Von der patriarchal organisierten Friedlosigkeit zum Krieg

Von der patriarchal organisierten Friedlosigkeit zum Krieg

von Ulrike C. Wasmuht

„Die Mutter aller Schlachten hat begonnen“, so Saddam Hussein, für den „Sieg über den Satan im Weißen Haus“. „Ich bin nicht nur davon überzeugt, daß wir siegen werden…“ so George Bush. Kommentar vom CNN: „Ist das nicht wunderbar, dieses Feuerwerk aus Leuchtspurraketen?“ Wieder einmal wurde die Politik »nur mit anderen Mitteln« fortgesetzt, wieder einmal wird ein Krieg geführt, der von Politikern und Kommentatoren als »unvermeidlich«, als »unausweichlich« betrachtet wird. Gefragt wird: „Was hätte man denn tun sollen – Hussein hat ein wehrloses, kleines Land überfallen und das Völkerrecht gebrochen?“ Die Antwort lautet selbstredend: So ein Verhalten darf nicht geduldet und muß bestraft werden. Diese Fragen werden allerdings erst fünf Minuten nach zwölf gestellt, womit ich nicht die fünf Minuten nach Ablauf des Ultimatums meine, sondern die Tatsache, daß es zu spät ist, einen Konflikt innerhalb weniger Tage – der Zeit des Ultimatums – lösen zu wollen, der bereits eine Eskalationsstufe erreicht hat, die im Militärjargon als »point of no return« bezeichnet wird. Und dieser Zeitpunkt war bereits am 2. August da, als Saddam Hussein Kuwait besetzt hat.

Es ist zwar eine Binsenweisheit, daß jeder aktuelle Konflikt und jede konkrete Krise tiefliegende, auch historisch verankerte strukturelle Ursachen hat, aber es scheint, daß diese Tatsache vergessen wird: Man berichtet nur über die augenblickliche Situation und be- und verurteilt die eine oder die andere bzw. beide Seiten. Ich werde mich hier nicht auf die Beschreibung und Bewertung von Einzelheiten dieses Krieges einlassen und auch nicht auf eine Argumentationsebene begeben, die diesen Krieg als »gerecht« oder »ungerecht« bzw. gar »heilig« oder »legitim« und insbesondere als »unvermeidlich« erscheinen läßt. Dies entspricht der »Logik des Augenblicks«, die einem, gleich der Suggestivfragen, nur eine Antwort erlaubt: Ja dieser Krieg mußte so kommen. Vielmehr gilt es jedoch diese Logik nicht zu akzeptieren, sondern die Entwicklung und Verfestigung einer tiefgreifenden Legitimation von Krieg und Militär zu hinterfragen, die eine lange Tradition aufweist und die bis heute und örtlich unabhängig Gültigkeit hat und die in einem indischen Sprichwort treffend ausgedrückt wird: „Töte einen, und du bist ein Mörder! Töte Tausende, und du bist ein Held!“ Wie sind die innergesellschaftlichen Strukturen beschaffen, die die Regierungen und mit ihnen die Wähler und Wählerinnen dazu bewegen, stets mit der potentiellen Präsenz des Krieges als einer – wenn auch der zuletzt angewandten – Form der Konfliktregelung zu leben? So in Form der Finanzierung und Entwicklung quantitativer und qualitativer Aufrüstung, in Form der »Selbstverständlichkeit«, daß junge Männer mit den Taktiken und Techniken des Kriegführens vertraut gemacht und in den Jahren ihrer Identitätsuche auch dementsprechend sozialisiert werden dürfen? Und wie sind die internationalen Beziehungen strukturiert, innerhalb derer der Krieg als »last ressort« eines Krisenmanagements, an dessen Ausdifferenzierung und »Effizienz« stets gearbeitet wird, nicht nur als Selbstverständlichkeit, da u.U. »unvermeidbar«, sondern überhaupt in Erwägung gezogen wird? Um die Frage „Warum dieser Krieg?“ zu beantworten, müssen innergesellschaftliche und internationale repressive Gewaltstrukturen untersucht werden, die eng miteinander verknüpft sind.

Über den Zusammenhang zwischen Bellismus und Sexismus

Wir leben nicht nur in einer »organisierten Friedlosigkeit«, wie Dieter Senghaas den Zustand des »negativen Friedens«, der mit den Mitteln einer aggressiven Drohpolitik aufrechterhalten wird, bezeichnet hat, sondern wir leben in einer »patriarchal organisierten Friedlosigkeit«, die die Grundlage von Bellismus und Sexismus ist: zwei unterschiedliche Ausprägungen einer Wurzel. Anders formuliert: Bellismus ist die internationale Dimension des Sexismus. Ich leite den Begriff »Bellismus« vom lateinischen Wort »Bellum« für Krieg ab und meine damit ein System der Unterdrückung von Staaten durch solche Staaten, die gleichzeitig ökonomisch als auch militärisch überlegen sind und die sich die Herrschaft über andere Staaten anmaßen: Ein bellistisches System ist ein soziales Gefüge von zwischenstaatlichen Beziehungen, deren Beziehungsmuster nicht auf einer gleichberechtigten Ausgangsbasis für die beteiligten Parteien organisiert, sondern hierarchisch strukturiert sind. D.h. es gibt hier die »Arbeitsteilung« zwischen »Herr« und »Knecht«, wobei die militärischen und die immer bedeutsamer werdenden ökonomischen Machtanteile den Ausschlag darüber geben, welcher Staat in welcher Allianz welche Rolle einnimmt. Mehr noch: im Falle eines Konfliktes zwischen bellistisch organisierten Staaten sind die Möglichkeiten, den Konflikt auf einer symmetrischen – d.h. unter gleich starken Konfliktparteien – Basis auszutragen, nicht gegeben. Es gibt Staaten (die »Herren«), die aufgrund der unterschiedlichen »Machtchips« (Bourdieu) bessere Möglichkeiten haben als andere (die »Knechte«), die Konfliktregelung zugunsten ihrer eigenen Interessen zu beeinflussen. Gelingt das nicht, weil einer der »Knechte« die gegebene Ordnung nicht anerkennt, so werden die »Herren« die »Knechte«, und sei es mit militärischer Gewalt, wieder an ihren »angestammten« Platz verweisen. Ein solches bellistisches Beziehungsmuster läßt sich sowohl auf der Nord-Süd- als auch der Ost-West-Achse sowie innerhalb von Staatengemeinden finden: Das Verhältnis zwischen der »Ersten« Welt und der »Dritten« Welt ist geprägt durch eine ökonomische Abhängigkeit der letzten von der ersten und militärische Ungleichheit, wobei beides mit den Mitteln der wirtschaftlichen Sanktionsgewalt einerseits und der militärischen Drohpolitik – bis hin zur letzten Konsequenz, dem Krieg – andererseits aufrechterhalten wird. Zurecht stellt der frühere US-Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski fest: „Wir überbetonen die High-Tech-Waffen und bilden uns zuviel darauf ein; denn letztlich kämpft hier eine Supermacht gegen ein Land der Dritten Welt.“ Daß hier die »Machtchips« ungleich verteilt sind, muß nicht weiter nachgewiesen werden: deutlich wird dieses Machtverhältnis mit dem Begriffspaar »top-dogs« versus »under-dogs« ausgedrückt. Das Verhältnis zwischen den westlichen Industrienationen und den Staaten des ehemaligen »Ostblocks« ist ebenfalls durch eine ökonomische Ungleichkeit geprägt, die letzlich den Machtanteil bei der Definition von Herrschaft für die westlichen Industrienationen auf der einen Seite und osteuropäischen Staaten auf der anderen Seite determiniert. Deutlich wird dieses im wörtlichen Sinne patriarchale Verhältnis im Zuge des deutschen Vereinigungsprozesses: der Patriarch, personifiziert in Bundeskanzler Kohl, bietet Schutz und Patronat, sorgt aber gleichzeitig dafür, daß die Regel, die auch in deutschen Wohnzimmern gilt, aufrechterhalten wird: „Wer die Füße unter meinen Tisch stellt,…“ In diesem Zusammenhang stellt sich auch für den Bereich der Struktur von Staatengemeinden folgende Frage: Wie wird das »Europäische Haus« oder die »Nachkriegsfriedensordnung« im Nahen Osten aussehen? Werden auch diese schon in ihrem Fundament bellistische Bausteine enthalten, wie das beim »Vertrag von Versailles« der Fall war, der zwar als »Friedensvertrag« bezeichnet wird, aber gerade das Fundament, die Wurzel für weitere Konflikte und Kriege gesetzt hat? Ergibt sich nicht zwangsläufig die Frage nach dem »Herrn« im Hause und dem »Knecht« (ganz zu schweigen von den Frauen)?

»Bellismus« ist eng mit anderen »ismen« verbunden, so z.B. mit »Sexismus« und »Rassismus«, denn alle drei haben gemein, daß ein Teil der internationalen Staatengemeinschaft resp. der Bevölkerung aufgrund bestimmter Merkmale von einem anderen Teil, der diese Charakteristika nicht aufweist, an der eigenen Entfaltung gehindert und unterdrückt wird. Es handelt sich um miteinander verbundene Gewaltstrukturen: das Dominanz-Subordinationsverhältnis zwischen der »Ersten« und der »Dritten« Welt; zwischen westlichen Industrienationen und osteuropäischen Ländern; zwischen dem »Ideal« des jungen, gesunden Menschen und dem älteren und/oder kranken Menschen; zwischen »In“LänderInnen und »Aus“LänderInnen und zwischen Männern und Frauen. Daraus folgt, daß Bellismus (internationale Ebene), Rassismus (innergesellschaftliche Ebene) und Sexismus (innergesellschaftliche und interpersonale Ebene) Gemeinsamkeiten haben: Erstens, sie sind hierarchisch-repressive Strukturen, die keinen Raum für Verhandlungen und Vermittlung zwischen den konfligierenden Parteien auf einer gleichberechtigten Basis zulassen, die jedoch die Voraussetzung für den inneren und äußeren Frieden ist. Zweitens, sie sind Manifestationen einer patriarchalisch-repressiven Struktur, die sich in Form von Dominanz-Subordination, Befehl und Gehorsam, Ungleichheit der Verteilung der »Machtchips«, der Hierarchisierung mit einer positiven und negativen Bewertung der eingebrachten Leistungen zeigt. Drittens, diese Strukturen müssen überwunden werden, wenn ein innerer und äußerer Frieden erreicht und erhalten werden soll, der im positiven Sinne mehr ist als nur die Abwesenheit von Krieg und darüber hinaus keine Wurzeln für den Krieg an sich setzt.

In einem bellistischen internationalen Gefüge kommt es vor, als im Grunde auch logische Konsequenz, daß einzelne Personen, Gruppen oder ganze Staaten sich dieser patriarchal organisierten bellistischen Ordnung nicht fügen. Dann wird dies Verhalten als »verrückt« bezeichnet oder es wird festgestellt, daß z.B. „Saddams Abstand zur Realität der Bedrohung … bereits pathologische Züge (trage)“. Innerhalb der Antipsychiatrie wird bereits seit langem darüber diskutiert, daß das Verhalten des Schizophrenen die normale »Reaktion« auf eine »unnormale« Welt ist, womit die gesamte Gesellschaftsstruktur in Frage gestellt wird, die letztenendes den Schizophrenen produziert und sozialisiert hat. Warum nicht auch hier diese Frage: Ist nicht das Verhalten Husseins eine normale Reaktion auf eine »ver-rückte« Welt?. Ahmad Taheri hat zurecht festgestellt: „Hussein ist ein Kind, das am Busen Europas genährt wurde. Nun wird er als Hitler, Dschingis Khan oder Jack the Ripper bezeichnet.“

Über den Zusammenhang von Bellismus und dualistischem Denken

Der in unserem Denken tief verankerte Dualismus ist Ausdruck einer patriarchal organisierten Friedlosigkeit und dient der Herrschaftsstabilisierung. „Die Einteilung in Entweder/Oder, das Auseinanderdividieren in zwei und nur zwei Seiten, … die Welt als Streitplatz von prinzipiell zwei Welten: das schafft Ordnung, das schafft klaren Überblick… und bei genügendem Selbstvertrauen ist leicht eine Über- bzw. Unterordnung herstellbar.“ (Manon Andreas-Grisebach) Zwei getrennte Seiten „provozieren geradezu die Herrschaft der einen über die andere“ Seite. Bezogen auf den Krieg im Golf werden folgende Logiken des dualistischen Denkens täglich offenbart:

1. Die Logik der Abschreckung:

Abschreckung zu erreichen, sei es »by denial« (die Drohung, dem Gegner einen Angriff zu vereiteln) oder »by punishment« (die Drohung, dem Gegner einen für ihn unkalkulierbaren und nicht tragbaren Schaden nach einem Angriff zuzufügen) ist die Grundlage aller Sicherheitpolitik und Militärdokrinen. Man geht davon aus, daß es keine realistische Alternative zur Abschreckung gibt und daß sie bislang den Frieden in Europa bewahrt habe. Auf die Frage „Und wenn Abschreckung versagt?“ gibt es keine Antwort, da die Prämisse lautet: Abschreckung hat funktioniert, weil sie funktioniert. Ein wenig differenziertes Denken, das allerdings aufgrund der zwei Pole – einer, der abschreckt und einer, der abgeschreckt wird – „Ordnung und klaren Überblick“ verschafft. Nun hat sich das dualistische, versimplifizierende Denken nicht nur als falsch erwiesen, sondern in seiner extremsten Form gezeigt: Menschenverachtung, Menschenvernichtung, Umweltzerstörung, Krieg. Die Abschreckung hat im Golf-Konflikt versagt! Nicht nur das, Hussein verfolgt eine völlig andere Strategie – eine Strategie, die den Alliierten fremd ist. Es verwundert nicht, daß trotz der militärischen Überlegenheit der Allianz, trotz der Möglichkeiten Kriegshandlungen durch Computersimulation vorwegzunehmen oder trotz des gesammelten Know-How dieser Krieg völlig unberechenbar ist und der Satz von Clausewitz hier und heute weiterhin Gültigkeit hat: „Der Krieg ist das Gebiet des Zufalls.“ Ich bezweifle, daß auch heute, fünf nach zwölf, dies Denken revidiert wird, es wird mit all seinen fatalen Wirkungen weiterhin die Sicherheitspolitik und Militärlogik bestimmen. Das zeigen die zahlreichen Bestellungen an Firmen der Rüstungsindustrie aus aller Welt, die Waffensysteme herstellen, die laut Meldungen »erfolgreich« gewesen seien.

2. Die Logik des Ethnozentrismus:

Der Dualismus der Abschreckungstheorie basiert auf der Annahme, daß sich Gegner gegenüberstehen, die erstens der gleichen Logik folgen und zweitens das Prinzip der Abschreckung akzeptieren. Das jedoch ist die Übertragung unseres westlichen Denkens auf das Denken in anderen Kulturen. Es wird die Vielfalt der Völker, ihrer Geschichte, ihrer Religionen und Philosophien negiert, die allerdings deren politisches Handeln bestimmt. Im Ost-West-Konflikt standen sich zwei Konfliktpartner gegenüber, die beide die Logik der Abschreckung verstanden und akzeptiert haben. Sogar Stalin hat einmal gesagt: „Ich weiß, bis wohin ich zu weit gehen darf.“ Nun ist es aber nicht die Sowjetunion, sondern Saddam Hussein, der als Gegner der Allianz gegenübersteht! Trotz der militärischen Übermacht des »geballten« militärischen Aufgebots der Allianz hat er sich nicht abschrecken lassen. Ein fataler ethnozentrischer Trugschluß der Politiker, der UNO, der Strategen der westlichen Welt. Zurecht wird seit langem von einigen FriedensforscherInnen das Empathiekonzept aus der Sozialpsychologie als die Grundlage für Völkerverständigung gefordert: Empathiefähigkeit als das Hineinversetzen – als das »Taking the role of the other« – in den anderen. Gerade eine solche Erkenntnis hätte bewirken können, daß man mit Hussein eine andere, auch seiner Kultur angemessene Verhandlungstaktik angewandt hätte – jedenfalls keine des Ultimatums, sondern eine des langen Miteinanderredens. Nach langen, aufwendigen Gesprächen war Hussein auch zur Freigabe der Geiseln bereit.

3. Die Logik von der Unvermeidbarkeit von Krieg:

Das Akzeptieren des Abschreckungsprinzips läßt – zu Ende gedacht – keine andere Möglichkeit als den Krieg zu. Daraus folgt die These von der Unvermeidbarkeit von Krieg – die seit Jahrtausenden überlieferte Prämisse „si vis pacem, para bellum“ -: doch falsche Prämissen bedingen falsche Schlüsse. Immense Summen und enormes Know-How werden verwendet, um für den Krieg als »last ressort« einer Konfliktregelung gerüstet zu sein. Kaum Ressourcen bleiben, um über alternative Konfliktregelungen und andere Krisenmanagementmethoden zu forschen: ein Instrumentarium, das auch in einer solch zugespitzten Lage zur Verfügung stehen könnte. Stattdessen greift auch die UNO auf »Konfliktregelungsmuster« zurück, die bislang Kriege ohnehin begleitet haben: das Embargo, das Ultimatum, die Abschreckung und wenn die versagt, letztlich der Krieg. Wenn es darauf ankommt, stehen natürlich die Lösungen zur Verfügung, die lange erdacht, erforscht und vorbereitet wurden. Über Alternativen wurde bei den Politikern und Militärs nicht nachgedacht. Alternative Konfliktlösungsmuster und Konfliktpräventionsmaßnahmen erfordern ebenfalls immense Summen, das Know-How einer Elite, die in entsprechenden Instituten Jahrzehnte nur über Konfliktlösungs- und Krisenmanagementmethoden forschen müßte. Zugunsten der »Effizienzsteigerung« der Kriegführung wird dies Forschen nicht gefördert und unterstützt. Es bleiben wenige, die unter schwersten Reproduktionsbedingungen ihre Arbeit tun, die wiederum nur als »Orchideenwissenschaft« betrachtet wird: die Friedensforschung. Jetzt, wenn es zu spät ist, werden alle diese FriedensforscherInnen von den Medien und Gremien befragt: „Welche Lösungen hätte es denn gegeben?“ Jetzt, wenn es zu spät ist, kommen diese FriedensforscherInnen in den Medien zu Wort und Beiträge, die sie z.T. vor Jahren geschrieben und wo sie genau diese Kriegsszenarien in der Golf-Region aufgezeigt haben, werden nun in aller Länge publiziert. Wie lange noch? Ist erstmal der negative Friedenszustand wiederhergestellt, so wird man nicht über Konfliktprävention nachdenken, sondern über die Effektivierung der Kriegführung forschen, um die strategischen und logistischen Fehler der Golfkriegführung zu vermeiden. Insofern hat der Soziologe Karl Otto Hondrich recht, wenn er den Krieg als »Lehrmeister« bezeichnet.

4. Die Logik des Freund-Feind-Dualismus:

Selbst- und Fremd- sowie Freund- und Feindbilder gibt es im innergesellschaftlichen wie im internationalen Bereich. Auch hier nicht nur eine Versimplifizierung der sozialen Welt aufgrund mangelnder eigener Erfahrungen über das »Andere«, sondern eine Freund-Feind-Attribuierung, die das eine »das Ich« über das andere »das Nicht-Ich« bzw. das Bekannte über das Nichtbekannte stellt. Neben der Erklärungs- und Integrationsfunktion haben Feindbilder auch Herrschaftsstabilisierungs-, Verhaltenssteuerungs- und Verdrängungsfunktion. Feindbilder begleiten jeden Krieg in ihrer extremsten Form: nicht nur die kriegführenden Personen schreiben sich direkte Feindattribuierungen, wie »Satan im Weißen Haus« oder »Hitler bzw. Jack the Ripper« zu, sondern auch ganze Gruppen werden zugeordnet: der Islam an sich bzw. die christliche Welt, gegen die der »heilige« Krieg ausgerufen wird.

Die Einstellung gegenüber der Religion Islam, die unserem Denken fremd und demzufolge auch weitgehend unbekannt ist, verändert sich auch hier mit den politischen und ökonomischen Konflikten im Nahen Osten. Der Roman „Nicht ohne meine Tochter“ von Betty Mahmoody ist nicht ohne Grund seit Monaten auf den Bestsellerlisten: ein Bild wird bestätigt, das man sich aufgrund der Unkenntnis dieser anderen Kulturen zurechtgerückt hat. Und Bücher, in welchen sich viele selbst bzw. mit ihren Weltbildern wiederfinden, werden bekanntlich gerne gekauft und gelesen. Feindbilder verursachen den Konflikt nicht, aber sie verschärfen ihn und tragen zu einer Polarisierung der konfligierenden Parteien auf breiter Basis bei – d.h. die Akzeptanz in den jeweiligen Bevölkerungen für das Handeln ihrer Regierenden. D. h. es ist nicht genug, die „Entmachtung der Feindbildproduzenten“ wie Horst-Eberhard Richter zu fordern, sondern es muß auch über die Feindbildrezipienten nachgedacht werden, denn Angebote ohne Nachfrage nützen nichts.

5. Die Logik der Ausgrenzung:

Zu einem Konflikt gehören zwei beteiligte Seiten, die gleichermaßen zu dessen Beilegung bzw. Eskalation beitragen. Das bedingt Parteilichkeit, wobei aber nicht nach der Relativität von »normal« und »unnormal« gefragt wird – also es wird nicht das »Unnormale«, sprich der Völkerrechtsbruch Husseins als »normale« Reaktion auf eine »unnormale« Welt, sprich bellistische internationale Strukturen, hinterfragt. Im Gegenteil: Hussein wird als verrückt und krank bezeichnet und nicht als symptomatisch für eine tief verankerte, weiterhin Krieg verursachende internationale Struktur gesehen. Auch hier ein Dualismus: das eine, das andere. Die Komplexität der Beziehungen wird negiert. Ein fataler Trugschluß, denn eine Konfliktprävention – noch bevor es zuspät ist und ein Ultimatum läuft – verlangt nach einem multikausalen Denken: einem Denken in der Vielfalt.

6. Die Logik des allumfassenden Konsenses:

Man spricht »vom Irak«, der Kuwait besetzt und von den USA, die militärisch reagieren. Nein, es ist Hussein – ein Diktator, der über ein Land mit einer Bevölkerung herrscht, die sich zu 45% aus Kindern unter 15 Jahren zusammensetzt! –, der Kuwait besetzt hat und es ist Bush, in dessen Hand alle Entscheidungen nun liegen, nachdem er durch eine knappe Mehrheit seiner Regierung die Befugnis dazu erhalten hat. Präsident Bush begründet den Angriff in seiner Rede an die Nation mit „die Welt konnte nicht länger warten“. Wer ist »die Welt«, die auf diesen Krieg gewartet hat? Waren das nicht die Militärplaner? Einige Politiker? Einige Soldaten, die lieber bald kämpfen wollten, um nach kurzer Zeit – in der einen oder anderen Form – nach Hause zu können? Oder diejenigen, die in den Nachrichten am Abend erfuhren, daß ein Krieg zu 99% bevorstand und eben deshalb aufblieben, um mit Spannung das weitere Geschehen zu verfolgen? Gehört zu dieser Welt auch die Zivilbevölkerung im Irak? Gehören dazu all die Männer, Frauen und Kinder, die mit Angst einen Krieg befürchtet hatten? Oder anders gefragt: Wer ist die »Weltkoalition«, die Zeit hatte, über politische Lösungen nachzudenken? Was würde wohl eine Welturabstimmung zeigen, die von der Frauenaktion Scheherazade gefordert wird? Würde es dann immer noch heißen, die Welt hält diesen Krieg für unabänderlich? Der allumfassende Konsens ist genau wie die anderen genannten Logiken eine Negation der Vielfalt zugunsten der geteilten Einheit.

7. Die Logik der Rationalität:

Der Dualismus heißt rational und irrational, dazwischen gibt es nichts, wobei das Irrationale als das außerhalb des »Normalen« Stehende verstanden wird, das nur in Ausnahmefällen als »abweichendes Verhalten« vorkomme. Nun werden allerdings Entscheidungen von zwei Männern getroffen, von Bush und Hussein, die genau den gleichen Emotionen und Kurzschlußhandlungen unterliegen, wie andere Menschen auch. Im normalen politischen Alltag werden Entscheidungen abgewogen, diskutiert und abgestimmt, im »Eifer des Gefechts«, wenn es um Sekunden und um Leben und Tod für viele geht, dann nicht. Was ist das für eine »Ordnung«, die es einerseits Hussein erlaubt zu sagen „Ich kann drei, ja sechs Millionen Tote hinnehmen, das stehe ich durch“ und andererseits legitimiert, daß Computeranalysen die »Verluste« ausrechnen, worauf sich die Anzahl der bis zum 1. März bestellten Leichensäcke stützt?

8. Die Logik des Augenblicks:

D.h. die ausschließlichen Fragen nach den aktuellen Ursachen dieses Krieges und nicht nach seinen strukturellen Grundlagen. Es wird nicht danach gefragt, inwiefern die westliche Welt im Rahmen der bellistischen internationalen Struktur diesen Krieg in seinen Wurzeln angelegt hat. Seit langem ist bekannt, daß gerade in Entwicklungsländern, in Ländern der »Dritten« Welt das Bestreben vorhanden ist, aus dieser Zweiteilung »top-dogs« versus »under-dogs« auszubrechen – allerdings auch mit bellistischen Mitteln: nämlich durch Abschreckung. Wenn es auch nicht die Atombombe ist, aber dennoch die »Atombombe des kleinen Mannes« – die C-Waffe –, um einen atomaren Schlag abzuschrecken. Heute wird allerdings nur nach der Reaktion auf das Verhalten Husseins gefragt. Heute wird über die Bündnispflichten der Deutschen gefragt, die in diesem Krieg u.U. beitragen sollen, einen z.T. selbstverschuldeten Schaden zu begrenzen. Wie sieht denn der Beitrag der Deutschen zur Aufrechterhaltung einer bellistischen Weltstruktur im allgemeinen aus? Was haben sie dazu beigetragen, daß Hussein heute bis an die Zähne gerüstet ist und Isreal mit deutschem Giftgas bedrohen kann? Heute denkt man langsam darüber nach, wie man evtl. und u.U. Rüstungsexporte kontrollieren könnte. Die Logik des Augenblicks führt unweigerlich zu dem fatalen Trugschluß von der »Unvermeidbarkeit« des Krieges.

9. Die Logik des Staat-und-Volk-Dualismus:

Der Staat »handelt«, der Staat »beschützt« und »verteidigt« seine Bürger, der Staat vertritt das Volk in der Staatengemeinschaft. Auch hier eine Form des Patronats mit all seinen Konsequenzen. Ganz deutlich ist dieser Dualismus heute zu sehen: es wird uns von Verlusten an militärischem Gerät und von »Verlusten« von einigen (!) Soldaten berichtet, wir hören nichts über die Zivilbevölkerung, die in diesem Krieg vernichtet wird und die unter diesem Krieg leidet. Wir hören nur die Stimmen der Politiker, die die »Einäugigkeit« der Friedensbewegung kritisieren, die dieser einen Antiamerikanismus und fatale Blauäugigkeit vorwirft. Kein Wort darüber, daß sich hier das Volk zu Wort meldet, das diesen Krieg ablehnt, daß Menschen aus Angst und nicht nur aus politischen Gründen auf die Straße gehen. Über die leidende Zivilbevölkerung in den direkt betroffenen Ländern und die Opposition in der Bevölkerung in den zwar am Krieg beteiligten, aber geographisch abgelegenen Ländern wird nichts gesagt: in Frankreich werden gar Demonstrationen des Friedenswillens verboten! Hier zeigt sich deutlich der Dualismus zwischen »Herr« und »Knecht«: „Wenn Vater spricht, haben Kinder zu schweigen!“ Nicht nur das, die zensierte Berichterstattung ist auch eine Ausübung struktureller Gewalt – die Verweigerung, die Wahrheit denjenigen gegenüber zu nennen, die es betrifft. Die Zensur wird nicht nur aus logistischen und militärstrategischen Gründen durchgeführt, sondern insbesondere auch deshalb, weil es gilt, was Premier Lloyd George bereits im Ersten Weltkrieg gesagt hat: „Wenn die Leute wirklich Bescheid wüßten, dann wäre morgen alles vorbei“.

10. Die Logik des »Hart-und-Weich«-Dualismus, des »Weibischen« und »Männlichen«

„Früher war die Deutung von Kriegen unter anderem als Gegenbewegungen zu sogenannter »Verweichlichung« und »Dekadenz« bekannt“, so die Friedensforscherin Astrid Albrecht-Heide. Nicht nur damals, auch heute findet man in Analysen zur Innenpolitik der USA Rubriken, wie über ökonomische Instabilitäten und »Feminisierung« als Kulturentwicklung. Was heißt das? Wird hier eine Bestrebung genannt, die der patriarchalen Ordnung von »stark« und »schwach« entgegenwirkt? Die Dichotomie zwischen »weibisch« und »männlich« mit all ihrer negativen und positiven Attribuierung des einen und des anderen zeigt sich im Krieg in seiner extremsten und fatalsten Form: der Krieg als »Männlichkeitswahn«, der Ergebnis bellistischer Strukturen, der patriarchal organisierten Friedlosigkeit ist. Männer, die im Krieg »Wichtigeres« zu tun haben, „befassen sich nicht mit Leichenzählen“, so der US-Oberbefehlshaber General Schwarzkopf. Oder der Kommentar von George Bush zum Verlauf des Krieges: „So weit, so gut“. Oder die Feststellung eines amerikanischen Arztes vor Ort: „Die Idee des Kampfes gibt ihnen Kraft. Den Geruch der Munition und des Sprits mögen sie.“ Nach dem Motto, »Freud läßt grüßen«, verkündet ein 21jähriger US-Obergefreiter: „Wir werden wahrscheinlich Mann gegen Mann auftreten und die Iraker mit unseren Bajonetten abstechen.“ In diesem »Männlichkeitswahn«, in diesen bellistisch-sexistischen Strukturen sind Frauen auch befangen, auch sie sind Produkt unserer Gesellschaft: auch hier eine gewisse Faszination, die eine Krankenschwester auf dem Stützpunkt mit den Worten „Wenn sie fliegen, habe ich Angst, daß sie nicht wiederkommen. Aber ich bin froh, daß etwas passiert. Deshalb ist doch jeder hierhergekommen.“ Auch die Akzeptanz des männlichen Patronats wird deutlich, wenn gar das Raketenabwehrsystem, das auch noch sinnigerweise den Namen »Patriot« trägt, einen Zettel vor Ort angeheftet bekommt: „We love you“. Ganz klar, es ist die Frage zu stellen nach den Frauen als Opfer und Mittäterinnen!

Fazit

Wenn wir darüber nachdenken, wie es weitergeht, so muß folgendes mitbedacht werden: Erstens, innerhalb der gegebenen bellistischen Strukturen ist ein Krieg jederzeit möglich, ja die logische Konsequenz, der sodann aufgrund der gegebenen patriarchalen Struktur als »unvermeidlich« über uns wie ein Gewitter hereinbricht! D.h. langfristig muß sich grundsätzlich etwas ändern, wenn der wirkliche Wille da ist, die Welt nicht durch den »sozialen Gau« (den Krieg) und den Umweltgau zu zerstören. Unter gegebenen Bedingungen, insbesondere durch die Verwüstung und Zerstörung der Umwelt durch diesen Krieg am Golf, wird die Schere zwischen arm und reich noch größer, womit der Grundstein für weitere Kriege gelegt wird, die in immer kürzeren Abständen entstehen werden und die aufgrund der stets »effizienteren« Kriegführungsmöglichkeiten Steigerungen an Massenvernichtung und irreversibler Umweltzerstörung mit sich bringen werden. Die Notwendigkeit einer Änderung gilt nicht nur für die internationale Struktur, das gilt auch für den Dualismus unseres Denkens. Dualistisches Denken ist in seiner letzten Konsequenz die Negation von Vielfalt, von Leben – es ist die Logik der Destruktion, des Nicht-Lebens, von Krieg. Es ist mit den hegemonialen Interessen, regionalen, historisch gewachsenen Konflikten oder ökonomischen Interessen verbunden, mit dem Öl eng verknüpft und damit eine der elementaren Ursachen, die zu diesem Krieg am Golf geführt haben. Zweitens, der Krieg als »Mittel der Politik« muß ausgeschlossen und Prämissen müssen geschaffen werden, die auf einer anderen Logik als der des Dualismus basieren, die wiederum eine multikausale Konfliktregelung denken läßt: die Einheit in der Vielfalt! Und offensichtlich ist die UNO die falsche Organisation für Konfliktbeilegung alternativer Art! Dritttens, kurzfristig – d.h. im Sinne einer Schadensbegrenzung – muß sofort jeder Waffengang beendet werden, um über Lösungen zu verhandeln, die beide Seiten zumindest zur Herbeiführung eines negativen Friedenszustandes veranlassen, um anschließend eine Struktur im Nahen Osten zu erreichen, die nicht den Keim für den nächsten lokalen und/oder internationalen Krieg in sich birgt. Das jedoch verlangt viel: keine Abschreckung, keine Ungleichheit der beteiligten Parteien, keine militärischen Drohgebärden, die Überwindung des Euro- und Ethnozentrismus – kurz: die Überwindung des Dualismus. Thomas Mann hat recht, wenn er sagt: „Krieg ist nichts als Drückebergerei vor den Aufgaben des Friedens.“ Wie wahr, dieser ist für alle Beteiligten finanziell kostspieliger, langwieriger und anstrengender!

Vorliegender Beitrag basiert auf einem Vortrag, den U. Wasmuht auf dem AFK-Kolloquium 1991 gehalten hat.

Dr. Ulrike C. Wasmuht ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Politische Wissenschaften der FU Berlin.

Frieden in Europa – Krise im Baltikum – Krieg am Golf

Frieden in Europa – Krise im Baltikum – Krieg am Golf

Fragestellungen aus sozialpsychologischer Sicht

von Hanne-Margret Birckenbach

Als im Herbst 1989 die Mauer fiel, ging der Satz um die Welt: „Das ist Wahnsinn“. Der gleiche Satz hat heute, im Februar 1991, eine ganz andere Bedeutung. Aus dem von den Regierungen vertretenen Programm »Frieden in Europa« ist beinahe über Nacht die Realität von Bürgerkrieg und Krieg in, mit und durch Europa geworden. Das Wort »Frieden«, das den Gegenstand unserer Disziplin konstituiert, bleibt vielen zur Zeit im Hals stecken. Sie verstehen sich nicht mehr als Teil einer Friedens-, sondern als Teil einer AntiKriegsbewegung. Wie läßt sich am konkreten Fall und aus der Sicht der Politischen Psychologie, in der es um das Wechselverhältnis zwischen der sog. objektiven, äußeren politischen Lage und den subjektiven, inneren Stimmungslagen geht, die von E. Krippendorff aufgeworfene Frage beantworten: Warum hat sich die »Logik der Unvernunft« durchsetzen können?

Systematische Forschungsergebnisse zu dieser konkreten Fragestellung gibt es noch nicht. Aber bezugnehmend auf grundlegende Arbeiten aus der Politischen Psychologie des Friedens läßt sich die Hypothese aufstellen: Die »Logik der Unvernunft« konnte sich wider den erklärten Friedenswillen der meisten beteiligten Regierungen durchsetzen, weil die Zivilisierung des Ost-West-Konfliktes nicht gelungen und stattdessen ein wechselseitig eskalierendes Zusammenspiel von Ängsten entstanden ist, die aus ganz verschiedenen Quellen gespeist werden. Diese Angstdynamik hat vernünftiges Handeln blockiert.

Theoretische Bezugspunkte meiner Hypothese sind Arbeiten aus der Friedensforschung, die in den vergangenen AFK-Kolloquien diskutiert und in den von der AFK herausgegebenen bzw. in Zusammenarbeit mit ihr enstandenen Schriften gut dokumentiert sind. Es handelt sich um Arbeiten über das Wesen des Ost-West-Konfliktes1, die Zivilisierung Internationaler Beziehungen2 und die Entwicklung von Angstdynamik3.

Statt Zivilisierung Verlust des Ost-West-Schemas

Die Kriegsereignisse am Golf und der Unfrieden in Europa sind Glieder in einer Kette von Ereignissen, deren Interpretation im einzelnen strittig ist, die sich aber alle auf die Veränderungen des Ost-West-Konflikts beziehen lassen. Diesen hatten wir als Ideologiekonflikt (um global konkurrierende Ordnungs- und Wertvorstellungen mit Alleinvertretungstendenz), als Machtkonflikt (um Ausbeutungsobjekte, vorteilhafte Austauschbeziehungen und politische Einflußbereiche) und als Herrschaftskonflikt (zur innen- und bündnispolitischen Legitimation von Abhängigkeit) mit regional und global sinnstiftender Metafunktion analysiert.4 Aus diesen Funktionen ergab sich die Ambivalenz des Konflikts. Einerseits behinderte er gemeinsame Problemlösungen und beinhaltete die Gefahr des Krieges. Andererseits diente er der Befriedung Europas und der Einbindung Deutschlands.

Was immer aus dem Ost-West-Konflikt geworden ist – als sinnstiftendes Beziehungsmuster hat er aufgehört zu existieren. Mancher sehnt sich nun zu ihm zurück. Denn mit dem Ende der Möglichkeiten, das politische Geschehen im Rahmen des Ost-West-Schemas zu interpretieren und die persönliche wie kollektive Identität mit Hilfe der Haltung zum realen Sozialismus zu definieren, ist ein nahezu universell angewandtes Orientierungsraster verloren gegangen, ohne daß es durch ein anderes ersetzt worden wäre. Dieser Verlust tangiert nicht nur die große Politik sondern auch den gesellschaftlichen Alltag.5

Der Sturz des Ost-West-Schemas war überfällig und die Friedensforschung hat dazu beigetragen, daß seine Legitimationswürdigkeit und Akzeptanz begründet in Zweifel gezogen werden konnte. Nicht oder nur wenig erfolgreich waren wir jedoch – trotz intensiver Arbeiten zum Thema der sicherheits- und friedenspolitischen Alternativen – was die Gestaltung der Zukunft angeht. Das Ost-West-Schema ist nicht gestürzt, weil beide Seiten oder jedenfalls eine auf einer neuen Stufe friedenspolitischer Einsicht angekommen wäre, sondern weil die eine Seite nicht mehr in der Lage war, sich am Spiel zu beteiligen. Die für den Ost-West-Konflikt wesentlichen Konfliktinhalte – Ideologie, Macht und Herrschaft – sind jedenfalls nicht in der von den FriedensforscherInnen vorgestellten Weise zivilisiert worden. Dies hätte ein Ausscheiden physischer Gewaltandrohung aus dem Repertoire internationaler Politik und neue Institutionen, in denen Konflikte verhandel- und aushandelbar gemacht worden wären, verlangt. Ebenso wäre die Ausbildung von subjektiven und objektiven Kompetenzen notwendig gewesen, um Interessen ausgleichen und Verständigung verwirklichen zu können.

Statt einer Zivilisierung hat eine Verrohung6 der internationalen Politik stattgefunden. Nach meinem Eindruck begann diese Tendenz zur Entzivilisierung nicht erst mit der Eskalationspolitik nach der irakischen Annexion Kuwaits, sondern parallel zur Friedenseuphorie mit der Interpretation der Zusammenbrüche im Osten in den Kategorien von Sieg und Niederlage.

Zur Dynamik ratlos gewordener Angst

Weil Macht-, Herrschafts- und Ideologieansprüche nicht zivilisiert wurden und die Veränderungen im Ost-West-Konflikt nur sehr schwer in die persönliche und kollektive Identität der beteiligten Gruppen und Nationen integriert werden konnte, hat sich nicht nur in Ost-, sondern auch in West-Europa sowie global eine innergesellschaftliche und internationale Angstdynamik entwickelt. Sie hat – an den jeweiligen Orten in verschiedener Weise – Ohnmachtshaltungen gegenüber der Kriegslogik gefördert, einen Druck zur Gewalt erzeugt sowie die Bereitschaft zum Krieg entstehen lassen. Denn der Krieg hat ein doppeltes Gesicht. Er ist einerseits angsterregend, andererseits selber auch ein Mittel, um den »Gefühlsstau« zu entladen, Ängste zu kanalisieren oder zu beschwichtigen und damit beherrschbar zu machen.

Um erklären zu können, wie eine solche politisch wirksame Angstdynamik entsteht, unterscheiden wir idealtypisch, was in der Realität in der Regel vermischt ist, nämlich die lebenswichtige und rational überprüfbare »Realangst« und die lebensbedrohliche Angst, die Klaus Horn »ratlose« Angst genannt hat. Sie liegt vor, wenn es Menschen nicht mehr gelingt, ihre Angstgefühle und ihre Strategien der Gefahrenbewältigung in Übereinstimmung zu bringen. Klaus Horn hat gesagt, es sei eine Angst, die „vor Schreck verdrängt, wovor sie sich fürchten müßte.7 Sie kann vor den wirklichen Gefahrenquellen nicht schützen, sucht Ersatzobjekte und bewirkt unüberlegte Reaktionen, bei denen Aggressivität nicht mehr kontrolliert werden kann. Eine für die Entwicklung friedensfähiger Subjektivität unabdingbar im Sozialisationsprozeß von jedem Individuum mehr oder weniger erfolgreich erworbene Kompetenz wird auf diese Weise außer Kraft gesetzt.8

Zu dieser ratlosen Angst kommt es in politischen Konstellationen, in denen es Individuen, Gruppen oder nationalen Kollektiven nicht (mehr) gelingt, das wachsende Spannungsverhältnis zwischen politisch-sozialer Außenwelt und den eigenen Wünschen auszuhalten und in eine zeitgemäße Identität zu integrieren. Dieses Problem haben wir – so Klaus Horn – besonders dann, wenn in gesellschaftlichen Krisen Menschen so tun müssen, als gäbe es nichts, was sie beunruhigen könne, wenn niemand so recht weiß, wie mit dem entstandenen Problemdruck umzugehen sei, man verlegen die Augen verschließt und wenn man der steigenden Anspannung mit konservativer Starrheit begegnet. Realangst wird dann durch angststeigernde Ohnmachtsgefühle überlagert. Sie drängen dazu, Pseudoerklärungen, Feindbilder und andere Phantasmen zu akzeptieren und endlich in einer Erlösungsreaktion irgendwie befreiend zu handeln.9 Diese Dynamik gilt als die massenpsychologische Quelle des deutschen Faschismus.

Vor der Mobilisierung solcher Angst – sei es in Gestalt regierungsamtlicher Beschwörung der Gefahr aus dem Osten, sei es in Form alarmistischer Gefahrenanalyse aus friedenspolitisch motivierten Gruppen, derzufolge ein Krieg in Europa unmittelbar bevorstehe – haben FriedensforscherInnen immer wieder gewarnt. Gerade weil es zu einem unbeabsichtigten Zusammenspiel von BefürworterInnen und GegnerInnen der Aufrüstung im Umgang mit der Angst kommen kann, haben FriedensforscherInnen während und im Gefolge der Stationierung von Mittelstreckenraketen Friedensgruppen darin beraten, ihre Diskussionszusammenhänge intellektuell und emotional so zu gestalten, daß sie die Chance eröffnen, sich der eigenen Ängste anzunehmen, ohne ihnen zu erliegen, also Ängste und Strategien zur Gefahrenbewältigung auf ihre Stimmigkeit hin zu überprüfen.10

Vor diesem Hintergrund friedensforscherischen Wissens wäre es m.E. lohnend, die jüngste Entwicklung genauer zu prüfen. Ich kann meine Beobachtungen, die nahelegen, daß es dabei (auch) um eine solche Angstdynamik geht, hier nur in groben Stichworten darlegen und in den von Klaus Horn geprägten Kategorien beschreiben, wie es zum emotionalen Spannungsaufbau und zu seiner politisch kriegerischen Verarbeitung gekommen sein könnte. Dies ersetzt allerdings nicht eine detaillierte Untersuchung. Diese müßte zum einen die behaupteten psychosozialen Verknüpfungen von Innen- und Außenpolitik für jedes Land getrennt aufarbeiten, um die internationale Angstdynamik empirisch erfassen zu können. Zum anderen müßte eine solche Untersuchung auch den politischen Gegenbewegungen gerecht werden. Warum sie sich nicht durchsetzen konnten und welche Chancen bestehen, daß sie langfristig doch noch wirken, ist für uns besonders interessant. Dennoch gehe ich auf diese Frage nicht weiter ein, denn die Einschätzung solcher Gegenbewegungen verlangt (vor allem wegen der oben erwähnten Möglichkeit eines emotionalen Zusammenspiels der Protestierenden mit denen, gegen die sie protestieren) eine sehr komplexe Analyse, die ich hier noch nicht zu leisten vermag. Das Defizit ist damit offen benannt.

Spannungsaufbau 1989/90

Sehr viele Menschen haben die deutsche, europäische und weltpolitische Entwicklung in den beiden letzten Jahren in unterschiedlicher Weise und je nach gesellschaftlichem Kontext als eine Krisensituation empfunden, in der sie keine ausreichenden Möglichkeiten fanden, ihre Ängste zur Sprache zu bringen und zu klären. Die Umbrüche in der Sowjetunion, in Osteuropa und Deutschland wurden von vielen Betroffenen als eine materielle und psychische Bedrohung erlebt. Bezugnehmend auf die Nationalitätenkonflikte in Osteuropa hat Eva Senghaas-Knobloch darauf hingewiesen, daß in ihnen Identitätskonflikte sichtbar werden, die erst in Interessenkonflikte umgewandelt werden müssen, bevor sie demokratisch gelöst werden können.11

Identitätskonflikte lassen sich aber nicht nur in Osteuropa, sondern, in je eigener Weise, auch in Westeuropa und anderen Regionen beobachten. Nachrichten aus der Sowjetunion und ihren Republiken über die politische Instabilität, Spekulationen über einen bevorstehenden Sturz des Hoffnungträgers Gorbatschow und Befürchtungen über eine Machtübernahme durch das sowjetische Militär bestärkten auch im Westen täglich das Gefühl, die Entwicklung in der Sowjetunion und damit auch die internationalen Beziehungen – wenn nicht das politische Geschehen generell – seien längst der politischen Kontrolle entglitten. Im In- und Ausland entstanden quer zu allen politischen Strömungen und parallel zu Fortschrittsphantasien und Friedensplänen, Zweifel an den Fähigkeiten, die politischen Veränderungen gestaltend zu beeinflussen.

Zwar hat das Stichwort »Demokratisierung«, mit dem die Reformen in Osteuropa zunächst bezeichnet wurden, anfangs zumindest für die politischen Eliten und die Intelligenz in Ost und West eine sinnstiftende Rolle erfüllt. Aber um diesen gemeinsamen Begriff ist es längst merkwürdig ruhig geworden. Parallel zur Ausbildung eines Parteienspektrums kam es – gefördert durch den Verfall sozialer und ökonomischer Grundlagen einer demokratischen Entwicklung – in Osteuropa auch zu antidemokratischen Entwicklungen. Der gewachsene Antisemitismus ist dafür ein sicheres Zeichen. Wenn die Relationen unvergleichlich sind, so muß jedoch auch darauf hingewiesen werden, daß die Mitte der 80er Jahre so nachdrücklich vertretenen Demokratisierungsansprüche auch in westlichen Gesellschaften verklungen sind. Das Verschwinden der Grünen aus dem Deutschen Bundestag wurde selbst von AnhängerInnen der dort verbliebenen Parteien als Verlust für die Demokratie empfunden und das schlechte Abschneiden der Bürgerbewegungen in der ehemaliegen DDR bei den vier Wahlentscheidungen 1990 machte sichtbar, wie die Substanz demokratischer Willensbildung unter dem Druck von Mehrheitsentscheidungen leiden kann.

Debatten um das Ob und Wie der deutschen Einheit fanden zwar in der Intelligenz statt, konnten aber als kritische Impulse nicht politisch wirksam werden. Sie wurden in Einheitsbeschwörungen erstickt, obwohl die Teilung jahrzehntelang als Sicherheitsfaktor erster Ordnung (gegenüber dem Systemgegner ebenso wie gegenüber Deutschland) gegolten hatte.

Nicht nur in Deutschland entstand Unruhe über „die Deutschen“, sondern auch im Ausland. Bei den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen war ja gerade überraschend, wie wenig die vorhandenen Vorbehalte gegenüber der Entwicklung sich artikulieren und durchsetzen konnten. Das wurde sehr schnell als Resultat vernünftiger Argumentation verklärt. Übersehen wurde dabei, daß ein rationales Abwägen – wie es einige FriedensforscherInnen eher nachträglich als vorbereitend versucht haben – eben nicht vorausgegangen war. Den »zu spät vorgetragenen Argumenten« fehlte es dann an Glaubwürdigkeit; sie erschienen häufig nicht mehr als das Ergebnis von Analyse, sondern von Anpassung. Das in den europäischen Nachbarstaaten verbreitete Unbehagen über den Aufstieg Deutschlands war bei den Verhandlungen nicht in einem deutschland- und europapolitischen Plan integriert, sondern weitestgehend vom Verhandlungsthema abgespalten und der Öffentlichkeit zur freien Assoziation überlassen worden. So hätte es nahegelegen, frühzeitig danach zu fragen, was sich aus den Vorbehalten gegenüber den Deutschen an politischen Rechtfertigungsstrategien entwickeln könnte. Abgesehen von der Reflexion der deutsch-polnischen Ressentiments unterblieben solche Fragen – auch seitens der FriedensforscherInnen. Mich wundert es heute nicht, daß der Vergleich Saddam Husseins mit Hitler zu einem politikleitenden Interpretations- und Rechtfertigungsmuster während des Golfkrieges wurde. Dieser Vergleich brachte das kritische Deutschland zum Schweigen und setzte die deutsche Regierung unter Zahlungsdruck; es verhalf der kriegführenden Allianz zum Glanz der Erinnerung an historische Größe und diente den arabischen Kritikern der Allianz dazu, ihre antiisraelischen Einstellungen zu immunisieren, indem sie die Deutschen immer wieder dafür entschuldigten, daß sie eine Anklage gegen Israel nicht unterstützen mochten.

Auch wenn das erforderliche Wissen über die konkreten Verbindungen von gesellschaftlich empfundenen Ängsten mit der Politik der Regierungen bislang nur bruchstückhaft vorliegt, gibt es doch schon jetzt zahlreiche Hinweise, die zu dem allgemeinen Befund hinführen: Nahezu überall hatte sich im »Vorkrieg« ein Gefühl der Orientierungslosigkeit und des Betrogenseins verbreitet. In Großbritannien z.B. verband sich die Unruhe über die deutsch-europäische Entwicklung mit Enttäuschung und Wut über massenhaft erfahrenen sozialen Abstieg infolge der ökonomischen Krise. Für die USA hat der Psychohistoriker Lloyd de Mause den Zustand der »Kriegs-Trance« als eine rituelle Opferreaktion erklärt. Mit ihr versucht eine puritanisch geprägte Nation sich von Schuldgefühlen zu reinigen, die periodisch aus der Furcht vor einem Übermaß an Wunschbefriedigung (vor »Fortschritt, Prosperität, Sex und Feminismus«) entstehen.12 Feministische Friedensforscherinnen haben auf die Kriegsbereitschaft als Gegenbewegung zur Krise patriarchaler Geschlechterverhältnisse aufmerksam gemacht.13

Auch in der Dritten Welt bzw. in der Dritte-Welt-Diskussion machten sich Befürchtungen breit, die Ost-West-Veränderungen könnten zur Verschlechterung der schlechten Situation bei Entwicklungshilfe, Kapitaltransfers, Handel, Ordnungspolitik und Friedenspolitik beitragen.14 In der arabischen Region, so wurde schon im Frühjahr 1990 sichtbar, drängte nicht nur Saddam Hussein zu irrationalen Ersatzhandlungen, sondern ein in weiten Kreisen empfundenes Gefühl einer »arabischen Ohnmacht«, das sich angesichts des Wegfalls der Sowjetunion als Gegengewicht zur amerikanischen Nah-Ost-Politik, angesichts der Unfähigigkeit der Region, sich in und über die Zukunft von Israelis und Palästinensern zu verständigen, und angesichts der Verarmung in Jordanien und Ägypten ausgebreitet hatte.15

In dieser spannungsgeladenen Atmosphäre hatte die Besetzung Kuwaits am 2. August 1990 und das Ultimatum des UN-Sicherheitsrates an den Irak vom 29. November 1990 mit seiner Fristsetzung, bis 15. Januar 1991 Kuwait zu räumen, eine psychosoziale Bedeutung jenseits des militärischen und politischen Anlasses. Diese Ereignisse trugen dazu bei, die »ratlose Angst« in einen zunehmenden Druck auf die Verantwortlichen zu überführen, Macht auszuüben, Entscheidungen zu treffen, die es erlauben würden, das jeweils »Böse« mit Gewalt zu bekämpfen. Wie immer diese Mechanismen der wechselseitigen Übersetzung von Stimmungslagen und politischen Entscheidungen im Detail beschrieben werden können: die in ihren fatalen Wirkungen vielfach und gerade in der Auseinandersetzung mit dem Abschreckungsdenken analysierte Politik der Selbstbindung, die es so schwierig macht, sich aus der Spirale von Selbstverpflichtungen gerade dann zu lösen, wenn befriedigende Ergebnisse nicht mehr zu erwarten sind, gewann die Oberhand. Antizipatorisches Denken und Realitätsprüfung waren auf der außenpolitischen Ebene mehr und mehr beeinträchtigt. Der Ausbruch eines Krieges wurde einkalkuliert, gerechtfertigt und toleriert. Man machte Glauben, ein militärischer Schlag würde genügen, um die zu einem einzigen Problemfall (Saddam hält Kuwait besetzt) zusammengezogene Problemfülle zu lösen, und übersah die Warnung, daß der Schlag weitere provozieren werde. Die politische Sprache entdifferenzierte sich, Männerjargon griff bei den Hauptkontrahenten in einer Weise um sich, die erneut belegte, daß in Zeiten militärischer Konfrontation die politischen Kulturen der Kontrahenten sich ähnlich werden.

Gebannt schaute die deutsche Fernsehnation zu, wie die Chancen auf Frieden systematisch verbaut wurden – bis es dann »geschafft« war und die (meist unbewußten) Wünsche nach spannungslösender Aktion in Erfüllung gingen. Dann erst löste sich die allgemeine Lähmung und die Geister schieden sich an der Frage, ob – wie der französische Außenminister am 15. Januar formulierte – der Pazifismus nun weichen muß und mit ihm der von allen europäischen Regierungen noch 1990 versprochene Wille zur Abschaffung des Krieges – oder ob es gelingt, den Pazifismus zumindest in der politischen Kultur Europas fest zu verankern. Protestierenden SchülerInnen auf der Straße versuchten ihre sprachlosen LehrerInnen zu mobilisieren und verstanden nicht, in welche Zerreißprobe die politische Opposition in der BRD geraten war.

Die Macht der FriedensforscherInnen

Es gibt Kräfte, die weiterhin auf die gerade in der Arbeiterbewegung verankerte Strategie »Krieg dem Kriege« drängen. Sie haben Angst. In ihrer stimmungsmäßigen Unruhe gleichen sie denjenigen, die auf die friedliche Abschaffung des Krieges setzen. Kollektive Angstverarbeitung kann aber nur eine von den Kriterien Gewaltfreiheit, Gerechtigkeit und Integration geleitete Richtung nehmen, sofern es umfassend gelingt, die entstandenen Ohnmachtsgefühle zurückzudrängen und Perspektiven zu entwickeln, die aufzeigen, wie Ideologie, Macht und Herrschaftskonflikte zivilisiert werden können.

Der Erfolg von Friedensbewegung und Friedenspolitik wird davon abhängen, ob es gelingt, die nicht unmittelbar vom Golf-Krieg verursachten, aber nun an ihn fixierten »ratlosen Ängste« im In- und Ausland explizit in die Friedensdiskussion einzubeziehen. Sonst verstellen sie weiterhin den Blick auf politische Lösungen; sonst kann die aktuelle Erregung nicht in politischen Dialog überführt werden; sonst wird Herrschaftskultur nicht durch Verständigungskultur abgelöst; sonst können SympathisantInnen und auch OpponentInnen nicht zu MitstreiterInnen werden.

Im Thema dieses Kolloquiums „Zur aktuellen Funktion von Friedensforschung“ wird gefragt: „Ist Wissen Macht?“ Ich möchte auf der Basis der hier vorgetragenen Skizze zu den sozialpsychologischen Grundlagen der »Logik der Unvernunft« mit fünf Vorschlägen auf die etwas veränderte Frage antworten: Was kann Friedensforschung mit den ihr eigenen Mitteln tun, um die Angstdynamik einzufangen?

  1. Wir sollten unser eigenes, in umfangreichen Analysen erarbeitetes Wissen ernster nehmen und deutlicher machen, daß die Transformation von Macht, Herrschaft und Ideologien in friedenspolitischer Absicht auch hierzulande viel stärker eine sozialpsychologische Frage ist, als Politik und Wissenschaftspolitik zugeben.
  2. Es gibt kritische Friedensforschung auch jenseits der »Kritischen Theorie«. Aber es gibt sie nicht ohne das methodische Prinzip der Reflexivität im Hinblick auf die Gefühlslagen der forschenden WissenschaftlerInnen. Wenn wir uns darüber nicht Rechenschaft ablegen, jubeln wir sie beinahe zwangsläufig anderen unter, weil wir alle, so sachlich wir uns auch gebärden, persönlich in diese sozialpsychologischen Aspekte der politischen Veränderungen verstrickt sind. Die durch den Golf-Krieg sichtbar gewordene Verunsicherung der Intelligenz über ihr Verhältnis zur kriegerischen Gewalt und die nun provozierten Kontroversen finden sich auch in der Friedensforschung, die Gegenbewegung zur Irrationalität in der Politik zu sein, beansprucht. Unser Umgang mit dieser Kontroverse wird anzeigen, welche transformierende Kraft der Friedensforschung innewohnt oder ob sie nur Teil des herrschenden Spieles ist.
  3. Laßt uns mit den Versuchen aufhören, Ängste und Emotionen wegzureden. Es kann nicht gelingen, auch nicht, indem man sie diffamiert oder sich von ihnen abgrenzt, wie das in objektivistisch orientierten Analysen immer wieder geschieht. Machen wir es statt dessen zu einem Kriterium wissenschaftlicher Redlichkeit, wenn zugegeben wird, daß auch unsere Analysen von Sicherheitsbedürfnissen und Ängsten durchzogen sind, sei es die Angst ausgegrenzt oder mit dem falschen Lager identifiziert zu werden oder sei es das Gefühl, gegenüber dem Ausmaß von Gewalt doch machtlos zu bleiben.
  4. Auch scheint es mir dringlich, die Arbeitsteilungen in der Friedensforschung neu zu durchdenken und die Neigung zur disziplinären Separation in Sozialpsychologie, Politologie, Ökonomie usw. zugunsten von projektbezogenen Arbeitsbündnissen zu überwinden. Zumindest gelegentlich könnten wir versuchen, die jeweils andere Perspektive einzubeziehen und eine Kollegin oder einen Kollegen bitten, einen z.B. auf ökonomische oder außenpolitische Fragen abstellenden Text auf die unter der Hand in ihn eingegangenen sozialpsychologischen Auffassungen zu prüfen. Häufig entsprechen sie nicht mehr dem Forschungsstand.
  5. Für diejenigen unter uns, die im pädagogischen Bereich arbeiten – und irgendwie tun wir das mit unseren Vorträgen, Rundfunkinterviews alle mehr oder weniger – will ich abschließend ergänzen, daß es mir dringend notwendig erscheint, nicht nur Antikriegsbewegung zu sein und nicht nur auf die Kriegsangst, sondern auch auf deren Verbindungen mit anderen klärungsbedürftigen Ängsten, speziell auf die in Ohnmachtsgefühlen interpretierten Erfahrungen der Machtlosigkeit immer wieder explizit einzugehen. Sonst wird der neue Impuls, der von der aktuellen Antikriegsbewegung ausgeht, versiegen und eine politisch verzweifelte, handlungsunfähige Generation hinterlassen.

Alle fünf Schlußfolgerungen können wir mit unserem Wissen unmittelbar in unserer Praxis umsetzen. Es steht in unser Macht dies zu machen.

Der Artikel ist eine Kurzfassung des Beitrages zum Kolloquium 1991 der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung (AFK) zum Thema: Ist Wissen Macht? Zur aktuellen Funktion von Friedensforschung

Anmerkungen

1) Vgl. Christiane Rix (Hrsg.), Ost-West-Konflikt Wissen wir, wovon wir sprechen? Schriftenreihe der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung, Baden-Baden 1987. Zurü

2) vgl. Bernhard Moltmann / Eva Senghaas-Knobloch (Hrsg.), Konflikte in der Weltgesellschaft und Friedensstrategien, Schriftenreihe der Arbeitsgemeinschaft für Friedens und Konfliktforschung Band XVI, Baden-Baden 1989; Bernhard Moltmann (Hrsg.), Perspektiven der Friedensforschung, Schriftenreihe der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung, Baden-Baden 1888; Reiner Steinweg, Christian Wellmann (Red.) Die vergessene Dimension internationaler Konflikte: Subjektivität, Friedensanalysen Band 24, Frankfurt 1990. Zurü

3) vgl. Klaus Horn, Gewalt <196> Aggression <196> Krieg, Studien zu einer psychoanalytisch orientierten Sozialpsychologie des Friedens, Schriftenreihe der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung Band XIII, Baden-Baden 1988. Zurü

4) Vgl. Gert Krell, in: Christiane Rix, a.a.O. (s. Anm. 1). Zurü

5) Vgl. Birgit Volmerg, Ute Volmerg, Thomas Leithäuser, Kriegsängste und Sicherheitsbedürfnis. Zur Sozialpsychologie des Ost-West-Konflikts im Alltag, Frankfurt 1983. Zurü

6) Zu diesem Begriff in den internationalen Beziehungen vgl. Eva Senghaas-Knobloch, Subjektivität in der internationalen Politik. Über das Zusammenspiel persönlicher und institutioneller Faktoren der Konfliktverarbeitung, in: Reiner Steinweg/Christian Wellmann (s. Anm. 2), S.33-37. Zurü

7) Klaus Horn, Kriegsangst als politischer Ratgeber. Die Friedensbewegung <196> Sammelbecken erschreckter Betroffenheit oder Teil einer Kulturrevolution? in: Ders. (s. Anm. 3), S.271. Zurü

8) vgl. Hanne-Margret Birckenbach, Weder Fluch noch Segen, Thesen zur Ambivalenz des Zivilisationsprozesses, in: Bernhard Moltmann/Eva Senghaas-Knobloch (s. Anm.2), S.271277. Zurü

9) Vgl. hierzu auch Erich Fromm, Zum Gefühl der Ohnmacht (1937), Gesamtausgabe Band 1, Analytische Sozialpsychologie, München 1989, S. 189-206. Zurü

10) Vgl. z.B. Klaus Horn und Eva Senghaas-Knobloch im Auftrag des Komitees für Grundrechte und Demokratie, Friedensbewegung <196> Persönliches und Politisches, Frankfurt 1983; Klaus Horn, Volker Rittberger (Hrsg.), Mit Kriegsgefahren leben, Bedrohtsein, Bedrohungsgefühle und Friedenspolitisches Engagement, Opladen 1987, Hanne-Margret Birckenbach, Forschungsaufgaben für eine politische Psychologie Gemeinsamer Sicherheit, in: Egon Bahr/Dieter S. Lutz (Hrsg.) Gemeinsame Sicherheit, Dimensionen und Disziplinen, Baden-Baden 1987, S.235-264 Zurü

11) Eva Senghaas-Knobloch, Zur Bedeutung des subjektiven Faktors in der europäischen Umbruchssituation, in: Dieter Senghaas, Karlheinz Koppe (Hrsg.), Friedensforschung in Deutschland, Arbeitsstelle Friedensforschung Bonn, 1990, S. 45-51. Zurü

12) LLoyd de Mause, Grundlagen der Psychohistorie, Frankfurt 1989. Zur aktuellen Situation vgl. das in der taz vom 17.1.91 veröffentliche Interview <192>Der Krieg als rituelles Opfer. Der New Yorker Psychohistoriker Lloyd de Mause zur Psychologie des bevorstehenden Golfkrieges.<169> Zurü

13) Astrid Albrecht-Heide, Männliche Friedensunfähigkeit, Kriege als Gegenbewegung zu »Verweichlichung« und »Dekadenz«, in: taz, 23.1.91. Zurü

14) Vgl. Lothar Brock, Die Auflösung des Ost-West-Konflikts und die Zukunft der Nord-Süd-Beziehungen: Befürchtungen und Chancen, in: Jahrbuch Frieden 1991, München 1990, S. 87-97. Zurü

15) Vgl. Arbold Hottinger: Machtverschiebungen in der arabischen Welt. Konfrontations- oder Friedenspolitik gegenüber Israel?, in: Europa-Archiv Heft 13/14 v. 25.7.1990, S.421-427. Zurü

Dr. Hanne-Margret Birckenbach ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg.

Nach Rüstung kam Krieg – nach Krieg Ordnung?

Nach Rüstung kam Krieg – nach Krieg Ordnung?

Vier Thesen zur gegenwärtigen Debatte nach dem Golfkrieg

von Corinna Hauswedell

Die Debatte über die »Nachkriegsordnung« ist in vollem Gange, während in der Region die Brände noch nicht gelöscht sind und der Völkermord weitergeht. Wenn es mit dem »Krieg der Alliierten« am Golf nur darum gegangen wäre, einen „bis an die Zähne (von ihnen, d.V.) bewaffneten Diktator“ (J.Baker) aus der Dritten Welt in die Schranken zu weisen, hätte diese Debatte wahrscheinlich nicht Ausmaße angenommen, die – bei allen Unterschieden – durchaus den entsprechenden Diskussionen nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg vergleichbar sind. Ein Vergleich der Inhalte dieser Diskussionen – die jeweils vorangegangenen Kriegszieldebatten und militärischen Optionen eingeschlossen – wäre eine lohnende Aufgabe für die Historische Friedensforschung.

Der Charakter der derzeitigen Nachkriegsdebatte berührt die Dimensionen einer »neuen Weltordnung« ebenso wie zukünftige Konzeptionen in der Region des Nahen bzw. Mittleren Ostens. Dies verweist auf den komplexen Zusammenhang, den die großen internationalen Veränderungen im Ost-West-VerhältnisvorBeginndes Golfkrieges mit den durch den Krieg selbst geschaffenen Realitäten bilden. Um diesen Zusammenhang soll es im folgenden vor allem gehen.

Immer sichtbarer wird, in welchem Maße die Politikmuster und die Art der Beilegung der alten Ost-West-Konfrontation in die vereinfachend als (neue) Nord-Süd-Dimension gekennzeichneten weltweiten Konfliktkonstellationen hineinreichen. Nicht nur deshalb sind die Ergebnisse des Golfkrieges mit dem Stichwort »Pax Americana« unzureichend beschrieben. Es geht zwar um die Frage, wie unipolar oder multipolar die Welt von morgen aussehen wird, das heißt wieviel Hegemonie oder wieviel Gleichberechtigung unter den Staaten und Völkern sich durchsetzen wird; aber in einem umfassenderen Sinn ist das Verhältnis der Industrienationen bzw. -zentren untereinander und zu den sog. Schwellenländern und Dritte-Welt-Ländern berührt. In der Nach-Golf-Kriegsdebatte werden quer zu diesen Fronten unter anderem folgende Fragenkomplexe aufgeworfen: Das Zusammenspiel von Identitäts- und Interessenkonflikten, die Wechselwirkung außenpolitischer Strategien und innergesellschaftlicher Legitimation, das Verhältnis von Politik, Militär, Ökonomie und Kultur.

Der Golfkrieg hat – brutaler und dringlicher als der Kalte Krieg – offengelegt, daß es weltweit noch keine neuen Lösungsmuster für die Konflikte der Moderne, die »alten« und »neuen« zwischen den Staaten und innerhalb der Gesellschaften sowie diejenigen um die knappen gemeinsamen Güter der Erde, gibt. Ob ausgerechnet der Nahe und Mittlere Osten vom Exerzier- und Kampfplatz zum Übungsfeld solcher nichtmilitärischen Konfliktlösungen werden kann, ist zu fragen; daß die Region wie gegenwärtig keine andere im doppelten Wortsinn ein Brennpunkt der komplizierten Gemengelage west-östlich-nord-südlicher Interessen und Identitäten ist, steht indes außer Frage.

These 1:

Die mangelhafte Zivilisierung des gerade zu Ende gehenden Ost-West-Konflikts der letzten vierzig Jahre hat den Krieg am Golf wesentlich ermöglicht und prägt insofern auch die Diskussion um die »Nachkriegsordnung« nachhaltig mit.

Diese These leugnet nicht die spezifischen internen Konfliktpotentiale der Region des Nahen Ostens1. Aber auch die regionale Krisen- und Kriegsspezifik ist ohne die Historie und Gegenwart auswärtiger Mächte im Nahen Osten nicht zu denken; andererseits gehört es zu den Eigenarten des Ost-West-Konfliktes, daß in seinem Verlauf die Definition nationaler Interessen im Sinne von Einflußsphären erweitert wurde2. Nehmen wir nun einmal an, die Großmächte USA und UdSSR und die anderen am Ost-West-Konflikt beteiligten Staaten hätten in den vergangenen fünf Jahren seit Beginn des immensen Reformprozesses im Osten in anderen Kategorien als Sieg und Niederlage agiert und stattdessen die Wurzeln und Folgen des Kalten Krieges realistisch bewertet: Die gleichen Akteure hätten im Golf-Konflikt (wie auch in anderen Konflikten) vermutlich auch andere politische Verhaltensmuster zur Verfügung gehabt. Stattdessen fand, nachdem Gorbatschow 1985 mit der Einleitung der Reformen dafür Chancen eröffnet hatte, eine höchst mangelhafte Zivilisierung der militärischen, politischen und ökonomischen Beziehungen zwischen Ost und West statt3.

Abrüstung nur ein Intermezzo?

Der kurze Frühling der Abrüstung scheint beendet; dabei wirken nicht nur die alten Mechanismen des Systemgegensatzes von Blockade und Mißtrauen fort, wie man am Stocken der Wiener Verhandlungen sieht4. Es stellt sich auch die Frage, ob auf der Agenda der begonnenen Abrüstung von vornherein nicht wichtige Punkte weiterreichender Entmilitarisierung fehlten: alle Fragen des Rüstungsexportes, der Weiterverbreitung von Waffensystemen u.a.5, der Einflußsphären also, aber auch eine Ex-Post-Analyse der Feindbildmechanismen. Besonders die Nicht-Infragestellung der atomaren Abschreckung als Mittel der Friedenssicherung gehört hierher. Der hochgerüstete Ost-West-Frieden funktionierte doch nur in der Fiktion gleichgewichtiger Kriegsführungsoptionen6; sobald diese »Balance« jedoch schwand, wuchs die reale Kriegsgefahr, wie wir gesehen haben. Da eine weltweite atomare Balance aber weder realistisch noch wünschenswert ist, führt sich das Abschreckungssystem spätestens jetzt ad absurdum. Die Neubelebung der Abschreckung im »modernen« konventionellen High-Tech-Krieg am Golf verbessert ihre Legitimation keineswegs. Die Aufrechterhaltung der NATO, als dem einen der beiden durch das alte System geprägten Militärbündnisse, bei gleichzeitiger Auflösung des anderen konterkariert die Dimension der Veränderungen: Sieg im Sinne militärischer Hegemonie anstelle einer neuen Friedensordnung. Darüber konnte auch der Pariser KSZE-Gipfel nicht hinwegtäuschen und dies begründet unter anderem seine bisher schwache Ausstrahlungskraft.

Konfrontation und Kooperation?

Politisch ist die Zivilisierung mangelhaft, weil dem gegenseitigen Containment im Kalten Krieg bisher kein wirklicher Übergang zu einer von den Großmächten inspirierten internationalen Kooperation folgte. Die »Global Challenges«, von sowjetischer Seite zu Beginn der Reformen angemahnt, die Beseitigung von weltweitem Elend, Hunger und Naturzerstörung im Bewußtsein der »einen Welt«, finden noch keinen wirkungsvollen internationalen Handlungsrahmen; vor allem die westliche Großmacht blockiert dies und sieht darin offenbar auch kein Kriterium in Konfliktsituationen wie am Golf. Statt Empathie7, dem Hineinversetzen in z.B. die innenpolitischen Motivlagen der anderen Seite – ein eigentlich notwendiger Lernprozeß am Ende des Kalten Krieges – wird der Gegner demoralisiert. Die Ablehnung der sowjetischen Waffenstillstandsbemühungen auf dem Höhepunkt des Golfkrieges war im doppelten Sinne das jüngste Beispiel unziviler Politik: sie traf den alten und neuen Feind im gleichen Sinne und wirkte zugleich kriegsverlängernd.

Sieg im Wirtschaftskrieg

Schließlich ist auch die mangelhafte Zivilisierung der wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Ost und West ein schlechtes Vorbild für den Umgang in Krisen, in denen ökonomische Interessen eine große Rolle spielen. Ein (siegreiches) marktwirtschaftliches System, das sich z.B. so mühsam von seinem Cocom-Krieg verabschiedet, weil ein gleichberechtigter Umgang mit neuen Technologien nicht gewollt ist, offenbart im Umgang etwa mit den Energie- und Naturressourcen den gleichen patriarchalen Gestus. Daß mit der Siegerpose zugleich die eigenen (System)Schwächen kompensiert werden sollen, ist auf diesem Gebiet vielleicht am ehesten evident.

Die These von der mangelhaften Zivilisierung am Ende des Ost-West-Konfliktes – immerhin gelang in einigen ost-europäischen Ländern ein historisch weitreichender Machtwechsel ohne Blutvergießen – verweist auf die unerledigten Aufgaben zwischen den Industrienationen auch jenseits der Nord-Süd-Dimension. Dies gilt es zu berücksichtigen, auch wenn die Probleme und Konflikte weltweit wohl keine Zeit für ein Nacheinander lassen.

These 2:

Als bittere Frucht des Golf-Krieges (und der vorangegangenen Aggression Saddam Husseins) treten die Konfliktfelder der Region so offen zu Tage wie vielleicht seit dem Sechs-Tage-Krieg nicht mehr. Inwieweit sich damit neue Chancen zu ihrer Lösung auftun, hängt davon ab, ob der komplizierte Weg zwischen Herstellung der Autonomie der in der Region ansässigen Staaten und Völker einerseits und Entwicklung einer neuen Qualität der Zusammenarbeit seitens der auswärtigen Mächte andererseits gegangen werden kann.

„Die weitreichendste objektive Folge dieses Krieges“ sei die Freilegung der „eigentlichen »Sprengsätze« der Region…, die Verteilung des Reichtums, die Notwendigkeit einer umfassenden Demokratisierung und einer Lösung des israelisch-palästinensischen Konfliktes“ 8. Andere Autoren ergänzen als einen zentralen Gesichtspunkt die Probleme der Identitätsfindung in der Region9, die sich eben nicht auf die ideologischen bzw. religiösen Fragen des islamischen Fundamentalismus reduzieren lassen, sondern die vielfältigen historischen und aktuellen Aspekte von Macht und Ohnmacht der »arabischen Welt« meinen10. Anstatt sich über das »arabische Verschwörungsdenken«11 zu erheben oder die PLO immer wieder mit ihren Niederlagen – aktuell mit ihrem gescheiterten Schulterschluß mit Saddam Hussein – zu konfrontieren12, täte der Westen gut daran, die Rolle von Identitätsproblemen für Konfliktgenese und -lösungen13 ernst zu nehmen – bei dem Gegenüber und bei sich selbst. Die (fragwürdige) identitätsstiftende Rolle des Golfkrieges für die USA ist bekannt und belegt, in welcher vielschichtigen Weise Mechanismen der politischen Kultur(en) auf Interessenkonflikte einwirken. Der französische Präsident betonte nach dem Golfkrieg mit Blick auf die Palästinenser die Gefahren, „einem Volk seine Identität vorzuenthalten“ (in: FR v.16.3.91)) und verweist damit auf die strukturelle Besonderheit dieses Teils der Nah-Ost-Konflikte: Dieses Volk hat (ähnlich den Kurden) neben allen sozialen, ökonomischen und demokratischen Entfaltungsproblemen der Region eben auch noch das der ungelösten staatlichen Identität14. Und das in einem Umfeld, wo die Staaten- und Nationenbildung ohnehin vor allem durch die koloniale Erblast deformiert ist15. Es sprengt die Anlage dieser Thesen, die Konzepte und Chancen einer politischen Neugruppierung der Kräfte und Interessen im Mittleren Osten im einzelnen auszuloten16. Manches, wie die konkrete zukünftige Gestalt Iraks oder Kuwaits, ist zudem gegenwärtig sehr spekulativ. Es soll aber gefragt werden, welche seit dem Kriegsende erkennbaren Prozesse für eine mittelöstliche Friedensordnung eher hilfreich oder eher hinderlich sein können.

Die Sprengsätze der Region

Schneller vielleicht als erwartet, werden die nach dem Krieg sichtbareren »Sprengsätze« der Region von den verschiedenen Akteuren als Gegenstand der Politik realisiert; die öffentliche Akzeptierung des »linkage«, des Zusammenhangs der verschiedenen Probleme des Mittleren Ostens, in Bushs Rede vor dem Kongreß am 6. März bildete den Auftakt, es folgte Bakers erste »Land gegen Frieden«-Sondierungsfahrt in die Region. Der grausame Bürgerkrieg im Irak, die Schwierigkeiten für Kuwaits Herrscherhaus, die Anbahnung neuer Koalitionen wie zwischen Iran und Saudi-Arabien, die verstärkte Einmischung der Territorialmacht Türkei – all das sind Anzeichen einer, zweifellos ambivalenten, Neueinstellung. Der anfänglich monolithisch wirkenden Kriegs- und Nachkriegspolitik Israels, die den Sieg für weitere politische Terraingewinne nutzen wollte, folgt offensichtlich eine Phase, in der die innerisraelischen Kontroversen zwar polarisierend, aber offener ausgetragen werden. Manches wurde in der kritischen israelischen Intelligenz schon zu Kriegszeiten gedacht: „…einen Frieden zu schließen, solange der Kurs unserer Aktien auf dem Weltmarkt so hoch steht, den Palästinensern einen Staat und den anderen Arabern einen ehrenhaften Frieden anzubieten. Nicht unter Druck von außen, sondern als freiwilliger souveräner Beschluß eines starken Israel..“ (U.Avnery, Wir tragen das Nessosgewand, in: Spiegel 9/91). Stattdessen aktivierte die Regierung Schamirs mit Vehemenz die Politik „der beiden parallelen Linien…der bilateralen Gespräche zwischen Israel und den arabischen Staaten .. und der Gespräche mit gewählten Vertretern der Palästinenser..“ (Israels Außenminister Levy, in FR v.16.3.91) bei gleichzeitig fortgesetzter Vergeltung gegen die Intifada.

Nahost-Konferenz oder bilaterale Verhandlungen

Es ist absehbar, daß ein Einschwenken auf Israels »Bilateralismus«, den aus pragmatischen Gründen auch einige arabische Staaten, etwa Syrien, gutheißen mögen, auf absehbare Zeit eine umfassendere Nah-Ost-Konferenz verhindern wird. Eine solche Konferenz oder eine Folge von Konferenzen bleibt der einzige Ort, auf dem eine gemeinsame Agenda aller Probleme der Anwohner der Region zunächst festgelegt und dann verhandelt werden kann. Daß bereits die Aufstellung einer solchen Agenda, zu der territoriale, ökonomische, ökologische sowie Fragen der Demokratieentwicklung und Abrüstung in der Region gehören – der 12-Punkte-Vorschlag des Friedensforschers Johan Galtung nennt Essentials17 –, immense Schwierigkeiten birgt, ist klar. Ohne diesen Versuch aber wird die gegenwärtige Chance verspielt und ein jetzt vielleicht naheliegender Übergang zu einem »business as usual« wird die Konflikte der Region ungemein zuspitzen18. Die von den USA in die Debatte gebrachte »Eröffnungskonferenz«, die lediglich den Weg für bilaterale Gespräche öffnen soll, steht in diesem Verdacht.

Neue Ordnung durch alten Sieg-Frieden?

Es ist auch zu fragen, ob das im UN-Sicherheitsrat angenommene Waffenstillstandsabkommen die Chancen für eine neue Art von Friedensschluß und -ordnung in der gesamten Region erhöhen wird. Es entspricht zwar der Natur solcher Abkommen, daß darin vor allem die Niederlage des Verlierers zementiert wird. Die UNO als – erstmals – eine der beiden Vertragsparteien hätte aber die Möglichkeit (und wiedergutmachende Verantwortung, nachdem ihr diese durch die Kriegsführung genommen worden war) gehabt, Festlegungen zu treffen, die stärker die zukünftige Friedensordnung im gesamten Nahen und Mittleren Osten betreffen. Die Zerstörung aller Massenvernichtungswaffen in der Region etwa sowie die Errichtung einer regionalen Sicherheitsstruktur würde – im Rahmen eines weltweiten Abrüstungsprozesses – in die oben genannte Agenda gehören. Ein Land, das laut UN-Bericht durch den Krieg in ein »vorindustrielles Zeitalter« zurückgeworfen wurde, in dem „nahezu alles, was das moderne Leben ausmache“ zerstört sei (FAZ v. 23.3.91), kann die vorgesehenen Auflagen des Waffenstillstandes schwerlich erfüllen. Eine trauriger Anlaß, neu über die Kategorien – auch die völkerrechtlichen – von Sieg und Niederlage nachzudenken.

These 3:

Der Golf-Krieg hat die Diskrepanz zwischen einer »neuen Weltordnung« und der »pax americana« deutlicher gemacht, als es der US-Führung lieb sein kann. Die Grenzen einer unipolaren Weltstruktur unter der Hegemonie der USA treten nach dem Krieg wieder klarer hervor: Militärpolitik ist keine Alternative zur Lösung der »inneren« Probleme der Staaten und der Welt.

„…Ich glaube aber, daß Sanktionen sich besser mit einer neuen internationalen Weltordnung der Sicherheit und Zusammenarbeit vertragen hätten…“ (Z. Brzezinski, „Orgie der Gewalt“, Spiegel-Interview vom 21.1.91); kritische Golfkriegs-Kommentare wie dieser eines ehemaligen US-Sicherheitsberaters aus der Zeit offensiver Atomkriegsstrategien des Pentagons oder selbst die Aussage eines Henry Kissingers, der den Angriff auf den Irak befürwortete, „Amerikanische Vorherrschaft kann nicht andauern… Die amerikanische Wirtschaft kann sich eine Politik des unilateralen globalen Interventionismus nicht leisten“ 19, sind keine Ausnahmen und verweisen auf Differenzen innerhalb der politischen Klasse der USA. Daß diese Widersprüche sowenig wahrgenommen wurden – was offensichtlich hineinreicht bis in die Bewertung der Kuwait-Krise als kriegsauslösend20, daß Präsident Bush so relativ unangefochten seinen Kriegskurs steuern konnte, hängt neben den oben genannten Zivilisierungsproblemen am Ende der bipolaren Weltordnung vor allem mit dem Ausmaß des innergesellschaftlichen Problemdrucks in den USA und der (zunächst erfüllten) Hoffnung zusammen, mit der »patriotischen Tat« innenpolitisch zu stabilisieren und außenpolitisch zu imponieren21. Hinzu kommt, daß in der Herrschaftsstruktur der USA das Präsidentenamt traditionell in der Militär- und Außenpolitik über größere Spielräume als in der Innenpolitik verfügt. Der Beraterstab von Bush rekrutiert sich vorrangig aus Militärstrategen; und das Umfeld des Pentagon denkt seit dem Ende der 80er Jahre weitaus intensiver als die zivilen Think-Tanks der USA über die strategischen Implikationen der Post-Cold-War-Ära nach22. Entgegen der zaghaften Debatte über eine »Friedensdividende« wird der Golfkrieg in diesen Kreisen »out-of-area«-Strategien und die Beschaffung entsprechender neuer Waffensysteme (v.a. der Raketenabwehr) beflügeln23. Befürchtungen haben Berechtigung, die angesichts leerer Staatskassen zwar „keinen weltweiten missionarischen Kolonialismus mehr (sehen), sondern einen gezielten Interventionismus, der sich auf die Regionen beschränkt, die wegen ihrer Rohstoffe, wegen des Öls und der Märkte interessant sind.“ 24. US-Senator Richard Lugar umriß das gewünschte außenpolitische Profil der Zukunft so: „Amerika ist kein Polizist, sondern zeigt Führungskraft. Wir offerieren unsere Fähigkeiten, und andere Regionalmächte übernehmen dann die eigentlichen Polizeiaufgaben – mit amerikanischem Beistand und finanzieller Hilfe aus ganz anderen Weltgegenden. Das ist geschickter und beschreibt die künftige Rolle unseres Landes besser.“ (Spiegel-Interview v. 18.3.91). Zweifel kommen aber auch aus den USA selbst: „..Eine multipolare Welt, in der sich Staaten und Völker zunehmend gegen Befehle von außen wehren, wird sich durch diese Pax Americana nicht befrieden lassen. Es gibt keine militärischen Lösungen für Krankheit, Hunger und Armut, für das Erbe jahrtausendealter ethnischer und religiöser Konflikte sowie für die Erinnerung an koloniale Demütigung“ 25.

Sicherheit durch militärische Dominanz?

Ein Kernproblem der gegenwärtigen Politikentwicklung (nicht nur in den USA) liegt in der Tat dort, wo Sicherheit am Ende der Ost-West-Konfrontation, weiterhin vor allem in militärischen und Dominanz-Kategorien gedacht wird. Die Rede von Bush vom 29.1.91, die der »neuen Weltordnung« gewidmet war, enthielt keinen Satz zur weltwirtschaftlichen oder internationalen ökologischen Kooperation. „Die Schwierigkeiten beginnen dort, wo es darum geht, der »neuen Weltordnung« positiven Inhalt zu geben“ (G. Nonnenmacher, Bushs Vision, FAZ v. 14.3.91). Absurde Auswüchse am Ende dieses Krieges verweisen auf die zügellose und weltgefährdende Eigendynamik des militärisch-industriellen Komplexes: So beschloß der US-Senat fast einstimmig, daß „amerikanische Waffenverkäufe an säumige Länder (gemeint v.a. Saudi-Arabien, d.V.) solange verboten sein sollten, bis die ihren Anteil an den Kriegskosten bezahlt hätten…“ (zitiert nach FAZ v. 21.3.91, Der Senat droht mit Waffenexportverbot). Than (war)business goes on!

Vieles deutet daraufhin, daß nach dem Krieg auch andere, realistische Stimmen wieder mehr Einfluß auf die US-Politik gewinnen; etwa die Anmahnungen der UN-Resolution 242 gegenüber Israel „für alle Fronten, die Golan-Höhen eingeschlossen“ (zitiert nach FR v. 21.3.91) kamen überraschend schnell. Der Krieg hat bezüglich außenpolitischer Doppelmoral auch entlarvend gewirkt; innenpolitsch für die Lösung der immensen ökonomischen und sozialen Probleme ist jedoch in den USA noch keine neue Konzeptionsbildung erkennbar; hier wirkt der »Sieg« eher hinderlich. Eine fatale Wechselwirkung.

Reform der UNO überfällig

Besonders augenfällig wurde die Diskrepanz zwischen Weltordnung(sanspruch) und Pax Americana, als die US-Regierung den eigentlich positiven Impuls, der von einem Krisenregelungsversuch der Vereinten Nationen zunächst ausging, durch die Usurpation der militärischen Kommandogewalt gründlich konterkarierte. Daß dies gelang, verweist auf den komplizierten Doppelcharakter der UNO: Als bisher einziger Ort potentiell gemeinsamen Handelns könnte die »Völkergemeinschaft« positive Elemente einer neuen Weltordnung antizipieren, wäre sie nicht zugleich so sehr Kind der »alten Ordnung«, des nach dem 2.Weltkrieg installierten bipolaren Systems. Dieser Doppelcharakter der UNO erfordert und ermöglicht zugleich ihre strukturelle und inhaltliche Reform als vielleicht wichtigste internationale Konsequenz einer Nach-Golfkriegs-Ordnung, die diesen Namen verdient. Solange die neuen Instabilitäten der Weltlage die Einrichtung anderer internationaler Kooperationsebenen hemmen, muß auf diese UNO-Reform entsprechendes Gewicht gelegt werden. Ohne hier im einzelnen auf die Inhalte und Realisierungsprobleme der Reform eingehen zu können, gebieten die jüngsten Erfahrungen eine stärkere Einmischung der anderen Industrienationen und der Dritte-Welt-Länder in diesen Prozeß sowie eine Indienstnahme des Organs der Voll-Versammlung, um den Gefahren der Unipolarität entgegenzuwirken.

These 4:

In der Europäischen Gemeinschaft wird neuerdings – auch infolge des Golfkrieges – wieder mehr über die »sicherheitspolitische Identität« als über die politische nachgedacht. Noch ist kaum erkennbar, wie die ökonomische und politische Potenz der EG – dies gilt mit Modifikationen auch für Japan – mehr internationale Eigenständigkeit neben den USA hervorbringen wird. Europa – und Deutschland – an der Schnittstelle zwischen Aufbruch aus der alten bipolaren Ordnung und moderner Industriestaatlichkeit erhält jedoch weltweit mehr Verantwortung für die Zivilisierung innergesellschaftlicher und zwischenstaatlicher Beziehungen.

„Dies könnten Szenarien in Osteuropa, aber vor allem golfähnliche Szenarien im außereuropäischen Mittelmeerraum sein…“ (WEU-Generalsekreträr v.Eekelen, taz v.22.2.91). Während die einen endlich die Zeiten für gemeinsame Militäroptionen im Rahmen der Westeuropäischen Union (WEU) für gekommen halten, fürchten die anderen die Abkoppelung von der NATO26. Am mangelhaften außenpolitischen Profil der EG – da gleichen sich die Konsequenzen aus dem Golfkrieg – soll vor allem durch eine sogenannte »sicherheitspolitische« Identitätsbildung Korrektur vorgenommen werden. Der Krieg militarisiert einmal mehr das Denken. Mit positiver Gestaltung einer Nachkriegsordnung hat dies nichts zu tun; seit der »Venedig-Erklärung«, mit der die EG-Regierungen 1980 erstmals die Einbeziehung der PLO in den Nah-Ost-Friedensprozeß verlangten, blieben alle Initiativen für eine Nah-Ost-Konferenz bis in die jüngste Krise hinein erstaunlich kraftlos. Dies gilt auch für die in letzter Zeit wiederholten bedenkenswerten Vorschläge, die Muster der KSZE für eine solche Konferenz zugrunde zu legen. Stärker aber scheinen die Tendenzen, auch nach dem Kriege die US-Linie des »direkten Dialoges der Konfliktparteien« auf der Basis der Golfkriegsallianz nicht zu konterkarieren27. Dabei könnte etwa eine »Mittelmeer-KSZE« (ähnlich einer KSZM, wie sie der italienische Außenminister vorschlug) eine politische Alternativkonzeption zu einer »Golf-Nato« unter anglo-amerikanischer Führung28 werden.

Dies zu konstatieren, bedeutet weder, die Schwächen (und Grenzen) des KSZE-Prozesses zu verkennen noch die Autonomie-Ansprüche der mittelöstlichen Region geringzuschätzen. Hier soll einWeg gegen Unipolarität und US-Hegemonie aufgezeigt werden, der sich in der Tat auf der Ebene der Konkurrenz der Industriezentren bewegt. Es gehört zu den Realitäten der gegenwärtigen Welt-Unordnung, daß auch dieses Konkurrieren um unterschiedliche (zivile) Politikansätze unterentwickelt ist. Die (zahlende) Statistenrolle Europas – wie Japans – im Golfkrieg wirft hier viele Fragen auf29; zumindest ist sie nicht beliebig reproduzierbar. Für Frankreich und Großbritannien gibt es nach dem Krieg unterschiedliche Veranlassungen zu einer Revision kolonialer Erblasten und zur Abkoppelung von der US-Politik30.

Die künftige Rolle Europas

Die Diskussion über die Zivilisierung der Politik wird in Europa mit etwas Distanz vom Golfkrieg von unterschiedlichen Seiten neue Impulse erhalten31. Eine deutsche Wochenzeitung eröffnete eine Serie über künftige Außenpolitik mit einem „Plädoyer für die Zivilmacht Deutschland“. Dort wird der Zusammenhang hergestellt zwischen einer deutschen Verantwortung für die ökonomische und politische Integration Osteuropas sowie einer helfenden Politik gegenüber der Dritten Welt: „Ein Europa, in dem der Ost-West-Gegensatz fortschwärt, könnte wenig tun, um die Kluft zwischen Norden und Süden zu schließen…die Völkerwanderung von Süden nach Norden (und Osten nach Westen, d.V.) läßt sich nicht mit Napalm stoppen…In der Welt von morgen zählen die Stückzahlen von Panzern, die Umfänge von Eingreiftruppen…weniger als das wirtschaftliche Gewicht..“ (T. Sommer, Die Zeit v. 22.3.91).

Für diese, jenseits der Bush-Politik liegenden Einsichten ist zwar der Golfkrieg ein »Muster ohne Wert«, und es wird darauf ankommen, diesem Ansatz mehr internationalen Raum zu verschaffen. Aber die Auseinandersetzung um den Inhalt neuer Weltwirtschaftsbeziehungen und über den Charakter der Entmilitarisierung als den beiden Eckpfeilern einer neuen Ordnung in der Welt beginnt auf dieser Grundlage erst. Der »Liberomercatismus« der EG gegenüber Osteuropa32 die »Übernahme« der ehemaligen DDR eingeschlossen, weisen noch keinen Weg, die Zwischenergebnisse der deutschen »out-of-area«-Debatte ebensowenig. „Interessenausgleich und gemeinsame Interessenwahrung müssen die traditionelle Machtpolitik ablösen“ (Genscher vor der UNO am 7.12.90) – die reale deutsche Regierungspolitik ist von dieser folgenschweren Formel weit entfernt. Noch werden Positionen im konservativen Lager, die in dieser Richtung weiterdenken, exkommuniziert:„..Panzer können Land (zurück-)gewinnen, nicht aber die Herzen der Menschen. Geld und Güter befriedigen Konsumwünsche, nicht aber die Sehnsucht der Völker nach nationaler Würde…Die Mission Europas für das 21. Jahrhundert besteht darin, keine ….missionarische Außenpolitik zu betreiben, sondern Entwicklungen möglich zu machen, Chancen zu eröffnen, Not und Elend zu beseitigen. Die Welt muß nicht werden wie Europa- und für Europa gibt es in der Welt Wege und Optionen zwischen moralischer Gleichgültigkeit und kultureller Gleichschaltung“ 33. Die Parteien der Opposition, voran die SPD, haben noch Schwierigkeiten, in der Nach-Golfkriegs-Debatte ein mutiges neues Profil anzustreben. Taktik herrscht vor.

Der Golfkrieg hat jedoch in aller Dringlichkeit auf den notwendigen Zusammenhang innen- und außenpolitischer Erneuerung verwiesen – in allen beteiligten Staaten. Ob dies zu einer Herausforderung für Demokratie wird, Alternativen zur herrschenden Regierungspolitik zuzulassen und weiterreichende Visionen auf die Tagesordnung zu setzen, oder ob das Faktum, daß der Krieg (wieder) führbar war, schwerer wiegt, muß die nächste Zeit, auch der innenpolitischen Auseinandersetzung in der BRD zeigen.

Anmerkungen

1) Vergl. B.Tibi, Konfliktregion Naher Osten, München 1989; V.Perthes, Die Fiktion der Einheit, Koalitionen und Konflikte im arabischen Raum, in: Kubbig/G.Krell (Hrsg.): Krieg und Frieden am Golf, Frankfurt/M.1991 Zurück

2) Vergl A.-A.Guha, Frieden und Vernunft, FR v. 28.3.91 Zurück

3) H.-M.Birckenbach spricht in ihren Beitrag <192>Frieden in Europa <196> Krise im Baltikum <196> Krieg am Golf<169> (in diesem Heft) von der nicht gelungenen Zivilisierung des Ost-West-Konfliktes und ihrer sozialpsychologischen Dimension Zurück

4) Vergl. C.Bertram, Abrüstung am Ende?, Die Zeit v. 22.3.91 Zurück

5) Eine Studie der »Brookings Institution« bringt neue Fakten zur weltweiten Bedeutung der Proliferation, zitiert nach FR v.13.3.91 Zurück

6) Vergl.die Aussagen zum »imaginären Krieg« bei M. Kaldor, New World Order, in: Marxism Today, London, March 1991; H. Birckenbach zur »Selbstbindung«, a.a.O., S. 8 Zurück

7) Zum Empathiebegriff vergl. N. Ropers, Vom anderen her denken, in: R. Steinweg/C. Wellmann (Hrsg.): Die vergessene Dimension internationaler Konflikte, Frankfurt/M. Zurück

8) Y.A. Rabu, Exekutivkomitee der PLO, in: taz v. 13.3.91 Zurück

9) Vergl. M. Massarrat, Der Krieg am Golf <196> Krieg der Kulturen, in: FR v. 22.2.91; G. Salame, Gewinner und Verlierer, in: taz v.16.2.91; H. Birckenbach, a.a.O. Zurück

10) Vergl. auch U. Steinbach, Machtpoker am Golf, u.a. in: Ärzte gegen Atomkrieg, Rundbrief Nr.34, März 1991 Zurück

11) B.Tibi, Auf der Suche nach einer Nachkriegsordnung, in: FAZ v. 28.3.91 Zurück

12) Die Gesprächsführung des Spiegel-Interviews mit Y. Arafat vom 11.3.91 ist hierfür paradigmatisch. Zurück

13) Vergl. u.a. E. Senghaas-Knobloch, Zur Bedeutung des subjektiven Faktors in der europäischen Umbruchsituation, in: Friedensforschung in Deutschland, AFB-Dokumentation, Bonn 1990 Zurück

14) Vergl. Interview von P. Glotz mit PLO-Vertreter A. Frangi in: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte 4/1991 Zurück

15) Dies betonen, bei allen sonstigen Unterschieden, B.Tibi, a.a.O. und Perthes, a.a.O. Zurück

16) Vergl. hierzu Perthes, a.a.O.; Steinbach, a.a.O; G. Krämer, Der Kampf um Palästina, Geschichte und Aktualität des israelisch-arabischen Gegensatzes, in: Krell/Kubbig (Hrsg.), a.a.O. Zurück

17) J. Galtung, So läßt sich im Nahen Osten die Katastrophe vermeiden, in: Weltwoche v. 10.1.91 Zurück

18) Vergl. Steinbach, a.a.O. Zurück

19) zitiert nach K. Ege, Das zweite amerikanische Jahrhundert, in: Freitag v. 8.3.91 Zurück

20) Vergl. P. Salinger/E. Laurent, Krieg am Golf, Das Geheimdossier, München 1991 Zurück

21) Vergl. zu einigen innenpolitischen Motiven T. Nielebock, <192>Aus der Sicht der USA ist die neue Weltstruktur eher unipolar<169>, in: FR v.26.2.91; zum »Funktionsmechanismus« von George Bush B. Greiner, Der amerikanische Bonaparte, Blätter für deutsche und internationale Politik 4/1991; B. Kubbig, Der Widerspenstigen Zähmung: Die Strategie der USA am Golf, in: G. Krell/ders. (Hrsg.), a.a.O. Zurück

22) Zur Rolle der Studie »Discriminate Deterrence« von 1988 sowie der Strategie des Mid-Intensity-Conflict vergleiche M. T. Klare, Krieg den Aufsteigern, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 3/1991 Zurück

23) Vergl. ein Interview mit dem NATO-Oberkommandierenden J. Galvin, in: FR v. 20.3.91 Zurück

24) G. Salame, a.a.O. Zurück

25) N. Birnbaum, Georgetown University, Washington, im Spiegel v. 18.3.91 Zurück

26) Vergl. die diversen EG-Außenministertreffen der letzten Wochen, zuletzt in Luxemburg am 26.3.91 Zurück

27) Vergl. dazu die FAZ-Artikel vom 20.2.91, Die EG beschäftigt sich mit einer Nachkriegsordnung am Golf, und 14.3.91, EG will an Nachkriegsordnung mitwirken. Zurück

28) Vergl. dazu taz v. 19.2.91, EG bemüht sich um gemeinsame Nah-Ost-Politik. Zurück

29) Zu Japans Rolle vergl. FAZ, Nichts gewonnen als Einsamkeit 13.3.91. Zurück

30) Vergl.u.a. A. Vollmer, Maggies letzte Rache, taz v. 21.2.91; Spiegel 11/91, Frankreich: Manöverkritik nach dem Sieg; FR v.26.3.91, London nennt PLO geschwächt, aber nicht bedeutungslos. Zurück

31) Vergl.u.a. kritische Stimmen aus Großbritannien: D. Healy, Bloody shambles in the wake of war, The Guardian, 22.3.91 Zurück

32) Vergl. R. Rossanda, Das kurze Leben der Utopien von '89, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 3/1991 Zurück

33) W. Dettling (ehemaliger Hauptabteilungsleiter Politik der CDU), Amerika, Europa und die Deutschen, Überlegungen nach dem Krieg, in: taz v. 20.3.91 Zurück

Corinna Hauswedell ist Historikerin und Vorsitzende der Informationsstelle Wissenschaft & Frieden in Bonn.

Menschenrechte sind keine Munition

Menschenrechte sind keine Munition

Golfkonflikt und Menschenrechte – Eine Dokumentation von amnesty international

von amnesty international

Am 17. Januar 1991 begann mit alliierten Luftangriffen auf irakische Stellungen der Golfkrieg. Keine zwei Tage zuvor war das Ultimatum abgelaufen, das der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen der Regierung Iraks gesetzt hatte, um sich aus dem völkerrechtswidrig besetzten Kuwait zurückzuziehen. amnesty international möchte aus Anlaß des Golfkrieges eine Dokumentation veröffentlichen, die belegt, daß sich kein Staat, der in den Konflikt verwickelt ist, zur Rechtfertigung eines militärischen Vorgehens auf die Menschenrechte berufen darf. Nicht nur im irakisch besetzten Kuwait, in der gesamten Region gehören Menschenrechtsverstöße zum Alltag, ohne daß dies in den vergangenen Jahren Anlaß zu einer Neuorientierung der Politik gewesen wäre.

Jeder, der im Nahen Osten am Krieg beteiligt ist, muß wissen, daß er Menschenrechte nicht als Legitimation benutzen darf. Wer etwas für die Menschenrechte in Nahost tun will, muß dies jederzeit und überall tun. Nach der Befreiung der Menschenrechte aus der Umklammerung des Ost-West-Konfliktes sieht die deutsche Sektion von amnesty international nun die Gefahr eines neuen Mißbrauchs: Menschenrechte dürfen nicht für Feindbilder in der sich verschärfenden Nord-Süd-Kontroverse funktionalisiert werden.

Menschenrechte sind keine Munition in Konflikten und Kriegen, ihre Einhaltung und ihr Schutz sind vielmehr der Weg zur Überwindung von Konflikten.

amnesty international nimmt zum eigentlichen Kriegsgeschehen keine Stellung, beklagt aber, daß mehrere Staaten den Einsatz für die Menschenrechte im Falle Iraks offenbar jeweils unterschiedlichen wirtschaftlichen, politischen oder strategischen Zielen unterordnen. Regierungen, die in der Vergangenheit beispielsweise öffentliche Kritik an menschenrechtsverletzenden und völkerrechtswidrig handelnden Regimes abgelehnt haben, schließen sich dieser nun an. Dies stellt kein konsequentes Menschenrechtsengagement dar.

Die völkerrechtswidrige Annexion Kuwaits durch den Irak verleitet zu einer einseitigen Sicht der Menschenrechtslage in der Region, die zwar die schweren Vergehen Iraks anprangert, aber die Menschenrechtsverstöße anderer Staaten außer acht läßt. Die folgende Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen in der Golfregion ist als Aufforderung zu verstehen, nicht die Augen vor den Vergehen der eigenen Verbündeten zu verschließen, sondern die Menschenrechtsverletzungen jederzeit dort wahrzunehmen und zu bekämpfen, wo sie auftreten.

Opfer der Unterdrückungsmethoden, die Irak gegenüber Kuwait jetzt zu Recht vorgeworfen werden, sind seit langem die Menschen in Irak. Jedem, der oppositionell tätig ist, sich regimekritisch äußert oder der kurdischen Minderheit angehört, droht Verfolgung. Wer jetzt auf Menschenrechtsverletzungen des Irak verweist, muß sich fragen lassen, was er vor der Annexion des Emirats getan hat, um die Menschenrechte im Irak zu schützen.

In allen Nahost-Staaten, die im folgenden dokumentiert sind, werden Menschenrechtsverletzungen begangen, die in der Verantwortung der jeweiligen Regierung geschehen. Der Hinweis auf die Menschenrechtsverletzungen des Irak sind somit kein Argument, um die »Gerechtigkeit« eines Krieges zu begründen. Keiner der aufgeführten Staaten hat eine reine Weste in Sachen Menschenrechte, auch die in Nahost engagierten Mächte außerhalb der Region müssen ich vorwerfen lassen, keine an den Menschenrechten orientierte Politik verfolgt zu haben.

Die folgende Auflistung beschriebt die Lage der Menschenrechte in einer Reihe von Ländern, die unmittelbar am Konflikt beteiligt sind und in der Nahost-Region liegen oder an sie angrenzen. Die Länder, die in die Dokumentation aufgenommen wurden, sind Irak, Iran, Saudi-Arabien, Syrien, die Vereinigten Arabischen Emirate, Jordanien, die Türkei sowie Kuwait vor und nach der irakischen Besatzung.1 Die Auswahl dieser Länder erfolgte nicht nach deren politischer Orientierung.

Iran

Im Iran sind seit vielen Jahren – sowohl unter dem Schah-Regime als auch seit der Islamischen Revolution von 1979 – Menschenrechtsverstöße gravierendster Art zu beklagen. Die Methoden der Unterdrückung jedweder Opposition reichen von willkürlicher Haft und unfairen Gerichtsverfahren über Folter und Mißhandlung bis hin zu Massenhinrichtungen und staatlichem Mord.

Die Todesstrafe wird in einem kaum vorstellbaren Ausmaß angewandt: Allein in den vergangenen drei Jahren wurden ai über 5.000 Hinrichtungen bekannt; die tatsächliche Zahl könnte noch weitaus höher liegen. Seit Anfang der 80er Jahre überzieht eine regelrechte Hinrichtungswelle das Land, die meist mutmaßliche Oppositionelle trifft. Unter den Tausenden, die zwischen Juli 1988 und Januar 1989 hingerichtet wurden, waren über 2.000 politische Gefangene – viele von ihnen befanden sich bereits seit Jahren zu Unrecht in Haft, manche hatten die gegen sie verhängte Haftstrafe bereits verbüßt, wurden aber weiterhin in Haft gehalten und plötzlich, ohne daß ein Todesurteil verhängt worden wäre, exekutiert. Wahllos wurden Gefangene auf Veranlassung einer sogenannten Todeskommission an den Galgen gebracht, oft nach einer nur wenige Minuten andauernden Anhörung.

Im Jahre 1989 führte das harte Durchgreifen der Regierung gegen den Drogenhandel zu über tausend Hinrichtungen. Die Beschuldigten wurden meist wenige Tage nach ihrer Festnahme exekutiert, ohne daß sie einen Rechtsbeistand in Anspruch nehmen, Entlastungszeugen vorbringen oder Berufung einlegen durften. Exekutionen, grauenhafte Folterungen, Mißhandlungen durch Schläge, Auspeitschungen und Scheinhinrichtungen sind weiterhin an der Tagesordnung.

Erst im Juni 1990 wurden im Zuge einer weiteren Verschärfung der Verfolgung von Regimekritikern mehr als zwanzig prominente Oppositionelle, unter ihnen ehemalige Minister und Abgeordnete, festgenommen. Sie hatten lediglich von ihrem Recht auf freie Meinungsäußerung gebrauch gemacht und in einem Offenen Brief an Präsident Rafsandschani Kritik an der Situation in ihrem Land geübt. Es muß befürchtet werden, daß auch sie im Gefängnis mißhandelt und gefoltert werden, um ihnen ein Geständnis zu entringen. Einer der Festgenommenen wurde bereits dazu gebracht, im Abendprogramm des iranischen Fernsehens seine Verwicklung in konterrevolutionäre Aktivitäten zu »gestehen«.

Irak

Die Menschenrechte werden in Irak seit Jahren mit Füßen getreten. Tausende Menschen befinden sich aus politischen Gründen in Haft, darunter viele, die niemals Gewalt angewandt oder befürwortet haben. Die meisten Gefangenen befinden sich ohne Anklage und Gerichtsverfahren oder nach Prozessen hinter Gittern, die allen international anerkannten Standards Hohn sprechen.

Tausende, die als politisch Mißliebige festgenommen wurden, gelten heute als »verschwunden«, und niemand weiß, ob sie überhaupt noch leben. Zahlreiche Kinder sind unter den Betroffenen. Menschen werden willkürlich inhaftiert und im Gewahrsam der Sicherheitskräfte gefoltert und mißhandelt. Es finden Hinrichtungen und Massenexekutionen im Schnellverfahren statt. Die irakische Bevölkerung muß eine Politik der brutalen Unterdrückung jeglicher oppositioneller Regung erdulden.

Die meisten »Verschwundenen«-Fälle registrierte amnesty international während des achtjährigen Golfkrieges zwischen Irak und Iran. Aber auch Tausende irakischer Kurden »verschwanden« – beispielsweise rund 8.000 Angehörige des kurdischen Barzani-Clans, die 1983 von den Sicherheitskräften verschleppt wurden und nie wieder auftauchten. Viele inhaftierte Kurden wurden heimlich getötet, andere wiederum »regulär« hingerichtet, nachdem sie sich im Vertrauen auf erlassene Amnestien der Behörden gestellt hatten.

Zehntausende Kurden flohen im August 1988 aus Irak, um verheerenden Giftgas-Angriffen der irakischen Armee auf kurdische Dörfer im eigenen Land zu entkommen. Allein das Bombardement der Stadt Halabdscha kostete seinerzeit über 5.000 Menschenleben.

Nach wie vor leben schätzungsweise 27.500 Kurden in Flüchtlingslagern im Südosten der Türkei. Ihre rechtliche Situation ist völlig ungeklärt. Seit den nach dem Waffenstillstand zwischen Irak und Iran erlassenen Amnestien nimmt der Druck der türkischen Regierung auf die Flüchtlinge zu, nach Irak zurückzukehren.

Im März 1990 wurde der britische Journalist Farzad Bazoft trotz internationaler Proteste hingerichtet; er war von einem irakischen Revolutionsgericht der Spionage für schuldig befunden worden. Im gleichen Verfahren war die britische Krankenschwester Daphne Parish, ebenfalls unter der Anklage der Spionage, zu 15 Jahren Haft verurteilt worden; sie kam im Juli 1990 frei. Unter Spionage-Vorwurf erfolgte im Juli 1990 auch die Hinrichtung eines Irakers schwedischer Nationalität, trotz wiederholter Appelle Schwedens an Präsident Saddam Hussein, das Urteil umzuwandeln.

Israel und die besetzten Gebiete2

Seit nunmehr über drei Jahren äußert amnesty international Besorgnis über schwerwiegende und weitverbreitete Menschenrechtsverletzungen in den von Israel besetzten Gebieten. Dazu gehören Inhaftierungen ohne Gerichtsverfahren in großem Ausmaß, die systematische Mißhandlung von Gefangenen und das Töten von Zivilpersonen durch Angehörige der israelischen Streitkräfte. amnesty international bedauert zutiefst, daß solche Menschenrechtsverletzungen, unter denen Tausende zu leiden haben, nach wie vor geschehen, und daß die israelische Regierung bisher nicht gewillt war, dringend notwendige Maßnahmen zu ihrer Unterbindung zu ergreifen.

Seit Dezember 1987 wurden ca. 14.000 Palästinenser ohne Anklage oder Gerichtsverfahren in Verwaltungshaft gehalten, unter ihnen gewaltlose politische Gefangene. Über 4.000 Menschen sind im Jahre 1990 bis zu einem Jahr festgehalten worden, wobei kurzzeitige Haftanordnungen mehrfach verlängert wurden; die weitaus meisten Gefangenen befanden sich im Haftlager Ketziot in Israel, wo Besuche von Familienangehörigen nicht stattfinden können.

Tausende Palästinenser sind von Militärgerichten in den besetzten Gebieten verurteilt worden; den meisten wurde vorgeworfen, Steine oder Benzinbomben geworfen zu haben. Nach ihrer Festnahme können sie bis zu ihrer Vorführung vor einem Richter bis zu 18 Tage lang festgehalten werden. Vielen wird der Zugang zu Rechtsanwälten und Familienangehörigen indessen für viel längere Zeiträume verweigert. In der Zeit der Incomunicado-Haft (ohne Kontakt zur Außenwelt) abgelegte Geständnisse dienen häufig als ausschlaggebender Beweis. Diejenigen, die auf nicht schuldig plädieren, müssen mit Verzögerungen rechnen, was bedeutet, daß Verhandlungen erst Monate und manchmal Jahre später stattfinden. Wenn es zu einer Verurteilung kommt, erhalten sie höhere Strafen als diejenigen, die ein teilweises Schuldeingeständnis abgelegt haben. Nur selten werden Kautionsregelungen genehmigt. Viele Gefangene bekennen sich schuldig, um die Untersuchungshaft so zu verkürzen, daß sie nicht länger dauert als die zu erwartende Haftstrafe.

Mißhandlungen bei Verhören erfolgen weiterhin systematisch und sind weitverbreitet. Palästinenser sind auch gefoltert worden, um Geständnisse oder sonstige Informationen von ihnen zu erpressen. Zu den Methoden gehören Schläge mit Knüppeln und Gewehrkolben auf diverse Körperteile, das Überstülpen schmutziger Säcke, Schlafentzug durch langdauernde Fesselungen in unbequemen Körperstellungen, Haft in kleinen, dunklen Zellen, häufig als »Closets« bezeichnet, Verbrennen mit Zigaretten, Quetschen der Hoden und sexuelle Belästigungen.

Zumindest einige dieser Methoden entsprechen möglicherweise geheimen Richtlinien, die 1987 von einer Kommission zur Untersuchung von Verhörmethoden des Geheimdienstes herausgegeben wurden. Vielen Palästinensern wurden unmittelbar nach ihrer Festnahme durch Schläge bestraft. Seit Dezember 1987 sind Berichten zufolge mindestens 16 Menschen nach solchen Übergriffen gestorben.

Palästinenser kamen ums Leben, nachdem willkürlich Tränengas in geschlossenen Räumen (wo die Wirkung tödlich sein kann) gegen sie eingesetzt worden war. Seit Dezember 1987 sind Berichten zufolge ca. 80 Palästinenser – darunter viele ältere Menschen und Kinder – durch Tränengas getötet worden; ungefähr 40 dieser Todesfälle ereigneten sich, als Behälter mit Tränengas in ihre Häuser oder andere geschlossene Räume geworfen wurden.

Seit Dezember 1987 sind ca. 700 palästinensische Zivilisten, unter ihnen viele Kinder und junge Leute, von den israelischen Streitkräften erschossen worden; dabei wurden sowohl scharfe Munition als auch spezielle Arten von Plastik- oder anderen Geschossen verwandt. In einigen Fällen scheinen die Menschen vorsätzlich getötet worden zu sein, in anderen wurden sie Opfer der Anwendung tödlicher Gewalt unter Umständen, die eine solche Gewaltanwendung als nicht gerechtfertigt erscheinen ließen.

Die gültigen Richtlinien zur Anwendung von Gewalt, die daraus folgenden Übergriffe und die Tatsache der unzureichenden offiziellen Untersuchungen – all dies zusammengenommen führt amnesty international zu der Schlußfolgerung, daß die israelischen Behörden die Ausführung dieser Menschenrechtsverletzungen stillschweigend billigen, wenn nicht gar ermutigen.

amnesty international ist sich bewußt, daß zu den palästinensischen Methoden des Protests in den besetzten Gebieten auch die Gewalt gezählt hat, und daß dadurch eine Anzahl Soldaten und Zivilpersonen ums Leben gekommen sind. Zu den Opfern zählen ca. 300 Palästinenser, die offenbar von anderen Palästinensern getötet wurden, die überwiegende Mehrheit von ihnen unter dem Verdacht der Kollaboration mit den israelischen Behörden. Einige wurden umgebracht, nachdem man sie verhört und gefoltert hatte. amnesty international weist erneut ausdrücklich darauf hin, daß sie die Anwendung der Folter und das Töten von Gefangenen in jedem Fall verurteilt, unabhängig davon, wer solche Taten ausführt.

Kuwait (bis 2. August 1990)

Die Hauptsorge amnesty internationals in Kuwait vor der irakischen Invasion galt der Inhaftierung Oppositioneller, unter ihnen möglicherweise gewaltlose politische Gefangene. Die meisten waren nach unfairen Verfahren vor dem Staatssicherheitsgericht inhaftiert worden. Berichten zufolge kam es im Gewahrsam des Staatssicherheitsdienstes mehrfach zu Folterungen. In Kuwait gibt es eine Todesstrafengesetzgebung; im Jahre 1989 wurde eine Hinrichtung vollstreckt.

Ungefähr 40 Kuwaitis, unter ihnen mindestens 30 Shi'a Muslims, sind zwischen September 1989 und Mai 1990 inhaftiert worden, manche nur für wenige Tage, andere bis zu neun Monate lang. Man warf ihnen vor, die Regierung unterminiert und deren Sturz geplant zu haben. Berichten zufolge sind mehrere von ihnen gefoltert worden, um »Geständnisse« zu erpressen. Bis auf vier Personen wurden alle im März 1990 ohne Anklageerhebung freigelassen. Die vier Männer wurden vor Gericht gestellt, freigesprochen und im Juni 1990 aus der Haft entlassen.

Im Mai 1990 nahm man zehn Kuwaitis, unter ihnen frühere Minister und Parlamentsmitglieder, fest und hielt sie mehrere Tage lang in Haft. Acht wurden beschuldigt, illegale Treffen abgehalten zu haben, und zwei sollen ohne Genehmigung Flugblätter verteilt haben. Alle zehn wurden gegen Kaution freigelassen und später amnestiert.

Kuwait unter irakischer Besatzung

Seit dem 2. August 1990 – dem Einmarsch Iraks – sind die Einwohner Kuwaits Opfer jener Grausamkeit und Brutalität der irakischen Streitkräfte, unter der die Menschen in Irak bereits seit über einem Jahrzehnt leiden. amnesty international mußte eine Vielzahl von Greueltaten registrieren, die auf das Konto irakischer Soldaten gehen; tausende Kuwaitis wurden Opfer schwerster Menschenrechtsverletzungen. Über 300 frühgeborene Babys kamen beispielsweise qualvoll ums Leben, als plündernde Soldaten die Brutkästen aus Krankenhäusern stahlen.

Mehrere tausend Zivilisten und Angehörige des kuwaitischen Militärs wurden willkürlich festgenommen und ohne Verfahren inhaftiert. Gefangene wurden und werden brutal gefoltert. Von mehreren hundert Festgenommenen weiß man bis heute nicht, was mit ihnen geschah; sie gelten als »verschwunden«.

ai sind insgesamt 38 Foltermethoden bekannt, derer sich irakische Militärs in Kuwait bedienen: sie reichen vom Abschneiden diverser Gliedmaßen wie Zunge und Ohren über Elektroschocks und Schüsse in die Beine bis zu Schlägen und Vergewaltigung.

Wiederholt wurde amnesty international berichtet, daß mutmaßliche Oppositionelle und Soldaten zu ihren Häusern gebracht und dort mit einem Schuß in den Hinterkopf getötet wurden, nachdem Familienangehörige sie identifiziert hatten. Um inhaftiert, gefoltert oder getötet zu werden, reicht bereits der Besitz von Geldmünzen oder -scheinen der abgeschafften kuwaitischen Währung aus, was als Zeichen des Protests gegen die irakische Herrschaft über Kuwait gewertet wird.

Jordanien

50 Jahre lang – von 1939 bis 1989 – konnten die jordanischen Behörden vermeintliche oder tatsächliche Regierungsgegner ohne Anklage und Gerichtsverfahren oder nach Kriegsgerichtsprozessen in Haft halten, wobei die Kriegsgerichte die grundlegenden Rechtsgarantien für faire Gerichtsverfahren völlig außer acht lassen und sich beispielsweise nicht an die normale Strafprozeßordnung und Beweisregelung halten müssen.

Zu den mittlerweile freigelassenen Häftlingen gehören Mitglieder verschiedener Oppositionsgruppen wie der »Organisation der Volksfront« oder der »Jordanischen Kommunistischen Partei« sowie Schriftsteller, Journalisten, Ingenieure, Studenten, Anwälte, Ärzte und Gewerkschafter. Daneben waren aber auch immer wieder Angehörige palästinensischer Gruppierungen wie der al-Fatah, der »Palästinensischen Befreiungsorganisation« (PLO) und der »Volksfront zur Befreiung Palästinas« oder Sympathisanten schiitischer Gruppen wie der »Islamischen Befreiungspartei« verhaftet und im Hauptquartier des berüchtigten jordanischen Geheimdienstes inhaftiert worden.

Aus der Geheimdienstzentrale, aber auch aus dem gefürchteten Swaqa-Gefängnis sind amnesty international schon häufig Berichte über Folterungen zugegangen. Zu den gängigsten Methoden zählten Schläge auf die Fußsohlen, Peitschenhiebe und Schläge mit Kabelstücken. Aus diesen Folterungen resultierten in vielen Fällen schwere Verletzungen wie Lähmungen, Knochenbrüche, Quetschungen oder eine Beeinträchtigung des Nervensystems.

Trotz der vorläufigen Aussetzung der Notstandsbestimmungen, die in Jordanien ein halbes Jahrhundert lang in Kraft waren, haben die Behörden noch immer die Möglichkeit, gewaltlose politische Gefangene auf unbestimmte Zeit ohne Gerichtsverfahren in Haft zu halten. Auch wenn nach der Ankündigung rechtlicher Reformen im Dezember 1989 viele frühere gewaltlose politische Gefangene freigelassen wurden, sind weitere Maßnahmen nötig, um willkürliche Inhaftierungen, unfaire Prozesse sowie Folter und Mißhandlungen in der Haft zu verhindern.

Syrien

Die syrische Verfassung garantiert grundlegende Rechte wie Meinungsfreiheit, Redefreiheit und Religionsfreiheit, sie verbietet eindeutig die Folter. Die Realität indessen spricht diesen Garantien und Schutzrechten Hohn. Sie sind seit 1963 durch eine Notstandsgesetzgebung außer Kraft gesetzt.

Die Sicherheitskräfte haben aufgrund des Notstandes weitreichende Vollmachten. Sie dürfen alle jene, die verdächtigt werden, die „öffentliche Sicherheit und Ordnung zu gefährden“, festnehmen und auf unbestimmte Dauer inhaftieren. Das Resultat sind Tausende willkürlicher Inhaftierungen, Tausende politischer Gefangener, darunter Hunderte, die niemals Gewalt angewandt haben. In den seltensten Fällen liegt eine rechtskräftige Verurteilung vor. Politische Gefangene bekommen in Syrien so gut wie nie die Chance, sich vor einem Gericht zu rechtfertigen, auch wenn sie – wie in einigen Fällen – bereits seit zwei Jahrzehnten oder länger hinter Gittern sitzen.

Jeder, der in den Verdacht gerät, einer verbotenen politischen Partei oder palästinensischen Gruppe anzugehören, läuft Gefahr, inhaftiert zu werden. 1978 begann sich in Syrien Protest zu regen: Juristen, Ärzte und Ingenieure waren es vorwiegend, die auf die Einhaltung der Menschenrechte pochten. Am 31. März 1980 kam es zu einem eintägigen Streik, bei dem die Achtung grundlegender Rechte wie Meinungs- und Gewissensfreiheit, die Verurteilung jeglicher Art von Gewalt, die Abschaffung der Sondergerichte und die Freilassung aller aufgrund der Notstandsgesetze inhaftierten Gefangenen bzw. faire Gerichtsverfahren für sie gefordert wurden.

Die syrischen Behörden reagierten auf diesen Streik mit einer Verhaftungswelle und der Auflösung sämtlicher beteiligter Berufsverbände. Von etwa 100 Beschäftigen des Gesundheitswesens beispielsweise, die wegen ihrer Beteiligung an dem Streik inhaftiert wurden, sind nach Kenntnis von ai nur sieben Personen freigelassen worden. Von vier weiß ai definitiv, daß sie sich seither in Haft befinden. Über die übrigen 86 ai bekannten Namen verweigert die Regierung jede Auskunft; es wird jedoch angenommen, daß die Mehrheit auch fast 11 Jahre nach ihrer Festnahme noch in Haft ist. Das gleiche Schicksal erlitten die an dem Streik beteiligten Ingenieure, von denen ai 68 namentlich bekannt sind.

Zum Vorwurf der Folter und Mißhandlung schweigt die Regierung, obwohl in Syrien weitverbreitet und systematisch unter körperlichen Qualen verhört wird. Die Gefangenen werden mit Elektroschocks, äußerst schmerzhaften Schlägen auf die Fußsohlen, Auspeitschungen und zahlreichen anderen Foltermethoden malträtiert.

Menschenrechtsverstöße wie Willkürhaft und staatlicher Mord sind allerdings nicht nur in Syrien, sondern auch in dem von syrischen Truppen kontrollierten Teil des Libanon zu beobachten. So haben Angehörige der syrischen Truppen Mitte Oktober 1990 schätzungsweise 200 Anhänger des christlichen Generals Aoun in Ost-Beirut festgenommen, wobei es sich bei den meisten Opfern um Militärangehörige handelte. Die meisten wurden offenbar nach Syrien gebracht, wo sie aller Wahrscheinlichkeit nach noch immer im Gefängnis sitzen. ai geht zudem davon aus, daß eine ganze Reihe von Personen jenseits des eigentlichen bewaffneten Konflikts am 13. und 14. Oktober aus politischen Gründen ermordet wurden. Auch hierzu haben sich die syrischen Behörden nicht geäußert.

Saudi-Arabien

Menschenrechte werden in Saudi-Arabien unter König Fahd nicht großgeschrieben. Wer in den Verdacht der politischen Gegnerschaft gerät, dem drohen Haft und Folter.

Von 1983 bis 1989 wurden amnesty international über 700 Fälle bekannt, in denen politische Gegner auf diese Weise behandelt wurden. Bei den Betroffenen handelt es sich überwiegend um Mitglieder oder Sympathisanten schiitischer Oppositionsgruppen. Politische Parteien und Gewerkschaften sind in Saudi-Arabien verboten.

In den ersten Tagen und Wochen nach der Festnahme werden Gefangene in Saudi-Arabien meist ohne Kontakt zur Außenwelt festgehalten; Zugang zu ihren Familienangehörigen und einem Rechtsbeistand wird ihnen verweigert. Gerade in diesen Tagen der Haft werden die Gefangenen fast routinemäßig mißhandelt oder gefoltert, was in einigen Fällen sogar mit dem Tod des Gefolterten endete.

Erschreckende Ausmaße hat diese Vorgehensweise seit Ausbruch der Golfkrise bei der Behandlung jemenitischer Staatsbürger in Saudi-Arabien angenommen. Seit dem 19. September 1990 werden sie systematisch aus dem Land getrieben; Hunderte von ihnen mußten in behelfsmäßig errichteten Haftzentren Mißhandlungen oder Folterungen erdulden, Tausende fielen willkürlichen Festnahmen zum Opfer, ausschließlich wegen ihrer Nationalität.

Auch die Anwendung der Todesstrafe hat in Saudi-Arabien erheblich zugenommen. Während 1988 »nur« 26 Hinrichtungen bekannt wurden, waren es 1989 bereits 111, davon 16 wegen politisch motivierter Straftaten.

Vereinigte Arabische Emirate

Seit Jahren erhält amnesty international immer wieder besorgniserregende Berichte über Menschenrechtsverletzungen aus den Vereinigten Arabischen Emiraten. Haft ohne Gerichtsverfahren, Folter und Mißhandlung, die Anwendung der Prügelstrafe nach islamischem Recht, die Verhängung der Todesstrafe sowie die zwangsweise Rückführung von Flüchtlingen in deren Heimatländer, obwohl ihnen dort schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen bis hin zur Todesstrafe drohen, waren für ai wiederholt Anlaß, bei den Behörden der Emirate vorstellig zu werden.

Gerade in den vergangenen Jahren sind der Organisation mehrfach Fälle von Jugendlichen – zum Teil von Ausländern – bekanntgeworden, die beispielsweise wegen Diebstahls zu mehreren hundert Peitschenhieben verurteilt wurden. Ein somalischer Junge im Alter von damals 14 Jahren war von 1987 bis Januar 1990 ohne Gerichtsverfahren in Haft, ohne daß er selbst eine Straftat begangen hätte. Seine Inhaftierung hing vermutlich mit der politischen Betätigung seines im Exil lebenden Vaters zusammen. Während der Haft soll der Junge mit 200 Peitschenhieben bestraft worden sein.

Mehrere Iraker, die seit 1987 vermutlich wegen ihrer politischen Sympathien für schiitische Oppositionsgruppen verhaftet worden waren, berichteten nach ihrer Freilassung von Folterungen durch Elektroschocks, Schlafentzug, Falaqa (Schläge auf die Fußsohlen), Androhung sexuellen Mißbrauchs und andere Zwangsmaßnahmen. Man drohte ihnen auch mit zeitlich unbegrenzter Haft und der Auslieferung nach Irak, wo sie harte Strafen erwartet hätten. Haftbefehle waren ihnen während der mehrere Monate andauernden Haft zu keinem Zeitpunkt vorgelegt worden.

Todesurteile können in den Vereinigten Arabischen Emiraten wegen einer Vielzahl von Delikten – darunter auch Ehebruch – verhängt werden. 1984 wurden beispielsweise ein Inder und eine schwangere Srilankerin wegen Ehebruchs zur Steinigung bis zum Tode verurteilt. Erst nach internationalen Protesten wurden die Todesurteile umgewandelt in Haftstrafen und Peitschenhiebe verbunden mit der Abschiebung.

Türkei

Mehrere tausend Menschen sitzen im NATO-Land Türkei aus politischen Gründen, darunter Hunderte von gewaltlosen politischen Gefangenen. Politische Verfahren vor türkischen Militär- und Staatssicherheitsgerichten entsprechen nicht im entferntesten den international anerkannten Standards für ein faires Gerichtsverfahren. Landesweit wird beim Verhör und in der Haft gefoltert, und dies so rückhaltlos, daß bereits mehrere Personen an den Folgen der körperlichen Tortur gestorben sind. amnesty international liegen zahlreiche Berichte Gefolterter vor, die von ärztlichen Attesten untermauert werden und beweisen, daß Folter in der Türkei systematisch angewandt wird.

Besonders gravierende Menschenrechtsverstöße registriert ai seit Jahrzehnten in den kurdischen Gebieten. In der Türkei, vornehmlich im Südosten des Landes, wo acht Provinzen unter Notstand stehen, lebt eine etwa zehn Millionen Menschen zählende kurdische Minderheit, die keine Anerkennung findet. Das Recht auf eine kulturelle Identität haben ihnen aufeinanderfolgende Regierungen versagt; in der Öffentlichkeit ist es verboten, Kurdisch zu sprechen. Immer wieder werden aus den kurdischen Gebieten Folterungen und Mißhandlungen in Haft gemeldet, die sich seit dem Militärputsch im Jahre 1980 gemehrt haben. Seit kurdische Untergrundkämpfer, Mitglieder der »Kurdischen Arbeiterpartei« (PKK), im August 1984 zum bewaffneten Kampf übergegangen sind, dringt aus den Provinzen im Osten und Südosten der Türkei eine alarmierende Zahl von Meldungen über die Mißhandlung von Gefangenen an die Öffentlichkeit. Verantwortlich für diese Menschenrechtsverletzungen sind die Sicherheitskräfte.

Ankara zog sich im August 1990 offiziell von den Artikeln 5,6,8,11 und 13 der Europäischen Menschenrechtskonvention zurück, die den Bürgerinnen und Bürgern der Unterzeichnerstaaten ein Recht auf Freiheit und Sicherheit, einen Anspruch auf rechtliches Gehör, die Achtung von Familie, Heim und Briefverkehr sowie Versammlungsfreiheit garantieren. Die Türkei hat die Europäische Antifolterkonvention am 25. Februar 1988 ratifiziert. Am 2. August 1988 ratifizierte sie außerdem das Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen die Folter. Gegen beide Konventionen wird in der Türkei tagtäglich verstoßen.

Sorge bereitet ai auch die Todesstrafengesetzgebung in dem Land. Im November 1990 belief sich die Zahl der zum Tode verurteilten Personen, die alle Rechtsmittel ausgeschöpft haben, auf 315. Die Todesurteile liegen dem türkischen Parlament zur Bestätigung vor. Einige der Gefangenen befinden sich bereits seit über zehn Jahren in Haft. Die Mehrzahl von ihnen wurde wegen politisch motivierter Vergehen verurteilt. Seit 1984 wurde in der Türkei keine Hinrichtung mehr vollstreckt, doch wurden gerade in jüngster Zeit wieder Stimmen laut, die eine Diskussion über die Frage der Vollstreckung von Todesurteilen neu entfachten. Das Leben der Menschen, deren Todesurteile dem Parlament zur Annahme vorliegen, ist erst dann gesichert, wenn ihre Urteile in Haftstrafen umgewandelt werden.

Anmerkungen

1) Wir haben dieser Liste den Abschnitt über Israel hinzugefügt, dabei aber nur auf ai-Statements zurückgegriffen. s.u. Zurück

2) Mündliche Stellungnahme von amnesty international vor der 47. Sitzung der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen in Genf am 29. Januar 1991 Zurück

Eine vorläufige Bilanz des Golfkrieges

Eine vorläufige Bilanz des Golfkrieges

von H. Herwig • G. Hornig • A. Kopp • A. Otto • M. Schinke • R. Span

Während der 42 Tage des Golfkrieges stieß die immer strikter wirkende Zensur aller öffentlichen Medien auf zunehmende Kritik. So wirkungslos alle spontanen Proteste blieben, so deutlich wuchs aber auch die Zuversicht, daß nach dem Krieg die volle Wahrheit ans Licht kommen würde. Diese Gewißheit beruhte auf der Vorstellung, daß nach dem Krieg die Wahrheit nicht mehr unterdrückt werden könnte, weil die Menschen sie hören wollen und weil die Medien nicht mehr daran gehindert werden könnten zu berichten, was geschehen ist.

Beides hat sich als offensichtlich falsch erwiesen. Wir wissen heute kaum mehr als am Tage des Kriegsendes und es drängt sich der fatale Verdacht auf, daß viele von uns auch nicht mehr wissen wollen. Dabei geht es um die entscheidende Fage: Hat dieser Krieg gezeigt, daß Kriege doch »führbar« sind? Hatten also alle diejenigen unrecht, die behauptet hatten, (spätestens) in unserer hochzivilisierten und hochgerüsteten Welt könnten Kriege grundsätzlich nicht mehr als Mittel der Konfliktlösung eingesetzt werden? Die Antwort auf diese Fragen kann einzig auf dem Hintergrund der Fakten erfolgen, die dieser Krieg geschaffen hat. Darum ist die Kenntnis dieser Fakten so außerordentlich wichtig. Nur vor dem Hintergrund der vergangenen Ereignisse kann es z.B. zu einer rationalen Entscheidung kommen, wie sich die Bundeswehr in Zukunft in solchen Konflikten verhalten soll.

Wir haben deshalb versucht, aufgegliedert in vier Teilbereiche, diejenigen Tatsachen zusammenzutragen, die heute bekannt sind und gleichzeitig die Fragen zu stellen, auf die wir auch heute noch keine Antwort haben. Für die Faktensammlung mußten wir uns dabei auf allgemein zugängliche Quellen stützten. Im wesentlichen waren dies: Frankfurter Rundschau, Spiegel, Time Magazin, The Guardian, Nature, Greenpeace-Magazin, sowie die Materialsammlung der »Radiogruppe Gegenöffentlichkeit« in Göttingen, die systematisch Nachrichten internationaler Rundfunksender gesammelt hat.

Durchgehend stiessen wir dabei auf ungenaue und z.T. widersprüchliche Angaben. Da heute aber kein verläßlicheres Zahlenmaterial zur Verfügung steht, bleibt nur die Möglichkeit, vorhandene Angaben sorgfältig untereinander zu vergleichen und Widersprüche dort aufzuzeigen, wo sie offensichtlich sind.

Opfer: Tote und Verletzte

Eine Bestandsaufnahme des Krieges am Golf muß sich notwendig mit dessen Opfern, deren Zahl und der Art der Kriegführung beschäftigen, auch wenn dieses statistische Material nicht geeignet ist, das Grauen des Krieges anschaulich und begreifbar zu machen.

lm Golfkrieg standen sich insgesamt über eine Million Soldaten gegenüber: mehr als 705.000 Alliierte (mit einem Anteil von 527.000 US-Amerikanern) und vermutlich etwa 550.000 Irakis in 42 Divisionen. Nach unterschiedlichen alliierten Schätzungen starben in dem Krieg 80.000 bis 150.000 irakische Soldaten, 60.000 bis 175.000 kamen in Gefangenschaft. Von irakischer Seite gab es hierzu keine Angaben. Die Opfer der alliierten Truppen konnten sehr detailliert mit 162 Toten, 288 Verwundeten und 40 Vermißten angegeben werden. Nach dem Krieg gab es über die Opfer in der irakischen Zivilbevölkerung weder von irakischer noch von alliierter Seite Angaben, so daß hier der Weltöffentlichkeit eine wesentliche Tatsache vorenthalten wird und wohl auch vorenthalten werden soll. Um sich vom Ausmaß des Grauens ein Bild zu machen, kann man versuchen, Art und Anzahl der Angriffe gegenüberzustellen:

Der Irak feuerte insgesamt 82 Scud-Raketen ab, davon knapp die Hälfte auf Israel. Die offizielle Bilanz nennt fünf Todessopfer. Nicht berücksichtigt ist hier der Angriff auf eine US-Kaserne, der 28 Todesopfer und 98 Verletzte forderte. Die Ziele der Alliierten waren strategisch wichtige Ziele im Irak, vor allem in den Bevölkerungszentren (knapp ein Viertel der 17.6 Mio. Irakis leben in Bagdad). Neben offensichtlich militärischen Zielen gab es auch Angriffe auf Industrieanlagen und Wohngebiete, in denen militärische Einrichtungen vermutet wurden. Den 82 irakischen standen etwa 110.000 alliierte Angriffe gegenüher. Diese Anzahl, die mitgeführte Bombenlast, sowie die Tatsache, daß kaum Schutzraum für die irakische Zivilbevölkerung vorhanden war (die wenigsten Häuser waren unterkellert), lassen darauf schließen, daß die Anzahl der zivilen Todesopfer die des Militärs noch übersteigt. Die Zahl der Verletzten dürfte noch um ein Mehrfaches darüber liegen. Daß von der häufig zitierten »chirurgischen« Vorgehensweise kaum die Rede sein kann, verdeutlichen zum einen die Bombardierung der fliehenden, fast wehrlosen Soldaten auf der Straße zwischen Kuwait und Basra – tausend ausgebrannte Fahrzeuge auf 1,5 km Länge zeugen davon –, zum anderen die Zerstörungskraft der eingesetzen Waffen:

  • Splitterbomben vom Typ BLU-82, die aufgrund ihres Gewichtes von 7 t aus Transportflugzeugen abgeworfen wurden
  • Benzinbomben vom Typ BLU-73, die durch die erzeugte Druckwelle auf die Lunge eine noch grausamere Wirkung als Giftgas haben
  • 900 kg schwere »Megabomben«, von US-Schlachtschiffen abgefeuert (zum Vergleich: schon eine 225 kg Bombe reißt einen Krater von 11 m Tiefe und 16 m Durchmesser).

Dagegen wurden lasergesteuerte Präzisionswaffen nur in 10 – 15% der Einsätze verwendet; von britischer Seite werden zudem Fehler und Mängel gemeldet. Und auch, wo Präzisionswaffen ihr Ziel mit »chirurgischer« Genauigkeit trafen, starben aufgrund ungenauer Aufklärung hunderte Zivilisten, wie der Angriff auf den Bunker in Bagdad zeigt, der lange Zeit im Mittelpunkt des Medieninteresses stand.

Die Folgen sind nicht absehbar: Hungersnöte, Epidemien, psychologische Schädigungen, insbesondere der Kinder. Die völlig zerstörte Infrastruktur läßt weder eine medizinische Versorgung noch eine ausreichende Versorgung mit Lebensmitteln zu. In einer Zwischenbilanz wurde von 5.000 Toten infolge mangelnder Vorsorgung gesprochen, eine weitere Quelle berichtet von 3.000 Säuglingen, die durch fehlende Babynahrung starben. Darüberhinaus stellen sich längerfristig die Probleme extremer Massen-Arbeitslosigkeit und Flüchtlingselend.

Es bleiben offene Fragen:

  • Was ist im Irak tatsächlich passiert, wieviele Opfer sind zu beklagen an Toten und Verletzten, sowohl beim Militär als auch bei der Zivilbevölkerung?
  • Wie ist der Zustand in den Städten, wie groß sind die Zerstörungen?
  • Wie hoch ist die Anzahl der toten und verschleppten Kuwaitis und Ausländer in Kuwait

Kosten: Zerstörungen und wirtschaftliche Verluste

Wie in anderen Bereichen wurden für die tatsächlichen Kriegs- und Folgekosten entweder unterschiedliche Angaben oder nur grobe Schätzungen veröffentlicht. Eine vorläufige Gesamtbilanz der Kosten wurde der breiten Öffentlichkeit bislang nicht mitgeteilt und kann hier auch nur unter Mindestabschätzungen gezogen werden, wobei Folgekosten nur geschätzt werden können.

Den geringeren Anteil der wirtschaftlichen Verluste machen die direkten Kriegskosten der Alliierten und des Iraks aus. Dabei beziffern die USA ihre Kosten für die Operationen Wüstensturm und Wüstenschild auf etwa 70 Mrd. US $, wobei etwa 18 Mrd. von den USA selbst getragen werden sollen. Für den Rest liegen Übernahmezusagen aus Saudi-Arabien (17 Mrd.), Kuwait (16 Mrd.), Japan (10,7 Mrd.), der Bundesrepublik (6,6 Mrd.) und weiteren Staaten vor. In diesen Zahlen nicht enthalten sind eigene Kriegskosten von Alliierten, die selbst direkt am Krieg beteiligt waren (Frankreich, Großbritannien, Saudi-Arabien, Ägypten und weitere). Auch der Bundesrepublik entstehen zusätzlich zu der Beteiligung an den US-amerikanischen Kosten weitere Kosten in Höhe von mehr als 4 Mrd. US $ durch Geld- und Sachleistungen an andere Alliierte oder durch den Krieg betroffene Staaten. Irakische Angaben für den Bereich der direkten Kriegskosten wurden nicht bekannt.

Ein weitaus höherer Betrag als diese direkten Kriegskosten ist für den Wiederaufbau der zerstörten Infrastruktur in Kuwait und dem Irak zu erwarten. Für Kuwait werden die Kosten des Wiederaufbaus auf 100 bis 200 Mrd US $ geschätzt. Kuwait, selbst hat bei der UN Forderungen von 100 Mrd. US-Dollar geltend gemacht, worin noch nicht laufende Verluste durch das brennende Öl enthalten sind. Bei einem Förderverlust von 3 bis 4 Mio. Barrel Öl pro Tag werden finanzielle Verluste auf etwa 80 bis 120 Mio. US $ täglich geschätzt. Selbst wenn die Ölbrände in durchschnittlich 2 Jahren gelöscht werden, summieren sich diese Verluste auf etwa 50 bis 100 Mrd. US $. Diese Summe könnte deutlich größer werden, falls die Brände der Ölquellen zu einer wesentlichen Beeinträchtigung der Effzienz der Ausbeutung der Lagerstätten führt.

Für den Irak ist das Ausmaß der Zerstörungen noch völlig unklar. In einem UN-Bericht wird von apokalyptischen Zuständen und vorindustriellen Verhältnissen gesprochen. Der Irak selbst hat während des Krieges die Zerstörungen mit 200 Mrd. US $ beziffert. Diese Zahl scheint angesichts von mehr als 110 Tausend alliierten Einsätzen gegen militärische und industrielle Einrichtungen als durchaus realistische Größenordnung. Auch für den Irak muß man annehmen, daß der Großteil der Ölförderanlagen zerstört wurde, obwohl keine Informationen über Brände von Ölquellen vorliegen. Angesichts der Zerstörung der irakischen Industrie scheint die Diskussion um Reparationsforderungen, die der Irak selbst bei funktionierender Infrastruktur nur in Zeiträumen von einigen 10 Jahren hätte einlösen können, eher rhetorisch. Daher wird man auch die irakischen Vorkriegsschulden von etwa 80 Mrd. US $ als Kriegsverluste ansehen müssen.

Diese vorläufigen Abschätzungen lassen Gesamtkosten in Höhe von wenigstens 500 Mrd. US $ erwarten. Ein Betrag dieser Größenordnung, der etwa 40% der gesamten Auslandsschulden der Dritten Welt ausmacht, wird auch weltwirtschaftliche Folgen haben. Dabei enthält diese Bilanz zahlreiche Unwägbarkeiten, die die Kosten erhöhen und im Detail für die Betroffenen weitere schwerwiegende Folgen haben können. Eine Erhöhung des Weltzinsniveaus aufgrund des zusätzlichen Kapitalbedarfs könnte gerade für den Schuldendienst der Länder in der Dritten Welt verhängnisvoll sein. Schon jetzt hat der Krieg Auswirkungen auf den Handel in der Golfregion, von denen zum Beispiel Jordanien oder die Türkei betroffen sind. Einige Millionen Gastarbeiter mußten in ihre Heimatländer zurückkehren mit der Folge einer erhöhten Arbeitslosigkeit und den entsprechenden sozialen Auswirkungen. Nicht zuletzt wird der Krieg verheerende Ausfälle in der landwirtschaftlichen Produktion zur Folge haben, dadurch daß z.B. nicht bewässerte Böden im Irak versalzen und als Nutzfläche ausfallen oder Böden in der betroffenen Region durch giftige Niederschläge des schwarzen Regens unbrauchbar werden.

Ökologische Schäden des Krieges

Die globalen und regionalen Beeinträchtigungen des Ökosystems durch die direkten und indirekten Auswirkungen des Krieges sind in ihrer Konsequenz noch nicht einmal abzuschätzen. In den über 900 brennenden Ölförderstätten Kuwaits verbrennen täglich ungefähr 3 his 4 Mio. Barrel Öl, etwa 500 Tausend Tonnen.

Das unter hohem Druck austretende Öl verbrennt schlecht und unvollständig. Der hohe Schwefelgehalt des kuwaitischen Öls erhöht noch den Anteil giftiger und krebserregender Verbrennungsprodukte, die zusammen mit dem Ruß die Menschen und die Umwelt bedrohen. Bereits jetzt ist die Todesrate in Kuwait 2 bis 3 mal so hoch wie normal und die Temperaturen sind durch die Rauchwolken um bis zu 110C abgesunken.

Die Aussagen der Wissenschaftler bezüglich einer globalen Auswirkung der Katastrophe tendieren dahin, daß man davon ausgeht, daß die Verbrennungsprodukte nur etwa 2 bis 3 km hoch aufsteigen werden. Solange der Ruß und die anderen Verbrennungsbestandteile nicht in die untere Stratosphäre in etwa 10 km Höhe gelangen, in welcher sie durch starke Zirkulation fast über der ganzen Erde verteilt würden, werden sie im Umkreis von ca. 600 – 1000 km nach einigen Tagen im Niederschlag auf die Erdoberfläche gelangen. Je nach Richtung der herrschenden Monsunwinde wären hiervon die Gebiete von Nordwestafrika bis nach Pakistan betroffen. Unter der Voraussetzung, daß die Rußpartikel nicht in höhere Atmosphärenschichten getragen werden, sind globale Klimaveränderungen nicht zu erwarten. Der Ölteppich, 160 mal 60 Kilometer groß, verursacht von 1,8 Mio. Tonnen ausgetretenem Rohöl, 40 mal soviel wie bei dem Unglück der Exxon Valdez vor Alaska, hat das Meer und etwa 400 km der Küste verschmutzt. Dies betrifft diese Meeresregion besonders in ihrer Funktion als

Trinkwassergewinnungsgebiet der Küstenstaaten Lebensraum von etwa 300 Fischarten (einige davon nur hier vorkommend), der Meeresschildkröten und der vom Aussterben bedrohten Dugong-Seekuh Lebensraum wertvoller Korallenbänke und Seegrasteppiche (die ausgedehnten Flachwasserzonen sind vom absinkenden Öl besonders bedroht) wichtiges Gebiet (Zwischenstation) für Zugvögel

52 Vogelarten sind durch den Golfkrieg bereits ausgerottet. Andere Aspekte der Zerstörungen sind noch völlig ungeklärt. Die Auswirkungen der brennenden Ölquellen auf Landwirtschaft, Viehzucht und Fischfang in den betroffenen Gebieten sind noch nicht abzuschätzen. Hier ist damit zu rechnen, daß die giftigen Bestandteile der sich niederschlagenden Verbrennungsrückstände in die Nahrungskette gelangen werden. Das Ökosystem Wüste ist durch die Kampfhandlungen stark geschädigt.

Auswirkungen durch die Zerstörung chemischer oder petrochemischer Industrieanlagen müssen vermutet werden, verläßliche lnformationen liegen hierzu bisher aber nicht vor.

Politisch-gesellschaftliche Folgen für die Region

Im wesentlichen sind es vier Probleme, die die Länder des nahen Osten, die Türkei, sowie die moslemischen Länder an der Südküste des Mittelmeers seit Jahren nicht zur Ruhe kommen lassen. Der Golfkrieg hat in keiner Weise zur Lösung dieser Probleme beigetragen, sondern die Probleme im Gegenteil noch verschärft.

  1. Das Palästinenserproblem: Bisher konzentrierte sich das Palästinenserproblem auf die von Israel besetzten Gebiete und die Flüchtlingslager im Libanon und in Jordanien. Der Krieg hat nun auch die in Kuwait lebenden Palästinenser in das Problem hereingezogen: Die in Saddam Hussein gesetzte Hoffnung wurde nicht erfüllt, von den ehemals 400 Tausend Palästinensern in Kuwait sind 300 Tausend geflohen. Die 100 Tausend Palästinenser, die in Kuwait geblieben sind, sind dort unter dem Verdacht der Kollaboration massiven Repressalien – die Berichte reichen bis hin zu Folterungen – ausgesetzt. Die intensiven diplomatischen Bemühungen zur Lösung des Palästinenserproblems, die nach Kriegsende eingesetzt haben, scheinen erste Früchte zu tragen. Zumindest die israelische Opposition ist inzwischen zu Konzessionen in der Palästinenserfrage bereit. Dies zeigt, daß Lösungen eben doch nur auf diplomatischem Wege gefunden werden können.
  2. Das Kurdenproblem: Seit Jahren fordern die Kurden, die als Minderheiten im Irak, im Iran und in der Türkei leben, einen unabhängigen Staat, zumindest aber größere Autonomie. In allen drei Ländern werden ihre Forderungen brutal unterdrückt, wie auch das gewaltsame Vorgehen türkischer Sicherheitskräfte in den vergangenen Wochen bewies. Die militärische Niederlage Saddam Husseins und die Hoffnung auf alliierte Unterstützung hat nun die Kurden im Norden des Irak zu einem spontanen Aufstand veranlaßt. Dieser Aufstand hat inzwischen tausenden Kurden das Leben gekostet, ohne daß für die Kurden realistische Erfolgschancen zu sehen ist. Ein unabhängiges oder zumindest autonomes Kurdistan kann nur aus Verhandlungen mit den drei beteiligten Staaten hervorgehen. Auch hier wäre diplomatischer Druck sinnvoller und effektiver als Waffengewalt.
  3. Das Wohlstandsgefälle: Von den insgesamt etwa 400 Mio. Bewohnern der Region (In Westeuropa leben etwa 250 Mio. Menschen) leben weniger als 20 Mio. in Ländern, die über ein Auslandsvermögen von vielen hundert Milliarden US $ verfügen (Kuwait: 1,7 Mio. Einwohner, etwa 200 Mrd. US $ Auslandsvermögen). Die restlichen 380 Mio. Menschen leben in Ländern, deren Wirtschaft unter hohen Auslandsschulden leidet. Diese Staaten werden durch die enormen Folgekosten des Golfkrieges besonders hart getroffen. lnnerhalb der Staaten setzt sich das Wohlstandsgefälle fort. Während die kuwaitische Herrscherfamilie über ein Privatvermögen von mehr als 100 Mrd. US $ verfügte, wurden die als Gastarbeiter ins Land geholten »arabischen Brüder« kaum besser als Sklaven behandelt.
  4. Der islamische Fundamentalismus: Genährt von der starken Polarisierung der Gesellschaft haben fundamentalistisch islamische Strömungen in den meisten Staaten der Region großen Zulauf bekommen. 300 der 400 Mio. Menschen leben in Staaten, in denen islamisch orientierte Regierungen an der Macht sind, bzw. die islamische Opposition eine ernste Bedrohung für die westlich orientierten Regierungen bedeutet. Das Zusammenhalten der Allianz gegen Saddam Hussein kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß der Haß dieser Menschen auf die westliche Welt, insbesondere auf die USA, mit jeder Bombe, die auf den lrak gefallen ist, größer geworden ist. Ein gutes Beispiel für diese Situation ist Pakistan: Während die pakistanischen Befehlshaber die Kampfbereitschaft ihrer an den Golf entsandten Truppen beteuerten, mußte der Iran hunderttausend Pakistanis daran hindern, über iranisches Territorium Saddam Hussein zur Hilfe zu kommen.

All diese Probleme werden durch die Hochrüstung des arabischen Raumes noch brisanter gemacht. Wenigstens in diesem Punkt hätte der Golfkrieg dazu führen können, daß nach der weitgehenden Zerstörung der irakischen Armee ein neues militärisches Gleichgewicht auf niedrigerem Niveau erreicht wird. Stattdessen werden aber die Fehler dcr Vergangenheit mit neu verteilten Rollen fortgesetzt. Die USA planen in nächster Zeit Waffenexporte an Ägypten, die Vereinigten Arabischen Emirate, Bahrain, Israel und die Türkei im Gesamtvolumen von 18 Mrd US $. Der Löwenanteil, Waffen im Wert von 10 Mrd. US $, wird an Saudi-Arabien gehen, stellt aber erst den ersten Teil von langfristig geplanten Lieferungen im Gesamtwert von 21 Mrd. US $ dar. Die Hilfe für Länder wie Jordanien, die sich nicht eindeutig zur Allianz bekannten, wurde hingegen drastisch reduziert.

Offen bleiben bis heute die Fragen nach der eigentlichen Rolle der Türkei im Kurdenaufstand (Präsident Özal hat Kontakte zur Führung der irakischen Kurden zugegeben – soll hier doch noch eine territoriale Erweiterung der Türkei in Form einer autonomen kurdischen Provinz durchgesetzt werden?), und danach, welche diplomatischen Konzessionen die USA gegenüber Israel machen mußten, um ein israelisches Eingreifen in den Krieg zu verhindern.

Die Folgen nur ansatzweise bekannt

Die geschilderten Fakten und die noch unbeantworteten Fragen verdeutlichen, daß bis heute die Folgen des Golfkrieges nur ansatzweise bekannt sind. Das volle Ausmaß der Zerstörung sowie die tatsächlichen Folgen für die Region und darüber hinaus für die Welt sind uns bis heute vorenthalten. Wenn trotzdem als Konsequenz aus dem Golfkrieg die Berechtigung abgeleitet wird, eine neue Weltordnung zu proklamieren, so wird offenkundig, daß dies zunächst nur die neue Machtsituation in der Welt beschreibt, nachdem der alte Ost-West-Gegensatz weitgehend abgebaut ist. Die Frage, ob Kriege heute (wieder) als führbar angesehen werden, gewinnt auf diesem Hintergrund eine ganz neue Dimension. Während im Ost-West-Gegensatz militärische Auseinandersetzung größeren Ausmaßes unterblieben, weil beide Seiten sich gegenseitig »abschrecken« konnten, stellt sich die Situation im jetzt aufbrechenden Nord-Süd-Konflikt ganz anders dar.

Wenn Kriege grundsätzlich als führbar angesehen werden, wird es zu diesen Kriegen kommen. Der Golfkrieg war mehr als ein Beispiel dafür. Er markiert den Zeitpunkt, zu dem die Entscheidung fällt, ob unsere Enkel auf dieser Erde noch werden leben können oder nicht.

Dieser Artikel wurde von Mitgliedern der Naturwissenschaftler-Initiative »Verantwortung für den Frieden« verfasst, die in einer von vielen Regionalgruppen an der Ruhr-Universität Bochum arbeiten.

Namentlich beteiligt: Prof. Dr.-Ing. H. Herwig • G. Hornig • Dipl.-Phys. A. Kopp • Dr. rer nat. A. Otto • M. Schinke • Dipl.-Ing. R. Span.

Golfkrieg und Ökologie: Ein heiliger, gerechter Umweltkrieg?

Golfkrieg und Ökologie: Ein heiliger, gerechter Umweltkrieg?

von Knut Krusewitz

Kriege brauchen noch immer, auch wenn sie inzwischen mit computergestützter Kriegsführungstechnik, mit einem »arsenale dell' apokalisse« (L' Espresso) und mit säkularisierter Bedienungsmannschaft geführt werden, allemal ihrer ideologischen Überhöhung, sogar ihrer militärgeistlichen Rechtfertigung. Zumal dann, wenn die „Fabrikarbeiter des Todes“ (Kurt Tucholsky) ihn in Kulturlandschaften austragen, in denen das Welterbe jüdischer, christlicher und islamischer Ursprünge gerade mühsam archäologisch restauriert wird. Die theologischen oder politischen Konstrukte vom gerechten und heiligen Krieg schließen immer die Rechtfertigung ein, die Natur des jeweiligen Gegners zu nutzen, um ihn vernichtend zu schlagen. Es sei „lächerlich“, erklärte der Oberbefehlshaber der alliierten Streitkräfte in der zweiten Kriegswoche, „wegen der Umwelt den Krieg zu unterbrechen.“ Und so sieht die Umwelt nach nur sechs Kriegswochen auch aus.

1. Golfkrieg und Umweltkriegsrecht

Angesichts der apokalyptischen Folgen des heiligen und gerechten Umweltkrieges fordern dieser Tage einflußreiche Umweltinstitutionen wie Greenpeace und das Worldwatch Institute von der Staatengemeinschaft die rasche Verabschiedung einer »Genfer Konvention gegen ökologische Kriegsführung«. Dadurch sollen Öko-Terrorismus, Öko-Krieg und Umweltkrieg als Kriegsverbrechen deklariert und entsprechend geahndet werden.

Was hier gefordert wird, gibt es bereits. Nach Beendigung des Vietnamkrieges (1975), in dessen Verlauf die US-Streitkräfte »ecowarfare« zum ersten Mal in der Kriegsgeschichte zum integralen Bestandteil einer Militärstrategie gemacht hatten, verabschiedeten die Vereinten Nationen auf sowjetische Initiative zwei Völkerrechtsgesetze, die Methoden und Mittel der Umweltkriegführung verbieten. Die einschlägigen Prinzipien und Normen finden sich im »Umweltkriegsverbots-Vertrag« vom 18. Mai 1977 und im »Zusatzprokoll I zu den Genfer Abkommen« vom 12. Dez. 1977.

Auf die umwelt- und friedenspolitische Relevanz dieser Gesetze habe ich seit 1983 immer wieder öffentlich aufmerksam gemacht. Mit bescheidenem Erfolg. Das könnte sich ändern, wenn das umwelt- und friedenswissenschaftliche Interesse nicht mehr nur auf die Analyse des Themas konzentriert wird, ob die Alliierten durch die UN-Resolution (Nr. 678) zum Krieg gegen Irak »bevollmächtigt« wurden oder nicht, sondern darüberhinaus auf die Analyse des Themas, wie sie ihn, wenn überhaupt, führen durften und wie nicht.

Von erheblichem Interesse ist folglich die Beantwortung der Frage, ob die USA und ihre Verbündeten durch die UNO ermächtigt wurden,

  • ihre Kriegsziele eigenmächtig zu bestimmen,
  • die dazu erforderlichen Kriegsmethoden und Waffenarsenale selbst zu wählen
  • sowie die Natur der Golfregion als Medium zur Erreichung der Kriegsziele zu nutzen.

Meine Zentralthese: Weder der Irak noch die Alliierten haben ihre jeweiligen Ziele, Methoden und Mittel ihrer Kriegsführungen den geltenden Völkerrechtsnormen unterworfen, weshalb der vorgeblich konventionell geführte Krieg bereits nach wenigen Tagen zu einem Umweltkrieg eskalieren mußte. Umkehrschluß: Nur dadurch, daß beide kriegführende Parteien schwere Verstöße gegen die einschlägigen ökologischen, humanitären und kulturellen Normen des Umweltkriegsverbots-Vertrages und des Zusatzprotokolls I von Kriegsbeginn an einplanten, konnte das „environmental inferno“ (TIME) überhaupt entstehen. Der bewußte Verstoß gegen Kriegsrechtsnormen wird im Zusatzprotokoll I zum »Kriegsverbrechen« erklärt. Deshalb reicht das geltende Umweltkriegsrecht aus, um die ökologischen, humanitären und kulturellen Verbrechen, derer sich alle kriegführenden Parteien schuldig gemacht haben, innerhalb des UNO-Systems zu ahnden. Über die komplexen Kriegsverbrechen wird gleich geredet. Zuvor einige Bemerkungen zur Ermittlungsmethode.

2. Umweltkrieg – was ist das?

Öko-Krieg und Umweltkrieg charakterisieren unterschiedliche ökologische, militärische und kriegsrechtliche Realitäten. Von ökologischer Kriegsführung rede ich, wenn kriegführende Parteien die Natur zu „militärischen oder sonstigen feindseligen Zwecken als Mittel der Zerstörung, Schädigung oder Verletzung eines anderen Vertragsstaates nutzen.“ (Art. I Umweltkriegsverbots-Vertrag) Methoden und Techniken der ökologischen Kriegsführung wurden in diesem Golfkrieg sowohl vom Irak als auch von den Alliierten angewendet. Beispiele für die militärische oder feindselige Manipulationen der Natur sind:

  • Verseuchung des Persisch-Arabischen Golfs;
  • Verseuchung der regionalen Atmosphäre;
  • Reduzierung der Wassermenge des Euphrat um vierzig Prozent;
  • Zerstörung sensibler Vegetationsformen und -zonen durch ihre Nutzung als Aufmarschgebiete und Todeszonen (»killing boxes«).

Diese umweltveränderten Techniken haben allesamt „weiträumige, lange andauernde oder schwerwiegende Auswirkungen“ (ebda.) auf Natur und Gesellschaft, weil ihre summierten oder potenzierten Effekte bereits nach wenigen Kriegswochen das regionale ökologische Gleichgewicht katastrophenartig stören.

Zu der Klasse von Techniken der ökologischen Kriegsführung rechne ich zudem den gezielten Einsatz »sekundärer« Öko-Waffen.

Beispiele im Golfkrieg:

  • Zerstörung von Anlagen und Einrichtungen, die gefährliche Stoffe und/oder Kräfte enthielten;
  • Zerstörung ziviler Infrastrukturen, die zur Aufrechterhaltung überlebensfähiger Umweltbedingungen unerläßlich waren.

Von Umweltkrieg rede ich, wenn nicht nur ökologische Medien, sondern zudem auch die Zivilbevölkerung, ihre Volkswirtschaft und ihre Kulturgüter zu Angriffs- und Zerstörungsbereichen gemacht werden.

Im Zusatzprotokoll I wird der sachliche und kriegsrechtliche Zusammenhang zwischen Öko-Krieg und Umweltkrieg hergestellt durch die Art. 35 (Wahl der Methoden und Mittel der Kriegsführung), Art. 48 (Kriegshandlungen nur gegen militärische Ziele), Art. 51 (Absoluter Schutz der Zivilbevölkerung), Art. 53 (Schutz von Kulturgütern), Art. 54 (Schutz lebensnotwendiger ziviler Objekte und Gebiete), Art. 55 (Schutz der natürlichen Umwelt) und Art. 85 (Ahndung von Verletzungen dieses Protokolls).

Die materiellrechtlichen Bestimmungen dieser beiden Völkerrechtsgesetze sind geeignet, völkerrechtserhebliche Umweltkriegstatbestände bereits im jetzigen Stadium des Golfkonflikts zu benennen.

3. Vorläufige kriegsökologische Bilanz

Aus methodischen und systematischen Gründen ist es sinnvoll, kriegsökologische Tatbestände nach drei Schadenskategorien zu ermitteln.

  • Primäreffekte, das sind die medialen Schäden in den Bereichen Boden, Wasser, Luft, Vegetation, Fauna und Klima sowie ihre militärisch beeinträchtigten Wechselwirkungen.
  • Sekundäreffekte, das sind die komplexen Rückwirkungen der Primäreffekte auf die Gesellschaft in den Bereichen Leben, Gesundheit, Volkswirtschaft, Infrastruktur und Kultur.
  • Tertiäreffekte, das sind die ökologischen, menschlichen und ökonomischen Kriegskosten, mit denen die Überlebenden konfrontiert sind.

Kriegsökologische Primäreffekte treten in der Golfregion (und darüber hinaus) auf durch zerstörte Ölfelder, Pipelines, Tankanlagen, Verladestationen, atomare und chemische Anlagen, Munitionsdepots, Staudämme, durch das teilweise Wasserembargo (Euphrat) und durch die Eingriffe in die Wüsten- und Meeresökologie.

Rußwolken mit ihrem Gemisch aus Stickoxiden, Salpetersäure, krebserzeugenden Kohlenwasserstoffen, ultragiftigen Dioxinen und Schwefeldioxid sowie Giftgaswolken aus zerstörten C-Waffen-Anlagen schlagen sich im gesamten Naturhaushalt der Region nieder. Dabei ist es zweitrangig, ob sich in den nächsten Monaten und Jahren 1000 oder 1500 mg/m2 im Jahr von diesem toxischen Gemisch in Wohngebieten, Erntegürteln, Wäldern, Flüssen, Seen und Küstengewässern deponiert.

Kriegsökologische Sekundäreffekte gefährdeten bereits nach wenigen Kriegstagen die Gesundheit und das Überleben der Zivilbevölkerung in Kuwait und im Irak.

So fand auf irakischem Territorium ein »stummer« Giftgaskrieg statt, der nicht durch den Einsatz primärer, sondern sekundärer Giftgaswaffen ausgelöst worden war. Nach der Zerstörung der wichtigsten C-Waffen-Anlagen, aber auch Düngemittel- und Pflanzenschutzfabriken im Irak durch die US-Streitkräfte registrierte die französische Armee »Giftgaswolken« in der Atmosphäre. C-Waffen-Experten aus der CSFR wiesen Giftgaskomponenten noch im nördlichen Saudi-Arabien nach. Es ist bekannt, daß in allen irakischen Städten, in denen Chemiefabriken zerstört wurden, Epidemien auftraten, die anscheinend über die Hälfte der Kontaminierten hinwegraffte.

Ein zweiter, Überleben gefährdender kriegsökologischer Zyklus entwickelte sich nach der Zerstörung wichtiger Infrastruktursysteme in Kuwait und im Irak. In sämtlichen größeren oder strategisch wichtigen Städten wurden systematisch Ver- und Entsorgungseinrichtungen zerstört, aber auch Industrie- und Gewerbebetriebe, Wohngebiete, Kommunikations- und Verkehrssysteme, selbst landwirtschaftliche Versorgungsgebiete.

Die Zerstörung der Infrastruktur weist bestimmte Ähnlichkeiten mit militärischen Manipulationen natürlicher Abläufe auf: Hier wie dort reagieren komplexe Realitätsbereiche auf kriegerische Eingriffe mit grundsätzlich nicht planbaren Effekten.

Solche Eingriffe werden durch die Verflechtung einzelner ökologischer und infrastruktureller Komponenten rückgekoppelt, aufgeschaukelt und dadurch in ihrer Wirkung multipliziert.

Aus diesem Grunde ist es heute noch nicht möglich, die Rückwirkungen der Primäreffekte auf die kuwaitische und irakische Bevölkerung zu quantifizieren.

Das ist bislang nur für einen Teilbereich der Tertiäreffekte möglich: Der Irak hat fast hundert Prozent der kuwaitischen Ölexport-Kapazitäten zerstört, die Alliierten über zwei Drittel der irakischen.

Die volkswirtschaftlichen Kriegsschäden machen nach ersten Schätzungen im Irak Aufbau-Investionen in Höhe von 200 Milliarden Dollar nötig, in Kuwait in Höhe von 100 Milliarden Dollar. In diese Berechnungen sind weder die humanitären und kulturellen noch die ökologischen Investitionskosten eingestellt. Zudem macht der Iran Entschädigungsforderungen in Höhe von 900 Milliarden Dollar (!) an den Irak aus dem Krieg zwischen 1980 und 1988 geltend.

Umweltkrieg – wer sind die Täter?

Die vorherrschende Meinung, der Irak habe den Umweltkrieg begonnen, sei sogar der einzig dafür Verantwortliche, kann kaum durch Kenntnisnahme der Tatsachen zustande gekommen sein.

Tatsächlich führte nicht der Irak eine „neue Variante der Kriegsführung“ ein, wie der SPIEGEL glauben machen will, sondern die Alliierten. Sie waren die ersten, die mit der Einleitung von Rohöl in den Golf den jüngsten „Krieg gegen die Natur“ (WELT) eröffneten. „Das erste Erdöl, das nach Beginn des Golfkrieges die Küste Saudi-Arabiens verseuchte, ist aus irakischen Tankern ausgelaufen, die von Flugzeugen der multinationalen Streitkräfte attackiert worden waren.“ Das bestätigte jetzt ein hoher Vertreter der saudi-arabischen Umweltbehörde gegenüber AP.

Erst danach öffneten die irakischen Streitkräfte die Ventile der Ölverladeplattform »Sea Island« . Nach saudiarabischen Angaben sind 20 bis 30 Prozent des Öls im Golf die Folge von Angriffen der Alliierten auf irakische Ziele, den Rest hätten die Iraker ins Meer fließen lassen.

Den ersten »schwarzen Regen« löste ebenfalls nicht der Irak aus, sondern die Alliierten. Nach Angaben der iranischen Nachrichtenagentur IRNA sei der erste Fall von schwarzem Regen in der Golfregion durch alliierte Zerstörungen irakischer Öltanks und Ölfelder verursacht worden. Erst danach begann der Irak mit der Inbrandsetzung kuwaitischer Ölanlagen.

Bereits vor Kriegsausbruch haben die USA versucht, die Türkei „zum Umweltkrieg“ gegen den Irak (STERN) zu veranlassen: „Die Türken sollten Saddam Husseins Zweistromland das Wasser abdrehen. Mit Hilfe eines bestehenden Staudammsystems könnte die Türkei in Anatolien den beide Länder durchquerenden Tigris zu einem Rinnsal reduzieren und den Euphrat so weit aufstauen, daß von ihm gar kein Wasser mehr bis in den Irak gelangt.“

In der zweiten Kriegswoche reduzierte die Türkei tatsächlich die Euphratzufuhr um 40%.

Im Unterschied zum Irak haben die Alliierten durch ihre ökologische Kriegsführung einen Giftgaskrieg auf irakischem Territorium ausgelöst.

Eine umweltkriegsrechtliche Bewertung kommt somit zu dem Ergebnis, daß sich beide kriegführenden Parteien schwerer Verstöße gegen die Bestimmungen des einschlägigen Völkerrechts schuldig gemacht haben. Die Bundesregierung trifft der Vorwurf, daß sie zumindest die alliierten Kriegsverbrechen gebilligt hat.

Fazit

Der Golfkrieg hat die Lehre aus dem Vietnamkrieg bestätigt, daß Kriege, die mit den Methoden und Waffenarsenalen des Kalten Krieges geführt werden, sachlich, rechtlich und logisch den Charakter von Umweltkriegen annehmen müssen. Spätestens hier erweist sich die Absurdität der Rechtfertigungskonstrukte vom »gerechten« und vom »heiligen« Krieg. Kriege, die wegen ihrer Konzeption notwendigerweise gegen die unabdingbaren universellen Grundsätze der Menschheit und der ökologischen Vernunft verstoßen, können eben nur Kalten Kriegern noch als gerecht oder heilig erscheinen. Nicht nur angesichts der wirklichen Überlebensprobleme der Menschheit erscheinen sie als kriminelle Akte. Die unaufgebbare Alternative bleibt die Durchsetzung gewaltfreier Methoden und Mittel der Konfliktbewältigung, die sich an den komplexen weltgesellschaftlichen Ursachen, aber auch Zukunftsaufgaben ausrichtet. Unter »neuer Verantwortung« des vereinten Deutschland verstehe ich dann auch nicht den Einsatz von Streitkräften außerhalb des NATO-Gebietes – mal als militärisch, mal als ökologisch deklarierte Eingreiftruppe.

Neue Verantwortung haben wir dort zu übernehmen, wo es um den Umbau einer Weltnatur- und Weltwirtschaftsordnung geht, in der zwanzig Prozent der Menschheit achtzig Prozent des Weltreichtums beanspruchen und ihre achtzig Prozent des Weltmülls dem Rest der Menschheit aufbürden.

Solange diese »Ordnung« das bleibt was sie ist, werden die Umweltkriegsplaner von heute ihre »gerechten« Kriegsanlässe auch zukünftig glaubhaft machen können. Den zwanzig Prozent zumindest.

Literatur

Repräsentative Nachrichtenmagazine (TIME, NEWSWEEK, L'ESPRESSO, SPIEGEL, SOUTH) und Tageszeitungen (FR, FAZ, Int. HERALD TRIBUNE, NZZ, ND) zwischen August 1990 und März 1991.

Monografien

Knut Krusewitz, Umweltkrieg, Königstein 1985 (mit umfangreichen Quellenangaben).

Prof. Dr. Knut Krusewitz, Privatdozent, Friedens- und Umweltforscher, Berlin.

Militärische Sicherheit zerstört ökologische Sicherheit

Militärische Sicherheit zerstört ökologische Sicherheit

Eine ökologische Bilanz des Golfkriegs

von Olaf Achilles

Die Auswirkungen des Krieges haben alle Befürchtungen weit überschritten. Die (ökologischen) Folgekosten, werden noch in Generationen zu tragen sein. Die Friedens- und Umweltbewegung muß die Analyse der internationalen Folgen des Krieges erarbeiten und mit Öffentlichkeitsmaßnahmen begleiten, sonst werden die Militärs sich als technokratische Katastrophenhelfer weltweit neu legitimieren.

Kuwait ist befreit, jedoch ökologisch vernichtet

Weit vor dem Krieg gab es zu jedem Umweltbereich ein »Horror-Szenario«. Trotzdem wurde selbst nach dem größten Ölteppich der Industriegeschichte (11 Milliarden Liter Öl) Ende Januar im Golf kein Einhalt geboten. Seit dem 26.2. ist bekannt, daß es einen neuen Ölteppich im Golf gibt, der „für die Umwelt im Krisengebiet die bislang möglicherweise größte Gefährdung darstellt“ (Kölner Stadtanzeiger 27.2.). Weitere Informationen gab es hierzu bisher nicht. Erst nach einer Minenräumung kann mit der – wie auch immer gearteten – Bekämpfung des Ölteppichs begonnen werden. Millionen Tiere, vor allem auch Zugvögel, sind im Golf bedroht.

Ein Drittel des Öleintrags im Golf sind gemäß hoher Mitarbeiter der saudiarabischen Umweltbehörde durch Kriegshandlungen der Alliierten (Angriffe auf irakische Ziele) verursacht worden (Tagesspiegel 21.2.91).

Mitte März waren bereits 460 km (95%) der kuwaitischen Küste betroffen (FR 14.3.91). Der Golf ist durch die sprudelnden Ölquellen von weiteren Öleinträgen bedroht. Mehrere hundert Barrel Öl fließen weiterhin täglich in dieses Gewässer. Es gibt jetzt Meldungen von mehreren neuen Ölteppichen. (Beim 1. Golfkrieg ergoß sich 1983 ein Ölteppich in den Golf, der ein Drittel der jetzigen Größe hatte. Er ist bis nach Indonesien gezogen und es wurden zahlreiche Industrie- und Wasseraufbereitungsanlagen am Golf geschlossen.)

Von den ca. 1000 Ölfeldern wurden ca. 800 durch Sprengungen beschädigt, ca. 600 sollen brennen. Was an Öl nicht verbrennt, sammelt sich zu Seen. Laut Frankfurter Rundschau vom 27.3. haben einige bereits die doppelte Größe eines Fußballfeldes und sind bis zu 1,25 Meter tief. Es wird vergebens versucht, sie zu entzünden. Derzeit verbrennen ca. 6 Mio Barrel Öl täglich, was etwa der vierfachen Tagesförderung von Kuwait vor der Besetzung durch den Irak entspricht. Somit wurde der schlimmste Fall (worst-case) aller offiziellen Annahmen weit überschritten. Löschungen haben bis heute nicht stattgefunden, und alle Ölfelder zu löschen wird Jahre dauern. Kuwaitische Umweltexperten haben die Evakuierung jener Wohngebiete gefordert, die in der Nähe des Bulgan-Ölfeldes liegen. Das Krebsrisko steigt (FR 28.3.91).

Die Flüsse Euphrat und Tigris sind durch die Kriegshandlungen insbesondere die Bombardierung von chemischen Anlagen wahrscheinlich verseucht. Sie führen, gemäß eines ersten UNO-Berichtes ungewöhnlich wenig Wasser, was die Schadstoffkonzentration erhöht.

Erinnerungen an Bhophal, Tschernobyl, Sandoz, Seveso werden wach. Jeder ökologische Grenzwert ist gigantisch überschritten. Es werden, allein schon wegen dem Rauch und dem fehlenden Trinkwasser, zigtausende Menschen zu Umweltflüchtlingen.

72 Prozent der Bevölkerung des Iraks leben in Städten, deren Infrastruktur gemäß eines UNO-Berichtes total zerstört wurde. Irak wurde in einen vor-industriellen Zustand zurückgebombt, ist aber gleichzeitig abhängig wie ein normales Industrieland von intensiver Energie- und Technologienutzung (New York Times 23.3.91). Konkrete, d.h. abgesicherte Aussagen lassen sich jedoch erst nach einer Schadenserhebung machen. Die EPA, das US-amerikanische Umweltministerium, hat zwar Erhebungen vor Ort gemacht, von denen aber nichts in die Öffentlichkeit drang. Auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) sowie amerikanische und britische Militärstellen haben laut Tageszeitung v. 2.4.91 Anläufe gemacht, die Umweltschäden zu untersuchen. Offiziell wurde noch nichts bekannt gegeben.

Der Krieg ist zu Ende, doch der Umweltkrieg geht weiter

Viele Exilkuwaiter werden bis auf weiteres im Exil bleiben. Tausende sind nach Ankunft wieder abgefahren. (New York Times 29.3.91).

Derzeit werden die arabische Halbinsel in Äthiopien, Somalia, Sudan, Teile Ägyptens, der Türkei, der Süden der UdSSR, vor allem der Iran, Pakistan, Afghanistan und Indien aus der Luft »angegriffen«. Hamburger Meteorologen errechneten für diese Gebiete einen Eintrag von mindestens 250 mg Ruß pro Quadratmeter. Ernteausfälle werden befürchtet. Unterhalb des Rußes kommt es zu gravierenden Temperatursenkungen, die vor allem die Landwirtschaft beeinträchtigen. Lokal, also eine Fläche so groß wie Europa, kommt es zu Klimabeeinträchtigungen (Hamburger Morgenpost 26.1.91).

Das britische meteorologische Institut hat im Auftrag der britischen Regierung ein Szenario angefertigt, welches von gleichen Voraussetzungen wie das Hamburger Szenario ausgeht. Hier wird allerdings zusätzlich erwähnt, daß der Monsunregen in Teilen ausbleiben kann – eine akute Gefährdung der Ernährungsgrundlage von 1000 Millionen Menschen (Britisch meteorologisches Institut 1991).

Alle genannten Berechnungen beziehen sich jedoch auf das Verbrennen einer kuwaitischen Öl-Jahresproduktion (1.6 Mio Barrel/Tag); derzeit brennt aber täglich die vierfache Menge (ca. 6 Mio Barrel/Tag)!

Ob der Ruß größere Teile von Europa erreichen kann, und dabei ähnliche Schäden wie jetzt in der Golfregion verursacht, hängt u.a. davon ab, ob er in die oberen Atmosphärenschichten gelangt. Zugleich würde dann dabei auch die Ozonschicht in Teilen zerstört. Ganz unwahrscheinlich ist dies bei dem Ausmaß der Brände nicht. Bereits Ende März wurde Griechenland von den Rauchwolken erreicht. Rußhaltige Regenwolken sind bis zum Rand des Schwarzen Meeres und weiter nach Rumänien, Bulgarien und Griechenland gezogen. Im Osten wurden Afghanistan und Pakistan erreicht (Spiegel 13/91). Im Himalaya wurde schwarzer Schnee gesichtet (taz 2.4.91).

Der Direktor des Überwachungssystems des Umweltprogramms der Vereinten Nationen (UNEP), Michael Gwynne, verglich die Schäden mit der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl (FR 30.3.91). Die kuwaitischen Behörden haben Menschen mit Herz- und Kreislaufbeschwerden aufgefordert, bei hohen Rauchkonzentrationen in geschlossenen Räumen zu bleiben.

Gemäß Professor Massoud Pirbazari, Umweltchemiker an der University of Southern California in Los Angeles kann der Rauch zu schweren Schädigungen führen. Teile der freiwerdenden Verbindungen gehörden zu den giftigsten Chemikalien und sind krebserregend (Piotrowski 1991).

Das World-Watch-Institut in Washington empfahl der Kuwaitischen Regierung, die Wiederbesiedlung Kuwaits so lange auszusetzen bis die meisten Feuer gelöscht seien. Sie verwiesen dabei auf den tödlichen Nebel von London 1952, wo einige Tausend Menschen durch Schadstoffe getötet wurden (World-Watch-Institute 1991).

Carl Sagan, Professor für Astronomie und Weltraumwissenschaften an der Cornell University und Richard Turco, Professor für atmosphärische Wissenschaften an der University of California in Los Angeles haben inzwischen berechnet, daß zwischen 20 und 40 Prozent der nördlichen Hemisphäre mit der Rauchwolke bedeckt werden kann und es dort zu gravierenden klimatischen Veränderungen kommen könnte. Eine Befürchtung ist, daß in Indien durch den Sommermonsun die Rauchwolken das Land vergiften können. (Piotrowski 1991).

Das größte ökologische Welt-Notstandsgebiet aller Zeiten

Bis jetzt sind keine offiziellen Schadstoff-Messungen bekannt. Diese sind jedoch dringlichst einzufordern.

Zahlreiche (über 30) atomare und chemische Anlagen wurden bombardiert. Bei einem Reaktor, der 30 km vom Stadtkern Bagdads entfernt lag, hätte nach deutschem Standard 20 km in Windrichtung evakuiert werden müssen. Man weiß bis heute nicht, was mit den 27.6 Pfund angereicherten Uran (93% pure U-235), welche der Irak bevorraten soll, passiert ist (New York Times 29.3.91). Bereits Mitte des Krieges gaben die britischen Militärs bekannt, daß ca. 85% der Ölanlagen im Irak zerstört wurden.

Durch die Flächenbombardements ist eine große Fläche regelrecht zerfetzt. Zwar wurde bei den Bombardierungen nicht alles zerstört, jedoch wurde das »Nervensystem des Landes und des Volkes« (Jacobs 1991) vernichtet. Ein Arzt von Cap Anamur schildert dies so: »Es ist die Chirugie eines modernen Krieges, der auf den ersten Blick seine Unmenschlichkeit zu verlieren scheint, weil er kaum Menschenopfer kostet, der aber Folgeerscheinungen hinterläßt, die zu einem schleichenden Ausbluten der Bevölkerung werden können. Eine Kriegsart, die zum Verhungern führt, die Krankentransporte unmöglich macht, die medizinische Behandlungen und Hilfe verhindert… Der Irak steht am Rand einer Hungerkrise, am Rand eines Kollapses durch seine zerstörte Infrastruktur und am Rand von Epidemien.« (Jacobs 1991).

Der Krieg am Golf wird derzeit jedoch mit anderen Mitteln fortgeführt. Das Handelsembargo hat jetzt nach der Bombardierung eine katastrophale Wirkung.

Zu den Flüchtlingen und Bedrohten durch Epidemien, Hunger und Wassermangel, sowie Umweltverseuchungen kommen die ca. zwei bis drei Millionen Menschen (vor allem Kurden) hinzu, die derzeit ihre Siedlungsgebiete verlassen, um ihr Leben, daß durch die nach dem Krieg ausgebrochenen Bürgerkriege gefährdet ist, in Sicherheit zu bringen.

Schon durch die Besetzung Kuwaits wurden Hundertausende zu Flüchtlingen. Dies hat insbesondere für die anliegenden Staaten, verheerende ökonomische Auswirkungen.

Kriegsziele Kriegsergebnisse
Befreiung Kuwaits Kuwait ist befreit, aber ökologisch vernichtet
(teilweise vorhersehbar)
Wiederherstellung der territorialen Integrität
Kuwaits
Wiederherstellung der territorialen Integrität durch
Verletzung der territorialen I. von mind. 12 anderen Staaten (teilweise vorhersehbar)
Wiederherstellung der internationalen Sicherheit bis jetzt nicht erfolgt; außerdem: Zerstörung der
internat. ökologischen Sicherheit (vorhersehbar)
Stopp des »Umweltterrorismus« 30% der Umwelteingriffe durch Alliierte verursacht
(vorhersehbar: kein Erfolg bei den brennenden Ölquellen; weitere Öleinträge in den
Golf)
Einforderung der Menschenrechte elementare Verletzung durch sog. »Nebenschäden«
und Flächenbombardements. (vorhersehbar) Außerdem Medienzensur (geplant)
Einforderung des Völkerrechts Verstoß durch Bombardements von A- und C-Anlagen;
durch Umweltkriegsführung
Demokratie Unterstützung autoritärer Staaten am Golf
(vorhersehbar)
UNO-Beschlüsse bis dato z.B. keine Verwirklichung der
UNO-Resolutionen 242, 338 (vorhersehbar)

Die Folgen des Krieges waren im Vorfeld bekannt

Worst-Case: ungünstigster Fall. „In der militärischen Beurteilung der taktischen Lage zweckmäßige Methode der Risikominimierung bei eingeschränkter aktueller Informationslage über den Gegner. Aus den vorhandenen Informationen der das zukünftige Gefecht bestimmenden Größen werden die Handlungsalternativen des Gegners ermittelt und auf die eigene Lage bezogen. Das für die eigene Lage ungünstigste Verhalten des Gegners wird dann – auf jeder Führungsebene getrennt und jeweils unter anderen Voraussetzungen und nach anderen Gesichtspunkten wesentliche Grundlage für eigenes Planen und Handeln“ (Lutz S.291).

Ökologische »worst-case-Szenarien« wurden ignoriert. Zu den das »zukünftige Gefecht bestimmenden Größen« gehörte von Anfang an die Ökologie. Saddam Hussein hatte erstmals in der Geschichte am 23. September 1990 einen Umweltkrieg als Abschreckung gegen jegliche andere Kriegshandlung angedroht. Er wollte alle Ölfelder verminen und durch Sprengung zum brennen bringen, sollte es zu einem Angriff gegen ihn kommen.

König Hussein von Jordanien ließ auf der zweiten Weltklimakonferenz am 6. November 1990 in Genf durch seinen Wissenschaftler Dr. Abdullah Toukan ausführlich die potentiellen, globalen Umweltauswirkungen von brennenden Ölfeldern darlegen. Die Öffentlichkeit, vor allem die europäische, beachtete diese Fragestellung nicht.

Im Januar 1991 mehrten sich die dramatischen Appelle an die regierenden Politiker. Wissenschaftler, wie z.B. Prof. Carl Sagan, Dr. Joe Farman (Entdecker des Ozonlochs in der Antarktis), oder Nobel-Preis-Träger Dr. Bernard Lown sagten, daß die ökologischen Kosten alle anderen Kosten des Krieges in den Schatten stellen würden.

Prof. Dr. Paul J. Crutzen, Direktor der Abteilung Chemie in der Atmosphäre am Max-Planck-Institut für Chemie und Mitglied der Enquete-Kommission »Schutz der Erdatmosphäre« des Deutschen Bundestages (von ihm stammt die derzeitig gültige Ozonloch-Theorie), sowie Prof. Dr. Wilfrid Bach, Klimatologe an der Universität Münster und ebenfalls wissenschaftlicher Berater der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages haben jeweils eigene Berechnungen angestellt. Dr. Abdullah Toukan und seine Mitarbeiter vom Higher Council for Technology and Science, einem Institut der Königlichen wissenschaftlichen Gesellschaft in der jordanischen Hauptstadt Amman, hatte sie teilweise um Hilfestellung bei seinen Berechnungen gebeten.

Ebenso gab Dr. John Cox, Petrochemiker und lange Zeit Berater einer Ölfirma im Golf, Berechnungen an die Öffentlichkeit. Auf einer internationalen Konferenz am 2.1.1990 in London, bat er dringend, seine Thesen von öffentlicher (staatlicher) Seite nachzurechnen (Cox 1991). Es wurde eine wissenschaftliche Sonderkommission gegründet, die sich am 13.1.1991 noch einmal in der UNO in New York an die Weltöffentlichkeit wendete (Scientific Task Force 1991).

Andere Wissenschaftler bestätigten Teilaspekte der vorgelegten Berechnungen. Richard Scorer, Meteorologe am Londoner Imperial College fürchtet die Ausbreitung einer Rußwolke bis Bombay und in einem Monat um die ganze Welt herum (Spiegel 1991). Dr. Mojib Latif vom Marx-Planck-Institut für Meteorologie in Hamburg befürchtet katastrophale Folgen für Indien und Europa (Wedemeyer 1991).

Zu den potentiellen Folgen des Krieges auf den Golf selbst und die damit zusammenhängenden Ölverseuchungen existiert ebenfalls eine Studie von Richard Golob: »Environmental Impact of War in

the Arabian Gulf« (Golob 1990), die detailliert den Ölgau und seine Konsequenzen beschreibt.

Wie jetzt bekannt wurde, hat auch das Pentagon eine Studie erstellen lassen. In ihr wurde sogar festgestellt, daß die Ölfeuer die Ökologie des Golfes, Süd-Irans, Pakistans und Nord-Indiens beeinträchtigen könnten (Miller 1991).

Umweltminister Töpfer ließ sich in einem Gespräch am 25. Januar 1991 von 11 bis 14 Uhr u.a. von den Klimatologen Prof. Grassl aus Hamburg und Prof. Crutzen aus Mainz über die möglichen Umwelt-Folgen eines Krieges informieren. Auch im Umweltausschuß des deutschen Bundestages wurde darüber am 20.2. debattiert. Die SPD hatte zuvor am 19.2. eine Anhörung gemacht, ohne allerdings die Umweltverbände dazu einzuladen.

Deshalb ist es besonders bemerkenswert, wenn Herr Töpfer am 10.3.91 zu einer publikumsträchtigen Dreittages-Reise in den Golf aufbrach. Michael Müller, SPD-Bundestagsabgeordneter und einer der wenigen Politiker, die vor den Auswirkungen des Golf-Krieges gewarnt haben, meint dazu: „Wer vorher trotz bekannter Umweltgefahren geschwiegen hat, sollte sich auch anschließend persönlich zurücknehmen. Die Umwelt braucht keinen Showminister, sondern einen eindeutigen Interessenvertreter“ (FR 11.3.91).

Trotz all dieser erschreckenden Fakten gibt es bis heute keine offizielle Stellungnahme der Bundesregierung zu den genannten ökologischen Folgen. Bei der ständigen »Golflage« im Bundeskanzleramt während des Krieges, soll kein Vertreter des Umweltministeriums anwesend gewesen sein.

Militärische Sicherheit zerstört ökologische Sicherheit

Angesichts der weltökologischen Situation sollte es selbstverständlich sein, daß die »internationale Sicherheit« primär ökologisch definiert werden muß: internationale ökologische Sicherheit. Allein wegen der durch die (damals potentiellen) Ölbrände verursachten Gift- Freisetzung hätten jegliche Kriegshandlungen in der Golfregion unterbleiben müssen.

Militärische Sicherheit nimmt als Bezugsgröße bzw. Definitionsgrundlage die territoriale Integrität, also die Sicherung von Nationalgrenzen. Ökologische Sicherheit nimmt als Bezugsgröße den Erhalt der ökologischen Lebensgrundlagen.

Mit der »Wiederherstellung der internationalen Sicherheit« und der territorialen Integrität von Kuwait wurde die internationale ökologische Sicherheit stark gefährdet und es wird derzeit die territoriale Integrität von mindestens einem Dutzend nicht (direkt) kriegsbeteiligter Staaten durch die ökologischen Folgen verletzt.

Die Zerstörung der Landwirtschaft und der Trinkwasserressourcen

in diesen betroffenen Ländern spricht eine deutliche Sprache. Wer den Weltfrieden sichern will, und dabei die internationale ökologische Sicherheit beachtet, muß mit behutsamen und wirkungsvollen, vor allem aber mit ökologisch-verträglichen Methoden arbeiten. Hier gilt es dringend Forschungs- und Arbeitsschwerpunkte auf allen nationalen und internationalen Ebenen zu setzen!

Der Golfkrieg: die konsequente Fortsetzung des Ressourcenkrieges

Die erste »Ressourcenfront«: Ein Viertel der Menschheit, die westlichen Industrieländer, verbrauchen 75% der Energie und 80% der Rohstoffe! Die USA mit ihren 250 Millionen Einwohnern, was ca. 5% der Weltbevölkerung entspricht, haben allein ein Viertel des weltweiten Energieverbrauchs, den sie u.a. mit Erdöl bestreiten! Klaus-Peter Klingelschmidt macht zurecht darauf aufmerksam, daß es schon im Vietnamkrieg um nicht geringe Ölvorkommen und Bohrlizenzen ging. Bereits während des Krieges in Saigon wurden die Konzessionsvergaben konzipiert (Klingelschmidt 1991).

Die zweite »Ressourcenfront«: Energieverbrauch bedeutet auch Freisetzung von Giften bei der Verbrennung, vor allem Kohlendioxid (CO2), welches zu 50% am Treibhauseffekt beteiligt ist. Die abstrakte Ressource Atmosphäre wird dabei zerstört.

Dazu der Wissenschaftsökologe Reinhard Loske: „Im Moment lebt die Menschheit in der Nordhemisphäre wie ein genußsüchtiger und versoffener Bankrotteur, der das Kapital seiner Vorfahren verspielt, seinen Mitmenschen keinen Raum zur Entfaltung läßt und seinen Kindern die Zukunft raubt“ (Loske 1991).

Schon im Oktober stellte R. Loske die weltweiten politisch- ökologischen Folgen der Golf-Krise fest:

1. Die durch die weltweite Abrüstung freiwerdenden Gelder seien für eine »ökologische Friedensdividende« nicht mehr verfügbar. Stattdessen werden die Militärs sich damit erneut sanieren.

2. „Geo-Energiepolitik wird wieder vor allem als Aufrechterhaltung des freien Ressourcenzugangs für die »freie Welt“und nicht als verantwortungsvolle und gemeinschaftliche Nutzung begrenzter Naturschätze verstanden“ (Loske 1990).

Der Nachschub von billigem Öl muß für die »Klima-Verbrecher« USA (so zitiert Fritz Vorholz in der »Zeit« Teilnehmer der 2. Welt-Klima-Konferenz in Genf) gesichert werden. „Was militärisch am Golf mitverteidigt wird, nämlich die energiepolitische Verschwendungssucht des Westens, ist längst auch selbst zu einer Bedrohung der Menschheit geworden“ (Vorholz 1991). Dies ist durch die »neue«, im Januar bekanntgewordene Energiepolitik der USA bestätigt. Militärische Sicherheit ist das Instrument zur Aufrechterhaltung eines unsozialen sowie ökologisch vernichtenden Weltwirtschaftssystems.

Ökologische Vorleistungen für militärische Sicherheit

Bereits vor dem »heißen Krieg« gab es schwerwiegende durch das Militär verursachte ökologische Schäden, hervorgerufen durch die Besetzung Kuwaits durch den Irak und die damit zusammenhängende Truppenmassierung am Golf.

Während des Krieges gab es mehrere gefährliche Unfälle. Neben den bekannten Abstürzen sind z.B. mindestens zwei Atomkriegsschiffe beladen mit mehreren Atomwaffen auf Seeminen aufgelaufen (Greenpeace 18.2.91).

Über 9000 Panzer, über 2000 Flugzeuge, fast 1,1 Mio Soldaten mit entsprechendem Gerät, zahlreiche Schiffe etc. wurden zu Luft, Land und Wasser (teilweise) über tausende von Kilometern bewegt (stationiert). Hierbei entstehen nicht nur zahlreiche Schäden. Die Wüste ist ein sehr fragiles und leicht zu zerstörendes Ökosystem. Jedes schwere Fahrzeug zerschneidet die Oberfläche und die Erosion setzt ein mit Auswirkungen, die Jahrhunderte andauern können. Die Spuren der Rommel-Armee in Nord-Afrika sind noch heute deutlich in der Wüste sichtbar (Cloudsley-Thompson 1990).

Es wurde und wird eine Menge an Energie verbraucht, die sich leider noch nicht berechnen ließ. Das Pentagon ist als Institution der größte Ölkonsument der Welt. Ein F-15 Bomber kann in 25 Minuten 625 Gallonen Kerosin verbrauchen (etwa 2365 Liter). Ein Lufttransporter schafft dieses bereits in weniger als sieben Minuten. Ein B-52 Bomber verbraucht pro Stunde 3612 Gallonen (ca. 13.670 l), ein F4-Bomber verbraucht 1680 Gallonen in der Stunde (ca. 6.360 l).

Über 2 Milliarden Pfund Munition und Waffen mußten ca. 7000 Meilen um die Erde geflogen werden (Smith 1991).

Weitere Beispiele aus der »Vorkriegszeit« sind in der Studie »Militär, Klima und Rüstung« (Achilles 1991a) aufgeführt.

Weltweit beeinträchtigte das Militär bereits die internationale ökologische Sicherheit und damit unseren Planeten durch oberirdische Atomwaffentests, Atomunfälle, verseuchte Landstriche, Energieverschwendung etc. (vgl. Achilles 1990).

Heraus-Forderungen

Es ist schon jetzt absehbar, daß das Militär seine Anwesenheit in der Golf-Region mit der nun anstehenden Katastrophenhilfe neu legitimieren wird. Die Bundeswehr versucht z.B. seit langem sich als Umwelt- und Katastrophenschützer zu profilieren. Es ist davon auszugehen, daß das Militär »großzügig« seine Kapazitäten (Ausrüstung, Manpower, Transport) für die Folgen des Krieges zur Verfügung stellen wird. Hierbei ist immer wieder zu betonen, daß diese Maßnahmen auch von zivilen Stellen koordiniert und durchgeführt werden können. Katastrophenschutztruppen müssen deshalb konsequenterweise entmilitarisiert werden. Ein ökologischer Heiligenschein für das Militär wäre nach diesem Krieg für unseren Planeten vielleicht der Todesstoß.

Auffallend ist derzeit die diffuse »Umwelt«-Berichterstattung aus der Region. Es gibt kaum Daten und auch Fernsehberichte sind eher verharmlosend. Hier ist von einer Selbstzensur zu sprechen, stellen doch die Folgen des Krieges die jetzige Lebensweise der Bewohner der Industrienationen in Frage. Die derzeitige Politik erleidet einen unbeschreibbaren Realitätsverlust.

Ohne Zweifel handelt es sich bei all dem Geschehen um einen entscheidenden Einschnitt in die Menschheitsgeschichte. Unsere Aufmerksamkeit wird wie ein Fokus auf die Existenzgrundlagen unserer Konsum- und Wegwerfgesellschaft gerichtet. Die einzig adäquate Reaktion auf diese vorhersehbare ökologische Teilapokalypse muß die »ökologische Wende« sein. Jeder kann z.B. durch wirklich ernsthaften Konsumverzicht dazu beitragen.

Die Politiker sind derzeit »Deserteure aus der Verantwortung«. Das mindeste wäre doch jetzt, autofreie Sonntage wieder einzuführen.

Aber es bleibt die Maxime „Freie Fahrt für freie Bürger“ – bis wir den ökologischen Abgrund erreicht haben.

Immerhin bleibt ein Hoffnungsschimmer: vor und während des Krieges gab es eine intensive Zusammenarbeit von Friedens- und Umweltgruppen. Zu der bundesweiten Demonstration gegen den Golfkrieg am 26.1.91 in Bonn riefen u.a. auch Greenpeace, der Bund für Umwelt und Naturschutz, der Deutsche Naturschutzring u.a. Umweltorganisationen auf. Der ökologische Antimilitarismus hat gerade bei Jugendlichen an Boden gewonnen.

P.S. Wer Interesse an einer Weiterarbeit sowie Ideen, Ressourcen, Geld, Informationen etc. hat, möge sich bitte umgehend mit dem Autor in Verbindung setzen. Durch eine Nach-Kriegs-USA-Reise und zahlreiche Kontakte auch während des Krieges zu Wissenschaftlern (auch im Ausland) etc. gibt es eine Fülle von Informationen im MÖP-Büro. Es soll eine Dokumentation erarbeitet werden, die je nach finanzieller Unterstützung entsprechend intensiv ausfallen wird. Der Golfkrieg hat die Arbeit des MÖP-Büros so in Anspruch genommen, daß wir diesmal leider nicht in der Lage sind, weitere Nachrichten in Wissenschaft & Frieden anzubieten, obwohl unsere Akten überlaufen. Wir brauchen Hilfe in Form von Mitarbeit bei Büro und Redaktionstätigkeiten und andere infrastrukturelle Unterstützung wie z.B. Geld! MÖP e.V. Reuterstr.44 5300 Bonn 1 0228/26 11 08; Postgiroamt Dortmund, BLZ 440 100 46 Kto 638 28 – 461

Literatur

Achilles, Olaf :“Natur ohne Frieden«; München 1988
ders./ Lange, Jochen: »Tiefflieger«; Reinbek 1989
ders.: »Von der heiligen Kuh zum trojanischen Pferd«; Bonn 1990
ders.: »Militär, Rüstung und Klima«; KÖF-Reihe Band 6, Alheim 1991 (1991a)
ders.: »Wenn die Ölfelder brennen – die ökologische Dimension des Golfkrieges«; in B. Nirumand (Hg.) »Sturm im Golf« S. 208-230; erweiterte Ausgabe 2/91, Reinbeck 1991
Arbeits- und Forschungsstelle »Militär,Ökologie und Planung« (MÖP) e.V./ Achilles, Olaf: »Die ökologischen Folgen eines Golfkrieges«; Presseerklärung zur Pressekonferenz des Netzwerk Friedenskooperative am 10.1.91 in Bonn
dies./ BUND NRW (Hg.): »Klima – Katastrophe – Krieg; Am Golf der Sieg , den Frieden mit dieser Erde verloren?« von Dirk Haserich und Belinda Pillmann; Bonn 1991
Britisches meteorologisches Institut: »Possible Environmental Impacts of Burning Oil Wells in Kuwait«; Note by the Meteorological Office 14.1.91
Brown L.R.: »Für die Militärs bleibt genug«; Spiegelgespräch in: Der Spiegel 3/90 S.90-98
Cloudsley-Thompson, J.L.: »The Destructive Effects of Warfare on the Dessert Environment« in: Environmental Awareness Vol.13 No.2, 1990 S. 43-48
Crutzen, Paul J.: »Brief an das Königshaus Jordanien«; 5.1.91
Cox, John: »Environmental Consequences of a Gulf War«; London Januar 1991
Der Spiegel: »Es wäre die Hölle los«; 3/91 S.116
Evangelischer Pressedienst: »Experte: Militärs vernichten, was sie verteidigen wollen«; Hamburg 7.1.91
Financial Times: »Saudi Arabian refinery to close after artillery attack«; 18.1.91
dies.: »Airlines lose over $2bn in two month«; 27.3.91 Greenpeace: »U.S. Nuclear Weapons in the Persian Gulf Crisis«; Washington D.C. 1991
dies.: »Glück im Unglück? Amerikanische Atomkriegsschiffe auf Minen aufgelaufen.« Presseerklärung vom 18.2.91
Golob, Richard S.: »Environmental Impact of War in the Arabian Gulf«; Cambridge Mas. o.J. (1990)
Jacobs Immanuel: »Kaum Zerstörungen, aber die Lebensgrundlagen sind vernichtet«; in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 5.4.91
Karisch, Karl-Heinz: »Nach dem Krieg bleibt Irak eine vergiftete Wüstenlandschaft«; in: Frankfurter Rundschau 19.1.91
Klingelschmidt, Klaus-Peter: »Schon im Vietnamkrieg gings um's Öl«; in: die tageszeitung 18.1.91
Los Angeles Times: »High Tech's Glory Side«; 24.2.91 S.1
Loske, Reinhard: »Im Schatten der Golfkrise«; in: die tageszeitung vom 26.10.90
ders.: »Das ökologische Ende des Nationalstaates«; in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 2/91; Bonn 1991
Lutz, Ernst: »Lexikon zur Sicherheitspolitik«; München 1980
Miller, John M.: »The Hidden Casaualities«; New York, San Francisco 1991;
ders.: »Environmental casualties yet to be counted«; in: Guardian 20.3.91
Netzwerk Friedenskooperative: »Aktionstag der Friedensbewegung mit Veranstaltungen im ganzen Bundesgebiet. Ökologische Folgen des Krieges katastrophal«; Presseerklärung vom 10.1.91
New York Times: »An Unknown Casualty«; 20.3.91 S. A29
dies.: »Slow Recovery Is Seen For Kuwait And Iraq Oil«; 21.3.91 dies.: »Excerpts From U.N. Report on Need for Humanitarian Assistance in Iraq«; 23.3.91
dies.: »Another War Begins as Kuwaiti Oil-Well Fires Threaten Region's Ecology«; 26.3.91
dies.: »U.S. Uncertain of Fate of Iraqi Uranium Big Enough for One Atom Bomb«; 29.3.91
dies.: »Kuwaitis Find the Easy Life Is a Casualty of War«; 29.3.91
dies.: »None of Kuwait's Oil Well Fires Put out Yet«; 1.4.91
Meteorologisches Institut Universität Hamburg/ Max-Planck- Institut für Meteorologie: »Auswirkungen von Ölbränden in Kuweit auf das Globalklima«; Hamburg März 1991
Nonnenmacher, Peter: »Experten sagen bei Golfkrieg auch eine Umweltkatastrophe voraus«; in: Frankfurter Rundschau 4.1.91
Piotrowski, Christa: »Nachtfröste mitten im Sommer könnten Reis-Ernten vernichten«; in: Frankfurter Rundschau v. 6.4.91
Political Ecology Group: »War in the Gulf- an Environmental Perspective«; San Francisco 1991
Renner, Michael: »National Security: The Economic and Environmental Dimensions«; Washington 1989
Rosenkranz, Gerd: »Wenn das Schwarze Gold brennt«; in: die tageszeitung 16.1.91
Scientific Task Force: »Environmental Impact of War in the Gulf«; New York 11.1.1991
dies.: »Interim Summary of the Scientific Evidence Concerning the Ecological Effects of a War in the Gulf«; London 14.1.91
Smith, Gar: »How Fuel-Efficient is the Pentagon?«; in: Earth- Island-Journal S. 39
The Green Party Great Britain: »Environmental impact of War in the Gulf«; Policy Briefing ;London 2.1.91
Vorholz, Fritz : »Was wird am Golf verteidigt?«; in: die Zeit v. 4.1.91
Watts, Susan: »Kuwait could burn for a year«; in: The Independent 3.1.91
Wedemeyer, Georg: »Saddam will „das Licht auf viele Jahre löschen“»; in: Hamburger Morgenpost 19.1.91
Wille, Joachim: »Wenn die Ölfelder brennen, wird es finster auf der Erde«; in: Frankfurter Rundschau 23.1.1991
World-Watch-Institute: »War on the Environment: Lessons from the Gulf«; Washington D.C. März 1991

Derzeit erscheint eine Studie zu den Klimafolgen von Militär und Rüstung (»Militär, Rüstung und Klima«; Verlagshaus Riedmühle; Alheim 1991, 21,80.- DM). In dem rororo-aktuell Buch von B. Nirumand (Hg.) »Sturm im Golf« schrieb er den Beitrag »Wenn die Ölfelder brennen -die ökologische Dimension des Golfkrieges« (S. 208-230; erweiterte Ausgabe 2/91, Reinbek 1991, 10,80.- DM); Zu den ökologischen Folgen hat die MÖP e.V. einen Reader erstellt und eine Broschüre zusammen mit dem BUND publiziert: »Klima-Katastrophe-Krieg – Am Golf der Sieg, den Frieden mit dieser Erde verloren?« Sie kann gg. 3.- DM bei der MÖP e.V., Reuterstr. 44, 5300 Bonn 1 bestellt werden.

„Auskunftsverbot“ für Wissenschaftler staatlicher Laboratorien“

Der Frankfurter Allgemeinen (FAZ) vom 11.4.91
entnehmen wir folgende Zeilen:

„Bei Wissenschaftlern herrscht … immer noch
Ungewißheit über die Auswirkungen, welche die aus den brennenden Ölquellen in die
Atmosphäre gelangenden Schadstoffe auf das Klima haben. Diese Ungewißheit wird durch
eine Anordnung der amerikanischen Regierung zusätzlich vergrößert, nach der es
Wissenschaftlern verboten ist, der Öffentlichkeit Auskünfte über den Zustand der Umwelt
im Kriegsgebiet zu geben.

Wie viele andere Journalisten stieß auch der für das in New
York erscheinende Magazin „Scientific American“ arbeitende John Horgan bei
seinen Recherchen über die Umweltfolgen des Golfkrieges auf eine Mauer, Wissenschaftler
verweigerten Auskünfte, waren nicht zu sprechen oder verwiesen an Pressestellen in
Washington. Von dort erhielt man nur nichtssagende Informationen. Während seiner
Recherchen wurde Horgan jedoch eine Anordnung zugespielt, die das amerikanische
Energieministerium an jene Laboratorien verschickt hatte, die mit Bundesmitteln
Umweltforschung betreiben. Darin wurden die Wissenschaftler angewiesen, Reportern keine
Auskünfte über die Umweltfolgen des Krieges zu geben. Statt dessen sollten sie eine
vorbereitete Erklärung abgeben. In ihr heißt es, daß die Auswirkung des Golfkrieges auf
die Umwelt bisher übertrieben dargestellt worden sei. Die Sache werde untersucht …
Ein wesentlicher Teil der schon am 25. Januar erlassenen, bis heute jedoch
geheimgehaltenen Anordnung wird in der Mai-Ausgabe des Scientific American abgedruckt.

Olaf Achilles, Dipl.Ing., 28 Jahre, ökologischer Friedensforscher, Leiter der Arbeits- und Forschungsstelle »Militär, Ökologie und Planung« (MÖP) e.V. in Bonn, zahlreiche Publikationen.

Editorial

Editorial

von Paul Schäfer

An erster Stelle muß ein Dankeschön stehen. Unser Appell, die Beiträge für das Abonnement freiwillig zu erhöhen, hat eine zusätzliche Einnahme von über 2000.- DM für 1991 erbracht! Auch die Mitglieder der Naturwissenschaftler-Initiative haben großartig geholfen, »das neue Projekt« Informationsdienst auf den Weg zu bringen. Auch die anderen Träger der Zeitschrift engagieren sich finanziell und inhaltlich. Kurz gesagt: Die finanzielle Basis für die Fortführung von Wissenschaft & Frieden steht.

Am »organisatorischen« Rahmen wird noch gezimmert. Während Sie diese Ausgabe in den Händen halten, ist die wichtigste Phase dieses Prozesses – hoffentlich – abgeschlossen. Am 27. April tagte die Gründungsversammlung des Vereins Wissenschaft & Frieden, der künftig diese Zeitschrift herausgeben wird.In ihm sindvertreten: Arbeits- und Forschungsstelle Militär Ökologie Planung; Bewußtsein für den Frieden – Friedensinitiative Psychologie • Psychosiziale Berufe; Bund demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler; Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung; Informationsstelle Wissenschaft & Frieden; Kulturwissenschaftler für Frieden & Abrüstung; Naturwissenschaftler-Initiative »Verantwortung für den Frieden; Pädagoginnen und Pädagogen für den Frieden. Weitere Einrichtungen sollen in loserem Verbund an dem Projekt mitwirken. In der nächsten Ausgabe werden wir Sie eingehender mit der künftigen Konstruktion vertraut machen. Es wird seine Zeit brauchen, bis alle Beteiligten zueinander gefunden haben; daher werden wir 1991 in der Gestaltung des Heftes experimentieren müssen. Für Ihre Ratschläge sind wir sehr dankbar.

Wir beginnen wieder mit einem umfangreichen Doppelheft: Der Golf-Krieg hat uns so viel »Stoff« beschert, daß dieser Entschluß nahezu unvermeidlich war. Zum zweiten wollen wir eine schnelle und ausführliche Auswertung der beiden großen Kongresse der Natur- und der KulturwissenschaftlerInnen, die am Jahresende stattfinden, im Januar 1992 vorlegen. Damit kämen wir auch in einen vernünftigen Publikationsrhythmus für eine Quartalszeitschrift. Wir werden versuchen, Sie durch möglichst qualifizierte Beiträge in den nächsten Heften zu entschädigen.

Der Persisch/Arabische Golf scheint inzwischen wieder weit weg. Wir hören noch von den Nachwehen: Flüchtlingselend, Schwarzer Schnee im Himalaya, Notstandsverwaltung. Doch „im Krieg gibt`s keine Würschtl“ (Karl Kraus) Nicht, daß der Krieg nichts verändert hätte. Es gibt z.B. Bemühungen um eine »Entschärfung« des »Palästinenserproblems«. Aber schon heute darf gesagt werden: Was hätte mit den mind. 400 Mrd. Dollar, die der Krieg an Kosten verursacht hat, zur Lösung der regionalen Probleme beigetragen werden können! Demokratie gibt es zwar nicht zu kaufen; aber ohne ökonomische Wohlfahrt bleiben »Menschenrechte« und »Umweltschutz« – wie wir allenthalben auf dem Globus sehen können – leere Worthülsen.

Und die intellektuellen Kriegsbefürworter hierzulande müssen zur Kenntnis nehmen: Es wird in den alten Bahnen militärischer Abschreckung, hegemonialer Macht und ökologischer Ignoranz weitergemacht. Die Welt ist beschleunigtem Wandel unterworfen; doch eine »neue Weltordnung« ist nicht in Sicht. Die Menschenrechte werden nicht zur obersten Maxime der Außenpolitik; eine Entmilitarisierung der Konfliktregionen steht nicht an; über eine (umwelt-)gerechtere Weltwirtschaftsordnung wird nicht debattiert. Dem »Endsieg« über die Natur sind wir ein großes Stück nähergekommen. Der Triumph am Golf hat die militärischen Apparate in neue Betriebsamkeit versetzt: An Schnellen Eingreiftruppen der NATO, der WEU und der Bundeswehr wird gebastelt – HighTech-Militarismus gegen Hunger?

Ohne einen grundlegenden Paradigmenwechsel der Internationalen Politik sind die Entwicklungsprobleme der Menschheit nicht zu lösen. Es ist trügerische Hoffnung, diesen Wandel an die etablierten politischen Klassen in West, Ost, Nord und Süd zu delegieren. Das Schicksal des »Neuen Denkens« hat gezeigt, wie abhängig die Umsetzung der Ideen von der wirtschafts- und machtpolitischen Entwicklung ist. Und daß die besten Ideen nicht viel wert sind, wenn es keine »sozialen Träger« für ihre Verwirklichung gibt. Dies zu ändern, bliebt unsere Aufgabe.

Ihr Paul Schäfer

Kriegsgebiet Naher Osten

Kriegsgebiet Naher Osten

Fragmentarische Bemerkungen zu Situation und Perspektive1

von Till Bastian

Von den über 200 Kriegen, die zwischen dem Ende des Zweiten Weltkrieges und dem Jahr 1989 geführt worden sind, haben 45, also ein überproportional hoher Anteil, die Krisenregion des Nahen Ostens erschüttert – und am 2.8.1990 hat mit der irakischen Invasion in Kuwait Krieg Nr. 46 begonnen… Dieser Nahe Osten ist „heute insgesamt eine hoffnungslose Region, in der eine Ordnungsstruktur fehlt und die aus konfliktträchtigen, fragmentierten Subregionen besteht, in denen der latente oder offene Krieg schon epidemische Formen angenommen hat“ – so schreibt ein aus Damaskus stammender Autor, dessen sehr lesenswerte Studie auch insofern für den gegenwärtigen Stand der Politik- und Konfliktwissenschaft typisch ist, als daß sie ökologische Probleme nicht einmal ansatzweise in die Erörterung einbezieht 2.

I. Konfliktanalyse

In der Nahost-Region überschneiden sich verschiedene Krisendimensionen und Konfliktpotentiale in kaum noch überschaubarer Weise: Der politische Gegensatz zwischen Israel und seinen Nachbarstaaten; der religiöse Gegensatz zwischen Judentum, Christentum und Islam; der innerislamische Gegensatz zwischen Sunniten und Schiiten; der ethnische Gegensatz zwischen Persern, Arabern und anderen; der politische Gegensatz zwischen Feudalherrschaften, parlamentarischen Demokratien mit kapitalistischer Wirtschaftsstruktur und autoritärem Staatssozialismus; der wirtschaftliche Gegensatz zwischen solchen Ländern, die viel und solchen, die kein oder wenig Erdölvorräte besitzen – das sind nur einige der wichtigsten Bruchkanten.

Die irakische Invasion in Kuwait vom 2.8.1990 kann zwar noch als klassischer interstaatlicher Konflikt um den Besitz von Rohstoffen betrachtet werden3, der vom irakischen Diktator Saddam Hussein in ähnlich kühler und menschenverachtender Weise kalkuliert worden sein mag wie rund 200 Jahre zuvor die schlesischen Kriege von Preußens Friedrich II.4 und infolgedessen zum Konflikt zwischen dem Irak und einer internationalen Allianz eskalierte – es kann aber kein Zweifel daran bestehen, daß die ökologischen Zukunftsprobleme die Kriegsgefahr noch einmal drastisch verschärfen werden. Denn im Nahen Osten gilt:

die Wasserführung der großen Flüsse macht einige Länder zu Wassermonopolisten auf Kosten der anderen: so ist z.B. ein Konflikt um das Euphrat-Wasser vorprogrammiert, seit die türkische Regierung mit ihrem »südostanatolischen Bewässerungsprojekt« den Bau von drei Euphrat-Dämmen eingeleitet hat (zwei davon sind bereits in Betrieb, der dritte, der »Atatürk-Staudamm«, wird demnächst vollendet). Die Präsidenten beider Länder, Yildirim Akbulut und Saddam Hussein, hatten Anfang Mai 1990 bei einem Treffen in Bagdad das Euphrat-Problem erörtert – allerdings ohne Ergebnis (die Türkei hatte den Fluß im Januar 1990 gegen irakischen Einspruch zwecks partieller Füllung ihres Atatürk-Stausees einen Monat lang aufgestaut5);

  • der Meeresspiegelanstieg wird auf der 3,5 Millionen Quadratkilometer großen arabischen Halbinsel, von der nur schmale Randzonen bewohnt und bewirtschaftet werden können, gravierende ökologische Probleme zeitigen;
  • ebenso sind ökologische Probleme am Schatt el Arab, der gemeinsamen Mündung von Euphrat und Tigris in den persischen Golf, zu erwarten (der Schatt el Arab ist schon jetzt durch Versandung und durch Schiffswracks aus dem irakisch-iranischen Krieg schwer ramponiert, was für den Irak einen zweiten wichtigen Invasionsgrund dargestellt haben dürfte);
  • die fast ausschließlich auf die Monokultur der Erdölförderung zugeschnittene Wirtschaft vieler Nah-Ost-Staaten hat zum Niedergang aller anderen Erwerbszweige geführt6 – sie kann in dieser Form in jedem Fall nur noch einen absehbaren Zeitraum aufrechterhalten werden. Welches Regime sich mit welchen Mitteln auch immer den Löwenanteil der Ölvorräte sichern mag: es ändert dies nichts an deren Begrenztheit.

Die genannten Probleme dürften aber in jedem Fall die Bereitschaft verstärken, sich – wo der politische Niedergang der Region schon eingetreten ist und der ökologische bereits an die Türe klopft – kurzfristig auf Kosten anderer noch möglichst große Vorteile zu verschaffen: ein sozialdarwinistischer Expansionsdrang, der besonders bei der diktatorischen Führung des Iraks nicht gering entwickelt zu sein scheint.

Gerade in Anbetracht der neuen, ökologischen Dimension des Problems und ihrer zu erwartenden Eigendynamik könnte sich als zutreffend erweisen, was ein nachdenklicher Journalist schon vor drei Jahren über die Kriege des Nahen Ostens geschrieben hat: „Nicht auszuschließen ist, daß sie in den kommenden Jahren gar zu einem einzigen großen Kriegsherd verschmelzen, der sich von der iranischen Grenze bis zum Mittelmeer erstreckt“.7

II. Vom Regionalkonflikt zum Atomkrieg?

Als im Frühling 1990 der Verkauf von vierzig (!) Atombombenzündern an den Irak im letzten Moment platzte8, als kurz darauf auch noch Materialien für eine irakische Superkanone9 beschlagnahmt wurden10, kam vielleicht manchen von der Entspannung und vom raschen Wandel in Osteuropa faszinierten Mitmenschen schlagartig wieder in den Sinn, wie viele Atomwaffen es auf unserem Planeten noch gibt und daß ihre Zahl trotz Abrüstungsabkommen der Supermächte vielleicht sogar noch wachsen könnte – und zwar gerade in den Wetterwinkeln des Weltgeschehens. Die Eskalation am persischen Golf seit dem 2. August 1990 dürfte diese Befürchtungen weiter gesteigert haben – und das mit Recht.

Rascher noch als die Zahl der Atomsprengköpfe wächst freilich die Zahl der Trägersysteme – Raketen, die gegebenenfalls auch mit chemischen Kampfstoffen, der »Atombombe des kleinen Mannes« bestückt werden könnten – wozu der Irak erwiesenermaßen schon heute in der Lage ist. Derzeit werden 26 Länder geschätzt, die entweder schon über entsprechende ballistische Raketen verfügen oder aber in ihrer Entwicklung weit vorangeschritten sind. Bald wird es in einigen Ländern auch Atomsprengköpfe für diese Raketen geben, denn der »Non-Proliferation-Treaty« von 1968 hat seine Aufgabe nur bedingt erfüllt11: Gerne wird verdrängt, daß es heute bereits acht Atomwaffenbesitzer gibt – nicht nur die Supermächte USA und UdSSR, nicht nur Großbritannien, Frankreich, China und Indien, sondern auch Israel und Südafrika. Kandidaten für die Atomwaffenfähigkeit sind gewiß Pakistan, hochwahrscheinlich Brasilien12 und Argentinien, in absehbarer Zeit vermutlich eben auch der Irak. Was den letzteren anbetrifft, so wurde auf der am 20.8.1990 in Genf eröffneten vierten und letzten Überprüfungskonferenz zum NPT geschätzt, daß er binnen fünf Jahren über einsatzbereite Atomwaffen verfügen wird.

Die aus hochkarätigen Militärpolitikern zusammengesetzte sogenannte Ikle-Wohlfstetter-Kommission13, die im Januar 1988 einen Bericht zur strategischen Lage nach dem INF-Abkommen vorlegte, schätzte die Zahl der Atommächte im Jahr 2030 auf vierzig! Dies käme einer Verfünffachung der Atomwaffenbesitzer in rund 50 Jahren gleich und würde – sollte es wirklich so kommen – bedeuten, daß, rund gerechnet, von vier souveränen Staaten auf unserer Erde jeweils einer über atomare Massenvernichtungsmittel verfügen könnte! Der Atomwaffensperrvertrag selbst läuft 1995 aus; seine Verlängerung ist durchaus fraglich. Immer wieder haben vor allem Politiker aus der »Dritten Welt« darauf verwiesen, daß die Supermächte der in Artikel VI des Vertrages festgeschriebenen Verpflichtung zu ernsthafter und umfassender Abrüstung nicht nachgekommen sind14p>. Gerade im Nahen Osten zeigen sich die fatalen Folgen dieser Politik – und der zum Teil auf abenteuerlichen Wegen erfolgten Dennoch-Weiterverbreitung der militärischen Atomtechnologie14 – in verheerender Weise.

III. Verwicklung und Reaktion des Westens

Die technologische Verstrickung der europäischen Nationen, der USA und der Sowjetunion in die Militarisierung des Nahen Ostens gilt es zu bedenken, wenn heute so viel von internationalen Sanktionen und Aktionen gegen den Irak, von möglicher deutscher Beteiligung an UN-Friedenstruppen usw. die Rede ist.

Was nun diese Sanktionen selber betrifft: sie mögen sinnvoll und notwendig sein, heute gegen den Irak und künftig in vergleichbaren Fällen – doch frei von Scheinheiligkeit ist dieses Vorgehen nicht. Der Angriff Saddam Husseins gegen den Iran war nicht minder völkerrechtswidrig als seine Annektierung Kuwaits, und doch erfreute er sich allgemeiner Duldung (und er wurde zeitweise, z.B. bei der Rückeroberung der Halbinsel Fau im April 1988 sogar von US-Militärberatern unterstützt). Gegen das irakische Giftgas, an dessen Herstellung deutsche und andere Firmen nicht schlecht verdienten, hat sich kein Sturm der Empörung erhoben, als damit »nur« iranische Soldaten und kurdische Frauen und Kinder vergast worden sind….Gegen diese Sanktionen ist also vor allem einzuwenden, daß sie viel zu spät erfolgen, nämlich erst dann, als durch Husseins Maßlosigkeit die westliche Ölversorgung gefährdet wurde. Noch ein zweiter Umstand ist zu bedenken: Daß im Zuge der Ost-West-Entspannung eine neue, noch vor drei Jahren schier undenkbare Einigkeit im UN-Sicherheitsrat möglich wurde, ist ein großer Schritt voran im Engagement für den Weltfrieden; Einfluß und Bedeutung der Vereinten Nationen, die schon in Angola, Namibia und Afghanistan sowie beim Waffenstillstand im irakisch-iranischen Krieg eine sehr positive Rolle gespielt haben, werden sich künftig hoffentlich weiter erhöhen. Daß die USA allerdings, aus welchen Motiven auch immer, sofort auf eine militärische Option gesetzt und die Initiative des Handelns monopolisiert haben, die UNO vor vollendete Tatsachen stellend und alle diplomatischen Usancen mit der »normativen Kraft des Faktischen« blockierend, dann wird dieser erfreuliche Fortschritt (absichtlich?) wieder aufs Spiel gesetzt. Die Frontlinie »Panarabische Solidarität gegen imperialistische Einmischung der USA und anderer westlicher Mächte« wird dadurch erst recht zementiert. Insofern ist – über die Tagespolitik hinaus – einer konservativen französischen Zeitung zuzustimmen, die unterstrichen hat: „Der Westen ermißt nicht immer den Haß, den ihm die Völker entgegenbringen, die durch seinen Wohlstand, seine hochmütige Vergangenheit, seine herrschsüchtige Gegenwart, seine Unterstützung für feudale und korrumpierte Regime gedemütigt und gekränkt sind…Saddam Hussein könnte sehr wohl, wie Khomeini gestern oder Nasser vorgestern, der charismatische Führer werden, der den elektrisierten Massen in ihren Augen ihre Würde zurückgibt.“ 15

Bleibt zu ergänzen: und wenn nicht Saddam Hussein, dann ein anderer – internationale Militärstrafaktionen werden den populistischen Druck auf Dauer eher erhöhen und sich eventuell schon rasch als Pyrrhussieg erweisen.

IV. Der Niedergang der USA

Das Engagement der USA am persischen Golf ist vielleicht der letzte Versuch der USA, sich in der Rolle des »Weltpolizisten« dazustellen – Spötter haben angemerkt, daß eher vom »Weltsöldner« die Rede sein müßte, denn, wie US-Senator Sam Nunn pointiert formulierte, könnte es zum ersten Mal soweit kommen, daß ein Krieg der USA mit japanischen Krediten bezahlt werden muß. Die Gründe für das US-Engagement sind gewiß vielschichtig; psychologische Faktoren (etwa die Angst des George Bush, in die Lage Jimmy Carters zu geraten) spielen gewiß in individueller wie kollektiver Hinsicht keine geringe Rolle16. Daß sich hier eine Weltmacht im Niedergang in eine Situation manövriert, in der letzten Endes nur noch eine Option auf militärisches Handeln offenbleibt, stimmt für die Zukunft pessimistisch und legt den Grundstein für einen lange anhaltenden, virulenten USA-Islam-Gegensatz.

Was die ökonomische Potenz anbetrifft, sind die fünfzig »Vereinigten Staaten« nämlich schon lange alles andere als eine Supermacht. Der Versuch, die Sowjetunion »niederzurüsten«, hat dazu geführt, daß das ehemalige Gläubigerland USA heute mit den höchsten Auslandsschulden der ganzen Welt zu kämpfen hat17. Das US-Haushaltsdefizit; das nach dem Gramm-Rudman-Gesetz zum Beginn des Fiskaljahres 1991 (am 1.10.1990) auf 64 Milliarden Dollar hätte sinken sollen, ist nach einer Schätzung vom Juli 1990 auf fast 170 Milliarden Dollar gestiegen18. Das Engagement am Golf droht diesen Fehlbetrag auf 250 bis 300 Milliarden emporzutreiben. Der von der Regierung zwecks Erleichterung des Schuldendrucks bereitwillig in Kauf genommene ständig sinkende Dollarkurs – der im Juni 1990 noch den bisher niedrigsten Stand vom 31. 12. 1987 unterschritt – kann das unerwartet schwache Wirtschaftswachstum nicht ausgleichen (das US-Wirtschaftswachstum im ersten Quartal 1990 betrug, umgerechnet auf das gesamte Kalenderjahr, nur 1,3% – die Regierung hatte ursprünglich für ihre Haushaltsplanung bis 1992 eine jährliche Wachstumsrate von 2,6 bis 3% zugrunde gelegt, ihre Prognose aber schon auf 2,2% zurückstufen müssen, was von vielen Fachleuten immer noch als übertrieben optimistisch eingeschätzt wird). Der letzte große Versuch, der entgegen allen Legenden in weiten Bereichen international nicht mehr konkurrenzfähigen US-Industrie in Form des gewaltig dimensionierten SDI-Projekts19 eine militärisch fundierte »Anschubfinanzierung« zukommen zu lassen, darf als gescheitert gelten. Das Übergewicht der Rüstungsindustrie20 hat nicht nur schwerste ökologische Schäden in den USA selber hinterlassen21, sondern auch die Wettbewerbsfähigkeit der nicht-militärischen Branchen geschmälert, was die wirtschaftlichen Aussichten für die Zukunft verdüstert22. „Bis 1980 waren Handelsdefizite bei Industriegütern in den USA unbekannt. Heute dagegen beschränken sich die Importe nicht mehr auf Produkte mit geringem technischen und hohem Arbeitsaufwand, sondern sie nehmen sogar dort zu, wo die USA traditionell stark war: Automobile23, Gebrauchselektronik, Metallwerkzeugmaschinen, Stahl und Halbleiter. 1984 mußten die USA zum ersten Mal in ihrer Geschichte ein Defizit im Handel mit elektronischen Geräten hinnehmen.“ 24

Wirtschaftlich werden die USA die Welt in keinem Fall derart übermäßig dominieren können, wie sie dies militärpolitisch vermocht haben25 – im Gegenteil. „Amerikas Vormachtsstellung wird gefährdet durch ein drohendes Ungleichgewicht zwischen Mitteln und Zielen, zwischen politisch-militärischen Verpflichtungen und wirtschaftlichen Ressourcen. Genau diese imperiale Überdehnung leitete in der Vergangenheit den Abstieg so großer Mächte wie Spanien und Großbritannien ein“, gibt der Historiker Paul Kennedy zu bedenken.26

V. Fundamentalismus und Friedensgefährdung

Wird unter »Fundamentalismus« das »kompromißlose Festhalten« an bestimmten Prinzipien oder Überzeugungen verstanden27, so sind die Menschen in den reichen Industrienationen samt den von ihnen ins Amt gewählten Politiker Fundamentalisten der eigenen privilegierten Lebensform, an der sie auch unter der Drohung ökologischer und kriegerischer Weltzerstörung kompromißlos festhalten wollen. Es könnte allerdings durchaus sein, daß ihnen bald ein Fundamentalismus eigener Art entgegenschlägt. Hiermit ist nicht in erster Linie auf den Islam abgezielt; allerdings vermute ich, daß diese in manchen Spielarten außerordentlich militante Religionsgemeinschaft, in deren Grundlagentexten der »heilige Krieg« ausdrücklich kodifiziert ist, schon bald mit den Ländern der »atlantischen Wertegemeinschaft« (unter deren Fittichen sich immer mehr ehemals kommunistische Länder Osteuropas versammeln) in einen Gegensatz geraten wird, der sich dann rasch mit jenen aggressiven Energien aufladen könnte, die seit dem Sieg der marktwirtschaftlichen Kräfte im Osten und seit dem Verlust überkommener Feindbilder eines fokussierenden Anknüpfungspunktes entbehren.

Konflikte mit dem islamischen Fundamentalismus sind vor allem in den Randgebieten der zerbrechenden Sowjetunion28 zu erwarten, aber auch in Afrika – nicht nur an der Grenzzone zwischen Nord- und Schwarzafrika29, sondern auch in Ländern wie Algerien, wo die Islamische Heilsfront (Front islamique du salut, FIS) des Scheich Abbasi Madani bei den landesweiten Regionalwahlen im Juni 1990 835 von 1539 Kommunalratssitzen eroberte30. Diese Entwicklung wird sich nicht nur auf Länder in der Nachbarschaft und in der näheren Umgebung auswirken (Marokko, Tunesien, aber auch Ägypten usw.); sie zieht auch in altbekannter Weise den Drang zu Schutz-, Abwehr und Abschreckungsmaßnahmen nach sich31. Dies wird um so mehr der Fall sein, als – um bei der Situation der Maghreb-Staaten und bei der dortigen fundamentalistischen Tendenz zu bleiben – 1990 die Zahl der an der Südküste des Mittelmeeres lebenden Menschen die der Nordküstenanwohner wieder übersteigt – erstmalig seit der Zerstörung Karthagos (146 v. Zw.). Das demographische Übergewicht der Mittelmeer-Südanrainer wird am Ende des Jahrtausends ca. 70 Millionen Menschen betragen32. Die Gefahr eines »verteidigungspolitischen Fundamentalismus« der reichen Länder des Nordens als Reaktion auf eine Radikalisierung des Südens ist hier wie andernorts nicht gering.

Zeiten wachsender Not und Verelendung und offenkundiger Ausweglosigkeit für Millionen Menschen in einer immer ungerechteren Welt sind ein idealer Nährboden für Schwarmgeister, Eiferer, Fanatiker und Terroristen. Wer sich allerdings bloß vordergründig über deren Worte und Taten empört, ohne sich Rechenschaft darüber anzulegen, inwieweit er selber die Entstehung eines solchen gewaltschwangeren Klimas herbeigeführt oder zumindest geduldet hat – der setzt sich vor der Geschichte doppelt ins Unrecht.

VI. Fazit

Die zersplittert-unübersichtliche, von vielfältigen Interessengegensätzen geprägte Lage im »Nahen Osten« wird zugespitzt durch eine neue, kriegsträchtige Situation: die Konfrontation zwischen den sich an einstige Weltmacht und Größe klammernden USA, die um ihre Rohstoffe fürchtet, und einer autoritär-sozialistischen Diktatur, die unter dem Banner panarabischer, pan-islamischer Solidarität zum Heiligen Krieg aufruft. Diese Situation läßt der Vernunft wenig Chancen und gibt den Blick frei in eine düstere Zukunft. In jedem Fall zeigt sich, wie voreilig es gewesen ist, das Ende des »Kalten Krieges« zwischen Ost und West mit dem Ausbrechen des Weltfriedens zu verwechseln33.

Anmerkungen

1) Eine Definition der schillernden Redewendung vom »Nahen Osten« wird hier nicht versucht, auf die Fachliteratur sei verwiesen.  Am aktuellsten: Bassam Tibi, Konfliktregion Naher Osten, München 1989; vgl. auch die dort angegebene Literatur Zurück

2) Tibi 1989, S.199 Zurück

3) Die Erdölreserven des Irak werden 1990 auf rund 13.400 Millionen Tonnen geschätzt (und 'werden bei gleichbleibender Fördermenge in spätestens 90 Jahren verbraucht sein); mit der Annektierung Kuwaits oder mit der Installation eines gefügigen Marionettenregimes dortselbst jedoch kommen Erdölreserven vom selben Umfang (ca. 13.000 Millionen Tonnen) unter irakische Kontrolle, womit das eigene Ölpotential im Handstreich verdoppelt und auf rund 20n der Weltbestände angewachsen wäre. Die Situation könnte sich dadurch noch weiter verändern und dies ist gewiß beabsichtigt – wenn der Irak das benachbarte, militärisch schwache Saudi-Arabien so unter Druck setzt, daß er es zu partieller Kooperation zwingen kann. Damit entstünde ein Ölkartell, das mächtiger ist als es die OPEC je war – denn beide Länder verfügen gemeinsam über fast die Hälfte der weltweiten Ölreserve (nämlich über 61 Milliarden Tonnen bei weltweiten Rohölreserven von ca. 136 Millarden Tonnen. Alle Zahlen aus der Süddeutschen Zeitung vom 3.e.1990, die sich auf Angaben des Mineralölwirtschaftsverbandes in Hamburg stützt). Zurück

4) Die Auslandsschulden des Irak beliefen sich Anfang 1990 auf rund 50 Milliarden Dollar; durch den Preisverfall des Rohöls sank jedoch der Exporterlös des Irak (der zu 95% dem Ölverkauf entstammt) von 26 Milliarden Dollar 1980 auf 10 Milliarden 1987 (dem stand ein Anstieg des Importvolumens von 14 auf 21 Milliarden Dollar im selben Zeitraum gegenüber). Für ein Land, das rund die Hälfte seines Bruttosozialproduktes für Rüstungszwecke investiert und mit 1 Million Mann fast 12% seiner männlichen Bevölkerung unter Waffen hält und in den letzten zehn Jahren Waffen für über 80 Milliarden Dollar gekauft hat, ist es in dieser Lage nahezu »folgerichtig«; sich, wenn ein Preisanstieg und eine Fördermengenbeschränkung für Erdöl nicht durchzusetzen sind, mit militärischen Mitteln die Verfügungsgewalt über einen möglichst großen Anteil der Ölvorräte in der näheren Umgebung zu sichern. Zurück

5) „Keine Einigung über das Euphrat-Wasser“, Süddeutsche Zeitung, 8.5.1990 Zurück

6) Der Irak beispielsweise ist vor der Zeit des Ölbooms ein Agrarstaat gewesen. Die landwirtschaftliche Anbaufläche beträgt rund 10 Millionen Hektar, davon etwas mehr als die Hälfte Ackerland, auf dem Reis, Gerste und Weizen angebaut wird. Dessenungeachtet mußten 1986 2,5 Millionen Tonnen Weizen importiert werden. Die Bedeutung des einst wichtigsten Exportgutes, der Dattel, ist permanent gesunken; die Erntemenge betrug 1986 nur noch 100.000 Tonnen (1983: 400.000 Tonnen). Zurück

7) A. Hottinger, „Dreißigjähriger Krieg der Araber?“ Neue Zürcher Zeitung, 24.11. 1987 Zurück

8) Ghr. Bertram, Die Gefahren rücken näher, DIE ZEIT, 6.4. 1990 Zurück

9) Obwohl technisch nicht völlig korrekt, erweist sich dieser Name als zutreffend, denn das Wort Kanone – mit dem man seit dem 16. Jahrhundert die Flachfeuergeschütze (zum Unterschied von Mörsern und Haubitzen) bezeichnet, stammt aus dem italienischen und bedeutet »großes Rohr«. Das vom Irak bestellte »große Rohr« (mit Stahlwänden von 30cm Dicke, einem Kaliber von einem Meter und einer Rohrlänge von 156m( diente als Raketenabschußvorrichtung, wobei die verfeuerten Raketen mit beliebigen Sprengköpfen bestückt werden können. Die Einzelheiten der Konstruktion gehen auf Pläne des kanadischen Ingenieurs Gerald Bull zurück; der am 23. März 1990 in Brüssel ermordet wurde (wofür wohl mit Recht der israelische Geheimdienst Mossad verantwortlich gemacht wird). Zurück

10) „Irakische Superkanone: Stopp in letzter Minute“, Die Zeit, 4.5.1990. Über die Verwicklung bundesdeutscher Firmen in das »Unternehmen Babylon«, d.h. den Superkanonenbau siehe auch Der Spiegel, Nr. 28%1990 Zurück

11) Christoph Bertram liegt in seinem Zeit-Artikel – Anm. 8 – meiner Ansicht nach nur bedingt richtig, wenn er schreibt: „Der Nicht-Verbreitungsvertrag hat sich, vom Ergebnis her gesehen, erstaunlich bewährt“. Ist es schon ein Erfolg, wenn es hätte noch schlimmer kommen können? Bertram läßt hier z.B. die gerade mit deutscher Hilfe zustande gekommene Atomwaffenfähigkeit Brasiliens unerwähnt. Zurück

12) Brasilien; wie erwähnt, mit bundesdeutscher Hilfe. Anfang 1990 sind die im Vorjahr wegen heftiger internationaler Proteste stornierten Atomgeschäfte mit Brasilien wieder aufgenommen worden, als Bundeswirtschaftsminister Haussmann die den Firmen Steag (Essen) und Interatom (Bergisch Gladbach) erteilten Exportgenehmigungen für eine Urananreicherungsanlage nach dem Trenndüsenverfahren verlängert hatte. Vgl. Der Spiegel; Nr. 9%1990 Zurück

13) Commission On Integrated Long-Term Strategy, Discriminate Deterrence, Washington D.C. 1988 Zurück

14)Schon fünf Jahre zuvor; im Atomteststopp-Vertrag vom 5.8.1963, hatten die Außenminister Rusk (USA), Home (UK) und Gromyko schriftlich festgehalten, daß sie „es als ihr Hauptziel verkünden, schnellstmöglich ein Abkommen über eine allgemeine und vollständige Abrüstung unter strikter internationaler Kontrolle im Einklang mit den Zielsetzungen der Vereinten Nationen zu erreichen, das dem Wettrüsten ein Ende machen und den Reiz zur Produktion und zur Erprobung aller Arten von Waffen, einschließlich Kernwaffen; beseitigen würde“. Nicht ganz zu Unrecht weisen besonders Politiker aus der »Dritten Welt« beim Thema Abrüstung gerne darauf hin, daß die genannten drei Atommächte seit 1963 (und nochmals seit 1968) praktisch in Permanenz vertragsbrüchig sind. Zurück

15) Ein hervorragender Überblick hierzu bei A. Roßnagel, Nuklearterrorismus und Schwarzmarkt, in: UNIVERSITAS 5/1988 Zurück

16) Le Figaro,14.8.1990 Zurück

17) Vgl. hierzu die Ausführungen von P. Kennedy, Anm.27 Zurück

18) Zu den innenpolitischen Auswirkungen der Reagan-Ära vgl. Phillips 1990 Zurück

19) „US-Haushaltsdefizit steigt weiter“, Süddeutsche Zeitung, 19.7.1990 Zurück

20) Vom Pressesprecher des UdSSR-Außenministeriums, G. Gerassimow, bei einer Pressekonferenz in Washington zutreffend als „Save the Defence Industrie“ buchstabiert Zurück

21) 1985 flossen die öffentlichen Gelder für Forschung und Entwicklung in den USA zu 70% in Rüstungsprojekte (Zum Vergleich: in der BRD zu rund 13%; in Japan zu unter 5%); 25 bis 30 Prozent aller Wissenschaftler und Ingenieure arbeiteten im weitesten Sinne für die Rüstungsforschung – auch dieser Prozentsatz liegt in der BRD oder Japan deutlich niedriger. Zahlenangaben nach Zur Lage der Welt 1989, S.224 Zurück

22) Vgl. R. Alvarez u. A. Makhijani, Das versteckte Vermächtnis des Rüstungswettlaufs, in: Ärzte gegen Atomkrieg, Nr.32, Juni 1990 Zurück

23) „Trübe Konjunkturaussichten für die USA. Ein Drittel des Landes befindet sich bereits in einer Rezession“ Süddeutsche Zeitung, 3.8.1990 Zurück

24) Die Erträge (Nettogewinne) der führenden US-Automobilhersteller, der General Motors Corporation und der Ford Motor Company; sind in der ersten Jahreshälfte 1990 drastisch gesunken, und zwar um 46% bei GM und um 58% bei Ford. Der Gewinn im Inlandsgeschäft sank bei Ford von 459 Millionen $ im ersten Halbjahr 1989 auf 365 Millionen im selben Zeitraum 1990; der Gewinn im Überseeverkauf schrumpfte sogar von 775 Millionen $ auf 173 Millionen (Vgl. „US-Autokonzerne im Kriechgang“, Süddeutsche Zeitung, 31.7.1990)! Interessanterweise war am selben Tag in der Zeitung zu lesen, daß der Automobilkonzern Toyota für das am 30.6.1990 endende Geschäftsjahr einen Rekordgewinn von über 700 Milliarden Yen erwartet (gegenüber 570 Mrd. Yen Reingewinn im Vorjahr). Zurück

25) Worldwatch-Institute, Zur Lage der Welt 1989/90, Frankfurt a.M. 1989, S.227 Zurück

26) „Die Welt wird sich in den neunziger Jahren, mehr als zuvor, mit wirtschaftlichen Entwicklungen befassen. Die Vereinigten Staaten sehen sich dem verstärkten Wettbewerb mit dem vereinten Europa, mit Japan, sowie den an Bedeutung gewinnenden Mächten in Asien gegenüber. Unser Wohlstand zu Hause wie unsere Position in der Welt hängen davon ab, wie wir in diesem Wettbewerb dastehen werden“ schreibt der Direktor des Institutes für Internationale Wirtschaft in Washington, Fred Bergsten („Umsteuern in der Steuerpolitik“, Die Zeit, 27.7.1990) – zu den Chancen der USA in diesem Wettbewerb schweigt er allerdings vorsichtig. Zurück

27) „Gezahlt wird später“. Der Historiker Paul Kennedy über die Gefahren des US-Engagements am Golf. DER SPIEGEL, Nr. 36/1990 Zurück

28) So die neue Brockhaus-Enzyklopädie, Bd. 8, Mannheim 1989 Zurück

29) „In der Sowjetunion breitet sich der Islam aus“, Süddeutsche Zeitung, 14.7.1990. Die Zahl der sowjetischen Moslems wird laut dieser Quelle – die sich auf Angaben der Iswestija stützt – auf 70 Millionen Menschen geschätzt. Allein in der Kaukasus-Republik Dagestan seien 1990 137 Moscheen geöffnet – gegenüber 17 Gebetsstätten im Vorjahr. Zurück

30) Dort hat der islamische Einfluß zu einem der längsten, blutigsten – und von der Weltöffentlichkeit am wenigsten beachteten – Bürgerkriege Afrikas, zum Dauerkonflikt im Süd-Sudan, durchaus entscheidend beigetragen. Zurück

31) Es steht zu erwarten, daß diese Entwicklung die Auswanderung aus Algerien anwachsen läßt und damit auch dem Rechtsextremismus in Frankreich neuen Auftrieb verschafft, aber auch weit über diese Kreise hinaus Ängste und Abschottungwünsche schürt: „Das Wort des früheren algerischen Präsidenten Boumedienne, die besitzlosen Massen des Südens würden dereinst in ihrer Not den reichen Norden einfach besetzen, wrird für viele Franzosen bereits zur Vision nordafrikanischer Boat People, die noch in den neunziger Jahren auf die Küste der Provence zutreiben werden“ („ (Ein Raum voller Konflikte“, Süddeutsche Zeitung, 25.7.1990). Zurück

32) Präsident Mitterrand hat am französischen Nationalfeiertag, dem 14. Juli 1990, bekannt gegeben, daß Frankreich nicht auf den Bau der Hades-Kurzstreckenrakete verzichten wolle. Angesichts der Ost-West-Entspannung mag es als sonderbar erscheinen, daß Frankreich zwecks »Abschreckung« nicht auf eine Rakete verzichten will, die mit ihrer Reichweite vom 480 Kilometern nicht weiter als bis Hannover, Kassel oder Erfurt fliegen kann; um im »Ernstfall« diese Städte zu vernichten. Der französische Verteidigungsminister Chevenement hat freilich im Juli 1990 deutlich gemacht, daß nicht allein die Angst vor einer Destabilisierung im Osten Grund für das französische Beharren auf seiner Nuklearstreitmacht sei. In der Süddeutschen Zeitung vom 17.7.1990 heißt es: „Schauen wir nach Süden “, sagt Chevenement. „Die ungeheuren demographischen, wirtschaftlichen, kulturellen, politischen Ungleichgewichte, die sich am Horizont zusammenballen, müssen einem einfach auffallen“. Als Verteidigungsminister könne er die Risiken der Ausbreitung von Raketen, chemischen und atomaren Waffen im Nahen Osten nicht übersehen. Auch der Gaullistenführer Chirac wies am Wochenende auf „die demographische Explosion und die Entwicklung des Fundamentalismus im Süden Europas “ hin. In dieser Situation dürfe Frankreich „den erstrangigen Trumpf “ seiner Atomstreitmacht – so der Minister – nicht wegwerfen.“ Zurück

33) Süddeutsche Zeitung; 25.7.1990 Zurück

34) Vgl. T. Bastian, Naturzerstörung: Die Quelle der künftigen Kriege, Heidesheim 1990 Zurück

Dr. Till Bastian, Arzt und Schriftsteller, lebt in Isny/Allgäu.

Gratwanderung Golfkrise

Gratwanderung Golfkrise

von Wolfram Brönner

Manche knüpften an das Ausklingen des Kalten Krieges, der Ost-West-Konfrontation, die Hoffnung, nun sei die Ära einer neuen Weltfriedensordnung, einer konfliktfreien Welt angebrochen. Drei Monate Golfkrise genügten, um diese Vision als allzu illusionär erscheinen zu lassen. Stattdessen signalisiert sie eine Verschiebung der Konfliktlinie gen Süden, die Gefahr umsichgreifender Nord-Süd-Konfliktszenarien, falls sich die Weltmächte nicht auf politisch-diplomatische Hebel und die Überfälligkeit weltwirtschaftlicher Umgestaltungen im Sinne der ausgeplünderten, unterprivilegierten Völker der Dritten Welt besinnen. Insofern könnte sich der Entscheid der Bush-Administration für einen Angriffskrieg gegen den Irak rasch als Auftakt für eine Serie von Verteilungs- und Interventionskriegen auf dem Trikontinent, als Einstieg in eine Weltkonfliktordnung erweisen.

Ende Oktober d.J. meldeten Beobachter des Washingtoner Krisenmanagements, ein US-Angriff auf Bagdad werde nunmehr wahrscheinlicher. Gründe, die dafür sprächen: Der »Wüstenherbst«, sprich die kühlere Jahreszeit im Mittleren und Nahen Osten begünstigen Militäraktionen. Der Hauptkontrahent USA habe nun seine mit dem Aufmarsch am Persischen Golf, der »Operation Wüstenschild«, geplanten Kontingente an Truppen und Kriegsgerät komplett vor Ort. Und: Die Einheitsfront gegen den Diktator Saddam Hussein außer- und innerhalb der USA drohe abzubröckeln. Ist der vorausgesagte Golfkrieg unvermeidlich, ein politischer Ausweg ohne Chance? Und sind die Risiken eines sog. »Überraschungsschlages« nicht viel zu hoch?

Die Vorkriegslage

Und dies ist die Vorkriegslage: Der seit dem Vietnamkrieg größte westliche Truppenaufmarsch, der mit der irakischen Kuwaitinvasion vom 2.August d.J. am Persischen Golf einsetzte, und ein UN-Wirtschaftsembargo sollen den Irak zum Rückzug aus dem besetzten Ölemirat zwingen. Nach wie vor verpuffen alle Versuche, zwischen den Hauptkontrahenten Washington und Bagdad einen politischen Dialog zustande zu bringen. Ein Inferno in der Ölregion kann jederzeit losbrechen. Und schon jetzt sind die Warnsignale dieser Golfkrise alarmierend genug.

Ein erstes Warnsignal ist das Wiedererstehen eines griffigen Feindbildes, des »Hitler« oder »Irren von Bagdad«, womit erst sich eine Vorkriegsstimmung richtig anheizen läßt. Da mit dem Ausklingen des Kalten Krieges das Feindbild des »Russen« aus der Mode gekommen ist, bedurfte es eines neuen vom Kaliber des Diktators Saddam Hussein. Ausgerechnet jene, die selbst so manche Invasion, zuletzt im Dezember 1989 in Panama, auf dem Kerbholz haben, berufen sich nun beim Kreuzzug gegen Bagdad auf die Verteidigung des Völkerrechts.

Andererseits hat Präsident Saddam Hussein durch die Annexion Kuwaits Ende August und die Geiselnahme tausender westlicher ZivilistInnen dieses Schreckensbild selbst kräftig mitgeformt. Da gibt es nichts zu beschönigen. Und dennoch gilt es mit Nachdruck, die westliche Doppelmoral zu kritisieren. Ausgerechnet sie, die heute den »Berserker Hussein« mit allen Mitteln loswerden wollen, hatten bei dessen gleichem Delikt im Jahr 1980 gegen den Iran Khomeinis keinen Finger gerührt. Ebensowenig waren ihnen der Giftgaseinsatz Bagdads gegen die Kurdenbewegung (Halabja 1988, 5000 Tote) oder seine brutale Zerschlagung der eigenen Opposition irgendwelche Strafmaßnahmen wert. Im Gegenteil, das Hussein-Regime wurde kräftig mit aufgerüstet (darunter sogar mit C- und B-Waffen) und in der Endphase des Krieges gegen den Iran einseitig militärisch unterstützt.

Anstößig ist ferner, wie sehr mit zweierlei Maß im Fall der Besetzung Kuwaits hier und Palästinas da von der Weltmacht Nr.1 gemessen wird. Im Falle der israelischen Okkupation der palästinensischen Westbank und Gazas blockiert Washington durch seine Vetopolitik in der UNO und die maßgebliche wirtschaftlich-militärische Stützung Israels seit Jahren die von der konzessionswilligen Palästinensischen Befreiungsorganisation(PLO) geforderte Zweistaatenlösung. Den Dialog mit der PLO brach die Bush-Administration jüngst ab – hier spielt sie auf Zeit. Ganz anders agiert sie in der Kuwaitfrage. Dort erhebt sie, wie Anfang Oktober d.J. Präsident Bush vor der UN-Vollversammlung, die bedingungslose, unverzügliche Räumung Kuwaits durch die Besatzungsmacht zur unverrückbaren Vorbedingung für die Aufnahme eines Dialogs mit dem Irak. Und zeitgleich droht sie Bagdad einen »Vernichtungsschlag« bzw. »Erstschlag« durch die westliche Interventionsstreitmacht für den Fall an, daß dieser nicht kapituliere.

Die Gefahr eines überregionalen Infernos

Hier rückt ein zweites Warnsignal ins Bild. Dem oberflächlich hinsehenden Otto Normalverbraucher wird angesichts steigender Benzin- und Heizölpreise, angesichts des Gespenstes einer Wirtschaftsrezession suggeriert, für seine Probleme gäbe es eine simple Ursache, folglich einen ebenso simplen, vielversprechenden Ausweg. Der Verursacher und Sündenbock heiße Saddam Hussein. Sei erst einmal der Diktator mittels eines „chirurgischen Eingriffs“ (H. Kissinger) aus der Welt, so löse sich das Krisenszenario am Persischen Golf wie von selbst auf.

In Wahrheit droht im Fall eines westlichen Angriffskrieges eher das Gegenteil: Angesichts der relativen Stärke und Gegenschlagsfähigkeit der Militärmacht Irak ist ein überregionales Kriegsinferno, und zwar unter Einsatz von chemischen, biologischen und selbst atomaren Waffen, höchstwahrscheinlich. Der Irak verfügt neben der stärksten und kampferprobtesten Armee (1 Mio zuzüglich zahlenmäßig größerer Volksmiliz) über einen ansehnlichen Raketenpark unterschiedlichster Reichweite, vermag daher – wie schon im »Städtekrieg« gegen den Iran demonstriert – relativ zielgenau einen Großteil der Ölanlagen Saudi-Arabiens, des weltgrößten Ölexporteurs, und Israel zu erreichen.

Die US-Streitmacht hat alleine rund 400-450 Atomwaffen, eine ähnliche Zahl von Cruise Missiles, 700 Kampfflugzeuge, über 50 Kriegsschiffe und Truppen in einer Stärke von 500.000 Mann vor Ort. Verantwortliche des Pentagon lassen durchblicken, daß bei einem irakischen C-Waffen-Gegenschlag die Akzeptanz eines sofortigen A-Waffen-Einsatzes ausreichend hoch liegen dürfte. Außerdem wäre auch dem – derzeit in der Gesamtregion einzig – atomwaffenfähigen Israel im Ernstfall ein solcher Coup gegen Bagdad zuzutrauen. Saddam Husseins taktische Vernüpfung von Kuwait- und Palästinafrage in der Absicht, die arabischen Massen für seine Zwecke zu mobilisieren, hat die Explosivität der gegenwärtigen Krisenlage noch erhöht.

Schon von daher wird deutlich, daß es die von den Kreuzzugsverfechtern verheißene simple Lösung überhaupt nicht gibt, ja diese höchste Risiken eines Flächenbrandes mit unwägbaren Zerstörungen und Folgewirkungen in sich birgt. Die Verschleierung der Komplexität der Konfliktursachen dient einesteils dem kurzsichtigen Zweck, die westliche Öffentlichkeit zum Abenteurertum zu verleiten. Andernteils ist sie dazu geeignet, die nackte westliche Interessenpolitik zu vernebeln, die sich hinter diesem Aufmarsch und der in Washington insgeheim weiter favorisierten Kriegsoption verbergen.

Die Ursachen des Konflikts

Worin sind die eigentlichen Ursachen des Konflikts auszumachen? Zuerst ist die von der Kolonialmacht Großbritannien hinterlassene vakante irakisch-kuwaitische Grenzziehung zu nennen, die 1961, im Jahr der Unabhängigkeit des Emirats, schon einmal zu einer prekären Konfliktlage samt britischem Militäraufgebot geführt hatte. Hinzu trat nun der Zank um das grenzübergreifende Ölfeld von Rumaila und um die von den Golfmonarchien (Saudi-Aarabien, Kuwait, Vereinigte Emirate usw.) innerhalb des Ölexportkartells OPEC verfolgte Überproduktionspolitik, die auf ein Niedrighalten des Rohölpreises – ganz im Sinne der Ölmultis und Westmächte – bedacht war. Demgegenüber forderten gerade die durch ihren achtjährigen Krieg wirtschaftlich ruinierten und hoch verschuldeten Regimes in Bagdad und Teheran zur Jahresmitte energisch eine Förderdrosselung und Preisanhebung auf über 20 $ pro Barrel Rohöl.

Der mit geschätzten 80-150 Mrd $ im Ausland verschuldete Irak sah in seiner Einverleibung des reichen Emirats in erster Linie einen Ausweg aus der wirtschaftlichen Klemme, wenngleich er sich mit den internationalen massiven Gegenreaktionen (Stopp der Öleinnahmen, Sperrung der ausländischen Geldanlagen Kuwaits usw.) offensichtlich verkalkulierte. Die vom Hussein-Regime angepeilten Vorteile der Aneignung der Reichtümer der Königsfamilie der Sabahs, nämlich sich mit einer Schuldensumme von ca. 30 Mrd $ die größten Gläubiger vom Halse zu schaffen und mit der Übernahme der kuwaitischen Ölanlagen weitere rund 9% der Weltölreserven unter Kontrolle zu bringen, zahlen sich indessen nicht aus. Bagdad ist nun zwar mit 20% der Weltölreserven und einem Rohöl-Produktionsanteil von 7,4% zur hinter Saudi-Arabien (25% der Reserven, 8,3% der Förderung) potentiell stärksten Ölexportmacht aufgestiegen, bleibt jedoch dank des UN-Boykotts auf diesem Reichtum sitzen. An die ca. 150 Mrd $ Kapitaleinlagen der kuwaitischen Ölscheichs in westlichen Banken und Konzernen gibt es auch kein Herankommen. Stattdessen schlägt die enorme Abhängigkeit des Zweistromlandes von Nahrungsmittelimporten (Getreide 88%, Reis 80%) auf die Versorgungslage durch, die kritisch zu werden beginnt.

Die Militarisierung

des Nahen Ostens

Eine andere implizite Konfliktursache liegt in der Überrüstung des Irak begründet, die sich in dem horrenden Anteil der Militärausgaben von 31,7% des Bruttoinlandprodukts (Kuwait 7,2%, Iran 5%, Saudi-Arabien 22,7%) ausdrückt. Daß sich die Golfregion zur höchstmilitarisierten Zone in der Dritten Welt ausstaffieren konnte, ja zum Einsatzgebiet von chemischen und in Kürze biologischen Waffen (Ende 1990 soll Bagdad laut CIA-Erkenntnissen soweit sein!), möglicherweise gar von Atomwaffen werden kann, geht in hohem Maße auf das Konto des Westens bzw. der Großmächte.

Sicherung der Rohstoffe

Hinzu tritt die weiterhin hohe Abhängigkeit der Westmächte vom Golföl (voran Japan mit 64% und Frankreich mit 35% des Ölbedarfs) und die außerordentliche geostrategische Konzentration der USA auf diese ihres Erachtens „lebenswichtige Interessensphäre“ (laut Carter-Doktrin von 1980) des Westens. Damit ist zuvörderst die Kontrolle über die dort angehäuften 66% der Ölreserven der Welt zu verstehen. Mit dem hochkarätigen militärischen Schutz der Schnellen Eingreiftruppe (Gesamtstärke derzeit rund 400.000) für ihre treuesten Sachwalter, die Sauds, die Sabahs usw., sichern sich die Metropolen zudem die – vom Ausnahmefall abgesehen – künstliche Aufrechterhaltung der OPEC-Niedrigpreispolitik. Und sie bauen darauf, mittels ihrer eigenen ausgedehnten Militärpräsenz in der Ölregion auch künftig einen Damm gegen den antiimperialistisch akzentuierten arabischen Nationalismus und islamischen Fundamentalismus errichten zu können. Im September d.J. hat US-Außenminister Baker als eine vordringliche Konsequenz aus der Golfkrise die Schaffung eines neuen Sicherheitsbündnisses unter US-Dominanz im Mittleren Osten, und zwar nach dem Modell der NATO, angekündigt. Doch mit dieser militaristischen Version des Zugriffs auf das Golföl verleiht Washington nur dem antiinterventionistischen Aufbegehren der betroffenen Völker neuen Auftrieb, was durch die potentielle Einbeziehung Israels in eine übergreifende nah- und mittelöstliche Konfliktkonstellation noch zusätzlich an Sprengkraft gewinnt.

Schon jetzt zeichnet sich ab, welch hohe politische Kosten die Regierung Bush riskiert, sollte sie an der Vorrangigkeit ihrer militärischen Option gegen den Irak festhalten und sich nicht ernsthaft auf einen Dialog mit dem Kontrahenten über eine friedliche Lösung der Geiselnahme und Kuwaitfrage einlassen. Selbst eine Reihe von gegenwärtigen Mitstreitern, darunter Syrien und Frankreich, haben für den Fall von US-Offensivschlägen ihr Ausscheren aus der gemeinsamen Front angekündigt.

Vor einer neuen Ölkrise?

Zum anderen hat der zwischenzeitliche Anstieg des Rohölpreises auf über 40 $ pro Barrel den Beginn einer neuen Ölkrise und insbesondere einer Wirtschaftsrezession der USA angezeigt. Diese hat wegen ihres extremen Handels- und Haushaltsdefizits hier mit den empfindlichsten konjunkturellen Einbrüchen unter den drei westlichen Zentren zu rechnen. Und sie hat verglichen mit Westeuropa und Japan seit den 70er Jahren die wenigsten Anstrengungen unternommen, den Ölanteil am heimischen Primärenergieverbrauch abzusenken. Am schlimmsten betroffen vom Ölpreisboom sind wohl die ohnehin tief in einer Schulden- und Entwicklungskrise steckenden »Habenichtse« der Dritten Welt und die auf den Weltmarkt drängenden Staaten Osteuropas.

Mehr noch, sollte es tatsächlich zum Waffengang in der Krisenregion Mittlerer und Naher Osten kommen, so wäre ein Hochschnellen des Ölpreises auf astronomische 200 bis 400 $ pro Barrel denkbar, damit würde auch der Keim für künftig serienweise Verteilungskriege a la Kuwait-Invasion vorprogrammiert sein.

Insofern setzt die aktuelle Golfkrise auch ein großes Warnsignal dafür, daß die Westmächte bei einem Festhalten an ihrer neokolonialistischen Diktatpolitik gegenüber den Rohstofflieferanten des Südens, an ihrer Unnachgiebigkeit gegenüber deren Forderungen einer gerechten Weltwirtschaftsordnung oder einer Wiederaufnahme des seit 1981 blockierten Nord-Süd-Dialogs am eigenen Ast sägen. Dies kann nur zur vertieften wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Zerrüttung großer Teile der ausgebeuteten Dritten Welt, zur Anhäufung zusätzlichen Konfliktstoffs führen. Und die aktuelle westliche Golfkrisenpolitik weist genau in die entgegengesetzte Richtung einer alternativen, langfristig erfolgverheißenderen Entwicklungs- und Krisenstrategie. Denn sie treibt die Tendenz einer Militarisierung auf die Spitze, anstatt sich endlich auf einen vorrangigen wirtschaftlich-sozialen Interessenausgleich und auf eine weltweit anzulegende ökologische Vorsorge in ihrer Dritte-Welt-Politik zu verlegen.

So droht die Chance des Endes der Ost-West-Konfrontation und der Aufwertung der Rolle der UNO in der Weltpolitik vertan, ja durch eine tendenzielle Zuspitzung von Nord-Süd-Konfliktszenarien abgelöst zu werden. Die Golfkrise zeigt an, wie weitgehend durch eine skrupellose Rüstungsexportpraxis der Großmächte und infolge des Machtschwundes der »Supermächte« USA und UdSSR die Ambitionen regionaler Vormächte wie des Irak, Indiens usw. außer Kontrolle geraten können. Nicht eine Politik des Abstrafens bzw. der Vernichtung, sondern eine konsequente Nichtweiterverbreitungspraxis von A- und C-Waffen, ein Rüstungsexportstopp, eine Politik des Dialogs unter Gleichberechtigten kann hier nur die Alternative lauten.

Die Rolle Deutschlands

Dem vereinigten Deutschland stünde bei der Realisierung einer solchen Abkehr von der überholten Nord-Süd-Politik eine vorwärtstreibende Rolle gut an. Als fünftgrößtem Rüstungsexporteur, größter Handelsnation und einer der drei führenden Weltwirtschaftsmächte trägt sie ein hohes Maß an Mitverantwortung an der Verelendung, Militarisierung und am ökologischen Niedergang der Dritten bzw Einen Welt. Umkehr hieße, eine alternative, nämlich umwelt-, sozialverträglichere und friedensfördernde Nord-Süd-Politik einzuschlagen und international mit anzubahnen.

In der Golfkrise aber demonstriert Bonn bislang eher Unverantwortliches. Die »Operation Wüstenschild« wird durch reichliche logistische, Material- und Finanzhilfe (vorerst einmal 3,3 Mrd DM) unterstützt. Sieben Schiffe der Bundesmarine bezogen ersatzweise (noch!) im östlichen Mittelmeer Stellung. Und Kanzler Kohl sicherte Washington die baldige Beseitigung der grundrechtlichen Hemmschwellen für ein Nachrücken.von Bundeswehreinheiten ins Golfkrisenzentrum, d.h. außerhalb des NATO-Geltungsbereichs, zu. Eine westeuropäische Interventionsstreitmacht unter deutscher Mitregie für künftige Einsätze in der Dritten Welt ist im Werden.

Dies aber ist als ebenso friedensgefährdend zurückzuweisen, wie die dubiose Waffenexportpolitik deutscher »Todeskrämer«, ihre mit langjähriger Bonner Duldung völkerrechtswidrig betriebenen Weiterverbreitungspraktiken in Sachen chemischer, atomarer und biologischer Militärtechnologien.

Eine deutsche Initiative zur Anbahnung einer friedlichen Beilegung der Golfkrise blieb erwartungsgemäß aus. Frankreich und die Sowjetunion haben hierzu immerhin seit Beginn der UN-Vollversammlung erste Ansätze für eine gegenseitige Annäherung Bagdads und Washingtons beigetragen. Mitterrands Vorschlag stellte die Aufnahme von Verhandlungen mit dem Irak in Aussicht, sobald dieser seine Absicht(!) zum Abzug aus Kuwait und zur Beendigung der Geiselnahme bekunde. Damit wurde für Bagdad und Washington eine Brücke geschlagen, um in Richtung einer Kompromißformel einzuschwenken – die Alternative dazu heißt Kriegsinferno in der Ölregion, dessen Auswirkungen auch die westlichen Zentren nicht verschonen werden.

Noch ist es nicht zu spät. Werden die skizzierten Warnsignale gerade in den NATO-Staaten endlich ernstgenommen, so ist ein nichtkriegerischer Ausweg aus der Golfkrise möglich. Die Friedenskräfte stehen gerade hier in der Verantwortung, durch eine breite Mobilisierung gegen die militärische Option, gegen den Einstieg »ihrer« jeweiligen Regierungen in eine Kriegsabenteuer, für eine politische Verhandlungslösung den Druck auf die Washingtoner Verantwortlichen zu erhöhen.

Wolfram Brönner ist Mitglied der Redaktion Dritte Welt in Marburg.