Hochschulen und Militärforschung

Hochschulen und Militärforschung

Friedenswerkstätten oder zivilmilitärische Forschungskomplexe

von Dietrich Schulze

Mit großem Aufwand wird in diesem Jahr das 60-jährige Jubiläum des Grundgesetzes gefeiert. Tatsächlich gibt es genügend gute Gründe zu trauern „angesichts seines schrecklichen Aussehens, nachdem es unter die Räuber gefallen ist.“ 1 Das gilt für die im Zuge des neoliberalen Umbaus der Gesellschaft in Angriff genommene Privatisierung der Hochschulen genauso wie für die in der Verfassung verankerte Wissenschaftsfreiheit (Artikel 5.3 GG), die mehr und mehr in ein Freiheitsrecht für Militärforschung umgefälscht wird. Das alles zeigt sich prototypisch am Projekt »Karlsruhe Institute of Technology« (KIT), der geplanten Verschmelzung der Universität Karlsruhe (TH) mit dem Forschungszentrum Karlsruhe.

Das KIT soll eine Einrichtung international herausragender Forschung, Lehre und Innovation in den Natur- und Ingenieurwissenschaften werden. Beschäftigte, Studierende, Gewerkschaften und Parlamentarier fordern eine Zivilklausel für das KIT-Gesetz. Sie fordern, dass die Hochschulen als freie Bildungs- und Wissenschaftsträger ihrem gesellschaftlichen Auftrag gemäß in öffentlicher Verantwortung bleiben und dass sich Forschung und Lehre ausschließlich friedlichen, Völker verbindenden Zwecken widmen soll. Der 2007 begonnene KIT-Gründungsprozess soll nun mit einem baden-württembergischen Landesgesetz besiegelt werden. Für das Forschungszentrum gilt von Beginn an ein Militärforschungsverbot in Gestalt einer Zivilklausel: „Die Gesellschaft verfolgt nur friedliche Zwecke.“ Die Universität betreibt Militärforschung und soll das auch künftig tun. Spannende Frage: Was gilt für das KIT als verschmolzene Großeinrichtung mit 8.000 Beschäftigten und 18.000 Studierenden?

Landesgesetz mit zweigeteilter Zivilklausel?

Obwohl das KIT ein einheitlicher Rechtskörper werden soll, sieht der Ende März vorgelegte Anhörungsentwurf zum KIT-Gesetz nur eine Teilzivilklausel vor („zur Wahrnehmung der Großforschungsaufgabe betreibt das KIT im Interesse der Allgemeinheit Forschung und Entwicklung zu friedlichen Zwecken …“) gestützt auf das Konstrukt eines »Zwei-Aufgaben-Modells«, mit dem „der verfassungsrechtlichen Ausgangsposition Rechnung getragen werden soll“. Nach Landesrecht soll es demnach zwei Aufgaben geben, die einer Universität (Universitätsaufgabe) und die einer Großforschungseinrichtung nach Artikel 91b Abs. 1 GG (Großforschungsaufgabe) mit jeweils eigenem Finanzstrom und Personalkörper. Das kann offensichtlich nur eine juristische Interimslösung sein. Am Ende wird es entweder ein KIT mit einheitlichem Rechts- und Personalkörper geben oder kein KIT. Ver.di und GEW haben unisono mit dem gesamten Forschungszentrum von Beginn an eine einheitliche Zivilklausel gefordert und in das Anhörungsverfahren eingebracht. Aus der bemerkenswerten Kette von Gegenargumenten der Landes- und Bundesregierung und von Verantwortlichen der Universität nur eines vorab. Bei der Vorlage des Anhörungsentwurfs in der Landespressekonferenz am 31. März 2009 bedauerte Minister Frankenberg (CDU), dass die Zivilklausel im Großforschungsbereich „aufgrund der Intervention der Bundesseite“ erhalten bleibt. Sein expliziter Wunsch sei es, militärische Forschung betreiben zu können. In der Anhörung im Bundesforschungsausschuss am 27. Mai wurde er noch deutlicher „Die Beibehaltung für den ehemaligen Forschungszentrumsteil habe er sich vom Bund diktieren lassen. Grundsätzlich sei er aber der Meinung, ‚in einem demokratischen Rechtsstaat mit einer demokratischen Armee sei eine Zivilklausel nicht notwendig‘.“ 2

Das ergibt zusammen mit einer ver.di-Analyse3 und den Erkenntnissen einer Podiumsdiskussion, die am 8. Mai veröffentlicht wurden4, entgegen allen Vertuschungsversuchen ein klares Bild. Das KIT, als Einrichtung mit möglichst wenig Staat konzipiert, soll »Spitzenforschung« und Rüstungsforschung nach Maßgabe von Wirtschaft und Politik betreiben, wobei das privatisierte, mit Rüstungsmitteln finanzierte Massachusetts Institute of Technology (MIT) (FAZ 22.11.2006) als Vorbild gesehen wird.5 Dieses Bild wird durch die Planung eines »Nationalen Zentrums für Wehr- und Sicherheitsforschung«6 unter dem Dach der Fraunhofer-Gesellschaft mit engen inhaltlichen und personellen Verflechtungen zur Universität und damit zum KIT abgerundet. Mit einer solchen Perspektive ist eine Zivilklausel offensichtlich nicht vereinbar.

Militärforschungsprogramm »SDR«

Dass an der Universität Karlsruhe mit militärischen Zielsetzungen geforscht wird, war bis Mitte letzten Jahres weitgehend unbekannt. Das kam erst durch eine Anfrage der Bundestagsfraktion DIE LINKE. vom 21.8.2008 und eine Landtagsanfrage von MdL Stober (SPD) vom 21.10.2008 ans Licht der Öffentlichkeit. Der Rektor der Universität, Prof. Horst Hippler, musste zugeben, dass ein wehrtechnisches Forschungsprogramm am Institut für Nachrichtentechnik INT (Leitung Prof. Friedrich Jondral) mit dem Thema »Software Defined Radio« (SDR) durchgeführt wird. Wie die Informationsstelle Militarisierung (IMI e.V.), Tübingen heraus fand, geht es dabei um die rechnerunterstützte Koordination unterschiedlichster Datenquellen aus Funkkommandos, Bildauswertungen und Luftraumüberwachung.7 Diese neuartige digitalisierte Funkkommunikation wird besonders für Einsätze von multinationalen Kampftruppen wie der NATO Response Force und der EU Battle Group gebraucht. Forscher der Universität Karlsruhe arbeiten also im Gegensatz zum Verfassungsauftrag an der Technik für Interventionskriege.8

Wegen des Auftragsvolumens von 538.000 Euro (3 Jahre) im Vergleich mit einem jährlichen Uni-Etat von 80-90 Millionen Euro hält der Pro-Rektor für Forschung, Prof. Detlef Löhe, den Streit um die Zivilklausel für „öffentlichkeitswirksames Getöse“ (Badische Neueste Nachrichten 3.2.2009). Unterschlagen wird dabei die Einbettung der Universität in neue zivilmilitärische Regierungsprogramme und die vielfältigen personellen und organisatorischen Verflechtungen mit militärischer Forschung (UZ 30.1.2009).

Verschwiegene jahrzehntelange Rüstungszuarbeit

Wie während einer ver.di-Podiumsdiskussion am 10. Februar in der Universität bekannt wurde, pflegt das Institut für Nachrichtentechnik bereits seit 1964 eine stillschweigende Zusammenarbeit mit Wehrforschungsinstituten (ND 20.02.2009). Ende der 1980er Jahre war ein Kooperationsvertrag der Uni Tübingen mit einem Wehrforschungsinstitut in Ettlingen bei Karlsruhe aufgrund einer vom Senat geforderten Zivilklausel geplatzt. Just dieses Institut ist ein Vorläufer des jetzigen Wehrforschungsinstituts »Forschungsgesellschaft für angewandte Naturwissenschaften – Forschungsinstitut für Optronik und Mustererkennung« (FGAN-FOM) in der Rheinland-Kaserne in Ettlingen. In dessen Vorläufer wiederum war 1964 eine Forschungsgruppe des Instituts für Nachrichtentechnik ausgegliedert worden. Und hier schließt sich der Kreis. Der Chef des FGAN-FOM, Prof. Maurus Tacke, ist Lehrbeauftragter am Institut für Nachrichtentechnik. Generationen von Studierenden haben damit über Studien- und Diplomarbeiten der Wehrforschung zugearbeitet – in der Regel, ohne einen blassen Schimmer davon zu haben.

Nationales Zentrum für Wehr- und Sicherheitsforschung

Eben dieses Wehrforschungsinstitut FGAN-FOM soll im nächsten Jahr mit dem überwiegend zivil forschenden Fraunhofer-Institut für Informations- und Datenverarbeitung FhG-IITB in Karlsruhe fusioniert werden. Das geht auf Pläne des Bundesverteidigungsministeriums zurück, die gegen den Protest der Betriebsräte und Gewerkschaften bereits seit 2003 verfolgt werden.9 Der Chef des FhG-IITB, Prof. Jürgen Beyerer, hat in Personalunion den Lehrstuhl für Interaktive Echtzeitsysteme IES an der Universität inne. Das FhG-IITB ist ebenso wie das Fraunhofer-Institut für Chemische Treibstoffe FhG-ICT bei Karlsruhe Teil des 2002 gegründeten zivilmilitärischen Fraunhoferverbunds VVS »Verteidigung und Sicherheit«. Der Verbund zielt nach eigener Aussage auf Sicherstellung der dual-use-Forschung und auf Anwendungen für Auslandsoperationen des deutschen Militärs. Karlsruhe ist Standort der VVS-Kommunikationsplattform »Future Security«. In der Konferenz 2006 erklärte Ministerin Schavan, dass eine „nationale Sicherheitsstrategie“ zu entwickeln sei, bei der neben naturwissenschaftlich-technischen Erkenntnissen auch die Ergebnisse der sozialwissenschaftlichen Forschung über die Entstehung gesellschaftlicher Krisen im In- und Ausland einbezogen werden. Genau in diesem Sinne befasst sich der Verbund mit der Abwehr von Flüchtlingen (Grenzsicherung) und der Überwachung der eigenen Bevölkerung (Personen-Screening, Crowd-Control).

Regierungsprogramm »zivile« Sicherheitsforschung

Für die zivilmilitärische Fusion, die Schaffung eines »Nationalen Zentrums für Wehr- und Sicherheitsforschung« unter dem Dach der Fraunhofergesellschaft10, hatte der Wissenschaftsrat bereits Anfang 2007 grünes Licht gegeben mit der Maßgabe: „Für eine engere Zusammenarbeit mit anderen Forschungseinrichtungen und Hochschulen sollen künftig die Leiter gemeinsam mit Universitäten berufen und das wissenschaftliche Personal stärker als bisher in die Hochschullehre eingebunden werden. Vor allem aber soll die Drittmittelforschung systematisch aufgebaut werden.“ Das Zentrum, für dessen Startschuss wohl nicht zufällig ein Termin nach der Beschlussfassung über das KIT-Gesetz gewählt wurde, hat mit dem KIT eine weitere gewichtige Schnittmenge, das Regierungsprogramm »Forschung für die zivile Sicherheit« vom Januar 2007. Mit diesem Programm wird der seit 2004 vollzogene Schwenk in der EU zur zivilmilitärischen Sicherheitsforschung nachgebildet. Mit einem Vertreter des Verteidigungsministeriums in der Programmlenkung kann die Bundeswehr direkt Einfluss auf forschungspolitische Entscheidungen nehmen. Der ver.di-Bundeskongress 2007 hat dies entschieden zurück gewiesen und bei Verweigerung der Mitarbeit an dual-use-Projekten rechtliche und öffentlichkeitswirksame Unterstützung zugesagt. Ganz allgemein ist die Vermengung von Zivilem und Militärischem zum Hebel und notfalls zur Brechstange für die Militarisierung aller Bereiche der Innen- und Außenpolitik entwickelt worden. Die eingangs zitierte ablehnende Haltung der Landesregierung zu einer KIT-Zivilklausel wurde Mitte letzten Jahres gegenüber den Betriebs- und Personalräten mit der Nichttrennbarkeit von ziviler und militärischer Sicherheit begründet.

In der grafischen Übersicht (Bild) sind Zusammenhänge dargestellt. Die Netzversion ist interaktiv gestaltet und enthält zahlreiche weblinks zu programmatischen Dokumenten und Äußerungen von Verantwortlichen.11 Dort sind auch Beispiele für die Herausbildung einer »Military Scientific Community«12 aufgeführt, die mehr Begeisterung an den Hochschulen für das Militärische wecken soll. So will der Celler Trialog (Commerzbank und Bundeswehr) aktiv darauf hinwirken, „dass der sicherheitspolitische Dialog auch in Forschung und Lehre, insbesondere an unseren Hochschulen, gestärkt wird, z.B. durch die Einrichtung von Stiftungsprofessuren und durch einen dauerhaften, praxisorientierten und wissenschaftlichen Austausch zwischen Wirtschaft und Bundeswehr.“ An solchem Austausch beteiligen sich alle o.g. Professoren sowie Prof. Werner Wiesbeck vom Institut für Höchstfrequenztechnik und Elektronik IHE (Erfahrungen in electronic warefare) seit Jahren als Referenten der zivilmilitärischen Carl-Cranz-Gesellschaft (CCG). Mitgestalter der CCG-Sicherheitsseminare: FGAN-FOM mit Warnsensorik, FhG-ICT mit Explosivstoffdetektion und FhG-IITB mit Videoüberwachung. Auch kein Zufall ist die schon mehrfach in Ettlingen bei Karlsruhe ausgerichtete Non-Lethal-Weapons-Konferenz, die letzte vom 11.-13. Mai 2009. Mit diesem Umfeld verfügen die Exzellenz-Uni Karlsruhe und das KIT über ideale Voraussetzungen zum Aufbau eines zivilmilitärischen Forschungskomplexes für neue Kriegsabenteuer.

68-er Proteste und wissen- schaftliche Mitbestimmung

Alles Demokratische ist dafür störend. Gebraucht wird ein wirtschaftsdominierter Aufsichtsrat. Studentische Mitsprache, wissenschaftliche und betriebsverfassungsrechtliche Mitbestimmung, wie bisher im Forschungszentrum praktiziert, sollen gestrichen werden. Die Leitlinien für die wissenschaftliche Mitbestimmung in den Großforschungseinrichtungen waren unter dem Druck der 68er Protestbewegung mit Willy Brandt’s Vision »Mehr Demokratie wagen« analog der Hochschuldemokratisierung eingeführt worden. Werden sich heute die Verteidiger der sozialen Demokratie als stark genug erweisen, diese Errungenschaften zu bewahren? Immerhin, es regt sich Widerstand.

Urabstimmung: Studierende votieren für Zivilklausel

In einer Urabstimmung Ende Januar stimmten 63 Prozent der Studierenden dafür, die einheitliche Zivilklausel in das KIT-Gesetz aufzunehmen (ND 26.01.2009). Diese Urabstimmung hat historischen Charakter. Ab Ende der 1980er Jahre gab es zwar an einigen Hochschulen Senatsbeschlüsse gegen Militärforschung (FR 23.05.1991), aber nirgends ein derartiges Votum. Die Gewerkschaftliche Studierendengruppe Karlsruhe, die die Urabstimmung mit einer Unterschriftensammlung eingeleitet hatte, sieht das Ergebnis als ein deutliches Signal an den Gesetzgeber, seine bisherige Haltung zu überprüfen und der Meinungsbildung der Studierenden Rechnung zu tragen.

Wiederherstellung der verfassten Studierendenschaft

Für das KIT werden von Uni-Senat und UStA die Wiederherstellung der Verfassten Studierendenschaft (AStA) eingefordert, die 1977 von Ministerpräsident Hans Filbinger abgeschafft worden waren (Verbot der politischen Meinungsäußerung, Verlust der Finanz- und Satzungsautonomie). Die Studierenden hatten den Maulkorb nicht akzeptiert und Unabhängige Studierendenvertretungen gebildet (an der Uni Karlsruhe den UStA). Die Landes-ASten-Konferenz Baden-Württemberg unterstützt die Forderung ebenso wie die nach der Zivilklausel.

Die Aktivitäten »Pro Zivilklausel / Contra Militärforschung« sind seit Mitte letzten Jahres von einer Initiative des ver.di-Bezirks Mittelbaden-Nordschwarzwald angestoßen und koordiniert und vom ver.di-Landesbezirk zu einem politischen Schwerpunkt 2009 erhoben worden.

Gutachten: Zivilklausel & Friedensfinalität der Verfassung

Das juristische Argument der Landesregierung, das zuerst im Uni-Senat kolportiert wurde: Eine Zivilklausel, die Militärforschung ausschließe, verstoße gegen den Verfassungsgrundsatz der Freiheit von Wissenschaft, Forschung und Lehre (Art. 5 Abs. 3 GG). Politisch erinnert diese Argumentation an die »Haltet den Dieb«-Methode: Im Artikel 5 geht es um das Grundrecht der Bürger auf Meinungsfreiheit gegenüber staatlicher Gängelung oder Willkür. Tatsächlich ist es der Staat, der die Meinungsfreiheit der Forschenden einschränkt, indem er die Grundfinanzierung verknappt und mit Drittmitteln aus dem Verteidigungshaushalt lockt. In einem Gutachten für die Hans-Böckler-Stiftung hat der Verfassungsrechtler Prof. Erhard Denninger die Zulässigkeit der Zivilklausel untersucht.13 In einer Podiumsdiskussion mit Landtags- und Bundestagsabgeordneten der SPD, der Grünen und der Linken am 4. Mai erklärte er die begutachtete Zulässigkeit der Zivilklausel mit einer Rückbesinnung auf die politischen Säulen des Grundgesetzes „Von deutschem Boden soll nie wieder Krieg ausgehen“. Er prägte dafür den Begriff der »Friedensfinalität« der Verfassung.

Tarifvertraglicher Schutz der Gewissenfreiheit

Weil der »friedliche Zweck« unterschiedlich ausgelegt werden kann bzw. ein strittiges dual-use-Projekt konträr zur Gewissensentscheidung eines Beschäftigten stehen kann, müssen – nach Auffassung von ver.di – öffentlich-rechtliche Institutionen die Möglichkeit der Wahrnehmung des Grundrechts auf Gewissensfreiheit durch Verweigerung einräumen, ohne dass das zu einer Benachteiligung führt. Ver.di hat die Landesregierung aufgefordert, dies tarifvertraglich festzuschreiben.

Erste Schritte zur gegenseitigen Information und Vernetzung von Aktivitäten gegen Militärforschung an Hochschulen sind getan worden, darunter ein IMI-Report.14 Aktuelle Proteste gibt es an TU Berlin / FU Berlin / Uni Potsdam (junge Welt 16.4.2009) und an der Uni Hannover. Und es gibt eine erste bemerkenswerte internationale Reaktion.

International Appeal: »Abandonment of military research & the civil clause«

Mehr als sechzig WissenschaftlerInnen und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens aus 14 Staaten, darunter der Bürgermeister von Hiroshima, Tadatoshi Akiba (mayors of peace) und der Nobelpreisträger für Physik, Jack Steinberger, haben im Rahmen einer nuklearen Abrüstungskonferenz (NPT PrepCom 2009) Anfang Mai in New York einen internationalen Appell an den deutschen Gesetzgeber unterzeichnet, eine einheitliche Zivilklausel in das KIT-Gesetz aufzunehmen. Sie ermutigen den Gesetzgeber, mittels Verzicht auf Militärforschung im KIT zu einer friedlicheren Welt beizutragen.

In dem von INES (International Network of Engineers and Scientists for Global Responsibility) veröffentlichten Appell15 wird zur Vermengung mittels einer Teilzivilklausel gefragt, ob sich das jemand vorstellen kann: „Deutsche Nuklearforschung und Waffenforschung unter einem Dach“. Das ist in der Tat unvorstellbar und muss auch vor dem Hintergrund gesehen werden, dass der deutsche Atomwaffenverzicht auf rechtlich schwachen Füßen steht. In allen zugrunde liegenden Regelungen (Adenauer-Erklärung 1954, Beitritt zum Atomwaffensperrvertrag 1969, 2+4-Vertrag 1990) gibt es Einschränkungen oder Vorbehalte. Ist schon vergessen, was Ex-Bundesverteidigungsminister Rupert Scholz (CDU) vor drei Jahren erklärte? Im Zusammenhang mit einer nuklearen Schutzgarantie wollte er ernsthaft diskutiert wissen, „wie wir auf eine nukleare Bedrohung durch einen Terrorstaat angemessen, im Notfall also sogar mit eigenen Atomwaffen, reagieren können“ (BILD 26.01.2006).

Ausblick

Neoliberale wie konservative Politiker haben die prinzipielle Bedeutung der Hochschulen erkannt und forcieren einen für Demokratie und Frieden abschüssigen und gefährlichen Weg. Zu wünschen bleibt, dass die demokratische Öffentlichkeit, die Gewerkschaften und die Friedensbewegung sich in Verantwortung gegenüber der Geschichte bundesweit noch stärker einmischen. Auf die Tagesordnung gesetzt werden muss die Zusammenarbeit von Hochschulgruppen der Studierenden mit Gewerkschaften und Friedensbündnissen unter Einschluss von örtlichen antimilitaristischen Initiativen als Gegengewicht zu dem EU- und NATO-getriebenen immer dichter gewebten Rüstungsforschungs- und Kriegspropagandageflecht aus Politik, Militär, Wirtschaft, Banken und Medien.

Anmerkungen

1) Eckart Spoo: Gedenken ans Grundgesetz, Ossietzky 10/2009.

2) Ulrike Winkelmann: Karlsruher Superuni auf Kriegspfaden, taz 28.4.2009.

3) Dietrich Schulze: NEIN zur Elite-Universität Karlsruhe als Fundament eines zivilmilitärischen Forschungskomplexes – JA zur Zivilklausel! mit Begründung von ver.di-Forderungen zur Zivilklausel, 24.04.2009.

4) Ergebnisse der Podiumsdiskussion am 4. Mai im ver.di-Haus Karlsruhe a) Folien Einleitungsbeitrag 06.05.2009, b) Badische Neueste Nachrichten 06.05.2009 und c) Dietr, 08.05.2009.

5) Ralf Nestler: Kriegsspiele auf dem Campus, Tagesspiegel 06.04.2009.

6) Christian Schwägerl: Ausweitung der Sicherheitszone, FAZ 14.12.2005, Planung eines »Nationalen Zentrums für Wehr- und Sicherheitsforschung«.

7) Claudia Haydt und Christoph Marischka: IMI – Informationsstelle Militarisierung e.V. Tübingen, E-Mail und Recherche 02.12.2009.

8) Presseinfo ver.di: Kriegsforschung an der Uni Karlsruhe? High-Tech-Kommunikation für archaische Kämpfer. ver.di fordert Beschränkung auf Zivilforschung, 08.12.2008.

9) Dietrich Schulze: Neuordnung der deutschen Rüstungsforschung. Proteste der Beschäftigten, Wissenschaft & Frieden 1-2005.

10) Vgl. Fußnote 6.

11) Interaktive Grafik zu zivilmilitärischen Verflechtungen der Uni Karlsruhe, 23.05.2009: http://www.stattweb.de/files/civil/cimimix-2305.pdf.

12) »Military Scientific Community«, in: german-foreign-policy.com, 29.04./04.05.2009.

13) Erhard Denninger: Gutachten im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung zur Zulässigkeit der Zivilklausel, 11.03.2009.

14) Sarah Nagel: Hochschulen forschen für den Krieg, IMI-Studie Nr. 7/2009, 17.04.2009.

15) Appell INES: Abandonment of Military Research. Support the University of Karlsruhe / Germany / KIT to keep their Civil Clause, 30.04.2009.

Dr.-Ing. Dietrich Schulze ist Beiratsmitglied der NaturwissenschaftlerInnen-Initiative »Verantwortung für Frieden und Zukunftsfähigkeit«. Er war von 1966-2005 wiss. Mitarbeiter und von 1984-2005 Betriebsratsvorsitzender des Forschungszentrums Karlsruhe.

Wo viel los ist, ist auch die Bundeswehr

Wo viel los ist, ist auch die Bundeswehr

Die Bundesregierung führt die Kategorie der Amtshilfeeinsätze ein

von Frank Brendle

Das Weißbuch der Bundeswehr fordert die „Erweiterung des verfassungsrechtlichen Rahmens“, um Inlandseinsätze der Bundeswehr zu ermöglichen. An der Verfassungsänderung biss sich die große Koalition jedoch die Zähne aus. Sie ging stattdessen dazu über, Inlandseinsätze am Grundgesetz vorbei zu etablieren.

Bis 1968 bestimmte Artikel 143 des Grundgesetzes: „Die Voraussetzungen, unter denen es zulässig wird, die Streitkräfte im Falle eines inneren Notstandes in Anspruch zu nehmen, können nur durch ein Gesetz geregelt werden, das die Erfordernisse des Artikel 79 erfüllt“, d.h. ein Gesetz, das seinerseits verfassungsändernd ist. Das beinhaltete die »Aussicht« einer entsprechenden Verfassungsänderung, stellte aber klar: Bis dahin waren jegliche Einsätze im Inneren untersagt, selbst im Rahmen der Katastrophenhilfe. Darin drückte sich die damals parteiübergreifende Skepsis gegenüber innenpolitischen Verwendungen des Militärs aus. Es galt zu gewährleisten, „dass die bewaffnete Macht nicht wieder zum Staat im Staate wird“ (SPD-MdB Wilhelm Mellies am 6. 3. 1955), dass „diese Streitkräfte nicht zu einer Belastung der demokratischen Entwicklung unseres Volkes werden“ (CDU-MdB Georg Kliesing am 12. 10. 1955)1.

Dennoch beauftragte der Hamburger Innensenator und spätere Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) während der Sturmflut im Jahr 1962 die Bundeswehr, gegen Plünderer vorzugehen und den Verkehr zu lenken. Schmidt erklärte später: „Wir waren damals durchaus in dem Bewusstsein, gegen Artikel 143 zu verstoßen“.2 Es ist bezeichnend für das Rechtsverständnis der damaligen Gesellschaft, das Schmidt bzw. der damalige Verteidigungsminister Franz Josef Strauß für diesen Verfassungsbruch nicht kritisiert wurden, sondern Schmidt den Nimbus des pragmatischen »Machers« erhielt. Erst 1968 wurde im Zuge der Notstandsgesetzgebung, also durch Verfassungsänderungen, die auf weitgreifende Einschränkungen der Freiheitsrechte zielten, auch die Grundlage für militärische Einsätze im Inland gelegt.

Zentral für die rechtlichen Regelungen ist seither Artikel 87a, II GG: „Außer zur Verteidigung dürfen die Streitkräfte nur eingesetzt werden, sofern dieses Grundgesetz es ausdrücklich zulässt“. Solche Ausnahmefälle beschränken sich auf die Abwehr bewaffneter Erhebungen und die »Katastrophenhilfe«-Bestimmungen des Artikels 35 II, III.

Die »rot-grüne« Bundesregierung wollte aus diesem Artikel herauslesen, dass die Bundeswehr auch zur Abwehr eines mit einem Flugzeug durchgeführten Terroranschlags eingreifen könne. Ihr Luftsicherheitsgesetz wurde im Februar 2006 allerdings vom Bundesverfassungsgericht kassiert, weil Artikel 35 der Bundeswehr gerade nicht das Recht zur Anwendung typisch militärischer Waffen verleihe. Kampfflugzeuge, Panzer usw. bleiben ausgeschlossen.

Keine Ruhe an der Inlandsfront

Seither sind die – teilweise konkurrierenden – Vorstellungen der Regierungsparteien nach einer Verfassungsänderung allesamt gescheitert. Dennoch herrscht an der Inlandsfront keine Ruhe. Das wurde vor allem beim G8-Gipfel 2007 in Heiligendamm deutlich, der wohl zu den größten Inlandseinsätzen der BRD-Geschichte gezählt werden muss. 1100 Soldaten agierten unter dem Label »Amtshilfe«, weitere 1350 nahmen militärische Überwachungsaufgaben und »Eigensicherung«-Maßnahmen wahr. In der Praxis gab es dabei jedoch starke Überschneidungen.3

Am meisten Aufsehen erregt hat zweifellos der Aufklärungsservice für die Polizei: 15 Mal sind Tornado-Flugzeuge gestartet. Offizieller Sinn des Amtshilfeersuchens: Das Aufspüren behaupteter unterirdischer Waffenlager. Nach jedem Flug durften sich Beamte des Polizeiführungsstabs (BAO KAVALA) die Bilder ansehen und mitnehmen, 101 Bilder wurden übermittelt. Die meisten von ihnen dokumentieren allerdings den Aufbau der Protestcamps und deren Bewohner; dazu gehören einzelne Personengruppen, die z. B. als BUND-Jugend identifiziert werden; Bilder mit Titeln wie »Ansammlung«; »Menschen«, »Camp Rostock«, »Camp Wichmannsdorf«, »Camp Reddelich«.

Der Auftrag der neun eingesetzten »Fennek«-Spähpanzer lautete, „zu beobachten und Wahrnehmungen an die Polizei weiterzumelden.“ Die Panzer wurden unter anderem an den Autobahnen eingesetzt und überwachten die als gefährdet eingeschätzte landwirtschaftliche Versuchsanstalt Sanitz. Die »Fennek« waren von je drei Polizisten begleitet, die sofort über die Beobachtungen informiert wurden. Nach offiziellen Angaben sind die einzelnen Meldungen nicht dokumentiert worden.

Chef der Gewerkschaft der Polizei, Werner Kuhlmann: „Die Gefahr steckt doch auch hier darin: Sobald es darum geht, Bundeswehreinheiten hoheitsrechtliche Aufgaben zu übertragen, taucht doch sofort die Frage der Bewaffnung auf […] Ich meine, wir sollten einen ganz klaren Trennstrich ziehen und dafür sorgen, dass in Fällen der Naturkatastrophen und bei schweren Unglücksfällen die Bundeswehr […] durchaus eingesetzt werden kann, aber nicht mit Waffen und ohne hoheitsrechtliche Aufgaben.“ Kuhlmann verwies auf die Gefahr der Gewöhnung. Je mehr Inlandseinsätze es gebe, desto größer werde die Missbrauchsmöglichkeit und die Gefahr, dass „unter dem Deckmantel der Legalität“ ein Staatsstreich unternommen werde. Deswegen müsse „jeder, auch jeder Soldat […] zweifelsfrei wissen, dass Bundeswehreinheiten, die in innere Angelegenheiten eingreifen, die Verfassung brechen.“ 1

Anmerkung

1) Kuhlmann: Protokoll des Notstandshearings im Rechtsausschuss des Bundestages, 30. 11. 1967.

Amtshilfe und Einsatz

Um den Vorgang zu bewerten, muss man begrifflich zwischen »Einsatz« im Sinne des Grundgesetzes (Art. 87a II) und einer schlichten Verwendung als Amtshilfe gemäß Artikel 35 I („Die Behörden des Bundes leisten sich gegenseitig Amtshilfe.“) unterscheiden. Als Einsatz sind solche Tätigkeiten der Bundeswehr zu verstehen, die in die Grundrechte eingreifen, also »obrigkeitlichen« Charakter haben. Wie erwähnt, haben sie nur Ausnahmecharakter und müssen im Grundgesetz selbst explizit genannt werden. Die Amtshilfe-Bestimmung entspricht diesem Bestimmtheitsgebot nicht und verleiht keine Einsatzbefugnis.

Dennoch wurde die Bundeswehr im Zuge der »Terrorbekämpfung« in den 1970er Jahren zu polizeilichen Strafverfolgungsmaßnahmen eingesetzt: So hatten sich Angehörige des Militärischen Abschirmdienstes an der Fahndung nach den Schleyer-Entführern beteiligt, und im Oktober 1977 führte die Bundesmarine außerdem einen »Antiterroreinsatz« durch. Beide Einsätze waren von Art. 87a Absatz 2 nicht gedeckt und somit verfassungswidrig.4

Grundrechterelevanz

Zu klären ist dennoch die Frage: Ab wann sind Tätigkeiten der Bundeswehr grundrechtsrelevant? In Bezug auf den G8-Gipfel springt die hohe Zahl der Feldjäger ins Auge, von denen 641 – mit Pistolen bzw. gar mit Sturmgewehren des Typs G36 bewaffnet – „mobil und anlassbezogen“ 5 durch die Gegend streiften. Auch wenn sie nicht unmittelbar gegen Demonstranten vorgehen sollten, so war ihr Auftreten doch geeignet, zumindest psychologische Zwangswirkung auszuüben. Denn wer immer demonstrieren wollte, wusste um das polizeilich verhängte Demonstrationsverbot und musste Feldjäger als gegen sich gerichtet verstehen. Man spricht hier von einem »show-of-force«-Einsatz.6

Zudem spielt es eine wesentliche Rolle, dass die Bundeswehr nicht erst im Einsatz ist, wenn sie selbst in BürgerInnenrechte eingreift, sondern bereits dann, wenn sie die Polizei in einer Form unterstützt, die es dieser erst möglich macht, »obrigkeitlich« zu handeln: „Das Machtpotential der Streitkräfte wird aber auch dann eingesetzt, wenn das Militär bei Auseinandersetzungen auch ohne Ausübung von Zwang Polizeikräfte unterstützt und damit auf das Kräfteverhältnis (zwischen DemonstrantInnen und der Polizei, F. B.) einwirkt.“ 7

Diese Einschätzung geht zurück auf das von Maunz/Düring8 postulierte Neutralitätsgebot: In innenpolitischen Angelegenheiten müssen die Streitkräfte einen neutrale Rolle einnehmen.

Das war früher auch in Bundeswehrkreisen bekannt. Als in den 1980er Jahren darüber diskutiert wurde, ob die Bundeswehr die bayerische Polizei beim Vorgehen gegen Demonstranten an der geplanten Wiederaufarbeitungsanlage Wackersdorf unterstützen dürfe, wurde dies in der Zeitschrift »Bundeswehrverwaltung« als verfassungswidrig eingeschätzt:

„Doch auch Unterstützungshandlungen der Bundeswehr, es kann sich dabei generell auch nur um solche technischer oder logistischer Art handeln, sind dann rechtlich zweifelhaft, wenn sich die Unterstützungen unmittelbar auf die Demonstranten auswirken können. In diesem Fall würde die Bundeswehr zum verlängerten Arm der Polizei […] Das gilt insbesondere für Unterstützungen durch militärtypische Mittel, wie z. B. Hubschrauber, Mannschaftswagen, Spezialfahrzeuge usw. […] Wird dagegen der Polizei eine Unterstützung geleistet, die im Grunde von jedem geleistet werden könnte, wie z. B. die Bereitstellung von Unterkünften in einer Kaserne, dann liegt keine spezifische militärische Hilfeleistung vor.“ 9

Die Völkerrechtler Ralf Jahn und Norbert K. Riedel hielten schon früh fest: „Eindeutig Einsatzqualität besitzt die Zurverfügungstellung von militärischem Gerät einschließlich der sie bedienenden Soldaten, wie z. B. Aufklärungsflüge von Bundeswehrhubschraubern bei Demonstrationen. Hier wird militärisches ‚know-how’ in Anspruch genommen, das seinem Zweck nach innenpolitisch nicht neutral ist.“ 10

Vor dem G8-Gipfel geschrieben, aber wie auf diesen gemünzt hat der Jurist Jan-Peter Fiebig in seiner Dissertation festgehalten, ein Einsatz sei „gegeben, wenn Soldaten Fahrzeuge, insbesondere Luftfahrzeuge, der Streitkräfte […] zur optischen Überwachung von Großveranstaltungen und deren Umgebung verwenden und etwaige Aufklärungsergebnisse an die für unmittelbar obrigkeitliches Vorgehen vorgesehenen“ Polizeistellen weitergeben.11

Setzt man hinzu, dass der G8-Gipfel wie auch das weiträumige Demonstrationsverbot in der Öffentlichkeit höchst kontrovers diskutiert worden waren, hat die Bundeswehr als Gipfel-Logistikerin und Repressionshelferin das innenpolitische Neutralitätsgebot verletzt. Zudem sind »Fennek«-Panzer und Tornados militärische Geräte, die nach dem »Luftsicherheitsurteil« nicht im Inland verwendet werden dürfen. Dabei ist es unerheblich, ob Raketen und Bordkanonen abmontiert sind, da die Waffensysteme und die elektronische Ausstattung „zur ‚Feindaufklärung‘ […] für den Einsatz im Krieg […] konzipiert“ und daher nicht als „polizeitypische Einsatzmittel“ zu betrachten seien, so der Berliner Staatsrechter Martin Kutscha.12

Zur Unschärfe der Amtshilfe-Bestimmungen gehört, dass das verfassungsrechtliche Gebot der Subsidiarität nicht ernsthaft geprüft wird. Die Frage, ob statt der Tornados nicht auch herkömmliche Polizeihubschrauber die – angebliche – Suche nach Waffendepots rund um Heiligendamm hätten leisten können, ob es statt der »Fennek« nicht auch ein paar Polizisten mit Ferngläsern getan hätten – wurde von der Bundesregierung nicht gestellt. „Die Prüfung ist eine Sache des Landes Mecklenburg-Vorpommern im Rahmen der polizeilichen Gefahrenprognose“, hieß es.13

Amtshilfeexpansion

Aufgrund dieser Unschärfen lohnt sich ein genauerer Blick auf die Entwicklungen in diesem Bereich. Der ergibt schnell: Die Bundesregierung hat Amtshilfe-Maßnahmen in den letzten Jahren geradezu explosionsartig anwachsen lassen. Den Antworten der Bundesregierung auf Anfragen der Linksfraktion zufolge hat es in den Jahren 1996-1999 nur eine einzige Amtshilfemaßnahme pro Jahr gegeben. Pikanterweise bestanden diese aus der Unterstützung der Polizeieinsätze anlässlich der Castor-Transporte. Der Polizei wurden Unterkünfte und Verpflegung zur Verfügung gestellt. Wenn auch kaum behauptet werden kann, damit sei der Polizei erst das Vorgehen gegen Demonstranten ermöglicht worden, so wäre doch zu problematisieren, inwiefern das Militär mit dieser einseitigen Positionierung im Konflikt zwischen Atomlobby und Anti-Atom-Bewegung das Neutralitätsgebot verletzt hat.

Im Jahr 2008 waren die Amtshilfezahlen auf stolze 30 angewachsen. Dazu gehören wiederum sämtliche Castor-Transporte. Genauso bemerkenswert ist, dass die Bundeswehr heute bei praktisch jedem Großereignis mit dabei ist. Der katholische Weltjugendtag, der Papstbesuch, die beiden Bush-Besuche, die Fußball-WM, der G8-Gipfel, der Nato-Gipfel – all dies sind Anlässe, bei denen es früher keine – oder allenfalls in Ausnahmen – Amtshilfeeinsätze gab. Das legt nahe, dass eine politische Strategie verfolgt wird: Wo viele Menschen zusammenkommen, da soll auch die Bundeswehr sein. Zumindest bei Gipfeln und Staatsbesuchen ist auch mit Demonstrationen zu rechnen. Die neuen ZMZ-Kommandos der Bundeswehr waren sowohl in Heiligendamm als auch während des Nato-Gipfels 2009 in die polizeilichen Planungen eingebunden und haben als de-facto-Repressionsberater über die beim Militär vorhandenen Kapazitäten informiert.

Der Expansionstrend offenbart sich auch bei einem Blick auf Unterstützungsleistungen, die Privatvereinen bzw. Unternehmen zugute kommen. Auch diese haben rasant zugenommen: Lag ihr Mittel bis zum Jahr 2007 bei knapp über 20, so hat es im vorigen Jahr 74 gegeben. Zu den Profiteuren gehören auch die Rüstungsschmiede EADS und die Münchner Sicherheitskonferenz. Meist handelt es sich aber um scheinbar harmlose Tätigkeiten wie Dienstleistungen für gemeinnützige Vereine und Unterstützung von Sportveranstaltungen.

Doch solche Einsätze sind nicht nur eine wichtige PR-Maßnahme für die Bundeswehr, sondern bergen die Gefahr einer grundsätzlichen Gewöhnung an den Anblick uniformierter Soldaten, die sich – scheinbar als kompetente Helfer – in den Alltag einbringen.

Hausrechtseinsätze

Ordnungskompetenzen nehmen Soldaten bei Hausrechtsübernahmen wahr, einem kaum bekannten Aspekt der Inlandstätigkeit. Herausragendes Beispiel ist die Münchner Sicherheitskonferenz, an der bis zum Jahr 2008 eine stetig wachsende Zahl von Feldjägern den Wachschutz im Tagungshotel übernahm (worauf nach Protesten im Jahr 2009 verzichtet wurde).

924mal wurde zwischen Januar 2005 und Januar 2009 das Hausrecht von Feldjägern verteidigt.14 Anlass sind meist militärische Veranstaltungen, die zwecks Imagepflege in den öffentlichen Raum verlegt wurden. So wurden zur Feier einer Leutnantsbeförderung in Erfurt 25 Soldaten mit Pistolen im Rathaus aufgeboten; ein Festakt zum 150jährigen Marinejubiläum wurde von 12 Feldjägern in der Frankfurter Paulskirche bewacht. Einer der größten Einsätze galt der Sicherung des »Sommerbiwaks« im Stadtpark von Hannover, mit 102 bewaffneten Soldaten.

Die Aufgabe der Feldjäger ist es, „einen sicheren und ungestörten Ablauf der Veranstaltung zu gewährleisten und das eingesetzte Personal und Material der Bundeswehr vor Übergriffen zu schützen und Schaden von nicht bundeswehrangehörigen Gästen und sonstigen Anwesenden fern zu halten.“ 15 Nun mag sich die Bundeswehr in ihren eigenen Liegenschaften selbst schützen, aber wenn sie dies in öffentlichen Gebäuden bzw. im öffentlichen Raum tut, tangiert sie offenkundig Aufgaben der Polizei. Auch dies trägt zur Militarisierung des öffentlichen Raums bei. Wer gegen solche öffentlichen Auftritte des Militärs protestieren will, muss damit rechnen, von Feldjägern gemaßregelt zu werden. Und es sei erneut darauf hingewiesen, dass schon der Anblick einer Feldjägereinheit geeignet sein kann, auf AntimilitaristInnen abschreckend – und damit grundrechterelevant – einzuwirken (»show-of-force«).

Der Gewöhnungsaspekt, der solchen Auftritten in der Öffentlichkeit innewohnt, gilt auch für die Soldaten selbst: Je öfter sie im »zivilen Alltag« eingesetzt werden, desto weniger werden sie das als ungewöhnlich empfingen. Dies ist, angesichts der Forderungen aus den Regierungsparteien nach erweiterten Möglichkeiten für Inlandseinsätze, eine erhebliche Gefahr.

Anmerkungen

1) zit. nach Jan-Peter Fiebig (2004): Der Einsatz der Bundeswehr im Innern. Verfassungsrechtliche Zulässigkeit von innerstaatlichen Verwendungen der Streitkräfte bei Großveranstaltungen und terroristischen Bedrohungen, Berlin, S.84f.

2) Bundestagssitzung vom 16. 5 1968.

3) Eine Aufarbeitung des G8-Einsatzes hat die Linken-Abgeordnete Ulla Jelpke vorgelegt: http://www.ulla-jelpke.de/news_detail.php?newsid=762

4) So der eher konservative Wolfgang Speth (1985): Rechtsfragen des Einsatzes der Bundeswehr unter besonderer Berücksichtigung sekundärer Verwendungen, München, S, 188.

5) Bericht des BMVg vom 2. Juli 2007; Verschlusssache, dokumentiert unter http://www.dfg-vk.de/thematisches/bw-inneren/2008/191.

6) Vgl. Fußnote 1, insb. S.177ff.

7) Wolfgang Grubert (1997): Verteidigungsfremde Verwendungen der Streitkräfte in Deutschland seit dem Kaiserreich außerhalb des inneren Notstandes, Frankfurt am Main, S.241.

8) Maunz/Dürig (2003): Grundgesetz-Kommentar Band 4, Rn 32ff

9) Erwin Beckert (1986): Bundeswehr und Polizei, in: Bundeswehrverwaltung, Juli 1986.

10) Die Öffentliche Verwaltung, November 1988.

11) Wie Fußnote 1, S.192.

12) Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2007.

13) BT-Drucksache 16/6046.

14) BT-Drucksache 16/12004.

15) Ebd.

Frank Brendle ist Journalist, Historiker und Landesgeschäftsführer der DFG-VK Berlin-Brandenburg.

Internationale Richtlinien für das Management von Plutonium

Internationale Richtlinien für das Management von Plutonium

von Martin B. Kalinowski

Die fast vier Jahre langen Verhandlungen wurden mit dem Ziel geführt, eine erhöhte Sicherheit und mehr Transparenz über den weltweiten Umgang mit dem Waffenstoff Plutonium zu erreichen. Eine starke Motivation zu diesen Verhandlungen ist nach Ansicht von Kritikern wesentlich aus dem Ziel gespeist, die Akzeptanz für die Nutzung von Plutonium zu erhöhen. Ein zunehmender Protest dagegen regte sich nicht mehr nur bei Bürgerinitiativen und nichtstaatlichen Organisationen, sondern auch bei einer Anzahl von Staaten, die sich insbesondere gegen Schiffstransporte von Plutonium aus Frankreich nach Japan wehrten. An den Verhandlungen waren neben allen fünf etablierten Kernwaffenstaaten auch Deutschland, Japan, Belgien und die Schweiz beteiligt. EURATOM und die IAEO waren mit Beobachtern an den Verhandlungen, die auch unter der Bezeichnung »International Plutonium Regime« bekannt geworden sind, beteiligt.

Am 1. Dezember 1997 haben fast alle der neun Länder gleichzeitig die beschlossenen Richtlinien in Verbindung mit einer Note an den Generaldirektor der IAEO in Wien überreicht. In der Sitzung des Gouverneursrats der IAEO Mitte Dezember wurden die neuen Richtlinien für den Umgang mit Plutonium vorgestellt und diskutiert. In seiner Eröffnungsrede am 8. Dezember berichtete Mohamed ElBaradei, der neue Generaldirektor der IAEO, daß die beteiligten Staaten sich darauf geeinigt hätten, über die Möglichkeit zu beraten, ähnliche Richtlinien auch für hochangereichertes Uran (HEU) zu erarbeiten. Nach Angaben von Hans-Friedrich Meyer von der Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit der IAEO sollen die Richtlinien als Information Circular gedruckt und allgemein zugänglich gemacht werden. Auf freiwilliger Basis können sich neben den neun Ländern, die die Verhandlungen hinter verschlossenen Türen geführt haben, weitere Länder den Richtlinien anschließen.

Einen Tag nach Veröffentlichung der Richtlinien hat die britische Regierung ihre erste Jahresbilanz im vereinbarten Format mit Stichtag 31. Dezember 1996 vorgelegt und das Erscheinen der nächsten für Juni 1998 angekündigt. Von deutscher Seite ist wegen notwendiger Abstimmungen mit EURATOM nicht so schnell mit einer Veröffentlichung zu rechnen.

Eine Überprüfung der Richtlinien für das Management von Plutonium durch alle Staaten, die ähnliche Richtlinien verabschieden, ist vorgesehen. Sie soll frühestens fünf Jahre nach der Notifizierung der Richtlinien durchgeführt werden. Bei der Überprüfung sollen Erfahrungen und die sich verändernden Umstände berücksichtigt werden.

Inhalt der Richtlinien

Die Richtlinien für den Umgang mit Plutonium gliedern sich wie folgt:

Allgemeine Bestimmungen, Nichtverbreitung und internationale Sicherungsmaßnahmen, Verantwortliche Handhabung, Physischer Schutz, Kontrolle und Bilanzierung von Kernmaterial, Internationale Weitergabe, Politische Leitlinien für den Umgang mit Plutonium, Veröffentlichung von Informationen, Anlage A: Umfang des physischen Schutzes, Anlage B: Jährliche Angaben zu den Beständen an unbestrahltem Plutonium, das für zivile Zwecke genutzt wird, Anlage C: Geschätzte Plutoniummengen in abgebrannten Brennelementen ziviler Reaktoren

Bis auf die Veröffentlichung von wenigen Daten fallen abgebrannte Brennelemente nicht unter diese Bestimmungen. Dennoch wird anerkannt, daß mit diesen ebenso wie auch mit hochangereichertem Uran genauso verantwortungsbewußt umgegangen werden muß wie mit abgetrenntem und unbestrahltem Plutonium. Die einschlägigen internationalen Verpflichtungen der beteiligten Staaten zur Nichtverbreitung, zum physischen Schutz, zur nuklearen Sicherheit, zur sicheren Beförderung und zum Strahlenschutz bleiben von diesen Richtlinien unberührt.

Über die Konvention zum physischen Schutz von Kernmaterial hinausgehend definieren die neuen Richtlinien für bestimmte Mengenklassen an Plutonium den Umfang des sicherzustellenden physischen Schutzes bei der Nutzung, Lagerung und Beförderung. Dabei soll den Empfehlungen der IAEO über den physischen Schutz von Kernmaterial Rechnung getragen werden. Die drei hier definierten Mengenklassen liegen bei 15 bis 500 g, 0,5 bis 2 kg sowie bei über 2 kg. Die neuen internationalen Richtlinien vereinheitlichen nicht nur den Umfang der nationalen Maßnahmen zum physischen Schutz, sondern regeln bei Beförderungen die internationale Kooperation und Arbeitsteilung bei deren Anwendung. Dabei werden die Verantwortlichkeiten von Liefer- und Empfängerland klar voneinander abgegrenzt. Drittländer, deren Territorium beim Transport berührt wird, müssen an den Schutzmaßnahmen nicht beteiligt werden.

Das in den meisten der beteiligten Ländern bereits installierte System einer Kernmaterialbilanzierung und -kontrolle soll in allen beteiligten neun Ländern installiert werden. Für die Kernwaffenländer ist es ein Novum, daß sie eine formale Absichtserklärung zur Installierung eines nationalen Kontrollsystems für ziviles Plutonium abgeben. Dieses Ergebnis ist besonders für die russischen Plutoniumbestände von Interesse, deren wirksame Kontrolle vielfach angezweifelt worden ist. Militärisches Material ist jedoch explizit davon ausgenommen. Unter anderem sieht das geforderte System vor, die Meßgenauigkeit und die Abschätzung der Meßunsicherheit zu bewerten. Diese Informationen wären für die Öffentlichkeit von großem Interesse, ihre Freigabe ist jedoch nicht vorgesehen.

Für die internationale Weitergabe von mehr als 50 Gramm Plutonium innerhalb eines Jahres an ein einzelnes Land muß ein am Abkommen beteiligtes Lieferland eine förmliche Kontrollzusage von der Regierung des Empfängerlandes einholen. Diese Zusage muß garantieren, daß das Material ausschließlich für zivile Zwecke verwendet, unter IAEO Safeguards gestellt und nicht ohne Zustimmung weitergegeben wird. Diese Regierung hat ferner die Richtigkeit der Endverbleibserklärung des Empfängers zu bestätigen. Sie muß diese Lieferung unter Berücksichtigung der von ihr veröffentlichten Angaben über ihre Bestände an abgetrenntem Plutonium sowie ihrer Strategie für die Nutzung von Plutonium mit der Regierung des Lieferlandes erörtern.

Alle Länder, die die Richtlinien unterzeichnen, verpflichten sich, ihre nationale Strategie für die Kernenergie und den sogenannten Brennstoffkreislauf sowie ihre allgemeinen Pläne für den Umgang mit den nationalen Plutoniumbeständen zu erklären. Diese Erklärung darf »kurz« sein und muß nur »gelegentlich« abgegeben werden.

Veröffentlichung der Plutoniumbestände

Eine große Hoffnung lag darin, daß das neue internationale Plutoniumkontrollregime zumindest Transparenz über die Plutoniummengen schafft. Im Rahmen der Wiener Gespräche hatte sich die Bundesregierung bereits Anfang 1995 gemeinsam mit sechs anderen Ländern darauf geeinigt, jährlich die Inventare an zivilem Plutonium zu veröffentlichen. Noch vor der Überprüfungs- und Verlängerungskonferenz des Nichtverbreitungsvertrags (NVV) 1995 sollte diese Vereinbarung in einen formalen Rahmen gefaßt werden.1 Zwei Jahre später war aus dem Außenministerium zu hören, daß in absehbarer Zeit eine Einigung auf ein gemeinsames Format erreicht werde, welches als Vorbedingung für eine Veröffentlichung von Plutoniumdaten durch Deutschland galt.2

Bislang gab es kein klares Bild von den deutschen Plutoniumvorräten, sondern nur vereinzelt zu findende Aufstellungen bestimmter Bestände oder von Aktivitäten und dabei angefallenen Mengen. Die bisher umfassendste Plutoniumbilanz wurde von Albright, Berkhout und Walker 1997 in einer aktualisierten und erweiterten Form vorgelegt.3 Sie ist für Deutschland nicht ausreichend detailliert. Die Bundesregierung, alle öffentlichen Stellen und i.d.R. auch die Betreiber der kerntechnischen Anlagen verweigern präzise Auskünfte über Plutoniummengen. Hier greift immer noch ein alter Geheimhaltungsbeschluß. Die Bundesregierung hat sich insbesondere wiederholt geweigert, detaillierte Angaben über den Bestand an Plutonium im Bundeslager in Hanau zu machen.4 Erst durch den Antrag der Firma Siemens für ein Leerfahrprogramm wurden einigermaßen detaillierte Zahlen bekannt.

Großbritannien hat hingegen bereits zum elften Mal einen – wenn auch unzureichenden – Jahresbericht über das zivile Plutonium veröffentlicht.5 Japan hat dies bereits dreimal getan.6 Im Februar 1996 erschien die erste Veröffentlichung einer Plutoniumbilanz der USA,7 wenig später legte Frankreich eine – wenn auch nur sehr spärliche – Plutoniumbilanz vor.8

Die Bundesregierung stellt sich auf den Standpunkt, daß sie alle Kompetenzen diesbezüglich an EURATOM abgegeben und somit keine eigenen Erkenntnisse über Plutoniummengen habe. Bis auf die Verpflichtung, sich die Daten von EURATOM zu besorgen und sie der IAEO zu melden wird sich auch mit dem neuen Abkommen nichts Wesentliches ändern. Bei den Verhandlungen ging es u.a. darum, sich auf ein gemeinsames Format für diese Plutoniumbilanzen zu einigen.

Das festgeschriebene Standardformat verwendet für abgetrennte und unbestrahlte Plutoniumbestände Rundungen auf 100 kg (für Plutonium in abgebrannten Brennelemente nur auf 1.000 kg genau), so daß die Angaben bei jeder Position um eine Menge ungenau ist, die der für rund zehn Kernwaffen benötigten entsprechen kann. Nur der Gesamtplutoniumgehalt wird genannt. Der spaltbare Anteil und die Isotopenzusammensetzung bleiben ebenso geheim wie die chemische Form des Plutoniums. Die nationalen Bestände von abgetrenntem und unbestrahltem Plutonium werden zu lediglich vier die Klasse von Lagerorten sowie zu drei die Nationengrenzen betreffenden Zahlenangaben aggregiert werden. Durch diese Zusammenfassungen werden klare Zuordnungen zu einzelnen Anlagen und verantwortlichen Ländern in den meisten Fällen unmöglich sein.

Bei den vier Bestandstypen, für die aggregierte Zahlen mitgeteilt werden sollen, handelt es sich um abgetrenntes und unbestrahltes Plutonium, das für zivile Zwecke genutzt wird,

  • in Lagern von Wiederaufarbeitungsanlagen,
  • während der Herstellung oder Fertigung (incl. von Plutonium, das in einer Brennelementefabrik oder einer anderen Fertigungsanlage oder andernorts in unbestrahlten Halbfertig- oder Roherzeugnissen enthalten ist),
  • an Standorten von Reaktoren oder andernorts in unbestrahltem Mischoxid-Brennstoff oder anderen Fertigerzeugnissen
  • sowie in anderen Beständen.

Extra angeführt werden als eine Summe die unter den obigen vier Nummern angegebenen Anteile, die sich im Besitz ausländischer Stellen befinden sowie als eine zweite Summe die nationalen Plutoniummengen, die sich an Standorten in anderen Ländern befinden und daher nicht in die aufgeschlüsselte Bilanz einbezogen werden. In einer dritten Summe werden Plutoniumbestände vermerkt, die sich am Stichtag der Bilanzierung (jeweils der 31. Dezember eines Jahres) auf einem internationalen Transport vor dem Eintreffen im Empfängerstaat befinden. Um welche Länder es sich bei den ersten beiden Summen handelt, wird nicht mitgeteilt. Für ein Land, das Plutonium im Besitz mindestens einer ausländischen Stelle auf seinem Territorium hat oder das eigenes Plutonium an mindestens einem Standort in einem anderen Land lagert, kann nur eine nationale Gesamtbilanz für abgetrenntes und unbestrahltes Plutonium ermittelt werden. Einzelangaben wie beispielsweise die Mengen, die in Lagern von landesinternen Wiederaufarbeitungsanlagen liegen und sich im Besitz von inländischen Stellen befinden, sind nicht möglich. Die Verschleierung der Daten bedingt auch, daß zwar die Gesamtmenge von abgetrenntem und unbestrahltem deutschen Plutonium, das sich im Ausland befindet, bekannt gemacht werden soll. Es bleibt aber nicht nur verschlossen, wie sich diese Mengen beispielsweise auf Frankreich oder England aufteilen, sondern es bleibt auch offen, ob das Plutonium in Lagern bei Wiederaufarbeitungsanlagen oder bei Fertigungsanlagen für Mischoxidbrennelemente oder aber an ganz anderen nicht genannten Orten lagert.

Die geschätzten Plutoniummengen in abgebrannten Brennelementen ziviler Reaktoren werden aufgeschlüsselt nach

  • Standorten ziviler Reaktoren,
  • Wiederaufarbeitungsanlagen sowie
  • anderen Orten (z.B. Zwischenlager in Ahaus und Gorleben).

Extra anzuführende Zusatzzahlen, die den im Land gelagerten Besitz ausländischer Stellen oder den eigenen an Standorten im Ausland gelagerten Bestand betreffen, sind hier nicht vorgesehen. Demnach wird Deutschland für Plutonium in abgebrannten Brennelementen in Wiederaufarbeitungsanlagen keine Angaben machen, da sich die in Frage kommenden Standorte alle im Ausland befinden. Die Länder mit Wiederaufarbeitungsanlagen werden aggregierte Angaben über das in abgebrannten Brennelementen in Wiederaufarbeitungsanlagen lagernde Plutonium machen, ohne nach Herkunft der Brennelemente zu unterscheiden.

Bewertung der Ergebnisse

Die endlich mühsam erzielte Einigung über »Guidelines for the Management of Plutonium« kann grundsätzlich begrüßt werden. Die darin vorgesehenen Maßnahmen müssen aber nicht nur von Kritikern der Plutoniumnutzung als unzureichend bewertet werden, sie stellen auch aus Sicht von beteiligten Regierungen einen zu mageren Kompromiß dar. Unzulänglichkeiten verbleiben sowohl im zivilen als auch im militärischen Bereich.

So haben die Nichtkernwaffenstaaten nicht einmal erreichen können, daß die aus der Abrüstung frei werdenden Plutoniumbestände in Zukunft Kontrollen unterworfen werden, die nach dem international etablierten Standard der nuklearen Sicherungsmaßnahmen für ziviles Plutonium gestrickt sind. Eigentlich hatten sich die Kernwaffenländer schon in den Prinzipien, die bei der unbefristeten Verlängerung des NVV im Mai 1995 verabschiedet worden sind, dazu verpflichtet, das aus der Abrüstung freiwerdende Plutonium so schnell wie praktikabel einer internationalen Kontrolle zu übergeben. Ein Teil der Kernwaffenstaaten hat sich lediglich bereit erklärt, nach eigenem Ermessen und im Rahmen ihrer bestehenden Abkommen zur freiwilligen Überwachung eine begrenzte Menge an Waffenmaterialien einer Kontrolle zu unterwerfen. Dafür soll ein Sonderkontrollregime geschaffen werden, auf dessen Gestaltung und Ausführung die Nichtkernwaffenstaaten keinen direkten Einfluß haben werden. Von einer aus Abrüstungsperspektive wünschenswerten internationalen Kontrolle über alle militärischen Bestände von Plutonium ist diese Zusage noch sehr weit entfernt.

Im zivilen Bereich soll es keinerlei Beschränkungen für die Produktion und Nutzung von Plutonium geben, obwohl dies bei den Verhandlungen immerhin auf dem Tisch war. Nicht nur zur Verminderung der Proliferationsrisiken hätte dies einen notwendigen Fortschritt gebracht. Ein Vorschlag der USA, der allerdings völlig undurchsetzbar war, hatte vorgesehen, die Wiederaufarbeitung von abgebrannten Brennelementen zur Abtrennung von Plutonium vorübergehend zu stoppen und in Zukunft nur noch in dem Maße zu betreiben, in dem das anfallende Plutonium für MOX-Brennelemente wieder verwertet werden kann. Das Ziel wäre eine drastisch reduzierte Lagerhaltung, die einem Nullinventar von Plutonium möglichst nahe kommen sollte. Alleine das in Frankreich aus deutschen Brennelementen abgetrennte und auf Halde liegende Plutonium kann auf derzeit etwa 14 bis 20 Tonnen geschätzt werden. Vor allem von Frankreich und England wurde massiv gegen diesen Vorschlag protestiert.9

Lediglich zwei Passagen in den Richtlinien sprechen mögliche freiwillige Einschränkungen im Umgang mit abgetrenntem Plutonium an. Im Absatz über den physischen Schutz geht es um die Genehmigung von Lagerungsstandorten. Die Regierung des betreffenden Staates wird dabei „berücksichtigen, daß es aus Sicherheitsgründen wünschenswert ist, die Zahl der Standorte, an denen sich dieses Material befindet, zu begrenzen.“ Von einer Minimierung von Beförderungen des Plutoniums ist nicht die Rede. Im Absatz über die politischen Leitlinien für den Umgang mit Plutonium verpflichtet sich der unterzeichnende Staat, bei der Formulierung seiner Strategie zum Umgang mit Plutonium, u.a. zu berücksichtigen: „die Notwendigkeit, zu vermeiden, daß die Gefahren der nuklearen Verbreitung erhöht werden, insbesondere während eines Lagerzeitraums, bevor das Plutonium entweder als Brennstoff in einem Reaktor bestrahlt oder auf Dauer beseitigt wird;“ sowie „die Bedeutung eines möglichst raschen Ausgleichs zwischen Angebot und Nachfrage, einschließlich der Nachfrage nach angemessenen Betriebsvorräten für nukleare Operationen.“

Der Wert der mit den jährlichen Plutoniumdaten zu schaffenden Transparenz ist äußerst gering. Ein gravierendes Manko besteht darin, daß ganze Bereiche von Daten völlig außen vor gelassen werden. Plutonium aus militärisch klassifizierten Beständen wird überhaupt nicht in die veröffentlichten Bilanzen einbezogen. Ebenso sind auch Transfers zwischen Ländern kein Gegenstand der zu veröffentlichenden Plutoniumbilanzen.

Ein zweites gravierendes Manko besteht in dem völlig unzulänglichen Format der Plutoniumbilanz. Durch die Aggregierung der Daten in nur wenige Klassen bleibt der Informationsgehalt niedrig. Eine Zuordnung nach bestimmten Anlagen ist grundsätzlich unmöglich. In der Regel wird nicht einmal eine vernünftige Zuordnung nach Ländern möglich sein, weil keine saubere Trennung nach den Nationalitäten der Nutzungs- und Verbrauchsrechte vorgenommen wird, durch die eine sinnvolle Zuweisung von Verantwortlichkeiten für die Plutoniumbestände möglich wäre. Darüber hinaus ist die Genauigkeit der Angaben unbefriedigend. Bei Rundungen auf 100 kg werden die gemeldeten Daten um einen Betrag vom realen Buchwert abweichen können, der ein Vielfaches der signifikanten Menge von 8 kg beträgt. Dadurch können die aufgrund von etwaigen Bilanzierungsproblemen auftretenden Unstimmigkeiten verdeckt bleiben und werden der Öffentlichkeit nicht bekannt. Da die zugänglichen Informationsquellen viele Inkonsistenzen, Lücken und Widersprüche enthalten, ist es bedauerlich, daß die geplanten Veröffentlichungen von nationalen Bilanzen kaum zur Klärung beitragen werden.

Alternative Vorschläge von unabhängiger Seite, wie das Format der zu erfolgenden Angaben über Plutoniumbestände und auch über -transfers zu gestalten wäre, sind wünschenswert. Immerhin weisen einige der nationalen Bilanzen, die bereits vorgelegt worden sind, z.T. einen höheren Informationsgehalt aus, als es nun von den neun Ländern vereinbart worden ist.

Die geschilderte Situation macht es auch notwendig, von unabhängiger Seite einen möglichst detaillierten Überblick über die deutschen Plutoniumvorräte zu erstellen. Ein solcher Überblick ist die notwendige Basis für eine kritische und unabhängige Auseinandersetzung mit Fragen zum gegenwärtigen deutschen Plutoniumbestand und dem zukünftigen Umgang damit.

Anmerkungen

1 Nucleonics Week, 26. Januar 1995, Seite 5. Zurück

2 Persönliche Mitteilung vom Auswärtigen Amt am 12. Dezember 1996. Zurück

3 D. Albright, F. Berkhout, W. Walker, Plutonium and Highly Enriched Uranium 1996. World Inventories, Capabilities and Policies, New York: Oxford University Press 1997. Zurück

4 Siehe beispielsweise BT Drucksache 12/7472 vom 2.5.1994. Zurück

5 Eleventh annual plutonium figures published, press notice, Department of Trade and Industry, 31. Juli 1997. Eine Tabelle mit Angaben zu den Beständen an unbestrahltem Plutonium, das für zivile Zwecke genutzt wird, ist veröffentlicht in Kalinowski/Damjanow, Blätter für deutsche und internationale Politik, 3/98, Bonn. Zurück

6 Annual Atomic Energy White Paper 1994, 1995, 1996 und 1997. Zurück

7 DOE Plutonium. The first 50 years. Washington, Februar 1996. Zurück

8 Findet sich in Min. de l'Industrie, L'energie nucleaire en 113 questions, März 1996. Zurück

9 Rob Edwards, Carry on reprocessing. European nuclear firms have defeated attempts to reduce plutonium stockpiles, New Scientist, 26. Juli 1997, Seite 20. Zurück

Dr. Martin Kalinowski ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter bei IANUS an der TU Darmstadt

Plutonium im Weltraum

Plutonium im Weltraum

Die vernachlässigten Risiken der Cassini-Mission

von Karl Grossmann

Die Regierung der USA macht weiterhin Ernst mit der Nutzung von Kernenergie im Weltraum – trotz der enormen Gefahr, der riesigen Kosten und einer naheliegenden Alternative: Solarenergie. Am 6. Oktober 1997 soll nach NASA-Plänen die Weltraumsonde Cassini starten, und zwar mit 32,8 kg Plutonium an Bord – der größten Plutoniummenge in der Geschichte der Raumfahrt. Außer dieser $ 3,4 Mrd. teuren Mission planen die USA weitere Weltraumprojekte, bei denen Kernenergie eine Rolle spielt.

Bei Cassini dient das Plutonium als Brennstoff für drei radiothermische Generatoren (RTG), die für einige Instrumente der Sonde Strom erzeugen sollen. Für den Start von Cassini wurde die Titan-IV-Rakete ausgewählt, obwohl Titan-Raketen nicht gerade für ihre Zuverlässigkeit bekannt sind. 1993 kam es auf dem Luftwaffenstützpunkt Vandenberg in Kalifornien beim Start einer Titan-IV nach 101 Sekunden zur Explosion. Der $ 800 Mio. teure US-Spähsatellit, der mit der Rakete ins Weltall gebracht werden sollte, zerschellte in tausend Stücke. „Für die Titan-Rakete wird immer noch die Fehlbezeichnung »Arbeitspferd« verwendet“, kommentierte die Fachzeitschrift für die Weltraumindustrie Space News. „In Wirklichkeit reagiert sie eher wie ein launisches und störrisches Paradepferd.“

Klappt der für den 6. Oktober 1997 geplante Start, steht uns dennoch eine weitere Gefahr bevor: Im August 1999 soll Cassini in einer Schleife für einen sogenannten flyby noch einmal zur Erde zurückkommen. Da die Anschubkraft von Cassini nicht für den direkten Flug von der Erde zum Saturn ausreicht, hat die NASA vor, die Sonde zunächst für eine zweifache Umrundung zur Venus und anschließend mit etwa 68.000 km/h zur Erde zurückzuschicken, die sie dann in gerade mal 500 km Höhe umrunden soll. Durch die Schwerkraft der Erde soll Cassini an Geschwindigkeit gewinnen.

Kommt es allerdings nach diesem langen Flug durch den Weltraum zu einem winzigen Fehler bei der Berechnung der Erdumlaufbahn, kann es laut der abschließenden NASA-Umweltverträglichkeitsstudie für Cassini (Final Environmental Impact Statement for the Cassini Mission) zu einem „unbeabsichtigten Wiedereintritt“ kommen. In ihrer Öffentlichkeitsarbeit betont die NASA zwar immer, daß auch bei einem derartigen Cassini-Unfall das Plutonium in den Generatoren optimal geschützt sei. In der Umweltverträglichkeitsstudie wird aber davon ausgegangen, daß ein beträchtlicher Teil der 32,8 kg Plutonium an Bord von Cassini beim Wiedereintritt in Form von „Pulver oder einatembaren Partikeln“ freigesetzt würde. „Bei einem durchschnittlichen Wiedereintrittsfall“, so die Studie, „würden wahrscheinlich 32 bis 34 Prozent des Brennstoffs aus den drei RTGs in großer Höhe freigesetzt. … Bei einem sehr flachen Eintrittswinkel (8 Grad) würden etwa 66 Prozent, bei einem steilen Eintrittswinkel (90 Grad) etwa 20 Prozent des freigesetzten Brennstoffes zu Staub oder einatembaren Partikeln mit weniger als 10 Mikrometer Durchmesser verdampft.“

Dr. Kaku, Professor für Kernphysik an der City University von New York, erklärt dazu, daß die Plutoniumpartikel, die von Menschen eingeatmet werden, sich in der Lunge festsetzen, und „über Jahrzehnte hinweg Lungenkrebs auslösen“.

Dr. Horst Poehler, ein Wissenschaftler, der 22 Jahre lang für Subunternehmer der NASA im Kennedy Space Center gearbeitet hat, bestreitet die NASA-Position, nach der das Plutonium in der Cassini-Sonde gut geschützt sei. Die Plutoniumoxidtabletten sind mit einem Iridiumüberzug versehen, der nur „so dick wie ein Fingernagel“ ist, und sie sind in einem speziellen Schutzbehälter aus Kohlenstoff eingeschlossen, der auch nur wenige Zentimeter dick ist.

Unterschätzte Unfallfolgen

Hinsichtlich der Zahl der Todesopfer in Folge eines Cassini-Unfalls beim Vorbeiflug an der Erde kommt die NASA in der abschließenden Umweltverträglichkeitsstudie zu dem Schluß, daß zwar mehrere Milliarden Menschen der nuklearen Strahlung ausgesetzt seien, daß aber „von diesem Bevölkerungsanteil innerhalb von 50 Jahren“ nur etwa 2.300 Menschen an Krebs sterben würden. Dr. Ernest Sternglass, emeritierter Professor für Strahlenphysik an der Universität der Pittsburg School of Medicine, geht davon aus, daß die NASA „schon die Krebsrate um das 2.000- bis 4.000-fache unterschätzt“ hat und zusätzlich zahlreiche andere Todesursachen außer Betracht läßt, wie z. B. Kindersterblichkeit, Herzerkrankungen oder Erkrankungen des Immunsystems.

Dr. John Gofman, emeritierter Professor für Strahlenphysik an der University of California in Berkeley, bestätigt, daß schon die Menge Plutonium, die laut NASA bei einer mißglückten Erdumrundung freigesetzt werden könnte, „einer astronomisch hohen Dosis krebsauslösender Alphastrahlen entspricht. Die Dosis ist so hoch, daß die Zahlen jede Dimension sprengen.“

Dr. Helen Caldicott, Gründungsmitglied und emeritierte Professorin der Physicians for Social Responsibility, sagt, die NASA unterschätze die besondere Gefährlichkeit von Plutonium. Außerdem setzt die NASA nach ihrer Aussage die tatsächlichen Auswirkungen auch deshalb viel zu gering an, weil sie die Zahlen auf eine „Durchschnittsdosis für die gesamte Weltbevölkerung bezieht“ und somit ignoriert, daß viele Menschen einer deutlich größeren Strahlenbelastung ausgesetzt wären.

Die Freisetzung von Plutonium bei einem Cassini-Unfall „wäre einfach entsetzlich“, bestätigt Dr. Karl Z. Morgan. Dr. Morgan gilt als der »Vater« der Strahlenschutzmedizin und war Direktor der Abteilung für Strahlenschutzmedizin am Oak Ridge National Laboratory. „Jedes einzelne dieser Plutoniumpartikel würde eine unglaublich hohe Strahlendosis – mehrere hunderttausend Rem – an das umliegende Gewebe abgeben. Dementsprechend käme es zu zahlreichen Krebsfällen.“

Die Alternative: Solarenergie

Die Strahlenrisiken werden in Kauf genommen, obwohl der Einsatz von Kernenergie für die Cassini-Mission gar nicht nötig ist. Die mageren 745 Watt Strom, die die Plutoniumgeneratoren erzeugen sollen, könnten von Solarzellen geliefert werden. 1994 kündigte die Europäische Weltraumorganisation ESA einen „technologischen Durchbruch“ bei „hochwirksamen“ Solarzellen speziell für tiefe Welt-raummissionen an. In ihrer Presseerklärung liest sich das wie folgt: „Im Auftrag der ESA haben europäische Firmen vor kurzem hochwirksame Solarzellen für den Einsatz in künftigen anspruchsvollen tiefen Weltraummissionen entwickelt.“ Die neuen Solarzellen erzielen einen Wirkungsgrad von 25 % „im tiefen Weltraum“, betont die ESA. „Die 25-Prozent-Marke entspricht dem höchsten Wirkungsgrad, der weltweit je erzielt wurde.“

„Bislang mußten Sonden im tiefen Weltraum mit thermonuklearen Generatoren, beispielsweise mit RTGs, arbeiten“, so die Presseerklärung der ESA weiter. „Da die RTG-Technologie in Europa nicht verfügbar ist, hat die ESA versucht, eine Energiequelle auf der Basis hochwirksamer Solarzellen zu entwickeln.“ Die ESA geht davon aus, daß die neuen Hochleistungs-Solarzellen aus Silizium profitabel in tiefen Weltraummissionen eingesetzt werden können. „Wenn wir genug Geld für die Entwicklung bekommen, könnte die ESA innerhalb von fünf Jahren über Solarzellen für die Stromversorgung einer Saturnmission verfügen“, wurde die ESA-Physikerin Carla Signorini 1995 von der Zeitung Florida Today zitiert.

Im März 1997 fand an der Technischen Hochschule Darmstadt ein Symposium zur »Ambivalenz der Weltraumtechnik« statt, das u.a. von IANUS und INESAP organisiert wurde. Dr. Gerhard Strobl, Projektleiter der Firma ASE (Angewandte Solarenergie) aus Heilbronn, die im Auftrag der ESA die hochwirksamen Solarzellen entwickelte, deutete an, daß mit den Solarzellen seiner Firma genug Energie für die Cassini-Mission erzeugt werden könnte, sofern die Sonde etwas anders konstruiert würde.

Daß die NASA für die Cassini-Mission keine Solarenergie verwendet, beurteilt Dr. Michiu Kaku wie folgt: „Für die NASA ist die Ideologie wichtiger als die Gesetze der Physik. Die Energieausbeute von Solarzellen ist nämlich eindeutig ausreichend für Cassini … Die NASA hat sich aber ideologisch auf die Kernenergie festgelegt.“ Dr. Kaku gibt zu, daß „die Nachrüstung von Cassini mit Solarzellen Mehrkosten und eine geringfügige Verzögerung der Mission bedeuten würde. Das ist aber ein kleiner Preis im Vergleich zu den Menschenleben, die bei einem Unfall aufs Spiel gesetzt würden.“

Trotzdem rücken weder die NASA noch die anderen Befürworter einer nuklearen Cassini-Mission – das US-amerikanische Energieministerium, die nationalen Nuklearlaboratorien des Energieministeriums, Lockheed Martin (sie haben 1993 den Unternehmensbereich von General Electric aufgekauft, der seit Jahrzehnten die RTGs herstellt) – vom Kern-energieeinsatz für Cassini ab.

In der abschließenden Umweltverträglichkeitsstudie für die Cassini-Mission gibt die NASA zu, daß die europäischen „Solarzellen bisher bei Simulationstests günstig abgeschnitten haben“. Eine Analyse ihrer Ingenieure ergab laut NASA eine „höhere Leistungsfähigkeit“. Aber, so die NASA, „längere Manövrierzeiten, komplexere Betriebskennzahlen sowie die programmatischen Risiken im Zusammenhang mit einer ausschließlichen Ausstattung von Cassini mit Solarzellen machen eine solche Konstruktion sowohl aus technischer als auch aus wissenschaftlicher Sicht unmöglich“.

„Unmöglich?“, kommentiert Dr. Kaku. „Die Nutzung von Solarenergie für Cassini ist nur dann unmöglich, wenn der Sicherheitsgedanke nicht an erster Stelle steht.“

Die militärische Verbindung

Der Protest gegen die Cassini-Mission wird vom Global Network Against Weapons & Nuclear Power in Space aus Gainesville in Florida, USA, angeführt. Bruce Gagnon, Ko-Koordinator des Global Network, sagt, daß die NASA auch auf Grund „der militärischen Verbindung“ auf der Nutzung von Kernenergie für Cassini besteht.

Das Pentagon, erklärt der Ko-Koordinator des Global Network, Bill Sulzman, will die Kernenergie auch für Weltraumwaffen verwenden. Da die NASA seit dem Ende der Apollo-Missionen zum Mond in den sechziger und frühen siebziger Jahren mit Budgetkürzungen konfrontiert ist, begann sie, ihre Projekte mit dem Pentagon zu koordinieren, um weitere Geldmittel zu erhalten. Seither „arbeitet die NASA eng mit dem Militär zusammen“.

Die amerikanische Luftwaffe betont in ihren aktuellen Planungen, daß der Weltraum ein militärischer Standortvorteil sei. Bill Sulzman verweist auf Colonel Mike Heil vom Phillips Laboratory der Luftwaffe, einer Forschungs- und Entwicklungseinrichtung. Dieser erklärte zu Beginn dieses Jahres in einem Interview, daß „der Feldherrenhügel von gestern mit seinen entfernten Höhenzügen und den Berggipfeln am Horizont eine moderne Entsprechung hat: den Weltraum.“

General Joseph W. Ashy, Oberbefehlshaber des U.S. Space Command (das übrigens unter dem Logo Master of Space, also »Beherrscher des Weltraums« agiert; die Übersetzerin), erzählte vor kurzem in der Zeitschrift Aviation Week & Space Technology, wie die US-Luftwaffe „in das Weltall expandieren“ will. „Eines Tages werden wir Ziele auf der Erde – Schiffe, Flugzeuge, Ziele auf dem Land – aus dem All angreifen. Wir werden Ziele im All angreifen, aus dem All. … Das ist politisch ein heißes Thema, aber so wird es sein. Manche Menschen wollen das nicht hören, und es ist sicherlich nicht populär… aber – so oder so – wir werden im All kämpfen. Wir werden vom All kämpfen, und wir werden den Kampf in das All hinein tragen.“

Da stellt sich natürlich die Frage der Energieversorgung für die Waffen, die das US-amerikanische Militär im Weltraum verwenden will – beispielsweise Laserwaffen, Teilchenstrahlwaffen und Hochgeschwindigkeitskanonen. Ein Bericht der Luftwaffe vom letzten Jahr mit dem Titel New World Vistas (Ausblicke auf die neue Welt) beklagte, daß für Weltraumwaffen momentan noch »Energiebeschränkungen« bestehen. „Eine natürliche Technologie, mit der im Weltraum eine hohe Energieleistung erzielt werden kann, ist die Kernenergie“, versicherte der Luftwaffenbericht. „Wenn man die emotionalen Probleme im Zusammenhang mit der Kernenergie mal beiseite läßt, bietet diese Technologie eine brauchbare Alternative für die Erzeugung großer Energiemengen im All.“

SDI (Strategic Defense Initiative) oder der Sternenkrieg (Star Wars) basierte nach der Konzeption der Reagan-Regierung auf Gefechtsstationen in der Erdumlaufbahn, die mit solchen nuklearbetriebenen Waffensystemen ausgerüstet sein sollten. Unter Präsident Clinton änderte sich der Name von Strategic Defense Initiative zu Ballistic Missile Defense (BMD), das Budget hat sich aber kaum verändert: im kommenden Haushaltsjahr $ 4 Mrd. Die Clinton-Regierung setzt weiterhin auf Kernenergie im Weltraum, wie aus einer Grundsatzerklärung von 1993 hervorgeht. Darin verkündet die US-Regierung, daß „Kernenergie und Nuklearantriebe in der Weltraumfahrt zur wissenschaftlichen, wirtschaftlichen und nationalen Sicherheit von Weltraummissionen beitragen können“.

Im September 1996 veranlaßte die Clinton-Regierung ein Entwicklungsprogramm für militärisch und zivil genutzte Raketen mit Nuklearantrieb. Die Defense Special Weapons Agency soll „an mehreren nuklearen Antriebskonzepten“ arbeiten, wie in einem Artikel auf der Titelseite der Zeitschrift Space News zu lesen war.

Unfälle mit Kernenergie im Weltraum

Die Nutzung von Kernenergie im Weltraum wurde schon immer von Unfällen begleitet. 1964 fiel ein RTG des Typs SNAP-9A (SNAP steht für Systems for Nuclear Auxiliary Power) vom Himmel und verglühte dabei in der Atmosphäre. Der RTG war mit einem knappen Kilo Plutonium beladen, das verdampfte und „sich weltweit verteilte“, wie einer Publikation mit dem Namen Emergency Preparedness for Nuclear-Powered Satellites zu entnehmen war. Die Publikation wurde 1990 von einer Gruppe europäischer Atom-agenturen herausgegeben und informierte darüber, daß „ein weltweites Meßprogramm, das 1970 durchgeführt wurde, Rückstände des SNAP-9A auf allen Kontinenten und in allen Luftschichten nachwies“.

Von 25 bekannten Weltraummissionen der USA, die mit Kernenergie arbeiteten, endeten drei mit Unfällen. Auch in der sowjetischen, jetzt russischen Raumfahrt sieht die Bilanz nicht anders aus: Die Unfallrate liegt bei etwa 15 Prozent. Dies schließt den sowjetischen Kosmos-Satelliten ein, der 1978 beim Absturz auf die Erde über dem Nordwesten Kanadas in Stücke zerfiel. Dabei verteilte sich das strahlende Material über zehntausende Quadratkilometer Erde.

Und im letzten Jahr verbrannte die russische Sonde Mars-96, die etwa 200 Gramm Plutonium an Bord hatte, über dem Grenzgebiet von Chile und Bolivien. Die Sonde zerbrach dabei nach Augenzeugenberichten in mehrere Teile. Die chilenische Regierung untersucht inzwischen, ob der Absturz der Sonde zu Gesundheitsschäden führt.

Galileo, Ulysses, Cassini … Stoppt die Nutzung von Kernenergie im Weltraum

Zu den letzten amerikanischen Weltraummissionen, bei denen die Sonden von plutoniumbetriebenen RTGs mit Energie versorgt wurden, gehört Galileo, der 1989 mit 22,7 kg Plutonium an Bord startete, sowie Ulysses, der 1990 mit 11,3 kg Plutonium beladen war. Übrigens: 1986 sollte die dann verunglückte Challenger als nächste Mission den Satelliten Ulysses und sein Plutonium ins All bringen.

Im Zusammenhang mit dem Galileo-Start begehrte ich gemäß dem Freedom of Information Act Auskunft über Alternativen zur Nutzung von Kernenergie für Galileo. Das Jet Propulsion Laboratory der NASA schickte mir damals Berichte zu, die bestätigten, daß für die Galileo-Mission zum Jupiter anstelle von Kernenergie auch Solarenergie hätte genutzt werden können. Einer dieser Berichte begann mit den Worten: „Nach dem momentanen Kenntnisstand ist davon auszugehen, daß die Galileo-Mission zur Umlaufbahn des Jupiters ohne Änderung des Ablaufs der Mission und ohne Beeinträchtigung der wissenschaftlichen Ausbeute mit einem dichtbestückten photovoltaischen Solarzellenpanel als Energiequelle durchgeführt werden könnte.“

„Mit der Kernenergie im tiefen Weltraum“, so Dr. Kaku, „steht und fällt“ das gesamte Weltraumprogramm der USA. „Was sie wollen ist eine Rakete mit Nuklear-antrieb, die mit nuklear betriebenen Lasern ausgerüstet ist, und das Ganze im tiefen Weltraum. Das hätte das Militär gerne, und das hätte die NASA gerne. … Zuerst haben wir kleine unscheinbare Reaktoren, die SNAP-Reaktoren. Dann haben wir die RTGs und Galileo und Cassini. … Und was sie zum Schluß wollen, sind nuklear betriebene Gefechtstationen im tiefen Weltraum. Genau darauf läuft das alles hinaus.“

Und Bruce Gagnon meint: „Wir befürchten, daß für das Militär der Vereinigten Staaten und die großen Rüstungskonzerne der Weltraum einfach ein neuer Markt ist, von dem sie profitieren wollen. Sie initiieren mit den Dollars der Steuerzahler eine neue Runde beim Wettrüsten im Weltraum. Gleichzeitig sieht die Atomindustrie den Weltraum als neuen Markt. Als einen Platz, wo man Plutonium und andere radioaktive Energiequellen hinbringen kann. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um militärische oder um zivile interplanetarische Weltraummissionen handelt. … Die amerikanischen Bürger müssen sich jetzt unbedingt wehren.“

Übersetzung von Regina Hagen.

Unter Koordination des Global Network Against Weapons & Nuclear Power in Space führt die Friedens- und Begegnungsstätte Mutlangen zusammen mit dem Darmstädter Friedensforum eine breitangelegte Protestaktion gegen Cassini in Deutschland durch.

Weitere Informationen erhalten Sie in Mutlangen (Tel. 07171-75661; Fax 07171-795384) oder über die e-mail-Adresse regina.hagen@jugendstil.da.shuttle.de

Karl Grossmann ist Professor für Journalistik an der State University von New York.

Plutoniumdebatte – vergraben, verMOXen, verglasen

Plutoniumdebatte – vergraben, verMOXen, verglasen

von Wolfgang Liebert

Die Debatte darüber, ob russisches Plutonium in der MOX-Anlage in Hanau verarbeitet und damit in den zivilen Brennstoffkreislauf überführt werden soll, hat im letzten Jahr Schlagzeilen gemacht und zu einer Polarisierung unter Friedensforschern geführt. In W&F 1/96 hat Annette Schaper dargelegt, was aus ihrer Sicht für die »Hanau-Option« gesprochen hätte und wo nach ihrer Meinung die Probleme lagen. Wolfgang Liebert setzt sich im folgenden kritisch mit der Position von Annette Schaper auseinander.

Die weltweit aufgehäuften Plutoniummengen stellen tatsächlich ein drückendes Problem dar, geht es doch um den – neben hochangereichertem Uran (HEU) – wichtigsten Atombombenstoff. Die Herausforderung, eine nachhaltige Umgehensweise mit diesem Waffenstoff zu finden, existiert nicht erst, seitdem die ersten Sprengköpfe in den USA und Rußland endgültig demontiert wurden und »Waffenplutonium« freigesetzt wurde. In den militärischen Arsenalen der fünf offiziell deklarierten Kernwaffenstaaten und den drei weiteren inoffiziellen Atommächten sowie den beiden letzten Nachfolgestaaten der Sowjetunion, die noch Atomwaffen auf ihren Territorium beherbergen, lagern bis zu 270 Tonnen Plutonium. Theoretisch der Stoff für mindesten 70.000 Atomwaffen.

Wenn der 2. russisch-amerikanische Vertrag über die strategische Abrüstung bis zum Jahr 2003 tatsächlich umgesetzt werden sollte (daran kann noch gezweifelt werden, da es immer unwahrscheinlicher wird, daß wirklich beide Unterschriften unter den START II Vertrag durch Beschlüsse der Parlamente rechtskräftig werden), dann würden in Rußland etwa 100 Tonnen Plutonium aus den Sprengköpfen entnommen werden müssen und in den USA mindesten 50 Tonnen.1

Ein wesentliches Problem besteht darin, daß die Waffenstoffe jederzeit für den Bau von Atomwaffen wieder verwendet werden könnten, wenn sich beispielsweise die weltpolitische Lage erneut destabilisiert oder sich die noch immer waffenstarrenden alten Supermächte selbst von innen heraus destabilisieren. »Starke Männer« könnten sich auf die erneute Suche nach äußeren Feinden begeben, die mit Atomwaffen abgeschreckt und massiv bedroht werden müssen. Warum soll eigentlich diese Gefahr nur in Rußland bestehen? Wer kann eigentlich für die politische Stabilität in den USA für die nächsten Jahrzehnte Garantien abgeben? (Die Halbwertzeit für Plutonium beträgt mehr als 20.000 Jahre – die »Halbwertzeit« von Regierungen und zeitgeschichtlich vertrauten stabilen Machtverhältnissen liegt dramatisch unterhalb dieser Zahl!). Die Sorge vor Instabilitäten oder vor mit Waffenstoff handelnden gerissenen Geschäftemachern, die Staaten oder gut organisierte Terrorgruppen (oder Sekten) beliefern könnten, ist nicht nur mit dem Waffenplutonium aus der Abrüstung verknüpft. Jegliches weltweit vorliegende, vom nuklearen Brennstoff abgetrennte Plutonium kommt für die gefährliche »Abzweigung« für Waffenzwecke in Betracht. 130 weitere Tonnen an Plutonium liegen als zivil gelabelter Stoff weltweit auf Lager.2 Dieses sogenannte Reaktor-Plutonium ist gleichfalls waffentauglich.3 Die prinzipiell lückenhafte Überwachungsmöglichkeit im zivilen Nuklearbereich sollte ebenfalls zu großer Sorge Anlaß geben. Mithin wären zur Zeit bereits 400 Tonnen Plutonium als globales Risikopotential anzusehen, das weiter ansteigen wird, wenn die Plutoniumabtrennung im zivilen Bereich weitergeht.

Was soll mit dem Waffenstoff Plutonium geschehen?

Im letzten Jahr hatten wir in Deutschland die Hanau-Debatte.4 In der letzten Ausgabe von W&F konnte mit Annette Schaper eine der Befürworterinnen der MOX-Option in Deutschland, die national und international für diesen Weg geworben hat, zu Wort kommen.5

Bevor ich etwas genauer auf die Hanau-Option als solche eingehe, möchte ich zunächst einige grundsätzliche Fragen behandeln.

Ziele und Kriterien

Welches Ziel soll die Umgehensweise mit oder Beseitigung von Plutonium eigentlich haben? Letztlich wäre anzustreben, daß es weltweit weder produzierbar noch zugänglich wäre und bestehende Bestände nicht rückholbar beseitigt würden. Die Verfolgung dieses Zieles wäre der Bahnung eines irreversiblen Weges in die atomwaffenfreie Welt dienlich. In diesem Kontext ist der Vorschlag einer comprehensive Cutoff Convention gemacht worden,6 die bei den alsbald beginnenden Verhandlungen über einen Cutoff-Vertrag bei der Genfer Abrüstungskonferenz eine Rolle spielen sollte.

Will man den Zugriff auf Waffenstoffe wirklich an der Quelle abschneiden (cutoff), darf nicht nur die Neuproduktion für Waffenzwecke zum Thema gemacht werden, sondern auch die existierenden Arsenale und Spaltstofflager sowie der zivile Bereich müssen einbezogen werden. Ansonsten kann die Gefahr, die von den drei wichtigsten Waffenstoffen Plutonium, HEU und Tritium ausgeht, nicht gebannt werden.

Die aktuelle Debatte über Plutoniumbeseitigung wurde allerdings angestoßen durch die Mengen an Plutonium (und HEU), die aus Sprengköpfen entnommen werden (Dies sollte nicht zur Verdrängung des umfassenden Problems führen!).

Es macht Sinn, über Kriterien für den technischen Umgang zu diskutieren. Ich schlage folgende vor:

  • Welche Ergebnisse werden durch die technischen Methoden produziert? Wird zunächst der Zugriff auf Plutonium erschwert oder wird eine nachhaltige Lösung für das Plutoniumproblem erreicht, also im besten Falle seine endgültige Vernichtung? Wird nur eine mehr oder minder reversible Umsetzung von Plutonium erzeugt, die eine Rückholbarkeit von Waffenstoff erlaubt? (Aspekt der Nachhaltigkeit und Irreversibilität)
  • Sind die verwandten technischen Mittel proliferationsresistent? Werden dabei (neue) waffenrelevante Technologieoptionen verfolgt oder ist sogar eine Abzweigung von Waffenmaterial vorstellbar? (Kriterium der Proliferationsresistenz)
  • Welche umweltschädigenden Aspekte sind mit den entsprechenden Technologien verbunden? Welche Konsequenzen für die Nutzung risikobehafteter Technolgien sind abzusehen? (Umweltkriterien unter Einschluß möglicher Risiken)
  • Welche Zeitskalen für die Unschädlichmachung von Plutonium sind für die betrachtete Methode relevant? Wann kann die Technologie zur Verfügung stehen und wie lange wird voraussichtlich die Umsetzung relevanter Mengen dauern? Ist eine längerfristige Zwischenlagerung notwendig? (Kriterium des zeitlichen Aspektes)
  • Wie teuer wird die möglicherweise noch notwendige Forschungs- und Entwicklungsarbeit in Hinblick auf die ausgewählte Technologie? Welche Investionskosten für die Anlage fallen an? Was kostet der langjährige Technologieeinsatz und die Beseitigung oder Endlagerung seiner Folgeprodukte? (Kostenkriterium)
  • Hat die Entscheidung für die Verwendung oder Vorbereitung einer bestimmten Technologie einen positiven Einfluß auf Konversionsbemühungen, insbesondere was die Beschäftigung von Wissenschaftlern und Ingenieuren aus den alten Waffenkomplexen betrifft, deren möglicherweise gefährliche Abwanderungstendenzen so reduziert werden können? (Konversonskriterium)
  • Haben die verwendeten Technologien einen Zusammenahng mit ihrer möglichen Verwendung für eine sinnvolle Behandlung bereits existierender hochradioaktiver Abfälle des alten Waffenkomplexes oder auch der zivilen Nuklearindustrie? (Konvergenzaspekt)
Mox Verglasen Bohrloch Transmutation
1. Erschwerung des Zugriffs ++ ++ + ++
2. Irreversibler Entzug o/- o/- ++ (?)
3. Proliferations- resistenz der Technologie -(-) -/o o –/o/+ (?)
4. Umweltrisiken im Betrieb -(-) -/o o –/o/+ (?)
5. Vermeidung zus. Risiken (+) o -/0/+ (?)
6. Zeitskala o/-
7. Zwischenlagerungs- bedarf (-)
8. Kosten o o o
9. Einfluß auf Konversion o o o
10. Konvergenz- aspekt o o/(+) o + (?)
11. Einfluß auf Nuklearprogramme -/o -/o -/+ (?)

Optionen

Neben der MOX-Option sind weitere ernst zu nehmende Vorschläge für die Beseitigung von Plutonium gemacht worden. Drei dieser weiteren Möglichkeiten sollen hier nur kurz skizziert werden: die Verglasungsoption, die Bohrlochoption (»vergraben«) und die Option der »Vernichtung« durch beschleunigergestützte Transmutation.

Verglasen

Ein bis zwei Volumenprozent Plutonium können unter den im militärischen (oder auch zivilen) Atomkomplex entstandenen Atommüll gemischt werden. Dann würde es in Borsilikaten zu tonnenschweren Glasblöcken vitrifiziert und endgelagert (in Ermangelung eines genehmigten Endlagers wohl eher zwischengelagert, wie die abgebrannten Brennelemente des laufenden und bereits erfolgten Reaktorbetriebes). Im US-staatlichen Savannah River Plant befindet sich eine Defense Waste Processing Facility im Aufbau, von der angenommen wird, daß sie nach etwa zehnjährigem Vorlauf von 2006 bis 2013, also innerhalb von acht Jahren, 50 Tonnen Waffenplutonium verglast in den Atommüll einbetten könnte. Die Zusatzkosten für die Plutoniumbeimischung werden mit weniger als einer Milliarde Dollar (oder etwas mehr) angegeben. In der auf zehn Jahre veranschlagten Vorlaufzeit sind allerdings noch einige Hürden zu nehmen. Neben der in den USA besonders schwierigen Genehmigungsprozedur ist die Notwendigkeit von Modifikationen der bislang entwickelten Verglasungstechnik bei zusätzlichem Plutoniumeinschluß nicht auzuschließen, das Langzeitverhalten der Gläser muß unter diesem Aspekt studiert werden und Kritikalitätsprobleme für die nicht unerheblichen Waffenstoffmengen müssten eindeutig ausgeschlossen werden.7

Vergraben

Man könnte das Waffenplutonium in Kilometer tiefe Bohrlöcher verbringen, die ins Grundgestein getrieben werden und anschließend so verschlossen werden, daß eine Rückholung entweder große Schwierigkeiten macht oder bewußt zugelassen wird. Dies ist im Prinziep die Endlagerungsoption, die von der schwedischen Nuklearindustrie für ihren Nuklearabfall bevorzugt wird und selbstverständlich auch fundierte Kritik auf den Plan gerufen hat. Die Anwendung dieser Technik auf vorliegendes Plutonium wäre sicher keine langfristig stabile Lösung, denn zurückgeholt wäre sofort Waffenmaterial zugänglich. Aber als zeitlich begrenzte Zwischenlösung, die wenigstens den direkten Zugriff für subnationale Gruppen zuverlässig verhindert, wäre die Methode vielleicht schon geeignet. Wenige Bohrlöcher könnten genügen, um 100 Tonnen Plutonium aufzunehmen. Eine mögliche Rückholungskampagne durch Wiederaufbohren der Lagerstätten wäre leicht durch Satellitenüberwachung erkennbar und würde dann weltweite Beachtung erhalten und entsprechende Reaktionen zeitigen. Eine sichere Zwischenlösung für Jahrzehnte muß in jedem Fall gefunden werden, da die diskutierten Prozesse zur Plutoniumumsetzung ebenfalls einige Jahrzehnte Zeit benötigen. Vielleicht könnte sich die Bohrloch-Option bei näherer Betrachtung als durchaus bedenkenswerte Übergangslösung herausstellen, die auf Zeitgewinn setzt, bis eine sinnvollere Option zur Verfügung steht.

Vernichten

Theoretich denkbar wäre die Zerstörung von Plutonium in hohen Neutronenflüssen, durch die quasi die Plutoniumatome aufgeknackt würden und quantitativ in leichtere, kurzlebigere Spaltprodukte überführt würden. Radioaktiver Abfall wäre auch hier unvermeidlich, der allerdings kaum Waffenstoff mehr enthalten sollte und keine Jahrtausende bewacht werden müßte, sondern in menschheitsgeschichtlich überschaubaren Zeiträumen zerfallen würde. Solche Prozesse nennen die Physiker seit Jahrzehnten Transmutation. In Ermangelung von genügend hohen und kontinuierlich zur Verfügung stehenden Neutronenflüssen hatten solche Prozesse bisher kaum eine Chanse der Realisierung.

Die Beschleunigerentwicklungen der jüngsten Zeit geben aber zu vorsichtigen Hoffnungen Anlaß, daß sogenannte Spallationsneutronenquellen betrieben werden könnten, die für die Transmutation geeignet wären. In einigen alten Waffenlabors, wie im amerikanischen Los Alamos und dem russischen Arzamas sowie in einigen Kernforschungszentren in Japan, der Schweiz und in Deutschland wird tatsächlich über solche beschleunigergestützte Transmutation nachgedacht. Zumeist ist allerdings dabei die Zielrichtung, eine neue nukleare Energiemaschine anzubieten, über deren positive und negative Seiten man sehr geteilter Ansicht sein kann. Prinzipiell wäre es aber auch denkbar, die Arbeit auf den Hauptzweck einer endgültigen Beseitigung von Plutonium zu fokussieren, wobei ein möglicher Energiegewinn nur ein Nebenprodukt wäre.8 Eine sicher nicht ganz billige Idee zur Forschungskonversion im Bereich der alten Nuklearkomplexe.

In einer doppelbändigen, einflußreichen Studie der US National Academy of Sciences (NAS)9 wurde noch eine Reihe weiterer Optionen diskutiert, die aber alle als höchst unvorteilhaft oder als mit zu großen Nachteilen und Risiken behaftet bewertet werden.

Das Hauptkriterium bei den NAS-Überlegungen war dabei, das Waffenplutonium in eine so abzweigungssichere Form zu bringen, wie im zivilen Bereich üblich bzw. machbar. Dies ist der sogenannte »Abgebrannte-Brennelemente-Standard«. Mehr als ein Schutz vor fremdem Zugriff durch die radiologische Barriere aufgrund der Einbettung in hochaktiven atomaren Abfall ist bislang im zivilen Sektor nicht zu erreichen. Gemessen an dem Ziel der NAS-Bemühungen, den begonnenen nuklearen Abrüstungsprozeß unumkehrbar zu machen, eine durchaus vernünftige Überlegung.

In den NAS-Studien wurde auch erwähnt, daß langfristig über den »Abgebrannte-Brennelemente-Standard« hinausgedacht werden müsse. Die radiologischen Barrieren gegen den Zugriff auf das Plutonium zerfallen mit dem radioaktiven Zerfall des umgebenden nuklearen Abfalls. Von einem effektiven Schutz gegen unauthorisierten Zugriff kann man wohl nur in Zeiträumen von einigen Jahrhunderten sprechen. Staaten könnten großtechnische Wiederaufarbeitung betreiben, um erneut an den Waffenstoff zu kommen. Irgendwann muß also durch den Einsatz effektiver Technologien Vorsorge getroffen werden. Zwar kann niemand prognostizieren, wie sich die menschliche Zivilisation entwickeln wird, aber es wäre möglicherweise fatal, zukünftigen Menschheitsgenerationen, die friedlicher oder noch unfriedlicher miteinander umgehen, ein gefährliches und verführerisches Erbe in der Form von »Plutoniumminen« zurückzulassen.

Vergleich der Optionen

Eine detailierte Analyse der vier Optionen würde den Rahmen dieses Beitrages sprengen. Im folgenden soll anhand der Tabelle ein grober Vergleich – angelehnt an die vorgestellten Kriterien – vorgenommen werden.

Nach Durchführung der technischen Methoden wäre der Zugriff auf das Plutonium für alle Optionen eindeutig erschwert, bei der Bohrlochoption wäre der Erfolg nur relativ, bei der Transmutation gilt die Einschätzung, daß die technische Demonstration der Technologie noch gänzlich aussteht. Der irreversible Entzug des Plutoniums (durch Zerstörung) wäre allenfalls durch die beschleunigergestützte Technologie realisierbar. Bei der MOX- und der Verglasungsoption bleibt die Gefahr der generellen Rückholbarkeit bestehen. Erst nach Verbringung der abgebrannten Brennelemente bzw. der Glasblöcke in ein geologisch stabiles Endlager, dessen Genehmigung weltweit noch nirgends erfolgt ist, wäre die Möglichkeit der Wiedergewinnung des Plutoniums stärker eingeschränkt.

Bei den MOX-Produktionsanlagen handelt es sich um sogenannte »Bulkhandling-Anlagen«, die schwer zu überwachen sind,10 so daß eine Abzweigung von Waffenstoff nicht generell auszuschließen ist. Auch der fertiggestellte MOX-Brennstoff selbst kann vergleichsweise einfach und schnell in direkt waffenfähigen Stoff zurückverwandelt werden, was Sicherheitsrisiken in sich birgt. Bislang sind zu wenig Erfahrungen mit der Verglasungstechnologie gemacht worden, als daß man Proliferationsrisiken gänzlich ausgeschließen könnte.

Bei der Verbringung von Plutonium in tiefe Bohrlöcher sind die wenigsten Prozeßschritte zu erwarten und die zu überwachenden Plutoniumeinheiten blieben eindeutig abzählbar. Bezüglich der Transmutation ist noch offen, ob Proliferationsresistenz wirklich garantiert werden könnte oder nicht. Die Überwachbarkeit von benötigten Spallationsquellen hängt zumindest stark vom Anlagendesign ab. In den USA wird diese Technologie zur Zeit als Dual-use-Programm betrieben, das neben der Entwicklung von Transmutationstechnologie einer Bereitstellung einer neuen Tritiumproduktionstechnologie dient, also dem US-Waffenprogramm. Nur wenn dieses Programm gestoppt würde, wäre das Ziel der Proliferationsresistenz überhaupt erreichbar.

Umweltrisiken im Betrieb der Anlagen sind für keine der Technologien auszuschließen. Für die MOX-Nutzung ist dies einschlägig belegt.11 Die Notwendigkeit für den langfristigen Betrieb vieler Reaktoren spielt eine nicht zu vernachlässigende Rolle. Umweltrisiken sind aber auch bei jeglicher Hantierung mit Plutonium nicht auszuschließen. Bei der Verglasungsoption tritt der gleichzeitige Umgang mit bereits existierendem hochaktivem Nuklearabfall hinzu. Bei der Transmutation wird zur Zeit offen über Probleme der Anlagensicherheit diskutiert. Es hängt entschieden von der Auslegung und erfolgreichen Durchführung entsprechender Forschungs- und Entwicklungsprogramme (FuE) ab, ob die Bewertung eher negativ ausfallen muß oder sogar positiv sein kann, wenn die technologische Annäherung an das Ziel inhärenter Sicherheit erreichbar erscheinen sollte.

Die MOX-Strategie nimmt ein zusätzliches Risiko durch den Betrieb von mindestens 250 Jahren Reaktorbetrieb mit Plutoniumbeladung pro 100 Tonnen Plutonium in Kauf. Der vielfältige Transport von plutoniumhaltigem Brennstoff und Nuklearabfall zwischen vielen Nuklearanlagen ist dafür notwendig. Im eingeschränkten Maße gilt das auch für einige wenige notwendige Transmutationsanlagen. Bei der Verglasungsoption kann die gleichzeitige Behandlung von hochaktivem Abfall aus dem militärischen oder zivilen Bereich eher als positiv angesehen werden, da hier in jedem Fall dringender Handlungsbedarf besteht.

Bei Verwendung aller betrachteten Technologien werden voraussichtlich einige Jahrhunderte vergehen, bis das jeweils gesetzte Ziel ereicht ist. Dementsprechend ist der Bedarf für längerfristige sichere Zwischenlagerung des Plutoniums evident. Den längsten Vorlauf in FuE benötigt sicherlich die Transmutationstechnologie. Mit der Bohrloch-Strategie könnte am schnellsten die einstweilige Verbringung des Plutoniums abgeschlossen werden, wenn rasch genug entsprechende Lagerstätten (auf begrenzte Zeit) genehmigungsfähig werden.

Die zusätzlich entstehenden Kosten für ein MOX- oder Verglasungsprogramm – bei Voraussetzung entsprechender Aktivitäten im zivilen Bereich – sind relativ gering. Sogar wenn alle zur Zeit eigentlich relevanten Plutoniummengen (400 Tonnen) bearbeitet würden, wären dafür kaum mehr als 10 Mrd. US-Dollar anzusetzen. Das gleiche gilt für die Bohrlochoption. Teurer würde im wesentlichen die Transmutationstechnologie. Wenn man den bisher genannten Zahlen aus Los Alamos glauben schenken darf, ist mit einer Größenordnung von 100 Mrd. Dollar zu rechnen, wenn 400 Tonnen Plutonium weitgehend eleminiert werden sollen.12

Nur ein Entwicklungsprogramm für die Transmutationstechnologie könnte einen spürbaren Effekt auf die Konversion der alten Waffenlabors erzeugen. Auch eine mögliche Konvergenz mit eventuell aussichtsreichen Entwicklungen für den Umgang mit den Altlasten aus dem zivilen (und militärichen) Nuklearbereich ist noch am ehesten hier zu erwarten, auch wenn die Verglasungsoption sicherlich nicht negativ abschneidet.

Einen positiven Einfluß auf gegenwärtige Nuklearenergieprogramme kann man wohl in keinem der Vorschläge entdecken. Die risikoreiche und unwirtschaftliche13 MOX-Wirtschaft würde aber durch ein solches Programm wieder ermutigt. Ob die gegenwärtigen Konzepte zur Behandlung des nuklearen Abfalls zukunftsverträglich sind, kann deutlich in Frage gestellt werden. Ob die Transmutation hier eine »rettende« Idee darstellt, kann heute noch nicht eindeutig beurteilt werden.

Nach diesem kurzgefaßten Vergleich sollte etwas deutlicher geworden sein: Es gibt nicht die technische Option für die Unschädlichmachung oder Beseitigung von Plutonium. Die naturwissenschaftlich orientierten FriedensforscherInnen sollten so ehrlich sein, dies öffentlich klar zu stellen.14 In Wahrheit haben alle Optionen ihre spezifischen Vor- und Nachteile. Besonders viele Nachteile sind bei der MOX-Option auszumachen. Sie ist überdies keineswegs besonders schnell und wenn man ehrlich rechnet auch nicht, wie behauptet, sogar gewinnträchtig. Wenn man sich schon darauf kapriziert, den »Abgebrannte-Brennelemente-Standard« erreichen zu wollen, dann wähle man doch eher den direkten Weg, also die Verglasung ohne den Umweg über die Reaktoren.15

Ich hoffe, auch deutlich gemacht zu haben, daß der aus der US-Debatte übernommene »Abgebrannte-Brennelemente-Standard« nicht als allein gültiges Hauptkriterium angesehen werden muß. Die vorgeschlagene weitergehende Kriterienliste kann wohl zur Relativierung beitragen. Das Argument gegen ein Denken über den »Standard« hinaus, man müsse dann ja gleich für die über 800 Tonnen Plutonium, die (noch) nicht vom Atommüll abgetrennt sind, ebenfalls eine Lösung finden, zieht nicht ganz. Wenn es eine Option gibt – oder sie zur Verfügung gestellt werden könnte –, die Plutoniummengen, die in abgetrennter Form vorliegen, eleminieren kann, dann macht es Sinn, dies in Angriff zu nehmen oder voranzutreiben. Die Eleminierung von Plutonium mitsamt dem Nuklearabfall, ohne seine vorherige Wiederabtrennung, wäre mit weit erheblicheren technischen Hürden belastet.

Die Hanau-Debatte

Die Frage wurde gestellt: War die Hanau-Option real?

Ist dies überhaupt die richtige Fragestellung? Was nutzt es akribisch aufzulisten, wo in den nächsten 24 Jahren etwa 50 Tonnen Plutonium in deutschen Reaktoren gefahren werden könnten? Ist das nicht doch die Sicherung des deutschen Nuklearprogramms mit der Beschönigungsformel, so würde die Abrüstung beschleunigt? Was sollte die russische Regierung veranlassen, ihren Waffenstoff ausgerechnet nach Deutchland abzuliefern? Die recht plumpe »Gewinnkalkulation« bei Verwendung von russischen Plutonium statt Uran in deutschen Reaktoren, die zu einer Art Gewinnauschüttung von sage und schreibe 400,– DM pro Kilogramm Brennstoff an die russische Seite führen könne, wird wohl auch niemand in Rußland überzeugt haben. Nicht nachvollziehbar ist, daß gleichzeitig ständig betont wurde, daß man der russischen Seite Gutes tue, wenn man aus dem unter großen Opfern produzierten Spaltstoff wenigstens noch Nutzen ziehen könne. Gerade etwa 1 Milliarde DM wäre der Dumpingpreis für 100 Tonen Waffenplutonium. Für eine vergleichbare Menge hochangereichertes Uran aus russichen Beständen wollen die USA ein Vielfaches zahlen.

Letztlich geht es um die Frage, warum die Hanau-Option offensiv gepusht wurde, wenn gleichzeitig betont wird, es sei aber unrealistisch, daß in Deutschland das russische Waffenmaterial verarbeitet und genutzt werden könnte? Die logische Inkonsistenz des Hanau-Vorschlages wird offensichtlich: Während als Hauptargument ins Feld geführt wird, nur so könne das Waffenmaterial den unsicheren russischen Händen schnell entzogen werden, unterstützt man in Wahrheit eine MOX-Option, die, wenn überhaupt, im »unsicheren Rußland« selbst aufgebaut und verwirklicht würde (mit technologischer Hilfe von Deutschland und von Siemens).16

Es ist übrigens eine Verzerrung der Tatsachen, wenn gesagt wurde, Siemens habe im Sommer 1995 das Hanauprojekt aufgegeben, weil die hessische Landesregierung mit ihrer Politik der Zeitverzögerung in der Genehmigungspraxis zusätzliche Kosten verursacht habe. Ausschlaggebend war die Weigerung der Stromversorgungsunternehmen, Hanau weiter zu finanzieren. Die Stromversorger würden lieber heute als morgen aus der ungeliebten, weil teuren Plutoniumnutzung aussteigen.

Ohne auf die Schilderung der Hanau-Debatte von Annette Schaper im Einzelnen einzugehen, doch soviel: Es mutet schon eigenartig an, wenn die wohlbegründete Kritik an dem Vorschlag, Hanau für das russische Plutonium in Betrieb gehen zu lassen, von Seiten der SPD und der Grünen, als panikartige Reaktionen abqualifiziert werden. Genauso irritierend ist die Behauptung, nur mit dem Verfolgen der Hanau-Option hätte man die deutsche Plutoniumwirtschaft beenden können.

Zum Abschluß ein Vorschlag: Wenn es vorrangig darum gehen sollte, so schnell wie möglich die etwa 100 Tonnen Plutonium, die aus der russischen Abrüstung erwartet werden, zu »sichern«, wäre es dann nicht erfolgversprechender, über einen vernünftigen Preis zu verhandeln; es also schlicht zu kaufen, wie es auch für das ebenfalls waffengrädige HEU versucht wird? Dann könnten die dringend nötigen, international gesicherten Interimslager eingerichtet werden, die etwas Zeit verschaffen, um eine bessere Lösung für die Plutoniumproblematik vorzubereiten.

Ich glaube, alles in allem hat die Hanau-Debatte eher geschadet als genützt, sie hat die drängende Plutoniumproblematik falsch fokussiert, dient fragwürdigen Interessen und unterstützt eher unbefriedigende oberflächliche Scheinlösungen.

Anmerkungen

1) Übrigens ist es nicht so, wie Annette Schaper behauptet, daß mit START II die Arsenale der Supermächte von 50.000 auf 7.000 Sprengköpfe reduziert würden. START II erlaubt zwar »nur« noch etwa 3.000 bis 3.500 Sprengköpfe für beide Seiten innerhalb strategischer Waffensysteme, aber eine weitere unbekannte Anzahl von intakten Sprengköpfen darf als »strategische Reserve« bereitgehalten werden und eine weitere große Anzahl an Waffensystemen kann für den substrategischen Bereich aufrechterhalten werden. Zurück

2) Vgl. zu diesem Problemkreis genauer: M. Kalinowski, W. Liebert, Der gefährliche Überfluß an Kernwaffenmaterialien, Wechselwirkung, 16. Jg, Heft 1 (1995), S. 33-37. Zurück

3) E. Kankeleit, C. Küppers, U. Imkeller, Bericht über die Waffentauglichkeit von Reaktorplutonium, IANUS-Arbeitsbericht 1/1989. Zurück

4) Vgl. hierzu: W. Liebert, Eine Bombenidee – Die Rolle der Hanauer Brennelementefabrik und die Beseitigung von Waffenplutonium, Wechselwirkung, 17. Jg.,Febr. 1996, S. 46-51; W. Liebert, Russian Plutonium to German MOX? INESAP-Information Bulletin No. 8, Jan.1996, S. 11-13; W. Liebert, Die Hanauer Brennelementefabrik ist tot – Es lebe Hanau für die Abrüstung? IANUS-Arbeitsbericht, August 1995. Zurück

5) A. Schaper, War die Hanau-Option real? W&F 1/1996, S. 42-46. Zurück

6) W. Liebert, M. Kalinowski, Proposal for a comprehensive cutoff including civilian weapon-grade material, INESAP-Information Bulletin No. 4, Jan. 1995, S. 11-14; International Network of Engineers and Scientists Against Proliferation (INESAP), Beyond the NPT: A Nuclear-Weapon-Free World, Darmstadt/New York, 25. April 1995. Zurück

7) Vgl. die Diskussion in Science & Global Security, Vol. 5, No. 3 (1996). Zurück

8) W. Liebert, A. Glaser, C. Pistner, The Role of Accelerator-Based Systems for Optimal Elimination of Plutonium to Minimize Global Proliferation Risks, Proceedings of the 2nd International Conference on Accelerator-Driven Transmutation Technologies and Applications, Kalmar, Sweden, 3-7. Juni 1996. Zurück

9) National Academy of Sciences, Management and Disposition of Excess Weapons Plutonium, Vol. 1+2, National Academy Press, Washington D.C., 1994 und 1995. Zurück

10) Vgl. hierzu Literaturangabe zu Fußnote 2. Zurück

11) Vgl. C. Küppers, M. Sailer, MOX-Wirtschaft oder die zivile Plutoniumnutzung – Risiken und gesundheitliche Auswirkungen der Produktion und Anwendung von MOX, IPPNW-Studienreihe Band 7, Berlin 1994 (Kurzfassung in W&F 3/1994, S. 28ff.). Zurück

12) Diese Zahl ist in Beziehung zu setzen mit den einigen hundert Milliarden Dollar, die für die Beseitigung der Abfälle und Umweltschäden des US-Waffenprogramms hochgerechnet werden, und den etwa 4.000 Milliarden Dollar, die das US-Atomwaffenprogramm in den letzten fünf Jahrzehnten verschlungen hat. Daß ein Zurückdrehen der Bedrohungs- und Risikospirale auf ihren Ausgangspunkt erheblicher finanzieller Aufwendungen bedarf, sollte nicht verwundern. Das Kostenkriterium sollte daher nicht unreflektiert überbewertet werden. Es kommt auf die Prioritätensetzung an. Zurück

13) I. Hensing, W. Schulz, Simulation der Entsorgungskosten aus deutscher Sicht, Atomwirtschaft 40 (1995), S. 97-101. Zurück

14) Der Einsatz für die einzige Option, die in Deutschland starke Interessen hinter sich weiß, wie die von Siemens und der Bundesregierung – zumindest in Form des kleineren Koalitionspartners –, muß stutzig machen. Vgl. auch Literatur in Fußnote 4. Zurück

15) Falls tatsächlich in Karlsruhe eine Pilotverglasungsanlage für die Immobilisierung des radioaktiven Abfalls aus der dort in der Vergangenheit betriebenen Wiederaufarbeitung errichtet werden sollte, wäre hier ein sinnvoller deutscher Beitrag zum weltweiten Plutoniumproblem denkbar durch versuchsweise Mitverglasung von deutschem »überschüssigem« Plutonium aus dem Hanau-Bunker. Vielleicht lohnt der Einsatz hier mehr als für Hanau. Zurück

16) Vgl. auch Fußnote 4. Genau die gleiche widersprüchliche Tendenz ist auch aus der Studie des German-American Academic Council, an der A. Schaper offenbar mitgearbeitet hat, herauszulesen. Zurück

Dr. Wolfgang Liebert ist wiss. Mitarbeiter bei IANUS an der TH Darmstadt und Mitbegründer des International Network of Engineers and Scientists Against Proliferation (INESAP)

Das Risiko der Kernenergie

Das Risiko der Kernenergie

von Wolfgang Liebert

Die Risikodebatte mit Bezug auf die Kernenergie wird häufig auf die Reaktorsicherheit, also insbesondere die Gefahr des Eintretens großer Unfälle mit Radioaktivitätsfreisetzung, reduziert. Dementsprechend konzentriert sich auch die Hoffnung auf Verbesserungen der Kerntechnik auf neue Reaktorsicherheitskonzepte. Natürlich besteht hierin ein harter Kern der notwendigen Diskussion und es ist wesentlich, die gegenwärtige Entwicklung auf diesem Gebiet einschätzen zu können, aber es ist ebenso notwendig, auf weitere Aspekte des Gesamtrisikos der Kernenergie hinzuweisen.

Reaktorsicherheit

Wissenschaftliche Risikoabschätzungen sind erst im Gefolge der massiven Ausbaupläne der zivilen Kernindustrie entstanden. Eine Vorreiterrolle übernahm auch hier die USA mit der Rasmussen-Studie aus dem Jahre 19751. Deren Ergebnisse wurden von der Gesellschaft für Reaktorsicherheit (GRS) auf die bundesdeutschen Verhältnisse übertragen unter ausschließlicher Berücksichtigung von Druckwasserreaktoren, die die Masse der westdeutschen Kraftwerke ausmachen.2 Als Referenzfall gab der 1976 ans Netz gegangene »moderne« Reaktor Biblis-B das Beispiel ab. Nach der Veröffentlichung dieser Deutschen Risikostudie Kernkraftwerke im Jahre 1979 ergab sich eine langanhaltende Debatte unter Beteiligung verschiedenster deutscher Kernforschungseinrichtungen mit dem Ziel, Unzulänglichkeiten und grobe Abschätzungen des ersten Versuches auszubügeln bzw. eine genauere Analyse unter Berücksichtigung aktuell denkbarer oder eingesetzter Sicherheitstechniken durchzuführen. 1989 endlich wurde das Ergebnis der GRS mit der »Risikostudie Phase B« der Öffentlichkeit vorgestellt.3 Aber auch das Öko-Institut war zunehmend zum ernstzunehmenden Diskussionspartner geworden. Dessen zahlreiche Gutachten und Studien haben die Debatte um die Reaktorsicherheit in Deutschland bereichert und zu einer transparenteren Einschätzung der »Expertendebatte« innerhalb der Öffentlichkeit geführt (vergl. beispielsweise Fußnoten 4, 5).

Ergebnisse der »Deutschen Risikostudie Kernkraftwerke – Phase B« in Hinblick auf den »Größten anzunehmenden Unfall« lassen sich grob so zusammenfassen. Die Eintrittshäufigkeit von Kernschmelzunfällen wird unter der Berücksichtigung von 25 Ereignissen, die eine Unfallszenario einleiten können, mit 3 zu 100.000 pro Jahr angegeben. (Dieser Wert ist dreimal besser als von der GRS im Jahre 1979 angegeben.) Dies würde beim aktuellen Stand des Kernenergieausbaus in Deutschland bedeuten, daß im Mittel innerhalb von rund 1.600 Jahren ein Kernschmelzunfall in einem der deutschen Atommeiler erwartbar ist. Die GRS glaubt aber, daß es nur in einem von 67 Fällen dann auch zu einer erheblichen Radioaktivitätsfreisetzung in die Außenwelt kommt, da Maßnahmen des Unfallmanagements die Integrität des Reaktorsicherheitsbehälters garantieren könnten. Das Öko-Institut kritisiert diese Einschätzungen der Risikostudie Phase B5.

Die komplexen Prozesse, die bei einem Kernschmelzunfall ablaufen, werden danach falsch eingeschätzt. Das sogenannte Hochdruck-Kernschmelzen (Hochdruckbedingungen im Primärkreis) und das Niederdruck-Kernschmelzen (Niederdruckbedingungen im Primärkreis) führt ohne Eingriffe der Betriebsmannschaft in nahezu allen Fällen zu einem frühen Versagen des Sicherheitsbehälters (wenige Stunden nach Unfallbeginn) und damit zur Freisetzung von mindestens der Hälfte der Jod-, Cäsium-, Strontium- und Tellurisotope des radioaktiven Inventars. In der Umgebung des Kraftwerkes müßte dann mit weit schlimmeren Konsequenzen als bei der Tschernobyl-Katastrophe gerechnet werden, da die Bevölkerungsdichte bei uns höher und die klimatologischen Bedingungen ungünstiger sind.

Überlegungen darüber, was dies für die betroffene Bevölkerung bedeuten würde und ob überhaupt Evakuierungsmaßnahmen schnell genug greifen könnten, sind in der Riskostudie nicht enthalten. Die erste Risikostudie aus dem Jahre 1979 machte zu Unfallfolgen noch die Aussage, daß mit bis zu 14.500 Soforttoten und 104.000 Fällen von Spätfolgen zu rechnen sei, des weiteren könnte eine Fläche von bis zu 5.600 Quadratkilometern so stark kontaminiert werden, daß 2,9 Millionen Menschen evakuiert werden müßten.

Übertriebene Hoffnungen auf das Unfall-Management kritisiert das Öko-Institut mit dem Hinweis, daß „Maßnahmen bereits berücksichtigt werden, über deren Voraussetzungen, Randbedingungen, Ausgestaltung und Erfolgswahrscheinlichkeit nur unzureichende Erkenntnisse vorliegen und die noch nicht implementiert sind“. Auch endete die Analyse des Niederdruckpfades, in den die Unfälle mit Hochdruckbedingungen im Primärkreis überführt werden sollen, ohne Berücksichtigung von Wasserstoffexplosionen. Die Wasserstoffproblematik wird aber wegen ihres Potentials zur frühen Containmentzerstörung als risikodominierender Effekt angesehen. Dementsprechend wird die Wahrscheinlichkeit einer frühen und massiven Freisetzung aus dem radioaktiven Inventar im Falle einer Kernschmelze weitaus höher eingeschätzt. Als besonders gefährliche Unfallsequenzen werden hervorgehoben: 1. Kernschmelzen im Hochdruckpfad, 2. Kernschmelzen im Niederdruckpfad mit Wasserstoffexplosion, 3. Dampferzeugerrohrbruch, bei dem das Containment umgangen wird und eine sofortige Inventarfreisetzung über den Dampferzeuger und Sekundärkühlkreis auftritt. Nach Ansicht des Öko-Instituts wird den Maßmahmen des »Unfall-Managements« nicht nur eine viel zu hohe Erfolgswahrscheinlichkeit zugeschrieben, sondern es bleiben auch gravierende sicherheitstechnische Konsequenzen für die Anlage und die Umgebung unberücksichtigt. Leider kann das Öko-Institut keine Aussage dazu machen (und will es vernünftigerweise wohl auch nicht), wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, einen Kernschmelzunfall wirklich zu beherrschen.

Natürlich sind solche probabilistischen Risikoabschätzungen nicht vorbehaltlos zu akzeptieren, aber für ein Rechenbeispiel nehme ich an, was die GRS für das Eintreten einer Kernschmelze errechnet, gehe aber davon aus, daß nur in einem Viertel solcher Unfälle ein Schaden begrenzendes Unfallmanagement möglich ist. Weiterhin nehme ich an, daß die von der GRS angegebene Wahrscheinlichkeit für das Eintreten einer Kernschmelze auf alle Reaktoren in den westlichen Industrieländern übertragen werden kann – nicht aber auf Reaktoren, wie sie beispielsweise in Osteuropa anzutreffen sind. Für ein Viertel der weltweit installierten Reaktoren setze ich daher eine Kernschmelzwahrscheinlichkeit an, die doppelt so hoch ist wie in der ersten GRS-Studie angenommen, wobei eine Erfolgswahrscheinlichkeit für ein angemessenes Unfallmanagement nur in jedem zweiten Fall postuliert wird. Danach wäre bei den zur Zeit mehr als 400 Reaktoren weltweit mit einem schweren Reaktorunfall mit massiver Radioaktivitätsfreisetzung etwas häufiger als einmal im Jahrhundert zu rechnen.6 Ob dies eine realistische Aussage ist, wage ich nicht einzuschätzen. Wahrscheinlichkeitsaussagen sind natürlich auch nicht fehlzuinterpretieren als Voraussage für die Zeit, die bis zum Eintreffen eines möglichen Ereignisses bleibt, das durchaus bereits übermorgen Realität werden könnte. Dieses Rechenbeispiel soll nur ein mögliches Umgehen mit den letztlich nie gänzlich verifizierbaren Zahlen aus den Risikostudien verdeutlichen. Anhand dieses Zahlenspiels kann auch gelernt werden, daß bei einer Verzehnfachung der weltweit installierten Kraftwerksleistung und im Mittel gleichbleibenden Sicherheitsstandards eine Reaktorkatastrophe einmal im Zeitraum von 10 Jahren zu erwarten wäre.

Katastrophenfreiheit und »inhärente Sicherheit«

Das von entschiedenen Kernenergiebefürwortern so genannte »Restrisiko« scheint aber doch allgemein noch als so gravierend eingeschätzt zu werden, daß der Weg in eine mögliche Zukunft der Kernenergienutzung in Deutschland unter gänzlich geänderten Grundvoraussetzungen beschritten werden soll. Das deutsche Atomgesetz wurde in seinem Paragraphen 7 im Juni 1994 dementsprechend abgeändert. Danach darf die Genehmigung für ein Atomkraftwerk nur noch erteilt werden, wenn realisiert werden kann, was man salopp als »Katastrophenfreiheit« bezeichnet.

Katastrophenfreiheit im Sinne des Atomgesetztes hieße, durch die Auslegung neuer Kernreaktoren dafür Sorge zu tragen, daß die Wahrscheinlichkeit für das Eintreten einer Kernschmelze drastisch reduziert wird und in jedem erdenklichen Falle ein Radioaktivitätsaustritt in die Umgebung des Anlagengeländes hundertprozentig ausschließbar sein müßte, der Katastrophenschutzmaßnahmen, wie vorübergehende Evakuierungen, erforderlich machte. Um dies zu erreichen, müßten solche Anlagen gemäß dem Konzept der inhärenten Sicherheit ausgelegt werden, d.h. naturgesetzlich ablaufende Sicherheitssysteme oder entsprechende Barrieren müßten mit absoluter Zuverlässigkeit wirksam werden. Auf zusätzliche Maßnahmen des technischen Eingriffes durch die Betriebsmannschaft dürfte nicht vertraut werden, da diese niemals fehlerfrei funktionstüchtig gemacht werden können.

Tatsächlich werden seit Bestehen der großen Nuklearprogramme der Industrieländer Alternativen zu den dominierenden Leichtwasserreaktoren untersucht. Einige Konzepte bemühten sich tatsächlich auch um die Zielsetzung der Realisierung einer wie auch immer im Detail gearteten inhärenten Sicherheit. Die meisten solcher Konzeptideen sind aber längst wieder vom Tisch der planenden Energieversorgungsunternehmen verschwunden, so auch ein unterirdisch zu bauender kleinerer Reaktortyp, der obendrein als sein eigenes Endlager für die strahlenden Abfälle dienen sollte. Zu teuer in der Entwicklung, zu kostspielig im Bau, unter ökonomischen Kriterien nicht betreibbar; so lautet das Verdikt der Manager.

Einige neuartigere Reaktortypen werden aber auch heute noch bei Reaktorbauern entwickelt oder befinden sich in Phasen der Vorüberlegung bei Forschungsabteilungen oder nicht-industriegebundenen wissenschaftlichen Einrichtungen.7 So denkt man beispielsweise beim Forschungszentrum Karlsruhe intensiv über neuartige Sicherheitssysteme nach. Einige der von Nuklearfirmen vorgeschlagenen Reaktorkonzepte sind lediglich Fortentwicklungen bekannter Systeme ohne erheblichen Einfluß auf Sicherheitscharakteristiken. Interessant erscheint aber beispielsweise die Westinghouse-Entwicklung eines kleineren Druckwasserreaktors, des AP 600, mit einer elektrischen Leistung von 600 Megawatt. Ein passiv wirksames zusätzliches Kühlsystem (im Grunde nichts anderes als ein Wasserbassin oberhalb des Reaktordruckbehälters), das ohne aktive Pumpen oder dergleichen wirksam werden kann, vermeidet einen Teil sonst üblicher peripherer, für Redundanz sorgender aufwendiger Notkühlsysteme. Die Wahrscheinlichkeit für das Eintreten einer Kernschmelze soll – nach Angaben der Entwickler – um den Faktor 1000 verringert werden. PIUS ist die Abkürzung für Process Inherent Ultimate Safety, ein Reaktor der vom in Schweden beheimateten Atomkonzern ABB entwickelt wird. Ebenfalls nur mit der halben Leistung eines heute üblichen großen Kernreaktors ausgelegt versprechen die Ingenieure den Ausschluß von Kernüberhitzung – und dadurch letzlich die gefürchtete Kernschmelze – durch naturgesetzlich ablaufende Prozesse. Automatisch soll bei zu hoher Kerntemperatur borhaltiges Wasser, das unterhalb des Reaktorkerns in einem Spannbetonbehälter angeordnet ist, in das Innere des Reaktorkerns gesaugt werden. Das Einfangen der vorhandenen Neutronen durch das Element Bor soll die Kettenreaktion im Reaktor stoppen, bevor die Kernschmelze einsetzen kann. Ob die angekündigte technische Realisierung in ersten Prototypen tatsächlich hält, was einzelne Planungselemente erwarten lassen, bleibt abzuwarten.

In Deutschland ist die Debatte über inhärente Sicherheit bei dem letzten verbliebenen Atomtechnologieriesen, Siemens, nicht so beliebt. Der finanzielle Aspekt spielt sicher eine Rolle, denn mehr Sicherheit bedeutet in der Regel auch ein Mehr an Kosten oder eine ökonomisch weniger optimale Nutzung der Kernenergie in kleineren Reaktoreinheiten. Zwei Einschätzungen von Siemens spielen ebenfalls eine Rolle. Eine pragmatische Sicht machte der Siemens/KWU-Vorstandsvorsitzende Hüttl explizit mit dem Satz: „Inhärent sichere Reaktoren im Sinne von völlig ohne Risiko wird es nie geben, das ist technisch nicht machbar“8. Ein strategisches Argument nannte Otto Gremm, der sich gegen die Kritik wehrte, man wolle den Fortschritt in Hinblick auf ein durchaus mögliches Mehr an Sicherheit bei Siemens nicht genügend fördern, indem er warnte, daß „durch jede neue Idee ein sicherheitstechnisches Defizit bei den bestehenden Anlagen vermutet oder herausgelesen“ werde9.

Ist dies auch ein Grund, warum die deutsche Energiewirtschaft kein Interesse (mehr) am Hochtemperaturreaktor (HTR) hat? Jedenfalls gingen Siemens und die deutschen Betreiber von Kernkraftwerken in deutliche Distanz zum HTR und erklärten im September 1993, zur Zeit bestünden keine aktuellen Pläne bezüglich dieses Reaktortyps. Dazu hat aber sicher auch die zweifelhafte Geschichte des HTR in Deutschland (und den USA) beigetragen. Der weltweit einzige größere HTR (THTR Hamm Uentrop) wurde nach geringer Betriebserfahrung, die mit einer Reihe von Pannen verknüpft war, 1989 stillgelegt. Auch die Infrastruktur bei der KFA Jülich, die über etwa 30 Jahre einen kleineren Versuchreaktor (AVR) betrieb, ist inzwischen weitgehend weggebrochen. Demgegenüber beschwören Protagonisten eines HTR-Modulreaktors mit etwa 300 Megawatt Leistung seine guten Eigenschaften in Hinblick auf inhärente Sicherheit: „Beim Hochtemperaturreaktor lassen sich voraussichtlich grundsätzlich Auslegungen realisieren, bei denen die Begrenzung der nuklearen Leistung und der Brennelementtemperatur sowie der Nachwäremeabfuhr selbsttätig erfolgen 10. So soll die Kernschmelze prinzipiell vermieden werden. Durch weitere Sicherheitscharakteristiken will eine kleine Schar von verbliebenen HTR-Anhängern eine ernsthafte Alternative zu heute in Betrieb befindlichen Reaktoren aufbauen.

Es ist zu konzidieren, daß der HTR auf dem Papier zumindest beachtliche Vorteile aufweist, allerdings fehlt ein schlüssig bewertbares Gesamtkonzept und was noch schwerer wiegt: ein umfassendes sicherheitstechnisches Konzept würde voraussichtlich erst dann entwickelt, wenn die Reaktorindustrie und die Kraftwerksbetreiber Interesse signalisieren, was auch Mittelzufluß bedeuten würde. Damit ist in absehbarer Zeit nicht zu rechnen, auch wenn selbst die stark in Zweifel gezogene Wirtschaftlichkeit der Modulbauweise von HTR-Reaktoren in Vergleich zu heute theoretisch errichtbaren Leichtwasserreaktoren zumindest bei »Serienproduktion« behauptet wird.11 Die Industrie glaubt offenbar nicht daran. Realistischer Referenzfall für ernsthaft betriebene Neuentwicklungen in Hinblick auf Deutschland scheint für die überschaubare Zukunft nur der gemeinsam von Siemens und der französischen Framatom entwickelte Europäische Druckwasserreaktor (EPR) zu sein. Es handelt sich um einen Druckwasserreaktor besonders hoher Leistung (1.450 Megawatt) und damit um einen Reaktortyp, der prinzipiell mit den oben angeführten drei Hauptunfallszenarien mit Kernschmelze und möglicher massiver Radioaktivitätsfreisetzung belastet ist. Von inhärenter Sicherheit kann also kaum die Rede sein. So wurde auf der Straßburger Pressekonferenz zur Vorstellung des EPR am 13. November 1995 korrekt davon gesprochen, daß es sich „eindeutig“ um einen „evolutionären Reaktor (im Gegensatz zu einem revolutionären Konzept)“ handele. Eine ganze Reihe von zusätzlichen Sicherheitseinrichtungen bis hin zu einem sogenannten Core-Fänger werden diskutiert, der Folgen einer möglichen Kernschmelze eindämmen soll, die bei diesem Reaktor „noch unwahrscheinlicher“ sein soll „als bei den bestehenden“. Wie aber die nunmehr im deutschen Atomgesetz verankerte »Katastrophenfreiheit« realisiert werden soll, bleibt ein Rätsel. 1997 bis 1999 soll ein Genehmigungsverfahren bei den französischen und deutschen Sicherheitsbehörden über die Bühne gehen, so daß 1999 mit der Errichtung einer Erstanlage begonnen werden kann. Der EPR „soll die bestehenden Kernkraftwerksblöcke in Frankreich und Deutschland nach Ablauf ihrer planmäßigen Nutzungsdauer ersetzen. Außerdem wird er als Standard-Exportmodell angeboten werden“.

Daraus folgt, daß der EPR nach allem, was man bislang über ihn wissen kann, wohl kaum der angestrebte vollkommen sichere Reaktor sein wird, er ist eben doch nur ein verbesserter Druckwasserreaktor. Aber der EPR wird höchstbedeutsam zumindest für Mitteleuropa, da er nach dem Willen der beiden großen Atomriesen Siemens und Framatom das neue europäische Referenzmodell für alle Reaktoren sein wird, die man im den ersten Jahrzehnten des nächsten Jahrhundert errichten will.

Die Palette der Risiken

Auch wenn ein Reaktor theoretisch vorstellbar wäre, der viel »sicherer« sein könnte als alle bisher betriebenen, so bleibt doch ein erhebliches Risko der Kernenergienutzung, die unabhängig von der Wahl eines speziellen Reaktortyps ist. Die gesamte nukleare Spaltstoffspirale ist in das wirksame Gesamtrisiko der Kernenergie miteinzubeziehen.

Im Uranbergbau werden jährlich mehrere Millionen Tonnen von Material bewegt, um die benötigten etwa 100.000 Tonnen Uranerz zu schürfen, die den Uranbrennstoffbedarf von zur Zeit knapp 10.000 Tonnen pro Jahr befriedigen. Strahlende Abraumhalden sind die Folge und besondere Risken für die im Bergbau Beschäftigten, die zu erheblichen somatischen, aber auch genetischen Schädigungen führen. Insbesondere indigene Völker sind betroffen, wie zum Beispiel in den großen Abbaugebieten Australiens, Südafrikas und den USA. Aber dies geschieht nicht nur in fernen Ländern. Die Wismut im Osten Deutschlands produzierte nicht nur 220.000 Tonnen Uran, sondern hinterließ auch 48 Halden mit mehr als 300 Millionen Kubikmetern radioaktiv verseuchten Materials.12 Insgesamt 13 Milliarden DM will die deutsche Bundesregierung dafür aufwenden, eine »Sanierung« durchzuführen, die wegen der »Dringlichkeit« lieber erst gar nicht mit den eigentlich vorgeschriebenen Umweltverträglichkeitsprüfungen verknüpft wird.

Der Umgang mit hochaktiven, strahlenden Materialien bei der Uranbearbeitung und -anreicherung sowie der Brennelementfertigung sind ebenfalls mit Risiken behaftet. Es entstehen weitere radiotoxische Abfälle. Dies ist insbesondere der Fall, wenn zur Plutoniumnutzung übergegangen wird. Durch Wiederaufarbeitung und VerMOXung, also der Wiederverwendung des in den Reaktoren entstandenem Plutoniums in Mischoxid-Brennelementen, erhöhen sich die Mengen an besonders langlebigen Aktiniden, die zu der unangenehmen Gruppe der Alpha-Strahler gehören.

Auch die Normalbetriebsrisiken können nicht vernachlässigt werden. Wie niedrige Strahlendosen tatsächlich auf die belebte Natur wirken, kann bis heute nicht mit Sicherheit angegeben werden. Die Diskussion darüber ist im Gange13 und hat am Beispielfall der überraschenden Leukämierate in der Nähe des Krümmel-Reaktors neue Nahrung gefunden. Trotz Versuchen der offiziellen Vertuschung scheint im Falle von Wiederaufarbeitungsanlagen in Großbritannien und Frankreich die Relevanz des Niedrigdosenproblems für Arbeiter in den Anlagen und für die Anwohner immer eindeutiger belegbar zu sein.

Hunderte von größeren Nukleartransporten finden jährlich in Europa statt, die jeweils ein nicht ignorierbares Risiko darstellen. Die Reaktorentsorgung wird große Geldsummen verschlingen und muß sichere Endlager über lange Zeiträume garantieren können. Noch offensichtlicher wird das Risiko am Ende der Brennstoffspirale, wenn man sich vor Augen hält, das bis heute – nach bereits jahrzehntelangem Betrieb von Kernraktoren – ein schlüssiges Entsorgungskonzept für die anfallenden radioaktiven Abfälle immer noch nirgends realisiert ist. Was zu beobachten ist, kann nur als Verschiebung des Problems auf zukünftige Generationen bei gleichzeitiger Weiternutzung existierender Reaktoren angesehen werden. Hier baut sich ein ständig wachsendes Risiko auf, das über Jahrtausende wirksam sein wird.

An verschiedensten Stellen der nuklearen Brennstoffspirale bestehen mögliche Übergänge zu militärischen Programmen: Atomwaffenprogrammen14. Der deutsche Uranbergbau im Bereich der Wismut diente beispielsweise jahrelang der Rohstoffproduktion für das sowjetische Atomwaffenprogramm. In deutschen Reaktoren produziertes und in französischen Wiederaufarbeitungsanlagen abgetrenntes Plutonium könnte sich durchaus in französischen Atomwaffen wiederfinden.

Die zivil-militärische Ambivalenz wesentlicher nuklearer Technologien und Materialien wird besonders prekär im Bereich von Urananreicherungs- und Wiederaufarbeitungsanlagen bzw. bei hochangereichertem Uran, Plutonium und Tritium. Davon sind auch Forschungsprogramme betroffen, wie das unselige Beispiel des geplanten neuen Garchinger Forschungsreaktors zeigt.15 Die offensichtlichen Probleme durch ständige Gefahr der Weiterverbreitung (Proliferation) von Kernwaffen und die fortdauernde Beibehaltung von existierenden Atomwaffenprogrammen bzw. von Kernwaffenoptionen wäre nicht mehr zu lösen durch einen unumkehrbaren Weg in die atomwaffenfreie Welt, solange eine angeblich rein zivile Plutoniumnutzung im weltweitem Maßstab erfolgt.

Es hat sich aber herausgestellt, daß die Plutoniumabtrennung aus dem nuklearen Abfall und die Vorbereitung für seine Wiederverwendung in Reaktoren so kostspielig sind, daß die Plutoniumnutzung in der zivilen Atomwirtschaft auf absehbare Zeit völlig unwirtschaftlich ist. Erst wenn die Uranpreise durch zu erwartende Verknappung in einigen Jahrzehnten wieder anwachsen, wäre vom rein wirtschaftlichen Standpunkt aus die Plutoniumnutzung vielleicht wieder verlockend. Eine Streckung der Ressource Uran würde aber nur beim Übergang zu einer Kernenergienutzung unter Verwendung Schneller Brutreaktoren erreicht. Deren Risikopotential ist im Vergleich zu heute betriebenen Leichtwasserreaktoren aber unvergleichlich höher einzuschätzen.

Zunehmend zeichnet sich ein wirtschaftliches Risiko der Kernenergienutzung ab. Nachdem die Investitionskosten für Kernkraftwerke so stark angewachsen sind, daß sie im Wettbewerb mit fossil befeuerten Kraftwerken – aber in Einzelfällen auch schon mit regenerativen Energiequellen – unterliegen, müssen sich die Energieversorgungsunternehmen fragen, in welche Technologien sie mit längerfristigerer Perspektive investieren wollen. Würde man alle Kosten der Kernenergie – auch die ökologischen Folgekosten an den verschiedensten Stellen der Brennstoffspirale – miteinbeziehen, so würden sich voraussichtlich schon jetzt die Nachteile der Kernenergie im Vergleich zu den meisten nicht-fossilen Energietechnologien nachweisen lassen. Die Bundesregierung hat eine Deckungssumme von elf Billionen DM im Falle einer großen Reaktorkatastrophe ausrechnen lassen. Wenn diese Zahl einigermaßen richtig die Größenordnung des anstehenden Problems im Falle einer Katastrophe – vieleicht sogar um den Faktor 10 übertrieben – beschreibt, so ist wohl nichts anderes als der völlige wirtschaftlichen Zusammenbruch zu erwarten.16

Daraus ergibt sich ein weiteres Risiko der Kernenergienutzung. Die Kernenergie bindet mit ihren unbewältigten Folgelasten zunehmend finanzielle Mittel, ohne daß ihr Beitrag zur Primärenergieproduktion in Deutschland deutlich über zehn – und weltweit über fünf – Prozent läge. Ein weiteres Setzen auf die Kernenergie in Forschung und Entwicklung, sowie beim Nachbau von auslaufenden Reaktoren wäre ein äußerst riskanter Weg in die Sackgasse.

Noch ein weiteres Risiko tritt hinzu, das zumeist unterschätzt wird: das Risiko durch Kriegs- und sonstige Gewalteinwirkungen.17 Nuklearanlagen sind tatsächlich schon dreimal Ziel militärischer Angriffe geworden. Zuerst geschah dies durch den israelischen Angriff auf den irakischen, fast fertiggestellten Tamuz-Reaktor im Jahre 1981, dann im irakisch-iranischen Krieg, als Irak iranische, im Bau befindliche Reaktoren bombardierte, und schließlich zerstörten im letzten Golfkrieg 1991 die USA einige irakische Nuklearanlagen, darunter erstmals zwei Forschungsreaktoren, von denen nicht sicher angenommen werden konnte, daß sie sich außer Betrieb befanden. Würde ein größerer Leistungsreaktor bombardiert, so könnten Unfallszenarien ausgelöst werden, die derjenigen der Tschernobyl-Katastrophe vergleichbar sind. Die direkte Wirkung und die schnell auftretenden radiobiologischen Folgen von Atomwaffen sind sicher allemal größer, aber die bewußte Verseuchung durch einen militärisch erzeugten Kernschmelzunfall mit massiver Radioaktivitätsfreisetzung hätte demgegenüber ein weit länger anhaltende Wirkung auf die betroffenenen Menschen und einen ganzen Landstrich. Es ist nicht auszuschließen, daß in konventionell geführten Kriegen in Betrieb befindliche große Reaktoren oder andere Nuklearanlagen angegriffen werden oder ungewollt in Mitleidenschaft gezogen werden – mit entsprechenden katastrophalen Wirkungen. Angesichts dieser Palette von Risiken wäre es ratsam, die gegenwärtige Kernenergienutzung bald möglichst zu beenden. Die durch den Betrieb von Kernreaktoren bereits entstandene »nukleare Hinterlassenschaft« muß durch ein vernünftiges Konzept der sicheren Lagerung bzw. Beseitigung des nuklearen Abfalls und der aktivierten Anlagenteile bewältigt werden. Ebenso muß die Sicherheit laufender Nuklearanlagen ständig überprüfbar und verbesserbar bleiben – auch wenn diese nur noch im Ausland betrieben werden sollten. Hier darf es keinen Fadenriß geben. Parallel müssen Kriterien für eine verantwortbare Verfolgung von Zukunftsoptionen im Bereich nuklearer Technologieoptionen gefunden werden, die die mögliche Entwicklung selbst mitbeeinflussen und die Konkurrenz zu den noch immer stiefmütterlich behandelten regenerativen Energieträgern explizit machen. Zu diesen Kriterien sollte meiner Meinung nach gehören:18

  • Nachweis der Machbarkeit von Katastrophenfreiheit
  • Verwirklichung von Proliferationsresistenz
  • minimale Langzeitfolgen
  • langer potentieller Nutzungshorizont
  • Gesamtinvestitionsbedarf nicht größer als für regenerative Energieträger erwartet.

Als weiteres Kriterium könnte man hinzusetzen, daß eine Entwicklungsreife in etwa 30 Jahren zu erwarten sein müßte, da der Zeitpunkt für den Start ihres Einsatzes notwendigerweiseweise rechtzeitig für das Erreichen des Klimaschutzzieles liegen muß.

Anmerkungen

1) N. C. Rasmussen, Reactor Safety Study – An Assessment of Accident Risks in U.S. Commercial Nuclear Power Plants. – WASH-1400, 1975. Zurück

2) Gesellschaft für Reaktorsicherheit (GRS), Deutsche Riskostudie Kernkraftwerke, Köln, 1979. Zurück

3) Gesellschaft für Reaktorsicherheit (GRS), Deutsche Risikostudie Kernkraftwerke Phase B. – GRS-A-1600, Köln, Juni 1989. Zurück

4) Öko-Institut, Riskountersuchungen zu Leichtwasserreaktoren, Öko-Bericht 24, Freiburg, 1983. Zurück

5) Öko-Institut, Bewertung der Phase B der Deutschen Risikostudie Kernkraftwerke, Gutachten im Auftrag des Ministers für Soziales, Gesundheit und Energie des Landes Schleswig-Holstein, Darmstadt, Okt. 1989. Zurück

6) Interessant ist in diesem Zusammenhang die Forderung eines Beratergremiums der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEO) aus dem Jahre 1992, die Wahrscheinlichkeit von Unfällen mit massiver Radioaktivitätsfreisetzung dürfe weltweit nicht größer als einmal in tausend Jahren sein – unabhängig von der weltweit installierten Kraftwerksleistung. Nur so könne gesellschaftliche Akzeptanz erreicht werden. (International Nuclear Safety Advisory Group, The Safety of Nuclear Power Plants, INSAG-5, Wien 1992). Zurück

7) Einen Überblick geben G. Rosenkranz, I. Meichsner, M. Kriener, Die neue Offensive der Atomwirtschaft, C. H. Beck, München, 1992; O. Schumacher, Neue Reaktortypen ohne Sicherheitsrisiko?, Wechselwirkung, Nr.67, Juni 1994, 26-31. Zurück

8) 13. RWE-Workshop Energie, Timmendorferstrand, Essen 1992, S.43. Zurück

9) O. Gremm, S. Jacke, Entwicklungspotential und Entwicklungsprobleme neuer Reaktorkonzepte, Atomwirtschaft 1/1992, S.22-27. Zurück

10) K. Kugeler, R. Schulten, Überlegungen zu den sicherheitstechnischen Prinzipien der Kerntechnik, KFA Forschungszentrum Jülich, Juli 1992. Zurück

11) K. Kugeler, W. Fröhling, Investitionskosten von HTR-Modulreaktoren, Atomwirtschaft, Jan. 1993, 68-70. Zurück

12) P. Diehl, Uranium Mining in Europe – The Impacts on Man and Environment, WISE News Communique 439/440, Amsterdam, Sept. 1995. Zurück

13) Anmerkungen dazu finden sich bspw. in W. Köhnlein, Wir können nicht mehr für euch tun, Wissenschaft und Frieden, 2/1995, S.95. Zurück

14) Darauf wurde in Wissenschaft und Frieden immer wieder hingewiesen. Vergl. beispielsweise Beiträge von W. Liebert und M. Kalinowski in den Heften 1/93, 1/94, 1/95, 4/95. Zurück

15) Vergl. W. Liebert, Viel Wind um HEU, Wissenschaft und Frieden, 4/1995, 42-46. Zurück

16) Jochen Benecke hat sehr eindrücklich auf die »Deckungslücke« im Katastrophenfall hingewiesen (vergl. seinen Beitrag: Der Spaß ist weg – Bemerkungen zur Kernenergiedebatte, Universitas 50 (1995), 376-390). Zurück

17) Carl Friedrich von Weizsäcker empfand dieses Argument gegen die Nutzung der Kernenergie als so schwerwiegend, daß er unter Berücksichtigung der augenblicklichen unfriedlichen Weltlage nach Jahrzehnten der nachdenklichen Befürwortung der Kernenergie schließlich, 1985, zum Lager derjenigen überwechselte, die auf Sonnenenergie statt Kernenergie setzen (vergl. seine Einleitung zu K. M. Meyer-Abich, B. Schefold, Die Grenzen der Atomwirtschaft, C. H. Beck, 1986). Zurück

18) Vergl. ausführlicher W. Liebert, Aussichten nuklearer Energieversorgung für die Zukunft, in: W. Bender/IANUS (Hrsg.), Verantwortbare Energieversorgung der Zukunft (zur Veröffentlichung vorgesehen). Zurück

Dr. Wolfgang Liebert ist wissenschaftlicher Mitarbeiter bei IANUS an der TH Darmstadt

War die »Hanau Option« real?

War die »Hanau Option« real?

Militärisches Nuklearmaterial in den zivilen Brennstoffkreislauf?

von Annette Schaper

Die Debatte darüber, ob russisches Plutonium in der MOX-Anlage in Hanau verarbeitet und damit militärisches Nuklearmaterial in den zivilen Brennstoffkreislauf überführt werden soll, hat im letzten Jahr Schlagzeilen gemacht und zu einer Polarisierung unter Friedensforschern geführt. Im folgenden Artikel legt Annette Schaper dar, was aus ihrer Sicht für die »Hanau-Option« gesprochen hätte und wo die Probleme lagen. In W&F 2/96 vertritt Wolfgang Liebert die Gegenposition zur »Hanau-Option«.

1. Das Problem

Zum ersten Mal seit dem Ende des Kalten Krieges ist eine erhebliche Reduzierung der nuklearen Arsenale der USA und Rußlands möglich geworden. In den START-Verträgen wurde vereinbart, daß beide Seiten ihre Arsenale von mehr als 50.000 auf 7.000 Sprengköpfe reduzieren. Ein großer Teil davon soll demontiert werden, wobei Hunderte von Tonnen hochangereichertes Uran (HEU= „highly enriched uranium“) und Plutonium frei werden. Hierdurch entstehen neue Probleme: Es muß verhindert werden, daß auch nur kleine Bruchteile dieser riesigen Mengen von waffenfähigem Material abgezweigt werden und in die Hände von Kriminellen oder Staaten mit Nuklearambitionen geraten. Eine weitere Gefahr ist, daß das Material infolge von unglücklichen politischen Entwicklungen in die Hände eines Diktators vom Typ Schirinowski geraten und doch wieder militärisch verwendet werden könnte. Eine Lösung, die die militärische Wiederverwertung erschwert, sollte daher möglichst schnell angestrebt werden. Eine Langzeitlagerung wird von den meisten Experten für unzureichend gehalten. Die Menge des freiwerdenden russischen Waffenplutoniums wird auf 100 Tonnen geschätzt. Kürzlich sind von der amerikanischen National Academy of Sciences zwei Studien erschienen, die die möglichen Entsorgungsoptionen im Detail untersuchen.1

Für das waffenfähige Uran existiert eine vergleichsweise einfache Lösung: das HEU, das über 90% U-235 enthält, wird mit Natururan oder abgereichertem Uran, von dem große Mengen zur Verfügung stehen, verdünnt. Dadurch wird es für Waffenzwecke unbrauchbar, aber es kann noch zivil in Leichtwasserreaktoren verwendet werden. Aus diesem Grund ist zwischen den USA und Rußland ein Handel abgeschlossen worden, der den Kauf des russischen HEU vorsieht, mit dem Ziel, es langfristig in den zivilen Kreislauf zu überführen.

Eine ähnlich einfache Lösung gibt es für Plutonium nicht, da alle Isotopengemische von Plutonium, die man aus vorhandenem Matrial herstellen kann, für Waffenzwecke verwendet werden können.2 Trotzdem kann man die militärische Wiederverwertung erschweren. Um die verschiedenen Möglichkeiten, die vorgeschlagen worden sind, zu beurteilen, ist es hilfreich, einen Begriff zu benutzen, den die National Academy of Sciences (NAS) definiert hat: den sogenannten „Standard der abgebrannten Brennelemente“: Entsorgungsoptionen sollten das Plutonium mindestens ungefähr so unzugänglich machen wie das Plutonium, das in gewöhnlichen, zivilien abgebrannten Brennelementen enthalten ist. Abgebrannte Brennelemente sind hochradioaktiv und schwer, beides zusammen erschwert eine illegale Abzweigung und damit auch die Wiedergewinnung von Plutonium. Weit über diesen Standard hinauszugehen, wäre für Waffenplutonium nur dann sinnvoll, wenn man gleichzeitig auch eine Entsorgung für das in noch viel größeren Mengen vorhandene Plutonium in zivilen Brennelementen findet. Da es eine solche derzeit nicht gibt, beschränkt sich die Diskussion auf die Frage, wie das Waffenplutonium in den Standard der abgebrannten Brennelemente überführt werden kann. Die NAS kommt zu dem Schluß, daß es zur Zeit zwei Möglichkeiten gibt, die eine realistische Aussicht hätten, praktisch umgesetzt zu werden:

  • die Verarbeitung in Mischoxidbrennstoff (MOX) und die anschließende Bestrahlung in Leichtwasserreaktoren;
  • die Verglasung zusammen mit hochradioaktivem Abfall.

Diese beiden Optionen würden den Standard erfüllen und sind technisch schon so ausgereift, daß sie in einer einigermaßen absehbaren Zeit technisch realisiert weren könnten. Alle anderen Lösungen würden entweder den Standard nicht erfüllen, wären zu teuer oder zu umweltgefährdend oder hätten eine viel zu lange Vorlaufzeit, so daß das Material doch viele Jahrzehnte gelagert werden müßte.

Es taucht jedoch ein neues Problem auf, und dies sind die völlig unterschiedlichen und sich widersprechenden Auffassungen der USA und Rußlands über Nuklearpolitik und Plutoniumwirtschaft: Die amerikanische Nuklearpolitik hat sich seit der Carter-Regierung von der Plutoniumwiederverwertung abgekehrt. Aus diesem Grunde gibt es in den USA keine MOX-Fabrikation und keine Erfahrung mit MOX in Leichtwasserreaktoren. Wegen der Proliferationsgefahren, die sie in einer Plutoniumwirtschaft sehen, versuchen die USA sogar, andere Länder davon abzubringen, und unterstützen keinen Technologietransfer von Elementen eines geschlossenen Brennstoffkreislaufes. Trotzdem werden sich die USA wahrscheinlich zu dem Bau einer MOX-Anlage ausschließlich für Abrüstungszwecke entschließen.

Die russische zivile Nuklearpolitik ist ganz anders. Die Russen sehen in dem Plutonium einen wertvollen Rohstoff, den sie am liebsten in Schnellen Brütern verwerten wollen. Hierfür fehlen ihnen jedoch die finanziellen Mittel. Sie lehnen die Verglasungsoption völlig ab, aber an der MOX-Technologie wären sie interessiert, da sie einen geschlossenen Brennstoffkreislauf aufbauen wollen und MOX-Technologie hierbei ein wichtiges Element wäre. Langfristig wollen sie auch Wiederaufbereitung und Entsorgung für ausländische Kunden anbieten. Bislang haben aber auch die Russen keine praktischen Erfahrungen mit MOX.

2. Die »Hanau-Option«

Die Minimierung der Gefahren durch separiertes Plutonium ist auch im deutschen Interesse. Es gibt daher Bestrebungen, sich an den internationalen Bemühungen um Abrüstung und Entsorgung zu beteiligen. Da es in Deutschland Erfahrungen mit der Herstellung und der Verwendung von MOX gibt, ligt es nahe, auch auf diesem Gebiet zu kooperieren. Weitere Zusammenarbeit soll es bei Materialkontrolle-, -schutz, – buchhaltung und beim Bau einer Lagerungsanlage geben.3

Im letzten Jahr ist vor allem ein Vorschlag intensiv diskutiert worden: die sogenannte »Hanau-Option«. Dieser Vorschlag hätte ein Kompromiß zwischen den gegensätzlichen amerikanischen und russischen Vorstellungen sein können, und er hätte den Abrüstungsprozeß vermutlich stark beschleunigt. Danach wäre das russische Plutonium in der fast fertiggestellten MOX-Anlage in Hanau verarbeitet worden, und anschließend in deutschen oder ausländischen Leichtwasserreaktoren oder kanadischen Candu-Reaktoren bestrahlt worden. Dieser Vorschlag ist jedoch gescheitert, weil die Inbetriebnahme der Hanauer Anlage extrem unpopulär gewesen wäre und die Bundesregierung die damit verbundenen Schwierigkeiten vermeiden wollte. Diese Option, ihre Vor- und Nachteile und die Diskussion, die 1995 stattgefunden hat, sollen im folgenden erläutert werden.

Die Hanau-Option besteht aus zwei Schritten: im ersten Schritt würde der Brennstoff produziert, im zweiten in Kernreaktoren eingesetzt. Hierfür wären deutsche und/oder ausländische Reaktoren in Frage gekommen. Tabelle 1 gibt einen Überblick über die derzeitige Genehmigungslage und den Plutoniumverbrauch für den MOX-Einsatz in den deutschen Druckwasserreaktoren.4

Die Tabelle verdeutlicht, daß die maximale Menge an Plutonium, das die deutschen Reaktoren verbrauchen würden, insgesamt ungefähr 50 t wären, vorausgesetzt sie würden bis an das Ende ihrer Betriebszeit laufen, was eher unwahrscheinlich ist. Dies ist nicht ausreichend. Der Bau neuer Reaktoren ist wegen fehlender öffentlicher Akzeptanz nicht möglich. Es gibt außerdem einige deutsche Siedewasserreaktoren, die keine MOX-Genehmigung haben, weil dies wegen mangelnder Plutoniummenge nicht nötig war. Theoretisch könnten diese Reaktoren auch MOX verwenden. Tabelle 2 gibt einen Überblick:

Die zusätzliche Verwendung dieser Reaktoren würde auch nicht ausreichen. Eine andere Möglichkeit bestünde darin, ausländische Reaktoren zu verwenden. In den USA und in Kanada wird zur Zeit darüber diskutiert, kanadische Candu-Reaktoren für die Abrüstung zu verwenden. Diese werden mit Natururan betrieben, das 0,72% U-235 enthält. Wenn dieses durch MOX ersetzt würde, kann man grob schätzen, daß der Brennstoff ungefähr 0.5 % Plutonium enthalten würde. Kanadas jährlicher Verbrauch ist ungefähr 1.900 Tonnen Natururan. Eine 100 prozentige Beladung mit MOX wäre technisch möglich. Daraus ergibt sich, daß ein Verbrauch von 9,5 t Pu pro Jahr möglich wäre.

Die Hanau-Option hat verschiedene Vor- und Nachteile und einen komplizierten Hintergrund deutscher Nuklearpolitik. Die Gegner der Option waren der Ansicht, daß sie die Plutoniumwirtschaft in Deutschland weiter zementiert hätte. Das Gegenteil wäre jedoch der Fall gewesen, da der Bedarf an zusätzlicher Produktion von zivilem Plutonium reduziert oder ganz abgeschafft worden wäre. Auch der Betrieb der deutschen Reaktoren bis an das Ende ihrer Betriebszeit wäre keine notwendige Folge gewesen, wenn man zum Beispiel die Candu-Option genutzt hätte.

3. Die Entwicklungen der deutschen Nuklearpolitik

Seit einigen Jahrzehnten gibt es Erfahrung mit der Wiedergewinnung von Plutonium. Zunächst lag das Ziel vor allem bei Schnellen Brütern, später verlagerte sich der Schwerpunkt zum MOX-Einsatz in Leichtwasserreaktoren.

Bis vor kurzem verlangte das Atomgesetz die Wiederaufarbeitung abgebrannter Brennelemente und die Wiederverwendung des Plutoniums in einem geschlossenen Brennstoffkreislauf. Im Mai 1994 wurde das Gesetz geändert. Nun ist die direkte geologische Endlagerung als gleichwertige Alternative erlaubt. Da es noch keine Endlagerstätte gibt, bedeutet dies zunächst, daß eine Zwischenlagerung, bei der die endgültige Entscheidung offen bleibt, möglich geworden ist. Alle früheren nuklearpolitischen Entscheidungen waren stark durch die Verpflichtung zu einem geschlossenen Brennstoffkreislauf beeinflußt.

Da es weder eine deutsche Wiederaufarbeitung noch genügend Lagerkapazität gibt, haben die deutschen Energieversorger Wiederaufarbeitungsverträge mit ausländischen Firmen abgeschlossen, zunächst mit Cogema und dann mit BNFL (British Nuclear Fuel Limited). Diese Verträge verlangen, daß die Unternehmen das wiederaufbereitete Plutonium und die radioaktiven Abfälle zurücknehmen. Sie sind für den Zeitraum zwischen 1990 und 2000 abgeschlossen und sehen die Wiederaufarbeitung von ungefähr 8.500 t abgebrannter Brennelemente vor. Die meisten davon sind bereits angeliefert, und ein Teil ist bereits verarbeitet. 1988-89 wurden weitere Folgeverträge unterzeichnet. Sie sehen die Wiederaufarbeitung von weiteren 3.000 Tonnen vor.

Nachdem das Atomgesetz geändert wurde, begannen die Energieversorger, ihre Verträge für die Zeit nach 2000 zu kündigen, da sie die Wiederaufbereitung für teurer als die direkte Endlagerung halten. Daraufhin haben Cogema und BNFL neue Verträge angeboten, die eine längere Zwischenlagerung vorsehen und die Entscheidung über die endgültige Entsorgungsart noch aufschieben. Über diese Verträge ist noch nicht endgültig entschieden worden, da die Entscheidung für eine direkte Endlagerung von den Aussichten auf die Lagerstätte in Gorleben abhängt, deren Realisierung wegen des Widerstandes der Bevölkerung ebenfalls unsicher ist. Trotzdem ist es wahrscheinlich, daß die Nutzung von MOX in deutschen Kernkraftwerken und die Nachfrage nach MOX-Brennstoff nachlassen wird.

Die Hanauer Anlage gehört der Firma Siemens AG (früher der Alkem GmbH) und ist zu 95% fertiggestellt. Sie sollte im Jahr 1993 in Betrieb gehen. Dies ist jedoch nicht geschehen, weil die rot-grüne Hessische Landesregierung die Inbetriebnahme bisher erfolgreich verhindert hat. Obwohl die Bundesregierung die Landesregierung anweisen kann, Genehmigungen zu erteilen und dies auch geschehen ist, haben in den meisten Fällen erst Gerichtsverfahren stattgefunden, bevor eine Teilgenehmigung wirksam wurde. Dies hat die Inbetriebnahme stetig verzögert und verteuert. Deshalb, und wegen der unsicheren Aussichten auf eine zukünftige MOX-Nutzung hat sich die Besitzerfirma im Juni 1995 entschlossen, die Anlage aufzugeben.

In dieser speziellen Situation wäre es theoretisch möglich, die nun einmal vorhandene Anlage als Abrüstungsfabrik zu nutzen.

4. Diskussion der Vor- und Nachteile

4.1. Proliferationsrisiken

Die Anlage hat eine ausgefeiltes Überwachungssystem, das zusammen mit Spezialisten des Los Alamos Laboratoriums entwickelt worden ist und den Anforderungen der IAEO (Internationalen Atomenergie-Organisation) und der Euratom entspricht. Es gibt eine Eingangs- und eine Ausgangsöffnung. An verschiedenen Punkten innerhalb der Anlage kann der gesamte Materialfluß gemessen und überprüft werden. Um internationalem Mißtrauen zu begegnen und die technischen Vorgänge so transparent wie möglich zu gestalten, sollte man als Betreiber ein internationales, nicht nur deutsches Konsortium wählen. An diesem sollten mindestens Russen, Amerikaner und Europäer beteiligt werden.

Im Vergleich zu Deutschland ist die Situation in Rußland viel schlechter. Es gibt zwar Verhandlungen zwischen den USA und Rußland über eine gegenseitige Überprüfung des Abrüstungsprozesses, aber eine baldige Einführung von internationalen Safeguards oder eine Beteiligung der IAEO ist eher unwahrscheinlich. Rußland hat überhaupt keine zentrale Materialbuchhaltung. Die Erfassung des deutschen Materials wird im europäischen Rahmen zentral von Euratom betrieben. Es gibt kein zusätzliches nationales deutsches System. Der Bau einer MOX-Anlage in Rußland wäre daher mit viel höheren Proliferationsrisiken verbunden, umso mehr, als er die zusätzliche Produktion von zivilem separiertem Plutonium motivieren würde.

Obwohl die Politik der USA das Prinzip verfolgt, keine geschlossenen Brennstoffkreisläufe im Ausland zu unterstützen, trifft dies aus den eben beschriebenen Gründen noch viel stärker auf Rußland als auf Deutschland zu. Die Geschichte eines geschlossenen Brennstoffkreislaufs in Deutschland neigt sich ohnehin ihrem Ende zu. Wenn ziviles Plutonium durch militärisches ersetzt würde, würde sich dieses Ende noch beschleunigen. Es wäre dann auch zu empfehlen, das Atomgesetz noch einmal zu ändern und die Wiederaufbereitung als Entsorgungsoption ganz abzuschaffen.

Die Transporte können auch eine gewisse Proliferationsgefahr darstellen. Es ist vorgeschlagen worden, daß ein »Mastermix« von 30 % Plutonium und 70 % Uranoxid über die Ostsee verschifft würde. Dies würde den Transport durch mehrere osteuropäische Länder vermeiden. Der Mastermix würde in russischen Wiederaufarbeitungsanlagen produziert. Das unmittelbare Risiko, das durch den Transport von metallischem Plutonium entstehen würde, würde dadurch vermindert. In Deutschland würde das Material wie bisher auch über die Schiene transportiert.

4.2. Kosten

Man muß davon ausgehen, daß Rußland nur Optionen akzeptieren würde, die ihm einen wirtschaftlichen Vorteil bieten.

Die deutschen Energieversorger sind erklärtermaßen nicht bereit, irgendwelche zusätzlichen Kosten zu akzeptieren, d.h. einen höheren Preis für MOX als für gewöhnlichen Uranbrennstoff. Sie haben auch erklärt, daß es technisch allerdings für sie keinen Unterschied macht, welche Brennstoffsorte sie verwenden.

Es gibt ein Kostenszenario, das zu dem Schluß kommt, daß ein kommerzieller Gewinn für Rußland ohne Zusatzkosten für die deutschen Energieversorger möglich ist. Die ursprünglichen Kosten der Anlage waren 750 Mio. DM. Infolge der Betriebskosten der letzten Jahre sind die Gesamtkosten inzwischen auf 1,1 Milliarde DM aufgelaufen. Um die Anlage vollständig fertigzustellen, würden weiter 250 Millionen gebraucht. Die Stilllegung nach einer Laufzeit von 20-25 Jahren würde noch einmal 550 Millionen DM kosten. Abschreibungskosten brauchen nicht angenommen zu werden, da Siemens die Anlage sowieso aufgeben will. Wenn man annimmt, daß das Plutonium zunächst kostenfrei zur Verfügung stehen würde, würden weitere Kosten nur durch den Betrieb und durch die Transporte entstehen. Ohne Zinsen wird hierfür DM 2.115 pro kg angegeben. Wenn man den Vergleichspreis für Uranbrennstoff ausrechnen will, muß man die Kosten für Natururan, chemische Verarbeitung, Anreicherung und Brennstofffabrikation berücksichtigen. Insgesamt würde sich für Uranbrennstoff ein Preis von 2.500 pro kg ergeben. Die Differenz wären fast 400 DM pro kg Brennstoff, die als Gewinn an Rußland ausbezahlt werden könnten, falls der Brennstoff in deutschen Reaktoren verwendet würde. Ähnliche Kostenszenarios sind auch denkbar, wenn statt deutscher ausländische Reaktoren genutzt würden.

4.3. Zeitskala

Theoretisch könnte die Hanau-Option die schnellste Entsorgungsoption von allen sein, die zur Zeit diskutiert werden. Die Produktion könnte in zwei bis drei Jahren beginnen, während der Bau einer neuen Anlage in Rußland mit erheblichen Unsicherheiten behaftet ist. Bei fünf Tonnen Plutonium pro Jahr würde es ungefähr 20 Jahre dauern, bis die schätzungsweise 100 Tonnen verarbeitet wären. Begänne die Bestrahlung in den Reaktoren parallel, könnte die Umwandlung in ungefähr 25 Jahren abgeschlossen sein.

Für die Verglasungsoption sind dagegen noch einige Jahre Forschung und Entwicklung nötig, da noch nicht geklärt ist, wieviel Plutonium das Glas aufnehmen kann. Je mehr es ist, desto kostengünstiger könnte diese Option sein. Die Finanzierung der Verglasungsoption ist auch sehr viel unsicherer, da man nicht wie beim MOX Gewinne durch den Verkauf von Brennstoff machen kann.

In der Realität könnte die Umsetzung der Hanau-Option wegen der fehlenden Akzeptanz jedoch erheblich verzögert werden. Wegen des unterschiedlichen Isotopenvektors des russischen Plutoniums könnten unter Umständen einige neue Genehmigungsverfahren nötig werden. Die existierenden Genehmigungen gelten nur für eine Isotopenzusammensetzung bis maximal 95% Pu-235. Bei jedem Genehmigungsverfahren sind wieder öffentliche Einsprüche möglich, die zu weiteren Verzögerungen führen. Als Alternative wäre es möglich, das Plutonium noch in Rußland während der Herstellung des Mastermix mit etwas Reaktorplutonium zu vermischen, so daß der Isotopenvektor im genehmigten Rahmen bleibt.

4.4. Akzeptanz

Die Option wäre nur machbar, wenn sie im In- und Ausland akzeptiert würde. Die erste Voraussetzung wäre die russische Zustimmung. Diese hängt entscheidend von den wirtschaftlichen Parametern ab. Aber es gibt auch weitere Faktoren, die berücksichtigt werden müssen: Das russische Plutonium ist z.B. ein wichtiges Statussymbol für die russische Stellung als Supermacht. Eine Verarbeitung gerade in Deutschland könnte besondere Empfindlichkeiten wecken. Ein wichtiger Aspekt für die Russen ist vor allem ihr Ziel, in ihrem Land eine zivile Plutoniumwirtschaft aufzuziehen, und ihr damit zusammenhängendes Interesse an einem MOX-Technologietransfer. Eine Lösung, die die Verarbeitung in ihrem eigenen Land vorsieht, ist für sie daher stets viel attraktiver als eine Verarbeitung im Ausland. Im Frühsommer 1995 sah es zeitweilig so aus, als ob für die internationale Gemeinschaft eine Verarbeitung in Deutschland unter Umständen in Betracht käme, ein Technologietransfer erschien jedoch äußerst unrealistisch. Für die Russen erschien die Hanau-Option daher als die einzige relativ realistische Möglichkeit, wenigstens noch einen kommerziellen Gewinn aus ihrem Plutonium zu ziehen. Wenn deutlich geworden wäre, daß nur diese Option von der internationalen Gemeinschaft akzeptiert würde, und der Bau einer MOX-Anlage in Rußland nicht in Frage käme, hätte man sich wahrscheinlich mit den Russen einigen können. Als sich jedoch abzeichnete, daß aus Bonn keine weitere Initiative kommen würde, und die Hanau-Option unrealistischer erschien als ein MOX-Technologietransfer nach Rußland, schwenkte Moskau natürlich wieder um und erklärte, daß eine Verarbeitung seines Plutoniums im Ausland nicht in Frage käme.

Die zweite wichtige Voraussetzung wäre die Zustimmung der EU und die Kooperation von Euratom gewesen. Diese wäre auch nicht selbstverständlich gewesen, da die französischen und britischen Wiederaufbereiter ein starkes Interesse daran haben, daß in Deutschland die Plutoniumwirtschaft mit zivilem Plutonium weiterbetrieben wird. Es wurde sogar befürchtet, daß einflußreiche Kreise der Option einen starken Widerstand entgegengebracht hätten, wenn sie weiter verfolgt worden wäre, insbesondere wenn eine Bedingung das Ende der Wiederaufbereitung als Entsorgungsoption gewesen wäre. Von französcher Seite wurde bereits erklärt, daß man Interesse an einer Zusammenarbeit hätte, vorausgesetzt, französische Interessen würden nicht gefährdet.

Als dritte Voraussetzung wäre die Zustimmung der USA erforderlich gewesen. Die Hanau-Option ist in der US-Regierung diskutiert worden und auf viel Sympathie gestoßen. Einige Gegner haben befürchtet, daß diese Option die zivile Plutoniumindustrie gestärkt hätte. Der Entscheidungsfindungsprozeß in Washington wurde abgebrochen, als klar wurde, daß die Option von Bonn nicht weiter unterstützt wurde.

Die fehlende Unterstützung in Deutschland war der entscheidende Grund, warum die Idee gescheitert ist. Für die Umsetzung wäre die Kooperation der Wiesbadener Landesregierung erforderlich gewesen. Für Wiesbaden stellte die Idee, die Hanauer Anlage für die Abrüstung zu nutzen, ein großes Problem dar: der Wahlerfolg der Hessischen Grünen ist nicht zuletzt auch damit zu erklären, daß sie der Nuklearindustrie den Kampf angesagt hatten und als Symbol für ihre Kernenergiegegnerschaft die Inbetriebnahme der Hanauer Anlage erfolgreich verhindert hatten.

Andererseits war aber auch immer das Engagement für nukleare Abrüstung ein Teil der grünen Identität. Daß diese beiden unterschiedlichen Ziele miteinander in Konflikt geraten sollten, war eine Zwickmühle, mit der niemand gerechnet hatte, und die, wenn der Plan weiter verfolgt worden wäre, ein wirklich unangenehmes Dilemma dargestellt hätte, da die relativ komplizierten Gründe, die für die Verwendung der Hanauer Anlage sprechen, auch nicht einfach zu vermitteln sind. Eine naheliegende typische Reaktion aus der Bevölkerung ist die Frage, warum wir und nicht die Russen selbst die Probleme lösen sollen, die durch ihre Nuklearrüstung verursacht worden sind. Daß durch die Option die Plutoniumwirtschaft eher abgeschafft worden wäre als ohne sie, leuchtet auch nicht unmittelbar ein, wenn man nicht die Hintergründe genauer studiert. Es ist daher nicht verwunderlich, daß die Hanau-Option in der Öffentlichkeit zu einigen panikartigen Reaktionen führte. So verabschiedete zum Beispiel der Hessische Landtag am 31. Mai 1995 eine Erklärung, in der die Idee abgelehnt und als „absurd und gefährlich“ bezeichnet wurde. Als Begründungen wurden genannt:

  • Abrüstung sei nur ein Vorwand, der wahre Hintergrund sei die Aufrechterhaltung der Nuklearindustrie.
  • Es könne nicht toleriert werden, die Kernreaktoren noch einige Jahrzehnte im Betrieb zu lassen.
  • Es wäre nicht die schnellste Option, Verglasung wäre schneller.
  • Die Transporte seien zu gefährlich.
  • Waffenplutonium in Hanau sei nicht genehmigt, und die Risiken seien nicht untersucht.
  • Russisches und amerikanisches Waffenplutonium müsse sofort internationalen Kontrollen unterstellt werden.

Ähnliche Spontanreaktionen der Ablehnung kamen zunächst auch von der SPD in Bonn. In den folgenden Wochen und Monaten konnte jedoch beobachtet werden, daß sich Grüne und SPD stärker zurückhielten. Positionen, die später in der Öffentlichkeit geäußert wurden, waren differenzierter, und, obwohl sie nach wie vor nicht von Sympathie zeugten, wurde doch die Bereitschaft deutlich, sich gründlicher und auch ehrlicher mit dem ungeliebten Thema auseinanderzusetzen. Es ist nicht auszuschließen, daß es vielleicht doch möglich gewesen wäre, zwischen allen vier Parteien und der Hessischen Landesregierung einen Kompromiß auszuhandeln, der eine Kooperation unter bestimmten Bedingungen möglich gemacht hätte.

Dies hätte jedoch vorausgesetzt, daß jemand die Initiative zu solchen Verhandlungen oder Konsensgesprächen ergriffen hätte. Hierfür wäre die Bundesregierung selbst zuständig gewesen. Eine solche Initiative blieb jedoch aus, die einzige Partei, die sich für die Hanau-Option engagierte, war nur die FDP. Die Gründe für das fehlende Engagement seitens der CDU kann man sich denken: Auch wenn ein parteiübergreifender Konsens erreicht worden wäre, hätte mit starken Protesten und Widerstand gerechnet werden müssen. Die Zugeständnisse, die man der antinuklearen Opposition hätte machen müssen, hätten im Widerspruch zu den Interessen der französischen und britischen Wiederaufbereiter gestanden, was mit ziemlicher Sicherheit zu internationalen Verstimmungen geführt hätte. Die Bemühungen um einen Energiekonsens wären weiter verkompliziert worden, da auch hier Widersprüche aufgetaucht wären. Auch die Leitung der Firma Siemens, die die Anlage bereits abgeschrieben hatte, fürchtete – im Gegensatz zum Siemens-Betriebsrat in Hanau, der sich vor allem für die Arbeitsplätze interessiert hatte –, daß sie sich mehr Schwierigkeiten als Vorteile einhandeln würde. So haben sich fast alle Beteiligten entschlossen, das unangenehme Problem stillschweigend auszusitzen. Inzwischen wird das MOX und auch weiterhin das dafür nötige Plutonium für die deutschen Kernkraftwerke in Frankreich produziert, und ein Ende ist nicht abzusehen. Proteste sind bisher ausgeblieben.

Der einzige Vorteil, den eine Initiative für die Hanau-Option der Bundesregierung gebracht hätte, wäre ein positiver Beitrag zur nuklearen Abrüstung gewesen, der bei einigen internationalen Beobachtern auf Anerkennung gestoßen wäre. Dies hat als Motivation nicht ausgereicht.

5. Schluß

Die Hanau-Option ist gescheitert, der ehemalige Leiter der Anlage ist nun Direktor einer MOX-Fabrik in Frankreich, die MOX für deutsche Kernreaktoren herstellt. Die Plutoniumwirtschaft in Deutschland wird noch weiterlaufen, in Frankreich und Großbritannien wird weiter ziviles Plutonium für Deutschland produziert. Das Plutonium aus russischen Kernwaffen lagert in Rußland, und die Einführung von internationalen Kontrollen ist nicht abzusehen. Eine Entsorgungsoption für dieses Plutonium ist nicht in Sicht. Die Russen streben nach wie vor den Bau Schneller Brüter und den Aufbau einer zivilen Plutoniumwirtschaft in ihrem Lande an. Wahrscheinlich wird viele Jahrzehnte lang nichts passieren. Das einzige Realistische, was derzeit möglich ist, ist den Russen zu einer besseren Sicherheitstechnik, zur Materialkontrolle und zu Materialbuchhaltung nach westeuropäischen Standards zu verhelfen und sich am Bau einer Speicheranlage zu beteiligen, um zumindest die unmittelbaren Gefahren illegaler Abzweigung einzudämmen.5 Weiterhin ist es dringend zu empfehlen, sich für internationale Safeguards auch in Kernwaffenstaaten einzusetzen. Aber hier ist auch der amerikanische Enthusiasmus nicht besonders groß.

Anlage Genehmi- gungsstand Max. mittl. Pu-
fiss.- gehalt
Anzahl MOX-BE pro
Nach- ladung
Anzahl MOX-BE im
Kern
Anteil MOX-BE im
Kern %
Max. Rest- laufzeit
/ Jahre
Mittlere Entladung
/ Tonnen
Gesamter Pu-
Verbrauch
Brockdorf erteilt, angew. 4.0 –(*) –(*) –(*) 21 32
Emsland erteilt 3.8 16 48 25 23 34 5
Grafenrhein- feld erteilt, angew 3.07 16 64 33 16 29 4.6
Grohnde erteilt, angew 3.2 16 64 33 19 27 5.4
Isar2 erteilt 4.0 24 96 50 23 28 13
Neckarwest- heim 1 erteilt, angew. 3.04 16 9 11 17 0.5
Neckarwest- heim 2 erteilt 3.8 72 37 24 30 10
Obrigheim erteilt, angew. 3.8 8 28 26 3 30 0.8
Philippsburg erteilt, angew. 3.5 72 37 19 28 5.2
Unterweser erteilt, angew. 3.28 16 48 25 13 28 3.5
Biblis A beantragt 3.5 24 80 42 9 28 3.7
Biblis B beantragt 3.5 24 80 42 11 28 4.5
Mühlheim Kärlich umstritten Betrieb unwahr- scheinlich 24 84 39 21 22
(*) im Umfang der
Eigenerzeugung
Anlage Leistung/MWe + Inbetriebnahme
(brutto) (netto)
KWW Würgassen 670 640 1975
KKB Brunsbüttel 806 771 1976
KKP-1 Phlippsburg 900 864 1980
KKI-1 Isar 907 879 1979
KKK Krümmel 1316 1260 1984
KRB B Grundremmingen 1300 1240 1984
KRB C Grundremmingen 1308 1248 1985

Anmerkungen

1) National Academy of Sciences, Committee on International Security and Arms Control, Management and Disposition of Excess Weapons Plutonium, Washington 1994; National Academy of Sciences, Committee on International Security and Arms Control, Management and Disposition of Excess Weapons Plutonium: Reactor Related Options. Washington 1995. Zurück

2) E. Kankeleit, C. Küppers, U. Imkeller, Bericht zur Waffentauglichkeit von Reaktorplutonium, Report IANUS-1/1989, and C. Mark: Explosive Properties of Reactor-Grade Plutonium, Science & Global Security, Vol. 4, pp.111-128, 1993. Zurück

3) Kürzlich ist eine Studie zu Möglichkeiten deutsch-amerikanischer Zusammenarbeit erschienen, die eine ganze Reihe verschiedener Maßnahmen empfiehlt: National Academy of Science and German- American Academic Council: U.S.-German Cooperation in the Elimination of Excess Weapons Plutonium, July 1995. Zurück

4) Wolf-M. Liebholz (Ed.), Jahrbuch der Atomwirtschaft 1994 (Yearbook of the Atomic Economy), G.J. Schlosser, D. Bender, Plutoniumrückführung in Druck- und Siedewasserreaktoren, Atomwirtschaft März 1995, S. 170. Zurück

5) E. Merz, The Challenge: Safeguarded Plutonium Storage, Paper presented at the Pugwash Meeting No. 206, Moscow, February 1995. Zurück

Dr. Annette Schaper ist wiss. Mitarbeiterin in der HSFK, Frankfurt

Castor neues Symbol der Anti-Atom-Bewegung

Castor neues Symbol der Anti-Atom-Bewegung

von Wolfgang Ehmke

Gab es in den Anfängen der Anti-AKW-Bewegung Standorte mit hohem symbolischen Wert (Wyhl, Brokdorf, Gorleben oder Wackersdorf), mobilisiert heute der »Castor« Tausende. Die Anti-Atom-Bewegung erlebt einen neuen Frühling. Der Name Castor steht für »Cask for Transport and Storage of Radioactive Materials«. Ein solcher Behälter für Transport und Lagerung hochradioaktiver abgebrannter Brennelemente wurde am 25. April 1995 zum ersten Mal aus dem AKW Philippsburg nach Gorleben transportiert. Der »Tag X« war von massiven Protesten nicht nur im Landkreis Lüchow-Dannenberg begleitet. Im Mai 1996 sollen zwei weitere Transporte auf der Schiene bis Dannenberg rollen. Dort müssen die Behälter – der eine aus Gundremmingen, der andere aus der Wiederaufarbeitungsanlage im französischen Cap de la Hague – umgeladen werden. Auf den letzten 18 km geht es über die Straße in das »Brennelementezwischenlager« nach Gorleben. Die Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg mobilisiert deshalb für den »Tag X hoch 2«. Dem Doppelpack soll auch mit doppeltem Widerstand begegnet werden.

Zweifelhafter Entsorgungsbeitrag

Die Kritik am Castor-Konzept ist sehr facettenreich. Grundsätzlich wird bestritten, daß die »zwischenzeitliche Lagerung« in einer Lagerhalle ein veritabler Entsorgungschritt ist. Angesichts eines fehlenden Endlagers ist absehbar, daß die angestrebte Lagerzeit von 40 Jahren weit überschritten wird. Deshalb muß eine solche Lagerung auch unter dem Gesichtspunkt der Langzeitsicherheit betrachtet werden. In Gorleben sollen 420 Behälter auf engstem Raum gelagert werden. Werden alle Stellplätze in Gorleben – und das gleiche gilt analog für Ahaus oder Greifswald mit einer vergleichbaren Lagerkonzeption – genutzt, so wird dort grob geschätzt das radioaktive Inventar von 40 Atomkraftwerken der Biblis-Klasse konzentriert. Die Lagerhallen bieten nicht nur ein Ziel für terroristische Aktivitäten, sie sind auch gegen Flugzeugabsturz nur unzureichend geschützt. Natürlich – und dagegen richten sich auch die Proteste – sind die Atommülltransporte ein zusätzliches Sicherheitsrisiko. Die Aktionen der Castorgegner münden deshalb immer wieder in die zentrale Forderung: Schluß mit der Atommüllproduktion! Geht es um die Kokillen aus der Wiederaufarbeitung, so zielt die Blockade dieser Tranporte auf die Kündigung der Wiederaufarbeitsverträge zwischen deutschen Atomstromproduzenten und der französischen Plutoniumschmiede in Cap de la Hague bzw. dem britischen Sellafield.

Kritik am Castor

Das Behälterkonzept selbst steht in der Diskussion. Mit der Nutzung des Castors als Transport- und Lagerbehälter (TB) für abgebrannte Brennelemente sollen folgende Schutzziele im sogenannten „bestimmungsgemäßen Betrieb“ erreicht werden:

1. Verhinderung einer Kettenreaktion

2. Strahlenabschirmung

3. Abfuhr der Nachzerfallswärme

4. Dichter Einschluß des radioaktiven Behälterinventars. 

Möglichkeit einer Kettenreaktion

In einem TB sind 4, 9 oder 19 Brennelemente (BE) aus Druckwasserreaktoren auf dichtem Raum gepackt. Je nach Auslegung des Behälters gibt es auch unterschiedliche Typenbezeichnungen (Castor Ia, Castor IIa, Castor V/19). Ein Castor V/19 kann z.B. bei mittlerem BE-Abbrand ca. 10 t Uran enthalten, davon ca. 80 kg spaltbares U-235.

Eine Kettenreaktion würde ausgelöst, wenn von den durch spontane Spaltung freigesetzten Neutronen lawinenartig neue Spaltungen ausgelöst würden. Dies kann nach heutigem Erkenntnisstand auch nach Ansicht atomkritischer Wissenschaftler vermieden werden, vorausgesetzt, daß von den Vorschriften z.B. bei der Beladung des Behälters nicht abgewichen wird. Eine Kettenreaktion wäre das Verheerendste, was man sich vorstellen kann, da dann – nehmen wir den Castor IIa als Referenzbeispiel – ein Zehntel des radioaktiven Potentials freigesetzt würde, das in Tschernobyl austrat.

Abschirmung

Radioaktiver Zerfall von Kernen ist auch immer von radioaktiver Strahlung begleitet. Sie wird unterteilt in Alpha-, Beta-, Gamma- und Neutronenstrahlung.

Alpha-Strahler, z.B. Plutoniumstaub, sind Teilchenstrahler. Sie sind leicht abschirmbar, da sie nicht einmal durch ein Blatt Papier dringen. Gefährlich wäre die Freisetzung der radioaktiven Teilchen, würden sie eingeatmet oder verschluckt, nisten sie sich im Körper (z.B. Lunge) ein und verursachen Krebs.

Beta-Strahler sind ebenfalls Teilchenstrahler, nämlich die bekannten Elektronen. Auch diese Strahler sind nicht sehr durchdringend, aber biologisch sehr schädlich, wenn sie in die Haut eindringen oder inkorporiert werden. Das ist immer dann von Bedeutung, wenn die TB undicht werden und somit auch die Teilchenstrahler freigesetzt werden. Besondere Bedeutung in diesem Zusammenhang haben die gasförmigen Radionuklide Tritium (H-3), Krypton-85 und Jod-129.

Ich unterstelle – was weiter unten zu erläutern sein wird –, daß das Schutzziel „dichter Einschluß…“ nicht in jedem Falle einzuhalten sein wird. Damit ist auch eine Abschirmung der beta-Strahlung nicht hinreichend gewährleistet.

Gamma-Strahlung ist keine Teilchenstrahlung, sondern eine elektromagnetische Welle wie das Licht, aber wesentlich energiereicher und durchdringender. Durch die Abschirmung von 45 cm der TB-Behälterwände (Gußeisen) wird sie nur abgeschächt. Vor allem die Isotope Kobalt (Co-60) und Cäsium (Cs-137) bestimmen über Jahrzehnte die Gammastrahlung. Dieses Schutzziel, die Rückhaltung der Gammastrahlung, ist nicht einzuhalten, da machen uns die Behörden auch gar nichts vor. Es wird lediglich per Genehmigung festgeschrieben, welcher Schaden für die weitere Atomenergienutzung akzeptabel ist.

Das gleiche gilt auch für die Neutronenstrahlung. Die ganz schweren Kerne (Uran, Transurane) haben die Eigenschaft, daß sie auch ohne ein auslösendes Neutron in zwei oder mehr Bruchstücke unter Aussendung von Neutronen zerplatzen (Spontanspaltung). Die Neutronenstrahlung soll durch Bohrungen und Aussparungen im Deckel- und Bodenbereich der TB, die mit Kunststoff ausgelegt werden, gebremst werden. Trotz dieser Absorber durchdringt ein Teil der Neutronen die Behälterwand.

Nach der Genehmigung für das Castorlager in Gorleben darf die Dosisleistung an der Behälteroberfläche für Gamma-Strahlung maximal 0,1 mSv/h und für Neutronenstrahlung 0,15 mSv/h betragen.

Wird diese genehmigte Dosisleistung von den Betreibern voll ausgeschöpft, so hat das folgende Konsequenzen:

Ein Mensch, der sich vier Stunden lang in unmittelbarer Nähe eines TB aufhält, hat damit bereits die nach Strahlenschutzverordnung »zulässige« Jahresdosis erhalten. Für einen Atomarbeiter gelten aber andere Grenzwerte. Dieser hätte nach 200 Stunden Arbeit in unmittelbarer Nähe zum Behälter seine Jahresdosis abgekriegt. Als besonders strahlenexponiert sind anzusehen: Transportbegleiter (Fahrer von Atomtransporten, Rangierer bei der Bahn, Polizei) und natürlich die Arbeiter im AKW bzw. in Gorleben.

Über die biologische Wirksamkeit der Neutronenstrahlung ist durch den Marburger Nuklearmediziner Prof. Horst Kuni ein heftiger wissenschaftlicher Streit entfacht worden, der das gesamte Castorkonzept ins Wanken gebracht hat. Kuni hat nachgerechnet, daß die Bewertung der Schadwirkung von Neutronenstrahlung um den Faktor 30 höher liegen müßte, als es der heutigen Norm entspricht (gegenüber der Gammastrahlung wird heute als »RBW-Faktor« 10 angenommen, d.h. die Gefahr einer Schädigung durch Neutronenstrahlung liegt nur 10fach höher).

Nachzerfallswärme

Von den in einem Castor V/19 befindlichen Brennelementen darf in der Lagerhalle insgesamt eine Wärmeleistung von 39 kW (zur Veranschaulichung: ca 20 Haushaltsradiatoren) erzeugt werden. Um zu verhindern, daß die Brennstabhüllen platzen, muß die Brennstabtemperatur unter 390o bleiben. Die Temperatur der TB-Außenwand beträgt zwischen 65 und 80 Grad Celsius, im Einzelfall bis zu 100 Grad. Die Umgebungsluft in der Halle wird auf über 50 Grad aufgeheizt und mittels Konvektion abgeführt.

Zwei Probleme möchte ich in diesem Zusammenhang erwähnen. Damit die Luftkühlung funktioniert, darf es keinen „Wärmestau“ geben. Daraus erklärt sich auch das Konzept, einfache Leichtbauhallen (sogenannte »Kartoffelscheunen«) als Lagerhallen zu wählen. Da es keine Rückhaltemöglichkeit, keine Filtersysteme oder dergleichen gibt, ist zugleich klar, daß Radioaktivität ungehindert aus dem Lager austreten kann.

Dichter Einschluß

Nicht alles, aber vieles hängt also vom dichten Einschluß der Brennelemente ab. Nicht alles, denn die Gamma- und Neutronenstrahlung, aber auch die Nachzerfallswärme mit der Gefahr des Hüllrohr-Berstens wurde schon thematisiert. Betroffen sind aber in erster Linie die »strahlenexponierten« Personen; nur wenige Menschen kommen mit den TB in Berührung.

Schon anders stellt sich die Lage für Menschen dar, die mit einem Atommülltransport kollidieren, die entlang der Transportestrecken wohnen oder Anwohner der Atommülldeponie sind, vor allem wenn man die Annahmen der Betreiber in zwei weiteren Punkten in Zweifel zieht:

a) hinsichtlich der Hüllrohrschäden,

b) hinsichtlich der Dichtigkeit und des Werkstoffverhaltens des Deckelsystems.

zu a) In punkto Hüllrohrschäden wird in den Sicherheitsberichten in Gorleben eine geschätzte Schadensquote von 10% eingeräumt. Dagegen stehen andere Zahlen und Annahmen: Im Störfallbericht AKW Gundremmingen 1970 heißt es, beim BE-Wechsel sei bei 33 von 143 BE ein Schaden anzunehmen, 1971 bei 38 von 91 BE. Das sieht heute natürlich nicht mehr so schlimm aus. Trotzdem kann die Schadensquote von 10% keinesfalls als real angesehen werden, wenn ein Unfall unterstellt wird.

Bei einem Bruch der BE-Hülle werden in erster Linie die gasförmigen Nuklide Kr-85, J-129 und H-3 freigesetzt.

Was das im Hinblick auf eine Undichtigkeit der Deckel heißt, kann man sich leicht ausmalen.

Aber es gibt noch einen anderen Aspekt: werden die BE-Behälter nach Jahren, z.B. nach Ablauf der Lagerzeit von 40 Jahren, einmal umkonditioniert (in der »Heissen Zelle« einer Konditionierungsanlage), so können enorme Freisetzungsgrade auftreten.

Im Gegensatz zum Reaktorbetrieb, wo der Innendruck der BS den Kühlmitteldruck von ca. 160 bar teilweise kompensiert, besteht bei der Trockenlagerung ein Überdruck von 80 bis 90 bar im Innern des Hüllrohres. Dieser Druck ist temperaturabhängig. Bei zu hohen Temperaturen kommt es zur Kriechdehnung bis hin zum Bruch. Die Crash-Tests, bei denen BE-Behälter umkippen, vom Kran rutschen oder ein Transport in einen Unfall verwickelt werden, sollen demonstrieren, daß die Behälterwände extreme Belastungen aushalten. Nur: die Tests werden mit leeren Castorbehältern durchgeführt, die Hüllrohre im Innern würden nämlich zu Bruch gehen.

Korrosionsmechanismen werden außer acht gelassen:

In der Fachliteratur ist nachzulesen, daß Wasser z.B. aus dem Abklingbecken durch Mikrorisse ins Innere der BE eindringen kann. Z.B. ist das Alkalimetall Rubidium, ein Folgeprodukt des Zerfalls von Kr-85, in Verbindung mit Wasser chemisch sehr aggressiv.

zu b) Die entscheidende Schwachstelle der Castorbehälter liegt m.E. aber an anderer Stelle: trotz des ausgeklügelten Deckelsystems ist damit zu rechnen, daß Undichtigkeit auftritt, und zwar im Normalbetrieb. Mit anderen Worten, man braucht nicht einmal die Unfallszenarien zu bemühen (was wäre z.B., wenn der Deckel und nicht die Behälterwand aus Gußeisen auf einen Dorn stürzt?).

Die Castorbehälter werden im Innern mit einer Nickelschicht gegen Korrosion versehen. Es ist fraglich, wie diese Nickelschicht auf dem Gußeisen haftet. Die Behälterdichtung ist aber auf dem Nickel und nicht auf dem Gußeisen aufgebracht. Wenn eine solche Nickelschicht im Behälterinneren bricht oder Risse bekommt, nützt die schönste Dichtung nichts, weil die radioaktiven Gase zwischen Gußeisen und Nickelbeschichtung unter der Dichtung nach außen dringen können. Prof. Elmar Schlich, einst Projektleiter der »Nukem« zur Entwicklung eines alternativen Brennelementbehältertyps (»TN 1300«) hat im Rahmen seiner Entwicklungsarbeiten aus diesem möglichen Störfall – der im übrigen nicht einmal feststellbar ist (!) – die Konsequenzen gezogen. Seine Alternativentwicklung »TN 1300« wurde aber ad acta gelegt, weil sie 50% teurer wäre und einen neuen Stand von Technik definiert hätte, die die Zwischenlagerplanungen in Ahaus und Gorleben über den Haufen geschmissen hätte. Prof. Schlich, der heute an der TU Aachen lehrt, gab zu bedenken: selbst bei einem simplen Dampfdrucktopf sitzt die Gummidichtung auch bei emaillierten Töpfen in einem Edelstahldeckel und nicht auf der Emaille.

Am Ende muß der aufgeschweißte Deckel (Fügedeckel) mit einer Stärke von 30 mm die Dichtigkeit garantieren. Das kann er aber nicht. Hier gilt wieder einmal: Wirtschaftlichkeit geht vor Sicherheit.

Grundrechte in Gefahr

Schon der erste Castortransport von Philippsburg nach Gorleben war von einem weitreichenden Demonstrations- und Versammlungsverbot begleitet. Entlang der Transportstrecke und rund um das Brennelementezwischenlager in Gorleben war das Grundrecht auf Demonstrationsfreiheit außer Kraft gesetzt. Für die nächsten Transporte ist mit erneuten Einschränkungen der Demonstrations- und Versammlungsfreiheit zu rechnen. Obwohl die Veranstaltungen der Bürgerinitiative Umweltschutz (BI) in der Vergangenheit überwiegend friedlich verlaufen sind, unterstellt die Bezirksregierung Lüneburg einen kollektiv unfriedlichen Verlauf. Eine derartige Verbotspraxis ist bereits im Brokdorf-Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1985 verworfen worden. Die Bürgerinitiative klagt deshalb vor dem Verwaltungsgericht Lüneburg gegen die verfassungswidrigen Versammlungsverbote. Die Annahme, daß ein elementares Grundrecht polizeitaktischen Erwägungen geopfert wird, ist nicht von der Hand zu weisen. Welches Dilemma entsteht, wenn Demonstrationen in unmittelbarer Nähe eines stark radioaktiv verstrahlten Objekts stattfinden, hatte Prof. Jürgen Seifert (Hannover) in einer Expertise für das niedersächsische Innenministerium in April 1992 festgehalten: Die Demonstrationen unterliegen schon aus Gründen der Gefahrenabwehr Restriktionen! Der Atomstaat, wie ihn Robert Jungk prophezeite, tritt nunmehr in Erscheinung:

  • als Demonstration staatlicher Gewalt (14.000 Beamte waren im vergangenen Jahr entlang der Transportestrecken im Einsatz);
  • in Form eines die Grundrechte verletzenden Versammlungsverbots und einer „Güterabwägung“ zugunsten des ungehinderten Transports radioaktiven Materials.

Zu welchen Kapriolen sich die bedrängte Landesregierung in Hannover hinreißen läßt, zeigt die aktuelle Debatte um die Änderung des niedersächsischen Gefahrenabwehrgesetzes. Die SPD-Landtagsfraktion hat dazu einen Entwurf vorgelegt, der Aufenthaltsverbote von Personen für Gemeinden vorsieht, „wenn Tatsachen die Annahme rechtfertigen, daß diese Person dort Straftaten begehen oder zu ihrer Begehung beigetragen wird“. Der Katalog vermeintlicher Straftaten wird flexibel gestaltet, um entsprechend flexibel reagieren zu können. Die Castorgegner/innen gehen davon aus, daß sich diese Gesetzesänderung nicht nur – wie stets behauptet – gegen Veranstaltungen wie die der alljährlichen »Chaostage« in Hannover richtet. Die „Chaoten von morgen“ sind mit Sicherheit wir!

Der Kampf gegen Atomtransporte und für den Ausstieg aus der Atomenergie ist von daher unweigerlich auch ein Kampf gegen den Abbau demokratischer Rechte.

Wolfgang Ehmke ist Pressesprecher der Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Danneberg

Eine Reise, von der ich noch nicht zurück bin

Eine Reise, von der ich noch nicht zurück bin

von Ralf-Uwe Beck

Vor fünf Jahren begann eine Reise, von der bin ich noch immer nicht zurückgekehrt. Sie dauert noch. Ich merke das, je mehr ich mich auf die Bitte der Redaktion einlasse, einen Reisebericht zu schreiben. Viel zu lange her, versuche ich den Anruf loszuwerden. Trotzdem, schreib, heißt es. Ich motiviere mich damit, den Text mit einer Kontonummer enden zu lassen, so wie immer seit fünf Jahren.

3. Oktober 1991. Das Land schläft seinem neuen Feiertag entgegen. Und wir treffen uns kurz nach Mitternacht in einem Kleinbus, randvoll mit Medikamenten, Gerhard Kuder, Professor im Ruhestand und Vorsitzender der Christlichen Aktion Mensch-Umwelt, Manfred Bäurle, Geschäftsführer dieses kleinen Vereins und ich. Wir verlassen dieses Deutschland in Richtung Osten – das vernünftigste, so meinen wir, was mit diesem neuen Feiertag anzufangen ist.

In Kiew sollten wir erwartet werden. Aber die Frage nach dem nächsten Telefon 100 km vor Kiew, um uns anzukündigen, hatte ein Tankwart mit der Bemerkung beantwortet „70 km von hier“; nur hatte er die Straße entlang gezeigt, die wir gerade gekommen waren. Also weiter und eben nicht angekündigt nach Kiew.

Nach 40 Stunden Fahrt non stop sind wir endlich da, keine Ahnung wo genau. Müde wie noch nie überfahre ich eine rote Ampel. Und die Miliz, die immer und überall ist, pfeift uns aus dem Verkehr. Zwei Worte nur stottern wir der Strenge entgegen: „Medikament – Tschernobyl“. Das genügt. Von da an hatten wir unsere Lotsen durch die 3 Millionen-Einwohner-Stadt. Sie bringen uns zur Klinik Nr. 14.

Ich, noch immer an DDR-Uniformierte gewöhnt, brauche wohl am längsten, bis ich begreife, daß wir zum Abschied nicht ein Strafmandat ausgestellt bekommen, sondern umarmt werden. Wir sind wirklich da. Mitten in Kiew. Und mittendrin in dem, was mit Tschernobyl seinen Namen hat.

Ausladen. Währenddessen kommen sie dann alle nacheinander. Sie hatten über der Einfallstraße in einem Polizeibeobachtungsturm gesessen, schon den ganzen Tag, und auf uns gewartet. Blumen und Umarmungen, Wodka und Kaffee. Nur die Reihenfolge ändert sich hin und wieder.

Die Tage danach sind randvoll. Wir besuchen zunächst die Kliniken und zuerst die Klinik Nr. 14, die hämatologische Abteilung. Dr. Lifschits geht mit uns von Bett zu Bett. Kinder. Kleine und größere. Und die Mütter. Ihre Gesichter sind zerbrechlich geworden, wie Glas, über den Krankheitsgeschichten ihrer Kinder. Leukämie und immer wieder Leukämie. Die meisten Kinderköpfe sind kahl. Die Chemotherapie hat ihnen die Haare genommen.

Die Therapieprogramme sind nicht gesichert. Wären sie's, hätten die Kinder Heilungschancen wie in einer Klinik in Deutschland, 65 von 100 würden geheilt werden können. Und wie viele werden geheilt, wenn die Medikamente nicht geliefert werden? Dr. Lifschits zuckt mit den Achseln, nicht sehr viele.

Neben all dem anderen Mangel auch der an Platz. Jeder Quadratmeter ist genutzt. Mehr noch. Was wir erst sehr viel später erfahren: die Mütter legen sich abends zu ihren Kindern ins Bett. Sie auch noch unterzubringen, ist unmöglich.

Das radiologische Zentrum in Kiew. Kinder, die Angst haben, allein in einem Raum zu sein, die zu Bettnässern geworden sind, die die Evakuierungen erlebt haben. Ich stelle mir vor, meiner Tochter am Tag nach Bekanntwerden der Katastrophe erklären zu müssen, daß die ihr so vertraute Sandkiste, das Klettergerüst, ihr Ball ihr jetzt gefährlich werden können. Wie sollte sie das verstehen können?

Schilddrüsenerkrankungen. Schilddrüsenkrebs. Und wieder Leukämie. Und dann ein neues Wort, eines das ich noch oft hören werde, oft in Verbindung mit anderen Krankheiten, dazugesetzt, ungewohnt, das aber einiges erklären soll: Tschernobyl-Aids. Eine extreme Immunschwäche, verursacht durch radioaktive Strahlung. Die Ärztinnen und Ärzte haben kaum Erfahrungen, wie mit all dem umzugehen ist, woher auch.

Wir fahren nach Irpen, eine Stadt ganz nah an Kiew. Sandwege zwischen Kiefern und bald auch ein Flachbau. Die Kinderklinik. Manfred Bäurle und Gerhard Kuder waren schon einmal hier, um Kontakte zu knüpfen. Der Empfang war nicht der freundlichste – damals. „Ihr aus dem Westen, immer besucht ihr uns, die ärmste Klinik in der Gegend. Und immer machen wir uns Hoffnungen und nie kommt einer wieder.“ Keine Blutdruckmeß-Manschetten für Kinderarme. Kaum Verbandsmaterial, kaum Medikamente, von den Neonröhren an der Zimmerdecke brennt nur noch eine, unter den Rohren in den Toiletten stehen Blechbüchsen. Wir laden aus.

Die Abende verbringen wir bei Freunden, den Sonntag mit ihnen auf dem Land. Ina hat Mühe, uns den schwarzen Humor zu übersetzen, sie will es wohl auch nicht. „Ich werde mit zwei Köpfen wiedergeboren“, sagt einer, während er in eine Traube Sanddornbeeren beißt – und keine Mine verzieht. „Soll dem Körper helfen, sagen die Leute, mit der Radioaktivität fertig zu werden – viel Vitamine.“ Liquidatorinnen und Liquidatoren alle. Ich lerne eine Maßeinheit kennen: Rem – beschreibt den Zusammenhang zwischen der Dosis Radioaktivität, die jemand abbekommen hat, und der Wahrscheinlichkeit, daß eine Strahlenkrankheit ausbricht. Zur Orientierung, 500 Rem bedeutet zu 50% den Tod und 1.000 Rem zu 100%. „Ich habe 120, ich 140, meine Kinder 44.“ Es sind 600.000 Frauen und Männer. Sie waren eingesetzt, die Zone freizuräumen, einzuzäunen, die Dörfer abzureißen, den Unfallsreaktor zu sichern und so weiter. Sie haben zumeist ohne Schutz vor der Strahlung gearbeitet. Damals waren es Helden. Heute sind sie unbequem und ein Makel in jeder Krankheitsstatistik.

Einige Zeit später kommt mir das Buch „Die Wahrheit über Tschernobyl“ in die Hände. Geschrieben von Tschernousenko, dem Chef der 600.000. Bilder von Männern, die in einem Tunnel unter dem Reaktor arbeiten. Die Schutzanzüge haben sie beengt in dem Schacht. Sie haben sie ausgezogen. Ein Foto mit Männern in Zelten, irgendwo in der Zone. Das Foto selbst ist weißgesprenkelt von der Strahlung.

Radioaktivität kann man nicht sehen, nicht riechen, nicht schmecken, nicht fühlen. Radioaktivität ist still wie der Tod.

Radioaktivität kann man nicht sehen, nicht riechen, nicht schmecken, nicht fühlen. Radioaktivität ist still wie der Tod. Wir wollen in die Zone, näher an die Ursache, dorthin, wo am 26. April 1986 begann, was gemeinhin nur noch Tschernobyl genannt wird. Das ist es, was wir zuerst verstanden haben, daß die Katastrophe von Tschernobyl nicht einfach am 26. April 1986 passiert ist, sondern daß sie an diesem Tag begann und daß sie immer dauern wird. Immer.

„Wir fahren übermorgen 7 Uhr.“ Die Passierscheine waren besorgt. Und von da an war ich es auch und hatte mit einem flauen Gefühl in der Magengegend zu tun. Vor uns die Karten, die über Farbnuancen ausweisen, wie verseucht das Gelände ist. Von hellgelb bis tiefrot. Was bedeutet es, sich der Gefahr einer Strahlendosis auszusetzen und sei sie noch so gering? Ich merke, was das heißt, Radioaktivität kann man nicht sehen, nicht…

100 km nördlich von Kiew tauchen die ersten Schilder auf, die auf eine »zapretnaja zona« hinweisen, eine verbotene Zone. Die Straße wird vor einem Schlagbaum zur Sackgasse. Nach links und rechts, soweit ich sehen kann, Stacheldraht. Natalie bedeutet uns, auf dem Asphalt zu bleiben und nicht in den Staub am Straßenrand zu fahren. Wir lassen den Bus zurück. Die Zone hat ihre eigenen Fahrzeuge, gestempelt mit »zona«.

Tschernobyl. Eine Stadt. 800 Jahre alt. 12.000 Menschen haben hier gelebt. Evakuiert Anfang Mai '86. Jetzt ist die Stadt nur noch Arbeiterwohnunterkunft.

Die 6.000 im Kraftwerk Beschäftigten wohnen hier, immer für zwei Wochen, dann fahren sie für zwei Wochen nach Hause. Die Straßen werden mehrmals täglich mit Wasser abgesprüht, um sie zu entaktivieren. Die Stadt zerfällt.

Noch 15 km bis zum Kraftwerk, dann stehen wir vor dem Sarkophag. Der Unfallreaktor ist eingegossen in eine Million Tonnen Beton. Das Dach besteht aus aneinandergelegten Rohren. Risse über Risse. Der Klotz ist marode, längst nicht sicher. Die Katastrophe von Tschernobyl begann am 26. April 1986, sie dauert an.

In Sichtweite des AKW: Pripjat – »Stadt der AKW-Arbeiter«. Der Baustil verrät sie als junge Stadt, entstanden mit dem Kraftwerk. Neubaublocks. Kaufhallen. Ein Hotel. Das Riesenrad für die Maifeiern. Überall hohes Gras. Menschenleer. Wie oft habe ich dieses Wort schon gesagt, angesichts eines Platzes, über den nur ich gehe oder eines Restaurants ohne Gäste. Hierher gehört das Wort wirklich. Es ist niemand da. Pripjat ist am 27. April '86 evakuiert worden, vollständig. Hier wohnt auch keine Arbeiterin, kein Arbeiter mehr. Stadt mit Verfallsdatum. Eine Stadt ohne Geräusche. So groß wie die Stadt, in der ich zu Hause bin, mit 40.000 Einwohnern. Jurij zählt mit uns bis in die fünfte Etage eines Hauses. Dort haben sie gewohnt, seine Frau, die beiden Kinder. Dann redet niemand mehr. Ein Schaufenster ist dekoriert für den 1. Mai 1986. Da steht „trud, mir, mai“ – Arbeit, Frieden, Mai. Am 1. Mai '86 war niemand mehr da. Ewiges Riesenrad.

Wir verlassen die Zone und einen Tag später das Land. Zum ersten Mal fällt mir auf, daß bei Ortsausgangsschildern die Namen rot durchgestrichen sind. „Tschernobyl“ steht da, rot durchgestrichen.

Ein Jahr danach sind wir wieder da. Diesmal mit einer Iljuschin 76 und 40 t Hilfsgütern an Bord. Oberst Kuschnin, Pilot und früher beteiligt bei der Sicherung des Unfallsreaktors, hatte die Maschine besorgt. Sie war auf der US-Air-Base Rhein-Main gelandet, dort beladen worden und wieder gestartet. Von einem Militärlager in Kiew aus verteilen wir. Wir brauchen eine Woche. Die Krankenhäuser haben Mühe, einen LKW zu schicken.

Frauen kommen zur Lagerhalle, betteln um Medikamente. Die Kinderärztin der Klinik in Irpen erzählt uns, sie habe in den letzten Jahren kein Kind in der Praxis gehabt, dessen Schilddrüsen nicht erweitert waren. Eine Krankenschwester zeigt uns, wie sie Multivitamintabletten, hergestellt für Erwachsene, mit einem Messer auf einem Holzbrett zerkleinert.

Für die CAMU, die Christliche Aktion Mensch-Umwelt, waren dies die ersten Hilfstransporte. Bis heute sind es 28. Die CAMU konzentriert sich mittlerweile ausschließlich auf die Klinik Nr. 14. Dort werden ein Viertel aller neuen Leukämiefälle in der Ukraine behandelt – mit Heilungschancen, als würden die Kinder in Deutschland behandelt werden. Die Therapieprogramme sind abhängig von dem, was die CAMU zu liefern vermag und dies wiederum ist abhängig von Spendengeldern. Geliefert wird nur, was Dr. Lifschits bestellt. Direkt, nicht pauschal. Jede Mark wird in Medikamente umgesetzt. Und die kommen dort an, wo sie gebraucht werden.

Ich hatte es angekündigt, mit einer Konto-Nummer zu enden, mit der der CAMU: 410 10 49, bei der Evangelischen Kreditgenossenschaft Frankfurt, BLZ 500 605 00.

Ralf-Uwe Beck ist Umweltbeauftragter der Evang.-Luth.Kirche in Thüringen un d stellv. Bundesvorsitzender des BUND

Fakten: Medizinisch-soziale Folgen: Tschernobyl

Fakten: Medizinisch-soziale Folgen: Tschernobyl

von Alexander Belyakov

1995 hat die Republik Belarus einen »National-Report: 9 Jahre nach Tschernobyl« der Öffentlichkeit vorgelegt. Der Bericht befaßt sich mit der radioaktiven Kontamination, den ökonomischen, gesundheitlichen und sozialen Folgen sowie den eingeleiteten Maßnahmen zur Problembearbeitung.

Zu den gesundheitlichen Folgen heißt es in diesem Bericht u.a.:

Die Belastungen des menschlichen Organismus waren besonders geprägt „durch kurzlebige Radioisotopen wie Jod 131 sowie Caesium-, Strontium- und Plutonium-Isotopen. Das Eindringen radioaktiven Jods …führte zu erheblichen radioaktiven Belastungen der Schilddrüse. …Ein Vergleich der Belastung der Schilddrüse in verschiedenen Altersgruppen der Bevölkerung zeigt, daß dabei die Kinder drei- bis zehnfach höheren Belastungen ausgesetzt waren als die Erwachsenen.“

Wie stark insbesondere die Kinder belastet wurden, wird auch in folgenden Zahlen deutlich. In den Gebieten um Gomel waren „23% der Kinder Belastungen von mehr als 100 cGr (…) ausgesetzt. 8% von ihnen erlitten Belastungen von 200-500 cGr, 2% von 500-1.000 und 1% über 1.000 cGr.“ Die allgemeine ökologische Lage verschärft das Problem. „In der Milch stillender Mütter fanden sich neben Caesium-Radionukliden (bis zu 60 Bq/l) in gesundheitsgefährdenden Mengen auch chlororganische Pestizide und Schwermetalle. Bei 25-64% der untersuchten Kinder und Heranwachsenden übersteigt die Bleikonzentration im Urin 50 mg/l, bei 15% von ihnen lassen sich Nitratkonzentrationen von mehr als 100 mg/l finden. Die Kinder und Jugendlichen leiden unter ernsthaften Funktionsstörungen ihres Immun-, Verdauungs- und anderer Systeme wie etwa dem Schutz vor frühzeitigem Altern.“ (Nach Angaben der Gebietskrankenhäuser litten z.B. 1987 nur 3,7 von 100.000 Kindern im Gebiet von Gomel unter Störungen des Immunsystems, 1995 waren es bereits 3.550).

Auch bei den Erwachsenen zeigen die Krankheitsbilder eine deutlich steigende Tendenz. Sie liegen wesentlich „höher als es dem weltweiten Durchschnitt entspricht.“ Es wird hervorgehoben, daß die Zahl der Krankheitsfälle stärker zunimmt, „als es die Experten aus verschiedenen Ländern zu verschiedenen Zeitpunkten für wahrscheinlich gehalten haben“.

Bestätigt habe sich die „Vorhersage zunehmender Fälle von Nieren-, Blasen-, Lungen- und Brustkrebs, die Zahl der Knochentumore.“

Eine auf der Basis der staatlichen Registrierungsdaten vorgenommene Analyse des Gesundheitszustandes der Liquidatoren von Tschernobyl verweist gleichsam auf die Zunahme verschiedener Krankheiten. Fünf Jahre nach der Katastrophe betrafen die Fälle registrierter Krankheiten unter den Liquidatoren 537,7 von 1.000 Personen. In der Gruppe der Liquidatoren nahmen z.B. die Kropferkrankungen „um das 40fache zu… Erkrankungen des Blutes und der blutbildenden Organe traten – hauptsächlich aufgrund von Anämien – 9,4mal häufiger auf.“ Während der letzten fünf Jahre war die Steigerungsrate bei Erkrankungen des Kreislaufsystems, der Atmungs- und Verdauungsorgane in der Gruppe der Liquidatoren höher als in der sonstigen erwachsenen Bevölkerung der Republik. „Hypertonie (Bluthochdruck) tritt unter ihnen 9mal häufiger auf – Stenokardie (Herzkrampf) 3,3mal.“

Als besonders dramatisch wird angesehen, daß einzelne Krankheiten vermehrt bei Jugendlichen auftreten.„Hierzu gehören Diabetes, Herzkrankheiten, erhöhter Blutdruck, Arterienverkalkung usw. Unter den Kindern der Gegend um Gomel wurde eine Häufung von Knochen- und Nierentumoren festgestellt.“

In dem Bericht heißt es weiter, daß „cytogenetische Untersuchungen belegen, daß schwangere Frauen und ihre Föten sowie Kinder und Erwachsene, die in den mit Radionukliden verseuchten Gebieten leben, biologisch wirkenden Belastungsmengen ausgesetzt waren.

Nach dem Tschernobyl-Unfall traten Geburtsfehler in »sauberen« Gebieten um das 1,2fache häufiger auf, in Gebieten, in denen die Kontamination höher als 555 kBq/m lag, um das 1,8fache… Fast 500 Schwangerschaften wurden im Rahmen des Nationalen Programms vorbeugender Maßnahmen gegen genetische Folgen, das nach der Tschernobyl-Katastrophe eingerichtet worden war, aufgrund genetischer Indikationen abgebrochen.“

Bei der Vorstellung des National-Reports erklärte der stellvertretende Botschafter von Belarus in Bonn, Dr. Alexander Ruchlja: Über 100.000 Menschen mußten alleine in Belarus evakuiert werden. Noch größer ist die Zahl derjenigen, die das Land »freiwillig« verlassen haben. Darunter sind die qualifiziertesten Arbeitskräfte: Ärtzte, Lehrer, Ingenieure. Die Folge: Heute sind in den betroffenen Gebieten nur 40 Prozent des Ärztebedarfs gedeckt, die Region verarmt, Produktion und Lebensstandard gehen zurück. Belarus muß 18-20 Prozent des Haushaltes für die unmittelbare Tschernobyl-Folgenbeseitigung aufwenden.“

Alexander Belyakov arbeitet als Umweltjournalist in Kiew