In die fremde Heimat

In die fremde Heimat

Die Remigration kurdischer Jugendlicher in den Nordirak

von Simon Moses Schleimer

Seit dem Sturz des Regimes von Saddam Hussein im Jahr 2003 ist ein wachsender Trend der Remigration von kurdischen Familien aus Deutschland in den Nordirak zu verzeichnen. Wie die in Deutschland sozialisierten Kinder und Jugendlichen die Remigration in die traditionelle und patriarchale Gesellschaftsstruktur der Autonomen Region Kurdistan bewerkstelligen, soll mithilfe des »Kulturschock«-Konzepts von Oberg (1960) in diesem Artikel dargestellt werden.

Nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches nach dem Ersten Weltkrieg wurde Kurdistan gegen den Willen der Kurden auf vier Staaten im Mittleren Osten aufgeteilt: Irak, Iran, Syrien und die Türkei. Bei der Aufteilung wurden sowohl Fragen der Selbst- bzw. Mitbestimmung als auch die bestehenden sozialen und kulturellen Strukturen und Traditionen der Kurden von den neu gegründeten Staaten ignoriert oder gar mit Gewalt unterdrückt. Das Hauptaugenmerk dieses Artikels liegt auf der kurdischen Region im Norden des Irak, in der das Regime von Saddam Hussein eine systematische und international geächtete Vernichtungspolitik betrieb, bei der es zu Massendeportationen kurdischer Bevölkerungsteile und zur brutalen Zerstörung von kurdischen Dörfern kam. Bis Mitte der 1990er Jahre flüchteten 70.000 Menschen aus den kurdischen Gebieten des Irak in die Bundesrepublik.

Als die Alliierten nach dem Ende des Golfkrieges 1991 im Norden des Irak eine Schutzzone einrichteten, die ein Flugverbot für die irakische Luftwaffe einschloss, wurde der kurdischen Bevölkerung ermöglicht, eine Verwaltungsstruktur aufzubauen, die unabhängig von der Regierung des Irak besteht. Obwohl bis heute nicht die Rede von einer stabilen Ordnung sein kann, befindet sich die Region in einem kontinuierlichen wirtschaftlichen und sozialen Aufschwung. Seit dem Sturz von Saddam Hussein im Jahr 2003 gilt die allgemeine Situation als „relativ stabil“ (UNHCR 2009). Dies ist auch der Grund, warum immer mehr Kurden in die Region zurückkehren bzw. zwangsweise in den Nordirak zurückgeführt werden. Das Statistische Bundesamt (2011) macht deutlich, dass es sich bei den kurdischen Remigrationsbewegungen in den Irak nicht um Einzelerscheinungen handelt, sondern ein deutlich erhöhter Trend zur Rückkehr feststellbar ist. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge konstatiert, dass irakische Staatsangehörige in den Jahren 2004-2008 zu den fünf größten Rückkehrergruppen zählten (BAMF 2010, S.11). Bis heute sind wohl weit über 2.000 Personen in den Nordirak remigriert.

Durch die Remigration kommen Kinder und Jugendliche aus Flüchtlingsfamilien, die oftmals in Deutschland geboren wurden und die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, ohne ausreichende Kenntnisse von Sprache, Gesellschaft und Kultur in die Region und müssen sich mit einer ihnen völlig fremden Welt auseinandersetzen. Denn die Jugendlichen werden mit einer patriarchal orientierten Gesellschaft und einer Retraditionalisierung von Geschlechter- und Lebensverhältnissen im Nordirak konfrontiert. Dies ist gerade in der Phase der Adoleszenz, einer zentralen Phase der Identitätsbildung, eine besondere Herausforderung. Denn neben dem „Umwandlungsprozess vom Kind zum Erwachsenen“ (Günther 2009, S.68), der durch umfassende Veränderungen in physischer, psychischer und sozialer Hinsicht geprägt ist, müssen die Jugendlichen auch die (Re-) Migration verarbeiten. Aus diesem Grunde sprechen King und Schwab (2000) von einer „verdoppelten Transformationsanforderung“.

Das »Kulturschock«-Konzept nach Oberg

Obwohl sich die Region im Norden des Irak während des Aufenthalts der kurdischen Familien in Deutschland deutlich verändert hat, haben die Eltern tendenziell weniger Wiedereingliederungsprobleme als ihre Kinder. Sie wurden in ihrem Herkunftsland sozialisiert und haben ihre kulturellen Werte in der Diaspora nicht aufgegeben oder können diese gegebenenfalls reaktivieren. Dies liegt hauptsächlich an den Gründen ihrer Migration, denn die Flucht aus politischen und/oder wirtschaftlichen Gründen war nicht auf Dauer angelegt. So wurde die Migration stets mit der Perspektive der Rückkehr gelebt. Ihre enge Verbindung und Verwurzelung mit der kurdischen Herkunftsgesellschaft wurde über die Jahre der Abwesenheit aufrecht erhalten, was eine Anpassung an die Gegebenheiten nach der Remigration stark erleichtert.

Im Gegensatz dazu vollzieht sich ein vollständiger Wandel und Umbruch der kindlichen und jugendlichen Lebenswelten. Durch die Remigration kommen die kurdischen Jugendlichen in eine Region, die vielfältige kulturelle Besonderheiten aufweist und voller Widersprüche, Unsicherheiten und Unwägbarkeiten ist. Lebten sie zunächst in einem Land, in dem die Traditionen den Modernisierungs- und Individualisierungstendenzen gewichen sind, migrieren sie nun in eine Gesellschaft, die sich in einem politischen, ökonomischen und sozialen Transformationsprozess befindet und in welcher Globalisierungstendenzen und die damit einhergehende Modernisierung zugunsten einer Traditionalisierung, Patriarchalisierung und Lokalisierung entwertet werden. Schmidt (2000) macht zwar deutlich, dass die kurdischen Jugendlichen auch in Deutschland innerhalb ihrer familiären Sozialisation mit der kurdischen Kultur konfrontiert sind, was sich insbesondere in der „geschlechterspezifischen Rollenverteilung“ (ebd., S.96) zeigt. Jedoch werden sie im Nordirak mit deutlich repressiveren Umständen konfrontiert. Cassarino (2004) führt aus: „Diese Dichotomie zieht eine Grenze zwischen zwei separierten Welten: den modernen Aufnahmeländern und den traditionellen Ländern der Remigranten.“ (ebd., S.261)

Hinzu kommt, dass die Jugendlichen von ihren Eltern oftmals nicht über das Leben im Nordirak aufgeklärt werden, sodass die Erfahrungen, die sie nach der Remigration machen, desillusionierend wirken. Sie kennen die Region bisher nur aus den subjektiv geprägten Erzählungen und Erinnerungen ihrer Eltern und eventuell den episodenhaften Aufenthalten während der deutschen Sommerferien. Dies führt zur starken Romantisierung und Idealisierung der kurdischen Gesellschaft, der Landschaft und des Lebens im Nordirak (vgl. Skubsch 2000, S.117). Dieses Bild nähren zusätzlich Verheißungen der Eltern auf großen materiellen Wohlstand und die Chance, eine erfolgreiche Bildungskarriere im Nordirak zu bestreiten. Die Sicht auf die autonome Region ist damit verklärt und überschattet die Realität, welche die Jugendlichen nach der Rückkehr erwartet. Die Remigration wirkt auf sie wie ein Schock.

Der Anthropologe Kalvero Oberg (1960) prägte in diesem Zusammenhang den Begriff »Kulturschock«. Dieser ist definiert als „Angst, jegliche bekannten Zeichen und Symbole des sozialen Umgangs zu verlieren“ (ebd., 1960, S.177). Bei einem »Kulturschock« können vier aufeinanderfolgende Phasen klassifiziert werden:

„Der Terminus »honeymoon« kann genutzt werden, um die Initialphase zu beschreiben. In dieser Phase sind Menschen, die in andere Kulturen migrieren, erfreut über all die neuen Dinge, die sie entdecken. Die zweite Phase tritt nach einigen Wochen auf. Diese startet mit einer Serie negativer Erfahrungen und sich ausweitenden Problemen. Ein Kulturschock tritt aufgrund unangemessenen Verhaltens in der neuen Kultur auf, der sich in großem Stress und ansteigender Depression, Angst, Spannung und Verwirrung ausdrückt. Danach folgt die »adjustment stage«, in der sich zunehmend an die neue Kultur angepasst werden kann. Vielfältige Adaptionen werden in dieser Phase erreicht und die negativen Effekte des Kulturschocks werden geringer. Die vierte Phase ist die »mastery stage«, welche oftmals nach eineinhalb Jahren eintritt. In dieser Phase sind die Migranten fähig, Probleme zu lösen und die neue Kultur erfolgreich zu bewältigen. Die Symptome des Kulturschocks verschwinden weitgehend.“ (Xia 2009, S.98)

Fallbeispiel Rebaz

Wie der »Kulturschock« im Kontext kurdischer Remigrationsprozesse verlaufen kann, soll exemplarisch anhand Rebaz’ Geschichte erläutert werden.

Rebaz war zum Zeitpunkt der »Rückkehr« 15 Jahre alt und ist aus dem Süden Deutschlands mit seiner Familie in die Stadt Sulaymaniyah im Nordosten der Region gezogen. Ich lernte ihn wenige Monate nach seiner Rückkehr aus Deutschland über einen gemeinsamen Freund kennen. Gemeinsam schlenderten wir über den großen Bazar der Stadt und entdeckten enge Gassen, welche sich den beschleunigten Modernisierungsschüben der Stadt vehement widersetzen. Während des Bazarbesuchs entwickelte sich ein ausführliches Gespräch über Rebaz’ individuelles Erleben der Remigration. Dabei berichtete er euphorisch über sein neues Leben in der Region. Zu den Vorzügen zählte er einerseits seine Verwandtschaft, die sich nun wieder in unmittelbarer Nähe befindet, das gute Wetter und die für ihn zahlreichen neuen Eindrücke und Erlebnisse, die er als durchweg positiv beschrieb. Andererseits sprach er auch die materiellen Vorzüge an – wie Taschengeld und eigenes Zimmer –, die er seit seiner Rückkehr genießt. Seine Zukunft malte sich Rebaz durchweg positiv aus. So wollte er nicht nur sein Abitur machen und danach ein Medizinstudium beginnen, sondern auch zu großem Reichtum gelangen. An eine Rückkehr nach Deutschland dachte er zu dem Zeitpunkt nicht, zu überwältigend waren die positiven Eindrücke, die er seit seiner Remigration erfuhr.

Es wird deutlich, dass Rebaz sich zum Zeitpunkt des ersten Gesprächs in der »honeymoon«-Phase befand, der Initialphase des »Kulturschocks«. Diese Phase ist gekennzeichnet durch die Faszination des Migranten vom Neuen und kann von einigen Tagen bis hin zu sechs Monaten andauern (vgl. Oberg 1960, S.178).

Ein halbes Jahr später traf ich Rebaz zufällig wieder, als ich seine Schule für Forschungszwecke besuchte. In einer Pause hatten wir Gelegenheit, uns ausführlicher zu unterhalten. Der noch vor wenigen Monaten so begeisterte Junge versank mittlerweile in großer Trauer und wünschte sich nichts sehnlicher als die Rückkehr nach Deutschland. Zu schwierig gestaltet sich sein Leben im Nordirak. Während er von der kurdischen Gesellschaft nicht als Einheimischer akzeptiert wird und somit stets den Vorurteilen gegenüber Europäern ausgesetzt ist, scheitert Rebaz auch in der Schule. Er ist durch seinen langjährigen Schulbesuch in Deutschland nicht an das kurdische Lehrsystem gewöhnt, welches noch immer auf dem Buchwesen beruht und auf das Lernen von Fakten und nicht auf das Erlernen von Fähigkeiten ausgerichtet ist (vgl. Salam 2010, S.189). Kritik, Reflexion, Auseinandersetzung oder Diskussion des Unterrichtsstoffs werden zugunsten der Reproduktion und Repetition der Buchinhalte abgelehnt. So gerät Rebaz in ständige Konflikte mit seinen Mitschülern und Lehrern, die nicht selten in gewaltsamen Konflikten eskalieren.

Rebaz hatte nur wenige Monate nach seiner Rückkehr die erste Phase des »honey moon« verlassen und befand sich zum Zeitpunkt des zweiten Treffens in der zweiten Phase, »Kulturschock«. Während Besucher oder Touristen noch vor dem Ende der »honeymoon«-Phase die neue Kultur wieder verlassen, müssen sich die Remigranten nun mit den realen Bedingungen auseinandersetzen und ihr tägliches Leben in der ihnen noch immer neuen Kultur bestreiten. Dabei wich in Rebaz’ Fall die einstige Faszination und Begeisterung aufgrund negativer Erfahrungen einer aggressiven und feindlichen Haltung gegenüber der Region. Aufgrund seiner Sozialisation in Deutschland und der starken traditionellen und patriarchalen Gesellschaftsstrukturen im Nordirak hat er nicht das Gefühl, sich in die Gesellschaft integrieren zu können. Die kurdische Region bleibt für ihn fremdartig und verschlossen, und er fühlt sich durch seine in Deutschland ausgebildete hybride Identität nicht akzeptiert.

Loyalitäts- und Identitätskonflikte

Die Erfahrung zeigt, dass die Remigration von kurdischen Familien in den Nordirak eine immense Herausforderung und Belastung für die Jugendlichen und Kinder darstellen kann. Durch ihre Sozialisation in Deutschland haben sie sich in aller Regel einen dezidiert kosmopolitischen Lebensentwurf angeeignet, der keine Zweifel lässt an ihrer auch lokal begründeten Zugehörigkeit zu Deutschland, die für ihre eigene Identität, Persönlichkeit und Denkweise oft sogar entscheidend ist.

Als aufnehmende Umwelt hat die Region einen entscheidenden Einfluss auf die Verarbeitung der Remigration (vgl. Grinberg und Grinberg 1990, S.91ff). Da die Gesellschaft und die Institutionen im Nordirak tendenziell wenig unterstützend wirken, geraten die Jugendlichen in Widerspruch zu traditionellen politischen und ethnischen Vorstellungen der Gesellschaftsstruktur im Nordirak. Weder eine Identifikation mit der ihnen so fremden Heimat noch die verlangte assimilatorische Integration in die kurdische Gesellschaft ist für die Kinder und Jugendlichen aufgrund ihrer transnationalen und hybriden Identitätsentwürfe möglich. Dadurch wird es ihnen erschwert, die Remigration zu verarbeiten und den »Kulturschock« erfolgreich zu durchlaufen, dessen Prozessende eine Integration in die Gesellschaft vorsieht. Stattdessen bleiben die jungen Rückkehrer in der zweiten Phase des »Kulturschocks« haften und sehen keinen Weg, sich in die Gesellschaft zu integrieren. Sie geraten in Loyalitäts- und Identitätskonflikte und akzeptieren den Nordirak nur als einen transitären sozialen Raum, den sie so schnell wie möglich wieder verlassen wollen. So möchte der Großteil der Kinder und Jugendlichen nach Deutschland zurückkehren, während ihre Familien im kurdischen Norden des Irak verankert sind und dort auch ihren Lebensmittelpunkt haben.

Im Zuge globaler und transnationaler Migration werden sich weitere dieser Remigrantengruppen bilden. Daher ist ihnen zukünftig eine hohe gesellschaftspolitische Relevanz einzuräumen. Bislang fehlen jedoch nationale wie internationale Studien zu diesem Thema, und es fehlen insbesondere differenzierte, empirische Studien zu den Lebensbedingungen und Perspektiven der »zurück« gewanderten Kinder und Jugendlichen.

Literatur

Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (2010): Rückkehrunterstützung in Deutschland. Programme und Strategien zur Förderung von unterstützter Rückkehr und zur Reintegration in Drittstaaten. Studie I/2009 im Rahmen des Europäischen Migrationsnetzwerks (EMN).

Cassarino, J. P. (2004): Theorising return migration: The conceptual approach to return migrants revisited. International Journal on Multicultural Studies 2004/6, S.253-279.

Deutscher Bundestag (2011): Kurdenspezifische Migrationspolitik – Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Ulla Jelpke, Christine Buchholz, Inge Höger und der Fraktion DIE LINKE. Bundestags-Drucksache Drucksache 17/4937 vom 28.02.2011.

Grinberg, L. und Grinberg, R. (1990): Psychoanalyse der Migration und des Exils. Aus dem Spanischen von Flavio C. Ribas. München/Wien: Verlag Internationale Psychoanalyse.

Günther, M. (2009): Adoleszenz und Migration. Adoleszenzverläufe weiblicher und männlicher Bildungsmigranten aus Westafrika. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften.

King, V. und Schwab, A. (2000): Flucht und Asylsuche als Entwicklungsbedingung der Adoleszenz. Ansatzpunkte pädagogischer Begleitung am Beispiel einer Fallgeschichte. In: King, V. und B.K. Müller (Hrsg.): Adoleszenz und pädagogische Praxis. Bedeutungen von Geschlecht, Generation und Herkunft in der Jugendarbeit. Freiburg im Breisgau: Lambertus, S.209-232.

Oberg, K. (1960): Culture Shock: Adjustment to New Cultural Environments. Practical Anthropology 7, S.177-182.

Salih, A. (2004): Freies Kurdistan: die selbstverwaltete Region Kurdistans. Hintergründe, Entwicklungen und Perspektiven. Berlin: Köster.

Schmidt, S. (2000): Kurdisch-Sein, mit deutschem Pass! Formale Integration, kulturelle Identität und lebensweltliche Bezüge von Jugendlichen kurdischer Herkunft in Nordrhein-Westfalen. Bonn: Navend – Zentrum für kurdische Studien.

Skubsch, S. (2003): Kurdische Migration und deutsche (Bildungs-) Politik. Beiträge zur Kurdologie. Band 5. Münster: Navend – Zentrum für kurdische Studien.

Statistisches Bundesamt (2011): Bevölkerung und Erwerbstätigkeit. Ausländische Bevölkerung – Ergebnisse des Ausländerzentralregisters. Stand 2010.

UNHCR (2009): UNHCR-Position zum Schutzbedarf irakischer Asylsuchender und zu den Möglichkeiten der Rückkehr irakischer Staatsangehöriger in Sicherheit und Würde.

Xia, J. (2009): Analysis of Impact of Culture Shock on Individual Psychology. International Journal of Psychological Studies 1/2, S.97-101.

Simon Moses Schleimer ist Mitarbeiter der Professur für Interkulturelle Erziehung am Institut für Schulpädagogik der Philipps-Universität Marburg. Zusätzlich lehrt er im Sommersemester 2013 an der Salahaddin-University Hawler Erbil/Irak Deutsch als Fremdsprache. In seinem Promotionsprojekt beschäftigt er sich mit den Bildungs- und Lebensverläufen von kurdischen Kindern und -Jugendlichen aus Flüchtlingsfamilien, die in die autonome Region Kurdistan im Irak remigrieren.

Jugend in Bagdad

Jugend in Bagdad

Handlungsmöglichkeiten in virtuellen und städtischen Räumen

von Annika Henrizi

Am 21. März 2013 jährte sich der Beginn des dritten Golfkriegs zum zehnten Mal. Für internationale Medien war das Anlass, etwas ausführlicher über die Situation in einem Land zu berichteten, dessen Wirtschaft sich bis heute nicht von Kriegen und Sanktionen erholt hat und in dem Frieden eine vage Hoffnung bleibt. Jenseits solcher Ereignisse oder der kurzen Meldungen über folgenreiche Anschläge allerdings ist das Interesse der Medien am Irak ebenso wie das der Friedensforschung in den letzten Jahren zurückgegangen. Dies mag zum Teil an der Arabellion liegen, die andere Länder in den Mittelpunkt rückte; es kann aber auch als Ausdruck einer Ratlosigkeit gegenüber der andauernden Gewalt im Irak gesehen werden. So wird insbesondere in den westlichen Medien ein Bild des Landes gezeichnet, in dem nichts als Gewalt und Angst existiert. Doch welche Rolle spielen Jugendliche in einer Gesellschaft, die seit mehr als 30 Jahren unter Diktatur, Krieg und Besatzung sowie deren Folgen leidet? Während mehrerer Aufenthalte im Irak 2012 und 2013 ging die Autorin der Frage nach, wie Jugendliche im Irak ihre Gesellschaft wahrnehmen, ob und wie sie sich zivilgesellschaftlich engagieren. Ohne die gravierenden Probleme zu beschönigen, wagt der Artikel einen Blick auf das Land, der einen wenig bekannten Ausschnitt der Realität eröffnet.

Forschung und Praxis befassten sich lange Zeit kaum mit Jugend in Nachkriegs- und Übergangsgesellschaften; die Annahme, dass sich mit der Transformation Jugendprobleme automatisch lösen würden, ist weit verbreitet. Dabei sind Jugendliche nicht nur als Problem oder als Opfer zu betrachten, sondern auch als resiliente Akteure in einer gewaltvollen Umwelt (vgl. etwa Fuller 2004, S.5ff; Kurtenbach 2010, S.175ff, S.180). Der vorliegende Artikel nimmt Jugend in Bagdad aus einer akteurszentrierten Perspektive in den Blick und geht anhand von drei Projekten exemplarisch der Frage nach, welche Handlungsräume Jugendliche nutzen, um sich zu vernetzen, und wie sie in ihrer Gesellschaft partizipieren. Raumsoziologische Ansätze,1 die in jüngerer Zeit auch in der Jugendforschung Beachtung finden, ermöglichen es, Handeln im virtuellen und im städtischen Raum zusammen zu denken und kommen so der Lebensrealität vieler Jugendlicher in Bagdad nah.

Jugend im Irak bedeutet, konfrontiert zu sein mit hoher Arbeitslosigkeit, Mängeln des Bildungssystems, beschränkten Wahlmöglichkeiten, einer schwierigen Sicherheitslage, fehlender Infrastruktur und alltäglicher Gewalt. Trotzdem gibt es im Irak Jugendliche, die sich auf zivilgesellschaftlicher Ebene engagieren, die sich für Wandel und Gewaltfreiheit einsetzen und sich gegen gesellschaftliche Trends der Politisierung ethnischer und religiöser Identitäten und von Machtkämpfen stellen. In Bagdad sind diese Jugendlichen eine Minderheit, aber doch eine stetig wachsende Gruppe, die sich auch durch die Umbrüche in anderen Ländern der Region ermutigt fühlt und seit 2006/2007 – verbunden mit der sich insgesamt leicht verbessernden Sicherheitslage – Zulauf erfährt.

Eine Betrachtung von Jugendlichen als Akteure kann aber nur einen Ausschnitt irakischer Realität abbilden, und umfasst in diesem Fall überdies vorwiegend Jugendliche im Alter von 19-24 Jahren aus höheren sozialen Schichten und Studierende. Viele von ihnen haben an Programmen lokaler Nichtregierungsorganisationen teilgenommen und konnten so sich selbst, ihre Fähigkeiten und eigene Perspektiven weiterentwickeln. Das darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass im Irak – in und außerhalb von Bagdad – eine Mehrheit der Jugendlichen über solche Chancen nicht verfügt.

»We don't want old people to lead our country«

Die Motivation der Jugendlichen ist in erster Linie in der Idee des Wandels und des »anders Machens« begründet. Abgrenzung gegenüber der Erwachsenenkultur spielt im Jugendalter eine wichtige Rolle; die Entwicklung politischer Werte und persönlicher Meinungsbildung zu gemeinschaftlichen Themen sind wesentliche Entwicklungsaufgaben der Jugend (vgl. etwa Fend 1991, S.114 f.; Hurrelmann und Quenzel 2012, S.202). Die Abgrenzung gegenüber der herrschenden Erwachsenenkultur ist bei den irakischen Jugendlichen auch deshalb so stark, weil Altershierachien hier kulturell besonders virulent sind. Die Jugendlichen stehen oft vor dem Problem, nicht ernst genommen zu werden; Alter ist bedeutsamer als die Arbeit, die man macht. Gerade deshalb betonen sie in ihren Aktionen ihre Selbstständigkeit und fordern in den zivilgesellschaftlichen Organisationen die ältere Generation dazu auf, der Jugend einen eigenen Raum zu geben und sich aus der Planung von Aktionen herauszuhalten.

»You are next«

Das Projekt »You are next« (Du bist der Nächste) startete im Frühjahr 2013 in Bagdad, als sich fünf Jugendliche überlegten, was sie gegen die weit verbreitete Gleichgültigkeit innerhalb der irakischen Gesellschaft gegenüber alltäglicher Gewalt unternehmen könnten. „Solange Anschläge keine Opfer in der eigenen Familie oder der näheren Umgebung fordern, sind die Menschen gleichgültig geworden; Todesopfer sind für sie nur noch Zahlen ohne Gesicht“, erklärt eine der Initiatorinnen. Dafür sei ein Wandel in der Mentalität der Menschen verantwortlich, der in den letzten Jahren stattgefunden habe, viele seien still geworden, scheinen die Situation zu akzeptieren. Aufmerksamkeit erregten die Jugendlichen, indem sie mit selbst bedruckten Shirts in verschiedenen Stadtteilen Bagdads Mahnwachen inszenierten und Menschen auf der Straße ansprachen. Was ursprünglich als Aktion einiger Weniger begonnen hatte, fand durch Facebook bald größeren Zulauf. Mittlerweile wurden ähnliche Aktionen an verschiedenen Universitäten des Landes durchgeführt.

In Bagdad bedeutet »Wir sind anders« aus der Perspektive der Jugendlichen überdies, sich gegen einen gesellschaftlichen und politischen Trend zu stellen, in dem sich jeder nur für sein eigenes Wohl bzw. den eigenen Machterhalt einsetzt. Mit dem Projekt »You are next« (siehe Kasten) machen Jugendliche deutlich, dass sie Gewalt nicht einfach hinnehmen, sondern sich für das Gemeinwohl interessieren und engagieren. So sagt eine Jugendliche: „Ein Macher zu sein heißt für mich, ich kann etwas für die Gemeinschaft tun und nicht nur für meinen eigenen Profit leben.“ (Interview 2013, eigene Übersetzung) Die Verkörperung dieses alternativen Lebensstils stößt in ihrer Umgebung auf viel Kritik, denn das freiwillige Engagement wird oft als sinnlose Zeitverschwendung angesehen. Vor allem für Mädchen mangelt es damit – anders als bei geregelter Erwerbsarbeit und Bildung – an einer guten Begründung, das Haus zu verlassen.

Mit ihrem Engagement grenzen sich Jugendliche auch gegenüber der Erwachsenengeneration ab, die aus Sicht der Jugendlichen für viele Missstände und das Andauern von Problemen im Land verantwortlich ist. Jugend hat gegenüber den älteren Menschen mehr Willen zur Veränderung, mehr Potential, eine bessere Gesellschaft aufzubauen „Als Iraker, die unter Kriegen und Traditionen und [fehlender] Rechtsprechung gelitten und kein echtes Leben bekommen haben, wollen wir als Jugendliche ein echtes Leben bekommen, […] wir wollen die Fehler in der Gesellschaft korrigieren […] Und das ist, denke ich, die Rolle der Jugend, diese Ideen, zu verändern.“ (Interview 2012, eigene Übersetzung)

Wie aber gelingt es Jugendlichen, Motivationen umzusetzen und eigene Räume von bestehenden abzugrenzen, wenn Handlungsmöglichkeiten und direkte Kommunikationswege durch die Realität in einem Konfliktgebiet eingeschränkt sind? Soziale Netzwerke sowie Aktionen im städtischen Raum bilden zwei – miteinander verschränkte – Wege, die Jugendliche aus Bagdad für sich nutzen.

Das Internet als Möglichkeitsraum

»Peace Day«

Der »Tag des Friedens« ist ein jährlich am Internationalen Tag des Friedens (21. September) stattfindendes Kulturevent, welches seit 2011 von Jugendlichen in Bagdad organisiert wird. Neben kulturellen Darbietungen und Spielen für Kinder ist es auch für viele Familien und Erwachsene eine Möglichkeit, Bagdad einmal anders zu erleben. Dem Alltag für einen Moment zu entkommen und das kulturelle Leben zu genießen, beschreiben die Jugendlichen als einen wesentlichen Aspekt vom »Peace Day«. 2012 wurde das Event live im Internet übertragen und auch von internationalen Zuschauern verfolgt.

Gerade für Jugendliche hat das Internet – insbesondere durch die sozialen Netzwerke – als Kommunikationsraum an Bedeutung gewonnen. Es bietet Möglichkeiten des Austauschs und der Identitätsbildung, die bisherige Formen sozialen Miteinanders ergänzen (vgl. Tully 2009, S.10 f.). Für Jugendliche in Bagdad ist dieser Raum aus mehreren Gründen besonders bedeutsam: Hier gelingt es, soziale Nähe herzustellen und Kontakte zu knüpfen, ohne sich im städtischen Raum treffen zu müssen; das Internet ermöglicht, was die prekäre Sicherheitslage oft verhindert. So werden soziale Netzwerke wie Facebook und Twitter von den Jugendlichen auch genutzt, um in einem geschützten Raum erste Ideen für neue Aktionen zu diskutieren und andere Jugendliche für ihre Arbeit zu begeistern. Einladungen für die Vortreffen zur Durchführung eines »Peace Day« (siehe Kasten) wurden hauptsächlich über Facebook verschickt, ebenso wurde dort über die vergangenen Treffen berichtet. Die Zahl derer, die an den wöchentlichen Vortreffen in den Räumen einer Nichtregierungsorganisation teilnahmen, wuchs dadurch stetig. Soziale Netzwerke bieten aber auch eine Möglichkeit, kritische Ansichten und Gedanken zu äußern, ohne dafür angegriffen und schlimmstenfalls auch körperlich verletzt zu werden: „Es ist eine Plattform, auf der ich alles ausdrücken kann, ohne dass sich jemand beschwert. Es ist Freiheit, wir können unsere Meinung sagen, ohne dafür geschlagen zu werden, wir können unsere Ideen so verbreiten.“ (Interview 2013, eigene Übersetzung)

Gleichzeitig bietet insbesondere Facebook eine Plattform, über die die Jugendlichen ihr Engagement auch nach außen, d.h. für internationale Nutzer, sichtbar machen. Durch das Internet und internationale Medien erfahren Jugendliche, wie über ihr Land berichtet wird; sie haben es sich deshalb zur Aufgabe gemacht, auch das andere Bild der Stadt zu zeigen, indem sie etwa mittels kultureller Events und Fotografie eine Realität darstellen, die oft unbeachtet bleibt.

Die Tatsache, dass soziale Netzwerke einen primär jugenddominierten Raum darstellen, in dem Altershierachien weniger virulent sind als innerhalb der irakischen Gesellschaft, macht sie für Jugendliche zusätzlich attraktiv.

Handeln in interdependenten Realitäten

Die vormals verbreitete Annahme, der virtuelle Raum würde losgelöst vom »realen« Raum existieren, wird mittlerweile von vielen Jugendforschern relativiert; die Grenzen zwischen realen und technisch gestalteten Räumen gelten als fließend (vgl. Tully 2009, S.12). Neue Potentiale werden u.a. darin gesehen, raumsoziologische Theorien in die Jugendforschung zu integrieren (vgl. Ahrens 2009, S.10). Nach Löws (2001) relationistischem Raumkonzept ist Raum nur dann existent, wenn Menschen handeln und sich selbst und Objekte darin positionieren. Raum entsteht demnach durch Prozesse des Positionierens und Anordnens und ist wandelbar. Dieser Prozess kann aber nun sowohl im städtischen als auch im virtuellen Raum stattfinden. »Virtuell« meint somit nicht nicht-real, es ist kein rein fiktionaler Raum, sondern ein alternativer Zusatzraum, der die bisher relevante Wirklichkeit ergänzt. Das Internet treibt nicht nur Enträumlichung voran, sondern schafft gleichzeitig Kommunikationsräume, die neue Prozesse des Anordnens ermöglichen. Wie aber werden Räume gestaltet, „wenn physische Anwesenheit, räumliche Nähe und Ortsbezug immer weniger als notwendige Voraussetzung für das Zustandekommen von Kommunikation fungieren?“ (Ahrens 2009, S.28).

Betrachtet man das Handeln von Jugendlichen in Bagdad aus dieser Perspektive, so wird erklärbar, wie eng virtueller und städtischer Raum – als zwei Formen realer Räume – miteinander verbunden sind. Jugendliche positionieren sich sowohl im virtuellen als auch im städtischen Raum und gestalten dadurch miteinander verbundene Räume. Handlungen in einem Raum werden im anderen fortgeführt und wieder zurück getragen; so ist es möglich, Räume entstehen zu lassen, die über die physische Anwesenheit hinaus existieren. Denn parallel zu den oben beschriebenen Nutzungsmustern sozialer Netzwerke sind die NutzerInnen emotional stark mit ihrer Stadt – Bagdad – verbunden. Der virtuelle Raum bietet Möglichkeiten der Vernetzung, des sich Ausprobierens, die im städtischen Raum verwehrt bleiben; gleichzeitig dient er als Mittel zur Vorbereitung von Aktionen: „Facebook ist ein Mittel, es ist oft der erste Schritt, aber das ist nicht genug, wir müssen auf die Straße gehen.“ (Interview 2013, eigene Übersetzung) So haben nicht nur Absprachen und erste Treffen für den »Peace Day« zunächst im virtuellen Raum stattgefunden, um dann auf städtische Orte überzugehen, auch das Projekt »You are next« hat seine Ausbreitung hauptsächlich über Facebook erfahren. Für die Initiatoren wäre es aufgrund der Sicherheitslage und fehlender Infrastruktur kaum möglich gewesen, Universitäten in anderen Landesteilen zu erreichen; über das Internet gelang es Ihnen, das Interesse anderer Studierender zu wecken und die Durchführung ähnlicher Mahnwachen in anderen Teilen des Landes zu begleiten.

»Shoot as you walk – Baghdad «

Die Idee zum diesem Projekt kam ursprünglich von Jugendlichen aus dem Libanon. Mittlerweile gibt es ähnliche Projekte in fünf Ländern des Nahen und Mittleren Ostens, u.a. in Bagdad. Ziel des Projektes ist es, ein anderes Bild der Stadt nach außen zu transportieren und zu zeigen, was Jugendliche an ihrer Stadt schätzen. Gleichzeitig ist es für die Jugendlichen eine Möglichkeit, sich selbst ihre Stadt weiter zu erschließen und sich auf positive Aspekte zu konzentrieren. (Siehe auch Bebilderung in W&F 2-2013.)

Der starke Bezug zu Bagdad zeigt sich insbesondere beim Projekt »Shoot as you walk« (siehe Kasten). Bis heute sind viele Stadtteile von Bagdad nicht frei zugänglich, die Zahl der Straßensperren hat aber in den letzten Jahren abgenommen. Mit Spaziergängen durch die Stadt, bei denen sich an die Fersen der jugendlichen FotografInnen auch weitere Interessierte heften, wollen sie städtische Räume für sich erschließen, die bisher abgeriegelt waren. Zwei Plätze in Bagdad werden von den Jugendlichen besonders als Treffpunkte hervorgehoben: ein Coffee-Shop in Karrada sowie die Mutanabbi-Straße. Karrada gilt bei den BewohnerInnen Bagdads als gemischtes Stadtviertel mit Kultur, Leben, Ungezwungenheit. Es ist ein Ort, an dem sich einige lokale Nichtregierungsorganisationen angesiedelt haben und in dem man sich relativ frei bewegen und eben auch ein Stück Normalität in einem Café leben kann. Die Mutanabbi-Straße als historisches Zentrum des Büchermarkts in Bagdad füllen bis heute Bücherstände. Sie wird von irakischen Intellektuellen und Literaten häufig als das Herz und die Seele von Bagdad beschrieben. Für die Jugendlichen ist der Bezug zur Geschichte eine Möglichkeit, eine positive Beziehung zu ihrem Land bzw. ihrer Stadt aufzubauen. „Die Plätze der Altstadt erinnern mich an die Erzählungen meiner Mutter vom Bagdad der 1930er Jahre, als Bagdad ein wunderbarer Ort war, sie geben mir das Gefühl, dass Bagdad immer noch schön ist.“ (Interview 2013, eigene Übersetzung) Indem sie sich an diesen Orten fotografieren, schaffen die Jugendlichen zeitweise neue Räume, die über die Dauer ihrer Anwesenheit hinaus existieren, sowohl als Teil ihrer Identität als auch in Form von Bildern und Kommentaren, die in sozialen Netzwerken veröffentlicht werden und neue Anreize zur Kommunikation schaffen.

Fazit

Sich abzugrenzen gegenüber der herrschenden politischen Praxis und der Erwachsenenkultur und Anstöße zu geben zum gesellschaftlichen Wandel, das sind wesentliche Motivationen für das Engagement dieser Jugendlichen in Bagdad. In ihrem Handeln bewegen sie sich zwischen virtuellen und realen Räumen und verknüpfen diese so zu neuen, eigenen Handlungsräumen. Diese Form des Positionierens macht ihr Engagement sowohl innerhalb der eigenen Gesellschaft als auch nach außen sichtbar. Entgegen aller Kritik an den neuen Medien als isolierend und realitätsfern – für Jugendliche in Bagdad stellen diese eine wesentliche Basis für Kommunikation dar, die nicht abgegrenzt von anderen Teilen ihrer Lebensrealität existiert.

Ein akteurszentrierter Blick auf Jugendliche lohnt sich, nicht nur weil man ihnen dadurch eher gerecht wird, sondern auch weil die Analyse jugendspezifischen Agierens zu einem tieferen Verständnis von Konfliktgesellschaften beiträgt. Inwiefern das Handeln von Bagdads Jugend auf die Gesellschaft Wirkung zeigt, bleibt abzuwarten, es stellt aber neben Gewalt und Konflikt bereits heute einen Teilaspekt irakischer Realität dar, der mehr Beachtung verdient.

Literatur:

Ahrens, Daniela (2009): Jenseits medialer Ortslosigkeit. Das Verhältnis von Medien, Jugend, Raum. In: Tully, Claus (Hrsg.): Multilokalität und Vernetzung. Beiträge zur technikbasierten Gestaltung jugendlicher Sozialräume. Weinheim und München: Juventa, S.27-40.

Fend, Helmut (1991): Identitätsentwicklung in der Adoleszenz. Lebensentwürfe, Selbstfindung und Weltaneignung in beruflichen, familiären und politisch-weltanschaulichen Bereichen. Bern: Verlag Hans Huber.

Fuller, Graham E. (2004): The Youth Crisis in Middle Eastern Society. Institute for Social Policy and Understanding (ISPU).

Hurrelmann, Klaus und Quenzel, Gudrun (2012): Lebensphase Jugend. Eine Einführung in die sozialwissenschaftliche Jugendforschung. Weinheim, München: Juventa.

Kurtenbach, Sabine (2009): Jugendliche in Nachkriegsgesellschaften – Kontinuität und Wandel von Gewalt. In: Imbusch, Peter (Hrsg.): Jugendliche als Täter und Opfer von Gewalt. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S.175-212.

Löw, Martina (2001): Raumsoziologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Massey, Doreen (1994): Space, Place and Gender. Oxford: Blackwell Publishers.

Schroer, Markus (2006): Räume, Orte Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raumes. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Tully, Claus (2009): Die Gestaltung von Raumbezügen im modernen Jugendalltag. Eine Einführung. In: ders.: Multilokalität und Vernetzung. Beiträge zur technikbasierten Gestaltung jugendlicher Sozialräume. Weinheim und München: Juventa, S.9-26.

Anmerkung

1) Raumsoziologische Ansätze beschäftigen sich mit der Raumbezogenheit von Gesellschaft; relationistische Raumkonzepte betrachten Raum nicht nur als Schauplatz des Sozialen, sondern als durch soziale Beziehungen konstruiert und prinzipiell veränderbar. Raum ist demnach nicht nur ein Gefäß, in welchem Handeln stattfindet, vielmehr bedingen sich Handeln und Raum wechselseitig. Mit der Entwicklung von Raum als theoretisches Konzept gehen sie über einen rein territorialen Raumbegriff, wie er lange in der soziologischen Stadtforschung benutzt wurde, hinaus (vgl. etwa Löw 2001, Massey 1994, Schroer 2006).

Annika Henrizi promoviert am Zentrum für Konfliktforschung der Philipps-Universität Marburg zu zivilgesellschaftlichen Organisationen in Bagdad im Kontext von Peacebuilding. Ihre Forschungsinteressen umfassen Gender in Konflikten und Friedensprozessen, Ansätze der Raum- und Akteurssoziologie sowie gesellschaftliche Entwicklungen im Nahen und Mittleren Osten.

Friedensnobelpreis für Manning

Friedensnobelpreis für Manning

von Jürgen Nieth

Vor drei Jahren veröffentlichte WikiLeaks zahlreiche Dokumente über US-amerikanische Kriegsverbrechen im Irak und in Afghanistan. Sie erinnern sich vielleicht an die Videoaufnahmen des Beschusses und Todes irakischer ZivilistInnen und JournalistInnen durch einen amerikanischen Kampfhubschrauber am 12. Juli 2007 in Bagdad. Insgesamt handelt es sich um 450.000 Dokumente: Direktmeldungen von den Fronten im Irak und in Afghanistan. Sie belegen über 100.000 Todesfälle und alleine für 2010 über 300 Fälle von Folter durch ausländische Einheiten im Irak.

Als WikiLeaks-Informant wurde am 26. Mai 2010 der damals 22-jährige Obergefreite des US-Heeres Bradley Mannings inhaftiert. Es folgte für ihn eine monatelange Einzelhaft in einer 1,8 mal 2,4 Meter großen Zelle. 23 Stunden am Tag musste Mannings sich in diesem Loch aufhalten. Er hatte keinen Zugang zu Nachrichten und aktuellen Informationen; Bettlaken und Kissen gab es nicht. Wiederholt wurde ihm seine Kleidung abgenommen, so dass er nachts stundenlang nackt in seiner Zelle ausharren musste, um anschließend auch noch nackt vor seiner Zelle anzutreten. Bedingungen, die vom UN-Sonderberichterstatter für Folter, Juan E. Mendez, als „grausam, unmenschlich und demütigend“ bezeichnet wurden.

Während das US-Verteidigungsministerium Manning 2011 auf seinen Geisteszustand untersuchen ließ und in der Öffentlichkeit versucht wurde, ihn als einen labilen, mit seiner Identität ringenden (homosexuellen) jungen Menschen darzustellen, zeigt sich Manning selbst als politisch und humanitär engagiert. Ende Februar 2013 bekannte er sich in zehn von 22 Anklagepunkten für schuldig und gestand die Übergabe von Material an WikiLeaks. Gleichzeitig legte er dar, dass seine Entscheidung gereift sei, als er im Februar 2010 über die Festnahme von 15 Irakern recherchiert habe. Oppositionelle, die die Öffentlichkeit über Korruption in der irakischen Regierung informiert hatten, seien dafür als Terroristen verfolgt worden. Seine Vorgesetzten hätten ihn angewiesen, das Thema fallen zu lassen. Konrad Ege zitiert Manning (Freitag, 05.04.13): „Ich wusste, wenn ich fortfuhr, der Polizei in Bagdad dabei zu helfen, politische Gegner von Premierminister al-Maliki zu identifizieren, würden die eingesperrt und sehr wahrscheinlich von einer polizeilichen Spezialeinheit gefoltert. Man würde sie eine lange Zeit nicht mehr sehen – wenn überhaupt.“ Das habe ihn deprimiert, und er habe in den USA eine Debatte anstoßen wollen über „Counterinsurgency-Operationen, bei denen die Menschen in den betroffenen Gebieten ignoriert werden“.

Im Fall einer Verurteilung könnte das Strafmaß allein für die von ihm gestandenen Taten bis zu 20 Jahre Gefängnis betragen. Weiterhin offen ist aber noch der schwerste Anklagepunkt: Kollaboration mit dem Feind. Die Staatsanwaltschaft beharrt auf diesem Punkt und hat dafür lebenslänglich gefordert. Das Gericht kann über die Anträge der Staatsanwaltschaft hinausgehen und dafür die Todesstrafe verhängen.

Es ist unwahrscheinlich, dass Manning sich dieses Risikos nicht bewusst war. Er wusste, dass kein Staat ein Interesse daran hat, dass die Grausamkeit seiner Kriege öffentlich wird. Das gilt für die USA ganz besonders. Zu dicht ist noch in Erinnerung, dass die Bilder des Vietnamkrieges zum »Einsturz der Heimatfront« beitrugen. Und Manning war im Irak stationiert, während des Krieges, in dem die USA Journalisten nur »embedded« zuließen, zwecks Kontrolle der Berichterstattung.

Ein Verschweigen oder Herunterspielen von Kriegsfolgen gibt es aber auch bei uns. Wenn es um die Begründung von Kriegseinsätzen geht, sind die Titelseiten der Tageszeitungen voll. Nach dem offiziellen Kriegsende, das in den letzten 20 Jahren nie mit dem Ende bewaffneter Auseinandersetzungen übereinstimmte, wird das Schlachtfeld medial weitgehend verlassen. Wäre es anders, würden die Kriegsfolgen, die Zerstörungen, die zerrütteten und gespaltenen Gesellschaften, die Kriminalität und das Nachkriegselend sichtbar, dann wäre der nächste Militäreinsatz viel schwerer zu vermitteln.

Manning hat einen Teil der Kriegsfolgen sichtbar gemacht. Mit den von ihm veröffentlichten Menschenrechtsverletzungen, den Bildern von Folter und Mord, hat er der Kriegspropaganda die Arbeit erschwert. Vielleicht geht die Tatsache, dass die USA in ihrer Kriegsbereitschaft in Libyen und Mali etwas zurückhaltender als üblich waren, auch auf diese Veröffentlichungen zurück.

2011 und 2012 wurde er für sein »Whistleblowing« für den Friedensnobelpreis nominiert. Bekommen hat er ihn nicht, und es ist auch nicht anzunehmen, dass das Nobelpreiskomitee 2013 dazu den Mut aufbringt. Aber vielleicht ist angesichts der vielen fragwürdigen Entscheidungen in Oslo ja auch der Alternative Nobelpreis die höhere Auszeichnung. Manning hat ihn verdient.

Ihr Jürgen Nieth

Kosten des Krieges

Kosten des Krieges

Die Folgen der US-Antwort auf 9/11

von Andrea Mazzarino

In einer Rede , die der damalige US-Präsident George W. Bush am 28. Juni 2005 auf dem Armeestützpunkt Fort Bragg in North Carolina hielt, sagte er Folgendes über den Irakkrieg: „Angesichts all dieser Gewalt bin ich mir der Frage vieler Amerikaner bewusst: Sind es die Opfer wert? Sie sind es wert, und sie sind unverzichtbar für die zukünftige Sicherheit unseres Landes.“ Als Gründe benannte Bush u.a. die Schaffung von Frieden und Demokratie im Nahen und Mittleren Osten und die Niederwerfung religiöser Extremisten, die zur Durchsetzung ihrer Ideologie bereit seien, Zivilisten zu töten.1 Solange keine vollständige Bilanz der Kosten vorliegt, können wir allerdings nicht abschließend erörtern, ob es die Kriege im Irak und Afghanistan wert waren oder nicht.

Die Ergebnisse des Projektes »Costs of War« (Kosten des Krieges), eines interdisziplinären Forschungsverbundes am Eisenhower Research Project der Brown Universität, legen nahe, dass die Kosten der drei Kriege der USA in Afghanistan und Pakistan (seit 2001) und im Irak (seit 2003) ungeheuer groß sind, sich jeweils unterscheiden und in den beteiligten Ländern sowie den Ländern der internationalen Koalition noch lange nachwirken werden. In diesem Beitrag sollen einige Kernergebnisse des fortlaufenden Projekts erläutert werden.

Humanitäre Kosten

Unter humanitären Gesichtspunkten schließen die Kosten des Krieges auch Todes- und Verletzungsfälle von Soldaten und Zivilisten sowie massive interne und externe Vertreibungen ein. Bis heute2 sind 11.431 Angehörige der US-amerikanischen und Koalitionsstreitkräfte in direkter Folge der genannten Kriege ums Leben gekommen; bei 147.987 wurden Verletzungen und medizinische Probleme diagnostiziert.3

Neben enormen Fluchtbewegungen der Zivilbevölkerung in allen drei Nationen haben die Kriege zum gewaltsamen Tod vieler Zivilisten geführt: 12.000 in Afghanistan, 120.000 in Irak und 20.000 in Pakistan. Es sind viel mehr Menschen den Kriegen zum Opfer gefallen als den Terroranschlägen vom 11. September 2001, 91 Prozent davon Zivilisten.4 Das Missverhältnis der Opferzahlen in diesen Ländern schmälert nicht die Bedeutung jener 2.752 Menschen, die durch die Terrorangriffe vom 11. September in den USA ums Leben kamen oder verletzt wurden.5 Gleichwohl verdeutlichen die Vergleichszahlen die Ironie, die in Bushs Verurteilung derjenigen liegt, die zur Durchsetzung ihrer eigenen Ziele Zivilisten töten.

Soziale Kosten

Die sozialen Kosten der Kriege betreffen in den USA im weitesten Sinne den Verlust von Bürgerrechten an Universitäten,6 die Betreuung von Veteranen durch ihre Familien und Gemeinden,7 die drastische Zunahme häuslicher Gewalt in Familien von Militärs8. Für die in den Kriegsgebieten lebenden Zivilisten gehören zu den Kosten u.a. die Zerstörung von öffentlicher Infrastruktur wie z.B. Krankenhäusern sowie der Verlust der Existenzgrundlage und der Sicherheit.9

In diesem Kontext verdient das Gender-Thema besondere Aufmerksamkeit, weil es in der Begründung der Regierung Bush für die Invasion in Afghanistan und Irak eine zentrale Rolle spielte. Auf einer Pressekonferenz im Jahr 2005 sagte Bush, „die Tatsache, dass Irak eine demokratische Verfassung haben wird, die den Frauen und Minderheiten Rechte einräumt, wird im Nahen und Mittleren Osten einen wichtigen Wendepunkt markieren“.10 Die Realität zeigt ein anderes Bild des Lebens von irakischen Frauen nach dem Beginn des Krieges. Vor dem Golfkrieg 1991 und den Sanktionen in den nachfolgenden 13 Jahren waren sie die ersten arabischen Frauen, die Positionen im akademischen Bereich, im Rechtswesen, der Medizin und der Regierung einnahmen.11 Irakische Frauen wiesen mit 23% der bezahlten Arbeitskräfte im Irak die höchste Beschäftigungsrate von Frauen in der arabischen Welt auf.12 Sie stellten die überwiegende Mehrheit der Angestellten im staatlichen Bereich, z.B. im Gesundheits-, Ingenieurs- und Erziehungswesen.13 Mit Zunahme der Arbeitslosigkeit im staatlichen Bereich in den 1990er Jahren, hatten Männern weit bessere Chancen als Frauen, der Arbeitslosigkeit durch Gründung eigener Unternehmen zu entkommen.14

Nach Kriegsbeginn 2003 waren Beschäftigte der öffentlichen Hand besonders stark betroffen, weil ehemalige irakische Staatsbetriebe infolge des wachsenden Wettbewerbs mit ausländischen Unternehmen oder der Übernahme durch ausländische Investoren von der Bildfläche verschwanden.15 2006 waren mehr als 70% der irakischen Frauen arbeitslos, und ihre Arbeitslosenquote war deutlich höher als die der Männer.16 Im Januar 2009 waren nur noch 17% der irakischen Frauen im aktiven Berufsleben,17 gegenüber 42% im Iran und 29% in Jordanien.18 Ein Hauptargument der Regierung Bush zur Begründung dieser Kriege ist damit nicht haltbar.

Volkswirtschaftliche Kosten

Zusätzlich zu den Kriegslasten, die die Menschen und das Gemeinwesen tragen müssen, sind die volkswirtschaftlichen Kosten der Kriege bei weitem höher, als von der US-Regierung prognostiziert. Seit 2001 hat die amerikanische Regierung aus dem Verteidigungshaushalt schätzungsweise zwei Billionen US-Dollar ausgegeben.19 Dabei ist eine weitere Billion US-Dollar noch gar nicht eingerechnet, die in den nächsten 40 Jahren voraussichtlich für die Gesundheitsversorgung von Veteranen, Invaliditätszahlungen sowie Pensionen fällig werden.20 Diese Kosten ziehen Mittel von anderen Ausgaben für soziale Zwecke ab.

Zwischen 2000 und Ende 2009 hat die Regierung ihre Ausgaben für militärische Aktivposten auf 341 Mrd. US-Dollar erhöht. Würde der gleiche Betrag in die öffentliche Infrastruktur investiert, würde dies aufgrund der gesteigerten Profitabilität einem zusätzlichen Zuschuss um 7,4% an den Privatsektor gleich kommen (das entspricht ca. 150 Mrd. US-Dollar).21 Und auf internationaler Ebene ist keineswegs sichergestellt, dass die Wiederaufbauhilfen, die die USA für die Kriegsgebiete zur Verfügung stellt, wirklich eingesetzt werden, um das Leben der Menschen zu verbessern. Mehr als die Hälfte der 126,5 Mrd. US-Dollar, die die USA für internationale Hilfsmaßnahmen bereit stellte, muss dem nationalen Sicherheitshaushalt zugerechnet werden und wurde z.B. für Militärdienstleister ausgegeben anstatt für das Gesundheitswesen und den Wiederaufbau der Infrastruktur.22

Die US-Regierung und die Zivilbevölkerung in Afghanistan, Pakistan und dem Irak müssen infolge der Invasionen und Besatzungen nach 9/11 viele unvorhergesehene Kosten tragen. Am 1. September 2010 erklärte Präsident Obama den Krieg im Irak offiziell für beendet, nachdem im vorangegangenen August knapp 100.000 amerikanische Soldaten aus dem Land abgezogen worden waren: „Die USA haben einen hohen Preis bezahlt, um die Zukunft des Irak in die Hände seines Volkes zu legen. Wir haben unsere jungen Männer und Frauen entsandt, um enorme Opfer zu bringen, und in Zeiten knapper Kassen im eigenen Land gewaltige Mittel im Ausland aufgewandt […] Nun ist es an der Zeit, das Kapitel abzuschließen.“ 23 Bevor wir das Kapitel dieser Kriege abschließen, brauchen wir eine gründliche Prüfung der Kosten, weil nur dann eine wirklich demokratische Diskussion über die Folgen einsetzen kann.

Anmerkungen

1) Transcript: Bush Speech on Iraq. 28. Juni 2005; www.foxnews.com/story/0,2933,160969,00.html.

2) Dieser Artikel wurde bei W&F am 23. Februar 2011 eingereicht.

3) Catherine Lutz (2011): U.S. and Coalition Casualties for The Burdens of War. An Accounting of the U.S. Military Response to 9/11. Unveröffentlichtes Manuskript vom 5.2.2011, S.3, 5.

4) Catherine Lutz und Neta Crawford (2011): Human Consequences. The Body Counts. Eisenhower Study Group. Unveröffentlichtes Manuskript vom 18.2.2011, S.2.

5) David W. Dunlap: September 11 Death Toll Rises by One, to 2,752. The New York Times, 16. Januar 2009.

6) Hugh Gusterson (2011): The Education System and the Costs of War. Unveröffentlichtes Manuskript vom 3.1.2011.

7) Alison Howell (2011): Who Bears the Burden? Shifting the Responsibility of Care. Uunveröffentlichtes Manuskript vom 29.12.2010.

8) Zoe Wool (2011): The War Comes Home. Unveröffentlichtes Manuskript vom 16.1.2011, S.5-6. Da das Verteidigungsministerium und der Rechnungshof der USA keine verlässlichen Daten über entsprechende Vorfälle in Militärfamilien und -gemeinschaften vorlegen, gibt es keine eindeutigen Beweise, dass dieser Anstieg mit dem Krieg im Irak in Zusammenhang steht.

9) Vgl. z. B. Dahr Jamail (2011): A Wounded Country. Unveröffentlichtes Manuskript vom 5.2.2011; dort werden einige der sozialen Kosten des Irakkriegs aufgelistet.

10) T.G.: Iraqi women? No worries, says Bush. Salon, 23. August 2005; www.salon.com/news/politics/war_room/2005/08/23/women.

11) (B)Russell(s) Tribunal Dossier (2006): Iraqi Women Under Occupation; www.brussellstribunal.org/pdf/Women.pdf.

12) United Nations Development Fund for Women (UNIFEM): Iraq. Country Profiles, Reports, and Fact Sheets on Iraq. 18. Mai 2007.

13) Cynthia Enloe (2010): Nimo’s War, Emma’s War: Making Feminist Sense of the Iraq War. Berkeley: University of California Press, S.24-25.

14) Enloe, a.a.O., S.29.

15) Enloe, a.a.O., S.31.

16) (B)Russell(s) Tribunal Dossier, a.a.O.

17) United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs: Iraq Labor Force Analysis 2003-2008. Januar 2009.

18) Tina Susman: Iraq. Unemployment Bad and Getting Worse, Los Angeles Times Blog, 15. Februar 2009.

19) Wheeler, Winslow: The Uncertain but Larger Pentagon Costs of the Post-9/11 Wars. Unveröffentlichtes Manuskript vom 19.2.2011.

20) Bilmes, Linda: Costs of Caring for Veterans of the Iraq and Afghanistan Wars. Unveröffentlichtes Manuskript vom 31.1.2011.

21) Heintz, James: Military Assets and Public Investment. Unveröffentlichtes Manuskript vom 2.2.2011.

22) Anita Dancs (2011): International Assistance Spending Due to War. Unveröffentlichtes Manuskript vom 28.1.2011.

23) Ewen MacAskill: Barack Obama ends the war in Iraq. Guardian online, 1. September 2010.

Andrea Mazzarino ist Kulturanthropologin. Ihre Schwerpunktthemen sind Gender in Politik, Geschäftsleben und Unternehmerschaft sowie Russland und die ehemalige Sowjetunion. Sie promovierte 2010 an der Brown University in Antrophologie und lehrt momentan an der Brown University und am Connecticut College. Übersetzt von Andreas Henneka

Krieg im Irak: Magere Beute

Krieg im Irak: Magere Beute

von Joachim Guillard

Die USA haben wesentliche Ziele des Krieges im Irak, den sie im März 2003 begannen, nicht erreicht. Insbesondere konnten sie nicht die Kontrolle über das irakische Öl erlangen. Bei der Frage nach dem Erfolg für die Invasoren muss man aber differenzieren, denn für viele US-Firmen wurde der besetzte Irak zur Goldgrube.

Wer die Verlierer des Irakkriegs sind, liegt auf der Hand: Es ist die irakische Bevölkerung. Über eine Million Iraker wurden getötet, mehr als vier Millionen, das ist ein Sechstel der Bevölkerung, vertrieben. Auch nach acht Jahren Besatzung und trotz Ausgaben in Höhe von über 120 Milliarden Dollar haben es die USA nicht geschafft, die Infrastruktur und staatliche Dienstleistungen wieder herzustellen. Strom fließt nach wie vor nur stundenweise, über die Hälfte aller Familien hat keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser, und die Abwässer fließen durch die Straßen. Millionen hungern, die Hälfte der knapp 30 Millionen Iraker lebt in äußerster Armut. Das einst vorbildliche Bildungssystem ist weitgehend zerstört, und das Gesundheitswesen liegt am Boden.

Auch die Bevölkerung der USA zahlt einen hohen Preis. Über 4.400 Soldaten sind gefallen, die direkten Staatsausgaben übersteigen mittlerweile 750 Milliarden Dollar und trugen nicht unwesentlich zur Wirtschaftskrise bei. Die gesamten Kriegskosten belaufen sich Schätzungen von Joseph Stiglitz und Linda Bilmes zufolge auf über 3 Billionen Dollar.1

Geostrategische Teilerfolge

Bei diesem Krieg ging es bekanntlich nicht um Massenvernichtungswaffen. Es ging jedoch auch nicht um die bloße Ersetzung des Regimes von Saddam Hussein durch ein US-freundlicheres und demokratischeres. Hauptsächliches Ziel war vielmehr die dauerhafte Ausschaltung des Iraks als Regionalmacht und die permanente Stationierung eigener Truppen im Herzen einer der strategisch wichtigsten Region der Welt. Zudem war die Umwandlung des Iraks in eine radikal neoliberale Marktwirtschaft geplant, die als Modell für die Umgestaltung der gesamten Region dienen sollte. Und natürlich ging es auch um die Kontrolle des irakischen Öls und den direkten Zugriff US-amerikanischer Konzerne auf die enormen Reserven des Landes.

Die Zerstörung des irakischen Staates und die Verwüstung der irakischen Gesellschaft gelangen den USA so gründlich, dass der Irak mit Sicherheit längere Zeit keine machtpolitische Rolle mehr spielen wird. Durch den Wegfall des benachbarten Rivalen stiegen jedoch die Macht und der regionale Einfluss des als Feind betrachteten Iran. Auch im Irak ist sein Einfluss auf Politik und Wirtschaft kaum geringer als der der Besatzer.

Noch haben die USA ca. 50.000 Soldaten sowie eine noch größere Zahl von Zivilbeschäftigten und Söldnern im Land. Fünf Megabasen wurden zu regelrechten Städten mit jeglichem Komfort ausgebaut, die jeweils zwischen 10.000 und 20.000 Soldaten aufnehmen können. Der breite Widerstand gegen die US-Präsenz verhinderte jedoch das von der Bush-Regierung angestrebte langfristige Stationierungsabkommen. Die US-Regierung sah sich schließlich gezwungen, ein Abkommen zu unterzeichnen, das den vollständigen Abzug aller US-Truppen bis zum Ende dieses Jahres vorsieht. Washington geht zwar davon aus, mit dem irakischen Regierungschef Nuri al-Maliki eine Verlängerung des Stationierungsabkommen aushandeln zu können. Ob dies auf formal legale Weise über einen Parlamentsbeschluss gelingen wird, ist jedoch sehr zweifelhaft.

Neoliberale Umgestaltung

Mit der neoliberalen Umgestaltung wurde sofort nach dem Einmarsch begonnen. Die Pläne dafür waren schon lange zuvor vom State Department detailliert ausgearbeitet worden, das Konzept lieferte die US-amerikanische Consulting-Firma Bearing Point. Auf einen Schlag wurden alle bisherigen Investitionsgesetze außer Kraft gesetzt und die gesamte Wirtschaft des Landes, mit Ausnahme des Rohstoffsektors, für ausländische Unternehmen geöffnet – ein klarer Verstoß gegen internationales Recht, das Besatzern solch gravierende Eingriffe untersagt. Die Erlasse der Besatzungsmacht erlaubten fremden Investoren die Übernahme irakischer Firmen und gewährten ausländischen Banken und Konzernen Freiheiten, wie sie in kaum einem anderen Land anzutreffen sind. Zölle wurden weitgehend aufgehoben und die durch zwölf Jahre Embargo stark geschädigten Firmen schutzlos der internationalen Konkurrenz ausgeliefert. Für die meisten bedeutete dies der Ruin, die Arbeitslosigkeit kletterte auf über 70%. Ein „kapitalistischer Traum“ schwärmte hingegen The Economist im September 2003.2

Unverzüglich wurden von US-Statthalter Paul Bremer auch die ersten Privatisierungen eingeleitet. So wurde dem US-Konzern Bechtel der Betrieb landwirtschaftlicher Bewässerungsanlagen übertragen. Zahlreiche US-Firmen bekamen ohne Ausschreibung Wiederaufbau- und Instandhaltungsaufträge zugeschanzt. Schon im Juni 2003 – nur einen Monat nach dem erklärten Ende größerer Kampfhandlungen – kündigte Bremer die Privatisierung von 48 der 192 Staatsunternehmen an. Sehr bald aber musste die Besatzungsmacht, wie die Washington Post Ende Dezember 2003 vermeldete, ihren Elan zügeln. In den betroffenen Betrieben hatte sich entschiedener Widerstand dagegen organisiert, außerhalb wuchs rasch ein militärischer Widerstand. Die Besatzungsmacht musste befürchten, letzterem durch ein zu forsches Vorgehen Teile der Arbeiterschaft in die Hände zu treiben.3

Öl – der ultimative Preis

Auch wenn die „ölige Wahrheit über Amerikas Außenpolitik“, wie es der außenpolitische Kommentator der Financial Times, Gideon Rachman, einst nannte, gerne ausgeblendet oder schlicht abgestritten wird, im Zentrum des Interesses der Invasoren stand das Öl. Die nachgewiesenen Erdölvorkommen im Irak beliefen sich 2003 auf 115 Milliarden Barrel (1 Barrel =159 Liter), das sind zehn Prozent der bekannten globalen Erdölreserven.4 Es werden jedoch bis zu 250 Milliarden Barrel vermutet, da das Land seit 1980 nicht mehr geologisch untersucht worden ist. Aufgrund der geringen Förderkosten würde das nach heutigen Preisen einem Wert von über 20 Billionen US-Dollar entsprechen.

Die geheime Energie Task Force von US-Vizepräsident Dick Cheney hatte bereits vor den Anschlägen des 11. September 2001 ehrgeizige Pläne für diese Schätze ausgearbeitet, die vor Kriegsbeginn noch verfeinert wurden. So wurden bereits einige Ölfelder bestimmten Ölmultis zugesprochen und der Ausbau ihrer Förderleistungen festgelegt. Insgesamt sollte die Ölproduktion in kurzer Zeit vervierfacht werden. Diese Pläne flossen direkt in die allgemeinen Kriegsvorbereitungen ein. So ließ das State Department noch vor der Invasion die Gesetze ausarbeiten, mit denen die zukünftige irakische Regierung die Kontrolle zentraler Ölfelder ausländischen Ölkonzernen übertragen sollte.5

Nach den Vorstellungen der Architekten des Irakkriegs sollten die Gewinne aus der zügig wachsenden Ölproduktion die Kriegskosten in kurzer Zeit wieder einspielen, die auf rund 40 Milliarden Dollar veranschlagt wurden. Mit dem steigenden Export irakischen Öls hoffte man zudem, die Organisation Erdöl exportierender Länder (OPEC) demontieren und somit die Ölpreise auf niedrigem Niveau stabilisieren zu können.

Letzteres ging gründlich daneben. Der Ölpreis stieg von 26 Dollar pro Barrel zeitweise auf über 120 Dollar und schwankt seither meist zwischen 70 und 90 Dollar. Auch die ersten forschen Schritte zur Übernahme der Ölproduktion scheiterten am Widerstand der Iraker. So zwang die neu gegründete Ölarbeitergewerkschaft im August 2003 die Halliburton-Tochter Kellogg, Brown & Root (KBR), die von der Besatzungsbehörde einen Instandsetzungsvertrag für ein Ölfeld in der Nähe von Basra erhalten hatte, durch Streiks zum Rückzug. Auf ähnliche Weise scheiterte auch die Privatisierung der Hafenanlagenverwaltung des zentralen irakischen Hafens Umm Qasr an Arbeitsniederlegungen der Hafenarbeiter bei den Ölterminals.

Nach mehreren Versuchen unternahm die erste gewählte Regierung unter Nuri al-Maliki – unter massivem Druck der Besatzungsmacht – 2007 einen weiteren Anlauf und verabschiedete ein Ölgesetz, das weitgehend dem ersten Entwurf des State Departments entsprach. Es würde ausländischen Konzernen die faktische Kontrolle der Ölförderung und einen großen Teil der daraus resultierenden Einnahmen über sog. Production Sharing Agreements (PSAs) verschaffen. Doch obwohl das Parlament mehrheitlich mit ursprünglichen Verbündeten der USA besetzt war, verweigerte eine deutliche Mehrheit dem Gesetz die Zustimmung. Angesichts der allgemeinen Stimmung ist das Gesetz im Augenblick nicht durchsetzbar und liegt auf absehbare Zeit erst einmal auf Eis.

Limitierter Einstieg von Ölkonzernen

Angesichts des zusammenbrechenden Haushalts aufgrund des zeitweilig auf 40 US-Dollar einbrechenden Ölpreises, begann die Maliki-Regierung 2009 hastig einen neuen Anlauf, um die Ölproduktion, die immer noch unter dem Vorkriegsniveau stagnierte, massiv zu steigern. Sie bot auf Basis der bisherigen Gesetze ausländischen Ölkonzernen Serviceaufträge zur Modernisierung der Anlagen und zum Ausbau der Förderleistung für acht bereits produzierende Ölfelder an. Auch wenn diese Aufträge eine Öffnung der Ölproduktion bedeuteten, sind sie weit von dem entfernt, was Cheneys Task Force angestrebt hatte.

Angeboten wurden reine Dienstleistungsverträge mit dem Ziel, die Fördermengen eines bestimmten Ölfeldes auf ein festgelegtes Niveau zu bringen. Die Auftragnehmer erhalten dabei lediglich einen festen Betrag für jedes zusätzlich geförderte Barrel Öl, d.h. weder Anteile am geförderten Öl noch Lizenzen. Bei einer vom Irak angebotenen Vergütung von ein bis zwei Dollar pro zusätzlichem Barrel und angesichts der anvisierten Steigerung des Outputs um mehrere Millionen am Tag und Laufzeiten von 20 Jahren, sind hier also durchaus zweistellige Milliardenbeträge zu verdienen.6

Doch die westlichen Öl-Giganten lehnten die Angebote rundheraus ab. Sie forderten, die Ölfelder in eigener Regie ausbeuten zu können und einen Anteil von mindesten 25 Dollar pro Barrel. Bei der ersten Auktionsrunde im Juni 2009 war nur ein von der British Petroleum und der China National Petroleum Corporation (CNPC) geführtes Konsortium bereit, zu den irakischen Bedingungen einzusteigen, sicherte sich dafür aber die Arbeiten an dem mit 17,8 Mrd. Barrel Reserven größten Ölfeld des Iraks. An der zweiten Auktion beeilten sich dann doch eine Reihe weiterer Firmen, vorneweg asiatische Staatskonzerne, gleichfalls ins Geschäft zu kommen.

Doch auch solche Serviceverträge sind vielen Irakern aufgrund des Umfangs und der langen Laufzeit schon zu viel. Daher ist noch längst nicht alles unter Dach und Fach. Widerstand gibt es nach wie vor im Parlament, das an sich – nach den immer noch gültigen Gesetzen aus der Baath-Ära – alle Verträge mit ausländischen Firmen billigen müsste. Noch hartnäckiger ist der Widerstand in den Unternehmen der staatlichen Ölindustrie, vom Management bis zu den Gewerkschaften. Letztere, allen voran die Irakische Föderation der Ölgewerkschaften (IFOU), haben bereits Proteste angekündigt. Die irakische Regierung versucht diesen Widerstand durch massive Repression zu brechen. Unter anderem schloss sie letzten Sommer die Büros der Öl-, Hafen- und Elektrizitätsgewerkschaften, beschlagnahmte ihre Konten und droht, gewerkschaftlichen Widerstand „wie Terrorismus“ zu ahnden. Die prominentesten Gewerkschaftsführer wurden wegen des Vorwurfs, die Öffentlichkeit gegen die Pläne des Ölministeriums aufzuhetzen und durch Streikdrohungen gegen ausländische Konzerne die wirtschaftlichen Interessen des Landes zu schädigen, verhaftet und angeklagt.

Widerstand droht jedoch auch von der Bevölkerung vor Ort, die befürchtet, durch den Ausbau der Förderanlagen nur den Schaden, jedoch keinen Nutzen zu haben. Sollte es der Regierung und den ausländischen Konzernen nicht gelingen, die Opposition gegen die ausländische Konzerne durch erhebliche materielle Verbesserungen, mehr Jobs, bessere Dienstleistungen etc. zu dämpfen, so könnten sich leicht, so der Irak-Experte Reidar Visser, „nigerianische Zustände“ entwickeln.7

Ein Ausschalten der Gewerkschaften wird der Regierung jedoch kaum gelingen. Sind sie doch ein wesentlicher Teil der wachsenden Protestbewegung im Land, die sich gegen die mangelnde Versorgung mit Nahrung, Strom, Trinkwasser etc. sowie allgemein gegen Korruption und Misswirtschaft richtet. Bereits im Sommer kam es zu heftigen Zusammenstößen zwischen wütenden Demonstranten und bewaffneten Regierungskräften. Angefeuert von den Revolten in Tunesien und Ägypten haben sich die Proteste nun übers ganze Land ausgebreitet und setzen die Regierung erheblich unter Druck. Bei Versuchen, sie niederzuschlagen, wurden seither zahlreiche Demonstranten getötet. Die Proteste gehen jedoch unvermindert weiter.

Kriegsgewinnler

Für viele ausländische Unternehmen wie Halliburton, Bechtel Group, Parsons Delaware oder Fluor Corporation wurde der besetzte Irak dennoch zur Goldgrube. KBR, bis vor kurzem als ehemals Kellogg, Brown & Root noch Teil von Dick Cheneys Halliburton, hat allein bis 2008 über 20 Milliarden US-Dollar für Aufträge im Irak erhalten. Bechtel kassierte in diesen fünf Jahren mindestens 2,8 Milliarden US-Dollar, und die berüchtigten privaten Militär- und Sicherheitsfirmen DynCorp International und Blackwater USA verbuchten bei Einnahmen von 1,8 bzw. 0,5 Milliarden Dollar ebenfalls Rekordgewinne.

Über ein Dutzend weitere, mit der Bush-Administration eng verwobene Firmen wurden mit Auftragssummen von über einer Milliarde bedacht. Insgesamt füllten während der Amtszeit von George W. Bush Aufträge im Wert von mehr als 50 Milliarden US-Dollar die Kassen US-amerikanischer Firmen, Gelder, die vorwiegend aus irakischen Guthaben und den aktuellen Öleinnahmen stammten.8 Die meisten Aufträge wurden ohne Ausschreibungen vergeben, die Kontrolle der Aufgabenerfüllung war äußerst lasch. Zum großen Teil wurden die Beträge kassiert, ohne dass eine adäquate Gegenleistung zu erkennen ist.9

An vorderster Stelle der Gewinner stehen auch die westlichen Rüstungskonzerne. Lockheed Martin, der weltgrößter Rüstungsproduzent und Hauptauftragnehmer des Pentagon, konnte seinen Umsatz von 26,6 Mrd. im Jahr 2002 um 60% auf 42 Mrd. Dollar 2007 steigern, den Aktienkurs verdoppeln und den Gewinn auf 3 Mrd. Dollar verdreifachen.10 Auch die britische BAE Systems, Europas größter Rüstungskonzern, steigerte seinen Umsatz um 30% auf 18 Mrd. Euro und seinen Gewinn um 50% auf 1,9 Mrd. Euro. Ihr Aktienkurs stieg um 400%. Kräftig steigende Umsätze vermelden aber auch deutsche Konzerne wie Rheinmetall AG, deren Aktienkurs von 2002 bis 2007 um 300% stieg.11

Das Fazit

Die USA waren in ihrer Irakpolitik, so kann man zusammenfassend feststellen, äußerst erfolgreich bei der Umsetzung ihrer destruktiven Ziele, scheiterten jedoch weitgehend mit ihren langfristigen ordnungspolitischen und ökonomischen Plänen – zum Teil aufgrund von Unfähigkeit und Ignoranz, vor allem jedoch am vielfältigen Widerstand der Bevölkerung. Ökonomisch konnte sich auch der Irakkrieg für den angreifenden Staat niemals rechnen – für einen kleinen, eng mit dessen politischer Führung verwobenen Kreis jedoch sehr wohl.

Anmerkungen

1) Amy Belasco: The Cost of Iraq, Afghanistan, and Other Global War on Terror Operations Since 9/11. Congressional Research Service, 2.9.2010. Joseph Stiglitz und Linda Bilmes (2008): The Three Trillion Dollar War: The True Cost of the Iraq Conflict. New York: Norton & Company.

2) Walter Ötsch und Jakob Kapeller: Neokonservativer Marktradikalismus. Das Fallbeispiel Irak. In: Internationale Politik und Gesellschaft, 2/2009, S.40-55.

3) Rajiv Chandrasekaran: Attacks Force Retreat From Wide-Ranging Plans for Iraq. Washington Post, 28.12.2003.

4) Mittlerweile stiegen die nachgewiesen Reserven auf 143,1 Mrd. Barrel. Damit rückt Irak vor den Iran auf den vierten Platz, hinter Saudi Arabien (262 Mrd.), Venezuela (211 Mrd.) und Kanada (179 Mrd.). Die Reserven von Venezuela und Kanada bestehen jedoch zum großen Teil aus unkonventionellen Ölquellen wie Öl-Sand (siehe Iraq increases oil reserves by 24%, BBC, 4.10.2010).

5) Joachim Guilliard: Kontrollierte Plünderung – Die Ökonomie des Irak-Krieges. junge Welt, 05.06.2008.

6) Joachim Guilliard: Irak: Im Clinch ums Öl. IMI-Analyse 2009/035.

7) Reidar Visser: The Second Licensing Round in Iraq: Political Implications. 13,12.2009.

8) Center for Public Integrity: Baghdad Bonanza – The Top 100 Private Contractors in Iraq and Afghanistan. Nov. 2007.

9) Global Policy Forum and 30 NGOs: War and Occupation in Iraq. Global Policy Forum, Juni 2007.

10) Fire and Forget – Krieg als Geschäft, WDR 5, 21.03.2008.

11) Mehr dazu in Guilliard: Kontrollierte Plünderung, a.a.O.

Joachim Guillard ist Journalist und Verfasser zahlreicher Fachartikel zum Thema Irak. Außerdem ist er Mitherausgeber bzw. Koautor etlicher Bücher zu diesem Thema.

Irak: Kriegsbilanz

Irak: Kriegsbilanz

von Jürgen Nieth

Zum 1. September zogen die USA den Großteil ihrer Truppen aus dem Irak ab. „Der Kampfeinsatz amerikanischer Streitkräfte im Irak ist nun auch offiziell beendet, etwa 50.000 Soldaten bleiben noch ein Jahr im Irak, um einheimische Sicherheitskräfte auszubilden und bei Einsätzen gegen Terroristen zu unterstützen.“ Der US-Präsident hat damit sein Wahlkampfversprechen gehalten, schreibt Günter Nonnenmacher in der Frankfurter Allgemeinen (FAZ, 02.09.10, S.1).

Rückzug ohne Triumph

Anders als Georg W. Bush, der bereits wenige Wochen nach Kriegsbeginn von einem Flugzeugträger aus den Sieg verkündete, wird Obamas Fernsehansprache von der deutschsprachigen Presse als nachdenklich bis widersprüchlich eingeschätzt. Obama versuchte in seiner Rede „Gräben zu zuschütten. Er attestierte seinem Vorgänger Patriotismus und lobte die amerikanische Armee, die im Irak einen hohen Blutzoll entrichtet hat. Der Subtext der Botschaft war aber nicht zu überhören: Die tausend Milliarden Dollar, die dieser Krieg gekostet hat, wären besser an der Heimatfront eingesetzt worden und sind eine der Ursachen für das horrende Haushaltsdefizit der Vereinigten Staaten.“ (FAZ, 02.09., S.1)

Ähnlich die Berliner Zeitung (BZ, 02.09.10, S.10). Sie hebt hervor, dass Obama keinen Zweifel ließ, „dass er den Krieg noch immer für falsch hält“ und dass er „ungewöhnlich für eine Kriegsrede… zudem auf die wirtschaftliche Lage in den USA“ einging.

Von einem „Etikettenschwindel auf Kosten der Iraker“ spricht dagegen Tomas Avenarius in der Süddeutschen Zeitung (SZ, 28.08.10, S.4). „Während das Land von einer Terrorwelle überzogen wird, vermittelt der US-Präsident den Eindruck, seine Truppen hinterließen halbwegs geordnete Verhältnisse.“ Die Neue Zürcher Zeitung (NZZ, 02.09.10, S.21) sieht eine „recht widersprüchliche Rede an die Nation… Der Präsident versprach einerseits, dem Irak weiter zu helfen, andererseits betonte er, dass Amerika seiner Verantwortung gerecht geworden sei und nun die Zeit gekommen sei, dieses Kapitel abzuschließen. Seinen Landsleuten suggerierte er, dass die USA mit dem offiziellen Ende der Kampfoperationen im Irak eine große, auch wirtschaftliche Bürde abgeschüttelt hätten, an anderer Stelle wies er darauf hin, dass ein Großteil der frei gewordenen Ressourcen in den Krieg nach Afghanistan geflossen sei.“ Die NZZ kritisiert weiter, dass Obama einen Bogen um die nahe liegende Frage machte: „War dieser Krieg tatsächlich gerechtfertigt?“

Kriegsrechtfertigung

Den Versuch, den Krieg nachträglich zu rechtfertigen, unternimmt nur die Welt am Sonntag (22.08.10., S.14). Unter dem Titel „Mission unvollendet“ bedauert Richard Herzinger den „verfrühten“ Abzug der USA. Weiter schreibt er: Hätte man Saddam nicht gewaltsam entmachtet, „hätte er wieder… unkontrolliert schalten und walten können. Die Massenvernichtungswaffen, die man zur Genugtuung der Kriegsgegner nach dem US-Einmarsch nicht finden konnte, hätte er dann in Ruhe tatsächlich entwickeln können.“ Warum er es dann nicht früher gemacht hat, bleibt Geheimnis des Autors.

Ganz anders sieht das Stephan Bierling in der FAZ (27.08.10, S.9): „Der Irak wurde vor allem deshalb zur Zielscheibe, weil er der einfachste Gegner auf jener »Achse des Bösen« war, die schon unter Bushs Vorgänger Clinton Gestalt angenommen hatte.“

Auch die anderen Zeitungen ziehen durchweg eine vernichtende Bilanz.

Schlechter als unter Saddam

In der Wochenzeitung »Der Freitag« (09.09.10, S.10) schildert Jonathan Steele sein Reiseeindrücke: „Überall, wo man in diesem übel zugerichteten Land hinkommt, vergleichen die Menschen ihr Leben unter der Herrschaft Saddams mit dem, was ihnen jetzt widerfährt. Der Vergleich fällt selten zugunsten der »mokhtalin« aus, dem Wort für Invasoren oder Besatzer, das viele der Bezeichnung »die Amerikaner« oder »die Briten« vorziehen.“

Kriegskosten

4.419 US-Soldaten ließen im Irak ihr Leben. Zehntausende kehrten verwundet oder mit schweren Traumata zurück. Ihnen gedachte Obama bei seiner Ansprache an die Nation, die toten Iraker erwähnte er nicht. Andreas Zumach spricht in der taz (20.08.09., S.1) von 100.000 irakischen Zivilisten, die in unmittelbarer Folge von Krieg und Gewalttaten starben. „Rechnet man die Folgen der Zerstörung lebenswichtiger Infrastruktur wie etwa der Wasserversorgung hinzu, kamen knapp 800.000 irakische Zivilisten ums Leben.“

Auch die in Dollar messbaren Kriegskosten sind explodiert. Dem ehemaligen Verteidigungsminister Rumsfeld zufolge sollte der Irakkrieg 50 Milliarden Dollar kosten. Obama bezifferte die Kriegskosten jetzt auf mehr als eine Billion Dollar, „oft finanziert mit geliehenem Geld aus dem Ausland.“ (BZ, 02.09.10, S.10). „Damit untertreibt er aber gewaltig“, so Tilman Brück, Ökonom am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung in der BZ. „Die wahren Kosten sind viermal größer.“ Die Obama Rechnung enthält nach der BZ „nur die direkten im US-Haushalt verbuchten Kriegskosten, etwa Sold und Material.“ Nicht berechnet sind die Kosten für Zehntausende Amerikaner, die weiterhin im Irak bleiben, und auch nicht die Kriegsfolgekosten, z. B. für die medizinische Versorgung der Veteranen. „Drei bis vier Billionen Dollar, nur für die USA. Die Kosten für die anderen Länder, vor allem den Irak, sind bislang nicht berechnet worden.“

Ziele nicht erreicht

„Die Intervention hat keines der erklärten Ziele erreicht“, so Viktor Maurer in der NZZ (09.09.10, S.23). „Im Gegenteil: …Erstens hat die Asymmetrisierung der Kriegsführung deutlich zugenommen… Zweitens haben terroristische Anschläge im Irak, im Nahen Osten und weit darüber hinaus zu- und nicht abgenommen. Drittens haben sich die Gewichte in der Region zugunsten Irans verschoben.“

Und in der SZ (28.08.10, S.4) wird bilanziert: „Der Irak hat sich nicht zum Demokratie-Biotop verwandelt. Er ist auch keine Drehscheibe der US-Militärmacht geworden, von der aus sich die Region dominieren ließe. Im Gegenteil: Der Irak-Krieg hat die Grundkonstellation im Nahen Osten auf den Kopf gestellt… Alte Konflikte (wurden) neu geschürt. Der Bagdad-Feldzug… hat jede Menge neue Fronten eröffnet.“

Zusammengefasst

„Desaströser könnte die Bilanz eines Krieges kaum ausfallen. Es muss einem angst und bange werden für die Menschen in Afghanistan, das derzeit mit denselben Methoden befriedet und stabilisiert werden soll“ (Andreas Zumach in der taz, 20.08.10, S.1).

Anthropologie und »Human Terrain«

Anthropologie und »Human Terrain«

Die Kriege im Irak und in Afghanistan

von Hugh Gusterson

Der Einsatz von Sozialwissenschaftlern in der Aufstandsbekämpfung hat in den US-Streitkräften eine lange Tradition. Mit der Zunahme aufständischer Aktivitäten im Irak und in Afghanistan wurde erneut der Versuch unternommen, sozialwissenschaftliche Expertise für militärische Interessen dienstbar zu machen. Doch dieser Versuch traf auf Widerspruch aus der Disziplin.

Jeder Krieg hinterlässt seine Spuren in unserer Sprache. Im Falle des Ersten Weltkriegs war es der »Grabenkrieg«, im ersten Golfkrieg die »intelligente Bombe« und in den Kriegen im Irak und in Afghanistan wohl »human terrain« – von der Amerikanischen Gesellschaft für Mundart im Rahmen des Wettbewerbs um die beschönigendste Formulierung des Jahres 2007 zum Sieger erklärt.1 Einer der führender Exponenten dieser Redewendung ist General David Petraeus, der Oberkommandierende des U.S. Central Command, der schrieb, dass „der Kern jeder Aufstandsbekämpfungsstrategie auf die Tatsache gerichtet sein muss, dass das entscheidende Terrain das menschliche Terrain ist, nicht das Gelände oder die Überquerung von Flüssen.“ 2

General Petraeus war der ranghöchste Offizier einer Gruppe von Offizieren, die sich in den letzten Jahren mit der Wiederbelebung der Aufstandsbekämpfungsdoktrin im US-Militär befasst hat. Als die USA zunächst in Afghanistan im Jahr 2001 und dann im Irak im Jahr 2003 eindrangen – mit Donald Rumsfeld als Verteidigungsminister und »Shock and Awe« als Mantra, lag das Augenmerk darauf die Zahl der US-Truppen niedrig zu halten und die Mächtigkeit von Hochtechnologie zu nutzen, um rasch jeden Widerstand gegen die US-Streitkräfte zu zerstören. Es wurde angenommen, dass sich der Widerstand, einmal zerstört, nicht neu gruppieren werde. Als Donald Rumsfeld Ende 2006 zurücktrat, zeigte sich, dass seine Strategie, wenig Truppen mit Hochtechnologie-Waffen zu kombinieren, zwar für die erste Phase des Krieges eindrucksvolle Erfolge gebracht hatte, aber hinsichtlich der längerfristigen Aufgabe der Besatzung unangemessen war – zumal sich sowohl im Irak als auch in Afghanistan kraftvolle Aufstände entwickelten, die die USA nicht einzudämmen vermochten. Als Reaktion auf diese Aufstände stellte das Pentagon – nun unter Leitung von Robert Gates – erhebliche Mittel zur Untersuchung von Aufständen bereit.

Das Ergebnis war eine neue Aufstandsbekämpfungsdoktrin, die sich an der der europäischen Kolonialmächte orientiert und die Bedeutung der Gewinnung der »Herzen und Hirne« der afghanischen und irakischen Bevölkerungen in ihrer Bedeutung militärischen Operationen gleichstellt. Gemäß der neuen Doktrin wurde es wichtig, die Bedürfnisse der einheimischen Bevölkerung zu verstehen und kulturell informierte Möglichkeiten zu finden, diesen, wo möglich, gerecht zu werden. Gleichzeitig ging es darum, die Aufständischen zu isolieren und den Kampf um Einfluss sowohl politisch als auch militärisch zu betrachten. Von Offizieren der mittleren Ebene wurde nun erwartet, dass sie sich mit den Dorfältesten zum Tee treffen und Entwicklungsprojekte betreuen statt lediglich Aufständische zu verfolgen und zu töten. Während einige Brigaden Taliban-Lager angriffen, biederten sich andere bei Dorfbewohnern an und fragten, was die USA für sie tun könnten. David Kilcullen, General Petraeus' Sonderbeauftragter für Counterinsurgency, bezeichnete diesen Ansatz mit dem berühmt gewordenen Begriff „bewaffnete Sozialarbeit.“ 3

Als Teil dieses Ansatzes kündigte die US-Armee 2007 an, »Human Terrain«-Teams in den Irak und nach Afghanistan zu entsenden. Obwohl die Teams im Einzelfall variieren, bestehen diese in der Theorie aus fünf Personen – drei Militärs und zwei ZivilistInnen. Die ZivilistInnen sind Sozialwissenschaftler oder Regionalspezialistinnen. Als das Programm im Herbst 2007 angekündigt wurde, war ins Auge gefasst worden, dass die SozialwissenschaftlerInnen vor allem AnthropologInnen mit Kenntnissen der lokalen Sprache und Kultur sein sollten; allerdings erfüllten nur wenige der tatsächlich Angeworbenen diese Kriterien. Meist tragen sie US-Militäruniformen und haben die Möglichkeit Waffen zu tragen, wofür sie ausgebildet wurden. Bisher wurden drei SozialwissenschaftlerInnen aus »Human Terrain«-Teams getötet: Paula Lloyd interviewte gerade einen als harmlos eingestuften Dorfbewohner, als dieser plötzlich Benzin über sie goss und sie anzündete. Die beiden anderen starben durch Bomben.4

Die »Human Terrain«-Teams werden durch so genannte »Reach Back Research Cells« in Kansas und Virginia unterstützt, die „damit beauftragt sind, auf Anforderung Studien aus allgemein zugänglichen Quellen zu Problemen zu erstellen, die für Kommandeure und im Frontbereich eingesetzte sozialwissenschaftliche Teams sowohl im Irak als auch in Afghanistan von Bedeutung sind.“ 5 Diese Forschung kann von ethnischer Geographie über Heiratsgewohnheiten bis zu örtlichen religiösen Vorstellungen alles umfassen. Im April 2009 gab es insgesamt 27 »Human Terrain«-Teams, von denen sechs in Afghanistan operierten und 21 im Irak. Die Obama-Administration beabsichtigt gegenwärtig, 40 Millionen US-Dollar in die Ausweitung des »Human Terrain«-Programms zu stecken.6

Es ist aus verschiedenen Gründen schwer darzustellen, was die »Human Terrain«-Teams tatsächlich tun. Einer der Gründe besteht darin, dass die Teams zum Teil improvisieren, so dass unterschiedliche Teams auch unterschiedlich arbeiten. Ein weiterer ist, dass das »Human Terrain«-Programm – wie andere militärische Programme auch – für Außenstehende nicht leicht zu durchschauen ist. Und schließlich ist das »Human Terrain«-Programm von einer so umfassenden PR-Kampagne begleitet gewesen, dass schwer zu erkennen ist, was Propaganda und was zutreffende Beschreibung ist. Das Pentagon hebt hervor, dass die »Human Terrain«-Teams dazu angehalten sind, ein umfassendes Bild der örtlichen kulturellen Geographie („kartiere das menschliche Terrain“) zu erstellen und Hinweise bezüglich lokaler Gewohnheiten vorzuhalten, aber nicht dazu, der militärischen Aufklärung bei der Auswahl von Zielen zu helfen, die dann – dem Militärjargon zufolge – mit »kinetischer Wucht« behandelt werden. Ein Journalist, der im Grundsatz mit dem »Human Terrain«-Programm sympathisierte, beschrieb deren Aktivitäten wie folgt: „Die frühen Teams stellten grundlegende interkulturelle Auswertungen bereit. Sie gaben Hinweise dazu, welches Geschenk – etwa eine neues Gewehr – an einen irakischen Scheich Sinn machen würde oder ob sein Begrüßungsangebot eines Lammes anzunehmen sei (ja) bzw. ob blutbeschmierte Fahrzeuge in der Nähe ein Grund zur Sorge seien (nein, sie sind Teil eines Segnungsrituals) (…) Später begannen diese SpezialistInnen, Wege vorzuschlagen wie die Unterstützung der örtlichen Bevölkerung zugunsten der Aufständischen beendet und statt dessen der von den USA unterstützten Regierung zugutekommen könnte.“ 7

Eine Kommission, die von der »American Anthropological Association« eingesetzt wurde, um das »Human Terrain«-Programm zu bewerten, listet eine Reihe von Fragen auf, die die »Human Terrain«-Teams beantworten sollten: Warum werfen Kinder Steine nach uns? Wo sollen wir unser Geld investieren? Vertraut die einheimische Bevölkerung der Polizei? Fühlen sich die Menschen bei der Stimmabgabe sicher? Gibt es Konflikte in den Dörfern? Schließen sich die Menschen dem Aufstand an, weil ihnen Möglichkeiten des ökonomischen Aufstiegs fehlen? Die Kommission zitierte auch einen Angehörigen des Programms mit der Aussage: „Wir stellen das Gefüge dar, in dem die »bad guys« operieren und geben den Einheiten eine Grundlage, um ihr Operationsgebiet zu verstehen oder herauszubekommen, ob Taliban in einem Dorf leben oder wo diese sein könnten.“ 8

Die AnthropologInnen reagieren

Im Sommer 2006 rief der Versuch der CIA, eine Stellenausschreibung im Rundbrief der » American Anthropological Association (AAA)« zu schalten, Unruhe im Verband hervor. Daraufhin ernannte die Vereinigung eine Kommission zur Ausarbeitung einer Richtlinie bezüglich der Beziehung zwischen AnthropologInnen und dem nationalen Sicherheitsstaat. Gerade als diese »Commission on the Engagement of Anthropology with the US Security and Intelligence Communities (CEAUSSIC)« ihren Bericht im Herbst 2007 vorlegen wollte, wurde das »Human Terrain«-Programm der US-Armee öffentlich angekündigt.9 Damit hatte die CEAUSSIC keine Zeit, das »Human Terrain«-Programm zu berücksichtigen, aber die AAA-Spitze sah es als notwendig an, zu einem Programm Position zu beziehen, das rasch öffentliche Aufmerksamkeit auf sich zog. Daher veröffentlichte das AAA-Leitungsgremium am 31. Oktober 2007 eine Stellungnahme, der zu Folge „der Vorstand der Amerikanischen Anthropologischen Vereinigung beschließt, dass (1) das HTS-Programm Bedingungen schafft, die dazu geeignet sind, dass AnthropologInnen in Situationen geraten, in denen ihre Arbeit eine Verletzung der AAA-Ethikregeln darstellt, und dass (2) die Verwendung von AnthropologInnen im Rahmen des Programms eine Gefahr für die AnthropologInnen selbst sowie für die Personen, die die AnthropologInnen beforschen, darstellt. Daher drückt der Vorstand seine Missbilligung des HTS-Programms aus“ (im Original: Hervorhebung des letzten Satzes).10 Der Vorstand verfasste diese Stellungnahme zu einem Zeitpunkt, als das von mir im Herbst 2007 mit begründete »Network of Concerned Anthropologists« einen Aufruf herausgab, „keine Forschungen oder andere Aktivitäten zur Unterstützung von Aufstandsbekämpfungsaktivitäten im Irak oder an anderen Schauplätzen des »Krieges gegen den Terror« durchzuführen“. Zur Bestürzung des US-Militärs unterzeichneten in wenigen Monaten rund 1.000 AnthropologInnen diese Verpflichtung.11

Ende 2007 bat der AAA-Vorstand das CEAUSSIC, sich erneut zu konstituieren und ein weiteres Jahr damit zu verbringen, das »Human Terrain«-Programm zu untersuchen. Zu den elf beteiligten AnthropologInnen dieser Kommission gehörten auch jeweils einer, der für die US Marines bzw. die US-Armee tätig war, sowie ein weiterer, der für ein Atomwaffenlabor arbeitete. Außerdem wirkten zwei Gründer des »Network of Concerned Anthropologists« mit. Der Bericht der Kommission, der im Dezember 2009 vom Vorstand angenommen wurde, ist gegenüber dem »Human Terrain«-Programm sehr kritisch und schlussfolgert, dass die Kartierung humanitären Verhaltens „nicht länger als legitime berufliche Tätigkeit von AnthropologInnen angesehen werden kann“. Er fügt hinzu, dass „das CEAUSSIC vorschlägt, dass die AAA die Unvereinbarkeit des HTS mit der disziplinären Ethik und den Verfahren für Stellensuchende herausstellt und dass zudem das Problem anzuerkennen ist, dass es dem HTS erlaubt ist, im Verteidigungsministerium die Bedeutung von »Anthropologie« zu bestimmen.“ 12

Ohne eine Bezugnahme auf die Ethikrichtlinien der AAA13 ist die große Zurückweisung des »Human Terrain«-Programms nicht zu verstehen. Drei Bestimmungen der Ethikrichtlinie sind von besonderer Bedeutung. Die erste ist abgeleitet aus dem Nürnberger Kodex und hält fest, dass die anthropologisch Beforschten eine Einverständniserklärung abgeben, bevor sie erforscht werden. Freilich macht Patricia Omidian, die als angewandte Anthropologin in Afghanistan arbeitet, deutlich: „Ein Gemeinwesen als Angehörige/r des Militär zu betreten, als eine Person mit der Macht und dem Gewicht der US-Armee im Rücken, bedeutet, ein Ausmaß an Macht mitzubringen, dem sich eine einheimische Person nicht widersetzen kann – denn jede solche Reaktion kann dazu führen, inhaftiert oder getötet zu werden.“ 14 Mit anderen Worten: ein Afghane oder Iraker, der nicht mit dem Anthropologen sprechen möchte, könnte Angst haben, dies zu sagen.

Ein zweiter zentraler Grundsatz des AAA-Ethikcodes besagt, dass sich AnthropologInnen nicht in einer Weise verhalten sollten, die es anderen AnthropologInnen erschwert, ihre Arbeit zu machen. Viele AnthropologInnen im Feld haben die Erfahrung gemacht, dass man sie halb im Scherz fragte, ob sie Spione seien. Einige Pechvögel sind von der einheimischen Polizei festgehalten und befragt worden. Viele AnthropologInnen fürchten nun, dass alle AnthropologInnen als verdächtig gelten und einige daher nicht mehr in der Lage sind, ihre Feldarbeit zu machen, wenn AnthropologInnen dafür bekannt sind, dass sie für das US-Militär in Kriegszonen das „menschliche Terrain kartieren“.

Als drittes Prinzip ist die Richtlinie relevant, dass AnthropologInnen denjenigen, die sie beforschen, keinen Schaden zufügen sollen: „Anthropologische ForscherInnen müssen alles in ihrer Macht stehende tun, damit ihre Forschung nicht die Sicherheit, Würde oder Privatsphäre der Menschen verletzt, mit denen sie arbeiten, Forschung durchführen oder andere berufliche Aktivitäten ausführen.“ 15

An dieser Stelle drückt der CEAUSSIC-Bericht seine größte Besorgnis aus. Folgt man dem Bericht, so bemühen sich einige der »Human Terrain«-Teams intensiv darum, die Anonymität der Iraker und Afghaner zu bewahren, mit denen sie gesprochen haben. Andere tun dies jedoch nicht und so besteht die Gefahr, dass von AnthropologInnen gesammelte Daten für die militärische Zielplanung verwandt werden, selbst wenn das nicht die Absicht der AnthropologInnen war, die die Daten gesammelt haben. Um mit den Worten von Oberstleutnant Gian Gentile zu sprechen, der ein Geschwader im Irak befehligt: „Die AnthropologInnen sollten sich nicht selbst belügen. Ob sie es wahrhaben oder nicht, die »Human Terrain«-Teams tragen in allgemeiner und scharfsinniger Weise zum Gesamtwissen eines Kommandeurs bei, das ihm erlaubt den Feind zu identifizieren und zu töten.“ 16 Außerdem ist es trotz des AAA-Ethikcodes klar, dass einige der AnthropologInnen in »Human Terrain«-Teams gar nichts dagegen haben, Informationen bereit zu stellen, das auch zur Tötung von Irakern und Afghanen verwandt werden kann. Die »Dallas Morning News« zitierten eine Anthropologin mit der Äußerung, dass es „sie nicht interessiere, was mit ihren Informationen geschehe, selbst wenn es Teil von Aufklärungsmaterial wird, das von U.S. Special Forces dazu benutzt wird, Anführer der Aufständischen zu töten oder gefangen zu nehmen… ›Mich interessiert nur, unsere Kenntnisse an so viele Soldaten wie möglich weiterzugeben. Die Realität da draußen ist, dass es Leute gibt, die darauf aus sind, bad guys zu töten. (…) Und die operieren nicht in einem Vakuum‹.“ 17

Schlussfolgerung

Obwohl Jahresgehälter bis zu 300.000 US-Dollar geboten wurden, ist die Rekrutierung für das »Human Terrain«-Programm im Großen und Ganzen ein erstaunlicher Fehlschlag gewesen. Laut CEAUSSIC-Bericht waren im Programm im April 2009 417 Personen beschäftigt. Von diesen waren nur sechs promovierte AnthropologInnen. Weitere fünf hatten entsprechende Masterabschlüsse. Der Bericht hält fest, dass „die große Mehrheit der derzeitigen Beschäftigten des »Human Terrain«-Programms in anderen sozialwissenschaftlichen Disziplinen und Abschlüssen als in der Anthropologie versehen ist, obwohl dieser eine zentrale Rolle im Programm zugewiesen wurde.“ 18 Außerdem seien die rekrutierten AnthropologInnen keine ExpertInnen in Sprache und Kultur des Mittleren Ostens bzw. Südwestasiens. Einer ist beispielsweise ein auf Lateinamerika spezialisierter Archäologe, ein anderer hat Feldforschung auf den Philippinen gemacht, wo er Jäger und Sammler beforschte. Abhängig von Übersetzern, nicht vertraut mit der lokalen Kultur und naiv im Umgang mit Waffen, ist unklar, ob diese AnthropologInnen nicht eher eine Last als ein Gewinn für das US-Militär sind. Während sie dazu vorgesehen waren, bei Konflikten zwischen dem Militär und der Bevölkerung der besetzten Länder Irak und Afghanistan zu vermitteln, haben die »Human Terrain«-Teams erhebliche Konflikte zwischen dem Militär und der Berufsgruppe der AnthropologInnen verursacht. Es ist Zeugnis der ethische Integrität der Anthropologie als Disziplin, dass die US-Armee – trotz der Versuchung sehr hoher Vergütung und angesichts der schlechtesten Arbeitsmarktlage für AnthropologInnen seit Menschengedenken – nur so wenige AnthropologInnen für die »Human Terrain«-Teams rekrutieren konnte.

Eine kleine, jedoch zunehmende Zahl von AnthropologInnen arbeitet für den nationalen Sicherheitsstaat USA in anderen Kontexten, besonders bei der Ausbildung des Offizierkorps und bei der Erstellung von Analysen für Militärfirmen. Während eine große Zahl von AnthropologInnen sich derartigen Tätigkeiten verweigern würde, gibt es doch keinen Konsens in der Disziplin, dass es berufsständisch falsch wäre es zu tun. Andererseits halten sich auch jene AnthropologInnen, die für den nationalen Sicherheitsstaat arbeiten, weithin an den Konsens der Disziplin, dass sich AnthropologInnen vom »Human Terrain«-Programm fernhalten sollten. Obwohl die »American Anthropological Association« nicht über den Einfluss verfügt, jene auszuschließen, die gegen ihre Vorschriften verstoßen, und obwohl einige der in »Human Terrain«-Teams tätigen AnthropologInnen hartnäckig behaupten, sie seien im Recht19, ist sehr deutlich, dass diese lediglich einen kleinen, marginalen Teil der Disziplin darstellen.

Angesichts öffentlicher Berichte über Korruption und organisatorische Mängel im»Human Terrain«-Programm haben zudem einige Offiziere mit Angriffen begonnen; sie sagen es wäre besser, ein rein militärisches Programm ohne SozialwissenschaftlerInnen zu fahren.20

Was die Zukunft bringen wird, ist unklar. Das »Human Terrain«-Programm könnte als ein fehlgeschlagener Versuch eingestellt werden; es könnte dahinsiechen in seiner gegenwärtigen Form mit einer Crew aus schlecht ausgesuchten SozialwissenschaftlerInnen oder es könnte – wie einige Militärs es empfehlen – in ein rein militärisches Programm umgewandelt werden ohne zivile SozialwissenschaftlerInnen. Eines aber ist inzwischen klar: Es wird nicht das gemeinsame Unternehmen zwischen Militär und zivilen AnthropologInnen sein, das seine Schöpfer beabsichtigten.

Anmerkungen

1) http://www.americandialect.org/Word-of-the-Year_2007.pdf, S.3.

2) David Petraeus: »Afghanistan is hard all the time, but it's doable«, The Times Online September 18, 2009 http://www.timesonline.co.uk/tol/comment/columnists/guest_contributors/article6839220.ece

3) Die wichtigsten Texte zur neuen US-Counterinsurgency-Doktrin der US-Armee sind: U.S. Army (2007): The U.S. Army/ Marine Corps Counterinsurgency Field Manual (Chicago: University of Chicago Press); Barak A. Salmoni & Paula Holmes-Eber (2008): Operational Culture for the Warfighter: Principles and Applications (Quantico, VA: Marine Corps University Press); David Kilcullen (2009): The Accidental Guerilla: Fighting Small Wars in the Midst of a Big One (New York: Oxford University Press); David Galula (2006): Counterinsurgency Warfare: Theory and Practice (Westport CT: Praeger); John Nagl (2002): Counterinsurgency Lessons From Malaya and Vietnam: Learning to Eat Soup with a Knife (Westport, CT: Praeger).

4) Farah Stockman: »Anthropologist's War Death Reverberates«, Boston Globe February 12, 2009. Vgl. auch http://humanterrainsystem.army.mil/memoriam.html

5) Nathan Hodge: »Inside the Brain of Human Terrain«, Danger Room March 13, 2009, http://www.wired.com/dangerroom/2009/03/the-human-terra-2/.

6) AAA Commission on the Engagement of Anthropology With the US Security and Intelligence Communities (CEAUSSIC): Final Report on the Army's Human Terrain System Proof of Concept Program, October 14, 2009, p.13, p.6. http://www.aaanet.org/cmtes/commissions/CEAUSSIC/upload/CEAUSSIC_HTS_Final_Report.pdf. Vgl. auch: Roberto Gonzalez (2008): American Counterinsurgency: Human Science and the Human Terrain (Chicago: Prickly Paradigm Press).

7) Noah Schachtman: »Army Anthropologist's Controversial Culture Clash«, Wired.Com September 23, 2008, http://blog.wired.com/defense/2008/09/controversial-a.html

8) CEAUSSIC pp.28-9

9) Hintergrundinformationen zum CEAUSSIC finden sich unter http://www.aaanet.org/cmtes/commissions/CEAUSSIC/index.cfm. Vgl. auch http://www.aaanet.org/pdf/upload/FINAL_Report_Complete.pdf für den Bericht von 2007.

10) Vgl. http://www.aaanet.org/issues/policy-advocacy/Statement-on-HTS.cfm für die ganze Stellungnahme.

11) Weitere Informationen zum »Network of Concerned Anthropologists« finden sich unter http://concerned.anthropologists.googlepages.com/. Im Jahr 2009 veröffentlichte das Netzwerk The Counter-Counterinsurgency Manual (Chicago: Prickly Paradigm Press), ein Buch mit Beiträgen verschiedener AutorInnen, die die Militarisierung der Sozialwissenschaften und die US-Counterinsurgency-Strategie kritisieren.

12) CEAUSSIC: Final Report on The Army's Human Terrain System Proof of Concept Program, http://www.aaanet.org/cmtes/commissions/CEAUSSIC/upload/CEAUSSIC_HTS_Final_Report.pdf, S.3

13) http://www.aaanet.org/committees/ethics/ethcode.htm. Der AAA-Ethikcode von 1971, der schärfer war und von vielen in der AAA noch als Richtlinie angesehen wird, findet sich unter: http://www.aaanet.org/stmts/ethstmnt.htm.

14) Patricia Omidian: »Living and Working in a War Zone: An Applied Anthropologist in Afghanistan«, Practicing Anthropology 31(2), 2009, S .4-11 (10).

15) Code of Ethics of the American Anthropological Association (1998) http://www.aaanet.org/committees/ethics/ethcode.htm.

16) Dieser Kommentar war ursprünglich an einen Blog von Marcus Griffin gepostet worden, einen »Human Terrain«-Team Anthropologen. Nachdem der Kommentar einen Tag später in einem Papier von Roberto Gonzalez zitiert worden war, einem der führenden Kritiker des »Human Terrain«-Systems, wurde der Blog geschlossen.

17) Jim Landers: »Anthropologist from Plano Maps Afghanistan's Human Terrain for Army«, Dallas Morning News, March 9, 2009.

18) CEAUSSIC 2009, S.12-13.

19) Adam Silverman: »The Why and How of Human Terrain Teams«, Inside Higher Ed, February 19, 2009, http://www.insidehighered.com/views/2009/02/19/humanterrain.

20) Ben Connable: »All Our Eggs in a Broken Basket: How the Human Terrain System is Undermining Sustainable Military Cultural Competence«. Military Review March/April, 2009, S.57-64. Zur Unordnung im »Human Terrain«-Programm vgl. John Stanton (2009): General Petraeus' Favorite Mushroom: Inside the US Army's Human Terrain System (Wiseman).

Hugh Gusterson ist Professor für Anthropologie und Sociologie an der George Mason University.

Genozid endet nie

Genozid endet nie

Gefangen im kollektiven Gedächtnis

von Andréa Vermeer

Dieser Beitrag beschreibt den Genozid an den irakischen Kurden und die bis heute währenden Nachwirkungen auf kurdische Familien. Eine der ersten Voraussetzungen für eine nachhaltige Friedensarbeit im Irak ist das grundlegende Verständnis für komplexe Gesellschaftsstrukturen und die Beziehungen verschiedener Gruppen zueinander. Im Irak sind diese Beziehungen auch geprägt von der früheren Gewalt der Baathdiktatur. Von Versöhnung unter den Irakern kann noch lange keine Rede sein.

Die Allmacht der Vergangenheit

Im Irak ist für alle beteiligten Interessengruppen der Aufbau verlässlicher politischer Institutionen und die Neuformierung einer zivilen Gesellschaft ein Drahtseilakt. Ein unüberschaubares Geflecht von Konfliktlinien, mit Konsequenzen wie beispielsweise der ethnischen Säuberung in einigen Stadtvierteln von Bagdad, zwingt zu einer intensiveren Auseinandersetzung mit den Konsequenzen einer jahrzehntelangen Diktatur.

Unter der Herrschaft des Baathregimes wurden Minderheiten im Irak systematisch verfolgt, unterdrückt und getötet. Der Giftgasangriff auf den kurdischen Ort Halabja im März 1988 steht international symbolisch für den Genozid an den irakischen Kurden.1 Unter der Führung von Ali Hassan al-Majid, international bekannter unter dem Namen »Chemical Ali«, tötete das Baathregime in rund sechs sogenannten »Anfal Operationen« Kurden mit dem Ziel sie zu vernichten. Der militärische Codename »Anfal« stammt aus dem Koran und bedeutet im Zusammenhang mit Krieg »Beutezug«. Anfal Operationen beschreiben eine militärische Strategie des Baathregimes, die darauf zielt, die Kurden zu vernichten und die Region Kurdistan zu arabisieren. Saddam Hussein verfolgte ebenfalls die Schiiten im Süden des Iraks rund um die Stadt Basra. 1991 richtete die UN zwei Flugverbotszonen im Norden und Süden des Iraks zum Schutz der Bevölkerung ein, die vom Baathregime verfolgt wurde. Entsprechend den Genozid Konventionen (Artikel II) wird der Begriff Genozid hier in Bezug auf die »Anfal Operationen« im Jahre 1988 verwendet, da die Kurden aufgrund ihrer Ethnie als Minderheit im Irak verfolgt und getötet wurden.

Die massive Verfolgung der Kurden begann bereits in den Jahren 1986 bis 1988. Nach einem Bericht von Human Rights Watch (Human Rights Watch Report 1993) wurden Hunderttausende Kurden verschleppt und getötet. Nach dem Fall des Diktators Saddam Hussein im Jahr 2003 kam für kurze Zeit bei den Überlebenden und Angehörigen Hoffnung auf, dass ihre verschwundenen Söhne, Ehemänner und Väter endlich in ihre Heimat zurückkehren könnten. Doch bis heute ist keiner zurückgekehrt. Stattdessen wird ein Massengrab nach dem anderen gefunden. Die kurdischen Familien sind hilflos gefangen im kollektiven Gedächtnis des Geschehenen. Dies gilt besonders für die Witwen und ihre Kinder, da sie ohne Zukunft leben in einer Gesellschaft, in der sich alles um die Figur des Vaters, des Mannes dreht.

Schleichende Vorbereitungen eines Völkermords

In einem Artikel beschreibt Ronald Ofteringer den politischen Bezug zwischen der Ideologie der Baathpartei und dem später verübten Völkermord an den Kurden. Der Gründer der Baathpartei, Michel Aflaq, erklärte 1959 das Dogma seiner nationalistischen Partei in Beirut. Ziel war demnach, die Arabische Union, die nach der Kolonialisierung zersplittert worden war, wieder zu vereinigen. Er setzte diese Mission der Wiedervereinigung mit der Rettung eines lebenden Körpers und dessen Gliedmaßen gleich. Beschneide man diesen Körper, so sei dies eine tödliche Bedrohung für den gesamten Körper – entsprechend sei die Zersplitterung der Arabischen Nation als Gefahr zu verstehen. Zwei Feinde wurden definiert: zum einen der fremde und ausländische Widersacher, zum anderen der sogenannte innere Feind. Letzteres galt für die Kurden. Artikel 15 des Baathstatuts deklamiert den Kampf gegen die »Feinde der Arabischen Nation«, seien es andere Konfessionen, Lehren, Stämme, Rassen und Regionen. Interessanterweise lehnte das Baathregime die Entstehung einer Nation Kurdistan nie ab, betonte aber, daß dies lediglich auf den Territorien des Iran oder der Türkei geschehen könnte. Denn das Land der kurdischen Region im Norden Iraks gehöre dem Irak. Der jahrelange folgende Konflikt zwischen den Baathisten und Kurden war früh vorgezeichnet und die Eskalation bis hin zu den »Anfal Operationen« 1988 absehbar.

Genese des Genozids im Irak

Genozide geschehen nie in einem kurzfristigen Zeitraum. Völkermorde erfordern eine lange Vorbereitung – ohne Kompromisse und mit einem klaren rassistischen Dogma. Dieses wiederum muss fest in einer Diktatur oder einer dominierenden Gruppe verankert sein, gepaart mit einer vollkommenen Negierung der Menschenrechte. Es gibt unterschiedliche Theorien, um das Phänomen Völkermord, eine Form von Gruppengewalt, zu erklären. Ervin Staub illustriert in seinem Beitrag »Genocide and Mass killing«, welche sozialen Bedingungen förderlich für Gruppengewalt sein können: Wirtschaftskrisen, politische Konflikte, aber auch schnell stattfindende substantielle gesellschaftliche Veränderungen. Der spätere Genozid im Irak begann mit politischen Konflikten und der Ideologie des Baathregimes. Die Kurden stellten für die Baathisten eine Feindgruppe dar, die eine Bedrohung für die Wiedervereinigung der Arabischen Nation war.

Halabja ein Symbol für den Genozid

Eine Reise nach Halabja bedeutet ein Zusammentreffen mit kurdischen Familien.* Als Ausländerin wird man schnell umringt und bekommt viele Fotos zu sehen. Menschenhaufen, vergiftete Frauen und Kinder und entstellte Gesichter verdeutlichen die grausame Sprache des Genozids. Ein Kurde zeigt auf den abgebildeten Menschenhaufen und sagt: „Dies ist meine Mutter und dort mein Vater.“ Die Überlebenden zeigen ihre Wunden, tief vernarbte Glieder, Augen die langsam erblinden; eine Frau schlägt sich auf die Brust, jeder Atemzug ist eine Qual für sie, ihre Lungen sind verätzt vom Giftgas, zugeliefert von deutschen und niederländischen Chemiefirmen.

Die militärische Offensive des Baathregimes gegen die Kurden, die »Anfal Operationen«, wurden vom 23. Februar bis zum 6. September 1988 ausgeführt. Während dieser Angriffe in der kurdischen Region im Norden des Irak wurde die kurdische Bevölkerung von arabischen Truppen umzingelt, dann in Sammellager verschleppt und getötet. Die Anzahl der Toten wird auf 150.000-200.000 geschätzt.

Der Ort Halabja steht heute auf nationaler Ebene sinnbildlich ebenso für Widerstand und Kritik an der Kurdischen Regionalregierung. So weigerten sich die Bewohner von Halabja jedes Jahr aufs Neue eine Gedenkfeier anläßlich des Giftgasangriffs auszurichten, weil die Opfer und Betroffenen ihrer Meinung nach nicht ausreichend finanziell unterstützt werden. Sie bildeten ein Komitee in der Hoffnung, die internationalen Medien auf ihr Dilemma aufmerksam zu machen. Sie brannten Denkmäler ab und bezeichneten sie als Augenwischerei.

Bisher hatten sie wenig Erfolg. Fast jeder nimmt daher die Gelegenheit wahr, mit ausländischen Besuchern zu sprechen, ihnen seine Probleme und Sorgen zu erklären. Konkrete Forderungen sind häufig Geld, vielleicht auch mangels einer Vision für den Ort und seine Bewohner. Ein künstlich angelegter Friedhof soll symbolisch als Trauerplatz für die Angehörigen dienen. Doch gemäß der landesüblichen Tradition gehen nur Männer auf den Friedhof. Frauen trauern zu Hause. Am Eingang des Friedhofs steht ein unmissverständliches Schild: „It is not allowed for Baathist to enter.“ Von Versöhnung sprechen die wenigsten Dorfbewohner und der Hass auf die Baathisten ist noch deutlich zu spüren.

Von Traumatherapie darf offiziell nicht die Rede sein, da gerade in Halabja viele Islamisten leben, die eine psychologische Betreuung der Bewohner ablehnen. Für sie ist Therapie etwas Schamvolles, aiba. Menschen, die so etwas nötig haben, seien verrückt, so die geläufige Meinung. Einige Nichtregierungsorganisationen versuchen die psychologische Betreuung geschickt mit der gesundheitlichen Vorsorge zu verknüpfen, doch dies gelingt nicht umfassend genug, um den Menschen ausreichend zu helfen. So bleiben sie sich allein überlassen mit ihren traumatischen Erinnerungen. Ende 2007 eröffnete die Nichtregierungsorganisation »wadi e.V.« ein Frauen-Café in Halabja in der Hoffnung, dass Frauen sich durch offene Gespräche untereinander Kraft geben können, um gemeinsam ihre Zukunft zu meistern. In der kurdischen Hauptstadt Hawler, der arabische Name ist Erbil, gibt es ein Ministerium für die Anfal-Opfer und -Märtyrer. Wenige in der Bevölkerung wissen, welche Aufgaben es konkret erfüllt. Das Ministerium gibt auf Anfrage nur dürftige und vage Informationen.

Kollektives Gedächtnis des Genozids

Um den Zustand der Menschen in Halabja und der anderen Anfal Opfer nachzuvollziehen, ist es sinnvoll, auf den Begriff des kollektiven Gedächtnisses einzugehen. Viele Gelehrte haben über die Folgen eines Genozids geforscht und darauf verwiesen, dass jeder Überlebende eine Sozialisierung des Todes erfährt. Es entsteht ein Leitmotiv des Todes, da die Überlebenden den Tod unmittelbar wahrgenommen haben und daher das Gefühl entwickeln, den Tod selbst erlebt zu haben. Maurice Halbwachs beschreibt in seinem Buch »Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen« (1985) die Beziehung der individuellen Erinnerung zu einem kollektiven Gedächtnis. Jede Erinnerung beruht in der Regel auf eigenen Erfahrungen und deren individueller Rekonstruktion eines Teils der Realität.

Aber das Individuum, in diesem Falle die kurdischen Opfer der »Anfal Operationen«, teilt seine Erinnerungen an den Völkermord mit vielen anderen Personen, die am gleichen Ort waren, zur selben Zeit und die nun dieselben Wörter und Sinngebungen formulieren. Einzelne Ereignisse, die nur eine individuelle Person als Zeuge erlebt hat, bleiben nicht länger eine individuelle Erinnerung, sondern fließen ein in das Gedächtnis anderer Menschen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Die Überlebenden von Massakern und Deportationen entwickeln ein Trauma, welches sie miteinander verbindet. Konsequenterweise wird ein Individuum ein Teil der Opfergruppe und somit seine persönliche Erinnerung ein Teil des kollektiven Gedächtnis.

Die Menschen in Halabja und den anderen kurdischen Gegenden, wo die »Anfal Operationen« wüteten, müssen mit diesem kollektiven Gedächtnis und ihrem Trauma leben. Ein wesentlicher gesellschaftlicher Faktor kommt erschwerend für die weiblichen Überlebenden hinzu, weil der Status einer Familie von den männlichen Familienmitgliedern bestimmt wird. Der Mann ist Familienoberhaupt und ohne seine Entscheidungsgewalt wird weder geheiratet noch gereist. Für die Trauer und die Verarbeitung des Geschehenen ist es besonders für die größtenteils gläubigen Sunniten unter den Kurden lebenswichtig, dass die Leichname der Toten gefunden und bestattet werden. Kann der Tod des Angehörigen nicht in Form eines Körpers nachgewiesen werden, gilt der Mann offiziell als verschwunden. Dieses wiederum bedeutet, daß die Witwen trauern müssen und nicht wieder heiraten dürfen bis ihre Männer offiziell seitens der Regierung für tot erklärt werden. Auch aus wirtschaftlicher Perspektive betrachtet ist es ein Desaster für die Frauen, die überwiegend in Abhängigkeit eines Mannes leben. So endet der Genozid für die Hinterbliebenen nie. Sie warten oft vergeblich auf die Rückkehr ihrer Männer und Söhne. Familien verbringen Jahre damit, verzweifelt nach den Überresten ihrer Angehörigen zu suchen. Deshalb kommt der Öffnung eines jeden Massengrabes im Irak eine besondere Bedeutung zu. Nur wenn darin der Leichnam gefunden wird, darf sich die Frau wieder gemeinsam mit ihren Kindern in die Gesellschaft einordnen und offiziell ihre Trauer beenden.

Friedensmaßnahmen mit dem Erbe des Misstrauens

Betrachtet man den Genozid an den Kurden, zeigt sich, wie gefährlich die internationale Ignoranz im Hinblick auf die jahrelangen Entwicklungen von Arabisierung bis hin zu den »Anfal Operationen« des Baathregimes war. Ebenfalls ignorant ist es so zu tun, als sei dies alles schon lange her und habe keine Relevanz mehr für zukünftige friedensbildende Maßnahmen. Die Schlagwörter Demokratie und Versöhnung schallen von überall her. Viele NGOs haben sie sich pflichtbewußt auf ihre Fahne geschrieben. Doch ihre Umsetzung in der Gesellschaft nach einer jahrelangen Diktatur, nach jahrelangem Morden und Hassen, lässt verständlicherweise auf sich warten. Selbst untereinander haben Familienmitglieder nicht unbedingt Vertrauen – geschweige denn zu Freunden oder Nachbarn.

Bis heute gibt es keine wirkungsvolle Aufarbeitung der Vergangenheit. Die Gerichtsprozesse waren vor allem ein mediales Ereignis. So finden sich heute Personen an Universitäten, in Krankenhäusern und in wichtigen politischen Positionen, die das Baath Regime unterstützt haben und an der Tötung von Kurden beteiligt waren. Dies ist keinesfalls ein Zeichen für eine gelungene Versöhnungspolitik, vielmehr verändern und verwischen sich die Grenzen der Rollen, wer Opfer und wer Täter ist und war. Die Zeiten ändern sich und bringen neue Allianzen hervor. Wer früher als Kurde mit dem Baathregime kooperierte, seine eigenen Landsleute verriet, musste bisher keine Angst haben, zur Rechenschaft gezogen zu werden. Ehemalige Baathisten fliehen aus Bagdad nach Kurdistan und unterrichten hier, arbeiten als Ärzte. Dies ist für viele Kurden nicht mehr nachvollziehbar und löst Unfrieden aus.

Der Genozid an den Kurden ist ein entscheidendes Argument für eine kurdische Abgrenzung zum anderen Teil des Iraks. Das kollektive Gedächtnis zieht sich durch die gesamte kurdische Gesellschaft, denn jedes Kind lernt, was es bedeutet, Kurde oder Kurdin zu sein. So beschreibt ein Arzt das, was Schulkinder lernen: „Sie lernen, dass wir als kurdisches Volk immer das Ziel derjenigen waren, die unsere Nation zerstören und uns zu ihrem Vorteil auslöschen wollten. Sie lernen auch, dass wir ein Recht auf ein eigenes Land haben.“

Die Tatsache, daß die beiden kurdischen Führer – Barzani von der Kurdischen Demokratischen Partei KDP und sein Konkurrent Talabani von der Patriotischen Union Kurdistan PUK – sich gegenüber ihrer kurdischen Bevölkerung illoyal zeigten, um ihre eigenen Herrschaftsansprüche zu sichern, beschreibt einen zusätzlichen tiefen inneren Konflikt in der irakisch-kurdischen Gesellschaft. Ein NGO Mitarbeiter erzählt: „Die Menschen vergessen schlechtes und verräterisches Verhalten ihrer eigenen Führer nicht; und sie fühlen sich immer noch verraten.“

Vor diesem Hintergrund wird deutlich, wie kompliziert es ist, über Versöhnung und Frieden im Irak zu sprechen. Allein die internen lokalen Konflikte liegen auf vielschichtigen Ebenen in allen Teilen des Landes auch dort, wo eine scheinbare homogene Gesellschaft lebt.

Frieden aufbauen bedeutet in die Zukunft zu blicken, jedoch auch die Vergangenheit zu reflektieren. Es bedarf einer Vision, einer konkreten Mediation auf mehreren Ebenen, um konsequent erste Schritte in Richtung Frieden zu gehen. Für einen Friedensprozess im Irak wird es schwer sein, neutrale Vermittler zu finden, die von allen Konfliktparteien akzeptiert werden. Iraker aus der Diaspora sind nicht immer gut angesehen bei ihren Landsleuten, weil ihnen Arroganz und Besserwisserei vorgeworfen wird. Viele Rückkehrer haben einen sehr guten wirtschaftlichen Status aber dafür keinen politischen, so dass sie kaum Einfluss nehmen können auf die politische oder gesellschaftliche Entwicklungen. Für die meisten Menschen im Irak, die dort geblieben sind, ist es lebensnotwendig zu begreifen, wie sie mit ihrem kollektiven Gedächtnis umgehen können. Nur dann wird es gelingen, dass die Menschen sich gegenseitig vertrauen und Hoffnung für eine gemeinsame Zukunft schöpfen.

Literatur:

Heinz Abels (1995): Zeugnis der Vernichtung. Über strukturelle Erinnerungen und Erinnerung als Leitmotiv des Überlebens. In: Platt, Kristin/Dabag, Mihran (Hrsg.): Generation und Gedächtnis. Erinnerungen und kollektive Identitäten. Opladen: Leske+Budrich, S.305-337.

Cristina Karrer (1998): »Sie haben unsere Männer verschleppt…« Frauen und Krieg in Irakisch Kurdistan, eFeF-Verlag Bern, 1. Ausgabe.

Michiel Leezenberg (1999): Violence and Modernity: The Baath's Ambiguous Heritage in Iraqi Kurdistan. In: Irakisch-Kurdistan, Status und Perspektiven, Awadani e.V. Berlin, S.159-166.

Ronald Ofteringer (1999): Die Baath-Partei und die Kurden. In: Irakisch-Kurdistan, Status und Perspektiven, Awadani e.V. Berlin, S.147-157.

Ervin Staub (2000): Genocide and Mass Killing: Their Roots and Prevention. In: Chritre, Daniel J./Wagner, Richard/Winter DuNann, Deborah: Peace, Conflict and Violence, Prentice Hall, S.76-86.

Martin Strohmeier/Lale Yalcin-Heckmann (2000): Die Kurden. Geschichte, Politik, Kultur. München: C.H.Beck.

http://hrw.org/reports/1993/iraqanfal/

Anmerkungen

Die Autorin lebte während ihrer Feldforschungen für rund neun Monate im Nordirak und besuchte Halabja zuletzt am 25. Mai 2007. Im Januar 2008 nahm sie an der ersten Genozid- Konferenz in Irak-Kurdistan teil.

1) Der Begriff Genozid wurde während eines Prozesses in Den Haag 2003 verwendet, als es um die Verurteilung eines Niederländers ging, der Saddam Hussein mit Chemikalien versorgt hatte, die nachweislich beim Giftgasangriff auf Halabja verwendet wurden. Der Genozid Begriff ist nicht unumstritten. Barbara Harff, schreibt in: Genocide, commissioned by the Human Security Center, 17. Juli 2003, S.5, dass die Ideologie der Baathpartei keine politische Opposition und keine ethnische Separation zugelassen habe. Sie folgert daher, dass die »Anfal Operationen« der Unterdrückung von separatistischen Tendenzen dienten und kein Genozid an den Kurden.

Andréa Vermeer ist Mitglied am Zentrum für Konfliktforschung in Marburg und forscht für ihre Doktorarbeit über zivile Friedensprozesse im Irak. Sie arbeitet freiberuflich seit 15 Jahren als Fernseh- und Hörfunk-Journalistin und übernimmt regelmäßig fachliche Beratungen zu Entwicklungen im Irak.

Krieg ohne Ende

Krieg ohne Ende

von Jürgen Nieth

Am 1. Mai 2003 landete Georg W. Bush in Bomberjacke auf einem Flugzeugträger, um den Sieg im Irak-Krieg zu verkünden. Stolz „posiert er später gar vor einem Plakat mit der Siegesparole: »Mission accomplished«, Mission erfüllt.“ (Spiegel, Nr. 13/2008, S.36) Fünf Jahre später hat die US-Truppenstärke mit 160.000 Soldaten den höchsten Stand seit der Invasion erreicht. Die deutschsprachigen Zeitungen ziehen eine durchweg negative Bilanz.

Kriegsbegründnung erlogen

Alle (durchgesehenen) Zeitschriften registrieren, dass die zur Begründung der Invasion vorgetragenen Argumente sich als unwahr herausgestellt haben. Karl Grobe bringt es in der Frankfurter Rundschau auf den Punkt: „Die Behauptung, der Irak habe Massenvernichtungswaffen (es gab sie nicht); die Lüge, Saddam Husseins Regime unterstütze El Kaida (seit der Invasion erst hat es sich nachhaltig eingenistet)… Wahr war nur die Feststellung, dass Saddam Husseins Regime eine brutale Diktatur war.“ (20.03.08) Heute sind die USA im Irak länger im Krieg als im jedem der beiden Weltkriege.

Hunderttausende Tote

Am 23. März ist im Irak der 4.000ste US-Soldat getötet worden. „29.000 US-Soldaten wurden bisher im Irak verwundet.“ (TAZ 25.03.08). Mehr als 300 Soldaten der Koalitionsstreitkräfte starben. Die Toten auf irakischer Seite wurden nicht gezählt. Der Stern spricht von „nach neueren Schätzungen – bis zu 600.000“ (19.03.08, S.45). Der Spiegel spricht von 8.000 getöteten irakischen Soldaten und Polizeiangehörigen und bis zu einer Million ziviler Opfer (Nr. 13/2008, S.38). Die Kosten explodieren. Allein die direkten Kriegskosten der USA übersteigen schon heute die des Vietnam- und Koreakrieges zusammen.

Kriegskosten

„Die Kriegskosten, die zu Beginn des Feldzuges auf 50 bis 60 Milliarden Dollar geschätzt worden waren, werden jetzt von Weißen Haus mit 500 Milliarden Dollar angegeben. Allerdings ist diese Zahl stark umstritten. Das Haushaltsamt des Kongresses und andere Experten halten 1 bis 2 Billionen für eine realistischere Einschätzung.“ (Neue Zürcher Zeitung, 20.03.08, S.1) Der Wirtschafts-Nobelpreisträger Joseph Stiglitz und die Ex-Beraterin der Clinton-Regierung Linda Bilmes schätzen, „dass der Krieg die USA drei Billionen Dollar gekostet hat und den Rest der Welt noch einmal so viel. Insgesamt also sechs Billionen.“ (FR 29.02.08, S.33)

Verlierer 1

2008 wird das teuerste Jahr des Irak-Krieges werden. Kritiker rechnen nun auch in den USA vor, was mit den enormen Summen finanziert werden könnte. „Mit einer Billion Dollar könnte man 15 Millionen Lehrer zusätzlich einstellen, die Gesundheitsversorgung für 530 Millionen Kinder sichern, die Stipendien für 43 Millionen Studenten finanzieren… Mit einem Teil der Summe, die für die Demonstration militärischer Übermacht verpulvert wird, könnten sich die USA einen halbwegs modernen Sozialstaat leisten.“ (Freitag, 28.03.08, S.3)

Verlierer 2

Der größte Verlierer ist aber das irakische Volk und das nicht nur gemessen an der Zahl der Opfer. „Die medizinische Versorgung ist katastrophal: Von den 34.000 irakischen Medizinern, die das Land 1990 noch hatte, sind 20.000 geflohen. Statt der Mindestzahl von 80.000 staatlichen Klinikbetten gibt es gerade einmal 30.000. das durchschnittliche Tageseinkommen liegt bei fünf Dollar – ein einziger Arztbesuch kostet mehr. Die Versorgung mit Trinkwasser ist mangelhaft. Elektrizität gibt es selten mehr als zwei Stunden täglich.“ (Süddeutsche Zeitung, 20.03.08, S.3) Jeder siebte Iraker ist auf der Flucht. „Und: mehr Iraker als je zuvor (36 Prozent) würden ihr Land gerne verlassen; 18 Prozent schmieden sogar konkrete Auswanderungspläne. Das sind vier Millionen weitere potenzielle Flüchtlinge.“ (FR 18.03.08, S.8) Doch die Nachbarstaaten verschärfen die Einreisebedingungen. „Jordanien schloss Anfang 2007 seine Grenzen, Saudi Arabien lehnt eine Aufnahme ab – und errichtet stattdessen für sieben Millionen US-Dollar eine Mauer um Flüchtlinge abzuhalten. In Syrien hat der Bevölkerungszuwachs um 10 Prozent die Gesundheits- und Bildungssysteme an die Grenze der Belastbarkeit gebracht.“ (Der Tagesspiegel, 20.03.08, S.9)

Die Gewinner

Bisher hat es die Bush-Propaganda nicht gewagt, die Gewinner dieses Krieges zu nennen, „die in der Tat enormen Profite, die US-Ölkonzerne, Bauunternehmen, Sicherheitsfirmen und die Rüstungsindustrie eingestrichen haben.“ (Freitag, 28.03.08, S.3) Nach den Berechnungen von Stiglitz und Bilmes hat „allein die Firma Halliburton, eines der Privatunternehmen, die sich auf Kriegführung spezialisiert haben, von der US-Regierung für ihre Arbeit im Irak 19,3 Milliarden Dollar erhalten.“ (FR 29.02.08, S.33) Übrigens: US-Vizepräsident Dick Cheney war Vorstandsmitglied eben dieser Firma Halliburton (W&F 1-2006, S.13). So bestätigt dieser Krieg: Die Kosten haben die Völker zu tragen – Die Gewinne werden privatisiert!

Perspektive

„Der Regimewechsel, den politische und intellektuelle Ratgeber des Präsidenten Bush ins Werk setzen wollten“, war als Fanal gedacht, „für ein großes Umwälzen der Verhältnisse im Mittleren Osten, als militärischer Impuls zur Lösung der soziopolitischen Modernisierungsblockade der arabischen Welt, was wiederum zu deren Versöhnung mit der liberalen Moderne des Westens führen sollte“, heißt es in der FAZ (19.03.08, S.10). Und weiter: „Der Kampf der so genannten Neokonservativen gegen mörderische Regime und mörderische Ideologien sollte im Irak beginnen – dort ist er auch stecken geblieben.“ Der Autor sieht trotzdem Grund für „vorsichtigen Optimismus“, obwohl auch er feststellen muss: „Niemand mag heute voraussagen, wie der Irak in fünf Jahren aussehen wird… Vermutlich werden auch in fünf Jahren noch Amerikaner im Land sein (müssen).“ Irakische Intellektuelle sehen die Situation kritischer. Der Schriftsteller Najem Wali hat Stimmen von Kolleginnen und Kollegen gesammelt. Sein Fazit: „Eines aber wissen die Menschen im Irak genau: dass die »Ära« der vergangenen fünf Jahre so schwer auf ihnen lastet wie ein Albtraum und das die kommende »Ära« lediglich noch größeren Verfall verspricht.“ (Neue Zürcher Zeitung 20.03.08, S.47)

Krieg und Besatzung im Irak

Krieg und Besatzung im Irak

Global Policy Forum

Im Juni 2007 veröffentlichte die Nichtregierungsorganisation »Global Policy Forum« einen umfangreichen und hervorragend recherchierten Bericht über die Situation verschiedener gesellschaftlicher Sektoren im Irak während des Krieg und unter der Besatzung. »Wissenschaft & Frieden« veröffentlicht die offizielle deutschsprachige Zusammenfassung des Berichts.

1. Einleitung

Am 20. März 2003 marschierten die Vereinigten Staaten, Großbritannien und eine Koalition von Verbündeten in den Irak ein und stürzten das Regime von Saddam Hussein. Sie verbanden dies mit dem Anspruch, dem Irak Frieden, Wohlstand und Demokratie zu bringen. Doch seit diesem Tag haben Gewalt, Bürgerkrieg und wirtschaftliche Not das Land ruiniert. Obwohl US-Präsident George W. Bush die Mission am 2. Mai 2003 für beendet erklärt hatte, dauert der Konflikt seit mehr als vier Jahren an. Tausende unschuldiger Menschen sind umgekommen oder wurden verwundet, Millionen wurden vertrieben und einige Städte des Irak sind heute Ruinen – ganz zu schweigen von den enormen Ressourcen, die durch Krieg und Besatzung verschwendet wurden.

Dieser Bericht beleuchtet die verschiedenen Facetten des Konflikts. Einen Schwerpunkt bildet die völkerrechtliche Verantwortung der US-Koalition. Daneben wird die politische und wirtschaftliche Situation im Irak diskutiert. Aus dieser Analyse ergibt sich die Forderung nach einem grundsätzlichen Politikwechsel. Dies schließt den schnellen Rückzug der Koalitionsstreitkräfte ein.

Die Anschläge der kriminellen Banden und Milizen, die so oft in den Medien auftauchen, stehen nicht im Focus dieses Reports. Diese Kräfte, die aus unterschiedlichen Motiven heraus handeln, gehen oft brutal vor und sind für eine große Anzahl von Toten und Verwundeten unter unschuldigen Irakern verantwortlich. Das zunehmende Blutvergießen und die Spaltung der irakischen Bevölkerung sind abscheulich. Aber welche Verantwortung die Iraker auch selbst für die nahezu ausweglose Situation tragen, in denen ihr Land steckt, die Hauptverantwortung liegt bei den Vereinigten Staaten und ihren Verbündeten. Die militärische Besatzung hat diese Gruppen erst hervorgebracht. Die Koalition hat es in keiner Weise geschafft, die irakische Bevölkerung zu schützen oder ihr gar Frieden, Wohlstand und Demokratie zu bringen, wie es als Ziel anfangs behauptet worden war.

Die Verantwortung der US-Koalition ist aus unserer Perspektive besonders schwerwiegend, weil die Koalition mit einem Mandat des UN-Sicherheitsrates ausgestattet worden ist. Sie sollte gerade deswegen nach den höchsten Völkerrechtsstandards handeln. Obwohl der Sicherheitsrat den Krieg zunächst nicht autorisieren wollte, gab er der Koalition als »multinationaler Truppe« wenige Monate später sein Mandat. Einige Ratsmitglieder hofften damals, dass die UN eine gewichtige Rolle im Irak spielen und den Weg zurück zu Frieden und internationaler Rechtsstaatlichkeit weisen würde. Aber dies war nicht der Fall. Die Vereinigten Staaten gestanden den UN sowohl im Irak als auch in New York nur eine marginale Rolle zu. Nachdem am 19. August 2003 das UN-Hauptquartier in Bagdad von einer LKW-Bombe zerstört wurde, hat die UNO ihre Präsenz im Irak drastisch reduziert. Die UNO übt seither keinerlei Kontrollfunktion mehr aus und im UN-Sicherheitsrat gab es kaum noch inhaltliche Diskussionen zum Thema Irak.

Jede Woche gibt es neue besorgniserregende Berichte aus dem Irak, Hinweise auf die Völkerrechtsverstöße und Schilderungen menschlichen Leids gewaltigen Ausmaßes. Die öffentliche Meinung im Irak befürwortet mit überwältigender Mehrheit einen raschen Truppenabzug. Die Öffentlichkeit in den Vereinigten Staaten signalisierte ihre Ablehnung der Besatzung bei den Kongresswahlen im Herbst 2006. Selbst Beamte und führende Militärs in Washington und London erheben zunehmend Bedenken. Dennoch ist die öffentliche Wahrnehmung des Konflikts weiterhin lückenhaft. Sie wird verzerrt durch offiziell verkündete Dogmen und zahlreiche Fehleinschätzungen. Dieser Bericht versucht, neue Informationen und Analysen in die Debatte einzubringen, um dadurch dazu beizutragen, das Leiden und die Gewalt zu beenden.

2. Zerstörung des kulturellen Erbes

Die USA und ihre Verbündeten ignorierten die Warnung internationaler Organisationen und Wissenschaftler vor der Gefährdung des kulturellen Erbes des Irak an Museen, Bibliotheken, Ausgrabungsstätten und anderen wertvollen Kulturgütern. Brandstifter legten Feuer in der Nationalbibliothek und Plünderer raubten das Nationalmuseum aus. Plünderer beschädigten oder zerstörten auch viele historische Gebäude und Objekte. Die USA errichteten eine Militärbasis auf der Stätte des antiken Babylon.

Koalitionsstreitkräfte zerstörten oder beschädigten viele historische Siedlungen und Gebäude, während Diebe zahllose unvergleichliche und ungeschützte Ausgrabungsstätten ruinierten.

3. Waffen, die unterschiedslos wirken und übermäßige Verletzungen verursachen

Koalitionsstreitkräfte haben Waffen eingesetzt, die übermäßige Verletzungen verursachen oder unterschiedslos wirken können. Diese Waffen sind durch internationale Konventionen verboten oder werden weitgehend als inakzeptabel und inhuman angesehen. Die USA verwendeten napalmartige Brandbomben sowie Phosphormunition, letztere gegen Bodenziele und dicht besiedelte Gebiete. Während der Invasion im Jahr 2003 setzte die Koalition auch uranummantelte Munition und Streubomben ein. Beide Waffenarten verstoßen gegen das Verbot von Waffen, die übermäßige Verletzungen verursachen und unterschiedslos wirken.

4. Internierungen und Gefängnisse

Die US-geführte Koalition und ihre Partner in der irakischen Regierung haben eine große Zahl irakischer Bürger ohne Anklage oder Verfahren in »Sicherungsverwahrung« genommen – ein direkter Verstoß gegen das Völkerrecht. Kein Iraker ist vor willkürlichen Verhaftungen sicher und die Zahl der Häftlinge stieg seit 2003 massiv an.

Mehr als dreißigtausend Verhafteten werden grundlegende Rechte vorenthalten. Sie werden unter erbärmlichen Bedingungen festgehalten, viele für lange Zeit. Die US-Befehlshaber übergaben Tausende von Gefangenen an die irakischen Behörden, deren Gefängnisse gegen Menschenrechtsstandards gravierend verstoßen.

5. Folter und Misshandlung von Gefangenen

Die Streitkräfte der Vereinigten Staaten haben Hunderte irakischer Gefangener schwer misshandelt und gefoltert. Einige sind an den direkten Folgen gestorben. Folter fand an vielen Orten im Irak statt, darunter Gefängnissen wie Abu Ghraib, geheimen Befragungszentren und Dutzenden von lokalen Einrichtungen. Die Folter hat in irakischen Gefängnissen zugenommen, anscheinend unter Kenntnis und Mittäterschaft der USA.

6. Angriffe auf irakische Städte

Koalitionsstreitkräfte griffen wichtige irakische Städte an und zerstörten sie – mit der Begründung, es seien Hochburgen der Aufständischen. Die Angriffe führten zu Vertreibungen, zahlreichen Opfern unter der Zivilbevölkerung und massiven Schäden an der städtischen Infrastruktur. Außer Falluja wurde rund ein Dutzend weiterer Städte angegriffen, unter ihnen al-Qaim, Tal Afar, Samarra, Haditha und Ramadi. Die Angriffe wurden sowohl aus der Luft als auch von Bodentruppen ausgeführt. Sie führten dazu, dass diese Städte zeitweise von der Strom- und Wasserversorgung sowie von Lebensmittel- und Arzneimittellieferungen abgeschnitten wurden. Die Bombardements hinterließen Hunderttausende Menschen obdachlos und in Flüchtlingslagern.

7. Tötung von Zivilisten, Morde und Grausamkeiten

Die US-Militärführung hat großzügige Gefechtsanweisungen für die Besatzungsstreitkräfte erlassen, die es den Truppen erlauben, »tödliche Gewalt« gegen praktisch jede wahrgenommene Bedrohung einzusetzen. Als Folge werden regelmäßig irakische Zivilisten an Checkpoints und während militärischer Operationen schon beim leisesten Verdacht erschossen. Die Koalitionsstreitkräfte töteten viele irakische Zivilisten auch während militärischer Operationen und Luftangriffen. In diesem Klima zügelloser Gewalt begingen einige Soldaten auch vorsätzliche Morde. Einige schockierende Grausamkeiten, wie in Haditha, sind bekannt geworden.

8. Vertreibung und Todesfälle

Vertriebene und Flüchtlinge: Im April 2007 waren 1,9 Millionen Iraker im eigenen Land und 2,2 Millionen im Ausland auf der Flucht. Die irakische Regierung schätzt, dass 50.000 Menschen jeden Monat ihre Häuser und Wohnungen verlassen. Diese Probleme und die Schwierigkeit, die Vertriebenen zu erreichen, haben ein Ausmaß erreicht, das das internationale Hilfssystem nicht bewältigen kann.

Todesfälle: Eine große Zahl von Irakern starb während der Besatzung, die Sterblichkeitsrate stieg steil an. Zusätzlich zu den während der Kampfhandlungen Getöteten haben die Koalitionsstreitkräfte viele Zivilisten auf dem Gewissen. Die Menschen starben sowohl in Folge des Zusammenbruchs des Gesundheitssystems als auch durch die Gewalt der Milizen, Banden und Todesschwadrone. Eine Studie aus dem Jahr 2006 schätzt die Zahl »zusätzlicher« Toter seit dem Jahr 2003 auf mehr als eine halbe Million.

9. Korruption, Betrug und gravierende Gesetzesverstöße

Unter der Kontrolle bzw. dem Einfluss der US-Behörden flossen infolge von massiver Korruption und Öldiebstahl öffentliche Gelder in enormen Umfang aus dem Irak. Das Land ist dadurch nicht mehr in der Lage, die grundlegendsten öffentlichen Dienstleistungen zu erbringen oder den Wiederaufbau anzugehen. Milliarden von Dollars sind verschwunden. Um sich ihrer Verantwortung zu entziehen, untergruben die USA und Großbritannien das UN-mandatierte International Advisory and Monitoring Board (Internationales Beratungs- und Überprüfungsgremium). Die Wirtschaftskraft des Irak wird geschwächt durch Bargelddiebstahl, manipulierte Verträge, Vetternwirtschaft, Bestechungen und Schmiergelder, Verschwendung und Inkompetenz und durch schlechte und unzureichende Vertragserfüllung. Wichtige Vertragspartner, meist US-Firmen mit politischen Beziehungen, haben dagegen Milliardengewinne gemacht.

10. Langfristige Stützpunkte und das neue Botschaftsareal

Die Vereinigten Staaten haben einige sehr große, teure und für längere Einsätze bestimmte Stützpunkte im Irak und einen gewaltigen neuen Botschaftskomplex in Bagdad errichtet. Diese Bauprojekte sind sehr umstritten. Die Bevölkerung des Irak ist überwiegend gegen die Stützpunkte, wie zahlreiche Umfragen belegen, und selbst der US-Kongress hat Gelder für »permanente« Stützpunkte verweigert. Die Stützpunkte und die außergewöhnlich große Botschaft werden von Vielen als Symbole dafür angesehen, dass die USA planen, für viele Jahre enormen militärischen und politischen Einfluss auf den Irak auszuüben.

11. Weitere Themen

Die Kosten des Kriegs und der Besatzung: Der Irak muss riesige Kosten tragen – unter anderem gewaltige Zerstörungen, Verlust an Leben, Verwundungen und Traumata, Produktionsverluste und entgangene Einkünfte aus dem Ölgeschäft. Die USA haben bis Dezember 2006 ungefähr 400 Milliarden US$ an direkten öffentlichen Mitteln für den Konflikt ausgegeben. Die Kosten für den Bundeshaushalt der USA haben sich von 4 Milliarden US$ pro Monat im Jahr 2003 auf mehr als 8 Milliarden US$ pro Monat Ende 2006 verdoppelt. Die Gesamtkosten für die USA, inklusive geschätzter zukünftiger Ausgaben, Zinsen auf die Staatsverschuldung, medizinischer Kosten für die Veteranen und anderer Faktoren, haben schon jetzt 2 Billionen US$ überschritten.

Die öffentliche Meinung im Irak und die Besatzung: Meinungsumfragen im Irak zeigen, dass die Besatzung in zunehmendem Maße unpopulär geworden ist. Selbst die von den Regierungen der USA und Großbritanniens in Auftrag gegebenen Umfragen belegen klar, dass eine Mehrheit der Iraker der Besatzung gegenüber kritisch eingestellt ist und einen schnellen Rückzug befürwortet. Mit großem Abstand überwiegen im Irak diejenigen, die das Gefühl haben, dass die Besatzung die Unsicherheit und die Gewalt durch religiöse Splittergruppen befördert. Die irakische Bevölkerung will heute mehr denn je ein Ende der Besatzung.

12. Schlussfolgerungen und Empfehlungen

Die USA haben ihren Streitkräften, privatem Sicherheitspersonal, ausländischen Auftragnehmern im militärischen und zivilen Bereich und sogar den im Irak tätigen Ölfirmen weitreichende Immunität vor gerichtlicher Verfolgung eingeräumt. Egal welcher Vergehen sich die Koalition schuldig macht, die Iraker sehen sich heute und in Zukunft hohen Barrieren gegenüber, wenn sie Verbrecher zur Verantwortung ziehen wollen. Der Präsidentenerlass 13303, Erlass 17 der provisorischen Koalitionsregierung und weitere offizielle Papiere schützen militärisches Personal vor Festnahmen, Haft, Strafverfolgung oder Verurteilung. Und in den wenigen eklatanten Fällen, die an die Öffentlichkeit gedrungen sind und in denen die USA und ihre Verbündeten eine rechtliche Verfolgung zuließen, waren die Strafen äußerst milde. Die verantwortlichen Befehlshaber standen über dem Gesetz. Aber die Immunität, die sie für sich schufen, kann und wird nicht ewig Bestand haben. Sie werden sich eines Tages vor der Gerechtigkeit verantworten müssen.

Die US-Koalition ist die Hauptursache für die derzeitigen Probleme des Irak. Es gibt keinen Zweifel daran, dass kriminelle Gewalt und Anführer religiöser Splittergruppen dem Land großen Schaden zugefügt haben. Aber diejenigen, die den Krieg und die Besatzung begannen – insbesondere die USA und Großbritannien – sind für die Halbwahrheiten verantwortlich, mit denen sie den Krieg legitimierten, für den illegalen Krieg, den sie führen und die enormen Zerstörungen, die sie angerichtet haben. Sie sind auch für die chaotischen und gewalttätigen Zustände verantwortlich, die sie überwiegend hervorgerufen haben, und für die schwerwiegenden Völkerrechtsverstöße, die sie systematisch begangen haben. Der Sicherheitsrat teilt die Verantwortung für dieses Debakel, weil er der Koalition ein Mandat erteilte.

Der Weg in die Zukunft ist schwierig. Der Irak wird sich nicht einfach erholen und stabilisieren. Aber es gibt klare Schritte, die zu einer Lösung des Konflikts beitragen können. Die Vereinten Nationen und die internationale Gemeinschaft müssen ihre stillschweigende Mittäterschaft beenden und die Irakkrise energisch ansprechen. Der Sicherheitsrat muss seine Verantwortung wahrnehmen und Alternativen für die Zukunft beraten. Der US-Kongress muss den Willen der Wähler ernst nehmen und nach ihm handeln. Die Gerichte müssen die verantwortlichen Befehlshaber der Gerechtigkeit zuführen.

Die folgenden Vorschläge weisen einen möglichen Weg in die Zukunft:

Die internationale Gemeinschaft sollte die humanitäre Krise im Irak als solche anerkennen und sich ihr widmen.

Der Sicherheitsrat sollte das Mandat der Koalition bei der nächsten Möglichkeit beenden und Vorbereitungen für einen stabilen, das Völkerrecht respektierenden Übergang im Irak treffen.

Die US-Koalition muss alle ihre Truppen schnell und unverzüglich aus dem Irak abziehen.

Der Abzug muss nach einem klaren und zügigen Fahrplan erfolgen und er muss vollständig und bedingungslos sein, ohne dass Truppen oder Stützpunkte zurückbleiben.

Eine UN-Friedenstruppe, die sich klar von der Koalition unterscheidet, könnte den Übergang begleiten, indem sie einen Waffenstillstand überwacht, lokale Polizeikräfte und das Justizsystem unterstützt und glaubhafte Wahlen organisiert.

Die Koalitionsstreitkräfte sollten das Völkerrecht während ihres Verbleibens im Irak im vollen Umfang respektieren.

Die Koalitionsstreitkräfte und die irakische Regierung sollten alle Gefangenen aus der »Sicherungsverwahrung« entlassen, denen keine Verbrechen zur Last gelegt werden; eine Amnestie für diejenigen, die in Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen nach dem Einmarsch festgehalten werden, sollte erwogen werden.

Die irakische Bevölkerung sollten umfassende Verhandlungen aufnehmen, um einen Plan zu entwickeln, wie Sicherheit und eine friedliche Herrschaft über das nationale Territorium zu erreichen sind. Die Vereinten Nationen könnten diesen Prozess unterstützen.

Alle bewaffneten Gruppen und Milizen müssen einem Waffenstillstand und ihrer Entwaffnung zustimmen. Die Streitkräfte der irakischen Regierung sollten zurückhaltend und im Rahmen der Gesetze handeln. Während des Rückzugs der Koalitionsstreitkräfte sollten alle paramilitärischen Truppen als Teil eines nationalen Friedens- und Aussöhnungsprozesses ihre Waffen abgeben und sich auflösen.

Nach dem Abzug der Besatzungstruppen sollten Neuwahlen abgehalten werden, die sich an internationalen Standards orientieren und von Wahlbeobachtern überwacht werden; eine neue (oder überarbeitete) Verfassung wäre ein notwendiger Teil des Aussöhnungsprozesses.

Keine neuen Öl-Gesetze oder -Verträge sollten abgeschlossen werden, bevor die Besatzung beendet und in Frieden eine umfassende und demokratische Diskussion über die Zukunft des für den Irak wichtigsten Bodenschatzes geführt werden kann.

Die internationale Gemeinschaft sollte den Wiederaufbau der Infrastruktur und der schwer beschädigten Städte des Irak unterstützen und die zügige Rückkehr und Sicherheit der Vertriebenen befördern.

Internationale und nationale Gerichte sollten die politischen und militärischen Befehlshaber für die zahlreichen schwerwiegenden Verletzungen des internationalen humanitären Völkerrechts und der Menschenrechte im Irak zur Verantwortung ziehen.

Anmerkung

Der vollständige Report findet sich in mehreren Sprachen auf der Internet-Seite des Global Policy Forum: http://www.globalpolicy.org/security/issues/iraq/occupation/report/index.htm

Das Global Policy Forum ist eine non-profit-Organisation mit beratendem Status bei den Vereinten Nationen. Es wurde 1993 gegründet und setzt sich für die Stärkung des internationalen Rechtes und eine gerechte und nachhaltige Weltgesellschaft ein.