Fehlgeleitete Debatte

Fehlgeleitete Debatte

Klimakrise als Steigbügelhalter der Atomenergie?

von Franz Fujara und Ernst Rößler

Die Klimakrise ist und wird ein zukünftiger Konflikttreiber sein; die Gefahren, die von ihr ausgehen, sind außerordentlich. Bei den Debatten um Anpassung, Technologietransfer und Treibhausgasreduktionen wird jedoch überraschenderweise immer wieder die Atomenergie als mögliche (temporäre) Lösung genannt. Der Beitrag thematisiert die damit einhergehenden Fehlschlüsse und regt dazu an, grundlegender zu denken – gerade auch angesichts des Ukrainekrieges.

Ein Sommer von außerordentlicher Hitze, bisher unbekannter Dürre und europaweiter Waldbrände steckt uns noch in den Knochen. Waren das weitere Boten des Klimawandels infolge der Erwärmung der Erdatmosphäre? Was werden wir erst sagen, wenn wir in Brandenburg kein Getreide mehr anbauen können oder der Rhein nicht mehr schiffbar ist? Sind das die prophezeiten Kipppunkte, nach denen nichts mehr so sein wird wie früher?

UmweltexpertInnen sind nicht überrascht, sie haben es erwartet. Klar ist ihnen auch, dass die notwendige Dekarbonisierung unseres gesellschaftlichen Lebens so schnell wie eben möglich in Angriff genommen werden muss. Denkfabriken haben die Marschrouten bis hin zu den zu erwartenden Kosten festgelegt. Der Nobelpreisträger für Ökonomie, Joseph Stiglitz, verkündete gar: „Der Klimawandel ist unser Dritter Weltkrieg“ (Stiglitz 2019). So war die Hoffnung groß, dass nach 16 Jahren umweltpolitischer Versäumnisse die neue rot-gelb-grüne Regierung die heißen Eisen der Umweltpolitik endlich anpacken würde – und sie hat es im Koalitionsvertrag versprochen.

CO2-Reduktion im Mittelpunkt

Im Mittelpunkt steht die Menge an Kohlendioxid (CO2), dem wichtigsten Treibhausgas, die noch emittiert werden darf. Das seit ca. 250 Jahren1 durch verstärkte Verbrennung von Kohle, Öl und Erdgas entstandene CO2 sammelt sich in der Atmosphäre an, was den Temperaturanstieg auf der Erde verursacht. Es gibt deshalb nur einen Ausweg, der globalen Überhitzung zu entkommen: Wir müssen die Verbrennung fossiler Energieträger praktisch auf Null zurückfahren. Es wird uns im Wesentlichen nur die Energie der Son­neneinstrahlung (und ihrer sekundären Effekte) bleiben2, so wie vor dem Einsatz der Dampfmaschine.

Um den Temperaturanstieg auf noch verträgliche 1,5 bis 2 Grad zu begrenzen, hat der Weltklimarat die für Emissionen noch zur Verfügung stehende Menge an CO2 global ermittelt. Für Deutschland gibt es dazu seitens des Sachverständigenrates für Umweltfragen mehrere Stellungnahmen in den letzten Jahren, und auch das Bundesverfassungsgericht zog das CO2-Budget als Maßstab für die Bewertung der Klimapolitik des Bundes heran. Danach bleiben uns noch ca. zwei Milliarden Tonnen CO2, die bis 2027 ausgestoßen werden dürfen. Anders formuliert: Von einem derzeitigen jährlichen Pro-Kopf-Verbrauch von ca. zehn Tonnen CO2 müssen wir auf unter eine Tonne kommen und das bis 2027. Dieses Datum ist verdammt nah und erlaubt keinen Umweg, keine »Übergangstechnologien« und insbesondere kein Weiter-so. Ohne Zweifel eine Herkulesaufgabe!

Veränderte Situation, falsche Reaktionen

Der Ukrainekrieg stellt alle diese Vorhaben und Vorsätze auf den Kopf. Wenn man vor Putins Angriff von einer Notstandssituation sprach, dachte man an den Klimanotstand – eine beträchtliche Zahl von Kommunen riefen ihn übrigens sogar formell aus. Jetzt erfährt dieser Begriff eine völlige Umdeutung: alles dreht sich um die Verteidigung des Status Quo. Trotz drohender Kipppunkte im Erdsystem, trotz Hitze und Dürre wird damit die Abkehr vom bisherigen Wohlstandsmodell und insbesondere von fossilen Energien vertagt. Statt Alternativen voranzubringen wird auf wiederhergestellte Importe über die Pipeline » Nord Stream 1« gehofft, werden Terminals für Flüssiggas ausgebaut und Kohlekraftwerke wieder hochgefahren. Auch ohne den Krieg wäre die Dringlichkeit der Transformation nicht kleiner gewesen und ihre Umsetzung würde der Ukraine sogar eher (unmilitärisch) helfen.

Von der in Deutschland insgesamt aus der Gasverbrennung bereitgestellten Energie geht etwa ein Drittel in die Industrie. Aber es kann doch kein Staatsziel sein, die industriellen Hauptabnehmer von Gas, die Chemie-, die Papier- und die Glasbranche, in ihrer derzeitigen Form unbesehen zu erhalten. Denn wenn mit Hilfe von Gas zu einem großen Teil ökologisch schädliche oder verzichtbare Produkte hergestellt werden, dann muss eine Produktionsumstellung oder gar ein Rückbau dieser Bereiche vorgenommen werden (Meier und Hofmann 2022).

  • Der größte industrielle Gasverbraucher ist die Chemische Industrie. Ein Teil des Gases wird zur Herstellung von Stickstoffdünger genutzt. Aber war nicht geplant, das Ausbringen von Dünger deutlich zu reduzieren? Von den neun wissenschaftlich etablierten »planetarischen Grenzen« – u.a. Temperatur der Erdoberfläche, Frischwasserversorgung, Ozongehalt der Atmosphäre – überschreiten der jetzt schon eingebrachte Phosphor und Stickstoff die entsprechende Grenze deutlich (siehe Abbildung).
  • Ein weiterer Teil des Gases wird für die Kunststoffproduktion eingesetzt. Doch brauchen wir die bisherigen Mengen? Die toten Zonen in den Ozeanen werden immer größer, Mikroplastik ist überall. Dabei wäre es beispielsweise ein Leichtes, recyclebare Verpackungen per Gesetz einzuführen.
  • Entsprechendes gilt für die Glasindustrie. Ein Großteil der Produktion besteht aus Getränkeflaschen und Gläsern für Nahrungsmittel. Eine konsequente Pfandpflicht würde schnell den Gasverbrauch reduzieren.
  • Noch grundsätzlicher: Wenn unsere Autos, Kühlschränke, Wachmaschinen und Handys langlebiger wären, dann könnte ihre Produktion entsprechend zurückgefahren werden. Hinzukommen könnten kurzfristig umsetzbare Maßnahmen wie eine Beschränkung der Ladenöffnungszeiten, ein begrenzter Gebrauch von Klimaanlagen, Reduzierung der städtischen Beleuchtung usw. – und ein Tempolimit. Allen an der politischen Umsetzung Beteiligten war ohnehin klar, dass der ökologische Umbau strukturelle wie persönliche Kosten verursachen wird, also Sparen angesagt ist.

Planetarische Grenzen, „P“ und „N“ stehen für Phosphor bzw. Stickstoff (nach Wikipedia: J. ­Lokrantz/Azote, basierend auf Steffen et al. 2015).

CO2-Reduktion durch Atomkraft?

Doch jetzt gerät stattdessen sogar der Atomausstieg ins Wanken. Einige sprechen von Streckbetrieb, andere von einer mehrjährigen Laufzeitverlängerung der noch nicht abgeschalteten AKW. Verwegene fordern gar AKW-Neubauten. Solche Forderungen kommen vor allem von denjenigen, die den Ausstiegsbeschluss im Grunde nie wirklich akzeptiert hatten, die den Ausbau der Erneuerbaren Energieträger am wenigsten forciert haben und die jetzt angesichts der Gaskrise die Chance einer »Renaissance der Kernenergienutzung« wittern. Ob die durch den Bundeskanzler entschiedene Streckung des Betriebs dreier AKW das letzte Wort in Sachen Atomenergie ist, bleibt daher fraglich.

Lassen wir im Lichte dieser Debatte die Probleme bzw. vermeintlichen Vorzüge der Atomenergie noch einmal Revue passieren. Die grundsätzlichen BefürworterInnen der Kernenergie bringen dafür im Wesentlichen drei Argumente vor: Atomenergie ist CO2-frei, sicher und lässt auf neue vielversprechende Reaktortypen hoffen.

Beginnen wir von hinten:

  • Neue Reaktortypen werden seit Jahrzehnten diskutiert, Versuchstypen verschlangen enorme Geldsummen, ihre erfolgreiche Erprobung ist bislang nie gezeigt worden und sie kämen für die Bewältigung der Klimakrise zu spät. Auch die sogenannten »Small Modular«-Reaktoren3 werfen mehr neue Probleme auf als sie alte lösen, und die Fusionsenergie käme, wenn überhaupt jemals, viel zu spät.
  • Die Gefahr einer großen Havarie (GAU) und ihrer Folgen ist weiterhin das größte Problem der Atomenergienutzung, wenngleich sich BefürworterInnen und GegnerInnen in ihrer Beurteilung stark unterscheiden. Festzustellen bleibt aber, dass ein intrinsisch sicherer Reaktortyp nicht existiert und dass die bisherigen Unglücke neben den großen Opfern an menschlichem Leben, Natur und Umwelt exorbitante finanzielle Kosten verursachen. So werden Kosten aller Hinterlassenschaften für die Entsorgung der verstrahlten Abfälle und Gebäude von Fukushima auf mehrere hundert Milliarden US$ geschätzt (Vettese und Pendergras 2022). Unabhängig davon bleiben die gewaltigen Probleme des Uranbergbaus, der zivil-militärischen Ambivalenz und der Endlagerung. Hinzu kommt, dass sich Planung und Bau neuer Atommeiler über Jahrzehnte hinzieht und zu extrem teuren Anlagen führt.
  • Damit kommen wir zur Frage, wie hoch die tatsächliche CO2-Emission eines AKW ist, und zwar der gesamten technischen Prozesskette, beginnend mit dem bergmännischen Uran-Abbau bis hin zum Endlager und Rückbau. Diese Frage wird in der Öffentlichkeit in der Regel schnell beantwortet: AKW sind CO2-frei, heißt es – dies sei ihr entscheidender Vorteil, um mit der Klimakrise zurechtzukommen! Aber ist das wirklich so?

Die von der IPCC ermittelten Rahmenbedingungen kann man auf die noch zulässige CO2-Menge (in g) pro erzeugter elektrischer Energiemenge (in kWh) herunterrechnen. Klimamodelle kommen für die Einhaltung des 2-Grad-Ziels auf einen nicht zu überschreitenden Emissionswert von ca. 15 gCO2/kWh (Vettese und Pendergras 2022). Um diesen Wert einschätzen zu können, ein Beispiel eines Berliner Wohnblocks mit ca. 20 Wohneinheiten: Der Betrieb der Ölheizung verursacht einen jährlichen Verbrauch von 320.000 kWh, die mit einer Emission von ca. 100 Tonnen CO2 verbunden ist. Das entspricht etwa 300 gCO2/kWh, also einem um den Faktor 20 zu hohen Wert. Zurzeit bietet der Anschluss an die Berliner Fernheizung einen erstaunlich niedrigen Wert von 42 gCO2/kWh an; deutlicher besser, aber noch immer zu hoch.

Den CO2-Wert für den Betrieb eines Atomkraftwerkes über alle Unwägbarkeiten der Prozesskette hinweg abzuschätzen, führt zu einer großen Bandbreite der emittierten CO2-Menge. Ein Literaturüberblick kommt zu einem Mittelwert von 66 gCO2/kWh (Sovacool 2008), das World Information Service on Energy gibt sogar 88-146 gCO2/kWh an (WISE International 2017). Zum Vergleich: Sonnen- und Windenergie kommen auf Werte bis hinunter zu 1 gCO2/kWh (Nugent and Sovacool 2014), das Umweltbundesamt veranschlagt bei Wind 8-11 gCO2/kWh (UBA 2021). Wichtig ist hier, dass bei einem breiten Einsatz von Kernenergie zunehmend auf minderwertige Uranlagerstätten zurückgegriffen werden muss. Entsprechend steigt aber der gCO2/kWh-Wert weiter. Obwohl beim Normalbetrieb der Atommeiler wenig CO2 produziert wird, fällt die Gesamtbilanz im Vergleich zu den nicht-fossilen Energieträgern deutlich negativ aus. Das ist übrigens beim Elektroauto sehr ähnlich. Die reine Produktion des Autos führt zurzeit zu einer CO2-Emission von mehr als zehn Tonnen. Unser persönliches CO2-Guthaben wäre für die nächsten zehn Jahre verbraucht.

Es bleibt die Frage, warum uns nach Ansicht der BefürworterInnen nicht ein »kleines Strecken« der Laufzeit, bis die zurzeit installierten Brennstäbe endgültig abgebrannt sind, weiterhilft. Dies würde ja die Endlager praktisch nicht mehr belasten, und der weitgehend sichere etwas längere Betrieb könnte wahrscheinlich gewährleistet werden. Das wären durchaus nachvollziehbare Argumente, wenn tatsächlich der endgültige Ausstieg nicht infrage gestellt würde – woran, wie gesagt, aber Zweifel aufkommen. Schon der Streckbetrieb – wie übrigens sogar die Notfallvorhaltung – bedürfen einer Gesetzesänderung, die dazu genutzt werden könnte, den Wiedereinstieg in die Atomkraft zu erreichen.

Es sollte klar geworden sein, dass es genügend schnell wirkendes Spar- bzw. ökologisch sogar notwendiges Reduktionspotential gibt, dessen Umsetzung gerade nicht durch Einsatz von Atomenergie verzögert werden darf.

Ernsthafte Antworten suchen

Nochmal: Der Um- bzw. Rückbau der Wirtschaft war von der neuen Regierung versprochen, der Krieg in der Ukraine ändert daran nichts. Die jetzt vorgenommenen Investitionen in fossile Infrastruktur sind fehl am Platz. Letztendlich zeigen sie, dass man die Klimakrise noch immer nicht ernst nimmt.

All dies verdeutlicht, wie schwer es der Demokratie fällt, die von der Wissenschaft aufgezeigten planetarischen Grenzen umzusetzen. Wir wissen zwar um ihre Notwendigkeit für unser Überleben, sind aber nicht in der Lage, zugunsten unserer langfristigen Überlebensinteressen auf kurzfristige Vorteile zu verzichten. Kognitive Dissonanzen werden verdrängt; man greift zur scheinbar einfachsten Lösung, jetzt der Atomenergie, damit sich nichts ändert. Zu welchen Ausflüchten werden wir greifen, wenn große Teile Deutschlands im Sommer nicht mehr bewohnbar sind, wenn der Meeresspiegel steigt und wenn schließlich die Lebensmittel knapp werden? Werden wir dann dem modernistischen Reflex folgen und uns auf das irrsinnige Abenteuer des »geo-engineering« einlassen, d.h. die Erdatmosphäre durch Eintrag von reflektierenden Partikeln zu managen – und für immer in das Grau des aerosolgetrübten Himmels blicken?

Angesichts der Widersprüchlichkeit, ja Irrationalität unserer Lebensführung stellt sich die grundsätzliche Frage, wie eine demokratisch verfasste Gesellschaft dem Klimawandel begegnen kann. Denn sie ist zutiefst verwurzelt in einem System, das durch billige Energie und den materiellen Überfluss stabilisiert wird. Unser Wirtschaftssystem kennt nur Wachstum, und Wachstum bedeutet erhöhten Ressourcennachschub, insbesondere vom Globalen Süden in den Norden. »Überfluss und Freiheit« (Charbonnier 2022) – Freiheit im Sinne der Unabhängigkeit von Naturzwängen – hängen in der Neuzeit zusammen und dafür gibt es im Anthropozän, im Zeitalter der Kollision der menschlichen mit den planetarischen Geschichte, keine einfache Grundlage mehr.

Anmerkungen

1) Analysen mehrerer Eisbohrkerne aus Hima­laya-Gletschern erlauben die Luftverschmutzung in einem Zeitraum von 1499-1992 zu dokumentieren. Danach ist der Gehalt von Schwermetallen im Eis ab ca. 1780 deutlich angestiegen. Weil diese Schwermetalle bei der Verbrennung von Kohle entstehen und diese fossilen Brennstoffe damals in Asien noch nicht genutzt wurden, ist Europa dafür verantwortlich (Gabrielli et al. 2020).

2) Neben der direkten Sonnenenergienutzung (Photovoltaik, Solarthermie) zählt dazu auch die Wind- und Wasserenergie sowie die Energie aus Biorohstoffen. Von anderer Natur sind die Geothermie und die Gezeitenenergie.

3) »Small Modular Reactors« (SMR) werden seit den 1950er Jahren vor allem als U-Boot-Reaktoren gebaut. Sie werden wegen ihrer Kleinheit als zukünftige Alternative zu den heutigen großen Kernkraftwerken propagiert. Ein BASE-Forschungsbericht setzt sich kritisch mit der zivilen Anwendung von SMR-Konzepten auseinander (Pistner 2021).

Literatur

Charbonnier, P. (2022): Überfluss und Freiheit: Eine ökologische Geschichte der politischen Ideen. S. Fischer.

Gabrielli, P., et al. (2020): Early atmospheric contamination on the top of the Himalayas since the onset of the European Industrial Revolution. PNAS 117, S. 3967-3973.

Meier, K. und Hofmann, C. (2022): Ist ohne Gas unser Wohlstand in Gefahr? Oder nur der schlechte Status Quo? Der Freitag 30/2022.

Nugent, D. und Sovacool, B.K. (2014): Assessing the life cycle green house gas emissions from solar PV and wind energy: Acritical meta-survey. Energy Policy 65, S. 229–244.

Pistner C. et al. (2021): Sicherheitstechnische Analyse und Risikobewertung einer Anwendung von SMR-Konzepten (Small Modular Reactors). BASE-Forschungsbericht, 17. März 2021.

Sovacool, B.K. (2008): Valuing the greenhouse gas emissions from nuclear power: A critical survey. Energy Policy 36, S. 2950-2963.

Steffen, W., et al. (2015): Planetary boundaries: Guiding human development on a changing planet. Science 347, 1259855.

Stiglitz, J. (2019): The climate crisis is our third world war. It needs a bold response. The Guardian, 4.6.2019.

UBA (2021): Aktualisierung und Bewertung der Ökobilanzen von Windenergie- und Photovoltaikanlagen unter Berücksichtigung aktueller Technologieentwicklungen. Umweltbundesamt, Climate Change 35/2021.

Vettese, T. und Pendergras, D. (2022): Half-earth socialism: A plan to save the future from extinction, climate change and pandemics. Verso.

WISE International (2017): Climate change and nuclear power. An analysis of nuclear greenhouse gas emissions. Studie im Auftrag des WISE.

Franz Fujara ist pensionierter Experimentalphysiker der TU Darmstadt. Seine Forschungsthemen liegen in der Neutronenforschung, der Kernspinresonanz und im Bereich der zivil-militärischen Ambivalenz nuklearer Technologien.
Ernst Rößler ist pensionierter Experimentalphysiker der Universität Bayreuth. Seine Forschung untersuchte molekulare Gläser mit Hilfe der dielektrischen und kernmagnetischen Spektroskopie.

Weltraum zwischen Konflikt und Kooperation

Weltraum zwischen Konflikt und Kooperation

von Jürgen Scheffran, Götz Neuneck, Dieter Engels, Regina Hagen, Arne Sönnichsen und Maximilian Bertamini

Herausgegeben von der Informationsstelle Wissenschaft und Frieden e.V. (IWIF)

Beilage zu Wissenschaft und Frieden 4/2022

Geopolitik oder Gemeinsame Sicherheit im Weltraum?

von Jürgen Scheffran

Im März 2022 warnte der Chef der russischen Raumfahrtbehörde Ros­kosmos, Dmitri Rogosin, die 500 Tonnen schwere Internationale Raumstation (ISS) drohe abzustürzen. Er begründete dies mit den gegen Russland wegen des Angriffs auf die Ukraine verhängten westlichen Sanktionen. Diese träfen auch die russische Raumfahrtindustrie, würden die Versorgung und Steuerung der ISS beeinträchtigen und das Risiko für mehr Weltraumschrott erhöhen. Während Rogosin eine Abkopplung und mögliche militärische Nutzung des russischen Moduls ins Spiel brachte, kündigte sein Nachfolger Juri Borissow im Juli 2022 gleich ganz den Ausstieg aus der ISS nach 2024 und den Bau einer eigenen Raumstation an (SPIEGEL 2022). Dies würde das Ende der ISS als gemeinsames Projekt Russlands mit westlichen Staaten besiegeln und eine jahrzehntelange zivile Zusammenarbeit im Weltraum beenden. Das erste Raumfahrt-Kooperationsprojekt zwischen den USA und der UdSSR, die Apollo-Sojus-Mission 1975, symbolisierte damals Entspannung und friedliche Zusammenarbeit im Weltraum. Diese Zeiten scheinen vorbei zu sein.

Dual-Use oder Dominanz des Militärischen?

Seit den Anfängen der Raumfahrt sind zivile und militärische Technologien und Infrastrukturen der Raumfahrt eng verflochten (Scheffran 1993). Die deutsche Raketenentwicklung in den 1930er Jahren erfolgte mit militärischer Unterstützung. Sie wurde während des Zweiten Weltkriegs zu einer Triebkraft für die Entwicklung der V2-Rakete in Nazi-Deutschland, die bei der Produktion im Konzentrationslager und beim Einsatz gegen europäische Städte tausende Menschen das Leben kostete. In den 1950er Jahren des Kalten Krieges dominierte – trotz öffentlich erklärter friedlicher Absichten – eine militärische Dimension des Rennens um den Weltraum. Das Janusgesicht der Raumfahrt wurde zum Synonym für technologischen Fortschritt und militärische Überlegenheit, was sich in Innovationen wie der präzisionsgelenkten Interkontinentalrakete, Aufklärungssatelliten und Mikroelektronik niederschlug. Neben der grundsätzlichen Faszination des Weltraums und den damit verbundenen wirtschaftlichen Interessen erklärt doch am ehesten die ambivalente Beziehung zwischen Weltraum und Militär die enormen Summen für Weltraumprojekte und den Stellenwert, der diesem Raum in den internationalen Beziehungen zugemessen wird.

Zwischen 1957 und dem Ende des Ost-West-Konflikts 1989 brachten die Supermächte mehr als 3.000 Objekte ins All, von denen etwa drei Viertel militärischen Zwecken dienten. Die militärische Nutzung des Weltraums wurde von Satelliten für Aufklärung, Frühwarnung, Wetterbeobachtung, Kommunikation und Navigation dominiert, die die Kriegsführung auf der Erde unterstützen sollten und auch zur Stabilität beitragen konnten, indem sie Transparenz schafften (Schrogl et al. 2015; Neuneck und Rothkirch 2006; Weeden 2019).

Konfrontation und Entspannung im Kalten Krieg

Bis in die 1960er Jahre stand der Weltraum weiter im Zeichen von Machtkämpfen um die militärisch-technologische Vorherrschaft im All. Hatte zunächst die Sow­jetunion mit dem Start des Sputnik-Satelliten 1957 und dem ersten Menschen im All (1961) die Nase vorn, mobilisierten die USA enorme Ressourcen für die zivile Raumfahrt, angespornt durch die Rede von US-Präsident John F. Kennedy am 12. September 1962 (kurz vor der Kuba-Krise), in der er die Nation auf die Mondlandung einschwor. Mit sechs Apollo-Mondfähren zwischen 1969 und 1972 erlangten die USA zwar einen Vorsprung, doch erlahmte danach zunächst das Inte­resse an teuren Raumfahrtprojekten, zumal ihr Nutzen für die Menschheit fraglich war. Erst in jüngster Zeit kehrte das Interesse an Reisen zu Mond oder Mars wieder auf die Agenda zurück.

Nach der Entspannung der 1970er Jahre und der damit verbundenen Abkommen (Weltraumvertrag 1967, SALT-Abkommen und ABM-Vertrag zur Begrenzung der Raketenabwehr 1972) begann in den 1980er Jahren eine weitere Phase von Systemkonkurrenz und Konfrontation, die erneut den Weltraum erfasste und das Risiko eines Atomkriegs barg. In der sogenannten »Star-Wars«-Rede vom 23. März 1983 kündigte US-Präsident Ronald Reagan an, Atomwaffen durch einen Raketenschild im Weltraum unwirksam und obsolet machen zu wollen (Engels et al. 1984). Während viele Wissenschafler*innen die Machbarkeit bezweifelten, wurde die »Strategic Defense Initiative« (SDI) dennoch an den Start gebracht, und erreichte erwartungsgemäß dieses Ziel nicht. Milliardenschwere Ausgaben verstärkten die Weltraumrüstung, von kinetischen Antisatellitenwaffen (ASAT) bis zu La­serwaffen zur Raketenabwehr (siehe den Beitrag von Neuneck in diesem Dossier, S. 6). Nachdem der sowjetische Generalsekretär Michail Gorbatschow 1985 an die Macht gekommen war, verhandelten beide Supermächte über eine Beendigung des Wettrüstens auf der Erde und im Weltraum, und vereinbarten mit den INF- und START-Verträgen nukleare Abrüstungsschritte. Beide Seiten hielten sich lange an ein von Moskau vorgeschlagenes Moratorium für ASAT-Tests, bis die USA 2008 wieder testeten. Die erneute Entspannung und der Zusammenbruch der Sowjetunion schufen die Voraussetzungen für die Beendigung des Ost-West-Konflikts.

Nach dem Kalten Krieg

In den 1990er Jahren verlagerte sich die Aufrüstung und Nutzung des Weltraums auf Dual-use Projekte, um zivil-militärische Synergien zu nutzen (Liebert et al. 1994). Dies bedeutete aber keineswegs eine geringere militärische Nutzung des Weltraums: Bereits der Golfkrieg 1990/1991, von manchen als erster Weltraumkrieg bezeichnet, stellte dies unter Beweis, da Satelliten intensiv genutzt wurden und die Patriot-Abwehrrakete zum Einsatz kam. Gleichwohl versagten viele dieser High-Tech-Waffen (einschließlich Patriot). Entsprechendes gilt für die folgenden Militärinterventionen (Jugoslawien, Afghanistan, Irak, Ukraine), mit immensen Schäden.

Mit dem schon 1985 von Reagan gegründeten »Space Command« verstärkten die USA dann nach den Anschlägen vom 11. September 2001 unter Präsident George W. Bush und Verteidigungsminister Donald Rumsfeld erneut ihre klar militärisch geprägten Dominanzbestrebungen, vorgeblich um ein imaginäres »Pearl Harbor im Weltraum« durch Angriffe von »Schurkenstaaten« und »Terroristen« abzuwehren (INESAP 2002). 2002 kündigte Präsident Bush dann den ABM-Vertrag, um ungestört Raketenabwehr und Weltraumrüstung entwickeln zu können. Ähnliche Schritte der militärischen Expansion im Weltraum erfolgten unter Präsident Donald Trump, der 2019 eine eigene »Space Force« in der US-Armee etablierte und die Weltraumbudgets der entsprechenden Behörden erhöhte.

Doch die Vorherrschaft der USA im Weltraum ist nicht mehr unangefochten. Weitere Akteure haben mittlerweile Zugang zu Trägerraketen und Satelliten, was einerseits die militärische Nutzung vorantreibt und andererseits das Akteursgefüge zunehmend verkompliziert. Trotz einer Krise der russischen Raumfahrt und wachsender Konkurrenz im Weltraumtransport, verfügt Russland nach wie vor über beträchtliche technische und militärische Fähigkeiten im Weltraum, die auch modernisiert werden. Die Ambitionen dokumentierte der russische ASAT-Test vom 15.11.2021, der zahlreiche orbitale Trümmerteile hinterließ (Bugos 2021).

In Europa ist neben den industriellen, technologischen und wissenschaftlichen Kompetenzen sowie dem öffentlichen Interesse an der bemannten Raumfahrt auch eine zunehmende Aufmerksamkeit für militärische Fähigkeiten der Aufklärung, Navigation und Kommunikation zu beobachten, unter Ausnutzung von Dual-use fähigen Projekten (siehe den Beitrag von Hagen in diesem Dossier, S. 14). Dazu gehört die Einrichtung von militärischen Weltraumkommandos in einigen Staaten, wie in Frankreich und Deutschland. Ähnliche Entwicklungen sind in Japan zu beobachten (Yoshitomi 2019).

New Space Race: Globaler Süden und Kommerzialisierung

Die Dual-Use-Strategie im Weltraum spielt auch im Globalen Süden eine Rolle. Weltraumkooperation und Technologietransfer schufen Voraussetzungen für die Entwicklung und Produktion von ballistischen Raketen und Satelliten. Dies wurde deutlich, als der Irak im Golfkrieg Raketen einsetzte, die auch über Dual-Use-Technologieexporte entwickelt, getestet und produziert wurden (Scheffran 1991). Hier zeigten sich Abgrenzungsprobleme bei der Umsetzung von Abkommen wie dem Trägertechnologie-Kontrollregime (»Missile Technology Control Regime«, MTCR) von 1987, das die Verbreitung von Raketentechnologie durch Lieferländer einschränken sollte.

Die Volksrepublik China hat wie die Supermächte auch ballistische Raketen als Grundlage für Weltraumraketen verwendet. Seit 1970 verfügt China über eine wachsende Zahl von Satelliten und verfolgt Programme zur Abwehr von Raketen und Satelliten. Dies zeigte 2007 der erste chinesische ASAT-Test, der ebenfalls Tausende von Fragmenten in der Umlaufbahn hinterließ. Israel verfügt ebenso über leistungsstarke Trägerraketen und seit 1988 auch über Satelliten für Aufklärungs- und andere Zwecke. Auch Indien gehört zu den führenden Raumfahrtnationen, mit Trägerraketen, Satelliten und einem ASAT-Versuch 2019. Ebenso zum »Weltraum-Club« dazu gehören wollen die Atommacht Nordkorea und Iran, der im April 2020 erstmals einen Militärsatelliten in eine Umlaufbahn brachte.

Immer mehr Akteure drängen in den Weltraum, Rivalitäten nehmen zu, besonders zwischen den USA und der VR China (vgl. den Beitrag von Engels, S. 10). Weltweit investierten 2014 insgesamt 58 Länder jeweils mehr als 10 Mio. US$ in die Raumfahrt, 20 Staaten mehr als noch 2005 (Jetzke und Weide 2017). Gründe für das neue Weltraumrennen (»New Space Race«) sind die fallenden Kosten für Starts, die Wiederverwendbarkeit von Trägerraketen, die Serienproduktion von Kleinsatelliten und Effizienzsteigerungen im privaten Sektor.

Ende 2021 befanden sich nahezu 5.000 Satelliten in der Erdumlaufbahn, davon etwa 3.000 aus den USA, 500 aus China und rund 170 aus Russland (Statista 2021). Das Raumfahrtbudget der US-Regierung lag 2018 bei knapp 20 Mrd. US$, gefolgt von den Budgets Chinas, Europas und Russlands. Während die Raumfahrt früher fast ausschließlich von Staaten finanziert und von wenigen etablierten Unternehmen durchgeführt wurde, wird sie mit zunehmender Kommerzialisierung von privaten Akteuren geprägt, bis hin zum Weltraumtourismus (vgl. den zweiten Beitrag von Sönnichsen in diesem Dossier, S. 21). Zwischen 2005 und 2017 wuchs der Weltmarkt für raumfahrtbezogene Geschäfte mit einer durchschnittlichen Wachstumsrate von 6,7 % pro Jahr. Die Raumfahrtindustrie erwirtschaftete 2005 einen Umsatz von rund 175 Mrd. US$, der sich bis 2040 verzehnfachen könnte (Kind et al. 2020).

Ukrainekrieg: Brennglas der Geopolitik im Weltraum-Zeitalter

Mit zunehmenden Investitionen wachsen auch die Sicherheitsambitionen im Weltraum, einem Schauplatz geopolitischer Rivalität, der zunehmend „komplexer, fragiler und letztendlich konfliktiver“ wird und gekennzeichnet ist durch Internationalisierung, Kommerzialisierung, Verdichtung und ungenügende Reglementierung (Rotter 2022, S. 18).

Der Ukrainekrieg und die anvisierte sicherheitspolitische Zeitenwende beeinflussen auch die Weltraumsicherheit und die zivile Zusammenarbeit. Seit russische Sojus-Starts vom Raumfahrtzentrum Guayana eingestellt wurden, was auch europäische kommerzielle Satelliten betrifft, braucht die ESA dringend eine alternative Trägerrakete. Direkt vom Krieg betroffen ist die Produktion von Triebwerken der europäischen Vega-Trägerrakete in der Ukraine. Die europäische Weltraumbehörde ESA stellte zudem die Zusammenarbeit mit den kommenden russischen Missionen ein, darunter das deutsch-russische Weltraumteleskop eROSITA und die Mars-Sonde ExoMars.

Im Ukrainekrieg wird der Weltraum von allen Beteiligten militärisch instrumentalisiert, für Aufklärung, Lageeinschätzung, Kommunikation und Navigation. Der Cyberangriff auf einen kommerziellen Satelliten des US-Unternehmens ViaSat zu Kriegsbeginn hatte Auswirkungen auf das Militär in der Ukraine und beeinträchtigte die Terminals ziviler Kunden in ganz Europa, darunter Tausende von Windkraftanlagen in Deutschland (ESPI 2022). Damit rückte die Verwundbarkeit und der Schutz der Weltrauminfrastruktur ins Rampenlicht.

Als Reaktion auf diese oben genannten Herausforderungen zielt der neue »Strategische Kompass für Sicherheit und Verteidigung« (EU 2022) darauf, das »geopolitische Erwachen« in eine dauerhaftere Strategie umzusetzen. Angestrebt wird, neue Mittel, Fähigkeiten und Technologien zu entwickeln, auch für den Schutz und die Resilienz der europäischen Weltraumressourcen in Krisenzeiten. Hierzu gehört die für 2023 angekündigte »Europäische Weltraumstrategie für Sicherheit und Verteidigung«. Vorgeschlagen werden Maßnahmen für Risikoeinschätzung und Krisenmanagement, Überwachung und Vernetzung im Weltraum, der Schutz kritischer Weltraum-Infrastrukturen, -Technologien und -Versorgungsketten, Dual-use-Innovationen und ein autonomer Zugang zum Weltraum (siehe weiter bei Hagen, S. 14). Damit verbunden sind verschiedene Rüstungsprogramme, da­runter auch ein Raketenabwehrsystem für Europa.

Weltraumrecht und Rüstungskontrolle

Die Rivalitäten zwischen den Großmächten und die Verschlechterung der internationalen Beziehungen wirken sich auf die künftige Zusammenarbeit im Weltraum ebenso aus wie auf multilaterale Verhandlungen und Abkommen des Völkerrechts. Entgegen der faktischen militärischen Nutzung hat die internationale Gemeinschaft den starken Wunsch zum Ausdruck gebracht, den Weltraum für Zusammenarbeit und friedliche Zwecke zu erhalten. Als Verhandlungsforen dienen der UN-Sonderausschuss für die friedliche Nutzung des Weltraums (COPUOS) und die Genfer Abrüstungskonferenz (CD) zur militärischen Weltraumnutzung.

Die Entwicklung des Weltraumrechts hat mit den raschen und komplexen Herausforderungen im Weltraum nicht Schritt gehalten (vgl. die entsprechenden Beiträge von Sönnichsen, S. 17 und Bertamini, S. 25). Hier sind neue Regelungen erforderlich, die über den Weltraumvertrag von 1967 hinausgehen und Risiken vermeiden, Investitionen erleichtern, Rechtssicherheit schaffen und nicht zuletzt Sicherheit und Frieden im Weltraum ermöglichen. Resolutionen der VN-Generalversammlung zur »Verhinderung eines Wettrüstens im Weltraum« (PAROS) konnten bislang auch noch nicht in konkrete Schritte umgesetzt werden. Durch passiven und aktiven Schutz und Verkehrsregeln im Weltraum könnten Risiken reduziert und die Überlebensfähigkeit von Weltraumobjekten verbessert werden. Bis zu einem gewissen Grad könnten auch andere vertrauensbildende Maßnahmen (VBM) zur Vermeidung von Unfällen und Missverständnissen mit zur Stabilisierung beitragen.

Da es bislang noch keine wirksamen Weltraumwaffen gibt, kann eine destabilisierende Bewaffnung und ein Wettrüsten im Weltraum durch präventive Rüstungskontrolle und Abrüstung noch verhindert werden (Hagen und Scheffran 2005). Seit den 1970er Jahren gab es Initiativen gegen die Bewaffnung des Weltraums, darunter Vorschläge Frankreichs, der Sowjetunion und der »Union of Concerned Scientists«. Deutsche Wissenschaftler legten 1984 auf einer Konferenz in Göttingen einen »Vertragsentwurf über die Begrenzung der militärischen Nutzung des Weltraums« vor, der seinerzeit Gegenstand einer Bundestagsdebatte war (Fischer et al. 1984; Scheffran 2021). Ergänzend könnten ein Testverbot für ASAT-Waffen und/oder ballistische Raketen vereinbart werden.

In den letzten zehn Jahren wurden erneut verschiedene diplomatische Initiativen ergriffen, um einem Wettrüsten im Weltraum zu begegnen: ein Verhaltenskodex der EU für den Weltraum, Vorschläge Kanadas zur Nichtbewaffnung des Weltraums, ein gemeinsamer Vertragsentwurf Russlands und Chinas gegen Weltraumwaffen (siehe auch der erste Beitrag von Sönnichsen in diesem Dossier, S. 17). Die USA blockierten bislang entsprechende Verhandlungen grundsätzlich. Erst 2022 unter Präsident Joe Biden signalisierten sie die Bereitschaft zur Kontrolle von ASAT-Waffen.

Die Wirksamkeit eines Weltraumabkommens hängt von politischen Anforderungen und technischen Fähigkeiten der Verifikation ab, um die vereinbarten Regeln zu überprüfen und Vertragsverstöße rechtzeitig zu entdecken. Verschiedene Mittel können zu diesem Zweck genutzt werden (Scheffran 1986): Fernerkundung in verschiedenen Spektralbereichen; Bahnverfolgung; Sensoren vor Ort/an Bord; kooperative und institutionelle Verfahren (Informationsaustausch; Inspektion; VBM; eine internationale Agentur; Konsultationen). Einige dieser Mittel sind leicht verfügbar, andere wiederum erfordern Forschung und internationale Zusammenarbeit.

Gemeinsame Sicherheit im Weltraum

Die Chancen der Weltraumrüstungskontrolle hängen von den sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen ab. In einem feindseligen Umfeld ist Rüstungskontrolle notwendiger, wenn auch schwieriger, während in einem kooperativen Umfeld die Anforderungen an Rüstungskontrolle oft geringer sind. Die derzeitige geopolitische Landschaft mit multiplen Krisen, Feindseligkeiten und Instabilitäten steht im Widerspruch zu einer gelingenden internationalen Zusammenarbeit im Weltraum und einer dafür notwendigen breiten Unterstützung von VN-Resolutionen für eine friedliche Weltraumnutzung. Um ein neues Sicherheitsumfeld zu schaffen, müssen Spannungen und Anreize für eine Bewaffnung des Weltraums abgebaut werden, unterstützt durch Maßnahmen zur Risikominderung, Überwachung und Vertrauensbildung. Beim Übergang zu einem globalen Weltraum-Sicherheitsregime spielt die regionale Sicherheitsdynamik und -zusammenarbeit eine Rolle, als Antrieb und als Hindernis. Ohne ein stärkeres diplomatisches Engagement, kooperative Initiativen und ein neues Denken, wie es der kürzlich verstorben Michail Gorbatschow einst forderte, können daher Bedrohungswahrnehmungen und Sicherheitsdilemmata im Weltraum schnell übermächtig werden.

Nach Wolter (2006, S. 5) umfasst das Konzept der Gemeinsamen Sicherheit im Weltraum „das Verbot aktiver militärischer Nutzungen mit zerstörerischem Charakter im gemeinsamen Raum; ein umfassendes Paket vertrauensbildender Maßnahmen mit multilateralen Satellitenüberwachungs- und -verifikationssystemen sowie ein Schutzregime für friedliche Weltraumobjekte auf der Grundlage von Immunitätsregeln für Satelliten, wie z.B. ‘Verkehrsregeln’ und ein ‘Verhaltenskodex’.“ Gemeinsame Sicherheit sucht also die gegenseitigen Interessen im Weltraum zu wahren und gemeinsame Partnerschaften für regionale Sicherheit, Rüstungskontrolle und Abrüstung anzustreben (ITUC et al. 2022). Hierzu gehört eine sichere und nachhaltige Nutzung des Weltraums, die die Integrität von Weltraumaktivitäten gegen Bedrohungen und Naturrisiken sicherstellt.

Umwelt, Zivilgesellschaft und nachhaltiger Frieden

Der Weltraum ist ein Gemeinschaftsgut, das zur Umwelt der Erde gehört und im Sinne erweiterter Sicherheit vor Aktivitäten zu schützen ist, die sie ausbeuten und zerstören (vgl. der Beitrag von Bertamini in diesem Dossier, S. 25). Krieg im All belastet diese Umwelt und seine Ressourcen. Raumfahrtaktivität schafft negative Nebenwirkungen für die Umwelt, u.a. Weltraummüll, Lichtverschmutzung, Unfallrisiken bei Start und Wiederkehr, Emission von CO2 und anderen Schadstoffen durch Raketenstarts und die dafür notwendige Infrastruktur. In Deutschland wurden ökologische Probleme der Raumfahrt schon seit 1988 untersucht (Wengeler 1993).

Richtig eingesetzt, kann die Raumfahrttechnologie zur Entwicklung der Menschheit und zur Bewahrung der Bio­sphäre beitragen. Für eine friedliche und nachhaltige Weltraumnutzung hatte ich acht Kriterien vorgeschlagen, die auch die sozialen und politischen Kräfteverhältnisse berücksichtigen (Scheffran 2001, siehe Kasten oben links). Neben der Erforschung und Nutzung des Weltraums richtet sich der Blick auf die Kommunikation und die Beobachtung der Erde über Satelliten in wichtigen Bereichen wie Landwirtschaft und Fischerei, Umweltüberwachung und Wettervorhersage, Geologie und Rohstofferkundung, Kartografie und Stadtplanung. So lassen sich wichtige Erkenntnisse über die Auswirkungen des Menschen auf die Umwelt gewinnen, für die nachhaltige Lösung globaler Probleme wie Klimawandel, Arten­sterben, Meeresforschung, Seenotrettung, Katastrophenmanagement und die Überprüfung internationaler Verträge. Satelliten liefern auch Erkenntnisse und Abwehrmöglicheiten gegen Gefahren aus dem All, etwa durch Zusammenstöße mit Asteroiden, wie zuletzt die Dart-Mission am 26.9.2022 zeigte.

Acht Kriterien für eine friedliche und nachhaltige Weltraumnutzung (nach Scheffran 2001):

1. Schwere Katastrophen vermeiden.

2. Militärische Nutzung des Weltraums begrenzen.

3. Risiken für menschliche Gesundheit und Umwelt minimieren.

4. Probleme und menschliche Bedürfnisse nachhaltig lösen.

5. Qualität, Effizienz und Zuverlässigkeit der Technologien sichern.

6. Technische Alternativen mit dem besten Nutzen-Kosten-Verhältnis entwickeln.

7. Sozialverträglichkeit gewährleisten und Zusammenarbeit stärken.

8. Projekte in öffentlichen Debatten unter Beteiligung der Betroffenen rechtfertigen.

In den Machtkämpfen des Raumfahrtzeitalters spielte die Zivilgesellschaft nur eine untergeordnete Rolle. Wie der Göttinger Vertragsentwurf und andere Initiativen zeigen, können Wissenschaft und Gesellschaft sich jedoch effektiv an Fragen der Weltraumsicherheit und Rüstungskontrolle beteiligen und die Sackgasse bei den Verhandlungen im Rahmen einer Weltraumdiplomatie überwinden helfen (Scheffran 2021). Um das öffentliche Bewusstsein und die Demokratisierung des Weltraums zu schärfen, ist ein öffentlicher Diskurs über die zugrundeliegenden Probleme und möglichen Lösungen erforderlich, der auf Offenheit, Transparenz, Fairness und gegenseitigem Respekt beruht. Initiativen (wie das »SichTRaum«-Netzwerk oder das »Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement«) können den Informationsaustausch und demokratischen Prozess zwischen Zivilgesellschaft, Medien und staatlichen Einrichtungen fördern und Unsicherheiten verringern helfen. Hierzu gehört die Entwicklung handlungsleitender Kriterien für die zukünftige Raumfahrtentwicklung, im Sinne nachhaltiger Entwicklung und einer friedlichen Nutzung des Weltraums.

Literatur

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Jürgen Scheffran ist Professor für Integrative Geographie, Leiter der Forschungsgruppe Klimawandel und Sicherheit (CLISEC) an der Universität Hamburg und Mitglied der W&F-Redaktion.

Ein neues Wettrüsten im Weltraum?

von Götz Neuneck

Vor dem Hintergrund der sich entwickelnden Machtrivalitäten zwischen den USA, Russland und China verschärft sich auch der Wettbewerb im und um den Weltraum, erst recht nach Beginn des Ukraine-Krieges. In einigen Technologiefeldern, insbesondere solchen mit militärischem Hintergrund, ist ein Wettrüsten zu beobachten. Ein Wettrüsten ist ein militärischer Wettbewerb zwischen zwei oder mehreren Staaten, um überlegene Streitkräfte aufzustellen, die über qualitative oder quantitative Vorteile verfügen. Allein die Vermutung, dass der potenzielle Gegner in Schlüsseltechnologien investiert, reicht z.B. für enorme Investitionen in militärisch relevante Raumfahrtprogramme wie Raketenabwehr, Laser oder Künstliche Intelligenz. Die führenden Weltraummächte beschuldigen sich auch gegenseitig, den Weltraum zu bewaffnen bzw. Angriffe gegeneinander durchzuführen, während sie Anti-Satelliten-Fähigkeiten testen (Trevithick 2021). Etwa 20 bis 25 % aller Satelliten werden heute direkt für militärische Zwecke genutzt, d.h. für Aufklärung, Frühwarnung, Kommunikation, Raketennavigation usw. Sie sind von zentraler Bedeutung für die Koordinierung globaler Militäroperationen und für den Einsatz von Waffen (Drohnen, Marschflugkörper), aber auch für die Aufrechterhaltung von Aufklärung und Frühwarnung. Ein Angriff auf Frühwarnsysteme hätte unabsehbare Konsequenzen im Krisenfall.

Mehr nationale Sicherheit im Weltraum und der Schutz kritischer Infrastrukturen sind das Gebot der Stunde für die führenden Weltraummächte (Harrison et al. 2018 und 2022). Die Einrichtung von Weltraumstreitkräften in Russland, China und den USA, die verstärkte russisch-chinesische Zusammenarbeit und die Erprobung von »Counter-Space«-Aktivitäten durch die drei führenden Weltraummächte sind Belege für die Vorbereitung einer heimlichen Bewaffnung des Weltraums, die im Kriegsfall eingesetzt werden oder sogar einen Krieg auslösen kann.

Die militärische Nutzung des Weltraums

Während des Kalten Krieges war die mili­tärische Nutzung des Weltraums eine der wichtigsten Triebfedern der Weltraumprogramme der Supermächte. Viele Entwicklungen, z.B. in den Bereichen Trägerraketen, Erdbeobachtung und Satellitentechnologie, verdeutlichen den doppelten Verwendungszweck der Raumfahrttechnologie, da ihre Operationen sowohl für militärische als auch für kommerzielle oder friedliche Zwecke genutzt werden können (vgl. auch den Beitrag von Hagen in diesem Dossier, S. 14). Wie William Burrows in seiner bahnbrechenden »Geschichte des ersten Weltraumzeitalters« formulierte: „Doch der Weltraum konnte nur durch Raketen erreicht werden, und die Schande daran war, dass Raketen immer wieder ausdrücklich dafür konzipiert wurden, beispiellose Zerstörung anzurichten und eine große Zahl genau der Menschen zu töten, deren Aufklärung und Erlösung sie versprachen“ (Burrows 1998, S. 4). Bereits in den späten 1950er Jahren begannen die USA und die UdSSR mit der Entwicklung und Erprobung kinetischer Anti-Satelliten-Technologien (ASAT). Nukleare Tests im Weltraum (z.B. Starfish Prime 1962) zeigten, dass durch den von Nuklearexplosionen ausgelösten Elektromagnetischen Impuls (EMP) nicht gehärtete Satelliten und Kommunikationsdienste massiv gestört werden würden.

Von der Erde aus können Angriffe mit direkt aufsteigenden Raketen auch Satelliten als Teil von Raketenabwehrsystemen kinetisch zerstören (über den Zusammenhang von Raketenabwehr und Weltraumverteidigung siehe Neuneck, Alwardt und Gils 2015). Eine andere Methode besteht darin, Satelliten in einer Umlaufbahn zu positionieren, sie in die Nähe von feindlichen Satelliten zu bringen und dann den anvisierten Satelliten zu zerstören – eine Methode, die langsamer und berechenbarer ist, aber auch höhere Umlaufbahnen erreicht. Solche »orbitalen« ASAT-Tests wurden vor allem von der UdSSR in den 1970er Jahren durchgeführt. Mit Reagans SDI-Rede 1983 und einer angenommenen sowjetischen ASAT-Bedrohung wurden die ASAT-Entwicklungen in den USA intensiviert. Immer wieder wurden von beiden Supermächten auch militärische Entwicklungen vorangetrieben, wie z.B. bewaffnete Raumstationen (USA: MOL und UdSSR: Almaz) oder Laserwaffen. Nach einigen Entwicklungs- und Testphasen wurden sie jedoch letztlich nicht dauerhaft eingesetzt: zu teuer im Unterhalt, ineffizient und zu gefährlich im Krisenfall waren die berechtigten Hauptargumente. Andere militärische Technologien wie die Aufklärung und Frühwarnung aus dem Weltraum wirkten eher deeskalierend. Sie verringerten das Risiko von Fehleinschätzungen und einer unerwünschten Eskalation im Krisenfall. Dieses Erbe steht heute auf dem Spiel, zumal die Entwicklungen sich nicht mehr alleine auf die Hauptakteure USA und Russland beschränken.

Was sind Weltraumwaffen?

Bereits während des Kalten Krieges verfolgten die USA und die Sowjetunion wiederholt Waffenprogramme und testeten Raumfahrzeuge mit Anti-Satelliten-Funktionen, setzten aber bisher »offiziell« keine Weltraumwaffen dauerhaft ein oder statio­nierten diese.

Unter Weltraumwaffen versteht man einerseits Objekte, die sich im Weltraum befinden oder in den Weltraum hineinwirken können und darauf ausgelegt sind, Satelliten zu beschädigen, funktionsunfähig zu machen oder sogar zu zerstören. Andererseits werden zunehmend neue manövrierfähige Flugkörper (»hyper-glide vehicles«) entwickelt, die auf der Erde starten, den Weltraum durchqueren und wieder Ziele auf der Erde bekämpfen können, also Waffen, die indirekt »aus dem Weltraum« operieren. Ein Überblick über die wesentlichen technologischen Voraussetzungen für Weltraumwaffen findet sich bei Neuneck (2022).

Im Prinzip gibt es verschiedene Technologien, um Objekte (primär Satelliten) im Weltraum zu treffen, zu stören oder funktionsunfähig zu machen. Satelliten kehren zyklisch zurück, so dass sie leicht zu verfolgen sind. Aufgrund ihrer Leichtbauweise sind sie sehr verwundbar und vor allem in niedrigen Orbitalhöhen zerstörbar, auch und gerade durch die in der Entwicklung befindlichen bodengestützten Raketenabwehrsysteme der USA, Russlands, Chinas und Indiens. Das Spektrum der Angriffsmöglichkeiten reicht von nuklearen Explosionen im Weltraum über elektromagnetische Störungen bis hin zu kinetischen Waffen (d.h. durch Explosion oder Kollision).

  • Eine in der Umlaufbahn ausgelöste Nuklearexplosion kann aufgrund der freigesetzten Strahlung Satelliten in einem großen Radius beschädigen oder zerstören und stellt langfristig ein erhebliches Problem dar.
  • Der Einsatz von Waffen mit gerichteter Strahlungswirkung (»directed energy weapons«), wie Laser, Mikrowellen, oder Störsender, erfordert erhebliche technologische Erfahrung (Stupl und Neuneck 2005). Ein Schutz gegen solche Auswirkungen ist begrenzt möglich, doch wird der Satellit dadurch schwerer. Einseitig verwendbar ist die bessere Abschirmung durch Schilde, den schnellen Austausch von Satelliten oder Redundanz. Die Fähigkeiten und Tests von Lasern zum Blenden von Satelliten und das elektronische Stören von fremden Satelliten schreiten bei den drei maßgeblich einflussreichen Weltraummächten voran. Hacker-Angriffe und Störsignale wurden auch schon aktiv bei militärischen Operationen eingesetzt, so im Rahmen des Ukraine-Krieges durch das Stören von GPS-Satellitendaten durch Russland.
  • Eine wichtige Kategorie sind kinetische Angriffe, die im Weltraum aufgrund der hohen Eigengeschwindigkeiten von Satelliten leicht durch Kollisionen erzielt werden können. Eine weitere Option ist die zunehmende Zahl von Kleinsatelliten, die zwar nur begrenzt manövrierfähig sind, aber wie eine »Weltraummine« wirken können. Größere »Kampfsatelliten« müssen durch ko-orbitale Manöver zum Ziel gebracht werden, was Treibstoff und Zeit erfordert. Diese Typen erfordern umfangreiche Tests, weltweit verteilte Bodenstationen und eine jahrelange Technologieentwicklung.
  • Zudem können Anti-Satelliten-Ab­fang­raketen von der Erde aus gestartet oder für längere Zeit im Weltraum stationiert und im Kriegsfall eingesetzt werden. Bodengestützte Raketen lassen sich im Rahmen der Raketenabwehr (»Ballistic Missile Defense«, BMD) auch direkt gegen bestimmte Satelliten einsetzen.
  • Ebenso können Satelliten direkt durch externe Manipulation oder eine Sprengladung funktionsunfähig gemacht werden.
  • Eine letzte Möglichkeit besteht darin, die Datenverbindung zu einem Satelliten zu unterbrechen oder zu kappen. Aufgrund des hohen Dual-Use-Potenzials der Raumfahrttechnologien verfügen vor allem die führenden Raumfahrtnationen über solche Fähigkeiten: Die Bahnen der Zielsatelliten müssen vermessen werden, was Radar- oder optische Bahnverfolgungssysteme, d.h. eine umfassende Weltraumüberwachung, erfordert.

»Counter Space«: Neue Anti-Satellitentests

Der internationale Weckruf für einen neuen Vorstoß in Sachen Weltraumwaffen war der chinesische Satellitentest im Januar 2007, als es der VR China gelang, mit einer bodengestützten Abfangrakete ihren eigenen Wettersatelliten Fengyun-1C zu zerstören (Neuneck 2008). Ein Jahr später setzten die USA ihre schiffsgestützte Abfangrakete SM-3 ein, um einen funktionsunfähigen US-Satelliten zu zerstören, und demonstrierten China und Russland damit ihre bereits vorhandenen Fähigkeiten. Russland testet die boden- und luftgestützten Abfangraketen »Nudol« und »Contact« zum Abfangen von Flugkörpern im niedrigen Orbit. China hat zwischen 2010 und 2018 seine eigenen Abfangraketen getestet. Auch die Nuklearmacht Indien ist in die Entwicklung von Antisatelliten-Abwehr eingestiegen. Am 27. März 2019 verkündete der indische Premierminister den ersten erfolgreichen ASAT-Test Indiens (»Mission Shakti«). Dabei hatte eine bodengestützte ASAT-Abfangrakete den indischen Testsatelliten Microsat R in 300 km Höhe zerstört. Ein indischer Sprecher erklärte, der Test sei nicht gegen eine Nation gerichtet gewesen und die Fähigkeit sei zu Abschreckungszwecken erworben worden.

Die Entwicklung von Counter-Space-Technologien (ASAT, Laser, elektronische Kriegsführung usw.) hat sich seit Ende der 2000er Jahre intensiviert (Secure World Foundation 2019). So werden auch zunehmend übliche zivile Satellitenexperimente zu Rendezvous-Zwecken durch die USA, China und Russland beobachtet. Diese »Rendezvous and Proximity Operations« (RPO) können gut getarnt sein, da sie zivilen Zwecken dienen können, wie z. B. der Betankung oder Reparatur anderer Satelliten. Während man bis vor kurzem glaubte, dass Satelliten in hohen geostationären Umlaufbahnen (36.000 km) unzugänglich und daher sicher seien, mehren sich die Hinweise, dass alle Weltraummächte auch Weltraumwaffen für hohe Umlaufbahnen entwickeln. Während die USA seit 2003 unbemannte Rendezvous-Technologien testen, operiert China seit 2021 mit dem Satelliten SJ-21 in der geostationären Umlaufbahn, um Weltraummüll einzusammeln (Harrison et al. 2022,24). Russland nutzte den Luch-Satelliten, um sich mehreren in der geostationären Umlaufbahn geparkten Satelliten zu nähern.

Im Jahr 2020 beschuldigte das Weltraumkommando der US-Streitkräfte Russland, einen Sub-Satelliten vom Typ »Cosmos-2543« abgesetzt zu haben, um einen US-Spionagesatelliten auszuspionieren. Im Juli 2020 wurde Russland vorgeworfen, dass dieser Satellit ein Projektil ausgestoßen habe, um einen ASAT-Test durchzuführen. Die USA werfen Russland und China vor, einerseits für Rüstungskontrolle im Weltraum einzutreten, andererseits aber heimlich ASAT-Waffen zu testen. Transparenz und Vertrauensbildung in diesem Sektor sind jedenfalls nicht mehr festzustellen.

Ein Krieg im Weltraum wird möglich

Die zunehmende Bedeutung der Weltraum­umgebung für militärische Zwecke wird auch durch einschlägige Dokumente, Programme und die Einrichtung von militärischen Weltraumkommandos und -zentren der führenden Weltraummächte unterstrichen. Im Juni 2018 erklärte der damalige Präsident Trump: „Wir brauchen eine amerikanische Dominanz im Weltraum“ (Lewin 2018). Die von Trump ins Leben gerufene neue 6. Streitkraft der »Space Force« verkündete: „Die Menschheit hat sich verändert, und die Handlungen unserer potenziellen Gegner haben die Wahrscheinlichkeit einer Kriegsführung im Weltraum deutlich erhöht“ (US Space Force 2020). Der Weltraum und damit verbunden auch der Cyber­space werden in der im März 2018 veröffentlichten »National Space Strategy« als neue „Kriegsführungsdomäne“ aufgeführt, was neue militärische Weltraumentwicklungen rechtfertigt und eine „durchdachte Antwort“ in Aussicht stellt (DoD 2018). Für 2020 hat das Pentagon eine eigene »Defense Space Strategy« zur Aufrechterhaltung der „Überlegenheit im Weltraum“ entwickelt (DoD 2020). Russland und China werden darin beschuldigt, die „Bewaffnung des Weltraums“ voranzutreiben, und ihre Programme und Dok­trinen werden als kommende strategische Bedrohung angesehen. Gleichzeitig sollen gemäß der Strategie »Weltraum-Kriegsführungsoperationen« in die operative Führung der USA integriert werden. Die Defense Intelligence Agency nennt in ihrem Bericht »Challenges to Security in Space« für 2019 auch Iran und Nordkorea als Herausforderer der US-Überlegenheit im Weltraum (DIA 2019).

Auf ihrem Gipfeltreffen in Brüssel 2021 widmete die NATO dem Weltraum einen eigenen Abschnitt und die Allianz hat inzwischen eigene Richtlinien veröffentlicht (NATO 2022). Einerseits will sie ein verantwortungsvolles Verhalten im Weltraum anstreben, andererseits kann ein Angriff im Weltraum nun auch als Bündnisfall betrachtet werden. In Ramstein wird seit 2020 ein NATO-Raumfahrtzentrum aufgebaut, das die Raumfahrtaktivitäten der NATO-Mitglieder koordinieren soll. Allerdings soll es keine direkten ­NATO-Operationen im Weltraum geben.

Russland setzt seine alte Raumfahrttradition fort und entwickelt seit 2010 verschiedene Programme. Oft sind die Ziele der verschiedenen Entwicklungen unklar. Seit 2015 organisiert Russland auch seine Luft- und Weltraumverteidigung neu. Die russische und die chinesische Raumfahrtindustrie befinden sich weitgehend in staatlicher Hand. Die Zusammenarbeit zwischen Russland und China sowohl im zivilen als auch im militärischen Bereich schreitet voran. Peking hat beschlossen, dass China „in jeder Hinsicht“ eine Weltraummacht werden will (PRC Space Programme 2021). Das Raumfahrtprogramm ist Teil des »chinesischen Traums« von Präsident Xi und umfasst drei Startzentren und den Betrieb einer eigenen Raumstation (vgl. den Beitrag von Engels in diesem Dossier, S. 10). Eine Beteiligung Chinas an der ISS wurde schon vor langer Zeit abgelehnt. Mond- und Marsmissionen unterstreichen Chinas ehrgeizige Ziele im Weltraum. Im Juli 2019 veröffentlichte China sein erstes Verteidigungsweißbuch seit 2015, in dem der Weltraum, der elektromagnetische Raum und der Cyberspace“ als Domänen für die nationale Verteidigung angesehen werden (State Council Information Office 2019). Ebenfalls seit 2015 werden diese Bereiche von den »Strategic Support Forces« verwaltet. Während seit 2018 keine direkten kinetischen ASAT-Tests durch China mehr beobachtet wurden, scheinen mehr nicht-kinetische Versuche (Laser, elektronische Angriffe) stattzufinden (Weeden 2022).

Zwischen diesen Weltraummächten herrscht, wie oben festgestellt, im militärischen Bereich keine Transparenz. Gegenseitige Verdächtigungen und Anschuldigungen dominieren die veröffentlichten Erklärungen und Doktrinen. Das unbemannte amerikanische Mini-Space Shuttle X-37B hat seit 1999 bereits sechs Langzeitmissionen mit unbekanntem Zweck absolviert und beunruhigt China und Russland ebenso wie umgekehrt die ASAT-Tests der VR China und Russlands. Es bleibt zu hoffen, dass die Regierung Biden ernsthafte Anstrengungen unternimmt, um internationale Regelungen voranzutreiben, neue Regeln für die Raumfahrt aufzustellen und für mehr Transparenz und Vorhersehbarkeit bei Militärprogrammen zu sorgen (Samson und Weeden 2020).

Dieser Text ist eine nachbearbeitete Übersetzung von Auszügen aus Neuneck (2022).

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Götz Neuneck ist Physiker und Ko-Vorsitzender der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW).

China und USA – Rivalen im Weltraum

von Dieter Engels

Die Nutzung des Weltraums, aber auch die astronomische Forschung und die Erkundungsprojekte von Mond und Mars, sind heute von großer und noch wachsender Bedeutung. Sie werden durch die politischen Konflikte auf der Erde und die daraus resultierenden militärischen Aktivitäten im Weltraum behindert, wenn nicht gar bedroht. Der russische Angriff auf die Ukraine Anfang 2022 hat die Kooperationen zwischen Russland und den westlichen Staaten praktisch zum Erliegen gebracht. Die zivile Zusammenarbeit im Weltraum, lange ein symbolisches Element gegenseitigen Vertrauens zwischen politisch konkurrierenden Gesellschaften, liegt damit in Trümmern. Noch deutlich ernstere Probleme werden entstehen, wenn die sich in den Weltraum ausdehnenden Rivalitäten zwischen den USA und China nicht durch bilaterale oder internationale Abkommen eingedämmt werden.

Die Bedeutung des Weltraums für Machtdemonstrationen ist nicht neu. Das Apollo-Programm der USA mit sechs Landungen auf dem Mond (1969-1972) und das parallel dazu gescheiterte Programm der Sowjetunion manifestierte die Vorherrschaft der USA im Weltraumsektor. Diese Vorherrschaft wird heute aber mindestens durch Chinas Weltraumprogramm (Reichl 2022; Harvey 2019) in Frage gestellt, u.a. auch bei der Erforschung des Mondes. Neben dem Aufbau einer breiten Palette von Satellitensystemen (mit 541 ca. 10 % aller Satelliten weltweit, UCS 2022), wird in China systematisch an prestigeträchtigen bemannten Raumfahrtprogrammen, sowie an Erkundungsmissionen zu Mond und Mars gearbeitet (Reichl 2022).

Orbitale Programme Chinas

Mit Programmen zur Entsendung von Menschen in eine Umlaufbahn wurde offiziell bereits Anfang der 1970er Jahre noch unter Mao Zedong begonnen. Aber erst 2003 erreichte der Taikonaut Yang Liwei die Umlaufbahn in einer Shenzou Raumkapsel. Seitdem wurde das Raumfahrtprogramm parallel zur wirtschaftlichen Entwicklung Chinas rapide vorangetrieben. Bereits 2011 und 2015 wurden die erste Raumstationen Tiangong 1 und 2 gestartet, die mehrfach von Taikonauten mit Hilfe der Shenzou-Kapseln jeweils für wenige Wochen besucht wurden. Dabei wurden zahlreiche Technologien getestet, die für den permanenten Betrieb einer solchen Station notwendig sind. Seit kurzem wird mit dem Aufbau von Tiangong 3 begonnen. Gestartet wurde am 21.4.2021 mit dem 22 Tonnen schweren Zentralelement »Tianhe«, das mit den notwendigen Antrieben, Versorgungseinheiten, sowie Unterkünften und sechs Andockstationen ausgestattet ist. Die erste dreiköpfige Crew besuchte die Station schon im Oktober 2021. Zu ihr gehörte Wang Yaping, Chinas zweite Frau im All, die als erste Frau bei ihrem Aufenthalt einen Außenbordeinsatz absolvierte. Weitere Elemente der Station werden zwei Labore sein, die in den nächsten Monaten gestartet werden sollen, und temporär angedockte »Tianzhou«-Frachtmodule, die zusätzlichen flexibel nutzbaren Raum für jeweils sechs Monate bieten. Die Station ist mit einer geplanten Gesamtmasse von ca. 100 Tonnen etwa nur ein Viertel so groß wie die Internationale Raumstation ISS und fliegt mit 340 bis 430 km in vergleichbarer Höhe. Konzipiert ist sie für eine Lebensdauer von 10 bis 15 Jahren. Mit einer permanenten Besatzung wird ab 2023 gerechnet. Ein Highlight der Station ist ein Weltraumteleskop »Xuntian«, das Ende 2024 gestartet werden soll. Es fliegt in geringem Abstand auf der gleichen Bahn wie Tiangong 3, und soll von dort aus gewartet werden können (Reichl 2022).

Mondprogramme Chinas und der USA

Das chinesische Monderkundungsprogramm wurde mit dem Start der ersten, nach der Mondgöttin Chang’e benannten Mondsonde 2007 begonnen (Reichl 2022, S. 30-33). Die ersten unbemannten Mondlandungen erfolgten 2013 und 2019 (Chang’e 3 und 4), und 2020 brachte die Mission Chang’e 5 dann 1,7 kg Mondgestein zur Erde zurück. Damit gelang China als drittem Land dieses Experiment, nach den USA und der Sowjetunion. Weitere drei Sonden mit Starts innerhalb der nächsten zehn Jahre sind in Planung. Parallel entwickelt China eine neue Raumkapsel, die die bisher verwendeten Shenzou Raumkapseln zur Versorgung der Raumstation ablösen soll, aber auch Menschen zum Mond bringen kann (Reichl 2022, S. 32). 2021 wurde angekündigt, in den 2030er Jahren eine Mondforschungsstation bauen zu wollen, an der auch Russland beteiligt sein soll und die Mitarbeit weiterer Länder erwünscht ist (ebd., S. 34; Jones 2021). Die Station soll robotisch arbeiten, und nur hin und wieder von Taikonaut*innen zur Wartung besucht werden (Zheng 2021).

Auf der anderen Seite nimmt »Artemis«, das Apollo-Nachfolgeprogramm der USA, mit dem für November 2022 geplanten Start der neuen Trägerrakete »Space Launch System« (SLS) an Fahrt auf. Die Geschichte von Artemis hat viel mit der Einstellung des Space Shuttle Programms 2011 zu tun. Obgleich umstritten, hatte der US-Kongress Jahr für Jahr Mittel für den Bau des SLS und einer Orion-Kapsel bewilligt, um die durch das Shuttle-Programm freiwerdenden Raumfahrtkapazitäten in mehreren Bundesstaaten zu erhalten. Die SLS-Rakete wird die Orion-Kapsel in einen 42-tägigen Testflug um den Mond schicken – eine Mission (Artemis 1), die in der Bergung der Kapsel innerhalb von nur zwei Stunden nach der Landung im Pazifischen Ozean gipfeln soll. Bei einem Erfolg der Mission, soll mit Artemis 2 der erste bemannte Flug (ohne Landung auf dem Mond) nicht vor Ende 2024 folgen. An den Artemis-Missionen sind auch Japan, Kanada und die europäische Raumfahrtagentur ESA beteiligt. Die ESA hat das Versorgungsmodul für die Orion-Raumkapsel beigetragen und wird fünf weitere bauen. Dafür werden den Ländern Mitflugmöglichkeiten geboten. Zwei der europäischen Astronaut*innen sollen sich mit Artemis 4 und 5 am Aufbau des von den USA angestrebten »Lunar Gateway« beteiligen, ein dritter soll bis 2030 den Mond betreten können (Foust 2022a, b). Bei dem Gateway handelt es sich um eine Raumstation in der Mondumlaufbahn, die u.a. als Umschlagplatz dienen soll, um eine ebenfalls geplante Station auf der Mondoberfläche zu versorgen.

Es ist abzusehen, dass die beiden Programme nicht im sportlichen Wettstreit miteinander den Mond erkunden werden. Neben Grundlagenforschung werden die Missionen auch Möglichkeiten (kommerzieller) Ausbeutung von Rohstoffen erkunden. Das generelle Misstrauen der USA in die chinesischen Weltraumaktivitäten macht deshalb auch vor der Mond­erkundung nicht halt, wobei bei den Anschuldigungen nicht gerade zimperlich vorgegangen wird. NASA-Leiter Bill Nelson warf China Anfang Juli 2022 in einem Interview der Bild-Zeitung vor, den Mond besetzen zu wollen (Both 2022): „Wir müssen sehr besorgt darüber sein, dass China auf dem Mond landet und sagt: Der gehört jetzt uns, und Ihr bleibt draußen.“ Weiter sagte er, Chinas Raumstation würde zum Training für Astronaut*innen dienen, die Satelliten von Anderen zerstören sollen, sowie dass die technologischen Erfolge Chinas lediglich durch geklaute Ergebnisse möglich gewesen seien.

China reagierte darauf empört. Der Sprecher des Außenministeriums, Zhao Lijian, bewertete Nelsons Vorwürfe als „rücksichtslos“ und eine „Lüge“. Andere chinesische Offizielle betonten, dass kein Interesse bestehe, den Mond zu militarisieren, und China eine Gemeinschaft (»community«) vieler Nationen unterstütze (Hughes 2022). Die Äußerungen Nelsons gelten für Kenner des chinesischen Weltraumprogramms als weit hergeholt. Die Inbesitznahme des Mondes durch Staaten ist durch den 1967 geschlossenen und auch von China unterzeichneten Weltraumvertrag rechtlich ausgeschlossen. Auch wäre der Aufwand immens um 39 Mio. km2 Oberfläche (fünfmal die Fläche Australiens) zu besetzen, zumal der Nutzen fragwürdig ist. China, dessen Raumfahrtbudget 2020 geschätzte 13 Mrd. US$ umfasste (etwa halb soviel wie das Budget der NASA), könnte dies allein nicht leisten, wie auch andere Nationen nicht (Ben-Hitzak und Hines 2022).

Die parallele Erkundung des Monds und der Aufbau von Forschungsstationen kann aber wohl zu Konflikten führen. Ein eventuelles Eindringen in die nähere Umgebung dieser Stationen wird sicher als unerwünscht angesehen, so wie auf der Erde das unautorisierte Eindringen von fremden Schiffen in die 200-Meilen Zone eines Küstenstaates. Damit würde eine de-facto Kontrolle über (kleine) Teilgebiete ausgeübt, die im Prinzip schrittweise ausgeweitet werden könnte. Streit könnte durch die Konkurrenz um besonders interessante Gebiete entstehen, z.B. mit Wasser-Eis-Vorkommen. Auszuschließen sind solche Szenarien nicht, da die in beiden Ländern diskutierten Landegebiete am lunaren Südpol für die bemannte Artemis 3 Mission der USA (geplanter Start Ende 2025) und auch für die unbemannte Mondsonde Chang’e 7 (geplanter Start 2024) Überschneidungen aufweisen (Jones 2022).

Herausforderungen der Satellitenverfolgung: klare Regelungslücken

Der Raum zwischen dem geostationären Orbit (GEO) und der Mondumgebung wird als »cislunarer Raum« bezeichnet, ist tausendmal größer als der erdnahe Raum (siehe Infokasten) – und wird bisher kaum überwacht. So ist die Chang’e 5 Raumsonde nach der Abtrennung der Rückkehr-Kapsel Ende 2020 aktiv geblieben, und im Herbst 2021 zum Lagrange Punkt L1 in der Nähe des Monds manövriert worden (zu den Fachbegriffen GEO, cislunar und ­Lagrange-Punkt, siehe Infokasten). Dieses unangekündigte Manöver ist nur durch die Aktivitäten einiger Amateure der Satellitenverfolgung bekannt geworden. Es gibt keine internationalen Regelungen, die die Meldung eines solchen Manövers verlangen. Jedoch zeigt dieser Fall, dass die Bewegungen von Weltraumfahrzeugen im cislunaren Raum zumindest für die Öffentlichkeit nur unzureichend bekannt sind (Schingler et al. 2022). Bestehende Weltraumüberwachungssysteme reichen bisher nur bis zur GEO-Bahn.

Lagrange-Punkte bzw. -Regionen

Im Erde-Mond- und Sonne-Erde-System gibt es ausgezeichnete Orte, in denen sich die Schwerkraft der beteiligten Körper gerade aufhebt. Diese an der Zahl fünf Orte werden nach dem italienischen Himmelsmechaniker J.-L. Lagrange (1736-1813) benannt. Von Interesse sind im Erde-Mond-System die Lagrange-Punkte L1 und L2, die sich auf der Verbindungsachse Erde-Mond vor und hinter dem Mond befinden.

Vor allem der L2 Punkt gilt als bevorzugter Ort für die Stationierung von Sonden. Diese Punkte sind aber instabil, so wie die Balance einer Kugel auf einer Spitze instabil ist. Sonden werden daher auf Umlaufbahnen um die L-Punkte gebracht. Es ist ausreichend Platz für verschiedene Bahnen, sodass ein gleichzeitiger Aufenthalt mehrerer Satelliten möglich ist. Der Begriff »Punkt« ist deshalb etwas verwirrend, genauer sind es Regionen.

Weltraum, GEO, LEO – eine Definition

Die Grenze zwischen der Erdatmosphäre und dem Weltraum ist fließend. Üblicherweise wird sie bei 80 bis 100 km oberhalb der Erdoberfläche gezogen. Satelliten müssen eine Mindesthöhe erreichen, damit sie nicht durch die Restatmosphäre zu schnell abgebremst werden und zur Erde zurückstürzen. Die meisten Satelliten und die Raumstationen umkreisen die Erde in Umlaufbahnen bis ca. 2.000 km Höhe (LEO = Low Earth Orbit).

Der Start in den LEO benötigt weniger Energie und der geringe Abstand erlaubt eine relativ hohe Auflösung bei den Aufnahmen zur Erdbeobachtung oder Aufklärung. Der Nachteil sind die kurzen Umlaufzeiten im Zeitraum von Stunden, die die kontinuierliche Beobachtung eines bestimmten Gebietes nur mit Hilfe mehrerer Satelliten erlauben.

Dieser Nachteil wird auf einer Bahnhöhe von 36.000 km (GEO = Geostationary Orbit) aufgehoben. Satelliten, die in dieser Höhe über dem Erdäquator umlaufen, befinden sich ständig oberhalb eines bestimmten Ortes auf der Erde. Mit Hilfe von drei im Winkelabstand von 120 Grad angeordneten Satelliten, lässt sich ständig die gesamte Erdoberfläche (außer den Polargebieten) im Blick behalten. Diese besondere Bahn ist deshalb der bevorzugte Aufenthaltsort der Kommunikations-Satelliten (Telefon, TV, …), aber auch von Frühwarnsatelliten, die Raketenstarts erfassen, und vor einem potentiellen Atomschlag warnen können.

Die Bahnen zwischen LEO und GEO werden von Satelliten(-Konstellationen) genutzt, die die speziellen Eigenschaften der LEO- und GEO-Bahnen nicht benötigen. Die kommerzielle und militärische Nutzung des Weltraums beschränkt sich bisher auf den »erdnahen Raum« innerhalb der GEO-Bahn. In den »cislunaren« Raum bis zum Mond in einer Entfernung von 384.000 km, in den interplanetaren Raum (bis 4,5 Mrd. km) und darüber hinaus sind bisher nur Sonden und (bemannte) Weltraumfahrzeuge zur Forschung und Erkundung vorgedrungen.

Mit den zunehmenden Aktivitäten Richtung Mond wird Transparenz bei den Bewegungen und Kommunikationskanälen zwischen den beteiligten Betreibern eine Voraussetzung sein, um auch unbeabsichtigte (Nahezu-)Kollisionen in Zukunft zu vermeiden (Byers und Boley 2022). Diese Kommunikation wird mit Hindernissen zu rechnen haben, weil im Hintergrund immer militärische Dienste die ausgetauschten Informationen abgreifen. So hat beispielsweise die US Air Force Zugriffsrechte auf die Daten, die der erst kürzlich gestartete CAPSTONE Kleinsatellit der NASA zur Erkundung geeigneter Mondumlaufbahnen für die geplante »Gateway«-Station überträgt (Schingler et al. 2022).

Vor diesem Hintergrund ist die in den USA aufgeflammte Diskussion, die Aktivitäten Chinas im cislunaren Raum oder auf dem Mond als neue Herausforderung für die US-amerikanischen Sicherheitsinteressen zu sehen, alarmierend (Bender 2022). Aus militärischen Kreisen wird bereits ein Überwachungssatellit (»Cislunar Highway Patrol System«) für den Raum zwischen Erde und Mond vorgeschlagen (Air Force 2022). Auch Forschungsprojekte auf der Mondoberfläche werfen Fragen auf (s. Abb. S. 11).

Umstrittene Projektvisualisierung zu Materialentwicklung auf dem Mond durch die ­Defense Advanced Research Projects Agency (DARPA), einer Behörde des US-Verteidigungsministeriums. Das von den DARPA Webseiten inzwischen entfernte Bild suggeriert geplante Aktivitäten des Militärs auf dem Mond. Im Einzelnen: Hitchens 2021a. (Quelle: DARPA NOM4D project image)

Die Diskussionen in China zu diesem Thema sind unbekannt. Der bereits erwähnte Weltraumvertrag, der als einziger der weltraumbezogenen Rüstungskon­trollverträge heute noch Bestand hat, beinhaltet Regelungen, die zum Zeitpunkt der Unterzeichnung zu keinen praktischen Folgen führten, die aber heute aktuell sind. Der Vertrag ist ein Beispiel dafür, wie frühzeitige Verhandlungen verhindern, dass Partikularinteressen den Abschluss eines Abkommens blockieren. Knapp 20 Jahre später war es zum Beispiel nicht mehr möglich, breite Unterstützung für den 1984 in Kraft getretenen Mond-Vertrag zu erhalten, der auch die private Aneignung von lunaren Ressourcen verbieten sollte (O’Brien 2022). 2020 haben die USA mit den »Artemis Accords« immerhin eine Initiative gestartet, über bilaterale Abkommen zu Regulierungen für den Rohstoffabbau und zu Sicherheitszonen um mögliche Stationen zu kommen. 21 Ländern haben die »Accords« bisher unterzeichnet, nicht aber China, Russland und bisher auch nicht Deutschland. Kritiker*innen werfen den USA vor, ihre Rechtsauffassung durchdrücken zu wollen (Boley und Byers 2022; Seidler 2022), statt sich um internationale Abmachungen zu bemühen. Denn es droht eine Situation wie beim Goldrausch in Alaska: Wer auf dem Mond als erster gräbt, darf die Schätze behalten.

Initiativen für eine Aufnahme von internationalen Verhandlungen zu potentiell möglichen Konflikten bei der Erkundung des Mondes aber auch zu gegenseitigen Hilfsmaßnahmen in Notfällen wären wünschenswert. Die Weltraumüberwachung für den cislunaren Raum sollte international organisiert und maximale Transparenz zu den dort stattfindenden Aktivitäten für alle Staaten, aber auch für zivile Organisationen hergestellt werden. Solche Verhandlungen werden derzeit vermutlich eher zum Erfolg führen, als solche zu den Problemen im erdnahen Raum.

Die neue große Rivalität

Seit der Fokussierung der US-amerikanischen Außenpolitik auf den Ostasien-Raum (»Pivot to Asia«, Lippert und Perthes 2020; Müller 2021) und insbesondere während der Regierungszeit von Donald Trump (2017-2021) haben sich die Medienpublikationen vervielfacht, die sich mit Chinas angeblicher Bedrohung der nationalen Sicherheit der USA auch im Weltraum beschäftigen. Sie begleiten die Gründung der »Space Force« Ende 2019, die die bisher verteilten militärischen Raumfahrtprogramme in einer eigenständigen Teilstreitkraft bündelte (David 2020). China wird aus US-amerikanischer Perspektive vorgeworfen, an Anti-Satelliten- und anderen Weltraum-Waffen zu arbeiten, sodass sich die USA auf Kampfhandlungen im Weltraum vorbereiten müssten (DIA 2021; Erwin 2021, Hitchens 2022a). In einem jährlich herausgegebenen Bericht des Pentagons (DoD 2021) werden Chinas raumfahrtbezogene Fähigkeiten als Teil seiner militärischen Fähigkeiten beschrieben, und die Raumstation, das Satelliten-Navigations-System Beidou, und die Gaofen Erdbeobachtungs-Satelliten zum Unwillen Chinas als militärische Einrichtungen angesehen (Wei et al. 2022). Dies sind typische Beispiele von Dual-Use-Projekten, wobei die nicht vorhandene Trennung von militärischer und ziviler Raumfahrt in China es kaum zulässt zu bestimmen, auf welchem Bereich der Schwerpunkt liegt. Der doppelte Verwendungszweck ist aber bei den westlichen Raumfahrtsystemen auch gegeben, sei es bei dem militärisch entwickelten Navigations-Satelliten-System GPS oder bei dem zivil entwickelten europäischen System Galileo (siehe dazu Demirel und Wagner 2021). Beide Systeme haben neben dem öffentlichen auch ein verschlüsseltes Signal, welches dem Militär und anderen Regierungsstellen vorbehalten ist (GPS 2019, 2020). Auch Erdbeobachtungs-Bilder, wie sie aktuell von kommerziellen Anbietern entwickelte Kleinsatelliten aufnehmen, werden an militärische Kunden verkauft oder, wie im aktuellen Fall der Ukraine, direkt an eine Armee weitergegeben (Hitchens 2022b).

China bestreitet vehement, sich in seiner Entwicklung des Weltraumprogramms von Rivalitäten mit den USA leiten zu lassen und sich an einem Wettlauf um die Vormacht zu beteiligen. Seine Verteidigungsfähigkeit im Weltraum würde entsprechend seiner generellen Präsenz im Weltraum ausschließlich dazu dienen, Chinas Souveränität im Weltraum sicherzustellen (Zheng 2021). Im Gegenzug wirft China den USA vor, selbst Waffen für den Einsatz im Weltraum zu entwickeln, den Weltraum als mögliches Schlachtfeld erklärt zu haben (Glenn 2020) und ihre langjährige Politik der Dominanz im Weltraum fortzusetzen. Die USA seien die Hauptverantwortlichen für die fortschreitende Militarisierung des Weltraums. Die angesprochenen Weltraumwaffen sind bekannte Programme, wie Laserwaffen und Störsender, aber auch der Geheimhaltung unterliegende Programme, von denen in 2021 gefordert wurde, sie zu Abschreckungszwecken öffentlich zu machen (Hecht 2019; Hitchens 2021b). Offizielle Stellen der VR China beklagen eine Welle von Versuchen, das chinesische Weltraumprogramm in der Öffentlichkeit zu diskreditieren, und verweisen auf das Weißbuch von 2021 (SCIO 2022), das sich deutlich dafür ausspricht, den Weltraum für friedliche Zwecke zu nutzen und sich Bestrebungen zu widersetzen, den Weltraum in eine Waffe oder ein Schlachtfeld zu verwandeln, oder dort gar ein Wettrüsten zu beginnen.

Die gegenseitigen Anschuldigungen erinnern nur zu gut an den ständigen verbalen Schlagabtausch zwischen der Sowjetunion und den USA im Kalten Krieg. Trotzdem war es damals möglich zusammenzuarbeiten, wie der Aufbau der ISS mit Russland seit 1998 zeigt. Von solchen Projekten, die den verbalen Friedensbeschwörungen Glaubwürdigkeit verleihen würden, sind die USA und China jedoch aktuell noch weit entfernt.

Literatur

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Demirel, Ö. A.; Wagner, J. (2021): EU-Militärhaushalte. Schritte über den Rubikon. W&F 1/2021, S. 14-16.

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SCIO (2022): China‘s space program: A 2021 perspective. State Council Information Office of the People‘s Republic of China, Januar 2022.

Seidler, C. (2022): Amerikas Mond-Diktat spaltet Europa. Der Spiegel, 21.6.2022.

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Zheng, W. (2021): ‘In space, China’s focus still on defence’, says Shenzhou veteran. South China Morning Post, 27.6.2021.

Dr. Dieter Engels ist Astrophysiker und Lehrbeauftragter an der Universität Hamburg.

Ein doppelter Verwendungszweck

Die Nutzung des Weltraums in Europa

von Regina Hagen

Die Nutzung von Weltraumtechnologie gehört spätestens seit dem Golfkrieg 1991 zum Repertoire der aktiven Kriegsführung. Navigations-, Aufklärungs- und Kommunikationssatelliten ermöglichten damals den US-Truppen die Orientierung im fremden Gelände, den schnellen Vormarsch in den Irak und vernichtende, hochpräzise Angriffe mit Marschflugkörpern und Kurzstreckenraketen auf (mitunter nur vermeintlich) militärische Ziele.

Im aktuellen Ukrainekrieg kommt militärischen wie zivilen Weltraumsystemen erneut eine entscheidende Rolle zu. Verbündete Staaten, wie die USA und Großbritannien, versorgten die Ukraine schon vor Beginn des russischen Angriffs am 24. Februar 2022 mit militärischen und nachrichtendienstlichen Aufklärungsdaten und -berichten. Der russische Verteidigungsminister konstatierte sechs Monate nach Kriegsbeginn, „[w]ir sind wirklich im Krieg mit […] der NATO und dem kollektiven Westen“; dabei gehe es nicht nur um Waffenlieferungen an die Ukraine, sondern um „Kommunikationssysteme, […] Aufklärungssysteme und Spionagesatelliten“ (TASS 2022).

Die ukrainischen Streitkräfte setzen bei der Weltraumnutzung aber nicht nur auf die Hilfe befreundeter Staaten, sondern wurden selbst aktiv. Dazu zwei Beispiele:

  • Schon zwei Tage nach Beginn des Krieges vermeldete Elon Musk, Gründer und CEO von SpaceX (vgl. Beitrag von Sönnichsen in diesem Dossier, S. 21), die von der ukrainischen Regierung erbetene und von der US-Regierung mitfinanzierte und mitorganisierte Lieferung erster Starlink-Terminals an ukrainische Regierungsstellen, um die durch Russland gestörte Satellitenkommunikation zumindest teilweise wieder zu ermöglichen (Jin 2022). Einsatzkräfte an der Front nutzen das kommerziell betriebene, auf bislang gut 3.000 Kleinsatelliten basierende Breitbandsystem z.B. zur Kommunikation mit anderen Truppenteilen oder zur Übertragung von Zielkoordinaten an Artilleriegeschosse und bewaffnete Drohnen.
  • Unter anderem zur Festlegung dieser Zieldaten verfügt das ukrainische Militär seit Kurzem über den exklusiven, per Crowdfunding finanzierten Zugriff auf einen SAR-Kleinsatelliten der finnischen Firma ICEYE (ICEYE 2022) sowie die Rechte an der Datennutzung weiterer ICEYE-Satelliten. Synthetic Aperture Radar (SAR) liefert auch bei Wolken, Schnee, Nebel und Dunkelheit zuverlässig Bilder, in diesem Fall mit einer Auflösung von einem halben bis einem Meter. Diese können mit optischen Daten kommerzieller Satelliten kombiniert in relativ kurzen Abständen aussagekräftige Bilder für die Zielidentifikation liefern und Aufklärungsdaten befreundeter Streitkräfte und Geheimdienste, z.B. Großbritanniens, bestätigen oder ergänzen.

Die vollständige Integration der »Dimension Weltraum« in die Verteidigungsplanung und Kriegsführung war seit Langem abzusehen. In den USA gibt es mit der U.S. Space Force eine eigenständige Teilstreitkraft; in China sind die Weltraumprojekte der Strategischen Kampfunterstützungstruppe unterstellt; in Russland gehört der Weltraum zum Aufgabenspektrum der Воздушно-космические силы (Luft- und Weltraumkräfte). Diese militärischen Hauptakteure haben ebenso wie Indien in den letzten 15 Jahren mit Anti-Satelliten-Tests außerdem ihre Fähigkeit unter Beweis gestellt, gegnerische Weltraumobjekte zu zerstören (vgl. Neuneck in diesem Dossier, S. 6). Die NATO betreibt keine eigenen Satelliten, erklärte aber den Weltraum vor wenigen Jahren zum »Operationsbereich«, verabschiedete eine Weltraumstrategie (NATO 2022a) und eröffnete auf der US-Luftwaffenbasis Ramstein ein Weltraumzentrum. Dabei setzt die NATO gezielt auf Dual-use – und auf die Zusammenarbeit mit der Europäischen Union (NATO 2022b; Geoană 2020; EEAS 2020).

Europa und die Dimension Weltraum

Auch in Europa hat Raumfahrt schon lange einen hohen Stellenwert, wird von zahlreichen Akteuren betrieben und erzeugt einen relevanten kommerziellen Umsatz (2019: ca. 13 Mrd. Euro).

Der größte der europäischen Akteure ist die 1975 gegründete Europäische Welt­raum­agen­tur (European Space Agency, ESA) mit 22 Mitgliedstaaten, die nicht alle der EU angehören (was umgekehrt ebenso gilt), und einem Budget in Höhe von 7,15 Mrd. Euro für 2022. Die ESA hat relevante Niederlassungen in sieben europäischen Ländern und einen eigenen Weltraumbahnhof in Kourou, Französisch-Guayana.

Schwerpunktmäßig beschäftigen sich die ESA-Projekte mit dem Bau von zivilen Raketen für große und kleine Nutzlasten, der Erforschung des tiefen Weltraums, der bemenschten Raumfahrt (u.a. Beteiligung an der Internationalen Weltraumstation), der Erd-, Klima- und Wetterbeobachtung, der Satellitennavigation und -kommunikation sowie der Suche nach Lösungen für die zunehmende »Vermüllung« des Weltraums (vgl. Beiträge von Sönnichsen und Bertamini in diesem Dossier, ab S. 21).

Laut Satzung wurde die ESA für „ausschließlich friedliche Zwecke“ gegründet (ESA 1975), öffnete sich seit der Jahrtausendwende jedoch zunehmend für »Sicherheits«-Themen, und zwar unter ausdrücklichem Verweis auf die »Petersberg-Erklärung«. In dieser hatte sich die Europäische Union, der zweite große Weltraumakteur in Europa, ab 1992 für gemeinsame Militäraktionen der Mitgliedstaaten bis hin zu „Kampfeinsätze[n] bei der Krisenbewältigung, einschließlich Maßnahmen zur Herbeiführung des Friedens“ (WEU 1992) ausgesprochen.1

Inzwischen gehört die zivil-militärische Nutzbarkeit von Weltraumprogrammen ausdrücklich zum Verständnis von ESA und EU, ebenso die enge Kooperation zwischen den beiden Organisationen. Seit 2019 ist die Weltraumthematik der EU im Direktorat »Verteidigungsindustrie und Weltraum« angesiedelt und wird 2021-2027 mit knapp 15 Mrd. Euro finanziert.

Im Mai 2021 konstatierten das Europäische Parlament und der Europäische Rat: „Die Entwicklung der Weltraumwirtschaft ist seit jeher mit dem Bereich der Sicherheit verknüpft. In vielen Fällen haben die Ausrüstung, Komponenten und Instrumente, die in der Weltraumwirtschaft zum Einsatz kommen, sowie Weltraumdaten und –dienste einen doppelten Verwendungszweck.“ In diesem Sinne sollten „[d]ie Möglichkeiten, die die Raumfahrt im Hinblick auf die Sicherheit der Union und ihrer Mitgliedstaaten bietet, […] insbesondere gemäß der Globalen Strategie für die Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union vom Juni 2016 genutzt werden“ (EU 2021).

Im März 2022 kamen auch die Staats- und Regierungschefs der EU überein, „Synergien zwischen Zivil-, Verteidigungs- und Weltraumforschung und -innovation zu fördern und in kritische und neue Technologien und Innovationen für Sicherheit und Verteidigung zu investieren“ (EU 2022a). Im »Strategischen Kompass für Sicherheit und Verteidigung« vom März 2022 kommt dem Weltraum ebenfalls eine hohe Bedeutung zu (EU 2022b).

Europäische Dual-use-Projekte

Die ESA und/oder die EU betreiben eine Reihe von Weltraumprojekten mit dezidiert militärischem Nutzen. Einige davon werden nachfolgend beschrieben.

Satellitennavigation mit Galileo

Heute ist Kriegsführung ohne Satellitennavigation kaum noch denkbar. Panzer und Schiffe vergewissern sich mit Hilfe der Signale ihrer exakten Position und Geschwindigkeit; Raketen, Marschflugkörper und Drohnen werden präzise gelenkt; Minengürtel werden punktgenau verlegt; Nachschub erreicht die Truppen am richtigen Abschnitt der Front.

Galileo ist ein von der EU und der ESA gemeinsam betriebenes, mit dem US-amerikanischen Global Positioning System (GPS), dem russischen Glonass und dem chinesischen Beidou vergleichbares globales System, das zur exakten Positions- und Zeitbestimmung die Signale von Navigationssatelliten nutzt.

Galileo wurde, anders als GPS, Glonass und Beidou, als ziviles Programm aufgesetzt und als solches 2003 von den EU-Mitgliedstaaten genehmigt. 2008 allerdings stimmte das EU-Parlament auf Antrag des deutschen CDU-Abgeordneten Karl von Wogau einer Resolution zu, die „betont, dass Galileo für eigenständige ESVP-Operationen2 notwendig ist, wie auch für die Gemeinsame Außen- und Sicher­heitspolitik (GASP), für Europas eigene Sicherheit und für die strategische Autonomie der Union“ (EP 2008).

Entsprechend bietet Galileo neben den zivilen und offenen Nutzungsmöglichkeiten, z.B. der Positionsbestimmung mit dem Smartphone oder dem Einsatz im Bergbau, in der Landwirtschaft und im Vermessungswesen, einen geschützten Dienst mit einer höheren Ausfallsicherheit und vor allem einer höheren Genauigkeit. Auf diesen verschlüsselten »Öffentlichen Regulierten Dienst« können nur bestimmte Nutzergruppen zugreifen, darunter der Europäische Auswärtige Dienst, Streitkräfte, Polizei, Küstenwachen einschließlich FRONTEX sowie Nachrichtendienste.

Aktuell besteht Galileo aus 24 Satelliten in einer mittleren Erdumlaufbahn. Für den Betrieb von Galileo wurde eigens die Agentur der Europäischen Union für das Weltraumprogramm (EUSPA) gegründet.

Erdbeobachtung mit Copernicus

Aus dem Weltraum lassen sich die Erde und ihre Ökosysteme besonders gut und über lange Zeiträume beobachten. Der Zustand der Landmasse, der Meere und anderer Gewässer, der Pole, Eismassen und Gletscher, der Atmosphäre und der klimatischen Verhältnisse sowie deren Veränderungen stehen hier im Zentrum.

Für die Europäische Union ist Copernicus das zweite, ebenfalls in Kooperation mit der ESA betriebene, »Flaggschiff«-Projekt im Weltraum. Zusätzlich zu Satellitendaten bindet Copernicus Daten ein, die von land-, see- und luftgestützten Messstationen gesammelt werden. Die von Copernicus bereitgestellten Informationen sind in der Regel offen und kostenlos zugänglich; zu den Nutzergruppen gehören Behörden und Unternehmen ebenso wie Umweltämter und -verbände oder interessierte Bürger*innen.

Neben Land-, Meeres-, Atmosphären- und Klimaüberwachung bietet Copernicus zwei weitere »Kerndienste«: Katastro­phen- und Krisenmanagement sowie Sicherheitsdienste. Letzteres meint die gezielte Aufbereitung der mit Copernicus gewonnenen Daten zur Überwachung der EU-Außengrenzen (insbesondere zum Schutz vor »illegitimer« Migration), zur Unterstützung militärischer EU-Einsätze auch außerhalb Europas und zur Überwachung des Schiffsverkehrs (ESA 2014). Diese Daten können „geschützt“ und als „Verschlusssache“ behandelt (EU 2014) und somit bestimmten Nutzergruppen vorbehalten werden, die im Wesentlichen denen des regulierten Dienstes von Galileo entsprechen.

Copernicus umfasst mehrere systemspezifische, »Sentinel« (Wächter) genannte Satelliten sowie einige Instrumentenpakete an Bord von Wettersatelliten der europäischen Wettersatellitenbehörde EUMETSAT. Zu den eingesetzten Technologien gehören u.a. SAR- und Radar-Höhenmessungssysteme sowie optische Spektralkameras vom sichtbaren bis zum Infrarotbereich mit hohem militärischem Nutzungswert. Weitere Daten werden von bis zu 30 Fernerkundungs- und Spionage-Satelliten zugeliefert, die von nationalen, europäischen und internationalen Organisationen betrieben werden. Komplettiert wird das Gesamtsystem durch mehrere Boden- und Kontrollstationen.

Satellitenkommunikation mit EDRS

Das Europäische Daten-Relais-Satellitensystem (EDRS) nutzt zur Satellitenkommunikation stör- und abhörsichere Laserstrahlen mit einer besonders hohen Datenübertragungsrate. Die EDRS-Satelliten kreisen im geostationären Orbit, empfangen die Datenströme niedriger fliegender Satelliten oder Flugzeuge und übertragen diese nahezu in Echtzeit an andere Satelliten oder an die Bodenstationen, die sich alle auf EU-Territorium befinden (ESA 2022). Die damit mögliche Datenautonomie und die hohe Störresistenz sowie die Nahezu-Echtzeitfähigkeit machen das System attraktiv für militärische Anwendungen, wie Aufklärung oder die Datenübertragung an Kampfjets und Drohnen. Das komplette, unter dem Markennamen »SpaceDataHighway™« laufende, System gehört dem privaten Unternehmen Airbus Defence and Space und wird von diesem im Auftrag der ESA betrieben (Airbus 2022).

Sichere Regierungskommunikation mit GOVSATCOM

Governmental Satellite Communications (GOVSATCOM) ist ein EU-Programm für sichere Satellitenkommunikation „mit einer starken Sicherheitsdimension“ im Rahmen der »Globalen Strategie für die Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union« vom Juni 2016. Kern ist die Sicherstellung der Kommunikation in Regionen oder Situationen, in denen andere Kommunikationsmöglichkeiten nicht zur Verfügung stehen oder gestört bzw. zerstört sind, oder anders formuliert die „Übertragungssicherheit kritischer Informationen mit adäquatem Schutz vor Störung, Abhörung, Eindringung und Cybersicherheitsrisiken“ (ENTRUSTED o.D.) zu garantieren. Zu den Anwendungsbereichen von GOVSATCOM gehören das zivile und das militärischen Krisenmanagement sowie die Überwachung der EU-Außengrenzen und der »illegitimen« Migration. Auch bei diesem Programm werden als Anwendergruppen ausdrücklich Polizei, Grenztruppen und „militärische Krisenkräfte“ identifiziert (EUSPA 2021).

Datenauswertung im Satellitenzentrum Torrejón

Die EU betreibt in Spanien ein eigenes Satellitenzentrum. Auf seiner Homepage führt sich das European Union Satellite Centre (EUSC) so ein: „Arbeiten für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU. Im Kontext der Informationsflut und -verzerrung bietet SatCen eine schnelle und zuverlässige Analyse von Satellitendaten zur Bewältigung aktueller Sicherheitsherausforderungen.“ (EUSC o.D.)

Hier werden für EU-Behörden Satellitenbilder, insbesondere von Copernicus, und Luftbilder gesammelt und so aufbereitet, dass sie die Überwachung von Vorgängen und Aktivitäten außerhalb Europas ermöglichen. Dazu arbeitet das Zentrum eng mit der Europäischen Verteidigungsagentur zusammen und unterstützt mit seinen Analysen die zuständigen Behörden bei der Entscheidungsfindung im Bereich Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik. EUSC ist direkt dem Hohen Repräsentanten der EU für Außen- und Sicherheitspolitik unterstellt.

Wohin führt der Weg?

Die militärisch relevanten Weltraumprogramme von EU und ESA reichen bei weitem nicht an die der größeren Akteure, wie USA, Russland oder China, heran. Auch sind in Europa bislang keine Tendenzen zur Weltraumbewaffnung zu erkennen. Am aktuellen Ukrainekrieg lässt sich aber wieder einmal erkennen, wohin der Trend zu gehen scheint: zur immer entgrenzteren Kriegsführung und zum Ausreizen aller technischen Möglichkeiten, auch der, die die Weltraumtechnologie bietet.

Bereits 2008 legte die EU der internationalen Gemeinschaft den Entwurf eines Internationalen Verhaltenskodex für Weltraumaktivitäten (International Code of Conduct for Outer Space Activities) vor, der 2012 und 2013 auf mehreren Expertentreffen diskutiert und daraufhin überarbeitet wurde. Der Kodex soll u.a. „die weitere friedliche und nachhaltige Nutzung des Weltraums für jetzige und künftige Generationen schützen“, dabei helfen, ein Wettrüsten im Weltraum zu verhindern“, die weitere Entstehung von Weltraumschrott verhindern und „internationale Normen für verantwortliches Verhalten im Weltraum stärken“ (EEAS 2014). Zu echten Verhandlungen über diesen Vorschlag kam es bislang nicht, und die Gespräche bei der UN-Abrüstungskonferenz in Genf über die »Verhinderung eines Wettrüstens im Weltraum« (PAROS) kommen auch keinen Schritt voran.

Die Bemühungen um »Spielregeln« für die Weltraumnutzung sind löblich, die weitere Militarisierung des Weltraums werden sie aber nicht verhindern – ebenso wenig wie die zunehmende militärische Nutzung des Weltraums in der EU selbst.

Anmerkungen

1) Die »Petersberg-Erklärung« wurde ursprünglich von der Westeuropäischen Union (WEU), einem kollektiven Beistandspakt, verabschiedet. Die WEU wurde durch die Verträge von Maastricht (1997) und Nizza (2001) sukzessive in die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) bzw. die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) der Europäischen Union überführt.

2) ESVP = Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik, entspricht GSVP.

Literatur

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TASS (2022): Russia is at war not only with Ukraine, but with collective West – Shoigu. Tass, 21.9.2022.

Westeuropäische Union (WEU) (1992): Petersberg-Erklärung des WEU-Ministerrats, Bonn, 19. Juni 1992.

Regina Hagen ist ehemalige Redakteurin von W&F. Mit der Nutzung des Weltraums für militärische Zwecke beschäftigt sie sich seit 25 Jahren.

Noch Chancen für Rüstungs­kontrolle im Weltraum?

Interdisziplinäre Antworten auf eine komplexe Frage

von Arne Sönnichsen

Wiederkehrende Tests von Anti-Satelliten-Waffen (ASAT) gelten in der Debatte um die Militarisierung des Weltraums als Indikator für eine zunehmende Militarisierung und Bewaffnung des Weltraums. Dabei nehmen Expert*innen aus der Physik und den Ingenieurwissenschaften, der Rechtswissenschaft und der Politikwissenschaft jeweils andere Facetten einer vielschichtigen Problematik wahr. Mit diesem Artikel soll ein Beitrag für einen Dialog zwischen diesen Disziplinen geschaffen werden. Das Argument ist, dass die Militarisierung des Weltraums nicht unausweichlich ist und sich einzigartige Perspektiven für die Rüstungskontrolle im Weltraum ergeben, wenn die verschiedenen Fachdisziplinen ihre Erkenntnisse kombinieren.

Durch eine zunehmende Zahl an Akteuren und Aktivitäten im Weltraum steigt nicht nur die Bedeutung des Weltraums für die Menschheit, sondern auch das Risiko seiner verstärkten Militarisierung. Dabei wird Militarisierung verstanden als „die Anwendung der Wissensbestände der Weltraumwissenschaften zur Formulierung und daraus folgenden Herstellung von In­stru­menten, Geräten und Maschinen, die in einem militärischen Kontext eine praktische Verwendung finden können“ (Sariak 2017, S. 52). Bei näherer Betrachtung unterscheiden sich eine »passive« bzw. »defensive« Militarisierung – d.h. der Weltraum wird vom Militär etwa für nachrichtendienstliche Zwecke verwendet – und eine »aktive« bzw. »offensive« Militarisierung, wonach das Militär in, um, und durch den Weltraum offensive Waffen einsetzt (siehe z.B. Wolter 2006, S. 52ff.). In der Debatte wird häufig kolportiert, dass Rüstungskontrollmechanismen unzureichend seien, um diese Militarisierung einzuhegen. Die oben genannten Diszipli­nen liefern jedoch Teilantworten darauf, treten aber vielfach nicht in einen Dialog. In diesem Beitrag werden die Perspektiven dieser Disziplinen daher systematisch zueinander in Beziehung gesetzt, um die Chancen für Rüstungskontrolle zu verdeutlichen.

Technische Perspektive

Weltraumtechnologien, die für offensive Zwecke verwendet werden können, werden von der Secure World Foundation (SWF) als »Counterspace«-Technologien bezeichnet. Zu diesen Systemen zählen folgende Typen: Direct Ascent (DA), Directed Energy, Co-Orbital, Electronic Warfare und Cyber (Weeden und Samson 2022, S. xxxi) – also ballistische Abfang­raketen, Laser- und Mikrowellenwaffen, ko-orbitale »Killersatelliten« (siehe dazu ausführlicher Neuneck in diesem Dossier, S. 6ff.), elektronische Kriegsführung und Cyberattacken. Die SWF listet außerdem »Space Situational Awareness« (SSA), also die Überwachung des Weltraums, als defensive Kapazität auf. Für eine Verteilung der Kapazitäten unter den Ländern siehe die Tabelle (oben rechts).

Tabelle: 2022 Global Counterspace Capabilities.
Hinweis: Die SWF summiert Cyberwaffen unter »Electronic Warfare«
Quelle: Website SWF, abgedruckt mit der Zustimmung der Autoren.

Der Weltraum als militärisches Umfeld ist in verschiedener Hinsicht einzigartig: 1.) Weltraumtechnologien sind sehr komplex und teuer, und es ist deshalb wenig verwunderlich, dass lediglich die Weltraumgroßmächte USA und Russland, Europa und Japan, China und Indien nennenswerte Kapazitäten aufbauen konnten oder aufzubauen fähig sind; 2.) gegenüber den schwer nachweisbaren Cyber- und elektronischen Angriffen sind konventionelle Waffen (DA oder ko-orbital) äußerst transparent. 3.) Kriegsführung im Weltraum hat enorme Effekte für alle raumfahrenden Staaten, da die Gefahr der unkontrollierten Erzeugung von Weltraumschrott (»Space Debris«) durch Waffeneinsätze zum sogenannten Kesslersyndrom führen können, also zu Kaskadeneffekten der Schrotterzeugung (Su 2021, siehe auch Bentamini in diesem Dossier, S. 25).

Diese Faktoren stellen jedoch nicht per se ein Hindernis für ein Rüstungskontrollregime im Weltraum dar. Im Gegenteil: die generellen Kosten und Risiken der Raumfahrt, insbesondere hinsichtlich der weltraumspezifischen Waffentechnologien und den Kaskadeneffekten eines unkon­trol­lierten militärischen Schlagabtausches, liefern starke Anreize gerade für die stark involvierten Staaten, die Gefahren durch Rüstungskontrolle zu verhindern.

Rechtswissenschaftliche Perspektive

Das Völkerrecht spielt bei der Militarisierung des Weltraums vor allem in Gestalt möglicher Rüstungskontrollregime eine Rolle. Hierzu muss zunächst beantwortet werden können, was eine Waffe im Weltraum sein kann und wie das Völkerrecht im Allgemeinen an die Definition von Waffen herangeht. Das humanitäre Völkerrecht (HVR) fokussiert primär auf das ius in bello, also jene Regeln, die auf die Durchführung des bewaffneten Konflikts zielen. Im Kontext des HVR wird festgehalten, was ein bewaffneter Konflikt ist (Artikel 2 der Genfer Konventionen). In Ermangelung klarer Definitionen für Waffen lässt sich ein funktionaler Ansatz heranziehen, wonach jedes Objekt, welches dazu geeignet oder bestimmt ist, Schaden zu verursachen, unter den Waffenbegriff fällt. Ähnlich verfährt auch die Haager Landkriegsordnung, die jedenfalls solche Objekte unter den Waffenbegriff fasst, welche geschaffen werden, um Verletzungen und unnötiges Leid zuzufügen. Auch Art. 36 des ersten Zusatzprotokolls der Genfer Konventionen deutet auf ein weites Verständnis des Waffenbegriffs hin.

Im Kontext kollektiver Sicherheit stellen die Vereinten Nationen (VN) und die VN-Charta (VNCh) die zentrale Referenz dar. Gewaltanwendung ist im Kontext der VN strikt untersagt, wobei die VNCh in Artikel 51 das Recht auf Selbstverteidigung einräumt. Was genau eine Waffe konstituiert, wird nicht bestimmt, doch in einer strikten Auslegung angesichts der hohen Schwelle, die die VNCh an legale Gewaltanwendung in Form der Selbstverteidigung knüpft, lässt sich argumentieren, dass die Anwendung jeden Mittels, das substanzielle Schäden zu verursachen vermag, ausreicht, um als Angriff gewertet zu werden. Damit greift auch die VNCh auf einen funktionellen Ansatz zurück, der international durch konkrete Beispiele präzisiert wurde, wie die Terror­angriffe von 9/11 und das NATO »Tallinn Manual« zu Cyberattacken.

Einer Vielzahl von Rüstungskontrollabkommen fehlt es an klaren Definitionen, was als Waffe definiert wird – dies gilt nicht allein für den Weltraum. Das betrifft beispielsweise den Vertrag über den Waffenhandel (ATT) von 2013 und den Nichtverbreitungsvertrag (NPT) von 1968. In der Biowaffenkonvention werden Wirkmittel beschrieben, die in bestimmten Quantitäten waffenfähig gemacht werden können, ebenso wie Mittel zum Transport dieser Wirkmittel – dies ähnelt einem funktionellen Ansatz. Die Chemiewaffenkonvention folgt dem Ansatz, eine spezifische Definition zu liefern, welche Substanzen waffenfähig sind. Unterscheidungsmerkmal zwischen einer legitimen und einer waffenmäßigen Verwendung ist in diesem Abkommen die Intention und die Quantität, in welcher diese vorhanden ist und verwendet wird.

Es zeigt sich, dass im internationalen Recht das funktionale Verständnis von Waffen – definiert als solche Objekte, die dazu geeignet oder bestimmt sind, Schaden oder Leid zu verursachen – den überwiegenden Teil ausmacht. Je nach Rüstungskontrollabkommen treten dann zusätzliche technologiespezifische Aspekte als Entscheidungsmerkmale hinzu.

Adaptiert könnte daher eine Definition von Weltraumwaffen lauten: Weltraumwaffen sind alle Mittel, welche absichtsvoll gebaut oder verwendet werden, um ein Objekt im Orbit zu schädigen oder zu zerstören, oder jedes weltraumbasierte Objekt, welches entworfen oder getestet wurde, um Ziele auf der Erde anzugreifen (Moltz 2019, S. 42f.; Grego 2012).

Im Bemühen um die Verregelung der Weltraumnutzung gab es wiederholt Versuche, Rüstungskontrollregime oder -mechanismen zu etablieren, die bislang jedoch alle erfolglos geblieben sind. Die Magna Charta der Raumfahrt, der Weltraumvertrag (WRV) von 1967, bannte einzig Massenvernichtungswaffen im Weltraum. 1978 und 1979 gab es eine Reihe von erfolglosen bilateralen ASAT-Verhandlungen zwischen den USA und der Sowjetunion. 1981 stieß die VN-Generalversammlung einen Prozess an, der 1985 als Aufgabe an die ständige Abrüstungskonferenz (»Conference on Disarmament«, CD) weitergeleitet wurde und Verhandlungen zur Verhinderung eines Wettrüstens im Weltraum (»Prevention of an Arms Race in Outer Space«, PAROS) anstieß. Auch dieser Prozess blieb und bleibt bislang erfolglos.

China und Russland versuchten 2008 mit einem Vertragsentwurf zum Verbot von Weltraumwaffen (PPWT 2008) einen eigenen Anlauf, der von den USA aber scharf zurückgewiesen wurde, da im Entwurf erdgebundene ASAT-Waffen weiterhin erlaubt geblieben wären. Einen Vorstoß hin zu einem »soft law«-Ansatz unternahm die Europäische Union 2008 mit dem Internationalen Verhaltenskodex für Weltraumaktivitäten (ICoC 2008). Dieser Prozess scheiterte ebenfalls 2015, diesmal am Widerstand der Länder des Globalen Südens. Einen ähnlichen Anlauf unternahm Kanada (2009). Neuer politischer Wind kommt dieser Tage aus den USA: Nach einem russischen ASAT-Test vom November 2021 kündigten die USA (im April 2022) und Deutschland (im September 2022) überraschend an, in Zukunft auf destruktive ASAT-Tests zu verzichten (The White House 2022, Auswärtiges Amt 2022).

Es besteht also weiter eine große Regelungslücke, nicht nur bei militärischen Weltraumaktivitäten. Die vielstimmigen Bemühungen sollten durchaus positiv stimmen, dass es im gemeinsamen Bestreben der Staaten mittelfristig zu einer Lösung kommen kann.

Politikwissenschaftliche Perspektive

Eine politikwissenschaftliche Perspektive fokussiert vornehmlich auf die Beziehungen zwischen den Staaten und berücksichtigt dabei im Unterschied zur rechtswissenschaftlichen Perspektive auch Beziehungen in einer weniger institutionalisierten Form. Debatten kreisen hier um den Begriff der Weltraumsicherheit (»space security«), die definiert ist als „Aggregat aller technischen, regulatorischen und politischen Mittel, die auf die Sicherung des ungehinderten Zugangs und der ungestörten Nutzbarkeit des Weltraums sowie die Nutzbarkeit des Weltraums für die Wahrung der Sicherheit auf der Erde abzielen“ (Antoni 2020, S. 15). Sechs raumfahrende Großmächte, die sich insbesondere durch ihre Autonomie auszeichnen und die zeithistorisch als Paare zu Akteuren der Raumfahrt aufstiegen, lassen sich identifizieren: die USA und die Sowjetunion/Russland, Europa und Japan, sowie China und Indien (Schrogl 2019). Zwischen diesen lassen sich vier zentrale Dynamiken identifizieren: Weltraumüberlegenheit, Sicherheitsdilemma, Weltraumclub und zivile Nutzung. Es zeigt sich, dass diese abhängig von der geografischen und geopolitischen Situation des jeweiligen Akteurs ausgespielt werden:

Weltraumüberlegenheit:

  • Dies betrifft vor allem die USA, Russland und China, die allesamt einen geopolitischen Führungsanspruch erheben. Die Machtverteilung ist auch hier unterschiedlich, wobei die USA die umfangreichsten Kapazitäten und das meiste Know-How besitzen, dicht gefolgt von Russland, welches jedoch durch Budgetrestriktionen von seiner Substanz zehrt. China dagegen ist eine aufstrebende Weltraumgroßmacht, die ihre Kapazitäten beständig ausbaut (Space Security Index 2019, S. 136ff.). Andere Staaten rüsten ebenfalls auf, etwa Frankreich und Indien. Insbesondere der geopolitische Konflikt zwischen den USA und China und die von beiden klar artikulierte Führungsrolle könnten sich als Konflikttreiber herausstellen.

Sicherheitsdilemma:

  • Ein Sicherheitsdilemma ist ein klassischer Fall internationaler Politik, in der sich Staaten durch gegenseitiges Misstrauen genötigt fühlen, in militärische Sicherheit zu investieren. Dieses Phänomen korreliert teilweise mit der Dynamik der Weltraumüberlegenheit, ist jedoch regional eingegrenzt, wobei der Hotspot derzeit der asiatische Raum ist, in dem sich die drei Staaten China, Japan und Indien in einem solchen Sicherheitsdilemma sehen. China strebt deutlich nach einer Führungsrolle, während Indien und Japan sich zusehends in eine defensive Rolle gedrängt sehen (Khan und Khan 2019).

Space Club:

  • Das Konzept des »Space Club« (Paikowsky 2017) beschreibt die symbolische Bedeutsamkeit von Staaten. Staaten versuchen demnach durch die Mitgliedschaft in technologischen »Clubs« anderen Staaten zu signalisieren, dass sie als Großmächte anerkannt werden wollen. Zwei Beispiele: Der Wettlauf ins All der 1960er Jahre hatte explizit Konnotationen eines »Space Clubs« in Bezug auf die globale technologische Führungsrolle (Musgrave und Nexon 2018) – wer im Rennen um den Weltraum mit dabei war, konnte sich international als Großmacht geben. Ähnliches trifft auf den indischen ASAT-Test 2019 zu, der gewertet werden kann als Versuch, einen Platz am Verhandlungstisch für einen potenziellen ASAT-Vertrag zu erzwingen, seinen direkten Nachbarn China und Pakistan die militärischen Fähigkeiten zu beweisen, innenpolitisch Stärke zu zeigen und zugleich auf dem internationalen Parkett als verantwortungsvoller Akteur wahrgenommen zu werden (Sönnichsen und Lambach 2020).

Zivile Nutzung:

  • Die zivile Nutzung war lange Zeit der zentrale Handlungstreiber der europäischen Staaten bzw. der europäischen Raumfahrtagentur (ESA) mit ihrer expliziten Zivilklausel, aber auch für Japan. Einige der Länder des Globalen Südens kopierten den Ansatz, die Raumfahrt vor allem zur sozio-ökonomischen Entwicklung zu verwenden, etwa Indien (Harding 2013). Auch wenn die ESA und Japan weiterhin an der zivilen Raumfahrt festhalten, zeigt sich, dass die zunehmende sicherheitspolitische Neubewertung auch hier Einzug hält. So wird die Zivilklausel der ESA durch die europäischen Staaten dadurch umgangen, dass die tendenziell militär- und sicherheitspolitischen Komponenten in die neue EU-Raumfahrtagentur (»European Union Agency for the Space Programme«, EUSPA) ausgelagert werden (Klimburg-Witjes 2021). Auch zeigen Länder wie Frankreich, Indien (Aliberti 2018) und Japan (European Space Policy Institute 2020) verstärkte Tendenzen einer sicherheitspolitischen Neubewertung.

Diese Entwicklungen zeigen, dass die Raumfahrt zunehmend in sicherheitspolitischen Dimensionen gedacht wird. Sie zeigen auch, dass gerade die Konfliktlinien, die am deutlichsten zwischen USA/Russland, USA/China, China/Indien, China/Japan hervortreten, Bewegungen hin zu gemeinsamen und effektiven Rüstungskontrollbestrebungen aushebeln. Dennoch liegt in dieser Analyse der Dynamiken auch eine Chance, sich dieser bewusst zu werden und sie gezielt auszuspielen, um ein Rüstungskontrollregime zu schaffen, welches potenziell desaströse Effekte vermeiden könnte.

Der ABM-Vertrag: Handlungsleitendes Beispiel?

Der 1972 zwischen den USA und der Sow­jet­union vereinbarte und 2002 durch US-Präsident George W. Bush aufgekündigte ABM-Vertrag zur Begrenzung von Raketenabwehrsystemen (Anti-Ballistic Missiles, ABM) stellt ein Beispiel für die Herausforderungen eines Rüstungskon­trollregimes dar, das häufig als Referenz für die Probleme bei der Regulierung der Militarisierung der Raumfahrt genannt wird. Die Überlegung hinter dem Abkommen lautete, dass ein Erstschlag wahrscheinlicher wäre, wenn ein Staat über umfangreiche Defensivkapazitäten verfügte und die begründete Vermutung hätte, dass er einen Gegenschlag überleben könnte. Durch die Aufgabe dieser Fähigkeit wären beide Staaten einem Gegenschlag ausgeliefert, was den Anreiz eines Erstschlags verringern sollte. Die Verifikation, also die (gegenseitige) Überprüfung der Einhaltung der Abrüstungsleistungen der Vertragsparteien, ist das Herzstück von Rüstungskontrollregimen und wurde beim ABM-Vertrag in dreifacher Weise realisiert: Beide Vertragspartner erarbeiteten eine funktionell-absichtsbezogene Definition einzelner Bauteile, legten also mithin fest, auf welche Systeme sich das Abkommen bezog. Die Regelbefolgung wurde durch Überwachungsmaßnahmen wie Fotoaufklärungssatelliten bewerkstelligt. Eine ständige Beratungskommission (Art. XIII) konnte angerufen werden, sollte es einen Verdacht geben, dass eine Partei ihren Verpflichtungen nicht nachkommt. Dieser Dreiklang schuf die Grundlage, dass die Vertragspartner den ABM-Vertrag umsetzen konnten und könnte deshalb auch als Beispiel für einen ASAT-Vertrag herhalten (Mutschler 2013).

Fazit

Drei Ergebnisse lassen sich festhalten:

1. Weder technisch noch rechtlich konnten wir Hindernisse feststellen, die die Schaffung eines Rüstungskontrollregimes verhindern – vielmehr deuteten die Bedürfnisse einer Verhinderung (der Kosten) von Kaskadeneffekten und die erkennbaren Regelungsversuche auf ein allgemeines Kontrollbemühen hin. Wohl jedoch ließ sich feststellen, dass die eskalierenden Dynamiken wahrgenommener Sicherheitsdilemmata und Überlegenheitsansprüche zwischen den Staaten das größte Hindernis darstellen.

2. Rechtlich und politisch ist es möglich, gemeinsame Ziele für die beteiligten Akteure zu formulieren, das beweist die Schaffung der ABM-Vertrags.

3. Die Kosten von Weltraumtechnologie sind derzeit ein Flaschenhals, doch es ist zu erwarten, dass mit zunehmender symbolischer Bedeutung der Raumfahrt (»Space Club«) und sinkenden Kosten das Risiko sich verstärkender sicherheitspolitischer Dynamiken steigen wird: die Militarisierung wird zunehmen.

Im Lichte der widersprüchlichen Bewegungen in der aktuellen Politik zwischen der Ankündigung der USA, auf destruktive ASAT-Tests zu verzichten, auf der einen Seite und der durch den Ukrainekrieg steigenden Spannungen zwischen Russland und dem Westen auf der anderen Seite, ist eine abschließende Einschätzung zu den Chancen für Rüstungskontrolle im Weltraum schwierig. Grundsätzlich zeigen jedoch alle oben geschilderten Erkenntnisse, dass Rüstungskontrolle im nationalen Interesse aller raumfahrenden Staaten ist und Kooperation auf lange Sicht den (auch eventuell unbeabsichtigten) de­struk­tiven Effekten der Militarisierung entgegenwirken kann. Nur gemeinsam bleibt der Weltraum eine „Domäne der gesamten Menschheit“, wie es im Weltraumvertrag heißt.

Dieser Beitrag basiert in Teilen auf einem Artikel, der im Kontext des SichTRaum Netzwerkes (sichtraum-netzwerk.de) entstand und zur Veröffentlichung in »Die FriedensWarte« angenommen ist (­Sönnichsen et al, 2022). Hier finden sich weitere Literaturangaben.

Literatur

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Arne Sönnichsen ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand am Lehrstuhl für Internationale Beziehungen und Entwicklungspolitik der Universität Duisburg-Essen. Er befasst sich im Rahmen seiner Dissertation mit den Auswirkungen von Technik auf Governance am Beispiel der Raumfahrt und koordiniert das Forschungsnetzwerk »SichTRaum – Sicherheit, Technologie, Weltraum«.

Kommerzialisierung als Sicherheitsherausforderung?

Der Aufstieg des »New Space«

von Arne Sönnichsen

Seit die Trägerrakete Falcon 9 im Juni 2010 erstmals erfolgreich in den Himmel startete, steht der exzentrische Milliardär Elon Musk und mit ihm sein Unternehmen SpaceX für eine neue Weltraum-Ära, die auch als »New Space« bekannt ist und im Widerspruch zum »Classic Space« gesehen wird (Paikowsky 2017). Analyst*innen überschlagen sich, prognostizieren sprunghaftes Wachstum der weltweiten Weltraumausgaben um das Achtfache, von 339 Mrd. US$ in 2017 auf bis zu 2,7 Bio. US$ in 2045 (Tran et al. 2017). Es scheint, als habe ein neuer Goldrausch“ (Pelton 2017) eingesetzt, in dem Milliardäre wie Elon Musk, Jeff Bezos und Richard Branson mit ihren Unternehmen SpaceX, Blue Origin und Virgin ganz vorne mit dabei sein wollen. Damit hat das Zeitalter der privaten kommerziellen Nutzung (und Ausbeutung) des Weltraums begonnen – mit allen sicherheitsrelevanten, ökologischen und sozialen Konsequenzen. Kommerzielle Aktivitäten im Weltraum lassen sich unterscheiden in 1.) etablierte Aktivitäten: Satelliten, Trägersysteme und Satellitenkommunikation; 2.) in der Entwicklung befindliche Aktivitäten: Weltraumtourismus, Serviceleistungen im Weltraum und die Entsorgung von Weltraummüll (»Space Debris«); 3.) prospektive Aktivitäten: Produktion im Weltraum, Asteroidenbergbau und Weltraumhabitate (Kind et al. 2020).

Der Artikel skizziert die rechtlichen Regelbereiche der Weltraumgovernance und blickt beispielhaft auf die Genese eines kommerziellen Marktes für Trägersysteme sowie den Weltraumtourismus und den Asteroidenbergbau. Dabei stehen die sicherheitsrelevanten Folgen dieser Entwicklungen im Fokus, die im Kontext der weiteren Versicherheitlichung und Militarisierung des Weltraums nicht unterschätzt werden dürfen.

Die Ursprünge der Kommerzialisierung

Es dauerte gerade einmal fünf Jahre, nach dem Start des Weltraumzeitalters mit Sputnik, bis kommerzielle Akteure nicht nur als Zulieferer von Weltraumtechnologie, sondern auch als Projektpartner fungierten: Am 10. Juli 1962 startete die NASA für AT&T und Bell Telephone Laboratories den ersten kommerziell finanzierten und entwickelten Satelliten Telstar I. Noch im selben Jahr schuf die US-Regierung den »Communications Satellite Act«, der den kommerziellen Betrieb von Satelliten rechtlich verankerte.

Dieses Bemühen um Regulierung einer aufkommenden Kommerzialisierung drückt sich auch in diversen Abkommen aus. Ab 1967 wurde mit dem Weltraumvertrag (WRV) die Beteiligung von nicht-staatlichen Akteuren unter die Überwachung der entsendenden Staaten gestellt. In Artikel VI heißt es: „Die Aktivitäten nichtstaatlicher Körperschaften im Weltraum, einschließlich des Mondes und anderer Himmelskörper, bedürfen der Genehmigung und ständigen Überwachung durch den zuständigen Vertragsstaat.“ Auch die weiteren weltraumbezogenen Verträge, das Weltraumrettungsübereinkommen (1968), das Übereinkommen über die völkerrechtliche Haftung für Schäden durch Weltraumgegenstände (»Space Liability Convention«, 1972), und das Weltraumregistrierungsübereinkommen (1976) finden prinzipielle Anwendung auf kommerzielle Akteure. Der Mond-Vertrag von 1979 gilt dagegen wegen seiner geringen Unterstützung als gescheitert und findet insofern keine Anwendung.

Der Durchbruch der kommerziellen Satellitenkommunikation lässt sich auf die 1980er Jahre datieren und allem Anschein nach bleibt die Satellitenkommunikation bis auf weiteres auch das hauptsächliche Betätigungsfeld. Insbesondere in den USA ergeben sich starke Tendenzen, die Kommerzialisierung auch in anderen Bereichen zu entwickeln, dicht gefolgt von Europa und Japan, die zunehmend Programme zur Förderung kommerzieller Raumfahrt einrichten. Russland bewegt sich hier eher in eine Regression, indem es kommerzielle Aktivitäten zunehmend verstaatlicht, während China und Indien die Raumfahrt stets in den Dienst sozioökonomischer Entwicklung stellten (Kind et al. 2020, S. 21-25). Der zweite »Durchbruch« war die zunehmende Kommerzialisierung in den 2010er und 2020er Jahren, die alle Raumfahrtnationen ernst nahmen. Heute machen privatwirtschaftliche Kommunikationsaktivitäten rund ein Drittel und Erdbeobachtung ein weiteres Drittel aller Satellitenkapazitäten aus (Kind et al. 2020, S. 49).

»Lift Off« für kommerzielle Aktivitäten und Trägersysteme

Auch wenn Telstar I in Kooperation mit den Telekommunikationspartnern entwickelt wurde, übernahm die NASA die Kernaufgabe der Beschaffung der Trägersysteme ebenso wie die der Starts. Dieses Vorgehen sollte der Modus Operandi bis in die 1980er Jahre bleiben. Mit der Mondlandung am 20. Juli 1969 wähnten sich die USA als Sieger des »Space Race«, und das Interesse der US-Öffentlichkeit am Weltraum schwand zunächst, nicht zuletzt infolge von Bürgerrechtsbewegung, Vietnamkrieg und geopolitischer Entspannungspolitik (Logsdon 2015, S. 114f.). In den 1970er und 1980er Jahren nahmen zwei Projekte Fahrt auf, die die Raumfahrt kommerzialisieren wollten. Die deutsche OTRAG (Orbital Transport- und Raketen Aktiengesellschaft) versuchte ab 1975 eine simple, aus mehreren Flüssigraketen bestehende Trägerrakete zu bauen und zu vermarkten. Neben Zweifeln an der Wirtschaftlichkeit führten politischer Druck der USA und der Sowjetunion, aber auch Frankreichs, das eine direkte Konkurrenz zur staatlich getragenen Europa-Rakete/Ariane fürchtete, zum Ende der OTRAG 1986 (Schwehm 2018).

Das Space Transportation System (STS), besser bekannt als Space Shuttle, wurde zeitgleich das neue Prestigeprojekt der NASA, die dazu das Weiße Haus von einem wiederverwendbaren Raumgleiter überzeugte, der Operationen der zivilen NASA, des Militärs und kommerzieller Unternehmen übernehmen sollte. Die Versprechungen waren riesig, die Enttäuschung umso größer: Acht jährliche Starts bei rund 10.000 US$/kg (Preise 2020) waren angepriesen, realisieren konnte man im statistischen Mittel 4,7 Starts jährlich bei Kosten um 65.000 US$/kg (Logsdon 2015, S. 257; Jones 2018). Das Shuttle erlangte trotz explosionsartiger Kostensteigerung 1981 seine Startlizenz, bis die Regierung von Ronald Reagan ihr 1986 diese Lizenz infolge der Explosion des Shuttles »Challenger« wieder entzog und später den Einsatz der Shuttles auf zivile Missionen der NASA begrenzte. Militärische wie kommerzielle Akteure wechselten zu Einweg-Trägerraketen (»Expendable Launch Vehicles«).

Das Scheitern des Shuttles führte zu einem jähen Einbruch amerikanischer Starts, die von dem multinationalen Unternehmen Arianespace und ihrer Ariane-Raketenfamilie (ab 1983) aufgefangen wurden. Dies gilt auch heute als Startschuss für kommerzielle Trägersysteme – wenn auch mit nationalstaatlicher Absicherung. Die Dominanz der ­Ariane wurde erst nach dem Fall der Sow­jetunion geschmälert, als nun auch die russischen Folgeunternehmen mit der Soyuz-, ­Angara-, Proton-Raketenfamilie und der ukrainischen Zenit kommerzielle Raketenstarts anboten, infolge eines durch die Raumstationen MIR und ISS eingeschränkten Budgets und getrieben durch die generellen ökonomischen Nöte der postsowjetischen Länder.

US-amerikanischer Markt für Weltraumstarts

Aufgrund der Bereitschaft für die Öffnung, der hegemonialen Stellung der USA in diesem Bereich und der entsprechend finanzstarken Akteurslandschaft lohnt ein Blick auf die Entwicklung des US-amerikanischen Marktes für Weltraumstarts, um das Phänomen der Kommerzialisierung besser einordnen zu können. Ein kommerzieller Markt für Startkapazitäten entwickelte sich auch dort zunächst nicht, trotz Deregulierung durch die Regierung von Präsident Reagan. Erfolge wie die Conestoga I der Firma Space Science Inc., die am 9. September 1982 erfolgreich abhob, ignorierte die NASA. 2003 führte das Space Shuttle abermals zur Neujustierung des Marktes, als die Raumfähre »Columbia« beim Wiedereintritt verglühte. Die sogenannte Aldridge-Kommission, die der 2004 verkündeten »Vision for Space Exploration« von George W. Bush, jr. folgte, plädierte entschieden dafür, von der bisherigen Praxis der Beschaffung der Startkapazitäten durch die NASA Abstand zu nehmen: statt eines »Kosten Plus«-Modells sollten privat-kommerzielle Startkapazitäten als Public-Private Partnerships nach einem festgelegten Preis eingekauft werden (Solomon 2008, S. 25-29). Im klassischen Modus waren aufgeblähte Hierarchien, Kostensteigerungen und Verzögerungen üblich (Paikowsky 2017), auch hatte sich zwischen NASA und Raumfahrtindustrie eine »Drehtür« für Manager etabliert. De facto blieben sowieso nur zwei Konzerne übrig: Boeing und Lockheed Martin (Berger 2021, S. 192).

Direkte Konsequenzen zeigten sich für die NASA noch nicht, wohl jedoch für ein 2002 gegründetes Weltraumunternehmen. Elon Musk, der durch den Verkauf eines Softwareunternehmens zu einigen Millionen US$ gelangt war, zeigte sich unzufrieden mit den ambitionslosen Zielen der NASA, sodass er kurzerhand sein eigenes Raumfahrtunternehmen, Space Explorations bzw. SpaceX, gründete. 2003 klagte SpaceX gegen die Vergabe eines Auftrags der NASA über 227 Mio. US$ zur Versorgung der ISS, der ohne Ausschreibung an das beinahe bankrotte Unternehmen Kistler Aerospace gegangen war. Die NASA verlor den Prozess, zog den Vertrag mit Kistler zurück und schuf die Programme COTS (»Commercial Orbital Transport Services«) und CRS (»Commercial Resupply Services«), welche finanzielle Mittel an die teilnehmenden Firmen ausschütteten, die zuvor gesteckte Ziele erreicht hatten. Am 28. September 2008 führte SpaceX einen vierten, endlich erfolgreichen Start seiner Falcon 1 durch und wurde mit einem 1,9 Mrd. US$ schweren Vertrag zur Versorgung der ISS belohnt, der das Unternehmen zugleich vor dem Bankrott bewahrte (Vance 2015; Berger 2021).

Damals noch belächelt, transformiert SpaceX seitdem den Markt durch seine der traditionellen Raumfahrt diametral entgegengesetzten Praktiken: so hat SpaceX flache Hierarchien und Entscheidungsprozesse, produziert in-house und verwendet kommerziell verfügbare Bauteile. Käufer bezahlen einen fixen Preis, die Kosten liegen pro kg bei 2.400 US$ (Jones 2018), was vor allem zu einer zunehmenden Marktmacht von SpaceX beiträgt. Auch experimentiert SpaceX mit wiederverwendbarer Technologie und setzt mit Falcon Heavy (Jungfernflug 2018) und der Entwicklung des Gleiters Starship erneut Akzente. Damit ist SpaceX auch zur Chiffre des »New Space« avanciert. Das Unternehmen beweist nicht nur die Agilität und Innovationsfähigkeit von Start-Ups, es beweist, dass Risikoarmut und ein auf Sicherheit getrimmtes Businessmodell für die Frühzeit der (bemannten) Raumfahrt bestimmend war, jedoch zunehmend überholt ist. Dieser Trend wird durch viele nachahmende Unternehmen im Bereich der sogenannten »Microlauncher« kopiert, etwa Electron und Firefly in den USA, oder HyImpulse, RFA und Isar Aerospace in Deutschland.

Weltraumtourismus: Der nächste Schritt?

Beim Weltraumtourismus reisen Personen, die nicht in die Organisationsstrukturen staatlicher Stellen eingebunden sind, gegen Bezahlung in den Weltraum. Der erste Weltraumtourist war Dennis Tito, ein amerikanischer Multimillionär, der 2001 mit einer russischen Soyuz für 20 Mio. US$ zur ISS flog. Generell ist zu unterscheiden zwischen mehrtägigen Aufenthalten im Weltraum, etwa auf der ISS oder in anderen speziellen Habitaten, die Unternehmen wie Bigelow Aerospace planen, und suborbitalen Flügen, bei denen der Rand der Atmosphäre für einige Minuten erreicht wird, bevor das Raumfahrzeug zur Erde zurückfällt. In Zahlen ausgedrückt: Bis Juni 2022 flogen 13 Personen für 8-17 Tage zur ISS und bezahlten zwischen 20 und 35 Mio. US$ an das Unternehmen Space Adventures. 26 Personen unternahmen zehnminütige suborbitale Flüge mit Blue Origin, die rund 200.000 bis 300.000 US$ kosten sollten. Vier Personen blieben mit SpaceX drei Tage im LEO. Während die Aufenthalte von Space Adventures alle ein bis zwei Jahre stattfanden, entsendet Blue Origin seine Raumfahrzeuge annähernd monatlich, d.h. alle 26 Personen, die bislang einen suborbitalen Flug absolvierten, taten dies innerhalb eines Jahres.

Regulativ ist die derzeitige Form des Weltraumtourismus unproblematisch. Staaten haften für die Durchführung der Flüge, und da auf der ISS das jeweilige Landesrecht gilt, obliegt die Entscheidung darüber, wer Zugang zur ISS erhält, dem entsendenden Staat. Ein handfestes politisches Problem betrifft Fragen der (Klima-)Gerechtigkeit. Es wird geschätzt, dass ein einfacher suborbitaler Flug, der bereits deutlich weniger Beschleunigung und damit weniger Abgase und CO2 erzeugt als ein orbitaler Flug, immer noch das 50-100fache eines regulären transkontinentalen Fluges freisetzt. Hier steht der Weltraumtourismus unter einem nicht unerheblichen Rechtfertigungsdruck, da eine Ausweitung der weltraumtouristischen Unternehmungen faktisch nur durch eine höhere Umweltbelastung zu haben ist.

Asteroidenbergbau: ein neuer Extraktivismus?

Der Asteroidenbergbau, d.h. das Einfangen von Asteroiden und der Abbau der enthaltenen Mineralien, ist noch in den Bereich der Science-Fiction einzuordnen, hat jedoch ein signifikantes Transformationspotential. So wäre es möglich, dass der 1852 entdeckte Asteroid Psyche 16 in seinem Inneren Goldvorkommen im Wert von heute rund 600-700 Trillionen US$ mit sich trägt. Zum Vergleich: Der irdische Goldmarkt umfasste 2019 rund 317 Bio. US$. Grundlegende Technologien zum Abbau sind realisierbar und der ESA-Satellit Rosetta demonstrierte schon 2016, dass eine Landung möglich ist. Dennoch sind die Kosten derzeit kaum realistisch zu kalkulieren, die Chancen auf Erfolg mehr als unsicher. Trotzdem wird geforscht und investiert.

Zwei internationale Rechtsnormen werden in diesem Kontext zitiert: Artikel I WRV beschreibt den Weltraum als „Domäne der Menschheit“ und schreibt diesem ähnliche Charakteristika zu wie bei den Globalen Gemeingütern (»Global Commons«). Artikel II WRV verbietet nationale Aneignungen im Weltraum. Gemeinsam entfalten diese beiden Artikel einen Effekt, der darauf hindeutet, dass Asteroidenbergbau auf Basis des derzeitig gültigen Rahmens internationaler Normen nicht legal ist bzw. nicht ausreichend reguliert ist. Diese Lücke haben die USA 2015 und Luxemburg 2017 durch nationale Gesetze gefüllt, die Unternehmen das Recht einräumten, geplünderte Mineralien zu behalten. Als Absicherung von Investitionen sind diese Gesetze plausibel, doch ist damit noch nicht die Gerechtigkeitsproblematik ausgeräumt, die vermutlich dann folgt, sobald Asteroidenbergbau faktisch realisiert werden kann (Svec 2022).

Trägersysteme als Anstoß für weitere kommerzielle Aktivitäten

Die durchgreifenden Veränderungen im Markt der Trägersysteme gehen mit tiefgreifenden Veränderungen aller kommerziellen Aktivitäten einher, die zu weiten Teilen erst möglich sind, seit es kostengünstige Zugänge zum Weltraum gibt. Die Ausweitung von Satellitenstarts, von Satellitenanwendungen, dem Weltraumtourismus und der durch Miniaturisierung forcierte Aufbau von Satellitenschwärmen und Konstellationen aus vielen kleinen Satelliten (Konecny 2004) mit dem Ziel, größtmögliche Redundanz und Resilienz zu schaffen (etwa bei StarLink von SpaceX und dessen globalem Internetangebot), sind maßgeblich auf fallende Startpreise zurückzuführen. Damit kommen auch kommerzielle Dienstleistungsaktivitäten im Weltraum, wie etwa die Durchführung von Wartungsarbeiten an Objekten im Weltraum, erst in Frage. Zugleich entstehen durch diese Ausweitung auch signifikante Sicherheitsgefahren, hier weniger in der traditionellen Dimension militärischer und nationaler Sicherheit (»Security«), vielmehr in den Dimensionen der sicheren Nutzung des Weltraums (»Safety«).

Je mehr Objekte sich im Weltraum befinden, desto höher ist die von ihnen ausgehende Gefahr von kaskadierenden Zusammenstößen, die die Raumfahrt praktisch völlig zum Erliegen bringen könnten. Deshalb ist das Thema Weltraummüll für die Raumfahrt im Zusammenhang mit der Kommerzialisierung zu einem prioritären Thema der Raumfahrtdiplomatie avanciert (siehe den Beitrag von Bertamini in diesem Dossier, S. 25). Entsorgungskonzepte werden bereits als Designmerkmal von Raumfahrzeugen entwickelt, während eine Art aktiver Müllabfuhr im Weltraum Thema politischer Verhandlungen ist. Kommerzielle Akteure wie ClearSpace sind hier auf dem Vormarsch, aber globale Übereinkommen zur Entfernung von Weltraummüll stellen zurzeit noch eine größere politische Herausforderung dar, als Weltraummüll schlicht zu vermeiden. In diesem Kontext wird seit einigen Jahren auch eine Regulierung des Weltraumverkehrs (»Space Traffic Management«) vorangetrieben, um die Vielzahl an Problemen anzugehen (IAA 2016).

Kommerzialisierung als Katalysator oder Dämpfer von Konflikten?

Die Kommerzialisierung beschert der Raumfahrt eine erhöhte Aufmerksamkeit, die vornehmlich auf SpaceX und dessen technologischen Errungenschaften sowie den fallenden Startpreisen beruht. Die Vervielfältigung von Weltraumaktivitäten in Quantität und Qualität nimmt bereits zu, wenngleich eine nachhaltige Demokratisierung im Sinne einer Neujustierung der Machtverhältnisse unwahrscheinlich ist (Rementeria 2022).

Es muss aber bei allem Enthusiasmus auch konstatiert werden, dass die kommerziellen Aktivitäten weiterhin auf einem moderaten Niveau stattfinden. So gibt es zwar einen Aufwärtstrend in der Zahl an Raketenstarts und der gestarteten Objekte (2016: 221; 2021: 1807), und auch insgesamt ist der Satellitenmarkt weiterhin der bedeutsamste hinsichtlich kommerzieller Aktivitäten. Die meisten der gestarteten Objekte werden jedoch weiterhin vornehmlich von staatlichen Akteuren finanziert – hier haben Unternehmen wie SpaceX lediglich im Bereich der Trägersysteme staatliche und halbstaatliche Akteure wie Roskosmos und Arianespace bei der Beförderung verdrängt.

Für die konkrete Umwelt des Weltraums ist die Vervielfältigung an kommerziellen Aktivitäten daher bedeutsam, da sie auch explizit (sicherheits-)politische Verwerfungen durch eine Verschärfung der Abfallproblematik nach sich zieht. Zudem zeigt sich ein Überkreuzen geopolitisch staatlicher Interessen und kommerzieller Aktivitäten: StarLink von SpaceX wird von Staaten wie Russland und China wegen der Verwicklungen im Ukraine­krieg und auch wegen seines unzensierbaren Zugriffs auf das Internet argwöhnisch beobachtet, teilweise sogar aktiv durch Weltraummüll gestört (Sönnichsen 2021) oder gar mit expliziten Ankündigungen bedroht, diese Satelliten abzuschießen (Bhatia 2022). Dass Konstellationen wie StarLink das Potenzial haben, in Krisenregionen eine Kommunikationsinfrastruktur aufrecht zu erhalten, oder dass die Erdbeobachtung unschätzbare Informationen hinsichtlich Klimafolgen, Katastrophen und Menschenrechtsverletzungen liefert, ist gerade im Kontext eines breiten Sicherheitsbegriffes (»human security«) von Relevanz.

Durch die Volatilität der Kommerzialisierung ist eine abschließende Bewertung schwierig. Es konnte aufgezeigt werden, dass die Kommerzialisierung a.) keineswegs ein neues Phänomen, sondern eine Evolution darstellt, die dazu transformativ wirkt; dass b.) die Kommerzialisierung eng mit der Geschichte der Trägersysteme verbunden ist, an deren Anfang wir erst stehen; und c.) die Kommerzialisierung unterschiedliche Rückwirkungen auf Politik und Sicherheit nimmt. Erwartbar ist, dass die technische Entwicklung noch nicht abgeschlossen ist, es deshalb zu weiteren geopolitischen Konflikten kommen wird und es daher regulativer Eingriffe bedarf, um klare Leitplanken für kommerzielle Aktivitäten im Weltraum herzustellen.

Literatur

Berger, E. (2021): Liftoff. Elon Musk and the desperate early days that launched SpaceX. New York, NY: William Morrow.

Bhatia, S. (2022): Why does China want to shoot down the Elon Musk Starlink satellites? Pocket Now, 27.5.2022.

IAA (2016): Space Traffic Management. Towards a roadmap for implementation. IAA, Paris.

Jones, H. W. (2018): The recent large reduction in space launch cost. Proceedings of the 48th International Conference on Environmental System. Albuquerque, New Mexico, ICES-2018-81.

Kind, S.; Jetzke, T.; Nögel, L.; Bovenschulte, M.; Ferdinand, J.-P. (2020): New Space – neue Dynamik in der Raumfahrt. Büro für Technikfolgenabschätzung. Kurzstudie Nr. 1, Berlin (Oktober).

Konecny, G. (2004): Small satellites – A tool for earth observation? Institute of Photogrammetry and GeoInformation, Universität Hannover, Eigenpublikation.

Logsdon, J. M. (2015): After Apollo? Richard Nixon and the American Space Program. New York: Palgrave Macmillan.

Paikowsky, D. (2017): What is New Space? The ­changing ecosystem of global space activity. New Space 5(2), S. 84-88.

Pelton, J. N. (2017): The New Gold Rush. The riches of space beckon! Cham: Copernicus.

Rementeria, S. (2022): Power dynamics in the age of space commercialisation. Space Policy 60, S. 101472.

Schwehm, O. (Regie) (2018): Fly, Rocket, Fly. Mit Macheten zu den Sternen. Dokumentarfilm. Hamburg: Lunabeach TV und Media GmbH. Online verfügbar unter otrag.com.

Solomon, L. D. (2008): The privatization of space exploration. Business, technology, law and policy. New Brunswick: Transaction Publishers.

Sönnichsen, A. (2021): An ASAT test, again. SpaceWatch.global, zuletzt aktualisiert am 20.12.2021.

Svec, M. (2022): Outer space, an area recognised as res communis omnium: Limits of national space mining law. Space Policy 60, S. 101473.

Tran, F. et al. (2017): Thematic Investing: To infinity and beyond – Global space primer. New York, Bank of America Merrill Lynch (Transforming World Thematic Research), 30.10.2017.

Vance, A. (2015): Elon Musk. How the billionaire CEO of SpaceX and Tesla is shaping our future. New York: Ecco.

Arne Sönnichsen ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand am Lehrstuhl für Internationale Beziehungen und Entwicklungspolitik der Universität Duisburg-Essen. Er befasst sich im Rahmen seiner Dissertation mit den Auswirkungen von Technik auf Governance am Beispiel der Raumfahrt und koordiniert das Forschungsnetzwerk »SichTRaum – Sicherheit, Technologie, Weltraum«.

Ressourcenabbau, Weltraumschrott und der Weltraum als Teil der »Umwelt«

Eine rechtswissenschaftlich-ökologische Betrachtung

von Maximilian Bertamini

Die Bedeutung des Weltraums für den internationalen Frieden ist breiter gefächert, als es auf den ersten Blick erscheint. Denn nicht nur eine fortschreitende Militarisierung schafft Konfliktpotenziale im All, sondern auch Wettläufe um Ressourcen und die stetige Verknappung nutzbarer Orbits durch Weltraumschrott. Im Sinne des Friedensbegriffs der Vereinten Nationen ist Frieden nicht nur die weitgehende Abwesenheit militärischer Konflikte, sondern darüber hinaus auch das Vorherrschen von Bedingungen, die Konflikten vorbeugen und unter denen Frieden fortbestehen kann. Dazu zählen sozio-ökonomische, humanitäre und ökologische Faktoren (VN Sicherheitsrat 1992), die weitestgehend auch menschenrechtlich verbürgt sind. In Hinblick auf diese Faktoren sind auch Dynamiken friedensrelevant, die nicht militärisch geprägt sind.

Anhand der Regulierung von Ressourcenabbau im Weltall und der Problematik des Weltraumschrotts soll im Folgenden gezeigt werden, inwiefern diese beiden Bereiche Herausforderungen für den richtigerweise breit verstandenen internationalen Frieden sind. Der Beitrag endet mit Überlegungen dazu, ob und inwieweit diese Dynamiken mit einer Einordnung des Weltraums als Teil der natürlichen Umwelt vereinbar wären.

Konfliktpotenzial Ressourcenabbau im Weltall

Auch wenn es nach Science Fiction klingen mag: Der Abbau von natürlichen Ressourcen im Weltraum, z.B. von Aste­roiden und anderen Himmelskörpern, ist ein Vorhaben, dem Unternehmen, Raumfahrtbehörden und Wissenschaft seit einigen Jahren mehr Aufmerksamkeit schenken denn je. Waren 2019 noch ca. 20.000 erdnahe Asteroiden bekannt, so sind es zum Zeitpunkt dieser Publikation bereits ca. 30.000 (CalTech 2022). Viele dieser Himmelskörper verfügen über reichhaltige Vorkommen an Platin und anderen wertvollen Rohstoffen, die jeweils Milliarden von US$ wert sind (Yarlagadda 2022). Neben Mineralien hält der Weltraum auch nennenswerte Vorkommen an Wasserstoff in Form von Eis bereit (etwa in den Polkappen des Mondes) (NASA 2018), die das Interesse verschiedener Akteure wecken. Aus dem Eis kann Wasserstoff extrahiert und in Treibstoff umgewandelt werden, wodurch ein erneutes Auftanken von Raumfahrzeugen ermöglicht würde (TU Berlin 2021). Diese Möglichkeit, in Verbindung mit der Wiederverwendbarkeit moderner Raketen, könnte die Kosten der Raumfahrt derart senken, dass damit ein neues Weltraumzeitalter losgetreten würde. Entsprechend groß ist das wirtschaftliche und wissenschaftliche Interesse am Abbau natürlicher Ressourcen im All.

Angesichts des großen Potenzials von Weltraumbergbau droht allerdings auch ein Wettrennen um die Ressourcen, die mit den jeweils aktuellen technischen Möglichkeiten schon erreichbar sind. Dabei ist zu befürchten, dass das Ringen um die besten Abbaumöglichkeiten nicht nur nach dem Prinzip »first come, first serve« vonstatten geht, sondern dabei auch Konflikte über die extrem wertvollen Rohstoffvorkommen entflammen können. Diese Befürchtung wird dadurch verstärkt, dass der Weltraumvertrag (WRV) von 1967, der einen Großteil der Rechte und Pflichten von Staaten im Weltraum regelt, das Thema Ressourcenabbau nicht explizit behandelt und die freie Nutzung und Erkundung des Weltraums für alle garantiert, was Raum für eine Wild-West-Mentalität lässt (siehe auch Engels in diesem Dossier, S. 12). Der umstrittene rechtliche Status von Ressourcen im All wird im Folgenden skizziert.

Artikel II WRV legt fest, dass der Weltraum keiner nationalen Aneignung unterliegt, sei es durch Souveränitätsansprüche, Besetzung, Benutzung oder auf anderen Wegen. Was in dieser Vorschrift nicht ausdrücklich behandelt wird, ist der Umgang mit Rohstoffen einerseits und mit Privateigentum andererseits. Die Meinungen in der juristischen Fachliteratur darüber, welche Objekte und Rechte von Art. II WRV erfasst sind, gehen teils diametral auseinander. Eine klarere Position zur Frage der Rohstoffnutzung bezieht Art. 11 des Mondvertrages – welcher übrigens einen deutlich weiteren Anwendungsbereich hat, als sein Name vermuten lässt. Laut Art. 11 sind auch Ressourcen im Weltraum ausdrücklich vom Aneignungsverbot erfasst, was so bleiben soll, bis die Vertragsstaaten sich auf Regelungen für ihren Abbau und die Verteilung der daraus resultierenden Vorteile einigen können. Allerdings sind lediglich 18 Staaten Vertragsparteien des Mondvertrages, darunter keine der großen Raumfahrtnationen. Beobachter*innen führen die mangelnde Popularität des Mondvertrages unter anderem auf seinen restriktiven Umgang mit Rohstoffen zurück (Anderson et al. 2019; Coffey 2009, S. 127).

Dementsprechend ist es nicht verwunderlich, dass manche Staaten bereits nationale Regelungen erlassen haben, die sich die offene Rechtslage zu Nutzen machen und es den eigenen Staatsangehörigen erlauben, Eigentum an Ressourcen im Weltraum zu erwerben. Insbesondere der US Commercial Space Launch Competitiveness Act (CSLC 2015) und das Luxemburgische Gesetz zur Erkundung und Nutzung der Ressourcen des Weltraums (Luxemburg 2017) sind hier nennenswert (vgl. den Beitrag von Sönnichsen in diesem Dossier, S. 21). Was mit einzelnen Gesetzen begann, findet heute seine Fortführung in den »Artemis Accords« (2020), einem unverbindlich-politischen Vertragswerk unter Schirmherrschaft der USA, demzufolge der Abbau und die Nutzung von Weltraumressourcen nicht per se das Aneignungsverbot in Art. II WRV verletzen. Im gleichen Geiste steht das 2022 erschienene McGill Manual on International Law Applicable to Military Uses of Outer Space (Jakhu und Freeland 2022), welches aktuell geltendes internationales Weltraumrecht wiedergeben soll. Darin heißt es in Regel 128, dass die Ressourcen des Weltraums erkundet und genutzt werden dürfen. Auch wenn die Formulierungen der Artemis Accords und des McGill Manuals vorsichtig gewählt sind und nicht ausdrücklich eine kommerzielle Nutzung von Weltraumressourcen gestatten, stellen sie als derzeit aktuellste Stellungnahmen zur rechtlichen Regelung der Thematik auch keine Hürde für diese dar. Es wird zwar jeweils betont, dass der Weltraum, wie auch in Art. IV WRV vorgesehen, nur zu friedlichen Zwecken genutzt werden darf. Allerdings betrifft diese Einschränkung nur die jeweilige Weltraumnutzung. Das Konfliktpotenzial, das sich aus dem Wettbewerb um ebendiese Nutzungen ergeben kann, findet keine Erwähnung.

Die dargestellte Rechtslage kann Akteure dazu ermutigen, sich die Ressourcen des Weltraums unilateral zu eigen machen zu wollen. Dies betrifft vor allem diejenigen Staaten und Unternehmen, die technologisch und finanziell entsprechend ausgestattet sind – nicht selten auf der Grundlage großer eigener Rohstoffvorkommen (Öl, Gas, Kohle, Seltene Erden, Sand, usw.) auf der Erde, wie etwa im Falle Russlands, Chinas oder der USA. Der Drang nach Festigung und Erweiterung geopolitischer Macht durch weitere oder das erneute Erschließen bereits erschöpfter Rohstoffe kann das Verhältnis der großen Raumfahrtnationen zueinander gefährden und dazu führen, dass Ungleichheiten gegenüber den weniger entwickelten Staaten fortgesetzt und vertieft werden. Zwar betonen das internationale Weltraumrecht, die Artemis Accords und das McGill Manual die Pflicht zur Kooperation und gegenseitigen Rücksichtnahme, aber wie die aktuellen Spannungen zwischen Russland und den USA um die ISS (vgl. Scheffran in diesem Dossier, S. 2) und Chinas Alleingang beim Bau ihrer eigenen Raumstation zeigen, verkommen diese Pflichten nur allzu schnell zu Lippenbekenntnissen. Ein Wettrennen der Großmächte um die Ressourcen des Weltraums bleibt daher sehr bedenklich, insbesondere vor dem Hintergrund eines anspruchsvollen Friedensbegriffs. Es droht Konflikte und Instabilität zu fördern, statt sie einzudämmen, insbesondere auch auf der sozio-ökonomischen Ebene. Angesichts der theoretisch unendlichen Verfügbarkeit von Ressourcen im Weltall eine ernüchternde Vorstellung.

Konflikte um begrenzte Orbits und Weltraumschrott

Eine ähnliche Dynamik droht im Zusammenhang mit dem knapper werdenden nutzbaren Raum im Erdorbit. Mit der stetig steigenden Nutzung des Weltraums durch staatliche und in letzter Zeit auch immer mehr private Akteure steigt auch die Zahl an ausrangierten Satelliten, Trümmerteilen und Kleinstteilen, die unter dem Begriff Weltraumschrott zusammengefasst werden. Insbesondere das fortschreitende Testen von Anti-Satelliten-Raketen ist hier problematisch. Aber auch bei nichtmilitärischer Nutzung entsteht Weltraumschrott, etwa dadurch, dass Objekte technische Defekte erleiden oder sich kleinere Partikel bei Raketenstarts ablösen. Auch das Betreiben von Weltraumbergbau wäre wohl kaum möglich, ohne dass dabei Weltraumschrott entstünde. Im Frühjahr 2022 befanden sich rund 130 Millionen erkennbare Teile Weltraumschrott im Erd­orbit, von denen ca. 100.000 größer als 1cm und ca. 36.500 größer als 10cm sind (SatelliteXplorer 2022). Diese erreichen Geschwindigkeiten von rund 28.000km/h (ebd.), wodurch selbst kleinste Teile bei Kollisionen mit aktiven Weltraumobjekten erhebliche Schäden anrichten können. Je mehr Weltraumschrott anfällt, desto schwieriger wird eine sichere und langfristige Nutzung des Weltraums.

Bestrebungen, die Verursachung von weiterem Weltraumschrott zu verhindern und schon vorhandenen zu beseitigen, verfolgen sowohl staatliche als auch private Akteure. Diese Bemühungen stecken aber jeweils noch in ihren Kinderschuhen (vgl. ebd.). Verheerend an Weltraumschrott ist, dass sich dessen Zahl auch ohne menschliche Einwirkung weiter vervielfacht. Der NASA-Physiker Donald Kessler beschrieb bereits 1978 ein Phänomen, das seitdem als das Kessler-Syndrom bekannt ist (Kessler und Cour-Palais 1978). Seine These ist, dass Teile von Weltraumschrott früher oder später miteinander kollidieren, wodurch weitere kleinere Teile produziert werden, die wiederum mit anderen kollidieren und eine (zunächst langsam eskalierende) Kettenreaktion auslösen. Da auch kleinste Teile Weltraumschrott angesichts ihrer extremen Geschwindigkeit enorme Schäden an funktionsfähigen Weltraumobjekten anrichten können, ist das Kessler-Syndrom ein großes Problem für die langfristige Nutzbarkeit des Weltraums.

In Ermangelung kurzfristiger Lösungen für die Weltraumschrottproblematik und der steigenden Anzahl an Weltraumakteuren wird der Weltraum zunehmend »enger«. Diese Entwicklung erzeugt Druck auf Weltraumakteure und verschärft damit den Drang danach, das meiste aus der eigenen Weltraumnutzung herauszuholen, solange dies noch effizient möglich ist.

Ähnlich wie auch beim Thema des Ressourcenabbaus im Weltraum ist die veraltete Rechtslage eher ein Teil des Problems als der Lösung. Der Weltraumvertrag enthält nur eine einzige Klausel mit einer umweltbezogenen Dimension und damit einen Bezug zur Verschmutzung des Weltraums. Artikel IX WRV spricht davon, dass bei der Erkundung und Erforschung des Weltraums auf die Interessen anderer Staaten Rücksicht zu nehmen ist und verbietet in diesem Sinne auch die Kontaminierung der Erde und anderer Himmelskörper durch Stoffe aus dem Weltraum. Diese Vorschrift ist ihrem Wortlaut nach allerdings in zweierlei Hinsicht beschränkt: Zum einen erstreckt sie sich nicht auf Weltraumnutzungen außerhalb von Erforschung und Erkundung (d.h. nicht auf wirtschaftliche oder militärische Nutzung) und zum anderen werden durch den Fokus auf Himmelskörper die Umlaufbahnen und der »offene« Raum um die Erde nicht in den Anwendungsbereich einbezogen.

Dementsprechend kommt auch das McGill Manual in Regel 129 zu dem Schluss, dass das Völkerrecht keine ausdrücklichen Regeln zur Verursachung von Weltraumschrott enthält. Die Regel enthält aber auch das Zugeständnis, dass sich Pflichten mittelbar aus anderen Normen als denen des Weltraumrechts ergeben können – jedoch ohne diese konkret zu benennen. Auf der politischen Ebene haben sich immerhin die 20 Unterzeichnerstaaten der Artemis Accords in Abschnitt 12 zur Eindämmung von Weltraumschrott verpflichtet.

Der Weltraum als natürliche Umwelt

Neben Perspektiven, die den Weltraum als wirtschaftliche Ressource, militärische Domäne oder Forschungsobjekt betrachten, wird auch immer wieder vorgeschlagen, den Weltraum insbesondere in Hinblick auf das Thema Weltraumschrott als Teil der natürlichen Umwelt zu begreifen (statt vieler s. Bertamini 2021; Shrivastav 2020). Dabei steht im Vordergrund, den Weltraum in zweierlei Hinsicht für zukünftige Generationen zu erhalten: Einerseits als nutzbaren Raum (wirtschaftlich, wissenschaftlich, etc.) und andererseits als kulturellen und spirituellen Bezugspunkt (vgl. hierzu die »Dark and Quiet Skies«-Initiative des VN-Weltraumbüros, UNOSA 2021). Da der Umweltbegriff dynamisch ist und davon abhängt, was die Menschheit zu einem gegebenen Zeitpunkt unter »Umwelt« versteht, sprechen keine kategorischen Erwägungen gegen die Einordnung des Weltraums als Umwelt.

Den Weltraum als Teil der natürlichen Umwelt zu verstehen, würde bedeuten, Erwägungen zum Umweltschutz und zur nachhaltigen Nutzung gemeinschaftlicher Ressourcen auf den Weltraum auszudehnen. Das hätte auch Implikationen für Weltraumbergbau und Weltraumschrott. Für den Umgang mit Weltraumschrott würde die Einordnung des Weltraums als Umwelt vor allem bedeuten, den Fokus weg von Verantwortlichkeit für Schäden durch Weltraumschrott hin zu dessen Prävention zu verschieben. Denn das internationale Umweltrecht, das in weiten Teilen gewohnheitsrechtlich und damit annähernd universell gilt, verlangt den Schutz gemeinschaftlich genutzter Ressourcen und fordert von Staaten die Prüfung einer jeglichen geplanten Maßnahme, die sich negativ auf den Zustand der Ressource auswirken könnte (IGH 2010, Rn. 204). Auch die Übernutzung von Ressourcen wäre dann eindeutig rechtswidrig. Umweltrechtliche Kooperations- und Konsultationspflichten könnten hier die vergleichsweise vagen und engen Pflichten aus dem Weltraumrecht stärken und konkretisieren. Auch in Hinblick auf militärische Nutzungen des Weltraums und den dadurch direkt und indirekt entstehenden Weltraumschrott wäre eine umweltrechtliche Perspektive förderlich. Denn das humanitäre Völkerrecht enthält verschiedene Pflichten zum Schutz der Umwelt in bewaffneten Konflikten (vgl. Art. 55 des 1. Zusatzprotokolls zu den Genfer Konventionen vom 12. August 1949).

Mit Blick auf den Weltraumbergbau würde die Einordnung des Weltraums als natürliche Umwelt vor allem globale Abstimmung und fairen Zugang einfordern. Im Interesse der Rechtssicherheit wäre hier aber ein ausdrückliches Regelwerk mit klaren Vorgaben, Bedingungen und Verteilungsquoten wünschenswerter.

Eine umwelt(recht)liche Perspektive auf den Weltraum hat das Potenzial, die oft unspezifischen Regeln des Weltraumrechts in manchen Punkten zu konkretisieren und bestehende Pflichten als solche zu betonen. Mindestens als Übergangslösung, bis zur Schaffung konkreter Spezialregeln für die modernen Herausforderungen der Weltraumnutzung, wäre angesichts der erheblichen Bedeutung des Weltraums für das Leben auf der Erde ein »Umweltmindset« angebracht. Durch den vorherrschenden umweltbewussten Zeitgeist lässt sich das Potenzial dieser Perspektive heute besser entfalten als je zuvor.

Literatur

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Maximilian Bertamini ist Doktorand im internationalen Weltraumrecht und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Friedenssicherungsrecht und Humanitäres Völkerrecht (Bochum).

Dual-Use in der IT


Dual-Use in der IT

Bewertung in der Softwareentwicklung

von Thea Riebe und Christian Reuter

Der Einsatz von Informationstechnologie (IT) im Frieden ebenso wie in Konflikten und für Sicherheitszwecke wirft einige Fragen auf (Reuter 2019), u.a. ob die Nutzung von IT auf so genannte förderliche Zwecke und Anwendungen begrenzt und eine schädliche Nutzung verhindert werden kann (Riebe und Reuter 2019). Diese Ambivalenz wird als Dual-use-Dilemma bezeichnet und bedeutet, dass Gegenstände, Wissen und Technologie sowohl nützliche als auch schädliche Anwendung finden können. Dual-use-Fragen stellen sich in ganz unterschiedlichen technischen und naturwissenschaftlichen Disziplinen, insbesondere in der Nukleartechnologie sowie in der Chemie und Biologie. Dabei unterscheidet sich die Bedeutung von Dual-use je nach Technologie, ihren spezifischen Risiken und Szenarien sowie ihrer Distribution und Anwendung. Konkret bedeutet dies: Sicherheitspolitische Risikoszenarien und Anwender der Nukleartechnologie unterscheiden sich erheblich von denen der IT.

Im Jahr 2016 erkannten die NATO-Staaten den Cyberspace als militärische Domäne an, um so Cyberoperationen als Angriffe bewerten und im Cyberraum selbst aktiv werden zu können (NATO 2016). Weltweit werden Streitkräfte für den Cyberspace ausgebaut, gleichzeitig nimmt der Einsatz von IT in allen Lebensbereichen zu. Es stellt sich dadurch mehr denn je die Frage nach der Bewertung von Forschung und Entwicklung in der Informatik hinsichtlich potenzieller militärischer Nutzungsbereiche von Software, die ursprünglich für den zivilen Einsatz entwickelt wurde. In der Nuklearphysik, der Biologie und der Chemie wurden die Dual-use-Risiken bereits intensiv untersucht (Altmann et al. 2017; Liebert et al. 2009; Tucker 2012). Diese Studien trugen dazu bei, für einzelne Technologien Verfahren zur Bewertung und Kontrolle eben dieser Risiken hervorzubringen, und lieferten die Grundlage für den Begriff »Dual Use Research of Concern« (DURC). Dieser Begriff bezeichnet Forschungsprojekte, (neue) Technologien oder Informationen, denen das Potential für förderliche und schädliche Anwendung innewohnt und die besonders verheerende Auswirkungen haben können (Oltmann 2015). Die Frage ist daher, ob auch in der Informatik ein »IT Research and Development of Concern« definiert werden kann, das heißt, ob solche besonders riskanten Technologien durch eine kontextbasierte Dual-use-Folgenabschätzung identifiziert werden können, die – ähnlich wie in den Naturwissenschaften – dazu beiträgt, das Potential für eine schädliche Verwendung bereits während der Softwareentwicklung zu verringern.

Die Herausforderung besteht darin, dass das jeweilige Dual-use-Risiko vom Stand und Prozess der Forschung und Entwicklung der jeweiligen Arbeit abhängt und die Technologie gleichzeitig inhärent ambivalent bleibt. Besonders Software zeichnet sich durch ihre vielfältigen Einsatz- und Anpassungsmöglichkeiten in förderlichen und schädlichen Kontexten aus und unterscheidet sich durch ihre mittelbare Wirkung wesentlich von unmittelbar schädlichen ABC-Waffen (Carr 2013; Lin 2016, S. 119). Um trotzdem Bewertungen und darauf aufbauend Designentscheidungen zu treffen, die das Dual-use-Risiko berücksichtigen, braucht es Einzelfallstudien, die sehr kontext- und technologiespezifisch sein müssen. Solche Fallstudien evaluieren nicht nur eine einzelne Technologie, sondern tragen auch insgesamt zur Entwicklung formeller und informeller Methoden der Dual-use-Gov­ernance (Tucker 2012, S. 30-39) und zum Wandel der sozio-technischen Sicherheitskultur bei.

Forschungsstand

Der Begriff »Dual-use« wird vielfältig und divergierend angewendet und definiert, da er sich sowohl auf die Forschung und das Wissen als auch auf Technologien und einzelne Gegenstände beziehen kann (Forge 2010; Harris 2016). Eine frühe Abschätzung der Folgen oder Verwendungsmöglichkeiten der eigenen Forschung und Entwicklung ist besonders dann schwierig, wenn Design­entscheidungen mit geringem Aufwand möglich wären (Collingridge 1980). Dabei gibt es unterschiedliche Methoden zur Dual-use-Bewertung, die sich an der Technikfolgenabschätzung orientieren (Grunwald 2002; Liebert 2011). Die Methoden sind szenarienbasiert und anwendungsorientiert und müssen daher immer in das konkrete Forschungs- oder Entwicklungsvorhaben integriert werden, um fallbasiert das jeweils pessimistischere Szenario durch Designanpassungen ausschließen zu können (von Schomberg 2006).

Für die Softwareentwicklung1 stellt sich gerade vor dem Hintergrund der Versicherheitlichung des Cyberspace (Hansen und Nissenbaum 2009), dem militärischem Bestreben nach umfassender Aufklärung (Müller und Schörnig 2006) und der zunehmenden Investition in die strategisch-offensive Erschließung (Reinhold 2016) die Frage, auf welche Weise Entwickler Missbrauchsrisiken ihrer Forschung und Entwicklung abschätzen können.

Die Dual-use-Debatte in der Informatik wurde bisher vor allem zur Kryptographie (Vella 2017) und zur Proliferation von Spionagesoftware geführt und 2013 sowie 2016 durch Ergänzungen des Wassenaar-Abkommens2 berücksichtigt (Herr 2016). Auch der Dual-use von Software wurde immer wieder als Teil der waffentechnischen Modernisierung problematisiert (Bernhardt und Ruhmann 2017; Reuter und Kaufhold 2018b), dennoch fehlen entsprechende empirische Fallstudien (Leng 2013; Lin 2016). Einerseits ist die moderne Softwareentwicklung durch agile und iterative Vorgehensmodelle, wie Extreme Programming und Scrum, gekennzeichnet, in denen Entwickler und Manager flexibel auf die Änderungen von (Kunden-) Anforderungen reagieren können (Dingsøyr et al. 2012). Es ist daher naheliegend, dass Dual-use-Potenziale nicht nur in der Planungsphase von Softwareprojekten, sondern prozessbegleitend überprüft werden müssen. Andererseits stellt die Flexibilität in der Verwendung von Software in unterschiedlichen Anwendungskontexten die Dual-use-Folgenabschätzung vor eine spezielle Herausforderung und führt dazu, dass diese grundsätzlich anders erfolgen muss als in den Naturwissenschaften (Lin 2016, S. 119). Dabei geht es sowohl darum, Risiken durch nicht-staatliche Akteure zu minimieren, als auch darum, die Gefahr einer unkontrollierten Verbreitung von Schadsoftware oder von Missverständnissen zwischen Staaten zu antizipieren.

Neben der unternehmerischen Analyse von Einflussnehmern und Stimmungsbildern spielen auch Systeme der Social-media-Analyse eine zunehmend wichtige Rolle: Einerseits ermöglichen sie die Identifikation von Einsatzlagen in sozialen Konflikten oder Krisen (Reuter und Kaufhold 2018a; Reuter et al. 2017), gleichzeitig eröffnen sie aber auch ein besonderes Missbrauchspotential im Kontext der Cyberspionage (Neuneck 2017) oder der (politischen) Verfolgung. Deshalb stellt sich die Frage, wie potenzielle Dual-use-Komponenten und -Indikatoren bereits in der Forschung und Entwicklung von Software identifiziert werden können.

Ausblick

Um diese Frage zu beantworten, müssen auf Basis bestehender Ansätze zur Identifikation von Dual-use relevante Indikatoren für eine besonders sicherheitskritische Datenverarbeitung und IT identifiziert und die Gemeinsamkeiten systematisiert werden. Zur Proliferationskontrolle von Spionagesoftware wurden im Wassenaar-Abkommen erste Schritte unternommen, die sich weniger an die konkrete »Intrusion-Software« als an die sie unterstützende Infrastruktur richten (Dullien et al. 2015; Herr 2016). Allerdings wird die Effektivität dieser nicht-bindenden Maßnahmen bezweifelt (Herr 2016; Vella 2017) bzw. sie werden sogar als möglicherweise kontraproduktiv kritisiert (Dullien 2015). Dies zeigt einerseits die Herausforderungen, die sich angesichts der Vielzahl unterschiedlicher Akteure und Prozesse für die effektive Kontrolle von Dual-use-Risiken ergeben. Andererseits tun sich mit der Identifikation von Indikatoren für »Dual Use IT of Concern« und der daran anschließenden Dual-use-Governance von der Forschung zur anwendungsorientierten Entwicklung auch Möglichkeiten zur Verringerung von und zum Umgang mit solchen Risiken auf.

Fazit und Zusammenfassung

  • Dual-use sind Forschungsprojekte, (neue) Technologien oder Informationen, denen das Potential für förderliche und schädliche Anwendung innewohnt und die besonders verheerende Auswirkungen haben können (Oltmann 2015).
  • Dual-use-Risiken sind früh im Forschungsprozess, solange Anpassungen relativ leicht vorzunehmen sind, schwer feststellbar, während sie in der anwendungsorientierten Forschung, wenn sie leichter feststellbar sind, aufwendiger zu vermeiden sind (Collingridge-Dilemma).
  • Dual-use-Risiken können Rüstungsdynamiken und die Stabilität der internationalen Gemeinschaft negativ beeinflussen.
  • Um Dual-use-Risiken zu bewerten, gibt es verschiedene Ansätze der Technikfolgenabschätzung. Diese untersuchen die möglichen Effekte von Technologien auf die Gesellschaft, unter Berücksichtigung von Normen, wie dem Vorsorgeprinzip oder Pazifismus.
  • Dual-use in der Informatik beinhaltet zahlreiche hier dargestellte Forschungsfragen, die wir aktuell in der Forschung adressieren.

Anmerkungen

1) Softwareentwicklung ist die „zielorientierte Bereitstellung und systematische Verwendung von Prinzipien, Methoden und Werkzeugen für die arbeitsteilige, ingenieurmäßige Entwicklung und Anwendung von umfangreichen Softwaresystemen“ (Balzert 2000).

2) Dem Wassenaar-Abkommen für die Exportkontrolle konventioneller Rüstungsgüter und Güter mit doppeltem Verwendungszweck (Dual-use Güter) sowie darauf bezogene Technologien gehören 41 Staaten an. Es ist am 1. November 1996 in Kraft getreten.

Literatur

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Thea Riebe ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Technischen Universität Darmstadt sowie der Universität Siegen und promoviert zu Dual-use in der Informatik.
Christian Reuter ist Professor für Wissenschaft und Technik für Frieden und Sicherheit (PEASEC) an der Technischen Universität Darmstadt; peasec.de.

Mit Technologie in die Dystopie?

Mit Technologie in die Dystopie?

Ein Diskurs über konkrete und diffuse Risiken

von Frank Sauer und Thomas Gruber

Die Bedrohungsszenarien, welche heute im Zusammenhang mit neuen Technologien gezeichnet werden, sind erschreckend: vollständige und zuverlässige Überwachung durch intelligente Kamerasysteme, automatisiertes Töten mittels selbststeuernder Kampfdrohnen und empfindliche Cyberangriffe auf kritische Infrastrukturen, wie Krankenhäuser oder Kraftwerke. Dabei ist das konkrete Gefahrenpotential dieser Ansätze nur sehr schwer greifbar, denn Überwachung und Cyberattacken sind meist unsichtbar. Autonome Waffensysteme wiederum sind schon deshalb eine diffuse Bedrohung, weil ihre Entwicklung jetzt politisch bekämpft werden muss, obgleich sie bisher noch nicht existieren.
Die W&F-Autoren Frank Sauer und Thomas Gruber sind sich einig über die Notwendigkeit, diese Themen stärker öffentlich zu diskutieren und auf internationaler Ebene möglichst rasch einer Verrechtlichung zuzuführen. Ob die Nutzung neuer Technologien im Sicherheits- und Militärsektor immer weiter voranschreitet, unvermeidlich ist und zu einer dystopischen Zukunft führen wird, darüber gehen ihre Meinungen aber auseinander.

Rolle rückwärts in den Krieg der Zukunft

von Frank Sauer

Es herrscht dieser Tage insgesamt kein Mangel an Gedankenspielen über die Zukunft. Zahlreiche bedeutsame Prozesse, vom Klimawandel über die demographische Entwicklung bis hin zu den Fortschritten im Feld der »Künstlichen Intelligenz« (KI),1 werfen ihre Schatten voraus und werden (zumindest in Fachkreisen) mit Aufmerksamkeit bedacht. Woran es hingegen mangelt, sind informierte und unter breiter gesellschaftlicher Beteiligung geführte Diskussionen über die enormen anstehenden Herausforderungen sowie der politische Wille, sich diesen rechtzeitig aktiv zu stellen.

Auch mit Blick auf die Zukunft des Krieges existiert eine rege Fachdebatte. Befeuert wird diese ebenfalls von den Fortschritten im Feld der KI. In ihrem Zentrum steht derzeit die zunehmende »Autonomie« in Waffensystemen. Längst warnen nicht nur Expert*innen aus der Wissenschaft, sondern auch aus prominenten zivilen Technologieunternehmen – den Innovationsmotoren im Feld – unter großer medialer Aufmerksamkeit vor einem risikobehafteten Paradigmenwechsel in der Kriegsführung (FLI 2015, 2017). Denn vollautonome Waffensysteme würden nach ihrer Aktivierung mit Hilfe von Sensoren und Software selbständig, im Unterschied zu ferngesteuerten Systemen also ohne menschliche Kontrolle oder Aufsicht, den Entscheidungszyklus der Zielbekämpfung durchlaufen. Sie wären demgemäß auch bei »selection and engagement of targets« (Zielauswahl und -bekämpfung) der menschlichen Verfügungsgewalt entzogen, was erhebliche völkerrechtliche, ethische und sicherheitspolitische Risiken aufwirft (Amoroso et al 2018).

Seit 2014 befassen sich zudem die Vereinten Nationen (VN) in Genf bei den Konferenzen zur VN-Waffenkonvention mit der Frage, ob – und wenn ja, wie – eine Regulierung von Autonomie in Waffensystemen erwirkt werden kann (Sauer/Altmann 2014). Doch bisher deutet kaum etwas darauf hin, dass die Staatengemeinschaft dem dringenden Regulierungsbedarf ernsthaft nachkommt (Mariske 2018).

Was droht, wenn die Entwicklung im Bereich der Autonomie in Waffensystemen unreguliert weitergeht? Was, wenn vollautonome Waffensysteme sowohl auf als auch jenseits der Schlachtfelder flächendeckend Einzug halten? Im Folgenden werden diese Fragen in Form drei zugespitzter Beschreibungen (Vignetten) adressiert.

Vignette 1: »Blitz-Krieg«

Vollautonomie in Waffensystemen wird global die Gefahr nichtintendierter Eskalationen zwischen Streitkräften erhöhen (Altmann/Sauer 2017), denn die Interaktionen zwischen vollautonomen Waffensystemen sind nicht vorhersehbar. Von den Finanzmärkten sind durch den Hochfrequenzhandel die Risiken solch unvorhergesehener Interaktionsprozesse zwischen zwei oder mehreren Algorithmen längst bekannt. Die dort vorkommenden »flash crashes« verursachen jedoch nur blitzartige Kursabstürze und somit finanzielle Verluste. Sollte hingegen ein kriegsvölkerrechtlich verbindliches und verifizierbares Verbot von vollautonomen Waffensystemen ausbleiben, dann droht der »flash war«, also eine Kaskade aus blitzartig autonom geführten Angriffen und Gegenangriffen, die in kürzester Zeit eine Eskalationsspirale in Gang setzen, ohne dass dem Menschen Zeit für einen korrigierenden Eingriff bleibt (Scharre 2018). Die Konsequenzen wären dann nicht mehr nur finanzieller Natur.

Der – langsame – Mensch ist, anders als Maschinen, dank seinem Verständnis von Kontext und sozialen Zusammenhängen der bessere Krisenmanager. Seine Kontrolle ist natürlich bisweilen Fehlerquelle, im Zweifel aber doch die überlegene Notfallsicherung. Eindrücklich belegt hat dies das Handeln des jüngst verstorbenen sowjetischen Oberstleutnants Stanislaw Petrow im Jahre 1983. Als das laut Diagnose fehlerfrei arbeitende sowjetische Frühwarnsystem eine Sonnenreflexion auf einer Wolke als Raketenflamme startender US-Interkontinentalraketen interpretierte und einen atomaren Erstschlag meldete, entlarvte Petrow dies als Fehlalarm und verhinderte so eine Kettenreaktion, die leicht in einem Atomkrieg hätte enden können. Zukünftig den gesunden Menschenverstand aus dem Entscheidungszyklus zu entfernen, bedeutet also, den »Blitz-Krieg« zu riskieren.2

Vignette 2: Normerosion

Vollautonome Waffensysteme werden die Erosion zentraler Völkerrechtsnormen beschleunigen. Die gegenwärtige Proliferation unbemannter, bisher noch ferngesteuerter, Waffensysteme markiert den Beginn dieses Trends. Rund 90 Staaten verfügen inzwischen über unbemannte fliegende Waffensysteme – »Drohnen«. Mindestens ein Dutzend Staaten verfügt über bewaffnete Drohnen, ebenso eine Reihe nichtstaatlicher Akteure, darunter der »Islamische Staat« und die Hisbollah. Da ferngesteuerte Systeme nicht das Leben von Pilot*innen riskieren und schwerer einem Akteur zuzuordnen sind, wächst mit ihrer Nutzung der politisch-militärische Handlungsspielraum. Mit anderen Worten: Es sinkt die Hemmschwelle, dort militärisch aktiv zu werden, wo bemannte Systeme zuvor zu mehr Vorsicht gezwungen hätten (Sauer 2014). Vollautonome Systeme werden diesen Trend weiter verstärken und das völkerrechtliche Interventionsverbot weiter untergraben.

Darüber hinaus werden vollautonome Waffensysteme das Kriegsvölkerrecht unterminieren. Auf maschinellem Lernen beruhende Maschinen können die für völkerrechtskonformes Operieren auf dem Schlachtfeld notwendigen Entscheidungen nicht treffen. Dazu gehört die Unterscheidung zwischen Kombattanten und Zivilisten, die Angemessenheit bei der Wahl der militärischen Gewaltmittel im Lichte des zu erreichenden militärischen Ziels sowie die Vorsicht bei der Durchführung des Angriffs, um Kollateralschäden zu vermeiden oder zu minimieren (Amoroso et al 2018, S. 23-24). Vollautonomie rührt darüber hinaus an den ethischen Grundfesten, auf denen das Völkerrechtssystem beruht, denn die Kompatibilität mit geltendem Recht ist das eine, das andere jedoch sind die diesem Recht zu Grunde liegenden Normen und Werte. Es verletzt die Würde des Menschen, Entscheidungen über Leben und Tod auf dem Schlachtfeld an Algorithmen zu delegieren (ICRC 2018), denn die auf diese Weise maschinell Getöteten werden damit zu Objekten im Ablauf einer Maschinerie degradiert. Für sie mag es zwar keinen Unterschied machen, ob ein Mensch oder ein Algorithmus ihren Tod bewirkt. Aber die Gesellschaft, die dieses »Outsourcing« erlaubt und mit dem Töten im Krieg ihr kollektives menschliches Gewissen nicht mehr belastet, gibt grundlegende zivilisatorische Werte und humanitäre Normen auf.

Vignette 3: Unterdrückung

Vollautonome Waffensysteme werden die Kontrolle und die Unterdrückung von Bevölkerungen erleichtern, und insbesondere autoritäre Regime werden sie nicht nur für die Kriegsführung nach außen, sondern auch im Inneren einsetzen. Aus Sicht eines autoritären Herrschaftssystems sind autonome Systeme nicht nur eine im Vergleich zu den üblichen Institutionen ungleich kosten­effizientere Lösung: Inlandsgeheimdienst, Polizei, Justiz, Gefängnisse, Militär, dies sind allesamt Organisationen mit Menschen, die ausgebildet, bezahlt und bestochen sein wollen (Roff 2016). Die automatisierte Unterdrückung ist zudem vor allem eines: verlässlich. Maschinen zögern nicht, haben keine Skrupel, planen nicht klammheimlich einen Coup. Ihre Wirkung auf den Menschen wird dabei natürlich nicht nur letal sein. Ein ganzes Spektrum von algorithmisch determinierten physischen und psychischen Vergeltungsmaßnahmen wird entwickelt werden, um die Bevölkerung in Schach zu halten. Gepaart mit Dauerüberwachung, Gesichtserkennung und einem »Social Credit System«, wie China es gegenwärtig testet (Lee 2017), bestraft die automatisierte Unterdrückung zukünftig tagein, tagaus, sieben Tage die Woche, 365 Tage im Jahr die Gesellschaft bereits für das kleinste Abweichen von der vorgegebenen Linie.

Schlussbetrachtung

Es muss – und es wird hoffentlich – nicht so kommen. Statt per Rolle rückwärts, in deren Zuge die Eskalationsrisiken des Kalten Krieges wiederkehren und bestehende Normen erodieren sowie neue, dringend erforderliche Regeln gar nicht erst geschaffen werden, kann die Menschheit sich die Zukunft auch anders erschließen: mit vorwärtsgerichteten Schritten. Bezüglich der Autonomie in Waffensystemen muss der erste Schritt in die Zukunft jetzt getan werden. Dabei sollten wir Menschen uns die Verfügungsgewalt über Waffensysteme bewahren.3 Ein internationales, völkerrechtlich bindendes und verifizierbares Verbot von Vollautonomie in Waffensystemen wäre dafür das am besten geeignete Mittel. Ein solches Verbot wäre nicht perfekt, es würde zukünftig von Einzelnen miss­achtet werden – das zeigt die Erfahrung, etwa im Falle der Chemiewaffen. Aber deswegen die Norm erst gar nicht zu etablieren, wäre fahrlässig, denn die Alternative, die dystopische Version der Zukunft, steht uns vor Augen. Es braucht nun den politischen Willen, sie Fiktion bleiben zu lassen.

Anmerkungen

1) Der Begriff der »Künstlichen Intelligenz« ist weit und nicht einheitlich gefasst. In Ermangelung einer feststehenden Definition wird darunter in der Regel eine Vielzahl unterschiedlicher softwarebasierter Techniken und Verfahren zur Automatisierung von Aufgaben subsumiert, die zuvor die Anwendung menschlicher Intelligenz erforderten. Im Folgenden wird auf den Begriff der KI weitgehend verzichtet und stattdessen die Autonomie von Systemen in den Mittelpunkt gerückt.

2) Dieser Abschnitt bedient sich bei Hansen/Sauer (im Erscheinen).

3) Siehe Amoroso et al. (2018) für einen Vorschlag, wie die Bewahrung menschlicher Verfügungsgewalt über Waffensysteme so ausgestaltet werden kann, dass Autonomie in Verteidigungssystemen zum Schutz von Soldatinnen und Soldaten gegen schnell anfliegende Geschosse weiterhin Verwendung finden kann.

Literatur

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Scharre, P. (2018): A Million Mistakes a Second. foreignpolicy.com, 24.9.2018.

Dr. Frank Sauer forscht und lehrt an der Universität der Bundeswehr München und twittert unter @drfranksauer.

So weit sind wir technisch nicht

von Thomas Gruber

Die Auswirkungen und Gefahren der »künstlichen Intelligenz« und damit einhergehende Technologien und Methoden der Kriegsführung sind bislang zivilgesellschaftlich wenig greifbar, staatlichen und militärischen Stellen scheint es aber wichtig zu sein, diese Nischen zu besetzen. In den letzten Jahren wurden weltweit militärische Kapazitäten für den Cyberkrieg geschaffen und die Drohnenflotten einiger Armeen stark ausgebaut und immer weiter automatisiert (wie etwa bei der Zielfindung oder der Flugstabilisierung). In vielen Städten wurde »intelligente« Videoüberwachung eingeführt, und die Forschung an solchen Überwachungssystemen wurde erheblich gefördert.

Eine kaum greifbare Bedrohung der Zivilgesellschaft auf der einen, staatliche und militärische Aufrüstung auf der anderen Seite – wie groß und vor allem welcher Art sind die Gefahren, die von diesen neuen Technologien und Methoden ausgehen?

Exkurs: Künstliche Intelligenz

Das Fachgebiet, welches sich mit der Entwicklung intelligenter Programme und Maschinen befasst, ist die Künstliche Intelligenz, kurz als »KI« bezeichnet. Bereits Mitte der 1950er Jahre weckte die Forschung zur KI das Interesse staatlicher und militärischer Geldgeber (Crevier 1993 und Nilsson 2014). Die Aussicht auf intelligente Programme und Maschinen lässt vor allem Institutionen wie die US-amerikanische Defense Advanced Research Projects Agency (DARPA) aufhorchen, die die Erforschung von Zukunftstechnologien für das US-Militär fördert. Bis heute können KI-Forscher*innen allerdings kaum nennenswerte Erfolge mit militärischem Nutzwert vorweisen. Dennoch ist »Intelligenz« in vielen ingenieurswissenschaftlichen Publikationen und konkreten technischen Entwicklungen derzeit ein äußerst beliebtes Buzzword.

»Intelligente« Videoüberwachung

Ein Beispiel für die Verwendung von KI-Methoden ist die intelligente Videoüberwachung, mit der in Zukunft ganze Städte, Stadtgebiete oder kritische Infra­strukturen automatisch überwacht werden sollen. Die polizeiliche und militärische Bildauswertung steht derzeit vor einem enormen Problem: Zwar wird der Weg für eine immer umfassendere Überwachung der Zivilgesellschaft politisch sukzessive geebnet, es fehlt aber an der Kapazität, die immer größeren Datenmengen zu verarbeiten. So würde für die Sichtung sämtlicher Überwachungsdaten einer Metropole weit mehr Personal benötigt würde, als das Budget der Stadt hergibt. Die Bürger*innen würden dann zwar abgefilmt, aber ein großer Teil des Materials würde nie von einem Menschen bewertet. Einen vermeintlichen Ausweg bietet hier die intelligente Videoüberwachung: Entweder unterstützend oder vollautomatisch soll sie aus den Bilddaten von Überwachungskameras etwa gesuchte Einzelpersonen anhand bekannter biometrischer Daten erkennen und verfolgen, verdächtiges Verhalten von Individuen und Gruppen ausmachen und bei den menschlichen Auswerter*innen schließlich Alarm schlagen können (Monroy 2018). Oft werden die Überwachungslösungen auch als lernfähige Systeme geplant; die Algorithmen sollen dann beispielsweise verdächtiges Verhalten oder Bewegungsmuster lernen und damit ihre Wirkung verbessern.

Politisch wird die intelligente Videoüberwachung einerseits mit den gleichen Argumenten verteidigt wie die klassische Videoüberwachung: Mehr Kameras bedeuten angeblich mehr Sicherheit. Klassische Videoüberwachung wirkt allerdings kaum präventiv, sondern hilft bestenfalls bei der Aufklärung eines Verbrechens. Eine Ausnahme ist die erhoffte Abschreckung, die allerdings bei Affekthandlungen oder gezielten Anschlägen eher gering ins Gewicht fallen dürfte. Die intelligente Videoüberwachung hingegen soll gefährliche Situationen schon im Entstehen erfassen, sodass eine Eskalation durch herbeieilende Polizist*innen oder Soldat*innen verhindert werden kann. Um diese neue Technik frühzeitig zu fördern, investiert die Bundesregierung aktuell große Summen in die Forschung zur intelligenten Bildverarbeitung, so etwa im »Forschungsprogramm für zivile Sicherheit«, für das seit dem Jahr 2007 knapp 600 Mio. Euro bereitgestellt wurden (BMBF 2018).

Ein Blick auf die Ergebnisse der deutschen Forschungsprojekte lässt die »Intelligenz« der Überwachungssysteme allerdings fraglich erscheinen:1 Objektverfolgung kann oft nur unter erheblicher Fehlertoleranz realisiert werden, Gesichtserkennung ist aufgrund der Häufigkeit falsch erkannter Personen meist nicht praktikabel, »gefährliche« Situationen werden anhand einfachster Bewegungsmuster identifiziert (beispielsweise Rundgänge einer Person in einer Bahnhofshalle, längeres Verweilen oder Gruppenbewegungen im Allgemeinen), und von wirklicher Lernfähigkeit sind die Algorithmen noch weit entfernt. Es ist daher unwahrscheinlich, dass intelligente Videoüberwachung in näherer Zukunft funktioniert. Das bedeutet allerdings nicht, dass von dieser staatlichen Überwachungsoffensive weniger Gefahr für die Zivilgesellschaft ausgeht: Die angeblichen Fortschritte in der intelligenten Bildauswertung werden derzeit als Argument genutzt, um die Überwachung öffentlicher Räume immer weiter auszubauen; gleichzeitig steigt mit der großen Fehleranfälligkeit der Methoden die Wahrscheinlichkeit, vollkommen grundlos verdächtigt zu werden (zusätzlich zum Generalverdacht, der durch Videoüberwachung ohnehin besteht).

Autonome Waffensysteme

Im Jahr 2017 wurde der eindrucksvolle Kurzfilm »Slaughterbots« ins Internet gestellt (FLI 2017a). Er zeigt ein fiktives Szenario, in dem bewaffnete Mikrodrohnen mithilfe von KI-Algorithmen Gesichter erkennen, selbstständig Wege finden und schließlich Zielpersonen töten. Die Mikrodrohnen werden günstig verkauft und bewegen sich in Schwärmen. Angepriesen vom produzierenden Rüstungskonzern finden sie bald Verbreitung und werden schließlich von Unbekannten genutzt, um beliebige Gegner*innen zu töten. Der Film wurde auf Initiative des Future of Life Institute (FLI) und des Informatikprofessors Stuart Russell verbreitet. Das FLI setzt sich schon seit Jahren für ein weltweites Verbot vollautonomer Waffensysteme ein – bisher vor allem mit großer Wirkung auf die Forschungsgemeinschaft und die Industrie (FLI 2015, 2017b). Auch von parlamentarischer Seite wurde kürzlich die Hoffnung genährt, dass autonome Waffensysteme bald verboten werden könnten. Im Jahr 2016 wurden in Genf Treffen zur UN-Waffenkonvention angeregt, die sich mit dem Verbot vollautonomer Waffen befassen sollten. Nach mehreren Treffen von Regierungsexpert*innen der knapp 90 beteiligten Länder wurde am 1. September 2018 schließlich klar, dass es vorerst keine völkerrechtlich verbindliche Erklärung zur Ächtung autonomer Waffensysteme geben wird. Eine Minderheit von Staaten – unter ihnen die USA, Russland, Deutschland und Frankreich – blockierten ein wirksames Verbot (Facing Finance 2018).

Während politisch also bereits um ein Verbot autonomer Waffen gerungen wird, sind die technischen Möglichkeiten, solche Systeme zu realisieren, erst ansatzweise vorhanden. Das wird allein durch die oben angesprochene Problematik der intelligenten Bildverarbeitung deutlich. Von autonom steuernden Drohnen wird erwartet, dass sie mindestens die automatisierte Videoüberwachung ermöglichen: Ziele in Bilddaten eigenständig suchen, erkennen und verfolgen. Zusätzlich müssten sie noch selbst steuern können – eine Aufgabe, die schon bei Autos schwer realisierbar ist, obwohl die Fahrzeuge bei ihrer Bewegung in der Ebene weniger Freiheitsgrade zu bewältigen haben als eine Drohne, die auch nach oben und unten fliegt.

Trotzdem sind die Warnungen vor autonomen Waffen und die Forderungen zu ihrer Ächtung kein politischer Alarmismus, denn die Autonomie wird in Waffensystemen bereits stückweise realisiert, die Wirtschaft und das Militär betreiben vielerorts einen erheblichen Aufwand, um Waffensysteme weiter zu automatisieren. Die teilautonomen Komponenten reichen bei Kampfdrohnen von einer einfachen automatischen Enteisung der Tragflächen über die etwas kompliziertere Kollisionsvermeidung bis hin zur äußerst fragwürdigen Zielerkennung mittels Mobilfunkdaten (wie sie die USA beispielsweise für ihre Drohnenangriffe nutzt; The Intercept 2015).

Cyberkrieg

Ein Thema, das über die letzten Jahre besonders viel mediale Aufmerksamkeit bekommen hat, ist der »Cyberkrieg«. Das Bedrohungsszenario, welches von Politiker*innen und Militärs diesbezüglich gezeichnet wird, ist enorm: Feindliche Staaten, Armeen oder Terrorist*innen könnten uns mithilfe von Viren ausspionieren, Identitäten stehlen und durch Hackingangriffe kritische Infrastrukturen lahmlegen. Auf Basis dieser Gefahrenlage wurden viele Kapazitäten für militärische Strukturen zur Verteidigung des Cyberraumes frei gemacht. So wurde etwa 2008 das NATO-Exzellenzzentrum zur gemeinsamen Cyberverteidigung gegründet, das die Fähigkeiten der NATO-Staaten im Cyberkrieg bündeln soll, 2017 bekam die Bundeswehr ein eigenes Kommando für den Cyber- und Informationsraum (siehe Marischka in dieser Ausgabe), und in den USA wird seit 2017 ein eigenständiges Cyberkommandos augestellt.

So drastisch die vorwiegend westlichen Politiker*innen und Militärs die Bedrohung für die Zivilgesellschaft darstellen, so verwunderlich scheint es doch, dass die schlimmsten Szenarien – wie gezielte militärische Cyberangriffe auf die Gesundheits- oder Energieversorgung eines Staates – nie Wirklichkeit wurden. Im Gegenteil: Der größte bekannte Cyberangriff auf die Energieversorgung eines Staates war die US-amerikanisch-israelische Stuxnet-Attacke auf das iranische Atomprogramm und sie war – gemessen an ihrem immensen Aufwand – aus amerikanischer und israelischer Sicht nicht unbedingt erfolgreich. In Wirklichkeit richten sich die meisten Angriffe im Cyberraum gegen Unternehmen sowie gegen staatliche und militärische Strukturen. Damit wurde auf den virtuellen Raum ausgeweitet, was es im wirtschaftlichen und nationalen Wettstreit schon immer gab: simple Eigentumsdelikte sowie geheimdienstliche Spionage und Sabotage (Denker 2016). Jene geheimdienstlichen und kriminellen Aktionen jedoch zu einem Cyberkrieg zu stilisieren, birgt weit mehr Gefahr für die Zivilgesellschaft als die Cyberangriffe selbst: Mit dem Militär drängt neben Polizei und Geheimdiensten eine weitere mächtige Institution in den vorwiegend zivil genutzten virtuellen Raum und versucht diesen zu vereinnahmen und zu kontrollieren. Außerdem senkt die Militarisierung des Cyberraumes die Schwelle zur militärischen Eskalation erheblich. Die deutsche Bundesregierung, das EU-Parlament und NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg haben bereits kon­statiert, dass auf einen Cyberangriff auch mit einem konventionellen Militärschlag geantwortet werden könnte (Bundesregierung 2018, Europäisches Parlament 2012, Schiltz 2017).

Fazit

Die größte Gefahr im Zusammenhang mit intelligenten Systemen, autonomen Waffen und Cyberattacken scheint also weder von terroristischen Zellen noch von der Technik selbst auszugehen. Im Gegenteil: Viele Systeme und Methoden, die im Zusammenhang mit einer automatisierten und digitalisierten Form der Kriegsführung genannt werden, sind weder momentan realisierbar noch werden sie dies in absehbarer Zeit sein. Viel bedrohlicher als jene dystopischen Zukunftstechnologien ist daher die staatliche und militärische Vereinnahmung der Thematik, denn so wird einerseits erhebliches Eskalationspotential geschaffen – wie im Falle des »Cyberkrieges« –, andererseits wird Technik genutzt, die noch unausgereift, für den jeweiligen Zweck unzureichend und teils enorm fehleranfällig ist. Im Falle automatisierter Videoüberwachung kann das zu falschen Verdächtigungen führen, bei der automatisierten Zielsuche einer Drohne zur direkten Tötung von Zivilist*innen.

Anmerkung

1) Vergleiche dazu beispielsweise die Ergebnisse der Projekte »APFel«, »ASEV« und »CamInSens«.

Literatur

Bundesministerium für Bildung und Forschung/BMBF (2018): Sicherheitsforschung – Forschung für die zivile Sicherheit. bmbf.de.

Deutscher Bundestag (2018): Antwort der Bundesregierung auf die kleine Anfrage zur Cybersicherheit der Abgeordneten Stephan Thomae, Jimmy Schulz, Manuel Höferlin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP. Drucksache 19/2307 vom 24.5.2018.

Crevier, D. (1993): AI – The Tumultuous History of the Search for Artificial Intelligence. New York: Basic Books.

Denker, K. (2016): Die Erfindung des Cyberwars. WeltTrends, Nr. 113.

Europäisches Parlament (2012): Entschließung des Europäischen Parlaments vom 22. November 2012 zu den EU-Klauseln über die gegenseitige Verteidigung und Solidarität: politische und operationelle Dimensionen.

Facing Finance (2018): Killer Roboter vorerst in Sicherheit. Presseerklärung vom 3.9.2018.

Future of Life Institute/FLI (2015): Autonomous Weapons: an Open Letter from AI & Robotics Researchers. futureoflife.org.

Future of Life Institute (2017a): Slaughterbots. youtube.com.

Future of Life Institute/FLI (2017): An Open Letter to the United Nations Convention on Certain Conventional Weapons. futureoflife.org.

The Intercept (2015): Documents: SKYNET – Applying Advanced Cloud-based Behavior Analytics. theintercept.com, 8.5.2015.

Monroy, M . (2018): Berliner Überwachungsbahnhof will jetzt auffälliges Verhalten erkennen. netzpolitik.org, 28.7.2018.

Nilsson, N.J. (2014): Die Suche nach Künstlicher Intelligenz. Berlin: Akademische Verlagsgesellschaft.

Schiltz, C. (2017): NATO-Generalsekretär: „Cyberangriffe können Bündnisfall nach Artikel 5 auslösen“. welt.de, 19.1.2017.

Thomas Gruber promovierte zum Thema »Mathematik, Informatik und moderne Kriegsführung«. Er arbeitet für das Forum InformatikerInnnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung (FIfF) in der W&F-Redaktion mit.

Eine schleichende Indienstnahme


Eine schleichende Indienstnahme

»Zivile« Forschung für militärische Zwecke

von Nicole Gohlke

Bundesweit wird an öffentlichen Hochschulen und außerhochschulischen Forschungseinrichtungen militärisch relevante Forschung betrieben. Auftraggeber sind die Bundesregierung, die Bundeswehr, ausländische Verteidigungsministerien sowie private Rüstungskonzerne. Das gesamte Ausmaß lässt sich nur schwer einschätzen, da viele Details und Verträge Geheimsache sind. Zudem wird militärisch relevante Forschung im Rahmen von Sicherheitsforschung mit dem Label »dual-use« versehen und bekommt dadurch einen zivilen Anstrich. Doch die Geschichte lehrt uns, wie wichtig es ist, die Vereinnahmung von Wissenschaft für nichtfriedliche Zwecke kritisch zu beleuchten.

Verteidigungsbezogene Forschung (Rüstungsforschung) ist in Deutschland nicht Bestandteil der allgemeinen öffentlichen Forschungsförderung des Bundesministeriums für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (BMBF). Sie wird als Ressortforschung des Bundesministeriums für Verteidigung (BMVg) als „Fachforschung zur Erfüllung seines Fachauftrages im Rahmen der nationalen Sicherheitsvorsorge“ in Auftrag gegeben (Bundestagsdrucksache 17/3337). Diese Forschung wird jedoch nicht immer an militärische Einrichtungen oder private Rüstungsfirmen vergeben, sondern das BMVg vergibt auch eine relevante Anzahl von Forschungsaufträgen an zivile Institutionen, wie die öffentlichen Hochschulen und die außerhochschulischen Forschungseinrichtungen.

Antworten der Bundesregierung auf parlamentarische Anfragen der LINKEN im Bundestag ergaben, dass das Finanzvolumen der vom BMVg an öffentliche Hochschulen vergebenen Aufträge seit 2000 deutlich zugenommen hat: Es stieg von vier Mio. Euro im Jahr 2000 auf jährlich sieben Mio. Euro im Jahr 2010 und blieb bis 2015 auf diesem Niveau konstant.1 So wurde in den Jahren 2014/15 an Hochschulen beispielsweise die Weiterentwicklung von Radarsystemen betrieben, die Software für Robotersysteme optimiert, an der automatischen Zielerkennung über und unter Wasser und an der Energieautonomie von Soldat*innen geforscht (Bundestagsdrucksache 18/7977). Damit sind die zivilen öffentlichen Hochschulen mittendrin in der Entwicklung topmoderner Kriegstechnologie. Finanziell abhängig sind sie davon nicht: Die sieben Mio. Euro verteilt auf 28 Hochschulen bundesweit stellen im Vergleich zu jährlichen Drittmitteleinnahmen von vielen hundert Mio. Euro keine zentrale Einnahmequelle dar.

Weitere militärische Forschungssaufträge erhalten die Hochschulen zudem von den verschiedenen technischen Dienststellen der Bundeswehr, beispielsweise von der »Wehrtechnischen Dienststelle für Schiffe und Marinewaffen, Maritime Technologie und Forschung 71« (WTD71) oder dem »Wehrwissenschaftlichen Institut für Werk- und Betriebsstoffe« (WIWeB). Deren Aufträge haben sich ebenfalls deutlich erhöht: Waren es 2000-2010 noch 250.000 Euro im Jahresmittel, stieg das Auftragsvolumen bis 2015 um das Sechs- bis Achtfache auf 1,5 bis 2,5 Mio. Euro an.2

Militärische Forschungsaufträge werden des Weiteren von privaten Unternehmen an öffentliche Hochschulen vergeben; die Bundesregierung gibt dazu keine Auskunft, sondern verweist auf die Verantwortung der Länder. Abfragen in den Ländern verlaufen jedoch auch meist ergebnislos – hier beruft man sich auf die Hochschulautonomie. Hochschulleitungen ihrerseits können sich auf das Vertragsgeheimnis mit privaten Auftraggebern zurückziehen.

Mangelnde Transparenz und öffentliche Kontrolle

In welchem Ausmaß Rüstungsforschung an den außerhochschulischen Forschungseinrichtungen betrieben wird, lässt sich ebenfalls kaum überblicken, da die Bundesregierung auch diesbezüglich keine Informationen über Auftragsvolumina seitens privater Rüstungsfirmen zur Verfügung stellt.

Sicher ist, dass das BMVg einen beträchtlichen Teil seiner Ressortforschung durch Wissenschaftler*innen an Instituten der Fraunhofer-Gesellschaft erledigen lässt, vornehmlich an den Instituten der ehemaligen militärischen Forschungsinstitution FGAN, die seit 2009 den Kern des Fraunhofer-Verbunds für Verteidigungs- und Sicherheitsforschung (VVS) bildet; wehrtechnisch relevante Forschung findet jedoch auch an Fraunhofer-Instituten außerhalb des VVS regelmäßig statt. An die sieben Institute des VVS gingen in den Jahren 2014-2015 jährlich etwa 50 von den 56 Mio. Euro, die vonseiten des BMVg an die außerhochschulischen Forschungseinrichtungen flossen.3 Nimmt man die ähnlich dimensionierte Grundfinanzierung der VVS-Institute mit 60 bzw. 63 Mio. Euro in 2014 bzw. 2015 hinzu, kommt ein ansehnlicher Betrag zustande, den die – eigentlich dem Bildungsministerium angegliederten – zivilen Forschungseinrichtungen vom Verteidigungsministerium bekommen. Die Wehrwissenschaftlichen Dienststellen der Bundeswehr haben zudem das Finanzvolumen ihrer Aufträge an außerhochschulische Forschungseinrichtungen zwischen 2010 und 2015 im jährlichen Mittel vervierfacht; die jährlich etwa 4,5 Mio. Euro machen die Bundeswehr im Vergleich zum Verteidigungsministerium jedoch zu einer eher kleinen Auftraggeberin.4

Die fehlende Transparenz ist problematisch, weil sie eine Militarisierung des zivilen Hochschul- und Forschungsraums ermöglicht, der ohne konkrete Kenntnis der Daten nur in Einzelfällen (Marischka 2017) und auch dann nur schwer entgegenzuwirken ist.

Zivil-militärische Sicherheits­forschung seit Jahren Realität

Jahrelang bestritt die Bundesregierung mehr oder minder, dass das Programm »Forschung für zivile Sicherheit« des BMBF eine gewisse Nähe zur Rüstungsindustrie aufweist, und wollte die offensichtliche Überschneidung von ziviler und militärischer Forschung von der Hand weisen (Bundestagsdrucksachen 17/12172; 18/241; 18/851 und 18/8355). Dabei basiert dieses Programm als Teil der »Hightech-Strategie« auf dem EU-Programm »Horizont 2020«, in dessen strategischer Ausrichtung Synergieeffekte zwischen ziviler und militärischer Forschung oder entsprechenden Akteuren ausdrücklich erwünscht sind (Europäische Kommission 2015, S. 43-49). Vonseiten der Bundesregierung wurde eine entsprechende Dual-use-Agenda spätestens in einer Stellungnahme des Wissenschaftsrates von 2007 deutlich. Der Wissenschaftsrat sollte für die Bundesregierung eine Einschätzung abgeben, wie die oben bereits erwähnten wehrtechnisch ausgerichteten FGAN-Institute in die zivile Forschungslandschaft eingebunden werden und damit von Synergieeffekten profitieren könnten. Das Ergebnis war 2009 die Eingliederung der FGAN-Institute in die Fraunhofer-Gesellschaft. In seiner Stellungnahme schrieb der Wissenschaftsrat zum Programm »Forschung für die zivile Sicherheit«: „Das geplante Sicherheitsforschungsprogramm wird vom BMBF in enger Kooperation mit den Ressorts, insbesondere mit den Bundesministerien des Innern, der Verteidigung und für Wirtschaft und Technologie, konzipiert. Das BMBF strebt eine ressortübergreifende, strategische Bündelung der Forschungsaktivitäten an und sieht dazu unter anderem eine enge Zusammenarbeit von Wehrtechnik und ziviler Sicherheitstechnik vor.“ (Wissenschaftsrat 2007, S. 12)

Es ist daher nicht verwunderlich, dass beispielsweise in elf Verbundprojekten des Programms »Forschung für zivile Sicherheit 2012-2017« Unternehmen, die eine Rüstungs- oder Wehrtechnik-Sparte unterhalten, mit öffentlichen Hochschulen und außerhochschulischen Forschungseinrichtungen kooperieren. Darunter befinden sich Bruker Optik GmbH, Airbus DS Airborne Solutions GmbH, Atlas Elektronik Group, Rheinmetall Defence, Atos IT Solutions and Services und Airbus Defence & Space (Cassidian) sowie die Universität der Bundeswehr München, um nur einige zu nennen. Die Aussage der Bundesregierung, im Rahmen dieses Programms würden ausschließlich „Forschungsprojekte mit einer zivilen Ausrichtung sowie einem zivilen Anwendungsgegenstand“ gefördert (Bundestagsdrucksachen 18/8355 und 18/10773), bleibt darum sehr fragwürdig.

Zu den organisatorischen Verflechtungen kommen überdies personelle Überschneidungen: Leiter*innen einzelner wehrtechnisch orientierter Fraunhofer-Institute sind gleichzeitig Inhaber*innen von Lehrstühlen an öffentlichen Hochschulen. So werden enge Verflechtungen finanzieller und wissenschaftlicher Art aufgebaut (Marischka 2017). Außerdem nimmt die Bundeswehr auch direkt Einfluss auf Forschung und Lehre an Hochschulen: An neun öffentlichen Hochschulen haben Offiziere der Bundeswehr Lehraufträge, Lehrstühle oder leitende Funktionen (Bundestagsdrucksache 18/8355), allerdings auch jenseits klassischer »militärischer« Themen.5

Seit Ende 2016 deutet sich nun eine gewisse Kursänderung an: Statt die Sicherheitsforschung in Deutschland mit einem rein zivilen Label zu versehen, legte das Bundeswirtschaftsministerium (BMWi) im Dezember 2016 ein 7,5 Mio. Euro schweres Innovationsprogramm »Unterstützung von Diversifizierungsstrategien von Unternehmen der Verteidigungsindustrie in zivile Sicherheitstechnologien« auf (BMWi 2016). Besondere Bedeutung haben so genannte Verbundprojekte, die eine Kooperation von Rüstungsfirmen mit Unternehmen der zivilen Sicherheitsindustrie und zivilen Forschungsstätten vorsehen. Es bleibt abzuwarten, in welchem Maße die öffentlichen »Forschungsstätten« im Zuge dessen finanzielle Anreize erhalten, Rüstungsforschung zu betreiben.

Zivilklauseln als wichtiges Instrument

Die beschriebenen Entwicklungen bleiben jedoch nicht unwidersprochen. Studierende, Wissenschaftler*innen und Professor*innen setzen sich gemeinsam mit Gewerkschaftsgliederungen und Friedensinitiativen vor Ort dafür ein, dass Hochschulen zivile Einrichtungen bleiben und der Militarisierung Einhalt geboten wird. Die Zivilklausel-Bewegung kann nach jahrelangem mühsamem Engagement inzwischen über 60 Zivil- und Friedensklauseln an verschiedenen Hochschulen vorweisen (dazu Braun, R. et al. 2015). Doch die Klauseln werden regelmäßig verletzt.

Einer der bekanntesten Fälle dürfte die Uni Bremen sein, die zwar eine Friedensklausel hat, sich aber dennoch in einer Auseinandersetzung um einen vom Rüstungshersteller OHB gesponserten Lehrstuhl befindet. Bezeichnend dafür, wie Geheimhaltung und Intransparenz sogar zu einer unbeabsichtigten Beteiligung an Rüstungsforschungsvorhaben führen können, ist die im September 2017 aufgedeckte Verwicklung der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule (RWTH) in Aachen, die sich 2015 der ausschließlich zivilen Forschung verschrieben hat, in die Entwicklung einer Panzerfabrikationshalle in der Türkei. Aus dem Auftrag war angeblich weder erkennbar, dass der deutsche Rüstungskonzern Rheinmetall beteiligt war, noch, dass es sich um eine Produktionsstätte für militärische »Spezialfahrzeuge« handelte (Tillack 2017).

Von den Aufträgen des BMVg an 28 verschiedene Hochschulen in den Jahren 2014 und 2015 gingen acht an Hochschulen mit einer Zivil- oder Friedensklausel in ihren Statuten oder in der geltenden Landesverfassung. Damit setzen sich sowohl die Bundesregierung als auch Hochschulleitungen über die Vorgaben von Ländern und Hochschulgremien hinweg und ignorieren solche Klauseln. Die Bundesregierung begründete auf Nachfrage ihr Verhalten damit, keine Kenntnisse über die Existenz von Zivil- oder Friedensklauseln zu besitzen (Bundestagsdrucksachen 18/851, 18/8355).

Dieses Unwissen scheint die Bundesregierung inzwischen überwunden zu haben. Am 21. Dezember 2016 kündigte sie in ihrem »Strategiepapier zur Stärkung der zivilen Sicherheitsindustrie in Deutschland« an, mit „Ländern, Forschungs- und Wissenschaftseinrichtungen sowie Hochschulen in einen ergebnisoffenen Dialog über die Verwendung von sog. Zivilklauseln“ zu treten (Bundesregierung 2016). Der zahlenmäßige Anstieg von Zivilklauseln scheint von der Bundesregierung als potentielles Hindernis gesehen zu werden, ihre Strategie der Verquickung von Sicherheits- und Verteidigungsindustrie voranzutreiben. Interessanterweise werden ebenso die momentan etwa 13 Banken, die sich quasi eine Zivilklausel auferlegt haben, indem sie keine Finanzgeschäfte in den Bereichen Herstellung, Handel oder Export von Waffen tätigen, in dem Strategiepapier aufs Korn genommen; ihnen wird eine Prüfung der „Zweckmäßigkeit“ ihrer Zivilklauseln angekündigt (ebenda; urgewald 2016).

Auch wenn Zivilklauseln rechtlich nicht bindend sind und regelmäßig unterlaufen werden, sind sie dennoch Ausdruck der Überzeugung vieler Wissenschaftler*innen, Studierender, Professor*innen und auch Politiker*innen, dass zivile und militärische Forschung nicht weiter verwoben werden sollten. Wichtig ist deshalb, die Forderungen nach Zivilklauseln auszuweiten und auch für die außerhochschulischen Forschungseinrichtungen zu stellen. In Hamburg hat die LINKE Bürgerschaftsfraktion jüngst gefordert, dass die Hansestadt mit den örtlich ansässigen Fraunhofer-Instituten nur noch zusammenarbeiten oder sie fördern solle, sofern diese sich Zivilklauseln geben (Stemmler 2017).

DIE LINKE im Bundestag fordert, dass Wissenschaft und Forschung an öffentlichen Hochschulen und außerhochschulischen Forschungseinrichtungen transparent sein müssen und die Entscheidungsfreiheit von Wissenschaftler*innen, sich nicht an Rüstungs- oder militärischer Forschung zu beteiligen, von der Bundesregierung unbedingt respektiert werden muss.

Die Entscheidung der nordrhein-westfälischen Wissenschaftsministerin Isabel Pfeiffer-Poensgen, die für alle Hochschulen in NRW geltende landeseigene Zivilklausel abzuschaffen, ist demgegenüber ein Rückschritt, gegen den sich bereits Widerstand formiert.

Anmerkungen

1) In den Jahren 2010-2015 wurden seitens des BMVg Aufträge im jährlichen Durchschnitt von etwa sieben Mio. Euro an öffentliche Hochschulen erteilt (Bundestagsdrucksachen 18/7977 und 18/851); zwischen 2000 und 2010 waren es noch 4,1 Mio. Euro im jährlichen Mittel (Bundestagsdrucksache 17/3337).

2) Dies entspricht einem jährlichen Durchschnitt von etwa 1,5 Mio. Euro. In den Jahren 2010-2014 waren es im Vergleich dazu 2,5 Mio. Euro im Jahresmittel (Bundestagsdrucksache 18/851), in den Jahren 2000-2010 jedoch nur 0,25 Mio. Euro im Jahresmittel. Von den 29 seit 2014 betroffenen Hochschulen haben fünf eine Zivil- oder Friedensklausel in ihren Statuten.

3) Die außerhochschulischen Forschungseinrichtungen bekamen 2014-2015 56 Mio. Euro im jährlichen Mittel, was 89 Prozent des Finanzvolumens aller Drittmittelaufträge entsprach (Bundestagsdrucksache 18/7977), 2010-2014 91 Mio. Euro im jährlichen Mittel, was 93 Prozent des Gesamtfinanzvolumens entsprach (Bundestagsdrucksache 18/851), und 2000-2010 36 Mio. Euro im jährlichen Mittel (Bundestagsdrucksache 17/3337).

4) In den Jahren 2010-2014 waren es im Vergleich dazu 1,1 Mio. Euro im Jahresmittel (Bundestagsdrucksache 18/851);

5) Entsprechende Kooperationen gab/gibt es u.a. in den Bereichen BWL, Internationale Beziehungen, Krisenmanagement, Gesundheitsökonomie, Virologie (Kampfstoffe), Zeitgeschichte, Medizingeschichte, Musikwissenschaften, Sicherheitsforschung, maritime Logistik (eigene Recherche).

Literatur

Braun, R et al. (2015): Zivilklauseln – Lernen und Forschen für den Frieden. W&F Dossier 78.

Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) (2016): Richtlinie zum Innovationsprogramm »Unterstützung von Diversifizierungsstrategien von Unternehmen der Verteidigungsindustrie in zivile Sicherheitstechnologien«. Veröffentlicht im Bundesanzeiger am 20.12.2016.

Bundesregierung (2016): Strategiepapier zur Stärkung der zivilen Sicherheitsindustrie in Deutschland. Berlin, 21.12.2016, S. 8.

Bundestagsdrucksache 17/3337 (2010): Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Nicole Gohlke, Jan van Aken, Dr. Petra Sitte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE.

Bundestagsdrucksache 17/12172 (2013): Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Dr. Petra Sitte, Jan Korte, Karin Binder, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE.

Bundestagsdrucksache 18/241 (2013): Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Nicole Gohlke, Jan van Aken, Karin Binder, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE.

Bundestagsdrucksache 18/851 (2014): Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Nicole Gohlke, Diana Golze, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE.

Bundestagsdrucksache 18/7977 (2016): Kleine Anfrage der Abgeordneten Nicole Gohlke, Sigrid Hupach, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE.

Bundestagsdrucksache 18/8355 (2016): Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Nicole Gohlke, Sigrid Hupach, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE.

Bundestagsdrucksache 18/10773 (2016): Schriftliche Fragen mit den in der Woche vom 19. Dezember 2016 eingegangenen Antworten der Bundesregierung.

Europäische Kommission (2015): Dual Use – Förderungsleitlinien für Regionen und KMU.

Marischka, C.: Fraunhofer IOSB – Dual-Use als Strategie. Wie das Verteidigungsministerium nach Anschluss an die Wissenschaft suchte und in Karlsruhe fündig wurde. Tübingen: Informationsstelle Militarisierung, IMI-Studie 2/2017.

Stemmler, K.: Forschung wird immer weiter ausgelagert. junge welt, 6.6.2017.

Tillack, H.-M.: Deutsche Uni an Planung für Panzerfabrik in Türkei beteiligt. Stern, 30.8.2017.

urgewald e.V. (2016): Die Waffen meiner Bank. Sassenberg.

Wissenschaftsrat (2007): Stellungnahme zur Neustrukturierung der Forschungsgesellschaft für Angewandte Naturwissenschaften e. V. (FGAN).

Nicole Gohlke, MdB, ist hochschul- und wissenschaftspolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE im Bundestag.

Zivilklausel auf japanisch


Zivilklausel auf japanisch

Japanische Universitäten ächten Militärforschung

von Hartwig Hummel

Mit einer Zivilklausel verpflichtet sich eine Einrichtung, nicht für Rüstungszwecke, sondern nur für wissenschaftliche und friedliche Zwecke zu forschen. Eine lange Tradition hat die Selbstverpflichtung, keine Militärforschung zu betreiben, in Japan. Bereits 1950 fasste der Japanische Wissenschaftsrat einen entsprechenden Beschluss, und japanische Universitäten griffen dies auf. Unter der neoliberalen Regierung von Ministerpräsident Shinzô Abe gerät diese Selbstbeschränkung jetzt zunehmend unter Druck.

Kern des japanischen Antimilitarismus ist die japanische »Friedensverfassung« von 1947, die nach wie vor von einer breiten Mehrheit der Bevölkerung unterstützt wird (The Asahi Shimbun 3.5. 2016). Artikel 9 der japanischen Verfassung enthält den Verzicht Japans auf das Recht zur Kriegführung und das Verbot, Streitkräfte zu unterhalten. Die Verfassung wurde bis heute noch nie geändert, aber bereits in den 1950er Jahren von konservativen Regierungen insofern uminterpretiert, als das naturgegebene Recht zur Selbstverteidigung die Aufstellung von Selbstverteidigungsstreitkräften (jieitai), die nationale Rüstungsproduktion und das Militärbündnis mit den USA erlaube, allerdings ausschließlich zur »Selbstverteidigung« Japans. Dementsprechend erklärte sich Japan in den 1960er und 1970er Jahren offiziell für nuklearwaffenfrei, stoppte den Rüstungsexport, begrenzte die Militärausgaben auf das für die »Selbstverteidigung« notwendige Maß, unterließ militärische Auslandseinsätze und versprach, den Weltraum ausschließlich für friedliche Zwecke zu nutzen.1

Akademische Selbstverpflichtung gegen Militärforschung

Der akademische Bereich in Japan galt bislang als Bollwerk des japanischen Antimilitarismus. 1950 beschloss der Japanische Wissenschaftsrat (Nihon gakujutsu kaigi), der die Wissenschaft auf nationaler Ebene repräsentiert, die bis heute gültige akademische Selbstverpflichtung, keine Militärforschung zu betreiben. Neben der klaren Distanzierung vom Militär ist an diesem Beschluss auch bemerkenswert, dass sich der Japanische Wissenschaftsrat nicht als Wissenschaft Japans definiert, sondern als Teil einer kosmopolitischen Wissenschaftsgemeinschaft, die dem Weltfrieden und dem Wohl der gesamten Menschheit verpflichtet ist.

Gelegentlich wurden Verstöße gegen die Selbstverpflichtung, keine militärische Forschung zu betreiben, bekannt. Beispielsweise gab es Kooperationen japanischer Universitäten mit US-Militärinstitutionen während des Vietnamkriegs (1960er Jahre) und im Zuge der »Strategic Defense Initiative« (SDI, 1980er Jahre) und des anschließenden Raketenabwehrprogramms der USA sowie vereinzelt auch Kooperationen ziviler Forschungsinstitute mit dem japanischen Verteidigungsamt. Jedoch führte die Skandalisierung solcher Fälle durch die japanische Wissenschafts-Community regelmäßig zu einer Bekräftigung des Banns gegen Militärforschung.

Als beispielsweise bekannt wurde, dass die im Jahr 1966 in Japan durchgeführte Internationale Halbleiter-Konferenz durch militärische Stellen in den USA mitfinanziert worden war, beschloss die Japanische Physikalische Gesellschaft (Nihon butsurigakkai) 1967 auf einer außerordentlichen Generalversammlung, weder Unterstützung von militärischen Stellen anzunehmen noch mit militärischen Stellen zusammenzuarbeiten. Im selben Jahr verabschiedete der Japanische Wissenschaftsrat eine Resolution, in der er an seine Selbstverpflichtung von 1950 erinnerte, auf keinen Fall Forschung für militärische Zwecke zu betreiben. Die Resolution wiederholte, dass Wissenschaft dem Frieden und der Wohlfahrt der Menschen dienen müsse, und bezeichnete Militärforschung als Hindernis für den wissenschaftlichen Fortschritt (Ihara 2016).

Im Zusammenhang mit den Protesten gegen SDI wurde die Nagoya University mit ihrer »Peace Charter« von 1987 zu einer Vorreiterin des akademischen Antimilitarismus in Japan. Die »Peace Charta« erinnert ausdrücklich an die Selbstverpflichtung des Wissenschaftsrats von 1950, keinerlei Militärforschung zu betreiben. Bezeichnenderweise wurde sie nicht von Universitätsgremien beschlossen, sondern entstand aus einer Unterschriftensammlung, der sich der Großteil des Universitätspersonals, einschließlich des Präsidenten und aller Dekane, anschloss. Ein »Peace Charta«-Komitee führt seitdem die Tradition dieser universitären Friedensbewegung fort (Wada 2016).

Militarisierung unter der Regierung Abe

Im Zuge der Nuklearkatastrophe in Fukushima 2011 stürzte die von der Demokratischen Partei geführte Koalitionsregierung. Sie wurde im Dezember 2012 abgelöst durch die rechtskonservative Regierung unter Ministerpräsident Shinzô Abe, die neoliberale Wirtschafts- und Sozialreformen mit einer dezidierten Aufrüstungs- und Militarisierungspolitik verbindet. Die Abe-Regierung stellt dabei den akademischen Antimilitarismus ganz offen in Frage. Sie beschloss in ihren neuen verteidigungs- und forschungspolitischen Richtlinien, dass die staatlich geförderte Grundlagenforschung an Universitäten und zivilen Forschungsinstituten zukünftig auch einen Beitrag zur nationalen Sicherheit zu leisten habe. In dieser Situation sieht sich die japanische Wissenschaft herausgefordert, ihre Haltung zu ihrer bisherigen kategorischen Ablehnung jeglicher Militärforschung zu überdenken.

In der militärischen Sicherheitspolitik stellte die Abe-Regierung die bisherige Verfassungsinterpretation, dass im Rahmen der »Friedensverfassung« ausschließlich die eigene militärische Selbstverteidigung erlaubt sei, zur Disposition. Sie proklamierte am 1. Juli 2014 durch Kabinettsbeschluss für Japan das Recht auf »kollektive Selbstverteidigung«, d.h. den Einsatz der japanischen »Selbstverteidigungs-Streitkräfte« (jieitai) nicht nur zur eigenen Verteidigung, sondern auch zur »Verteidigung« eines Bündnispartners oder von UN-Missionen weltweit (Nippon.com 1.7.2014). Zur Umsetzung dieser neuen Sicherheitspolitik setzte die Abe-Regierung 2015 im Parlament gegen den erbitterten Widerstand der Oppositionsparteien und ungeachtet massiver öffentlicher Proteste ein Gesetzespaket für die nationale Sicherheit durch.

Im selben Jahr 2015 stellte die Regierung Abe auch den akademischen Bann gegen Militärforschung massiv in Frage, indem das japanische Verteidigungsministerium erstmals ein Förderprogramm zur Erforschung von Technologien für die nationale Sicherheit (anzen hoshô gijutsu kenkyû suishin seido) auflegte und ausdrücklich auch zivile Universitäten, Forschungsinstitute und Privatunternehmen zur Bewerbung aufrief. Dieses Pilotprogramm war im Haushaltsjahr 2015 mit 300 Mio. Yen (ca. 2,3 Mio. Euro) ausgestattet. Das Programmvolumen wurde im Haushaltsjahr 2016 auf 600 Mio. Yen verdoppelt. Für das Haushaltsjahr 2017 ist eine massive Ausweitung auf 11 Mrd. Yen (90,8 Mio. Euro) vorgesehen (ausführlich dazu Tarao 2016a; Kawamura 2016; Takeishi/Mizusawa/Sugihara 2016). Förderanträge dazu gingen bislang von mehreren Dutzend japanischer Universitäten ein; neun Universitäten erhielten 2015 und 2016 Förderungszusagen. Hintergrund dieser Entwicklung ist u.a. die mit kontinuierlichen Kürzungen der finanziellen Grundausstattung verbundene Reform der staatlichen Universitäten; diese sollen »effizienter« werden, sich auf ihre »Stärken« konzentrieren und einem ständigen Evaluationsdruck unterworfen werden (Takeuchi 2016).

Kontroversen über Forschung für das Militär

Das Förderprogramm des Verteidigungsministeriums löste heftige Kontroversen unter den japanischen Wissenschaftler*innen aus. Strittig war zunächst, ob es sich dabei überhaupt um Militärforschung handelt. Erfolgreiche Antragsteller verteidigten sich mit dem Hinweis, beim Förderprogramm des Verteidigungsministeriums handle es sich um Grundlagenforschung ohne direkten Bezug zu militärischen Anwendungen. Sie verwiesen außerdem auf den Zwang zur Drittmittelakquise, um die eigene Forschung fortsetzen zu können (Kawamura 2016; Normille 2017). Tatsächlich schreibt das Verteidigungsministerium in den »Anmerkungen« (hairyo) zur Ausschreibung für das Förderprogramm, Ziel sei die Förderung exzellenter Grundlagenforschung in ausgewählten Bereichen (vgl. dazu und zum Folgenden Kawamura 2016). Es handle sich nicht um direkte militärische Rüstungsforschung, da die Forschungsergebnisse breite Anwendung in zivilen Bereichen finden könnten. Und wie bei Grundlagenforschung üblich, sollten die Forschungsergebnisse „grundsätzlich öffentlich“ sein.

Militärkritische Wissenschaftler*innen argumentieren dagegen, dass es sich auf jeden Fall um Militärforschung handle, wenn die Finanzierung von militärischen Stellen stamme, egal ob vom japanischen Verteidigungsministerium oder von den US-Streitkräften. Eine genauere Analyse des aktuellen Förderprogramms des Verteidigungsministeriums und der darin festgelegten Förderbedingungen liefert zusätzliche Argumente für den militärischen Charakter dieser Forschungsförderung. Bereits aus der »Defense Production and Technology Infrastructure Strategy« (Bôei seisan gijutsu kiban senryaku) des Verteidigungsministeriums vom Juni 2014 geht klar hervor, dass die Grundlagenforschung deswegen gefördert wird, weil sie für die Entwicklung von militärischer Rüstung genutzt werden soll. Dementsprechend gab das Verteidigungsministerium auch ganz genau die 28 Forschungsfelder vor, für die Anträge gestellt werden konnten. In den »Verpflichtungen« (shibari) für die Antragsteller des Förderprogramms steht außerdem, dass das Verteidigungsministerium beabsichtige, Folgeforschungen zur Nutzung der Forschungsergebnisse für zukünftige Rüstungsprojekte durchzuführen. Im Hinblick auf die Publikation der Forschungsergebnisse werden die Antragsteller nicht unter Hinweis auf militärische Geheimhaltung, sondern unter Hinweis auf geistige Eigentumsrechte zur Zurückhaltung ermahnt. Schließlich verpflichten sich die geförderten Projekte, dem Verteidigungsministerium im Rahmen des »Projektmanagements« jederzeit Zugang zu den Forschungseinrichtungen zu ermöglichen und auch nach Ende des Förderzeitraums weiter mit dem Verteidigungsministerium zusammenzuarbeiten, z.B. zum Zwecke der Darstellung der Forschungsergebnisse auf Fachtagungen.

Widerstand gegen militärisches Forschungsprogramm

Angesichts des offenkundig militärischen Charakters des Förderprogramms stellen einige Wissenschaftler die Selbstverpflichtung der japanischen Wissenschaft in Frage, keine Militärforschung zu betreiben. Der prominenteste Fürsprecher einer Revision des 1950 vom Japanischen Wissenschaftsrat proklamierten Banns gegen Militärforschung ist ausgerechnet sein aktueller Vorsitzender, Prof. Takashi Onishi. Onishi hat dieses Amt seit 2011 inne. Er war bis 2013 Professor für Stadtplanung an der University of Tokyo (Tôkyô Daigaku), der renommiertesten japanischen Eliteuniversität, und ist seit 2014 Präsident der Toyohashi University of Technology, die pikanterweise unter den erfolgreichen Antragstellern der ersten Runde des Förderprogramms war. Onishi tritt öffentlich dafür ein, den Bann gegen Militärforschung aufzuheben und Forschung für Zwecke der (kollektiven) »Selbstverteidigung« zuzulassen. Er argumentiert, die »jieitai« seien ja bereits im Hinblick auf das Selbstverteidigungsrecht akzeptiert, und forderte, „es müsse erlaubt werden, dass Forscher an Universitäten und anderen Institutionen für Selbstverteidigungszwecke geeignete Grundlagenforschung durchführen“ (Tôkyô Shimbun 26.5.2016). Damit stieß er im Wissenschaftsrat jedoch auf heftigen Widerspruch. Der Präsident der Universität Kyôto, Jûichi Yamazawa, bestritt, dass es einen nationalen Konsens über die Aktivitäten der »jieitai« gebe. Andere Mitglieder des Wissenschaftsrats erklärten, Onishi gebe nicht die seit Langem bestehende Position des Wissenschaftsrats wieder (Tôkyô Shimbun 26.5.2016).

An einzelnen Universitäten kam es zu heftigen Auseinandersetzungen, oft organisiert von den Gewerkschaften der Universitätsangestellten. Als beispielsweise an der Okayama Universität bekannt wurde, dass es 2015 eine (erfolglose) Bewerbung auf die erste Ausschreibungsrunde des Förderprogramms gegeben hatte, starteten zehn Professorinnen und Professoren dieser Universität eine Unterschriftenaktion gegen die Militärforschung, bei der in kurzer Zeit 9.000 Unterschriften gesammelt wurden. Daraufhin verzichtete die Universitätsleitung auf eine nochmalige Bewerbung. Auch an der Universität Tokyo kämpft die Universitätsgewerkschaft gegen die von der Universitätsleitung beabsichtigte Aufweichung des grundsätzlichen Banns gegen Militärforschung durch eine Einzelfallprüfung. Nach der Veröffentlichung der Ausschreibung des Verteidigungsministeriums drängte sie das Rektorat, eine etwaige Bewerbung der Universität wieder zurückzuziehen (Endô 2016). Die University of the Ryukyus in Okinawa, die sich seit langem im Kampf gegen US-Militärbasen engagiert, sprach sich trotz erheblicher Kürzungen der Forschungsmittel gegen eine Teilnahme am Förderprogramm aus. Die Niigata University und die Shiga Prefectural University erweiterten nach internen Protesten eine temporäre bzw. bedingte Nichtteilnahme am Förderprogramm zu einem generellen Boykott dieses Programms (vgl. Ikeuchi/Kodera 2016, Kap. 8).

Eine Gruppe von Wissenschaftlern um Satoru Ikeuchi, ein emeritierter Astrophysiker der Universität Nagoya, gründete im September 2016 die Japanese Coalition Against Military Research in Academia, die 25 Universitätsgewerkschaften und Antikriegsgruppen sowie hunderte von Einzelpersonen umfasst. Mitglieder dieser Initiative besuchten die Universitäten, die sich um eine Förderung durch das Verteidigungsministerium beworben hatten, und erinnerten sie an die Selbstverpflichtung des Japanischen Wissenschaftsrats, keine Militärforschung zu betreiben (Kawamura 2016; Normille 2017). Die Initiative befürchtet eine Einschränkung der Wissenschaftsfreiheit durch die Militärforschung und verweist auf den Einfluss des militärisch-industriellen Komplexes in den USA auf die dortige Wissenschaft. Sie warnt besonders die jüngeren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die zur Kollaboration mit dem Militär gezwungen würden, ohne sich über deren Tragweite im Klaren zu sein. (Tarao 2016b) Immer wieder wird von dieser Initiative übrigens auf die Zivilklauselbewegung in Deutschland verwiesen, um zu zeigen, dass Japan mit seinem akademischen Antimilitarismus kein Sonderfall ist (Akai 2016).

Selbstverpflichtung gegen Militärforschung erneuert

Die öffentliche Mobilisierung gegen die Militärforschung an zivilen Hochschulen zeigte schnell Wirkung. Hatten sich auf die erste Ausschreibungsrunde des Verteidigungsministeriums im Sommer 2015 noch 109 Institutionen, davon 58 Universitäten, beworben, waren es in der zweiten Runde 2016 nur noch 44, darunter nur noch 23 Universitäten (Tarao 2016a). Der Präsident des Japanischen Wissenschaftsrats setzte daraufhin einen Sonderausschuss ein, der für die Generalversammlung im Frühjahr 2017 eine gemeinsame Position zur Frage der Militärforschung erarbeiten sollte (Ikeuchi et al. 2016). Der Sonderausschuss führte an mehreren Universitäten öffentliche Diskussionen durch. Am 7.3. 2017 veröffentlichte er seine Beschlussempfehlung: Der Japanische Wissenschaftsrat solle sich zu seinem „Erbe“ der Selbstverpflichtungen von 1950 und 1967 gegen Militärforschung bekennen. Das Förderprogramm des Verteidigungsministeriums werfe „viele Probleme“ auf und bedeute einen erheblichen Eingriff des Staates in die Wissenschaftsautonomie. Die Beteiligung am Förderprogramm des Verteidigungsministeriums solle nicht den individuellen Forscherinnen und Forschern überlassen werden, sondern alle Universitäten sollten Institutionen einrichten, um eine solche Beteiligung sorgfältig auch im Hinblick auf ihre ethische Tragbarkeit zu prüfen (The Mainichi 7.3.2017; The Asahi Shimbun 8.3.2017; The Japan Times 9.3.2017). Die meisten japanischen Wissenschaftler*innen stehen also weiterhin zu ihrer antimilitaristischen Tradition. Ihr Bekenntnis gegen Militärforschung sollte auch für die in dieser Hinsicht so zaghafte deutsche Wissenschaft Vorbild und Herausforderung sein.

Anmerkung

1) Zu den politischen Restriktionen der japanischen Militärpolitik während des Kalten Kriegs vgl. ausführlich Hummel 1992.

Literatur

Akai, J. (2016): Doitsu ni okeru gungaku kyôdô hantai no undô [Die Bewegung gegen eine militärisch-akademische Zusammenarbeit in Deutschland]. In: Ikeuchi und Kodera 2016, S. 52-60.

Endô, M. (2016): Gungaku kyôdô o habamu tame ni. Tôdai shokuso no torikumi o chûshin ni [Zur Verhinderung der militärisch-akademischen Zusammenarbeit unter besonderer Beachtung der Initiativen an der University of Tokyo]. In: Ikeuchi et al. 2016, S. 18-28.

Hummel, H. (1992): Japan – Schleichende Militarisierung oder Friedensmodell? Frankfurt a.M.: Haag und Herchen (Militärpolitik Dokumentation, Heft 88/89).

Ihara, S. (2016): Sengo, kagaku-sha wa gunji kenkyû to dô mukiatte kita ka [Wie haben Wissenschaftler nach dem Krieg gegen Militärforschung opponiert]. In: Ikeuchi und Kodera 2016, S. 17-26.

Ikeuchi, S.; Kawamura, Y.; Endô, M.; Toyoshima, K.; Nishikawa, J.; Akai, J. (Hrsg.) (2016): Gungaku kyôdô no shin tenkai: mondaiten o araidasu [Neuere Entwicklungen der militärisch-akademischen Kollaboration: Wo liegen die Probleme?]. JSA e magajin (2016)19, 25. Nov. 2016.

Ikeuchi, S. und Kodera, T. (Hrsg.) (2016): Heiki to daigaku. Naze gunji kenkyû o shite wa naranai ka [Waffen und Universitäten: Warum sollte keine Militärforschung betrieben werden?]. Tôkyô: Iwanami Shoten.

Kawamura, Y. (2016): Hiromaru gungaku kyôdô to sono haigo ni aru mono – anzen hoshô gijutsu kenkyû suishin seido to dai 5-ki kagaku gijutsu kihon keikaku [Die Ausbreitung der militärisch-akademischen Zusammenarbeit und ihre Hintergründe – Das »System for the Promotion of Security Technology Research« und der Fünfte »Science and Technology Basic Plan«]. In: Ikeuchi et al. 2016, S. 7-18.

Nippon.com (1.7.2014): Shûdanteki jieiken kôshi o gentei yônin – kakugi kettei [Begrenzte Akzeptanz des Rechts auf kollektive Selbstverteidigung – Kabinettsbeschluss].

Normille, D. (2017): Japanese military entices academics to break taboo. Sciencemag.org, 24.1.2017.

Takeishi, R.; Mizusawa, K.; Sugihara, S. (2016): Bôeisho no kenkyû joseihi, 6 oku en –> 110 oku en rainendo yosanan [Ausgaben für Forschungsbeihilfen des Verteidigungsministeriums sollen von 600 Mio. Yen auf 11 Mrd. Yen steigen laut Haushaltsentwurf für das nächste Haushaltsjahr]. Asahi Shimbun Digital, 28 Dec 2016.

Takeuchi, S. (2016): Daigaku kaikaku ni matowaritsuku gungaku kyôdô – kenkyûshaban keizaiteki chôheisei [Militärisch-akademische Zusammenarbeit im Gefolge der Universitätsreform – ein ökonomisches Wehrpflichtsystem für Forscher]. In: Ikeuchi und Kodera 2016, S. 37-46.

Tarao, M. (2016a): Bôei-shô no senryaku – »anzen hoshô gijutsu kenkyû suishin seido« [Die Strategie des Verteidigungsministeriums – »System for the promotion of research on security technologies«]. In: Ikeuchi und Kodera 2016, S. 27-36.

Tarao, M. (2016b): Gungaku kyôdô hantai apîru shomei no kai [Unterschriftenkampagne für den Appell gegen militärisch-akademische Zusammenarbeit]. In: Ikeuchi und Kodera 2016, S. 81-84.

The Asahi Shimbun (3.5.2016): ASAHI POLL: Majority of voters feel no need to revise Constitution.

The Asahi Shimbun (8.3.2017): Scientists to keep ban on military research at universities.

The Japan Times (9.3.2017): Taking a stand on defense research.

The Mainichi (7.3.2017): Japan Science Council panel draft statement upholds rejection of military research.

Tôkyô Shimbun (26.5.2016, chôkan [Morgenausgabe]): Gakujutsu kaigi kaichô “jiei mokuteki no kenkyû kyoyô o”. Gunji hitei kara tenkan no kanôsei [Präsident des Wissenschaftsrats: „Forschung für die Selbstverteidigung sollte erlaubt werden“. Abkehr vom Bann gegen Militär möglich].

Wada, H. (2016): Nagoya daigaku ni okeru gungaku kyôdô kenkyû/kyôiku ni tsuite [Über die Kollaboration zwischen Wissenschaft und Militär in Forschung und Lehre an der Nagoya University]. In: Ikeuchi und Kodera 2016, S. 77-80.

Prof. Dr. Hartwig Hummel ist Professor für Europapolitik und Internationale Beziehungen an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und hat sich dort für eine Zivilklausel eingesetzt.

Dual-use als Strategie

Dual-use als Strategie

Europa, der Weltraum und die Sicherheit

von Regina Hagen

Als Ronald Reagan vor 31 Jahren sein Star-Wars-Programm bekannt gab, führte das nicht nur zu einer weltweiten Protestbewegung, es löste auch eine breite Debatte aus über Realisierbarkeit und Kosten. In den Folgejahren dominierten die Zweifel, viele Wissenschaftler verweigerten die Mitwirkung, und nach dem Ende des Kalten Krieges verschwand das Thema weitgehend aus der öffentlichen Wahrnehmung, allerdings nicht aus den Köpfen von Politikern und Militärs. Dabei steht für die meisten Staaten nicht die Stationierung von Weltraumwaffen im Mittelpunkt, sondern die Entwicklung von Weltraumtechnik für militärische Zwecke . Dies gilt nicht nur für die militärischen Großmächte, sondern auch für Europa.1

Die Volksrepublik China schoss 2007 einen eigenen, ausgedienten Satelliten ab und demonstrierte damit ihre Fähigkeit zum Satellitenkrieg; die USA zogen 2008 mit einem Anti-Satellitentest nach. Die Sowjetunion testete schon in den 1960er Jahren offensive Weltraumwaffen, und die USA heizten diesen Rüstungswettlauf ihrerseits kräftig an, bevor Moskau Mitte der 1980er Jahre ein Testmoratorium anbot, dem sich die USA nach einigem Zögern anschlossen und das bis 2008 hielt. Aktuell werden im US-Verteidigungshaushalt Milliarden Dollar umgeschichtet, um die Pentagon-Programme zur Weltraumkontrolle (space control) zu stärken. Die indische Defense Research and Development Organization teilte vor einigen Jahren unverblümt mit, Indien verfüge über die Technologie zum Bau von Weltraumwaffen. Japan ändert gerade die gesetzlichen Grundlagen für seine Weltraumagentur, um die Festlegung auf eine »ausschließlich friedliche Nutzung« des Weltraums aufzuheben.

Weniger spektakulär, dennoch kontinuierlich, verläuft die Militarisierung des Weltraums, die von zahlreichen anderen Staaten betrieben wird und die moderne Kriegsführung grundlegend bestimmt.

In Europa macht Raumfahrt meist positive Schlagzeilen: Die europäische Weltraumagentur realisiert die Kometenmission Rosetta; der deutsche Astronaut Gerst führt auf der Internationalen Raumstation wissenschaftliche Experimente; das Satellitennavigationssystem Galileo verspricht hilfreiche und wirtschaftlich lukrative Anwendungen… Die Raumfahrt in Europa ist aber keineswegs rein zivil ausgelegt. Zahlreiche Projekte dienen militärischen Zwecken oder setzen bewusst auf Dual-use, die Kombination aus ziviler und militärischer Nutzung von Satellitentechnik.

Weltraumsysteme als nationaler »Kampfkraftverstärker«

Seit Jahrzehnten verfolgen einige europäische Staaten auf nationaler Ebene Projekte mit militärischem oder Dual-use-Charakter, um ihre militärischen Einsatzmöglichkeiten zu verbessern bzw. im Militärjargon: die »Kampfkraft zu verstärken«. Hier seien stellvertretend einige Beispiele genannt:

  • Eine Voraussetzung für den heutigen Echtzeitkrieg ist die stabile Kommunikation, z.B. zwischen der Kommandozentrale zu Hause und den Einsatztruppen am anderen Ende der Welt oder mit ferngesteuerten Drohnen. Großbritannien gibt daher 3,6 Mrd. £ für das militärische Skynet-Projekt aus, das seit 2012 vier Satelliten umfasst und in einer Public-Private-Partnership von Paradigm Secure Communications entwickelt, gebaut und betrieben wird.2
  • Der erste Aufklärungssatellit der Serie Helios wurde vom französischen Militär 1995 auf eine Erdumlaufbahn gebracht. Inzwischen liefern vier Satelliten optische Bilder mit einer Auflösung bis 35 cm. Infrarotkameras (sie erkennen Wärmeunterschiede auf der Erdoberfläche) bieten auch bei Dunkelheit eine gewisse Aufklärungskapazität. Frankreich hat für die Helios-Daten Nutzungsabkommen mit Italien, Spanien, Belgien und Griechenland abgeschlossen. Ein entsprechendes Abkommen mit Deutschland verschafft Frankreich im Gegenzug SAR-Lupe-Daten.3
  • Das Bremer Unternehmen OHB-Systems AG ist Generalunternehmer für die SAR-Lupe-Satelliten der deutschen Bundeswehr. Fünf mit Synthetic Aperture Radar (SAR) ausgestattete Satelliten umkreisen seit 2007 die Erde in 500 km Höhe auf einer polaren Umlaufbahn und erstellen unabhängig von Wetter- und Lichtverhältnissen Bilder von jedem Punkt der Erde mit einer Auflösung deutlich unter einem Meter.4 Die SAR-Technologie ist beim Militär beliebt, weil mit ihr auch Höhenunterschiede gemessen, Bewegungen wahrgenommen sowie Menschen und metallische Gegenstände am Boden (z.B. Fahrzeuge oder Flugabwehrsysteme) erkannt werden können. 2013 teilte die Bundeswehr mit, SAR-Lupe werde 2017 durch das leistungsfähigere Nachfolgesystem SARah ersetzt. Optische Bilder des französischen Helios-Systems komplettieren die bildgebenden Aufklärungsfähigkeiten des deutschen Militärs.
  • Das zweite militärischer Nutzung vorbehaltene Satellitensystem der Bundeswehr ist das Kommunikationssystem SATCOM Bw. Mit dem System „soll das IT–System der Bundeswehr bedarfsgerecht in die Einsatzgebiete verlängert und mindestens die gleiche Qualität wie in Deutschland bereitgestellt werden. Satellitenfunkverbindungen […] können nahezu unter allen Witterungsbedingungen und in jedem Gelände hergestellt und betrieben werden. Einzelne Satellitenfunksysteme ermöglichen zudem eine Übertragung in der Bewegung.“ 5

Weltraum und Verteidigung in der EU

Die obigen Beispiele zeigen: Militärpolitik und –ausrüstung ist in Europa weitgehend Sache der Nationalstaaten, nicht der Europäischen Union; das Gleiche gilt für die Weltraumaktivitäten. Diese werden obendrein von wenigen Staaten dominiert. Die Europäische Weltraumagentur (European Space Agency, ESA) hat 22 Mitgliedstaaten – nicht alle davon sind Mitglieder der EU – und Kooperationsabkommen mit etlichen weiteren europäischen Staaten sowie Kanada. 2015 beträgt das ESA-Gesamtbudget 4,33 Mrd. Euro, davon werden 3,24 Mrd. Euro von den Mitgliedstaaten und Kooperationspartnern getragen. Allerdings steuern nur vier Staaten 87% dieses Anteils bei (und werden dafür mit dem Rückfluss entsprechender Industrieaufträge kompensiert): Deutschland zahlt 24,6% (= 797,4 Mio. Euro), Frankreich 22,2%, Italien 10,2% und Großbritannien 9,9%.Wichtigster Geldgeber überhaupt ist inzwischen aber die EU mit knapp über einer Mrd. Euro.6

Das war nicht immer so. ESA wurde ja nicht als Agentur der EU gegründet, sondern 1975 als zwischenstaatliche Organisation um, wie es in der ESA-Konvention heißt, „die europäische Zusammenarbeit für ausschließlich friedliche Zwecke auf dem Gebiet der Weltraumforschung, der Weltraumtechnologie und ihrer weltraumtechnischen Anwendungen […] fortzuführen und zu verstärken“.

In den vergangen 20 Jahren hat sich die EU aber gewandelt. Mit dem »Lissabonner Vertrag« von 2007 hat sie sich neu verfasst und festgeschrieben: „Die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist integraler Bestandteil der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Sie sichert der Union eine auf zivile und militärische Mittel gestützte Operationsfähigkeit.“ Der Vertrag verpflichtet die EU-Staaten daher darauf, „ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern“ und installiert die Europäische Verteidigungsagentur, um dieses Ziel abzusichern (Artikel 42). Artikel 189 verfügt die Ausarbeitung einer „europäische(n) Raumfahrtpolitik“ – diese wurde noch im selben Jahr verabschiedet – und die Herstellung einer „zweckdienlichen Verbindung zur Europäischen Weltraumorganisation“.

Die Ausweitung der Aufgabengebiete um Verteidigungspolitik nahm ihren Ausgang 1992, als die EU im Maastrichter Vertrag die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik festlegte. Im selben Jahr beschloss die (inzwischen aufgelöste) Westeuropäische Union – ein militärischer Beistandspakt einiger Länder mit EU- und NATO-Mitgliedschaft – bei ihrem Gipfeltreffen die »Petersberger Aufgaben«. Diese wurden später ausdrücklich in den Lissabonner Vertrag übernommen und umfassen

  • „humanitäre Aktionen oder Rettungseinsätze;
  • Aufgaben der Konfliktverhütung und der Erhaltung des Friedens;
  • Kampfeinsätze im Rahmen der Krisenbewältigung, einschließlich Frieden schaffender Maßnahmen;
  • gemeinsame Abrüstungsmaßnahmen;
  • Aufgaben der militärischen Beratung und Unterstützung;
  • Operationen zur Stabilisierung der Lage nach Konflikten“.7

In einem »Gemeinsamen Grundsatzpapier der [Europäischen] Kommission und der ESA zur europäischen Strategie für die Raumfahrt« stellten die beiden Partner im Jahr 2000 fest: „Der Weltraum hat eine sicherheitspolitische Dimension, die bisher auf europäischer Ebene nur im Kontext der WEU eine Rolle gespielt hat. Durch die anstehende Integration der WEU in die EU und die auf dem europäischen Gipfel von Helsinki unternommenen Schritte in Richtung einer [Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik] erlangt die Raumfahrt für die Europäische Union einen neuen Stellenwert, beispielsweise für die Entscheidungsfindung zur Planung und Durchführung der Petersberg-Aufgaben.“

Fast gleichzeitig erstellten im Auftrag des damaligen ESA-Kabinettchefs die so genannten »drei Weisen« Carl Bildt, Jean Peyrelevade und Lothar Späth den Bericht »Towards a Space Agency for the European Union« und empfahlen dort, „die Fähigkeiten der ESA auch für die Entwicklung der eher sicherheitsorientierten Aspekte der europäischen Weltraumpolitik einzusetzen. Da die Anstrengungen der Europäischen Union in diesen Bereichen auf die so genannten Petersberger Aufgaben […] abgestimmt sind, sehen wir kein Problem mit der Satzung der ESA.“ Dies zu betonen war nötig, hätten einer Satzungsänderung der ESA doch alle Mitgliedsländer zustimmen müssen, auch diejenigen, die nicht der EU angehören und in die EU-Politik eingebunden sind, so z.B. die Schweiz.

Damit war die Hürde zur Einbindung der ESA in die Militärpolitik der EU genommen, und die zuständigen Organe untermauerten die neue Gemeinsamkeit in einer Flut von Dokumenten.8 Diese reichen vom »WEISSBUCH – Die Raumfahrt« der Europäischen Kommission (2003: „Raumfahrtsysteme unterstützen nicht nur eine breite Palette ziviler Politikbereiche, sondern können auch einen unmittelbaren Beitrag zur Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union und zu ihrer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik leisten.“) bis zu einer Mitteilung der Europäischen Kommission (4. April 2011: „Die weltraumgestützte Infrastruktur hat, was den Bereich der Sicherheit anbelangt, sowohl die Funktion eines Instruments als auch die eines Objektes. Als Instrument kann sie für Sicherheits- und Verteidigungszwecke der Europäischen Union eingesetzt werden. Als Objekt muss sie selbst geschützt werden.“). Kaum überraschen konnte daher 2011 die Gründung des ESA Security Office mit Sitz in Frascati/Italien, das „damit beauftragt ist, sicherzustellen, dass ESA alle Sicherheitsfähigkeiten hat, die sie braucht, um die Sicherheit der von ihr vorgehaltenen Informationen zu gewährleisten und die Raumfahrtprogramme zu verwalten, die Elemente der Geheimhaltung beinhalten“.9

Europäische Flaggschiffe und Dual-use

Die Europäische Union hat sich als eigenständiger Akteur für zwei große Weltraumprojekte entschieden. Beide werden als »Flaggschiffe« der europäischen Raumfahrt bezeichnet und ausdrücklich dem Dual-use-Bereich zugeordnet: Galileo, ein Satellitennavigationssystem in Ergänzung (oder Konkurrenz) zu GPS, und Copernicus, das hier kurz näher beleuchtet wird.10

Copernicus geht auf das »Baveno-Manifest« europäischer Weltrauminstitutionen im Jahr 1998 zurück, in dem eine „globale Überwachung für die Sicherheit der Umwelt“ gefordert wurde. Und in der Tat beschlossen die Staats- und Regierungschefs bei ihrem EU-Gipfeltreffen in Göteborg 2001 den Aufbau eines gemeinsamen Weltraumprogramms zur „globalen Überwachung für die Sicherheit der Umwelt“. Als solches wurde das Programm im Vorfeld auch immer diskutiert und von den nationalen Parlamenten bestätigt: ein Programm im Dienste der Umwelt und der »menschlichen Sicherheit«, folgerichtig »Global Monitoring for Environment and Security« (GMES) benannt.

Allerdings verschob sich die Interpretation von »Sicherheit« rasch. Schon 2005 stellte die Europäische Kommission in einer Mitteilung fest: „GMES wird einen wichtigen Beitrag dazu liefern, den zivilen Sicherheitsbedarf in der EU zu decken. Zusätzlich werden Möglichkeiten zur Schaffung weiterer Kapazitäten im Bereich der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik […] eröffnet. Alle erdenklichen zivilen und militärischen Synergien sollten angepeilt werden, eine bessere Nutzung der Ressourcen sicherzustellen, wobei auf Komplementarität mit dem bereits auf diesem Gebiet tätigen EU-Satellitenzentrum […] zu achten sein wird.“ 2012 wurde GMES in Copernicus umbenannt. Das Programm wird von der EU gemeinsam mit ESA betrieben; die in Darmstadt ansässige Europäische Organisation für die Nutzung meteorologischer Satelliten (EUMETSAT) ist in Copernicus ebenfalls eingebunden.

Copernicus setzt stark auf die Nutzung vorhandener, auch nationaler Satellitenkapazitäten, komplettiert diese aber mit der Entwicklung und dem Betrieb sechs eigener Satelliten mit hoch auflösender Erdbeobachtungstechnik (SAR, Optik, Infrarot). Die Satelliten werden »Sentinel« genannt, und Sentinel-1A wurde vor einem Jahr in die Erdumlaufbahn gebracht.

Sentinel heißt Wächter. Die Öffentlichkeit tut gut daran, wachsam zu beobachten, wie sich die Raumfahrtaktivitäten in Europa entwickeln. Wir alle sollten der zunehmenden Weltraummilitärisierung entgegenarbeiten, denn nur dann ist Raumfahrt „für ausschließlich friedliche Zwecke“ und, wie es der 1967 von der internationalen Staatengemeinschaft vereinbarte Weltraumvertrag fordert, „zum Vorteil und im Interesse aller Länder“ als „Sache der gesamten Menschheit“ langfristig möglich.11

Anmerkungen

1) Mit »Militarisierung« ist hier die Nutzung von Weltraumtechnik für militärische Zwecke gemeint. Als »Bewaffnung des Weltraums« wird im Allgemeinen die Stationierung von Waffen im Weltraum bezeichnet, gelegentlich auch die Stationierung von Waffen, die gegen Weltraumobjekte auf der Erde gerichtet sind.

2) Jonathan Amos: UK’s Skynet military satellite launched. BBC News, 19 December 2012.

3) Ministère de la Défense: Hélios II; defense.gouv.fr, online gestellt 19.3.2015.

4) SAR-Lupe – Das innovative Programm zur satellitengestützten Radaraufklärung. OHB-Systems AG, o.J.

5) deutschesheer.de.

6) ESA Budget for 2015; esa.int.

7) europa.eu; dort: Zusammenfassung der EU-Gesetzgebung – Glossar – Petersberger Aufgaben.

8) Mit Raumfahrt sind in der EU der Rat der Europäischen Union, das Europäische Parlament, die Europäische Kommission, die Europäische Verteidigungsagentur und das Satellitenzentrum der Europäischen Union in Torrejón/Spanien befasst. Das Literaturverzeichnis listet lediglich die in diesem Artikel erwähnten Dokumente auf, soweit der Autorin bekannt jeweils die deutsche Fassung.

9) esa.int; dort: About Us – Security at ESA.

10) Die Informationen zu Copernicus bzw. GMES stammen, sofern nicht anders angegeben, von der Website d-gmes.de, die vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt e.V. betrieben wird. Das DLR fungiert u.a. als deutsche Raumfahrtagentur. Zahlreiche Dokumente zu Copernicus/GMES sowie zu Galileo finden sich auf den Websites der EU und ESA.

11) Vertrag über die Grundsätze zur Regelung der Tätigkeit von Staaten bei der Erforschung und Nutzung des Weltraums einschließlich des Mondes und anderer Himmelskörper. Verabschiedet am 27. Januar 1967, im Bundesgesetzblatt veröffentlicht und damit für Deutschland in Kraft getreten am 8. Oktober 1969.

Literatur

Theresa Hitchens and Tomas Valasek (2006): Europan Military Space Capabilities. A Primer. Washington D.C.: Center for Defense Information.

Xavier Pasco (2009): A European Approach to Space Security. Cambridge, MA: American Academy of Arts and Sciences.

Auswahl relevanter Dokumente der EU

Kommission der europäischen Gemeinschaften: Mitteilung der Kommission an den Rat und das europäische Parlament – Ein neues Kapitel der europäischen Raumfahrt. KOM(2000)597 endgültig vom 27. September 2000.

Carl Bildt, Jean Peyrelevade, Lothar Späth: Towards a Space Agency for the European Union. Report to the ESA Director General. Vorgestellt am 9. November 2000 in Paris.

Council of the European Union: Framework Agreement between the European Community and the European Space Agency. 7 October 2003.

Kommission der Europäischen Gemeinschaften: WEISSBUCH – Die Raumfahrt: Europäische Horizonte einer erweiterten Union. Aktionsplan für die Durchführung der europäischen Raumfahrtpolitik. 11. November 2003.

Kommission der Europäischen Gemeinschaften: Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament – Globale Überwachung von Umwelt und Sicherheit (GMES): Vom Konzept zur Wirklichkeit. KOM(2005)656 endgültig vom 10. November 2005.

Rat der Europäischen Union: Vertrag über die Europäische Union. Unterzeichnet am 13. Dezember 2007 in Lissabon.

EU, EDA, CSG, ESA Joint Task Force: Civil-Military Synergies in the Field of Earth Observation. Final report. 26th November 2010.

Regina Hagen beschäftigt sich seit fast 20 Jahren mit Atomwaffen, Raketenabwehr und Weltraumrüstung. Sie ist verantwortliche Redakteurin von W&F.

»Militarisierbare Zivilfahrzeuge«

»Militarisierbare Zivilfahrzeuge«

Renault und das Waffenembargo der EU gegen Sudan

von Ken Matthysen, Peter Danssaert, Brian Johnson-Thomas und Benoit Muracciole

Rüstung wird, wie viele Artikel in dieser Ausgabe von W&F und im beiliegenden Dossier beschrieben, häufig für den Export produziert. Dabei denken wir in der Regel an Panzer, Kampfflugzeuge, U-Boote oder Kleinwaffen. Um Kriege zu führen, braucht es aber nicht nur dezidierte Waffensysteme, sondern zum Beispiel auch Fahrzeuge, sei es für den Transport von Kämpfern und Gütern oder direkt als Angriffswaffen. Der folgende Text, hier etwas gekürzt und ohne Fußnoten abgedruckt, zeigt am Fall Renault exemplarisch auf, wie Lkw trotz Embargo in die kriegsgeschüttelte Region Darfur gelangen, wie die Herstellerfirma die Lieferungen rechtfertigt und weshalb Sanktionen das nicht verhindern.

Der andauernde Konflikt in der Region Darfur im Westen des Sudan wurde über die Jahre auf internationaler Ebene aufmerksam beobachtet. Wiederholt wurden Versuche unternommen, den Frieden wieder herzustellen. Bislang gelang es allerdings nie, alle beteiligten Parteien einzubinden, daher wurden die Kämpfe immer wieder aufgenommen. Anfang 2009 fanden in Doha/Katar Friedensverhandlungen statt, und im Juli 2011 unterzeichneten die Regierung des Sudan und die Bewegung für Freiheit und Gerechtigkeit (Liberation and Justice Movement, LJM) das Friedensabkommen von Doha – die übrigen Kämpfergruppen schlossen sich dem Abkommen allerdings nicht an. Die Kämpfe und die weit verbreiteten Menschenrechtsverletzungen halten seither unvermindert an, die Aufmerksamkeit der internationalen Gemeinschaft richtet sich inzwischen aber eher auf Nordafrika und die arabischen Staaten.

Waffenembargos gegen Sudan

Aufgrund des Konflikts verhängten die Europäische Union wie die Vereinten Nationen ein Waffenembargo über Darfur. Das EU-Embargo von 1994 verbietet den Mitgliedstaaten die Lieferung von Waffen, Munition und Rüstungsgütern an natürliche oder juristische Personen im Sudan. Die EU weitete das Embargo 2004 aus, so dass es jetzt auch jegliche technische Hilfe, Finanzhilfe, Maklerdienste, Transporthilfe und andere Unterstützungsleistungen für militärische Aktivitäten und Geräte umfasst.

2004 verhängte der UN-Sicherheitsrat mit Resolution 1556 (2004) ebenfalls ein Embargo für die Lieferung von Rüstungsgütern „an alle nichtstaatlichen Gruppen und Einzelpersonen, einschließlich der Dschandschawid-Milizen, die in den Staaten Nord-Darfur, Süd-Darfur und West-Darfur operieren“. Ein Jahr später erweiterte der Sicherheitsrat das Embargo und beschloss, die Einschränkungen „auf alle Parteien der Waffenruhevereinbarung von N‘Djamena und alle anderen kriegführenden Parteien in den Staaten Nord-, Süd- und West-Darfur“ auszuweiten. So darf die sudanesische Regierung Waffenlieferungen über Khartum oder Port Sudan einführen, nicht aber nach Darfur. Will sie Rüstungsgüter nach Darfur verlegen, muss sie zuvor die Genehmigung des UN-Sanktionsausschusses einholen.

Trotz aller Embargos werden sämtliche Konfliktparteien weiterhin mit Waffen und ähnlichen Gütern beliefert. Die Sachverständigengruppe für die Überwachung der Sanktionen in Sudan des UN-Sicherheitsrates berichtete wiederholt von Waffenkäufen der Rebellengruppen von Darfur und von Versuchen der sudanesischen Regierung, regierungsnahe Milizen und Einheiten der sudanesischen Streitkräfte in Darfur mit Rüstungsgütern zu beliefern, die nicht vom Sanktionsausschuss des UN-Sicherheitsrates genehmigt waren.

Die EU-Mitgliedsländer scheinen sich im Wesentlichen an das Embargo zu halten, es gibt aber einige Graubereiche. 2010 machte die Zivilgesellschaft mit dem Bericht »Rhetoric or restraint? Trade in military equipment under the EU transfer control system«1 darauf aufmerksam, dass Unternehmen aus der EU an der heimlichen Lieferung von Panzern und sonstigen Rüstungsgütern in den Südsudan mitwirken. Inzwischen sind neue Fragen aufgetaucht im Zusammenhang mit Fahrzeugen, die aus europäischer Fertigung stammen und in der Region Darfur eingesetzt werden. Genauer: Lastwagen, die der Hersteller selbst als „militarisierbare Zivilfahrzeuge“ (véhicules civils militarisables) bezeichnet.

Sämtliche bewaffnete Konfliktparteien nutzen Fahrzeuge, um Kämpfer durch die ausgedehnten Wüsten in Darfur zu transportieren, vor allem Geländefahrzeuge und Pickups der japanischen Firma Toyota. Es sind aber auch Militärfahrzeuge anderer Hersteller im Einsatz, ebenso Zivilfahrzeuge, die z.B. mit Flugabwehrgeschützen oder Maschinengewehren ausgerüstet und für Unterstützungsaufgaben oder Angriffe eingesetzt werden. Bei manchen dieser Fahrzeuge handelt es sich um europäische Modelle, die von der Firma GIAD Automotive Industry Company vor Ort montiert werden.

CKD-Lastwagen von Renault

2008 zeigte der britische Fernsehsender Channel 4 im Dokumentarfilm »Sudan: Meet the Janjaweed«, dass von GIAD in Lizenz montierte Renault Midlum-Lkw von den regierungsnahen Dschandschaweed-Milizen eingesetzt werden. Auch später wurde immer wieder berichtet, dass ähnliche Lkw entlang der Grenze zum Südsudan Waffen und Munition transportieren.

Der Grundstein für den Industriekomplex GIAD (GIAD Industrial City) wurde im März 1997 gelegt. Es handelt sich um ein Partnerschaftsunternehmen von Sudan Master Technology Engineering Co. Ltd (76%) und der Military Industry Corporation of Sudan (24%). GIAD Industrial City liegt 50 Kilometer südlich von Khartum und wurde am 26. Oktober 2000 eröffnet. Zur Holding GIAD Automotive Industry Company gehören sieben Tochterunternehmen, darunter GIAD Motors Co., GIAD Trucks Co. und GIAD Autoservices Co. GIAD Trucks vermarktet und baut Fahrzeuge mit einer Lizenz der französischen Renault Trucks, einem Tochterunternehmen von Volvo. Von GIAD wird unter anderem der Midlum 210.13 mit einer 4×4-Achskonfiguration gefertigt. Am 25. Juni 2008 teilte GIAD auf eine Anfrage des Internationale Peace Information Service (IPIS vzw) mit, „der Lkw GIAD MIDLUM 210.13 4×4 ist französischer Herkunft, wir fertigen ihn und wir haben dazu die Genehmigung der Muttergesellschaft“, und fügte hinzu: „[E]s handelt sich in mehrerlei Hinsicht um ein leistungsfähiges Fahrzeug. Wir exportieren es inzwischen in etliche Länder.“

Als Renault Trucks von der »Sachverständigengruppe zur Überwachung der Sanktionen in Sudan« der Vereinten Nationen 2009 zu ihren Geschäften mit GIAD befragt wurde, antwortete Renault, dass seine „Verträge mit den Regeln zur Verhinderung von Embargoverletzungen kompatibel sind und dass es keine formellen Verträge mit GIAD unterhält“. Im Juni 2008 hatte Renault sich auf die Anfrage von IPIS etwas anders geäußert: „Wir verkaufen unsere zivilen Lkw für den Baustelleneinsatz, 6 x4 und 4×4, an GIAD TRUCK CO.; diese verkaufen sie seit 1998 lokal an ihre eigenen Kunden weiter, darunter vor allem private und öffentliche Bauunternehmen, private und öffentliche Transportunternehmen, private und öffentliche Industrieunternehmen, Regierungsabteilungen und Ministerien“, auch wenn Renault selbst „mit dem Verteidigungsministerium keinen Kontakt bezüglich Lkw oder Ersatzteilen hatte“ Auf den ersten Blick scheint Renault zu bestreiten, dass GIAD die Renault-Lkw montiert, sie schrieben aber zum Schluss: „Wir werden unsere Lkw weiterhin dort [Sudan] bei GIAD montieren.“

Die Fahrgestellnummern der von GIAD montierten Lkw starten mit »CKD«, bei Lkw, die in Frankreich gefertigt werden, lautet der Code »Vf6«. »CKD« steht für »completely knocked down«, eine spezielle Variante des Technologietransfers. Dabei werden die fertigen Fahrzeuge demontiert, verpackt, verschickt und vor Ort – in diesem Fall im Sudan – wieder zusammenmontiert.

Es drängt sich auf, die Behauptung, bei den Lkw handle es sich lediglich um zivile Fahrzeuge für den Bausektor, genauer zu hinterfragen, wurden die Baureihen Midlum, Kerax usw. von Renault Trucks Défense doch als „véhicules civils militarisables“, also als „militarisierbare Zivilfahrzeuge“, beworben. In einem Pressetext für die Wehrtechnikmesse »Eurosatory 2004« führte Renault aus: „[D]iese Baureihe [Midlum] wurde im Jahr 2000 gestartet und zielt primär auf den zivilen und militärischen Markt.“

Renault gab zu, dass die Lkw im Sudan für militärische Zwecke zum Einsatz kommen. In dem Briefwechsel mit IPIS bestätigte Renault, dass „im Sudan Lkw für den Frieden genutzt werden, manche für den Krieg und viele andere (Gott sei Dank) zum Nutzen der Bevölkerung“. Renault Trucks stellte dann die Frage, „was also sollen wir in diesem Land tun?“, um sie selbst wie folgt zu beantworten: „den Teile- und Training-Backup für GIAD stoppen und die Logistik (und Missionen) der UNO und des Roten Kreuzes gefährden [oder] mit unseren Allzweck-Lkw-Modellen weitermachen, wie in 75 anderen Ländern, in die sie exportiert werden, ohne die genaue Endbenutzeridentität und –moral kontrollieren zu können“. In einem Schreiben vom September 2011 ergänzte Renault: „Wir kontrollieren die Endnutzung unserer Lkw nicht, wir teilen unseren Kunden aber mit, dass wir verpflichtet sind, die Vorschriften der internationalen Gemeinschaft zu erfüllen, und dass es sich bei den von uns gelieferten Fahrzeugen unabhängig von ihrer Konfiguration (built-up oder knocked down) um rein zivile Lkw handelt. Daher bitten wir unsere Kunden, keine der von uns gelieferten Zivilfahrzeuge oder zugehörige Teile für eine militärische Nutzung zu verändern, anzupassen oder umzugestalten.“

Renault macht weiter geltend, dass im Sudan das Rote Kreuz und die Vereinten Nationen vom Service der GIAD-Tochter Gebrauch machen, um Renault-Lkw zu warten: „Renault Trucks und sein Dienstleistungsnetz, einschließlich der zur GIAD-Gruppe gehörenden AEW Co., leisten in Juba und Darfur sowohl für das Rote Kreuz als auch für die UNO wertvolle Kundendienste.“

Das Internationale Komitee des Roten Kreuzes (ICRC) teilte IPIS im Juli 2011 mit: „Die ICRC-Delegation im Sudan vergibt die Wartung und Pflege seiner Lkw nicht an Dritte. Die Fahrzeuge werden von unseren eigenen Mechanikerteams gewartet. […] Das von Ihnen erwähnte Unternehmen ist unser lokaler Agent für Reparaturen während der Garantiezeit. Das bedeutet, dass dieses Unternehmen die Lkw kostenlos repariert, wenn diese eine Panne haben, für die Gewährleistungspflicht besteht. Außerdem kaufen wir gelegentlich Ersatzteile von ihnen, wenn wir dringend benötigte Teile nicht auf Lager haben. Zwischen dem 1. Januar 2011 und heute haben wir Ersatzteile für rund 500 US$ von ihnen bezogen.“

Die Argumentation von Renault ist also sehr fadenscheinig. Allerdings deutet nichts darauf hin, dass Renault widerrechtlich handelt. Vielmehr agiert das Unternehmen in einem Regelwerk, das von Staaten festgelegt und verwaltet wird. Daher stellt sich die grundsätzliche Frage, ob dieses Regelwerk ausreicht.

Rüstung, Dual-use oder zivil?

IPIS fragte Renault, das französische Außenministerium und den französischen Zoll, ob Renault eine Exportlizenz beantragt und erhalten habe. Das Außenministerium antwortete, diese Lastwagen seien weder als Rüstungs- noch als Dual-use-Güter gelistet, daher sei Renault nicht verpflichtet, eine Lizenz zu beantragen. Es fügte aber hinzu, dass es für eine Diskussion des Themas offen sei und zusätzliche Informationen berücksichtigen könnte, um die Lastwagen möglicherweise auf eine Ausfuhrliste zu setzen. Renault antwortet: „Da es sich bei diesen Komponenten nicht um Rüstungsgüter handelt und Sudan keinem allgemeinen Handelsembargo unterliegt, brauchen wir keine Exportlizenz zu beantragen.“

Gemäß den aktuellen EU-Vorschriften bedürfen Lieferungen an nicht einem Embargo unterliegende Ziele auch dann keiner Lizenz, wenn die Endkonfiguration und –nutzung der Güter militärischer Natur ist, solang die gelieferten Güter nicht als Rüstungs- oder Dual-use-Güter gelistet sind. »Verordnung Nr. 428/2009 des [Europa-] Rates vom 5. Mai 2009 über eine Gemeinschaftsregelung für die Kontrolle der Ausfuhr, der Verbringung, der Vermittlung und der Durchfuhr von Gütern mit doppeltem Verwendungszweck» (Dual-use-Verordnung) besagt in Artikel 4.2, dass die Ausfuhr von nicht gelisteten Gütern dann genehmigungspflichtig ist, wenn gegen das Bestimmungsland ein Waffenembargo der EU, der OSZE oder des UN-Sicherheitsrates verhängt wurde und wenn der Lieferant von den entsprechenden Behörden der EU-Mitgliedsländer „davon unterrichtet worden ist, dass diese Güter ganz oder teilweise für eine militärische Endverwendung bestimmt sind oder bestimmt sein können“. Allerdings ist der Begriff „militärische Endverwendung“ irreführend, da die Verordnung weiter ausführt, dass darunter „der Einbau in militärische Güter, die in der Militärliste der Mitgliedstaaten aufgeführt sind“, zu verstehen ist . Überdies müssen die Güter militärischer Natur sein, also aufgrund ihrer technischen Spezifikation als Rüstungsgüter gelistet werden.

Allerdings stellt Artikel 8 der Dual-use-Verordnung es den einzelnen Mitgliedstaaten frei, „die Ausfuhr von Gütern mit doppeltem Verwendungszweck, die nicht [als Rüstungsgüter] aufgeführt sind, aus Gründen der öffentlichen Sicherheit oder aus Menschenrechtserwägungen [zu] untersagen oder hierfür eine Genehmigungspflicht vor[zu]schreiben“. Selbst wenn die französischen Behörden also der Meinung waren, dass die Ausfuhr der Renault-Fahrzeuge nicht Artikel 4.2 unterliegt, hätten sie angesichts der Einstufung der Fahrzeuge als „militarisierbare Zivilfahrzeuge“ durch Renault selbst die Ausfuhr gemäß Artikel 8 kontrollieren können.

Vermutlich wusste die französische Regierung von Renaults Exporten und vom Risiko, dass CKD-Lieferungen im Sudan militärisch genutzt werden. Die Behörden hätten folglich prüfen müssen, ob die Fahrzeuge so umgerüstet werden können, dass sie als Rüstungsgüter einzustufen sind. Da die sudanesischen Behörden schon häufiger Zivilfahrzeuge für die militärische Nutzung umgerüstet hatten, z.B. durch Montage von Maschinengewehren oder Flugabwehrgeschützen, wäre mehr Sorgfalt geboten gewesen.

Unter diesen Umständen scheint es angemessen, dass die Behörden bei ihren Erwägungen folgende Faktoren in Betracht ziehen:

die Wahrscheinlichkeit, dass CKD-Kits nach der Lieferung zu Militärfahrzeugen aufgerüstet werden,

welche Schritte zur Aufklärung der Endklassifizierung der Fahrzeuge und ihrer Nutzung erforderlich sind,

wie Renault an seine rechtlichen Verpflichtungen erinnert werden kann und welche Informationen von dem Unternehmen bezüglich einer möglichen Endnutzung der Fahrzeuge einzuholen sind.

Wurden in diesem Fall alle Exportvorschriften eingehalten? Wenn nicht, dann muss dies in Zukunft sichergestellt werden. Wenn ja, dann sollten diese verschärft oder ergänzt werden.

Übrigens geht es hier nicht nur um Exporte in den Sudan. Die Lastwagen von Renault werden von Saipa Diesel Co. und Arya Diesel Motor Co. auch im Iran montiert. »Jane’s Military Vehicles and Logistics 2008-2009« beschreibt die Kerax-Baureihe, die von Arya montiert wird, als zivilen Lkw für harte Einsatzbedingungen, der „in unterschiedlichem Maß gemäß den Ansprüchen des Betreibers militarisiert“ werden kann. Jane’s vermerkte außerdem, dass „die Kerax-Baureihe […] alle zuvor von Renault gefertigten Militärfahrzeuge ersetzt hat“. Iran unterliegt sowohl EU- als auch UN-Embargos. GIAD im Sudan ist also kein Einzelfall, sondern vermutlich Symptom eines umfassenderen systemischen Problems.

Anmerkung

1) An Vranckx (2010): Rhetoric or restraint? Trade in military equipment under the EU transfer control system. Gent: Academia Press.

Dieser Text wurde mit freundlicher Genehmigung folgender Broschüre entnommen: An Vranckx, Frank Slijper und Roy Isbister (eds.): Lessons from MENA: Appraising EU Transfers of Military and Security Equipment to the Middle East and North Africa«, Gent: Academia Press, November 2011, 57 Seiten. Eine etwas ausführlichere Fassung wurde im September 2011 veröffentlicht: Ken Matthysen, Peter Danssaert, Brian Johnson-Thomas und Benoit Muracciole: »Véhicules civils militarisables« and the EU arms embargo on Sudan; herausgegeben von IPIS, Transarms und Action Sécurité Ethique Républicaines.
Aus dem Englischen übersetzt und gekürzt von Regina Hagen.

Zivil-militärische Sicherheitsforschung

Zivil-militärische Sicherheitsforschung

von Eric Töpfer

Mit einem großen Paukenschlag starteten Ende März 2007 gleich zwei Programme für die Sicherheitsforschung: Im Rahmen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft orchestrierten auf der zweiten europäischen »Security Research Conference« Bundesforschungsministerin Annette Schavan und der EU-Kommissar für Unternehmen und Industrie, Günther Verheugen, den Auftakt des europäischen Sicherheitsforschungsprogramms und lancierten bei dieser Gelegenheit auch gleich die ersten Ausschreibungen für das deutsche »Forschungsprogramm für die zivile Sicherheit«. Der folgende Artikel setzt sich kritisch mit diesen beiden Programmen auseinander.

Die Planungen für das EU-Sicherheitsforschungsprogramm gehen zurück auf das Jahr 2003, als die EU-Kommissare für Forschung und Informationsgesellschaft eine »Gruppe von Persönlichkeiten« zu dessen Vorbereitung zusammenriefen. Mit dabei waren acht große Technologiekonzerne mit starken Rüstungssparten, fünf große Forschungseinrichtungen und zwei nationale Verteidigungsministerien, des Weiteren vier Europaparlamentarier, zwei EU-Kommissare als »Beobachter«, Ratssekretär Javier Solana sowie Repräsentanten der Westeuropäischen Rüstungsorganisation WEAO, der Organisation für gemeinsame Rüstungszusammenarbeit OCCAR und der europäischen Raumfahrtagentur ESA. Von Anfang an gedacht als Brücke zwischen ziviler Forschung und Wehrforschung, soll das EU-Sicherheitsforschungsprogramm „die Vorteile nutzen, die sich aus der Dualität von Technologien und der wachsenden Überschneidung zwischen [militärischen und nicht-militärischen] Sicherheitsaufgaben ergeben“, um die Lücke zwischen beiden Forschungssektoren zu schließen (Group of Personalities 2004, S.7). Entsprechend wird in diversen Projekten der Transfer von Technologien und Systemen der »Revolution of Military Affairs« in den zivilen Bereich geprobt. Andererseits wird gezielt Forschung in Bereichen gefördert, die auch und insbesondere von militärischem Interesse sind.

Ausgestattet mit 1,4 Mrd. Euro wurden im EU-Sicherheitsforschungsprogramm bislang mehr als 200 Projekte bewilligt. Am bekanntesten und wohl auch umstrittensten ist dabei INDECT, ein Projekt zur Entwicklung eines „intelligenten Informationssystems zur Unterstützung von Überwachung, Suche und Erfassung für die Sicherheit der Bürger in einer städtischen Umgebung“. Weniger bekannt sind andere Megaprojekte des Programms wie PERSEUS, TALOS, IMSK, SECUR-ED, PROTECTRAIL, BRIDGE, TASS, SEABILLA oder EULER. Mit Budgets zwischen 15 und 45 Mio. Euro zielen die Projekte auf die Entwicklung großtechnischer Lösungen zur Kontrolle der EU-Außengrenzen, zum Schutz von politischen und Sport-Großereignissen und zur Sicherung von Bahnhöfen, Schienennetzen oder Flughäfen. Dabei geht es u.a. um den Ausbau und die Integration nationaler Grenzüberwachungssysteme, die Nutzung von semiautonomen Landrobotern und Drohnen für die Migrationsabwehr, Hightech-Detektoren zum Aufspürung von ABC-Gefahrstoffen, Systemlösungen für Sensornetzwerke und algorithmische Überwachung sowie interoperable Plattformen für die »Full Spectrum«-Lagebilderfassung in Echtzeit und die vernetzte Führung heterogener Einsatzkräfte.

Dominiert werden die gewaltigen Projektkonsortien von großen rüstungserfahrenen Systemintegratoren wie EADS, Thales, Finmeccanica, Indra, BAE Systems, Saab und Safran. Sie entwickeln im Verbund mit kleineren Technologiepartnern, »Endnutzern« wie nationalen Küstenwachen und Polizeien, Infrastrukturbetreibern wie der Deutschen Bahn sowie – häufig militärnahen – Einrichtungen der anwendungsorientierten Forschung wie der niederländischen TNO, dem schwedischen FOI oder den deutschen Fraunhofer-Instituten »Lösungen« für die mutmaßlichen Sicherheitsprobleme von morgen. Kaum anders sieht es in vielen kleineren Projekten aus, auch wenn dort mehr mittelständische Unternehmen und Forschungseinrichtungen anderer Couleur vertreten sind. Insgesamt sind die o.g. Rüstungskonzerne an mehr als 60 Projekten der EU-Sicherheitsforschung beteiligt, Institute der Fraunhofer-Gesellschaft an knapp 50 und TNO an 34 Projekten. (European Commission 2011; Töpfer 2011)

Deutsche Variation: das Forschungsprogramm des BMBF

Eng verflochten mit der EU-Sicherheitsforschung, aber etwas anders strukturiert, ist das deutsche Sicherheitsforschungsprogramm des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF). Den Durchbruch für die deutsche Sicherheitsforschung brachte der Wahlsieg Angela Merkels im Herbst 2005. Die »rot-grüne« Forschungsministerin Edelgard Bulmahn hatte eine gezielte Förderung von Sicherheitsforschung noch abgelehnt und mit ihrem partizipativ angelegten Futur-Dialog für eine zukünftige Forschungspolitik allenfalls das Thema IT-Sicherheit und Biometrie adressiert (BMBF 2003. S 34ff.). Ihre konservative Nachfolgerin, die ehemalige baden-württembergische Kultusministerin Annette Schavan, hingegen setzte im BMBF neue Prioritäten. Zwar hieß es im schwarz-roten Koalitionsvertrag unter der Rubrik „Forschungsförderung für die Nachhaltigkeit“ zurückhaltend, die Bundesregierung fördere „Umweltschutztechnik, Erdbeobachtung und regenerative Energietechnologien sowie Sicherheits- und Fusionsforschung“ (Koalitionsvertrag 2005, S.47f.), aber bereits wenige Wochen später kündigte Schavan im Bundestag einen Schwerpunkt »Sicherheitsforschung« im Rahmen ihrer sechs Mrd. Euro schweren »Hightech-Strategie« an.

Von April bis Juni 2006 wurden im Rahmen eines „»Agendaprozesses« drei Workshops mit etwa 250 „Experten aus allen für die Sicherheitsforschung relevanten Bereichen“ durchgeführt (BMBF 2007, S.20) – berichtet wurde vage von Repräsentanten der Polizei, Feuerwehr, Bundeswehr, Wirtschaft und Forschung –, um Themen zu setzen und Förderstrategien zu entwickeln. Damit hatte das BMBF, gut beraten vom den Ministerien für Inneres und Verteidigung, „in Rekordzeit bundesweit die Fachszene formiert“, wie der Parlamentarische Staatssekretär Thomas Rachel meldete (Rachel 2006).

Am 4. Juli 2006 kündigte Schavan schließlich das deutsche Sicherheitsforschungsprogramm offiziell an. Ihre Bühne war das »Future Security«-Symposium, als »1. Sicherheitsforschungskonferenz« organisiert vom Fraunhofer-Verbund für Verteidigungs- und Sicherheitsforschung (VVS) in Karlsruhe. Und obwohl im 30-köpfigen Programmausschuss der Tagung neben den Chefs der fünf Gründungsinstitute des VVS auch zwei Beamte des Bundesverteidigungsministeriums sowie Vertreter der Rüstungsschmieden EADS, Diehl, Rheinmetall und der Europäischen Verteidigungsagentur saßen, wurde die Forschungsministerin nicht müde zu betonen, dass das neue Programm ausschließlich zivilen Anwendungsfeldern diene. (Töpfer 2009, S.22)

Von 2007 bis 2010 wurden zwei Programmlinien gefördert: Erstens zielte eine »szenarienorientierte Sicherheitsforschung« auf »Systemlösungen«, z.B. für den Schutz und die Kontrolle von Großveranstaltungen, Verkehrssystemen und anderen »kritischen« Infrastrukturen oder für die Sicherung von Warenketten. Zweitens sollten in »Technologieverbünden« szenarienübergreifende »Querschnittstechnologien« entwickelt werden, z.B. Systeme zur Detektion von Gefahrstoffen oder zum Schutz von Rettungskräften sowie Techniken zur Mustererkennung oder Personenidentifikation. In der Summe geht es um die weiträumige und automatisierte Überwachung durch Kamera- oder Sensornetzwerke, biometrische Zugangssysteme, den Einsatz von Robotern und Drohnen, bombensichere Gebäude, Hightech-Einsatz- und Lagezentren, die Vernetzung der Einsatzkräfte und das informatisierte Management von Menschenmengen, aber auch um die Öffentlichkeitsarbeit in Krisensituationen und die Mobilisierung der Bürger für die Prävention. (BMBF 2007)

Nach Abschluss der mit 123 Mio. Euro dotierten ersten Förderperiode ging das Sicherheitsforschungsprogramm im Jahr 2012 bereits in die zweite Fünf-Jahres-Runde; diesmal mit einem deutlich erhöhten Budget von 222 Mio. Euro. Im Gegensatz zur EU-Forschung spielen im deutschen Programm Hochschulen eine deutlich stärkere Rolle. Bis Ende 2011 ging etwa ein Drittel der Fördermittel insbesondere an die technischen Fakultäten deutscher Universitäten und Fachhochschulen. Und trotz der Beteiligung wehrtechnischer Unternehmen wie Rohde & Schwarz, EADS, Thales Defence oder Diehl an verschiedenen Projekten, sind Rüstungsschmieden diesmal nicht so dominant. Gleichwohl fließt ein Großteil der Gelder auch hier an wenige große Player. Weit vor Universitäten aus Freiburg, Berlin, Siegen und Karlsruhe sowie Konzernen wie SAP, Siemens und Bosch ist der Hauptgewinner die Fraunhofer-Gesellschaft, insbesondere die Institute des Fraunhofer-Verbundes für Verteidigungs- und Sicherheitsforschung. Die VVS-Institute erhielten mehr als fünf Prozent der bis Ende 2011 bewilligten Mittel; und sie waren es auch, die maßgeblich an der Genese des Forschungsprogramms beteiligt waren.1

Die Wehrforschungsinstitute der Fraunhofer-Gesellschaft

Gegründet im November 2002, bündelt der VVS die wehrtechnischen Institute der Fraunhofer-Gesellschaft. Anfangs gehörten ihm fünf Institute an, 2009 wurden zusätzlich die drei Wehrforschungsinstitute der ehemaligen Forschungsgesellschaft für Angewandte Naturwissenschaft (FGAN) in den Verbund integriert. „Obgleich das Leistungsspektrum dieser acht Institute ein sehr breites Themenfeld bedient“, schreibt VVS-Sprecher Klaus Thoma, „bleibt das verbindende Element die wehrtechnische Forschung, gefördert und unterstützt durch das Bundesministerium der Verteidigung“ (Fraunhofer VVS 2009, S.4). Thoma selbst war Leiter einer wehrtechnischen Entwicklungsabteilung bei Messerschmitt-Bölkow-Blohm (heute EADS) und Professor an der Bundeswehr-Universität in München, bevor er 1996 an das Fraunhofer Ernst-Mach-Institut (EMI) in Freiburg wechselte. Er gilt als »Architekt« des deutschen Sicherheitsforschungsprogramms. Heute ist er Mitglied des Forschungs- und Technologiebeirates des Verteidigungsministeriums und Vorsitzender des 18-köpfigen Wissenschaftlichen Programmausschusses, der die BMBF-Sicherheitsforschung „begleitet und steuert“ (BMBF 2007, S.47).

Obwohl die fünf VVS-Gründungsinstitute von 2000 bis 2007 mit 130 Mio. Euro vom Verteidigungsministerium gefördert wurden (Deutscher Bundestag 2008), galt die Wehrforschung innerhalb der Fraunhofer-Gesellschaft seit Ende des Kalten Krieges als »Problemfall« und »Rückzugsgebiet«, da sie sich mit einen deutlichen Rückgang staatlicher Investitionen und personeller Überalterung konfrontiert sah (Trischler 2009, S.97). War bereits die Gründung des VVS als Verbund für Verteidigungsforschung und Wehrtechnik – die Umbenennung folgte erst 2003 – eine erste Antwort auf die Krise, öffneten sich mit den institutionellen Veränderungen in der bundesrepublikanischen »Sicherheitsarchitektur« und den wachsenden Schnittstellen zivil-militärischer Zusammenarbeit im Gefolge des 11. September 2001 ganz neue Möglichkeiten.

Seit 9/11 diskutierten verschiedene Gremien des Zivilschutzes den technologischen Forschungsbedarf für die Detektion von Gefahrstoffen und Erregern. Der »Zweite Gefahrenbericht« der Schutzkommission2 nannte explizit die „Weiterentwicklung und Optimierung der Messtechnik, die im militärischen Bereich bereits zur Kampfstoffdetektion eingesetzt wird“ (Schutzkommission 2001, S.25). Schon damals war Klaus Thoma – in den Fußstapfen früherer EMI-Direktoren – ein Ko-Autor des Berichts.

Gut drei Jahre später präsentierten seine VVS-Kollegen vom Institut für Naturwissenschaftlich-Technische Trendanalysen (INT) in Bonn die Ergebnisse einer Studie, die das Verteidigungsministerium in Auftrag gegeben hatte. Thema: »Die technologischen Aspekten asymmetrischer und terroristischer Bedrohungen«. Anschließend diskutierten Vertreter der Bundeswehr aus dem Bereich ABC-Schutz und der Schutzkommission im neu gegründeten Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) die Bedeutung der Studie für die Fortschreibung des »Zweiten Gefahrenberichts«. Ein Teilnehmer lobte die „vielversprechende[n] Ansätze zu einer fruchtbaren Zusammenarbeit“ (Engelhard 2005, S.8), und das INT vermerkte: „Die Mitarbeit in der Schutzkommission des BMI hat die Möglichkeiten einer Beurteilung der zivilen Aktivitäten in Deutschland stark erweitert und die Unterstützung bei der Entwicklung einer ressortübergreifenden Zusammenarbeit ermöglicht.“ (INT 2006, S.24)

Ob das INT als Spürhund oder eher im Windschatten des Verteidigungsministeriums und der Bundeswehr agierte, um der Wehrforschung über die zivil-militärischen Schnittstellen beim »Bevölkerungsschutz« Kontakte zu Innenbehörden zu erschließen, ist letztlich irrelevant. Was zählt ist das Ergebnis: Bereits ein Jahr später beriet das INT nicht nur die Schutzkommission, sondern auch das BBK, das Bundeskriminalamt und den Bundesnachrichtendienst. (INT 2007, S.4f.)

Parallel dazu intensivierten die VVS-Institute ihre Kontakte zur zivilen Forschung: Im August 2005 formalisierte das VVS-Institut für Informations- und Datenverarbeitung seine „seit vielen Jahren bestehende fruchtbare Zusammenarbeit mit der Hochschule Karlsruhe – Technik und Wirtschaft“ durch einen Kooperationsvertrag (IITB 2006, S.3), und im November organisierte das INT den Workshop »Neue Technologien – Ausblick in eine wehrtechnische Zukunft«, um „Forschungseinrichtungen, Hochschulen und Unternehmen mit den Streitkräften und dem Rüstungsbereich in einem Forum zusammen[zu]bringen“ (INT 2006, S.65).

Ebenfalls 2005 wurde VVS-Sprecher Thoma in das European Security Research Advisory Board (ESRAB) berufen, wo er zusammen mit BKA-Vize Jürgen Stock und Managern von EADS, Diehl und Siemens die deutschen Positionen bei der Ausgestaltung des EU-Sicherheitsprogramms vertrat. Parallel dazu wirkten Vertreter des INT in ESRAB-Unterarbeitsgruppen und loteten gleichzeitig in „Vorausschau zukünftiger europäischer Forschungsprojekte im Bereich Sicherheit […] Synergiepotenziale zur aktuellen wehrtechnischen FuT im Verantwortungsbereich des BMVg/BWB“ aus (INT 2006, S.24). Doch »Synergiepotenziale« haben die VVS-Institute dem Militär nicht nur auf europäischer, sondern – allen Lippenbekenntnissen zum Trotz – auch auf nationaler Ebene erschlossen.

Dual-use-Forschung im Zeichen »vernetzter Sicherheit«

Auch wenn das BMBF-Programm in weitaus stärkerem Maße als die EU-Sicherheitsforschung Bereiche des »Bevölkerungsschutzes« adressiert und Feuerwehren, Kräfte des Katastrophenschutzes oder der Seuchenbekämpfung involviert, ist der Dual-use-Charakter in zahlreichen der mehr als 100 Projekte doch nicht zu übersehen. Einige Beispiele: Im Projekt AIR SHIELD wird mit Mikrodrohnen, die ursprünglich die Firma Diehl fürs Militär entwickelt hatte, am Einsatz vernetzter Drohnenschwärme für den Katastrophenschutz geforscht (BMBF 2009a, S.20f.). Wenn das Projekt SAFE robuste und sensorische Schutzkleidung unter Beteiligung des Wehrwissenschaftlichen Institutes für Schutztechnologien der Bundeswehr entwickelt, liegt der Gedanke nahe, dass hier nicht nur an Innovationen für die Feuerwehr, sondern auch für den Infanteristen des 21. Jahrhunderts gearbeitet wird (BMBF 2009a, S.10f.). Offenkundig sind die Querverbindungen auch dann, wenn im Projekt AISIS das Ernst-Mach-Institut zum Schutz von Tunneln oder Brücken an „fühlenden robusten Wänden“ forscht, die mit Funksensoren ausgestattet sind (BMBF 2009b, S.8f.), und gleichzeitig im »Jahresbericht Wehrwissenschaftliche Forschung 2010« über die Arbeit des Instituts an „Schadensvorhersagen durch sensierende Wände“ für Auslandseinsätze der Bundeswehr berichtet wird (BMVg 2011a, S.16f.).

Im Vorfeld der Verlängerung des Forschungsprogramms warnte der Wissenschaftliche Programmausschuss 2010 angesichts einer zunehmenden Einbeziehung außenpolitischer Aspekte in die Themenstellung vor einer „undefinierte[n] Vermischung zwischen zivilen Tätigkeiten […] und militärischen Zuständigkeiten“ und sprach sich für eine „pragmatische Abgrenzung“ gegenüber der Wehrforschung aus. Gleichzeitig will man aber »Synergieeffekte« nutzen und notiert: „Das in der militärischen Forschung erworbene Know-how muss auch im Bereich der zivilen Sicherheitsforschung verfügbar sein und umgekehrt. […] Am Beispiel der Auslandseinsätze von Polizei und THW zeigt sich, dass eine klare und dauerhafte Trennung von militärischer und ziviler Sicherheitsforschung nur schwer stringent durchzuhalten ist.“ (EMI 2010, S.7) Entsprechend erklärt das Verteidigungsministerium in seinem aktuellen Ressortforschungsplan: „Wehrwissenschaftliche Forschung setzt grundsätzlich auf den Erkenntnissen der zivilen Forschung auf (»Add-on-Prinzip«), wenn nationale Sicherheitsinteressen und das angestrebte Fähigkeitsprofil der Bundeswehr es erfordern. Sind entsprechende Ergebnisse anderer Ressorts bzw. der zivilen Forschung nicht verfügbar, müssen sie im Rahmen der Ressortforschungsaktivitäten erarbeitet werden. Konzepte und entsprechende Technologien, die sowohl für die wehrwissenschaftliche Forschung als auch für die zivile Sicherheitsforschung relevant sind, bilden die Schnittstellen für das BMVg zur zivilen Sicherheitsforschung (»Dual-use-Prinzip«).“ (BMVg 2011b, S.6)

Dennoch werden die Dual-use-Problematik, das Verteidigungsministerium oder die Bundeswehr im neuen Rahmenprogramm »Forschung für die zivile Sicherheit 2012-2017« mit keinem Wort erwähnt (BMBF 2012). Dabei dürften sie insbesondere im neuen Themenfeld »Urbane Sicherheit« eine entscheidende Rolle spielen. Haben sich doch in Baden-Württemberg mit dem Innovationscluster »Future Urban Security« Schlüsseleinrichtungen der deutschen Sicherheitsforschung – koordiniert von VVS-Sprecher Thoma – längst in Stellung gebracht.

Während das deutsche Forschungsprogramm inzwischen in die zweite Runde gegangen ist, wird auf EU-Ebene noch über die Zukunft der Sicherheitsforschung verhandelt. Im Herbst 2011 legte die Kommission ihre Vorschläge für das kommende Forschungsrahmenprogramm »Horizont 2020« vor. Unter der Überschrift „Sichere Gesellschaften“ soll die bisherige Sicherheitsforschung fortgesetzt werden: Unterstützen soll sie die „Unionsstrategien für die interne und externe Sicherheit und die Verteidigung“. Wie zuvor geht es um „innovative Technologien, Lösungen, Prognoseinstrumente und Erkenntnisse“ zur Vermeidung und Bekämpfung von Kriminalität, Terrorismus, Massennotfällen und Bedrohungen aus dem Cyberspace. „Die Forschung ist an der Sicherheit der Bürger ausgerichtet und soll aktiv mit der Tätigkeit der Europäischen Verteidigungsagentur (EDA) koordiniert werden, um die Zusammenarbeit mit dieser auszubauen, insbesondere über die bereits bestehenden Rahmenvereinbarungen für Zusammenarbeit, wobei anerkannt wird, dass es Technologien gibt, die sowohl für zivile als auch für militärische Anwendungen relevant sind.“ (Europäische Kommission 2011a, S.93ff.)

Damit findet die Kommission deutlich klarere Worte zur Bedeutung der »zivilen« Sicherheitsforschung für den Auf- und Ausbau militärischer Kapazitäten als das BMBF. Auch wenn bislang nicht bekannt ist, wie hoch das Budget der zukünftigen EU-Sicherheitsforschung sein wird – Gerüchten zufolge ist mit einer deutlichen Erhöhung um 600 Mio. Euro zu rechnen –, fest stehen dürfte bereits heute, dass deutsche Forschungseinrichtungen und Unternehmen wieder zur »Spitzengruppe« der Profiteure gehören dürften, nachdem sie bereits in der ersten Runde an zwei Dritteln der Projekte beteiligt waren (BMBF 2011, S.40).

Literatur

BMBF (2003): Eine erste Bilanz – Futur: Der deutsche Forschungsdialog. Bonn.

BMBF (2007): Forschung für die zivile Sicherheit. Programm der Bundesregierung. Bonn/Berlin.

BMBF (2009a): Schutzsysteme für Rettungskräfte. Bonn.

BMBF (2009b): Schutz von Verkehrsinfrastrukturen. Bonn.

BMBF (2012): Forschung für die zivile Sicherheit 2012-2017. Rahmenprogramm der Bundesregierung. Bonn.

BMVg (2011a): Wehrwissenschaftliche Forschung. Jahresbericht 2010. Bonn.

BMVg (2011b): Ressortforschungsplan des Bundesministeriums der Verteidigung für 2011 ff. Bonn.

Deutscher Bundestag (2008): Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Linksfraktion »Öffentlich geförderte wehrtechnische und bundeswehrrelevante Forschung«, BT-Drucksache 16/10156 vom 21.8.2008.

EMI (Hrsg.) (2010): Positionspapier des Wissenschaftlichen Programmausschusses zum nationalen Sicherheitsforschungsprogramm. Freiburg.

Engelhard, Norbert (2005): Bericht über die Ergebnisse der Konsultationsrunde mit dem BMVg. Vortrag gehalten auf der 54. Jahrestagung der Schutzkommission beim Bundesminister des Innern am 5. Mai 2005 in Berlin.

European Commission (2011): Investing into Security Research for the Benefits of European Citizens. Security Research Projects under the 7th Framework Programme for Research. Luxemburg.

Europäische Kommission (2011): Vorschlag für Beschluss des Rates über das spezifische Programm zur Durchführung des Rahmenprogramms für Forschung und Innovation »Horizont 2020« (2014-2020), KOM (2011) 811 endgültig vom 30.11.2011. Brüssel.

Fraunhofer VVS (2009): Sicherheit und Verteidigung im Fokus aktueller Forschung. Freiburg.

Group of Personalities (2004): Research for a Secure Europe. Report of the Group of Personalities in the Field of Security Research. Luxemburg.

INT (2006): Jahresbericht 2005. Euskirchen

Koalitionsvertrag (2005): Gemeinsam für Deutschland. Mit Mut und Menschlichkeit. Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD vom 11.11.2005.

Rachel, Thomas: Sicherheit – eine Frage der Technologie? Rede vom 10.10.2006.

Töpfer, Eric (2009): Entwicklungsauftrag »Zivile Sicherheit«. Metamorphosen und Symbiosen deutscher Wehrforschung. Bürgerrechte & Polizei/CILIP, Heft 94 (3/2009), S.21-27.

Töpfer, Eric (2011): Die Großen Brüder von INDECT. Telepolis, 28.11.2011.

Trischler, Helmuth (2009): Die Fraunhofer-Gesellschaft im deutschen Innovationssystem. Eine zeithistorische Perspektive. In: Jahresbericht 2008 der Fraunhofer-Gesellschaft. München: Fraunhofer-Gesellschaft, S.88-99.

Anmerkungen

1) Eigene Berechnungen des Autors auf Grundlage der Daten im Förderkatalog des Bundes zu »Referat 522«, zuständig im BMBF für die Sicherheitsforschung; foerderportal.bund.de/ foekat/ (Stand Oktober 2011).

2) Die Schutzkommission beim Bundesministerium des Innern ist ein Gremium von Wissenschaftlern, das Bundesregierung und Innenministerkonferenz der Länder ehrenamtlich zu wissenschaftlichen und technischen Fragen des Zivilschutzes berät; schutzkommission.de.

Eric Töpfer arbeitet am Deutschen Institut für Menschenrechte in Berlin. Der Aufsatz gibt die persönliche Sichtweise des Autors wieder.

25 Jahre nach Tschernobyl: Fukushima mahnt

25 Jahre nach Tschernobyl: Fukushima mahnt

von Wolfgang Liebert

Am 11. März erzitterte nicht nur die Erde vor der japanischen Küste. Die Folgen von Erdbeben und Tsunami erschüttern auch unser technizistisches Weltbild und den Rest-Glauben an die nukleare Energieoption. Die Bilder haben sich schon jetzt ins Unterbewusstsein der Menschen tief eingebrannt: Wesentliche Anlagenteile der Kernreaktoren von Fukushima fliegen nacheinander in die Luft. Von amerikanischen und japanischen Wissenschaftlern und Ingenieuren ersonnene und weltweit propagierte Zukunftstechnologie explodiert vor aller Augen und löst eine Technikkatastrophe aus.

Die Schnellabschaltung der Reaktoren gelang noch, aber alle Kühlmechanismen versagten rasch. Die lang anhaltende nukleare Nachwärme wird nicht ausreichend abgeführt, um den GAU zu vermeiden. Auch Wochen nach der vielfachen Reaktorhavarie ist die Kühlung der Reaktorkerne und der Brennstoff-Abklingbecken, in denen die tödliche Gefahr lauert, nicht ausreichend gesichert. Es droht der Super-GAU in bedrohlicher Nähe zu Tokio.

Die möglichen Folgen sind im Prinzip seit der Tschernobyl-Katastrophe vom 26. April 1986 schmerzlich bekannt: eine weiträumige und lange anhaltende radioaktive Verseuchung mit entsprechenden riesigen Sperrzonen von praktisch nicht mehr bewohnbaren Landstrichen insbesondere in Weißrussland und der Ukraine, aber auch Belastungen für weite Bereiche Europas. Nicht nur kurzfristig wirksame Radioaktivität (insbesondere durch Radio-Jod), sondern auch der Ferntransport und die Langzeitwirkung von Radioisotopen mit größeren Halbwertszeiten von zum Beispiel etwa 30 Jahren (wie Cäsium-137 und Strontium-90) bestimmen bis heute und in die weitere Zukunft die radioaktive Last für Mensch und Natur – angereichert über die Nahrungskette.

Das Interesse der sowjetischen Behörden, Schadens- und Opferbilanzen vorzulegen, war 1986 nicht gegeben. Die Sowjetunion selbst zerfiel wenige Jahre nach dem Unfall. Wie viele Zehntausende der so genannten Liquidatoren, die die Aufräum- und Sicherungsarbeiten in den Tagen und Monaten nach dem Unfall leisten mussten, unwissend ihre Gesundheit und ihr Leben auf Befehl von oben aufs Spiel setzen mussten, wie viele Krebsfälle und massive Gesundheitsschäden in der Bevölkerung bereits auftraten, weiß die Welt bis heute nicht. Auch die Internationale Atomenergieorganisation (IAEO) und in ihrem Gefolge die Weltgesundheitsorganisation (WHO) haben sich noch nicht dazu durchringen können, eine ehrliche Folgenbilanz vorzulegen. Der Rolle der IAEO als UN-Watchdog gegen die Weiterverbreitung von Kernwaffen steht anscheinend noch immer eine schönfärbende Promotorenrolle für die weltweite Kernenergienutzung gegenüber.

Droht nun die gleiche Entwicklung in Japan? Oder wird es noch schlimmer ausgehen? Die etablierten westlichen Nuklearexperten machten es sich vor 25 Jahren leicht mit dem stets wiederholten Hinweis, der betroffene sowjet-russische RBMK-Reaktortyp sei ein sicherheitstechnisch unausgereiftes Design – einer Feststellung, der gewiss zuzustimmen ist. Aber dies wurde verbunden mit der Behauptung, die westlichen Reaktoren seien unvergleichlich sicherer und ein entsprechendes Unfallszenario sei undenkbar. Dieses Argumentationsmuster ist mit Fukushima endgültig zerplatzt.

Fukushima hat nun den unwiderleglichen Beweis geliefert, dass die Spaltreaktortechnologie unbeherrschbar ist – überall in der Welt. Wenn man den probabilistischen Sicherheitsanalysen Glauben schenkt, so wäre gemäß der Deutschen Reaktorsicherheitsstudie von 1989 die Wahrscheinlichkeit für einen GAU (unter Annahme des Betriebs von knapp 440 Reaktoren weltweit) etwa einmal in hundert Jahren abzuleiten. Eine Kernschmelze würde danach noch zehnmal seltener auftreten. Solche Analysen sind spätestens jetzt Makulatur. Common-Mode-Störfälle, die sich jenseits des Anlagendesigns und der wahrscheinlichkeitstheoretischen Sicherheitsanalyse bewegen, in Fukushima aber durch extreme äußere Ereignisse ausgelöst wurden, durften mitsamt ihren massiven Folgen im Bewusstsein der »Nuclear Community« nicht ernsthaft vorkommen. Und doch ist jetzt das angeblich Undenkbare eingetreten. Das grundsätzliche Szenario war aber im Prinzip längst bekannt und gerade im Erdbeben gefährdeten Japan durchaus antizipierbar. Allerdings konnte niemand – auch nicht die mahnenden nuklearkritischen Experten – vorhersagen, wann genau dies eintreten würde. Und nun schmilzt der Restglaube an die nukleare Sicherheit in Fukushima dahin.

Was wird man daraus für Lehren ziehen? Können neue Sicherheitsanalysen zu Verbesserungen der Sicherheit existierender Anlagen führen? Die meisten heute weltweit am Netz befindlichen Reaktoren, deren Design in den 1960er und 1970er Jahren weitgehend festgelegt wurde, können nicht ohne weiteres auf den heutigen »Stand von Wissenschaft und Technik« gebracht werden. Wenn immerhin verbesserte Sicherheit gegen anlagenexterne Schadensereignisse wie Naturkatastrophen, Flugzeugabstürze, Krieg oder Terrorangriffe angestrebt werden soll, sind äußerst kostspielige Um- und Neubauten nötig. Eine trügerische Sicherheit, denn auch dann können die Sicherheitshüllen durchbrochen werden. Eine vollständige Sicherheit gegen die naturgesetzlich weiter auftretende Nachzerfallswärme – vom Reaktor bis zum Endlager – wird es überhaupt nicht geben können. Das radioaktive Katastrophenpotential ist in den Brennelementen stets aktiv. Die absolut notwendigen Kühlungsmechanismen bleiben stets verletzlich. Keine Spaltreaktortechnologie kann absolut sicher gemacht und ihr Katastrophenpotential kann nicht zu Null gesetzt werden.

Bei der Kerntechnologie gilt es mehr zu berücksichtigen als die Anlagensicherheit. Die Erfahrung mit deutschen Atommülllagern in Morsleben und Asse haben gezeigt, wie aussichtslos heute eine sichere Endlagerung der über hunderttausende Jahre von der Umwelt abzuschließenden Nuklearabfälle erscheint. Dennoch wird man notgedrungen weiter nach akzeptablen Lösungen suchen müssen für das, was nicht mehr vermeidbar ist. Mindestens die Politik aber hat bislang (siehe das Gorleben- und das Asse-Desaster) versagt.

Das offensichtliche zivil-militärische Dual-use-Potential der heute in knapp 60 Ländern der Welt genutzten Nukleartechnologie ist ein weiteres und unübersehbares Warnsignal. Die militärische Wurzel aus den 1940er Jahren prägt die Nukleartechnologie bis heute. Die gleichen Technologien – Urananreicherung, Reaktorkonzepte, Plutoniumabtrennung – wurden zunächst für die ersten Waffenprogramme entwickelt und dann in der Folge für die heutigen nuklearen Energieprogramme genutzt. Kein Wunder also, dass das militärische Potential dieser ambivalenten Technologie virulent bleibt. Man darf die These wagen, dass die Begehrlichkeit hinsichtlich nuklearer Technologie auch heute nicht nur mit dem Zugriff auf so genannte Spitzentechnologie zu tun hat, sondern immer wieder auch mit der Absicht, eine Atomwaffenoption zu eröffnen oder latent aufrecht zu erhalten. Viele Staaten haben sich unter dem zivilen Deckmantel zu Kernwaffenstaaten aufgeschwungen oder sie sind zu »virtuellen Kernwaffenstaaten« geworden, die vorhandene nukleartechnische Möglichkeiten jederzeit für die Bombe nutzen könnten.

Wir haben offenbar zugelassen, dass der falsche technologische Pfad beschritten wurde – und dies ist nicht erst seit der Fukushima-Katastrophe deutlich. Muss nicht von einem Versagen weiter Teile von Wissenschaft, Industrie und Politik gesprochen werden, die Jahrzehnte lang eine Alternativlosigkeits-Propaganda betrieben haben?

Wir müssen wieder erlernen, dass wir die Wahl haben. In der modernen Welt, die zunehmend durch naturwissenschaftlich-technische Entdeckungen und Entwicklungen und ihre ökonomische Industrialisierung dominiert wurde, ist etwas grundsätzlich fehl gegangen. Not tut die Rückbesinnung auf eine verantwortliche Gestaltung von Wissenschaft und Technik – nötigenfalls bedeutet das auch die Begrenzung oder den Verzicht der Nutzung. Wir müssen nicht jeden technologisch möglichen Pfad blind befolgen, im technizistischen Glauben an das angeblich stets und quasi naturgesetzlich kommende Bessere.

Welche Lehren zieht die Politik? Noch sieht es lediglich nach Taktieren aus, in der Hoffnung, alles werde schnell vergessen, wenn das Allerschlimmste doch noch ausbleibt. Dabei wurde in Deutschland 2001 mit Müh und Not ein Konsens zwischen dem Kartell der Atomstromkonzerne und der Bundesregierung ausgehandelt, der – im für viele durchaus fragwürdigen Abwägen zwischen Sicherheits- und Profitinteressen – einen schrittweisen Verzicht auf Plutoniumabtrennung und Reaktorbetrieb erreichte. Ohne Not und ohne vorausgehende Sicherheitsüberprüfung der 17 Meiler hat die gegenwärtige Bundesregierung letzten Oktober eine zusätzliche Laufzeitverlängerung durchgedrückt. Die Atomstromer werden satte Zusatzgewinne einfahren, die Kleineren, die neu erstarkten Stadtwerke und die lebendig gewachsene Solarenergiebranche, werden das Nachsehen haben. Verantwortungslosigkeit und Interessenpolitik für die Starken hatten sich erst einmal durchgesetzt.

Knapp eine Woche nach dem japanischen Erdbeben setzte die Kanzlerin ein dreimonatiges Moratorium für die acht ältesten Reaktoren in Deutschland durch. Diese Zeit reicht eigentlich nicht für eine eingehende Sicherheitsüberprüfung, es sei denn, man wolle nun endlich den »Stand von Wissenschaft und Technik« zur Richtschnur machen und kurzfristig exekutieren. Dann dürfte vermutlich keiner der Reaktoren noch eine Chance auf Weiterbetrieb haben. Aber davon ist bislang nicht die Rede. Die Widersprüche dieser Politik sind so eklatant, dass die Bundesregierung bereits jetzt ihre Glaubwürdigkeit aufs Spiel gesetzt hat.

Die tatsächlichen Herausforderungen sind demgegenüber groß: Es wird weitere Fälle nuklearer Proliferation geben, und es werden weitere nukleare Katastrophen eintreten, wenn nicht endlich radikale Schritte zur Kehrtwende in Wissenschaft, Politik und Gesellschaft vollzogen werden, auch im globalen Maßstab.

Der Pakt mit dem Teufel, den Führungseliten in unserem Namen (und angeblich für uns) geschlossen haben und der von ihren bereitwilligen Gefolgsleuten in Wissenschaft und Wirtschaft umgesetzt wurde, muss endlich aufgelöst werden. Deutschland, und am besten ganz Europa, sollte mit gutem Beispiel voran gehen und zeigen, dass Alternativen praktisch möglich sind. Der Ausstieg aus der Atomtechnologie erleichtert überdies einen effektiven und unumkehrbaren Weg in die kernwaffenfreie Welt. Er wird dem Umbau des Energiesystems auf der Basis solarer, klimafreundlichen Technologien Auftrieb geben. Fukushima kann nicht nur als Fanal, sondern auch als Signal wirken, das den tief greifenden und bewusst vollzogenen Wandel in unserem unreflektierten, wahnhaften Umgang mit Wissenschaft und Technik einläutet.

Wolfgang Liebert ist Koordinator der Interdisziplinären Arbeitsgruppe Naturwissenschaft, Technik und Sicherheit (IANUS) der Technischen Universität Darmstadt.