Europe and the Middle East in Transition

Europe and the Middle East in Transition

Hessische Internationale Sommeruniversität (ISU), 18. Juli bis 15. August 2015, Marburg

von Lydia Koblofsky

Der Nahe und Mittlere Osten liegt in der direkten Peripherie der Europäischen Union. Über die regionale Nähe hinaus verbinden thematische Schwerpunkte eine lange gemeinsame Geschichte und eine nicht konfliktfreie Gegenwart – politische sowie ökonomische Interessen und gegenseitige Abhängigkeiten eingeschlossen. Gerade im Licht der Ereignisse der vergangenen Jahre hat das Thema höchst aktuellen Bezug.

Seit 2010 sind die Fragen nach den Beziehungen zwischen Europa und dem Nahen und Mittleren Osten sowie nach Friedensperspektiven und Konfliktbearbeitungsstrategien thematische Schwerpunkte der Internationalen Sommerschulen in Marburg. Ausgerichtet vom Centrum für Nah- und Mittelost Studien und dem Zentrum für Konfliktforschung fand im Sommer 2015 zu diesem Thema an der Philipps-Universität Marburg die 17. Hessische Internationale Sommeruniversität (ISU) statt. Während des vierwöchigen universitären Sommerstudienprogramms befassten sich die einschlägigen Seminare mit der Beziehung zwischen Europa und dem Nahen und Mittleren Osten aus politischer, ökonomischer, kultur- und regionalwissenschaftlicher Perspektive. Deutsch-Sprachkurse, Exkursionen und themenbezogene Rahmenveranstaltungen ergänzten das Programm.

Die Begegnung mit Menschen aus der ganzen Welt und der Austausch untereinander über das Schwerpunktthema stehen bei der ISU immer im Mittelpunkt. In diesem Jahr kamen 61 Studierende aus 23 Ländern nach Marburg, unter anderem aus den Vereinigten Arabischen Emiraten, den USA, Kanada, Israel, Ägypten, Spanien, Polen, dem Sudan und China. Cailin Clothier aus den USA schilderte seine Eindrücke: „Das Programm hat einen großen Einfluss, glaube ich. Es gibt den Themen, die wir diskutieren, ein Gesicht. Wenn man weit weg ist von den Geschehnissen im Nahen und Mittleren Osten, ist es leicht, sich eine klare Meinung zu bilden oder sich zu distanzieren. Aber wenn man persönlich mit den Menschen aus der Region spricht, bekommt man ganz neue Perspektiven mit.“

„Ich belegte einen Kurs zu Palästina und Israel, der mir bewusst gemacht hat, was dort passiert“, sagte Fernando Lugo Castillo aus Mexiko. „Ich konnte mich gut in beide Seiten hineinversetzen, da klar wurde, wie hart es für beide Seiten war und ist. Das Programm sensibilisiert die Studierenden für das Thema. Wir haben Studierende beider Seiten in der ISU, aus Israel und Palästina. Es ist interessant, von ihren persönlichen Erfahrungen zu hören. Ich glaube, das kann wirklich Veränderungen bewirken.“

Janaya Forth aus Kanada betonte, das Programm der ISU sei auch für ihre spätere berufliche Praxis interessant: „Ich studiere Soziale Arbeit und werde in Zukunft mit Menschen auf individueller Ebene arbeiten, Konflikte bearbeiten und Mediationen durchführen. Die Kurse der ISU haben nicht nur Hintergrundwissen zu bieten, sondern auch praxisrelevante Methoden und Fragen.“

Auch die Möglichkeit, Sprachkurse im Deutschen zu belegen, war für viele Studierende wieder ein wichtiger Grund, um an der ISU teilzunehmen. Daneben bot die ISU den Studierenden ein vielfältiges und umfangreiches Rahmenprogramm. Die Wochenendexkursionen nach Frankfurt am Main, Kassel und Straßburg sowie weitere kulturelle Veranstaltungen, Vorträge, Filmvorführungen und Besuche der Marburger Synagoge und Moschee komplettierten das Programm, das den internationalen Studierenden eine Zeit intensiver sprachlicher und interkultureller Erfahrungen sicherte.

Für Sanaa Tannous aus Syrien war der Besuch des Europäischen Parlaments in Straßburg ein Highlight der ISU: „Dort kommen 28 Länder mit 24 verschiedenen Sprachen zusammen und sprechen miteinander. Warum können wir – die arabische Welt – nicht etwas Ähnliches tun? Obwohl die europäischen Länder kulturell und sprachlich sehr divers sind, haben sie eine Basis gefunden, auf der sie miteinander kooperieren.“

Die Hessischen Internationalen Sommeruniversitäten sind ein Gemeinschaftsprojekt der hessischen Universitäten und werden vom Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst gefördert. Weitere Informationen im Internet unter uni-marburg.de/isu?language_sync=1.

Lydia Koblofsky

Syrien nicht im Stich lassen!

Syrien nicht im Stich lassen!

von Robert Lindner

Die Kämpfe in Syrien nehmen kein Ende; über vier Jahre dauert die humanitäre Krise bereits. Mehr als elf Millionen Menschen – über die Hälfte der syrischen Bevölkerung – benötigt Hilfe zum Überleben. Etwa 7,6 Millionen sind im eigenen Land vor der Gewalt auf der Flucht, vier Millionen sind ins Ausland geflohen. In Syrien selbst leben 200.000 Menschen in belagerten Städten, wo sie unter Hunger leiden und kaum Zugang zu Trinkwasser haben. Immer mehr Menschen erreicht noch nicht einmal Nothilfe: 4,8 Millionen halten sich derzeit in Gebieten auf, die von den Vereinten Nationen (UN) als schwer zugänglich definiert werden. Vor unser aller Augen spielt sich in Syrien eine der schlimmsten humanitären Katastrophen der Gegenwart ab. Dennoch gilt die Aufmerksamkeit von Regierungen und Öffentlichkeit vor allem dem Krieg und dessen Akteuren. Das alltägliche Leid der normalen Menschen, die nichts mit der Gewalt zu tun haben, kommt hingegen viel zu kurz.

Inzwischen hat die Krise längst über das Bürgerkriegsland Syrien hinaus auf die ganze Region übergegriffen. In einigen Nachbarländern gibt es zunehmend Spannungen zwischen der dortigen Bevölkerung und den Flüchtlingen, die um Jobs sowie den Zugang zu Gesundheitsfürsorge und Bildung konkurrieren. Zum Beispiel im Libanon oder in Jordanien, wo derzeit etwa jeder vierte Einwohner ein syrischer Flüchtling ist. Dort stehen als Folge der enormen Zuwanderung die Wirtschaft und die sozialen Sicherungssysteme unter enormem Druck, und auch unter Bürgerinnen und Bürgern der Gastgeberländer nehmen Not und Armut zu. Einige Staaten riegeln deshalb ihre Grenzen immer weiter ab und lassen viele Flüchtlinge gar nicht mehr ins Land. Diese Menschen befinden sich in einer besonders prekären Situation, da sie schutzlos Angriffen ausgesetzt sind und kaum Nothilfe erhalten.

Die Vereinten Nationen und einflussreiche internationale Staaten haben nach wie vor kein Mittel gefunden, die Krise zu beenden oder zumindest den schutzlosesten Menschen in Syrien und in der Region ausreichende Hilfe zukommen zu lassen. Die UN-Nothilfeaufrufe sind chronisch unterfinanziert. Während der humanitäre Bedarf immer weiter ansteigt – verglichen mit 2013 ist er heute dreimal so hoch –, sind die Hilfsbemühungen immer unzureichender. Im März waren von den 8,7 Milliarden US$, die laut Berechnungen von UN und internationalen Hilfsorganisationen für die dringendsten Nothilfemaßnahmen 2015 benötigt werden, erst knapp zehn Prozent gedeckt.

Alle bisherigen politischen Initiativen für einen umfassenden Friedensschluss sind gescheitert, zuletzt in Genf im Februar 2014. Örtlich begrenzte Waffenstillstände, über die aktuell verstärkt diskutiert wird, können in bestimmten Fällen zumindest kurzzeitige Erleichterung für die Zivilbevölkerung bringen. Solche Kampfpausen haben jedoch in der Vergangenheit die Lage oft nicht nachhaltig verbessert, manche wurden sogar von Konfliktparteien für politische oder militärische Ziele missbraucht. Es ist deshalb unabdingbar, dass jegliche Friedensverhandlungen strikt auf Grundlage des humanitären Völkerrechts geführt werden. Auch wäre mehr internationale Unterstützung nötig, etwa durch unabhängige Vermittler und Überwacher. Schließlich muss die örtliche Zivilgesellschaft, also die von der Gewalt primär betroffenen Menschen, von Anfang an in Friedensbemühungen einbezogen werden.

Die Bilanz der internationalen Anstrengungen, die Krise zu beenden oder auch nur zu lindern, ist enttäuschend. In mehreren UN-Resolutionen, zuletzt im Februar 2014, forderte der Sicherheitsrat die Kriegsparteien dazu auf, Hungerblockaden zu beenden, Zivilisten und Helfer nicht anzugreifen und mehr humanitäre Hilfe zuzulassen. Doch umgesetzt wurde davon bislang so gut wie nichts. Ein wesentlicher Grund hierfür ist die Unfähigkeit oder der mangelnde Willen internationaler Mächte, Einfluss auf Verantwortliche der Krise in Syrien und in der Region auszuüben.

Was könnte ansonsten getan werden? Verglichen mit der Last, die zum Beispiel ein winziges Land wie der Libanon zu tragen hat, haben reiche Staaten in Europa und anderswo verschwindend wenige syrische Flüchtlinge bei sich aufgenommen. Oxfam und andere Nichtregierungsorganisationen fordern deshalb reiche Länder außerhalb der Region auf, mindestens fünf Prozent aller registrierten syrischen Flüchtlinge humanitäre Aufnahme zu gewähren. Deutschland hat innerhalb Europas – auch gemessen an seiner Größe und Wirtschaftskraft – bisher am meisten Flüchtlinge aufgenommen. Doch hat unser Land während der Balkankriege bewiesen, dass es in der Lage wäre, wesentlich mehr zu leisten.

Robert Lindner ist Syrienreferent von Oxfam Deutschland e.V.

Verpasste Chancen

Verpasste Chancen

von Jochen Hippler

Die schlechten Nachrichten aus dem Nahen und Mittleren Osten reißen nicht ab. Gerade erst stand das dramatische Vordringen der Terrormiliz »Islamischer Staat«, vor allem im Irak, im Zentrum der Aufmerksamkeit. Dann gab es schon wieder neue Schreckensnachrichten, diesmal vom Gaza-Krieg. Der Arabische Frühling ist offensichtlich vorüber oder zumindest für Jahre auf Halt gesetzt. Das Bild wird nicht länger von einer mitreißenden Dynamik in der Region, vom Sturz mehrerer Diktatoren durch friedliche Massendemonstrationen bestimmt, sondern von Ereignissen wie dem Bürgerkrieg in Syrien, dem Militärputsch in Ägypten oder den bereits erwähnten Kriegen im Irak und in Gaza. Dabei gerieten sogar der dramatische Staatszerfall und der wachsende Extremismus in Libyen aus dem Blick. Andere Länder, die aus internen oder regionalen Gründen unter schwerem politischen Stress stehen, finden ohnehin kaum noch Beachtung, etwa Libanon, Bahrain oder Jemen. Die Atmosphäre hat sich grundlegend gewandelt: Anstatt Hoffnung auf mehr Pluralismus, Demokratie und politische Freiheit prägt eine Eskalation der Gewaltkonflikte die Situation.

Eine Gemeinsamkeit vieler Länder in der Region tritt seit dem Arabischen Frühling stärker zutage: eine politische Kultur, die Politik als Nullsummenspiel auffasst und nicht auf Konsensbildung, sondern auf gesellschaftliche und politische Dominanz zulasten anderer ausgerichtet ist. Dies soll im Folgenden an den Beispielen Ägypten und Irak näher ausgeführt werden.

Ägypten

Präsident Mubarak wurde 2011 im Kontext einer breiten Massenmobilisierung durch einen Militärputsch gestürzt, als die Militärführung den Eindruck hatte, sie könnte ihre institutionellen (und persönlichen) Eigeninteressen besser ohne das Regime verfolgen. Die sich anschließende Herrschaft des Hohen Militärrates zielte weniger auf die Gestaltung der Zukunft Ägyptens, sondern vor allem auf die Wahrung der eigenen Interessen, die es in eine ungewisse Zukunft hinüberzuretten galt. Darin lag einer der Hauptgründe, warum die Militärführung bald das Vertrauen der meisten Menschen verlor.

Als Präsident Mursi bei der Wahl die Macht errang, hatte sich die Gesellschaft bereits polarisiert: hier eher säkular ausgerichtet, dort eher religiös. Mursi wurde nur von einer knappen Mehrheit der Bevölkerung unterstützt, und selbst zahlreiche Gegner der gestürzten Mubarak-Diktatur hielten einen prominenten Vertreter des alten Regimes für das kleinere Übel. Als Präsident bemühte sich Mursi bedauerlicherweise nicht um Kooperation und Verständigung mit den liberalen und säkularen Anti-Mubarak-Kräften, sondern glaubte, ohne bzw. gegen diese »durchregieren« zu können.

Anstatt also nach Jahrzehnten der Diktatur sein Augenmerk auf die Herausbildung eines neuen gesellschaftlichen Konsenses zu richten und den Staatsapparat an Haupt und Gliedern demokratisch zu reformieren, versuchten Mursi und die Muslimbrüder, den alten Staat unter Missachtung eines Großteils der ägyptischen Gesellschaft einfach für sich in Besitz zu nehmen. Um sich gegen die Opposition – die säkulare wie salafistische, alte Regimekräfte wie demokratische Revolutionäre – durchzusetzen, wollte Mursi die Repressionskräfte des alten Regimes unreformiert gegen die Opposition in Stellung bringen. Dabei ignorierte er die institutionellen und individuellen Eigeninteressen der Machtapparate von Polizei und Militär und lieferte sich ihnen faktisch aus.

Umgekehrt erwies sich die Opposition als ebenso kurzsichtig. Die säkularen wie die salafistischen Kräfte traten zwar der neuen Arroganz der Macht Mursis entgegen, spalteten die Gesellschaft aber in zwei Lager: pro oder contra Muslimbrüder. Der Kampf für Demokratie und Staatsreformen wurde dem Kampf gegen Mursi untergeordnet. Wie Mursi setzten die Säkularen und die Salafisten auf die alten, unreformierten Repressionsorgane der Diktatur, bemühten sich, diese gegen den gewählten Präsidenten zu instrumentalisieren, und forderten sie schließlich sogar zum Putsch auf. Damit begingen die demokratischen Kräfte Selbstmord aus Angst vor dem Tod.

Nun hatte die Militärführung unter General Sisi das Heft in der Hand: Sie konnte sich zwischen Mursi oder der Opposition entscheiden, die sich beide bei ihr anbiederten. Die Militärs entschieden sich, dem Liebeswerben der säkularen und salafistischen Opposition nachzugeben und den gewählten islamistischen Präsidenten zu stürzen – um kurz darauf den Oppositionsgruppen demonstrativ jegliche relevante Machtbeteiligung zu verweigern. Der Muslimbruderschaft hätten sie Zugeständnisse machen müssen, gegenüber der Opposition waren diese entbehrlich.

Sowohl die Muslimbrüder wie ihre Gegner verschätzten sich also erheblich in der Annahme, ihre eigenen Vorstellungen gegen den Rest der Gesellschaft durchsetzen zu können. Damit servierten sie dem Militär die ganze Macht auf einem silbernen Tablett. Die Schlüsselaufgabe nach dem Sturz Mubaraks – einen neuen gesellschaftlichen und politischen Konsens aller prinzipiell demokratiefähigen und demokratiewilligen Kräfte herbeizuführen und auf dieser Grundlage eine rechtsstaatliche und demokratische Reform aller staatlichen Strukturen in Gang zu bringen – wurde von den zentralen Akteursgruppen in Ägypten nicht einmal ansatzweise wahrgenommen. Diese historische Unfähigkeit der islamistischen wie der säkularen Parteien und Gruppen lud das Militär direkt zum Putsch ein – und dieses nahm die Gelegenheit ohne zu zögern wahr.

Irak

Die Entwicklung im Irak nahm ihren Fortgang unter noch ungünstigeren Bedingungen. Die Diktatur unter Saddam Hussein hatte die irakische Gesellschaft jahrzehntelang gelähmt und traumatisiert. 2003 wurde das Land von US- und einigen verbündeten Truppen besetzt. Da »repräsentative« Politiker im Irak nach dem Krieg nicht zu finden waren (das Parteienwesen und die Zivilgesellschaft waren nach der jahrzehntelangen Diktatur extrem schwach), setzte die US-Regierung darauf, Vertreter »der verschiedenen Bevölkerungsgruppen« zu finden, an die sie die Macht übergeben könnten.

Praktisch bedeutete dies, auf die Suche nach Führungspersonen der ethno-konfessionellen Gruppen (Sunniten, Schiiten, Kurden, andere) zu gehen. Faktisch wurde damit eine Prämie dafür ausgesetzt, sich besonders schiitisch, sunnitisch oder kurdisch zu gebärden. Dies löste einen regelrechten Wettlauf aus, die konfessionellen Unterschiede zu betonen, und trat eine Welle der Ethnisierung los, die sich bald mit dem Krieg vermischte (Krieg gegen die Besatzung, gegen die neue Regierung, zwischen schiitischen und sunnitischen Gruppen, innerhalb dieser um die Führungsrolle, dazu regionaler Jihadismus). 2006/2007, auf dem Höhepunkt der Kämpfe, starben in diesem Krieg monatlich bis zu 3.500 Menschen.

In der Folgezeit begingen die al-Kaida-nahen Jihadisten mit ihrem brutalen Vorgehen selbst in sunnitischen Siedlungsgebieten politischen Selbstmord und wurden von sunnitischen Milzen und Stämmen gejagt und geschlagen; zugleich stellte die extremistische schiitische Mahdi-Miliz ihre Operationen weitgehend ein. So gab es 2009-2011 eine realistische Chance, dass der Irak in ruhigeres Fahrwasser kommen und ein stabiles politisches System herausbilden könne. Die Opferzahlen sanken auf unter 200 pro Monat.

Die Parlamentswahl im Jahr 2010 weckte daher Hoffnung, insbesondere da die sunnitische Gemeinschaft zu einer politischen Reintegration bereit war und sich aktiv an der Wahl beteiligte, oft sogar unter säkularer Führung. In Wirklichkeit markierte die Wahl einen Wendepunkt in der irakischen Politik: Ministerpräsident Maliki bekam nur die zweitmeisten Stimmen, schaffte es aber durch Tricks, wieder zum Regierungschef gewählt zu werden. Seitdem stellte er seine persönlichen Machtinteressen systematisch über die des Irak. Anstatt die Chance zu einer Versöhnung aller Gruppen zu nutzen, setzte er auf die konfessionelle (schiitische) Karte und betrieb eine scharfe Ethnisierung der Politik. Zwar wurden fast alle Kräfte in die Regierung einbezogen, diese war aber gelähmt und handlungsunfähig, während der Ministerpräsident alle Macht an sich zog. Maliki trachtete danach, alle tatsächlichen und potentiellen Gegner auszuschalten, und betrieb eine Politik der Vernachlässigung und Repression vor allem der sunnitischen Gebiete. Sunnitische Spitzenpolitiker wurden unter oft vagen Vorwänden zu »Terroristen« erklärt und verfolgt, teilweise zum Tode verurteilt.

In den sunnitischen Siedlungsgebieten kam es daraufhin zu einer erneuten Radikalisierung, zur Distanzierung von der irakischen Regierung und dem politischen System. Regionale jihadistische Gruppen kehrten zurück, gestärkt durch den Bürgerkrieg in Syrien. Die Terrormiliz »Islamischer Staat im Irak und Syrien« (ISIS), die jetzt schlicht »Islamischer Staat« genannt werden will, nahm einen rasanten Aufschwung. ISIS hat sich dabei wohl auch gegen al-Kaida-nahe Kräfte durchgesetzt, die nicht mehr radikal genug zu sein scheinen. Es gelang ISIS die oft fast kampflose Eroberung großer irakischer Gebiete im Westen und Norden, was weniger auf ihre Stärke zurückzuführen ist, sondern vor allem darauf, dass die Organe des irakischen Staates angesichts des ISIS-Vordringens wegschmolzen wie Schnee in der Sonne. Viele – insbesondere sunnitische – Soldaten sahen keinen Grund, für die Regierung Maliki zu kämpfen, und desertierten bei der ersten Gelegenheit.

Die kurdischen Parteien nutzten diese Chance, ihre Autonomiezone deutlich zu vergrößern und die ölreiche, lange umstrittene Stadt Kirkuk unter ihre Kontrolle zu bringen – die Regierungstruppen hatten die Stadt aus Angst vor ISIS zuvor schnell geräumt.

Transformation vertagt

Heute bestimmen nicht mehr Bemühungen um Demokratie den Nahen und Mittleren Osten, sondern eine Reihe weniger erfreulicher Faktoren: Es ist eine Fragmentierung von Staatlichkeit zu verzeichnen, etwa in Syrien, dem Irak, dem Libanon, Libyen und dem Jemen. Es gibt autoritäre oder diktatorische Tendenzen, vor allem in Ägypten, ebenso in Algerien und unter Bürgerkriegsbedingungen in Syrien, wo Bashar Assad sich heute sicherer fühlen kann als noch vor zwei Jahren. Und es gibt einen dramatischen Wiederaufschwung des Jihadismus, der noch 2011 der große Verlierer des Arabischen Frühlings zu sein schien, in Libyen, Syrien und dem Irak. Auch der ägyptische Militärputsch dürfte zur Radikalisierung des dortigen Islamismus beitragen. Im vergangenen Jahr wurden nicht nur zahlreiche Islamisten eingesperrt und zum Tode verurteilt, es wurden auch über 500 Polizisten und Soldaten getötet.

Die demokratische Transformation des Nahen und Mittleren Ostens ist vorerst vertagt. Es bleibt zu hoffen, dass Islamisten wie Säkulare sich beim nächsten Anlauf erinnern werden, dass diese ohne demokratischen Konsens zwischen ihnen und Inklusion beider nicht gelingen kann.

Jochen Hippler ist Politikwissenschaftler und Friedensforscher am Institut für Entwicklung und Frieden (INEF) der Universität Duisburg-Essen. Einer seiner Arbeitsschwerpunkte ist der Nahe und Mittlere Osten.

Subversion in arabischer Literatur

Subversion in arabischer Literatur

von Friederike Pannewick

Der frische Wind des »Arabischen Frühlings« ist verweht, Hoffnungen wurden enttäuscht, Ängste geschürt. Zunächst blühten friedliche emanzipatorische Bestrebungen einer breiten Bevölkerungsschicht auf, doch dann setzten sich die alten autoritären und korrupten Machteliten langsam wieder durch. Intellektuelle und Künstler riskieren ihre Sicherheit und oft sogar ihr Leben bei dem Versuch, gegen die Unterdrückung von Meinungsfreiheit anzuschreiben. Täglich suchen sie neu nach Strategien, um die Zensoren auszutricksen.

Dieser Überlebenskampf der Kunst geht bis in die Kolonialzeit zurück. In der frühen postkolonialen Zeit rezipierten arabische Schriftsteller mit großer Begeisterung das Konzept einer »littérature engagée« des französischen Philosophen J.-P. Sartre, das vom Autor eine klare Stellungnahme in Krisenzeiten fordert. Diese offene Konfrontation wurde aber zunehmend lebensgefährlich. In dieser Situation wird die Kunst der Subversion wichtig: Sie verschleiert ihre politische Botschaft mit ästhetischen Mitteln und wendet sich an aufmerksame Leser, die zwischen den Zeilen zu lesen verstehen. Auf den ersten Blick erscheinen diese Texte unpolitisch, erst auf den zweiten Blick entwickeln sie ihre provokative Sprengkraft – und genau das macht sie in Zeiten der Zensur so wirkungsmächtig.

Die moderne arabische Literatur spiegelt die politische Instabilität und Gewalt der letzten Jahrzehnte deutlich wider. Sie reflektiert diese problematischen Bedingungen und ist zugleich von diesen geprägt – eine klassische Doppelfunktion von Kunst. Den arabischen Künstlern schien es angesichts dieser bedrückenden Lage unmöglich, eine von der Tagespolitik losgelöste »Kunst um der Kunst willen« zu präsentieren. Viele ihrer Romane, Dramen oder Gedichte handeln von Menschenrechtsverletzungen, Verfolgung, Exil, Gefängnis und politischer wie körperlicher Gewalt. Der 1933 in Jordanien geborene und 2004 in Damaskus verstorbene Autor Abdarrahman Munif, Sohn eines saudi-arabischen Vaters und einer irakischen Mutter, sagte in einem Interview von 1990: „Ein arabischer Literat ist ein Fidai, ein Freiheitskämpfer. In Ländern, in denen es keine Meinungsfreiheit gibt, keine Parteien zugelassen sind, wo vielleicht nicht einmal eine Verfassung existiert, müssen die Intellektuellen, müssen alle, die sich ausdrücken können, Widerstand leisten. Ihre Aufgabe ist es, die Menschen aufzuklären, sie auf Recht und Unrecht hinzuweisen, solange es an legalen und allgemein anerkannten politischen Institutionen mangelt. In Saudi-Arabien und in einigen Golfländern gibt es keine Verfassung, keine Legislative und Exekutive, durch die die Machtverteilung zwischen Bürger und Staat geregelt wäre, keine Garantien, auf die sich ein Bürger notfalls auch gegen den Staat berufen könnte. Dort haben die Herrscher und die religiösen Führer die Macht, und sie nutzen sie nach Belieben für ihre Interessen.“ (Munif, taz 14.5.1990)

Schon in der Kolonialzeit hat es in der arabischen Literatur immer wieder prominente politische Stellungnahmen gegeben. Seit den 1950er Jahren verstärkte sich diese politische Funktion deutlich. Literatur wurde nun als eine Art Korrektiv der herrschenden Unrechtsverhältnisse im eigenen Land verstanden. Nicht selten – in Ländern wie Syrien oder Irak, aber auch in Ägypten – haben Schriftsteller dabei ihre persönliche Sicherheit und Freiheit aufs Spiel gesetzt. Angesichts dieser Hintergründe war und ist es bis heute zuweilen überlebenswichtig und außerdem ein guter Weg durch den Dschungel staatlicher und religiöser Zensur, wenn Autoren sich der Technik der Camouflage, des Sprechens zwischen den Zeilen und der Verschleierung bedienen – d.h., wenn sie die Kunst der Subversion beherrschen.

Subversion als Überlebensstrategie

Was ist Subversion? Ein hervorragendes Beispiel für literarische Subversion wäre das Trauergedicht Ibn al-Anbaris (gest. 977), verfasst in Bagdad im 10. Jahrhundert. Dieser schrieb Elegien auf seinen Patron und Freund, den Wesir Ibn Baqiyya. Ibn Baqiyya wurde aufgrund seiner oppositionellen Aktivitäten als Dissident zum Tode verurteilt. Der Herrscher ließ seinen Leichnam ans Kreuz schlagen und in den Straßen Bagdads ausstellen. Ibn al-Anbari schrieb daraufhin eine glänzende Elegie auf seinen Gönner – allerdings ohne die Kreuzigung und deren politischen Hintergrund zu erwähnen. Das Gedicht erlangte großen Ruhm, Kritiker priesen es als Glanzstück ohnegleichen. Als dem Herrscher eine Rezitation dieses Gedichts zu Ohren kam, das den Gekreuzigten so brillant pries, dass er als der edelste Mann seiner Zeiten erschien und nicht als zum Tode verurteilter politischer Rebell, drückte er seine Bewunderung aus, indem er ausrief, wie schade es sei, dass nicht er an dessen statt gekreuzigt worden sei, denn dann hätte man ebenso glänzende Zeilen über ihn verfasst.

Dieses Gedicht enthält eine hoch politische, ja explosive Botschaft: Die Entscheidung des Herrschers, einen Mann zum Tode zu verurteilen, wird in diesen Zeilen in Frage gestellt. Der Verurteilte wird als überlegener Held dargestellt, ein Vorbild an Moral und Weisheit. Selbst wenn das Gedicht dies nicht klar ausspricht, so löst es im Leser doch die skeptische Frage aus: Wie konnte ein weiser Herrscher einen so vorbildhaften Mann hinrichten lassen? Ein Dichter stellt hier also ein Urteil des Herrschers in Frage – und normalerweise hätte diese Kritik seine eigene Verurteilung zur Folge gehabt. Aber der Kritisierte nimmt die politische Provokation gar nicht wahr – so sehr ist er begeistert von der Ästhetik, vom literarischen Wert dieses Gedichts. Die als überzeitlich schön beurteilte Kunst siegt über die ephemere politische Autorität, Schönheit über den Tod.

Die politische Botschaft im Gedicht ist immer noch vorhanden, nur ist sie nicht gleich sichtbar an der Oberfläche; die explosive politische Kraft entfaltet sich nur langsam, fast bleibt sie unbemerkt. Nur sehr aufmerksame Zuhörer und scharfe Beobachter werden stutzig und bemerken den heiklen Charakter dieser Zeilen. Dieses Gedicht der klassischen arabischen Literatur ist ein Paradebeispiel subversiver Literatur. Es ist politisch und kritisch, aber erst auf den zweiten Blick. Es überbringt keine einfache und klare politische Botschaft, die sich an »das Volk«, die Massen, richtet, sondern spricht eher zu Individuen, zu einer kleinen Gruppe kluger Köpfe, die scharfsinnig genug sind, um diese subversive Sprache harscher politischer Kritik zu entziffern.

In seinem Buch mit dem Titel »Persecution and the Art of Writing« beschreibt der Philosoph Leo Strauss diese spezielle Schreibweise: Verfolgung lasse eine besondere Schreibtechnik entstehen, und somit auch einen besonderen Typ Literatur, in welchem Wahrheit und alle wesentlichen Dinge ausnahmslos zwischen den Zeilen angesprochen werden. Diese Literatur richtet sich, so Strauss, nicht an alle Leser, sondern nur an vertrauenswürdige und intelligente Leser (Strauss 1988, S.25), an eine Art verschworene Gemeinschaft.

Diese Form der indirekten ästhetischen Artikulation erwähnt auch der syrische Filmemacher Usama Muhammad in einem Interview: „Es gibt zwei Antworten auf die Regeln der Zensur. Eine ist, schlechte Kunst zu machen und über nichts zu reden, die zweite, zu sagen, was du sagen willst und Kunst zu machen […] Der Trick ist, seine eigene Sprache zu finden, und zwar eine indirekte, so dass man Filme über politische Macht, Religion, Sex und Gewalt machen kann auf metaphorische – und oft wirkungsmächtige – Weise.“ (zitiert nach Nice 2000, S.31)

Subversion als Kunst für Individuen

Im späten 20. Jahrhundert entwickelte sich in der arabischen Kunst eine emanzipatorisch-subversive Rhetorik, die zunehmend auf das kritische Bewusstsein des Individuums zielte. In der frühen postkolonialen Zeit der 1950er und 1960er Jahre bis hinein in die frühen 1970er Jahre, als die Idee der »engagierten Literatur/adab al-iltizam« in der arabischen Welt noch vorherrschend war, waren es eher »das Volk«, das Kollektiv oder die sozialen Klassen gewesen, die aufgeklärt und politisiert werden sollten. Dies hat sich in den letzten Jahrzehnten geändert: Die auf kollektiven Identitätskonzepten beruhenden Massenideologien, wie der Nationalismus und Islamismus, haben ihre Bedeutung zunehmend zugunsten individualisierter Denkmodelle und Artikulationsformen eingebüßt. Dadurch wurde ein tief greifender Wandel ausgelöst, der von Schulze (2012) als „Ende utopischen Denkens“ und als Übergang von politischen Normenordnungen zu einer lebensweltlichen Werteordnung bezeichnet wird: Es fand eine Entflechtung der Werte-Normen-Ordnung der Moderne statt, indem das Konzept »Gesellschaft« in Frage gestellt wurde, das bisher als normative Ordnung und soziale Vorstellungswelt das politische Ideal der Eliten gewesen ist.

Im Zentrum des Interesses steht nun der Einzelne in seiner individuellen Auseinandersetzung mit der ihn umgebenden Gesellschaft; es geht um Bewusstseinsprozesse und Erkenntnisse Einzelner in ihrer Begegnung mit Gesellschaft, Wirtschaft und Politik. Vermittelt werden sollen keine festen Weltbilder, Wertesysteme oder Ideologien. Klare Botschaften und normative Vorgaben erscheinen mehr denn je fraglich und ohne Überzeugungskraft – oder aber sie gewinnen gerade wegen der allgemein vorherrschenden postmodernen Verunsicherung erheblich an Attraktivität.

Subversive Strategien im irakischen Gefängnis

In einem Land wie dem Irak, das seit Jahrzehnten von totalitären Regimen, Unterdrückung der Meinungsfreiheit und Gewalt geprägt ist, hat die künstlerische Taktik der Subversion eine besondere Bedeutung. Ein Beispiel, wie sich in der irakischen Literatur Romanfiguren subversiver Verschleierungsstrategien bedienen, ist der Roman »Irakische Rhapsodie« des Schriftstellers, Dichters und Dokumentarfilmers Sinan Antoon (geb. 1967). Kurz nach der amerikanischen Invasion im Irak Anfang der 1990er Jahre verließ Antoon das Land und begann diesen Debütroman voll schwarzen Humors und Sprachwitzes zu schreiben, der 2004 publiziert wurde.

Die Handlung spielt während des Ersten Golfkriegs im Irak der 1980er Jahre. Mitarbeiter des irakischen Geheimdienstes sollen ein verdächtiges Manuskript entschlüsseln, das von einem politischen Häftling in einer Art Geheimsprache verfasst wurde. Der Verfasser ist ein literarisch aktiver und regimekritischer Student, der in die Fänge des Geheimdienstes geraten ist und Wochen und Monate in quälender Ungewissheit und ohne Anklage in einem der politischen Gefängnisse Saddam Husseins festgehalten wird. Panische Angstattacken ergreifen ihn, als ihm eines Tages ein Gefängniswärter Papier und Stift bringt – ein unerwartetes Privileg nach Wochen quälend stiller, einsamer Einzelhaft. An dieser entscheidenden Stelle des Romans wird die Rolle des Schreibens in einer von Gewalt und Zensur geprägten Gesellschaft thematisiert. Es bleibt unklar, ob das Schreiben ein gewährter Gnadenakt, die Einladung zu Verrat an anderen oder eine Falle ist, die den Schreibenden zu ungewollten Geständnissen bringen könnte, die er nicht einmal unter Folter zu geben bereit war. Von unerträglicher Ungewissheit gepeinigt, zieht sich der Protagonist ganz in sich selbst, in eine faszinierende innere Welt aus Erinnerungen, Ängsten und Träumen zurück. Aus seinem Rückzug ins Innere erwächst schließlich die Idee für eine Strategie, die ihm das Schreiben ermöglicht, ohne jedoch seinen Peinigern Einblick in dessen Inhalt zu gewähren: Werden in einem arabischen Text die diakritischen Punkte des Alphabets weggelassen, kann ein und dasselbe Konsonantengerüst mehrere unterschiedliche Bedeutungen erlangen. Auf diese Weise erhält also jedes Wort eine mehrdeutige Semantik, und der Text als Ganzer wird nahezu unlesbar. Der Protagonist macht sich diese Verschleierungstaktik zu eigen, die einen Text ergibt, der auf den ersten Blick lesbar und auf den zweiten Blick als Geheimnis erscheint, das erst enträtselt werden muss.

In hoch symbolischen Träumen des Häftlings scheinen sich nun aber die Buchstaben selbständig gemacht zu haben, sie tanzen über die Zeilen, werden zu Heuschrecken – die Schrift wird zur Landplage. Nach weiteren Wochen der Isolationshaft wird der Student von einem Alptraum geplagt, in dem sein Ich sich aufzulösen beginnt, verfolgt von wilden Tieren. Er liegt nackt auf weißem Sand unter tief schwarzem Himmel, es fallen tintenfarbene Regentropfen auf ihn, die sich eiskalt auf seiner Haut festsetzen. Er hört, wie Autos und bellende Hunde sich in der Dunkelheit nähern, und flieht panisch, rutscht immer wieder in den größer werdenden Tintenlachen aus, fällt hin; weißer Sand und schwarze Tinte bilden ein klebriges Amalgam auf seiner Haut: „Ich versuchte weiterzurennen, aber da war ein unerträglicher Schmerz in Füssen und Kopf. Ich stolperte und kroch auf allen vieren weiter. Ich kam mir vor wie ein dem Untergang geweihtes Tier. Das Gebell der Hunde war schon ganz nahe. Ich schaute mich um und sah, dass einer von ihnen sich gerade über mich hermachen wollte. Seine gebleckten Zähne leuchteten, sein Zahnfleisch schien rosig und schwarz gerändert. Ich verbarg meinen Kopf zwischen den Händen. Dann schlug ich die Augen auf… und sah die weißen Blätter vor mir. Die Zeilen liefen darüber, neben meinem Kopf. Sollte ich schreiben?“

Dieser Alptraum zeigt die Ängste, die durch die vorhergegangene Auflösung der Schrift ausgelöst werden: Die anfangs als Verschleierungstaktik erfundene Schreibtechnik ohne diakritische Punkte hat sich nun gegen den Schreibenden gerichtet, seine Ausdrucksfähigkeit hat ihn verlassen, sich feindlich gegen ihn gewandt, die Tinte strömt einer Naturgewalt gleich auf seinen weißen wehrlosen Körper. Der Leib des Schriftstellers, weiß wie Papier, wird zum Beschriebenen, er wird passiv, seine aktive schreibende Existenz ist in Frage gestellt.

Der Roman endet mit der Nachricht, dass das Regime gestürzt und alle politischen Gefangenen frei seien. Der junge Student tritt vor die Gefängnistore in eine seltsam entvölkerte Stadt, die ihm beunruhigend fremd vorkommt. Der Wärter, der ihm damals Papier und Stift gebracht hatte, erscheint ihm in seiner Erinnerung, und er fühlt das Verlangen, weiterzuschreiben. Wie so oft in diesem kunstreich verschachtelten Erzählwerk bleibt es unklar, ob die Befreiung nur wieder einer der vielen Tagträume des Häftlings war oder reales Ereignis. Offener Widerstand ist in diesem System zwecklos. Das Spiel mit Mehrdeutigkeiten erweist sich deshalb in diesem Roman als literarisches Stilmittel und zugleich subversive politische Taktik, um Zensur und Verbot der Meinungsfreiheit zu unterlaufen. Der Roman zeigt keine politischen Handlungsoptionen, sondern eher Überlebensstrategien in totalitären Systemen – leider auch nach dem so genannten »Arabischen Frühling« ab Ende 2010 ein weiterhin hochaktuelles Thema für die arabische Welt.

Zeugnis der Scheiterns

Die subversive Kritik in diesem irakischen Roman ist kein Einzelfall; viele weitere Romane der arabischen Welt arbeiten seit dem Ausklang des 20. Jahrhunderts mit ähnlichen literarischen Mitteln. Dies ist als Antwort auf und Konsequenz des Scheiterns der postkolonialen Regime zu werten, die ihren Bürgern selbst die elementarsten Rechte und Errungenschaften der Moderne vorenthielten. In dieser Situation, in der rascher politischer Wandel absurd und unrealisierbar erschien, wurde Subversion zu einem geeigneten Weg literarischer Kritik. Subversion schließt neue Formen sozialer Organisation ein, und diese dienen dazu, die Interessen bestimmter Bereiche der Mittelklasse zu artikulieren. Diese neuen Interessengruppen sind zunehmend partikularistisch, individuell und de-ideologisiert. Eine Organisation in Massenorganisationen mit kollektivistischem Bewusstsein hat gegenüber diesen neuen Partikulartendenzen an Bedeutung verloren (Ouaissa 2012, 69ff). Diese Entwicklung verläuft vielfach »subkutan«, unter der Oberfläche des Mainstream, und somit subversiv. Die politische Sprengkraft dieser ästhetischen wie gesellschaftlichen Veränderungen entfaltet sich erst auf den zweiten Blick, dann aber geben sie ein untrügliches Zeugnis des Scheiterns der autoritären Herrschaftsformen ab.

Literatur

Sinan Antoon (2009): Irakische Rhapsodie. Basel: Lenos (Übersetzung von Fähndrich und Fierz; arab. Fassung erschien 2004 in Beirut).

Abdarrahman Munif (1990): Ölpest in den Oasen. Interview mit Abdarrahman Munif. taz, 14.5.1990.

Pamela Nice: Finding the Right Language. A Conversation with Syrian Filmmaker Usama Muhammad. Al Jadid Magazine – A Review & Record of Arab Culture and Arts, Vol. 6, No. 31 (Spring 2000).

Rachid Ouaissa: Arabische Revolution und Rente. In: Werner Ruf (Red.) (2012): Wandel in der Arabischen Welt. Periplus – Jahrbuch für außereuropäische Geschichte Bd. 22. Berlin: LIT Verlag, S.57-77.

Reinhard Schulze (2012): Die Passage von politischer Normenordnung zu lebensweltlicher Werteordnung. Erkenntnisse aus dem arabischen Frühling. In: Werner Ruf (Red.) (2012): Wandel in der Arabischen Welt. Periplus – Jahrbuch für außereuropäische Geschichte Bd. 22. Berlin: LIT Verlag, S.32-56.

Leo Strauss (1988; 1. Auflage 1952): Persecution and the Art of Writing. Chicago und London: The University of Chicago Press.

Friederike Pannewick ist Professorin für Arabische Literatur und Kultur am Centrum für Nah-und Mitteloststudien (CNMS) der Philipps-Universität Marburg und Teilprojektleiterin sowie Vorstandsmitglied im Forum Transregionale Studien in Berlin.

Syrien

Syrien

Vorrang für zivil oder Spielball internationaler Politik?

von Christine Schweitzer und Andreas Buro

Der Konflikt in Syrien begann als ein ziviler Aufstand, ähnlich den Aufständen in Nordafrika und anderen arabischen Ländern. Aber er schlug schnell in einen Bürgerkrieg um, in dem diejenigen, die mit gewaltlosen Mitteln ein demokratisches und multikulturelles Syrien schaffen wollten, längst marginalisiert sind. Seit März 2011 sind über 100.000 Menschen getötet und bis zu acht Millionen vertrieben worden; zwei Millionen dieser Vertriebenen halten sich als Flüchtlinge in völlig überlasteten Lagern in den Nachbarländern Syriens auf. Aber es war nicht das Elend dieser Menschen, was die Bereitschaft einiger westlicher Staaten zu einem Militäreinsatz weckte, es war – zumindest vordergründig – der Einsatz von Giftgas.

In der Nacht zum 21. August 2013 sind in der Region Ghuta nahe Damaskus bei einem Giftgaseinsatz zwischen 350 und 1.400 Menschen ums Leben gekommen, 3.600 wurden verletzt.1 Was danach folgte, hatte alle Elemente eines Politthrillers. Am 25.8 sprach Obama zunächst von einer „gründlichen Prüfung der Vorwürfe und aller Optionen“,2 allerdings stellte sein Außenminister schon einen Tag später mit martialischen Worten einen begrenzten Militärschlag in den Raum. Frankreich und Großbritannien erklärten sich sofort bereit, gemeinsam mit den USA militärisch zu handeln, notfalls auch ohne Zustimmung des UN-Sicherheitsrates. Andere Länder, darunter auch Deutschland, teilten hingegen mit, dass sie sich auf keinen Fall an einem Militärschlag beteiligen würden.

Schnell wurden Zweifel laut. Nicht nur die Friedensbewegungen in den USA und Europa, sondern auch Medien, Stimmen aus dem Militär selbst und politische BeobachterInnen fragten nach Sinn und Zweck eines solchen Eingreifens und verwiesen auf die schlecht berechenbaren Konsequenzen. In den USA sprachen sich in Meinungsumfragen 59% gegen einen Militärschlag aus. Selbst Think-tanks wie die International Crisis Group, die in der Vergangenheit für manche Krisen durchaus auch militärische Optionen empfahl, warnten: Ein Militärschlag sei gefährlich und kaum im Interesse des syrischen Volkes.3

Die konzertierte Kritik zeigte Wirkung: Zuerst erklärte der britische Premierminister Cameron, er wolle nur mit Zustimmung des Parlaments handeln, und dann kündigte Obama an, dass er auch die Zustimmung der beiden Kammern seines Parlaments (Kongress und Senat) einholen werde. Die Abstimmung im britischen Unterhaus war für Cameron ein Desaster: Die Mehrheit stimmte am 29.8. gegen einen Militäreinsatz.

Während sich der Angriff, der ursprünglich noch vor dem G20-Gipfel in St. Petersburg in der ersten Septemberwoche erwartet wurde, verzögerte, wurde sein Charakter immer diffuser. Anfänglich war von einem kurzen, vielleicht zweitägigen gezielten Angriff aus der Luft auf Militäreinrichtungen des Assad-Regimes die Rede (unter Aussparung der Chemiewaffendepots), also einer reinen Strafexpedition ohne entscheidenden Einfluss auf den Bürgerkrieg im Land. Später erklärte sich der US-Senat bereit, einen bis zu 60-tägigen Luftangriff mit einer Verlängerungsoption für weitere 30 Tage zu billigen. Und Außenminister Kerry sprach in einer Pressekonferenz am 3.9. davon, dass auch Bodentruppen nicht ausgeschlossen werden könnten, sofern die Gefahr bestünde, dass Chemiewaffen in die Hände von Extremisten fallen könnten. Kurz danach nahm er diese Aussage wieder halb zurück.4

Bei dem G20-Gipfel in St. Petersburg, der am 6. September endete, konnten die USA und Russland keine gemeinsame Position finden. Die verhärtete Haltung zwischen Ost und West wurde sichtbar, als die anwesenden EU-Länder Großbritannien, Frankreich und Italien zusammen mit der Türkei, Japan, Australien, Kanada und Südkorea ein gemeinsames Statement verabschiedeten, in dem sie die Angriffspläne der USA als Antwort auf Giftgasangriffe in Syrien unterstützen: „Wir fordern eine starke internationale Antwort auf diese schwerwiegende Verletzung internationalen Rechts […], die deutlich macht, dass derartige Gräueltaten sich nicht wiederholen können […]“ und „Diejenigen, die diese Verbrechen begangen haben, müssen zur Verantwortung gezogen werden.“.5 Deutschland schloss sich der Erklärung erst einen Tag später an mit der Begründung, man habe erst einmal eine einheitliche Position der EU abwarten wollen. Diese ließ auf ihrem Gipfel in Vilnius am 7.9. verkünden, sie appelliere an Obama, zunächst das Ergebnis der UN-Untersuchungen abzuwarten.

Unterdessen bemühte sich Obama weiter, in den beiden Häusern seines Parlamentes Zustimmung für den Militärschlag zu gewinnen. Der Auswärtige Ausschuss des Senats hatte am 4. September mit 10:7 Stimmen für einen Militärschlag gestimmt, was als erster Erfolg für Obama gewertet wurde. Aber seine Aussichten, auch den Kongress auf seine Seite zu ziehen, schienen gering: Nicht nur die Mehrheit der Bevölkerung in den USA war gegen einen Angriff auf Syrien, sondern auch die Mehrheit im Repräsentantenhaus. Nach Meldungen vom 9. September hatte Obama dort nur 30 der 435 Abgeordneten hinter sich.

Der Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung ändern kann

Drei Tage nach Ende des G20-Gipfels griff Russlands Präsident Putin eine Äußerung auf, die US-Außenminister Kerry bei einer Pressekonferenz am Montag, den 9.9. gemacht hatte und der zu entnehmen war, bei einer Vernichtung der syrischen Chemiewaffen wäre ein Militärschlag unter Umständen verzichtbar. Putin kündigte eine Initiative an mit dem Ziel, die Chemiewaffen Syriens unter Kontrolle der Vereinten Nationen zu stellen und anschließend zu vernichten.6 Aus den USA verlautete, dies sei zwischen den USA und Russland am Rande des G20-Gipfels abgesprochen worden – ob das stimmt, muss dahingestellt bleiben. Assad stimmte jedenfalls am nächsten Tag dem russischen Vorschlag zu und erklärte sich danach bereit, dass Abkommen zum Verbot von Chemiewaffen zu unterzeichnen, seine Bestände und Produktionsstätten unter internationale Kontrolle zu stellen und sämtliche Chemiewaffen vernichten zu lassen.

Ebenfalls am 10.9. verkündete Obama in einer mit Spannung erwarteten Ansprache an die Nation, er werde vorerst von einem Militärschlag gegen Syrien absehen, und bat den Kongress, die Abstimmung aufzuschieben. Seine Drohung mit einem Militärschlag hob er zwar nicht auf, aber er werde „keine Maßnahmen mit offenem Ende verfolgen, wie in Irak oder Afghanistan. Ich werde keinen Luftfeldzug über längere Zeit verfolgen, wie in Libyen oder im Kosovo. Es würde sich um einen gezielten Militärschlag mit klarem Ziel handeln: vom Einsatz chemischer Waffen abzuschrecken und Assads Fähigkeiten zu schwächen“.7 Mit anderen Worten: Von einem 60-tägigen Einsatz war nicht mehr die Rede.

Die Situation hatte sich also plötzlich grundlegend verändert. Die bis dahin auf das Nebengleis geschobenen Vereinten Nationen traten plötzlich wieder in den Vordergrund. Die Außenminister der USA und Russlands einigten sich am 16.9. auf die Grundzüge einer Resolution des UN-Sicherheitsrates: UN-Inspektoren sollen die von Syrien binnen einer Woche offen gelegten Waffen registrieren und ihre Vernichtung oder den Abtransport vorbereiten. In der entsprechenden, am 27.9. beschlossenen Resolution kündigt der Sicherheitsrat für den Fall, dass Syrien nicht kooperiere, an, er werde Maßnahmen nach Kapitel VII der UN-Charta verhängen, ohne allerdings die Möglichkeit einer Militärintervention beim Namen zu nennen. Parallel dazu legte UN-Generalsekretär Ban Ki-moon einen ehrgeizigen Plan vor, demzufolge die Chemiewaffen Syriens bis zum 30. Juni 2014 unschädlich gemacht werden sollen. Dazu müssen sich die UN-Kräfte in einem Gebiet bewegen, in dem weiterhin Krieg herrscht.

Der Giftgaseinsatz: Erkenntnisse und Spekulationen

Die Regierung Assad hatte schon im Jahr 2012 zugegeben, dass Syrien über Giftgas verfügt. Militärstrategisch sind diese Waffen wohl als Abschreckungsmittel gegenüber den israelischen Atomwaffen zu verstehen. Viele BeobachterInnen zweifeln jedoch nicht daran, dass sie auch im Bürgerkrieg eingesetzt wurden. Es bleiben aber viele Fragen offen, was am 21. August tatsächlich geschehen ist. Die von den USA vorgelegten »Beweise« für die Verantwortung des Regimes bleiben zumindest bislang nur Indizienbeweise und berufen sich auf vage „Geheimquellen“.8

Auf Facebook soll am 21.8. kurzfristig eine Meldung gepostet gewesen sein, in der sich Anhänger des Regimes zu dem Giftgasangriff bekannten.9 In einer saudischen Zeitung wurde gar behauptet, eine syrische Eliteeinheit habe gegen den Willen ihres Kommandanten Giftgas entwendet und zum Einsatz gebracht.10

Die syrische Regierung ihrerseits macht die Rebellen für den Einsatz verantwortlich. Es kann in der Tat gefragt werden, warum die Regierung Assad gerade zu dem Zeitpunkt einen solchen Angriff durchführen sollte, an dem UN-Inspektoren zur Überprüfung der Vorwürfe früherer Giftgaseinsätze im Land waren. Es ist nicht nur der Reflex, bei allem, was die USA behaupten, erst einmal das Gegenteil als zutreffend anzusehen, wenn aus Kreisen der Linken und Teilen der Friedensbewegung die Vermutung geäußert wurde, Rebellen seien für den Giftgasangriff verantwortlich. Die Logik des »cui bono« (wem nützt es) lässt sie in Verdacht geraten, denn sie fordern seit Beginn des Bürgerkrieges eine internationale Militärintervention. Der Krieg lief die letzten Monate nicht gut für sie, und die USA hatten mit ihrer »roten Linie« für den Fall eines Giftgaseinsatzes eine Intervention angedroht. Es gab in der Vergangenheit zahlreiche Fälle, in denen eine Seite einen Angriff auf die eigene Seite vortäuschte, um einen Grund zu haben, in den Krieg zu ziehen. Man denke z.B. an den von Deutschland inszenierten Angriff auf den Sender in Gleiwitz an der polnischen Grenze 1939 oder an die von den USA vorgetäuschte Attacke auf ein US-Kriegsschiff im Golf von Tonkin vor Vietnam 1964.

In den Medien wie in der Politik wird überwiegend der US-Behauptung folgend von einer Verantwortung des Regimes ausgegangen. Es gibt andererseits auch Berichte, Kämpfer der Jabhat al-Nusra, die von Saudi-Arabien Giftgas bekommen hätten, seien verantwortlich. Die Gasmunition sei in Tunneln versteckt worden, ohne dass diejenigen, die sie transportierten, überhaupt gewusst hätten, worum es sich dabei handelte.11

Bisher behaupten weder Washington noch die EU-Staaten, sicher zu wissen, wer in Syrien Giftgas eingesetzt hat. Man spricht nur von „hoher Wahrscheinlichkeit“. Diese wird in einem Memorandum hochrangiger ehemaliger Mitarbeiter von US-Geheimdiensten , das an Obama gerichtet ist, in Zweifel gezogen. Sie sind zusammengeschlossen zu den »Veteran Intelligence Professionals for Sanity» (VIPS) und sprachen sich schon im Jahr 2003 klar gegen die lügenhafte Begründung für den US-Angriff gegen Irak aus. Ihr Tenor: Die zuverlässigsten Geheimdienstinformationen besagten, das Assad-Regime habe das am 21.8.2013 verwendete Giftgas nicht eingesetzt und die britischen Geheimdienste wüssten dies sehr wohl. Bereits eine Woche vor dem Giftgaseinsatz habe am 13. und 14. August 2013 in der türkischen Kaserne in Antalya (Hatay Provinz), die jetzt als Hauptquartier der Freien Syrischen Armee dient, ein Treffen hoher Kommandeure der vom Westen unterstützten Aufständischen mit Geheimdienstoffizieren aus den USA, der Türkei und Katar stattgefunden. Die Aufständischen wurden dort unterrichtet, in Kürze werde eine Eskalation im Kriegsgeschehen eintreten, die zu einer Bombardierung Syriens durch US-Streitkräfte führen würde. Die Aufständischen sollten sich darauf vorbereiten, diese Situation für die Eroberung von Damaskus und die Beseitigung des Assad-Regimes zu nutzen. Große Waffenlieferungen wurden zugesagt und zwischen 21. und 23.8.2013 abgewickelt. Die Waffen kamen aus Lagern unter türkischer und katarischer Aufsicht und unter Kontrolle von US-Geheimdiensten.12

Der syrische Bürgerkrieg als Stellvertreterkrieg

Die Wünsche der Bevölkerung nach Freiheit, Demokratie und Anerkennung von Minderheiten spielen auf dem syrischen Schlachtfeld heute keine Rolle mehr. Die außersyrischen Akteure verfolgen ihre Eigeninteressen ohne Rücksicht auf die syrische Bevölkerung.

  • Saudi-Arabien und Katar fördern sunnitische Milizen, die Al Kaida nahe stehen. Aus Syrien soll ein sunnitisch-islamistischer Partnerstaat werden. So würde der Rivale Iran als potentielle Regionalmacht geschwächt.
  • Der Iran hält mit der Entsendung schiitischer Kämpfer und mit Waffenlieferungen dagegen.
  • Russland setzte ebenfalls lange Zeit seine Waffenlieferungen an die syrische Regierung fort und erwies sich mit China darüber hinaus als verlässlicher Partner des Assad-Regimes bei den Beratungen des UN-Sicherheitsrates.
  • Die libanesische Hisbollah schickt eigene Kämpfer nach Syrien, um das befreundete Assad-Regime zu stützen, das seinerseits für ihr eigenes Überleben wichtig ist. Dabei riskiert sie die Ausweitung des Krieges in den Libanon.
  • Die Türkei finanziert und bewaffnet islamistische Milizen und Teile der Freien Syrischen Armee (FSA), damit sie gegen die Autonomiebestrebungen der syrischen Kurden kämpfen.
  • Frankreich liefert ebenfalls Waffen an die FSA und gibt politische, finanzielle und mediale Unterstützung.
  • Die konservative britische Regierung wollte mit in diesen Kampf ziehen, wurde allerdings vom eigenen Unterhaus ausgebremst.
  • Die anderen EU Staaten sind vorwiegend damit befasst, Flüchtlinge aus Syrien abzuwehren.13
  • Die USA sind geostrategisch involviert. Der Sturz des Assad-Regimes würde dazu beitragen, den Iran zu isolieren, zu schwächen und dort letztlich einen Regimewechsel zu erreichen. Damit würden die USA ihrem Ziel näher kommen: der Kontrolle des gesamten Nahen und Mittleren Ostens. Ihr Zögern, dafür umfassende militärische Mittel einzusetzen, dürfte einerseits an der Kriegsmüdigkeit der US-Gesellschaft nach den langen Kriegen im Irak und Afghanistan liegen, andererseits ist aber auch schwer absehbar, wer nach einem Sturz von Assad die Macht übernehmen würde.

Eine amerikanische Alleinkontrolle der Region kann weder der russischen noch der chinesischen Regierung gefallen. Den Russen geht es nicht nur, wie immer berichtet wird, um den Kriegshafen in Syrien, sondern vor allem um die Abwehr der US-Dominanz in dieser großen, bis Zentralasien reichenden Region.

Das grundlegende Problem aller Akteure der Stellvertreter-Kriege liegt in der fehlenden Kompatibilität ihrer jeweiligen Ziele. Das gilt insbesondere für diejenigen, die das Assad-Regime stürzen wollen: Die einen wollen einen islamistischen Staat, die anderen einen laizistischen, damit die Kräfte des »islamistischen Terrorismus« nicht weiter gestärkt werden.

Bei der Diskussion um eine Militärintervention ging es deshalb keineswegs um die moralische Empörung über den teuflischen Einsatz von Giftgas, der ein Verstoß gegen das Giftgasprotokoll von 1925, das humanitäre Völkerrecht (die Genfer Konventionen von 1949) und das Chemiewaffen-Verbotsabkommen von 1996 ist. In anderen Situationen hatten die westlichen Mächte die Anwendung von Giftgas hingenommen.14 Vielmehr ging es darum, mit welchen Mitteln so in den syrischen Bürgerkrieg eingegriffen werden konnte, dass das Ergebnis den strategischen Interessen der jeweiligen externen Parteien entgegenkommen würde.

Bewertung

Es hat seit langem keinen Plan einer Militärintervention gegeben, der auf so viel Widerstand gestoßen ist, dass er zumindest aufgeschoben, vielleicht sogar aufgehoben wurde. Natürlich hat nicht allein und nicht vorwiegend die Friedensbewegung diese Wirkung entfaltet, sondern der Widerstand war quer durch alle Lager groß, von einfachen BürgerInnen bis zur so genannten Elite, von Links bis Rechts.

Auch lagen dem Umdenken keine pazifistischen Motivationen zugrunde – es war kein grundsätzlicher »Vorrang für zivil«. Hinter der Entscheidung, einen Militärschlag aufzuschieben, steht die bereits geschilderte, höchst widersprüchliche innersyrische und internationale Situation und die Sorge, dass ein Eingreifen in den Bürgerkrieg auf Seiten der bewaffneten Opposition ein Eingreifen zugunsten derer sein könnte, die man im von den USA ausgerufenen »Krieg gegen den Terror« bekämpft und die auch Russland als bedrohlich empfindet.

Der Kampf um die Deutungshoheit dessen, was geschehen ist, hat schon begonnen. Es zeichnet sich ab, wie die gegenwärtigen Ereignisse – so sie zu einer zivilen Lösung des Konfliktes führen – einmal im Mainstream der Medien und Politikwissenschaft beschrieben werden: als ein neuer Sieg der Politik von »Zuckerbrot und Peitsche«, einer Politik, die durch die glaubhafte Drohung mit Gewalt einen unwilligen Diktator zum Einlenken bewegt hat.15 Dabei war es wohl kein durchdachter Plan, der zu dem Durchbruch in punkto Chemiewaffen geführt hat, sondern diplomatisches Lavieren und fehlende Zustimmung zu den Plänen der drei westlichen Alliierten in der Bevölkerung und in den Eliten der eigenen Länder.

Noch sind sich die meinungsbildenden Medien in der Bewertung der Politik Obamas nicht einig. Viele werfen ihm »Führungsschwäche« und Planungslosigkeit vor. Aber wieso ist es »Schwäche«, wenn ein Präsident auf seine BeraterInnen hört, wenn er das Parlament befragt? Sollte es nicht ein Kernelement einer Demokratie sein, dass die Politik auf ihr Volk hört? Daher gilt es, bei aller Kritik an dem Vorgehen der Supermacht, doch festzuhalten, dass sie in diesem Fall nicht der Logik des »Erst schießen, dann reden« gefolgt ist.

Ansätze zu einer politischen Lösung

Nach wie vor ist ein US-Militärschlag nicht auszuschließen, auch nicht, dass er dann doch mit Billigung des UN-Sicherheitsrates erfolgt. Die russische Initiative für die Vernichtung des Giftgases in Syrien hat jedoch ein »Fenster der Möglichkeit« geöffnet, das eine Chance für Verhandlungen über die Beendigung des Krieges bietet. Der UN-Sicherheitsrat hat mit seiner Resolution vom 27.9.201316 Fristen für die Vernichtung der Chemiewaffen festgelegt, die nicht leicht einzuhalten sein werden. Damit legen sich beide Großmächte darauf fest, eine politische Lösung zumindest zu versuchen. In diesem Sinne sind auch die Bemühungen um eine Konferenz der Konfliktparteien in Genf noch im Jahr 2013 zu verstehen. Allerdings: Der Iran steht bisher nicht auf der Liste der Einzuladenden.

Den Bemühungen um eine politische Lösung droht vor allem aus zwei Richtungen Gefahr: Erstens könnte der anhaltende Krieg in Syrien die Vernichtung der Chemiewaffen unmöglich machen. Zweitens zeichnet sich bereits ab, dass die Gegner der Assad-Diktatur sich nicht nur untereinander militärisch bekämpfen, sondern auch über die Teilnahme an der geplanten Genfer Konferenz völlig zerstritten sind.

Der Regierung Assad kann es in der Zwischenzeit nur Recht sein, dass die internationale Aufmerksamkeit sich allein auf die Frage der Chemiewaffen konzentriert. Der eigentliche Krieg wird inzwischen mit aller Brutalität fortgesetzt.

Die Friedensbewegung ist sich einig in ihrer Ablehnung einer Militärintervention und in der Forderung nach einem Waffenstillstand, einem Ende des Krieges, einer weit besseren Unterstützung der Flüchtlinge und Vertriebenen, der Gleichbehandlung von AsylbewerberInnen aus Syrien mit den in Deutschland aufgenommenen »Kontingentflüchtlingen«, nach einem kompletten Waffenembargo und der Verweigerung jeder auch indirekten Unterstützung des Krieges durch Deutschland.17

Doch sind in den Forderungen auch geostrategische Aspekte zu berücksichtigen, um tatsächlich eine friedliche Lösung zu erreichen. Bei Obamas geplantem Militäreinsatz ging es nicht um eine Strafaktion gegen den Gaseinsatz in Syrien, sondern um einen Regimewechsel in Syrien. Ein wichtiger Faktor ist des Weiteren der Anspruch des Iran, eine wichtige Regionalmacht mit schiitischer Einfärbung zu sein. Uns wird über die Medien stets vermittelt, es handele sich bei dem Streit zwischen »dem Westen« und Teheran um die Frage der atomaren Bewaffnung. Das ist eine vorgetäuschte Problematik, genauso wie die Behauptung, der westliche Raketenschirm müsse gegen die Bedrohung durch iranische Raketen errichtet werden. Den USA geht es auch im Falle Iran vorwiegend um einen Regimewechsel. Deshalb hält Washington alle Sanktionen aufrecht, die bereits nach dem Sturz des Schah-Regime verhängt worden sind und nichts mit der atomaren Frage zu tun haben. Die Blockade praktisch sämtlicher Lösungen in den Atomverhandlungen ist ebenfalls den USA geschuldet.18

Die Chance zur Verständigung, die sich nach dem Präsidentenwechsel in Teheran abzeichnet und sogar zu einem direkten Telefongespräch zwischen Obama und Rouhani führte, ist in Washington noch immer höchst umstritten. Kurz vor der Vereidigung des neuen – offensichtlich gesprächsbereiten – iranischen Präsidenten wurden in Washington neue weitreichende Sanktionen vorbereitet, und Kräfte aus dem Kongress versuchen, Obama direkte Gespräche mit Teheran zu untersagen.

Wenn die USA tatsächlich eine friedliche Lösung für den Syrien-Konflikt anstreben, müssen sie die Verständigung mit Teheran suchen: Direkte Kontakte, Vertrauen bildende Maßnahmen durch schrittweise Aufhebung von Sanktionen, das Angebot eines Nicht-Angriffspaktes, Kooperation auf vielen gemeinsamen Interessensgebieten, Unterstützung der von den Vereinten Nationen beschlossenen Konferenz für eine massenvernichtungswaffenfreie Zone in Mittel- und Nahost. . Alle diese Fragen haben direkte Relevanz für den Bürgerkrieg in Syrien. Sie sind also ebenso wie unsere Forderungen zu Syrien von allen Friedensbewegten in unserem Land zu thematisieren.

Anmerkungen

1) Die Zahlen sind unklar. So sprach Großbritannien von „mindestens 360 ZivilistInnen“ und nur die USA behaupten, jedes einzelne Opfer gezählt zu haben: Exakt 1.429 Tote, davon „mindestens 426 Kinder“ (White House, Office of the Press Secretary, August 30, 2013). Zur Zahl der Verletzten: Médecins Sans Frontière: Syria: Thousands suffering neurotoxic symptoms treated in hospitals supported by MSF. 24 August 2013. Das Weiße Haus nennt dieselbe Zahl.

2) Tagesschau, 25.8.2013.

3) International Crisis Group: – Syria Statement. 2.9.2013.

4) International Herald Tribune, 5.9.2013.

5) Deutsche Übersetzung laut tagesschau.de vom 7.9.13. Vollständiger englischer Text: The White House, Office of the Press Secretary: Joint Statement on Syria. September 06, 2013.

6) Rosenberg, Steven: Russia’s Nimble Footwork on Syria. BBC News 11.9.2013.

7) The White House, Office of the Press Secretary: Remarks by the President in Address to the Nation on Syria. September 10, 2013.. Deutsche Übersetzung durch Amerika Dienst vom 11.9.2013; blogs.usembassy.gov/amerikadienst/.

8) International Herald Tribune vom 5.9.13, a.a.O.

9) Bürgerkrieg in Syrien. Aktivisten werfen Assad Giftgaseinsatz mit Hunderten Toten vor. Spiegel Online vom 21. August 2013.

10) Michael Lüders: Reden wir mit Assad! taz.de vom 25.8.2013.

11) Zum Beispiel: Gavlak, Dale und Ababneh, Yahya (2013): Syrians in Ghouta Claim Saudi-Supplied Rebels Behind Chemical Attack. MintPress News vom 29. August 2013.

12) Der Text des Memorandums ist hier nachzulesen: Obama Warned on Syrian Intel. Consortiumnews.com vom 6. September 2013.

13) Diese Angaben können größtenteils auch in bürgerlichen Massenmedien nachgelesen werden, z.B.: Who is supplying weapons to the warring sides in Syria? bbc.co.uk, News – Middle East vom 14. Juni 2013.

14) Der irakische Diktator Saddam Hussein setzte im Angriffskrieg gegen Iran systematisch und über Jahre hinweg Giftgas ein. Zehntausende Iraner starben. Er vergiftete überdies am 16. März 1988 durch einen Angriff auf die Stadt Halabdscha (Irakisch-Kurdistan) mehr als 5.000 kurdische Bürger des Irak und verwundete mehr als 7.000. Damals lieferten Paris und London die Bomber, und aus Moskau erhielt er die geeigneten Scud-Raketen. Firmen aus der Bundesrepublik lieferten die Grundsubstanzen für die Giftgase, das Know-how und die Produktionsanlagen für ihre Herstellung. US-Präsident Reagan war im Detail über die irakischen Giftgaseinsätze informiert und lieferte 1988 Saddam Hussein sogar Aufklärungs- und Zieldaten für vier kriegsentscheidende Chemiewaffenangriffe. Gemeinsam verhinderten vier Vetomächte im UN-Sicherheitsrat, dass die Beschwerden des Iran über die irakischen Giftgasangriffe dort behandelt wurden. Die Sowjetunion hatte ebenfalls Giftgas in Afghanistan eingesetzt.

15) Als eines der letzten erfolgreichen Beispiele hierfür gilt die amerikanische Vermittlungsstrategie im Bosnienkonflikt 1994-95, als die NATO durch immer weitergehende Bombardierungen serbischer Stellungen Präsident Milosevic und seine Verbündeten in Bosnien militärisch unter Druck setzte, dem von Vermittler Holbrooke ausgearbeiteten Friedensplan zuzustimmen. Siehe Holbrooke, Richard (1998): To End a War. New York: Random House; Sloan, Elinor C. (1998): Bosnia and the New Collective Security. Westport: Praeger Publishers.

16) Die offizielle dt. Übersetzung der Resolution steht unter un.org/Depts/german.

17) Eine Zusammenstellung verschiedener Aufrufe findet sich auf friedenskooperative.de.

18) Buro, Andreas und Ronnefeldt, Clemens (2012): Iran-Verhandlungen. Legitimation für einen Angriffskrieg? Dossier Ib des Monitoring-Projekts. Bonn: Kooperation für den Frieden.

Dr. Christine Schweitzer ist Co-Geschäftsführerin beim Bund für Soziale Verteidigung, Mitarbeiterin des Instituts für Friedensarbeit und Gewaltfreie Konfliktaustragung und Redakteurin des »Friedensforums«. Prof. Dr. Andreas Buro ist u.a. friedenspolitischer Sprecher des Komitees für Grundrechte und Demokratie und Koordinator des »Monitoring-Projekts: Zivile Konfliktbearbeitung, Gewalt- und Kriegsprävention«. 2008 erhielt er den Aachener und 2013 den Göttinger Friedenspreis.

Libya hurra?

Libya hurra?

Das »freie« Libyen im Jahre drei

von Almut Besold

In der Debatte über den Bürgerkrieg in Syrien wird immer wieder das Beispiel Libyen genannt: Regimewechsel mit Hilfe der NATO. Während die eine Seite – vor allem britische und französische Politiker – ein stärkeres militärisches Engagement in Syrien befürworten, zumindest Waffenlieferungen an die Aufständischen, sind von der anderen Seite – dem deutschen Außenministerium, den Regierungen der Niederlande und Österreichs – warnende Stimmen zu vernehmen. Die syrische Armee sei besser gerüstet als die Gaddafis, und ein Flächenbrand sei nicht auszuschließen, heißt es. Festzustehen scheint dabei für beide Seiten, dass das militärische Eingreifen in Libyen als Erfolg zu werten ist. Doch ein Erfolg für wen? Almut Besold zur Situation in Libyen im Jahre drei nach dem herbeigebombten Regimewechsel.

Seit der Revolution vom 1. September 1969 wurde Libyens politisches System vom »Führer der Revolution«, Mu’ammar al-Qaddafi, dominiert. Damit verbunden waren Kontinuität und Stabilität für das Land, trotz vieler innenpolitischer Transformationsprozesse und Spannungen sowie etlicher außenpolitischer Konflikte. Zu Letzteren zählten der Grenzkrieg mit Tschad in den 1970er und 1980er Jahren, der über Jahrzehnte währende Konflikt mit den USA sowie die UN-Sanktionen (1992-1999).1 Dem standen aber auch Reformperioden gegenüber, z.B.

  • von 1987-1992,
  • ab 1993, nach der Verhängung von UN-Sanktionen,
  • ab 1999, nach der Lockerung der UN-Sanktionen,
  • ab 2003, nach der Aufhebung der UN-Sanktionen.

Die Reformen waren jeweils darauf ausgelegt, Libyens außenpolitischen Handlungsspielraum wiederherzustellen. Sie zielten nie auf eine Demokratisierung nach westlichem Maßstab, da die Revolutionsführung das libysche basisdemokratische System der Volkskongresse und Volkskomitees für weitaus demokratischer hielt als jede westliche Demokratie („al-lidschân fi kull makân“ – „die Ausschüsse sind überall“ ist hier das Schlagwort aus dem »Grünen Buch« Qaddafis). Immerhin wurde seit 1999 den Bürgern zunehmend zugestanden, ihre Interessen zu äußern, und ebenfalls Ende der 1990er Jahre erwies sich die Entwicklung hin zu einer international eingebundenen Marktwirtschaft als unumkehrbar, bedingt durch das Interesse an ausländischen Investitionen.

Die Herbeiführung eines Regimewechsels

Sowohl die demokratische als auch die marktwirtschaftliche Entwicklung wurde durch den so genannten Arabischen Frühling stark beschleunigt. Die Ereignisse in Tunesien und in Ägypten bewirkten eine »Revolution« in Libyen, die am 15. Februar 2011 ihren Anfang nahm, aber heute den 17. Februar zum Namen hat (thaurat sab’ata’aschar fabrayir – Revolution vom 17. Februar). Zunächst handelte es sich um Unzufriedenheitsbekundungen von Bürgern gegenüber der Führung von al-Qaddafi. Rasch eskalierte jedoch die Lage und wandelte sich von einem politischen zu einem militärischen Konflikt, der das gesamte Land inklusive seiner Machtelite spaltete. Bereits am 27. Februar 2011 wurde in Benghasi der oppositionelle Nationale Übergangsrat (National Transitional Council, NTC) gegründet, der Libyen offiziell ab dem 16. September 2011 repräsentierte. In der Nacht vom 8. auf den 9. August 2012 übergab der Nationale Übergangsrat die Macht an den Allgemeinen Nationalkongress (General National Congress/GNC), der am 7. Juli 2012 vom Volk gewählt worden war.

Dieser »Regime Change« war Folge des Eingreifens der NATO nach Verabschiedung der Resolution 1973 (2011) des UN-Sicherheitrats.2 Die Passage „alle notwendigen Maßnahmen“ der UN-Resolution wurde von der NATO als Freibrief für einen Luftkrieg interpretiert; damit wurden die Prinzipien des Völkerrechts weiter ausgehebelt.3 Wäre es nur um eine Flugverbotszone zum Schutz der Zivilbevölkerung gegangen, hätte man nach einigen Tagen die Bombardements einstellen müssen, als die libysche Luftwaffe zerstört war. Das Ziel der Militäraktion war aber von Beginn an ein Regimewechsel. Die NATO-Staaten flogen 20.262 Einsätze, die eine unbekannte Zahl ziviler Verletzter und Toter forderten und mit denen die Zerstörung ziviler Infrastruktur einher ging. Im August 2011 wurde Tripolis von oppositionellen bewaffneten Kräften eingenommen, und am 20. Oktober wurde Qaddafi in Sirt gefangen und verlor unter ungeklärten Umständen sein Leben. Da der Regimewechsel durch die Unterstützung der NATO erzwungen wurde, kann es kaum verwundern, dass der Machtkampf zwischen den unterschiedlichen »Revolutionsbrigaden« und dem NTC bzw. der seit dem 14.11.2012 im Amt befindlichen Zeidan-Regierung auch nach dem offiziellen Ende des Bürgerkrieges weitergeht.

Anders als beispielsweise beim Irakkrieg gab es gegen den NATO-Luftkrieg keine nennenswerten Proteste seitens der Bevölkerung der westlichen Länder. Die systematische, über Jahrzehnte währende Verteufelung von Qaddafi hatte offensichtlich dauerhaft Früchte getragen. Diskussionen, ob der NATO-Einsatz gerechtfertigt sei, wurden vom Tisch gewischt, da Qaddafi »böse sei« und den Krieg schon »irgendwie verdient habe«.

Nachkriegssituation: Libyen zwei Jahre danach

Wie stellt sich heute, zwei Jahre nach Beginn der »thaura« (Revolution) in Libyen, die Lage dar? Zugespitzt formuliert hat sich für die Bevölkerung nichts verbessert, dafür fast alles verschlechtert. Demokratie wird als Freibrief für Freiheit verstanden, Freiheit wiederum in der Weise interpretiert, dass ausnahmslos alles erlaubt ist, da nur die eigene Freiheit zählt, nicht aber die des anderen. Insofern fand ein Tausch von diktatorischer Willkür im Singular gegen individuelle Willkür im Plural statt.

Das mag erklären, warum es heute keinerlei Sicherheit mehr gibt – um so mehr angesichts der Ubiquität von Waffen. Keinerlei Sicherheit bedeutet: Keiner weiß beim Verlassen des Hauses, ob er unbeschadet zurückkehrt. Da ist die Tatsache, dass Libyen seit dem Umsturz von 2011 die Unfallstatistik für Verkehrsopfer weltweit anführt, das geringste Übel.4 Weitaus einschneidender sind politisch motivierte Übergriffe sowie monetär motivierte Entführungen und Raubüberfälle.

Keinerlei Sicherheit bedeutet auch, dass Frauen fast ungestört und ungestraft belästigt, vergewaltigt und getötet werden können – die Polizei hütet sich im Regelfall, ihre ohnehin kaum vorhandene Autorität auszuspielen. Autorität wird ihr von der Bevölkerung auch nicht zugestanden, da in ihr viele bei der Revolution aus den Gefängnissen frei gekommene Kriminelle Dienst tun. Verschlechtert hat sich die Situation der Frauen aber nicht nur aufgrund von Belästigungen, sondern insbesondere durch die nach dem Ende des Bürgerkrieges im Oktober 2011 erfolgte Änderung des libyschen Ehegesetzes. Die Heirat einer Zweit-, Dritt- oder Viertfrau ist nun nicht mehr von der Zustimmung der Erstfrau abhängig. Aufgrund dessen stieg die Zahl der mit mehr als einer Frau verheirateten Libyer signifikant an. Die betroffenen Erstfrauen wagen vielfach nicht, sich zu beklagen, da so gut wie jeder eine Waffe im Hause verwahrt und deren Anwendung gefürchtet wird.

Folter wird im »freien Libyen« nach wie vor angewendet, auch wenn Regierungskreise verlauten lassen, dass das meistens nur in Gefängnissen geschehe, die nicht unter staatlicher Kontrolle stünden, sondern von Milizen geführt würden. Widerrechtliche Gefangennahmen sind gang und gäbe, und gegen Lösegeldzahlung kann durchaus eine Freilassung erreicht werden.

Von Demokratie …

Von außen heißt es trotzdem, dass in Hinblick auf Demokratie und freie Marktwirtschaft in Libyen große Fortschritte zu verzeichnen seien. Die Parlamentswahlen vom 7. Juli 2012 wurden von der westlichen Presse gelobt. Libyen kann seit dem 14. November 2012 eine Regierung aufweisen, mit Ali Zeidan als Ministerpräsidenten. Vorangegangen war am 12. September 2012 Mustafa Abu Shagur, dem es allerdings nicht gelungen war, ein Kabinett zusammenzustellen, das beim Parlament auf Akzeptanz stieß. Daher musste er am 7. Oktober 2012 seinen Posten als designierter Premierminister wieder räumen. Eine Integritätskommission achtet bei allem auf die politische Integrität sämtlicher politischer Führungsfiguren im »freien Libyen«. Bei für ungerecht befundener Klassifizierung kann ein Gericht angerufen werden. Es kam immer wieder vor, dass die Integritätskommission ihre Klassifizierung aufgrund von öffentlicher Aufmerksamkeit revidieren musste.

Sobald diese öffentliche Anteilnahme fehlt, gerät die Umsetzung von Gerichtsurteilen ins Stocken. Als Beispiel mag hier gelten, dass Universitätsprofessoren ihr Gehalt nicht mehr bekommen, wenn ihnen eine zu enge Bindung zum vorherigen Regime nachgesagt wird. Auch wenn Gerichtsurteile vorliegen, die dieser Praxis widersprechen, folgen den Urteilen keine Taten, und die Leidtragenden sind die Professoren. Das sind sie auch in anderer Hinsicht, denn die Universitäten hängen am Gängelband der »Revolutionäre«. Diese überwachen z.B. die Einhaltung islamischer Kleidervorschriften für Frauen, und sie schützen studierende »Revolutionäre« vor schlechter Notengebung bei schlechter Leistung. Die Professoren können sich gegen den Druck nicht wehren und nehmen – manchmal um ihr Leben bangend – ein Absinken des Niveaus in Kauf.

… und Marktwirtschaft

Aber die »demokratische« Seite ist nur eine Seite des neuen Libyens. Die andere ist die »marktwirtschaftliche«, die im Jahre 2012 eine Inflationsrate von knapp 20% mit sich brachte und zudem das Misstrauen in der Bevölkerung förderte, weil keinerlei Verlässlichkeit für den Verbraucher mehr vorhanden ist. Staatliche Kontrollen existieren entweder nicht, sind ungenügend oder werden mittels Korruption beeinflusst. Das gilt für alle Bereiche, insbesondere für Lebensmittel. Es kommt z.B. immer wieder vor, dass verdorbene Ware neu verpackt weiterverkauft wird.

Positiv wahrgenommen wird hingegen, dass für Wasser und Elektrizität neuerdings wieder nur ein geringes Entgelt zu bezahlen ist, dass Kraftstoff je Liter mit 150 Dirham (etwa neun Eurocent) beispiellos günstig ist, dass Bildung und Gesundheitsversorgung kostenlos sind und dass Grundnahrungsmittel wie Reis, Mehl, Zucker, Tee, Nudeln und Tomatenmark (noch) subventioniert werden. Darüber hinaus kann fast jeder seine Geschäfte tätigen, ohne dafür Steuern zu zahlen und Behördengänge erledigen zu müssen. Libyen ist dank seiner hohen Öleinnahmen unabhängig von der Wirtschaftsleistung seiner Bürger – diese sind aber genau deswegen nicht unabhängig vom Staat.

Aufgrund der hohen Arbeitslosenrate (geschätzte 40%) versucht jeder auf seine Weise, sein »business« zu machen oder sein staatliches Gehalt aufzubessern. Der Möglichkeiten gibt es viele – eine ist, den derzeit noch geltenden Höchsttauschbetrag für Dinar in Euro oder Dollar zu umgehen. Um Kontrolle darüber zu haben, wer seinen Geldtausch bereits getätigt hat, wird dieser im Reisepass vermerkt. Wer über ein gutes Kontaktnetz verfügt, hat aber die Möglichkeit, gegen ein geringes Entgelt sich Reisepässe auszuborgen, diese bei der Bank vorzulegen und größere Beträge als die erlaubten 2.000 Euro pro Person zu tauschen.

Viel Geld lässt sich ebenfalls mit Alkohol und Drogen verdienen. Beides war in Libyen als islamischem Land strikt verboten und ist es offiziell auch heute noch. Trotzdem hat der Konsum von beidem aufgrund der schlechten Sicherheitslage und der damit verbundenen erleichterten Schmuggelbedingungen stark zugenommen. Zwar können staatliche Stellen immer wieder Erfolge vorweisen, wenn größere Quantitäten bei Kontrollen beschlagnahmt werden, doch betrifft das nur Bruchteile dessen, was ins Land kommt.

Religiöse Konflikte und ethnische Benachteiligung

Ebenfalls verschärft haben sich religiöse Konflikte – seien sie sunnitsch-innerreligiös, sunnitisch-schiitisch oder islamisch-christlich. Waren zu Qaddafis Zeiten Islamisten wenig gelitten, änderte sich das mit der Revolution von 2011. Es kam nicht nur zur Freilassung von Islamisten, sondern Libyen wurde zu einem Hort nicht-libyscher, strenggläubiger Muslime, die den Menschen ihre Glaubensauslegung aufzwingen möchten, was die meisten Libyer aber ablehnen. Diese Islamisten sind es auch, die schiitische Muslime – Mitarbeiter des iranischen Roten-Halbmond – entführten und ihnen Bekehrungsversuche vorwarfen.5 Den koptischen Ägyptern unterstellen sie, in Libyen Christianisierungsversuche zu unternehmen.6 Solche religiöse Auseinandersetzungen sind für Libyen neu, da das Zusammenleben ungeachtet der religiösen Zugehörigkeit in den letzten Jahrzehnten reibungslos verlief – insbesondere in Tripolis, wo etliche Tausend meist nicht-libysche Christen ihren Glauben praktizieren. Die Situation ist heute derart angespannt, dass der libysche Außenminister in Österreich weilend Anfang März 2013 sagte, dass die Zeit noch nicht gekommen sei, über Glaubens- und Religionsfreiheit sprechen zu können.7

Problematisch ist die Situation darüber hinaus besonders für Schwarzafrikaner. Zum einen sind sie Anfeindungen ausgesetzt, da ihnen kollektiv zum Vorwurf gemacht wird, als Söldner für Qaddafi gekämpft zu haben. Zum anderen gelten die Anfeindungen denjenigen, die sich als Migranten in Libyen aufhalten, um nach Europa zu gelangen oder um in Libyen den Lebensunterhalt für ihre in den wirtschaftlich perspektivlosen Herkunftsländern verbliebenen Familien zu verdienen. Da es jedoch auch Libyer dunkelhäutigen Typs gibt, treffen die Anfeindungen nicht nur Ausländer, sondern auch diese Libyer. Unter diesen wiederum besonders jene aus der libyschen Stadt Tawargha, die seit dem Bürgerkrieg stark zerstört wurde, um ihren nahezu ausschließlich dunkelhäutigen Bewohnern die Rückkehr unmöglich zu machen. Von einer generell schlechten Behandlung aller Dunkelhäutigen kann trotzdem nicht gesprochen werden, wohl aber von einer sehr willkürlichen und überwiegend schlechten Behandlung. Dunkelhäutige Gastarbeiter werden in der Regel nicht abgeschoben, wenn ein Libyer sich für sie einsetzt, was meist dann der Fall ist, wenn einem Arbeitgeber eine Arbeitskraft dadurch verloren gehen würde und er keinen Ersatz finden kann.

Ausblick

Viele Libyer, die der veränderten politischen Lage in ihrem Land zunächst sehr optimistisch gegenüberstanden, sehen die Entwicklung inzwischen mit großer Skepsis. Für die meisten haben sich in den vergangenen zwei Jahren die Lebensbedingungen stark verschlechtert, und es besteht keine Aussicht auf eine baldige Besserung. Im Gegenteil: Die Sicherheitslage verschlechtert sich kontinuierlich, und die bewaffnete Kriminalität nimmt rapide zu. Seines Lebens kann man sich nie sicher sein aufgrund der Entführungsgefahr und immer wieder ausbrechender Gefechte, die nicht zwangsläufig zwischen Qaddafi-Anhängern und deren Gegnern ausgetragen werden, sondern vielfach auch unter rivalisierenden Milizen.

Die sich verschlechternde Sicherheitslage war absehbar. Dennoch ist in der westlichen Presse erst seit kurzem etwas davon zu hören, und immer noch überwiegen in den westlichen Medien die Stimmen derer, die sagen, dass Libyen nun demokratisch sei und sich eben noch in einer Übergangsphase befände.

Bei den Betroffenen in Libyen klingt dies anders: „Das nennen Sie Freiheit: Kein System, niemand kümmert sich um irgendwas. Das ist Freiheit: Ich tue, was ich will, ich erschieße diesen, nehme mir jenes Auto. Ich brenne das Haus dort nieder. Wissen Sie: Ich scheiße auf Freiheit. Aber das Leben geht weiter. […] Ich schwöre Ihnen, ich hasse Qaddafi. […] Ich hatte in Libyen vor der Revolution ein gutes Leben.“ 8

Viele Libyer sehnen sich nach einer starken Führungspersönlichkeit, der es gelingt, Recht und Ordnung wieder herzustellen. Für viele Libyer ist klar, dass eine »dritte Revolution« kommen wird – nach der Revolution von 1969, mit der Qaddafi an die Macht kam, und nach der von 2011. Eine Revolution, die an die Qaddafi-Zeit angelehnte Verhältnisse zum Ziel hat. Es besteht die Gefahr, dass diese sehr blutig sein wird, da sich in den vergangen zwei Jahren die Menschen – weitaus mehr als in den 42 Jahren unter Qaddafi – gegenseitig viel Unrecht zugefügt haben.

Wenn sich diese Regierung trotzdem hält, dann nur aufgrund der Unterstützung der westlichen Staaten, die zunehmend versuchen, in Libyen militärisch Fuß zu fassen.9 Aber auch diese Entwicklung beinhaltet die Gefahr, dass die innere Zerrissenheit und Instabilität mit all ihren Folgen weitere ein oder zwei Jahrzehnte anhält.

Anmerkungen

1) Almut Hinz (2005): Die Sanktionen gegen Libyen. Sanktionen im modernen Völkerrecht und in der Staatenpraxis sowie ihre Anwendung am Beispiel Libyen. Frankfurt: Peter Lang.

2) Resolution 1973 (2011) des UN-Sicherheitsrates zu Libyen vom 17. März 2011 ermächtigte die Mitgliedstaaten zu allen für den Schutz von Zivilisten erforderlichen Maßnahmen, verhängte eine Flugverbotszone, rief zur Durchsetzung des Waffenembargos auf, erließ ein Start-, Lande- und Überflugverbot für libysche Flugzeuge und präzisierte die Maßnahmen zum Einfrieren libyscher Vermögenswerte und Konten. [d. Red]

3) Reinhard Merkel: Die Militärintervention gegen Gaddafi ist illegitim. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.03.2011.

4) New statistics show Libya’s roads as world’s most dangerous. Libya Herald, 7.1.2013.

5) Iran steps up pressure over kidnapped Red Crescent workers. Libya Herald, 28.8.2012.

6) Tom Little: Head of Libya’s Copts speaks out on Misrata killing. Libya Herald, 31.12.2012. Siehe auch: Salafisten ätzen Christen offenbar Kreuze aus Haut. 1.3.2013.

7) Manuel Escher: Libyen – Revolutionäre üben eine positive Rolle aus. der standard (Österreich), 05.03.2013.

8) Gespräch mit einem Taxifahrer in Tripolis im Mai 2012.

9) Al-quds al-arabi (U.K.): Französischer Stützpunkt in Libyen?. 27.02.2013 (arabisch).

Dr. phil. Almut Besold ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Orientalischen Institut der Universität Leipzig. Sie arbeitet seit 1998 zu Libyen und hält sich in regelmäßigen Abständen dort auf, zuletzt im Februar 2013.

Instabilität im Nahen und Mittleren Osten

Instabilität im Nahen und Mittleren Osten

Der Irak und sein regionales Umfeld nach dem Zweiten Golfkrieg

von Jochen Hippler

Der Nahe und Mittlere Osten ist heute von vielfältigen Konflikten und kriegerischen Auseinandersetzungen geprägt. Eine wichtige Rolle in der Region spielte Jahrzehnte lang der Irak. Zunächst geprägt von historisch bedingter Schwäche, entwickelte sich das Land unter Saddam Hussein und der Baath-Partei zu einem regionalen Kraftprotz. Damit war es nach dem Dritten Golfkrieg vorbei – seit 2003 an trug die innere Schwäche des Irak auch regional zu Instabilitäten bei. Inzwischen verschob sich der Motor der Instabilität nach Libyen und Syrien. Der Autor beleuchtet das komplexe Geflecht.

Vor zwei oder drei Generationen – also vor und zu Beginn der Herrschaft Saddam Husseins – galt der Irak zu Recht als schwach und instabil. Diese historische Erfahrung bildet einen wichtigen Hintergrund für die Politik der späteren irakischen Regierungen, insbesondere ab 1968.1

Schwäche des Irak vor 1968

Ein Faktor für die damalige Schwäche war die Vernachlässigung des Landes durch die es kontrollierenden externen Mächte (Osmanisches Reich, Großbritannien). Daraus und aus den inneren Bedingungen des Landes resultierte das zweite Problem: Der Irak verfügte lange über einen ausgesprochen schwachen Staatsapparat und war gekennzeichnet von Defiziten und Instabilität im politisch-administrativen Bereich und einer unzureichenden Nutzung seines Entwicklungspotentials, bei weiterhin quasi-feudalem Charakter seiner Machteliten.

Eine dritte Quelle gesellschaftlicher und staatlicher Schwäche lag in dem Fehlen eines einigermaßen homogenen »Staatsvolkes«. Neben der den schiitischen Arabern, die die Bevölkerungsmehrheit stellen (ca. 55%), gibt es eine sunnitisch-arabische (ca. 20%), eine kurdische sowie eine Reihe kleinerer Minderheiten. Geführt wurde das Land unter dem König, dem Militär und der Baath-Diktatur vorwiegend von einer sunnitisch-arabischen Elite. Das Autonomiestreben der Kurden hatte der irakischen Regierung lange zu schaffen gemacht, die Konflikte nahmen oftmals militärische Formen an. Diese Konstellation erschwerte dem künstlich und von außen gegründeten Irak die Identitätsfindung und Staatsbildung und damit die Stabilisierung. Eine arabisch-nationalistische Staatsideologie (wie von der Baath-Partei offeriert) musste dem Viertel der Bevölkerung als Zumutung erscheinen, das nicht arabisch war. Eine islamische Identität wiederum war aufgrund des unterschiedlichen sozialen und religiösen Status von Sunniten, Schiiten und säkularen Kräften ebenfalls kaum gegeben.

Die Stärke des Baath-Regimes

Die Machtübernahme der Baath-Partei 1968 erfolgte vor diesen innen- sowie diversen außenpolitischen Hintergründen (Gegnerschaft zu Iran, Israel, Saudi-Arabien und den Golfstaaten sowie ein ambivalentes Verhältnis zu den USA). Zur Stabilisierung des Landes bediente sich die baathistische Regierung sofort nach ihrem Machtantritt vier Hauptinstrumentarien: der Repression ihrer Gegner; der taktischen Kooptierung bzw. später ebenfalls Repression derjenigen politischen Kräfte, die noch zu stark erschienen; der politischen und ideologischen Gleichschaltung aller staatlichen und nicht-staatlichen Organisationen (Militär, Verwaltung, ideologische Apparate); und der Anstrengungen zur Entwicklung des Landes und seiner Infrastruktur sowie der Sozialpolitik und eines gewissen sozialen Transfers.

Dieser letzte Aspekt der Herrschaftssicherung, der eher integrativ und unter Nutzung ökonomischer Anreize funktionierte, wurde erst dadurch zu einem wirksamen Instrument, dass dem Staat ab 1973 durch die plötzliche Steigerung des Ölpreises und die kurz zuvor erfolgte Verstaatlichung des Ölsektors umfangreiche zusätzliche Finanzmittel zuflossen. Dies erhöhte das Verteilungs- und Investitionspotential des Staates erheblich. Bis zum Ende der 1970er Jahre gelang dem Irak auf diese Weise eine repressive Stabilisierung, die von Ölgeldern abgestützt wurde.

Außenpolitisch verfolgte das Regime Saddam Husseins eine offensive Politik, sobald es die innenpolitische Stabilisierung für erreicht hielt, die militärische Aufrüstung (einschließlich der Produktion von Chemiewaffen) weit genug fortgeschritten war und sich in der Nachbarschaft entsprechende Gelegenheiten boten. Die »Islamische Revolution« im Iran schien eine solche Gelegenheit zu bieten, als das Land nach dem Sturz des Schah innenpolitisch und militärisch geschwächt war. Nach acht Kriegsjahren (1980-1988) konnte der Irak seinen Angriffskrieg militärisch zwar für sich entscheiden, war aber wirtschaftlich und infrastrukturell massiv geschwächt. Auch aus diesem Grund erfolgte bereits 1990 die nächste militärische Aggression gegen das benachbarte Ölland Kuwait.

In dieser historischen Phase stellte der Irak durch seine von militärischer Stärke gekennzeichnete offensive Machtpolitik eine Bedrohung der regionalen Stabilität dar. 1992 erklärte ein hochrangiger irakischer Diplomat dem Verfasser gegenüber: „Wir sind bereit, eine oder zwei Generationen Iraker zu opfern, um den Irak zu einem starken Land zu machen.“ Zu diesem Zeitpunkt war dieser Anspruch allerdings im Kern schon gescheitert, da der Irak gerade den Zweiten Golfkrieg (gegen die USA und zahlreiche Verbündete) verloren hatte und unter den internationalen Sanktionen litt, die das Land dauerhaft ausbluten ließen.

Faktor für regionale Instabilität nach 2003

Auch danach war der Irak eine Bedrohung für die regionale Stabilität – diesmal allerdings nicht aufgrund seiner Stärke, sondern aufgrund seiner inneren Schwäche. Der völkerrechtswidrige Krieg der USA unter George W. Bush hatte das Land 2003 einer amerikanischen Besatzungsbehörde unterworfen, die ursprünglich die Macht sofort an eine neue, US-dominierte irakische Regierung übertragen sollte. Allerdings existierte im Irak nach dem Sturz Saddam Husseins keine politische Elite, der man die Regierungsgewalt hätte übertragen können. Der US-Krieg hatte aus einem überwältigend »starken« und repressiven Staat innerhalb kurzer Zeit einen »failed state« gemacht. Die staatlichen Strukturen des Landes brachen nach der Niederlage innerhalb weniger Tage zusammen und lösten sich auf, die Reste wurden von Washington im Zuge der »Entbaathifizierung« zügig liquidiert.

Da im Irak unter Saddam Hussein jeder Ansatz zur Bildung zivilgesellschaftlicher Organisationen oder Parteien brutal verhindert worden war, konnten sich solche lediglich im Exil (insbesondere schiitische Parteien in Iran), im Untergrund oder in der seit dem Zweiten Golfkrieg bestehenden kurdischen Autonomiezone im Norden des Landes entwickeln, und auch das nur ansatzweise. Mangels in der Gesellschaft verankerter politischer Organisationen war eine schnelle Machtübergabe durch die US-Besatzungsbehörden also gar nicht möglich. Als diese sich bald darum bemühten, andere Repräsentanten der irakischen Gesellschaft zu finden, um mittelfristig Partner bei der Verwaltung des Landes aufzubauen, setzten sie auf Vertreter »der« Schiiten, Sunniten, Kurden und anderer Gruppen, da die Gesellschaft ja aus diesen Gruppen bestehe. Dies führte dazu, dass es für Personen und Gruppen höchst vorteilhaft wurde, sich besonders »schiitisch«, »sunnitisch«, »kurdisch« oder »christlich« zu geben, da sie nur so direkten oder indirekten Zugang zu politischer Macht erhalten konnten.2 War früher die Zugehörigkeit zu konfessionellen Gruppen häufig eher sozial und kulturell als religiös bedeutsam (so war die Kommunistische Partei die politische Heimat der Schiiten, aber sicher nicht aus religiösen Gründen), kam es nun zu einer Art Wettrennen, wer denn »sunnitischer« oder »schiitischer sei – wobei die religiösen schiitischen Parteien, die im Exil und Untergrund am ehesten überlebt hatten, beträchtliche Positionsvorteile besaßen. So wurde eine Welle der Konfessionalisierung und Ethnisierung der irakischen Gesellschaft in Gang gesetzt, die bald wesentlich zur Eskalation des Bürgerkrieges (bis zu 3.500 Tote pro Monat zur Jahreswende 2006/2007) und zur dauerhaften Destabilisierung des Irak beitrug.

Dieser Bürgerkrieg war durch unterschiedliche Faktoren gekennzeichnet, u.a. die folgenden:

  • die Vertiefung sunnitisch-schiitischer Konflikte durch Terroranschläge extremistischer Gruppen auf Zivilisten der jeweils anderen Seite sowie durch einen weitgehenden Ausschluss sunnitischer Politiker von der Macht durch eine arabisch-schiitisch/kurdische Allianz,
  • der Kampf gegen die US-amerikanischen Besatzungstruppen und
  • ein regionaler Jihad, der Kämpfer aus anderen arabischen Ländern (z.B. Jordanien, Jemen, Syrien, Libyen) in den Irak zog.

Diese drei Faktoren hatten Folgen für die gesamte Region.

Der Wettbewerb um regionale Dominanz zwischen Saudi-Arabien und dem Iran führt nach dem Ausscheiden der irakischen Konkurrenz unter Saddam Hussein, die sich arabisch-nationalistisch gegeben hatte, häufig zu sunnitisch-schiitischen Spannungen, zu denen der konfessionalisierte Bürgerkrieg im Irak deutlich beitrug. Der jihadistische Kampf gegen die USA verkomplizierte die Situation weiter: Einerseits wurde er vor allem von salafistischen Kräften betrieben, die ideologisch dem saudi-arabischen Wahabitentum nahe standen und die Schiiten entweder als Ketzer oder ihnen gar die Zugehörigkeit zum Islam absprach. Zugleich richtete sich der Jihadismus auf der politischen Ebene gegen das saudische Königshaus und seine Verbündeten.

Sunnitisch-schiitische Konkurrenzsituation

Dies und die anti-amerikanische Stoßrichtung sunnitischer Extremisten kam dem Regime im Iran eigentlich entgegen. Grundsätzlich aber sieht der Iran den Salafismus als theologische und politische Bedrohung, nicht nur weil er seit längerem im belutschischen Südosten seines Landes einer Terrorkampagne sunnitischer Extremisten ausgesetzt ist. Der Iran hatte daher wie die säkulare syrische Diktatur das Interesse, den sunnitischen Extremismus zurückzudrängen. Gleichzeitig wollten beide, der Iran und Syrien, die Lage im Irak nutzen, um die USA dort unter Druck zu halten und sich selbst zu schützen: In den USA diskutierten neokonservative Kräfte unter George W. Bush offen, ob das US-Militär nach dem Sturz Saddam Husseins nicht auch gegen Syrien oder den Iran vorgehen solle. Eine dauerhaft instabile Situation und die Bindung beträchtlicher US-amerikanischer Kräfte und Ressourcen im Irak war daher für Syrien und den Iran ein nahe liegendes Ziel politischen Handelns.

In dieser Hinsicht war insbesondere der Iran ausgesprochen erfolgreich: Der US-Krieg gegen Saddam Hussein schaltete nicht nur einen traditionellen Gegner des Iran aus und eröffnete Teheran beträchtliche Einflussmöglichkeiten im Irak3 – insbesondere über die nun dominierenden schiitischen Parteien, die seit ihrer Exilzeit über gute Beziehungen zum Iran verfügen –, sondern er fügte den USA auch hohe Verluste, letztlich sogar eine politische Niederlage zu, die die westliche Position in der Region deutlich schwächte. Als Ende 2011 schließlich die letzten US-Soldaten aus dem Irak abzogen und der politische US-Einfluss dort schnell und dramatisch abnahm, war dieser Prozess weitgehend abgeschlossen.4 Die Reduzierung des Personals der umfangreichen US-Botschaft in Bagdad um Zweidrittel im Laufe dieses Jahres ist Ausdruck des schwindenden Einflusses, ebenso wie die Bitte des US-Außenministers bei seinem Besuch in Bagdad, der Irak möge über sein Staatsgebiet keine iranischen Waffenlieferungen an Syrien mehr zulassen. Noch wenige Jahre zuvor wäre eine solche Bitte nicht nötig gewesen.5

Heute ist der Irak kein aktiver Exporteur von Instabilität mehr, auch wenn er eine Zeit lang die Funktion eines »Durchlauferhitzers« für jihadistische Gruppen gespielt hatte, vergleichbar mit Afghanistan in den 1980er Jahren. Der Irak ist auch zehn Jahre nach dem Krieg und sechs Jahre nach dem langsamen Abflauen des Bürgerkrieges instabil und fragil. Das Gewaltniveau nimmt in den letzten Monaten erneut zu. Mit ein Grund dafür sind die diktatorischen Allüren von Ministerpräsident Maliki und seine neue anti-sunnitische Wende, was von jihadistischen Gruppen gleich ausgenutzt wird. Auch das Verhältnis zwischen der kurdischen Autonomieregierung und der Regierung Maliki ist schwieriger geworden.

Der Irak ist schon lange nicht mehr in der Lage, die regionale Stabilität durch seine Stärke und seinen Expansionsdrang zu bedrohen, aber er ist inzwischen auch nicht mehr so schwach, dass er dies durch seine Schwäche täte. Die interne und regionale Instabilität stellt heute vor allem ein Problem für die irakische Bevölkerung dar, und der Irak leidet darunter, dass er in die regionale sunnitisch-schiitische und die saudisch-iranische Konkurrenz verwickelt ist.

Neue Instabilität durch syrischen Bürgerkrieg

Dabei spielt eine erhebliche Rolle, dass der Irak Anrainerstaat zu Syrien ist. Aufgrund seiner zunehmenden Konfessionalisierung wird der syrische Bürgerkrieg im Irak vor allem aus der Perspektive der jeweils eigenen konfessionellen Zugehörigkeiten betrachtet. Die an den Rand gedrängte sunnitische Gemeinschaft sympathisiert mit den sunnitischen Aufständischen in Syrien, und insbesondere die irakischen (und verbliebenen ausländischen) Jihadisten im Irak bemühen sich, die salafistischen Elemente des dortigen Aufstandes zu unterstützen. Dabei geh es nicht nur um das Einsickern von Kämpfern und die Lieferung von materieller Unterstützung und Waffen nach Syrien. Inzwischen kam es sogar zu einem punktuellen Übergreifen des syrischen Bürgerkrieges auf den Irak, etwa als 40 syrische Soldaten, die bei schweren Gefechten über die Grenze geflohen waren, und ca. sieben sie zurückeskortierende irakische Soldaten Anfang März 2013 in einen Hinterhalt von al Kaida gerieten und getötet wurden.

Die Regierung in Bagdad und die kurdischen Parteien hingegen verfolgen eine Politik der wohlwollenden Neutralität gegenüber der Assad-Diktatur. Dies ist offensichtlich nicht aus politischer Sympathie der Fall – nachdem das eigene baathistische Regime überwunden wurde, besteht wenig Anlass, dem syrischen Baathismus gegenüber freundlich zu sein. Allerdings wird befürchtet, ein erfolgreicher Aufstand in Syrien wäre sunnitisch dominiert und jihadistische Gruppen könnten an Einfluss gewinnen, was destabilisierend auf den Irak zurückwirken würde. Daher leistet der Irak eine gewisse, diskrete Unterstützung der syrischen Regierung, verbirgt diese aber hinter offizieller Neutralität.

Gegenwärtig ist in der Region also weniger der Irak die Quelle von Instabilität, sondern Syrien, dessen Bürgerkrieg sich stark auf alle Nachbarländer auswirkt: In der libanesischen Innenpolitik ist dies besonders greifbar; aufgrund von Flüchtlingsströmen und politischen Erwägungen gilt dies auch für Jordanien und die Türkei. Dazu kommen erste militärische Auseinandersetzungen mit Israel, das von syrischer Seite mit Kleinwaffen und vermutlich mit Artillerie beschossen wurde und in mindestens einem Fall darauf mit gleichen Mitteln reagierte. Darüber hinaus kam es bereits zu zumindest einem israelischen Luftangriff auf Syrien.

Libyenkrieg und Waffenschmuggel

Eine Betrachtung der regionalen Stabilitäts- bzw. Instabilitätsfaktoren muss zumindest knapp auch die Folgen der internationalen Libyenintervention einbeziehen.6 Der neu aufzubauende libysche Staat zeichnet sich durch extreme Schwäche aus; zahlreiche Milizen, Stämme und Regionen hingegen agieren aus einer Position der Stärke. Dies führte dazu, dass nach der Plünderung zahlreicher Waffenlager des Gaddafi-Regimes vielfältig verfügbares militärisches Gerät und Waffen in erheblichem Umfang Richtung Süden und Südwester gelangte, insbesondere nach Mali und dessen Nachbarländer, bis hin zu Boko Haram in Nigeria. Somalische Piraten sind über Umwege ebenfalls beliefert worden. Libysche Waffen gelangen auch nach Ägypten und insbesondere auf den Sinai, von wo sie auch in den Gaza-Streifen und nach Syrien weitergereicht werden – sicher kein Zeichen regionaler Stabilität. Wenn manche der »offiziellen« Waffenlieferanten der syrischen Aufständischen (Saudi-Arabien, Katar) und Regierungen, die dabei logistische Hilfe leisten (Jordanien, Türkei) unter westlichem Druck nun stärker darauf achten wollen, dass ihre Unterstützung nicht jihadistischen Gruppen in Syrien zugute kommt, können solche Bemühungen leicht unterlaufen werden: Libysche Extremisten könnten Waffen aus den alten Beständen Gaddafis an ihre syrischen Gesinnungsgenossen liefern. Das könnte dann wieder auf den Irak zurückwirken.

Mehr regionale Instabilität

Insgesamt ist die regionale Instabilität im Nahen und Mittleren Osten in den letzten Jahren deutlich gewachsen. Der weiterhin fragile Irak ist dabei inzwischen nur in geringem Maße der Exporteur von Instabilität, eher ein Importeur. Seine Widerstandskraft gegenüber weiterer Gewalt, Fragmentierung und Instabilität ist aufgrund der seit dem Krieg nie überwundenen internen Dauerkrise eher gering einzuschätzen. Im Zentrum der Instabilität steht gegenwärtig Syrien, um das sich die anderen akuten und potentiellen Regionalkonflikte – im Libanon, der Nahostkonflikt, die offene, grenzüberschreitende Kurdenfrage, die Instabilität des Irak, die Spannungen an der syrisch-türkischen und z.T. syrisch-israelischen und syrisch-jordanischen Grenze und die saudi-arabisch-iranische Konkurrenz – gruppieren.

Anmerkungen

1) Zur Geschichte des Irak bis zum Ersten Golfkrieg siehe: Marion Farouk-Sluglett und Peter Sluglett (1987): Iraq Since 1958: From Revolution to Dictatorship, London.

2) Jochen Hippler, Von der Diktatur zum Bürgerkrieg – Der Irak seit dem Sturz Saddam Husseins. In: Jochen Hippler (Hrsg.) (2008): Von Marokko bis Afghanistan – Krieg und Frieden im Nahen und Mittleren Osten. Hamburg, S.92-109; online unter jochenhippler.de.

3) Mohsen M. Milani (2011): Iran’s Strategies and Objectives in Post-Saddam Iraq. In: Henri J. Barkey, Scott B. Lasensky, and Phebe Marr (eds.): Iraq, Its Neighbors, and the United States. Washington S.73-87.

4) Für eine intelligente politikorientierte Diskussion der US-Politik kurz vor dem Abzug siehe: Kenneth M. Pollack et al. (2011): Unfinished Business — An American Strategy for Iraq Moving Forward. Washington.

5) Jochen Hippler: Zum Zustand des Irak beim Abzug des US-amerikanischen Militärs. Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik, Band 5, Heft 1 (2012), S.61-71.

6) Siehe dazu ausführlicher Jochen Hippler: Change in the Middle East – Between Democratization and Civil War: A Short Introduction; im Erscheinen.

PD Dr. Jochen Hippler ist Politikwissenschaftler und Friedensforscher und arbeitet seit 2000 am Institut für Entwicklung und Frieden (INEF) der Universität Duisburg-Essen.

Arabellion – Neubeginn oder Status Quo?

Arabellion – Neubeginn oder Status Quo?

Johannes M. Becker, Rachid Ouaissa und Werner Ruf

Im Rahmen der International Summer University (ISU) 2012 an der Philipps-Universität Marburg beleuchtete eine Podiumsdiskussion die aktuelle Situation in der arabischen Welt. W&F dokumentiert eine Kurzfassung des Gesprächs.

Becker: Was war der Katalysator für den Arabischen Frühling? Warum begannen die Aufstände gerade in Tunesien und Ägypten?

Ruf: Auslöser war die soziale Situation. Soziale Unruhen und Proteste gegen die Arbeitsbedingungen und gegen die Perspektivlosigkeit gab es schon seit Jahren. Denken Sie nur an die Tausende von Menschen, die sich auf den Weg über das Mittelmeer machten, obwohl sie das Risiko genau kannten.

Ouaissa: Seit Mitte der 1980er Jahre sind zwei Grundpfeiler des Systems in eine Krise geraten: zum einen das rentenbasierte Verteilungssystem, zum anderen die großen Ideologien, wie der arabische Sozialismus und der Pan-Arabismus. Der Reichtum dieser Länder konzentriert sich zunehmend in den Händen einer Minorität. Die soziale Ungleichheit ist größer denn je.

Außerdem bewirkte der neoliberale Kurs seit den frühen 1990er Jahren enorme strukturelle und demographische Veränderungen. Die arabischen Familien werden immer kleiner, und die sozialen Hierarchien verlieren an Bedeutung. Die jungen Menschen wollen aber am politischen, sozialen, kulturellen und ökonomischen Leben partizipieren.

Becker: Welche Rolle spielten beim Arabischen Frühling die Religion einerseits und der soziale Kontext andererseits?

Ouaissa: Ich glaube, dass die sozialen Umstände die Hauptrolle spielten. In der arabischen Gesellschaft gibt es aber eine Hauptkonstante: der Glaube an die Gleichheit der Menschen. Da gibt es übrigens viele Parallelen zu den USA, und es erklärt die starke Religiosität in beiden Gesellschaften. Wächst die Ungleichheit, wächst auch die Religiosität, sozusagen als Ersatz für den »failed state«. Allerdings war die Selbstverbrennung des tunesischen Straßenhändlers Mohamed Bouazizi kein religiöser Akt, sondern eher ein Protest gegen die religiösen Autoritäten.

Ruf: Zu Beginn der Aufstände waren die islamistischen Parteien nicht präsent. Dann gewannen sie aber immer mehr an Einfluss, weil ihre Mitglieder auch Opfer der Repression durch das alte Regime gewesen waren. Sie standen für mehr soziale Gerechtigkeit, für das genaue Gegenteil zu den alten, korrupten und pro-westlichen Diktaturen.

Becker: Und der Krieg in Libyen, war der Teil des Arabischen Frühlings?

Ruf: Ja und nein. In Libyen gab es keine sozialen Probleme. Auf die relativ kleine Bevölkerung entfiel ein erheblicher Teil der Ölrente.

Ouaissa: Es waren zwei Aspekte relevant: zum einen die ungleiche Machtverteilung zwischen den Stämmen [im Osten und Westen des Landes] und zum anderen die Versuche des Westens, die reichen Bodenschätze zu kontrollieren. Die Intervention in Libyen ist ein hervorragendes Beispiel für eine neue Ausprägung des Imperialismus, die ich Turbo-Imperialismus nennen würde. Die jüngsten Ereignisse haben gezeigt, dass die europäischen Mächte bereit sind, zum Schutz ihrer eigenen Interessen eine Militärintervention durchzuführen.

Becker: Welche Rolle spielt das Ausland bei den Unruhen in Syrien?

Ruf: Saudi-Arabien und Katar belieferten die Opposition von Anfang an mit Waffen. Der Fernsehsender von Katar organisierte Anti-Assad-Propaganda. Syrien, eine grausame Diktatur, ist neben Algerien und dem Libanon der letzte wichtige säkulare Staat in der Region. Schon seine bloße Existenz ist für die despotischen Regime auf der arabischen Halbinsel seine Provokation. Mit einem Regimewechsel in Syrien würde auch der Iran erheblich geschwächt, er würde seinen wichtigsten Verbündeten verlieren.

Ouaissa: Der Fall Syrien beweist, dass die Ereignisse in der arabischen Welt Teil eines Konflikts über die Neuaufteilung des Nahen und Mittleren Ostens sind.

Becker: Wohin geht die Entwicklung beim Arabischen Frühling? Werden die sich entwickelnden Staaten inspiriert, so dass es zu einem »Globalen Frühling« kommt?

Ruf: Einerseits ja. Es geht hier um das Aufbegehren der jungen Generation, die keinerlei soziale Perspektiven hat. Auf der anderen Seite wird immer klarer, dass die Islamisierung unter der Führung der Wahabiten darauf zielt, reaktionäre Regime zu etablieren, die dem Westen freundlich gesinnt sind. Die Islamisten sind die einzige politische Kraft, die im Wesentlichen die Prinzipien der liberalen Marktwirtschaft unterstützt und den freien Fluss des Öls in den Westen garantiert.

Ouaissa: Die Entwicklung in der arabischen Welt hängt von zwei wichtigen Faktoren ab: Erstens, welche Allianzen (auf der gesellschaftlichen wie der staatlichen Ebene) die islamistischen Parteien schmieden können. Und zweitens, ob der Westen diese neuen Führer in der arabischen Welt als ebenbürtige Partner akzeptiert.

PD Dr. Johannes M. Becker, Zentrum für Konfliktforschung der Philipps-Universität Marburg, und Prof. Dr. Rachid Ouaissa, Centrum für Nah- und Mittelost-Studien, waren die akademischen Leiter der ISU 2012. Prof. em. Dr. Werner Ruf ist Politologe und Friedensforscher.
Aus dem Englischen übersetzt von Regina Hagen

Die syrische Flüchtlingskrise

Die syrische Flüchtlingskrise

von Susanne Schmelter

Seit Beginn der Proteste gegen das Regime von Bashar al-Assad sind über 110.000 syrische Staatsangehörige in die Nachbarländer Jordanien, Libanon, Irak und Türkei geflohen (Angaben des UNHCR, Stand Juli 2012). Und die Flüchtlingszahlen steigen täglich weiter. Der Bürgerkrieg in Syrien führt zu einer großen Flüchtlingskrise in einer Region, in der die letzte noch nicht bewältigt ist. Allein in Syrien warten noch rund 87.000 beim UN-Flüchtlingskommissariat (UNHCR) registrierte Flüchtlinge aus dem Irak auf eine Aufnahme in einem Drittland. Während die allgemeine Flüchtlingsschutzsituation in der Region sich drastisch verschlechtert, schaffen es bis jetzt nur sehr wenige Schutzsuchende nach Europa. Die aktuellen Entwicklungen stellen die Abschottungspolitik der EU folglich mit neuer Vehemenz in Frage.

Seit 1971, als Hafez al-Assad, der Vater von Bashar al-Assad, an die Macht kam, unterdrückt das Regime innergesellschaftliche Konflikte rigoros. Der Assad-Clan gehört den Alawiten an und hat andere wichtige Positionen innerhalb des Staatsapparates ebenfalls mit Alawiten besetzt. Mit circa 11% sind sie die größte religiöse Minderheit in Syrien, gefolgt von Christen (10%), Drusen (3%) und kleineren muslimischen Glaubensgemeinschaften (2%). Mit über 70% stellen Sunniten die Mehrheit in einer syrischen Gesamtbevölkerung von über 22 Millionen.1

Unter Verweis auf die ethno-konfessionelle Gewalt im Irak und im Libanon stilisierte sich das Assad-Regime stets als Garant für Stabilität. Seit Beginn der Proteste im März 2011 zeigt es jedoch keinerlei Skrupel, selbst die ethno-konfessionelle Karte auszuspielen: Vor allem Alawiten, aber auch Christen und anderen Bevölkerungsgruppen wird mit allen Mitteln suggeriert, dass ihr Schicksal von dem des Regimes abhänge. Die exzessive Gewalt, mit der das Regime versucht, Proteste niederzuschlagen und seine Gegner zum Schweigen zu bringen, kostete bisher weit über 15.000 Menschen das Leben. Unter den syrischen Flüchtlingen sind hauptsächlich Angehörige der sunnitischen Bevölkerungsmehrheit. Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung agiert bei den Protesten zwar weiterhin gewaltfrei, mit zunehmender Bewaffnung der Oppositionsbewegung und der damit einhergehenden Ausweitung des Bürgerkrieges ist jedoch davon auszugehen, dass auch verstärkt Angehörige von Minderheiten fliehen werden.

Flucht in die Nachbarländer

Der UNHCR ging Mitte Juli 2012 von über 110.000 syrischen Flüchtlingen in den Nachbarländern Libanon, Irak, Jordanien und Türkei aus.2 Überwiegend stammen sie aus dem stark vom Krieg betroffenem Homs, gefolgt von Dara‘a, Idleb und Hama. Die Zahl derjenigen, die seit Beginn des Aufstandes Binnenvertriebene wurden, ist schwer zu ermitteln, wird aber auf etwa 200.000 geschätzt. Viele von ihnen würden wahrscheinlich lieber ins Ausland fliehen, aber das syrische Regime hat die Fluchtwege Richtung Türkei und Libanon vermint.3 Auch auf dem Weg nach Jordanien sind Flüchtlinge Angriffen ausgesetzt.4

Bisher gilt in der Türkei, in Jordanien und dem Libanon Visafreiheit für syrische Staatsangehörige. Wie lange diese noch aufrecht erhalten wird, ist allerdings ungewiss. Im Juni 2012 begann die jordanische Regierung, nach eigenen Angaben aus Sicherheitsgründen, die Einreise syrischer Flüchtlingen zu beschränken.5

In keinem der vier Aufnahmeländer gilt die Genfer Flüchtlingskonvention für die Schutzsuchenden aus Syrien. Sie gelten als Gäste und haben nur einen temporären Status.

Im Gegensatz zu den irakischen Flüchtlingen, die infolge des Irakkrieges seit 2003 hauptsächlich in den urbanen Zentren von Syrien, Jordanien und Libanon Zuflucht suchten, sind die Schutzsuchenden aus Syrien nur teilweise in die großen Städte gezogen und kommen großteils in Flüchtlingslagern unter.

Libanon

Im Libanon sind über 30.000 syrische Flüchtlinge registriert. Die meisten von ihnen sind im Norden des Libanon, in den Städten Tripoli und Akkar und in der ebenfalls grenznahen Bekaa-Ebene untergekommen. Dort leben sie häufig unter schwierigen Bedingungen bei libanesischen Gastfamilien oder in Sammelunterkünften und neu errichteten Camps. Für die syrischen Flüchtlinge gelten bislang keine Einreisebeschränkungen in den Libanon. Im Land selbst sind die lokalen Behörden jedoch abgeneigt, den Flüchtlingen Mobilitätsgenehmigungen (circulation permits) auszustellen.

Als kleines und gesellschaftlich tief gespaltenes Land hat der Libanon nur begrenzte Aufnahmekapazitäten. Seit Mai 2012 mehrten sich auch im Libanon die gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Assad-Anhängern und -Gegnern. Das ohnehin sehr instabile Land ist somit von einem »conflict spill-over« betroffen und kann den Flüchtlingen aus Syrien daher, wenn überhaupt, nur kurzfristig Schutz bieten.6

Irak

Irak ist von den vier benachbarten Aufnahmeländern das Land, in das am wenigsten Schutzsuchende aus Syrien geflohen sind. Nur der Nordirak, der unter kurdischer Verwaltung steht, ist stabil genug, um Flüchtlingen Sicherheit zu bieten. Dort registrierten sich in den Provinzen Dohuk, Erbil und Suleimanya über 6.500 syrische Kurden beim UNHCR. Von ihnen leben über 2.000 in einem offenen Flüchtlingszeltlager in der Provinz Dohuk. Mit der Registrierung in diesem Camp können die Flüchtlinge eine sechsmonatige Aufenthaltsgenehmigung und damit auch freien Zugang zu öffentlichen Einrichtungen erhalten. In Erbil, Suleimanya und anderen Teilen der Provinz Dohuk kommen die Flüchtlinge meist bei Familienmitgliedern oder der lokalen Bevölkerung unter.

Bzgl. der syrischen Kurden ist davon auszugehen, dass sie – wenn auch in unterschiedlichen Fraktionen – im Zuge der Umbrüche ihre eigene Interessenspolitik verfolgen. In diesem Kontext ist es denkbar, dass sich der kurdische Nordirak trotz begrenzter Aufnahmekapazitäten auch weiterhin dafür einsetzt, Kurden aus Syrien ein sicheres Refugium zu bieten.

Jordanien

In Jordanien sind über 32.000 syrische Flüchtlinge beim UNHCR registriert. Die Jordan Hashemite Charity Organisation geht allerdings von insgesamt 50.000 syrischen Flüchtlingen in Jordanien aus, die Regierung sogar von 110.000. Zuletzt nahm Jordanien geschätzte 450.000 Iraker auf; von ihnen erhalten weiterhin circa 30.000 Unterstützung vom UNHCR.7 Das Königreich zeigt sich – obwohl u.a. die Infrastruktur und die Wasserversorgung stark belastet sind – auch gegenüber den Syrern relativ aufnahmebereit.8 Sie werden in Jordanien als »Gäste« angesehen und leben großteils in der Hauptstadt Amman und der nördlich gelegenen Stadt Irbid. Im Norden des Landes wurden außerdem Container und Zelte aufgestellt, in denen zunehmend Flüchtlinge unterkommen; dort leben auch 500 palästinensische Flüchtlinge aus Syrien.9

Türkei

In der Türkei sind über 37.000 syrische Flüchtlinge registriert. Sie erhalten dort »temporären Status« – dies allerdings nur, wenn sie in einem der Flüchtlingslager in den grenznahen Provinzen Hatay, Kilis, Gaziantep oder Sanliurfa bleiben. Die Zahl der Flüchtlinge aus Syrien, die auf irregulärem Weg oder einfach mit einem freien Drei-Monats-Visum in die Türkei eingereist sind, wird auf mehrere Tausend geschätzt. Die Türkei schiebt bis jetzt keine Syrer ab, lässt ihnen ohne gültige Aufenthaltserlaubnis jedoch nur die Option, sich in einem der Lager zu registrieren. Diese werden vom halbstaatlichen Türkischen Roten Halbmond verwaltet. Nichtregierungs- und internationale Organisationen haben keinen Zugang zu den Camps, so dass die Situation vor Ort nicht unabhängig überprüft werden kann.10 Seit Februar 2012 ist ein kleines Team des UNHCR mit »beratender« Funktion in Hatay vor Ort. Mit Verweis auf den temporären Flüchtlingsschutz, den der türkische Staat gewährt, führt das UNHCR selbst aber keine Flüchtlingsfeststellungsverfahren bei Schutzsuchenden aus Syrien durch und hat das Resettlement für diese Flüchtlingsgruppe eingestellt. Dies betrifft auch die 74 syrischen Flüchtlinge, die schon vor März 2011 in der Türkei registriert waren. Dass die Türkei die Grenzen für syrische Flüchtlinge offen hält, ist gut und wichtig. Dennoch können die abgeriegelten Lager im Grenzgebiet – quasi in Schussweite – keine Lösung sein.

Die Türkei hatte schon frühzeitig die Errichtung von Schutzzonen, so genannter »save havens«, auf der syrischen Seite der Grenze ins Gespräch gebracht. »Save havens« wurden mit internationaler Unterstützung 1991-2003 im Nordirak durchgesetzt. Die Errichtung einer solchen Schutzzone käme aber einer Militärintervention gleich, die unabsehbare Folgen haben könnte.

Irakische und palästinensische Flüchtlinge in Syrien

Während aus Syrien immer mehr Menschen fliehen, sind Ende Mai 2012 alleine beim UNHCR Syrien immer noch rund 87.000 irakische Flüchtlinge registriert.11 Gegenüber den irakischen Flüchtlingen zeigte sich Syrien sehr aufnahmebereit und erlaubte ihnen die Einreise unabhängig von Religion oder gesellschaftlichem Hintergrund. Obwohl ihre Lebensbedingungen prekär sind, leben sie meistens schon über fünf Jahre in einer lang anhaltenden Flüchtlingssituation (protracted refugee situation). Der Großteil von ihnen hofft auf einen Resettlement-Platz.12 Aufgrund der Sicherheitslage stellten aber die Aufnahmeländer die Durchführung der entsprechenden Verfahren in Syrien weitgehend ein. Diese irakischen Flüchtlinge drohen angesichts der aktuellen Entwicklungen in Vergessenheit zu geraten. Dabei sind sie nun erneut durch den Bürgerkrieg bedroht und in einer fast ausweglosen Situation gefangen: Sie können aufgrund der unsicheren Lage im Irak meist nicht zurück, kommen aber auch nicht raus, weil die Resettlement-Verfahren weitgehend auf Eis liegen. Im Falle einer Weiterflucht nach Jordanien oder in den Libanon haben sie kaum Chancen, einen regulären Aufenthaltsstatus zu erhalten. Die Zahl der Rückkehrer in den Irak ist 2011 zwar gestiegen,13 laut einer Umfrage des UNHCR Syrien vom Februar 2012 planen jedoch weniger als fünf Prozent innerhalb der nächsten zwölf Monate dauerhaft in ihr Herkunftsland zurückzukehren.14

Außerdem leben circa 422.000 palästinensische Flüchtlinge in Syrien. Sie sind weitgehend lokal integriert, haben jedoch keine Staatsangehörigkeit. Sollten sie erneut zur Flucht gezwungen werden, laufen sie Gefahr, zu »Flüchtlingen zweiter Klasse« zu werden. So verweigerten Syrien und Jordanien nach 2003 palästinensischen Flüchtlingen aus dem Irak die Einreise, und sie mussten bzw. müssen – bis sie mit Hilfe des UNHCR in einen Drittstaat ausreisen können – unter äußerst schwierigen Bedingungen in Camps im irakisch-syrischen bzw. im irakisch-jordanischen Grenzgebiet leben. Der jordanische Außenminister Nasser Judeh stellte Anfang Juni 2012 denn auch klar: „Die Frage der palästinensischen Flüchtlinge wird von der UNRWA [United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East] bearbeitet. Unsere Position zu dem Thema ist klar. Wir werden niemandem, wem auch immer, erlauben, die syrische Flüchtlingskrise als Grund zu nutzen, um die palästinensischen Flüchtlinge in Syrien nach Jordanien zu schicken.“15

Die Flüchtlingspolitik der EU in der Region

Die internationale Gemeinschaft sollte auf eine dramatische Zuspitzung der syrischen Flüchtlingskrise vorbereitet sein. Dabei kommt der Europäischen Union durch ihre geographische Nähe eine besondere Rolle zu. Der Blick auf Syriens Nachbarländer zeigt, dass deren Aufnahmekapazitäten begrenzt sind. Die EU hat bisher 43 Mio. Euro für humanitäre Hilfe für die vom Krieg in Syrien betroffenen Menschen bereitgestellt. Die finanzielle Unterstützung ist wichtig, doch die EU kann die Verantwortung im Flüchtlingsschutz nicht einfach auf die Aufnahmeländer abschieben.

Die Abschottungspolitik der EU zeigt sich in dem EU-Anrainerstaat Türkei besonders deutlich: Da die Fluchtwege über das Mittelmeer weitgehend abgeriegelt sind, ist die Türkei zum wichtigsten Transitland für Schutzsuchende auf dem Weg nach Europa geworden. So halten sich in dem Land am Bosporus Flüchtlinge aus verschiedenen Ländern auf, die den Übertritt in die EU planen. Die EU drängt auf Rückübernahmeabkommen und eine effektive Bewachung der Grenzen. Rückübernahmeabkommen bedeuten allerdings die Gefahr von Kettenabschiebungen, denn die Türkei hat kein Asylsystem für nicht-europäische Flüchtlinge und führt immer wieder Abschiebungen in die Herkunftsländer durch.

Damit die Türkei mehr Verantwortung im Flüchtlingsschutz übernimmt und weiterhin die Grenze für Schutzsuchende aus Syrien offen hält, muss die EU selbst großzügig Flüchtlinge aus der Türkei aufnehmen. In ähnlicher Form gilt das für den Libanon und Jordanien, die nicht nur auf Hilfszahlungen, sondern auf eine solidarische Aufnahmepolitik angewiesen sind. Dabei sollten die irakischen Flüchtlinge in Syrien keinesfalls vergessen werden. Sie befinden sich in einer verzweifelten, ausweglosen Lage, und die EU sollte entschlossen für ihre Aufnahme (Resettlement) eintreten.

Ob die EU aus der irakischen (2003 bis heute) und der libyschen (2011) Flüchtlingskrise gelernt hat, ist jedoch sehr fraglich. Im Falle der irakischen Flüchtlinge leistete die EU nur zögerlich Hilfe: So wurden von über 100.000 Resettlement-Plätzen, die westliche Staaten für irakische Flüchtlinge in der Region bereitstellten, nur 10.000 von der EU angeboten. Im Sommer 2011 schaute die EU tatenlos zu, wie mehr als 1.600 Schutzsuchende aus Libyen auf dem Weg nach Europa im Mittelmeer ertranken.

In Deutschland wurde im Mai 2011 zwar ein Abschiebestopp nach Syrien verhängt, die Bundesregierung weigert sich jedoch, das bestehende Rückübernahmeabkommen mit dem Assad-Regime aufzukündigen. Obwohl bekannt ist, in welchem Ausmaß in den syrischen Gefängnissen gefoltert wird, wurden im Rahmen dieses Abkommens zwischen Januar 2009 und Juni 2010 73 syrische Asylsuchende aus Deutschland abgeschoben – 14 von ihnen wurden umgehend von den syrischen Behörden inhaftiert.

Im Jahr 2011 wurden in den 27 Mitgliedsstaaten der EU 6.725 Asylsuchende aus Syrien registriert – knapp 2.500 Asylgesuche mehr als 201016 –, 1.490 davon in Deutschland.17 Angesichts der Flüchtlingszahlen in der Region und der Bilder, die uns täglich aus Syrien erreichen, sind diese Zahlen marginal. Wenn die EU es mit Demokratie und Menschenrechten ernst meint, sollte sie sich gegenüber den Schutzsuchenden solidarisch zeigen und Fluchtwege nach Europa offen halten.

Anmerkungen

1) Zur syrischen Bevölkerungsstruktur siehe UNHCR (2011): World Directory of Minorities and Indigenous Peoples – Syria: Overview; unhcr.org; zuletzt aktualisiert im Oktober 2011.

2) Für aktuelle Zahlen und UNHCR-Updates zur syrischen Flüchtlingskrise siehe UNHCR: Syria Regional Refugee Response; unhcr.org, laufende Aktualisierung.

3) Human Rights Watch (HRW): Syria: Army planting banned landmines. 13.03.2012.

4) Taylor Luck: Jordan opens new Syrian refugee holding facility amid emerging humanitarian crisis. The Jordan Times, 13.03.2012.

5) Jordan stops Syrian refugees from entering territories. ANSAmed, 12.06.2012.

6) Roots of the chaos in north Lebanon spread far and wide. The Daily Star, 22.05.2012.

7) UNHCR: 2012-2013 planning figures for Jordan.

8) Jordan struggling as Syrian refugees stream across the border. Public Radio International, 16.05.2012.

9) Jordan paying high price for hosting Syrian refugees. Jordan Times, 09.06.2012.

10) Oktay Durucan und Zaid Hydari: Update: Syrian Refugees in Turkey. Fahamu Refugee Legal Aid Newsletter, 01.04.2012.

11) UNHCR Syria Fact Sheet, Juni 2012.

12) Resettlement, die gezielte Aufnahme (Neuansiedelung) von Schutzsuchenden, ist ein wichtiges Instrument im Flüchtlingsschutz, um die Aufnahmekapazitäten von Drittstaaten systematisch zu nutzen und um »irregulären Migranten« die oft sehr gefährlichen Fluchtrouten zu ersparen.

13) Zwischen Januar 2011 und November 2011 wurden 24.980 Rückkehrer aus Syrien registriert.

14) Iraqi protracted displacement. Workshop Report, Amman, 22.03.2012.

15) Jordan paying high price for hosting Syrian refugees. Jordan Times, 09.06.2012.

16) UNHCR (2011): Asylum levels and trends in industrualized countries.

17) Pro Asyl: Zahlen und Fakten 2011.

Susanne Schmelter hat an der Philipps-Universität Marburg Friedens- und Konfliktforschung studiert. Im Jahr 2009/10 hat sie in Syrien gelebt und für ihre Masterarbeit zu irakischen Flüchtlingen in Damaskus und Beirut geforscht.

Öl- und Gas vor Zypern

Öl- und Gas vor Zypern

Entsteht ein neuer Krisenherd im östlichen Mittelmeer?

von Hubert Faustmann

Reichhaltige Öl- und Gasvorkommen im östlichen Mittelmeer bergen enormes Konfliktpotential. Derzeit zeichnet sich ein Konflikt um die Exploration zwischen der Türkei und der türkisch-zypriotischen Volksgruppe auf der einen Seite und der griechisch-zypriotisch dominierten Republik Zypern auf der anderen ab. Spannungen über diese Ressourcen gibt es ebenfalls zwischen dem Libanon und Israel, in die auch die Republik Zypern hineingezogen werden könnte. Zudem hat Nikosia mit Israel ein bilateralesAbkommen über eine enge Zusammenarbeit bei der Ressourcenausbeute abgeschlossen, und eine enge sicherheitspolitische Zusammenarbeit zwischen beiden Ländern wird zumindest erwogen.. Die Konfliktlage hat unabsehbare Auswirkungen auf das Verhältnis zwischen Zypern, Israel, der Türkei und der arabischen Welt – günstigstenfalls aber auch das Potential, den schwelenden Zypernkonflikt endlich beizulegen und die Kooperation in der Region zu stärken.

Zypern wurde 1960 von Großbritannien in die Unabhängigkeit entlassen. Die alte Kolonialmacht garantierte zusammen mit Griechenland und der Türkei die verfassungsmäßige Ordnung und die Unabhängigkeit der Insel. Nach den gewalttätigen innerzypriotischen Auseinandersetzungen von 1963 wurde die Republik Zypern ausschließlich von den griechischen Zyprioten kontrolliert. Durch die türkische Invasion von 1974 wurde die Insel faktisch geteilt: Die Türkische Republik Nordzypern erklärte 1983 ihre Selbstständigkeit, wurde aber bis heute nur von der Türkei anerkannt. Die Republik Zypern gilt international als alleiniger Repräsentant der ganzen Insel und trat 2004 der EU bei. Der Aqcuis Communautaire (die Rechtsgebung der EU) ist für den Norden suspendiert, auch wenn das Gebiet als Teil der Republik Zypern formal Mitglied der Europäischen Union ist.

Zahlreiche Versuche, die Insel auf dem Verhandlungswege wieder zu vereinigen, sind seit 1974 gescheitert. Von wenigen Ausnahmen abgesehen blieb es in und um Zypern herum friedlich, und zumindest bis zur Aufnahme des EU-Beitrittsverhandlungen mit der Republik Zypern Anfang der 1990er Jahre galt der Zyperndisput als vergessener Konflikt von geringer Intensität. Die Lage auf der Insel galt und gilt als stabil, und der so genannte »Friedhof der Diplomaten« verschliss zahlreiche internationale Vermittler, ohne dass – bei allen Spannungen und Krisen – vom Zypernkonflikt eine ernstliche Bedrohung für Frieden und Stabilität in der Region ausging. Damit könnte es bald vorbei sein.

Viel Streit um viel: die Positionen der beteiligten Parteien

Bereits 2009 wurden vor der Küste Israels größere Erdgasvorkommen entdeckt. Nach Schätzungen des amerikanischen Geological Survey befinden sich im östlichen Mittelmeer etwa 3,5 Billionen Kubikmeter Erdgas und 1,7 Milliarden Barrel Öl (Lakes 2011/12). Wenn sich diese Zahlen bewahrheiten sollten, stellen diese Vorräte eine ernsthafte Alternative zur Energieabhängigkeit Europas von Russland dar. Derzeit wird die Bonanza zwischen den Anrainerstaaten aufgeteilt, und das führt naturgemäß zu Spannungen, die durch das ungelöste Zypernproblem verstärkt werden. Die Vorkommen werden zweifelsohne zu Veränderungen der regionalen geostrategischen Situation und Machtverteilung führen, die – zusammen mit den Ergebnissen des arabischen Frühlings und dem schwelenden Konflikt zwischen Israel und seinen Nachbarstaaten, dem Iran sowie der Türkei – die Region in ein Pulverfass verwandeln könnten.

Spätestens seit 2003 gibt es einen offenen Disput zwischen Ankara, den türkischen Zyprioten und der griechisch-zypriotischen Regierung über das Recht der Republik Zypern, Abkommen über die jeweilige exklusive Wirtschaftszone mit anderen Anrainerstaaten des Mittelmeeres abzuschließen. Derartige Vereinbarungen sind Voraussetzung für die konfliktfreie Ausbeutung der vermuteten Vorkommen in der Region. Die türkische Seite steht auf dem Standpunkt, dass die Regierung der Republik Zypern illegitim sei, da sie seit 1963 allein aus griechischen Zyprioten bestünde und die türkischen Zyprioten mit Gewalt um ihre verfassungsmäßigen Rechte gebracht worden seien. Daher verfüge sie über keinerlei Berechtigung, derartige Abkommen ohne Zustimmung und Beteiligung der türkischen Zyprioten abzuschließen. Als eine der drei Garantiemächte der Republik Zypern nimmt die Türkei für sich in Anspruch, die Rechte der türkischen Zyprioten zu repräsentieren. Die türkische Seite verlangt zudem ein Ende aller Explorationsaktivitäten, solange die Verhandlungen über eine Wiedervereinigung der Insel andauern (Akyel 2012).

Als die Republik Zypern Abkommen über ihre exklusive Wirtschaftszone mit Ägypten (2003), dem Libanon (2007) und Israel (2010) abschloss und 2007 eine Bohrlizenz an die amerikanische Firma Noble Energy vergab, begann die Situation zu eskalieren. Neben den oben genannten Argumenten bestehen die türkischen Zyprioten darauf, dass auch sie Rechte an allen Bodenschätzen Zyperns besitzen und es ohne ihre Zustimmung und Beteiligung an den Entscheidungsprozessen sowie einer Beteiligung an den Einnahmen keine Ausbeutung der Ressourcen geben dürfe (Kaymak 2012). Die griechischen Zyprioten ignorierten diese Position, machten aber nach einigem internationalen Druck immerhin das vage Zugeständnis, dass die türkischen Zyprioten auch ohne eine formelle Lösung an den Gewinnen beteiligt würden – allerdings ohne ein eigenes Mitspracherecht.

Die Türkei fügte dem Streit noch eine weitere Dimension hinzu, indem sie eigene Ansprüche formulierte. Nach der 1982 verabschiedeten Seerechtskonvention der Vereinten Nationen hat jeder Küstenstaat das Recht, außerhalb der eigenen Territorialgewässer (zwölf Seemeilen) bis zu 200 Seemeilen als exklusive Wirtschaftszone zu deklarieren und dort etwaige Rohstoffvorkommen auszubeuten. Als international allein anerkannte Regierung ganz Zyperns stehen die griechischen Zyprioten daher in diesem Konflikt auf einer abgesicherten völkerrechtlichen Position. Die Türkei ist als einer von wenigen Staaten dieser Konvention jedoch nicht beigetreten und beharrt daher darauf, dass im östlichen Mittelmeer sämtliche Wirtschaftszonen zwischen allen Anrainerstaaten auf dem Verhandlungswege festgelegt werden müssten. Die Rechtmäßigkeit der drei Abkommen Zyperns mit Ägypten, dem Libanon und Israel wird von Ankara daher prinzipiell bestritten. Insbesondere im Gebiet westlich der Insel, auf das sich das Abkommen der Republik Zypern mit Ägypten bezieht, überlappen sich aus türkischer Sicht fünf Blöcke, die von der Republik Zypern beansprucht werden, mit türkischen Rechten (Akyel&Sezer 2012). Türkischer Druck führte denn auch dazu, dass das Abkommen der Republik Zypern mit dem Libanon bislang vom libanesischen Parlament nicht ratifiziert worden ist.

Im August 2011 gab dann die Republik Zypern bekannt, dass im Block 12, südöstlich von Zypern und an das bereits in Ausbeutung befindliche riesige israelische Gasfeld »Leviathan« angrenzend, die amerikanische Firma Noble Energy Probebohrungen durchführen werde. Die Türkei protestierte heftig. Als sich die griechischen Zyprioten davon nicht einschüchtern ließen und am 19. September 2011 die Probebohrungen begannen, schloss die Türkei im Gegenzug mit der Türkischen Republik Nordzypern ein eigenes Abkommen, in dem die beiderseitigen Wirtschafszonen abgegrenzt wurden, und drohte mit eigenen Bohrungen vor der Nordküste Zyperns. Am 22. September 2011 gestattete die Führung der türkischen Zyprioten der türkischen Ölfirma TPAO, in den Gewässern rund um die ganze Insel nach Gas und Öl zu suchen. Ein von der türkischen Marine begleitetes türkisches Forschungsschiff führte anschließend seismische Messungen in den von der Republik Zypern zur Ausbeutung demarkierten Gewässern südlich der Insel durch.

Im Dezember 2011 gab Noble Energy bekannt, dass in Block 12 große Mengen Erdgas gefunden worden seien. Davon ermutigt, begann die Republik Zypern im Februar 2012 eine zweite Vergaberunde für Bohrlizenzen für alle übrigen zwölf Blöcke, die zur Erkundung und Ausbeutung vorgesehen sind. Die Angebote müssen bis Mai 2012 eingereicht sein (Cyprus Mail, Februar 2012). Damit ist eine weitere Eskalation der Situation vorprogrammiert. Gleichzeitig begann die Türkei mit Probebohrungen im Nordteil der Insel, die im Erfolgsfall wiederum neues Konfliktpotential in sich bergen, da die griechischen Zyprioten eine Ausbeutung etwaiger Funde, die ja völkerrechtlich auf dem von der Türkei besetzten Staatsgebiet der Republik Zypern gemacht würden, zu verhindern suchen werden. Die seit 2008 laufenden Verhandlungen zur Wiedervereinigung der Insel stehen zudem aus verschiedenen Gründen vor dem zumindest vorläufigen Scheitern, womit der eleganteste Ausweg für alle Seiten blockiert ist.

Ausweitung der Interessenallianz

Auch wenn Premierminister Erdogan – wohl unter amerikanischem Druck – öffentlich die Anwendung militärischer Gewalt ausgeschlossen hat , bleibt die Lage angespannt. Durch eine breite Streuung unter Firmen, die aller Wahrscheinlichkeit nach vor allem aus Ländern kommen werden, die zu den ständigen Mitgliedern des UN-Sicherheitsrates gehören, wird die Republik Zypern wohl versuchen, eine möglichst breite Interessen- und Abschreckungsallianz gegen die türkische Seite zu schaffen.

In diesen Kontext gehört auch eine energie- und möglicherweise auch sicherheitspolitische Kooperation zwischen Zypern und Israel. Bei einem Besuch des israelischen Premierministers Benjamin Netanjahu auf der Insel im Februar 2012 wurde eine energiepolitische Partnerschaft zwischen Israel und Zypern besiegelt. Beide Länder werden ihre Ressourcen gemeinsam entweder über Zypern nach Europa oder über Israel nach Asien exportieren. Dabei werden eine Gasverflüssigung, die den Transport über Tanker ermöglichen würde, oder eine Tiefseeskabelverbindung, die Strom direkt von Zypern und Israel nach Griechenland und von dort weiter nach Europa leiten würde, favorisiert. Im Vorfeld des Besuchs war in einigen griechisch-zypriotischen Kreisen und in israelischen Zeitungen über ein Sicherheitsbündnis mit Israel spekuliert worden. In diese Allianz könnte auch Griechenland eingebunden werden, das ohnehin mit der Republik Zypern in einem Verteidigungsbündnis steht und in der Ägäis mit der Türkei in einen ähnlichen Disput verwickelt ist. Zu einem derartigen Abkommen kam es bislang nicht, obgleich die griechisch-zypriotische Seite weiterhin versuchen wird, von Israel politischen und militärischen Beistand zu erhalten, um die Türkei von eigenen Aktionen in den fünf umstrittenen Blöcken 1 sowie 4-7 abzuhalten. Eine Nutzung der zypriotischen militärischen Infrastruktur zum Schutz der israelischen Interessen wird wohl zumindest erwogen, mit all den Implikationen, die eine enge Zusammenarbeit mit Jerusalem oder gar eine militärische Nutzung der Insel durch israelische Streitkräfte auf das traditionell gute Verhältnis der Republik Zypern mit den arabischen und islamischen Staaten der Region haben würde.

Während des israelischen Staatsbesuchs führte die Türkei ein Seemanöver mit scharfer Munition im zypriotischen Block 12 durch. Gleichzeitig drohte die Türkei, dass sie „alle notwendigen Maßnahmen“ ergreifen werde, um eine Öl- oder Gasförderung in den fünf von der Republik ausgeschriebenen Blöcken, die nach Ansicht Ankaras innerhalb des eigenen Kontinentalsockels liegen, zu verhindern (Cyprus Mail, Februar 2012).

Zypern und der israelisch-libanesische Disput

Die türkische Seite und die griechischen Zyprioten sind nicht die einzigen, die in der Region einen offenen Konflikt über die Rohstoffvorkommen austragen. Es existiert auch ein Disput zwischen dem Libanon und Israel über die genauen Grenzen ihrer exklusiven Wirtschaftszonen und ein Machtkampf zwischen den Palästinensern und Israel über Vorkommen vor Gaza (Lakes 2011).

Der Libanon begann erst 2010 mit den Vorbereitungen für die Ausbeutung der vermuteten Vorkommen vor der eigenen Küste. Dabei legte das libanesische Parlament eine südlichere Seegrenze mit Israel fest als die von Israel bestimmte Demarkationslinie. Dadurch entstand eine 850 Quadratkilometer große Zone, die von beiden Ländern beansprucht wird. Da Zypern den Vertag über die jeweiligen Wirtschaftszonen mit Israel bereits ratifiziert hat, kommt das einer zypriotischen Anerkennung der israelischen Demarkationslinie gleich. Daher versucht der Libanon, eine Änderung des bilateralen Abkommens mit Zypern von 2007 zu erreichen, das vom Parlament der Republik Zypern schon ratifiziert worden ist, aber noch nicht vom libanesischen. Im Juni 2011 beschwerte sich der libanesische Außenminister Adnan Mansur offiziell beim Generalsekretär der Vereinten Nationen und erklärte, dass es sich bei den Vereinbarung zwischen Zypern und Israel um eine „Verletzung der libanesischen Souveränität und ökonomischen Rechte“ handle, die „den Frieden und die Sicherheit in der Region gefährde“ (Lakes 2012).

Während israelische und libanesische Politiker wiederholt vor Bohrungen der anderen Seite in der umstrittenen Zone warnten, versuchte Beirut, Zypern zu einer Konferenz der drei Länder einzuladen, um den Disput beizulegen. Dies hätte die Insel aber nur tiefer in den Konflikt hineingezogen. Nikosia verweigerte sich erfolgreich und man kam überein, das Thema bilateral weiter zu diskutieren. Es gibt jedoch keine Chance, dass sich Zypern der libanesischen Sichtweise anschließen wird, da eine Anerkennung der libanesischen Ansprüche im Widerspruch zur bereits beidseitig ratifizierten Vereinbarung mit Israel stünde und die Beziehungen zwischen Israel und der Republik Zypern eine neue strategische Dimension angenommen haben. Da die zypriotische Wirtschaftzone von dem Disput nicht betroffen ist, wird sich die Insel wohl aus diesem Konflikt heraushalten können.

Ausblick

Im Laufe dieses Jahres werden auf Zypern die Weichen im Hinblick auf die Ausbeutung der Öl- und Gasvorkommen gestellt. Auf politischer Ebene wird entscheidend sein, wer die Lizenzen für die ausgeschriebenen zwölf Blöcke bekommt und inwieweit sich diese Lizenzen in politische Unterstützung in der Auseinandersetzung mit der Türkei und den türkischen Zyprioten umwandeln lassen. Israel und die Republik Zypern favorisieren zudem den etwa zehn Milliarden Euro teuren Bau einer Gasverflüssigungsanlage, die beide Länder im Unterschied zu einem Export über Pipelines unabhängig von regionalen Akteuren mache würde. Wer diese Anlage wo bauen, betreiben und kontrollieren wird, ist ebenfalls potentiell von politischer Bedeutung. Auch eine Tiefseekabelverbindung nach Griechenland würde sehr teuer werden. Eine Pipeline in und über die Türkei wäre die beste Option, ist aber ohne Lösung des Zypernproblems und eine Wiederannäherung Israels und der Türkei keine realistische Alternative. Und beides ist in näherer Zukunft unwahrscheinlich.

Sollten die Funde in den 13 Blöcken so reichhaltig ausfallen, wie von Nikosia erhofft, hätte das ohne Zweifel Auswirkungen auf die Machtbalance im östlichen Mittelmeer. Entscheidend wird sein, wie die äußerst selbstbewusste Regionalmacht Türkei mit der Situation umgeht. Ankara dürfte vor einem internationalen Gerichtshof bei den meisten Blöcken südlich von Zypern keine Chancen haben, da die Seerechtskonvention von 1982 mittlerweile gewohnheitsrechtlichen Charakter angenommen hat, und wird den Gang vor Gericht daher wohl scheuen. Da die Türkei aber die Seerechtskonvention nicht unterzeichnet hat, bleibt Verhandlungsspielraum im Norden und in den umstrittenen fünf Blöcken.

Rhetorisch hat sich Ankara so weit aus dem Fenster gelehnt, dass es schwierig sein wird, diesen Disput ohne Gesichtsverlust und eigene Aktionen unterhalb einer gefährlichen Schwelle zu halten. Dennoch bleibt eine bewaffnete Auseinandersetzung das unwahrscheinlichste Szenario, vor allem wenn hinter den Interessenten für die zwölf Blöcke politische und militärische Schwergewichte inklusive der USA stehen sollten; letztere sind ja durch Noble Energy bereits involviert. Die wahrscheinlicheren türkischen Reaktionen werden wohl gewaltfreier Art sein. Neben eigenen Bohrungen im Nordteil und in den nördlichen Gewässern der Insel sind vor allem ein Ende oder eine Aussetzung der Verhandlungen über eine Lösung des Zypernkonflikts und gleichzeitige verstärkte Bemühungen für eine internationale Anerkennung des Nordens zu erwarten. Unwahrscheinlich ist hingegen eine Annexion des Nordens durch die Türkei, die vom türkischen Europaminister Bagis für den Fall des Scheiterns der Verhandlungen zur Lösung des Zypernkonfliktes als Möglichkeit angekündigt wurde. Gefährlicher sind Gedankenspiele in Ankara, eigene Bohrungen in den fünf umstrittenen Feldern durchzuführen, oder auch – deutlich weniger wahrscheinlich – eine eigene Bohrung im Block 12. Es wird also entscheidend sein, ob die fünf umstrittenen Blöcke Interessenten finden und welche Länder wie stark hinter diesen Interessenten stehen. Bislang gibt es wohl vor allem von chinesischer Seite Angebote für einige der zwölf Blöcke. Für Russland, das traditionell als Interessenwahrer der griechischen Zyprioten innerhalb des UN-Sicherheitsrates fungiert, stellen die Funde im Mittelmeer eine unliebsame Konkurrenz und eine potentielle Schwächung der europäischen Abhängigkeit von russischem Öl und Gas dar. Daher ist auch von Bedeutung, wie sich Russland in diesem Konflikt positioniert und engagiert. Gleichzeitig könnte gerade die Abhängigkeit von Russland für die Europäer ein bedeutender Anreiz sein, in der Region die eigenen energiepolitischen Interessen zu wahren, was den griechischen Zyprioten in die Karten spielen könnte. Dies würde allerdings auch aus europäischer Sicht eine Lösung des Zypernproblems deutlich dringlicher machen, um eine Konfrontation mit der Türkei zu vermeiden.

Eine Chance für eine Lösung des Zypernproblems eröffnet sich wohl frühestens nach den zypriotischen Präsidentschaftswahlen im Februar 2013. Die derzeitigen, fast schon verzweifelten Versuche der Vereinten Nationen, das Zypernproblem vor der zypriotischen EU-Ratspräsidentschaft von Juli bis Dezember 2012 zu lösen, werden nicht zum Erfolg führen. Die Türkei hat bereits angekündigt, dann die offiziellen Kontakte zur EU – zumindest auf höherer Ebene – einzufrieren, was umgekehrt auch eine sechsmonatige Pause im ohnehin stockenden und derzeit eher aussichtslosen türkischen Beitrittsprozess zur EU bedeuten wird.

Der Konflikt um Öl und Gas und das Zypernproblem werden aller Wahrscheinlichkeit nach in den nächsten Jahren weitergehen. Dass dies zum bewaffneten Konflikt eskaliert, erscheint unwahrscheinlich – vor allem wenn es den USA gelingen sollte, die Situation unter Kontrolle zu halten. Dennoch sind erhebliche Spannungen vorprogrammiert, die immer ihre eigene Dynamik entwickeln können. Ob die Energiefunde vor Zypern den drei Konfliktparteien genug Anreiz bieten, den Konflikt in den nächsten Jahren mit einer »win-win-win«-Lösung für beide zypriotischen Volksgruppen und die Türkei beizulegen, ist die große Frage. Derzeit spricht wenig dafür.

Literatur

Akyel, Didem (2012): Hydrocarbons in the Eastern Mediterranen and Turkey’s Position. In: Faustmann, Hubert; Gurel, Ayla; Reichenberg, Greg (Hrsg.) (in Vorbereitung): The Hydrocarbon Wealth of Cyprus: Equitable Distribution and Regional Politics. Nicosia: Peace Research Institute Oslo/Friedrich Ebert Foundation

Faustmann, Hubert et.al., a.a.O.

Kaymak, Erol (2012): Wealth Sharing and Geopolitical Strategies: Excluding Hydrocarbons from Cyprus Settlement Negotiations. In: Faustmann, Hubert et.al., a.a.O.

Lakes, Gary (2011): Energy Prospects for East Mediterranean. Unveröffentlichter Vortrag im Rahmen der Reihe »ERPIC Round Table«, 8.3.2011.

Lakes, Gary (2012): Lebanon: Efforts to Establish a Hydrocarbon Sector. In: Faustmann, Hubert et.al., a.a.O.

Leventis, Yiorghos (2012): Projecting for Control of Warm Waters. Turkey’s Posturing for Hydrocarbon Hegemony in the Eastern Mediterranean. In: Faustmann, Hubert et.al., a.a.O.

Sezer, Sema (2008): Greek Oil Exploration Licenses and Economic Zone Agreements in Eastern Mediterranean. Vortrag gehalten auf der »International Conference on Middle East and North Cyprus Relations: Perspectives in Political, Economic and Strategic Issues«, Famagusta,/Zypern, 20.-21. März 2008.

Shaffer, Brenda (2011): Israel – New Natural Gas Producer in the Mediterranean. In: Energy Policy, Nr. 39, S.5379-5387.

Tukey ramps up sabre rattling over exploration. The Cyprus Mail, 17.2.2012

Landmark visit all about the gas. The Cyprus Mail, 17.2.2012

En route to a natural gas army. Haaretz, 20.2.2012

Hubert Faustmann ist Professor für Politik und Geschichte an der Universität von Nikosia/Zypern.