Zur Relevanz von Feindbildern – am Beispiel des Golfkrieges / Der inszenierte Krieg. Medienberichterstattung und psychologische Kriegsführung im Golfkrieg

Zur Relevanz von Feindbildern – am Beispiel des Golfkrieges /
Der inszenierte Krieg. Medienberichterstattung und psychologische Kriegsführung im Golfkrieg

von Gert Sommer, Wilhelm Kempf

Politisches Bewußtsein und Handeln sind stark vom Feind-Freund-Denken beeinflußt, also von den Bildern , die sich Politiker und die Bevölkerung von politisch relevanten Personen und Ereignissen machen. Feindbilder sind eine Untergruppe von Vorurteilen. Insbesondere Sozialpsychologen haben herausgearbeitet, daß Vorurteile wichtige individuelle und soziale Ursachen haben, die eng miteinander verwoben sind.

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von Gert Sommer

I. Zur Psychologie von Feindbildern

Zunächst zu den individuellen Bedingungen für Vorurteile: Menschen machen sich Bilder, Vorstellungen von sich selbst und ihrer Umwelt. Die Realität ist so komplex, daß ein Individuum nicht alle Informationen wahrnehmen und verarbeiten kann. Subjektiv Wichtiges ist von Unwichtigem zu trennen, sonst würde das Individuum in einem Chaos von unendlich vielen Informationen untergehen, handlungsunfähig werden. Die direkt vorhandenen und die prinzipiell verfügbaren Informationen müssen also reduziert werden. Dies kann durch die Bildung von Kategorien oder Klassen geschehen, zu denen auch Vorurteile gehören. Kategorien bringen Übersichtlichkeit und Ordnung in die hochkomplexe Welt, sie erleichtern die Identifikation und Bewertung von Objekten. Damit wird eine subjektive Realität konstruiert, die für das Individuum Sinn ergibt und ihm Handlungsfähigkeit ermöglicht. Solche Kategorien sind zum Beispiel Stuhl, Tisch, Haus, Geschlecht, Alter, Religion, Beruf, Hautfarbe, Nationalität, politische Überzeugung. Die jahrzehntelang in der Bundesrepublik vermutlich wichtigste Kategorie internationaler Politik war »West« gegenüber »Ost« (und z.B. nicht eine ebenso denkbare Kategorie »Unterstützung von Diktaturen«). Handlungsfähigkeit mithilfe von Kategorienbildung erfordert auch, daß die Kategorien möglichst stabil und widerspruchsfrei sind; denn andernfalls müßten sie mit großem intellektuellem und emotionalem Aufwand häufig verändert und den neuen Bedingungen angepaßt werden. Um dies zu vermeiden, werden Informationen bevorzugt danach aufgesucht und auch verarbeitet, daß sie mit den bestehenden Kategorien konsistent sind und diese stabilisieren (Konsistenz-Prinzip). Dies geschieht auch dadurch, daß solche Personen und Gruppen bevorzugt werden, die entsprechende Informationen bereitstellen oder bestätigen.

Kategorienbildung und Konsistenzprinzip implizieren immer einen Informationsverlust; dies kann zu unangemessenen und vorläufigen, aber relativ leicht korrigierbaren Vor-Urteilen führen, jedoch auch zu groben Informationsverzerrungen, die schwer veränderbar sein können. Letzeres geschieht insbesondere dann, wenn realitäts-unangemessene Kategorien verwendet werden, wenn relevante Informationen systematisch (d.h. auch motivbedingt) unberücksichtigt bleiben und wenn diese Kategorien zusätzlich stark mit Emotionen besetzt sind. Dies ist typisch für Feindbilder mit ihren intensiven negativen Emotionen. Während die Bildung von Kategorien grundsätzlich eine kognitive Notwendigkeit zur individuellen Orientierung ist, bedeutet ihre Ausgestaltung in Form von Feindbildern eine starke Realitätsverzerrung, ein »pathologisches Extrem« (Spillmann & Spillmann).

Zu den sozialen Bedingungen für Vorurteile: Menschen streben als soziale Wesen nach sozialer Zugehörigkeit, sozialer Identität. Dazu suchen sie Anschluß an Personen und Gruppen, die sie schätzen und denen sie ähnlich sein wollen. Durch den engen Kontakt können Handlungs-, Denk-, Motiv- und Wertemuster in hohem Ausmaß übernommen werden. Dies geschieht insbesondere durch die psychologischen Prinzipien des Modell-Lernens und der sozialen Belohnung und Bestrafung.

Psychologisch erleichternd und notwendig erscheint es, auch eine Gruppe der anderen, Un-Ähnlichen zu konstruieren, von der Menschen sich abgrenzen und gegenüber denen sie Nicht-Zugehörigkeit demonstrieren können. Beispiele für solche Abgrenzungen von Wir- bzw. Innengruppen einerseits und Außengruppen andrerseits sind Männer gegenüber Frauen, Schul- gegenüber Kindergartenkindern, Studenten gegenüber Dozenten, Arbeiter gegenüber Angestellten, evangelische gegenüber katholischen Christen, Christen gegenüber Nicht-Christen, Weiße gegenüber Schwarzen, Konservative gegenüber Sozialisten. Entsprechende Gruppenbildungen mit dem dazugehörigen »Wir«-Gefühl sind grundsätzlich wichtig für die persönliche Identität und für die Identität von Gruppen. Bei Feindbildern sind solche Gruppenbildungen rigide und mit starken Emotionen besetzt: positive Gefühle bezüglich der Wirgruppe, negative Gefühle gegenüber der Außengruppe.

In seinen bekannten Ferienlager-Experimenten konnte der Sozialpsychologe Mustafer Sherif (Sherif & Sherif, 1969) aufzeigen, daß männliche Jugendliche im Rahmen eines Ferienlagers – insbesonder durch die Aufteilung auf verschiedene räumliche Einheiten – Gruppen bildeten mit eigenen Regeln und Rollenaufteilungen, die schnell zu einem Wir-Gefühl und auch entsprechender Abgrenzung zu anderen Grupen führten. Durch die experimentelle Herstellung einer Wettbewerbssituation und die entsprechenden Gewinner- und Verlierer-Erlebnisse – es wurde ein Spiele-Turnier organisiert und die Ergebnisse wurden ausgehängt – festigten sich sowohl der innere Zusammenhalt der Gruppen als auch die Abgrenzung zwischen den Gruppen erheblich, es kam schließlich zu tätlichen Auseinandersetzungen.

II. Vom Vorurteil zum Feindbild

Insbesondere bei Spannungen, Konflikten und Krisen kann es zu einem Eskalationsprozeß kommen, in dem im inner- und zwischengesellschaftlichen Bereich die Gruppe der anderen zunehmend negativ beurteilt wird mit den vorherrschenden Assoziationen falsch, schlecht, minderwertig, gefährlich und böse. Dies kann zum Teil realistisch sein (wenn z.B. eine Gruppe die andere diskriminiert, unterdrückt, ausbeutet oder gar physisch vernichtet), zum Teil kann dies auch – bei nur geringer realistischer Grundlage – durch entsprechende Propaganda von einflußreichen Meinungsbildnern hergestellt werden, zumindest sofern die Adressaten für diese Propaganda auch empfänglich sind.

Die Distanz zum positiven Selbstbild und damit die Un-Ähnlichkeit wird im Verlauf des Eskalationsprozesses immer größer. Allein die Nennung des Feind-Namens führt zu einem Bündel negativer Bewertungen und Gefühle. Das Bild vom anderen enthält dann (fast) auschließlich negative Attribute. Der andere wird als brutal, kriegerisch, gefährlich und moralisch minderwertig bewertet. Im Extrem wird ihm die Menschlichkeit abgesprochen, er wird zum Unter-Menschen und Un-Menschen. Nach unserer Definition sind Feindbilder Deutungsmuster für gesellschaftlich-politisches Geschehen; sie sind negative, hoch emotionale, schwer veränderbare Vorurteile, die reichen können bis hin zur fantasierten oder gar realen Vernichtung des Gegners. Feindbilder können sich richten gegen einzelne Menschen, Gruppen, Völker, Staaten oder Ideologien.

Typisch für ein ausgeprägtes Feindbild ist also, daß es im anderen nur oder hauptsächlich das Negative, Böse sieht (vgl. z.B. die Kennzeichnung der Sowjetunion als »Reich des Bösen« durch US-Präsident Reagan). Dies geschieht psychologisch u.a. dadurch, daß der gesamte Prozeß der Informationsaufnahme und -verarbeitung in den Dienst der Aufrechterhaltung dieses Bildes gestellt wird und daß dem Feind primär negative Motive zugeschrieben werden. Dieses negative Bild kann in Teilbereichen realitätsangemessen sein, häufig aber ist dies in den anderen hineinfantasiert, projiziert. Die negative Realität kann im Sinne einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung zum Teil durch das Feindbild selbst produziert werden: Der andere verhält sich so negativ, wie wir es von ihm erwarten und ihm durch unsere eigenen Aktionen nahelegen.

Typisch für ein Feindbild ist zudem, daß es durch sachliche Informationen kaum zu verändern ist. Dies unterscheidet es von vorläufigen Urteilen, die hauptsächlich durch mangelnde Erfahrungen zustande kommen und erheblich leichter zu revidieren sind.

Verzerrte Vorstellungen vom anderen im Sinne von Feindbildern können sich in einem eskalierenden Prozeß wechselseitig entwickeln: Die an diesem Prozeß beteiligten Gruppierungen nehmen sich gegenseitig zunehmend negativ wahr (vgl. z.B. Frei, 1985, bezogen auf die USA bzw. die UdSSR). Dieses Phänomen wird auch als Spiegelbild von Feindbildern bezeichnet. Bei dieser Begriffsverwendung besteht allerdings die Gefahr, daß reale Unterschiede zwischen Gruppen in dem Ausmaß und bei den Thematiken ihrer Verzerrungen leicht übersehen werden.

Der Begriff Feindbild wird in den letzten Jahren inflationär verwendet. Nach der bisherigen Aufzählung von Attributen des Feindbildes grenzen wir den Begriff daher im folgenden von benachbarten Sachverhalten ab. (1) Nach unserem Verständnis reichen Kritik oder sachliche Gegnerschaft nicht aus, von »Feindbild« zu sprechen. (2) Zudem ist es psychologisch und politisch bedeutsam, zwischen groben Verzerrungen, Vorurteilen im Sinne eines Feindbildes einerseits und realen Gegnern und Feinden andrerseits zu unterscheiden. Reale Feinde existieren und sie sind lebensgefährlich; als historisches Beispiel sei an Hitler-Deutschland erinnert, das Grausamkeiten und millionenfachen Tod brachte. Es ist daher bei der Bewertung der »anderen« eine fortwährende und nie endende Aufgabe, zwischen Vorurteilen einerseits und sachlich fundierten Urteilen andrerseits zu unterscheiden.

Mit dieser Aussage heben wir uns von einem anderen Feindbild-Verständnis ab, bei dem z.B. auch die negative Darstellung von SS-Mördern als Feindbild bezeichnet wird (z.B. Keen, 1987); dabei wird der Begriff Feindbild verstanden als negative Bewertung einer anderen Gruppe, unabhängig davon, wie realistisch dieses Bild ist, also unabhängig davon, ob es sich um ein negatives Vorurteil handelt.

Den oben erwähnten Eskalationsprozeß bei der Entwicklung von Feindbildern haben Spillmann & Spillmann (1990) anhand umfangreicher Literaturanalysen detailliert beschrieben. Da er von grundlegender Bedeutung für die Entwicklung von Feindbildern und die Diagnostik des Feindbilddenkens ist, stellen wir ihn im folgenden ausführlich vor. Zusammengefaßt konzeptualisieren die Autoren die eskalierende Entwicklung von Feindbildern – und zwar sowohl bei individuellen als auch bei Gruppen-Beziehungen – als progrediente emotionale und kognitive Regression.

„Interessengegensätze, Meinungsunterschiede, Angst oder Mißverständnisse können zu intensiven Konflikten und bedrohlichen Auseinandersetzungen führen. Ein solcher Eskalationsprozeß verläuft aber nicht chaotisch, sondern stufenweise und in auffallender Weise reziprok zu den Stufen der emotionalen und kognitiven Entwicklung.“ (S. 272).

Eskalationsstufe 1 meint alltägliche Konflikte, die bei beidseitigem Bemühen und gegenseitiger Empathie konsensual und gerecht, d.h. unter Berücksichtigung der Interessen beider Seiten, gelöst werden können.

Auf Eskalationsstufe 2 gewinnen die eigenen Anliegen – bei Vernachlässigung gemeinsamer Interessen – deutlich an Gewicht, die Informationsaufnahme wird weniger differenziert, Streitfragen werden erweitert und die Gegenseite wird kompetitiv zu überzeugen versucht.Auf Eskalationsstufe 3 wird die rein verbale Ebene verlassen und damit – zumindest kurzfristig – die eigene Spannung reduziert. „Dabei sind die Erwartungen der Parteien paradox: Beide erwarten, durch Druck und Entschlossenheit die Gegenpartei zum Nachgeben zu bringen, sind selber aber nicht bereit, nachzugeben. Damit entsteht der für die Eskalation bezeichnende Widerspruch, daß die beabsichtigte Wirkung einer Maßnahme von der Gegenpartei als Signal zur Eskalation und nicht zur Deeskalation verstanden wird.“ (S. 273) Sachfragen treten allmählich in den Hintergrund, die Gegenseite wird mit kollektiven negativen Stereotypen (z.B. »Rechte« und »Linke«) charakterisiert, die Empathiebereitschaft schwindet zunehmend. Entsprechend beginnt innerhalb der eigenen Gruppe der Konformitätsdruck, „eines der ersten sichtbaren Warnsignale einer sich intensivierenden Eskalation. Abweichende Meinungen, das heißt, unterschiedliche Wahrnehmungs- und Bewertungsweisen des Konfliktverlaufs, werden immer weniger geduldet. Das bringt viele, die eigentlich anderer Meinung sind, zum Schweigen und macht sie zu Mitläufern.“ (S. 273) Drohender Ausschluß aus der Gruppe evoziert „tiefliegende Verlassenheits- und Verlustängste“, die durch den Gruppendruck erzwungene Vereinheitlichung von Meinungen (Janis, 1972; spricht negativ vom „Gruppendenken“) führt zu eingeengter, verzerrter Sicht der Realität, die für den Problemlösungsprozeß erforderliche Denkvielfalt wird drastisch reduziert.

Auf Eskalationsstufe 4 schwindet die Empathiebereitschaft. „Man weiß zwar um die andere Perspektive, aber man ist nicht mehr fähig oder bereit, die Gedanken, Gefühle und die Situation des anderen zu erschließen und für das eigene Verhalten zu berücksichtigen.“ (S. 274) Der emotionale Abstand zwischen den Gruppen nimmt weiter zu, „alles, was 'nicht-ich', bzw. 'nicht-wir' ist, ist bedrohlich und böse und wird abgelehnt. … Gleichzeitig nehmen die gegenseitigen Projektionen zu: Was in den Parteien lebt, aber nicht als zum eigenen Bild gehörig anerkannt wird, wird in die Außenwelt bzw. auf die Gegenpartei projiziert.“ (S. 274) Die Bilder, die sich jede Partei von sich selbst und den anderen macht, beherrschen Denken, Handeln und Gefühle. „Der Druck auf indifferente Personen oder Gruppen nimmt weiter zu. Wer mit beiden Seiten Kontakt pflegt, macht sich verdächtig.“ (S.274)

Zur letzten Eskalationsstufe 5 kommt es, wenn „eine Seite eine Handlung begeht oder zu begehen droht, die von der Gegenseite als Kränkung, als »Gesichtsverlust« erlebt wird, auf den sie sich entsprechend zu reagieren gezwungen fühlt.“ (S. 275) Die Konflikte werden umfassend ideologisiert, das gesamte Selbst- und Weltbild einbezogen. „…Informationen (werden) wieder auf die frühkindlich-elementare Einordnung in die Gegensatzpaare Fremd/Eigen, Bedrohlich/Sicher, bzw. Böse/Gut reduziert“. Die Gegnerschaft wird als total erlebt, „die Wahrnehmung der Gegenseite erstarrt zum Feindbild“ (S.275) „Es geht um 'Heilige Werte'…und übergeordnete moralische Verpflichtungen. Diese entbinden den einzelnen von der schweren Bürde persönlicher Verantwortung.“ (275) Gewalt wird unpersönlich, Drohungen und schließlich auch Gewaltakte nehmen zu, „um glaubwürdig zu bleiben und den Feind von einem Gewaltakt abzuhalten. … Dies wiederum beweist dem Bedrohten die Aggressivität des Drohenden und provoziert Gegengewalt und damit weitere Eskalation, die bis zur totalen Vernichtung und Selbstvernichtung führen kann. Der Feind wird zum 'Sachobjekt' entwertet und völlig dehumanisiert. Damit schwindet jede Gemeinsamkeit, damit schwinden auch alle menschlichen Normen und Skrupel. Der Abbau und die Demontage der emotionalen und kognitiven Ordnungsmuster, die dem Menschen Empathie und Differenzierung ermöglichen, ist auf diesen Eskalationsstufen in bezug auf den Umgang mit dem Feind umfassend. Im Umgang mit der eigenen Gruppe hingegen ist es den gleichen Menschen – aufgrund der wiederbelebten frühkindlichen Spaltungsvorgänge von »Gut« und »Böse« – möglich, innerhalb ihrer eigenen (»guten«) Gruppe scheinbar normal und menschlich zu funktionieren. Dies macht es dem unerfahrenen oder unwissenden Beobachter schwer, mit ihrer effektiv tief regredierten Selbst- und Fremdwahrnehmung zu rechnen und diese bei allfälligen Konfliktlösungsbemühungen auch bewußt in Betracht zu ziehen.“ (275f)

Das Modell von Spillmann & Spillmann (1990) stellt die Entwicklung von Feindbildern dar als Umgekehrung des Prozesses der emotionalen und kognitiven Entwicklung. Mit dem zunehmenden Verlust an kognitiver und emotionaler Differenziertheit, also mit zunehmender Regression, verfestigt sich Schwarz-Weiß-Denken; Empathie – sich Hineinversetzen in die Welt des anderen – als eine wesentliche Voraussetzung für erfolgreiches soziales Problemlösen geht verloren. Die im Modell vorgestellten fünf Eskalationsstufen beschreiben wichtige Merkmale der Feindbildentwicklung, sind aber nach unserer Meinung weniger klar voneinander zu trennen; zudem können sie sich nicht nur auf den »Feind« als Gesamtes beziehen, sondern sie können begrenzt sein auf wichtige Teilbereiche (z.B. Gesellschaftsstruktur, nicht aber Kultur).

III. Auswirkungen von Feindbildern

Etablierte Feindbilder haben vielfältige Auswirkungen auf individueller und gesellschaftlicher Ebene, sie sind ein wichtiger und »nützlicher« Faktor in Politik und psychischer Hygiene (Sommer et al., 1989). Einige dieser Auswirkungen fassen wir im folgenden knapp zusammen. Diese können als einzelne in den Vordergrund treten, sie können aber auch bei entsprechender politischer Eskalation gemeinsam erscheinen.

Individuelle Auswirkungen

  1. Positives Selbstbild: Ein Individuum erfährt durch Zugehörigkeit zu einer oder mehreren Gruppe(n) individuelle und soziale Identität. Dabei entwickelt es bei vorhandenem Feindbild durch Identifikation mit den »Guten« und durch Abgrenzung von den »Bösen« einen erhöhten Selbstwert, ein positive(re)s und idealisiertes Selbstbild.
  2. Simples Weltbild: Politische Informationen werden in einer stark vereinfachten »Gut- vs. Schlecht-« Kategorie verarbeitet. Kognitive Prozesse wie Wahrnehmung, Informationssuche, Aufmerksamkeit, Interpretation, Ursachenzuschreibung, Gedächtnis und Erinnerung werden aktiv so organisiert, daß sie das positive Selbstbild und das negative Feindbild stützen. Negative Ereignisse oder Verhaltensweisen beim Gegner bestätigen das Feindbild, während sie bei der eigenen Seite durch spezifische Umstände bedingt sind und eine Ausnahme darstellen (Umgekehrtes gilt für positive Ereignisse). Positiv erscheinendes Verhalten des Feindes (z.B. ein Angebot zur Abrüstung) wird als belanglos oder unzureichend oder nicht Ernst gemeint bewertet oder aber es verbirgt eine negative Absicht, z.B. soll damit nur das eigene Bündnis gespalten werden. Da diese Prozesse u.a. durch das bedeutsame Motiv zur Aufrechterhaltung eines positiven Selbstbildes gespeist werden, können nicht-kompatible Informationen negiert (»selektive Wahrnehmung«), uminterpretiert oder auch aggressiv abgewehrt werden. Ereignisse werden eher anhand des Akteurs und weniger anhand des Ereignisses selbst bewertet. Vergleichbare Ereignisse (z.B. Rüstung, Krieg) können somit völlig unterschiedlich beurteilt werden (»doppelter Standard«). Dieses psychische Gesamtgeschehen hat für ein Individuum – zumindest kurzfristig – positive Auswirkungen: Auch hoch komplexe gesellschaftliche Vorkommnisse können ohne großen intellektuellen und emotionalen Aufwand in ein griffiges, einfaches Schema verarbeitet werden. Langfristig kann dies selbstverständlich auch negative Auswirkungen haben: Wenn gesellschaftliches Geschehen inadäquat bewertet und auf dieser Grundlage gehandelt wird, kann dies zu negativen Folgen für das Individuum (zur Rechenschaft gezogen werden), die Gemeinde und sogar die Menschheit führen (z.B. Folgen von Rüstung, Industrialisierung und Wohlstand für Ökologie und Dritte Welt).
  3. Ängste erklären und Aggressionen ausleben: Ängste unterschiedlichsten Ursprungs (intrapsychisch, interpersonell, gesellschaftlich) können benannt, mit der Existenz eines bösen Feindes »erklärt« und damit reduziert werden. Eigene Passivität beim Wahrnehmen von Unrecht – motiviert etwa durch Angstvermeidung – kann vor sich selbst und anderen damit »begründet« werden, daß das Opfer (der Feind) letztlich selbst verantwortlich ist: Schlechte Gewissen werden beruhigt. Aggressionen unterschiedlichster Herkunft können auf den »bösen Feind« gelenkt werden. Aggressives Handeln – tatsächlich oder in der Phantasie –, Foltern und andere Grausamkeiten, Töten bzw. Morden sind erlaubt, »gerechtfertigt« und sogar gefordert. Sie werden von der Gruppe und/oder den Herrschenden belohnt: mit hohem Ansehen, mit Orden und der Auszeichnung »Held«, mit Geld oder anderen Reichtümern. Dies geschieht insbesondere, nachdem es gelungen ist, den »Feind« zu entmenschlichen; dazu dienen Begriffe wie z.B. Schwein, Ungeziefer, Ratte, Wanze.
  4. Psychischen Aufwand vermeiden: Wenn in der politischen Sozialisation und in dem gesellschaftlichen Klima Feindbilder verfestigt sind, bedeutet es einen großen psychischen Aufwand, diese zu überwinden: Denkgewohnheiten und emotionale Schemata müssen verändert, soziale Bestrafung muß ertragen werden, im Extremfall sind psychische Integrität und physische Existenz gefährdet. Diese Gefährdungen und die psychischen Anstrengungen können vermieden werden, solange ein Individuum sich an die gesellschaftliche Realität mit dem herrschenden Feindbild anpaßt bzw. sich ihr unterwirft.

Gesellschaftliche Auswirkungen

  1. Meinungen manipulieren: Politische Informationen über den »Feind« sind häufig unabhängig von jeglichen persönlichen Erfahrungen. Die Öffentlichkeit ist somit abhängig von Informationen, wie sie u.a. von Massenmedien und Politikern vermittelt werden: Obwohl mit Neuigkeiten überfüttert, ist sie häufig uninformiert. Um ein Feindbild zu etablieren, können u.a. folgende Strategien der Propaganda eingesetzt werden: unerwünschte Informationen unterschlagen; erwünschte Informationen wiederholen; Ereignisse fälschen; Interpretationen im Sinne des Feindbildes mitliefern, u.a. durch Wortwahl, Bilder oder explizite Kommentare; über Ereignisse berichten ohne den relevanten geschichtlichen oder gesellschaftlichen Hintergrund zu reflektieren. Diese gezielte (Des-)Informationspolitik kann durch direkte Zensur der Medien erreicht werden; sie ist aber in Krisensituationen auch immer wieder in Ländern mit »freiem« Pressewesen zu beobachten; dabei sind die Rollen von »Täter« und »Opfer« oft schwer auseinanderzuhalten (vgl. Golfkrieg).
  2. Militär stärken: Ein starkes Feindbild trägt dazu bei, die Bedeutung des Militärs in einer Gesellschaft zu erhöhen. Militärische Aktionen, Vernichtung, Völkermord werden legitimiert als notwendige Handlungen, um das Böse in der Welt zu bekämpfen und dem Guten (der eigenen Seite) zum Sieg zu verhelfen.
  3. Rüstung erhöhen: Eigene miltärische Ausgaben sind notwendig, eigene Waffensysteme sind gut und defensiv, dagegen sind Rüstung, Waffen, Miltärdoktrinen des »Feindes« aggressiv und schlecht. Dies spiegelt sich auch in Namensgebungen wieder, wenn z.B. die eigenen »Massen“vernichtungswaffen Kose- oder Friedensnamen erhalten (»little big man«, »peacekeeper«).
  4. Nullsummendenken: Politische und miltärische Aktionen werden nach dem einfachen Schema bewertet, daß für die eigene Seite all das schlecht ist, was dem Feind nutzt und umgekehrt: Was dem Feind schadet, nutzt uns. Entsprechend ist des Feindes Freund unser Feind und des Feindes Feind unser Freund, mögen wir letzterem früher auch noch so negative Eigenschaften zugeschrieben haben. Gemeinsamer Nutzen und gemeinsamer Schaden werden nicht mehr wahrgenommen. Dies führt z.B. dazu, daß der gesellschaftliche Schaden, der aus Militärausgaben folgt, nicht angemessen berücksichtigt wird oder daß lange Zeit davon ausgegangen wurde, daß ein Atomkrieg »gewonnen« und ein Land mit atomaren oder chemischen Waffen »verteidigt« werden kann.
  5. Gesellschaft stabilisieren: Der Verweis auf die Bedrohung durch einen »Feind« erleichtert es, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit von relevanten Problemen in der eigenen Gesellschaft (z.B. Arbeitslosigkeit, Armut, Zensur, Unterdrückung) abzulenken und/oder die Bewertung und den Stellenwert dieser Probleme zu mindern. Zudem wird durch die Bekämpfung des »Bösen« das Selbstbild der eigenen Gruppe, Gesellschaft und Nation erhöht.
    Innergesellschaftlich bedingte Unzufriedenheit und Aggressionen können gegen den »Feind« kanalisiert werden. Somit schaffen Feindbilder Einigkeit nach innen und dienen der Herrschaftssicherung. Wegen der großen Bedrohung erscheint es auch legitim, die innergesellschaftliche Opposition zu diffamieren, zu unterdrücken, zu verfolgen und zu vernichten.
  6. Internationale Probleme vereinfachen: Internationale Probleme und Konflikte unterschiedlichster Art werden in das Feind-Freund-Denken hineingepreßt. Damit wird es überflüssig, sich sachgerecht mit ihnen auseinanderzusetzen, eine angemessene Problemsicht wird verhindert. Beispiele dafür sind allgemeine Menschheitsprobleme wie z.B. Militärausgaben, Binden von intellektuellen Ressourcen durch Militärforschung, atomare, biologische und chemische »Massen“vernichtungsmittel (Overkill), Arbeitslosigkeit, Hunger, Unterernährung, Energie, Ökologie. Weitere Beispiele sind die Bewertung von Konflikten in anderen Gesellschaften und die entsprechende politische, finanzielle und militärische Unterstützung einzelner Konfliktparteien.

IV. Feindbilder am Beispiel des Golfkrieges 1990/91

Beim Golfkrieg 1990/91 und seiner Vorbereitung sind mindestens zwei Feindbild-Themen relevant: (1) Saddam Hussein, der zum Feind der Welt aufgebaut wurde und somit einen Krieg scheinbar erforderlich machte; (2) Anti-Amerikanismus und -Israelismus: Der Vorwurf gegenüber Gegnern des Krieges, ein Feindbild USA und/oder ein Feindbild Israel zu haben. Diese beiden Feindbild-Themen – das eine außenpolitisch, das andere innenpolitisch – ergänzen sich.

Feindbild Saddam Hussein?

Der irakische Diktator Saddam Hussein wurde – insbesondere in den führenden westlichen Ländern – nach der Annektion Kuwaits im August 1990 innerhalb kurzer Zeit zum Feind Nummer Eins der Welt, der Völkergemeinschaft, der Menschheit erklärt (er avancierte „gleichsam über Nacht vom hofierten Partner zum neuen Hitler“, Krell, 1991,135). Dies wurde insbesondere mit der Metapher »Hitler von Bagdad« (oder auch »Irrer von Bagdad«) prägnant verdeutlicht. Dem Irak wurde zudem eine riesige Militärmacht zugeschrieben, die viele Nachbarländer bedrohe. Dies führte zusammengefaßt zu folgendem Bild, das – wie wir sehen werden – die komplexe Realität extrem vereinfacht und verzerrt:

Ein Diktator hat einen wehrlosen Nachbarstaat brutal überfallen. Dafür muß er in einem gerechten Krieg bestraft werden. Somit wird das Völkerrecht verwirklicht, der Grundstein für eine neue friedliche und gerechte Weltordnung (nach Beendigung des Ost-West-Konfliktes) wird gelegt. Ursache für den Krieg ist allein dieser Diktator.

Bei unserer Argumentation versuchen wir, einige Hauptlinien der Diskussion in der BRD und den USA aufzuzeigen. Unsere Überlegungen beruhen auf einer (eher unsystematischen) Analyse von Medien und auf Erfahrungen bei zahlreichen Gesprächen und Vorträgen.

Zunächst zu der Frage, ob es angemessen ist, von einem »Feindbild« Hussein zu sprechen. Dies muß in der Tat eingeschränkt werden, denn an der negativen Sicht des Hussein ist – nach den uns bekannten Informationen – vieles realistisch: Er hat sein Land in hohem Maße aufgerüstet, u.a. mit chemischen Waffen; er hat nicht nur Kuwait überfallen, sondern früher bereits einen Krieg gegen den Nachbarn Iran begonnen; er hat die Opposition im eigenen Land sowie Minderheiten – Kurden und Assyrer – verfolgt und getötet; dabei hat er auch das völkerrechtlich geächtete Giftgas eingesetzt. Hussein ist also ein realer Feind z.B. für irakische Oppositionsgruppen, Kurden und benachbarte Staaten. Trotz dieser Kumulation negativer Attribute erscheint es mir doch gerechtfertigt, das Konzept Feindbild zu verwenden. Denn viele systematische Verzerrungen sind zu beobachten, wenn der Irakkrieg auf das Phänomen »Böser Hussein« reduziert wird: Relevante Daten und Ereignisse werden negiert (u.a. westlicher Kolonialismus; systematische Aufrüstung des Irak durch das Ausland; Waffenherstellung und -export; Energieverschwendung), zudem herrschen problematische Werte und Bewertungen vor, wenn z.B. tote Irakis und ökologische Katastrophen wenig bedeuten. Wir werden dies im folgenden an einigen Aspekten illustrieren.

(1) Geschichtlicher Hintergrund und Kriegsbeginn

Die durch das Feindbild geprägte Meinung lautet: Allein Hussein ist für den Krieg verantwortlich, da er Kuwait annektiert hat.

Die Annektion Kuwaits war ein Bruch des Völkerrechts, der entsprechend mit den Mitteln der Vereinten Nationen zu sanktionieren und zu revidieren war. Zu einer angemessenen Bewertung der Ereignisse sind aber u.a. der historische Hintergrund sowie die Angemessenheit und Verhältnismäßigkewit des Mittels Krieg zu diskutieren.

Seit der Unabhängigkeit Kuwaits im Jahre 1961 gibt es Grenzstreitigkeiten zwischen Irak und Kuwait, insbesondere auch bezüglich der kuwaitischen Ausbeutung der dortigen Erdölfelder. Die Grenzen selbst sind zum Teil willkürlich durch die Kolonialmächte festgelegt worden. Der norwegische Friedensforscher Galtung erinnerte daran, daß Engländer bereits 1920 Iraker und Kurden mit Giftgas getötet hätten (FR, 4.3.91). Die westliche Kolonialherrschaft und die Verfügung westlicher Firmen über den Rohstoff Öl führten in den arabischen Ländern zu einer weit verbreiteten negativen Einstellung gegenüber dem Westen, die von Hussein geschickt genutzt wurde. Somit erscheint der Krieg auch als eine späte Folge westlichen Kolonialismus.

Während des vom Irak begonnenen Kriegs gegen Iran wurde der Irak von der Sowjetunion, aber auch vom Westen politisch, militärisch und technologisch unterstützt. Hussein war anscheinend – trotz Unterdrückung der irakischen Bevölkerung, trotz Beginn eines Krieges mit über einer Million Toten und trotz Einsatz von Giftgas – ein akzeptabler Partner auch des Westens, und zwar, solange er ein »Schutzschild« gegen den fundamentalistischen Iran war, solange er den »richtigen« Krieg führte.

„Wir wußten, daß Saddam ein Hurensohn war, aber er war eben damals unser Hurensohn, den wir gegen die schlimmere Bedrohung des Ayatollah Khomeini einsetzen wollten“. (G. Kemp, Chef der Nahost-Abteilung im Sicherheitsrat der USA unter Präsident Reagan. Stern 6/91.) Das gleiche Muster des Umgangs zeigt sich gegenüber dem früheren Militärmachthaber Panamas, Noriega, der – u.a. als Waffen- und Geldlieferant für die nicaraguanischen Contras – bis unmittelbar vor seiner Entmachtung durch das US-Militär eng mit dem US-Geheimdienst CIA zusammenarbeitete und erhebliche finanzielle Zuwendungen erhielt. (FR, 17.5.91).

Erst dann wurde er zum Feind erklärt, als er mit der Annektion Kuwaits auch die langfristigen westlichen Interessen gefährdete, insbesondere die Kontrolle der Verfügbarkeit über Öl und dessen Preispolitik. Der später insbesondere von westlichen Ländern beklagte – und als Kriegsgrund aufgeführte – hohe Rüstungsstand des Irak ist also zusätzlich zur UdSSR wesentlich von westlichen Länder mitproduziert worden.

Allgemeiner: Die Länder des Nahen Ostens haben zwischen 1974 und 1988 Waffen im Wert von 214 Mrd US$ gekauft, größter Abnehmer war der Irak. Drei Viertel dieser Waffen wurden von den fünf ständigen Mitgliedern des UN-Weltsicherheitsrats geliefert, also jenen, die den Krieg gegen den Irak beschlossen. FR, 7.3.91.

Damit wird auch das grundlegende Problem von Waffenproduktion und Waffenexport thematisiert, die direkt (Exportgewinne) und indirekt (Sicherung von Herrschaftsstrukturen, die eine den westlichen Kapitalinteressen entgegenkommende Politik betreiben) zum Reichtum westlicher Länder beitragen. Somit erscheint der Krieg auch als eine Folge westlichen Lebensstandards und westlicher (Rüstungs-)Politik, die auch mit Diktaturen eng zusammenarbeitet, sofern sie den westlichen Wirtschaftsinteressen entgegenkommen.

Der durch den Irankrieg hoch verschuldete Irak (etwa 70 Milliarden US$) wünschte insbesondere von seinen Nachbarländern Kuwait und Saudi-Arabien zunächst Schuldenerlaß, später eine Anhebung des Erdölpreises (der 1990 zeitweise unter 14 US$ gefallen war) durch Drosselung der Produktion. Als dies nicht erreicht wurde, und als Kuwait auch bei der umstrittenen Ölförderung unterhalb der irakisch-kuwaitischen Grenze nicht kompromißbereit erschien, annektierte Irak den Nachbarstaat – nachdem von der Botschafterin der USA signalisiert wurde, daß US-Interessen nicht berührt seien (vgl. Karsh & Rautsi, 1991). Somit erscheint der Krieg auch als eine Folge unterschiedlicher Interessen bei der Festsetzung des Erdölpreises, bei denen der Westen wesentlich beteiligt ist.

Die Verfügbarkeit von immer mehr Staaten über atomare und chemische Waffen ist auch eine Folge der Rüstungspolitik der Großmächte, insbesondere der USA, die in den letzten Jahren sowohl ein Atomteststopp-Abkommen (als Ergänzung des Nonproliferations-Vertrages) als auch die Unterzeichnung einer erweiterten C-Waffen-Konvention blockierten (Naturwissenschaftler-Rundbrief Verantwortung für den Frieden,3/1990).

Nach der Besetzung Kuwaits durch den Irak verabschiedete der UNO-Weltsicherheitsrat – insbesondere auf Betreiben der USA – eine Reihe von Resolutionen mit dem hauptsächlichen Ziel, die Souveränität des Kuwait wiederherzustellen. Dazu gehörten u.a. Forderung nach bedingungslosem Rückzug aus Kuwait (2. August 1990), Verhängung eines Handelsembargos (6. August), dessen Durchsetzung auch mit militärischen Mitteln (25. August) und schließlich – als der Irak unzureichend reagierte – mit der Resolution 678 (29. November) die Ankündigung, bei Ablauf des Ultimatums am 15.1.1991 die Souveränität Kuwaits mit „allen erforderlichen Mitteln“, also notfalls auch mit militärischer Gewalt wiederherzustellen. Insbesondere die Resolution 678 führte zu intensiven politischen Diskussionen. Für die Befürworter des Krieges war damit die Legitimation durch die »Weltgemeinschaft« gegeben, die Verantwortung für einen möglichen Krieg wurde dem Irak zugeschrieben, da er Völkerrecht verletzt habe und die Resolutionen des Weltsicherheitsrates nicht anerkenne. Gegner des zu erwartenden Krieges führten u.a. die folgenden Argumente auf. (1) Das Embargo wirken lassen: Die Wirtschaft des Irak sei nahezu vollständig auf Einnahmen durch den Export von Erdöl angewiesen; die moderne Armee des Irak sei zur Aufrechterhaltung ihrer Einsatzfähigkeit weitgehend abhängig von importierter Technologie. Somit sei ein Erfolg des Embargos im Sinne der Durchsetzung von UNO-Resolutionen wahrscheinlich (vgl. Dembinski & Kubbig, 1991). (2) Verhältnismäßigkeit der Mittel: Es sei unverhältnismäßig, ein großes Unrecht (die Annektion Kuwaits) durch ein noch größeres Unrecht (einen Krieg) zu bekämpfen; bei jedem Krieg leide hauptsächlich die Zivilbevölkerung, das gelte es zu verhindern; es bestehe die Wahrscheinlichkeit, daß chemische und atomare Waffen eingesetzt werden mit ihren verheerenden Folgen für alles Leben; die ökologischen, aber auch die wirtschaftlichen und politischen Folgen eines Krieges seien für die Region und die Welt kaum absehbar; die UNO dürfe sich nicht zum Erfüllungsgehilfen des Weltpolizisten USA machen lassen (die Wende hin zu einem Krieg kam spätestens am 8. November – also zeitlich vor der Resolution 678 –, als US-Präsident Bush eine Verdoppelung der US-Truppen auf über 400.000 Soldaten verkündete und von einer „offensiven militärischen Option“ sprach; Spiegel, 49/1990); es gelte schließlich, unterschiedliche Standards zu vermeiden: So habe der UNO-Sicherheitsrat nicht oder erheblich weniger konsequent gehandelt, als andere Länder Völkerrecht brachen, z.B. Syrien mit der Besetzung des Libanon, die Türkei mit der Verfolgung der Kurden und der Besetzung Nordzyperns, Marokko mit der Besetzung der Westsahara, Israel mit der Annektion der Westbank und der Golanhöhen, die USA mit ihren Militäreinsätzen z.B. gegen Grenada (1983), Libyen (1986), Nicaragua (dafür verurteilt vom Internationalen Gerichtshof in Den Haag) und Panama (1989). Somit erscheint der Krieg auch als eine Folge zielgerichteter US-Politk, die es u.a. erreichte, den Weltsicherheitsrat für diese Politik zu gewinnen oder zu instrumentalisieren (vgl. Ruf, 1991). Dieses Argument wird noch dadurch unterstützt, daß die US-Regierung durch ihre ultimativen Forderungen und durch Ablehnen jeglicher Verhandlungen es Hussein unmöglich machte, bei einem Rückzug sein Gesicht zu wahren.

Zu den bisherigen Ausführungen einige Zitate und Hinweise:

Brzezinski (von 1977-81 nationaler Sicherheitsberater der USA; Spiegel 4/1991): „Meiner Meinung nach hätte ein Embargo langfristig zum Erfolg geführt…Sanktionen (hätten) sich besser mit einer neuen internationalen Weltordnung der Sicherheit und Zusammenarbeit vertragen.- Ein Krieg hätte verhindert werden können, wenn der Sicherheitsrat einen größeren Verhandlungsspielraum gelassen hätte… wenn die amerikanische Politik sich stärker um eine diplomatische Lösung bemüht hätte … und … wenn (die Europäer) nicht mit neuen Initiativen bis zum letzten Augenblick gewartet hätten.“

Crowe (bis Oktober 1989 höchster US-Offizier als Vorsitzender der Vereinigten Stabschefs): Bush solle zunächst die Wirkung der Wirtschaftsblockade abwarten, auch wenn das „12 bis 18“ Monate dauere; geduldiges Ausharren sei allemal beser als Krieg mit den zu erwartenden Opfern und Risiken. (Spiegel 49/1990). Entsprechend äußerte der zur Zeit der Krise tätige Chef des US-Generalstabs Powell „ernsthafte Zweifel“ an einer militärischen Lösung (FR, 3.5.1991).

General Schwarzkopf (Oberbefehlshaber am Golf, Einsätze im Vietnamkrieg, bei Grenada und Panama): „…die Sanktionen sind erst seit ein paar Monaten in Kraft. Warum sollten wir jetzt, wo sie zu schmerzen beginnen, plötzlich sagen: Okay, das war nichts, laßt uns die Sache hinter uns bringen und viele Menschen umbringen? Das ist doch verrückt.“ (Spiegel, 49/1990)

Ein erheblicher Teil der US-Politiker im US-Kongreß, wenn auch nicht die Mehrheit, lehnten die Option der Gewaltanwendung ab (Senat 47:52; Repräsentantenhaus 183:250).

Der französische Verteidigungsminister Chevenement, der wegen des Kriegs zurücktrat, bezeichnete ihn später als „amerikanische Expedition wie zur Kolonialzeit“ (FR, 23.4.91).

Powell räumte ein, daß die USA seit mehreren Jahren Pläne für eine Truppenstationierung in der Region hatten: „Wir wollten seit geraumer Zeit gerne ein vorgeschobenes Hauptquartier in der Region, und nun besteht eine gute Gelegenheit“. (FR, 25.3. und 20.2.1991)

Die Naturwissenschaftler-Initiative »Verantwortung für den Frieden« z.B. hatte bereits im Dezember 1988 den Bundesaußenminister Genscher in einem Brief gebeten, Klage gegen den Irak vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag zu erheben, und zwar aus zwei Gründen: (1) wegen der Giftgaseinsätze gegen den Iran (Verstoß gegen die Genfer Konvention von 1925, die den Einsatz chemischer Waffen ächtet); (2) wegen der Giftgaseinsätze gegen die irakischen Kurden (Verstoß gegen die UNO-Konvention von 1948 über Verhütung und Bestrafung des Völkermordes). Eine Klage aber wurde weder von der Bundesrepublik noch von einem anderen Staat erhoben.

Mohssen Massarrat; Professor für Politische Wissenschaften in Osnabrück (FR, 22.2.91): „Der Krieg erst macht ihn (Saddam Hussein) zum Helden und Fürsprecher der Gedemütigten der Dritten Welt. – Die jahrhundertelang unterlegene morgenländische Kultur sieht ihre Zeit gekommen, jene Bedeutung, die sie einst in der Geschichte hatte, zurückzugewinnen und die islamische Identität wiederherzustellen.- Es geht um die Vernichtung Saddam Husseins als Symbol eines selbständig handelnden Repräsentanten einer Welt, die seit langem nach kultureller und ökonomischer Autonomie strebt, aber bisher scheiterte und eine Niederlage nach der anderen hat hinnehmen müsen. Anmaßende Überlegenheitsgefühle im Westen bestimmen das Denken und Handeln im gegenwärtigen Konflikt. Der kulturelle Konsens zwischen Politikern, Massenmedien und dem Mann auf der Straße, das feindliche Symbol Saddam Hussein im Krieg besiegen und vernichten zu wollen, läßt keinen Raum für friedliche Lösungsstrategien.“

Der irakische Philosoph Sadiq Galal al-Azm, Gastprofessor in den USA und der BRD, führte zum Feindbild Husseins aus (FR, 6.4.91): „Saddam Hussein ist ein brutaler Diktator von übelster Statur. Aber das Bild, das man in Westen von ihm zeichnet, läuft auf eine Dämonisierung hinaus, als sei er die Inkarnation alles nur erdenklich Bösen. Wenn die Amerikaner und der Westen mit dieser Dämonisierung fortfahren, dann laufen sie Gefahr, arabische Realität falsch zu deuten. Denn die Sympathien, die Saddam Hussein in der arabischen Welt genießt, gelten nicht dem Diktator, sondern dem Mann, der sich westlichen Machtansprüchen widersetzt hat. Bei uns besteht allgemein der Eindruck, daß arabische Ressourcen und Bodenschätze, insbesondere das Erdöl, nicht von Arabern kontrolliert werden, sondern vom Westen. Und dieses Gefühl ist mit Ende des Golfkrieges wahrhaftig nicht geringer geworden. Wenn die westliche Vorherrschaft über die arabische Welt – in militärischer, politischer und wirtschaftlicher Hinsicht – sich fortsetzt, ist die nächste Explosion nur eine Frage der Zeit.“

Zusammengefaßt spricht für die Relevanz des Feindbildkonzeptes, daß die komplexe politische und militärische Situation durch Verweis auf die Person Hussein stark vereinfacht wurde. Durch die Bekämpfung dieses bösen Feindes wurde das Selbstbild erhöht, erhebliche Anteile des Westens an der Entstehung dieser Situation (u.a. Kolonialismus, Aufrüstung des Irak, Bedarf an billigem Öl, unzureichende Versuche nicht-militärischer Konfliktlösungen, gezieltes Hinwirken auf eine militärische Auseinandersetzung) konnten bewußtseinsmäßig in den Hintergrund gedrängt werden. Die Dämonisierung Husseins etablierte Denkverbote und trug bei zu einer Schuldentlastung der mit diesem System Verstrickten. Dies alles wurde erheblich erleichtert durch viele Handlungen der irakischen Seite, u.a. Geiselnahme, Folterungen, militärische Drohungen u.a. gegen Israel, zögerliches Eingehen auf die Resolutionen des UN-Sicherheitsrates.

Energieverbrauch (in kg Öleinheiten) pro Kopf der Bevölkerung:

USA: 7193
Bundesrepublik: 4719
Frankreich: 3673
Großbritannien: 3603
Argentinien: 1427
Indien: 208

(2) Ursachen des Krieges

Vermutlich hatte die US-Regierung im wesentlichen wirtschaftliche Gründe für ihren militärischen Einsatz, auch wenn Präsident Bush neben dem Interesse am Öl und der Absicherung des »american way of life« weitere Gründe nannte, z.B. die Befreiung der Geiseln und des Kuwait (hinzukommen mögen: außenpolitisch Festigung des politischen und militärischen Führungsanspruches weltweit; innenpolitisch Demonstration der Führungskraft des Präsidenten, Ablenken von großen wirtschaftlichen und sozialen Problemen). Der Rohstoff Öl aber ist in den letzten Jahrzehnten ein wesentlicher Faktor des Reichtums der westlichen Industriestaaten geworden: Neun Industriestaaten (etwa ein Viertel der Menschheit) verbrauchen drei Viertel der Energie und 80% der Rohstoffe (das Pendant: Nach dem Armutsbericht der Weltbank verfügen drei Viertel der Erdbevölkerung über ein durchschnittliches Jahreseinkommen von weniger als 2.000 US$, davon nahezu drei Mrd. Menschen von weniger als 500 US$). Allein die USA (mit ca. 4% der Weltbevölkerung) verbrauchen nahezu ein Viertel der Weltenergie, im wesentlichen Erdöl (davon wiederum werden ungefähr 60% für den Verkehrssektor verwendet; zum Vergleich: In der Bundesrepublik waren dies etwa 40%). Diese Daten können noch illustriert werden mit dem durchschnittlichen Energieverbrauch einiger Länder für das Jahr 1986 (Fischer Weltalmanach, 1990):

Somit sind insbesondere für die westlichen Industriestaaten der ungestörte Zugang zum Rohstoff Öl und ein (möglichst) niedriger Preis von großer wirtschaftlicher Bedeutung. Nach einer aktuellen Regierungsvorlage soll auch die künftige Energiepolitik der USA weitgehend auf Energieeinsparungen und Nutzung regenerativer Energien verzichten (FR, 13.2.191). Die Kontrolle über den Ölpreis aber war durch die große Konzentration der Welt-Ölreserven beim Irak (nach der Annektion Kuwaits) und dessen Interesse an einem erheblich höheren Preis in ernster Gefahr.

Für das Feindbildkonzept bedeutet dies zusammengefaßt: Die Bekämpfung eines bösen Feindes läßt sich innen- und außenpolitisch leichter durchsetzen (zudem ist es für das Selbstbild erheblich günstiger!) als eine Politik, die wesentlich die Sicherung des Wohlstandes eines kleinen Teils der Erdbevölkerung zum Ziel hat. Der Verweis auf den Feind macht eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den Begleiterscheinungen dieser Politik, z.B. mit Energievergeudung, Umweltverschmutzung und Armut in der Welt scheinbar weniger dringlich.

(3) Kriegsverlauf und -ende

Die Bevölkerung in unserem Land – eingeschlossen wohl auch die meisten Politiker, Journalisten und Wissenschaftler – war in ihrem Informationsstand weitestgehend abhängig von der Berichterstattung in den Massenmedien. Der Philosoph Günter Anders schrieb bereits 1956 zu Bildern und damit auch zu Massenmedien u.a. die folgenden allgemeinen Erkenntnisse: „… statt Welt zu erfahren kann man sich mit Weltphantomen abspeisen lassen…“ (S.1.) „Wenn es erst in seiner Reproduktionsform, also als Bild sozial wichtig wird, ist der Unterschied zwischen Sein und Schein, zwischen Wirklichkeit und Bild aufgehoben.“ (S.111) „Was dem Betrachter geboten wird, ist also primär die Perspektive, unter der er die Ware »in Betracht ziehen« soll; diese ist festgelegt und, noch ehe die Ware selbst geliefert ist, bereits vorgeliefert.“ (S.162)

Wegen der strengen Zensur bei allen Kriegsbeteiligten führte dies zu einem geringen, extrem verzerrten Wissen über den Krieg. Auch nach Kriegsende wurde Zensur ausgeübt: So ordnete die US-Regierung Wissenschaftler an, der Öffentlichkeit keine Auskünfte über die ökologischen Folgen des Golfriegs zu geben (FAZ, 11.4.91). Das grundlegende demokratische Recht auf Informationszugang wurde systematisch und in großem Umfang verletzt. Die Proteste gegen die Zensur waren insgesamt erstaunlich gering – demokratische Grundprinzipien können nach dieser Erfahrung auch in unserer politischen Kultur relativ leicht außer Kraft gesetzt werden.

Schon vor Kriegsbeginn waren in den deutschen Medien Berichte und Diskussionen über Rüstungsstand und militärische Optionen vorherrschend. Sie nahmen erheblich mehr Raum ein als Überlegungen zu nicht-militärischen Konfliktlösungen und Antizipationen wahrscheinlicher Kriegsfolgen.

Nach Kriegsbeginn wurde die brutale Realität des Krieges transformiert in ein Video-Kriegsspiel: Schöne Bilder zeigten den erfolgreichen Einsatz westlicher Technik gegen Militäreinrichtungen. Die Zuschauer saßen wie bei einer Sportreportage in der ersten Reihe. Suggeriert wurde ein sauberer Krieg, in dem es keine Verwundeten und Toten, kein Leid und Elend, keine Grausamkeiten und Verwüstungen gab – zumindest auf seiten der Alliierten. Einzelne Raketenangriffe auf Israel mit ihren Zerstörungen wurden detailliert mit Bildern gezeigt und kommentiert; die Auswirkungen tausender Angriffe der Alliierten auch auf die Zivilbevölkerung des Irak wurden nicht gezeigt und kaum erwähnt. Sendungen aus Washington in der abendlichen Tagesschau hatten eher den Charakter eines Hofberichts als einer reflektierten politischen Information. Insgesamt wurden somit „die westlichen Medien … während des Golf-Krieges zur Waffe gegen Iraks Staatschef Saddam Husein“ (FR, 4.3.1991), und es ist wohl zu ergänzen, auch zu einer Waffe gegen die eigene Bevölkerung, die sich kein realitätsangemessenes Bild von diesem Krieg machen konnte. Von den Medien und führenden Politikern wurden kurz nach Kriegsbeginn die zahlreichen Kriegsgegner nicht nur argumentativ kritisiert, sondern aggressiv verbal bekämpft bis zur Diffamierung. Mit Verlauf des Krieges befürwortete – nach den veröffentlichten Umfrageergebnisssen – die Mehrheit der Bevölkerung in der BRD und anderen westlichen Staaten den Krieg. Die politische Führung insbesondere in Großbritannien und den USA gewann erheblich an Popularität; die Zustimmung der US-Bevölkerung zur Politik ihres Präsidenten erreichte Rekordhöhen (dies ist ein weiterer Beleg dafür, daß Kriege von innenpolitischen Problemen ablenken sollen und dies auch häufig erfolgreich tun).

Dies stellt sich für einige arabische Staaten völlig anders dar – deren Bevölkerung sah in Hussein anscheinend hauptsächlich ein Symbol für neue Hoffnungen und forderte daher eine militärische Unterstützung des Irak. Der deutsche Botschafter in Marokko, W. Hofmann, sagte zu diesem für viele überraschenden Phänomen: „Der Westen neigt generell dazu, die Traumatisierung zu verkennen, welche die arabische Psyche als Folge der Kolonialisierung und des Absturzes in die Unterentwicklung belastet“. (FR, 15.2.1991) An diesem Beispiel wird deutlich, daß »Feindbild« immer eine Perspektive beinhaltet: Es kommt auf den Beobachter und Beurteiler an. Für die verarmte Bevölkerung vieler arabischer Staaten wurde Hussein als Held wahrgenommen, der sich endlich gegen die westliche Vorherrschaft wehrt und eine bessere arabische Zukunft erhoffen läßt. Wie (un)realistisch diese Bewertung der Person Hussein auch immer sein mag: Ernst zu nehmen sind die zugrundeliegenden Motive, insbesondere Hoffnung darauf, wieder stolz sein zu können, ein Araber zu sein, und Hoffnung auch auf bessere Lebensbedingungen.

Da es darum ging, Hussein zu »bestrafen«, spielten im politischen Bewußtsein die schrecklichen Kriegsfolgen auch für die Zivilbevölkerung nur eine geringe Rolle: Zehntausende Tote und Verletzte, hunderttausende Flüchtlinge, verwüstete Länder waren (politisch) weniger wichtig als die Genugtuung, einen Diktator zu bestrafen. Auch die ökologische Katastrophe und die Gefährdung Israels wurden in Kauf genommen; denn sie waren von Hussein angedroht worden und somit vorhersehbar.Verschiedene Waffen wurden von den USA erstmals militärisch eingesetzt (Tomahawk-Marschflugkörper, lasergesteuerte Bomben, fuel-air explosives, cluster bomb units; FR, 10.6.91), die mit ihrer Präzision und ihrem Vernichtungsausmaß eine weitere Eskalation grausamer Kriegsführung darstellen. Dagegen hat die US-Abwehrrakete »Patriot« – die im Krieg als Retter Israels galt und Anlaß für eine modifizierte Weiterführung des SDI-Programms gab – in Israel vermutlich mehr Schaden angerichtet als verhindert (FAZ, 15.5.91).

Am Beispiel des Landkrieges läßt sich wiederum die Dominanz der US-Politik (und nicht der UNO) demonstrieren. Der Landkrieg wurde begonnen trotz irakischer Bereitschaft zum Rückzug aus Kuwait und trotz intensiver, erfolgversprechender diplomatischer Bemühungen der UdSSR, den Krieg zu beenden. Für die Öffentlichkeit wurde die Landoffensive von den USA begründet mit neuesten Ölbränden sowie Grausamkeiten der irakischen Truppen an der kuwaitischen Bevölkerung. Dies wird vermutlich auch in Erinnerung bleiben und weniger die Tatsache, daß die Bodenoffensive bereits mindestens zwei Wochen vorher von den USA beschlossen war.

Der US-Regierungssprecher Fitzwater erwähnte, „die sowjetischen Friedensbemühungen hätten keinen Einfluß auf den Termin der Bodenoffensive gehabt. Auch sei er nicht dadurch bestimmt worden, daß die Iraker Ölfelder in Brand gesteckt hätten“ (Oberhessische Presse, 25.2.1991).

Zusammengefaßt ergibt sich für das Feindbildkonzept, daß die Bekämpfung und möglichst auch Vernichtung des Feindes Denken und Handeln beherrschten; dabei wurden die Brutalität des Krieges und die schrecklichen Folgen für Mensch und Umwelt in Kauf genommen, zum Teil auch eigene Aggressivität (stellvertretend) ausgelebt. Denken in militärischen Kategorien dominierte, Möglichkeiten gewaltfreier Konfliktlösungen wurden nicht berücksichtigt und umfassende Zensur akzeptiert (es sei nur daran erinnert, mit welcher Heftigkeit und Ausdauer früher von unseren Politikern und Medien die zensierten Informationen z.B. der DDR kritisiert wurden). Herrschaft wurde gesichert und das individuelle und kollektive Selbstbild positiv überhöht. Somit wurden insgesamt viele Merkmale des Feindbildkonzeptes politisch relevant.

(4) Auswirkungen des Krieges

Das zu »befreiende« Kuwait ist weitgehend verwüstet. Die für die irakische Bevölkerung lebenswichtige Infrastruktur (Lebensmittel-, Wasser-, Strom-, medizinische Versorgung) ist weitestgehend zerstört. Mindestens zweihunderttausend Menschen wurden getötet, mindestens fünf Millionen Menschen verloren ihre Wohnung oder ihre Arbeit (Admiral a.D. Elmar Schmähling: „Moderner Krieg ist somit zwangsläufig ein Verbrechen gegen das Völkerrecht und die Menschlichkeit.“). Der Krieg hat zu einer verheerenden ökologischen Katastrophe geführt, insbesondere durch das irakische Entzünden der Ölfelder und das Einleiten von Öl ins Meer, aber auch durch die Kriegshandlungen der Alliierten. Beide kriegsführenden Seiten haben schwere Verstöße gegen den »Umweltkriegsverbots-Vertrag« und das »Zusatzprotokoll I zu den Genfer Abkommen« begangen (Krusewitz, im vorigen Infoheft).

Minderheiten im Irak wurden blutig unterdrückt bis hin zum Völkermord an den Kurden, nachdem die US-Regierung zum Aufstand ermutigt hatte. Die vielfältigen Probleme des Nahen Ostens sind nicht gelöst. Durch die Verschwendung von Geld und anderen Ressourcen (allein die USA hat ein Kriegstag zwischen 500 Millionen und einer Milliarde US$ gekostet) fehlen diese zur Bekämpfung weltweiter Probleme wie Armut, Hunger, Krankheiten, Arbeitslosigkeit, Energievergeudung und Umweltzerstörung. Die Gesamtkosten des Krieges werden auf 500 Milliarden US$ geschätzt (Herwig u.a., im vorigen Infoheft); ein Betrag, mit dem die Lebensbedingungen der Armen dieser Welt in erheblichem Ausmaß hätten verbessert werden können.

Zwei Beispiele: Programme, die laut UNICEF ungefähr 40 Millionen Kindern pro Jahr das Leben retten könnten (insbesondere Impfungen gegen Masern, Keuchhusten und Tetanus; Antibiotika gegen Lungenentzündung; Zucker-Salz-Lösungen bei Durchfall) würden pro Jahr 2,4 Mrd US$ kosten, doch dafür fehlt bislang das Geld. Dringend erforderliche humanitäre Hilfen für die Flüchtlinge am Persischen Golf (eine Folge des Krieges!) kostet etwa 450 Millionen US$, dafür eingegangen sind bei der UNO aber nur 134 Mill. $ (OP, 13.6.91).Das Selbstverständnis der US-Politik hat sich mit dem Irakkrieg stark verändert, das »Vietnam-Trauma« erscheint überwunden. An der größten Militärparade der USA nach dem zweiten Weltkrieg zur Feier des Sieges Mitte Juni 1991 in New York (US-Präsident Bush: „Das ist gut für Amerika“) nahmen zwei Millionen Menschen teil (in Washington gab es zuvor 800 000 Teilnehmer; FR, 10.&11.6.91)). Die derzeitige US-Regierung sieht sich nun wieder in der Rolle der allein führenden Weltmacht. Neue Rüstungsprogramme mit hohen Kosten sind vorgesehen (z.B. modifiziertes SDI; 10 Mrd US$ für ein neues »Tarnkappenflugzeug«; FR, 15.4.1991).

„Als Amerikaner (müssen wir) Verantwortung übernehmen, die Welt aus dem dunklen Chaos der Diktatoren … zu führen. …

(Jeder unserer Soldaten) führt einen mutigen Kampf, um für die Vereinigten Staaten, die Welt und zukünftige Generationen einen gerechten und dauerhaften Frieden zu erlangen… Wir wollen ein SDI-Programm verfolgen, das jeder zukünftigen Bedrohung der Vereinigten Staaten, unserer Streitkräfte in Übersee und unserer Freunde und Verbündeten gewachsen ist… Unter den Ländern der Welt verfügen lediglich die Vereinigten Staaten über die moralische Standfestigkeit und die Mittel zu ihrer (einer neuen Weltordnung G.S.) Durchsetzung. – Wir wissen eins: Unsere Sache ist gerecht. Unsere Sache ist moralisch, und unsere Sache ist richtig. … Der Wind des Wandels weht aus unserer Richtung. Die Kräfte der Freiheit sind vereint. Wir treten zuversichtlicher als je zuvor in das nächste Jahrhundert ein, daß wir im In- und Ausland über den Willen verfügen, das zu leisten, was geleistet werden muß – harte Arbeit für die Freiheit.“ (FR, 5.2.91 „begleitet vom starken Applaus der versammelten Prominenz aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft der USA“)

Die USA nach Kriegsende: „Stehende Ovationen, Jubel und strahlende Gesichter beherrschten … die Kammer des US-Repräsentantenhauses, wo sich die beiden Häuser des Kongresses, das Kabinett, der Generalstab und das diplomatische Korps Washingtons versammelt hatten, um den Sieg am Golf zu feiern… Freude und Erleichterung, Stolz und noch einmal Stolz auf das US-Militär … und auf die politische Führung, die mit fester und kundiger Hand den Weg gewiesen hatte.“ (FR, 8.3.1991)

Liberation aus Paris kommentiert den Kriegsbeginn: George Bush „ist der Führer der Koalition des Rechts: Er ist es, der sie im Laufe der Wochen errichtet und der sie in die Schlacht geführt hat. Er verwirklicht den amerikanischen Traum, die Welt zu moralisieren, wenn nötig mit Gewalt.“ (Oberhessische Presse, 18.1.1991)

Und die liberale Frankfurter Rundschau (4.3.91) kommentiert entsprechend: „Seit dem Kriegsende 1945 und der Mondlandung 1969 waren das Ansehen der USA in der Welt und das Selbstwertgefühl (hervorgehoben von G.S.) zu Hause nicht mehr so groß.“„ …die Kombination aus entschlossener Führung und intensiver Konsultation und Kooperation mit anderen Staaten über ideologische und kulturelle Grenzen hinweg, ist ein erster gut gegründeter Pfeiler (einer »neuen Weltordnung«)“.

Der Chefredakteur der Zeitschrift Merkur (März 91, S. 257f) schreibt zu Krieg und psychischer Gesundheit: „Nur noch bei den Angelsachsen findet sich ein selbstverständlicher Umgang mit dem Horrorszenario (der ihnen schon 1944 erlaubte, Dresden und später Hiroshima fast ohne moralische Skrupel auszulöschen). Als Herren der Geschichte des 20. Jahrhunderts haben sie kein Schmerz- und Schuldbewußtsein entwickelt, ebensowenig wie der subjektiv gesund sich Fühlende zum Psychiater geht.“

Die USA konnten zudem mit dem Irakkrieg ein Exempel statuieren für andere Länder, die sich den weltweiten Interessen der Industrieländer zu widersetzen gedachten (US-Verteidigungsminister „Cheney will ausgefeiltere Raketen zum Schutz gegen Dritte Welt“, FR, 3.4.1991).

In den Regierungen der NATO-Länder erhält die militärische Konfliktlösung hohe Priorität. »Mobile Einsatzverbände« sollen gebildet werden, um die weltweiten Probleme auch militärisch unterdrücken zu können. Die bisher verlautbarte Aufgabe der NATO, Schutz der Mitgliedsländer vor einem militärischen Angriff, wird somit erheblich gewandelt in eine Option zur militärischen Kontrolle weltweiter Probleme.

Dazu ist in Heft 1/91 von Europäische Sicherheit u.a. folgendes zu lesen. NATO-Generalsekretär Wörner:„ (Die Golfkrise) ist … symptomatisch für das Ausmaß ungelöster Nord-Süd-Probleme und die globalen Aufgabenstellungen, die auch die Allianz in ihre künftigen Sicherheitsüberlegungen einbeziehen muß: das Problem der Ressourcenverteilung, der Energieversorgung und des Bevölkerungswachstums, die vielfältigen Auswirkungen ethnischer Konflikte und religiöser Spannungen, die Folgen großflächiger Umweltschäden, die Ausbreitung der Raketentechnologie sowie der nuklearen und chemischen Waffen, der internationale Terrorismus und das Drogenproblem …“ „Die Spannungen werden nicht nur durch Machtgelüste von Tyrannen … geschürt, sondern auch durch explosives Bevölkerungswachstum, Ressourcenprobleme, Unterentwicklung…“.

Und General v. Sandrart: „… gibt es ein neues Sicherheitsbedürfnis: den Schutz gegen Bedrohungen von außerhalb Europas. …hohes Bevölkerungswachstum, Armut verbunden mit Neid … Politisch gesteuertes Krisenmanagement bedarf dann auch abgestufter militärischer Optionen … auch Optionen für den Einsatz sofort verfügbarer, multinationaler Eingreiftruppen. … “Rapid Reaction Forces« … sind in besonderem Maße Kräfte des Krisenmanagements.“

Der Golfkrieg hat somit auch zur Konsequenz, bei Politikern Denken in militärischen Kategorien zu stärken und bei Konfliktlösungen verstärkt militärische Mittel einzusetzen: Krieg ist wieder ein akzeptables Mittel der Politik geworden.

Dies bedeutet zusammengefaßt für das Feindbildkonzept: Die scheinbar erfolgreiche Bekämpfung des »Feindes« dominiert politisches Denken, der errungene »Sieg« erhöht das Selbstbild. Die schrecklichen Auswirkungen des Krieges für Millionen Menschen und die Natur werden aus dem (politischen) Bewußtsein gedrängt, ebenso die Tatsache, daß auch dieser Krieg mehr Probleme geschaffen als gelöst hat. Die Mitverantwortung unserer Politiker und unsere Mitschuld erleben wir als gering, da dem »bösen Feind« die alleinige Schuld zugeschrieben wird. Wesentliche Probleme der gesamten Menschheit (Hunger, Unterentwicklung und Armut, Arbeitslosigkeit, Flüchtlingselend, Umweltzerstörung) werden in ihrer Bedeutung vernachlässigt oder aber militärisch unter Kontrolle zu halten versucht.

Anti-Amerikanismus und Anti-Israelismus oder Feindbild Friedensbewegung?

Mit Beginn der Kriegshandlungen der Alliierten gab es in Fernsehen, Rundfunk und Printmedien eine breite und heftige Kampagne gegen die Friedensbewegung. Ihr wurde vorgeworfen, anti-amerikanisch und anti-israelitisch zu sein; damit wurde implizit oder auch explizit unterstellt, die Friedensbewegung unterstütze Hussein und sei letztlich an dem Krieg schuld (dazu wurde folgende Frage ständig wiederholt: Wann hat die Friedensbewegung für … – oder gegen … – demonstriert?). Inhaltlich entsprach diese Argumentation der Meinung des damaligen CDU-Generalsekretärs Geißler, der Pazifismus sei für die nationalsozialistischen Verbrechen wesentlich mitverantwortlich. Strukturell wird dabei nicht gesehen, daß Aktivitäten der Friedensbewegung sehr aufwendig zu organisieren sind und daß die Friedensbewegung besonders dann aktiv wird, wenn die eigenen Regierungen versagen. Zur Auseinandersetzung mit dieser Kampagne sei an die Argumente der Friedensbewegung erinnert.

Lange vor Beginn des Golfkrieges haben große Teile der Friedensbewegung u.a. folgende Forderungen erhoben: Rückzug des Irak aus Kuwait, Ende der Kriegsvorbereitungen, Durchsetzung der UN-Resolutionen mit einem Wirtschaftsembargo; eine Konferenz über Sicherheit im Nahen Osten, in der die vielfältigen Probleme dieser Region (u.a. Rüstung, Herschaftsstrukturen, Unterentwicklung, Armut vs. Reichtum, Sicherheit Israels, gesicherte Heimat für Pälästinenser und Kurden) verhandelt werden können. Nach Beginn des Krieges war dann eine zusätzliche zentrale Forderung, insbesondere an die US-Regierung, diesen Krieg schnellstmöglich mit einem Waffenstillstand zu unterbrechen, um mit allen beteiligten und betroffenen Staaten politische Lösungen zu erarbeiten und durchzusetzen.

Mit dem Vorwurf des Anti-Amerikanismus und -israelismus sollte offensichtlich ein Feindbild »Friedensbewegung« aufgebaut werden, um die Akzeptanz des Krieges zu erhöhen und um von den eigentlichen Problemen abzulenken: dem Export von Waffen und militärisch relevanter Technologie in den Irak, solange dieser den »richtigen« Krieg gegen den Iran geführt hatte; und dem Versagen von Politikern.

Die Friedensbewegung wandte sich nicht gegen »die Amerikaner«, sondern gegen die konkrete Politik der Regierung der USA, die – nach der Annexion Kuwaits – durch ihre unnachgiebige Position und durch den zunehmenden militärischen Aufmarsch – auf einen Krieg in der Golfregion hingearbeitet hat. Gegen den Krieg wandten sich auch mehrere hunderttausend US-Bürger sowie führende Theologen in Lateinamerika und den USA. Mit einer wesentlichen Forderung der Friedensbewegung, das Embargo längere Zeit wirken zu lassen, stimmten auch ein erheblicher Teil der Politiker im US-Senat und selbst höchste US-Militärs überein (vgl. oben). All diesen müßte daher auch der absurde Vorwurf des »Antiamerikanismus« gemacht werden.

Erinnert sei an den Vietnamkrieg, der wesentlich durch die weltweiten Demonstrationen, auch in den USA, beendet wurde. Die gleichen Politiker, die damals von »Antiamerikanismus« redeten, bezeichnen inzwischen den Vietnamkrieg als großen Fehler.

Die Friedensbewegung wendet sich zudem grundsätzlich gegen Krieg. Denn Krieg löst keine Probleme, er bedeutet vielmehr Leid, Tod, Grausamkeit, Verwüstung und Entmenschlichung. Das hat auch der Golfkrieg wieder erwiesen. Zudem wurde mit dem Golfkrieg ein Unrecht, die Annexion Kuwaits, mit einem viel größeren Unrecht geahndet – es wird also der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit von Mitteln grob mißachtet. Die Friedensbewegung setzt sich dafür ein, daß Konflikte friedlich gelöst werden und daß die menschlichen, finanziellen und technischen Möglichkeiten der Menschheit endlich eingesetzt werden zur Lösung der mannigfachen wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Probleme der Erde.

Gegnern des Krieges wurden von vielen Seiten – u.a. Medien und Politikern, Israelis und Kriegsbefürwortern in der Bevölkerung – heftige Vorwürfe gemacht, die darin gipfelten, die Vernichtung Israels würde billigend in Kauf genommen. Manche dieser Äußerungen klangen so, als habe die Friedensbewegung Hussein politisch hervorgebracht und militärisch aufgerüstet – eine extreme Verzerrung der Realität. Ein Beispiel von vielen möge dies belegen (Resümee eines längeren Artikels, Der Spiegel, 18/1991):

„Ich meine nicht, daß sich die Mehrheit der Deutschen die Vernichtung Israels wünscht. Ich meine, daß in einem quantitativ wie qualitativ erheblichen Teil der Friedensbewegung der unbewußte, aber durchaus heftige Wunsch am Werke war, Saddam Hussein möge die historische Chance nutzen und den Job vollenden, den die Nazis nicht zu Ende bringen konnten.“

Das Anliegen der Kriegsgegner wurde somit ins Gegenteil verkehrt. Viele Organisationen aus der Friedens- und Ökologiebewegung hatten sich gegen einen Krieg und nach dessen Beginn für seine sofortige Beendigung eingesetzt. Dabei war die Grundüberlegung leitend, daß auch dieser Krieg die bereits vorhandenen Probleme nicht lösen und zusätzlich neue hervorbringen werde. Gefordert wurde daher eine Friedenskonferenz, in der die vielen Probleme der Region zu verhandeln sind, u.a. die Sicherheit Israels und eine gesicherte Heimat auch für Palästinenser und Kurden. Zu einer friedlichen Lösung, bei der die verschiedensten Interessen zu berücksichtigen sind, gebe es langfristig keine Alternative; denn die Sicherheit Israels sei auf Dauer nicht durch Waffen, Gewalt und Krieg zu sichern.

Daß es gelingen konnte, die Friedensbewegung im politischen Bewußtsein zum Hauptfeind Israels zu machen, verweist auf die Relevanz des Feindbildkonzepts: Wer sich nicht eindeutig für einen Krieg gegen Hussein bekannte, machte sich verdächtig, dessen Freund zu sein. Der Druck zum einheitlichen »Gruppendenken« war erheblich, Abweichungen im Sinne einer differenzierten politischen Herangehensweise wurden sozial und moralisch verurteilt. Das Schüren intensiver Emotionen – mit besonderem Verweis auf die Geschichte der Juden in Deutschland – lenkte zum einen Aggressionen gegen die Friedensbewegung (statt gegen diejenigen, die durch ihr Verhalten Hussein politisch und militärisch aufgerüstet haben), und führte zum anderen zu einer moralischen Entlastung oder gar Erhöhung der Kriegsbefürworter (der Krieg wird nicht wegen des Öls geführt, sondern um hohe moralische Ziele zu erreichen, wie die Rettung Israels, Befreiung der Geiseln und des Kuwait). Die emotionale Intensität der Vorwürfe und die intellektuelle Entdifferenzierung der Argumentation verweisen auf die Relevanz des Feindbildes.

Schlußbemerkungen

Feindbilder können von Herrschenden – wider besseres Wissen – gezielt hergestellt werden, um eigene politische Interpretationen sowie wirtschaftliche und militärische Handlungen durchzusetzen – und zwar gegenüber der eigenen Bevölkerung und dem Ausland.

Verzerrte Informationen im Sinne von Feindbildern können aber auch als wahr angenommen werden. Das politisch Bedeutsame an diesen Interpretationen ist, daß sie als Grundlage der Politik dienen, auch wenn sie völlig realitätsfern sind.

Auch wenn einer Person, politischen Gruppierung oder Bevölkerung realitätsangemessen viele negative Eigenschaften und Verhaltensweisen zugeschrieben werden, kann es doch lohnend sein, auf die Wirkung von Feindbildern zu achten: Kein Objekt besteht nur aus negativen Attributen und das Auffinden und Berücksichtigen positiver Merkmale kann wichtig sein für eine friedliche Konfliktlösung.

Feindbilder sind nach unserer Auffassung nicht Ursachen von Spannungen, Rüstung und Krieg. Ursachen sind vielmehr reale Konflikte, Interessengegensätze, das Streben nach besseren Lebensbedingungen, nach Reichtum und Macht, nach Einflußgebieten, Rohstoffen, Märkten und billigen Arbeitskräften. Bei der Durchsetzung einseitiger Interessen aber kommt Feindbildern eine wesentliche psychologische Mittlerunktion zu, sie sind die ideologische Hauptwaffe.

Für eine friedlichere Welt kommt dementsprechend dem Abbau von Feindbildern eine wichtige Funktion zu. Mindestens ebenso wichtig aber sind Entwickeln und Einsetzen von Konfliktstrategien, bei denen gewaltfrei Lösungen angestrebt werden unter Berücksichtigung der kurz- und langfristigen Interessen aller Betroffenen und Beteiligten. Als Zielperspektiven können dabei die bürgerlichen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte dienen.

Die fehlgeschlagenen Versuche, einen Krieg zu verhindern, verweisen auf fehlende demokratische Kompetenzen in der Bevölkerung und auf unzureichende demokratische Strukturen bei politischen Entscheidungen. Denn vor Kriegsbeginn gab es in den westlichen Ländern eine deutliche Mehrheit gegen den Krieg, die sich aber politisch nicht durchsetzen konnte.

Literatur

Fetscher, I. (Hrsg.). Feindbilder. Psychosozial, 40, 19-36.

Frei, D. (1985). Feindbilder und Abrüstung. München: Beck.

Keen, S. (1987). Bilder des Bösen. Weinheim: Beltz.

Krell, G. & Kubbig, B.W. (Hrsg.) (1991). Krieg und Frieden am Golf. Frankfurt: Fischer.

Ruf, W. (Hrsg.)(1991). Vom kalten Krieg zur heißen Ordnung? Münster: Lit.

Sherif, M. & Sherif, C. (1969). Social Psychology. New York: Harper & Row.

Sommer, G., Becker, J.M., Rehbein, K. & Zimmermann, R. (Hrsg.)(1988). Feindbilder im Dienste der Aufrüstung. Marburg: Schriftenreihe des Arbeitskreis Marburger Wissenschaftler für Friedens- und Abrüstungsforschung.

Spillmann, K.R. & Spillmann, K. (1990). Feindbilder: Entstehung, Funktion und Möglichkeiten ihres Abbaus. Internationale Schulbuchforschung, 12, 253-284.

(Teile dieses Aufsatzes werden mit dem Titel »Zur Psychologie von Feindbildern« erscheinen in Voit, H. (Hrsg.) (1991). Geschichte ohne Feindbild? Erlanger Forschungen.)

zum Anfang | Der inszenierte Krieg

Medienberichterstattung und psychologische Kriegsführung im Golfkrieg*

von Prof. Dr. Wilhelm Kempf

Die ganzen 80er-Jahre hindurch sind die USA für ihre Kriege in der Dritten Welt von der Militärdoktrin des low-intensity conflict ausgegangen: von Kriegsführung »niedriger Intensität«, einer Strategie integrierter militärischer, ökonomischer und psychologischer Maßnahmen, die im Gegensatz zu herkömmlichen Kriegen nicht auf territoriale Eroberungen, sondern auf eine gewünschte Verhaltensänderung in der Bevölkerung abzielt.

Musterbeispiel hierfür ist der konterrevolutionäre Krieg der USA gegen Nicaragua, der nach fast 10 Jahren mit der Wahlniederlage der FSLN im Februar 1990 zu Ende ging.

Der Golfkrieg leitete demgegenüber die Anwendung einer neuen Militärdoktrin ein. Kernstück dieser Doktrin der Kriege »mittlerer Intensität« (mid-intensity conflict) ist die Überzeugung, daß die USA ihren Supermachtstatus nur erhalten können, wenn sie die Fähigkeit besitzen, jede beliebige Macht herauszufordern und zu besiegen, die den Zugang der USA zu kritischen Interessenzonen bedroht:

mid-intensity-warfare und psychologische Kriegsführung

„Unser politischer und militärischer Status als Supermacht hängt ab von unserer Fähigkeit, im Wettbewerb auf den existierenden und auf sich entwickelnden Märkten mitzuhalten, sowie von unserem ungehinderten Zugang (…) zu den für unsere Industrieproduktion benötigten Ressourcen. “ Um diesen sicherzustellen, „brauchen wir im Rahmen unserer einsatzbereiten Streitkräftestruktur ein glaubwürdiges Potential militärischer Machtprojektion, das flexibel genug ist, auf Auseinandersetzungen jeder Art im weltweiten Spektrum gewaltsamer Konflikte zu antworten “.1

Während die Modelle der Aufstandsbekämpfung und der Kriegsführung »niedriger Intensität« von leichtbewaffneten Guerillas oder schwachen Militärkräften als Kriegsgegnern der USA ausgegangen waren, wurde von US-Militärstrategen bereits Ende der 80er-Jahre das Aufkommen gutgerüsteter Regionalmächte in der Dritten Welt als Hauptbedrohung der US-amerikanischen Sicherheit wahrgenommen, der durch eine Verstärkung der Fähigkeit zu abgestufter nichtatomarer Gewaltanwendung begegnet werden müsse. Dies erfordere eine bedeutende Ausweitung der Kapazitäten für High-Tech-Kriege in nicht zum NATO-Bereich gehörenden Regionen der Dritten Welt.2

Dieser intensivste Einsatz modernster Waffen unterscheidet den Krieg »mittlerer Intensität« vom Konzept der Kriegsführung »niedriger Intensität«, bei welcher der direkte Einsatz US-amerikanischer Truppen nur kurzfristig und in Ausnahmesituationen vorgesehen ist.3

Maßnahmen der psychologischen Kriegsführung, wie sie z.B. im Krieg gegen Nicaragua zeitweise einen Anteil von bis zu 80% erreicht hatten,4 bleiben jedoch nach wie vor von entscheidender Bedeutung. Im Krieg »mittlerer Intensität« ist der Anteil der psychologischen Kriegsführung zwar angesichts des massiven Militäreinsatzes relativ geringer. Indem praktisch die gesamten Medien der westlichen Welt in den Dienst der Kriegsführung gestellt wurden, muß das absolute Ausmaß der psychologischen Kriegsführung, wie es etwa im Golfkrieg zum Einsatz kam, jedoch noch um ein vielfaches höher angesetzt werden.

Manipulation der Medien

Wie der Oberbefehlshaber der alliierten Streitkräfte, General Schwarzkopf, nach Beginn des Waffenstillstandes darlegte,5 waren die Medien gezielt manipuliert worden, um Bagdad über die wahren militärischen Absichten der USA und ihrer Verbündeten zu täuschen und zu falschen strategischen Schlüssen zu verleiten: vor allem bei der Vorbereitung der Landoffensive konnte durch gezielte Desinformation der Eindruck erweckt werden, daß ein amphibisches Landemanöver an der kuwaitischen Golfküste bevorstünde, während die alliierten Verbände sich tatsächlich an der westlichen Flanke der irakischen Armee formierten. Da Iraks Luftwaffe ausgeschaltet und die irakischen Fernmeldeeinrichtungen zerstört waren, konnten sich die Iraker nur über Rundfunkberichte ein Bild von den alliierten Aufmarschvorbereitungen machen und das Täuschungsmanöver nicht rechtzeitig erkennen.

„Sorgfältig von den militärischen Informanten an die Kette gelegt halfen die Medien den Irak zu täuschen und die öffentliche Zustimmung zu diesem Krieg zu stärken “ beurteilte das Wall Street Journal6 die Rolle der Medien im Golfkrieg.

Um der Politik der US-Administration zur Durchsetzung zu verhelfen, kommen Propaganda und psychologischer Beeinflussung der westlichen Öffentlichkeit bereits bei der Kriegsführung »niedriger Intensität« eine besondere Bedeutung zu, welche die westliche Öffentlichkeit zu einem der Hauptziele der psychologischen Kriegsführung werden läßt.

Im Golfkrieg wurde das Kriegsziel dieser psychologischen Kriegsführung von US-Präsident Bush in seiner ersten Fernsehansprache nach Beginn der Luftangriffe klar benannt:

„Ich habe dem amerikanischen Volk vorher gesagt, daß dies kein weiteres Vietnam werden wird. Und ich wiederhole dies hier heute abend. Unsere Truppen werden die bestmöglichste Unterstützung in der ganzen Welt haben. Und man wird nicht von ihnen verlangen, mit einer auf den Rücken gebundenen Hand zu kämpfen“.7

Hauptelemente der psychologischen Kriegsführung, mittels derer dies erreicht werden sollte, bestanden in Desinformation bzw. Informationsverweigerung, in Maßnahmen der psychologischen Destabilisierung, sowie in Maßnahmen zur Polarisierung der Bevölkerung.

Die Erzeugung eines Feindbildes

Dabei setzten Desinformation und Informationsverweigerung nicht erst in Gestalt der Militärzensur nach Beginn der Kriegshandlungen ein, sondern schon lange im Vorfeld des Krieges findet sich in der Berichterstattung der Massenmedien eine weitestgehende Vorenthaltung aller Sachinformationen über Konfliktursachen und Konfliktgenese, die zur Besetzung Kuwaits durch den Irak geführt haben. Nur so kann das Bild entstehen: „Der Krieg beginnt – gleichsam aus heiterem Himmel – durch den „Überfall “ eines „Irren “ auf ein Nachbarland“.

Andere Informationen die von den meisten Medien bisher – d.h. solange Saddam Hussein als Verbündeter des Westens gelten konnte – „nicht dramatisiert “ wurden, wie Waffenlieferungen an den Irak oder die irakischen Giftgaseinsätze gegen die kurdische Bevölkerung nach Ende des Iran-Irakischen (Golf-)Krieges werden für die Medien jetzt zum Thema. So entsteht das Bild: „Der Irre besitzt Massenvernichtungswaffen und ist bereit, diese auch einzusetzen“. Und die logische Folgerung: „Er muß gestoppt werden, bevor die ganze Welt in Flammen steht“.

Durch selektive Informationsvorgaben, wird so innerhalb kürzester Zeit ein Feindbild geschaffen, mit den grundlegenden Strukturmerkmalen der gleichzeitigen Minderwertigkeit und Gefährlichkeit des Gegners.

Die Strukturübereinstimmung dieses neuen Feindbildes mit allen anderen, schon bekannten und vertrauten Feindbildern kommt dem Bedürfnis des Alltagsbewußtseins8 entgegen, jede qualitative Umformung des Bewußtseinshorizontes zu vermeiden, indem es Unbekanntes auf (scheinbar) Bekanntes reduziert, und die Desiderate alter Erfahrungen auf neue Situationen überträgt. Diese naturwüchsigen Übertragungsvorgänge werden durch publizierte Übertragungsangebote verstärkt und gesteuert. Hierher gehört die Gleichsetzung Saddam Husseins mit Hitler durch Politpoeten wie Wolf Biermann (in der Zeit) und Hans Magnus Enzensberger (im Spiegel) ebenso, wie die (historisch falsche9) Gleichsetzung von Pazifismus mit Appeasement-Politik, die dann womöglich noch mit einer Warnung vor „Einäugigkeit und ahistorische(r) Betrachtungsweise “ verbunden wird, durch welche „das berechtigte, ja notwendige Infragestellen des Kriegs, die Forderung nach einem friedlichen Zusammenleben der Völker (…) nicht entwertet “ werden dürfe.10

Gerade der Diskurs um die Frage, ob im konkreten Fall des Golfkonfliktes ein militärischer Konfliktaustrag unvermeidbar bzw. gerechtfertigt ist, wird dadurch de facto nicht geführt. In den Auseinandersetzungen über diese Frage kommt der Golfkonflikt gar nicht vor, da er durch Bilder wie die oben genannten aus dem Diskurs verdrängt wird, die als Ersatz für die Realitätswahrnehmung ergriffen werden.

Kriegsberichterstattung

Mit Beginn der Kriegshandlungen setzt dann eine reine Kriegsberichterstattung ein, die nicht nur Kriegsursachen und Kriegsziele weiterhin im Dunklen läßt, sondern auch so gut wie keine Informationen über Kriegsverlauf und Kriegsopfer bietet, während zugleich der Eindruck vermittelt wird, als könnte Mensch den Krieg am Fernsehschirm live miterleben.

Meldungen wie die, daß die Alliierten bereits während der ersten drei Stunden des Angriffes auf den Irak 18 000 Tonnen Bomben abgeworfen hätten, werden rein »technisch« abgehandelt: um Vertrauen in die Kriegsmaschinerie zu wecken. Die damit angerichteten Verheerungen kommen nicht ins Bild. Lediglich ein Video, welches die Präzision demonstrieren soll, mit welcher die alliierten Kampfflugzeuge ihre Ziele treffen, wird wieder und wieder gezeigt.

Kontrolliert wird die Kriegsberichterstattung durch einen Katalog von »Grundregeln«, die nach längeren Verhandlungen mit Medienvertretern vom US-Verteidigungsministerium festgelegt und mit Datum vom 14. Januar veröffentlicht wurden11 und strenge Zensurvorschriften und Sprachregelungen enthalten, durch welche die zulässigen Informationen vage und inhaltsleer werden. Aus der Berichterstattung ausgeschlossen wurden dadurch u.a. Informationen über:

  • Truppenstärke, Waffensysteme und Ausrüstung etc. der alliierten Streitkräfte,
  • geplante, aufgeschobene oder abgeblasene Operationen der alliierten Streitkräfte,
  • den Standort der alliierten Streitkräfte,
  • Details der Einsatzpläne,
  • Geheimdienstaktivitäten einschließlich ihrer Ziele, Methoden und Ergebnisse,
  • Truppenbewegungen der alliierten Truppen (mit Ausnahme solcher Informationen die von der Zensurbehörde freigegeben wurden),12
  • Identifikation der Ausgangsbasen, von denen aus Luftangriffe geflogen wurden,
  • Effektivität oder Ineffektivität der Tarnung, Täuschung, Zielsicherheit,13 direkten und indirekten Beschusses, Informationsbeschaffung und Sicherheitsmaßnahmen.
  • spezifische Angaben über vermißte oder abgeschossene bzw. versenkte Flugzeuge und Schiffe, solange noch Such- oder Rettungsaktionen in Gang sind,
  • Methoden, Ausrüstung und Taktik von Spezialeinheiten, etc.

Außerdem wurden Richtlinien für die Nachrichtenmedien erlassen,14 wonach Journalisten die kämpfende Truppe nicht ohne Militäreskorte begleiten dürfen15 und sich mit »Pool-Berichten« begnügen müssen: zur Berichterstattung zugelassen sind nur wenige – fast ausschließlich US-amerikanische – Journalisten, deren Beiträge – nachdem sie von der Zensurbehörde genehmigt wurden – allgemein zur Verfügung gestellt werden.

Dadurch werden authentische Berichte verhindert, wie sie im Vietnamkrieg die öffentliche Meinung maßgebend beeinflußt hatten, als Journalisten auf eigene Faust über das Grauen des Krieges berichtet hatten. Stattdessen werden »schöne« Bilder erfolgreicher Bombardements gezeigt, die den Eindruck eines »sauberen« Krieges gegen Militäreinrichtungen vermitteln, „von dem die Bevölkerung ausgenommen ist “.16

Umgekehrt werden vergleichsweise geringe Schäden vereinzelter Raketenangriffe des Irak auf Israel als Terrorangriffe ins Bild gerückt: z.B. die Bombenschäden an der Turnhalle einer Schule in Tel Aviv.

Zweifel am Realitätsgehalt dieser Berichterstattung können sich allenfalls daran festmachen, daß immer wieder dieselben Bilder gezeigt werden, die aber (angeblich) jedesmal etwas anderes darstellen sollen.

Zweifel und Informationsmangel zusammen verunsichern Öffentlichkeit wie Journalisten und versetzen sie in eine contraproduktive Double-Bind-Situation: gerade weil Mensch merkt, daß er angelogen wird, daß ihm Informationen vorenthalten werden, er sich kein Urteil bilden kann, ist er gezwungen denen zu glauben, die ihn anlügen und die ihm Informationen vorenthalten, ja ggf. noch deren Lügen weiter zu verteidigen, wo Zweifel aufkommen.

Das Phänomen der »Doppel-Bindung«

In der klinischen Psychologie wurde man auf solche »Doppel-Bindungen« zuerst als Ursache für die Entwicklung schizophrener Denkstörungen aufmerksam.17 Definitionsmerkmale der Doppelbindung sind: 1. Eine so intensive Beziehung zu einer anderen Person oder Institution, daß es besonders wichtig wird, deren Mitteilungen genau zu verstehen, um angemessen darauf reagieren zu können.18 (2) Diese Person oder Institution übermittelt mit ihrer Äußerung zwei widersprüchliche Botschaften.19 (3) Die betroffene Person kann zu den einander entgegengesetzten Botschaften weder Stellung beziehen,20 noch sich aus der Situation zurückziehen.

Eine traurige Berühmtheit erlangte der systematische Einsatz von Doppel-Bindungen im Rahmen psychologischer Foltermethoden, wobei es entweder eine Arbeitsteilung zwischen zwei oder mehr Folterern geben kann, von denen der eine die Rolle des verständnisvollen, väterlichen und freundlichen Befragers spielt, während die übrigen sich feindselig und aggressiv geben, sodaß dem Opfer entgegengesetzte Informationen über das zwischen ihm und der Institution bestehende Verhältnis, deren Absichten und seine Aussichten davonzukommen übermittelt werden. Oder ein und derselbe Folterer vereinigt die widersprüchlichen Haltungen in ein und derselben Person. Z.B. verhält er sich handlungsmäßig aggressiv, verbal aber freundlich. Oder er zeigt ein ständiges Hin und Her zwischen Sadismus und Gefälligkeit, wodurch ebenfalls erreicht wird, daß der Gefangene über seine Situation im Unklaren ist und deshalb keine angemessenen Abwehrstrategien entwickeln kann.21

Als langfristiges Resultat bleiben nicht wenige Folteropfer in ihrem Denken und ihren Wahrnehmungen dauerhaft von der Manipulation durch andere abhängig. Psychosoziale Traumata wie die – auch im Medienkrieg betriebene – Zerstörung der Bezugssysteme durch Doppel-Bindungen führen in einen Prozeß der Dehumanisierung,22 dessen Symptome im Rahmen der psychologischen Kriegsführung durchaus als beabsichtigt gelten können: selektive Unaufmerksamkeit und Festklammern an Vorurteilen, Absolutheitsansprüche und Idealisierungen, ausweichender Skeptizismus und paranoide Abwehrhaltungen welche u.a. die Fähigkeit klar zu denken beeinträchtigen und für das Leid anderer unempfänglich machen.

Integraler Bestandteil der psychischen Destabilisierung durch Doppel-Bindungen sind auch die vertrauensbildenden Maßnahmen, mittels welcher die angebliche Objektivität der Berichterstattunmg inszeniert wird. So überträgt der US-amerikanische Nachrichtensender CNN (und mit ihm unzählige andere Fernsehsender – wie z.B. das schweizerische Fernsehen DRS – die das CNN-Programm an diesem Morgen live übernommen haben) wenige Stunden nach Kriegsbeginn eine Pressekonferenz Fidel Castros, in der dieser bemängelt, daß die Möglichkeiten einer nichtmilitärischen Konfliktbeilegung nicht ausgeschöpft worden seien und auf die verheerenden Auswirkungen hinweist, welche der Krieg für die Länder der Dritten Welt nach sich ziehen wird.

Was auf den ersten Blick als beeindruckendes Beispiel einer objektiven und differenzierten Berichterstattung erscheint, die selbst den Erzfeind der USA zu Wort kommen läßt, gewinnt bei genauerer Betrachtung noch eine andere Bedeutung: daß nämlich für die Antikriegsbewegung zentrale Argumente dadurch diskreditiert werden, daß es ausgerechnet Castro ist, mit dem diese assoziiert werden.

Wichtig ist der »Sender« der Botschaft

Wie experimentalpsychologische Studien bereits Anfang der 50er-Jahre gezeigt haben, erweisen sich dieselben Argumente für die Änderung von Einstellungen als wirkungsamer, wenn sie von einem positiv bewerteten (glaubwürdigen) »Sender« kommen:23 Schon von daher gesehen, war es für die öffentliche Zustimmung zum Krieg durchaus funktional, zentrale (und ohnedies nicht verhinderbare) Argumente der Kriegsgegner zuerst durch Fidel Castro an die nordamerikanische Öffentlichkeit kommen zu lassen, zumal es bei einem negativ bewerteten (unglaubwürdigen) Sender zu einer Art Bumerangeffekt24 kommen kann: je stärker die Einstellungsänderung ist, die er verlangt, desto weniger erreicht er. Einem Sender dieser Art gelingen höchstens kleine Einstellungsänderungen, sodaß wohl kaum die Gefahr bestand, Fidel Castro könnte die Bevölkerung der USA gegen den Krieg am Golf einnehmen. Daß die Argumente der Kriegsgegner (durch Fidel Castro) öffentlich vorgebracht wurden dürfte stattdessen dazu beigetragen haben, die Zustimmung der Öffentlichkeit zu dem Krieg für die Argumentation der Anti-Kriegsbewegung weniger empfindlich zu machen: nach gut gesicherten experimentalpsychologischen Ergebnissen25 sind auf »zweiseitigen Mitteilungen« basierende Einstellungen (bei deren Ausbildung die Gegenargumente schon vorweggenommen wurden) gegenüber späterer »Gegenpropaganda« widerstandsfähiger als »einseitige Mitteilungen«, die nur die Pro-Argumente enthalten.

Während die Fähigkeit zu einer eigenständigen Urteilsbildung durch Informationsmangel und psychische Destabilisierung bereits geschädigt ist, wird zugleich die Polarisierung der Öffentlichkeit betrieben, indem die Anti-Kriegsbewegung als Anti-USA-Bewegung, als Anti-Israel-Bewegung oder gar als Pro-Saddam-Bewegung denunziert wird.

So sah sich die Bundesregierung veranlaßt, im Zusammenhang mit den anhaltenden Demonstrationen gegen den Golfkrieg vor einer neuen Welle des Antiamerikanismus in Deutschland zu warnen. Es sei der Sache am Golf „absolut nicht angemessen “, daß die Verantwortung für die Entwicklung am Golf von den Demonstranten den Amerikanern zugeschrieben werde,26 und der Präsident des außenpolitischen Ausschusses der israelischen Knesset warf den deutschen Friedensdemonstranten vor, Saddam Hussein zu unterstützen.27

Marginalisierung der Kriegsopposition

Verbunden ist diese Polarisierung mit einer klaren Marginalisierungsdrohung: wer sich nicht hinter den Krieg stellt, läuft Gefahr, sich am Rande der Gesellschaft wiederzufinden. Und zwar sowohl individuell, als auch kollektiv. So formuliert z.B. Gerd Appenzeller in einem Leitartikel des Südkurier vom 19.1.1991 die Verheißung an die Deutschen, bei einer Kriegsbeteiligung endlich aus ihrem angeblichen Abseits herauszukommen – bzw. die Drohung in solch ein Abseits zu geraten, wenn nicht:

„Die Deutschen werden ohnedies, wie auch immer, die Folgen des Golfkrieges noch in Punkten zu spüren bekommen, die schmerzen. Gegen die Annexion Kuwaits kämpfen inzwischen Briten, Franzosen, Niederländer, Italiener, Kanadier, Amerikaner. Deutschland steht, verfassungsbedingt korrekt, abseits. Aber wenn der Krieg (hoffentlich erfolgreich) vorbei ist, werden sich die, die ihn gegen den Aggressor gewannen, gegenseitig auf die Schultern klopfen, und auf jene herabschauen, die sich nicht engagierten “.

Als ein wichtiges Mittel dieser Polarisierung dient dabei auch der Versuch, den Krieg als einen Krieg »der Vereinten Nationen« darzustellen, oder zumindest als einen Krieg, den die USA »im Auftrag der Vereinten Nationen« führen, während Äußerungen des UN-Generalsekretärs, die diese Darstellung zurückweisen, von den meisten Medien ebensowenig thematisiert werden, wie die berechtigten Zweifel, ob die inzwischen verfolgten Kriegsziele überhaupt noch mit den UN-Resolutionen vereinbar sind.

Selbst jene politischen Gruppierungen, die gegen die Kriegspolitik aufzutreten scheinen, vermögen in dieser Situation weder Sicherheit noch Rückhalt zu bieten. Teilweise, weil sie eh zu schwach sind, und andernteils, wie im Falle der SPD, weil sich gleichzeitig führende Identifikationsfiguren – wie etwa Willy Brandt – in Zeitungsanzeigen hinter den Krieg stellen.

Der Krieg »mittlerer Intensität«, wie er von den USA am Golf geführt wurde, erweist sich derart schon innerhalb der ersten Kriegstage als ein totaler Krieg gegen das Entstehen einer kritischen Öffentlichkeit und damit gegen die Grundlagen einer demokratischen Gesellschaftsordnung. Psychologische Kriegsführung, als Krieg um die Köpfe und Herzen der Menschen, gerät im Zuge der Kriegsführung »mittlerer Intensität« endgültig zum psychologischen Krieg gegen die Menschen im eigenen Land und gegen ihre Fähigkeit der Urteilsbildung ebenso wie gegen ihre Fähigkeit der Anteilnahme.

Literatur

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Hovland, C.I., Weiss, W., 1951. The influence of source credibility on communication effectiveness. Public Opinion Quarterly, 15, 635-650.

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Klare, M.T., 1991b. Der Golf – Versuchsfeld der Kriege von morgen. Die neue Militärstrategie der USA – Middle-Intensity-Conflict. Prowo Nr. 12.

Klare, M.T., Kornbluh, P., 1988. Low Intensity Warfare. New York.

Leithäuser, Th., Volmerg, B., 1977. Die Entwicklung einer empirischen Forschungsperspektive aus der Theorie des Alltagsbewußtseins, in: Leithäuser, Th., Volmerg, B., Salje, G., Volmerg, U., Wutka, B., Entwurf zu einer Empirie des Alltagsbewußtseins. Frankfurt/M.

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Martin-Baro, I., 1988. Die psychischen Wunden der Gewalt, in: Kempf, W., (Hrsg.), Kriegsführung »niedriger Intensität«, Menschenrechte und psychosoziale Situation in Zentralamerika. Hamburg, 1991 (im Druck).

Niedhart, G., 1991. Appeasement ist kein Pazifismus und Krieg ist nicht gleich Krieg. Frankfurter Rundschau vom 26.2.1991, S.9.

Samoyoa, J., 1987. Guerra y deshumanización. Una perspectiva psicosocial. Estudios Centroamericanos (ECA), No. 461, S.213-225.

Auszugsweiser Nachdruck eines Aufsatzes, der unter dem Titel »Verdeckte Gewalt. Herausforderungen an Friedens- und Solidaritätsbewegung zu Beginn der 90er Jahre« in dem von W. Kempf herausgegebenen Buch Verdeckte Gewalt – Psychosoziale Folgen der Kriegsführung niedriger Intensität in Zentralamerika im Argument-Verlag, Hamburg, erschienen ist.

Irak: UN-Sanktionen und Menschenrechte

Irak: UN-Sanktionen und Menschenrechte

von Steffen Rogalski und Jutta Burghardt / Andreas Zumach

zum Anfang | Die Luftangriffe gegen Irak führen in eine gefährliche Sackgasse

von Andreas Zumach

Was ist das Völkerrecht Linken, Grünen, Friedensbewegten noch wert? Diese Frage stellt sich angesichts der Debatte über die schweren US-amerikanisch-britischen Luftangriffe auf Ziele im Irak vom 16. Februar. Selbst KritikerInnen dieser Maßnahmen ließen erschreckende Ahnungslosigkeit erkennen beziehungsweise die Verdrängung einiger simpler Tatsachen, an die hier noch einmal erinnert sei als Grundlage für alle folgenden Erörterungen: Die Luftangriffe waren ein eindeutigvölkerrechtswidriger Kriegsakt. Es gibt keine Resolution des UNO-Sicherheitsrates oder irgendeine andere völkerrechtliche Grundlage für diese oder andere militärische Maßnahmen gegen Irak. Dasselbe gilt für die Einrichtung und Durchsetzung der »Flugverbotszonen« und damit auch für das von den USA und Großbritannien reklamierte »Recht« ihrer Kampfpiloten auf »Selbstverteidigung« gegen irakische Flugabwehrraketen. Auch die Resolution 688 des Sicherheitsrates zum Schutz der irakischen Kurden und Schiiten sieht weder militärische noch andere Zwangsmaßnahmen vor. Die Angriffe von 16. Februar gegen Ziele in der Nähe Bagdads und außerhalb der beiden »Flugverbotszonen« bedeuten eine militärische Eskalation. Zumindest im Vergleich mit den letzten 26 Monaten, in denen US-amerikanisch-britische Kampfflugzeuge »lediglich« zwei bis drei mal wöchentlich (und von der Weltöffentlichkeit weitgehend ignoriert) irakische Bodenziele ausschließlich innerhalb der beiden »Flugverbotszonen« bombardierten. Mitte Dezember 98 hatten die Amerikaner und Briten vier Tage lang Ziele im ganzen Land und auch in der Stadt Bagdad bombardiert. Öffentlich begründeten die Regierungen in Washington und London die Luftangriffe vom 16. Februar zunächst mit der Behauptung, der Irak habe in der Region um Bagdad in den letzten Monaten neue Militäranlagen in Betrieb genommen und den Luftabwehrbeschuss gegen US-amerikanische und britische Kampfflugzeuge verstärkt. In den Tagen nach den Luftangriffen wurden zur weiteren Rechtfertigung ausgesuchte Medien und Journalisten (in Deutschland: FAZ und Welt) mit angeblichen »neuen Erkenntnissen« des CIA, des britischen Geheimdienstes sowie des Bundesnachrichtendienstes versorgt. Laut diesen »neuen Erkenntnissen« habe das Regime von Saddam Hussein seit 1999 Rüstungsprogramme für atomare, chemische und biologische Waffen reaktiviert und über Tarnfirmen u.a. in Indien eine rege Aktivität zum Einkauf von Materialien für diese Programme entwickelt. Zudem habe das Regime neue Raketenabschussbasen an der Grenze zu Syrien installiert, von denen sich Israel erreichen lasse. Die Verbreitung dieser »neuen Geheimdiensterkenntnisse« hatte außerdem den Effekt, die Bedrohungsbehauptungen zu untermauern, mit denen Washington die Notwendigkeit eines Raketenabwehrsystems begründet. All die Behauptungen und Rechtfertigungen Washington und Londons für die Luftangriffe lassen sich international nicht überprüfen, da die UNO-Waffeninspektoren Irak infolge der US-amerikanisch-britischen Luftangriffe vom Dezember 1998 verlassen mussten. Es fallen jedoch einige Widersprüche auf. So hat die CIA auf ihrer Internet-Webseite noch im letzten Jahr erklärt, es gebe keine Anzeichen für eine Wiederaufnahme irakischer Massenvernichtungsprogramme.

Welche Interessen Washington und London tatsächlich mit den Luftangriffen verfolgten, ist unklar. Offensichtlich ist nur, dass US-Präsident Bush gleich zu Beginn seiner Amtszeit Härte demonstrieren wollte. Dafür spricht auch die offensive Art, mit der die Angriffe in Washington publik gemacht wurden. Darüber hinaus ist aber zunächst keine kohärente Strategie der neuen Administration erkennbar – weder hinsichtlich des Irak-Problems, noch mit Blick auf den damit eng und unlösbar verknüpften israelisch-palästinensischen Konflikt. Stattdessen wurden Widersprüche deutlich. Außenminister Colin Powell ließ erkennen, dass er – im Unterschied zu Verteidigungsminister Donald Rumsfeld und Vizepräsident Dick Cheney – zumindest zu diesem Zeitpunkt gegen die Eskalation der Luftangriffe war.

In weiten Teilen der US-Luftwaffe gelten die Luftangriffe schon lange als ein militärisch nutzloses und äußerst kostspieliges Unternehmen. Allein die Maßnahmen zur Durchsetzung der südlichen »Flugverbotszone« kosteten im Haushaltsjahr 2000 über 1,4 Milliarden US-Dollar. Powell hat verlauten lassen, er strebe eine »Modifizierung« der Sanktionen an: Die Importe humanitärer und anderer ziviler Waren in den Irak sollen erleichtert, die Maßnahmen gegen die Einfuhr militärischer Güter verschärft werden. Hardliner im Kongress lehnen dieses Vorhaben als »Aufweichung« der Sanktionen ab. Ähnliche Vorbehalte kamen von Cheney und Rumsfeld. Dabei müssten der Vizepräsident und der Verteidigungsminister ähnlich wie Präsident Bush ebenfalls eine Modifizierung des Sanktionsregimes gegen Irak anstreben. Denn alle drei sind in hohem Maße den Interessen der US-amerikanischen Erdölindustrie verpflichtet. Diese will die Ausbeutung der irakischen Erdölvorhaben nicht weiter europäischen, russischen und asiatischen Konzernen überlassen, die im Zuge der seit rund zwei Jahren laufenden »illegalen« Unterminierung der Sanktionen bereits wieder ins Geschäft mit dem Irak gekommen sind bzw. ihre Ausgangsbasis für künftige Geschäfte erheblich verbessert haben.

Die Luftangriffe vom 16. Februar haben die Chancen für eine vom UNO-Sicherheitsrat offiziell abgesegnete und von den USA kontrollierte Modifizierung der Sanktionen allerdings eher verringert als erhöht. Die Reaktionen fast in der gesamten arabischen Welt fielen weit kritischer aus, als die Bush-Administration einkalkuliert hatte. Die in Washington schon seit geraumer Zeit mit Argwohn beobachtete politische und wirtschaftliche Annäherung Syriens, Ägyptens, Jordaniens und anderer arabischer Staaten an Irak wurde durch die Angriffe weiter forciert. Saddam Hussein fühlt sich bestärkt und zeigt sich noch weniger bereit, über eine Wiederzulassung von Waffeninspektoren auch nur ernsthaft zu diskutieren. Das wurde bei den Gesprächen des irakischen Außenministers mit UNO-Generalsekretär Kofi Annan Ende Februar in New York deutlich. Eine Wiederzulassung von Waffeninspekteuren wäre aber wiederum die Vorbedingung, die Bagdad erfüllen müsste, damit Powell in Washington eine Modifizierung der Sanktionen durchsetzen kann. Führende Vertreter der Republikaner im Kongress legen die Schwelle für eine Zustimmung Bagdads sogar noch höher mit ihrer Forderung, ein künftiges Waffeninspektionsteam solle nur noch aus US-Amerikanern und Briten bestehen. Mit ihrer neuen Politik hinsichtlich des israelisch-palästinensischen Konflikts hat die Bush-Administration das Regime in Bagdad zusätzlich bestärkt. Saddam Hussein nutzt bereits die Intifada seit September letzten Jahres dazu, sich in der arabischen Welt – wie bereits Ende der 80er/Anfang der 90er Jahre – als Führer im Kampf gegen Israel zu profilieren. Nachdem die Bush-Administration klargemacht hat, dass sie den Oslo-Prozess aufgegeben hat und die Regierung Sharon nicht einmal zur Einhaltung der Zusagen ihrer Vorgänger drängen wird, hat die Gewalteskalation zugenommen, und sie dürfte sich noch weiter verschärfen Das wiederum wird die Kritik in den arabischen Staaten an den USA weiter verstärken und deren Wiederannäherung an den Irak zusätzlich beschleunigen. Die Sackgasse, in die sich die Bush-Administration bereits innerhalb der ersten vier Wochen ihrer Amtszeit im Nahen Osten manövriert hat, ist sehr tief. Und weder die Europäer noch sonst wer sind bereit oder in der Lage, einen Ausweg aufzuzeigen. Neue Luftangriffe und eine weitere militärische Eskalation scheinen derzeit unausweichlich.

Andreas Zumach arbeitet als freier Journalist in Genf/Schweiz.

zum Anfang | Das Dilemma der Sanktionen gegen den Irak

von Steffen Rogalski

Die lückenhafte Abrüstung der irakischen Massenvernichtungswaffen und die notwendige Kontrolle des diktatorischen Herrschaftsregimes geben Anlass zur Aufrechterhaltung der Sanktionen, die extremen Leiden der Bevölkerung in Folge der Sanktionen sind aber ein Anlass um selbige aufzuheben. Das ist das Dilemma, vor dem die internationale Staatengemeinschaft gegenwärtig steht.

Der vorliegende Bericht gibt einen Überblick über Ursachen, Durchführungsbestimmungen und Folgen der UNO-Sanktionen gegenüber dem Irak.

  • Es werden die Ziele der Sanktionen erläutert, die Sanktionen selbst werden auf ihre Praktikabilität untersucht und in einen »sanktionstheoretischen« Kontext gestellt.
  • Es geht um die Ergebnisse im Bereich der Abrüstung der irakischen Massenvernichtungswaffen und ihrer Trägersysteme und um die »Wandlungsfähigkeit« des Irak bzw. des irakischen Herrschaftsregimes.
  • Geschildert werden die negativen humanitären Auswirkungen von Krieg und Sanktionen auf die irakische Bevölkerung und die Infrastruktur des Landes.

Die Ziele der Sanktionen und ihre Realitätstüchtigkeit – sanktionstheoretische und friedenspolitische Implikationen

Am 2. August 1990 besetzten irakische Truppen Kuwait, was der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen als Aggression und Bruch des Friedens verurteilte. Er forderte den Irak mit Resolution 660 zum sofortigen und bedingungslosen Rückzug auf. Als dies nicht geschah, wurden mit Resolution 661 vom 6. August 1990 umfassende Wirtschaftssanktionen verhängt, die das Einstellen jeglichen Finanz- und Wirtschaftsverkehrs beinhalteten. Dies konnte als eine entschiedene Warnung für ein entschlossenes Handeln der UNO-Mitgliedstaaten gesehen werden. Es war eine diplomatische und politische Ausnahmesituation, denn der UNO-Sicherheitsrat war sehr aktiv und verabschiedete bis zur letzten Warnung 12 Resolutionen. Am 29. November 1990 wurde Resolution 678 verabschiedet, die ein Ultimatum setzte: Wenn der Irak nicht bis zum 15. Januar 1991 alle Resolutionen umgesetzt hätte, die sich auf die Okkupation Kuwaits bezogen, würden alle Mitgliedstaaten, die mit der legitimen Regierung Kuwaits kooperierten, autorisiert „alle notwendigen Mittel“ einzusetzen, um dies vom Irak zu erzwingen und die Sicherheit und den Frieden in der Region wiederherzustellen. Es folgten zahlreiche diplomatische Initiativen, um den Irak zum Rückzug zu bewegen. Die irakische Ökonomie war durch den vorangegangen Iran-Irak-Krieg, das Anwachsen der Auslandsverschuldung und vor allem durch ihre Abhängigkeit vom (nun gestoppten) Ölexport, der über 90 % der irakischen Exporteinnahmen und etwa 50 % des Bruttosozialproduktes ausmachte, unter erheblichem Druck. Diplomatie, Drohung mit dem Militäreinsatz und Sanktionen wirkten zusammen. Einige Wissenschaftler meinten, dass allein schon die wirtschaftlichen Daten eine ideale Sanktionssituation zeigten und der Irak bald einlenken würde. Doch diese Erwartung erwies sich aus zwei Gründen als falsch: Zum einen ist die Zeit bis zur Wirkung von UNO-Sanktionen sehr lang (in vorangegangenen Fällen mit bedeutenden politischen Zielen wie bei Rhodesien und Südafrika 15 respektive 23 Jahre), zum anderen war die friedenspolitisch motivierte Annahme falsch, dass Sanktionen den Militäreinsatz ersetzen würden. Die Sanktionen dienten als Ergänzung und Vorbereitung zu einem Militärschlag. Einen Tag nach Ablauf des Ultimatums begann eine Koalition von Staaten mit einer groß angelegten militärischen Offensive, heute »Zweiter Golfkrieg« genannt, die bereits am 28. Februar 1991 mit der Befreiung Kuwaits und einer verheerenden militärischen Niederlage des Iraks endete. Damit war das politische Hauptziel (der Res. 660) erreicht, aber die Sanktionen wurden in der Folge fortgesetzt und durch Kontrollbestimmungen bzw. Waffenstillstandsbedingungen ergänzt.

Mit Resolution 687 vom 3. April 1991, die der Irak widerwillig anerkennen musste (und folgenden Resolutionen) wurde er unter eine langfristige internationale Kontrolle gestellt. Die Hauptziele der Resolution 687 bestehen primär im haftbar Machen des Irak für Kriegsschäden und in der Sicherstellung der Kontrolle über die Rüstung des Irak. Nicht nur die Vernichtung von Massenvernichtungswaffen und deren Trägersystemen war ein Hauptziel der UNO, sondern auch die Kompensation der Kriegsschäden und die korrekte Begleichung von Auslandsschulden. Wie dies ein Land schaffen soll, das selbst vom Krieg zerstört und von umfassenden Sanktionen betroffen ist, blieb unklar. Zur Kontrolle schuf die UNO folgende Sonderorganisationen:

  • eine Beobachtertruppe an der irakisch-kuwaitischen Grenze (UNIKOM);
  • eine Sonderkommission, die die Vernichtung von irakischen Massenvernichtungswaffen und deren Trägersystemen (mit einer Reichweite von über 150 Kilometern) überwacht (die sog. UNSCOM);
  • eine Kommission zur Grenzfestlegung
  • und eine Kommission zur Verwaltung eines Fonds für Reparationen bzw. Kriegsentschädigungen.

Damit entstand das umfassendste und härteste Sanktionsregime in der Geschichte der UNO. Und das wurde im Laufe der Zeit noch ausgebaut.

Nach der brutalen Niederwerfung von Aufständen im Norden und Süden des Irak und mangelnder Anerkennung von UNO-Bestimmungen wurden zusätzliche Beschlüsse gefasst, um die Aggressionsfähigkeit des Irak weiter einzuschränken: Mit Resolution 715 (1991) wurde die Aufhebung der Sanktionen an die Errichtung eines langfristigen Rüstungskontroll- und Verifikationsprogramms zur Verhinderung der Herstellung verbotener Massenvernichtungswaffen gebunden. Zuvor wurde mit Resolution 688 die Einstellung von Repressionen, Gewalt und Menschenrechtsverletzungen als ein weiteres UNO-Ziel verankert, das letztlich auch die Grundlage für die (völkerrechtlich nicht legitimierte) Durchsetzung von Flugverbotszonen ist.

Von den USA und Großbritannien wurde eine zusätzliche Agenda eingeführt, in der sie die vollständige Aufhebung der Sanktionen an die exakte Erfüllung aller dieser Forderungen gebunden haben. Zu dieser Politik gehört die militärische Eindämmung des Irak durch die USA. Es geht um das versteckte Hauptziel der USA (das niemals offiziell ein UNO-Ziel war), die »hidden agenda«: die Beseitigung oder Niederhaltung des irakischen Herrschaftsregimes. Gefordert wird ein andauerndes Wohlverhalten des Irak, bei dem er seine »friedlichen Absichten« ständig zu beweisen hat (Baur, 1998:20ff). Solche kaum zu realisierenden Forderungen sind dann gleichzeitig der Hebel um eine Aufhebung der Sanktionen durch ein Veto Großbritanniens und/oder der USA im Sicherheitsrat zu verhindern.

Das Sanktionsregime kann auch im Bereich der Kontrolle der Abrüstung von irakischen Massenvernichtungswaffen als sehr hart angesehen werden. Mit Res. 707 vom 15. August 1991 wurde unter Berufung auf Kapitel VII der UNO-Charta vom Irak verlangt, den Inspektorenteams der Sonderkommission UNSCOM und der Internationalen Atomenergiebehörde sofortigen, bedingungslosen und uneingeschränkten Zugang zu allen Gebieten, Einrichtungen, Ausrüstungen, Unterlagen und Transportmitteln zu gewähren, die sie zu inspizieren wünschen. Gleichzeitig soll der Irak sofort alle Versuche der Verheimlichung und jede Bewegung und Zerstörung von Material oder Ausrüstung einstellen, die sich auf Programme für Massenvernichtungswaffen und ballistische Raketen oder Material dazu beziehen. Er wird außerdem aufgefordert, auf jegliche Fragen der UNSCOM und der IAEO und deren Inspektorenteams zu antworten. Nach dem der Irak zunächst häufig kooperierte, ohne dass die Sanktionen im Wesentlichen gelockert worden wären, kam es zu erheblichen Störungen der Inspektionen ab 1997; nach der Krise um die Inspektion von Präsidentenpalästen am 5. August 1998 stellte die irakische Seite ihre Kooperation ein. Mit dem Beharren auf einer restlosen Erfüllung aller UNO-Forderungen sieht sich der Irak in seiner Souveränität bedroht. Wahrscheinlich ist er auch mit der Aufklärung des Verbleibs von Restbeständen von Massenvernichtungswaffen überfordert. Dies kann aus friedenspolitischer Sicht für die Bewertung seiner Lage nicht ausschlaggebend sein, der Irak konnte sich aber aus seiner Sicht unmöglich in eine Situation begeben, in der umfassende Sanktionen mit einem kompletten Rüstungs- und Technologiekontroll- sowie Überwachungssystem (in der Form und mit den Autoritäten der UNSCOM) beliebig verlängerbar waren.

Das verweist auf ein für alle UNO-Sanktionen typisches Problem1: Selbst wenn die Staatengemeinschaft übermächtig ist und ihre Entschlossenheit, ihre Sanktionsziele zu erreichen auch deutlich signalisiert, kann das betroffene Herrschaftsregime durch Gegenmaßnahmen die Effektivität der Sanktionen verringern und damit die Sanktionsperiode und auch den eigenen Machterhalt verlängern. Durch Schmuggel und Abwicklung von verdecktem Handel über dritte Staaten (Umweghandel), Mobilisierung binnenwirtschaftlicher Ressourcen, Außenhandelsrestriktionen und Propaganda zum Abfangen der politischen Effekte der Wirtschaftsblockade können die Verluste durch entgangenen Handel und deren wirtschaftliche und politische Folgen abgemildert werden. Durch wirtschaftliche Umstrukturierungen mit Staatseingriffen und Subventionen sowie einer Propaganda zur Förderung der Opferbereitschaft der Bevölkerung kann negativen Effekten von Wohlfahrtsverlusten teilweise entgegengewirkt werden. Auf der externen Ebene, die durch vielfältige Formen der internationalen Isolierung geprägt sein mag, ist es wahrscheinlich, dass ein sanktionierter Staat finanzielle und andere Anreize bietet, die Sanktionen zu unterlaufen und sich erheblich bemüht, Gegenallianzen und eine Gegenpropaganda aufzubauen. Dies ist in unterschiedlichem Ausmaß auch beim Irak erkennbar. Wie bei allen wichtigen Sanktionsfällen geht es um die Frage, wie sich ein bestimmtes Herrschaftsregime aufrecht erhalten lässt, also schließlich um eine Existenzfrage. In solchen Fällen lenkt deswegen kein Herrschaftsregime ohne weiteres ein.

Wenn man die älteren, bedeutenden Fälle von UNO-Sanktionen, Rhodesien und Südafrika, betrachtet, hing der Erfolg der Politik letztlich von vier entscheidenden politischen Faktoren ab:

  • von der Existenz einer bedeutenden langjährigen Opposition, die das Herrschaftsregime durch politischen Widerstand, aber auch teilweise durch Guerillakrieg schwächte;
  • von der Fähigkeit der internationalen Gemeinschaft, durch eine menschliche und moralische Isolierung psychologischen Druck auf das Herrschaftsregime auszuüben, seine Ideologie zu entblößen und die Wandlungsfähigkeit des Herrschaftsregimes durch einen kritischen Dialog zu provozieren;
  • von der Einsichtsfähigkeit des Herrschaftsregimes, dass der wirtschaftliche und politische Preis für die Sanktionen auf Dauer zu hoch ist, sich ihr Herrschaftssystem nicht mehr halten lässt und Reformen erforderlich sind;
  • von der Herausbildung eines Verhandlungsprozesses (nur zum Teil mit internationaler Unterstützung) zwischen Regime und Opposition über einen friedlichen Systemwandel und die Abgabe politischer Herrschaft im Gegenzug zur Erhaltung von ökonomischen Grundlagen bzw. Privilegien der ehemaligen Elite.

Insgesamt gesehen sind UNO-Sanktionen nicht aus sich selbst heraus, aus der Anwendung bestimmter Techniken und der Erfüllung von quasi-technischen Zielen, effektiv. Es gibt ein komplexes Zusammenspiel verschiedenster Einflussfaktoren und Funktionsbedingungen. Die überragende Macht der Sanktionssender bzw. der UNO-Mitgliedstaaten und die Verletzlichkeit des sanktionierten Landes reicht allein nicht zur Erklärung der Faktoren, die für den politischen Wandel hauptsächlich verantwortlich sind, aus.

Hinzu kommt die Frage nach der generellen Legitimität von Sanktionen und nach ihren humanitären bzw. moralischen Grenzen. Umfassende Sanktionen können in Entwicklungsländern zu erheblichen Einschränkungen wirtschaftlicher und sozialer Menschenrechten (insbes. Recht auf Nahrung und medizinische Versorgung) führen, die rechtlich und rein humanitär nicht mehr vertretbar, unverhältnismäßig zu den angestrebten Zielen der Staatengemeinschaft sind und sich u.U. auch auf die Ziele des Sanktionsprozesses kontraproduktiv auswirken. Umfassende und harte Sanktionen können die zivilgesellschaftliche Entwicklung hemmen und zur Einschränkung der Handlungsfähigkeit oppositioneller Kräfte führen. Im Ergebnis leidet die Bevölkerung unter den Sanktionen und kann gleichzeitig nicht zum Erreichen der Sanktionsziele beitragen. Gleichzeitig sind harte Sanktionen ein Anlass für das Herrschaftsregime, härter gegen die Opposition vorzugehen und eine gesamtgesellschaftliche Solidarität, »Treue« gegenüber dem Herrschaftsregime einzufordern. Resultat dieses Prozesses sind Ohnmacht und Lethargie und damit eine mangelnde Wandlungsfähigkeit des Gesellschaftssystems. Die Gesellschaft ist durch die umfassenden Sanktionen gefangen, ohne dass sie die Situation positiv verändern könnte. Dies wirft insgesamt die Frage nach der Legitimität eines solchen Sanktionsregimes auf. Auch kann in einem solchen Fall m.E. nicht automatisch von einer Zivilisierung außenpolitischer Mittel gesprochen werden, nur weil man auf den Einsatz von Militär größtenteils verzichtet.

Für alle diese Sachverhalte ist der Irak ein Musterbeispiel. Er ist außerdem ein Fall, in dem die Öffentlichkeit dringend über die Problematiken und die enormen negativen humanitären Auswirkungen aufgeklärt werden muss. Gleichzeitig gilt es Möglichkeiten eines politischen Erfolges und Alternativen zu der bisherigen Politik eines harten Sanktionsregimes zu diskutieren, die realpolitisch durchsetzbar und funktional sind. Für den Fall des Irak muss die Sanktionspolitik so revidiert werden, dass sie nicht mehr als „Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln“ (Braunmühl, 1998) begriffen werden kann.

Die unzureichenden Möglichkeiten des innenpolitischen Wandels

In der Folge der Sanktionen sind im Irak eine enorme Verschlechterung des gesamten sozialen Gefüges und ein starker sozialer Abstieg zu beobachten: Die zum »Herrschaftslegitimationszentrum« gehörenden Sunniten, unter ihnen hochausgebildete Leute, Technokraten, Lehrer und auch Journalisten, sollen im Laufe der Zeit verarmt sein. Dies betrifft sogar Personen aus der Elite der Baath-Partei und des Militärs. Die Ausreise von hochgebildeten Leistungsträgern wie Wissenschaftlern, Professoren und Ingenieuren wurde mit einer Gebühr von 5 Mio. Dinar belegt, um eine weitere Abwanderung zu verhindern. Für normale Bürgerinnen und Bürger wurde die Gebühr von 6.000 auf 200.000 Dinar angehoben. Die sozialen Folgen des Niedergangs sozialer und moralischer Einstellungen in der irakischen Bevölkerung sind nicht mehr zu übersehen: steigende Kriminalität, Wucherpreise, offene Prostitution, weit verbreitete Korruption, Abnehmen bürgerlicher Tugenden und sinkender Schulbesuch der irakischen Jugend. Oft müssen Kinder zum Betteln und Stehlen auf die Straße geschickt werden, obwohl darauf drakonische Strafen stehen (Cordesman/Hashim,1997: 14ff).

Ein Überleben des irakischen Regimes ist durch die Maßnahmen erklärlich, die als eine Art Krisenprävention vom Herrschaftsregime Saddam Husseins ergriffen wurden. Nach dem Zweiten Golfkrieg ist es ihm gelungen, durch Versprechen von Reformen, scheinbare Rückbesinnung auf den Islam und Einbinden von bekannten Persönlichkeiten den Schein eines politischem Wandels aufzubauen. Im Frühjahr 1991 wurden politische Reformen angekündigt, die die Rolle der Baath-Partei reduzieren und ein Mehrparteiensystem einführen sollten. Von Anfang an waren diese Reformen aber so minimal, dass praktisch keine politischen Veränderung eintraten Im Gegenteil: Saddam Hussein trat in seinen Reden Vorstellungen von westlicher Demokratie und anderen Formen politischer Liberalisierung entgegen und machte klar, dass niemand aus dieser politischen Richtung mit Führungspositionen im politischen, sozialen und kulturellen Leben des Landes rechnen könne. Durch geschicktes Manövrieren innerhalb des Regierungsapparates wurde außerdem ein Wandel des absolutistischen Systems verhindert. Eine weitere Herrschaftstechnik war es, erfolglosen Ministern auch eine Teilschuld an der ökonomischen Misere zuzuweisen. Dies mag dem Zentrum der irakischen politischen Elite noch mehr das Gefühl vermittelt haben, dass es auf absehbare Zeit keine Alternative zu Saddam Hussein geben dürfte. Viele der sunnitischen Führungseliten machen den Westen, besonders die USA, verantwortlich für die systematische Zerstörung des Irak als moderner Regionalmacht. Es heißt deshalb auch, sunnitische Intellektuelle, die in privaten Gesprächen aus ihrer Gegnerschaft zu Saddam Hussein kein Hehl machten, seien oftmals weitaus nationalistischer oder »anti-imperialistischer« als dieser, sie stünden nicht für Reformen oder Demokratie (Cordesman/Hashim, 1997: 16ff).

Opposition und Putschversuchen aus dem Zentrum der irakischen Herrschaftseliten, den sunnitischen Machteliten, ist Saddam Hussein immer wieder mit brutaler Gewalt entgegengetreten (Vgl. Koszinowski, 1996: 73). Saddam Husseins Herrschaftssicherung beruht immer mehr auf Vetternwirtschaft und Patronage. Er umgibt sich mit Verwandten und Freunden aus der Takrit-Region. Diese Mitglieder einer »erweiterten Familie« sind eng an ihn gebunden und erlauben ihm seine persönliche Herrschaft über das Militär, die Sicherheitsdienste, die Baath-Partei und die Regierung. Schlüsselpositionen werden, vermutlich zur Verhinderung der Herausbildung einer störenden Hausmacht, häufig umbesetzt (Cordesman/Hashim 1997:19ff). Zudem nutzt der irakische Staatsapparat ein Netz von Staatssicherheitsdiensten und Geheimdiensten, bei denen im Jahr 1995 ca. 100.000 Menschen beschäftigt waren. Unterstützt werden sie von einzelnen Abteilungen der Baath-Partei und »Volksräten«, die oft mit Rechten ausgestattet sind, die normalerweise nur Polizei und Justiz zustehen (Blair. 1994: 2). Saddam Hussein hat eine persönliche Elitetruppe von mindestens 15.000 Mann zu seinem Schutz sowie eine ausgewählte persönliche Leibwache.

Wer auf einen innenpolitischen Wandel hofft, sollte beachten, dass etwa zwei Millionen Iraker im Ausland leben, darunter ein großer Teil der Opposition. Die ersten größeren Auswanderungswellen gab es schon in den 70er und 80er Jahren. Islamisten, Kommunisten und Kurden wurden damals massiv attackiert und ins Exil gezwungen. Die Opposition gliedert sich im Wesentlichen in folgende Gruppen: Islamisten, arabische Nationalisten, Kurden, Kommunisten und Demokraten sowie Parteien assyrischer und turkomanischer Minderheiten. Die Zufluchtsländer für die Flüchtlinge waren hauptsächlich der Iran für islamistische Gruppen, der kurdische Norden des Irak (oder »Kurdistan«) für Kurden und Kommunisten und Syrien für arabische Nationalisten und Kommunisten (Francke, 1994: 153). Der irakische Staat reagierte auf die interne Opposition und die Aufstände nach dem Golfkrieg mit einer erneuten Welle der Repression und Unterdrückung, so dass z.B. der shiitische Widerstand in den Untergrund gehen musste. Manche shiitischen Gruppen sahen sich sogar gezwungen, ihre Basis in den schwer zugänglichen Sümpfen des Euphrat und Tigris aufzubauen. Der repressive Staatsapparat aus zivilen und militärischen Geheimdiensten ist so umfassend, dass einige irakische Oppositionelle von einem »Terror-Netzwerk« (al-Khafaji, 1994: 20ff) reden.

Die Chancen der Opposition, die »Kreise der Macht« im Irak zu stören und eine politische Alternative aufzubauen, sind momentan gering. Die Opposition ist politisch zerstritten und ethnisch zersplittert. Zwei der wichtigsten Strömungen, die Islamisten und die Kommunisten, sind kaum miteinander vereinbar. Einflussreiche kurdische Gruppen kämpften im 1. Golfkrieg selbst dann noch auf Seiten des Iran, als der Irak bereits zu gewinnen schien. Der Irak führte praktisch mitten im Iran-Irak-Krieg auch noch sechs Jahre Bürgerkrieg gegen die Kurden. Gleichzeitig musste das Regime Saddam Husseins sich während dieses Krieges immer wieder der Loyalität der Shiiten (die die Bevölkerungsmehrheit bilden) versichern. Unter diesen Bedingungen galt schon damals jede Opposition als Verrat.

Einer der wenigen Ansatzpunkte für eine Opposition ist die Tatsache, dass der irakische Staat von einer sunnitischen Minderheit beherrscht wird, die nur etwa ein Drittel der Bevölkerung ausmacht, während die (nicht-arabischen) Kurden und die Shiiten zusammen eine übergroße Mehrheit bilden. Die Opposition ist aber nicht nur gespalten, die Trennlinien sind vor allem ethnisch oder religiös bestimmt, ausgenommen Demokraten und Kommunisten. Eine Einigung zumindest eines größeren Teils der über 70 Oppositionsgruppen ist aber nur möglich, wenn die Frage des Umgangs mit Minderheiten gelöst wird. Ein Hauptstreitpunkt innerhalb der irakischen Opposition im Exil ist deswegen die Frage, ob und wie in einem neuen Irak föderale Strukturen eingerichtet werden können. Auch ist die irakische Opposition sich in der Art des anzustrebenden Wandels uneinig: durch Volksaufstand/Guerillakampf oder durch Bündnisse mit dem Militär. Aus Sicht der irakischen Opposition wäre ein Sturz des Regimes möglich gewesen, wenn die Golfkriegsalliierten sie bei den Aufständen unmittelbar nach dem Golfkrieg unterstützt hätten. So hat die Repression in Folge der kurdischen und shiitischen Aufstände mehr Opfer gekostet haben als der Golfkrieg selbst (Luizard, 1995: 19f und Francke, 1994: 173ff).

Auch heute beklagt die irakische Opposition, sie werde nicht genügend von der internationalen Gemeinschaft unterstützt. Teile kritisieren auch die derzeit bestehenden Sanktionen als kontraproduktiv. Diese führten dazu, dass der tägliche Überlebenskampf keinen Raum für politische Aktivitäten mehr lasse (Pertes, 1997: 255).

Die Arbeit der UNSCOM und die Effektivität der Sanktionen

Schon vor Jahren kritisierten US-amerikanische Stellen, dass der Irak seine Infrastruktur für konventionelle Waffen, darunter auch Raketen, wieder aufbaue. Der Bau von Raketen mit einer Reichweite unter 150 km ist dem Irak aber erlaubt und Erkenntnisse über die Reichweite der Raketen, darüber, ob sie technisch ausgereift und überhaupt einsatzbereit sind, liegen angeblich nicht vor. Über eine Chemiefabrik, die früher chemische Waffen produzierte, heißt es, sie sei wieder aufgebaut worden und diene der Produktion von Chlor- und Phenolverbindungen, könne aber jederzeit zur Produktion chemischer Kampfstoffe oder von Vorstufen-Chemikalien umgerüstet werden. Mit solchen Behauptungen wird ein Generalverdacht gegenüber jeglicher industrieller Produktion aufgebaut. Die Zuverlässigkeit solcher und ähnlicher Angaben lässt sich kaum überprüfen. Der geflüchtete irakischer General Wafiq as-Sammarra'i Ende 1994/Anfang 1995 sagte, die irakische Rüstungsindustrie sei nun wieder fähig, leichte Munition zu fabrizieren (Baram, 1995: 27f); dagegen behaupteten die US-Amerikaner bereits ein Jahr zuvor, nach Geheimdienstangaben habe der Irak die Produktion von T-72-Panzern wieder aufgenommen habe, sowie die eingeschränkte Produktion von Artillerie und Kurzstreckenraketen, kleinen Waffen und Ersatzteilen für Fahrzeuge und Waffen. Woher der Irak – trotz des Embargos – dafür die Mittel haben soll, bleibt schleierhaft. Aber gerade wegen des »Dauerverdachts« lohnt sich ein Blick zurück auf die Erfolge bzw. Nichterfolge der UNSCOM.

Von Anfang an kooperierte der Irak bei der systematischen Erfassung seiner Rüstung nur in sehr unzureichender Weise. Die Deklarationen des Irak erwiesen sich als falsch und unvollständig. Allein im Sommer 1991 entdeckte die UNSCOM Scud-Raketen und mobile Abschussrampen, die vorher nicht bekannt waren, sowie 50 stationäre Abschussvorrichtungen, 23.000 zusätzliche Teile chemischer Munition, große Mengen von Vorstufen-Chemikalien für die Produktion chemischer Waffen und zwei Anlagen, die mit dem biologischen Programm verbunden waren. In zwei groß angelegten Inspektionen gelang es trotz der Weigerung des Irak (im zweiten Fall nur durch Intervention des Sicherheitsrates und die Androhung militärischer Gewalt), eine enorme Anzahl von relevanten Dokumenten über das Nuklearprogramm sicherzustellen. Das alles war aber nur ein anfänglicher Triumph, denn von diesem Zeitpunkt an wird angenommen, dass der Irak Sofortmaßnahmen ergriff um alle relevanten Dokumente zu vernichten und in den Anlagen alle Spuren zu beseitigen. Die Arbeit der UNSCOM war von diesem Zeitpunkt an (Sommer 1991) auf einen großen technischen Aufwand, z.B. Luftaufnahmen per Hubschrauber, Flugzeugen und Satelliten, angewiesen (UNSCOM – Inspecting for Peace, 1998: 57f).

Die Untersuchung des Programms für biologische Waffen dauerte – aufgrund der Nichtkooperation des Irak – dann auch sehr lange, bis eine Aufklärung erreicht werden konnte. Erst nachdem der für irakische Waffenprogramme zuständige General Hussein Kamel Hassan Anfang August 1995 nach Jordanien geflüchtet war, händigte die irakische Regierung der UNSCOM plötzlich ca. 600.000 Dokumente, Filme, Videos und Mikrofiches aus, die angeblich von eben jenem General in einem landwirtschaftlichen Haus versteckt worden waren (UNSCOM – Inspecting for Peace, 1998: 59f).

Erfolge der UNO-Sonderkommission zur Abrüstung des Irak (UNSCOM)

Trotz aller Nichtkooperation und Behinderungen seitens der Iraker hat die UNSCOM enormen Erfolg gehabt:

  • die Aufdeckung verschiedener Programme zur Urananreicherung für die Herstellung atomwaffenfähigen Materials, Verfahren zur Gewinnung von Plutonium und Produktionsstätten zur Herstellung einer Boden-Boden-Atombombe, die allein mit irakischen Mitteln hergestellt werden sollte,
  • die Entdeckung der Produktion chemischer Waffen in einem größeren Ausmaß als deklariert wurde, was fünf Anlagen und zusätzliche, modernere C-Waffen einschloss (z.B. das höchst gefährliche und wirksame Nervengas VX), zwischen 38.500 (bei einer Anlage) bis über 200.000 Stück chemische Munition, zwischen 690 bis über 4.000 t chemische Kampfstoffe in größeren Mengen und etwa (bei einer Anlage) 3.000 bis zu 20.000 t Vorstoffe für chemische Waffen sowie mindestens 426 Teile von Produktionseinrichtungen und 91 Teile damit verbundenen analytischen Equipments,
  • den Fund von drei biologischen Waffenprogrammen (letale Humanpathogene, nicht-letale Humanpathogene und Tier- und Pflanzenpathogene). Diese Programme umfassten die Produktion von etwa 19.000 Litern Botulinum-Toxin, 8.500 Litern Anthrax und 2.000 Litern (Leberkrebs verursachendes) Aflatoxin. Diese drei chemischen Kampfstoffe wurden bereits in waffenfertiger Form als Bomben, Raketensprengköpfe und taktische Feldmunition (122mm-Raketen und 155mm Artilleriemunition) hergestellt. Der Irak hatte außerdem an einem ferngesteuerten Flugkörper experimentiert, der die Kampfstoffe hinter feindlichen Linien versprühen sollte. Die ganze biologische Haupt-Waffenfabrik in Al-Hakam wurde unter der Aufsicht der UNSCOM zerstört.
  • die Entdeckung einer fertiggestellten Langstreckenkanone (Supergun) sowie von Teilen und Antriebstoffen für vier weitere,
  • die Enthüllung und Aufklärung, dass mehr Scud-Raketen und Abschussrampen vorhanden waren, als der Irak ursprünglich erklärt hatte, sowie drei Programme für die einheimische Produktion von Raketen mit unerlaubter Reichweite (über 150 km), zum Teil mit erheblich höherer Reichweite (die allerdings nie realisiert wurden, S.R.), darunter 48 fertige Langstreckenraketen, 14 konventionelle Sprengköpfe, sechs fertige mobile Abschussrampen, 28 feste Abschussvorrichtungen etc.
  • die Aufdeckung von Produktionsstätten und Ausrüstungen, die mit Iraks verschiedenen Nuklearwaffenprogrammen verbunden waren, sowie die Entfernung von Uran und Plutonium aus dem Irak mit Hilfe der IAEO,
  • die Zerstörung oder Verifikation der Zerstörung
  • von Varianten von Scud-Raketen, 19 mobilen Abschussrampen, 76 chemischen und 113 konventionellen Sprengköpfen für die Scud-Varianten, 60 weiteren, festen Abschussvorrichtungen, Produktionseinrichtungen, Unterstützungsgerät (z.B. Radar-Fahrzeugen) sowie weiteren Komponenten
  • der Langstreckenkanone, ihrer Komponenten und Antriebsstoffe,
  • der biologischen Grund- bzw. Brutstoffe und der biologischen Waffenproduktion in der Hauptproduktionsstätte al-Hakam,
  • der Produktionsanlage für chemische Waffen und der Ausrüstung des Muthanna Staatsunternehmens und seiner Einrichtungen in Fullajah,
  • von 480.000 Litern chemischer Kampfstoffe (Senfgas, Sarin, Tabun), 28.000 Stück gefüllter und 12.000 Stück ungefüllter chemischer Munition und große Mengen von 45 verschiedenen Vorstoffen für chemische Waffen.

(UNSCOM – Inspecting for Peace 1998: 62f)

Für US-Präsident Clinton hat die UNSCOM damit mehr Waffen zerstört hat als die ganze Operation »Desert Storm«, der alliierte Militärschlag zur Befreiung Kuwaits und zur Niederhaltung militärischer Kapazitäten im Irak.

Auch der vielfach entstandene oder erweckte Eindruck, die Inspektoren seien andauernd oder zumindest sehr häufig behindert worden, ist nicht immer richtig. Der letzte UNSCOM-Bericht des Jahres 1995 (S/1996/258), der insgesamt 19. Bericht des Vorsitzenden der Sonderkommission, stellt z.B. in Absatz 18 fest: „Während der Berichtsperiode hat die Kommission eine Anzahl von Inspektionen durchgeführt. Irak hat in den meisten Fällen seine Verpflichtungen erfüllt.“ Für eine Inspektion wird die Zusammenarbeit des Irak in dieser Berichtsperiode sogar hervorgehoben, und lediglich die irakische Verweigerung einer Inspektion (UNSCOM 143) vom 8.-17. März wird bemängelt.

Beispielhaft sollen einige Berichte über den Inspektionsprozess aus den Jahren 1995-97 hier dargestellt oder angeführt werden, um die relative Normalität des Ablaufs und die Grenzen der UNSCOM-Inspektionen in ihrer Gesamtheit zu zeigen. Ein Beispiel für die Dimension der Überwachung: Die Inspektionen im »biologischen Bereich« erstreckten sich 1995 auf 80 biologische Forschungs- und Produktionseinrichtungen im Irak, von denen ganze fünf intensiv überwacht werden mussten (Zilinskas, 1995: 256ff). Ein ehemaliger Inspektor, der ausführlich Inspektions- und Analysemethoden schilderte, stellte schließlich fest, dass der Großteil der Anlagen, die er besuchte, weder die Ausrüstung noch das Personal hatte, mit Pathogenen umzugehen, ohne die Beschäftigten einer großen Gefahr auszusetzen (Mohr, 1995: 243).

Im März 1996 erklärte der Vorsitzende der UNSCOM, Ekéus, dass das Programm für die laufende Überwachung und Verifikation im Irak wahrscheinlich noch für 15-20 Jahre fortgeführt werden müsste.

Im Bagdader Zentrum der UNSCOM arbeiteten 1997 mehr als 100 Leute, einschließlich 20 Wissenschaftler und Spezialisten in Nuklearphysik, Chemie, Biologie und Raketentechnologie. Sie führten unangekündigt Inspektionen durch. Gleichzeitig gab es das Import/Exportkontrollsystem und es wurden Übertragungen von 150 Überwachungskameras kontrolliert. Nach sechs Jahren konnte die UNSCOM trotzdem noch keine vollständige und genaue Versicherung geben, dass alle irakischen Programme für Massenvernichtungswaffen aufgedeckt wurden. Die UNSCOM konnte während des Jahres 1997 für die Vernichtung großer Mengen von Vorstoffen des gefährlichen Nervengases VX keine Nachweise finden und hatte Evidenz dafür, dass möglicherweise immer noch Sprengköpfe mit B- und C-Waffenmunition existierten, da ihre Vernichtung nicht nachgewiesen werden konnte. In dieser Situation stieg die Anzahl der Behinderungen, so wurde z.B. den UN-Inspektoren der Zutritt zu verschiedenen Einrichtungen, wie präsidentialen Anlagen, verweigert und die Nationalität einiger Inspektoren bemängelt (Zanders/Hart, 1998: 481ff). Dennoch gab es auch in diesem Jahr bemerkenswerte Fortschritte bei der Abrüstung, wie z.B. im Raketensektor (UN-Dok. S/1997/774, Abs. 23-43).

Abschließend lässt sich feststellen, dass die Anzahl der Behinderungen von Inspektionen zwar relativ klein war (insgesamt hatten die Inspektorengruppen in sechs Monaten des Jahres 1997 über 700 Inspektionen durchgeführt), die Obstruktionspolitik des Irak verstärkte aber dass bereits vorhandene Misstrauen.

Seit Ende 1998 kann die Politik gegenüber dem Irak mit dem Wort »Stillstand« bezeichnet werden. Eine vollständige Abrüstung des Irak und die Erfüllung der Verpflichtungen nach Res. 687 (1995) konnten nicht erreicht werden. Gleichwohl könnte die UNO den bereits erreichten Stand der Abrüstung von Massenvernichtungswaffen und ihrer Trägersysteme als befriedigend und die verbleibenden Fragen als tolerierbar bezeichnen, ohne dass sie von dem Ziel der vollständigen Abrüstung in diesem Bereich abrücken müsste. Notwendig wäre dazu lediglich eine neue Kontrollpolitik, die mit dem Irak ausgehandelt werden müsste.

Die friedenspolitisch wesentlichsten Gründe: Das Leiden der irakischen Bevölkerung unter den Sanktionen ist unverhältnismäßig hoch während das Herrschaftsregime von Saddam Hussein dadurch nicht in Frage gestellt wird.

Die harten humanitären Folgen der Sanktionen

Bereits der Iran-Irak-Krieg hatte dem Irak enorme materielle Schäden zugefügt. Sluglett und Farouk-Sluglett schätzen die Kosten dieses Krieges – einschließlich der Verluste aus Erdöleinnahmen, der Einbußen im BSP sowie der Infrastrukturschäden – auf 452,6 Mrd. US$ (Sluglett/Farouk-Sluglett, 1991: 278f).

Der 43-tägige Golfkrieg führte zu einer weit gehenden Zerstörung der zivilen Infrastruktur. 90.000 t Explosivstoffe wurden von der internationalen Koalition abgeworfen. 2.500-3.000 Zivilisten wurden getötet und 9.000 Häuser zerstört (Hoskins, 1997: 91ff).

Die UNO-Sanktionen trafen den Irak also bereits in einer ökonomisch äußerst komplizierten Situation und sie führten dazu, dass sich in kürzester Zeit das Bruttosozialprodukt fast halbierte.

Die Auswirkungen der Kriegsführung und der Sanktionen waren für die Bevölkerung katastrophal. Nach dem Bericht eines deutschen Beobachters traten folgende Effekte ein:

  • Die Versorgung mit Elektrizität und Brennstoffen kam zum Erliegen.
  • 90% der Industriearbeiter wurden zur Inaktivität gezwungen und waren ohne Einkommen.
  • Die Preise für Lebensmittel waren und sind für die Mehrheit der Bevölkerung zu hoch.
  • Das einzige Laboratorium zur Produktion von Impfstoffen war zerstört.
  • Die Getreideernte war schwer gefährdet, da die Bewässerungssysteme zerstört waren und es keinerlei Pestizide und Düngemittel gab. Das mechanisierte Einbringen der Ernte war von Treibstoff und Ersatzteilen abhängig, die fehlten.
  • Die normale Infrastruktur war weit gehend zusammengebrochen, insbesondere bei der Wasserversorgung, der Abwasserreinigung, der Elektrizitätsversorgung, der Müllbeseitigung, der Treibstoffversorgung und im Telefonssystem (Ruf, 1994: 79f).

Der UN-Bericht (UN-Dokument S/22799), der in Zusammenarbeit mit vielen UNO-Organisationen vor Ort unter der Leitung des Exekutivdelegierten des UNO-Generalsekretärs, Sadruddin Aga Khan, erstellt und am 15. Juli 1991 veröffentlicht wurde, schätzte den jährlichen Bedarf für die Wiederherstellung einer normalen Infrastrukturversorgung im Irak auf 6,85 Mrd. $. Er verwies im Absatz 26 auf einen unmittelbaren humanitären Anfangsbedarf von rund 22 Mrd. $, um die elementarsten Grundbedürfnisse der Bevölkerung zu decken.

Mit Sicherheitsratsresolution 666 vom 13. September 1990 war dem Irak-Sanktionsausschuss die Aufgabe zugewiesen worden, die Nahrungsmittelsituation im Irak (und in Kuwait) ständig zu überwachen, um festzustellen, ob humanitäre Umstände eingetreten sind, die die Lieferung von Nahrungsmitteln notwendig machen. Mit der Resolution 687 (1991) entfiel die Notwendigkeit des Nachweises, dass humanitäre Umstände vorliegen, und Lieferungen solcher Art konnten nach einem kurzen Genehmigungsverfahren, dem »vereinfachten und beschleunigten Kein-Einwand-Verfahren« (Genehmigung der Lieferung, wenn kein Mitglied des Sanktionsausschusses einen Einwand erhebt), behandelt werden. Der erste Bericht durch einen Vertreter des Generalsekretärs, der so genannte Athisaari-Bericht, hatte „auf einer dringenden humanitären Grundlage“ auch Ersatzteile, Chlorverbindungen, Pumpausrüstungen als Gegenstände vorgeschlagen, deren Export in den Irak erlaubt sein sollte. Res. 687 verwies auf diese Empfehlungen und bestimmte, dass „Materialien und Bedarf für essenzielle zivile Notwendigkeiten/Bedürfnisse wie in dem Bericht des Generalsekretärs vom 20. März 1991 identifiziert“ nach einem „vereinfachten und beschleunigten Kein-Einwand-Verfahren“ behandelt werden sollen. Bis heute gibt es aber keine Liste sofort zu genehmigender Güter, es wird an Einzelfallentscheidungen festgehalten.

Viele der mit den Sanktionen befassten UNO-Mitarbeiter und auch politisch verantwortliche Vertreter von Staaten in der UNO haben 1991 nicht einmal den Versuch gemacht, sich eine genaue Übersicht über die humanitäre Situation im Irak zu verschaffen. Vorliegende Studien wurden trotz ihrer Plausibilität in Zweifel gezogen. Auch der Irak selbst zeigte sich nicht gerade kooperativ. Versuche seitens des Sicherheitsrates und des Sanktionsausschusses eine Liste aufzusetzen, die vielleicht mit der Zustimmung des Sicherheitsrates vom Kein-Einwand-Verfahren zu einer simplen Anmeldungs- bzw. »Notifikationsprozedur« hätten führen können, scheiterten aufgrund des irakischen Verhaltens. Dies veranlasste den Sicherheitsrat im Februar 1992 zu der Aussage, dass der Irak damit „der Möglichkeit verlustig geht, die lebenswichtigen Bedürfnisse seiner Zivilbevölkerung zu begegnen und darum die volle Verantwortung für ihre humanitären Probleme trägt“ (Braunmühl/ Kulessa, 1995: 93f).

Unmittelbar nach dem Krieg, im Juli 1991, hatte die UNICEF aber schon vor schwer wiegender Unterernährung bei Kindern unter fünf Jahren gewarnt. Im zweiten Jahr nach dem Krieg machte die Nahrungs- und Landwirtschafts-Organisation der UNO, FAO, darauf aufmerksam, dass die große Mehrheit der irakischen Bevölkerung unter schwerer Unterprivilegierung, Hunger und Unterernährung leidet und der Irak zu diesem Zeitpunkt eine Kalorienversorgung unterhalb derer von afrikanischen Katastrophengebieten hatte (Hoskins, 1997: 111ff).

Die finanzielle Lage des Irak hätte sich – auch wenn die Sanktionen zu einem großen Teil aufgehoben worden wären – auf absehbare Zeit nicht besonders verändert, denn der Irak hat Kriegsentschädigungen in Höhe von etwa 50-60 Mrd. $ und Auslandschulden von etwa 75,5 Mrd. $ zu zahlen. Vielleicht wird die Summe der Kriegsentschädigungen noch höher, denn im Mai 1994 lagen der UNO-Kompensationskommission Schadenersatzansprüche in Höhe von 81 Mrd. $ vor.

Um die Lage der irakischen Bevölkerung zu verbessern und die dringendsten humanitären Bedürfnisse erfüllen zu können, hat der UNO-Sicherheitsrat – durch den Bericht der FAO alarmiert – mit den Resolutionen 706 und 712 vom 16. August und 19. September 1991 den Export von Öl im Wert von 1,6 Mrd. $ erlaubt. Der Irak ging darauf nicht ein, da die UN-Überwachung der Nahrungsmittel-Auslieferung die Souveränität des Irak verletze. Es dauerte bis zum 14. April 1995, bis der Sicherheitsrat sein Angebot verbesserte und mit Resolution 986 den überwachten Verkauf von Öl für 2 Mrd. $ innerhalb von 180 Tagen unter internationaler Kontrolle offerierte. Allerdings fließen 30 % der Einnahmen in einen Kompensationsfond zur Begleichung der Kriegsreparationen und etwa 20 % sind für Nothilfemaßnahmen im Nord-Irak vorgesehen. Der Irak wies auch diesen Vorschlag zuerst zurück, weil er dadurch die Souveränität des Landes gefährdet und dahinter die Förderung einer Sezession sah. Die wirtschaftliche Situation des Landes war unterdessen durch Hyperinflation, den Zusammenbruch der Märkte und den extremen Anstieg von Arbeitslosigkeit und Mittellosigkeit großer Teile der Bevölkerung gekennzeichnet. Die irakische Regierung erklärte im März 1993, dass 234.000 Menschen, darunter 83.000 Kinder unter fünf Jahren „als Resultat der Sanktionen“ zwischen August 1990 und Januar 1993 gestorben seien, die medizinischen Versorgung hätte um 85% reduziert werden müssen. Im September 1994 kündigte das Welternährungsprogramm ein sechsmonatiges Notprogramm mit der Lieferung von über 100.000 t Nahrungsmittelhilfe für 1,3 Mio. Menschen an. Im Mai 1995 schätzten UNO-Organisationen die Zahl der von Nahrungsmittelrationen abhängigen Personen auf 4 Mio., davon litten mindestens eine Millionen Menschen chronischen Hunger, etwa 23 % der Kinder unter 5 Jahren waren unterernährt. Es wurde ein Notprogramm für 183,3 Mio. $ für ein Jahr vorgeschlagen um den Hunger zu mildern sowie Wasser-, Gesundheits-, Sanitär- und Erziehungsprojekte durchzuführen und vertriebene Familien wiederanzusiedeln. Bis zum Oktober 1995 waren für dieses Programm aber nur 40 Mio. $ gespendet worden. (Das Öl-für-Nahrung-Programm war zu diesem Zeitpunkt noch lange nicht angelaufen.) Nach langen Verhandlungen mit der irakischen Regierung wurde im Mai 1996 ein Memorandum der Verständigung unterzeichnet, in dem der Irak den Bedingungen der Überwachung des Öl-für-Nahrung-Programms nach Resolution 986 (1995) zustimmte. Nach diesem Schritt sollte der Irak einem detaillierten Umsetzungsprogramm des Sanktionsausschusses zustimmen. Die USA übten innerhalb der UNO aber gleichzeitig Druck aus, um sehr starke Überwachungsmechanismen zu jedem Stadium der vorgeschlagenen Export-, Import- und Distributionsprozeduren zu etablieren. Die USA waren weiterhin sehr bemüht, sicherzustellen, dass innerhalb der UNO eine sehr enge Definition von humanitären Lieferungen galt, um einen möglichen Missbrauch von importierten Gütern für andere Zwecke auszuschließen. Der Umsetzungsplan wurde vom UNO-Sanktionsausschuss Anfang August 1996 genehmigt und es wurde angenommen, dass bis Mitte September alle notwendigen organisatorischen Maßnahmen dafür getroffen wären. Wegen einer politischen Krise in den Beziehungen zwischen Irak und den USA wurden die Vorbereitungsarbeiten dann aber vorübergehend eingestellt, so dass diese erst Ende November 1996 abgeschlossen werden konnten. Am 10. Dezember begann schließlich die Ölförderung unter UNO-Kontrolle. Zu diesem Zeitpunkt war der Verkauf von Öl im Wert von 2 Mrd. $ für eine Periode von 180 Tagen erlaubt und alle Einnahmen wurden auf ein UNO-Treuhandkonto eingezahlt. Von diesem Betrag gehen folgende Summen ab: 20 Mio. $ für die Verwaltung des Treuhandkontos, 44,32 Mio. $ für operationelle und administrative Kosten der UNO, 15 Mio. $ für die UNO-Sonder- bzw. Spezialkommission für den Irak (UNSCOM), die die Einhaltung der Waffenstillstandsbedingungen überwacht und 600 Mio. $ für Kriegsentschädigungen. Es bleiben rund 1,3 Mrd. für den Kauf von humanitären Gütern, von denen nochmals 260 Mio. für die UN-Hilfsprogramme in kurdisch kontrollierten Gebieten bestimmt sind.

Durch einen Bericht des UNO-Generalsekretärs vom 4. September 1991 (S/23006) war der Sicherheitsrat über den enormen humanitären Bedarf des Irak orientiert, denn in Absatz 17 dieses UNO-Dokumentes werden allein die Nahrungsbedürfnisse des Irak für ein halbes Jahr auf einen Wert von 1,1 Mrd. $ geschätzt. Zusätzlich wurde erwartet, dass

  • für den Wiederaufbau der wesentlichen Gesundheitsdienste weitere 250 Mio. $,
  • für spezielle Ernährungsprogramme von Müttern und Kindern 27 Mio. $,
  • für Wasser- und Sanitärinfrastruktur 120 Mio. $
  • und für den Aufbau einer ausreichenden landwirtschaftlichen Basis 300 Mio. $

gebraucht würden.

Konsequenterweise sprach sich der Generalsekretär (in Absatz 57. (b)) für eine Erhöhung des maximalen Ölverkaufs für humanitäre Belange über den Betrag von 1,6 Mrd. $ hinaus aus, der in Res. 706 (1991) festgelegt worden war. Sämtliche Überwachungs- und Kontrollstrukturen der UNO und die administrativen Vorgehensweisen, um im Irak sowohl den Export von Öl, als auch den Import und die Distribution der Güter zu vollziehen, waren zu diesem Zeitpunkt bereits ausgearbeitet (International Legal Materials, 30, 6, Nov. 1991: 1722ff). In Res. 712 vom 19. September 1991 wurde dann aber der Betrag von Res. 706 nicht erhöht, sondern nur eine Anweisung erteilt, dass das erste Drittel der Summe für humanitäre Zwecke freigegeben werden darf.

Die Sachverhalte einer sehr schwierigen medizinischen und Ernährungslage waren über fünf Jahre bekannt, sie wurden auch in öffentlich zugänglichen Informationsquellen dokumentiert – wenngleich nur bruchstückhaft, eine unmittelbare Änderung der Sanktionspolitik und zumindest eine genauere Übersicht hätte erfolgen müssen (vgl. zur finanziellen und sozialen Situation: Alnasrawi, 1992, zur medizinischen Situation und zur Säuglingssterblichkeit: Effect of the Gulf War on Infant and Child Mortality in Iraq, 1992). Durch die Verhängung eines umfassenden Sanktionsregimes unter Einschluss humanitärer Güter und eine zu geringe Abmilderung des Sanktionsregimes durch Ölverkäufe sowie eine zu starke Kontrolle der zu liefernden humanitären Güter durch den Sanktionsausschuss haben sich der UNO-Sicherheitsrat und sein Sanktionsausschuss, namentlich seine Mitglieder Großbritannien und USA, massiver Menschenrechtsverletzungen schuldig gemacht. Sie haben einen politischen Druck gegenüber dem Irak ausgeübt, der in der Intensität der Mittel völkerrechtlich nicht mehr zu legitimieren ist. Die Haltung der restriktiven Staaten im Sanktionsausschuss sollte wahrscheinlich dazu beitragen, die irakische Bevölkerung zu demoralisieren und so den Kollaps des Regimes herbeizuführen. In der Praxis hieß dies, dass die vom Sanktionsausschuss zeitweilig oder vollständig abgelehnten Güter auch unzweifelhaft notwendige humanitäre Güter umfassen konnten. Zu den abgelehnten Waren gehörten z.B. Babynahrung, Nahrungsmittel, diverse Textilien, Schulmaterialien, Spielzeug, Körperpflegemittel, Wasserreinigungschemikalien, eine Vielzahl von medizinisch unabdingbaren, zur Grundausstattung gehörende Güter (Verbandsmaterial, Röntgenausrüstungen, Dialysegeräte, Medikamente zur Krebsbehandlung, Katheter, Sauerstoffzelte, chirurgische Instrumente, Ambulanzfahrzeuge, alle möglichen elektrischen Vorrichtungen etc.) Eine umfassende Liste der Waren, die zum Teil nicht genehmigt wurden, findet sich bei dem britischen Autor Simons. Er gibt eine eindrucksvolle Beschreibung des Leidens der Zivilbevölkerung, insbesondere von Kranken und kranken Kindern, aufgrund dieser inhumanen Praxis (Simons, 1998: 118 ff/passim). Die Folgen der Sanktionen – insbesondere das Anwachsen der Kindersterblichkeit, Fehl- und Unterernährung – waren UNO-Stellen ausreichend bekannt durch die Berichte der irakischen Regierung, teilweise übermittelt durch den irakischen UNO-Botschafter und durch Berichte diverser humanitärer und UNO-Hilfsorganisationen (FAO, UNICEF, WFP, WHO) (vgl. Simons, 1988: 127, 129, 137, 146f, 157ff, 170). Eine britische Hilfsorganisation, die ständig im Irak arbeitet (Medicine Aid for Iraq/MAI), erklärte z.B. nach dem Besuch zahlreicher Krankenhäuser, dass dort nach vier Jahren harter Sanktionen grauenhafte Zustände herrschten: Viele Medikamente fehlen, wie antiepileptische Mittel, Antibiotika oder Insulin; Milchpulver für Säuglinge und Kleinkinder ist nicht vorhanden, Kleinkinder sterben nach zwei Wochen Durchfall in Folge von Entkräftung und Dehydration (Gottstein, 1996). Aus anderen Berichten geht hervor, dass durch die Praxis der Öl-für-Nahrung-Programme der UNO zwar eine Linderung der Situation eingetreten ist, jedoch bei besonders verletzlichen Bevölkerungsteilen trotzdem von einer Unterversorgung auszugehen ist. Nach UNICEF-Angaben stieg die Anzahl der Babies mit zu geringem Geburtsgewicht um das Fünffache. Die Säuglingssterblichkeit lag im Irak vor dem Zweiten Golfkrieg bei 42 pro 1000 Lebendgeburten, nach Regierungsangaben hat sie sich fünf Jahre nach dem Golfkrieg mehr als verdoppelt auf 92 pro 1000. UNICEF hat in seiner Studie von 1994 auch festgestellt, dass die Reduktion der Nahrungsrationen zu einer Gefährdung von 2,5 Mio. Kindern sowie schwangeren und stillenden Frauen führt. Ein Studie des internationalen Roten Kreuzes schätzte die Zahl sogar auf 3,5 Mio. Menschen, die Unterernährung zu befürchten hätten, darunter 500.000 Kinder unter 5 Jahren (Simons, 1998: 171).

Eine Untersuchung in Bagdad ergab, dass dort 12 % der Kinder krank, 28 % im Wachstum behindert und 29 % untergewichtig waren. Insgesamt belaufen sich die Schätzungen auf über 500.000 gestorbene Kinder in Folge der Sanktionen. Die Nahrungs- und Landwirtschaftsorganisation der UNO sprach 1995 von mehr als einer Millionen Iraker, darunter 567.000 Kinder, die als direkte Folge der Sanktionen gestorben sind.

Eine Nachfolgegruppe des Harvard Study Team, eine multinationale Gruppe von Ärzten, Experten für öffentliches Gesundheitswesen, Wirtschaftswissenschaftlern, Anwälten und Gesundheitsforschern, die Irak im April und Mai 1996 besuchte, bemerkte „das erstaunliche Fehlen einer öffentlichen Debatte über die Beteiligung der UNO an dieser massiven Verletzung der Menschenrechte und speziell der Rechte der Kinder“ (Simons 1998,215f).

Hinter dem bloßen Wort Menschenrechtsverletzung verbirgt sich, dass den meisten Irakern das völkerrechtlich garantierte Recht auf Nahrung drastisch beschnitten wird. Die Regierungsrationen reichen gerade noch aus, um ungefähr ein Drittel der notwendigen Kalorienmenge aufzunehmen, die Nahrungsversorgung besteht zu einem großen Teil nur aus Grundnahrungsmitteln, während sonstige, normale Nahrungsmittel unerschwinglich teuer oder generell knapp sind. Eine außerordentliche Erleichterung durch das Öl-für-Nahrungsmittel-Programm nach Res. 986 gab es nicht. Dem Irak blieben davon anfangs nur 1,3 Mrd. $. Bei einer Bevölkerung von ca. 20 Millionen sind das weniger als zwei Dollar pro Woche pro Person, und dies in einem Land, wo das gesamte Gesundheitssystem sowie das Nahrungsproduktions- und -distributionssystem praktisch zusammengebrochen sind. Erst ab 1998 gab es eine Verbesserung des Programms.

Zwei Tendenzen waren bei den Mitgliedern des UNO-Sicherheitsrates und im Sanktionsausschuss festzustellen: Zum einen die Weigerung, über die Lieferung von ausschließlich humanitären Gütern im Sinne einer reduzierten Grundversorgung hinauszugehen, und zum anderen die mangelnde Kenntnis oder Wahrnehmung der wirtschaftlichen und sozialen bzw. humanitären Situation im Irak. Mehrfach hat der Sanktionsausschuss sogar noch im Frühjahr 1997 Lieferungen abgelehnt, die nicht in das Konzept eines strengen Sanktionsregimes passten, obwohl sie durch Res. 986 gedeckt waren. Eine Ursache für diese »Nicht-Reaktion« auf humanitäre Notstände im Irak mag das Misstrauen sein, dass dem Irak entgegengebracht wird. Es wird auch in wissenschaftlichen Kreisen, die sich mit dem Irak befassen, gesagt, dass die Daten der irakischen Regierung nicht verlässlich sind. Jedoch lieferten die Untersuchungen von Nicht-Regierungsorganisationen (NGOs) und UNO-Organisationen genügend Informationen um eine schwierige humanitäre Lage der irakischen Bevölkerung festzustellen (vgl. Cordesman/Hashim, 1997: 145).

Zum Teil ist das irakische Regime sicher selbst für die Verschlechterung der humanitären Lage verantwortlich, einserseits aufgrund einer verfehlten Ausgabepolitik, wie dem Bau von Luxusvillen, andererseits durch das anfängliche Nichteingehen auf die Möglichkeit eines »Öl-für-Nahrungsmittel-Angebotes«. Allerdings hätte eine andere Politk auch nicht zu einer ausreichenden Verbesserung der Lage geführt. Das unterstreichen die Untersuchungen des US-Wissenschaftlers Hoskins, der für den Wiederaufbau von Infrastruktur, für Kriegsreparationszahlungen und Auslandschulden einen zusätzlichen Finanzbedarf von 582 Mrd. $ veranschlagt. Nimmt man den laufenden humanitären Bedarf hinzu, so ist es schwer vorstellbar, wie selbst bei einer vollständigen Aufhebung der Sanktionen der Irak seinen Wiederaufbau bewältigen und gleichzeitig ca. 20 Mio. Menschen versorgen soll (Hoskins, 1997: 98).

Mit einer Erhöhung der möglichen Erdöleinnahmen seit 1998 haben sich die Bedingungen des Öl-für-Nahrung-Programms verbessert, so dass ein kontinuierlicher zusätzlicher Fluss von Lebensmitteln, Medikamenten und anderen humanitären Gütern in den Irak möglich ist. Das Programm kann allerdings den Bedarf der Menschen im Irak niemals vollständig decken, es bedarf einer Ergänzung durch einheimische Aktivitäten zur Versorgung der Bevölkerung. Auch eine teilweise Alimentation voraussetzend, hätte über die Mengen der tatsächlich notwendigen Lieferungen genauer nachgedacht werden müssen.

Mit Res. 1284 wurde Mitte Dezember 1999 die Obergrenze für den Ölverkauf aufgehoben. Damit ist es dem Irak erlaubt, so viel Öl zu fördern und zu verkaufen, wie er will; aber alle Importe werden noch von der UNO genehmigt und auch finanziell abgewickelt. Dem Irak wurde damit das Signal gegeben, dass eine engere Kooperation mit der UNO und weitere Abrüstungsmaßnahmen zur schrittweisen oder vollständigen Aufhebung der Sanktionen führen können. Doch der Irak lehnte diese Resolution ab. Die Gründe dafür sind offensichtlich: Zum einen hat die UNMOVIC ganz ähnliche Rechte und Aufgaben wie ihre Vorgängerorganisation UNSCOM, die unter dem Chefinspektor Richard Butler ganz wesentlich zur Eskalation von Krisen beigetragen hatte, zum anderen ist die Inspektionsarbeit so schwerfällig, dass unmöglich innerhalb des vorgesehenen Berichtzeitraums von 120 Tagen ein Erfolg nachweisbar wäre. Ein mangelnder Erfolg kann aber Anlass für weiter gehende militärische Kontrollmaßnahmen oder auch erneute Bombardierungen sein. In der gleichen Resolution droht der UNO-Sicherheitsrat (in Abs. 33) schließlich auch damit, die mögliche Ausweitung der Einfuhr ziviler Güter wieder zu beschneiden, falls der Irak sich erneut weigern sollte, bei der Abrüstung der Massenvernichtungswaffen zu kooperieren. Der Irak steckte damit in einem enormen Gefangenendilemma.

Ende März 2000 diskutierte die UNO erneut die Situation im Irak und der Generalsekretär Kofi Annan beschrieb sie als »moralisches Dilemma« für die UNO. Nach seiner Ansicht sollten so bald wie möglich die humanitäre Lage genauer untersucht und Schritte zur Verbesserung der Lage der Bevölkerung eingeleitet werden. Gleichzeitig sprach er sich für die Verbesserung der irakischen Basis für eine effektive Ölproduktion, inklusive Transport und Verkauf, aus. Der UNO-Generalsekretär bat den Sanktionsausschuss, die Bedingungen für die zeitlich begrenzte Blockierung von zu genehmigenden Gütern (Holds) zu überarbeiten. Doch trotz der Hinweise auf die UNICEF-Berichte über die katastrophale Gesundheitssituation insbesondere bei Kindern blieb die Debatte in der UNO in festgefahrenen Strukturen. Der US-amerikanische Vertreter unterstrich erneut, dass der Irak eine Bedrohung darstelle und zuerst seinen Verpflichtungen zur Abrüstung der Massenvernichtungswaffen nachkommen müsse. Er wies außerdem darauf hin, das die festgehaltenen Güter (Holds) lediglich zehn Prozent der Verträge ausmachten und es sich meistens um dual-use-Güter handele, bei denen lediglich die Endverbleibserklärung fehle.

Vor allem aus den Entwicklungsländern wurde dem die gravierend schlechte humanitäre Situation entgegen gestellt. Der Vertreter Malaysias erklärte im Sicherheitsrat (März 2000), dass dieses Sanktionsregime gegen die Menschenrechte verstoße (UN Press Release SC/6833 vom 24. März 2000).

Am 1. Juni 2000 bestätigte ein regulärer Bericht des UNO-Generalsekretärs (UN-Dokument S/2000/520) die katastrophale ökonomische Situation im Irak. In ihm heißt es u.a.:

  • Es drohen erhebliche Fehlfunktionen oder Zusammenbrüche in Teilbereichen der irakischen Ölförderung und erhebliche Sicherheitsprobleme für das Personal in der Min al Bakr-Region (Abs. 10).
  • Ersatzteillieferungen für die Ölförderung in der Region Basrah fehlen. Zusätzlich existiert ein Mangel an ausgebildetem Personal und es fehlen die finanziellen Mittel, dieses im Irak anzuwerben (Abs. 31ff).
  • Im Bereich des Zentrums und des Südens des Irak ist in der Weizenproduktion durch Management- und Transportprobleme eine zu geringe Kapazität erkennbar, es gibt eine leichte Nahrungsmittelunterversorgung, im Infrastrukturbereich für Nahrungsmittelsicherheit u.ä. gibt es »angehaltene Verträge« für über 150 Mio. $ (Abs. 40ff).
  • Auch im Bereich der medizinischen Versorgung hat die Zahl der »angehaltenen Verträge« zugenommen. Dies betrifft sowohl die Medizinauslieferung als auch die lokale Medikamentenproduktion, ohne dass dazu vom Sanktionsausschuss ausreichend Informationen eingeholt wurden. Es gibt des weiteren Distributionsprobleme, die zur Folge haben, dass für eine bestimmte ärztliche Behandlung zwar die benötigten Medikamente vorhanden sind, aber die dazu erforderlichen Präparate oder Geräte fehlen. Als besonders schwer wiegend wird die mangelnde Verbesserung der medizinischen Versorgung und der Ernährungssituation von Kindern erwähnt (Abs. 44ff).
  • Es gibt weiterhin gravierende qualitative Probleme im Bereich Wasser- und Abwasserversorgung, im Bereich der Bewässerungssysteme und sämtlicher für die Landwirtschaft notwendiger Produkte (z.B. Ersatzteile für landwirtschaftliche Maschinen oder Pflanzenschutzmittel), Schwierigkeiten in Bereichen der Elektrizitätsversorgung und der Telekommunikation sowie in Teilen des Bildungssektors (Abs. 54ff, 58ff, 64ff, 67ff, 72).

Aktuelle politische Situation, Gesamtbewertung und realpolitische Alternativen

Es wird häufig betont, dass die Beseitigung des Regimes von Saddam Hussein ein Ziel der Sanktionen ist. Dabei wird verschwiegen, dass dies nie offiziell deklariertes Ziel der UNO war (Der Frage, ob nicht eine Reihe von Maßnahmen, die eingeleitet wurden um dieses Zieles zu erreichen, unter diesen Bedingungen völkerrechtswidrig sind, kann hier nicht weiter nach gegangen werden). In den meiten den Irak betreffenden Resolutionen werden auch nur bestimmte Handlungen des Regimes als Motive für ein internationales Eingreifen genannt. In anderen UNO-Sanktionsbeschlüssen (z.B. gegen Rhodesien) wurden weitaus bessere Formulierungen zur Bezeichnung und Bekämpfung eines diktatorischen Regimes gefunden. Ausschlaggebend ist, dass es konsensual als legitimes Ziel angesehen wird, zum Sturz eines Regimes beizutragen, wenn dieses eine Gefahr bzw. eine Bedrohung für die internationale Sicherheit und den Frieden in der Region darstellt oder darstellen könnte (das präventive Verhängen von Sanktionen ist ausdrücklich im Wortlaut der Charta vorgesehen). Stattdessen werden seit langer Zeit offiziell und inoffiziell verdeckte Aktionen finanziert und durchgeführt, um das Regime im Irak im wortwörtlichen Sinne zur Strecke zu bringen. Dazu gehören die Aussetzung eines Kopfgeldes auf Saddam Hussein in Höhe von 97 Mio. US$ durch die USA, Attentatsplanspiele durch Israel, mehrfache Attentate auf Saddams ältesten Sohn Udai und eine groß angelegte Bombardierung von militärischen und paramilitärischen Einrichtungen des Irak 1998, CIA unterstützte Guerillatruppen und die handfeste Unterstützung von Putschplänen (Vgl. Finales Training, in: Der Spiegel, 9/1998: 147. Wasser auf die Mühlen der Gegner Saddam Husseins, in: Der Tagesspiegel, 25.11.1998 und Arabische Staaten warnen vor Putsch gegen Saddam Hussein, 4. Februar 1999).

Vor diesem Hintergrund kann es weder überraschen, dass der Irak Waffeninspekteure als Spione einstuft und mit dieser Begründung die Zusammenarbeit mit der UNO einstellt, noch, dass das Regime Saddam Hussein sich aggressiv gebärdet um angesichts des arabischen Nationalismus nicht das Gesicht zu verlieren. Iraks Politik ist freilich auch ein Spiel mit dem Feuer: Das vermutete Verbergen von Restbeständen von Massenvernichtungswaffen und Trägersystemen, die Drohungen gegenüber Israel mit einem heiligen Krieg, die wiederholte Diskussion über die staatliche Legitimität von Kuwait, das sind andauernde Gründe gegen eine Lockerung der UNO-Sanktionen.

Trotzdem gab es im vergangenen Jahr eine Wende in der Irak-Politik vieler Staaten, teilweise aus geschäftlichen Interessen, teilweise aufgrund der humanitären Situation. Die Frage nach der Legitimität des UNO-Sanktionsregimes stellt sich aber auch prinzipiell:

  • Andere UNO-Sanktionsregime beinhalteten wesentlich selektivere und schwächere Maßnahmen. Im Vergleich dazu sind die Sanktionen gegen das kriegszerstörte Entwicklungsland Irak zu stark: Es handelt sich bei den meisten UNO-Sanktionen um selektive Maßnahmen, die nur Embargos von Waffen oder Rüstungsgütern und bestenfalls dual-use-Gütern betreffen und bei denen die Kontrollmechanismen nicht so stark ausgeprägt waren oder sind wie beim Irak. Hinzu kommt, dass z.B. Sanktionen gegen Südafrika harte selektive Maßnahmen beinhalteten, die trotz der Stärke des Landes und des Regimes zum Erfolg führten, ohne dass die Mehrheit der Bevölkerung unverhältnismäßig leiden musste. Die schwer wiegenden Verletzungen der sozialen Menschenrechte der irakischen Bevölkerung und das Sterben Hunderttausender Menschen sind – im Vergleich dazu – nicht hinnehmbar.
  • Die Sanktionen stehen im Gegensatz zu der jetzt geführten, ausgeprägten Debatte um »Menschenrechte und Sanktionen« und der Forderung nach zielgenauen Sanktionen gegen die Eliten und das Regime anstatt gegen die Normalbevölkerung: International besteht unter WissenschaftlerInnen angesichts der verheerenden humanitären Folgen von Sanktionen in Entwicklungsländern ein weitest gehender Konsens über deren menschenrechtliche Grenzen bzw. die Notwendigkeit, sie effektiv auf Eliten zuzuschneiden. Solche Sanktionen werden gerade deshalb auch als »intelligente Sanktionen« bezeichnet (vgl. www.smartsanctions.ch und www.bicc.de), weil sie jene treffen, die sie treffen sollen, die Eliten und die Regime selbst. Intelligente Sanktionen erfordern allerdings einen effizienten Organisationsapparat.
  • In der Debatte um die Effektivität von UNO-Sanktionen gegen den Irak werden langfristig wesentliche Funktionsmuster und Funktionsprinzipien von Sanktionen ignoriert; die Zielerreichung im Sinne eines System- bzw. Regimewandels sind aber von diesen Mustern und Prinzipien abhängig: Schon die Tatsache, dass die harten Sanktionen eine Gesellschaft und insbesondere oppositionelle Gruppen aufgrund des dauernden Existenzkampfes – und mehr noch durch die dadurch provozierte Regierungskontrolle über alle Märkte inklusive der Lebensmittelversorgung – daran hindern einen Wandel herbeizuführen, sollte schon Grund genug sein, die Sanktionen so zu gestalten, dass diese negativen Effekte vermieden werden. Aber die Einsicht in die Komplexität des Sanktionsprozesses selbst liefert noch einen weiteren Grund: Im Gegensatz zu den herkömmlichen Sanktionsanalysen, die von einer Sender-Ziel-Perspektive, einem einfachen Aktions-Reaktionsmuster ausgehen, sollte man mit einer komplexen Interaktionsstruktur rechnen; d.h. kein Regime gibt sich unter dem Druck von Sanktionen hilflos und gefangen. Ganz im Gegenteil werden Gegenmaßnahmen eingeleitet, die die Notwendigkeit der Veränderung bzw. die Abnahme der Existenzfähigkeit des bisherigen Regimes – zunächst abwenden. Bündnispartner zum Sanktionsbruch o.ä. werden gesucht. Der regionale und internationale Konsens über die Sanktionen soll aufgebrochen werden um politischen und ökonomischen Druck zum System- bzw. Regimewandel abzuschwächen. In dieser Situation ist es für die Sanktionssender wichtig, eine umfassende und glaubwürdige Kommunikation über Sanktionsziele zu führen, unter Einschluss der Weltöffentlichkeit, der Medien, der wichtigsten Politikpartner, der Bevölkerung des sanktionierten Landes und des gegnerischen Regimes selbst. Daran mangelt es aber im Fall des Irak.

Es ist offensichtlich, dass es kein internationales Konzept für die Verbesserung der politischen Beziehungen im Nahen Osten und für die Reintegration des Irak gibt. Im Mittelpunkt des Interesses – vor allem der USA und GB – steht nach wie vor die Kontrolle der Region mit ihrem Ölreichtum. Ein solches Konzept ist aber notwendig, lässt sich nur langfristig entwickeln und darf nicht an die UNO-Sanktionen gekoppelt werden, denn deren primäre Ziele sind die Kompensation für Kriegsschäden in Kuwait und die Abrüstung irakischer Massenvernichtungswaffen. Betrachtet man diese unterschiedlichen Interessenlagen, so verwundert es nicht, dass in der UNO sowohl am 8. Juni 2000 (mit Res. 1302) als auch am 5. Dezember 2000 (mit Res. 1330) das Öl-für-Nahrung-Programm mit großer Zustimmung verlängert wurde, ohne dass es eine größere Debatte über die Aufhebung der Sanktionen im Sicherheitsrat gab. Lediglich China und Russland, als ständige Mitglieder, sprachen die Aufhebung der Sanktionen an.

Ausblick

Wenn im Juni 2001 wieder nur über die Fortsetzung des Öl-für-Nahrung-Programms diskutiert wird – zu dem es bisher keine Alternative gab – und keine sichtbaren Erfolge in der Kooperation zwischen Irak und der UNMOVIC erkennbar werden, so ist das für alle Seiten verheerend – nicht nur für die irakische Bevölkerung, die am meisten leidet, sondern auch für den Ruf der UNO, der USA und Großbritanniens vor allem im Nahen Osten und unter den Entwicklungsländern. Bei Fortführung der harten Sanktionspolitik drohen ein Glaubwürdigkeitsverlust der westlichen Politik und ein Legitimitätsverlust der UNO. Eine Reorientierung und Umsteuerung ist notwendig, wenn es nicht zu einer Dauerkonfrontation mit den arabischen Staaten und einigen Entwicklungsländern kommen soll.

Eine realpolitische Alternative zu der harten Sanktionspolitik könnte beinhalten: Technologiekontrollen und Finanzkontrollen gegenüber dem Regime, Waffenembargo und Reiseverkehrsbeschränkungen; es geht also um die strikte Verfolgung von harten selektiven Sanktionen gegenüber dem Regime und dem Militär, die vorausgeplant werden müssen. Der schwerfällige Sanktionsausschuss zur Genehmigung des Imports aller möglichen zivilen Güter muss durch eine effektive Administration ersetzt werden, die Genehmigungspflicht für den Import humanitärer Güter ist aufzuheben. Der Irak muss die durch den Ölexport erwirtschafteten Mittel weitest gehend selbstständig zur Behebung der Infrastrukturschäden, für Nahrungsmittel etc. einsetzen können. Um Missbrauch zu verhindern, ist ein entsprechendes Kontrollregime notwendig. Dies ist möglich, denn wenn man eine Organisation wie die UNSCOM oder die UNMOVIC einsetzen kann, dann kann der Sicherheitsrat sich auch andere wirkungsvolle Hilfsorgane schaffen. Das gelingt nur, wenn die britische und US-amerikanische Politik ihre diktatorische Linie aufgeben zugunsten einer Linie des kritischen Dialogs. Die internationale Staatengemeinschaft muss dem irakischen Regime seine Grenzen aufzeigen bezüglich der Rüstung und dem Verhalten gegenüber bisher diskriminierten Bevölkerungsgruppen. Gleichzeitig muss dem Irak aber die Chance gegeben werden zur Behebung der Kriegsschäden und zur Wiederherstellung menschenwürdiger Lebensbedingungen für die Normalbevölkerung. Sanktionen zum Zweck der Wahrung und Wiederherstellung des Friedens und der internationalen Sicherheit, zur Achtung und Sicherung der Menschenrechte sind notwendig. Dabei muss aber immer darauf geachtet werden, dass sie nicht zur Interessenwahrnehmung einzelner Staaten missbraucht werden. Sanktionen sind zum größten Teil aufzuheben oder zu korrigieren, wenn sie nicht greifen oder wenn die Ergebnisse den Absichten widersprechen. Das ist im Irak zweifelsfrei der Fall.

Anmerkung

1) Die folgenden »sanktionstehoretischen« Überlegungen stammen im Wesentlichen aus der Dissertation von Rogalski (2000), siehe Literaturverzeichnis. Eine überarbeitete Fassung soll im Jahr 2001 im Buchhandel erscheinen.

Dr. Steffen Rogalski ist Politikwissenschaftler und Vorsitzender des Arbeitskreis für Frieden-Atomwaffenfreies Europa (AKF)e.V.

zum Anfang | Die UNO-Sanktionen gegen den Irak – ein Blick hinter die Kulissen

von Jutta Burghardt

Der Welt wird nur die militärische Seite der Auseinandersetzung mit dem Irak gezeigt. Die andere Seite, das Leiden der Bevölkerung unter den Sanktionen, soll vor den Augen der Weltöffentlichkeit möglichst verborgen bleiben. Selbst wenn die Regierung des Irak die Situation der Menschen in propagandistischer Absicht beschreibt – die menschliche Tragödie, die sich im Irak abspielt, ist nichtsdestoweniger real. Im übrigen beschreibt auch die US-Administration die Situation des Landes in propagandistischer Absicht, wenn sie die Lage der Menschen ausschließlich Saddam Hussein zuschreibt. Die irakische Regierung nimmt ihre Rechte und Pflichten hinsichtlich des Allgemeinwohls der Iraker mit größerer Verantwortung wahr als dies eine Regierung, die in der Region vorwiegend strategische Interessen verfolgt, beurteilen kann. So erinnern wir uns zum Beispiel daran, dass Madeleine Albright, vom Nachrichtensender CBS 1996 befragt, ob der Tod von 500.000 irakischen Kindern die Sache wert sei, sagte: Dies sei eine schwierige Wahl, jedoch ja, es sei diesen Preis wert. Wann hat sich jemals jemand so wie Frau Albright zur Akzeptanz von Völkermord bekannt? Und hat nicht besonders Deutschland hier Verantwortung? Schließlich war der Mord an sechs Millionen Juden unter dem Hitlerregime ein entscheidender Anstoß zur Gründung des Staates Israel, des Staates, der durch die Niederwerfung der Regionalmacht Irak geschützt werden soll. Schließlich war auch die Verabschiedung der Genozidresolution der Vereinten Nationen 1949, von der weiter unten die Rede sein, durch deutsche Taten veranlasst worden.

Das Embargo

Das Embargo gegen den Irak hat den Charakter einer klassischen Blockade. Hierzu gehören außer den Handelssanktionen auch regelmäßige militärische Aktionen – wie zum Beispiel das Bombardement im Dezember 1998 oder die fast täglichen unilateral von den USA und Großbritannien festgelegten Kontrollflüge in den »no-fly«-Zonen über Nord- und Südirak mit Bombardierungen von militärischen und zivilen Einrichtungen. Allerdings wird hier nicht eine mittelalterliche Festung mit einigen hundert Menschen belagert, sondern eine ganze Nation von inzwischen fast 25 Millionen Menschen. Was sollen im Übrigen die Hirtennomaden in den schiitischen Gebieten im Süden des Irak und die Bewohner von Basra davon halten, wenn sie »zu ihrem eigenen Schutz« angegriffen, verletzt und getötet werden? Die Menschen im Irak sagten mir, sie verstünden nicht, warum ihnen die Amerikaner nach dem Leben trachten. Auch in den VN-Organisationen vor Ort waren wir wegen der Bombardierungen besorgt, sollten wir doch unsere Mitarbeiter wöchentlich als Beobachter in diese Gebiete schicken.

Die Sanktionen enthalten dem Ölland Irak die Mittel vor, seine Infrastruktur nach zwei Kriegen – dem achtjährigen Iran-Irak-Krieg und dem Golfkrieg, in denen das Land völlig verwüstet wurde – wieder aufzubauen sowie die sozialen Einrichtungen zu rehabilitieren und zu unterhalten. Das Kernstück der Sanktionskonstruktion ist: Die irakische Regierung soll keine Verfügung über ihre Einnahmen aus Ölverkäufen haben. (Dies impliziert natürlich auch eine willkommene Umkehr der Verstaatlichung der irakischen Ölindustrie Anfang der siebziger Jahre.)

Das Embargo, erlassen durch die Sicherheitsratsresolution (SR) 661, sollte zunächst den Irak bewegen die Besetzung Kuwaits aufzugeben. Dies geschah, wie bekannt, auf andere Weise. Unmittelbar nach dem Golfkrieg wurden die Sanktionen dann in der SR 687 bestätigt, um das Land zur Beseitigung seiner Massenvernichtungswaffen zu zwingen. Dies ist offenbar zu einem großen Teil erledigt. Neuerdings ist jedoch, mit Sicherheitsratsresolution (SR) 1284 (Dezember 1999), von einer Aufhebung des Embargos nicht mehr die Rede, sondern lediglich von seiner Suspendierung und regelmäßigen Erneuerung in bestimmten Zeitintervallen, selbst bei voller Kooperation der irakischen Seite mit den Waffeninspekteuren (jetzt: UN Monitoring, Verification and Inspection Commission – UNMOVIC). Zudem soll gemäß der US-amerikanischen Erklärung aus Anlass der Verabschiedung von SR 1284 bei einer Suspendierung die irakische Regierung wiederum nicht über die Einnahmen aus dem Verkauf ihres Rohöls verfügen können. Bei dem derzeitigen Wegfall der Begrenzung der Öleinnahmen – ebenfalls unter SR 1284 – wäre die logische Folge dann die Ausweitung der UN-Aktivitäten im Irak, d.h. eine weitere Einschränkung der staatlichen Souveränität, die durch Sanktionsregime und VN-Kontrolle über die Öleinnahmen faktisch bereits gegeben ist.

Die die Sanktionen konstituierende SR 661 sieht lediglich die vollständige Unterbindung des Handels mit dem Irak vor. Dort ist weder die Rede von einem Flugembargo noch von der Unterbindung des wissenschaftlichen Austauschs; auch nicht von dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen und des Informationsaustauschs der Bevölkerung mit dem Rest der Welt. Klar ist, mit dem Irak als Regionalmacht – nicht etwa mit dem Regime – soll Tabula rasa gemacht werden. Der Irak soll auf den Stand der ärmsten Länder auf diesem Globus zurückgeworfen werden. Das ist gelungen.

Die verlautbarte Zielsetzung der US-amerikanischen Irak-Politik – die neben den Sanktionen auch die Unterstützung der irakischen Opposition unter dem Iraq- Liberation-Act einschließt – ist es, Saddam Hussein und seine Regierung zu beseitigen. Allerdings, der Shia- und Kurdenaufstand, der sich im März 1991 gegen Saddam Hussein gerichtet hatte, war zwar im amerikanischen Lager erwünscht, wurde jedoch von dort nicht unterstützt. Saddam Hussein konnte danach seinen eisernen Griff über das Land wieder herstellen. Vor diesem Hintergrund sind erneute interne Aufstände zur Beseitigung Saddams kaum denkbar, besonders nicht durch eine Bevölkerung, die seit zehn Jahren täglich ums schiere Überleben kämpft und deren physische und materielle Ressourcen völlig erschöpft sind. Zudem schaffen die Sanktionen einen Solidarisierungseffekt zwischen Bevölkerung und Regierung.

Vor diesen Hintergründen – der von der US-Administration geäußerten Willenserklärung, die Regierung beseitigen zu wollen, der Rücknahme der Zusage, die Sanktionen aufzuheben, sowie der regelmäßigen Bombardements, die nicht von den Vereinten Nationen beschlossen sind – lässt die irakische Regierung verständlicherweise wenig Kooperationsbereitschaft mit den Vereinten Nationen erkennen. Allerdings wird neuerdings über die Wiederaufnahme des Dialogs zwischen den Vereinten Nationen und dem Irak diskutiert, so in einem Gespräch zwischen dem VN-Generalsekretär, Kofi Annan, und dem Vizepräsidenten des Irak, Ramadan, am Rande des Treffens der Organization of Islamic Countries Mitte November 2000 in Doha/Qatar.

Das humanitäre Programm

Bereits unmittelbar nach dem Golfkrieg ließ der Generalsekretär der Vereinten Nationen zwei Berichte über die Lage im Irak erstellen, durch Marti Athissari und Sadruddin Aga Khan. Beide Berichte schildern die enormen Zerstörungen durch den Golfkrieg. Der Aga-Khan-Bericht thematisiert zum ersten Mal den Mechanismus, der in der »Oil-for-Food« genannten Operation angewandt wird: Die Zerstörungen der Infrastruktur im Irak seien derart verheerend und die Lage der irakischen Bevölkerung so dramatisch, dass Abhilfe durch Beiträge von Gebern nicht geschaffen werden könne; dies solle vielmehr durch irakische Ölverkäufe geschehen.

Das jetzt existierende humanitäre Programm der Vereinten Nationen soll der Grundversorgung der Bevölkerung und der Reparatur und Aufrechterhaltung wesentlicher Infrastruktureinrichtungen dienen. Seine Grundlage ist SR 986 (14 April 1995). Das eigentliche VN-Mandat ist jedoch im Memorandum of Understanding (20 Mai 1996) zwischen dem VN-Sekretariat und der irakischen Regierung festgelegt, nämlich Beobachtung der gleichmäßigen und effizienten Verteilung der importierten Güter in Mittel- und Südirak sowie Tätigkeit der VN-Organisationen (WFP, FAO, UNICEF, WHO, UNESCO, UNDP, UNOPS und HABITAT, neuerdings auch ITU) für und anstelle der irakischen Regierung in den kurdischen Gebieten im Norden des Landes. Nach jeweils sechs Monaten wird die Laufzeit des humanitären Programms durch eine technische Resolution (seit 6. Dezember 2000 ist Phase IX in Kraft) verlängert. Der Irak musste dieser beitreten und unterbreitete den Vereinten Nationen daraufhin einen Verteilungsplan mit umfangreichen Anhängen zur Verwendung der erwarteten Öleinnahmen in den Bereichen Nahrungsmittel, medizinische Versorgung, Elektrizität, Landwirtschaft, landwirtschaftliche Bewässerung, Wasserversorgung und -entsorgung, Primar- und Sekundarschulbildung, Kommunikation und Transport, Unterhalt und Rehabilitation der Ölförderung und, seit Mitte des Jahres 2000, auch für Wohnungsbau. Allein das Nahrungsmittelbudget betrug zu meiner Zeit im Irak (Januar 1999 bis Ende März 2000) rund 2 Milliarden US$ pro Jahr.

Der Generalsekretär legte den irakischen Verteilungsplan dem Sicherheitsrat vor, nachdem dieser vom humanitären Team nach Verhandlungen mit den irakischen Ressorts mit einem Kommentar versehen worden war. Dieser Vorgang ist relativ unverbindlich, da sich das Sanktionskomitee vorbehält – es ist identisch zusammengesetzt wie der jeweilige Sicherheitsrat –, alle Kaufverträge einzeln zu genehmigen. Es müssen überhaupt sämtliche Ein- und Ausfuhren des Irak von diesem Komitee genehmigt werden. SR 1284 hat dieses Verfahren etwas vereinfacht, indem Verträge über die Lieferung humanitärer Güter im engeren Sinne (also Nahrungsmittel und Medikamente, inzwischen auch Einfuhren für die Wasserversorgung) vom Sanktionskomitee nicht mehr im Einzelnen genehmigt werden müssen. Ausgenommen von dieser en-bloc-Genehmigung bleiben natürlich weiterhin die humanitäre Operation unterstützende Lieferungen wie Fahrzeuge oder Labormaterialien z.B. für Nahrungsmitteltests. Sie gelten als Dual-Use-Güter und werden häufig zunächst einmal blockiert, wenn sie überhaupt genehmigt werden.

Die Gelder aus den Ölverkäufen müssen auf ein Konto (Escrow Account) bei der Banque Nationale de Paris in New York eingezahlt werden. Derzeit liegen dort 11 Milliarden US-Dollar. So fällt es dem Irak leicht, seine Öllieferungen vorübergehend einzustellen, wie er das jetzt getan hat, um eine Sonderzahlung der Ölkäufer auf ein von Irak kontrolliertes Konto zu erzwingen.

Das VN-Konto hat folgende Segmente:

  • 13 Prozent für die kurdischen Gebiete in Nordirak entsprechend ihrem Bevölkerungsanteil. Von den verbleibenden 87 Prozent dürfen von der irakischen Regierung nur
  • 53 Prozent für die humanitäre Versorgung von Mittel- und Südirak in Anspruch genommen werden.
  • 30 Prozent werden für Golfkriegsreparationen (ab Dezember 2000 nur noch 25 Prozent) und die Tätigkeit der UN Compensation Commission (UNCC),
  • 2,2 Prozent für die Präsenz des humanitären Programms der VN und
  • 0,8 Prozent für die Tätigkeit von UNSCOM/UNMOVIC verwendet. Die restlichen Mittel werden für kleinere Ausgaben wie z.B. Pipeline-Gebühren verwandt.

Das humanitäre Programm stellt eine Ausnahme zu den rigiden Embargovorschriften von SR 661 dar, ist unter Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen erlassen und folglich Teil des Sanktionsregimes. Es war als eine vorübergehende Maßnahme gedacht und ist daher als kurzatmiges Versorgungsprogramm ausgelegt. Der Irak interpretiert es als ein Mittel, die Sanktionen ad infinitum fortzuführen. Die internationale Gebergemeinschaft hat sich, unter dem Eindruck, das humanitäre Programm werde die Grundversorgung der irakischen Bevölkerung sicherstellen, nach dessen Einführung weit gehend zurückgezogen. Sie täuschen sich jedoch. Das humanitäre Programm ist sachlich ausgehöhlt und dient der Verschleierung der wirklichen Auswirkungen der Sanktionen. Irak hatte Ende September 2000 (Stichtag 21.09.2000) nur 48 Prozent der seit Phase I, also seit vier Jahren, bestellten Lieferungen erhalten. Da Mittel- und Südirak ohnehin nur über 53 Prozent der Öleinnahmen verfügen dürfen, die Lieferzeiten wegen der komplizierten und langwierigen Genehmigungs- und Bereitstellungsverfahren für die finanziellen Mittel außerordentlich lang sind und eine enorme Zahl von Verträgen blockiert ist, sind von insgesamt 34 Mrd. US$ Öleinnahmen derzeit lediglich rund 25 Prozent (rd. 8 Mrd. US$) in den Händen der Iraker. Die eingetroffenen Güter sind zudem teils unbrauchbar, weil Komponenten fehlen oder nicht zeitgerecht eintreffen (wie im Agrarsektor) oder weil die gelieferte Qualität nicht den vertraglich vereinbarten Anforderungen entspricht. Letzteres ist oft auch bei den Nahrungsmittellieferungen der Fall. Besonders niedrige Lieferungsraten haben neben dem für das humanitäre Programm zentral wichtigen Ölsektor (mit nur 18 Prozent) die Sektoren Kommunikation und Transport (nur 3,7 Prozent aller Bestellungen, bis März 2000 war in dreieinhalb Jahren überhaupt nichts eingetroffen), Hochschulbildung (7,2 Prozent – von 222,7 Mio. $ Bestellungen sind nur Güter im Wert von 16 Mio. $ eingetroffen), landwirtschaftliche Bewässerung (5 Prozent), Wasserversorgung und -entsorgung (13 Prozent), Grund- und Oberschulen (14 Prozent) und Elektrizität (22 Prozent).

Trotz Beschleunigung des Genehmigungsverfahrens für die humanitären Güter im engeren Sinn, seit Erlass von SR 1284, hat sich die Zahl der blockierten Verträge stark (von 1.000 bis 1.200 Stück zu Anfang des Jahres 2000 auf rd. 2000 im September d. J.) erhöht. Ihr Finanzvolumen hat sich seit Jahresanfang von rd. 1 Mrd. auf 2,3 Mrd. $ mehr als verdoppelt. Verträge werden im Sanktionskomitee nur von den USA und zu einem geringen Teil von Großbritannien blockiert.

Grob umgerechnet auf eine Bevölkerung von 20 Mio. (in Mittel- und Südirak) ergibt sich für die im Rahmen des humanitären Programms über vier Jahre erhaltenen Güter eine Investition von 100 Dollar pro Person/Jahr. Dabei entfallen etwa 75 Dollar bereits auf den erfahrungsgemäß bei Notversorgungsmaßnahmen immer teuersten Posten, nämlich die Nahrungsmittelgrundversorgung (das entspricht einem Durchschnittswert von 6 Dollar pro Ration/Monat). Die restlichen 25 Dollar bestreiten die übrigen Käufe und Investitionen, d.h. Medizin, Bildung, Elektrizitätsversorgung, Wasserversorgung und Transport.

Die Regierungstätigkeit im Irak unterliegt immensen Einschränkungen: massenhafte Personalentlassungen, Unterbezahlung der Mitarbeiter, wenig Möglichkeiten zu Außenkontakten zwecks Überprüfung von Lieferungen und Firmen. Das Sanktionskomitee erlaubt dem Irak keine Vertragsstrafen zu verhängen oder andere Sicherheitsvorkehrungen zu treffen, wie sie im regulären Geschäftsverkehr zum Schutz vor unseriösen Geschäftspraktiken üblich sind – obwohl dies im Memorandum of Understanding garantiert ist. Dennoch führt das Handelsministerium die Nahrungsmittelversorgung in Mittel- und Südirak, die wohl derzeit größte regelmäßige Versorgungsoperation auf diesem Globus, verantwortungsbewusst, vorbildlich und außerordentlich effizient durch. Jeder, der im Irak lebt, erhält jeden Monat pünktlich seinen Warenkorb.

Der Handelsminister muss häufig aus der strategischen Reserve des Irak, die sich vorwiegend aus der inländischen Nahrungsmittelproduktion zusammensetzt, Produkte für das humanitäre Programm verfügbar machen, um den monatlichen Warenkorb für jeden Iraker zusammenzustellen. Da die Regierung wegen der komplizierten und langwierigen Verfahrenswege des Sanktionsregimes keine Kontrolle darüber hat, zu welchem Zeitpunkt die bestellten Nahrungsmittel eintreffen, können diese Volumina erheblich sein. Diese werden durch die Einfuhren des humanitären Programms erstattet. Übrigens werden sämtliche Güter des humanitären Programms eingeführt, auch wenn Entsprechendes im Lande produziert wird. Dies ist wirtschaftlich schädlich, deshalb sieht SR 1284, an deren Umsetzung der Irak sich allerdings nicht beteiligt, auch die Möglichkeit des lokalen Aufkaufs von humanitären Gütern vor.

Im Januar 2000 hatte die irakische Regierung über mehrere Monate hinweg insgesamt 600.000 t Weizen in die humanitäre Operation eingebracht und vermutlich den größten Teil ihrer Weizenreserve aufgebraucht. Gleichzeitig zeichnete sich ab, dass ich als Vertreterin des Welternährungsprogramms (WFP) die lokale Nahrungsmittelproduktion würde aufkaufen müssen – in Konkurrenz mit der irakischen Regierung, die ihre strategische Reserve wieder auffüllen musste. Dies und die Tatsache, dass die Art und Weise, wie SCR 1284 angelegt ist, keine Aussicht auf eine Aufhebung der Sanktionen eröffnet und eine Erleichterung der Lage der irakischen Bevölkerung wiederum in weite Ferne rückt, haben mich letztendlich zu meinem Rücktritt veranlasst.

Die Folgen der Sanktionen: Die Menschen sind verarmt, krank, isoliert

Der Irak war auf die Sanktionen nicht vorbereitet. Seine wirtschaftliche Abhängigkeit von den Öleinnahmen ist nahezu total. Anders als Deutschland und andere Teile des kriegszerstörten Europa nach dem Zweiten Weltkrieg, die durch den Marshall-Plan Aufbauhilfe erhielten, darf der Irak nach zwei aufeinander folgenden Kriegen nicht einmal die eigenen Ressourcen zum Wiederaufbau verwenden. Im Golfkrieg wurden unter anderem Elektrizitäts- und Wasserversorgungseinrichtungen zerstört. Besonders die Versorgung mit sauberem Wasser ist jedoch für die Ernährung wichtig, denn selbst eine Bereitstellung von Grundnahrungsmitteln, wie sie jeder im Irak hat, ist nutzlos, wenn unsauberes Wasser Krankheiten induziert.

Da sich (bisher) alle Länder strikt an das Handelsverbot mit dem Irak gehalten haben – ausgenommen sind natürlich die vom Sicherheitsrat seit 1996 genehmigten und kontrollierten Ölverkäufe und die Einkäufe von humanitären Gütern – liegen auch nahezu alle inländischen wirtschaftlichen Aktivitäten lahm. In der Folge gibt es kaum Arbeits- und dadurch Einkommensmöglichkeiten, folglich auch kein Steueraufkommen. Im Gegenteil: Bei meinem Eintreffen 1999 musste die irakische Regierung allein für die interne Abwicklung der Nahrungsmittelkomponente des humanitären Programms – Transport, Lagerung, Verwaltung – 160 Milliarden Dinare (2000 Dinare sind 1 US$, also rd. 80 Millionen US$) im Jahr buchstäblich drucken, weil sie keinen Zugang zu den Öleinnahmen hat und diese ihr daher auch für die Deckung ihrer internen Kosten nicht zur Verfügung stehen. Hinzu kommen natürlich entsprechende Beträge in den anderen Bereichen der humanitären Versorgung, besonders aber im Ölsektor mit – nach irakischen Angaben – 50.000 Angestellten. Das »humanitäre Programm« richtet also zusätzlich ökonomischen Schaden an und steigert die Inflation. Der Mittelstand verarmt folglich nicht nur wegen fehlender Arbeitsmöglichkeiten, sondern auch weil seine Investitionen entwertet sind und seine Rücklagen zu einem Nichts zusammenschmelzen.

Insgesamt ist die derzeitige Datenlage zum Irak über die vom humanitären Programm der Vereinten Nationen hinausgehenden Erhebungen schlecht. Auch letztere müssen sich jedoch strikt an ihr Mandat halten (Das World Food Program z.B. darf in Mittel- und Südirak nur die Verteilung der Nahrungsmittel beobachten.); anderenfalls besteht die Gefahr, von der Regierung zur persona non grata erklärt zu werden. Das humanitäre Programm der Vereinten Nationen ist Teil des Sanktionsregimes, daher für den Irak eher Feind als Freund. Informationen werden eher vorenthalten als freigiebig vermittelt. Eine Erhebung zur Situation der Haushalte durfte das humanitäre Team während meiner Zeit (Januar 1999 bis März 2000) nicht durchführen. Die mangelnde Verfügbarkeit neuerer solider Daten war auch ein Handicap für unsere Berichterstattung an das humanitäre Panel, eines der drei Irak-Panels (die beiden anderen beschäftigten sich mit Reparationen und Abrüstung), die der Sicherheitsrat zur Vorbereitung von SR 1284 eingerichtet hatte. Das humanitäre Team behalf sich mit der Herausgabe eines zu seinem Bericht zusätzlich verfassten Kompendiums, das eine Mischung von irakischen Angaben und Ergebnissen eigener professioneller Beobachtungen enthielt und insofern nur den Status von »anecdotal evidence« hatte. Die nachfolgenden Beschreibungen können ebenfalls keinen höheren Stellenwert beanspruchen. Eine Ausnahme stellt UNICEF dar, das in Zusammenarbeit mit dem Gesundheitsministerium regelmäßig Studien zur Überwachung des Gesundheitszustandes der Kinder unter fünf Jahren erstellt und im Juni 2000 diejenige Studie veröffentliche, die den Nachweis erbrachte, dass seit Beginn der Sanktionen 500.000 Kinder durch die Sanktionen ums Leben gekommen sind (s. Nutritional Status Survey of Infants in Iraq, Government of Iraq/UNICEF-Iraq, October 1998 und Child and Maternal Mortality Survey 1999, Preliminary Report, UNICEF/Ministry of Health, July 1999)

Gemäß meinen eigenen Feststellungen sind die Angaben der Iraker eher konservativ und halten Überprüfungen stand. Dies bestätigte mir nochmals im September 2000 der Vertreter der WHO in Bagdad und dies stellten auch der humanitäre Koordinator, Graf Sponeck, sowie die VN-Beobachter der anwesenden Sonderorganisationen und Programme fest, nachdem von Sponeck die regelmäßige Überprüfung der irakischen Angaben über die Bombardierungen in den »no-fly«-Zonen angeordnet hatte.

Irak war vor den Sanktionen das, was generell ein Schwellenland genannt wird. Die Spuren hiervon sind noch immer erkennbar: ein großzügig angelegtes Straßennetz, Fünf-Sterne-Hotels; Angehörige der Mittelschicht, die in den USA und in Großbritannien studiert haben, Herzspezialisten und Neurologen, die im Mittelmeerraum in hohem Ansehen standen, ehemalige Vertreter deutscher und anderer ausländischer Niederlassungen. Allgemein wird angenommen, dass sich zwei Millionen Iraker außer Landes aufhalten und ihre Familien mit Remittenden unterstützen.

Die Sozialdaten waren einst exzellent: Laut UNESCO gab es vor den Sanktionen eine Alphabetisierungsrate von 95 Prozent. Im März 2000 betrug diese nur noch 58 Prozent mit einer Abnahmequote von 5 Prozent pro Jahr. Es bestand Schulpflicht, die auch eingefordert wurde. Dies geschieht jetzt nicht mehr. Die irakische Regierung weiß, dass sie die Schulpflicht nicht mehr durchsetzen kann, denn viele Kinder müssen arbeiten, um das Familieneinkommen durch Betteln, Zigaretten- und Zeitungsverkauf oder Schuhputzen aufzubessern. Ich selbst sah einen Drei- bis Vierjährigen in der Nähe meines Hotels bei dieser Tätigkeit. Besonders Kinder und ältere Frauen betteln. Vor den Sanktionen war dies undenkbar. Ebenso wie Prostitution in einer muslimischen Gesellschaft.

Der Wertverfall des Dinar beläuft sich auf insgesamt 6.000 Prozent. Das Durchschnittseinkommen beträgt derzeit 5.000 bis 6.000 Dinar, das sind 2,5 bis 3 US$ (ein Dinar hatte einen Wert von 3,3 US$ vor den Sanktionen, heute von 0,004 US$). Nach relativ kurzer Zeit sind die Möglichkeiten eines Durchschnittsbürgers, der Situation Herr zu werden und sich über Wasser zu halten – Stadtflucht oder umgekehrt auch Landflucht, Verkauf von Eigentum bis hin zum einfachen Hausrat – erschöpft. Es ist deshalb die dauerhafte Deprivation, hervorgerufen durch eine über zehn Jahre anhaltende wirtschaftliche Lähmung eines ganzen Landes, das sich im Nachkriegszustand bzw. – wie das Internationale Komitee vom Roten Kreuz in Bagdad feststellt – im weiterhin andauernden Kriegszustand befindet, die eigentlich die Zerstörung der irakischen Gesellschaft und ihrer Menschen bewirken. Dass die irakische Gesellschaft in diesem zehnjährigen Überlebenskampf nicht noch stärker erodiert ist, ist der großen Diszipliniertheit, dem Fleiß, der praktischen Intelligenz, möglicherweise auch der Religiosität ihrer Menschen zuzuschreiben, mit Sicherheit aber auch dem harten Griff der Regierung. Viele Iraker sagten mir, dass jeder Tag, den sie überleben, für sie wie ein Wunder sei.

Andererseits: Eine neue Klasse von Profiteuren ist entstanden. Geschätzte 5-10 Prozent des geförderten Öls werden geschmuggelt. Es gibt alles im Irak, sogar zu relativ günstigen Preisen, wenn man in Dollar bezahlen kann.

Das Land war und ist laizistisch verfasst, Frauen waren und sind weitaus weniger von der in islamischen Gesellschaften oft praktizierten Diskriminierung betroffen. Eine meiner irakischen Mitarbeiterinnen, ehemals hochrangige Diplomatin, beklagt nun die Zuflucht der Iraker zur Religion und das Aufkommen fundamentalistischer Einstellungen. Sie sagte mir auch, dass sie über ihre eigene Reaktion erstaunt war, als klar war, dass es im Irak Kinder gab wie in Biafra oder Äthiopien: Sie konnte keine Träne weinen. Manchmal macht eben auch das Entsetzen starr.

Der irakische Minister für Arbeit und Soziales teilte mir im März 1999 mit, dass nur noch 40 Prozent der Industrien mit einem Auslastungsgrad von 10 Prozent in Betrieb sind. Nach seiner Einschätzung sind 90 bis 95 Prozent der Iraker völlig verarmt. Dieses Ministerium versorgt normalerweise diejenigen mit minimalen Mitteln zum Lebensunterhalt, die in völliger Armut leben. 1994 stellte das Ministerium die Registrierung solcher Personen jedoch ein, weil es deren anschwellende Flut nicht mehr bewältigen konnte. Die VN waren damals besorgt über Anzeichen einer bevorstehenden Hungersnot. In den Jahren 1999/2000 ging aus unseren routinemäßigen Erhebungen im Irak hervor, dass zwei Drittel der Bevölkerung den monatlichen Warenkorb in weniger als 20 Tagen aufbrauchten. Wir haben uns immer gefragt, wovon diese Gruppe den Rest der Zeit lebt. Vermutlich sind dies Familien, die keine zusätzlichen Einkommen haben und nur von dem Warenkorb (der zum Gegenwert von 12 Cents zur Verfügung gestellt wird) leben, ihn vielleicht sogar in Teilen veräußern müssen um andere notwendige Mittel zum Leben zu kaufen oder zu tauschen. (Inhalt des Warenkorbs: Weizenmehl, Reis, Hülsenfrüchte, Speiseöl, Milchpulver, Tee, Zucker, Salz, Waschpulver, Seife; für Kleinkinder bis zu einem Jahr auch Babymilchpulver).

Viele irakische Kinder sind körperlich zurückgeblieben (stunted growth); chronische Mangelernährung erzeugt jedoch nicht nur körperliche Defizite, sondern wirkt sich auch auf die mentalen Fähigkeiten aus. Anlässlich eines Programms für unterernährte Kinder unter fünf Jahren, das wir im Irak durchführten, gab uns die zuständige Behörde deren Zahl mit rd. 700.000 an. Die irakischen Kinder wachsen zudem in einem unsicheren sozialen Umfeld auf. Ein besonders krasses Beispiel hierfür war unsere Beobachtung, dass in irakischen Waisenhäusern Eltern ihre Kinder abliefern, weil sie nicht mehr für sie sorgen können.

Die Abschottung der Gesellschaft von allen Möglichkeiten des Austauschs mit dem Rest der Welt setzt die derzeit aufwachsende Generation in einen nicht aufholbaren Nachteil. (Selbst der Fall der Mauer und seine enormen Folgen für den gesamten Globus sind noch nicht richtig im Irak angekommen; und wie bekannt begann der Internet-Boom erst 1996 in den Vereinigten Staaten!) Mindestens eine irakische Generation ist verloren, und selbst wenn die Sanktionen morgen aufgehoben würden, der Wiederaufbau der Gesellschaft, besonders aber auch die Wiederherstellung der individuellen menschlichen Fähigkeiten, würden sich über sehr viele Jahre erstrecken, wenn sie im Individualfall überhaupt geschehen können. Der Stress, dem Menschen ausgesetzt sind, die, um ihre Familie zu ernähren, zwei in der Regel minderwertige Berufe ausüben müssen, erschöpft unendlich, wenn er sich über zehn lange Jahre hinzieht, die Verschlechterung der Ausbildung in den Schulen und im professionellen Bereich wirkt sich langfristig auf mindestens eine Generation aus; Kinder, die überhaupt nicht in die Schule gehen, werden das Versäumte niemals nachholen können; der Druck auf die Familie, wenn Familienmitglieder erkranken und ihnen nicht geholfen werden kann, macht depressiv ebenso wie die Fehlinvestitionen in Lebensläufe oder in Erwartungen, die sich nicht erfüllen lassen. Die Zahl der Eheschließungen hat abgenommen; Entprofessionalisierung findet statt. So sind z.B. 60 Prozent der über 1000 irakischen Mitarbeiter im humanitären Programm professionell ausgebildet, üben jedoch eine minderwertige Tätigkeit aus, wie der Pilot, Ingenieur oder Agrarwissenschaftler, der als Fahrer arbeitet, der Bankdirektor, der nun Food-Aid-Monitor ist.

Der Ersatzinvestitionsbedarf ist enorm. Zwar ist ein Großteil der Transportinfrastruktur wie Straßen und Brücken in Eigenleistung wieder hergestellt – außer der Eisenbahn, deren Rehabilitation bisher nicht genehmigt wurde – sonst wäre auch die landesweite Nahrungsmittelversorgung nicht durchführbar. Der Hafen von Basra jedoch ist bis auf die Anlagen, die zum Einbringen der Nahrungsmittel notwendig sind, stillgelegt, die Hafenanlagen verfallen. Und selbst diese und andere für die Nahrungsmittelversorgung unbedingt notwendigen Einrichtungen, wie die Getreidemühlen, sind in einem desolaten Zustand. Jüngst war zu lesen, dass die irakische Regierung 600.000 PKW beschaffen will. Angesichts des Zustands fast aller Fahrzeuge dort ist dies meines Erachtens ein Minimum.

Seit Ende 1998 herrscht zudem eine Dürre in der Region, die sich im Irak auf die Ernteerträge und auf Besitz und Einkommen der nomadisierenden Bevölkerung (Viehbestand) verheerend sowie auf die Versorgung mit sauberem Wasser zusätzlich erschwerend auswirkt. Der FAO-Vertreter in Bagdad sagte mir im September 2000, wenn die Dürre anhalte, würden demnächst sämtliche Obstplantagen zugrunde gehen.

Das Gesundheitswesen des Irak galt einst als eines der besten im Mittelmeerraum. Heute sind Gesundheitszustand und Gesundheitsversorgung der Bevölkerung schlecht. Die Lebenserwartung ist zurückgegangen. Am 28. September 2000 besuchte ich – ohne Vorankündigung – das Saddam General Hospital in Saddam City und sprach mit dem Direktor. In Saddam City leben Menschen, die der niedrigsten gesellschaftlichen Schicht angehören, ein Drittel der Bevölkerung Bagdads, mehr als zwei Millionen Menschen. Das Allgemeinkrankenhaus, eines von vier in Saddam City, hat 308 Betten, mehr als 600 Besucher während der Öffnungszeiten und ca. 200 zusätzlich außerhalb. 150 Personen kommen im Durchschnitt täglich in die Notaufnahme. Medikamente stehen nicht ausreichend zur Verfügung. Nach Einsetzen der Versorgung durch das humanitäre Programm hat sich nach Auskunft des Direktors die Situation allerdings gebessert. Es fehlten aber weiterhin Anästhetika und Antibiotika, besonders für Patienten mit Verbrennungen. TBC und andere Infektionskrankheiten, ebenso Brucellose seien im Ansteigen. Diabetes und Bluthochdruck haben seit dem Golfkrieg zugenommen, bei älteren Menschen offenbar bedingt durch Stress. Bei jüngeren – schon drei- bis vierjährigen Kindern – sei die Ursache für die Diabeteserkrankungen unklar. Seltene Krebserkrankungen seien aufgetreten, vermutlich durch abgereichertes Uran (Depleted Uranium – DU). Seit Phase I des humanitären Programms (1996) habe der Direktor keine moderne computerisierte Ausrüstung erhalten, jedoch ein Ultraschallgerät. Die Zahl der Ärzte und Spezialisten nehme ab, ebenso die Qualität der Ausbildung bei den jungen Ärzten. Wissenschaftliches Material und Lehrmaterialien dürfen nicht in den Irak importiert werden. Das Labor dieses für Bagdads arme Bevölkerung zentralen Allgemeinkrankenhauses war, was die Ausrüstung anbelangte, in einem desolateren Zustand als ich ihn jemals in den ärmsten Entwicklungsländern gesehen habe. Das Labor der Notaufnahme war minimal besser ausgestattet.

Im Irak wurden die durch den Golfkrieg entstandenen Umweltschäden nicht saniert (Zerstörung von Ölförderungs- und Petrochemieanlagen; Geschosse, die mit abgereichertem Uran ummantelt sind). Nach Auskünften und Unterlagen, die ich im September 2000 vom Vertreter der WHO in Bagdad und von irakischen Spezialisten, die mit entsprechenden Untersuchungen beauftragt sind (einem Mitglied des Komitees zur Untersuchung der Auswirkungen des Golfkriegs sowie der Sekretärin des Komitees), erhalten habe, lagert sich abgereichertes Uran, das vor allem Alpha-Partikel aussendet und eine Halbwertzeit von 4,5 Milliarden Jahren hat, im Körper ab – vor allem in Leber und Knochen –, attackiert die DNA, wird nach einiger Zeit mit dem Urin ausgeschieden und lässt sich dort auch nachweisen. Die irakischen Behörden haben über tausend Personen (Frontsoldaten und ihre Familien; mit Kontrollgruppe), die exponiert waren, unter Beobachtung. Es wird vermutet, ist jedoch bisher nicht nachgewiesen, dass die Zunahme von Leukämie, das Auftreten seltener Krebserkrankungen sowie angeborener Missbildungen auf das abgereicherte Uran zurückzuführen sind. Das irakische Komitee hat neben der drei- bis vierfachen Zunahme von Leukämie und Kindersterblichkeit als mögliche Folgen des Gebrauchs von DU-Munition festgestellt: Unfruchtbarkeit bei Männern und Frauen (auch Jugendlichen); seltene Deformationen, die noch weiter zunähmen (z.B. Kinder ohne oder mit deformierten Armen, ohne Finger, mit deformiertem Kopf, ohne Augen, mit deformierten Augen, ohne Ohren); Chromosomen-Änderungen; deformiertes Sperma (DU sei im Sperma nachgewiesen worden); erhebliche Zunahme von Brustkrebs, besonders bei 17- bis 20-jährigen Frauen.

Insgesamt sei eine Zunahme von Krebs (Lungen-, Nieren-, Lymph- und Schilddrüsenkrebs), besonders auch bei Jugendlichen, festzustellen. Irak versuche, einen Nachweis der Beziehung zwischen DU und Krebs sowie genetischen Veränderungen zu erbringen. Während der Explosion sei chemisches und radioaktives Material ausgetreten, das jetzt in die Nahrungskette aufgenommen sei. Besonders viel liege noch in der Provinz Basra in der Erde. Damals habe es oft geregnet, so dass dort, wo es starke Kontamination gab, viel von den toxischen Stoffen in das Grundwasser geriet. 1996/97 zeigte die Untersuchung von Frontsoldaten zum ersten Mal eine Zunahme bei Krebserkrankungen, zunächst nur wenig Fälle. Es sei jedoch zu erwarten, dass die Entwicklung über Jahre hinaus weitergehe.

Festgestellt wurden im Südirak auch Deformierungen von Tieren. Dort seien Wasser, Boden und Pflanzen DU-verseucht. Insgesamt seien über 300 t Material mit chemischer und radioaktiver Aktivität abgeschossen worden. Die betroffenen Gebiete seien für Menschen und Tiere inzwischen unzugänglich gemacht. Seit 1995 wende sich die Regierung in dieser Angelegenheit an die WHO. Bisher war eine externe Verifizierung dieser irakischen Feststellungen trotz mehrfacher Bitten an die WHO nicht möglich. Es habe zwar einmal eine Mission gegeben, deren Ergebnisse seien der Regierung jedoch nicht mitgeteilt worden. Entsprechende Bestandsaufnahmen und Ausrüstung zur Dekontamination seien teuer. Deswegen sei ein Programm der internationalen Organisationen notwendig. Man habe bisher noch nicht endgültig entschieden, ob die Oberfläche abgetragen werden soll oder ob man den verseuchten Boden bedecken will. Kontaminiert seien Farmland und Areale bei kleineren Städten. Die kontaminierte Erde werde durch Wind bewegt. Auch Saudi-Arabien und Kuwait seien betroffen; die Arabic Organization for Atomic Energy habe die Regierungen hierüber entsprechend informiert. In Kuwait und Safwan, auf dem Highway of Death solle sogar mehr DU-Munition als im Irak liegen.

Der Vertreter der WHO in Bagdad berichtete Ende September von seinem Besuch beim Sanktionskomitee in New York und seinem dort vorgetragenen Petitum, 35 medizinische Ausrüstungsgegenstände zur Lieferung freizugeben. Kein Mitglied des Komitees habe ihm die Frage beantworten können, warum ein Anästhesie-Gerät nicht geliefert werden dürfe. Aufgrund seiner Initiative wurden schließlich rund 50 Prozent der Gegenstände freigegeben. Bezug nehmend auf die immer wieder von den USA vorgebrachte Behauptung, die irakische Regierung halte Medikamente zurück, erklärte er, die Verteilungsrate für medizinische Güter liege bei 75 Prozent. Die Regierung halte 14 Prozent als strategische Reserve, dies sei sehr wenig. Der Rest sei auf Lager, weil Ergebnisse der Qualitätskontrolle abgewartet werden müssen, weil Komponenten fehlten oder weil die Güter die Qualitätskontrolle nicht passiert hätten. Allein medizinische Dienste und Medikamente zur Verfügung zu stellen sei jedoch nicht ausreichend für Herstellung und Erhalt von Gesundheit, vielmehr sei die Rehabilitation des gesamten Infrastruktursystems – von Wasser, Abwasser, Elektrizität, Einkommen und Erziehung – sowie das Durchbrechen der Isolation nötig. Für die irakische Bevölkerung stehe das einfache Überleben derzeit im Vordergrund. Für ihn und seine Arbeit ausschlaggebend sei die Resolution der WHO-Versammlung, nach der es keine Behinderung bei der Lieferung von medizinischer Ausrüstung geben darf. Es müsse aber immer noch Impfstoff, z.B. gegen Polio, dem Sanktionskomitee zur Billigung vorgelegt werden. Er setze sich daher dafür ein, dass auch Impfstoffe auf die Liste derjenigen Güter gesetzt werden, die vom 661-Komitee en bloc verabschiedet werden. Die meisten medizinischen Güter, die Komponenten benötigten, seien blockiert, ebenso jedwede computerisierte Ausrüstung und fast alle Reagenzien. Das Zentrallabor für Tuberkulose in Bagdad biete für die dort arbeitenden Angestellten keinen ausreichenden Schutz, und es gebe keine Mittel, die Situation zu verbessern. Die Blutbank müsse vollständig renoviert werden. Sämtliche wasserinduzierten Krankheiten nähmen zu (Tuberkulose, Malaria, Unterernährung). Die Dürre verschärfe die Situation. Die Zahlenangaben der Regierung seien akkurat. Im Süden sei Leukämie um das Fünffache angestiegen. Es seien jedoch unabhängige Untersuchungen zur Beweisführung der Verursachung durch DU nötig.

Menschenrechte

Zwischen den Bestimmungen des Kapitels VII, Paragraph 41, der Charta der Vereinten Nationen (Action with Respect to Threats to the Peace, Breaches of the Peace, and Acts of Aggression [The Security Council may decide what measures not involving the use of armed force are to be employed to give effect to its decisions, and it may call upon the Members of the United Nations to apply such measures. These may include complete or partial interruption of economic relations and of rail, sea, air, postal, telegraphic, radio and other means of communication, and the severance of diplomatic relations.]) und den Menschenrechtsinstrumenten der Vereinten Nationen besteht ein Bruch. Faktisch treffen Sanktionen fast ausschließlich die einfache Bevölkerung, und das humanitäre Programm bietet für diese keinen aktiven Menschenrechtsschutz. Es böte ihn auch dann nicht, wenn es in vollem Umfang, in gutem Glauben und unter Verzicht auf die gegenwärtige Politisierung umgesetzt werden würde. Denn: Ein reines Versorgungsprogramm, das überdies ausgehöhlt ist, kann nicht über einen Zeitraum von zehn Jahren die wirtschaftliche Tätigkeit eines gesamten Volkes ersetzen. Die Lösung für die humanitäre Katastrophe für die jetzt fast 25 Millionen Menschen (1988: 18 Millionen) liegt nur in der vollen Wiederbelebung der wirtschaftlichen Tätigkeit des zivilen Sektors und der Verfügung des Staates über seine Exporteinnahmen, die ihm notwendige Investitionen und die Wiederherstellung der sozialen Dienste ermöglicht.

Die Menschenrechte haben universelle Gültigkeit, das heißt „[Es]darf keine Unterscheidung gemacht werden aufgrund der politischen, rechtlichen oder internationalen Stellung des Landes oder Gebietes, dem eine Person angehört, ohne Rücksicht darauf, ob es unabhängig ist, unter Treuhandschaft steht, keine Selbstregierung besitzt oder irgendeiner anderen Beschränkung seiner Souveränität unterworfen ist.“ (Artikel 2 der Universellen Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948).Die Menschenrechte sind also auch im Irak anzuwenden. Human Rights Watch (HRW), eine unabhängige Organisation in New York, die sonst die Menschenrechtsverletzungen durch die irakische Regierung anprangerte, hat dies in einem Brief an den Ständigen Vertreter der USA bei den Vereinten Nationen vom 4. Januar 2000 ebenfalls thematisiert: Der UNO-Sicherheitsrat dürfe nicht den hohen Grad der Schuld benutzen, den die Regierung des Irak an der humanitären Krise habe, um den eigenen Anteil an der Verantwortung zu verdunkeln. Bei der Anwendung von Zwangsmaßnahmen, einschließlich nicht-militärischer Maßnahmen wie der eines Embargos, müsse sich der Rat von dem humanitären Kernprinzip leiten lassen, Bedrohung des Lebens und körperlichen Schaden unschuldiger Menschen, die für die mit Sanktionen belegte Regierungspolitik nicht verantwortlich seien, so gering wie möglich zu halten, wörtlich: „Wir glauben, es besteht eine dringende Notwendigkeit für zusätzliche Initiativen, um die Durchsetzung der Ziele der Resolutionen 687 (1991) und 688 (1991) besser in Übereinstimmung zu bringen mit der humanitären Verpflichtung des Rats und seiner Mitgliedstaaten, den Schaden an der Zivilbevölkerung zu minimieren und den Schutz der fundamentalen Rechte sicherzustellen, der dieser im Rahmen der internationalen Gesetzgebung zusteht.“

Es herrschten weiterhin lebensbedrohende Umstände im Irak vor. Ein temporäres Nothilfeprogramm biete nicht diejenigen umfassenden Planungen und Investitionen, die notwendig seien, um Iraks Infrastruktur auf ein Niveau anzuheben, das die notwendigsten zivilen Grundbedürfnisse befriedige. Wie das zuvor das humanitäre Panel, so wiederholt HRW die bereits in FAO/WFP-Berichten erhobene Forderung, die zivile Wirtschaft des Irak wiederzubeleben – selbst auf die Gefahr hin, dass die Regierung wieder über Finanzmittel verfügt. Statt dessen sollten alle Güter, die in den Irak importiert werden, einem Kontrollverfahren unterworfen werden – was derzeit nicht der Fall ist. Der Sicherheitsrat müsse abwägen zwischen dem Schaden, den die Sanktionen der Bevölkerung zufügten und dem, was durch diese noch erreicht werden könne.

Auch der VN-Generalsekretär ist der Ansicht, dass die Vereinten Nationen bezüglich des Irak in einem Dilemma steckten, da die VN ansonsten immer auf Seiten der Schwachen und Verwundbaren stehe und Leiden zu lindern versuche.

Artikel II der Konvention zur Verhütung und Bestrafung von Völkermord definiert Genozid als eine der folgenden Handlungen, die in der Absicht begangen werden, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören:

a) Tötung von Mitgliedern dieser Gruppe;

b) Verursachung von schwerem körperlichen oder seelischen Schaden an Mitgliedern der Gruppe;

c) Vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen…

Der belgische Völkerrechtsexperte Marc Bossuyt wendet in seinem Bericht an die Commission on Human Rights – Sub-Commission on the Promotion and Protection of Human Rights (E/CN.4/SUB.2/2000/33) vom 21. Juni 2000 nicht nur Absatz c der Genozidkonvention auf den Irak an, er stellt auch in seinen Empfehlungen fest, dass Sanktionen, die das Völkerrecht und besonders die Menschenrechte verletzen, nicht res pektiert werden müssen. Ich folge ihm hierin.

Wie eingangs erwähnt, sieht Resolution 1284 (12 Dezember 1999) statt Aufhebung der Sanktionen deren mögliche Suspendierung vor, gemäß Interpretation der USA wiederum ohne dem Irak die Kontrolle über die Öleinnahmen zuzugestehen. Irak akzeptiert aus diesem Grunde die Zusammenarbeit mit den VN auf Basis dieser Resolution nicht und besteht auf der Anwendung von Sicherheitsratsresolution 687, Paragraph 22, und damit der Aufhebung der Sanktionen nach vollzogener Abrüstung. Dieser Auffassung der USA ist eine weitere Menschenrechtsbestimmung entgegen zu setzen: Der Sozialpakt vom 19. Dezember 1966 sieht in Teil I, Artikel 1 (2) vor: Alle Völker können für ihre eigenen Zwecke frei über ihre natürlichen Reichtümer und Mittel verfügen, unbeschadet aller Verpflichtungen, die aus der internationalen wirtschaftlichen Zusammenarbeit auf der Grundlage des gegenseitigen Wohles sowie aus dem Völkerrecht erwachsen. In keinem Fall darf ein Volk seiner eigenen Existenzmittel beraubt werden.

Ausblick: Dialog statt Sanktionen

Viel hat sich in den letzten Monaten ereignet: Die Beziehungen zu Jordanien sind verbessert; mit Syrien deutet sich eine zuvor nicht denkbare Allianz an; es gibt hochrangige Gespräche mit dem Iran. Einige arabische Nachbarn haben ihre diplomatischen Vertretungen wieder geöffnet; einige westliche Nationen beabsichtigen dies ebenfalls. Iraks Stellung im arabischen Raum ist – besonders im Umfeld des palästinensisch-israelischen Konflikts – und, angesichts hoher Ölpreise, auch beim Rest der Welt enorm gestärkt. Solidaritätsflüge aus der arabischen Welt und von Seiten der ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats, die Irak eher positiv gegenüberstehen, finden seit August 2000 nahezu regelmäßig statt. Es ist die Rede davon, dass das Embargo erodiert – und Irak arbeitet seinerseits an dieser Erosion. Jedoch, lassen wir uns nicht täuschen. Der Kern der Sanktionen bleibt erhalten: Der Irak darf weiterhin nicht über seine Einnahmen aus den Ölverkäufen verfügen. So haben die USA beispielsweise keine Einwände gegen zusätzliche Ölausfuhren über Syrien, solange die Einnahmen auf das UNO-Treuhandkonto eingezahlt werden.

Daher: Die Entwaffnung des Irak (von Massenvernichtungswaffen) muss vollzogen werden. Der Irak muss das »Reinheitssiegel« der Waffeninspekteure erhalten, und ich bin überzeugt, dass die Regierung mit den Waffeninspekteuren zusammenarbeiten wird, wenn sie eine faire Behandlung und die tatsächliche Aufhebung des Embargos erwarten kann. Der Irak muss die ihm zukommende Rolle in der Völkergemeinschaft, einschließlich einer konstruktiven Rolle als OPEC-Land und im regionalen Kontext, baldmöglichst wieder einnehmen. Es ist notwendig, hierzu einen politischen Dialog zu beginnen.

Jutta Burghardt war vom 26. Januar 1999 bis zum 31. März 2000 Vertreterin des Welternährungsprogramms (WFP) und Länderdirektorin Irak mit Büro in Bagdad. Aus Protest gegen die andauernden Sanktionen legte sie ebenso wie Hans Graf Sponeck, seit über 30 Jahren im UN-System tätig und Leiter des Öl-für-Nahrung-Programms, Ende März ihre Arbeit in Bagdad nieder. Zur Zeit ist sie Referentin im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung in Bonn und mit Programmen für afrikanische Länder betraut.

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Kurdistan – Irak: Untergehen im »sicheren Hafen«

Eine »humanitäre Intervention« und ihre Folgen

Kurdistan – Irak: Untergehen im »sicheren Hafen«

von Susanne Bötte und Bernhard Winter

Nach dem gescheiterten kurdischen Aufstand in Folge des zweiten Golfkriegs1 erschütterten im Frühjahr 1991 die Bilder Hunderttausender aus dem Irak in die schneebedeckten Berge des Taurusgebirges im türkisch-irakischen Grenzgebiet geflohener Kurdinnen und Kurden die Weltöffentlichkeit. Dies blieb nicht ohne Wirkung. Eine erneute militärische – als humanitär deklarierte – Intervention unter der Bezeichnung »Provide Comfort« und groß angelegte internationale Hilfsaktionen waren die Folge. Inzwischen ist Irakisch-Kurdistan wieder zum Nichtthema geworden. In unserer medialen Welt wurde es zu einem weißen Flecken. Allenfalls finden sich sporadisch in den Zeitungen noch Kurzmeldungen über Kämpfe zwischen rivalisierenden kurdischen Parteien. Das Fernsehen zeigt gelegentlich eine Sequenz mit kurdischen Flüchtlingen auf einem schrottreifen Frachter im Mittelmeer. Damit ist die Berichterstattung zu diesem Thema beendet. Ähnlich verhält es sich mit den politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen im Irak. Hier vermag allenfalls die Auseinandersetzung um die Aufhebung der UN-Sanktionen kurzzeitig den Schleier der Interesselosigkeit zu lüften.

Im Mittelpunkt der politischen Auseinandersetzung um humanitäre Interventionen2 stand bisher das Spannungsfeld zwischen moralischer Integrität einerseits und völkerrechtlicher Legitimität andererseits. In der völkerrechtlichen Diskussion berufen sich die Gegner humanitärer Interventionen darauf, dass dieses Instrument in der UN-Charta, die der territorialen Integrität und Souveränität von Staaten einen hohen Stellenwert beimisst, nicht explizit genannt werde. Befürworter argumentieren, dass der Charakter der UN-Charta sie durchaus impliziere. Selbst wenn man unterstellt, das Völkerrecht biete keine Handhabe für humanitäre Interventionen, ist damit die Frage der Legitimität noch nicht beantwortet. Unser Interesse gilt daher insbesondere den Ergebnissen der Intervention, um auch eine politisch-moralische Beurteilung zu ermöglichen.

Mit der Operation »Provide Comfort« setzten die Alliierten der Flüchtlingstragödie im irakisch-türkischen Grenzgebiet ein Ende. Von beteiligten Militärs wurde sie als »Blaupause« für künftige humanitäre Operationen verstanden. Sie war denn auch das erste Glied einer Kette von Interventionen in den neunziger Jahren, in der die Militärs die »humanitäre Arena« betraten. Während zu Zeiten des Kalten Krieges Notsituationen in der Regel als politisch/militärisch oder humanitär von den politischen Akteuren, beispielsweise im Weltsicherheitsrat, definiert und gegeneinander abgegrenzt worden waren, greift diese Einteilung jetzt nicht mehr. Es sind zunehmend komplexe Notsituationen entstanden. Einen international verbindlichen Konsens, wie diese komplexe Notlagen zu handhaben sind, gibt es nicht.

Es gilt den unmittelbaren und dauerhaften Folgen dieser Intervention nachzuspüren. „Selbst die legitimste Intervention kann humane und finanzielle Kosten verursachen und unerwünschte Ergebnisse zeitigen, die die Intervention als unverhältnismäßig, ineffektiv und kontraproduktiv erscheinen lassen.“3 Diese hier aufgeworfenen Fragen sollen am Beispiel Kurdistan-Irak diskutiert werden.

Weiterhin soll untersucht werden, welchen nicht humanitären Interessen mittels einer auf Intervention ausgerichteten Politik Vorschub geleistet wurde. Schließlich ist zu fragen, ob die der Intervention vorausgegangen wesentlichen Krisenursachen erfasst und angegangen wurden.

Zur Situation der kurdischen Bevölkerung im Irak

Die Niederlage des Osmanischen Reiches im ersten Weltkrieg und sein dadurch hervorgerufener Zerfall erlaubten es Frankreich und Großbritannien, Mesopotamien und Syrien unter sich aufzuteilen. Dabei bekamen die Briten neben Palästina und Transjordanien die drei osmanischen Provinzen (Vilayets) Basra, Bagdad und Mosul als Völkerbundmandat zugesprochen. Aus diesen drei ehemaligen Vilayets wurde der heutige Staat Irak gebildet. Während die Provinzen Basra und Bagdad von AraberInnen bewohnt waren, dominierte in der wegen ihres Erdölreichtums heiß begehrten Provinz Mosul die kurdische Bevölkerung. Aus Sicht der britischen Kolonialpolitik war die kurdische Bevölkerung im Norden dazu geeignet, ein Gegengewicht gegen die schiitische Bevölkerung im Süden zu bilden. Entgegen den im August 1920 im Vertrag von Sèvres gemachten Zusicherungen wurde kein kurdischer Staat geschaffen. Kurdistan wurde unter den sich jetzt bildenden Nationalstaaten aufgeteilt.

Formal wurde der Irak 1932 unabhängig, blieb allerdings ökonomisch und politisch vielfältig an Großbritannien gebunden. Im Juli 1968 kam die Arabische Sozialistische Baath-Partei durch einen Staatsstreich mit Unterstützung von Teilen der Armee an die Macht. Die Baath-Partei war 1944 in Damaskus gegründet worden und baute in den folgenden Jahren Ableger in mehreren arabischen Staaten auf. Sie vertrat eine hauptsächlich von Michel Aflaq formulierte suprastaatliche, elitär-antidemokratische Ideologie, wobei sie sich selbst als panarabische Befreiungsbewegung sah und sich zudem einer verschwommenen sozialistischen Rhetorik bediente. Die Vorstellungen vom Klassenkampf im marxistischen Sinne wurden strikt abgelehnt.

Gegenüber der Gesellschaft demonstrierte das Baath-Regime nach der Machtübernahme seinen absoluten Machtwillen durch Schauprozesse und öffentlich praktizierten Terror gegen tatsächliche und vermeintliche Oppositionelle.

Die Baath-Partei war sich der zentralen Bedeutung einer »Lösung der kurdischen Frage« bewusst. Ideologisch stand die kurdische Nationalbewegung dem arabischen Nationalismus, wie er von der Baath-Partei vertreten wurde, feindlich gegenüber. Zudem bedrohte sie einen Großteil der Erdölförderstätten und damit die ökonomische Basis des Regimes. Militärisch konnte sie von Anrainerstaaten instrumentalisiert werden, um den Irak zu bedrohen. Zudem bot sich Kurdistan-Irak als Rückzugsgebiet auch für andere oppositionelle Kräfte an. So war hier auch die Irakische Kommunistische Partei (IKP) fest verankert. Eine Autonomieregelung scheiterte 1974 an der willkürlichen Grenzziehung der autonomen Region durch das Baath-Regime. Dadurch wurden Erdölfördergebiete mit kurdischer Bevölkerungsmehrheit von der autonomen Region abgetrennt.

Daraufhin brach der bereits zuvor schwelende Bürgerkrieg zwischen den kurdischen Verbänden unter Mulla Mustafa Barzani und der irakischen Armee offen aus. Der kurdischen Bewegung wurde die feste Bindung an den Iran zum Verhängnis, als der Schah von Persien 1975 im Abkommen von Algier lange bestehende Grenzstreitigkeiten mit der irakischen Regierung beilegte und den kurdischen Aufständischen jegliche Unterstützung, insbesondere Waffenlieferungen, entzog. Innerhalb weniger Tage brach der militärische Widerstand vollständig zusammen, 100.000 Menschen flohen damals in den Iran.

Der irakisch-iranische Krieg und das Wiedererstarken des kurdischen Widerstandes führten in den achtziger Jahren zu einer Intensivierung bereits zuvor begonnener Deportationsmaßnahmen in den Grenzgebieten und in den Rückzugszonen der Guerilla. Dörfer und Städte wurden zerstört und zu verbotenen Zonen erklärt. Während der Volkszählung 1977 waren in der Provinz Sulaimaniya noch 1.877 Dörfer gezählt worden, zehn Jahre später waren es nur noch 186. Dies bedeutete de facto die Zerstörung der ländlichen kurdischen Kultur. Außerdem betrieb das irakische Regime eine systematische Vertreibung der kurdischen Bevölkerung aus den Erdölfördergebieten.

Die Geiselnahme Familienangehöriger vermeintlicher oder tatsächlicher Oppositioneller gehört im Irak des Baath-Regime zum Alltag. Diese Praxis der Repression erreichte in Irakisch-Kurdistan einen erneuten furchtbaren Höhepunkt, als 1983 Sicherheitskräfte 8.000 männliche Angehörige des Barzani-Stammes im Alter zwischen 12 und 70 Jahren in den Südirak verschleppten. Ihr Schicksal ist bis heute ungeklärt. Dies war offensichtlich eine Vergeltungsaktion für eine Offensive des Iran mit Beteiligung der Demokratischen Partei Kurdistans (KDP) unter Massoud Barzani, der die Parteiführung nach dem Tod seines Vaters übernommen hatte.

Als das irakische Regime 1987 in Folge des Kriegsverlaufes und der zunehmenden Aktivitäten der Peshmerga (kurdische Widerstandskämpfer) immer stärker in Bedrängnis geriet, bereitete es seine Lösung der kurdischen Frage vor. Minutiös geplant und bürokratisch ausgeführt begannen mit einem Giftgasangriff auf das Hauptquartier der PUK, der zweiten großen irakisch-kurdischen Partei, am 23. Februar 1988 die »Anfal-Operationen«. Der Name Anfal ist angelehnt an die Überschrift der achten Koransure und bedeutet soviel wie »legitime Beute«. Unter diesem Namen wurden bis zum 6. September 1988 acht Operationen durchgeführt.

Für alle Anfal-Operationen ergibt sich ein einheitliches Muster. Sie begannen mit der Bombardierung von Peshmerga-Stellungen und zentralen Dörfern, wobei häufig Giftgas verwandt wurde. Für die Jahre 1987 und 1988 sind mindestens vierzig Giftgasangriffe des irakischen Militärs auf kurdische Dörfer dokumentiert. Anschließend marschierten irakische Bodentruppen in das Gebiet, deportierten die Bevölkerung und zerstörten die Dörfer sowie die Infrastruktur. Um diese Zonen unbewohnbar zu machen, wurden die Brunnen gesprengt, die Felder z.T. vermint sowie Obsthaine und Wälder abgebrannt. In Übergangslagern wurden die Männer im Alter von 14 bis 50 Jahren und zahlreiche junge Frauen von ihren Familien getrennt. Diese sind bis heute verschwunden, die übrigen Familienmitglieder wurden in Umsiedlungslagern (sog. mujammaat) angesiedelt.

Sowohl die Anfal-Operationen, bei denen nach unterschiedlichen Schätzungen zwischen 50.000 und 180.000 Kurden »verschwanden«, als auch der Giftgasangriff auf Halabja im März 1988 hatten schon damals der Außenwelt den Charakter des irakischen Regimes offenbart – lange vor der Besetzung Kuwaits im August 1990.

Den verübten Menschenrechtsverletzungen wurde jedoch durch westliche Regierungen wenig Beachtung geschenkt, solange das Regime nicht die geostrategischen Interessen der führenden westlichen Staaten berührte und es im Gegenteil wichtige Funktionen erfüllen konnte. Entsprechend kam es auch auf westlicher Seite zu militärischen Kooperationen auf unterschiedlichen Ebenen, seien es Waffenlieferungen oder die Ausbildung von Militärs. Insbesondere die Entwicklung von Massenvernichtungswaffen wäre ohne Unterstützung westlicher und insbesondere deutscher Firmen nicht möglich gewesen.

Der zweite Golfkrieg und seine Folgen

Die Besetzung und spätere Annexion Kuwaits, eines autokratisch regierten Staates, stellte eine eklatante Verletzung des Völkerrechts dar, zu dessen Kern die Änderung von Staatsgrenzen mit ausschließlich friedlichen Mitteln gehört. In diesem Punkt war die Meinung der internationalen Staatengemeinschaft einhellig, wie dies auch durch das entsprechende einstimmige Votum des UN-Sicherheitsrates dokumentiert wurde. Diese erneute Missachtung internationaler Prinzipien durch das irakische Regime wurde im Gegensatz zum ersten Golfkrieg, der mit einem Angriff Iraks auf den Iran begann, unverzüglich sanktioniert. Schrittweise wurden durch den UN-Sicherheitsrat die Wirtschaftssanktionen ab August 1991 eskaliert. Schließlich kam es zu der von den USA – bereits zu Beginn des Konfliktes – favorisierten militärischen Auseinandersetzung, die mit der Niederlage des Iraks endete.

Durch diesen Krieg am Golf ist eine neue Epoche der Kriegführung angebrochen. Erstmals wurden im großen Umfang strategische Überlegungen praktisch umgesetzt, die auf ein automatisiertes Schlachtfeld abzielen. Die Grenzen zwischen Krieg und Frieden verwischten sich. Durch den Einsatz fernlenkbarer Präzisionswaffen konnte das Risiko für Leib und Leben der alliierten Soldaten drastisch minimiert werden. Diese Waffen verführten dazu, sie auch nach dem Kriegsende im Februar 1991 in einem fortgeführten unerklärten Krieg immer wieder einzusetzen, wenn dies im anglo-amerikanischen Interesse lag.

Die Folgen dieser Art Kriegsführung für die irakische Zivilbevölkerung sind fragwürdig. Der Anteil der unmittelbar durch die Kampfhandlungen verursachten zivilen Opfer erschien verglichen mit anderen Kriegen des 20. Jahrhunderts, in denen sich über die Jahrzehnte betrachtet durchgängig der Anteil der Zivilisten an der Gesamtzahl der Verwundeten und Getöteten erhöhte, zunächst vergleichsweise gering. Da allerdings gezielt die Lebensnerven des Landes wie Elektrizitäts- und Wasserwerke zerstört wurden, stieg die Zahl der mittelbar durch den Krieg hervorgerufenen Opfer unter der Zivilbevölkerung in diesem urbanisierten Land – 70% der Bevölkerung lebt in Städten – dramatisch an. Dieser Effekt potenzierte sich durch das anhaltende Wirtschaftsembargo.

Der UN-Sicherheitsrat gab der US-Regierung mit seinem Votum, dass alle Maßnahmen zu ergreifen seien, die den Irak zum Abzug aus Kuwait zwingen, freie Hand in der Gestaltung des Konfliktes. Faktisch diktierte die US-Regierung das Geschehen. Sei es nun in der Festlegung des Kriegsbeginns oder in der Art der Kriegsführung. Die UN wurden, wenn es gelegen kam, allenfalls noch zur Legitimation der eigenen Politik benutzt, wie dies bei der Aufrechterhaltung der Sanktionen deutlich wurde. In anderen Situationen wie beispielsweise der willkürlichen Festlegung der Flugverbotszonen demonstrierte die US-Regierung, dass sie der UN in der Konfliktlösung nur eine untergeordnete Rolle zugestand. Die Autorität der UN als Organ zur Konfliktbewältigung wurde damit gezielt untergraben. Die UN wurde in der Interpretation ihrer eigenen Beschlüsse zum Zuschauer degradiert.

Operation »Provide Comfort«

Nach der Niederlage des Baath-Regimes gegen die Alliierten brach am 5. März, befördert durch die Erfolge der aufständischen Schiiten im Süden, die kurdische Intifatha aus. Der Aufstand weitete sich schnell aus und nach wenigen Tagen waren die meisten kurdischen Städte in der Hand der Aufständischen. Die Peshmerga konnten selbst bis in die Erdölstadt Kirkuk vordringen und kontrollierten die Umgebung der anderen Erdölmetropole Mosul.

Die Erfolge des Aufstandes währten nur kurz. Dem Bagdader Regime gelang es mit seiner Elitetruppe, den Republikanischen Garden, eine Gegenoffensive einzuleiten und den Aufstand brutal niederzuschlagen. Die Republikanischen Garden waren während des Golfkrieges von den Alliierten weit gehend unbehelligt geblieben. Dies deutet daraufhin, dass die Alliierten damit kalkuliert haben, das Baath-Regime selbst oder eine Militärregierung als regionale Ordnungsmacht insbesondere im Hinblick auf das islamisch-schiitische Regime in Iran zu erhalten. Trotz des im Rahmen der Waffenstillstandsverhandlungen verhängten generellen Verbotes von Militärflügen setzte die irakische Armee Hubschrauber und Kleinflugzeuge ein. Diese bombardierten die Aufständischen, aber auch die Zivilbevölkerung, mit Napalm- und Phosphorbomben. Eine Reaktion der Alliierten erfolgte nicht. Der kurdische Widerstand hatte der Gegenoffensive wenig entgegenzusetzen.

Die Aufstände der Kurden und Schiiten entsprachen nicht den Zielvorstellungen der Alliierten. Präsident George Bush, sen. hat zwar die Bevölkerung des Iraks zu einem Aufstand gegen Saddam Hussein ermuntert. Doch dies sollte wohl eher rhetorisch eine Modifizierung der amerikanischen Irak-Politik verdeutlichen, die zu diesem Zeitpunkt einen Militärputsch bei Erhalt der Machtstrukturen des Regimes favorisierte, denn eine tatsächliche Unterstützung der Opposition darstellen. Während der Aufstände ließ er keinen Zweifel daran, dass die USA den Aufständischen nicht zu Hilfe kommen werden. Die US-Regierung betonte immer wieder, dass sie den Irak als Staat in seiner jetzigen Form erhalten wolle. Zwei wichtige Verbündete der Alliierten, die Türkei und Saudi-Arabien, konnten aus innenpolitischen Gründen kein Interesse am Gelingen der Aufstände haben. Die türkische Regierung mußte befürchten, dass durch einen kurdischen Erfolg auch die Position der kurdischen Nationalisten in der Türkei gestärkt würde. Jedenfalls reagierten die Alliierten erst, als die Niederlage der Aufständischen besiegelt war. Dieses Verhalten der Alliierten steht in einem auffälligen Kontrast zu der Entschlossenheit, mit der sie in Kuwait vorgingen.

Die drohende Niederlage und die Erinnerung an die Vernichtungsoperationen in der unmittelbaren Vergangenheit lösten unter der kurdischen Bevölkerung eine Massenpanik aus. Ab dem 28. März flohen innerhalb von zwei Tagen ca. 2 Millionen Menschen in die benachbarte Türkei und in den Iran. Ungezählte harrten an den Hängen von Taurus- und Zagrosgebirge im Irak aus, um das weitere Geschehen abzuwarten. Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) konstatierte den größten Massenexodus der vergangenen 40 Jahre.

Die Türkei schloss sofort ihre Grenzen. Dies bedeutete für Hunderttausende von Flüchtlingen, dass sie in den Bergen in Höhen von 1.500-2.000 m, unter z. T. noch schneebedeckten Gipfeln, ohne Trinkwasser und Nahrungsmittel ausharren mussten. Der Weg in die rettende Ebene wurde ihnen durch die türkische Armee auch unter Anwendung von Waffengewalt versperrt. 15- 20.000 Menschen, vor allem Säuglinge und Kleinkinder, starben in den folgenden Tagen an Wassermangel und Durchfallerkrankungen.

Die Aufnahme der Flüchtlinge im Iran war insoweit freundlicher, als ihnen gestattet wurde, die Grenze zu übertreten und zumindest im kurdischen Teil Irans Zuflucht zu suchen. Ein Teil der Flüchtlinge konnte bei Verwandten unterkommen.

Da die Medienpräsenz in der Region wegen des Golfkrieges noch groß war, gingen die Bilder von dem nicht enden wollenden Strom von Flüchtlingen, der die Berghänge an der irakisch-türkischen Grenze hinaufzog, bald um die ganze Welt. Hier trafen sie auf eine durch den Krieg emotional sensibilisierte Öffentlichkeit.

Vor dem Eintreffen der internationalen Hilfsorganisationen hatte die selbst weit gehend verarmte lokale kurdische Bevölkerung in der Türkei erhebliche Anstrengungen unternommen, um den Flüchtlingen das Überleben zu ermöglichen.

Innerhalb von zwei Wochen lief eine große internationale Hilfsaktion an, wobei die katastrophenerprobten Hilfsorganisationen aus Westeuropa und den USA das Management der Hilfe zusammen mit den alliierten Militärs in die Hand nahmen.

Die Folgen der Massenflucht stellten die Alliierten vor neue Probleme. So befürchtete die türkische Regierung durch den Flüchtlingszustrom eine weitere Destabilisierung der grenznahen Provinzen, in denen sie selbst seit Jahren einen Krieg gegen die damals erstarkende PKK führte. Die Lage der kurdischen Bevölkerung in allen Teilungsstaaten erfuhr eine nie dagewesene Publizität.

Für die türkische Politik hatte es daher oberste Priorität, dauerhafte Flüchtlingslager auf türkischen Territorium zu vermeiden. Ein humanitäres Schutzgebiet im Irak selbst barg zwar aus türkischer Sicht auch die Gefahr, neue Freiräume für die türkisch-kurdische Guerilla zu öffnen. Dies schien allerdings für die türkische Machtelite die weitaus geringere Gefahr darzustellen.

Die Alliierten gerieten unter den Druck der Öffentlichkeit in ihren eigenen Ländern, die ein humanitäres Eingreifen forderte. Zunächst blieb unklar wie dies auf der operativen Ebene erfolgen sollte. Die US-Regierung entschied sich nur zögernd für die Intervention und griff erst nach neun Tagen den Vorschlag des britischen Premiers Major auf. Sie befürchtete ein längerfristiges militärisches Engagement im Irak. Schließlich entwickelten die Alliierten Pläne für ein erneutes militärisches Eingreifen, die in die Operation »Provide Comfort« (Trost bringen) mündeten.

Zeitgleich wurden im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen Verhandlungen über das weitere Vorgehen in der Flüchtlingskatastrophe geführt. Diese mündeten in der Resolution 688 des UN-Sicherheitsrat vom 5.4.1991. Ihrer Annahme waren sehr kontroverse Diskussionen vorausgegangen. Dabei ging es im Kern der Auseinandersetzungen darum, ob dem Sicherheitsrat die Kompetenz zustehe, sich mit Menschenrechtsverletzungen zu befassen, oder ob er damit in die inneren Angelegenheiten eines Staates eingreife. Bei Gegenstimmen von Kuba, Jemen und Zimbabwe sowie Enthaltungen von China und Indien, war es die Resolution mit der geringsten Mehrheit aller zum Golfkonflikt verabschiedeten Resolutionen. In ihr wird vom Irak verlangt, unverzüglich die Repressionen einzustellen und darüber hinaus Maßnahmen zu ergreifen, die dem Frieden und der Sicherheit in der Region dienen. Zudem wird der Irak aufgefordert, internationalen Hilfsorganisationen in allen Landesteilen Zugang zu den Hilfsbedürftigen zu gewähren.

Bemerkenswert an der Resolution 688 des Weltsicherheitsrates ist, dass als Ursache der Gefährdung des Friedens in der Region nicht die Unterdrückung des kurdischen Volkes an sich, sondern die daraus resultierenden Fluchtbewegungen in die Nachbarstaaten angesehen wurden. Trotz der drohenden Sprache wurde diese Entschließung nicht ausdrücklich gemäß Kapitel VII der UN-Charta gefasst, der den Vereinten Nationen zugesteht, auch Zwangsmaßnahmen zur Erhaltung des internationalen Friedens zu ergreifen. Vielmehr bezog sich der Sicherheitsrat auf Artikel 2 Abs. 7 der UN-Charta, der die Souveränität der Mitgliedsstaaten gegenüber der Weltorganisation herausstellt, wobei dieses Prinzip der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten eines Staates von Maßnahmen nach Kapitel VII außer Kraft gesetzt werden kann. Auch wird in der Resolution nicht definiert, wie eine Missachtung sanktioniert werden soll. Sie enthält keinen Hinweis, ob dann ggf. UN-Blauhelme, die Golfkriegsalliierten oder ein anderes Militärbündnis eingreifen sollten. Allerdings wird explizit der Generalsekretär der Vereinten Nationen aufgefordert, alle ihm zur Verfügung stehenden Ressourcen zu nutzen, um das Flüchtlingselend zu lindern.

Gerade diese Resolution wurde von vielen PolitikerInnen als neue, allgemeinverbindliche Interpretation des Völkerrechts angesehen.

Die Resolution 687 des Weltsicherheitsrates, die am 03.04.1991 zwei Tage vor der Resolution 688 verabschiedet wurde und die Waffenstillstandsbedingungen beinhaltet, befasste sich überhaupt nicht mit der Menschenrechtslage im Irak.

Nachdem der Weltsicherheitsrat die Resolution 688 erlassen hatte, wurde von den Alliierten ein großer Teil der irakischen Provinz Dohuk zum »sicheren Hafen« erklärt. Die irakische Armee wurde von den Alliierten veranlasst, zumindest die Städte in diesem Gebiet zu räumen und von den vorgesehenen Flüchtlingslagern gebührenden Abstand zu halten.

Die US-Regierung erklärte im Juni 1991 zudem die Gebiete nördlich des 36. Breitengrads zu einer Flugverbotszone, in der keinerlei Flugbewegungen durch das irakische Militär gestattet wurden. Dabei umfasste die Flugverbotszonen nur einen Teil des kurdischen Siedlungsgebietes. Im August 1991 wurde auch der Südirak südlich des 32. Breitengrades von den Alliierten unter der Bezeichnung »Southern Watch« zur Flugverbotszone erklärt, nachdem irakische Militärflugzeuge verstärkt in Operationen gegen die schiitische Bevölkerung eingesetzt wurden. Die Festlegung der Flugverbotszonen erfolgte einseitig durch die US-Regierung in Absprache mit Frankreich und Großbritannien. Sie wurde nie durch eine UN-Resolution gedeckt.

Ein bemerkenswertes Beispiel der Neuinterpretation des Völkerrechts gab in diesem Zusammenhang der britische Außenminister Douglas Hurd in einem Radiointerview im August 1991: „ Nicht jede Aktion, die eine britische Regierung oder eine amerikanische Regierung oder eine französische Regierung unternimmt, muss durch eine spezifische Bestimmung in einer UN-Resolution gedeckt sein, vorausgesetzt wir stehen im Einklang mit dem Internationalen Recht. Internationales Recht anerkennt extreme humanitäre Not. (…) Wir stehen auf einer festen legalen als auch humanitären Grundlage, diese Flugverbotszone zu errichten.“4

Kritiker sahen darin einen Bruch des Völkerrechts, der zu einer »partiellen Entsouveränisierung« des Iraks geführt habe. Der Weltsicherheitsrat nahm das Vorgehen seiner drei ständigen westlichen Mitglieder schweigend hin.

Das weitere Vorgehen der Alliierten im Rahmen der Operation »Provide Comfort« folgte einer eigenmächtigen Interpretation der Resolution 688, insbesondere durch die US-Regierung, der sich andere alliierte Staaten anschlossen. Dieses Vorgehen war in keiner Weise vom Sicherheitsrat beschlossen worden. Auch hatte es der UN-Generalsekretär Perez de Cuellar abgelehnt, den alliierten Truppen für diese Operation das offizielle Mandat einer UN-Friedenstruppe zu verleihen. In der Resolution wird als zentrale Forderung der unbeschränkte Zugang für humanitäre Hilfsorganisationen zu der notleidenden Bevölkerung verlangt. Man wird allerdings nur schwerlich die US-Army als humanitäre Hilfsorganisation ansehen. Es erscheint im Falle von „Provide Comfort« fraglich, ob die militärische Intervention durch die UN-Sicherheitsratsresolution 688 gedeckt war.

Weder die Resolution 688 noch eine andere den Irak betreffende UN-Resolution weisen Schutzzonen vergleichbar denen im zerfallenden Jugoslawien aus. Ausdrücklich verwies Perez de Cuellar auf die völkerrechtlichen Probleme, die der Einrichtung von Schutzzonen auf den Boden eines Staates ohne dessen Zustimmung entgegenstünden.

Im »sicheren Hafen« wurden derweil Zeltstädte errichtet, Lebensmittellager angelegt und Frischwasseraufbereitungsanlagen installiert. Dabei arbeiteten NGOs und Militär Hand in Hand. Dies war ein Novum. Hatten doch zahlreiche NGOs erst ihren Skeptizismus gegenüber dem Militär ablegen müssen. Nicht wenige Beobachter waren von der Geschwindigkeit dieses Prozesses überrascht und berichteten über NGOs, die sich geradezu enthusiastisch in die von den Militärs vorgegebenen Strukturen einbinden ließen.

Die Flüchtlinge, die sich vor die Wahl gestellt sahen, entweder in den Lagern ohne Wasser und mit kleinen Lebensmittelrationen zu verharren und dabei die Gewissheit zu haben von der türkischen Regierung nie offiziell als Flüchtlinge anerkannt zu werden oder in den Irak zurückzukehren, verließen allmählich die Berge. Einige hatten zudem die Illusion, dass die Alliierten dauerhafte Garanten ihrer Freiheitsrechte seien. Diese wurde durch die kurzzeitige Anwesenheit von bis zu 20.000 Soldaten in der Schutzzone gefördert. Diese alliierten Bodentruppen wurden zum überwiegenden Teil bis Mitte Juli aus dem Irak abgezogen, wobei lediglich in Zakho (an der Grenze zur Türkei) ein Verbindungsbüro – das Military Coordination Centre (MCC) – mit einer kleinen Truppenpräsenz beibehalten wurde. Seine Aufgabe beschränkte sich vorwiegend darauf, Informationen über relevante Ereignisse in der Region und an der Grenzlinie zum Irak zu sammeln und auszuwerten.

Unter der Bezeichnung »Poised Hammer« (angriffsbereiter Hammer) wurde parallel zum Abzug der Alliierten aus dem Nordirak in den türkischen Orten Silopi und Incirlik eine schnelle Eingreiftruppe mit 5.000 Mann stationiert. Diese Truppengröße wurde innerhalb weniger Monate auf eine Flugzeugstaffel zur Überwachung des nordirakischen Luftraumes reduziert. An den Kontrollflügen beteiligten sich neben US-Amerikanern, Briten und Franzosen auch türkische Beobachter, die die dabei gewonnenen Erkenntnisse auch im Kampf gegen die PKK nutzen.

Die Operation »Provide Comfort« hatte ihr Hauptziel, die Flüchtlinge aus der Türkei zur Rückkehr in den Irak zu bewegen, erreicht. Damit wurde diese Forderung des Bündnisgenossen Türkei erfüllt. Auch konnte die Öffentlichkeit in den USA und in Europa beruhigt werden. Militärstrategisch wurde das Ziel erreicht, eine längerfristige Stationierung von US-amerikanischen Bodentruppen im Irak zu vermeiden und sich lang andauernden Auseinandersetzungen zu entziehen, was seit dem Vietnamkrieg eine zentrale Doktrin für US-amerikanische Militäreinsätze darstellt. Aus amerikanischer Sicht war man daher bestrebt, das humanitäre Programm umgehend in die Hände der UN übergehen zu lassen.

Rasch relativierte sich dabei der oft versprochene internationale Schutz für die kurdische Bevölkerung Nordiraks. Das Schicksal der kurdischen Flüchtlinge im Iran war für das militärische Vorgehen der Alliierten vollkommen nebensächlich. Entsprechend wurden auch keine »safe havens« an der Grenze zum Iran errichtet. Zugleich überstieg der Umfang der von internationalen Organisationen und von Regierungen geleisteten materiellen Hilfe an die Türkei deutlich den Anteil, den der Iran erhielt.

Die UN verfolgten ihrerseits ähnlich wie die Alliierten das Ziel einer möglichst schnellen Rückführung der Flüchtlinge aus den Nachbarstaaten. Sie versuchten dabei allerdings andere Wege zu gehen. Im Auftrag des UN-Generalsekretärs Perez de Cuellar verhandelte Sadruddin Aga Khan, damaliger UN-Koordinator für Flüchtlingsfragen, als Sonderbevollmächtigter mit der Bagdader Regierung. Vereinbart wurde am 18. April 1991, also unmittelbar nach Beginn der Operation »Provide Comfort«, ein humanitäres Hilfsprogramm für den gesamten Irak, das auch Rückkehrwillige unterstützen sollte. Bestandteil der Vereinbarung war, dass die Umsetzung dieses Programmes mit der Bagdader Regierung abgesprochen werden musste.

Ungeklärt blieben die Perspektiven für die Zurückkehrenden. Die Großstädte Arbil und Sulaimaniya sowie die in ihrer Umgebung liegenden gigantischen Umsiedlungslager wurden bis zum Herbst 1991 noch von den irakischen Militärs kontrolliert. Nach erneuten Aufständen zog sich das irakische Militär auch hier zurück. Zehntausende suchten Zuflucht in den Ruinen von Städten wie Quala Dize und Penjwin. Entlang der großen Überlandstraßen bildeten sich neue Flüchtlingslager.

Sicherlich war die Versorgung der Zurückkehrenden mit Lebensmitteln und Wasser im Binnenland besser gewährleistet als in den Gebirgslagern in der Türkei. Dennoch blieben ihre Gesundheit und ihr Leben ständig gefährdet. Dazu trugen die immer wieder aufflackernden Auseinandersetzungen zwischen Peshmergaeinheiten und der irakischen Armee bei. Zudem bestanden katastrophale hygienische Bedingungen in den Flüchtlingslagern und Notunterkünften. Eine Typhusepidemie forderte in den Sommermonaten 1991 zahlreiche Opfer.

Die größte Gefahr, insbesondere für die Landbevölkerung, ging gewiss von den Verminungen aus. Die Todesstreifen entlang der Staatsgrenzen hatten bereits während der Flucht zahlreiche Menschen schwer verletzt und getötet. Bei dem Versuch in die zerstörten Dörfer und Städte zurückzukehren, wurden deren BewohnerInnen nicht nur in den Ruinen ihrer Häuser, sondern auch auf Weiden und Feldern mit dieser tödlichen Hinterlassenschaft aus den beiden Golfkriegen und den Vernichtungsfeldzügen gegen die kurdische Bevölkerung konfrontiert.

Vollkommen offen blieb die Frage der irakischen Binnenflüchtlinge. Zehntausende, die aus der Provinz Kirkuk und in geringerer Zahl aus der Provinz Mosul stammten, waren während des Aufstandes vor den irakischen Truppen in weiter nördlich gelegene Landesteile bzw. in den Iran und die Türkei geflüchtet. Die meisten von ihnen konnten nicht in ihre angestammten Wohngebiete zurückkehren, da diese Gebiete größtenteils, insbesondere die Erdölstädte Kirkuk und Khanaquin, unter Kontrolle der irakischen Armee blieben. Die Anzahl dieser Binnenflüchtlinge wurde 1991/92 vom UNHCR auf 400-500.000 Menschen geschätzt. Die irakische Regierung nutzt seitdem die Gelegenheit, ihre Arabisierungspolitik in den Erdölzentren fortzusetzen. Vermehrt wurden arabische Familien angesiedelt. Auch setzte sie die Repression gegen die Zivilbevölkerung unverändert fort, ohne dass dies eine offizielle Reaktion von UN oder Alliierten provozierte.

Die von der Genfer Flüchtlingskonvention geforderten sicheren Verhältnisse, in die die Flüchtlinge zurückzuführen seien, waren zu keinem Zeitpunkt gegeben. Vielmehr wurden die Flüchtlinge zur Rückkehr unter teils falschen Versprechungen der Alliierten genötigt.

Letztlich wurde mit der so genannten UN-Schutzzone, als ein Ergebnis des unter vollständig anderen Intentionen geführten Golfkrieges, ein Konstrukt geschaffen, dessen Bezeichnung irreführend war, da es keine verbindlichen militärischen oder politischen Schutzgarantien der »internationalen Gemeinschaft« für deren BewohnerInnen gab. Die Alliierten, aber auch die UN, wurden ihrer besonderen Verantwortung gegenüber der schiitischen und kurdischen Bevölkerung nicht gerecht. Lediglich die anfängliche Präsenz einer großen Anzahl von Hilfsorganisationen stellte insofern einen gewissen fragilen Schutz dar, als sie eine internationale Öffentlichkeit repräsentierten. Am ehesten war die Situation noch vergleichbar mit einem überdimensionierten Flüchtlingslager, das ökonomisch und politisch vollständig von externen Akteuren abhängig war.

Das UN-Embargo gegen den Irak und seine Folgen

Durch die UN-Wirtschaftssanktionen wurde der Irak seiner offiziellen Außenwirtschaftsbeziehungen nahezu vollständig beraubt. Sowohl Erdölproduktion und -export als auch Bruttoinlandsprodukt sanken Anfang der neunziger Jahre dramatisch.

Obwohl Lebensmittel und Medikamente ausdrücklich vom Embargo ausgenommen waren, kam es im gesamten Irak zu einer bedrohlichen Verknappung von Grundnahrungsmitteln wie Milch, Milchprodukten, Reis, Mehl und Speiseöl. Dies führte zu einer Mangelernährung großer Teile der Bevölkerung. Durch die Verknappung von Saatgut und Medikamenten für die Veterinärmedizin wurde die landwirtschaftliche Eigenproduktion anhaltend geschädigt. Der Mangel an medizinischen Bedarfsgütern, aber auch an Ersatzteilen für Wasseraufbereitungsanlagen, führte zu einer prekären Lage in der medizinischen Versorgung der Zivilbevölkerung.

Die Folgen des Embargos waren für die irakische Bevölkerung verheerend. Eine Kommission unter Leitung der FAO konstatierte für den gesamten Irak im Sommer 1995 eine Situation wie unmittelbar vor einer Hungersnot. Es wurde berechnet, dass 29 % der Kinder unter 5 Jahren im Zentral- und Südirak unterernährt waren, in den drei Provinzen unter kurdischer Verwaltung waren es 20%. Das UN-Kinderhilfswerk UNICEF stellte im August 1999 fest: „Die Kindersterblichkeit im Irak hat sich seit dem Golfkrieg 1991 verdoppelt (…) Danach ist die Sterblichkeit bei Kindern unter fünf Jahren von 56 Todesfällen pro 1.000 Geburten (1984-1989) auf 131 Todesfälle pro 1000 Geburten (1994-1999) gestiegen. Die Sterblichkeit bei Kleinkindern im ersten Lebensjahr erhöhte sich von 47 auf 108 pro 1.000 Geburten.“5 Kein anderes Land der Welt hatte in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts einen vergleichbaren Anstieg der Kindersterblichkeit zu verzeichnen. Der Caritas-Verband schätzte im Dezember 1998, dass das Embargo seit 1991 für den Tod von 500.000 bis 800.000 Kindern verantwortlich sei.6

Befürworter der Sanktionspolitik bezweifeln trotzdem eine Kausalität zwischen den Zwangsmaßnahmen der UN und der prekären Lage der irakischen Bevölkerung. Ihr Elend wird ausschließlich als Kriegsfolge und Ergebnis der verfehlten Politik Saddam Husseins dargestellt, während den »berechtigten Sanktionen« nur eine untergeordnete Rolle zukäme. Dies erscheint in keiner Weise einsichtig, da der Irak bereits vor der Kuwaitkrise neben anderen Verbrauchsgütern im großen Umfang von Lebensmittelimporten und der Einfuhr medizinischer Güter abhängig war. Ein so umfassendes Wirtschaftsembargo musste eine entsprechend strukturierte Ökonomie verheerend treffen.

Das irakische Regime seinerseits weigerte sich dennoch aus Gründen der Staatsräson bis 1996, Öl unter der Kontrolle des Sanktionsausschusses zu verkaufen. Dies war dem Irak im begrenzten Umfang in UN-Sicherheitsratsresolutionen 1991 und nochmals in der Resolution 986 vom April 1995 zugestanden worden, um von dem Gewinn Reparationsleistungen an Kuwait zu zahlen sowie Lebensmittel und Medikamente zu importieren. Auch anderen humanitären Hilfsprogrammen stand das irakische Regime durchaus ablehnend gegenüber. Nachdem bereits in früheren Jahren ähnliche Androhungen erfolgt waren, verkündete der irakische Ministerrat im Juni 1998, dass ausländische humanitäre Hilfe nicht mehr erwünscht sei. Dies erfolgte, obwohl die Lage der Bevölkerung noch nach wie vor prekär war.

Das auf eine absolute Herrschaft im Innern aufbauende Baath-Regime lässt sich vom Leid der eigenen Bevölkerung solange nicht beeindrucken, wie die eigene Herrschaft nicht gefährdet erscheint.

In gewisser Hinsicht stabilisierten die Sanktionen sogar das irakische Regime. Sie ermöglichten ihm, das Embargo als ausschließliche Ursache der ökonomischen Misere darzustellen und die Verantwortung dem Ausland anzulasten. Die Sanktionen führten somit zu „einem Versailles-Effekt, zu einem Gefühl kollektiver und deshalb ungerechter Bestrafung“, den das Regime für sich nutzen konnte.7

Die verheerenden Folgen der beiden Golfkriege, aber auch die Zerstörung landwirtschaftlicher Gebiete, konnten in den Augen der irakischen Öffentlichkeit relativiert werden. Nach dem zweiten Golfkrieg war die bereits zuvor begonnene Privatisierung der irakischen Wirtschaft forciert worden. Davon profitierte eine kleine Schicht. Die sozialen Kosten dieser Transformation, die der Masse der Bevölkerung auferlegt wurden, konnten unter Embargobedingungen verschleiert werden.

Auch außenpolitisch verschafften die Sanktionen dem Regime Spielräume. Das Leid der Zivilbevölkerung konnte als Propagandamittel insbesondere in der arabischen Welt genutzt werden.

Die irakische Regierung ihrerseits scheute nicht davor zurück, selbst Gebiete im Norden und Süden des eigenen Landes mit einem Wirtschaftsembargo zu belegen. So blieb die irakische Bevölkerung weiterhin Spielball der Kontrahenten. Die Waffe des von der irakischen Regierung gegen die eigene Bevölkerung eingesetzten internen Embargos war unter den Bedingungen der UN-Sanktionen besonders verheerend.

Dramatische Auswirkungen hatte das Verbot der irakischen Regierung Erdöl in die unter kurdischer Kontrolle stehenden Provinzen zu exportieren. Brennstoff musste im Rahmen der Hilfsprogramme in großem Umfang importiert werden. Mit einem Bruchteil des dafür verwendeten Geldes hätten kleinere Raffinerien zur Verarbeitung der eigenen Erdölvorkommen aufgebaut werden können. Diese hätten den gesamten Bedarf der autonomen Region decken können. Eine Einfuhr entsprechender Anlagen war aber als Folge des UN-Embargos nicht möglich.

So kam es, dass in einem der erdölreichsten Länder der Welt wegen des Brennstoffmangels Abholzungen im großen Ausmaß durchgeführt werden mussten. Nicht selten waren die Wälder bzw. die Zugänge zu den Wäldern vermint, was zu zahlreichen Opfern bei der Holzgewinnung führte. Vielfach wurden noch erhaltene Obstplantagen gerodet und damit die Existenzgrundlage zahlreicher Familien vernichtet.

Die Kurdistan-Front, ein Bündnis der wichtigsten irakisch-kurdischen Parteien, bemühte sich Verwaltungstrukturen in den befreiten Gebieten aufzubauen. 1992 organisierte sie Parlamentswahlen. Aus ihnen gingen die beiden großen Parteien KDP und PUK mit derselben Anzahl von Parlamentssitzen hervor. Zusätzlich waren die assyrischen Christen aufgrund einer Minderheitenregelung vertreten. Die Wahlen wurden von zahlreichen internationalen BeobachterInnen insbesondere im Vergleich mit dem regionalen Umfeld als relativ fair angesehen. Dennoch blieb der Regierung der »Autonomen Region Kurdistan-Irak« jegliche internationale Anerkennung versagt.

Von den Anrainerstaaten offen bekämpft, zogen westliche Regierungen die Führungen der großen Parteien als Gesprächspartner vor. Eine völkerrechtlich verbindliche Klärung des Status der kurdischen Regionalregierung durch die westlichen Staaten hätte zweifellos zu ihrer Stabilisierung beigetragen. Sie hätte die autonome Region politisch und moralisch gestärkt. Aber genau dies war nicht intendiert. Die Möglichkeiten des außenpolitischen Handelns oder diplomatischer Initiativen blieben eng begrenzt. Auch konnte die Regionalregierung gegenüber dem für Irakisch-Kurdistan so wichtigen Sanktionsausschuss der UN nicht als Verhandlungspartner auftreten. Eine Vertretung natürlicher oder juristischer Personen im Ausland war ihr nicht möglich, was ihre Vertragsfähigkeit erheblich einengte. Dies führte zu einer entscheidenden Schwächung der Regierung und ihrer Handlungsunfähigkeit in vielen überlebenswichtigen Fragen. Die internationale Abwertung der Regierung hatte neben der innenpolitischen Schwächung auch zur Folge, dass sie von Anbeginn als Trägerin der Implementierung von politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Strukturen weder bei den Geberländern bzw. -institutionen noch bei den vor Ort tätigen Hilfsorganisationen geschätzt war.

Nothilfe in Kurdistan-Irak unter Bedingungen des zweifachen Embargos

Als unmittelbare Folge des Embargos waren die Hilfsprogramme zunächst ausschließlich darauf ausgerichtet, die Bevölkerung mit dem Lebensnotwendigen wie Lebensmitteln, Medikamenten und Kleidern zu versorgen. Die Einführung von Rohstoffen, Ersatzteilen und anderen Produktionsgütern unterlag der Genehmigung des Sanktionsausschusses und wurde in der Regel nicht genehmigt. Hilfsprogramme zum Wiederaufbau der Infrastruktur oder zur Förderung der landwirtschaftlichen bzw. industriellen Produktion waren unter den Bedingungen der Nothilfe praktisch nicht durchführbar. Diese Politik der Hilfsprogramme in einer mit Sanktionen belegten Region erinnerte an die Hilfe für einen Mann, dem man erst die Beine bricht, um ihm dann Krücken zu geben.

Gerade jene UN-Programme, die noch am ehesten Elemente einer Strukturhilfe beinhalteten, waren Anfang der neunziger Jahre chronisch unterfinanziert. Auch im Bereich der bilateralen Hilfe blieb man einer Konzeption der Soforthilfe verhaftet. Die durch die Bundesregierung geleistete Hilfe wurde über Jahre weit gehend durch das Auswärtige Amt organisiert. Diesem obliegt in seiner Ressortzuständigkeit eigentlich nur die humanitäre Soforthilfe. Auf Projektebene der Hilfsorganisationen bedeutete dies, dass die Projekte kurzfristig geplant, rasch umgesetzt und schnell abgerechnet werden mussten. Für die viel beschworene Nachhaltigkeit war dabei wenig Platz. Unter dem Verweis, dass bei fehlender Zusammenarbeit mit der Zentralregierung in Bagdad langfristige Entwicklungshilfe nicht geleistet werden könne, hat das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ) zunächst ein stärkeres Engagement abgelehnt.

Ein ähnliches Bild zeigte sich auch auf der Ebene der EU. In den Programmen von ECHO (dem für humanitäre Hilfe der EU zuständigen Amt) dominieren die Verteilung von Lebensmitteln, Medikamenten und Brennstoffen sowie eine medizinische Basisversorgung. Zwar wurden Gelder zum Wiederaufbau zerstörter Dörfer zur Verfügung gestellt, Infrastrukturmaßnahmen wurden indes nur im bescheidenen Umfang gefördert.

Bereits 1991/92 forderten vor Ort tätige Hilfsorganisationen die Auflegung langfristiger Entwicklungsprogramme. Angesichts der Tatsache, dass viele Menschen spontan in ihre zerstörten Dörfer zurückgingen, schien es absurd, Millionen für Lebensmittelverteilungen statt für Saatgut auszugeben. Erst 1995/96 begann ein vorsichtiges Umdenken bei Gebern wie der EU oder dem BMZ, die jetzt auch Haushaltsmittel aus dem Bereich der Entwicklungszusammenarbeit zur Verfügung stellten.

Die ausschließliche Ausrichtung auf Soforthilfe verstärkte zwangsläufig die Importorientierung und damit die Abhängigkeit von außen, statt das Augenmerk auf die Produktivkraftentwicklung der Region zu lenken. Auch waren in diesem Konzept keine Mittel zum Unterhalt bzw. zur Rekonstruktion der öffentlichen Verwaltung vorgesehen.

Diese Orientierung auf die Nothilfe traf eine Region, deren ländliche Infrastruktur durch die Vertreibungs- und Vernichtungsaktionen der achtziger Jahre weit gehend zerstört war. Die langfristigen sozioökonomischen Folgen der Zerstörung der ländlichen Infrastruktur in Südkurdistan sind nicht ausreichend untersucht. Der Rückgang der Schaf- und Ziegenfleischproduktion des Iraks um ca. 50 bzw. 30 % in den Jahren 1979/81-1989 war neben dem ersten Golfkrieg vermutlich durch die Vertreibungspolitik bedingt. Die Getreideproduktion des gesamten Iraks ging in diesem Jahrzehnt um 25 % zurück, dies obwohl der Ertrag pro Hektar um 26 % gesteigert werden konnte. Auch die Milchproduktion stagnierte.8 Die Region litt zudem noch immer unter den Folgen des irakisch-iranischen Krieges wie z. B. den Minenfeldern, die oft den Zugang zu wichtigen landwirtschaftlich genutzten Gebieten versperrten. Auch waren die Schäden, die durch die Kampfhandlungen während und nach dem Golfkrieg entstanden, nicht abzusehen.

Nach Angaben der UN hatte die Anzahl der Binnenflüchtlinge bis 1999 auf 650.000 zugenommen. Das Baath-Regime setzte über die Jahre seine Vertreibungspolitik aus den Erdölgebieten fort und schob kurdische und turkmenische Familien in den Norden ab. Allein im Januar 1998 wurden 1.468 kurdische Familien aus Kirkuk zwangsausgewiesen. Etwa 70% der BewohnerInnen der Region waren nach Angaben der Regionalregierung auf Hilfe von außen angewiesen, um überleben zu können.

Ebenso hinterließ das zweifache Embargo im Dienstleistungsbereich tiefe Spuren. Eine Telekommunikation war weder in der Region selbst noch mit dem Ausland möglich. Gleichermaßen lag das Bankwesen vollständig danieder. Überweisungen aus dem Ausland konnten nicht getätigt werden. Legal konnten Geldmittel nach Kurdistan-Irak nur eingeführt werden, wenn man den überhöhten Umtauschkurs der irakischen Regierung akzeptierte, ansonsten mussten die Gelder, auch die Hilfsgelder, nach Kurdistan-Irak eingeschmuggelt werden.

Erschwerend kam hinzu, dass der Gütertransport durch die Türkei, dem einzigen offiziellen Zugang, zeitweilig unterbrochen und sehr unzuverlässig war. Die Regierung in Ankara schloss und öffnete den Grenzübergang Harbur/Ibrahim Khalil nach eigenem Gutdünken und hatte somit ein außerordentlich effektives Druckmittel gegen die südkurdische Regionalregierung in der Hand. Die Bedeutung dieses Grenzüberganges wird deutlich, wenn man berücksichtigt, dass dort zeitweilig bis zu 3.000 LKW‘s am Tag abgefertigt wurden. In zahlreichen Fällen haben die türkischen Behörden die Importe von Hilfsgütern durch Hilfsorganisationen behindert.

Obwohl das Hilfskonzept der UN an manchen Stellen durchlöchert wurde, blieb die Reduktion der Hilfspolitik auf eine Nothilfe, die nicht einmal den Anspruch erhob, eine über das unmittelbar Lebensnotwendige hinausgehende Perspektive zu vermitteln, kennzeichnend für die nächsten Jahre. Die Embargopolitik führte dazu, dass über Jahre die humanitären Hilfsmaßnahmen den wesentlichen Wirtschaftsfaktor der Region darstellten. Die Abhängigkeit von den Hilfslieferungen verhinderte nicht nur eine eigenständige ökonomische Entwicklung, sondern untergrub auch das Vertrauen in die eigene Kraft, Selbstinitiative wurde blockiert. Die Hilfsprogramme verstärkten somit ungewollt eine passive Haltung, wie sie der irakische Versorgungsstaat in der Vorkriegszeit implizierte. Weit verbreitet war eine Haltung, die auf eine Problemlösung von außen drängte. Die anscheinend unveränderbaren, äußeren makropolitischen Verhältnisse verstärkten wiederum die Passivität.

Die Hilfspolitik verstärkte die ökonomischen Unterschiede innerhalb der kurdischen Region. Die Provinz Dohuk war fast identisch mit dem durch die Operation »Provide Comfort« geschaffenen und über einige Monate mit Bodentruppen geschützten »safe haven«. Nachdem die alliierten Militärs in großem Umfang Hilfsgüter in den »sicheren Hafen« transportiert hatten, begannen viele Hilfsorganisationen unter deren Schutz in diesem Gebiet mit ihren Aktivitäten. Die gesamten materiellen und logistischen Ressourcen konzentrierten sich im Rahmen der Operation »Provide Comfort« denn auch in diesem Gebiet. Die dadurch geschaffenen Strukturen wirkten über Jahre nach. Für einige Hilfsorganisationen blieb Zakho weiterhin die Basis für ihre Aktionen. Die staatliche US-amerikanische Hilfsagentur OFDA beispielsweise entschloss sich erst 1993/94 dazu, den »safe haven« zu verlassen und auch in anderen Gebieten aktiv zu werden. Die Stadt Sulaimaniya und ein großer Teil der gleichnamigen Provinz sowie der nördliche befreite Teil der Provinz Kirkuk (»New Kirkuk«), die außerhalb der Flugverbotszone lagen, waren im besonderen Maße Bedrohungen durch das irakische Militär ausgesetzt.

Begünstigt durch diese Verwerfungen verschärfte sich der Kampf der beiden großen kurdischen Parteien um die Ressourcen. Umstritten waren insbesondere die Zolleinnahmen aus dem Grenzübergang zur Türkei. Dieser lag im Kernland der KDP, dem Badinan, und wurde von ihr kontrolliert, während die PUK ihr Haupteinflussgebiet im Südosten Irakisch-Kurdistans, dem Soran, hatte. 1994 mündeten diese Auseinandersetzung in einen offenen Bürgerkrieg. In dessen Verlauf eroberte im August 1996 die KDP zusammen mit der irakischen Armee die zuvor von der PUK kontrollierte Hauptstadt Arbil.

»Oil for food« oder »only food for oil«

Die ökonomische Situation im gesamten Irak änderte sich, als 1996 nach mehrjährigen Verhandlungen die UN-Wirtschaftssanktionen teilweise gelockert wurden.

Die irakische Regierung ihrerseits stimmte nach langwierigen Verhandlungen einem Verkauf von Erdöl und Erdölprodukten unter der Aufsicht des UN-Sanktionskomitees zu. Mehrere Jahre hatte sie sich geweigert, die Bedingungen des UN-Sicherheitsrates zu akzeptieren. Damit hatte die irakische Regierung ihrerseits humanitäre Hilfsprogramme für die eigene Bevölkerung blockiert. Sie befürchtete, dass eine solche Zusage die vollständige Aufhebung der Wirtschaftssanktionen verzögern würde und war erst bereit einem Abkommen zuzustimmen, als die Aussichten auf eine rasche Aufhebung schwanden. Der UN-Sicherheitsrat versah den Ölverkauf zusätzlich mit Bedingungen – insbesondere Reparationszahlungen an Kuwait –, die dem irakischen Regime unter Verweis auf die Verletzung seiner Souveränitätsrechte eine Ablehnung zunächst leicht machten.

Mit der Resolution 986 genehmigte der Weltsicherheitsrat am 14. April 1995 dem Irak den Kauf von Lebensmitteln, medizinischen Bedarfsgütern und dringend benötigten zivilen Gütern. Sie gestattete dem Irak, ab November 1996 innerhalb von 180 Tagen Erdöl im Gegenwert von 2 Milliarden US-$ zu verkaufen, was einer Fördermenge von 500.000 Barrel pro Tag entsprach. Im Mai 1996 wurde das Memorandum of Understanding (MOU) zwischen den UN und der irakischen Regierung unterzeichnet. Es legte u.a. die Verkaufsmodalitäten für das irakische Erdöl, das Genehmigungsverfahren für den Import der humanitären Güter sowie die Distributionspläne fest.

Die Einnahmen aus dem Erdölverkauf werden nach den Bestimmungen der Resolution 986 wie folgt aufgeteilt: 53% für Lebensmittel, medizinische Güter sowie humanitäre Lieferungen in den Zentral- und Südirak, 13 % für Lebensmittel, medizinische und humanitäre Lieferungen in die drei kurdischen Provinzen Arbil, Dohuk und Sulaimaniya, 30 % in den UN Compensation Fund (vorwiegend um kuwaitische Ansprüche zu befriedigen ), 2,2% für Verwaltungskosten der UN, 0,8% für Verwaltungskosten der UNSCOM und 1 % für die Führung des Treuhandkontos.

In der Umsetzung des Programmes ergaben sich zahlreiche Schwierigkeiten. Der desolate Zustand der irakischen Ölindustrie mit seinen oftmals veralteten und reparaturbedürftigen Ölförderanlagen erlaubte es auf Dauer nicht, die Mengen Öl zu exportieren, die erforderlich gewesen wären, um die angestrebten Einnahmen für den Kauf humanitärer Güter zu erzielen. Auch das komplexe Genehmigungsverfahren der Handelsverträge und dessen schwerfällige Handhabung durch den Sanktionsausschuss führten zu ausgeprägten zeitlichen Verzögerungen.

In den von der irakischen Regierung kontrollierten Gebieten konnte allenfalls eine Stabilisierung der humanitären Lage erzielt werden. So wurde die Kalorienzahl pro Kopf der Bevölkerung deutlich erhöht. Die Anzahl der Unterernährten nahm nicht weiter zu. Ein Ende der humanitären Katastrophe ist dennoch nicht in Sicht.

Das MOU bestimmte in einem eigenen Anhang das Vorgehen in den drei kurdischen Provinzen Dohuk, Arbil und Sulaimaniya. Nachdem die Integrität und Souveränität des irakischen Staates betont wurden, legten die Beteiligten darin fest, dass das Programm auf der Grundlage der Weltsicherheitsratsresolution 986 in diesen kurdischen Provinzen von den UN in enger Absprache mit der irakischen Zentralregierung durchgeführt werden sollte. Dieser Sonderstatus beschränkte sich auf die drei Provinzen, denen die Zentralregierung 1970 einseitig Autonomierechte zugestanden hatte.

Im dem MOU wurde vereinbart, auf annähernd gleiche Lebensbedingungen im gesamten Irak zu achten. Selbstredend war in der Vereinbarung eine Partizipation kurdischer Stellen in der Entwicklung und Durchführung des Programmes nicht vorgesehen. Die UN verpflichteten sich zur regelmäßigen, zumindest wöchentlichen, Berichterstattung an die irakische Regierung. Die irakische Regierung wies desöfteren darauf hin, dass sie keinerlei Absprachen der kurdischen Behörden mit den UN akzeptieren würde, denen sie nicht zugestimmt hätten. Eine besondere Bedeutung legte das irakische Regime dabei auf jegliche Infrastrukturmaßnahmen. Elementare Belange der Infrastruktur von Irakisch-Kurdistan werden somit weiterhin in Bagdad entschieden.

Die kurdischen Behörden wurden in dem Prozess der Programmerstellung und Umsetzung lediglich informell konsultiert. Die beiden Regierungen in der autonomen Region, die sich als Folge des internen Krieges konstituiert hatten, bildeten eine gemeinsame Kommission, die den UN-Organisationen Vorschläge unterbreitet. Eine Diskussion über die abgelehnten Vorschläge erfolgte seitens der UN nicht. Es wurden zwar zwischen den UN-Organisationen und den kurdischen Behörden Absprachen auf der operativen Ebene getroffen, dennoch vermied die UN ihrerseits alles, was die kurdischen Verwaltungen offiziell aufwerten könnte.

Während das Programm im Zentral- und Südirak durch staatliche irakische Stellen unter Aufsicht der UN umgesetzt wurde, wurde es in Kurdistan-Irak von dem United Nations Inter-Agency-Humanitarian Program durchgeführt. Dadurch wurden die UN-Organisationen zu dem zentralen ökonomischen Faktor in der Region.

Entsprechend dem Bevölkerungsanteil werden die bereitgestellten Mittel nach einem Schlüssel von 57:43 zwischen den von der KDP- bzw. PUK-verwalteten Regionen aufgeteilt. Dabei werden die divergierenden Entwicklungen in den kurdischen Provinzen, die eine Ursache des internen Krieges darstellten, nicht berücksichtigt.

Insbesondere das Los der Großstadtbevölkerung konnte durch diese Programme erheblich erleichtert werden. War der Alltag vieler Familien in den Jahren seit 1991 weit gehend durch den Kampf um Lebensmittel und andere lebensnotwendige Güter bestimmt gewesen, so wurden jetzt ausreichend Grundnahrungsmittel zur Verfügung gestellt. Die Lebensmittelpreise auf den Märkten fielen und der finanzielle Spielraum vieler Familien vergrößerte sich erheblich. Die Versorgung mit Medikamenten und die apparative Ausstattung der Gesundheitseinrichtungen verbesserte sich spürbar.

Auch die katastrophale Lage vieler innerirakischer Flüchtlingsfamilien wurde durch den im Rahmen des »oil for food«-Programms ermöglichten Wohnungsbau verbessert. Ein großer Teil der unter dem Titel »Wiederaufbau« verbuchten Gelder musste für die Unterbringung von Binnenflüchtlingen bzw. Rückkehrenden aus dem Iran genutzt werden. Diese lebten bis dahin unter katastrophalen Bedingungen in Notquartieren.

Neben diesen Binnenflüchtlingen wurden vom WFP Lebensmittelprogramme für andere besonders verletzliche Bevölkerungsgruppen wie schwangere Frauen, stillende Mütter, unterernährte Kinder, Langzeitarbeitslose, Behinderte und Rückkehrende aus dem Iran aufgelegt. Die soziale Absicherung durch die Lebensmittelverteilung scheint auch die Rückkehr bisher Zögernder aus den Umsiedlungslagern in die ehemals zerstörten Gebiete begünstigt zu haben.

Einige Sozialindikatoren verbesserten sich Ende der neunziger Jahre in der kurdischen Region erheblich. 1994-1999 konnte die Kindersterblichkeit unter das Niveau von 1989 gesenkt werden. Sie war damit niedriger als im übrigen Irak. Auch verbesserte sich der Ernährungszustand der Kinder wesentlich. Damit schien die humanitäre Lage Ende der neunziger Jahre in Irakisch-Kurdistan weniger prekär zu sein als im Mittel- oder Südirak. Umstritten ist, welcher Stellenwert den »oil for food«-Programmen, die erst zum Jahresende 1996 einsetzten, bei dieser Entwicklung zukommt.

Da das Programm alle sechs Monate vom UN-Sicherheitsrat verlängert und die Bedingungen mit der irakischen Regierung neu ausgehandelt werden müssen, werden die Planungen durch diese Zeitintervalle limitiert. Entsprechend können auch Gehaltszusagen für im Gesundheitswesen Beschäftigte, LehrerInnen und Angestellte in anderen öffentlichen Einrichtungen, sofern sie überhaupt von den Programmen profitierten, nur zeitlich beschränkt erfolgen. Selbst Aus- und Fortbildungsprogramme sind diesen Phasen von 986 unterworfen.

Hatten sich die Hilfsorganisationen bis 1996 zumindest in Ansätzen über Mindeststandards für den Wiederaufbau zu verständigen, so zwingt die Gestaltung der Programme jetzt zu einem raschen Hochziehen von Gebäuden und Asphaltieren von Straßen. Integrierte Programme mit Starthilfen für landwirtschaftliche Produktion und Weiterverarbeitung oder unterstützende Bildungsmaßnahmen sind unter diesen Bedingungen nur bedingt möglich. Mit diesem Programm sind keine Entwicklungsstrategien verbunden, es dient lediglich dazu, den drängendsten Mangelerscheinungen abzuhelfen.

Weitere Mittel wurden für Wiederaufbaumaßnahmen bereitgestellt, auch konnten vermehrt Infrastrukturvorhaben wie Straßen- und Brückenbau angegangen werden. Diese Baumaßnahmen waren nicht eingebunden in ein mittel- oder längerfristiges Verkehrskonzept, sondern richteten sich nach dem aktuellen Bedarf des laufenden Programms. An eine umfassende Raumplanung war nicht zu denken. Zwar konnten dringend benötigte Ersatzteile für Wasseraufbereitungs- und Kläranlagen besorgt werden. Eine Strukturplanung, die es ermöglicht hätte, das Wasser- und Abwassersystem, das Stromnetz und das Gesundheitswesen wieder umfassend herzustellen, war unter dem Diktat von Sechsmonatsplänen ebenfalls nicht möglich. Die weiterhin geltenden Restriktionen des UN-Wirtschaftsembargos verhinderten zudem eine Instandsetzung der unter Ersatzteilmangel leidenden Industrieanlagen. Ein ständiger Streitpunkt zwischen der kurdischen Seite und den UN-Organisationen stellt zudem die mangelnde Qualität der im Rahmen der Programme gelieferten Produkte dar.

Die Personalpolitik der UN-Organisationen trägt zur Erosion der kurdischen Verwaltungen bei. Die UN-Organisationen bezahlen an lokale MitarbeiterInnen Gehälter, die ein Vielfaches der von den kurdischen Behörden gezahlten betragen. Die am besten qualifizierten Kräfte wandern daher kontinuierlich zu den UN-Organisationen ab, was ein Ausbluten der kurdischen Behörden zur Folge hat. Dabei kommt es nicht selten zu einer Deprofessionalisierung, da auch weniger qualifizierte Arbeiten in UN-Organisationen weit besser bezahlt werden als hochqualifizierte in kurdischen Institutionen. Vorschläge der kurdischen Seite, ein Rotationssystem einzuführen, konnten sich bisher nicht durchsetzen.

Besonders problematisch erwiesen sich die Lebensmittelverteilungen im Rahmen des »oil for food«-Programms für die einheimische Landwirtschaft. Da die Lebensmittel nicht in Kurdistan-Irak selbst aufgekauft werden durften und statt dessen importiert wurden, geriet die lokale Agrarproduktion als Folge des Verfalls der Marktpreise zunehmend unter Druck. Während im Sommer 2000 nach kurdischen Angaben eine Tonne Weizen für 400 US-$ importiert wurde, wurde sie auf dem lokalen Markt für 50 US-$ angeboten. Die Produktion von Weizen und Reis ging entsprechend zurück. Die Existenzgrundlage der kurdischen ErzeugerInnen wurde erneut gefährdet.

Die im Rahmen der Resolution 986 bereitgestellten Gelder helfen, die Infrastruktur in Irakisch-Kurdistan notdürftig zu reparieren. Für Modernisierungen reichen sie nicht aus. Natürlich kann mit diesen Programmen keine beständige ökonomische Entwicklung in Gang gesetzt werden. Somit reproduziert das »oil for food«-Programm die bestehenden Abhängigkeiten auf einem höheren Niveau. Dieser Status ist zudem noch sehr störanfällig und von zahlreichen externen Akteuren, die von kurdischer Seite kaum beeinflusst werden können, abhängig. Die Bevölkerung wird mit dem Nötigsten versorgt, in Passivität gezwungen, politische Ansprüche werden verwehrt. Irakisch-Kurdistan bleibt weiterhin ein Provisorium ohne Aussicht auf eine langfristige Perspektive. An dieser Einschätzung ändern auch die gegenüber dem Mittel- und Südirak besseren Lebensbedingungen nichts.

Durch die beschränkte Wiederaufnahme des Handels erhöhte sich nochmals die Bedeutung des an der türkischen Grenze gelegenen Überganges Ibrahim Khalil/Habur. Habur wurde einer der vier offiziellen, für den Import zugelassenen Grenzübergänge. Auch wurde die Pipeline Kirkuk-Yumutalik, die Öl zum türkischen Verladehafen Ceyhan beförderte, wieder eröffnet. Die Zolleinnahmen kamen ausschließlich der KDP-geführten Regierung zugute. Entsprechend vergrößerte sich die Kluft zwischen dem relativ reichen Norden und dem verarmten Süden. Dies verschärfte erneut die Spannungen zwischen den beiden großen Parteien. Ein Vorschlag der PUK, die Zolleinnahmen dem Budget des Gesamtprogrammes zuzuschreiben und nach dessen Schlüssel zwischen den beiden Regierungen zu verteilen, konnte sich bisher nicht durchsetzen.

Auswirkungen des Embargos und der humanitären Intervention

Bevor wir uns einer Bewertung der humanitären Intervention und ihre Folgen widmen, soll an dieser Stelle abschließend auf die Auswirkungen des UN-Wirtschaftsembargos gegen den Irak eingegangen werden.

Das Sanktionsregime, das ursprünglich errichtet worden war um den Irak zu einem Abzug aus Kuwait zu bewegen, wurde nach dem Golfkrieg zur Erzwingung der in der UN-Resolution 687 genannten Abrüstungsmaßnahmen fortgeführt. Es stellt sich die Frage der Sinnhaftigkeit dieser das Leben von Millionen von Menschen bedrohenden Maßnahme, wenn bereits bei Kriegsausbruch erklärt wurde, sie hätten nicht gereicht um den Krieg zu verhindern. Es wird ein grundlegendes Dilemma dieser Sanktionen deutlich – ihr Ziel wurde nicht eindeutig definiert. Es wurden von anglo-amerikanischer Seite immer neue Bedingungen zu ihrer Erfüllung aufgestellt und Interpretationen der entsprechenden UN-Sicherheitsratsresolutionen nachgereicht.

Die durch die Sanktionen hervorgerufene humanitäre Katastrophe ist mit den Auswirkungen eines Krieges vergleichbar. Elementare Rechte der Bevölkerung auf Leben, Nahrung, Wasser, Unterkunft, Kleidung und Bildung wurden dadurch verletzt. In der Tat übertraf ihre Wirkung die unmittelbaren Folgen des zweiten Golfkrieges bei weitem. Sie trafen besonders verletzliche Bevölkerungsgruppen wie Kinder, schwangere Frauen und alte Menschen. Eine ganze Generation ist bereits ihrer Entwicklungsmöglichkeiten beraubt. Diese Art der Sanktionspolitik kann kaum als humane Alternative zu einem Krieg gelten. Die UN sieht sich mit der Frage konfrontiert, wie diese Politik mit den Normen der UN-Charta, die es nach ihrem eigenen Bekunden auch in dieser Situation einzuhalten gilt, vereinbar ist. Die Grenzen des Vertretbaren wurden dann überschritten, als die Sanktionen dazu betrugen, dass ein erheblicher Teil der Bevölkerung unter das Existenzminimum fiel. Nach zehn Jahren zeigt sich, dass die Hauptleidtragende der Sanktionen die Zivilbevölkerung war, während das Baath-Regime seine unmittelbar nach Kriegsende erheblich geschwächte Position wieder festigen konnte. Dabei ist es natürlich keineswegs verwunderlich, dass das Regime versucht, die verknappten Ressourcen vorrangig für den eigenen Machterhalt zu nutzen und erst in zweiter Linie humanitäre Erwägungen anstellt. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass mit der Aufrechterhaltung der Sanktionen eine zunehmende Schwächung des Regimes eintritt, vielmehr scheint dieses gelernt zu haben, sich mit den neuen ökonomischen Gegebenheiten zu arrangieren.

Die langfristigen ökonomischen und sozialen Folgen, die für den Irak aus dem Krieg und den über einem Jahrzehnt währenden Sanktionen resultieren, lassen sich nicht übersehen. Jede zukünftige Regierung wird konfrontiert sein mit den hoch gesteckten Erwartungen der Bevölkerung, die das Embargo ertragen musste. Neben diesem ökonomischen Sprengsatz wird jede Regierung in der Zukunft mit den sozialen Folgen des Embargos zu kämpfen haben. Die Langzeitwirkung der Auflösung sozialer Strukturen und staatlicher Institutionen wie des Bildungswesens sind noch nicht absehbar. Es ist nicht ersichtlich, wie daraus stabile politische Verhältnisse erwachsen sollen. Der Irak wird auf absehbare Zeit ein Herd der Instabilität bleiben.

Als Alternative zur bisherigen Sanktionspolitik wurden so genannte smarte oder intelligente Sanktionen, die sich gezielt gegen die herrschenden Eliten richten und die Zivilbevölkerung schonen sollen, vorgeschlagen. Diese könnten zum Beispiel Reiseverbote für Regierungspersonal, Stornierung von Ausbildungsprogrammen, Einfrieren der Auslandskonten sowie ein Verbot von Auslandsinvestitionen beinhalten. Abgesehen davon, dass diese Maßnahmen z.T. in den UN-Sanktionen gegenüber dem Irak vorgesehen sind, werden solche nur eine begrenzte Wirkung entfalten können und es erscheint zweifelhaft, ob sie ein Regime wie das irakische wirklich beeindrucken können. Dennoch ist es andererseits erstaunlich, dass die Möglichkeiten gezielt gegen das Regime gerichteter Maßnahmen bis heute noch nicht vollständig genutzt wurde. So wurden z.B. im Unterschied zu Bosnien und Ruanda keine Anklagen vor einem internationalen Gerichtshof wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit erhoben. Ein solcher Prozess wäre schon mit den Giftgaseinsätzen im iranisch-irakischen Krieg und den Anfal-Operationen zu begründen.

Das humanitäre Desaster gebietet eine Abkoppelung der Wirtschaftssanktionen von der Abrüstung. Dabei ist die Frage noch offen, wie solch ein aggressives Regime gegen seinen Willen abgerüstet werden kann.

Sicherlich wird auch zu prüfen sein, wie Staaten und Firmen, die sich aktiv an der Aufrüstung solcher Regime beteiligten, in die Verantwortung genommen werden können. Es scheint in Staaten wie der Bundesrepublik Deutschland wenig Interesse zu bestehen, die Firmen, die dem Irak illegal Rüstungsgüter verschafften, konsequent strafrechtlich zu verfolgen Auch wurden keine Schritte unternommen, die eine intensivere Kontrolle des Exports von Anlagen, die sowohl militärische als auch zivile Güter produzieren können, ermöglichen würde. Obendrein erfolgten bislang trotz der irakischen Erfahrungen keine restriktiveren Rüstungsexportkontrollen.

Wie sind nun der Verlauf und die Folgen der humanitären Intervention zu beurteilen? Dabei erscheint die Bestimmung des zeitlichen Rahmens, der zu betrachten ist, bereits problematisch. Der Beginn kann zwanglos mit dem Anlaufen der Operation »Provide Comfort« festgesetzt werden. Schwieriger erscheint es, das Ende festzulegen. Einige Autoren verweisen darauf, dass der Irak durch seine Unterschrift unter dem MOU im April 1991 quasi die Ziele der Intervention akzeptiert habe und folglich ab diesen Zeitpunkt „nicht mehr von einer Intervention, einem Handeln gegen den Willen des Irak, gesprochen werden“ kann.9 Das hieße, die humanitäre Intervention, die ohne aktives Zutun des Weltsicherheitsrates durchgeführt wurde, wäre nach wenigen Tagen in einem Projekt der humanitären Hilfe unter dem Schirm der Vereinten Nationen aufgegangen. Dem ist entgegenzuhalten, dass zu diesem Zeitpunkt die Alliierten noch in einem beträchtlichen Umfang Bodentruppen im Nordirak stationiert hatten, die vollkommen unabhängig von und häufig entgegengesetzt zu den Vorstellungen der irakischen Regierung handelten und erst einige Monate nach dem Abschluss des MOU abzogen. Darüber hinaus werden von anglo-amerikanischer Seite die Flugverbotszonen, mit der Begründung des notwendigen Schutzes der Zivilbevölkerung, bis zum heutigen Tage aufrechterhalten. Die irakische Regierung ihrerseits hat zu keinem Zeitpunkt die Einschränkung ihrer Souveränitätsrechte im Norden des Landes akzeptiert.

Die Folgen der humanitären Intervention

Bei der Einschätzung der Intervention erweist sich als zweckmäßig, zwischen den unmittelbaren Folgen der Operation »Provide Comfort« und langfristigen Folgen zu unterscheiden.

Die als Folge der Niederschlagung der Aufstände entstandene humanitäre Situation erwies sich als untragbar. Dabei darf nicht übersehen werden, dass die Alliierten Mitverantwortung dafür tragen, dass es zu einer solchen humanitären Katastrophe gekommen ist. Ein Eingreifen von außen erschien den Alliierten geboten, zumal sie unter erheblichem Druck der eigenen Bevölkerung standen. Der mit der Operation »Provide Comfort« eingeschlagene Weg stellte eine Option dar, es war aber nicht die einzig denkbare. Den katastrophalen Zuständen in den Bergen hätte zunächst auch Abhilfe geleistet werden können, indem die türkische Regierung den Flüchtlingen gestattet hätte, die Berge zu verlassen und in den Ebenen Schutz zu suchen.

In ihrer unmittelbaren Ausführung war die Intervention insofern effizient, als sie die rasche Rückkehr eines großen Teils der Flüchtlinge aus der Türkei ermöglichte und ihnen aktuell neben Schutz vor erneuter irakischer Repression auch materielle Versorgung und medizinische Hilfe zukommen ließ. Während sich die humanitäre Situation der Flüchtlinge verbesserte, blieb ihr Status weiterhin ungesichert.

Die Anlage und Durchführung der Operation »Provide Comfort« zeigt, dass nicht die humanitären Erwägungen im Vordergrund standen. Die Menschenrechtsverletzungen des irakischen Regimes an der eigenen Bevölkerung wurden vom Weltsicherheitsrat und den Alliierten erst zur Kenntnis genommen, als es zu einer grenzüberschreitenden Massenflucht in die Nachbarstaaten gekommen war. Von Anbeginn sollte nur einem Teil der Betroffenen direkte Unterstützung gewährt werden. Die Intervention orientierte sich ausschließlich an den Erfordernissen der Türkei, während die Flüchtlingsströme in den Iran schlicht ignoriert wurden, obwohl der Iran die Hauptlast der Flüchtlingsbewegungen zu tragen hatte. Das erklärte Ziel – Schutz der kurdischen Bevölkerung – war mit den Motiven der Interventionskräfte nicht deckungsgleich. Politische Erwägungen dominierten die humanitären Erfordernisse.

Wenden wir uns nun den Langzeitwirkungen der humanitären Intervention zu. Gängig ist sowohl in der Tagespresse als auch in der wissenschaftlichen Literatur die Vorstellung, dass es seit den Tagen von »Provide Comfort« im Nordirak eine Schutzzone für die kurdische Bevölkerung gäbe. Manche Autoren sprechen sogar von einem UN-Protektorat. Die Begrifflichkeit »Protektorat« ist für den Nordirak vollkommen unzutreffend. Die UN erhielt nie ein förmliches Mandat zur Vertretung der Region. Auch faktisch übernahm die UN weder die Außenvertretung der Region noch eine militärische Schutzfunktion. Die UN-Guards erfüllten keineswegs Schutzfunktionen für die Zivilbevölkerung, wie gelegentlich behauptet wird. Obendrein übernahm die UN keinerlei direkte Verantwortung für die Verwaltung und Ökonomie der kurdischen Region, wenn sie auch mittels der durch ihre Unterorganisationen durchgeführten Hilfsprogramme einen erheblichen Einfluss gewann. Eine Protektoratslösung – wie immer sie auch zu beurteilen wäre – hätte der Region einen offiziellen völkerrechtlich verbindlichen Status verliehen, aber genau dies ist nicht erfolgt. Die kurdische Seite hat hilflose Versuche unternommen, die UN über das Einklagen eines Protektoratstatus zur Übernahme einer größeren Verantwortung für Irakisch-Kurdistan zu übernehmen. An den undefinierten Status ändert auch die treuhänderische Verwaltung der Gelder nichts, die der autonomen Region aus den »oil for food«-Verkäufen zugedacht sind. Allenfalls könnte man von einem Teilmandat der UN für humanitäre Fragen sprechen. Dies blockiert allerdings längerfristig die Lösung der anstehenden politischen Frage.

Vollkommen unklar bleibt, wie die angebliche Schutzzone definiert sein soll. Wer hat ihre Grenzen festgelegt? Vor welchen Gefahren genau soll diese Zone schützen? Ist die Schutzzone gleichzusetzen mit der Flugverbotszone? Diese umfasst aber nur etwas mehr als die Hälfte des unter kurdischer Kontrolle stehenden Gebietes. Soll die Schutzzone dann explizit für den anderen Teil nicht bestehen? Oder ist mit der Schutzzone der »safe haven« gemeint, der während der Operation »Provide Comfort« in der Provinz Dohuk angelegt wurde? Dieser »sichere Hafen« war spätestens mit dem Abzug der alliierten Bodentruppen aus Irakisch-Kurdistan im Sommer 1991 hinfällig.

So imaginär wie die Schutzzone ist auch der von ihr ausgehende Schutz für die Bevölkerung. Während eines der zentralen Anliegen der Resolution 688 die ungehinderte Durchführung von Hilfsprogrammen darstellte, blieben gerade deren Behinderungen durch das irakische Regime folgenlos.

Zu keinem Zeitpunkt erfolgte eine Reaktion auf die vielfältigen, offenen und verdeckten Übergriffe der irakischen Armee. Am deutlichsten wurde dies beim Einmarsch der irakischen Armee in Arbil im Herbst 1996. Spätestens nach dem Hissen der irakischen Flagge auf dem kurdischen Parlament wurde das Gerede von einer Schutzzone für die kurdische Bevölkerung ad absurdum geführt. Selbstredend kamen die Alliierten auch ihren Schutzversprechungen gegenüber den Hilfsagenturen nur beschränkt nach. Demgegenüber reagierten Großbritannien und die USA sehr sensibel auf von der irakischen Armee provozierte, scheinbare oder tatsächliche Verletzungen des Luftraumes nördlich des 36. Breitengrades.

Die Schutzlosigkeit der Region offenbarte sich auch in den häufig wiederkehrenden türkischen und iranischen Übergriffen in der Region, die die Zivilbevölkerung vielfältig tangierten. Dabei handelte es sich zumindest seitens der Türkei nicht nur um kurzzeitige militärische Maßnahmen zur Aufstandsbekämpfung mit vorübergehend auch in Irakisch-Kurdistan operierenden militärische Einheiten, sondern um groß angelegte militärische Operationen mit bis zu 50.000 Soldaten, deren Dauer über mehrere Monate projektiert war. Sie wurden in keiner Weise von den Schutzmächten der Flugverbotszone oder den UN geahndet. Im Gegenteil war die Vernichtung der PKK doch offizielles Ziel der anglo-amerikanischen Politik, weshalb das Vorgehen des türkischen Militärs geduldet wurde.

Nachdem die Flüchtlinge die Türkei verlassen hatten, spielten auf der internationalen Bühne die Menschenrechte im Irak keine Rolle mehr. Zwar erstellte der Sonderberichterstatter der UN, Max van de Stoel, alarmierende Berichte, insbesondere auch aus dem Süden Iraks. Ein von ihm vorgeschlagenes Monitoring der menschenrechtlichen Situation im Irak – ähnlich den Waffeninspekteuren – wurde aber nie realisiert. Ansonsten wird, wie in den Jahren vor dem Golfkrieg, die menschenrechtliche Situation im Irak von der internationalen Öffentlichkeit nicht wahrgenommen. Wen interessiert schon die unverändert fortgesetzte Vertreibung der turkmenischen und kurdischen Bevölkerung aus den Erdölfördergebieten. Die Diskussion über die Verletzung der Menschenrechte im Irak zu vernachlässigen, entspricht durchaus dem Kalkül, diese Debatte nicht allzu intensiv zu führen, da sie auch Verbündete der USA wie die Türkei, Saudi-Arabien oder Kuwait tangieren könnte.

Graduell hat sich die Situation für die in der autonomen Region lebenden Menschen trotz aller schweren Rückschläge im Vergleich zum übrigen Irak gebessert, da sie zumindest vorübergehend dem unmittelbaren Zugriff des Baath-Regimes entzogen wurden. Dennoch haben die 1991 abgegebenen Schutzversprechen der Alliierten zu keinem Zeitpunkt ein definiertes Mindestmaß an Sicherheit garantiert. Vielmehr war der labile Schutz den ständig wechselnden politischen Gegebenheiten unterworfen.

Man kann also getrost davon ausgehen, dass humanitäre Erwägungen mit wachsendem zeitlichen Abstand von der Flüchtlingskatastrophe 1991 nur noch eine untergeordnete Rolle für die Motivation der US-Politik spielten. Das Schutzversprechen, das sich in Form der Flugverbotszone manifestierte, diente nur noch zur Begründung der eigenen Politik. Sie diente dazu, das Zentrum Iraks zu kontrollieren, während das Randgebiet Kurdistan eigentlich uninteressant wurde, solange es nicht mit der Politik des für die USA wichtigen Bündnispartners Türkei interferierte. Die Instrumentalisierung kurdischer Schutzinteressen steht in einer Tradition US-amerikanischer Politik, die Anfang der siebziger Jahre vorübergehend den kurdischen Widerstand benutzte, um das Regime im eigenen geopolitischen Interesse zu destabilisieren, und ihn dann baldmöglichst fallenließ. „Das kaum etablierte Novum »humanitäres Interventionsrecht« läuft so Gefahr, zur Legitimation eines unilateralen Interventionismus zu verkommen, der in der Folge der Resolution 688 und unter Berufung auf moralische Werte der Sanktionierung durch den Sicherheitsrat nicht mehr bedarf.“10 Es ist fast müßig zu ergänzen, dass sich die USA gegenüber der UN bzw. der Internationalen Gemeinschaft keineswegs verpflichtet fühlten, in irgendeiner Form Rechenschaft abzulegen.

Nach dieser Betrachtung der äußeren Akteure der »humanitären Intervention« wenden wir uns nun den internen Entwicklungen in Kurdistan-Irak zu. Van Gent urteilte rückblickend: „Im Nordirak sind nicht nur die Kurden gescheitert – gescheitert ist dort auch die Vision eines aus humanitären Gründen errichteten Protektorats, wie es unmittelbar nach der Auflösung der alten Weltordnung den westlichen Regierungen vorschwebte. Um eine humanitäre Katastrophe zu verhindern, hatte die Allianz die Schutzzone für die kurdischen Flüchtlinge errichtet. Die internationale Gemeinschaft versagte aber, weil sie gleich danach nicht mehr wusste, was sie mit ihrem eigenen Werk weiter anfangen sollte. Als es darum gegangen wäre, im Nordirak eine funktionierende Gesellschaft aufzubauen, hat die Welt die Kurden völlig ihrem Schicksal überlassen.“11

Abgesehen davon, dass die humanitäre Katastrophe bereits vor der Errichtung der »Schutzzone« eingetreten war, ist diese Sichtweise noch aus einem anderen Grund problematisch. Sie unterstellt eine humanitäre »Vision«, die die Erfordernisse geschundener Volksgruppen, in diesem Fall der kurdischen, in der Vordergrund aller Überlegungen stellt. Davon kann allerdings 1991 im Irak keine Rede sein. Umgekehrt: Die humanitäre Intervention erfolgte, um das Flüchtlingsproblem der Türkei zu lösen. Zu keinem Zeitpunkt beabsichtigten die Interventen sich ernsthaft mit den Ursachen des kurdisch-irakischen Konfliktes zu beschäftigen. Mit der Beschneidung der irakischen Souveränität wurde eben gerade nicht der Versuch unternommen, die Folgen der willkürlichen kolonialen Grenzziehung für die kurdische Bevölkerung bei der Errichtung des irakischen Staat abzumildern. Entsprechend wurde nicht einmal ansatzweise nach Lösungen für die kulturellen, sozioökonomischen und ethnischen Verwerfungen gesucht.

Selbst in weniger grundsätzlichen Fragen flüchtete man sich stattdessen in einen politische Entscheidungen verdrängenden Humanitarismus. Bozarslan fasste die Entwicklung treffend zusammen: „Die Hilfsoperation hat aber zugleich ein System geschaffen, dem die Humanität als Ersatz für Politik diente und politische Entscheidungen – aber auch wirtschaftliche – auf unbestimmte Zeit vertagt wurden. Die neue Ordnung, die im irakischen Kurdistan geschaffen wurde, bestand in der Verwaltung der Tagesgeschäfte.“12 Nur waren angesichts der Hinterlassenschaften von zwei Jahrzehnten Baath-Diktatur die Probleme in Irakisch-Kurdistan so drängend, dass dieser politische Absentismus verheerend wirkte. Der Westen schien dagegen wenig geneigt zu sein, der humanitären Intervention ein Projekt der politischen Selbstbestimmung folgen zu lassen. Der gewählten Regionalregierung wurde eine internationale Anerkennung – in welcher Form auch immer – verweigert und sie somit delegitimiert. Nicht einmal international verbürgte Garantien für eine zukünftige Autonomie Irakisch-Kurdistans in dem irakischen Staatswesen standen auf der Tagesordnung. Diese Frage sollte offen gelassen werden, diesbezügliche Anstrengungen von kurdischer Seite waren vergebens. Selbst nach dem Desaster des internen Krieges war man seitens der USA lediglich darauf bedacht, einen Waffenstillstand zwischen den Parteien zu vermitteln. Die Erfordernis eines umfassenden Konzeptes der Konfliktlösung, das sich auf die relevanten gesellschaftlichen Kräfte in Irakisch-Kurdistan stützte und Gewalt abbauende sowie präventive Momente beinhaltete und letztlich den Aufbau demokratischer Strukturen ermöglichen sollte, wurde nicht gesehen.

Über Jahre hinaus war Irakisch-Kurdistan abhängig von Hilfsprogrammen, die zwar das Überleben sicherten, eine Entfaltung der in der Region vorhandenen ökonomischen Potenziale allerdings nicht zuließen. Langfristige Aufbauprojekte sind in Nothilfeprogramme nicht zu verwirklichen. Unter diesen Bedingungen der anhaltenden politischen und ökonomischen Instabilität wurden vorwiegend solche Geschäfte getätigt, die kurzfristig Gewinn versprachen. Die negative wirtschaftliche Dynamik verstärkte sich noch dadurch, dass der Produktionsanreiz insbesondere in der Landwirtschaft durch Hyperinflation und/oder Importe zunichte gemacht wurde. Die kurdischen Akteure fanden weder Instrumente um wesentlichen Einfluss auf die monetäre Krise zu nehmen, noch konnten sie den Import den Bedürfnissen der regionalen Ökonomie anpassen.

Die Hilfspolitik trug ungewollt zur Reproduktion überkommener gesellschaftlicher Verhältnisse bei. Davon profitierten neben einer schmalen Schicht von Parteifunktionären korrumpierbare Mittelschichten und Aghas.

Unter den Gegebenheiten der Hilfsprogramme konnte keines der drängenden politischen, sozialen oder ökonomischen Kernprobleme durch die Intervention angegangen, geschweige denn gelöst werden. Die politische Handlungsunfähigkeit wurde begleitet von ökonomischer Destablisierung und sozialer Fragmentierung. Regional verstärkten sich die Gegensätze zwischen Badinan und Soran.

Durch das (doppelte) Embargo wurden diese Prozesse noch in verhängnisvoller Weise verschärft. Die herrschenden politischen Gruppen sahen sich gezwungen, die Organisation der Devisenbeschaffung und benötigter industrieller Produkte an die Parallelwirtschaft zu delegieren. Der schwache, in zahlreichen Bereichen nicht existente Staat überlies die Regulierungsfunktionen der informellen Wirtschaft. In diese sind neben Stammesverbänden, ehemaligen mustashar-Führern und Unternehmern insbesondere auch die Parteiführungen eingebunden. Die Parteien versuchten um ihre Macht abzusichern, Teile der Ökonomie zu kontrollieren oder sich mit Segmenten auch der Parallelwirtschaft zu verbünden. Besonders deutlich wird dies in den städtischen Regionen. Die Kontrolle der Großstädte führte zu einem erheblichen politischen und ökonomischen Machtzuwachs für die kurdischen Parteien, die ihren Handlungsspielraum spürbar vergrößern konnten. Nicht zuletzt waren die Großstädte ein wichtiges Rekrutierungsfeld für die Parteimilizen. Um ihr Funktionieren zu sichern, mussten sich die Parteien der Parallelökonomie bedienen.

Das Entstehen der Parallelwirtschaft, die nicht mehr kontrollier- und steuerbar ist, wurde dadurch begünstigt, dass die kurdische Verwaltung den vormals starken irakischen Staat, der Teile der Erdölrente dirigistisch verteilte, nicht ersetzen konnte. Die fehlende Möglichkeit der kurdischen Regierung zur Wirtschaftsregulation begünstigt zudem, dass auch Ressourcen aus den Hilfsprogrammen in der informellen Ökonomie verschwanden. Das Wirtschaftsembargo tat ein Übriges, um undurchsichtige Parallelökonomien und kriminelle Strukturen zu fördern.

Es verwundert wenig, dass alte, nur mühsam kaschierte Widersprüche zwischen den beiden großen kurdischen Parteien bei dem Kampf um die Ressourcen verschärft auftraten und schließlich in den Bürgerkrieg mündeten. Entsprechend sind auch alle Faktoren, die zu dem Bürgerkrieg führten, virulent und werden augenblicklich durch »oil for food«-Programme übertüncht. Dies festzustellen bedeutet auch darauf zu verweisen, dass die Folgen der Operation »Provide Comfort« nicht allein für die Lage in Irakisch-Kurdistan verantwortlich sind. Eine der wesentlichen Determinanten für das Scheitern der Regionalregierung und der sich einstellenden Agonie in Irakisch-Kurdistan war die innere Verfasstheit der kurdischen Politik. Diese erwies sich als unfähig, arbeitsfähige Strukturen einer »civil society« aufzubauen.

Zur Politik der Hilfsorganisationen

Die Hilfspolitik trug wenig dazu bei, diese Defizite zu überwinden. Im Gegenteil schwächte sie in der Tendenz die demokratisch legitimierten Institutionen, indem diese bei der Implementierung der Hilfsprojekte umgangen wurden. Eine gesellschaftliche Kontrolle der Aktivitäten von Hilfsorganisationen fand nicht statt. Diese in Irakisch-Kurdistan verfolgte Politik der Privatisierung der Hilfe scheint ein internationales Phänomen sowohl der Katastrophenhilfe als auch der langfristigen Entwicklungszusammenarbeit nach Ende des Kalten Krieges zu sein.

Die über ein Jahrzehnt währende Abhängigkeit von externer Hilfe verhinderte neben dem Wirtschaftsembargo die Mobilisierung gesellschaftlicher Ressourcen zur Überwindung der anstehenden Probleme. Stattdessen wurden oftmals externe, von Hilfsagenturen oder UN-Organisationen entwickelte Lösungswege den Betroffenen übergestülpt. Möglichkeiten des Empowerments, also Möglichkeiten zum eigenständigen Handeln, wurden dadurch genommen.

Diese Mängel der Hilfspolitik scheinen nicht zufällig zu sein, sondern Ausdruck zweier unterschiedlicher Akzentverschiebungen, von denen in den letzten 15 Jahren insbesondere die NGOs betroffen sind. Zum einen zeichnet sich eine Entwicklung ab, die wegführt von der langfristigen Entwicklungszusammenarbeit hin zur Stärkung der Not- und Katastrophenhilfe und zum anderen von der humanitären Hilfe zur humanitären Intervention. Im Hinblick auf die humanitäre Intervention ergeben sich dabei für NGOs seit der Operation »Provide Comfort« interessante Perspektiven. Die US-Army konnte eindrucksvoll logistische, kommunikations- und transporttechnische Leistungen darstellen, die die Möglichkeiten von UN und Hilfsorganisationen bei weitem übertrafen. Daran wird die grundsätzliche Problematik deutlich, dass die Entscheidung über humanitäre Interventionen in vielen Fällen Großmächten vorbehalten sein wird, da nur sie über die entsprechende militärische Ausrüstung verfügen. Allerdings erwies sich »Provide Comfort« auch als teuerste humanitäre Operation der US-Armee seit dem zweiten Weltkrieg. Dies führte den Militärs vor Augen, dass sie sich besser auf ihre »Kernkompetenz« militärischer Sicherheit konzentrieren und dabei die humanitäre Hilfe den Hilfsorganisationen überlassen sollten. NGOs müssen sich fragen lassen, inwieweit sie sich in entsprechende militärische Planungen einbinden lassen. Dabei wird es für die NGOs wenig Gestaltungsmöglichkeiten geben.

Die, der zunehmenden Dominanz der Nothilfe geschuldete, Politik des schnell umgesetzten Geldes und der kurzfristigen Projekte – und dafür ist Irakisch-Kurdistan ein markantes Beispiel – verstellt den Blick auf soziale Verhältnisse und Konflikte.

Zu hinterfragen bleibt der zunehmende Feuerwehrcharakter der NGO-Arbeit. Dem ist ein Konzept entgegenzusetzen, das wieder verstärkt auf Beseitigung von Armut und sozialer Ungerechtigkeit als Ursache von Gewalt fokussiert.

Es drängt sich weiterhin die Frage auf, ob die drei geschilderten Trends Militarisierung der humanitären Arena, Privatisierung der Hilfe und Verschiebung der Ressourcen zugunsten der Katastrophenhilfe zufällig stattfinden oder ob in Zeiten des Neoliberalismus die Notwendigkeit vermehrter Interventionen besteht, da die Länder am unteren Ende der Pyramide nirgendwo hingehen können, um sich Überschüsse anzueignen oder um die mit dem Marktwachstum einhergehenden Dysfunktionen zu exportieren.

Zusammenfassend bleibt festzustellen, die humanitäre Intervention, die einen schwer wiegenden Eingriff in die Souveränität des Iraks bedeutete, konnte einer akuten Notsituation, an deren Aufkommen die Interventen selbst beteiligt waren, abhelfen. Das Instrument der humanitären Intervention wurde aus reinen tagespolitischen Opportunitätsgründen eingesetzt. Wie der weitere Verlauf zeigte, diente sie nicht dazu, den universellen Anspruch der Menschenrechte in Irakisch-Kurdistan durchzusetzen. Im Rückblick nach 10 Jahren erweist sie sich als vollkommen untauglich, die sozialen Ursachen des Konfliktes zu lösen, und generierte geradezu als Politikersatz. Sie war nicht in der Lage, lokale und regionale Kräfte zu stärken, um die anstehenden Konfliktfelder zu bearbeiten. Zehn Jahre nach Operation »Provide Comfort« ist für die Bevölkerung Irakisch-Kurdistans keine Zukunftsperspektive erkennbar.

Es stellt sich die Frage, welche neuen Formen die internationale Gemeinschaft finden kann, um auf die Verletzung fundamentaler Menschen- und Minderheitenrechte oder eine entsprechende Androhung zu reagieren. Anzustreben wäre primär ein System von präventiven, gewaltlosen Maßnahmen, das möglichst mit der Zustimmung aller Beteiligten wirkt. Ähnlich wie im Bereich der humanitären Hilfe die Stellung des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes international kodifiziert ist, wären entsprechende präventiv wirkende neutrale Institutionen völkerrechtlich abzusichern. Falls es im Einzelfall nicht möglich sein sollte, grobe Völkerrechtsverletzungen zu verhindern, wären als ultima ratio militärische Interventionen in die internen Angelegenheiten eines Staates zu rechtfertigen, wenn sie klar umrissenen Regeln und Maßstäben unterworfen wären. Diese Regeln müssten universell sein, sie dürften sich nicht entlang von Machtverhältnissen konstituieren und müssten international von einem neutralen Gremium legitimiert sein. Momentan ist auf der internationalen Bühne keine Kraft zu erkennen, die dies durchsetzen könnte. In der Anlage und Durchführung verweist die Operation »Provide Comfort« in eine entgegengesetzte Richtung.

Anmerkungen

1) Mit »zweiten Golfkrieg bezeichnen wir – wie allgemein üblich – den Krieg, der vom 17.01.1991 bis zum 28.02.1991 zwischen einer militärischen Allianz unter Führung der USA und dem Irak ausgetragen wurde. Der »erste Golfkrieg« ist der iranisch-irakische Krieg von September 1980 bis zum 20.08.1988.

2) Die Anführungszeichen in der Überschrift zu »humanitäre Intervention« sollen die Problematik dieses allseits verwendeten Begriffs verdeutlichen. Im Text selbst wird der Begriff aber ohne Anführungszeichen verwandt.

3) Bley, Helmut: Was ist alt, was neu am Interventionsproblem? in: Peripherie Nr. 55/56, 1994, S. 12

4) Interview mit BBC Radio 4 am 19.08.1991, zit. nach Ramsbotham, Oliver und Woodhouse Tom: Humanitarian Intervention in Contemporary Conflict, Cambridge 1996, S.78

5) UNICEF Pressemitteilung Köln 12.08.1999 S.1

6) FR 23.12.1998

7) Ibrahim, Ferhard: Der Irak vor der regionalen Reintegration? Hoffnungen auf das Ende der Sanktionen, in: Betz, Joachim/Brüne, Stefan/Deutsches Übersee Institut (Hg.): Jahrbuch 3. Welt 1999, München 1998, S. 141

8) Vgl. Statistisches Bundesamt: Länderbericht Golfstaaten 1991, Wiesbaden1991, S. 47 ff., landwirtschaftliche Produktionsziffern 1975- 1985; vgl. Metz, Helen Chapin(Ed..): Iraq: A Country Study, Library of Congress, Washington D.C. 1990

9) Pape, Matthias: Humanitäre Intervention – Zur Bedeutung der Menschenrechte in den Vereinten Nationen, Baden-Baden 1997, S. 177

10) Ruf, Werner: Die neue Welt-UN-Ordnung – Vom Umgang des Sicherheitsrates mit der Souveränität der »Dritten Welt«, Münster 1994, S. 119

11) van Gent, Werner: Der Geruch des Grauens, Zürich 2000, S. 178.

12) Bozarslan, Hamit: Von der Humanität zum Bürgerkrieg; in: der überblick 3/97, S. 42

Wer wir sind

»Haukari e.V.« wurde Anfang der neunziger Jahre mit dem Ziel gegründet, unabhängig von tagespolitischer Aktualität eine kontinuierliche Öffentlichkeitsarbeit zur Situation in Irakisch-Kurdistan zu leisten, die Bemühungen von KurdInnen, nach jahrzehntelanger Diktatur demokratische Strukturen aufzubauen, solidarisch zu begleiten und gleichzeitig vor Ort soziale Initiativen und Projekte zu unterstützen.

In Kurdistan-Irak selbst unterstützt »Haukari e.V.« soziale Projekte, insbesondere im Bereich präventiver Gesundheitsförderung und Frauenförderung. So wurde 1996 das Frauenzentrum KHANZAD in Sulaimaniya eröffnet, das seitdem kontinuierlich unterstützt wird.

In der Öffentlichkeitsarbeit setzt »Haukari e.V.« sich für eine politische Lösung in Kurdistan-Irak ein. Weitere Schwerpunkte sind die Thematisierung der Anfal-Kampagnen der irakischen Regierung gegen die kurdische Bevölkerung 1988 und die heutige Situation der Überlebenden.

Zum Thema Flucht und Fluchthintergründe von KurdInnen hat »Haukari e.V.« Ende 1997 eine Fotoausstellung erstellt, die in mehreren Städten in der BRD gezeigt wurde und auch weiterhin ausgeliehen werden kann.

Kontakt: Haukari e.V., Falkstrasse 34, 60487 Frankfurt, Tel. 069 – 7076 0278, Email: HaukariFfm@aol.com Internet: www.Haukari.de

Dr. Bernhard Winter und Susanne Bötte, HAUKARI e.V., Frankfurt/M.
Der vorliegende Artikel ist eine gekürzte Fassung der Veröffentlichung: Kurdistan-Irak: Untergehen im sicheren Hafen – Studie über eine »humanitäre Intervention«, die im Herbst 2001 im VAS Verlag, Frankfurt erscheint.

Irak: »nation building« mit offenem Ende

Irak: »nation building« mit offenem Ende

von Felix Heiduk

Das Nachkriegsszenario im Irak ist ein weiteres Beispiel dafür, dass es einfacher sein kann, einen Krieg zu gewinnen und ein Land militärisch zu besetzen, als die vielfältigen Aufgaben zu bewältigen, die zur Errichtung einer stabilen, friedlichen Nachkriegsordnung beitragen. Der Irak ist dabei nur ein Beispiel für eine umfassende Veränderung im internationalen System seit 1989. Seit dem Ende des »Kalten Krieges« wurde – neben dem aktuellsten Beispiel Irak – auch in anderen Regionen der Welt in Kriegs- und (vermeintliche) Krisengebiete interveniert. Bei erfolgreicher Intervention wurden in allen diesen Krisengebieten (Bosnien-Herzegowina, Kosovo, Ost-Timor, Afghanistan etc.) Protektorate errichtet – allesamt regional verschiedentl ausgeprägt, verankert und konzipiert. Die primären Aufgaben der Interventionsmächte hierbei gleichen sich: Sicherheit und Ordnung, Repatriierung der Flüchtlinge, Wiederaufbau, Demilitarisierung, Errichtung demokratischer Institutionen und Regierungsbildung. Die Erfolgsbilanz dieses »state- bzw. nation-building«, mit zentraler Rolle der UN oder nicht, sieht alles in allem düster aus: Mit Ausnahme des Zwergstaates Ost-Timor, welcher 2002 nach zweijähriger UN-Übergangsverwaltung in die Unabhängigkeit entlassen wurde und sich als souveräner Staat zumindest auf politischer Ebene behaupten konnte, bieten die anderen Protektoratsmodelle Bilder von Instabilität, Dysfunktionalität und vollständiger politischer und ökonomischer Abhängigkeit von der jeweiligen Protektoratsmacht.

Aufgrund spezifischer historischer Erfahrungen mit vermeintlich »wohlwollenden« Protektoratsmächten ist gerade der Mittlere und Nahe Osten eine für militärische Interventionen sensible Region. Dass im Irak die »wohlwollenden« Schutzmächte bzw. »Befreier« vom Großteil der Bevölkerung nicht als solche wahrgenommen werden, belegt derzeit der tägliche Blick in die Zeitungen. Im Irak sind seit dem erklärten Ende des Krieges mehr Soldaten durch Anschläge umgekommen, als während des Krieges gegen die irakische Armee. Um die offensichtlichen Widersprüchlichkeiten zwischen der Selbstdarstellung der Besatzungsmächte USA und Großbritannien im Irak, und der Ablehnung der »Befreier« durch große Teile der Bevölkerung erklären zu können, erscheint es notwendig zuerst den Kontext des von den USA initiierten Krieges und nachfolgenden Regimewechsel darzustellen, um anschließend auf die Spezifika der Nachkriegsordnung genauer einzugehen.

Vom Stabilitätsgaranten zum Schurkenstaat

Der Irak war die säkulare Entwicklungsdiktatur unter Saddam Hussein in den 70er und 80er Jahren; ein treuer Verbündeter der USA, der aufgrund seiner strategischen Rolle als Stabilitätsgarant der Golfregion massiv aufgerüstet und in seiner industriellen Entwicklung unterstützt wurde. Hinzu kamen die drittgrößten Erölvorkommen der Welt, die zur umfassenden wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung des Landes genutzt wurden. Der Lebensstandard im Irak war bis Mitte der achtziger Jahre höher als in einigen europäischen Ländern (z.B. in Portugal). Die gesamte politische und ökonomische Sphäre des Irak war auf die Herrscher-Clique Saddam Husseins und der Baath-Partei hin zentralisiert. Das gesamte politische System des Landes wurde aus der Hauptstadt Bagdad gelenkt. In der Folge des ersten Golfkrieges gegen den Iran und des Überfalls auf Kuwait, der in einem Angriff der USA mit UN-Mandat gegen den Irak mündete, büßte das Land jedoch einen Großteil seiner wirtschaftlichen Prosperität ein. Eine Situation, die durch die UN-Sanktionen weiter verschlimmert wurde. Als 2003 auch im Irak im Zuge des »Krieges gegen den Terrorismus« mit militärischen Mitteln entgegen den Bestimmungen des Völkerrechtes ein Regimewechsel von den USA und ihren Verbündeten erzwungen wurde, wurde entgegen den Forderungen der internationalen Staatengemeinschaft die Konzeption und Ausgestaltung der politischen und ökonomischen Nachkriegsordnung im Irak nicht von der UN, sondern von den Besatzungsmächten vorgenommen. Erscheint der Ausschluss von großen Teilen der Bevölkerung bei der Betrachtung des autoritären Herrschaftsregimes der Baath-Partei als gewissermaßen systemimmanent, so hat sich der Zustand der politischen Entmündigung auch in der post-Saddam-Ära weitestgehend unverändert gezeigt.

Die Nachkriegsordnung des Irak: Mutter aller Gelegenheiten

Auch wenn bislang erst die etwaigen Konturen des neu entstehenden irakischen Staates zu erkennen sind, lassen sich doch bereits einige Kernelemente des »state building« aufzeigen, welche für den Gegenstand dieses Artikels von Bedeutung sind. Der Krieg gegen den Irak wurde ähnlich wie der Krieg gegen Afghanistan geplant und ausgeführt: Massive Bombardements aus der Luft sollten wie schon im Kosovo und Afghanistan den Gegner militärisch in die Knie zwingen und der politischen Elite um Saddam Hussein die militärische Überlegenheit der USA vor Augen führen. Anders als in Afghanistan wurden die Bombardements aus der Luft jedoch mit einer umfassenden Landoffensive begleitet und das gesamte irakische Territorium inklusive der kurdischen Autonomiegebiete von US-Truppen besetzt. Nach Ende des Krieges setzte das militärische Oberkommando sofort einen zivilen Verwalter für den Irak ein, der sowohl mit Aufgaben hinsichtlich des Wiederaufbaus des Landes, als auch mit der Frage nach der künftigen politischen Nachkriegsordnung betraut wurde. Parallel hierzu brachten die Besatzungsmächte einen Resolutionsentwurf in den UN-Sicherheitsrat ein, welcher wenige Wochen nach den großen internationalen Protesten gegen den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg der USA und ihrer Verbündeten zumindest die Besetzung des Iraks vollständig legitimierte. Festzuhalten ist in diesem Zusammenhang, dass im Nachhinein nur die Besetzung Iraks, nicht aber der Krieg gegen den Irak von der UN als legitim anerkannt wurde. Der Frage, ob dieses Vorgehen der UN nicht realiter eine nachträgliche Legitimierung des Krieges bedeutet, kann in diesem Zusammenhang nicht nachgegangen werden.1 Fakt ist: in der UN-Sicherheitsratsresolution 1483 wurde die Besetzung des Iraks völkerrechtlich legitimiert und die von den USA bereits vor der Resolution eingesetzte zivile Verwaltung als derzeit einzig legitime Autorität im Irak von der UN anerkannt. Dieser Prozess einer de-facto Legitimation des US-Präventivkrieges wurde mit der am 16. Oktober 2003 vom UN-Sicherheitsrat einstimmig verabschiedeten Resolution 1511 fortgeführt. Resolution 1511 fordert die UN-Mitgliedsstaaten dazu auf, zur Entlastung der Besatzungsmächte Soldaten in den Irak zu schicken und sich finanziell am Wiederaufbau zu beteiligen. Die eigentlich von den ehemaligen Kriegsgegnern gestellten Mindestanforderungen, ein verbindlicher Zeitplan für die Übergabe der Macht an die Irakis sowie die Ausarbeitung einer Verfassung und die Durchführung von Wahlen, fanden keine Erwähnung. Ebensowenig bekommt die UN eine zentrale Rolle im Irak zugewiesen.

Die Kompetenzen der zivilen Verwaltung, welche in der deutschen Übersetzung der UN-Resolution 1483 als »Behörde« bezeichnet wird, umfasst – neben den angeführten Aufgaben des Wiederaufbaus und der Bildung einer Übergangsregierung und -verwaltung – die Suche nach Massenvernichtungswaffen sowie die Förderung und den Verkauf des irakischen Öls. Bis zur Einsetzung einer international anerkannten irakischen Regierung verbleibt somit die Regierungsgewalt im Land in den Händen der Behörde, bzw. ihres Leiters Paul Bremer, oftmals als »ruler of Iraq« bezeichnet.2 Für Sicherheit und die Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung sorgt derweil das militärische Oberkommando der Besatzer, welches ebenso für die Demilitarisierung des Iraks wie auch, in Kooperation mit der UN, für die humanitäre Hilfe zu sorgen hat. Neben der Kooperation mit dem Militär zwecks humanitärer Hilfe, ist die UN im Irak lediglich für die Repatriierung der Flüchtlinge und den Menschenrechtsschutz zuständig. Die Aufgabenbereiche in der Nachkriegsordnung des Irak sind somit nicht wie in Afghanistan multilateral aufgeteilt, sondern verbleiben, ohne zeitliche Befristung, in den Händen der »Behörde«. Der von der UN-Vollversammlung geforderte Sonderbeauftragte der UN für den Irak, welcher ähnlich wie in Afghanistan den Wiederaufbau wie die politische Zukunft des Landes hätte gestalten sollen, hat im Irak keinerlei autonome Entscheidungsgewalt. Er besitzt lediglich eine beratende Funktion und kooperiert in allen Belangen mit der »Behörde«.

Im Juli 2003 wurde nach langen Verhandlungen zwischen den politischen Interessengruppen im Irak, der UN und der »Behörde« ein irakischer Regierungsrat vom Leiter der »Behörde«, Paul Bremer, einberufen. Diesem Regierungsrat gehören neben Vertretern der Exilopposition ebenso Vertreter nahezu aller inländischen politischen und religiösen Gruppierungen an. Wie auf dem Petersberg und im Rahmen der Loya Djirga wurde auch bei der Einberufung des irakischen Regierungsrates darauf geachtet, das das Gremium die ethnische, religiöse und politische Vielfalt des Landes repräsentiert. Der Einberufung des Gremiums waren lange Verhandlungen mit Paul Bremer vorausgegangen, da dieser dem Gremium zuerst nur eine beratende Funktion mit eingeschränkten Kompetenzen zukommen lassen wollte. Durch Vermittlung des UN-Sonderbeauftragten des Irak wurden dem Anfang Juli gegründeten Regierungsrat doch noch einige Kompetenzen eingeräumt. Diese umfassen neben der Ernennung und Abberufung von Ministern die Beteiligung an der Auslegung des Haushalts und die Überarbeitung geltender Gesetze. Bei allen Entscheidungen des Regierungsrates besitzt die »Behörde« jedoch ein Vetorecht, d.h. das irakische Gremium ist in seiner Arbeit politisch eng an die Interessen der »Behörde« gebunden.3

Ob dem Regierungsrat etwaige Kompetenzen bezüglich ökonomischer Fragen zugestanden werden, ist demgegenüber gänzlich zweifelhaft. Alle irakischen Regierungsbeamten sind bislang von der »Behörde« eingesetzt worden und ein Großteil der Aufträge für den Wiederaufbau der Infrastruktur wurden direkt nach Kriegsende entgegen den völkerrechtlichen Bestimmungen von der »Behörde« an der Bush-Regierung nahestehende Großkonzerne abgegeben. Die vollständige Privatisierung der irakischen Wirtschaft und die vollständige Abhängigkeit von ausländischem Kapital, die insbesondere den produktivsten Wirtschaftszweig des Landes, die Ölförderung, betreffen, sind bereits beschlossene Sache. Die Einnahmen aus den Ölverkäufen werden in einem speziellen Fonds für Wiederaufbau angelegt – über die Verteilung dieser Gelder bestimmt allein die »Behörde«.

Der Irak bietet insofern die »mother of all opportunities« – es kann buchstäblich bei null angefangen werden. Keine nationalen Autoritäten sind in der Lage auf die Planungen und die »need assesments« (Bedürfnisabklärungen) der Masse „wohlmeinender Experten, mürrischer Administratoren, windiger Geschäftemacher und engagierter Mitarbeiter von Nichtregierungsorganisationen (NGO)“4 Einfluss zu nehmen. Ebenso wie in Afghanistan soll von den Lehrplänen bis zu den Feiertagen alles anders werden, nur mit dem bedeutenden Unterschied, dass der Irak aufgrund seines Ölreichtums selbst in kurzfristiger Perspektive kein peripheres Drittwelt-Land ist. Nach ersten Schätzungen belaufen sich die Kosten für den Wiederaufbau des Irak auf gut 100 Milliarden US-Dollar, welche mit irakischem Erdöl bezahlt werden sollen. Irakische Lösungen für irakische Probleme sind hierbei wenig gefragt: In den Dossiers der amerikanischen think-tanks zur Zukunft des Iraks ist wenig über die Einbindung lokaler Intellektueller oder Experten zu lesen, die mit etwaigen Fragen des Wiederaufbaus betraut werden könnten.5

Auch die Nichtbeachtung inländischer Potentiale beim Wiederaufbau führt zu einer Entmündigung großer Teile der Bevölkerung, die nicht einmal vorhandene Expertisen bei spezifischen Fragestellungen hinsichtlich des Wiederaufbaus einbringen können.6 Wurde in Afghanistan noch von Seiten der »Internationalen Gemeinschaft« versucht, die Nachkriegsordnung über das scheindemokratische Element einer Loya Djirga im Land zu legitimieren – ebenso wie die mit viel externer Furore eingesetzte Übergangsregierung, so scheint dieser Versuch im Irak gar nicht erst unternommen zu werden. Größtmögliche politische und ökonomische Kompetenzen verbleiben auch Monate nach Kriegsende in den Händen der Besatzer. Die Abhaltung von freien Wahlen und der Amtsantritt einer souveränen, demokratischen irakischen Regierung sind nicht nur aufgrund der anhaltenden instabilen Sicherheitslage im Land in weite Ferne gerückt.

Autoritarismus contra demokratische Transition

Festhalten lässt sich an dieser Stelle, dass im Irak große Teile der Bevölkerung von der Mitbestimmung in Politik und Ökonomie weitestgehend ausgeschlossen sind. Wie bereits angeführt wurden diese Ausschlussverfahren verschiedentlich institutionalisiert und durchgesetzt. Tragende Elemente nationalstaatlicher Souveränität werden von den Protektoratsmächten ausgeübt. Fraglich ist hierbei, ob der Irak mittelfristig überhaupt die volle Souveränität erlangen wird, oder aber das Protektoratsmodell im Irak ähnlich wie in Bosnien-Herzegowina und dem Kosovo zum Selbstläufer verkommen wird. Spezifisch für die Protektoratsbildung in all diesen Ländern ist jedenfalls, dass der Autoritarismus der Protektoratsmächte als Moderne präsentiert wird, welche die jeweiligen tradierten gesellschaftlichen Verhältnisse als archaisch bzw. überkommen verwirft. Dies droht v.a. im Irak innerhalb der Bevölkerung reaktionäre Kräfte zu stärken, die sich als anti-westlich bezeichnen. Diese widersetzen sich in zunehmendem Maße dem politischen und ökonomischen Souveränitätsverlust, der via Protektorat institutionalisiert worden ist. Vor allem die alten, von der Entmachtung bedrohten Eliten bilden den militärischen Arm dieses heterogenen Widerstandes, dem sich offensichtlich auch islamistische Kräfte angeschlossen haben. Aber auch in großen Teilen der Bevölkerung ist die Ablehnung groß: Die Hoffnungen auf ein Mehr an Mitbestimmung und Wohlstand wurden bereits kurz nach Kriegsende enttäuscht. Auch die sozioökonomische Krise, die zwar bereits vor Kriegsbeginn existierte, aber durch die umfangreichen Zerstörungen sich seit Kriegsende intensiviert hat, wirkt sich katalysierend auf »anti-westliche« Ressentiments aus. Demokratische Kräfte wurden so geschwächt, anti-demokratische, reaktionäre Kräfte gestärkt. Die große Breite der Gesellschaft ist wahlweise ohnmächtiger Betrachter des Geschehens, oder radikalisiert sich entlang »ethnischer« oder »religiöser« Merkmale.

Nur über die Radikalisierung ist es den politischen Gruppierungen überhaupt möglich über ein eigenes Profil zu verfügen, da sie von der Politik weitestgehend ausgeschlossen sind. Die Folge dessen ist die wahlweise Überhöhung nationalistischer, ethnischer oder religiöser Momente innerhalb der jeweiligen politischen Gruppierungen, welche zudem von den Protektoratsmächten durch eine Zusammensetzung des irakischen Regierungsrates nach ethnischem bzw. religiösem Proporz aufgegriffen wurde. Dahinter steht die durch die Erfahrungen aus Bosnien und dem Kosovo eigentlich längst diskreditierte Annahme,7 dass eine stabile Nachkriegsordnung nur durch die proportionale Einbindung aller ethnischen und religiösen Gruppen erreicht werden kann. Gerade diese »Ethnisierung der Politik« erwies sich bisher jedoch als folgenschwerer Fehler, da sie erfahrungsgemäß die Entstehung eines allgemeinen Staatsbürgerbewusstseins dauerhaft verhindert,8 was eine Verfolgung politischer Interessen über ethnische oder religiöse Grenzen hinweg erschwert. Es besteht daher die Gefahr, dass es auch beim Aufbau eines demokratischen Mehrparteiensystems mittelfristig ähnlich wie beispielsweise im Kosovo zu einer Verformung der Parteien in klientelistische Netzwerke entlang ethnischer oder religiöser Zugehörigkeit und Partikularinteressen kommen wird. Hierbei besteht ein enger Zusammenhang zwischen dieser Entwicklung und dem Protektoratsstatus: Die jeweiligen sich vor allem ethnisch oder religiös definierenden Gruppierungen brauchen keinerlei politische Plattform auszuarbeiten, da wichtige politische Entscheidungen extern von den Protektoratsmächten getroffen werden. Eine Abgrenzung der verschiedenen Gruppierungen verläuft daher nicht über verschiedene politische Programme auf einer inhaltlichen Ebene, sondern vielmehr versuchen sich die Gruppierungen über ein größtmögliches Maß an Demagogie und Radikalität zu definieren, da sie auf der politischen Entscheidungsebene kaum Mitspracherechte besitzen.

Der umfassende Ausschluss der Bevölkerung droht daher in einem Teufelskreis von umfassender gesellschaftlicher Instabilität zu münden. Andererseits wird der fortwährende politische Ausschluss der Bevölkerung von den Protektoratsmächten oftmals mit der instabilen Sicherheitslage im Land begründet, was die Widersprüchlichkeit der aktuellen Situation verdeutlicht. Aufgrund der zunehmenden Instabilität ist zudem die Bush-Regierung von ihrem ursprünglichen Plan den Irak zu einem Musterstaat für die gesamte Region zu machen, in Teilen abgerückt. Ziel der im Februar 2003 veröffentlichten ehrgeizigen Pläne war die Schaffung eines dezentralisierten, demokratischen Iraks, der Ausgangspunkt für eine Transformation der gesamten Region entsprechend den Interessen der USA sein sollte. Ausgangspunkt dieser ehrgeizigen Pläne war die Vorstellung, dass die USA qua militärischer Überlegenheit nicht nur Saddam Hussein absetzen, sondern zudem den Charakter des irakischen Staates binnen Jahresfrist umfassend verändern könnten. „At a sweep of the U.S. pen, Iraq would turn from centralized, hierarchical country into a model of participatory democracy.“9

Die mittlerweile mit der irakischen Realität abgeglichenen Pläne der Bush-Regierung sehen eine sehr viel kürzere und weniger umfassende Besetzung des Iraks vor, die primär den ökonomischen Sektor im Sinne der Interessen der Besatzer gestaltet10 – aber keinerlei fest gefügte Vorstellungen über die spezifische politische Nachkriegsordnung mehr vorgibt.11 Unter Berücksichtigung dessen werden zwei wichtige Punkte immer deutlicher: Zum einen sind die Pläne für eine politische Rekonstruktion des irakischen Staates entlang der Schlagwörter »Demokratie« und »Dezentralisierung« von der Bush-Regierung ad acta gelegt worden. Über die zukünftige Verfasstheit des Iraks lassen sich daher keine verlässlichen Angaben machen. Sicher scheint indes nur, dass die zukünftige irakische Regierung, sei sie demokratisch oder autoritär, nicht entgegen den US-Interessen handeln wird. Zum anderen ist offensichtlich, dass der Eckpfeiler eines demokratischen Iraks, die Stärkung zivilgesellschaftlicher, demokratischer Kräfte, bislang keinerlei Priorität in der Politik der Besatzer besitzt. Welchen Einfluss diese Punkte auf die zukünftigen Entwicklungen im Irak haben werden, bleibt abzuwarten. Ob die bislang von den Vereinigten Staaten vernachlässigten politischen Aufgaben jedoch aufgrund anderweitiger strategischer Interessen der Besatzungsmächte, allen voran der USA, in Zukunft angegangen werden, erscheint vor dem Hintergrund der »neuen Weltordnung« fraglich. Oder um es in den Worten Tariq Alis auszudrücken: „Economics, after all, is only a concentrated form of politics, and war a continuation of both by other means.“12

Anmerkungen

1) Vergl. hierzu Andreas Zumach: UNO verliert an Glaubwürdigkeit, in: TAZ, 23.05.2003, ebenso Stefan Ulrich: Der bedrohte Club der Völker, in: Süddeutsche Zeitung, 31.05.2003.

2) The Economist, 05.07.2003, S. 40.

3) FAZ, 14.07.2003; ebenso TAZ, 15.07.2003.

4) NZZ, 04.05.2003.

5) Vergleiche CSIS (Center for Strategic and International Studies: A wiser peace, an action strategy for a post-conflict Iraq, Washington D.C., 2003 (im Internet unter www.csis.org abrufbar); ebenso Carnegie Endowment für International Peace: From Victory to Success – Afterwar policy in Iraq, in: Foreign Policy, No. 4/2003, S. 49-71.

6) Vergleiche Josh Martin: Rebuilding Iraq – What role will Arabs play?, in: The Middle East, No. 6/2003, S. 6-10.

7) Hinsichtlich Kosovo und Bosnien-Herzegowina vergleiche Jean-Arnault Derens: Die kleinen Völker junger Nationen, in: Le monde Diplomatique, No. 7/2003, S. 10-12.

8) Conrad Schetter: Afghanistan in der ethnischen Sackgasse, in: Südasien, No. 4/2001, S. 7-10.

9) Carnegie Endowment für International Peace: From Victory to Success, a.a.O., S. 55.

10) Vergleiche Independent, 07.10.2003; ebenso International Socialist Review, 14.07.2003.

11) Carnegie Endowment für International Peace: From Victory to Success, a.a.O., S. 55 ff.

12) Tariq Ali: Re-Colonizing Iraq, in: New Left Review, No. 3/ 2003, S.18.

Felix Heiduk ist Diplom Politologe in Berlin. Er arbeitet derzeit an seiner Dissertation (felix.heiduk@swp-berlin.org)

Je größer die Lüge, desto geringer der Protest?

Je größer die Lüge, desto geringer der Protest?

von Peter Strutynski

In demokratischen Gesellschaften westlichen Zuschnitts kommt es vor, dass Politiker wegen vergleichsweise geringer Verfehlungen oder privater Affären ihre Posten verlieren, wirklich schwere politische Sünden bleiben dagegen meist ungeahndet. Die Medien, oft als vierte Gewalt im Staat bezeichnet, interessieren sich mehr für private Skandale öffentlicher Personen als für deren amtliche Handlungen. Dass die Öffentlichkeit dieses Spiel goutiert, hat zum einen natürlich mit der Macht der Medien zu tun, zum anderen aber auch mit dem Interesse der Menschen am privaten Leben der vom Schicksal vermeintlich Begünstigten. Präsident Clinton hatte nie auch nur den Hauch einer ernst zu nehmenden Kritik an seiner zuweilen kriegerischen Außenpolitik zu fürchten, die Affäre mit einer seiner Assistentinnen hätte ihm beinahe sein Amt gekostet. Manche meinen sogar, dass ihn erst die intensiven viertägigen Bombardierungen des Irak im Dezember 1998 vor dem Schlimmsten bewahrt hätten. Bundesverteidigungsminister Scharping blieb politisch unbehelligt, solange er die Bundeswehr unter Zuhilfenahme faustdicker Lügen in den NATO-Angriffskrieg gegen Jugoslawien führte, seine Streitkräfte in Richtung einer Interventionsarmee umbaute und mit der endgültigen Entscheidung für den sündhaft teuren Militär-Airbus die Bundesfinanzen stark belastete. Gehen musste er erst, nachdem bekannt wurde, dass er von einer geschäftstüchtigen PR-Firma einen satten »Vorschuss« für die Veröffentlichung seiner »Erinnerungen« erhalten hatte.

Nun hat die seit Wochen schwelende Auseinandersetzung um die Irakkriegsbegründungen der Regierungen in London und Washington einige Kabinettsmitglieder durchaus in Verlegenheit gebracht. Paul Wolfowitz, immerhin stellvertretender US-Verteidigungsminister, hat der Diskussion um die Existenz von Massenvernichtungswaffen im Irak neue Nahrung gegeben, als er in der Juni-Ausgabe von »Vanity Fair« (Titel: Bush`s Brain Trust) mit den Worten zitiert wurde, die US-Administration habe sich lediglich „aus bürokratischen Gründen“ auf das Thema Massenvernichtungswaffen konzentriert, weil dies „der einzige Grund war, dem jeder zustimmen konnte“. „Fast unbeachtet, aber riesig“ sei dagegen das Motiv gewesen, dass mit dem Irakkrieg die Präsenz von US-Truppen im benachbarten Saudi-Arabien überflüssig geworden sei. Allein die Beseitigung dieser »Belastung« von Saudi-Arabien werde zu einem friedlicheren Nahen Osten führen, meinte Wolfowitz.

Mit diesem offenherzigen Bekenntnis brachte er vor allem US-Außenminister Powell und den britischen Premier Tony Blair in Bedrängnis. Waren sie es doch, die die Horrorberichte ihrer Geheimdienste am inbrünstigsten in die Welt hinaus posaunt hatten. Wir erinnern uns an die Präsentation des britischen Dossiers »Iraq`s Weapons of Mass Destruction« im September letzten Jahres. Darin kommt die britische Regierung zu der Ansicht, dass der Irak fortfahre, chemische und biologische Waffen zu produzieren, dass er über militärische Einsatzpläne für chemische und biologische Waffen verfüge und einige dieser Waffen innerhalb von 45 Minuten einsatzbereit seien; der Irak habe Befehls- und Kontrollstrukturen für den Gebrauch von Massenvernichtungswaffen installiert und mobile Forschungslabore für militärische Zwecke entwickelt, er versuche insgeheim Technologie und Materialien zu beschaffen, die für die Herstellung von Atomwaffen benötigt werden. Ihm wurde unterstellt illegal bis zu 20 Raketen zu besitzen mit einer Reichweite von 650 km und der Fähigkeit chemische oder biologische Gefechtsköpfe zu tragen, er arbeite an neuen Maschinen- und Testvorrichtungen zur Entwicklung von Raketen, die die britische Militärbasis auf Cypern, andere NATO-Mitglieder – wie Türkei und Griechenland – sowie alle Golfstaaten und Israel erreichen könnten usw. usf.

Tony Blair höchstpersönlich hatte dem Dossier ein Vorwort vorangestellt, in dem er u.a. schrieb: „Es ist klar, dass trotz der Sanktionen die Politik der Eindämmung nicht ausreichend war, um Saddam an der Entwicklung solcher Waffen zu hindern.“ Deshalb plädierte er dafür, dass die UN-Waffeninspektoren wieder ins Land dürfen, um „ihren Job gewissenhaft zu machen.“ Wenn Saddam das nicht zulasse oder wenn er ihre Arbeit behindere, „muss die internationale Gemeinschaft handeln.“ Obwohl schon bei der Vorlage des Dossiers die internationale Kritik von den zum Teil hanebüchenen »Beweisen« kaum etwas übrig ließ und obwohl – ab November – die UN-Inspekteure bei ihrer Arbeit so gut wie nichts »Brauchbares« im Sinne der Kriegsbefürworter finden konnten (und sie machten ihren Job verdammt gut), war sich Colin Powell nicht zu schade, die dicksten Lügen im UN-Sicherheitsrat knapp fünf Monate später (am 5. Februar) zu wiederholen. Powell blieb die Peinlichkeit nicht erspart, sich danach vorhalten lassen zu müssen, dass das »feine« Dokument, „das in exquisitem Detail irakische Täuschungsmanöver beschreibt“ – so Powell über das britische Dossier – sich in großen Teilen als Kopie eines studentischen Forschungsberichts herausstellte – mit Informationen, die teilweise über zwölf Jahre alt waren. Powell hatte in seiner Rede betont: „Ich kann Ihnen nicht alles sagen, was wir wissen, aber was ich Ihnen mitteilen kann, ist … zutiefst beunruhigend.“ Sicher wusste er auch – aber genau das konnte er natürlich unmöglich sagen – dass viele seiner angeblichen Beweise für die Existenz von Massenvernichtungswaffen im Irak von den US- und britischen Geheimdiensten konstruiert waren.

Die wesentlichen Fäden zu dem Lügengespinst fabrizierten jene im Joint Intelligence Committee (JIC) zusammengeschlossenen britischen Geheimdienste, die schon bei der Vorbereitung des Afghanistankriegs ihre schmutzigen Hände im Spiel hatten. Auch damals fiel es innerhalb der angloamerikanischen Arbeitsteilung Tony Blair zu, »Beweise« einer Verstrickung Bin Ladens, der Al Qaida und des Taliban-Regimes in die Terroranschläge vom 11.9.2001 vorzulegen. Auch damals wurde das Papier von Experten heftig kritisiert: Es tauge nicht einmal für die Begründung eines Anfangsverdachts gegen die Beschuldigten, angesichts der dürftigen Aktenlage müssten die Angeklagten vor jedem ordentlichen Gericht „mangels Beweisen“ freigesprochen werden. Der Afghanistankrieg fand dennoch statt.

Nun wird man nicht sagen können, dass die »spin doctors« in den USA aus den blamablen Vorstellungen der Geheimdienste nichts gelernt hätten. Die ideologische Vorbereitung auf den Irakkrieg enthielt nicht nur die ständigen Hinweise auf die Massenvernichtungswaffen. In allen Reden von Bush, Powell und Rumsfeld (und übrigens auch schon im britischen Dossier vom September 2002) wurde eine Troika von Kriegsgründen ins Feld geführt. Neben den Massenvernichtungswaffen des Irak waren es die massiven Menschenrechtsverletzungen und Verbrechen des Saddam-Regimes und die angebliche Unterstützung des Terrorismus durch ihn. Diese »komplexere«, aber deswegen nicht völkerrechtsverträglichere Argumentation bestimmte die Debatten im britischen Unterhaus und im amerikanischen Kongress anlässlich der jeweiligen Abstimmung über eine Kriegsermächtigung. Alle Kongressabgeordneten wussten z.B. was sie am 2. Oktober beschlossen, als sie mit großer Mehrheit die House Joint Resolution 114 »To authorize the use of United States Armed Forces against Iraq« verabschiedeten.

Insofern können sich die in die Kritik geratenen Kriegspolitiker auf ihre Breitbandbegründung für den Krieg beziehen und im Übrigen um Geduld für ihre eigenen Suchmannschaften im Irak bitten – Anfang Juni erhöhte die USA ihre »Waffeninspekteure« auf 1.400 Personen und unterstellte sie – ausgerechnet – einem Sonderbeauftragten der CIA.

Für die demokratische Entwicklung in den USA und in Großbritannien ist der Streit um den Krieg bitter nötig, schließlich geht es um öffentliche Angelegenheiten von größter Tragweite, auch wenn sich der Skandal nicht zu einem »Saddamgate« entwickeln sollte. Die Arbeit der mittlerweile eingesetzten Untersuchungsausschüsse im US-Kongress und im britischen Parlament könnten aufschlussreiche Erkenntnisse über die gefährliche Tätigkeit der Machtkartelle aus Geheimdiensten und Regierungen zu Tage fördern. Dafür müsste allerdings auch der Fokus erweitert werden auf die doch mehr als zweifelhaften Erfolge der Kriegskoalition, auf die Verheerungen, die der Krieg mit sich gebracht hat (z.B. die Tausende ziviler Opfer), auf die dauerhafte Beschädigung des Völkerrechts. Interessant wäre auch ein Blick auf die eigenen Waffenarsenale, denn während die US-Administration vor Iraks Massenvernichtungswaffen warnte, rüstete sie ihr eigenes B- und C-Waffenarsenal gewaltig auf (Jahresbudget 2003: 6 Mrd. Dollar) und blockierte auf internationaler Ebene jegliche wirksame Biowaffenkontrolle.

In einer Situation, in der in den Kernländern der Kriegsallianz die Legitimation für den Krieg mehr als je zuvor in Frage gestellt wird und in der das Ansehen des US-Imperiums in der Welt weiter im Sinken ist, müsste sich die Bundesregierung in ihrer Kriegskritik eigentlich bestätigt fühlen, auf weitere Aufklärung drängen und sich dafür einsetzen, dass die internationalen Institutionen wieder mehr Einfluss bekommen. Stattdessen begräbt Berlin den Streit und blickt in neuer transatlantischer Verbundenheit nur noch »nach vorne«. Die UN-Resolution 1483 (2003), die den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen den Irak nachträglich legitimierte und der UNO lediglich eine Bittstellerrolle bei der humanitären Bewältigung der Nachkriegsprobleme einräumt, fand auch die Zustimmung der Bundesregierung. Antikriegshaltung? Schwamm drüber! Je offensichtlicher die Lüge, desto geringer der Protest!

Dr. Peter Strutynski arbeitet an der Uni Kassel und ist Sprecher des »Bundesausschuss Friedensratschlag«

Weapons of Mass Deception

Weapons of Mass Deception

Strategische Manipulation von Medien während des Irak-Krieges

von Jürgen Rose

Wenn politische Entscheidungsträger in Demokratien Bürger – und auch immer zahlreicher Bürgerinnen – in Kriege entsenden wollen, um in fernen Ländern, wie das der Krieg gemeinhin so mit sich bringt, andere Menschen zu töten oder zu verstümmeln und dabei gegebenenfalls selbst das gleiche Schicksal zu erleiden, dann benötigen sie für ein derartiges Unterfangen eine möglichst breite und tunlichst nicht in Zweifel zu ziehende demokratische Legitimation. Freilich ist „[i]nsbesondere in Demokratien der Aufwand groß, mit dem man friedliche Bürger von der Notwendigkeit überzeugen muss, die Waffen aufzunehmen bzw. für die Kosten der Kampagne gerade zu stehen. Nur der allergarstigste Gegner kann schließlich rechtfertigen, dass man sich zu Gegenmaßnahmen entschließt, die so sehr den eigenen zivilen Werten widersprechen.“ (Stephan 1998, S. 157) Gerade demokratische Öffentlichkeiten, die Krieg normalerweise als illegitimes Mittel der Politik betrachten, lassen sich nur durch geschickte und überzeugende Propaganda von dessen Notwendigkeit überzeugen. Die Entscheidung zum Krieg bedarf in Demokratien mittlerweile der Beschwörung von Menschheitsbedrohungen wie Massenvernichtungswaffen, Terrorismus oder Völkermord.

Da in modernen Demokratien jedwede Politik vornehmlich massenmedial vermittelt wird, kann auch die Legitimationsbeschaffung zur Kriegführung nur qua Unterstützung durch die Massenmedien erfolgen. Letzteren kommt die Funktion zu, einer demokratischen Öffentlichkeit jene moralisch unanfechtbare Begründung für den Krieg zu liefern, die sie begehrt. Weil sich derartige Letzt-Begründungen jedoch prinzipiell nicht verfertigen lassen, mutieren Massenmedien in Kriegszeiten gleichwohl regelmäßig zur Propagandamaschine der Regierenden, die dem Wahlvolk jene Lügen liefert, nach denen es partout verlangt. Zugleich machen sie sich dadurch zum ebenbürtigen Partner der Panzer, Flotten und Bomberverbände. Gelingt solchermaßen die erfolgreiche Gleichschaltung von Massenmedien in Zeiten des Krieges, so ist die essentielle Voraussetzung für die Unterstützung des Streitkräfteeinsatzes seitens der Öffentlichkeit und der politischen Entscheidungsapparate erfüllt. Scheitert andererseits die Instrumentalisierung der Massenmedien zum Zwecke der Kriegspropaganda, kann selbst erdrückende militärische Überlegenheit auf dem Schlachtfeld die politische Niederlage nicht verhindern.

In Erkenntnis dieses Sachverhaltes begann mit der Intention, ein erneutes Desaster wie in Vietnam zu vermeiden, bereits 1984 unter der Ägide des damaligen US-Verteidigungsministers Caspar Weinberger die Entwicklung neuer Kriterien für den Gebrauch militärischer Macht. Ein wesentliches Kriterium bestand darin, dass vor jedem denkbaren Streitkräfteeinsatz unbedingt die hinreichende innenpolitische Unterstützung garantiert sein müsste. Im Jahr 1990 erfuhr dieses Prinzip vor dem Krieg gegen den Irak durch die Bush-Administration seine schlagende Bestätigung. Weiterentwickelt und verfeinert wurden die Grundsätze der PR-Arbeit im Rahmen der US-Militärstrategie in der Ära Clinton vom damaligen US-Generalstabschef, General Colin Powell. Auch er erachtete es als unabdingbar, vor jeder Entsendung von US-Truppen die Unterstützung hierfür seitens der Öffentlichkeit, der Medien und des Kongresses sicherzustellen. Ergänzend trat als herausragendes Kriterium hinzu, dass bei jeglichen Einsätzen unter allen Umständen das Ansehen der Streitkräfte gewahrt bleiben musste. Die von Powell formulierten Kriterien gelten auch unter der gegenwärtigen US-Administration fort und wurden seitdem weiter verfeinert. Pars pro toto lässt sich dies sehr eindrucksvoll anhand der von der U.S. Air Force im Januar 2002 präsentierten Doktrin für Informationsoperationen illustrieren. Dort wird zur strategischen Zielsetzung der so genannten Public Affairs Operations unter anderem ausgeführt: „Operationen der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit dienen der Unterstützung einer starken nationalen Verteidigung, nämlich die Nation auf den Krieg vorzubereiten, indem sie in der Öffentlichkeit Vertrauen und Verständnis für den Beitrag des Militärs zur nationalen Sicherheit und das dafür notwendige Budget herstellen. Mit dieser Rückenstärkung durch Steuerzahler und Kongress kann die militärische Führung effektiv Soldaten anwerben, ausrüsten und ausbilden, die das gesamte Spektrum militärischer Operationen beherrschen. Im Falle einer nationalen Krise lassen sich durch Operationen der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der amerikanischen Öffentlichkeit die Informationen übermitteln, die sie benötigt, um die Relevanz militärischer Aktionen zu verstehen – und zugleich stärken sie die nationale Entschlossenheit. Diese Art der Kommunikation eröffnet den Befehlshabern die Option, sich in der Krise an die Spitze zu stellen, die Wahrnehmung von Ereignissen zu beeinflussen, Klarheit im öffentlichen Bewusstsein zu schaffen und den Rahmen für die Diskussion in der Öffentlichkeit zu bestimmen.“ (United States Air Force 2002, S. 37) Noch unverhohlener decouvriert folgende Formulierung die militärische Bedeutung der »Öffentlichkeitsarbeits-Waffe«: „Als Waffe im Arsenal des militärischen Führerskönnen Operationen der Öffentlichkeitsarbeit einen Kampfkraftverstärker bilden, der das informationelle Umfeld militärischer Operationen zugleich auslotet und gestaltet.“ (United States Air Force 2002, S. 29) Weitere einschlägige Doktrinen, in denen ähnliche oder gleichlautende Prinzipien auftauchen, finden sich in Dokumenten wie der »Joint Doctrine for Information Operations«, der »Doctrine for Public Affairs in Joint Operations« sowie der »Joint Doctrine for Civil-Military Operations«.

Wie die auf der Ebene der Militärstrategie respektive der genannten Doktrinen definierten Grundsätze für die Informations-, Desinformations- und Propagandaarbeit des Pentagons in die Praxis umgesetzt werden, lässt sich empirisch eindrucksvoll am Beispiel der vor dem jüngsten Irakkrieg erlassenen »Richtlinien für die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit zur Einbettung von Medien im Rahmen möglicher künftiger Operationen/Dislozierungen im Verantwortungsbereich des U.S. Central Command (CENTCOM)« vom 17. Januar 2003 illustrieren (im folgenden »Public Affairs Guidance – PAG«). Mit dieser Richtlinie hat das Pentagon nach den unbefriedigenden Erfahrungen mit der Bildung von Kriegsberichterstatter-Pools während des Golfkrieges 1990/91 erstmals eine neue und vielversprechende Form der Informationskontrolle eingeführt. Diese basierte auf den positiven Erfahrungen, die im Rahmen der »Operation Anaconda« in Afghanistan 2002 gewonnen wurden.

Die fundamentale Innovation der vor dem neuerlichen Krieg gegen Saddam Hussein ausbaldowerten PR-Strategie bestand in der sogenannten Einbettung, d.h. der Integration von Journalisten direkt in die kämpfende Truppe. Die Idee des »Embedding« stammt von Victoria »Torie« Clarke, die als stellvertretende Verteidigungsministerin im Department of Defense der USA (DoD) für Public Affairs zuständig ist. Zu ihrem Aufgabengebiet gehören auch die Armeezeitung Stars & Stripes, das Armed Forces Radio und andere militärpublizistische Erzeugnisse. Gemeinsam mit ihrem Stellvertreter Bryan Whitman, einem ehemaligen Offizier der US-Army, definierte sie die strategischen Leitgedanken des Embedding-Projekts:

  • „die Desinformationsmaßnahmen unserer Gegner neutralisieren,
  • die Unterstützung sowohl für die Politik der USA als auch für den globalen Krieg gegen den Terrorismus mobilisieren und erhalten,
  • offensive Schritte zur Erringung der Informationsüberlegenheit ergreifen,
  • die Professionalität des US-Militärs demonstrieren,
  • die Unterstützung für den Kämpfer da draußen auf dem Schlachtfeld mobilisieren und erhalten. “

Pointiert lautete das sich hinter der Idee des »Embedding« verbergende Kalkül der PR-Spezialisten aus dem Pentagon: „Schleichende Korruption durch Nähe“ (Bussemer 2003, S. 26). Der springende Punkt dabei war, dass die Medienvertreter zuvor einen Katalog vorgegebener Grundregeln für die Berichterstattung – das »CFLCC Ground Rules Agreement« – unterzeichnen mussten (CFLCC = Coalition Forces Land Component Command). Dabei handelte es sich um ein äußerst ausgeklügeltes System von Auflagen und Offerten für die betroffenen Journalisten und ihre Berichterstattung, das der alterprobten Maxime »do, ut des« folgte und zugleich günstigste Voraussetzungen für eine wirkungsvolle Manipulation und Korrumpierung der Kriegsberichterstattung im von der US-Administration erwünschten Sinne schaffte. Auf diese Weise sollten Reporter zu „cheerleaders for the military“ (Shepard 2004, S. 14) respektive „tour guides for war“ (Shepard 2004, S. 37) umfunktioniert werden.

Darüber hinaus wurden in Konkurrenz zu den kommerziellen Medien noch so genannte Joint Tactical Information Cells installiert, deren »Mediensoldaten« mit Hilfe modernster Satelliten-Technologie eigene Text- und Bildberichte über den Kriegsverlauf versenden konnten, was den unschätzbaren Vorteil der Exklusivität sicherte. Geliefert wurden solche Berichte u. a. von so genannten Combat Camera Teams, welche die US-Streitkräfte schon seit längerem unterhält und die für die visuelle Dokumentation des Krieges sorgen sollen. Deren Aufnahmen finden auch als Teil der Media-Kits Verwendung, mit denen Journalisten auf Pressekonferenzen versorgt werden.

Nachfolgend sollen die wesentlichsten Aspekte der vom Pentagon erlassenen »Public Affairs Guidance« und des »CFLCC Ground Rules Agreement’s« näher analysiert werden.

Die PR-Arbeit des US-Militärs zielt auf drei Adressatengruppen, nämlich die amerikanische Öffentlichkeit, die Öffentlichkeit in den verbündeten Staaten sowie die Öffentlichkeit in den Staaten, in denen die USA militärische Operationen durchführen. Die vorrangige Devise dabei lautet: „Wir müssen über die Tatsachen berichten – seien sie gut oder schlecht –, bevor andere die Medien mit Desinformationen und verzerrten Darstellungen impfen, wie sie es mit allergrößter Wahrscheinlichkeit auch weiterhin tun werden. Unsere Leute vor Ort müssen unsere Sichtweise vermitteln (SECDEF/deutsche Übersetzung Reeb 2003)

Mehrfach wird betont, dass es entscheidend darauf ankommt, mittels der Einbettung der Medienberichterstatter die Ereignisse aus amerikanischer Perspektive zu vermitteln und das Verständnis in der (Welt-)Öffentlichkeit daraufhin zu fokussieren: „Diese eingebetteten Medien werden als Teil der Truppenteile, in die sie eingebettet sind, leben, arbeiten und verlegen, um bessere Voraussetzungen für ein Maximum an gründlicher Berichterstattung über die US-Streitkräfte im Gefecht sowie über damit zusammenhängende Operationen zu schaffen.Die Medien werden in der Truppe, auf Stützpunkten der Luftwaffe und der Bodentruppen sowie in schwimmenden Einheiten eingebettet, um ein umfassendes Verständnis aller Operationen zu gewährleisten.Es werden Plätze in Fahrzeugen, in Luftfahrzeugen und auf Kriegsschiffen zur Verfügung gestellt, um eine möglichst umfassende Berichterstattung über die US-Truppen vor Ort zu ermöglichen.Die Truppenteile haben Transportkapazität und logistische Unterstützung vorzusehen, um den Transport von Medienprodukten zum und vom Gefechtsfeld zu unterstützen, damit unsere Darstellung der Ereignisse zeitgerecht ermöglicht wird.“ (SECDEF/deutsche Übersetzung Reeb 2003)

Selbst die militärische Geheimhaltung stellt unter bestimmten Voraussetzungen kein prinzipielles Hindernis für die Berichterstattung dar, wie in der »PAG« ausgeführt wird, wenn der betreffende Reporter sich mit einer erweiterten Zensur seitens der Militärs einverstanden zeigt: „In Fällen, in denen ein militärischer Führer oder sein offizieller Stellvertreter feststellt, dass ein Berichterstatter mehr an geheimhaltungsbedürftigen Informationen erhält als durch eine Belehrung im Rahmen einer Vor- oder Nachbesprechung abgedeckt wird, die Berichterstattung selbst jedoch im besten Interesse des US-Verteidigungsministeriums ist, kann der militärische Führer Zugang zu den Informationen gewähren, falls der Reporter einer Sicherheitsüberprüfung seines Berichts zustimmt.“ (SECDEF/deutsche Übersetzung. Reeb 2003)

Für die Wahrnehmung der ihnen vom US-Verteidigungsministerium zugedachten Aufgaben bietet die »PAG« den eingebetteten Journalisten eine breite Palette von Unterstützungsleistungen an. Darunter fällt unter anderem:

  • der generell erleichterte Zugang zu den Streitkräften,
  • der Zugang zu operativen Kampfeinsätzen mit der Gelegenheit, tatsächliche Kampfhandlungen zu beobachten,
  • kostenloser Transport in Luftfahrzeugen des US-Verteidigungsministeriums,
  • Plätze in Fahrzeugen, in Luftfahrzeugen und auf Kriegsschiffen,
  • ggf. fernmeldetechnische Unterstützung beim Absetzen bzw. Übertragen von Medienprodukten sowie Nutzung schneller militärischer Fernmeldeverbindungen,
  • die Bereitstellung von Unterkunft, Verpflegung und ggf. sanitätsdienstlicher Versorgung,
  • die leihweise Ausgabe von ABC-Schutzausrüstung,
  • die (kostenpflichtige) Gestellung von Impfstoffen gegen Anthrax und Pocken.

Allerdings war die Gewährung dieser Vergünstigungen an die strikte Einhaltung umfangreicher Auflagen gekoppelt. Dazu zählte:

  • die obligatorische Beantragung auf Einbettung beim US-Verteidigungsministerium,
  • das Verbot, eigene Fahrzeuge zu benutzen,
  • die Einholung der Genehmigung zur Nutzung elektronischer Geräte in einem Kampfgebiet bzw. einem feindlichen Umfeld,
  • die Unterzeichnung des »CFLCC Ground Rules Agreement’s« sowie einer »Vereinbarung über Haftungsfreistellung und Klageverzicht«.

Darüber hinaus wies die »PAG« die letztinstanzliche Entscheidungskompetenz über den Bewegungsspielraum der eingebetteten Berichterstatter den militärischen Befehlshabern vor Ort zu – der entscheidende Passus diesbezüglich lautet: „Falls ein Medienvertreter nach Auffassung des militärischen Führers außerstande ist, mit den harten Rahmenbedingungen zurechtzukommen, obwohl dies für den Einsatz mit den vorn dislozierten Kräften erforderlich ist, kann der militärische Führer oder sein Stellvertreter die Teilnahme des Medienvertreters bei den Einsatzkräften einschränken, um die Sicherheit des Truppenteils zu gewährleisten.“ (SECDEF/deutsche Übersetzung Reeb 2003) Wie ein Damoklesschwert schwebte diese Option permanent über den eingebetteten Reportern und musste daher allein aufgrund ihrer potenziellen Nutzung als Sanktion für unvorteilhafte Reportagen auf sublime Weise die Berichterstattung beeinflussen.

Das bereits erwähnte »CFLCC Ground Rules Agreement« enthielt das von der »PAG« vorgegebene detaillierte Regelwerk, das jeder Reporter vor seiner Einbettung in den ihm zugewiesenen Truppenteil förmlich zu unterzeichnen hatte. Grundsätzlich galt: „Die Grundregeln sind von den Medien vorher anzuerkennen und vor der Einbettung zu unterzeichnen. Verstöße gegen die Grundregeln können die sofortige Beendigung der Einbettung und die Entfernung aus dem Verantwortungsbereich zur Folge haben.“ Von nicht zu unterschätzender Relevanz war, die Anweisung, dass „sämtliche Interviews mit Angehörigen der Streitkräfte zu … protokollieren [waren].“ (CENTCOM 2003) (Das CFLCC stellt die Umsetzung der PAG auf nächstniedriger Ebene dar). Damit war sichergestellt, dass einerseits die betroffenen Soldaten bei ihren Aussagen äußerste Zurückhaltung walten ließen und andererseits die Journalisten, um ihre Interviewpartner nicht zu kompromittieren, schon während sie fragten, stets die »Schere im Kopf trugen«. Eine weitere Option zur Steuerung der Berichterstattung bot die Bestimmung, dass Sperrfristen verhängt werden konnten, um die „operative Sicherheit zu gewährleisten.“ Mittels der Anweisung, alle Berichte für Druck- oder Rundfunkmedien mit Orts- und Datumsangabe zu versehen, wurde eine lückenlose Überwachung und Identifikation der jeweilige Urheber sichergestellt. Schließlich wurde noch festgelegt, dass Medienvertreter unbewaffnet zu sein und bei Operationen in der Dunkelheit die Lichtdisziplin (Regelungen zum Gebrauch von Lichtquellen) zu wahren hatten.

Entscheidend war darüber hinaus selbstredend die Festlegung der Kategorien für Informationen, die zur Veröffentlichung freigegeben waren respektive die nicht publiziert werden durften. Prinzipiell freigegeben waren ausschließlich allgemeine, pauschale und ungefähre Angaben über die eigenen Streitkräfte und deren Aktionen, nicht aber konkrete und präzise Zahlen, Daten und Fakten. Details über den Kriegsverlauf sollten tunlichst nicht publik werden, es genügte, wenn die (Welt-)Öffentlichkeit vom grandiosen Sieg der US-Truppen erfuhr. Da passte es ins Bild, dass „gesicherte Zahlenangaben zu verhafteten oder gefangengenommenen Angehörigen der feindlichen Kräfte“ (CENTCOM 2003) durchaus zur Veröffentlichung freigegeben waren.

Verboten war die Veröffentlichung jedweder konkreter Zahlen, Daten und Fakten zu Personal, Material, Truppenteilen, militärischen Einrichtungen, Truppenbewegungen, Dislozierung etc. Unter die Geheimhaltung fielen auch die Einsatzregeln, Sicherheitsmaßnahmen, Informationen über Spezialeinheiten, Methodik und Taktik von militärischen Operationen sowie Informationen über die Effektivität der gegnerischen Kampfführung. Darüber hinaus unterlag der Zugang zu Kriegsgefangenen strikten Restriktionen, ebenso wie jegliche Berichterstattung über tote, verwundete, verletzte und kranke Soldaten der eigenen Streitkräfte. Das Kriegshandwerk im einzelnen sowie die furchtbaren Auswirkungen der Waffengewalt sollten vor der (Welt-)Öffentlichkeit soweit wie irgend möglich verborgen gehalten respektive nur in homöopathischen Dosen zur Kenntnis gegeben werden. Die Konsequenz war, dass die Medien „am Ende den Krieg weichspülten, indem sie es vorzogen, siegestrunkene Amerikaner anstelle von blutigen, verwundeten oder toten amerikanischen oder irakischen Soldaten zu zeigen“ (Shepard 2004, S. 62) und dass insbesondere die US-Medienanstalten „die Schrecken des Krieges vernebelten, indem sie grausame Bilder vermieden, sich des Militärjargons („irakische Ziele aufweichen“) anstatt einer direkten, brutalen, konkreten Ausdrucksweise („Iraker töten“) bedienten.“ (Shepard 2004, S. 71)

Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass es dem US-Militär gelang, mittels seiner äußerst ausgeklügelten PR-Arbeit, sicherzustellen, dass der Krieg zwar nicht absolut, aber nahezu nur insoweit abgelichtet werden konnte, wie es dem Pentagon passte. Die Basis des Erfolgs bildete eine Doppelstrategie, nämlich einerseits wohlwollend gesonnene Medienvertreter nach allen Regeln der Kunst zu umgarnen und zu korrumpieren. Ein Washingtoner Redaktionsleiter schwärmte diesbezüglich: „Der Charme des Einbettungsprogramms bestand darin, dass es unsere beiderseitigen Bedürfnisse erfüllte.“ (Shepard 2004, S. 59f.) Andererseits wurden unabhängig recherchierende Reporter, die so genannten unilaterals, insbesondere auch solche aus europäischen und arabischen Ländern, systematisch benachteiligt, behindert, schikaniert und in Einzelfällen auch massiven Bedrohungen für Leib und Leben ausgesetzt, wie die Bombardierungen von Al Jazeera und Abu Dhabi TV sowie der Beschuss des Hotels Palestine illustrieren. Diese Verfahrensweise hatte zur Folge, dass dem Publikum zwar eine Fülle von selektiven Eindrücken über die Kampfhandlungen vermittelt wurden, es aber keine Chance besaß, die komplexe Realität des Krieges zu erfassen. Erzeugt wurde somit allenfalls die Illusion, am Krieg »beteiligt« gewesen zu sein. Diese Einschätzung spiegelt sich auch in dem Umstand wider, dass von den insgesamt 775 »eingebetteten« Reportern gerade einmal 40 bis 50 tatsächlich die Gelegenheit bekamen, „Kriegführung real zu erleben“ (Shepard 2004, S. 23).

Problematisch muss darüber hinaus die grundsätzliche Steuerung der Medienöffentlichkeit durch das US-Militär erscheinen. Zudem werden seitens der US-Administration die Grenzen zwischen Gegenpropaganda und Täuschung nach außen sowie der PR nach innen zunehmend verwischt und dem Militär Aufgaben zugewiesen, die von Diplomaten und anderen zivilen Experten kompetenter wahrgenommen werden können.

Summa summarum demonstriert gerade der jüngste Irak-Krieg, dass die „Massenmedienaus Sicht des Militärs von potentiellen Störfaktoren, die es zu instrumentalisieren gilt, zu willfährigen Helfern der Kriegführung avanciert [sind]. Die Medien selbst wurden zur Kriegswaffe.“ (Bussemer 2003, S.13)

Literatur:

Anonym (-MM-): Embedded Journalists – der Wahrheit näher?, in: Truppendienst, 6/2003

Bussemer, Thymian: Medien als Kriegswaffe. Eine Analyse der amerikanischen Militärpropaganda im Irak-Krieg, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 49-50/2003

CENTCOM (ed.): Coalition Forces Land Component Command Ground Rules Agreement; im Internet unter: http://www.rsf.org/article.php3?id_article=5334 [29.08.2004].

MacArthur, John R.: Die Schlacht der Lügen. Wie die USA den Golfkrieg verkauften, München 1993

Hartwig, Stefan: Berichterstattung über den Irak-Krieg, in: Truppendienst, 6/2003

Joint Staff (ed.): Joint Pub 3-13, „Joint Doctrine for Information Operations“, 9 October 1998; im Internet unter: http://www.dtic.mil/doctrine/jel/new_pubs/jp3_13.pdf [29.08.2004]

Joint Staff (ed.): Joint Pub 3-61, „Doctrine for Public Affairs in Joint Operations“, 14 May 1997; im Internet unter: http://www.dtic.mil/doctrine/jel/new_pubs/jp3_61.pdf [29.08.2004]

Joint Staff (ed.): Joint Publication 3-57, „Joint Doctrine for Civil-Military Operations“, 8 February 2001; im Internet unter: http://www.dtic.mil/doctrine/jel/new_pubs/jp3_57.pdf [29.08.2004]

Reeb, Hans-Joachim: Berichterstattung vom Golf. Reflexionen über den Journalismus im Irak-Krieg 2003, Führungsakademie der Bundeswehr, Fachbereich Sozialwissenschaften, Reihe SOW kontrovers, Nr. 1/03, Hamburg, Juni 2003

SECDEF Washington DC//OASD-PA//: SECDEF MSG, DTG 172200Z Jan 03, SUBJ: Public Affairs Guidance (PAG) for movement of forces into the CENTCOM AOR for possible future operationS; im Internet unter: http://www.defenselink.mil/news/ Feb2003/d20030228pag.pdf [29.08.2004]. Deutsche Übersetzung durch Führungsakademie der Bundeswehr, Sprachendienst, Auftrags-Nr. 047/03, in: Reeb, Hans-Joachim: a. a. O., S. 41 – 52

Shepard, Alicia C.: Narrowing the Gap. Military, Media and the Iraq War, Cantigny Conference Series, Conference Report, published by Robert R. McCormick Tribune Foundation, Chicago, Illinois 2004

Stephan, Cora: Das Handwerk des Krieges, Berlin 1998

Stevenson, Charles A.: The Evolving Clinton Doctrine on the Use of Force, in: Armed Forces & Society, Vol. 22, No. 4, Summer 1996

Szukala, Andrea: Medien und öffentliche Meinung im Irakkrieg, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 24-25/2003

United States Air Force (ed.): Information Operations, Air Force Doctrine Document 2-5, 04 January 2002; im Internet unter: http://www.dtic.mil/doctrine/jel/service_pubs/afdd2_5.pdf [29.08.2004].

Virchow, Fabian/Thomas, Tanja: Militainment, unveröffentlichtes Manuskript, Kiel 2003, S. 3. Erscheint unter dem Titel „Militainment als »banaler« Militarismus. Auf dem Weg zu einer Militarisierung der politischen Kultur?“ in: Löffelholz, Martin (Hrsg.): Krieg als Medienereignis II. Westdeutscher Verlag, Opladen 2004

Dipl. Päd. Jürgen Rose ist Oberstleutnant der Bundeswehr. Er vertritt in diesem Beitrag nur seine persönlichen Auffassungen.

Einzelfall oder System?

Einzelfall oder System?

Folter in Abu Ghraib

von Gert Sommer

Im Gefängnis Abu Ghraib haben Angehörige der US-Armee systematisch irakische Gefangene gefoltert, u.a. durch Schläge, Isolation, Schlafentzug, Einsetzen von Hunden (für Muslime unreine Tiere), Zwingen zu stundenlangen schmerzvollen körperlichen Haltungen, Aufsetzen von Kapuzen und Androhung von Exekution. Die US-Regierung versucht dies – wider besseres Wissen – als das Fehlverhalten einiger weniger Soldaten darzustellen.

„Niemand darf der Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden.“

(Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Artikel 5 UNO, 1948)

Abu Ghraib ist jedoch kein Einzelfall. Im Verlauf des sog. Kampfes gegen den Terrorismus sind mindestens 10.000 Menschen außerhalb der USA in Lagern interniert. Besonders bekannt wurde der US-Stützpunkt Guantánamo auf Kuba, in dem seit über zwei Jahren Menschen ohne jegliche Rechte festgehalten werden.

In Abu Ghraib wurden unmenschliche Methoden eingesetzt, die für Muslime eine besondere Erniedrigung darstellen, z.B. unbekleidet zur Schau gestellt und zu sexuellen Handlungen gezwungen zu werden, und dies z.T. auch in Anwesenheit von Frauen. Traumatische Erfahrungen dieser Art stellen nicht nur aktuell für die Betroffenen eine ungeheuerliche Schande dar, sie führen zudem – neben physischen Schäden bis hin zum Tod (über 30 Gefangene sind in US-Gefangenschaft in Afghanistan und Irak umgekommen) – mit großer Wahrscheinlichkeit mittel- und langfristig zu psychischen Auffälligkeiten wie ständige Übererregtheit, psychische Taubheit und unkontrolliertes Wiedererleben der Erfahrungen, zu sog. posttraumatischen Belastungsstörungen, Ängsten und psychosomatischen Störungen, Depressionen bis hin zu Suizid.

Die Täter – Soldaten und Wachpersonal – scheinen im Zivilleben relativ normale Bürger gewesen zu sein. Was aber motivierte dann ihre Taten? Eine nahe liegende Erklärung, dass hier Sadisten ihre perversen Neigungen auslebten, dürfte kaum angemessen sein. Die psychologische Forschung hat angemessenere Erklärungsmöglichkeiten:

Gehorsam

Die Täter haben auf Befehl gehandelt, und Gehorsam ist eines der wichtigsten Ziele militärischer Ausbildung. Hinzu kommen können Angst vor Bestrafung bei Befehlsverweigerung und Furcht vor sozialem Ausschluss aus der Bezugsgruppe. Die Gehorsamsexperimente von Stanley Milgram haben gezeigt, dass die Mehrheit der Menschen auf Anweisung eines »Wissenschaftlers« bereit ist, anderen Menschen beträchtliche körperliche Schmerzen zuzufügen, etliche sogar bis hin zur (scheinbaren) Tötung des Opfers.

Machtgefälle

In Gefängnissen besteht ein extremer Machtunterschied zwischen Wärtern und Gefangenen. Das Gefühl der eigenen Macht, Stärke und Überlegenheit scheint für viele Menschen eine große Versuchung darzustellen (dies mag für die Täter von Abu Ghraib, mehrheitlich aus der Unterschicht der USA – sog. white trash – besonders relevant sein): Der Unterlegene kann gedemütigt und misshandelt werden, ohne dass dieser sich wehren kann. Sexualisierte Gewalt ist dabei durchaus üblich. Das Gefängnisexperiment von Phil Zimbardo, bei dem Studierende zufällig in die Gruppen der Wärter und Gefangenen aufgeteilt wurden, musste schon nach wenigen Tagen abgebrochen werden: Die »Wärter« behandelten die »Gefangenen« zunehmend brutal bis hin zur sexuellen Erniedrigung.

Angst, Bedrohung, Frustration

Insbesondere in Kriegszeiten können sich die Soldaten einer ständigen Lebensbedrohung ausgesetzt erleben. Diese Angst kann in Gewalt und Brutalität umschlagen. Auch wenn diese Sicht schwer fallen mag: Täter sind nicht selten selbst Opfer –z.B. ihrer Sozialisation, der militärischen Ausbildung, der Überforderung durch die Kriegssituation. Unter »normalen« Bedingungen wären sie keine Folterer. Auch sie können als Folge ihrer Taten intensiv leiden, psychische Störungen ausbilden und gesellschaftlich diskriminiert werden.

Trotz dieser psychologischen Erklärungen ist festzuhalten, dass die Täter für ihre Taten verantwortlich sind: Sie haben andere Menschen gefoltert ohne dazu gezwungen worden zu sein. Aber sind die direkten Täter auch die Hauptschuldigen, wie die US-Regierung zu suggerieren versucht? Dagegen sprechen viele Hinweise: Zum einen der Umgang der USA mit Folter, zum anderen das politische Umfeld in den USA.

Zum Umgang der USA mit Folter

  • Im Gefängnis Abu Ghraib spielten offensichtlich der CIA und der militärische Geheimdienst eine wichtige Rolle, die beide Folterungen der Gefangenen forderten oder zumindest nahe legten, um gewünschte Informationen zu erlangen.
  • Auch in den normalen Gefängnissen der USA sind körperlicher und sexueller Missbrauch »Routine«, wie die New York Times schreibt. Warum sollte es dann in den von den USA kontrollierten Gefängnissen außerhalb der USA weniger brutal zugehen?
  • In Guantánamo sind seit über zwei Jahren Gefangene ohne jegliche Rechte (ohne Anklage, ohne Anwalt und ohne Außenkontakt) unter menschenunwürdigen Bedingungen interniert, sie wurden wohl auch gefoltert. Der damalige Kommandeur von Guantánamo, General Miller, »exportierte« offensichtlich die dort üblichen Verhörmethoden im September 2003 in den Irak.
  • Seit Anfang 2002 gibt es Stellungnahmen von US-Ministerien, dass die Genfer Konventionen für Gefangene in Afghanistan irrelevant seien, d.h. nicht beachtet werden müssen. Die US-Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch hat Belege für Folterungen in Afghanistan. Die Genfer Konventionen zur Behandlung von Gefangenen sind inhaltlich weitgehend identisch mit Artikel 5 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, sie sind rechtlich verbindlich. Sie nicht zu beachten, stellt somit einen Rechtsbruch bzw. ein Kriegsverbrechen dar.
  • Die US-Regierung hat im »Kampf gegen den Terror« Folter »delegiert«. Um schneller Informationen zu erhalten, hat sie Gefangene an Länder ausgeliefert, in denen gefoltert wird, z.B. nach Ägypten und Pakistan.
  • In den USA gibt es eine öffentliche Diskussion über die Zulässigkeit von Folter im »Kampf gegen den Terrorismus«. Dem entsprechend halten 45% der US-Bevölkerung Folter in diesem Zusammenhang für legitim. Die Antifolter-Konvention der UN von 1984 aber ist eindeutig: „Außergewöhnliche Umstände gleich welcher Art, sei es Krieg … oder ein sonstiger öffentlicher Notstand dürfen nicht als Rechtfertigung für Folter geltend gemacht werden“. Zudem sind die Verpflichtungen der Staaten zur Verhinderung des Verbrechens der Folter weit reichend festgelegt, u.a. strafrechtliche Verfolgung der Täter, Unterrichtung über das Folterverbot und Wiedergutmachung für die Opfer.
  • Die US-Armee hat jahrzehntelang in der »School of the Americas«, seit 2001 Western Hemisphere Institute for Security Cooperation, Militär für Lateinamerika ausgebildet, das wesentlich an Folter und politischen Morden beteiligt war.

Wenn wir nur diese wenigen Hinweise zum Umgang der USA mit Folter berücksichtigen, dann können die jetzt angeklagten Folterer im Irak sicherlich nicht als große Ausnahmen angesehen werden. Folter scheint vielmehr ein integraler Bestandteil des Handlungsrepertoires der USA in relevanten Situationen zu sein.

Das gesellschaftliche Umfeld für Folter

Im Zusammenhang mit der Folter im Irak muss darüber hinaus aber auch das politisch-gesellschaftliche Umfeld in den USA, insbesondere unter der Bush-Regierung, beachtet werden.

  • Die USA haben bedeutende internationale Abkommen systematisch boykottiert oder aufgekündigt. Dazu zählen u.a. das Kyoto-Protokoll zur Reduktion umweltschädlicher Emissionen, Verträge zur Begrenzung der Atomwaffenrüstung und – im jetzigen Zusammenhang besonders bedeutsam – der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag. Das Völkerrecht ist – bei allen Unzulänglichkeiten – eine hoch bedeutsame zivilisatorische Errungenschaft. Wenn die jetzige Bush-Regierung das Völkerrecht offensichtlich so gering schätzt, warum sollten Soldaten und Wachpersonal dann ein anderes Bewusstsein haben?
  • Im Irakkrieg 2003 ging es wesentlich um die Kontrolle der höchst wichtigen Ressource Erdöl. Er war ein Bruch des Völkerrechts, begleitet von systematischer Erniedrigung der Vereinten Nationen und Verhöhnung der Regierungen, die diesen Krieg nicht unterstützten. Wenn aber die US-Regierung so offensichtlich die Charta der Vereinten Nationen missachtet, warum sollte dann der einzelne Soldat der Überzeugung sein, internationales Recht – wie die Genfer Konventionen – sei bindend? Der zeitlich nicht begrenzte »Krieg gegen den Terror« birgt die Gefahr, dass in den USA der Mythos entsteht, unschuldiges Opfer von Gewalt zu sein, und dass man sich deshalb über alle Normen hinwegsetzen könne.
  • Die USA halten sich historisch für ein auserwähltes Land (God’s own country), jede Rede eines US-Präsidenten endet mit „God bless America“. Verschärfend kommt hinzu, dass der jetzige Präsident Bush sich als Werkzeug einer Höheren Macht sieht. Wie schon unter Präsident Reagan geht es dann letztlich darum, dass das Gute (natürlich repräsentiert von den USA) das Böse in der Welt bekämpft – früher den Kommunismus, heute den Terrorismus bzw. die Achse des Bösen. Wenn die Welt so konzipiert wird, dass die eigene Seite das Wahre und Gute repräsentiert (Freiheit, Gerechtigkeit, Demokratie) und dies gemäß göttlicher Vorsehung missionarisch verbreiten soll, dann besteht die Gefahr, dass der Zweck die Mittel heiligt und entsprechend auch höchst zweifelhafte und verbrecherische Mittel als akzeptabel gelten.

Diese wenigen Hinweise zur negativen Haltung der US-Regierung gegenüber internationalem Recht verdeutlichen, dass Folter und unmenschliche Behandlung in Abu Ghraib kein isolierter Verstoß gegenüber dem Völkerrecht sind.

Folterhintergrund: Militär und Krieg

Das Militär ist jene weltweit verbreitete anachronistische Organisation, in der Menschen systematisch dazu gebracht werden, Befehlen von Vorgesetzten zu gehorchen und gezielt zu töten. Militär bedeutet also Sozialisation zum Töten von Menschen und ist somit gegen zivile und humanitäre Grundsätze gerichtet. Im Krieg werden moralische Grundwerte – insbesondere das Tötungsverbot – systematisch verletzt. Kriege bedeuten immer Grausamkeiten und unermessliches Elend.

Betrachten wir die oben genannten Fakten, dann wird deutlich: Verantwortlich sind nicht nur die Einzeltäter, sondern auch das gesellschaftliche System, das diese Täter produziert hat, und die Institution Krieg.

Gert Sommer, Professor für Psychologie an der Universität Marburg, Vorsitzender des Forum Friedenspsychologie, stellv. Vorsitzender Wissenschaft & Frieden, Träger des Preises der Deutschen Gesellschaft für Verhaltenstherapie

Friedliche Stimme der Vernunft?

Friedliche Stimme der Vernunft?

Nachtrag zu Stellungnahmen christlicher Kirchen zum Irak-Konflikt

von Albert Fuchs

Im W&F-Dossier Nr. 43 (Beilage zur Ausgabe 2-2003) hat der Theologe Thomas Nauerth eine erste Analyse von repräsentativen Stellungnahmen christlicher Kirchen zum Irak-Konflikt vorgelegt. Sie wird im Folgenden von unserem Redaktionskollegen Albert Fuchs kritisch ergänzt. Nauerth diagnostizierte aufseiten der Kirchenleitungen zwar nicht einen friedensethischen Paradigmenwechsel aus Anlass des »angekündigten Krieges«, aber doch eine Akzentverschiebung in Richtung einer insgesamt kriegskritischeren Haltung. Fuchs hält diese Sicht der Dinge im Interesse einer realistischen Einschätzung des friedenspolitischen Potenzials der Kirchen für ergänzungsbedürftig um die Herausarbeitung deutlicher Defizite der kirchlichen Positionierungen – so dass allenfalls »das Glas halb voll« erscheinen kann.
In seiner Analyse repräsentativer kirchenoffizieller Stellungnahmen zu dem offen betriebenen und konkret vorbereiteten Irakkrieg kommt der Theologe Nauerth (2003) zu einer Einschätzung, die sich etwa in folgenden Punkten zusammenfassen lässt:1

  • Historisch erstmalig nahmen christliche Kirchen jeglicher Denomination weltweit negativ Stellung zu einem Krieg, bevor dieser begonnen hatte (S. 2).
  • Sie gelangten zu diesem eindeutigen Urteil ohne Veränderung der Lehrbasis, im Rahmen ihrer (differierenden) traditionellen Lehre zu Krieg und Frieden und z.T. mit explizitem Bezug darauf (S. 2f.).
  • Aus der Sicht der Kirchenleitungen war und ist ihr Widerspruch eine notwendige Reaktion auf eine gravierende Veränderung der politischen Realität – auf die in der Idee des »Präventivkriegs« kulminierende Tendenz, um bestimmter politischer Zwecke willen (Abrüstung, Regimewechsel, Rohstoffsicherung…) Krieg als Mittel in Erwägung zu ziehen bzw. zu planen und konkret vorzubereiten (S. 3).
  • Als normativer Bezugsrahmen dienten nicht in erster Linie spezifisch biblisch-theologische Konzeptionen; er bestand vorrangig einerseits in den einschlägigen völkerrechtlichen Prinzipien und andererseits in der politischen Leitidee der Kriegsprävention durch Solidarität und Gerechtigkeit; gerade damit wurden die Vertreter des Glaubens zur »Stimme der Vernunft« (S. 3f.).
  • Bemerkenswert war ein starkes Bemühen bei allen Kirchen um Vernetzung untereinander – um zu vermeiden, dass man sie gegeneinander ausspielte, und um ihre globalen Interessen als »Weltkonzern« Kirche(n)/Christenheit – gegenüber staatlichen Akteuren – zu wahren (S. 4f.).
  • Neu, jedenfalls in dieser Breite bisher nicht zu beobachten, waren die Beharrlichkeit, der Mut zur Kontroverse und die innere Geschlossenheit, mit denen die Kirchen ihr Nein in die Öffentlichkeit trugen (S. 5f.).
  • Zu diesem Mut kam eine beachtliche politische Geschicklichkeit; im Besonderen scheinen die Verantwortlichen der Kirchen die Möglichkeiten der Kriegsprävention erkannt zu haben, die darin liegen, dass für Demokratien eine Rückgewinnung des Krieges als politisches Instrument nur über eine massive Beeinflussung der öffentlichen Meinung zu erreichen ist (S. 6).

Alles in allem sieht Nauerth die Kirchenleitungen „in einem eminent wichtigen Lernprozess“ und hält es für möglich, dass sich „die Haltung, aus der heraus bisher Friedensethik entworfen wurde“ ändert, so dass „der andere, jesuanische, Weg in der Politik Wirkung entfalten kann“ (S. 8).

Alle Punkte belegt der Autor recht überzeugend anhand der (ausgewählten) Stellungnahmen und einschlägiger Aktivitäten der Kirchenleitungen, ohne sich in Einzelexegesen zu verlieren. Demnach soll und kann es im Folgenden nicht darum gehen, seine Analyse als solche zu problematisieren. Vielmehr sollen auf vergleichbarem Niveau und unter Beschränkung auf die a.a.O. dokumentierten Erklärungen einige Defizite der kirchlichen Positionierung(en) herausgearbeitet werden.

Politisch-praktische Dürftigkeit

Alle Erklärungen weisen, wie auch Nauerth bereits klarstellt (S. 7), ein starkes Defizit im Bereich der »Praxis« auf. Soweit die eigene Gefolgschaft überhaupt als potenzieller friedenspolitischer Akteur in den Blick kommt, wird fast ausschließlich Gebet als Handlungsform angeregt. Lediglich in der Gemeinsamen Erklärung der United Church of Christ und der Kirchenprovinz Sachsen wird dazu aufgefordert, „Sorgen und Protest in der Öffentlichkeit“ nicht zu verschweigen und die „Möglichkeiten unserer weltweiten ökumenischen Kontakte zur Werbung für den Frieden“ zu nutzen (Text 4, S. 12). Erst recht zieht keine Erklärung konkrete Widerstandshandlungen gegen die Kriegsvorbereitungen oder zivilen Ungehorsam in Betracht.

Diese »pietistische« Selbst-Bescheidung steht in auffälligem Gegensatz zu der vorherrschenden »rationalen« politisch-rechtlichen Argumentation der Bischöfe und Kirchenführer. Mögen sie auch „an die Kraft des Gebetes, das fähig ist, Berge zu versetzen“ glauben (Präsidium der Schweizer Bischofskonferenz, Text 6, S. 13) und mag das Gebet für den Frieden inzwischen auch „zum öffentlichen Ausdruck des Protests“ geworden sein (Nauerth, 2003, S. 7), so wird man den gebetsweisen Sprung in »die andere Wirklichkeit« doch kaum für ein rationales politisches Handeln im instrumentellen Sinne halten. Nauerth (2003) erwägt verschiedene plausible Ursachen und – zum Teil – ehrenwerte (doktrinäre) Gründe für die merkwürdige Abstinenz in politisch-praktischer Hinsicht. Das sollte aber nicht darüber hinwegsehen lassen, dass es zwischen Gebet und Widerstand viele Übergänge und vor allem eine Handlungsform gibt, deren Befürwortung »in der Logik der Sache« gelegen hätte. Gemeint ist die »bedingte Militärdienstverweigerung«. Denn wenn ein ganz bestimmter, von demokratischen Regierungen betriebener Krieg politisch-moralisch objektiv verwerflich ist, wie im konkreten Fall von den Kirchenleitungen behauptet, müsste man sich konsequenterweise doch auch dafür einsetzen, dass die Bürger und Bürgerinnen Kriegsunterstützung und Kriegsbeteiligung ganz legal unter Berufung auf ihr Gewissen verweigern können, auch wenn sie die Androhung und Anwendung von militärischer Gewalt nicht prinzipiell und ausnahmslos für ethisch verwerflich halten, also keine »prinzipiellen« Pazifisten sind.

Staats- und Regierungsnähe

Wenn die Kirchenleitungen aus gegebenem Anlass das Thema bedingte Militärdienstverweigerung auf die Tagesordnung gestellt oder wenigstens zu stellen verlangt hätten, wären institutionelle kirchliche Interessen kaum (unmittelbar) gefährdet gewesen; noch weniger hätte man doktrinäre Skrupel zu haben brauchen wegen eines legalistischen Verständnisses des Evangeliums oder wegen der Aufforderung zu Handlungen, deren unmittelbare Folgen andere zu tragen gehabt hätten. Damit hätte man allerdings die »staatstragende« Doktrin in Frage gestellt, die besagt, dass als Kriegsdienstverweigerer nur anerkannt werden kann, wer sich „aus Gewissensgründen der Beteiligung an jeder Waffenanwendung zwischen den Staaten widersetzt“ – wie es im deutschen Kriegsdienstverweigerungsgesetz heißt (§ 1 Satz 1; vgl. Bundesverfassungsgericht, 1962). Praktisch erkennt kein Staat eine situationsbedingte oder partielle Militärdienstverweigerung gesetzlich an2 – obwohl eine Unterkommission der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen bereits in den 1980er Jahren weit in diese Richtung gehende Empfehlungen gab (vgl. Eide, 1986). Eine entsprechende Positionierung hätte demnach eine Emanzipation von Staat und Staatsräson im Dienste des Friedens bedeutet, wie sie das (groß-)kirchliche Staats- und Kirchenverständnis offensichtlich (noch) nicht zulassen.

Im Umfeld der kirchlichen Erklärungen zum Irak-Konflikt sind durchaus direktere Hinweise auf die anhaltend hemmende Staats- und Regierungsnähe der Kirchen zu finden. Sie sind meist aber insofern ambivalent, als sie mit Nauerth (2003) auch als Ausdruck der „neuen politischen Geschicklichkeit“ (S. 6) verstanden werden können. Ein aufschlussreiches Beispiel ist der Auftritt der auf Initiative des Ökumenischen Rates der Kirchen zusammengekommenen protestantischen und orthodoxen Kirchenführer mit Bundeskanzler Schröder in Berlin am 5. Februar 2003. Mit diesem Schulterschluss wurde zweifelsohne dokumentiert, dass „der deutsche Regierungschef erkennbar nicht isoliert“ (ebd.) war. Andererseits begab man sich damit der Möglichkeit, die fragwürdige Doppelrolle der deutschen Bundesregierung im Zusammenhang des Irak-Konflikts zu problematisieren. Denn während sich die Bundesregierung vor der eigenen überwiegend kriegskritischen Bevölkerung und auf der internationalen Bühne einen wesentlichen Anteil daran zuschreiben konnte, dass die Mehrheit der Sicherheitsrats-Mitglieder dem Druck der US-Regierung nicht nachgab, wurde hinter den Kulissen der Krieg nicht zuletzt von Deutschland aus vorbereitet und von Deutschland unterstützt: Über die Flugplätze Frankfurt, Ramstein und Spangdahlem wurden Kriegsmaterial und Truppen an den Golf verlegt; Häfen und Bahnhöfe dienten als Zwischenstationen für die amerikanisch-britische Reise in den Krieg; die Bundeswehr übernahm den Schutz von US-Militäreinrichtungen und von der Kommandozentrale der US-Armee in Stuttgart (EUCOM) wurde der Nachschub für die Kriegführung koordiniert (vgl. Pflüger, 2003). Nach Art. 3f der Resolution der UN-Generalversammlung von 1974 zur Präzisierung des völkerrechtlichen Aggressionsbegriffs aber handelt nicht nur ein Aggressorstaat völkerrechtswidrig, sondern jeder Staat, der es auch nur duldet, „dass sein Hoheitsgebiet, das er einem anderen Staat zur Verfügung gestellt hat, von diesem anderen Staat dazu benützt wird, eine Angriffshandlung gegen einen dritten Staat zu begehen“ (zit. nach Deiseroth, 2003, S. 17). All dies scheint den Kirchenleitungen entgangen zu sein.

Perspektivenbeschränkung

Einen Sonderfall der problematischen Staats- und Regierungsnähe kann man darin sehen, dass eine biblisch-theologische Perspektive in den vorliegenden Stellungnahmen, wenn sich überhaupt Hinweise darauf finden, eher beiläufig und in keiner Weise argumentativ integriert zur Sprache kommt. So bringt beispielsweise die Evangelisch-methodistische Kirche in Deutschland einfach die „tiefe Überzeugung“ zum Ausdruck, „dass Krieg mit Lehre und Beispiel Christi unvereinbar“ sei und dass im Besonderen „der Weg, den Präsident Bush einschlägt, den Worten Jesu entgegengesetzt ist“ (Text 7, S. 10). Oder Papst Johannes Paul II. gibt gegen Ende seiner Ansprache zu bedenken: „Für einen Glaubenden kommen zu diesen Motivationen (d.h. den relativ ausführlich vorgetragenen politisch-rechtlichen – A.F.) natürlich noch jene hinzu, die ihm der Glaube an Gott als Schöpfer und Vater aller Menschen eingibt…“ (Text 3, S. 11).

Nach Nauerth (2003) ist diese theologische Zurückhaltung vor allem dem Versuch geschuldet, „Gehör in einer immer stärker säkularisierten Öffentlichkeit zu finden“ (S. 4). Mag sein. Die zentrale politisch-rechtliche Argumentation orientiert sich allerdings »rechtspositivistisch« an der UN-Charta oder »naturrechtlich« mehr oder weniger explizit an (den) traditionellen Kriterien der bellum-iustum-Lehre, bleibt jedenfalls argumentationslogisch völlig unkritisch der Voraussetzung verhaftet, dass es einen »gerechten« oder doch wenigsten einen (völkerrechtlich) »gerechtfertigten Krieg« geben könne (vgl. Fuchs, 2001). Damit aber dürften die fraglichen Stellungnahmen, statt einen effektiven Beitrag zur Überwindung der Institution des Krieges zu leisten, in subtiler, jedoch sehr wirkungsvoller Weise den staatsreligiösen Glauben an die »gute« militärische Gewalt bestärken. Nach Chomsky (1999) ist die propagandistische Nützlichkeit kritischer Stellungnahmen, die sich die grundlegenden Annahmen der offiziellen Doktrin zu eigen machen, kaum zu überschätzen; darin sieht er – wohl zu Recht – den Kern demokratischer Systeme der Gedankenkontrolle.

Die vorrangige bis ausschließliche Orientierung am Völkerrecht ist ferner aus einem Grund fatal, der sich aus Besonderheiten der Entstehung und Entwicklung des Völkerrechts ergibt. In prägnanter Weise hat Schweisfurth (2003) die betreffende Problematik zur Sprache gebracht. Es geht es um Folgendes: Die in der »National Security Strategy« der USA vom September 02 behauptete Befugnis zur »preemptive military action«, zum Präventivkrieg also, wurde mit dem jüngsten Irakkrieg zwar erstmals ausdrücklich in Anspruch genommen, zielt aber über diesen Konflikt hinaus. Das geltende Gewaltverbot soll aus den Angeln gehoben werden, so dass Präventivkriege (der USA!) gegen »Schurkenstaaten« künftig legal wären. Nun kann in der Tat geltendes Völkerrecht durch eine weit verbreitete Staatenpraxis, die von der allgemeinen Überzeugung begleitet wird, dass diese Praxis rechtmäßig sei, geändert werden. Noch ist die US-amerikanische Inanspruchnahme einer Befugnis zum Präventivkrieg nur eine Rechtsbehauptung. Doch fängt die Herausbildung von Völkergewohnheitsrecht regelmäßig mit Rechtsbehauptungen eines Staates an. Auch liegt noch keine »weitverbreitete Staatenpraxis« vor. Wenn es den USA jedoch gelänge, die anderen Staaten von der Rechtmäßigkeit ihres »Präventivschlags« zu überzeugen und diese Praxis mit Billigung der meisten Staaten fortzusetzen, entstünde neues Völkergewohnheitsrecht, würde der Irakkrieg als Anfang vom Ende des völkerrechtlichen Gewaltverbots in die Geschichte eingehen. Es kann schon ausreichen, dass andere Staaten es unterlassen, gegen das US-amerikanische Vorgehen zu protestieren. Ihr Verhalten könnte als »stillschweigendes Einverständnis« mit der amerikanischen Rechtsbehauptung interpretiert werden. Die Art der »Versöhnung« zwischen den Kontrahenten im Streit um die jüngste Irakpolitik lässt diesbezüglich Schlimmes befürchten. Auch muss die seit der (Wieder)Erfindung der »humanitären Intervention« und verstärkt seit dem Kosovokrieg und dem »Krieg gegen den Terror« geführte Debatte über die angebliche Reformbedürftigkeit des Völkerrechts alarmieren (vgl. Boos, 2003; Greenwood, 1993; Mohr, 1999). Werden die Kirchenleitungen sich also bei nächster Gelegenheit an einem entsprechend »reformierten« Völkerrecht orientieren?

Bei dieser Aussicht kann man – gleichgültig, wie man sonst zu Religion und Kirche(n) steht – nur bedauern, dass die biblisch-evangelische Botschaft vom „Ende der Gewalt“ (Girard, 1983) und der „Heilkraft der Gewaltfreiheit“ (Häring, 1986) praktisch nicht einmal perspektivisch in den Blick kommt. Natürlich ist der »pazifistische Messianismus« der Bibel „kein Ersatz für moralische Einsichten und sittliche Vernunft“ und natürlich müssten seine „Grundlagen auf eine Weise formuliert werden, die allgemein zugänglich ist… insbesondere auch für die »säkularisierten« Menschen“ (Merks, 2002, S. 97). Aber bereits die bloße Problematisierung der Vereinbarkeit von militärischer Gewalt mit dem Paradigma des »gewaltfreien Christus« würde der fundamentalistischen Stilisierung einer machtpolitischen Auseinandersetzung zum (militärisch auszutragenden) „monumentalen Kampf “ des „Guten gegen das Böse“ (G.W. Bush am 12. September 2001, zit. nach Frankfurter Rundschau, 2001, S. 1) authentisch in die Parade fahren. Auf dieser Ebene bieten die kirchlichen Stellungnahmen der US-Administration jedoch in keiner Weise Paroli. Ansätze dazu sind lediglich in einer Einlassung des Kirchenpräsidenten der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau zu finden (Steinacker, 2003).

Fehlen von Selbstkritik

Eine Konfrontation mit dem »Bushismus« auf genuin weltanschaulich-religiöser Ebene hätte den Kirchen allerdings eine Auseinandersetzung mit dem eigenen »Schatten« abverlangt. Dagegen läuft beispielsweise Steinackers (2003) Abrechnung mit der zivilreligiösen Aufladung »Amerikas« im Kern darauf hinaus, sie als nicht-christliche »Theologie«, genauer: als Intrusion aus der Gnosis zu kennzeichnen. Manche solcher »Einsprengsel« sind jedoch historisch und ideologisch fest mit dem Christentum verzahnt und haben immer wieder zu schwersten Verstrickungen in die menschliche Gewalt- und Unterdrückungsgeschichte geführt; durch »Projektion« können die Kirchen sich sicher nicht davon befreien.

Als eine zentrale Komponente des kirchlichen »Schattens« muss die Verwendung der bellum-iustum-Lehre in der konstantinisch gewendeten Christenheit gelten. Wie erwähnt, spielt diese Lehre auch in mehreren der vorliegenden Stellungnahmen in Form eines kontrafaktischen Bezugs auf das eine oder andere Kriterium eine gewisse kritische Rolle. Andererseits scheint sich in Kirchenkreisen die Einsicht durchzusetzen, dass sie nur „allzu leicht die ideologische Grundlage… für einen leichtfertigen Umgang mit dem Frieden“ bildet (Merks, 2002, S. 94) – soll wohl heißen: ein wichtiges Instrument der Kriegstreiberei darstellt (vgl. Schildmann, 2002). Bei kritischem Umgang mit der eigenen Geschichte könnte sich erschließen, dass die kriegspropagandistische Funktionalisierung der bellum-iustum-Doktrin vor allem mit einer Sakralisierung von Krieg – in variabler Form – einhergeht bzw. zur Sakralisierung dient (vgl. Hasenclever & Rittberger, 2000; Kretschmar, 1995; Nitschke, 1995) und dass zudem der neuzeitliche Fortschrittsglaube als säkularisierte christliche Eschatologie weiterhin eine Grundlage dafür bietet. Vor dem Hintergrund einer Jahrhunderte langen Gefangenschaft in der Gewaltfalle in der Auseinandersetzung mit dem Islam hätte die kirchliche »Stimme der Vernunft« gerade im Zusammenhang des Irak-Konflikts erheblich an Glaubwürdigkeit gewinnen können, wenn in ihr auch solche selbstkritischen Untertöne zu vernehmen gewesen wären. Aus keiner der vorliegenden Stellungnahmen vermag ich sie herauszuhören.

Aufgrund der erklärten Konzentration auf Defizite kirchlicher Stellungnahmen zum Irak-Konflikt muss die Gesamtbilanz deutlich skeptischer ausfallen als bei Nauerth (2003). Aus dieser Sicht wurde die Gelegenheit verpasst, einen gesetzlichen Gewissensschutz auch bei bedingter Militärdienstverweigerung einzufordern und (damit) größere friedenspolitische Unabhängigkeit von Staat und Regierungen zu praktizieren, militärisches »Friedenschaffen« zumindest perspektivisch grundsätzlich zu problematisieren und Alternativen zu thematisieren und schließlich durch eine selbstkritische Reflexion der Verstrickung der Christenheit in die Netze kriegerischer Gewalt ein überzeugendes Beispiel dafür zu geben, wie man sich der eigenen »dunklen Seite« stellt, um weiteren Verstrickungen vorzubeugen. Mit dem Aufweis dieser Defizite wird Nauerths (2003) Analyse der kirchlichen Stellungnahmen zum Irak-Konflikt gleichwohl nicht in Frage gestellt, sondern ergänzt. Während Nauerth sich (einschlussweise) darauf bezieht, was die Kirchen bei ähnlichen früheren Gelegenheiten zu leisten nicht imstande waren, dient das (idealisierte) kirchliche Selbstverständnis als »Sakrament des Friedens« (z.B. Die deutschen Bischöfe, 2000, S. 89) als Bezugspunkt der vorliegenden Analyse. Beide Blickrichtungen sind erforderlich, nicht zuletzt für die Orientierung der friedenspolitisch engagierten kirchlichen Basis.

Literatur

Boos, P. (2003): Die gefährliche Debatte über die Reform des Völkerrechts. Friedens-Forum, 16 (3), 18-19.

Bundesverfassungsgericht (1962): Beschluss des Ersten Senats vom 20. Dezember 1960 – 1BvL 21/60. Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, 12, 45-61.

Chomsky, N. (1999): Bemerkungen zu Orwells Problem. In: N. Chomsky: Sprache und Politik (S. 109-122). Berlin: Philo.

Deiseroth, D. (2003): US-Stützpunkte in Deutschland im Irakkrieg. Wissenschaft und Frieden, 21 (1), 15-20.

Die deutschen Bischöfe (2000): Gerechter Friede. Bonn: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz.

Eide, A. (1986): Gewissen und Gewalt. Das Recht auf Militärdienstverweigerung aus Gewissensgründen in der internationalen Diskussion. Vereinte Nationen, 34, 60-64.

Fuchs, A. (2001): Gerechter Krieg? Anmerkungen zur bellum-iustum-Lehre. Wissenschaft und Frieden, 19 (3), 12-15.

Frankfurter Rundschau (2001, 13. September): Die Welt im Schock und im Alarmzustand. Frankfurter Rundschau, S. 1.

Girard, R. (1983): Das Ende der Gewalt. Freiburg i. Br.: Herder.

Greenwood, C. (1993): Gibt es ein Recht auf humanitäre Intervention? Europa-Archiv, 48, 93-106.

Häring, B. (1986): Die Heilkraft der Gewaltfreiheit. Düsseldorf: Patmos.

Hasenclever, A. & Rittberger, V. (2000): Does religion make a difference? Theoretical approaches to the impact of faith on political conflict. Journal of International Studies, 29, 641-674.

Kretschmar, G. (1995): Der Heilige Krieg in christlicher Sicht. In: H. von Stietencron & J. Rüpke (Hrsg.): Töten im Krieg (S. 297-316). Freiburg i. Br.: Alber.

Merks, K.-W. (2002): Frieden zwischen Utopie und Realismus oder: Wie viel Gewalt darf der Frieden kosten? In: Katholische Akademie Rabanus Maurus im Bistum Limburg/pax christi-Bistumsstelle Limburg (Hrsg.), Gerechter Friede (S. 93-102). Idstein/Ts.: Meinhardt.

Mohr, M. (1999): An der Schwelle zu einem »neuen Völkerrecht«? Wissenschaft und Frieden, 17 (3), 48-51.

Nauerth, T. (2003): In the name of the prince of peace – Christliche Kirchen als friedliche Stimme der Vernunft. Wissenschaft und Frieden, 21 (2), Dossier Nr. 43.

Nitschke, A. (1995): Von Verteidigungskriegen zur militärischen Expansion: Christliche Rechtfertigung des Krieges beim Wandel der Wahrnehmungsweise. In: H. von Stietencron & J. Rüpke (Hrsg.): Töten im Krieg (S. 241-276). Freiburg i. Br.: Alber.

Pflüger, T. (2003): Zwiespältiges – Die deutsche Rolle im Irakkrieg. Wissenschaft und Frieden, 21 (2), 49-52.

Schildmann, C. (2002): Die Bomben aus Stahl, das Pathos aus Hollywood. Die Wiederentdeckung des »gerechten Krieges« im Medienzeitalter. Vorgänge, 41 (3), 71-81.

Schweisfurth, T. (2003, 28. April): Aggression. Frankfurter Allgemeine Zeitung, S. 10.

Steinacker, P. (2003, 21. Januar): God‘s own country. Auch religiöse Differenzen verbreitern die Kluft zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und Europa. Frankfurter Rundschau, S. 7.

Anmerkungen

1) Alle im Folgenden nicht weiter spezifizierten Seitenangaben beziehen sich auf den Beitrag von Nauerth (2003) bzw. das Dossier Nr. 43.

2) Knebel, G./Evangelische Arbeitsgemeinschaft zur Betreuung der Kriegsdienstverweigerer (EAK): persönliche Mitteilung, 04.08.03.

Prof. Dr. Albert Fuchs gehört zum Redaktionsteam von W&F und ist Mitarbeiter des Instituts für Friedensarbeit und Gewaltfreie Konfliktaustragung

Old Europe nach dem Irakkrieg

Old Europe nach dem Irakkrieg

von Jochen Hippler

Der Krieg sollte, so Präsident Bush, seit Anfang Mai im Wesentlichen vorüber sein, die größeren Kampfhandlungen galten seitdem als abgeschlossen. Das war reichlich voreilig, in gewissem Sinne hat mit der Eroberung des Irak durch die US-Truppen der eigentliche Kampf erst begonnen: der um die tatsächliche Kontrolle und Gestaltung dieses Landes. Und diese Auseinandersetzung, dieser »Nach-Krieg« ist in den letzten Monaten eskaliert. Er wird mit wirtschaftlichen, politischen, aber auch militärischen Mitteln geführt und erfolgt zunehmend blutig: der November war der bisher verlustreichste Monat der Besatzungstruppen. Zunehmend geraten nun auch Kräfte der US-Verbündeten ins Visier des Widerstandes. Eine Stabilisierung zeichnet sich noch immer nicht ab, und ein glaubwürdiges und Erfolg versprechendes Konzept Washingtons für eine stabile Nachkriegsordnung, die zugleich die eigenen Interessen sichert, ist weiterhin nicht erkennbar.

Angesichts dieser im Irak weiter unklaren Situation drängt sich die Frage auf, wie sich die damalige »Anti-Kriegs-Koalition« um Frankreich, Deutschland, Russland und China heute auf den weiterschwelenden Konflikt bezieht. Diese Koalition war ja ohnehin sehr heterogen, sie verfügte über keine positive, gestaltende Strategie, sondern war sich nur in der Ablehnung einer rücksichtslosen, unilateral und militaristisch angelegten Politik der Bush-Administration einig. Der Streit ging nur nebenbei um den Irak, vor allem um die Zurückweisung einer als hemdsärmelig empfundenen Art der US-Führungsrolle – nicht um die Bestreitung der US-Führungsrolle an sich. Frankreich hatte sich noch bis Mitte Januar auf eine Beteiligung am Krieg eingestellt und war erst umgeschwenkt, als die Bush-Administration nicht nur auf dem Krieg bestand, sondern Freund und Feind, UNO und Völkerrecht, vor allem aber seinen Verbündeten deutlich seine Geringschätzung zu verstehen gab. Ebenso wenig war die Ablehnung der anderen Akteure prinzipiell begründet, sondern oft gegen den Stil – nicht die Substanz – Bush’scher Politik gerichtet, z.T. opportunistisch oder innenpolitisch verursacht. Viele so nahe liegenden wie berechtigte Einwände waren ja nicht öffentlich erhoben worden: schließlich waren ja die völkerrechtlichen Grundlagen der Kriege gegen Serbien und Afghanistan nicht substantieller als beim Irak-Krieg, und zumindest beim Kosovo-Krieg hatte man die UNO ebenfalls umgangen – was die späteren Kriegsverweigerer nicht weiter gestört hatte. Washington hatte sich bei der Durchsetzung des Irak-Krieges eben nicht als kooperativer Hegemon, sondern als imperialer Rabauke aufgeführt – das hatte die Kriegsgegner verärgert, nicht der Krieg an sich.

Zugleich aber war von vornherein klar, dass die Anti-Kriegs-Koalition die USA weiterhin als zentralen Partner betrachtete und betrachten musste. Washington war, blieb und ist der für Paris, Berlin, Moskau und Peking zentrale internationale Partner in der Sicherheits- Außen- und Außenwirtschaftspolitik. Das Gewicht der USA als einzige Supermacht ist so beträchtlich, dass keines dieser Länder mittelfristig einen ernsthaften Bruch mit Washington riskieren würde. Deshalb begannen sofort nach dem Streit Anstrengungen zur Überwindung der Auseinandersetzungen. Dabei entstanden bald ernste Risse in der Anti-Kriegs-Koalition: Moskau bemühte sich besonders schnell und deutlich um eine Wiederannäherung an die USA und setzte damit Frankreich und Deutschland unter Druck. Die neue Sichtweise war bereits schnell in der UNO zu erkennen:

Im Mai 2003 verabschiedete der UN-Sicherheitsrat dann die Resolution 1483, in der nach dem Irakkrieg die Rolle der UNO und der Besatzungsmächte im Irak geregelt wird. In dieser Resolution wurde der Irak-Krieg zwar nicht explizit nachträglich legitimiert, aber in den entscheidenden Punkten kam der Sicherheitsrat den USA weit entgegen. Zwar betonte die Resolution stärker als die zuvor bekannt gewordenen US-Entwürfe eine Rolle der UNO im Irak. Aber zugleich erklärte sie die Besatzungsbehörden nicht nur zum Schlüsselpartner bei der Zusammenarbeit, sondern übertrug ihnen praktisch die Regierungsmacht und die Verfügungsgewalt über die irakischen Ressourcen (Artikel 13, 16, 17 und 20). Alle Mitglieder des Sicherheitsrates, auch Frankreich und Deutschland, stimmten diesem Beschluss zu. Im Oktober 2003 folgte eine ebenfalls einstimmig verabschiedete Resolution 1511, in der der Sicherheitsrat noch einige Schritte weiter ging und die UNO-Mitglieder aufforderte, Truppen und finanzielle Mittel für den Irak bereitzustellen, obwohl etwa Berlin, Paris und Moskau das für sich selbst weiter ablehnten.

Das Problem der Ablehnungsfront lag aber nicht allein beim gestörten Verhältnis zu Washington, sondern auch darin, kein eigenes Konzept für einen Nachkriegsirak zu haben. Sie kann kein Interesse daran haben, dass der Irak nach dem Krieg zu einem regionalen oder gar globalen Herd der Instabilität und Gewalt wird, will aber mit gutem Grund die US-Politik dem Land gegenüber nicht unterstützen, um den Krieg nicht nachträglich zu legitimieren. Die Kriegsverweigerer verfügen im Irak selbst über keinen Einfluss und kaum Präsenz, also über keine Möglichkeit, an den US-Besatzern vorbei Politik zu betreiben. Dieser Widerspruch zwischen strategischem Stabilisierungsinteresse und einer Politik der Verweigerung gegenüber Bush ist nicht auflösbar – auf Dauer werden sich die Skeptiker deshalb schrittweise weiter auf Washington zu bewegen. Dies dürfte mittelfristig leichter werden, weil die US-Regierung durch ihre zunehmenden Schwierigkeiten im Irak ebenfalls gezwungen ist, stärker auf die internationale Gemeinschaft zuzugehen und um Personal und Geld zu bitten.

Prof. Dr. Jochen Hippler lehrt am Institut Entwicklung und Frieden der Universität Duisburg-Essen

Es ging nicht nur um Öl

Es ging nicht nur um Öl

Das US-Hegemonialsystem und der Irak-Krieg

von Mohssen Massarrat

Die Vereinigten Staaten führten nach dem zweiten Weltkrieg beinahe ein halbes Jahrhundert unangefochten die westliche Welt. Ihre Führungsposition beruhte auf ökonomischer, politischer, militärischer und auch kultureller Hegemonie. Europa und die gesamte westliche Welt orientierten sich am American way of life und legitimierten in Abgrenzung vom sowjetischen Lager aus Eigeninteresse und Überzeugung alle US-dominierten multilateralen Institutionen wie die Weltbank, den IWF, die WTO und die NATO. Doch seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion offenbart sich ein ganz anderes Amerika. Den historischen Wandel bringt der »Spiegel« (Nr. 30/2003) auf den Punkt: Der Irakkrieg „war der erste Krieg einer Weltmacht, die sich entschlossen hat, die Welt mehr mit dem American way of war zu beeindrucken als mit dem American way of life.“ Dieser Wandel ist nicht nur auf die neue US-Regierung zurück zu führen, das offensiv-missionarische und aggressiv-kriegslüsterne Auftreten der Neokonservativen darf über die Grundstrukturen des neuen Amerikas nicht hinweg täuschen.

Die USA stellen ein komplexes Hegemonialsystem dar mit vier, ihrem Wesen nach unterscheidbaren und voneinander unabhängigen, jedoch hegemonialpolitisch verschränkten Säulen: die innergesellschaftlichen, sicherheitspolitisch-militärstrategischen, geostrategischen und währungspolitischen Triebkräfte (siehe Abbildung auf S. 12).

Innergesellschaftliche Spaltung, Militärindustrieller Komplex und Hegemonialsystem

Die US-Gesellschaft war und ist eine multikulturell, multiethnisch, sozial und räumlich zutiefst gespaltene Gesellschaft. Die nicht-europäischen Einwanderergemeinden wie die Chinesen und Latinos leben neben den Schwarz-Amerikanern immer noch in Ghettos, eine Integration der in ihrer überwältigenden Mehrheit unterprivilegierten Farbigen hat immer noch nicht stattgefunden. Der Individualismus, die kommunale Basisdemokratie und der Dezentralismus stellen zwar eine tragfähige Grundlage der bewundernswerten kulturell-künstlerischen Errungenschaften dar, die Amerika für viele in der Welt attraktiv machen, sie stehen jedoch dem auf Grund der territorialen Ausdehnung des Landes besonders ausgeprägten Zentralismus in Washington und der damit einhergehenden Entpolitisierung der Menschen bei weltpolitischen Themen gegenüber. Die positiven Auswirkungen des American way of life und der kulturellen Hegemonie der USA in der westlichen Welt einerseits und die äußere Bedrohung durch den sowjetischen Feind andererseits reichten jedoch offensichtlich aus, um die innergesellschaftlich-soziokulturelle und territoriale Kluft über Jahrzehnte zu verdecken und eine breite gesellschaftliche Legitimation für die innen- und außenpolitischen Projekte der USA herzustellen. Doch der American way of life erhielt mit der Krise des fordistischen Konsummodells deutliche Kratzer, das Feindbild Kommunismus verschwand mit der Sowjetunion, der Neoliberalismus verstärkte die Ellenbogenmentalität und die kollektiven Ängste gerade angesichts des Fehlens eines angemessenen sozialen Netzes.1

Es ist durchaus kein Zufall, dass in den letzten zwei Jahrzehnten die Religion und religiöses Denken nach einer längeren Dominanzperiode radikal-liberaler Traditionen erneut in die US-Gesellschaft und -Politik Einzug gehalten hat. Nach Meinungsumfragen „bezeichnen sich 46 Prozent der US-Bürger – wie George W. Bush – als evangelikale Christen, das heißt als ‘wiedergeboren‘ ; 48 Prozent lehnen die Evolutionstheorie als Ketzerei ab, 68 Prozent glauben, sie seien schon einmal dem Teufel begegnet… Und Tom de Lay, der republikanische Fraktionschef im Repräsentantenhaus glaubt sich von Gott berufen, die ,biblische Weltanschauung‘ in der amerikanischen Politik zu stärken, wonach nur das Christentum lehre, wie man ,mit den Realitäten dieser Welt zurechtkommen‘ könne.“2 Noch deutlicher bekannte sich der Präsident selbst sich zu einer Religiosität. Die Rede ist von George W. Bushs „Mission, ‘die der göttlichen Vorsehung folgt‘, vom ‘demütigen Führer eines großen Landes‘, vom ‘Bruder in Christus‘ und von der Freiheit, ‘die nicht Amerikas Geschenk an die Welt … sondern ein Gottesgeschenk an die Menschheit sei‘“3 Horst Eberhard Richter spricht in diesem Zusammenhang von der „moralischen Krise der Amerikaner.“4

Besorgnis erregend ist dabei, dass der übermächtige Militärindustrielle Komplex (MIK) und das Pentagon samt der ihnen nahestehenden, mit den US-Massenmedien wirkungsvoll vernetzten »Denkfabriken«, wie dem American Enterprise Institut, es verstanden haben, diese »moralische Krise der Amerikaner« für die Zustimmung zu einer aggressiven Außenpolitik zu kanalisieren. Der MIK, der der US-Gesellschaft einen beträchtlichen Anteil der Ressourcen wegnimmt, hat im Unterschied zur Autoindustrie oder Ölindustrie keine sozialen Verbündeten in der US-Gesellschaft. Vor allem nach dem Wegfall des Feindbildes Sowjetunion ist er auf neue tatsächliche oder vermeintliche Bedrohungen, auf neue Feindbilder und Konflikte angewiesen, um seinen Fortbestand innenpolitisch zu legitimieren. Die innergesellschaftliche Konsensbildung jenseits der soziokulturellen Gegensätze und territorialen Divergenzen gerät so in die Abhängigkeit von neuen Bedrohungspotentialen jenseits der Vereinigten Staaten, die Suche nach neuen Feinden wird zu einem Wesensmerkmal des neuen Amerikas: „Ein halbes Jahrhundert lang standen die USA für politische und wirtschaftliche Freiheit“ schreibt Emmanuel Todd in der Einleitung seines »Nachrufes« auf die Weltmacht USA. „Aber heute“, konstatiert Todd „erscheinen sie immer mehr als ein Faktor der internationalen Unordnung, und wo sie können, fördern sie Instabilität und Konflikte.“5 Zahlreiche Ereignisse in den letzten zwei Jahrzehnten untermauern diese Beurteilung.

Die US-Intervention im Iran/Irak-Krieg zu Gunsten des Iraks in den achtziger Jahren hat die Konfliktstrukturen im Mittleren Osten vertieft, das Saddam-Regime gestärkt und dessen Überfall auf Kuwait gefördert. Auch in den neunziger Jahren haben die Vereinigten Staaten beim Bosnien- und Kosovo-Konflikt auf dem Balkan die Chancen nicht-militärischer Lösungen leichtfertig verspielt und Militärinterventionen eindeutig den Vorzug gegeben. Besonders folgenreich ist der Umgang der USA mit dem Nahost-Konflikt. Todd spricht offen aus, was viele in Europa und anderen Weltregionen denken. Sie verstehen nicht, konstatiert Todd, „warum Amerika den Konflikt zwischen Israel und Palästina nicht regelt, obwohl es dazu in der Lage wäre. Sie fragen sich allmählich, ob es Washington ins Konzept passen könnte, dass dieser ständig schwelende Konflikt im Nahen Osten existiert und dass die arabischen Völker wachsende Feindseligkeit gegenüber der westlichen Welt bekunden.“6 Die US-Nahost- und -Afghanistanpolitik hat die islamisch-fundamentalistischen Strömungen in der islamischen Welt gestärkt und dem internationalen Terrorismus den Nährboden geliefert.

Gewollt oder ungewollt hat sich eine unheilige Allianz zwischen dem Pentagon und dem internationalen Terrorismus herausgebildet, die sich gegenseitig hochschaukeln. Im Irak arbeiten offenbar Anhänger des alten Regimes inzwischen mit der Al Qaida sehr eng zusammen, der durch die US-Regierung konstruierte Kriegsgrund wurde erst durch den Irak-Krieg tatsächlich herbeigeführt. Die Schurkenstaaten-Theorie entstand in der Ära von Präsident Clinton, die neokonservativen Republikaner ergänzten diese Konstruktion durch die Erfindung der »Achse des Bösen«. Das Regime von Saddam Hussein, das zu dieser »Achse« gehörte, wurde inzwischen gestürzt. Unzählige Pläne gegen den Iran und Nordkorea – die anderen, zu dieser Achse gehörenden »Schurkenstaaten« – warten auf ihre Umsetzung, so z.B. der CIA-Plan, die iranischen Nuklearanlagen durch Militärschläge anzugreifen,7 und der »Plan 5030« des US-Verteidigungsministeriums zum Zweck gezielter und riskanter Provokationen an der Süd-Nordkoreanischen Grenze.8

US-Nuklearstrategie und Hegemonialsystem

Während der Ära des »Kalten Krieges« war der Hauptadressat des westlichen nuklearen Abschreckungssystems naturgemäß die Sowjetunion. In diesem System standen die europäischen Verbündeten der USA, aber auch Japan, unter dem nuklearen Schutzschirm der USA. Sie wurden sicherheitspolitisch damit de facto zu Protektoraten der USA und akzeptierten ihrerseits bereitwillig deren Hegemonialposition. Mit der Auflösung der Sowjetunion und der Bereitschaft der sowjetischen Führung unter Gorbatschow zur umfassenden Abrüstung auch bei den ABC-Waffen entstand für Europa und Japan historisch die reale Chance, sich von ihrem Protektorats-Status zu lösen und ihren außenpolitischen Handlungsspielraum im Rahmen einer multilateral ausgerichteten Weltordnung zu erweitern. Doch kam es aller Wahrscheinlichkeit nach auch aus demselben Grund nicht zu dieser allgemein erhofften Entwicklung. Bereits Ende der achtziger Jahre scheinen sich jene Kräfte in den USA durchgesetzt zu haben, die ganz im Sinne einer unilateralistischen Weltordnung die im Kalten Krieg entstandenen sicherheitspolitischen Abhängigkeiten Europas und Japans aufrecht erhalten wollten. Die begonnene Abrüstung von strategischen Trägersystemen und ABC-Waffen wurde bereits vor dem Ende des Kalten Krieges gestoppt, die Pläne für den Aufbau von Raketenabwehrsystemen im Weltraum aktualisiert.

Die US-Politikstrategen handelten schon damals nach Imperativen, die Brzezinski in seiner »Strategie der Vorherrschaft« präzise formuliert hat, nämlich „Absprachen zwischen den Vasallen zu verhindern und ihre Abhängigkeiten in Fragen der Sicherheit zu bewahren.“9 Die neokonservativen Unilateralisten führten Brzezinskis strategische Ideen in ihrem Projekt »American Century« konsequent zu Ende. Präsident George W. Bush kündigte Ende 2001 endgültig Amerikas Rückzug von dem seit 1972 gültigen ABM-Vertrag an.10 Das Pentagon entwickelte neue Militärstrategien, die den Einsatz von Atomwaffen auch gegen Nicht-Atomstaaten ausdrücklich vorsehen,11 die US-Regierung weigert sich, den Vertrag über die nukleare Nichtweiterverbreitung von 1968 zu erfüllen und bewilligt Haushaltsmittel für die Entwicklung von neuartigen nuklearen Sprengköpfen.12 Ob es bei der Installierung von Raketenabwehrsystemen wirklich darum geht, die eigene Verwundbarkeit gegen atomare Bedrohungen auszuschließen, bleibt dahin gestellt. Erreicht wird auf jeden Fall die Aufrechterhaltung eines diffusen nuklearen Bedrohungspotentials, das quasi als nukleares Damoklesschwert die mächtigsten ökonomischen Rivalen der USA, Japan und die EU, davon zurückhält, sich von ihrem Protektoratsstatus zu lösen und die unilateralistische US-Hegemonie, wenn auch zähneknirschend, hinzunehmen. Die atomare Sicherheitsstrategie der USA ist insofern nicht allein gegen traditionell »feindliche« Atommächte wie Russland und China, sondern hegemonialpolitisch gesehen auch gegen eigene westliche Verbündete gerichtet.

Öl, Geostrategie und Hegemonialsystem

Das ökonomische Interesse der USA an Ölressourcen des Mittleren Ostens ist unbestritten. Dieses Interesse ist vielschichtig und zielt einerseits auf die US-Ökonomie selbst, somit ist es von innenpolitischer Relevanz ; andererseits zielt es auf die US-Außenpolitik und ist in der herausragenden Bedeutung begründet, die die mittelöstlichen Ölquellen im Hegemonialsystem der USA einnehmen. Für die US-Ökonomie sind wiederum zwei Funktionen der mittelöstlichen Ölquellen zu unterscheiden: Erstens als Öllieferant, wobei dieser Aspekt nicht der wichtigste ist, da die USA bisher nur ein Viertel ihres Importbedarfs aus dieser Region beziehen. Zweitens als Steuerungshebel der Öl- und Energieweltmarktpreise, da im Mittleren Osten 67% der weltweiten Ölressourcen mit den niedrigsten Produktionskosten vorkommen. Bei einer Preisdifferenz von beispielsweise 10 Dollar/Barrel sparen die USA bei einer Importmenge von jährlich 3,8 Mrd. Barrel Öl 38 Mrd. Dollar an Devisen, die US-Ökonomie als Ganzes spart bei einem Gesamtverbrauch fossiler Energien von 15 Mrd. Barrel Öläquivalent (Kohle, Öl, Erdgas) aus Eigenproduktion und Import ca. 150 Mrd. Dollar Energiekosten ein.13 Bei einer Preisdifferenz von 20 Dollar erhöhen sich diese Beträge auf das Doppelte.14 Die Einflussnahme auf die Öl- und Energiepreise und deren Regulierung auf ein der US-Ökonomie zuträgliches Niveau war vor allem auch aus innenpolitischen Gründen das Ziel aller US-Regierungen. Billigöl galt und gilt immer noch als Lebenselixier des American way of life und als Wachstumsmotor der US-Wirtschaft. Die mittelöstlichen Ölquellen könnten – sofern kein grundlegender Wandel auf regenerative Versorgungsstrukturen stattfindet – in Zukunft wegen der Knappheitstendenzen fossiler Energien in den USA und in anderen Weltregionen einen deutlich höheren Stellenwert erlangen. In der Vergangenheit dominierte jedoch das Interesse der USA, den Ölpreis im Rahmen einer umfassenderen Strategie der Kontrolle und Beherrschung der weltweiten Energieversorgung zu lenken. Diese Strategie sollte der zweifachen Interessenkonstellation der USA, nämlich den spezifisch innenpolitischen und den hegemonialpolitischen Interessen, Rechnung tragen. Innerhalb dieser Strategie kam einer engen Kooperation mit Saudi-Arabien als dem größten Ölproduzenten und -exporteur sowie Kuwait und den Arabischen Emiraten, die zusammen über einen Weltmarktanteil von 17,4% und 45% der OPEC-Produktion verfügen, die Schlüsselrolle zu.

Die USA verfügten darüber hinaus im letzten halben Jahrhundert über vielfältige ökonomische, geheimdiplomatische Instrumente, um die Ölweltmarktpreise über mehrere Jahrzehnte zu steuern.15 Die hegemonialpolitische Interessenkonstellation der USA beruht auf der Abhängigkeit ihrer traditionell sicherheitspolitischen Vasallen, nämlich der EU und vor allem Japan sowie darüber hinaus auch der asiatischen Schwellenländer von den mittelöstlichen Ölquellen.16 Die US-Hegemonie gegenüber diesen Staaten stützte sich während des »Kalten Krieges« außer auf die Säule des nuklearen Schutzschirmes auch auf die Säule der störungsfreien Ölversorgung zu niedrigen Preisen. Der Unilateralismus verlangt die Beibehaltung der nuklearen Säule und Verstärkung der Energieversorgungssäule. Letztere eignet sich hervorragend dazu, auch Indien und China als Atomstaaten und ökonomisch aufsteigende Großmächte, deren Ölnachfrage und Ölabhängigkeit von mittelöstlichen Energiequellen drastisch zunimmt, dem Hegemonialsystem unterzuordnen und gleichzeitig Russland als potentiell militärischen Rivalen mit eigenen energie- und geostrategischen Interessen an den Rand zu drängen. Dazu bedürfte es allerdings nicht nur einer verstärkten Kontrolle von Ölquellen der Persischen Golf-Region, sondern der Ausdehnung dieser Kontrolle auch auf die Kaspische Meer-Region.

Doch damit die öl- und geostrategische Säule im Hegemonialsystem die beschriebene Bedeutung erlangen kann, muss der Hegemon den gesamten Raum »Greater Middle East« militärisch, logistisch und ökonomisch direkt oder indirekt beherrschen. Dazu gehören:

  • ein dichtes Netz militärischer Stützpunkte und Präsenz der US-Armee an strategisch wichtigen Standorten,
  • eine möglichst große Zahl von Verbündeten und von den USA abhängiger Regime,
  • die totale Kontrolle der Versorgungsstrukturen und Transportrouten für Öl und der Gaspipeline sowie des Zugangs zu den Weltmeeren und
  • die Beteiligung einer möglichst großen Zahl von US-Konzernen im Energie- und Infrastrukturanlagen-Bereich.

Im Lichte dieser hegemonialpolitischen Geostrategie erscheinen der Sturz der Taliban in Afghanistan und des Regimes von Saddam Hussein im Irak sowie die Installierung von US-freundlichen Regimen in beiden Ländern als besonders wichtig. Ihnen kommt sogar die Schlüsselfunktion zu: Afghanistan wegen des Pipeline-Projekts für den Transport von Erdgas und Öl vom Kaspischen Meer zum Indischen Ozean, und Irak, um vor allem Saudi-Arabien bei Bedarf unter Druck setzen zu können.

Dollar und Hegemonialsystem

Als Leitwährungsland verfügen die USA über die Option, die inländischen Investitionen über Auslandsverschuldung zu finanzieren und diese über den Hebel der Notenpresse zu bedienen. Seit dem Zusammenbruch des Bretton-Wood-Systems entschieden sich die US-Regierungen verstärkt für den bequemen Weg eines durch den Rest der Welt mitfinanzierten Wachstumsmodells. Charles A. Kupchan, der Berater von Präsident Clinton, bringt das Wundermodell auf den Punkt: „Das Land muss seinen Way of life finanzieren, sein Handelsbilanzdefizit ausgleichen, es liebt den Konsum und hasst es zu sparen. Deshalb haben sich Investoren Amerika als Investitionsort ausgesucht, sie lieben den Dollar und seine Stabilität.“17 „Hass auf Sparen und Lust auf Konsum“, somit ein Leben über die eigenen Verhältnisse und auf Kosten aller anderen Nationen. Diesen Luxus können sich dank des Dollars als Leitwährung nur die Vereinigten Staaten leisten. Die Netto-Auslandsverschuldung der USA stieg als Folge der fremdfinanzierten Investitionspolitik von 250 Mrd. in 1982 auf 2.000 Mrd. US-Dollar in 2000, dies macht 22,6% des US-Bruttoinlandsproduktes aus.18 Dieser bequeme Weg der Wohlstandsvermehrung ist allerdings nur so lange möglich, wie der Dollar seine Leitwährungsfunktion beibehält. Verliert der Dollar diesen Status an den Euro, so könnte das „Staaten und Privatanleger veranlassen“, konstatiert Kupchan, „bei Rücklagen und Investitionen dem Euro den Vorzug vor dem Dollar einzuräumen. … Das hätte schwerwiegende Folgen für das Land, das extrem abhängig von ausländischem Kapital ist.“19 Anstatt dieser Perspektive durch umfassende sozial-ökologische Reformen vorzubeugen, zieht es die politische Führung der USA vor, die Leitwährungsfunktion des Dollars und den privilegierten Status der asymmetrischen Handels- und Kapitalflüsse trotz offensichtlicher Risiken hegemonialpolitisch aufrecht zu erhalten.

Dem Erdöl kommt in diesem Zusammenhang in zweifacher Hinsicht eine Schlüsselrolle zu. Zum einen, weil der Ölmarkt der größte Einzelprodukt-Markt ist und der weltweite Ölhandel auf Dollar-Basis daher einen wichtigen Stabilitätsfaktor der US-Währung darstellt. Zum anderen, weil die größten Ölexporteure Saudi-Arabien, Kuwait und Arabische Emirate bisher ihre Devisenüberschüsse – bis 1990 rund eine Billion Dollar – in erster Linie in den USA investierten.20 Saudi-Arabien steht unter massivem Druck, nicht nur den Ölverkauf weiterhin in US-Dollar abzuwickeln, sondern auch das eigene Kapitalvermögen – rund 400 Mrd. Dollar – nicht aus den USA abzuziehen. So gesehen werden Öl und Geostrategie auch währungspolitisch zu einem hegemonialpolitischen Faktor, Ölkriege werden gleichzeitig auch Währungskriege. Dies gilt auf besondere Weise gerade auch für den Irak-Krieg. Der Irak hatte schon Ende 2000 damit begonnen, die tägliche Ölförderung von 2,4 Mio. Barrel in Euro abzuwickeln. Auch der »Schurkenstaat« Iran verkauft sein Öl zum Großteil in Euro, damit drängt sich der Euro zum ersten Mal in eine klassische Dollar-Domäne.21 Als Besatzungs- und Hegemonialmacht mitten in der Persischen Golf-Region hoffen die USA, den für die eigene Volkswirtschaft lukrativen Kreislauf von Rüstungsgüter gegen Petro-Dollars nicht nur für die Zukunft am Leben zu erhalten, sondern zusätzlich auch die Position des Dollars durch umfangreiche Wiederaufbau-Aufträge an die US-Konzerne zu stärken.22

Grenzen des neuen Amerikas

Lange vor dem Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums war es absehbar: Die Welt bewegte sich unaufhaltsam auf eine multipolare Zukunft zu. Neue ökonomische Riesen, wie die EU, Japan und China, kündigten sich als eigenständige ökonomische und politische Zentren an. Auf diese Entwicklung reagierte das neue Amerika trotzig, rückwärtsgewandt und narzistisch. Die Repräsentanten Amerikas fürchten den endgültigen Verlust der historisch einmaligen Position mit der magnetischen Anziehungskraft für Menschen und für das Kapital auf dem gesamten Globus. Anstatt sich durch umfassende Reformen und einen sozialen, ökonomischen und ökologischen Strukturwandel der multipolaren Entwicklung anzupassen, hoffen sie darauf, den erlangten Status auf Grund des unerreichbaren militärischen Vorsprungs auch in Zukunft halten und gegebenenfalls sogar ausbauen zu können. Der gesamte Globus wird in militärische »Schutzzonen« aufgeteilt,23 die von den USA dominierten multilateralen Institutionen der Weltwirtschaft wie IWF, Weltbank und WTO werden immer offensiver in den Dienst der globalen Umverteilung zu Gunsten der eigenen Volkswirtschaft gestellt. Der Neoliberalismus liefert mit seinen Postulaten Liberalisierung, Privatisierung und Wachstum durch Verbilligung der Arbeits- und Naturressourcen die ideologische Rechtfertigung der globalen Reichtumsumverteilung. Die militärischen Kosten der amerikanischen Hegemonialordnung – mögen sie auch mehrere hundert Milliarden Dollar im Jahr betragen – dürften nur einen Bruchteil der Gewinne ausmachen, die Amerika dank seiner Hegemonialordnung gewissermaßen als »Hegemonialrente« aus der Weltwirtschaft abschöpft.

Im Irak-Krieg, dem vorläufigen Höhepunkt von Amerikas Hegemonialpolitik und dessen Strategie der Vorherrschaft, kamen wie in keinem anderen Krieg der USA in den letzten Jahrzehnten nahezu alle entscheidenden hegemonialstrukturellen Triebkräfte, wie sie oben analysiert wurden, zum Tragen. Der Irak-Krieg war nicht – wie überwiegend angenommen wurde – nur ein Ölkrieg, er war gleichzeitig ein innenpolitischer, ein rüstungs- und militärstrategischer, öl- und geostrategischer und ein währungspolitischer Krieg.

Doch in dem Land, in dem der politische Erfolg des neuen Amerikas vorexerziert werden sollte, zeigen sich auch die Grenzen eben dieses neuen Amerika. Die Iraker weigern sich – trotz ihrer bitteren Erfahrungen mit dem alten Regime – die militärische Besatzung Iraks als Befreiung zu legitimieren. Das Desaster im Irak führt dazu, dass immer mehr Amerikaner aus Politik und Wissenschaft sich zu Wort melden und für eine Abkehr vom eingeschlagenen Weg plädieren. Eine Chance, den Aufbau einer anderen, humaneren Weltordnung einzuleiten.

Anmerkungen

1) Vgl. dazu auch Nielebock, Thomas: Die amerikanische Krisen- und Kriegspolitik im Lichte innenpolitischer Motive, in: Frankfurter Rundschau, 26.02.1991; Krell, Gerd: Arroganz der Macht, Arroganz der Ohnmacht. Der Irak, die Weltordnungspolitik der USA und die transatlantischen Beziehungen, HSFK-Report I/2003, Frankfurt/M.

2) Lapham, Lewis H.: Die Faust des Gerechten. Der religiöse Faktor in der US-Politik, in: Le Monde diplomatique, Juli 2003. Vgl. ferner Lazare, Daniel: Die Glaubensgemeinschaft USA und ihre Ketzer. in: Le Monde diplomatique, August 2002.

3) Lapham 2003.

4) Richter, Horst Eberhard: Stillhalten ist tödlich. Eine Lehre des Krieges gegen Irak, in: Frankfurter Rundschau, 3.09.2003.

5) Todd, Emmanuel: Weltmacht USA. Ein Nachruf, München, 2003, S. 13.

6) Todd, 2003, S. 15.

7) Die Los Angeles Times berichtet diesbezüglich über einen »CIA-Eventualplan«. Vgl. dazu Neue Osnabrücker Zeitung, 3.08.2003.

8) Vgl. dazu Karl Grobe in der Frankfurter Rundschau, 09.09.2003.

9) Brzezinski, Zbignew: Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft, Frankfurt/M., 1997, S. 65.

10) Vgl. dazu Kubbig, Bernd W.: Jetzt haben die USA den Freifahrtschein für unbegrenzte Aufrüstung, in: Frankfurter Rundschau, 14.06.2002, und Nassauer, Otfried: Die Rückkehr der Atomkrieger, in: Frankfurter Rundschau, 13.05.2003.

11) So beispielsweise im Nuclear Posture Review vom Januar 2002. Ferner in: Nationale Strategie zur Bekämpfung von Massenvernichtungswaffen …, vgl. dazu Rotblat, Joseph: Es wächst die Gefahr, dass ein neues nukleares Wettrüsten beginnt, in: Frankfurter Rundschau, 06.08.2003.

12) Ebenda und Nassauer 2003.

13) Die Mengenangaben beziehen sich auf 2002. Eigene Berechnung nach British Petroleum, BP Statistical Review of World Energy, 2003, London.

14) Hierbei wird von einem hypothetischen Knappheitspreis für Öl ausgegangen, der sich auf den Weltmärkten frei herausbilden würde. Dieser Preis dürfte sich dann auf einem deutlich höheren Niveau – um ca. 50 Dollar/Barrel – bewegen. Beim aktuellen Ölpreis von ca. 25 Dollar/Barrel geht es in Wirklichkeit um Abschöpfung von Preisdifferenzen um ca. 25 Dollar/Barrel. Näheres dazu vgl. Massarrat: Das Dilemma der ökologischen Steuerreform. Plädoyer für eine nachhaltige Klimapolitik durch Mengenregulierung und neue politische Allianzen, Marburg, 2000, Kapitel 10.

15) Nur im Zeitraum 1974-1985 gelang es der OPEC in ihrer Gesamtheit, Saudi-Arabien, Kuwait und die Arabischen Emirate in eine auf Autonomie der OPEC zielende Öl- und Mengenpreis-Politik einzubinden, die zu den Ölpreissprüngen von 1974 und 1979 führte. Ausführlicher dazu siehe Massarrat, 2000 (Anm. 14), ebenda, Kapitel 7-9.

16) Die EU bezieht 35%, Japan 97% und asiatische Schwellenländer 96% ihrer Ölimporte aus dem Mittleren Osten.

17) Kupchan, Charles A.: Die USA brauchen Europa, Interview, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr. 6/2003, S. 686.

18) Le Monde diplomatique (Hrsg.): Atlas der Globalisierung, Berlin, 2003, S. 98.

19) Kupchan, 2003, S. 686.

20) Vgl. dazu auch Abdolvand, Behrooz/Adolf, Mathias: Verteidigung des Dollars mit anderen Mitteln, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr. 2/2003, S. 181 f.

21) Abdolvand, Behrooz/ Adolf, Mathias, 2003, S. 182.

22) Über den währungspolitischen Hintergrund besteht bei den kritischen Analysen des Irak-Krieges inzwischen allgemeine Übereinstimmung, jedoch mit teilweise gegensätzlichen Begründungen. Vgl. dazu: Altvater, Elmar: Die Währung des schwarzen Goldes; sowie Massarrat, Mohssen: Anmerkungen zu Elmar Alvaters Beitrag. Beide Beiträge in: attac (Hrsg.): Kritik der Globalisierungskrieger. Arbeitspapier Nr. 1-2003 aus dem Wissenschaftlichen Beirat von attac Deutschland.

23) Vgl. dazu Nassauer, Ottfried: Eine neue militärische Aufteilung der Welt, in: Frankfurter Rundschau, 15.07.2002.

Dr. Mohssen Massarrat ist Professor für Politik und Wirtschaft am Fachbereich Sozialwissenschaften der Universität Osnabrück