Brüchige Waffenruhe

Brüchige Waffenruhe

von Jürgen Nieth

„Aserbaidschan will seit zwei Wochen (27.09.20) im Rahmen einer »Konteroffensive« gegen armenische » Provokationen« Nagornyj Karabach und sieben umliegende, armenisch besetzte Gebiete zurückgewinnen.“ (FAZ, 12.10.20, S. 5) In diesen zwei Wochen sollen allein in Bergkarabach „75.000 Menschen aus ihren Häusern geflohen sein, die Hälfte der Bevölkerung dort“ (Silke Bigalke in SZ 12.10.20, S. 2). Unklar ist, wieviele Personen bei den Kämpfen bislang starben.

Seit dem 10. Oktober gilt für den Krieg um Bergkarabach nach Vermittlung Russlands eine Waffenruhe. Während dieser sollen auch die Gefangenen und die Leichname von Soldaten ausgetauscht werden. Der Waffenstillstand ist brüchig. Er wird fast täglich verletzt. Bei Redaktionsschluss dieser Seite (16.10.) waren auch die Gefangenen und Toten nicht ausgetauscht.

Hintergrund

Seit dem Zerfall der Sowjetunion ist das Karabach-Gebiet ein ständiger Konfliktherd zwischen den einstigen Sowjetrepubliken Armenien und Aserbaidschan. Die große Mehrheit der Bewohner*innen des völkerrechtlich zu Aserbaidschan gehörenden Bergkarabach sind nach ethnischer Herkunft Armenier*innen, und Armenien sieht sich als deren Schutzmacht. Es
„kontrolliert und verteidigt neben Bergkarabach auch sieben umliegende Gebiete. Sie dienen als Puffer und sind inzwischen weitgehend unbewohnt.“ (Silke Bigalke, s.o.) Zu beachten sind auch religiöse Unterschiede: In Armenien und Bergkarabach dominiert der christliche Glaube, in Aserbaidschan der schiitische Islam.

Zwischen 1992 und 1994 führten beide Länder um die nicht anerkannte »Republik Arzach« einen Krieg, in dessen Folge Zehntausende starben und Hunderttausende vertrieben wurden. 1994 kam es zu einem Waffenstillstandsabkommen, das aber immer wieder von beiden Seiten gebrochen wurde. Aber „anders als in früheren Jahren, als es zu einzelnen Gefechten an der Frontlinie kam, hat Aserbaidschans autoritär regierender Präsident Ilcham Alijew sich diesmal offenbar zum Ziel gesetzt, ein für allemal das gesamte Territorium zurückzuerobern“ (Christian Esch in DER SPIEGEL, 10.10.20, S. 98).

Die Türkei zündelt mit

Weiter schreibt Esch: „Das einzige Land, das ihn in seinem Vorgehen offen bestärkt, statt zu einem Waffenstillstand aufzurufen, ist die Türkei […]. Die Türkei hat mindestens tausend syrische Rebellen als Kämpfer gegen Armenien angeworben, türkische F-16-Kampfflugzeuge wurden auf einem aserbaidschanischen Flughafen gesichtet. Der türkische Außenminister sprach offen von »Solidarität« auf dem Schlachtfeld wie am Verhandlungstisch.“ Da passt es ins Bild, dass sich an dem letzten großen Militärmanöver in Aserbaidschan angeblich bis zu 11.000 türkische Soldaten beteiligt hatten.

Russland: Partei oder Vermittler

Russland hat immer wieder seine Vermittlerrolle hervorgehoben. Dafür sprechen wichtige innenpolitische Faktoren.
„In Russland leben 1,7 Millionen Armenier , die überwiegend im Besitz der russischen Staatsbürgerschaft sind […]. [Die Aserbaidschaner *innen sind] mit 3,6 Millionen Menschen landesweit eine der größten nationalen Minderheiten.“ (Ute Weinmann in nd, 30.09.20, S. 3) Seit dem erneuten Kriegsbeginn werden gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen beiden Nationalitäten aus Russland gemeldet. Sie würden sicher eskalieren, wenn die Ankündigung des Präsidenten der »Union der Armenier Russlands« wahr würde:
„[…] die Entsendung von 20.000 armenischen Freiwilligen aus Russland nach Bergkarabach“.

Auch außenpolitisch spricht vieles für eine Vermittlerposition. Russland unterhält in Armenien einen sehr wichtigen Militärstützpunkt und ist mit diesem Land durch eine strategische Partnerschaft verbunden, bei einem Angriff auf Armenien also zur militärischen Unterstützung verpflichtet. Es kann aber kein Interesse daran haben, Partei in einem weiteren militärischen Konflikt zu sein, bei dem unter Umständen auf der anderen Seite der NATO-Staat Türkei mitmischt. Zur russischen Zurückhaltung Christian Esch (s.o.):
„Russlands Präsident hat klargestellt, dass diese Verpflichtungen sich nur auf das Gebiet Armeniens beziehen, nicht auf Bergkarabach.“

Die Waffenlieferanten

Mit Rüstungsexporten bedient Russland übrigens beide Seiten: zum Vorzugspreis Armenien, zum Marktpreis Aserbaidschan.

Eigentlich soll es nach der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) ein Waffenembargo für diese Region geben. Aber neben Russland beliefert auch Serbien beide Seiten. Und Aserbaidschan arbeitet militärisch eng zusammen „mit der Ukraine, mit Pakistan und den USA“. Klammheimlich „wurde Israel […] zum zweitgrößten Waffenlieferanten. 2016 hatte Baku langfristige Verträge im Wert von fünf Milliarden US-Dollar geschlossen.“ (Rene Heilig in nd 30.09.20, S. 3)

Lösung nicht in Sicht

„Die Türkei stellt offenbar Russlands Monopol als Ordnungsmacht in den früheren Sowjetrepubliken des Südkaukasus infrage. Aserbaidschan jedenfalls hat sich schon neu orientiert. ‚Die Rolle der Türkei‘, sagte Staatschef Alijew, ‚sollte in unserer Region noch größer sein, auch bei der Regelung dieses Konflikts‘.“ (Stefan Scholl in FR 12.10.20, S. 2) Für Armenien ein Alptraum. Schließlich ist das Verhältnis Armenien-Türkei aufgrund des Genozids, der 1915 vom Osmanischen Reich an der armenischen Volksgruppe begangen wurde – man spricht von anderthalb Millionen ermordeten Armenier*innen – höchst belastet. Hinzu kommt:
„[…] beide Seiten vertreten absolut gegensätzliche Positionen zur Zukunft der Region. Aserbaidschans Präsident Ilcham Alijew erklärte, ohne eine Rückkehr von Berg- Karabach in den aserbaidschanischen Staat werde es keinen Frieden geben. Armeniens Regierungschef Nikol Paschinjan beschwor das Selbstbestimmungsrecht der Karabach-Armenier und drohte mit der einseitigen diplomatischen Anerkennung der Republik durch Armenien.“ (Reinhard Lauterbach in jw 12.10.20, S. 19)

1994 wurde der Waffenstillstand von der sogenannten Minsker Gruppe der OSZE vermittelt. Vielleicht liegt dort eine Chance.

Zitierte Presseorgane: FAZ – Frankfurter Allgemeine Zeitung, FR – Frankfurter Rundschau, jw – junge welt, nd – der tag, DER SPIEGEL, SZ – Süddeutsche Zeitung.

Frozen conflict – ein trügender Schein?


Frozen conflict – ein trügender Schein?

Der Fall Bergkarabach

von Azer Babayev

Ein Vierteljahrhundert nach dem Ende des Kalten Kriegs gelten viele ethno-territoriale Konflikte im postsowjetischen Raum als »eingefroren«, als nicht geregelt. Mehr noch: Im August 2008 lenkte der unversehens ausgebrochene Krieg um Südossetien die internationale Aufmerksamkeit erneut auf die Konflikt- und Kriegsträchtigkeit in der östlichen EU-Nachbarschaft. Hinzu kommt die jüngst reaktivierte Erfahrung in der Region, wie schnell ethnische Gewaltkonflikte »kreiert« werden können, wie im Fall der Krim und der Ostukraine. Darüber hinaus demonstriert das Beispiel Bergkarabach, wie ein langwieriger Friedensprozess ständig ins Leere läuft. Die massive Gewalteskalation an der Frontlinie im April 2016, die mehr als 200 Todesopfer forderte, zeigte einmal mehr, dass dieser Konflikt alles andere als militärisch eingefroren ist. Es wurde auch deutlich, wie leicht die »eingefrorenen Konflikte« der Region »auftauen« können, weshalb der jetzige Status quo auf Dauer brandgefährlich und unhaltbar ist.

Beim ethno-territorialen Konflikt um Bergkarabach handelt es sich typischerweise um eine früher autonome Provinz mit einer ethnischen Minderheit, die – unzufrieden mit den ihr eingeräumten Rechten – ihre staatliche Sezession anstrebt. Zwar wurde im gemeinsamen Handeln mit einem Patronagestaat (Armenien) bereits eine Abspaltung aus dem bestehenden Mutterstaat (Aserbaidschan) gewaltsam militärisch vollzogen, jedoch hat das bislang keine Legitimation durch einen völkerrechtlichen Vertrag und keine internationale Anerkennung erfahren. Im Sinne eines politischen Kompromisses streiten sich die Kontrahenten nach wie vor darüber, ob Bergkarabach mit einem Autonomiestatut innerhalb Aserbaidschans bleiben oder eine unabhängige Entität werden soll.

Es hat vielfältige Gründe, dass in den laufenden Friedensverhandlungen bislang keine substanziellen Fortschritte erzielt wurden: angefangen von unvereinbaren Forderungen und Gerechtigkeitsvorstellungen der Antagonisten über tief verwurzelte gegensätzliche Identitätsfaktoren, die sich in dem Konflikt immer wieder bestätigen und neu aufladen, bis hin zu genuinen Machtinteressen der involvierten externen Akteure.

Gerechtigkeit, nationale Identität und Feindbilder

Hinter dem bisherigen Misserfolg lassen sich vor allem äußerst gegensätzliche Positionen der Konfliktparteien vermuten. Sie sind im Wesentlichen mit unvereinbaren Gerechtigkeitsvorstellungen verbunden, bei denen die Kontrahenten in der Regel zu absoluten Lösungen tendieren. So vertreten Armenien und Aserbaidschan unversöhnliche Positionen in der politischen Status-Frage des ursprünglichen sowjetischen Autonomen Gebiets Bergkarabach, die sie seit dem Waffenstillstand von 1994 als nicht verhandelbar erklären. Auf armenischer Seite ist die so genannte historische Gerechtigkeit von besonderer Bedeutung, die mit der Unabhängigkeit Bergkarabachs bzw. dessen Anschluss an Armenien wiederhergestellt werden solle, nachdem der Sowjetführer Stalin die Bergregion im frühen 20. Jahrhundert willkürlich Aserbaidschan zugeschlagen habe. Außerdem berufen sich die Armenier auf das Recht auf nationale Selbstbestimmung. Aserbaidschan hingegen pocht auf sein völkerrechtlich und von der internationalen Staatengemeinschaft anerkanntes Recht auf seine staatlich-territoriale Integrität, die es wiederherzustellen gelte. Zudem hält es die Okkupation weiter Teile seines Staatsgebiets (außer Bergkarabach sieben umliegende Bezirke) für rechtswidrig, zumal aus diesem Gebiet die aserischen Bewohner*innen von den Armenier*innen vertrieben wurden. Es stehen sich also zwei Prinzipien gegenüber: das Recht auf nationale Selbstbestimmung und das Recht auf die territoriale Integrität eines international anerkannten Staates. In den unvereinbaren Gerechtigkeitsvorstellungen besitzt jedes der Prinzipien absolute Priorität.

Auch spielen identitäre Faktoren, wie etwa die in den jeweiligen Gesellschaften herrschenden Ideen, Werte, Normen und religiösen Überzeugungen, eine wichtige Rolle. Mit ihnen legitimieren die Konfliktparteien – sozial sinnstiftend – ihre Interessen und radikalen Positionen. Hinzu kommt, dass das Ringen um die Identitätsfragen oft in gewaltsame Konflikte zu münden droht. Denn anders als bei politischen Fragen ist es äußerst schwierig, dabei Kompromisse auszuhandeln, zumal wenn sich die im Konflikt stehenden Völker soziokulturell stark unterscheiden, wie gerade im Südkaukasus.

Im Falle Bergkarabachs scheinen unversöhnliche nationale Identitäten und insbesondere gesellschaftlich tief verankerte gegenseitige Feindbilder der armenischen und der aserbaidschanischen Seite eine Kompromissfindung beträchtlich zu erschweren. Dabei haben sich die Grundlagen der gegenseitig (erz-) feindlichen Nationalidentitäten lange vor dem aktuellen Konflikt gebildet und sind somit historischer Natur. So mobilisierten bereits Anfang des 20. Jahrhunderts die armenisch-aserbaidschanischen bürgerkriegsähnlichen Unruhen beide Völker für ihre jeweilige nationale Mission. Beiderseits geschaffene Feindbilder wurden in dieser Phase zu einem maßgeblichen Einflussfaktor der nationalen Orientierung in der Region. Religiöse Differenzen taten ein Übriges.

Des Weiteren fallen genuine Machtinteressen der in den Konflikt involvierten externen Akteure ins Gewicht. Vor allem ist darauf hinzuweisen, dass im frühen 20. Jahrhundert armenisch-aserbaidschanische Spannungen von den russischen Kolonialbehörden im Sinne einer »divide et impera«-Politik (teile und herrsche) angestachelt wurden. Das Zarenreich wollte den wachsenden armenischen Nationalismus schwächen, der bereits am Ende des 19. Jahrhunderts mit einer nationalistischen Partei institutionelle Gestalt angenommen hatte. Es ist nicht verwunderlich, dass heute viele Beobachter den Schlüssel zur Beilegung des armenisch-aserbaidschanischen Konflikts wiederum in russischer Hand sehen.

Externe Akteure und Vermittlungsversuche

Auch fällt auf, dass sich der Bergkarabach-Konflikt nicht nur zwischen zwei Staaten abspielt, sondern eng verflochten ist mit Interessen, machtpolitischen Zielen und normativen Vorstellungen externer Akteure. Gerade der Kaukasus ist seit Jahrhunderten in hohem Maße eine durch äußere Mächte mitgeprägte und -gestaltete Region. Mit seinen Rohstoffressourcen und seiner militärisch-strategischen Lage hat er heute große geostrategische Bedeutung für so unterschiedliche Akteure wie Russland, die USA, die Europäische Union, Iran und die Türkei. Der Friedensprozess zwischen Armenien und Aserbaidschan wird dadurch erheblich komplizierter, denn die beiden Antagonisten können ihren Konflikt nicht allein lösen, sondern müssen auch den Interessen der involvierten externen Akteure Rechnung tragen.

Konkret lässt sich dabei das Verhalten Russlands, der USA und auch der EU auf jeweils eigene politische, strategische oder ökonomische Ziele zurückführen. Die Bedeutung des kaspischen Raums mit seinen Rohstoffreserven sowie dessen Nähe zu den sicherheitspolitisch brisanten Ländern Afghanistan, Iran und Irak bestimmen das Interesse der USA an der Region. Das Engagement der EU kann man als Teil einer Integrationskonkurrenz zwischen Moskau und Brüssel um die Länder des postsowjetischen Raums interpretieren. Dies wurde im Sommer 2013 besonders deutlich, als sich Armenien nach dem erfolgreichen Abschluss der Verhandlungen über ein Assoziationsabkommen mit der EU unter Moskauer Druck völlig überraschend für einen Beitritt zur Eurasischen Wirtschaftsunion entschied. Hinzu kommt eine wichtige Nuance, die Bergkarabach von anderen ethnischen Konflikten unterscheidet: die Tatsache, dass es geopolitisch in »niemands Vorgarten, aber jedermanns Hinterhof« liegt.1

Gleichwohl scheinen die sonst in mehrfacher Hinsicht unterschiedlichen Großmachtinteressen Russlands auf der einen und der USA und der EU auf der anderen Seite nicht allzu inkompatibel zu sein. Im Gegensatz zu den Konflikten in Georgien (Abchasien und Südossetien) sowie zur Annexion der Krim und den gewaltsamen Auseinandersetzungen in der Ostukraine, die der Westen und Russland ganz unterschiedlich interpretieren und entsprechend diametral entgegengesetzte Strategien und Lösungswege verfolgen, sind die Haltungen beider Seiten zum Bergkarabach-Konflikt und zu dessen Bearbeitung bislang nicht offen konfrontativ.

Noch vor dem Waffenstillstand 1994 begann auch eine internationale Mediation zur Konfliktbeilegung, seit 1997 unter Vermittlung der »Minsker Gruppe« der OSZE, die von Frankreich, Russland und den USA und damit von drei der fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen geleitet wird. Diese schlug bislang mehrere Friedenspläne vor. Zuerst verfolgte man den Ansatz einer Stufenlösung: Die Minsker Gruppe sollte ein politisches Rahmenabkommen erreichen, dann sollte eine Konferenz in Minsk in einer zweiten Etappe den Status Bergkarabachs bestimmen. Die Ko-Vorsitzenden gingen jedoch bald dazu über, umfassende Paketabkommen vorzuschlagen, die auch die Klärung der Statusfrage beinhalteten. Der Vorschlag vom Juni 1997 umfasste ein solches Paket, das jedoch zu keinem Erfolg führte. Auch von 1998 bis 2001 versuchten die Unterhändler mit einer modifizierten Paketlösung zu einer Einigung zu gelangen, die für die strittige Region einen von Aserbaidschan und Bergkarabach gemeinsamen verwalteten Staat (joint rule) bzw. einen territorialen Austausch zwischen Aserbaidschan und Armenien vorsah.

Nach dem Scheitern der Friedensverhandlungen in Key West (Florida) 2001 wurde offensichtlich, dass eine Einigung über den endgültigen Status von Bergkarabach aufgrund des vorherrschenden Misstrauens kaum möglich ist. Das Beharren auf einer Paketlösung würde darauf hinauslaufen, den Konflikt langfristig einzufrieren. Deshalb verfolgen die Vermittler seitdem wieder eine Stufenlösung, die es ermöglichen soll, die Statusfrage vorerst auszuklammern. Konkret suchen beide Seiten seit 2007 im Rahmen der »Madrider Grundprinzipien« nach Möglichkeiten, eine Einigung zu erzielen, wie der Status in Zukunft bestimmt werden soll, aber diese Entscheidung selbst zu verschieben, während zunächst andere Aspekte umgesetzt werden sollen.2

Verschiedene Kompromissmodelle

Vor dem Hintergrund des bislang ausbleibenden Fortschritts stellt sich die entscheidende Frage, wo es Annäherungsmöglichkeiten zwischen Armenien und Aserbaidschan sowie Kooperationsmöglichkeiten der relevanten internationalen Akteure mit Blick auf umsetzbare Kompromissmodelle geben könnte, zumal sich die beiden Antagonisten allein nicht einigen können, wie die jüngste Eskalation einmal mehr offenbart hat. Dabei handelt es sich wie bei anderen ethno-territorialen Konfliktregulierungen im Kern darum, den zunächst unauflöslich scheinenden Gegensatz von zwei völkerrechtlichen Prinzipien aufzulösen: territoriale Integrität versus Selbstbestimmung. Friedenspolitisch und -theoretisch besteht die zentrale Herausforderung darin, zwischen beiden Prinzipien unter den gegebenen Bedingungen eine vernünftige Balance herzustellen.

Wie gelang es in anderen, ähnlich gelagerten Konflikten, diesen antagonistischen Gegensatz wenn nicht aufzulösen, so doch so zu transformieren, dass es zu einer dauerhaften Regulierung des Konflikts kommen konnte? In der Spannbreite möglicher Regelungen in der bisherigen internationalen Praxis können verschiedene Kompromissmodelle zwischen den sich widersprechenden Prinzipien staatliche Souveränität und nationale Selbstbestimmung identifiziert werden, etwa konditionierte Unabhängigkeit, Autonomie (self rule), Föderation (self rule plus shared rule), Konföderation (joint rule), Kondominium sowie internationales Mandat oder Protektorat. Hinzu kommen auch zahlreiche Sub- bzw. Mischtypen solcher Kompromissregelungen. Gerade im Falle Bergkarabach könnte also nach den vielen vergeblichen – aber letztlich konventionellen – Lösungsversuchen der bisherigen Verhandlungen auch etwas Unorthodoxes gefragt sein, um einen für alle Seiten tragfähigen Kompromiss zu finden.

Insgesamt könnte ein vermehrtes Engagement externer Akteure, etwa eine Stärkung der Minsker Gruppe, prinzipiell eine Beilegung des Konflikts erleichtern, wenn nicht gar ermöglichen. Voraussetzung dafür ist aber, dass die eigenen Kerninteressen dieser externen Akteure auf Dauer in Richtung einer friedlichen Regelung weisen. Dabei lässt sich konkret fragen, ob das Großmachtverhalten der externen Hauptakteure – auch wenn sie nicht offen konfliktverschärfende gegensätzliche Ziele verfolgen –, eine konstruktive bzw. friedliche Konfliktbearbeitung verhindern und wo sich reale Kooperationsmöglichkeiten für die Konfliktbeilegung bieten.

Anmerkungen

1) Biber, E. (2013): The Roles of Iran and Turkey in the Nagorno-Karabakh Conflict. In: Hopmann, P.T.; Zartman, I.W. (eds): Nagorno-Karabakh – Understanding Conflict. Baltimore: Johns Hopkins University, School for Advanced International Studies, S. 139-153, hier 139.

2) Siehe dazu ausführlich International Crisis Group (2005): Nagorno-Karabakh – A Plan for Peace. Europe Report N°167, S. 11.
Die Madrider Prinzipien sind vertraulich und der Öffentlichkeit nur in einer verkürzten Form bekannt. Als „ein vernünftiger Kompromiss auf Basis der Prinzipien der Schlussakte von Helsinki, d.h. Nichtanwendung von Gewalt, territoriale Integrität und gleiche Rechte und Selbstbestimmung der Völker,“ geht es hier um folgende konfliktspezifische Grundprinzipien: Rückkehr der Bergkarabach umgebenden Gebiete unter aserbaidschanische Kontrolle; ein Interimstatus für Bergkarabach, einschließlich Garantien für Sicherheit und Selbstregierung; ein Verbindungskorridor zwischen Armenien und Bergkarabach; eine zukünftige Festlegung des endgültigen Rechtsstatus von Bergkarabach durch eine rechtlich bindende Willensäußerung; ein Rückkehrrecht für alle Binnenvertriebenen und Flüchtlinge zu ihren früheren Wohnorten; internationale Sicherheitsgarantien einschließlich einer Peacekeeping-Mission.

Azer Babayev ist Assistant Professor of Political Science an der ADA University in Baku und assoziierter Forscher an der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK).

Der nachhaltige Weg zur Vertrauensbildung

Der nachhaltige Weg zur Vertrauensbildung

Geschichtsdialog in Georgien, Abchasien und Südossetien

von Oliver Wolleh

Die georgisch-abchasischen und georgisch-südossetischen Kriege der frühen 1990er Jahre stellen in vielerlei Hinsicht »Urkatastrophen« dar. Sie veränderten den gesamten politischen, sozialen, kulturellen und nicht zuletzt emotional-psychologischen Raum im Südkaukasus. Eine Reflexion und die intellektuelle Bewältigung dieser gewaltsamen Vergangenheit sind Voraussetzung eines jeden umfassenden Versöhnungsprozesses, wenn das Ziel darin besteht, die Bevölkerungen der Konfliktregionen für einen dauerhaften Frieden, gute Nachbarschaft und die Bereitschaft zur Annäherung zu gewinnen.

Vor dem Hintergrund der großen europäischen Kriege des 20. Jahrhunderts erscheinen die georgisch-abchasischen und georgisch-südossetischen Kriege vordergründig als klein und eher unbedeutend. Setzt man die Verluste und Folgen jedoch mit der Bevölkerungszahl in Bezug, so sind diese Kriege ohne Weiteres mit den Folgen des Ersten Weltkrieges vergleichbar. Der Krieg 1992/93 in und um Abchasien forderte 10.000 Tote und führte kurzfristig zur Flucht und Vertreibung der kompletten georgischen Bevölkerung Abchasiens, welche mit rund 240.000 Menschen zu diesem Zeitpunkt 46 % der Bevölkerung ausmachte. Trotz der teilweisen Rückkehr der georgischen Bevölkerung, vorwiegend in die östliche Gal/i-Region1 Abchasiens, sind bis heute rund 200.000 Georgier*innen nicht zurückgekehrt. Der georgisch-südossetische/russische Krieg des Jahres 2008 hat den in den 1990er Jahren erlittenen Traumatisierungsgrad der in Südossetien lebenden Bevölkerung noch um ein Vielfaches verdichtet. Eine Aufarbeitung und (selbst-)kritische Reflexion dieser Kriege und der mit ihn einhergehenden Gewalttaten sind Voraussetzung für eine mögliche Annäherung der Bevölkerungen der Konfliktregionen.

Die Vergangenheitsdiskurse und ihre Auswirkungen

Die vergangenheitsbasierte Annäherung war bis vor Kurzem noch durch sich gegenseitig ausschließende Diskurse in einerseits der georgischen Gesellschaft und andererseits der abchasischen und südossetischen Gesellschaft belastet. Die Art und Weise, wie die Geschichte der Konflikte in Georgien kolportiert wurde, hat die Gräben zwischen der georgischen Seite und den abchasisch/südossetischen Akteuren über die Jahrzehnte nicht verringert.

Eine detailliertere Analyse der Diskurse ist vonnöten, um die Entfaltung der mit ihnen verbundenen kontraproduktiven Wirkungs- und Wahrnehmungsketten zu verstehen. Insbesondere drei Elemente waren für das bis zum georgischen Regierungswechsel 2012 vorherrschende Konfliktverständnis bestimmend:

  • die Leugnung der inter-ethnischen Konfliktdimension (Harmonie-Narrativ);
  • die Alleinschuld Russlands für die Kriege der frühen 1990er Jahre und deren Verlauf (Fremdschuld-Narrativ);
  • die Annahme, dass ein modernisiertes Georgien sich als das attraktivere Gesellschafts- und Staatenmodel etablieren und eine Magnetwirkung auf die abtrünnigen Konfliktregionen ausüben wird (Vorbild-Narrativ).

Der innergeorgische Diskurs sieht die Ursachen der zurückliegenden Kämpfe überwiegend außerhalb des Landes (Fremdschuld). Das Verhältnis zu der abchasischen und südossetischen Minderheit wird nahezu durchgängig als harmonisch und freundschaftlich bezeichnet (Harmonie-Narrativ). Die Konflikt­eskalation der frühen 1990er Jahre wird überwiegend Russland angelastet oder einer kleinen Elite in Abchasien und Südossetien, welche als »Handlanger Russlands« agiert hätten. Dies geht soweit, dass die georgische Seite den georgisch-abchasischen und den georgisch-südossetischen Krieg von 1992/93 als georgisch-russischen Krieg definierte und definiert, welcher auf georgischem Boden geführt wurde. Konsequenterweise wurde und wird seit nunmehr 24 Jahren betont, dass sich Teile des Landes »unter russischer Okkupation« befänden.

Demgegenüber war und ist die abchasische und südossetische Konfliktinterpretation durch die Betonung der inter-ethnischen Differenzen geprägt, wobei häufig auf eine lange Periode georgischer Dominanz und Diskriminierung verwiesen wird. Der Gegensatz zu Georgien und Georgier*innen wird ferner durch ein Fremdschuld-Narrativ ergänzt, das den Ausbruch der Gewalt und die Kriege der frühen 1990er Jahre alleine Georgien und der sie unterstützenden georgischen Bevölkerung in Abchasien bzw. Südossetiens anlastet. Darüber hinaus hat der über Jahre unter den Präsidenten Schewardnadse und Saakaschwili proklamierte Kurs einer möglichen militärischen Friedenserzwingung, falls eine vertragliche Einigung nicht zu erreichen wäre, die Basis für jegliche Form ernsthafter Vertrauensbildung unterminiert.

Die Konsequenz dieser dominanten Narrative ist, dass der georgische Diskurs kein Verständnis für die Notwendigkeit von Vertrauensbildung mit den Bevölkerungen der Konfliktgebiete beinhaltete. Vertrauensbildung zwischen den Bevölkerungsgruppen wurde über Jahrzehnte nicht als notwendig gesehen, da es im Prinzip keinen Konflikt zwischen den Bevölkerungen gab oder gibt. Der Prozess der Wiedervereinigung sollte im Rahmen der Modernisierung Georgiens durch die Magnetwirkung erfolgen (Vorbild-Narrativ). Ein attraktives Georgien, so das propagierte Konzept, würde über kurz oder lang Abchasien und Südossetien aus der russischen Umklammerung lösen.

Andere Akzente der neuen georgischen Regierung

Die georgische Regierungskoalition des Wahlbündnisses »Der georgische Traum«, die seit 2012 im Amt ist, setzte neue politische Akzente und distanzierte sich in wichtigen Bereichen vom früheren Kurs der Regierung Saakaschwili.2 Die Rahmenbedingungen für eine Annäherung an die Konfliktgebiete verbesserten sich dadurch deutlich.

  • Die georgische Koalitionsregierung »Georgischer Traum« ist die erste Regierung seit dem Ende der Sowjetunion, welche sich von Anbeginn an und ohne Einschränkung für eine politische und nicht-militärische Beilegung der Konflikte ausgesprochen hat. Damit hat sie eine Grundvoraussetzung für die Schaffung von Vertrauen erfüllt, sowohl für zivilgesellschaftliche als auch staatliche Akteure.
  • Im Gegensatz zur Vorgängerregierung ist die neue Regierung um eine Normalisierung der Beziehungen mit Russland bemüht und geht erkennbar auf russische Interessen und Befindlichkeiten ein. Auch wenn der Normalisierungsprozess bei weitem noch nicht abgeschlossen ist, gibt es doch Erfolge zu verzeichnen, darunter die Wiederaufnahme von Flugverbindungen und von Wirtschaftsbeziehungen.
  • Darüber hinaus hat sich die Meinungs- und Pressefreiheit in Georgien gegenüber den Saakaschwili-Jahren grundlegend verbessert, sodass gesellschaftliche Gruppen und Persönlichkeiten keine politischen Sanktionen zu fürchten haben, wenn sie sich in Kooperation mit Abchas*innen und Südosset*innen um die Aufarbeitung der Gewalthandlungen der Vergangenheit bemühen.

Neben diesen allgemeinen Entwicklungen hat die neue Regierung aber auch zu subtileren Formen der Distanzierung zu dem oben beschriebenen, früher dominierenden Konfliktverständnis gefunden. So kann die Umbenennung des für die Konfliktregulierung zuständigen Ministeriums von »Ministerium zur Reintegration der besetzten Gebiete« in »Ministerium für Versöhnung« als ein wichtiger symbolischer Akt verstanden werden, der den Gedanken der Aussöhnung zum Leitprinzip des Umgangs miteinander erhebt und nicht die (Re-) Integration.3

Diese seit 2012 eingeleiteten politischen Veränderung öffnete auch die Tür zu einem veränderten öffentlichen Diskurs hinsichtlich der Konflikte, ihrer Ursachen und der Konsequenzen in der georgischen Gesellschaft. Erstmals scheint eine konstruktivere Auseinandersetzung mit der Vergangenheit möglich, da die daran Interessierten und Beteiligten keine politischen Repressionen befürchten müssen.4 Gleichzeitig fällt es der georgischen Regierung und Zivilgesellschaft nicht leicht, sich aus den Fesseln existierender Stereotypen zu befreien, und man bleibt teilweise dem oben beschriebenen Diskurs verhaftet.

Vor allem das Vorbild-Narrativ, dass ein europäisches Georgien eine »Sogwirkung« auf die Bevölkerung der Konfliktregionen entfalten würde, erfreut sich weiterhin großer Beliebtheit. Ferner konnte das unter Saakaschwili erlassene »Gesetz über die besetzten Gebiete« bislang nicht nennenswert revidiert werden. Das Gesetz stellt die wirtschaftliche Kooperation mit abchasischen und südossetischen Unternehmen unter Strafe und stellt die rechtliche Grundlage für ein Wirtschaftsembargo gegenüber den Konfliktgebiete dar. Damit ist der klassische Ansatz des »Wandels durch Handel« bei der möglichen Neugestaltung der Beziehungen für zivilgesellschaftliche Akteur*innen wie für internationale Geldgeber blockiert. Ein System umfassender wirtschaftlicher Kontakte mit den Konfliktregionen könnte, so die Sorge auf der georgischen Seite, als staatliche Anerkennung Abchasiens oder Südossetiens interpretiert werden. Ein System status-neutraler Kooperation wurde somit nicht etabliert.5 Darüber hinaus basiert die erhoffte »Sogwirkung« Georgiens auf der impliziten Prämisse, dass sich Georgien wirtschaftlich attraktiver entwickelt als die abtrünnigen Gebiete. Eine Normalisierung der Handelsbeziehungen mit Abchasien oder Georgien würde, so die Befürchtung, diese Sogwirkung relativieren.

Das dominierende georgische Verständnis eines Annäherungs- oder Normalisierungsprozesses mit den Konfliktregionen ist somit nicht durch den Gedanken der »Versöhnung« oder »Vergangenheitsbewältigung« geprägt und birgt insofern auch keinen emotionalen Appell, der in der abchasischen oder südossetischen Bevölkerung auf Resonanz stoßen könnte. Dies gilt sowohl für gesellschaftliche Akteur*innen als auch für die politische Elite. Appelle georgischer Politiker*innen richten sich traditionell an die abchasischen oder ossetischen »Brüder und Schwestern« in den Konfliktgebieten und lösen bei den Angesprochenen im besten Fall verständnisloses Kopfschütteln, wenn nicht gar angewidertes Abwenden aus.

Dialogprogramme ja, aber in engen Grenzen

Vor allem seit dem erneuten georgisch-südossetischen Krieg 2008 bemühen sich verschiedene nationale Akteure sowie die internationale Gemeinschaft um die Schaffung eines Systems der Vertrauensbildung in Georgien. Neben nationalen Geldgebern sind vor allem die Europäische Union und das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) mit eigenen Programmen aktiv. Ihr gemeinsamer »Confidence Building Early Response Mechanism« (COBERM)6 fördert insbesondere Projekte, welche (direkte) soziale Begegnungen (people to people), zumeist im neutralen Ausland, sowie Dialogvorhaben und gemeinsame Trainingsveranstaltungen unterstützen. Die Struktur und Ausrichtung der Aktivitäten sind durch Dynamiken geprägt, welche die Wirkungsebene dieser Maßnahmen beschränken. Anbei seien nur einige genannt.

  • Organisator*innen von Dialogen/Begegnungen werden von abchasischer und südossetischer Seite oft genötigt, diese als regionale und multilaterale Formate durchzuführen. Dies führt dazu, dass jede Partei nur mit ein bis zwei Teilnehmer*innen vertreten ist, und die Bandbreite an Teilnehmer*innen erschwert es, interessante Folgeprozesse zu initiieren.
  • Alle Aktivitäten finden im (neutralen) Ausland statt. Damit aber sind die Reise- und Unterbringungskosten für diese Veranstaltungen erheblich, und die zeitraubende An- und Abreise schließt beruflich eingebundene Personen oder ältere Menschen aus der Begegnung faktisch aus.
  • Es findet in den Konfliktregionen praktisch kein Ergebnistransfer von den Treffen in die Gesellschaft statt, da es angesichts der überwiegend ablehnenden öffentlichen Meinung keine Foren für die Kommunikation über diese Treffen gibt. Da vor allem junge Leute in die friedensbildenden Maßnahmen integriert sind, diese aber weder über eine starke soziale Stellung verfügen noch die Macht besitzen, die öffentlichen Meinung zu beeinflussen, bleiben die transformativen Effekte bislang fast ausschließlich auf die Teilnehmenden und die persönliche Ebene begrenzt.

Die Aufarbeitung der Vergangenheit wird in diesen Maßnahmen weitestgehend ausgeklammert. Organisatoren wie Geldgeber konzentrieren sich lieber auf emotional weniger belastete Themen, die sie gerne als »neutral« bzw. »zukunftsorientiert« bezeichnen, wie Ökologie, Kultur, Dialog oder Humanität. Vor dem Hintergrund der Brutalität der zurückliegenden Kriege erscheint jedoch aus abchasischer und südossetischer Perspektive eine gemeinsame Zukunft ohne Aufarbeitung der Vergangenheit praktisch ausgeschlossen. Darüber hinaus wird das Ziel der (möglichen) Annäherung auf georgischer Seite explizit mit dem Ziel der Integration der Konfliktgebiete verbunden. Dies wird jedoch auf Seiten der Bevölkerungen und Autoritäten in den Konfliktregionen abgelehnt, welche die internationale Anerkennung ihrer Staatlichkeit anstreben. Die explizite funktionale Verknüpfung eines möglichen Annäherungsprozesses mit dem politischen Ziel der »Reintegration« hat zur Folge, dass alle gesellschaftlichen Aktivitäten im Bereich der »people-to-people«-Annäherung auf abchasischer und südossetischer Seite von der Mitte der Gesellschaft mit Misstrauen betrachtet werden. Dies ist vor allem bei älteren Bevölkerungsgruppen der Fall.

Auf georgischer Seite wurde und wird diese Skepsis, Zurückhaltung oder gar Verweigerung einer Annäherung oftmals als Konsequenz »russischer Einflussnahme« interpretiert. Im Lichte des Harmonie-Narratives werden nach georgischer Lesart die »Brüder und Schwestern« an der Begegnung und Kooperation mit Georgien gehindert. Da die innergesellschaftliche Dimension des Ursprungs des Konfliktes nicht gekannt, erkannt oder gar negiert wird, erklären georgische Analytiker immer wieder den mangelnden Fortschritt in der Beziehungsentwicklung als ein Produkt externer, d.h. russischer Einflussnahme. Die öffentliche Meinung der lokalen Bevölkerung in den Konfliktgebieten ziehen sie kaum bzw. gar nicht in Betracht und stellen diese als eine »propagandistische Projektion« dar.

Die Vergangenheitsbewältigung als ein Leitprinzip eines umfassenden Annäherungssystems zu vermeiden, birgt die Gefahr der Delegitimierung jener Begegnungs- und Friedensinitiativen, die sich um Annäherung bemühen, jedoch die harten Themen der gewaltsamen Vergangenheit ignorieren.

Vergangenheitsbewältigung als Leitmotiv der Annäherung

In Anbetracht der zentralen Bedeutung der Vergangenheitsbewältigung für eine Öffnung des Annäherungssystems hat die in Berlin ansässige Berghof Foundation vor vier Jahren ihre Dialog-Aktivitäten vor Ort deutlich auf die Aufarbeitung der Gewalterfahrungen ausgerichtet.7

Durch die Erhebung biografischer Interviews in Georgien, Abchasien und Südossetien wurde die Basis für Diskussionsgruppen in den Konfliktregionen und Georgiens gelegt. In diesen Gruppen erhalten Menschen unter Führung von durch Berghof Foundation ausgebildeten »Insider Facilitators« die Möglichkeit, die Konflikt- und Kriegserinnerungen von Menschen aus ihrer und aus der anderen Gesellschaft zu hören und zu diskutieren. Die Diskussionsrunden streben die Vermittlung zentraler Werte und Praktiken für Dialoge und Begegnungen zwischen den Menschen der Konfliktregionen an. Die Vermittlung von Werten, wie Zuhören, Verstehen und Empathie, erfolgt in diesen Diskussions-Workshops, welches wir als ein Format des »indirekten Dialog« bezeichnen und das ganz bewusst auf die direkte Begegnung vieler Menschen der unterschiedlichen Seiten verzichtet. Die Etablierung einer Diskussionskultur, in der die Erfahrungen und Aussagen von Individuen in Form biografischer Interviews im Zentrum stehen, ist ein wichtiger Beitrag zur Demokratisierung in einem durch Pauschalisierungen gekennzeichneten Kontext. Die Veranstaltungen werden als intergenerationelle Diskussionsrunden gestaltet, in denen Jung und Alt gemeinsam die Erzählungen der Interviewten diskutieren und so einen Erfahrungsaustausch zwischen den Generationen fördern.

Diese Diskussionsveranstaltungen stoßen auf wachsendes Interesse und erfreuen sich großer Akzeptanz. Während wir im Jahre 2015 noch 52 Diskussions-Workshops innerhalb Georgiens und Abchasiens durchführten, waren es im Jahre 2016 bereits 200 mit rund 3.300 Teilnehmern, eine Zahl, die wir im Jahr 2017 noch einmal steigern konnten.

Neben diesem Netzwerk an lokalen Diskussions-Workshops konnte das Kaukasusprogramm der Berghof Foundation auch in den öffentlichen Medien eigene Formate etablieren, welche die selbstreflexive Erinnerung an Kriege und an den Konfliktverlauf in den Mittelpunkt stellen. So unterhalten wir seit dem Jahr 2015 in Sochum/i, der Hauptstadt Abchasiens, den »Biografischen Salon«. In diesem Talkshow-Format sprechen Menschen über ihre Erfahrungen mit Krieg und Konflikt. In Zusammenarbeit mit dem abchasischen TV Sender »Abasa TV« wird das Programm monatlich in ganz Abchasien ausgestrahlt.8 Während in den Anfängen des Programmes nur Abchas*innen im Salon auftraten, treten mittlerweile auch in Abchasien lebende Georgier*innen und Menschen, die heute in Georgien leben, auf.9 Mit der Ausrichtung auf die vielschichtige Betrachtung und Reflexion der Vergangenheit ist es der Berghof Foundation und ihren Partnern gelungen, eine dauerhafte Präsenz in einem konventionellen Massenmedium zu erlangen.

Auch auf der georgischen Seite ist es uns gelungen, der breiteren georgischen Öffentlichkeit die Bedeutung der Konflikt- und Kriegsentwicklung deutlich zu machen. Dort unterhält die Berghof Foundation das Radioprogramm »Schnittpunkt«, welches zusammen mit Radio Free Europe in georgischer Sprache wöchentlich 40 Minuten ausgestrahlt wird.10 Auch hier stehen georgische, abchasische und südossetische Erinnerungen im Zentrum des Programms, welche von Expert*innen diskutiert ­werden, die intellektuell und emotional in der Lage sind, diese Erinnerungen sachkundig, respektvoll und gehaltvoll zu diskutieren. Das Programm ermöglicht vielen Menschen innerhalb Georgiens zum ersten Mal seit Jahrzehnten, das Ausmaß des Leids, welches alle direkt Betroffenen der Konflikte erlitten haben, zu hören und zu erfassen. Während es sich bei den Expert*innen/Diskutant*innen in den Anfängen des Programms ausschließlich um Georgier*innen handelte, konnten in diesem Jahr auch abchasische Diskussionspartner*innen zu der Radiosendung zugeschaltet werden. Dies ist das erste Mal seit dem Jahr 2006, dass abchasische Expert*innen an einem georgischen Medienformat teilnehmen.

Die Arbeit der Berghof Foundation belegt eindeutig, dass sowohl die georgische als auch die abchasische Gesellschaft prinzipiell offen für die selbstkritische Reflexion der Vergangenheit sind. Sie sind nicht nur bereit, den Gedanken der anderen Gesellschaft zuzuhören, sie sind auch bereit, sich in der jeweils anderen Gesellschaft für einen ernsthaften und offenen Diskurs einzusetzen. Hierin liegt die Chance für wirkungsvollen Dialog und Annäherung.

Ausblick

Der (selbst-)kritische Blick in die Vergangenheit eröffnet neue Anknüpfungspunkte zwischen den Menschen und stößt auf breite soziale Akzeptanz, welche zumindest in Abchasien und Georgien nicht die Öffentlichkeit zu scheuen braucht. Dennoch sind auch hier die Möglichkeiten bei Weitem noch nicht ausgeschöpft. Eine der wichtigsten Ressourcen für einen erweiterten vergangenheitsbasierten georgisch-abchasischen Annäherungsprozess wird bislang für die Friedensarbeit noch wenig genutzt: die heute in Abchasien lebende ethnisch georgische Bevölkerung innerhalb der Gal/i-Region und der Otschamtschira-Region, welche als »Migrelen« bezeichnet werden. Anders als die heutigen georgischen »internen Vertriebenen« konnten diese Menschen nach dem Krieg nach Abchasien zurückkehren, auch weil diese Bevölkerungsgruppe sich nicht an den Kämpfen der Jahre 1992/93 beteiligt hatte. Sie machen rund 30 % der heutigen abchasischen Bevölkerung aus und haben die Freiheit, zwischen den Seiten zu pendeln. Die in Abchasien lebende georgische Bevölkerung ist daher ein natürliches Bindeglied (connector) zwischen den Gemeinschaften. Als Bewohner Abchasiens kennen sie die Verhältnisse vor Ort sehr genau, haben den Krieg hautnah miterlebt und haben ein realistisches Verständnis der Hindernisse einer umfassenden Annäherung zwischen den Gemeinschaften.

Als Mittler zwischen den Welten kann die georgische Bevölkerung Abchasiens eine wichtige Rolle in der Aufarbeitung und der Vermittlung der gewaltsamen Vergangenheit einnehmen. Gleichzeitig ist die Einnahme der Rolle des Mittlers für diese Menschen nicht unproblematisch, da Migrelen innerhalb Abchasiens auch als ein potenzieller (georgischer) Feind im Inneren gesehen werde. So sind Migrelen fast völlig vom öffentlichen abchasischen Leben ausgeschlossen und in den Medien, wie TV oder Radio, praktisch nicht präsent. Nach Einschätzung des Autors ist die systematische Einbindung der georgischen Bevölkerung Abchasiens eine der zentralen Herausforderungen hinsichtlich der Etablierung einer breiten vergangenheitsbezogenen Dialogkultur in der Region. Aus diesem Grund hat die Berghof Foundation seit 2015, finanziert vom Institut für Auslandsbeziehungen (ifa, Projekt Zivile Konfliktbearbeitung/zivik), das Projekt »History in Action« gestartet, welches den Fokus auf den abchasisch-migrelischen Dialog innerhalb Abchasiens legt.

Die Aufarbeitung der gewaltsamen Vergangenheit ist in Südossetien genauso dringlich wie in Abchasien. Bedingt durch den Krieg 2008 ist der Grad der Traumatisierung der Bevölkerung dort deutlich stärker als in Abchasien. Es ist daher bislang nicht gelungen, in Südossetien neben den lokalen Diskussions-Workshops öffentliche Medienformate zu dem Thema zu etablieren. Eine Möglichkeit, die breitere südossetische Gesellschaft zu erreichen, wird darin liegen, abchasischen Aktivist*innen, die Erfahrungen in der Aufarbeitung der Vergangenheit gesammelt haben, ein größeres Aktionsfeld innerhalb Südossetiens zu verschaffen.

Vergangenheitsbewältigung kann maßgeblich dazu beitragen, Vertrauen zu bilden und die Grundlage für eine breite und nachhaltige Akzeptanz vertrauensbildender Maßnahmen in Abchasien, Südossetien und in Georgien zu schaffen. Dies gilt umso mehr, da inzwischen ein Verbund georgischer, abchasischer und südossetischer zivilgesellschaftlicher Organisationen vorhanden ist, die bereit sind, gemeinsam den Dialog um die Vergangenheit zu beginnen und ihn kons­truktiv und empathisch führen wollen.

Anmerkungen

1) Abchasen nennen diese Region in der Regel »Gal«, während Georgier*innen sie als »Gali« bezeichnen. Aus diesem Grund wird hier die Schreibweise Gal/i verwendet. Dasselbe gilt für die Bezeichnung der Hauptstadt Abchasiens als Sochum/i.

2) Zu den Rahmenbedingungen der Annäherung vor 2012 siehe Oliver Wolleh (2011): Vom Dialog zum öffentlichen Handeln. Friedensforum 3/2011.

3) Paata Zakareishvili (2016): About the modest results of a unilateral peace policy. Jam News, 30.5.2016.

4) Siehe dazu Cécile Druey (2017): Zivilgesellschaft und Konfliktlösung – Überlegungen zum Konzept der Volksdiplomatie, auf S. 32.

5) Oliver Wolleh (2009: Nachgang zum Georgienkrieg – Chancen einer Status-neutralen Annäherungsstrategie für Abchasien und Südossetien. Wissenschaft & Frieden 2-2009, S. 49-52.

6) United Nations Development Program/UNDP (o.J.): Confidence Building Early Response Mechanism (COBERM); ge.undp.org.

7) Berghof Foundation (o.J.): Kaukasus; berghof-foundation.org.

8) Link zum TV-Programm »Biografischer Salon« der Berghof Foundation auf der Webseite von Abasa TV, Sochum/i: abaza.tv/spec/?SID=57.

9) Berghof Foundation (o.J.): Erweiterter Austausch – Gäste aus Georgien im Biographischen Salon; berghof-foundation.org.

10) Link zum Radioprogramm »Schnittpunkt« der Berghof Foundation auf der Webseite von Radio Liberty, Tiflis: radiotavisupleba.ge/z/20244.

Dr. Oliver Wolleh ist Direktor des Südkaukasus-Programms der Berghof Foundation in Berlin. Er leitet die Projekte »Through History Dialogue towards Future Cooperation«, »History in Action« und »Memory and History in Azerbaijan and Karabakh«.

Eine Geschichte der Dilemmata

Eine Geschichte der Dilemmata

Konfliktentwicklung im Georgien/Südossetien-Konflikt

von Lara Sigwart

Die Sicherheitslage im Konflikt zwischen Georgien und Südossetien bleibt auch über ein Jahr nach dem Krieg prekär. Die Entwicklung des Konflikts seit 1989 zeigt die Dilemmata auf, die ihn auch heute noch bestimmen: Das Verhältnis zwischen Russland und Georgien wird nicht nur durch den Westen beeinflusst, sondern auch durch Interessenlagen lokaler Gruppen. Internationaler Einfluss auf den Konflikt ist allerdings nach dem Ende der OSZE-Mission stark eingeschränkt.

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Fortschritte im Stillstand?

Fortschritte im Stillstand?

Eine Bestandsaufnahme des Konflikts um Bergkarabach

von Felix Kuntzsch

Der Konflikt um Bergkarabach ist Teil des gewalttätigen Erbes einer unerwartet friedlich implodierten Sowjetunion (SU). Mehrer Zehntausende kamen im Krieg um die mehrheitlich armenisch besiedelte Enklave in Aserbaidschan ums Leben, Hunderttausende wurden vertrieben. Wie in den ähnlich gelagerten Auseinandersetzungen um Südossetien, Abchasien und Transnistrien gibt es auch in diesem Fall bisher keine für alle Beteiligten akzeptable Lösung. Die ehemalige Frontlinie ist zu einer unüberbrückbaren Barriere geworden wie die gesamte Grenze zwischen Armenien und Aserbaidschan. Sie trennt die Konfliktparteien nicht nur räumlich, sondern auch kognitiv.

Schon der Konfliktgegenstand ist umstritten. Für Baku handelt es sich um eine Frage territorialer Integrität, in der Armenien völkerrechtswidrig einen Teil Aserbaidschans okkupiert. Aus armenischer Sicht ist der Konflikt dagegen in erster Linie ein inneraserbaidschanisches Problem, in dem es um das Selbstbestimmungsrecht der armenischen Minderheit geht.

In mehr als fünfzehn Jahren fast ununterbrochener Verhandlungen konnte selbst das Minimalziel einer Konsolidierung des Waffenstillstands nicht erreicht werden. Zahlreiche Kompromissvorschläge wurden erfolglos diskutiert, Hoffnungen auf eine baldige Einigung wiederholt enttäuscht. Weshalb ließen sich die Konfliktparteien in all den Jahren nicht zu einem Friedensschluss bewegen?

Meine Analyse stellt die Rolle der jeweiligen Öffentlichkeiten und deren ablehnende Haltung gegenüber politischen Kompromissen in den Vordergrund. Es erweist sich als schwierig gegen die öffentliche Meinung in Armenien, Bergkarabach und Aserbaidschan eine diplomatische Lösung »von oben« durchzusetzen. Die anfangs durch Gewalt und nationalistische Mobilisierung erkaufte Legitimität der politischen Eliten wird ihnen zum Verhängnis. Einziges probates Gegenmittel ist ein inter-gesellschaftlicher Dialog, dem bisher kaum Platz eingeräumt wurde.

Die Vergangenheit und der Status Quo

Der Bergkarabach-Konflikt ist das Ergebnis der ethnoterritorialen Organisation der SU. In den 1920er Jahren wurde dieses mehrheitlich von Armeniern bewohnte Gebiet der Sozialistischen Sowjetrepublik (SSR) Aserbaidschan zugeschlagen (Cornell 2001; de Waal 2005). Bergkarabach wurde zu einer autonomen Region, die zwar eigene Institutionen besaß, in allen Belangen aber von Baku abhing und sich somit in der Verteilungshierarchie der von Schattenwirtschaft geprägten Sowjetökonomie benachteiligt sah (Zürcher & Köhler 2003, Dragadze 1989). Der Anschluss an die SSR Armenien schien einen Ausweg zu bieten, der mit einer konsequenten Umsetzung des Nationalitätenprinzips gerechtfertigt werden konnte (Brubaker 1996)

Was die Eskalation ermöglichte, war das Unvermögen Moskaus, die Ablehnung des territorialen Transfers durchzusetzen und für die öffentliche Ordnung und Sicherheit in der Region zu sorgen. Lokale Auseinandersetzungen, deren Gründe im Nachhinein vielschichtig erscheinen, wurden in der Öffentlichkeit als ethnonationale Konfrontationen präsentiert – mit fatalen Folgen. Nach pogromartigen Ausschreitungen eines wütenden Mobs in Sumagit unweit von Baku gegen dort lebende Armenier im Januar 1989 machte die armenische Demokratiebewegung Bergkarabach zu einem Symbol des Widerstandes gegen die Willkür Moskaus (Malkasian 1996).1

Mit den Unabhängigkeitserklärungen der beteiligten Parteien intensivierte sich der Gewaltaustrag. Beide Seiten machten sich »ethnischer Säuberung« schuldig. Zum Zeitpunkt des im Frühjahr 1994 vereinbarten Waffenstillstands hatte Baku de facto den Krieg um Bergkarabach verloren und war nur knapp einem Bürgerkrieg entgangen.

Zusätzlich zur ehemals autonomen Region Bergkarabach trennt die Waffenstillstandslinie von 1994 noch weitere sieben Distrikte Aserbaidschans vom Rest des Landes. Die selbsternannte Republik Bergkarabach wird nach der Flucht der aserbaidschanischen Minderheit fast ausschließlich von Armeniern bewohnt und ist aufs Engste mit Armenien verbunden. So gibt es ein gemeinsames Budget; Eriwan garantiert mit eigenen Truppen für die Sicherheit und sowohl der aktuelle Präsident Sersch Sarkissjan als auch sein Vorgänger Kotscharjan kommen aus der früheren Enklave. Doch wurde in den letzten Jahren vielen klar, dass der ungelöste Konflikt mit Aserbaidschan eine Last ist. Die Grenze zur Türkei ist seit 1993 geschlossen und das Land hat in den 1990er Jahren einen massiven Bevölkerungsschwund erlitten.

Auf aserbaidschanischer Seite besteht man weiter auf dem Recht auf territoriale Integrität. Stärkstes Argument dabei ist das Schicksal der Flüchtlinge, die bis heute zumeist ihr Dasein unter menschenunwürdigen Bedingungen fristen müssen.2 Die Einnahmen aus dem noch boomenden Ölgeschäft haben das Regime der Aliyevs gestärkt und ermöglichen eine militärische Aufrüstung, die von verbalen Muskelspielen in Richtung Armenien begleitet wird.3

Vom Status Quo scheint keine der Parteien zum jetzigen Zeitpunkt unilateral abrücken zu wollen. Ein Alleingang birgt zu große Risiken. Weder die Anerkennung Bergkarabachs oder gar eine Vereinigung mit Armenien stehen auf der Tagesordnung. Noch kann sich Aserbaidschan gegenwärtig einen Kriegsgang leisten.

Verhandlungen ohne Ende

Nachdem alle Versuche gescheitert waren, den Bergkarabach Konflikt im Rahmen der Sowjetinstitutionen zu beenden und stattdessen die SU selbst verschwand, beschäftigten die sich intensivierenden Krieghandlungen schon bald die internationale Gemeinschaft. Nach dem Beitritt der neuen unabhängigen Staaten in die spätere Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) im Januar 1992 wurde aus ihren Reihen die sogenannte Minsker Gruppe ins Leben gerufen, die bis heute wichtigster Mediator in diesem Konflikt ist (Dehdashti 2000).4

Zentrales Problem in den Vermittlungsbemühungen war neben der unkooperativen Rolle Russlands die Frage nach dem Rechtsprinzip, auf denen diese fußen sollten: Territoriale Integrität oder Selbstbestimmungsrecht? Die Signale, die von der internationalen Gemeinschaft an die Konfliktparteien gesendet wurden, waren alles andere als eindeutig, da man zwischen dem Territorium der ehemaligen autonomen Region und den darüber hinaus besetzten Gebieten unterschied. Beide Seiten konnten darauf hoffen, dass ihre Position als einzig legitime anerkannt werden würde. In der Hoffnung auf einen militärischen Erfolg räumte man dem Schlachtfeld den Vorzug ein. Bis zum Waffenstillstand blieben Friedensbemühungen erfolglos.

Die sich aus den widerstreitenden Prinzipien des Völkerrechts ergebende Unklarheit ob des eventuellen Status‘ Bergkarabachs überschattete von Beginn an die Verhandlungen. Auf dem Lissaboner OSZE Gipfel von 1996 wurde gegen die Stimme Armeniens erstmalig das Prinzip territorialer Integrität als Verhandlungsbasis festgelegt.

In Ermangelung jeglicher Fortschritte kam 1997 der Vorschlag der Aufteilung von Friedenssicherung und Statusfragen in separate Dokumente auf. Man hoffte, dass sich im Bereich der Friedenssicherung leichter eine Einigung erzielen lassen würde. Mit einer Übergangsregelung für Bergkarabach würde das zweite Dokument über Status und andere schwierige Fragen später zur Diskussion stehen. Doch trotz Sicherheitsgarantien und eines Vetorechts in den späteren Statusverhandlungen sträubte sich die Führung Bergkarabachs. Die bloße Möglichkeit eines Verbleibs in Aserbaidschan machte den Kompromiss inakzeptabel.

Die armenische Seite kehrte bald wieder zu einem Paketkonzept zurück. Alles sollte in einem Aufwasch geregelt werden, so auch die Statusfrage. Mit letzterer war man aber erneut in einer Sackgasse. Die aserbaidschanische Position, dass es »nur« einen maximalen Grad an Autonomie geben könne, der sich mit dem Prinzip der territorialen Integrität vereinbaren ließe, blieb unvereinbar mit der armenischen Ablehnung jeglicher Autorität Bakus über die abtrünnige Region.

Aus dieser Pattsituation erwuchsen unterschiedliche Konzepte, die dem Recht auf Selbstbestimmung und dem Prinzip territorialer Integrität mithilfe ausgefeilter institutioneller Konstruktionen gleichermaßen gerecht werden wollten (Abasov & Khachatrian 2002). Unter dem Titel »common state« wurde im Herbst 1998 eine Regelung vorgeschlagen, die einer Konföderation glich: Zwei selbstregierte Einheiten in einer eher symbolischen Struktur vereint, was ein horizontales Machtverhältnis ermöglichen sollte. Aber die bloße Idee einer konföderativen Regelung war für Baku nicht akzeptabel.

Nun kam die Zeit für radikale Gegenkonzepte. In Anerkennung der militärischen Niederlage Aserbaidschans und des Status Quo schlug der amerikanische Kaukasusexperte Paul Goble einen Landtausch vor (Goble 1992). Gegen die Anerkennung der Souveränität Armeniens über Bergkarabach würde Eriwan Land an Aserbaidschan abtreten, was einen Verbindungskorridor mit dem vom Mutterland abgetrennten Nachitschevan öffnen würde. Dieser pragmatische Ansatz spielte bis 2001 eine Rolle in den Verhandlungen, führte aber zu keinem Ergebnis.

Mit einem offenen bilateralen Austausch zwischen den Außenministern Armeniens und Aserbaidschans unter der Ägide der Minsker Gruppe wird seit 2004 ein neuer Versuch unternommen, substantielle Fortschritte zu erzielen. Man hat von maximalistischen Forderungen Abstand genommen und schien sich einig zu sein, dass die Rückgabe der besetzten Gebiete außerhalb Bergkarabachs Priorität hat, während die Statusfrage zu einem späteren Zeitpunkt zu klären sein würde.

Auf Grundlage dieser Gespräche wurde im November 2007 von den Vizevorsitzenden der Minsker Gruppe die sogenannten Madrider Prinzipien vorgestellt. Diese sehen vor: (1) das Ende der armenischen Besetzung der aserbaidschanischen Territorien außerhalb Bergkarabachs, (2) einen Interimstatus für Bergkarabach, der Selbstbestimmung und Sicherheit garantiert, (3) einen Landkorridor, der Bergkarabach mit Armenien verbindet, (4) die Klärung der Statusfrage durch ein Referendum, (5) ein Rückkehrrecht für alle Flüchtlinge und (6) internationale Sicherheitsgarantien, was die Option der Stationierung einer multilateralen Friedenstruppe einschließt (IWPR 2009).

Wenngleich die Niederschrift dieser Prinzipien ein Schritt nach vorne ist, so liegt das Problem in den Details. Wie genau soll der Interimsstatus aussehen? Aus Sicherheitsgründen kann und will Bergkarabach nicht alle Territorien räumen und schließt dies explizit aus. Die Landverbindung nach Armenien, der sogenannte Lachin Korridor, steht nicht zur Verhandlung. Daher gilt es auch als unmöglich, allen Flüchtlingen die Rückkehr zu ermöglichen. Neben jenen Aseris und Kurden, die aus Lachin vertrieben wurden, wird eine Rückkehr nach Bergkarabach in naheliegender Zukunft kaum realisierbar sein.5 Dies führt unweigerlich zur Frage, wie das angestrebte Referendum durchgeführt werden soll. Wer soll über was abstimmen – und wann? Die Idee des Referendums wird nur dann für alle Seiten zu akzeptieren sein, wenn jeder eine Chance sieht, auf demokratischem Weg seine Position umzusetzen.6

Nichtsdestotrotz ist die Idee des Referendums ein geschickter diplomatischer Schachzug. Die schwierige Statusfrage wird damit nicht nur ausgeklammert, sondern zu einer Frage über ein später zu haltendes Referendum gemacht. Mit dem Abzug armenischer Truppen aus einem Großteil der besetzten Gebiete und entsprechenden Sicherheitsgarantien für Bergkarabach durch eine entmilitarisierte Zone und internationale Friedenstruppen wäre die unmittelbare Kriegsgefahr gebannt und die Grundlage für eine weitere Entspannungspolitik gegeben. Doch schon in der Vergangenheit sind wiederholt gute Ansätze gescheitert.

Warum kein Vorankommen?

Sowohl aus praktischer als auch politikwissenschaftlicher Sicht ist die Frage nach dem »warum« interessant. Beide Parteien sehen sich im Recht, haben aber in den Verhandlungen wiederholt ein großes Maß an Flexibilität gezeigt. Trotzdem kam es nie zur Unterzeichnung eines Friedensvertrags. In den einschlägigen Analysen finden sich dazu unterschiedliche Erklärungen.

Eine Variante sieht das Problem nicht im Wollen der Konfliktparteien, sondern im Mangel an adäquaten Lösungsansätzen, der den Konfliktparteien gerecht werden (Laitin & Suny 1999). Eine andere macht fehlendes Engagement der internationalen Gemeinschaft für den Stillstand verantwortlich (Gamaghelyan 2005). Andere wiederum haben in den politischen Eliten die wirtschaftlichen Profiteure des Status Quo ausgemacht, die kein Interesse an Veränderung haben (Özkan 2008). Etwas subtilere Erklärungsversuche gehen auf die strategischen Erwägungen der Verhandlungsparteien ein, die »auf Zeit« spielen (ICG 2007).7 Diese Punkte mögen alle ihre Gültigkeit haben, doch verlieren sie die Bevölkerung aus dem Blick.

Oft als Hindernis für politische Kompromisse en passant erwähnt, ist der Antagonismus der politischen Öffentlichkeiten in Armenien bzw. Bergkarabach und Aserbaidschan ein schwerwiegendes Problem, dem die Verhandlungen auf diplomatischem Parkett bisher keine große Beachtung geschenkt haben. Zwar finden sich auf beiden Seiten Stimmen, die erkennen, dass prinzipiell Armenier und Aserbaidschaner mehr vereint als trennt, aber die Erinnerung an den Krieg sowie die damit einhergehende Mythenbildung haben ein Klima des gegenseitigen Misstrauens, der Angst und des Hasses geschaffen. Als Beobachter ist man geneigt anzunehmen, dass die Legitimität der postsowjetischen Regime in Armenien, Bergkarabach und Aserbaidschan geradezu von diesem Antagonismus abhängt. Opportunisten und Ideologen auf beiden Seiten sind stets versucht, dies für ihre eigenen Machtinteressen auszubeuten und jene, die sich für Kompromisse einsetzen, des Verrats zu bezichtigen.

Wie ich an anderer Stelle argumentiere, führt dies aus konflikttheoretischer Perspektive zu interessanten Einsichten (Kuntzsch 2009). Entgegen der Annahme, dass die Antagonismen die tragische Seite nationaler Identitäten sind, die aus einfach zu manipulierenden Mythen und Symbolen bestehen (Kaufman 2001), kann gezeigt werden, dass die gegenwärtige Situation ein intendiertes Produkt der Eskalation in den späten 1980er Jahren ist. Der Bergkarabach-Konflikt war anfangs eine willkommene Ressource zur politischen Legitimierung neuer Machtverhältnisse, die mit Gewalt durchgesetzt wurden. Doch bald begann er das politische Schicksal der politischen Führung in beiden Ländern zu bestimmen. Dies traf und trifft besonders jene, die, einmal an der Macht, zum Schluss kommen, dass der Status Quo Risiken birgt, die Zeit gegen die eigene Seite arbeitet und Kompromisse mit der Gegenseite eingegangen werden müssen. Gerade in Armenien hat dies über die Jahre zu dramatischen innenpolitische Verwerfungen geführt. In Aserbaidschan hat sich ein autoritäres Regime etabliert, das den Zorn des Demos fürchtet.

In praktischer Hinsicht leitet sich von dieser Analyse die Notwendigkeit eines intergesellschaftlichen Dialogs ab, der mit dem Ende der öffentlichen Dämonisierung der Gegenseite einher gehen muss (Kaufman 2000). Viel zu wenig wurde in dieser Hinsicht bisher unternommen. Dabei fällt es Armeniern und Aseris nicht schwer, an anderen Orten erfolgreich zu kooperieren (Economist 2000). Eine diplomatische Lösung wird in jedem Fall kaum gegen die öffentliche Meinung durchzusetzen sein.

Fazit

Im November 2008 unterzeichneten die Präsidenten Armeniens und Aserbaidschans bei einem Treffen mit Russlands Präsidenten Medwedjew erstmals ein gemeinsames Dokument, was als Signal gewertet wurde, dass die Madrider Prinzipen sich als Arbeitsgrundlage durchgesetzt haben. Russland ist aus dem Augustkrieg gegen Georgien mit neuem Selbstvertrauen als regionale Ordnungsmacht hervorgegangen. Möglicherweise liegt hier der Schlüssel zum erfolgreichen Abschluss eines Friedensvertrags. Weiterhin könnte es in den kommenden Wochen zur Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Türkei und Armenien kommen. Die in den Verhandlungen angestrebte Öffnung der seit 1993 geschlossenen Grenze wäre eine weltpolitische Sensation und könnte die politische Landschaft des Südkaukasus grundlegend verändern.

Trotz dieser Entwicklung sind auf gesellschaftlicher Ebene die Feindschaft und das Misstrauen unter den Nachbarn weiterhin groß. Vertrauensbildende Maßnahmen zur Sicherung des Waffenstillstands auf diplomatischer Ebene müssen von einem Austausch auf zivilgesellschaftlicher Ebene flankiert werden, um auf lange Frist eine Lösung des Konflikts zu ermöglichen. Im Südkaukasus würde eine neue Zeit anbrechen.

Literatur

Abasov, Ali & Haroutium Khachatrian (2002): Variants for a Solution of the Karabakh Conflict: Concepts and Reality. Baku: Publishing House »Yeni Nesil«. Online: http://www.ca-c.org/dataeng/karabakh.eng/e00.titul.eng.shtml [4. Oktober 2009]

Brubaker, Roger (1996): Nationalism Reframed. Cambridge: Cambridge University Press.

Cornell, Svante E. (2001): Small Nations and Great Powers: A Study of Ethnopolitical Conflict in the Caucasus. Richmond: Curzon Caucasus World.

Dehdashti, Rexane (2000): Internationale Organisationen als Vermittler in innerstaatlichen Konflikten. Die OSZE und der Berg Karabach-Konflikt. Frankfurt a.M.: Campus Verlag.

de Waal, Thomas (2003): Black Garden: Armenia and Azerbaijan through Peace and War. New York: New York University Press.

Dragadze, Tamara (1989): The Armenian Azerbaijani Conflict: Structure and Sentiment, in: Third World Quarterly 11:1, S.55-71.

Economist, The (2000): An Uncommon Market in the Caucasus. 3. Juni.

Gamaghelyan, Philip (2005): Intractability of the Nagorno-Karabakh Conflict: A Myth or a Reality?, in Peace & Conflict Monitor, Special Report, Juli. Online: http://www.monitor.upeace.org/documents/intractability.pdf [3.Oktober 2009].

Goble, Paul (1992): Coping with Nagorno-Karabakh Crisis, in: The Fletcher Forum of World Affairs 6:2.

ICG (2005a): Nagorno-Karabakh: Viewing the Conflict from the Ground. Europe Report Nr. 166, 14. September.

ICG (2005b): Nagorno-Karabakh – A Plan for Peace. Europe Report Nr. 167, 11. Oktober.

ICG (2007): Nagorno-Karabakh: Risking War. Europe Report Nr. 187, 14. November.

IWPR (2009): Peace Process: Where We Are Now – A summary of Progress on the Road to a Settlement von Kenan Guluzade, CRS No. 50, 27. Juli.

Kaufman, Stuart J. (2000): Peace-Building and Conflict Resolution in Nagorno-Karabakh. Programm on New Approaches to Research and Security in Eurasian. PONARS Policy Memo 164. Online: http://csis.org/files/media/csis/pubs/pm_0164.pdf [3. Oktober 2009].

Kaufman, Stuart J. (2001): Modern Hatred: The Symbolic Politics of Ethnic War. Ithaca: Cornell University Press.

Koehler, Jan & Zurcher, Christoph (2003): The Art of Losing the State: Weak Empire to Weak Nation-State around Nagorno-Karabakh, in: Jan Koehler & Christoph Zurcher (eds.): Potentials of Disorder: Explaining Conflict and Stability in the Caucasus and in the Former Yugoslavia. Manchester: Manchester University Press.

Kuntzsch, Felix (2009): Drawing Boundaries: The Politics of Ethnic Violence and the Case of Nagorno-Karabakh. Vortrag im Rahmen der jährlichen Konferenz der Canadian Political Science Association (CPSA/ACSP). Online: www://www.ca c.org/dataeng/karabakh.eng/e00.titul.eng.shtml [6. Oktober 2009].

Laitin, David D. & Ronald Grigor Suny (1999): Armenia and Azerbaijan: Thinking a Way Out of Karabakh, in Middle East Policy 7:1. Online: www.mepc.org/public_asp/ journal_vol7/9910_laitinsuny.asp [3. Oktober 2009].

Malkasian, Mark (1996): Gha-ra-bagh! The Emergence of the National Democratic Movement in Armenia. Detroit: Wayne State University Press.

Miller, Donald E. & Lorna Touryan Miller (2003): Armenia: Portraits of Survival and Hope. Berkeley: University of California Press.

Özkan, Behlül (2008): Who Gains from the »No War No Peace« Situation? A Critical Analysis of the Nagorno-Karabakh Conflict, in: Geopolitics 13:3.

Anmerkungen

1) Entscheidend auf armenischer Seite war die Parallele, die zwischen dem Genozid von 1915 und den Vorgängen in Aserbaidschan gezogen wurden (siehe z.B. Interviews in Miller und Miller 2003).

2) Trotz anderslautender Behauptungen erscheint es, dass den Flüchtlingen aus strategischen Gründen kaum Spielraum gegeben wird, sich in ihrer neuen Situation einzufinden und ein neues Leben zu beginnen (ICG 2005a).

3) In einer quasi-dynastischen Machtübergabe ging das Präsidentenamt 2003 von Aliyev senior, der seit 1993 regierte, an seinen Sohn über.

4) Es handelt sich dabei um eine Vermittlergruppe aus Mitgliedsstaaten der OSZE, die eine Friedenskonferenz in Minsk zum Ziel hatte. Seit 1997 wird die Minsker Gruppe im Wesentlichen durch Diplomaten aus Frankreich, den Vereinigten Staaten und Russland repräsentiert, die gemeinsam den Vizevorsitz inne haben.

5) Die mehrheitlich aserbaidschanischen Siedlungen sind meist vollständig zerstört worden und das frühere Zentrum aserbaidschanischen Lebens in Bergkarabach, Susha, stellt eine strategische Bedrohung für die tiefer gelegene Hauptstadt Stepanakert dar, die im Krieg von dort massiv bombardiert wurde.

6) Ein abschreckendes Beispiel für ein solches Referendum liefert der Konflikt um die Westsahara, in dem Streitereien ob der Wahlberechtigten eine Abstimmung verhinderten.

7) Armenien hofft durch die Siedlungspolitik in Bergkarabach eine fait accompli zu schaffen während Aserbaidschan auf eine militärische Lösung spekuliert.

Felix Kuntzsch promoviert an der Université Laval, Québec, Canada.

Russlands Sicherheitsinteressen und die instabile Südflanke

Russlands Sicherheitsinteressen
und die instabile Südflanke

von Jürgen Nieth

Liebe Leserinnen, liebe Leser, 1991 zerfiel die Sowjetunion und der Warschauer Pakt löste sich auf. Das Militärbündnis war vier Jahrzehnte auf der Weltbühne Gegenpol zur NATO gewesen. Russland blieb in der Folge zwar eine der beiden großen Atommächte, verlor aber seine Weltmachtrolle. Die NATO nutzte unter Führung der USA die »Gunst der Stunde«, um für sich – endlich unbehindert durch das östliche Militärbündnis – neue Zuständigkeiten zu reklamieren und ihr Operationsgebiet auszudehnen.

Für Russlands Sicherheitsinteressen eine fatale Entwicklung. Heute reicht die ständige Truppenpräsenz der NATO bis fast an seine Westgrenze und sie soll noch weiter vorgeschoben werden: Die Ukraine und Georgien bleiben im Gespräch als neue NATO-Mitglieder.

Doch nicht nur durch die NATO-Osterweiterung musste sich Russland bedroht fühlen. Auch die Entwicklungen an seiner Südflanke beeinträchtigten seine Sicherheitsinteressen. Genannt seien nur

die bewaffneten Konflikte im eigenen Süden: Tschetschenien und Inguschetschien;

die Kriege und Aufstände in ehemaligen Sowjetrepubliken im Kaukasus: um Bergkarabach zwischen Armenien und Aserbaidschan, in den georgischen Teilrepubliken Abchasien und Südossetien;

instabile Staaten im post-sowjetischen Raum Zentralasiens;

der Krieg in Afghanistan.

Russland reagierte auf die Entwicklung in seinem Süden politisch und ökonomisch. Dafür stehen u.a. die unterschiedlichen Bündnisse mit ehemaligen Sowjetrepubliken und angrenzenden Ländern, wie die Eurasische Wirtschaftsgemeinschaft und die Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SchOZ) sowie eine Reihe bilateraler Abkommen.

Russland reagierte aber auch militärisch. Dafür stehen zwei lange Tschetschenienkriege und dafür steht der erste Militäreinsatz gegen ein anderes Land: Georgien 2008. Die russische Regierung nutzte den Überfall der georgischen Armee auf die ossetische Minderheit im eigenen Land, um militärisch einzugreifen und nach einem gewonnenen Fünf-Tage-Krieg Abchasien und Südossetien als selbstständige Staaten anzuerkennen. Dass dieser Schritt nicht in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht war, konnte negiert werden, schließlich hatte der Westen mit der Anerkennung des Kosovo vorher den Präzedenzfall geschaffen.

Die militärische Karte wird auch weiter in der Hand gehalten. So gab es im Sommer gemeinsame Militärübungen der beiden mächtigsten Staaten der SchOZ, China und Russland, in den nordchinesischen Provinzen Jilin und Shandong. Auch hier haben sie vom Westen gelernt, die Übungen standen unter dem Thema »Kampf gegen den Terrorismus«.

Jetzt hat Barak Obama das Lieblingsprojekt seines Vorgängers, die Stationierung eines Raketenabwehrsystems in Tschechien und Polen, gestrichen, das die Russen immer als gegen sich gerichtet betrachtet haben. Vor der UNO hat Obama eine atomwaffenfreie Welt propagiert und sich für eine Verkleinerung der A-Waffen-Arsenale ausgesprochen.

Gibt es eine neue Phase der Vertrauensbildung, vertraglich vereinbarter Rüstungsbegrenzungs- oder sogar Abrüstungsabkommen? Punktuell – auf einige internationale Vereinbarungen bezogen – scheint es dafür eine Chance zu geben. Sicher ist auch diese Entwicklung nicht, schließlich liegen bereits Pläne der US-Militärs auf dem Tisch, die Raketenabwehr, die für Polen und Tschechien gestrichen wurde, jetzt seegestützt zu installieren und US-Verteidigungsminister Robert Gates möchte – trotz Obamas Vision – eine neue Generation von Atomsprengköpfen erproben lassen.

Kommt hinzu: In anderen Bereichen prallen die Interessengegensätze zwischen den USA, Russland, China u.a. auf jeden Fall weiterhin aufeinander. Das trifft auch für die Kaukasusregion und Zentralasien zu:

Es darf bezweifelt werden, dass die US-amerikanischen (und NATO-)Truppen nur zur Taliban-Bekämpfung nach Afghanistan entsandt wurden, die Bush-Administration hatte bereits vor 9/11 an einer Dauerstationierung US-amerikanischer Truppen in diesem Raum ein strategisches Interesse.

Auch für die NATO war die Sicherung der Rohstoffressourcen und ihrer Transportwege längst vor den Terroranschlägen von New York erklärtes strategisches Ziel und der Mittlere Osten damit im Fokus. Daran hat sich bis heute nichts geändert.

In den autoritär regierten Zentralasiatischen Staaten wächst extrem die Kluft zwischen Armut und Reichtum, es bildet sich ein Nährboden für eine zunehmende politische Instrumentalisierung des Islam und die Instabilität der Regime ebnet den Weg für eine Einflussnahme von außen.

Vor diesem Hintergrund hat W&F den Schwerpunkt dieser Ausgabe beschlossen: Darauf hoffend, dass wir Ihnen einen näheren Einblick vermitteln können in die komplizierte Gemengelage in dieser Region und einige Anregungen dafür, wie eine Politik aussehen sollte, die konfliktreduzierend wirkt.

Ihr Jürgen Nieth

»Nachgang« zum Georgienkrieg

»Nachgang« zum Georgienkrieg

Chancen einer Status-neutralen Annäherungsstrategie für Abchasien und Südossetien

von Oliver Wolleh

Der Beginn des Krieges in Südossetien im August 2008 und der daraus resultierende georgisch-russische Krieg stellt in vielerlei Hinsicht eine tiefe Zäsur in der Regulierung des georgisch-abchasischen und des georgisch-südossetischen Konfliktes dar. Die Diskussion der georgischen Krise ist bislang stark durch Betonung der geopolitischen Faktoren und Dynamiken geprägt. Dieser Artikel hat zum Ziel, die Diskussion um die Struktur des internationalen Konfliktregulierungs-Systems zu bereichern. Dazu werden einige potenziell positive Anknüpfungspunkte näher betrachtet, die auf der Ebene der (lokalen) Primärakteure liegen. Der Beitrag basiert auf der Annahme, dass eine genuine georgisch-abchasische und georgisch-südossetische Konfliktdynamik existiert.

Die katastrophalen Verluste und Konsequenzen des Georgienkriegs – vor allem für die direkt betroffenen Menschen in Südossetien und Georgien – sollen an dieser Stelle nicht näher ausgeführt werden.1 Obwohl der Bericht der unabhängigen EU-Kommission zum Kriegsverlauf noch aussteht, ist bereits jetzt deutlich dass – mit den Worten der Parlamentarischen Versammlung des Europarats – von „overwhelming evidence“ zu sprechen ist „dahingehend, dass beide, Georgien und Russland, Menschenrechte und Humanitäres Völkerrecht im Laufe des Krieges verletzt haben.“2

Eskalationsdynamiken

Die georgisch-abchasische und die georgisch-südossetische Konfliktdynamik war seit den Kriegen Anfang der 1990er Jahre keineswegs »eingefroren«, sondern durch immer wieder auftretende gewaltsame Eskalationsdynamiken geprägt. An dieser Stelle seien die Ereignisse des Jahres 1998 erwähnt, bei denen die abchasische Armee als Reaktion auf die gewaltsamen Aktivitäten georgischer Paramilitärs in der Gali-Region intervenierte und die bis dahin nach Abchasien zurückgekehrte georgische Bevölkerung erneut zu Vertriebenen und »Internally Displaced Persons« bzw. Flüchtlingen wurden. Im Sommer 2004 kam es zum Beschuss der südossetischen Hauptstadt Zchinwali durch die georgische Armee, nur wenige Monate nach der Amtsübernahme durch Präsident Saakashvili, sowie im Juli 2006 zur Kontrollnahme über das zu Abchasien gehörende Kodori-Tal durch Georgien.

Das Jahr 2006 kann als ein wichtiger Wendepunkt zur Verschlechterung der Beziehungen sowohl im georgisch-südossetischen als auch im georgisch-abchasischen Kontext gesehen werden. Obwohl nach dem gewaltsamen Zwischenfall in Zchinvali (vom Sommer 2004) der georgisch-südossetische Waffenstillstand im August desselben Jahres erneuert wurde, hatten sich die Beziehungen dramatisch verschlechtert. Im Zuge der Parlamentswahlen in Südossetien im Jahr 2006 etablierte Tiflis in dem von ihm kontrollierten Teilregionen Südossetiens eine Georgien-treue Nebenregierung unter Dimitri Sanakojew. Mit der Schaffung dieser parallelen Administration kam auf georgischer Seite die Forderung auf, dass auch diese an den Verhandlungen teilnehmen sollte. Dies wurde von südossetischer Seite abgelehnt, so dass der Verhandlungsprozess bis zum August-Krieg zum Stillstand kam.

Im abchasischen Kontext kann die bereits erwähnte Kontrollnahme über das Kodori-Tal als einer der zentralen Wendenpunkt in der Verschlechterung der georgisch-abchasischer Beziehungen bezeichnet werden, der letztlich maßgeblich zu der Dynamik des August-Krieges beigetragen hat. Ende 2005 waren die georgisch-abchasischen Verhandlungen über ein »Abkommen zur Nicht-Wiederaufnahme von Feindlichkeiten« gescheitert. In den vom Berghof Forschungszentrum ermöglichten informalen Dialogprozessen hatte der georgische Minister für Konfliktlösung und spätere präsidentielle Gesandte Kontakte zur abchasischen Führung gesucht und die Idee einer Gewaltverzichtserklärung erörtert.3 Die Idee wurde im offiziellen VN-Verhandlungsrahmen aufgegriffen und zu unterschriftsreifen Übereinkünften entwickelt. Im Dezember unterschrieben der abchasische De-facto-Außenminister Schamba und der georgische Minister für Konfliktlösung Khaindrava im Beisein der Sonderbeauftragten des UN-Generalsekretärs Frau Tagliavini eine Übereinkunft, die Entwürfe den jeweiligen Präsidenten zur Unterschrift vorzulegen. Ein wichtiger Teilschritt zur Verbesserung der Beziehung schien fast abgeschlossen bis die Übereinkunft von Präsident Saakaschvili abgelehnt wurde und Minister Khaindrava schließlich am 21. Juli 2006 – vier Tage vor der Kodori-Operation – zurücktrat.

Die Präsenz georgischer Soldaten und Polizisten in dem strategisch bedeutsamen Tal, das direkt auf die Hauptstadt Abchasiens, Sochumi, zuläuft, wurde auf abchasischer Seite als ernste Sicherheitsbedrohung wahrgenommen.4 Die russischen Peacekeeper, welche laut Mandat den Zugang zu der Schlucht hätten kontrollieren müssen, hatten sich wie auch bei den anderen größeren Gewaltzwischenfällen nicht als effektive Schutzmacht erwiesen, um das georgische Eindringen zu unterbinden.5

Neben diesem militärischen Sicherheitsaspekt wurde die georgische Aktion politisch-symbolisch aufgeladen, da Präsident Saakashvili den Sitz der bis dahin in Tiflis ansässigen abchasischen Exilregierung, die aus nach dem Krieg von 1992/93 geflohenen Georgiern besteht, in das in »Oberabchasien« umbenannte Kodori-Tal verlagerte und die Rückkehr der »legitimen abchasischen Regierung« nach Abchasien proklamierte.

Der Versuch der Führung in Tiflis, die abchasische Exilregierung international als gleichwertigen Akteur neben der Regierung in Sochumi zu etablieren, indem alle internationalen Diplomaten und ausländischen NGO-Vertreter für den Fall ihrer geplanten Reise nach Sochumi erst bei der Exilregierung vorsprechen sollten, schlug fehl, nachdem der abchasische Präsident Bagapsch gedroht hatte, dass Personen, die diesem Prozedere entsprechen würden, nicht mehr nach Abchasien einreisen könnten. Die Forderung des Abzugs der abchasischen Exilregierung wurde anfänglich von Seiten Sochumis erhoben, in den folgenden Jahren jedoch nicht mehr artikuliert, um diesen Akteur nicht politisch aufzuwerten.6

Zudem reagierte die abchasische Führung auf diese Entwicklung mit Stornierung der UN-moderierten Verhandlungen und stellte für deren Fortsetzung zwei Kernforderungen auf. Zum einen die nach Rückzug des georgischen Militärs und der georgischen Polizei aus dem Kodori-Tal, zum anderen die nach Unterzeichnung einer bilateralen Gewaltverzichtserklärung mit Georgien.

Parallel zu diesen Forderungen fing die abchasische Führung ihrerseits an, ein militärisches Vorgehen anzudrohen, wenn sich die (wahrgenommene) militärische Bedrohungssituation nicht zufriedenstellend entschärfen sollte.7 Eine abchasische Kompromissformel, die allen Seiten eine Gesichtswahrung erlaubt hätte, sah im Kern vor, dass die (georgische) polizeiliche Kontrolle des Kodori durch die lokale Bevölkerung (in georgischen Uniformen) und nicht durch aus dem Kernland Georgiens entsandte Kräfte erfolgen sollte. Mit der »Lokalisierung« der Polizeikräfte wäre auch der Demilitarisierung des Kodori Vorschub geleistet und die auf abchasischer Seite wahrgenommene Sicherheitslücke geschlossen worden. Gleichzeitig wäre die Schlucht unter georgischer Kontrolle verblieben und hätte die georgische Position nach »territorialer Integrität« nicht hinterfragt.8 Diese Lösungsformel zur Wiederbelebung des Verhandlungsprozesses wurde jedoch nicht weiter verfolgt, so dass wie im südossetischen Kontext die Verhandlungsblockade bis zum Ausbruch des August-Krieges bestehen blieb.

Im georgischen Verständnis war die Kontrollnahme über das Kodori-Tal ein erneuter Schritt zur Wiederherstellung territorialer Integrität, eine Position, die auch von der US-Administration geteilt wurde. Die europäischen Reaktionen fielen demgegenüber differenzierter aus. Einerseits wurde von Seiten der EU anerkannt und bestätigt, dass man die Wiederherstellung territorialer Integrität Georgiens unterstütze, andererseits wurde kritisiert, dass die Aktion das Moskauer Waffenstillstandsabkommens (von 1994) verletzte. Ebenso missbilligte der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen das georgische Vorgehen. Aussagekräftiger über die vorhandenen Dynamiken sind indes die Berichte des UN-Generalsekretärs. In seinem Bericht vom September 2006 werden dreizehn georgische Verletzungen des Moskauer Waffenstillstandsabkommens im Gefolge der „Einführung von Truppen, Militärfahrzeugen und Flugzeugen in die Sicherheitszone“ 9 benannt.

Die europäische Kritik und die Besorgnisse der UNOMIG (United Nation Observer Mission in Georgia) blieben indes in Tiflis ungehört und hatten keine nennenswerten Konsequenzen für die Saakashvili-Regierung. Darüber hinaus gelang es den russischen GUS Peacekeepern sowie der UNOMIG nicht, in den verbleibenden zwei Jahren bis zum August-Krieg, georgische Truppenverlagerungen in das Kodori-Tal zu unterbinden, wie die Berichte des UN Generalsekretärs belegen.

Die Kodori-Ereignisse haben daher die »Anarchisierung« der georgisch-abchasischen, georgisch-südossetischen und georgisch-russischen Konfliktdynamik noch einmal intensiviert. Auf georgischer Seite setzte sich die Überzeugung fest, dass die in zahlreichen UN-Resolutionen erwähnte Wiederherstellung der territorialen Integrität mit allen Mitteln erfolgen kann, ohne weitere politische Konsequenzen nach sich zu ziehen, während auf abchasischer, südossetischer und letztlich russischer Seite die Schlussfolgerung gezogen wurde, dass man bei der nächsten kriegerischen Auseinandersetzung die georgischen Offensivkapazitäten auch im Kernland Georgiens zerstören muss. Diese Schlussfolgerungen sind auch so – zumindest auf abchasischer Seite – kommuniziert worden und es kann als Versagen aller am Verhandlungsprozess beteiligten Akteure gewertet werden, dass es nicht gelungen ist, eine effektive Sicherheitsarchitektur zu schaffen.

Mit dem Ausbruch der Kämpfe in Südossetien kündigten die Abchasen ihren Angriff auf das Kodori-Tal an und nahmen es nun ihrerseits unter Verletzung des Waffenstillstandabkommens von 1994 ein. Bemerkenswert bei diesem Vorgehen ist, dass die abchasische Führung ihren Einmarsch in das Tal in enger Absprache mit georgischen Ministern telefonisch abstimmte, so dass es zu keinen georgischen Verlusten kam und nur zu einem durch Unfall getöteten abchasischen Soldaten.

Der Krieg – mit der Zerstörung der georgischen Offensivkapazitäten und der Verlagerung russischer Truppen nach Abchasien und Südossetien – sowie die russische Besatzung von zuvor nicht umstrittenen georgischen Gebieten haben das Geflecht aus Sicherheits- und Bedrohungsperspektiven nachhaltig verändert. Mehr noch, der Krieg und die ihm folgende rechtliche Anerkennung Abchasiens und Südossetiens durch Russland haben die bis dahin existierenden Verhandlungsformate zerstört. In dem nach dem Krieg erstellten und zurzeit aktuellen Verhandlungsformat, dem »Genfer Prozess«, sind der abchasische und südossetische Konflikt zum ersten Mal zusammengefasst. Auf internationaler Seite sind UN, OSZE und EU gleichermaßen vertreten.

Es ist praktisch undenkbar, dass Russland der Aufforderung nachkommt, die Anerkennung Abchasiens und Südossetiens zurück zu nehmen. In diesem Sinne hat sich und wird sich die Rolle der UN im Konfliktmanagement verändern, da es in absehbarer Zukunft keine UN-Resolutionen mehr geben wird, welche die territoriale Integrität Georgiens einfordern. Die »Blockade« der UN durch Russland in dieser Frage wird zu einer »Neutralisierung« der UN führen und die Dynamik der Einforderung von territorialer Integrität wird sich in andere institutionelle Zusammenhänge verlagern, voraussichtlich im Kontext der EU und des Europarates.

Annäherungs-Chancen

Dies bedeutet nicht, dass die Rolle der UN in einem zukünftigen Friedensprozess geschwächt werden muss. Gegenstand der momentanen Verhandlungen ist die Verlängerung bzw. Neu-Etablierung einer UN-Mission in Abchasien. Auf abchasischer Seite wird die Position vertreten, dass eine zukünftige UN-Mission umbenannt werden muss und nicht mehr als »Mission in Georgien« firmieren soll. Es gibt keinen Zweifel daran, dass die abchasische Führung ein hohes Interesse an der Beteiligung der UN an der zukünftigen Sicherheitsarchitektur in der Region hat. Ebenso wenig darf bezweifelt werden, dass für die nun erstarkte abchasische Führung Konstruktionen akzeptabel sind, welche das Konzept »territorialer Integrität Georgiens« (symbolisch) manifestieren. Konkret bedeutet dies, dass es entweder zur Etablierung einer Status-neutralen UN-Mission kommt oder dass das UNOMIG-Mandat mit großer Wahrscheinlichkeit ersatzlos auslaufen wird.

Ein Abzug der UN hätte nachhaltige Konsequenzen für die EU, welche mit der EUMM (European Monitoring Mission) dann die einzig verbleibende internationale Mission stellen würde. Zwar ist es der EUMM bislang nicht gelungen, ihr Mandat auf der abchasischen Seite umzusetzen, da ihnen die abchasische Regierung den Zutritt verweigert, gleichzeitig konnte die Mission unter Leitung des deutschen Diplomaten Haber auf georgischer Seite Erfolge verzeichnen, welche erkennbar zur Befriedung im georgisch-abchasischen »Grenzbereich« beitragen.

Die Anerkennung Abchasiens und Südossetiens durch Russland – sieht man von der politisch und wirtschaftlich bedeutungslosen Anerkennung durch Nicaragua einmal ab – stellt in der abchasischen Wahrnehmung mehr noch als in der südossetischen eine zwiespältige Entwicklung dar, geht sie doch mit einer noch stärkeren Anbindung und Abhängigkeit von Russland einher.

Vor allem in der politischen Elite um De-facto-Präsident Bagapsch existierte in der Vergangenheit das Konzept einer »Multi-Vektor-Politik«, welche darauf zielte und zielt, die abchasischen Außenbeziehungen nicht allein auf Russland auszurichten, sondern diese gleichwertig neben eine europäische Perspektive zu stellen.10 In diesem Zusammenhang wurde auch die Vision eines »neutralen Abchasien« formuliert, welches weder russische noch NATO-Truppen beherbergen sollte, freilich unter der Vorraussetzung einer international anerkannten Staatlichkeit.

Es ist eine der großen verpassten Chancen der letzten Jahre, dass die Bedrohungsängste vor dem großen Nachbarn Russland, welche von außen betrachtet eins der stärksten potenziellen Verbindungselemente zwischen Georgiern und Abchasen waren (und im Prinzip immer noch sind), nicht für einen Annäherungsprozess genutzt wurden. Leider verstand es die georgische Regierung nicht, sich durch eine Strategie der Annäherung und Vertrauensbildung gegenüber den Abchasen als verlässlicher Partner zu etablieren oder zumindest als kleinerer Bedrohungsfaktor als der russische. Stattdessen hat sich die georgische Regierung in der Frage der Legitimität einer militärisch erzwungenen Lösung durchgehend ambivalent verhalten. In unzähligen Erklärungen haben Präsident und Minister die Notwendigkeit zu einer friedlichen und politischen Lösung der Konflikte benannt, nur um das Bekenntnis zur Gewaltfreiheit sofort dahingehend zu relativieren, dass auch »andere Mittel« Anwendung finden müssten, wenn die territoriale Integrität nicht zeitnah in den Verhandlungen erzielt werden könne. Derlei Äußerungen wurden i.d.R von georgischen Politikern in internationalen Zusammenhängen als notwendige rhetorische Stilblüten gegenüber der eigenen Bevölkerung dargestellt. Auf abchasischer und südossetischer Seite wurden diese Äußerungen immer als Drohungen interpretiert.

Auch das abchasische Interesse an einer Annäherung an die EU konnte nicht systematisch genutzt und kultiviert werden, weil die georgische Regierung bei ihrer Strategie der Isolation der Sezessionsgebiete blieb. Dabei haben sich die Handlungsspielräume von EU-Institutionen, die abchasische und südossetische Gesellschaft zu erreichen und kooperative Beziehungen aufzubauen, bereits in den Jahren vor dem Krieg erkennbar verengt. Dies wird deutlich, wenn man die Finanzierungsmodalitäten der EU-Kommission für zivilgesellschaftliche Projekte in den Sezessionsgebieten betrachtet. So wurde der »Call for Proposals« im Frühjahr 2008 so ausgeschrieben, dass er explizit auf Georgien verwies, während die vorherigen Ausschreibungen indifferent formuliert worden waren. Die Reaktion auf abchasischer und südossetischer Seite bewirkte, dass sehr viele NGOs sich an diesem Call for Proposals nicht beteiligten, weil sie nicht in Programmen teilnehmen wollen, in denen sie als Teil Georgiens klassifiziert werden.

Eine sehr ähnliche Verengung des Beziehungsaufbaus zwischen der EU und den Sezessionsgebieten hat sich auch im Hinblick auf die Bewegungs- und Reiseprofile von Abchasen und Südosseten ergeben. Die Mehrheit der Abchasen und Südosseten verfügte bereits vor dem Krieg über einen russischen Reisepass. Seit 2002 hatte Russland angefangen, Pässe an die abchasische und südossetische Bevölkerung auszugeben, da die von diesen bis dahin verwendeten sowjetischen Pässe ausliefen. Die russische Strategie der »Passportisierung« wurde sowohl auf georgischer als auch internationaler Seite oft als eine unzulässige Einmischung in die inneren Angelegenheiten kritisiert.

Während in den Folgejahren Abchasen und Südosseten Visa für EU-Länder bei den jeweiligen Landesbotschaften in Moskau erlangen konnten und so eine relativ unkomplizierte Einreise nach Europa möglich war, hat sich in den letzten Jahren die Praxis dahingehend verändert, dass Abchasen und Südosseten nun diese Visa in den Botschaften in Tiflis beantragen müssen. Erneut führte dies zu Verweigerungshaltungen auf Seiten der Abchasen und Südosseten, da dieses Verfahren als eine symbolische Manifestation der Position interpretiert wird, dass Abchasen und Südosseten georgische Staatsbürger seien.

Ausblick

Die angeführten Beispiele machen verschiedene Aspekte deutlich. Zum einen zeigen sie, wie Isolations- und Selbstisolationsmechanismen ineinander greifen und wie Regierungen und Menschen auf Grund ihrer inneren Überzeugungen Kooperation verweigern. Das hier beispielhaft erläuterte Interaktionsmuster galt vor dem August-Krieg und gilt heute nach der Anerkennung Abchasiens und Südossetiens durch Russland umso mehr. Es kann als praktisch ausgeschlossen gelten, dass Abchasen und Südosseten Angebote und Interaktionsmuster akzeptieren werden, welche sie implizit in den Kontext georgischer territorialer Integrität stellen. Will man diese Gebiete erreichen, so ist dies in einer Status-neutralen Interaktionsdynamik möglich.

Die EU könnte nach wie vor sich als eine russische und amerikanische Interessen balancierende Kraft etablieren. Indes bleibt die georgische Regierung bei ihrer Strategie der Isolation der Sezessionsgebiete und hat durch das »Law of Georgia on Occupied Territories« die Kooperation über die Konfliktlinien hinweg noch einmal erschwert.

Anders als in der Kosovo-Frage ist sich die EU in der Ablehnung der abchasischen und südossetischen Eigenstaatlichkeit einig. In der Frage, wie und unter welchen Bedingungen man versuchen soll, die Sezessionsgebiete zu erreichen, ist die Haltung der EU-Mitgliedsstaaten jedoch weniger einheitlich. Verallgemeinernd kann man zwischen jenen unterscheiden, die einer Strategie des »Wandels durch Annäherung« offen gegenüber stehen, und jenen, welchen die Betonung der territorialen Integrität Georgiens wichtiger erscheint und für die Kooperation nur unter diesem Vorzeichen erfolgen soll. So wird es der EU sehr schwer fallen, zu einer den Status ausklammernden Annäherungs-Strategie zu kommen. Gebunden durch ihre völkerrechtliche Position und die Isolationsbestrebungen der georgischen Regierung, wird sie ähnlich wie im Zypern-Kontext nur sehr bedingt ihr Entwicklungs-, Wirtschafts- und rechtspolitischen Instrumente anwenden können. Dennoch ist ein Status-neutraler Ansatz, in dem Entwicklung und Vertrauensbildung verbunden werden könnten, nach wie vor möglich. Letztlich muss auch jede georgische Regierung zu der Verantwortung gegenüber jenen Menschen stehen, von denen sie behauptet, sie seien Staatsbürger Georgiens.

Anmerkungen

1) Vgl. Human Rights Watch (2009): Up in Flames – Humanitarian Law Violations and Civilian Victims in the Conflict over South Ossetia, URL: http://www.hrw.org; Luchterhand, O. (2008): Völkerrechtliche Aspekte des Georgien-Krieges. FES-Analyse. URL: http://library.fes.de/pdf-files/bueros/moskau/05939.pdf.

2) Parliamentary Assembly / Council of Europe (PACE) (2009): Resolution 1647, Art. 8.4, URL: http://assembly.coe.int/Main.asp?link=/Documents/AdoptedText/ta09/ERES1647.htm.

3) Wolleh, O. (2006): Difficult encounter – The informal Georgian-Abkhaz dialogue workshop, Berghof Report No. 12, Berghof Research Center for Constructive Conflict Management, Berlin; Pressemitteilung Workshop 14 (April 2005), URL: http://www.berghof-center.org/std_page.php?LANG=d&id=51&parent=3.

4) Der georgische Parlamentarier Givi Targamadze formulierte die Bedeutung des Kodori wie folgt: „Das ist ein strategisches Gebiet, von dem aus ein Flug mit dem Hubschrauber nach Sochumi nur fünf Minuten dauert.“ Civil Georgia, 26 July 2006, „Most of Kodori Under Control as Rebels Remain Besieged“.

5) Wolleh, O.: Interview mit dem Sicherheitsberater von De-facto-Präsident Bagapsch, November 2006, Sochumi.

6) Wolleh, O.: Interview mit einer Mitarbeiterin im abchasischen Außenministerium, November 2007, Sochumi; Wolleh, O.: Interview mit einem Mitglied des Abchasischen Nationalen Sicherheitsrates, November 2006, Sochumi.

7) Wolleh, O.: Interview mit dem Sicherheitsberater von De-facto-Präsident Bagapsch, November 2006, Sochumi.

8) Wolleh, O.: Interview mit einem Mitarbeiter im abchasischen Außenministerium, November 2007, Sochumi.

9) United Nations (2006): Report of the Secretary-General on the situation in Abkhazia, Georgia, 28. September 2006, S.3, URL: http://www.un.org/Docs/sc/sgrep06.htm .

10) The Proposal of Abkhaz side on the comprehensive Settlement of the Georgian-Abkhaz conflict – Key to the Future, 2005.

Dr. Oliver Wolleh ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Berghof Forschungszentrum und koordiniert seit 2003 den georgisch-abchasischen Dialogprozess. Er ist Dozent an der Alice-Salomon Fachhochschule (Berlin) und der Tbilisi State University.

Der Fünf-Tage-Krieg

Der Fünf-Tage-Krieg

von Jürgen Nieth

Am 7. August startete das georgische Militär eine Blitzoffensive zur Eroberung Südossetiens. Dabei wurden nach Information des georgischen Außenministers 9.000 Soldaten eingesetzt, der »Spiegel« (Nr.35/2008, S.129) spricht von 12.000. Die Zivilbevölkerung der südossetischen Stadt Zchinwali und die dort stationierten russischen Friedenstruppen wurden bombardiert. Dutzende Zivilisten und 18 russische Blauhelme starben. Am frühen Morgen des 8. August drangen nach westlichen Schätzungen 5.500 bis 10.000 russische Soldaten nach Südossetien vor, später auch bis vor die georgische Hauptstadt Tiflis. Ein Faktor, der zu einer einhelligen Verurteilung Russlands in der westlichen Presse führte.

Die Schuldzuweisung

„Im Westen hielt man sich mit der Frage, wer für den Kaukasuskonflikt verantwortlich ist, nicht lange auf“ schreibt S. Halimi in »Le Monde diplomatique« (Sept. 2008). „Die Melodie hatte der neokonservative US-Politikberater Robert Kagan vorgesungen: Es sei »relativ unwichtig« wer angefangen hat… »Wäre Michail Saakaschwili nicht dieses mal in Putins Falle getappt, hätte irgend etwas anderes den Konflikt ausgelöst«.“

Eine Position, die in der »Neuen Zürcher Zeitung« (NZZ) noch sechs Wochen später vertreten wird (20.09.08): „Man beschäftigt sich damit, wer den ersten Schuss abgefeuert hat, so als ob das feststellbar und überhaupt die zentrale Frage wäre.“ In der »Süddeutschen Zeitung« dagegen die späte Einsicht (08.09.08): „Die kurz nach dem Ausbruch des Krieges geläufige Formel vom imperialen Russland, dass das arme Georgien überfallen hat, trägt nicht mehr. Wir wissen inzwischen, dass der georgische Generalstab gegen das militärische Abenteuer eines Einmarsches in Südossetien war.“

Unbeleuchteter Hintergrund

Der Hintergrund des Konflikts blieb zu Beginn des Krieges bei uns weitgehend unbeleuchtet. Erst am 16.09. weist Noam Chomsky in der FR darauf hin, dass es Stalin war, „der Südossetien und Abchasien… seiner Heimat Georgien zuteilte… Die Provinzen waren bis zum Ende der UdSSR relativ unabhängig. 1990 jedoch verbot Georgiens ultranationalistischer Präsident Swiad Gamasachurdin die Autonomie einzelner Gebiete und marschierte in Südossetien ein. Der daraus folgende Krieg forderte 1.000 Todesopfer und machte Zehntausende zu Flüchtlingen.“ Die FAZ informiert ihre LeserInnen am 27.08., dass Russland „1992 in Südossetien und 1994 in Abchasien Waffenstillstandsverträge (vermittelte und seitdem) den Großteil der Friedenstruppen in beiden Provinzen (stellte), die diese Waffenruhe überwachen sollten.“

Die Rolle der USA

Unterbelichtet blieben in den ersten Wochen auch die US-Interessen in dieser Region. 2002 schickten die USA ihre ersten Militärberater nach Georgien. 160 sind laut »Spiegel« (Nr.35/2008, S.126) noch Mitte August in Tiflis. Am Manöver »Direkte Antwort 2008« der 4. georgischen Infanteriebrigade nahmen „an die 1.000 US-Amerikaner“ teil (S.128). »Le Monde diplomatique« (Sept. 2008) zitiert Zbigniew Brzezinski, der am 12. August einen weiteren Aspekt der US-Strategie benannte: „Georgien garantiert uns den Zugang zum Erdöl und demnächst auch zum Erdgas in Aserbaidschan, im Kaspischen Meer und in Zentralasien. Es ist deshalb für uns von enormer strategischer Bedeutung.“ Unterstrichen wird dieses US-Interesse durch das Drängen der USA auf NATO-Mitgliedschaft Georgiens.

J. Radvanyi (Le Monde diplomatique, Sept. 2008) schlussfolgert: „Was immer das Pentagon behauptet: Die USA-Regierung war mit Sicherheit über die Einmarschpläne Saakaschwilis unterrichtet, hat diese aber nicht gebremst.“ Für diese These spricht auch die zügige Verlegung von 2.000 georgischen Soldaten aus dem Irak zurück nach Georgien.

Russlands Interessen

Glaubt man D. McShane in »Die Welt« (08.09.08), hat der Westen nie versucht Russland einzukreisen, denn „kann man einen Kontinent einkreisen?“. Die NZZ liegt auf derselben Linie (20.09.08): Für sie ist „die plakative Anprangerung der »Expansion der NATO bis an die Grenzen Russlands« ein russisches Schlagwort.“ Anders Florian Hassel in der FR (11.09.08): „Russland empfand schon die … Osterweiterung der NATO um die baltischen Länder, Rumänien, Bulgarien, Slowenien und Slowakei als Betrug des Westens. Nicht ohne Grund.“ Er weist darauf hin, dass US-Außenminister Baker 1990 Gorbatschow zugestimmt habe, dass „jede Erweiterung der Zone der NATO… unakzeptabel“ ist.

Für den Friedensforscher Johan Galtung (Freitag, 05. 09.08) ist der Kaukasus „zur Hauptbühne eines sich aufbauenden »Zweiten Kalten Krieges« geworden. Das Kesseltreiben zielt auf eine langfristige Einkreisung Russlands, Indiens und Chinas… Dazu expandiert die NATO nach Osten, während das amerikanisch-japanische Sicherheitssystem AMPO, zu dem auch Südkorea und Taiwan gehören, westwärts aufgerollt wird.“

Doppel-Standards beim Völkerrecht

Die Anerkennung Südossetiens und Abchasiens als selbstständige Staaten „rüttelt“, schreibt Reinhard Müller in der FAZ (27.08.08) „an den Fundamenten der internationalen Ordnung“. Übereinstimmung in der Presse: Die Anerkennung ist mit dem Völkerrecht nicht vereinbar. Gleichzeitig vielfach Doppel-Standards im Vergleich mit der Kosovo-Anerkennung durch westliche Staaten. Karl Grobes Position (FR 27.08.08) – Wer über die Anerkennung „überrascht ist, kann in den letzten Monaten nicht zugehört haben. Seit Kosovo nicht. Die Aufwertung dieser einst serbischen Region zum Staat hat den Herren an der Moskwa ein Argument geliefert.“ – wird nicht überall geteilt.

Wie weiter

Jetzt beginnt das Ringen um die Konfliktlösung. In der »Welt« (01.09.08) setzt T. Matsulevitis auf Konfrontation: „Die Antwort des Westens an Russland sollte in rascher Anbindung Georgiens an transatlantische und europäische Strukturen… bestehen. Das Gebot der Stunde lautet: vergesst Russland, denkt an Georgien.“ Eine Gegenposition formuliert Martin Winter in der SZ (16.09.08): „Wenn die Europäer berücksichtigen, dass es nicht nur um Georgien geht, sondern vor allem um die künftigen Beziehungen zwischen der EU und Russland, …dann gibt es eine Chance für erfolgreiche politische Verhandlungen. Die eines Tages sogar in einer Stabilitätskonferenz für den gesamten Kaukasus enden können.“

Zündstoff Öl und Gas

Die alte und neue Konfliktregion Kaukasus – Kaspisches Meer

Zündstoff Öl und Gas

von Detlef Bimboes

Herausgegeben in Zusammenarbeit mit der Informationsstelle
Wissenschaft und Frieden (IWIF) e.V.

Die Südflanke der ehemaligen Sowjetunion ist eine alte, geschichtlich gewachsene Konfliktregion. Hier kreuzten sich bereits vor Jahrhunderten türkische, persische und russische Interessen. Nachdem sich Russland im Verlauf des 19. Jahrhunderts Mittelasien einverleibt hatte wuchs die Rivalität mit dem englischen Kolonialreich um den Export von Baumwolle und später um das Erdöl. Im Zweiten Weltkrieg wollte die deutsche Wehrmacht die Ölquellen von Baku erobern, dann war für fast 50 Jahre »Ruhe«. Doch nach dem Zerfall der bipolaren Nachkriegsordnung und im Übergang zur Globalisierung ist die Region wieder zum Krisenherd geworden. Alte Interessengegensätze leben auf. Hinzu kommen nicht gelöste ethnische Konflikte aus der Vergangenheit und verschlechterte Lebensbedingungen. Forderungen nach Selbstbestimmung und nationalistische Bewegungen verschärfen die Lage. In Kaukasien und Mittelasien sind in den letzten 10 Jahren acht neue selbstständige Nationalstaaten entstanden; Staaten mit großen Minderheiten-Problemen, einem krassen Sozial- und Einkommensgefälle; Staaten, die von einer parlamentarischen Demokratie noch weit entfernt sind. Territoriale Ansprüche werden mit Gewalt ausgetragen. Der Krieg zwischen Armenien und Aserbeidschan um Nagorni Karabach, der Krieg um die Separation Abchasiens, der blutige Konflikt um die Unabhängigkeit Südossetiens von Georgien sowie der erste Tschetschenienkrieg kennzeichneten die Neunzigerjahre. Am Ende des Jahrzehnts steht der zweite Tschetschenienkrieg.
Die Tatsache, dass der »weiche Unterleib« der ehemaligen Sowjetunion reich an energetischen und teilweise auch mineralischen Rohstoffen ist (Simonitsch, 1999), hat zusätzlich die Begierde führender Industrienationen und großer internationaler Energiekonzerne geweckt. Die Europäische Union, vor allem aber die USA haben erfolgreich begonnen ihren wirtschaftlichen und politischen Einfluss auszubauen. Das Interessengeflecht wird dadurch weiter kompliziert.

Rückblick: Russlands Niederlage im Krim-Krieg und das Ölfieber in Baku

Das Erdöl, das in der Region Baku bereits seit alters her bekannt war und in bescheidenem Umfang im Wesentlichen als Beleuchtungs- und Brennstoff diente, wurde für Russland erst nach dem Ende des Krim-Krieges, also nach 1856, von immer größerer wirtschaftlicher Bedeutung (Bimboes, 1999a).

Das Krim-Debakel offenbarte schonungslos die Rückständigkeit Russlands in Verwaltung, Wirtschaft und Armee, die Modernisierung des Zarenreichs wurde unausweichlich. Die Industrialisierung verwandelte Russland in ein Treibhaus des Kapitalismus. Zu dem rasanten Umbau der russischen Wirtschaft trugen wesentlich Kapitalimporte – insbesondere privates Aktienkapital und Anleihen – und Erlöse aus Agrarexporten bei. Größter Kapitalexporteur war Frankreich, gefolgt von Großbritannien, Deutschland und Belgien.

Die russische Regierung erkannte schnell die Bedeutung des Erdöls für den Staatshaushalt. Das aus dem Erdöl gewonnene Petroleum war als Lampenöl begehrt. Ein riesiger Binnen- und Exportmarkt stand bereit. Die Petroleumlampe hatte in Russland und Europa wie auch in den USA zu einer Umwälzung im öffentlichen und privaten Leben geführt, durchaus z. B. mit der des Kühlschranks vergleichbar. Bereits 1873 gab es in Baku nicht weniger als 23 Raffinerien. Größtes Problem für den Absatz der Produkte war jedoch die fehlende Anbindung Bakus an den südrussischen Markt und den Welthandel. Mit der transkaspischen Bahnlinie wurde die Verbindung zwischen Baku und Batumi am Schwarzen Meer geschaffen. Sie war nicht nur von großer wirtschaftlicher Bedeutung – ab 1906 noch verstärkt durch eine parallel verlaufende Erdölleitung – , sie verstärkte auch den russischen Einfluss in Aserbeidschan und besaß zugleich militärische Bedeutung. Russland hatte hier ja nicht nur das Osmanische und Iranische Reich zum Gegner, sondern zugleich wuchs auch seit der weitgehenden Annexion von Mittelasien im Jahre 1864 die Rivalität mit England. Mit der Bahnlinie kam auch die Stunde des Einstiegs für Banken und Konzerne in das Ölgeschäft. Russland wurde zwischen 1898 und 1901 kurzzeitig, beherrscht von westeuropäischem Kapital, zum größten Ölzentrum der Erde. Öl wurde wirtschaftlich und militärisch immer wichtiger (Massarrat, 1998), vor allem als Treibstoff für die Kriegsflotten der Großmächte. Um die Rohstoffbeschaffung für die englische Kriegsflotte sicherstellen zu können, kaufte der Royal-Dutch-Shell Konzern 1912 die Besitzungen des französischen Bankiers Rothschild am Kaspischen Meer. Damit hatte englisches Kapital die Vorhand in diesem Gebiet.

Die Oktoberrevolution
und westliche Erdölinteressen

Nach der Oktoberrevolution von 1917 entstand eine neue Situation. England unterstützte zur Wahrung seiner Interessen am kaspischen Öl den antibolschewistischen Widerstand in Russland. Bereits 1916 hatten England und Frankreich in einem Geheimabkommen ihre Interessensphären abgegrenzt (Massarrat, 1998 und Rauch, 1990). Danach gehörten der gesamte Kaukasus und der transkaspische Raum zum englischen Einflussgebiet. Dementsprechend hatte England bereits mit dem Ausbruch der Oktoberrevolution das angrenzende Persien besetzt um seine strategischen Interesssen zu sichern. Auch Deutschland unternahm noch kurz vor der Niederlage im Ersten Weltkrieg einen ersten Anlauf um Zugang zu den Bodenschätzen und dem Erdöl Transkaukasiens zu erhalten. Und zwar über den Weg als Protektoratsmacht des unabhängigen Georgiens. Zwischen 1918 und 1920 besetzten dann aber englische Truppen neben Batumi auch ganz Aserbeidschan inklusive Baku. England und die Entente hatten hier tatsächlich viel zu verlieren; insgesamt 68 britische Firmen hatten 21,6 Millionen Pfund, alle Unternehmer der Entente rund 40 Millionen Pfund in das Geschäft mit dem Öl dieser Region investiert.

Nachdem die Rote Armee die kaukasischen Ölfelder zurückerobert hatte, wurde die gesamte Ölindustrie verstaatlicht. Westlichen Forderungen nach Reparationsleistungen kam man nicht nach. Ölkonzessionen, die zur Beschaffung von Kapital und Technik dienen sollten, wurden zwar angeboten, konnten aber wegen des Drucks der USA und ihrer Erdöllobby auf der Haager Konferenz 1922 nicht genutzt werden. Damit setzte sich die Standard Oil gegen ihre europäischen Konkurrenten durch. Ab Herbst 1923 änderte sich die Lage; Russland bot Erdöl auf dem Weltmarkt an. Die zerstörte Wirtschaft brauchte dringend Devisen und alle kauften. Von der italienischen und französischen Kriegsflotte über die Standard Oil of New York bis zu Shell. Der Shell-Konzern unterstützte zugleich massiv antisowjetische Exilkreise. Er gab erst 1929 seine Kampfstellung gegenüber der Sowjetunion auf, just zu einem Zeitpunkt, als sich US-amerikanische Ölfirmen – mit Rockefeller an der Spitze – erfolgreich um günstige Lieferverträge mit der Sowjetunion bemühten.

Der Verkauf sowjetischen Öls sank dann aber aufgrund des hohen Eigenbedarfs rapide bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges. Erst Ende der Fünfzigerjahre meldete sich die Sowjetunion wieder auf dem europäischen Erdölmarkt zurück.

Die kaspischen Ölfelder
als strategisches Kriegsziel Hitler-Deutschlands

Erklärtes Kriegsziel Hitlers war es, die Ölquellen um Baku und Grosny zu erobern und Russland von der Ölversorgung abzuschneiden. Die Ölgebiete um Baku deckten 1940 ca. 70 Prozent des Ölbedarfs Russlands. Im Verlauf der Sommeroffensive 1942 gelang es dem 40. Panzerkorps der Wehrmacht zeitweilig bis auf 80 km an das Kaspische Meer vorzustoßen. Unterstützt wurde der Vormarsch durch Kosakenschwadronen und kaukasische Freiwilligenverbände, die sich der Wehrmacht angeschlossen hatten. Deutsche Gebirgsjäger bestiegen im August 1942 – als Symbol des Sieges – den Elbrus, den höchsten Berg des Kaukasus. Die Ölfelder von Grosny in Tschetschenien wurden von der SS-Division Wiking in Brand gesteckt und die hier noch verbliebenen Ölraffinerien und Ölvorräte vom Luftwaffengeschwader Richthofen zerstört (Semjonow, 1973). Die Sowjetunion hatte diese Gefahren vorausgesehen, die Ölproduktion teilweise eingestellt, große Teile der Anlagen demontiert und in das Wolga-Ural-Gebiet verlagert. Dort waren große Ölvorkommen entdeckt worden. Sie konnten aber erst nach und nach verstärkt genutzt werden. Versorgungsengpässe im Kriege wurden teilweise durch die USA behoben. Als Verbündete lieferten sie mehrere Ölraffinerien und beträchtliche Mengen an Ölprodukten.

Erst Mitte der Siebzigerjahre konnten das Wolga-Ural-Gebiet und die ab Mitte der Sechzigerjahre hinzu gekommenen Ölreviere in Westsibirien über 70 Prozent der gesamten sowjetischen Ölförderung sicher stellen (Diercke, 1981). Dem gegenüber verlor das kaukasische Erdöl an Bedeutung. Bereits nach dem Zweiten Weltkrieg hatten dort die alten, landseitigen Fördergebiete immer deutlichere Anzeichen der Erschöpfung gezeigt. Die gewaltigen, unter dem Boden des Kaspischen Meeres verborgenen Öl- und Gasschätze wurden aber bis zum Ende der Sowjetunion nur begrenzt erforscht und eine veraltete Fördertechnik beschränkte ihre Nutzung. Bedeutende Investitionen blieben auf Sibirien konzentriert.

Für die Energieversorgung hat seit dem Zweiten Weltkrieg weltweit die Rolle des Erdgases enorm zugenommen und mit dem Erdöl praktisch gleichgezogen. Die verstärkte Förderung von Erdgas in den Fünfzigerjahren im Nordkaukasus und neue Ölfunde hatten insbesondere für die Entwicklung in Dagestan und Tschetschenien beträchtliche Bedeutung. In den mittelasiatischen Republiken wurden Ende der Fünfzigerjahre große Erdgaslagerstätten – in etwa zeitgleich dazu auch große Erdölvorräte – entdeckt und genutzt. Inzwischen sind weitere bedeutende Erdöl- und Erdgasfunde in der kaspischen Region hinzu gekommen.

Die neue Lage
nach dem Ende der Sowjetunion

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges war es ruhig in der Region am Kaspischen Meer. Das änderte sich jedoch schlagartig nach dem Ende der Sowjetunion. Als sie sich 1991 auflöste, entstanden in diesem Gebiet acht selbstständige Staaten, Staaten mit undemokratischen Verhältnissen, großen Minderheiten-Problemen und einem krassem Sozial- und Einkommensgefälle. Alle Staaten gehören zur Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS), deren mächtigstes Mitglied die Russische Föderation ist.

Gleichzeitig haben die teils bekannten, teils neu entdeckten Öl- und Gasreichtümer in der Region einen weltweiten Wettlauf um ihre Ausbeutung ausgelöst. Die neuen Nationalstaaten sind gemeinsam mit großen internationalen Öl- und Gaskonzernen dabei, ihre Rohstoffvorkommen zu erschließen und auszubeuten. Zu einem Anwachsen des Lebensstandards der verarmtem Massen hat das bisher nicht geführt.

Zur Größenordnung der Bodenschätze gibt es unterschiedliche Angaben. Als tatsächlich gesichert gelten beim Öl ca. drei Milliarden Tonnen (Zum Vergleich: Saudi-Arabien verfügt allein über gesicherte Vorkommen von 35 Milliarden Tonnen Rohöl). Das entspricht zwei Prozent der Weltreserven und erreicht in etwa die Größenordnung der Nordseevorkommen (SPD-Bundestagsfraktion, 1998). Die Erwartungen reichen aber bis zu 28 Milliarden Tonnen. Erschließbare Bestände bis zehn Milliarden Tonnen (das wären sieben Prozent der bekannten Weltreserven) sind wahrscheinlich. Beim Erdgas gelten in der Region acht Billionen Kubikmeter (sechs Prozent der Weltreserven) als gesichert, vermutet werden aber 18 Billionen Kubikmeter. Detaillierten Aufschluss über die Vorkommen gibt eine 1998 erschienene, umfangreiche Studie der Internationalen Energie Agentur, eine Einrichtung der OECD, die für Politik und Investoren erarbeitet wurde (International Energy Agency, 1998).

Ölpipelines und Großmacht- interessen in der kaspischen Region

In den Siebzigerjahren gelang es den in der Organisation Erdöl exportierender Staaten (OPEC) zusammengeschlossenen Ländern kurzzeitig anstelle der Ölkonzerne die Regieführung bei der Preis- und Angebotsregulierung auf den internationalen Energiemärkten (»Ölkrise« 1973) zu übernehmen. Eine Herausforderung für die seit 1961 in der OECD zusammengeschlossenen Industriestaaten, in ihrem Mittelpunkt die »Triade« USA-Japan-EU. Die Gegenstrategie wurde maßgeblich vom damaligen US-Außenminister Kissinger bestimmt. Sie bestand darin unabhängig von der OPEC eine dauerhaft störungsfreie Ölversorgung auf Billigpreisniveau – auch unter Einsatz militärischer Mittel – sicher zu stellen. Sie setzte auf eine Steigerung des Angebots der Energieträger Öl, Gas, Kohle und die Atomenergie. Dafür wurde auf die Förderung von Energierohstoffen in allen Weltregionen außerhalb der OPEC-Staaten gesetzt. Das Konzept ist aufgegangen und leitete zugleich die Schwächung und Spaltung der OPEC ein.

Erst diese Zusammenhänge verdeutlichen, weshalb der »weiche Unterleib« der früheren Sowjetunion mit seinen strategisch wichtigen energetischen und teilweise mineralischen Rohstoffen ins Visier der OECD-Länder, allen voran von USA und NATO, gerückt ist. Um ihre Interessen durchsetzen zu können bedurfte es einer veränderten militärpolitischen Strategie. Sie wurde bereits 1991 auf dem NATO-Gipfel in Rom mit dem »Neuen Strategischen Konzept des Bündnisses« geschaffen (Scheer, 1999a) und auf dem Jubiläumsgipfel zum 50-jährigen Bestehen der NATO im April 1999 in Washington weiterentwickelt um der NATO die Möglichkeit zu geben, auch in Ländern jenseits des Bündnisgebietes und nicht nur im Verteidigungsfall militärisch einzugreifen. Die beschworene Verteidigung von Demokratie, Freiheit und Menschenrechten kann nicht verbergen, dass es den großen, in der OECD zusammengeschlossenen Industriestaaten im Kern letztlich um die Durchsetzung ihrer wirtschaftspolitischen Interessen geht und die NATO deshalb für »out-of-area«-Einsätze um- und ausgerüstet wird. Transkaukasien ist für die OECD-Staaten, allen voran die USA, eine hervorragende Möglichkeit sich von den längerfristig versiegenden Ölquellen am Persischen Golf unabhängiger zu machen. Schließlich verbrauchen allein die USA jährlich etwa 25 Prozent des weltweiten Ölangebots. Die Europäische Union hat ebenfalls Interessen, weil mittelfristig ihre eigenen Vorräte schrumpfen. Es geht also um die Kontrolle der Ressourcen in der Region, um den Einstieg in lukrative Geschäfte in allen Wirtschaftsbereichen und den Aufbau stabiler marktwirtschaftlicher Systeme, die mit dem Westen langfristig verbunden sind.

Die politischen Bestrebungen der USA laufen darauf hinaus, strategisch gesehen einen Keil zwischen Russland und den ölreichen mittleren Osten zu treiben und zugleich die NATO bis an die innerasiatische Grenze Chinas und zum Himalaya auszudehnen (Ronnefeldt, 1999 und Scheer, 1999b). Ohne die europäischen Mitgliedstaaten der NATO ist das nicht möglich. Nur mit ihnen kann eine geographisch ununterbrochene militärische Bündnislinie bis ins Innere Asiens geschaffen werden. Diese Bestrebungen werden dadurch erleichtert, dass die Völker der neuen Nationalstaaten am Kaspischen Meer aufgrund ihrer schlechten Erfahrungen mit der Sowjetunion selbst Anschluss an den »Westen« suchen.

Politisch gefährlich ist das Ganze inzwischen dadurch geworden, dass osteuropäische und transkaukasische Staaten der ehemaligen Sowjetunion quasi offiziell schon einen Kandidatenstatus bei der NATO erhalten haben. Zu den »NATO-Partnerschaftsländern« die am Jubiläumsgipfel teilnahmen, gehörten nicht nur die Ukraine und Moldawien, Georgien, Kasachstan und Aserbeidschan, sondern auch die mittelasiatischen Staaten Usbekistan, Turkmenistan, Tadschikistan und Kirgistan. Inzwischen haben Georgien, die Ukraine, Usbekistan, Aserbeidschan und Moldawien einen Pakt (GUUAM) geschlossen, mit dessen Hilfe die Beziehungen zum Westen ausgebaut werden sollen. Aserbeidschan hat der NATO und den USA bereits die Einrichtung von Militärbasen auf seinem Staatsgebiet angeboten und strebt eine vollwertige NATO-Mitgliedschaft an. Letzteres ist seit kurzem auch das Ziel Georgiens. Es betrachtet enge Beziehungen zur NATO als wichtigste Garantie für Stabilität im Kaukasus. Usbekistan ist seit April 1999 aus dem von Russland geführten Militärbündnis innerhalb der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) ausgeschieden.

Vielerorts im Transkaukasus und Mittelasien beginnt die NATO immer besser Fuß zu fassen (Spiegel, 1999). Militärpersonal wird in ihren Führungsakademien geschult, Verbindungen zu den NATO-Stäben werden hergestellt und gemeinsame Manöver durchgeführt. Vor allem aber wird durch den Kauf von Militärtechnik der Weg zu lukrativen Geschäften für die westlichen Rüstungskonzerne geöffnet. So rüstet beispielsweise Usbekistan konsequent auf US-amerikanische Militärtechnik um und die russischen Rüstungskonzerne haben das Nachsehen. Lediglich Armenien – erbitterter Gegner Aserbeidschans im Karabach-Krieg – ist bislang fester Verbündeter Russlands im Kaukasus. Mit ausschlaggebend dafür sind historische Gründe.

Interesse an den Energieressourcen hat nicht nur der Westen. Ebenso besteht wachsende Energienachfrage aus Süd- und Südostasien. Indien und China stellen ein Drittel der Weltbevölkerung. Beide Länder haben einen dramatisch wachsenden Bedarf an Öleinfuhren. Er steigt jährlich um zwanzig bis dreißig Prozent. Und das bei längerfristig sich erschöpfenden Ölreserven. Interessenkonflikte sind also vorprogrammiert. Gleichzeitig mischen sich die Regionalmächte Türkei und Iran zunehmend in die Verteilungskämpfe ein. Hatte bislang Russland noch aus den Zeiten der Sowjetunion ein Pipeline-Monopol, so wird jetzt besonders hart darum gerungen über welche Trassen Öl und Gas zu den Weltmärkten geschafft werden soll.

Hierbei sind folgende Konflikte und Interessenlagen zu unterscheiden (siehe auch SPD-Bundestagsfraktion, 1998):

  • Strategisches Ziel der USA wie auch der mittelasiatischen Staaten und denen des Kaukasus ist es, das Transportmonopol Russlands um jeden Preis zu brechen. Russland soll dauerhaft aus der gesamten Region des Nahen und Mittleren Ostens verdrängt und jede Neuauflage einer Sowjetunion verhindert werden (Linke, 1998). Das russische Transportmonopol kann aber nur mit zusätzlichen Pipelines gebrochen werden, weil die kaspische Region keinen natürlichen Zugang zu den Weltmeeren hat. Alle Staaten der Region sind außerdem an der Durchleitung von Öl und Gas über ihr eigenes Gebiet interessiert. Es geht schließlich um hohe Gebühreneinnahmen und den Einsatz der Durchleitungsrechte als politisches Druckmittel. Doch die in Frage kommenden Routen führen durch Kriegsregionen wie Tschetschenien in Russland, Georgien und Armenien oder die kurdischen Gebiete in der Türkei. Von größtem strategischen Interesse für die USA ist eine Trassenführung von Baku über Georgien zum türkischen Mittelmeerhafen Ceyhan. Zu diesem Projekt haben die weltweit größten Ölkonzerne Chevron, Mobil und Shell eine Machbarkeitsstudie finanziert. Eine entsprechende Übereinkunft wurde im Dezember 1998 in Washington im Beisein des US-Energieministers unterzeichnet. Aserbeidschan, Georgien und die Türkei haben sich inzwischen über den Bau der Pipeline geeinigt. Diese Trassenführung schränkt die Kontrolle Russlands weitgehend ein, da seine Pipelines in absehbarer Zeit für die Durchleitung zum Schwarzen Meer nicht mehr gebraucht werden. Dem Westen steht damit zukünftig eine eigene und militärisch abgesicherte Versorgungsmöglichkeit offen. Die Sicherung der Pipeline dürfte das NATO-Mitglied Türkei übernehmen und zugleich den Löwenanteil der Transportprofite einstreichen.

Eine weitere Planung für eine Gaspipelineroute führt von Turkmenistan über Afghanistan nach Pakistan mit späterem Ausbau bis nach Indien. Diese Route wird politisch von den USA und Saudi-Arabien gestützt. Aufbau und Unterstützung der Taliban-Milizen in Afghanistan finden hier ihren eigentlichen Grund. Das Projekt erlitt allerdings im Dezember 1998 einen schweren Rückschlag. Der US-amerikanische Ölkonzern Unocal verließ das Konsortium, dem die Saudiarabische Deltaoil und die japanische Itochu angehören. Die Hoffnungen Turkmenistans haben sich danach mehr auf den Bau einer Gaspipeline gerichtet, die quer durch das Kaspische Meer über Aserbeidschan in die Türkei und nach Europa liefern soll. Inzwischen liegen auch hierfür die Voraussetzungen durch ein Rahmenabkommen vor.

  • Die Europäische Union verfolgt in der kaspischen Region ebenfalls politische und wirtschaftliche Interessen. In diesen Zusammenhang gehören die Partnerschafts- und Kooperationsabkommen und darauf aufbauende Unterstützungsprogramme (TACIS, TRACEA). Die Politik der EU ist jedoch bislang noch von keiner in sich schlüssigen Gesamtstrategie bestimmt. Es fehlt eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP). In der Kommission ist dieser Handlungsbereich in zu viele Zuständigkeiten aufgesplittet und die nationalen Interessen liegen häufig zu weit auseinander. Kurzum, das Gewicht der EU ist in der Region noch nicht stark (Erhardt, 1998).

Deutschlands Interessen wie auch die der übrigen Staaten der EU richten sich zum einen auf die langfristige Sicherung der Energieversorgung Europas über die direkte Beteiligung an den großen kaspischen Öl- und Gaskonsortien. Sie richten sich zum anderen auf verschiedene Schwerpunkte: Deutschlands wirtschaftliche Interessen liegen u.a. bei der Beteiligung an Infrastrukturaufträgen sowie bei der Erzeugung und Verteilung von Elektroenergie.

Westeuropa beansprucht etwa 20 Prozent des Welterdölverbrauchs, besitzt aber nur 2 Prozent aller Vorräte. Beim Erdgas ist die Situation nur wenig (3,1 Prozent) besser. Das Interesse Westeuropas an der kaspischen Region ist daher langfristig strategisch angelegt und erfordert den Ausbau der politischen und wirtschaftlichen Beziehungen. Kaspisches Öl ist aber bis auf weiteres nicht erforderlich (DIW, 1998). Die Länder der EU beziehen heute ca. 80 Prozent des verbrauchten Erdöls aus Drittländern. Dabei verfügen sie derzeit über eine breit angelegte, risikomindernde Importstruktur (Golfregion, Nord- und Westafrika, Russland ). Die Gasvorkommen in der kaspischen Region dürften auf längere Sicht selbst als Ersatzreserve von geringem Interesse sein. Das aktuell realistische Exportpotenzial von Gas aus Turkmenien (es besitzt die größten Vorkommen) von ca. 20 Milliarden Kubikmetern spielt für den europäischen Gasimport (1996: 215 Milliarden Kubikmeter bei einem Gesamtverbrauch von 500 Milliarden Kubikmetern) nur eine untergeordnete Rolle. Zudem ist der Export teuer und derzeit politisch riskant.
Ganz anders sieht die Situation angesichts geringerer Transportkosten für südosteuropäische Länder wie die Türkei, Bulgarien, Rumänien oder die Ukraine aus. Sie sind daher auch immer stärker am Ausbau ihrer politischen Einflusssphäre in der kaspischen Region interessiert. Die Türkei hat zudem wegen ihres wachsenden Erdgasverbrauchs im Dezember 1997 einen Vertrag mit dem russischen Energieriesen Gazprom geschlossen. Gazprom baut eine Erdgaspipeline quer durch das Schwarze Meer (das sogenannte Blue Stream Project) von Russland nach Samsun in die Türkei. Sie soll im Jahr 2000 fertiggestellt sein und wachsende Mengen an Erdgas (16 Milliarden m3 im Jahr 2007) liefern. Die ehemaligen Mitglieder des Comecon wollen sich über den Ausbau ihrer Beziehungen zur kaspischen Region aus der Abhängigkeit von russischen Öl- und Gaslieferungen befreien. Rumänien und Bulgarien streben zudem die Aufnahme in die Europäische Union an und haben vor kurzem den EU-Kandidatenstatus erhalten. Darüber und durch das bereits assoziierte Mitglied Türkei dürfte die Europäische Union nun näher an die Kaspische Region heran rücken. Es ist abzusehen, dass die Europäische Union ihre Interessen dort in den kommenden Jahren verstärkt geltend machen wird.
Künftige profitable Geschäfte wollen gut vorbereitet sein. Deshalb beteiligen sich transnationale europäische Ölkonzerne wie Agip, British Gas, BP, Royal Dutch Shell, Statoil und Total an Förderaktivitäten und Pipeline-Projekten. Sie erreichen allerdings nicht annähernd die Anteile der großen US-amerikanischen Gesellschaften wie Chevron, Exxon, Mobil Oil, Conoco, die bei den wichtigsten Konsortien in Kasachstan und Aserbeidschan inzwischen bei 40 bis 50 Prozent liegen. 1996 flossen 2,5 Milliarden US-Dollar in die Öl- und Gasgebiete der kaspischen Region. im Jahre 1997 waren es bereits 5 Milliarden US-Dollar (Massarrat, 1998).

  • Russland möchte den traditionellen politischen und wirtschaftlichen Einfluss in der Region nicht aufgeben. Es betrachtet die Rolle der USA und der mit ihr verbündeten Türkei mit Sorge und will sich durch den Transit der kaspischen Rohstoffe über russische Pipelines Kontrolle und Profit sichern. Einfluss auf die Öl- und Gasgeschäfte nehmen deshalb auch die halbstaatlichen russischen Konzerne Lukoil und Gazprom. Der Ölkonzern Lukoil ist in den wichtigsten Konsortien Aserbeidschans (AIOC) und Kasachstans vertreten. Lukoil ist aber vor allem am Absatz russischen Erdöls aus seinen sibirischen Vorkommen interessiert. Eine schnelle Entwicklung der Erdölwirtschaft in der kaspischen Region liegt daher nicht unbedingt im Konzerninteresse. Ähnliches gilt für den Gaskonzern Gazprom. Beide Konzerne befinden sich in einem Interessenwiderspruch: Einerseits wollen sie am Erdöl- und Erdgasgeschäft in der Region profitieren, andererseits fürchten sie entstehende Konkurrenz. Sie sind daher nicht wie die westlichen Gesellschaften an einem starken, sondern nur an einem selektiven Engagement interessiert. Aus russischer Sicht heißen hier die Ziele Kontrolle und Dominanz (Götz, 1998).
  • Der Iran, selbst Anrainer des Kaspischen Meeres, sieht sich als natürliche islamische Vormacht der Region und bietet sein gut ausgebautes Pipelinenetz als ideales Transportmittel an. Die kürzeste und sicherste Route für eine Pipeline führt tatsächlich von Baku nach Täbris im Iran und von dort weiter zum Persischen Golf. Durch die Einigung über den Bau der Ölpipeline nach Ceyhan haben sich die USA durchgesetzt. Sie lehnen bislang eine Alternativroute über den Iran aus Sicherheitsgründen ab, auch deswegen, um den Iran in der kaspischen Region zu isolieren (Mac Farlane, 1998). Derzeit ist offen inwieweit mit der sich abzeichnenden Öffnung Irans und dem Ende seiner Isolation seine Pipelines zukünftig doch noch gebraucht werden, denn Erdöl- oder Gasleitungen von Baku bzw. Mittelasien durch den Iran sind wirtschaftlich weitaus günstiger als alle Westrouten. Daran haben gerade die US-Konzerne keinen Zweifel gelassen. Die Isolierung des Iran durch die USA gelingt auch bisher nicht vollständig. So wurde beispielsweise am 29. Dezember 1997 eine Gaspipeline von Turkmenistan nach Iran eröffnet. Sie verfügt vorläufig über eine Kapazität von 2 Milliarden m3 pro Jahr und soll in den nächsten Jahren auf 8 Milliarden m3 erhöht werden.
  • China verschafft sich über eine gigantische Pipeline aus Kasachstan (Vertragssumme: 9,5 Milliarden Dollar) einen Teil der für die eigene wirtschaftliche Zukunft nötigen Energieversorgung und avanciert damit zum Konkurrenten sowohl Russlands als auch der westlichen transnationalen Konzerne (Müller, 1998).

Hinzu kommen die latenten bis offenen ethnischen Konflikte und Minderheitenprobleme. Einige Beispiele kennzeichnen diese für die ganze Region besonders charakteristische Situation:

  • Wenn Aserbeidschan die Interessen Russlands zu sehr mit Füßen tritt, kann Moskau über seinen Einfluss in Armenien auf Baku erheblichen Druck über das Problem Nagorno-Karabach oder eine Unterstützung der Lesgier-Minorität ausüben. Ähnliches gilt für Moskaus Möglichkeiten gegenüber Georgien mit seinen Bürgerkriegsherden in Abchasien und Süd-Ossetien. Diese sind derzeit zwar ruhig gestellt aber nicht beigelegt und beide Konflikte können von Russland genutzt werden. Georgien ist nicht zuletzt deshalb im April 1999 Mitglied des Europarats geworden. Im Hintergrund für diese Entscheidung könnte auch die neu in Betrieb gegangene Ölpipeline stehen, die nun auch Georgien unabhängiger von Russland macht.
  • Eine russlandfeindliche Haltung Kasachstans könnte Moskau beantworten, indem es die kasachischen RussInnen (sie stellen ca. 35 % an der Gesamtbevölkerung) aufwiegelt. Damit dürfte jedoch eher nicht zu rechnen sein, da vor kurzem am Schwarzmeerhafen Noworossijsk der Grundstein für den Bau einer neuen 1580 km langen Ölpipeline gelegt worden ist (Neue Zürcher Zeitung, 1999). Sie wird von hier bis zu den Ölfeldern Tengiz in der Nähe des Kaspischen Meeres in Kasachstan führen. Die Endkapazität der neuen Ölleitung soll 67 Millionen Jahrestonnen erreichen. Die erste Lieferung ist für den 30. Juni 2001 vorgesehen. Die Ölleitung ist die größte Auslandsinvestition Russlands. Der US-Ölkonzern Chevron erschließt seit Jahren das Tengiz-Ölfeld. Das Erdöl wird derzeit über alternative Routen abgesetzt.
  • Umgekehrt könnte ein zu starker russischer Druck die Regierungen von Aserbeidschan und Kasachstan veranlassen den Transit ihrer Öl- und Gasvorkommen endgültig so zu organisieren, dass russischer Boden umgangen wird und die bestehenden russischen Pipelinenetze boykottiert werden.

Krieg, Kriminalität und Chaos im Kaukasus

Nordkauskasus und Transkaukasus stehen in widersprüchlicher Beziehung zueinander. Sie sind einerseits in Konflikten eng verbunden. Andererseits bestehen objektiv gemeinsame wirtschaftliche Interessen. Solche »friedensschaffenden« Gemeinsamkeiten können bislang aber nur ungenügend ausgeschöpft werden, da sie massiv durch miteinander im Konflikt stehende politische und militärstrategische Interessen behindert werden (Kreikemeyer, 1998). Es liegt wesentlich an Moskau, dass sich die Situation nicht bessert. Allerdings werden energiewirtschaftliche Vorhaben häufig auch durch Unabhängigkeitsbewegungen hintertrieben, die die Loslösung von Russland anstreben. Dasselbe gilt für bewaffnete Verbände mit den unterschiedlichsten Zielsetzungen. Hier dominieren Clans, die den Schwarzmarkt, den Drogen- und Waffenhandel beherrschen.

Der Hintergrund für sämtliche Konflikte weist weit in die Geschichte zurück: Das zaristische Russland hatte die Kaukasusvölker mit aller Brutalität in seinen Herrschaftsbereich gezwungen. Anfangs wurden lediglich Steuern eingetrieben und Loyalität abgefordert, aber kaum in die von den KaukasierInnen praktizierte Selbstverwaltung eingegriffen. Später wurde immer weniger Rücksicht auf die Selbstverwaltung genommen, unter Stalin wurde sie dann völlig beseitigt. Die vielen kleinen Völker wurden an den Rand ihrer Existenz gebracht. Sie wurden in das Hochgebirge abgedrängt, von Weide- oder Küstenland abgeschnitten, in großem Umfang vertrieben und zum Teil gewaltsam umgesiedelt. Die Völker des Nordkaukasus erlebten die Besetzung ihrer Heimat als gewaltsame Kolonialisierung. Im Gegensatz dazu verstanden es die führenden Eliten Georgiens und Armeniens sich bereits mit dem zaristischen Russland zu arrangieren und zogen auch später Nutzen aus der Zusammenarbeit. Nach dem Zerfall der Sowjetunion sind diese nicht gelösten Probleme wieder aufgebrochen und haben zu nationalistischen und separatistischen Bewegungen geführt, die in hohem Maße mitverantwortlich dafür sind, dass missliebige Minderheiten unterdrückt, verfolgt und vertrieben werden.

Die besondere Härte der Konflikte im Nordkaukasus und die Schwierigkeiten ihrer Lösung hängen auch damit zusammen, dass sich vielfach uralte Traditionen entweder zäh halten oder nach dem Ende der Sowjetunion wieder aufleben konnten. So ist das Zusammenleben der Völker dort seit alters her über einen eigenen Moralkodex definiert, die Adat – ein Gemeinschaftsrecht, das sich innerhalb der Sippe, eines Dorfes oder eines Dorfverbandes herausgebildet hat und meist schwerer wiegt als nationales oder religiöses Recht: Mord wird per Blutrache gesühnt, Verfehlungen können mit Sippenhaft bestraft werden. Zugleich ist ein Kriegerethos mit einem eigenen Ehrenkodex lebendig geblieben, der einst den Männern Kampf und Raub auferlegte. Das Tragen privater Waffen ist in weiten Landesteilen nach wie vor unverzichtbarer Teil der Tradition. Selbstverwaltung und Zusammenleben gründen auf Stammes- und Clanstrukturen, die auch in der Sowjetunion nie ganz aufgebrochen werden konnten (Neef, 1997).

Unruhen in Dagestan

Die Islamisten um Schamil Bassajew streben – ganz unabhängig davon, wo die Gründe für den Einmarsch in Dagestan nun tatsächlich gelegen haben mögen –, einen heiligen islamischen Bund der Kaukasusprovinzen an. Er soll Tschetschenien und Dagestan umfassen. Damit würde Russland auch hier an einer weiteren national und geopolitisch hoch empfindlichen Stelle getroffen. Eine Abspaltung Dagestans würde Russland größtenteils vom Kaspischen Meer und den dortigen Öl- und Gasvorräten abschneiden (Bimboes, 1999b). Zusätzlich würde eine Ölpipeline mit bislang hoher strategischer Bedeutung für die russische Außenwirtschaftspolitik verloren gehen, zumindestens aber stark gefährdet. Die Ölpipeline führt kommend von Baku ab der Grenze Aserbeidschans zu Russland durch ganz Dagestan über Tschetschenien nach Noworossijsk am Schwarzen Meer. Diese sogenannte Nordroute wird für Russland in absehbarer Zeit aber keine wichtige Rolle mehr im internationalen Pipeline-Poker spielen können. Durch den beschlossenen Bau der Pipeline nach Ceyhan hat sie nur noch für kurze Zeit eine gewisse Bedeutung.

Derzeit ist nicht damit zu rechnen, dass in Dagestan eine Entwicklung wie in Tschetschenien droht. Bislang liegen die Loyalitäten weitest gehend auf Seiten der russischen Föderation, das war bereits zu Zeiten der Sowjetunion so. Ein wesentlicher Grund dafür ist, dass Dagestan im Gegensatz zu Tschetschenien nach der Rückeroberung des Kaukasus durch die Rote Armee im Jahre 1944 nicht stalinschem Terror ausgesetzt und von brutalen Zwangsumsiedlungen nach Mittelasien betroffen war. Die Deportationen erfolgten, weil Tschetschenien bis in die Vierzigerjahre nicht ganz in den Sowjetstaat integriert werden konnte und eine Hochburg des islamischen Nakschbandiye-Ordens (ein Derwischorden) war. Das ganze Volk wurde vertrieben, obwohl sich die überwiegende Mehrheit am Verteidigungskrieg gegen den Faschismus beteiligte und nur ein kleiner Teil mit ihm kollaborierte. Dieses düstere Kapitel der stalinschen Nationalitätenpolitik erklärt – im Gegensatz zu Dagestan – den starken Willen der Tschetschenen nach Unabhängigkeit von Russland.

Weder die in ihren Clans verwurzelten Geschäftsleute, noch islamische Würdenträger denken an eine Abkehr von Russland. Auch die rasche Aufstellung von Freiwilligenverbänden (zu den Initiatoren zählt u.a. der Chef der Ölgesellschaft Dagneft) zum Kampf gegen die Aufständischen zeigt, dass Basajew mit erbittertem Widerstand aus der Bevölkerung rechnen müsste. Fremden Boden zu erobern – und sei es unter der Losung einer »Befreiung von den Ungläubigen« – gilt im Kaukasus von jeher als schweres Verbrechen.

Der Widerstand könnte aber auch umschlagen und sich nicht nur gegen Eindringlinge, sondern ebenso gegen die Zustände und ihre Verantwortlichen im eigenen Land richten. Schließlich sind die Wurzeln für die blutigen Unruhen nicht nur bei den AnhängerInnen einer konservativen Ausrichtung des Islam (sog. Wahhabiten), sondern gerade auch in der katastrophalen wirtschaftlichen und sozialen Schieflage Dagestans zu suchen. So sind drei Viertel der erwerbsfähigen Bevölkerung arbeitslos! Zugleich wird das kleine Land durch unkontrollierte Binnenwanderung, starke Flüchtlingswellen aus Tschetschenien und wachsende Kriminalität erschüttert. Das und ein weiterer Grund können zum Flächenbrand führen. Nämlich dann, wenn die militärische »Hau-drauf-Mentalität« der derzeit politisch führenden Elite Russlands nicht durch diplomatische Geschmeidigkeit (wie im ersten Tschetschenienkrieg durch Ex-General Lebed) und leistungsfähige Wirtschaftshilfe abgelöst wird. Sie ist entscheidende Voraussetzung dafür, den Kreislauf von Gewalt und Gesetzeslosigkeit zu durchbrechen und ansatzweise innergesellschaftlichen Frieden herzustellen.

Krieg und gesellschaftlicher Verfall
in Tschetschenien

Nach dem Ende der Sowjetunion kamen diverse russische Finanzclans mit ehemaligen Kommunisten an die Macht. In der Zeit der Privatisierung wurden sie reich. Milliarden Rubel standen für Geschäfte mit dem Ausland bereit. Tschetschenien wurde hierfür als »schwarzes Loch« genutzt. Hier gab es keinen Zoll und absolut keine Wirtschaftskontrolle. Mit Hilfe bestochener Staatsangestellter konnten Schmuggelgeschäfte in allen Größenordnungen organisiert werden. Die Wende trat ein, als der damalige Chef der TschetschenInneen, Dudajew, die Gewinne nicht mehr mit den russischen Finanzclans teilen wollte. Das war, so alle Hinweise, im Wesentlichen der Auslöser für den ersten Tschetschenienkrieg zwischen 1994 und 1996 (Info-Radio Berlin, 1999). Der Krieg konnte erst nach mühseligen Verhandlungen durch Ex-General Lebed im Jahre 1997 beendet werden. Die tatsächlichen Gründe für diesen Krieg lagen allerdings tiefer.

Russland geht es in Tschetschenien nicht nur um die Bedeutung als Standort einer Ölraffinerie in Grosny und wichtigem Abschnitt der Ölpipeline (insgesamt 147 km) von Baku nach Noworossijsk. Die Abspaltung Tschetscheniens von Russland hätte den ohnehin drohenden Einflussverlust Russlands in der Region verstärkt. Tschetschenien ist Russlands wichtigster wirtschaftlicher Verkehrsknotenpunkt im Kaukasus. Durch das Land verläuft außerdem die einzige russische Eisenbahnverbindung in den Transkaukasus. Hinzu kommt die erhebliche militärstrategische Bedeutung des Nordkaukasus als Truppenstützpunkt. Er ermöglicht den Zugang zum Krisengebiet Transkaukasus und zur gesamten türkisch-iranischen Grenze. Das radikale tschetschenische Streben nach Unabhängigkeit stellte also nicht nur die territoriale Unverletzlichkeit Russlands in Frage, es traf auch dessen ökonomische und strategische Interessen.

Beide Gegner schafften es dennoch, am 28. April 1998 ein Abkommen über die Durchleitung kaspischen Öls durch Tschetschenien zu unterzeichnen. Dieser Baustein zu verbesserten gemeinsamen Beziehungen ist aber ständig in Frage gestellt worden. So haben rivalisierende tschetschenische Gruppen die Friedenslösung mit Moskau immer wieder gefährdet. Zudem haben sich seit Kriegsende 1997 Kriminalität und Gesetzeslosigkeit ausgebreitet. Wesentliche Stichworte sind hier Geldbeschaffung über das Anzapfen der Ölpipeline und den Verkauf des Öls (Hassel, 1999), Geiselnahmen und Lösegelderpressung, Rauschgiftschmuggel und illegaler Waffenhandel. Inzwischen gibt es sogar wieder einen Sklavenmarkt. Hier werden Menschen an die Clans weiter verkauft. Dort müssen sie kostenlos für den Aufbau des Landes arbeiten. Die Zahl der bewaffneten Aufständischen wird auf fast 20.000 geschätzt. Die hierfür notwendigen Gelder und Waffen können nicht allein aus Schwarzmarktgeschäften und dem Drogenhandel finanziert werden. Bereits im ersten Tschetschenienkrieg sind Milliarden Dollars aus dem Persischen Golf nach Tschetschenien geflossen (Info-Radio Berlin, 1999). Als dafür verantwortliche Staaten wurden Saudi-Arabien, der Jemen und der Iran genannt (Segbers, 1999).

Seit Mai 1998 kam es zu bürgerkriegsartigen Unruhen und bewaffneten Zwischenfällen. Die Ursachen hierfür lagen in Machtkämpfen zwischen den sogenannten Wahhabiten und der gemäßigten Regierung Maschadow. Ihr Machtbereich ist im Wesentlichen auf die engere Umgebung von Grosny beschränkt. Der islamistische Guerilla-Kommandeur Schamil Bassajew und andere »Warlords« haben immer wieder rücksichtslos die Autorität des gewählten Präsidenten untergraben und zugleich das eigene Volk terrorisiert. Eine Stärkung der gemäßigten Kräfte wäre denkbar gewesen, bei einer greifbaren Verbesserung der Lebensverhältnisse. Doch zur Einleitung der dafür notwendigen Maßnahmen war die russische Regierung offensichtlich nicht Willens oder nicht in der Lage.

Inzwischen herrscht seit September 1999 wieder Krieg. Starke russische Militärverbände sind einmarschiert um die abtrünnige Kaukasus-Republik gewaltsam zu besetzen. Nach verlustreichen Kämpfen haben sie Anfang Februar 2000 die Hauptstadt Tschetscheniens, Grosny, eingenommen und müssen sich jetzt wahrscheinlich auf einen langwierigen und blutigen Guerillakrieg einstellen.

Den äußeren Anlass für diesen zweiten Tschetschenienkrieg lieferte der Einmarsch bewaffneter Einheiten des islamistischen Guerilla-Kommandeurs Schamil Bassajew in Dagestan. Hinzu kamen verheerende Bombenanschläge in Moskau, deren Urheber nie gefasst wurden, für die aber pauschal das gesamte Volk von Tschetschenien verantwortlich gemacht wurde. Die tatsächlichen militärstrategischen und ökonomischen Ursachen dieses Krieges sind aber die selben wie beim ersten Tschetschenienkrieg. Bei den politischen Gründen kommt hinzu, dass der Krieg zu diesem Zeitpunkt dem herrschenden Machtkartell im Kreml entgegen kam, da er die Chance bot durch ein hartes militärisches »Durchgreifen« die Popularität des amtierenden russischen Präsidenten Putin zu steigern und damit die Wahrscheinlichkeit, dass er auch der nächste gewählte Präsident Russlands wird. Der Krieg als Mittel zur Sicherung bestehender Machtstrukturen.

Die Entwicklung in Armenien

Bei dem misslungenen Staatsstreich vom 27. Oktober 1999 sind der Premierminister, der Parlamentspräsident und fünf weitere Spitzenpolitiker ermordet worden. Das hat die Krise im Land weiter verschärft. Das Attentat hat nicht nur das Land erschüttert, sondern trägt auch zur Destabilisierung der gesamten Kaukasus-Region bei. Mit dem Anschlag ist ein funktionierendes Machtdreieck mit unterschiedlichen gesellschaftspolitischen Verankerungen zerstört worden. Regierungschef Sarkisjan und der vom Attentat nicht betroffene Präsident Kotscharjan entstammen der Unabhängigkeitsbewegung von Berg-Karabach und verfügen über viele AnhängerInnen in Verwaltung und anderen Ämtern. Parlamentspräsident Demirtschan war armenischer KPdSU-Parteichef in der früheren Sowjetunion und verfügte über gute Kontakte zu der ehemaligen Landeselite.

Die Hintergründe für den Mordanschlag sind noch unklar. So ist bisher nicht klar, ob das Attentat auf ersten Schritten zur Verständigung über die heikle Berg-Karabach-Frage mit Aserbeidschan beruht. Nationalistische Kreise hatten nach Gesprächen auf Regierungsebene im August 1999 hier von Verrat gesprochen. Andere BeobachterInnen schließen einen wirtschaftskriminellen Hintergrund nicht aus. Auch bei anderen Mordanschlägen in Armenien gab es Hinweise, dass sie von wirtschaftlich rivalisierenden Clans durchgeführt worden sind (Grobe, 1999).

Seit dem Zerfall der Sowjetunion dauert die Krise um Berg-Karabach an. Es geht um die Frage der endgültigen Zugehörigkeit dieses Gebietes zu Armenien oder Aserbeidschan. Historisch betrachtet handelt es sich um einen Teil Armeniens. Mit Ausbruch des Konflikts im Jahre 1988 begann Aserbeidschan die ArmenierInnen aus Karabach zu vertreiben. Das erinnerte die ArmenierInnen an die endlose Kette türkischer Gewalt gegen ihr Volk. Die AserbeidschanerInnen hatten wiederum nicht vergessen, dass Russland gemeinsam mit den ArmenierInnen bis zum Ende der Sowjetunion in Baku alle Schlüsselposten in Staat, Wirtschaft und Handel besetzte. Die ärmeren MoslemInnen wurden zudem um ihr Land gebracht und als billige Arbeitskräfte eingesetzt. Karabach wurde so zum Auslöser lange untereinander aufgestauten Hasses.

Katzenjammer, Pipelinepoker und ein angeschlagenes Transportmonopol Russlands

Inzwischen ist die Erdöl-Euphorie am Kaspischen Meer gedämpften Erwartungen gewichen (Watzlawek, 1999). Das gilt insbesondere für Aserbeidschan.

Zum einen hat dafür der bis vor kurzem dramatische Verfall der Ölpreise (im Schnitt um 31 % im Jahre 1998) gesorgt. Er lag teilweise bereits im Bereich der Förderkosten. Gemäß einer in Branchenkreisen verbreiteten Schätzung wird die Ausbeutung der kaspischen Vorkommen unwirtschaftlich unterhalb eines Ölpreises von 12 Dollar pro Barrel. Anfang 1999 lag der Preis für aserbeidschanisches Öl bei 10 Dollar pro Barrel. Es bleibt abzuwarten, ob der derzeitige Trend zu steigenden Ölpreisen (ca. 24 Dollar pro Barrel im November 1999) auf Grund der jüngst beschlossenen Förderkürzungen der Öl produzierenden Staaten anhält und zu einem stabil hohen Rohölpreis führt.

Zum anderen endeten bislang die Bohrungen westlicher Konsortien allesamt enttäuschend. Entweder wurde kein Öl gefunden und wenn doch, dann in wirtschaftlich uninteressanten Mengen. Langfristig gehen die Ölkonzerne aber noch von positiven Erwartungen aus. Allerdings haben viele Konsortien inzwischen ihre Aktivitäten zurückgeschraubt oder beginnen sogar auszusteigen.

Ungeachtet dessen hat Washington massiv und erfolgreich Druck auf das von BP-Amoco dominierte AIOC-Konsortium (an dem elf Konzerne, darunter die russische Lukoil mit 10 % beteiligt sind) ausgeübt, trotz wirtschaftlicher Bedenken die Ölpipeline Baku-Ceyhan zu bauen. Am Rande der Gipfelkonferenz der OSZE am 18./19. November 1999 in Istanbul ist ein Rahmenabkommen über den gemeinsamen Bau von Aserbeidschan, Georgien, der Türkei und den USA unterzeichnet worden. Für den Bau einer Erdgaspipeline von Turkmenistan in die Türkei, über die zugleich Gas aus Kasachstan geliefert werden kann, wurde ein Abkommen zwischen Turkmenistan, Kasachstan, der Türkei und den USA geschlossen. Den Vertragsabschlüssen wohnte US-Präsident Clinton bei (Neue Zürcher Zeitung, 1999b und Handelsblatt, 1999).

Damit haben es die USA zusammen mit dem britischen Konzern BP-Amoco erreicht, Russland in der Region weitgehend auszuschalten und von ihm ungehindert Transkaukasiens und Mittelasiens Rohstoffe auf die Weltmärkte gelangen zu lassen (Ehlers, 1999).

Bereits im April 1999 war es gelungen, eine erste Bresche in das russische Transportmonopol zu schlagen. So konnte eine neu erbaute, kleinere Ölpipeline von Baku zum georgischen Schwarzmeerhafen Supsa in Betrieb genommen werden (A.R., 1999). Diesem kleineren Etappenziel kommt inzwischen besonderes Gewicht zu, da die Unruhen in Dagestan und der neuerliche Krieg in Tschetschenien die Nordroute (hier bestehen mit dem AIOC Durchleitungsverträge, falls die Leitungskapazität nach Supsa nicht ausreicht) praktisch seit Juli 1999 lahmgelegt haben.

OSZE stärken –
die Konfliktsituation entschärfen

Unter dem Eindruck dieser konfliktbeladenen Situation haben sich strategische Allianzen gebildet. Ihre Frontlinie verläuft mitten durch die kaspische Region. Auf der einen Seite haben sich die USA, die Türkei, Aserbeidschan und Georgien verbunden. Auf der anderen Seite stehen Russland, Iran, Armenien und mit Einschränkungen Turkmenistan. Zu dieser besorgniserregenden Lagerbildung gesellt sich noch eine instabile Situation im Innern der ehemaligen mittelasiatischen Sowjetrepubliken. Hier eignen sich winzige Eliten, Clans und Oligarchien die Reichtümer an. Gleichzeitig wächst das soziale Elend der breiten Bevölkerung. Menschenrechtsverletzungen, religiöse und ethnische Spannungen sind an der Tagesordnung.

Die Instrumentalisierung dieser Problemlagen durch von außen kommende Interessen, so die zunehmende Rücksichtslosigkeit der US-amerikanischen Außen- und Wirtschaftspolitik gegenüber Russland, droht die Region weiter zu destabilisieren und die Spannungen anzuheizen. Ohne vorbeugende politische Maßnahmen kann hier eine »Zweite Golfregion« samt ihrer Dauerkrise entstehen, allerdings mit einem wesentlich höheren Gefährdungspotenzial für den Weltfrieden. In dieser Region ist die »Atommacht« Russland direkt betroffen und einige politische BeobachterInnen sehen bereits heute die Gefahr, dass es bei einer weiteren Isolation Russlands durch die westliche Staatengemeinschaft zu einem Dreierbündnis Russland-Indien-China kommen könnte. Damit drohe ein neuer »Ost-West-Konflikt«, verbunden mit einer rasant wachsenden Aufrüstung. Bei diesem Konflikt würde es dann gerade auch um fossile Energieressourcen gehen. Dafür spricht die Tatsache, dass der weltweite Verbrauch fossiler Energie – bleibt er so hoch wie bisher ohne jeden Zweifel in den nächsten 20 bis 30 Jahren auf jenen Bereich zusteuern wird, in dem sich die Kurven abnehmender Verfügbarkeit und hohen Verbrauchs immer näher kommen und schließlich kreuzen (Scheer, 1999c).

Vor diesem Hintergrund ist eine gesamteuropäische Friedens- und Sicherheitsordnung unter Einbeziehung Russlands unabdingbar (Lutz, 1999). Eine geeignete Grundlage für eine solche Politik bietet die OSZE, wenn sie hierfür im Sinne eines wirksamen regionalen Systems kollektiver Sicherheit ausgestaltet wird. Die Ausdehnung der NATO bis an die Grenzen Russlands und auf immer mehr Staaten, gerade auch im Krisengebiet von Kaukasus und Mittelasien, steht dem allerdings diametral entgegen (Bahr, 1999).

Unabhängig von diesen Überlegungen ist bereits kurzfristig die Rolle der OSZE in der kaspischen Region zu stärken. Die betroffenen Staaten scheinen daran interessiert zu sein, schließlich hat sich die OSZE bei ihren Missionen in Georgien und Tschetschenien Verttrauen erworben. Eine Stärkung der Rolle der OSZE kann auch Russland nicht provozieren. Es fordert selbst seit längerem eine Aufwertung der OSZE. Hierfür muss die Organisation aber personell und finanziell besser ausgestattet werden. Erste Zeichen hierfür sind mit der auf dem OSZE-Gipfel in Istanbul am 18./19.11.1999 verabschiedeten Sicherheitscharta gesetzt worden. Sie ist das wichtigste Dokument dieses Gipfels und enthält Beschlüsse über die Schaffung neuer Intrumente, die der OSZE eine bessere Koordination ihrer verschiedenen Einzelmissionen und ein schnelleres und wirkungsvolleres Eingreifen in Krisen ermöglichen sollen. Erneut bekräftigt wurde – wie bereits auf vorherigen Gipfelkonferenzen – die im Grundsatz gebilligte Aufstellung von OSZE-Friedenstruppen. Eine Absicht, die aber bislang aus bekannten Gründen gescheitert ist.

Ein kleines, zusätzliches Element für mehr Sicherheit in der Region bietet auch der von der EU initiierte Energie-Charta-Vertrag ( ECT ). Er soll eine rechtlich gesicherte, langfristige Zusammenarbeit im Energiesektor ermöglichen. Es ist der erste Versuch, die Länder der GUS künftig in die Weltwirtschaft einzubinden. Der Vertrag trat am 16.4.1998 in Kraft und ist bisher von 32 Staaten, darunter allen acht Staaten der Region, ratifiziert worden, allerdings noch nicht von Russland und den USA. Der Vertrag schafft verlässliche Rahmenbedingungen für Investitionen in Lagerstättenerkundung, Förderprojekte und
Pipelinenetze. Zugleich hält er Instrumente zur garantierten Vertragserfüllung bereit und sichert die freie Durchleitung von Öl und Gas. Ferner bietet er in Streitfällen ein wirksames Schlichtungsverfahren an. Einige Voraussetzungen für eine gemeinsame, friedliche Zukunft bestehen also, wenngleich auch Vieles bislang nur auf dem Papier steht.

Eine dauerhaft friedliche Zukunft wird sich aber nur erreichen lassen, wenn die gesamteuropäische Sicherheitsstruktur zielstrebig mit der Demokratisierung von Wirtschaft und Gesellschaft verbunden wird. Ohne innergesellschaftlichen Frieden ist auf Dauer auch kein äußerer Friede zwischen den Völkern zu erreichen. Vordringlich muss dafür in Mittelasien, insbesondere aber im Kaukasus, das größte Problem gelöst werden: Das Problem zwischen dem Recht eines Staates auf territoriale Unverletzlichkeit einerseits und dem Selbstbestimmungsrecht eines Volkes oder einer Minderheit, die von einer Mehrheit einer anderen Bevölkerung umgeben ist, anderseits. Ohne mehr Gerechtigkeit in der Weltwirtschaft, ohne die Anhebung des Lebensstandards in dieser Region ist dieses Problem sicher nicht zu lösen. Gerade, wenn man die kaspische Region betrachtet, sieht man, dass zu einer neuen Weltwirtschaftsordnung stabile Energierohstoffpreise, eine sparsame Bewirtschaftung der kostbaren fossilen Energierohstoffe, ein nachhaltiger Klimaschutz und der Aufbruch in die Solarwirtschaft gehören müssen. Das gilt auch dann, wenn dafür Macht und Einfluss der Energiekonzerne, die über ihre marktbeherrschende Stellung die Erzeugerpreise drücken und den Raubbau forcieren, eingeschränkt werden müssen.

Literatur:

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Bahr, Egon (1999): Neue Probleme des Friedensschlusses am Ende dieses Jahrhunderts, in: Zeitschrift für Sozialistische Politik und Wirtschaft, Heft 108.

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Mac Farlane, S. Neil (1998): Amerikanische Politik in Zentralasien und im Transkaukasus, in: Erhardt, 1998.

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Segbers, K. (1999): Wir haben dort schon ein Pulverfass, in: Frankfurter Rundschau vom 4.12.1999.

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Watzlawek, Georg (1999): Bakus Öl-Bonanza bleibt ein Traum; in: Handelsblatt vom 12./13.03.1999

Lutz, Dieter S. (1999): Dem Frieden dienen! Zur deutschen Sicherheitspolitik nach dem Krieg, in: Friedensgutachten 1999, LIT Verlag Münster.

Der vorstehende Text von Dr. rer. nat. Detlef Bimboes, Wiesbaden, basiert auf einem Beitrag zum 6. Friedenspolitischen Ratschlag in Kassel am 4./5.12.1999.

Kaukasus: Im Norden Krieg – im Süden Wende zum Frieden?

Kaukasus: Im Norden Krieg – im Süden Wende zum Frieden?

von Rainer Freitag-Wirminghaus

Die jüngsten Ereignisse im Kaukasus machen deutlich, dass Europa an seiner Peripherie eine zweite Krisenregion hat, die noch unüberschaubarer erscheint als die Balkanregion. Während in Tschetschenien die Zivilbevölkerung die Hauptlast einer verfehlten Politik Moskaus trägt und die Russische Regierung den Kampf gegen den islamistischen Terrorismus zum Vorwand nimmt, um die abtrünnige Republik zurück in die Föderation zu holen, hat in Armenien der Mord an führenden Politikern ein politisches Vakuum hinterlassen. Gleichzeitig trifft der Druck der USA auf Armenien und Aserbaidschan für eine Friedenslösung im Konflikt um Berg Karabach auf massiven Widerstand in beiden Lagern. Hier wird die enge Verzahnung zwischen den nord- und südkaukasischen Konflikten deutlich. Vom Schwarzen bis zum Kaspischen Meer erstreckt sich eine Zone der Instabilität, die Russland vom geostrategisch wichtigen und erdölreichen Südkaukasus trennt. Diese Situation zu verändern ist ein wesentliches Motiv des Tschetschenienfeldzuges.

Nach der geopolitischen Neuordnung der Region, gefördert durch das Engagement der westlichen Ölkonzerne am Kaspischen Meer, treffen hier die Interessen Russlands, der Türkei, Irans, der USA und der EU-Länder aufeinander. Dabei hat Russland in den letzten Jahren deutlich an Einfluss verloren, während die USA den ihren wesentlich vergrößern konnten. Die Wechselwirkungen von ethno-territorialen Auseinandersetzungen, Konflikten um Pipelinerouten und geostrategischen Ambitionen sind nicht ohne Bedeutung für die europäische Sicherheit. Der Kaukasus ist Brücke zwischen Europa und Asien und im Falle eines EU-Beitritts der Türkei wäre er unmittelbarer Nachbar einer erweiterten EU.

Begleitet wird diese Entwicklung von einer Renaissance geostrategischen Denkens, das wie eine räumlich konzentrierte Wiederauflage des Ost-West Konfliktes anmutet. Man hat dies in Anlehnung an die russisch-britische Rivalität des 19. Jahrhunderts mit dem Begriff »great game« umschrieben. Auch wenn der historische Vergleich in die Irre führt, so haben doch die fieberhaften Aktivitäten um das Öl tatsächlich den Charakter eines großen Pokerspiels, bei dem es um mehr als nur um wirtschaftliche Interessen geht.

Öl als politischer Faktor

Die Frage, ob die kaspische Region zu einem wirklich bedeutsamen wirtschaftspolitischen Raum zusammenwachsen wird, ist noch nicht entschieden. Es passt zum spekulativen Charakter des »great game«, dass es weder über den Umfang der Vorräte, noch über das zukünftige Produktionsvolumen gesicherte Prognosen gibt. Vom Ende des kaspischen Traums zu reden wäre verfrüht, doch erlitt der Ölboom 1998 durch den Fall der Ölpreise und die Einschränkung der Aktivitäten der westlichen Gesellschaften einen tiefen Rückschlag. Nach wie vor ist das Transportproblem das entscheidende Hindernis für den wirtschaftlichen Aufschwung und der Hauptstreitpunkt aller beteiligten Kräfte. Alle potenziellen Pipelinerouten sind wegen ihrer Länge kostspielig und führen durch unsichere Gegenden. Das Tauziehen um die Routen steht in Wechselwirkung mit den Konflikten der Region. Die seit 1998 in Betrieb befindliche Pipeline von Baku über Grozny zum russischen Noworossijsk ist durch den Tschetschenienkrieg endgültig ausgefallen.

Die für die Entwicklung der Region entscheidende Frage ist, ob das Öl als stabilisierende oder als destabilisierende Kraft wirkt, ob es Kooperations- und Integrationsprozesse unter den Staaten in der Region in Gang setzen kann. Auf jeden Fall hat es die politische Landschaft im Südkaukasus entscheidend verändert, hat Baku zum Zentrum der Öldiplomatie gemacht, die Souveränität Aserbaidschans gefestigt und dessen Abhängigkeit von Moskau gemindert.

Beispiele wie Nigeria zeigen jedoch, dass enorme Ölprofite und der Niedergang der allgemeinen Lebensbedingungen sich nicht ausschließen. Länder mit hohen Exportraten aber einseitiger Konzentration auf den Energiesektor haben nicht zwangsläufig ein hohes Wirtschaftswachstum. Eine annähernd gerechte Verteilung von Einkünften basiert auf einer aktiven Zivilgesellschaft und stabilen demokratischen Verhältnissen. Wuchernde Korruption hat dagegen im Kaukasus die Kluft zwischen politischer Elite und Bevölkerung vertieft, Gewinne aus dem Öl werden diesen Effekt eher noch verstärken. Bei gleichzeitiger unsicherer politischer Lage prädestinieren sie auch eine Region zum bevorzugten Ziel von Waffenexporteuren.

Neue Allianzen

Zwischen Aserbaidschans außenpolitischer Orientierung und den Ölverträgen gibt es einen unmittelbaren Zusammenhang. Nach US-amerikanischen Plänen soll Aserbaidschan zusammen mit der Türkei dem russischen Hegemonialanspruch und dem iranischen Einfluss in der Region entgegenwirken. Zudem ist Baku durch die vorhandenen Verbindungen zu Israel so etwas wie eine Erweiterung der Achse Washington – Ankara – Tel Aviv. Eine Folge dieser Entwicklung ist die Bildung strategischer Allianzen: Auf der einen Seite die Staaten mit westlicher Orientierung, auf der anderen Seite die mit Russland kooperierenden Staaten. Der Unmut über die russische Unterstützung für die separatistischen Bewegungen der abchasischen Bevölkerung in Georgien und der ArmenierInnen in der zu Aserbaidschan gehörenden Republik Berg Karabach hatte die Ausrichtung nach Westen wesentlich beeinflusst. Von der Bevölkerung in Aserbaidschan und Georgien wird diese mehrheitlich begrüßt. Heute ist Aserbaidschan frei von russischer Militärpräsenz, in Georgien wächst der Widerstand gegen den 1995 vereinbarten, jedoch nie vom Parlament ratifizierten Vertrag über die Stationierung russischer Truppen.

Die Brüskierung Moskaus erreichte ihren Höhepunkt am Rande des Gipfels zum 50. Geburtstag der NATO in Washington, als die GUS praktisch in zwei Gruppen gespalten wurde. Die Allianz GUAM (Georgien-Ukraine-Aserbaidschan-Moldawien) wurde durch den Beitritt Usbekistans konsolidiert, sozusagen unter Schirmherrschaft der NATO. Alle Mitgliedsstaaten (jetzt GUUAM) sind zwar noch in der GUS, aber nicht mehr durch den Kollektiven Sicherheitsvertrag der GUS gebunden. Ursprünglich eine informelle, konsultative Organisation mit ökonomischen Zielen, hat GUUAM eine eigene sicherheitspolitische Ausrichtung entwickelt als Gegengewicht zur russischen Militärpräsenz in der Region und mit der langfristigen Perspektive eines Sicherheitskonzepts außerhalb der GUS-Strukturen. Erstes Ziel ist der gemeinsame Schutz von Pipelines und des Euroasiatischen Transportkorridors (Neue Seidenstraße) im Rahmen einer engen NATO-Anbindung und militärpolitischen Kooperation zwischen Georgien, Aserbaidschan und der Türkei. Der russische Argwohn, GUUAM sei ein trojanisches Pferd für die türkischen Interessen in der GUS, ist also nicht ganz unbegründet.

Moskaus Reaktion ist die Aufrüstung Armeniens. In der militärischen Allianz ist der Aufbau eines Flugabwehrsystems in Armenien de facto eine vorgeschobene Komponente der russischen Luftwaffe. In Baku empfindet man dies als Bedrohung sowohl im Hinblick auf die Transportwege des Öls als auch mit Blick auf den ungelösten Konflikt um Berg Karabach. Das voreilige Angebot an die NATO, in Aserbaidschan einen Stützpunkt einzurichten, war ein Ausdruck dieser Furcht.

Die partielle Kongruenz der US-Strategie mit den Bedürfnissen der neuen unabhängigen Staaten zeigt sich am deutlichsten in der von Ankara, Tbilissi und Baku unterstützten Kampagne Washingtons für eine Hauptpipeline von Baku zum türkischen Mittelmeerhafen Ceyhan. Die USA wollen den Energiestrom entlang einer Ost-West-Achse zum großen Teil an Russland und vor allem an Iran vorbeilenken. Allerdings sind die Interessen des Westens in diesem Punkt nicht homogen: Die Ölgesellschaften haben bisher aus Kostengründen die seit April 1999 existierende, ausbaufähige Route nach Georgien favorisiert und die EU ist bestrebt, Russland und Iran nicht auszugrenzen. Ausgelöst durch die Aktivitäten Russlands in Tschetschenien und den dadurch bewirkten Ausfall der Nordroute nach Noworossijsk, markieren die Ankündigung von Amoco/BP, nun doch den Pipelinebau Baku-Ceyhan zu unterstützen, und die Unterzeichnung eines entsprechenden Abkommens zwischen Aserbaidschan, Georgien und der Türkei am Rande des OSZE-Gipfeltreffens in Istanbul im November 1999 einen Wendepunkt in dieser Auseinandersetzung.

Von der Bildung zweier neuer Blöcke (Rest-GUS und GUUAM) zu sprechen, wäre allerdings angesichts einer Reihe vorhandener Widersprüche und Interdependenzen verfrüht. Die US-Hilfe für Armenien, das man gerne als Mitglied von GUUAM sähe, ist z.B. weitaus größer als die für den strategischen Partner Aserbaidschan. Man betrachte auch die wohlwollende Begleitung der russisch-armenischen Kooperation durch so unterschiedliche Länder wie Iran und das NATO-Mitglied Griechenland. Iran, schon im Karabach-Konflikt auf Armeniens Seite, verbindet mit Russland das gemeinsame Interesse an der Fernhaltung der USA aus der Region.

Die Schwäche GUUAMs ist ihre Abhängigkeit von der geographischen Lage einzelner Mitgliedsstaaten. Würde es Moskau gelingen, Georgien oder auch die Ukraine aus der Allianz herauszulösen, wäre der Transportkorridor in Ost-West-Richtung, sozusagen das Rückgrat GUUAMs, unterbrochen und die Allianz gesprengt. Die Bestrebungen der russischen Militärführung, Georgien in den Tschetschenienkrieg hinein zu ziehen, zielen in diese Richtung.

Im Gegensatz zu Georgien und Aserbaidschan ist in der Ukraine und Moldawien die prowestliche Stimmung weniger ausgeprägt. Gegen die Einteilung in klar voneinander abgegrenzte Lager spricht auch der Wunsch der Türkei nach einer Normalisierung der Beziehungen zu Armenien. Sie scheiterte bisher am Einspruch Aserbaidschans. Armenien seinerseits möchte die Orientierung an Russland und Iran aufrecht erhalten und gleichzeitig enge Beziehungen zur NATO pflegen. Alle drei südkaukasischen Länder jedoch verstehen sich als Teil Europas und wollen in europäische Strukturen eingebunden werden. Georgien ist bereits seit 1999 Mitglied im Europarat.

Russland sieht sich an seiner Südgrenze zweifach bedroht: Durch den wachsenden Einfluss der NATO und der USA im Südkaukasus und durch eine vermeintliche islamistische Gefahr vom Kaukasus bis Zentralasien. Gegensätze zwischen verschiedenen Machtzentren und wirtschaftlichen Interessengruppen verhindern aber eine kohärente russische Strategie für den Kaukasus. Die Politik schwankt zwischen zwei Linien, einer geostrategischen, die die ehemaligen Sowjetrepubliken in ihrer Einflusssphäre halten will und einer pragmatischen, die aus wirtschaftlichen Gründen auf kooperatives Verhalten setzt und sich an der Exploration des kaspischen Öls beteiligt. Gleichzeitig erleben wir – als Reaktion auf den Kosovokrieg – die Revision der Militärdoktrin. Die Hinwendung zu einer »harten Position« wird deutlich im Rückgriff auf die Möglichkeit eines atomaren Erstschlags und im Krieg gegen Tschetschenien.

Moskau kann jedoch kein Interesse an einer völligen Destabilisierung des Südkaukasus haben, allerdings auch nicht unbedingt an seiner Stabilisierung. Es will nicht militärisch im Südkaukasus intervenieren, möchte aber dessen Krisen für sich ausnutzen. Der gegenwärtige Status quo ohne Lösung der Konflikte entspricht seinen Interessen am ehesten. Beschuldigungen der Komplizenschaft mit den tschetschenischen Rebellen und der massive politische Druck von Seiten Moskaus haben in Georgien und Aserbaidschan die Vermutung gestärkt, dass sich die Aktion in Tschetschenien in erster Linie gegen den Südkaukasus richtet. Tatsächlich aber hat sich Russland im Pipelinespiel dadurch erst einmal selbst ausgeschlossen. Schon der erste Tschetschenienfeldzug hatte die Chancen für Noworossijsk gemindert, jetzt findet die Nordroute für das Öl aus Baku bei den übrigen Beteiligten kaum noch Unterstützung und die geplante »by pass-Route« durch das ebenfalls unsichere Dagestan schafft neues Konfliktpotenzial. Tschetschenien würde durch diese Route isoliert und von wichtigen Einkünften abgeschnitten. Es gehört zu den Paradoxien politischer Verwicklungen im Kaukasus, dass gerade die tschetschenische Armee unter ihrem Feldkommandeur Basajew (dem deklarierten Hauptfeind Moskaus) die AbchasInnen in ihrem Krieg gegen Georgien unterstützt hatten, zusammen mit dem russischen Militär.

Der Südkaukasus
am Wendepunkt zum Frieden?

In Georgien und Aserbaidschan war die Erwartung groß, dass sich die NATO nach dem Ende des Kosovokrieges der Lösung der Konflikte im Kaukasus widmen würde. Zeitgleich zur NATO-Intervention, die sie unterstützt hatten, haben beide Staaten erklärt, dass sie langfristig in die NATO wollen. In Tbilissi glaubt man, dies könnte für Georgien in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts Realität werden.

Zwar sieht das Neue Strategische Konzept der NATO die Ausweitung von NATO-Missionen und ein aktives Krisenmanagement vor, es lässt sich aber nicht übersehen, dass die NATO – nach der Kosovoerfahrung – vor einer militärischen Verstrickung im Kaukasus zurückschreckt. Russland lässt sich nicht mit Serbien vergleichen. Deshalb hat die NATO-Führung schnell die Spekulationen über eine Einmischung gestoppt. Das bedeutet jedoch nicht, dass sie sich nicht verstärkt in der Region engagieren will.

Nicht nur bei der NATO wird die Diskrepanz sichtbar zwischen einem vermeintlichen moralischen Anspruch und politischen Sachzwängen, zwischen den unterschiedlichen Reaktionen auf die Vorgänge in Tschetschenien und im Kosovo. Auch der aserbaidschanische Präsident Haidar Aliyev hat, mit Rücksicht auf Moskau und entgegen der allgemeinen Stimmung im eigenen Land, das russische Vorgehen in Tschetschenien gebilligt. Noch im Kosovokonflikt hatte er – ebenso wie die georgische Führung – für die eigenen Vertriebenen (1 Mio. Flüchtlinge aus den von armenischen Truppen besetzten Gebieten) den Vergleich mit den Kosovo-AlbanerInnen in Anspruch genommen. Armenien dagegen setzte den Kampf der Kosovo-AlbanerInnen für nationale Unabhängigkeit mit dem der armenischen Bevölkerung in Berg Karabach gleich.

Allerdings lässt sich die Situation in Abchasien und Berg Karabach nicht mit der Vorkriegssituation im Kosovo vergleichen. Die NATO-Intervention im Kosovo wurde begründet als notwendige Antwort auf die dort stattfindende ethnische Säuberung. Die Konflikte in Abchasien und Berg Karabach – beide de facto unabhängig – sind aber seit 1994 durch Waffenstillstandsabkommen eingefroren. Hier gibt es keine Situation, in der ein militärisches Eingreifen mit der Rettung von Menschenleben gerechtfertigt werden könnte.

Tief verwurzelt ist im Südkaukasus die stereotype Auffassung, Frieden sei nur durch äußere Einwirkung zu erreichen. Nahm man früher an, eine Lösung der Konflikte sei von Moskau abhängig, da dort ja auch die alleinige Verantwortung für die Misere liege, so ist heute – erst recht nach dem Kosovokrieg – der Glaube verbreitet, nur der Westen könne helfen – am ehesten die USA und die NATO. Der für die Konfliktlösung zuständigen OSZE traut man wegen des russischen Einflusses in dieser Organisation weniger zu. Das offensichtlich mangelnde Bewusstsein von Eigenverantwortung wird jedoch zwangsläufig auch antiwestliche Emotionen auslösen, wenn der Westen zu Kompromisslösungen auf Kosten der eigenen Position drängt.

Die Westorientierung ist außerdem mit einem grundsätzlichen Problem behaftet: Sie ist zwar mit der Einforderung von Demokratisierung und Menschenrechten verbunden, beruht aber auch auf der Unterstützung autoritärer Systeme. Noch sind Clan und Großfamilie dominierende Orientierungsmuster der traditionalen sozialen Organisation, bestimmt von lokalen und regionalen Zusammenhängen. Die tiefe Verankerung des Klientelismus geht – zumindest in Aserbaidschan – einher mit einem populistischen Autoritarismus. Dieser legitimiert sich mit der Behauptung, nur die Nutzbarmachung paternalistischer Strukturen durch einen charismatischen Führer, der das System durch ein personales Beziehungsgeflecht zusammenhält, könne zu einer gewissen Stabilität führen. Der Aufbau unabhängiger ziviler und politischer Institutionen wird durch diese Netzwerke behindert.

Zukünftige Prosperität im Südkaukasus ist abhängig von der Lösung der Konflikte und vom Maß an regionaler Integration und Kooperation. Das stärkste Hindernis für regionale Integrationsprozesse ist der Karabachkonflikt. Der OSZE-Friedensplan von 1998 hat einen gemeinsamen Staat von Aserbaidschan und Berg Karabach vorgeschlagen und ist damit im Gegensatz zum vorherigen Vorschlag stärker auf armenische Positionen zugeschnitten. Seit dem NATO-Gipfel ist Bewegung in den Friedensprozess gekommen. Auf US-amerikanischen Druck hin haben sich die Präsidenten Aliyev und Kocharjan mehrmals getroffen. Die Verhandlungen laufen auf eine Modifizierung des letzten OSZE-Vorschlags heraus, sodass Baku diesen akzeptieren kann, ohne dass sich der Geist des Plans ändert. Starres Festhalten an vorhandenen staatlichen Strukturen wird durch flexiblere politische Arrangements ersetzt. Karabach würde legal innerhalb Aserbaidschans verbleiben, faktisch aber mit Armenien verbunden werden. Die Hauptlast des Kompromisses liegt dabei bei Baku, das die Unabhängigkeit Karabachs nur durch einen militärischen Sieg rückgängig machen könnte. Gibt man dem Druck nach, winkt als Preis für die Niederlage im Krieg der notwendige Anstieg ausländischer Investitionen auch außerhalb des Ölsektors.

Doch trotz verbreiteter Konfliktmüdigkeit im Land wird es schwierig sein, einen unpopulären Friedensschluss der Bevölkerung mit nebulösen Perspektiven zukünftiger Prosperität schmackhaft zu machen. Die Aussicht auf eine »schmähliche Friedensregelung« hat die zerstrittene Opposition geeint und zu Massenaktionen gegen die Regierung geführt; PolitikerInnen aus dem Regierungslager sind zurückgetreten – wohl weil sie sich nicht imstande sahen, die Konzessionen vor der Bevölkerung zu vertreten.

Tatsächlich drängen die USA zur Eile, denn man traut anscheinend nur dem kranken Aliyev die Autorität zu, einen unpopulären Frieden durchzusetzen. Der US-Einfluss im Kaukasus auf Kosten Moskaus ist abhängig von einer Lösung des Karabachkonflikts. Die USA brauchen einen schnellen und sicheren Frieden, um ihre Pipelinepläne durchzusetzen, die EU braucht ihn, um ihren wirtschaftlichen Einfluss zu sichern. Vor allem aber soll dies vor den befürchteten »Nachfolgewirren« nach Schewardnadze und Aliyev geschehen.

Eine entscheidende Rolle kommt Armenien zu, das die USA mittels einer Normalisierung der türkisch-armenischen Beziehungen und über ökonomische Unterstützung schnell in den Einflussbereich der NATO führen wollen. Zu letzterem gehört auch die Inaussichtstellung, Transitland für das Öl zu werden. Auch Armenien könnte unter solchen wirtschaftlichen Anreizen zu einem Schritt weg von Russland bereit sein. Ebenso gut könnte aber auch das prorussische Militär die durch die Ermordung eines Teils der politischen Führung neu geschaffene gespannte Lage im Sinne Moskaus ausnutzen, denn eine Hinwendung Armeniens zu den USA würde die Balance im Kaukasus dramatisch verändern.

Im Karabachkonflikt hat man seit 1994 eine Periode ohne Krieg und ohne Frieden erlebt, aber auch ohne Bereitschaft zu Kompromisslösungen. Die Morde im armenischen Parlament haben vielleicht keine direkte Beziehung zu diesem Konflikt – beabsichtigt oder unbeabsichtigt kommt aber trotzdem der Friedensprozess durch sie ins Stocken. In dieser unsicheren Situation droht eine Offenlegung konkreter Details für Kompromisslösungen die Lage weiter zu destabilisieren. Es ist nicht auszuschließen, dass dies einen Rückfall in die offene Konfrontation wie in der Phase der nationalistischen Bewegungen (bis 1993) auslösen könnte. Die Verwirklichung kurzfristiger Interessen war den Akteuren stets wichtiger als langfristige Konzessionsentscheidungen, die mit politischen Risiken verbunden sind.

Heute ist ein kritischer Punkt erreicht, wo die festgefahrene Situation im Südkaukasus durchbrochen werden könnte, ausgelöst durch Druck auf die Kontrahenten. Eindeutig ist das Verhalten des Westens dabei nicht, der übliche Vorwurf des »doppelten Maßstabs« trifft auch hier zu. Der nur verhalten geäußerten Kritik der westlichen Staaten, einschließlich der Türkei, am russischen Vorgehen in Tschetschenien haftet auch der Charakter des Tauschhandels an: Zurückhaltung im Südkaukasus, freie Hand im Nordkaukasus. Doch drohen derartige Rechnungen nicht aufzugehen. Eine Niederlage der Tschetschenen würde die neoimperialistischen Kräfte in Moskau ermutigen, ihren Druck auf den Südkaukasus zu verstärken, sie könnte Flüchtlingsströme nach Süden und ein Einsickern islamistischer Kämpfer verursachen, vielleicht mit dem Ziel der Befreiung der muslimischen Gebiete in Berg Karabach. Es sieht so aus, als würde sich in diesen Wochen entscheiden, in welche Richtung der Weg der Kaukasusregion führt.

Dr. Rainer Freitag-Wirminghaus ist Mitarbeiter am Deutschen Orient-Institut in Hamburg.