Veteranen

Veteranen

von Michael Daxner

Veteranen? Sind das nicht die betagten Herren, die, manchmal in ihrer alten Uniform, bei Gedenkfeiern und Jahrestagen stramm stehen, ihre Orden stolz an der Brust? Oder die ärgerlichen Männer, die als »Veterans for Peace« Proteste gegen die laufenden Kriege organisieren? Mit solchen Klischees hat Michael Daxner bei seinem Nachdenken über Veteranen der Bundeswehr nichts im Sinn.

Gerne würde ich von Einsatzrückkehrern sprechen. Ich wollte damit die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr bezeichnen, die in Auslandseinsätzen tätig und militärisch aktiv waren. Aber die Sozialwissenschaft wird eine soziale Gruppe ebenso wenig mit Autorität wirksam definieren wie das Verteidigungsministerium oder die Medien.

Es gibt sie, die Veteranen, und der Begriff ist organisatorisch längst verankert, etwa im Bund Deutscher Veteranen (BDV). Spätestens seit zwei Jahren befasst sich die Politik mit dieser neuen gesellschaftlichen Formation, und die Gruppe wird zum Gegenstand wissenschaftlicher Forschung und politischer Auseinandersetzung. Letztere führt einen ebenso zähen wie ergebnisoffenen Kampf um die Definition der Gruppe: Sind Veteranen alle ehrenhaft aus der Bundeswehr entlassenen Soldaten (General Glatz zugeschrieben), sind nur solche Soldaten Veteranen, die aus Auslandseinsätzen lebend zurück gekehrt sind, oder gar nur solche, die in Kampfhandlungen aktiv waren, nicht aber solche, die im Feldlager Service und Logistik geleistet haben? Das wird innerhalb der Rückkehrer-Gruppe ebenso heftig diskutiert wie außerhalb. Auch gibt es gelegentlich Ansprüche ziviler Rückkehrer von Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen, ebenfalls als Veteranen zu gelten.

In verschiedenen Diskursen wird um die Definition und die Grenzen einer sozialen Gruppe gerungen, von der wir nur wenig wissen, aber viel vermuten dürfen. Wir wissen, dass diese Gruppe zahlenmäßig in den nächsten Jahren anwachsen wird, und zwar mit den Auslandseinsätzen der Bundeswehr. Wir wissen, dass die meisten Rückkehrer männlich sind, dass aber der Frauenanteil steigt. Wir können ferner beobachten, dass je nach Macht- und Interessenkonstellation die Aufmerksamkeit sich auf bestimmte Segmente des Veteranenlebens bezieht, z.B. Versicherungs- und Fürsorgefragen, Beziehungsstabilität, Weiterverwendbarkeit in der Truppe, Statuszuweisungen, symbolische Würdigungen und Abwertungen, Pathologisierung (Posttraumatische Belastungsstörungen) etc., und dass aus jedem dieser Segmente einiges in diskursive Strategien eingebracht wird. Systematisch lässt sich da noch nicht viel Handfestes sagen, auch wenn es eine Reihe von Hypothesen gibt, die gut begründet sind und nachfolgend angerissen werden sollen.

Interesse

Die Bundeswehr hat an den Veteranen sicher andere Interessen als Psychologen oder Friedensforscher. Wenn sie alle zu ihrem Recht kommen sollen, dann ist es angebracht, zunächst soziologische Phänomene und eine grundsätzliche Form ethnographischer Kartierung zu erkunden. Sehr einfach zusammengefasst: Es tritt eine anwachsende soziale Gruppe auf, deren gemeinsame Merkmale sind: Sie kehren als Überlebende aus einem Auslandseinsatz zurück nach Deutschland; sie waren während des Einsatzes und davor keine Veteranen, werden es aber voraussichtlich ihr Leben lang bleiben, selbst wenn sie in derartige Einsätze zurückkehren; sie erfahren Zuschreibungen durch andere gesellschaftliche Gruppen, die sie nicht unbedingt selbst mittragen, die ihnen aber auch Macht und bestimmte Positionen innerhalb der gesellschaftlichen Beziehungen zuweisen.

Dass Veteranen so lange in den Friedens-, Sicherheits-, Kriegs- und Interventionsdiskursen Deutschlands keine große Rolle spielten, hat zwei Gründe. Zum einen ist jede Form echter, behaupteter oder vermeintlicher Weiterführung bzw. Neuauflage nationalsozialistischer Tradition (Emblematik, Semantik, »Imagery« in den meisten öffentlichen Diskursen, vor allem den politischen) ein Tabu; zum anderen gab es ja tatsächlich vor 1999 keine Einsatzrückkehrer in dem Sinn, dass Bundeswehreinsätze die Grenzen friedensbildender Begleitmaßnahmen überschritten hätten.

Aus all diesen Gründen versuche ich, zunächst das Feld »Einsatzrückkehr(er)« soweit zu dekonstruieren, dass seine Tiefendimensionen wenigstens ansatzweise sichtbar werden und sinnvolle Forschungsprogramme entwickelt werden können.

Selbstwahrnehmung und Fremdbild

Was interessiert wen und warum an den Veteranen? Zunächst: Sie selbst haben ein großes Bedürfnis, ihre Selbst- und Fremdwahrnehmung zu konstruieren. Es darf vermutet werden, dass die Rollenmodelle, die es ohne Zweifel gibt – Weltkriegsveteranen, Vietnamveteranen, Einsatzrückkehrer der heutigen Kriege in Echtzeit etc. – nicht überzeugend und eindeutig genug sind. Deshalb werden Definitionsversuche und Selbstbeschreibungen, aber auch Ableitungen derzeitiger und künftiger Rollen aus Heimkehrerliteratur zur Identitätsbildung benutzt (vgl. Bund Deutscher Veteranen/veteranenverband.de oder, hoch segmentiert, Recondo Vets Military Motorcycle Club/recondo-vets.de).

Das Interesse der Bundeswehr, aber auch privater Sicherheitsfirmen, kann unschwer differenziert werden. Für die Bundeswehr ist nicht nur die Einsatzerfahrung im Sinne von »Lessons Learned«-Elementen wichtig, sondern auch die Reputation der Ehemaligen und somit der Streitkräfte. Für private Sicherheitsunternehmen sind die Erfahrungen der Veteranen und ihre Einstellung zu den militärischen Diskursen und Institutionen von Bedeutung; hier findet sich ein noch ungefestigtes Rekrutierungsfeld. Friedensforscher- und Wissenschaftler verfolgen besorgt die langsame Erosion der »Inneren Führung« hin zu »Warrior«-Konzepten, deren Medialisierung auf amerikanische Ästhetik und überkommene deutsche Textstrukturen zurückgeht (vgl. die Links auf andere Videos bei »Kriegerethos Bundeswehr«, youtube.com/watch?v=esq-GzGjPRY).

Für die staatliche Wohlfahrtsgovernance, Sozialpolitik, Kulturpolitik sind Veteranen sowohl Kosten- und Betreuungsfaktoren als auch Akteure mit unterschiedlichem Aktionsradius. Sie lassen sich in verschiedene Stakeholder-Konzepte einpassen und werden bei künftigen Einsätzen politisch stärker thematisiert werden (müssen). Dazu gehört auch der große und teilweise bereits im Fokus der Forschung befindliche Bereich der Vereinbarkeit von Militär und sozialen Beziehungen, insbesondere in puncto Familie, und deren Modifikation durch den Veteranenstatus. Einige Studien von guter Qualität (Näser-Lather 2001; Seiffert/Heß 2014) müssen diesbezüglich stärker mit dem Thema der aus der Bundeswehr ausgeschiedenen Veteranen verknüpft werden

Für die Friedens- und Konfliktforschung sind Akteure wichtige Auskunfts- und Bezugspersonen der ersten Ordnung, d.h., ihre Erfahrungen, Rückblicke und gegenwärtigen Diskursstrategien sind von unmittelbarem Interesse für diese Forschungsgebiete. Im Verhältnis dieser Wissenschaft zur Öffentlichkeit lassen sich alle bisher genannten Segmente von Erkenntnisinteresse unter einer starken These zusammenfassen: Veteranen werden als Autoritäten mit hoher – akzeptierter oder angefeindeter – Deutungshoheit eine nachhaltige und wirkungsvolle Rolle in den Diskursen über Krieg und Frieden, Nation und globale Sicherheit, rechtliche Institutionen und eine Ausnahmejustiz für ihre Gruppe spielen. Als Kontrapunkt zu dieser These steht die Vermutung, dass über Medien, Literatur, Kunst, zunehmend auch TV und Film, eine Agenda befördert wird, die die Veteranen mehr oder weniger selbst beeinflussen.1

Überleben

Einsatzrückkehrer haben ihren Einsatz überlebt. Sie waren in einer Situation, in der Mit-dem-Leben-davongekommen-Sein nicht in die versicherungsmathematische Normalität der Risikogesellschaft eingepasst ist, sondern einen Sonderfall darstellt. Im Kampfeinsatz meint der Soldat zu wissen, was er tut; mehr oder weniger eingeübt folgt er einer Rationalität, die nicht vollständig, aber weitgehend regelhaft ist. Zugleich ist er aber Objekt kontingenter Ereignisse: Ob es ihn oder den Soldaten neben ihm »trifft«, ob er ein Ziel oder bloß Gegenstand zufälligen Streufeuers wird, ob sein Handeln eine für ihn fatale Reaktion auslöst oder als zurechenbares Handeln gar nicht ihm zugeschrieben wird – im Moment des Kampfes weiß er das nicht. Erst wenn der akute Krisenmoment überstanden ist, wenn er also überlebt hat, wird die Entscheidung rekonstruiert und sein Status als Überlebender konstruiert. Letztlich werden die entscheidenden Prädikate des Veteranendaseins da hergestellt.

Aus diesem relativ einfachen Sachverhalt leiten viele Veteranen mehrere nachhaltige Optionen ab: zum einen ihre Selbstkonstruktion als Opfer, zum zweiten die Abwägung ihrer Konfrontation mit dem entgangenen Tod – sie sind ja nicht gestorben.

Die Dekonstruktion der Erinnerungen ist schwierig und stößt in ungesichertes Gelände vor. Nehmen wir den nicht pathogenen Fall an, dass Veteranen nicht zusätzlich traumatisiert sind oder gar manifeste psychische Schäden verarbeiten müssen. Dann stehen sie bei der Verarbeitung ihrer Einsatzerlebnisse vor mehreren Fragen: Wie kann man dem Überleben (zusätzlich) Sinn abgewinnen? Der primäre Sinn war ja nicht Leben oder Sterben, sondern einen Kampf bestehen, Siegen. Und zwar für etwas – den Frieden, das Vaterland, den Befehl – oder für jemanden, was eine weitere Dimension von Subtexten auftut: Für wen riskiert jemand sein Leben? Wir wissen von Selbstmordattentätern, dass der Nachruhm oft ein wichtigeres Motiv dafür ist, sich zum Sterben zu bringen, als Geld oder die taktischen Erfolge eines Kampfes (UNAMA 2007). Die Sinngebung ihres Einsatzes kann rational, kritisch, politisch erfolgen; sie ist aber vielfach untermischt mit der Selbstverortung in einem größeren Geschehen (Einsatz, Krieg, Deutschland in der Welt) oder einem symbolischen Imperativ (Auftrag, Sendung, Freiheit verteidigen, Terror abwehren), der »jeden Mann« (vielleicht zukünftig auch »jede Frau«), also »mich«, braucht.

Die nachträgliche Sinnkonstruktion hat einige Vergleichsmomente regelmäßig zur Auswahl. Der Vergleich mit dem Vorbild, meist mit dem Helden, ist eine verbreitete Variante, die durchaus unter dem Postheroismus (Münkler 2014) gegenwärtiger Kriegsführung leidet – und das auch zum Ausdruck bringt. Wer vor dem Computer in einer Leitstelle sitzt, greift direkt ins Kampfgeschehen ein, er kämpft aber nicht, sein Körper wird dem Geschehen entzogen, der Körper aber ist im Kampf und für den Helden unerlässlich. Das wird in der höherklassigen Literatur sehr differenziert abgehandelt (Giordano 2014), während diese Reflexion in der Masse der Heimkehrerliteratur fast eine Leerstelle bildet.2

Eine andere Vergleichsebene führt zum Opferdiskurs, der bei den Veteranen in ihren Erinnerungen ausgeprägt ist. Aufgrund der relativ kurzen Zeiträume des neuen, nicht mehr am Weltkrieg orientierten, Veteranengedächtnisses können hier nicht stark belastbare Befunde dargestellt werden, aber so viel ist klar: Die auffällige Selbstbeschreibung als Opfer in doppelter Begriffsbedeutung ist ein Schlüssel zum Verstehen der Rückkehrer. Veteranen sehen sich zum einen als Opfer (im Sinne von »victim«) und rechnen mit den Umständen und den Personen, die sie zu Opfern gemacht haben, ab. Sie sind Opfer schlechter Ausrüstung, unsinniger Befehle, unzumutbarer Voraussetzungen für tatsächlichen, d.h. Kampf-Einsatz, geworden; sie hätten ja besser kämpfen können, wenn die Missstände abgeschafft worden wären, bevor man sie ins Feuer geschickt hatte. Sie sind auch Opfer von Unverständnis und Undankbarkeit. Deshalb müssen sie entweder den Sinn nachträglich korrigieren, offenlegen, kritisch vorbringen – oder sich zurückziehen, verbergen und unter sich, d.h. in der Familie oder aber im Veteranenverband, bleiben. Man kann oft ablesen, wieviel aus Vergleichen gezogene Bezugsstellen dabei schon internalisiert sind. Andererseits haben sie Opfer gebracht (im Sinne von »offering«, »sacrifice«). Sie wurden geopfert: auf dem Altar des Vaterlandes, der Ehre; oder sie haben sich geopfert, aus Pflichterfüllung freiwillig und gerne… Das steht in engem Zusammenhang mit der Frage der Anerkennung und der Integration in herrschende Diskurse.

Wir können ein Anwachsen des Veteranendiskurses als sicher voraussagen. Er kann sich allerdings polarisieren: zum einen in Richtung auf das affirmative Vorbild des nachholenden »Warrior«-Ethos (kriegerisch und männlich handeln im Kontext unbedingter nationaler Loyalität; das Vorbild hierzu ist etwa Marcus Luttrell in Lutrell und Robinson (2014)), zum andern in Richtung auf einen einsatzkritischen Realismus der Deutung von Kriegsgeschehen (hier sind paradigmatisch Hetherington (2010) und Junger (2010) zu nennen).

Für die Forschung unverzichtbar und für die Politik ein Aufmerksamkeits-»Trigger« sollten die vielen Blogs und Selbstverständigungsforen sein. Ein Einstieg ist fast unumgänglich bei Thomas Wiegold zu suchen (augengeradeaus.net).

Deutungsmacht

Veteranen werden Deutungsmacht beanspruchen; ihre Erfahrungen und ihre Sinnstiftung sind nicht schon festgelegt. Es ist zu befürchten, dass Auslandseinsätze und Kriege, in die Deutschland direkt oder indirekt verwickelt ist, umso gewaltnäher, opferorientierter und nationalistischer interpretiert werden, je weniger informierte Aufmerksamkeit den Veteranen durch Politik und Öffentlichkeit geschenkt wird. In den USA erfährt der Vietnamkrieg eine neue Deutung, bald werden Irak und Afghanistan folgen. Kosovo und Afghanistan werden – weil nur oberflächlich aufgearbeitet – Deutungsfelder für Veteranen werden, und hier werden Medien ein breites Feld diskursiver Strategien finden, weil sie ja die neuen Bilder und Begriffe zu Krieg und Einsatz finden müssen, für die es zunehmend neue Texte gibt. Man wird eben die jüdischen Soldaten und Veteranen des Ersten Weltkriegs nicht mit den muslimischen Veteranen der Bundeswehr vergleichen – die wird es aber geben. Für die Friedensbewegung ist das achselzuckende »Selber schuld!« angesichts des Leidens von Veteranen ebenso unangemessen, wie eine reduzierte Form der Heldenverehrung, weil sie ja im Feld gewesen sind. Vielmehr sollten sie ihre Erfahrungen in die Diskussion um Konfliktprävention und friedensschaffende Funktionen des Militärs einbringen können.

Anmerkungen

1) In meinem theoretischen Konzept gehe ich nicht davon aus, dass primär die Massenmedien die Agenda setzen, obwohl sie, neben Politik und anderen Akteuren, natürlich daran beteiligt sind, insbesondere als Arena. Vgl. Neumann 2012.

2) Es ist für eine tiefergreifende Dekonstruktion fast unvermeidlich, die Argumente von Peter Weiss in der »Ästhetik des Widerstands« (bei der Ausleuchtung von Herakles als Gegenmythos zu Odysseus) heranzuziehen. Das ganze Opus passt gut zu unserer kritischen Betrachtung des Heroismus, der Körperaspekt aber ist besonders wichtig, da auch im politischen Kontext eher unterdrückt (Weiss, 1975-1981). Die typische Heimkehrerliteratur verbindet die Opferzuschreibung mit einer zunehmenden Deutungshoheit über Kriegs- und Einsatzdiskurse, z.B. Timmermann-Levanas und Richter (2010), Brinkmann et al. (2013), Schnitt (2012); frühe Fremdzuschreibungen finden sich bei Reichelt und Meyer (2010).

Literatur

Sascha Brinkmann, Joachim Hoppe, Wolfgang Schröder (Hrsg.) (2013): Feindkontakt – Gefechtsberichte aus Afghanistan. Hamburg: Mittler.

Michael Daxner und Hannah Neumann (Hrsg.) (2012): Heimatdiskurs – Wie die Auslandseinsätze der Bundeswehr Deutschland verändern. Bielefeld: transcript.

Paolo Giordano (2014): Der menschliche Körper. Reinbek: Rowohlt.

Tim Hetherington (2010): Infidel. London: Chris Boot.

Sebastian Junger (2010): War. London: Fourth Estate; dt. erschienen unter dem Titel »War – Ein Jahr im Krieg« bei Karl Blessing.

Marcus Luttrell und Patrick Robinson (Patrick 2014): Lone Survivor: SEAL-Team 10 – Einsatz in Afghanistan. Der authentische Bericht des einzigen Überlebenden von Operation Red Wings. München: Heyne.

Herfried Münkler (2014): Helden, Sieger, Ordnungsstifter – Humanitäres Völkerrecht in den Zeiten asymmetrischer Kriege. Internationale Politik, Jg. 69, Ausgabe 3, Mai/Juni 2014, S.118-127.

Marion Näser-Lather (2011): Bundeswehrfamilien – Die Perzeption von Elternschaft und die Vereinbarkeit von Familie und Soldatenberuf. Baden-Baden: Nomos.

Hannah Neumann (2012): Heimatdiskurs – mediales Konstrukt und empirische Realitäten. In: Daxner und Neumann, op.cit., S.74f.

Julian Reichelt und Jan Meyer (2010): Ruhet in Frieden, Soldaten! Wie Politik und Bundeswehr die Wahrheit über Afghanistan vertuschten. Berlin: Fackelträger.

Jonathan Schnitt (2012): Foxtrott 4 – Sechs Monate mit deutschen Soldaten in Afghanistan. München: C. Bertelsmann.

Anja Seiffert und Julius Heß (2014): Afghanistanrückkehrer – Der Einsatz, die Liebe, der Dienst und die Familie. Ausgewählte Ergebnisse der sozialwissenschaftlichen Langzeitbegleitung des 22. Kontingents ISAF. Potsdam: Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr (ZMS-Bw).

Andreas Timmermann-Levanas und Andrea Richter (2010): Die reden – Wir sterben. Wie unsere Soldaten zu Opfern der deutschen Politik werden. Frankfurt am Main: Campus

United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) (2007): Suicide Attacks in Afghanistan (2001-2007). Kabul: UNAMA.

Peter Weiss (1975-1981): Die Ästhetik des Widerstands. 3 Bände, Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Prof. Dr. Michael Daxner ist Soziologieprofessor und Präsident der Carl-von-Ossietzky-Universität Oldenburg emeritus. Seit 2009 leitet er am Sonderforschungsbereich 700 der Freien Universität Berlin das Teilprojekt »Sicherheit und Entwicklung in Nordost-Afghanistan«.

Sozialisation im Militär

Sozialisation im Militär

von Maja Apelt

Die militärische Sozialisation vollzieht sich nicht nur in der Grundausbildung, sondern während der gesamten Dienstzeit und vor allem in den Einsätzen selbst. Die Frage, welche funktionalen und dysfunktionalen Wirkungen sie im Hinblick auf die Handlungsfähigkeit in den Einsätzen und die Identitätsentwicklung hat, ist allerdings weitgehend ungeklärt. Dies ist problematisch, und zwar sowohl hinsichtlich der widersprüchlichen Anforderungen in den Einsätzen als auch des Verhältnisses von Militär und Gesellschaft.

Die militärische Grundausbildung in der Bundeswehr hat sich in den letzten 50 Jahren stark gewandelt und ist zumindest in einigen Aspekten ziviler und menschlicher geworden. Die Frage, ob sie damit den Anforderungen der neuen Einsätze gerecht wird, wird allerdings kontrovers diskutiert, denn die Bundeswehr steht vor einem Dilemma: Sie muss die Soldaten angemessen für die von ihnen zu erfüllenden Aufgaben ausbilden, darf sich dabei zugleich nicht zu weit von der Gesellschaft entfernen.

Das Grundproblem

Der Kern des Soldatenberufs besteht darin, bereit und fähig zu sein, Menschen zu verletzen, ihre Lebensgrundlagen zu zerstören und dabei auch das eigene Leben und die eigene Gesundheit zu riskieren, dies alles aber nur und ausschließlich innerhalb einer militärischen Hierarchie (vgl. Kliche 2004).

Um dies zu erreichen, geht die militärische Grundausbildung wesentlich weiter als vermutlich jede andere Berufsausbildung: Rekruten lernen nicht nur den Umgang mit Waffen, sie werden darüber hinaus für eine bestimmte Zeit oder dauerhaft von ihren Familien, Verwandten, Freunden abgeschottet, das Verlassen der Kaserne wird zumindest während der ersten Zeit streng reglementiert. Detailliert wird nicht nur vorgeschrieben, was Rekruten dürfen und was sie nicht dürfen,. auch der Alltag wird bis ins Detail vorgeschrieben. Die Privatsphäre – so es denn außerhalb der Kaserne eine gab oder gibt – wird aufgehoben oder auf ein Minimum reduziert. Soldaten müssen lernen, ihre Uniform nach Vorschrift zu tragen, die Stube und den Spind penibel aufzuräumen und das Bett auf Kante zu richten; sie lernen, zu marschieren, stramm zu stehen usw.

Das Problem besteht darin, dass Soldaten nicht mehr nur kämpfen, sondern auch andere, zumeist polizeiliche Aufgaben übernehmen müssen. Soldaten früherer Armeen waren häufig in Kolonien stationiert und mussten Aufstände bekämpfen. Heute wird das in der Sprache der Strategie des US-Militärs »couterinsurgency« – Aufstandsbekämpfung – genannt. In der Gegenwart sollen Soldaten die Entwicklungszusammenarbeit stützen, Wahlen absichern, den Terrorismus bekämpfen usw. Zeitweise wurden Soldaten sogar als »bewaffnete Sozialarbeiter« bezeichnet, das hieß, dass sie sich auch diplomatische und sozialarbeiterische Fähigkeiten aneignen sollten.

Kampf- und Polizeieinsätze gehen heute ineinander über, und Soldaten müssen teilweise eigenständig entscheiden können, wann sie in welcher Rolle auftreten, was sie wann tun müssen, wie sie wann auf welche Menschen reagieren. Kurzum: Die Anforderungen sind höchst problematisch und widersprüchlich.

Welch dramatische Folgen es haben kann, wenn Soldaten nicht wissen, was sie tun sollen, oder die falsche Entscheidung treffen, wurde etwa 1995 beim Völkermord in Srebrenica trotz der Anwesenheit niederländischer Blauhelmsoldaten oder 2009 bei der Entscheidung von Oberst Klein, in Nordafghanistan einen Luftangriff auf entführte Tanklastwagen anzufordern, sichtbar. Dazu kommt eine wachsende Zahl von Soldaten mit posttraumatischem Belastungssyndrom, die zeigt, dass die psychischen Anforderungen und Belastungen des Einsatzes tiefe Spuren hinterlassen.

Welche Hintergründe dies hat und inwiefern die militärische Ausbildung geeignet ist, auf den Einsatz vorzubereiten, soll nachfolgend aus sozialisationstheoretischer Perspektive diskutiert werden.

Ungenügender Wissensstand zur militärischen Sozialisation

Welche funktionalen oder dysfunktionalen Wirkungen die militärische Ausbildung und der soldatische Dienst haben, darüber fehlen weitgehend wissenschaftlich belegte Untersuchungen und Aussagen. Dies hat mehrere Gründe: Zum einen erschwert die Bundeswehr die Möglichkeit der Forschung, versucht die Veröffentlichung der Forschungsergebnisse zu kontrollieren oder zumindest die von unliebsamen Ergebnissen zu verzögern oder zu verhindern. Dies machen auch private Unternehmen; der Unterschied besteht hier allerdings darin, dass es sich um einen staatlichen Akteur handelt, der unter der Kontrolle der Öffentlichkeit und Politik stehen muss.

Die Kehrseite ist, dass die aktuelle Forschung über das Militär in der Öffentlichkeit und der »scientific community« kein hohes Ansehen genießt, und dies gilt weitgehend unabhängig davon, ob es sich um kritische Forschung handelt oder nicht. Wissenschaftler müssen sich also genau überlegen, ob sie sich eine solche Forschung leisten können.

Überdies hat die empirische Sozialisationsforschung mit dem Problem zu kämpfen, dass belastbare Aussagen darüber, welche Auswirkungen bestimmte Sozialisationsbedingungen haben, äußerst schwierig sind. Dahinter steht, dass Sozialisation weit mehr umfasst als Erziehung. Erziehung besteht in dem Versuch der methodischen Einflussnahme auf ein Individuum; Sozialisation dagegen umfasst alle gewollten wie ungewollten Umweltfaktoren auch jenseits der Erziehung sowie den Eigenanteil des Individuums selbst, also wie es Einflüsse und Anforderungen verarbeitet, Belastungen überwindet oder daran womöglich zerbricht. Sozialisation, dies ist auch wichtig, ist ein lebenslanger Prozess. Im Nachhinein zu bestimmen, was welchen Einfluss auf die Persönlichkeitsentwicklung hatte, ist äußerst schwierig.

Die spezifische militärische Grundausbildung

Seit der Durchsetzung der stehenden Heere wurden Rekruten militärisch ausgebildet und trainiert. Sie lernten den Umgang mit Waffen, wurden uniformiert, gedrillt und körperlich geschult. Sie wurden dazu wie oben beschrieben abgeschottet, reglementiert und jeglicher Privatsphäre beraubt. In der sog. Formalausbildung lernten die Rekruten, militärisch zu stehen, zu gehen, zu marschieren, sich anzukleiden und zu grüßen. Der eigene Name verlor zugunsten des Dienstgrades und der Position an Bedeutung. Für kleinste Vergehen wurden drakonische Strafen verhängt. Schikanen von Vorgesetzten, aber auch von den eigenen »Kameraden«, gehörten zur Tagungsordnung; auch wenn sie zumeist formal verboten waren, wurden sie informell doch mehr als geduldet (so z.B. »Code Red« im Militär der Vereinigten Staaten, die »Dedowschtschina« in den russischen Streitkräften oder die »EK-Bewegung« in der Nationalen Volksarmee der DDR).

Weitere militärische Elemente, die die Fähigkeit und Bereitschaft zu kämpfen befördern sollten und die gesamte Organisation betrafen, kamen hinzu. So etwa Traditionen, Zeremonien und Symbole, deren Funktion es ist, den Schmerz, Verwundung und Tod symbolisch zu überformen und moralisch aufzuladen und so dem zerstörerischen Handeln einen Sinn zu geben. Bis heute zeigt sich, dass Rituale und Symbole den Soldaten von seinem Eintritt in die Organisation bis zu seinem Ausscheiden und darüber hinaus begleiten, sie werden Teil der Identitätsausrüstung des Soldaten und sollen die frühere private Identität überdecken oder ersetzen. Und auch in der Gegenwart gilt, dass Streitkräfte mit öffentlichen Zeremonien, feierlichen Gelöbnissen, Militärparaden und Ehrenbekundungen gegenüber »gefallenen« Soldaten sowie mit Ehrendenkmälern ihren Anspruch auf eine besondere Ehrerbietung seitens der übrigen Gesellschaft formulieren. Erreicht werden soll, dass das militärische Handeln nicht als kriminell oder abweichend sanktioniert, sondern als Dienst an der nationalen Gemeinschaft gewürdigt wird. Je kriegerischer die Einsätze des Militärs, desto wichtiger werden diese Ehrenbekundungen in der Öffentlichkeit (Burk 1999).

Eine besondere Bedeutung kommt aber der Kameradschaft zu: Sie soll die Defizite einer rigiden Hierarchie und Formalstruktur ausgleichen, und mit dem Hinweis auf Kameradschaft können Vorgesetzte Forderungen formulieren, die weit über das Formale hinausgehen. Außerdem kann die Kameradschaft der Forderung, das eigene Leben einzusetzen, einen Sinn jenseits nur politischer Ideologie geben: Wenn schon nicht für's Vaterland, so kämpft man wenigstens für die Kameraden; man lässt sie nicht im Stich. In unseren Befragungen war Kameradschaft das zentrale Argument, die Waffe im Einsatz einzusetzen. Das Motto war: Wenn ich es tue, muss es mein Kamerad nicht tun (Apelt 2012).

Die militärische Sozialisation ist demzufolge der Prozess, in dem sich die Soldaten diese Kultur aneignen.

Militärische Sozialisation aus der Perspektive Goffmans und Foucaults

Wie der Aneignungsprozess einer Kultur verläuft, die der zivilen Kultur außerhalb der Kaserne widerspricht, lässt sich mit Goffmans Theorie der »totalen Institution« (1973) erklären. Goffman zeigt auf, wie totale Institutionen die Identität ihrer Insassen soweit angreifen und verändern, dass es möglich wird, bereits internalisierte (zivile) Normen aufzuheben und durch neue (militärische) zu ersetzen und die dazugehörigen Handlungsmuster zu etablieren. Ergebnis einer Sozialisation in »totalen Institutionen« ist im Extremfall, dass die Insassen in der Lage sind, sich im Rahmen dieser Organisationen zu bewegen und deren Anforderungen zu erfüllen. Nur in der individualisierten bürgerlichen Gesellschaft – so Goffman – können sie dann nicht mehr bestehen.

Diese »totalen Institutionen« zeichnen sich einerseits dadurch aus, dass Schlafen, Arbeiten und Freizeit nicht mehr voneinander getrennt sind und die Insassen von der Außenwelt abgeschottet werden; dadurch erleiden sie einen Rollenverlust und den Verlust möglicher Hinterbühnen. Die Grenze, die Individuen gegenüber ihrer Umwelt normalerweise ziehen können und die es ihnen ermöglicht, eine eigene Identität auszubilden, sich von gesellschaftlichen Zumutungen zumindest teilweise abzugrenzen, wird aufgehoben.

Zum anderen sind Insassen von totalen Institutionen einer einzigen Autorität unterstellt und werden nach festen Regeln und einem umfassenden Plan verwaltet. Durch die totale Institution werden die Widerstände gegen die Organisation und ihre Zumutungen gebrochen. Zusätzlich werden Neulinge einem Gehorsamstest – einer Probe zur Brechung ihres Willens – unterzogen. Wer sich widersetzt, wird unmittelbar und sichtbar bestraft.

Mit Foucault (2008) lässt sich ergänzen, dass sich diese Institutionen des Körpers der Insassen bemächtigen: Dieser wird isoliert, überwacht und diszipliniert; zugleich wird damit der Geist geformt. Die zentralen Medien dieser Formung sind die genaue Aufgliederung und Verknüpfung von Zeit und Raum, Übungen und Prüfungen. Vorbild ist das Bentham'sche Panopticon. In ihm ist die Überwachung allumfassend, lückenlos und zugleich unmerklich. Um den Strafen zu entkommen, bleibt den Insassen nur die Chance, sich selbst zu bewachen.

In Anlehnung an Foucault untersuchte Treiber (1973) zwischen 1968 und 1970 die Sanktionspraxis in der Bundeswehr. Sein besonderes Interesse richtete sich dabei auf das Phänomen der »Normenfalle«. Die Rekruten, so sein Befund, müssten so viele neue Verhaltensanforderungen gleichzeitig erfüllen, dass sie notgedrungen scheitern müssten. Sie gerieten in einen Zustand ständiger Kritisierbarkeit. Zudem weise ein Teil der Normen eine gewollte Unschärfe auf, die den Zweck habe, dass die Regeln nicht einhaltbar sind und die Rekruten permanent sanktioniert und verunsichert werden könnten. Treiber schlussfolgert, diese Mechanismen der totalen Institution und der Normenfalle seien nicht dazu geeignet, selbständig denkende und handelnde Soldaten heranzubilden (vgl. auch Steinert/Treiber 1980).

Liliensiek (1979) ging mit seiner Kritik am Militär noch einen Schritt weiter. Während das Alltagsverständnis das Militär gern als Instanz betrachtete, in der Jugendliche zu »echten« Männern gemacht werden, betonte er den reifungshemmenden Charakter des Militärdienstes (so auch Böhnisch/Winter 1997, S.93f.). Ausgangspunkt für Liliensieks Überlegungen war, dass der Wehrdienst in die Phase der späten Adoleszenz fällt und die Grundausbildung die Befriedigung der in der Adoleszenz besonders virulenten Bedürfnisse nach unterschiedlichen sozialen Kontakten, Anerkennung u.ä.m. nicht nur verhindere, sondern einen Rückfall der jungen Männer in die frühe Kindheit, speziell in die anale Phase (also 2. bis 3. Lebensjahr), hervorrufe. Denn auch da lernen Kinder zu stehen, zu gehen und zu laufen. Mit diesem Rückfall in eine frühkindliche Phase würden die Soldaten in ihrem innersten Wesen massiv verunsichert, die Identität würde geschwächt und abweichendes Verhalten (z.B. unerlaubtes Entfernen von der Truppe) gefördert.

Einfluss von Zivildienst und technologischer Entwicklung

Die militärische Grundausbildung in der Bundeswehr – insbesondere die Sanktionspraxis – hat sich seit den 1970er Jahren gravierend geändert. Dafür gab es mehrere Gründe. Im Zuge der langen Friedensperiode und angesichts der Gefahr eines Atomkriegs wurde ein Krieg immer weniger vorstellbar, die militärischen Einsatzszenarien verloren an Glaubwürdigkeit, und die Akzeptanz des Militärs in der Gesellschaft sank – es rückte mehr und mehr an den Rand der Gesellschaft. Aufgrund der gesellschaftlichen Demokratisierung und Individualisierung in den 1970er und 1980er Jahren verlor das Militär weiter an Ansehen und Attraktivität. Immer weniger junge Männer waren bereit, sich dem Pflichtdienst fraglos unterzuordnen. Die Möglichkeit der Verweigerung des Militärdienstes und der Ableistung eines Wehrersatzdienstes wurde zunehmend in Anspruch genommen.

Trotz der Klagen der Militärs über die sinkende Zahl der Wehrdienstleistenden kam ihnen diese Entwicklung entgegen, denn mit steigendem technischen bzw. technologischen Niveau der Ausrüstung reduzierte sich der Nutzen, potentiell unwillige Zwangsdienstleister an dieser Ausrüstung zu unterweisen. Wenn potentielle »Störer und Versager« nicht mehr in die Kasernen müssen, so entfällt die Notwendigkeit, sie durch Zwangsmaßnahmen und Sanktionen zu Soldaten zu machen (vgl. Bröckling 1997, S.318).

Und nicht zuletzt setzte sich die »Innere Führung« durch, Im Zuge der Integration der Soldaten der ehemaligen Nationalen Volksarmee (NVA) in den 1990er Jahren diente das Leitbild des »Staatsbürgers in Uniform« plötzlich auch denjenigen konservativen Offizieren, die dieses Konzept bis dahin eher abgelehnt hatten, als Markenzeichen, das die Bundeswehr deutlich von der NVA unterschied.

All diese Veränderungen führten aber nicht zu einer Auflösung der Grenzen zwischen Militär und Gesellschaft und der Spezifika militärischer Kultur und Sozialisation. Wahrscheinlich trifft, vor allem seit der Aussetzung der Wehrpflicht 2011, auch auf die Bundeswehr zu, was Heins und Warburg (2004, S.124) in Anlehnung an David Lipsky (2004) über die Kadetten der Militärakademie West Point schreiben. Diese Hochschule des US-Militärs wäre „eine erstaunlich ironiefreie Zone […] Die Kadetten entgehen dem in der Normalgesellschaft üblichen Druck der permanenten Selbstfindung und Individualisierung, indem sie sich in einer vorgefertigten Ordnung bewegen […]“.

Neue Einsätze

In den 1990er Jahren und mit dem Einsatz der Bundeswehr in zunächst noch klassischen Peacekeeping-Einsätzen sowie bei der Hochwasserkatastrophe an der Oder 1997 schien es, als ob der Soldat tatsächlich zum Katastrophenhelfer und bewaffneten Sozialarbeiter mutieren würde. Inzwischen hat die Realität der neuen Einsätze die Bundeswehr aber wieder eingeholt. Bedenkt man, dass die ersten Bundestagsabgeordneten über einen Einsatz von Bundeswehrsoldaten gegen die IS-Kämpfer im Nahen Osten nachdenken, so deutet dies auf eine Remilitarisierung des Militärs hin.

Dies aber bedeutet nicht einfach eine Rückkehr zum klassischen Krieg, sondern eine Verschärfung der Dilemmata militärischen Handelns, da die neuen Einsätze für die Streitkräfte gleichermaßen eine Verpolizeilichung wie eine Remilitarisierung nahelegen. Welche Schlussfolgerungen daraus für die Struktur der Bundeswehr und der Ausbildung zu ziehen sind, ist unklar.

Schluss

Die militärische Sozialisation vollzieht sich nicht nur in der Grundausbildung, sondern während der gesamten Dienstzeit und vor allem in den Einsätzen selbst. Fraglos sind die Soldaten in den Einsätzen nicht nur der Gefahr für das eigene Leben und die eigene Gesundheit ausgesetzt, sondern sie müssen damit rechnen, die Waffe selbst einsetzen oder anderen den dafür erforderlichen Befehl (oder im Falle des Oberst Klein die entsprechende Information) geben zu müssen. Zusätzlich tragen die Camps, in denen sie in den Einsatzgebieten leben, wesentliche Merkmale totaler Institutionen. Das prägt die Identität der Soldaten und ihre sich dadurch etablierenden Handlungsmuster weitgehend unabhängig von formalen Vorgaben und wahrscheinlich auch von den Vorstellungen der »Inneren Führung«.

Die Widersprüche zwischen Militär und Gesellschaft werden damit größer, sie erschweren die Integration und Sozialisation ins Militär ebenso sowie die Rückkehr in die Zivilgesellschaft. Die Heroisierung oder Militarisierung der Gesellschaft, wie sie Münkler (2006, S.310ff.) vorzuschlagen scheint, würde daran nichts ändern.

Literatur

Maja Apelt (2012): Militär. In: dies. und Veronika Tacke (Hrsg.): Handbuch Organisationstypen. Wiesbaden: Springer VS.

Ulrich Bröckling (1997): Disziplin. Soziologie und Geschichte militärischer Gehorsamsproduktion. München: Vink.

James Burk (1999): Military Culture. In: Lester Kurtz (ed.): Encyclopedia of Violence, Peace and Conflict. San Diego: Academic Press, S.447-462.

Michel Foucault (2008): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Erving Goffman (1973): Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Volker Heins und Jens Warburg (2004): Kampf der Zivilsten. Militär und Gesellschaft im Wandel. Bielefeld: transcript.

Thomas Kliche (2004): Militärische Sozialisation. In: Gert Sommer und Albert Fuchs (Hrsg.): Krieg und Frieden. Handbuch der Konflikt- und Friedenspsychologie. Weinheim: Beltz, S.344-356.

Peter Liliensiek (1979): Bedingungen und Dimensionen militärischer Sozialisation. Ein Beitrag zur Bundeswehrsoziologie. Frankfurt am Main: Peter Lang.

David Lipsky (2004): Absolutely American: Four Years at West Point. New Yor:. Houghton Mifflin.

Herfried Münkler (2006): Der Wandel des Krieges. Von der Symmetrie zur Asymmetrie. Weilerswist-Metternich: Velbrück Wissenschaft.

Hubert Treiber (1973): Wie man Soldaten macht. Sozialisation in »kasernierter Gesellschaft«. Düsseldorf: Bertelsmann.

Hubert Treiber und Heinz Steinert (1980): Die Fabrikation des zuverlässigen Menschen. Über die »Wahlverwandtschaft« von Kloster- und Fabrikdisziplin. München: Moos.

Prof. Dr. Maja Apelt, Diplom-Soziologin, ist Professorin für Organisations- und Verwaltungssoziologie der Universität Potsdam, Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Fakultät.

Soldat*in sein

Soldat*in sein

von Fabian Virchow

Jährlich publizieren Einrichtungen wie das Stockholmer Friedensforschungsinstitut SIPRI Zahlen zu Produktion von und Handel mit Waffen und legen Angaben über die weltweiten Militärausgaben vor. Vergleichbar verlässliche Gesamtaufstellungen über die Zahl der Männer, Frauen und Kinder, die rund um den Globus Teil von Armeen und bewaffneten Verbänden sind, lassen sich kaum finden. Dabei sind Menschen – trotz der insbesondere im Globalen Norden forcierten Bemühungen um die Entwicklung und den Einsatz unbemannter Fahrzeuge, Fluggeräte und Schiffe – auch weiterhin unverzichtbar für die Planung und die Ausübung von militärischer, von soldatischer Gewalt.

Die anhaltende Technisierung von Armeen und die vielfach komplexer gewordenen Aufgaben, die Soldat*innen übertragen werden, erfordern zweifellos einen zunehmend höheren Grad an selbsttätiger Beurteilungsfähigkeit. Allerdings folgt dem Eintritt in die »Welt des Militärs« mit den ihr eigenen Verhaltensregeln, Ritualen und Strukturen auch weiterhin die Unterwerfung unter die Regeln und die Rationalität der »totalen Institution«. Dass deren Angehörige diese Regeln und Rationalität schließlich überwiegend teilen, akzeptieren und inkorporieren und damit der Grad des Zwanges weniger augenfällig wird, widerspricht dem nicht.

In allen soldatischen Kulturen von Streitkräften wird Gehorsam trainiert und in erheblichem Umfang auch erzeugt. Zwar gibt es beispielsweise in der Bundeswehr für Soldat*innen das Recht und die Pflicht, rechtswidrige Befehle zu verweigern, allerdings werden solche Situationen nicht systematisch geübt und Soldat*innen demzufolge nicht ermutigt, sich der Ausführung solcher Befehle zu widersetzen.

Gleichwohl lassen sich Formen der Unbotmäßigkeit, Akte der Desertion sowie kollektives Zuwiderhandeln in der Geschichte aller Armeen und bewaffneten Formationen aufspüren. Es ist daher durchaus bemerkenswert, dass diese von der Friedensforschung bislang nicht systematisch untersucht worden sind. Es liegen weder verlässliche Informationen über das Ausmaß noch Studien über die Entstehungsbedingungen bzw. Folgen entsprechenden Handelns vor. Dabei wurde, um nur ein Beispiel zu nennen, die Relevanz solcher Dynamiken erkennbar, als infolge der auch die US-Streitkräfte tangierenden Bewegung gegen den Vietnam-Krieg die Wehrpflicht in den USA ausgesetzt wurde.

Die Zusammensetzung von Streitkräften und bewaffneten Formationen und die dabei auftretenden Konflikte können Aufschluss über Stand, Entwicklung und Konfliktlinien der Gesellschaft geben, in der sie entstehen und sich fortentwickeln. Dies gilt etwa für das Ausmaß sexualisierter Gewalt im Militär, ebenso für den Umgang der politisch und militärisch Verantwortlichen mit entsprechenden Diskriminierungs- und Gewaltpraxen. Nicht einmal ein nennenswertes und transparentes Berichtswesen ist in vielen Armeen vorhanden, was dazu beiträgt, das Ausmaß sexualisierter Gewalt zu verschleiern.

Mit Blick auf die religiöse und ethnische Diversität in Streitkräften lassen sich zugleich ausschließende wie inkludierende Tendenzen erkennen. Und schließlich ist noch der Aspekt der Klassenzugehörigkeit von Soldat*innen zu nennen. Sie ist für ganz unterschiedliche Interessenlagen bedeutsam: wird etwa eine militärische Karriere mit Kommandogewalt angestrebt, die Absicherung vor den sozialen Risiken des real existierenden Kapitalismus gewünscht oder die Möglichkeit gesucht, individuell organisiert die Teilnahme am militärischen Zwangsdienst zu vermeiden.

Insbesondere Streitkräfte, die sich – aus welchen Gründen auch immer – für die Sicherung ihres Personalbestandes nicht (mehr) einer allgemeinen Wehrpflicht bedienen, sind darauf angewiesen, junge Menschen anzuwerben und von den Vorteilen des Eintritts in die Streitkräfte zu überzeugen. Der Zugang zur Zielgruppe und die Ausgestaltung der entsprechenden Werbemaßnahmen hängen dabei nicht zuletzt von der spezifischen politischen Kultur, den geschichtlichen Koordinaten sowie der aktuellen gesellschaftlichen Konstellation eines Landes ab. Die Rede vom »Dienst an der Nation« lässt sich mit dem Versprechen auf einen »attraktiven und anspruchsvollen Arbeitsplatz« durchaus verknüpfen. Nicht thematisiert wird im Rahmen der zahlreichen Werbekampagnen, die auch die Bundeswehr seit Jahren an Schulen und Hochschulen sowie bei Messen und Ausstellungen durchführt, hingegen die Frage des Tötens und des Sterbens. Dabei beinhaltet das Berufsbild und -verständnis von Soldat*innen grundsätzlich das Risiko, in Ausübung des Berufes gesundheitlich schweren Schaden zu nehmen oder getötet zu werden. Ebenso wenig wird verdeutlicht, dass zur soldatischen Berufstätigkeit zumindest die Vorbereitung auf das Töten anderer Menschen gehört. Die Überwindung der Tötungshemmung ist denn auch in allen Armeen der Welt integraler Teil der Ausbildung. Dem zu widersprechen, bleibt eine Aufgabe, die dringlich ist und einen langen Atem verlangt.

Ihr Fabian Virchow

Bundeswehr-Bilder

Bundeswehr-Bilder

Die Darstellung der deutschen Armee in aktuellen Filmproduktionen

von Michael Schulze von Glaßer

Bewegte Bilder zur Unterhaltung in den Dienst des Militärs zu stellen – so genanntes Militainment – ist nicht neu. Als Geburtsstunde des Kriegsfilms gilt der 90-sekündige Propagandafilm »Tearing Down the Spanish Flag« von 1898, der nur fünf Jahre nach der ersten Leinwandprojektion bewegter Bilder entstand. Die Sequenz zeigt, wie US-Soldaten in Havanna die spanische Flagge einholen, um dann die US-amerikanische zu hissen.1 Seitdem hat sich viel getan. sowohl was die Filmtechnik als auch was die Propaganda angeht. Inzwischen nutzt auch das deutsche Militär bewegte Bilder, um für sich und seine Aufgaben zu werben, wie der nachfolgende Blick auf den Umgang der Bundeswehr mit Filmproduktionen zeigt.

Auch wenn die deutsche Armee in Nachrichtensendungen bisweilen schlecht wegkommt, ist ihre mediale Darstellung insgesamt positiv. Das Sozialwissenschaftliches Institut der Bundeswehr2 beschäftigte sich intensiv mit der medialen Darstellung der Armee – auch um Ratschläge zu liefern, wie diese Darstellung in die gewünschte Richtung gelenkt werden kann. In ihrer im Januar 2010 veröffentlichten »Bevölkerungsumfrage« aus den Monaten Oktober/November 2009 heißt es: „Die Wahrnehmung der Bundeswehr durch die Bürgerinnen und Bürger wird von Medienbildern dominiert. Insbesondere das Fernsehen hat eine bemerkenswerte Breitenwirkung. […] Wer die Bundeswehr im persönlichen Lebensumfeld oder in den Medien wahrnimmt, der gewinnt zumeist positive Eindrücke. […] Von denen, die im Fernsehen etwas über die Bundeswehr sehen, nehmen 87 Prozent die Streitkräfte positiv wahr, davon 41 Prozent ‚Sehr positiv‘ oder ‚Positiv‘ und weitere 46 Prozent ‚Eher positiv‘. Nur 13 Prozent gelangen zu einem negativen Gesamtbild.“ 3

Auch wenn die Zahlen des bundeswehreigenen Instituts mit Vorbehalt verwendet werden sollten, zeigen sie doch, dass sich die Präsenz in den Massenmedien trotz vieler Skandale auszahlt.4 Um dies in ihrem Sinn zu befördern, drängt das deutsche Militär zunehmend aktiv in die Medien: zum einen, um die Berichterstattung in den Nachrichten zu beeinflussen und negativen Beiträgen entgegenzuwirken, zum anderen, um anlasslos ein positives Image in der Bevölkerung zu gewinnen. Vor allem Filmproduktionen stehen als Medium mit großer Reichweite im Fokus der Öffentlichkeitsarbeit der Bundeswehr.

Filmunterstützung

Die deutsche Armee unterstützte 2011 knapp 130 Filmproduktionen, darunter Historien-Spielfilme wie »Rommel« der ARD, aber auch Kurz-Dokumentationen über die »Minentaucherausbildung« für das Format »Galileo« des Privatsenders ProSieben. Die Unterstützungsleistungen reichten von der Beratung und Erteilung von Drehgenehmigungen bis hin zur Begleitung von Recherchereisen nach Afghanistan und der Bereitstellung von Requisiten. Daneben stand die Armee 2011 hunderten weiteren Medienproduktionen mit Informationen zur Verfügung, beispielsweise in Form von Interviews.5

Wie die Filmunterstützung durch die Bundeswehr konkret aussehen kann, zeigt exemplarisch der im November 2007 veröffentlichte Kinofilm »Mörderischer Frieden – Snipers Valley«. Da die erstmalige Thematisierung der Auslandseinsätze der Bundeswehr in einem Kinospielfilm „als förderlich für die Darstellung der Bundeswehr in der Öffentlichkeit bewertet“ 6 wurde, gab es für Regisseur Rudolf Schweiger folgende Unterstützungen durch das Bundesministerium der Verteidigung (BMVg):

  • „Militärfachliche Beratung durch Angehörige des Arbeitsbereichs »Medien« im Presse- und Informationsstab des BMVg,
  • zwei Recherchereisen ins Kosovo (2003/2004), Begleitung durch Pressefachpersonal, Routineflüge mit Bundeswehr-Luftfahrzeugen,
  • Erteilung einer Drehgenehmigung im Gefechtsübungszentrum des Heeres Altmark, Betreuung durch Pressefachpersonal,
  • Erteilung einer Drehgenehmigung beim deutschen EUFOR-Kontingent in Sarajevo, Betreuung durch Pressefachpersonal.“ 7

Durch die Maßnahmen seien keine zusätzlichen Kosten für die Bundeswehr entstanden. Neben dem Pressefachpersonal, das die Betreuung im Rahmen seiner üblichen Aufgaben erledigte, sei kein zusätzliches Personal gebunden worden. Gerät sei ebenfalls nicht zur Verfügung gestellt worden. Die geleistete Unterstützung des Filmprojektes fand im Rahmen der Medienarbeit der Bundeswehr statt.

Offen bleibt dabei, wer die im Film gezeigten Militärfahrzeuge stellte. In einer Szene zu Beginn des Filmes sind mehrere Leopard-Kampfpanzer und Fuchs-Truppentransporter zu sehen. Auch Innenraumaufnahmen des Fuchs-Transporters werden gezeigt. Die Jeeps vom Typ Wolf, die im Film zum Einsatz kommen, wurden von den Produzenten extra für die Dreharbeiten gekauft, der im Film gezeigte Bell UH1-D-Hubschrauber jedoch nicht, er gehörte wohl der Bundeswehr.

Auf der DVD des Films äuußert sich Regisseur Rudolf Schweiger im »Making of« wie folgt über die Zusammenarbeit mit der Armee: „Ein Highlight war auf jeden Fall auch die ganze Fabrik, das ganze Bundeswehr-Lager, das wir ja mit großer Unterstützung der Bundeswehr drehen konnten, die wir am Schluss ja trotzdem noch gekriegt haben, was auch wirklich echt ein Grund zur Freude war, weil wir da ja am Anfang gar nicht mehr wussten, inwieweit können wir noch mit denen rechnen. Wir hatten zwei Wölfe [Bundeswehr-Geländewagen], die wir noch in Deutschland gekauft hatten, aber mit zwei Wölfen und ein paar Uniformen macht man nicht wirklich so einen Militärfilm. Da bin ich nach wie vor sehr, sehr froh, dass wir das mit Unterstützung der Bundeswehr doch alles so hingekriegt haben, dass es auch groß ausschaut.“

Wie die Unterstützung im Detail aussah und wer die Kosten dafür trug, wurde nicht offen gelegt. Die Bundeswehr versucht oft, Kosten mit dem Argument zu verschleiern, Personal und Material seien ohnehin vorhanden, die Ausgaben würden sich nicht erhöhen, wenn diese an einem Film mitwirkten.

Zudem kam die Produktion der Armee sicherlich sehr gelegen. In dem Film retten deutsche Soldaten bei einem Angriff auf einen Checkpoint eine junge Serbin. Es folgt eine Liebesbeziehung und die Jagd nach den Drahtziehern des Angriffs. Spiegel-Online sprach von einem „Eingreifmärchen, wie es sich die PR-Abteilung der Bundeswehr nicht schöner hätte ausdenken können“.8 Der vom Bayerischen Rundfunk, dem Südwestrundfunk und ARTE finanzierte Kinofilm wird mittlerweile auch in deren Fernsehprogrammen gesendet.

Selektive Unterstützung

Auf eine Kleine Anfrage im Bundestag, welches Ziel die Bundeswehr mit der Unterstützung von Filmproduktionen verfolge, antwortete die Bundesregierung 2009: „Medienvorhaben Dritter werden durch das BMVg und die Bundeswehr unterstützt, sofern das Projekt geeignet erscheint, einer breiten Öffentlichkeit objektive Informationen über die Bundeswehr zu vermitteln und das öffentliche Ansehen oder die Akzeptanz ihres Auftrages zu fördern. Dienstliche Belange dürfen den Unterstützungsleistungen nicht entgegenstehen.“ 9 Der Verdacht, mit der Filmunterstützung werde versucht, die Öffentlichkeit zu beeinflussen und für die Bundeswehr zu werben, wird vehement bestritten: „Die Bundesregierung beabsichtigt nicht, die öffentliche Meinung durch die Unterstützung von Filmprojekten zu beeinflussen.“10 Im Jahr 2012 wurde dies nochmals bekräftigt: Die Bundesregierung begrüße „auch kritische Berichterstattung“ über die Bundeswehr, da sie „im Sinne der Bundesregierung zu Transparenz und Pluralität“ beitrage.11

Dies heißt aber nicht, dass automatisch alle Unterstützungsanfragen positiv beschieden werden. So wurde dem Dokumentarfilm »Der Tag des Spatzen« von Philip Scheffner (2010) jede Unterstützung durch die Armee verwehrt, selbst die Drehgenehmigung für einen öffentlichen »Tag der offenen Tür« in einer Kaserne wurde versagt. „Es wurde uns deutlich gemacht, dass die Bundeswehr nicht in unserem Film auftauchen wollte, wenn es um ihr eigenes Selbstverständnis und ihre eigene Arbeit ging“, erklärt Regisseur Scheffner die ablehnende Haltung der Militärs. Selbst durch Umschreiben des Drehbuchs nach einem Treffen mit den für Filmunterstützung zuständigen Militärs ließ sich das Verteidigungsministerium nicht umstimmen. Laut Scheffner kam die „Ablehnung“ des Projekts „von der übergeordneten, politisch denkenden Stelle“.12 »Der Tag des Spatzen« setzt sich mit den Folgen des deutschen Einsatzes am Hindukusch in der Heimat auseinander. Auch einem 2013 veröffentlichten NDR-Film über das Kunduz-Massaker, für den die Bundeswehr um Unterstützung gebeten wurde, verweigerte das Militär jede Kooperation.13

Wie knapp die Entscheidung der Bundeswehr zwischen unterstützungswürdigen und nicht-unterstützungswürdigen Filmproduktionen bisweilen ausfällt, zeigen Heimkehrer-Filme. So wurde der 2009 im ARD ausgestrahlte Spielfilm »Willkommen zuhause« von der Bundeswehr durch Drehgenehmigungen und fachliche Begleitung gefördert. In dem Film wird ein deutscher Soldat in Afghanistan Opfer eines Anschlags und kehrt traumatisiert nach Hause. Dort kämpft er mit seinen psychischen Problemen, streitet sich mit seiner Frau und Freunden, macht am Ende aber freiwillig eine Therapie. In der Pressemappe zum Film heißt es: „»Willkommen zuhause« ist der erste deutsche Fernsehfilm, der sich mit dem zurzeit brennend aktuellen Thema der Folgen von Friedensmissionen der Bundeswehr für die rückkehrenden Soldaten auseinandersetzt. Intensiv und realistisch thematisiert das Drama die Überforderung eines jungen Soldaten, dessen Psyche mit den Erlebnissen im Krisengebiet nicht fertig wird. Und die Überforderung seiner heimatlichen Umgebung, die in ihrer friedlichen Alltäglichkeit nicht damit rechnet, sich mit Kriegsfolgen auseinandersetzen zu müssen. Der Ort Deidesheim [in dem der Film spielt] wird damit zu einem Spiegel der bundesdeutschen Gesellschaft, die Strategien für die Integration von traumatisierten Soldaten entwickeln muss.“ 14

Am Tag nach der Ausstrahlung entbrannte eine auch vom Deutschen Bundeswehrverband vorangetriebene Diskussion über traumatisierte Armeeangehörige und wie diese zu unterstützen seien. Wenige Tage nach der Filmausstrahlung wurde im Bundestag mit breiter Mehrheit ein Antrag beschlossen, der für die Zukunft eine umfangreiche Behandlung traumatisierter Soldaten vorsieht.15

Schon ein Jahr vor Ausstrahlung von »Willkommen zuhause« behandelte der deutsche Kinofilm »Nacht vor Augen« (2008) ebenfalls die Traumatisierung von Soldaten der Bundeswehr.16 In diesem Film wurde der Soldat durch die Erschießung eines achtjährigen afghanischen Jungen, der einen Anschlag auf die Armeeeinheit des Soldaten vor hatte, traumatisiert. Für diesen Vorfall bekommt Soldat David Kleinschmidt im Film von der Bundeswehr sogar eine Ehrenmedaille verliehen, muss jedoch Stillschweigen bewahren, da die Erschießung eines Kindes in der Öffentlichkeit nicht gut ankommen würde. Die posttraumatischen Belastungsstörungen treiben den Soldaten jedoch ins gesellschaftliche Abseits, bis zur Eskalation: Er spielt mit seinem Halbbruder, der noch ein Kind ist, Kriegsspiele im Wald und stachelt ihn zu Gewalt an. Letztlich wird der Soldat, der sich seine Erkrankung trotz Bettnässens nicht eingestehen will, von der Polizei überwältigt und zur Behandlung in ein Bundeswehrkrankenhaus eingewiesen.

Auch wenn die Szene im Film als Notwehr dargestellt wird, stellte die Erschießung eines Kindes durch einen deutschen Soldaten im deutschen Film ein Novum dar. Auch die Vertuschung des Vorfalls lässt die Bundeswehr in schlechtem Licht erscheinen. In der „Darstellung der Bundeswehr ist der Film geradezu diffamierend“, meinte Stephan Löwenstein, Rezensent und Verteidigungsexperte der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.17 Der Film wurde daher nicht von der Bundeswehr unterstützt, und führte anders als »Willkommen zuhause« auch zu keiner von Verbänden und anderen politischen Interessengruppen anstoßenen Debatte über traumatisierte deutsche Soldaten. Wo die Bundeswehr auf der einen Seite ihr gelegene Filmproduktionen unterstützt, werden Projekte, die sich kritisch mit Einsätzen der deutschen Armee auseinandersetzen, also nicht gefördert.

Fazit

Die Bundeswehr ist sich der Wirkung bewegter Bilder bewusst und nutzt sie, um die eigenen Interessen zu vertreten. Auch wenn die Bundesregierung dies anders darstellt, werden von der Armee besonders kommerzielle Filmprojekte unterstützt, die ein positives Bild von der Bundeswehr zeichnen. Wie die Unterstützung aussieht, ist dabei sehr intransparent und wird, wie die Bereitstellung von Panzern für die Dreharbeiten des Films »Mörderischer Frieden« beispielhaft zeigte, bewusst verschwiegen. Es überrascht zwar nur wenig, dass eine solche instrumentalisierte Filmförderung existiert, zwingt aber doch, über die hieraus zu ziehenden Konsequenzen nachzudenken.18

Die wichtigste Konsequenz ist, dass es größerer Transparenz bedarf: zum einen, um sich überhaupt intensiver mit der Medienarbeit der Bundeswehr auseinandersetzen zu können, zum anderen aber auch, um die Bevölkerung über die einseitige Darstellung des Militärs in den Medien aufzuklären.

In diesem Sinne fordert etwa der Düsseldorfer Publizist Peter Bürger in seinem 2006 mit dem Bertha-von-Suttner-Preis ausgezeichneten Buch »Kino der Angst – Terror, Krieg und Staatskunst aus Hollywood« eine Kennzeichnungspflicht für Unterhaltungsprodukte, bei denen das Militär mitgewirkt hat. Dies „müsste im Sinne eines demokratischen Verbraucherschutzes als Selbstverständlichkeit gelten“.19

Anmerkungen

1) Peter Bürger (2006): Kino der Angst – Terror, Krieg und Staatskunst aus Hollywood. Stuttgart: Schmetterling Verlag, 2. Auflage, S.44.

2) Das SOWI wurde 2013 mit dem Militärgeschichtlichen Forschungsamt zum Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaft der Bundeswehr zusammengelegt.

3) Thomas Bulmahn (2010): Sicherheits- und verteidigungspolitisches Klima in Deutschland. Ergebnisse der Bevölkerungsbefragung Oktober/November 2009. Strausberg: SOWI, Kurzbericht, S.18f.

4) Michael Schulze von Glaßer (2010): An der Heimatfront. Öffentlichkeitsarbeit und Nachwuchswerbung der Bundeswehr. Köln: Papyrossa, S.40ff.

5) Antwort auf Kleine Anfrage von Ulla Jelpke et.al. (DIE LINKE): Umfang von Werbemaßnahmen der Bundeswehr im Jahr 2011. Bundestags-Drucksache 17/9501 vom 27.4.2012.

6) Antwort auf Schriftliche Frage von Ulla Jelpke (DIE LINKE.): Umfang der Unterstützung der Bundeswehr bei der Produktion des Spielfilms »Mörderischer Frieden«. Bundestags-Drucksache 16/7572 vom 10.12.2007.

7) Ibid.

8) Christian Buß: Bundeswehr-Drama „Mörderischer Frieden“ – Kuscheln im Kosovo, in: www.spiegel.de, 28. November 2007 – letzter Zugriff am 26. Juni 2014.

9) Antwort auf Kleine Anfrage von Ulla Jepke et.al. (DIE LINKE): Werbmaßnahmen der Bundeswehr in Medien. Bundestags-Drucksache 16/14094 vom 29.9.2009

10) Ibid.

11) Bundestags-Drucksache 17/9501, op.cit.

12) Michael Schulze von Glaßer: Filmunterstützung durch die Bundeswehr: „Die Armee will nicht über sich selbst sprechen“. militainment.info, 25. Mai 2011.

13) Michael Schulze von Glaßer: Nachschub- und Transporttruppe. freitag.de, 5.9.2013.

14) Schulze von Glaßer (2010), op.cit., S.195ff.

15) Antrag von Abgeordneten der CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS90/DIE GRÜNEN: Betreuung bei posttraumatischen Belastungsstörungen stärken und weiterentwickeln. Bundestags-Drucksache 16/11882 vom 11.2.2009.

16) Schulze von Glaßer (2010), op.cit, S.198f.

17) Stephan Löwenstein: Klappen vor Augen. faz.net, 25.6.2009.

18) Dies trifft auch auf den zunehmend an Bedeutung gewinnenden Bereich der Videospiele zu. Siehe Michael Schulze von Glaßer (2014): Das virtuelle Schlachtfeld. Videospiele, Militär und Rüstungsindustrie. Köln: Papyrossa.

19) Peter Bürger (2006), op.cit, S.641.

Michael Schulze von Glaßer ist Politikwissenschaftler, freier Journalist, Beirat der Informationsstelle Militarisierung e.V. und Autor mehrerer Bücher über die Öffentlichkeitsarbeit und Nachwuchswerbung der Bundeswehr sowie der Verbindungen zwischen der Videospielbranche, dem Militär und der Rüstungsindustrie.

Von Patrioten, Raketenabwehr und Bündnissolidarität

Von Patrioten, Raketenabwehr und Bündnissolidarität

von Götz Neuneck

Raketenabwehr scheint wieder in Mode zu kommen. Am 4.12.2012 entschieden die NATO-Außenminister auf eine Anfrage der Türkei, die „integrierte NATO-Luftverteidigung“ durch die Stationierung von Abwehrraketen des Typs »Patriot« der USA, der Niederlande und Deutschlands zu stärken und „die Bevölkerung und das Territorium der Türkei zu schützen“. Grundlage ist Artikel 4 des Nordatlantik-Vertrages, der Konsultationen vorsieht, „wenn nach Auffassung eine[s NATO-Mitglieds] die Unversehrtheit des Gebietes, die politische Unabhängigkeit oder die Sicherheit einer der Parteien bedroht ist“. Zu Recht fragt eine Studie der »Stiftung Wissenschaft und Politik«, „welche dieser drei Dimensionen tatsächlich bedroht ist“.

Wie aber steht es um die Wirksamkeit von Raketenabwehr und die sich daraus ergebenden Konsequenzen, auch unter dem Aspekt von Massenvernichtungswaffen?

Zwar betonen NATO-Sprecher und Vertreter der türkischen Regierung, die Stationierung sei ausschließlich als defensive Maßnahme zu verstehen und stelle weder auf die Errichtung einer Flugverbotszone noch auf offensive Operationen gegen Syrien ab. Zumindest in der innertürkischen Diskussion ging die Anfrage bei der NATO aber stets mit der Annahme einher, ein militärisches Eingreifen in den syrischen Bürgerkrieg sei allenfalls eine Frage der Zeit. Patriots haben eine Reichweite zwischen 20 und 160 km und sind daher nur in diesem Radius wirksam gegen anfliegende Flugzeuge oder Raketen. Besteht etwa eine solche Gefahr, solange sich Syrien und die Türkei nicht in einer kriegerischen Auseinandersetzung befinden? Die NATO schuldet ihren Mitgliedern Beistand gegen einen bewaffneten Angriff, nicht aber Rückendeckung für beliebige außenpolitische Ziele. Gegen den Schutz der Bevölkerung und den Erweis von Bündnissolidarität ist im Prinzip wenig einzuwenden. Politische Symbolhandlungen mit militärischen Mitteln, die das Eskalationsrisiko in einer spannungsgeladenen Konfliktregion in die Höhe treiben, sind hingegen kontraproduktiv.

Am 14.12.2012 stimmte der Deutsche Bundestag mit 461 gegen 86 Stimmen für den Antrag der Bundesregierung, zwei Patriot-Abwehrbatterien in die Türkei zu senden. Das Mandat stellt fest: „Die Türkei ist einer potentiellen Bedrohung durch ihren Nachbarn Syrien ausgesetzt.“ Außenminister Westerwelle ergänzte, die NATO wolle gegen alle „Eventualitäten an der Grenze“ gewappnet sein. Es sei „ein klares Signal an das Regime von Assad, mit der Gewalt und Übergriffen auf das Staatsgebiet der Türkei aufzuhören“. Diese Argumentation bezieht sich u.a. auf den Abschuss eines türkischen Flugzeuges am 22.6.2012 über dem Mittelmeer und Granateneinschläge unbekannter Herkunft am 3.10.2012 auf der türkischen Seite der Grenze zu Syrien, bei denen fünf Menschen ums Leben kamen. Gegen Waffen dieser Art bieten Patriots jedoch keinen Schutz.

Sollte Syrien tatsächlich weiter reichen Raketen auf die Türkei abfeuern, ist allerdings keineswegs sicher, dass es mit den Patriots gelingen würde, diese im Fluge zu zerstören. So könnte eine Rakete zwar getroffen werden, der Sprengkopf aber intakt bleiben und am Boden tödliche Agenzien freisetzen. In diesem Kontext sind insbesondere Meldungen, die syrische Armee hätte ihre Chemiewaffen in Bereitschaft versetzt, Besorgnis erregend. Man spricht von 100 Tonnen Sarin, Senfgas und VX und ca. 100 Mittelstreckenraketen, aber auch von Artillerie. Eskaliert der Bürgerkrieg weiter, muss damit gerechnet werden, dass die Agenzien freigesetzt werden, entweder gegen die Rebellen oder, wenn sie den Aufständischen in die Hände fallen, gegen die Regierungstruppen oder die Zivilbevölkerung. Dies lässt die Befürchtung wachsen, dass es dann auch zu einer direkten Einmischung der NATO kommt.

Die türkische Regierung betrachtet die Patriots als Unterstützung für ihren politischen Syrien-Kurs und als Rückendeckung der westlichen Allianz. Die Frage aber bleibt: Rückendeckung für was? Die Regierung Erdogan plädiert u.a. für die Bewaffnung der oppositionellen Freien Syrischen Armee, für die Bildung einer Übergangsregierung und für die Einrichtung einer Flugverbotszone entlang der syrischen Nordgrenze. Sie setzt auf den Sturz von Assad und sucht den Syrien-Konflikt zu »internationalisieren«. Der Patriot-Einsatz könnte dann dazu beitragen, eine Sicherheitszone im Norden Syriens zu proklamieren und so dem direkten Eingreifen türkischer und/oder amerikanischer Streitkräfte in den syrischen Bürgerkrieg den Boden zu bereiten.

Prof. Dr. Götz Neuneck ist Leiter der Interdisziplinären Forschungsgruppe Abrüstung, Rüstungskontrolle und Risikotechnologien am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg.

Bundeswehreinsatz im Inneren

Bundeswehreinsatz im Inneren

von Bundesverfassungsgericht

Im Jahr 2005 wurde unter dem Eindruck der Flugzeugtattentate vom 11. September 2001 und eines Luftzwischenfalls in Frankfurt a.M. das »Luftsicherheitsgesetz« verabschiedet. Das Gesetz sah „[z]ur Verhinderung des Eintritts eines besonders schweren Unglücksfalles“ (§14(1)) auch den Einsatz der Bundeswehr vor, „wenn nach den Umständen davon auszugehen ist, dass das Luftfahrzeug gegen das Leben von Menschen eingesetzt werden soll, und [die unmittelbare Einwirkung von Waffengewalt] das einzige Mittel zur Abwehr dieser gegenwärtigen Gefahr ist“ (§14(3)). Einen entsprechenden Einsatz sollte der Bundesverteidigungsminister oder ein ihn vertretendes Mitglied der Bundesregierung anordnen können. Gegen dieses Gesetz legten etliche Bürger Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht ein, dessen Erster Senat 2006 entschied, das Gesetz verstoße gegen die Menschenwürde (Art. 1 GG) und sei daher verfassungswidrig. Dagegen wiederum klagten Bayern und Hessen. Mit der Klage der beiden Länder wurde der Zweite Senat des BverfG befasst, der die Rechtmäßigkeit positiv beurteilen wollte und damit im Gegensatz zur Einschätzung des Ersten Senates stand. Daher musste das Plenum aller 16 Verfassungsrichter zusammentreten. Dieses fasste am 3. Juli 2012 den Beschluss, dass die Bundeswehr in Ausnahmefällen auch bei Einsätzen im Inneren zu Waffengewalt greifen darf. Nachfolgend dokumentieren wir den Plenarbeschluss des Gerichts sowie das gänzlich abweichende Minderheitenvotum von Bundesverfassungsrichter Gaier. [R.H.]

Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 3. Juli 2012 zum »Luftsicherheitsgesetz« lautet wie folgt:1

„1. Die Gesetzgebungszuständigkeit für die §§13 bis 15 des Luftsicherheitsgesetzes (LuftSiG) in der Fassung des Artikels 1 des Gesetzes zur Neuregelung von Luftsicherheitsaufgaben vom 11. Januar 2005 […] ergibt sich aus Artikel 73 Nummer 6 des Grundgesetzes in der bis zum Inkrafttreten des Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes […] vom 28. August 2006 […] geltenden Fassung.

2. Artikel 35 Absatz 2 Satz 2 und Absatz 3 des Grundgesetzes schließen eine Verwendung spezifisch militärischer Waffen bei einem Einsatz der Streitkräfte nach diesen Vorschriften nicht grundsätzlich aus, lassen sie aber nur unter engen Voraussetzungen zu, die sicherstellen, dass nicht die strikten Begrenzungen unterlaufen werden, die einem bewaffneten Einsatz der Streitkräfte im Inneren durch Artikel 87a Absatz 4 GG gesetzt sind.

3. Der Einsatz der Streitkräfte nach Artikel 35 Absatz 3 Satz 1 des Grundgesetzes ist, auch in Eilfällen, allein aufgrund eines Beschlusses der Bundesregierung als Kollegialorgan zulässig.“

Abweichenden Meinung des Richters Gaier2

„Die Entscheidung des Plenums trage ich zur ersten und dritten Vorlagefrage mit, der Beantwortung der zweiten Vorlagefrage stimme ich hingegen nicht zu.

Das Bundesverfassungsgericht wird gerne als Ersatzgesetzgeber bezeichnet; mit der nun getroffenen Entscheidung des Plenums läuft das Gericht Gefahr, künftig mit der Rollenzuschreibung als verfassungsändernder Ersatzgesetzgeber konfrontiert zu werden. Denn mit seiner Antwort auf die zweite Vorlagefrage schenkt das Plenum den Vorgaben des eigenen Gerichts zur Verfassungsinterpretation keine ausreichende Beachtung. Es wird weder der Wortlaut der einschlägigen Verfassungsnormen unter Berücksichtigung der Entstehungsgeschichte hinreichend gewürdigt […], noch erfolgt eine systematische Auslegung mit Blick auf die Einheit der Verfassung […] als „vornehmstes Interpretationsprinzip“ […]. Im Ergebnis hat die Auslegung der Regelungen zum Katastrophennotstand, die der Plenarbeschluss bei seiner Antwort auf die zweite Vorlagefrage zugrunde legt, die Wirkungen einer Verfassungsänderung. Deshalb folge ich dem Plenarbeschluss insoweit nicht.

I.

Das Grundgesetz ist auch eine Absage an den deutschen Militarismus, der Ursache für die unvorstellbaren Schrecken und das millionenfache Sterben in zwei Weltkriegen war. 1949 ist die Bundesrepublik Deutschland als Staat ohne Armee entstanden; schon die Einfügung der Wehrverfassung in das Grundgesetz im Jahr 1956 wird zu Recht „eine Wende in der Entwicklung der Bundesrepublik“ genannt […]. Dabei wurde durch Art. 143 GG in der Fassung von 1956 klargestellt, dass im Zuge der »Wiederbewaffnung« eine Befugnis zum Einsatz der Streitkräfte im Inneren selbst in Fällen des Notstandes nicht gegeben war […]. Nach diesem ersten folgte 1968 ein zweiter Schritt im Zuge der Implementierung der Notstandsverfassung in das Grundgesetz. Nun wurde der Einsatz der Streitkräfte auch im Inland zugelassen, allerdings nur in wenigen eng begrenzten Fällen, die zudem in der Verfassung ausdrücklich geregelt sein müssen (Art. 87a Abs. 2 GG). Dies sind der regionale und der überregionale Katastrophennotstand (Art. 35 Abs. 2 und 3 GG), der äußere Notstand (Art. 87a Abs. 3 GG) und der Staatsnotstand als qualifizierter Fall des inneren Notstandes (Art. 87a Abs. 4 GG). Dabei ist mit der Zulässigkeit des Einsatzes der Streitkräfte im Inneren noch keine Aussage über die Mittel getroffen, die hierbei zum Einsatz gelangen können. Vielmehr bleibt – wie vom Ersten Senat im Urteil vom 15. Februar 2006 […] erkannt – ein Einsatz spezifisch militärischer Waffen in Fällen des Katastrophennotstandes auch dann ausgeschlossen, wenn gemäß Art. 35 Abs. 2 Satz 2 oder Abs. 3 Satz 1 GG die Streitkräfte herangezogen werden dürfen. Bei beiden Verfassungsänderungen hat der Gesetzgeber also nicht aus dem Blick verloren, dass der Einsatz von Streitkräften im Inneren mit besonderen Gefahren für Demokratie und Freiheit verbunden ist und daher ebenso strikter wie klarer Begrenzung bedarf.

Auch und gerade seitdem nach der Notstandsgesetzgebung der Einsatz des Militärs im Inneren nicht mehr schlechthin unzulässig ist, bleibt strenge Restriktion geboten. Es ist sicherzustellen, dass die Streitkräfte niemals als innenpolitisches Machtinstrument eingesetzt werden. Abgesehen von dem extremen Ausnahmefall des Staatsnotstandes, in dem nur zur Bekämpfung organisierter und militärisch bewaffneter Aufständischer als letztes Mittel auch Kampfeinsätze der Streitkräfte im Inland zulässig sind (Art. 87a Abs. 4 GG), ist die Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit Aufgabe allein der Polizei. Ihre Funktion ist die der Gefahrenabwehr und nur über hierfür geeignete und erforderliche Waffen darf die Polizei verfügen; hingegen sind Kampfeinsätze der Streitkräfte auf die Vernichtung des Gegners gerichtet, was spezifisch militärische Bewaffnung notwendig macht. Beide Aufgaben sind strikt zu trennen. Hiermit zieht unsere Verfassung aus historischen Erfahrungen die gebotenen Konsequenzen und macht den grundsätzlichen Ausschluss der Streitkräfte von bewaffneten Einsätzen im Inland zu einem fundamentalen Prinzip des Staatswesens. Mit anderen Worten: Die Trennung von Militär und Polizei gehört zum genetischen Code dieses Landes […].

Wer hieran etwas ändern will, muss sich nicht nur der öffentlichen politischen Debatte stellen, sondern auch die zu einer Verfassungsänderung erforderlichen parlamentarischen Mehrheiten […] für sich gewinnen. Im Anschluss an das Urteil des Ersten Senats war demgemäß eine Änderung des Grundgesetzes beabsichtigt, um den am 11. September 2001 deutlich gewordenen Gefahren des internationalen Terrorismus effektiv begegnen zu können. Das Vorhaben scheiterte, weil sich – trotz der damaligen »großen« Regierungskoalition – für die von der Bundesregierung beabsichtigte Zulassung „militärischer Mittel“ generell in „besonders schweren Unglücksfällen“ im Bundestag nicht die erforderliche Mehrheit fand und allenfalls eine Begrenzung militärischer Kampfeinsätze zur Abwehr von Angriffen aus der Luft oder von See aus hätte erreicht werden können […] Der Plenarbeschluss gibt nun das, was für die Bundesregierung vor drei Jahren gegen einen der Koalitionspartner » und auch gegen die Stimmverhältnisse im Bundesrat – nicht durchsetzbar war. Selbst wenn man es unerträglich empfindet, dass die Streitkräfte hiernach bei terroristischen Angriffen untätig in der Rolle des Zuschauers verharren müssen, ist es nicht Aufgabe und nicht Befugnis des Bundesverfassungsgerichts korrigierend einzuschreiten.

II.

Nach meiner Ansicht schließt das Grundgesetz in seiner gegenwärtigen Fassung den Kampfeinsatz der Streitkräfte mit spezifisch militärischen Waffen sowohl in Fällen des regionalen (Art. 35 Abs. 2 Satz 2 GG) wie in Fällen des überregionalen (Art. 35 Abs. 3 Satz 1 GG) Katastrophennotstandes aus; insoweit ist also an der Auffassung des Ersten Senats im Urteil vom 15. Februar 2006 […] festzuhalten. [—]

1. Der Plenarbeschluss will zwar davon ausgehen, dass sich aus den Gesetzgebungsmaterialien „insgesamt kein klares Bild“ für einen bestimmten Willen des verfassungsändernden Gesetzgebers ergebe. Bei vollständiger Ausschöpfung der verfügbaren Quellen und bei Würdigung der dort dokumentierten Erklärungen im Zusammenhang vermag ich diese Einschätzung allerdings nicht zu teilen.

a) Unklarheiten können, anders als der Plenarbeschluss ausführt, nicht aus dem Protokoll über die gemeinsame Informationssitzung des Rechtsausschusses und des Innenausschusses des Bundestages am 30. November 1967 […] hergeleitet werden. [—] Im Bericht des Rechtsausschusses heißt es unmissverständlich […]:

„Der Hauptunterschied zur Regierungsvorlage liegt darin, dass die Schwelle für den Einsatz der Streitkräfte als bewaffnete Macht angehoben worden ist. Der Rechtsausschuss schlägt vor, den bewaffneten Einsatz der Bundeswehr nur dann zuzulassen, wenn dies zur Bekämpfung von Gruppen militärisch bewaffneter Aufständischer erforderlich ist […].“

Entgegen der Ansicht des Plenums, das die Bedeutung dieser Äußerung ins Ungewisse stellt („… muss nicht dahin verstanden werden …“), wird damit ein bewaffneter Einsatz auch in den Fällen des Katastrophennotstandes ausgeschlossen; denn diese Passage findet sich unter der Überschrift »Innerer Notstand« in dem Abschnitt des Berichts, der sich eingehend dazu verhält, dass die zuvor in der Regierungsvorlage zusammenfassend geregelten „Fälle des Inneren Notstandes“ nunmehr nach ihrem „sachlichen Inhalt“ getrennt in eigenen Vorschriften normiert werden sollen. [—]

b) Dies wird – entgegen der Ansicht des Plenums – durch weitere Quellen bestätigt. Ein anderes Verständnis trifft nicht die historischen Gegebenheiten im Umfeld der Verfassungsänderung des Jahres 1968. Das Plenum lässt völlig außer Acht, dass zur Zeit der Notstandsgesetzgebung eine weitergehende Zulassung des Einsatzes militärisch bewaffneter Einheiten der Streitkräfte im Inneren politisch nicht durchsetzbar gewesen wäre. Seit dem Bundestag im Jahre 1960 ein erster Entwurf vorgelegt worden war, kam es über Jahre hinweg zu grundlegenden politischen Diskussionen in der »angesichts der Erfahrungen mit der deutschen Geschichte« sensibilisierten Öffentlichkeit, die sich im Zuge der abschließenden Beratungen noch erheblich verschärften […]. So richtete sich der vor allem von den Gewerkschaften getragene Widerstand gegen die Notstandsverfassung in Sonderheit gegen die zutreffend erkannte Gefahr eines Einsatzes der Streitkräfte als innenpolitisches Machtinstrument gegen die Bevölkerung namentlich bei Arbeitskämpfen […]. [—]

2. [—] Gerade wegen der starken öffentlichen Kritik, die sich an dem Streitkräfteeinsatz im Fall des inneren Notstandes entzündet hatte, wandte sich der Rechtsausschuss gegen eine zusammenfassende Regelung, wie sie in dem vorangegangenen Regierungsentwurf vorgeschlagen worden war. Die Trennung der – als unproblematisch angesehenen – Regelung des Katastrophennotstandes einerseits von der des inneren Notstandes andererseits erfolgte, um die entstandene Debatte zu entpolitisieren und den Verdacht auszuräumen, dass mit dem Katastrophennotstand auch der innere Notstand bekämpft werden solle […]. Dies belegt einmal mehr, dass diese beiden Fälle des Streitkräfteeinsatzes im Inneren völlig unterschiedliche, sich nicht überschneidende Anwendungsbereiche haben und deshalb nicht durch die Zulassung spezifisch militärischer Bewaffnung auch in Fällen des Katastrophennotstandes vermengt werden dürfen. [—]

III.

Dem geschilderten Ergebnis einer historischen und systematischen Auslegung des Grundgesetzes entspricht die Rechtsauffassung des Ersten Senats im Urteil vom 15. Februar 2006, wonach „auch im Fall des überregionalen Katastrophennotstands ein Einsatz der Streitkräfte mit typisch militärischen Waffen von Verfassungs wegen nicht erlaubt ist“ […]. Ihm ließe sich aber auch noch dadurch Rechnung tragen, dass die im Plenarbeschluss dargestellte „Sperrwirkung“ des Art. 87a Abs. 4 GG als unüberwindliche Schranke des Einsatzes militärischer Waffen im Inland strikt eingehalten wird. Damit wäre der Einsatz militärspezifischer Waffen in Katastrophenfällen namentlich gegen Sachen – wie etwa bei dem gängigen Beispiel des Bombardierens von Deichen zur Herbeiführung einer kontrollierten Überflutung – zu rechtfertigen. Das Plenum will diesen Weg zwar beschreiten und bringt dies scheinbar auch im Beschlusstenor mit der Antwort auf die zweite Vorlagefrage zum Ausdruck. Allerdings erfährt der Tenor durch die anschließenden Gründe des Beschlusses eine entscheidende Ausdehnung, die als tragende Begründung letztlich für das Verständnis und die Wirkungen der Entscheidung des Plenums maßgeblich ist […]. Damit macht das Plenum den Ansatz einer „strikten Begrenzung“ durch Art. 87a Abs. 4 GG selbst zur Makulatur; denn der „Sperrwirkung“ wird nur „grundsätzlich“ Geltung beigelegt, was es ermöglicht, Inlandseinsätze der Streitkräfte mit militärischer Bewaffnung auch dann zuzulassen, wenn es gilt, einem „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in Kürze“ eintretenden „katastrophalenSchaden“ entgegenzuwirken, der auch durch absichtliches Handeln verursacht sein kann.

1. Vieles spricht dafür, dass die Vorstellungen des verfassungsändernden Gesetzgebers bei Regelung des Katastrophennotstandes in Art. 35 Abs. 2 und 3 GG neben Naturkatastrophen – wie der Hamburger Sturmflut 1962 – nur auf besonders schwere Unglücksfälle im Sinne schicksalhafter, zufälliger Verläufe gerichtet waren (vgl. etwa die Beispiele […] »Explosionsunglück« oder »Kollission von Öltankern in Küstennähe«). Der Erste Senat hat den Begriff des Unglücksfalls jedoch auch für solche Schadensereignisse geöffnet, die „von Dritten absichtlich herbeigeführt werden“ […]. Erst damit konnte es zu Überschneidungen mit der Regelung des (inneren) Staatsnotstandes in Art. 87a Abs. 4 GG kommen, der unter engen Voraussetzungen einen Waffeneinsatz der Streitkräfte nur gegen organisierte und militärisch bewaffnete Aufständische erlaubt.

Will man daher mit dem Ersten Senat den Einsatz militärischer Waffen in den Fällen des Art. 35 Abs. 2 und 3 GG nicht schon generell untersagen, so ist zur Wahrung der in der Verfassung angelegten strikten Trennung zwischen Katastrophennotstand einerseits und innerem Notstand andererseits ein geeignetes Kriterium zu finden, das Umgehungen der streng restriktiven Regelung für Kampfeinsätze in Art. 87a Abs. 4 GG zwingend und effektiv vermeidet. Dazu ist es notwendig, den Zweck der verfassungsrechtlichen Trennung beider Einsätze ernst zu nehmen. Es ging darum, den Katastrophenschutz durch Unterstützung der Streitkräfte zu verbessern, gleichzeitig aber die damit faktisch auch eröffnete Möglichkeit zu verschließen, das Militär als innenpolitisches Machtinstrument zu nutzen […]. Selbst wenn Gewalttätigkeiten oder Unruhen drohen sollten, die in ihren Folgen das Ausmaß besonders schwerer Unglücksfälle erreichen, dürfen bewaffnete Streitkräfte im Inneren nicht etwa dazu eingesetzt werden, um allein schon durch ihre Präsenz die Bevölkerung etwa bei Demonstrationen einzuschüchtern. Um dieses Ziel zu erreichen, muss Art. 87a Abs. 4 GG eine Sperrwirkung beigelegt werden, die es verhindert, dass bewaffnete Streitkräfte gegen Menschen zum Einsatz kommen, die vorsätzlich die öffentliche Sicherheit gefährden, selbst wenn sie sich absichtlich und in aggressiver Weise gegen den Staat wenden und sich hierbei strafbar machen sollten. Die Bekämpfung solcher Gefährdungen ist selbstverständlich zulässig und geboten, aber sie ist nach dem geltenden Verfassungsrecht in Deutschland eine ausschließlich polizeiliche, nicht jedoch eine militärische Aufgabe. Dies bestätigt die Verfassung selbst durch Art. 91 GG. Denn sogar wenn es zu einer Gefahr für den Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung des Bundes oder eines Landes kommt, sieht Art. 91 GG für diesen Fall des inneren Notstandes nur den Einsatz von Polizeikräften anderer Länder oder der Bundespolizei vor, nicht aber den Einsatz der Streitkräfte. Deren Heranziehung macht Art. 87a Abs. 4 GG schon für den bloßen Objektschutz vielmehr von weiteren Voraussetzungen abhängig, wobei der Einsatz von Waffen in jedem Fall nur gegen organisierte und militärisch bewaffnete Aufständische zulässig ist […]. Mit den Waffen des Militärs dürfen also nur Personengruppen bekämpft werden, die selbst militärisch bewaffnet sind, sich gegen den Staat erhoben haben und über ein System der Einsatzleitung verfügen […].

2. Der Plenarbeschluss geht darüber hinaus. Er ist zwar von der redlichen und anerkennenswerten Absicht getragen, den bewaffneten Einsatz der Streitkräfte im Inneren restriktiv zu halten, setzt sich aber über die selbst erkannte Sperrwirkung hinweg und kann daher mit den von ihm entwickelten Kriterien eine Umgehung der engen Voraussetzungen des inneren Notstandes nach Art. 87a Abs. 4 GG durch die weniger strengen Voraussetzungen des Katastrophennotstandes nicht verhindern. Durch den Versuch der weiteren Einhegung des Art. 35 Abs. 2 und 3 GG durch das Erfordernis eines zwar nicht das „Vorfeld“ eines Unglücksfalls erfassenden, gleichwohl aber „unmittelbar bevorstehenden“ Schadenseintritts „von katastrophischen Dimensionen“ wird die Rechtsanwendung zwar um neue Begrifflichkeiten bereichert, nicht aber um die nötige Klarheit und Berechenbarkeit. Es handelt sich um gänzlich unbestimmte, gerichtlich kaum effektiv kontrollierbare Kategorien, die in der täglichen Anwendungspraxis viel Spielraum für subjektive Einschätzungen, persönliche Bewertungspräferenzen und unsichere, wenn nicht gar voreilige Prognosen lassen. Jedenfalls bei Inlandseinsätzen militärisch bewaffneter Streitkräfte ist das nicht hinnehmbar. Im Schatten eines Arsenals militärischer Waffen kann freie Meinungsäußerung schwerlich gedeihen. Wie ist beispielsweise zu verhindern, dass im Zusammenhang mit regierungskritischen Großdemonstrationen – wie etwa im Juni 2007 aus Anlass des »G8-Gipfels« in Heiligendamm – schon wegen befürchteter Aggressivität einzelner teilnehmender Gruppen „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in Kürze“ eintretende massive Gewalttätigkeiten mit „katastrophalen Schadensfolgen“ angenommen werden und deswegen bewaffnete Einheiten der Bundeswehr aufziehen? Der bloße Hinweis des Plenums, dass Gefahren, die „aus oder von einer demonstrierenden Menschenmenge drohen“, nicht genügen sollen, kann in diesen Fällen die selbst definierten Einsatzvoraussetzungen kaum wirksam suspendieren.

3. Dass die vom Plenarbeschluss entwickelte Lösung einer überzeugenden dogmatischen Grundlage entbehrt, kommt hinzu. Wie es angesichts der auch im Plenarbeschluss anerkannten Sperrwirkung zulässig sein kann, diese gleichwohl -und sei es auch nur in besonders qualifizierten Unglücksfällen – bei Seite zu schieben und den Einsatz bewaffneter Streitkräfte auch dann zuzulassen, wenn die Voraussetzungen des Art. 87a Abs. 4 GG nicht vorliegen, erschließt sich nicht und wird in der Entscheidung nicht begründet. Eine Begründung lässt sich auch schwerlich finden; denn wenn – bildlich gesprochen – das Öffnen einer Tür verboten ist, dann kann es nicht erlaubt sein, sie auch nur einen Spalt weit zu öffnen.

IV.

Letztlich wirft der Plenarbeschluss auch die Frage auf, was durch den nun erweiterten Einsatz bewaffneter Streitkräfte im Inneren an Vorteilen für den Schutz der Bevölkerung namentlich vor terroristischen Angriffen erreicht werden kann. Die Antwort lautet: wenig bis nichts.

1. Angesichts des beim Zweiten Senat anhängigen Normenkontrollverfahrens wird darüber zu befinden sein, welche Vorschriften des Luftsicherheitsgesetzes zur Abwehr besonders schwerer Unglücksfälle durch den Einsatz bewaffneter Einheiten der Streitkräfte verfassungsrechtlichen Bestand haben können. Auf der Grundlage des Plenarbeschlusses mag es de lege lata [nach geltendem Recht] zulässig sein, dass Kampfflugzeuge unter den Voraussetzungen des § 14 Abs. 1 LuftSiG „Luftfahrzeuge abdrängen, zur Landung zwingen, den Einsatz von Waffengewalt androhen oder Warnschüsse abgeben“. Die erfolgreiche Gefahrenabwehr durch solche Maßnahmen wird allerdings insbesondere in »Renegade«-Fällen deshalb wenig wahrscheinlich sein, weil Konsequenzen in Form eines Abschusses unzulässig sind, nachdem die – eine „unmittelbare Einwirkung mit Waffengewalt“ gestattende – Vorschrift des § 14 Abs. 3 LuftSiG durch das Urteil des Ersten Senats für verfassungswidrig und nichtig erklärt worden ist […]. Hingegen kann der deutsche Gesetzgeber den Abschuss solcher Flugzeuge nicht erlauben, in denen sich – wie bei den terroristischen Angriffen am 11. September 2001 – Passagiere und Besatzungsmitglieder befinden, die selbst Opfer der Luftpiraten geworden sind. Insoweit hat auch der Plenarbeschluss nichts daran geändert, dass die den Umständen nach wahrscheinliche Tötung dieser Menschen mit dem Grundrecht auf Leben (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) in Verbindung mit der Garantie der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) unvereinbar ist. Es kommt hinzu, dass – auch nach der Auffassung des Plenums – ohne Verfassungsänderung allein die Bundesregierung nach Maßgabe des Art. 35 Abs. 3 Satz 1 GG über den Einsatz militärischer Waffen gegen Luftfahrzeuge befinden kann, was angesichts des vergleichsweise kleinen deutschen Luftraums kaum jemals rechtzeitig zu einer Maßnahme nach § 14 Abs. 1 LuftSiG oder – nach gesetzlicher Neuregelung – zu einem eingeschränkt zulässigen Abschuss eines Luftfahrzeugs führen wird. Soll danach der Rahmen, den das materielle Verfassungsrecht für eine effektive Abwehr von Gefahren aus dem Luftraum lässt, genutzt werden, so ist trotz der erweiterten Zulässigkeit von Kampfeinsätzen nach der Entscheidung des Plenums eine Verfassungsänderung gleichwohl unvermeidlich.

2. Es lässt sich nicht leugnen und ist positiv zu bewerten, dass die Antwort des Plenums deutlich hinter dem aus der Vorlagefrage ersichtlichen Anliegen des Zweiten Senats zurückbleibt, das auf eine Umgestaltung der Regelungen des Katastrophennotstandes hin zu einer subsidiären allgemeinen Gefahrenabwehr mit militärischen Waffen zielte. Gleichwohl hat das Plenum aber zugunsten eines geringen, praktisch kaum realisierbaren Gewinns an Sicherheit die Zulässigkeit des Einsatzes der Streitkräfte im Inneren mit Hilfe derart unbestimmter Rechtsbegriffe erweitert, dass militärische Einsätze zu innenpolitischen Zwecken nicht ausgeschlossen werden können. Für einen kaum messbaren Nutzen wurden fundamentale Grundsätze aufgegeben. Daher wäre es ein fataler Fehler, sich angesichts der Entscheidung des Plenums damit zu trösten, dass der Berg gekreißt, aber nur eine Maus geboren hat.

Anmerkungen

1) Die Auslassungszeichen im Plenarbeschluss kennzeichnen Verweise auf juristische Literatur bzw. eine Auflistung von 25 Grundgesetzartikeln, die hier der besseren Lesbarkeit wegen nicht mit abgedruckt werden. Das Urteil vom 3. Juli 2012 steht einschließlich der ausführlichen Begründung des Gerichts und der abweichenden Meinung des Richters Gaier unter bverfg.de/entscheidungen online.

2) Auch hier wurden zur besseren Lesbarkeit Verweise z.B. auf Urteile oder juristische Literatur gestrichen und durch Auslassungszeichen markiert. Kürzungen im Text sind durch [—] gekennzeichnet.

Bundesverfassungsgericht – Minderheitenvotum

Deutsche Marine:

Deutsche Marine:

Strategie und Aufrüstung

von Lühr Henken

Auch in Deutschland spielen die Marine und die Kriegführung zur See eine immer wichtigere Rolle. Der nachfolgende Artikel beleuchtet die dahinter stehenden strategischen Überlegungen sowie die konkreten maritimen Rüstungsprojekte der Bundeswehr.

Piraterie, Rohstoffabhängigkeit Deutschlands und die wachsende Bedeutung des Seetransports sind Schlagworte, die die Marine in ihrem Wettbewerb mit Heer und Luftwaffe um knappe Finanzmittel nicht ruhen lassen. Marineinspekteur Axel Schimpf bezeichnet bereits „das 21. Jahrhundert mehr denn je als das maritime Jahrhundert“. (S&T 3/2011, S.40)

Die deutsche Marineführung hat schon 2008 in der »Zielvorstellung Marine 2025+« (ZVM) langfristige Überlegungen darüber angestellt, „was künftig wo mit welcher Ausprägung durch die Marine zu leisten ist“. Das Grundlagendokument gibt der deutschen Marine zwei Schwerpunkte vor: die „Expeditionary Navy“ („project“) und den „Schutz von Seewegen und Seeräumen“ Deutschlands und seiner Verbündeten („protect“).

Freier Zugang zu Rohstoffen

Die ZVM des Vizeadmirals Wolfgang Nolting prognostiziert für die Zeit bis „2025+“, „dass das Potenzial für gewaltsame Konflikte weiterhin hoch [bleibt], wobei Auseinandersetzungen mit halbstaatlichen und nichtstaatlichen Gegnern durch asymmetrische Formen der Kriegführung gekennzeichnet sein werden. In Konflikten mit Beteiligung staatlicher Akteure können jedoch auch klassische militärische Mittel zum Einsatz kommen. Eine sich absehbar verschärfende Konkurrenz um den Zugang zu Rohstoffen und anderen Ressourcen erhöht das zwischenstaatliche Konfliktpotenzial. Konventionelle reguläre Seestreitkräfte regionaler Mächte können dabei den freien und ungehinderten Welthandel als Grundlage des deutschen und europäischen Wohlstands ebenso gefährden, wie kriminelle oder terroristische Bedrohungen der maritimen Sicherheit.“ Folglich „werden Versorgungs- und Energiesicherheit ein höheres Gewicht erhalten“. (ZVM, S.1)

Bereits im »Weißbuch« der Bundeswehr von 2006 wurde das Interesse an der „Sicherheit der Energieinfrastruktur“ von der Quelle bis zum Endverbraucher formuliert. Diese Interessenlage floss ein in neue »Verteidigungspolitische Richtlinien« (VPR) vom 27. Mai 2011, das verbindliche Dokument deutscher Militärpolitik: „Zu den deutschen Sicherheitsinteressen gehört, […] einen freien und ungehinderten Welthandel sowie den freien Zugang zur Hohen See und zu natürlichen Ressourcen zu ermöglichen.“ (VPR, S.5) Mit dem Anspruch auf „freien Zugang […] zu natürlichen Ressourcen“ wird der Weg zur grundgesetzwidrigen Führung von Wirtschaftskriegen bereitet. So wittern die Marineplaner als Folge des Klimawandels „weiteres Konfliktpotenzial“ darin, dass der „Zugriff auf bisher unzugängliche Ressourcen (z.B. Nordpolarmeer)“ möglich wird. (ZVM, S.2)

Landkrieg von See

Da Deutschland „Bedrohungen und Risiken bereits dort begegnen können [muss], wo sie entstehen“, müsse die Marine zudem „in der Lage sein, dauerhaft, auch in großer Entfernung, im multinationalen Rahmen und unter Bedrohung vor fremden Küsten operieren zu können. Die Marine hat sich künftig noch stärker auf streitkräftegemeinsame Operationen auszurichten und ihre Fähigkeiten auszubauen, Kräfte an Land von See aus zu unterstützen. Die Weiterentwicklung der Marine zu einer Expeditionary Navy steht dabei im Vordergrund.“ (ZVM, S.3) Das Ansinnen der Marineplanung: Künftig sollen von Kriegsschiffen aus unter Beteiligung von Heer und Luftwaffe Landkriege führbar sein („Basis See“).

Schon 2007 hatte Marineinspekteur Nolting versucht, für den expansiven Drang auf die Weltmeere Begründungen zu liefern: „Über den möglichen Schutz ziviler Schifffahrt in gefährdeten Regionen hinaus, müssen wir die Weltmeere auch als größtes militärisches Aufmarsch- und Operationsgebiet begreifen. Nach Schätzung von Experten werden 2020 über 75 Prozent der Weltbevölkerung innerhalb eines nur 60 km breiten Küstenstreifens leben. Wir reagieren auf diesen Umstand, indem wir unsere Marine aktuell zu einer »Expeditionary Navy« weiterentwickeln. Wir müssen Fähigkeiten entwickeln, die uns künftig die Teilhabe an teilstreitkraftgemeinsamen und multinationalen Szenarien bis in entfernte Randmeerregionen ermöglichen.“ (S&T 4/2007, S.10) Ideengeber dieser aufgebauschten Behauptung über küstennahe Siedlungen war der damalige Vorsitzende der Vereinten Stabschefs der USA, Admiral Mike Mullen. Er behauptete 2005, dass mehr als 50% der Menschen in einem 30 km breiten Küstenstreifen leben würden. (Mullen 2005) Exakt diese falsche Behauptung wurde in die ZVM übernommen. Real dürfte es derzeit lediglich ein Viertel bis ein Drittel aller Menschen sein, die Küstenstreifen bewohnen.

Mädchen für alles?

„Im Sinne einer präventiven Sicherheitspolitik und Gefahrenabwehr“ seien für die Marine vor allem Einsätze auch „außerhalb der deutschen Küstengewässer erforderlich. Hierzu gehört insbesondere die Bekämpfung des internationalen Terrorismus. Es können aber auch Beiträge zur Bekämpfung des Drogen- und Waffenschmuggels, der illegalen Immigration und des Menschenhandels und der Piraterie erforderlich werden.“ (ZVM, S.5) Die Marineführung strebt also eine völlige Entgrenzung des Einsatzgebietes an, wobei sie sich auch die Zuständigkeit für die Bekämpfung von Schwerkriminalität – eine polizeiliche Aufgabe – anmaßt.

Marineinspekteur Schimpf sagt, „der Seeverkehr ist und bleibt die zuverlässigste, wirtschaftlichste und – wenn wir angemessen dafür Sorge tragen – die sicherste Option für den weltweiten Warenaustausch. Die heutigen Wirtschaftsprozesse sind aber ohne sichere Seeverbindungen nicht mehr denkbar.“ (S&T 3/2011, S.40) Schimpf macht nicht nur eine Gefährdung der Seefahrt am Horn von Afrika aus, sondern auch „in anderen Gewässern wie zum Beispiel dem Golf von Guinea“. (Ebd.)

Offenbar war das Lobbying der Marine im Verteilungskampf mit den Teilstreitkräften um Ressourcen erfolgreich. Die Marine muss im Zuge der Bundeswehrreform am wenigsten Federn lassen. Während Heer und Luftwaffe bis zu 35% ihrer Soldatenzahl verlieren sollen, sind es bei der Marine lediglich 13%.

Für die Marine wurden zudem extrem kostspielige und militärisch hocheffiziente schwimmende Waffensysteme aufgelegt.

Fregatten

Der Bundestag hat vier neue Fregatten des Typs F125 in Auftrag gegeben, die mit je zwei Bordhubschraubern ausgerüstet werden sollen, so dass sie sich vor allem zur Piratenbekämpfung eignen. Diese 150 m langen Kriegsschiffe sind mit einer Einsatzverdrängung von 7.200 Tonnen die größte Fregattenklasse der Welt und aufgrund ihrer Größe und Rolle eigentlich im Bereich der Zerstörer anzusiedeln. Komplett neu an diesen Fregatten ist ihr Antriebssystem, das einen ununterbrochenen Aufenthalt von bis zu 24 Monaten (bisher bis zu neun Monaten) auf See ermöglicht. Auf den vier Kriegsschiffen werden sich acht Mannschaften im Rhythmus von vier Monaten ablösen. Die F125 ersetzen die acht Fregatten der Klasse F122, die mit einer Verdrängung von knapp 4.000 Tonnen wesentlich kleiner sind. Die F125 haben Tarnkappeneigenschaften und sind auf Multifunktionalität ausgelegt. So werden außenbords vier Speed-Boote angebracht, mit denen bis zu 50 Spezialkräfte (Kampfschwimmer und Boarding-Teams des »Seebataillons«) von Bord gelassen werden können, um an Land zu gehen oder Schiffe zu entern. Über eine weitere Funktion der F125 schrieb Vizeadmiral Nolting: „Eine Stärke liegt dabei in der Fähigkeit, Operationen in einem Einsatzland mit Waffenwirkung von See zu unterstützen.“ (S&T 4/2007, S.14) Gemeint ist der seeseitige Beschuss von Landzielen. Als Bewaffnung wurde speziell dafür ein Geschütz mit einer Reichweite von bis zu 23 km ausgewählt, dessen Reichweite auf bis 100 km ausbaufähig ist (Vulcano-Munition). Darüber hinaus können von den F125 aus Landoperationen von Heer und Luftwaffe geführt werden. Die vier Fregatten sollen von 2016 bis 2018 ausgeliefert werden. Ihr Stückpreis liegt bei 707 Mio. Euro.

Korvetten

Als weitere Plattform für die Unterstützung von Landkriegen wurden für die deutsche Marine fünf Korvetten hergestellt. Über sie ist im »Weißbuch« der Bundeswehr aus dem Jahr 2006 zu lesen: „Mit den Korvetten K130 verbessert die Marine künftig ihre Durchsetzungs- und Durchhaltefähigkeit. Diese Eingreifkräfte der Marine werden zur präzisen Bekämpfung von Landzielen befähigt sein und damit streitkräftegemeinsame Operationen von See unterstützen.“ (Weißbuch, S.113). Die Kriegsschiffe mit geringem Tiefgang haben ebenfalls Tarnkappeneigenschaften und sind jeweils mit vier Marschflugkörpern bestückt, die aus 250 km Entfernung (S&T 11/2011, S.57) auch Ziele an Land treffen können. Sie fliegen in einem Meter Höhe über der Wasseroberfläche, sind extrem störsicher, können in Salven verschossen werden und ermöglichen damit der deutschen Marine sogar Überraschungsangriffe. Konstruktionsfehler verzögerten ihre Indienststellungen, so dass damit erst 2014 zu rechnen ist. Kostenpunkt: mindestens 2,2 Mrd. Euro. Das Nachfolgeprojekt Korvette K131 ist zugunsten eines größeren Projekts aufgegeben worden.

Mehrzweckkampfschiffe

In Planung ist nunmehr eine komplett neue Kampfschiffklasse: das Mehrzweckkampfschiff 180 (MKS180). Es soll multifunktionale Aufgaben übernehmen und weltweit einsatzfähig sein. Beabsichtigt ist die Herstellung eines nahezu universell einsatzfähigen »Arbeitspferdes« („Schweizer Armeemesser“ für die Marine), das je nach Auftrag – das kann u.a. Verbandsführung, Minenjagd oder die U-Boot-Jagdaufklärung sein – modular ausgerüstet wird. Das MKS180 soll einen Hubschrauber und zwei senkrecht startende Flugdrohnen sowie zwei Speed-Boote für Spezialkräfte erhalten. Schiffsantrieb und Einsatzprofil sollen dem der Fregatte F125 ähneln. Größenmäßig wird es zwischen Fregatte und Korvette angesiedelt. Die Marine gibt den Bedarf mit sechs MKS an. Derzeit wird von einer Indienststellung für 2020 ausgegangen – vorausgesetzt, das Geld wird bewilligt. (S&T 12/2011, S.58ff.)

Einsatzgruppenversorger

Die deutsche Marine verfügt über zwei Einsatzgruppenversorger (EGV), die mit 20.000 t die größten deutschen Marineschiffe nach 1945 sind. Sie liefern der Einsatzgruppe Proviant, Betriebsstoff und Munition. Ihr Einsatz erhöht die landungebundene Stehzeit der Einsatzgruppe von 21 auf 45 Tage, so dass Dauer und Reichweite der Einsätze buchstäblich weltweit ausgedehnt werden können. Im September 2012 soll der dritte EGV an die Bundeswehr übergeben werden.

U-Boote

Im Dienst der deutschen Marine stehen die kampfstärksten konventionell angetriebenen U-Boote der Welt. Von Außenluft unabhängige Brennstoffzellen sorgen für den Antrieb, wodurch etwa drei Wochen lange ununterbrochene Tauchfahrten um den halben Globus möglich sind. Die U-Boote sind leiser als US-amerikanische Atom-U-Boote und von Marinen außerhalb der NATO bisher nicht zu orten. Mit ihren 50 km weit reichenden Schwergewichtstorpedos SEEHECHT stellen sie eine strategische Waffe dar. Die U-Boote sind auch im Flachwasser manövrierfähig und können einen Küstenstreifen von 800 km Länge kontrollieren. Sie können nicht nur Überwasserschiffe versenken, sondern auch U-Boote. Zurzeit verfügt die deutsche Marine über vier dieser U-212. Zwei weitere sind im Bau (zweites Los, Kosten 929 Mio. Euro) und sollen bis Mitte 2014 in Dienst gestellt werden.

Nicht nur der Antrieb dieser U-Boote ist revolutionär, sondern auch ihre Bewaffnung ist einzigartig. Ein für das Heer in den 1990er Jahren entwickelter Flugkörper (POLYPHEM) wurde für den Unterwasserstart adaptiert. Mit der deutschen Entwicklung IDAS (Interactive Defence & Attack System for Submarines) lassen sich U-Jagd-Hubschrauber, aber auch Schiffe und insbesondere Ziele an Land zerstören. IDAS wickelt im Flug ein Glasfaserkabel ab, über das der Schütze an Bord des U-Bootes mittels der Infrarot-Kamera in der Spitze des Flugkörpers sowohl ein Echtzeitbild vom überflogenen Gebiet erhält als auch den Flugkörper – abweichend vom einprogrammierten Pfad – ins Ziel steuern kann. Mit einer Zielabweichung von unter 50 cm lassen sich mit Hilfe des 15 kg-Sprengkopfes noch Ziele in Entfernungen von bis zu 100 km zerstören. Die zwei U-Boote des zweiten Loses können mit je vier IDAS bestückt werden – vorbehaltlich ihrer Beschaffung. Diese weltweit einzigartige Bewaffnung eröffnet den U-Booten völlig neue Möglichkeiten für Offensiven an Land. Da diese beiden U-Boote an die »Vernetzte Operationsführung« angebunden werden sollen, erhalten sie Lagebilder vom Land in Echtzeit. Die Machtentfaltung kann sich somit – für Gegner unentdeckbar – auf sämtliche Küstensiedlungen insbesondere Afrikas, des Mittleren Ostens und Asiens ausdehnen.

Wunschliste

Auf der Wunschliste der Militärführung stehen außerdem zwei Schiffe für die „gesicherte militärische Seeverlegefähigkeit“. Damit sind Truppen- und Materialtransporter („Joint Support Ships“) mit 15.-20.000 t Verdrängung gemeint. „Dieses Schiff ist ein entscheidender Schlüssel zur Nutzung der See als Basis für streitkräftegemeinsame Einsätze von See an Land“, sagt Marineinspekteur Schimpf (2011) und meint mit streitkräftegemeinsam das Zusammenwirken von Marine, Heer und Luftwaffe. Die Finanzierung dieses Marinewunsches ist allerdings noch nicht gesichert.

Kampf um Hegemonie

Das Argument der Marineführung für ihre „Konzentration auf klassische Seekriegsmittel und besondere Fähigkeiten der Küstenkriegführung“ (ZVM, S.18) beruht auf einem Vergleich der deutschen Marine mit jenen anderer europäischer Länder. „Die Grobanalyse der wesentlichen Unterschiede zu den Marinen von Frankreich, Großbritannien, Italien und Spanien ergab, dass deren Stärken im Wesentlichen aus ihren Flugzeugträgern, amphibischen Fähigkeiten und der Führungsfähigkeit auf MCC-Ebene in See bestehen“ (MCC = Maritime Component Command), während „die Stärken der deutschen Marine vor allem in ihren Fähigkeiten zu Operationen in Küstenregionen, der Durchhaltefähigkeit im Bereich herkömmlicher Seekriegsmittel (Escorts, U-Boote) sowie in der Qualität der Ausbildung und des Materials“ lägen. (ZVM, S.16f). Um gemeinsam operieren zu können, haben Großbritannien und Frankreich den Vorschlag unterbreitet, dass ihre beiden Marinen die Flugzeugträger stellen und Deutschland die Fregatten, U-Boote und Versorger. Die deutsche Marineführung lehnt das strikt ab. Denn dann hätten jene Länder die Führung inne, die die Flugzeugträger stellten. Das „kann nicht in deutschem Interesse sein, sofern Deutschland damit von der gleichberechtigten Führung ausgeschlossen ist“. (ZVM, S.17) Deshalb plädiert die deutsche Marineführung für „verbesserte Führungsfähigkeiten“. Und siehe da: Auf den neuen Fregatten F125 soll zusätzlich eine Operationszentrale zur Verfügung gestellt werden, die es einem eingeschifften Einsatzstab ermöglicht, Führungsaufgaben innerhalb eines internationalen Verbandes wahrzunehmen („Basis See“). Die deutsche Marine möchte also auch selbst den Flugzeugträgerverband führen können. Man beabsichtigt offensichtlich Größeres.

Die derzeitigen Einsätze der deutschen Marine im Mittelmeer, im Indischen Ozean und in den ständigen NATO-Verbänden sind nur Vorübungen für das, was folgen soll. Die Marine verfügt nunmehr über ein auf weltweites Agieren ausgerichtetes Konzept. Mittels sehr schlagkräftiger Offensivmittel soll militärisch – zwar im internationalen Verbund, aber durchaus in vorderster Front – auf fremdes Gebiet eingewirkt werden können. Im Jahr 2020 werden der deutschen Marine hierfür nach gegenwärtigen Planungen u.a. elf Fregatten (mit Bordhubschraubern), fünf Korvetten, drei Einsatzgruppenversorger und sechs U-Boote der Klasse 212 zur Verfügung stehen.

Literatur

Inspekteur der Marine (2008): Zielvorstellung Marine 2025+. Nur für den Dienstgebrauch, datiert 6.11.2008, 40 S.

Interview mit Vizeadmiral Axel Schimpf, Inspekteur der Marine (2011); hardthoehenkurier.de.

Remarks as delivered by Adm. Mike Mullen Naval War College, Newport, RI, 31 August 2005; navy.mil/navydata/cno/speeches/mullen050831.txt.

Strategie & Technik (S&T), erscheint monatlich im Report Verlag.

Weißbuch zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr, Bonn, 30. Oktober 2006.

Lühr Henken, Berlin, ist einer der Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag und im Beirat der Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V.

Schleichende Militarisierung

Schleichende Militarisierung

von Jürgen Nieth

„Verteidigungsminister de Maizière hatte beim Libyen-Konflikt nicht ausgeschlossen, dass man sich hier schone, um später Israel beistehen zu können – das ist mal so am Rande durchgegangen“, schreibt Friedrich Küppersbusch am 12.03.12 in der taz.

Die leisen Töne des »Neuen« gegenüber den großspurigen (auf die Medien orientierten) Auftritten seines Vorgängers zu Guttenberg scheinen tatsächlich dazu angetan, dass manches fast unbeachtet durchgeht. Zum Beispiel während seiner ersten großen Dienstreise nach Nordamerika im Februar. Veröffentlicht wurde nur seine Abschlussrede an der Harvard-Universität in Massachusetts. Das hat Gründe, denn was aus den Notizen der ihn begleitenden Journalisten in die deutschen Medien gelangte, zeigt zusammengesetzt ein Bild von einer geplanten Militarisierung der deutschen Politik, die erschreckt.

Militärdrehkreuz Köln-Bonn

Von einer gemeinsamen Pressekonferenz de Maizières mit dem kanadischen Verteidigungsminister, Peter MacKay, zum Auftakt der Reise berichtet die Süddeutsche Zeitung (15.02.12, S.6): Die beiden Minister haben vereinbart, dass der Flughafen Köln-Bonn zum „europäische[n] Stützpunkt eines weltweiten Netzes von Drehkreuzen der Kanadier werden [soll]. Mit Blick auf die Fluglärm-Debatten in Deutschland hob de Maizière hervor, dass die Entscheidung für Köln auch wegen der Möglichkeit von Nachtflügen gefallen sei. »Dies ist ein strategischer Vorteil, den muss man bewahren«, sagte der Minister.“ Eine vorherige Vorort-Absprache hielt der Minister offensichtlich nicht für notwendig. Der Kölner Flughafenchef, Michael Carvens, lehnte jedenfalls umgehend „kanadische Militärflüge ab, »vor allem zur Nachtzeit«“. (taz, 18.02.12, S.6)

Afghanistan-Einsatz nach 2014

Mit dem kanadischen Verteidigungsminister kam es auch zu einem Gedankenaustausch über den kanadischen Abzug aus Afghanistan. Ein Großteil der kanadischen Truppen wurde über den Flugplatz Spangdahlem nach Kanada zurück gebracht. Dazu die Financial Times Deutschland (15.02.12, S.12): „Allerdings hat sich Kanada nicht vollständig zurückgezogen, sondern unterstützt die NATO weiter mit einer [950 Soldaten umfassenden] Ausbildungsmission.“ Auch die Deutschen wollen nach de Maizière gehen, um zu bleiben. Weiter die FTD: „De Maizière sagte, man müsse vor und nach dem Abzug stets dafür sorgen, »dass unsere Soldaten geschützt sind«. Auch eine reine Ausbildungsmission, wie sie für die Zeit nach 2014 geplant ist, brauche ein sicheres Umfeld, das man gerade erst schaffe.“

Verdienstkreuz für Petraeus

Der Krieg in Afghanistan ist zwar verloren, aber er liegt dem Verteidigungsminister am Herzen. So überreichte er am 14. Februar in der deutschen Botschaft in Washington dem Chef des amerikanischen Geheimdienstes CIA, David Petraeus, das »Große Verdienstkreuz mit Stern« für seinen Einsatz als Kommandeur des Isaf-Einsatzes. Dazu die FAZ (16.02.12, S.5): „Petraeus kommandierte 2007 und 2008 die amerikanischen Truppen im Irak, von Juli 2010 bis Juli 2011 war er Isaf-Befehlshaber am Hindukusch. In diesem Zeitraum erreichte die Isaf mit rund 140.000 Soldaten ihre größte Mannschaftstärke.“ Sie zitiert aus der Begründung von de Maizière: „Ihr Name ist verbunden mit der Wende in Afghanistan nach zehn Jahren Kampfeinsatz.“ Der Verteidigungsminister erwähnte nicht, woran er diese Wende festmacht.

Beteiligung an der US-Raketenabwehr

Die US-Regierung muss sparen. „Mit Fort Bliss, dem Ausbildungszentrum in der texanischen Grenzstadt El Paso, schließt ein Traditionsstandort in den USA. Dort kümmern sich derzeit 170 Soldaten um die Schulung von Spezialisten an den Luftabwehrraketen vom Typ Patriot.“ (Lübecker Nachrichten, 17.02.12, S.6) Die bisher hier stationierten deutschen Soldaten sollen jetzt nach Husum (Schleswig-Holstein) verlegt werden.

Wegen Sparvorgaben droht auch dem „einzigen transantlantischen Rüstungsprojekt […] das vorzeitige Aus.“ Die US-Regierung erwägt, „noch vor dem Ende der Entwicklungsphase aus dem milliardenschweren Raketenabwehrsystem Meads auszusteigen“, schreibt die Financial Times Deutschland (17.02.12, S.10) Und weiter. „Sollten die USA ausscheren, wäre der Abschluss der Entwicklung inklusive zweitem Testschuss kaum möglich. Die Bundesregierung hat jedoch ein großes Interesse an belastbaren Ergebnissen, die sie für die Aufrüstung des Patriotsystems oder ein neues Abwehrsystem nutzen könnte.“

Da wird verständlich, warum de Maizière in Texas anbietet, „dass das »bewährte Patriot-System auch dazu geeignet ist, einen deutschen Beitrag beim Aufbau einer europäischen Raketenabwehr zu leisten«.“ (Stuttgarter Nachrichten, 17.02.12, S.3)

Veteranengedenktag

„Es war am Mittwoch im Regierungsflieger auf dem Weg von Washington zur amerikanischen Luftwaffenbasis Holloman in New Mexiko. Da kündigte der Minister an, er wolle noch in diesem Jahr ein »Veteranenkonzept« vorlegen […] Die Zeit sei reif, eine neue Tradition zu stiften“, schreibt die SZ (18.02.12, S.6). Und »Die Welt« meint: „Sein Besuch in Amerika scheint ihm nun der richtige Anlass, um das weite Thema »gesellschaftliche Anerkennung für die Streitkräfte« etwas voranzutreiben. »Wir brauchen eine neue Veteranenpolitik«, sagt de Maizière: »Das ist überfällig, wir haben uns viel zu lange davor gedrückt.« Noch in diesem Jahr werde er dazu ein Konzept vorlegen.“

Der »Veteranengedenktag« bleibt der einzige Punkt, der eine etwas größere Debatte auslöste. „In Berlin kritisieren Politiker von der Linken und von der SPD die »Militarisierung« der deutschen Politik. De Maizières Veteranentag wäre eine Fortsetzung der Grenzverschiebungen, zu denen schon jetzt öffentliche Gelöbnisse, Tapferkeitsmedaillen und Besuche von Bundeswehroffizieren in Schulen gehören. Dass der Minister angeregt hat, das Gedenken auf den Volkstrauertag zu legen – den Tag, den die Nazis zum »Heldengedenktag« machten –, sorgt für zusätzliche Empörung.“ (taz, 18.02.12, S.6)

Neue deutsche Stärke

An der Harvard-Universität zog de Maizière zum Abschluss Parallelen zwischen der gegenwärtigen Situation und den Anfängen des Deutschen Reiches 1871. „Er erklärte, die »Angst vor der eigenen Stärke« sei vorbei. Und versicherte, dass Deutschland sein Licht nicht unter den Scheffel stellen brauche. »Die Bundeswehr kann kämpfen und führen.«“ (taz, 18.02.12, S.6)

Nach Landes- oder auch Bündnisverteidigung hört sich das nicht an, eher nach weiteren Interventionskriegen.

Jürgen Nieth

Einladung ohne Grenzen

Einladung ohne Grenzen

Das Bundesverfassungsgericht zu Bundeswehreinsätzen

von Martin Kutscha

Richter oder Richterin am Bundesverfassungsgericht zu werden gilt als Krönung einer juristischen Karriere. Immerhin genießt das Bundesverfassungsgericht ein Ansehen in der Bevölkerung wie kaum eine andere zentrale politische Institution. Eine Ursache dafür dürfte sein, dass sich das höchste deutsche Gericht erfolgreich mit dem „Nimbus des scheinbar Unpolitischen“1 zu umgeben weiß. Auch hat das Bundesverfassungsgericht etwa im Bereich der Inneren Sicherheit der Staatsgewalt deutliche Grenzen gesetzt und die Grundrechte zum Schutz der Privatsphäre gestärkt. Die beiden bekannten Entscheidungen aus den letzten Jahren zur Online-Durchsuchung sowie zur Vorratsdatenspeicherung spiegeln freilich auch die Suche nach einem »vertretbaren« Kompromiss zwischen konsequentem Grundrechtsschutz und staatlichen Ausforschungsbedürfnissen wider.2 Demgegenüber ist die Rechtsprechung zu den Auslandseinsätzen der Bundeswehr alles andere als ein Ruhmesblatt.

Verbrämt durch einige beschwichtigende Klauseln hat das Bundesverfassungsgericht der Regierungsmehrheit eine nahezu unbegrenzte Einladung zu Streitkräfteeinsätzen rund um die Welt verschafft. Die limitierende Wirkung der insoweit eigentlich eindeutigen Verfassungsnorm des Art. 87a Grundgesetz blieb dabei auf der Strecke. Die Weichen hierfür wurden schon in der Grundsatzentscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Juli 1994 gestellt.

Freie Bahn der Bundeswehr!

Nach dem Zusammenbruch des Warschauer Pakt-Systems und der Erlangung der vollen Souveränität der Bundesrepublik durch den Zwei-plus-vier-Vertrag von 1990 entdeckten die damalige Kohl-Regierung und führende Militärs die „neue Verantwortung Deutschlands in der Welt“ und meinten, sie durch die Entsendung von Bundeswehreinheiten an verschiedene Schauplätze »out of area« wahrnehmen zu müssen. So beteiligten sich Marine- und Luftwaffeneinheiten der Bundeswehr 1992 bis 1996 an der Überwachung des Waffenembargos gegenüber Jugoslawien, und deutsche Soldaten gehörten zu den Besatzungen von AWACS-Flugzeugen der NATO, die 1993 bis 1995 die Einhaltung des Flugverbots über Bosnien kontrollierten. Nicht zuletzt ist hier auch der Somalia-Einsatz der Bundeswehr 1993/1994 zu nennen.

Die damals in der Opposition befindliche SPD beharrte zu Recht darauf, dass für eine solche Erweiterung des Einsatzspektrums der deutschen Streitkräfte eine Verfassungsänderung notwendig sei. Im August 1992 stellte die SPD-Bundestagsfraktion beim Bundesverfassungsgericht Anträge auf Feststellung, dass die Bundesregierung durch ihre Zustimmung zu den Bundeswehreinsätzen im Mittelmeer, in den AWACS-Flugzeugen sowie in Somalia verfassungsmäßige Rechte des Parlaments verletzt habe. In der Antragsschrift zum Adria-Verfahren wurde zutreffend argumentiert, dass Art. 87a Abs. 2 des Grundgesetzes die Grundlage für jeglichen Einsatz der deutschen Streitkräfte sei. Dieser lautet: „Außer zur Verteidigung dürfen die Streitkräfte nur eingesetzt werden, soweit dieses Grundgesetz es ausdrücklich zulässt.“ Solche »ausdrücklichen Zulassungen« finden sich nur in Gestalt der Absätze 3 und 4 dieses Artikels, ferner in Art. 35 Abs. 2 und 3 Grundgesetz. Diese Regelungen beziehen sich auf Ausnahmezustände wie den Verteidigungs- oder Spannungsfall sowie Naturkatastrophen und besonders schwere Unglücksfälle, bei denen die Bundeswehr im Inneren eingesetzt werden darf.

Über die Bedeutung des Art. 87a Grundgesetz für Auslandseinsätze der Bundeswehr gab es bei der Beratung über den SPD-Antrag im Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts keine Einigkeit. Schließlich fand man eine »elegante« Lösung des Problems, indem diese Norm einfach ignoriert und statt dessen auf Art. 24 Abs. 2 Grundgesetz verwiesen wurde. Danach kann sich der Bund „zur Wahrung des Friedens einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit einordnen“ und die damit verbundenen Beschränkungen seiner Hoheitsrechte hinnehmen. „Die schon im ursprünglichen Text des Grundgesetzes zugelassene Mitgliedschaft in einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit und die damit mögliche Teilnahme deutscher Streitkräfte an Einsätzen im Rahmen eines solchen Systems sollten“, so das Gericht, durch den später geschaffenen Art. 87a „nicht eingeschränkt werden“.3 Dabei wurde geflissentlich verschwiegen, dass die Einordnung in ein solches System keineswegs mit der Bereitstellung von Militär für die Vereinten Nationen oder für die NATO verbunden sein muss. Zum Zeitpunkt der Schaffung des Art. 24 im Jahre 1949 gab es schließlich noch keine Bundeswehr, und es ist höchst fraglich, ob der Gesetzgeber mit der Verfassungsänderung von 1968 eine Umgehung der strikten Festlegung auf die »Verteidigung« in Art. 87a über die völkerrechtliche Ermächtigung des Art. 24 Abs. 2 zulassen wollte.

Möglicherweise als Ausdruck des Unbehagens wegen der Umgehung des Art. 87a Grundgesetz kreierte das Gericht immerhin einen Parlamentsvorbehalt für Bundeswehreinsätze: „Das Grundgesetz verpflichtet die Bundesregierung, für einen Einsatz bewaffneter Streitkräfte die – grundsätzlich vorherige – konstitutive Zustimmung des Deutschen Bundestages einzuholen“.4 Diesen – in der Verfassung nicht ausdrücklich normierten – Parlamentsvorbehalt hat das Bundesverfassungsgericht in späteren Entscheidungen bekräftigt, so in seinem Urteil zum AWACS-Einsatz im Luftraum über der Türkei vom 7. Mai 2008 sowie im Urteil vom 30. Juni 2009 zum Lissabon-Vertrag.5 Allerdings sind Zweifel angebracht, ob das Parlament als »Friedenswächter« gegenüber der Regierung überhaupt geeignet ist: Nur die Opposition hat ein Interesse an Kontrolle und Kritik der Regierung, während die Parlamentsmehrheit im Regelfall bestrebt sein wird, das Handeln der jeweiligen Regierung zu stützen und damit die Chancen ihrer Wiederwahl zu verbessern.6 Der Mehrheit der Bundestagsabgeordneten, ja häufig sogar eine informelle Große Koalition, hat denn auch jedem der inzwischen über 50 Anträge der Bundesregierung, bewaffnete Streitkräftekontingente im Ausland einzusetzen, ihre Zustimmung erteilt.

Immerhin statuierte das Bundesverfassungsgericht in seinem Grundsatzurteil 1994 eine Beschränkung, deren besondere Brisanz sich erst an der Schwelle zum 21. Jahrhundert erweisen sollte: Es legitimierte nur Bundeswehreinsätze, die „im Rahmen und nach den Regeln“ der Systeme kollektiver Sicherheit, also konkret den Vorgaben des NATO-Vertrages sowie der UN-Charta, stattfinden.7 „Im Rahmen und nach den Regeln“ der völkerrechtlichen Grundlagen von Vereinten Nationen und NATO bewegte sich die Bombardierung Jugoslawiens durch NATO-Streitkräfte unter Beteiligung der deutschen Bundeswehr im März 1999 nämlich keineswegs. Weder lag ein Fall der Selbstverteidigung nach Art. 51 der UN-Charta vor noch handelten die beteiligten NATO-Staaten auf der Grundlage einer Ermächtigung durch den UN-Sicherheitsrat – damit handelte es sich um eine Verletzung des Gewaltverbots. Darauf wiesen Völkerrechtler eindringlich hin,8 fanden dabei aber nur Unterstützung durch die Friedensbewegung und im parlamentarischen Raum durch die PDS, während die anderen im Bundestag vertretenen Parteien den Militäreinsatz billigten und mit der (im Völkerrecht mit guten Gründen überwiegend abgelehnten)9 Legitimationsformel der »humanitären Intervention« zu rechtfertigen versuchten. Die PDS-Bundestagsfraktion stellte daraufhin beim Bundesverfassungsgericht den Antrag auf Feststellung, dass die Beteiligung der Bundeswehr gegen die Bestimmungen des Grundgesetzes verstoße und der Bundestag dadurch in seinen Rechten und Pflichten verletzt sei. Mit Beschluss vom 25. März 1999 verwarf das Bundesverfassungsgericht den Antrag als unzulässig.10 Es verwies darauf, dass der Bundestag in seiner Sitzung am 16. Oktober 1998 die Zustimmung zur Beteiligung der Bundeswehr an dem Kriegseinsatz gegen Jugoslawien ja schon vorab erteilt hatte, verfassungsmäßige Rechte des Parlaments in diesem Fall also nicht verletzt worden seien.

Schon wenige Monate später, im Herbst 1999, unternahm die PDS-Bundestagsfraktion einen neuen Anlauf beim Bundesverfassungsgericht. Beantragt wurde diesmal die Feststellung, dass die Bundesregierung mit ihrer Zustimmung zum neuen »Strategischen Konzept« der NATO (in dessen Konsequenz schließlich auch der Angriff auf Jugoslawien lag) das Zustimmungsrecht des Bundestages gemäß Art. 59 Abs. 2 Grundgesetz verletzt habe.

Am 22. November 2001 – sicher nicht unbeeinflusst von der politischen Stimmungslage nach den Terroranschlägen vom 11. September – wies dann der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts den Antrag als unbegründet zurück.11 Die Bundesregierung habe mit ihrer Zustimmung zum neuen Strategischen Konzept der NATO nicht das Mitwirkungsrecht des Bundestages aus Art. 59 Abs. 2 Grundgesetz verletzt. Die bloße „Fortentwicklung“ des NATO-Systems, die keine Vertragsänderung darstelle, bedürfe keiner gesonderten Zustimmung des Bundestages. Aus dem Inhalt des 1999 beschlossenen neuen Strategischen Konzepts der NATO, so hieß es weiter, gehe nicht hervor, dass das nordatlantische Bündnis seine Bindung an die Ziele der Vereinten Nationen und die Beachtung ihrer Satzung aufgeben will.12

Immerhin wird die reichlich wohlwollende Interpretation des NATO-Beschlusses durch das Gericht ergänzt durch eine deutliche Ermahnung an die Grenzen, die das Grundgesetz der Beteiligung Deutschlands an internationalen Bündnissystemen setzt: „Schon die tatbestandliche Formulierung des Art. 24 Abs. 2 Grundgesetz schließt aber auch aus, dass die Bundesrepublik Deutschland sich in ein gegenseitiges kollektives System militärischer Sicherheit einordnet, welches nicht der Wahrung des Friedens dient. Auch die Umwandlung eines ursprünglich den Anforderungen des Art. 24 Abs. 2 Grundgesetz entsprechenden Systems in eines, das nicht mehr der Wahrung des Friedens dient oder sogar Angriffskriege vorbereitet, ist verfassungsrechtlich untersagt und kann deshalb nicht vom Inhalt des auf der Grundlage des nach Art. 59 Abs. 2 Satz 1, Art. 24 Abs. 2 Grundgesetz ergangenen Zustimmungsgesetzes zum NATO-Vertrag gedeckt sein“.13

Aber wo genau endet die »Wahrung des Friedens« und beginnt eine Militärpolitik von NATO-Mitgliedern, deren Ziel stattdessen in der Durchsetzung von politischen und ökonomischen Interessen rund um den Erdball besteht? Auch die »Verteidigungspolitischen Richtlinien« des Bundesministers der Verteidigung vom 27. Mai 2011 lassen schließlich die kaum verhüllte Intention erkennen, die deutschen Streitkräfte künftig auch zur Sicherung wirtschaftlicher Interessen einzusetzen. Nach diesen Richtlinien gehört zu den »deutschen Sicherheitsinteressen« auch, „einen freien und ungehinderten Welthandel sowie den freien Zugang zur Hohen See und zu natürlichen Ressourcen zu ermöglichen“. Soll danach die Bundeswehr gegen einen Staat eingesetzt werden dürfen, der z.B. Bergwerke als wichtige Rohstofflieferanten sozialisiert oder seine einheimischen Produzenten durch hohe Einfuhrzölle vor dem angeblich freien Weltmarkt schützt?

Tornados vor dem Bundesverfassungsgericht

Auch stellt sich die Frage nach der verfassungs- und völkerrechtlichen Beurteilung des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan. Immerhin spricht einiges für die Vermutung, dass es »vor Ort« keineswegs eine klare Trennung gibt zwischen der von den USA angeführten Operation Enduring Freedom und dem vom UN-Sicherheitsrat mandatierten ISAF-Einsatz, an dem Deutschland beteiligt ist. In seinem »Tornado-Urteil« vom 3. Juli 2007 mochte das Bundesverfassungsgericht diese Bedenken nicht teilen.

Die Verletzung des Völkerrechts durch einzelne militärische Einsätze der NATO, so das Gericht, könne zwar ein Indikator dafür sein, dass sich die NATO von ihrer friedenswahrenden Ausrichtung strukturell entfernt. Die Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht im Organstreitverfahren eröffne allerdings keine allgemeine Prüfung der Völkerrechtskonformität von militärischen Einsätzen der NATO.14 Angesichts dieses Verzichts auf eine verfassungsrichterliche Kontrolle der Einsatzpraxis erstaunt das Ergebnis im Hinblick auf die NATO umso mehr: An „Anhaltspunkten für eine strukturelle Entfernung der NATO von ihrer friedenswahrenden Ausrichtung fehlt es. Die angegriffenen Maßnahmen lassen keinen Wandel der NATO hin zu einem Bündnis erkennen, das dem Frieden nicht mehr dient und an dem sich die Bundesrepublik Deutschland von Verfassungswegen daher nicht mehr beteiligen dürfte.“ 15

Man würde den Mitgliedern des Gerichts sicher Unrecht tun, wenn man eine solche Einschätzung der NATO-Militäreinsätze als Ausdruck professionell bedingter Naivität wertet. Das Ergebnis dürfte eher dem Bestreben des Gerichts geschuldet sein, bei Entscheidungen von so grundsätzlicher Bedeutung wie dem Engagement in der NATO der Regierung nicht in den Arm zu fallen. Immerhin wird niemand Richter oder Richterin am Bundesverfassungsgericht, der nicht das Vertrauen der beiden großen Bundestagsparteien genießt – dafür sorgt der Wahlmodus.16 Insgesamt ist jedenfalls die Einschätzung zutreffend, dass die Entscheidungen des höchsten deutschen Gerichts „stets um die reale gesellschaftliche und politische Macht oszillieren“.17

Mit Recht zieht der Lübecker Politikwissenschaftler Robert Chr. van Ooyen denn auch ein ernüchterndes Fazit der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr: Das Gericht gäbe der Regierung „so weit wie möglich »Carte blanche«, indem es die Verfassung durch dynamische Grenzverschiebungen Stück für Stück flexibilisiert hat: vom verfassungspolitischen Grundkonsens einer Ablehnung zur Grundentscheidung der Zulässigkeit der »Out-of-Area-Einsätze«, von der engen, klassischen »kollektiven Sicherheit« (UN) zum weiten Begriff unter Einschluss insbesondere der NATO, vom bloßen Auftrag kollektiver Selbstverteidigung der NATO zum erweiterten Sicherheitsbegriff des neuen Strategiekonzepts, schließlich, als aktuell letzter Schritt in der Tornado-Entscheidung, vom räumlich begrenzten euro-atlantischen Bezug der Sicherheit zur globalisierten Sicherheit. Damit sind Auslandseinsätze der Bundeswehr in räumlicher und inhaltlicher Hinsicht (»Frieden«) mit einfacher Parlamentszustimmung nahezu unbegrenzt möglich.“ 18

Die – angesichts bitterer Erfahrungen mit dem deutschen Militarismus recht eindeutigen – Grenzziehungen unserer Verfassung für den Streitkräfteeinsatz, so wäre hinzuzufügen, haben sich durch diese Rechtsprechung nahezu völlig verwischt. An ihre Stelle ist eine sprichwörtlich grenzenlose Einladung getreten, die nur noch vom politischen Wohlwollen der Parlamentsmehrheit abhängt.

Anmerkungen

1) So Kloepfer, M. (2003): Vom Zustand des Verfassungsrechts. Juristenzeitung 10/2003, S.481 (482).

2) Vgl. im Einzelnen Kutscha, M. (2009): Zähmung der Big Brothers? Blätter für deutsche und internationale Politik 10/2009, S.75 ff.

3) Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE) Bd. 90, S.286 (357).

4) BVerfGE 90, S.286 (Leitsatz 3a).

5) BVerfGE 121, S.135 u. BVerfGE 123, S.267.

6) Dazu im Einzelnen Kutscha, M. (2009): Das Parlament als Friedenswächter? Wissenschaft und Frieden 4/2009, S.51 ff.

7) BVerfGE 90, S.286 (Leitsatz 1) und S.345.

8) Vgl. z.B. Paech, N./Stuby, G. (2001): Völkerrecht und Machtpolitik in den internationalen Beziehungen. Hamburg: VSA, S.557 f. Vgl. auch die unterschiedlichen Positionen in: Lutz, D.S. (Hrsg.) (2000): Der Kosovo-Krieg. Baden-Baden: Nomos.

9) Vgl. z.B. Deiseroth, D. (1999): »Humanitäre Intervention« und Völkerrecht. Neue Juristische Wochenschrift 42/1999, S.3084 ff.

10) BVerfGE 100, S.266.

11) BVerfGE 104, S.151.

12) BVerfGE 104, S.151 (211).

13) BVerfGE 104, S.151 (213).

14) BVerfGE 118, S.244 (271).

15) BVerfGE 118, S.244 (272).

16) Nach den §§6 u. 7 Bundesverfassungsgerichtsgesetz werden die Verfassungsrichter und -richterinnen mit Zweidrittelmehrheit von einem Wahlausschuss des Bundestages sowie vom Bundesrat gewählt.

17) So Preuß, U.K. (1987): Politik aus dem Geiste des Konsenses. Zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Merkur 1/1987, S.1 (12).

18) Van Ooyen, R.C. (2008): Das Bundesverfassungsgericht als außenpolitischer Akteur: von der »Out-of-Area-Entscheidung« zum »Tornado-Einsatz«. Recht und Politik 2/2008, S.75 (83).

Dr. Martin Kutscha ist Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin und Vorstandsmitglied der deutschen Sektion der International Association of Lawyers Against Nuclear Arms (IALANA).

Rekrutierung nach der Wehrpflicht

Rekrutierung nach der Wehrpflicht

von Michael Schulze von Glaßer

Mit der Bundeswehr-Reform wurde die Wehrpflicht ausgesetzt – nun muss die Armee ihren Nachwuchs zur Gänze aus der Zivilbevölkerung werben. Dazu ist sie an Schulen aktiv, erstellt eigene Werbemedien und präsentiert sich auch in zivilen Medien. Nun sollen diese Rekrutierungsanstrengungen weiter intensiviert werden.

Im aktuellen strategischen Konzept des Bundesministeriums der Verteidigung, dem »Weißbuch 2006«, macht das Militär unmissverständlich deutlich, wie wichtig ihm die Personalgewinnung ist: „Gut ausgebildete, gleichermaßen leistungsfähige wie leistungswillige Soldatinnen und Soldaten sowie zivile Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind Grundvoraussetzung für die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr.“ 1 Durch die aktuelle Bundeswehr-Reform hat sich diese Priorität nochmals verstärkt. Aufgrund der Aussetzung der Wehrpflicht verliert die Bundeswehr ihr bis dato bei weitem wichtigstes Rekrutierungsinstrument. Auf der anderen Seite sollen statt 7.000 demnächst 10.000 Soldatinnen und Soldaten dauerhaft für Auslandseinsätze abgestellt werden können, wobei die Zahl an Jugendlichen, für die die Vorstellung attraktiv ist, häufig in Kriege fernab Deutschlands geschickt zu werden, überschaubar sein dürfte.

„170.000 (Berufssoldaten, Soldaten auf Zeit, Reservisten) + 5.000 (Freiwillig Wehrdienstleistende) + X (< 10.000 Freiwillig Wehrdienstleistende) = 185.000“, diese Rechnung stellte Verteidigungsminister Thomas de Maizière bei seiner Grundsatzrede am 18. Juni 2011 in Berlin auf. Grundsätzlich soll die Bundeswehr schrumpfen und statt wie bisher jährlich 20.000 neue Soldaten sollen nur noch 5000 + X Soldaten im Jahr für die Armee gewonnen werden müssen. „Wir gehen mit unseren Planungen auf 5.000, ich habe es geschildert, lieber auf die sichere Seite, freuen uns aber, wenn unsere Planungen übertroffen werden“, so der Minister.2 Die Bundeswehr hat bereits in den vergangenen Jahren eine Vielzahl von Werbemitteln zur Rekrutierung erstellt, die nun ausgebaut werden sollen.

Öffentliche Selbstinszenierung

Eigene Veranstaltungen und Aktionen in Armee-Liegenschaften und vor allem im öffentlichen Raum sind für die Bundeswehr enorm wichtig. Die Armee kann sich auf ihren Veranstaltungen nach Belieben präsentieren. Kein Aufwand scheint zu groß, keine Kosten sind zu hoch. So werden nicht nur Veranstaltungen in Fußgängerzonen, sondern auch Jugendsportfeste, Konzerte und Messestände organisiert. Selbst in Schulen und Universitäten sind Agitatoren der Bundeswehr aktiv.

Jugendoffiziere, junge Männer und Frauen mit langjähriger militärischer Erfahrung, bilden die Speerspitze der Nachwuchs- und Öffentlichkeitsarbeit der deutschen Armee und sind weltweit einzigartig. Bereits 1958 – nur drei Jahre nach Gründung der Bundeswehr – wurde die Abteilung der Jugendoffiziere ins Leben gerufen und hatte schon damals die Funktion, die Bevölkerung vom Sinn und Zweck der deutschen Armee zu überzeugen. Heute gibt es etwa 94 hauptamtliche und 300 nebenamtliche Jugendoffiziere, die an der Akademie der Bundeswehr für Information und Kommunikation in Strausberg nahe Berlin ausgebildet werden. 7.245 Veranstaltungen mit 182.522 Teilnehmern führten die Jugendoffiziere im Jahr 2009 durch.3 Einsatzgebiete der jungen Soldaten sind vor allem Schulen. Nahezu 160.000 Schülerinnen und Schüler erreichten die Jugendoffiziere 2009. Oft referieren die rhetorisch sowie didaktisch-methodisch geschulten Soldaten vor Schulklassen über Themen wie „Soldaten als Staatsbürger in Uniform“ und „Auslandseinsätze der Bundeswehr“, oder sie spielen mit den jungen Leuten die mehrtägige Simulation »POL&IS« (Politik & internationale Sicherheit).

Seit 2008 wurden in acht Bundesländern Kooperationsabkommen zwischen dem jeweiligen Landesschulministerium und der Bundeswehr geschlossen (NRW, Oktober 2008; Saarland, März 2009; Baden-Württemberg, Dezember 2009; Rheinland-Pfalz, Februar 2010; Bayern, Juni 2010; Mecklenburg-Vorpommern, Juli 2010, Hessen, November 2010 und Sachsen, Dezember 2010), die neben Vorträgen vor Schulklassen u.a. auch die Einbindung der Jugendoffiziere in die Lehrerausbildung vorsehen. Wurden 2005 nur fünf Referendarsveranstaltungen mit 103 Teilnehmern durchgeführt, waren es 2009 bereits 27 Veranstaltungen mit 1.073 Nachwuchslehrkräften. Zusätzlich haben sich über 3.200 Lehrkräfte durch Jugendoffiziere aus- und fortbilden lassen. Indem schon Referendare mit der Bundeswehr in Kontakt kommen, sollen langfristige Bindungen hergestellt werden, in der Erwartung, dass die zukünftigen Lehrer die Jugendoffiziere zu sich in den Unterricht einladen. Immer wieder betonen Jugendoffiziere, keine Nachwuchswerberinnen oder Nachwuchswerber zu sein, sie informieren offiziell nur über Sicherheitspolitik und die Bundeswehr. Dies ist allein deshalb fraglich, weil die Jugendoffiziere die Schüler vom Sinn und Zweck der Armee überzeugen sollen – häufig der erste Schritt zum Eintritt in die Armee. Oft ist die Bundeswehr aber auch direkt mit Wehrdienstberatern, die im Gegensatz zu Jugendoffizieren ausschließlich über Laufbahnen in der Armee beraten, an Schulen im Einsatz. Bei rund 12.600 Wehrdienstberatungs-Veranstaltungen wurden 2009 mehr als 280.000 Schülerinnen und Schüler erreicht.4

Wehrdienstberater und Jugendoffiziere sind aber auch außerhalb von Schulen aktiv. 2006 stellte die Armee auf Anraten des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr das »Zentrale Messe- und Eventmarketing der Bundeswehr« (ZeMEmBw) als neue Werbeeinheit auf.5 Seitdem wird für eine »Karriere mit Zukunft« bei der Bundeswehr geworben. Flaggschiff der Reklametruppe ist der aus drei großen Lastwagen bestehende so genannte »KarriereTreff«. Die Lastwagen touren jedes Jahr bundesweit durch rund 40 Städte und stehen dort für mehrere Tage auf zentralen Plätzen oder bei öffentlichen Veranstaltungen.6 Neben einem begehbaren »KarriereTruck«, in dem Wehrdienstberatungen stattfinden, sollen durch einen »KinoTruck« und ausgestellte Militärfahrzeuge vor allem junge Besucher zum Bundeswehr-Stand gelockt werden. Das zweite Standbein des ZeMEmBw ist ein großer Messestand, der jedes Jahr etwa 50 Mal zum Einsatz kommt. Mit dem Stand ist die Bundeswehr ebenso auf der »Games Convention«, einer der größten Videospiele-Messen in Europa, vertreten wie bei Ärztekongressen,7 wo sie versucht, ihrem massiven Personalengpass im medizinischen Bereich entgegenzuwirken.8

Darüber hinaus führt die ZeMEmBw-Werbeeinheit die jährlich wechselnden Jugendsportevents »Bw-Olympix« und »Bw-Beachen« durch.9 Über 1.000 Jugendliche können an den kostenlosen Sportevents teilnehmen – gespielt werden Fun-Sportarten wie Beach-Volleyball oder Streetball. Den Sieger-Teams winken Ausflüge in Kasernen. Jede Sportveranstaltung wird mit einem bunten Musik- und Party-Programm begleitet. Dabei gilt für alle Jugendsportereignisse der Bundeswehr: Teilnahme ist nur mit deutscher Staatsbürgerschaft möglich. Denn nur Deutsche dürfen bislang Soldaten bei der Bundeswehr werden. Damit letzteres auch geschieht, wird bei den Events ordentlich geworben. Die jungen Teilnehmer können militärisches Großgerät besichtigen oder sich gleich beim Wehrdienstberater über eine Armee-Laufbahn informieren.

Neben dem Zentralen Messe- und Eventmarketing verfügen alle vier Wehrbereichskommandos (Nord, Ost, Süd und West) über ein eigenes »Zentrum für Nachwuchsgewinnung der Bundeswehr« (ZNwgBw). Dieses verfügt jeweils über zwei Messestände10 sowie vier kleinere Werbelastwagen. Weit über 500 Einsätze fuhren die vier »Zentren für Nachwuchsgewinnung« 2009 – oft sind die Nachwuchswerber auf Schulhöfen und Jobmessen anzutreffen.11 Es geht bei diesen Werbeeinsätzen aber nicht nur darum, unter den Schülern neuen Nachwuchs zu rekrutieren, sondern auch frühzeitig ein positives Bild der Bundeswehr in den Köpfen der Jugendlichen zu verankern. Dies geschieht neben den vorgestellten Veranstaltungen auch durch das Jugendmusikevent »Bw-Musix«, das Wochenendcamp »Bw Adventure Games«, Tage der offenen Tür, Bundeswehr-Veranstaltungen beim jährlichen Mädchenzukunftstag Girls’ Day oder auch in Arbeitsagenturen.

Medien des Militärs

Neben eigenen Veranstaltungen verfügt die Bundeswehr gleich über mehrere, eigens für die Rekrutierung junger Menschen entwickelte Medien. Sie bilden das Rückgrat der Bundeswehr-Werbeanstrengungen. Die Bundeswehr ist im Zeitalter der Informationsgesellschaft auch im medialen Kampf um neuen Nachwuchs sowie mehr Zustimmung präsent. Auf Internet-Websites werden umfangreiche aber unkritische Informationen angeboten – selbst Online-Bewerbungen für einen Job bei der Armee sind möglich. Auch Print-Medien werden von der deutschen Armee speziell für Jugendliche hergestellt.

Schon seit 1977 erscheint das kostenlose Jugendmagazin der Bundeswehr namens »infopost«. Es hat vor allem das Ziel der Nachwuchsgewinnung und richtet sich daher an junge Menschen zwischen 14 und 20 Jahren. „Alles, was wir tun, gilt dem Ziel, die Anzahl von jungen Leuten, die wir pro Jahr brauchen, an die Bundeswehr mit werblichen Mitteln heranzuführen“, drückt es der leitende Redakteur Franz-Theo Reiß aus.12 Dabei setzt die Bundeswehr auf Vollfarbdruck, ein Jugendliche ansprechendes Layout, ein Poster in der Mitte des Heftes und natürlich für junge Menschen aufbereitete Themen. Die »infopost« wird bei Bundeswehr-Veranstaltungen aller Art – Messeständen, Wehrdienstberatungen, Bundeswehr-Konzerten usw. – kostenfrei verteilt. Ein großer Teil der Auflage wird zusätzlich als Abonnement verschickt. Um die »infopost« kostenlos abonnieren zu können, muss eine Bestellkarte ausgefüllt werden, wobei man nicht älter als 20 Jahre alt sein darf. Neben Adresse und Unterschrift müssen die jungen Menschen auch ihren angestrebten oder erreichten Schulabschluss, das voraussichtliche Ende ihrer Ausbildungszeit, ihre Staatsangehörigkeit und andere rekrutierungsrelevante Angaben über sich und ihr Leben machen. Außerdem müssen sie sich dazu bereit erklären, mit Werbematerialien der Armee eingedeckt zu werden. Die Auflagenhöhe des Jugendmagazins liegt bei rund 190.000 Stück pro Jahr.13

Die Autorinnen und Autoren der »infopost«-Artikel verschweigen die militärische Tätigkeit der Bundeswehr nicht. Der Afghanistan-Einsatz wird beispielsweise in einigen Heften thematisiert. In den einseitigen Artikeln gibt sich die Bundeswehr jedoch friedlich-zivil. Im Artikel „LUZ, Eloka und Patrouille – Ein Tag in der afghanischen Provinz Kunduz“ aus dem Jahr 2008 wird kein Wort über getötete bzw. verwundete deutsche Soldaten verloren – geschweige denn über afghanische Opfer.14 Ebenso vergeblich sucht man Hinweise auf den psychologischen Druck, dem Soldatinnen und Soldaten ausgesetzt sind. Stattdessen präsentiert der Autor, ein Stabsfeldwebel, den mutmaßlichen Alltag eines Logistik-Soldaten, der Militärflugzeuge entlädt, einer jungen Militärpolizistin, die gleich sieben Sprachen sprechen kann und täglich um das Feldlager joggt, und eines Bundeswehr-Hundeführers samt seines Schäferhundes Nelson. Von Gefahr keine Spur. Dieser Artikel ist repräsentativ für die Texte des Jugendmagazins.

Die »infopost« ist aber nicht das einzige Werbemittel für die Armee. »Frieden & Sicherheit« lautet der Titel umfangreicher Schulmaterialien zur deutschen Sicherheitspolitik, die von der laut Eigenangaben unabhängigen und gemeinnützigen »Arbeitsgemeinschaft Jugend und Bildung e. V.« herausgegeben werden. Das vollkommen kostenfreie Angebot der Arbeitsgemeinschaft besteht aus einem Schülermagazin inklusive Lehrerheft, das seit 2003 viermal erschienen ist, einem monatlich publizierten neuen Arbeitsblatt für Schülerinnen und Schüler sowie der interaktiven »Frieden & Sicherheit«-Website. Die Materialien werden in Kooperation mit dem Wiesbadener Universum-Verlag erstellt. Das Bundesministerium für Verteidigung steht dem Herausgeber laut Heft-Impressum lediglich mit fachlicher Beratung zur Seite. Die Universum Verlag GmbH ist allerdings kein unbeschriebenes Blatt: 50 Prozent der Anteile hält die Universum GmbH, die sich zu 100 Prozent im Eigentum der FDP befindet. Verlagsleiter ist Siegfried Pabst, ehemaliger Leiter der politischen Abteilung der FDP und heute zugleich Schatzmeister der »Arbeitsgemeinschaft Jugend und Bildung e.V.« sowie Vizepräsident der angegliederten »Stiftung Jugend und Bildung«.15

Finanziert werden die Materialien der Reihe »Frieden & Sicherheit« von der Bundesregierung. 330.000 Euro gab die Regierung 2008/2009 zur Erstellung eines neuen »Frieden & Sicherheit«-Heftes für Schüler und Lehrer aus. Die Hefte kommen an. 2007 sind von den Schulen mehr als 325.000 Schüler- und über 16.000 LehrerInnenhefte für den Unterricht bestellt worden.16 Durch die fertigen Materialien fällt die zeitaufwändige Unterrichtsvorbereitung für Lehrer weg, was sie sicherlich für einige Pädagogen attraktiv macht. Ein neutraler und kritischer Unterricht ist jedoch nicht mehr möglich, wenn man das 32-seitige Magazin zur Unterrichtsgrundlage macht. Die im aktuellen Schülerheft 2009/2010 aufgelisteten Fragen, die von den jungen Leuten beantworten werden sollen, lenken die Gedanken der Schüler gezielt in die gewünschte Richtung. Alternativen zum militärischen Eingreifen scheint es nicht zu geben, während das Militär wie ein normales Mittel der Politik wirkt. Zuletzt sorgte ein »Frieden & Sicherheit«-Arbeitsblatt zum Libyen-Aufstand für Aufsehen.17

Absehbar ist eine Verstärkung der Werbetätigkeit der Bundeswehr besonders im Internet – dort ist die Bundeswehr im Vergleich etwa zur US-Armee noch unterrepräsentiert. Zwar existieren im Internet gleich zwei Rekrutierungsportale (treff.bundeswehr.de und bundeswehr-karriere.de), und im vergangenen Jahr ging ein eigener YouTube-Premium-Channel sowie ein Account beim Online-Fotodienst flickr in Betrieb, dennoch blieben bislang viele Social-Media-Formate wie facebook und StudiVZ/SchülerVZ ungenutzt. 2010 hat die »Akademie für Information und Kommunikation« der Bundeswehr daher erstmals zu einer »Govermedia« genannten Medienfachtagung eingeladen. Dabei informiert sich die Bundeswehr mithilfe von Kommunikationsexperten aus Wissenschaft und Wirtschaft über die neuesten PR-Trends im Internet und erörtert, wie sich die Armee diese zu Nutzen machen kann. Im Juni 2011 fand die jährlich vorgesehene Tagung unter dem sperrigen Titel »Behördenkommunikation digital gestalten – Optimierung von Inhalten, Strukturen und Anwendungen« statt.

Militär in zivilen Medien

Neben Veranstaltungen und eigenen Armee-Medien gelangt die Bundeswehr heute vor allem durch Werbeanzeigen in Schüler- und Jugendzeitungen in die Klassenräume und Kinderzimmer der Republik sowie zunehmend auch in Wohnzimmer und in die Öffentlichkeit. Egal ob in Zeitungen, im Radio, im Fernsehen oder im Kino – die Bundeswehr ist überall vertreten.

Für Werbung in Printmedien, Radio und Kino wendete die Bundeswehr von 2006 bis 2009 über 15 Millionen Euro auf.18 Zwischen 2009 und 2011 haben sich die Ausgaben für personalwerblichen Anzeigen auf 5,7 Millionen Euro im Jahr gesteigert.19 So wirbt sie beispielsweise mit Anzeigen regelmäßig in der mit einer Auflage von einer Million Exemplaren größten Schülerzeitung Deutschlands, dem »SPIESSER«. Mit dem Jugendmagazin »BRAVO« besteht sogar eine noch engere Kooperation: Jährlich führen Armee und Magazin für rund dreißig Jugendliche die »Bw Adventure Games« durch, bei denen die jungen Leute ein Wochenende lang eine Bundeswehr-Einheit besuchen.20 Im Rundfunk richten sich die Militärs ebenfalls an Jugendliche. Auf Jugendsendern sucht die Bundeswehr nach neuen Piloten für ihre Hubschrauber und Kampfjets. Dies ist ebenfalls in den Kinospots der Armee der Fall. Ein breites Publikum erreichte die Bundeswehr erstmals im Frühjahr 2010 und danach noch einmal im Frühjahr 2011 im Fernsehen. In dem 20-sekündigen und 189.000 Euro teuren Spot warb die Armee für den Dienst an der Waffe: „Herausforderung meistern, Teamgeist beweisen, Technik beherrschen. Bundeswehr, Karriere mit Zukunft“ bzw. später mit dem Slogan „Bundeswehr-Reform – Ihre Chance“.21

Um das Image weiter zu verbessern, subventioniert die Bundeswehr außerdem immer mehr deutsche Filmproduktionen. 2005 waren es elf Produktionen, 2006 nur vier, 2007 waren es acht, 2008 schon zwölf, und 2009 unterstützte die Bundeswehr sogar 22 Filmprojekte.22 Sie stellt z.B. militärisches Großgerät, Dreherlaubnisse oder auch finanzielle Mittel zur Verfügung. Es werden vor allem Kino- und Spielfilmproduktionen sowie TV-Serien und Dokumentationen unterstützt, die die Bundeswehr wohlmeinend porträtieren oder ihr anderweitig nutzen.

Ein von der Bundeswehr bisher vernachlässigtes Werbemittel ist die Darstellung in Videospielen. Gerade unter jungen Leuten – der Zielgruppe der Bundeswehr – erfreuen sich (militärische) Videospiele großer Beliebtheit. Die US-Armee hat z.B. mit dem First-Person-Shooter »America’s Army« seit 2002 ein eigenes Videospiel, welches laut US-Militärs das erfolgreichste Rekrutierungswerkzeug ist, das die US-Armee je besessen hat. Die Bundesregierung gab 2002 an, in absehbarer Zeit kein ähnliches Spiel zur Bundeswehr-Nachwuchsgewinnung entwickeln zu wollen.23 Dies hängt sicherlich auch mit der in Deutschland immer wieder aufkeimenden Debatte um »Killer-« bzw. »Ballerspiele« zusammen.

Ob die Bundeswehr bei einigen kommerziellen Videospiel-Produktionen mitgewirkt hat, ist bislang unbekannt. Das Verteidigungsministerium gibt kaum Auskunft über die Förderung ziviler Unterhaltungsmedien. Weitere Nachforschungen zu dem Thema sind daher nötig.

Bundeswehr-Umbau und intensivierte Rekrutierung

Aktuellen Zeitungsberichten zufolge scheint die Bundeswehr ihr Rekrutierungsziel von über 5.000 Soldaten in diesem Jahr bereits erreicht zu haben.24 Dennoch wird es für die Bundeswehr auf Dauer nicht einfach, genügend Freiwillige zu finden – neben mangelnder Attraktivität und der Konkurrenz mit der Wirtschaft fürchten die Militärs vor allem den demografischen Wandel.

Auch der einflussreichste deutsche Think-Tank, die regierungsnahe Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), hat das Nachwuchsproblem der Bundeswehr mittlerweile wahrgenommen: „Während die deutsche Bevölkerung zunehmend durch Alterung, Schrumpfung, regionale Unterschiede und ethnisch-kulturelle Heterogenisierung gekennzeichnet ist, fragt die Bundeswehr junge, leistungsfähige Rekruten mit deutscher Staatsbürgerschaft nach.“ 25 Gerade in den ostdeutschen Bundesländern, aus denen aktuell ein im Vergleich zur Gesamtbevölkerung hoher Teil der Soldaten stammt, wird die Zahl junger Menschen rapide abnehmen. Unverblümt macht die Denkfabrik Vorschläge für eine Trendwende: „Zum einen könnte man das Rekrutierungspotential auf Personen ausdehnen, deren physische und kognitive Fähigkeiten zunächst noch unzureichend sind, jedoch dem soldatischen Anforderungsprofil angeglichen werden können. Zum anderen wäre daran zu denken, bisher unterrepräsentierte Bevölkerungsgruppen (Frauen sowie ethnische, kulturelle und religiöse Minderheiten mit deutscher Staatsbürgerschaft) verstärkt anzuwerben und bislang ausgeschlossene Gruppen (Personen mit ausländischer Staatsbürgerschaft sowie Ältere) zu legitimieren.“

Daneben hat die Bundeswehr selbst im Februar 2011 ein 82 Punkte umfassendes „Maßnahmenpaket zur Steigerung der Attraktivität des Dienstes in der Bundeswehr“ erarbeitet. Tenor: Die bisherige Nachwuchsarbeit soll weiter ausgearbeitet werden, um der Armee genügend junge Leute zuzuführen. Außerdem will man mit der zu Beginn des Jahres 2011 initiierten dreistufigen „Medienkampagne zur Nachwuchsgewinnung“ an weitere Rekruten gelangen.26 In Zukunft wird die Bundeswehr also noch öfter im öffentlichen Raum Aktionen durchführen, ihre eigenen, einseitigen Werbemedien verteilen und auch in zivilen Medien, vor allem im Internet, präsent sein.

Anmerkungen

1) Bundesministerium der Verteidigung: Weißbuch 2006 zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr. Berlin 2006, Seite 144.

2) Rede des Bundesministers der Verteidigung, Dr. Thomas de Maizière, am 18. Mai 2011 in Berlin.

3) Schnittker: Jahresbericht der Jugendoffiziere der Bundeswehr 2009. Berlin 2010, Seite 4.

4) Bundestags-Drucksache 17/1511.

5) KarriereTreff on Tour. In: aktuell – Zeitung für die Bundeswehr Nr. 35/2006.

6) Michael Schulze von Glaßer (2010): An der Heimatfront – Öffentlichkeitsarbeit und Nachwuchswerbung der Bundeswehr. Köln: PapyRossa.

7) Bundestags-Drucksache 17/715.

8) Bundestags-Drucksache 16/12012.

9) Michael Schulze von Glaßer: Die Bundeswehr im Kampf an der Heimatfront. IMI Studie 01/2009.

10) Frank Schuldt: Einmal Deutschland. In: Y – Magazin der Bundeswehr, November 2006, Seite 106.

11) Bundestags-Drucksache 16/12038.

12) Schulze von Glaßer 2009.

13) Bundestags-Drucksache 16/14094.

14) Gerhard Groeneveld: LUZ, Eloka und Patrouille – Ein Tag in der nordafghanischen Provinz Kunduz. In: infopost 3/2008, Seite 4/5.

15) Michael Schulze von Glaßer: Westerwelles Werbetruppe. In: Neues Deutschland, 12. März 2010.

16) Bundestags-Drucksache 16/8852.

17) Michael Haid: „Wann ist Krieg erlaubt?“ – Anmerkungen zu skandalösen Schulmaterialien. IMI-Standpunkt 2011/032.

18) Bundestags-Drucksache 16/14094.

19) Bundestags-Drucksache 17/4634.

20) Michael Schulze von Glaßer: Armee umwirbt Kinder. In: telepolis.de, 10. Mai 2009.

21) Menschen, Technik, Chancen (Sprechertext). In: bundeswehr.de, 17. Februar 2010.

22) Bundestags-Drucksache 16/14094.

23) Bundestags-Drucksache 14/9764.

24) De Maizère übertrifft Ziel von 5.000 Freiwilligen. In: faz.net, 10. Juni 2011.

25) Wenke Apt: Demographischer Wandel als Rekrutierungsproblem? Regionale Ungleichheit und unerschlossene Potentiale bei der Nachwuchsgewinnung der Bundeswehr. SWP-Aktuell 41, Mai 2010.

26) Christian Stache: Neuer Minister, alte Pläne: Die Rekrutierungsoffensive 2011 der Bundeswehr. In: AUSDRUCK – Magazin der Informationsstelle Militarisieruntg e.V. (April 2011).

Michael Schulze von Glaßer ist Beirat der Informationsstelle Militarisierung und Autor des Buchs »An der Heimatfront – Öffentlichkeitsarbeit und Nachwuchswerbung der Bundeswehr« (Köln: PapyRossa, 2010).