Herrschaftskritische Methoden umsetzen – aber wie?

Herrschaftskritische Methoden umsetzen – aber wie?

Workshop, Justus-Liebig-Universität Gießen, 12.-13. Dezember 2022

Herrschaftskritische Forschung setzt sich mit Macht-, Gewalt- und Herrschaftsverhältnissen wie Rassismus, Klassismus, Sexismus, Ableismus, Kapitalismus auseinander und fragt, wie diese Verhältnisse soziale Ungleichheit, Differenz und Unterdrückung bedingen, reproduzieren und legitimieren. Dabei widmet sich herrschaftskritische Forschung auch der Frage, wie Wissenschaft selbst zu solchen Verhältnissen beiträgt. In jüngerer Zeit haben post- und dekoloniale Perspektiven, kritische Rassismusforschung, feministische und intersektionale Zugänge sowie herrschaftskritische Perspektiven verstärkt Aufmerksamkeit und Zulauf in der Wissenschaft und darüber hinaus erhalten. Diese Perspektiven vereint, dass sie sich mit existierenden Macht-, Gewalt-, und Herrschaftsverhältnissen kritisch auseinandersetzen und selbst einen Beitrag zu ihrer Überwindung leisten möchten.

Insbesondere vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung mit epistemischer Gewalt und der damit einhergehenden Feststellung, dass auch wissenschaftliches Arbeiten an der Reproduktion von Herrschaft und Gewalt(-verhältnissen) beteiligt ist, wächst daher auch das Interesse an einer herrschaftskritischen Auseinandersetzung mit der eigenen wissenschaftlichen Tätigkeit. Denn der Wechsel von der (herrschaftskritischen) Theorie in die Praxis ist weder einfach noch eindeutig. Vielmehr sind wir in unserem Anspruch, herrschaftskritisch zu forschen, mit zahlreichen Fragen, Dilemmata und Widersprüchen konfrontiert. Das Wissen um die Herrschaftsförmigkeit des wissenschaftlichen Diskurses und der Aufruf zur Reflektion der eigenen Positionierung darin, das Wissen um die Gefahr, »epistemischen Extraktivismus« zu reproduzieren, oder der Wunsch, Forschung mit und für gesellschaftliche Akteur*innen zu betreiben, implizieren selten klare Anhaltspunkte oder Vorschläge für die eigene Forschungspraxis. Mit anderen Worten: Theoretische Einsichten in die Notwendigkeit herrschaftskritischer Forschung übersetzen sich nicht automatisch in die Fähigkeit zur angewandten Herrschaftskritik.

Diese Überlegungen waren der Ausgangspunkt für einen Workshop im Dezember 2022 an der JLU Gießen, der in Kooperation des Arbeitskreises Herrschaftskritische Friedensforschung der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung e.V. (AFK) und der Sektion Transnationale und Intersektionale Herrschaftskritik am Gießener Graduiertenzentrum Sozial-, Wirtschafts- und Rechtswissenschaften (GGS) durchgeführt wurde. Beide Gruppierungen eint das Interesse an einem tieferen Verständnis gesellschaftlicher und globaler Herrschaftsverhältnisse, um emanzipatorische Perspektiven aufzuzeigen und zu erarbeiten, die zur Überwindung dieser Verhältnisse beitragen.

In der Diskussion der Fragen und Herausforderungen »angewandter Herrschaftskritik«, die den Workshop-Teilnehmenden in ihrer eigenen Forschung entstehen, wurde schnell klar: Es kann keine generalisierte Anleitung oder ein Rezept dazu geben, wie der herrschaftskritische Anspruch in die Praxis umzusetzen wäre. Gleichzeitig haben sich verschiedene Aspekte herauskristallisiert, die für diesen Anspruch wichtig erscheinen und deren Reflektion die Teilnehmenden als hilfreich empfanden. Daraus ist die Idee entstanden, spezifische Elemente zu benennen und zu diskutieren, die für die wissenschaftliche Praxis mit herrschaftskritischem Anspruch wichtig erscheinen. Mit anderen Worten: Wenn es nicht das eine Rezept geben kann, mit dem sich herrschaftskritische Forschung »kochen« lässt, so kann man doch wenigstens die Vorratskammer mit geeigneten Zutaten füllen. Als einige der vielen wichtigen Zutaten für ein herrschaftskritisches Methoden-Gericht haben die Teilnehmenden u.a. folgende Themen ausgemacht: eine konsequente Forschungsethik, die ungleiche Machtverhältnisse mitdenkt und die Einwilligung von Forschungsteilnehmenden, deren Schutz vor möglichen Risiken und Gefahren sowie Informiertheit über Forschungsablauf und -outputs (»informed consent«) beinhaltet. Damit verbunden ist ferner Beziehungsarbeit, um die letztgenannten Aspekte zu vertiefen und Informations- und Machtungleichheiten innerhalb teilnehmender Gruppen oder Communities sowie zwischen diesen und den Forschenden sichtbar zu machen, um einen konstruktiven Umgang damit zu ermöglichen. Weitere wichtige Grundlagen sind die bereits etablierte kritische Reflektion der oft privilegierten Positionalität der Forschenden, die aber auch intersektionale Differenzen aufweisen kann, welche wiederum wichtige Gemeinsamkeiten und Solidarität mit Forschungsteilnehmenden begründen können.

Aus der Beobachtung heraus, dass es wenige praxisorientierte Anleitungen gibt, wie ein herrschaftskritischer Anspruch in der Forschung umgesetzt werden kann, entstand die Idee, selbst eine entsprechende Handreichung zu schreiben. Die Texte sollen praxisnah, aber reflektiert Widersprüche und Probleme der wissenschaftlichen Forschung benennen und eine Grundlage für die weitere Diskussion bilden. Über diese forschungspraktische Perspektive hinaus wurde im Workshop auch die Notwendigkeit eines herrschaftskritischen Zugangs in anderen Bereichen der Wissenschaft thematisiert, etwa durch die Erweiterung von Inhalten in Lehre und Methodenausbildung, durch neue (Peer-)Support-Mechanismen und langfristig gesehen auch durch strukturelle Änderungen im Publikations- und im Hochschulwesen.

Da eine herrschaftskritische wissenschaftliche Praxis nicht zuletzt ein kollektiver Prozess ist, laden die Sektion Transnationale und Intersektionale Herrschaftskritik und der Arbeitskreis Herrschaftskritische Friedensforschung herzlich zur Diskussion und Mitarbeit ein. Wer Interesse hat, sich an der Erstellung der Handreichungen zu beteiligen, oder zum Folge-Workshop im Dezember 2023 eingeladen werden möchte, kann sich gerne bei Juliana Krohn (juliana.krohn@uibk.ac.at) melden.

Marie Reusch, Philipp Lottholz, Juliana Krohn

Militarisierung und geschlechts­spezifische Gewalt

Militarisierung und geschlechts­spezifische Gewalt

Wir haben ein (Daten-)Problem!

von Lamis Saleh und Fiona Wilshusen

Wir leben in einer militarisierten Welt – und die weltweiten Militärausgaben sind in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen. Dass mehr Waffen jedoch auch mehr Sicherheit bedeuten, ist umstritten. Im Gegenteil, eine steigende Militarisierung kann eben auch größere (physische) Unsicherheit bedeuten, wie ein Blick auf geschlechtsspezifische Effekte zeigt. So wird Militarisierung in Verbindung gesetzt mit Gewalt gegen Frauen1. Wollen wir diese Beziehung jedoch empirisch analysieren, stoßen wir bald auf ein Problem – uns fehlen die Daten.

Frauen sind auf vielen Ebenen von geschlechtsspezifischer Gewalt betroffen. Grundsätzlich beschreibt geschlechtsspezifische Gewalt (auf Englisch: gender-based violence, kurz GBV) physische, psychische oder strukturelle Gewalt, von der eine Person aufgrund ihrer biologischen oder sozialen Geschlechtszugehörigkeit betroffen ist. Auch wenn diese Definition so Gewalt gegen alle Geschlechter einbezieht, sind Frauen und Mädchen überproportional stark davon betroffen2 – z.B. in Form von sexualisierter Gewalt, struktureller Machtungleichheit oder finanzieller Abhängigkeit. Deshalb wird er oft synonym verwendet mit dem Begriff Gewalt gegen Frauen. Da bei psychischer, physischer und/oder sexualisierter Gewalt der Täter in vielen Fällen der (Ex-)Partner ist, wird diese Form der Gewalt oft auch als Partnergewalt bezeichnet.

Faktoren, die geschlechtsspezifische Gewalt begünstigen, können laut WHO mangelnde Gleichberechtigung der Geschlechter, ökonomische Abhängigkeit und soziale Normen, die Frauen einen niedrigeren Status als Männern zuschreiben, sein (WHO 2021). Doch wie hängen diese Dynamiken mit Militarisierung zusammen?

Militarisierung und geschlechtsspezifische Gewalt

Grundannahme des Militarisierungskonzeptes ist, dass das Militär auch in politische, ökonomische und gesellschaftliche Räume wirkt. Militarisierung beschreibt dabei einen Prozess, innerhalb dessen nicht nur militärische Werte an Gewicht in der Gesellschaft gewinnen, auch die Art der Ressourcenverteilung kann Teil einer zunehmenden Militarisierung sein (Enloe 2000).

Mit einer zunehmenden Militarisierung der Gesellschaft werden nicht nur Gewalt und Aggression eher als legitime Mittel der Konfliktlösung angesehen, auch die Beziehung zwischen den Geschlechtern kann stärker hierarchisiert werden. Bereits in den 1980ern etablierten Wissenschaftler*innen eine theoretische Verbindung zwischen Militarisierung und der patriarchalen Ordnung – diese sind demnach eng verwoben und verstärken sich gegenseitig (Enloe 1983; Reardon 1985). Zentral ist dabei das hierarchisierte Konzept einer militarisierten Männlichkeit – tough, dominant, aggressiv – und einer passiven, schutzbedürftigen Weiblichkeit (Elshtain 1982; Whitworth 2004; Eichler 2014).3 Durch diese Hierarchisierung einerseits und das Propagieren militärischer Werte wie Härte und Dominanz andererseits, sowohl im öffentlichen als auch im privaten Raum, wird zunehmende Militarisierung assoziiert mit einem Anstieg an physischer, struktureller und kultureller Gewalt, von der Frauen in besonderem Maße betroffen sind (Sharoni 2016). So geben (hoch-)militarisierte Staaten hohe Summen ihres Staatshaushaltes für den militärischen Sektor aus, was oft einhergeht mit geringeren Ausgaben für soziale Belange, im Bildungs- und Gesundheitsbereich. Andere Studien wiederum identifizieren eine direkte Verbindung zwischen Militarisierung und geschlechtsspezifischer Gewalt, da staatliche Sicherheitskräfte (sexualisierte) Gewalt gegen Frauen im öffentlichen Bereich und privaten Raum ausüben – und oft Täter von Partnergewalt sind. Doch Militarisierung kann auch indirekt wirken. So hat eine empirische Analyse gezeigt, dass sich steigende Militarisierung negativ auf Geschlechtergerechtigkeit und die Erwerbstätigkeit von Frauen auswirken kann (Elveren, Moghadam und Dudu 2022). Beides hat die WHO als Faktoren identifiziert, die GBV begünstigen.

Die (empirischen) Zusammenhänge?

Trotz des starken theoretisch begründeten Zusammenhangs zwischen dem Militarisierungsgrad eines Landes und der Prävalenz von geschlechtsspezifischer Gewalt, fehlt es erstaunlicherweise weitgehend an empirischen Analysen. Soweit uns bekannt ist, hat keine Studie einen solchen Zusammenhang quantitativ nachgewiesen. Ein Hauptgrund dafür ist wohl die mangelnde Verfügbarkeit von Daten.

In einem ersten Schritt haben wir in unserer Forschung daher versucht, den Grad der Militarisierung mit geschlechtsspezifischer Gewalt zu verknüpfen. Der Globale Militarisierungsindex (GMI, siehe bicc 2022) ist der einzige Index, der die weltweite Militarisierung abbildet. Dabei legt er aber seinen Schwerpunkt auf Ressourcenverteilung und Bedeutung des Militärapparats von Staaten im Verhältnis zur Gesellschaft als Ganzem und hat daher eher ein strukturelles Militarisierungskonzept zugrunde liegen. Kulturelle und geschlechtsspezifische Implikationen werden so außer Acht gelassen. Wenn wir hier also bereits auf erste Limitationen stoßen, ergibt sich hinsichtlich der Daten zu geschlechtsspezifischer Gewalt ein desaströses Bild: Soweit wir wissen, gibt es keinen indexbasierten und aktuellen Datensatz zur Messung geschlechtsspezifischer Gewalt. Alle verfügbaren Daten sind entweder über die Jahre hinweg nicht konsistent oder für eine gründliche Analyse nicht in einem ausreichend großen geografischen Maßstab verfügbar. Um dennoch eine erste empirische Analyse zu wagen, greifen wir auf einen Datensatz der Vereinten Nationen zurück. In ihrem Bemühen, die Gleichstellung der Geschlechter unter dem entsprechenden Nachhaltigen Entwicklungsziel (SDG 5) zu fördern, stellen die Vereinten Nationen einige Statistiken zur Messung geschlechtsspezifischer Gewalt zur Verfügung. Basierend auf Erhebungen und Initiativen zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen in den Jahren 2000-2018, misst dieser Datensatz den Prozentsatz von Frauen im Alter von 15 bis 49 Jahren, die in den vergangenen zwölf Monaten Gewalt durch einen aktuellen oder früheren Partner erfahren haben. So sind diese Daten aber nicht nur zeitlich limitiert, sondern bilden nur einen kleinen Teilaspekt von geschlechtsspezifischer Gewalt ab, nämlich Partnergewalt.

Daher stellt unsere Analyse nur eine – sowohl zeitlich als auch bezüglich der Datenqualität stark limitierte – Momentaufnahme der vermuteten Beziehung dar. Wir versuchen zunächst, den allgemeinen Zusammenhang zwischen Militarisierung und geschlechtsspezifischer Gewalt zu messen. Abbildung 1 zeigt die Korrelation zwischen beiden Variablen für alle 153 Länder in unserem Datensatz für das Jahr 2018.

Abbildung 1: Korrelation von Militarisierung und »Gender-Based Violence«, Quelle: die Autorinnen.

Sie zeigt eine signifikant negative Korrelation, was darauf hindeutet, dass eine höhere Militarisierungsrate mit einem niedrigeren Niveau geschlechtsspezifischer Gewalt verbunden ist. Was vor dem Hintergrund der theoretischen Verbindung auf den ersten Blick große Fragen aufwirft, wird mit einem zweiten Blick klarer. Die negative Korrelation deutet nicht zwangsläufig darauf hin, dass steigende Militarisierung zu sinkender GBV führt. Vielmehr deuten sich hier die Folgen des Datenproblems an: Die jeweiligen Charakter der zur Verfügung stehenden Datensätze (limitiertes Militarisierungsverständnis, limitiertes GBV-Verständnis) und die eklatanten Datenlücken verzerren das Bild.

Da diese erste grobe Korrelation eine massive Diskrepanz zu theoretischen Ableitungen darstellte, wollten wir das Verhältnis der Daten tiefer ergründen. Für unsere Analyse betrachten wir nun die Karte 1. Die Größe der Staatsterritorien auf unserer Karte hängt von ihrem relativen Militarisierungsgrad ab. Einige Länder erscheinen größer, als ihre maßstabsgetreue Größe wäre, während andere kleiner erscheinen. Die geschlechtsspezifische Gewalt wird durch die farbige Visualisierung dargestellt. Je höher der Grad der Gewalt ist, desto mehr bewegen sich die Länder im roten Farbspektrum.

Karte 1: Weltkarte zu »Gender-Based Violence«, Quelle: die Autorinnen.

Bei einem Blick auf die Karte ergibt sich ein etwas anderes Bild als bei der vorhergehenden Korrelation. Länder in Zentralafrika mit einem höheren Militarisierungsgrad haben mit großer Wahrscheinlichkeit auch einen höheren Wert von geschlechtsspezifischer Gewalt zu verzeichnen. Für einige Länder mit sehr hohen Militarisierungsraten, z.B. Russland, liegen keine GBV-Daten vor. Diese Beobachtungen helfen, die Zusammenhänge zwischen Militarisierung und geschlechtsspezifischer Gewalt empirisch besser zu verstehen. Am Beispiel Russland zeigt sich auch, inwieweit die Datenlücken das Gesamtbild verzerren: Sowohl das Komitee der Frauenrechtskonvention als auch Human Rights Watch weisen auf die hohe Prävalenz von Gewalt gegen Frauen in Russland hin – es gibt aber schlicht keine offiziellen Statistiken. Im Jahr 2017 wurde darüber hinaus ein Gesetz verabschiedet, das sogenannte häusliche Gewalt in Russland dekriminalisiert. Dies führt nicht nur zur Straflosigkeit der Täter*innen, sondern mit Blick auf die Datenverfügbarkeit auch zu steigenden Dunkelziffern.

Es zeigt sich vor allem eins: Wir haben zu wenig Informationen. Da uns nur limitierte Daten zur Verfügung stehen, gibt es zwar Anhaltspunkte aber nicht genügend Evidenzen, um kausale Beziehungen herzustellen. So kann unsere empirische Analyse zwar eine erste Tendenz abbilden für den Zusammenhang zwischen Militarisierung und geschlechtsspezifischer Gewalt, aber das Gesamtbild bleibt trübe. Es zeigt sich also deutlich, dass die Daten für gehaltvolle Analysen – und in der Konsequenz auch politische Empfehlungen – fehlen. Das ist insbesondere vor dem Hintergrund (inter-)nationaler Bekenntnisse zur Bekämpfung von geschlechtsspezifischer Gewalt besorgniserregend – und muss sich dringend ändern!

Anmerkungen

1) Der Begriff »Frauen« umfasst alle Personen, die sich als Frau identifizieren.

2) Gewalt, die dich explizit gegen LGBTQIA*-Personen richtet, fällt theoretisch auch unter diese Begriffsdefinition, allerdings wird der Begriff in diesem Zusammenhang selten verwendet.

3) Dieses Machtgefälle wirkt nicht nur geschlechtsspezifisch, die Konstruktion von militarisierter Maskulinität ist ein Gegenentwurf zu jeglichem »Anderen« und basiert damit gleichermaßen auf Homophobie, Misogynie und Rassismus. Hier fokussieren wir aber auf geschlechtsspezifische Implikationen.

Literatur

BICC (2022): Globaler Militarisierungsindex, Online: gmi.bicc.de.

Eichler, M. (2014): Militarized masculinities in international relations. The Brown Journal of World Affairs 21(1), S. 81-93.

Elshtain, J. B. (1982): On beautiful souls, just warriors and feminist consciousness. Women’s Studies International Forum 5 (3/4), S. 341-348.

Elveren, A.Y.; Moghadam, V.M.; Dudu, S. (2022): Militarization, women’s labor force participation, and gender inequality: evidence from global data. Women’s Studies International Forum 94, 102621.

Enloe, C. (1983): Does khaki become you? The militarisation of women’s lives. London: Pluto Press.

Enloe, C. (2000): Maneuvers: The international politics of militarizing women’s lives. Berkeley: University of California Press.

Reardon, B. (1985): Sexism and the war system. New York: Syracuse University Press.

Sharoni, S. (2016): Militarism and gender-based violence. In: Wong, A.; Wickramasinghe, M.; hoogland, r.; Naples, N.A. (Hrsg.): The Wiley Blackwell Encyclopedia of Gender and Sexuality Studies. O.S.

UNSDG (2022): United Nations SDG Indicators Database, online: unstats.un.org/sdgs/dataportal.

Whitworth, S. (2004). Men, militarism and UN peacekeeping: a gendered analysis. Boulder, Col.: Lynne Rienner Publishers.

WHO (2021). Violence against women, online: https://www.who.int/news-room/fact-sheets/detail/violence-against-women.

Dr. Lamis Saleh ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt »Unterstützung der Kontrolle von Klein- und Leichtwaffen in Afrika« am Bonn International Centre for Conflict Studies (BICC).
Fiona Wilshusen ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt »Sicherheit, Rüstung und Entwicklung in Empfängerländern deutscher Rüstungsexporte«, ebenso am BICC.

Atomwaffen sind patriarchale Gewalt!

Atomwaffen sind patriarchale Gewalt!

Feministischer Essay zur nuklearen Bedrohung im Kontext des Ukraine-Kriegs

von Magdalena Fackler

Eine Generation junger Menschen übt feministische Kritik an Atomwaffen, ruft nach dem politischen Ende der atomaren Bewaffnung und schafft sogar international bindende Verträge. Dennoch ist die Gefahr nuklearer Kriegsführung aktueller denn je: im Kontext des Ukraine-Krieges und als Folge seiner Eskalation werden alte Narrative und Sicherheitsvorstellungen gegenseitiger Abschreckung erneut platziert, die in langer Tradition patriarchaler »Sicherheit« stehen. Wie funktioniert diese patriarchale Gewalt, wodurch zeigt sie sich und welche Möglichkeiten der Überwindung bleiben?

Geboren Ende der 90er Jahre, bin ich nach dem Kalten Krieg aufgewachsen. Das Wettrüsten zwischen den USA und der Sowjetunion kenne ich nur aus den Geschichtsbüchern und das Versprechen von »Frieden in Europa« hat mich über Jahre hinweg begleitet. Plötzlich stehe ich vor dem Bundestag und halte Protestschilder gegen die Neuanschaffung atomwaffenfähiger Kampfflugzeuge in die Höhe. Eine ganze Generation, die mit dem romantisierten Bild von »Frieden in Europa« aufgewachsen ist, wurde am 24. Februar eines Besseren belehrt. Denn die Invasion Russlands in die Ukraine hat gezeigt, dass Krieg in Europa sehr wohl möglich ist und dass dieser Krieg im Kontext der letzten Jahrzehnte und patriarchaler Machtstrukturen betrachtet werden muss. Vor allem aber wurde sichtbar: die nukleare Bedrohung ist real und nie weg gewesen.

Von Sicherheit und dem Risiko eines Atomkrieges

Die Erzählung um Sicherheit nicht nur in Europa, sondern auch in der Welt, stützt sich auf die Doktrin der nuklearen Abschreckung, die in ihrer eigenen Logik Kriege verhindern soll. Den Krieg in der Ukraine hat sie nicht verhindert. Und doch dominieren nun Stimmen den Diskurs, die eben gerade unter Verweis auf den Krieg gegen die Ukraine und damit als direkte Folge ein Festhalten an Atomwaffen zu legitimieren versuchen: Dass es für das internationale Machtgleichgewicht notwendig sei, an der nuklearen Strategie der NATO festzuhalten, besonders jetzt mit dem Gegner Putin. Dass Deutschland seinen Teil dazu beizutragen habe und deswegen die US-Atomwaffen in Büchel auch die nächsten Jahrzehnte stationiert bleiben sollten. Es wurden gar Stimmen laut, die erneut für die Idee von eigenen Atomwaffen in der EU warben und über eine Ausweitung des Atomwaffenprogramms in Frankreich diskutierten.

Diese Erzählung von Sicherheit scheint zu wirken. Nach einer Umfrage sprach sich zum ersten Mal eine knappe Mehrheit der Deutschen für den Verbleib der US-Atomwaffen in Deutschland aus. 40 Prozent der Befragten befürworteten die Stationierung, zwölf Prozent sprachen sich gar für eine Modernisierung und Aufstockung aus. 39 Prozent gaben an, für einen Abzug der Atomwaffen zu sein (Bongen, Rausch und Schreijäg 2022). Es ist beängstigend, dass die Mehrheit der Deutschen die Gefahr, die von Atomwaffen ausgeht, scheinbar zu akzeptieren bereit ist. Friedensforscher*innen warnten erst kürzlich erneut vor dem Risiko einer nuklearen Eskalation vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine. Im Friedensgutachten 2022 mit dem Titel »Friedensfähig in Kriegszeiten« äußerten sie sich besorgt über die Tatsache, dass alle neun Staaten, die Atomwaffen besitzen, auch neue Trägersysteme für nukleare Waffen entwickeln. In ihrem Gutachten machten die Wissenschaftler*innen sehr deutlich, wie massiv sich die Gefahr eines Atomkrieges erhöht hat. Dies hängt eng mit dem Krieg in der Ukraine und dem Einsatz von Nuklearwaffen als Druckmittel zusammen sowie dem Fehlen von vertrauenswürdigen Verpflichtungen gegenüber Abrüstungsverträgen (BICC et al. 2022, S. 94f.).

Zudem beruht das »nukleare Gleichgewicht« auf einem fragilen Vertrauen: Die »Sicherheit« der Abschreckung ist kein Automatismus, sondern zutiefst von menschlichen Entscheidungen und Emotionen abhängig. Gerade der derzeitige Krieg in der Ukraine zeigt auf, wie schwer die nukleare Abschreckung das Eingreifen in den Krieg macht, da sorgfältig abgewogen werden muss, welche Schritte eine atomare Reaktion hervorrufen könnten. Auch durch die auf ein Minimum heruntergesetzte Kommunikation zwischen Russland und den USA kann es schnell zu fatalen Missverständnissen kommen, die einen Atomschlag auslösen könnten. Die globalen humanitären und ökologischen Konsequenzen eines solchen Einsatzes und eskalierenden Nuklearkrieges sind offensichtlich. Kein Gesundheitssystem und keine Infrastruktur dieser Welt wäre auf die Folgen vorbereitet.

Trotzdem, so zeigt die oben genannte Umfrage, wird diese enorme Gefahr nicht auf die Existenz von Atomwaffen zurückgeführt, sondern im Gegenteil die nukleare Bedrohungssituation als eine Form »letzter Sicherheit« wahrgenommen, die stabilisiert werden muss. Dies legt nahe, dass diese Überzeugung nicht aus einer akuten Situation heraus entwickelt wird, sondern die Wurzeln dafür gesellschaftlich tiefer liegen: Die Überzeugung, nukleare Waffen gehörten zur letztlichen Sicherheit der Menschheit, ist eng mit Machtsystemen verknüpft, die immer noch die internationale Staatengemeinschaft und unsere Gesellschaften dominieren. Es braucht daher eine machtkritische Analyse, um aufzuzeigen, inwiefern die Erneuerung der globalen nuklearen Bedrohung im Rahmen des Ukraine-Kriegs mit dem Fortbestand patriarchaler Machttraditionen und Unterdrückungsformen zusammenhängt.

Atomwaffen und das Patriarchat

Feministische Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen analysieren seit Jahren den Zusammenhang zwischen Patriarchat und Atomwaffen (vgl. für eine ausführliche Kritik Acheson 2021). Die Maskulinität, die im Patriarchat zu Macht führt, zeichnet sich durch »mannhafte Stärke« aus, die sich vorwiegend in Form von Gewalt, Militarisierung und bewaffneten Konflikten ausdrückt – oder in der Bereitschaft, diese anzuwenden bzw. zu eskalieren. Damit sichert sie die Macht derjenigen, die Zugang zu diesen Mitteln haben. In der extremsten Form potentiell möglicher Gewaltausübung sind also, der feministischen Kritik nach, Atomwaffen Ausdruck wahnhaft übersteigerter »männlicher« Machtphantasmen. Die Entscheidungsträger einiger weniger Staaten halten gemäß dieser Analyse an Massenvernichtungswaffen fest, um damit ihre (individuell sehr geringe, immer bedrohte) Macht zu sichern basierend auf dem (totalen, dauerhaft etablierten) Risiko der vollständigen Zerstörung ganzer Erdteile (am konkretesten in der Abschreckungsdoktrin der »gegenseitig versicherten Zerstörung«).

Diese Dimensionen zeigen sich auch gerade wieder im Krieg gegen die Ukraine. Viele feministischen Denker*innen sehen in der Person Putin einen Akteur, der eben diese ständig bedrohte Macht durch eine Demonstration »männlicher« Stärke zu sichern sucht. Dem folgt der gesamte militärische und administrative Apparat des Staates sowie viele der kulturellen und religiösen Institutionen – das Patriarchat ist gesellschaftlich tief sedimentiert. Anhand seiner medialen Inszenierungen und seiner Drohungen, Nuklearwaffen einzusetzen, zeigt Putin, wie er mit Hilfe einer letztlich fatalen Lösung – denn in einem Atomkrieg kann es keine Gewinner*innen geben – den eigenen prekären Willen, nämlich die Eroberung der Ukraine, erreichen will. Doch nicht nur Putin führt die Erzählung weiter, auch andere Staatschefs fügen sich in dieses Narrativ ein – gerade dadurch geht diese Taktik auf. So geht es darum, sich gegenseitig »Stärke« zu beweisen, nicht nachzugeben und mit dem Festhalten an Nuklearwaffen ebenfalls patriarchale Macht zu demonstrieren, die auch bereit ist, die gesamte Menschheit in »Geiselhaft« zu halten.

Dabei kommen verschiedene Instrumente des Patriarchats zum Einsatz, die die Existenz von Atomwaffen sichern sollen und auch im Kontext des Krieges sichtbar werden. Ein Werkzeug stellt das »Gaslighting« dar. Der Begriff beschreibt üblicherweise die psychische Manipulation jemandes Wahrnehmung der Realität, die zum Machterhalt über die Person bzw. zur Fortführung der Ausübung von Gewalt dienen soll (Acheson 2018). Das fehlende Eingehen des US-amerikanischen Präsidenten Joe Biden auf die Drohgebärden von Putin kann zwar so gedeutet werden, dass er die Gefahr eines Angriffs mit Nuklearwaffen für hoch einschätzt und eine weitere Eskalation vermeiden möchte, was natürlich zu begrüßen ist. Gleichzeitig wird durch die Regierungen der NATO-Staaten ein Bild an die Öffentlichkeit vermittelt, das das Potential eines Atomschlages verschleiert und es als nicht diskussionswürdig verkennt. Als Olaf ­Scholz sein langes Zögern schwere Waffen in die Ukraine zu liefern damit begründete, dass er keinen Atomkrieg riskieren möchte, wurde er politisch und medial heftig für seine Kommunikation kritisiert. »Der Angstmach-Kanzler« (Reitz 2022) und ähnlich titelten daraufhin deutsche Zeitungen. Dies zeigt, wie das Risiko heruntergespielt, als Panikmache denunziert und die Realität, in der das Risiko für den Einsatz tatsächlich gestiegen ist, verzerrt wird.

Dies deutet auf ein weiteres tief verankertes patriarchales Machtinstrument hin, das im Diskurs um Atomwaffen wirkt, nämlich die »Verweiblichung« jeglicher Bemühungen dagegen. Noch im November 2021 titelte beispielsweise The Economist: »Verbündete fürchten, dass die neugewählte Bundesregierung bei Atomwaffen weich wird«, um die Besorgnis gegenüber möglichen Abrüstungsbestrebungen auszudrücken (The Economist 2021). Dieses Beispiel reiht sich in eine Tradition von Situationen und Aussagen, in denen die Bemühungen von Diplomat*innen und Aktivist*innen zur Abrüstung von ihren Gegenspieler*innen auf Seiten der Nuklearstaaten neben »schwach« auch als »emotional«, »naiv« oder »unrealistisch« bezeichnet wurden. Diese in der Globalgeschichte staatlicher Gewalt geschlechtsspezifisch zugeordneten Adjektive stützen die Aufrechterhaltung der konstruiert maskulinen Dominanz in den Diskursen um Atomwaffen.

Dafür wird auch eine weitere patriarchale Technik genutzt, die »Opferbeschuldigung«. In einer perfiden sicherheitslogischen Drehung der historischen Ereignisse wird nicht selten darauf hingewiesen, dass die Ukraine ja einmal Atomwaffen besaß bzw. lagerte und die Abgabe dieser Arsenale womöglich ein Fehler war, da sich die Ukraine dieser Argumentation zufolge dadurch angreifbar gemacht hätte.

Über die Ukraine hinausblicken

Kriege und Krisen, die die bestehende Ordnung durcheinanderschütteln, schaffen ein Momentum in der Geschichte, in dem wir uns entscheiden müssen: machen wir so weiter wie bisher oder schlagen wir eine andere Richtung ein? Wenn wir es ernst meinen mit Frieden und Sicherheit, dann ist es jetzt an der Zeit neue Normen zu setzen. Diese Entscheidung reicht weit über den Krieg gegen die Ukraine hinaus. Es geht dabei um das internationale System und wie darin »Sicherheit« verstanden und diskutiert wird, und darum, wie die bisherige Staatenordnung mit ihren patriarchalen Strukturen Aufrüstung und die nukleare Bedrohung als Reaktion auf Konflikte ermöglicht und zementiert.

Eine feministische Perspektive stellt demgegenüber den Menschen bzw. die menschliche Sicherheit in den Mittelpunkt und weniger die Sicherheit des Staates. Sie verschiebt damit das traditionelle Sicherheitsverständnis der realistischen Denkschule der Internationalen Beziehungen (das gerade wieder einen massiven Aufwind erfährt) und betrachtet die Sicherheit von Menschen in ihren unterschiedlichen Dimensionen (Centre for Feminist Foreign Policy 2021). Dieses Verständnis stellt eine Alternative zum traditionellen Sicherheitsbegriff dar. Die derzeitigen Entwicklungen und der hegemoniale Diskurs laufen allerdings Gefahr, die Errungenschaften von Friedensaktivist*innen und Feminist*innen sowie die Erfolge von Abrüstungsbestrebungen der vergangenen Jahre vollständig zu untergraben.

Der Krieg in der Ukraine sowie sein kriegsökonomisches System im Umfeld funktionieren wie ein Brennglas, das das Zusammenwirken verschiedener Machtsysteme, Ungleichheiten und Unterdrückungen aufzeigt. So müssen wir die nukleare Bedrohungsrhetorik im Ukraine-Krieg in ihren Zusammenhängen mit anderen Unterdrückungs- und Gewaltmechanismen verstehen. Die diskriminierenden Übergriffe an den Grenzen gegenüber nicht-weißen Geflüchteten aus der Ukraine, der rassistisch-sexistische Diskurs über Schutzsuchende aus Ländern des Globalen Südens im Vergleich zu Menschen, die vor dem Krieg in der Ukraine fliehen, die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen und das Fehlen von klimagerechten Alternativen sowie die Duldung von Menschenrechtsverletzungen aufgrund der Priorisierung ökonomischer Handelsbeziehungen – all das ist Ausdruck von jahrhundertealten Machtstrukturen, die auf Ausbeutung, Unterdrückung und Gewalt entlang von ethnischen, geschlechtlichen und sozialen Linien beruhen. Feministischer Kritik an atomarer Bewaffnung geht es also nicht alleinig um die Beseitigung der Nuklearwaffen, sondern um eine umfassende Kritik patriarchaler Gewaltverhältnisse, ihre Zusammenhänge mit Rassismus und Kapitalismus und um ihre Überwindung.

Doch diese bündeln sich im Kampf gegen Atomwaffen: Durch die Bemühungen feministischer Aktivist*innen, der Friedensbewegungen und einiger Diplomat*innen und Regierungen, allen voran aus dem Globalen Süden, ist es gelungen, mit dem Atomwaffenverbotsvertrag (AVV) eine Möglichkeit für ein Ende der nuklearen Gewalt zu schaffen. Eine überwältigende Mehrheit der Staaten ist für die Abrüstung von Atomwaffen. Den ratifizierenden Staaten des Abkommens ist klar, dass Atomwaffen nicht von heute auf morgen abzuschaffen sind. Es geht vielmehr darum, Stück für Stück glaubwürdige Schritte in der Abrüstung zu gehen und Nuklearwaffen derart zu ächten, dass ein Einsatz undenkbar und daher auch eine Abrüstung unabdingbar wird. Der AVV ist aber gleichzeitig auch der erste Versuch einer systematischen Aufarbeitung und des Ausgleichs gegenüber den von kolonialen Atomwaffenversuchen betroffenen Gesellschaften im Globalen Süden. Der AVV geht also über die reine Abrüstung deutlich hinaus.

Die derzeitigen Entwicklungen durch den Krieg in der Ukraine machen von Neuem deutlich, was nach 1990 schnell in den Hintergrund geriet: das nukleare Risiko ist real und es bedroht uns alle. Anstatt dieses Risiko kleinzureden und schweigend in Kauf zu nehmen, müssen wir jetzt die Lehren aus dem Krieg in der Ukraine ziehen und das historische Momentum nutzen, um auf langfristige und nachhaltige Sicherheit und Frieden hinzuwirken. Die Analyse hat gezeigt, wie das patriarchale System wirkt und welche Machtstrukturen wir abbauen müssen, um unsere Gesellschaft und die Staatengemeinschaft zu transformieren. Wir müssen unsere Kämpfe gegen die Klimakrise, patriarchale und rassistische Strukturen sowie ausbeuterische ökonomische Verhältnisse mit dem Einsatz gegen Massenvernichtungswaffen verbinden. Im selben Atemzug, in dem wir uns um eine klimagerechte, antirassistische, antisexistische und gleichberechtigte Gesellschaft bemühen, müssen wir die Abrüstung von Atomwaffen, als höchstem Mittel patriarchaler Gewalt, einfordern.

Literatur

Acheson, R. (2018): Eine feministische Kritik der Atombombe. Heinrich-Böll-Stiftung, 19.10.2018.

Acheson, R. (2021): Banning the bomb, smashing the patriarchy. Maryland: Rowman & Littlefield.

BICC, HSFK, IFSH, INEF (2022): Friedensgutachten 2022. Friedensfähig in Kriegszeiten. Bielefeld: transcript Verlag.

Bongen, R.; Rausch, H.-J.; Schreijäg, J. (2022): Umfrage in Deutschland: Erstmals Mehrheit für Atomwaffen-Verbleib. Tagesschau, 02.06.2022.

Centre for Feminist Foreign Policy (2021): The CFFP Glossary. März 2021.

Reitz, U. (2022): Der Angstmach-Kanzler: Scholz muss den Deutschen endlich Mut machen. Focus Online, 04.05.2022.

The Economist (2021): Allies fear Germany’s incoming government will go soft on nukes. What will happen to the nuclear bombs deployed there? Homepage, 20.11.2021.

Magdalena Fackler hat Politikwissenschaft und Nahoststudien in Erlangen und Kairo studiert. Seit einem Praktikum bei ICAN Deutschland engagiert sie sich als ICAN-Botschafterin.

Sicherheit in unsicheren Zeiten

Sicherheit in unsicheren Zeiten

von Thomas Würdinger

Unsicherheit und Verunsicherung mögen subjektive Empfindungen sein, oftmals relativ zum sozialen Status. Sie sind aber auch kollektive Perzeption. Als solche können sie enorme Sprengkraft für das soziale Gefüge und das demokratische Miteinander entfalten. Vor allem in unsicheren Zeiten von sozial-ökologischer Transformation, Klimawandel, Corona und Ukraine-Krieg. Dieses Stakkato deutet darauf hin, worauf Sicherheit – oder genauer: die »Herstellung« von Sicherheit – in globalen Zusammenhängen nicht reduziert werden kann: militärische Schlagkraft.

Der Krieg Russlands gegen die Ukra­ine unterminiert die ohnehin fragile Ernährungssicherheit im Globalen Süden. Hierzulande hängen soziale Sicherheit und Energieversorgungssicherheit eng zusammen. Stufe 3 des »Notfallplan Gas« dräut über den Köpfen von Verbraucher*innen und Industriebetrieben. Bange Blicke richten sich auf die Wartung der Nord-Stream-1-Pipeline. Zahlreiche Branchen sorgen sich um unsichere Lieferketten, ausbleibende Energielieferungen und fehlende Rohstoffe. Die Inflation steigt rasant, das dicke Ende droht vielen Menschen mit der noch ausstehenden Nebenkostenabrechnung. Bereits heute können sich zu viele Menschen elementare Dinge des täglichen Bedarfs nicht leisten. Unausgegorene Tankrabatte helfen da nicht weiter. Die IG Metall fordert deshalb eine Übergewinnsteuer für Krisengewinne, einen Gaspreisdeckel und eine sozial gerechte Entlastung aller Haushalte.

Deutlich wird daran zugleich die Notwendigkeit, politischem Handeln ein erweitertes Verständnis von Sicherheit zugrunde zu legen. Sicherheits- und Friedenspolitik muss die komplexen Wechselverhältnisse verschiedener Risiken adressieren können. Herausforderungen in der Energie- und Rohstoffversorgung müssen dabei ebenso berücksichtigt werden wie globale Handelsbeziehungen und Lieferketten, die Auswirkungen des Klimawandels ebenso wie das Diktum sozialer Sicherheit. Das wirft mehr Fragen als Antworten auf. Welches Verhältnis zu Russland, aber auch zu China und anderen nicht gerade lupenreinen Demokraten wollen und können wir künftig pflegen? Auf welchen internationalen Institutionen, Organisationen und Normen kann eine wiederzubelebende Architektur für kooperativen Frieden und Sicherheit ruhen? Wie positionieren sich Deutschland und die Europäische Union im Gefüge geopolitischer Spannungen? Das zu erfragen und miteinander auszuhandeln mag denjenigen zuwider sein, die in unsicheren Zeiten auf Eindeutigkeit und den durchgreifenden Mut der Eliten setzen oder Führung bestellen.

Die friedenspolitische Debatte und ihre Protagonist*innen täten mit Blick auf die skizzierten Wechselverhältnisse jedoch gut daran, Selbstvergewisserung statt Besserwisserei zu üben. So sehr diese Einsicht wie ein wohlfeiles Mantra anmuten mag: Es braucht Diskurs – wider simplifizierenden Populismus, angebliche Alternativlosigkeit und spaltende Rhetorik. Es geht um mehr als um die unsägliche Frage nach »Sieg« oder »Niederlage«, es gibt zahlreiche Schattierungen zwischen einer Beschränkung auf zivilen Ungehorsam und der Lieferung schwerer Waffen. Unsicherheit, Unschärfe, Widersprüche, sie werden die politische Debatte weiter prägen. Umso wichtiger ist der produktive und wertschätzende Austausch unterschiedlicher Positionen und Argumente. Diese kommunikative Auseinandersetzung um Sicherheit sollte zur Entscheidung(-sfindung) gehören, gerade in unsicheren Zeiten. Entscheidungsunsicherheit sollte opportun sein. Sie ist nachvollziehbar – muss allerdings auch kommuniziert werden. Es ist ein Plädoyer für eine diskursive Zeitenwende.

Klar sind für den schreibenden Gewerkschafter hingegen die Haltung und wesentliche Leitplanken in der sicherheits- und friedenspolitischen Debatte: Grundsätze wie die Achtung von Menschenrechten, das Selbstbestimmungsrecht, Minderheitenschutz, die Wahrung demokratischer Grundrechte und das Ziel sozialer Gerechtigkeit sind nicht verhandelbar. Eine dauerhafte Steigerung des Etats für Rüstung und Verteidigung auf ein willkürlich erscheinendes Zwei-Prozent-Ziel lehnen die Gewerkschaften ab. Zudem gilt: Wer ein Sondervermögen für die Bundeswehr auf den Weg bringen kann, der sollte vor einem Sondervermögen für den sozialen Frieden nicht zurückschrecken. Wer in der aktuellen Gemengelage weiteren Entlastungen vorschnell eine Absage erteilt oder über 600 Mio. Euro für den sozialen Arbeitsmarkt kürzt, um weiterhin dem goldenen Kalb der Schuldenbremse zu frönen, braucht sich über Gegenwind nicht beschweren. So wird in unsicheren Zeiten jedenfalls keine Sicherheit vermittelt.

Thomas Würdinger ist Ressortleiter Grundsatzfragen beim Vorstand der IG Metall. In dieser Funktion ist er Mitglied des Arbeitsausschusses »Abrüsten statt Aufrüsten«.

Intersektionale Zugänge


Intersektionale Zugänge

3. Tagung des Netzwerks Friedensforscherinnen, Hochschule Rhein-Waal, 16.-17. Juni 2020

von Christine Buchwald, Eva-Maria Hinterhuber, Lena Merkle, Victoria Scheyer und Elke Schneider

Bereits zum dritten Mal luden die Frauenbeauftragten der Arbeitsgemeinschaft Friedens- und Konfliktforschung (AFK) am 16. und 17. Juni zur Tagung »Feministische Perspektiven der Friedens- und Konfliktforschung« ein. Diesmal lag der Fokus auf intersektionalen Zugängen, also auf den Wechselwirkungen, die sich aus unterschiedlichen Differenzkategorien, wie Geschlecht, Ethnizität und Klasse, ergeben. Die Veranstaltung wurde gemeinsam mit der Geschäftsstelle der AFK, angesiedelt an der Hochschule Rhein-Waal, sowie der dortigen Fakultät Gesellschaft und Ökonomie ausgerichtet.

Aufgrund der Corona-Pandemie konnte die Tagung nicht vor Ort stattfinden und wurde virtuell durchgeführt. Das bereits bewährte Format des Work-in-progress-Workshops stand auch diesmal im Fokus, sodass Arbeiten auch in einem frühen Bearbeitungsstadium vorgestellt werden konnten. Um während der Onlinesitzungen genug Zeit für die Diskussion zu lassen, wurde die Tagung angelehnt an das »Flipped Classroom«-Modell gestaltet: Die Vortragenden wurden gebeten, Manuskripte, Podcasts und Videos im Vorfeld bereitzustellen. In der Onlinesitzung lag der Fokus nach einer kurzen Vorstellung des Beitrags mehr auf der beratenden Diskussion.

Durch das Onlineformat nahmen an den vier Panels und der Keynote zum Teil unterschiedliche Personen teil. Im Durchschnitt waren 35 Personen in den Onlinesitzungen.

Im ersten Panel, »Arms, Violence and Gender Roles«, präsentierte Veronika Datzer ihre Arbeit »The Necessity of Gender in (Non-) Proliferation Policy-Making«, in der sie die Notwendigkeit einer intersektionalen Perspektive auf die Debatte über die Verbreitung von Atomwaffen beschreibt. Zur Begründung führte sie die Auswirkungen auf und die Rolle von Frauen in Abrüstungsverhandlungen sowie von Männlichkeit in der Politikgestaltung an. Daran anknüpfend präsentierte Jannis Kappelmann seine Überlegungen zu »Nuclear Weapons and Patriarchy – A Gender Perspective on Disarmament«, in denen er auch auf die Konsequenzen von hegemonialer Männlichkeit in der politischen Debatte verwies. Für die Diskussion fragte er unter anderem danach, wie der vorherrschende männliche Habitus dekonstruiert werden könne. Im letzten Vortrag des Panel, »Putting Intersectionality into Peacebuilding Practice – Diversifying Spaces of Options in DDR Discourse« (DDR = disarmament, demobilisation and reintegration; die Red.), ging Celia Schütt auf die Bandbreite an intersektionalen Perspektiven im DDR-Diskurs ein, die es in einem „portfolio of options“ zu integrieren gelte, um allen beteiligten Personen die für sie jeweils notwendige Unterstützung zukommen zu lassen.

Am Nachmittag folgte ein Panel zu »Transition towards Peace«, in dem Claudia Cruz Almeida in ihrem Beitrag »State-demolishing – The Phenomen of Gender-blind Statebuilding. Sierra Leone Case Study« die Frage stellte, ob der Statebuilding-Prozess in Sierra Leone tatsächlich als Erfolg bezeichnet werden kann, obwohl Frauen von dem DDR-Programm nicht profitiert haben. Dominik Folger ging anschließend in seinem Beitrag »Women and Transition in Tunisia« auf das Konzept der Repräsentation von Frauen ein. Er unterschied dabei zwischen »descriptive representation« und »substantive representation«. In der Diskussion wurden unterschiedliche Möglichkeiten für substantielle Repräsentation betrachtet: über gendersensitive Themensetzungen in den politischen Debatten oder über die von Frauen benannten Zielsetzungen und deren Erreichung. Im Anschluss adressierte Juliana Gonzalez Villamizar in ihrem Vortrag »The Promise and Perils of Mainstreaming Intersectionality in the Colombian Peace Process« die Instrumentalisierung von Intersektionalität durch die kolumbische Wahrheitskommission. Abschließend diskutierte Laura Gerards Iglesias in ihrem Beitrag »Women for Peace but No Piece for Women« einen Vergleich des lokalen Engagements von Frauen in zwei kolumbianischen Regionen. Dabei stellte sie gerade die je eigene intersektionale Verortung als einen wesentlichen Unterschied zwischen den Frauengruppen heraus.

Der erste Tag endete mit der Keynote von Prof. Dr. Tatiana Zimenkova und Dr. Verena Molitor, die über »Executive Power and Sexual Citizenship – Negotiating Loyalities, State-Citizen Relations and Uniforming Sexual Citizenship« sprachen. In ihrer Forschung betrachten sie LGBTQI*-Personen, die im Polizeidienst tätig sind. Diese versuchen, ihre beiden Lebenswelten miteinander zu verknüpfen, einerseits als Teil des staatlichen Systems, andererseits qua sexueller Orientierung und Identität potenziell auch als Teil politischer Bewegungen. In der Diskussion verdeutlichten sie, dass die Identität als Polizist*in für die Beteiligten gewichtiger ist als andere gesellschaftliche Identitätszuschreibungen, wie etwa Geschlecht, sexuelle Orientierung oder Ethnizität. Das begründen sie damit, dass die Berufsidentität sich auf eine dauerhafte und klar umrissene Gruppe bezieht. Zudem gebe es eine große Loyalität gegenüber der Institution, die gleichzeitig als Familie wahrgenommen werde.

Im Panel »Can the Women, Peace and Security Agenda Work as a Tool for Peace?« beschäftigten sich die Panelistinnen am zweiten Tag aus unterschiedlichen Blickwinkeln mit der UN-Agenda zu »Women, Peace and Security« (WPS). Meike Fernbach vertrat in ihrem Beitrag »Does Protection Lead to Peace? The WPS Agenda and Its Focus on Conflict-Related Sexual Violence« die Perspektive, dass in der Debatte über die WPS-Agenda der Fokus zu stark auf den Schutz von Frauen gelegt werde, indem diese auf ihre Betroffenheit als Opfer von sexualisierter Kriegsgewalt reduziert werden. Ihre These ist, dass der vornehmliche Fokus auf Schutz keinen Frieden bringt, sondern dass hierfür Partizipation und Empowerment von Frauen notwendig seien. Im folgenden Beitrag, »Does Participation Bring Peace? How CSOs Contribute to NAPs Agenda«, ging Amy Herr auf die Rolle von zivilgesellschaftlichen Organisationen (CSOs) bei der Etablierung und Umsetzung von nationalen Aktionsplänen (NAPs) in Bezug auf die »Women, Peace and Security«-Agenda ein. Amy Herr fragt danach, wie »meaningful participation« dieser Organisationen aussehen kann. Im letzten Beitrag in diesem Panel präsentierte Victoria Scheyer ihre Gedanken zu »Does Security Equal Peace – What Security is the WPS Agenda Talking About?«. Sie argumentierte, dass die WPS-Agenda aus einem Sicherheitsanspruch heraus formuliert ist, der nicht feministisch ist. Die WPS-Agenda unterstütze demnach Militarismus, füge Frauen als Körper, aber nicht deren Perspektiven hinzu und habe den Anspruch, Krieg für Frauen sicherer zu machen, aber nicht, Krieg an sich zu verhindern.

Im letzten Panel, »Epistemology and Knowledge Transfer«, thematisierte Viviane Schönbächler in ihrem Beitrag »Women Journalists Covering Conflicts? An Intersectional Analysis of Media Practices in Proximity Radios in Burkina Faso« ihr Promotionsprojekt, in dem sie analysiert, inwiefern die Beteiligung von Frauen an Radioprogrammen in Burkina Faso die Teilnahme an Konfliktbewältigungsprozessen beeinflusst. Aufgrund der aktuellen Entwicklungen nutzte sie die Tagebuchmethode für ihre Befragung weiblicher Radio-Journalistinnen. Im letzten Beitrag von Alena Sander, »Feminist Field Research in Times of COVID-19 – Challenges, Innovation and Responsibility«, ging es um die Auswirkungen der Corona-Pandemie. Da sie ihre Forschung zu jordanischen Frauenorganisationen mit dem Anspruch verknüpft, »research as care« zu leisten, ist es ihr wichtig, ihre Forschung so auszurichten, dass Rücksicht auf die und Anteilnahme an den persönlichen Bedürfnissen ihrer Interviewpartnerinnen gewährleistet werden können. Deren Bedürfnisse verändern sich aber aktuell.

Die Rückmeldungen zum Veranstaltungsformat sowie zu den einzelnen Beiträgen waren durchweg positiv, sodass eine Fortsetzung der Tagungsreihe im kommenden Sommer geplant ist. Ein ausführlicher Tagungsbericht kann auf der AFK-Homepage abgerufen werden (afk-web.de/cms/netzwerk-friedensforscherinnen).

Christine Buchwald, Eva-Maria Hinterhuber, Lena Merkle, Victoria Scheyer und Elke Schneider

Feministische Friedensarbeit


Feministische Friedensarbeit

Tagung der Projektgruppe »bertha«, Hannover, 1. Februar 2020

von David Scheuing und Katharina Müller

Unter dem Titel »Feministische Friedensarbeit: Reflexion. Organisation. Thema – Gender und Intersektionalität als Chancen der antimilitaristischen und pazifistischen Arbeit« fand am 1. Februar dieses Jahres in Hannover die erste Veranstaltung der Projektgruppe »bertha – Werkstatt für intersektionale Friedensarbeit« statt. Für die Gruppe, ein Zusammenschluss von Aktiven aus der Friedensbewegung, war die Veranstaltung ein erster Beitrag und Versuch, intersektionale Ansätze in der Friedensarbeit zu verankern.

Der ursprünglich für 40 Teilnehmende ausgelegte Kongress überstieg das erwartete Interesse bei Weitem, sodass die Kapazitäten erweitert wurden und am Ende rund 100 der 150 Interessent*innen am Symposium teilnehmen konnten.

Das Programm bestand aus drei Impulsvorträgen und Workshops mit abschließender Vorstellung der Ergebnisse sowie einem Ausblick auf die zukünftige (Zusammen-) Arbeit. Durch den Tag führte der Sexualwissenschaftler Heinz-Jürgen Voß.

Mit dem Vortrag »Frieden und Gender – Möglichkeiten und Herausforderungen von Ansätzen in ihrer praktischen Umsetzung« machte Gesa Bent den Auftakt und stellte zunächst die relevanten Definitionen von Gender, Intersektionalität und Gender Mainstreaming vor. An den Beispielen des Bündnisses »Global Partnership for the Prevention of Armed Conflict« und der »KURVE Wustrow – Bildungs- und Begegnungsstätte für gewaltfreie Aktion e.V.« zeigte sie dann verschiedene Wege auf, Geschlechtergleichstellung in Friedensorganisationen, insbesondere in ihren Planungs- und Entscheidungsprozessen, effektiv zu verankern.

Für den Vortrag »Kolonialismus und Rassismus in der deutschen und europäischen Expansionspolitik und die Folgen für Menschen und ihre Handlungsfähigkeiten« war kurzfristig Mai Ali Shatta für die erkrankte Katharina Oguntoye eingesprungen. Sie sprach über ihre eigenen Erfahrungen mit rassistischen Strukturen und den Folgen des Kolonialismus in Deutschland. Dabei kritisierte sie Friedensorganisationen, die sich kaum bis gar nicht mit ihren eigenen rassistischen und kolonialen Strukturen auseinandersetzten, und stellte fest, die »deutsche« Friedens- und Entwicklungsarbeit habe ein kolonialrassistisches Problem.

Zum Thema »Intersektionalität – was soll das denn? Von ‚race‘, class und gender – eine Unterdrückungsgeschichte und ihre emanzipatorischen Gegenentwürfe« referierte zum Abschluss der Vortragsreihe ­Joanna Mechnich. Sie erläuterte den Ursprung des Konzeptes der Intersektionalität in der US-amerikanischen Rechtstheorie als eine Linse, durch die unterschiedliche »Überschneidungen« der Wirkungen von gesellschaftlichen In- und Exklusions-Strukturen (»Race«, Klasse, Geschlecht) auf Menschen sichtbar und dadurch auch verhandelbar werden können. Ein erster wichtiger Schritt ist daher die Bereitschaft einer Gruppe oder Organisation, diese »Überschneidungen« auch anzuschauen und sich damit auseinanderzusetzen, wie sie aufgrund ihrer Strukturen bestimmte Gruppen oder Personen, im besten Falle unabsichtlich, ausschließen. Auch sie äußerte sich kritisch zum Mangel an selbstreflektiven Prozessen in der Friedensbewegung, die für die Überwindung rassistischer Strukturen nötig wären. Insgesamt zeigten die Vorträge also auf, worin die Aufgabe für Friedensarbeit bestehen kann: In einer Zeit der sich wandelnden personellen wie inhaltlichen Aufstellung der Friedensbewegung und der stärkeren Professionalisierung von Friedensorganisationen muss es eine Auseinandersetzung über (mindestens) diese Fragen geben:

  • Welche Kämpfe/Bewegungen sieht die Friedensbewegung als ihre an, und mit welchen erklärt sie sich bewusst solidarisch bzw. mit welchen nicht? Hier wäre beispielsweise zu zeigen, inwieweit friedensbewegte Gruppen durch die starke Abgrenzung gegen rechts(offene) »Friedens«gruppen oftmals andere organisierte Zusammenhänge übersehen, obwohl sie gemeinsame Anliegen haben. Dazu gehören unter anderem Klimagerechtigkeitsgruppen von Black and People of Colour (BPoC), also Menschen mit Rassismuserfahrungen. Gibt es ein Einigeln der Friedensbewegung?
  • Welche Bereitschaft gibt es, sich Themen zu nähern, die nicht »klassisch« friedensbewegt scheinen? Weshalb sollten solidarische Armutsbeseitigung und Mietenstreiks, Anti-Hartz-IV-Sanktions-Arbeit, antirassistische Arbeit oder feministische Fragen nach sozialer Gerechtigkeit nicht zentrale Friedensthemen sein? Hier könnten – wie schon Frauen der ersten und zweiten Frauenbewegung sichtbar machten! – zentrale solidarische Schnittpunkte sichtbar werden. Aber es müsste auch zugehört werden können und eine Bereitschaft zur Veränderung liebgewonnener Strukturen da sein.
  • Welche Herausforderungen stellt die möglichst bewusste Auseinandersetzung mit der je unterschiedlichen Betroffenheit von rassistischer, sexistischer oder klassistischer Ausgrenzung in der Friedensarbeit für eben diese Friedensarbeit dar? Wie können Programme internationaler Friedensarbeit in diesem Licht geschaffen werden? Wie kann aber beispielsweise auch die Gleichstellungsarbeit der Bundeswehr kritisiert werden, ohne dabei sexistisch zu argumentieren?

Diesen und anderen Fragen sollten sich die Teilnehmenden mithilfe unterschiedlicher Methoden und Perspektiven im zweiten Teil des Tages nähern, in einer dreistündigen Workshop-Phase über drei parallele Themenbereiche.

So wurden im ersten Workshop (persönliche) Erfahrungen der Teilnehmer*innen und erlebte Diskriminierung reflektiert und genutzt, um Herausforderungen herauszuarbeiten und Strategien für eine intersektionale Friedensarbeit zu entwickeln. Im zweiten Workshop behandelten die Teilnehmenden intersektionale Ansätze in der internen Organisation und Strukturierung von Nichtregierungsorganisationen und anderen Akteur*innen der Friedensbewegung. Der dritte Workshop gab den Teilnehmenden die Möglichkeit, sich mit konkreten Themen der Friedensbewegung, z.B. großen friedenspolitischen Kampagnen, deren Themensetzung und inneren Strukturen zu befassen, und versuchte, auf dieser Ebene intersektionale Ansätze zu identifizieren und zu diskutieren.

Das Symposium und die Fortsetzung der Arbeit von »bertha – Werkstatt für intersektionale Friedensarbeit« sind wichtige Schritte hin zu einer intersektionalen Friedensarbeit. Einige weitere konkrete Maßnahmen konnten in der Abschlussdebatte des Kongresses bereits herausgestellt werden: Intersektionalität müsse Grundlage für alle Materialien und Veranstaltungskonzepte werden; auch in der Praxis müssten intersektionale Themen häufiger von Friedensorganisationen aufgegriffen werden; marginalisierte Gruppen in der Friedensbewegung müssten sichtbarer gemacht werden.

Dieses erste Symposium war ein erfolgreicher Beginn, der genutzt werden kann zu einer längeren Auseinandersetzung mit diesen Themen in der breiteren Friedensarbeit. Anstatt dass viele Organisationen und Gruppen diese Themen alleine behandeln, kann »bertha« ein Forum für eine gemeinsame Aushandlung und Praxis bieten. Aus dem Symposium soll eine kleine Broschüre entstehen; auch jetzt schon sind die Dokumentation und Videos des Symposiums auf friedensbertha.de zu finden.

Weitere Veranstaltungen, Formate und Austauschmöglichkeiten werden in der Zukunft kommen, eine Organisationsgruppe aus Menschen verschiedener Friedensorganisationen hat gerade ihre Arbeit aufgenommen. Wer mitmachen möchte, melde sich bei david@friedensbertha.de.

David Scheuing und Katharina Müller

Frauen sind besonders betroffen

Frauen sind besonders betroffen

Geschlechtsspezifische Auswirkungen atomarer Strahlung

von John Borrie et al.

Ionisierende Strahlung,1 die bei einem Einsatz von Atomwaffen– auch vermeintlich »kleinen« und «präzisen« –, bei atmosphärischen Atomwaffentests sowie bei AKW-Unfällen freigesetzt wird, hat für die überlebenden Frauen und Männer unterschiedliche Folgen. Die geschlechtsspezifischen Auswirkungen von Atomwaffendetonationen und weitere genderbezogene Aspekte der nuklearen Rüstung und Abrüstung wurden im Kontext der internationalen Diskussion um die humanitären Folgen eines Atomwaffeneinsatzes immer wieder diskutiert. Auch bei den
darauffolgenden Verhandlungen über ein Verbot von Atomwaffen spielte das Thema eine Rolle und wurde schließlich in der Präambel des »Vertrags über das Verbot von Kernwaffen» aufgegriffen.2
Im Herbst 2016 veröffentlichten im Kontext dieser Diskussionen zwei Forschungsinstitute (siehe Hinweise zu den Autor*innen am Textende) die Studie » Gender, Development and Nuclear Weapons – Shared goals, shared concerns«, die sich gezielt mit den frauenspezifischen Auswirkungen ionisierender Strahlung befasst. W&F dokumentiert aus dieser Studie das
Kapitel 3, »The gendered impact of nuclear weapon detonations«, leicht gekürzt und ohne Fußnoten. Die englischsprachige Studie steht unter unidir.org und ilpi.org zum Download.

Ob absichtlich oder versehentlich herbeigeführt – die Detonation von Atomwaffen in bewohnten Gebieten würde nicht nur unermessliche Zerstörungen verursachen und unmittelbar sowie infolge der Strahlenkrankheit zahlreiche Todesopfer fordern, sondern die Gesundheit und das Wohlergehen der Menschen weit darüber hinaus beeinträchtigen. […]

Es gibt zahlreiche wissenschaftliche Belege für diese Folgen, nicht zuletzt aus den Atomwaffeneinsätzen über Hiroshima und Nagasaki in Japan 1945 und aus den Atomwaffentests, die einige Staaten danach im Kalten Kriegdurchführten. Allerdings wurde bislang kaum untersucht, ob sich die Strahlung auf Frauen und Männer unterschiedlich auswirkt und wenn ja, wie. Nachfolgend erläutern wir einige Faktoren, warum Atomwaffendetonationen sowohl biologisch als auch in anderen Aspekten geschlechtsspezifische Auswirkungen haben.

Geschlechtsspezifische biologische Auswirkungen

Die Detonation einer oder mehrerer Atomwaffen in einem bewohnten Gebiet würde zahlreiche Menschen töten und verletzen, Frauen und Männer, Mädchen und Jungen gleichermaßen. Die meisten Todesfälle und Verletzungen wären die unmittelbare Folge der Druck- und der Hitzewelle, aber auch des Blitzes (der die Augen schädigt und zur Erblindung führen kann) und der akuten ionisierenden Strahlung. Je nachdem, in welcher Höhe über der Erdoberfläche die Atomwaffe detoniert, käme noch der Fallout hinzu, d.h. der Niederschlag radioaktiv verseuchter Partikel aus der Atmosphäre, der im Laufe der Zeit
ebenfalls zu Gesundheitsschäden führen würde. Allerdings wirkt sich ionisierende Strahlung auf Männer und Frauen nicht gleichermaßen aus.

Aus wissenschaftlichen Studien über die stochastischen [vom Zufall abhängigen] Wirkungen ionisierender Strahlung ist bekannt, dass Frauen anfälliger sind für die schädlichen Gesundheitsfolgen als Männer. Die Ursache dafür ist noch nicht abschließend geklärt; es wird vermutet, dass dafür Hochrisiko-Körpergewebe, z.B. die Reproduktions- und Fettgewebe, ausschlaggebend sind, von denen Frauen über 50 Prozent mehr verfügen als Männer, sowie Unterschiede im Metabolismus [Stoffwechsel] von Frauen und Männern. Was auch immer die Ursache ist – die höhere Anfälligkeit ist unzweideutig belegt.
Eine Studie zur Lebenserwartung von Überlebenden der Atombombenabwürfe 1945 auf Hiroshi­ma und Nagaski ergab, dass Frauen, die der ionisierenden Strahlenbelastung ausgesetzt waren, nahezu doppelt so häufig solide Krebstumoren entwickelten und daran starben wie Männer. Geschlechtsspezifische Krebsarten und Krebserkrankungen der weiblichen Brust scheinen Hauptursache für das erhöhte Risiko für Frauen zu sein: Wenn diese Krebsarten aus der Analyse herausgerechnet werden, sind die absoluten Krebsraten ­nahezu identisch. Studien zur Rate solider Krebs­tumoren infolge des Fall­outs
von überirdischen Atomwaffentests der Sowjet­union in Kasachstan deuten ebenfalls auf höhere Raten bestimmter Krebsarten bei Frauen hin.

Dazu kommt das Risiko, dass Kinder, deren Mütter in der Schwangerschaft hohen Dosen ionisierender Strahlung ausgesetzt waren, an Missbildungen und geistigen Behinderungen leiden. Auch die Gefahr einer spontanen Fehl- oder Totgeburt ist höher, wenn Frauen in der Schwangerschaft einer gewissen Strahlendosis ausgesetzt sind. Studien über die Folgen des Atomkraftwerkunfalls von Tschernobyl 1986 (bei dem eine große Menge ionisierender Strahlung an die Umwelt abgegeben wurde) ergaben außerdem ein erhöhtes Risiko von Kindern und Jugendlichen, an Schilddrüsenkrebs zu erkranken, und Mädchen
erhielten die Diagnose besonders häufig. Desweiteren deutet manches darauf hin, dass durch ionisierende Strahlenbelastung verursachte Genveränderungen an die nächste Generation vererbt werden, dies ist aber noch nicht eindeutig nachgewiesen.

Obgleich ionisierende Strahlung häufig erst nach einer gewissen Zeit erhöhte Raten gewisser Krebsarten und Genschäden bewirkt, kann dieser Effekt eindeutig auf die Erstexposition durch die Strahlung einer Atomwaffendetonation zurückgeführt werden. Daraus lässt sich der Schluss ziehen, dass die biologischen Folgen ionisierender Strahlung zu geschlechtsspezifischen gesundheitlichen Auswirkungen führen und dass Frauen anfälliger sind für die Gesundheitsfolgen der ionisierenden Strahlung von Atomwaffendetonationen als Männer.

Weitere geschlechtsspezifische Auswirkungen

Neben den biologischen gibt es noch weitere geschlechtsspezifische Auswirkungen der ionisierenden Strahlung von Atomwaffen. In den meisten Gesellschaften werden Männern und Frauen unterschiedliche soziale und kulturelle Rollen und Verantwortlichkeiten zugeordnet. Diese geschlechtsspezifischen Rollen führen zu unterschiedlichen sozialen Auswirkungen für Frauen und Männer. Eine Reihe sozialer und kultureller Geschlechterunterschiede können an den Punkten psychische Belastung, Umsiedlung, soziale Stigmatisierung und Diskriminierung festgemacht werden – eine Art Nachhall von
Atomwaffendetonationen über Raum und Zeit hinweg. Diese Auswirkungen scheinen für Frauen besonders gravierend zu sein.

Auswirkungen auf die Psyche

Die unsichtbare Verseuchung der Umwelt durch Strahlung kann unabhängig von der Strahlendosis traumatische psychische Auswirkungen haben. Mangel an Informationen und Unsicherheit über Gesundheitsrisiken können genauso zum Stressfaktor werden wie die Angst vor den Spätfolgen einer Strahlenbelastung. Es gibt Anhaltspunkte, dass die psychischen Auswirkungen einer Strahlenbelastung für Frauen schwerwiegender sind, was mit ihrer Rolle als Mütter zusammenhängen könnte. Einige Beispiele:

  • Nach dem Fallout infolge des Atomkraftwerkunfalls von Tschernobyl 1986 klagten in den meisten europäischen Ländern mehr Frauen über Stress als Männer, und es ist nachgewiesen, dass Frauen häufiger Schutzmaßnahmen ergriffen.
  • In der Stadt Gomel, ca. 100 km nördlich von Tschernobyl, litten Mütter mit Kindern unter 18 häufiger an psychischen Problemen.

Nach dem Unfall im Kernkraftwerk Three Mile Island in den USA 1979 fanden Forscher heraus, die „verzweifelsten Menschen in der Umgebung von Three Mile Island waren Mütter kleiner Kinder, die der Gouverneur von Pennsylvania unmittelbar nach dem Unfall aufgefordert hatte, die Gegend zu verlassen, um ihre Familien zu schützen“.

Es gibt noch weitere Implikationen für Frauen. Nach dem Unfall von Tschernobyl beispielsweise wurde schwangeren Frauen in der Ukraine zu einer Abtreibung geraten, ohne dafür konkrete Gründe zu benennen. Es wird behauptet, dass in den Monaten nach Tschernobyl in Westeuropa aus diesem Grund Tausende zusätzlicher Abtreibungen durchgeführt wurden.

Evakuierung und Umsiedlung

Die Zerstörungen durch Atomwaffendetonationen in bewohnten Gebieten sowie die Gefahr von radioaktivem Fallout zwingen zur Evakuierung und Umsiedlung vieler Menschen. Umsiedlung führt unabhängig von den auslösenden Faktoren zu einer Reihe von Problemen, die Frauen und Männer unterschiedlich betreffen.

In Krisen- und Konfliktsituationen ist es wahrscheinlicher, dass Frauen von sexueller Gewalt betroffen sind, schlechteren Zugang zu Hilfsleistungen haben und ihr Recht auf Gesundheit, Wohnung, Land und Eigentum schwerer in Anspruch nehmen könnnen, wodurch sich ohnehin vorhandene Diskriminierungsmuster verschärfen. Das kann bei Frauen langfristig zu noch mehr psychischem Stress und einer insgesamt schlechteren Gesundheitssituation führen. Außerdem wird in vielen Gesellschaften erwartet, dass Frauen die meisten, wenn nicht sogar alle häuslichen Arbeiten durchführen, was ihre Möglichkeiten
verringert, am politischen und sozialen Leben sowie an Prozessen der Entscheidungsfindung teilzunehmen. Umsiedlung und ihre Folgen verstärken diese Mechanismen, da Aufgaben wie Anstehen für und Zubereiten von Nahrung oder Wasserholen noch mehr Zeit in Anspruch nehmen.

Kulturelle und indigene Rechte

Langfristige oder permanente Umsiedlung infolge von Atomwaffendetonationen, auch solchen zu Testzwecken,3 kann zur Einschränkung kultureller und indigener Rechte mit einer geschlechtsspezifischen Dimension führen. Indigene Frauen der Marshallinseln sind ein Beispiel dafür: In einer matriarchalen Gesellschaft, in der Grund und Boden von der Mutter auf das Kind übergehen, verloren die Marshallesinnen aufgrund der Umsiedlung von ihrem Land im Kontext der Atomwaffentests im Kalten Krieg ihr kulturelles Recht, in ihrer Gesellschaft die Rolle als Hüterinnen
des Landes auszuüben. Umsiedlung bedeutete für diese Frauen auch, dass sie auf ihrem eigenen Grund und Boden kein Einkommen mehr erwirtschaften konnten, da sie den Zugang zu den Materialien verloren, die sie zur Herstellung von handwerklichen und Haushaltsgegenständen brauchten. Auch die Männer der Marshallinseln waren von der Umsiedlung spezifisch betroffen: Sie sicherten bis dato die Nahrung für ihre Familien als Sammler und Fischer, leben jetzt aber in einer Umwelt, in der das Überleben weitgehend von Geldeinkommen abhängt.

Soziale Stigmatisierung und Diskriminierung

Ein weiteres Charakteristikum der Zeit nach den Atomwaffentests auf den Marshallinseln waren gemäß Schilderungen der Marshallesinnen entwürdigende Untersuchungen durch medizinisches und wissenschaftliches Personal der USA. Die Untersuchungen erhöhten den Stress der Frauen, trugen aber auch zu ihrer sozialen Stigmatisierung bei.

Japanische Überlebende der Atombomben auf Hiroshima und Nagsaki waren ebenfalls mit sozialer Stigmatisierung aufgrund der Strahlung konfrontiert. Sie wurden als »kontaminiert« angesehen und in Japan mit Furcht und Misstrauen behandelt. Dieses Stigma betraf zwar sowohl männliche als auch weibliche »hibakusha« – dieser Begriff bezeichnet Überlebende der Atombombenabwürfe –, die Bilder und Vorstellungen vom weiblichen Körper scheinen aber zur stärkeren Diskriminierung von Frauen beigetragen zu haben, insbesondere in Bezug auf Ehe und Fortpflanzung. Auf den Marshallinseln erlebten
Frauen, die den Atomwaffentests der USA ausgesetzt waren, beim Thema Eheschließung und Mutterschaft Stigmatisierung und Ängste.

Andere kulturelle und soziale Folgen

Geschlechtsspezifische kulturelle Praktiken können bei Frauen und Männern auch zu unterschiedlichen Strahlenfolgen führen, beispielsweise aufgrund von Essgewohnheiten; dies war nach dem Atomkraftwerksunfall von Tschernobyl genauso der Fall wie auf den Marshallinseln. Der Unfall von Tschernobyl hatte auch Auswirkungen auf das innere soziale Gruppen- und Familiengefüge – bis hin zum Umgang von Ehepartnern miteinander. Ursächlich war die Sorge um die Strahlenbelastung und die Angst vor kranken Kindern.

Folgen für die Umwelt

Diese Studie hat zwar einen anderen Schwerpunkt, es muss aber unbedingt erwähnt werden, dass Atomwaffendetonationen gravierende Folgen für die Umwelt haben […]. So ergab vor einigen Jahren eine Studie, dass selbst ein »begrenzter« regionaler Atomkonflikt langfristige globale Auswirkungen hätte, u.a. auf das Klima, die Nahrungsproduktion und die Massenmigration, da durch die Atomdetonationen so viele Partikel in die Atmosphäre gelangen würden,4 dass das Sonnenlicht die Erdoberfläche nicht mehr wie bisher erreichen könnte und dadurch die Temperaturen
global auf Jahre hinaus sinken würden. Menschen nahe oder gar unter der Armutsgrenze wären besonders betroffen. […]

Anmerkungen

1) Ionisierende Strahlung kann den Körper auf zwei Arten schädigen. Zum einen kann sie Körperzellen durch strahlungsbedingte Verbrennungen oder das akute Strahlensyndrom direkt zerstören. Diese deterministischen Ausirkungen treten bei den Opfern einer Atomwaffendetonation sofort oder kurz nach dem Ereignis auf. Zum anderen kann ionisierende Strahlung Mutationen der DNA verursachen, z.B. Krebs oder Genveränderungen (stochastische Auswirkungen). Werden Mutationen nicht repariert, kann sich die Zelle in eine Krebszelle verwandeln.
Diese stochastischen Auswirkungen treten in der Regel lange Zeit (unter Umständen viele Jahre) nach der eigentlichen Strahlenbelastung auf, sind aber genauso wie die deterministischen Auswirkungen unmittelbar auf die Atomwaffendetonation zurückzuführen.

2) Der entsprechende Absatz lautet: „[… in der Erkenntis, dass den katastrophalen Folgen von Kernwaffen nicht ausreichend begegnet werden kann, dass sie nicht an nationalen Grenzen haltmachen und gravierende Auswirkungen auf den Fortbestand der Menschheit, die Umwelt, die sozioökonomische Entwicklung, die Weltwirtschaft, die Ernährungssicherheit und die Gesundheit heutiger und künftiger Generationen haben und dass sie unverhältnismäßig stark Frauen und Mädchen treffen, darunter
aufgrund der ionisierenden Strahlung, […]“
.

3) Zwischen 1945 und 1980 wurden Hunderte oberirdische Atomwaffentests durchgeführt. [die Übersetzerin]

4) Anders als bei den oberirdischen Atomwaffentests der 1950er und 1960er Jahre, die über der Wüste oder über dem Meer durchgeführt wurden, werden beim Einsatz von Atomwaffen über bewohntem Gebiet Erde, Trümmerpartikel und Ruß in die Atmosphäre geschleudert und mit dem Wind über die Erdkugel verteilt. Ein regionaler Atomkrieg mit 100 Atomwaffen würde daher eine lang anhaltende Partikelwolke rund um den Globus und in vielen Regionen der Erde eine große Hungersnot verursachen. [die Übersetzerin]

Die Studie »Gender, Development and Nuclear Weapons – Shared goals, shared concerns« wurde verfasst von John Borrie (Rechercheleiter bei UNIDIR), Anne Guro Dimmen (Beraterin bei ILPI), Torbjørn Graff Hugo (Leiter des Projekts Massenvernichtungswaffen bei ILPI), Camilla Waszink (Programmdirektorin für Waffen und Abrüstung bei ILPI) und Kjølv Egeland (Berater bei ILPI und Doktorand an der University of Oxford).
Das United Nations Institute for Disarmament Research (UNIDIR) ist in Genf angesiedelt. Das inzwischen geschlossene International Law and Policy Institute
(ILPI) hatte seinen Sitz in Oslo.

W&F dankt für die Übersetzungs- und Nachdruckrechte dieses Kapitels.

Aus dem Englischen übersetzt von ­Regina Hagen.

Gender im Visier

Gender im Visier

von María Cárdenas

Als wir uns in der Redaktion für den Themenschwerpunkt »Gender« entschieden, waren wir zunächst gespalten. Die Entscheidung dafür beruhte auf dem Gedanken, »es müsse mal wieder etwas dazu geschrieben werden«, wir fragten wir uns aber auch, ob wir zu diesem vermeintlich so allgegenwärtigen Thema in W&F nicht schon alles gesagt hätten. Die Institutionalisierung von Frauen- und Geschlechterforschung, internationale Resolutionen, wie 1325 des UN-Sicherheitsrates (Meinzolt sowie Seifert in diesem Heft), nationale Gesetzeserlässe gegen Diskriminierung, für die Gleichberechtigung der Geschlechter und zum Teil auch der LGBTQI (Lesben, Schwule, Bisexuelle, Trans, Queer und Intersexuelle) sowie für sexuelle Selbstbestimmung scheinen selbst in die konservativsten Kreise der Welt vorzudringen. Geberfinanzierte Projekte der internationalen (Entwicklungs-) Zusammenarbeit setzen in vielen Ländern seit Jahren eine gendersensible Durchführung voraus und fördern de jure oder de facto Gendergleichheit durch Projekte, die von der »Guten Regierungsführung« bis hin zu Katasterreformen gehen. Ist die Berücksichtigung von Gender obsolet geworden? Keinesfalls.

Wir leben nicht nur in einer Zeit, in der sich innergesellschaftliche und internationale Konflikte scheinbar täglich verschärfen, an den so unverrückbar geglaubten Fundamenten der (relativen) deutschen Einheit und der Europäischen Union rütteln und an unsere eigene Haustür klopfen. »Gender«, d.h. die soziale Kategorie Geschlecht und Fragen der sexuellen Orientierung und Selbstbestimmung, ist darüber hinaus auch tief verwurzelt in unseren gesellschaftlichen Konfliktlinien und wirkt in die Wahrnehmung von Konflikten und ihrer Lösung hinein. In Kolumbien hat die Panikmache vor einer »Gender-Ideologie« jüngst zu einer Aushöhlung des weltweit progressivsten Friedensabkommens geführt und Ende Juni die Wahl von Ivan Duque als neuem Präsidenten gefördert – dessen Partei unter Ex-Präsident Alvaro Uribe versprach, das, was vom Friedensabkommen übrig ist, „in Stücke zu schlagen“.

Doch wo genau liegt der Zusammenhang zwischen Gender und Konflikt bzw. Krieg? Gender darf nicht losgelöst von anderen sozialklassifikatorischen Kategorien, wie vermeintlicher oder realer Herkunft, phänotypischen Merkmalen, ethnischer Zugehörigkeit, Religion und Klasse, gedacht werden. Vielmehr entfaltet Gender erst in der Intersektionalität eine Wirkungsmacht für Krieg und Frieden und für den Diskurs darüber, der immer stärker von antifeministischem und gleichermaßen rechtskonservativem Autoritarismus dominiert wird. Militarisierte Männlichkeitsbilder dienen somit auch dem Zweck, ins Rutschen gekommene patriarchale Machtstrukturen erneut zu festigen, wie Ralf Buchterkirchen historisch am deutschen und Alejandra Londoño ganz aktuell am kolumbianischen Fall zeigen.

In dieser Konjunktur haben anti-feministische und neopatriarchale Diskurse und die Rückkehr zur alt-neuen militärischen Männlichkeit mit Verweis auf die Rettung gesellschaftlicher Werte auch in Deutschland, Europa und den USA an Land gewonnen. Dies äußert sich in sinkenden Budgets für feministische und queere Forschung, hat remilitarisierende Ausmaße und fördert Konflikte, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus durch Diskurse zur Bewertung der »Gefährlichkeit« und »Integrationsfähigkeit« von (männlichen) Asylbewerbern, das Aufstocken der militärischen Ausgaben und die ansteigende Akzeptanz von »racial/male profiling«. Traditionelle Genderrollen und die ihnen innewohnende sexuelle Gewalt sind nicht nur ein Problem in Nachkriegszeiten (Hornberger), sondern wirken sich auch auf die Nutzung und das Verständnis von Kriegstechnik aus, wie Ray Acheson uns eindringlich zeigt.

Die linke und die Friedensbewegung tragen hier eine Mitverantwortung, da sie es bislang nicht vermögen, selbstbewusst und ernsthaft ein transversales und inklusives Genderverständnis als Voraussetzung für positiven Frieden zu verteidigen und zu verinnerlichen, und stattdessen rechtem patriarchalem Gedankengut eher hinterherlaufen und Gender als »zweitrangiges Problem« hintanstellen (Brunner und Londoño). In der Wissenschaft wurde zwar die Rolle der Frau ausdifferenziert und ihre aktive Teilhabe an Kriegsgeschehen und Friedensbildung hervorgehoben, jedoch der gesellschaftliche Nexus von militärischer Männlichkeit kaum dekonstruiert (Bausch und Rehmann). Das aktuelle und erschütternde Beispiel des kolumbianischen Friedensabkommens, das auch eine Neuverhandlung der gesellschaftlichen Verhältnisse vorsah, beweist, dass ohne eine Abkehr von Geschlecht als zentralem Herrschaftsinstrument auch keine Hinwendung zu positivem Frieden möglich sein kann.

Gender ist im Visier – militärisch, diskursiv und politisch. Die Heftartikel zeigen, dass Genderanalysen keine Fußnoten sein dürfen“ (Acheson). Nur wenn Krieg/Gewalt und Gender ernsthaft zusammengedacht werden, können wir als Friedensbemühte Gewalt und Krieg verstehen und damit auch erst dazu beitragen, sie nachhaltig zu überwinden.

Ihre
María Cárdenas

Männlichkeit im Militär


Männlichkeit im Militär

Historische Zugänge und Ansatzpunkte für die Friedensarbeit

von Ralf Buchterkirchen

Anhand der Konstruktion hegemonialer Männlichkeit im Militär wird in diesem Beitrag untersucht, wie Geschlecht als Kategorie genutzt wird, um widerständiges Verhalten zu sanktionieren und zu verhindern. Ausgangspunkt ist dabei der Umgang der NS-Militärjustiz mit Deserteuren und so genannten Wehrkraftzersetzern. Aus diesem Blickwinkel wird herausgearbeitet, welche Folgen sich aus diesen Erkenntnissen für die Friedensarbeit ziehen lassen.

Der Militärstand und seine Manifestation nach außen – die Uniform – stehen für eine Institution, in der Gewalt, die über den zivilen Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft hinaus geht, Akzeptanz findet. Die zivile Sphäre und das Militär sind sich so wesensfremd, dass Überschneidungen tunlichst vermieden werden. Das führt zu gegenseitiger Abgrenzung und verhindert zivilgesellschaftliche Interventionen in den Militärstand. Dies traf insbesondere vor Einführung der ­Wehrpflicht zu. Damals trugen Söldner – zum Kriegshandwerk ausgebildete und flexibel verfügbare Einheiten – die militärischen Konflikte aus. Sie agierten komplett getrennt von der zivilen Gesellschaft und mit einem eigenen Strafsystem und Selbstverständnis – und wurden in der zivilen Gesellschaft verachtet.

Dies änderte sich mit der Einführung der Wehrpflicht ab Ende des 18. Jahrhunderts. Sie führte zu weitreichenden Verschränkungen zwischen dem zivilen und dem militärischen Bereich, die von der Einführung eines bürgerlichen Reserveoffizierkorps bis hin zur Abschaffung von Körperstrafen reichten. Im Kern blieben sich der zivile und der militärische Bereich dennoch fremd, insbesondere weil die »Kernkompetenz« des Soldaten – die Ausübung von Gewalt – im Zivilen nicht geschätzt wird.

Im Militär hingegen wird die physische Gewalt gezielt ein- und ausgeübt; es geht darum, die Tötungshemmung gegenüber Menschen zu überwinden, auf Befehl (und nicht aufgrund eigener Entscheidung) zu töten und dabei die Angst vor dem eigenen Tod zu überwinden. Dies wird über gruppendynamische Prozesse, wie Kameradschaft, über die Kasernierung und eine Disziplinarordnung, die bis zur Todesandrohung bei »Feigheit vor dem Feind« reichen konnte, bewerkstelligt. Disziplinierung und Sanktionen sind entsprechend wichtige Grundpfeiler der militärischen Sozialisation. Dabei geht es nicht nur darum, »Gehorsam zu lernen«, sondern den eigenen Charakter komplett umzubauen, bis hin zur Selbstverleugnung. (Siehe dazu Steube, S.: Militär und Männlichkeit, S. 10, in dieser Ausgabe.)

Entwicklung von Männlichkeit im Militär

Erste Wehrpflichtentwürfe des preußischen Staates sahen vor, dass neben Gefängnis auch der Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte drohte, wenn sich ein Staatsbürger der Wehrpflicht entzog. Und in der Tat war die Begeisterung für den Zwangsdienst selbst im ökonomisch schlecht gestellten Proletariat gering.1 Warum sollten sich junge Männer zu einem Dienst verpflichten lassen, der ihnen nur Lebenszeit, vielleicht sogar das Leben selbst raubte? Neben Druck kam daher auch die Propagandamaschine zum Einsatz: Einerseits wurde an die Männlichkeit appelliert,2 andererseits wurde Krieg immer weniger als »Krieg der Regierungen« denn als »Krieg der Nationen« dargestellt.

Damit verfolgten die Herrschenden zwei Ziele: Zum einen wurde Krieg zur »Volkssache«, und es erfolgte eine Überhöhung des Kämpferischen: Es galt, »seinen Mann zu stehen«. Zum anderen konnte über die Abgrenzung zum Nichtmann/Nichtmilitär auch ein sozialer Status erlangt werden, der im zivilen Leben verwehrt blieb. Der Wehrdienst verknüpfte das »Positivbild« des Soldaten (stark, tapfer, männlich) mit dem Nationalen, mit »Patriotismus«. Da von der Wehrpflicht weite Teile der Bevölkerung betroffen waren, verschwand bald das Negativimage des Militärs, und es setzte ein Gefühl von größerer Gleichheit unabhängig vom eigentlichen sozialen Stand ein. Von größter Bedeutung war dabei: Männer gehörten der Institution Militär an, weil sie Männer waren. Das führte zur Selbstvergewisserung der eigenen Männlichkeit und zur Abgrenzung gegenüber Weiblichkeit. Die Wehrpflicht wurde so zur Institution, die den Jüngling zum Manne bildet. Die Einführung der Wehrpflicht formte die Körper und das Denken ganzer Generationen. Der soldatische Habitus wurde auch zum zivilen Vorbild für Männlichkeit (Fritsche 2015, S. 61 ff.).

Wir haben es also mit Einführung der Wehrpflicht mit einem völlig neuen Rollen- und Selbstverständnis zu tun – übrigens in Bezug auf beide sozial vorgesehenen Geschlechter. Neben der militärischen männlichen Sicht entstand die weibliche, die – zumindest für die bürgerlich Privilegierten – auf Kinder und Familie ausgerichtet war. Männer standen in den Familien den Frauen vor, beherrschten sie. Erzieherinnen und Mütter hatten die Aufgabe, diese »Werte« an die Kinder weiterzuvermitteln. Das mit der Wehrpflicht gefestigte Geschlechterbild wurde immer weniger in Frage gestellt, ja, geradezu ahistorisch als schon immer dagewesen gesetzt.

Wie stabil dieses geprägte Bild von Männlichkeit war, zeigt die militärische Niederlage im Ersten Weltkrieg. Schuld an der Niederlage – so die weitverbreitete und kaum hinterfragte Ansicht – waren nicht die »starken Männer«, die »ehrenhaften Soldaten«. Schuld waren die »Schwächlinge«, »Vaterlandsverräter« – also die Kriegsmüden, Sozialdemokraten, Kommunisten, die »Heimatfront«. Die Mär von der im Felde unbesiegten Armee ging um. Diese »Dolchstoßlegende« erlaubte es den Soldaten (und vor allem den Offizieren), ihre Männlichkeit und »Ehre« zu erhalten. Der Historiker Wolfram Wette beschreibt das Gefühl der Soldaten wie folgt:

„Freikorpskämpfer und Freikorpsautor Friedrich Wilhelm Heinz notierte: ‚Man redet uns vor, dass der Krieg nun zu Ende sei. Wir lachten darüber. Denn der Krieg, das waren wir selbst. Seine Flamme brannte in uns fort und umzog unser ganzes Tun mit dem glühenden und unheimlichen Bannkreis der Zerstörung.‘ Aus dieser Perspektive betrachtet, traf der verlorene Krieg das Männlichkeitsgefühl mehrerer deutscher Männergenerationen an der empfindlichsten Stelle, nämlich in der Überzeugung zu Kriegern und Siegern geboren zu sein. Daher weigerten sich die soldatischen Männer, die Realität der Niederlage Deutschlands und des Kriegsendes zur Kenntnis zu nehmen. Sie spürten, dass sie nicht mehr für das zivile Leben taugten und dass sie mit dem Frieden nichts anzufangen wussten. Er erschien ihnen als Bedrohung, als eine Neuauflage der trostlosen Zeit vor 1914. Daher fühlten sie sich unter einem inneren Zwang weiterkämpfen zu müssen, egal wo und egal gegen wen. Sie glaubten, sie hätten einen Anspruch auf ein Leben in der Gewalt.“ (Wette 2011, S. 145 f.)

Die aus dem Krieg wiederkehrenden Soldaten fanden nur schwer oder gar nicht in die zivile Welt zurück. Viele verdingten sich in Freikorps und anderen männerbündischen Vereinen. Dies wiederum bewirkte eine starke Militarisierung der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen der Weimarer Zeit, insbesondere aufseiten der Antidemokraten. In Kombination mit dem Bild des »Schanddiktates von Versailles« und der Dolchstoßlegende war dies eine der Grundlagen für die kommende NS-Diktatur.

Deserteure und »Wehrkraft­zersetzer« als Antipoden zum soldatischen Leitbild

Die Gleichsetzung von Männlichkeit und Soldat war ein zentrales Element der sich herausbildenden militärischen Ordnung. Nun wurde aber nicht der »Soldatenberuf« bzw. die Wehrdienstzeit an sich militärisch und in wachsendem Maße auch gesellschaftlich als förderlich angesehen, vielmehr wurde der dem Drill, der Disziplin und vor allem der Unterwerfung in einer hierarchischen Ordnung innewohnende Erziehungseffekt zunehmend positiv bewertet. Hinzu kam als strukturierendes Element die Kameradschaft, die mithelfen sollte, eigene Netzwerke bzw. Wohlfühlstationen zu haben und sich gegen die Nichtkameraden abzugrenzen; ihre Bedeutung wurde noch durch die heldische Überhöhung der »eigenen Kameradschaft« und die Abwertung des Gegners verschärft.

Das heroische Männlichkeitsbild als soldatisches Leitbild wurde zudem rassistisch aufgeladen; dies verstärkte sich mit dem Aufkommen des Nationalsozialismus. Kameradschaft galt als Vorbild für die »Volksgemeinschaft« und war Ausgangspunkt für das soldatische Freund/Feind-Denken: In der NS-Zeit – wie bereits in der Endphase der Weimarer Republik – wurde in der Gesellschaft die Idee einer »arischen Herrenrasse« und die Vernichtung des Judentums propagiert; insbesondere jüdische Männer wurden als vermeintliche »Schwächlinge« diskreditiert. Das Bild der »überlegenen Herrenrasse« sorgte für einen gewaltigen Konformitätsdruck unter den Soldaten und hilft, das Dogma vom »Kämpfen bis zum Untergang« zu verstehen.

Schon vorher genutzt, kam durch die NS-Ideologie verstärkt einem weiteren Begriff große Bedeutung zu: der »Manneszucht«. »Manneszucht« umschrieb den bedingungslosen militärischen Gehorsam und stand für alle Eigenschaften, die ein Wehrmachtssoldat zu zeigen hatte: Tapferkeit, Opferbereitschaft, Kollektivismus, Treue, Mut, Kameradschaft, Loyalität. Dem entgegen standen unsoldatische, ergo unmännliche, Tugenden, wie Individualismus, Aufmüpfigkeit, eigenes Denken und Handeln oder »Feigheit vor dem Feind«. »Manneszucht« war eine Zusammenfassung dessen, was das Militär von funktionierenden Soldaten erwartete. Die »Aufrechterhaltung der Manneszucht« war ein grundlegendes Merkmal der einschlägigen Militärjustiz der NS-Zeit. In der Fassung der Kriegssonderstrafrechtsverordnung vom 18.3.1943 hieß es etwa: „Personen, die dem Kriegsverfahren unterliegen, sind wegen strafbarer Handlungen gegen die Manneszucht oder das Gebot soldatischen Mutes unter Überschreitung des regelmäßigen Strafrahmens mit Zuchthaus bis zu fünfzehn Jahren, mit lebenslangem Zuchthaus oder mit dem Tode zu bestrafen, wenn es die Aufrechterhaltung der Manneszucht oder die Sicherheit der Truppe erfordert.“

Dieser Straftatbestand entzog sich einer objektiven Bewertung – und er wurde im Nationalsozialismus exzessiv herangezogen. Die Begriffe »gesundes Volksempfinden« und »Manneszucht« waren rasch bei der Hand. So äußerte beispielsweise der Soldat Otto Rischbieter im Kreise seiner Mitsoldaten 1941, mit dem Angriff auf die Sowjetunion sei der Krieg verloren. Er wurde denunziert, wegen Wehrkraftzersetzung zum Tode verurteilt und im Zuchthaus Brandenburg hingerichtet. Robert Gauweiler, ein hannoverscher Kommunist, wurde 1944 wegen der Äußerung „Diesen Krieg verlieren wir“ von anderen Soldaten angezeigt, von einem Militärgericht verurteilt und hingerichtet. Die Urteilsbegründung – Notwendigkeit der Aufrechterhaltung der Manneszucht – zeigt, wie massiv die Angst vor der Missachtung gesetzter Geschlechterbilder und der mit diesen verknüpften militärischen Ordnung den Umgang der Nationalsozialisten mit Gehorsamsverweigerung bestimmte. (Alle Beispiele aus Buchterkirchen 2011.) Während des Zweiten Weltkrieges wurden ca. 30.000 Todesurteile wegen Gehorsamsverweigerung gefällt, davon ca. 20.000 wegen Desertion und ca. 5.000 bis 6.000 wegen des Vorwurfs der Wehrkraftzersetzung. Etwa 21.000 dieser Urteile wurden vollstreckt.3

Die Rolle von Männlichkeit in der Wehrmacht lässt sich am besten am Beispiel derer aufzeigen, denen die Männlichkeit abgesprochen wurde: »Drückeberger«, »Vaterlandsverräter«, »Schwächlinge«, »Feiglinge«, »Volksschädlinge« sind die Begriffe, die in der NS-Zeit für sie genutzt wurden. Gemeint sind Deserteure, die aus unterschiedlichen Gründen nicht mehr mitmachen wollten oder konnten. Die Wortwahl zeigt, dass die Haltung der Deserteure im Nationalsozialismus als »entmannend« abgewertet wurde. Zudem wurden den Deserteuren als Teil des Urteils die bürgerlichen Ehrenrechte aberkannt, ebenso die »Wehrwürdigkeit«. (Als »wehrunwürdig« wurden Personen bezeichnet, die zivil oder militärgesetzlich zu Zuchthausstrafen verurteilt worden waren oder als »Staatsfeinde« galten.) Die Verurteilten wurden also aus der Männergemeinschaft ausgestoßen, bevor sie hingerichtet wurden. Mit der Abwertung der »Wehrkraftzersetzer«, die der Kriegsdienstverweigerung, der Selbstverstümmelung oder einer »zersetzenden« Äußerung beschuldigt wurden, und der Deserteure wurde symbolisch die soldatische Ehre der Truppe wiederhergestellt und der Druck auf potentielle Abweichler erhöht. Geschlechternormen dienten hier als Handlungsinstrument. Mit dem bis zum Ende kämpfenden, »ehrenvollen«, »manneszüchtigen«‚ »sauberen«, »mannhaften« Soldaten lässt sich u.a. die Legende der »sauberen Wehrmacht« erklären.

In der gesellschaftlichen Pyramide standen Deserteure weit unten. Selbst »arische« Frauen, in der Hierarchiepyramide weit hinter den »arischen« Männern, galten als ehrenhafter. Der im Nationalsozialismus in Bezug auf nicht ausreichend vorzufindenden Gehorsam abfällig verwendete Begriff der »Weiblichkeit« war eine Metapher für das Andere, Nicht-Militärische. Über diese Abgrenzung des Anderen wurde des Weiteren die männlich-heterosexuelle Norm abgesichert.

Diese Norm fand ihren Ausdruck ebenfalls in der Justiz. Viele Kriegsgerichtsurteile suchten eine »Gemeinschädlichkeit« zu konstruieren und nachzuweisen. Menschenverachtende Bewertungen der Verurteilten mit Begriffen wie »Psychopath«, »asozial«, »minderwertig« und »Wehrmachtsschädling«‚ »Volksfeind«, »Zersetzer« finden sich häufig in Kriegsgerichtsakten.4 Maria Fritsche verweist darauf, dass Desertion u.a. durch den Wehrmachtsrichter und späteren (in der Bundesrepublik) Rektor der Universität Marburg, Erich Schwinge, außerdem pathologisiert und ein direkter Zusammenhang zwischen Schwachsinn, psychischer Labilität und Desertion hergestellt wurde. Desertion sei also nicht als Akt der Auflehnung, sondern als krankhafte unmännliche Reaktion bewertet worden (Fritsche 2015, S. 69).

Die Flucht aus der Armee erfolgte vielfach aus dem Heimaturlaub. Dort war Zeit für Reflexion, man war dem Irrsinn des Krieges für eine kurze Zeit entflohen, man bewegte sich nicht in den gewohnten Männer- und Kameradschaftsstrukturen.

Gesellschaftliche Reaktion

Die gesellschaftlichen Reaktionen während des Krieges ließen diese tief verinnerlichte Männlichkeitskonstruktion dauernd zum Vorschein kommen. In Gnadengesuchen und den wenigen vorhandenen Briefen ist viel von »Scham« die Rede. Auch heute noch kommt es bei Recherchen zu Deserteuren vor, dass man auf eine Mauer des Schweigens stößt oder darüber berichtet wird, dass nie über die betroffenen Angehörigen gesprochen wurde, sie tabu waren. Auch in der gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung wurde das gesellschaftliche Tabu erst in den 1990er Jahren aufgebrochen, und es konnte eine Rehabilitierung der wegen Wehrkraftzersetzung oder Fahnenflucht Hingerichteten erfolgen.

Die derzeit stattfindende Veränderung des Soldatenbildes in der Bundeswehr ist hingegen zwiegespalten. Die Öffnung der Armee für Frauen hat keine wesentlichen Veränderungen männlicher Normen gebracht, vielmehr wurden die Frauen in der Bundeswehr in die männlichen Strukturen integriert, sie wurden im sozialen Sinne »vermännlicht«. Gegenwärtig scheint es einige Veränderungen zu geben, die jedoch eher werbenden Ursprung haben: Hochqualifizierte IT-Expert*innen lassen sich eben nicht mit martialischer Kameradschaft gewinnen. Die Bundeswehr lässt sich nicht mit der Wehrmacht vergleichen, Strukturen von hegemonialer Männlichkeit, Sozialisation auf Basis von Befehl und Gehorsam und die daraus folgenden Männlichkeitsideale sind aber bis heute Kern des Selbstverständnisses. Nicht nur die in letzter Zeit regelmäßig auftauchenden Skandale um Initiationsriten u.ä. sind dafür Indikatoren.

Erkenntnisse für die Friedensarbeit

Eine grundlegende Erkenntnis aus dem bislang Gesagten ist die untrennbare Verwobenheit von Militär und Männlichkeit. Das Konstrukt »Männlichkeit« ist konstituierend für das Militär. Daraus folgt, dass es bei der Friedensarbeit (auch) darum gehen muss, die Männlichkeitsentwürfe der Gesellschaft zu ändern. »Geschlecht« muss pluraler und individueller definiert werden, und vorgefertigte Rollen und Verhaltensmuster sind in Frage zu stellen. Dirck Linck schreibt in Bezug auf den Vietnam-Krieg:

„Der heldenhafte Körper geriet nicht zufällig in den Blick; er war den Jugendlichen extrem präsent als massenmedial zirkulierender Körper, der in Vietnam tötete und aus Vietnam als fetischisierter Leichnam zurückkehrte. Als vollkommener Ehemann. Er war Teil der inneren Codierungen der Jugendlichen, deren Widersprüchlichkeit neue Identifikationen hervortrieb. Wer jetzt noch auf der Suche nach Identität war, orientierte sich an »Weiblichkeit« und verweigerte den Kriegsdienst.“ (Linck 2016, S. 79).

Der starke Fokus auf der soldatischen Männlichkeit ist eine Achillesferse des Militärischen. Mit ihrer Hinterfragung, Lächerlichmachung und dem Aufzeigen der Absurdität dieser soldatischen Männlichkeitskonstrukte lässt sich militärisches Denken und Handeln in Frage stellen. Nicht ohne Grund wurden die vielen Skandale über entwürdigende Rituale jahrelang nicht aufgedeckt – sie gehörten scheinbar dazu. Erst die Infragestellung dieser Männlichkeitsnormen aus der Zivilgesellschaft heraus führte zur Aufklärung der ritualisierten Vorkommnisse.

Aus diesem Widerspruch zwischen dem eigenen Empfinden und der geforderten Unterordnung unter konservative Rollenbilder lassen sich Ansätze emanzipatorischer Friedensarbeit ableiten. Dazu gehört es für Männer, ein eigenes Verständnis von Männlichkeit und Geschlecht zu entwickeln. Hier könnte die Auseinandersetzung mit dem Deserteursthema weiterhelfen. Positive Bezugspunkte zu Menschen, die sich dem Töten verweigern, schaffen, ohne sie zu Helden zu überhöhen, alternative Vorbilder. Der Deserteur Willi Rehse war beispielsweise ein typischer Jugendlicher, der gerne Grenzen auslotete (Verspätungen beim Zapfenstreich, Besuch der Freundin in der Kaserne …), was zu einer Eskalation der Strafen führte, an deren Ende seine Hinrichtung stand.5 Seine Geschichte enthält für heutige Heranwachsende viele Berührungspunkte zur eigenen Biographie. Rehse taugt nicht als Held im klassischen Sinne, zeigt aber plastisch die Absurdität des Militärs auf. Hier kann Erinnerungsarbeit einen wichtigen Baustein zur Erkenntnis und Selbsterkenntnis leisten. Durch die Einbeziehung der Kategorie Geschlecht lassen sich Erinnerungsarbeit und Lernorte neu aufstellen und besetzen und damit auch Gegenstrategien im Sinne eines »Nie wieder!« entwickeln. Ebenfalls zu überlegen wäre, wie mit diesem Fokus auch das öffentliche Gedenken anders gestaltet werden könnte.

Anmerkungen

1) Für die bürgerlichen Privilegierten kamen zunehmend Möglichkeiten auf, ihre Kinder vom Wehrdienst freizukaufen. Die Führungspositionen im preußischen Militär waren hingegen eine Domäne des Adels (in Frankreich des privilegierten Bürgertums). Vgl. ausführlich Hartmann 2011.

2) Ausführlich zur Konstruktion von Männlichkeit im Militär siehe Frevert 2001.

3) Dazu kommen noch 4.000-8.000 Hinrichtungen durch Standgerichte während der letzten Kriegstage.

4) Plastisches Beispiel dafür ist der Kanonier Oppermann in Buchterkirchen 2011, S. 90 ff.

5) Die Geschichte Willi Rehses ist noch nicht aufgeschrieben. Das wird 2019 in einer schulpädagogischen Arbeit erfolgen.

Literatur

Buchterkirchen, R.: (2011): „… und wenn sie mich an die Wand stellen“ – Desertion, Wehrkraftzersetzung und »Kriegsverrat« von Soldaten in und aus Hannover 1933-1945. Neustadt: Edition Region und Geschichte.

Frevert, U. (2001): Die kasernierte Nation. München: C.H. Beck.

Fritsche, M. (2004): Entziehungen – Österreichische Deserteure und Selbstverstümmler in der Deutschen Wehrmacht. Wien: bohlau.

Fritsche, M. (2015): Männlichkeit als Forschungskategorie. In: Bade, C.; Skowronski, L.; Viebig, M.: NS-Militärjustiz im Zweiten Weltkrieg. Dresden: VR unipress, S. 61-77.

Hartmann, H. (2011): Der Volkskörper bei der Musterung – Militärstatistik und Demographie in Europa vor dem Ersten Weltkrieg. Göttingen: Wallstein Verlag.

Linck, D. (2016): Creatures – Aufsätze zu Homosexualität und Literatur. Hamburg: männerschwarm.

Wette, W. (2011): Militarismus in Deutschland. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag.

Ralf Buchterkirchen, Wirtschaftsinformatiker aus Hannover, ist Bundessprecher*in der DFG-VK und forscht ehrenamtlich zu Deserteuren, Wehrkraftzersetzern und wegen Kriegsverrat verurteilten Soldaten. Er betreibt das Blog verqueert.de, auf dem er zu queeren und antimilitaristischen Themen schreibt.

Nachgefragt: Was ist epistemische Gewalt?


Nachgefragt: Was ist epistemische Gewalt?

Ein Interview mit Claudia Brunner

von Thomas Mickan

Claudia Brunner ist Assistenzprofessorin am Zentrum für Friedensforschung und Friedensbildung der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt. Die Sozialwissenschaftlerin beschäftigt sich mit dem Zusammenhang zwischen politischer und epistemischer Gewalt, einem in der Friedens- und Konfliktforschung noch wenig bekannten Begriff. Worum geht es dabei?

Thomas Mickan für W&F: Was ist denn überhaupt epistemische Gewalt?

Der Begriff bezeichnet jene Gewaltförmigkeit, die mit unserem Wissen zu tun hat. Diese verortet er in einer globalen Dimension von Ungleichverhältnissen, die immer auch Gewaltverhältnisse sind. Das klingt paradox, erstens, weil Wissen – das Epistemische – ja geradezu als Gegenmittel zu Gewalt verstanden wird, und zweitens, weil sich Wissenschaft als universelle Sprache der Gewaltlosigkeit zu inszenieren weiß. Diese Selbstverständlichkeit in Frage zu stellen ist eine Stärke des Begriffs »epistemische Gewalt«.

TM: Wozu brauchen wir den?

Ich denke, dass wir generell wieder mehr mit weiten Gewaltkonzepten arbeiten sollten, um die unterschiedlichsten Facetten gewaltförmiger Verhältnisse besser problematisieren zu können. Strukturelle, kulturelle oder symbolische Gewalt sind als Begriffe lange bekannt, werden in tonangebender Forschung und Politik jedoch immer wieder zugunsten eines engen Verständnisses von Gewalt vernachlässigt.

Dass und wie unterschiedliche Gewaltphänomene zusammenhängen, können wir über eine Infragestellung dominanten und damit normalisierten Wissens besser erkennen. Nicht zuletzt geht es auch darum, die Metropolen von Wissen und Macht im Globalen Norden/Westen als für Gewalt relevante Orte zu markieren. Kritische Friedensforschung und weite Gewaltkonzepte tun das ja immer schon. Der Begriff »epistemische Gewalt« schärft diese Perspektive und fordert zugleich ein, die eigene Wissensproduktion zu hinterfragen.

TM: Was unterscheidet epistemische Gewalt von struktureller Gewalt?

Im Grunde sind die Konzepte eng verwandt, doch sie werden selten gemeinsam genannt. Beide kommen aus der Kritik am Kapitalismus, und beide haben die globale Dimension systemischer Ungleichheit im Blick – doch auf unterschiedliche Weise. Während strukturelle Gewalt in der Tradition Johan Galtungs vorrangig auf materielle Ressourcen, Institutionen und Ordnungen fokussiert, fragt epistemische Gewalt im Anschluss an Gayatri Spivak intensiver nach den Wissensbeständen, die diesen Ordnungen zugrunde liegen. Man könnte auch sagen, dass das Konzept strukturelle Gewalt am Erbe der Aufklärung festhält, wohingegen die Analyse epistemischer Gewalt dieses Erbe in die Gewaltkritik miteinschließt.

TM: Ist die/Deine Forschung zu epistemischer Gewalt einer bestimmten Theorietradition oder Forschungsströmung verpflichtet oder besonders nah?

Es sind insbesondere feministische, post- und dekoloniale Theoretiker*innen, die den Begriff prägen und benutzen. Wenig überraschend sind das kritische Wissen(schaft-)straditionen, die sich aus widerständigen sozialen Bewegungen entwickelt haben. Diese verlaufen als Ringen nicht nur um Anerkennung und Partizipation am Bestehenden, sondern auch um dessen substanziellen Wandel. Weil die herrschenden Ideen immer auch die Ideen der Herrschenden sind, bedeutet Kritik daher auch, diese Selbstverständlichkeiten herauszufordern.

Zentral für das Konzept epistemischer Gewalt ist die Analyse von Rassismus und Sexismus, weil diese die globale Arbeits- und Ressourcen(ver-)teilung eines globalisierten kapitalistischen Weltsystems organisieren und naturalisieren. Dessen Anfänge liegen in der kolonialen Expansion Europas seit dem so genannten »langen 16. Jahrhundert«. Die war nicht nur mit Geld und Waffen zu machen, sondern benötigte zunehmend universalisiertes Wissen und entsprechende Normen, um die Ausbeutung von Menschen und Ressourcen ebenso wie die Vernichtung von alternativen Wissens- und Seinsweisen zu rechtfertigen.

TM: Wie kann Friedensforschung (­epistemische) Gewalt sein?

Friedensforschung hat ein Bild von Wissen(schaft), Bildung und damit letztlich auch von sich selbst, das als Gegenpol zu Gewalt dient und auch zu deren Überwindung beitragen soll. Gewalt ist dabei meist anderswo, anderswer und anderswas – hat also mit Analyse, Theorie und Begriffen der Friedensforschung selbst scheinbar nichts zu tun. Mit diesem Wissen wird aber auch Politik für dieses Anderswo gemacht, sei es als »humanitäre Intervention« gegenüber »gescheiterten Staaten«, als »Entwicklungspolitik«, zur Herstellung von »innerer Sicherheit» oder zu »Peacebuilding«. Aber auch Friedenspädagogik ist weitgehend einem eurozentrischen Universalismus verpflichtet, der bisweilen mehr mit Befriedung als mit Befreiung zu tun hat.

Die Grundlagen dieser konzeptionellen Zugriffe auf Ungleichheits- und Gewaltverhältnisse sind wie alle Wissenschaften tief verwurzelt in der euro- und androzentrischen Tradition der Moderne, deren »dunkle Unterseite«, die anhaltende Kolonialität von Macht, Wissen und Sein, dabei nicht zur Sprache kommt. Gerade dorthin richtet der Begriff »epistemische Gewalt« den Blick, um nach angemesseneren Wegen zu einem »positiven Frieden« zu suchen.

TM: Muss die FuK mehr Selbstreflexivität üben, um dieser »Gefahr« zu entgehen, oder wie kann gute Praxis im Umgang mit epistemischer Gewalt aussehen?

Ich spreche mit Gaby Dietze lieber von Hegemonieselbstkritik als von Selbstreflexivität. Friedensforschung muss ihren eigenen Anteil an der Normalisierung von Gewaltverhältnissen an weiten Gewaltbegriffen messen, anstatt implizit die Annahme der eigenen Gewaltfreiheit zu verabsolutieren. Dabei kann sie weiterhin von feministischen, post- und dekolonialen Stimmen sowie von sozialen Bewegungen lernen, die in täglichen Auseinandersetzungen um Würde, Gerechtigkeit und eine weniger von Gewalt durchdrungene Zukunft ringen.

Weiterführende Literatur von Claudia Brunner

2013: Situiert und seinsverbunden in der »Geopolitik des Wissens« – Politisch-epistemische Überlegungen zur Zukunft der Wissenssoziologie. Zeitschrift für Diskursforschung, Jg. 1, Nr. 3, S. 226-45.

2016: Das Konzept epistemische Gewalt als Element einer transdisziplinären Friedens- und Konflikttheorie. In: Wintersteiner, W.; Wolf, L. (Hrsg): Friedensforschung in Österreich – Bilanz und Perspektiven. Klagenfurt: Drava, S. 38-53.

2016: Gewalt weiter denken in der Kolonialität des Wissens. In: Ziai, A. (Hrsg.): Postkoloniale Politikwissenschaft – Theoretische und empirische Zugänge. Bielefeld: transcript, S. 90-108.

2017: Friedensforschung und (De-)Kolonialität. ZeFKo – Zeitschrift für Friedens- und Konfliktforschung, Jg. 6, Nr. 1, S. 149-63.

2017: Von Selbstreflexion zu Hegemonieselbstkritik. Sicherheit und Frieden, Jg. 35, Nr. 4, S. 196-201.

2018: Epistemische Gewalt – Konturierung eines Begriffs für die Friedens- und Konfliktforschung. In: Dittmer, C. (Hrsg.): Dekoloniale und Postkoloniale Perspektiven in der Friedensforschung – Verortungen in einem ambivalenten Diskursraum. Baden-Baden: Nomos (ZeFKo – Zeitschrift für Friedens- und Konfliktforschung, Sonderband 2), S. 25-59.

Eine Projektbeschreibung und Publikationen zum Thema finden sich unter epistemicviolence.info.

Thomas Mickan ist Politikwissenschaftler, Beirat der Informationsstelle Militarisierung und Mitglied der W&F-Redaktion.

Wissenschaft im Dienste des Militärs

In den verschiedensten Facetten war das Thema »Wissenschaft im Dienste des Militärs« bereits in der Schwerpunktsetzung früherer W&F-Ausgaben und Dossiers präsent. Zum Beispiel:

3-2005: Verantwortung der Wissenschaft

4-2006: Zivil-militärische Zusammenarbeit

3-2009: Okkupation des Zivilen

4-2012: Rüstung – Forschung und Industrie

1-2016: Forschen für den Frieden

Dossier 50: Einstein weiterdenken – Sein Einsatz für Frieden und Abrüstung und die Verantwortung der Wissenschaft.

Dossier 78: Zivilklauseln – Lernen und Forschen für den Frieden

Dossier 79: Kriegführung im Cyberspace

Dossier 85: Transhumanismus und Militär

Die Verantwortung der Wissenschaft, zivil-militärische Zusammenarbeit, Dual-use – das sind Themen, die in W&F immer wieder außerhalb der Schwerpunktthemen berücksichtigt werden, auch mit Blick zurück in die Geschichte und über Europa hinaus. Eine kleine Auswahl aus den letzten zehn Jahren:

2-2007: Nanotechnologieforschung in Lateinamerika – Der Einfluss des US-Militärs

3-2009: Hochschulen und Militärforschung

1-2010: Wissenschaftler, Verantwortung und der Krieg

1-2010: Der Bau der ersten Atombomben und die Motive der beteiligten ­Wissenschaftler

3-2010: Zivilklauseln für alle Hochschulen

1-2011: Militarisierung der Hochschulen verhindern

2-2011: Militärisch-industrieller Komplex im Wandel

4-2012: Der MIK der Europäischen Union

4-2012: Zivil-militärische Sicherheitsforschung

1-2013: Forschen für den Krieg. Psychologische Aspekte der Rüstungsforschung im Nationalsozialismus

3-2014: Physiker im Ersten Weltkrieg – Die Verlobung von moderner Wissenschaft, Industrie und Militärforschung

2-2015: Drohnen – Eine unaufhaltsame Entwicklung?

2-2015: Militarisierung des Cyberspace

3-2016: Kooperation zwischen Hochschule Bremen und Bundeswehr

2-2017: Zivilklausel auf Japanisch. Japanische Universitäten ächten Militär­forschung

Zusammengestellt von Jürgen Nieth