Die EU und Nahost


Die EU und Nahost

Gefangen im Zweistaaten-Mantra

von Muriel Asseburg

In den letzten 40 Jahren haben die europäischen Staaten versucht, zu einem friedlichen Ausgleich zwischen Israel und den Palästinenser*innen beizutragen. Der israelisch-palästinensische Konflikt ist einer der Politikbereiche, in denen die Europäische Union (EU) und ihre Mitgliedsstaaten eine klar definierte gemeinsame Position entwickelt und ein ausdifferenziertes Instrumentarium eingesetzt haben.1 Obwohl sie nur sehr eingeschränkten Einfluss auf die Konfliktdynamiken vor Ort nehmen konnten, halten die EU und ihre Mitgliedstaaten am Mantra einer (verhandelten) Zweistaatenlösung fest. Eine Überprüfung und Anpassung von Politikzielen, Strategien und Instrumenten wäre dringend angezeigt.

Nach wie vor halten die EU und ihre Mitgliedstaaten an der Zweistaatenregelung „als einzig realistischer Lösung des Nahostkonflikts“ (Delegation of the EU 2020) fest. Dabei ist dieser Glaubenssatz längst zu einer Leerformel verkommen, statt als Leitlinie europäischer Politik zu fungieren. So haben die EU und ihre Mitgliedstaaten zwar eine klar definierte gemeinsame Position entwickelt, regelmäßig die Prinzipien einer Konfliktregelung auf Grundlage von zwei souveränen Staaten betont und ein ausdifferenziertes Instrumentarium eingesetzt, ihre politischen Entscheidungen aber nicht konsequent an diesen Prinzipien ausgerichtet. Damit konnten sie nicht einmal effektiv zum Erhalt der Option einer Zweistaatenregelung beitragen. Die EU und ihre Mitgliedstaaten waren in den letzten Jahren auch immer weniger in der Lage, ihr Gewicht geeint in die Waagschale zu werfen, um die Kosten-Nutzen-Rechnung der Konfliktparteien zu beeinflussen.

Das europäische Mantra der Zweistaatenlösung

Entsprechende Inkonsistenzen zeigten sich etwa an der Zweideutigkeit der ausgesandten Signale. Beispielsweise kritisierten die EU und ihre Mitgliedstaaten einerseits die israelische Siedlungspolitik und die zunehmend autoritäre Regierungsführung der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA). Andererseits führte das kritisierte Verhalten in beiden Fällen nicht zu spürbaren Kosten für die Verursacher*innen. So setzten die Europäer*innen zwar 2008 eine formale Aufwertung der EU-Israel-Beziehungen aus und stoppten 2012 die Treffen des EU-Israel-Assoziierungsrates. Gleichzeitig aber vertieften sich seither die Beziehungen zwischen Israel und der EU sowie zwischen Israel und einzelnen EU-Mitgliedstaaten weiter. Dadurch wurde nicht nur das intendierte politische Signal konterkariert, sondern auch die Attraktivität einer formalen Aufwertung der Beziehungen deutlich gemindert. Analog erfuhr auch die PA keine signifikante Reduzierung ihrer Unterstützung durch Europa.

Ähnlich widersprüchlich kündigten die EU und ihre Mitgliedstaaten schon 1999 in der sogenannten »Berliner Erklärung« an, einen palästinensischen Staat zu gegebener Zeit“ anerkennen zu wollen (Europäischer Rat 1999). Doch haben sie – abgesehen von Schweden – diese Anerkennung bis heute mit dem Argument verweigert, dass ein palästinensischer Staat aus bilateralen Verhandlungen mit Israel hervorgehen müsse. Damit haben sie Israel de facto ein Veto über die Verwirklichung des palästinensischen Selbstbestimmungsrechts eingeräumt und eine Chance versäumt, die Grenzen von 1967 zu bekräftigen. Ebenso ist die von der EU und ihren Mitgliedstaaten beschlossene Differenzierungspolitik, also die Unterscheidung im Umgang mit Israel und israelischen Einrichtungen in den besetzten Gebieten, bislang nicht konsequent umgesetzt worden, etwa durch das einheitliche Kennzeichnen von Siedlungsprodukten (EuGH 2019; Lovatt o.J.). Angesichts des normativen Selbstverständnisses der EU ist es besonders irritierend, dass einige Mitgliedstaaten auf die palästinensische Führung dahingehend eingewirkt haben, nicht den internationalen Rechtsweg zu suchen, um ihre Ansprüche durchzusetzen bzw. Völkerrechtsverstöße ahnden zu lassen. So suchten sie die PA zunächst davon zu überzeugen, nicht dem Internationalen Strafgerichtshof beizutreten, und bestritten dann die Zuständigkeit des Gerichtshofs für die Ermittlung von Kriegsverbrechen in den palästinensischen Gebieten (vgl. etwa ICC 2020).

Darüber hinaus haben die EU-Mitgliedstaaten in den letzten Jahren immer weniger an einem Strang gezogen und die Position der EU geschwächt, indem sie gemeinsame Beschlüsse nicht konsistent umsetzten und es versäumten, diese entschlossen zu verteidigen. Sie stellten sich nicht einmal hinter die Hohe Vertreterin der EU für Außenbeziehungen, als diese 2017/18 von der Netanjahu-­Regierung ins Abseits gerückt wurde, weil sie die europäischen Standpunkte zu Jerusalem und zur Zerstörung EU-finanzierter Projekte in den palästinensischen Gebieten durch Israel vertrat. Dies ist vor allem darauf zurückzuführen, dass die europäischen Regierungen sich trotz der an sich klar definierten europäischen Position zur Zweistaatenregelung – vor dem Hintergrund unterschiedlicher historischer Erfahrungen, Selbstverständnisse, politischer Kulturen und nicht zuletzt Beziehungen zu den USA – uneins sind, welche Bedeutung der Nahostkonflikt in der gemeinsamen Außenpolitik und in den Beziehungen zu Israel einnehmen und wie ein zielführender Umgang mit den Konfliktparteien aus­sehen soll. Diese Unstimmigkeiten hat die israelische Regierung genutzt, um Allianzen mit einzelnen Staats- und Regierungschefs und subregionalen Gruppen zu schmieden, die EU in dieser Frage zu spalten und den Einfluss der Kommission sowie einzelner besatzungskritischer Mitgliedstaaten zu mindern (Asseburg und Goren 2019).

Aktuelle Herausforderungen als Anlass zur Neubewertung

Eine formale Annexion von großen Teilen des Westjordanlandes ist zwar vorerst aufgeschoben, aber – wie führende israelische Politiker*innen betonen – keineswegs vom Tisch. Zudem hat Israels Regierung 2020 den Siedlungsbau sowie die Zerstörung von palästinensischen Häusern und Infrastruktur in strategisch wichtigen Gebieten – und damit die de-facto-Annexion des Westjordanlandes – noch stärker als zuvor vorangetrieben. Die vorgelegten Infrastrukturplanungen lassen keinen Zweifel an Israels Absicht, dauerhaft an der Kontrolle über Jerusalem und das Westjordanland festzuhalten (Rosen und Shaul 2020). Dabei hat sich in Israel und den palästinensischen Gebieten ohnehin längst eine komplexe Einstaatenrealität verfestigt, in der Israel die übergeordnete Kontrolle hat und den Bewohner*innen abhängig von ihrer Staatsbürgerschaft, ihrer religiös-ethnischen Zugehörigkeit und ihrem Wohnort unterschiedliche Rechte zukommen bzw. verwehrt werden (Asseburg 2014).

Vor diesem Hintergrund sollten die EU und ihre Mitgliedstaaten ihren Ansatz und ihre Politik gegenüber den Konfliktparteien grundsätzlich auf den Prüfstand stellen. Dabei bestehen entgegen dem europäischen Mantra durchaus Alternativen zu einer Zweistaatenregelung, um den nationalen Identitäten sowie individuellen und kollektiven Rechten kooperativ Geltung zu verschaffen (Asseburg und Busse 2016; Baumgarten 2020). Angesichts der Verfestigung der Einstaatenrealität gilt es, kreative und konstruktive Aspekte solcher Modelle – etwa eines binationalen Staates oder einer Konföderation – auszuloten, die geeignet sein könnten, zu einer Konflikt­regelung beizutragen.

Allerdings ist es eher unwahrscheinlich, dass die EU und ihre Mitgliedstaaten das Mantra der Zweistaatlichkeit zugunsten eines binationalen Staates mit gleichen Rechten aller Einwohner*innen aufgeben werden. Erstens würde dies Europa in direkten Widerspruch zu Israels Selbstdefinition als jüdischer und demokratischer Staat und (exklusiver) Zufluchtsort für Jüd*innen bringen. Dies ist, vor dem Hintergrund der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts, kaum zu erwarten. Zweitens würde die Abkehr vom Zweistaatenparadigma ein vollständiges Überdenken des europäischen Ansatzes gegenüber Israel/Palästina erfordern. Dies wäre nicht nur aufgrund der Pfadabhängigkeit europäischer Politik eine große Herausforderung. Es dürfte auch aufgrund der grundlegenden Divergenzen zwischen den Mitgliedstaaten kaum von Erfolg gekrönt sein. Das Risiko, den europäischen Acquis zu Israel/Palästina zu verlieren, ohne eine Einigung zu erzielen, wäre groß. Dies hat bislang jede grundsätzliche Überprüfung und Anpassung des europäischen Ansatzes verhindert – und dürfte dies auch künftig tun.

Ebenso wenig ist zu erwarten, dass die EU und ihre Mitgliedsstaaten ihre Energie stattdessen darauf konzentrieren, konsequenter als bislang auf die Verwirklichung einer Zweistaatenregelung hinzuwirken. In US-Präsident Joe Biden dürften die EU und ihre Mitgliedstaaten zwar einen Ansprechpartner finden, der für einen multilateralen Ansatz offen ist und dessen nahostpolitische Positionen deutlich näher am bisherigen internationalen Konsens liegen als die seines Vorgängers. Es ist jedoch davon auszugehen, dass eine Konfliktregelung in Nahost auf der Prioritätenliste der Biden-Administration relativ weit unten rangiert. Vor allem aber ist es eher unwahrscheinlich, dass unter den EU-27 ein Konsens darüber erzielt werden kann, wie ihre Politik künftig mit ihren Werten und erklärten Zielen in Einklang gebracht werden soll. Zudem haben sich die Mitgliedstaaten der EU längst mit einer eher unterstützenden als gestaltenden Rolle abgefunden. So dürfte Europa dem Mantra der Zweistaatenlösung verhaftet bleiben und sich damit bescheiden, den Ansatz der Biden-Administration zu Israel/Palästina zu unterstützen. Das heißt auch: Europa wird die Zahlmeisterin bleiben, die ein Spiel finanziert, das mit europäischen Werten und Interessen nicht in Einklang zu bringen ist.

Dieser Beitrag ist eine gekürzte und überarbeitete Version von Asseburg 2020.

Anmerkung

1) Zu den Instrumenten zählen u.a. die Ernennung von EU-Sonderbeauftragten, die Entsendung einer Grenz- und einer Rechtsstaatsmission, Assoziierungsabkommen mit Israel und der PLO, finanzielle Unterstützung für die Palästinensische Autonomiebehörde, die israelische und palästinensische Zivilgesellschaft und UNRWA sowie humanitäre Hilfe.

Literatur

Asseburg, M. (2014): Nahost-Verhandlungen vor dem Aus. Die Einstaatenrealität verfestigt sich. Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, April 2014 (SWP-Aktuell 28/2014).

Asseburg, M.; Busse, J. (2016): Das Ende der Zweistaatenregelung? Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, April 2016 (SWP-Aktuell 27/2016).

Asseburg, M; Goren, N. (Hrsg.) (2019): Divided and Divisive. Europeans, Israel and Israeli-Palestinian Peacemaking. The Israeli Institute for Regional Foreign Policies (MITVIM); Stiftung Wissenschaft und Politik; PAX, Mai 2019.

Asseburg, M (2020): Europa und der Nahostkonflikt. Wie weiter nach dem Ende der Oslo-Ära? In: Lippert, B.; Maihold, G. (Hrsg.): Krisenlandschaften und die Ordnung der Welt, Stiftung Wissenschaft und Politik, September 2020 (SWP-Studie 2020/S 18), S. 64-71.

Baumgarten, H. (2020): Befreiung in den Staat? Palästina: Was kommt nach der gescheiterten Zwei-Staaten-Lösung? Berlin: Rosa-Luxemburg-Stiftung, Dezember 2020.

Delegation of the European Union to Israel (2020): Declaration by the High Representative Josep Borrell on behalf of the EU on the Middle East Peace Process, Brüssel, 28.1.2020.

Europäischer Rat (1999): Schlussfolgerungen des Vorsitzes. Europäischer Rat in Berlin. 24. und 25.03.1999.

Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) (2019): Urteil in der Rechtssache C-363/18. Pressemitteilung Nr. 140/19, Luxemburg, 12.11.2019.

ICC (2020): Situation in the State of Palestine. Observation by the Federal Republic of Germany. Den Haag: International Criminal Court, 16.3.2020.

Lovatt, H. (o.J.): Differentiation Tracker. London: ECFR.

Rosen M.; Shaul, Y. (2020): Highway to Annexation. Israeli Road and Transportation Infrastructure Development in the West Bank. The Israeli Centre for Public Affairs; Breaking the Silence, Dezember 2020.

Dr. Muriel Asseburg, Politikwissenschaftlerin, ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Naher/Mittlerer Osten und Afrika an der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), Deutsches Institut für internationale Politik und Sicherheit in Berlin.

COVID-19 weltweit

COVID-19 weltweit

Drei Länder. Drei Geschichten.

zusammengetragen von Tim Bausch und Stella Kneifel

Es gibt kaum ein Land, das nicht von der COVID-19-Pandemie betroffen ist. Doch das Maß der Betroffenheit ist abhängig von politischen, wirtschaftlichen und sozialen Faktoren. Gerade zu Beginn dieser Pandemie konnte man den Eindruck erlangen, dass sich der Blick vieler Menschen von Tag zu Tag engte und schließlich in einer Selbstzentrierung mündete. Zwar blickten die meisten besorgt nach Italien und Spanien, aber eher selten darüber hinaus.

Der vorliegende Beitrag möchte Fenster zur Welt öffnen. Im Fokus stehen Länder und politische Räume, die auch ohne Pandemie in hohem Maße von sozialer, politischer und ökonomischer Unsicherheit betroffen sind. Die Absicht dieses Artikels ist illustrativ, nicht generalisierend. So soll aufgezeigt werden, wie COVID-19 nahezu katalysatorisch auf die drei beschriebenen Regionen wirkt. Der Beitrag vereint ganz unterschiedliche Perspektiven und Formen. Valeria Hänsel, Wissenschaftler*in und Aktivist*in, erläutert, welche Herausforderungen COVID-19 für Geflüchtete in griechischen Lagern mit sich
bringt. Valeria hat selbst viel Zeit vor Ort verbracht. Tatiana Naboulsi, eine palästinensische Aktivistin aus dem Libanon, zeigt, wie sich die Pandemie auf die palästinensischen Flüchtlingsorte im Libanon auswirkt. Chittranjan Dubey, Umweltschützer aus New Delhi, verdeutlicht den Konnex aus Klimakrise, staatlichen Restriktionen und einem erschwerten Aktivismus. Die letzten beiden Texte wurden von Tim Bausch und Stella Kneifel übersetzt.

Griechische Inseln

von Valeria Hänsel

Die Situation in den Hotspot-Geflüchtetenlagern auf den griechischen Inseln hat sich massiv zugespitzt. Auch wenn die Unterbringung für Asylsuchende schon seit Abschluss der EU-Türkei-Erklärung vom 18. März 2016 katastrophal ist und Rechtsverletzungen an der Tagesordnung sind, tritt die rassistische Diskriminierung in Anbetracht der COVID-19-Pandemie noch deutlicher zu Tage.

Mit der EU-Türkei-Erklärung wurden zunächst ein neues Asylrecht und eine Begrenzung der Bewegungsfreiheit auf den griechischen Inseln eingeführt. Somit wurden die Hotspot-Lager von Aufnahmezentren in Langzeitlager verwandelt, in denen Betroffene zum Teil für Jahre ausharren müssen. Im größten Hotspot-Lager Moria auf Lesbos befinden sich aktuell 20.951 Menschen bei einer offiziellen Kapazität für 3.991 Personen. Auf den anderen Inseln befinden sich insgesamt weniger Schutzsuchende, aber die Lager sind ebenfalls seit Jahren drastisch überbelegt. Wie in zahlreichen Berichten dokumentiert, ist
die basale Versorgungssituation in den Hotspots seit ihrer Umwandlung in Langzeitlager völlig unzureichend.

Bereits vor Ausbruch der Pandemie kam es zu einer radikalen Zuspitzung an der EU-Außengrenze in der Ägäis. Es wurden zahlreiche Verschärfungen im Migrations- und Asylrecht eingeführt, und es wurde geplant, geschlossene Lager zu errichten. Proteste aus allen politischen Flügeln brachen aus. Als der türkische Präsident Erdogan am 27. Februar 2020 ankündigte, die Grenzen zu öffnen, kam es auf den griechischen Inseln zu rassistischen Hetzjagden gegen Geflüchtete und Mitarbeiter*innen von Nichtregierungsorganisationen (NGOs). Menschen, die versuchten, in Booten von der Türkei nach Griechenland
überzusetzen, wurden gewaltsam von der griechischen Küstenwache attackiert und zurückgepusht oder an Stränden festgesetzt, während an der Evros-Landgrenze zwischen der Türkei und Griechenland sogar scharf geschossen wurde. Inzwischen werden solche Aktionen mit COVID-19-Maßnahmen begründet.

Mit dem Ausbruch der COVID-19-Pandemie verfestigte sich die Situation der Rechtslosigkeit. Während griechische Staatsbürger*innen zur eigenen Sicherheit Abstandsregeln einhalten müssen, wird der Großteil der Geflüchteten ohne Schutz in der Elendssituation zurückgelassen. Anstatt zu evakuieren, wurden Ausgangssperren für die Lager verhängt. Der Lockdown der Lager wurde immer weiter verlängert, auch als die Bestimmungen für die lokale Bevölkerung wieder gelockert wurden. Wer dennoch versucht, das Camp zu verlassen, wird von der Polizei gestoppt, und es werden Geldstrafen verhängt, die bei
Nicht-Bezahlung in Gefängnisstrafen überführt werden.

Der Lockdown wird durchgesetzt, obwohl in den Lagern keinerlei gesundheitlicher Schutz für die Bewohner*innen gewährleistet wird: Eng gedrängt müssen Tausende Menschen stundenlang für Essen anstehen; Duschen und Toiletten sind nur in sehr geringer Anzahl vorhanden und verdreckt; Abwasser- und Müllentsorgung funktioniert kaum, von ausreichend Seife, Desinfektionsmittel oder Mundschutz ganz zu schweigen. Viele Organisationen zogen sich zurück, die medizinische Versorgung wurde verringert, sodass zwischenzeitlich nur noch zehn Ärzt*innen und acht Krankenpfleger*innen für mehr als 20.000 zum
Teil schwer erkrankte Personen vor Ort waren. Das Asylbüro wurde vorübergehend geschlossen und die Bearbeitung von Anträgen eingestellt. Um zu verhindern, dass Personen das Lager verlassen, wurde die monatliche finanzielle Unterstützung für Asylsuchende von 90 Euro vorübergehend eingefroren, obwohl diese für viele die Lebensgrundlage darstellt.

In einigen Fällen kam es zu massiver Gewalt der örtlichen Bevölkerung gegen NGO-Mitarbeiter*innen, vor allem aber gegen Migrant*innen. Dabei überlagern sich rassistische Ressentiments und Gewaltformen mit rassifizierten Ängsten vor einer Infektion mit SARS-Cov-2. All dies geht mit einer stetigen Verschärfung des Asylrechts einher.

Die Regierung begegnet der Situation in Zeiten der Pandemie vor allem mit Repressionen. Die Entwicklungen werden genutzt, um Gesetzesverschärfungen durchzusetzen, NGOs mit Registrierungszwang zurückzudrängen und Migrant*innen gewaltsam die Einreise zu verweigern. Geflüchtete reagieren darauf vor allem mit Protesten, um auf die Situation in den Lagern aufmerksam zu machen. Im Abschiebegefängnis von Moria traten inhaftierte Migrant*innen in einen Hungerstreik, der gewaltsam von der Polizei beendet wurde.

Verschiedene Netzwerke setzen sich für die Geflüchteten ein und versuchen, ihren Forderungen Gehör zu verschaffen, auf internationaler Regierungsebene bewegt sich jedoch wenig. Dabei sind die Zustände in den Lagern primär Resultat der Transformation des »Hotspot«-Ansatzes, der in der »Europäischen Agenda für Migration« von 2015 festgeschrieben wurde, durch die EU-Türkei-Erklärung. Zudem scheint sich die Europäische Kommission trotz der jüngsten Eskalation hinter die gewaltsame griechische Politik zu stellen. Das Konzept der geschlossenen Lager ist nicht nur Bestandteil des griechischen
Asylgesetzes, sondern geht mit den Konzepten der Europäischen Kommission für »controlled centres« vom Juli 2018 einher. Bestrebungen zur Aufnahme von Migrant*innen aus den griechischen »Hotspots« in anderen europäischen Staaten beschränken sich bisher auf marginale Zahlen besonders schutzbedürftiger Personen. Die humanitären Interventionen stellen somit das strukturelle Grundproblem der Externalisierung von Migrationskontrolle und Aushöhlung von Rechten an der EU-Außengrenze nicht in Frage.

Palästinensische Flüchtlingslager im Libanon

von Tatiana Naboulsi

Zuallererst: Alhamdulillah, gelobt sei Gott, gibt es bislang in keinem der palästinensischen Lager im Libanon Fälle des COVID-19-Virus.1 Aber im selben Moment, als sich die Nachrichten über das Corona-Virus verbreiteten, gab es von unterschiedlichsten Seiten, auch von Politiker*innen, Anschuldigungen, die Palästinenser*innen seien Ursprung des neuartigen Virus und die palästinensischen Lager müssten abgeriegelt werden. Das war fürchterlich.

Neben diesen Anschuldigungen wirkt sich die COVID-19-Pandemie vor allem wirtschaftlich und finanziell auf unseren Alltag aus. Aufgrund der staatlichen Restriktionen für Palästinenser*innen hatten wir bereits vor der Krise eine hohe Arbeitslosigkeit. Die Mini-Jobs, in denen Palästinenser*innen oft arbeiten, begründen kein festes Arbeitsverhältnis, und die Menschen werden nur dann bezahlt, wenn sie arbeiten. Für viele ist das Geld überlebensnotwenig. An Tagen ohne Einkommen müssen die Familien hungern. Jene Menschen sind am stärksten von der Pandemie betroffen.

Manche Organisationen sammeln Geld für Essen. Traditionell versuchen arabisch-palästinensische Kulturvereine im Fastenmonat Ramadan ärmere Menschen mit Lebensmittelspenden zu unterstützen. Durch das Corona-Virus ist der Bedarf extrem gestiegen.

Zudem kann das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA)2 seinen Aufgaben gerade nicht ausreichend nachkommen. Sogar das libanesische Gesundheitsministerium kritisierte, dass sich UNRWA nicht ausreichend um die Palästinenser*innen im Libanon kümmert. Das Ministerium betonte auch, dass es nicht für palästinensische Patient*innen aufkommen könne und die UNRWA verantwortlich sei. Das schafft Unsicherheiten, da die Zuständigkeiten diffus sind und wir uns nicht darauf verlassen können, nötige Hilfen zu bekommen.

Der Verfall der libanesischen Währung ist ein weiteres Problem. Das libanesische Pfund verlor einen Großteil seines Wertes gegenüber dem US-Dollar. Zudem sind Artikel des täglichen Bedarfs sehr teuer geworden, und der Schwarzmarkt für den Wechsel zwischen libanesischen Pfund und US-Dollar boomt. Während die Bank 1.500 Lira für einen US-Dollar herausgibt, können auf dem Schwarzmarkt bis zu 4.200 Lira erzielt werden.3 Viele Palästinenser*innen, die im Ausland leben, haben Geld in die Lager geschickt. Außerdem spenden die Menschen in den Lagern untereinander so viel
Geld, wie sie können. Wir haben nur einander, wir wissen, dass wir allein sind.

Der libanesische Staat kann uns nicht helfen. Er ist kaum in der Lage, sich selbst und seine eigenen Bürger*innen zu schützen. Die Libanes*innen sind von ihrer Regierung abhängig und sind es gewohnt, ein freizügiges Leben zu führen. Auch sie versuchen natürlich, sich gegenseitig zu helfen. Aber oft fehlen ihnen dafür die Strukturen. Auch haben einige Libanes*innen das Virus nicht ernst genommen, was die Verbreitung begünstigte.

Wir haben Angst, dass es zu einem Ausbruch in den palästinensischen Lagern kommt. Falls COVID-19 die Lager erreicht, könnte es zu einer Katastrophe kommen. Wir machen uns große Sorgen, da wir keine eigenen Krankenhäuser haben und unsere eigenen politischen Strukturen schnell an ihre Grenzen stoßen könnten. Deswegen versuchen wir, so viele Menschen wie möglich aufzuklären. Vielen ist die Gefahr bewusst, aber sie öffnen ihre Geschäfte trotzdem, um sich und ihre Familien ernähren zu können. Durch den Krieg in Syrien hat sich die Zahl der Menschen in den palästinensischen Lagern oftmals
verdoppelt. Die Lager sind daher überfüllt; das kommt erschwerend hinzu.

Auch in der Vergangenheit haben wir keine Hilfe von außen bekommen. Aber wir wissen, was es heißt, solidarisch zu handeln. Nun profitieren wir von diesen nachhaltigen Hilfsstrukturen. Diese können wir nun nutzen und sind damit anderen etwas voraus.

Anmerkungen

1) Die Texte in diesem Artikel wurden im Juni 2020 verfasst. Ende Juli ergänzte Tatiana Naboulsi: Zwei Menschen eines Camps hatten sich inzwischen mit Corona infiziert und Familienmitglieder angesteckt, was zu insgesamt sechs COVID-19-Fällen führte. Die betroffenen Menschen wurden jedoch isoliert und konnten genesen. Das Gesundheitsministerium veranlasste eine Nachverfolgung der Kontaktpersonen und führte Tests durch. Alle waren negativ. Seitdem tauchte kein neuer Fall auf.

2) Die Abkürzung steht für United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East.

3) Die Autorin ergänzte Ende Juli: Der US-Dollar wird inzwischen mit 7.000 Lira gehandelt und mancherorts sogar noch höher. Die Inflation ist inzwischen ebenfalls viel höher als im Juni.

Indien: Migrant*innenkrise, Klima, Ökologie und COVID-19

von Chittranjan Dubey

Die COVID-19-Pandemie brachte für Indien beispiellose Herausforderungen mit sich. In solchen Situationen erwarten wir, dass von der Politik Maßnahmen unternommen werden, die zu unmittelbaren und nachhaltigen Lösungen führen. Premierminister Modi kündigte ein Hilfspaket in Höhe von 240 Milliarden Euro an, was angeblich zehn Prozent des indischen BIP entspricht.

Als Umweltschützer und Klimaaktivist verfolgte ich täglich die Briefings der indischen Finanzministerin Nirmala Sitharaman, die Einzelheiten des Hilfs­pakets erläuterte. Ich erwartete, dass auch Geld für die Klima- und Umweltkrise bereitgestellt wird. Ich war verblüfft, dass kein einziges Mal das Wort »Klima« fiel. Die COVID-19-Maßnahmen haben Umweltinitiativen vielmehr geschwächt. Die Regierung kümmert sich wenig um Umwelt- und Klimapolitik. Entweder wird die Bedeutung von nachhaltiger Umweltpolitik unterschätzt, oder es werden schlicht falsche Prioritäten gesetzt. So oder so ist
diese Kurzsichtigkeit für zukünftige Generationen gefährlich.

Die indische Regierung erkennt nicht, dass jedes Jahr Millionen Inder*innen zu Klimaflüchtlingen werden. Aufgrund des Lockdown und der Infektionsgefahr können indische Klimaaktivist*innen nun nicht mehr für das Klima auf der Straße protestieren.

Im April und Mai mussten Millionen Migrant*innen wegen des landesweiten Shutdown bei 40 Grad Hitze aus den Städten in ihre Dörfer zurückkehren. Wir sollten uns eine grundlegende Frage stellen: Wieso gibt es diese Arbeitsmigration überhaupt? Leider fehlt diese Diskussion in der indischen Politik und Wirtschaft gänzlich. Arbeitsmigration gibt es, weil Menschen nicht mehr von der Landwirtschaft überleben können.

Mehr als eine Million Menschen wurden bereits 2018 bei den Überschwemmungen in Kerala zu Klimaflüchtlingen. Der Superzyklon Amphan hat in Westbengalen und Orissa eine halbe Million Menschen vertrieben und unwiderrufliche Schäden angerichtet. Darüber hinaus ist Indien, wie die Unternehmensberatung McKinsey in einem Bericht über die Klima- und Umweltkrise dieses Jahr betonte, stark von Hitzewellen betroffen, die auch für gesunde Menschen gefährlich sind. Der Thinktank NITI Aayog errechnete 2018, dass 21 indischen Großstädten bis 2020 das Grundwasser ausgehen wird, wovon 100 Millionen Menschen
betroffen sein werden.

Dies alles sind Folgen des sich verändernden Klimas. Naturkatastrophen sind einer der Hauptgründe von Migration. Viele indische Bundesstaaten sind regelmäßig mit Naturkatastrophen konfrontiert. Das sind die Staaten, aus denen die meisten Menschen auf der Suche nach einer Existenzgrundlage in Großstädte abwandern. Der Zustrom von Menschen in größere Städte verschärft bereits bestehende Probleme. Und dieser Teufelskreis hört nie auf. Die Mehrheit von ihnen lebt am Ende in Slums und an Straßenrändern. Sie leben ohne sanitäre Einrichtungen und fließendes Wasser. Von der COVID-19-Pandemie sind
diese Menschen am stärksten betroffen. Da sie auf sehr engem Raum leben, können sie keinen Abstand im Sinne des Infektionsschutzes halten. Die aktuelle Pandemie hat die Notlage der Tagelöhner*innen und des ländlichen Indiens nun offengelegt und verschärft.

Der Klimawandel und die daraus resultierende ökologische Krise sind so schwerwiegend, dass sie nicht mehr ignoriert werden können. Die COVID-19-Pandemie ist auch das Ergebnis der Ausbeutung von Natur und Tierwelt. Steigende Temperaturen, Hitzewellen, Dürreperioden und Überschwemmungen werden zunehmen, was in dicht besiedelten Regionen, wie dem indischen Subkontinent, viele Viruserkrankungen hervorrufen wird. Und trotzdem hat dieses Thema in der Mainstream-Politik keinen Platz, weil unsere Führung ignorant ist. Neben dem COVID-19-Virus sind wir mit Dengue, Chikungunya, Zika, Nipah und
anderen Viruskrankheiten konfrontiert. Sie alle sind das Ergebnis veränderter Klimabedingungen, die Moskitos und Viren begünstigen.

Ein Bericht der Arbeitsgruppe für Migration, der 2017 vom Ministerium für Wohnungswesen und Bekämpfung der städtischen Armut herausgegeben wurde, enthält nachdrückliche Empfehlungen zur Verbesserung der Situation für Migrant*innen. Es ist jedoch Sache der Regierung, die Migration als eine Herausforderung anzuerkennen und geeignete Strategien und Programme zur Beseitigung der Fluchtursachen umzusetzen.

Indien ist das Land von Mahatma Gandhi, der auf die ländlichen Regionen, auf die Landwirtschaft und entsprechende Reformen achtete. Wenn sich unsere Regierung für die Lösung der sozioökonomischen Probleme einsetzt, dann sollte sie das Klimaproblem im Speziellen und die Umwelt im Allgemeinen beachten. Die Regierung muss die Klimamigration als eine durch den Klimawandel verursachte extreme Herausforderung anerkennen. Nur dann lassen sich Migration, Armut und auch die rasche Verbreitung von Viren verhindern.

Tim Bausch ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Lehrstuhls für Internationale Beziehungen an der Universität Jena.
Stella Kneifel ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Orient-Institut Beirut und arbeitet im Projekt »Relations in the Ideoscape: Middle Eastern Students in the Eastern Bloc (1950s-1991)«.

Nahost-Poker oder Mord als Politik


Nahost-Poker oder Mord als Politik

von Jürgen Nieth

Anfang Januar tötete das US-Militär mit einer Drohne den iranischen General Quasim Soleimani in Bagdad/Irak. Ein Mord auf Befehl von US-Präsident Trump, gesteuert über die US-Drohnenzentrale im rheinland-pfälzischen Ramstein – obwohl „die USA der Bundesregierung in der Vergangenheit zugesichert [hatten], die Basis nicht für rechtswidrige Aktivitäten zu missbrauchen“ (NZZ 7.1.20, S. 10).

Erhöhte Kriegsgefahr?

Für den demokratischen US-Präsidentschaftskandidaten Joe Biden hat Donald Trump damit „eine Stange Dynamit in ein Pulverfass geworfen“ (taz 4.1.20, S. 10). Laut Bruce Ackermann, Professor an der Universität Yale, befinden sich die USA gemäß Völkerrecht „aufgrund der Tötung eines hohen Beamten einer ausländischen Regierung bereits im Kriegszustand mit dem Irak“ (nd 9.1.20, S. 1). Der Machtmissbrauch ist für ihn „so schwerwiegend, dass er als dritter Anklage-Artikel in das Impeachment-Verfahren im Kongress aufgenommen zu werden verdiene“.

Kommentatoren verschiedener anderer Zeitungen gehen nicht ganz so weit, sprechen aber von erhöhter Kriegsgefahr und ziehen Parallelen zum Mord von Sarajewo vor dem Ersten Weltkrieg.

Aus Sicht von K.D. Frankenberger (FAZ 4.1.20, S. 1) „[kann] diese Aktion eine militärische Dynamik in Gang setzen und beteiligte wie unbeteiligte Länder an den Rand eines Krieges bringen – und darüberhinaus“. Matthieu von Rohr (SPIEGEL 11.1.20, S. 6): Trumps „Vorgehen erinnert an eine Mischung aus Drohpolitik des 19. Jahrhunderts und New Yorker Mafiamethoden: Recht hat, wer die größeren Kanonenboote besitzt. Wer auf das Angebot einer Umarmung nicht eingeht, muss mit Mord rechnen.Sigmar Gabriel, ehemaliger deutscher Außenminister (Handelsblatt, 6.1.20, S. 48): „Ein 1914-Moment: Niemand will den Krieg und doch kommt es dazu, weil die internationale und regionale Diplomatie versagt und niemand eingreift. Josef Joffe (ZEIT 9.1.20, S. 1): Die beste aller schlechten Nachrichten: Wir befinden uns nicht im Juli 1914 […] Damals wollten alle Mächte den Krieg, heute will ihn niemand.Joffe schiebt nach: „Gewiss kann der Iran »asymmetrisch« zuschlagen […] Nur, wer hat hier die »Eskalationsdominanz« – wer kann in der nächsten Runde einen drauflegen? […] Der Iran kann es [Trump] nicht in gleicher Münze heimzahlen; es fehlt die strategische Reichweite. Amerika hat Basen ringsum, der Iran hat keine auf Kuba.

Selbstverteidigung?

Trump begründete den Mord mit Selbstverteidigung. Der Angriff sei notwendig gewesen, um „»unmittelbar bevorstehende Bedrohungen« für Amerikaner in der Region zu »durchkreuzen«“ (Josef Alkatout in NZZ 7.1.20, S. 10). Dazu Wolfgang Hübner (nd 9.1.20, S. 1): „Nach wie vor bemüht sich Trump um keinerlei Beweise für seine Behauptung, dass der getötete General unmittelbare Anschläge geplant habe. Die Behauptung klingt so wie andere Kriegslügen. Die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages äußern sich vorsichtiger, berichtet nd (15.1.20, S. 5): „Nach den Einlassungen der US-Administration ist nicht deutlich zu erkennen, warum die Tötung Soleimanis im Irak unbedingt notwendig gewesen sein soll, um eine akute Gefahr für das Leben von US-Amerikanern ultima ratio abzuwehren.Der tödliche Drohnenangriff erfülle daher „offensichtlich nicht die Kriterien eines »finalen Rettungsschusses«“, sondern erscheine als Verstoß gegen das im Zivilpakt der Vereinten Nationen festgeschriebene Recht auf Leben. Auch H. Wetzel (SZ 13.1.20, S. 4) bezweifelt die Beweisbarkeit von Trumps Behauptung, kommt aber trotzdem zu der Schlussfolgerung, „dass Soleimani ein legitimes militärisches Ziel war“, aufgrund seiner Verantwortung für Guerillaaktionen.

Kulturgüter zerstören

Trump missachtet auch die 1954 auf Initiative der USA beschlossene »Haager Konvention zum Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten«. So kündigte er an, dass die USA im Fall „iranischer Racheakte“ 52 iranische Ziele, darunter antike Kulturstätten, angreifen würden. Dazu Bahman Nirumand in der taz (11.1.20, S. 3): „Nicht nur das Militär und die Infrastruktur des Landes sollen ins Visier genommen werden, auch die Seele einer ganzen Nation sollte zerstört und deren Wurzeln verbrannt werden. Stellen Persepolis, die Freitagsmoschee in Isfahan oder das Grabmal von Hafis in Schiras so eine Gefahr für die Vereinigten Staaten dar, dass sie vernichtet werden müssen?“

Aussichten

Weit auseinander liegen die Einschätzungen darüber, ob es einen Profiteur nach dem Mord an Soleimani gibt und wer das ist, die USA oder der Iran. Die SZ (13.1.20, S. 4) titelt „Trumps rote Linie“. Für sie diente der Anschlag dazu, einem „rationalen sicherheitspolitischen Prinzip wieder Geltung zu verschaffen: der Abschreckung“. Die taz (4.1.20, S. 10) sieht „Iran im Vorteil“. Auch Sigmar Gabriel (Handelsblatt, s.o.) geht davon aus, dass sich das „Kräftegleichgewicht im Irak […] zuungunsten der USA und zugunsten des Iran verschieben“ wird. Er bezeichnet die Wirtschaftssanktionen gegen den Iran als völkerrechtswidrig und empfiehlt, über die EZB oder Natio­nalbanken Wirtschaftshilfe zu finanzieren, wenn der Iran zum Atomabkommen zurückkehrt. Ganz anders Josef Joffe (Zeit, s.o.). Für ihn ist es „im europäischen Interesse, dem Regime den Preis verschärfter Sanktionen zu zeigen“.

Während einige Kommentatoren davon ausgehen, dass sich Trump gerne aus dem Nahen Osten zurückziehen würde, sieht das der Nahostexperte Michael Lüders (Freitag 9.1.20, S. 7) ganz anders: „Die USA beanspruchen gemeinsam mit ihren regionalen Verbündeten Israel und Saudi Arabien die Vorherrschaft im Nahen und Mittleren Osten. Iran ist das letzte verbliebene Bollwerk, das es zu schleifen gilt – um gleichzeitig Teherans Verbündete Moskau und Peking auf Distanz zu halten.Lüders schlussfolgert: „Und die Europäer? Wären gut damit beraten, nicht nur Teheran zur ‚Mäßigung‘ aufzurufen, sondern sich ebenso deutlich von Washingtons Kriegstreiberei zu distanzieren. Andernfalls droht – kommt es zum großen Knall – der Bündnisfall.

Zitierte Presseorgane: FAZ – Frankfurter Allgemeine Zeitung, Der Freitag, Das Handelsblatt, nd – Neues Deutschland, NZZ – Neue Zürcher Zeitung, DER SPIEGEL, SZ – Süddeutsche Zeitung, taz – die tageszeitung, DIE ZEIT.

Türkei bombt IS zurück


Türkei bombt IS zurück

von Jürgen Nieth

Am 9. Oktober überschritt die türkische Armee zum dritten Mal seit 2016 die Grenze zu Syrien. „Ermöglicht hat dieses blutige Spektakel Donald Trump.“ Indem er seine Soldaten aus der Region abzog, ermutigte er „Erdogan zum Völkerrechtsbruch. Amerika schaut nun dabei zu, wie sich zwei seiner Bündnispartner bekriegen. Noch vor einem Jahr hatte Trump geschwärmt: »Die Kurden sind ein großartiges Volk. Sie kämpften und starben mit uns. Wir haben Zehntausende von ihnen im Kampf gegen ISIS verloren. Ich kann Ihnen sagen, dass ich das nicht vergesse«.“ (Livia Gerster in FAS 13.10.19, S. 8) An anderer Stelle heißt es bei Gerster: „Die syrischen Kurden hatten alles unternommen, um Erdogan keinen Anlass zur Intervention zu geben. Sie haben militärische Anlagen abgebaut, Bunker gesprengt und alle Bedingungen der Amerikaner erfüllt, um eine türkische Offensive abzuwenden.“ Verteidigungsanlagen, die sie jetzt bitter vermissen.

Schon nach fünf Tagen Krieg schätzt das UN-Nothilfeprogramm Ocha, dass 130.000 Menschen […] seit Beginn der Kämpfe vertrieben wurden“ (FR 14.10.19, S. 5). Andere sprechen von über 200.000. Hunderte wurden bereits getötet, darunter viele Zivilist*innen. Und mit der direkten Konfrontation zwischen der türkischen und der syrischen Armee, die nach einer Vereinbarung zwischen den Kurden und der Regierung von Assad in das bisherige kurdische Autonomiegebiet einrückt, droht eine neue Eskalationsstufe.

Erdogans Ziele

„Erdogan will […] auf syrischem Gebiet eine etwa 400 Kilometer lange und 30 bis 40 Kilometer tiefe sogenannte Sicherheitszone schaffen. Damit verfolgt er zwei Ziele: Erstens will er dort bis zu zwei Millionen syrische Flüchtlinge ansiedeln, die sich jetzt noch in der Türkei aufhalten. Zweitens sollen die Milizen der syrisch-kurdischen Volksbefreiungseinheiten YPG […] von dort vertrieben werden […] Bei Licht besehen handelt es sich dabei um eine militärische Besatzungszone auf dem Staatsgebiet Syriens. Dass die Türkei durch die Vertreibung der Kurden und die Ansiedlung ethnischer Araber die demografischen Strukturen dauerhaft zu verändern versucht, macht die Sache noch problematischer.“ (Gerd Höhler in BZ, 10.10.19, S. 4)

Mehrere Zeitungen weisen darauf hin, dass die militärische Intervention Erdogans auch innenpolitisch begründet ist. Angeschlagen nach den Wahlniederlagen in Ankara und Istanbul, gelang es ihm mit dem Militäreinsatz, die Opposition zu spalten.

Kanonenfutter

„Die türkische Armee wird unterstützt von syrischen islamistischen Kämpfern, die auch schon bei den beiden vorangegangenen Großoffensiven der Türkei auf syrischem Territorium dabei waren. Sie bilden mit 18.000 Mann die Speerspitze am Boden, das Kanonenfutter sozusagen.“ (Jürgen Gottschlich in taz, 11.10.19, S. 10) Für Alfred Hackenberger (Welt, 10.10.19, S. 6) sind „Erdogans Handlanger“ mehrheitlich „radikale Islamisten. Sie stehen schon seit Jahren auf der Soldliste der Türkei, lassen sich aber von ihr selten kontrollieren […] Sie haben [in der Region Afrin] geplündert, Menschen gefoltert und ermordet sowie Kultstätten religiöser Minderheiten zerstört […] Im Internet tauchten immer wieder Videos auf, in denen Gefangene brutal hingerichtet werden.“

Wiederkehr des IS

Nach Schätzungen des Pentagon operieren immer noch 18.000 IS-Fanatiker in Syrien und im Irak, darunter 3.000 Ausländer.“ (FR 11.10.19, S. 6) Da die Kurden derzeit alle verfügbaren Kräfte an die Front mit der Türkei verlagern „wächst die Gefahr, dass die 10.000 gefangenen Gotteskrieger und ihre 70.000 Familienangehörigen die Kriegswirren zur Massenflucht nutzen und ihr Kalifat neu errichten oder sich nach Europa durchschlagen […] Sollten […] kurdische IS-Haftanstalten in nächster Zeit unter Ankaras Kontrolle fallen, könnte der türkische Geheimdienst viele der Dschihadisten, mit denen er jahrelang ein stillschweigendes Einvernehmen pflegte, freilassen und für den Krieg gegen deren Todfeinde, die syrischen Kurden rekrutieren.“ (Martin Gehlen in FR 11.10.19, S. 6) Am 13. Oktober meldet die kurdische Autonomieverwaltung, dass „rund 800 IS-Unterstützer, darunter viele Angehörige islamistischer Kämpfer, nach Beschuss durch mit der türkischen Armee verbundene Milizen aus dem Lager Ain Issa ausgebrochen“ sind (nd 14.10.19, S. 1). In derselben Ausgabe (S. 5) schreibt Anita Starosta von medico international: „Die Türkei bombt gerade den militanten Islamismus zurück.“

EU – halbherzig und inkonsequent

„In den ersten vier Monaten dieses Jahres hat die Türkei Kriegswaffen für 184,1 Millionen Euro aus Deutschland erhalten […] 2018 war die Türkei nach Russland das Land, für das der höchste Betrag aus der Staatskasse für Hermes-Bürgschaften bereitgestellt wurde. 1,78 Milliarden Euro. In den ersten acht Monaten dieses Jahres waren es bereits 789 Millionen Euro.“ (FR 14.10.19, S. 5) „Die EU-Außenminister verständigten sich am Montag [14.10.] auf einen Stopp sämtlicher Waffenlieferungen an die Türkei. In einer gemeinsamen Erklärung äußerten die EU-Partner, das militärische Vorgehen Ankaras in Nordsyrien bedrohe nicht nur Sicherheit und Stabilität der Region, sondern könne auch der Terrormiliz »Islamischer Staat« (IS) Auftrieb geben.“ (FAZ 15.10. 19, S. 1) Die Nato verhält sich noch zurückhaltender: „Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg sagte, die Türkei müsse sicherstellen, dass ihr Vorgehen verhältnismäßig und maßvoll sei.“ (BZ, 10.10.19, S. 4) Das kann man auch als Zustimmung zum türkischen Militäreinsatz werten.

Angesichts der Katastrophe bräuchte es, so Sebastian Bähr (nd 14.10.19, S. 1) „stärkere politische Mittel, um den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg zu stoppen. Ein kompletter Rüstungsstopp, Wirtschaftssanktionen, die Einstellung von Finanzhilfen und Hermes-Bürgschaften, eine international bewachte Flugverbotszone in Nordsyrien. Allen voran muss jedoch der Flüchtlingsdeal zwischen der EU und der Türkei aufgekündigt werden.“

Redaktionsschluss dieser Seite 15. Oktober 2019.

Zitierte Presseorgane: BZ – Berliner Zeitung, FAS – Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, FAZ – Frankfurter Allgemeine Zeitung, FR – Frankfurter Rundschau, nd – Neues Deutschland, SZ – Süddeutsche Zeitung, taz – die tageszeitung, Welt – Die Welt.

USA aus Syrien?

Rückzug der USA aus Syrien?

von Mechthild Exo und Karin Leukefeld

Der Abzug der westlichen Truppen aus Syrien ist eine Kernforderung der Friedensbewegung und wird häufig aus völkerrechtlichen Gründen angemahnt. Dennoch sorgte die Ankündigung von US-Präsident Trump vom Dezember 2018, alle Truppen aus Syrien abzuziehen, auch in der deutschen Friedens­bewegung für Aufregung. So gab es viele Stimmen, die vor allem nach der Zukunft der selbstverwalteten Gebiete im Norden und Nordosten Syriens (»Rojava«) fragten. Nicht zuletzt wird befürchtet, die türkische Regierung unter Präsident Erdogan würde einen von ihr als »Machtvakuum« wahrgenom­menen
US-Abzug mit einer erneuten Intervention beantworten, die wie im Fall der Eroberung Afrins in Vertreibung und Besatzung enden könnte.
Auch wenn die Entwicklung inzwischen gezeigt hat, dass Trumps Ankündigung nicht so und nicht so schnell umgesetzt wird, sind diese Fragen weiterhin aktuell. »Wissenschaft und Frieden« bat zwei Kennerinnen der Region darzustellen, wie aus ihrer jeweiligen Sicht ein Abzug der US-Truppen zu bewerten wäre. Mechthild Exo und Karin Leukefeld beleuchten das Thema auf sehr unterschiedliche Weise.

Ein Friedensprozess für Syrien ist möglich

von Mechthild Exo

Ende 2018 signalisierte der eingeleitete US-Truppenabzug der Türkei freie Hand für einen militärischen Überfall auf Nordsyrien. Kurz zuvor hatte der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan gedroht, die gesamte Selbstverwaltungsregion im Norden Syriens militärisch zu erobern und zu besetzen, wie bereits seit März 2018 den westlichsten Kanton in Selbstverwaltung, Afrîn.

Die Ankündigung des Abzugs aller US-Soldaten aus Syrien löste daher bei der Kurdischen Bewegung, bei Solidaritätsgruppen und bei zahlreichen Außenpolitiker*innen unmittelbar kritische Reaktionen aus, die auf das übliche machtpolitische Denken zurückgriffen. Doch die Kurdische Bewegung hatte das US-Militär nicht darum gebeten, nach Syrien zu kommen. Die Erfolge der gesellschaftlichen Transformation zu einer basisdemokratischen, geschlechterbefreienden Lebensweise sowie die Zurückdrängung und Niederschlagung des »Islamischen Staates« (IS) haben ihre Wurzeln nicht in der militärischen
Unterstützung von außen. Vielmehr sind die politischen Grundideen entscheidend für die Verteidigung des selbstorganisierten Demokratieprojektes in Nordostsyrien und für eine Friedenspolitik für das gesamte Syrien. Darum soll es nachfolgend gehen.

Schlüsselfaktor Bewusstsein

Das, was viele als gelebte Utopie beeindruckt und durch Mut und Zuversicht im Kampf gegen den IS überraschte – schließlich hatten zuvor staatliche Armeen vor den faschistischen Mörderbanden des IS kapituliert1 –, lässt sich nicht vorrangig mit militärischer Kooperation, Schlagkraft oder anderen Machtfaktoren erklären. Die bewaffneten Handlungen werden von der Kurdischen Bewegung nicht als Mittel zur Durchsetzung der politischen Ziele verstanden. Ganz im Gegenteil: Die sozialen und persönlichen Veränderungsprozesse, die Bildung und der
Aufbau von Strukturen der Selbstorganisierung sind der Weg zur Durchsetzung der neuen Gesellschaft. Diese Prozesse stehen im Zentrum. Die bewaffneten Verteidigungsaktivitäten ergänzen diese und dürfen nicht losgelöst gedacht werden, sie sind aber eher so etwas wie die zweite Seite einer Medaille.

„Das Bewusstsein über die Errungenschaften der Rojava-Revolution ist für die Frauen und die Bevölkerung eine wichtige Motivation, sich auf allen Ebenen für ihre Verteidigung einzusetzen. Das ist es, was den Frauen der [kurdischen Frauenverteidigungseinheiten] YPJ von Serê Kaniyê und Kobanê bis hin nach Reqqa und Dêrazor den Mut und die Kraft verlieh, den IS in die Flucht zu schlagen und zu besiegen.“ (Benario 2019, S. 20) Von ziviler Seite wird das z.B. von Suad Ewdilrahman für den von zehn Frauen als Kooperative betriebenen Laden »Schönheit
der Frau« bestätigt: „Wir sind mit unserer Arbeit zufrieden und möchten ein Beispiel für die ganze Welt sein. Mitten in unserer Revolution sind wir Frauen an der Kriegsfront im Einsatz gewesen. Das war genauso wichtig wie unsere Arbeit hier im Innern der Gesellschaft. Das ist auch eine Front. Wir haben beides zugleich geschafft. Wir sind stark und weichen vor unseren Feinden nicht zurück. Wir stehen unsere Frau – gegen alle Anfeindungen.“ (Krieg 2019)

Das solidarische Bewusstsein in der Gesellschaft und der Wille, frei und würdevoll zu leben, ermöglichen erst den Widerstand. Sie verhindern auch, dass der Krieg und erfahrenes Unrecht die Menschen zu Brutalität und Zerstörung verleiten. Dieses Bewusstsein ist zudem die Grundlage für politische Lösungen und für die Demokratisierung von ganz Syrien.

2019 wurde am 21. März das Frühlings- und Neujahrsfest Newroz in Nord- und Ostsyrien besonders überschwänglich gefeiert. Newroz ist ein Fest aufbrechender Lebenskraft, des Neubeginns von Wachstum, und für Kurd*innen ist es zudem schon lange ein Fest des Widerstands. Dieses Jahr konnte die erfolgreiche Niederschlagung des IS bejubelt und tanzend gefeiert werden. Seit 2014 wurde der IS, beginnend mit der selbstverwalteten Stadt Kobanî, zunehmend zurückgedrängt. In den Wochen vor Newroz 2019 hatte sich der IS in den ostsyrischen Ort al-Bagouz an der Grenze zum Irak zurückgezogen und wurde vom
Verteidigungsbündnis »Demokratische Kräfte Syriens« (SDF) eingekesselt. Immer wieder wurden die letzten Gefechte zur Einnahme von al-Bagouz hinausgeschoben. Zehntausende konnten so flüchten und sich ergeben. Zwei Tage vor Newroz wurden die letzten IS-Stellungen durch die SDF-Einheiten, an denen sich kurdische, arabische, assyrisch-aramäische, armenische und internationalistische Kämpfer*innen beteiligten, eingenommen. Viele verloren noch bei den letzten Kämpfen ihr Leben.

52.000 Quadratkilometer wurden in Syrien von der IS-Herrschaft befreit. Das US-Militär unterstützte im Rahmen der Anti-IS-Koalition, die sich aus 74 Staaten, einschließlich Deutschland, sowie der NATO und der EU zusammensetzt, die Kämpfe mit Luftbombardierungen. Im Einsatz zur Zerschlagung des IS fielen 11.000 Kämpfer*innen – 8.500 Kurd*innen, 2.000 Araber*innen, hunderte Suryoye (Assyrer*innen) und hunderte Internationalist*innen aus der ganzen Welt. 22.000 Kämpferinnen und Kämpfer wurden verletzt (Tev-Dem 21.3.2019)

Für die SDF und ihre Unterstützer*innen war dies nicht nur ein Kampf zur Verteidigung einer einzelnen Region, sondern auch ein Kampf zur Verteidigung der Menschheit sowie zur Verteidigung der Frau im Rahmen der Prinzipien einer Demokratischen Nation” (ANF 28.3.2019).

Neue politische Konzepte: Demokratische Nation und Demokratische Autonomie

Eine Demokratische Nation ist in Nordsyrien seit 2012 im Entstehen, und die Grundlagen dafür werden in den vom IS befreiten Gebieten in Ostsyrien gelegt. »Demokratische Nation« ist ein Konzept, das Nation grundsätzlich anders begreift als der gewohnte Nationenbegriff mit Bezug auf den Staat als Ordnungsinstanz und mit territorialer Umgrenzung. Nation hat hier nichts mit Nationalstaatlichkeit oder Nationalismus zu tun. Die Demokratische Nation ist eine Verbindung sozialer Gruppen und freier Individuen auf der Basis des freien Willens. Die sozialen Gruppen müssen nicht homogen sein oder eine
gemeinsame Geschichte aufweisen, sondern sie können verschiedene ethnische, kulturelle, religiöse und andere Identitäten umfassen.

Im selbstverwalteten Nord- und Ostsyrien leben neben Kurden*innen auch Araber*innen, Suryoye, Turkmen*innen, Ezid*innen und andere Gruppen. In den letzten Jahren kamen zahlreiche Kriegsgeflüchtete aus anderen Teilen Syriens sowie die Ezid*innen aus dem Irak nach Nordsyrien. Mit diesem pluralistischen Verständnis von einer freiheitlich und solidarisch verbundenen Nation ist die Verantwortung für politische Entscheidungen und für die Organisation des Lebens verbunden, die von der Gesellschaft selbst übernommen wird. Diese demokratische Selbstorganisierung, die den verschiedenen
gesellschaftlichen Gruppen, wie religiösen Minderheiten und der Jugend, eigenständige Strukturen und Rechte zuschreibt, wird als »Demokratische Autonomie« bezeichnet. Nach außen werden diese Strukturen von der kurdisch dominierten Demokratischen Unionspartei (PYD), jedoch vor allem vom Exekutivrat und vom kürzlich gegründeten Frauenrat der Föderation Nord- und Ostsyrien vertreten.

Wo zuvor staatliche Herrschaft die Gesellschaft überging und machtpolitisches sowie marktwirtschaftliches Denken dominierten, werden nun das gesellschaftliche Leben, die sozialen Beziehungen sowie die kommunalen Kommunikations- und Entscheidungsräume ins Zentrum gestellt.

Frauenorganisierung als Grundlage der gesellschaftlichen Befreiung

Die Organisierung der Frauen und die Überwindung der patriarchalen Grundlagen in familiären und anderen sozialen Strukturen gilt als notwendige Voraussetzung für die gesellschaftliche Befreiung.

Nachdem die Stadt Rakka im Oktober 2017 von der IS-Herrschaft befreit worden war, gehörte die Einberufung von Frauenkommunen und Frauenräten zu den ersten Aktivitäten für den Aufbau der Demokratischen Autonomie – wie überall in der Selbstverwaltungsregion. Frauen haben weitere autonome Strukturen, beispielsweise »Junge Frauen« oder von Frauenwirtschaftskooperativen, -akademien und -beratungseinrichtungen, aufgebaut. Zudem gibt es eine Quote von 40 % für Frauen in den übergreifenden Entscheidungsgremien. Alle Leitungspositionen sind mit einer
Doppelspitze aus einem Mann und einer Frau besetzt. Als Gesamtvertretung gibt es neben dem Exekutivrat auch den Frauenrat der Demokratischen Föderation Nord- und Ostsyrien. Die »Jineolojî« (Frauenwissenschaft; »jin« ist das kurdische Wort für »Frau«) bildet die Basis für eine neue Form von Sozialwissenschaft; sie stellt die positivistische, eurozentrische und von Grund auf patriarchale (westliche) Wissenschaft radikal in Frage und praktiziert andere Kriterien und Methoden für die Gewinnung von Erkenntnissen.

Theorie der demokratischen Lösung als Gegenstrategie

Nach der Vertreibung des IS ist die Frage nach der Absicherung des demokratischen Aufbaus nun vor allem mit der destruktiven Rolle der Türkei verknüpft. Die Bedeutung von Friedensverhandlungen trat spätestens seit der Zuspitzung der türkischen Angriffsdrohung Ende 2018 in den Vordergrund. Der angekündigte US-Truppenabzug wurde von vielen Seiten kritisiert, schließlich nicht umgesetzt und in den folgenden Monaten relativiert. Zudem wurde von vielen Seiten, einschließlich den USA, der Schutz der Kurd*innen in Nordsyrien vor Angriffen durch die Türkei gefordert.

Im Gegensatz zu den üblichen staats- und auf Machtansprüchen bezogenen diplomatischen Reaktionen wird vor Ort allerdings eine Friedensstrategie sichtbar, die auf einer Lösung der Probleme der Gesellschaften, auf einer demokratischen Lösung fußt. Der Frieden muss demnach von der Gesellschaft ausgehen und deren Willen verwirklichen.

Diese Herangehensweise zeigt sich darin, dass der basisdemokratische Aufbau trotz Angriffsgefahr gezielt vertieft und ausgeweitet wird. Es werden weitere Kommunen gegründet, Kindergärten, Frauenkooperativen und Jineolojî-Zentren eröffnet. Bei der Eröffnung des Jineolojî-Forschungszentrums in Hesekê am 8.1.2019 wurde erklärt, dies sei „die beste Antwort auf alle Angriffsdrohungen“ (ANF 8.1.2019).

Der langjährige PKK-Vorsitzende Abdullah Öcalan, der sich seit 1999 in türkischer Haft befindet, wird auch von vielen Kurd*innen in Syrien als Repräsentant der kurdischen Bewegung gesehen. Seine politische Philosophie prägt das gesellschaftliche Modell der Selbstverwaltungsregion, und seine Ausarbeitungen für eine Theorie der demokratischen Lösung und die Roadmap for Peace (Öcalan 2009, deutsch 2013) erhalten aktuell große Beachtung. Öcalan äußert sich zu den Entwicklungen in Syrien wie folgt: Die SDF könnten „für die Problemlösung in Syrien auf die Konfliktkultur verzichten und
einen Status erreichen […], der den Prinzipien der
lokalen Demokratie entspricht und ihre Rechte auf der Grundlage eines vereinten Syriens verfassungsrechtlich garantiert“ (Öcalan et al. 2019, S. 6). Öcalan hält „es für notwendig, auf eine verfassungsrechtliche demokratische Lösung vorbereitet zu sein und Wege zu entwickeln, die auch das syrische Regime überzeugen können. Wenn in Nordsyrien innerhalb der Gesamtheit Syriens Methoden wie Autonomie, Föderation und ähnliches entwickelt werden, ist es seiner Meinung nach wichtig, dass dabei
eine politische
Denkweise berücksichtigt wird, die ganz Syrien umfasst.“ (ANF 21.6.2019)

Um diese Idee einer demokratischen Friedenslösung zu verwirklichen, müssen Friedensverhandlungen gesellschaftlich in einen umfassenden Kommunikationsprozess eingebunden sein und den Willen der Gesellschaft umsetzen, statt über den Kopf der Bevölkerung hinweg festgelegt zu werden. Dieser Friedensprozess muss unter Einbeziehung der PYD, des Exekutivrates sowie des Frauenrates der Föderation Nord- und Ostsyrien den demokratischen, geschlechterbefreienden und ökologischen Aufbau in Rojava absichern. Die Beteiligung der organisierten Frauen ist dabei essentiell.

Frieden und Demokratischer Konföderalismus in Syrien

Die SDF gründeten Ende 2015 das politische Dachbündnis »Demokratischer Rat Syriens« (SDC). Beide setzen sich für ein säkulares, demokratisches und föderal gegliedertes Syrien ein. Ilham Ahmed, 2018 Ko-Vorsitzende des Demokratischen Rates Syriens und heute Exekutivratsvorsitzende der Demokratischen Föderation Nord- und Ostsyrien, erklärte: „Das ganze syrische Volk hat in Bezug auf Freiheit und Recht Probleme. Es gibt nicht nur Probleme der Kurdinnen und Kurden, einer Nation oder eines einzelnen Bereiches. Das syrische Volk ist mit einer ganzen Reihe von Themen
unglücklich. Wir wollen Damaskus demokratisieren. Wir
wollen ganz Syrien demokratisieren.“ (Duran und Baslangiç 25.8.2018) Im Sommer 2018 schlug der SDC bei einem Treffen mit der syrischen Regierung das Modell der Demokratischen Autonomie als Lösung für ganz Syrien vor – ohne Erfolg.

Inzwischen wurde der SDC in eine Organisation umgewandelt, die mittels Dialog die Einheit der syrischen Opposition herstellen soll. Dazu wird ein gesamtsyrischer Nationalkongress vorbereitet. Ein Entwurf für eine neue syrische Verfassung sieht die Einheit und Gesamtheit Syriens vor sowie ein politisches System, das den Aufbau eines dezentralisierten und demokratischen Syrien ermöglichen soll. Entsprechend Resolution 2254 des UN-Sicherheitsrates werden eine politische Lösung und ein Waffenstillstand, das Ende der Besatzung und der Abzug des ausländischen Militärs vom syrischen Gebiet
gefordert (ANF 29.3.2019).

Die Anerkennung der Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens ist eine entscheidende Voraussetzung für eine Friedenslösung für Syrien. Eine Rückkehr zum Zustand vor 2011 ist für die Selbstverwaltungsstrukturen in Rojava ausgeschlossen. Außerdem muss Afrîn an die vertriebene, mehrheitlich kurdische Bevölkerung zurückgegeben werden.

Im Juni 2019 sprach sich die nord­ost-syrische Tev-Dem (Bewegung für eine demokratische Gesellschaft) für die Wiederbelebung der Genfer Friedensgespräche unter Leitung der Vereinten Nationen und mit Beteiligung der Vertreter*innen der Selbstverwaltung Nord- und Ostsyrien aus. Außerdem wurde die Einrichtung eines internationalen Tribunals gefordert, vor das IS-Mitglieder gestellt werden sollen (Azadi/Güler 13.6.2019).

Im »Friedensgutachten 2018« der vier führenden deutschen Friedensforschungsinstitute wurde die Empfehlung an die Bundesregierung gegeben, diplomatisch und öffentlich auf einen Rückzug der türkischen Truppen aus Syrien und dem Irak hinzuwirken. Außerdem solle die Bundesregierung sich „nachdrücklich für eine politische Lösung der Fragen einsetzen, die mit den kurdischen Forderungen nach Selbstbestimmung einhergehen. Dazu sollte sie auf die Einbeziehung der PYD [als Vertretung der Selbstverwaltungsregion, Anm. Autorin] in die Verhandlungen über Syriens Zukunft
bestehen.“
Deutschland solle Waffenexporte in die Region stoppen und eine pro-aktivere Rolle für den Friedensprozess übernehmen (Bonn International Center for Conversion et al. 2018, S. 38).

In den letzten Monaten besuchten zahlreiche Regierungsvertreter*innen die Föderation Nord- und Ostsyrien, u.a. aus Norwegen, Schweden, Frankreich und Australien, und werteten die Föderation damit auf. Deutschland vermeidet weiterhin die diplomatische Kontaktaufnahme mit der Föderation und drückt sich vor der Rückführung deutscher IS-Kämpfer*innen und derer Angehörigen. Immerhin beteiligt sich die Bundesregierung an internationalen Treffen, die die Einrichtung eines internationalen Straftribunals für die Verurteilung der IS-Verbrecher*innen, die u.a. in der Föderation Nord- und Ostsyrien
inhaftiert sind, prüfen.

Auf zivilgesellschaftlicher Ebene werden bereits seit einigen Jahren Kooperationsbeziehungen mit Einrichtungen der selbstorganisierten Gesellschaft in Nordsyrien gepflegt, unter anderem im Gesundheitsbereich, als Hochschulkooperationen, als Schul- und Städtepartnerschaften oder als Partnerschaften zwischen Buchläden und Kindergärten.

Anmerkung

1) Unerfreulicher Weise hatten auch Teile der Friedensbewegung bereits die Macht des IS akzeptiert und Verhandlungen zur politischen Machtbeteiligung gefordert – das ist so falsch und gefährlich wie ähnliche Forderungen für die Beteiligung der Taliban in Afghanistan mittels Friedensverhandlungen.

Literatur

Ajansa Nûçeyan a Firatê (ANF) ist eine kurdische Nachrichtenagentur und publiziert in neun Sprachen, darunter Deutsch; anfdeutsch.com.

ANF 8.1.2019: Jineoloji-Forschungszentrum in Hesekê eröffnet.

ANF 28.3.2019: Siegesfeier der YPJ – Auch Efrîn werden wir befreien.

ANF 29.3.2019: Abschlusserklärung des 3. Syrischen Dialogforums.

ANF 3.5.2019: QSD – Indirekte Verhandlungen mit der Türkei.

ANF 21.6.2019: Den dritten Weg stärken: Nicht abwarten, aufbauen!

Azadi, M.; Güler, A.(2019): Xelîl: Es bedarf neuer Friedensgespräche für Syrien; 3.6.2019, anfdeutsch.com

Benario, A. (2019): Wir geben es nie mehr her! Kurdistan Report Nr. 203.

Bonn International Center for Conversion (BICC); Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK); ­Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (ISFH); Institut für Entwicklung und Frieden (INEF) (2018): 2018 / Kriege ohne Ende. Mehr Diplomatie – weniger Rüstungsexporte / friedensgutachten. Berlin: LIT.

Duran, R.; Baslangiç, C. (25.8.2018): Die Türkei ist ein Besatzerstaat, der aus Syrien vertrieben werden wird. Interview mit Ilham Ahmed; ­civaka-azad.org.

Krieg, R. (2019): Experiment Rojava in Syrien – Eine Gesellschaft im Aufbruch. Dokumentarfilm Phoenix; youtube.com/watch?v=O3dA1Khn4jo.

Öcalan, A. (2013): Die Roadmap für Verhandlungen. Bonn: Pahl-Rugenstein.

Öcalan, A.; Yildirim, H.; Konar, Ö.H.; Aktas, V. (2019): 7-Punkte-Erklärung. Informationsdossier von Civaka Azad, 10.6.2019; civaka-azad.org.

Tev-Dem 21.3.2019: Der IS ist besiegt, der Kampf geht weiter; anfdeutsch.com.

Dr. Mechthild Exo ist Lehrkraft für internationale Entwicklung, Transkulturalität, Diversität und Gender an der Hochschule Emden/Leer, Friedens- und Konfliktforscherin sowie Mitglied des ­Jineolojî-Forschungszentrums Brüssel.

Der vorsätzliche Bruch des Völkerrechts in Syrien

von Karin Leukefeld

Die Charta der Vereinten Nationen, die bis heute Geltung hat, beginnt so: Wir, die Völker der Vereinten Nationen – fest entschlossen, künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren, die zweimal zu unseren Lebzeiten unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat, […]“. Sie wurde am 26. Juni 1945 in San Francisco unterzeichnet und trat am 24. Oktober des gleichen Jahres in Kraft (Vereinte Nationen 1945).

In Kapitel I, Artikel 1 werden die „Ziele und Grundsätze“ bestimmt, nach denen die UN-Mitgliedsstaaten handeln sollen, um, wie in der Präambel ausgeführt, „als gute Nachbarn in Frieden miteinander zu leben“ und „um den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren“.

In Artikel 2 verpflichten sich alle Unterzeichnerstaaten auf den „Grundsatz der souveränen Gleichheit aller ihrer Mitglieder“ (Punkt 1); in Punkt 3 heißt es: „Alle Mitglieder legen ihre internationalen Streitigkeiten durch friedliche Mittel so bei, dass der Weltfriede, die internationale Sicherheit und die Gerechtigkeit nicht gefährdet werden.“ Punkt 4: „Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen
der Vereinten Nationen unvereinbare
Androhung oder Anwendung von Gewalt.“

Mit anderen Worten: Es gilt das Prinzip der Nichteinmischung in innenpolitische Angelegenheiten. Ausnahmen davon sind streng begrenzt und werden in Kapitel VII der UN-Charta geregelt. Nur wenn die »kollektive Sicherheit« bedroht ist, kann das Prinzip der Nichteinmischung ausgesetzt werden. Einen solchen Sachverhalt hat der UN-Sicherheitsrat festzustellen.

50 Länder gehörten damals den Vereinten Nationen an, unter ihnen auch Syrien, Irak, Libanon und Iran. Syrien, Irak und Libanon waren zum Ende des Zweiten Weltkrieges aus dem französischen bzw. britischen Mandat entlassen worden. Doch schon unmittelbar nach ihrer Unabhängigkeit und nach der Unterzeichnung der UN-Charta sah Syrien sich am 29. März 1949 durch einen von der US-amerikanischen Cen­tral Intelligence Agency (CIA) gesteuerten Putsch in seiner Eigenständigkeit und unabhängigen Entwicklung bedroht. Direkte und indirekte Interventionen in Syrien, Irak, Iran und Libanon halten bis
heute an.

Die Vereinigten Staaten von Amerika gehörten mit der Sowjetunion 1945 zu den treibenden Kräften für die Gründung der Vereinten Nationen. Seit der Auflösung der Sowjetunion 1991 und noch mehr seit dem 11. September 2001 haben die USA sich von den Vereinten Nationen und vom Völkerrecht immer weiter entfernt.

Der Bruch des Völkerrechts in Syrien

Alle grundlegenden Punkte der UN-Charta wurden und werden in Syrien seit 2011 von den USA und ihren Verbündeten missachtet, gebrochen und verhöhnt. Westliche Diplomaten mischten sich in die innenpolitisch motivierten Proteste im Frühjahr 2011 ein; Nachbarländer und Regionalmächte schickten Waffen, halfen bei der Gründung der »Freien Syrischen Armee« und förderten die Militarisierung. Geholfen wurde bei der Gründung von Medienzentren, mit der Ausbildung von »Bürgerjournalist*innen« und mit der Gründung eines »Syrischen Zivilschutzes«, den so genannten »Weißhelmen«. Allerdings gibt es bereits
seit 1953 einen Zivilschutz in Syrien.

Weder die Türkei noch Jordanien noch die Herkunftsländer verhinderten, dass Tausende Kämpfer illegal über die Grenze nach Syrien gelangten.

Ein Dialog mit der syrischen Regierung wurde verweigert. »Militärische Operationszentren« (englisch: MOC, Military Operation Center) in Amman und in der Türkei unterstützten die bewaffneten Gruppen mit Sold, Waffen, Ausbildung. Dem Aufstieg des »Islamischen Staat im Irak und in der Levante« (ISIS) und Al-Qaida-naher Milizen sah der Westen zu; die Regierung in Damaskus sollte gestürzt werden (junge Welt 2015). Bis heute findet die syrische Armee Waffenlager und -verstecke mit großen Mengen an Munition und Waffen aus westlichen Rüstungsschmieden (PressTV 2019).

Nicht ein Mal griff Syrien seine Nachbarstaaten, Europa oder die USA an.

Die völkerrechtswidrige Einmischung westlicher Staaten und ihrer Partner in Syrien ist vielfach belegt. Die syrische Regierung protestierte mit Hunderten Briefen an den UN-Generalsekretär und den UN-Sicherheitsrat gegen die Angriffe auf das syrische Territorium und die staatliche Souveränität. Ohne Erfolg. Auch der Protest gegen Hunderte nicht provozierte israelische Raketenangriffe auf angebliche iranische Stellungen in Syrien blieb seitens des UN-Sicherheitsrates unbeantwortet.

Die militärische Einmischung bis hin zur US-geführten »Anti-IS-Allianz« in Syrien findet ohne ein Mandat des UN-Sicherheitsrates und ohne Zustimmung der syrischen Regierung statt. Das ist ein Verstoß gegen das Völkerrecht (Neu 2018). Die Präsenz Russlands und Irans dagegen basiert auf einer Vereinbarung mit der rechtmäßigen Regierung in Damaskus, das entspricht dem Völkerrecht.

Die USA haben – völkerrechtswidrig – mehr als zwei Dutzend Militärbasen in Syrien errichtet. Dort werden US-kon­trollierte Kampfverbände ausgerüstet und ausgebildet. Eine US-Basis, Al Tanf, liegt im Dreiländereck Syrien-­Jordanien-Irak. Um die Basis Al Tanf wurde von der US-Armee eine 50 km breite »Sicherheitszone« gezogen. Syrische Soldaten, die das Territorium in Richtung des syrisch-irakisch-jordanischen Grenzgebietes durchqueren wollen, werden mit Luftangriffen und Beschuss daran gehindert. Der UN-Sicherheitsrat hat solche Angriffe nicht legitimiert.

Die anderen US-Militärbasen einschließlich Flughäfen liegen östlich des Euphrat auf dem Gebiet, das von den syrischen Kurden und den von ihnen geführten »Syrischen Demokratischen Kräften« kontrolliert wird. In diesen Gebieten liegen die syrischen Öl- und Gasvorkommen, hier wird Baumwolle angebaut, die Provinz Hasakeh gehört zu den größten Weizenanbaugebieten des Landes. Der Zugang zu den syrischen Ressourcen wird der syrischen Regierung verweigert. In der Provinz Deir Ez-Zor hat die US-geführte Koalition alle Brücken zerstört. Jeder Versuch der syrischen Armee und ihrer Verbündeten, den
Euphrat zu überqueren, wird von der US-Armee und der »Anti-IS-Allianz« militärisch verhindert. Als Begründung für Luft- und Raketenangriffe auf die syrischen Truppen verweist die US-geführte Koalition auf „Selbstverteidigung“ (South Front 2018a). Die Militärbasis Ain Issa, von der aus mindestens 200 US- und 75 französische Soldaten operieren, ist inzwischen regelmäßiger Treffpunkt westlicher Delegationen, die mit den SDF und der kurdischen Zivilverwaltung verhandeln wollen. Die Präsenz der US-Armee und ihrer Verbündeten in Syrien ist illegal. Alle, die sich daran beteiligen, nehmen
den Bruch des Völkerrechts billigend in Kauf.

Die Aufteilung Syriens

Auch wenn US-Präsident Donald Trump dafür gewählt wurde, dass er die US-Truppen aus dem Mittleren Osten abzieht, teilt er im Prinzip das, was seine Außen- und Verteidigungsminister für die Region vorgeben: Syrien soll geteilt und die Regierung in Damaskus ebenso wie ihre Verbündeten Russland und Iran militärisch und wirtschaftlich geschwächt werden.

Im Dezember 2018 kündigte Trump an, die offiziell 2.000 Soldaten aus Syrien abzuziehen. Bereits ein Jahr zuvor hatte er das ebenfalls angekündigt, war aber im US-Außenministerium und im Pentagon auf Widerstand gestoßen. Weil man dort unbedingt verhindern will, dass die syrische Armee die Kontrolle über ganz Syrien wieder herstellt, hieß es, ein »Vakuum« müsse verhindert werden, weil sich sonst der »Islamische Staat« erneut festsetzen könnte.

Die völkerrechtlich gebotene Entwicklung wäre, dass die syrische Armee die Kontrolle über das eigene Territorium nordöstlich des Euphrat nach einem US-Abzug übernimmt und bei der Bekämpfung der Terrororganisation »Islamischer Staat« unterstützt werden muss. Das ist in Washington nicht vorgesehen. Man sprach sich mit den Verbündeten in einer »Kleinen Syriengruppe« – neben den USA gehören dazu Großbritannien, Frankreich, Saudi-Arabien, Jordanien – ab.

Aus einem bekannt gewordenen Protokoll des Treffens der »Kleinen Syriengruppe« im Januar 2018 geht hervor, dass und wie Syrien aufgeteilt werden soll. Die Gebiete östlich des Euphrat sollen zu einem autonomen Gebiet »Ost-Euphrat« werden, die syrische Opposition – einschließlich der Kurden – soll politisch gestärkt werden. Sie sollten „sich flexibel zeigen […] ohne das endgültige Ziel aus den Augen zu verlieren: Syrien zu teilen und Assad zu beseitigen“, wird David Satterfield, stellvertretender Staatssekretär für den Nahen Osten im US-Außenministerium, in
dem Protokoll zitiert (Rubikon 2018). Seit April 2018 gehört auch Deutschland der »Kleinen Syriengruppe« an (dpa 2018 und Co-op News 2018). Ein Mandat des UN-Sicherheitsrates gibt es für die Gruppe nicht.

Der ursprünglich für Ende April 2019 angekündigte US-Truppenrückzug aus Syrien hat nicht stattgefunden. Prämisse bleibt, dass das Gebiet dauerhaft Damaskus und der syrischen Armee entzogen bleiben soll. Dafür braucht Washington die syrischen Kurden und muss eine militärische Präsenz ohne eigene Soldaten sichern. Drei unterschiedliche Szenarien wurden entwickelt:

  • Plan A: Mithilfe des privaten Sicherheitsunternehmens von Blackwater-Gründer Eric Prince sollte zunächst eine 30.000 Soldaten starke Armee aus Kurden, Stämmen und Söldnern aufgestellt werden. Bezahlen sollten die Golfstaaten. Elitetruppen der Vereinigten Arabischen Emirate und Saudi-Arabiens befinden sich bereits in den Gebieten östlich des Euphrat.
  • Plan B: Ein anderes Szenario sieht das Vorrücken der türkischen Armee in die Gebiete östlich des Euphrat vor, was sowohl von den Kurden als auch von den europäischen und arabischen Verbündeten der USA abgelehnt wird.1
  • Plan C: Ein neuer Vorschlag ist, dass die europäischen Partner der USA – Frankreich, Großbritannien, Deutschland, Belgien, Holland und andere – gemeinsam mit der Türkei und den Golfstaaten eine 30 km breite Pufferzone im Nordosten Syriens militärisch sichern sollen (Gebauer und Schult 2019).

Keines dieser Szenarien bewegt sich auf dem Boden des Völkerrechts. Keines dieser Szenarien wurde im UN-Sicherheitsrat auch nur diskutiert, geschweige denn vereinbart. Die USA und ihre Verbündeten nehmen das Völkerrecht in die eigenen Hände.

Syrische Kurden in der Zwickmühle

Ohne Verbündete vor Ort – die syrischen Kurden – wäre das nicht möglich. Die aber sind in einer Zwickmühle, seit sie die großzügige militärische Unterstützung der US-Armee 2014 annahmen, sie beim Kampf um Kobane/Ain Al Arab gegen den »Islamischen Staat« zu unterstützen. Heute gelten sie als die »Partner« der US-geführten »Anti-IS-Koalition«. Sie erhalten Geld, Waffen und logistische Hilfe, und die USA sorgen dafür, dass das Projekt »Rojava« umgesetzt werden kann. Die syrischen Ressourcen befinden sich unter kurdischer und US-amerikanischer Kontrolle und werden dem Rest des
Landes – das sind immerhin 70 Prozent – entzogen. Die einseitigen EU-Sanktionen, die den Wirtschaftssektor Syriens und selbst humanitäre Hilfe blockieren, treffen die syrischen Kurden nicht. Das von den USA verhängte Ölembargo gegen Syrien gilt nicht für die Gebiete östlich des Euphrat.

Auf die Frage, ob einseitige Sanktionen oder Embargos völkerrechtlich legal seien, sagte der UN-Sonderberichterstatter für die Folgen einseitig verhängter Sanktionen, Idriss Jazairy:

„Die Entscheidung des Sicherheitsrates, Sanktionen zu verhängen, wird von allen als legal, als rechtmäßig anerkannt. Sanktionen, die von einem Staat oder von einer Staatengruppe gegen ein anderes Land verhängt werden und die schwerwiegende Auswirkungen auf die Menschenrechte haben und damit die Menschenrechte der einfachen Bevölkerung verletzten, sind illegal. […] Westliche Staaten betrachten die [einseitigen] Sanktionen als vertretbar, solange sie ihren eigenen Kriterien genügen. Die Mehrheit der UN-Mitgliedsstaaten sieht das nicht so.
Sie sind der Meinung, dass alle Sanktionen, die
ohne eine Entscheidung des UN-Sicherheitsrates verhängt werden, unrechtmäßig, also illegal sind. Es ist, als nehme man das Recht in die eigenen Hände. Wir haben aber zur Friedenserhaltung in der Welt das System der Vereinten Nationen geschaffen. Ja, es hat seine Unzulänglichkeiten, aber es ist die Friedensordnung, die nach dem 2. Weltkrieg in Kraft trat. Wenn man nun einseitige Sanktionen verhängt, dann schafft man ein neues System […]. Das bringt den Frieden in Gefahr. Und zwar den
Weltfrieden, nicht nur den
regionalen Frieden.“ (RT Deutsch 2019)

Das Adana-Abkommen – eine völkerrechtlich zulässige Lösung

Einen völkerrechtlich zulässigen Weg hat derweil Russland vorgeschlagen. Als neue Ordnungsmacht in der Region hat Russland 2015 auf Wunsch von Damaskus militärisch in den Krieg eingegriffen und sich durchgesetzt. Gleichzeitig hat Russland den Dialog zwischen allen Seiten in Syrien gefördert. Das führte nach der Befreiung von Aleppo Ende 2016 zu dem von Russland, Iran und der Türkei geförderten Astana-Prozess, bei dem zwischen der syrischen Regierung und einem Teil der Kampfgruppen verhandelt wird. Auch den Dialog zwischen den syrischen Kurden und der Regierung in Damaskus hat Russland
gefördert.

Für den Fall, dass die US-Armee ihre Truppen aus den Gebieten östlich des Euphrat tatsächlich abziehen sollten, und um ein »Vakuum« zu vermeiden, hat Russland eine Lösung vorgelegt: Die syrische Armee – unterstützt von russischer Militärpolizei – soll die Sicherheit in dem Gebiet zwischen Euphrat und syrisch-türkischer Grenze gewährleisten. Dieser Vorschlag entspricht dem Völkerrecht, denn es handelt sich um syrisches Territorium. Die syrischen Kurden und Damaskus sollen sich auf eine militärische Kooperation einigen – was von den Kurden bereits zugesagt wurde. Damaskus
soll den syrischen Kurden und ihren Parteien zudem kulturelle und politische Rechte einräumen.

Ankara will allerdings nach einem US-Truppenabzug gegen die politischen und militärischen Strukturen der syrischen Kurden in Nordostsyrien militärisch vorgehen, weil es sie als »terroristische Gefahr für die nationale Sicherheit der Türkei« ansieht. Um diese »Sicherheitsbedenken« der Türkei zu zerstreuen, hat Moskau vorgeschlagen, einen Vertrag aus dem Jahr 1998, das Adana-Abkommen, wiederzubeleben (Bilgic 2019). Darin ist die syrische Armee für den Schutz der rund 800 km langen Grenze zur Türkei verantwortlich.

Ein Rückblick

Das Adana-Abkommen war damals zwischen der Türkei und Syrien geschlossen worden und richtete sich gegen die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), die heute das Rückgrat der kurdischen Volksverteidigungskräfte YPG und YPJ in Syrien bildet. Damals hatte die PKK – wie übrigens auch die Patriotische Union Kurdistans (PUK) und die Demokratische Partei Kurdistans (KDP), beide aus dem Irak – einen »sicheren Hafen« in Syrien. Sie unterhielt in der damals von Syrien kontrollierten Bekaa-Ebene (Libanon) ein Ausbildungslager und konnte, wie KDP und PUK, ungehindert durch Syrien in den Nordirak
reisen.

Im Adana-Abkommen verpflichtete sich Syrien damals, die Ausbildungslager der PKK, ihre politische Mobilisierung und Organisierung der kurdischen Bevölkerung sowie ihre wirtschaftlichen Unternehmungen in Syrien zu stoppen. Inhaftierte PKK-Mitglieder sollten an die Türkei ausgeliefert werden. Der PKK-Vorsitzende Abdullah Öcalan wurde zur Ausreise aufgefordert. Die PKK zog sich in die Qandil-Berge im irakisch-iranischen Grenzgebiet zurück.

Das Abkommen könnte nun wiederbelebt werden, um die Türkei an einem Vormarsch in den Norden Syriens zu hindern und gleichzeitig Ankara und Damaskus wieder ins Gespräch zu bringen.

Ob es dazu kommt, bleibt abzuwarten. Die Türkei hat ihre eigene Art, das Abkommen zu interpretieren; die syrischen Kurden tun sich mit dem Adana-Abkommen verständlicherweise schwer. Die USA und ihre »Kleine Syriengruppe« haben kein Interesse an einer türkisch-syrischen Vereinbarung, mit der der völkerrechtlich legitime Status – die Kontrolle Syriens über sein gesamtes Territorium – wieder hergestellt wird. Der Astana-Prozess läuft den machtpolitischen Interessen der USA entgegen; der Astana-Gruppe müsse „der Stecker rausgezogen werden“, erklärte der US-Beauftragte für
Syrien, Botschafter James Jeffrey, Anfang Dezember 2018 (U.S. Embassy in Syria 2018).

Dass es um mehr als um Syrien geht, machte der frühere US-Außenminister Rex Tillerson im Januar 2018 klar. Für die USA sei es „entscheidend“, in der Region (Syrien und Irak) präsent zu bleiben, um gegen terroristische Gruppen und die mögliche Wiederauferstehung des »Islamischen Staates« kämpfen zu können, sagte Tillerson bei einem Vortrag in der Hoover Institution an der Stanford University. Die US-Armee werde „in Syrien militärisch präsent bleiben“, um den „bösartigen Einfluss des Iran in der Region“ zurückzudrängen. Erst wenn „Assad nicht mehr an der Macht
ist,
werden die USA eine Normalisierung zwischenstaatlicher wirtschaftlicher Beziehungen mit Syrien“ unterstützen. „Das wird dauern, wir sind geduldig“, so Tillerson weiter. In der Zwischenzeit würden die USA in die Stabilisierung“ einiger Gebiete „investieren“ (Shashkevich 2018).

Noch deutlicher wurde Tillerson Mitte Februar 2018 bei einer Konferenz in Kuwait. Im Gespräch mit Journalisten sagte er: „Die USA und die [Anti-IS-] Koalitionsstreitkräfte […] kontrollieren heute 30 Prozent des syrischen Territoriums und – damit verbunden – einen großen Anteil der Bevölkerung sowie der syrischen Ölquellen.“ Das reiche, um auf den politischen Prozess, der in Genf fortgesetzt werden solle, Einfluss zu nehmen (South Front 2018b und Leukefeld 2018).

Je länger die einseitige Entwicklung östlich des Euphrat von den USA und der »Kleinen Syriengruppe« gefördert und die Entwicklung im Rest Syriens mit illegalen einseitigen Sanktionen blockiert wird, desto mehr wird die gesellschaftliche Spaltung des Landes vorangetrieben. Das US-Außenministerium hat rund 2.000 Expert*innen entsandt, um den zivilen Aufbau östlich des Euphrat voranzutreiben. Bezahlt wird von Saudi Arabien, das jüngst eine Ministerdelegation in das Gebiet schickte (AMN 2019 und Syriahr 2019). Die Bundesregierung beteiligt sich mit so genannter Stabilisierungshilfe, die von
privaten und UN-Hilfsorganisationen in dem Gebiet umgesetzt wird. Einen Auftrag des UN-Sicherheitsrates dafür gibt es nicht, das Vorgehen folgt deutschen und westlichen Interessen. Nach dem Prinzip »Teile und herrsche« baut der Westen nördlich und östlich des Euphrat in Syrien einen Vasallenstaat.

Anmerkung

1) Siehe dazu die Graphik »Turkey’s Planned Safe Area« auf pbs.twimg.com/media/DUOkbb6XUAIHmZp.jpg.

Literatur

AMN (2019): Saudi officials visit eastern Syria to meet with US, SDF delegations. Nachrichtenservic Al-Masdar Al-‘Arab (AMN); 15.6.2019; almasdarnews.com/.

Bilgic, T. (2019): Erdogan Faces Syria Choice as Putin Revives 21-Year-Old Treaty. 25.1.2019; bloomberg. com.

Co-op News (2018): Kleine Syriengruppe – Deutschland mit dabei / DerHintergrund. 0hne Datum; cooptv.wordpress.com.

dpa (2018): Neue diplomatische Initiative – Deutschland in Syrien-Kerngruppe. ZDF Nachrichten, 25.4.2018; zdf.de.

Gebauer, M.; Schult, C. (2019): Deutsche »Tornados« sollen Schutzzone in Nordsyrien absichern. SPIEGEL ONLINE, 30.5.2019; spiegel.de.

junge Welt (2015): Bericht der US Defense Intelligence Agency (DIA) aus dem Jahr 2012, in Auszügen abgedruckt am 30.5.2015; ag-friedensforschung.de/regionen/Syrien1/salafisten.html.

Leukefeld, K. (2018): Kampf um die Levante – Eskaliert der Krieg in Syrien? 17.2.2018; ­rubikon.news.

Neu, A. (2018): Anti-IS-Koalition bewegt sich völkerrechtlich auf extrem dünnem Eis. Pressemitteilung von Alexander S. Neu, Die Linke im Bundestag, 10. Juli 2018; linksfraktion.de.

PressTV (2019): Video – Militant weapons cache with Israeli, US-made munitions uncovered in Syria’s Quneitra; 23.4.2019; presstv.com.

RT Deutsch (2019): UN-Botschafter zu ­Syrien – Sanktionen des Westens sind Teil der Kriegsführung; 12.6.2019; youtube.com/watch?v=MfRbFt3KZ2E. Das ganze Interview von Karin Leukefeld mit Botschafter Idriss Jazairy steht unter dem Titel »Eine Stimme für die Menschen, die nicht gehört werden« auf nachdenkseiten.de (15.6.2019).

Rubikon (2018): „Lasst uns Syrien aufteilen!“ Ein diplomatisches Dokument entlarvt den US-Plan für Syrien. Exklusivabdruck aus der libanesischen Tageszeitung Al Akhbar. 3.3.2018; rubikon.news.

Shashkevich, A. (2018): U.S. wants peace, stability in Syria, Secretary of State Rex Tillerson says in policy speech at Stanford. 18.1.2018; news.stanford.edu.

South Front (2018a): Syrian War Report – US-led Coalition Struck Syrian Army In Deir Ezzor. 8.2.2018; southfront.org.

South Front (2018b): US State Secretary – Control Over Oil Fields Allows Washington To Influence Situation In Syria. 14.2.2018; southfront.org.

Syriahr (2019: About 24 hours after the Ain Issa meeting, a Saudi-American delegation meets SDF leaders, Sheikhs, and tribe elders in al-Omar oilfield. Syrian Observatory for Human Rights, 14.6.2019; syriahr.com.

U.S. Embassy in Syria (2018): Briefing With Special Representative for Syria Engagement Amb[assador] Jeffrey. 3.12.2018; sy.usembassy.gov.

Vereinte Nationen (1945): Charta der Vereinten Nationen, 26.6.1945; unric.org/de/charta.

Karin Leukefeld arbeitet als freie Korrespondentin im Mittleren Osten für Printmedien, Rundfunk, Fernsehen. Seit 2010 ist sie in Syrien akkreditiert.

Drohneneinsätze der USA im Jemen


Drohneneinsätze der USA im Jemen

OVG NRW zur Nutzung von Ramstein für Drohneneinsätze

von Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen

„In einem teilweise stattgebenden Urteil vom 19. März 2019 hat das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen die Bundesrepublik Deutschland dazu verurteilt, sich durch geeignete Maßnahmen zu vergewissern, ob eine Nutzung der Air Base Ramstein durch die Vereinigten Staaten von Amerika für Einsätze von bewaffneten Drohnen im Jemen im Einklang mit dem Völkerrecht stattfindet. Erforderlichenfalls müsse die Bundesrepublik gegenüber den Vereinigten Staaten von Amerika auf Einhaltung des Völkerrechts hinwirken. Soweit die Kläger verlangt haben, die Nutzung der Air Base Ramstein für bewaffnete Drohneneinsätze zu unterbinden, hat das Gericht die Klage abgewiesen.“
So erläuterte die Pressestelle des OVG NRW ein Urteil, das nach der Einschätzung von Bettina Gaus „die Nato sprengen könnte“ (taz 23.3.2019). Aufgrund seiner grundsätzlichen Bedeutung für die Nutzung der US-Airbase Ramstein für den Drohnenkrieg dokumentiert W&F den Wortlaut der mündlichen Urteilsbegründung (Aktenzeichen 4 A 1361/15; ovg.nrw.de).

Die Kläger machen geltend, bei einem Drohnenangriff im Jahr 2012 in der Provinz Hadramaut nahe Angehörige verloren zu haben. Sie bezweifeln die Rechtmäßigkeit dieses Angriffs, der nach ihrem Kenntnisstand bisher nicht von unabhängigen Stellen untersucht worden ist. Eine gegen die Vereinigten Staaten von Amerika gerichtete Klage wurde im Februar 2016 von einem Gericht in Columbia abgewiesen. Von dem US-Gericht wurde keine Prüfung der Rechtmäßigkeit des Angriffs vorgenommen, weil dies als politische Frage betrachtet worden war. Wegen der wesentlichen Bedeutung der in Deutschland gelegenen Air Base Ramstein für fortdauernde amerikanische Drohneneinsätze auch im Jemen haben die Kläger, die um ihre eigene Sicherheit besorgt sind, die Bundesrepublik Deutschland darauf verklagt, eine Nutzung der Air Base für derartige Einsätze durch geeignete Maßnahmen zu unterbinden. Anders als Anwohner der Air Base, die in der Vergangenheit vergeblich gegen ihre Nutzung für Drohneneinsätze geklagt haben, bewohnen die Kläger ein Gebiet, in dem seit Jahren Menschen durch bewaffnete US-Drohnen gezielt getötet werden. Dabei ist es regelmäßig auch zu zivilen Opfern gekommen, deren Zahlen zwischen offiziellen Stellungnahmen und der Medienberichterstattung erheblich variieren.

Die Beklagte führt im Jemen selbst keine militärischen Drohnenangriffe durch, die auch die dortige Zivilbevölkerung gefährden. Sie nimmt an amerikanischen Drohnenangriffen auch nicht aktiv teil und hat sie insbesondere nicht gestattet. Sie verletzt schon deshalb nicht durch eigenes Handeln das auch den Klägern als Ausländern zustehende Recht auf Leben.

Jenseits grundrechtlicher Abwehransprüche ist vom Bundesverfassungsrecht anerkannt, dass das Grundrecht auf Leben eine umfassende staatliche Schutzpflicht auslöst, sich schützend und fördernd vor das Leben zu stellen, das heißt vor allem, es auch vor rechtswidrigen Eingriffen von Seiten anderer zu bewahren. Das gilt nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch im Hinblick auf Beeinträchtigungen grundrechtlicher Schutzgüter durch andere Staaten. Die Schutzverpflichtung des Staates muss umso ernster genommen werden, je höher der Rang des in Frage stehenden Rechtsgutes innerhalb der Wertordnung des Grundgesetzes anzusetzen ist. Das menschliche Leben stellt innerhalb der grundgesetzlichen Ordnung einen Höchstwert dar; es ist die vitale Basis der Menschenwürde und die Voraussetzung aller anderen Grundrechte.

Das Bundesverfassungsgericht hat für Auslandssachverhalte bereits entschieden, dass es in der vom Grundgesetz verfassten staatlichen Ordnung geboten sein kann, Völkerrechtsverstöße als subjektive Rechtsverletzungen geltend machen zu können, unabhängig davon, ob Ansprüche von Einzelpersonen schon kraft Völkerrechts bestehen. Das gilt jedenfalls dann, wenn völkerrechtliche Regelungen ? wie hier ? einen engen Bezug zu individuellen hochrangigen Rechtsgütern aufweisen. Aufgrund ihrer [sich] aus der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes ergebenden Pflicht, das Völkerrecht zu respektieren, können deutsche Staatsorgane verpflichtet sein, das Völkerrecht im eigenen Verantwortungsbereich durchzusetzen, wenn andere Staaten es verletzen. Deutsche Behörden und Gerichte sind verpflichtet, alles zu unterlassen, was einer unter Verstoß gegen allgemeinen Regeln des Völkerrechts vorgenommenen Handlung nichtdeutscher Hoheitsträger im Geltungsbereich des Grundgesetzes Wirksamkeit verschafft. Diese nach außen gerichtete Pflicht kann allerdings in ein Spannungsverhältnis zu der gleichfalls verfassungsrechtlich gewollten internationalen Zusammenarbeit zwischen den Staaten und anderen Völkerrechtssubjekten geraten, insbesondere wenn eine Rechtsverletzung nur auf dem Kooperationswege beendet werden kann. Dann kann sich diese Ausprägung der Respektierungspflicht nur im Zusammenspiel und Ausgleich mit den weiteren internationalen Verpflichtungen Deutschlands konkretisieren.

Ausgehend von diesen Maßstäben hat der Senat die Überzeugung gewonnen, dass eine Schutzpflicht der beklagten Bundesrepublik Deutschland bezogen auf Leib und Leben der Kläger besteht, der ein bisher nicht ausreichend erfüllter Anspruch der Kläger gegenübersteht. Dieser Anspruch hat allerdings nicht den Inhalt, dass Deutschland darauf hinwirken muss, die Nutzung der Air Base Ramstein für Drohneneinsätze zu unterbinden. Insoweit hat der Senat die Klage abgewiesen.

Die Kläger können von der Beklagten lediglich verlangen, dass sie sich auf der Grundlage der rechtlichen Prüfung durch den Senat vergewissert, ob die generelle Praxis der amerikanischen Drohneneinsätze in der Heimatregion der Kläger im Jemen, soweit dabei Einrichtungen in Deutschland genutzt werden, mit dem geltenden Völkerrecht in Einklang steht. Erforderlichenfalls hat die Beklagte durch ihr geeignet erscheinende Maßnahmen auf die Einhaltung des Völkerrechts hinzuwirken.

Im Einzelnen:

Die Schutzpflicht des Staates aus Art. 2 Abs. 2 GG besteht bei Gefahren für das Grundrecht auf Leben auch bei Auslandssachverhalten, sofern ein hinreichend enger Bezug zum deutschen Staat besteht. Hier besteht ein solcher Bezug, der eine aus dem Grundrecht auf Leben folgende Schutzpflicht der Beklagten gegenüber den Klägern auslöst, weil sie berechtigterweise Leib- und Lebensgefahren durch völkerrechtswidrige US-Drohneneinsätze unter Nutzung von Einrichtungen auf der Air Base Ramstein befürchten. Das Recht auf Leben ist umfassend und schützt auch vor relevanten hinreichend konkreten rechtswidrigen Gefährdungen für Leib und Leben.

Es bestehen gewichtige, der Beklagten bekannte oder jedenfalls offenkundige tatsächliche Anhaltspunkte dafür, dass die USA unter Verwendung technischer Einrichtungen auf der Air Base Ramstein und dort stationierten eigenen Personals bewaffnete Drohneneinsätze in der Heimatregion der Kläger im Jemen durchführen, die zumindest teilweise gegen Völkerrecht verstoßen, wodurch die Kläger rechtswidrig in ihrem Recht auf Leben gefährdet werden.

Nach offiziellen Verlautbarungen der US-Regierung, des US-Kongresses sowie des US-Militärs führen die USA seit Jahren bis in die jüngste Vergangenheit im Jemen Militäroperationen zur Terrorismusbekämpfung durch. Dabei handle es sich insbesondere um Luftangriffe (»airstrikes«). Die Angriffe richten sich gegen Operationen, Einrichtungen und Führungsmitglieder (»senior leaders«) von mit al-Qaida verbundenen Organisationen. Im Jemen sind das al-Qaida auf der arabischen Halbinsel »AQAP« und der dortige regionale Ableger des IS.

Von regelmäßigen amerikanischen Luft- und Drohnenangriffen im Jemen berichten auch die UN-Sonderberichterstatter und UN-Expertenkommissionen für den Jemen.

Zur Überzeugung des Senats steht fest, dass die USA Drohneneinsätze (auch) im Jemen unter Verwendung technischer Einrichtungen auf der Air Base Ramstein und dort stationierten eigenen Personals durchführen. Insbesondere spricht derzeit alles dafür, dass der Datenstrom zur Fernsteuerung der Drohnen in Echtzeit aus den USA über eine Satelliten-Relaisstation in Ramstein geleitet wird, die als notwendiges Bindeglied zwischen den Piloten in den USA und den Drohnen im Einsatzgebiet für die Einsätze von zentraler Bedeutung ist. Dies entspricht den Feststellungen der Mehrheit des 1. Untersuchungsausschusses der 18. Wahlperiode des Deutschen Bundestages. Dieser hat nach umfassender Beweiserhebung in seinem Abschlussbericht auf BT-Drs. 18/12850, Seite 1354, festgestellt:

Im Ergebnis kann nach der Beweisaufnahme durch den Ausschuss als gesichert gelten, dass die US-Luftwaffenbasis Ramstein mit der dortigen Relaisstation, die der Weiterleitung von Daten und Steuerungssignalen für US-Drohnen aber auch von durch US-Drohnen gewonnene Daten dient, eine wesentliche Rolle für den Einsatz von US-Drohnen spielt – unabhängig davon, ob diese bewaffnet oder unbewaffnet, etwa zu Aufklärungszwecken, operieren und ebenfalls unabhängig davon, ob es bei bewaffneten Drohnen tatsächlich im Einzelfall auch zum Waffeneinsatz kommt.

Diese Feststellungen werden untermauert durch dem Gericht vorliegende offizielle amerikanische Dokumente aus den Jahren 2010 und 2011, in denen die herausragende Bedeutung der seinerzeit noch geplanten Relaisstation auf der Air Base in Ramstein für den US-Einsatz bewaffneter Drohnen in Übersee jeweils besonders hervorgehoben worden ist. Über den seinerzeit noch geplanten Bau einer Satelliten-Relaisstation in Ramstein zur Steuerung auch bewaffneter Drohnen im Ausland wurde die Beklagte von der US-Seite bereits im April 2010 und sodann noch einmal im November 2011 informiert.

Im Jahr 2016 haben amerikanische Regierungsstellen der Beklagten mitgeteilt, die globalen Kommunikationswege der USA zur Unterstützung unbemannter Luftfahrzeuge schlössen Fernmeldepräsenzpunkte auch in Deutschland ein, von denen aus die Signale weitergeleitet würden. Einsätze unbemannter Luftfahrzeuge würden von verschiedenen Standorten aus geflogen, unter Nutzung diverser Fernmelderelaisschaltungen, von denen einige auch in Ramstein laufen würden. Außerdem teilten US-Vertreter mit, dass im Jahr 2015 in Ramstein eine Vorrichtung zur Verbesserung der bereits zuvor vorhandenen Fernmeldeausstattung fertiggestellt worden sei. Schließlich hat die US-Seite die Bundesregierung darüber informiert, dass Ramstein eine Reihe weiterer Aufgaben unterstütze, darunter die Planung, Überwachung und Auswertung von zugewiesenen Luftoperationen.

In Reaktion auf diese neuen Informationen hat das Auswärtige Amt im September 2016 hochrangige Gespräche in Washington geführt. Hierüber hat die Bundesregierung den Deutschen Bundestag unterrichtet und erklärt, sie werde dazu auch weiterhin mit der amerikanischen Seite in Kontakt bleiben (BT-Plenarprotokoll 18/205, S. 20452 f.). Auf mehrere parlamentarische Anfragen hat die Bundesregierung erklärt, aufgrund langjähriger und vertrauensvoller Zusammenarbeit mit den USA gebe es für die Bundesregierung keinen Anlass zu Zweifeln an der Zusicherung der USA, dass Aktivitäten in US-Militärliegenschaften in Deutschland im Einklang mit dem geltenden Recht erfolgten. Die USA haben sich hierzu in den Stationierungsverträgen selbst gegenüber Deutschland verpflichtet.

Alle beteiligten Staaten, die USA, Deutschland und der Jemen gehen selbstverständlich davon aus, dass militärische Waffengewalt nur im Rahmen des geltenden Völkerrechts zulässig ist. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat in zahlreichen Resolutionen im Zusammenhang mit der Bekämpfung des internationalen Terrorismus, auch im Jemen, immer wieder hervorgehoben und mehrfach mit Nachdruck an alle Konfliktparteien bewaffneter Konflikt appelliert, dass sie ihren Verpflichtungen nach dem Völkerrecht, einschließlich des anwendbaren humanitären Völkerrechts und der anwendbaren internationalen Menschenrechtsnormen, nachkommen müssen (jüngst für den Jemen z.B. Resolution Nr. 2402 des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen vom 26.2.2018).

Völkerrecht ist nach dem deutschen Grundgesetz auch in Deutschland geltendes Recht und bindet Behörden sowie Gerichte nach Art. 20 Abs. 3 GG. Es muss auch von Stationierungsstreitkräften bei der Nutzung deutscher Liegenschaften eingehalten werden. Darüber besteht kein Streit. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts steht der Bundesregierung in Bezug auf die rein völkerrechtliche Bewertung mit Rücksicht auf das Gebot effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG grundsätzlich kein politischer Beurteilungsspielraum zu, der gerichtlicher Kontrolle nicht zugänglich ist.

Die Frage, ob und ggf. in welchen Grenzen Völkerrecht bewaffnete Drohneneinsätze im Jemen zulässt, ist deshalb keine politische Frage, sondern eine Rechtsfrage. Sie ist in diesem Verfahren streitgegenständlich, weil amerikanische bewaffnete Drohnen unter Verwendung technisch ganz zentraler Einrichtungen, die sich auf deutschem Boden befinden, eingesetzt werden. Ob sich Deutschland im Zusammenhang mit amerikanischen Drohneneinsätzen schützend und fördernd vor das Leben der Zivilbevölkerung in den Einsatzgebieten im Jemen stellen muss, hängt rechtlich davon ab, ob das Völkerrecht bei diesen Einsätzen gewahrt wird. Der Prüfung des völkerrechtlichen Rahmens für Einsätze, die die USA unter maßgeblicher Nutzung deutscher Liegenschaften in Deutschland durchführt, bedarf es also rechtlich notwendig, um die deutsche (Mit-) Verantwortlichkeit in diesem Zusammenhang beurteilen zu können.

Mithin ist der Senat nach deutschem Verfassungsrecht verpflichtet, die Vereinbarkeit amerikanischer Drohneneinsätze in der Heimatregion der Kläger im Jemen mit geltendem Völkerrecht zu prüfen. Mit dieser ihm innerstaatlich durch das Grundgesetz aufgegebenen rein rechtlichen Prüfung trägt er im Rahmen seiner Zuständigkeit auch im internationalen Zusammenhang das Seine zur Einhaltung des Völkerrechts bei der Terrorismusbekämpfung bei, soweit Deutschland daran maßgeblich mitwirkt.

Die Bekämpfung des internationalen Terrorismus, auch im Jemen, geschieht mit ausdrücklicher Billigung des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen, der festgestellt hat, dass die Situation im Jemen eine Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit darstellt, auch deshalb, weil bestimmte Gebiete im Jemen mit verheerenden humanitären Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung unter Kontrolle von Al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel stehen (Resolution 2402 vom 26.2.2018).

Grundsätzlich hat die Generalversammlung der Vereinten Nationen im Rahmen ihrer von zahlreichen Staaten, zu denen Deutschland und die USA gehören, eingebrachten Resolution 60/158 zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten bei der Bekämpfung des Terrorismus vom 16.12.2005, die nach Abschnitt IV. Nr. 1 der weltweiten Strategie der Vereinten Nationen zur Bekämpfung des Terrorismus vom 8.9.2006 (Resolution 60/288 der Generalversammlung) den grundlegender Rahmen für den Menschenrechtsschutz bei der Terrorismusbekämpfung vorgibt, unter anderem folgendes bekräftigt:

Erstens, dass jede Form des Terrorismus als kriminell und nicht zu rechtfertigen unmissverständlich zu verurteilen ist und die Staatengemeinschaft entschlossen ist, die internationale Zusammenarbeit zur Bekämpfung des Terrorismus zu stärken, und

zweitens, dass die UN-Mitgliedstaaten sicherstellen müssen, dass jede Maßnahme, die sie zur Bekämpfung des Terrorismus ergreifen, mit ihren Verpflichtungen nach dem Völkerrecht, insbesondere den internationalen Menschenrechtsnormen, dem Flüchtlingsvölkerrecht und dem humanitären Völkerrecht, im Einklang steht.

Zugleich hat die Generalversammlung in dieser Resolution zutiefst missbilligt, dass es im Kontext des Kampfes gegen den Terrorismus zu Verletzungen der Menschenrechte sowie zu Verstößen gegen das Flüchtlingsvölkerrecht und das humanitäre Völkerrecht kommt.

Da die Vereinbarkeit amerikanischer Drohneneinsätze im Rahmen der Terrorismusbekämpfung mit dem auch völkerrechtlich gewährleisteten Recht auf Leben umstritten ist, versetzt eine Prüfung der sich hierbei stellenden rechtlichen Zweifelsfragen durch ein unabhängiges Gericht in einem rechtsstaatlichen Verfahren die zuständigen deutschen Stellen in die Lage, im Rahmen der guten internationalen Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten aufgekommene völkerrechtliche Zweifel auszuräumen.

Die sehr aufwändige Prüfung hat ergeben, dass die bisherige Annahme der Bundesregierung, es bestünden keine Anhaltspunkte für Verstöße der USA bei ihren Aktivitäten in Deutschland gegen deutsches Recht oder Völkerrecht, auf einer unzureichenden Tatsachenermittlung beruht und rechtlich letztlich nicht tragfähig ist.

Es bestehen gewichtige Anhaltspunkte dafür, dass jedenfalls ein Teil der bewaffneten Drohneneinsätze der USA in der Heimatregion der Kläger im Jemen mit Völkerrecht nicht in Einklang steht und die Kläger durch diese rechtswidrig in ihrem Recht auf Leben gefährdet werden. Angesichts dieses Risikos ist die Beklagte zu Unrecht davon ausgegangen, zu weiteren Bemühungen über die bestehenden Kontakte mit der US-Regierung hinaus, über deren Inhalt die Bundesregierung Stillschweigen wahrt, gegenüber den Klägern nicht verpflichtet zu sein. In seiner Entscheidung berücksichtigt und wahrt der Senat den weiten Spielraum, der der Bundesregierung im Zusammenhang mit staatlichen Schutzpflichten zukommt, zumal im außenpolitischen Bereich. Bei der Erfüllung der Schutzpflicht obliegt es der Bundesregierung, im internationalen Verkehr mit dem Bündnispartner, den Vereinigten Staaten von Amerika, der ebenfalls dem Völkerrecht und den internationalen Menschenrechten sowie dem humanitären Völkerrecht verpflichtet ist, in einer Weise vorzugehen, die die Bündnisfähigkeit Deutschlands nicht gefährdet.

Im Rahmen seiner völkerrechtlichen Prüfung stützt sich der Senat auf die UN-Charta sowie internationale Verträge zum humanitären Völkerrecht und zum internationalen Menschenrechtsschutz in der Auslegung durch internationale Gerichte. Des Weiteren konnte er bezogen auf sich stellende Zweifelsfragen im Zusammenhang mit der Auslegung internationaler Verträge unter Berücksichtigung des allgemein anerkannten Völkergewohnheitsrechts auf umfangreiche Vorarbeiten von internationalen Organisationen, namentlich unter dem Dach der Vereinten Nationen sowie des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz, zurückgreifen, in die internationaler Sachverstand eingeflossen ist, sowie auf tatsächliche Feststellungen von Sonderberichterstattern der Vereinten Nationen sowie internationalen Expertenkommissionen. An der sich hieraus ergebenden Rechtsprüfung hat der Senat die Völkerrechtskonformität der Einsätze bewaffneter Drohnen in der Heimatregion der Kläger im Jemen anhand offizieller Äußerungen der US-Administration sowie verlässlichen weiteren Erkenntnissen, insbesondere solchen, die von den Vereinten Nationen veranlasste Untersuchungen ergeben haben, überprüft. Er hatte dabei auch völkerrechtliche Abgrenzungsfragen zu beurteilen, die notwendig beurteilt werden müssen, bei denen aber Streit über die zutreffenden Abgrenzungskriterien besteht.

Diese Überprüfung hat Folgendes ergeben:

Der Einsatz bewaffneter amerikanischer Drohnen im Jemen ist derzeit nicht generell unzulässig. Bewaffnete Drohnen sind keine völkerrechtlich verbotenen Waffen. Der Waffeneinsatz der US-Streitkräfte gegen al-Qaida auf der arabischen Halbinsel im Jemen verstößt, ungeachtet dessen, ob sich die Kläger hierauf berufen können, auch nicht gegen das staatengerichtete Gewaltverbot in internationalen Beziehungen, weil er mit Zustimmung der rechtmäßigen jemenitischen Regierung erfolgt.

Selbst wenn bewaffnete Drohneneinsätze grundsätzlich zulässig sind, dürfen sie nicht gegen die Vorgaben des humanitären Völkerrechts und des internationalen Menschenrechtsschutzes verstoßen.

Das humanitäre Völkerrecht gilt nur in bewaffneten Konflikten und gestattet in diesem Zusammenhang die in Friedenszeiten prinzipiell unzulässige gezielte Ausübung auch tödlicher Gewalt, setzt dieser aber zugleich auch Grenzen. Insoweit dient es der Mäßigung der Gewaltausübung und dem Schutz von Leib und Leben von Zivilisten im bewaffneten Konflikt, also dem Schutz hochrangiger individueller Schutzgüter geschützter Personen. Damit ist das humanitäre Völkerrecht im Rahmen der hier zu beurteilenden staatlichen Schutzpflicht relevant.

Nicht als bewaffnete Konflikte gelten bloße innere Unruhen und Spannungen wie Tumulte, vereinzelt auftretende Gewalttaten und andere ähnliche Handlungen. Nach einer weithin anerkannten Definition des UN-Tribunals für das ehemalige Jugoslawien (International Criminal Tribunal for the former Yugoslavia – ICTY) liegt ein bewaffneter Konflikt auch bei „lang anhaltender bewaffneter Gewalt zwischen Regierungsstellen und bewaffneten Organisationen“ innerhalb eines Staates vor. Nach den unter dem Dach der Vereinten Nationen gewonnenen Feststellungen spricht alles dafür, dass al-Qaida auf der arabischen Halbinsel einen hinreichenden Organisationsgrad aufweist, um Partei eines nicht internationalen bewaffneten Konflikts zu sein, zumal die Gruppe in den vergangenen Jahren mehrfach Teile des Landes unter ihre Kontrolle gebracht hat. Auch waren die bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen al-Qaida auf der arabischen Halbinsel auf der einen Seite und der jemenitischen Regierung, die insoweit um internationale Unterstützung gebeten hat und unter anderem von den USA unterstützt wird, auf der anderen Seite jedenfalls bis in die jüngste Vergangenheit so intensiv, dass ein nicht internationaler bewaffneter Konflikt – auch nach Auffassung des Sicherheitsrats – gegeben ist, der zumindest derzeit noch nicht beendet ist. Allerdings ist al-Qaida auf der arabischen Halbinsel nach dem jüngsten Bericht internationaler Sachverständiger im vergangenen Jahr so erheblich geschwächt worden, dass sich in absehbarer Zeit die Frage stellen könnte, ob die Gruppe nicht mehr Partei eines mit militärischen Mitteln ausgetragenen bewaffneten Konflikts sein kann. Ähnliches gilt für den jemenitischen Ableger des IS.

Nach einer elementaren Regel des humanitären Völkerrechts dürfen weder die Zivilbevölkerung als solche, zivile Objekte noch einzelne Zivilpersonen, sofern und solange sie nicht unmittelbar an Feindseligkeiten teilnehmen, angegriffen werden. In Bezug auf geschützte Zivilpersonen sind auch im nicht internationalen bewaffneten Konflikt nach Art. 3 des IV. Genfer Abkommens vom 12.8.1949 (BGBl. 1954 II S. 917) Angriffe auf das Leben und die Person, namentlich die Tötung jeder Art, jederzeit und überall verboten. Aus dem Unterscheidungsgebot und dem Verbot des Angriffs auf nicht unmittelbar an Feindseligkeiten beteiligte Zivilpersonen folgt, dass stets eine in der konkreten Situation mögliche sorgfältige Prüfung stattfinden muss, ob es sich um eine geschützte Zivilperson handelt. Zum Schutz der Zivilbevölkerung sind nach Völkergewohnheitsrecht auch im nicht internationalen Konflikt Angriffe verboten, bei denen damit zu rechnen ist, dass sie auch Verluste an Menschenleben unter der Zivilbevölkerung verursachen, die in keinem Verhältnis zum erwarteten konkreten und unmittelbaren militärischen Vorteil stehen.

Angriffe dürfen sich grundsätzlich nur gegen Kämpfer der am Konflikt beteiligten bewaffneten Gruppe richten sowie gegen andere Personen, die unmittelbar an den Feindseligkeiten teilnehmen. Da die Kämpfer einer nichtstaatlichen Konfliktpartei anders als Soldaten staatlicher Streitkräfte äußerlich nicht zwingend durch Uniformen oder Hoheitszeichen erkennbar sind und typischerweise nicht durch formalen Akt, sondern aufgrund tatsächlichen Anschlusses zu Mitgliedern der Konfliktpartei werden, muss eine Unterscheidung zwischen ihnen und Zivilisten anhand tatsächlich-funktionaler Gesichtspunkte erfolgen. Dementsprechend ist eine Person als Angehörige einer solchen Gruppe anzusehen, wenn ihre fortgesetzte bzw. dauerhafte Funktion in der unmittelbaren Teilnahme an Feindseligkeiten besteht (»continuous combat function«).

Dieses vom Internationalen Komitee vom Roten Kreuz entwickelte Verständnis ist bereits in der funktionalen, auf eine Zweckbestimmung zur Austragung bewaffneter Feindseligkeiten bezogenen Bezeichnung nicht-staatlicher Konfliktparteien als »Streitkräfte« (gemeinsamer Art. 3 Nr. 1 der Genfer Abkommen, englische Fassung: »armed forces«) und »organisierte bewaffnete Gruppen« (Art. 1 Abs. 1 ZP II, englische Fassung: »organized armed groups«) angelegt. Die durch das funktionale Kriterium der fortgesetzten Kampffunktion bewirkte restriktive Bestimmung des Personenkreises, dessen Angehörige jeweils nicht den Schutzstatus einer Zivilperson genießen, entspricht zudem der auf einen wirksamen Schutz der Zivilbevölkerung zielenden Ausrichtung des humanitären Völkerrechts. Bei der Frage, ob eine Tätigkeit oder Funktion in der unmittelbaren Teilnahme an Feindseligkeiten besteht, bedarf es letztlich einer fallbezogenen Bewertung, die einerseits dem Schutz der Zivilbevölkerung, andererseits militärischen Notwendigkeiten Rechnung tragen muss. Angehörige organisierter bewaffneter Gruppen dürfen auch dann gezielt bekämpft werden, wenn sie aktuell gerade nicht unmittelbar an Feindseligkeiten teilnehmen.

Nach Auswertung aller für den Senat verfügbaren öffentlichen Erklärungen der US-Administration deuten diese klar darauf hin, dass die USA ihren Kampf gegen al-Qaida, die Taliban oder assoziierte Kräfte, zu denen al-Qaida auf der arabischen Halbinsel und der jemenitische Ableger des IS gezählt werden, als einheitlichen, potenziell weltweiten bewaffneten Konflikt verstehen. Sie differenzieren dabei nicht erkennbar zwischen verschiedenen räumlich begrenzten bewaffneten Konflikten unter Beteiligung organisatorisch unabhängiger regionaler Terrorgruppen. Ein so weit verstandener Begriff des bewaffneten Konflikts steht nicht im Einklang mit dem Begriffsverständnis des humanitären Völkerrechts, weil er nicht zur Begrenzung militärischer Gewalt beiträgt, sondern praktisch grenzenlos und potenziell global ist. Dieses weite Verständnis haben die Vereinigten Staaten von Amerika bis zuletzt nicht offiziell aufgegeben, auch wenn sie tatsächlich ihre militärischen Einsätze auf regionale bewaffnete Konflikte konzentrieren.

Ferner haben die USA in der Vergangenheit bei der Terrorismusbekämpfung mehrfach ein Recht auf präventive Selbstverteidigung auch in Situationen für sich beansprucht, in denen noch keine unmittelbare Gefahr besteht, sondern „über Zeit und Ort des feindlichen Angriffs Ungewissheit herrscht“. Diese Auffassung ist bis heute regelmäßig auf Widerspruch gestoßen und ist deshalb völkergewohnheitsrechtlich nicht anerkannt.

Das sehr weite Verständnis der USA von der Reichweite bewaffneter Konflikte sowie die offiziell vertretene Annahme, Angriffe seien selbst außerhalb bewaffneter Konflikte präventiv schon zulässig, wenn ein potentieller Gegner noch keinen konkreten Angriff plant, wecken Zweifel, ob die generelle Einsatzpraxis für Angriffe auch im Jemen dem Unterscheidungsgebot des humanitären Völkerrechts genügt. Indem die mit al-Qaida »assoziierten« Kräfte umfassend als Beteiligte an einem weltweiten bewaffneten Konflikt angesehen werden, selbst wenn Zeit und Ort eines möglichen Angriffs noch ungewiss sind, bleibt unklar, ob sich direkte bewaffnete Angriffe im Jemen auf solche Personen beschränken, die innerhalb der örtlichen Gruppierung al-Qaida auf der arabischen Halbinsel eine fortgesetzte Kampffunktion einnehmen, also insbesondere als Mitglieder seines militärischen Zweigs, sowie auf sonstige Personen, die unmittelbar an den Feindseligkeiten teilnehmen. Der Senat hat keine Anzeichen dafür feststellen können, dass diese völkerrechtlich zum Schutz der Zivilbevölkerung zwingend notwendige Differenzierung in ausreichendem Maße erfolgt. Verlässliche Informationen über Drohnenangriffe im Jemen, einschließlich solcher von offiziellen amerikanischen Stellen, deuten vielmehr darauf hin, dass die völkerrechtlich erforderliche Unterscheidung nicht nur im Einzelfall nicht genügend vorgenommen wird. Insbesondere sind am bewaffneten Kampf nicht unmittelbar beteiligte zivile Unterstützer der Gruppe und frühere Kämpfer, die sich von ihr endgültig abgewandt haben, keine legitimen militärischen Ziele, selbst wenn sie dem Sanktionsregime des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen unterworfen sind und strafrechtlich auch für ihre nicht militärischen Unterstützungsleistungen verantwortlich zu machen sind.

Darüber hinaus ist auch im bewaffneten Konflikt jede willkürliche Tötung nach Art. 6 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte unzulässig. Dabei ist eine Tötung nach der Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofs dann nicht willkürlich, wenn sie sich im Rahmen eines bewaffneten Konflikts gegen ein legitimes militärisches Ziel richtet und der Angriff unverhältnismäßig hohe zivile Opfer vermeidet. Ob dies jeweils der Fall war, blieb in der Vergangenheit vielfach ungeklärt, selbst wenn konkrete Anhaltspunkte dafür vorlagen, dass Zivilisten gezielt angegriffen worden sein könnten. Das Verbot willkürlicher Tötung verlangt nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und des Bundesverfassungsgerichts, dass wirksame amtliche Ermittlungen durchgeführt werden, wenn Personen durch Gewaltanwendung insbesondere durch Vertreter des Staates getötet werden. Der UN-Sonderberichterstatter für den Menschenrechtsschutz bei der Terrorismusbekämpfung ist in seinem Abschlussbericht im Jahr 2014 zwar zu dem Ergebnis gekommen, dass von der Mehrheit der bei US-Drohnenangriffen im Jemen getöteten Personen angenommen wird, es habe sich um legitime militärische Ziele im innerstaatlichen bewaffneten Konflikt gehandelt. Gleichwohl hat er eine Reihe von bewaffneten Angriffen mit erwiesener oder möglicher Beteiligung der USA im Jemen aufgeführt, bei denen ein nicht ausgeräumter begründeter Verdacht der Rechtswidrigkeit besteht. Entsprechende Vorwürfe hat der jemenitische Minister für Menschenrechte in einer britischen Zeitung noch im vergangenen Jahr anlässlich mehrerer jüngerer Angriffe erhoben, bei denen jemenitische Regierungsstellen keinen Anhalt dafür finden konnten, dass auch nur eines der Opfer mit al-Qaida in Verbindung stand. Schon 2010 hatte ein UN-Sonderberichterstatter beanstandet, dass die Staaten ihren nach den Menschenrechtsnormen und dem humanitären Völkerrecht bestehenden Verpflichtungen zur Rechenschaft in Bezug auf gezielte Tötungen nicht nachkommen. Der Bundesregierung ist nach Angaben ihrer Vertreter in der mündlichen Verhandlung nicht verlässlich bekannt, dass in Fällen dieser Art ? über rein interne Lageauswertungen hinaus ? unabhängige Untersuchungen durch US-Behörden durchgeführt oder zugelassen werden. Hierüber ist im laufenden Verfahren auch sonst nichts bekannt geworden. Der Umstand, dass den Klägern eine gerichtliche Überprüfung der Tötung ihrer Angehörigen vor amerikanischen Gerichten versagt wurde, spricht eher dagegen.

Wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache hat der Senat die Revision zum Bundesverwaltungsgericht zugelassen.

Per se unzulässig

Per se unzulässig

Syrien, Chemiewaffen und ein Bombenangriff

von Wissenschaftliche Dienste – Deutscher Bundestag

Syrien wird vorgeworfen, Anfang April 2018 in der Stadt Duma Chemiewaffen eingesetzt zu haben. Die syrische Regierung wies die Anschuldigungen zurück und forderte gemeinsam mit Russland die Organisation für ein Verbot von Chemiewaffen (OPCW) auf, eine Inspektionsreise nach Duma anzusetzen und die Lage vor Ort zu untersuchen. Noch bevor das Inspektorenteam vor Ort war, führten die USA, Großbritannien und Frankreich Mitte April Luftangriffe gegen drei Ziele in Syrien aus.
Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages verfassten einen » Sachstand – Völker­rechtliche Implikationen des amerikanisch-britisch-französischen Militärschlags vom 14. April 2018 gegen Chemiewaffeneinrichtungen in Syrien« (WD 2-3000-048/18 vom 18.4.2018), den W&F hier ohne den ausführlichen Fußnoten­apparat in Auszügen dokumentiert. Der komplette Bericht steht unter ­bundestag.de online.

1. Der alliierte Militäreinsatz gegen Syrien […] zwischen Legalität und Legiti­mität […]

Die politisch und moralisch aufgeladene Debatte über die jüngsten Luftangriffe der USA, Großbritanniens und Frankreichs gegen Chemiewaffeneinrichtungen und militärische Infrastruktur in Syrien erzeugen ein Spannungsfeld, bei dem die Frage nach der völkerrechtlichen Legalität der Militäroperation zugunsten der politisch-moralischen Legitimität des Handelns argumentativ in den Hintergrund tritt. […] Abgesehen von Staaten wie Russland, Iran oder Syrien, die wie erwartet in den alliierten Militärschlägen gegen syrische Chemiewaffeneinrichtungen einen klaren Völkerrechtsverstoß (act of aggression) erkannten, stieß die Militäroperation bei der Mehrheit der Staatengemeinschaft politisch weitgehend auf Zustimmung. Eine Resolution im VN-Sicherheitsrat, welche die alliierten Militärschläge verurteilen sollte, kam nicht zustande.

Die deutsche Regierung hält die Einsätze für »erforderlich und angemessen« um das Assad-Regime von weiteren Verstößen gegen die Chemiewaffenkonvention abzuhalten und ein Signal dahingehend zu setzen, dass ein Einsatz von Chemiewaffen – das Überschreiten der von US-Präsident Obama 2013 gezogenen »roten Linie« – nicht folgenlos bleiben dürfe.

Ausdrücklich wird dabei auf die Blockade-Situation im VN-Sicherheitsrat abgehoben, die es verhindert hätte, in diplomatischer Weise auf den Syrienkonflikt einzuwirken und den wiederholten Giftgaseinsatz gegen die syrische Bevölkerung zu unterbinden. […]

Die völkerrechtliche Literatur sowie die deutsche Presse haben den jüngsten Militärschlag der Alliierten gegen Syrien einhellig als völkerrechtswidrig qualifiziert. […]

2. Völkerrechtliche Positionen zum Repressalienrecht

Zur Frage der Zulässigkeit von Repressalien lassen sich folgende völkerrechtliche Positionen formulieren:

Völkerrechtliche Repressalien (Gegenmaßnahmen in Form von militärischen Vergeltungsschlägen) gegen einen Staat sind grundsätzlich unzulässig. […]

Das grundsätzliche Repressalienverbot gilt auch dann, wenn ein Staat einen internationalen Vertrag wie die Chemiewaffenkonvention und entsprechende VN-Resolutionen (wie die Sicherheitsratsresolution 2118 (2013)) verletzt und mit dem Einsatz von Massenvernichtungswaffen ein Kriegsverbrechen begangen hat. Die Verletzung einer Völkerrechtsnorm durch einen Staat begründet keinen »Blankoscheck für unilaterale Zwangsmaßnahmen« seitens einer »Koalition der Willigen«. Vielmehr sieht das Völkerrecht rechtsförmige Mechanismen vor – sei es im Rahmen der Chemiewaffenkonvention, sei es im Rahmen des Völkerstrafrechts – um internationale Konventionen durchzusetzen, deren Einhaltung zu überwachen sowie Rechtsgutverletzter zur Verantwortung zu ziehen und einen Völkerrechtsbruch zu ahnden. Dass die Durchsetzung solcher Rechtsmechanismen angesichts der russischen (Blockade-) Haltung im VN-Sicherheitsrat oder angesichts der Schwierigkeiten, Untersuchungen der OPCW im syrischen Douma durchzuführen, eher theoretisch als praktisch und effektiv erscheint, tut der völkerrechtlichen Bewertung keinen Abbruch. Umso mehr fällt in diesem Zusammenhang ins Gewicht, dass im Falle der alliierten Militärschläge vom 14. April 2018 die Ergebnisse der OPCW-Untersuchungen in Syrien nicht einmal abgewartet wurden.

Der Einsatz militärischer Gewalt gegen einen Staat, um die Verletzung einer internationalen Konvention durch diesen Staat zu ahnden, stellt einen Verstoß gegen das völkerrechtliche Gewaltverbot (Art. 2 Nr. 4 VN-Charta) dar. […]

Auch der VN-Sicherheitsrat hat bewaffnete Repressalien als „incompatible with the purposes and principles of the United Nations“ [unvereinbar mit den Zielen und Prinzipien der Vereinten Nationen/Red.] verurteilt. Der Internationale Gerichtshof führte zur Repressalienfrage in seinem Nicaragua-Urteil aus:

„While an armed attack would give rise to an entitlement to collective self-defence, a use of force of a lesser degree of gravity cannot, as the Court has already observed, produce any entitlement to take collective countermeasures involving the use of force.[…].“ [Ein bewaffneter Angriff würde zwar das Recht auf kollektive Selbstverteidigung begründen, ein weniger schwerer Gewalteinsatz kann aber, wie der Gerichtshof bereits festgestellt hat, keine kollektiven Gegenmaßnahmen unter Gewalteinsatz rechtfertigen./Übers. Red.]

Darauf aufbauend beurteilte die International Law Commission in ihren – zwar grundsätzlich unverbindlichen, wenn auch in den relevanten Teilen Völkergewohnheitsrecht kodifizierenden – Entwurfsartikeln zur Staatenverantwortlichkeit die Unzulässigkeit von Gewalthandlungen im Rahmen von Repressalien (Art. 50 Abs. 1 lit. a).

Angesichts der genannten Judikate dürfte das Verbot gewaltsamer Repressalien im Ergebnis wohl dem Völkergewohnheitsrecht zuzuordnen sein.

Repressalien im Rahmen eines bereits andauernden internationalen Konflikts sind dagegen nicht per se unzulässig; doch dürfen solche Zwangsmaßnahmen nur in ganz beschränktem Umfang eingesetzt werden, um eine völkerrechtswidrig handelnde Konfliktpartei zu völkerrechtskonformem Handeln zu bewegen – nicht aber, um bereits abgeschlossene Kriegsverbrechen zu ahnden. […]

Allerdings scheidet die Betrachtung der jüngsten amerikanisch-britisch-französischen Luftschläge gegen das syrische Assad-Regime unter dem Gesichtspunkt der Kriegsrepressalie bereits deswegen aus, weil sich die drei Alliierten nicht in einem direkten bewaffneten Konflikt mit dem syrischen Zentralstaat befinden. […]

3. Der alliierte Militäreinsatz gegen Syrien im Lichte des ius ad bellum und der humanitären Intervention

Der jüngste Militäreinsatz der Alliierten gegen Syrien stellt – wie bereits die Kosovo-Intervention von 1999 – eine Herausforderung für das völkerrechtliche Gewaltverbot dar. Die Ausgangslage in Syrien im April 2018 scheint ähnlich wie 1999: Mangels einer Selbstverteidigungslage zugunsten der militärisch intervenierenden Alliierten (USA, Frankreich, Großbritannien) hätte nur der VN-Sicherheitsrat gem. Kapitel VII der VN-Charta einen Militärschlag legitimieren können, um die internationale Sicherheit wiederherzustellen.

Resolution 2118 (2013), welche die Vernichtung aller syrischen Chemiewaffen durchsetzen sollte, droht dem Assad-Regime zwar mit dem Einsatz von Gewalt, behält eine Entscheidung darüber aber dem VN-Sicherheitsrat selbst vor.

Allein Großbritannien hat seine eigene Rechtsposition zum alliierten Militärschlag gegen Syrien in einem »Policy Paper« vom 14. April 2018 dargelegt. Darin heißt es, dass das Völkerrecht es erlaube, in Ausnahmefällen, Maßnahmen zu ergreifen, um überwältigendem menschlichen Leiden abzuhelfen. Die Rechtsgrundlage dafür sei die Doktrin der humanitären Intervention, für die drei Tatbestandsvoraussetzungen zu erfüllen seien:

  • Erstens sei es erforderlich, dass die internationale Gemeinschaft als Ganzes überzeugt sei, dass es eine extreme humanitäre Notlage gebe, der unmittelbar und unverzüglich abzuhelfen sei.
  • Zweitens dürfe es keine praktikable Alternative zur Gewaltanwendung geben.
  • Und drittens müsse die Gewaltanwendung notwendig und verhältnismäßig sein.

Die genannten Voraussetzungen sieht das Vereinigte Königreich als erfüllt an: Durch die Blockade des VN-Sicherheitsrates gebe es keine andere Handlungsmöglichkeit; die gezielten und begrenzten Angriffe auf die Chemiewaffen-Infrastruktur seien notwendig und verhältnismäßig.

Die britische Rechtsposition zu den Militärschlägen gegen Syrien, der sich Deutschland im Grundsatz offenbar angeschlossen hat, kann im Ergebnis nicht überzeugen.

[…]

Als (gewohnheitsrechtsbildender) Präzedenzfall für einen wie auch immer gearteten Rechtfertigungsgrund »humanitäre Intervention« taugt der alliierte Militäreinsatz gegen Syrien kaum. Denn das Konzept der Schutzverantwortung, das der Rechtsfigur der »humanitären Intervention« zugrunde liegt, zielt ausschließlich auf den Schutz der Zivilbevölkerung ab, nicht dagegen auf eine Ahndung von Rechtsverletzungen. Indes beschränkt sich der »humanitäre Anteil« der Militäroperation in den Begründungen der USA und Frankreichs im Wesentlichen auf die Durchsetzung des Verbots des Einsatzes von Chemiewaffen.

Abgesehen von Großbritannien haben die anderen beiden Akteure das Rechtsargument der humanitären Intervention gar nicht explizit plädiert. Dies wäre jedoch notwendig gewesen, um ihrer Begründung eine eindeutige »opinio iuris« zugunsten des Rechtfertigungstatbestandes der »humanitären Intervention« entnehmen zu können.

So stellen sich die alliierten Luftangriffe dann im Ergebnis eher als unverhohlene Rückkehr zu einer Form der – völkerrechtlich überwunden geglaubten – bewaffneten Repressalie im »humanitären Gewand« dar.

4. Konsequenzen für die Fortentwicklung des Völkerrechts

Den Rechtsauffassungen von Staaten kommt im Völkerrecht eine große, wenn nicht sogar gewohnheitsrechtsprägende Bedeutung zu. Rechtsbehauptungen zielen nicht zuletzt ab auf eine Veränderung und auf einen Wandel des bestehenden Völkerrechts – dies gilt insbesondere [für] die Fortentwicklung der Regelungen über das Gewaltverbot (Art. 2 Nr. 4 VN-Charta) bzw. seiner geschrieben und ungeschriebenen Ausnahmetatbestände.

Ob sich mit den Militäreinsätzen von 2017 und 2018 gegen Chemiewaffeneinrichtungen in der Zukunft ein neuer Ausnahmetatbestand vom Gewaltverbot für Fälle von »humanitär begründeten Repressalien« herausbilden wird, ist nicht gänzlich auszuschließen.

In den völkerrechtlichen Kommentaren zur alliierten Militäroperation gegen Syrien ist in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen worden, dass das Einstehen für eine regelbasierte internationale Ordnung und ihre zentralen Eckpfeiler (wie insbesondere das völkerrechtliche Gewaltverbot) auch von einer entsprechenden klaren und unmissverständlichen Artikulation von Rechtsauffassungen begleitet werden müsse. Politische und rechtliche Glaubwürdigkeit hingen überdies davon ab, dass bei der völkerrechtlichen Beurteilung von Militäroperationen (Beispiele: Russische Krim-Annexion von 2014, NATO-Operation im Kosovo 1999, Militärschläge von NATO-Bündnispartnern gegen Syrien 2018) nicht mit zweierlei Maß gemessen werde.

Washingtons Nahost Politik

Washingtons Nahost Politik

Die Entwicklung unter Donald Trump und die Auswirkungen

von Joachim Guilliard

Hillary Clinton, die 2016 bei der Wahl ums Präsidentenamt der USA als Favoritin galt, prahlt in ihren Memoiren damit, ihren Mann, Bill Clinton, in den Jugoslawienkrieg und Barack Obama in den Libyenkrieg getrieben zu haben. Das von ihr geführte Außenministerium war die treibende Kraft hinter der Aufrüstung regierungsfeindlicher Milizen in Syrien. Da Donald Trump stets gegen die militärischen Interventionen der USA im Nahen und Mittleren Osten gepoltert hatte, erschien er mit Blick auf diese Krisenregion als kleineres Übel. Die Bilanz des ersten Jahres ist jedoch mehr als ernüchternd.

Seine Vorgänger hinterließen US-Präsident Donald Trump im Nahen und Mittleren Osten ein schweres Erbe. Beginnend mit dem Krieg gegen den Irak und der folgenden Besatzung hat die US-Politik die Region immer mehr ins Chaos gestürzt, gleichzeitig jedoch die dortige Position der Supermacht bedeutend geschwächt. Barack Obama beendete zwar den massiven Militäreinsatz im Irak, nicht jedoch die Interventionen zur Durchsetzung US-amerikanischer Dominanz in dieser wirtschaftlich und strategisch bedeutenden Region. Der NATO-Krieg gegen Libyen und die im Bündnis mit der Türkei und den Golfmonarchien betriebene Aufrüstung islamistischer Milizen trugen maßgeblich dazu bei, dass die Unruhen in Syrien im Frühjahr 2011 in einen bewaffneter Aufstand umschlugen. Durch die im Bündnis mit den übrigen NATO-Staaten und den Golfmonarchen betriebenen Regime-change-Bemühungen ging dieser in einen von außen angefeuerten Bürgerkrieg über. Im Frühjahr 2015 stellte sich die Obama-Administration zudem hinter die völkerrechtswidrige Militärintervention Saudi-Arabiens im Jemen. Die USA unterstützen seither auch diesen Kriegseinsatz militärisch.

Seit dem Zweiten Weltkrieg ist das Bemühen um die Vormachtstellung im Nahen und Mittleren Osten, wo fast drei Viertel der weltweiten Öl- und Gasvorräte liegen und zentrale Transportrouten verlaufen, eine parteiübergreifende Konstante der US-amerikanischen Außenpolitik. Es war daher kaum zu erwarten, dass sich die Politik unter dem neuen Präsidenten grundlegend ändern würde. Die Wahl Trumps gab zu Beginn jedoch Anlass zur Hoffnung, dass sich durch eine Abschwächung der Konfrontations­politik gegen Russland wenigstens die Chancen für ein Ende des Krieges in Syrien erhöhen würden.

Syrien ? mit den Kurden gegen den IS und die Einheit des Landes

Trump hatte sich jahrelang gegen die Intervention der USA in Syrien ausgesprochen, mit Ausnahme des direkten Kampfes gegen die dschihadistische Miliz »Islamischer Staat« (IS). Und noch in einem Interview mit dem Wall Street Journal kurz nach seiner Wahl im November 2016 hatte er erklärt, es ginge in Syrien darum, den Kampf gegen den IS im Fokus zu behalten, und nicht, den syrischen Präsidenten Baschar al-Assad zu stürzen. Anschließend berief er allerdings mit James Mattis einen Mann zum Verteidigungsminister, der 2012 als Chef des für die Region zuständigen US Cen­tral Command für einen »regime change« warb, da Assads Sturz der größte strategische Rückschlag für den Iran innerhalb der letzten 25 Jahre“ wäre.1

Nachdem die US-Administration Ende März 2017 dennoch verkündet hatte, die Ablösung des syrischen Machthabers habe für sie „keine Priorität“ mehr, schien Trump seine Position Anfang April erneut um 180 Grad zu drehen. Nach einem Giftgasangriff in der nordwestlichen Stadt Khan Sheikhoun machte er, ohne eine Untersuchung des Vorfalls abzuwarten, die syrische Regierung dafür verantwortlich und ließ eine Salve von 59 Tomahawk-Marschflugkörpern auf den syrischen Luftwaffenstützpunkt al-Schairat abfeuern.

Eine weitere Eskalation blieb zum Glück aus, und auch eine geänderte Strategie ließ sich nicht erkennen. Außenminister Rex Tillerson betonte zwei Tage danach sogar, der Kampf gegen den IS habe Priorität, und er warnte, ein erzwungener Abgang Assads würde ähnlich desaströse Folgen haben wie der Sturz Muammar al-Gaddafis in Libyen 2011.2

In der Praxis zeigte die US-Regierung eine gewisse Bereitschaft, den von Russland eingeleiteten Befriedungsprozesse zu unterstützen, z. B. die von der russischen Führung zusammen mit der türkischen und iranischen Regierung vereinbarte Einrichtung so genannter Deeskalationszonen. Angesichts der großen Gebietsgewinne der syrischen Armee und den Erfolgen der russischen Diplomatie kann dies auch als Zugeständnis an die geänderte Realität gewertet werden. Im Juli 2017 ließ Trump schließlich auch die verdeckten US-amerikanischen Waffenlieferungen der CIA an regierungsfeindliche Milizen stoppen.

Die Bewaffnung der überwiegend aus Einheiten der syrisch-kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) bestehenden Syrischen Demokratischen Kräfte (SDK) wurde jedoch ausgebaut. Die US-Administration machte sie faktisch zu ihren Bodentruppen. Unter Führung von US-Militärs und unterstützt von massiven Luftangriffen eroberten die kurdischen Kampfverbände die IS-Hochburg Raqqa und versperrten gleichzeitig den syrischen Streitkräften den Weg in die arabisch-konservative Stadt und ihre Umgebung. Anschließend stießen sie weiter vor, das Tal des Euphrats entlang, bis an die südöstliche Grenze zum Irak, und trieben so einen Keil zwischen die syrische Armee und die noch vom IS besetzten Gebiete. Nahezu der gesamte Norden und Ostens Syriens steht nun unter der Kontrolle der Kurden.

Die US-Streitkräfte, die bereits mindestens zehn Militärstützpunkte in diesem Gebiet unterhalten, haben nun damit begonnen, eine 30.000 Kämpfer*innen starke »Syrische Grenzschutztruppe« unter SDK-Führung aufzubauen, die „in den nächsten Jahren“ sowohl an den Grenzen zur Türkei und zum Irak stationiert werden soll als auch entlang des Euphrats, der die Grenze zum restlichen Syrien bildet.3 Dies zielt wohl auf eine faktische Abspaltung der kurdisch kontrollierten Enklaven. Weder Damaskus noch Ankara werden dies akzeptieren.4 Die Strategie Washingtons scheint vielmehr auf die fortgesetzte Destabilisierung Syriens ausgerichtet zu sein, um den wichtigsten Verbündeten des Irans am Boden zu halten, die Kräfte von Assads Unterstützern weiter zu strapazieren und dem wachsenden Einfluss Russlands etwas entgegenzusetzen.

Irak ? Eskalation des Luftkrieges

Im Wahlkampf hatte Trump den Irakkrieg als vermutlich schlechteste Entscheidung in der Geschichte der USA bezeichnet. In einer Rede vor der CIA-Spitze unmittelbar nach seinem Amtsantritt im Januar 2017 erklärte er jedoch den von George W. Bush vereinbarten und unter Obama vollzogenen Abzug der US-Truppen aus dem Irak als ebenso großen Fehler und sprach von „einer zweiten Chance“.5 Diese versuchte er durch Ausweitung des Einsatzes der US-Streitkräfte zu forcieren. Die US-Regierung erhöhte die Zahl der Boden­truppen im Irak von 6.000 auf fast 9.000 und beabsichtigt, dieses Niveau auch nach der weitgehenden Vertreibung des IS im Irak zu halten.6

Parallel dazu gab Trump den Kommandeuren der US-Streitkräfte in Syrien und im Irak weitgehend freie Hand in ihrer Kriegführung. Diese weiteten daraufhin die Zahl der Luftangriffe massiv aus. Der britischen Internetplattform Airwars.org zufolge, die die Opfer des Luftkrieges über Syrien und Irak zu registrieren sucht, verdreifachte sich die Zahl der Einsätze von Kampfjets zwischen Februar und August 2017 von 1.708 im gleichen Zeitraum des Vorjahrs auf 5.547. Die Zahl der zivilen Opfer vervierfachte sich sogar.7

Das Gros dieser Angriffe richtete sich auf den Westteil der irakischen Millionenstadt Mossul. Zusammen mit ihren Verbündeten bombten die US-Streitkräfte beim Sturm auf die noch vom IS gehaltenen Stadtviertel den Bodentruppen den Weg buchstäblich frei. Sie eskalierten den rücksichtslosen Luftkrieg weiter, als Trump Mitte Mai das Pentagon anwies, den IS durch Einkreisen und Töten „auszulöschen“. In den NATO-Staaten gilt mittlerweile die Rückkehr ausländischer Kämpfer von Terrortruppen, wie dem IS, als größtes Sicherheitsrisiko. Durch eine »Auslöschungskampagne«, d.h. durch gezielte Tötung vor Ort, soll dieses Risiko minimiert werden. Die westlich des Tigris liegenden Stadtteile von Mossul, inkl. der historischen Altstadt, wurden im Zuge der Rückeroberung weitgehend zerstört. Schätzungsweise mehr als 40.000 der monatelang eingeschlossenen Einwohner*innen wurden getötet, und mehr als 700.000 wurden vertrieben.

Dem Frieden näher kam das Land dadurch nicht. Die Trump-Adminis­tration setzte wie ihre Vorgänger auf ein rein militärisches Vorgehen gegen den IS sowie auf die vorbehaltlose Unterstützung der von schiitisch-islamistischen Parteien dominierten Regierung in Bagdad, deren diskriminierende Politik gegenüber den Sunniten erst den Boden dafür geschaffen hatte, dass der IS sich festsetzen konnte. Nun wurden die Konflikte zwischen den Bevölkerungsgruppen weiter verschärft.8

Trumps Feldzug gegen die »iranische Achse«

Wie zu erwarten, verschärfte Trump den Kurs gegen den Iran, den er im Wahlkampf zur größten Bedrohung für die Region neben dem IS erklärt hatte. Ein zentrales Anliegen ist die Zerschlagung des 2015 von den fünf Vetomächten des UN-Sicherheitsrates plus Deutschland mit Teheran ausgehandelten Atomabkommens. Im Oktober 2017 verweigerte er ? entgegen eindeutiger Berichte der Internationalen Atomenergieagentur (IAEA) ? die vom US-Kongress geforderte vierteljährliche Bestätigung, dass der Iran seinen Verpflichtungen aus dem Abkommen nachkommt, und forderte die Abgeordneten auf, neue Sanktionen zu beschließen.9 Die Aussetzung der »nuklearbezogenen« Sanktionen verlängerte er Mitte Januar 2018 nur unter der Maßgabe um weitere 120 Tage, dass die europäischen Verbündeten mit Teheran neue Bedingungen aushandeln. Zu Trumps Forderungen gehört u.a. der Zugang für IAEA-Inspektoren zu allen Militärstützpunkten und die Einstellung iranischer Raketentests. Falls Teheran nicht auf die Forderungen eingeht, sollen automatisch wieder alle Sanktionen in Kraft treten. Da die neuen Bedingungen für den Iran nicht annehmbar sind, droht dem Atom-Deal im Mai 2018 das Aus vonseiten der USA.

Als äußerst destabilisierend erweist sich gleichzeitig Trumps Schulterschluss mit Saudi-Arabien gegen die so genannte »iranische Achse«, die nach Lesart der beiden Partner vom Iran über die Huthis im Jemen bis nach Syrien und zur libanesischen Hisbollah reicht. Zusammen mit den saudischen Monarchen möchte er ein Militärbündnis sunnitisch-arabischer Staaten, eine Art »arabische NATO«, schmieden. U.a. sicherte er den Saudis dafür Waffenlieferungen im Wert von 110 Milliarden US$ zu.

Die demonstrative Unterstützung durch Trump ermunterte die reaktionäre islamistische Monarchie unter Führung ihres jungen Kronprinzen Mohammed bin Salman zu einer aggressiveren Politik gegen seine Nachbarstaaten ? neben dem Iran und Jemen richtet sich diese auch gegen Katar und den Libanon. Der von den USA unterstützte Krieg gegen die so genannte Huthi-Allianz im Jemen wurde intensiviert und die Hungerblockade gegen das Land fortgesetzt. Die humanitäre Situation in dem zuvor schon bitterarmen arabischen Land wird mit jedem Monat katastrophaler. 20 von 27 Millionen Jemeniten sind völlig auf Hilfe von außen angewiesen, und über sieben Millionen leiden unter akutem Hunger. Eine Million Menschen sind mittlerweile schon an Cholera erkrankt.10

Aufgrund der ? aus saudischer Sicht zu engen – Beziehungen Katars zum Iran und seiner Unterstützung der islamistischen Muslimbrüderschaft brach Saudi-Arabien Anfang Juni die diplomatischen Beziehungen zum Nachbarland ab und schloss seine Grenzen. Bahrain, Ägypten und die Vereinigten Arabischen Emiraten schlossen sich dem Embargo an, das solange gelten soll, bis Katar den Forderung der vier Staaten, u.a. nach Abbruch der Beziehungen zum Iran und Schließung des katarischen Sendes Al Jazeera, nachkommt. Während Trump die Entscheidung nicht nur begrüßte, sondern sie als Resultat seiner Gespräche in Riad pries,11 versuchten das Verteidigungs- und das Außenministerium den Schaden zu begrenzen, denn Katar beherbergt die wichtigste Militärbasis der USA in der Region. Schließlich unterzeichnete die US-Regierung mit Katar eine »Vereinbarung gegen den Terrorismus«.12 Da sich zudem die Auswirkungen des Embargos aufgrund der Unterstützung der Türkei und des Irans in Grenzen halten und das Scheichtum stattdessen die Wirtschaftsbeziehungen mit diesen beiden Ländern ausbaut, haben sich die Saudis mit ihrer Aktion selbst geschadet.

Dessen ungeachtet zündelten sie weiter. Sie beorderten den libanesischen Regierungschef Saad Hariri nach Riad, setzten ihn fest und zwangen ihn dazu, seinen Rücktritt zu verkünden. Indem sie so Druck auf die Hisbollah aufzubauen versuchten, damit diese die Unterstützung der syrischen Regierung beendet, schürten sie die Gefahr, dass auch der Libanon zum Kriegsschauplatz wird. Das Kalkül der Saudis ging allerdings auch hier nicht auf. Im Libanon wurde der Rücktritt nicht akzeptiert, und da auch der internationale Druck stieg, mussten sie Hariri wieder freilassen und seine Rückkehr in den Libanon hinnehmen.

Anerkennung Jerusalems als israelische Hauptstadt

Als folgenschwer könnte sich Trumps Ankündigung erweisen, Jerusalem als Hauptstadt Israels ? und nur Israels – anzuerkennen und die US-Botschaft von Tel Aviv dorthin zu verlegen.13 Er provoziert damit nicht nur die Gefahr eines neuen Aufstands der Palästinenser*innen. Indem er sich – den allgemein anerkannten völkerrechtlichen Status der Stadt missachtend – vollständig auf die Seite der ultra-rechten Regierung in Israel stellte, katapultierte er die USA aus ihrer bisherigen Vermittlerrolle. Ein ehrlicher Makler seien die USA zwar noch nie gewesen, doch nun sei die Maske endgültig gefallen, so das Urteil vieler Kommentatoren.

Tatsächlich bricht damit faktisch der bisherige Ansatz der US-amerikanischen Nahost-Politik zusammen. Diese beruhte auf dem formalen Eintreten für einen palästinensischen Staat in den 1967 von Israel besetzten Gebieten ? mit Ostjerusalem als Hauptstadt ?, ohne allerdings ernsthaftes Engagement für dessen Verwirklichung zu zeigen. Parallel dazu leisten die USA Israel finanzielle und militärische Unterstützung bei der Fortsetzung der Besatzung. Darüber hinaus „hielten sie die Welt auch noch mit einem endlosen »Friedensprozess« zum Besten, der nie […] zu etwas anderem führen sollte, als zur Verlängerung der Besatzung“, so Gideon Levy, Autor und Mitherausgeber der israelischen Tageszeitung Haaretz.14

Mit seiner Jerusalem-Entscheidung hat Donald Trump „die Zwei-Staaten-Lösung zu Grabe getragen“, ist Levi überzeugt. Auch der langjährige palästinensische Unterhändler und entschiedene Verfechter der Zwei-Staaten-Lösung Saeb Erekat erklärte, die Palästinenser*innen hätten in Zukunft nur noch eine Option, für die sie kämpfen könnten: einen gemeinsamen Staat mit gleichen Rechten für alle, einen demokratischen Staat für zwei Völker.15 Zum Auftakt einer Tagung der Palästinensischen Befreiungsorganisation, PLO, Mitte Januar 2018 erklärte der palästinensische Präsident Mahmud Abbas das Osloer Friedensabkommen für gestorben.16

Ausblick

Die USA hatten die politische Initiative im Nahen und Mittleren Osten schon vor Trumps Amtsantritt weitgehend verloren, er hat diese Entwicklung jedoch weiter forciert. Nicht nur in Syrien zieht mittlerweile Moskau die entscheidenden Fäden. Mit geschickter Diplomatie unterhält die russische Regierung zu allen Ländern der Region gute Kontakte. Als der libanesische Präsident in Riad festsaß, war es in erster Linie Paris, das seine rasche Rückkehr einfädelte. Mit der Jerusalem-Entscheidung gelang es Trump sogar, die untereinander verfeindeten islamischen Staaten gegen sich zu einen. Seine provokativen Entscheidungen und seine aggressive Politik gegen den Iran im engen Bündnis mit den arabischen Monarchen bergen ungeachtet dessen eine große Eskalationsgefahr bis hin zu neuen Kriegen.

Die Warnung des Nahostkorrespondenten der CNN, Ben Wedeman, scheint daher nicht übertrieben: „Washington, verschlissen und abgelenkt durch seine toxische Politik im Innern, stürzt im Nahen Osten bestenfalls kopfüber in die Irrelevanz, im schlimmsten Fall in die Katastrophe. Wer denkt, 2017 war ein steiniger Weg im Nahen Osten, sollte sich 2018 auf etwas gefasst machen“.17

Anmerkungen

1) Ackerman, S. (2012): Military’s Mideast Chief Sounds Ready to Aid Syria’s Rebels. Wired, 3.6.2012.

2) Ackerman, S. (2017): What’s Trump’s plan for Syria? Five different policies in two weeks. Guardian, 11.4.2017.

3) Syria war – Turkey denounces US »terror army« plan for border security force. BBC, 15 1.2018.

4) Dieser Artikel wurde geschrieben, bevor das türkische Militär Ende Januar 2018 eine Militäroffensive gegen kurdische Milizen in Nordsyrien startete. Siehe dazu die Presseschau auf S. 4.

5) Krauel, T. (2017): Das müssen Sie über Trumps erstes Wochenende wissen. Welt.de, 22.1.2017.

6) ’Many more’ US troops in Syria and Iraq – report. BBC, 28.11.2017.

7) Wagner, J. (2017): Trumps Syrien-Bilanz: Mehr Krieg – Mehr Opfer – Mehr Waffen. IMI-Standpunkt 2017/29.

8) Siehe dazu Guilliard, J. (2017a): Die Schlacht um Mossul. IMI-Studie 2017/11b.
ders.: Befreiung um jeden Preis – Der Irak nach der verheerenden Schlacht um Mossul. Ossietzky, 15/2017.
ders. (2017b): Mossul in Ruinen ? Konflikte verschärft, Ossietzky 18/2017.

9) Jahanpour, F. (2017): Europe Must Stop Trump From Starting Another War in the Middle East. Counterpunch, 19.10.2017.

10) Weltweit größter Cholera-Ausbruch – Eine Million Fälle in Jemen. Augsburger Allgemeine, 22.12.2017

11) Wintour, P. (2017): Donald Trump tweets support for blockade imposed on Qatar. Guardian, 6.6.2017.

12) Saudis nervös – USA schließen Anti-Terror-Vereinbarung mit Katar. Deutsche Wirtschafts-Nachrichten, 2.7.2017.

13) The White House (2017): Statement by President Trump on Jerusalem. December 6, 2017.

14) Levy, G. (2017): Ein Rüpel, ein Visionär. der Freitag, 50/2017.

15) Landler, M.; Halbfinger D.M.; Kershner, I. (2017): Did Trump Kill Off a Two-State Solution? He Says No, Palestinians Say Yes. NYT, 7.12.2017.

16) Khoury, J. (2018): Abbas Declares Oslo Accords Dead: ’Trump’s Peace Plan Is a Slap, We’ll Slap Back’. Haaretz, 15.1.2018.

17) Wedeman, B. (2017): How President Trump’s first year changed the Middle East. CNN, 25.12.2017.

Joachim Guillard ist Verfasser zahlreicher Fachartikel über den Nahen und Mittleren Osten und Mitherausgeber bzw. Koautor mehrerer Bücher zu diesem Bereich. Er betreibt den Blog »Nachgetragen« (http://jghd.twoday.net).

Klima – Gewalt – Flucht


Klima – Gewalt – Flucht

Das Beispiel Syrien

von Jürgen Scheffran und Christiane Fröhlich

Seit 2015 beherrscht die Debatte über Zuwanderung die deutsche und europäische Politik. Weltweit fliehen Millionen von Menschen, besonders aus den Krisenregionen Afrikas und des Nahen Ostens; Hunderttausende gelangten nach Europa. Viele Menschen gefährden nach wie vor ihr Leben bei dem Versuch, mit überfüllten Booten das Mittelmeer zu überqueren oder auf dem Landweg über die Balkanroute nach Europa zu gelangen. Die Ursachen von Migration und Flucht sind auf komplexe Weise mit anderen Krisenerscheinungen verbunden, auch mit dem Klimawandel. Dieser Beitrag beleuchtet das Problemgeflecht zwischen Klimawandel, Konflikt und Migration am Beispiel Syrien und diskutiert mögliche Konzepte und Alternativen.

Es ist nicht neu, dass Menschen wandern und dabei Grenzen überschreiten. Die Geschichte ist geprägt von großen Völkerwanderungen, umherziehenden Nomadenvölkern und »Landflucht« in urbane Zentren. Die Antriebsfaktoren und Motive sind vielfältig und reichen von der Suche nach Ressourcen, Einkommen und Lebens­chancen bis zur Flucht vor Krieg, Verfolgung und Naturkatastrophen (Black et al. 2011; Fröhlich 2016a). Angesichts von Bevölkerungswachstum und Globalisierung nehmen Migrationsbewegungen heute ein neues Ausmaß an. Die Wanderung vom Land in die Städte verstärkt die Urbanisierung und die Bevölkerungskonzentration in Megastädten, was mit sozialen und ökologischen Problemen verbunden ist. Die grenzüberschreitende Migration von Arbeitskräften hat ökonomische und kulturelle Implikationen, die das internationale System transformieren. Menschenunwürdige Lebensbedingungen und die Verschlechterung der ökonomischen, ökologischen, politischen und sozialen Lebensgrundlagen nötigen Millionen von Menschen zur Flucht.

Wechselwirkungen zwischen Gewaltkonflikten und Fluchtbewegungen

Neben politischer Verfolgung als Fluchtmotiv gibt es enge Verflechtungen zwischen Flucht und Gewaltkonflikten, die schon länger Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen und politischer Debatten sind. Bewaffnete Konflikte und ihre Beendigung sind und waren eine der wesentlichen Triebkräfte für Fluchtbewegungen, darunter die beiden Weltkriege, das Ende des Kalten Krieges, die (Bürger-) Kriege im ehemaligen Jugoslawien, in Darfur, Afghanistan, Irak, Libyen und zuletzt in Syrien. Weltweit wurden 2015 etwa 8,6 Millionen Menschen durch Gewalt und Konflikte vertrieben (IDMC 2016), wobei die kriegsbedingten Anteile in Afrika, Nahost und der Ukraine am höchsten waren. Teilweise wurden die vor bewaffneten Konflikten flüchtenden Menschen selbst zu einem Konfliktfaktor, bedingt durch überfüllte Flüchtlingscamps oder mögliche Probleme und Differenzen zwischen einheimischen und zugewanderten Bevölkerungsgruppen. Damit verbundene Krisenerscheinungen betreffen Konflikte in der arabischen Welt ebenso wie die Terrorismusgefahr, Rechtspopulismus, Nationalismus und die politische Spaltung der Europäischen Union. Die EU wurde in der »Flüchtlingskrise« von 2015 davon überrascht, dass so viele Menschen über alle Grenzen hinweg in die Mitte Europas gelangen konnten. Viele der Flüchtlinge stammten aus Kriegs- und Krisengebieten, allen voran aus dem syrischen Bürgerkrieg, wo mehr als fünf Millionen Menschen in die Nachbarländer flüchteten (UNHCR 2017), v.a. in den Libanon und den Irak sowie nach Jordanien und in die Türkei. Einige Hunderttausend erreichten Europa.

Aufgrund des Ausmaßes und der Geschwindigkeit der weitgehend unkontrollierten Zuwanderung entwickelten sich Differenzen innerhalb der EU, verstärkt durch Proteste und Widerstände gegenüber Zuwanderung, bis hin zu gewalttätigen Angriffen auf Flüchtlingsunterkünfte. Die Ereignisse der Silvesternacht in Köln 2015/16 heizten die Stimmung gegen alle »Fremden« weiter auf. In Europa taten sich Risse auf, die zum Kampf der Kulturen und Religionen hochstilisiert wurden, verstärkt durch den »Islamischen Staat«, Terroranschläge in europäischen Zentren und die zunehmende rhetorische Vermischung von Flucht und Terrorgefahr, die zwar ohne empirische Grundlage ist, aber schnell politisches Momentum aufnahm (Bank et al. 2017).

Vielleicht am deutlichsten manifestiert sich diese Entwicklung in der Wahl von US-Präsident Donald Trump, der mit seiner Polemik gegen Zuwanderer, Terroristen und den Islam erfolgreich war. Konfliktträchtig sind insbesondere die angekündigte Mauer an der Grenze zwischen USA und Mexiko als Manifestierung eines verschärften Nord-Süd-Konflikts sowie die islamophoben Einreisebeschränkungen, die die Regierung Trump (bislang erfolglos) umzusetzen sucht.

Debatte über Klimawandel und Migration

Vor diesem Hintergrund sind auch der Klimawandel und andere Umweltveränderungen zu sehen, die die Lebensbedingungen von Menschen untergraben sowie umweltbedingte Konflikte und Migration zur Folge haben können. Historische Studien haben herausgearbeitet, wie Veränderungen der Umwelt und des Klimas mit gesellschaftlichen Umbrüchen, Kriegen und Migrationsbewegungen verbunden waren (Fagan 2009). Die natürliche Klimavariabilität, der Wechsel zwischen den Eis- oder Kältezeiten und die Schwankungen des Meeresspiegels setzten wiederholt gesellschaftliche Stabilität unter Druck. In vielen Fällen vermischten sich globale oder regionale Klimaänderungen mit lokalen Umweltproblemen, wie der Abholzung oder der Übernutzung von Böden, und den politischen und sozioökonomischen Bedingungen.

Die Debatte über »Klimaflucht« war schon früh Teil des Diskurses über den Klimawandel. So warnte der erste Bericht des Weltklimarats (Intergovernmental Panel on Climate Change, IPCC) bereits 1990, dass Klimaveränderungen zu großen Migrationsbewegungen führen könnten. Die Europäische Kommission rechnete 2008 mit einem „wesentlich erhöhten Migrationsdruck“ (EU 2008), und der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen sah in der klimabedingten Migration eines der künftigen Konfliktfelder der internationalen Politik, besonders in regionalen Brennpunkten (WBGU 2007). Nach einer Zusammenstellung im IPCC-Bericht von 2014 wurde in 18 Fallstudien Evidenz für verstärkte Migration gefunden, in sechs Fällen eine Verminderung von Migration und in sieben Fällen ein nach sozialen Gruppen unterschiedliches Migrationsverhalten (IPCC 2014, S. 770).

Für die Zukunft wird konstatiert, dass mit zunehmendem Klimawandel die sozialen und ökonomischen Lebensbedingungen von Menschen wie auch die politische Stabilität von Gesellschaften untergraben werden, besonders in fragilen Regionen und Risikozonen, wo verarmte und marginalisierte Bevölkerungsschichten zur Abwanderung gedrängt werden (Gemenne et al. 2015). Am direktesten wirkt Klimawandel durch Naturkatastrophen, wie Stürme und Überflutungen, die Menschen in die Flucht treiben, um das eigene Überleben zu sichern. Nach Schätzungen des Internal Displacement Management Center (IDMC) wurden alleine im Jahr 2015 weltweit etwa 19,2 Millionen Menschen durch Naturkatastrophen vertrieben, mit Abstand am häufigsten in Asien (China, Indien, Philippinen, Nepal, Myanmar), aber auch in Teilen Afrikas, Australiens und in Nord- und Lateinamerika (IDMC 2016).

Bei zunehmender Trockenheit und Dürre werden die landwirtschaftlichen Produktionsfaktoren Wasser und Boden knapp, besonders in agrarisch geprägten Subsistenzwirtschaften. Wenn der Ertrag nicht mehr reicht, sind Hunger und Armut die Folge. Betroffen sind Menschen durch Trockenheit und Wassermangel im Mittelmeerraum, Dürren in der Sahelzone und Zentralasien, Stürme und Überschwemmungen in Mittelamerika, Süd- und Ostasien oder durch den Meeresspiegelanstieg in kleinen Inselstaaten, wie den Malediven. Bislang fehlen die empirischen Grundlagen, um abschätzen zu können, wieviele Menschen als Folge des Klimawandels auswandern werden (Jakobeit and Methmann 2012).

Der Nexus-Ansatz

Die komplexen Zusammenhänge, die es schwierig machen, die verschiedenen Fluchtmotive voneinander zu unterscheiden und die Verknüpfung von Ursache und Wirkung zu erkennen, wurden frühzeitig benannt (Scheffran 1994) und sind bis heute noch wenig verstanden (Burrows and Kinney 2016). Im Beziehungsgeflecht (Nexus) von Klimawandel, Migration und Konflikten sind komplizierte Wechselwirkungen und Reaktionsketten möglich, die sich unter Umständen gegenseitig aufschaukeln können: je mehr Konflikte, umso mehr Migration, was weitere Konflikte und Migration nach sich zieht. Solche Verstärkereffekte sind typisch für komplexe Systeme und Netzwerke, in denen Rückkopplungen, Kipppunkte und Risikokaskaden auftreten können. Entsprechend wurde der Klimawandel als möglicher »Risikoverstärker« angesehen, der im Zusammenspiel mit anderen Konnektoren (u.a. globalisierte Märkte, Handel, Transport, digitale Kommunikation und soziale Medien) verschiedene Problem- und Konfliktfelder zu internationalen Risiko- und Krisenlandschaften verknüpft (siehe die Diskussion in Scheffran 2016).

Die Vorstellung einer linearen Kausalität zwischen globalem Umweltwandel und Konflikten über klimabedingte Migration enthält mehrere Missverständnisse. Zunächst sind Migrationsentscheidungen komplex und nicht nur von ökologischen Faktoren bestimmt; innergesellschaftliche Probleme spielen meist eine größere Rolle. Die Migrationsforschung hat fünf Auslöser von (Binnen- und internationaler) Migration identifiziert: ökonomische, politische, demografische, soziale und ökologische Faktoren (Fröhlich 2016b). Sie alle sind eng miteinander verwoben und wirken durch Institutionen und Strukturen wie auch durch bestehende Migrationskanäle und -netzwerke. Doch selbst wenn die Motive für Migration zunehmen, können die Möglichkeiten zur Wanderung beeinträchtigt werden. Dies führt zu den so genannten »trapped populations«, die nicht die Fähigkeit zur Umsiedlung haben und ganz besonders verletzlich sind.

Es besteht in keinem Fall ein Automatismus zwischen Klimaschwankungen, Naturkatastrophen und Konflikt oder Flucht. Der Klimawandel kann sowohl gesellschaftliche Problemlagen verstärken als auch eine gesellschaftliche Transformation zur nachhaltigen Friedenssicherung anstoßen.

Der vertrackte Bürgerkrieg in Syrien

Die widersprüchlichen Entwicklungen lassen sich am Fall Syrien verdeutlichen. Die syrische Republik leidet wie die gesamte Levante schon seit Jahren an den Folgen der globalen Erderwärmung. Zuletzt suchte eine lange Dürreperiode zwischen 2007 und 2009 das Land heim. Während dieser Jahrhundertdürre“, wie sie von Einheimischen genannt wird, kam es zu wiederholten Ernteausfällen in Teilen des Landes, zu Viehsterben sowie zu einer deutlichen Zunahme der Binnenmigration. Eine wachsende Zahl von Kommentatoren und Analysten zieht die Binnenmigration vermehrt als Erklärung für Zeitpunkt und Intensität der syrischen Revolution heran (Werrell et al. 2015; Kelley et al. 2015).

Nun gibt es wenig Zweifel daran, dass der Klimawandel in Syrien reale Effekte hat. In den letzten zwanzig Jahren wurden zehn der zwölf trockensten Winter weltweit im Mittelmeerraum gemessen (NOAA 2011). Besonders dramatisch war eine Dürreperiode von 2007-9 (Fröhlich 2016a), die im Vorfeld der Revolution zu verstärkter Binnenmigration geführt haben soll. Um den tatsächlichen Einfluss der Dürre auf Ausmaß und Muster der Migration vor 2010 einschätzen zu können, ist es allerdings nötig, Zusammenhänge mit anderen Migrationsauslösern zu berücksichtigen. Zwischen 2002 und 2008 schrumpften Syriens Wasserressourcen um die Hälfte, zumindest teilweise auch wegen Übernutzung und Verschmutzung. Die Grundwasserressourcen werden seit Langem übernutzt. Kleinbauern und Landwirte sind deshalb stark von Regenbewässerung abhängig, was sie gegenüber Wetterextremen, Dürren und Niederschlagsvariabilität besonders empfindlich macht. Darüber hinaus führte das Missmanagement der alten und neuen Bewässerungssysteme zu einer graduell zunehmenden Bodenunfruchtbarkeit. Zusammenfassend kann man sagen, dass ökologische Herausforderungen in Syrien in der Tat zahlreicher geworden zu sein scheinen, dass dies aber auch durch schlechte Regierungsführung bedingt war.

Auch wirtschaftliche Faktoren haben die Binnenmigration in Syrien beeinflusst. Modernisierung, Landflucht und die nur langsame Integration ehemaliger Landarbeiter in andere Wirtschaftssektoren hatten sowohl in den ländlichen Gebieten als auch in den Städten ihre Spuren hinterlassen. Während die Landflucht von Arbeitskräften in urbane Räume die Produktivität der ländlichen Gebiete drosselte, stieg die Produktion in den Städten nicht schnell genug an, um eine gesunde Urbanisierung zu ermöglichen. Im Agrarsektor, der für ein Verständnis der Effekte einer Langzeitdürre am relevantesten ist, standen Landlose unter dem stärksten Druck, ihr Einkommen zu diversifizieren. Über die Jahre war saisonale Migration deshalb zu einer Überlebensstrategie geworden: Männer aus den nördlichen Provinzen Deir az-Zur, Rakka und Hasakah verbrachten dabei meist die Sommersaison als Arbeiter auf den Feldern im Süden und Westen und kehrten nach der Ernte nach Hause zurück. Dabei folgten sie oftmals etablierten Migrationskorridoren; solche Korridore erleichtern folgende Migrationsbewegungen, da Neuankömmlinge auf bereits bestehende soziale Netzwerke unter den Migrant*innen zurückgreifen können, also nicht ganz neu beginnen müssen. Auch soziopolitische und demografische Faktoren dürfen nicht vernachlässigt werden, etwa Patronagenetzwerke und der »youth bulge« (besonders hoher Anteil unter 25-Jähriger an der Bevölkerung), der Syrien wie viele andere nah­öst­liche Gesellschaften prägte.

Synergieeffekte und Anpassungsstrategien

In vertrackten Konfliktkonstellationen, wie in Syrien, ist es schwierig, geeignete Regulierungs- und Steuerungsmechanismen zu finden, um Stabilisierung zu erreichen. Dazu bedarf es einer antizipativen und adaptiven Politik, die hochriskante Pfade ausschließt. Dabei ist es sinnvoll, nicht nur den beschriebenen Nexus von Migration, Klimawandel und Konflikten zu analysieren, sondern auch mögliche Synergie-Effekte zwischen den politischen Bewältigungsstrategien in den jeweiligen Bereichen zu finden (Gioli et al. 2016).

Gelingt es etwa durch Klimapolitik, den Klimawandel einzudämmen, werden damit auch mögliche Konflikt- und Migrationsursachen verringert. Umgekehrt leisten kooperative Strukturen und Strategien des Konfliktmanagements einen Beitrag dazu, die Ursachen und Folgen von Klimawandel und Flucht abzuschwächen und gemeinsam zu bewältigen. Migrations- und Flüchtlingspolitik schließlich können die Integration und den Zusammenhalt von Gesellschaften stärken, was bessere Voraussetzungen schafft, um Konflikte und Klimafolgen in den Griff zu bekommen, auch für Migrant*innen selbst. Solche Synergieeffekte, die sich die komplexen Verflechtungen in konstruktiver Weise zunutze machen, sind erst ansatzweise im Blick.

Bislang diente die Warnung vor »Klimaflüchtlingen« dazu, die Dringlichkeit von Klimapolitik zu begründen. Dies wurde deutlich während der Verhandlungen über den Klimavertrag von Paris 2015, als öffentliche Repräsentanten, von US-Präsident Barack Obama bis zu Prince Charles, die hypothetisierte Bedrohung durch massenhafte Klimaflucht zur Begründung für ein Klimaabkommen benutzten. Für die französische Regierung diente dies als Hebel, um die europäische Verantwortung für die Vermeidung klimabedingter Migration herauszustreichen; dementsprechend wurde in Paris eine Task Force zu klimabedingter Zwangsmigration ins Leben gerufen. In diesem Kontext wurde betont, dass vorbeugende Investitionen in Emissionsvermeidung und Klimaanpassung effizienter seien als nachsorgendes Katastrophen- und Migrationsmanagement.

Rechtliche Instrumente und Regelungen im Umgang mit klimabedingter Migration sind noch Neuland. Es fehlen klare Definitionen oder rechtliche Regelungen zum Status der umwelt- oder klimabedingten Migration. Der Begriff »Klimaflüchtling« ist bisher keine rechtlich relevante Kategorie, und es ist schwer vorherzusehen, ob eine Erweiterung der Genfer Flüchtlingskonvention ein gangbarer und sinnvoller Weg wäre. Ein möglicher Ausgangspunkt sind die 2015 verabschiedete Nansen-Initiative, die auf humanitäre Schutzmaßnahmen zur Stärkung der Resilienz von Flüchtlingen setzt, und das Sendai-Rahmenwerk für Katastrophenvorsorge, Risikovermeidung und humanitäre Hilfe (Nash 2017). Ohne wirksame Maßnahmen besteht die Gefahr einer weiteren Versicherheitlichung der Debatte, die auf sicherheitstechnische Reaktionen setzt (Scheffran und Vollmer 2012).

Auch wenn die Vermeidung von Klimafolgen weiterhin die zentrale Aufgabe bleibt, kann die Anpassung an den Klimawandel einige Probleme in den betroffenen Ländern abschwächen. Dabei kann Migration selbst als Anpassungsstrategie gegenüber Klimafolgen angesehen werden (Black et al. 2011), welche die Handlungsfähigkeit betroffener Gemeinden stärkt. Migrationsnetzwerke können individuelle und kollektive Handlungsfähigkeiten ausbauen sowie zur Schaffung stabiler Strukturen zwischen Herkunfts- und Zielländern beitragen, etwa durch den Transfer von Geld, Wissen und Technologie in die Heimatländer, wo sie zum Volkseinkommen beitragen (Scheffran et al. 2012). Damit die Last nicht allein auf den Betroffenen liegt (was an Resilienz-Konzepten kritisiert wird), ist die Unterstützung durch staatliche oder internationale Institutionen wichtig, insbesondere durch Regierungen in Herkunfts- und Zielländern (co-development).

Literatur

Bank, A.; Fröhlich, C.; Schneiker, A. (2017): The Political Dynamics of Human Mobility – Migration out of, as and into Violence. Global Policy, 8, S. 12-18.

Black, R. et al. (2011): Migration and Global Environmental Change – Future Challenges and Opportunities. Final Foresight Project Report. London: Government Office for Science.

Burrows, K. and Kinney, P.L. (2016): Exploring the Climate Change, Migration and Conflict Nexus. International Journal of Environmental Research and Public Health, 13, S. 443.

EU (2008): Klimawandel und Internationale Sicherheit. Papier des Hohen Vertreters und der Europäischen Kommission für den Europäischen Rat. Abrufbar unter consilium.europa.eu.

Fagan, B. (2009): The Great Warming – Climate Change and the Rise and Fall of Civilizations. New York: Bloomsbury Press.

Fröhlich, C. (2016a): Climate migrants as protestors? Dispelling misconceptions about global environmental change in pre-revolutionary Syria. Contemporary Levant, 1(1), S. 38-50.

Fröhlich, C. (2016b): Menschliche Mobilität im Kontext ökologischer und politischer Krisen – Das Beispiel Syrien. In: Johannsen, M.; Schoch, B.; Mutschler, M.M.; Hauswedell, D.; Hippler, J. (Hrsg.): Friedensgutachten 2016. Münster: LIT, S. 89-100.

Gemenne, F.; Zickgraf, C.; Ionesco, D. (2015): The State of Environmental Migration 2015. Paris: Institute for Sustainable Development and International Relations, International Organization for Migration.

Gioli, G.; Hugo, G.; Manez Costa, M.; Scheffran, J. (2016): Human Mobility, Climate Adaptation, and Development. Introduction to Special Issue of Migration and Development, S. 1-6.

Internal Displacement Monitoring Centre/IDMC (2016): Global Report on Internal Displacement (GRID). Geneva, May 2016.

Intergovernmental Panel on Climate Change/IPCC (2014): Climate Change 2014 – Impacts, Adaptation, and Vulnerability. Fifth Assessment Report, Working Group II Report. Geneva.

Jakobeit, C. and Methmann, C. (2012): Climate Refugees’ as Dawning Catastrophe? A Critique of the Dominant Quest for Numbers. In: Scheffran, J.; Brzoska, M.; Brauch, H.G.; Link, P.M.; Schilling, J. (eds.): Climate Change, Human Security and Violent Conflict. Berlin: Springer, S. 301-314.

Kelley, C.P.; Mohtad, S.;Cane, M.A.; Seager, R.; Kushnir, Y. (2015): Climate change in the Fertile Crescent and implications of the recent Syrian drought. PNAS, 112(11), S. 3247-3252.

Nash, S. (2017): From Cancun to Paris – an Era of Policymaking on the Migration and Climate Change Nexus. Dissertation, Universität Hamburg, Fakultät Wirtschafts- und Sozialwissenschaften.

National Oceanic and Atmospheric Administration/NOAA (2011): NOAA study – Human-caused climate change a major factor in more frequent Mediterranean drought; noaanews.noaa.gov, October 27, 2011.

Scheffran, J. (1994): Kriegs- und Umweltflüchtlinge – Migration und Ausländerfeindlichkeit. In: Böhme, G.; Chakraborty, R.N.; Weiler, F.: Migration und Ausländerfeindlichkeit. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 23-38.

Scheffran, J.; Marmer, E.; Sow, P. (2012): Migration as a contribution to resilience and innovation in climate adaptation – Social networks and co-development in Northwest Africa. Applied Geography, 33, S. 119-127.

Scheffran, J. und Vollmer, R. (2012): Migration und Klimawandel – globale Verantwortung der EU statt Angstdebatte. In: Schoch, B.; Hauswedell, D.; Kursawe, J.; Johannsen, M. (Hrsg.): Friedensgutachten 2012. Münster: LIT, S. 209-221.

Scheffran, J. (2017): Klimawandel als Risikoverstärker in komplexen Systemen. In: Brasseur, G.; Jacob, D.; Schuck-Zöller, S. (Hrsg.): Klimawandel in Deutschland. Heidelberg: Springer, S. 287-294.

United Nations High Commissioner for Refugees/UNHCR (2017): Syria Regional Refugee Response – Inter-agency Information Sharing Portal. Stand vom 23. März 2017.

Werrell, C.E.; Femia, F.; Sternberg, T. (2015): Did We See It Coming? State Fragility, Climate Vulnerability, and the Uprisings in Syria and Egypt. SAIS Review of International Affairs 35(1), S. 29-46.

Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen/WBGU (2007): Sicherheitsrisiko Klimawandel. Berlin/Heidelberg: Springer.

Dr. Jürgen Scheffran ist Professor für Geographie und Leiter der Forschungsgruppe Klimawandel und Sicherheit (CLISEC) an der Universität Hamburg. Er ist Mitglied der W&F-Redaktion.
Dr. Christiane Fröhlich ist PostDoc in ­CLISEC und Research Fellow am Insti­tut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität ­Hamburg.

Moderate Islamisten


Moderate Islamisten

Zwischen Arabischem Frühling und »Islamischem Staat«

von Stephan Rosiny

In vielen arabischen Ländern ist die Situation heute schlechter als vor Beginn des »Arabischen Frühlings« in 2011. Paradigmatisch hierfür sind der Wahlsieg der ägyptischen Muslimbruderschaft 2012 und ihr Sturz durch das Militär 2013 sowie die militärische Expansion des »Islamischen Staats«. In einigen Ländern deuten Regime und Oppositionelle ihre gegenseitige Feindschaft heute als Ausdruck einer sunnitisch-schiitischen, also einer konfessionellen Spaltung. Es bleibt abzuwarten, welche mittel- und langfristigen Auswirkungen das abgebrochene Experiment einer moderat-islamistischen Regierung in Ägypten, die Eskalation konfessioneller Gegensätze und das apokalyptische Projekt des »Kalifat-Staats« für moderate Islamisten haben werden.

Der Nahe Osten und Nordafrika sind von strukturellen Konflikten geprägt, und die Region steht vor schwierigen Herausforderungen. Jahrzehnte autoritärer Herrschaft, ökonomischer Krisen und zahlreicher Kriege brachten korrupte Regime, institutionell unterentwickelte Staaten, Wohlstandsgefälle und tief gespaltene Gesellschaften hervor. Anfang 2011 erlebte die arabische Welt eine einmalige Abfolge lokaler Protestbewegungen, die sich gegen diese Zustände wandten und in westlichen Medien bald als »Arabischer Frühling« bezeichnet wurden. Sie beeinflussten und bestärkten sich wechselseitig in ihrer Symbolsprache und in ihren Forderungen.1 Die autoritären Herrscher von Tunesien, Ägypten, Libyen und Jemen wurden durch Massenproteste und Aufstände gestürzt, im Falle Libyens mit ausländischer militärischer Unterstützung. In weiteren Ländern rüttelten Protestbewegungen an der Herrschaft republikanischer und monarchischer Autokraten. Die Monarchen von Marokko, Jordanien, Kuwait und Oman konnten den Unmut durch moderate Reformen abfangen. In Bahrain und Saudi-Arabien schlugen die Könige die Proteste hingegen gewaltsam nieder. Lediglich in Katar und in den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) kam es zu keinen nennenswerten Demonstrationen.2

Islamismus im »Arabischen Frühling«

Die Protestbewegungen blieben anfangs weitgehend führerlos und ohne dominante Ideologie. Dies half ihnen bei der Mobilisierung breiter Bevölkerungsschichten und schützte sie vor staatlicher Repression, da etwaige Anführer nicht wie bei früheren Protesten einfach verhaftet werden konnten. Das Fehlen von Führungspersönlichkeiten erwies sich im Verlauf der Proteste aber als Schwäche, denn die mangelnde Kohärenz der unterschiedlich motivierten Oppositionsgruppen führte, je länger sich die Proteste hinzogen, zu Fragmentierung und Konkurrenz. Es fehlte ein Programm zur Durchsetzung der Forderungen und zur Neugestaltung der politischen Ordnung.

Dieser Mangel an Alternativen erklärt, warum in vielen Ländern zunächst vor allem moderate Islamisten profitierten. Sie konnten ein umfassendes Angebot an Identitätsstiftung, partizipativen Institutionen und Ideen für eine gerechtere Gesellschaft machen. Viele westliche Beobachter waren überrascht, dass islamistische Akteure eine so breite Zustimmung erhielten und sich gegen liberale, jugendlich-revolutionäre Oppositionskräfte durchsetzen konnten. Denn diese hatten das bunte, urbane Spek­trum der Proteste dominiert, das Anfang des Jahres 2011 live im Fernsehen zu beobachten war, etwa auf dem zentralen ­Tahrir-Platz in Kairo.

Gemäßigte Islamisten propagieren ein inklusives Gesellschaftsmodell, das eine breite soziale Basis anspricht: Jugendliche, Erwachsene und Alte, Arme und Reiche, Frauen und Männer, »Bildungsferne« und Intellektuelle gleichermaßen. Sie wollen regionale Entwicklungsgefälle und die Fragmentierung in Ethnien und Stämme überwinden. Uneigennützigkeit und jenseitige Belohnung stehen dabei gegenüber kurzfristigem Profitdenken im Vordergrund. Korruption gilt ihnen nicht nur als ökonomische Straftat, sondern als moralische Verfehlung. Islamisten in Jordanien, Palästina, Ägypten und vielen anderen Ländern unterhalten Einrichtungen der karitativen Versorgung, Gesundheitsfürsorge, Bildung und der Wirtschaftsförderung mit Vermarktungshilfen und Kleinkreditprojekten. Sie schaffen Arbeitsplätze auch in vom Staat vernachlässigten Regionen. So greifen sie die unerfüllten Forderungen der früheren nationalistischen Bewegungen nach Stärke, Unabhängigkeit, Wohlfahrt, Gerechtigkeit und Einheit auf und präsentieren sie in islamischem Gewand.

Islamisten sind keine homogene Bewegung, sondern treten konfessionell und ideologisch je nach Region in unterschiedlichen Strömungen auf. Erfolgreich waren Massenproteste unter Beteiligung moderater Islamisten in den homogen sunnitischen Republiken Nordafrikas; nicht jedoch in den konservativen Golfmonarchien und den konfessionell heterogenen ostarabischen Ländern. Dort spielte der konfessionelle Sunna-Schia-Gegensatz bei der Eskalation von Demagogie und Gewalt eine dominante Rolle. Moderate sunnitische und schiitische Islamisten protestierten zwar gegen die Machthaber der jeweils anderen Konfession, hielten sich aber mit Kritik an Autokraten ihrer eigenen Konfession zurück. Im Machtvakuum zerfallender Staatlichkeit breiteten sich zusätzlich salafistische und dschihadistische Gewaltakteure, wie al-Qaida und der »Islamische Staat«, aus.3

Von der Hoffnung zur Resignation

Die Protestierenden des »Arabischen Frühlings« waren sich in ihren allgemeinen Forderungen einig: Sturz autoritärer Herrscher, Würde und Brot, Freiheit und Gerechtigkeit, Kampf gegen Korruption und Klientelismus. Die Ursachen der Unzufriedenheit lassen sich grob drei Themenfeldern zuordnen:

  • Die Suche nach einer kollektiven Identität geht weiter. Die republikanischen Regime dieser Region legitimierten ihre Herrschaft mit dem Antiimperialismus der postkolonialen Phase und einer Mischung aus panarabischem und einzelstaatlichem Nationalismus. Dem lagen Versprechen von Einheit, politischer Unabhängigkeit, technologischem Fortschritt und wirtschaftlicher Entwicklung zugrunde. Doch die Realität sah anders aus: Die Herrscher hielten an einzelstaatlichen Egoismen fest, ihre Länder blieben im Vergleich zu anderen Weltregionen politisch, wirtschaftlich und technologisch rückständig. Westliche Vorstellungen von Sozialismus, Demokratie und Neoliberalismus boten ebenfalls keine Verheißung, denn viele der verhassten Autokraten nannten sich »sozialistisch«, der US-geführte Irakkrieg von 2003 war im Namen der Demokratisierung der Region geführt worden und neoliberale Strukturanpassungen hatten zum Rückzug der Staaten aus Versorgungsfunktionen und zur Verarmung geführt.
  • Es mangelt nahöstlichen Staaten an Möglichkeiten der gesellschaftlichen Partizipation, das heißt der Beteiligung an politischen Entscheidungsprozessen und am Chancenzugang. Scheindemokratien mit Wahlfälschungen, Parteienverboten, Repressionen und Menschenrechtsverletzungen schränken die politische Freiheit massiv ein. Sie sind aber nur ein Aspekt eines fundamentalen Partizipationsdefizits, das ökonomische, soziale und kulturelle Diskriminierung umfasst. Machthaber vergeben Arbeitsplätze und Dienstleistungen als Gunstbeweise über »Beziehungen« und nicht aufgrund von Wissen, Können oder Bedürftigkeit. Der neoliberale Rückzug des Staates aus der sozialen Versorgung führte zu einer weiteren Umverteilung von unten nach oben. Die Menschen suchen deshalb bei nichtstaatlichen Akteuren Schutz, so in religiösen Netzwerken.
  • Schließlich fehlt nahöstlichen Gesellschaften eine kollektive Vision, eine Vorstellung von einer besseren Zukunft. Nationalistische und sozialistische Regime gaben zwar vor, wirtschaftlichen und technologischen Fortschritt, nationale Unabhängigkeit und die arabische Einheit zu betreiben. Aber faktisch waren sie untereinander zerstritten und abhängig von ausländischer, meist westlicher, wirtschaftlicher und militärischer Hilfe.

Im »Arabischen Frühling« spielten diese drei Faktoren eine wichtige Rolle, was sich in der Symbolik und den Forderungen zeigte. Protestierende trugen als Zeichen ihrer gemeinsamen Identität die Nationalflaggen und malten sich deren Farben ins Gesicht. Sie forderten politische Partizipation und ökonomische Teilhabe als garantierte Rechte statt wie bisher als Wohltätigkeitsakte des Obrigkeitsstaats. Schließlich formulierten sie als Ziel ein Leben in Würde, Freiheit und Gerechtigkeit.

Mehr als fünf Jahre nach Beginn der Proteste ist die Hoffnung auf einen grundlegenden Wandel der Resignation gewichen. Der Wunsch nach breiter politischer Partizipation und wirtschaftlichem Aufschwung war groß – und wurde von den neuen oder reformierten Regimen weitgehend enttäuscht. Die meisten autoritären Regime haben ihre Macht konsolidiert. In einigen Ländern eskalierten konfessionelle Gegensätze und mündeten in Gewalt. Schließlich nutzte die dschihadistische Miliz des »Islamischen Staats« das Machtvakuum im Irak, in Syrien und in Libyen, um ein Terrorregime und den Kern eines »globalen Kalifats« zu errichten.

Aufstieg und Sturz der Muslimbruderschaft in Ägypten

In Tunesien, Marokko und Ägypten gewannen bei ersten freien Wahlen moderate islamistische Parteien. In Libyen, Algerien und Jemen erzielten sie gute Wahlergebnisse. Neben ihnen konnten sich fundamentalistische Salafisten als unerwartete zweite Kraft im islamistischen Spektrum etablieren.

In Ägypten gewann die moderate Muslimbruderschaft bei den Parlamentswahlen, die vom 28.11.2011 bis zum 10.1.2012 durchgeführt wurden. Die Muslimbruderschaft war bereits 1928 als erste islamistische Bewegung gegründet worden und bildet den Archetyp sunnitisch-islamistischer Bewegungen über den Nahen Osten hinaus. Im Juni 2012 gewann ihr Parteivorsitzender, Muhammad Mursi, auch die ersten Präsidentschaftswahlen. Erstmals in der Geschichte der arabischen Welt waren Islamisten durch offene und freie Wahlen an die Macht gelangt, ohne dass sie wie 1992 in Algerien sofort weggeputscht oder wie die Hamas-Regierung 2006 mit internationalem Boykott belegt worden waren.

Es gelang der Muslimbruderschaft indes nicht, die hohen in sie gesetzten Erwartungen bezüglich einer schnellen Verbesserung der wirtschaftlichen Lage und einer integrativen Regierungsführung zu erfüllen. Die strukturellen Schwächen der ägyptischen Wirtschaft ähneln denen anderer nahöstlicher Ökonomien: eine hohe Staatsverschuldung, ein aufgeblähter Staatssektor, in dem regimetreue Studienabgänger versorgt werden müssen, hohe Jugendarbeitslosigkeit und eine krisenanfällige Abhängigkeit von meist nur einem dominanten Wirtschaftssektor. Die Muslimbruderschaft konnte diese Mängel nicht beheben. Vielmehr verschlechterte sich die wirtschaftliche Lage, u.a. weil der für Ägypten existentiell wichtige Tourismus aufgrund der politischen Unruhen einbrach.

Die Muslimbruderschaft verlegte sich deshalb auf ihren Machtausbau und auf Symbolpolitik, indem sie die Islamisierung der Gesellschaft und der Außenpolitik betrieb. Sie brachte dadurch sowohl Säkulare, denen sie zu religiös war, als auch Salafisten, denen sie zu gemäßigt islamisch war, gegen sich auf. Als das Militär unter dem später unter fragwürdigen Umständen zum Staatspräsidenten gewählten General Abdel Fattah Sisi im Juli 2013 mit Unterstützung Saudi-Arabiens und der VAE putschte, konnte es sich auf die Zustimmung der Bevölkerung oder zumindest deren stillschweigende Duldung stützen. Bei dem gewaltsamen Sturz wurden mehr als 1.400 Menschen getötet, größtenteils Mitglieder der Muslimbruderschaft. In den Jahren seither verurteilten Gerichte über eintausend Anhänger der Bewegung, inklusive des entmachteten Präsidenten Mursi, zum Tode. In Ägypten, Saudi-Arabien und den VAE wurde die Muslimbruderschaft verboten.

Konfessionalisierung und Gewalteskalation

Im ostarabischen Raum bilden heute Repressionen seitens der Regime, in Gewalt umschlagende Proteste und konfessionelle Gegensätze eine gefährliche Mischung. In Syrien, Irak und Jemen entwickelten sich die im Frühjahr 2011 friedlich begonnenen Proteste zu internationalisierten Bürgerkriegen mit konfessionalistischen Stereotypen. Schiiten überwogen bei den Protesten gegen die sunnitischen Regime von Bahrain und Saudi-Arabien, Sunniten bei den Protesten und dann bewaffneten Aufständen gegen die schiitisch dominierte Staatsmacht in Syrien und Irak.

Die konfessionelle Polarisierung spiegelt sich auch in der Unterstützung der Rebellionen beziehungsweise der bedrängten Regime durch Regionalmächte wider. Sunnitische Golfmonarchien und die Türkei unterstützen einerseits sunnitische Rebellen in Syrien, andererseits sunnitische Regenten in Bahrain. Im Jemen intervenierten sie, um einen bewaffneten Aufstand schiitischer Zaiditen niederzuschlagen. Iran wiederum begrüßte die Proteste gegen das sunnitische Establishment in Nord­afrika, Bahrain und Jemen, während es in Syrien und Irak die schiitisch dominierten Herrscher beschützt.

Der regionale Machtkampf vertiefte das Sunna-Schia-Schisma: Iran gilt als schiitische Führungsmacht, Saudi-Arabien, VAE, Katar und Türkei stellen sich als sunnitische Schutzmächte vor einem mutmaßlichen schiitisch-persischen Expansionismus dar. Ihr Feindbild ähnelt dem salafistischer Dschihadisten, die Schiiten als »Verweigerer« (rafida) beschimpfen und bekämpfen, weil sie die Herrschaft der drei ersten – nach sunnitischer Lehre »rechtgeleiteten« – Kalifen Abu Bakr (632-634) , Umar (634-644) und Uthman (644-656) ablehnen. Der Konfessionalismus beschleunigte in den heterogenen Gesellschaften in Syrien, Irak und im Jemen die Gewaltspirale und den Staatszerfall. Das ist allerdings nicht der einzige innerislamische Gegensatz, der derzeit in der Region ausgetragen wird, denn die sunnitischen Mächte sind ihrerseits intern über ihre Unterstützung (Katar und Türkei) beziehungsweise Bekämpfung (Saudi-Arabien und VAE) der Muslimbruderschaft gespalten. Diese innersunnitische Konkurrenz tritt derzeit im gemeinsamen Kampf gegen das syrische Regime von Baschar al-Assad und angesichts der Bedrohung durch den »Islamischen Staat« in den Hintergrund, bleibt aber virulent.

Dschihadismus und der »Islamische Staat« (IS)

Der »Arabische Frühling« schwächte zunächst den globalen Dschihadismus, weil dessen Postulat widerlegt schien, wonach ein Sturz der Regime nur gewaltsam möglich sei. Die gescheiterten Reformprozesse bescherten jedoch einem zweiten dschihadistischen Narrativ erneut Zulauf, das besagt, Demokratie sei ein unislamisches Instrument des Westens zur Spaltung und Beherrschung der Muslime. Militante Dschihadisten haben sich mittlerweile überall dort festgesetzt, wo die Gewalt zwischen Staat und Opposition eskalierte und das staatliche Machtmonopol zerfiel, so in Syrien, Jemen, Libyen, im Irak und neuerdings in Teilen Ägyptens.

Am erfolgreichsten war dabei bislang der »Islamische Staat«. Mit der Ausrufung eines »Kalifats« am 29. Juni 2014 proklamierte Abu Bakr al-Baghdadi, die Einheit aller Muslime wiedererlangen zu wollen. Er forderte alle Muslime weltweit zur »hidschra« auf, das heißt zur Auswanderung aus dem von »Ungläubigen« beherrschten Territorium in den »Islamischen Staat«. Mit seiner apokalyptischen Vision einer nahenden Endschlacht zwischen Gläubigen und Ungläubigen und professionellem Medieneinsatz gelang es dem IS, rund dreißigtausend ausländische Kämpfer zu mobilisieren und ein regionales Netzwerk an terroristischen Zellen zu errichten.

Der kometenhafte Aufstieg des IS belegt, welchen Einfluss eschatologisch visionäre Bewegungen in Zeiten massiver Verunsicherung gewinnen können. Aus dem erfolgreichsten Transformationsland des »Arabischen Frühlings«, Tunesien, kommen (nach Saudi-Arabien) heute die meisten Kämpfer zum IS. Seine todesmutigen Dschihad-Kämpfer haben ein beachtliches Territorium in Syrien und im Irak erobert. Professionell aufgearbeitete Propagandavideos zeigen einen vermeintlich idealen Staat, in dem Gottes Gesetz anstatt korrupter menschlicher Regeln gelten soll. In Wirklichkeit herrscht dort ein Terrorregime, das die Bevölkerung mit brutaler Gewalt gängelt. Der IS verbreitet mit seinen Hinrichtungsmethoden und Terroranschlägen weit über die Region hinaus Angst und Schrecken. Massaker an Minderheiten, Angriffe auf die Staatlichkeit des Irak und Syriens sowie Drohungen gegen die Nachbarstaaten Jordanien, Israel, Libanon und Saudi-Arabien wurden mit einer erneuten westlichen Militärintervention beantwortet und haben die Muslime zusätzlich tief verunsichert und gespalten.

Herausforderungen für die moderaten Islamisten

Die von großen Erwartungen getragenen Protestbewegungen des »Arabischen Frühlings« wurden mittlerweile durch großflächige Krisen- und Kriegsherde zunichte gemacht. In der gesamten Region bilden politische Machtkämpfe und religiös-ideologische Polarisierung ein gefährliches Amalgam. Moderate Islamisten hatten einst ihre Stärke im Vergleich zu anderen Oppositionsgruppen daraus gezogen, dass sie eine authentische Identität anboten, Forderungen nach Partizipation glaubwürdig vertraten und die Vision einer besseren Welt vermittelten. Diese drei Themenfelder haben sich inzwischen zu den größten Herausforderungen nicht nur für Islamisten, sondern für die gesamte Region entwickelt.

  • Identität: Viele regionale Akteure, keinesfalls nur Islamisten, bestimmen ihre Zugehörigkeit mittlerweile primär über die Konfession. Der Sunna-Schia-Gegensatz dominiert die politische Allianzbildung und verschärft die regionalen machtpolitischen Gegensätze. Wird sich der als Stellvertreterkrieg in Syrien, Irak, Jemen und anderen Ländern stattfindende innerislamische Bürgerkrieg zu einem regionalen Krieg zwischen sunnitisch und schiitisch dominierten Staaten ausweiten? Oder gelingt es moderaten islamistischen Vertretern der sunnitischen und schiitischen Gemeinschaften, an ökumenische Initiativen und überkonfessionelle politische Allianzen anzuknüpfen, die es in der Vergangenheit bereits gab?
  • Partizipation: Der gewaltsame Sturz des gewählten ägyptischen Präsidenten Mursi war ein schwerer Rückschlag für moderate sunnitische Islamisten. Für sie stellt sich die Herausforderung politischer Partizipation und der Implementierung eines gesellschaftspolitischen Reformprojekts in der Gegenwart neu. Werden sie sich nach dieser desillusionierenden Erfahrung künftig noch auf das Experiment kompetitiver freier Wahlen einlassen? Werden sie integrativere politische Modelle der Machtteilung entwickeln, mit denen sie breiteren Rückhalt in der Bevölkerung finden und den Brückenschlag zu Säkularen und Mitgliedern anderer Religionsgemeinschaften schaffen? Oder werden radikale Islamisten an Zulauf gewinnen, die einen gewaltsamen Regimesturz als einzige Option propagieren?
  • Vision: Reform-islamistische Parteien griffen die nicht eingelösten Versprechen und Forderungen des Nationalismus nach Unabhängigkeit, Gerechtigkeit, Partizipation, Entwicklung und Würde auf und präsentierten sie in einem »authentisch islamischen« Gewand. Allerdings scheiterten sie bislang dort, wo sie mitregieren, daran, diese Vision durchzusetzen. Auch aus der Enttäuschung über das erneute Scheitern zog der IS seine Legitimität. Mit seiner Brutalität und Intoleranz gegen andere Religionen hat er das Image des Islam aber schwer beschädigt. Wird es sunnitischen Islamisten des Mainstream gelingen, sich glaubwürdig von diesem Missbrauch ihrer Religion zu distanzieren? Können sie dem als Kalifat bezeichneten Terrorstaat eine positive, tolerante und integrative gesellschaftspolitische Vision entgegenstellen?

Viele der Protestbewegungen im Nahen Osten lassen sich mit dem unerfüllten Verlangen nach Identität, Partizipation und einer Vision erklären. Sollten moderate Islamisten keine Antworten auf diese drei Herausforderungen finden, werden sie weiter an Zulauf verlieren. Es wäre zu hoffen, dass sie (und andere politische Akteure) eine tolerante, pluralistische Identität statt ethnisch-konfessionellem Chauvinismus, inklusive Regierungen der Machtteilung statt Alleinherrschaft und realistische Perspektiven statt unerfüllbarer Visionen entwickeln könnten. Werden die drei genannten Herausforderungen nicht gemeistert, werden die Gesellschaften insgesamt verlieren: Immer mehr junge Menschen, insbesondere besser ausgebildete, werden ihren Heimatländern den Rücken kehren und auswandern. Sie entziehen damit der Region motivierte Fachkräfte, die für einen wirtschaftlichen Aufschwung dringend benötigt werden.

Die restaurierten autoritären Regime sind nicht in der Lage, die Gräben ihrer ideologisch und konfessionell gespaltenen Gesellschaften, die sie häufig selbst mit geschaffen haben, zu überbrücken. Eine Alternative könnten Modelle der Konsensdemokratie sein, in denen die verschiedenen Gruppen – inklusive moderater Islamisten – garantierte Anteile an der Macht erhalten, in großen Koalitionen zusammen regieren und sich auf Kompromisse einigen müssen. Grundlegende Gesellschaftsreformen können nur von integrativen Regierungen erarbeitet und durchgesetzt werden.

Gelingen diese Reformen nicht, werden die Zurückgebliebenen, die sich ausgeschlossen fühlen von der globalen Moderne, anfällig bleiben für die Heilsversprechen radikaler Prediger.

Anmerkungen

1) Rosiny, S. (2011): Ein Jahr »Arabischer Frühling« – Auslöser, Dynamiken und Perspektiven. GIGA Focus Nahost Bd. 12.

2) Bank, A.; Richter, T.; Sunik, A.: Durable, Yet Different – Monarchies in the Arab Spring. Journal of Arabian Studies 4(2), Juli 2014, S. 163-79.

3) Ausführlich beschreibe ich die unterschiedlichen Richtungen des Islamismus im Arabischen Frühling in: Rosiny, S. (2012): Islamismus und die Krise der autoritären arabischen Regime. GIGA Focus Nahost Bd. 2.
Zum »Islamischen Staat« siehe Rosiny, S. (2014): »Des Kalifen neue Kleider« – Der Islamische Staat in Irak und Syrien. GIGA Focus Nahost Bd. 6.

Dr. Stephan Rosiny studierte Politikwissenschaften, Neuere Geschichte und Philosophie in Frankfurt a.M. und promovierte 1997 zu »Islamismus bei den Schiiten im Libanon – Religion im Übergang zwischen Tradition und Moderne«. Er ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am GIGA Institut für Nahost Studien und Redakteur der Publikationsreihe »GIGA Focus Nahost«.