Viel Wind um HEU

Viel Wind um HEU

Die Kritik am neuen Garchinger Forschungsreaktor verstummt nicht

von Wolfgang Liebert

Die Technische Universität München plant gemeinsam mit Siemens die Errichtung eines neuen Forschungsreaktor (FRM-II). Die Kritik daran ist nicht zur Ruhe gekommen. Nicht die Forschung mit Neutronen wird dabei kritisiert. Zwar wird auch die behauptete aktuelle Notwendigkeit des Neubaus eines weiteren Reaktors angezweifelt, aber der zentrale Kritikpunkt bezieht sich auf die Wahl des waffengrädigen hochangereicherten Uran-Brennstoffs (HEU).

Vor der Erteilung der ersten Teilerrichtungsgenehmigung durch das Land Bayern ist der Streit um den Forschungsreaktor München II, der das alte Garchinger »Atomei« zum Anfang des nächsten Jahrhunderts ersetzen soll, nochmals voll entbrannt. Die bayerische Landesregierung hatte bereits vor Jahresfrist einen Generalunternehmervertrag mit Siemens geschlossen und der Bundesregierung die Vorfinanzierung des mindestens 720 Millionen DM teuren Projektes versprochen. Auch der Wissenschaftsrat (WR) hatte im Mai diesen Jahres grünes Licht gegeben. Während bei den die Projektbetreiber ermutigenden WR-Beschlüssen der vergangenen Jahre immer noch der Vorbehalt bestand, daß die Versorgung des Reaktors mit Brennstoff und die Entsorgung des radioaktiven Abfalls eindeutig geklärt werden müsse, scheint dies nun als unproblematisch angesehen zu werden. Dies könnte sich als kurzsichtig erweisen, da bislang nur für die ersten 10 Betriebsjahre mit einer Brennstofflieferung aus Beständen der EURATOM gerechnet werden kann.

Bedarf für neue Neutronenquellen?

Wieviele Neutronenquellen einer Forschergemeinde tatsächlich zur Verfügung stehen müssen, ist schwer zu beantworten. Fragt man die Nutzer selbst, so ist der Bedarf natürlich immens und gewöhnlich wird der neue Münchner Reaktor befürwortet. Aber auch das Komitee Forschung mit Neutronen (KFN), das als ein Sprachrohr der Nutzergemeinde fungiert, fokussiert nicht ausschließlich auf den geplanten Münchner Reaktor FRM-II. Das Projekt einer europäischen Spallationsquelle mit einem effektiven Neutronenfluß, der höher liegen sollte als jeder bislang weltweit mit Reaktoren erreichte, wurde in einer Stellungnahme aus dem Jahre 1993 sehr positiv bewertet.1 Bei der Entwicklung des Bedarfs wirkt sich auch der folgende Umstand aus: „Die Forschung mit Neutronen ist ihrem Charakter nach angebotsorientiert.“ 2 Dies bedeutet einerseits, daß die Nachfrage mit reduziertem Neutronenangebot nachläßt, aber auch umgekehrt die Nachfrage nach Experimentierzeit mit wachsendem Angebot ebenfalls steigen kann. Die vom Bundesministerium für Forschung und Technologie eingesetzte Komission Grundlagenforschung bedachte in ihrem Bericht von 1992 den FRM-II nur mit wenigen Worten, betonte aber den Bedarf der etwa 500-600-köpfigen deutschen Nutzergemeinde. Neben der Unterstützung der Idee für eine europäische Spallationsquelle wurde ein anderer Reaktor als der FRM-II als Höchstflußquelle empfohlen: „Bei sofortigem Planungsbeginn könnte ein konventioneller LEU-Reaktor in etwa 5 Jahren betriebsbereit sein. Die Ver- und Entsorgungsfrage wäre hier aufgrund der Gesetzteslage europäisch garantierbar.“ 3 Implizit wurde hier gegen die Wahl des waffengrädigen hochangereicherten HEU-Brennstoff argumentiert und die schwach angereicherte LEU-Variante als die aussichtsreichere Lösung der Politik angeboten.

Der Wissenschaftsrat hat in seiner Stellungnahme von 1989 die grundsätzliche Notwendigkeit des Zubaus einer überregionalen Neutronenquelle betont.4 Dort werden auch die erwarteten Laufzeiten der bereits existenten deutschen Neutronenquellen diskutiert. Besondere Bedeutung haben hier der kürzlich umgebaute Berliner Reaktor (BER 2) und der Jülicher Reaktor (FRJ 2), die mit ihren im internationalen Vergleich ansehnlichen Neutronenflüssen von etwa 150 bzw. 200 Billionen Neutronen pro Sekunde und Quadratzentimeter eine Lebensdauer bis mindestens 2010 besitzen. Eine Quelle von herausragender Bedeutung ist auch der trilateral (von Frankreich, Deutschland, Großbritannien) betriebene Höchstflußreaktor in Grenoble (ILL). Mit seinem Neutronenfluß von etwa 1,5 Billiarden pro Sekunde und Quadratzentimeter ist er bislang einmalig in der Welt und wird nach dem erfolgreich durchgeführten Umbau mindestens weitere zwei Jahrzehnte (also bis 2015) zur Verfügung stehen. Leider wird er infolge von Mittelkürzungen nur zu etwa 70<0> <>% ausgenutzt. Der deutschen Forschungslandschaft stehen weiterhin Neutronenquellen in europäischen Nachbarländern offen, darunter die bei den Forschern immer beliebter werdende britische Spallationsquelle ISIS. Hinzu kommen Gastmöglichkeiten in Rußland sowie in begrenztem Umfang auch in den USA.

Natürlich ist die Forschung primär an möglichst hohen Neutronenflüssen interessiert, insbesondere um notwendige Bestrahlungszeiten der zu untersuchenden Proben zu reduzieren bzw. die Validität von Meßergebnissen durch verbesserte Neutronenstatistik zu erhöhen. Der angestrebte Neutronenfluß für den FRM-II liegt mit etwa 800 Billionen Neutronen pro Sekunde und Quadratzentimeter etwa einen Faktor 2 unterhalb der bislang besten Quelle (ILL) und einen Faktor 4-5 oberhalb der bislang besten deutschen Quellen.

Einsatz von waffengrädigem HEU-Brennstoff

Das spaltbare Uranisotop U-235 ist die Quelle für die Zurverfügungstellung von Neutronen durch Reaktoren. Je mehr Uran diesen Isotops in der Volumeneinheit des Brennstoffs innerhalb des Reaktorkerns vorliegt, desto höher kann der Wert des erzeugten Neutronenflusses liegen. Dementsprechend gibt es zwei Strategien zur Erzeugung höchster Flüsse: die Verwendung hochangereicherter Brennstoffe oder die Verwendung hochdichter Brennstoffe. In den fünfziger und sechziger Jahren aber auch noch bis in die siebziger Jahre hinein wurden sehr viele Forschungsreaktoren mit hochangereichertem Uran (HEU) mit einem Anreicherungsgrad von zumeist 90<0> <>% U-235 und mehr ausgelegt. HEU ist zugleich ein hervorragend geeigneter Waffenstoff, der mit vergleichsweise einfacher Waffenkonzeption den Bau einer Kernwaffe ermöglicht. Demgegenüber ist schwach angereichertes Uran (LEU) mit einem Anreicherungsgrad von weniger als 20<0> <>% praktisch nicht für den Bau von Kernwaffen geeignet.

Die mit der Verwendung von HEU verbundenen Gefahren für die weltweite Verbreitung von Kernwaffen wurden bereits Ende der siebziger Jahre auf einer bedeutsamen internationalen Konferenz (International Fuel Cycle Evaluation, INFCE 1977-1980) diskutiert. Empfohlen wurde die Vermeidung von HEU und die Umstellung laufender Forschungsreaktoren auf Verwendung von nicht waffengrädigem schwach angereichertem LEU. Dabei wurde der Vorbehalt gemacht, daß einige existierende Quellen, wie beispielsweise Höchstflußreaktoren, kaum mit geringen Kosten und marginalem Verlust an Neutronenfluß umzurüsten sein werden und somit Ausnahmen bei dem prinzipiellen Wunsch nach Konversion der Reaktoren nötig werden könnten. Ebenfalls seit dem Jahr 1978 läuft ein diesbezügliches Umstellungsprogramm der USA (Reduced Enrichment for Research and Test Reactors, RERTR), das zwischenzeitlich wesentliche Kooperationen mit nationalen Forschungseinrichtungen wie in Japan und Rußland eingegangen ist. Auch in Deutschland existierte für etwa ein Jahrzehnt ein entsprechendes Programm (das sogenannte AF-Programm), das mit knapp 50 Millionen DM überwiegend aus Mitteln des Bundesministeriums für Forschung und Technologie gefördert wurde. Das RERTR-Programm hatte ursprünglich zum Ziel, 42 Reaktoren in der westlichen Welt, deren Leistung oberhalb von 1 Megawatt liegt und deren Versorgung mit HEU-Brennstoff von westlichen Quellen abhängt, auf LEU umzustellen. Mehr als die Hälfte dieser Reaktoren sind inzwischen umgestellt worden und bei fast allen übrigen (mit der Ausnahme von 4 Höchstflußreaktoren) ist die Konversion geplant.

Dies ist möglich geworden, weil seit Ende der siebziger Jahre die Entwicklung von hochdichten Brennstoffen als Alternative zu den hochangereicherten Brennstoffen vorangekommen ist. Besonders erfolgreich war bislang die Entwicklung von Uransiliziden. Statt einer Urandichte von nur etwa 1 Gramm pro Kubikzentimeter und weniger wurden bald Urandichten von 3 möglich. Eine Dichte von 4,8 ist erfolgreich getestet und in Nutzung, während bei einer Dichte von etwa 6 die Möglichkeiten der Uransilizide ausgereizt sein werden. Mit diesen hochdichten Brennstoffen ist ein Rückzug aus der Nutzung von HEU, das ebenfalls für Kernwaffen verwendet werden kann, möglich geworden.

1993 waren von weltweit knapp 300 in Betrieb befindlichen Forschungsreaktoren noch immer 138 Nutzer von HEU-Brennstoff. Nicht alle dieser 138 Reaktoren müssen in Konversionsbemühungen einbezogen werden. Dies kann daran deutlich gemacht werden, daß nur 74 von ihnen eine Leistung oberhalb von 1 Megawatt besitzen und nur 30 HEU-Beladungsmengen von mehr als 5 Kilogramm besitzen und einige Reaktoren keine Neubeladung mit Brennstoff benötigen. Der jährliche Bedarf an HEU ist weltweit bereits auf die Größenordnung von weniger als einer Tonne pro Jahr zurückgegangen, was Hoffnungen nährt, daß ein gänzlicher Verzicht auf HEU im zivilen Bereich durchsetzbar ist. Im Gefolge der restriktiveren Exportpolitik der USA ist der weltweite Handel mit dem waffengrädigen HEU in den neunziger Jahren fast zum Erliegen gekommen. Überdies wurden seit 1980 nur noch zehn kleinere HEU-Reaktoren in einigen Ländern außerhalb der westlichen Welt fertiggestellt, so in China, Rußland, Jamaika, Libyen, Malaysia und Pakistan.

Bei der Planung des FRM-II hat man einen gänzlich anderen Weg beschritten. Beide Möglichkeiten, die Hochanreicherung und die hohe Dichtigkeit des Brennstoffes, sollten simultan für einen stattlichen 20 Megawatt-Reaktor ausgenutzt werden. Nachdem zunächst noch die Nutzung hochdichter Brennstoffe in ihrer niedrig oder 45<0> <>% angereicherten Form in Erwägung gezogen worden war,5 schwenkte man gänzlich um auf die Verwendung hochangereicherten Urans in Form von hochdichtem Uran-Silizid-Brennstoff.6

Um einen sehr hohen Neutronenfluß zu erreichen, der mindestens einen Faktor 3-4 oberhalb der bislang besten deutschen Reaktoren liegt, wäre diese »Doppelstrategie« allerdings nicht nötig. Dies belegt eine Dissertation aus dem Institut der Projektbetreiber.7 Neben der Auslegung des FRM-II mit hochdichtem HEU-Brennstoff wurde auch der erwartbare Neutronenfluß bei Wahl von hochdichtem LEU-Brennstoff untersucht. Bei gleichbleibender thermischer Leistung des Reaktors FRM-II läge der erreichbare maximale Neutronenfluß für den LEU-Brennstoff im Mittel etwa 25<0> <>% unterhalb des hochdichten HEU-Brennstoffes. Auch eine Leistungserhöhung des Reaktors von 20 Megawatt auf ca. 27 oder 28 Megawatt wurde in Erwägung gezogen, um den Verlust an Neutronenfluß bei Verwendung hochdichter LEU-Brennstoffe auszugleichen.8 Die Zykluslänge für den Brennstoff würde dabei etwas reduziert. Die zusätzlichen Kosten für den Bau wurden 1989 auf etwa 40 Millionen DM geschätzt und die zusätzlichen jährlichen Betriebskosten auf 7 Millionen DM. Der zuständige Staatssekretär im BMFT, Bernd Neumann, schätzte im Februar 1994 die anfallenden zusätzlichen Investitionskosten beim Bau eines 30 Megawatt-Reaktors auf etwa 50 Millionen DM und die zusätzlichen jährlichen Betriebskosten auf 10 Millionen DM.

Von unabhängiger Seite wurden die Möglichkeiten der Alternativen zur HEU-Auslegung ebenfalls durchgerechnet.9 Die Ergebnisse der Arbeiten des Argonne National Laboratory, die bereits 1991 und im September diesen Jahres auf der RERTR-Jahreskonferenz in Paris vorgelegt wurden, bestätigen im wesentlichen die prinzipielle Möglichkeit der Nutzung von hochdichtem, nur schwach angereichertem LEU-Brennstoff, um etwa gleiche Neutronenflüsse zu erzielen, wie die mit HEU-Auslegung für erreichbar gehaltenen Neutronenflüsse. Kürzlich konnten die Argonne-Wissenschaftler sogar nachweisen, daß tatsächlich ein thermischer Neutronenfluß von 800 Billionen Neutronen pro Sekunde und Quadratzentimeter erreicht werden kann, also exakt die Flußstärke, die für den FRM-II bislang nur unter Verwendung hochdichter HEU-Brennstoffe möglich erschien.10

Ein weiterer Aspekt ist hinzugetreten. Die Verwendung von hochdichten HEU-Brennstoffen in Forschungsreaktoren ist bislang – aus gutem Grund – ohne jedes Beispiel. Keine Tests dieser Brennstoffe unter Reaktorbedingungen sind bislang erfolgt. Weder das möglicherweise gefährliche Schwellverhalten der hochdichten HEU-Brennstoffe unter höchsten Neutronenflüssen noch die Toleranzen bei der Herstellung dieser Brennstoffe mit vorgesehenem Dichtesprung mit möglichen Auswirkungen auf den sicherheitstechnisch relevanten sogenannten Void-Koeffizienten sind verstanden und experimentell überprüft. Ebenso ist das thermohydraulische Verhalten des Reaktorkerns noch nicht getestet. Demgegenüber sind die hochdichten LEU-Brennstoffe mit einer Dichte von etwa 4,5-4,8 Gramm pro Kubikzentimeter, die vom Argonne National Laboratory für den Einsatz im FRM-II empfohlen werden, in Hinblick auf die dortigen Anforderungen als Stand der Technik anzusehen. Diesen Brennstoffen können weit bessere Chancen hinsichtlich einer sicherheitstechnischen Begutachtung im Rahmen des Genehmigungsverfahrens eingeräumt werden als den von der TU München gewollten hochdichten HEU-Brennstoffen.

Auch wenn das ursprünglich angestrebte Ziel für den Neutronenfluß des FRM-II nicht erreicht würde, ist festzuhalten, daß ein etwas kleinerer Neutronenfluß wohl auch zu verkraften wäre: „Ein Schwellenwert der Neutronenintensität, der zur Durchführung gewisser Experimente nötig wäre, ist nicht erkennbar. Ein etwas geringerer Neutronenfluß kann häufig durch aufwendigere Meßtechnik kompensiert werden oder führt schlimmstenfalls zu geringfügig längeren Meßzeiten. Wenn doch in Einzelfällen ein höherer Neutronenfluß nötig erscheint, könnte auch auf den existierenden, multinational betriebenen Höchstflußreaktor in Grenoble zurückgegriffen werden, der einen höheren Neutronenfluß als den für den Garchinger Reaktor geplanten aufweist.“ 11 Zudem verbessert sich auch die Meßtechnik selbst laufend.

Problematik des geplanten HEU-Einsatzes

Das Problematische an der Auslegung des FRM-II mit HEU ist eigentlich offensichtlich. Ein in der Öffentlichkeit bekannt gewordenes regierungsinternes Papier aus dem Jahre 1988 kommt zu dem Ergebnis: „Nach Ansicht des Auswärtigen Amtes gefährdet die Einrichtung einer neuen Forschungsanlage mit hochangereichertem Uran diese bisherige internationale Zusammenarbeit [gemeint ist die weltweite Umstellung von Forschungsreaktoren von hoch auf niedrig angereichertes Uran], entzieht ihr die Glaubwürdigkeit und läuft möglicherweise auch den dabei erreichten Erkenntnissen zuwider… Schließlich ist das Auswärtige Amt der Meinung, daß die Bundesregierung … ausdrücklich betont hat, daß neue Forschungs- und Testreaktoren nur mit niedrig angereicherten Kernbrennstoffen ausgerüstet werden sollen. Der Vorbehalt in bezug auf Forschungs- und Testreaktoren mit besonders hohen Anforderungen bezog sich nur auf die Umstellung bestehender Anlagen von hoch auf niedrig angereichertes Uran.“12

up>Dieser heute nicht mehr deutlich vertretenen Ansicht des Außenamtes ist wohl zuzustimmen. Tatsächlich wäre der Forschungsreaktor FRM-II weltweit der erste Forschungsreaktor dieser Größenordnung, der seit Anfang der achtziger Jahre mit HEU als Brennstoff konzipiert wurde – trotz internationaler Bemühungen um »Abreicherung«. Die gegenwärtige Brennstoffkonzeption für den FRM-II wäre in dreifacher Hinsicht ein schädlicher Präzedenzfall:

  • der Neubau eines HEU-Reaktors gäbe das falsche Signal und wäre sogar ein Rückschlag für die weltweit laufenden Konversionsprogramme auf Nichtwaffenstoffe.
  • Die Verwendung der neuentwickelten hochdichten Brennstoffe in Kombination mit hochangereichertem Uran (HEU) würde eine brüskierende Zweckentfremdung bedeuten, da diese Brennstoffe doch gerade zur Umstellung der Forschungsreaktoren auf niedrige Anreicherung und damit zur Vermeidung des Waffenstoffes HEU entwickelt wurden. Hier würde in eine bisher geachtete Tabuzone eingedrungen.
  • Ein neuer HEU-Reaktor würde auf längere Sicht einen höchst unerwünschten Modellcharakter bekommen, wenn nämlich andere Staaten ähnliche Forschungsprogramme unter Verwendung von waffentauglichem Uran als Teil verdeckter Kernwaffenprogramme durchführen. Der Nichtverbreitungsvertrag (NVV) kann eine solche Entwicklung prinzipiell nicht unterbinden. Will man allerdings die Nutzung derselben Technologie, die man für Deutschland als wesentlich erachtet, anderen verwehren, würde der berechtigte Vorwurf der Diskriminierung zwischen Kernwaffenstaaten, hochentwickelten Industrieländern, Schwellenländern und Entwicklungsländern erhoben, der schon seit Jahrzehnten die internationalen Nichtverbreitungsbemühungen erschwert.

Ein neues »Sonderrecht«, das sich ein Land wie Deutschland herausnähme, wäre jedenfalls kontraproduktiv. Wie sollte man auf Dauer anderen Ländern das verweigern, was man selber für unverzichtbar hält? Außen- und sicherheitspolitisch kann diese Vorgehensweise Deutschlands nicht wünschenswert sein. Dies gilt auch im internationalen Maßstab. Daher wurde auf der diesjährigen Jahrestagung der Pugwash-Konferenz – der Friedensnobelpreisträger des Jahres 1995 – in der zuständigen Arbeitsgruppe über Reduzierung von Proliferationsgefahren das Konzept des FRM-II einmütig und eindeutig negativ beurteilt. Zu bedenken ist, daß der neue Garchinger Reaktor pro Jahr 40 Kilogramm HEU benötigen würde, was theoretisch der erforderlichen Spaltstoffmenge für etwa zwei (oder bei heutiger Sprengtechnik mehrerer) der Hiroshimabombe ähnlichen Kernwaffen entspräche.13 Der Export eines solchen Reaktors in ein Land wie den Iran, das gleichwohl den nuklearen Nichtverbreitungsvertrag unterschrieben hat, würde wohl harsche Kritik und entsprechende Reaktionen in der Weltgemeinschaft hervorrufen.

Auch in den USA war in Erwägung gezogen worden, HEU in neuen hochdichten Brennstoffen zu nutzen, um einen Forschungs- und Testreaktor mit einem neuen Weltrekord an Neutronenfluß errichten zu können. Diese Advanced Neutron Source (ANS) war vom Oak Ridge National Laboratory geplant worden. Eine von der Regierung beauftragte unabhängige Komission hat 1994 die Alternativen – unter Verzicht auf HEU – dargelegt. Daraufhin wurde ein Neudesign ohne HEU-Verwendung von Oak Ridge vorgelegt. Anfang Februar 1995 wurde dann das Projekt vom US-Energieministerium gestoppt. So wäre Deutschland nun der einzige Vorreiter, was die Konstruktion eines neuen HEU-Reaktors – obendrein unter Verwendung der Konversionsbrennstoffe – angeht. Dies ist insbesondere wichtig, da die Forschungsreaktoren die einzig übrig gebliebenen Nutzer von HEU im zivilen Bereich sind. Hier wäre der vollständige Rückzug aus der Nutzung von Waffenstoff im zivilen Bereich organisierbar. Demgegenüber fördern Produktion, Handel, Verarbeitung und Nutzung von waffentauglichen Materialien wie HEU ihre geographische Verbreitung, erweitern den Personenkreis mit entsprechendem technologischem Fachwissen und schaffen die Gefahr der Materialabzweigung und der Weitergabe von Kenntnissen zu Zwecken der Waffenherstellung. Für die Realität dieser Befürchtungen gibt es leider zahlreiche Beispiele.

Wissenschaft und globale Verantwortung

Der geplante FRM-II ist auch in einem weiter gefaßten Sinne ein Präzedenzfall. Es geht auch um den Konflikt zwischen wissenschaftlich-technisch Machbarem und dem, was bei genauerer Betrachtung wissenschaftlich und gesellschaftlich-politisch vernünftig ist. Unsere Wissenschaftskultur – insbesondere im Bereich der Naturwissenschaften – leidet immer noch an einem entscheidenen Mangel: die partielle Ausblendung und Bagatellisierung der Außenwelt korrespondiert mit einer Vernachlässigung der vielfältigen Wechselwirkungen dieser Außenwelt mit der Innenwelt des Labors. Wenn über Verantwortung der Wisenschaft geredet wird, darf es nicht nur um die Exaktheit der wissenschaftlichen Methodik und Resultate gehen, die gesellschaftlichen Folgen der wissenschaftlichen Arbeit müssen mit in den Blick genommen werden.

Die Projektbetreiber führen ins Feld, daß sie eine besonders kostengünstige und technisch optimierte Neutronenquelle bauen wollen. Der Preis für eine globale Sicherheits- und Friedensordnung, die auch die Physiker nicht unberührt lassen kann, wird nicht in Rechnung gestellt. Natürlich ist der HEU-Einsatz unter rein technischen Kriterien in Hinblick auf optimale Neutronenproduktion immer besser als der Verzicht darauf. Aber auch die Physiker müssen bei der Entscheidung über eine technisch mögliche Neuerung abwägen, ob ihre Spezialinteressen im Sinne der Förderung des Weltfriedens nicht zurückstehen können.

Der FRM-II ist insofern ein Paradebeispiel, als tatsächlich Alternativen zur Verfügung stehen, die auch die Interessen der Neutronennutzer befriedigen können. Es ist ganz wesentlich zu sehen, daß die Wissenschafts- und Technikentwicklung tatsächlich so etwas wie eine Alternativenstruktur besitzt, die keine eindeutig und unwiderruflich zu verfolgenden Wege kennt. Beispielsweise stellen die hochdichten Brennstoffe ein Innovationspotential dar, das ursächlich mit der Bemühung um HEU-Vermeidung zusammenhängt. Es ist bedauerlich, daß das deutsche AF-Programm nicht weitergeführt worden ist. Weitere Innovation ist hier möglich. Am Europäischen Institut für Transurane wurde in Kooperation mit der französischen CERCA die Entwicklung von hochdichten Urannitriden vorangetrieben, die noch höhere Dichten anstreben, als mit Uransiliziden erreichbar erscheinen. Diese Arbeiten werden nur fortgeführt, wenn potentielle Abnehmer Interesse signalisieren. Hier sind die Reaktorbetreiber und die Regierungen, die sich um Nichtverbreitung einerseits und wissenschaftlich-technische Innovation andererseits bemühen, aufgefordert, eindeutig Flagge zu zeigen.

Einer der Betreiber des Projektes, Wolfgang Gläser, sieht die Nutzung von hochdichten Brennstoffen in völlig anderem Licht: „Trying, e.g. to replace e.g. the HFR [High Flux Reactor] fuel by a low enriched version is a complete misunderstanding of the issue. … The question which has to be addressed and this is the real scientific issue, is how to improve sources, how to build new and more advanced sources based on our last twenty years of experience and taking advantage of new technological developments. And in this sense the development of higher density fuels was indeed a great help for designing advanced sources for neutron research. If even higher densities will be made available, there will be sooner or later a need for their high enriched version: Basic research has to start with the best state-of-the-art technology available. The higher density fuels used in their highly enriched form offer progress mainly in two directions …“ 14

Gläser ist offenbar überzeugt, daß der Fortschritt der Wissenschaft jegliche sinnvolle und wohlüberlegte Beschränkung der prinzipiellen Möglichkeiten ausschließen muß. Sogar international verabredete konstruktive Alternativen zur wissenschaftlichen Fortentwicklung, die in Distanz zu möglichen Überschneidungen mit Programmen zum Bau von Massenvernichtungswaffen gehen, dürfen und müssen von auf ihren Erfolg bedachten Wissenschaftlern jederzeit daraufhin abgeklopft werden, ob sie nicht bei Verfolgung der alten, noch unreflektierten Pfade der Forschung ausgeschlachtet werden können für gewisse Vorteile, die man sich verschaffen könnte, ohne die von den Kollegen (und Konkurrenten) anerkannten Beschränkungen zu berücksichtigen, die nicht wissenschaftsimmanent begründbar erscheinen. Kann eine solche Haltung, die sich über globale Friedens- und Sicherheitsinteressen hinwegsetzt, akzeptiert werden?

Dies rührt an die alte Frage: „Dürfen wir alles, was wir können?“ Ich denke, die Antwort im Falle der angestrebten Nutzung von HEU-Brennstoff in Form der hochdichten Konversionsbrennstoffe sollte differenziert ausfallen. Das Interesse der Neutronennutzer soll durchaus befriedigt werden, aber bei Rückgriff auf die offensichtlichen Alternativen zur HEU-Nutzung. Dieser »kleine« Verzicht sollte verantwortlich denkenden und handelnden Wissenschaftlern und Politikern nicht schwer fallen, wenn sie die historische Entwicklung bzgl. der Verwendung des hochangereicherten Urans bedenken. Der zivil-militärischen Ambivalenz dieses Stoffes kommt man meiner Ansicht nach nur bei, wenn man seine zivile Verwendung beendet. Wollen wir ein effektives Nichtweiterverbreitungsregime und wirklich ernsthaft eine atomwaffenfreie Welt ansteuern, wie in Artikel VI des Nichtverbreitungsvertrages aufgegeben, und die Atomwaffenfreiheit sowie den Weg dorthin irreversibel machen, dann ist nicht nur der formelle Verzicht auf Atomwaffen wesentlich. Der zivile Bereich, ob dies Forschung oder Energiewirtschaft betrifft, muß seinen Beitrag leisten: dies bedeutet zumindest den Verzicht auf die Nutzung waffengrädiger Nuklearmaterialien in signifikanten Mengen, also insbesondere den international gewollten Ausstieg aus der HEU-Nutzung für Forschungsreaktoren.15

Wissenschaft und Politik kämen ihrer globalen Verantwortung nach durch Konzipieren von Alternativen zum HEU-Einsatz, die nach dem vorliegenden Kenntnisstand tatsächlich verfolgbar sind.

Anmerkungen

1) Komitee Forschung mit Neutronen (KFN), Memorandum zur Forschung mit Neutronen in Deutschland, Juni 1993. Zurück

2) Leserbrief vom Vorsitzenden des KFN, D. Richter, in: Physikalische Blätter 50 (1994), S. 620. Zurück

3) Förderung der Grundlagenforschung durch den Bundesminister für Forschung und Technologie, Empfehlungen der Kommission Grundlagenforschung, Pressedokumentation 12/92 des BMFT, 3. April 1992, S. 64-67. Zurück

4) Wissenschaftsrat, Stellungnahme zur forschungspolitischen Notwendigkeit einer überregionalen Neutronenquelle – Geplanter Neubau eines Forschungsreaktors an der Technischen Universität München, Drucksache 9414/89, 12.5.1989. Zurück

5) K. Böning, W. Gläser, J. Meier, G. Rau, A. Röhrmoser, L. Zhang, Design of a novel compact core with reduced enrichment for upgrading the research reactor Munich FRM, in: K.Tsuchihashi (Hrsg.), Proc. of the International Meeting on Reduced Enrichment for Research and Test Reactors, Japan, 24-27 Oct. 1983, JAERI, May 1984, S. 321-330; K. Böning et al., Status of the compact core design for the Munich research reactor, in: Proc. of the 1984 International Meeting on RERTR, Argonne, 15-18 Oct. 1984, ANL/RERTR/TM-6 CONF-8410173, S. 456-461. Zurück

6) K. Böning, W. Gläser, J. Meier, A. Röhrmoser, E. Steichele, Status of the Munich compact core reactor project, in: G. Thamm, M. Brandt (Hrsg.), Proceedings of the XIIth International Meeting on Reduced Enrichment for Research and Test Reactors, Berlin 10-14 Sept. 1989, Konferenzen des Forschungszentrums Jülich, Band 4/1991, S. 473-483. Zurück

7) A. Röhrmoser, Neutronenphysikalische Optimierung und Auslegung eines Forschungsreaktors mittlerer Leistung mit Zielrichtung auf einen hohen Fluß für Strahlrohrexperimente, Dissertation angenommen von der TU München, 25.7.1991. Zurück

8) K. Böning et al. (1991), op.cit (Anm. 6). Zurück

9) S.C. Mo, Application of the successive linear programming technique to the optimum design of a high flux reactor using LEU fuel, Proc. of the 14th International Meeting on RERTR, Indonesia, 4-7 Nov. 1991, S. 273-284; S.C. Mo, N.A. Hanan, J.E. Matos, Comparison of the FRM-II HEU design with an alternative LEU design, Papier präsentiert beim 1995 International Meeting on RERTR, Paris, 18-21 Sept. 1995. Zurück

10) N.A. Hanan, S.C. Mo, R.S. Smith, J.E. Matos, Attachement to the paper »Comparison of FRM-II HEU design with alternative LEU design«, Argonne National Laboratory, Oct. 1995. Zurück

11) »Offener Brief betreffend den geplanten Forschungsreaktor FRM-II unter Verwendung von hochangereichertem Uran«, unterzeichnet und veröffentlicht von 50 Physikern am 25.5.1994, abgedruckt u.a. in: Forum Wissenschaft 11.Jg. Heft 2/1994, S. 19-21. Zurück

12) »Betrifft Verwendung hochangereicherten Urans in Forschungsreaktoren unter dem Aspekt der Nichtverbreitung – Hier: Neuer Forschungsreaktor der TU München«, gezeichnet von Dr. von Wagner am 3.2.1988. Zurück

13) Die Betreiberseite spricht stattdessen lieber immer wieder über eine erhöhte Plutoniumproduktion im Reaktor bei Einsatz von LEU statt HEU. Dies kann allerdings kaum ernsthaft als die wesentliche Proliferationsgefahr gegen das LEU-Konzept ins Feld geführt werden, da die jährlich produzierten Plutoniummengen mit einigen hundert Gramm im LEU-Fall wie im HEU-Fall (einige zehn Gramm pro Jahr) sehr deutlich unterhalb der Mindestmenge für die etwaige Konstruktion einer Kernwaffe läge. Um an den Waffenstoff heranzukommen, müßte das Plutonium überdies mit aufwendiger Wiederaufarbeitungstechnologie aus den abgebrannten Brennelementen herausgelöst werden – ganz im Gegensatz zur Verwendung von bereits waffengrädigem HEU-Brennstoff für den Reaktor, der direkt für den Waffenbau abgezweigt werden könnte. Zurück

14) W. Gläser, Why does the need of HEU for high flux reactors remain?, in: Thamm/Brandt (1991), op. cit., S. 485-493 Zurück

15) Vergl. ausführlicher W. Liebert, Managing Proliferation Risks from Civilian and Weapon-Grade Plutonium and Enriched Uranium: Comprehensive Cutoff Convention, Commissioned paper, 45th Pugwash Conference on Science and World Affaires »Towards a Nuclear-Weapon-Free World«, Hiroshima, Japan, 23-29 July 1995. Zurück

Wolfgang Liebert ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter bei IANUS an der TH Darmstadt.

10 Jahre nach Tschernobyl

10 Jahre nach Tschernobyl

von Jürgen Scheffran

Am frühen Morgen des 26. April 1986, im Verlaufe eines „Sicherheitstests“, explodierte Block 4 des Atomkraftwerks von Tschernobyl in der nördlichen Ukraine. Von der Wucht der Explosion wurde das Dach des Reaktorgebäudes weggeblasen. 190 Tonnen hoch-radioaktiven Urans und Graphits, Stoffe mit einer Radioaktivität von mehr als 100 Millionen Curie, der 40-fachen Menge von Hiroshima und Nagasaki, wurden in die Atmosphäre geschleudert. Die radioaktive Wolke überstrich Europa wie ein strahlender Pinsel und hinterließ unsichtbare Spuren der Zerstörung in Mensch und Tier, die auch nach zehn Jahren nicht beseitigt sind. Das Feuer von Tschernobyl konnte zwar notdürftig in Beton gegossen werden, doch es brennt in uns allen weiter.

Besonders schwerwiegend waren die Folgen für die Menschen in der Region um Tschernobyl. Ein Viertel des fruchtbaren Ackerlands wurde zu radioaktivem Abfall. Dutzende von Ortschaften hörten auf zu existieren, 400.000 Menschen mußten evakuiert werden. 70<-10> <0>% der Radioaktivität ging auf die Bevölkerung von Belarus nieder, die von den Behörden über den Ernst der Lage getäuscht wurde. 1,2 Millionen Kinder in Belarus und der Ukraine tragen ein hohes Risiko, an Krebs oder Leukämie zu erkranken.

Werden Millionen von Menschen einer erhöhten Strahlung ausgesetzt, sind (abgesehen von den unmittelbar Strahlenkranken) die Opfer nur statistisch abzuschätzen. Je nach zugrundegelegtem Modell sind tausende oder hunderttausende von Toten zu beklagen, wobei viele den Krebstod in sich tragen, ohne es zu wissen. Diese Unsichtbarkeit der Katastrophe macht ihr Verdrängen so leicht. Nach wie vor ist das Risiko radioaktiver

„Niedrigstrahlung“ Gegenstand einer Kontroverse unter Experten, wobei frühere verharmlosende Ansichten zunehmend revidiert werden müssen.

Die Glaubwürdigkeit der Experten ist in den Augen der Öffentlichkeit auch dadurch erschüttert, daß manche professionellen Strahlenschützer immer noch eher den Schutz der Strahlen vor der Kritik der Menschen im Auge haben als den Schutz der Menschen vor der Wirkung der Strahlung. Daß die internationale Kontrolle über die Kernenergie der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO) unterliegt, deren Auftrag zugleich die Verbreitung der Kernenergie ist, hat der Verbreitung der Wahrheit keinen Vorschub geleistet. Am Mantel des Schweigens über Tschernobyl haben Freunde der Kernenergie in Ost und West gemeinsam gewoben. Als in der Bundesrepublik alle Meßgeräte Alarm schlugen und Kinder ihre strahlenden Schuhe vor der Tür des Kindergartens lassen mußten, gab die Bundesregierung bekannt, die Gesundheit der Bevölkerung sei zu keinem Zeitpunkt gefährdet. Auch heute noch wird (ungeachtet der Erfahrung von Harrisburg) die These vertreten, ein ähnlicher Unfall sei in einem westlichen Kernkraftwerk ausgeschlossen, da hier eine andere »Sicherheitskultur« herrsche (so eine OECD-Studie von 1995). Könnte es nicht eher sein, daß das Hantieren mit der gewaltigen, in der Materie schlummernden Energie menschliches und technisches Versagen geradezu anzieht?

Die folgenschwerste Industriekatastrophe der Geschichte hat auch Geschichte gemacht. Die immensen Schäden und Kosten waren von der im Wandel befindlichen Sowjetunion nicht zu verkraften. Tschernobyl bedeutete einen entscheidenden Rückschlag nicht nur für die Perestroika Gorbatschows, sondern auch für Glasnost, die unter der Desinformation verschüttet wurde. Tschernobyl war jedoch nicht nur der Anfang vom Ende der Sowjetunion, sondern auch der Kernenergie. Selbst die Kernenergieindustrie mußte nach dem Schock von ihren optimistischen Prognosen abrücken und hatte den Ausstiegsszenarien nicht mehr viel entgegenzusetzen. Eine Wende zeichnete sich erst ab, als sich die Möglichkeit eröffnete, den Teufel Klimakollaps mit dem Beelzebub Kernenergie auszutreiben. Eine geläuterte Kerntechnologie wird nun angeboten, die inhärent sicherer, sauberer und billiger als ihr Vorgänger sein soll. Die Scheinalternative zwischen Kohle und Kernenergie lenkt von den wahren Alternativen ab: Energieeinsparung und regenerative Energien.

Die Zweifel an der Kernenergie bleiben. Die Endlagerungsproblematik ist weiter ungelöst und die Bürde für zukünftige Generationen nimmt mit jedem Tag zu. Niemand kann angesichts einer unsicheren Zukunft sagen, ob die sozialen und politischen Strukturen stabil genug sind, um diese Last ausreichend lange zu tragen. Das mit der Kernenergie verbundene Konflikt-, Gewalt- und Repressionspotential ist auch in den westlichen Staaten gegenwärtig, was die Auseinandersetzungen um die Castor-Transporte oder um die Plutoniumverschiffung zwischen Japan und Frankreich zeigen.

Schließlich darf nicht übersehen werden, daß mit dem nuklearen Brennstoffkreislauf die Möglichkeit zum Bau der Atombombe verbunden ist, trotz aller Bestrebungen der IAEO, eine Trennlinie zwischen den beiden Gesichtern des Janus-Kopfes zu ziehen. Wie durchlässig diese Trennlinie ist, hat der irakische Diktator Saddam Hussein gezeigt. Der Golfkrieg war somit nicht nur ein Krieg um Öl, sondern auch ein Krieg um das militärische Gefahrenpotential der Kernenergie. Solange die Industriestaaten, allen voran die Kernwaffenmächte, den Griff auf die Kerntechnik ungeniert praktizieren (Beispiel Garchinger Reaktor), wird der Mythos Kernenergie auch in der »Dritten Welt« weiterleben.

Nachhaltige Abrüstung umfaßt alle Kernwaffenmaterialien

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Zum Produktions- und Nutzungsstopp waffengrädiger Materialien*

von Martin Kalinowski • Wolfgang Liebert

Die Verbreitung von Atomwaffen und die weltweiten zivilen Nuklearprogramme stehen in einem Zusammenhang, denn die zentrale Voraussetzung für den Bau von Kernwaffen ist der Zugriff auf ausreichende Mengen an spaltbaren Materialien. Diese finden auch in zivilen Nuklearprogrammen Verwendung oder werden dort produziert. Von besonderer Bedeutung sind hier Plutonium und hochangereichertes Uran (HEU – highly enriched uranium).

In den letzten Jahren wird besonderes Augenmerk auf die Waffenmaterialien gerichtet, die aus der Reduktion der Atomwaffenarsenale der USA und GUS frei werden. Das langfristig wichtige Problem betrifft aber genauso die waffengrädigen Materialien im zivilen Bereich. Eine nachhaltige Abrüstung muß auch diese Materialien in einen Produktions- und Nutzungsstopp mit einbeziehen.

Waffengrädige Materialien weltweit

Zur Zeit sind weltweit über 400 Kernreaktoren mit einer elektrischen Leistung von mehr als 300 Gigawatt in Betrieb. Dies macht eine jährliche Anreicherungskapazität von größenordnungsmäßig 10.000 Tonnen schwach angereicherten Urans notwendig. Etwa 70 Tonnen Plutonium werden jährlich in diesen zivilen Leistungsreaktoren produziert.1 Die Überwachungsmaßnahmen der IAEO reduzieren sicherlich die daraus erwachsende Problematik erheblich. Aber nur etwa die Hälfte des bislang produzierten sogenannten Reaktor-Plutoniums (bis heute mehr als 950 Tonnen), das gleichwohl waffenfähig ist2, steht unter Safeguards. Wird es aus dem nuklearen Abfall mit chemischer Wiederaufarbeitungstechnologie abgetrennt (bislang etwa 190 Tonnen, also ein Fünftel), steht dieses Plutonium im Prinzip auch für Kernwaffen zur Verfügung. Das abgetrennte Plutonium wird größtenteils zunächst gelagert, verbunden mit der Option einer späteren Wiederverwertung im nuklearen Brennstoffkreislauf. Vielfältige Abzweigungsmöglichkeiten für Waffenzwecke ergeben sich daraus.

Die Größenordnung dieses für Kernwaffen verwendbaren Reaktorplutoniums wird besonders deutlich, wenn man es vergleicht mit den insgesamt etwa 270 Tonnen Plutonium, die in den Kernwaffenarsenalen der Welt stecken. Das derzeit existierende Reaktorplutonium entspricht rund 120.000 signifikanten Mengen, aber es könnten sicherlich viermal so viel Kernwaffen daraus hergestellt werden, als zur heißesten Phase des Kalten Krieges stationiert waren. Es wird damit gerechnet, daß knapp nach der Jahrhundertwende, die in abgetrennter Form gelagerten »zivilen« Plutoniummengen die militärischen überschreiten werden.

Die dramatische Verschärfung der Situation in unserem Land wird besonders deutlich angesichts der Tatsache, daß in den nächsten Jahren tonnenweise Plutonium aus Wiederaufbereitungsanlagen in Frankreich und Großbritannien nach Deutschland zurücktransportiert werden soll. Die jährliche Rückführung von Plutonium aus der Wiederaufarbeitung soll auf das zehnfache bisheriger Mengen erhöht werden. Erwartet werden 5 Tonnen pro Jahr ab 1995, ohne daß dieses Plutonium verarbeitet werden könnte. Der Betrieb der alten Anlage zur Fertigung von Mischoxidbrennelementen (MOX) in Hanau ist von Siemens endgültig eingestellt worden. Ein Ende des Streits um die Betriebsgenehmigung für die Neuanlage ist nicht in Sicht. Der derzeitige Bestand des Plutoniumlagers in Hanau von mehr als 2 Tonnen würde erheblich anwachsen.

Ganz ähnlich ist die Situation in vielen anderen Ländern auch. Der historische Grund für die neu installierten oder noch in Bau befindlichen Wiederaufarbeitungskapazitäten war eine umfangreiche kommerzielle Nutzung von Plutonium in Schnellen Brutreaktoren. Bis auf Forschungsprogramme in Frankreich, Japan und Rußland sind alle diesbezüglichen Aktivitäten eingestellt oder nie aufgenommen worden. Durch den Einsatz von MOX Brennelementen in Leichtwasserreaktoren könnte nur wenig von dem frisch abgetrennten Plutonium verarbeitet werden. Überdies wird erwartet, daß die deutsche Atomwirtschaft aus wirtschaftlichen Überlegungen gänzlich aus der Plutoniumnutzung aussteigen wird. Dies wird wahrscheinlicher, nachdem die Änderung des Atomgesetzes im Jahre 1994 den Verzicht auf Wiederaufarbeitung zugunsten einer direkten Endlagerung von abgebrannten Brennelementen ermöglicht. Solange die noch über Jahre laufenden Verträge mit den Wiederaufarbeitungsanlagen in Sellafield und La Hague aber nicht gekündigt werden, werden die Lager an separiertem Plutonium zu einem gigantischen Überschuß heranwachsen. Damit würden die Gefahren durch das jederzeit direkt für Atomwaffen einsetzbare Material erheblich steigen.3

Die Verwendung von hochangereichertem Uran (HEU) im zivilen Bereich spielt kaum noch eine große Rolle. Allerdings könnten existierende Urananreicherungsanlagen, von denen nur die Hälfte von der IAEO überwacht werden, theoretisch auch HEU produzieren. Demgegenüber haben die fünf Kernwaffenstaaten insgesamt mehr als 2000 Tonnen HEU für militärische Zwecke hergestellt. Sie sind in der Vergangenheit die fast alleinigen Produzenten von ca. 70 Tonnen HEU für den zivilen Markt im In- und Ausland gewesen. Seit Anfang der 80er Jahre gibt es eine internationale Initiative zur Reduktion der Produktion und Verwendung von HEU. Im zivilen Bereich wird HEU heute ausschließlich für Forschungsreaktoren verwendet, zur Zeit noch etwa 150 mit einem Jahresbedarf von insgesamt etwa ein bis zwei Tonnen. Viele Reaktoren wurden bereits auf die Verwendung nicht waffentauglichen niedrigangereicherten Urans (LEU – low enriched uranium) umgestellt, bei Nutzung speziell entwickelter hochdichter Brennstoffe. Somit ist eine HEU-Nutzung für Forschungsreaktoren im Prinzip obsolet geworden.

Der Bau des in Planung befindlichen neuen deutschen Forschungsreaktors FRM II in Garching wäre weltweit der erste Forschungsreaktor dieser Größenordnung, der seit Anfang der achtziger Jahre mit HEU als Brennstoff konzipiert wurde. Dies wäre das falsche Signal und ein Rückschlag für die internationalen Konversionsprogramme von HEU auf LEU4. Die Verwendung der neu entwickelten hochdichten Brennstoffe unter Verwendung von HEU wäre eine Zweckentfremdung, da diese gerade für die Konversionsbemühungen entwickelt wurden. Hier würde in eine bislang geachtete Tabuzone eingedrungen. Ein neuer HEU-Reaktor wäre ein unerwünschtes Modell für andere Staaten, die Forschungsprogramme unter Verwendung von waffentauglichem Uran als Teil verdeckter Kernwaffenprogramme durchführen könnten. Andernfalls, bei der Verwehrung der Nutzung derselben Technologie durch andere, würde der berechtigte Vorwurf der Diskriminierung zwischen Kernwaffenstaaten, hochentwickelten Industrieländern, Schwellenländern und Entwicklungsländern erhoben, der schon seit Jahrzehnten die internationlen Nichtverbreitungsbemühungen erschwert.

Die Atomwaffenrelevanz von Tritium ist bisher kaum wahrgenommen worden.5 Nachdem das neu gebaute Tritiumlabor in Karlsruhe das erste Gramm Tritium aus Kanada erhalten hat, muß dieses Material stärker beachtet werden. Insgesamt soll Karlsruhe 100 Gramm erhalten, genug für 30 bis 50 Atomwaffen. Die EURATOM übernimmt die Überwachung des Tritiums.

Lösen Safeguards das Problem?

Die aktuellen Gefahren der Weiterverbreitung von Kernwaffen (horizontale Proliferation) sind unübersehbar und müssen ernst genommen werden. In vielen Ländern der Welt sind technische Voraussetzungen für den Bombenbau jederzeit abrufbar, insbesondere was die prinzipielle Möglichkeit des Zugriffs auf waffengrädiges Nuklearmaterial anbetrifft.

Hier kommt das Überwachungs- oder Safeguards-System der IAEO zum Zuge. Gemeinhin wird angenommen, diese seit 1957 aktive, in Wien ansässige Behörde könne den rein zivilen Charakter weltweit betriebener nicht-militärischer Atomprogramme garantieren. Allerdings sieht sich die IAEO selbst nicht in der Rolle einer Art »Nuklearpolizei«. In ihrem Selbstverständnis will sie lediglich dafür Sorge tragen, daß die Abzweigung von für signifikant gehaltenen Mengen von Nuklearmaterial aus dem zivilen Brennstoffkreislauf in für angemessen gehaltenen Entdeckungszeiträumen detektiert werden kann. Dies ist zunächst eine realistische Einschätzung ihrer Möglichkeiten, die mehr auf dem gegenseitigen Vertrauen der Nukleartechnologie nutzenden Länder basiert als auf »harten« Kontrollen.6 Die Fähigkeiten der IAEO waren und sind zu den Nukleartechnologie nutzenden Staaten institutionell, gemäß der IAEO Statuten, aufgrund diplomatischen Kalküls und bedingt durch das Grundverständnis der IAEO. Ein besonderes Hindernis dabei ist die Doppelrolle der IAEO als Promotor und »Überwacher« der Kernenergie. Gemäß ihres Selbstverständisses konnte die IAEO beispielsweise auch die jahrelangen Bemühungen des Irak in seinem verdeckt geführten Kernwaffenprogramm nicht wahrnehmen, wo die Inspekteure der Kontrollbehörde über Jahre quasi in dienstlichem Auftrag mit Blindheit geschlagen waren und nicht sehen durften, was sie durchaus hätten sehen können.7

Die Praxis der IAEO-Safeguards weist viele Schwachstellen auf.8 In der Vergangenheit war die Arbeit der IAEO unzureichend in Anbetracht der zu lösenden Problemstellungen.

Maßnahmen zur Stärkung der Bemühungen zur Eindämmung der horizontalen und latenten Proliferation sind dringend erforderlich.9

Ein wesentlicher Schwachpunkt der Safeguardsmaßnahmen drückt sich darin aus, daß nur die Hälfte aller Nuklearanlagen weltweit von den Safeguards erfaßt sind, obwohl fast alle Länder der Welt dem NVV mittlerweile beigetreten sind. Dieses Mißverhältnis liegt zum Teil daran, daß einige kritische Länder wie die de-facto Kernwaffenstaaten Indien, Israel und Pakistan dem NVV nicht beigetreten sind. Der Hauptgrund ist allerdings, daß die zivilen Anlagen in Kernwaffenstaaten nicht überwacht werden. Freiwillig zugestandene entsprechende Kontrollen bei den fünf etablierten Atommächten sind bisher rein symbolischer Art. Die Kernwaffenstaaten haben ihre Abrüstungsverpflichtungen aus dem Artikel VI des NVV bisher in unbefriedigender Weise erfüllt.

Die prinzipielle Schwäche des gängigen Safeguardskonzeptes tritt aber unweigerlich bei allen sogenannten bulk-handling facilities auf10, also Anlagen, in denen waffengrädige Materialien in separierter Form gehandhabt werden. Dies sind insbesondere Plutoniumbearbeitungs- und -verarbeitungs-Anlagen, also Wiederaufarbeitungsanlagen und Brennelementwerke unter Verwendung von Plutonium-Uran-Mischoxid (MOX), aber auch Urananreicherungsanlagen. Die Meßungenauigkeiten in diesen Anlagen stoßen an physikalische Grenzen, die prinzipiell eine sichere Überwachung unmöglich machen. Beispielsweise können u.U. aus einer typischen WAA mit Jahresdurchsatz von 800 Tonnen Schwermetall bis zu 30 kg Plutonium entwendet werden, ohne daß die Inspektoren Alarm geben können.

Der Gebrauch von Plutonium in zivilen Nuklearprogrammen wirft also grundsätzlich die Frage der latenten Proliferation auf, da in dieser Weise einige industrialisierte Länder eine Option auf Nuklearwaffen aufrecht erhalten können, auch wenn die politischen Erklärungen heute eindeutig eine andere Sprache sprechen. Auch der dazu notwendige Transport und die Verarbeitung von Plutonium birgt eindeutige Abzweigungsrisiken in sich.

Das Problem der horizontalen und latenten Proliferation drückt sich auch darin aus, daß inzwischen mindestens 19 Länder Zugriff auf mindestens eine der sensitiven Nukleartechnologien Urananreicherung oder Wiederaufarbeitung erreicht haben, die eine Produktion waffenfähiger, spaltbarer Materialien prinzipiell ermöglichen. Sensitive Nuklearanlagen in Verbindung mit größeren Forschungsreaktoren sind in manchen Ländern eher als Indizien für die Ermöglichung von Kernwaffenoptionen zu werten, als daß darin erfolgreiche Grundlagen für größere zivile Nuklearprogramme zu sehen wären.

Eine minimale Konsequenz wäre daher die ausschließliche Verwendung von möglichst proliferationsresistenten Brennstoffkonzepten als conditio sine qua non einer denkbaren Weiternutzung von Kernenergie.11 Proliferationsresistenter als die von der IAEO und (in Europa der EURATOM) überwachte Abtrennung, Verarbeitung, Verwendung und Lagerung von Plutonium wäre es, seine weitere Abtrennung vom Atommüll durch Wiederaufarbeitung zu stoppen und seine Nutzung einzustellen.

Nachhaltige Abrüstung durch Produktions- und Nutzungsstopp

Vorschläge für einen Produktionsstopp waffengrädiger Materialien beziehen sich bislang zumeist auf ein Ende der Produktion für Waffenzwecke12. In Zukunft müssen sich die Kernwaffenstaaten einer ernsthafteren internationalen Kontrolle (Verifikation) unterziehen. Nur so kann der nukleare Abrüstungsprozeß (Umkehrung der vertikalen Proliferation) glaubwürdig und nachhaltig werden und das deklarierte Ziel des NVV erreichen, zu einer vollständigen nuklearen Abrüstung zu gelangen. Die Nichtverfügbarkeit der relevanten Materialien für Kernwaffen muß gesichert werden, um sie dann auf überprüfbare Weise beseitigen zu können bzw. um die nicht-beseitigbaren waffengrädigen oder hochradioaktiven Stoffe international kontrolliert lagern zu können.

Vermeidung jeglichen Zugriffs auf Waffenmaterial

Die international geführten Vorgespräche über mögliche Verhandlungen über einen sogenannten Cut-off-Vertrag beziehen sich allerdings fast nur auf den militärischen Sektor. Damit würden aber lediglich die Gefahren der Neuproduktion im militärischen Sektor angegangen. Ist das Ziel einer Nichtverbreitungspolitik für Kernwaffen die atomwaffenfreie Welt13, muß alles waffengrädige Nuklearmaterial in den Blick genommen werden14. Nur durch die Vermeidung jeglichen Zugriffs auf Waffenmaterialien würde nukleare Abrüstung unumkehrbar gemacht. Dafür sprechen folgende Gründe:

  • die militärische Verwendbarkeit ist von den Nuklearmaterialien Plutonium, HEU und Tritium nicht ablösbar;
  • das existierende Safeguardssystem der IAEO ermöglicht nur eine unzureichende Überwachung waffengrädiger Materialien im zivilen Bereich;
  • die Lagerung und Nutzung großer Mengen waffengrädiger Materialien erhält die Versuchung aufrecht, diese irgendwann für militärische Zwecke einzusetzen;
  • solange ein Bedarf für waffengrädige Materialien aufrechterhalten wird, ist eine Abzweigung für Waffenzwecke von nichtautorisierter Seite möglich, insbesondere auch beim Tarnsport und an den vielfältigen Stationen der Materialbearbeitung;
  • nur die weltweite Selbstbeschränkung in der Produktion und Nutzung waffengrädiger Materialien kann die gängige unglückliche Praxis einer »Technologieblockade« gegen Staaten, die für nicht vertrauenswürdig gehalten werden, überwinden.

Ein solcher vollständiger Ansatz wäre tatsächlich möglich, da der zivile Bereich dadurch nicht empfindlich beeinträchtigt würde. Es ist inzwischen allgemein anerkannt, daß die Plutoniumnutzung in der zivilen Atomwirtschaft unwirtschaftlich ist. Dies wird für die absehbare Zukunft so bleiben. Zudem gibt es keine Notwendigkeit, weiterhin Forschungsreaktoren mit HEU auszulegen. Alternativen stehen zur Verfügung. Dies zeigt insbesondere auch die Debatte in den USA um die geplante neue Advanced Neutron Source (ANS), die zunächst mit HEU-Nutzung konzipiert wurde, nun aber nach einem Neuplanungstadium unter Verzicht auf HEU ganz gekippt worden ist.

Problem der Beseitigung von Plutonium

Da es derzeit weltweit keine akzeptable Lösung für eine dauerhafte Lagerung von derartigen Abfällen gibt, ist auch keine Lösung dafür greifbar, wie Plutonium aus der Abrüstung dem Zugriff für Kernwaffenaspiranten sicher, kontrollierbar und dauerhaft entzogen werden kann.

Für HEU ist das Problem der Beseitigung besonders eng mit dem Betrieb von Kernkraftwerken verbunden. Es liegt auf der Hand, das HEU mit abgereichertem Uran zu verschneiden und zu Brennelementen zu verarbeiten. Für 500 Tonnen HEU aus Beständen des russischen Militärs gibt es bereits entsprechende russisch-amerikanische Abkommen. Nach der Nutzung der Brennstoffe stellt sich das übliche Entsorgungsproblem.

Bezüglich Plutonium streiten sich die Experten noch, wie am besten eine mögliche militärische Nutzung verhindert werden kann. Soll es in neugebauten Reaktoren – zu MOX unter optimierter Plutuniumverwendung verarbeitet – eingesetzt werden? Soll es in speziell zu diesem Zweck konstruierten und optimierten Schnellen Reaktoren oder Spallationsquellen transmutiert werden oder soll es für eine spätere direkte Endlagerung duch Verglasung konditioniert werden? Keine dieser Alternativen ist technologisch ausgereift und keine ist radioökologisch und sicherheitstechnisch unbedenklich. Vorerst muß jedes abgetrennte Kilo Plutonium als ein technisch ungelöstes Proliferationsproblem angesehen werden. Die beste Übergangslösung zur Eindämmung der Risiken durch latente Proliferation könnte erreicht werden durch eine Internationalisierung von als notwendig erachteten Anlagen und Lagern für Plutonium.

Anmerkungen

*) Dieser Beitrag ist eine gekürzte und leicht überarbeitete Version des Aufsatzes M. Kalinowksi, W. Liebert: Der gefährliche Überfluß an Kernwaffenmaterialien. Wechselwirkung, Band 16, Heft 1 (1995), Seiten 33-37. Zurück

1) Die IAEO hat »signifikante« Mengen von Nuklearmaterialien definiert, die auf Annahmen beruhen, welche Materialmengen für eine Atombombe benötigt werden. So lösen Mengen von 8 Kilogramm Plutonium und 25 Kilogramm HEU bestimmte Formen der Überwachungsmaßnahmen aus. Diese Zahlenwerte liegen relativ hoch, da bereits etwa 10 Kilogramm HEU bzw. 3 Kilogramm Plutonium für eine Bombe ausreichen können, die nicht allzu hohe Ansprüche an das technische Design stellt. Tritium ist bislang gar nicht einbezogen. Grammengen werden typischerweise in einer Kernwaffe benötigt. Zurück

2) E. Kankeleit, C. Küppers, U. Imkeller: Bericht zur Waffentauglichkeit von Reaktorplutonium. IANUS-Arbeitsbericht 2/1989. Zurück

3) Siehe auch C. Küppers, M. Sailer, MOX-Wirtschaft und Proliferationsgefahren, Wissenschaft und Frieden 3/1994, S. 28-30 und 43. Zurück

4) Vergl. Offener Brief betreffend den geplanten Forschungsreaktor FRM-II unter Verwendung von hochangereichertem Uran, Forum Wissenschaft, 11. Jg. 2/1994, S. 20-21. Zurück

5) L. Colschen, M. Kalinowski: Tritium. Ein Bombenstoff rückt ins Blickfeld von Nichtweiterverbreitung und nuklearer Abrüstung. Informationsdienst Wissenschaft und Frieden, Jahrg. 9, Heft 4/1991, Seiten 10-14. Zurück

6) Vergl. hierzu auch L. Scheinman, Die Rolle der internationalen Atomenergiebehörde bei der Nichtweitergabe von Kernwaffen – Eine kritische Beurteilung, HSFK-Report 1/1988. Zurück

7) Vergl. beispielsweise W. Liebert, M. Kalinowski, G. Neuneck: Ist der Irak nuklearwaffenfähig? S + F Vierteljahresschrift für Sicherheit und Frieden, Jahrgang 8 (1990) 176-183. Zurück

8) Vergl. hierzu insbesondere W. Liebert, M. Kalinowski, Stellungnahme zu aktuellen Problemen der nuklearen Non-Proliferation aus naturwissenschaftlicher Sicht, in: Dossier Verbreitung von Atomwaffen, Wissenschaft und Frieden, 11. Jg. 1/1993. Zurück

9) Vergl. hierzu auch Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST), Extending the Non-Proliferation Regime – More Scope for the IAEA?, Nichtverbreitung von Kernwaffen, Arbeitspapier 2, Heidelberg, März 1994; Owen Greene, Verifying the Non-Proliferation Treaty, Verification Technology Information Center (VERTIC), London, Nov. 1992; W. Liebert, M. Kalinowksi: Safeguards und Verifikation der Nichtverbreitung von Kernwaffen. ami – antimilitarismus information 24. Jahrgang, Heft 12, Dezember 1994, 23-33. Zurück

10) Vergl. insbesondere M. Miller, Are IAEA Safeguards on Plutonium Bulk-Handling Facilities Effective?, Nuclear Control Institute, Washington, Aug. 1990. Zurück

11) Vergl. auch W. Liebert, M. Kalinowski, Ambivalenz im Bereich nuklearer Forschung und Technologie, in W. Liebert, R. Rilling, J. Scheffran (Hrsg.), Die Janusköpfigkeit von Forschung und Technik, Marburg: BdWi-Verlag, 1994, S.163-179. Zurück

12) Vergl. F.v. Hippel, B. Levi, Controlling Nuclear Weapons at the Source: Verification of a Cut-Off in Production of Plutonium and Highly Enriched Uranium for Nuclear Weapons, in: K. Tsipis, D. Hafemeister, P. Janeway (eds.), Arms Control Verification – The Technologies that Make it Possible, Pergamon Brassey's, Washington, 1986, S. 338-388. Zurück

13) Vergl. W. Liebert, Wie weiter mit dem Nichtverbreitungsvertrag? – Weg in die kernwaffenfreie Welt oder Eindämmung der Weiterverbreitung mit Fortschreibung der nuklearen Abschreckung?, in: Wissenschaft und Frieden, 12. Jg. Nr.1, 1994, 57-64. Zurück

14) W. Liebert, M. Kalinowski, Proposal for a comprehensive cutoff including civilian weapon-grade material, INESAP Information Bulletin, No.4, Jan. 1995. Zurück

Dr. Wolfgang Liebert und Martin Kalinowski arbeiten als Physiker bei der Interdisziplinären Arbeitsgruppe Naturwissenschaft, Technik und Sicherheit (IANUS) der TH Darmstadt. Weiterhin sind sie engagiert bei der Arbeit des International Network of Engineers and Scientists Against Proliferation (INESAP).

MOX-Wirtschaft und Proliferationsgefahren

MOX-Wirtschaft und Proliferationsgefahren

von Christian Küppers • Michael Seiler

Christian Küppers und Michael Seiler veröffentlichten im August diesen Jahres eine Studie*, in der die Hintergründe und Risiken der MOX-Wirtschaft, bestehend aus Wiederaufarbeitung, MOX-Brennelementfertigung und MOX-Einsatz in Reaktoren, untersucht werden. MOX steht für Mischoxyd und ist die Form, in der Plutonium in der zivilen Atomwirtschaft verwendet wird. Die Autoren zeigen auf, daß die MOX-Wirtschaft die Probleme der Entsorgung nicht löst und machen deutlich, welche gesundheitlichen und welche Proliferationsgefahren sich ergeben. Wenn der für die nächsten Jahre geplante massive Ausbau der MOX-Wirtschaft realisiert wird, wird zukünftig die zivile Plutoniumproduktion die Mengen militärischen Plutoniums weit überschreiten. Zur Lösung der Probleme fordern sie, daß die Wiederaufarbeitungsverträge gekündigt werden, daß vorhandenes separiertes Plutonium in eine proliferationssichere endlagerfähige Form gebracht wird, und daß zwischenzeitlich das abgebrannte Plutonium in internationalen Lagern zwischengelagert wird, um es dann durch das gemeinsame Verglasen mit Spaltprodukten endlagerungsfähig zu machen. Im Zusammenhang mit der Debatte um den »öffentlich zugänglichen Plutoniummarkt« und den daraus möglicherweise gebauten Atombomben, wird im folgenden Kapitel 8 (Mox-Wirtschaft und Proliferationsgefahren) auszugsweise abgedruckt. (Die Studie wurde in Auftrag und herausgegeben von den Internationalen Ärzten für die Verhütung des Atomkrieges/IPPNW)

8.1 Einleitung

Die MOX-Wirtschaft bedingt die Separierung großer Mengen Plutonium aus abgebrannten Brennelementen. Unsepariertes Plutonium ist nur sehr schwer weiterverwendbar – zu zivilen wie zu militärischen Zwecken. Es muß immer von den stark strahlenden Spaltprodukten separiert werden, was nur mit hohem technischen Aufwand funktioniert. Im Unterschied dazu kann separiertes Plutonium mit viel geringerem technischen Aufwand weiterverwendet werden – zu zivilen wie zu militärischen Zwecken. Die Weiterverwendung zu militärischen Zwecken wird mit dem Fachwort »Proliferation« bezeichnet. Neben der Proliferation von waffentauglichem Material spielt auch die Proliferation technologischer Verfahren aus dem Nuklearwaffenbereich und von Personen, die über Insiderkenntnisse verfügen, eine Rolle.

Separiertes Plutonium liegt in der MOX-Wirtschaft in folgenden Stufen vor:

  • nach der Abtrennung in der Wiederaufarbeitungsanlage,
  • bei der Zwischenlagerung bis zur Weiterverarbeitung,
  • in der MOX-Brennelementefabrik,
  • bei der Lagerung von Zwischenprodukten und Schrott,
  • in frischen MOX-Brennelementen bis zu ihrem Einsatz im Reaktor.

In all diesen Stufen kann das Plutonium »umgewidmet« werden zu militärischen Zwecken. Erst der mindestens mehrwöchige Einsatz der MOX-Brennelemente im Reaktor führt zur Neuentstehung von soviel strahlenden Spaltprodukten, daß eine Abtrennung des Plutoniums nur noch mit sehr aufwendigen Techniken möglich ist.

Der Umgang mit separiertem Plutonium ist wegen der Proliferationsgefahr eines der großen Risiken der MOX-Wirtschaft. Die interessierte Industrie versucht dies vor allem mit zwei Argumenten herunterzuspielen:

  • Reaktorplutonium und MOX seien nicht für den militärischen Einsatz geeignet, und
  • die internationalen Kontrollen gegen Abzweigung (Safeguards) könnten auf jeden Fall eine Proliferation verhindern.

Die folgenden Untersuchungen der physikalischen, technischen und politischen Zusammenhänge werden zeigen, daß diese Argumente so nicht zutreffen und deshalb als bloße Schutzbehauptungen einzuordnen sind. In Kapitel 8.2 stellen wir die Funktionsweise einer Atomwaffe dar. Im Kapitel 8.3 wird die Frage der Waffentauglichkeit von Reaktorplutonium untersucht. Kapitel 8.4 untersucht, wieweit bereits gefertigtes MOX oder MOX-Brennelemente zur militärischen Verwendung genutzt werden können.

(…)

8.2 Funktionsweise von Atomwaffen

Für das Verständnis der Diskussion der Proliferationsgefahren bei MOX, die mit der Waffentauglichkeit von in zivilen Reaktoren produziertem Plutonium verknüpft ist, ist es erforderlich, die Funktionsweise einer Kernwaffe in groben Zügen zu verstehen. Nachfolgend wird daher das Funktionsprinzip dargestellt.

Bei der Kernexplosion in einer Kernwaffe wird innerhalb sehr kurzer Zeit eine große Energie freigesetzt, die bei reinen Spaltungswaffen von der Spaltung einiger Kilogramm Plutonium oder Uran herrührt. Bei einer Fusionswaffe dient die Spaltungswaffe als Zünder für eine Kernverschmelzung mit hoher Energiefreisetzung. Zur Erhöhung der Energieausbeute von Kernwaffen werden durch Zugabe von wenigen Gramm Deuterium-Tritium-Gemisch bei der Zündung zusätzliche Neutronen erzeugt, die das Plutonium oder Uran effektiver spalten (Cochran 1983). Diese »geboosteten« Waffen können kompakter konstruiert werden. Um eine Kernexplosion mit hoher Energiefreisetzung zu erreichen, muß eine Kettenreaktion eingeleitet werden, die nicht abbricht, bevor eine große Ausbeute an Spaltungsenergie stattgefunden hat. Für eine Kettenreaktion ist stets eine hohe Dichte des Spaltstoffs nötig. Die Explosionswirkung der Kettenreaktion treibt aber das Spaltmaterial wieder auseinander, so daß die Reaktion auch wieder zum Erliegen kommt. Bei der Einleitung der Kettenreaktion mit hoher Energiefreisetzung ist daher ein Zustand erforderlich, in dem der Spaltstoff weit »überkritisch« ist. Bis zum Erreichen eines unterkritischen Zustands (aufgrund des »Auseinanderfliegens«) muß eine große Zahl von Spaltungen stattgefunden haben.

Es gibt zwei Methoden, den überkritischen Zustand zu erreichen. Bei der Geschützmethode wird der überkritische Zustand durch Zusammenschießen zweier unterkritischer Spaltstoffmengen in einem Rohr erzielt. Bei der Implosionsmethode entsteht er durch die extrem schnelle Kompaktierung einer Hohlkugel aus Spaltstoff. Der ausreichend überkritische Zustand muß erreicht werden, bevor durch ein zufällig auftretendes Neutron nach Erreichen des kritischen Zustands eine Kettenreaktion eingeleitet wird. Tritt die Kettenreaktion verfrüht ein, so wird von einer Frühzündung gesprochen, bei der nicht die maximale Energiefreisetzung erzielt wird.

Die erforderliche Geschwindigkeit der Kompaktierung hängt daher wesentlich von der Zahl der Neutronen ab, die der verwendete Spaltstoff pro Sekunde aussendet, da diese schon vor dem beabsichtigten Zeitpunkt der Zündung eine Kettenreaktion hervorrufen können (Frühzündung). Die Neutronen rühren im allgemeinen von der spontanen Spaltung von Plutonium- und Uranisotopen her. Ist der Spaltstoff mit Elementen wie Sauerstoff, Fluor, Beryllium oder Aluminium verunreinigt, so werden zusätzliche Neutronen durch Wechselwirkungen der Alphastrahlung mit diesem Material ausgesandt. In der Zahl der ausgesandten Neutronen bestehen sehr große Unterschiede zwischen Uran einerseits und Plutonium verschiedener Isotopenzusammensetzung (siehe Kapitel 8.3). Bei Uran kann wegen der niedrigen Neutronenraten die Geschützmethode benutzt werden, während bei Plutonium die Implosionsmethode angewandt werden muß.

Bei der Implosionsmethode ist die Hohlkugel aus legiertem Plutoniummetall von Sprengstoff umgeben. Der Sprengstoff wird an verschiedenen Stellen seiner Oberfläche zeitgleich gezündet. Durch die Anordnung von Sprengstoffen verschiedener Deflagrationszeiten oder von Hohlräumen bzw. nicht detonierenden Materialien in der Sprengstoffladung wird ein Linseneffekt erzielt, bei dem die Druckwelle überall gleichzeitig die Oberfläche der Plutoniumhohlkugel erreicht. Die Hohlkugel wird komprimiert und die entstehende Vollkugel aus Plutoniummetall wird durch den gewaltigen Druck auf die doppelte Dichte oder mehr zusammengedrückt. Da die mindestens für eine Kettenreaktion erforderliche Masse (»kritische Masse«) bei doppelter Plutoniumdichte nur noch ein Viertel der ursprünglichen beträgt, können schon mit sehr wenigen Kilogramm Plutonium nukleare Sprengsätze konstruiert werden.

Die nukleare Zündung erfolgt bei optimaler Komprimierung – innerhalb einiger Millionstel Sekunden – durch einen elektronisch erzeugten Neutronenstoß. Die ersten Atombomben wurden noch mit einer Quelle gezündet, bei der ein Alphastrahler (z.B. Polonium-210) zur Zündung mit einem leichten Element (z.B. Beryllium) gemischt wird, wobei durch eine Kernreaktion pro Milligramm Polonium-210 12 Millionen Neutronen pro Sekunde erzeugt werden können.

Die Implosionstechnik wurde ab 1943 in den USA im Rahmen des Manhattan-Projekts zum Bau der ersten Atombombe entwickelt. Aber erst als im Sommer 1944 bekannt wurde, daß das Frühzündungsproblem bei Plutonium mit der Geschützmethode nicht gelöst werden kann, wurden große Anstrengungen zur Entwicklung der Implosionstechnik unternommen (Hawkins 1961). Sie führten innerhalb eines Jahres mit dem Trinity-Test zur ersten nuklearen Explosion.

Die Schwierigkeiten, die die Entwicklung des Bombendesigns 1943 bereitete, dürfen nicht darüber hinweg täuschen, daß die erforderlichen Einzeltechniken heute prinzipiell breite Anwendung auch im zivilen Bereich finden. Dies bezieht sich sowohl auf die erforderlichen Rechenverfahren und -geschwindigkeiten als auch auf die Erzeugung von im Mikrosekundenbereich präzisen Schaltimpulsen als auch auf die Verwendung von Sprengstoffen zum exakten Verformen. Schon eine technisch versierte Gruppe ist heute zum Bau einer wirkungsvollen Atombombe in der Lage (Keeny 1977).

Die größte Schwierigkeit der Konstruktion einer Atomwaffe besteht heute in der Spaltmaterialbeschaffung. Durch eine Plutoniumabtrennung aus abgebrannten Brennelementen und die Verarbeitung des Plutoniums zu MOX-Brennelementen wird der Zugriff auf Plutonium erleichtert. Die Gefahr der Weiterverbreitung von Atomwaffen nimmt daher durch den MOX-Einsatz zu.

8.3 Waffentauglichkeit von Reaktorplutonium

In Zusammenhang mit der MOX-Wirtschaft spielte die Proliferationsfrage stets eine wichtige Rolle. Proliferationsgefahr besteht dann, wenn mit Plutonium aus zivilen Atomkaftwerken (Reaktorplutonium) Atombomben konstruiert werden können.

Noch heute wird – allerdings nur von interessierter Seite – die Waffentauglichkeit des Reaktorplutoniums bestritten. In Deutschland vertrat vor allem Wolfgang Stoll, als Geschäftsführer der jetzt Siemens gehörenden MOX-Brennelementfabrik Alkem, die These, daß ein Atombombenbau mit Reaktorplutonium nicht möglich ist (z.B. Stoll 1979, Hessischer Landtag 1984). In Belgien wird die Waffentauglichkeit beispielsweise von Synatom und Electrabel bestritten (Verbeek 1993).

Namhafte Experten – die teils zuvor auch selbst an der Entwicklung der Kernwaffen gearbeitet hatten – haben dagegen international schon seit Beginn der siebziger Jahre auf die Waffentauglichkeit des Reaktorplutoniums und die Gefahren, die sich damit aus seiner Handhabung ergeben, hingewiesen (z.B. (Mark 1971), (Taylor 1972), (Willrich 1974)). Dies geschah besonders in den USA, wo unter der Carter-Administration 1977 auch aus Proliferationsgründen alle Pläne und schon laufenden Projekte zu einer MOX-Wirtschaft gestoppt wurden. Der wesentliche Unterschied von Reaktorplutonium gegenüber Waffenplutonium unter dem Gesichtspunkt der Waffentauglichkeit ist seine intensivere Neutronenaussendung, die zu einer größeren Frühzündungswahrscheinlichkeit führt. In Tabelle 8.1 sind die von der Spontanspaltung herrührenden Neutronenemissionsraten von verschiedenen Plutonium- und Uranisotopen sowie von praktisch relevanten Isotopengemischen zusammengestellt.

Aus Tabelle 8.1 wird die relativ geringe Neutronenzahl bei hochangereichertem Uran (etwa 1,9 Neutronen pro Sekunde und Kilogramm) im Vergleich zu Waffenplutonium (bis 112.000 Neutronen pro Sekunde und Kilogramm) deutlich. Daraus resultiert die Ungeeignetheit der Geschützmethode bei einem Kernsprengsatz mit Plutonium.

Reaktorplutonium hat eine größere Neutronenrate als Waffenplutonium. Der Vergleich zeigt, daß bei Reaktorplutonium mit einem Abbrand von 33.000 MWd/tSM die Neutronenrate etwa 5 mal höher ist als bei einer üblicherweise noch als Waffenplutonium bezeichneten Mischung.

Die Frühzündungswahrscheinlichkeit hängt aber nicht alleine von der Neutronenrate ab, sondern auch von der Kompaktierungsgeschwindigkeit bei der Implosion. Durch eine aufwendigere Schießtechnik kann der Nachteil des Reaktorplutoniums daher ausgeglichen werden. In (Kankeleit 1986) und (Kankeleit 1989) sind Berechnungen von Frühzündungswahrscheinlichkeiten unter Variation verschiedener Parameter vorgenommen worden. Die Resultate sind:

  • Wäre für den ersten Plutoniumbombentest im Jahre 1945 (Trinity-Test) Reaktorplutonium mit einem Abbrand von 30.000 MWd/ tSM verwendet worden, so wäre mit 20% Wahrscheinlichkeit eine Energiefreisetzung entsprechend der Zündung von etwa 8000 Tonnen Trinitrotoluol (TNT) erfolgt, mindestens eine Energiefreisetzung entsprechend etwa 400 Tonnen dieses Sprengstoffs. (Auch J. Carson Mark, früher in der Atomwaffenentwicklung in Los Alamos tätig, stellt in (Mark 1990) fest, daß mit dem Trinity-Test-Design Reaktorplutonium beliebig hohen Abbrands eine Energiefreisetzung im Bereich von 1000 Tonnen TNT-Äquivalent erbringen kann.)
  • Bei verdoppelter Kompaktierungsgeschwindigkeit hätte die Wahrscheinlichkeit für die maximale Energieausbeute bereits 50% betragen (Mindestenergiefreisetzung von etwa 1000 Tonnen TNT-Äquivalent), bei vervierfachter Kompaktierungsgeschwindigkeit etwa 83% (Mindestenergiefreisetzung von etwa 4000 Tonnen TNT-Äquivalent).
  • Wird die eingesetzte Plutoniummenge reduziert – z.B. auf 4 kg gegenüber 6,1 kg im Trinity-Test –, so wird die Frühzündungswahrscheinlichkeit sehr gering. Allerdings reduziert sich auch die maximale Energieausbeute auf etwa 120 Tonnen TNT-Äquivalent. Durch Anwendung des Booster-Prinzips ließe sich die Energiefreisetzung aber auf ein Mehrfaches steigern.

Diese Ergebnisse zeigen, daß auch mit Reaktorplutonium Kernwaffen konstruiert werden können, die die Möglichkeiten konventioneller Explosionen weit übertreffen. 8000 Tonnen TNT-Äquivalent entsprechen 160.000 Bomben mit je 50 kg des konventionellen Sprengstoffs TNT. Der Nagasakibombe wird eine Sprengkraft von etwa 20.000 Tonnen TNT-Äquvalent zugeschrieben. Zum Vergleich kann auch der Sprengstoffanschlag auf das World Trade Center in New York herangezogen werden, hier wurden 0,5 Tonnen Sprengstoff eingesetzt.

Neben der höheren Neutronenrate und ihrer Auswirkung auf die Frühzündungswahrscheinlichkeit gibt es bei Reaktorplutonium auch eine erhöhte Wärmeentwicklung durch den Plutonium-238-Anteil. Berechnungen in (Kankeleit 1986) und (Kankeleit 1989) haben aber gezeigt, daß dies durch entsprechendes Design und entsprechende Wahl des konventionellen Sprengstoffs oder auch durch geeignete Wärmeabfuhr ausgeglichen werden kann und somit der Konstruktion einer Kernwaffe mit Reaktorplutonium nicht entgegensteht.

Ein wichtiger Gesichtspunkt bei der Diskussion der Waffentauglichkeit von Reaktorplutonium ist stets auch die Frage, wer als potentieller Nutzer betrachtet wird und welche Ziele dieser Nutzer mit einer Kernwaffe verfolgt. Für Nichtkernwaffenstaaten ist eine Waffe, die mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit eine Energie von mehreren 1000 Tonnen TNT-Äquivalent freisetzt, sehr wirkungsvoll. Mit ihr kann beispielsweise ein Stadtzentrum, ein großer Industriekomplex oder ein Führungszentrum völlig zerstört werden. Auch für eine subnationale Gruppe besteht kein zentrales Interesse an einer exakt vorhersagbaren Sprengkraft, solange auf jeden Fall die konventionellen Sprengmöglichkeiten deutlich überschritten werden.

Mit abgezweigtem oder entwendetem Reaktorplutonium kann daher eine wirkungsvolle Atombombe konstruiert werden. Die Möglichkeiten dazu stehen schon einer technisch versierten Gruppe zur Verfügung, wenn das Plutonium beschafft werden kann.

8.4 MOX-Brennelemente als Quelle für Waffenplutonium

Im letzten Kapitel wurde dargestellt, warum Reaktorplutonium physikalisch zur Waffenherstellung geeignet ist. Als Waffenstoff wird das Plutonium vorzugsweise in Form von (legiertem) Plutoniummetall eingesetzt. Von Befürwortern der MOX-Wirtschaft wird deshalb immer wieder behauptet, auch die chemische Form von MOX und die Einbindung in die frischen MOX-Brennelemente verhinderten die Verwendung als Waffenstoff. Prinzipiell wäre aber auch ohne chemische Umwandlung MOX für eine einfache Atomwaffe zu verwenden (Mark 1992).

Tatsächlich bedarf es aber nur weniger Schritte, um vom frischen MOX-Brennelement zum Plutoniummetall zu kommen:

  • In einem ersten Schritt müssen die MOX-Pellets aus dem Brennelement rückgewonnen werden. Die Pellets befinden sich in den Brennstabhüllrohren. Damit muß zunächst das Brennelement so demontiert werden, daß die Brennstäbe einzeln vorliegen. Der einzelne Brennstab muß dann aufgesägt werden, die Pellets können einzeln entnommen werden. Dies sind alles einfache mechanische Tätigkeiten, bei denen der Ausführende lediglich Strahlenbelastungen in ähnlicher Höhe wie ein Beschäftigter einer MOX-Brennelementfabrik erhält.
  • Im zweiten Schritt müssen Uran und Plutonium voneinander getrennt werden. Die MOX-Pellets müssen dazu in Salpetersäure aufgelöst werden, die Lösung muß chemisch behandelt und dann die beiden Materialien mittels Extraktion getrennt werden. Dies sind alles einfache chemische Prozeduren, die in einem halbwegs gut ausgestatteten Labor durchführbar sind.
  • Als letzter Schritt muß die abgetrennte Plutoniumlösung mehrstufig so weiterbehandelt werden, daß das Plutonium als Metall anfällt. Solche Verfahren sind auch für Plutonium allgemein bekannt und können in einem üblichen Labor ausgeführt werden.

Zur quantitativen Veranschaulichung: Aus einem einzigen Standard-MOX-Brennelement für deutsche Druckwasserreaktoren mit 532 kg Schwermetallgehalt können mit den beschriebenen Methoden etwa 27 kg Plutonium abgetrennt werden, das Material für 4 bis 8 Atombomben.

Über lange Jahre hinweg behauptete die MOX-Wirtschaft, dies sei auch deswegen unrealistisch, weil sie keine Erfahrung mit Plutonium in metallischer Form habe. Daß dies offensichtlich kein belastbares Argument ist, hat sich für die Öffentlichkeit erkennbar seit den Diskussionen um den Einsatz sowjetischen bzw. russischen Waffenplutoniums als Ausgangsmaterial für MOX-Brennelemente gezeigt. Plötzlich konnte jeder der MOX-Brennelementhersteller ohne Probleme mit dem metallisch vorliegenden Waffenplutonium umgehen. Gerade die deutsche Firma Siemens hat – trotz ihrer früher immer wieder behaupteten Unkenntnis – im September 1993 einen Rahmenvertrag mit der russischen Regierung über die Zusammenarbeit bei der Behandlung von Waffenplutonium geschlossen.

Literatur

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Hessischer Landtag: 11. Wahlperiode, 6. Sitzung des Ausschusses für Wirtschaft und Technik, 6. Sitzung des Hauptausschusses 15.6.1984. Wortprotokoll WTA/11/6, HAA/11/6

E. Kankeleit, C. Küppers: Bericht zur Waffentauglichkeit von Reaktorplutonium. TH Darmstadt, Juli 1986

E. Kankeleit, C. Küppers, U. Imkeller: Bericht zur Waffentauglichkeit von Reaktorplutonium. IANUS-1/1989, TH Darmstadt, Dezember 1989

S.M. Keeny Jr. (Chairma): Nuclear Power Issues and Choices. Report of the Nuclear Energy Policy Study Group, Ford Foundation/MITRE Corporation, Ballinger, Cambridge, MA, 1977

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J.C. Mark: Reactor-Grade Plutonium`s Explosive Properties. Nuclear Control Institute. Washington, D.C., August 1990

J.C. Mark, Plutonium Workshop, Bonn, 15-16 June 1992

W. Stoll: Papiere vom 12.3.1979 und 2.4.1979. In: Deutsches Atomforum e.V.: Rede-Gegenrede – Schriftliche Darlegungen der Gegenkritiker, Teil 1, Band 6. Bonn, 1979

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P. Verbeek, P.H. de Vos, P. Massart: Mox – Een wetenschappelijke ondersteuning voor het debat. Brüssel, Mai 1993

M. Willrich, T.b. Taylor: Nuclear Theft – Risks and Safeguards. Ballinger, Cambridge 1974

Neutronenraten verschiedener Isotope und Isotopengemische von Plutonium und Uran

Isotop/Isotopenmischung Zahl durch Spontanspaltung ausgesandter Neutronen (in Neutronen pro
Sekunde und kg)
Plutonium-238 3.400.000
Plutonium-239 30
Plutonium-240 1.600.000
Plutonium-241 0
Plutonium-242 1.670.000
Uran-234 8,2
Uran-235 0,47
Uran-238 20
Hochangereichertes Uran* 1,9
supergrädiges Plutonium bis 48.000
waffengrädiges Plutonium bis 112.000
Reaktorplutonium** 544.000
* 93% Uran ** Abbrand 33.000 MWd/tSM

Christian Küppers, Michael Seiler: MOX-Wirtschaft oder die zivile Plutoniumnutzung. Risiken und gesundheitliche Auswirkungen der Produktion und Anwendung von MOX. Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verantwortung / IPPNW (Hrg.), Berlin 1994, 84 S. DinA4, 20,- DM. Bezug: IPPNW, Körtestr. 10, 10967 Berlin, (030) 6 93 02 44.

Rüstungs- und »Dual-use«- Exporte aus Deutschland

Rüstungs- und »Dual-use«- Exporte aus Deutschland*

Probleme und Umfang

von Hendrik Bullens

Auseinandersetzungen um Rüstungs- oder »Dual-use«-Exporte und deren Kontrolle sind nicht neu. Aber spätestens seit 1992/1993 geht es, angesichts massiver Vorstöße und einer Phalanx von Argumenten um eine neue Qualität. Zwar handelt es sich bei dem neuen Regierungsentwurf um juristische Anpassungen an Bestimmungen des Europäischen Binnenmarktes. Im Hintergrund stehen jedoch unverkennbar die sehr viel weiterreichende EU-Harmonisierungsproblematik, die Situation der deutschen wehrtechnischen Industrie und die von ihr erhobenen Forderungen – unter anderem zur Lockerung des deutschen Exportregimes. Dies ist der eigentliche und brisante Kern der teilweise mit großer Polemik geführten Debatten im Deutschen Bundestag seit Ende 1993.

Der entscheidende Punkt scheint mir daher zu sein, ob und inwiefern die Anliegen zur Liberalisierung der derzeit gültigen, vergleichsweise restriktiven Ausfuhrbestimmungen politisch vertretbar, wirtschaftlich unabdingbar und technologisch-wettbewerbsmäßig berechtigt sind – wobei die wesentlichen Argumente zu prüfen und die Folgen eventueller Änderungen abzuschätzen wären.

Zu fragen ist, welchen Sinn es macht, auf der einen Seite strenge, sogar in Grundrechte eingreifende Maßstäbe bei Ausfuhrüberwachungen oder -verstößen anzulegen, und auf der anderen Seite die erlaubten Exporte vereinfachen und damit ausdehnen zu wollen.

Denn gerade in diesem Zusammenhang könnte bisweilen der Eindruck entstanden sein, als ließen sich unerwünschte Implikationen einer Aufweichung der Exportregelung im wesentlichen mit Mitteln des Strafrechts und der geheimdienstlichen oder sonstigen Überwachung verhindern oder drosseln.

Aber so wichtig strenge Kontrolle im Vorfeld sowie Ahndung bei Mißbrauch sind, und so beruhigend der ihr zugrunde liegende Gedanke einer sauberen Trennung von illegalen und legalen Exporten wäre, so sehr ist auch zu befürchten, daß eine solche Unterscheidung mehr Fiktion als Wirklichkeit ist. Zu fließend sind die Übergänge bei den einzelnen Warenkategorien schon heute, und zwar von der Sache wie von den Genehmigungsverfahren und der Kontrollpraxis her.

Verschärft wird das Problem durch weitere Formen des Ineinanderfließens von unerlaubten und erlaubten Ausfuhren: Zum einen durch bestimmte Umgehungspraktiken bei internationalen Kooperationen, zum anderen durch die Koppelung von zivilen und militärischen Geschäften mit Endabnehmern v.a. in außereuropäischen Ländern bzw. nicht-NATO-Staaten.

Auf diese beiden Themenkomplexe: die illegalen und legalen Ausfuhren von Rüstungs- und »Dual-use«-Gütern, einschließlich der Bedeutung der zuletzt genannten für die wehrtechnische Industrie, werden sich die folgende Ausführungen beschränken.

Illegale Ausfuhren

Es scheint nicht überflüssig, daran zu erinnern, daß Öffentlichkeit und Parlament oft dann erst aufgeschreckt wurden, als Ausfuhrdelikte aufflogen oder man sich plötzlich mit anderen unerwünschten und gefährlichen Seiten der Waffenproliferation (der Terminus wird hier bewußt im erweiterten Sinn, also auch für den konventionellen Bereich verwendet) konfrontiert sah.

So war es beispielsweise beim Falkland-Krieg, als England der vom Westen gelieferten Rüstung gegenüberstand; so war es bei strittigen Lieferungen von Bundeswehr-, NVA-Panzern und anderem Rüstungsmaterial an den NATO-Verbündeten Türkei; so war und ist es immer noch im Falle der Beteiligung deutscher Waffen-, Werkzeug-, Maschinenbau-, Chemie- und Nukleartechnologie an Länder wie etwa Pakistan, Irak, Iran oder Libyen.

Das führte zu den rüstungsexportpolitischen Grundsätzen der Bundesregierung von 1982 oder zum vorübergehenden Lieferstopp für die Türkei, während die Empörung über die Rabta-Affäre eine Verschärfung von Bestimmungen der Außenwirtschaftsverordnung (z.B. § 5d AWV) nach sich zog. Sollte die Halbwertzeit solcher Empörung so kurz gewesen sein, daß, wenn nicht der Geist, so doch die Praxis des »business as usual« bald wieder einkehren konnte?

Von den Leidtragenden hier – horribile dictu – einmal abgesehen, ebenso wie von dem dem Ansehen der Bundesrepublik Deutschland zugefügten Schaden, sind für das Thema illegale Ausfuhren und Möglichkeiten, das Kriegswaffenkontrollgesetz (KWKG) und Außenwirtschaftsgesetz (AWG) zu umgehen, die folgenden Phänomene bemerkenswert.

  1. Es ist immer wieder gelungen, derartige Fälle in der Öffentlichkeit als Einzelfall, als bedauerliche und gegebenenfalls zu ahndende Ausnahme darzustellen. Und das, obwohl in den letzten Jahren Dutzende von strafrechtlichen Verfahren abgeschlossen wurden, in Verhandlung oder Vorbereitung sind. Mitte '92 zählte DER SPIEGEL dreißig solcher Verfahren gegen deutsche Firmen, die nachgewiesenermaßen oder im Verdacht standen, allein den Iran unerlaubt mit Rüstungs- und »Dual-use«-Material oder entsprechendem Know-how beliefert zu haben.

Die Darstellung der illegalen sogenannten Einzelfälle als »Schwarze Schafe« hatte den psychologischen und öffentlich wirksamen Effekt, daß von den legalen Rüstungs- und »Dual-use«-Ausfuhren abgelenkt wurde und diese lange Zeit weitgehend an den Rand der Aufmerksamkeit gedrängt wurden.

Dabei ist dieser Komplex, wie die Ereignisse um die Türkei, Indonesien, Taiwan oder Südkorea zeigen, äußerst problematisch und hat auch einen weitaus größeren Umfang als gemeinhin angenommen wird. Rüstungs- und Friedensforscher schätzen das Verhältnis von illegalen zu legalen Ausfuhren aus Deutschland in diesem Bereich auf etwa 1 : 10.

Es wurde bei der strafrechtlichen Behandlung solcher »Affären« auch dem Nichtexperten überdeutlich wie fließend die Grenzen zwischen Kriegswaffen, sonstigen Rüstungsgütern und zivil wie militärisch verwendbaren Technologien sind bzw. gemacht werden können. Dazu einige einschlägige und aktuelle Beispiele:

Im gerade laufenden Prozeß gegen Heckler & Koch war von sachverständigen Zeugen beispielsweise zu erfahren, daß die über eine Zwischenfirma in England an die Vereinigten Arabischen Emirate gelieferten Maschinengewehre bei der Genehmigungsbehörde nicht als Kriegswaffe eingestuft worden waren, da ihnen laut Antragsformulare der Schlagbolzen fehlte. Die nicht komische Pointe: Für das komplette Gewehr wäre eine Genehmigung nach dem strengeren KWKG erforderlich gewesen, während in diesem Fall die sehr viel problemloser erteilte Genehmigung für »Waffen, Munition und Rüstungsmaterial« nach der Ausfuhrliste zur Außenwirtschaftsverordnung (AL-AWV Teil I Abschnitt A) genügte.

Obwohl sehr viele derartige Anträge, auch für Bausätze und Komponenten für Systeme der Kriegswaffenliste (KWL) gestellt wurden, konnten nach Aussagen anderer Zeugen wegen Arbeitsüberlastung außerdem kaum Realkontrollen durchgeführt werden. Man mußte sich bei täglich bis zu hundertfünfzig zu bearbeitenden Anträgen weitgehend auf die Richtigkeit der Firmenangaben verlassen bzw. sich darauf beschränken, die Antragsteller aufzufordern, die Formulare korrekt auszufüllen.

Ähnliches gilt für die gemäß AWV-Ausfuhrliste genehmigungspflichtigen „sonstige(n) Waren und Technologien von strategischer Bedeutung“ (I-C, die typischen »Dual-use«-Güter im engeren Sinne); für Nukleartechnologie der „Kernenergieliste“ (I-B); für „Chemie-Anlagen und Chemikalien“ (I-D) sowie für „Anlagen zur Erzeugung biologischer Stoffe“ (I-E): die letzten drei sind »Dual-use«-Güter im weiteren Sinne. (…)

Die großzügige Genehmigungspraxis belegen die folgenden Zahlen aus dem Bundesministerium für Wirtschaft:

  • Im Jahre 1991 wurden bei einem Gesamtvolumen der AWV-pflichtigen Exportanträge1 in Höhe von knapp 35 Mrd. DM lediglich Genehmigungen im Wert von 1,49 Mrd. DM verweigert; das sind etwa 4,3 %.
  • Im Jahre 1992 waren es bei einer Gesamtantragssumme von etwa 29,5 Mrd. DM Ablehnungen im Wert von nicht ganz 500 Mio.; das waren etwa 1,4 %.
  • Bis 30.09.1993 wurden bei einer Antragssumme von 32,8 Mrd. DM für das 1. bis 3. Quartal '93 Genehmigungen im Wert von etwa 390 Mio. DM verweigert; das entspricht etwa 1,2 % der Antragssumme2.

Auffallend ist nicht nur die niedrige Zahl der Ablehnungen, sondern darüber hinaus der Umstand, daß der ohnehin geringe Umfang der Exportverweigerungen sehr viel stärker zurückging als die entsprechenden Antragssummen in diesem Zeitraum.

Umgehungsgeschäfte

Aber sogar für den Fall, daß ein Ausfuhrverbot klar ausgesprochen wird, findet die Rüstungsindustrie zunehmend Möglichkeiten, auf zwar legale, jedoch mehr als zweifelhafte Weise ein solches Hindernis zu umgehen. Insbesondere ermöglicht die Kooperation mit Partnern eines weniger exportrestriktiven Auslands von dort aus jenen ungehinderten Endabnehmerzugang, der bei einem direkten Export aus Deutschland u.U. blockiert wäre.

Ein Beispiel für solche Art von Umgehungsgeschäften war die Lieferung einer Produktionsanlage über die Niederlande in die Türkei. So hatte der Bundessicherheitsrat, zuständig für den gesamten Umgang mit – also auch Ausfuhren von – Kriegswaffen nach dem KWKG, bekanntlich bereits 1992 eine Lieferung von 18.000 Splittergranaten durch die Liebenauer Niederlassung der deutsch-niederländischen Rüstungsfirma Eurometaal an die Türkei untersagt. Das Verbot wurde damit begründet, daß deren Einsatz im Kurdenkonflikt nicht ausgeschlossen werden könne.

1993 kündigte Eurometaal daraufhin an, den Standort Liebenau (Niedersachsen) bis Ende 1994 zu schließen. Mit Genehmigung des Bundesausfuhramts (BAFA) wurde die M 483 ICM Produktionsanlage dann in die Niederlande transportiert. Von dort aus ging sie Anfang Januar 1994 mit Erlaubnis der niederländischen Regierung, die mit einem Drittel an Eurometaal beteiligt ist, in die Türkei. Dort soll die Anlage in Zusammenarbeit mit dem türkischen Staatsunternehmen MKEK in Kirikkale wiederaufgebaut werden. Auch die niederländische Regierung hatte mit dem Hinweis darauf, daß „die Türkei NATO-Mitglied ist“, keine Bedenken gegen diesen Ausfuhrumweg3.

(…) Nicht nachvollziehbar bleibt freilich, weshalb das dem BMfW nachgeordnete BAFA – trotz des durch die Ausfuhr entstandenen »neuen Warenursprungs«, jedoch in Kenntnis des Sachverhalts und der damit verbundenen Absicht (»reason to know«-Klausel) – genehmigen konnte, was zuvor durch den Bundessicherheitsrat mit gutem Grund untersagt worden war. (…)

Koppelgeschäfte

Nach einer neuen Studie der Forschungsstelle »Kriege, Rüstung und Entwicklung« (Universität Hamburg 1994) verlagert sich ein Teil des Waffen- und Zubehörgeschäfts zunehmend auf sogenannte graue Märkte: einer der wichtigsten Umschlagplätze ist Singapur. Von dort aus findet das Material dann kaum noch kontrollierbar seine Abnehmer, auch und gerade in »sensitive Länder«. Allein Singapur erhielt 1991 Rüstung im Wert von über 85 Mio. DM (AWV I-A).

Das enorme Wirtschaftswachstum der südostasiatischen Staaten findet zurecht in Deutschland zunehmend Beachtung. Unerwähnt bleibt jedoch vielfach, daß dieses Wachstum mit einer bisher ungekannten Aufrüstung in dieser Region und entsprechenden Kaufwünschen verbunden ist. (…)

Hier tut sich eine Gefahr von einer ganz neuen Dimension auf, nämlich die der sogenannten Koppelgeschäfte: Kaufinteressenten stellen Zivilaufträge in Milliardenhöhe in Aussicht und machen sie zugleich (freilich informell) abhängig von Rüstungs- und militärisch relevanten Lieferungen. Aus »Dual-use« wird dann Dual Business.

Es ist nicht auszuschließen, daß ähnliches eine Rolle gespielt hat beim Zuschlag Südkoreas für den französischen TGV. Dies dürfte ebenfalls im Fall der zunächst abgelehnten aber heute doch wieder diskutierten Lieferung von Kriegsschiffen und U-Booten nach Taiwan eine Rolle gespielt haben. Die Proportionen: Neben einem Rüstungsauftrag von etwa 10 Mrd. DM soll es um ein ICE-Geschäft in dreifacher Höhe gehen. (…)

Das deutsche Exportkontrollregime zu restriktiv?

Zwar wird diese Frage von interessierten Kreisen durchgängig mit einem scheinbar selbstverständlichen „Ja“ beantwortet, obwohl sie freilich genauer lauten müßte: Zu restriktiv in Bezug auf wen oder was?

Zunächst, und entgegen verbreiteter Meinung ist Deutschland nicht das einzige Land, dessen Gesetzgebung strenge Klauseln für Rüstungs-, »Dual-use«- oder sogar für sonst genehmigungsfreie Exporte enthält. Auch Großbritannien hat beispielsweise eine »catch all-« oder »reason to know«-Auffangnorm, die ein Exportverbot bzw. eine Genehmigungspflicht für nichtgelistete Waren dann vorsieht, wenn der Exporteur Kenntnis von einem militärischen Verwendungszweck hat. Und anders als in Deutschland sind in Frankreich Rüstungsexporte – de jure – sogar grundsätzlich verboten, und jede Ausfuhr oder Kooperation stellt eine Ausnahme dieser gesetzlichen Regelung dar, die staatlich genehmigt werden muß.

Dennoch würde es wohl kaum jemandem in den Sinn kommen, damit die besondere Exportrestriktivität jener Länder hervorheben zu wollen; denn de facto sind dort Rüstungs- und »Dual-use«-Exporte eher die staatlich geförderte Regel als die Ausnahme. Mithin ist allein der Verweis auf die Gesetze zu pauschal, um daraus Konkreteres zu schließen. So ist auch für Deutschland zwischen der gesetzlichen Lage und der tatsächlichen Praxis zu unterscheiden.

Was die abgelehnten Ausfuhranträge betrifft, so wird man aus den vorgelegten Zahlen jedoch nur schwerlich schließen können, daß die auf dem Papier so restriktiven deutschen Exportbestimmungen tatsächlich ein ernsthaftes Hindernis für die Industrie darstellen.

Dem widerspricht nicht, daß die Verteidigungswirtschaft die derzeitigen Genehmigungsmodalitäten als lästiges Hindernis ansieht und offensiv teils neue Wege zu deren Umgehung bereits eingeschlagen hat, teils Ausfuhrliberalisierungen bei Rüstungskooperationen und »Dual-use«-Gütern noch fordert.

Obwohl als Grund oft angeführt, hat das mit der arbeitsteiligen Kooperation im und für den europäischen Beschaffungsmarkt selber, in deren Folge ein vernünftiger Abbau von nationalen Überkapazitäten und eine Verringerung des Rüstungsexportzwangs möglich wäre, wenig zu tun. Denn für diesen Bereich gibt es schon heute keine maßgeblichen Ausfuhrbehinderungen. Faktisch greifen die Kontrollvorschriften hauptsächlich für den Fall, daß ein deutscher Hersteller oder das kooperierende Ausland Ausfuhren außerhalb dieses Bereichs beabsichtigt – und das zurecht, wenngleich wegen der zwischenstaatlichen Vereinbarungen auch nur noch in beschränktem Maße.

Aber offenbar werden gerade im Bereich der privatwirtschaftlichen Rüstungskooperationen und der »Dual-use«-Exporte beträchtliche Wachstumsmöglichkeiten gesehen, und zwar vor allem außerhalb des europäischen Marktes bzw. des Bündnisgebietes.

Somit geht es im wesentlichen um die Beseitigung von direkten und indirekten Hindernissen, die den Endverbleib solcher Güter außerhalb dieses Raumes betreffen: Das ist der Kern der Forderungen nach Gleichstellung von privatwirtschaftlichen mit staatlichen Rüstungskooperationen, nach Liberalisierung für »Dual-use«-Exporte oder nach Wegfall der »catch all«-Auffangnorm. Deshalb auch die Forderung, daß bei Kooperationsprogrammen „…derjenige Staat über Exportgenehmigungen entscheidet, in dem der Hersteller seinen Sitz hat“ (Lamers et. al: Standortpapier vom 22.11.93, S. 3.).

Was würde es – neben möglichen Vorteilen für Industrie und Arbeitsplätze – bedeuten, solchen Forderungen zu entsprechen?

Bereits die Beispiele zu den Ausfuhrverstößen und Umgehungspraktiken mögen verdeutlicht haben, welche Schwierigkeiten eine effektive Umsetzung der vorhandenen außenwirtschaftsrechtlichen Regelungen schon heute bereitet, und welche sicherheits- und außenpolitischen Belastungen daraus entstehen. Stellvertretend für andere sind solche Fälle deshalb aber auch exemplarisch in der Hinsicht, daß sie eine Vorstellung davon vermitteln, was bei einer gänzlichen Freigabe oder teilweisen Lockerung der Kontrollen der betreffenden Warengruppen passieren könnte und wahrscheinlich auch passieren würde. (…)

Bei den »Dual-use«-Exporten wäre mit einiger Wahrscheinlichkeit eine besondere Problemzuspitzung zu erwarten: Spätestens seit den 80er Jahren ist die Bedeutung von Endprodukten, Komponenten und Know-how-Leistungen aus diesem Bereich für den militärischen Sektor enorm gestiegen. Schon heute dürfte der Aufwand für »Dual-use«-Erzeugnisse den größeren Teil der Rüstungsausgaben für Beschaffungen, Forschung, Entwicklung und Erprobung ausmachen. Dieser Trend hat sich mit dem zweiten Golfkrieg nicht nur beschleunigt. Darüber hinaus muß aus Effizienzgründen künftig für die Herstellung moderner, äußerst kostspieliger Rüstung (v.a. real time Informationserkennungs-, Verarbeitungs- und Weitergabetechnologien für Träger, Waffen und Munition; C3I-Systeme) immer stärker und in einem möglichst frühen Stadium an Innovationen und Entwicklungen des zivilen Bereichs angeknüpft werden. In dem Maße wie der frühere »spin off«-Ansatz so durch die neueren »spin in«- und »add on«-Strategien ersetzt wird, schwindet die ohnehin geringe Trennschärfe zwischen zivilem und militärischem Verwendungszweck abermals. »Spin-in«- und »add-on«-Strategien sind bereits erklärter Bestandteil der BMVg-Forschungs- und Technologieplanung.

Welche Folgen dies alles in Verbindung mit einer Aufweichung der Ausfuhrkontrolle gerade bei »Dual-use«-Gütern zeitigen kann, wird vollends klar wenn vergegenwärtigt wird, daß viele Drittländer – auch in Spannungs- und Krisenregionen – gleichzeitig ihre technischen Fähigkeiten im Umbau und in der Endmontage für militärische Produktionszwecke erheblich gesteigert haben.

Demnach bieten derartige Perspektiven wenig Anlaß von den bisherigen Kontrollmöglichkeiten abzurücken, im Gegenteil. (…) Ist es angesichts der fortschreitenden internationalen Umgehungspraxis und anderen komplementären Entwicklungen nicht fast fahrlässig – wie der Abgeordnete Volker Kauder das getan hat – für Rüstungs- und »Dual-use«-Exporte zu fordern: „Die Endverbleibsklausel (…) in Europa muß fallen?“ (214. BT-Sitzung vom 4.4.94) Was bedeutet es ernsthaft, diese Forderung auf Kooperationsprojekte zu »beschränken«, wo schon heute mehr als vier Fünftel aller Rüstungsprojekte in Kooperation absolviert werden, und die Bundesregierung in den meisten Fällen – vom Alpha Jet über den Tornado und Euromissile bis zum Eurofighter 2000 – ihr Vetorecht beim Export in Drittländer ohnehin weitgehend abgetreten hat? Und ist es nicht inkonsequent oder jedenfalls nur ein frommer Wunsch, sich einerseits „… im Vertrauen auf die Entscheidungskompetenz eines jeden unserer Partner …“ (Lamers-Standort-Papier, S. 2) zu wiegen – während andererseits Frankreich und Großbritannien stets als Paradefall für rege Exportaktivitäten herangezogen werden, und die Beispiele Eurometaal wie Taiwan/Werften zeigen, daß auch die Niederlande und die USA hier wenig Zurückhaltung an den Tag legen?

Nach den Lehren aus Fakten und Möglichkeiten des Proliferationsmißbrauchs bei gleichzeitiger Ungewißheit über die Ausbreitung von bewaffneten Krisen und Krisenregionen (ein zentraler Punkt in den heutigen Bedrohungsanalysen) sprechen in erster Linie sicherheits- und außenpolitische Gründe dafür, an einem möglichst restriktiven Exportregime festzuhalten – anstatt das mit einer Lockerung zweifellos verbundene Risiko einer kaum abschätzbaren Gefahrenausweitung einzugehen. Naheliegend ist ebenfalls, die im Prinzip vorhandenen, aber offenbar zu wenig genutzten gesetzlichen Kontrollmöglichkeiten und die Genehmigungspraxis zu verbessern.

Das bliebe im Übrigen auch ein klares außenpolitisches Zeichen für die europäischen Harmonisierungsverhandlungen; und so ist zu hoffen, daß die Bundesregierung – oder sollte dies auf das Auswärtige Amt zu beschränken sein? – weiterhin bei der von ihr bislang vertretenen Position bleibt.

Über eine Liberalisierung hat der Gesetzgeber zu entscheiden, und mir ist bewußt, daß dabei auch andere Überlegungen und Sachinteressen eine gewichtige Rolle spielen. Das führt zum zweiten Themenkomplex und der Frage, welches Gewicht die wirtschaftlichen Argumente haben.

Die Situation der Wehrtechnischen Industrie

(…) Hintergrund der Praxis und Diskussion um Rüstungsexporte sind die Anpassungsprobleme der Rüstungsindustrie, verbunden mit Planungsunsicherheiten über Art und Umfang ihres Auftrags im Rahmen eines bis dato noch immer nicht vorliegenden Struktur- und Bündniskonzeptes für die Bundeswehr. Dazu kommen Haushaltsprobleme, anhaltend schwierige Konjunkturbedingungen und eine industrielle Strukturkrise mit wachsenden Arbeitslosenzahlen.

Als Ausweg aus dieser Misere fordert die Wirtschaft zum einen Bestandsgarantien oder zumindest – und das ist ihr gutes Recht – Planungssicherheit; zum anderen verlangt sie aber eine Exportliberalisierung für Produkte aus ihrem Geschäftsbereich.

Begründet wird dies mit einer Reihe von Argumenten. Genannt werden u.a.:

  • der gesunkene Verteidigungsetat und der dadurch bedingte Rückgang der Rüstungs-Inlandsnachfrage;
  • drastisch geschrumpfte Kapazitäten: die deutsche Rüstungsindustrie kurz vor dem »Aus«;
  • in großer Zahl deshalb bereits abgebaute und zusätzlich bedrohte Arbeitsplätze;
  • Ausfuhrbenachteiligungen und Kooperationsprobleme durch das restriktive Exportregime Deutschlands für Rüstungs- und »Dual-use«-Güter.

1. Rückgang der Rüstungsaufträge

Maßgeblich für die Auftragsentwicklung der wehrtechnischen Industrie ist weder der immer wieder hervorgehobene Rückgang der investiven Ausgaben im Einzelplan 14 noch der Beschaffungen.

Von den investiven Ausgaben sind abzuziehen die Aufwendungen für Bauten, Konstruktion und Infrastruktur; zu addieren sind die Ausgaben für Materialerhaltung etc. aus der Gruppe der Betriebsausgaben.

Rüstungsaufträge aus Einzelplan 14 setzen sich somit zusammen aus solchen für Forschung, Entwicklung und Erprobung, Beschaffungen und Materialerhaltung. Dazu kommen Beschaffungen aus dem »Golftitel« (EPl 60).

Diese für die wehrtechnische Industrie maßgebliche Auftragssumme – die eigentlichen Rüstungsaufträge – ging zwischen 1989 und Ende 1993 von rund 19,7 Mrd. zurück auf 14,3 Mrd. DM. Das ist ein Minus von rund 27 % in diesem Zeitraum – und nicht von 50 % bis 60 %, wie mit dem Hinweis auf den Rückgang der Beschaffungen immer suggeriert wird.

Der Entwurf für den Verteidigungshaushalt '94 sieht einen Umfang von etwa 13,3 Mrd. DM vor: ein Rückgang von zusätzlichen 5 %. Ab 1996 soll wieder mehr zur Verfügung stehen.

Das heißt: Bei einem verstetigten Verteidigungsplanfond von 47,5 Mrd. DM, Materialerhaltungsausgaben von 4 bis 4,5 Mrd. DM, Anhebung des investiven Teils in Richtung der 30 %-Marke und die angestrebte Umschichtungsfreiheit von eigenen Rationalisierungseinsparungen bei den Personalausgaben zu Gunsten des investiven Teils könnten die Rüstungsausgaben in einigen Jahren wieder zwischen 14 und 15 Mrd. DM liegen. Für die Zeit nach der Jahrtausendwende ist von einer »Beschaffungs-Bugwelle« die Rede.

Es scheint daher irreführend mit dem Verweis auf die angeblich bis auf 10 bis 20 % geschrumpften Fertigungskapazitäten von einem bevorstehenden »Aus« für die deutsche Wehrtechnik zu sprechen. Eher handelt es sich um eine zeitlich begrenzte »Durststrecke«.

Zu bedenken ist auch, daß der inländische Nachfragerückgang bei hohen Überkapazitäten und Auslaufen der großen Beschaffungsprogramme der zweiten Generation spätestens seit der zweiten Hälfte der 80er Jahre voraussehbar war. Im großen und ganzen hat die wehrtechnische Industrie es jedoch unterlassen, sich mit Konversionsstrategien auf diese Entwicklung einzustellen.

2. Arbeitsplätze

Legt man die in der bekannten Ifo-Studie (1991) errechnete Beschäftigungswirkung von »harten« Rüstungsaufträgen zugrunde, so ergibt sich daraus die Zahl von insgesamt 280.000 wehrtechnisch bedingten Arbeitsplätzen. Allerdings entfallen von diesen 280.000 nur 163.000 Arbeitsplätze auf die Wirkung der inländischen (Bundeswehr-) Nachfrage im eigentlichen Bereich der Rüstungsindustrie und ihrer Zulieferer; der Rest geht auf das Konto der Rüstungsexporte und des Einkommensmultiplikators. Fälschlicherweise werden die zuletztgenannten jedoch meistens mitgezählt, obwohl sie von der gesunkenen Inlandsnachfrage nicht oder kaum betroffen sind. Der oben erwähnte Rückgang bei den Bundeswehraufträgen von 27 % (1993) bzw. von 32 % (1994) kann folglich höchstens für einen Arbeitsplatzabbau in der Größenordnung von 44.000 bis 52.000 ursächlich gewesen sein. Davon betroffen sind im Übrigen aller Wahrscheinlichkeit nach nicht die großen Systemführer, sondern die Unterauftragnehmer und andere kleinere Firmen.

Es ist deshalb nicht nachvollziehbar, warum ständig – zuletzt vom Parlamentarischen Staatssekretär beim BMVg, Herrn Schönbohm,– auch in der parlamentarischen Diskussion, die Zahl von 140.000 bis Ende 1993 verlorenen Arbeitsplätzen, die angeblich „… dem Rückgang der Bundeswehraufträge zum Opfer gefallen sind“ ins Feld geführt wird.

Ähnliches gilt für die ebenfalls kursierende Zahl von „…weiteren 40.000 bis 60.000 Stellen, die bis Ende 1995 verloren gehen könnten, wenn sich die Verminderung der Investitionsmittel fortsetzt“ (beide Zitate J. Schönbohm bei der Jahrestagung DWT, Bonn, 12.4.94). Auch dies kann nicht ursächlich auf den oben errechneten maximalen Rückgang von 32 % bis Ende 1994 zurückgeführt werden.

Das bedeutet jedoch nicht, daß ein Abbau in der zitierten Größenordnung nicht stattgefunden haben oder noch erfolgen könnte. Aber das würde dann eher die Folge von anderen Umstrukturierungs-, Rationalisierungs- und Verlagerungsmaßnahmen sein, die ohnehin in der Rüstungsindustrie seit längerem stattfinden.

Möglich ist auch, daß der BDI, von dem diese Hochrechnungen stammen, den Arbeitsplatzabbau im zivilen Bereich der wehrtechnischen Industrie, die bekanntlich in hohem Maße aus zivil und militärisch gemischten Unternehmen besteht, en passant mitgezählt hat. Ein Beispiel wäre die Deutsche Aerospace DASA, bei der die 6.000 (seit 1993 erfolgten) bis über 16.000 (bis 1996 bevorstehenden) Entlassungen zum größten Teil im zivilen und nicht im militärischen Bereich liegen dürften (Luftfahrt/Airbus).

Solange keine systematische Untersuchung vorliegt, die derartige Zahlen über Arbeitsplatzabbau im einzelnen belegen, ist zu wünschen, daß solche Behauptungen, die geeignet sind, das Klima der Angst vor Arbeitsplatzverlusten zu schüren, unterbleiben oder zumindest korrigiert werden.

Rüstungs- und »Dual-use«-Exporte aus Deutschland

Die Werte der AWV-pflichtigen Ausfuhrgenehmigungen (I-A,B,C,D,E) entwickelten sich in den letzten sechs Jahren wie folgt (Mrd. DM):

1988 1989 1990 1991 1992 1993*
EAG 33.7 45.5 20.6 22.4 15.8 15.4
davon I-A 7.0 13.0 5.5 8.4 5.4 4.5
I-C 24.3 29.0 13.0 10.5 7.5 7.1
SAG 10.0 32.0 16.7 11.1 13.2 17.0
Summe EAG und SAG 43.7 77.5 37.3 33.5 29.0 32.4**
**(1.-3. Qt) ** (+ 4. Qt 43 Mrd. DM ?)
EAG Einzelgenehmigungen für endgültige
Ausfuhren=Vollgeschäfte; ohne vorübergehende Ausfuhren u.ä. SAG
Sammelausfuhrgenehmigungen; SAG, erteilt für Kooperationsprojekte meist im OECD-Raum und
für mehrere Jahre, enthalten alle AWV-Warengruppen; I-A Waffen, Munition und sonstige
Rüstungsgüter; I-C Waren und Technologien von strategischer Bedeutung:
»Dual-Use«-Güter im engeren Sinn.
Auf eine Umrechnung der effektiven Wirkung der Sammelgenehmigungen in den einzelnen Jahren (»Kaskadeneffekt«) wurde hier verzichtet; das hier interessierende Gesamtvolumen wäre davon nicht berührt. Über die tatsächliche Inanspruchnahme der Genehmigungen liegen nach Aussage des BMfW keine statistischen Daten vor.
Quelle: verschiedene BT- und Ausschußdrucksachen

Da für die Relation zwischen I-A zu I-C zum Rest (IB,D,E) nur bruchstückhaft Daten vorliegen, könnte vorläufig (nach eigener Berechnung) als grobe Richtschnur über die Jahre ein Verhältnis von 3:6:1 dienen. So läßt sich in etwa abschätzen, wie hoch der Anteil an Rüstungs-(I-A) und »Dual-use«-Gütern im engeren Sinn (nur I-C) im Bereich der Sammelgenehmigungen ist. Diese sind den entsprechenden Einzelausfuhrgenehmigungswerten hinzuzufügen.

Danach ergibt sich folgendes Bild: Sieht man von dem Boomjahr 1989 ab (dessen Ursachen zu klären wären), so hat es allen Anschein, daß sich der Export von dem Einbruch seit dem Zweiten Golfkrieg mehr als erholt hat. Business as usual?

Denn hochgerechnet auf das ganze Jahr 1993 haben die Umsatzwerte der Gesamtausfuhrgenehmigungen (EAG + SAG) den Stand von 1992 schon weit überschritten und könnten sogar die 43 Mrd. DM-Marke von 1988 wieder erreichen oder übersteigen. Davon könnten (mit Hilfe der genannten Schätzweise) ca. 38 Mrd. DM auf Rüstungs- und »Dual-use«-Exporte entfallen.

Interessant ist auch die Entwicklung der Sammelausfuhrgenehmigungen, deren Wert im Jahr 1993 wahrscheinlich erheblich über dem von 1990 liegen wird. Da SAG hauptsächlich für Kooperationsprojekte mit europäischen Partnern erteilt werden, läßt diese Volumenentwicklung wohl kaum auf eine beeinträchtigte Zusammenarbeit schließen.

Fazit

(…)

  • Deutschland steht bei Rüstungs- und »Dual-use«-Ausfuhren auf den vorderen Plätzen. Im Jahr 1991 gingen allein von den einzelgenehmigten Rüstungsexporten ein knappes Drittel in Länder des Nahen und Fernen Ostens sowie in die »Dritte Welt«; die Zahlen für 1992 und 1993 liegen noch nicht vor.
  • Insgesamt dürfte das 1993er Volumen von über 40 Mrd. DM – mit bis zu einem Viertel davon für reine Rüstung – auch einen ausreichenden Spielraum enthalten, um den allem Anschein nach vorübergehenden Rückgang von 5 bis 6 Mrd. DM bei den Bundeswehraufträgen zu verkraften, eine erforderliche nationale Verteidigung zu sichern und in internationaler Kooperation zu bleiben. Offenbar konnte dieses Volumen sogar unter den derzeit gültigen, restriktiven Exportbedingungen wieder ein solches Niveau erreichen; 1992 wurde kein einziger Ausfuhrantrag in den OECD-Raum abgelehnt.

Zu erinnern ist hier nochmals daran, daß der »Dual-use«-Anteil an der Bundeswehr-Rüstung schon heute auf über 50 % geschätzt wird, und daß Rüstungsunternehmen »Dual-use«-Produzenten par excellence sind. Auch hier liegen Ausgleichsmöglichkeiten.

  • Für die u.a. vom Präsidenten des Bundesverbands der Deutschen Luftfahrt-, Raumfahrt- und (Aus-)Rüstungsindustrie BDLI und Generalbevollmächtigten der DASA, Wolfgang Piller, öffentlich geäußerte Befürchtung: „… Ohne Änderung der Exportpolitik gibt es die Wehrtechnik bald nicht mehr…“ (Süddeutsche Zeitung, 6.11.1993) liefern die vorstehenden Daten jedenfalls keine überzeugende Begründung.
  • Insgesamt ist daher weder aus sicherheits-, noch aus außen- oder wirtschaftspolitischer Sicht zu erkennen, warum das deutsche Exportregime im Sinne der vorgebrachten Forderungen liberalisiert werden sollte.

Anmerkung

* Dieser Text ist eine überarbeitete und gekürzte Fassung der Stellungnahme des Autors bei der Sachverständigenanhörung des Wirtschaftsausschusses des Deutschen Bundestages zur Änderung des Außenwirtschaftsgesetzes am 18. Mai 1994 in Bonn.

Dr. Hendrik Bullens (Bavariaring 43, 80336 München Tel. und Fax 089/ 7470477) arbeitet an der Forschungsstelle Konversion und Friedenswissenschaften, Univ. Augsburg, und am Süddeutschen Institut für angewandte Systemforschung SISYFOS, München-Augsburg.

Dual-use in der Psychologie

Dual-use in der Psychologie

Militärpsychologie, ein wichtiges und legitimes psychologisches Forschungs- und Berufsfeld?

von Marianne Müller-Brettel

Die Wehr- oder Militärpsychologie gehört seit dem Ersten Weltkrieg zu den Berufsfeldern für PsychologInnen und seit Beginn dieses Jahrhunderts werden psychologische Verfahren beim Militär angewandt. Die Dual-Use-Problematik psychologischer Forschungsergebnisse und Verfahren soll im folgenden anhand der Beschreibung der historischen Entwicklung der Beziehungen zwischen Psychologie und Militär und der Motivationen sowohl einzelner Psychologen und Psychologinnen wie auch der Psychologie als Disziplin, ihre Erkenntnisse in den Dienst von Rüstung und Militär zu stellen, diskutiert werden. Zum Schluß wird auf das Problem der Verantwortung der WissenschaftlerInnen für den Dual Use ihrer Ergebnisse und die Möglichkeiten, Mißbrauch zu verhindern, eingegangen.

Die beiden Weltkriege als Bewährungsfeld der Psychologie

Die Psychologie ist eine relativ junge Disziplin, die sich gegen Ende des letzten Jahrhunderts in Deutschland und in den USA durch die Einrichtung von Lehrstühlen und psychotechnischen Labors, sowie eigenen Zeitschriften und Berufsverbänden etablierte. Schon vor dem ersten Weltkrieg wurden empirische Untersuchungen an Soldaten durchgeführt (Rodenwaldt, 1905). Im Ersten Weltkrieg wurden in der Reichswehr zwischen 1915 und 1918 etwa 24.000 Kraftfahranwärter Ausleseverfahren unterzogen und psychotechnische Untersuchungen an Flugzeugführern, Artilleriebeobachtern und Funkern durchgeführt. Aufgrund der ständischen Gesellschaftsordnung und der allgemeinen Wehrpflicht sowie der feudalistischen Struktur des Reichsheeres wurden solche Verfahren weder bei der Rekrutierung von Soldaten noch bei Anwärtern der Offizierslaufbahn eingesetzt. Erst nach dem Zusammenbruch des Kaiserreiches und der Entfeudalisierung des Offizierscorps wurden charakterologische Tests bei der Auslese der Offiziersanwärter verwendet.

Im Nationalsozialismus wurde die Wehrmachtspsychologie weiter ausgebaut, 1942 wurden die Luftwaffenpsychologie und die Heerespsychologie aufgelöst, nur die eignungspsychologischen Dienststellen der Kriegsmarine blieben noch bis kurz vor Kriegsende bestehen (Riedesser & Verderber, 1985). Eine der Hauptursachen für die Auflösung dürfte darin gelegen haben, daß die ganzheitliche Eignungsdiagnostik in bezug auf die militärischen Erfordernisse versagte. Sie war nicht nur sehr zeitaufwendig (eine Prüfung dauerte zwei Tage), sondern ihr Ergebnis, nämlich ein differenziertes Bild vom Charakter des Bewerbers zu erhalten, erwies sich als schlechtes Prognosemerkmal für die Kampftauglichkeit (Danziger, 1990). 1956, ein Jahr nach dem Beginn des Aufbaus der Bundeswehr, wurde auch mit dem Aufbau des wehrpsychologischen Dienstes der Bundeswehr begonnen, mit den Schwerpunkten Personalpsychologie, wehrtechnische Psychologie, Sozialpsychologie und klinische Psychologie.

Im Unterschied zu ihren deutschen Kollegen waren die amerikanischen PsychologInnen sowohl im Ersten als auch im Zweiten Weltkrieg sehr erfolgreich. 1917 bei Kriegseintritt der USA wurden auf Initiative der American Psychological Association (APA) unter Führung von Robert Yerkes zwölf Komitees gegründet, die sich unter anderem mit psychologischen Problemen von Ausfällen nach Schockerlebnissen, von emotionalen Reaktionen wie Furcht oder Feigheit, der Rehabilitation nach Verletzungen, der militärischen Ausbildung und Disziplin, der Wahrnehmungsfähigkeit und der Auswahl von Soldaten befaßten. Am erfolgreichsten war das »Committee on Classification of Personnel«. Diesem Kommitee gelang es, durch Zuweisung von über dreieinhalb Millionen Rekruten zu entsprechenden Aufgaben, innerhalb kürzester Zeit eine kampffähige Armee aufzustellen. Wobei der Erfolg der PsychologInnen primär auf die erstmalige Anwendung von Prinzipien des wissenschaftlichen Managements und nur in zweiter Linie auf die Verwendung psychologischer Tests zurückzuführen war (Camfield, 1992).

Auch im Zweiten Weltkrieg wurde der Einsatz von PsychologInnen durch von der APA unterstützte und mitorganisierte Kommitees koordiniert. Sie wurden wie im Ersten Weltkrieg eingesetzt in der Personalauslese, bei der Lösung psychologischer Probleme im klinischen, pädagogischen, arbeitsorganisatorischen und ergonomischen Bereich, bei der psychologischen Kriegsführung und zur Hebung der Moral der Truppe. In weit stärkerem Maße als im Ersten Weltkrieg ging die Unterstützung der amerikanischen Intervention in Europa durch die PsychologInnen über die konkrete militärpsychologische Tätigkeit hinaus und umfaßte auch die akademische Psychologie. Zum einen entwickelten viele namhafte PsychologInnen Strategien für die amerikanische Politik gegenüber Deutschland nach Beendigung des Krieges und zum anderen waren Psychologen neben anderen Sozialwissenschaftlern an großen empirischen Untersuchungen über die Auswirkungen der Kriegsereignisse auf Soldaten und Zivilbevölkerung beteiligt (Müller-Brettel, 1991).

Ein weiteres Anwendungsgebiet der Psychologie im Krieg sind Untersuchungen über die kulturellen Eigenheiten des Gegners und die daraus abgeleitete Entwicklung von Propagandastrategien. Schon im Ersten Weltkrieg finden wir psychologische Arbeiten über die Seelenbeschaffenheiten des Gegners (ebda). Auch in den 30er Jahren wird die Bedeutung von Untersuchungen der vergleichenden Völkerpsychologie für die Außenpolitik betont, da „die Kenntnis der seelischen Eigenart der benachbarten oder gegnerischen Völker Voraussetzung für eine erfolgreiche Politik ihnen gegenüber ist“ (Blau, 1937, S. 162). In den USA werden solche Projekte seit den 50er Jahren auf empirischer Basis durchgeführt.

Der Umfang der militärpsychologischen Forschung ist nicht nur wegen der Geheimhaltungsvorschriften schwer abzuschätzen, sondern auch, weil die Grenzen zwischen militärischer und ziviler Forschung oft fließend sind (Mohr, 1987). Insgesamt dürfte das Volumen der speziell für militärische Zwecke durchgeführten Forschung im Verhältnis zur gesamten psychologischen Forschung sehr gering sein. Die Anzahl der in den Psychological Abstracts (PA) aufgeführten Veröffentlichungen zur Militärpsychologie beträgt kaum ein Prozent1. Nicht zuletzt sind bis heute fast alle im Militär erfolgreich angewandten psychologischen Methoden und Techniken ursprünglich für zivile Zwecke entwickelt worden. Ebenso spielt der Militärpsychologische Dienst als Arbeitsmöglichkeit für PsychologInnen eine untergeordnete Rolle. In Deutschland sind Ende der 80er Jahre knapp 1 Prozent, in den USA etwas über 1 Prozent der PsychologInnen dort beschäftigt (Schorr, 1991; APA, 1991). Auch in Lehrbüchern wird Militärpsychologie als Teil der angewandten Psychologie nur am Rande erwähnt. Im Gegensatz dazu steht die Bedeutung, die von den PsychologInnen selbst der Militärpsychologie für die Entwicklung ihrer Disziplin beigemessen wird. So sind sich die meisten Psychologiehistoriker darin einig, daß sowohl in Deutschland in den 20er und 30er Jahren wie auch in den USA besonders in den 50er Jahren der Aufschwung der Psychologie2 entscheidend auf ihren erfolgreichen Einsatz während der beiden Kriege zurückzuführen ist.

Zusammenfassend kann die Entwicklung der Zusammenarbeit zwischen PsychologInnen und Militär folgendermaßen beschrieben werden:

1. Es waren PsychologInnen, nicht Militärs, die den Einsatz psychologischer Verfahren im Militär propagierten.

2. Es wurden vorwiegend ursprünglich für zivile Zwecke entwickelte psychologische Verfahren eingesetzt.

3. Der erfolgreiche miliärische Einsatz psychologischer Verfahren hat wesentlich zur Steigerung des Prestiges der Psychologie als eigenständiger Disziplin beigetragen.

Motive für den Einsatz psychologischer Erkenntnisse und Verfahren im Militär

Die Frage, warum WissenschaftlerInnen ihre Arbeit militärischen Zwecken zur Verfügung stellen, ist schwierig zu beantworten, da hierfür nicht ein oder mehrere einzelne Motive verantwortlich gemacht werden können. Vielmehr handelt es sich um ein Konglomerat unterschiedlicher Motive, die wiederum bedingt sind durch das Zusammenwirken verschiedener Faktoren wie

a) konkrete gesellschaftliche Bedingungen wie vorherrschende Ideologien, politische und ökonomische Situationen,

b) disziplinäre Bedingungen wie forschungspolitische und wissenschaftstheoretische Prämissen oder personelle und organisatorische Rahmenbedingungen der jeweiligen Disziplin und

c) konkrete individuelle Bedingungen wie Berufschancen, Arbeitsplatzbedingungen und soziologische und psychologische Merkmale von WissenschaftlerInnen.

a) Militärpsychologie als patriotische Pflicht

Die Unterstützung die der Erste Weltkrieg durch die Mehrheit der deutschen Professoren erfahren hat, ist bekannt3. Vor dem Hintergrund einer in der Philosophie weitverbreiteten Weltuntergangsstimmung (Vondung, 1988), dem Einfluß der Massenpsychologie (Moscovici, 1979) und dem Vorherrschen von Rassentheorien und anderen biologischen Vorstellungen in der Psychologie (Chorower, 1982) stand die Legitimität des Krieges für die Mehrheit sowohl der deutschen wie der amerikanischen PsychologInnen außer Frage, weshalb die Unterstützung des Krieges eine selbstverständliche patriotische Pflicht war (Stern, 1915; Yerkes, 1918).

Erst seit dem Zweiten Weltkrieg wird eine breitere Diskussion über die Legitimität der Verwertung psychologischer Forschungsergebnisse und Verfahren für militärische Zwecke unter amerikanischen und deutschen PsychologInnen geführt. Die amerikanische Diskussion findet Eingang in das offizielle Organ der APA (Issue on …, 1965; 1966), wogegen in der Bundesrepublik die Kritik an der Militärpsychologie grundsätzlicherer Art ist, gleichzeitig aber weitgehend außerhalb der deutschen Psychologenverbände stattfindet (Brieler, 1985; 1987).

b) Die Bedeutung des erfolgreichen militärischen Einsatzes psychologischen Wissens für das Prestige der Psychologie

Sicher war der Einsatz psychologischer Verfahren im Militär nicht der ausschlaggebende Faktor für den Durchbruch der Psychologie zu einer angewandten Wissenschaft und für ihre Etablierung als Disziplin an den Hochschulen. Vieles spricht aber dafür, daß in bestimmten Bereichen und Zeiträumen die Militärpsychologie ein wichtiger Faktor zur Hebung des Prestiges der Psychologie war. So wurden nach dem Ersten Weltkrieg viele psychotechnische Labors sowohl in den USA wie auch in Deutschland gegründet und psychotechnische Verfahren in der Industrie angewandt. Im Nationalsozialismus vermehrte sich, bei gleichzeitigem leichtem Rückgang der Hochschullehrerstellen insgesamt, die Zahl der psychologischen Lehrstühle und Institute parallel zum Aufbau der Wehrmachtspsychologie bis hin zur Verabschiedung der Diplomprüfungsordnung für Psychologen 1941 (Geuter, 1984). Auch das exponentielle Wachstum der PsychologInnen in den USA nach dem Zweiten Weltkrieg wird oft auf den erfolgreichen militärischen Einsatz der Psychologie zurückgeführt. Der Dual-Use psychologischer Verfahren ist daher für viele PsychologInnen nicht Problem, sondern eher ein Qualitätssiegel ihrer Arbeit und eine Chance für die Stabilisierung und Expansion ihrer Disziplin.

c) Bedeutung der Rüstungsforschung und Militärpsychologie als Arbeitsplatz

Neben der Bedeutung der oben beschriebenen gesellschaftlichen Faktoren für das Vorantreiben des Dual-Use psychologischer Techniken durch die PsychologInnen selbst, gibt es eine Reihe von subjektiven Bedingungen und Motivationen, die in gewissem Umfang auch unabhängig von den gesellschaftlichen Bedingungen wirken. Zu dieser Problematik liegen vor allem Berichte und empirische Ergebnisse von Untersuchungen an Naturwissenschaftlern vor. Die dort beschriebenen Mechanismen lassen sich auch auf die Bedingungen von Psychologen übertragen und sollen im folgenden erörtert werden.

In Berichten über die Arbeit von Physikern beim Bau der Atombombe in Los Alamos werden folgende Motive genannt: Konkurrenz, das Bedürfnis nach Anerkennung oder danach, »einfach ein Projekt zu Ende zu machen«. Eine weitere Ursache dafür, daß 1944 mit wenigen Ausnahmen alle Wissenschaftler in Los Alamos blieben und die Bombe zu Ende bauten, wird in der institutionellen Verankerung des Projekts in der Armee gesehen. Die Wissenschaftler identifizierten sich mit ihrer Rolle als Teil der Armee und akzeptierten die damit einhergehende Unterordnung der eigenen Urteilsfähigkeit unter die militärische Order (Dyson, 1984). Die Unterordnung unter die militärische Autorität bedeutet, daß der Forscher nicht nur sich selber unterordnet, sondern auch die Verantwortung für die Verwertung seiner Ergebnisse an andere abgibt. Cohn (1987) beschreibt aufgrund der Erfahrung einer Analyse der Sprache von Atomexperten eine ähnliche Delegation der Verantwortung, indem die technischen Probleme von den politischen und menschlichen getrennt werden. Dadurch entsteht ein System, innerhalb dessen „ein menschlicher Bezugspunkt nicht legitim“ (S.<|>142) ist. Von den Atomexperten werden menschliche und politische Probleme zwar nicht geleugnet, sie sind aber separate Fragen, für die andere zuständig sind. Diese Abspaltung wird erleichtert durch das eingeengte Erkenntnisinteresse an dem WIE, unter Vernachlässigung des WOZU ihrer Forschung und der zunehmenden Spezialisierung, die „zum Ignorieren der übergreifenden Zusammenhänge, zur Verstümmelung der »humanen Kompetenz« des Wissenschaftlers“ führt (S. 135).

Eine große Rolle dürfte die Attraktivität der Projekte in der Rüstungsforschung selbst spielen, die wie der Bau der Atombombe in Los Alamos eine hohe intrinsische Motivation ermöglichen (Csikszentmihalyi, 1985) oder wie das Projekt Camelot den Sozialwissenschaftlern eine größere Freiheit in der Grundlagenforschung gewähren als Universitäten (Horowitz, 1966). Auch für die Techniker und Ingenieure, die im deutschen Faschismus an der Kriegsvorbereitung beteiligt waren, war neben der Befreiung vom Fronteinsatz die Chance, an der Durchführung eines aufregenden Projektes beteiligt zu sein, ein wichtiges Motiv (Heinemann-Grüder & Wellmann, 1990).

Ähnlich wie im Militär wirken in der Rüstungsforschung und Rüstungsproduktion soziologische und psychologische Mechanismen, die eine Kritik oder gar Kündigung für den einzelnen äußerst schwierig machen. So ist die Verweigerung eines Wissenschaftlers meist ein individueller Akt, den er nicht nur ohne die Solidarität seiner Kollegen, sondern auch gegen die Anfeindungen seiner Scientific Community durchstehen muß, und der zunächst gesellschaftlich wenig bewirkt (Stöver, 1985). Ein weiteres erschwerendes Moment ist die spezielle Klassenlage der Intellektuellen, die sie historisch eher zum Diener der jeweiligen herrschenden Klasse als zum Oppositionellen bestimmt (Wellmann & Spielvogel, 1990).

Dual Use und die Verantwortung der Wissenschaft und der WissenschaftlerInnen

Charakteristisch für die Dual-Use-Problematik ist die Tatsache, daß die Grenzen zwischen ziviler und militärischer Forschung fließend sind. Auch die Finanzierungsquellen selber bieten keinen eindeutigen Anhaltspunkt. Betrachtet man die Projekte, die zum Beispiel von der NATO gefördert werden, so unterscheiden viele sich nicht von zivilen Forschungsprogrammen. Die Ergebnisse etlicher am sozialwissenschaftlichen Institut der Bundeswehr oder an Bundeswehrhochschulen durchgeführten Untersuchungen sind auch für die Friedensforschung von Interesse (Müller-Brettel, im Druck). Das heißt, mit Mitteln von militärischen Stellen finanzierte Projekte können Ergebnisse liefern, die primär im zivilen Bereich von Nutzen sind, und umgekehrt sind die am erfolgreichsten im Militär verwendeten psychologischen Techniken meist Produkte der zivilen Forschung.

Wie nun kann verhindert werden, daß die Psychologie sich in den Dienst von Destruktion und Vernichtung, Krieg und Völkermord stellt, wie sollen sich die PsychologInnen verhalten?

Wissenschaft und Forschung sind zum einen wesentliche Bestandteile der Gesellschaft und als solche den gesellschaftlichen Zielen und Aufgaben unterworfen. Die Kritik an der Militärpsychologie kann daher nicht allein als Problem einzelner Forschungsinhalte oder als das der Militärpsychologie selbst diskutiert werden. Eine generelle Ablehnung der Miliärpsychologie und jeder Form von Rüstungsforschung ist letztlich nur von einem konsequent pazifistischen Standpunkt aus möglich, denn solange die Legitimität des Militärs nicht in Frage gestellt wird, müssen auch ihm wie allen anderen gesellschaftlich legitimierten Institutionen wissenschaftliche Erkenntnisse und Verfahren zur Verfügung gestellt werden. Zum anderen werden diese gesellschaftlichen Prozesse und Institutionen auch durch die Wissenschaft und die WissenschaftlerInnen mitgestaltet. Weder die Psychologie als Disziplin insgesamt noch jeder Psychologe oder jede Psychologin dürfen sich der „alltäglichen Verantwortung für die gesellschaftlichen Verhältnisse“ entziehen, denn jedes Handeln und Nichthandeln steht in bestimmten gesellschaftlichen Zusammenhängen und hat damit gesellschaftliche Konsequenzen (Osterkamp, 1987).

Wie kann nun diese Verantwortung übernommen werden, und wie kann der Mißbrauch von Wissenschaft und Forschung verhindert werden? Hierfür kann es meiner Meinung nach keine generellen Lösungen geben, vielmehr muß diese Problematik entsprechend den unterschiedlichen Situationen immer und immer wieder diskutiert werden. Zum Schluß sollen zwei Forderungen näher erörtert werden:

a) die Forderung nach der Verantwortung für die eigene wissenschaftliche Tätigkeit hinsichtlich der theoretischen Annahmen der Psychologie, der Qualität der Arbeit und der Forschungsziele und

b) die Forderung nach der Verantwortung für die Verwertung der Ergebnisse wissenschaftlicher Arbeit.

a) Verantwortung für die eigene wissenschaftliche Tätigkeit

Gerade im Zusammenhang mit der Militärpsychologie und der ideologischen Unterstützung von Kriegen gibt es eine Reihe von Beispielen, wo durch Verletzung wissenschaftlicher Standards und Normen die Psychologie zu Vernichtung und Destruktion beigetragen hat. Wissenschaftlich nicht abgesicherte Theorien wie soziobiologische Vererbungs- und Rassentheorien oder massenpsychologische Ansätze wurden mit Unterstützung von PsychologInnen und PsychiaterInnen zur ideologischen Absicherung der Politik benutzt: Die Euthanasie wurde mit wissenschaftlichen Ergebnissen über die Unheilbarkeit von psychischen Krankheiten gerechtfertigt, der Völkermord mit Rassentheorien legitimiert und die Ursache von Kriegen mit „der menschlichen Natur“ erklärt (Chorover, 1982; Kroner, 1980).

In bezug auf die Qualität der wissenschaftlichen Arbeit haben empirische Projekte, die entweder aus Gründen des Opportunismus, indem man dem Auftraggeber keine Ergebnisse liefern wollte, die seinen Interessen widersprachen, oder aufgrund schlechter Durchführung, falsche Daten geliefert und unter Umständen dazu geführt, daß Kriege verlängert wurden und viele zusätzliche Opfer gefordert haben4. Die Geheimhaltung solcher Projekte, die eine Kontrolle durch die Fachöffentlichkeit ausschließt, trägt dazu bei, daß solche »falschen« Ergebnisse erst anhand ihrer fatalen Konsequenzen in der Praxis falsifiziert werden.

Hinsichtlich der Forschungsziele muß es Aufgabe der Psychologie sein, gesellschaftliche Bedingungen und Ursachen der Verschüttung, Hemmung oder Freisetzung menschlicher Gestaltungs- und Entwicklungspotentiale ausfindig und zu Ansatzpunkten psychologischer Ziel- und Fragestellungen zu machen. Denn professionelles psychologisches Handeln läßt sich nicht trennen von der Vertretung menschlicher Gestaltungs- und Entwicklungsansprüche und -rechte (Schmidt, 1990). Im Unterschied dazu beruht der Großteil psychologischer Forschung auf der Übernahme der Zielsetzungen der Natur- und Ingenieurwissenschaften aus dem 19. Jahrhundert, die ihre Aufgabe darin sahen, menschliche Probleme durch die Kontrolle über die Natur und ihre Anpassung an die menschlichen Bedürfnisse zu lösen. Analog dazu sehen viele PsychologInnen ihre Aufgabe darin, soziale Probleme durch die Kontrolle individuellen Verhaltens und seiner Anpassung an die gesellschaftlichen Bedürfnisse zu lösen. Diese Zielstellung begünstigte die Entwicklung von Intelligenztests, Verhaltenstrainingsmethoden und Desensibilisierungstechniken. Diese wiederum haben sich im Militär gut bewährt, indem sie nicht die Wahrnehmung individueller Entwicklungsansprüche, sondern die Anpassung an die objektiv die individuellen Entwicklungspotentiale einschränkenden Bedingungen des Militärs, angefangen von der Unterordnung unter den militärischen Drill in der Kaserne bis hin zur Überwindung der Todesangst vor einem Kampfeinsatz, unterstützen.

b) Verantwortung für die Verwertung der Ergebnisse wissenschaftlicher Tätigkeit

Die Forderung nach der Übernahme der Verantwortung für die Verwertung wissenschaftlicher Ergebnisse ist weit schwieriger zu realisieren als die Forderung nach der Übernahme der Verantwortung für die eigene wissenschaftliche Tätigkeit, da die Verwertung in den meisten Fällen der direkten Kontrolle durch die WissenschaftlerInnen entzogen ist. Um hier eine Lösung zu finden sind sicher noch viele Diskussionen erforderlich. Eine mögliche Forderung könnte sein, die Trennung zwischen Politik und Wissenschaft aufzuheben. Meiner Meinung nach ist dies nicht sinnvoll, denn es ist wichtig, politisches Handeln und wissenschaftliche Arbeit auseinanderzuhalten. Die politische Arbeit gehorcht anderen Gesetzen und erfordert andere Bedingungen und Maßnahmen als die wissenschaftliche. Der Politiker muß oft auf der Grundlage einer mangelhaften Informationsbasis kurzfristige Entscheidungen treffen. WissenschaftlerInnen dagegen, die sich dem politischen Zeit- und Entscheidungsdruck beugen, laufen Gefahr, Ergebnisse zu produzieren, die nicht nur nach wissenschaftlichen Kriterien unwahr, sondern auch für die Politik unbrauchbar sind, weil sie kein adäquates Abbild der Realität geben.

Ebensowenig dürfen aber die WissenschaftlerInnen ihre Verantwortung über die Verwertung und die Folgen ihrer Tätigkeit an die Politiker abgeben. Gerade die Beispiele aus dem Nationalsozialismus zeigen, wie ein solches Verhalten dazu führte, daß viele PsychologInnen selbst nach Repressionen von seiten der Nazis ihre Arbeit fortgesetzt haben5 und damit, wenn auch subjektiv nicht beabsichtigt, objektiv doch zur Vernichtung menschlichen Lebens beigetragen haben. Um sich der Dual-Use-Problematik der eigenen Forschung zu stellen, müssen daher sowohl die an Hochschulen und in der Forschung tätigen WissenschaftlerInnen, wie auch die BerufspraktikerInnen zum einen immer wieder die Frage nach der Zielsetzung ihrer Tätigkeit und ihrer möglichen Folgen stellen und zum anderen die Verwertung ihrer Wissenschaft in den unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen aufmerksam verfolgen und sich gegen jeden Mißbrauch zur Wehr setzen bis hin zur Arbeitsverweigerung. Dies erfordert ein sehr hohes Maß an persönlicher Integrität, Mut und Zivilcourage und hat oft Repressalien bis hin zum Berufsverbot und zur Arbeitslosigkeit zur Folge.

Jedoch ist nicht nur die individuelle Übernahme von Verantwortung gefordert, sondern auch die kollektive. WissenschaftlerInnen sind auf die Dauer nicht nur überfordert, sondern auch wirkungslos, wenn ihr Engagement gegen einen Mißbrauch ihrer wissenschaftlichen Ergebnisse nicht unterstützt und mitgetragen wird durch WissenschaftlerInnenorganisationen wie zum Beispiel die Deutsche Gesellschaft für Psychologie oder die American Psychological Association. Die Diskussion der Dual-Use-Problematik in diesen Organisationen, so mühsam und schwierig sie auch sein mag, ist daher unbedingt erforderlich und muß von den sich für den Frieden einsetzenden PsychologInnen immer wieder neu eingefordert werden.

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Yerkes, R. M. (1918). Psychology in relation to the war. Psychological Review 25, 2, 85-115.

Anmerkungen

1) Der Einwand, daß die niedrige Anzahl auf die Geheimhaltung militärischer Forschung zurückzuführen ist, muß sicher berücksichtigt werden. Es gibt aber Anhaltspunkte dafür, daß auch unter Berücksichtigung der unter die Geheimhaltung fallenden Arbeiten der Umfang im Verhältnis zur Gesamtzahl wissenschaftlicher Arbeiten in der Psychologie immer noch relativ gering ist. Zum Beispiel ist die Zahl von 761 Projekten, die eine Bibliographie des US-Department of Defense von 1968 zur psychologischen Kriegsführung ausweist (Watson, 1982, S. 30), vor dem Hintergrund der allein in diesem Jahr in den PA veröffentlichten 18.588 Titeln nicht sehr hoch. Ferner bedeutet Geheimhaltung eine starke Einschränkung des Forschungspotentials, da wissenschaftliche Kommunikation eine unerläßliche Bedingung für innovative Forschung ist. So kommt auch Watson zu dem Schluß, daß die der Geheimhaltung unterworfenen psychologischen Projekte von relativ geringer Qualität sind. Zurück

2) Zum Beispiel stieg die Zahl der Mitglieder der APA von 4.183 1945 auf 30.839 1970 (Crawford, 1992) und die Anzahl der in den Psychological Abstracts dokumentierten Publikationen von 4.817 1948 auf 18.260 1970. Zurück

3) So wurde 1914 der »Aufruf an die Kulturwelt«, in dem der Kriegsbeginn durch Deutschland gerechtfertigt wird und der mit der Verpflichtung schließt, „daß wir diesen Kampf zu Ende kämpfen werden als ein Kulturvolk, dem das Vermächtnis eines Goethe, eines Beethoven, eines Kant ebenso heilig ist, wie sein Herd und seine Scholle“ (Nicolai, 1919/1985, S. 9) von 93 Wissenschaftlern und Künstlern unterschrieben, wogegen der Gegen-„Aufruf an die Europäer« von Nicolai, Einstein, Buek und Förster, in dem ein Zusammenschluß der europäischen Völker in einer Art Europäerbund gefordert wird, keine weiteren Unterzeichner fand (Nicolai, 1919/1985, S. 9). Zurück

4) Die berüchtigste Studie in diesem Zusammenhang ist eine Untersuchung der Rand Corporation, die zwischen 1964 und 1969 die Moral und Motivierung der Vietcong Bewegung analysierte und zu dem Schluß kam, daß über wenige Wochen geführte massive Luftangriffe den Willen des Vietcong brechen könnten (Watson, 1982). Zurück

5) Beispiele hierfür sind Willi Hellpach, dem seit 1933 die Bezüge um rund die Hälfte gekürzt wurden (Gundlach, 1985) oder Hildegard Hetzer, der 1934 die Professur entzogen wurde (Bruns & Grubitzsch, 1992) die aber dennoch beide ihre psychologischen Kompetenzen dem System zur Verfügung stellten, sei es als Apologet der völkischen Ideologie auf dem Internationalen Psychologen-Kongreß 1936 in Prag oder als Mitarbeiterin in Umsiedlungslager in Polen bei der Selektion von zur Germanisierung geeigneter polnischer Waisenkinder. Zurück

Marianne Müller-Brettel ist Diplompsychologin und arbeitet am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin. Sie ist Mitglied der Friedensinitiative Psychologie, Psychosoziale Berufe.

Export von dual-use Gütern

Export von dual-use Gütern

Die Europäische Gemeinschaft kontrolliert

von Harald Bauer

Die Frage der Rüstungsexportkontrolle innerhalb der EG ist ein Beispiel für die fehlende Wahrnehmung der europäischen Ebene durch die friedenspolitische Öffentlichkeit. Während die Industrie ihre Vorstellungen im Rahmen von Arbeitsgruppen der Industriellenvereinigung »European Round Table« und des europäischen Unternehmerverbandes UNICE zur Geltung brachte, ist nur wenig über entsprechende Aktivitäten von friedensbewegten oder artverwandten Nichtregierungsorganisationen (NGOs) bekannt. Dabei wäre die Herstellung einer EG-weiten Öffentlichkeit in diesem Fall sicher von Nutzen gewesen und wäre es auch jetzt noch. Denn nur so kann der nötige Druck auf die Regierungen erzeugt werden, um eine halbwegs zufriedenstellende Lösung zu erzielen.

Streng genommen hat die EG laut Art. 223 der Römischen Verträge keine Kompetenz für Rüstungsproduktion und -export. Doch wegen der Einrichtung des Binnenmarktes und des damit verbundenen Wegfalls der Kontrollen an den Binnengrenzen müßte eine Lösung gefunden werden, die das Aufreissen allzu großer Löcher im System der Rüstungsexportkontrollen verhindert. Bis heute ist das nicht gelungen, beim Gipfel in Edinburgh im Dezember 1992 setzte der Europäische Rat eine neue Frist bis Ende März.

Das Problem

Um die gegenwärtige Lage verstehen zu können, ist es erforderlich, den gegenwärtigen Stand des Bezugs der EG auf Rüstungsfragen zu erläutern.

Wie bereits erwähnt, spielt Art. 223 des EWG-Vertrags von 1957 eine wichtige Rolle. Er besagt, daß kein Staat Auskünfte erteilen müsse, die seinen wesentlichen Sicherheitsinteressen widersprechen. Jeder Staat könne seine „wesentlichen Sicherheitsinteressen“ im Bereich der „Erzeugung von Waffen, Munition und Kriegsmaterial oder dem Handel damit“ wahren. Zur Klarstellung der Warengruppen, die somit vom Freihandel innerhalb der Gemeinschaft ausgeschlossen wurden, wurde 1958 eine Liste von Kriegsmaterialien aufgestellt, die seither unverändert blieb.

Artikel 223 überstand auch die Verhandlungen, genannt Regierungskonferenz, die zum Vertrag über die Europäische Politische Union, besser bekannt als Maastrichter Verträge, führten. Zwar schlug die Kommission, unterstützt von der Bundesregierung und weiteren Mitgliedstaaten, die ersatzlose Streichung vor, doch war dies gegen die Staaten mit starken nationalen Vorbehalten, an ihrer Spitze Frankreich und Großbritannien, nicht durchsetzbar.

Während in vielerlei Angelegenheiten eine zentrale Kompetenz der EG-Kommission nicht unbedingt wünschenswert ist, gehört die Kontrolle von Rüstungsexporten und sogenannten dual-use Gütern zu den wenigen Fällen, in denen sie nützlich wäre, vorausgesetzt, bestehende stärkere nationale Regelungen werden nicht ausgehöhlt. Das ist im Prinzip durch die Subsidiarität verhindert. Momentan besteht für die Kontrolle des Exports oben genannter Güter innerhalb der EG ein wahres Wirrwarr. Am einfachsten ist es noch für die auf der 58er Liste stehenden Güter; für sie besteht unzweifelhaft die nationale Kompetenz weiterhin fort. Auf der anderen Seite verwenden fast alle EG-Mitgliedsstaaten CoCom-Listen zur Kontrolle der Ausfuhr sog. strategischer Güter. Diese umfassen Gruppen militärischer wie doppelt verwendbarer oder dual-use Waren. Seit dem Ende des Ost-West Konflikts sind sie zwar stark gekürzt worden, werden aber, in erster Linie von der Bundesrepublik, mittlerweile schon auf südliche Länder umgepolt.

In der Praxis gestalteten sich die Verhandlungen in der EG um das Ausmaß der gemeinsamen Kontrollen daher sehr schwierig. Die Kommission erhob Anspruch auf Zuständigkeit für die Kontrolle der Ausfuhr aller Warengruppen, die nicht auf der 58er Liste aufgeführt waren. Deshalb ihr Interesse, alle nur irgend möglichen Güter für »dual-use« zu erklären, eine Strategie, die auch im Zusammenhang mit der Rüstungsindustrie gefahren wird. Die entgegengesetzte Strategie der »Nationalen« war es, die Liste von 58 zu erweitern, möglichst bis zum CoCom-Umfang. Man einigte sich im Herbst '92 auf eine Zwischenlösung, bei der für einen Übergangszeitraum bestimmte Technologien (siehe folgende Zusammenfassung des Saferworld Bericht) ausgenommen sind. Wenn alle Beteiligten gleiches Vertrauen in die Kontrollmechanismen der restlichen Mitgliedstaaten haben, soll diese Periode auslaufen. Zeitpunkt: unbestimmt. Die Einigung bezieht sich jedoch nur auf die Warenlisten.

Laut FAZ ist die neue deutsche Liste (Ausfuhrliste zum Außenwirtschaftsgesetz, AWG) das Muster der neuen »Euro-Liste«, auf die sich, unter britischem Vorsitz, die Regierungen von Deutschland, Frankreich, Italien und den Niederlanden geeinigt haben sollen. Diese neue Liste ist anders strukturiert und wesentlich länger als die vorigen, weil sie, zu den CoCom-Listen, noch diejenigen der bestehenden Nichtweiterverbreitungsregime für bestimmte Chemikalien (australische Gruppe), Raketen- (MTCR-Regime) und nukleare Technologien (NPT, London supplier group) enthält. Die »Euro-Liste« soll außerdem noch mit den us-amerikanischen und japanischen Listen kompatibel gemacht werden. Was das in der Praxis heißen wird, ist gegenwärtig unklar.

Streitpunkte der EG-Verhandlungen

Bei den Verhandlungen der vom Europäischen Rat eingesetzten ad-hoc Gruppe auf hoher Ebene über die gemeinsame Ausfuhrkontrolle, mit Bezug auf den Kommissionsvorschlag vom August 1992 gibt es noch diverse Meinungsverschiedenheiten, die vor einer Einigung stehen. Es ist umstritten, ob neben Waren und verwandten Technologien (technische oder wissenschaftliche Daten, einschließlich Know-how oder Ingenieurleistungen) auch Dienstleistungen und der Transfer von Know-how ausdrücklich erfaßt werden sollen. Dafür, dies zu tun, wird es allerdings kaum eine Mehrheit geben. Bedeutender ist der Streit um eine catch-all oder reason-to-know Klausel. Damit ist gemeint, Exporte von Waren, die nicht auf den Listen aufgeführt sind, sollen verboten sein, wenn das exportierende Unternehmen Grund zu der Annahme hat, sie sollten für militärische Zwecke verwendet werden. In der EG haben nur Großbritannien und Deutschland solche Klauseln in ihrer Gesetzgebung. Im Rahmen der EG Verhandlungen wird über eine catch-all Klausel für ABC-Waffensysteme verhandelt, Deutschland will sie auch für konventionelle Waffen haben. Doch sind etliche Mitgliedstaaten, an ihrer Spitze Frankreich, kategorisch dagegen. Auch die übergroße Zahl der Unternehmen wehrt sich vehement, mit dem Argument, catch-all Klauseln bürdeten der Industrie die Verantwortung auf und erfordere von ihr beinahe geheimdienstliche Tätigkeiten.

Das potentiell folgenreichste Problem ist mit der Frage der Antragstellung für Ausfuhren verbunden. Wird im Land der Herstellung der Waren oder am Sitz des Exporteurs der Antrag gestellt? Der Kommissionsvorschlag sah letzteres vor, was Umgehungspraktiken, im EG-Jargon »Verkehrsverlagerung« oder licence-shopping genannt, Tür und Tor öffnen würde. Dann könnten etwa Exporteure in Luxemburg, das eine Geschichte als Sitz von zweifelhaften Händlern mit Tätigkeitsbereich Rüstungsgeschäfte hat, den Export von Maschinenteilen bundesdeutscher Provenienz beantragen, die sich unter Umständen etwa in iranischen militärischen Anlagen wiederfinden. Kurz, es wäre für eine wahre Springflut von neuen Skandalen gesorgt und das bundesdeutsche Ausfuhrrecht wäre Makulatur, weil es beliebig zu umgehen wäre. Eine Lösung ist noch nicht in Reichweite. Einige Mitgliedstaaten sehen sie im Rahmen der Übergangslösung bis zur völligen Abschaffung nationaler Kontrollen für den Binnenverkehr innerhalb der EG. Laut Binnenmarktprojekt sollte dies ab 1.1.1993 der Fall sein, was sich als irreal erwiesen hat. Alleine deshalb ist eine Übergangsperiode notwendig. Dazu gibt es noch Bedenken einiger Mitgliedstaaten hinsichtlich der Verläßlichkeit und Effizienz mancher Mitgliedstaaten, wobei oft Griechenland und Portugal genannt werden. In der Praxis war aber auch Belgien in Umgehungsgeschäfte im Rahmen der lizenzfreien Zone des Benelux-Abkommens verwickelt; Beispiele für weitere Staaten wären anführbar.

Von verschiedenen Mitgliedstaaten gewünschte Maßnahmen für den Übergangszeitraum sind die Beibehaltung von Einzelgenehmigungen innerhalb der EG wenn bekannt ist, daß der endgültige Zielort außerhalb der Gemeinschaft liegt. Frankreich will diese Möglichkeit auf Dauer beibehalten, wie auch die Nichtanerkennung von Ausfuhrgenehmigungen anderer Mitgliedstaaten. Weiter wird für die besonders sensitiven Güter auf der Ausschlußliste über mögliche Endverbleibsklauseln auch innerhalb der EG gesprochen. Auch über die Dauer der Gültigkeit der Ausschlußliste, damit verbundener innergemeinschaftlicher Genehmigungen und die Übergangszeit insgesamt besteht Uneinigkeit. Die Kommission will die Übergangsperiode auf ein Jahr einschränken. Die meisten Mitgliedstaaten wollen keine feste Frist akzeptieren, sondern sehen das Erreichen der völligen Gleichwertigkeit der nationalen Kontrollsysteme als Bedingung für das Ende der Periode. Vereinfachend gesagt, stehen sich hier die Auffassungen der Kommission und der Bundesregierung, die einen ungehinderten Handel innerhalb der EG wollen, und Frankreichs gegenüber, das die strikte nationale Kontrolle, die mit der Herstellung und dem Export von Waffen und dual-use Gütern verbunden ist, nicht lockern will. Während eines Seminars in Paris verkündete der Leiter der Exportkontrollabteilung (CIEEMG) beim Premierminister, Frankreich werde seine Gesetze so ändern, daß auch innerhalb des Binnenmarktes die lückenlose nationale Kontrolle gesichert sei.

Grundsätzliche Mängel der EG-Regelung sind bereits jetzt zu konstatieren. So wird es voraussichtlich keine gemeinsamen Kriterien für die Erteilung von Ausfuhrgenehmigungen geben, bzw. diese werden keine Verbindlichkeit haben. Während des Luxemburger Gipfels im Juni 1991 veröffentlichte der Rat eine Liste von Kriterien, die von allen Mitgliedsstaaten angewandt werden. Der Kommissionsentwurf für die dual-use Verordnung enthielt diese ebenfalls, in der Folge wurde ihre Anzahl reduziert und sie in einen Annex verbannt. Der Grad der Verbindlichkeit dürfte gering sein. Bei den Listen der Länder, für die Beschränkungen gelten sollen, ist man nicht voran gekommen. Es sollen lediglich positive Listen, mit den unproblematischen Fällen, für die vereinfachte Verfahren gelten, eingeführt werden. Im Bereich der konventionellen und ABC-Waffen gibt es zwar Arbeitsgruppen der Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ), doch ist auch dort nicht mit weitergehenden Vereinbarungen zu rechnen. Konflikte in der EG um Exporte sind somit wahrscheinlich, wenn es um konträre Interessen geht. Indonesien ist dafür Anschauungsmaterial. Während Großbritannien und die Bundesrepublik nichts dabei fanden, dem dortigen Regime zum Teil umfangreiche Lieferungen von Waffen zukommen zu lassen, hat Portugal dagegen protestiert, weil es die von Indonesien auf Osttimor geschaffenen Zustände, mit rigider Unterdrückung der Bevölkerung, nicht anerkennen will.

Die Eurolücke

Abgesehen von den aktuellen Differenzen über die Ausgestaltung der konkreten Regelung, weist das Gesamtsystem der Exportkontrolle innerhalb der EG einige EG-spezifische Strukturmerkmale auf, die zusammen als Eurolücke bezeichnet werden können.

Merkmal Nummer eins: Das Aushebeln oder Umgehen nationaler Standards oder Regelungen über EG-Verordnungen oder Mitgliedsstaaten. In diese Kategorie gehört das bereits erwähnte Problem des Ortes der Antragstellung für Exporte, aber auch Initiativen der Industrie wie der Brief von Daimler-Chef Reuter vom März 1991 an Kanzler Kohl und Kommissionsvorsitzenden Delors, in dem er ein EG-weites System der Exportkontrolle verlangte. Dies, so das Kalkül, würde notwendigerweise ein Kompromiß und damit weniger strikt als das bundesdeutsche sein müssen, das zum damaligen Zeitpunkt noch dazu unter enormen öffentlichen Druck in Richtung Verschärfung stand, infolge der Rabta-Affäre und weiterer Skandale.

Ein zweites Kennzeichen ist die Vielzahl sich überschneidender Vereinbarungen, Kompetenzen und Geltungsbereiche. Nationale, intergouvernementale und gemeinschaftliche Kreise schneiden und überlappen sich, je nach politischer Opportunität und Ergebnissen der Verhandlungen werden Lösungen angewandt, die für Außenstehende kaum noch durchschaubar sind. Bei der Exportkontrolle wurde der grundsätzliche Trennstrich zwischen Waffen und dual-use Gütern bereits erwähnt. Das ist gleichzeitig die prinzipielle Abgrenzung von nationaler und Gemeinschaftskompetenz. Dazu gibt es jedoch noch einige weitere Regelkreise, die in das System eingreifen. Der Benelux-Raum, innerhalb dessen Kontrollen seit langem abgeschafft sind, das Schengen-Abkommen und das CoCom-Regime sind hierunter zu verbuchen. In Artikel 91 des Schengener Abkommens ist die Zusammenarbeit bei der polizeilichen Überwachung des Handels mit Schußwaffen vereinbart, eine Arbeitsgruppe hat hierfür eigene Waffenlisten aufgestellt. Zudem haben die Schengen-Länder vereinbart, für die Waren der CoCom-Industrieliste die Kontrollen untereinander einzustellen. Das Schengener Abkommen haben aber lediglich neun Mitgliedstaaten (alle außer Dänemark, Großbritannien und Irland) unterzeichnet. Dies ist auch für die Zollkontrolle von Belang.

Für die Außenkontrollen von Exporten wird ein Computersystem eingerichtet. Es war jedoch nicht zu klären, ob dieses System identisch mit dem der Schengen-Gruppe ist. Wäre das der Fall, wären drei Mitgliedstaaten nicht darin eingeschlossen, das System damit mehr als löchrig. Zudem fehlt schon in der Planung die Komponente der Verbindung mit den jeweiligen nationalen Genehmigungsbehörden, die für schnelle Rückfragen unverzichtbar ist. In dieser Situation sollte über das Angebot einer amerikanischen Elektronikfirma, für die Gemeinschaft kostenlos ein EG-weites Computernetz aufzubauen, beinahe schon ernsthaft nachgedacht werden. Denn im Dezember 1992 verpflichteten sich die Mitgliedsstaaten, ab 1.1.1993 bezüglich dual-use Gütern keine Kontrollen mehr an den Binnengrenzen durchzuführen. Laut offiziellen Angaben wird die noch zu findende Lösung für die EG alle anderen Kreise umschließen und rechtlich über diesen stehen. Wie sich dies in der Praxis gestalten wird, bleibt jedoch abzuwarten.

Durchaus der Eurolücke zuzurechnen ist die öffentliche Wahrnehmung. Während jeder größere Skandal auf bundesdeutscher Ebene sofort die Forderung nach schärferen Kontrollen für Rüstungsexporte und dem Stopfen der Schlupflöcher auslöst, ist das mit dem Binnenmarkt verbundene potentielle Scheunentor der Perzeption völlig entgangen. So waren die Regierungsvertreter, Kommissionsmitarbeiter und Industrierepräsentanten unter sich, als es um die Ausgestaltung des Kontrollsystems in der EG ging. Im Frühsommer 1992 war bereits von Industrierepräsentanten zu hören, man wisse nicht, was irgendwelche Initiativen hinsichtlich der Kontrolle von dual-use Gütern noch sollten, das sei doch längst klar und ausgehandelt. Durch Arbeitsgruppen bei der UNICE und dem »European Round Table« waren die Interessen der Industrie an einem möglichst einheitlichen und einfachen Verfahren zusammengefaßt und in Gesprächen mit den Verantwortlichen in ihrem Sinn ausreichend klar gemacht worden.

Friedenspolitische Lobbyarbeit

Auf friedensbewegter Seite ist die Notwendigkeit einer konstanten Präsenz in Brüssel zwar einigermaßen klar. Die bisherigen Versuche, ein Büro einzurichten, scheiterten jedoch am Geldmangel. Die übernationalen Strukturen innerhalb der Bewegung sind noch wesentlich schwächer als diese selbst. Mit der Exportkontrolle der EG als wichtigem Problem beschäftigte sich so nur eine kleine britische Organisation namens Saferworld, die diesen Themenbereich als Kern ihrer Aktivitäten ausgewählt hat. Ihr Konzept, vermittels gezielter Forschung und Lobbyarbeit bei Regierungen, EG-Stellen und Parteien jeglicher Couleur auf eine Veränderung hinzuwirken, ist außerhalb des angelsächsischen Raumes wenig verbreitet und wird von der Bewegung so nicht angewandt. Saferworld hat 1991 einen Bericht mit dem Titel „Controlling Arms Exports: A Program for the European Community“ veröffentlicht, der 1992 eine umfangreiche Studie mit dem Titel „Arms and Dual-use Exports from the EC: A Common Policy for Regulation and Control“ (siehe folgende Zusammenfassung) folgte. Diese wurde auf Konferenzen in europäischen Hauptstädten den Verantwortlichen aus den Ministerien und den Medien präsentiert. Aber auch Saferworld hat den strukturellen Nachteil, keine ständige Vertretung in Brüssel zu haben.

Harald Bauer ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Mitarbeiter für die Fraktion Bündnis 90/Grüne im Bundestag.

EG-Exportkodex

EG-Exportkodex

EG-Exporte von Waffen und Gütern mit doppeltem Verwendungszweck

von Saferworld

Dies ist die Zusammenfassung der wichtigsten Punkte eines Berichtes über „Arms and Dual-Use Exports from the EC. A Common Policy for Regulation and Control“. Der Bericht wurde von Harald Bauer (Saferworld), Owen Greene (Fakultät für Friedensstudien, Universität Bradford), Dr. Vaughan Lowe (Forschungszentrumm für Internationales Recht, Universität Cambridge), Dr. Nathalie Prouvez (Forschungszentrum für europäische Gesetzesstudien, Universität Cambridge) Marc Weller (Forschungszentrum für Internationales Recht, Universität Cambridge), verfaßt und von Paul Eavis, Forschungsdirektor von Saferworld, koordiniert und bearbeitet.

Der 1. Januar 1993 steht für einen unwiderruflichen Schritt der Mitgliedstaaten der Gemeinschaft in eine neue Ära. Der Binnenmarkt erlaubt den grenzenlosen Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Kapital und Arbeitskraft auf dem Gebiet der Zwölf. Doch sind mit dieser wichtigen politischen Entwicklung einige Risiken verbunden, von denen eine die Unterminierung der nationalen Exportkontrollen für Waffen- und Güter mit doppeltem Verwendungszweck – oder dual-use Gütern – ist.

Der Zweite Golfkrieg hat eine nützliche Überprüfung der Exportkontrollen nach sich gezogen. Das Bewußtsein über die Tatsache, daß die Truppen der Koalition sich Waffen gegenüber gesehen hatten, die von ihren eigenen Regierungen an den Gegner geliefert worden waren, führte zu Forderungen nach strengeren Kontrollen. Im Oktober 1991 verpflichteten sich die fünf Ständigen Mitglieder des UN Sicherheitsrates, selbst für 85% aller Waffenexporte weltweit verantwortlich, im Prinzip, die Belieferung der Region zu verringern. Viele glaubten, diese Bemühungen könnten zu einer umfassenden Übereinkunft zur Einschränkung des internationalen Waffenhandels führen.

Im Mai 1992 schien der Initiative jedoch der Dampf auszugehen, es gab Schwierigkeiten, sich lediglich auf Konsultationsprozeduren zu einigen. In der Zwischenzeit stiegen die Exporte in den Mittleren Osten. Seit dem Zweiten Golfkrieg wurden Verträge über 35 bis 45 Mrd. Dollar abgeschlossen, verglichen mit 6,8 Mrd. 1990. Auf der Jagd nach Devisen hat Rußland an Regierungen im Mittleren Osten hochwertige Waffensysteme verkauft, darunter Kampfpanzer, -flugzeuge und U-Boote. Kürzlich hat China sich aus den Beratungen der fünf ständigen Mitglieder des UN Sicherheitsrates zurückgezogen, in Reaktion auf eine us-amerikanische Entscheidung, nach dreizehn Jahren seine Politik zu ändern und Taiwan 150 Kampfflugzeuge vom Typ F-16 zu verkaufen. Die Aussichten für schnelle Fortschritte weltweit sind entsprechend geringer geworden.

Für eine Initiative der Europäischen Gemeinschaft

Die Europäische Gemeinschaft (EG) hat gute Gründe, eine führende Rolle bei den Bestrebungen für ein internationales Kontrollsystem des Rüstungshandels zu übernehmen. Zu allererst sind Mitgliedstaaten, insbesondere Großbritannien, Frankreich und Deutschland, stark in das internationale Waffengeschäft verwickelt. Die fünf größten Waffenexporteure der EG zeichnen gegenwärtig für 19% des weltweiten Handels mit Großwaffen verantwortlich und für 17% der Verkäufe an Länder der Dritten Welt.

Zweitens wird die EG von der Außenwelt zunehmend als beträchtlich mehr als die Summe ihrer Bestandteile wahrgenommen. Ein koordiniertes Herangehen der EG an andere wichtige Waffenexporteure erbrächte weit größere internationale Glaubwürdigkeit als die Initiative eines einzelnen Mitgliedstaates. Dieser Faktor hat angesichts eines immer wiederkehrenden Problems bei Verhandlungen über Rüstungsexportkontrollen besondere Bedeutung. Größere Lieferstaaten können Aufforderungen zur Zurückhaltung, die ihren Konkurrenten leichteren Zugang zu lukrativen Märkten gäben, wenig Anreiz abgewinnen. Solche Argumente wurden oft von Regierungen angeführt, um ihre Legislative und die Öffentlichkeit von der Erwünschtheit eines speziellen Exports zu überzeugen.

Ein dritter und drängender Grund zum Handeln auf Gemeinschaftsebene ist der Binnenmarkt. Die Wirksamkeit bestehender Kontrollvereinbarungen ist an Grenzkontrollen gebunden. Solche Kontrollen werden nun aber an die Außengrenzen der EG verlagert. Für Hersteller in der EG, die verbotene Märkte beliefern wollen, scheint der Weg weit offen, ihre Produkte ungehindert durch die Gemeinschaft zu einem genehmen Ausfuhrpunkt zu transportieren, an dem die Kontrollen als weniger effizient angesehen werden.

Um glaubhaft und effizient zu sein, müßte eine Initiative der EG zwei Bestandteile umfassen. Der erste wäre ein Versuch, die Ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates davon zu überzeugen, sich der Gemeinschaft bei der rationalen Handhabung und dem stufenweisen Abbau des internationalen Waffenhandels anzuschließen. Der zweite, in vielerlei Hinsicht eine Voraussetzung für den ersten, würde im Erweis des grundsätzlichen Willens der Mitgliedstaaten zur Verbesserung der eigenen Praktiken bestehen. Dies umfaßt insbesondere die Definition unzweideutiger Exportrichtlinien und die Anwendung einheitlich hoher Standards bei den Kontrollen an den Außengrenzen.

EG-Kontrollen im Aufbau

Um geeignete Maßnahmen für eine effiziente Exportkontrolle einzuführen und durchzusetzen, muß die Gemeinschaft schnell handeln und einen hohen Grad an Harmonisierung erzielen.

In einer ordnungsgemäß verwalteten Welt wäre es am sinnvollsten, ein einziges Kontrollsystem für Waffen und dual-use Güter aufzubauen. Unglücklicherweise ist diese Möglichkeit der EG gegenwärtig versperrt. Die Römischen Verträge schließen Waffenexportkontrollen explizit von den Kompetenzen der Institutionen der Gemeinschaft aus und eine Revision der Verträge (wobei die Annullierung des relevanten Artikels 223 keineswegs beschlossene Sache ist) ist nicht vor 1996 vorgesehen. Es ist kaum vorstellbar, wie in der Zwischenzeit eine gemeinsame Regelung für Waffenexporte anders als durch gemeinsame Erklärungen der Mitgliedstaaten zustande kommen könnte.

Die Entwicklung einer gemeinsamen Politik für dual-use Güter

Im Januar 1992 präsentierte die Kommission eine Mitteilung an den Rat und das Europäische Parlament, um die lizenzfreie Zone mit effektiven Kontrollen an den Außengrenzen der EG zu ergänzen. Als Kernelemente für die effektive Kontrolle von Exporten wurden bezeichnet: eine gemeinsame Liste von dual-use Gütern und Technologien; eine gemeinsame Liste von Bestimmungsorten; gemeinsame Kriterien für die Ausstellung von Exportlizenzen; ein Forum oder Einrichtung zur Koordinierung der Genehmigungspolitik und der Durchführungsverfahren; festgelegte Verfahren für die administrative Zusammenarbeit von Zoll und Genehmigungsbehörden. Zur Unterstützung dieser Anforderungen forderte die Kommission die Stärkung der Kontrollsysteme der Mitgliedstaaten. Dies soll die Einrichtung eines Informationssystems zwischen den Mitgliedstaaten und die Untersuchung der zollrechtlichen Aspekte von Exporten über andere Mitgliedstaaten umfassen.

Der Europäische Rat beauftragte die Kommission dann mit der Ausarbeitung eines Kontrollsystems für dual-use Exporte. Im August 1992 veröffentlichte die Kommission einen vollständigen „Vorschlag für eine Verordnung des Rates über die Kontrolle bei der Ausfuhr bestimmter Güter und Technologien mit doppeltem Verwendungszweck und bestimmter Nuklearerzeugnisse und Technologien“.

Gegenwärtig erscheint es unwahrscheinlich, daß das Ziel der Kommission, eine lizenzfreie Zone zu schaffen, erreicht wird. Das Kontrollsystem für dual-use Technologien wird nicht eher inkraft gesetzt werden als bis alle Mitgliedstaaten mit den Regelungen der Verordnung übereinstimmen. Der gegenwärtige Stand ist der folgende:

Zu kontrollierende Güter: Die Zwölf werden sich wahrscheinlich auf eine einzige Produktliste einigen, die der deutschen Ausfuhrliste vom Oktober 1992 ähnlich sein wird und die Listen der Nichtweiterverbreitungsregime einschließt. Für einen Übergangszeitraum wird eine Ausschlußliste bestehen, die vier Technologien mit besonders sensitivem Charakter umfaßt (Supercomputer, Unterwasserakustik, Verschlüsselungstechnologie und Materialien zur Absorption von Hochfrequenzen).

Zollkontrollen: Im Rahmen von CoCom wurde vor einiger Zeit festgestellt, die Kontrollen aller Mitglieder seien ausreichend. Der Vorschlag der Kommission, Programme zur Unterstützung einiger Mitgliedstaaten bei der Fortentwicklung ihrer Praktiken einzurichten, scheint dem in gewisser Weise zu widersprechen. Es bleiben Fragen hinsichtlich des Umfangs der Programme. Werden sie ausreichen, um in Ländern mit bekanntermaßen unterbesetzten und schlecht bezahlten Zollbehörden, wie etwa Griechenland, schnelle Verbesserungen zu bewirken? Wird das Computernetz, das die Zolldienste verbinden soll, rechtzeitig fertig sein?

Kriterien und Länderlisten: Neuere Informationen besagen, die sieben von der Kommission in ihrem Vorschlag aufgeführten Kriterien sollen auf vier bis fünf verringert werden. Eine Konsequenz davon ist, daß die Zwölf sich wahrscheinlich nicht auf eine Liste von untersagten Bestimmungsländern einigen können werden. In erster Linie Frankreich und Großbritannien sind gegen solche gemeinsamen Listen. Bis sich das ändert besteht das Problem, Hersteller von Exporten über andere Mitgliedstaaten abzuschrecken, die nicht dieselben Embargos beachten. Es scheint wahrscheinlich, daß sich die Kommission in einer Situation wiederfindet, in der sie ein Kontrollsystem einzurichten hat, ohne über eine gemeinsame Liste untersagter Empfängerländer zu verfügen und mit nicht ausreichenden Kontrollen in einigen Mitgliedstaaten. Das würde bedeuten, das Kontrollsystem für dual-use Exporte der Gemeinschaft nähert sich dem kleinsten gemeinsamen Nenner.

Die Entwicklung einer gemeinsamen Politik für Waffenexporte

Die EPZ gab den Rahmen für die Diskussion bestimmter Embargos ab, zum Beispiel gegen Argentinien 1982, gegen Syrien und Libyen 1985, gegen Südafrika 1986 und gegen Irak 1990.

Während der Regierungskonferenz war eine gemeinsame Politik bei Waffenexporten zum ersten Mal auf der Tagesordnung der EG. Die Streichung des Artikels 223 hätte daraus eine Gemeinschaftsaufgabe gemacht. Aber einige Mitgliedstaaten haben sich dem widersetzt. Der Vertrag erlaubt jedoch die mögliche Entwicklung einer engeren Koordination der Politiken zur Waffenexportkontrolle im Rahmen der zukünftigen Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) der EG. Großbritannien wurde die Verantwortung für die Ausarbeitung der Themenbereiche übertragen, die Gegenstand „gemeinsamer Aktionen“ werden sollen, und soll diesbezüglich beim Gipfel in Edinburgh Vorschläge unterbreiten.

1991 hat der Politische Ausschuß der EPZ eine ad-hoc Arbeitsgruppe gebildet, die sich getroffen hat, um Vorschläge hinsichtlich der Stärkung einer gemeinschaftlichen Herangehensweise und eine gemeinsame Liste konventioneller Waffen zu entwickeln. Darauf aufbauend, hat der Europäische Rat im Juni 1992 sieben Kriterien veröffentlicht, die in bezug auf Waffenexporte in den Mitgliedstaaten angewendet werden. Ein achtes Kriterium wurde beim Gipfel in Lissabon im Juni 1992 hinzugefügt. Schritte zur Definition der genauen Bedeutung der Kriterien wurden eingeleitet. Jedoch konnte sich die Arbeitsgruppe der EPZ bislang noch nicht auf eine gemeinsame Interpretation einigen. Bis zur Erzielung von Fortschritten können die Mitgliedstaaten weiterhin frei entscheiden, an wen sie exportieren und die Aussichten für die Harmonisierung der Kontrollen für Waffenexporte sind somit beschränkt.

Kriterien für Waffen- und dual-use-Exporte

Die Kriterien des Europäischen Rates für Exporte von Waffen und dual-use Gütern werden im Bericht im Detail definiert, um sie so konkret wie möglich zu gestalten und damit die Grundlage für ihre Anwendung im Rahmen einer gemeinsamen EG Exportpolitik zu legen.

Zusammengefaßt ergibt der Report, daß die Kriterien des Europäischen Rates gegenwärtig alle Situationen abdecken, in denen Exportbeschränkungen im Rahmen des Völkerrechts zwingend vorgeschrieben sind. Es handelt sich um Situationen, in denen ein internationales Staatsverbrechen vorliegt (insbesondere der illegitime Einsatz von bewaffneter Gewalt, die Unterdrückung des Rechts auf Selbstbestimmung, Völkermord, etc.) und/oder im Fall der Annahme von bindenden Sanktionen durch den UN Sicherheitsrat. Es ist möglich, das Vorliegen solcher Umstände weiter zu klären, indem international anerkannte Definitionen als Indiz für die Notwendigkeit eines vollständigen Embargos, das Waffen und dual-use Güter umfasst, herangezogen werden.

Eine zweite Gruppe von Kriterien bezieht sich auf Umstände, in denen ein potentielles Importland eine Verletzung internationaler Verpflichtungen begangen hat oder zwischen Staaten eine Situation der Unsicherheit besteht. Es gibt eine Debatte darum, ob in diesen Fällen automatisch die Einschränkung von Waffenexporten erforderlich wird oder nicht. Diese Umstände umfassen Situationen, die von nicht bindenden Sanktionen abgedeckt werden, wie schwere oder fortgesetzte Verletzungen der Menschenrechte oder des humanitären Völkerrechts, Verwicklung in Terrorismus oder Drogenhandel, Situationen des internen Aufruhrs und Nichtanerkennung oder -befolgung von Nonproliferationsverpflichtungen.

Die Reaktion auf solche Verletzungen würde unter allen Umständen Beschränkungen bei schweren oder »offensiven« Waffen erfordern, also jenen Waffensystemen, die in dem neu eingerichteten UN Waffenregister erfaßt werden sollen. Zusätzliche Maßnahmen wären erforderlich, um den Erfordernissen einer besonderen Situation gerecht zu werden. Beispielsweise im Fall von groben Verletzungen der Menschenrechte durch ein diktatorisches Regime, das seinen Zugriff auf die Macht mit Unterdrückung und Einschüchterung aufrecht erhält, müßte ein Exportverbot auch Güter umfassen, die diese Regierung bei der Unterdrückung der eigenen Bevölkerung benutzen könnte. Im Fall von Nichtanerkennung oder -befolgung von Vorkehrungen zur Nichtweiterverbreitung müßte der Export von strategischen Gütern, Materialien und Technologien untersagt werden.

Schließlich sind Situationen möglich, in denen Beschränkungen von Waffenexporten politisch angeraten oder moralisch wünschenswert erscheinen, aber in denen die Anwendung davon weit über das hinaus geht, was nach dem Völkerrecht erforderlich wäre. Zum Beispiel in einem Fall, in dem die Gemeinschaft und die Mitgliedstaaten hoffen, einen Staat zur Aufgabe der Absicht des Kaufs von Waffen zu bewegen, die ein regionales Gleichgewicht stören könnten, oder sich den Maßstäben verantwortlichen Regierens anzuschließen. Hier könnte die Auferlegung selektiver Exportbeschränkungen genutzt werden, um Druck auf die fragliche Regierung auszuüben.

Liste der betroffenen Länder

Die wirkungsvolle Umsetzung der Kriterien für Waffen- und dual-use Exportkontrollen würde erfordern, daß alle Mitgliedstaaten detaillierte Länderlisten beibehalten, in denen die Richtlinien für Exportgenehmigungen an jeden Staat außerhalb der EG festgelegt werden. Im Detail werden die Richtlinien für jeden Staat sich unterscheiden. Die Kategorien werden sich im Laufe der Zeit weiterentwickeln. Es ist dennoch möglich, die Länder in vier verschiedene Gruppen einzuteilen.

Gruppe 1: Staaten, für die alle Arten von Waffen- und dual-use Exporten von den EG Mitgliedstaaten genehmigt würden, wie die Mitglieder von CoCom und Länder wie Neuseeland und die Schweiz.

Gruppe 2: Staaten, für die Exporte einiger Kategorien militärischer und dual-use Güter genehmigt würden, unter strengen Anforderungen an den Endverbleib und Bedingungen für den Wiederexport. Diese Gruppe würde beispielsweise Singapur oder Hong Kong umfassen.

Gruppe 3: Staaten, denen Genehmigungen für bestimmte Kategorien von Waffen und dual-use Gütern verweigert würden. Beispielsweise Staaten in Spannungsgebieten, wie dem Mittleren Osten und Südostasien, würden offensive Waffen verweigert. Staaten, die Verpflichtungen aus Nichtweiterverbreitungsverträgen gebrochen haben (wie Indien, Israel und Pakistan), würden alle »sensitiven« dual-use Güter verweigert.

Gruppe 4: Staaten, an die Waffenexporte und die Lieferung von dual-use Technologien vollständig untersagt würden. Beispielsweise Staaten, die Krieg führen (wie Serbien und Kroatien) oder Staaten im Bürgerkrieg (wie Sudan), ausgenommen diejenigen, die sich nach UN Einschätzung gegen einen Angriff verteidigen; Staaten, die systematisch oder vorsätzlich Endverbleibserklärungen verletzen oder versuchen, von der EG verhängte oder unterstützte Embargos zu umgehen; Staaten in Spannungsgebieten, die sich weigern, an von der UNO eingeleiteten regionalen Sicherheitsverhandlungen oder Vermittlungsbemühungen teilzunehmen (wie Irak und Nordkorea); Staaten, die Terrorismus unterstützen oder dulden (wie Libyen); Staaten, die der groben Mißachtung der Menschenrechte für schuldig erachtet werden (wie Burma und Iran).

Alles in allem würde die strikte Durchsetzung dieser Kriterien den Export einiger Kategorien von Waffen und dual-use Technologien an eine ganze Reihe von Staaten außerhalb der EG zulassen. Exporte von offensiven Waffensystemen würden jedoch für fast alle der zehn größten Waffenimporteure in der Dritten Welt untersagt.

Überprüfung und Durchsetzung

Die Annahme gemeinsamer Waren- und Länderlisten hat wenig Zweck, insofern sie nicht von der Harmonisierung der Durchführungsmaßnahmen begleitet wird. Die Mitgliedstaaten müssen eine gemeinsame Herangehensweise nicht nur bei der Entwicklung der Politik, sondern auch bei deren Durchführung anwenden. In dieser Hinsicht empfiehlt der Bericht:

  • Die Mitgliedstaaten sollten ihre Genehmigungsprozeduren harmonisieren, um der bestehenden großen Bandbreite ein Ende zu setzen. Ohne standardisierte Lizenzen werden Diskrepanzen in der Umsetzung von politischen Entscheidungen auf Gemeinschaftsebene die Effizienz von Kontrollen beeinträchtigen.
  • Die Mitgliedstaaten sollten ihre Bemühungen zur Überprüfung des Endverbleibs verstärken, vermittels der Überprüfung der Ankunft der Waren durch die Zollbehörden des Einfuhrlandes und der Kontrolle der Verwendung von Gütern durch Botschafts- oder Konsulatsangehörige.
  • Einen hohen Ausbildungsstand für das gesamte Personal der mit der Überwachung und Genehmigung befaßten Behörden, mit ausreichend Mitteln, Austauschprogrammen und Koordinierung der Genehmigungsinstanzen durch die zwölf Mitgliedstaaten.
  • Hersteller von Waffen und dual-use Gütern sollten einen ihrer Direktoren als verantwortliche Person für die Befolgung der Exportregeln benennen.
  • Eine EG Exportagentur zur Überwachung des Funktionierens des harmonisierten Exportkontrollsystems sollte eingerichtet werden, die gleichzeitig Expertise und technische Hilfestellung für die Mitgliedstaaten bereitstellt.
  • Die Mitgliedstaaten sollten ihre Strafen, die widerrechtliche Exporte wirtschaftlich unrentabel machen sollten, harmonisieren. Strafen, wie Geldbußen bis zum fünffachen des fraglichen Warenwertes, sollten angesetzt, der gesamte Umsatz einer Transaktion sollte beschlagnahmt werden; eine Mindestdauer für Gefängnisstrafen, entsprechend den gegenwärtig in Deutschland angedrohten, sollte eingeführt werden.
  • Die nationalen Parlamente und das Europaparlament sollten verstärkt in die Beobachtung des Exportkontrollsystems einbezogen werden, inklusive einer Vorabbenachrichtigung und einem parlamentarischen Vetorecht bei Exporten über einem gewissen Schwellenwert. Eine solchermaßen erhöhte Transparenz würde auf Waffenhersteller und Regierungsbeamte auf Abwegen abschreckend wirken.

Zusammenfassung

Zur Erzielung bestmöglicher Ergebnisse müßten die Exportkontrollen der EG, wo immer möglich, mit denen anderer Exporteure harmonisiert werden. Einige multilaterale Regime zur Begrenzung der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, Raketen und destabilisierenden dual-use Technologien bestehen bereits. Diese Regime müssen verstärkt und ausgedehnt werden. Insbesondere müßte ein wirkungsvolles multilaterales Regime in der Art entwickelt werden, daß es die Verbreitung sensibler und destabilisierender Technologien in Teile der Dritten Welt begrenzt, ohne zivile Entwicklungsprogramme zu behindern. Dies würde »höhere Zäune um weniger Güter« erfordern, bei stärkerer Betonung der Überprüfung des Endverbleibs. Die Verordnung der Kommission könnte, falls sie erheblich verbessert wird, hierzu beitragen.

In Hinsicht auf Rüstungsexportkontrollen ist klar, daß die EG kurzfristig mit anderen großen Lieferstaaten zusammenarbeiten muß. Die NATO und die Bemühungen der ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates verbindet Mitgliedstaaten der EG mit den USA, Kanada und China, und CoCom bringt Japan in den konsultativen Prozeß. Darüber hinaus wurden Treffen der G7 1991 und '92 dazu genutzt, um Deutschland, Japan, Kanada und Italien lose in die Bemühungen der ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates einzubinden. Das Forum für Sicherheitskooperation der KSZE könnte den Rahmen für die wichtige Zusammenarbeit der EG mit Staaten Mittel- und Osteuropas, sowie GUS-Staaten, abgeben. Wegen ihrer besonderen Verbindungen mit den und Einflußmöglichkeiten auf die Staaten Osteuropas und der GUS ist die EG in einer idealen Position, in diesen Foren eine Führungsrolle zu übernehmen.

Der vollständige Bericht kann bei Saferworld, 82 Colston Street, Bristol BS1 5BB, Tel. 00-44-272-276 435, bezogen werden. Preis: £ 60 für Institutionen, £ 15 für Privatpersonen.

Biotechnologie und vorbeugende Rüstungskontrolle

Biotechnologie und vorbeugende Rüstungskontrolle

Zivil-militärische Verwendung von biologischer Forschung

von Kathryn Nixdorff

Die Autorin Kathryn Nixdorff zeigt die Gefahren der zivil-militärischen Verwendung in der Biotechnologie auf und benennt die ambivalenten Forschungsbereiche. Es sei praktisch unmöglich, Grundlagen für eine – wie sie meint legitime – Verteidigung gegen biologische Waffen aufzubauen, ohne daß gleichzeitig ein Aggressionspotential geschaffen wird.

Militärisches Interesse an biologischen Waffen erreichte zunächst einen Höhepunkt in den Jahren vor und während des Zweiten Weltkrieges. Zu dieser Zeit wurden insbesondere von den Alliierten (USA, Großbritannien) aber auch von Japan viel Energie und erhebliche finanzielle Mittel in die Erforschung, Entwicklung und Produktion von biologischen Waffen investiert1. Es wurde jedoch schnell erkannt, daß diese Waffen, vom militärischen Standpunkt aus betrachtet, große Unzulänglichkeiten aufwiesen.

Eine der herausragendsten Eigenschaften konventioneller biologischer Waffen ist ihre Unberechenbarkeit; es ist praktisch unmöglich, sie präzise einzusetzen oder ihre Wirkung zu kontollieren2,3. In den frühen siebziger Jahren konnte ein generelles Desinteresse der Militärs an biologischen Waffen registriert werden2, das sicher durch ihre mangelnde Handhabbarkeit hervorgerufen worden war.

Ohne Zweifel war dies eine der Ursachen der politischen Entwicklung, die zu der 1972 vereinbarten Konvention über Biologische Waffen (BWC) führte. Die Signatarstaaten verpflichteten sich im Rahmen dieser Übereinkunft, biologische und Toxin-Waffen weder zu entwickeln, noch zu produzieren, noch zu lagern (Abbildung 1)4. 118 Nationen gehören zu den Unterzeichnern dieses Vertrages. Es hat also durchaus den Anschein, als würde von biologischen Waffen wenig Gefahr für den Weltfrieden ausgehen. Gleichwohl jedoch enthält die Übereinkunft eine Reihe von Unklarheiten und Mängel in Bezug auf effektive Verifikation und Beschwerdeverfahren. So untersagt sie die Entwicklung, Herstellung und Lagerung von biologischen Erregern und Toxinen „…von Arten und Mengen, die nicht durch Vorbeugungs-, Schutz- oder sonstige friedliche Zwecke gerechtfertigt sind…“ (Abbildung 1)4. »Arten« und »Mengen« werden nicht weiter spezifiziert. Dadurch wurde eines der Schlupflöcher geschaffen, mit dem sich Forschung an biologischen Waffen unter dem Mantel des Verteidigungszweckes trefflich rechtfertigen läßt.

Neue Technologien

Mitte bis Ende der siebziger Jahren wirkte jedoch die Entwicklung von neuen Technologien im biologischen Bereich als Triebfeder für ein neu erwachtes Interesse an biologischen Waffen5,6. Dies wurde weiter durch die vermehrte Förderung von Forschungsprojekten unter Anwendung der Gentechnik durch militärische Instanzen in den 80er Jahren dokumentiert7-19. Die nachfolgend aufgelisteten Technologien sind im Hinblick auf eine mögliche militärische Anwendung relevant:

Techniken der DNA-Rekombination (Gentechnik):

  • Designer Genes-Protein-Engineering / Design
  • Fermenter-Technologie
  • Hybridoma-Technologie

Im Vordergrund steht die Technik der Rekombination von Desoxyribonukleinsäure (DNA) oder die Gentechnik. Diese beinhaltet den Transfer des genetischen Materials (Gene) von einem Organismus zum anderen. Dadurch wird der Organismus mit neuen, gleichsam genetisch verankerten Eigenschaften ausgestattet. Dieser Prozeß findet auch in der Natur statt, jedoch wird der Prozeß durch die Anwendung der Gentechnik so manipuliert, daß alles schneller und präziser abläuft, und zwar auch über genetische Barrieren hinweg.

Um die Gene zu übertragen, benutzt man gewöhnlich einen Vektor oder Überträger, meistens ein Plasmid, ein ringförmiges Stück der DNA, das autonom in einer Zelle sich reproduzieren kann20. Durch die Anwendung von bestimmten Enzymen kann ein Stück DNA ausgeschnitten und in ein Plasmid eingeklebt werden. Das im Plasmid rekombinierte DNA-Molekül kann anschließend in ein Bakterium, in Hefen oder auch in Säugetierzellen eingeschleust werden (Abbildung 2)20. Wenn das neue Gen funktioniert, bekommt diese Zelle die Eigenschaft, die das Gen bestimmt.

Das genetische Material von Viren kann auch manipuliert werden. Hier wird jedoch eine andere Strategie eingesetzt. Das zu übertragene Gen wird in ein Plasmid eingebaut. Wenn das Plasmid auch etwas DNA trägt, das gleich oder homolog zur Virus-DNA ist, findet eine Rekombination dieses Teils des Plasmids mit der Virus-DNA in der Wirtszelle statt, und das Virus trägt das neue Gen (Abbildung 3)21.

Eine Technologie, die sich noch in der Entwicklungsphase befindet, ist die Technologie der designer genes oder designer proteins22. Hierzu wird ein Protein mit bestimmten Eigenschaften am Computer entworfen. Aus diesem Entwurf wird eine DNA-Sequenz abgeleitet und synthetisiert. So ist z.B. ein Protein namens Felix aus einem Graduierten-Seminar an der Duke Universität in den USA entstanden. Die Teilnehmer dieses Seminars haben die molekulare Struktur des Proteins entworfen, während andere Forscherteams die DNA-Sequenz abgeleitet und das Gen synthetisiert haben. Das synthetische Gen wurde in ein Plasmid mit einem funktionierenden Expressions-System eingebaut und das Protein in E. coli produziert. Felix hatte in der Tat die Eigenschaften, die vorausgesagt worden waren22. Felix ist natürlich ein sehr kleines, einfaches Protein mit keiner biologischen Funktion; das Beispiel weist aber auf eine Gegenwarts- bzw. Zukunfts-Richtung hin.

Zahlreiche Innovationen, auf die, wegen Platzmangel nicht näher eingegangen werden können, machen solche Manipulationen möglich und zunehmend immer leichter.

Militärische Relevanz

der Technologien

Bezüglich der militärischen Nutzung der Gentechnologie werden einige mögliche Manipulationen in der aktuellen Debatte häufig genannt:

(a) Die Übertragung von Antibiotika-Resistenz auf Erreger von Infektionskranheiten.

(b) Die Veränderung von Antigenen der Zelloberfläche von Kranheitserregern.

(c) Die Übertragung von pathogenen (Krankheiten verursachenden) Eigenschaften auf Mikroorganismen.

Die Übertragung von Resistenz gegen Antibiotika auf Mikroorganismen liegt für die Gentechnik sicherlich im Bereich des Möglichen. An Infektionen, die im Krankenhaus erworben werden und nur äußerst schwierig unter Kontrolle zu halten sind, läßt sich vielleicht am besten zeigen, welche verheerenden Folgen eine einmal erlangte Resistenz gegenüber einer Vielzahl von Antibiotika haben kann. In solchen Fällen wird diese Widerstandsfähigkeit von Mikroorganismen, die Infektionen auslösen, durch genetische Übertragung allerdings unter Bedingungen natürlicher Selektion verursacht.

Auch die Veränderung von einzelnen Bestandteilen bzw. Antigenen der Zelloberfläche durch genetische Manipulation ist im Prinzip möglich. Das körpereigene Immunsystem erkennt und bekämpft eindringende Erreger über die Struktur ihrer Zelloberflächen. Wenn beispielsweise durch Impfungen gegen spezifische Infektionserreger Immunität erreicht wurde, ist das Immunsystem gleichwohl nur in der Lage bei späterem Kontakt mit einem Erreger, diesen zu identifizieren und zu bekämpfen, wenn die Antigene der Zelloberfläche denen entsprechen, auf die die Impfstoffe zielen. Ist dies nicht der Fall, kann ein Erreger ohne weiteres das spezifische Immunsystem überwinden.

Das Problem bei der Modifikation von Antigenen der Zelloberfläche liegt darin, daß Mikroorganismen, wie etwa Bakterien, über mehrere verschiedene Antigene verfügen, die vom Immunsystem erkannt werden können und demzufolge in ihrer Gesamtheit, d.h. Protein- wie Polysaccharid-(aus Zuckermolekülen aufgebaute)-Antigene, vollständig verändert werden müßten. Dabei handelt es sich um eine äußerst schwierige Aufgabe, die sehr weitreichende Manipulationen erfordert. Es ist unwahrscheinlich, daß bei dem gegenwärtigen Stand der Wissenschaft entsprechende Versuche zum Erfolg führen können. Erfolgversprechender könnten Manipulationen der Antigenstruktur der Oberfläche von Viren sein, da diese meist eine sehr einfache Oberflächenstruktur aufweisen.

Auch bei Versuchen, pathogene Eigenschaften von Mikroorganismen zu übertragen, treten erhebliche Probleme auf. Solche Manipulationen erfordern den Transfer von Genen zur Steuerung der Biosynthese von gewebeschädigenden Toxinen oder Enzymen, die das Eindringen der Mikroorganismen erleichtern. In vielen Fällen sind aber die krankheitserregenden Eigenschaften wenig spezifiziert, oder pathogene Effekte beruhen auf dem Zusammenwirken mehrerer Faktoren, die einzeln mehr oder weniger harmlos sind. Wenn z.B. ein Toxingen in ein harmloses Bodenbakterium (Bacillus subtilis) übertragen wurde, konnte das Bakterium zwar in Kultur das Toxin produzieren, war aber völlig avirulent, als es in Mäuse injiziert wurde23. Ebenfalls kann Bacillus anthracis (Erreger von Milzbrand) durchaus zur Krankheit oder gar zum Tode führen, aber nur unter der Vorraussetzung, daß es diesem Mikroorganismus gelingt, sich den Schutzmechanismen des Wirt-Systems zu entziehen, sich dort zu vermehren und zu verbreiten. Diese Fähigkeit wird von einer Reihe unterschiedlicher Faktoren beeinflußt.

Zusammenfassend können die Techniken der DNA-Rekombination durchaus benutzt werden, um Mikroorganismen mit neuartigen Eigenschaften zu erzeugen. Ob es sich dann um effektivere biologische Waffen handelt, ist im allgemeinen zweifelhaft. Vor allem, neuartige infektiöse Agenzien werden genauso schwer beim Einsatz zu kontrollieren sein wie konventionelle, infektiöse Krankheitserreger. Wir können uns jedoch nicht darauf verlassen, daß keine Verbesserungen der Waffentauglichkeit konventioneller Agenzien in der Zukunft durch solche Manipulationen stattfinden werden. Die biologische Wissenschaft ist stets durch dramatische Durchbrüche in regelmäßigen Zeitabständen charakterisiert worden, die immer wieder völlig neue Möglichkeiten eröffnen. Je intensiver geforscht wird, um so wahrscheinlicher können Durchbrüche stattfinden. Dies ist eine der allergrößten innewohnenden Gefahren, die mit der Ambivalenz der biologischen Forschung in diesem Gebiet verbunden ist.

Ambivalenz der Forschung

Die oben genannten Techniken werden aktuell im Rahmen militärischer Forschungsaktivitäten angewendet, die mit einer Verteidigung gegen biologische Waffen verbunden sind. Die Hauptbereiche dieser Forschungen beinhalten:

(a) die Entwicklung von Impfstoffen

(b) die Aufklärung von Pathogenitätsmechanismen bei infektiösen Krankheitserregern

(c) die Aufklärung der Wirkungen von Toxinen.

Gleichzeitig sind dies hochaktuelle Forschungsbereiche in der Biologie. Man braucht nur die Fachliteratur durchzusuchen, um festzustellen, welche enormen Aktivitäten im zivilen Forschungssektor in diesen drei Bereichen heute stattfinden.

Die biologisch-medizinische Forschung ist stets geprägt von dem Verlangen, Impfstoffe zu entwickeln, die einen besseren Schutz gegen infektiöse Krankheitserreger bieten. Im Falle von Krankheitserregern, die als potentielle B-Waffen genutzt werden können, ist es äußerst schwierig, zivile Forschungsziele von militärischen Interessen zu trennen. Viele Krankheitserreger, die aus der Sicht der medizinischen Forschung wichtig sind, werden auch als potentielle biologische Waffen von der militärischen Seite eingestuft (Tabelle 1). Durch einen Vergleich der zivilen und militärischen Interessen bezüglich der Vakzinentwicklung kann festgestellt werden, daß nur einige wenige Krankheitserreger, die von militärischem Interesse sind, nicht auf den Prioritätslisten des Instituts für Medizin (National Academy of Sciences, USA) oder der Weltgesundheitsorganisation (WHO) für die Entwicklung von Impfstoffen zu finden sind24. Es ist ein legitimes Anliegen der Militärs, ihre Truppen gegen infektiöse Krankheiten, die in der Kampfzone endemisch sind, schützen zu wollen. In der Tat sind Infektionskrankheiten in allen Kriegen in der Geschichte die Hauptursache für Verluste gewesen25. Es wird aber auch als militärische Pflicht empfunden, die Truppen gegen potentielle biologische Kampfstoffe zu schützen26. Somit wurden die Truppen im Golfkrieg z.B. gegen Milzbrand geimpft, weil einen Angriff seitens Irak mit diesem biologischen Kampfstoff vermutet wurde27. Hierzu muß jedoch gesagt werden, daß es äußerst zweifelhaft ist, ob eine effektive Verteidigung gegen alle potentiellen biologischen Waffen realisiert werden kann durch die Verwendung von Vakzinen, besonders dann, wenn wirklich neue, unbekannte Agenzien als Bedrohung empfunden werden.

Die Gefahren der Ambivalenz in diesem Bereich liegen in der Tatsache, daß es praktisch unmöglich ist, eine Verteidigung aufzubauen, ohne daß ein Aggressionspotential geschaffen wird. Ein Impfstoff nutzt in erster Linie dem Angreifer, der genauestens weiß, was als Agens eingestzt werden soll.

Die eifrigsten Aktivitäten der zivilen Forschung bezüglich infektiösen Krankheitserregern sind jedoch mit der Aufklärung der Mechanismen von pathogenen Wirkungen dieser Agenzien verbunden. Hier sind auch die Gefahren der Ambivalenz weitaus am größten. Für eine effektive Bekämpfung von Infektionskrankheiten ist es essentiell, die Mechanismen der krankmachenden Prozesse zu durchschauen. Obwohl intensive Forschungsarbeiten seit Jahrzehnten durchgeführt werden, sind die Prozesse der Pathogenität bei den meisten Infektionskrankheiten nur unzureichend bekannt28. Es wird immer deutlicher, daß mehrere Faktoren bei der Virulenz eines Mikroorganismus und daher im Pathogenitätsprozeß eine Rolle spielen. Die Gene, die die Produktion von Virulenz-Faktoren bestimmen und kontrollieren, werden oft zusammen reguliert, und der Pathogenitätsprozeß kann nur in diesem Kontext verstanden werden. Zu hoffen jedoch, daß Genregulation von Pathogenität im Ganzen je verstanden sein könnte, wird von Experten in diesem Gebiet als illusorisch bezeichnet29. Mikrobielle Pathogenität ist also komplex und multifunktionell. Das fehlende Wissen über Pathogenitätsmechanismen ist eines der größten Hindernisse zur Entwicklung einer neuen biologischen Waffe, wo die Hauptstrategie sein würde, Virulenzfaktoren auf Mikroorganismen, die sie nicht schon besitzen, zu übertragen. Wenn die Mechanismen der Pathogenität verstanden werden, kann zwar die Krankheit effektiver bekämpft werden, jedoch kann auch der Erreger als biologische Waffe effektiver manipuliert und verwendet werden.

Als drittes, ambivalentes Forschungsgebiet besteht die Aufklärung der Wirkungsweise und die Erforschung der Effektivität der Toxine. Diese toxisch wirkenden, biologischen Stoffe können im Prinzip wie chemische Waffen eingesetzt werden. Viele besitzen jedoch eine höhere Toxizität als chemische Waffen (Tabelle 2). Daß sie bis jetzt nicht als solche angewendet wurden, liegt gewiß zum größten Teil daran, daß relativ wenig über die Waffentauglichkeit dieser Substanzen bekannt ist. Auch in der Vergangenheit war die Produktion von Toxinen relativ problematisch. Zwischenzeitlich kann ein zunehmendes, weltweites Interesse (ziviles und militärisches) an Toxinen beobachtet werden30. Auch die Möglichkeit der Produktion von Toxinen in größeren Mengen als bisher wird z.B. durch die Verbesserung der Fermenter-Technologie oder durch die Anwendung der Gentechnik erreicht. Es wurde durch Forschungen in der letzten Zeit festgestellt, daß einige dieser Toxine stabiler sind als bisher gedacht. Ferner sind einige durchaus bei der Aufnahme über die Aerosol-Route oder auch über die Haut wirksam (Tabelle 2)30-33. Dies erhöht ihre Attraktivität für einen Einsatz erheblich. Bei den Arten von Toxinen, die über die Haut aufgenommen werden können, ist es bekannt, daß diese Route weniger effektiv ist als wenn sie inhaliert werden32,33. Hier muß allerdings betont werden, daß die Effektivität von chemischen Kampfstoffen ebenso beeinträchtigt wird, wenn sie über die Haut aufgenommen werden31. Trotzdem ist die Aufnahme über die Haut immer noch ein effektiver Weg.

Die Ambivalenz der Forschungen über Toxine wird dadurch verstärkt, daß einige dieser Toxine als Therapeutika z.B. bei Krebserkrankungen34 oder auch bei neurologischen Krankheiten35 einen Einsatz finden.

Bei den Verhandlungen über eine Chemie-Waffen-Konvention wurde versäumt, Vorkehrungen für eine effektive Kontrolle über die Anwendung von Toxinen als chemische Kampfstoffe zu gewährleisten36. Daher ist es um so wichtiger, die Schwächen der B-Waffen-Konvention in diesem Bereich auszuräumen. Verifikationsmodalitäten für Toxine müssen unbedingt ausgearbeitet werden.

Proliferationsrisiken

Die Proliferationsproblematik hängt eng mit der Ambivalenz der molekular-biotechnologischen Forschungarbeiten zusammen.

Vertikale Proliferation:

Gemessen an der Vermehrung der Forschungsaktivitäten auf der militärischen Seite im biologischen Bereich muß das Proliferationsrisiko als hoch eingeschätzt werden.

Mit der Vermehrung dieser Forschungsaktivitäten ist die Gefahr verbunden, daß die Attraktivität biologischer Agenzien als potentielle Waffen stets wachsen wird, besonders wenn viel über den Umgang mit potentiellen biologischen Kampfstoffen erfahren wird und die Möglichkeiten zur Manipulation von Mikroorganismen steigen. Andererseits ist der große Nutzen der molekularen Biotechnologien besonders für die Forschung, aber auch für die Medizin, unumstritten. Trotz der Nützlichkeit dieser Methodik ist eine kritische Reflektion über die Anwendung der Technologien besonders angebracht, auch im Hinblick auf die Entwicklung der Wissenschaft, die durch solche Technologien enorm aber möglicherweise einseitig beeinflußt wird.

Horizontale Proliferation:

Es wäre sicherlich falsch, den Transfer dieser Technologien an Ländern, die Vertragsstaaten der BW-Konvention sind, aber diese Technologien noch nicht besitzen, zu verweigern. Sie würden dadurch in ihrer Entwicklung und vor allem in ihrer Gesundheitsvorsorge zurückgehalten. Im Gegenteil, verpflichten sich die Vertragsstaaten in Artikel X der BW-Konvention „den weitestmöglichen Austausch von … technologischen Informationen zur Verwendung bakteriologischer (biologischer) Agenzien und von Toxinen für friedliche Zwecke … zu erleichtern“4.

Nichtsdestoweniger liegt eine aktuelle Gefahr in der Proliferation dieser Technologien37. Artikel III der BW-Konvention richtet sich an diese Gefahr, aber die Bedingungen des Handelns sind unklar definiert worden. Das Problem ist wieder dual-use. Viele der Materialien und Technologien, die legitimen, friedlichen Zwecken dienen, können auch für offensive Programme verwendet werden.

Die Proliferationsproblematik wird besonders deutlich am Beispiel Irak. Es scheint ohne Zweifel zu sein, daß der Irak ihre Chemiewaffenkapazität im Iran-Irak-Krieg durch Exporte bekommen hat38,39. Erst nachdem der Irak eine schwere Niederlage im Iran-Irak-Krieg erlitten hat, begannen sie Senfgas einzusetzen39. Aus Quellen des US-Geheimdienstes wurde vermutet, daß der Irak eine BW-Kapazität für den Einsatz im Golfkrieg entwickelt hat; daher wurden die Truppen u.a. gegen Milzbrand geimpft27,40. An der Entwicklung der vermuteten Kapazität sollten gewisse Exporte beteiligt sein41,42. So z.B. wurden Mykotoxine, Nährböden für Mikroorganismen sowie Brutschränke von deutschen Firmen geliefert. Die Lieferung der Mykotoxine hatte keine rechtlichen Folgen; nach einem Gutachten unterlagen die ausgeführten Mengen nicht dem Verbot durch das Kriegswaffenkontroll-Gesetz. Auch die anderen Lieferungen waren genehmigungsfrei; erst seit dem 1. Januar 1990 besteht eine Ausfuhrliste für sensitive Güter im Bereich von biologischen Waffen41. Es soll auch bemerkt werden, daß der Irak ein Vertragspartner der BWC ist.

Es gibt keine einfache Lösung des Dilemmas: Kooperation und technologischen Austausch fördern, aber gleichzeitig Proliferation von Waffen verhindern. Die Gefahr soll wahrgenommen und beachtet werden, aber sie soll nicht den gesamten Kurs bestimmen. Hier muß sehr differenziert verfahren werden.

Militärische Strategien und biologische Waffen

Alfred Mechtersheimer43 hat die Entwicklung militärischer Strategien der NATO im Hinblick auf die wachsende Debatte über chemische und biologische Waffen thematisiert. Nach seiner Einschätzung haben solche Programme wie AirLandBattle zu einer Reevaluierung chemischer und biologischer Waffen als potentielle, taktische Waffen geführt. Für eine solche Strategie wird Landgewinn ohne Landzerstörung auch innerhalb der neuen politischen Weltlage aus militärischer Sicht als sinnvolles Ziel erachtet. Der Hauptfaktor ist nicht mehr, eine destruktive Kapazität, sondern die Fähigkeit der rapiden Vorwärts-Offensive aufzubauen. Diese Strategie sieht vor, den Gegner so zu schwächen und zu demoralisieren, daß kein effektiver Gegenangriff mehr stattfinden kann. Hierzu würden sich biologische und chemische Waffen besonders gut eignen.

Mit der Beendigung des Kalten Krieges werden voraussichtlich Spannungen in den Ländern der Dritten Welt zunehmen. Es wird erwartet, daß die Antwort auf diese Spannungen Low-Intensity-Conflicts sein werden44. Nach einem Bericht des Verteidigungsministeriums der USA werden innere Konflikte, Grenzauseinandersetzungen, Polizeieinsätze und andere Typen von »Buschfeuer«-Schlachten die Hauptform der Konflikte in der nächsten Zeit sein45.

Ein wachsendes Risiko wird jedoch vor allem in sog. Mid-Intensity-Conflicts liegen, die die großen und mittleren Mächte der Dritten Welt einbeziehen werden. Diese Nationen besitzen die meisten der modernen Waffen und rühmen sich, nukleare und/oder chemische und biologische Waffen zu besitzen37.

Wie und mit welchen Waffengattungen solche Konflikte ausgetragen werden, ist unter anderem von zukünftigen technischen Entwicklungen und der Proliferation solcher Technologien in die Länder der Dritten Welt abhängig.

Kontrollen

In solchen Forschungsbereichen, wo die Ambivalenz so prägnant ist, und wo die Proliferationsproblematik schwierig zu lösen ist, ist die totale Transparenz der Forschung essentiell. Dies gilt besonders für die Waffenschutzforschung. Es ist charakteristisch für militärische Programme, die mit chemischen und biologischen Waffen zu tun haben, daß die Aktivitäten geheim und verschleiert gehalten werden. Dies erzeugt Angst und Mißtrauen. Um diese abzubauen, wäre es am besten, wenn sämtliche defensivartigen biologischen Forschungen aus dem Militärbereich gestrichen werden, besonders die Arbeiten, die mit infektiösen Krankheitserregern und Toxinen verbunden sind. Dies muß auf jeden Fall ein langfristiges Ziel sein. Als kurzfristiges Ziel muß Transparenz geschaffen werden.

Obwohl es in diesem Gebiet äußerst problematisch sein würde, Forschungsmöglichkeiten durch Verbote einzuschränken, soll mindestens die Erzeugung (auch im Namen der Verteidigung) biologischer Agenzien mit veränderten Eigenschaften, die ihre Brauchbarkeit als Waffen vergrößern würden, verboten werden.

Um eine bessere Kontrolle über biologische Waffen zu gewinnen, müssen die Schwächen der BW-Konvention ausgeräumt werden. Vor allem die Ausarbeitung von Verifikationsmodalitäten würde wesentlich zur Stabilität beitragen.

U.a. hat die international wirkende Arbeitsgruppe der Federation of American Scientists mit großem Einsatz gut durchdachte, durchaus plausible Verifikationsmodalitäten ausgearbeitet46.

Das als sehr positiv zu bewertende Ergebnis der Dritten Überprüfungskonferenz der BWC im September 1991 war die Ernennung einer Ad Hoc Gruppe von Regierungsexperten, die von einem wissenschaftlich-technischen Standpunkt aus potentielle Verifikations-Maßnahmen identifizieren und überprüfen soll. Im Bericht des Vorsitzenders über das erste Treffen dieser Gruppe vom 30. März bis 10. April 199247 wurden potentielle Verifikations-Maßnahmen identifiziert, die im Sinne der Vorschläge der Federation of American Scientists liegen. Die weiteren Anstrengungen der Ad Hoc Gruppe sollten kräftig unterstützt werden.

Ein besonders positiver Beitrag zur Überwindung der Ambivalenz ist das internationale Programm Vaccines for Peace, das von Erhard Geißler formuliert wurde25. Dies ist ein Programm für die Entwicklung von Impfstoffen in einem internationalen Kontext. Es wurde in erster Linie konzipiert, um die Konversion von Forschung aus dem Verteidigungsbereich in den Zivilbereich zu befördern. Dadurch würde es gegen eine vertikale Proliferation wirken. Das Programm könnte ferner bei der Kooperation und beim Austausch von Technologien in einem friedlichen Rahmen unterstützend wirken (die Ziele des Artikel X implementieren), und zur Verbesserung der Gesundheitsvorsorge, besonders in Entwicklungsländern, beitragen. Die Unterstützung des Programmes ist äußerst wichtig für die Schaffung von Transparenz der Forschungsaktivitäten in diesem Bereich.

Anmerkung

Der Artikel basiert auf Ausführungen im Rahmen der 22. Sitzung des Unterausschusses für Abrüstung und Rüstungskontrolle – Öffentliche Anhörung »Neue Waffentechnologien unter dem Aspekt der Vorbeugenden Rüstungskontrolle« in Bonn, 9.11.1992

Artikel I des Übereinkommens über das Verbot der
Entwicklung, Herstellung und Lagerung bakteriologischer (biologischer) Waffen und von
Toxinwaffen sowie über die Vernichtung solcher Waffen
Jeder
Vertragsstaat dieses Übereinkommens verpflichtet sich,

1. mikrobiologische oder andere biologische Agenzien oder – ungeachtet ihres
Ursprungs und ihrer Herstellungsmethode – Toxine von Arten und in Mengen, die nicht durch
Vorbeugungs-, Schutz- oder sonstige friedliche Zwecke gerechtfertigt sind, sowie

2. Waffen, Ausrüstungen oder Einsatzmittel, die für die Verwendung solcher
Agenzien oder Toxine für feindselige Zwecke oder in einem bewaffneten Konflikt bestimmt
sind,

niemals und unter keinen Umständen zu entwickeln, herzustellen, zu lagern oder
in anderer Weise zu erwerben oder zurückzubehalten.

Mutmaßliche BW- bzw. TW-Agenzien

BAKTERIEN

Bacillus anthracis (Milzbrand) / Coxiella burnetii (Q Fieber) / Francisella
tularensis (Tularämie) / Vibrio cholerae (Cholera) / Yersinia pestis (Pest)

PROTOZOEN

Plasmodium (Malaria) / Trypanosoma (Schlafkrankheit)

VIREN

Hepatitis A / Non A Non B Hepatitis / Bunyavirus / Chikungunya-Virus / Dengue-Virus /
Japanisches Enzephalitis-Virus / Östliches Enzephalitis-Virus / Westliches
Enzephalitis-Virus / Riftalfieber-Virus / Mayaro-Virus / Zeckenenzephalitis-Virus
/Gelbfieber-Virus / Junin-haemorrhagisches Fieber-Virus / Machupo-haemorrhagisches
Fieber-Virus / Koreanisches haemorrhagisches Fieber-Virus / Krim-Kongo haemorrhagisches
Fieber-Virus

TOXINE

Aflatoxin-Mykotoxine / Botulinumtoxin / Brevetoxin / Diphtherietoxin / Ricin /
Saxitoxin / Staphylococcus Enterotoxin B / Tetanustoxin / Tetrodotoxin /
Trichothecene-Mykotoxine

(Liste aus 24, 25)

Vergleich der Charakteristika potentieller
Toxinwaffen und Chemiewaffen*
Typ Substanz LD50** (ng/kg) Hitze-Stabilität Effektiver Weg
Einatmung Haut
TW Botulinum 4 ++
Tetanus 5 ++
Ricin 13 ++
Diphtherie 100 ++
Mycotoxin T-2 500.000 + ++ +
Myrotoxin B 8.000 + ++ +
Saxitoxin 13.000 + ++ +
CW Sarin 1.500.000 + ++
VX 30.000 + ++ +
* Daten aus 30) 31) 32)
33) 34)
** Dosen, die für 50 % der Betroffenen lethal wirken. Da in den meisten Fällen keine
genauen Daten in Bezug auf Menschen bekannt sind, werden die lethalen Dosen der Toxine
für Menschen nur geschätzt (von Daten über die Wirksamkeit auf Tiere). Die Angaben in
der Tabelle sind konservative Einschätzungen aus der Literatur.

Anmerkungen

1) Schrempf, A. 1982. Chemische und biologische Waffen, p. 115-128. In: H.G. Brauch und A. Schrempf (ed.), Giftgas in der Bundesrepublik. Fischer Taschenbuch Verlag, Stuttgart. Zurück

2) Meselson, M.S. 1970. Chemical and biological weapons. In: Scientific American 222:15-25. Zurück

3) Rosebury, T. and Kabat, E. 1947. Bacterial warfare. J. Immunol. 56:7-96. Zurück

4) Biological Weapons Convention 1972. Übereinkommen über das Verbot der Entwicklung, Herstellung und Lagerung bakteriologischer (biologischer) Waffen und von Toxinwaffen sowie über die Vernichtung solcher Waffen. Übersetzung in: H.J. Uth und P. Rudolph. Die Pest als Waffe. Dreisam-Verlag, Freiburg, 1984. Zurück

5) Wade, N. 1980. Biological weapons and recombinant DNA. In: Science 208:271. Zurück

6) Budiansky, S. 1982. US looks to biological weapons. Military takes new interest in DNA devices. In: Nature 297:615-616. Zurück

7) Call for research proposals by the U.S. Army Medical Research and Development Command. 1984. In: Science 225:543, 554 and 879. Zurück

8) USA. 1985. Recombinant DNA Research Projects. A list of projects funded by the U.S. Department of Defense, released on April 17, 1985. Reprinted in: GeneWATCH 2(2):14-15. Zurück

9) USA. 1987. Recombinant DNA Research Projects. A list of projects funded by the U.S. Department of Defense, released on August 3, 1987. Reprinted in: Gen-ethischer Informationsdienst (GID) 5.Jg.(42):15-17. Zurück

10) BRD. 1987. Kapitel 6. Anwendung der Gentechnologie zu militärischen Zwecken, S. 260-267. In: Deutscher Bundestag, Referat Öffentlichkeitsarbeit (Hrsg.). Chancen und Risiken der Gentechnologie. Bericht der Enquete-Kommission des 10. Deutschen Bundestages. Drucksache 10/6775. Zurück

11) Wright, S. 1987. New designs for biological weapons. In: Bull. Atomic Scientists 43(1):43-46. Zurück

12) Kiper, M. 1988. Gentechnik und Militär in der Bundesrepublik, S. 9-55. In: M. Kiper (Hrsg). Die Unsichtbaren. Krieg mit Genen und Mikroben. Volksblatt Verlag, Köln. Zurück

13) Kobbe, B. 1989. Biologische Waffen. Gentechnik vor dem Sündenfall. In: Bild der Wissenschaft. 26.Jg.(6):46-57. Zurück

14) Kaiser, R. 1988. »Schutzforschung« statt Verbotskontrolle. Bonner Kurswechsel in Sachen B-Waffen?, In: Blätter für deutsche und internationale Politik 33.Jg.(2):195-205. Zurück

15) Kiper, M. & J. Streich. 1990. Biologische Waffen: Die geplanten Seuchen. Gene, Gifte und Mikroben gegen Menschen. rororo aktuell, Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg.

16) USSR. 1987. Information presented by the USSR in compliance with the agreements reached at the second conference for examination of the convention on the prohibition of development, production, and stockpiling of bacteriological (biological) and toxin weapons and their elimination, and in accordance with the resolutions and recommendations of the special meeting of scientific and technological experts from the participating countries. (Data concerning the Ukrainian and Byelorussian Republics are also included in this information). Oktober 13, 1987. Document # 52. Zurück

17) BRD. 1988. Deutscher Bundestag, Drucksache 11/2192. vom 22.04.1988. Zurück

18) Wright, S. 1985. The military and the new biology. In: Bull. Atomic Scientists 41(5): 10-16. Zurück

19) Piller, C. and K.R. Yamamoto. 1988. Kapitel 6, Die Einschätzung des Biotechnik-Programms durch das amerikanische Militär, S. 176-225. In: Der Krieg der Gene. Rasch und Röhring Verlag, Hamburg, 1989. Zurück

20) Watson, J.D.; J. Tooze; D.T. Kurtz. 1985. Kapitel V. Herstellungsmethoden für rekombinierte DNA-Moleküle, S. 49-60 . In: Rekombinierte DNA. Eine Einführung. Spektrum der Wissenschaft, Heidelberg. Zurück

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22) Richardson, J.S., and D.C. Richardson. 1989. The de novo design of protein structures. Trends in Biochem. Sci. 14: 304-309. Zurück

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47) BWC/CONF. III/VEREX/2. 1992. Zurück

Kathryn Nixdorff ist Mikrobiologin und arbeitet am Institut für Mikrobiologie, Technische Hochschule Darmstadt. Sie ist Mitarbeiterin bei IANUS (Darmstadt) und Mitglied der Naturwissenschaftler-Initiative »Verantwortung für den Frieden«.

Die Janusköpfigkeit von Forschung und Technik

Die Janusköpfigkeit von Forschung und Technik

Zum Problem der zivil-militärischen Ambivalenz

von IANUS

Am Wochenende 27.-29. November fand in München eine Fachtagung unter der Themenstellung »Die Janusköpfigkeit von Forschung und Technik – Zum Problem der zivil-militärischen Ambivalenz« statt. Die Kurzfassung des auf der Tagung verabschiedeten Memorandums wird im Folgenden abgedruckt.

Die Veranstaltungen wurden getragen vom Berghof Institut (Berlin), dem Bund deutscher Studierenden Pugwash (BdSP), dem Bund demokratischer Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen (BdWi) dem DGB-Bundesvorstand, Abt. Angestellte, dem Forschungsinstitut für Friedenspolitik (Weilheim), dem Forum Informatikerinnen und Informatiker für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung (FlFF), der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), der Informationsstelle Wissenschaft und Frieden (IWIF/Bonn), der Interdisziplinären Arbeitsgruppe Naturwissenschaft, Technik und Sicherheitspolitik (IANUS/TH Darmstadt), der Landesastenkonferenz Bayern, dem Münchner Friedensbündnis, der Naturwissenschaftler-lnitiative »Verantwortung für den Frieden«, der Studierendenvertretung der Ludwig-Maximilian-Universität München, der Vereinigung deutscher Wissenschaftler (VdW).

Auf dieser Fachtagung wurde ein Memorandum erarbeitet, das nun in überarbeiteter Form der Öffentlichkeit vorgelegt wird. Die Aussagen des Memorandums sind zusammengefaßt in nachfolgender Thesenliste:

I. Die Ausgangslage nach Ende des Kalten Krieges ist in den fortgeschrittenen Industrieländern durch ein Setzen auf militärtechnologische Innovation und qualitative Aufrüstung gekennzeichet anstatt einschneidende Abrüstungsmaßnahmen und die Überwindung der Konzeption militärischer Intervention zu fördern.

II.1 Dagegen steht, daß die globalen Herausforderungen, vor denen die Menschheit steht, keinesfalls mit militärischen Mitteln angehbar, geschweige denn lösbar sind.

II.2 Es besteht die Notwendigkeit der tiefgreifenden Umsteuerung in Wissenschaft, Politik und Gesellschaft, um qualitative Rüstungskontrolle und die Vermeidung der Weiterverbreitung von waffenrelevantem Wissen und entsprechender Technologie zu organisieren.

III. Beiträge von Forschung und Entwicklung (FuE) zur militärtechnologischen Innovation sind:

  • Offen deklarierte Rüstungsforschung: In Deutschland sind dies FuE-Mittel, die vom Bundesverteidigungsministerium verausgabt werden.
  • Geplante Nutzung ziviler FuE: Hier werden militärische Anforderungen über einen bewußt gesteuerten Vorlauf ziviler FuE-Programme in zusätzlichen, sog. Add-on-Programmen militärischer »Durchentwicklung« befriedigt.
  • Latent militärisch relevante FuE: Das sind Forschungsbereiche, in denen mögliche – wenn auch nicht explizit verfolgte – militärische Anwendungsbereiche mit zivilen Anforderungen eng verwandt sind.

IV. Wachsende Bedeutung erhalten neben der deklarierten Rüstungsforschung die beiden weiteren zivil-militärisch ambivalenten Beiträge zur militärtechnologischen Innovation: Neue militärische Anwendungen werden somit eher aus zivilen Forschungsprojekten entstehen als aus spezieller Militärforschung.

V.1 Eine Grauzone zivil deklarierter, aber militärisch genutzter Forschung und Entwicklung tut sich auf. Die Bundesregierung hat in den letzten Jahren mehrfach erklärt, daß militärische Anforderungen bereits in zivilen Forschungs- und Technologieprogrammen frühzeitig mitberücksichtigt werden und in Form von »add-on-Programmen« zu militärischen Anwendungen fortentwickelt werden sollen.

V.2 So zeigt sich, daß das Gegenteil der Spin-off Hypothese, die besagt, daß militärische Innovation wesentliche zivile Innovationen befruchten kann, eine relevante These wird: der fortdauernde indirekte Gebrauch zivil deklarierter Wissenschaft fördert entscheidend die militärtechnologische Basis.

VI. Die Problematik der zivil-militärischen Ambivalenz ist weitgehend tabuisiert – nicht nur innerhalb der scientific community. Eine möglichst eindeutige – auch wertende Stellungnahme und Verhaltensweise der beteiligten Wissenschaftler wäre demgegenüber wünschenswert.

VII. Die vermutlich lange praktizierte, nunmehr aber offen ausgesprochene Dual-use Konzeptionierung der Wissenschaftsförderung in unserem Land bedeutet einen Zuwachs militärischen Einflusses auf die Wissenschaftsentwicklung.

VIII. Teilweise ist Ambivalenz sicherlich auch den modernen Naturwissenschaften strukturell eingeschrieben. Dies darf aber nicht zu dem bequemen und fatalen Fehlschluß verleiten, hier sei prinzipiell keine fruchtbare aufklärende Gegenaktivität denkbar. Wir sind davon überzeugt, daß die zivil-militärische Ambivalenz im Fortgang der Wissenschaftsentwicklung, in einem sozialen Reifungsprozeß der Wissenschaft, weitgehend auflösbar ist.

IX. Arbeit in ambivalenten Forschungs- und Technologie-Feldern erhöhen die latenten Gefahren der horizontalen und vertikalen Proliferation, der Weiterverbreitung von waffenrelevanter Technologie (auch im Bereich von Massenvernichtungswaffen) und der militärtechnologischen Innovation im nationalen und internationalen Maßstab.

X.1 Die Wissenschaft soll sich auf ihre humanitären Ursprünge besinnen. Folgerichtig soll militärtechnologische Innovation eingeschränkt und die Weiterverbreitungsproblematik an der Wurzel angegangen werden. Dazu müssen Maßnahmen ergriffen werden, die bereits in der Forschungs- und Entwicklungsphase wirksam werden.

X.2 Die Ambivalenz- und Dual-use-Problematik kann nur durch Schaffung von völliger Transparenz offengelegt werden.

X.3 Dies bedeutet innerwissenschaftliche Ambivalenzanalyse, die Etablierung unabhängiger, interdisziplinärer Wissenschafts- und Technikfolgenforschung, die Offenlegung der forschungs- und technologiepolitischen Planungsgrundlagen, ein Ende der Geheimforschung mit öffentlichen Mitteln und die Forderung nach einer deutschen Version eines »Freedom of Information Act«.

XI. Maßnahmen zur Kontrolle über militärtechnologische Innovation und Wege zur Umsteuerung in Wissenschaft und Forschungs- und Technologiepolitik werden vorgeschlagen. Vierzehn Vorschläge betreffen 1. die Beschränkung deklarierter Rüstungsforschung, 2. die politische Kontrolle über bestehende Militärtechnologie, 3. die Herauslösung militärisch relevanter Projekte aus der Geheimforschung, 4. neue Rüstungskontrollverträge, 5. die qualitative Beschränkung von relevanten Forschungsanstrengungen, 6. ein internationales Verbot der Erforschung neuartiger Waffensysteme, 7. den einseitigen Verzicht auf militärisch relevante Forschungs- und Technologieprogramme, 8. die Analyse der zivilmilitärischen Ambivalenz von Forschungs- und Technologieprojekten, 9. neue Leitlinien der FuT-Politik, 10. eine neue Praxis von Förderentscheidungen im Bereich von Forschung und Entwicklung, 11. die Notwendigkeit der innerwissenschaftlichen Aufklärungsarbeit, 12. Konsequenzen für Forschung und Lehre an den Hochschulen, 13. die Notwendigkeit der Erstellung von Kriterienkatalogen zur Bewertung von Forschungs- und Technologievorhaben und 14. die Notwendigkeit von Forschungskonversion.

XII. Voraussetzung für das Gelingen solcher Anstrengungen ist die eindeutige Artikulierung des politischen Willens, daß nach Ende der Ost-West-Blockkonfrontation der technologisch dominierte Rüstungswettlauf tatsächlich zu einem Ende kommen soll.

XIII. Eine weitere wesentliche Voraussetzung ist eine tiefgreifende Demokratisierung unserer Gesellschaft. Neue Formen gesellschaftlicher Mitbestimmung in den Hochschulen, in den Forschungseinrichtungen (auch der Industrie), in der Forschungsförderung und innerhalb staatlicher Forschungs- und Technologiepolitik müssen aufgefunden werden, müssen gewollt und praktiziert werden.

XIV. Wissenschaft, Politik, Industrie und Öffentlichkeit sind gleichermaßen gefordert, wenn die verschwenderische militärtechnologische Innovation zum Ende kommen soll und neue Prioritäten in der Zukunftsplanung für Forschung und Technologieentwicklung gesetzt werden sollen.

XV. Daher wenden wir uns an die Wissenschaft, die Politik, die Wirtschaft und die Öffentlichkeit gleichermaßen, um für die Problematik der zivil-militärischen Ambivalenz unter der angegebenen Zielsetzung zu sensibilisieren. Dieses Memorandum kann nur ein Anstoß sein. Ein Anstoß, der zu einer innerwissenschaftlichen und gesamtgesellschaftlichen Debatte führen soll. Die Wahrnehmung der Problematik und die vorgeschlagenen Handlungsmöglichkeiten sollen zu einer Veränderung und zu einer Umsteuerung führen.

Darmstadt, 21.12.1992