.

Von anderer Qualität ist die seit einem Jahrzehnt vorgetragene Politik, die Bundeswehr im Innern einzusetzen. In kleinen Etappen vorbereitet – schon seit 1994 von dem Fraktionsvorsitzenden der CDU, Wolfgang Schäuble, angestrebt und nun vom Innenminister Schäuble betrieben -, soll die Fußballweltmeisterschaft 2006 genutzt werden, um solche Sicherheitsbedürfnisse plausibel erscheinen zu lassen. Auf diesem Wege wird das Paradigma der Sicherheitspolitik der Berliner Republik nachhaltig neu bestimmt. Die historischen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts – der Slogan des Kaiserreichs: „Gegen Demokraten helfen nur Soldaten!“ – werden die Politik wohl nicht zögern lassen, dieses Tabu der Bonner Republik zu brechen. Kennzeichen der neuen Politik der Berliner Republik, Auftrag und Struktur der Bundeswehr zu transformieren, ist nach innen und nach außen eine schleichende Militarisierung.

Politik gegen die Demokratisierung der Bundeswehr

Restaurativer Traditionalismus in der Bonner Republik

Die Neugründung der beiden deutschen Staaten war in Ost und West mit der Kernfrage verbunden, in wie weit mit dem freiheitlichen Neuanfang eine Abkehr von Nationalsozialismus und Militarismus vollzogen wurde. Das Kriegsende leitete die Wende ein. Die totale Kapitulation der Wehrmacht und das Ende des NS-Regimes gaben den Anstoß. Das Jahr 1945 wies dem Militär im Unterschied zu anderen staatlichen Institutionen am ehesten die Richtung, einen Neubeginn zu wagen. Eine »Stunde Null« war gegeben, Fakten waren geschaffen. Zu den Fakten zählte die Entscheidung des Alliierten Kontrollrates vom 2. August 1945, im Vollzug der Potsdamer Beschlüsse der Siegermächte alle militärischen Einrichtungen der Wehrmacht – »völlig und endgültig« – aufzulösen und ihre Einrichtungen ein für alle Male auszulöschen. Die internationale Entscheidung zerschlug ex negativo die militärischen Strukturen deutscher Machtpotentiale. Begründet wurde dies historisch damit, dass von dort – dem »Hort des Militarismus« – ein Jahrhundert lang der Frieden in Europa bedroht worden war. Dieser Typ eines historischen Sonderweges sollte für alle Zukunft ausgeschlossen sein. In einem ersten Schritt wurde die Wehrmacht aufgelöst. Im Begriff der »Stunde Null« war damit zugleich der zweite Schritt verbunden, die eigene Vergangenheit, den Militarismus und die NS-Militärpolitik der Wehrmacht in Krieg und Besatzung zu reflektieren – eine »Stunde Null« der historisch-politischen Besinnung. Umkehr war das Gebot.

Zukunft und Format jedes Militärs in Deutschland sollten grundsätzlich auf ein neues Fundament gestellt werden. Die Besinnung verlangte die Orientierung an den Wertvorstellungen von Demokratie und Republik. Die Abkehr vom Militarismus der Geschichte fußte auf der Ethik des politischen Handelns. Eine militärische Restauration durfte im Militär der Nachkriegszeit keinen Platz haben. Mit dieser Einschätzung der Völkergemeinschaft korrespondierte auf deutscher Seite die Haltung vieler, denen Friedrich Meinecke Ausdruck mit dem Wort verlieh, die deutsche Katastrophe verlange einen „radikalen Bruch mit unserer militärischen Vergangenheit«.1 Dies bekräftigte Gerhard Ritter auf dem Historikertag 1953, als er im Vergleich mit dem preußisch-deutschen Militarismus des 19. Jahrhunderts feststellte, die Wehrmacht habe den extremsten Militarismus der deutschen Geschichte – „niemals ist die Militarisierung alles Lebens so radikal durchgeführt“ worden – verkörpert.2 Damit richtete er den Blick auf die Rolle des Militärs in der Innenpolitik, der sich ebenso der Sozialwissenschaftler Leopold von Wiese widmete. Unübertroffen deutete auch Hans Herzfeld die »Selbstgesetzlichkeit« des Militärischen im NS-System als politisches Konzept der Radikalisierung des modernen Militarismus.3

Die »Stunde Null« schloss daher dem Sinn nach nicht das Militär an sich aus, sondern verlangte insbesondere die Abkehr von allen Übersteigerungen des Militärischen. Als daher seit 1950 die Aufstellung von Streitkräften mit der durch Besatzungsstatut reglementierten Bonner Regierung politisch verhandelt wurde, gaben die Alliierten in Konsequenz der Potsdamer Beschlüsse dieses Militär nicht unter alleinige deutsche Verfügungsgewalt. Einsatzleitung und Rüstungskontrolle der Bundeswehr wurden an NATO und WEU übertragen. Jede eigenständige Aktion nach außen wurde strukturell unterbunden und daher die Bundeswehr international vollständig integriert. Nach innen jedoch hatte die politische und militärische Spitze der Bundeswehr die Zuständigkeit, die Verhältnisse nach eigener Maßgabe zu regulieren und die Vergangenheits- und Traditionspolitik zu bestimmen.4 Daher entstand das Problem, dass über Jahrzehnte von relevanten Vertretern der Bundeswehr Traditionslinien zum Militarismus aufgebaut wurden. Um solche Beispiele geht es hier.

Die Militärpolitik des Traditionalismus

Um sich dem Thema angemessen nähern zu können, ist zur notwendigen Abgrenzung voraus zu schicken, dass nach dem Krieg in der jungen Bundesrepublik der Militarismus im allgemeinen keine Akzeptanz genoss; vielmehr war das Wort des damaligen Bundeskanzlers, Konrad Adenauer, verbreitet: „Der Militarismus ist tot.“ Dennoch findet sich das Phänomen – im Begriff der »Wieder-Bewaffnung » zufällig zu erkennen -, dass einzelne Faktoren und Elemente aus militaristischen Zeiten aufgegriffen und für die Gestaltung der Entwicklung der Bundeswehr genutzt wurden, ohne in notwendiger Weise kritisch das Vergangene zu prüfen, ob es mit den Grundwerten der jungen Bundesrepublik ausreichend übereinstimme. So wurde die Militärpolitik des Generals Hans von Seeckt beim Aufbau der Streitkräfte hoch geschätzt. Da schien die politische Brisanz nur am Rande eine Rolle zu spielen, dass er in der Weimarer Republik für die antidemokratische Politik des Militärs vom »Staat im Staate« große Verantwortung trug. Unter dieser Perspektive hätte ein Seeckt niemals ein Vorbild für die Bundeswehr sein können. In diesem Beispiel wird eine militärinterne Vergangenheitspolitik des Traditionalismus erkennbar, die nicht im Einklang mit den Grundwerten der Verfassung steht. Gerade sie hatte eine geschichtsklitternde Schlagseite, die restaurative Elemente aus den Epochen des Militarismus in die Innenpolitik der jungen Republik holte.

In diesem Beitrag wird besonders dieser Vergangenheitspolitik des Militärs der Bonner Republik Aufmerksamkeit geschenkt. An drei Beispielen aus den Jahren 1950/55, 1969 und 1982 wird aufgezeigt, wie restaurative Kontinuitäten von Vertretern des militärpolitischen Traditionalismus hergestellt und vertreten wurden. Die gewählten Beispiele illustrieren Initiativen aus der Militärelite, die mit einigem Erfolg wirkungsvoll ihre Interessen, ihre Programme und Konzepte voran brachte. Die Wege und Initiativen, diese anlässlich politischer Ereignisse in der Bundeswehr zu realisieren, verweisen auf jeweils einzigartige Situationen, mit eigenem Gewicht und gemäß der jeweiligen politischen Konstellation selbständig darzustellen. In diesem Beitrag können sie nur mit ein paar Strichen gezeichnet werden. Zugleich bieten diese drei typischen Beispiele traditionalistischer Politik einen eigentümlichen Zusammenhang; in ihrer Abfolge beziehen sie sich auch bemerkenswert auf einander.

Der ehemalige Offizier der Wehrmacht und General der Bundeswehr, Gerd Schmückle, hat den Begriff Traditionalismus eingeführt, um die Gegenposition zur Reform der »Inneren Führung« zu kennzeichnen.5 Man kann darüber streiten, ob »Traditionalismus« glücklich gewählt ist, doch er hat sich eingebürgert und bezeichnet treffend einige charakteristische Merkmale einer Militärpolitik, die im direkten Rückgriff auf historische Vorbilder die Ausrichtung der Bundeswehr zu konstruieren sucht – vom Soldatenbild bis zu operativen Maximen.6 Der Traditionalismus ist inhaltlich umfassend angelegt und bezieht sich auf mehrere Ebenen der Militärpolitik: in Distanz zur pluralistischen Gesellschaft strebt er nach einer einheitlichen Eigenwelt des Militärs, indem Anpassung und Unterordnung, Stärke und Disziplin im Innern betont werden; das zielt auf personelle Homogenisierung und politisch-korporative Geschlossenheit. Dazu werden historische Verhältnisse verharmlost und vor allem von ihren politischen und gesellschaftlichen Belastungen befreit, um so benennbare Faktoren aus Zeiten des Militarismus und des Untertanenstaates in »sauberer« Form zum Vorbild zu nehmen. Das findet sich in der Bundeswehr beispielsweise bei der sozialen Protektion in der Personalpolitik, der institutionellen Stellung des Militärs im System der politischen Repräsentanz oder der Ausrichtung der Ausbildung gemäß einem Sui-generis-Denken usw. Solche Ausprägungen aber stehen mit der Wertordnung des Grundgesetzes in Konflikt bzw. sind damit grundsätzlich nicht vereinbar. Sie unterminieren wenigstens die Zielsetzungen der aufgeklärten politischen Kultur der freiheitlichen Grundordnung dieser Republik, gerade weil immer wieder Facetten des Alten vom Traditionalismus in der Bundeswehr rekultiviert und reaktiviert wurden. Wenn man erinnert, dass 1945 eine Abkehr von denjenigen Symbolen, Denkfiguren und Institutionen geklärt war, die den Militarismus genährt hatten, ist es brisant, dass Einzelfaktoren des Militarismus erneut Einfluss gewannen. Auch der große Reformer der Bundeswehr, Wolf Graf von Baudissin, erfuhr den Kampf des Traditionalismus gegen die demokratische Reformpolitik und bezeichnete ihn als tatsächlich bedrohliche „wirklichkeitsfremde, gefährliche Ideologie«.7

Der Traditionalismus der Bundeswehr hat einen doppelten Bezug zur innenpolitischen Dimension des Militarismus. Zum einen handelt es sich um die zivil-militärischen Beziehungen, also um die Entwicklung des militärischen Milieus nach der Art des Sui-generis-Denkens mit der Ideologie der sozialen Abkapselung sowie der pluralistischen Vorbehalte. In Summe zielen sie auf gegenkulturelle Entwicklungen im Militär. Diese Faktoren des Militarismus der Geschichte werden auch als „Belastung des sozialen Lebens“ bezeichnet.8 Dem »Militarismus als Verfassungsproblem«, die andere Seite des innenpolitischen Militarismus, sollte in der Bonner Republik der Boden entzogen sein. Die Bundeswehr wurde strikt in das parlamentarische Regierungssystem eingebunden, wie es sich im Grundgesetz in Verbindung mit der »Wehrgesetzgebung« von 1954 bis 1957 manifestiert. Die legalistisch angelegte Reform und die Verankerungen im System der Bundesorgane begründeten den Neuanfang, gewiss eine Lehre aus der Geschichte. Die Dominanz des Militärischen im Kaiserreich und im NS-System, aber auch in der Weimarer Republik, als die Reichswehr sich eine Eigenständigkeit – »Staat im Staate« – reservieren konnte, sollte endgültig vorüber sein. Die Geschichte der Bundeswehr zeigt, dass der Traditionalismus sich mit dem Reformentwurf des Militärs der Bundesrepublik nicht abfinden konnte.

Das Beispiel von 1950: die Himmeroder Denkschrift

Die Geschichte der Bundeswehr fängt mit der Geheimplanung vom Oktober 1950 an, als die Himmeroder Denkschrift verfasst wurde. Sie gilt als die »Magna Charta« der »neuen Wehrmacht« der Bonner Republik und ist doch das erste Dokument des Traditionalismus. Wie selbstverständlich stellte man sich in die Kontinuität zur Wehrmacht. Die Vergangenheit wurde politisch von allen Verbrechen im Nationalsozialismus gesäubert, im Weltkrieg schienen vermeintlich ewig gültige militärische Tugenden erfahrbar. So konstruierte man das Bild des Militärs der Zukunft und fixierte Militärstruktur, operative Maximen und auch das Soldatenbild normativ an einer künstlichen und idealisierten Vergangenheit. Nicht bloß die entsprechenden, zum Teil schwülstigen und abgehobenen Formulierungen über „Ehre«, den „Wehrwillen des Volkes“ oder die „Rehabilitierung der Wehrmacht“ verweisen auf die ideologischen Aspekte, sondern die Tatsache, dass es diesem Denken an der Unterscheidung von Militär und Militarismus in der deutschen Geschichte mangelte. Dafür war gerade Hermann Foertsch, jener prominente NS-General, verantwortlich, da er sein Bild des »inneren Gefüges« von 1942 von der alten auf die »neue Wehrmacht« übertrug. Trotz solcher Zeugnisse wird Himmerod als »Gründungskompromiss« der Bundeswehr gefeiert. Dieses Wort verfälscht Geschichte und dient dazu, die Gründungslegende des demokratischen Anfangs zu konstruieren, obwohl der Geist der Uneinsichtigen offensichtlich war: „Die Denkkategorien und Sprachfiguren (…) entstammen fast ausschließlich der Vorstellungs- und Erfahrungswelt des Zweiten Weltkriegs.“9

Die wenigen Reformsätze in der Himmeroder Denkschrift stammten ausschließlich von Baudissin. Er konnte Kernaussagen zur Geltung der rechtsstaatlichen, freiheitlichen und pluralistischen Grundwerte der Verfassung im Militär formulieren. Sie waren marginale Einsprengsel, von denen aus Baudissin mit langem Atem das Konzept der Militärreform mit dem Leitbild des »Staatsbürgers in Uniform« entwickelte und dafür in Politik, Parlament und Gesellschaft kämpfte.10 Er und seine Mitstreiter waren schon im Amt Blank praktisch isoliert; die Papiere wurden gefiltert und kontrolliert.11 Nicht alle Mitarbeiter seines Arbeitsstabes waren auch Mitstreiter. Heinz Karst, der Arbeitsgruppe »Inneres Gefüge« zugeordnet, ist ein Beispiel dafür. Im August 1955 inszenierte er einen Eklat: In Abwesenheit von Baudissin legte er anlässlich der Beratung der Wehrgesetze im Bundestag eine Denkschrift – »Karstiade« genannt – vor, in der er unter Vorspiegelung falscher Tatsachen im Namen der »Gruppe Innere Führung« für die Position der Traditionalisten eintrat. Dabei wandte er sich „entschieden gegen jeden Zivilkult“ im Militär. Der Primat ziviler und parlamentarischer Politiker vor den Militärs werde „bei den Soldaten nur als Diffamierung ausgelegt.“ Karsts Distanz zur »Inneren Führung« erleichterte es ihm, Baudissin persönlich zu provozieren. Die »Karstiade« war im Kern ein politisches Pamphlet gegen den demokratischen Neubeginn, der, als „eisiges Misstrauen“ des Parlaments gegen Soldaten bezeichnet, auf wenig Zustimmung stieß. Der Vorrang der Zivilisten“ – gemeint waren Minister und Staatssekretäre, aber auch die Existenz von »zivilen« Abteilungen im Ministerium – vor der Generalität sei untragbar, die Streitkräfte bedürften eines „wachsamen Vertrauens“ statt „misstrauischer Kontrollen“ von Parlament und Öffentlichkeit. Karst wies darauf hin, dass der „bei Fortgang dieser Entwicklung“ der „sicherste Weg (sei, um) Militarismus herbeizuführen und damit die Demokratie wirklich zu gefährden«.12

Der politische Skandal der »Karstiade« lag, auf den Punkt gebracht, darin dass er während des Gesetzgebungsverfahrens eine machtpolitische Revision forderte. Der Primat der Politik sollte zugunsten des Militärs aufgegeben werden. Die „Rechtmäßigkeit eines zivil-ministerialen Kontrollrechts über das Militär“ wurde in Frage gestellt.13 Karst fand den Beifall der Kameraden und im Ministerium, da er dem verbreiteten Traditionalismus öffentlich Ausdruck verlieh. Es war eine Affäre ersten Ranges, dass er, ein Mitarbeiter Baudissins, den politischen Rahmen der Militärreform leugnete. Die Geschichte der »Inneren Führung« ist daher im Anfang eine Geschichte der Distanzierung, eine Geschichte der Diffamierung und des Defizits. Damit übertraf das Militär das allgemeine Klima der Ära Adenauer, das schon durch eine dezidierte revisionistische Vergangenheitspolitik auffiel.14 Militärreform und Traditionalismus standen kontrovers einander gegenüber; sie bildeten zwei „Fronten, die sich in der einen oder anderen Form“ dauerhaft politisch durchsetzten und dazu beitrugen, die Bundeswehr immer wieder zwiespältig, grau changierend zu kennzeichnen.15

Der Anfangserfolg des Traditionalismus hatte gravierende Auswirkungen. Der innere Aufbau der Bundeswehr folgte restaurativen und sogar reaktionären Leitbildern. Die Ausbildung im Heer etwa verwirklichte das Modell der frühen dreißiger Jahre; die Führungsakademie orientierte sich an der Ausbildung zum Generalstab von 1936.16 Die soziale Rekrutierung folgte dem Vorbild der Reichswehr, die eigentlich das Ideal des Kaiserreichs von 1890 angestrebt hatte.17 Als 1966 die Gewerkschaften erstmals in Kasernen werben durften, traten Generäle aus Protest zurück; als 1969 der General der Gebirgsjäger und stellvertretende Inspekteur des Heeres, Hellmut Grashey, den Offizieren des 20. Juli die Ehre absprach, erfuhr er an der Führungsakademie Beifall; als dann General Schnez, Inspekteur des Heeres, im Einklang mit der obersten Führung in der Geheimstudie die Umformung der zivilen Gesellschaft an Haupt und Gliedern“ nach militärischem Vorbild einklagte, zeigte sich das traditionalistische Substrat des Sui-generis-Denkens in aller Klarheit.18Das Desaster nach zwanzig Jahren Militäraufbau der Bonner Republik war erschreckend: Generale der Gründungszeit – sowohl die nationalkonservativen Hans Speidel und Adolf Heusinger als auch der liberale Baudissin – stimmten darin überein, die Reform des Militärs sei in der Bonner Republik gescheitert.19

Das Beispiel von 1969: Das Papier der Hauptleute von Unna

In der historischen Situation, als die Ära Brandt mit Reformen im Innern und mit der Öffnung nach Osten durch die Entspannungspolitik Bewegung in die erstarrten Verhältnisse der Ära Adenauer brachte, schlug auch für die Bundeswehr die Stunde vertiefter demokratischer Reformen.20 Politisch hatte der gerade gewählte Bundespräsident Gustav Heinemann mit seinem Wort: „Der Frieden ist der Ernstfall“ aufmerken lassen. In konservativen Kreisen erzeugte dies eine Welle der Empörung. Die oberste militärische Führung, die mit der Studie des Inspekteurs des Heeres, Albert Schnez, im Sommer 1969 noch geglaubt hatte, eine zivil-militärische Plattform traditionalistischen Gedankenguts geschaffen zu haben, war angesichts der epochalen Wende alarmiert. Die »Schnez-Studie«, die ein Grundsatzdokument des eigenen Selbstverständnisses und der zukünftigen Militärpolitik sein sollte, stieß auf heftige Kritik; sie musste dann unter diesem Druck praktisch aus dem Verkehr gezogen werden. Auf jeden Fall war sie diskreditiert.

Die »Alten« lancierten deshalb ein Nachfolgepapier. Gegen den Wechsel in der Regierung gingen sie in die Offensive. Das Ziel war, die Reformen des Ministers Helmut Schmidt zu verhindern. Dessen Politik empfanden sie als unvereinbar mit ihrem Profil und sie nahmen sie wie einen Fehdehandschuh auf. Auf der Hardthöhe hatten sich viele prominente Traditionalisten eingenistet; Karst konnte sich eloquent als Sprachrohr nach vorne spielen. Gerade hatte er seine Bekenntnisse zum Militär der Zukunft publiziert und das bislang umgehängte Mäntelchen des Mitstreiters der »Inneren Führung« abgestreift und bekannt, „Freiheit und Demokratie sind keine letzten Werte.“21 Im Frühjahr 1969 prahlte er, die »Innere Führung« sei auf „den Klippen“ zerschellt, „weil sie letztlich ein Widerspruch in sich selbst war, da sie eine unsoldatische Armee konstruieren wollte.“22 In Augustdorf und Detmold besprachen die Generale das Vorgehen; Karst, der General für Erziehung und Bildung im Heer, übernahm für das neue Papier die Aufgabe, „die Passagen, die die politischen Äußerungen beinhalten,“ zu formulieren.23 Inhaltlich wurde geklotzt und – taktisch raffiniert – ein gröberer Aufguss der »Schnez-Studie« gefertigt. Ein anderer Beteiligter an der »Schnez-Studie«, der Kommandeur der Division in Unna, stand für die praktische Vernunft. Er, General Eike Middeldorf, gab dann im Kommandostab in Unna seinen Hauptleuten den Auftrag, als aktive Offiziere der Panzertruppe eine Kritik der Unzulänglichkeiten der militärischen Praxis für diese Denkschrift aufzuschreiben. Das »Unna-Papier« fokussierte diese verschiedenen Autoren und Interessen zu einem eminent politischen Gegenentwurf, um gegen die »linke« Politik des zu dem Zeitpunkt gerade designierten Ministers Front zu machen.24 Dabei wurde die Legalität der Regierung gegen die Legitimität der Praktiker gestellt. Jedes Vertrauen zu dieser Politik sei geschwunden. Die Reformpolitik wurde in Seecktscher Manier – ein historisch schwerwiegender Vorgang – als „Politisierung der Armee“ abgelehnt. Heftiger noch wurde die Ost- und Entspannungspolitik attackiert, da sie die „Verharmlosung der wahren Zielsetzung“ der sowjetischen Politik betriebe. Entspannung gefährde die Existenz der Bundeswehr und bilde „die Gefahr für Geist, Gefüge und Bestand der Armee.“ Der Primat der Politik wurde abgelehnt, aber auch die sozialliberale Regierung wegen der anvisierten Reformen nicht akzeptiert. In kaum kaschierter Form wurden die Vorbehalte des Traditionalismus gegenüber Parlament und Demokratie herausgestellt.

Konsequenzen wurden gefordert. Erst einmal sollte die politische Leitung im Ministerium boykottiert werden. Kooperation mit ihr war unzulässig. Das Verbot sollte die Besprechungen und Beziehungen der Generalität auf der Hardthöhe treffen. Das »Unna-Papier« ging aufs Ganze: „Das Eigengewicht militärischer Entscheidung darf nicht durch opportunistische Haltung und eine zunehmend politische Hörigkeit militärischer Führer gefährdet werden…“ Es ist schon wert, diese Worte aus der Feder von Generälen ernst zu nehmen und im Licht der Loyalität des Generalinspekteurs de Maizière und weiterer Generäle zur neuen Regierung zu betrachten: sie seien opportunistisch und hörig. Sie wurden desavouiert, ja wohl auch diffamiert.

Die Formulierungen dieser Passagen des »Unna-Papiers« enthalten den grundsätzlichen Anspruch des Militärs nach mehr Macht im Staate. Die schwersten Geschütze zielten auf den Primat von Parlament und Politik. Die „Verantwortung vor Staat und Auftrag“ des Militärs begründe „das Eigengewicht militärischer Entscheidung.“ Mit der Forderung nach einem höheren Status der militärischen Repräsentanten in Staat und Gesellschaft griff das »Unna-Papier« Ansprüche auf, die schon vom ehemaligen Generalinspekteur Heinz Trettner und von Inspekteur Schnez erhoben worden waren. Die Balance im Regierungssystem sollte deutlich zugunsten von mehr »Eigengewicht« für das Militär verändert werden. Das »Unna-Papier« wollte zumindest die politische Parität: einen »gleichberechtigten Dialog« zwischen Militär und Politik. Nach traditionalistischem Politikbegriff konnte der Primat der Politik in der Auslegung des Grundgesetzes nicht akzeptiert werden.

Das mentale und ideologische Muster des Sui-generis-Denkens wurde im »Unna-Papier« voll abgedeckt: der Soldat sei „in erster Linie Kämpfer«, daher müsse alles der „Schaffung kampfkräftiger Verbände“ dienen. Die „Erziehung des Soldaten“ sei auf den „Kampfwert des Soldaten“ auszurichten. Dem habe sich die „Integration in die Gesellschaft“ ebenso wie die »Innere Führung« unterzuordnen. Daher fanden „die gesamten Reformpläne“ der Bundesregierung nur Ablehnung, vor allem die Reform des Bildungssystems. Stattdessen müsse militärische Erziehung Härte und Kampf vermitteln, im Gefechtsdrill sei das wichtigste »Disziplinierungsmittel« des Soldaten zu sehen. Der Vorgesetzte benötige größere dienstliche Macht, er müsse Arreststrafen ohne richterliche Zustimmung, einschließlich »verschärften Arrests« verfügen können. Da dem die rechtsstaatliche Geltung des Grundgesetzes entgegenstehe, müsse eine eigenständige »Wehrjustiz« wieder eingeführt werden, damit schlussendlich „wieder ein frisch-fröhlicher Geist in die Truppe kommt.“ Weiter sollten die individuellen Grundrechte aufgehoben und die Zuständigkeiten des Wehrbeauftragten beschnitten werden. Im »Unna-Papier« fehlte keine Forderung nach einem genuinen militärischen Milieu. Das traditionalistische Credo aus Weimarer Zeiten tauchte wie selbstverständlich im Fazit des »Unna-Papiers« auf: „In dieser Form ist »Demokratisierung der Armee« nicht nur unangebracht, sondern schädlich.“

Erste Entwürfe und Passagen des »Unna-Papiers« kursierten schnell auf den Etagen der Hardthöhe. Sie boten die Sprachregelung für die so genannte sachliche Auseinandersetzung mit der neuen Reformpolitik. Die Vehemenz des restaurativen Umbruchs und des politischen Anspruchs in Unna, der Fantasien an Revolte und Putsch frei setzte, war noch nicht verflogen, als im Dezember 1970 die letzte Fassung verbreitet wurde. Bundestagsabgeordnete fürchteten, die Bundeswehr werde sich mit Gewalt als „Retter des Vaterlandes“ aufspielen.25 Ein wenig später wurde das »Unna-Papier« der Öffentlichkeit zugänglich. Das Ministerium suchte zu beschwichtigen. Minister Schmidt verlangte Besprechungen. In einer anderen Runde bemühte sich der Generalinspekteur persönlich um die Hauptleute. Sie gewannen den Eindruck, de Maizière fände ihre Aussagen und Thesen „vollinhaltlich begrüßenswert.“ Bemerkenswert ist, dass ein Referent im Führungsstab des Heeres Mut bezeugte und eine kritische Stellungnahme der Spitze des Hauses vorlegte. Allerdings kassierte Inspekteur Schnez, der das »Unna-Papier« allerorten „sehr positiv“ bewertete, sogleich diese Äußerung. Er vertrat weiterhin seine traditionalistische Position gegen die Regierungspolitik.

Die Hardthöhe befand sich in der größten Führungskrise seit ihrer Gründung. Der damalige Generalinspekteur Ulrich de Maizière meinte im Nachhinein, die Bundeswehr wäre in diesen Monaten auf einen »Knickpunkt« ihrer Geschichte zugesteuert. Mit dem »Unna-Papier« hatte die alte Garde die Initiative ergriffen, die Gleichberechtigung von Minister und Militär zu fordern, ein Gegenhalten gegen die Reformpolitik zu organisieren und Minister Schmidt den Schneid ab zukaufen. Mit Bedacht urteilte de Maizière, die Traditionalisten hinter dem »Unna-Papier« hätten „sozusagen eine neue Reform präsentieren“ wollen. Es zeugt von Formulierungsgabe, mit dem Begriff »neue Reform« dieses traditionalistische Militärkonzept gegen die Demokratisierung der Bundeswehr zu neutralisieren. Es sollte den Skandal verharmlosen. Doch de Maizière sprach die politische Brisanz noch an: dies sei „das letzte Mal“ gewesen, dass die Auseinandersetzung in Militär und Politik um das Schicksal der »Inneren Führung« und um die demokratische Gestalt der Bundeswehr zu einer „verhältnismäßig starken Konfrontation“ zwischen Reformern und Traditionalisten geführt hätte.26

Zeigte Minister Schmidt die notwendige Kraft an Courage gegenüber der traditionalistischen Gruppe in der etablierten Militärelite? Erfasste er den grundsätzlichen Charakter des Widerstandes hinter dem »Unna-Papier« zutreffend oder missdeutete er ihn als konservative Opposition gegen die Sozialdemokratie? Es erscheint verwunderlich, dass er anlässlich einer öffentlichen Erörterung des »Unna-Papiers« erklärte, das „Engagement, was letztlich dahinter steckt, respektieren“ zu wollen.27 Eine vorgelegte ideologiekritische Analyse ließ er unbeachtet.28 War dies ein Zugeständnis an die Erfordernisse politischer Stabilität, damit der Druck der Traditionalisten nicht wie ein Vulkan ausbrach? Seine Reaktionen geben Rätsel auf. Wollte er den wichtigsten Kontrahenten, Inspekteur Schnez, im Amt belassen, um sein Wirken kontrollieren zu können? Aber wenn es, wie de Maizière hinter den Kulissen beobachtete, diese letzte harte Konfrontation gab, dann hätte die Reformpolitik de facto sich am Ende durchgesetzt. Doch die Politik machte den Traditionalisten in der Sache zu große Konzessionen. Das Dokument der Panzermänner und der Generale von Unna erfüllte den Zweck, dass sich die Gegner der Reform – klamm-heimlich – auf dieser Basis verständigen konnten, von der aus sie im aktuellen Geschäft die Umsetzung der Reform verschleppten und die Reichweite der Reformziele begrenzten.29 Mittelfristig motivierte es die Gegenkräfte. Schmidt hat diesen Aspekt der Militärpolitik im »Unna-Papier« nicht hinlänglich beachtet. Denn in der obersten Etage der Bundeswehrführung wurde weiterhin gegen den Stachel gelöckt. Schon 1973 konnte wieder nach altem Duktus ein Generalmajor in einer Zeitschrift der Bundeswehr schreiben: „Die Gesellschaft ist nicht das Maß aller Dinge.“30 Oder 1975, als ein Generalmajor an der Parade des Sieges der Faschisten in Madrid teilnahm.31

Das Beispiel von 1982: Die Munitionierung der konservativen Wende

Die »geistig-moralische Wende« der Regierung des Kanzlers Helmut Kohl kam im Herbst 1982. Die Verwirklichung dieses Leitbegriffs der Politik ins Militärische übernahm Manfred Wörner. Er beriet sich auf der Hardthöhe mit ehemaligen Generälen. Die »Lodenmantelfraktion« der Alten hatte als führenden Kopf Heinz Karst. Er hatte die Strippen gezogen. Nun zogen sie nicht nur auf die Hardthöhe sondern auch durch die Säle der Stäbe, der Akademien und Schulen der Bundeswehr und predigten das Ethos der Vergangenheit: die ideologischen Ziehväter des Traditionalismus aus der Gründerzeit der Bundeswehr wurden von der Söhnegeneration reaktiviert. Die bekannten »Schnez-Söhne« hatten bei Wörner das Sagen.32 Ihre Gedanken prägten die »geistige Wende« im Militär.

Bislang war unbekannt, dass Karst für die Wendepolitik noch eine ganz besondere Rolle spielte. Er hatte die Quintessenz seiner traditionalistischen Position zu Papier gebracht und eine 50seitige Studie für den designierten Minister Wörner verfasst, in der er den »Zustand« der Bundeswehr darlegte und eine »Therapie« als Leitidee einer zukünftigen Politik verschrieb. Nach seinen Angaben hatte er diese Studie „im Herbst 1982“ in einer „Zeit des Schwebezustandes zwischen der alten und der neuen Regierung“ übergeben.33 Diese »Karst-Studie« ist das richtungsweisende Dokument der Gesinnungswende, das in diesem historischen Knotenpunkt präsentiert und politisch einflussreich wurde. Jahre später wurde sie anonym der Öffentlichkeit zugespielt und wegen der Übereinstimmung mit der amtlichen Politik als eigenständige Arbeit des Planungsstabs des Ministeriums in ihrem parteipolitischen Gehalt präsentiert.34 Die »Karst-Studie« gründete ausdrücklich auf der »Schnez-Studie«. Berater und Planungsstab des Ministers folgten ihren Grundlinien wie selbstverständlich.35

Auch die Generalstabsoffiziere Dieter Farwick und Dieter Stockfisch beispielsweise, wichtige Vertreter aus der »Söhne-Generation« in Wörners Umfeld, begründeten ihre Kompetenz mit der Kenntnis der »Schnez-Studie«. Erwähnenswert ist, dass Baudissin in einem frühen Briefwechsel Hubatschek auf die Folgen seiner traditionalistischen Politik aufmerksam machte. Er warnte davor, die Ziele der »Inneren Führung« plakativ abzulehnen und die „Integration in die pluralistische Gesellschaft“ als ein „verhängnisvolles Konzept«, weil es zur „Desintegration aus der militärischen Gemeinschaft“ führe, zu bekämpfen. Das Ziel der Wendepolitik, eine soziale Abschottung sowie ein korporatives Eigen- und Sonderleben im Militär zu verfolgen, sei falsch. Baudissin war besorgt, dass Hubatschek gleich nach Übernahme seines Amtes erklärt hatte, die „spezifisch soldatischen Normen“ wieder beleben zu wollen.36 Er unterstrich den Trugschluss einer sozialen Homogenität durch Abschottungstendenzen und Antipluralismus. Jede Militärpolitik der Bonner Republik dürfe niemals Abklatsch der Seecktschen Ziele der Weimarer Republik sein oder sich über ähnliche Rekultivierungen in den fünfziger Jahren legitimieren wollen. Baudissin empörte sich über derartige Tendenzen der Wendepolitik, aber stellte betrübt fest, „dass es den Graben zwischen »Fortschrittlern« und »Traditionalisten« bis heute gibt, dass er also keine selbst errichtete Kulisse ist.“37

Die »Karst-Studie« war eminent politisch formuliert. Ihre Gegnerschaft zu den Werten der sozialliberalen Koalition wurde nicht verdeckt sondern unverbrämt bekannt. Dort lagen die Wurzeln allen Übels: „Es ist der Geist der Truppe«, der unter den Reformen von Schmidt gelitten habe; die Bundeswehr sei zu einer „Friedensarmee“ gemäß dem Wort Heinemanns, der Frieden sei der Ernstfall, verkommen. Die Front gegen die Sozialdemokratie durchzog die Seiten: Ursache für die als desolat bezeichnete Lage der Bundeswehr sei die sozialdemokratische Ämterpatronage: „Die »Baracke« hat die Bundeswehr noch in der Hand“38. Da zeigte sich der taktische Schachzug der traditionalistischen Argumentation, Demokratisierung des Militärs mit sozialdemokratischer Politik gleichzusetzen. Karst schlug auf die Partei ein, meinte aber nur die Verwirklichung der Grundwerte der Verfassung im Militär. Die Zielsetzung dieser Politik, die Integration von Militär und Gesellschaft sowie das Konzept der »Inneren Führung« für die Bundeswehr zu wollen, führe in die Irre und habe nur den nivellierenden Pluralismus und damit die „totale Vergesellschaftung“ des Militärs zu verantworten. Die Politik der Sozialdemokratie habe in den vergangenen 13 Jahren weitreichende fatale Folgen gehabt, da „der antisoldatische Affekt, der „Zivilismus“ Pate stand.“ 39 Dem gegenüber betonte die »Karst-Studie« den höheren Wert des Militärischen über die zivil-militärischen Verhältnisse: „Nur wenn die Gesellschaft sich mit dem Verfassungsauftrag der Bundeswehr identifiziert, sind die Soldaten integriert.“40 Die Begriffe wurden inhaltlich einfach umgepolt. Das Muster des Traditionalismus griff vollständig, jede Demokratisierung des Militärs abzulehnen und entsprechend das Übel in der Sozialdemokratie und in der »Inneren Führung« zu finden. Mit dem Ideal, das Militär als „Spiegelbild der Gesellschaft“ zu formen, sei es nun vorbei: „Der Wertepluralismus (…) eroberte auch die Bundeswehr und löste eine tragfähige Basis gemeinsamer Wertvorstellungen auf.“ Dank der Wendepolitik sei das „Ende der Zivilisierung“ des Militärs in Sicht.41

Die »Karst-Studie« machte noch einen Nebenkriegsschauplatz gegen einige wissenschaftliche Einrichtungen der Bundeswehr auf. Sie wurden unter Ideologieverdacht gestellt, die Reformen von Schmidt unterstützt zu haben. Schon das »Unna-Papier« hatte gegen einzelne Professoren Stellung bezogen. Nun ging es gegen das Militärgeschichtliche Forschungsamt (damals Freiburg) und das Sozialwissenschaftliche Institut der Bundeswehr (damals München). Mit dem Thema Tradition der Wehrmacht wurde eine Kampagne wegen mangelnder Objektivität in der Forschung in Gang gesetzt. Das Amt hätte die Geschichte der Wehrmacht im Nationalsozialismus manipuliert und „das deutsche Militär diffamiert“ sowie „das Ansehen des deutschen Soldaten (…) böswillig“ angegriffen.42 Es gab Friktionen zwischen der Hardthöhe und den Forschern, da Bonn die wissenschaftliche Freiheit zu begrenzen suchte.43 Am Rande wurde daher gefordert, Manfred Messerschmidt, den international renommierten Historiker, als Leitenden Wissenschaftler abzulösen.44 Gegen das SOWI, das bekanntlich unter Thomas Ellwein wichtige Grundlagen für die Bildungsreform von Minister Schmidt erarbeitet hatte, gab es eine ähnliche Diffamierung. Eine Stellungnahme verstieg sich zu der kühnen Behauptung, diese Forschungen „würden die Integration von Bundeswehr und Gesellschaft beeinträchtigen und die Identifikationsschwierigkeiten der Soldaten mit ihrem Auftrag“ erhöhen.45 Bonner Eingriffe, die Freiheit der Wissenschaft einzuhegen, führten zur Ablösung des Institutsleiters, Ralf Zoll, der an die Universität Marburg wechselte. Die anvisierte Auflösung des Instituts aber gelang nicht.

Allem voran in der »Karst-Studie« stand das Diktum, „soldatische und erzieherische Elementaria“ seien vonnöten.46 In traditionalistischer Manier war damit der Ruf nach realistischer bzw. kriegsnaher Ausbildung verbunden. Richtungsweisend wurde das alte Feindbild des Kalten Krieges mit Hinweis auf die „Realität der Bedrohung“ reaktiviert; die „unvermeidliche Orientierung am Gegner» verstand die »Karst-Studie« als Voraussetzung, um den Aufbau einer einsatzfähigen „Kriegsbundeswehr“ einzuklagen. »Kriegsbundeswehr« – der Leitbegriff dieser Wende-Studie – war schon eine bemerkenswerte Wortschöpfung. Die »Karst-Studie« ging noch auf Strategie und Rüstung der Bundeswehr ein. Gegenüber dem Dilemma der nuklearen Verteidigung, das zu vernichten, was es zu verteidigen gelte, fand sie die Lösung, dass vor allem Glaubwürdigkeit die Soldaten erfassen müsste. Aus dem Dilemma der nuklearen Kriegführung in Europa führe nur die mentale Stärke der Soldaten heraus: „Bei selektivem Einsatz von Atomsprengkörpern wäre Verteidigung noch durchzuführen (…). Die Streitkräfte können im Verteidigungsfall nur mit entschlossenem Willen zum Sieg am Ort ihres Gefechts kämpfen. Anders kann überhaupt keine Truppe ihre Waffen gebrauchen.“47 Nur „soldatische Erziehung“ könne die Zweifel am nuklearen Einsatz ausräumen. Der „Irrweg“ der „einseitigen Ausbildung des Menschen über die Ratio“ sei zu beenden, Härte und Drill seien bei einem Atomkrieg unerlässlich, da nur „allein eine so erzogene und zusammengeschweißte Kampfgemeinschaft bestehen kann!“48 In Konsequenz dessen müssten sich die Universitäten der Bundeswehr in Militärakademien wandeln: „Auch wenn sich linke Medien und Geister gegen die Akademielösung wehren und von Kadettenanstalt raunen, so wäre sie ideal.“49

Kontinuitätslinien des Traditionalismus

Die drei Beispiele des Traditionalismus sind drei Beispiele aus der Geschichte der Bundeswehr. Die Jahresdaten der Dokumente scheinen auf den ersten Blick eher zufällig zu sein, aber sie repräsentieren Eckdaten der Geschichte der Bundesrepublik. 1950 ging es in Himmerod um die Geheimplanung des Militärs; 1955 korrespondiert inhaltlich ganz eng damit, da der Aufbau der Bundeswehr von Regierung und Parlament konkret begonnen wurde. 1969 markiert mit der ersten sozialdemokratisch geführten Regierung den Beginn der großen inneren, nachholenden Reform des Militärs, gegen die in Unna angeschrieben wurde. 1982 stellte sich ein konservativer Kanzler in Bonn die Aufgabe, die Auswirkungen dieser Reform zu revidieren. Alle Jahresdaten sind politische Schnittstellen, in denen langfristige, strukturrelevante Beschlüsse über die Entwicklung der Bundeswehr anstanden. Die Papiere der Traditionalisten wurden zum Zweck der politischen Einflussnahme verfasst.

In den drei zentralen Dokumenten, die stark programmatischen Charakter haben, lassen sich inhaltliche Bereiche einkreisen. Erstens: Das Plädoyer für ein Soldatentum mit eigenen Werten und ewigen Tugenden, gestärkt und gewissermaßen gestählt durch eine lange historische Tradition »sauberer« Werte, zuletzt in den Kämpfen der Wehrmacht zu würdigen. Sie fordern daher ein genuines militärisches Milieu, in Haltung und Geist von der zivilen Gesellschaft geschieden, eine Zurückweisung der Geltung wesentlicher Werte der Verfassung. Infolgedessen markiert die Militärreform der »Inneren Führung« und des »Staatsbürgers in Uniform« das Gegenkonzept zu dieser Militärpolitik. Aus der Position dieser Traditionalisten sind der Primat parlamentarischer Regierungen, das Prinzip der Kongruenz (Baudissin) und der Integration von Militär und Gesellschaft in vieler Hinsicht falsch und gefährlich, abzulehnen und zu bekämpfen. Andernfalls würde das Selbstbild des gesellschaftlichen Sonderstatus und der korporativen Kampfgemeinschaft aufgeweicht werden. Rekrutierung und Ausbildung, Meinungsbildung und politische Toleranz in den Streitkräften unterliegen dieser Militärpolitik. Diese Dokumente haben viele Phasen der Bundeswehr mitbestimmt, je nach dem, ob ihr Einfluss direkt Erfolge verzeichnen konnte wie 1950/55 und 1982 oder dann 1969 dazu diente, das Konzept der »Inneren Führung« in seiner Reichweite zu begrenzen. Die so betriebene Militärpolitik hat Relevanz für die Geschichte der Bundesrepublik, da sie nicht nur das Phänomen einer Übergangsphase direkt nach dem Krieg war, sondern in der langen Nachkriegszeit als »Belastung des sozialen Lebens« auffällt.

Ein zweiter Bereich betrifft die operative Kriegführung, auch die Strategie. Da erstaunt, wie sehr Maximen des Kontinent weit geführten »Ostfeldzuges« der Wehrmacht über die Assimilation via US-Armee in der NATO weiter existierten. Im Umkehrschluss brauchte es entsprechende umfangreiche Rüstungen; die Standards der Hochrüstung des Kalten Krieges verstanden sich zugleich als notwendiges Minimum jeglicher Abschreckung. Nicht allein in Himmerod (1950) stand für die »neue Wehrmacht« der Gedanke der Raum greifenden Vernichtung im Vordergrund; auch noch in den Dokumenten von Unna (1969) und Bonn (1982) faszinierten die Schrecken der vernichtenden Atomkriegführung. Die Auswirkungen der nuklearen Verteidigung führten sogar bei dem Traditionalisten des letzten Dokuments von 1982 – der Zeit der Friedensbewegung gegen den NATO-Doppelbeschluss – nicht zur Besinnung. Die Dogmen der Kriegführung der seit Ludendorff propagierten Formel vom »totalen Krieg« wirkten bis in die achtziger Jahre nach.

Der dritte Bereich, der dem Primat der Politik gilt, verblüfft. Es ist ja da die Auffassung verbreitet, in diesem Zusammenhang gäbe es bei der Bundeswehr keine Probleme: Bonn sei insofern nicht Weimar, als die Bonner Republik sich ihr Militär selbst geschaffen habe und nicht wie in Weimar, ein kaiserlich konstituiertes Militär hätte übernehmen müssen. Tatsache ist jedoch, dass die institutionelle Eingliederung des Militärs in das demokratisch bestimmte Regierungssystem offensichtlich manchen Traditionalisten ein Dorn im Auge war. Bereits 1950/55 wurde der vom Grundgesetz her gegebene Primat der Politik nur bedingt hingenommen. Ein ausgeprägter Anspruch auf höhere Repräsentanz des Militärs in der Politik ist unverkennbar. Die Forderung, den Primat der Politik aufzuheben und ein System der Parität im Verhältnis zu den vom Parlament gewählten und legitimierten Politikern einzuführen, wurde aufgestellt. Zivile Leitung im Ministerium wie in der Bundeswehrverwaltung war verdächtig. Noch in Unna zeigte sich, dass es weniger um Image oder Prestige ging als um den Status erhöhter Machtteilhabe des Militärs. In das demokratische Regierungssystem sollten auch 1969 Einschnitte in das Grundgesetz mit weit reichenden Konsequenzen erfolgen. Die Weimarer Verhältnissen waren überhaupt kein Tabu. Im dritten, dem Bonner Papier stand dies nur latent zur Debatte, es wurde mehr Respekt im Staat und mehr Akzeptanz in der Gesellschaft eingefordert.

Bei der Analyse dieser drei Dokumente aus traditionalistischer Feder ergab sich die spannende Erkenntnis, dass diese auch über die Biographie eines Soldaten mit einander in Verbindung stehen. Heinz Karst vereinigte starke intellektuelle mit rhetorischen Fähigkeiten, seine persönliche Ausstrahlung im kleinen Kreis und die straffe Haltung vor jedem Plenum zeichneten ihn als aufrechten Soldaten. Damit machte er Eindruck. Karst hatte sich als junger Offizier und Mitarbeiter von Baudissin noch als Vertreter der Militärreform gerieren können, aber in der entscheidenden Situation 1955 wechselte er demonstrativ die Front hin zur etablierten Militärelite der Traditionalisten. Als General gehörte er leitend zu jener Gruppe, die den Vorspann der »Schnez-Studie« und im »Unna-Papier« das politische Konzept gegen die drohende Umsetzung weiterer Reformen im Innern zimmerte. Sein Einsatz für die traditionalistische Ausrichtung der Bundeswehr geriet bis zur bissigen Schärfe seinen Kontrahenten gegenüber, als er den Erfolg der Reformen von Schmidt ahnte. Im Hintergrund des rechtskonservativen Parteien-Spektrums knüpfte er ein militärisch-politisches Expertennetzwerk, das ihn 1982 als General außer Diensten befugte, mit Hilfe solcher Seilschaften und mit seiner programmatisch formulierten Studie »endlich« die Wende in der Militärpolitik richtungsweisend zu begleiten und daneben die Traditionsdebatte anzuheizen.

Der militärpolitische Traditionalismus hatte in der Bundesrepublik großen Einfluss, da er am Anfang gewissermaßen in die Bundeswehr inkorporiert wurde. Er war sanktioniert und konnte doch nicht verhindern, dass die Militärreform legalisiert wurde. Er suchte sich mit Verbindungslinien in den Wertehorizont der Vergangenheit zu legitimieren, obwohl diese Militärgeschichte weitgehend eine Geschichte des Militarismus war. In der Übergangsepoche vom Kriegsende zur Republik bleibt es nachvollziehbar, dass Vergangenes noch einmal komprimiert in Erscheinung trat. Noch nach Jahrzehnten wirkte der Traditionalismus fort und wurde immer wieder generiert. Dies ist ein Problem der Bundeswehr, aber allerdings auch ein Ereignis der Geschichte der Bundesrepublik. Sie ist damit konfrontiert, dass es nicht nur in den Anfängen der Bundeswehr sondern während langer Jahrzehnte eine „so bereitwillige wie schmerzhafte Rückkehr zu diesem Traditionsfundus (…) in der Tat“ gab.50 Manche dieser Elemente konnten den Alltag der Bundeswehr gestalten. Doch so sehr diese Politik mit den Wurzeln aus militaristischen Zeiten beschworen wurde, gelang es nicht, die Gestalt der Bundeswehr so weit nach »sauberen« Vorbildern der Vergangenheit zu bestimmen, dass der Militarismus als solcher wieder Früchte tragen konnte.

Wesentliche Prinzipien der Demokratisierung des Militärs wurden vom Traditionalismus – in all den Parolen und Programmen – geleugnet. Als politischer und historischer Revisionismus hatte er folglich Schwierigkeiten, sich ganz auf den Boden der freiheitlichen Grundordnung zu stellen. Er bot nie und bietet auch heute kein alternatives Militärkonzept für die Bundesrepublik Deutschland. Seine Einflüsse hatten politisch und soziokulturell negative, manchmal fatale Auswirkungen. Er nutzte Schnittmengen mit dem rechtskonservativen Parteienspektrum, fand immer wieder Anhänger und hinterlässt bis in die Gegenwart seine Spuren. Dies erklärt den spannungsreichen Spagat zwischen Norm und Wirklichkeit, an dem die Bundeswehr im Innern leidet.51 Gerade deshalb begründen allein die Werte der Verfassung auch in Zukunft die notwendige neue Kultur des Friedens und der Sicherheit im Militär.

Anmerkungen

Der Paradigmenwechsel von der Verteidigung zur Intervention

1) Gemeinsam für Deutschland – mit Mut und Menschlichkeit. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD, Berlin 11. Nov. 2005, S. 131.

2) Gerhard Schmidtchen: Wozu dient die Bundeswehr?, in: Der Spiegel, 29/1956, S. 30; vgl. die Umfragedaten bei Detlef Bald: Die Atombewaffnung der Bundeswehr. Militär, Öffentlichkeit und Politik in der Ära Adenauer, Bremen 1994, S. 100 ff.

3) Institut für Demoskopie Allensbach (Hg.): Die Ablehnung des Militärs. Eine psychologische Studie der Motive, Allensbach 1961, S. 1, 4.

4) Arbeitsstelle Frieden und Abrüstung (Hg.): Am Hindukusch und anderswo. Die Bundeswehr – Von der Wiederbewaffnung in den Krieg, Köln 2005, S. 8.

5) Vgl. den Teil: Politik gegen die Demokratisierung des Militärs.

6) Zitiert bei Detlef Bald: Die Bundeswehr. Eine kritische Geschichte 1955 – 2005, München 2005, S. 40.

7) Vgl. Pariser- und Bonner Verträge. Pariser Protokoll, revidierte Bonner Verträge, Saarabkommen und ergänzende Dokumente, München 1955; Wolfgang Däubler: Stationierung und Grundgesetz. Was sagen Völkerrecht und Verfassungsrecht? Reinbek 1982.

8) Rolf Steininger u.a. (Hg.): Die doppelte Eindämmung. Europäische Sicherheit und die deutsche Frage in den Fünfzigern, München 1993; vgl. H.-J. Rupieper: Der besetzte Verbündete. Die amerikanische Deutschlandpolitik von 1949 bis 1955, Opladen 1991.

9) Vgl. Dieter Sterzel (Hg.): Kritik der Notstandsgesetze. Mit dem Text der Notstandsverfassung, Frankfurt/M. 1968; Thomas Ellwein, Joachim J. Hess: Das Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland, 6. Aufl. Opladen 1987, S. 427 ff.

10) Klaus Naumann: Machtasymmetrie und Sicherheitsdilemma. Ein Rückblick auf die Bundeswehr des Kalten Krieges, in: Mittelweg 36, Jg. 14, 6/2005, S. 17.

11) Vgl. Wolfram Wette, Gerd R. Ueberschär (Hg.): Kriegsverbrechen im 20. Jahrhundert, Darmstadt 2001; Jehuda Wallach, Das Dogma der Vernichtungsschlacht, Frankfurt/M. 1967; Detlef Bald: Hiroshima, 6. August 1945. Die nukleare Bedrohung, München 1999; Hamburger Institut für Sozialforschung (Hg.): 200 Tage und 1 Jahrhundert. Gewalt und Destruktivität im Spiegel des Jahres 1945, Hamburg 1995.

12) Weiterführende Literatur bei Bald: Bundeswehr, S. 21 ff.

13) Hinweis auf das epochale Dokument NSC 68, ausführlich bei Bernd Greiner: Atomtests und amerikanische Militärstrategie. Ein Dokument aus dem Jahre 1947, in: 1999, 1 (1986). S. 120.

14) Konrad Adenauer: Erinnerungen 1945-1953, Frankfurt/M. 1967, S. 77.

15) Zitat von Antonius John, in: Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik (Hg.): Nach-Denken. Über Konrad Adenauer und seine Politik, Bonn 1993, S. 145.

16) Konrad Adenauer: »Wir haben es geschaffen«. Die Protokolle des CDU-Bundesvorstandes 1953-1957. Düsseldorf 1990, S. 510.

17) Vgl. Bald: Bundeswehr, S. 28 ff.

18) Vgl. das Dokument bei Hans-Jürgen Rautenberg, Norbert Wiggershaus (Hg.): Die »Himmeroder Denkschrift« vom Oktober 1950 und militärische Überlegungen für einen Beitrag der Bundesrepublik Deutschland zur westeuropäischen Verteidigung, Karlsruhe 1977.

19) Im Zusammenhang und mit Literaturhinweisen siehe Bald: Hiroshima, S. 121 ff., hier S. 124.

20) Vgl. Bald: Bundeswehr, S. 53; ein Beispiel mit Dokumenten des Milizkonzepts von Schwerin bei Detlef Bald: Miliz als Vorbild?, Baden-Baden 1987, S. 71 ff.

21) Ulrich de Maizière: In der Pflicht. Lebensbericht eines deutschen Soldaten im 20. Jahrhundert, 2. Aufl. Herford 1989, S. 229.

22) Vgl. Carl-Friedrich von Weizsäcker (Hg.): Kriegsfolgen und Kriegsverhütung, München 1971.

23) Jürgen Kocka: 1945. Neubeginn oder Restauration?, in: Carola Stern, Heinrich August Winkler (Hg.): Wendepunkte deutscher Geschichte 1848-1945, Frankfurt/M. 1979, S. 157.

24) Edwin Czerwick: Demokratisierung und öffentliche Verwaltung in Deutschland. Von Weimar zur Bundesrepublik, in: Geschichte und Gesellschaft, Jg. 28, 2/2002, S. 183 ff.

25) Vgl. Georg Picht (Hg.): Studien zur politischen und gesellschaftlichen Situation der Bundeswehr. 3 Folgen, Witten 1966; René König (Hg.): Beiträge zur Militärsoziologie, Sonderheft 12, Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Opladen 1968.

26) Vgl. Hilmar Linnenkamp, Dieter S. Lutz (Hg.): Innere Führung. Zum Gedenken an Wolf Graf von Baudissin, Baden-Baden 1995; zu Wolf Graf von Baudissin und die Zivilisierung des Militärs auch: Claudia Fröhlich, Michael Kohlstruck (Hg.): Engagierte Demokraten. Vergangenheitspolitik in kritischer Absicht, Münster 1999, S. 84 ff.; Detlef Bald, Uwe Hartmann, Claus von Rosen (Hg.): Klassiker der Pädagogik im deutschen Militär, Baden-Baden 1999.

27) Inspekteur Johannes Steinhoff anlässlich des Stapellaufs des Zerstörers Mölders, 13. April 1968.

28) Bernd C. Hesslein (Hg.): Die unbewältigte Vergangenheit der Bundeswehr. Fünf Offiziere zur Krise der Inneren Führung, Reinbek 1977, S. 24.

29) Armin Halle: Vortrag in Tutzing, 19. April 1970, zitiert in Bald, Bundeswehr, S. 69.

30) Befragung von 1969 bei Klaus Reinhardt, Generalstabsausbildung in der Bundeswehr, Bonn, Herford 1977.

31) Vgl. Norbert Frei: Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1996.

32) Wolf Graf von Baudissin: Abschiedsvorlesung, 18. Juni 1986, Universität Hamburg, in: Ders., Dagmar Gräfin Baudissin: »…als wären wir nie getrennt gewesen«. Briefe 1941-1947, hrsg. von Elfriede Knoke, Bonn 2001, S. 267.

33) Wido Mosen: Bundeswehr – Elite der Nation? Determinanten und Funktionen elitärer Selbseinschätzung von Bundeswehrsoldaten, Neuwied, Berlin 1970, S. 329; Oskar Negt: In Erwartung der autoritären Leistungsgesellschaft, in: Gert Schäfer, Carl Nedelmann: Der CDU-Staat. Studien zur Verfassungswirklichkeit, München 1967, S. 210; vgl. Jakob Moneta u.a.: Bundeswehr in der Demokratie. Macht ohne Kontrolle?, Frankfurt/M. 1974, S. XIII (Einleitung von Imanuel Geiss).

34) Wolfram F. Hanrieder: Deutschland, Europa, Amerika. Die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland 1949-1994, 2. Aufl. Paderborn 1995; Ernst-Otto Czempiel: Weltpolitik im Umbruch. Das internationale System nach dem Ende des Ost-West-Konflikts, München 1992.

35) Vgl. Christian Hacke: Weltmacht wider Willen. Die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt/M. 1993; Hans-Peter Schwarz: Die Zentralmacht Europas. Deutschlands Rückkehr auf die Weltbühne, Berlin 1994

36) Das Neue Strategische Konzept des Bündnisses, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, Nr. 128, 13. Nov. 1991, S. 1039.

37) NATO-Gipfelkonferenz in Rom. Erklärung von Rom über Frieden und Zusammenarbeit, ebenda, S. 1033.

38) Vgl. Jo Angerer, Erich Schmidt-Eenboom (Hg.): Siegermacht NATO. Dachverband der neuen Weltordnung, Berg/Starnberger See 1993.

39) Dokument vom 16. Okt. 1987 bei Caroline Thomas, Randolph Nikutta: Bundeswehr und Grundgesetz. Zur neuen Rolle der militärischen Interventionen in der Außenpolitik, in: Militärpolitik Dokumentation, Jg. 13, Bd. 78/79, 1990, Frankfurt/M. 1991, S. 70 ff.

40) Klaus Naumann, Ansprache in Hamburg, 27. Febr. 1989, in: Mittler-Brief 3/1989, S. 3.

41) Vgl. Dieter Wellershoff (Hg.): Sicherheitspolitik und Streitkräfte im Wandel, Bonn 1991.

42) Volker Rühe: Betr.: Bundeswehr. Sicherheitspolitik und Streitkräfte im Wandel, Berlin 1993, S. 165.

43) Militärpolitische und militärstrategische Grundlagen und konzeptionelle Grundrichtung der Neugestaltung der Bundeswehr, Bonn Januar 1992.

44) Bundesministerium der Verteidigung (Hg.): Grundzüge der Konzeption der Bundeswehr, Berlin 10. Aug. 2004.

45) Johann Adolf Graf von Kielmansegg: Der Krieg ist der Ernstfall, in: Truppenpraxis 3/1991, S. 304 ff.

46) Hartmut Bagger: Anforderungen an den Offizier des Heeres, Bonn 29. Juli 1994.

47) Die folgenden Zitate und weitere Einzelheiten in dem Heft »Bundeswehr – quo vadis« der Vierteljahresschrift für Sicherheit und Frieden, Jg. 15, 1997; Detlef Bald: Zwischen Gründungskompromiss und Neotraditionalismus. Militär und Gesellschaft in der Berliner Republik, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Jg. 24, 1999, S. 99 ff.

48) Arwed Bonnemann, Christine Posner: Die politischen Orientierungen der Studenten an den Universitäten der Bundeswehr im Vergleich zu Studenten an öffentlichen Hochschulen, in: Vierteljahresschrift für Sicherheit und Frieden, Jg. 20, 2002, S. 49 f.; Paul Schäfer: Bundeswehr und Rechtsextremismus, Dossier/Beilage Nr. 28, in: Wissenschaft und Frieden, Jg. 16, 1998; zu »hochgradig rechtslastigen« Tendenzen vgl. Elmar Wiesendahl: Rechtsextremismus in der Bundeswehr, in: Vierteljahresschrift für Sicherheit und Frieden, Jg. 16, 1998, S. 244.

49) Zitatbelege bei Bald: Bundeswehr, S. 184 ff.

50) Vgl. zusammenfassend Berthold Meyer: Die Dauerkontroverse um die Wehrpflicht – ein Beispiel für Konfliktverwaltung, Frankfurt/M. 2005 (HSFK-Report 11/2005).

51) Vgl. Jürgen Groß: Demokratische Streitkräfte, Baden-Baden 2005; Detlef Bald, Andreas Prüfert (Hg.): Innere Führung. Ein Plädoyer für eine zweite Militärreform, Baden-Baden 2002.

52) Caroline Thomas, Randolf Nikutta: Anything goes. Das Bundesverfassungsgerichtsurteil vom 12. 7, 1994. Ein Kommentar, in: Wissenschaft und Frieden, 3/1994.

53) Vgl. Bald: Bundeswehr, S. 162 ff.; Heinz Loquai: Der Kosovo-Konflikt. Wege in einen vermeidbaren Krieg, Baden-Baden 2000.

54) Vgl. Dieter S. Lutz (Hg.): Deutsche Soldaten weltweit? Blauhelme, Eingreiftruppen, »out of area«- Der Streit um unsere sicherheitspolitische Zukunft, Reinbek 1993, S. 8.

55) Vgl. Dieter S. Lutz, Hans J. Giessmann (Hg.): Die Stärke des Rechts gegen das Recht des Stärkeren, Baden-Baden 2003.

56) Art III-210, vgl. auch Art I-40.

57) Vgl. Wolfgang Wagner: Für Europa sterben? Die demokratische Legitimität der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, Frankfurt/M. 2004.

58) Vgl. Lothar Schröter (Hg.): Europa und Militär. Europäische Friedenspolitik oder Militarisierung der EU? Schkeuditz 2005.

59) FAZ, 30. Jan. 2003, 1. Febr. 2003.

60) Vgl. Wolfgang Schäuble: Soldaten vor die Fußballstadien, in: SZ, 16. Dez. 2005.

61) Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Art. 35 und 87 a), Bundesrat, Drucksache 181/04, 5. März 2004.

62) Vgl. Peter Blechschmidt, Annette Ramelsberger: Pläne des Verteidigungsministeriums, in: SZ, 9. Febr. 2006.

63) Zitiert in FR, 22. Dez. 1993.

64) Pflüger: Bundeswehr, S. 110.

Restaurativer Traditionalismus in der Bonner Republik

1) Friedrich Meinecke: Die deutsche Katastrophe. Betrachtungen und Erinnerungen, 5. Aufl. Wiesbaden 1955, S. 156.

2) Vgl. Gerhard Ritter: Das Problem des Militarismus in Deutschland, in Historische Zeitschrift, 177/1954, S. 46f.; Manfred Messerschmidt: Das Gesicht des Militarismus in der Zeit des Nationalsozialismus, in Wolfram Wette (Hg.): Schule der Gewalt. Militarismus in Deutschland 1871 bis 1945, Berlin 2005, S. 265 ff.; zur Sozial- und Strukturgeschichte der militaristischen Vergangenheit in der Wehrmacht vgl. Rolf-Dieter Müller, Hans-Erich Volkmann (Hg.): Die Wehrmacht. Mythos und Realität, München 1999, S. 349 ff.

3) Hans Herzfeld: Der Militarismus als Problem der Neueren Geschichte, in Schola I, 9/1946, S. 41 ff.

4) Vgl. Detlef Bald, Johannes Klotz, Wolfram Wette: Mythos Bundeswehr. Nachkriegsdebatten und Traditionspflege in der Bundeswehr, Berlin 2001.

5) Vgl. Gerd Schmückle: Kommiss a.D., Stuttgart 1971.

6) Vgl. meinen Ansatz, wichtige Merkmale des historischen Geschehens zu benennen: Detlef Bald:Die Bundeswehr. Eine kritische Geschichte 1955-2005, München 2005; ders.: Militär und Gesellschaft 1945-1990. Die Bundeswehr der Bonner Republik, Baden-Baden 1994, S. 53 ff.; auch: Kämpfe um die Dominanz des Militärischen, in Bald, Klotz, Wette: Mythos Wehrmacht, S. 17 ff.

7) Gespräch mit Wolf Graf von Baudissin, in Axel Eggebrecht (Hg.): Die zornigen alten Männer. Gedanken über Deutschland seit 1945, Reinbek 1979, S. 216. Zum Überblick der Reformpolitik vgl. Hilmar Linnenkamp, Dieter S. Lutz (Hg.): Innere Führung. Zum Gedenken an Wolf Graf von Baudissin, Baden-Baden 1995.

8) Jürgen Kocka: 1945. Neubeginn oder Restauration?, in Carola Stern, Heinrich August Winkler (Hg.): Wendepunkte deutscher Geschichte 1848-1945, Frankfurt/M. 1979, S. 157; vgl. zum neuesten Stand der Diskussion Wolfram Wette (Hg.): Schule der Gewalt. Militarismus in Deutschland, Berlin 2005.

9) Hans-Jürgen Rautenberg, Norbert Wiggershaus (Hg.): Die »Himmeroder Denkschrift« vom Oktober 1950. Politische und militärische Überlegungen für einen Beitrag der Bundesrepublik Deutschland zur westeuropäischen Verteidigung, Karlsruhe 1977, Einleitung.

10) Vgl. Anmerkung 6 und 7; zu Wolf Graf von Baudissin und die Zivilisierung des Militärs auch: Claudia Fröhlich, Michael Kohlstruck (Hg.): Engagierte Demokraten. Vergangenheitspolitik in kritischer Absicht, Münster 1999, S. 84 ff.; Detlef Bald, Uwe Hartmann, Claus von Rosen (Hg.): Klassiker der Pädagogik im deutschen Militär, Baden-Baden 1999.

11) Vgl. Dietrich Genschel: Wehrreform und Reaktion. Die Vorbereitungen der Inneren Führung 1951-1956, Hamburg 1972, S. 149 ff.

12) BA-MA (Bundesarchiv-Militärarchiv Freiburg) Bw 9/2527-113 Heinz Karst: Bedenken über die innenpolitische Entwicklung der Vorbereitungen für den Aufbau der Streitkräfte, 1. Aug. 1955; der politische Horizont wird in der von Karst verfassten Schrift deutlich: Vom künftigen deutschen Soldaten, Bonn 1955.

13) BA-MA Bw N 717/5 Tagebuch Innere Führung, 24. Aug. und 14. Sept. 1955.

14) Vgl. Norbert Frei: Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1996.

15) Wolf Graf von Baudissin. Abschiedsvorlesung, 18. Juni 1986, Universität Hamburg, in: Ders.. Dagmar Gräfin Baudissin: »…als wären wir nie getrennt gewesen«. Briefe 1941-1947, hrsg. von Elfriede Knoke, Bonn 2001, S. 267.

16) Vgl. Mathias Jopp: Militär und Gesellschaft in der Bundesrepublik Deutschland. Das Beispiel des Bildungswesens in der Bundeswehr, Frankfurt/M. 1983; Detlef Bald: Generalstabsausbildung in der Demokratie. Die Führungsakademie der Bundeswehr zwischen Traditionalismus und Reform, Koblenz 1984.

17) Vgl. Detlef Bald: Der deutsche Offizier. Sozial- und Bildungsgeschichte des deutschen Offizierkorps im 20. Jahrhundert, München 1982.

18) Vgl. Wido Mosen: Bundeswehr – Elite der Nation? Determinanten und Funktionen elitärer Selbsteinschätzung von Bundeswehrsoldaten, Neuwied, Berlin 1970, S. 329; Oskar Negt: In Erwartung der autoritären Leistungsgesellschaft, in: Gert Schäfer, Carl Nedelmann: Der CDU-Staat. Studien zur Verfassungswirklichkeit, München 1967, S. 210.

19) Klaus Reinhardt: Generalstabsausbildung in der Bundeswehr, Bonn, Herford 1977.

20) Zur Militärreform in der Ära Brandt vgl. Klaus-Jürgen Bremm, Hans-Hubertus Mack, Martin Rink (Hg.): Entschieden für Frieden. 50 Jahre Bundeswehr, Freiburg/Br. 2005, S. 341 ff.

21) Heinz Karst: Das Bild vom Soldaten. Versuch eines Umrisses, Boppard 1967, S. 50.

22) IfZ (Institut für Zeitgeschichte München) ED 447/4 H. Karst an Prof. Hausmann, 8. Jan. 1969; Hamburger Morgenpost, 26. April 1969.

23) IfZ ED 437,109 Interview K. von Schubert mit Generalmajor R. von Rosen, 9. Dez. 1982.

24) Text bei Klaus Heßler: Militär, Gehorsam, Meinung, Berlin 1971, S. 115 ff.; leichter zugänglich bei Klaus von Schubert (Hg.): Sicherheitspolitik der Bundesrepublik Deutschland, Dokumentation 1945-1977, Teil 2, Bonn 1978, S. 447 ff.

25) Vgl. Jakob Moneta u.a.: Bundeswehr in der Demokratie. Macht ohne Kontrolle?, Frankfurt/M. 1974, S. XIII (Imanuel Geiss in der Einleitung).

26) IfZ ED 437/108 Interview K. von Schubert mit U. de Maizière, 1982.

27) IfZ ED 437/114, 33 Wortprotokoll von der Tagung des Bundesministers der Verteidigung mit Hauptleuten (…), 10. Mai 1971.

28) Vgl. die Kritik eines Offiziers: IfZ ED 447/47 Leutnant J. B., Stellungnahme zu den Hauptmanns-Thesen, 1. Mai 1971. Er schreibt: „Schaut man sich die Geschichte der Bundeswehr an, so ist sie die eines verdeckten oder unverdeckten Grabenkampfes zwischen Reformern und Traditionalisten. (…) Diese zwei Denkschulen, die von Anfang an in der Bundeswehr einen kalten Krieg probten, die eine angetreten unter dem Gesichtspunkt militärischer Schlagkraft und Unvereinbarkeit von Militär und Gesellschaft, die andere unter dem der Friedenssicherung durch Abschreckung und der prinzipiellen Vereinbarkeit von Militär und Gesellschaft, bilden sozusagen systemimmanente Krisenherde, solange sich die Bundeswehr in Absprache mit der Gesellschaft nicht für ein Bild entscheidet.“

29) Vgl. Detlef Bald: Bundeswehr und gesellschaftlicher Aufbruch 1968. Die Widerstände des Militärs in Unna gegen die Demokratisierung, in: Westfälische Forschungen, 48/1998, S. 297 ff.

30) Generalmajor von Reichert, in: Wehrkunde, 8/1973, S. 398.

31) IfZ ED 447/4 Genlt. Horst Hildebrandt in Madrid, 27. Mai 1975.

32) Kurt Kister: Innere Führung ohne Überzeugung, in: Franz H.U. Borkenhagen (Hg.): Bundeswehr. Demokratie in oliv? Streitkräfte im Wandel, Berlin 1986, S. 162 f.

33) Heinz Karst: Zustand und Therapie in Geist und Haltung der Bundeswehr, 11. Jan. 1983. Die hier zitierte Fassung datiert von diesem Datum. Karst teilte am 6. April 1983 dem Ministerium, Fü S I, mit, Manfred Wörner habe sein Exemplar früher, im „Herbst 1982“, vor der Ernennung zum Minister erhalten.

34) Heinz Vielain: Bundeswehr in der Hand der SPD, in: Welt am Sonntag, 25. März 1984.

35) Vgl. Dieter Farwick, Gerhard Hubatschek: Die strategische Erpressung – eine sicherheitspolitische Lösung, München 1981.

36) Gerhard Hubatschek: Wertewandel in der Bundeswehr, in: Die Welt, 11. Nov. 1982, S. 7.

37) IfZ ED 437/114-23 W. Graf Baudissin an G. Hubatschek, 21. Febr. 1983.

38) Karst-Studie, S. 14 f.

39) Karst-Studie, S. 49.

40) Karst-Studie, S. 3.

41) Dieter Stockfisch: Das Ethos des Soldaten heute, in Truppenpraxis, 5/1983, S. 329; Dieter Farwick: Die Innenansicht der Bundeswehr, in Criticon, Jan./Febr. 1982.

42) Rolf Elble: Einleitung, in Soldat im Volk, Sept. 1984, S. 4.

43) Vgl. Hans-Ulrich Wehler: Entsorgung der deutschen Vergangenheit? Ein polemischer Essay zum »Historikerstreit«, München 1988, S. 194 ff.; Detlef Bald, Martin Kutz, Manfred Messerschmidt, Wolfram Wette: Zurück, marsch, marsch!, in Die Zeit, 6. Mai 1994, S. 52.

44) Vgl. Wolfram Wette: Die Bundeswehr im Banne des Vorbildes Wehrmacht, in: Bald, Klotz, Wette: Mythos Wehrmacht, S. 87 ff.

45) IfZ ED 437/114-50 Fü S I 6 an Parl. Staatssekretär, 22. Juni 1983 (Bezug: Bericht von F.W. Steege vom Psychologischen Dienst).

46) Vorbemerkung, Karst-Studie, S. 1.

111) Karst-Studie, S. 4 f.

112) Karst-Studie, S. 8.

49) Karst-Studie, S. 33.

50) Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 4: Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914-1949, München 2003, S. 982.

51) Vgl. Detlef Bald, Andreas Prüfert (Hg.): Innere Führung. Ein Plädoyer für eine zweite Militärreform, Baden-Baden 2002.

Detlef Bald war Wissenschaftlicher Direktor am Sozialwissenschaftlichen Institut der Bundeswehr, er arbeitet jetzt als freier Autor und ist Mitglied der Forschungsgruppe »Demokratisierung von Streitkräften im Kontext europäischer Sicherheit« am Institut für Friedens- und Sicherheitspolitik der Universität Hamburg (IFSH).

Ein Weißbuch lässt Schwarz sehen

Ein Weißbuch lässt Schwarz sehen

von Paul Schäfer

Zum ersten Mal seit dreizehn Jahren hat das Bundesministerium der Verteidigung wieder ein Weißbuch zur Sicherheitspolitik der Bundesrepublik Deutschland vorgelegt. Allein dies wurde schon von den Protagonisten der Regierung als Erfolg gefeiert, denn Rot-Grün war nicht zum Abschluss gekommen, weil man sich nicht über die Regelung der Wehrpflicht einigen konnte. Minister Jung konnte dennoch nahtlos anknüpfen, an die von den Vorgängerregierungen auf den Weg gebrachte neue Sicherheitsphilosophie der Bundesrepublik, an die Festlegungen zur Umwandlung (»Transformation«) der Bundeswehr von einer Verteidigungsarmee zur Interventionstruppe. Das Weißbuch schreibt diese Entwicklungen der letzten zehn Jahre fest und ist im Wesentlichen ein Instrument zur öffentlichen Legitimierung dieses Umbauprogramms.

Dort, wo neue Akzente gesetzt werden sollten, musste zunächst zurückgesteckt werden, so bei der Eröffnung neuer Einsatzoptionen für die Streitkräfte im Inneren oder bei der Überlegung, die mit dem Grundgesetz nur schwer in Einklang zu bringende Interventionspraxis der Bundeswehr durch eine Grundgesetz-Änderung zu bereinigen. Von letzterem will man nun die Finger lassen, die Operation scheint zu riskant. Verteidigung ist weiter Kernaufgabe, heißt es, allerdings müsse sich die Bundeswehr auf die wahrscheinlichere Aufgabe der Krisenintervention konzentrieren. Ein Narr, der Schlechtes dabei denkt. Bei der innergesellschaftlichen Militarisierung indes hat Innenminister Schäuble nachgelegt. Das Tauziehen um die Ausweitung militärischer Terrorbekämpfung im Inneren geht also munter weiter.

Enttäuscht wurden diejenigen, die sich vom Weißbuch eine auf Analyse und Kosten-Nutzen-Rechnung basierende Planung der Auslandseinsätze erhofft hatten. Stattdessen geht es um Weiter So oder gar um ein Mehr an militärischem Engagement. Denn die Großkoalitionäre verknüpfen machtpolitische Ambitionen sehr direkt mit den militärischen Einsatzpotenzialen der Armee. Dieses Motiv hat sowohl im Kongo- als auch im Libanon-Einsatz mitgespielt. Die Allseits-Bereit-Phantasien haben inzwischen dazu geführt, dass Teile der Konservativen und der Rechtsliberalen befürchten, dass die Fähigkeiten der Bundeswehr überstrapaziert und wir in Konflikte hineingezogen werden, die außer Kontrolle geraten könnten. Daher hat die CSU jüngst einen Kriterienkatalog vorgelegt, der mit dem Kriterium »nationale Interessen« eine Bremse einbauen will. Der nationalistische, ja mitunter rassistische Subtext solcher Grenzziehungen ist kaum zu übersehen: Was haben wir mit den blutigen Zwistigkeiten dort hinten in Afrika zu schaffen? In der Kongo-Debatte wurde daher durch die Regierenden eine Bonanza-Spur ausgelegt, die den Nationalkonservativen den Mund wässrig machen sollte. Bis ins Detail wurden die Rohstoffe aufgeführt, derer wir für das nationale Wohl bedürfen. Wenn die strategischen Ressourcen wie Öl und Gas immer knapper werden, der Wettlauf um ihre Aneignung immer härter wird, dann müssen wir gefälligst zusehen, dass wir überall dort, wo es ans Eingemachte geht, unsere Flagge aufpflanzen und unsere Interessen »verteidigen«. Die Marine setzt diese Philosophie bereits mustergültig um und das Weißbuch schreibt diese Aufgabenbestimmung für die Streitkräfte deutlicher als zuvor fest. Insofern wird heute schon deutlich, dass der Bezug auf angeblich nationale Interessen eher zu einem Mehr als zu einem Weniger an Einsätzen führen wird.

Dass man die globale Kontrolle über die wichtigen Ressourcen mittels militärischer Überlegenheit und maritimer Dominanz erreichen will, ist kein spezieller Einfall der Bundeswehrplaner. Die NATO diskutiert nicht erst seit dem Gipfel von Riga Ende vergangenen Jahres darüber, diese Erwägungen 2008 in ein neues strategisches Konzept zu gießen. Das was die NATO gegenwärtig bereits am Horn von Afrika und im Mittelmeer praktiziert, würde damit weiterentwickelt und perfektioniert: Deutsche Fregatten und Korvetten wären dann dabei, wenn es um die effektive Überwachung und Kontrolle der Ressourcenströme aus dem Globalen Süden in die nördlichen Metropolen geht.

Manche Leserin/mancher Leser mag sich durch den Abschnitt »Zivile Krisenprävention« in die Irre führen lassen. Im ersten Entwurf war dieser Teil sehr schmal ausgefallen und wurde erst im Zuge der Ressortabstimmung etwas aufgebessert. Das kann nicht über die eigentlichen Prioritäten hinwegtäuschen. Nach wie vor gilt die möglichst umfangreiche Beteiligung an internationalen Militäreinsätzen der Bundesregierung als Gradmesser ihres Einflusses in der Welt. Genau hier muss die friedenspolitische Kritik am Weißbuch ansetzen: Durch weitreichende Abrüstungsschritte und konsequentes Umdenken müssen hierzulande die Mittel freigesetzt werden, die für eine führende Rolle bei der friedensnotwendigen Energiewende (Weg vom Öl), bei der Förderung nachhaltiger Entwicklung in den vom Kapitalismus vernachlässigten Peripherien, bei der vorrangigen Unterstützung der Vereinten Nationen in der zivilen Konfliktbearbeitung benötigt werden.

In diesem Sommer wird es einige Gelegenheiten geben, um diese Alternativen auch nach der schnell verklungenen Diskussion um das Weißbuch deutlich zu machen. Friedens-, Umwelt- und entwicklungspolitische Gruppen und Bewegungen sind dazu aufgerufen, ihre Konzepte und Ideen beim G-8-Gipfel in Heiligendamm vorzustellen.

Paul Schäfer, MdB, vertritt die Fraktion »Die Linke« im Verteidigungsausschuss

Von der »neuen Wehrmacht« zur Bundeswehr

Von der »neuen Wehrmacht« zur Bundeswehr

Der verwickelte Weg der Demokra- tisierung des Militärs in der BRD

von Detlef Bald

Der 12. November 1955 gilt als die Geburtsstunde der Bundeswehr – damals noch als »neue Wehrmacht « bezeichnet. Der erste Verteidigungsminister, Theodor Blank, vereidigte an diesem Tag in Bonn unter »Preußens Eisernen Kreuz« die höchsten Generäle, die Generalleutnante Adolf Heusinger und Hans Speidel, sowie eine Reihe Offiziere und Unteroffiziere. Anwesend die westlichen Militärattachés, ausgeschlossen die Öffentlichkeit inklusive der Vertreter der höchsten Bundesorgane und des Parlaments. Das stand in der Kontinuität des Weg hin zu dieser neuen deutschen Armee. Während 1949 Franz Josef Strauß noch seinen Wahlkampf, mit dem Slogan führte, jedem Deutschen möge der Arm verdorren, der jemals wieder ein Gewehr in die Hand nehme, sah Adenauer damals bereits in der Westintegration den Hebel für eine neue Wehrmacht. 1949 wurden insgeheim die Weichen gestellt, für das was 1956 Form annahm. Die Auseinandersetzungen über die Ausrichtung dieser Armee waren damit aber nicht beendet.

Will man die Geschichte der Bundeswehr in kursorischer Kürze erfassen, hilft zunächst ein Blick auf ihre Vorgänger. Dabei fällt auf, das deutsche Militär bestimmte sich im 19. und 20. Jahrhundert ganz im Zeichen nationaler Souveränität. Dreimal in hundert Jahren hatte es Europa mit expansiven Kriegen überzogen, nach 1868, nach 1914 und 1939. Es hatte als Machtmittel staatlicher Politik seinen einzigartigen Stellenwert mit einem hohen Grad an sozialer und politischer Exklusivität. Schon dem Kaiserreich war es nicht gut bekommen, den Primat des Militärischen konstitutionell abzusichern und die Unabhängigkeit des Regierungssystems des Reiches zu beschränken sowie die (noch zarten) demokratischen Impulse niederzuhalten. Die Niederlage im Ersten Weltkrieg belastete zwar die Fortexistenz der Reichsidee, aber die Umstände des Systemwandels wurden genutzt, nach altem Ideal die Armee als »Staat im Staate« zu rekonstruieren. Nicht zuletzt in der Weimarer Republik erwies sich, wie fatal das antidemokratische und antiliberale Potenzial des Militärs die Wirkungen der Verfassung in der politischen Wirklichkeit verwässerte. Am Ende hebelte auch die Reichswehr die Republik aus und ebnete dem Nationalsozialismus den Weg. Solche, – und weitere Aspekte der deutschen Geschichte wie der Militärpolitik und Kriegführung im Zweiten Weltkrieg – waren verantwortlich dafür, nach der Kapitulation 1945 die Wehrmacht institutionell aufzulösen, um, wie in Potsdam deklamiert wurde, den Militarismus auszulöschen.

Das Gründungsparadigma der Bundeswehr wies ihr grundsätzlich einen neu orientierenden Weg, da die Besatzungsmächte die Macht der Bonner Republik über 1949 hinaus bestimmten und somit der Bonner Armee nicht den Status einer national unabhängigen Armee gewährten. Die historisch geladenen Umstände führten zu der doppelten internationalen Signatur der deutschen Streitkräfte, sie sowohl durch westalliierte Suprematie als auch durch Bündniskontrolle einzubinden und keine souveräne Verfügungsgewalt der Bundesregierung zuzulassen. Daneben und gleichrangig bedeutsam wurde dieses Militär gemäß der normativen Kraft des Grundgesetzes in das demokratische Regierungssystem – mit vielfachen Konsequenzen für Aufbau und Entwicklung der militärischen Institution selbst – integriert und der parlamentarischen Zuständigkeit unterworfen. Die Existenz der Bundeswehr war also grundlegend auf diese beiden Pole hin ausgerichtet, gewissermaßen ihre Räson. Die Gestalt der Bundeswehr ist daher im Vergleich zur älteren Militärgeschichte anders: Unterscheidbar und bestimmbar.

Die Geschichte der Bundeswehr, das zeigt ihre offizielle Gründung im Jahr 1955 nur allzu klar, begann nicht mit einer Gründungsfeier, von der aus sich alles strahlenförmig nach vorne – in die Zukunft – entwickelt hätte. 1955 ist vielmehr ein Datum mit historischem Bezug, der im Wesentlichen drei Perspektiven entfaltete und damit in dreierlei Hinsicht die Gestalt der Bundeswehr auf Dauer erfasste. Wie der anfänglich noch unbestimmte Name der Streitkräfte, »neue Wehrmacht«, schon zeigt, war sie (1.) mit der deutschen Geschichte aufs Engste identifiziert: Mit der Geschichte der militärischen Vorgänger wie der Wehrmacht ganz offensichtlich. Ihre Kapitulation im Jahr 1945 aber gewährte dem (2.) Zugang, nämlich der internationalen Koalition der Siegermächte, die Chance sich durchzusetzen. Sie begleiteten und kanalisierten auf Dauer Ausrichtung und Entwicklung der Bundeswehr. Die (3.) Perspektive schließlich begründete die Demokratisierung des Militärs, das sich den rechtsstaatlichen und politisch-freiheitlichen Normen des Grundgesetzes unterwerfen musste, was u.a. zur Folge hatte, sein inneres Gefüge im Prinzip nach den Regularien des öffentlichen Dienstes zu ordnen. Gleichwohl gab es keine »Stunde Null«. Die zeitweilig entmachteten militärischen Funktionseliten wurden im Einvernehmen mit den Westalliierten und nach dem Willen der Bundesregierung wieder eingesetzt, allerdings unter der Voraussetzung, die gesetzten Bedingungen anzunehmen.

In diesem Sinne ist der Gründungstag der Bundeswehr, dieser auf das Jahr 1945 bezogene 12. November 1955, symbolträchtig ein Tag der Zukunft. Aus ihm entspringt die Hoffnung, die »neue Wehrmacht« als Instrument staatlicher Macht zu einer besseren, zu einer demokratisch geprägten Gestalt des Militärs der Bundesrepublik, zur Bundeswehr, zu entwickeln. Die Bundeswehr stand nicht nur lose in der Kontinuität der deutschen Geschichte, sondern sie ist in einem politisch-normativen Verständnis spannungsvoll mit den Lehren aus der europäischen Geschichte konfrontiert. Das fordert die Bundeswehr heraus. Sie wurde im Zusammenhang der Teilsouveränität der Bonner Republik offiziell im Mai 1955 begründet. Im geheimen Bündnis von Politik und Militär aber gab es die verdeckte Planung seit dem Herbst 1950 schon. Natürlich war manches, was die spätere konkrete Entwicklung tatsächlich bestimmen sollte, noch ungewiss. Denn dieser Dreiklang – Geschichtsbezug, Internationalisierung, Demokratie – durchzieht spannungsgeladen die gesamte Geschichte der Bonner Republik, daher auch der Bundeswehr, sicherlich zu einzelnen Zeitpunkten unterschiedlich wirksam, mal mit jenem Ton bestimmend und harmonisch oder mehr dissonant klingend. Alle diese drei miteinander verwobenen Perspektiven und Positionen, Bezüge oder Bedingungen prägen konstitutiv die Existenz des deutschen Militärs der Bonner und Berliner Republik, also nicht nur im Kalten Krieg, sondern grundsätzlich bis in die Gegenwart.

Um zu zeigen, wie die einzelnen Aspekte mit einander verwoben sind, soll zunächst die Rolle der Politik der Alliierten herausgestellt werden, über die Westintegration die für die übrige Welt bedrohlichen deutschen Machtansprüche und -Potenziale zu zähmen. Allein Umkehr und Erneuerung boten Sinn- und Identitätsstiftung für die zweite deutsche Republik, so auch für ihr Militär. Daran erinnert das Jahr 1945 bis in die Gegenwart, wie es Richard von Weizsäcker zusammenfasste: „Aber wir haben allen Grund, den 8. Mai 1945 als das Ende eines Irrweges deutscher Geschichte zu erkennen, das den Keim der Hoffnung auf eine bessere Zukunft barg.“ Die westlichen Alliierten des Weltkriegs übertrugen Kriegs- und Besatzungsrechte auf die Besiegten, sie gewährten 1955 im Deutschlandvertrag der Bonner Republik „die volle Macht eines souveränen Staates.“ Die Souveränität unterlag der Suprematie, wie sie sich die Alliierten in Jalta und Potsdam für ganz Deutschland vorbehalten hatten. Als wäre es ein kategorischer Imperativ, hielten sie an ihrer obersten Zuständigkeit, die Macht der Deutschen zu pazifizieren, in zeitgemäß abgestuften Kontrollformen fest. Nach 1990 sind dies die neuen völkerrechtlichen und zeitgemäß umgeformten Regelungen der gesicherten internationalen Mitwirkungssysteme der NATO und EU.

Hinter dieser Politik stand zu allen Daten – 1945, 1949, 1955 oder 1990 – das Prinzip: Wirksame Garantien für ein funktionierendes System der Machtkontrolle durch Westintegration! Westintegration war Werteintegration. International und gemäß dem Grundgesetz stand die Abkehr von der Militärgeschichte an: „Der Militarismus ist tot.“ Dieses Wort des Kanzlers Adenauer lässt den Wert der Geschichte, besonders den Bezug zu 1945, erkennen. Die zentrale Stellung des Militärs, seines politisch ambitionierten Offizierkorps, werde es wie in vergangenen Zeiten nie wieder geben. Die Bonner Antwort darauf war die demokratische Einbindung des Militärs – erstmals seit 1806 gelungen. Im Zeichen der Vergewisserung und Reflexion der Geschichte wurde das Militär der parlamentarischen Verantwortung untergeordnet. Der Reformer unter den Soldaten, Wolf Graf von Baudissin, wählte dafür sinnstiftend in Anlehnung an Gerhard von Scharnhorst (sein Geburtstag jährt sich 2005 am 12. November zum 250. Mal) den Begriff »Staatsbürger in Uniform«, der unter dem Synonym »Innere Führung« von der Militärführung schließlich akzeptiert wurde. Die Kodifizierung des Primats der Politik gelang in der Wehrgesetzgebung. Sie ist der Ausdruck der dezidierten Militärreform. Die politische staatsrechtliche Einordnung der Bundeswehr in das republikanische Regierungssystem von Bonn setzte der Geschichte eines militärischen Sonderwegs ein Ende. Ein solche Kontinuität sollte es nicht mehr geben. Man setzte tatsächlich Zeichen, die Wertordnung des Grundgesetzes in hohem Maße auf das Militär zu übertragen und rechtsstaatlich freiheitliche Grundrechte für Soldaten zu gewährleisten. Die Entmythologisierung des alten Militärs mit seinen besonderen Normen war, wie schon Max Weber beobachtet hatte, vor der Geschichte längst in Gang gekommen – die Bundeswehr unterzog sich einer Art nachholender Reform. Sie ist schließlich »normal« in der Bundesrepublik angelangt.

Natürlich lassen sich einzelne Phasen der über 50jährigen militärischen Geschichte der Bonner und Berliner Republik unterscheiden, die einen jeweils charakteristischen Widerhall jenes Dreiklangs (der Demokratisierung, Internationalisierung und des Geschichtsbezugs) einfangen, der allerdings, wenn er in einer Phase angeschlagen wurde, auch in der folgenden Zeit noch weiterklang. Somit bieten alle Phasen und die Schlüsseljahre nur eine relative und keine absolute Gliederung, die nicht starr zu verstehen ist, sondern nur helfen können, das komplexe historische Geschehen ein wenig zu ordnen. Denn Gegensätze und Widersprüche zur Wertebindung der politischen Kultur der Bundesrepublik verliehen dem Militär immer wieder ein »hässliches Gesicht«, öffentlich aufmerksam verfolgt bezüglich manifester Tendenzen eines genuin militärischen Milieus; also die Übernahme vermeintlich »ewiger Werte des Soldatentums« in den fünfziger Jahren bis hin zum Anspruch oberster Generale (Schnez-Studie 1969), die Gesellschaft nach militärischem Maß zu gestalten; die Geltung von Drill und Schinderei gemäß militaristischem Vorbild in den sechziger Jahren (Nagold); die traditionalistische Orientierung am Mythos einer politisch »sauberen« Wehrmacht, wie sich in der jahrelangen Ablehnung der Widerstandskämpfer des 20. Juli 1944 als »Landesverräter« und »Eidbrecher« bis hin zur brisanten Distanz zur Ausstellung »Verbrechen der Wehrmacht« in den neunziger Jahren zeigte; also Strukturen unklarer Identität der militäreigenen Tradition; die Ambivalenz zwischen Reformern und Traditionalisten als ein dauerhaftes Dilemma, das im Selbstverständnis der Soldaten und im Gesamtprofil der Bundeswehr Dellen hinterlassen hat; die Ablehnung der demokratischen und gesellschaftlichen Einflüsse durch Abgrenzung des Militärs – Atombewaffnung oder Friedensbewegung bieten viele Beispiele; die Diffamierung gerade des Reformsymbols – »Innere Führung« – durch die Politik z.B. des Ministers F. J. Strauß mit dem Wort vom „Inneren Gewürge“ oder durch traditionalistische Deklassierung der Generale wie – um nur einige prominente Skandalbelastete von 1955 bis 2004 zu nennen: Heinz Karst, Heinz Trettner, Hellmut Grashey und schließlich Gerd Schulze-Rhonhof oder Reinhard Günzel; die Ausrichtung des Berufsprofils an einseitigen und rechtslastigen Vorbildern, zuletzt im Hochhalten eines Kämpferkults in den neunziger Jahren mit geradezu signifikanten Übersteigerungen in über zwanzig Standorten (Coesfeld) im Jahr 2004. Die Geschichte der Bundeswehr erweist sich zu allen Zeiten als vielfältig und spannungsgeladen.

Um den strukturierenden Dreiklang angemessen einordnen zu können, ist noch auf einen dynamisierenden Faktor hinzuweisen: Militärpolitik war deutsche Macht bewusste Politik. Schon Adenauer verband mit Militär die Hoffnung auf eine optimierbare Revision der staatlichen Handlungs-Potenziale. Bündnispolitik und europäische Integration waren das Resultat. Die »Wiederaufrüstung« leitete den Prozess des »nation building« der Bundesrepublik und formte gewissermaßen die außenpolitische Staatsräson: Gleichsetzung der staatlich-nationalen Existenz mit internationaler militärischer Verflechtung. Nach 1990 erfuhr das alte Muster weitere Impulse, die aber nur – könnte man betonen – die internationale Gestalt des deutschen Militärs modifizierten. Die Verhandlungen um einen Militärbeitrag nach 1949 und nach 1990 offenbaren das Grundmuster des wechselseitigen Nutzens der Politik, jenes »do ut des«, das damals wie heute feststellbar ist. Demokratische Kontinuität und die Internationalität der Bundeswehr durch Bündnistreue und Europäisierung boten auch hier Chancen der Machtteilhabe durch Machttransformation. Kanzler Kohl stellte die Weichen. Die internationalen Einsätze der Bundeswehr bis hin zur kriegerischen Teilnahme an der Kosovo-Besetzung sowie der militärgestützten Außenpolitik im Verfassungsrahmen der EU legen davon Zeugnis ab, wie in der Gegenwart Kanzler Schröder deutsche Machtpolitik definierte.

Das Vertragswerk von 1955 und von 1990 enthält in nuce die Staatsräson Deutschlands, nur als Teil einer europäischen Friedensordnung »frei« sein zu können. Es war, das lässt sich festhalten, auch so immer eine Deklamation der Versöhnung. Dieses Paradigma bleibt für Deutschland und somit für die Bundeswehr erhalten. Das Rad der Geschichte lässt sich nicht mehr zurückdrehen.

Dr. Detlef Bald war Wissenschaftlicher Direktor am Sozialwissenschaftlichen Institut der Bundeswehr, er arbeitet jetzt als freier Autor

Präsenz zeigen

Präsenz zeigen

Die deutsche Außenpolitik im Dienst des Militärs

von Peter Strutynski

Im Geschacher um einen Einsatz der deutschen Marine vor den Küsten Libanons fällt viel Schatten auf die deutsche Außenpolitik. So war im Halbdunkel kursierender Gerüchte um die Formulierung von Einsatzangeboten der Bundesregierung und Einsatzanforderungen Libanons kaum noch zu erkennen, worin das politische Ziel und – vor allem – der humanitäre Ertrag für die vom Krieg betroffene libanesische Bevölkerung liegen. Man konnte den Eindruck gewinnen, die politische Klasse in Berlin handele nach dem Muster: Wenn die Politik mit ihrem Latein am Ende ist, überlässt sie das Denken dem Militär. Das Militär seinerseits hat sich ganz dem »olympischen« Wahlspruch ergeben: „Dabei sein ist alles“.

Noch während der UN-Sicherheitsrat im August über einer Resolution zur Beendigung der Kämpfe im israelischen Krieg brütete, war sich die Große Koalition schon darin einig, die Bundeswehr in den Nahen Osten zu schicken – erst danach begann man in Berlin zu überlegen, was sie denn dort überhaupt tun solle. Der Vorsitzende des Bundeswehrverbands, Oberst Gertz, hat in einer Phoenix-Fernsehrunde am 5. September davon gesprochen, dass die Marine deshalb besonders geeignet sei für den Libanoneinsatz, weil es in dieser Waffengattung noch genügend Ressourcen gäbe. Die anderen Teilstreitkräfte sind mit ihren terrestrischen Einsätzen vom Balkan über den Kongo bis nach Afghanistan bis an die Halskrause ausgelastet. Da macht es dann auch nichts, wenn der Einsatz vor den Küsten der Levante militärisch wenig Sinn macht. Wollte man wirklich die Waffenlieferungen an die Hisbollah behindern – erklärtes Ziel der Bundesregierung –, dann wären doch wohl eher die Landwege vom Iran über Syrien in den Libanon unter die Lupe zu nehmen. Dafür aber gibt es kein Mandat des UN-Sicherheitsrats. Also begnügt man sich mit dem militärisch überflüssigen, symbolisch aber umso wichtigeren Einsatz deutscher Fregatten, Korvetten und Versorgungsschiffe im südöstlichen Mittelmeer.

»Präsenz zeigen« ist in dem Zusammenhang eines der beliebtesten Wörter der Berliner Regierung geworden. Präsenz zeigen, um potenzielle Waffenschmuggler abzuschrecken, Präsenz zeigen, um dem Verbündeten Israel zu bedeuten, dass man ihn nicht alleine lässt und »deutsche Verantwortung« übernimmt, Präsenz zeigen, um den Anspruch Deutschlands auf eine gewichtigere Rolle in den Vereinten Nationen zu unterstreichen. Präsenz zeigen aber auch, um der kriegsunwilligen deutschen Bevölkerung zu zeigen, dass deutsche »Normalität« heute anders aussieht.

Mit einem Militäreinsatz zur Regulierung des israelisch-libanesischen Konflikts reißt Deutschland das letzte Tabu nieder, das die deutsche Nachkriegspolitik trotz aller Kalten-Kriegs-Töne Jahrzehnte lang bestimmte: Für undenkbar galt, militärisch in einen Konflikt einzugreifen, in dem die Nachkommen der vom deutschen Faschismus vernichteten sechs Millionen Juden zu Schaden kommen könnten. Genau das aber ist bei einem wirklich neutralen, das heißt die Konfliktparteien auseinander haltenden Blauhelmeinsatz – ob robust oder nicht – möglich.

Es sei denn, Deutschland nimmt den UN-Auftrag – die Verpflichtung zur Neutralität – nicht ernst und greift militärisch als Partei in den Nahost-Konflikt ein. Dafür spricht Vieles. Unmissverständlich erklären z.B. die Propagandisten eines deutschen Militäreinsatzes, es sei Deutschlands Hauptaufgabe im Nahen Osten, Israel zu schützen, da es sich hier um die einzige Demokratie in der Region handele und weil man das den Juden aus historischen Gründen schuldig sei. Selbst die anfänglichen konservativen Gegner eines Militäreinsatzes, wie der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber, argumentierten auf der selben Linie wie die Befürworter: Wollten die einen nicht dabei sein, weil man dann ja womöglich in die Lage kommen könnte, „auf Israelis zu schießen“, so wollen die anderen unbedingt dabei sein, weil der Schutz israelischen Lebens einen besonders hohen Wert darstelle. Diese Spielart des voreingenommenen Philosemitismus ist bei genauem Hinsehen nichts anderes als ein latenter Rassismus. Im Umkehrschluss heißt das: Auf alles andere, auf islamische Hisbollah-Kämpfer, auf libanesische Soldaten, auf Hamas-»Terroristen«, auf irgendwelche anderen »Araber« kann sehr wohl geschossen werden, nur Israelis sind »Tabu«. Das aber ist nur die halbe Konsequenz aus der deutschen Geschichte, der wir uns selbstverständlich alle stellen müssen. Aus der Erfahrung des schrecklichsten Kapitels der deutschen Geschichte mit der millionenfachen Judenvernichtung und der Behandlung anderer, insbesondere slawischer Völker als »Untermenschen« muss auch die Lehre gezogen werden: Deutschland darf Menschen unterschiedlicher Hautfarbe, Herkunft, Religion usw. nie wieder als mehr oder weniger »minderwertig«, aber auch nicht als mehr oder weniger »höherwertig« klassifizieren. Deutschland muss das Lebensrecht aller Menschen gleich hoch bewerten. Die Menschenrechte, wie sie in der Allgemeinen Menschenrechtserklärung 1948 und in den beiden Menschenrechtskonventionen (Sozialpakt und Zivilpakt, 1967) verankert wurden, haben eben universelle Gültigkeit.

In der Bundestagsdebatte am 19. und 20. September zum Antrag der Bundesregierung, bis zu 2.400 Soldaten in den Nahen Osten zu entsenden, waren sich – mit Ausnahme der Vertreter der Linksfraktion – alle Redner/innen darin einig, dass Israel beim Libanonkrieg nur von seinem Recht auf Selbstverteidigung Gebrauch gemacht habe und bei allen anderen Kriegen – auch denen, die vielleicht noch kommen mögen – das internationale Recht und natürlich auch Deutschland auf seiner Seite habe, während die Hisbollah (ersatzweise: die Hamas oder andere arabische Gegner Israels) der eigentliche Aggressor sei. Eine sehr einseitige Sicht, der zu Grunde liegt, dass das Kidnapping der beiden israelischen Soldaten am 12. Juli d. J. die Ursache des Krieges gewesen sei. Eine Position, die sich auch in der UN-Resolution 1701 (2006) wiederfindet, die aber leider nicht das Monate, ja, Jahre dauernde Konfliktgeschehen im israelisch-libanesischen Grenzgebiet im Ganzen betrachtet. Beispielsweise spricht der letzte Bericht des Generalsekretärs der Vereinten Nationen über die Tätigkeit von UNIFIL davon, dass dem 12. Juli „permanente provokative“ Grenzverletzungen („persistent and provocative Israeli air incursions“) der israelischen Luftwaffe vorausgegangen seien (S/2006/560 – 21 July 2006). Obwohl man es also besser wissen könnte, weil die entsprechenden Dokumente vorliegen, beruht der von der herrschenden Meinung dominierte öffentliche Diskurs über den Nahen Osten auf der unausgesprochenen und nicht mehr hinterfragbaren »Geschäftsgrundlage «, dass Israel im Recht, seine Gegner im Unrecht seien. Wer das anzweifelt und für seine Zweifel nach historischen Belegen sucht (wobei man nicht lange suchen muss), gerät dann schnell in die Gefahr, nicht auf dem Boden des Rechts zu stehen bzw. antiisraelische oder sogar antisemitische Ressentiments zu bedienen.

Besonders forsche Apologeten der israelischen (Kriegs-)Politik, ob sie aus der diffusen Ecke der sog. Antideutschen oder aus dem Zentralrat der Juden in Deutschland kommen, tun sich nicht mehr so leicht mit ihren grobschlächtigen Klassifizierungen in gut oder böse, seit ihnen aus den eigenen Reihen heraus widersprochen wird. Die »Europäischen Juden für einen gerechten Frieden« stellten sich in einer öffentlichen Erklärung hinter Entwicklungshilfeministerin Wieczorek-Zeul, nachdem diese den israelischen Angriff auf den Libanon als „völkerrechtswidrig“ beurteilt hatte und vom Zentralrat der Juden hierfür heftig angegriffen worden war. Kurze Zeit später meldete sich Rolf Verleger, Mitglied der jüdischen Gemeinde in Lübeck und zugleich im Direktorium des Zentralrats, zu Wort und kritisierte die völlige Identifikation des Zentralrats der Juden mit der Außenpolitik Israels. „In einer Zeit“, so monierte Verleger, „in der der jüdische Staat andere Menschen diskriminiert, in Kollektivverantwortung bestraft, gezielte Tötungen ohne Gerichtsverfahren praktiziert“, könne vom Zentralrat der Juden erwartet werden, „dass das wenigstens als Problem erkannt wird.“ Und Evelyn Hecht-Galinski, die Tochter des angesehenen früheren Zentralrats-Präsidenten Heinz Galinski, legte in einem Interview mit dem Deutschlandfunk am 1. September nach, indem sie dem Zentralrat vorwarf, sich „zum wiederholten Male als Sprachrohr der israelischen Regierung in Deutschland“, als „Propagandamaschinerie“ zu verstehen, „anstatt sich um die sozialen Belange der Gemeindemitglieder in den jüdischen Gemeinden in Deutschland zu kümmern.“ Das sei seine „eigentliche Aufgabe“. Sie legt auch den Finger auf einen wunden Punkt der öffentlichen Diskussion und der mangelnden Bereitschaft der Linken und der Friedensbewegung, sich in der Nahostfrage stärker zu engagieren: „Ich kriege so viele Zuschriften von sehr, sehr engagierten Deutschen, die absolut nicht in der rechten Ecke sind, die sich aber schon gar nicht trauen, den Mund aufzumachen. Die sagen immer, ,Sie können das mit ihrem Namen, aber wenn wir das sagen, sind wir sofort Antisemiten‘.“ Mit dem Antisemitismus-Vorwurf hantiert besonders schnell die streitbare Präsidentin des Zentralrats der Juden, Charlotte Knobloch, die vor kurzem sowohl der Entwicklungshilfeministerin Wieczorek-Zeul als auch dem Linksfraktions-Vorsitzenden Oskar Lafontaine vorwarf, sie unterstützten mit ihrer Kritik an Israel „die Anti-Stimmung gegen Juden in Deutschland“. Dem hält Hecht-Galinski entgegen, dass „nicht diejenigen, die Israels Politik kritisieren“, den Antisemitismus „fördern“, sondern diejenigen, „die schweigen und damit zulassen, dass das Bild von hässlichen Israeli und inzwischen auch von hässlichen Juden“ entstehen könne. Die Ursache für eine hier zu Lande steigende antiisraelische Stimmung liege in erster Linie an der israelischen Politik, „die durch nichts mehr zu rechtfertigen“ sei.

Linke Intellektuelle – deren Ahnengalerie gespickt ist mit jüdischen Denkern – und die Friedensbewegung taten sich schwer, die israelische Politik in den letzten Wochen und Monaten als das hinzustellen, was sie ist: völkerrechtswidrig, aggressiv und menschenverachtend. „Jegliche Kritik wird als Antisemitismus verurteilt, und dadurch ist ja schon fast jeder mundtot gemacht worden“, sagte Frau Hecht-Galinski und kann sich dabei auch auf Erfahrungen der Organisation »Europäische Juden für einen gerechten Frieden« (EJJP) stützen, deren Mitglied sie ist und deren Stimme nur sehr selten ein Echo in den Mainstream-Medien findet. Man stelle sich nur einen Augenblick vor, die USA – und nicht die Israelis – hätten den Libanon-Krieg geführt: Wäre da nicht ein Aufschrei durch die Welt, auch durch Deutschland gegangen? Hätten sich da nicht wieder unzählige Intellektuelle, politische, soziale und kulturelle Organisationen und Institutionen zu Wort gemeldet und ihren geharnischten Protest hinaus posaunt? Die Friedensbewegung hätte mit Sicherheit wieder größere Menschenmassen auf die Straße gebracht. Kurz: Die Empörung über einen völkerrechtswidrigen Krieg, über Kriegsverbrechen und Verstöße gegen die Genfer Konvention hätte über die Linke und die Friedensbewegung hinaus breite Teile der Gesellschaft erfasst. Israels Krieg gegen Libanon und – nicht zu vergessen – die andauernden militärischen »Strafaktionen« gegen Palästinenser im Gazastreifen und Westjordanland verstießen genauso gegen Völkerrecht, Genfer Konvention und alle einschlägigen Menschenrechtskonventionen. Der lautstarke Protest dagegen blieb aus, weil die Hemmschwelle, Israel zu kritisieren, ungleich höher liegt als im Fall der USA.

Soweit das historische Bewusstsein und politische Gewissen der Deutschen dafür verantwortlich sind, dass diese Hemmschwelle höher liegt als bei jedem anderen Staat, ist das sogar ein zivilisatorischer Fortschritt. Das Bekenntnis der Deutschen zu ihrer nicht tilgbaren Schuld gegenüber den Juden impliziert immer auch eine besondere Verantwortung für deren Schutz und Sicherheit – nicht nur in Israel übrigens, sondern auch bei uns und überall in der Welt. Wenn die politische Klasse daraus allerdings eine »Staatsräson« macht, welche die bedingungslose Solidarität mit Israel zum wichtigsten Credo deutscher Außenpolitik im Nahen Osten erklärt, beraubt sie sich jeglichen politischen und diplomatischen Handlungsspielraums. Die Rede der Bundeskanzlerin in der Haushaltsdebatte am 6. September war diesbezüglich eine Offenbarung. „Es muss verhindert werden, dass deutsche Soldaten auf Israelis schießen, und sei es nur ungewollt“, sagte sie. (Dürfen wir ergänzen: Es bereitet uns kein Problem auf andere zu schießen?). Und die Kanzlerin fährt fort: „Wenn es aber zur Staatsräson Deutschlands gehört, das Existenzrecht Israels zu gewährleisten, dann können wir nicht einfach sagen: Wenn in dieser Region das Existenzrecht Israels gefährdet ist – und das ist es –, dann halten wir uns einfach heraus.“ Wann wird es dieser Kanzlerin und all jenen, die sich ihrer Staatsräson verschrieben haben, dämmern, dass die Sicherheit Israels langfristig nur dadurch zu erreichen ist, dass auch die Sicherheit der Palästinenser und aller anderen Staaten der Region garantiert wird? Krieg und Militär, das zeigt die Geschichte des Nahen Ostens der letzten 58 Jahre, haben noch nie einen Beitrag dazu geleistet.

Der Einsatz der deutschen Marine vor Libanons Küste, der am 20. September vom Bundestag mit Dreiviertelmehrheit beschlossen wurde, wird erstens die Gewalt im Nahen Osten nicht beenden. Der nächste militärische Konflikt wartet gleichsam »auf Wiedervorlage«. Zweitens wird Israel, ohnehin hochgerüstet dank US-amerikanischer und deutscher Militärhilfe, einen verlässlichen Alliierten »vor Ort« haben. Das ist zwar nicht (ganz) im Sinne der UN-Resolution 1701 und des entsprechenden Mandats des Sicherheitsrats für UNIFIL, aber es könnte – drittens – ein weiterer Bestandteil der US-Kriegsvorbereitungen werden, die auf Syrien und den Iran abzielen. Die USA halten ja nach wie vor an ihrer Drohkulisse gegen Iran fest und schließen einen Krieg nicht aus – der israelische Minister Jacob Edri ist von der Notwendigkeit dieses Krieges sogar überzeugt (Thüringer Allgemeine vom 05.09.06). Eine deutsche Truppenpräsenz vor Libanons Küste könnte Deutschland also auch in einen größeren Krieg hinein ziehen. Frau Merkel wäre, als sie noch nicht Kanzlerin war, gern beim US-Krieg gegen Irak mitmarschiert. Ob ihr damaliger Traum sich gegen Iran erfüllt? Er geriete zum Alptraum – für alle Beteiligten: Die Bundeswehr »zeigt Präsenz« im Libanon und wird »präsent« im nächsten Nahost-Krieg.

Dr. Peter Strutynski, Politikwissenschaftler; Mitglied der Arbeitsgruppe Friedensforschung an der Uni Kassel, die die jährlichen »Friedenspolitischen Ratschläge« veranstaltet.

Bundeswehreinsätze im Inneren

Bundeswehreinsätze im Inneren

Betriebswirtschaftliche Argumentation als Triebfeder

von Michael Berndt

Im Frühjahr diesen Jahres erregte Bundesinnenminister Schäuble Aufsehen mit seiner Forderung, die Bundeswehr verstärkt im Inland einzusetzen. Dabei dachte er an Großereignisse wie die Fußballweltmeisterschaft und an einen besonderen Beitrag der Bundeswehr zum Kampf gegen den Terrorismus. Die Argumentationskette: Die Bundeswehr verfügt über Fähigkeiten, die die Polizei nicht besitzt, diese Fähigkeiten müssen auch im Inland zur Terrorismusabwehr genutzt werden, und da Großereignisse immer auch die Gefahr terroristischer Anschläge in sich bergen, bietet sich ein Bundeswehreinsatz hier direkt an. Im Spätsommer sind diese Forderungen weitgehend aus den Medien verschwunden. Die Bundeswehrdiskussion wird beherrscht von der aktuellen Situation in Afghanistan und dem Einsatz vor der Küste des Libanon. Bundeswehreinsätze stellen sich wieder als Auslandseinsätze dar. Doch Schäubles Vorstellungen sind genau so wenig vom Tisch, wie das am 15.02.2006 vom Bundesverfassungsgericht für nicht grundgesetzkonform erklärte Luftsicherheitsgesetz. Im Entwurf des neuen »Weißbuchs zur Sicherheitspolitik«, das die Bundeskanzlerin zu einem wichtigen Arbeitsschwerpunkt der Bundesregierung für das Restjahr1 erklärte, finden sich all diese Themen wieder. Was ist der Hintergrund für diese neue Debatte über die Erweiterung der Einsatzmöglichkeiten der Bundeswehr?

Bei der Diskussion über die Erweiterung der Einsatzmöglichkeiten der Bundeswehr erscheint es so, als ginge es der Bundesregierung um reine Machtpolitik und eine stärkere außenpolitische Rolle – auch im Verhältnis zu den USA und den anderen westeuropäischen Staaten. Wenn Exverteidigungsminister Struck von der Verteidigung Deutschlands am Hindukusch spricht, unterstreicht das diese These, es sagt aber noch nichts aus über die Hintergründe einer Erweiterung der Einsatzmöglichkeiten der Bundeswehr im Inneren unseres Landes. Bei Letzterem zeigt sich, dass nicht nur (Welt-)Ordnungsvorstellungen, Vorstellungen über die Rolle militärischer Gewalt und eine einseitige Sicherheitsdefinition bei der Erweiterung der Bundeswehr-Einsätze eine Rolle spielen, sondern auch eine betriebswirtschaftliche Zweck-Mittel-Logik.

In diesem Artikel geht es um den Zusammenhang zwischen dieser Zweck-Mittel-Logik und der Definition von Sicherheit,2 darum, wie die Grenze zwischen Innerer und Äußerer Sicherheit zunehmend verwischt wird.

Verfassung wird ausgehöhlt

Im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland – in seiner mit den Notstandsgesetzen von 1968 festgelegten Fassung – heißt es in Artikel 87a: „(1) Der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf… (2) Außer zur Verteidigung dürfen die Streitkräfte nur eingesetzt werden, soweit dieses Grundgesetz es ausdrücklich zulässt.“

Doch was lässt das Grundgesetz ausdrücklich zu? Im Normalzustand/Frieden lässt das Grundgesetz den Einsatz der Bundeswehr im Inland nur als humanitäre/technische Amtshilfe bei Naturkatastrophen und besonders schweren Unfällen zu (Art. 35). Im Ausland darf die Bundeswehr im Normalzustand nach Auslegung des Bundesverfassungsgerichtes von 1994 nur im Kontext von Systemen kollektiver Sicherheit zur Wahrung des Weltfriedens eingesetzt werden. Nach diesem Verständnis verbietet das Grundgesetz im Normalzustand sowohl den militärischen Einsatz der Bundeswehr im Inland, wie den rein nationalen Einsatz der Bundeswehr als militärisches Instrument im Ausland. Ausnahmeregelungen trifft das Grundgesetz für den Inlandseinsatz nur noch für die Fälle des inneren Notstandes und des Verteidigungsfalls. Nur während eines inneren Notstandes, nach Artikel 91, darf die Bundeswehr zur Unterstützung der Polizei beim Objektschutz und bei der Bekämpfung von organisierten und militärisch bewaffneten Aufständischen tätig werden (Art. 87a [4]). Und nur im Verteidigungsfall (Art. 115) darf die Bundeswehr zur Verkehrsregelung, zum Schutz ziviler Objekte und zur Unterstützung polizeilicher Maßnahmen (GG Art 87a [3]) eingesetzt werden.

Diese Regelungen scheinen klar, doch die Geschichte der Bundeswehreinsätze ist davon geprägt, dass die Einsatzmöglichkeiten zunehmend ausgedehnt wurden,3 einhergehend mit einer teils offenen, teils stillen Neuinterpretation der grundgesetzlichen Regelungen. Ein Ausdruck der offenen Neuinterpretation ist das Verfassungsgerichtsurteil von 1994.4 Während die sukzessiven Erweiterungen bei den Auslandseinsätzen zumeist von größeren öffentlichen Protesten begleitet wurden, trifft dies auf die Erweiterungen der Einsatzmöglichkeiten im Inneren kaum zu. Hier wurde eher im Stillen uminterpretiert und entsprechend gehandelt.

Zunächst wurde die Bundeswehr im Inland tatsächlich nur zur Amtshilfe bei Naturkatastrophen und Unfällen eingesetzt, z. B. bei diversen Hochwasserkatastrophen seit den 1960er Jahren. Später kamen Unterstützungseinsätze bei gesellschaftlichen Großereignissen und polizeilichen Großaktionen dazu. Amtshilfe mit Sanitätern und Transportkapazitäten wurden aktuell beim Weltjugendtag 20055 und der Fußballweltmeisterschaft 20066 geleistet, obwohl beide Ereignisse sicher nicht unter Naturkatastrophe oder besonders schweres Unglück eingereiht werden können. Für die Fußballweltmeisterschaft wurden außer den tatsächlich eingesetzten Kräften auch Einheiten bereit gehalten, die im Notfall zum Einsatz kommen sollten. Über die neutrale Amtshilfe gingen dann aber schon in den 1980er Jahren Inlandseinsätze der Bundeswehr hinaus, die als Hilfe bei der Durchsetzung bestimmter politisch umstrittener Projekte im Inland zu interpretieren sind. So unterstützte die Bundeswehr z.B. im Rahmen der Auseinandersetzungen um die Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf die Polizei mit Hubschraubern zum Transport und zur Aufklärung7. Mit all diesen Erweiterungen änderte sich auch das eingesetzte Material. So wurden u.a. beim Hochwasser an Rhein, Main, Mosel und Saar 1995 auch Tornado-Kampfflugzeuge zur Luftaufklärung im Tiefflug eingesetzt.8 „Die Tornados konnten nach dieser Tiefflugerprobung ihrer neuen Aufklärungsgeräte … wenig später nach Bosnien verlegt werden“9 Auch die Auslandseinsätze begannen mit humanitärer Hilfe bei Naturkatastrophen, zuerst 1960 in Marokko. Und sie endeten (zunächst) bei der Möglichkeit, die Bundeswehr auch zum Kampf außerhalb der Landesverteidigung einzusetzen, wenn sie nur – wie das Verfassungsgerichtsurteil von 1994 festlegt – im Kontext von Systemen kollektiver Sicherheit – also nicht rein national – stattfinden und der Bundestag ihnen zustimmt.

Bei den Auslandseinsätzen sammelte die Bundeswehr Erfahrungen, von denen Schäuble u.a. jetzt auch bei Einsätzen im Inneren profitieren möchte. So praktizierte sie im Nachkriegs-Kosovo und im Rahmen der ISAF in Afghanistan Objektschutz und die Unterstützung polizeilicher Maßnahmen. Also genau das, was im Frühjahr diesen Jahres als Aufgabe für Inlandseinsätze in die Diskussion gebracht wurde.

Eine Gesamtbetrachtung der Erweiterungen fördert zu Tage, dass sie immer schrittweise durchgeführt wurden, so dass die jeweilige Bundestagsmehrheit sie mittragen konnte und es in der Bevölkerung keine riesigen Proteste gab. Jeder Schritt beinhaltet dabei aber bereits die Option auf den nächsten. Genau deshalb ist auch bei der neuerlichen Diskussion über den Bundeswehreinsatz im Inneren größte Skepsis angesagt.

Ökonomisierung und Sicherheitsdefinition

Die Forderung nach erweiterten Einsatzmöglichkeiten der Bundeswehr im Inneren wird zum einen begründet mit der veränderten Sicherheitslage und zum anderen damit, dass die Bundeswehr über Fähigkeiten verfügt, die die Institutionen, die im Inland für derartige Einsätze zuständig sind – so die Bundespolizei, die Landespolizeien, das THW, die Feuerwehren und die diversen medizinischen Institutionen –, nicht besitzen. Aufschlussreich ist dabei, dass nicht etwa der Bundesverteidigungsminister an erster Stelle die neuen Vorstellungen über den Inlandseinsatz der Bundeswehr in der Öffentlichkeit vertritt, sondern der Bundesinnenminister. Statt für die, in seinen Zuständigkeitsbereich fallende Bundespolizei neues Material zu fordern – was allerdings einer weiteren kritischen Diskussion bedürfte –, fordert er eine Neudefinition des Verteidigungsbegriffes.10

Hier zeigt sich, wie ökonomisiertes Denken Einzug in die sicherheits- und militärpolitischen Planungen genommen hat. Es geht nur noch um die Ziel-Mittel-Frage: Auf der einen Seite steht eine veränderte Rahmenlage, auf die reagiert werden muss. Auf der anderen Seite stehen bestimmte Mittel zur Reaktion zur Verfügung. Ist das Ziel, Schutz vor den neuen Sicherheitsgefahren, so sind die Mittel dazu optimal einzusetzen.11 Diese verbetriebswirtschaftlichte Sichtweise wird nun auf die internen Planungen der Bundeswehr angewandt,12 wie auch bei den Überlegungen zu neuen Einsatzmöglichkeiten. Dies ist allerdings kein Spezifikum der Sicherheits- und Militärpolitik, sondern Ausdruck einer Politikauffassung, die sich auch bezüglich anderen Politikfelder identifizieren lässt.13 Die Folge ist, dass der aus dem Grundgesetz herauslesbare Tenor einer Skepsis gegenüber dem militärischen Instrument, inkl. seiner Ein- und Beschränkungen, zunehmend ersetzt wird durch eine betriebswirtschaftliche Zweck-Mittel-Logik, in deren Rahmen Militär zu einem normalen – nahezu überall anwendbaren – Instrument unter anderen wird.

Diese ökonomische Logik findet sich dementsprechend genauso wieder im Konzept der Zivil-militärischen Zusammenarbeit in Afghanistan, wie in Deutschland während der Fußballweltmeisterschaft. Mit dem Kriterium des optimalen Mitteleinsatzes, wird es – scheinbar zwanghaft – notwendig, diesen auch optimal zu organisieren. Daraus folgt, dass in Friedenszeiten die Kooperation zwischen Bundeswehr und anderen Institutionen so organisiert werden muss, dass Dopplungen und lange Wege vermieden werden. Genau dazu fanden im Vorfeld der Fußballweltmeisterschaft diverse Übungen statt.

Sekundiert wird dies durch die Neudefinition der Sicherheitslage. Wird in der politischen Diskussion von einer Unsicherheit gesprochen, so wird suggeriert, dass es Ereignisse oder Entwicklungen gibt, die eine objektiv feststellbare Sicherheitsbedrohung für ein Objekt darstellen. Empirische Basis dieser scheinbar objektiven Feststellung sind dann z.B. artikulierte Absichten und identifizierte Potentiale des definierten Gegners. Zentrale Aufgabe der Regierenden ist es dann, Überlegungen anzustellen, wie dieser vorhandenen Bedrohung begegnet werden kann. In den letzten 50 Jahren haben sich aber die Kriterien für die Identifikation von Sicherheitsbedrohungen stark gewandelt14. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde (äußere) Sicherheit im wesentlichen über die militärische Bedrohung durch einen identifizierbaren Akteur mit identifizierbaren militärischen Fähigkeiten definiert. In den 1970er Jahren wurde der Sicherheitsbegriff dann – ausgehend von den Ölkrisen – zum ersten Mal erweitert. Als zusätzliche Gefahr wurden nun Entwicklungen wahrgenommen, die auf die Verwundbarkeit staatlich verfasster Gesellschaften durch Außeneinflüsse hindeuteten, z.B. die Abhängigkeit von Erdöllieferungen und damit die Verwundbarkeit im Energiebereich. Das Militärische in der Bedrohung wurde so einerseits relativiert, andererseits wurden zur Vorsorge gegen die neuen Bedrohungen gerade auch militärische Mittel in Betracht gezogen. Zu Beginn der 1990er Jahre fand dann ein zweiter Wandel statt. Unter dem Begriff des Risikos (für die eigene Sicherheit) wurde nun ein ganzes Konglomerat von Entwicklungen gefasst, denen es sowohl an Akteurscharakter wie an intendierter Bedrohung mangelte. Jegliche Entwicklung erschien nun sicherheitsrelevant. Was aber dabei der genuin militärische Beitrag zur Sicherheitsbewahrung sein sollte, blieb offen. Genau in diesem Sinne wurde in den Verteidigungspolitischen Richtlinien von 1992 festgestellt: „Diese Risiken sind aufgrund ihres Ursachencharakters nicht militärisch lösbar. Sie können auch nicht mit militärischen Potentialen ausbalanciert werden. Der mögliche Verlauf von Krisen und Konflikten lässt sich kaum nach Wahrscheinlichkeit und Bedrohungsgrad voraussagen.“15 Militär sollte also zur Risikovorsorge beitragen, obwohl es dazu nach amtlicher Auffassung gar nicht fähig war.

Mit dem 11.9.2001 kehrten dann – mit den Terroristen – wieder konkrete Akteure in die Sicherheitsdiskussion zurück, die Fähigkeiten und Absichten blieben aber diffus. Allerdings konnten nun diese Akteure herangezogen werden, um den Sicherheitsbegriff nochmals neu zu definieren. Zentral ist, dass diese Akteure und ihre verbrecherischen Aktionen den Ausgangspunkt lieferten, um Terroranschläge als kriegerische Akte zu definieren.16 Der Feind (im Sinne es eines klaren Gegners) kehrte so in die sicherheits- und militärpolitischen Planungen zurück. Es ist ein benennbarer Feind – wie diffus er auch immer sein mag. Das Problem mit diesem Feind ist, dass für ihn Landesgrenzen keine wesentlichen Schranken mehr darstellen. Die Definition der Terroranschläge als Krieg – und nicht mehr als kriminelle Akte17 – ermöglichte den umfassenden Einsatz des Militärs zur Terrorismusbekämpfung. Dieser Logik entspricht, dass Angesichts des internationalen Terrorismus eine Trennung von äußerer und innerer Sicherheit als nicht mehr problemadäquat erklärt wird, also auch nicht mehr die Beschränkung der Bundeswehr auf Friedens- und Verteidigungseinsätze außerhalb Deutschlands.

Hier wird deutlich, dass die konkrete Form der Definition von Sicherheitsbedrohungen letztlich von den politischen Entscheidungsträgern abhängt und davon, welche Instrumente diese zur Bedrohungsabwehr einsetzen wollen.18 D.h., nicht nur die Bedrohung ist Ausgangspunkt für die Auswahl der Instrumente, sondern auch das Interesse daran bestimmte Instrumente – und hier eben das Instrument Militär – einsetzen zu wollen wird zum Ausgangspunkt für die konkrete Definition der Bedrohung. Welche Entwicklungen in welcher konkreten Situation als Sicherheitsbedrohung definiert werden, hängt so auch damit zusammen, welche Gegenmittel und Strategien gerade durchgesetzt werden sollen.

Nun schließt sich der Kreis. Angesichts der identifizierten Gefahren und knapper Ressourcen erscheint es politisch eher durchsetzbar, das Militär zur Terrorismusbekämpfung einzusetzen, als im Inland anderen (zivilen) Institutionen entsprechend mehr Mittel zur Verfügung zu stellen oder in weit stärkeren Maße die Ursachen des Terrorismus zu bearbeiten. Indem das Militär zur entscheidenden Kraft im Kampf gegen den Terror erklärt wird, geht man auch der Frage aus dem Wege, ob es nicht adäquater – und langfristig auch kostengünstiger – wäre, die Ursachen des Terrorismus zu bearbeiten, als auf die Folgen zu schießen.

Die Verstetigung des Notstandes

Unter diesem Blickwinkel erscheint es nun durchaus folgerichtig, wenn demnächst erneut die Ausweitung der Einsatzmöglichkeiten der Bundeswehr im Inland auf die Tagesordnung gesetzt wird, spätestens dann, wenn es um die im Koalitionsvertrag19 festgehaltene Neuregelung des Luftsicherheitsgesetzes und die Einbringung eines Seesicherheitsgesetzes20 inkl. der damit zusammenhängenden wahrscheinlich notwendigen Grundgesetzänderungen gehen wird.

Die ökonomische Zweck-Mittel-Logik führt zu einer Desensibilisierung gegenüber dem Mittel Militär und gleichzeitig führt die konkrete Sicherheitsdefinition zu scheinbar zwangsläufiger Aufgabenzuweisung an das Militär. Es wächst damit die Gefahr, dass mit der Neuregelung des Luftsicherheitsgesetzes und der Einführung eines Seesicherheitsgesetzes nicht nur kleinere Änderungen des Grundgesetzes verbunden sein werden. Nehmen wir das Terrorismusbekämpfungsgesetz und die Anti-Terror-Datei dazu, so droht ein gesellschaftlicher und politischer Zustand, der als Verstetigung des Notstandes interpretiert werden kann.

Anmerkungen

1) Vgl.: Bauchschmerzen bei Glaubensfragen. Trotz einer positiven Wirtschaftsentwicklung geht die große Koalition angeschlagen in Klausur, in: SZ 29.08.2006, S. 6.

2) Auf den Zusammenhang zwischen Ordnungsvorstellungen, Sicherheitsbegriff und Gewaltdefinitionen bin ich an anderer Stelle schon eingegangen. Siehe: Berndt, Michael: Gewalt – Ordnung – Sicherheit. Die Trias zunehmender Gewöhnung an militärische Gewalt, in: Thomas, Tanja / Virchow, Fabian (Hrsg.): Banal Militarism. Zur Veralltäglichung des Militärischen im Zivilen (Cultural Studies: 13); Bielefeld 2006; S. 65-81.

3) Siehe: Berndt, Michael: Einmal Hindukusch und zurück, in: Forum Wissenschaft 4/2006 (Im Druck).

4) Zur Problematik dieses Urteils siehe: Lutz, Dieter S.: Seit dem 12.Juli 1994 ist die NATO ein System Kollektiver Sicherheit! Eine Urteilsschelte, in: Vierteljahresschrift für Sicherheit und Frieden (S+F) 4/1994; S. 186-188.

5) Siehe dazu die Berichte auf der Domain: http://www.streitkraeftebasis.de (Download: 27.8.2006).

6) Siehe dazu: http://www.fifawm2006.bundeswehr.de/portal/a/fifawm2006 (Download: 27.8.2006).

7) Siehe: Amtshilfe der Bundeswehr bei Demonstrationen, in: ami (18:9-10) 1988; S. 77.

8) Siehe dazu: Gose, Stefan: Bundeswehr im Inneren. Aufgeschoben ist nicht aufgehoben, in: ami (27:12) 1997; S. 49-54; hier S. 52.

9) ebenda

10) Siehe: Schäuble, Wolfgang: Ich kann die neuen Gefahren nicht ausblenden (Interview), in: SZ 8.4.2006; S. 10 und ders.: Das ist die WM und nicht der Kalte Krieg (Interview), in: Der Tagesspiegel 15.5.2006.

11) Schon ein Siebenklässler soll ja lernen, dass Wirtschaften bedeutet „die vorhandenen Mittel zur Bedürfnisbefriedigung möglichst wirksam (effizient) einzusetzen.“ (Riedel, Hartwig (Hrsg.); Politik & Co. Sozialkunde und Wirtschaft für das Gymnasien: Bd. 1: Jahrgangsband 7/8; Bamberg 2003; S. 91).

12) Siehe dazu auch: Kantner, Cathleen / Richter, Gregor: Die Ökonomisierung der Bundeswehr im Meinungsbild der Soldaten. Ergebnisse der Streitkräftebefragung 2003 (Sozialwissenschaftliches Institut der Bundeswehr; SOWI-Arbeitspapiere: 139); Strausberg, Dezember 2004.

13) Siehe dazu: Röttger, Bernd: Jenseits des Staates: Der Positivismus der Geschäftsführer, in: Berndt, Michael/ Sack, Detlef (Hrsg.): Global Governance? Voraussetzungen und Formen demokratischer Beteiligung im Zeichen der Globalisierung; Wiesbaden 2001; S. 147-161 und ders. Militarisierung der Politik – Entpolitisierung des Militärs. Reorganisation der Militärpolitik in der Weltzwangsgesellschaft. Beitrag zum Workshop »Deutsche Militärpolitik nach 1990« das Arbeitskreis Militärpolitikkritik der AFK am 2. und 3.7.2001 in Berlin.

14) Siehe Daase, Christopher: Der erweiterte Sicherheitsbegriff und die Diversifizierung amerikanischer Sicherheitsinteressen. Anmerkungen zu aktuellen Tendenzen in der sicherheitspolitischen Forschung, in: PVS (32:3) 1991; S. 425-451 und ders.: Bedrohung, Verwundbarkeit und Risiko in der neuen Weltordnung, in: ami (21:7) 1991; S. 13-21.

15) Bundesminister der Verteidigung 1992: Verteidigungspolitische Richtlinien für den Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung; Bonn (26.11.), 34 Seiten; hier S. 11.

16) In der regierungsamtlichen deutschen Diskussion wird aber, ganz im Gegensatz zu der in den USA, der Begriff des Feindes explizit vermieden, obwohl er implizit, gerade über die Beteiligung an Militäraktionen im Kontext des NATO-Bündnisfalles immer mitschwingt.

17) Das dies nicht zwangsläufig war, zeigt ein Blick auf Dokumente der EU und des UNO-Sicherheitsrates, die kurz nach dem 11.9.2001 verabschiedet wurden. So finden sich dort noch sowohl Formulierungen, die die Terroraktionen als „Terrorakte“ als auch als „Terrorangriffe“ titulieren. Die Titulierung „Angriff“ hat sich erst in der Folge durchgesetzt.

18) Siehe: Wæver, Ole: Securitization and desecuritization, in: Wæver, Ole; Concepts of security; Copenhagen 1997; S. 211-256.

19) Gemeinsam für Deutschland – mit Mut und Menschlichkeit. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD vom 11.11.2005; S. 116. (http://www.bundesregierung.de/Content/DE/__Anlagen/koalitionsvertrag,property=publicationFile.pdf, Download 1.8.2006).

20) Siehe: ebenda, sowie auch: Schutz vor Angriff an der Küste, in: SZ 30.3.2006; S. 6 und U-Boot-Einsatz nur im Extremfall, in: SZ 27.5.2006; S. 6.

Dr. Michael Berndt ist Friedensforscher. Er wohnt in Habichtswald bei Kassel.