Lernen von den »Guardias«

Lernen von den »Guardias«

Integrale Sicherheit als Antwort auf multiple Gewaltphänomene in Kolumbien1

von María Cárdenas

Am Beispiel der »Guardias« und im Kontext des kolumbianischen Friedenskonsolidierungsprozesses soll dieser Beitrag Aufschluss darüber geben, wie Indigene, Afrokolumbianische und kleinbäuerliche Gemeinden inmitten von allgegenwärtiger Gewalt durch integrale Sicherheitssysteme kollektiven Selbstschutz praktizieren, um das (Über-)Leben ihrer Gemeinden und Ontologien zu sichern. Angesichts multipler planetarer Krisen bietet ihre Praxis wichtige Denkanstöße für die notwendige Überwindung des hegemonialen Verständnisses von (militarisierter) Sicherheit.

Die »Guardia Indígena«, die »Guardia Cimarrona« und die »Guardia Campesina« (kurz »Guardias«) sind heute die international bekanntesten gemeindebasierten und integralen Sicherheitssysteme in Kolumbien. Seit der Jahrtausendwende wurden sie von ihren Gemeinden gestärkt, um ihr territorio und ihre Bevölkerung vor bewaffneten Akteuren und ihrer gewaltsamen Vereinnahmung für extraktive Ökonomien zu schützen. So stellen sie sich illegalen Ökonomien ebenso in den Weg wie legalen und illegalen bewaffneten Akteuren und sind zum Teil beteiligt an der »Liberación de la Madre Tierra« – also an Initiativen, die die »Mutter Erde« aus z.B. Monokulturprojekten befreien wollen.2 Angesichts der Allgegenwärtigkeit der Gewalt stellen die Guardias seither gleichsam den bestmöglichen Schutz vor militärischer Gewalt dar, als auch eine unbewaffnete Alternative zu ihr. Gleichwohl wird ihre Arbeit häufig aus einer eurozentrischen Perspektive auf ein anthropozentrisches Verständnis von Sicherheit reduziert. Auch aus einer solchen Perspektive können die Guardias zwar Aufschlüsse über Alternativen zu militarisierter Sicherheit geben. Die ontologischen Konflikte, die der Gewalt gegen diese Gemeinden zugrundeliegen, werden hierdurch jedoch vernachlässigt. Ebenso wird das Potential unsichtbar, das integralen Sicherheitssystemen zur Überwindung jener multiplen (Un-)Sicherheitskrisen innewohnt, die durch die Moderne/Kolonialität hervorgerufen wurden (Escobar 2020).

Der Beitrag baut auf meiner ethnographischen Forschung mit Indigenen und Afrokolumbianischen Friedensaktivist:innen seit 2017 (u.a. Cárdenas 2023), sowie einer vom Deutsch Kolumbianischen Friedensinstitut (CAPAZ) unterstützten explorativen Studie von 20193 auf. Ziel ist es, mit Blick auf das Sicherheitsverständnis Indigener, Afrokolumbianischer und kleinbäuerlicher Gemeinden das hegemoniale Verständnis von Sicherheit neu zu betrachten. Der Beitrag ist auch ein Angebot, die hegemonialen Formen oder Versuche der Gewährleistung von Sicherheit zu reflektieren. Zu diesem Zweck werde ich im Folgenden die Arbeit der Guardias im Cauca näher in den Blick nehmen.

Hintergrund: Bewaffnete Gewalt und Morde im Cauca

Unsicherheit und Gewalt haben die südwestliche Region Cauca seit Jahrzehnten geprägt. Fast acht Jahre nach der Unterzeichnung des Friedensabkommens hat die Frage der Sicherheit in dieser Region allerdings nicht an Bedeutung verloren, denn sowohl die Anzahl bewaffneter Akteure als auch die Gewalt gegen soziale und ethnische Organisationen und Aktivist:innen haben weiter zugenommen. Zwischen dem Tag der Unterzeichnung des Friedensabkommens 2016 bis zum 3.7.2024 wurden laut INDEPAZ in Kolumbien 1.621 soziale Führungspersönlichkeiten (líderes) ermordet (INDEPAZ 2024). Allein im Cauca waren es 324 ermordete soziale Aktivist:innen, von denen mehr als ein Drittel Indigene waren (128), gefolgt von Kleinbäuer:innen (79), und Afrokolumbianischen Aktivist:innen (32).4 Die unverhältnismäßige Gewalt gegen ländliche und insbesondere Indigene Führungspersonen ist vor allem auf ihren Widerstand gegen Wirtschaftsakteure und lokale Eliten zurückzuführen, die nach der Demobilisierung der FARC-EP um die ökonomische und sozio-politische Kontrolle der Region konkurrieren und eine Ausweitung der legalen und illegalen Wirtschaftsweisen in diesem Departement anstreben (Albarracín et al. 2022).

Teil integraler Sicherheitssysteme

Indigene, Afrokolumbianische und kleinbäuerliche Guardias können als integrale gemeinschaftliche Sicherheitssysteme verstanden werden, die temporär, semi-permanent oder permanent sein können und aus einem unbezahlten, unbewaffneten Dienst bestehen, den meist alle Mitglieder der Gemeinschaft mindestens einmal verrichten. Das Leitmotto der Guardias „Todos somos guardia“ („Wir alle sind Guardias“) bedeutet sowohl, dass die Arbeit der Guardia bzw. die damit verbundene Verantwortung nicht ausgelagert werden kann, als auch, dass jede:r – von den Älteren bis zu den Kindern – ein wichtiger Teil ist, um zum Schutz des territorio und dessen Gemeinschaft beizutragen. Hierdurch ist die Gruppe zumindest bei den semi-permanenten und temporären Guardias meist relativ heterogen, was Gender, Alter und familiäre Situation anbelangt.5 Die Gemeindemitglieder, die als Guardia dienen, tragen im Dienst zumeist den traditionellen bastón de mando – einen mit Bändern der Organisationsfarben verzierten Holzstab. Häufig tragen sie dazu auch ein Halstuch und eine Weste, auf denen das Logo der Organisation, der ihre Gemeinde angehört, sichtbar ist.

Da die Guardias Teil der politischen Autonomie der Gemeinden und dieser untergeordnet sind, werden sie auf Gemeindeebene organisiert. Ihre Organisation hängt also von ihrem jeweiligen gobierno propio ab (ihren autochthonen Formen politischer Selbstorganisation), sowie von dem sozio-ökologischen und politischen Kontext, in den sie eingebettet sind. Nicht nur angesichts der besonderen Gewaltbetroffenheit der Cauca-Region kann die Arbeit der dort ansässigen Guardias also nicht auf andere Kontexte übertragen werden.

Die Guardias sind zudem nur ein Element der gemeindebasierten Schutzmechanismen im heutigen Kolumbien, zu denen auch die planes de vida (Lebenspläne), medicina ancestral (traditionelle Medizin) und spiritueller Schutz (durch z.B. Taitas oder Thê’ Walas), sowie institutionalisierte Dialogforen zählen. Der Bekanntheitsgrad der Guardias hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass sie aus einem eurozentrischen Sicherheitsverständnis leichter zu greifen sind als z.B. die Wirkung von Thê’ Walas. Dies hat es einzelnen Guardias im Cauca ermöglicht, Zuwendungen von staatlichen und internationalen Stellen zu erhalten – eine Entwicklung, die manche Gemeinden aufgrund der damit (vermeintlich verbundenen oder wachsenden) Nähe zum eurozentrischen Sicherheitsverständnis bzw. ihrer Reduktion hierauf mit Sorge betrachten.

Der hier entwickelte Blick auf die Guardias im Cauca soll daher keinesfalls zu einer Generalisierung der Guardias und Reduktion ihrer Komplexität, Heterogenität und kontextspezifischen Ausprägung beitragen, denn diese hat in Kolumbien auch zu einer Dichotomie von Romantisierung vs. Kriminalisierung geführt. Ziel ist vielmehr, zu erörtern, welche Alternativen die Guardias in Kolumbien zu einer militärischen oder militarisierten Durchsetzung von Sicherheit eröffnen – auch in einem Kontext allgegenwärtiger Gewalt – und was wir von ihnen für das Verständnis von Sicherheit und seine Erreichung lernen können.

Der integrale Schutz des »Territorio«

Die Aufgabe der Guardias ist es, Sicherheit und Harmonie in einer integralen Weise zu fördern, die sich nicht auf physische Sicherheit oder den negativen Frieden beschränkt (Galtung 1972), sondern auf das abzielt, was häufig als »die Kontrolle des Territoriums« (control territorial) bezeichnet wird. Als territorio lässt sich zunächst vereinfacht das Leben und die Beziehungen der Lebewesen untereinander in einem gewissen Raum bezeichnen. Dieser Raum sollte jedoch nicht auf ein eurozentrisches, zweidimensionales Verständnis im Sinne einer Karte reduziert werden, sondern ist zum einen multidimensional und dynamisch, und beinhaltet zum anderen auch die vertikale, spirituelle und historische Dimension. Zudem ist es eng mit dem menschlichen Körper verschränkt.

Die Kontrolle des territorio beinhaltet also zwar auch das, was im eurozentrischen Sicherheitsverständnis als die Kontrolle über ein gewisses Stück Land verstanden wird: zu wissen, wer sich auf dem spezifischen Gelände aufhält, was diese Menschen tun und wieso. Im Kontext allgegenwärtiger Gewalt ist es wichtig, die Routen von bewaffneten Akteuren zu kennen, wann sie unberechtigterweise das Gelände durchqueren, und welche Beziehungen sie mit anderen Akteuren halten. Dies ermöglicht nicht nur eine sehr gute Kenntnis der Akteure der Region und ihrer Interessen (und trägt dadurch zum friedens- und sicherheitsrelevanten Wissensarchiv dieser Gemeinden bei), sondern es hat oft unmittelbar praktischen Nutzen. Beispielsweise wenn die Kenntnisse hierüber es diesen Gemeinden ermöglichen, zwangsrekrutierte Minderjährige wieder aus den Fängen von bewaffneten Akteure zu holen, illegalen Bergbau zu identifizieren, oder gar Bagger-Lader der Polizei zu übergeben.6 Juan Carabalí von der Nationalen Schutzeinheit (UNP)7 stellt klar:

„Man stellt sich die Guardias oft so vor, dass sie bewaffnet sind, aber das stimmt nicht. Der Guardia ist derjenige, der hinausgeht, um zu verhandeln, um einen Dia­log zu führen, um die Menschen, die [von bewaffneten Akteuren] getötet werden sollen, wegzubringen, um sie aus den Händen von bewaffneten Gruppen zu holen, die sie töten wollen. Ja, die afrokolumbianischen Gemeinschaften tun das die ganze Zeit, und die indigenen Gemeinschaften, die ganze Zeit.“ (Juan Carabalí, UNP, 23.4.2019).

Sicherheit wird hier also Carabalí zufolge nicht über Gewalt (oder die Androhung dieser) hergestellt, sondern über den Mut, ins Gespräch zu kommen und sich der Gewalt entgegenzustellen, sowie über die Autorität, mit der die Guardia ihr territorio verteidigt.

Die Arbeit der Guardias kann jedoch nicht auf den Umgang mit Gewaltkonfrontationen und ihre Verhandlungskapazitäten reduziert werden. Aufgrund des eingangs genannten Verständnisses von territorio besteht territoriale Kon­trolle auch darin, auf den Zustand bzw. die Gesundheit des Territoriums, der Pflanzen und der Tiere zu achten sowie auf den Zustand von Straßen, Zäunen und Brücken (Forschungsmemo vom 16.2.2019). Daher beinhaltet die territoriale Kontrolle neben dem Schutz der Natur auch die »Minga« – also die Gemeindearbeit (z.B. Renovierungs- und Reparaturarbeiten, Unterstützung bei der Ernte, die Reparatur eines Hauses, eines Zauns, eines Brunnens oder einer Brücke). Ebenso beinhaltet die Arbeit der Guardia zum Teil auch die Mediation bei Nachbarschafts- oder familiären Konflikten, sowie bei Streitigkeiten innerhalb der Gemeinschaft und mit den Nachbargemeinden (wobei dies je nach Gemeinde auch von anderen Ämtern und Rollen übernommen wird). Die Guardias erfüllen daher vielerorts auch Funktionen, um die Autonomie und Widerstandsfähigkeit der Gemeinde gegen die Kolonialität und ihre Gewalt zu stärken. Es handelt sich bei der Guardia damit also um einen Teil autonomer und integraler Sicherheitssysteme, in dem sich Menschen die Aufgabe teilen, das Pluriversum zu schützen – nach außen (bzgl. bewaffneter Akteure und Nachbargemeinden), nach innen (Gemeindekohäsion), als auch horizontal und vertikal (bzgl. des Schutzes des Territoriums bzw. der Natur, der Ahnen und des spirituellen Raums vor z.B. Extraktivismus) – oft auch mit ihrem eigenen Leben.

Dies macht auf einen weiteren Aspekt der Territorialkontrolle aufmerksam, der über ein eurozentrisches Sicherheitsverständnis hinausgeht. Es geht nämlich nicht nur um den Schutz einer bestimmten Gruppe von Menschen und gegebenenfalls ihres Besitzes, sondern auch um den Schutz der Natur in ihrem eigenen Recht8, sowie um den Schutz der Beziehungen und des Gleichgewichts zwischen Menschen, nicht-menschlichen Lebewesen und dem spirituellen Raum. Bei diesem nicht-westlichen Verständnis von »Sicherheit« geht es also auch um die Beziehungen zwischen Menschen und dem was wir unter Natur verstehen (also Flora und Fauna), ebenso wie um die spirituellen und emotionalen Beziehungen, die das Territorium beinhaltet, und um die Gesetze bzw. Regeln, denen diese folgen.

In wissenschaftlichen Debatten, insbesondere des »ontological turn« oder der »political ontology«, erhalten diese relationalen Möglichkeiten, die Welt in ihrer Pluriversalität zu verstehen, zunehmend an Bedeutung (vgl. FitzGerald 2021). Vor diesem Hintergrund lässt sich control territorial nicht nur als Teil von territorialen Kämpfen verstehen, sondern vielmehr sind territoriale Kämpfe, bzw. der Versuch das Territorium zu schützen, im Sinne von Arturo Escobar (2020) immer auch ontologische Kämpfe. Es geht bei den Guardias also um den Schutz des Pluriversums vor seiner Vernichtung durch ontologische Zerstörung, die die Monokulturen (hier nicht auf den Anbau beschränkt) der Moderne/Kolonialität nach sich ziehen. Die eingangs genannten vielfachen Morde in Kolumbien an Indigenen, Afrokolumbianischen oder kleinbäuerlichen Aktivist:innen weisen daher nicht nur auf die nekropolitische Dimension hin, die rassialisiertes Leben der kapitalistischen Logik unterwirft (Ruette-Orihuela et al. 2023), sondern auch auf die ontologische Dimension der Gewalt, da die Ermordeten als zentrale Akteure in der Aufrechterhaltung des widerständigen Wissens und in der Organisation des ontologischen Widerstands verstanden werden müssen.

Auswirkungen des Friedensabkommens seit 2016

Die Nationale Schutzeinheit UNP hat eingeräumt, dass sie auf der ländlichen Ebene sehr schwach ist. Vor allem bei Indigenen und Afrokolumbianischen Gemeinschaften sind die Sicherheitsmaßnahmen oft nicht in der Lage, Morde zu verhindern.9 Darüber hinaus gab es Fälle von Leibwächtern der UNP-Vertragspartner, denen paramilitärische Verbindungen nachgewiesen werden konnten.10 Vor diesem Hintergrund und mit dem Ziel, den rechtlichen Rahmen der autonomen Sicherheitsmechanismen auszuweiten – und damit auch ihre Möglichkeiten, Sicherheit integral zu stärken11 –, wurde das Recht auf autonome Sicherheitssysteme als Teil des ethnischen Kapitels auch in das kolumbianische Friedensabkommen von 2016 aufgenommen (vgl. Cárdenas 2019). Es garantiert unter anderem, dass „bei der Gestaltung und Umsetzung des Sicherheits- und Schutzprogramms für Gemeinschaften und Organisationen in den Gebieten eine ethnische und kulturelle Perspektive einbezogen wird. Die Stärkung der eigenen Sicherheitssysteme der ethnischen Völker, die national und international anerkannt sind, […] wird garantiert“.

Dies hatte weitreichende Folgen, von denen ich hier nur zwei nennen werde: Zum einen die politische und rechtliche Anerkennung der Afrokolumbianischen und Indigenen Guardias und damit die Anerkennung alternativer Konzeptualisierungen von Sicherheit. Das ist ein wichtiger politischer Erfolg für Indigene, aber auch Afrokolumbianische Gemeinden. Dieses nicht-anthropozentrische, integrale Verständnis von Sicherheit wurde zuletzt durch die erfolgreiche Initiative Afrokolumbianischer Gemeinschaften aus dem Nord-Cauca auch in einem Urteil der kolumbianischen Übergangsjustiz JEP erneuert: Dort wurde der Fluss Cauca als Opfer des bewaffneten Konflikts anerkannt und ihm das Recht auf Wiedergutmachung und Nicht-Wiederholung zugestanden. Es lässt sich also als Folge des ethnischen Kapitels ein Einfließen von nicht-eurozentrischen Ontologien in die kolumbianische Rechtsprechung feststellen.

Zum anderen wurden die Guardias in ihrer finanziellen, strukturellen und ideellen Form durch Sicherheitsinstitutionen wie die Nationale Schutzeinheit UNP gestärkt. 2019 arbeitete UNP mit 78 Kollektiven im ganzen Land zusammen, von denen die meisten Indigene und Schwarze Gemeinschaften waren, und individuell mit etwa 800 Indigenen und etwa 500 Afrokolumbianischen Aktivist:innen, die Personenschutz benötigten (Stand Februar 2019, Interview mit der UNP vom 23.4.2019). Die Maßnahmen umfassen materiellen (Westen, Walkie-Talkies usw.) und immateriellen Schutz (Ausbildung in ethnischen Rechten, in Menschenrechten und im humanitären Völkerrecht, usw.), aber auch spirituellen Schutz (zur Harmonisierung des Territoriums z.B.; ebd.). Diese Dynamik hat sicherlich zur größeren Sichtbarkeit der Guardias beigetragen.

Wenngleich im Cauca die »Guardia Indígena« besonders stark ist, hat in den letzten Jahren auch die Zahl der Afrokolumbianischen Gemeinderäte mit eigenen Guardias zugenommen hat. Laut Victor Hugo Moreno Mina (ACONC) gab es 2019 neunzehn Afrokolumbianische Guardias in den 43 Gemeinderäten im Cauca (Interview mit Victor Hugo Moreno Mina, 22.2.2019). Nach einem von der internationalen Zusammenarbeit finanzierten Workshop für interethnische Guardias im Jahr 2018 wurde in Cauca auch die interethnische Guardia gegründet, die sich aus Indigenen, Afrokolumbianischen und bäuerlichen Gruppen zusammensetzt, um voneinander zu lernen, sich gegenseitig zu stärken und z.B. bei der Überführung illegaler und bewaffneter Akteure zu kooperieren. Angesichts der Allgegenwärtigkeit von Gewalt durch zahlreiche legale und illegale bewaffnete Akteure und illegale Ökonomien im Cauca sowie der Nachlässigkeit bzw. Schwäche des Staates, dieser entgegenzutreten, erweisen sich die Guardias auch weiterhin als unverzichtbares Sicherheitssystem, aber auch als Symbol für den autonomen und integralen Aufbau von Frieden nach dem Friedensabkommen.

»Todos somos guardia« – wir alle sind »Guardia«

Dies hat Edgar Alberto Velasco Tumiña (Autoridades Indígenas del Sur Occidente – AISO) zufolge dazu geführt, dass „[die indigene Guardia] in vielen Teilen der Welt ein Beispiel für den Widerstand gegen den Krieg [ist]. [W]ir haben gelernt, unsere Angst zu verlieren, unsere Angst vor dem Krieg, vor den Streitkräften, und wir widersetzen uns den Landbesitzern, den multinationalen Konzernen und der Regierung selbst“.

Das Narrativ der Guardia als Verteidigerin des Territoriums und als Friedensstifterin hat verstärkt seit dem Abschluss des Friedensabkommens Bündnisse mit einer Vielzahl von Akteuren ermöglicht, die sich außerhalb ihrer Gemeinden und/oder ihres territorio befinden: mit der internationalen Zusammenarbeit, der Studierendenbewegung, den Umweltschutzbewegungen oder der städtischen Linken. In jüngerer Zeit ist die Schaffung der inter­ethnischen Guardia (bestehend aus »Guardia Indígena«, »Guardia Campesina« und »Guardia Cimarrona«) selbst ein Versuch, über territorios hinweg zusammenzuarbeiten und ethnische oder rassistische Gräben zu überbrücken.

Ein Beispiel für den symbolischen Stellenwert, den die Guardias über ihre Territorien hinaus erlangt haben, war ihre zentrale Rolle beim Nationalstreik von 2021, in dem sie sich mit der meist urbanen Bevölkerung solidarisierten und diese beim Schutz vor repressiver Gewalt durch staatliche Sicherheitsbehörden und Bürgerwehren unterstützten.12 Ihre wachsende Popularität und ihre Kooperation mit Akteuren aus dem urbanen Raum hat sie jedoch auch angreifbarer für Kriminalisierung und Diffamierung gemacht13.

Zusammen mit dem Anstieg von sich diversifizierenden und miteinander konkurrierenden Gewaltakteuren im Cauca, die die Gewaltsituation gegen ländliche Gemeinden verschärfen, hat sich die Arbeit der Guardias daher erschwert: In den ersten sechs Monaten des Jahres 2024 wurden bereits 89 soziale Aktivist:innen ermordet, viele davon wegen ihres Widerstands gegen den legalen und illegalen Extraktivismus. Eine der Guardias, die in diesem Zusammenhang ihr Leben verlor, war die Älteste und Nasa-Gouverneurin Carmelita Ascue Yule aus dem Cauca. Sie wurde am 16. März 2024 ermordet, als sie versuchte, Minderjährige aus ihrer Gemeinde vor der Zwangsrekrutierung durch eine Dissidentengruppe der FARC zu schützen.

Anmerkungen

1) Ausschnitte des vorliegenden Texts wurden bereits als Forumsbeitrag in Iberoamericana veröffentlicht, siehe Cárdenas 2020. Vielen Dank an David Scheuing und Astrid Juckenack für ihre Anmerkungen.

2) Siehe auch die Webpage der Bewegung unter liberaciondelamadretierra.org/de/.

3) Die Studie hatte den den Titel »Strengthening autonomy or the state? Die unterschiedliche Anerkennung der Guardias im Friedensabkommen und ihre Zusammenarbeit im Territorium im Rahmen des Post-Abkommens«.

4) Ibid. Im Vergleich hierzu macht die Indigene Bevölkerung laut der Volkszählung von 2018 lediglich rund 4.4 % und die Afrokolumbianische rund 9.34 % der Gesamtbevölkerung aus (vgl. DANE 2019, DANE 2023).

5) Frauen werden also nicht in die Sicherheit »integriert« (wie es aus einer euro- und androzentrischen Perspektive z.B. beim Militär der Fall ist), sondern als integraler Bestandteil der Gemeinschaft sind sie auch integraler Bestandteil ihres Schutzes (der nicht militärisch ist).

6) So erklärte Victor Hugo Moreno Mina (Asociación de Consejos Comunitarios del Norte del Cauca – ACONC) bei einem von mir begleiteten Vortrag an der Nationalen Polizeiakademie, dass die Guardia wiederholt den illegalen Bergbau in ihren Gebieten gestoppt und schwere Maschinen und Delinquenten der Polizei übergeben habe (Memo vom 01.11.2018).

7) Die UNP untersteht dem Innenministerium und ist für die Koordinierung und Durchführung des Schutzes von Personen oder Gruppen zuständig, deren Leben aufgrund ihrer Arbeit bedroht ist.

8) Dank der sozialen Kämpfe von Indigenen und Afrolateinamerikanischen Gemeinden wurden in Lateinamerika viele Teile der Natur (Flüsse, Berge etc.) als Rechtssubjekte anerkannt.

9) So Pablo Elías, Direktor der UNP, in CIEDH 2020, S. 5.

10) Siehe Comisión Colombiana de Juristas (2018).

11) Der rechtliche Rahmen der Guardia hängt vom allgemeinen rechtlichen Rahmen der Gemeinschaften ab: Für die Indigene und Afrokolumbianische Bevölkerung beruhen die ethnischen Rechte in Kolumbien auf dem Übereinkommen 169 der Internationalen Arbeitsorganisation, das von Kolumbien durch das Gesetz 21 von 1991 gebilligt und in der Verfassung von 1991 sowie im Gesetz 70 von 1993 festgeschrieben wurde. Folglich hat die Guardia Campesina keinen rechtlichen Rahmen, während die Guardia Indígena (seit 2001) und die Guardia Cimarrona (seit 2013) ihren lokalen Behörden, entweder dem Cabildo oder dem Gemeinderat, unterstellt sind.

12) Im Rahmen des Nationalstreiks wurden über 80 Demonstrierende v.a. von staatlichen Sicherheitskräften ermordet (vgl. Prieto 2022). Zum Nationalstreik in Kolumbien von 2021 und seiner Gewalt, siehe Cortés und Cárdenas 2021.

13) Beispielsweise »verwechselte« Ex-Präsident Álvaro Uribe in einem Tweet während des stark polarisierten Klimas des Nationalstreiks von 2021 die Guardia der indigenen Organisation CRIC mit der ELN-Guerilla, siehe: El Espectador 2021.

Literatur

Albarracín, J. et al. (2022): Local competitive authoritarianism and post-conflict violence. An analysis of the assassination of social leaders in Colombia. International Interactions 49(2), S. 237-267.

Cárdenas, M. (2019): “Nicht ohne uns!” Der partizipative Friedensprozess in Kolumbien. W&F 2/2019, S. 13-16.

Cárdenas, M. (2020): Ampliación de derechos étnicos en el marco de la construcción de paz en Colombia. Paradojas del fortalecimiento de las guardias en el Cauca contemporáneo y post-acuerdo. Foro de debate – “Etnicidades en disputa: nuevos caminos, nuevos desafíos”. Iberoamericana 20(75), S. 221-227.

Cárdenas, M. (2023): Why peacebuilding is condemned to fail if it ignores ethnicization. The case of Colombia. Peacebuilding 11(2), S. 185-204.

Cortés, G.; Cárdenas, M. (2021): Die Zivilbevölkerung in Kolumbien darf uns nicht egal sein. Blogbeitrag Wissenschaft & Frieden, 18.5.2021.

Centro de Informacíon sobre Empresas y Derechos Humanos (CIEDH) (2020): Las personas defensoras de los derechos humanos y las empresas en Colombia. März 2020.

Comisión Colombiana de Juristas (2018): ¿Cuáles son los patrones? Asesinatos de Líderes Sociales en el Post Acuerdo. Bogota: Eigenverlag.

DANE (2019): Población indígena de Colombia: Resultados del Censo Nacional de Población y Vivienda 2018. Gobierno de Colombia, 16.9.2019.

DANE (2023): Visibilidad estadística población negra, afrocolombiana, raizal y palenquera. Gobierno de Colombia, 2023.

El Espectador (2021): Álvaro Uribe trina contra el CRIC, borra el mensaje y culpa a sus ayudantes. El Espectador, 5.5.2021.

Escobar, A, (2020): Thinking-feeling with the earth: Territorial struggles and the ontological dimension of the epistemologies of the south. In: De Sousa Santos, B.; Meneses, M. P. (Hrsg.): Knowledges born in the struggle: Constructing the epistemologies of the Global South. New York: Routledge, S. 41-57.

FitzGerald, G. (2021): Pluriversal peacebuilding: Peace beyond epistemic and ontological violence. E-International Relations, 27.11.2021.

Galtung, J. (1972): Gewalt, Frieden und Friedensforschung. In: Senghaas, D. (Hrsg.): Kritische Friedensforschung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 55-104.

INDEPAZ (2024): Visor de asesinato a personas lideres sociales y defensores de derechos humanos en Colombia. Datenbank, URL: indepaz.org.co/visor-de-asesinato-a-personas, abgerufen am 3.7.2024.

Prieto, L. V. (2022): Paro Nacional 2021: ¿En qué quedó?. Blogbeitrag Fundación Paz & Reconciliación (PARES), 28.4.2022.

Ruette-Orihuela, K. et al. (2023): Necropolitics, peacebuilding and racialized violence: The elimination of indigenous leaders in Colombia. Political Geography 105, 102934.

María Cárdenas ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Dozentin an der Goethe-Universität Frankfurt. Ihre Forschung befasst sich mit dekolonialen Perspektiven, »Critical Race und Ethnic Studies« sowie der Frage, wie pluriversaler Frieden aufgebaut bzw. pluriversales Peacebuilding operationalisiert werden kann.

Queering Peacebuilding

Queering Peacebuilding

von E. Irem Akı

In den wichtigsten Dokumenten, die internationales Peacebuilding leiten, wird das Geschlecht auf die cis- und heterosexistische Norm von Mann und Frau beschränkt. Auch wenn die Agenda »Frauen, Frieden, Sicherheit« die spezifischen diskriminierenden Auswirkungen von Gewalt auf Frauen benennt und die Notwendigkeit anerkennt, patriarchale Normen zu bekämpfen, scheinen sich Theorie und Praxis des Peacebuilding immer noch mit einer größeren Vielfalt geschlechtsspezifischer Erfahrungen schwer zu tun. Dieser Text will das Potenzial queerer Theoriebildung für Peacebuilding knapp darstellen und die positiven Erfahrungen erörtern, die mit der Einbeziehung von vielfältigen SOGIESC im kolumbianischen Friedensprozess gemacht wurden.

In den letzten zwei Jahrzehnten wurde und wird viel Arbeit zum Thema »Gender« im Bereich und in der Praxis des Peacebuilding geleistet. Allerdings haben geschlechtsspezifische Erfahrungen jenseits der Fokussierung auf Frauen und die Gewalt, der Personen mit unterschiedlichen »sexuellen Orientierungen« und »Genderidentitäten«, »Gender Expressions« und »Geschlechtsmerkmalen« (­SOGIESC)1 ausgesetzt sind, und ihr Beitrag zum Frieden noch nicht genügend Raum im Bereich des Peacebuilding gefunden (Hagen 2020). Dasselbe gilt für den Bereich der Transitional Justice (siehe Akı in Vorbereitung).

Obwohl sich die Forschung und die Praxis von Peacebuilding auf ein sehr begrenztes Verständnis von Geschlecht konzentrieren, das im Allgemeinen durch eine cis- und heterosexuelle Frau verkörpert wird, dokumentiert eine wachsende Zahl von Berichten, dass Menschenrechtsverletzungen gegen Personen mit verschiedenen SOGIESC überall auf der Welt begangen werden. Aufgrund dieser Dokumentationsbemühungen ist es nun offensichtlich, dass es auch in Zeiten von bewaffneten Konflikten, Bürgerkriegen und erzwungener Migration zu solchen Übergriffen kommt (Zea et al. 2013; Moore und Barner 2017; Daigle und Myrttinen 2018; Serrano-Amaya 2018; Maier 2019). Darüber hinaus sind Personen mit verschiedenen SOGIESC nicht nur mit Gewalt von Konfliktparteien und Soldat*innen konfrontiert, sondern auch mit der ihrer eigenen Familien und Verwandten im täglichen Leben, vor, während und nach dem Konflikt (Daigle und Myrttinen 2018).

Daher muss auch die auf SOGIESC bezogene Gewalt in die Praxis der Friedenskonsolidierung mit einbezogen werden, um sie angemessen zu verstehen, darauf zu reagieren und zu verhindern. Wie feministische Wissenschaftler*innen im Bereich der Friedenskonsolidierung und der Transitional Justice gezeigt haben, sind Frauen jedoch sowohl Kriegsopfer als auch Kämpferinnen. Ebenso können Menschen mit unterschiedlichen SOGIESC nicht nur Opfer von Krieg und Konflikt sein, sondern auch Kämpfer*innen (Daigle und Myrttinen 2018). Die Einbeziehung einer queeren Perspektive in Studien zur Friedensförderung vermeidet den Ausschluss dieser Positionen und unterschiedlichen Erfahrungen und trägt zu einem umfassenderen Verständnis der Gewaltdynamiken und der Möglichkeiten des Peacebuilding bei.

In den letzten Jahren haben Wissenschaftler*innen das Feld und die Praxis des Peacebuilding daher auch zunehmend durch eine queere Betrachtung dafür kritisiert, dass sie keine vielfältigere Perspektive einschließt (Hagen 2020, 2016; Ritholtz et al. 2023; Daigle und Myrttinen 2018). Parallel dazu und teilweise als Reaktion auf diese Kritik ist mittlerweile ein wachsendes Interesse an der Literatur zu Transitional Justice zu verzeichnen, die versucht, eine queere Perspektive in das Feld einzubeziehen (Fobear 2014; Fobear und Baines 2020; Bueno-Hansen 2018; Schulz 2019; Schulz und Touquet 2020; Schulz et al., in Vorbereitung). Etwa zeitgleich mit diesen Entwicklungen im Bereich der Friedensförderung haben sich »Transgender Studies« allmählich zu einem bedeutenden eigenständigen akademischen Bereich entwickelt. Darüber hinaus deuten Forschungsarbeiten der »Transgender Studies« und ein gesellschaftlich zunehmendes Bewusstsein für die Pluralisierung der Geschlechter (Monro 2020) darauf hin, dass eine queere Perspektive im Bereich des Peacebuilding nötig wird.

Was bedeutet Queering?

Auch wenn es nicht einfach ist, den Begriff queer zu definieren, beschreibt Jagose queer als „jene Gesten oder analytischen Modelle, die Inkohärenzen in den vermeintlich stabilen Beziehungen zwischen chromosomalem Geschlecht, Gender und sexuellem Begehren dramatisieren. Queer widersetzt sich diesem Stabilitätsmodell – das die Heterosexualität als ihren Ursprung behauptet, obwohl sie eher ihr Effekt ist – und konzentriert sich auf die Diskrepanzen zwischen Sex, Gender und Begehren“ (Jagose 1996, S. 3). Das primäre Ziel einer auf queerer Theorie basierenden Friedensförderung ist es, das Bewusstsein für Begehren jenseits von Heterosexualität, für Geschlechter jenseits der Binarität und für die Pluralität und Intersektionalität der verschiedenen SOGIESC zu schärfen.

Bei einem Peacebuilding, das durch eine solche queere Theoriebildung angereichert ist, geht es dann eben nicht nur darum, Menschen mit unterschiedlichen SOGIESC als Opfer zu sehen, sondern sie auch als aktive Teilnehmer*innen am Peacebuilding ernst zu nehmen. Ausgehend von diesem Grundsatz versucht queeres Peacebuilding, queere und trans Perspektiven im Bereich der Friedensförderung zu berücksichtigen. Darüber hinaus stützt es sich auf queere Epistemologien, die infrage stellen, wie Frieden für wen konstituiert wird, und um das Konzept des Friedens in der Theorie und Praxis des Peacebuildings entsprechend neu zu artikulieren. Kurz gesagt, queeres Peacebuilding bezieht sich nicht nur darauf, Personen mit unterschiedlichen SOGIESC in die Theorie und Praxis der Friedensförderung einzubeziehen. Es geht darum, cis-heterosexistische Normen im Bereich der Friedensförderung zu hinterfragen (Ritholtz et al. 2023). Wie Ritholtz, Serrano-Amaya, Hagen und Judge (2023) argumentieren, hat queeres Peacebuilding vier Dimensionen. Es (1) dokumentiert den Beitrag von Queer-Aktivismus zur Friedensförderung; (2) stellt die Frage, was Frieden für Menschen mit unterschiedlichen SOGIESC bedeutet; (3) trägt die transformative Kraft einer Inklusion von queeren Personen in die Friedensprozesse hinein; und (4) »queert« die »Women, Peace, Security«-Agenda. In Bezug auf die letzte Dimension hat das Konzept der queeren Friedensförderung großes Potenzial. Es kann queere Geschichten mit feministischen Geschichten verbinden und zu Versuchen beitragen, die Agenda »Frauen, Frieden und Sicherheit« (WPS) – ein wichtiger Raum, der Geschlechterperspektiven in das Ringen um Frieden und Sicherheit einbringt – queersensibler zu machen.

Queering der Agenda »Frauen, Frieden, Sicherheit«

Am 31. Oktober 2000 verabschiedete der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen einstimmig die Resolution 1325 (siehe Otto 2014, Meinzolt 2018). Die Resolution ist wichtig, da es sich um das erste Dokument zum Verhältnis Frauen, Frieden und Sicherheit handelt.

„Die Resolution besteht aus vier Säulen: 1) Die Rolle der Frauen bei der Konfliktprävention, 2) die Beteiligung von Frauen an der Friedenskonsolidierung, 3) der Schutz der Rechte von Frauen und Mädchen während und nach Konflikten und 4) die spezifischen Bedürfnisse von Frauen während der Repatriierung, der Wiederansiedlung und bei der Rehabilitation, der Reintegration und dem Wiederaufbau nach Konflikten.“ (UNDPPA o.J.)

Es folgten mehrere weitere UN-Resolutionen. Insgesamt gibt es zehn Resolutionen, die in zwei Gruppen unterteilt werden können:

„Die erste Gruppe, die mit der Resolution 1325 eingeleitet wurde und auf die die Resolutionen SCR 1889 (2009), SCR 2122 (2013), SCR 2242 (2015) und SCR 24932019) folgten, befasst sich kurz gesagt mit der Notwendigkeit einer aktiven und wirksamen Beteiligung von Frauen an der Friedensschaffung und Friedenskonsolidierung. Die zweite Gruppe konzentriert sich auf die Verhütung und Bekämpfung von konfliktbezogener sexueller Gewalt (CRSV). Die erste Resolution zu CRSV, SCR (1820), wurde 2008 verabschiedet. Darin wird anerkannt, dass sexuelle Gewalt, wenn sie als Kriegstaktik eingesetzt wird, den Konflikt erheblich verschärfen und eine Bedrohung für den internationalen Frieden und die Sicherheit darstellen kann. Seit 2008 wurden vier weitere Resolutionen zu CRSV verabschiedet: SCR 1888 (2009), SCR 1960 (2010), SCR 2106 (2013) und SCR 2467 (2019).“ (ebd.)

Angesichts der fehlenden oder begrenzten Beteiligung von Frauen an Friedensprozessen und -verhandlungen ist dies eine sehr wichtige Entwicklung. Die WPS-Agenda erkennt jedoch nur die Erfahrungen von cis- und heteronormativen Frauen und ihre Beiträge zur Friedensförderung an. Die Behandlung der von Konflikten Betroffenen als Mitglieder einer homogenen Gruppe führt zum Ausschluss derjenigen Erfahrungen, die nicht in diese Gruppe passen (Stavrevska und Smith 2020). Ein solch enges Verständnis von Geschlecht ignoriert offensichtlich diejenigen, die von Gewalt aufgrund von SOGIESC betroffen waren. So verhindert die cis-privilegierende und heteronormative Architektur des WPS-Ansatzes, dass die Erfahrungen von Menschen mit unterschiedlichen SOGIESC gesehen und anerkannt werden – die Gewalt, die sie erfahren haben, und insbesondere die Gewalt, die sie aus sich überschneidenden Gründen (»Intersektionalität«) erfahren haben (Hagen 2016). Eine intersektionale2 Analyse legt die Erfahrungen und Stimmen von Identitäten offen, die normalerweise von anderen, allgemeineren Identitäten überdeckt werden. Das heißt, Gewalt gegen nicht-binäre, trans, schwule oder lesbische Personen wird üblicherweise als Gewalt gegen Frauen oder Männer verstanden. Die Beschäftigung mit einer bestimmten Form von Gewalt, während andere Formen ignoriert werden, verschleiert die Tatsache, dass Gewalt in verschiedenen sozialen, wirtschaftlichen, politischen, religiösen und nationalen Umfeldern entsteht (Fobear 2014; Daigle und Myrttinen 2018). Wie feministische Wissenschaftler*innen der Transitional Justice gezeigt haben, ist Gewalt zudem nicht auf Kriegs- und Konfliktzeiten beschränkt, sondern existiert sowohl davor als auch danach. Daher ist es wichtig, das Kontinuum der Gewalt zu berücksichtigen und alle Formen von Gewalt und Herrschaft während und nach dem Konflikt ganzheitlich anzuerkennen (Sigsworth und Valji 2012). Darüber hinaus führt die Nichtanerkennung der Erfahrungen diverser SOGIESC-Personen als Opfer dazu, dass Gewalt, Trauma und Ausgrenzung fortbestehen. In diesem Sinne ist der Schutz und die Anerkennung verschiedener SOGIESC „ein Schritt zum Abbau hegemonialer Normen des Patriarchats, der rassistischen Hierarchisierug, der Ungleichheit, des Sexismus und des Heterosexismus, unabhängig davon, ob sie durch Kolonialisierung, staatliche Unsicherheit oder Bürgerkrieg entstanden sind“ (Fobear 2014, S. 53).

Queerness und der kolum­bianische Friedensprozess

LGBTIQ+-Organisationen zu Friedensgesprächen und -prozessen gezielt mit einzuladen kann ein angereichertes Friedensverständnis hervorlocken, das von den Bedürfnissen, Forderungen und Erfahrungen der diversen SOGIESC geprägt ist. Darüber hinaus kann die Post-Konflikt-Phase eine Gelegenheit bieten, eingefahrene heteronormative Normen aktiv zu verändern, die zu Ausgrenzung, Diskriminierung und Gewalt gegen Menschen mit unterschiedlichen SOGIESC führen (Hagen 2020).

Der kolumbianische Friedensprozess stellt eine wichtige und einzigartige Erfahrung dar, da es sich bislang um das einzige Unterfangen handelt, bei dem Menschen mit unterschiedlichen SOGIESC in den Friedensprozess aktiv mit einbezogen wurden. LGBTIQ+-Organisationen nahmen gemeinsam mit Frauenorganisationen an den Verhandlungen teil. Darüber hinaus wurde nicht nur sexuelle Gewalt gegen cis- und heterosexuelle Frauen, sondern auch gegen Menschen mit verschiedenen SOGIESC anerkannt. Das Friedensabkommen nahm auch eine intersektionale Perspektive ein und erkannte die Besonderheiten der Beschwerden und Erfahrungen von Afrokolumbianer*innen, indigenen Gemeinschaften, Menschen mit verschiedenen SOGIESC, Frauen, politischen und religiösen Minderheiten und Menschen mit Behinderungen an (Daşlı, Alıcı und Poch Figueras 2018).

Dieses praktische Beispiel verdeutlicht die transformativen Folgen einer queeren Friedensförderung. Um einen nachhaltigen Frieden zu erreichen, der den Abbau von Gewalt, Ungleichheit und Ungerechtigkeit bedeutet, sollte das Peacebuilding daher seinen Horizont erweitern, indem Verletzungen aufgrund von SOGIESC berücksichtigt werden und der Beitrag von Menschen mit unterschiedlichen SOGIESC sowie der Beitrag des LGBTIQ+-Aktivismus zur Friedensförderung mit einbezogen wird.

Anmerkungen

1) Eine kurze Anmerkung zur Terminologie: Anstelle von LGBTIQ+ ziehe ich es vor, die Begriffe »sexuelle Orientierung, Genderidentität, Gender Expression und Geschlechtsmerkmal« zu verwenden. In diesem Punkt folge ich den Argumenten von Daigle und Myrittinen (2018). Erstens umfasst das Akronym LGBTIQ+ nicht alle Kategorien jenseits des heteronormativen Systems. Zweitens wird das Akronym LGBTIQ+ nicht universell verwendet, sondern hauptsächlich im Westen. Drittens haben zwar alle Menschen eine sexuelle Orientierung und Genderidentität, aber der Begriff LGBTIQ+ bezieht sich auf bestimmte Gruppen. Die Definition für SOGIESC stammt aus den Yogyakarta-Prinzipien: „Unter sexueller Orientierung versteht man die Fähigkeit eines jeden Menschen, sich zu Personen eines anderen oder desselben oder mehrerer Geschlechter emotional, emotional und sexuell hingezogen zu fühlen und mit ihnen intime und sexuelle Beziehungen zu unterhalten. Die Genderidentität bezieht sich auf das tief empfundene innere und individuelle Erleben des Genders jeder Person, das mit dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht übereinstimmen kann oder auch nicht, einschließlich des persönlichen Körpergefühls (das, wenn frei gewählt, eine Veränderung des Aussehens oder der Funktion des Körpers durch medizinische, chirurgische oder andere Mittel beinhalten kann) und anderer Ausdrucksformen des Geschlechts, einschließlich Kleidung, Sprache und Manierismen“ (Yogyakarta-Prinzipien 2006, S. 6, Fußnote 1 und 2). Der Ausdruck des Genders bezieht sich auf „die Darstellung des Genders jeder Person durch ihre körperliche Erscheinung, einschließlich Kleidung, Frisuren, Accessoires, Kosmetika – und Manierismen, Sprache, Verhaltensmuster, Namen und persönliche Bezüge“ und „kann mit der Genderidentität einer Person übereinstimmen oder nicht“ (Yogyakarta-Prinzipien plus 10 2017, S. 6). Geschlechtsmerkmale sind „die körperlichen Merkmale einer Person in Bezug auf das Geschlecht, einschließlich der Genitalien und anderer sexueller und reproduktiver Anatomie, Chromosomen, Hormone und sekundärer körperlicher Merkmale, die sich in der Pubertät entwickeln“ (ebd.).

2) Der Begriff wurde von der amerikanischen Rechtswissenschaftlerin Kimberlé Crenshaw geprägt. Crenshaw vertrat die Auffassung, dass die Erfahrungen Schwarzer Frauen unsichtbar werden, wenn »race« und Geschlecht getrennt betrachtet werden bzw. Herrschaftsformen nur einseitig betrachtet werden. Dadurch werde die spezifische Diskriminierung, der Schwarze Frauen aufgrund der Überschneidung zweier verschiedener Formen von Herrschaft ausgesetzt sind, verborgen gehalten. Um dies zu erklären, verwendet sie die Metapher der Kreuzung im Straßenverkehr, die veranschaulicht, wie sich verschiedene Linien der Herrschaft kreuzen, überschneiden oder ineinander verschlingen (Crenshaw 1989).

Literatur

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E. Irem Akı arbeitet derzeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Juristischen Fakultät der Universität Ankara, Abteilung für Rechtsphilosophie und -soziologie. Ihre Forschungsinteressen und Veröffentlichungen umfassen Übergangsjustiz, transformative Gerechtigkeit, Friedensförderung, feministische und Queer-Theorie sowie die Rechtsprechung von Lon L. Fuller.

Aus dem Englischen übersetzt von David Scheuing.

»Nulltoleranz gegen Clan-Kriminalität«

»Nulltoleranz gegen Clan-Kriminalität«

Rassistische Polizeirazzien in Shisha-Bars

von Maraike Henschel und Joschka Dreher

Das Thema ist ein dominanter Dauerbrenner: organisierte »Clan-Kriminalität«. Beinahe täglich kommt es zu schwerbewaffneten Polizeirazzien an migrantisch markierten Orten in Berlin, Frankfurt, Essen und anderen Städten. Obwohl kritische Stimmen laut werden, die die Rechtmäßigkeit der Razzien und das harte Vorgehen in Frage stellen, bleibt das polizeiliche Eindringen in den Ort der Shisha-Bar alltägliche Routine. Dieses Vorgehen hat Konsequenzen – für die Menschen, die davon betroffen sind, aber auch für die Gesellschaft als Ganzes. Der Beitrag entfaltet diese Konsequenzen und wirft einen Blick auf Veränderungspotential.

Seit einigen Jahren avanciert das Thema sogenannter »Clan-Kriminalität« zum politischen, medialen und popkulturellen Dauerbrenner, zum öffentlichen Spektakel (Bartosz und Fröhlich 2021; NDR 2021; Serien »4 Blocks« oder »Dogs of Berlin«; siehe etwa Al-Zein 2020). Dabei scheint es als würde Deutschland von organisierter »Clan-Kriminalität« beherrscht. Die Polizei sieht sich zum Handeln veranlasst und stilisiert den „Kampf gegen Clan-Kriminalität“ (BDK 2020) zu einem Schwerpunktthema. Der »administrative Ansatz«, das jüngste Instrument der Behörden, erweitert durch die interbehördliche Zusammenarbeit von Jugendämtern, Finanz- und Ordnungsbehörden die Zugriffsmöglichkeiten für die Polizei und weicht rechtsstaatliche Grenzen auf (Rauls und Feltes 2020a).

Nicht nur kommt es zu einer Kriminalisierung migrantischen Lebens in Deutschland, sondern auch zu einer Markierung migrantischer Räume als Ziele rechter Gewaltakte und einer Prekarisierung migrantischen Lebens. Im Kontext des rechtsterroristischen Anschlags in Hanau ist dies bedrohliche Realität geworden: So verweisen neueste Untersuchungen des Forschungsclusters »Forensic Architecture«, das sich auf digitale Rekonstruktion von Abläufen in Gewaltsituationen spezialisiert hat, darauf, dass die in der Shisha-Bar »Arena Bar« Ermordeten hätten fliehen können, wenn der Notausgang nicht im Zuge einer polizeilichen Razzia verschlossen worden wäre (Forensic Architecture 2021).

Zivilgesellschaftliche Akteur*innen wie die »Initiative 19. Februar Hanau« oder »Kein Generalverdacht« prangern diese rassistischen Stigmatisierungen ganzer Menschengruppen zunehmend öffentlich an. Das Thema »Clan-Kriminalität« wird damit zum Brennglas gesellschaftlicher Deutungskämpfe um die Legitimität polizeilicher Praktiken und rassistischer Polizeigewalt.

Methode und Forschungsperspektiven

Die nachfolgenden Ergebnisse basieren auf einer qualitativen Forschung, die analysierte, inwieweit die Razzien im Zuge einer »Politik der tausend Nadelstiche« den migrantisch markierten kriminellen Raum und Körper produzieren und welche Konsequenzen hieraus für rassifizierte Körper und Orte folgen. Unsere Positionierung als weiße Forschende ohne rassistische Gewalterfahrung stellte uns zunächst vor die Frage nach dem Umgang mit diesen Privilegien. Erstens galt es den dominanten Sicherheitsdiskurs herauszufordern, strukturelle Lücken im Forschungsumfeld kritisch zu reflektieren und marginalisiertes Wissen aus einer Verbündeten-Position heraus sichtbar zu machen. Zweitens nahmen wir eine kritische Position als Verbündete ein und stellten die polizeilichen und gesellschaftlichen Rassifizierungsmechanismen im Rahmen der »Clan-Kriminalität« ins Zentrum unserer Arbeit. So führten wir Interviews mit aktivistischen Expert*innen, die wir aufgrund eigener Betroffenheit und/oder ihrer Rolle als Advokat*innen Betroffener auswählten.

Historisch gewachsene Ausgrenzungspolitik

Um die heutige Debatte um »Clan-Kriminalität« zu verstehen und historisch einordnen zu können, bedarf es der Kontextualisierung in eine historisch gewachsene Ausgrenzungspolitik des Staates. Dazu zählt auch ein Verständnis von der Flucht- und Migrationsgeschichte vieler Betroffener. Der Bürger*innenkrieg im Libanon (1975-1990) zwang tausende Menschen in die Flucht. Zu der Gruppe der Geflüchteten gehörten unter anderem Palästinenser*innen und Kurd*innen, die meist schon in zweiter Generation ohne Staatsbürger*innenschaft im Libanon lebten. Als solche hatten sie weder einen Zugang zu sozialrechtlichen Absicherungen noch zu gesellschaftlicher Teilhabe. In Deutschland angekommen erwartete die Menschen eine erneute Abgrenzung zum Rest der Gesellschaft, die sich bis heute im rechtlichen Status der Duldung materialisiert. Zwar setzt die Duldung die Abschiebung für Personen mit ungeklärter Identität für einen bestimmten Zeitraum aus. Doch die Menschen befinden sich quasi illegal (§95 Abs. 1 und 2 AufenthG) in Deutschland und sind verpflichtet, einen Identitätsnachweis (§48 Abs. 1 und 3 AufenthG) zu erbringen. Trotz jahrelangem Aufenthalt in Deutschland kann die Abschiebung erfolgen, wenn die geduldete Person sich nicht „rechtstreu verhalten hat“ (§53 Abs. 2 AufenthG). Die Bedingungen unter denen Menschen mit einem Duldungsstatus leben sind zudem von vielen Einschränkungen und Sanktionen geprägt: alle drei bis sechs Monate muss der Aufenthaltstitel erneuert werden, es besteht Residenzpflicht (Wohnortnahme am zugewiesenen Ort, §56 AsylG, §61 AufenthG), in den meisten Fällen wird von der Ausländerbehörde ein Arbeits- und Ausbildungsverbot ausgesprochen und die Behörde kann Kürzungen der ohnehin geringen Sozialleistungen aufgrund (vermeintlich) fehlender Bemühungen bei der Passbeschaffung durchsetzen (vgl. Boettner und Schweitzer 2020, S. 350). Im Falle der aus dem Libanon Geflüchteten erhielt nicht nur die erste Generation den Status der Duldung, sondern auch die Kinder und Enkelkinder »erbten« die Duldung ihrer Eltern (Schweitzer 2020, S. 365).

Hinzu kam die in den 2000ern aktiv geführte Hetzkampagne“ (Flüchtlingsrat 2001, S. 2) gegen libanesische Bürger*innenkriegsflüchtlinge. So wurde der Gruppe der arabisch-sprechenden Kurd*innen unterstellt, dass sie falsche Angaben gemacht hätten und eigentlich türkischer Herkunft seien. Diese Vorwürfe mündeten in einem Generalverdacht, im Zuge dessen konservative Politiker*innen forderten, die Menschen mit ungeklärter libanesischer Identität zu verfolgen und sofort abzuschieben: „und wenn wir sie mit dem Flugzeug abwerfen“ (Ludger Hinsen, CDU, zit. n. Flüchtlingsrat 2001, S. 88). Zur Aufdeckung der vermeintlich echten Staatsbürger*innenschaft wurde die rassistische Methode der geographischen DNA-Kategorisierung gewählt, um anhand der DNA-Ergebnisse die vermeintliche Abstammung der Familien aus der Türkei sowie damit ihre fehlende Asylberechtigung »beweisen« zu wollen (Schweitzer 2020, S. 366).

Gesellschaftliche Segregation

Die Expert*innen betonten in den Interviews, dass die politische, mediale und polizeiliche Darstellung der aktiv betriebenen »ethnischen Abschottung« der vom »Clan-Diskurs« betroffenen Familien eine falsche Bewertung der Umstände sei. Vielmehr müsse man von einer gewollten staatlichen „Abschottungs- und Ausgrenzungspolitik“ (I, Zeile 162f.) sprechen.

Der Ausschluss vom Arbeitsmarkt führt in den meisten Fällen zu einer Abhängigkeit von staatlichen Transferleistungen. Auch wenn Einzelne eine Arbeitserlaubnis erhalten, so sehen sie sich dennoch mit verschiedenen Schließungsmechanismen und Diskriminierungen auf dem Arbeitsmarkt konfrontiert. Oft werden Menschen mit einem »Clan-markierten« Nachnamen pauschal in „Sippenhaft“ (IV, Zeile 140; V, Zeile 230) genommen. Ihnen wird unterstellt sie seien Teil bzw. zumindest Sympathisanten einer kriminellen Struktur ‚arabischer Familien-Clans‘“ (Schweitzer 2020, S. 369). Dadurch werden die Betroffenen als »fremd« und »anders« markiert. Die verschiedenen Ebenen der Segregation sind eng mit einem rassistischen „Zugehörigkeitsregime“ (Rommelspacher 2011, S. 31), das gesellschaftliche In- und Exklusion regelt, verbunden. Die Folgen dieser Exklusionsmechanismen treten dann zutage: Zum einen stärkten die diversen Exklusionsmomente für einige den Bezug zum eigenen Familiensystem, da nur dieses aufgrund historischer und struktureller Unsicherheit ein beständiges soziales Netzwerk und Zugehörigkeit bot. Zum anderen schuf die Platzierung außerhalb des gesellschaftlichen Gefüges für einige – wenige – die Grundlage für illegale Erwerbstätigkeiten und Kriminalität (Boettner und Schweitzer 2020, S. 349f.).

Welches Wissen, welche Macht?

Um zu verstehen wie es zur Manifestierung des »Clan-Diskurses« kommt, muss die Wissensformation kritisch beleuchtet werden. Da die Kriminologin Dorothee Dienstbühl von den Interviewpartner*innen als treibende wissenschaftliche Figur identifiziert wurde, lohnt sich ein Blick in die umstrittene polizeiliche Handreichung »Arabische Familienclans – Historie. Analyse. Ansätze zur Bekämpfung« (Dienstbühl und Richter 2020). Hierin wird das »Clan-kriminell« markierte Andere in den „islamischen Kulturkreis“ (2020, S. 4) verwiesen. In diesem abgegrenzten Raum würden die Familien nach Prinzipien [leben], die hunderte Jahre alt [seien]“ (ebd.). Anstatt zu differenzieren, legitimiert das Handbuch einen pauschalen Generalverdacht und die damit einhergehende Stigmatisierung ganzer Familien. So seien die „[kriminellen] Denkmuster häufig auch bei [unschuldigen] Familienmitgliedern verankert“ (ebd.). Dies macht deutlich, dass Kriminalität hier als Wesensart der Menschen und damit als naturgegeben angesehen wird (vgl. kritisch dazu: Terkessidis 2004, S. 98). Dadurch wird eine rassifizierende Kategorisierung vollzogen, die das Andere als essenzielle Einheit skizziert und gegenüber dem vermeintlich Eigenen abwertet (vgl. Attia 2012, S. 8). Anstatt strukturelle Kontexte einzelner Straftaten zu berücksichtigen, wird in einem späteren Abschnitt daran appelliert herauszufinden was die Ehre des Anderen verletzt, [denn dies] ist eine vom Stammeswesen übernommene Kriegsstrategie“ (Dienstbühl und Richter 2020, S. 12). Die Gegenüberstellung des vermeintlich entwickelten, modernen Staates und des kriegerischen, weniger entwickelten Stammes hat dezidiert kolonial-rassistische Anklänge und reiht sich in orientalisierende Diskurse ein.

Die Broschüre gibt zwei Vorschläge zur sogenannten Ehrverletzung: Reizfaktoren für Clan-Mitglieder seien Hunde und weibliche Polizeibeamtinnen (vgl. ebd., S. 14). Das angebliche Rollenverständnis vermeintlicher »Clan-Mitglieder« würde die Frau dem Mann unterordnen und eine Frau in Uniform würde „dem gelebten Weltbild der Clans diametral gegenüberstehen“ (ebd.). Damit wird patriarchale Gewalt bei dem zuvor konstruierten muslimisch markierten Anderen im außen verortet und kulturalisiert (Shooman 2016, S. 10).

Als Wissenschaftlerin wird Dorothee Dienstbühl eine Definitionsmacht zu eigen, die über die Generierung einer vermeintlichen Gefahr von »Clan-Familien« (vgl. IV, Zeile 34ff.; II, Zeile 36ff.) die Mobilisierung der Polizei in den Raum der Shisha-Bar und weitere Orte zu legitimieren versucht. Die „gemachte Angst“ (I, Zeile 264ff.) verfolge laut den Expert*innen damit auch den Zweck, Ressourcen und weitere Zugriffsmöglichkeiten für die Polizei zu erlangen und auch die eigene Karriere weiter voranzutreiben (vgl. I, Zeile 92ff.; vgl. IV, Zeile 447ff.). Diese enge Zusammenarbeit zwischen Sozialwissenschaftler*innen und Sicherheitsbehörden wird in Deutschland unhinterfragt hingenommen, während es etwa in den USA seit dem Vietnamkrieg innergesellschaftliche und politische Debatten über ethische Grenzen bezüglich der Verwobenheit von Forschung, Geheimdiensten und Militär gibt (vgl. Hirschfeld 2015).

Expansion der Exekutive

Entgegen polizeilicher und medialer Narrative von organisierter »Clan-Kriminalität« werden im Rahmen der Razzien vor allem unverzollter Shisha-Tabak oder Verstöße gegen Brand- und Jugendschutz geahndet (Feltes und Rauls 2020b, S. 374). Tatsächlich handelt es sich damit primär um Ordnungswidrigkeiten, Verstöße gegen Gewerbeauflagen oder in seltenen Fällen kleinere Straftaten. Die mediale Inszenierung der Einsätze, die vielen beteiligten (teils schwerbewaffneten) Ordnungsbehörden, verdachtsunabhängige Kontrollen von rassifizierten Gästen sowie das Absperren ganzer Lebensbereiche wie Stadtteile, Straßenzüge oder Shisha-Bars stehen damit in keinem Verhältnis zu den konkret vorgefundenen Delikten. Auf diesem Weg kommt es zu einer „gezielte[n] Produktion eben dieser Bilder“ (I, Zeile 406ff.) von kriminellen und gefährlichen Räumen, entlang derer sich polizeiliches Handeln formiert und gegen rassifizierte und markierte Menschen und Orte richtet (z.B. Ausweisung von Gefahrengebieten) (Belina und Wehrheim 2020, S. 98; Hunold et al. 2021, S. 23f.). Die Polizei definiert damit zunehmend wer und „was überhaupt strafbar ist“ (II, Zeile 401f.) und wie die Straftaten zu bekämpfen sind (Belina 2018, S. 121; Golian 2019, S. 180).

Sie ist im Rahmen der Gewerbekontrollen, um die es vordergründig geht, eigentlich nicht als Hauptakteurin, sondern lediglich im Rahmen der Amtshilfe – neben Ordnungsamt, Zoll oder Steuerfahndung – beteiligt (Rauls und Feltes 2021, S. 102f.). Das Gewerberecht ist dabei sozusagen der Türöffner“ (IV, Zeile 235) in Bereiche, die der Rechtsstaat eigentlich schützt, verbunden mit der Hoffnung vor Ort bei irgendwem einen Straftatbestand festzustellen (Rauls und Feltes 2021, S. 102). Die rechtsstaatliche Unterscheidung der Polizeiaufgaben in Straf- und Gefahrenabwehrrecht wird durch dieses Vorgehen zugunsten der Exekutive aufgeweicht. Im Gegensatz zum Strafrecht, das frühestens nach dem Versuch einer Straftat zur Anwendung kommt, lässt sich das Gefahrenabwehrrecht nämlich bereits im Falle einer durch die Ordnungsbehörden vor Ort definierten Bedrohungslage anwenden (ebd., S. 102).

Diese Gewerbekontrollen sind nicht per se verfassungswidrig, jedoch erfüllen sie nicht das notwendige Kriterium der Verhältnismäßigkeit. Gemessen an den Ordnungswidrigkeiten, um die es vordergründig geht, kommt es standardmäßig zu überzogener physischer und psychischer Polizeigewalt, racial profiling und der Nutzung von verwaltungsrechtlichen Hintertüren (ebd., S. 8; vgl. bejahend: Dienstbühl 2020). Die polizeiliche Inszenierung vom „Kampf gegen die Clans“ (Bund Deutscher Kriminalbeamter 2020) institutionalisiert letztlich illiberale und rassifizierte Polizeiarbeit als tägliche Verwaltungsroutine. Grundlegende Bürger*innenrechte von migrantisch und muslimisch markierten Personen, wie die Unschuldsvermutung oder die körperliche Unversehrtheit, werden durch diese verdachtsunabhängigen Kontrollen strukturell ausgehebelt.

Polizei prägt Gesellschaft

Die Produktion krimineller Räume ist kein exklusiv lokaler Prozess wie die örtlich begrenzten Polizeieinsätze vielleicht zunächst suggerieren. Tatsächlich ist »die Shisha-Bar« durch die medial inszenierten Polizeieinsätze längst zu einem durch Angst und Unsicherheit markierten Ort geworden. Dabei wird eine breitere weiße Öffentlichkeit adressiert und die vermeintliche Bedrohung entfaltet auch auf nationaler Ebene (weitab vom tatsächlichen Einsatzort) eine Wirkung. Dies kann durchaus als Strategie der Polizei verstanden werden, um ein allgemeines Sicherheitsproblem zu konstruieren. Hierdurch verändert sich der Blick der Dominanzgesellschaft nicht nur auf als migrantisch markierte Orte wie die Shisha-Bar, sondern auf ganze Stadtteile und Bevölkerungsgruppen. Letztlich verräumlicht die Polizei auf diesem Wege eine rassifizierende Sicherheitspolitik, um gezielt Kontrollbefugnisse über migrantische Körper auszuweiten.

Tatsächlich geht es also längst nicht mehr nur um Repression und Ausgrenzung. Stattdessen versteht die Polizei ihre Aufgabe zunehmend als „Umerziehungsprozess“ (Dienstbühl und Richter 2020, S. 18). Die Shisha-Bar ist einer der wenigen quasi alkoholfreien Konsum- und damit Rückzugsräume für muslimisch und migrantisch markierte Menschen. Daher fungieren die Polizeieinsätze, die im Rahmen des administrativen Ansatzes insbesondere das Nichtraucherschutzgesetz als Zugriff nutzen, maßgeblich als Instrument, um marginalisierte Gruppen der Gesellschaft entlang dominanter Gesellschaftsvorstellungen zu disziplinieren (Pattillo 2007, S. 295-298). Die Polizei definiert damit zunehmend die Gesellschaft insgesamt. Der viel verbreitete Slogan »Nulltoleranz gegen die Clan-Kriminalität« wird in dieser Lesart also zu »Nulltoleranz für nicht-weißes Leben«.

Reform! Defund! Abolish!

Zwar gibt es vereinzelt Versuche die Polizei zu reformieren und rassistischer Polizeigewalt zu begegnen (etwa die Ausgabe von Quittungen in Berlin, die den Grund einer Personenkontrolle benennen oder sogenannte unabhängige Polizeibeauftragte), dennoch blieb selbst der erste Schritt in eine solche Richtung bislang aus: eine unabhängige Untersuchung zu rassistischen Einstellungen und Praktiken innerhalb der Polizei in Deutschland. Ein Blick nach England zeigt, dass eine Kombination aus Druck von der Straße, Anerkennung des Problems, Wille zur Problemlösung und Einbindung betroffener Gemeinschaften tatsächlich einen positiven Effekt haben kann. So gibt es seit 2018 das unabhängige Büro zur »Untersuchung von polizeilichem Handeln (IOPC)«. Echte Unabhängigkeit sieht hier – anders als in den Debatten um Polizeibeauftragte in Deutschland – unter anderem vor, dass der*die Vorsitzende des IOPC unter keinen Umständen Polizist*in gewesen sein darf. Außerdem gibt es ein selbstständiges (forensisches) Ermittlungsteam.

Und dennoch häufen sich Berichte über den weiterhin tief verwurzelten Rassismus in der britischen Polizei (Süddeutsche Zeitung 2023; ZDF.de 2023; Zeit Online 2023). Aus diesem Grund fordern Aktivist*innen und Wissenschaftler*innen gemeinsam unter dem Slogan »Defund the Police«, vor allem die breite finanzielle Umverteilung von sicherheits- zu sozialpolitischen Ressourcen.1 Neben dieser wichtigen Forderung muss auch der Handlungs- und Ermessensspielraum der Polizei stark eingeschränkt werden, um die exekutive Deutungshoheit über kriminelle Räume und Gruppen aufzubrechen. So sollte die Polizei nicht selbst Gefahrenorte benennen dürfen, um diese anschließend zu polizieren. Und auch das Gefahrenabwehrrecht mit dem die Polizei in geschützte Rechtsräume eindringt bedarf einer gründlichen Revision.

Das letztendliche Ziel all dieser Reformen sollte jedoch die Überwindung der Institution Polizei sein, im Sinne des Abolitionismus. Eine Institution, deren gesamte Historie und Gegenwart durchzogen von Rassismen2 ist und deren ureigene Aufgabe die Aufrechterhaltung von Herrschaft über marginalisierte Gruppen ist, lässt sich nicht reformieren. Es benötigt daher einen tiefgreifenden systemischen und gesellschaftlichen Wandel, um die Transformation von Konflikten und Gewaltmomenten kommunal, restaurativ und nachhaltig zu organisieren.

Anmerkungen

1) Ein Beispiel für einen möglichen Trägerverein alternativer und nicht-strafender Konflikttransformationen wäre das Kompetenzzentrum für Kommunale Konfliktbearbeitung in Salzwedel, die uns den Anstoß für die Forschungsarbeit gaben.

2) Auch andere intersektional zu denkende Diskriminierungen wie Sexismus, Queerfeindlichkeit oder Klassismus sollten für eine breite Analyse polizeilicher Praktiken in den Fokus gerückt werden.

Literatur

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Maraike Henschel studiert im Master Friedens- und Konfliktforschung an der Philipps-Universität Marburg. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Politische Gewalt, Gender, Migration und Antirassismus.
Joschka Dreher studiert im Master Friedens- und Konfliktforschung an der Philipps-Universität Marburg. Seine Forschungsschwerpunkte sind Grenzregime, Politische Gewalt und die WANA-Region. Er arbeitete u.a. an der Friedensakademie Landau.

Beide sind derzeit am Zentrum für Konfliktforschung im Projekt »Transformations of Political Violence« angestellt.

Herrschaftskritische Methoden umsetzen – aber wie?

Herrschaftskritische Methoden umsetzen – aber wie?

Workshop, Justus-Liebig-Universität Gießen, 12.-13. Dezember 2022

Herrschaftskritische Forschung setzt sich mit Macht-, Gewalt- und Herrschaftsverhältnissen wie Rassismus, Klassismus, Sexismus, Ableismus, Kapitalismus auseinander und fragt, wie diese Verhältnisse soziale Ungleichheit, Differenz und Unterdrückung bedingen, reproduzieren und legitimieren. Dabei widmet sich herrschaftskritische Forschung auch der Frage, wie Wissenschaft selbst zu solchen Verhältnissen beiträgt. In jüngerer Zeit haben post- und dekoloniale Perspektiven, kritische Rassismusforschung, feministische und intersektionale Zugänge sowie herrschaftskritische Perspektiven verstärkt Aufmerksamkeit und Zulauf in der Wissenschaft und darüber hinaus erhalten. Diese Perspektiven vereint, dass sie sich mit existierenden Macht-, Gewalt-, und Herrschaftsverhältnissen kritisch auseinandersetzen und selbst einen Beitrag zu ihrer Überwindung leisten möchten.

Insbesondere vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung mit epistemischer Gewalt und der damit einhergehenden Feststellung, dass auch wissenschaftliches Arbeiten an der Reproduktion von Herrschaft und Gewalt(-verhältnissen) beteiligt ist, wächst daher auch das Interesse an einer herrschaftskritischen Auseinandersetzung mit der eigenen wissenschaftlichen Tätigkeit. Denn der Wechsel von der (herrschaftskritischen) Theorie in die Praxis ist weder einfach noch eindeutig. Vielmehr sind wir in unserem Anspruch, herrschaftskritisch zu forschen, mit zahlreichen Fragen, Dilemmata und Widersprüchen konfrontiert. Das Wissen um die Herrschaftsförmigkeit des wissenschaftlichen Diskurses und der Aufruf zur Reflektion der eigenen Positionierung darin, das Wissen um die Gefahr, »epistemischen Extraktivismus« zu reproduzieren, oder der Wunsch, Forschung mit und für gesellschaftliche Akteur*innen zu betreiben, implizieren selten klare Anhaltspunkte oder Vorschläge für die eigene Forschungspraxis. Mit anderen Worten: Theoretische Einsichten in die Notwendigkeit herrschaftskritischer Forschung übersetzen sich nicht automatisch in die Fähigkeit zur angewandten Herrschaftskritik.

Diese Überlegungen waren der Ausgangspunkt für einen Workshop im Dezember 2022 an der JLU Gießen, der in Kooperation des Arbeitskreises Herrschaftskritische Friedensforschung der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung e.V. (AFK) und der Sektion Transnationale und Intersektionale Herrschaftskritik am Gießener Graduiertenzentrum Sozial-, Wirtschafts- und Rechtswissenschaften (GGS) durchgeführt wurde. Beide Gruppierungen eint das Interesse an einem tieferen Verständnis gesellschaftlicher und globaler Herrschaftsverhältnisse, um emanzipatorische Perspektiven aufzuzeigen und zu erarbeiten, die zur Überwindung dieser Verhältnisse beitragen.

In der Diskussion der Fragen und Herausforderungen »angewandter Herrschaftskritik«, die den Workshop-Teilnehmenden in ihrer eigenen Forschung entstehen, wurde schnell klar: Es kann keine generalisierte Anleitung oder ein Rezept dazu geben, wie der herrschaftskritische Anspruch in die Praxis umzusetzen wäre. Gleichzeitig haben sich verschiedene Aspekte herauskristallisiert, die für diesen Anspruch wichtig erscheinen und deren Reflektion die Teilnehmenden als hilfreich empfanden. Daraus ist die Idee entstanden, spezifische Elemente zu benennen und zu diskutieren, die für die wissenschaftliche Praxis mit herrschaftskritischem Anspruch wichtig erscheinen. Mit anderen Worten: Wenn es nicht das eine Rezept geben kann, mit dem sich herrschaftskritische Forschung »kochen« lässt, so kann man doch wenigstens die Vorratskammer mit geeigneten Zutaten füllen. Als einige der vielen wichtigen Zutaten für ein herrschaftskritisches Methoden-Gericht haben die Teilnehmenden u.a. folgende Themen ausgemacht: eine konsequente Forschungsethik, die ungleiche Machtverhältnisse mitdenkt und die Einwilligung von Forschungsteilnehmenden, deren Schutz vor möglichen Risiken und Gefahren sowie Informiertheit über Forschungsablauf und -outputs (»informed consent«) beinhaltet. Damit verbunden ist ferner Beziehungsarbeit, um die letztgenannten Aspekte zu vertiefen und Informations- und Machtungleichheiten innerhalb teilnehmender Gruppen oder Communities sowie zwischen diesen und den Forschenden sichtbar zu machen, um einen konstruktiven Umgang damit zu ermöglichen. Weitere wichtige Grundlagen sind die bereits etablierte kritische Reflektion der oft privilegierten Positionalität der Forschenden, die aber auch intersektionale Differenzen aufweisen kann, welche wiederum wichtige Gemeinsamkeiten und Solidarität mit Forschungsteilnehmenden begründen können.

Aus der Beobachtung heraus, dass es wenige praxisorientierte Anleitungen gibt, wie ein herrschaftskritischer Anspruch in der Forschung umgesetzt werden kann, entstand die Idee, selbst eine entsprechende Handreichung zu schreiben. Die Texte sollen praxisnah, aber reflektiert Widersprüche und Probleme der wissenschaftlichen Forschung benennen und eine Grundlage für die weitere Diskussion bilden. Über diese forschungspraktische Perspektive hinaus wurde im Workshop auch die Notwendigkeit eines herrschaftskritischen Zugangs in anderen Bereichen der Wissenschaft thematisiert, etwa durch die Erweiterung von Inhalten in Lehre und Methodenausbildung, durch neue (Peer-)Support-Mechanismen und langfristig gesehen auch durch strukturelle Änderungen im Publikations- und im Hochschulwesen.

Da eine herrschaftskritische wissenschaftliche Praxis nicht zuletzt ein kollektiver Prozess ist, laden die Sektion Transnationale und Intersektionale Herrschaftskritik und der Arbeitskreis Herrschaftskritische Friedensforschung herzlich zur Diskussion und Mitarbeit ein. Wer Interesse hat, sich an der Erstellung der Handreichungen zu beteiligen, oder zum Folge-Workshop im Dezember 2023 eingeladen werden möchte, kann sich gerne bei Juliana Krohn (juliana.krohn@uibk.ac.at) melden.

Marie Reusch, Philipp Lottholz, Juliana Krohn

Militarisierung und geschlechts­spezifische Gewalt

Militarisierung und geschlechts­spezifische Gewalt

Wir haben ein (Daten-)Problem!

von Lamis Saleh und Fiona Wilshusen

Wir leben in einer militarisierten Welt – und die weltweiten Militärausgaben sind in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen. Dass mehr Waffen jedoch auch mehr Sicherheit bedeuten, ist umstritten. Im Gegenteil, eine steigende Militarisierung kann eben auch größere (physische) Unsicherheit bedeuten, wie ein Blick auf geschlechtsspezifische Effekte zeigt. So wird Militarisierung in Verbindung gesetzt mit Gewalt gegen Frauen1. Wollen wir diese Beziehung jedoch empirisch analysieren, stoßen wir bald auf ein Problem – uns fehlen die Daten.

Frauen sind auf vielen Ebenen von geschlechtsspezifischer Gewalt betroffen. Grundsätzlich beschreibt geschlechtsspezifische Gewalt (auf Englisch: gender-based violence, kurz GBV) physische, psychische oder strukturelle Gewalt, von der eine Person aufgrund ihrer biologischen oder sozialen Geschlechtszugehörigkeit betroffen ist. Auch wenn diese Definition so Gewalt gegen alle Geschlechter einbezieht, sind Frauen und Mädchen überproportional stark davon betroffen2 – z.B. in Form von sexualisierter Gewalt, struktureller Machtungleichheit oder finanzieller Abhängigkeit. Deshalb wird er oft synonym verwendet mit dem Begriff Gewalt gegen Frauen. Da bei psychischer, physischer und/oder sexualisierter Gewalt der Täter in vielen Fällen der (Ex-)Partner ist, wird diese Form der Gewalt oft auch als Partnergewalt bezeichnet.

Faktoren, die geschlechtsspezifische Gewalt begünstigen, können laut WHO mangelnde Gleichberechtigung der Geschlechter, ökonomische Abhängigkeit und soziale Normen, die Frauen einen niedrigeren Status als Männern zuschreiben, sein (WHO 2021). Doch wie hängen diese Dynamiken mit Militarisierung zusammen?

Militarisierung und geschlechtsspezifische Gewalt

Grundannahme des Militarisierungskonzeptes ist, dass das Militär auch in politische, ökonomische und gesellschaftliche Räume wirkt. Militarisierung beschreibt dabei einen Prozess, innerhalb dessen nicht nur militärische Werte an Gewicht in der Gesellschaft gewinnen, auch die Art der Ressourcenverteilung kann Teil einer zunehmenden Militarisierung sein (Enloe 2000).

Mit einer zunehmenden Militarisierung der Gesellschaft werden nicht nur Gewalt und Aggression eher als legitime Mittel der Konfliktlösung angesehen, auch die Beziehung zwischen den Geschlechtern kann stärker hierarchisiert werden. Bereits in den 1980ern etablierten Wissenschaftler*innen eine theoretische Verbindung zwischen Militarisierung und der patriarchalen Ordnung – diese sind demnach eng verwoben und verstärken sich gegenseitig (Enloe 1983; Reardon 1985). Zentral ist dabei das hierarchisierte Konzept einer militarisierten Männlichkeit – tough, dominant, aggressiv – und einer passiven, schutzbedürftigen Weiblichkeit (Elshtain 1982; Whitworth 2004; Eichler 2014).3 Durch diese Hierarchisierung einerseits und das Propagieren militärischer Werte wie Härte und Dominanz andererseits, sowohl im öffentlichen als auch im privaten Raum, wird zunehmende Militarisierung assoziiert mit einem Anstieg an physischer, struktureller und kultureller Gewalt, von der Frauen in besonderem Maße betroffen sind (Sharoni 2016). So geben (hoch-)militarisierte Staaten hohe Summen ihres Staatshaushaltes für den militärischen Sektor aus, was oft einhergeht mit geringeren Ausgaben für soziale Belange, im Bildungs- und Gesundheitsbereich. Andere Studien wiederum identifizieren eine direkte Verbindung zwischen Militarisierung und geschlechtsspezifischer Gewalt, da staatliche Sicherheitskräfte (sexualisierte) Gewalt gegen Frauen im öffentlichen Bereich und privaten Raum ausüben – und oft Täter von Partnergewalt sind. Doch Militarisierung kann auch indirekt wirken. So hat eine empirische Analyse gezeigt, dass sich steigende Militarisierung negativ auf Geschlechtergerechtigkeit und die Erwerbstätigkeit von Frauen auswirken kann (Elveren, Moghadam und Dudu 2022). Beides hat die WHO als Faktoren identifiziert, die GBV begünstigen.

Die (empirischen) Zusammenhänge?

Trotz des starken theoretisch begründeten Zusammenhangs zwischen dem Militarisierungsgrad eines Landes und der Prävalenz von geschlechtsspezifischer Gewalt, fehlt es erstaunlicherweise weitgehend an empirischen Analysen. Soweit uns bekannt ist, hat keine Studie einen solchen Zusammenhang quantitativ nachgewiesen. Ein Hauptgrund dafür ist wohl die mangelnde Verfügbarkeit von Daten.

In einem ersten Schritt haben wir in unserer Forschung daher versucht, den Grad der Militarisierung mit geschlechtsspezifischer Gewalt zu verknüpfen. Der Globale Militarisierungsindex (GMI, siehe bicc 2022) ist der einzige Index, der die weltweite Militarisierung abbildet. Dabei legt er aber seinen Schwerpunkt auf Ressourcenverteilung und Bedeutung des Militärapparats von Staaten im Verhältnis zur Gesellschaft als Ganzem und hat daher eher ein strukturelles Militarisierungskonzept zugrunde liegen. Kulturelle und geschlechtsspezifische Implikationen werden so außer Acht gelassen. Wenn wir hier also bereits auf erste Limitationen stoßen, ergibt sich hinsichtlich der Daten zu geschlechtsspezifischer Gewalt ein desaströses Bild: Soweit wir wissen, gibt es keinen indexbasierten und aktuellen Datensatz zur Messung geschlechtsspezifischer Gewalt. Alle verfügbaren Daten sind entweder über die Jahre hinweg nicht konsistent oder für eine gründliche Analyse nicht in einem ausreichend großen geografischen Maßstab verfügbar. Um dennoch eine erste empirische Analyse zu wagen, greifen wir auf einen Datensatz der Vereinten Nationen zurück. In ihrem Bemühen, die Gleichstellung der Geschlechter unter dem entsprechenden Nachhaltigen Entwicklungsziel (SDG 5) zu fördern, stellen die Vereinten Nationen einige Statistiken zur Messung geschlechtsspezifischer Gewalt zur Verfügung. Basierend auf Erhebungen und Initiativen zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen in den Jahren 2000-2018, misst dieser Datensatz den Prozentsatz von Frauen im Alter von 15 bis 49 Jahren, die in den vergangenen zwölf Monaten Gewalt durch einen aktuellen oder früheren Partner erfahren haben. So sind diese Daten aber nicht nur zeitlich limitiert, sondern bilden nur einen kleinen Teilaspekt von geschlechtsspezifischer Gewalt ab, nämlich Partnergewalt.

Daher stellt unsere Analyse nur eine – sowohl zeitlich als auch bezüglich der Datenqualität stark limitierte – Momentaufnahme der vermuteten Beziehung dar. Wir versuchen zunächst, den allgemeinen Zusammenhang zwischen Militarisierung und geschlechtsspezifischer Gewalt zu messen. Abbildung 1 zeigt die Korrelation zwischen beiden Variablen für alle 153 Länder in unserem Datensatz für das Jahr 2018.

Abbildung 1: Korrelation von Militarisierung und »Gender-Based Violence«, Quelle: die Autorinnen.

Sie zeigt eine signifikant negative Korrelation, was darauf hindeutet, dass eine höhere Militarisierungsrate mit einem niedrigeren Niveau geschlechtsspezifischer Gewalt verbunden ist. Was vor dem Hintergrund der theoretischen Verbindung auf den ersten Blick große Fragen aufwirft, wird mit einem zweiten Blick klarer. Die negative Korrelation deutet nicht zwangsläufig darauf hin, dass steigende Militarisierung zu sinkender GBV führt. Vielmehr deuten sich hier die Folgen des Datenproblems an: Die jeweiligen Charakter der zur Verfügung stehenden Datensätze (limitiertes Militarisierungsverständnis, limitiertes GBV-Verständnis) und die eklatanten Datenlücken verzerren das Bild.

Da diese erste grobe Korrelation eine massive Diskrepanz zu theoretischen Ableitungen darstellte, wollten wir das Verhältnis der Daten tiefer ergründen. Für unsere Analyse betrachten wir nun die Karte 1. Die Größe der Staatsterritorien auf unserer Karte hängt von ihrem relativen Militarisierungsgrad ab. Einige Länder erscheinen größer, als ihre maßstabsgetreue Größe wäre, während andere kleiner erscheinen. Die geschlechtsspezifische Gewalt wird durch die farbige Visualisierung dargestellt. Je höher der Grad der Gewalt ist, desto mehr bewegen sich die Länder im roten Farbspektrum.

Karte 1: Weltkarte zu »Gender-Based Violence«, Quelle: die Autorinnen.

Bei einem Blick auf die Karte ergibt sich ein etwas anderes Bild als bei der vorhergehenden Korrelation. Länder in Zentralafrika mit einem höheren Militarisierungsgrad haben mit großer Wahrscheinlichkeit auch einen höheren Wert von geschlechtsspezifischer Gewalt zu verzeichnen. Für einige Länder mit sehr hohen Militarisierungsraten, z.B. Russland, liegen keine GBV-Daten vor. Diese Beobachtungen helfen, die Zusammenhänge zwischen Militarisierung und geschlechtsspezifischer Gewalt empirisch besser zu verstehen. Am Beispiel Russland zeigt sich auch, inwieweit die Datenlücken das Gesamtbild verzerren: Sowohl das Komitee der Frauenrechtskonvention als auch Human Rights Watch weisen auf die hohe Prävalenz von Gewalt gegen Frauen in Russland hin – es gibt aber schlicht keine offiziellen Statistiken. Im Jahr 2017 wurde darüber hinaus ein Gesetz verabschiedet, das sogenannte häusliche Gewalt in Russland dekriminalisiert. Dies führt nicht nur zur Straflosigkeit der Täter*innen, sondern mit Blick auf die Datenverfügbarkeit auch zu steigenden Dunkelziffern.

Es zeigt sich vor allem eins: Wir haben zu wenig Informationen. Da uns nur limitierte Daten zur Verfügung stehen, gibt es zwar Anhaltspunkte aber nicht genügend Evidenzen, um kausale Beziehungen herzustellen. So kann unsere empirische Analyse zwar eine erste Tendenz abbilden für den Zusammenhang zwischen Militarisierung und geschlechtsspezifischer Gewalt, aber das Gesamtbild bleibt trübe. Es zeigt sich also deutlich, dass die Daten für gehaltvolle Analysen – und in der Konsequenz auch politische Empfehlungen – fehlen. Das ist insbesondere vor dem Hintergrund (inter-)nationaler Bekenntnisse zur Bekämpfung von geschlechtsspezifischer Gewalt besorgniserregend – und muss sich dringend ändern!

Anmerkungen

1) Der Begriff »Frauen« umfasst alle Personen, die sich als Frau identifizieren.

2) Gewalt, die dich explizit gegen LGBTQIA*-Personen richtet, fällt theoretisch auch unter diese Begriffsdefinition, allerdings wird der Begriff in diesem Zusammenhang selten verwendet.

3) Dieses Machtgefälle wirkt nicht nur geschlechtsspezifisch, die Konstruktion von militarisierter Maskulinität ist ein Gegenentwurf zu jeglichem »Anderen« und basiert damit gleichermaßen auf Homophobie, Misogynie und Rassismus. Hier fokussieren wir aber auf geschlechtsspezifische Implikationen.

Literatur

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Eichler, M. (2014): Militarized masculinities in international relations. The Brown Journal of World Affairs 21(1), S. 81-93.

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Elveren, A.Y.; Moghadam, V.M.; Dudu, S. (2022): Militarization, women’s labor force participation, and gender inequality: evidence from global data. Women’s Studies International Forum 94, 102621.

Enloe, C. (1983): Does khaki become you? The militarisation of women’s lives. London: Pluto Press.

Enloe, C. (2000): Maneuvers: The international politics of militarizing women’s lives. Berkeley: University of California Press.

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Whitworth, S. (2004). Men, militarism and UN peacekeeping: a gendered analysis. Boulder, Col.: Lynne Rienner Publishers.

WHO (2021). Violence against women, online: https://www.who.int/news-room/fact-sheets/detail/violence-against-women.

Dr. Lamis Saleh ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt »Unterstützung der Kontrolle von Klein- und Leichtwaffen in Afrika« am Bonn International Centre for Conflict Studies (BICC).
Fiona Wilshusen ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt »Sicherheit, Rüstung und Entwicklung in Empfängerländern deutscher Rüstungsexporte«, ebenso am BICC.

Atomwaffen sind patriarchale Gewalt!

Atomwaffen sind patriarchale Gewalt!

Feministischer Essay zur nuklearen Bedrohung im Kontext des Ukraine-Kriegs

von Magdalena Fackler

Eine Generation junger Menschen übt feministische Kritik an Atomwaffen, ruft nach dem politischen Ende der atomaren Bewaffnung und schafft sogar international bindende Verträge. Dennoch ist die Gefahr nuklearer Kriegsführung aktueller denn je: im Kontext des Ukraine-Krieges und als Folge seiner Eskalation werden alte Narrative und Sicherheitsvorstellungen gegenseitiger Abschreckung erneut platziert, die in langer Tradition patriarchaler »Sicherheit« stehen. Wie funktioniert diese patriarchale Gewalt, wodurch zeigt sie sich und welche Möglichkeiten der Überwindung bleiben?

Geboren Ende der 90er Jahre, bin ich nach dem Kalten Krieg aufgewachsen. Das Wettrüsten zwischen den USA und der Sowjetunion kenne ich nur aus den Geschichtsbüchern und das Versprechen von »Frieden in Europa« hat mich über Jahre hinweg begleitet. Plötzlich stehe ich vor dem Bundestag und halte Protestschilder gegen die Neuanschaffung atomwaffenfähiger Kampfflugzeuge in die Höhe. Eine ganze Generation, die mit dem romantisierten Bild von »Frieden in Europa« aufgewachsen ist, wurde am 24. Februar eines Besseren belehrt. Denn die Invasion Russlands in die Ukraine hat gezeigt, dass Krieg in Europa sehr wohl möglich ist und dass dieser Krieg im Kontext der letzten Jahrzehnte und patriarchaler Machtstrukturen betrachtet werden muss. Vor allem aber wurde sichtbar: die nukleare Bedrohung ist real und nie weg gewesen.

Von Sicherheit und dem Risiko eines Atomkrieges

Die Erzählung um Sicherheit nicht nur in Europa, sondern auch in der Welt, stützt sich auf die Doktrin der nuklearen Abschreckung, die in ihrer eigenen Logik Kriege verhindern soll. Den Krieg in der Ukraine hat sie nicht verhindert. Und doch dominieren nun Stimmen den Diskurs, die eben gerade unter Verweis auf den Krieg gegen die Ukraine und damit als direkte Folge ein Festhalten an Atomwaffen zu legitimieren versuchen: Dass es für das internationale Machtgleichgewicht notwendig sei, an der nuklearen Strategie der NATO festzuhalten, besonders jetzt mit dem Gegner Putin. Dass Deutschland seinen Teil dazu beizutragen habe und deswegen die US-Atomwaffen in Büchel auch die nächsten Jahrzehnte stationiert bleiben sollten. Es wurden gar Stimmen laut, die erneut für die Idee von eigenen Atomwaffen in der EU warben und über eine Ausweitung des Atomwaffenprogramms in Frankreich diskutierten.

Diese Erzählung von Sicherheit scheint zu wirken. Nach einer Umfrage sprach sich zum ersten Mal eine knappe Mehrheit der Deutschen für den Verbleib der US-Atomwaffen in Deutschland aus. 40 Prozent der Befragten befürworteten die Stationierung, zwölf Prozent sprachen sich gar für eine Modernisierung und Aufstockung aus. 39 Prozent gaben an, für einen Abzug der Atomwaffen zu sein (Bongen, Rausch und Schreijäg 2022). Es ist beängstigend, dass die Mehrheit der Deutschen die Gefahr, die von Atomwaffen ausgeht, scheinbar zu akzeptieren bereit ist. Friedensforscher*innen warnten erst kürzlich erneut vor dem Risiko einer nuklearen Eskalation vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine. Im Friedensgutachten 2022 mit dem Titel »Friedensfähig in Kriegszeiten« äußerten sie sich besorgt über die Tatsache, dass alle neun Staaten, die Atomwaffen besitzen, auch neue Trägersysteme für nukleare Waffen entwickeln. In ihrem Gutachten machten die Wissenschaftler*innen sehr deutlich, wie massiv sich die Gefahr eines Atomkrieges erhöht hat. Dies hängt eng mit dem Krieg in der Ukraine und dem Einsatz von Nuklearwaffen als Druckmittel zusammen sowie dem Fehlen von vertrauenswürdigen Verpflichtungen gegenüber Abrüstungsverträgen (BICC et al. 2022, S. 94f.).

Zudem beruht das »nukleare Gleichgewicht« auf einem fragilen Vertrauen: Die »Sicherheit« der Abschreckung ist kein Automatismus, sondern zutiefst von menschlichen Entscheidungen und Emotionen abhängig. Gerade der derzeitige Krieg in der Ukraine zeigt auf, wie schwer die nukleare Abschreckung das Eingreifen in den Krieg macht, da sorgfältig abgewogen werden muss, welche Schritte eine atomare Reaktion hervorrufen könnten. Auch durch die auf ein Minimum heruntergesetzte Kommunikation zwischen Russland und den USA kann es schnell zu fatalen Missverständnissen kommen, die einen Atomschlag auslösen könnten. Die globalen humanitären und ökologischen Konsequenzen eines solchen Einsatzes und eskalierenden Nuklearkrieges sind offensichtlich. Kein Gesundheitssystem und keine Infrastruktur dieser Welt wäre auf die Folgen vorbereitet.

Trotzdem, so zeigt die oben genannte Umfrage, wird diese enorme Gefahr nicht auf die Existenz von Atomwaffen zurückgeführt, sondern im Gegenteil die nukleare Bedrohungssituation als eine Form »letzter Sicherheit« wahrgenommen, die stabilisiert werden muss. Dies legt nahe, dass diese Überzeugung nicht aus einer akuten Situation heraus entwickelt wird, sondern die Wurzeln dafür gesellschaftlich tiefer liegen: Die Überzeugung, nukleare Waffen gehörten zur letztlichen Sicherheit der Menschheit, ist eng mit Machtsystemen verknüpft, die immer noch die internationale Staatengemeinschaft und unsere Gesellschaften dominieren. Es braucht daher eine machtkritische Analyse, um aufzuzeigen, inwiefern die Erneuerung der globalen nuklearen Bedrohung im Rahmen des Ukraine-Kriegs mit dem Fortbestand patriarchaler Machttraditionen und Unterdrückungsformen zusammenhängt.

Atomwaffen und das Patriarchat

Feministische Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen analysieren seit Jahren den Zusammenhang zwischen Patriarchat und Atomwaffen (vgl. für eine ausführliche Kritik Acheson 2021). Die Maskulinität, die im Patriarchat zu Macht führt, zeichnet sich durch »mannhafte Stärke« aus, die sich vorwiegend in Form von Gewalt, Militarisierung und bewaffneten Konflikten ausdrückt – oder in der Bereitschaft, diese anzuwenden bzw. zu eskalieren. Damit sichert sie die Macht derjenigen, die Zugang zu diesen Mitteln haben. In der extremsten Form potentiell möglicher Gewaltausübung sind also, der feministischen Kritik nach, Atomwaffen Ausdruck wahnhaft übersteigerter »männlicher« Machtphantasmen. Die Entscheidungsträger einiger weniger Staaten halten gemäß dieser Analyse an Massenvernichtungswaffen fest, um damit ihre (individuell sehr geringe, immer bedrohte) Macht zu sichern basierend auf dem (totalen, dauerhaft etablierten) Risiko der vollständigen Zerstörung ganzer Erdteile (am konkretesten in der Abschreckungsdoktrin der »gegenseitig versicherten Zerstörung«).

Diese Dimensionen zeigen sich auch gerade wieder im Krieg gegen die Ukraine. Viele feministischen Denker*innen sehen in der Person Putin einen Akteur, der eben diese ständig bedrohte Macht durch eine Demonstration »männlicher« Stärke zu sichern sucht. Dem folgt der gesamte militärische und administrative Apparat des Staates sowie viele der kulturellen und religiösen Institutionen – das Patriarchat ist gesellschaftlich tief sedimentiert. Anhand seiner medialen Inszenierungen und seiner Drohungen, Nuklearwaffen einzusetzen, zeigt Putin, wie er mit Hilfe einer letztlich fatalen Lösung – denn in einem Atomkrieg kann es keine Gewinner*innen geben – den eigenen prekären Willen, nämlich die Eroberung der Ukraine, erreichen will. Doch nicht nur Putin führt die Erzählung weiter, auch andere Staatschefs fügen sich in dieses Narrativ ein – gerade dadurch geht diese Taktik auf. So geht es darum, sich gegenseitig »Stärke« zu beweisen, nicht nachzugeben und mit dem Festhalten an Nuklearwaffen ebenfalls patriarchale Macht zu demonstrieren, die auch bereit ist, die gesamte Menschheit in »Geiselhaft« zu halten.

Dabei kommen verschiedene Instrumente des Patriarchats zum Einsatz, die die Existenz von Atomwaffen sichern sollen und auch im Kontext des Krieges sichtbar werden. Ein Werkzeug stellt das »Gaslighting« dar. Der Begriff beschreibt üblicherweise die psychische Manipulation jemandes Wahrnehmung der Realität, die zum Machterhalt über die Person bzw. zur Fortführung der Ausübung von Gewalt dienen soll (Acheson 2018). Das fehlende Eingehen des US-amerikanischen Präsidenten Joe Biden auf die Drohgebärden von Putin kann zwar so gedeutet werden, dass er die Gefahr eines Angriffs mit Nuklearwaffen für hoch einschätzt und eine weitere Eskalation vermeiden möchte, was natürlich zu begrüßen ist. Gleichzeitig wird durch die Regierungen der NATO-Staaten ein Bild an die Öffentlichkeit vermittelt, das das Potential eines Atomschlages verschleiert und es als nicht diskussionswürdig verkennt. Als Olaf ­Scholz sein langes Zögern schwere Waffen in die Ukraine zu liefern damit begründete, dass er keinen Atomkrieg riskieren möchte, wurde er politisch und medial heftig für seine Kommunikation kritisiert. »Der Angstmach-Kanzler« (Reitz 2022) und ähnlich titelten daraufhin deutsche Zeitungen. Dies zeigt, wie das Risiko heruntergespielt, als Panikmache denunziert und die Realität, in der das Risiko für den Einsatz tatsächlich gestiegen ist, verzerrt wird.

Dies deutet auf ein weiteres tief verankertes patriarchales Machtinstrument hin, das im Diskurs um Atomwaffen wirkt, nämlich die »Verweiblichung« jeglicher Bemühungen dagegen. Noch im November 2021 titelte beispielsweise The Economist: »Verbündete fürchten, dass die neugewählte Bundesregierung bei Atomwaffen weich wird«, um die Besorgnis gegenüber möglichen Abrüstungsbestrebungen auszudrücken (The Economist 2021). Dieses Beispiel reiht sich in eine Tradition von Situationen und Aussagen, in denen die Bemühungen von Diplomat*innen und Aktivist*innen zur Abrüstung von ihren Gegenspieler*innen auf Seiten der Nuklearstaaten neben »schwach« auch als »emotional«, »naiv« oder »unrealistisch« bezeichnet wurden. Diese in der Globalgeschichte staatlicher Gewalt geschlechtsspezifisch zugeordneten Adjektive stützen die Aufrechterhaltung der konstruiert maskulinen Dominanz in den Diskursen um Atomwaffen.

Dafür wird auch eine weitere patriarchale Technik genutzt, die »Opferbeschuldigung«. In einer perfiden sicherheitslogischen Drehung der historischen Ereignisse wird nicht selten darauf hingewiesen, dass die Ukraine ja einmal Atomwaffen besaß bzw. lagerte und die Abgabe dieser Arsenale womöglich ein Fehler war, da sich die Ukraine dieser Argumentation zufolge dadurch angreifbar gemacht hätte.

Über die Ukraine hinausblicken

Kriege und Krisen, die die bestehende Ordnung durcheinanderschütteln, schaffen ein Momentum in der Geschichte, in dem wir uns entscheiden müssen: machen wir so weiter wie bisher oder schlagen wir eine andere Richtung ein? Wenn wir es ernst meinen mit Frieden und Sicherheit, dann ist es jetzt an der Zeit neue Normen zu setzen. Diese Entscheidung reicht weit über den Krieg gegen die Ukraine hinaus. Es geht dabei um das internationale System und wie darin »Sicherheit« verstanden und diskutiert wird, und darum, wie die bisherige Staatenordnung mit ihren patriarchalen Strukturen Aufrüstung und die nukleare Bedrohung als Reaktion auf Konflikte ermöglicht und zementiert.

Eine feministische Perspektive stellt demgegenüber den Menschen bzw. die menschliche Sicherheit in den Mittelpunkt und weniger die Sicherheit des Staates. Sie verschiebt damit das traditionelle Sicherheitsverständnis der realistischen Denkschule der Internationalen Beziehungen (das gerade wieder einen massiven Aufwind erfährt) und betrachtet die Sicherheit von Menschen in ihren unterschiedlichen Dimensionen (Centre for Feminist Foreign Policy 2021). Dieses Verständnis stellt eine Alternative zum traditionellen Sicherheitsbegriff dar. Die derzeitigen Entwicklungen und der hegemoniale Diskurs laufen allerdings Gefahr, die Errungenschaften von Friedensaktivist*innen und Feminist*innen sowie die Erfolge von Abrüstungsbestrebungen der vergangenen Jahre vollständig zu untergraben.

Der Krieg in der Ukraine sowie sein kriegsökonomisches System im Umfeld funktionieren wie ein Brennglas, das das Zusammenwirken verschiedener Machtsysteme, Ungleichheiten und Unterdrückungen aufzeigt. So müssen wir die nukleare Bedrohungsrhetorik im Ukraine-Krieg in ihren Zusammenhängen mit anderen Unterdrückungs- und Gewaltmechanismen verstehen. Die diskriminierenden Übergriffe an den Grenzen gegenüber nicht-weißen Geflüchteten aus der Ukraine, der rassistisch-sexistische Diskurs über Schutzsuchende aus Ländern des Globalen Südens im Vergleich zu Menschen, die vor dem Krieg in der Ukraine fliehen, die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen und das Fehlen von klimagerechten Alternativen sowie die Duldung von Menschenrechtsverletzungen aufgrund der Priorisierung ökonomischer Handelsbeziehungen – all das ist Ausdruck von jahrhundertealten Machtstrukturen, die auf Ausbeutung, Unterdrückung und Gewalt entlang von ethnischen, geschlechtlichen und sozialen Linien beruhen. Feministischer Kritik an atomarer Bewaffnung geht es also nicht alleinig um die Beseitigung der Nuklearwaffen, sondern um eine umfassende Kritik patriarchaler Gewaltverhältnisse, ihre Zusammenhänge mit Rassismus und Kapitalismus und um ihre Überwindung.

Doch diese bündeln sich im Kampf gegen Atomwaffen: Durch die Bemühungen feministischer Aktivist*innen, der Friedensbewegungen und einiger Diplomat*innen und Regierungen, allen voran aus dem Globalen Süden, ist es gelungen, mit dem Atomwaffenverbotsvertrag (AVV) eine Möglichkeit für ein Ende der nuklearen Gewalt zu schaffen. Eine überwältigende Mehrheit der Staaten ist für die Abrüstung von Atomwaffen. Den ratifizierenden Staaten des Abkommens ist klar, dass Atomwaffen nicht von heute auf morgen abzuschaffen sind. Es geht vielmehr darum, Stück für Stück glaubwürdige Schritte in der Abrüstung zu gehen und Nuklearwaffen derart zu ächten, dass ein Einsatz undenkbar und daher auch eine Abrüstung unabdingbar wird. Der AVV ist aber gleichzeitig auch der erste Versuch einer systematischen Aufarbeitung und des Ausgleichs gegenüber den von kolonialen Atomwaffenversuchen betroffenen Gesellschaften im Globalen Süden. Der AVV geht also über die reine Abrüstung deutlich hinaus.

Die derzeitigen Entwicklungen durch den Krieg in der Ukraine machen von Neuem deutlich, was nach 1990 schnell in den Hintergrund geriet: das nukleare Risiko ist real und es bedroht uns alle. Anstatt dieses Risiko kleinzureden und schweigend in Kauf zu nehmen, müssen wir jetzt die Lehren aus dem Krieg in der Ukraine ziehen und das historische Momentum nutzen, um auf langfristige und nachhaltige Sicherheit und Frieden hinzuwirken. Die Analyse hat gezeigt, wie das patriarchale System wirkt und welche Machtstrukturen wir abbauen müssen, um unsere Gesellschaft und die Staatengemeinschaft zu transformieren. Wir müssen unsere Kämpfe gegen die Klimakrise, patriarchale und rassistische Strukturen sowie ausbeuterische ökonomische Verhältnisse mit dem Einsatz gegen Massenvernichtungswaffen verbinden. Im selben Atemzug, in dem wir uns um eine klimagerechte, antirassistische, antisexistische und gleichberechtigte Gesellschaft bemühen, müssen wir die Abrüstung von Atomwaffen, als höchstem Mittel patriarchaler Gewalt, einfordern.

Literatur

Acheson, R. (2018): Eine feministische Kritik der Atombombe. Heinrich-Böll-Stiftung, 19.10.2018.

Acheson, R. (2021): Banning the bomb, smashing the patriarchy. Maryland: Rowman & Littlefield.

BICC, HSFK, IFSH, INEF (2022): Friedensgutachten 2022. Friedensfähig in Kriegszeiten. Bielefeld: transcript Verlag.

Bongen, R.; Rausch, H.-J.; Schreijäg, J. (2022): Umfrage in Deutschland: Erstmals Mehrheit für Atomwaffen-Verbleib. Tagesschau, 02.06.2022.

Centre for Feminist Foreign Policy (2021): The CFFP Glossary. März 2021.

Reitz, U. (2022): Der Angstmach-Kanzler: Scholz muss den Deutschen endlich Mut machen. Focus Online, 04.05.2022.

The Economist (2021): Allies fear Germany’s incoming government will go soft on nukes. What will happen to the nuclear bombs deployed there? Homepage, 20.11.2021.

Magdalena Fackler hat Politikwissenschaft und Nahoststudien in Erlangen und Kairo studiert. Seit einem Praktikum bei ICAN Deutschland engagiert sie sich als ICAN-Botschafterin.

Sicherheit in unsicheren Zeiten

Sicherheit in unsicheren Zeiten

von Thomas Würdinger

Unsicherheit und Verunsicherung mögen subjektive Empfindungen sein, oftmals relativ zum sozialen Status. Sie sind aber auch kollektive Perzeption. Als solche können sie enorme Sprengkraft für das soziale Gefüge und das demokratische Miteinander entfalten. Vor allem in unsicheren Zeiten von sozial-ökologischer Transformation, Klimawandel, Corona und Ukraine-Krieg. Dieses Stakkato deutet darauf hin, worauf Sicherheit – oder genauer: die »Herstellung« von Sicherheit – in globalen Zusammenhängen nicht reduziert werden kann: militärische Schlagkraft.

Der Krieg Russlands gegen die Ukra­ine unterminiert die ohnehin fragile Ernährungssicherheit im Globalen Süden. Hierzulande hängen soziale Sicherheit und Energieversorgungssicherheit eng zusammen. Stufe 3 des »Notfallplan Gas« dräut über den Köpfen von Verbraucher*innen und Industriebetrieben. Bange Blicke richten sich auf die Wartung der Nord-Stream-1-Pipeline. Zahlreiche Branchen sorgen sich um unsichere Lieferketten, ausbleibende Energielieferungen und fehlende Rohstoffe. Die Inflation steigt rasant, das dicke Ende droht vielen Menschen mit der noch ausstehenden Nebenkostenabrechnung. Bereits heute können sich zu viele Menschen elementare Dinge des täglichen Bedarfs nicht leisten. Unausgegorene Tankrabatte helfen da nicht weiter. Die IG Metall fordert deshalb eine Übergewinnsteuer für Krisengewinne, einen Gaspreisdeckel und eine sozial gerechte Entlastung aller Haushalte.

Deutlich wird daran zugleich die Notwendigkeit, politischem Handeln ein erweitertes Verständnis von Sicherheit zugrunde zu legen. Sicherheits- und Friedenspolitik muss die komplexen Wechselverhältnisse verschiedener Risiken adressieren können. Herausforderungen in der Energie- und Rohstoffversorgung müssen dabei ebenso berücksichtigt werden wie globale Handelsbeziehungen und Lieferketten, die Auswirkungen des Klimawandels ebenso wie das Diktum sozialer Sicherheit. Das wirft mehr Fragen als Antworten auf. Welches Verhältnis zu Russland, aber auch zu China und anderen nicht gerade lupenreinen Demokraten wollen und können wir künftig pflegen? Auf welchen internationalen Institutionen, Organisationen und Normen kann eine wiederzubelebende Architektur für kooperativen Frieden und Sicherheit ruhen? Wie positionieren sich Deutschland und die Europäische Union im Gefüge geopolitischer Spannungen? Das zu erfragen und miteinander auszuhandeln mag denjenigen zuwider sein, die in unsicheren Zeiten auf Eindeutigkeit und den durchgreifenden Mut der Eliten setzen oder Führung bestellen.

Die friedenspolitische Debatte und ihre Protagonist*innen täten mit Blick auf die skizzierten Wechselverhältnisse jedoch gut daran, Selbstvergewisserung statt Besserwisserei zu üben. So sehr diese Einsicht wie ein wohlfeiles Mantra anmuten mag: Es braucht Diskurs – wider simplifizierenden Populismus, angebliche Alternativlosigkeit und spaltende Rhetorik. Es geht um mehr als um die unsägliche Frage nach »Sieg« oder »Niederlage«, es gibt zahlreiche Schattierungen zwischen einer Beschränkung auf zivilen Ungehorsam und der Lieferung schwerer Waffen. Unsicherheit, Unschärfe, Widersprüche, sie werden die politische Debatte weiter prägen. Umso wichtiger ist der produktive und wertschätzende Austausch unterschiedlicher Positionen und Argumente. Diese kommunikative Auseinandersetzung um Sicherheit sollte zur Entscheidung(-sfindung) gehören, gerade in unsicheren Zeiten. Entscheidungsunsicherheit sollte opportun sein. Sie ist nachvollziehbar – muss allerdings auch kommuniziert werden. Es ist ein Plädoyer für eine diskursive Zeitenwende.

Klar sind für den schreibenden Gewerkschafter hingegen die Haltung und wesentliche Leitplanken in der sicherheits- und friedenspolitischen Debatte: Grundsätze wie die Achtung von Menschenrechten, das Selbstbestimmungsrecht, Minderheitenschutz, die Wahrung demokratischer Grundrechte und das Ziel sozialer Gerechtigkeit sind nicht verhandelbar. Eine dauerhafte Steigerung des Etats für Rüstung und Verteidigung auf ein willkürlich erscheinendes Zwei-Prozent-Ziel lehnen die Gewerkschaften ab. Zudem gilt: Wer ein Sondervermögen für die Bundeswehr auf den Weg bringen kann, der sollte vor einem Sondervermögen für den sozialen Frieden nicht zurückschrecken. Wer in der aktuellen Gemengelage weiteren Entlastungen vorschnell eine Absage erteilt oder über 600 Mio. Euro für den sozialen Arbeitsmarkt kürzt, um weiterhin dem goldenen Kalb der Schuldenbremse zu frönen, braucht sich über Gegenwind nicht beschweren. So wird in unsicheren Zeiten jedenfalls keine Sicherheit vermittelt.

Thomas Würdinger ist Ressortleiter Grundsatzfragen beim Vorstand der IG Metall. In dieser Funktion ist er Mitglied des Arbeitsausschusses »Abrüsten statt Aufrüsten«.

Intersektionale Zugänge


Intersektionale Zugänge

3. Tagung des Netzwerks Friedensforscherinnen, Hochschule Rhein-Waal, 16.-17. Juni 2020

von Christine Buchwald, Eva-Maria Hinterhuber, Lena Merkle, Victoria Scheyer und Elke Schneider

Bereits zum dritten Mal luden die Frauenbeauftragten der Arbeitsgemeinschaft Friedens- und Konfliktforschung (AFK) am 16. und 17. Juni zur Tagung »Feministische Perspektiven der Friedens- und Konfliktforschung« ein. Diesmal lag der Fokus auf intersektionalen Zugängen, also auf den Wechselwirkungen, die sich aus unterschiedlichen Differenzkategorien, wie Geschlecht, Ethnizität und Klasse, ergeben. Die Veranstaltung wurde gemeinsam mit der Geschäftsstelle der AFK, angesiedelt an der Hochschule Rhein-Waal, sowie der dortigen Fakultät Gesellschaft und Ökonomie ausgerichtet.

Aufgrund der Corona-Pandemie konnte die Tagung nicht vor Ort stattfinden und wurde virtuell durchgeführt. Das bereits bewährte Format des Work-in-progress-Workshops stand auch diesmal im Fokus, sodass Arbeiten auch in einem frühen Bearbeitungsstadium vorgestellt werden konnten. Um während der Onlinesitzungen genug Zeit für die Diskussion zu lassen, wurde die Tagung angelehnt an das »Flipped Classroom«-Modell gestaltet: Die Vortragenden wurden gebeten, Manuskripte, Podcasts und Videos im Vorfeld bereitzustellen. In der Onlinesitzung lag der Fokus nach einer kurzen Vorstellung des Beitrags mehr auf der beratenden Diskussion.

Durch das Onlineformat nahmen an den vier Panels und der Keynote zum Teil unterschiedliche Personen teil. Im Durchschnitt waren 35 Personen in den Onlinesitzungen.

Im ersten Panel, »Arms, Violence and Gender Roles«, präsentierte Veronika Datzer ihre Arbeit »The Necessity of Gender in (Non-) Proliferation Policy-Making«, in der sie die Notwendigkeit einer intersektionalen Perspektive auf die Debatte über die Verbreitung von Atomwaffen beschreibt. Zur Begründung führte sie die Auswirkungen auf und die Rolle von Frauen in Abrüstungsverhandlungen sowie von Männlichkeit in der Politikgestaltung an. Daran anknüpfend präsentierte Jannis Kappelmann seine Überlegungen zu »Nuclear Weapons and Patriarchy – A Gender Perspective on Disarmament«, in denen er auch auf die Konsequenzen von hegemonialer Männlichkeit in der politischen Debatte verwies. Für die Diskussion fragte er unter anderem danach, wie der vorherrschende männliche Habitus dekonstruiert werden könne. Im letzten Vortrag des Panel, »Putting Intersectionality into Peacebuilding Practice – Diversifying Spaces of Options in DDR Discourse« (DDR = disarmament, demobilisation and reintegration; die Red.), ging Celia Schütt auf die Bandbreite an intersektionalen Perspektiven im DDR-Diskurs ein, die es in einem „portfolio of options“ zu integrieren gelte, um allen beteiligten Personen die für sie jeweils notwendige Unterstützung zukommen zu lassen.

Am Nachmittag folgte ein Panel zu »Transition towards Peace«, in dem Claudia Cruz Almeida in ihrem Beitrag »State-demolishing – The Phenomen of Gender-blind Statebuilding. Sierra Leone Case Study« die Frage stellte, ob der Statebuilding-Prozess in Sierra Leone tatsächlich als Erfolg bezeichnet werden kann, obwohl Frauen von dem DDR-Programm nicht profitiert haben. Dominik Folger ging anschließend in seinem Beitrag »Women and Transition in Tunisia« auf das Konzept der Repräsentation von Frauen ein. Er unterschied dabei zwischen »descriptive representation« und »substantive representation«. In der Diskussion wurden unterschiedliche Möglichkeiten für substantielle Repräsentation betrachtet: über gendersensitive Themensetzungen in den politischen Debatten oder über die von Frauen benannten Zielsetzungen und deren Erreichung. Im Anschluss adressierte Juliana Gonzalez Villamizar in ihrem Vortrag »The Promise and Perils of Mainstreaming Intersectionality in the Colombian Peace Process« die Instrumentalisierung von Intersektionalität durch die kolumbische Wahrheitskommission. Abschließend diskutierte Laura Gerards Iglesias in ihrem Beitrag »Women for Peace but No Piece for Women« einen Vergleich des lokalen Engagements von Frauen in zwei kolumbianischen Regionen. Dabei stellte sie gerade die je eigene intersektionale Verortung als einen wesentlichen Unterschied zwischen den Frauengruppen heraus.

Der erste Tag endete mit der Keynote von Prof. Dr. Tatiana Zimenkova und Dr. Verena Molitor, die über »Executive Power and Sexual Citizenship – Negotiating Loyalities, State-Citizen Relations and Uniforming Sexual Citizenship« sprachen. In ihrer Forschung betrachten sie LGBTQI*-Personen, die im Polizeidienst tätig sind. Diese versuchen, ihre beiden Lebenswelten miteinander zu verknüpfen, einerseits als Teil des staatlichen Systems, andererseits qua sexueller Orientierung und Identität potenziell auch als Teil politischer Bewegungen. In der Diskussion verdeutlichten sie, dass die Identität als Polizist*in für die Beteiligten gewichtiger ist als andere gesellschaftliche Identitätszuschreibungen, wie etwa Geschlecht, sexuelle Orientierung oder Ethnizität. Das begründen sie damit, dass die Berufsidentität sich auf eine dauerhafte und klar umrissene Gruppe bezieht. Zudem gebe es eine große Loyalität gegenüber der Institution, die gleichzeitig als Familie wahrgenommen werde.

Im Panel »Can the Women, Peace and Security Agenda Work as a Tool for Peace?« beschäftigten sich die Panelistinnen am zweiten Tag aus unterschiedlichen Blickwinkeln mit der UN-Agenda zu »Women, Peace and Security« (WPS). Meike Fernbach vertrat in ihrem Beitrag »Does Protection Lead to Peace? The WPS Agenda and Its Focus on Conflict-Related Sexual Violence« die Perspektive, dass in der Debatte über die WPS-Agenda der Fokus zu stark auf den Schutz von Frauen gelegt werde, indem diese auf ihre Betroffenheit als Opfer von sexualisierter Kriegsgewalt reduziert werden. Ihre These ist, dass der vornehmliche Fokus auf Schutz keinen Frieden bringt, sondern dass hierfür Partizipation und Empowerment von Frauen notwendig seien. Im folgenden Beitrag, »Does Participation Bring Peace? How CSOs Contribute to NAPs Agenda«, ging Amy Herr auf die Rolle von zivilgesellschaftlichen Organisationen (CSOs) bei der Etablierung und Umsetzung von nationalen Aktionsplänen (NAPs) in Bezug auf die »Women, Peace and Security«-Agenda ein. Amy Herr fragt danach, wie »meaningful participation« dieser Organisationen aussehen kann. Im letzten Beitrag in diesem Panel präsentierte Victoria Scheyer ihre Gedanken zu »Does Security Equal Peace – What Security is the WPS Agenda Talking About?«. Sie argumentierte, dass die WPS-Agenda aus einem Sicherheitsanspruch heraus formuliert ist, der nicht feministisch ist. Die WPS-Agenda unterstütze demnach Militarismus, füge Frauen als Körper, aber nicht deren Perspektiven hinzu und habe den Anspruch, Krieg für Frauen sicherer zu machen, aber nicht, Krieg an sich zu verhindern.

Im letzten Panel, »Epistemology and Knowledge Transfer«, thematisierte Viviane Schönbächler in ihrem Beitrag »Women Journalists Covering Conflicts? An Intersectional Analysis of Media Practices in Proximity Radios in Burkina Faso« ihr Promotionsprojekt, in dem sie analysiert, inwiefern die Beteiligung von Frauen an Radioprogrammen in Burkina Faso die Teilnahme an Konfliktbewältigungsprozessen beeinflusst. Aufgrund der aktuellen Entwicklungen nutzte sie die Tagebuchmethode für ihre Befragung weiblicher Radio-Journalistinnen. Im letzten Beitrag von Alena Sander, »Feminist Field Research in Times of COVID-19 – Challenges, Innovation and Responsibility«, ging es um die Auswirkungen der Corona-Pandemie. Da sie ihre Forschung zu jordanischen Frauenorganisationen mit dem Anspruch verknüpft, »research as care« zu leisten, ist es ihr wichtig, ihre Forschung so auszurichten, dass Rücksicht auf die und Anteilnahme an den persönlichen Bedürfnissen ihrer Interviewpartnerinnen gewährleistet werden können. Deren Bedürfnisse verändern sich aber aktuell.

Die Rückmeldungen zum Veranstaltungsformat sowie zu den einzelnen Beiträgen waren durchweg positiv, sodass eine Fortsetzung der Tagungsreihe im kommenden Sommer geplant ist. Ein ausführlicher Tagungsbericht kann auf der AFK-Homepage abgerufen werden (afk-web.de/cms/netzwerk-friedensforscherinnen).

Christine Buchwald, Eva-Maria Hinterhuber, Lena Merkle, Victoria Scheyer und Elke Schneider

Feministische Friedensarbeit


Feministische Friedensarbeit

Tagung der Projektgruppe »bertha«, Hannover, 1. Februar 2020

von David Scheuing und Katharina Müller

Unter dem Titel »Feministische Friedensarbeit: Reflexion. Organisation. Thema – Gender und Intersektionalität als Chancen der antimilitaristischen und pazifistischen Arbeit« fand am 1. Februar dieses Jahres in Hannover die erste Veranstaltung der Projektgruppe »bertha – Werkstatt für intersektionale Friedensarbeit« statt. Für die Gruppe, ein Zusammenschluss von Aktiven aus der Friedensbewegung, war die Veranstaltung ein erster Beitrag und Versuch, intersektionale Ansätze in der Friedensarbeit zu verankern.

Der ursprünglich für 40 Teilnehmende ausgelegte Kongress überstieg das erwartete Interesse bei Weitem, sodass die Kapazitäten erweitert wurden und am Ende rund 100 der 150 Interessent*innen am Symposium teilnehmen konnten.

Das Programm bestand aus drei Impulsvorträgen und Workshops mit abschließender Vorstellung der Ergebnisse sowie einem Ausblick auf die zukünftige (Zusammen-) Arbeit. Durch den Tag führte der Sexualwissenschaftler Heinz-Jürgen Voß.

Mit dem Vortrag »Frieden und Gender – Möglichkeiten und Herausforderungen von Ansätzen in ihrer praktischen Umsetzung« machte Gesa Bent den Auftakt und stellte zunächst die relevanten Definitionen von Gender, Intersektionalität und Gender Mainstreaming vor. An den Beispielen des Bündnisses »Global Partnership for the Prevention of Armed Conflict« und der »KURVE Wustrow – Bildungs- und Begegnungsstätte für gewaltfreie Aktion e.V.« zeigte sie dann verschiedene Wege auf, Geschlechtergleichstellung in Friedensorganisationen, insbesondere in ihren Planungs- und Entscheidungsprozessen, effektiv zu verankern.

Für den Vortrag »Kolonialismus und Rassismus in der deutschen und europäischen Expansionspolitik und die Folgen für Menschen und ihre Handlungsfähigkeiten« war kurzfristig Mai Ali Shatta für die erkrankte Katharina Oguntoye eingesprungen. Sie sprach über ihre eigenen Erfahrungen mit rassistischen Strukturen und den Folgen des Kolonialismus in Deutschland. Dabei kritisierte sie Friedensorganisationen, die sich kaum bis gar nicht mit ihren eigenen rassistischen und kolonialen Strukturen auseinandersetzten, und stellte fest, die »deutsche« Friedens- und Entwicklungsarbeit habe ein kolonialrassistisches Problem.

Zum Thema »Intersektionalität – was soll das denn? Von ‚race‘, class und gender – eine Unterdrückungsgeschichte und ihre emanzipatorischen Gegenentwürfe« referierte zum Abschluss der Vortragsreihe ­Joanna Mechnich. Sie erläuterte den Ursprung des Konzeptes der Intersektionalität in der US-amerikanischen Rechtstheorie als eine Linse, durch die unterschiedliche »Überschneidungen« der Wirkungen von gesellschaftlichen In- und Exklusions-Strukturen (»Race«, Klasse, Geschlecht) auf Menschen sichtbar und dadurch auch verhandelbar werden können. Ein erster wichtiger Schritt ist daher die Bereitschaft einer Gruppe oder Organisation, diese »Überschneidungen« auch anzuschauen und sich damit auseinanderzusetzen, wie sie aufgrund ihrer Strukturen bestimmte Gruppen oder Personen, im besten Falle unabsichtlich, ausschließen. Auch sie äußerte sich kritisch zum Mangel an selbstreflektiven Prozessen in der Friedensbewegung, die für die Überwindung rassistischer Strukturen nötig wären. Insgesamt zeigten die Vorträge also auf, worin die Aufgabe für Friedensarbeit bestehen kann: In einer Zeit der sich wandelnden personellen wie inhaltlichen Aufstellung der Friedensbewegung und der stärkeren Professionalisierung von Friedensorganisationen muss es eine Auseinandersetzung über (mindestens) diese Fragen geben:

  • Welche Kämpfe/Bewegungen sieht die Friedensbewegung als ihre an, und mit welchen erklärt sie sich bewusst solidarisch bzw. mit welchen nicht? Hier wäre beispielsweise zu zeigen, inwieweit friedensbewegte Gruppen durch die starke Abgrenzung gegen rechts(offene) »Friedens«gruppen oftmals andere organisierte Zusammenhänge übersehen, obwohl sie gemeinsame Anliegen haben. Dazu gehören unter anderem Klimagerechtigkeitsgruppen von Black and People of Colour (BPoC), also Menschen mit Rassismuserfahrungen. Gibt es ein Einigeln der Friedensbewegung?
  • Welche Bereitschaft gibt es, sich Themen zu nähern, die nicht »klassisch« friedensbewegt scheinen? Weshalb sollten solidarische Armutsbeseitigung und Mietenstreiks, Anti-Hartz-IV-Sanktions-Arbeit, antirassistische Arbeit oder feministische Fragen nach sozialer Gerechtigkeit nicht zentrale Friedensthemen sein? Hier könnten – wie schon Frauen der ersten und zweiten Frauenbewegung sichtbar machten! – zentrale solidarische Schnittpunkte sichtbar werden. Aber es müsste auch zugehört werden können und eine Bereitschaft zur Veränderung liebgewonnener Strukturen da sein.
  • Welche Herausforderungen stellt die möglichst bewusste Auseinandersetzung mit der je unterschiedlichen Betroffenheit von rassistischer, sexistischer oder klassistischer Ausgrenzung in der Friedensarbeit für eben diese Friedensarbeit dar? Wie können Programme internationaler Friedensarbeit in diesem Licht geschaffen werden? Wie kann aber beispielsweise auch die Gleichstellungsarbeit der Bundeswehr kritisiert werden, ohne dabei sexistisch zu argumentieren?

Diesen und anderen Fragen sollten sich die Teilnehmenden mithilfe unterschiedlicher Methoden und Perspektiven im zweiten Teil des Tages nähern, in einer dreistündigen Workshop-Phase über drei parallele Themenbereiche.

So wurden im ersten Workshop (persönliche) Erfahrungen der Teilnehmer*innen und erlebte Diskriminierung reflektiert und genutzt, um Herausforderungen herauszuarbeiten und Strategien für eine intersektionale Friedensarbeit zu entwickeln. Im zweiten Workshop behandelten die Teilnehmenden intersektionale Ansätze in der internen Organisation und Strukturierung von Nichtregierungsorganisationen und anderen Akteur*innen der Friedensbewegung. Der dritte Workshop gab den Teilnehmenden die Möglichkeit, sich mit konkreten Themen der Friedensbewegung, z.B. großen friedenspolitischen Kampagnen, deren Themensetzung und inneren Strukturen zu befassen, und versuchte, auf dieser Ebene intersektionale Ansätze zu identifizieren und zu diskutieren.

Das Symposium und die Fortsetzung der Arbeit von »bertha – Werkstatt für intersektionale Friedensarbeit« sind wichtige Schritte hin zu einer intersektionalen Friedensarbeit. Einige weitere konkrete Maßnahmen konnten in der Abschlussdebatte des Kongresses bereits herausgestellt werden: Intersektionalität müsse Grundlage für alle Materialien und Veranstaltungskonzepte werden; auch in der Praxis müssten intersektionale Themen häufiger von Friedensorganisationen aufgegriffen werden; marginalisierte Gruppen in der Friedensbewegung müssten sichtbarer gemacht werden.

Dieses erste Symposium war ein erfolgreicher Beginn, der genutzt werden kann zu einer längeren Auseinandersetzung mit diesen Themen in der breiteren Friedensarbeit. Anstatt dass viele Organisationen und Gruppen diese Themen alleine behandeln, kann »bertha« ein Forum für eine gemeinsame Aushandlung und Praxis bieten. Aus dem Symposium soll eine kleine Broschüre entstehen; auch jetzt schon sind die Dokumentation und Videos des Symposiums auf friedensbertha.de zu finden.

Weitere Veranstaltungen, Formate und Austauschmöglichkeiten werden in der Zukunft kommen, eine Organisationsgruppe aus Menschen verschiedener Friedensorganisationen hat gerade ihre Arbeit aufgenommen. Wer mitmachen möchte, melde sich bei david@friedensbertha.de.

David Scheuing und Katharina Müller

Frauen sind besonders betroffen

Frauen sind besonders betroffen

Geschlechtsspezifische Auswirkungen atomarer Strahlung

von John Borrie et al.

Ionisierende Strahlung,1 die bei einem Einsatz von Atomwaffen– auch vermeintlich »kleinen« und «präzisen« –, bei atmosphärischen Atomwaffentests sowie bei AKW-Unfällen freigesetzt wird, hat für die überlebenden Frauen und Männer unterschiedliche Folgen. Die geschlechtsspezifischen Auswirkungen von Atomwaffendetonationen und weitere genderbezogene Aspekte der nuklearen Rüstung und Abrüstung wurden im Kontext der internationalen Diskussion um die humanitären Folgen eines Atomwaffeneinsatzes immer wieder diskutiert. Auch bei den
darauffolgenden Verhandlungen über ein Verbot von Atomwaffen spielte das Thema eine Rolle und wurde schließlich in der Präambel des »Vertrags über das Verbot von Kernwaffen» aufgegriffen.2
Im Herbst 2016 veröffentlichten im Kontext dieser Diskussionen zwei Forschungsinstitute (siehe Hinweise zu den Autor*innen am Textende) die Studie » Gender, Development and Nuclear Weapons – Shared goals, shared concerns«, die sich gezielt mit den frauenspezifischen Auswirkungen ionisierender Strahlung befasst. W&F dokumentiert aus dieser Studie das
Kapitel 3, »The gendered impact of nuclear weapon detonations«, leicht gekürzt und ohne Fußnoten. Die englischsprachige Studie steht unter unidir.org und ilpi.org zum Download.

Ob absichtlich oder versehentlich herbeigeführt – die Detonation von Atomwaffen in bewohnten Gebieten würde nicht nur unermessliche Zerstörungen verursachen und unmittelbar sowie infolge der Strahlenkrankheit zahlreiche Todesopfer fordern, sondern die Gesundheit und das Wohlergehen der Menschen weit darüber hinaus beeinträchtigen. […]

Es gibt zahlreiche wissenschaftliche Belege für diese Folgen, nicht zuletzt aus den Atomwaffeneinsätzen über Hiroshima und Nagasaki in Japan 1945 und aus den Atomwaffentests, die einige Staaten danach im Kalten Kriegdurchführten. Allerdings wurde bislang kaum untersucht, ob sich die Strahlung auf Frauen und Männer unterschiedlich auswirkt und wenn ja, wie. Nachfolgend erläutern wir einige Faktoren, warum Atomwaffendetonationen sowohl biologisch als auch in anderen Aspekten geschlechtsspezifische Auswirkungen haben.

Geschlechtsspezifische biologische Auswirkungen

Die Detonation einer oder mehrerer Atomwaffen in einem bewohnten Gebiet würde zahlreiche Menschen töten und verletzen, Frauen und Männer, Mädchen und Jungen gleichermaßen. Die meisten Todesfälle und Verletzungen wären die unmittelbare Folge der Druck- und der Hitzewelle, aber auch des Blitzes (der die Augen schädigt und zur Erblindung führen kann) und der akuten ionisierenden Strahlung. Je nachdem, in welcher Höhe über der Erdoberfläche die Atomwaffe detoniert, käme noch der Fallout hinzu, d.h. der Niederschlag radioaktiv verseuchter Partikel aus der Atmosphäre, der im Laufe der Zeit
ebenfalls zu Gesundheitsschäden führen würde. Allerdings wirkt sich ionisierende Strahlung auf Männer und Frauen nicht gleichermaßen aus.

Aus wissenschaftlichen Studien über die stochastischen [vom Zufall abhängigen] Wirkungen ionisierender Strahlung ist bekannt, dass Frauen anfälliger sind für die schädlichen Gesundheitsfolgen als Männer. Die Ursache dafür ist noch nicht abschließend geklärt; es wird vermutet, dass dafür Hochrisiko-Körpergewebe, z.B. die Reproduktions- und Fettgewebe, ausschlaggebend sind, von denen Frauen über 50 Prozent mehr verfügen als Männer, sowie Unterschiede im Metabolismus [Stoffwechsel] von Frauen und Männern. Was auch immer die Ursache ist – die höhere Anfälligkeit ist unzweideutig belegt.
Eine Studie zur Lebenserwartung von Überlebenden der Atombombenabwürfe 1945 auf Hiroshi­ma und Nagaski ergab, dass Frauen, die der ionisierenden Strahlenbelastung ausgesetzt waren, nahezu doppelt so häufig solide Krebstumoren entwickelten und daran starben wie Männer. Geschlechtsspezifische Krebsarten und Krebserkrankungen der weiblichen Brust scheinen Hauptursache für das erhöhte Risiko für Frauen zu sein: Wenn diese Krebsarten aus der Analyse herausgerechnet werden, sind die absoluten Krebsraten ­nahezu identisch. Studien zur Rate solider Krebs­tumoren infolge des Fall­outs
von überirdischen Atomwaffentests der Sowjet­union in Kasachstan deuten ebenfalls auf höhere Raten bestimmter Krebsarten bei Frauen hin.

Dazu kommt das Risiko, dass Kinder, deren Mütter in der Schwangerschaft hohen Dosen ionisierender Strahlung ausgesetzt waren, an Missbildungen und geistigen Behinderungen leiden. Auch die Gefahr einer spontanen Fehl- oder Totgeburt ist höher, wenn Frauen in der Schwangerschaft einer gewissen Strahlendosis ausgesetzt sind. Studien über die Folgen des Atomkraftwerkunfalls von Tschernobyl 1986 (bei dem eine große Menge ionisierender Strahlung an die Umwelt abgegeben wurde) ergaben außerdem ein erhöhtes Risiko von Kindern und Jugendlichen, an Schilddrüsenkrebs zu erkranken, und Mädchen
erhielten die Diagnose besonders häufig. Desweiteren deutet manches darauf hin, dass durch ionisierende Strahlenbelastung verursachte Genveränderungen an die nächste Generation vererbt werden, dies ist aber noch nicht eindeutig nachgewiesen.

Obgleich ionisierende Strahlung häufig erst nach einer gewissen Zeit erhöhte Raten gewisser Krebsarten und Genschäden bewirkt, kann dieser Effekt eindeutig auf die Erstexposition durch die Strahlung einer Atomwaffendetonation zurückgeführt werden. Daraus lässt sich der Schluss ziehen, dass die biologischen Folgen ionisierender Strahlung zu geschlechtsspezifischen gesundheitlichen Auswirkungen führen und dass Frauen anfälliger sind für die Gesundheitsfolgen der ionisierenden Strahlung von Atomwaffendetonationen als Männer.

Weitere geschlechtsspezifische Auswirkungen

Neben den biologischen gibt es noch weitere geschlechtsspezifische Auswirkungen der ionisierenden Strahlung von Atomwaffen. In den meisten Gesellschaften werden Männern und Frauen unterschiedliche soziale und kulturelle Rollen und Verantwortlichkeiten zugeordnet. Diese geschlechtsspezifischen Rollen führen zu unterschiedlichen sozialen Auswirkungen für Frauen und Männer. Eine Reihe sozialer und kultureller Geschlechterunterschiede können an den Punkten psychische Belastung, Umsiedlung, soziale Stigmatisierung und Diskriminierung festgemacht werden – eine Art Nachhall von
Atomwaffendetonationen über Raum und Zeit hinweg. Diese Auswirkungen scheinen für Frauen besonders gravierend zu sein.

Auswirkungen auf die Psyche

Die unsichtbare Verseuchung der Umwelt durch Strahlung kann unabhängig von der Strahlendosis traumatische psychische Auswirkungen haben. Mangel an Informationen und Unsicherheit über Gesundheitsrisiken können genauso zum Stressfaktor werden wie die Angst vor den Spätfolgen einer Strahlenbelastung. Es gibt Anhaltspunkte, dass die psychischen Auswirkungen einer Strahlenbelastung für Frauen schwerwiegender sind, was mit ihrer Rolle als Mütter zusammenhängen könnte. Einige Beispiele:

  • Nach dem Fallout infolge des Atomkraftwerkunfalls von Tschernobyl 1986 klagten in den meisten europäischen Ländern mehr Frauen über Stress als Männer, und es ist nachgewiesen, dass Frauen häufiger Schutzmaßnahmen ergriffen.
  • In der Stadt Gomel, ca. 100 km nördlich von Tschernobyl, litten Mütter mit Kindern unter 18 häufiger an psychischen Problemen.

Nach dem Unfall im Kernkraftwerk Three Mile Island in den USA 1979 fanden Forscher heraus, die „verzweifelsten Menschen in der Umgebung von Three Mile Island waren Mütter kleiner Kinder, die der Gouverneur von Pennsylvania unmittelbar nach dem Unfall aufgefordert hatte, die Gegend zu verlassen, um ihre Familien zu schützen“.

Es gibt noch weitere Implikationen für Frauen. Nach dem Unfall von Tschernobyl beispielsweise wurde schwangeren Frauen in der Ukraine zu einer Abtreibung geraten, ohne dafür konkrete Gründe zu benennen. Es wird behauptet, dass in den Monaten nach Tschernobyl in Westeuropa aus diesem Grund Tausende zusätzlicher Abtreibungen durchgeführt wurden.

Evakuierung und Umsiedlung

Die Zerstörungen durch Atomwaffendetonationen in bewohnten Gebieten sowie die Gefahr von radioaktivem Fallout zwingen zur Evakuierung und Umsiedlung vieler Menschen. Umsiedlung führt unabhängig von den auslösenden Faktoren zu einer Reihe von Problemen, die Frauen und Männer unterschiedlich betreffen.

In Krisen- und Konfliktsituationen ist es wahrscheinlicher, dass Frauen von sexueller Gewalt betroffen sind, schlechteren Zugang zu Hilfsleistungen haben und ihr Recht auf Gesundheit, Wohnung, Land und Eigentum schwerer in Anspruch nehmen könnnen, wodurch sich ohnehin vorhandene Diskriminierungsmuster verschärfen. Das kann bei Frauen langfristig zu noch mehr psychischem Stress und einer insgesamt schlechteren Gesundheitssituation führen. Außerdem wird in vielen Gesellschaften erwartet, dass Frauen die meisten, wenn nicht sogar alle häuslichen Arbeiten durchführen, was ihre Möglichkeiten
verringert, am politischen und sozialen Leben sowie an Prozessen der Entscheidungsfindung teilzunehmen. Umsiedlung und ihre Folgen verstärken diese Mechanismen, da Aufgaben wie Anstehen für und Zubereiten von Nahrung oder Wasserholen noch mehr Zeit in Anspruch nehmen.

Kulturelle und indigene Rechte

Langfristige oder permanente Umsiedlung infolge von Atomwaffendetonationen, auch solchen zu Testzwecken,3 kann zur Einschränkung kultureller und indigener Rechte mit einer geschlechtsspezifischen Dimension führen. Indigene Frauen der Marshallinseln sind ein Beispiel dafür: In einer matriarchalen Gesellschaft, in der Grund und Boden von der Mutter auf das Kind übergehen, verloren die Marshallesinnen aufgrund der Umsiedlung von ihrem Land im Kontext der Atomwaffentests im Kalten Krieg ihr kulturelles Recht, in ihrer Gesellschaft die Rolle als Hüterinnen
des Landes auszuüben. Umsiedlung bedeutete für diese Frauen auch, dass sie auf ihrem eigenen Grund und Boden kein Einkommen mehr erwirtschaften konnten, da sie den Zugang zu den Materialien verloren, die sie zur Herstellung von handwerklichen und Haushaltsgegenständen brauchten. Auch die Männer der Marshallinseln waren von der Umsiedlung spezifisch betroffen: Sie sicherten bis dato die Nahrung für ihre Familien als Sammler und Fischer, leben jetzt aber in einer Umwelt, in der das Überleben weitgehend von Geldeinkommen abhängt.

Soziale Stigmatisierung und Diskriminierung

Ein weiteres Charakteristikum der Zeit nach den Atomwaffentests auf den Marshallinseln waren gemäß Schilderungen der Marshallesinnen entwürdigende Untersuchungen durch medizinisches und wissenschaftliches Personal der USA. Die Untersuchungen erhöhten den Stress der Frauen, trugen aber auch zu ihrer sozialen Stigmatisierung bei.

Japanische Überlebende der Atombomben auf Hiroshima und Nagsaki waren ebenfalls mit sozialer Stigmatisierung aufgrund der Strahlung konfrontiert. Sie wurden als »kontaminiert« angesehen und in Japan mit Furcht und Misstrauen behandelt. Dieses Stigma betraf zwar sowohl männliche als auch weibliche »hibakusha« – dieser Begriff bezeichnet Überlebende der Atombombenabwürfe –, die Bilder und Vorstellungen vom weiblichen Körper scheinen aber zur stärkeren Diskriminierung von Frauen beigetragen zu haben, insbesondere in Bezug auf Ehe und Fortpflanzung. Auf den Marshallinseln erlebten
Frauen, die den Atomwaffentests der USA ausgesetzt waren, beim Thema Eheschließung und Mutterschaft Stigmatisierung und Ängste.

Andere kulturelle und soziale Folgen

Geschlechtsspezifische kulturelle Praktiken können bei Frauen und Männern auch zu unterschiedlichen Strahlenfolgen führen, beispielsweise aufgrund von Essgewohnheiten; dies war nach dem Atomkraftwerksunfall von Tschernobyl genauso der Fall wie auf den Marshallinseln. Der Unfall von Tschernobyl hatte auch Auswirkungen auf das innere soziale Gruppen- und Familiengefüge – bis hin zum Umgang von Ehepartnern miteinander. Ursächlich war die Sorge um die Strahlenbelastung und die Angst vor kranken Kindern.

Folgen für die Umwelt

Diese Studie hat zwar einen anderen Schwerpunkt, es muss aber unbedingt erwähnt werden, dass Atomwaffendetonationen gravierende Folgen für die Umwelt haben […]. So ergab vor einigen Jahren eine Studie, dass selbst ein »begrenzter« regionaler Atomkonflikt langfristige globale Auswirkungen hätte, u.a. auf das Klima, die Nahrungsproduktion und die Massenmigration, da durch die Atomdetonationen so viele Partikel in die Atmosphäre gelangen würden,4 dass das Sonnenlicht die Erdoberfläche nicht mehr wie bisher erreichen könnte und dadurch die Temperaturen
global auf Jahre hinaus sinken würden. Menschen nahe oder gar unter der Armutsgrenze wären besonders betroffen. […]

Anmerkungen

1) Ionisierende Strahlung kann den Körper auf zwei Arten schädigen. Zum einen kann sie Körperzellen durch strahlungsbedingte Verbrennungen oder das akute Strahlensyndrom direkt zerstören. Diese deterministischen Ausirkungen treten bei den Opfern einer Atomwaffendetonation sofort oder kurz nach dem Ereignis auf. Zum anderen kann ionisierende Strahlung Mutationen der DNA verursachen, z.B. Krebs oder Genveränderungen (stochastische Auswirkungen). Werden Mutationen nicht repariert, kann sich die Zelle in eine Krebszelle verwandeln.
Diese stochastischen Auswirkungen treten in der Regel lange Zeit (unter Umständen viele Jahre) nach der eigentlichen Strahlenbelastung auf, sind aber genauso wie die deterministischen Auswirkungen unmittelbar auf die Atomwaffendetonation zurückzuführen.

2) Der entsprechende Absatz lautet: „[… in der Erkenntis, dass den katastrophalen Folgen von Kernwaffen nicht ausreichend begegnet werden kann, dass sie nicht an nationalen Grenzen haltmachen und gravierende Auswirkungen auf den Fortbestand der Menschheit, die Umwelt, die sozioökonomische Entwicklung, die Weltwirtschaft, die Ernährungssicherheit und die Gesundheit heutiger und künftiger Generationen haben und dass sie unverhältnismäßig stark Frauen und Mädchen treffen, darunter
aufgrund der ionisierenden Strahlung, […]“
.

3) Zwischen 1945 und 1980 wurden Hunderte oberirdische Atomwaffentests durchgeführt. [die Übersetzerin]

4) Anders als bei den oberirdischen Atomwaffentests der 1950er und 1960er Jahre, die über der Wüste oder über dem Meer durchgeführt wurden, werden beim Einsatz von Atomwaffen über bewohntem Gebiet Erde, Trümmerpartikel und Ruß in die Atmosphäre geschleudert und mit dem Wind über die Erdkugel verteilt. Ein regionaler Atomkrieg mit 100 Atomwaffen würde daher eine lang anhaltende Partikelwolke rund um den Globus und in vielen Regionen der Erde eine große Hungersnot verursachen. [die Übersetzerin]

Die Studie »Gender, Development and Nuclear Weapons – Shared goals, shared concerns« wurde verfasst von John Borrie (Rechercheleiter bei UNIDIR), Anne Guro Dimmen (Beraterin bei ILPI), Torbjørn Graff Hugo (Leiter des Projekts Massenvernichtungswaffen bei ILPI), Camilla Waszink (Programmdirektorin für Waffen und Abrüstung bei ILPI) und Kjølv Egeland (Berater bei ILPI und Doktorand an der University of Oxford).
Das United Nations Institute for Disarmament Research (UNIDIR) ist in Genf angesiedelt. Das inzwischen geschlossene International Law and Policy Institute
(ILPI) hatte seinen Sitz in Oslo.

W&F dankt für die Übersetzungs- und Nachdruckrechte dieses Kapitels.

Aus dem Englischen übersetzt von ­Regina Hagen.