Komplexes Gemisch

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Die westlichen Mächte und der Libyenkrieg

von Uli Cremer

Im September 2011 ist der Libyenkrieg militärisch entschieden. Mit Hilfe der NATO-Luftwaffe und westlicher Elitesoldaten am Boden wurde das Gaddafi-Regime gestürzt. Aber warum kam es zu diesem Kriegseinsatz? Und welche Motive gab es auf deutscher Seite, nicht mit zu machen?

An sich stand ein Sturz Gaddafis Ende 2010 nicht auf der Agenda. Nach seiner »Abkehr vom Terrorismus« im Jahr 2003 war er von der »Achse der Bösen« gestrichen worden. Sein Land lieferte zuverlässig Öl zu Weltmarktpreisen. Die Erlöse wurden zum Großteil in den Kapitalstandorten Europas und den USA investiert, und Armutsflüchtlinge aus Afrika wurden von der Mittelmeerküste fern gehalten. Die Kooperation mit Geheimdiensten, insbesondere mit denen der USA und Britanniens, lief wie am Schnürchen, zumal die libyschen Folterkeller auch für westliche Aufträge zur Verfügung standen. Trotz seiner »Resozialisierung« war Gaddafi aber nicht Freund, sondern nur temporärer Stabilitätspartner. Vollständig hatte er sich trotz anti-islamistischer Ausrichtung nie dem Westen angedient. Er unterhielt parallel stets gute Beziehungen nach Russland und China; offenbar wollte er diese sogar weiter ausbauen. Selbstverständlich konnten sich die westlichen Mächte noch besseren Zugang nach Libyen vorstellen, aber solch ein Wunsch ist kein ausreichender Grund für eine Militärintervention.

Doch nach den Revolutionen in Tunesien und Ägypten wurden auch in Libyen die Karten neu gemischt.

Die internationale Sanktionspolitik

Da die Aufständischen den Bürgerkrieg nicht aus eigener Kraft gewinnen konnten, unterstützte der Westen die Gegenregierung auf allen Ebenen.

Da war zunächst einmal die internationale Sanktionspolitik. Der Ende März wegen Insubordination im Eilverfahren abberufene russische Botschafter in Libyen, Wladimir Tschamow, prognostizierte am 23.3.2011, dass sich das Regime Gaddafi noch „drei-vier Monate“ halten könne: „Genau so lange, wie die Lebensmittelvorräte reichen. Gegenwärtig sind alle Lieferungen aus der Luft und vom Meer blockiert.“ 1 Vier Monate – das wäre Ende Juli gewesen. Er hat sich offenbar nur um wenige Wochen verschätzt.

Die Kriegsführung des Gaddafi-Regimes wurde durch das von der UN verhängte Waffenembargo und durch die Unterbindung des Treibstoffnachschubs getroffen. Ein direktes Erdölexportembargo gegen Libyen wurde nie verhängt, nicht einmal durch die Europäische Union. Offenbar waren die Widerstände der Empfängerländer zu groß. (Auf ein solches Embargo gegen Syrien hat sich die EU erst Anfang September 2011 geeinigt, nachdem das Assad-Regime bereits monatelang Demonstrationen und Proteste zusammenschoss. Absurde Fußnote zum Embargo gegen Syrien: „Italien bestand darauf, dass bestehende Lieferverträge noch bis Mitte November erfüllt werden dürften.“ 2)

De facto konnte das Gaddafi-Regime seit Ende März kein Erdöl oder Erdgas mehr exportieren. Es war zwar niemandem verboten, das Öl oder Gas entgegen zu nehmen, allerdings konnte dies technisch nicht mehr geschehen, da die libyschen Häfen von der NATO überwacht wurden und die einzige existierende Pipeline nach Italien, also in ein EU-Land, führte. Annahme dabei: Italien hat das Embargo befolgt. Außerdem brachte der Krieg die Ölförderung zum Erliegen. Parallel wurde das Gaddafi-Regime finanziell ausgetrocknet, da nicht nur die Konten der Herrscherfamilie, sondern auch die der wichtigsten libyschen Banken und Firmen in der EU und in den USA eingefroren wurden. Der UN-Sicherheitsrat hatte nur Sanktionen gegen einzelne Personen verhängt, so dass es z.B. China, Indien, Russland oder anderen Ländern theoretisch frei stand, weiter mit Libyen Handel zu treiben. Vor diesem Hintergrund sah Außenminister Westerwelle den Sturz Gaddafis auch als Erfolg seines Politikansatzes an: „[…] wir haben auf die internationale Isolierung gesetzt, auf vor allen Dingen die politischen und wirtschaftlichen Sanktionen, und diese Sanktionspolitik war augenscheinlich erfolgreich, denn sie hat das Regime Gaddafi nicht nur isoliert, sondern ihm auch die Nachschubmöglichkeiten abgeschnitten.“ 3

Auf die militärische Karte setzten dagegen Frankreich, Britannien und die USA sowie in ihrem Gefolge die NATO. Und der NATO-Kriegseinsatz war massiv: In knapp sechs Monaten (bis 10.9.2011) flog die NATO 22.116 Einsätze, darunter 8.296 echte Kampfeinsätze. Zum Vergleich: Im 1.Halbjahr 2010 wurden in Afghanistan 15.000 Einsätze geflogen.

Nach dem Krieg beginnt in Libyen die nächste Phase: der „Wirtschaftskrieg um Aufträge der neuen libyschen Verantwortlichen“. 4 Und damit sind wir mitten in der Diskussion angekommen, warum Frankreich, Britannien und die USA den »regime change« in Libyen forcierten und durchsetzten.

Menschenrechte und Krieg

Offiziell ging es um eine gerechte Sache, einen Robin-Hood-Einsatz quasi. Die Flugverbotszone wurde vom UN-Sicherheitsrat nicht verhängt, um z.B. das Gewicht Frankreichs oder Britanniens in der Welt zu stärken oder dem französischen Mineralölkonzern Total gute Geschäfte zu ermöglichen, sondern um die libysche Zivilbevölkerung zu schützen. Da aber bereits im Februar 2011 ein bewaffneter Aufstand gegen das Gaddafi-Regime begann, waren die Grenzen zwischen Zivilbevölkerung und Bewaffneten schon zum Zeitpunkt der UN-Resolution recht verschwommen. Der angegebene Kriegsgrund (»humanitäre Intervention«) ist insofern zweifelhaft. Der Hamburger Prof. Reinhard Merkel dazu: „Dass Gaddafis Truppen gezielt Zivilisten töteten, ist vielfach behauptet, aber nirgends glaubhaft belegt worden.“ 5 Und US-Professor Alan J. Kuperman stellte im Boston Globe sogar das Basisargument, es habe ein Massaker an Zivilisten in Bengasi gedroht, in Frage: „Und Gaddafi hat auch niemals ein ziviles Massaker in Bengasi angedroht, wie Obama behauptete. Die »keine Gnade«-Warnung vom 17. März richtete sich nur an Rebellen, wie The New York Times berichtete, die auch darauf hinwies, dass der libysche Führer eine Amnestie versprach für all diejenigen, »die ihre Waffen wegwerfen«. Gaddafi hat den Rebellen sogar eine Fluchtroute und offene Grenzen nach Ägypten zugesagt, um einen »Kampf bis zum bitteren Ende« zu vermeiden.“ 6

Jeder weiß, dass das Libyen Gaddafis kein Hort von Freiheit, Demokratie und Menschenrechten war, aber das ist Bahrain auch nicht. Wenn die Menschenrechte den westlichen Staaten tatsächlich so wichtig wären, wie im Falle Libyen behauptet, hätten in 2011 weitere Kriege begonnen werden müssen. Angriffe auf Syrien, Saudi-Arabien, Jemen und Bahrain wären das Mindeste gewesen. Stattdessen ließ der Westen in Bahrain sogar eine Intervention des Golf-Kooperationsrats zu, um die Opposition niederzuhalten. Demonstrativ empfing der britische Premier Cameron am 20. Mai 2011 den Kronprinzen von Bahrain, der anders als Gaddafi nicht in Den Haag angeklagt ist. Auch die in Bahrain stationierten US-Truppen rührten keinen Finger, um den Menschenrechten dort zum Durchbruch zu verhelfen.

Warum wurde also die libysche Opposition gegen das Gaddafi-Regime 2011 derart unterstützt und das Regime schließlich beseitigt?

Interessenlage Frankreichs und Britanniens

Hauptakteur im westlichen Lager war die französische Regierung. Staatspräsident Sarkozy wertete den Krieg Ende August 2011 so aus: „[…] anders als auf dem Balkan habe sich Europa dank französisch-britischer Führung in die Lage versetzt, aus eigener Initiative in einen Konflikt in seinem Einflussbereich einzugreifen. Das rechtfertige die viel kritisierte Rückkehr Frankreichs in die integrierten Strukturen der Nato.“ 7

Im Zusammenhang mit dem Georgienkrieg 2009 wurde von westlichen Politikern wie dem ehemaligen polnischen Staatspräsidenten Aleksander Kwasniewski doziert, dass mit Hilfe des Prozesses „der euro-atlantischen Integration […] das Europa der Machtpolitik und Einflusszonen großer Mächte, die das Schicksal kleiner Länder mit einem Federstrich bestimmen“ überwunden worden sei. Er forderte: „Kein Zurück zu einem Europa der Einflusszonen.“ 8

Was für Europa und Russland gilt, gilt offenbar nicht für Afrika bzw. das Mittelmeer und die NATO-Hauptmächte. Folgt man dem früheren Staatssekretär im deutschen Verteidigungsministerium, Lothar Rühl, liegt „das amerikanische Interesse im Osten des Mittelmeeres […], wie auch das vorsichtige Engagement in Libyen gezeigt hat“. Also: „Israel, Ägypten, Jordanien, Saudi-Arabien samt der ganzen arabischen Golfküste und der […] Irak sind [für Washington, UC] die Partner oder Klienten, die mit Vorrang geschützt und im Innern stabilisiert werden müssen, wenn die vitalen westlichen Interessen an Sicherheit in der Region und ihrer Energiequellen gefördert werden sollen.“ Daraus folgt: „Das westliche Mittelmeer ist Europas Verantwortungsbereich.“ 9 Oder in Sarkozys Worten: „Einflusszone“.

Frankreich müsse sich erinnern, „dass es eine Macht im Mittelmeerraum ist“, so Präsident Sarkozy 2008 bei der Begründung seines Projekts einer »Mittelmeer-Union«.10 „Dem wachsenden Einfluss der nord- und osteuropäischen Länder sollte ein südlicher Schwerpunkt entgegengesetzt werden, mit Frankreich als Führungsmacht“, analysierte die FAZ.11 Solch ein Angriff auf die deutsche Machtposition in der EU würde „den Zerfall Europas provozieren“, war die harsche Reaktion der deutschen Kanzlerin.12 Aus der Mittelmeer-Union wurde ein Projekt der EU: „Merkel bremst Sarkozy bei Mittelmeerunion aus.“ 13 Immerhin wurde Sarkozy Ko-Präsident der EU-Mittelmeer-Union, der andere Ko-Präsident hieß Mubarak. Nach dessen Sturz war das Projekt am Ende.

Die Rebellion in Libyen war ein willkommener Anlass, den französischen Führungsanspruch im Mittelmeerraum drei Jahre später erneut anzumelden: „Die Zeit ist gekommen, um die Mittelmeer-Union wiederzubeleben und neu aufzubauen und in den kommenden Wochen wird Frankreich diesbezüglich seinen Partnern seine Vorschläge vorlegen.“ 14 Im Rahmen der G8-Staaten war bereits im Mai 2011 die so genannte Deauville-Partnerschaft aus der Taufe gehoben worden, die bisher nur die Länder Tunesien, Ägypten, Marokko, Tunesien und Libyen einbindet. Ein „im Fokus stehendes Element“ dabei: „Stärkung des Wachstums durch intensivere Einbindung der Region in die Weltwirtschaft. Die G8 hat ihre Unterstützung für einen Ausbau von Handel und Investitionen durch mehr Marktöffnung und für einen Prozess zunehmender regionaler Integration angeboten.“ 15 An der Spitze der Organisation steht der Franzose Balladur.

In Deutschland wurde der erneute französische Führungsanspruch registriert: „Dieser Waffengang dient ihm {Sarkozy, U.C.] dazu, den Anspruch auf die Führungsrolle Frankreichs in Europa deutlich zu untermauern. Dafür setzt er auch militärische Macht ein.“ 16

Zwar konnte Frankreich die libysche Gegenregierung im Alleingang politisch anerkennen, so wie es Deutschland 1991 mit Kroatien und Slowenien vorgemacht hatte. Allerdings war Frankreich militärisch nicht in der Lage, den Krieg allein zu führen. Also wurde Britannien ins Boot geholt. Beide Staaten hatten im November 2010 verabredet, „sicherheitspolitisch[…] aufs engste zu kooperieren“. 17 Verschiedene Maßnahmen wurden beschlossen. Vom Aufbau einer gemeinsamen Eingreiftruppe bis zur Entwicklung neuer Waffensysteme wird Frankreich in Zukunft mit Britannien und weniger mit Deutschland kooperieren. Der militärische Schulterschluss mit London ist im Grunde eine Beerdigung der bisherigen eigenständigen EU-Militärpolitik, die auch von Berlin stets forciert worden war. Deutschland „sah sich außerstande, einem trilateralen Handeln in der Rüstungskooperation zuzustimmen“. 18 Denn in diesem Gremium hätte sich Deutschland den militärisch stärkeren Partnern unterordnen müssen. Der französische Außenminister Juppé räumt sehr offen ein: „Es stimmt, auf dem militärischen Gebiet haben wir Unterschiede in der Einschätzung.“ 19

Im EU-Zusammenhang hat Deutschland dagegen eine ganz andere Stellung, die insbesondere im Umgang mit der Euro-Krise deutlich wird. In einem Beitrag der Zeitschrift »Internationale Politik« erklärte Andreas Rinke Merkel zur »EU-Kanzlerin«: „In der erweiterten EU mögen viele murren über die deutschen Wünsche bei der Stabilisierung des Euro. Aber Merkel hat nun eine Art »Richtlinienkompetenz« im Kreis der 27 Staats- und Regierungschefs bekommen.“ 20 Zugespitzt: Paris brauchte einen (erfolgreichen) Militäreinsatz, um den deutschen Führungsanspruch im ökonomischen Bereich auszubalancieren. Da kam der Libyen-Konflikt wie gerufen.

Wie die französische war die britische Position in der arabischen Welt durch die Teilnahme am Irakkrieg und die Parteinahme für die Unterdrückerregime in Tunis und Kairo erodiert. Auch für Britannien versprach die Initiierung des Krieges Einflussgewinne. Nach dem Sieg betonte der britische Premierminister Cameron einen weiteren Aspekt: Britannien „werde in militärischer Hinsicht ein »vollwertiger Mitspieler« bleiben, trotz der beschlossenen Kürzungen im britischen Verteidigungsetat.“ 21 Tatsächlich ist der britische Militärhaushalt 2011 gegenüber 2010 um 2,5% gestiegen und für 2012 wird eine weitere Erhöhung um 1,8% ins Auge gefasst. Die Kosten für die konkreten Kriegseinsätze sind darin noch nicht enthalten.22 Der britische Militäreinsatz in Libyen hatte insofern die Kollateralfunktion, Einsparungen in diesem britischen »Kompetenzbereich« zu verhindern.

USA, Dein Freund und Helfer

Da Frankreich und Britannien nur „ersatz pocket superpowers“ 23 sind, konnte nur die Teilnahme der führenden Militärmacht der Welt, der USA, militärischen Erfolg ermöglichen. Zusammen repräsentieren die drei Staaten 85% der NATO-Militärmacht. Frankreich versuchte deshalb nicht, die USA herauszuhalten. Die Sarkozy-Ära ist gerade durch eine stärkere transatlantische Ausrichtung gekennzeichnet, in die der Schulterschluss mit London eingebettet ist. Durch diese Positionsveränderung hat Frankreich laut Sarkozy „seinen Handlungsspielraum und sein Einflussvermögen sowohl innerhalb als auch außerhalb seiner Familie gestärkt“. 24

Nachdem sich in Washington Mitte März die Kriegsbefürworter um Außenministerin Clinton durchgesetzt hatten, stand das Kriegsbündnis. Gleichzeitig gerieten die Aktivitäten unter die Kontrolle Washingtons, das auf Kriegsführung unter dem Dach der NATO bestand. Doch welchen Nutzen haben die USA von dem Krieg?

1. Die Stärkung der NATO durch bessere Einbindung Frankreichs und damit ein Zurückdrängen der Fantasien, die EU als eigenständigen Militärpakt aufzubauen. Einmal mehr ist bewiesen, dass die EU-Staaten ohne US-Unterstützung nicht militärisch agieren können. Das könnte diese motivieren, mehr Geld fürs Militärs auszugeben, so dass bei gemeinsamen Kriegen eine für Washington günstigere Lastenteilung möglich würde – ohne dass Washington die Kontrolle verlöre. Vielleicht ist zusätzlich noch ein Preis in Form eines US-Militärstützpunkts in Libyen zu entrichten.25

2. Ein Image-Gewinn in der arabischen Welt.

3. Die Zurückdrängung des chinesischen Einflusses in Libyen bzw. Afrika.

4. Ein verbesserter Marktzugang für US-Energiekonzerne, die bisher in Libyen nur eine geringe Rolle spielen.

Rolf Clement, Sicherheitsexperte des Deutschlandfunks, analysiert: „Alle drei Hauptakteure im Libyen-Krieg haben Interessen bedient, bei denen Libyen nur das Mittel zum Zweck ist […]“. 26 Mit anderen Worten wurde nicht primär um Öl, die libyschen Wasservorräte oder Menschenrechte gekämpft, sondern für „höhere Ziele“, für die eigene Position im „Zeitalter der relativen Mächte“ im Kampf um „ein neues Gleichgewicht der Kräfte“, so die Worte des französischen Präsidenten Sarkozy.27

Im UN-Sicherheitsrat konnten die kriegsbereiten Mächte keinen Beschluss für einen »regime change« in Tripolis durchsetzen. Die Resolution war insofern keine Carte blanche, aber eine unerlässliche Basislegitimation für das geplante militärische Vorgehen. Wolfgang Ischinger, Chef der Münchener Sicherheitskonferenz, wies auf die „gewaltige strategisch-konzeptionelle Lücke“ hin, die „zwischen der politischen Zielsetzung einerseits (»Gaddafi muss weg«) und dem restriktiven Mandat des UN-Sicherheitsrats zum Schutz der Zivilbevölkerung andererseits klafft“ und warnte: „In Washington – und noch mehr in Moskau und Peking – warten manche nur darauf, dass das europäische Häuflein in Libyen eine militärisch-politische Bauchlandung produziert.“ 28

Die deutsche Kriegsdienstverweigerung

Auch in Berlin wurde gewartet. Deutschland mochte der Demonstration französisch-britischer Führungsmacht keine Anerkennung zollen. „Ich kann als deutscher Außenminister nicht deutsche Soldaten nach Libyen schicken, weil es andere tun“, erklärte Westerwelle die deutsche Nichtbeteiligung vor dem EU-Außenministerrat.29 Sein Ministerkollege Niebel wies darauf hin, dass Deutschland bei einer Zustimmung im Sicherheitsrat in der Pflicht gestanden hätte, sich am Einsatz zu beteiligen, politisch wie militärisch-technisch: „Neben den USA hat allein die Bundesluftwaffe mit ihren ECR-Tornados die militärischen Fähigkeiten, die Flugverbotszone durchzusetzen und die Flugabwehr auszuschalten.“ 30 Mit anderen Worten: Deutschland hätte militärisch durchaus einen substantiellen Beitrag leisten können, wollte dies aber nicht.

Vor diesem Hintergrund löste die Enthaltung Deutschlands Irritation und Ärger aus. Natürlich war die Bundesregierung wochenlang davon ausgegangen, dass auch die US-Regierung sich gegen den Militärkurs stellen würde, und wurde kurzfristig von dem politischen Schwenk überrascht. Warum trotzdem die Enthaltung? Niebel formulierte im März 2011 zwei Kritikpunkte am militärischen Vorgehen:31

1. „Die Geschichte zeigt, dass Flugverbotszonen keine Massaker verhindern.“ Zwar kam es in Bengasi zu keinem Massaker, aber dem Gaddafi-Regime wird heute vorgeworfen, zehntausende Regimegegner ermordet zu haben. Der Bürgerkrieg soll zwischen 30.000 und 50.000 Opfer gefordert haben.32 Zehntausende Regimegegner sollen erst interniert, dann ermordet worden sein. Insofern kann sich Niebel bestätigt sehen.

2. „Man sollte wissen, wie man ein militärisches Engagement wieder beendet, bevor man es beginnt.“ Berlin glaubte offensichtlich, dass der Libyenkrieg in einem ähnlichen Desaster wie der »regime change« im Irak enden würde. Und das gönnte man den Kollegen in Paris und London von Herzen.

Allerdings sind beide Kriegsschauplätze nicht vergleichbar. Insbesondere rekrutierten sich viele libysche Rebellenführer aus der Gaddafi-Führung. Der fließende Seitenwechsel zur anderen Bürgerkriegspartei wurde von Spiegel Online am 25.8.2011 mit der satirischen »Eilmeldung« auf die Spitze getrieben, Gaddafi selbst sei nun auch zu den Rebellen übergelaufen.33 Ein Seitenwechsel, der interessanterweise schon 2010 begann, als sich der damalige Protokollchef Gaddafis, Al Mismari, nach Paris absetzte. Insofern ist in Libyen auch ohne politische Verständigung die andere Konfliktseite ein Stück weit eingebunden, während im Irak alle Mitglieder der alten Herrschaft vom Neuaufbau ausgeschlossen wurden.

Anfang September 2011 stehen die Initiatoren der Militärintervention als Sieger da, während die deutsche Regierung sich verschätzt hat. Zur Strafe sollen deutsche Firmen beim Wiederaufbau nur eine geringe Rolle spielen. Deutschland hat also wegen seiner Anti-Kriegshaltung Einfluss eingebüßt. Und wenn mit internationaler Kriegsdienstverweigerung kein Geld zu verdienen ist, dann wird sich auch die deutsche Regierung in Zukunft wieder bereitwilliger an Kriegen beteiligen. Diese Befürchtung drängt sich jedenfalls auf, wenn man die jüngere Diskussion um die deutsche Nicht-Beteiligung am Libyenkrieg in Betracht zieht. Da hilft es leider wenig, dass 80% der Bevölkerung die Enthaltung im Sicherheitsrat richtig fanden.

Anmerkungen

1) Der vom Präsidenten entlassene Botschafter in Libyen, Wladimir Tschamow, über den Verrat der Interessen Russlands – Interview mit Moskowskij Komsomolez vom 24. März 2011; übersetzt von Brigitte Queck; muetter-gegen-den-krieg-berlin.de.

2) EU-Ölembargo gegen Syrien. FAZ, 3.9.2011.

3) »Wir haben auf die internationale Isolierung Gaddafis gesetzt«. Außenminister Guido Westerwelle im Interview mit dem Deutschlandfunk zur deutschen Rolle in Libyen. Gesendet am 23.8.2011; www.auswaertiges-amt.de.

4) Michaela Wiegel: Libyen – Den militärischen Kampf nicht vernachlässigen. FAZ, 3.9.2011.

5) Reinhard Merkel: Die Militärintervention gegen Gaddafi ist illegitim. FAZ, 22.03.2011.

6) Alan J. Kuperman: False Pretense for War in Libya?. Boston Globe, 14.4.2011.

7) Michaela Wiegel: Der Sieger. FAZ, 2.9.2011.

8) Aleksander Kwasniewski: Kein Zurück zu einem Europa der Einflusszonen. FAZ, 23.8.2008.

9) Lothar Rühl: Neuorientierung im Orient. FAZ, 31.8.2011.

10) Staatspräsident Sarkozy bei der [16.] Botschafterkonferenz zu internationalen Aufgaben und zur Neupositionierung Frankreichs, Paris, 27.08.2008; botschaft-frankreich.de.

11) Günter Nonnenbacher: Weckruf für Europa. FAZ.net, 3.2.2011.

12) Merkel warnt vor Spaltung Europas. Spiegel Online, 5.12.2007.

13) Merkel bremst Sarkozy bei Mittelmeerunion aus. Spiegel Online, 4.3.2008.

14) 19th Ambassadors’ Conference – Speech by Nicolas Sarkozy, President of the Republic, Paris, 31.08.2011; franceonu.org.

15) Bericht der Bundesregierung über den G8-Gipfel in Deauville vom 26.-27. Mai 2011. 7.6.2011; bundesregierung.de.

16) Rolf Clement: Libyen nur Mittel zum Zweck. Deutschlandfunk, 26.3.2011.

17) Ronja Kempin, Jocelyn Mawdsley und Stefan Steinicke: Abkehr von der GSVP? Französisch-britischer Bilateralismus in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Stiftung Wissenschaft und Politik, SWP-Aktuell 81, November 2010.

18) Ibid.

19) Interview mit Alain Juppé. FAZ, 31.08.2011.

20) Andreas Rinke: Die EU-Kanzlerin. Internationale Politik, 21.1.2011.

21) Den militärischen Kampf nicht vernachlässigen. FAZ, 3.9.2011.

22) Vergl.: [UK] Ministry of Defence: Defence Spending – Information about key areas of the Defence Budget. mod.uk; sowie Christopher Chandrill: Public Spending Details for 2012; ukpublicspending.co.uk (Stand 3.9.2011).

23) . Lindley-French‘s Blog Blast, April 21, 2011.

24) Rede Sarkozy 2011, a.a.O.

25) Siehe dazu Erhard Crome: Der libysche Krieg des Westens. Rosa-Luxemburg-Stiftung, Mai 2011.

26) Siehe Clement, a.a.O.

27) Rede Sarkozy 2008, a.a.O.

28) Wolfgang Ischinger: Es gibt keine gerechten Kriege – aber notwendige. MonthlyMind, April 2011.

29) Nikolas Busse: Europas neue Risse. FAZ.net, 23.3.2011.

30) Wir sind ausdrücklich nicht neutral. Passauer Neue Presse, 19.3.2011.

31) Niebel: Gezielte Sanktionen gegen das libysche Regime. bundesregierung.de, 23.3.2011.

32) Rebellen-Kommandeur: 50.000 Tote in libyschem Bürgerkrieg. Reuters, 30.8.2011. Das neue libysche Gesundheitsministerium sprach später von mindestens 30.000 Opfern. Siehe: In Libyen mindestens 30 000 Tote. FAZ, 9.9.2011.

33) Eilmeldung: Gaddafi übergelaufen; Spiegel SPAM – Satire @ Spiegel Online, 25.8.2011.

Uli Cremer ist Mitglied der GRÜNEN FRIEDENSINITIATIVE und Autor des 2009 erschienenen Buches »Neue NATO: die ersten Kriege«.

Assad ist angezählt

Assad ist angezählt

Aber noch ist das syrische Regime nicht am Ende

von Patrick Seale

Nach der Machtübernahme der Rebellen in Libyen richten sich die Augen der Welt noch mehr auf den blutigen Machtkampf in Syrien. Der Autor erklärt, warum er glaubt, der syrische Präsident Assad und sein Regime seien zwar schwer angeschlagen, aber noch nicht am Ende, und weshalb Syrien im engen Beziehungsgeflecht des Nahen Ostens eine besondere Rolle spielt.

Präsident Bashar al-Assad kämpft um sein politisches Überleben, vielleicht sogar um sein nacktes Überleben. Seine brutale Unterdrückung der Protestbewegung in Syrien stieß international auf Verurteilung. US-Präsident Barack Obama und die Regierungschefs von Großbritannien, Frankreich und Deutschland forderten ihn zum Rücktritt auf. Selbst das Schwergewicht der arabischen Welt, Saudi Arabien, hat seinen Botschafter aus Damaskus zurückgezogen, ebenso einige kleinere Golfstaaten. Der Hohe Kommissar für Menschenrechte der Vereinten Nationen, Navi Pillay, legte dem UN-Sicherheitsrat einen Bericht vor, der in grausigen Details beschreibt, wie zivile Protestteilnehmer ermordet und gefoltert werden. Und es gibt Bestrebungen, den Export von syrischem Öl nach Europa mit Sanktionen zu belegen1 – diese Exporte machen etwa 30% des Staatseinkommens aus.

Noch aber trotzt Assad dem Druck. Offenbar will er bis zum Ende kämpfen. Unbeirrt, trotz gnadenloser Repressionen, schwellen die Freitagsdemonstrationen von Woche zu Woche an, und ihre Tonlage hat sich verhärtet. Immer häufiger erschallen lautstarke Rufe nach dem Sturz des Regimes. Wütende Demonstranten sagen, dass schon mehr als 2.000 von ihnen umgebracht und über 13.000 verhaftet wurden, viele davon brutalst gefoltert, während das Regime behauptet, es bekämpfe eine aus dem Ausland gesteuerte „Konspiration“ und „bewaffnete Gangs“ hätten bereits 120 Sicherheitskräfte getötet. Ein sektiererischer Bürgerkrieg nach irakischem oder libanesischem Vorbild ist der Alptraum jedes Syrers. Niemand will das wirklich – weder das Regime noch die große Mehrheit der Opposition. Allerdings gibt es Randgruppen, die glauben, dass jedes andere Regime, selbst das extremste, besser sei als das von Assad.

Die Opposition hat die nackte Wahl: entweder das Regime mit äußerster Kraft zum Sturz bringen, wie das manche möchten, oder mit dem Regime zusammen ein neues und besseres Syrien aufbauen. Ersteres ist gefährlich: Wenn die Baathisten stürzen, wer tritt an ihre Stelle? Letzteres setzt redliche Absichten voraus: Es heißt darauf zu vertrauen, dass Assad tatsächlich radikale Reformen umsetzen und mittels eines nationalen Dialogs einen effektiven Wandel hin zur Demokratie in Gang setzen will. Er hatte schon einmal einen Versuch gestartet, einen solchen Dialog zu initiieren, konnte bislang aber nicht überzeugen – vor allem, weil das Morden nicht aufhörte. Im August z.B. unterzeichnete er ein Gesetz zur Einführung eines Mehrparteiensystems, eine solche Reform ist aber undenkbar, solange die Gewalt anhält.

Das Regime konnte bei der Machtprobe bislang nicht punkten. Die Führung hatte das Wesen des Volksaufstands lange nicht begriffen, und ihre Reaktionen darauf waren geprägt von Inkompetenz. Wie Assad selbst wurden offensichtlich auch die Sicherheitsdienste von der Entwicklung überrascht. Mit dem Einsatz scharfer Munition gegen die Demonstranten in der südsyrischen Stadt Dara’a gleich nach Ausbruch der Proteste bewiesen sie eine zügellose und arrogante Geringschätzung des Lebens der Bürger – genau die Geringschätzung, die in einem Land nach dem anderen der Motor des »Arabischen Erwachens« war.

Die Reden Assads seit dem Beginn der Proteste waren eine Public Relations-Katastrophe – weit entfernt von dem zündenden, dramatischen Appell an die Nation, den seine Unterstützer erwarteten und den der Anlass gebot. Vor allem aber hat er es versäumt, seine brutalen Sicherheitsdienste in Schranken zu halten und den Schießereien, willkürlichen Verhaftungen, Prügeln und Folterungen, die international auf Abscheu stießen, ein Ende zu setzen. Und die ganze Zeit war von der Baath-Partei – gemäß dem berüchtigten Artikel 8 der syrischen Verfassung „Führer von Staat und Gesellschaft“ – buchstäblich nichts zu hören, wodurch sich der weit verbreitete Eindruck bestätigt, dass die Partei zur bloßen Hülle verkommen ist, die sich nur noch für die Wahrung ihres politischen Monopols, ihrer Privilegien und ihres korrupten Patronage-Netzwerks interessiert.

Hat das Regime seine Schwäche bewiesen, so trifft das auf die Opposition allerdings noch mehr zu. Sie will das System herausfordern, weiß aber offensichtlich noch nicht, wie – außer durch die Inszenierung einer Revolte und die Veröffentlichung von Videos, die die brutalen Unterdrückungsmaßnahmen der Regierungskräfte zeigen. Sie ist vielfach zersplittert in Säkularisten, Bürgerrechtsaktivisten, Demokraten und Islamisten unterschiedlichster Prägung, in die Oppositionellen in Syrien selbst und die Exil-Oppositionellen, die zu den vehementesten Gegnern des Regimes gehören, in diejenigen, die nach einer Intervention des Westens rufen, und diejenigen, die jegliche Einmischung von außen ablehnen, in die wütenden, arbeitslosen Jugendlichen auf der Straßen und die ehrwürdigen Persönlichkeiten aus der Opposition, geheiligt durch Jahre im Gefängnis und überwiegend schon recht betagt. In einer versöhnlichen Geste hatte das Regime ein Reiseverbot, von dem etliche Oppositionelle betroffen waren, aufgehoben, u.a. für den Veteranen der Menschenrechtsbewegung, den Aktivisten Haitham al-Maleh, 81, dem im Juli zu seiner großen Überraschung erlaubt wurde, Damaskus zu verlassen und an einem Oppositionstreffen in Istanbul teilzunehmen. Es hat sich aber noch keine einheitlich Führung herauskristallisiert; manche sagen, zumindest diejenigen in Syrien hätten Angst vor Verhaftung.

Das Treffen im Juli in Istanbul war das zweite seiner Art in der Türkei, und offensichtlich erfreute es sich einer gewissen Unterstützung durch Premierminister Recep Tayyip Erdogans AKP, der Regierungspartei mit konservativ-islamischem Einschlag. Aber aus keiner der beiden Konferenzen ging eine geeinte Führung oder ein klares Programm hervor, geschweige denn eine alternative Regierung. Bei den Oppositionsgruppierungen, die sich bisher zu Wort gemeldet haben – die Nationale Demokratische Gruppe, die Unterzeichner der Erklärung von Damaskus, der Rat zur nationalen Rettung, die Lokalen Koordinationskomitees in Syrien –, handelt es sich um lose Zusammenschlüsse einzelner Personen mit kaum einer echten Struktur und mit wenig neuen Ideen, geeint lediglich durch das Ziel, der Herrschaft der Familie Assad und ihrer Kumpane ein für allemal ein Ende zu setzen.

In Wahrheit – Tunesien und Ägypten werden sich dessen langsam bewusst – ist es außerordentlich schwierig, einen Übergang von einem autokratischen, hoch zentralisierten Ein-Parteien-System zu etwas zu bewerkstelligen, was einem demokratischen Pluralismus nahe kommt. Das geht nicht an einem Wochenende oder in einem Monat. In Europa hat es etliche Jahrhunderte gedauert. Ebenso wenig wie in den meisten arabischen Staaten gibt es in Syrien Erfahrung mit freien Wahlen, und es gibt keine richtigen politischen Parteien, keine freien Gewerkschaften, keine staatlichen oder zivilgesellschaftlichen Institutionen, keine Gewaltenteilung, keine unabhängige Justiz, kaum echte politische Bildung. Das syrische Parlament ist eine Farce.

Alles in Syrien muss von Grund auf neu aufgebaut werden – einschließlich der Staatsideologie. Die alten Slogans aus der Ära nach dem Zweiten Weltkrieg – Antikolonialismus, revolutionärer Sozialismus, Baathismus, radikaler Islamismus, arabische Einheit und arabischer Nationalismus, ja selbst der Arabismus – alles muss überdacht, über Bord geworfen oder zumindest auf einen neuen Stand gebracht werden.

Wie in Ägypten und Tunesien ist eine der Schlüsselfragen überhaupt, wie sich die islamistischen Bewegungen in ein demokratisches System einbinden lassen. In Syrien war die Muslimbruderschaft verboten – die Mitgliedschaft unterliegt gar der Todesstrafe –, seit sie 1976-1982 gegen das Regime des damaligen Präsidenten Hafez al-Assad, Bashar al-Assads Vater, einen Aufstand führten, der in der Stadt Hama in einem Massaker unterging. Nach Angaben von Human Rights Watch wurden damals zwischen 5.000 und 10.000 Menschen getötet, als die Regierung darum kämpfte, den islamischen Aufständischen die Kontrolle über die Stadt wieder abzuringen. Diese Kämpfe haben sich in das kollektive Gedächtnis der meisten Syrer eingebrannt. Aber sie haben für unterschiedliche Menschen eine unterschiedliche Bedeutung. Aus Sicht des Regimes war Hama unerlässlich, um das Land vor dem islamistischen Terrorismus zu retten. Für die Opposition, vor allem für die sunnitischen Muslime, war es ein verbrecherisches Massaker, das nach Ansicht mancher nach Rache ruft.

Es ist also nachvollziehbar, dass gewisse Bevölkerungsgruppen, vor allem die Christen (zehn Prozent der Bevölkerung) und die Alawiten (etwa zwölf Prozent), sehr beunruhigt sind. Das Regime wird von Alawiten, einem Zweig des schiitischen Islam, dominiert, insbesondere in den Offizierskorps und den Sicherheitsdiensten. Sie würden zum direkten Ziel, sollte eine extreme Sunni-Regierung an die Macht kommen. Syrien ist ein Mosaik aus Konfessionen und ethnischen Gruppen, daher ist der Wunsch nach Toleranz, nach einer im Wesentlichen säkularen Regierung tief verwurzelt. Für viele besorgte Säkularisten ist die Türkei ein Modell, da Erdogans AKP gezeigt hat, dass der Islam durchaus mit Demokratie einhergehen kann.

Bedarf an neutralen Vermittlern

Da es ein unermessliches Unterfangen ist, Demokratie nach Syrien zu bringen, und da jeder Wandel mit Überlebenschance unweigerlich Zeit braucht, kamen einige Beobachter zum Schluss, dass ein Dialog zwischen dem Regime und der Opposition der sicherste Weg nach vorne sei. Aber wo anfangen, wenn zwischen den beiden Lager ein abgrundtiefer Hass steht? Ohne Frage, das Regime muss zuerst aufhören, seine Bürger umzubringen, und die Opposition muss sich mit dem Gedanken eines allmählichen Wandels vertraut machen. Zunächst muss sich die Situation aber unbedingt beruhigen.

Eine Friedenssicherungsmission durch neutrale Länder wie Indien, Brasilien und die Türkei könnte da sehr hilfreich sein. Jimmy Carter könnte die Mission leiten. Seine moralische Autorität und seine Schlichtungserfahrung genießen allgemeinen Respekt. Es wäre Aufgabe der Mission, die Voraussetzungen für einen ernsthaften Gedankenaustausch zu schaffen und dafür zu sorgen, dass das Regime echte demokratische Reformen nicht nur verspricht, sondern auch durchführt. Letztlich müssten freie Wahlen unter internationaler Aufsicht das Ziel sein.

Assads Regime zieht seinen Legitimationsanspruch aus zwei Punkten: dass es Israel und seinen amerikanischen Unterstützern Paroli bietet und dass es seinen Bürgern – zumindest bis zur aktuellen Krise – eine lange Periode der Sicherheit und Stabilität verschafft hat, auch wenn der Preis dafür das Fehlen politischer Freiheiten war. Jeder Syrer weiß um das schreckliche Schicksal von zweien seiner Nachbarn: des Libanon mit seinem grausamen Bürgerkrieg (1975-1990) und des Irak mit seinem bluttriefenden Konflikt zwischen den Sunniten und den Schiiten, der 2003 durch die Invasion der USA entfesselt wurde.

Assad mag also angeschlagen sein, erledigt ist er aber noch längst nicht. Einige oppositionelle Hardliner lehnen jeden Gedanken an Dialog mit ihm ab. Andere Oppositionelle zeigen sich flexibler, bestehen aber darauf, dass zuerst das Morden aufhören muss. Je stärker die Repressionen werden, desto mehr gewinnen die Hardliner an Grund.

Es gibt drei Szenarien, die zum Ende des Regimes führen könnten: eine Spaltung des Militärs und der Sicherheitskräfte, ein ernsthafter Streit innerhalb des Regimes oder der Familie Assad oder ein katastrophaler wirtschaftlicher Zusammenbruch. All dies ist möglich, scheint aber nicht unmittelbar bevorzustehen.

Bis auf wenige Ausnahmen haben sich das Militär und die Sicherheitskräfte dem Regime gegenüber loyal verhalten. So lange dies so bleibt, wird es für die Opposition schwierig, das Regime zu stürzen. Die herrschende Familie und das Regime bilden nach wie vor eine einheitliche Front. Es gab zwar einige Gerüchte über Auseinandersetzungen zwischen dem Präsidenten und seinem Bruder Maher, einem Hardliner und Kommandeur der Prätorianergarde des Regimes, es ist aber kaum etwas darüber an die Öffentlichkeit gedrungen.

Die Wirtschaft gibt natürlich Anlass zu Sorgen. Der Tourismus in Syrien ist kollabiert, die Inlandinvestitionen sind versiegt und das syrische Pfund hat erheblich an Wert eingebüßt. Nach der ersten Euphorie über den »Arabischen Frühling« wird den meisten Menschen jetzt bewusst, dass es nicht nur darum geht, ein neues politisches System aufzubauen, ob in Syrien, Tunesien, Ägypten oder im Jemen. Es muss auch eine Lösung für die enormen sozialen und wirtschaftlichen Probleme Syriens und der anderen Länder in der Region gefunden werden: Bevölkerungsexplosion, außer Kontrolle geratene Jugendarbeitslosigkeit, eine verarmte Mittelklasse und eine bettelarme Arbeiterklasse, ungezügelte Steigerung der Lebenshaltungskosten, eine mehr oder weniger bankrotte Regierung, eine Politik der ökonomischen Liberalisierung, von der nur eine winzige und korrupte Elite profitiert, und Missachtung der Arbeiterrechte, sei es auf dem Land oder im Gewerbe und in den Fabriken.

Die reichen Golfmonarchien können sich vom Ärger freikaufen und tun das auch. Saudi Arabien beispielsweise hat angekündigt, 70 Mrd. Dollar in preisgünstiges Wohnen zu investieren. Syrien mit einer ähnlichen Bevölkerungszahl kann von solchen Zahlen nur träumen. Kuwait, Katar und die Vereinigten Arabischen Emirate, hochvermögende Scheichtümer mit gigantischen Vermögen in Herrscherhand, haben versprochen, Tunesien aus seinen aktuellen Schwierigkeiten zu helfen. Auch nach Ägypten fließt Geld, ebenso nach Oman und Jemen. Auch Syrien wird Hilfe brauchen, wenn die Krise anhält. Aber auf wen kann es sich verlassen? Wenn es hart auf hart kommt, hilft der iranische Bündnisgenosse vielleicht mit ein oder zwei Milliarden aus. Aber Iran hat selbst genug Probleme.

Die syrische Wirtschaft kann vermutlich noch einige Monate vor sich hin stolpern, ohne das Regime zu gefährden. Syrien hat bewiesen, dass es Sanktionen widerstehen kann, da es im Gegensatz zu den meisten arabischen Staaten bei der Lebensmittelversorgung weitgehend unabhängig ist – die Ernte dieses Jahr wird auf 3,6 Millionen Tonnen geschätzt. Mit einer Ölförderung von 380.000 Barrel pro Tag und jeder Menge Gas ist es auch bei der Energieversorgung zu einem gewissen Maße autonom. Aber selbst mit europäischen Sanktionen ist es schwierig, ein weltweites Ölexportverbot zu verhängen. Kurzum, das Regime ist trotz all seiner Fehler und Schwächen kein leichter Gegner.

Assads Aktivposten

Bashar al-Assad steckt zwar tief in Schwierigkeiten, ist aber offensichtlich noch nicht am Ende. Nach der NATO-Intervention in Libyen – um erst gar nicht von den Konflikten in Afghanistan, Pakistan und im Irak zu reden – hat keine externe Macht, und zuallerletzt eines der westlichen Länder, Ambitionen auf eine neue Militärintervention. Russland hat sich zwar in jüngerer Zeit alarmiert gezeigt von den Vorgängen in Syrien, würde aber ebenso wie China im UN-Sicherheitsrat eine Verurteilung Syriens verhindern. Außerdem ist Syrien für die Stabilität der östlichen arabischen Welt absolut kritisch, so dass keiner der arabischen Nachbarstaaten ein Interesse an seiner Destabilisierung hat. Die Saudis und einige andere Golfstaaten haben zwar ihre Botschafter abgezogen, und die Arabische Liga und der Golf-Kooperationsrat haben Assad aufgerufen, das Morden zu stoppen, aber sie haben nicht seinen Rücktritt verlangt.

Im Vergleich mit den anderen arabischen Ländern, die dieses Jahr von der Revolutionswelle betroffen waren, ist Syrien ein Sonderfall. Tunesien beispielsweise ist aus geographischen Gründen mehr oder weniger immun gegen die stürmischen Strömungen der arabischen Politik (auch wenn viele Flüchtlinge aus Libyen dort Zuflucht suchten). Selbst die Geschehnisse in Libyen haben sich trotz ihres gewaltsamen Austrags kaum auf die arabische Welt ausgewirkt. Und sogar die Revolution in Ägypten hat die politische Landkarte im arabischen Raum bislang nicht radikal verändert. Fraglos wird Ägypten in Zukunft einen großen Einfluss auf die arabischen Länder und die arabisch-israelischen Beziehungen haben, aber noch ist es vor allem mit sich selbst und seinen immensen Problemen beschäftigt.

Syrien hingegen liegt mitten im politischen Zentrum der östlichen arabischen Welt. Es liegt an der Bruchlinie zwischen den sunnitischen und den schiitischen Ländern. Es ist Israels hartnäckigster Gegner. Es war bis zur aktuellen Krise der Dreh- und Angelpunkt für die Türkei in ihrer Arabienpolitik. Als sich die Beziehungen der Türkei mit Israel abkühlten, wurde eine türkisch-syrische Allianz ins Leben gerufen, die für die Geopolitik der Region sehr wichtig ist. Es kam inzwischen zwar zu Spannungen wegen des brutalen Vorgehens der syrischen Sicherheitskräfte, noch aber hat sich die Türkei nicht von Syrien abgewandt. Die Türkei möchte bei der Stabilisierung der Lage gerne eine Schlüsselrolle spielen und drängt Assad, seine Kräfte zu disziplinieren und das Morden zu stoppen.

Syrien ist immer noch der dominante externe Faktor im Libanon. Im Bündnis mit der Hisbollah ist es die stärkste Partei im Land und stellt die schlagkräftigsten Streitkräfte. Israel und die Vereinigten Staaten dämonisieren die Hisbollah weiterhin als terroristische Organisation, dabei ist sie einfach eine schiitische Widerstandsbewegung, die es geschafft hat, Israel nach 22 Jahren Besatzung (1978-2000) aus dem Südlibanon zu vertreiben. Die Hisbollah wurde sogar erst durch die israelische Besatzung hervorgebracht. Zum großen Ärger Israels hat die Hisbollah eine gewisse Fähigkeit erlangt, weitere aggressive Akte Israels abzuwehren und hat 2006 bei der letzten israelischen Invasion des Libanon seine Stärke bewiesen. Natürlich würde Israel die Achse Teheran-Damaskus-Hisbollah – in den letzten drei Jahrzehnten das Haupthindernis einer regionalen Hegemonie Israels – gerne zerschlagen. Aber das wäre nur unter erheblichen Risiken möglich.

Die Hisbollah wird vor allem von syrischen Oppositionellen im Libanon für ihren Schulterschluss mit dem repressiven Assad-Regime kritisiert. Das heroische Bild der Hisbollah als Israels Widersacher hat darunter gelitten. Dennoch aber bleibt die Tatsache bestehen, dass Syrien, der Iran und die Hisbollah gemeinsam die Konfrontation mit Israel und den Vereinigten Staaten schultern, seit Ägypten mit dem Friedensvertrag mit Israel 1979 aus der arabischen Gleichung verschwand und die übrige Region den Machtansprüchen Israels überließ. Das wurde vor allem 1982 deutlich. Im selben Jahr, in dem die syrische Armee das Massaker von Hama verübte, marschierte Israel in den Libanon ein. Bei seinem Versuch, die PLO zu zerschlagen und den Libanon dem syrischen Einfluss zu entreißen und dem eigenen Machtbereich unterzuordnen, tötete Israel damals mehr als 17.000 Menschen. Im Falle des Erfolgs wäre Syriens Sicherheit hoffnungslos unterminiert worden, und Israel hätte uneingeschränkt über die Levante herrschen können. Damals hat Hafez al-Assad die israelischen Pläne durchkreuzt. Er hielt es für einen seiner größten Triumphe, weil dadurch Syrien geschützt und der Libanon im arabischen Lager gehalten wurde.

Dieses ganze Beziehungsgeflecht, sowohl mit Freunden als auch mit Feinden, würde bei einem Fall des Regimes Assad zerreißen. Das macht in der Region und darüber hinaus große Sorgen und ist einer der Gründe, warum Bashar al-Assad doch noch überleben könnte.

Wenn die Proteste in Syrien bedrohlicher werden und das Morden weitergeht, sollte niemand erwarten, dass das Regime kampflos untergeht. Nur selten begehen Regime politischen Selbstmord oder kapitulieren freiwillig vor ihren Feinden, vor allem, wenn massive Vergeltungsmaßnahmen drohen. Das Regime Assad hat unter Vater und Sohn mehr als vier Jahrzehnte überdauert, zahlreiche Krisen überlebt und viele Feinde ausgeschaltet. In diesem Punkt unterscheidet es sich nicht von den anderen in der Region.

China hatte sein Tiananmen-Massaker, Russland seinen erbitterten Krieg in Tschetschenien. Iran zerschlug die Grüne Bewegung, die Präsident Ahmadinejads Sturz wollte. US-Außenministerin Hillary Clinton hat Assads Legitimität in Frage gestellt und die internationale Gemeinschaft aufgerufen, mit Syrien keine Geschäfte mehr zu machen, aber die Syrer wissen sehr wohl, dass Amerika in seiner Bilanz, seine Feinde aufzuspüren und zu vernichten, eher noch schlechter dasteht sie selbst. Nach dem Angriff vom 11.9. überfiel diese große Bastion der Demokratie 2001 Afghanistan und 2003 aufgrund von fingierten und erfundenen Anschuldigungen den Irak. Hunderttausende kamen um, und mehrere Millionen wurden zu Flüchtlingen im Inland oder im Ausland. Syrien bietet bis heute mehr als einer Million irakischer Flüchtlinge, Opfer des Krieges der USA, Zuflucht.

Wenn die Gewalt in Syrien zunimmt, droht die Gefahr einer blutigen sektiererischen Abrechnung. Schon jetzt ist es eine Frage von töten oder getötet werden. Deshalb sollten alle, denen die syrischen Menschen und die regionale Stabilität am Herzen liegen, darauf hinwirken, dass möglichst rasch ein nationaler Dialog stattfindet und ein Machtwechsel mit demokratischen Mitteln anstatt durch einen Bürgerkrieg herbeigeführt wird.

Dieser Artikel erschien in »The Nation« (Ausgabe vom 12. September 2011). Wir bedanken uns für die Übersetzungs- und Abdruckrechte.

Anmerkung

1) Die EU-Außenminister verhängten am 2. September 2011 ein Ölembargo gegen Syrien. Auf Betreiben von Italien, einem der Hauptimporteure des Öls, tritt das Embargo aber erst im November 2011 in Kraft. [d.Ü.]

Patrick Seale ist britischer Journalist und arbeitet zum Nahen Osten. Er schrieb etliche Bücher, u.a. »The Struggle for Syria«, »Assad of Syria: The Struggle for the Middle East« und «The Struggle for Arab Independence: Riad el-Sohl and the Makers of the Modern Middle East«.
Übersetzt von Regina Hagen

Digitale Revolution?

Digitale Revolution?

Soziale Netzwerke in Nordafrika

von Nazir Peroz

Elektronische Medien haben die politischen Aktionsmöglichkeiten der Zivilgesellschaft verändert – und das nicht nur »im Westen«. Das Internet spielt z.B. in China eine große Rolle. Und nun bewies es seine Tauglichkeit zur Mobilisierung auch im arabischen Raum.

Seit dem Beginn der politischen Unruhen in Tunesien überschlagen sich in Nordafrika die Ereignisse – und die Weltöffentlichkeit ist immer gut informiert. Junge Tunesierinnen und Tunesier und Online-Aktivisten, die sich überwiegend mit Mobiltelefonen über Internet-Anwendungen vernetzten, erreichten so von Anfang an mit ihrer Stimme die Weltöffentlichkeit und verbreiteten aktuellste Informationen (Essa 2011). Diese Bewegung wurde möglich, weil die staatliche Kontrolle im Internet – anders als in China oder dem Iran – in Tunesien aufgrund mangelhafter Fachexpertise des technischen Personals unzureichend war. Dem Beispiel der tunesischen Protestbewegung folgten Aktivisten in Nachbarländern mit ähnlichen politischen Verhältnissen und brachten weitere Regierungen, z.B. im Jemen, in Ägypten, in Libyen und in Syrien, ins Wanken und teilweise sogar zum Sturz. Die Machthaber in Ägypten versuchten anfangs zwar gezielt, Kommunikationswege abzuschalten, konnten dies aber nicht dauerhaft durchsetzen (Schumann 2011).

Bedeutung des Internet und der digitalen Netzwerke

Die flächendeckende Verbreitung des Internet begann zunächst mit der kommerziellen Nutzung der E-Mail-Kommunikation Anfang der 1990er Jahre. Wenige Jahre später entwickelte sich das World Wide Web zum Standard für die Verbreitung von Informationen jeder Art. Es gilt als eine der größten Veränderungen der Medienlandschaft seit der Erfindung des Buchdrucks, mit großen Auswirkungen auf verschiedenste Bereiche des alltäglichen Lebens.

Eine zunehmende Bedeutung erhält das Internet durch die Nutzung von digitalen sozialen Netzwerken. Die Benutzer erstellen dabei eigene Inhalte und können selbst aktiv werden, z.B. durch die Verbreitung von Informationen oder die Mobilisierung zu Aktionen. Zu den bekanntesten dieser Dienste gehören Facebook, Myspace, Twitter, XING und Linkedln.

In kurzer Zeit entwickelten sich die digitalen sozialen Netzwerke zu einem neuen Kommunikationsmedium, welches sich zum Austausch und zur Weiterverbreitung von Informationen und damit auch zum Mittel der politischen Bildung entwickelt hat. Das Internet und die digitalen sozialen Netzwerke beeinflussen inzwischen den Alltag und prägen die persönliche Lebensgestaltung vieler Menschen sowie die Entwicklung des gesellschaftlichen Raumes. Sie geben Menschen, die in geschlossenen, autoritären Systemen leben, neue Hoffnung und stellen sie auch vor neue Herausforderungen. Hier kann sich jede Nutzerin und jeder Nutzer zum politischen Geschehen äußern. Jede Teilnehmerin und jeder Teilnehmer kann sowohl Sender als auch Empfänger sein.

Somit kommt dem Internet heute eine ganz neue politische Bedeutung zu. Dies erkannten auch die Menschen in Tunesien und in Ägypten. Vor allem junge Menschen in diesen Ländern nutzen die digitalen sozialen Netzwerke, um die Weltgemeinschaft nach Jahrzehnten der Unterdrückung auf ihre Situation aufmerksam zu machen. Sie schufen eine Weltöffentlichkeit und drängen mit Nachdruck auf politische und gesellschaftliche Veränderung in ihren Ländern.

Auch wenn auf den Bildern und in den Berichten alle Aktionen sehr spontan aussehen – es bedarf doch außer dem ungeheuren Veränderungswillen, der durch wirtschaftliche Not, Steigerung der Nahrungsmittelpreise und Perspektivlosigkeit der jungen Menschen ausgelöst wird, auch einer gewissen Koordination, also einer politischen Bewegung. Eine solche Bewegung bewirkt gleichzeitig eine virtuelle politische Bildung entlang der eigenen politischen Interessen und fördert durch die Diskussion von Befindlichkeiten, Kritik, Weltanschauungen etc. einen kulturellen Wandel.

Diese politische Bewegung hat vielen Menschen in Staaten mit ähnlichen politischen Verhältnissen die Hoffnung gegeben, ihr politisches Schicksal selbst bestimmen zu können. Was diese Menschen wollen, ist Demokratisierung der Gesellschaft, Freiheit, Wohlstand, Selbstbestimmung und letztlich eine offene Gesellschaft, Transparenz sowie die Verwirklichung von Menschenrechten.

Das Internet als Instrument politischer Bewegungen

Grundsätzlich können das Internet und die digitalen sozialen Netzwerke der Entwicklung von Demokratie und Partizipation nützlich sein. Sie erleichtern und ergänzen alle Formen der Beteiligung an Diskussionen und Debatten. Die digitalen sozialen Netzwerke fördern den Austausch zwischen Menschen innerhalb einer Gesellschaft und erhöhen damit politische Teilhabe und Einflussnahme.

Bewegungen, die versuchen, auf politische Entscheidungen oder die öffentliche Meinungsbildung Einfluss zu nehmen, brachten sich früher auf der Straße oder über Printmedien zu Gehör. Mit dem Internet und den digitalen sozialen Netzwerken hat sich das geändert, außerdem wurde die Kommunikation stark beschleunigt. Online-Diskussionen und Online-Propaganda sind daher geeignete Instrumente zur Verbreitung und Umsetzung politischer Forderungen. (Dies gilt natürlich ebenso für die Verbreitung populistischer Parolen durch radikale Kräfte. (Konopka 2011))

Mittels digitaler sozialer Netzwerke werden Individuen und Gruppen in die Lage versetzt, sich zu bestimmten Anlässen oder Themen zusammenzuschließen, um Ziele gemeinsam durchzusetzen. Interessant ist dabei, dass in digitalen sozialen Netzwerken der räumlich abwesende Mensch Präsenz zeigt und auf vielen Aktionsfeldern gleichzeitig virtuell aktiv sein und eine Vielzahl politischer Ziele unterstützen kann. Das Beispiel der nordafrikanischen Staaten hat gezeigt, wie digitale soziale Netwerke dabei helfen, innerhalb kurzer Zeit politisch geschlossene Systeme zu sprengen.

Eine besonders wichtige Rolle nehmen die neuen Kommunikationsformen offenbar bei der Organisation des transnationalen Protests und der transnationalen Solidarisierung ein. Von wesentlicher Bedeutung für die Arbeit und die Selbstdarstellung zivilgesellschaftlicher Gruppen scheint die Möglichkeit zu sein, Informationen zu sammeln und an Mitglieder und die interessierte Öffentlichkeit via Websites, Mailinglisten oder Mobiltelefone zu verbreiten. Umgekehrt können interessierte Menschen selbst einfach Informationen direkt bei den verschiedenen gesellschaftlichen Akteuren abrufen und sich im Netz artikulieren. Zu beobachten sind auch Fälle, in denen es Nutzerinnen und Nutzern gelingt, beispielsweise über Weblogs (Blogs) Einfluss auf politische Themen auszuüben.

Kluft durch fehlende Voraussetzungen

Die digitalen sozialen Netzwerke sind ein komplexes Phänomen, das von zahlreichen sozialen, wirtschaftlichen, politischen, wissenschaftlichen und technischen Faktoren abhängt. So setzt die Nutzung der Potenziale des Netzes als Raum politischer Kommunikation neben Medienkompetenz auch politisches Wissen, Engagement sowie vor allem funktionierende IT-Strukturen voraus. Die neuen Formen der Kommunikation im Internet und der damit verbundene kulturelle Wandel stellen viele Länder also vor große Herausforderungen.

Zwar kann die Nutzung der digitalen sozialen Netzwerke nach den Ereignissen in Tunesien, Ägypten und anderen Ländern in der Region sicherlich als Chance zur Unterstützung und Stärkung der Demokratiebewegung und allgemein der politischen Bildung, der Selbstdarstellung, der Meinungsbildung und der Mobilisierung der Massen verstanden werden. Mit wachsendem Gewicht der sozialen Medien steigt aber auch die Gefahr der Exklusion. Vor allem in Afrika, Südamerika und Asien haben zahlreiche Menschen aufgrund ihres sozioökonomischen Status, Bildungsabschlusses, Alters etc. keinen Zugang zu digitalen sozialen Netzwerken und sind damit vom Zugang zu politischen Informationen, der Transparenz politischer Prozesse und auch der Teilhabe an Entscheidungsfindungen und damit von der aktiven Teilhabe an der Gemeinschaft ausgeschlossen.

Wenn Menschen, unabhängig davon, an welchen Orten und zu welcher Zeit sie sich befinden, zur Partizipation an der Gesellschaft, zur Selbstbestimmung ihres Handelns durch politisches Bewusstsein und zur Kommunikation zwischen politischen Akteuren befähigt werden sollen, dann ist es notwendig, allen gleichermaßen die Voraussetzungen zur Nutzung des Internets zu ermöglichen, damit sie sich eben jene Informationen beschaffen und Fähigkeiten aneignen können. Das aber braucht Zeit.

Internetpräsenz hängt von soliden und funktionierenden IT-Strukturen ab, vor allem von der zuverlässigen Versorgung der erforderlichen Geräte mit Elektrizität. Ohne Strom funktionieren weder Computer noch das Internet. Aber gerade daran fehlt es in vielen Ländern. Nur etwa 8% der ländlichen Bevölkerung in Afrika sind an das Stromnetz angeschlossen. In einigen Ländern fällt der Strom landesweit häufiger für eine ganze Woche aus. In Nigeria, dem bevölkerungsreichsten afrikanischen Land, haben nur ca. 40% der Bevölkerung Zugang zu Elektrizität (Peroz 2010). Der Bevölkerungsanteil mit Zugang zum Internet liegt in den USA bei über 74% und in Westeuropa bei über 50%. Neueste Zahlen zeigen, dass von ca. 991 Millionen Einwohnern in Afrika nur ungefähr zehn Millionen Zugang zum Internet haben.

Doch nicht nur die fehlende IT-Infrastruktur ist ein Problem. Es sind auch Ungleichheiten in der Bildung und in der Ausbildung, die Mängel an der Medienkompetenz verschärfen, anstatt bildungsschwache Menschen gezielt zu fördern. So haben ca. 90% der afrikanischen Internetnutzer eine Hochschulausbildung und kommen aus der einkommensstärksten Schicht (Peroz 2010). Für die übrigen Menschen fehlen in der Regel politische Bildungsprogramme, die auch nachhaltig umgesetzt werden.

Das erste Ziel der globalen Initiative »Bildung für alle«, die im Jahr 2000 auf dem Weltbildungsforum in Dakar von der UNESCO gestartet wurde (UNESCO o.J.) – allen Kindern bis zum Jahr 2015 den erfolgreichen Abschluss der Primarschule zu ermöglichen – wird von vielen dieser Ländern nicht erreicht werden, weil die Voraussetzungen hierfür fehlen. Verschärft wird die Lage in vielen Ländern durch mangelhafte Verwaltungsstrukturen, ineffektive Bürokratie, Korruption und andere Faktoren.

Die massiven Protestbewegungen der letzten Monate haben bereits zum Sturz einiger Machthaber in den nordafrikanischen Ländern geführt. An den Macht- und Verwaltungsstrukturen, an Bürokratie, Korruption und anderen behindernden Faktoren hat sich jedoch bislang kaum etwas geändert. Es ist nun die Aufgabe der neuen Regierungen dieser Länder und der Weltgemeinschaft, diese Strukturen nachhaltig zu reformieren und damit die Motivation und den Antrieb der jungen Menschen zur Veränderung zu erhalten, um ihnen eine Perspektive zu ermöglichen und die Länder vor künftigem Chaos zu bewahren.

Literatur

Azad Essa: In Search of an African revolution. International media is following protests across the »Arab world« but ignoring those in Africa. Al Jazeera, 21.2.2011.

Harald Schumann: Digitaler Krieg: Was ist der Cyberwar? Tagesspiegel vom 30. Januar 2011, S.2.

Nazir Peroz (2009): IT-Strategie und politische Bildung für arme Länder. In: Bernd Overwien und Hanns-Fred Rathenow (Hrsg.): Globalisierung fordert politische Bildung. Opladen & Farmington Hills: Verlag Barbara Budrich.

Melitta Konopka: Das Internet als Instrument zur politischen Mobilisierung. 26. Juli 2011; suite101.de.

Nazir Peroz (2010): Strategieentwicklung für bestimmte Entwicklungsländer im Bereich Informationstechnologie. Berlin: Pro BUSINESS GmbH.

Deutsche UNESCO Kommissione.V. (o.J:): Bildung für alle; unesco.de/efa.html.

Dr. Nazir Peroz ist Leiter des Zentrums für internationale und interkulturelle Kommunikation (ZiiK) an der Fakultät Elektrotechnik und Informatik der TU Berlin. Er leitet das Arbeitsgebiet Informatik und Entwicklungsländer.

Die Herausforderungen der Revolution

Ägypten

Die Herausforderungen der Revolution

von Ivesa Lübben

Die ägyptische Revolution war eine Revolution des Volkes: Sie war nicht geplant, sie hatte keine Führung, es gab keine Avantgarde mit einem klaren Programm und einer revolutionären Strategie. Die Autorin untersucht, warum das, was zunächst die Stärke der Revolution war, in der post-revolutionären Phase immer mehr zu ihrer Schwäche wird.

Keine Revolution entsteht in einem Vakuum – so auch nicht die ägyptische. Ein Bündnis von Jugendorganisationen aus linken und liberalen Jugendbewegungen sowie der Jugend der Muslimbruderschaft1 hatte für den 25. Januar 2011, dem Tag der Polizei – einem offiziellen Feiertag mit staatlichem Festakt – zu einer Demonstration gegen Polizeiwillkür und Folter, für demokratische und soziale Reformen aufgerufen. Diese Demonstration war Teil einer geplanten Eskalationsstrategie auf dem Weg zu Aktionen des zivilen Ungehorsams, durch die die Wiederwahl Mubaraks bzw. eine mögliche Amtsübergabe an seinen Sohn Gamal bei den für den Herbst geplanten Präsidentschaftswahlen verhindert werden sollte.

Diese neue Jugendbewegung knüpfte an anderen Protest- und sozialen Bewegungen an, die sich in den vergangenen Jahren in Ägypten formiert hatten:

Die »Kfiaya« (Genug)-Bewegung, die schon 2005 gegen die Wiederwahl Mubaraks protestiert hatte,

die Richter, die 2007 für eine unabhängige Justiz als Voraussetzung fairer Wahlen auf die Straße gegangen waren,

die Arbeiterkämpfe, die seit den großen Streiks der Textilarbeiter in Mahalla-Kubra im Dezember 2006 nicht mehr abrissen.

„Wir hofften, dass ein paar Tausend dem Aufruf zur Demonstration am 25. Januar [2011] folgen würden, aber es waren Zehntausende oder Hunderttausende. Und während wir noch Parolen nach demokratischen Reformen riefen, forderten die Leute den Sturz des Regimes. Die Menschen waren uns voraus und taten in jedem Moment spontan das Richtige“, sagt einer der Organisatoren.2

Es war die Gemengelage aus Frustration über 30 Jahre Polizeistaat und soziale Ungerechtigkeit gepaart mit der Hoffnung, die der Sturz Ben Alis in Tunesien ausgelöst hatte, und der Euphorie über den unerwarteten Widerhall, auf den der Aufruf zu der Demonstration am 25. Januar gestoßen war, die eine eigene Dynamik der Bewegung generierte. Ohne vorherige Absprachen drängten die Demonstrationszüge auf den zentralen Tahrir-Platz im Herzen Kairos.3 Und spontan setzte sich die Parole durch: Hier harren wir aus, bis das Regime fällt.

Alle hielten sich an die gemeinsame Forderung nach Würde, Freiheit und sozialer Gerechtigkeit. Niemand versuchte sich durch eigene Parolen auf Kosten der Bewegung zu profilieren. Christen und Muslime, Jugendbewegungen und unabhängige Arbeiterkomitees, Feministinnen und voll verschleierte Frauen, Kommunisten, Liberale und Muslimbrüder, Fußballclubs und Bauern, die mit Eselkarren in die Stadt kamen, um die Streikenden auf dem Tahrir mit Lebensmitteln zu versorgen. Es gab keine Gruppe, die erpressbar gewesen wäre oder durch eine Politik von Zuckerbrot und Peitsche zu politischen Zugeständnissen hätte gezwungen werden können. Und es gab keine Organisationsstrukturen, mit deren Zerstörung das Regime der Bewegung das Rückgrat hätte brechen können.4

In der postrevolutionären Übergangsphase, die die Grundlagen des Neuaufbaus legen soll, wird genau dies jedoch zum Schwachpunkt der Revolution. Nach dem Fall Mubaraks gab es weder eine gemeinsame Plattform noch eine Roadmap für den Übergang, und es gab keine Repräsentanten der revolutionären Bewegung, die in Form eines revolutionären Übergangsrats das Land bis zu Neuwahlen hätte regieren können. Stattdessen füllte der Oberste Militärrat, geführt von Verteidigungsminister Tantawi, das Machtvakuum. Tantawi ist der einzige heute amtierende Minister aus der Mubarak-Ära.

Hatten in den Tagen der Revolution die gemeinsame Gegnerschaft zum Regime, die Suche nach einer gerechteren Sozialordnung und der Freiheitswille die Gruppen geeint, so sind die unterschiedlichen Utopien, die Prioritätensetzung während des Übergangs und die Frage nach der Identität inzwischen zur Zerreißprobe für die revolutionäre Bewegung geworden.

„Es gibt kein einiges Volk mehr. Wir sind zu Stämmen geworden, die nichts mehr voneinander wissen – ganz im Gegenteil zu dem, was Gott uns im Koran lehrt, wo es heißt: »Wir haben Euch als Völker und Stämme geschaffen, auf dass Ihr Euch kennenlernen mögt«,“ klagt Muhammed al-Baradei, der ehemalige Präsident der Internationalen Atomenergieorganisation, in einem Interview mit der ägyptischen Tageszeitung al-Shuruq.5 Al-Baradei war Anfang 2010 mit der Ankündigung nach Ägypten zurückgekehrt, er sei bereit, bei der nächsten Präsidentschaftswahl gegen Mubarak anzutreten. Zugleich rief er eine »Bewegung für Wandel« ins Leben, die eine Verfassungsänderung als Voraussetzung für demokratische Wahlen forderte.6

Al-Baradeis post-revolutionäre Erwartungen sind inzwischen gedämpft: Die Anhänger des alten Regimes würden immer noch auf ihren Posten sitzen. Viele einfache Menschen, die die Revolution getragen haben, hätten das Gefühl, nichts gewonnen zu haben – im Gegenteil, die wirtschaftliche Situation werde immer schlechter. Auf Grund der schlechten Sicherheitslage blieben Investitionen und Touristen aus. Der Staat würde seine Reserven zur Deckung der laufenden Ausgaben verbrauchen. Diejenigen, die die Revolution mit initiiert hätten, würden heute vor Militärgerichte gestellt, obwohl sie friedlich für die Verwirklichung der Forderungen der Revolution auf die Straße gingen, während Mubarak und seine Leute, die das Land 30 Jahre ausgeplündert hätten und für den Tod hunderter von Demonstranten verantwortlich seien, vor einem Zivilgericht stehen. Die Militärgerichtsverfahren seien ein gefährlicher Hinweis darauf, dass die Herrschaftslogik des alten Regimes weiter existiert. Die Forderung der Revolution nach Freiheit und Menschenwürde würde dadurch untergraben. Besonders bedenklich stimmt ihn die Ablehnung internationaler Wahlbeobachter durch den Obersten Militärrat mit der gleichen Begründung, mit der diese einst von Mubarak abgelehnt worden waren.7

Die ägyptische Revolution steht vor vielen Herausforderungen.

Das Sicherheitsdilemma

Eine der letzten Amtshandlungen des verhassten Innenministers Habib al-Adli, drei Tage nach Beginn der Demonstrationen, war die Anordnung, die Gefängnistore zu öffnen und die Polizei nach Hause zu schicken. Dies führte zu einer Massenflucht von tausenden von kriminellen Häftlingen, die bis heute in Banden durch das Land marodieren und vor allem in den ärmeren Gebieten Wohnungen ausrauben, Vieh stehlen oder Straßensperren errichten, um Autos zu kapern. Das Schaffen von Chaos in Abwesenheit der Sicherheitsorgane war eine bewusste Strategie des alten Regimes. Man hoffte darauf, dass die Menschen angesichts der unsicheren Sicherheitslage nach der Wiederherstellung des alten Sicherheitsapparates rufen würden. Viele Beobachter vermuten auch, dass untergetauchte Elemente der alten Sicherheitsorgane bis heute Spannungen schüren, z.B. zwischen Muslimen und Christen, um das Land zu destabilisieren.8

Um der Sicherheitslage Herr zu werden, versucht die neue, vom Militärrat ernannte Regierung, die Polizei zu restrukturieren. Dem steht jedoch das tiefe Misstrauen der Bevölkerung gegenüber der Polizei entgegen. Dieses Misstrauen wird noch dadurch gestärkt, dass viele Offiziere und Polizisten, denen Folter und Korruption vorgeworfen werden, nicht entlassen, sondern nur in andere Bezirke versetzt wurden. Es führt aber auch dazu, dass die Polizei handlungsunfähig ist und sich nicht traut, gegenüber Gesetzesbrechern, bei konfessionellen Auseinandersetzungen oder gegen illegale Baumaßnahmen einzuschreiten. So nutzten viele Menschen das Sicherheitsvakuum nach der Revolution, um massiv Ackerland illegal zu bebauen, was dazu führt, dass die Nahrungsmittelversorgung des Landes zunehmend gefährdet ist.9

Die soziale Frage

In den Monaten vor der Revolution haben immer wieder Protestcamps von Belegschaften vor dem Parlamentsgebäude auf die katastrophale Lage der ägyptischen Arbeiter und staatlichen Angestellten, die oft mit Löhnen weit unter dem Existenzminimum und ohne jede soziale Sicherheit auskommen müssen, aufmerksam gemacht. 2010 hatte das Oberste Verwaltungsgericht die Einführung von Mindestlöhnen von umgerechnet 150 Euro angeordnet – ein Beschluss, der nie umgesetzt wurde. Die Verbindung von demokratischen Rechten und sozialer Gerechtigkeit in Form von Mindestlöhnen war ein zentrales Element der Revolution, dessen Einlösung die Menschen aus den Armenvierteln und Arbeiterzentren, ohne deren Unterstützung die Revolution nicht hätte siegen können, erwarten. Bislang hat die Regierung unter Hinweis auf die Wirtschaftslage lediglich umgerechnet ca. 85 Euro in Aussicht gestellt. Aus Protest streiken wieder Arbeiter im ganzen Land, die sich in ihren Erwartungen betrogen fühlen. Aus Sicht der Regierung gefährden sie damit die wirtschaftliche Erholung. Die unabhängige Arbeiterbewegung hat dieses Argument zurückgewiesen. Man könne Mindestlöhne durch die parallele Festsetzung von Höchstlöhnen finanzieren und so die Lohndifferenzen zugunsten einer größeren Verteilungsgerechtigkeit verringern. Dies würde zugleich die wirtschaftliche Basis der Vertreter des alten Regimes vor allem im Staatsektor und öffentlichen Dienst schwächen. Bislang scheut sich das Übergangsregime, die Privilegien der ehemaligen Oberschichten infrage zu stellen und die politische Revolution durch soziale Reformen zu ergänzen. Stattdessen erließ der Militärrat das »Gesetz 34«, nach dem Streiks und Demonstrationen, die die öffentliche Ordnung gefährden und die Produktion behindern, als Kriminaldelikt zu behandeln sind. Seitdem wurden wiederholt Streikführer von Militärgerichten zu Gefängnisstrafen verurteilt.

Unmittelbar nach der Machtübernahme kündigte der Militärrat eine Verfassungsänderung an. Durch die Einsetzung einer unabhängigen Wahlkommission aus Richtern sollte die Voraussetzung für demokratische Wahlen gelegt werden. Die Amtszeit des Präsidenten sollte auf zwei Legislaturperioden beschränkt und eine Kandidatur für die Präsidentschaft für unabhängige Kandidaten erleichtert werden. Damit erfüllte der Militärrat wichtige Forderungen der vorrevolutionären Demokratiebewegung. Gleichzeitig wurde das in spätestens sechs Monaten neu zu wählende Parlament mit der Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung beauftragt. Am 19. März stimmten 77% der Ägypter dieser Änderung zu.

Die politische Polarisierung und der Kampf um die Identität

Ein Teil der revolutionären Jugendgruppen sowie die Linkskräfte lehnten die Verfassungsänderung ab. Sie forderten, dass eine neue Verfassung vor den Wahlen erarbeitet werden sollte, weil die alte Verfassung auch in ihrer modifizierten Form die Grundlagen des alten autoritären Regimes reproduzieren würde. Reformislamisten wie die Muslimbrüder oder die islamische Zentrumspartei hingegen unterstützten die Verfassungsänderung als eine Zwischenlösung auf dem Weg zu einer neuen Verfassung.

Das Referendum führte zu einer Polarisierung der politischen Lager, die bis heute die postrevolutionäre politische Landkarte bestimmt. Dabei überlagerte sich die Frage nach dem Fahrplan der Revolution mit der Diskussion um die Identität des zukünftigen ägyptischen Staates. Mit dem Referendum traten zwei politische Akteure auf die Bühne, die zwar nicht an der Revolution teilgenommen hatten, jetzt aber die revolutionären Lager in ein links-liberal-säkularistisches und ein islamisches Lager teilten: Die Kirche und die ultra-konservative Salafi-Bewegung.10 Die Salafis riefen ihre Anhänger zu »Ja« auf, vorgeblich um die islamische Scharia zu verteidigen – ein etwas abwegiges Argument, weil Artikel 2 der ägyptischen Verfassung, der die Prinzipien der Scharia zur Hauptquelle der Gesetzgebung erklärt, gar nicht zur Disposition stand. Andererseits riefen Kirchen und säkulare Kräfte mit genau dem gleichen Argument zum »Nein« auf. Sie forderten eine neue Verfassung, auf deren Grundlage dann Neuwahlen stattfinden sollten, ohne jedoch zu benennen, wie denn eine durch das Volk legitimierte Verfassungsversammlung zusammengesetzt werden sollte.

Entgegen dem Verfassungsreferendum, das die Erarbeitung einer neuen Verfassung an das nächste Parlament delegiert, reißen die Stimmen aus dem säkularen Lager nicht ab, die aus Angst vor einem Übergewicht islamistischer Kräfte im nächsten Parlament im Namen der revolutionären Legitimität die Festschreibung »überkonstitutioneller Prinzipien« vor den Wahlen fordern. Diese »überkonstitutionellen Prinzipien« sollen die Grundlagen eines modernen demokratischen Staates definieren. Islamistische Kräfte lehnen dieses unter Berufung auf die durch das Referendum geschaffene Volkslegitimität ab.

Trotz dieser Polarisierung hat sich in Form der »Demokratischen Allianz« um die bürgerliche Wafd-Partei und die gemäßigt-islamistische Muslimbruderschaft eine dritte Kraft gebildet, der sich inzwischen über 30 islamische, nasseristische und liberal-konservative neue und alte Parteien und Gruppierungen angeschlossen haben. Die Demokratische Allianz, die angekündigt hat, bei der nächsten Parlamentswahl eine gemeinsame Liste zu bilden, versucht eine Brücke zwischen den beiden Polen zu schlagen. Sie sieht sich einem demokratischen, bürgerlichen Staat auf der Basis der Grundlagen und Werte der Scharia – und nicht einer textualen Interpretation, wie es von den konservativen Salafis gefordert wird – verpflichtet. Die Demokratische Allianz lehnt zwar die Festschreibung dieser Prinzipien vor der Einberufung einer demokratisch legitimierten verfassungsgebenden Versammlung ab, hat sich aber verpflichtet, diese der Verfassung zugrunde zu legen, sollte sie eine Mehrheit bei den nächsten Wahlen erringen.

Das Militär

Nicht nur Kritiker, sondern auch Befürworter des Verfassungsreferendums wunderten sich, dass der Oberste Militärrat auf der Basis der Ergebnisse des Verfassungsreferendums am 31. März eine Verfassungserklärung verkündete, die eine Synthese aus alter Verfassung und den Modifikationen des Referendums darstellte. Warum hat er dann nicht die gesamte Verfassungserklärung zur Abstimmung gestellt? Einer der Gründe dürfte sein, dass sich der Oberste Militärrat in der Verfassungserklärung selber absolute legislative und exekutive Vollmachten eingeräumt hat.11

Auch wenn das Militär während der Revolution von Mubarak zu Hilfe gerufen worden war, weil die Polizei der Situation nicht mehr Herr werden konnte, war es das Militär, das ihn zum Abdanken zwang und in seiner ersten Erklärung an das Volk versprach, die Revolution zu schützen. „Volk und Armee Hand in Hand“, jubelten die Menschen »ihrer« Armee zu.

Aber diese anfängliche Euphorie wurde schnell gedämpft: Alte Seilschaften in den Ministerien wurden nicht angetastet, Prozesse gegen die Spitzen des Regimes immer wieder hinausgezögert und Provinzgouverneure und Lokalverwaltungen nur aufgrund des Drucks der Straße ausgewechselt.

Tatsächlich unterliegen Regierung und Militärrat dem Druck von vielen Seiten:

Da sind die USA, die Ägypten als regionalen Partner in der Nahostpolitik nicht verlieren wollen,

da sind die Saudis, die verhindern wollen, dass der revolutionäre Funke auf die arabische Halbinsel überspringt,

da sind die Anhänger des alten Regimes, die nach wie vor in den Spitzen vieler staatlicher Institutionen sitzen,

auf der anderen Seite ist die Bevölkerung, die verhindern will, dass die Revolution auf halben Wege stecken bleibt.

Statt gemeinsam mit den revolutionären Kräften nach Lösungen zu suchen, fällt das Militär immer stärker in die Repressionsmuster des alten Regimes zurück. Als Demonstranten immer wieder auf den Tahrir zogen und vom Militär die Einlösungen der Forderungen der Revolution forderten, wurden sie am 9. März von Militärpolizisten angegriffen. Viele von ihnen wurden verhaftet und gefoltert, junge Mädchen wurden Jungfernschaftstests unterzogen. Nach Angaben von ägyptischen Menschenrechtsorganisationen wurden in den ersten sechs Monaten über 10.000 Menschen vor Militärgerichte gestellt.12

Viele richtungsweisende Beschlüsse fällt der Militärrat über die Köpfe der Ägypter hinweg und ohne jede Transparenz. Das neue Parteiengesetz erschwert es jungen Menschen, Parteien zu gründen.13 Besonders viele Fragezeichen hat das vom Militärrat im August beschlossene Wahlgesetz hervorgerufen, das eine Kombination von Listenwahlrecht und Direktmandaten vorsieht. Die politischen Bewegungen hatten über alle Lager hinweg ein reines Listenwahlrecht gefordert. Sie befürchten, dass über Direktmandate gerade in den Provinzen Vertreter des alten Regimes über lokale Seilschaften wieder den Sprung ins Parlament schaffen können.

Schlussbetrachtung

Trotz dieser kritischen Betrachtung ist Pessimismus bei der Bewertung des Zwischenstandes der Revolution nicht angebracht. Jede Revolution muss mit Widersprüchen umgehen, ist Rückschlägen ausgesetzt und muss nach Neunanfängen suchen. Die ägyptische Gesellschaft hat diese Herausforderungen angenommen.

Obgleich es monatelange Verzögerung gab, wurde aufgrund des Drucks der Straße im August schließlich das Verfahren gegen Mubarak, seine Söhne und den ehemaligen Innenminister Habib al-Adly eröffnet, die wegen Korruption angeklagt sind und für die Schießbefehle gegen Demonstranten verantwortlich gemacht werden.

Die Ägypterinnen und Ägypter sind selbstbewusst geworden. Sie wissen, dass sie Rechte haben, wie man für diese Rechte kämpft und dass man sie verteidigen muss.

Unter der Machtpyramide des Mubarak-Regimes gab es unendlich viele kleine autoritär geführte Machtpyramiden, die heute infrage gestellt werden. Korrupte Gouverneure werden zum Rücktritt aufgefordert. Die ägyptische Gesellschaft hat einen ungeheuren Schub der Selbstorganisation erfahren. Überall bilden sich Interessenvertretungsorgane, seien es Volkskomitees in den Stadtteilen, unabhängige Gewerkschaften oder Jugendbündnisse. Studenten fordern die freie Wahl von Dekanen und Rektoren. Selbst die Geistlichen der islamischen Azhar-Universität fordern die Demokratisierung ihrer Institution. Anders als im Iran, wo die Geistlichkeit das Land von oben islamisiert hat, haben in Ägypten vor allem junge Geistliche die zivilgesellschaftlichen Forderungen in die theologischen Institutionen getragen. In Kooperation mit Intellektuellen des Landes hat sich die Azhar-Universität in einem Grundsatzdokument zu einem demokratischen Staat freier Bürger bekannt, der sich zu den hohen Prinzipien und Werten der Sharia wie Freiheit und soziale Gerechtigkeit bekennt. Und trotz der Restriktionen des Parteiengesetzes wurden bislang fast zwei Dutzend neue Parteien zugelassen.

Anmerkungen

1) In der westlichen Presse schien es oft so, als hätten überwiegend Facebook-Seiten zu der Demonstration aufgerufen. Facebook war jedoch für die Organisatoren neben traditionellen Flugblättern, Presseerklärungen und Mund-zu-Mund-Propaganda nur ein Mobilisierungsmedium.

2) Interview mit Ahmed Eid von der Jungend der Partei der Demokratischen Front, März 2011.

3) Ähnliche Demonstrationen wie in Kairo fanden auch in anderen Städten Ägyptens statt, v.a. in Alexandrien, Suez, Mahalla al-Kubra. Auch hier beschlossen die Menschen an zentralen Plätzen bis zum Sturz des Regimes auszuharren.

4) Es bildeten sich zwar Gremien wie der Rat der Treuhänder der Revolution (majlis umana al-thaura) oder das Komitee der Weisen der Revolution (lajnat hukama al-tahuara), außerdem verschiedene Revolutionsbündnisse, um das Leben auf dem Tahrir zu koordinieren. Niemand hatte jedoch die Autorität, eigenmächtig im Namen der Revolution zu sprechen oder Beschlüsse zu fassen. Das bekam z.B. der Administrator der wichtigsten Facebook-Seite »Wir sind alle Khaled Sais« zu spüren, als er vorschlug, auf ein Gesprächsangebot mit der Regierung einzugehen. Wael Ghunaim, der bis dahin als Volksheld galt, wurde ausgebuht.

5) Siehe Al-Shuruq 30.und 31.August 2011.

6) Die sieben Forderungen der Bewegung für den Wandel lauteten: 1. Aufhebung des Ausnahmezustandes, 2. Unabhängige richterliche Beaufsichtigung von Wahlen, 3. Wahlbeobachtungen durch lokale und internationale Menschenrechtsorganisationen, 4. Gleicher Zugang zu Medien für alle Kandidaten, 5. Wahlrecht für Auslandsägypter, 6. Das gleiche Recht aller Ägypter, für die Präsidentschaft zu kandidieren, und die Beschränkung der Amtszeit des Präsidenten auf zwei Legislaturperioden, 7. Bereinigung der Wählerlisten.

7) Al-Shuruq, 30. und 31. 8. 2011.

8) Im März kam es zu Angriffen auf eine Kirche in dem Dorf in Atfih. Dorfbewohner erzählten später, dass ehemalige Angehörige der Staatssicherheit unter Hinweis auf eine angebliche Liebesaffäre zwischen einem muslimischen Mädchen und einem Christen die Bewohner zum Angriff auf die Kirche angestachelt hätten. Auch nachdem es kurze Zeit später zu Straßenschlachten zwischen Christen und Muslimen auf der Ring-Road um Kairo kam, sagten Zeugen später, Unbekannte hätten in einer christlichen Nachbarschaft das Gerücht verbreitet, Muslime wollten die Kirche angreifen, während sie in benachbarten muslimischen Wohnvierteln gewarnt hätten, Christen würden planen, die Moschee zu attackieren.

9) Ägypten verfügt nur über sehr begrenzte Ackerflächen. 95% des Landes ist Wüste. Durch Bebauung wurde die landwirtschaftliche Fläche in den vergangenen Jahren stark reduziert. Wenn das Tempo der Bebauung anhält, wird es nach Schätzungen von Agraringenieuren 2030 keine Landwirtschaftsflächen mehr geben.

10) Der so genannte Salafi-Islam orientiert sich in allen Lebensbereichen strikt am Vorbild des Propheten und der ersten islamischen Gemeinde sowie einer textgetreuen Koran-Auslegung, die keinen Raum für zeit- und ortgebundene Interpretationen lässt.

11) Laut Artikel 56 der Verfassungserklärung hat der Militärrat das Recht der Gesetzgebung. Er bestimmt die Grundlinien der Regierungspolitik und legt den Staatshaushalt fest. Er beruft das Parlament und löst es auf. Er kann ein Veto gegen Gesetze einlegen, die das Parlament beschlossen hat. Er repräsentiert den ägyptischen Staat nach innen und nach außen, ernennt die Regierung und die höheren Angestellten im Staat und in der Armee und hat das Recht, Amnestien auszusprechen.

12) Hisham Mubarak Law Center: Yawmiat taht hukm al-askar: waqa’: intihakat wa muhakamat al-madaniyin amama Mahakam al-askariya baad al-thaura (Chronologie der Militärherrschaft – Rechtsverletzungen und Verfahren gegen Zivilisten vor Militärgerichten nach der Revolution). Kairo, August 2011.

13) Zwar dürfen sich Parteien ohne staatliche Lizenz formieren, jedoch müssen sie mindestens 5.000 Gründungsmitglieder haben. Diese Zahl wurde inzwischen aufgrund von Protesten auf 1.000 herunter gesetzt.

Ivesa Lübben ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Nah- und Mitteloststudien der Phillips Universität Marburg.

»Im Schatten der Brüder«?

»Im Schatten der Brüder«?

Frauen-Bewegungen im Post-Mubarak-Ägypten

von Renate Kreile

Die führende Rolle von Frauen in den Rebellionen in Tunesien und Ägypten hat verbreitete Imaginationen und Projektionen in der westlichen Öffentlichkeit ein für allemal widerlegt, wonach die Frauen in den arabischen Gesellschaften als bedauernswerte unterdrückte Opfer, als passiv und unmündig wahrgenommen werden. Sie hat Ansprüche, arabische Frauen im Sinne einer »civilizing mission« von »außen« befreien zu wollen, einmal mehr als paternalistische Bevormundungsversuche und Rechtfertigungsversuche für neokolonialistische Hegemonialinteressen diskreditiert. Sie hat zudem Vorstellungen, wonach »der Islam« per se für die Benachteiligung der Frauen in der Region verantwortlich sei, endgültig in die Rumpelkammer des »Orientalismus« verbannt. (vgl. ausführlich Kreile 2009, S.253 ff.)1

Es war ein inspirierender historischer Moment, der kurzzeitig Visionen einer inklusiven, demokratischen, gleichberechtigten Gesellschaft auf dem Tahrir-Platz Wirklichkeit werden ließ, wo Männer und Frauen, Menschen aus allen sozialen Schichten, von Stadt und Land, Muslime und Kopten, jung und alt, Seite an Seite für dasselbe Ziel zu demonstrieren schienen.

Margot Badran, ausgewiesene Kennerin der ägyptischen Frauenbewegung, sah in der „von der Jugend geführten Revolution von 2011 […] einen neuen Feminismus“ aufscheinen: „Die DemonstrantInnen und ihre UnterstützerInnen wollten alle dasselbe: Ein Ende der Tyrannei und des korrupten Regimes. Eine freie Gesellschaft mit Chancengleichheit für alle. Gerechtigkeit unabhängig von Geschlecht und Klasse. Und ein Ende all jener Verbindungen, die das dichte, heimtückische Netz der patriarchalischen Hierarchie ausmachten.“ (Badran 2011) Weit entfernt von solch euphorischen Hoffnungen fragte Isabel Coleman andererseits kritisch: „Sind die Revolutionen im Nahen Osten schlecht für die Frauenrechte?“ Derartige Befürchtungen gründen sich auf Überlegungen, dass eine demokratische Öffnung islamistische Gruppierungen stärken und Frauenrechte schwächen könnte. (Coleman 2011)

Im Folgenden möchte ich einige historische und strukturelle Bestimmungsfaktoren skizzieren, die die Partizipation von Frauen an den Protesten befördert haben und Herausforderungen beleuchten, vor denen ägyptische Frauenrechtlerinnen stehen.

Von »Müttern« und »Vätern«

Wenig bekannt ist hierzulande, dass Frauenbewegungen in der arabischen Welt auf eine reiche eigene Tradition zurückblicken können. (Kreile 1997, S.236 ff.) Bereits seit Mitte des 19. Jahrhunderts begannen privilegierte, gebildete Frauen ihre spezifische Situation öffentlich zur Sprache zu bringen, patriarchalische Strukturen infrage zu stellen, vorgegebene Grenzen zu überschreiten und kollektiv im öffentlichen Raum politische Forderungen zu erheben. Radikal und selbstbewusst schrieb die Dichterin Aischa at-Taimuriya 1909:

„Ich habe die Tradition und meine absurde Lage herausgefordert und bin hinausgegangen über das, was Zeit und Ort gestatten.“ (zit. nach Badran/Cooke 1992)

Im Rahmen der antikolonialen Bewegung zu Beginn der 1920er Jahre nahmen Frauen an Massenprotesten teil, organisierten Boykottaktionen und Streiks. Ähnlich wie in Befreiungskämpfen anderswo erkannten die Männer dieses Engagement angesichts der historischen Ausnahmesituation durchaus an. Für ihre Hingabe an die »nationale Sache« wurden die Aktivistinnen lauthals gepriesen. Als die (partielle) Unabhängigkeit erkämpft war und die Frauen politisch nicht mehr gebraucht wurden, änderte sich das Bild. Das ägyptische Wahlgesetz von 1923 garantierte nur den Männern das Wahlrecht.

Die Frauenrechtlerinnen fanden sich mit dem Ausschluss aus der formalen politischen Sphäre keineswegs ab. Bei der Rückkehr von einer internationalen Frauenkonferenz legte Huda Shaarawi, eine der »Mütter« der ägyptischen Frauenbewegung, 1932 auf dem Kairoer Bahnhof öffentlich ihren Gesichtsschleier ab. Mit dieser dramatischen Geste bekundete sie ihre Entschlossenheit, die Beschränkung der Frauen auf den häuslichen Bereich zu beenden. Kurz zuvor war unter Führung Shaarawis die Ägyptische Feministische Union gegründet worden. Sie forderte politische Rechte für Frauen, Veränderungen im Familienrecht (insbesondere bezüglich Scheidung und Polygamie), gleiche Bildungschancen, bessere Beschäftigungsmöglichkeiten, Arbeitsschutzregelungen sowie Kinderbetreuung und Gesundheitsversorgung.

Bereits 1935 kam es zu einer ideologischen Ausdifferenzierung der ägyptischen Frauenbewegung, die in der gesamten arabischen Welt fortdauert. Zainab al-Ghazali, bis heute leuchtendes Vorbild für viele islamistische Frauen, verließ die eher säkular orientierte Ägyptische Feministische Union, weil diese ihrer Meinung nach »westliche« Werte auf die ägyptischen Frauen übertragen wolle. Dem setzte sie die Forderung nach einer »kulturell authentischen« Befreiung der Frauen auf dem Boden »des Islam« entgegen. Ausgehend von dem orthodoxen islamischen Konzept, wonach Frauen und Männer von Gott wesensmäßig verschieden erschaffen worden seien und komplementäre Rollen auszufüllen hätten, betonte sie insbesondere die familiären Aufgaben der Frauen als Ehefrauen und Mütter.

Viele Forderungen der frühen Frauenbewegung wurden seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts »von oben« erfüllt. Die neuen an die Macht gelangten politischen Eliten machten sich daran, die Geschlechterverhältnisse im Interesse von nation building und Modernisierung zu transformieren und die familiären und religiösen Patriarchen zu schwächen. Die Loyalitäten der Menschen sollten umgelenkt werden auf den Staat. Indem der modernisierende Staat den Gemeinschaften die Kontrolle über »ihre Frauen« teilweise entzog, versuchte er, seine Hegemonie über die Gesellschaft durchzusetzen.

In verschiedenen Ländern der Region wurden Frauen nun massenhaft in den Arbeitsmarkt einbezogen. Sie erhielten mehr soziale und politische Rechte, in Ägypten unter Nasser zum Beispiel das Recht, außerhalb des Hauses zu arbeiten und an Wahlen teilzunehmen. In dieser Phase des ägyptischen »Staatsfeminismus« bekamen Frauen auch per Gesetz Anspruch auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit; an Arbeitsplätzen mit vielen weiblichen Beschäftigten wurden Kinderbetreuungszentren eingerichtet. Frauen konnten wie Männer eine kostenlose Universitätsausbildung erhalten, mit einer staatlichen Arbeitsplatzgarantie nach dem Abschluss.

Die Reformen eröffneten vielen Frauen neue Rollen und Entfaltungsmöglichkeiten und machten sie ökonomisch unabhängiger von ihren Familien. Jedoch ließen auch die staatlichen Modernisierungseliten die familienrechtliche Unterordnung der Frauen unangetastet und verzichteten darauf, diese fest gefügte Bastion der familiären und religiösen Patriarchen zu attackieren. Dass die Frauenpolitik in der Ära des Staatsfeminismus wesentlich dazu diente, die Kontrolle des Staates über die Gesellschaft auf Kosten der familiären, lokalen und religiösen Gemeinschaften auszuweiten, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass autonome politische Initiativen von Frauen unterbunden wurden. So verbot Nasser in Ägypten, unmittelbar nachdem den Frauen 1956 das Wahlrecht gewährt worden war, sämtliche feministischen wie auch alle anderen autonomen Organisationen.

Neoliberale Wende, soziale Krise und Heiratskrise

Im Zuge von Ägyptens wirtschaftlicher Öffnung (infitah) seit Mitte der 1970er Jahre wurde der nasseristische Sozialvertrag zunehmend brüchig, der breiten Bevölkerungsschichten wohlfahrts- und beschäftigungspolitische Leistungen gewährt, aber im Gegenzug politischen Partizipationsverzicht und Loyalität eingefordert hatte. Unter dem Druck von neoliberaler Globalisierung und Strukturanpassung minimierten die Regime der Region ihr wohlfahrtsstaatliches Engagement. Die Kluft zwischen arm und reich stieg dramatisch und augenscheinlich. Im Jahr 2000 lebten 44% der ägyptischen Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze von zwei Dollar am Tag. (Harders 2009) Besonders betroffen von sozialer Krisenentwicklung, Arbeitslosigkeit und Marginalisierung sind junge Frauen und Männer aus den unteren und mittleren Segmenten der modernen Mittelschichten, die sich um ihre Hoffnungen auf sozialen Aufstieg durch Bildung betrogen sehen. (Singerman 2007) Da zahlreiche junge Frauen über qualifizierte Bildungsabschlüsse verfügen, verschärft sich in der Krise die Konkurrenzangst unter den gebildeten Männern und macht sie anfällig für konservative und islamistische Geschlechterdiskurse, die die Frau vorrangig auf ihre häusliche Rolle festlegen wollen. „Zurück in die Küche!“ riefen zahlreiche Männer denjenigen Frauen zu, die in Kairo am Internationalen Frauentag 2011 für gleiche Rechte demonstrierten. (Sholkamy 2011)

Die Mehrzahl der 15-30-Jährigen in der Region verbringt lange Jahre in einem quälenden »Wartezustand«, perspektivlos und abhängig von der Familie. Ihr Zugang zu den Statusmerkmalen, die für die gesellschaftliche Anerkennung als Erwachsene konstitutiv sind, nämlich Beschäftigungsverhältnis, eigene Wohnung und Eheschließung, ist blockiert. Damit bleibt zahlreichen jungen Leuten auch die einzige sozialmoralisch akzeptierte Möglichkeit verwehrt, ihre sexuellen Bedürfnisse zu befriedigen und eine eigene Familie zu gründen. (Singerman 2007)

Die heutige »Generation Facebook« erlebt den strukturellen Widerspruch zwischen den Glücksversprechen einer medial omnipräsenten globalisierten Konsumkultur und fehlenden realen Möglichkeiten, an den verheißenen Gütern teilzuhaben, besonders hautnah und schmerzlich. (Swedenburg 2007). Bayat sieht in den zornigen jungen gebildeten „middle class poor“, die heute die Massenproteste anführen, das „neue Proletariat des Vorderen Orients“. (Bayat 2011, S.53)

Von »Brüdern« und »Schwestern«

Die soziale Krisendynamik und den wohlfahrtspolitischen Rückzug des Staates beantworteten die islamistischen Bewegungen mit ihrem Versprechen einer »gerechten islamischen Ordnung« und dem gleichermaßen umfassenden wie plastischen und deutungsoffenen Krisenrezept „Der Islam ist die Lösung“. In Ägypten üben die Islamisten, angeführt von der historisch verwurzelten, relativ moderaten Muslimbruderschaft, heute die gesellschaftliche Hegemonie aus. Sie füllen mit ihren Wohltätigkeitsorganisationen das wohlfahrtsstaatliche Vakuum, das im Zuge der neoliberalen Wende entstanden ist, und haben klassenübergreifend eine breite Massenbasis gewonnen, nicht zuletzt auch unter Frauen. (Naguib 2009)

Wenngleich die weiblichen Mitglieder der Muslimbruderschaft eine zentrale Rolle bei den sozialen Aktivitäten der Organisation und bei der politischen Mobilisierung spielen, sind sie im 17-köpfigen Leitungsgremium nicht vertreten. (Tadros 2011) Es dominiert die Vorstellung, dass Frauen der »Sache« am besten in ihren spezifischen Rollen als Mütter und Ehefrauen dienen könnten und nicht als politische Akteurinnen. Zwar gibt es unter den Aktivistinnen und unter der jüngeren urbanen Generation der »Brüder« reformorientierte Kräfte, die den Einfluss der »Schwestern« in den politischen Strukturen und Aktivitäten zu stärken suchen, aber sie stoßen auf „entschlossenen Widerstand. […] Es scheint, dass die Mehrheit beider Geschlechter an der Basis eine sehr konservative Sicht von der Rolle von Frauen in der öffentlichen Sphäre hat.“ (Abdel-Latif 2008, 14)

Strategien und Perspektiven

Frauen in Ägypten wie in der gesamten arabischen Welt stehen in alltäglichen sozialen und politischen Kämpfen seit langem an vorderster Front, unverschleiert, im hijab oder auch mit niqab.2 So spielten Arbeiterinnen beispielsweise 2006 und 2007 eine führende Rolle bei Streiks in der Textilindustrie. (Beinin 2009) Auch in den Armenvierteln Kairos oder den Dörfern Oberägyptens nehmen Frauen selbstbewusst ihre Rechte wahr und praktizieren einen „organischen Feminismus“ des Alltags. (Abu-Lughod 2010)

Im Zuge der wirtschaftlichen Liberalisierung öffneten sich für einige hoch qualifizierte, professionalisierte Frauen neue formelle Beschäftigungsmöglichkeiten und Potenziale für mehr Autonomie und Selbstverwirklichung. Die meisten Frauen, die einer außerhäuslichen Arbeit im formellen oder informellen Sektor nachgehen, tun dies allerdings aufgrund bitterer Notwendigkeit. Sie müssen für ihre Familien und sich ums alltägliche Überleben kämpfen. Dabei sind sie auf die sozialen Netzwerke von Familie, Nachbarschaft, Viertel und Glaubensgemeinschaft existenziell angewiesen. (Harders 2009)

Die unterschiedlichen sozialen Zugehörigkeiten prägen weithin unterschiedliche Strategien und ideologische Orientierungen in der Frauenbewegung. Auf der einen Seite stehen Aktivistinnen, die sich nachdrücklich für die Rechte der Frauen als Individuen engagieren. Auf der anderen Seite artikulieren sich Frauenrechtlerinnen, die bestrebt sind, Gestaltungsmöglichkeiten im Rahmen der Gemeinschaften auszuweiten. Auf deren Rückhalt können und wollen ärmere Frauen kaum verzichten; somit müssen sie sich mit den dort geltenden patriarchalen Verhaltensnormen arrangieren, die sie allerdings fortlaufend mit verhandeln. (Joseph 2000)

Dass in Ägypten nur eine kleine Minderheit von Frauen eine Gleichstellung im privaten Bereich und im Familienrecht einfordert und die Mehrheit die »Vormundschaft« des Mannes akzeptiert, mag diese Dynamik spiegeln. Dabei zeigt das Beispiel Marokkos, wo mittlerweile ein Drittel der Erwerbstätigen Frauen sind, dass auch in islamisch geprägten Gesellschaften das patriarchale Familienrecht nicht unantastbar ist. Seit einer grundlegenden Reform 2003 sind Ehegatten dort gleichberechtigt; die bisherige Pflicht der Frau, dem Mann zu gehorchen, wurde abgeschafft. (Sabra 2004)

Perspektivisch dürfte der politische Einfluss der ägyptischen Frauenrechtlerinnen, die sich für Gleichstellung engagieren, nicht zuletzt davon abhängen, wie weit es ihnen gelingt, Antworten auf die brennende soziale Frage zu finden und Forderungen nach individuellen Freiheitsrechten und nach sozialen Rechten zu verknüpfen. Ein Beispiel mag dies verdeutlichen: Bei einer Konferenz über die rechtlichen Stellung von Frauen, die vor einigen Jahren in Minya stattfand, wurde über die UN-Konvention zur Beseitigung aller Formen der Diskriminierung gegen Frauen diskutiert. Während der Debatte erhob sich eine junge Frau mit ihrem Baby auf der Hüfte und bemerkte, dass die Konvention und die einschlägigen Diskussionen den Frauen in Oberägypten wenig Hilfe in ihren alltäglichen Kämpfen böten. „Ich bin hierher gekommen, um praktische Lösungen zu finden“. (Masonis El-Ghawary 2000)

Literatur

Omayma Abdel-Latif: In the Shadow of the Brothers. The Women of the Egyptian Muslim Brotherhood. Carnegie Endowment for International Peace, Carnegie Middle East Center, Carnegie Papers Number 13, October 2008.

Lila Abu-Lughod.: The Active Social Life of »Muslim Women’s Rights«: A Plea for Ethnography, Not Polemic, with Cases from Egypt and Palestine. In: Journal of Middle East Women‘s Studies, Volume 6, Number 1, Winter 2010.

Margot Badran: Ägyptens Revolution als Gender-Revolution. In: Inkota-Brief Nr. 155, März 2011.

Margot Badran, Miriam Cooke (1992): Lesebuch der »neuen Frau«. Araberinnen über sich selbst. Reinbek b. Hamburg:Rowohlt.

Asef Bayat: A new Arab street in post-Islamist times. In: Foreign Policy, The Middle East Channel, 26. 01. 2011.

Joel Beinin (2009): Workers’ struggles under »socialism« and neoliberalism. In: Rabab El-Mahdi/Philip Marfleet (eds.) (2009): Egypt. The Moment of Change. London/ New York: Zed Books.

Isobel Coleman: Are the Mideast revolutions bad for women’s rights? In: Washington Post vom 20.02.2011.

Cilja Harders (2009): Politik von unten – Transformation jenseits politischer Eliten. In: Martin Beck/Cilja Harders/Annette Jünemann/Stephan Stetter (Hrsg.) (2009): Der Nahe Osten im Umbruch. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Suad Joseph (2000): Gendering Citizenship in the Middle East. In: dies. (Hrsg.) (2000): Gender and Citizenship in the Middle East. New York: Syracuse University Press.

Deniz Kandiyoti: Promise and peril: women and the »Arab spring«. opendemocracy.net, 8 March 2011.

Renate Kreile (1997): Politische Herrschaft, Geschlechterpolitik und Frauenmacht im Vorderen Orient. Pfaffenweiler: Centaurus.

Renate Kreile (2009): Transformation und Gender im Nahen Osten. In: Martin Beck/Cilja Harders/Annette Jünemann/Stephan Stetter (Hrsg.) (2009): Der Nahe Osten im Umbruch, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Krista Masonis El-Ghawary: Egyptian Advocacy NGOs. Catalysts for Social and Political Change. In: The Middle East Report No. 214, Spring 2000.

Sameh Naguib (2009): Islamism(s) old and new. In: Rabab El-Mahdi/Philip Marfleet (eds.) (2009): Egypt. The Moment of Change. London/New York: Zed Books.

Hania Sholkamy: From Tahrir square to my kitchen. opendemocracy.net, 14.03.2011.

Martina Sabra: Frauenrechte von Königs Gnaden. In: E+Z – Zeitschrift für Entwicklung und Zusammenarbeit, 2-2004.

Diane Singerman: The Economic Imperatives of Marriage. Emerging Practices and Identities Among Youth in the Middle East .Middle East Youth Initiative Working Paper, Number 6, September 2007.

Ted Swedenburg: Imagined Youths. In: Middle East Report 245, Winter 2007.

Mariz Tadros: The Muslim Brotherhood’s Gender Agenda: Reformed or Reframed? In: Institute of Development Studies, IDS Bulletin Vol. 42, Number 1, January 2011.

Anmerkungen

1) Die Überschrift dieses Artikels entstammt Abdel-Latif (2008).

2) Verschleierung, die nur die Augen frei lässt.

Renate Kreile ist Professorin für Politikwissenschaft und ihre Didaktik an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg. Ihre Habilitationsschrift von 1996 an der Universität Tübingen trug den Titel »Politische Herrschaft, Geschlechterpolitik und Frauenmacht im Vorderen Orient«.

Revolution in Tunesien

Revolution in Tunesien

Wie Kleptokratie und IWF die Würde rauben

von Werner Ruf

Am Beispiel Tunesien, wo die Aufstandsbewegung in der arabischen Welt begann, zeigt sich wie in einem Brennglas die Problematik und die tönerne Basis der arabischen Regime, die sich ganz offenkundig nur so lange halten konnten, wie sie vom Westen nahezu bedingungslos unterstützt wurden.

Auslöser des Aufstands in Tunesien war die Selbstverbrennung des arbeitslosen Informatikers Mohamed Bouazizi in der westtunesischen Stadt Sidi Bouzid. Als fliegender Händler verkaufte er, um seine achtköpfige Familie zu ernähren, mittels eines Handkarrens Obst und Gemüse. Die Polizei, die sich selbst ein Zubrot verdienen musste, erpresste von ihm Strafgebühren, die er nicht bezahlen konnte. Verzweifelt übergoss sich Bouazizi mit Benzin und zündete sich an. Im Gegensatz zu früheren Vorfällen ähnlicher Art kam es diesmal zu massiven Protesten der Bevölkerung. Die Sicherheitskräfte schossen wahllos in die Menge. Es gab Tote, die Proteste weiteten sich aus auf weitere Orte, auf die ganze Region und schließlich auf das ganze Land, mit einer Signalwirkung in die anderen arabischen Länder.

Der Aufruhr in Tunesien war keineswegs eine unvorhersehbare Eruption. Im Januar 2008 war es in den Phosphatminen von Redeyef im südlichen Gouvernorat Gafsa zu Protesten der Arbeiter gekommen, die acht Monate dauerten. Ein vom Internationalen Währungsfonds (IWF) erarbeiteter Strukturanpassungsplan hatte zur Reduzierung der Belegschaften von 11.000 auf 5.000 Arbeiter in dieser Armutsregion des Landes geführt.1 Die Proteste kulminierten in der brutalen Niederschlagung der Demonstrationen und in drakonischen Urteilen gegen die »Rädelsführer«.2

Ganz ähnlich in Ägypten. Schon 1991 hatte die Regierung mit dem IWF ein Strukturanpassungsprogramm abgeschlossen; bis Mitte 2002 waren 190 Betriebe privatisiert.3 Privatisierungen, also die Übernahme der Betriebe durch die mit dem System verbündeten Fraktionen der Bourgeoisie, der Raub von Lohn und sozialen Errungenschaften, und die Gründung von Staatsgewerkschaften führten zur Bildung unabhängiger Gewerkschaften und gewerkschaftlichen Bündnissen, die von Lehrern und Beschäftigten im Gesundheitswesen über Staatsbedienstete bis zur Metall-, Chemie- und Automobilindustrie reichten.4 Ein weiteres Signal der allgemeinen Unzufriedenheit hatte 2004 die so genannte Kifayah-Bewegung (von kifayah = es reicht) gesetzt, die sich gegen die damals anstehende Wiederwahl des Präsidenten Hosni Mubaraks, gegen die sein Regime kennzeichnende Korruption und den Nepotismus wandte.

Kleptokratie und Neoliberalismus.

In Tunesien hatten Präsident Zin Abdin Ben Ali und der Familienclan seiner zweiten Ehefrau Leila Trabelsi ein das gesamte Land umfassendes kleptokratisches System entwickelt.5 Die kriminellen Absichten des Präsidenten wurden sogar in der Verfassung festgeschrieben. Ihr Artikel 41 wurde am 26. Mai 2001 erweitert.6 Hinfort genoss er strafrechtliche Immunität „auch nach Ende seiner Funktionen für Taten, die er während der Ausübung seines Amtes begangen hat“.

Demgegenüber wurden IWF und Weltbank nicht müde, die »Erfolgsstory« Tunesien zu feiern und das Land – ebenso wie Ägypten – als Musterbeispiel erfolgreicher Strukturanpassung zu bezeichnen.7 Der vom Weltwirtschaftsforum herausgegebene Global Competitiveness Report kürte Tunesien mehrfach, zuletzt 2009, zum wettbewerbsfähigsten Land Afrikas8, und die bundeseigene Germany Trade and Invest (vormals Bundesstelle für Außenhandelsinformation, bfai) bescheinigte Tunesien ein kontinuierliches Wachstum von knapp 4% während der vergangenen zehn Jahre.9 Nachdrücklich wird darauf verwiesen, dass „die Lohnkosten in Tunesien im internationalen Vergleich günstig (sind)“, dies vor allem weil „Erhöhungen bei Löhnen […] durch eine kontinuierliche Abwertung des tunesischen Dinar ausgeglichen werden konnten“. Das heißt: Nominell stiegen zwar die Löhne, die Kaufkraft aber sank.

Die tunesische Wirtschaft basierte zu Zeiten des Vorgängerpräsidenten Burgiba vor allem auf Staatsbetrieben. Ben Ali privatisierte diese Betriebe, weshalb das Land regelmäßig Bestnoten des IWF erhielt. Die Entscheidung über die Ernennung der Firmenleitungen lag beim Kabinett oder beim Präsidenten selbst. An die Spitze der Unternehmen wurden somit getreue Lakaien des herrschenden Clans gesetzt, meist Mitglieder der angeheirateten Trabelsi-Familie. Banken – oft zusammen mit Kapital aus den Golfstaaten gegründet – sprossen wie Pilze aus dem Boden, im Aufsichtsrat saßen stets Vertreter des vielköpfigen Trabelsi-Clans, die Brüder, Söhne, Vettern und Ehemänner der Töchter der Präsidenten-Gattin. Ihnen gehörten Firmen und entscheidende Anteile an Hotels, Fluglinien, Rundfunk- und Fernsehsendern, Supermarktketten. Leilas Bruder Belhassan war Chef der Bank von Tunesien, was die illegalen Transfers der Familie ins Ausland erleichterte.10 Die Familie scheute auch nicht davor zurück, von privaten Immobilien Besitz zu ergreifen, deren rechtmäßige Bewohner bisweilen von Schlägertrupps vertrieben wurden.11 Leilas Sohn Imed gab gezielt den Diebstahl von Luxusyachten in Auftrag, die aus korsischen Häfen ins »sichere« Tunesien »überführt« wurden.12

Eine besonders lukrative Einrichtung war der 1993 eingerichtete »Fonds für nationale Solidarität«, nach seiner Kontonummer »26/26« genannt. Die auf das Konto eingezahlten »Spenden« waren nicht freiwillig, sondern Unternehmen, Staatsbedienstete und Freiberufler wurden auf der Grundlage einer Tabelle veranlagt. Wer nicht zahlte, wurde bestraft: Unternehmen mit Steuernachzahlungen, Staatsbedienstete mit Entlassung. Der Fonds stand allein dem Präsidenten zur Verfügung, der daraus bisweilen – öffentlichkeitswirksam inszeniert – Wohltaten an Arme verteilte. Allein die jährlichen Einnahmen aus dem Fonds werden auf rund 30 Millionen Euro geschätzt.13

Ihren letzten Coup landete Leila Trabelsi drei Tage vor ihrer Flucht, als sie die Goldreserven des Landes stahl und nach Dubai verbrachte, immerhin 1,5 Tonnen Gold im Wert von rund 45 Mio. Euro. Persönlich wurde sie am 11. Januar 2011 bei der tunesischen Zentralbank vorstellig und verlangte die Herausgabe des Goldes. Als der Zentralbankpräsident Leilas Ansinnen zunächst ablehnte, rief sie ihren Gatten an. Ben Ali selbst erteilte schließlich dem Direktor am Telefon den Befehl, das Gold herauszurücken.14

Jenseits der von „Ben Ali Baba und den vierzig Trabelsis“ (so der tunesische Volksmund in Abwandlung des klassischen arabischen Märchens) organisierten Kriminalität hatte die Staatsspitze ein System der Korruption und des Nepotismus entwickelt, das dazu führte, dass nur loyale Anhänger des Systems, von der Polizei bis zu den Universitäten, vom Zoll bis zu den verschiedenen Strukturen der Verwaltung, vom privaten Unternehmertum bis zur Führung der Einheitsgewerkschaft UGTT, Spitzenpositionen erhielten.15

Entscheidenden Anteil am Niedergang der tunesischen Wirtschaft und vor allem an der Verschärfung der sozialen Antagonismen in der Gesellschaft hatten nicht zuletzt die westlichen Regierungen und vor allem die internationalen Finanzorganisationen, die nicht müde wurden, das »tunesische Modell« über den grünen Klee zu loben. Kein Geringerer als Dominique Strauss-Kahn, der damalige Direktor des IWF, erklärte im November 2008 in Tunis, dass die wirtschaftliche Situation des Landes dank der „weisen“ monetären Politik seiner Regierung gut sei.16 Tunesien hatte, wie später auch andere Mittelmeerländer, am 1.3.1998 mit der Europäischen Union ein so genanntes Europa-Mittelmeerabkommen abgeschlossen, das binnen zwölf Jahren zur vollständigen Verwirklichung einer Freihandelszone mit der EU führen sollte. Ausgenommen bleiben aufgrund des Drucks der europäischen Agrarlobby die Agrarprodukte, was eine schwere Behinderung für die Agrarexporte dieser Länder darstellt. Hinzu kommt, dass die kleineren und mittleren Betriebe der Konkurrenz billiger europäischer Massenprodukte oft nicht standhalten können. In Tunesien waren Betriebsschließungen und Entlassungen in etwa einem Drittel dieser Betriebe die Folge. Demgegenüber genießen europäische Investoren staatlich garantierte Steuerfreiheit und freien Gewinntransfer über mehrere Jahre.17 Die Akkumulation wird ferner behindert durch die Bildung von »Freien Produktionszonen«. In diesen speziell ausgewiesenen Gebieten kommt die nationale Arbeits- und Sozialgesetzgebung nicht zur Anwendung. Sie ermöglichen daher dem dort investierenden ausländischen Kapital im Vergleich zu den inländischen Unternehmen enorme Extraprofite.

So behinderte die Außenorientierung der Wirtschaft, zu der auch der Tourismus gehört, systematisch die Entwicklung einer auf die Bedürfnisse des lokalen Markts orientierten Produktion und verstärkte die Außenabhängigkeit des Landes. Korruption und Kleptokratie wirkten sich zusätzlich hemmend auf die tunesischen Betriebe aus. Einer Analyse des tunesischen Arbeitgeberverbandes UTICA (Union Tunisienne de l’Industrie, du Commerce et de l’Artisanat) zufolge standen 40% der tunesischen Betriebe unter Kontrolle des Trabelsi-Clans.18 Die Studie kommt zu dem Schluss, dass viele Betriebe nicht investierten oder modernisierten, um nicht zum Zielobjekt der Mafia der Präsidenten-Gattin zu werden. Hätten diese Betriebe sich unternehmerisch und marktkonform verhalten (können), hätten rund 200.000 neue Arbeitsplätze geschaffen werden können – eine bemerkenswerte Zahl in einem Staat mit zehn Millionen Einwohnern.19

Die tatsächliche Situation der tunesischen Wirtschaft musste den internationalen Finanzagenturen wie auch den entsprechenden Gremien der EU bekannt sein. Immerhin äußerte selbst die Germany Trade and Invest (gtai) Zweifel an der Verlässlichkeit der von den tunesischen Behörden gelieferten Zahlen, die wiederum Grundlage für die »Erfolgsstory« waren.20 Den katastrophalen Zustand der tunesischen Wirtschaft und das blutsaugerische System der Präsidentenfamilie belegt sogar eine Studie, die von IWF und Weltbank in Auftrag gegeben wurde. In den Jahren 1999 bis 2008 wurden mehr als zehn Mrd. Euro aus dem Umkreis der Präsidentenfamilie auf ausländische Konten transferiert.21 Die Summe entspricht ziemlich genau den gesamten Auslandsschulden des Landes. Bewusst falsch waren die offiziellen Angaben betreffend das Ausmaß der Armut in Tunesien. Rund 15% der tunesischen Bevölkerung leben unter der absoluten Armutsgrenze von zwei US$ pro Tag, während das Regime diesen Prozentsatz mit 4% angegeben hatte. Der Maßstab für absolute Armut war einfach von zwei US$/Tag auf 0,8 US$/Tag abgesenkt worden.22

Trotz dieser klaren Befunde scheint die EU aus dem Desaster der sozialen – und letztlich politischen – Auswirkungen ihrer Politik nicht lernen, bzw. weiterhin allein die Interessen europäischer Investoren bedienen zu wollen. Dies belegen die gebetsmühlenartig wiederholten Erklärungen von europäischen Ministern und EU-Vertretern bei ihren Reisen nach Tunis, wonach jetzt verstärkte europäische Investitionen – unter den Bedingungen des oben erwähnten Freihandelsabkommens – die Situation stabilisieren sollen. Auch die deutsche Politikberatung argumentiert in diese Richtung und fordert, dass europäische Firmen, die weiterhin in Tunesien investieren wollten, zusätzlich zu den schon vorhandenen Vergünstigungen von der EU Zuschüsse erhalten sollten.23 An eine im Interesse der Entwicklung des Landes liegende Unterstützung einheimischer Betriebe oder auch nur an deren Gleichstellung mit europäischen Firmen wird nicht gedacht.

Die Platzierung Tunesiens als Musterland und die Mär vom »tunesischen Wirtschaftswunder« entsprechen keineswegs der Realität, sondern dürften rein politische Gründe gehabt haben. Die Protektion, die das Ben-Ali-Regime durch Frankreich genoss, dürfte auch die Stellungnahmen des IWF beeinflusst haben, dessen Präsidentschaft traditionell Frankreich obliegt: In diesen Kontext passt, dass die französische Verteidigungsministerin Michèle Alliot-Marie noch drei Tage vor der Flucht Ben Alis diesem französische Spezialtruppen zur Aufstandsbekämpfung anbot.24 Schließlich musste sie zurücktreten, als bekannt wurde, dass sie mehrfach auf Kosten eines Mitglieds der Trabelsi-Bande in Tunesien Urlaub gemacht hatte.

Würde

„Schießt doch, wir sind schon tot“, stand auf einem Transparent, mit dem Tausende Jugendliche in der algerischen Stadt Tizi Ouzou vor einer Polizeiwache demonstrierten, auf der einen Tag zuvor ein Siebzehnjähriger totgeschlagen worden war. Es ist dieses Gefühl der absoluten Verzweiflung, das seit Jahren jede Nacht nicht nur Migranten aus Schwarzafrika, sondern auch Dutzende von Jugendlichen aus Marokko, Algerien, Tunesien veranlasst, mit kaum seetüchtigen Booten die Reise ans Nordufer des Mittelmeers anzutreten, wobei sie sich sehr wohl bewusst sind, dass die Chancen, diese Reise zu überleben, nicht groß sind.

In den Augen der Menschen in ganz Nordafrika ist die Staatsmacht nicht nur abgrundtief korrupt, sondern auch bar jeden moralischen Prinzips. Hierfür stand in Tunesien auch die Reputation der Präsidentengattin als einer Frau lockerer Moral. Kurzum: Das »System« verkörperte selbst Amoralität und Würdelosigkeit und war zugleich verantwortlich für das menschenunwürdige Leben der Bürgerinnen und Bürger. Alltägliche Frustrationen und Erniedrigungen produzierten ein Gefühl der Selbstverachtung.25 Aus dieser Situation entsteht „dieser schwer fassbare Faktor, der Bedarf nach Anerkennung von Würde.“26

Der Gegenbegriff zu »karama«, Würde, ist »hogra«, Würdelosigkeit, Verachtet-Sein, was sich ausdrückt in den täglichen Erfahrungen, eine deklassierte und unterbezahlte Beschäftigung annehmen zu müssen, permanent am Rand der Legalität leben zu müssen, stets Gefahr zu laufen, verhaftet, erpresst oder denunziert zu werden. Das Leben in einem Provisorium, das kein Ende nimmt, vermittelt jenes Gefühl, ohne Würde zu sein. Verdeutlicht wird dies in Aussagen wie: „Am Zahltag schlafe ich mit Tränen in den Augen. In meinem Kopf rechne ich, bezahle die offenen Rechnungen und meine Gläubiger. Und die Freude, meinen Lohn erhalten zu haben, wird zur Übelkeit, denn ich weiß nicht, wie ich bis zum Ende des Monats überleben soll.“ Oder: „Ich arbeite in einer Firma [… für] 300 Dinar [160 Euro] im Monat. Ich habe zwei Kinder und lebe mit meiner Frau und den Kleinen in einem einzigen Zimmer. Ist das normal?“.27

Belegt wird diese Misere, in der die Masse der Bevölkerung lebt, durch die Tatsache, dass in Tunesien 38% der Bevölkerung (in Algerien und Marokko sind diese Zahlen noch erheblich höher) ihren Lebensunterhalt im informellen Sektor sichern müssen. „Die illegalen Praktiken entwickeln sich nicht gegen oder außerhalb des Staates, da sie letztlich reguliert werden durch Erpressung und Korruption der öffentlichen Verwaltung“.28 Sie sind somit Teil des Systems, in dem nur extralegale Mittel die prekäre Sicherung einer erbärmlichen Existenz ermöglichen: „Ich hatte gerade meinen Arbeitstag begonnen. Auf der ersten Reise [als Schmuggler über die Grenze nach Libyen, W.R.] wurde ich von einem Polizisten angehalten, der zehn Dinar [fünf Euro] forderte. Ich habe ihm geschworen, dass ich kein Geld hatte, weil ich gerade erst aufgebrochen war. Wir haben gehandelt und er hat mir Fragen gestellt, ob ich Kinder habe. Ich habe ihm gesagt: drei, davon zwei an der Universität. Er sagte, er hätte drei an der Universität. […] Wir waren etwa gleich alt. Er hat mich laufen lassen, gab mir seine Mobilfunknummer und bat mich, ihm eine Pre-paid-Karte für zehn Euro zu schicken. Als ich abends zurück kam, habe ich die Karte gekauft und ihm den Code geschickt. Er hat mir geantwortet: »Danke!«“29

Diese Zitate illustrieren die enge Wechselbeziehung zwischen »hogra« und »karama«. Die Permanenz der »hogra«, die damit verbundene Perspektivlosigkeit, die ständige Demütigung kulminierten in der Selbstverbrennung von Mohamed Bouazizi zu einem Akt des Protests und der Befreiung. Die dadurch ausgelösten Demonstrationen und ihre blutige Repression lösten den revolutionären Prozess aus: Die protestierenden Demonstranten hatten nichts zu verlieren außer einem lebensunwürdigen Leben. Dem Regime war ihr Leben nichts wert. Indem sie dieses riskierten, gewannen die Aufständischen jedoch wenigstens ihre Würde.

„Wir sind alle Khaled Said“, riefen die Demonstranten in Alexandria und Kairo und identifizierten sich mit jenem jungen Blogger, den die Polizei in Alexandria auf offener Straße zu Tode geprügelt hatte. Wie Mohamed Bouazizi symbolisierte er die Perspektivlosigkeit der Jugend und die Rechtlosigkeit der Menschen in einem brutalen, abgrundtief korrupten und deshalb amoralischen System. Die kollektive Erfahrung der »hogra« war es, die die Menschen auf die Straßen brachte – nicht nur die lumpenproletarisierten Jugendlichen, auch die Älteren, die vielen Frauen, die Muslimbrüder und die Kopten, die Mittelschichten, die Richter, die Anwälte, ja sogar Unternehmer. Die gemeinsame Basis dieser Menschen in Tunesien wie in Ägypten war, jenseits der Forderung der großen Massen nach Brot, ein menschenwürdiges Leben. »Würde« gerann so zu einer entscheidenden Dimension gerade auch materieller Existenz.

Fazit

Die tunesischen und ägyptischen Revolten, die immerhin zum Sturz der alten diktatorischen Freunde des Westens führten, waren Auslöser für Proteste und Aufstände, die wohl noch lange nicht zu Ende sind. Es wäre zu einfach, die Erhebungen und bewaffneten Konflikte in Jemen und Libyen, vielleicht auch die Gewalt in Syrien nur aus der Perspektive des tunesischen oder ägyptischen Modells zu betrachten. Sie haben ihre eigenen Spezifika, die Vergleiche sehr schwer machen.

Wenig beachtet werden Wandlungsprozesse, die ohne nennenswerte Gewaltanwendung eingeleitet wurden, wie etwa die präventive massive Senkung der Lebensmittelpreise in Mauretanien, Marokko und Jordanien, die Entlassung der Regierung und die Neubildung eines Kabinetts in Jordanien, die eilige Ausarbeitung einer neuen Verfassung in Marokko, die vom Volk am 1. Juli mit der üblichen Mehrheit von 98,5% der Stimmen angenommen wurde und die ein wenig mehr Parlamentarismus, aber immerhin auch die Unabhängigkeit der Justiz verspricht. Die im Schatten des Krieges in Libyen erfolgte brutale Niederschlagung der friedlichen Proteste in Bahrain durch die saudische Armee und die Truppen des Golf-Kooperationsrats fand in unseren Medien kaum Beachtung: Der Krieg in Libyen war die willkommene Nebelwand, hinter der die Forderungen nach Demokratie der Bevölkerung des Golfstaats verschwand.

Die Völker der Region haben gezeigt, dass sie ihre Angelegenheiten in die eigenen Hände nehmen wollen, dass einige von ihnen fähig waren, ein Stück der Souveränität zu erringen. Damit haben sie nicht nur ein Selbstwertgefühl, ein Stück Würde gewonnen, sie haben auch die abstruse These von der Demokratieunfähigkeit der arabischen Völker und insbesondere Samuel Huntingtons kulturrassistisches Paradigma vom »Kampf der Kulturen« auf den Müllhaufen der Geschichte befördert. Vielleicht aber sind die arabischen Revolten ein Anzeichen für einen globalen Wandel, der nicht nur die unbestrittene hegemoniale Stellung der USA in Frage zu stellen beginnt,30 sondern auch ein Aufbegehren gegen die durch den herrschenden Neoliberalismus erzeugte Perspektivlosigkeit der Jugend weltweit. So können die arabischen Revolten auch verstanden werden als Folge vorausgegangener Entwicklungen in Lateinamerika und als Brücke zu den Protesten in Spanien, Griechenland, Großbritannien und Israel. Eine andere Welt, eine Welt in Würde, ist nicht nur nötig, sie ist auch möglich!

Anmerkungen

1) Carole Vann: Les émeutes du bassin minier de Gafsa se poursuivent malgré la répression. Le Temps (Quotidien – Suisse), 16 octobre 2008.

2) R. Maghari: Tunisie – De lourdes peines pour les émeutiers de Gafsa. maghrebinfo, 12 décembre 2008. Siehe auch: U.S. Department of State, Bureau of Democracy, Human Rights, and Labor: 2008 Human Rights Practices: Tunesia. Report, 25 February 2009.

3) Joel Beinin: Arbeiterprotest, Neoliberalismus und Kampf für Demokratie. In: Inamo Spezial Nr. 3, Frühjahr 2011, S.40-45.

4) Ingrid El Masry: Gewerkschaften und Arbeiterbewegung in der Revolution. In: Inamo Spezial Nr. 3, op.cit. S.56-57.

5) Vgl. auch: Béchir Turki (2011): Ben Ali Le Ripou. Tunis, gedruckt bei Sotepa Graphique.

6) Veröffentlicht in: Journal Officiel de la République Tunisienne, 27. moharrem 1423 = 5. April 2002, 145. Jahrgang, Nr. 28.

7) Anja Zorob: Nordafrikanische Erfolgsgeschichten? In: Blätter für deutsche und internationale Politik Nr. 7/2011, S.31-34, hier S.31.

8) Fausi Najjar (2010): Wirtschaftstrends Tunesien – Jahreswechsel 2009/10. Köln: Germany Trade and Invest – Gesellschaft für Außenwirtschaft und Standortmarketing mbH; gtai.de.

9) Germany Trade and Invest, op.cit.

10) Nicolas Beau/Catherine Graciet (2010): La régente de Carthage. Paris: Editions La Découverte.

11) Sihem Bensedrine/Omar Mestiri (2004): L’Europe et ses Despotes. Paris: La Découverte. Deutsche Ausgabe (2005): Despoten vor Europas Haustür. Warum der Sicherheitswahn den Extremismus schürt. München: Kunstmann. S.127-132.

12) Ausführlich dazu: Beau/Graciet, op.cit., S.81-95.

13) Bensedrine/Mestiri, op.cit., S.92-95.

14) Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.02.2011.

15) Hierzu die brillante Analyse von Béatrice Hibou (2011): The Force of Obedience. Political Economy of Repression in Tunisia. Cambridge: Polity Press.

16) Beau/Graciet, op.cit., S.130.

17) Béatrice Hibou: Les faces cachées du Partenariat euro-méditerranéen. Critique internationale No. 18, Januar 2003.

18) Oussama Nadjib: Le patronat tunisien »libéré« mais en crise se cherche une nouvelle image. Maghreb Emergent, 8 Février 2011.

19) Ibid.

20) Germany Trade and Invest, op.cit.

21) Béchir Turki (2011), op.cit.

22) Taïeb Zahar: Chroniques – Les chiffres de la honte. Réalités (tunesische Wochenzeitschrift), 9.6.2011; realites.com.tn.

23) Jürgen Theres: Revolution des Volkes oder Palastrevolution? Institut für Internationale Begegnung und Zusammenarbeit der Hanns-Seidel-Stiftung, 18. Januar 2011.

24) Tunisie: les propos »effrayants« d’Alliot-Marie suscitent la polémique. LeMonde, 13.1.2011.

25) Sadri Khiari, tunesischer Sozialwissenschaftler und Oppositioneller, im Gespräch mit Béatrice Hibou, op.cit., S.23-34, hier S.28f.

26) Ibid, S.34.

27) Zitiert nach: Hamza N. Meddeb: L’Ambivalence de la »course à el khobza«. Obéir et se révolter en Tunisie. Politique Africaine Nr. 121, Mars 2011, S.35-51.

28) Ibid., S.42.

29) Ibid., S.47.

30) Werner Ruf: Ex oriente lux – oder »regime change light«? In: Sozialismus, Nr. 3/2011, 21. Februar 2011, S.3-6.

Prof. em. Dr. Werner Ruf war von 1982 bis 2003 Professor für internationale und intergesellschaftliche Beziehungen und Außenpolitik an der Universität Kassel.

Der Kampf um soziale Rechte und Demokratie

Der Kampf um soziale Rechte und Demokratie

von Fabian Virchow

Ob »thawra« (Revolution), »intifada« (Aufstand), »nahda« (Renaissance) oder »sahwa« (Erwachen) – kein einzelner Begriff, der in den vergangenen Monaten im Zusammenhang mit den von Tunesien ausgehenden Massenprotesten verwendet wurde, vermag die disparate und komplexe Entwicklung der Ereignisse im Bogen zwischen Marokko und Bahrain, zwischen Syrien und dem Jemen zu beschreiben. Eine Dimension eint jedoch die Protestierenden und Aufständischen: die Forderung nach Demokratie und einem Ende von Korruption und brutaler Behandlung durch die arabischen Autokraten. Für diese Ziele setzen viele noch immer ihr Leben aufs Spiel – und das will so gar nicht zu der »im Westen« lange gepflegten Legende passen, dass es in den arabischen Ländern kein Interesse an demokratischen Verhältnissen gäbe.

Die jeweilige Situation in den arabischen Gesellschaften ist hinsichtlich der Ausgangsbedingungen, der Erfahrungen von Kämpfen um soziale und demokratische Rechte und der den Herrschenden aus der Bevölkerung entgegengebrachten Legitimität ebenso verschieden wie die Reaktionen der Regime, die mal im Rückzug der führenden Akteure bestand (Tunesien, Ägypten), sich in gewaltsamer Unterdrückung ausdrückte bzw. ausdrückt (Syrien, Libyen, Bahrain) oder in begrenzter institutioneller Transformation erschöpft (Jordanien, Marokko, Oman).

Die Proteste wurden von Millionen Araber_innen getragen, die sich um ihre Menschenrechte und ihre Rechte als Staatsbürger_innen betrogen sehen. Entsprechende Hoffnungen werden rasch verfliegen, wenn nicht die weit verbreitete Armut und Arbeitslosigkeit abgebaut werden kann und damit auch eine soziale Perspektive eröffnet wird. Hier werden in Zukunft Gruppen aus der Gewerkschafts- und Arbeiterbewegung, die in den vergangenen zwanzig Jahren vom Westen weitgehend unbeachtet gekämpft hatten, eine wichtige Rolle einnehmen.

In Ägypten zeigt sich inzwischen der Versuch des aus Saudi-Arabien unterstützten Militärs, die Unzufriedenen von weiteren Protesten abzuhalten. Die Denunziation kritischer Journalist_innen und Aktivist_innen durch militärtreue Medien und ihre Verfolgung durch die Militärgerichtsbarkeit, der Einsatz von Provokateuren bei Demonstrationen, die Einschränkung des Streikrechts und das offensive Auftreten der Salafisten sind einige Entwicklungen, die das Klima vor den Wahlen prägen. Bei letzteren geht es nicht nur um Parlamentssitze; die Wahlsieger werden maßgeblichen Einfluss auf die Ausgestaltung der zukünftigen ägyptischen Verfassung haben und so manche Spielräume für politisches und gewerkschaftliches Handeln bestimmen.

Eine Herausforderung besteht zudem in der Möglichkeit der Integration islamistischer Akteure in den demokratischen Prozess. Diese streben nach anfänglicher Zurückhaltung danach, in der Öffentlichkeit Präsenz zu zeigen, auch wenn sie – wie die Muslimbrüder in Ägypten – mit internen Konflikten zu kämpfen haben. Ob sich, wie der syrische Philosoph Sadiq al Azm mutmaßt, der „geschäftsfähige Islam“ durchsetzen wird, der zwar Lippenbekenntnisse zur Scharia abgäbe, aber kein Interesse daran habe, das Kriegsrecht des Militärs durch das der Islamisten zu ersetzen, wird abzuwarten sein. Beobachter_innen aus dem Westen sind in jedem Fall gut beraten, im Blick zu behalten, dass es im Islam so viele unterschiedliche Strömungen wie im Christentum oder im Judentum gibt.

Der Fortgang der »Arabellion« im Sinne der Stabilisierung oder gar Ausweitung demokratischer Spielräume und der Verbesserung der sozialen Situation der Bevölkerungsmehrheit ist keineswegs gesichert. Starke Gewerkschaften und zivilgesellschaftliche Organisationen werden benötigt, um entsprechende Interessen artikulieren und vertreten zu können. Erfreulicherweise können sie sich am Ende dieses ereignisreichen Jahres auf die Erfahrung kollektiver Handlungsmächtigkeit, die sich bereits heute tief in das kollektive Gedächtnis eingebrannt hat, beziehen.

Ihr Fabian Virchow

Europa am Ende – Arabien im Aufbruch

Europa am Ende – Arabien im Aufbruch

von Elias Bierdel

Europa findet angesichts der atemberaubenden Umbrüche in der arabischen Welt keine schlüssige Antwort – und offenbart damit immer mehr den jämmerlichen Zustand seiner Eliten und Institutionen. Von kluger Nachbarschaftspolitik im Süden keine Spur. Beiträge zur konstruktiven Gestaltung der Übergangsprozesse? Friedenspolitik? Fehlanzeige! Europa schafft sich ab.

Besonders schlimm treibt es die deutsche Bundesregierung, die mit ihrem Schlingerkurs vom Auftritt des Außenministers auf dem Tahir-Platz über die Stimmenthaltung im UN-Sicherheitsrat und die nachfolgende Lieferung von Bomben und Raketen an Großbritannien für deren Libyen-Einsatz bis hin zu den geheim gehaltenen Panzerlieferungen an Saudi-Arabien immerhin ein klares Signal an die mutigen Aufständischen sendet: Wenn es um Eure Freiheit geht – rechnet nicht mit uns! Zur Bestätigung verliest ein Unionsabgeordneter im Deutschen Bundestag den Brief des Krauss-Maffei-Betriebsrates, in dem dieser wegen der „schlechten Auftragslage“ des Rüstungskonzerns barmt. Heuchlerischer geht es nimmer.

Auf keinem Gebiet aber wird der moralisch-politische Bankrott so sichtbar, wie beim Umgang mit Flüchtlingen und MigrantInnen, die zu hunderttausenden die Kriegs- und Nachkriegsregionen verlassen (müssen), von denen aber nur wenige die Überfahrt nach Europa wagen.

Kaum waren nach dem Sturz des Ben-Ali-Regimes die ersten Boote auf Lampedusa eingetroffen, rief Italien den »humanitären Notstand« aus. Die vorsätzlich geschürte Hysterie griff planmäßig umgehend auf den Rest der nervlich stark angegriffenen (Euro-Krise!) EU-Mitgliedsländer über. Auch aus Bayern war reflexhaft der Ruf zu hören, wonach „notfalls die Schlagbäume wieder geschlossen“ werden müssten. Frankreich stoppte internationale Fernzüge, nachdem die Regierung in Rom für die ohne Einladung eingereisten Nordafrikaner Reisepapiere ausgestellt hatte. Am Ende richtete dann Dänemark jene regulären Grenzkontrollen wieder ein, deren Abschaffung bis dato als Spitzenprodukt des »Acquis Communitaire«, der zivilisatorischen EU-Errungenschaften, galt. Freizügigkeit in der Schengenzone? War einmal.

Dabei geht es nicht nur um ein paar lieb gewonnene Reisefreiheiten für Wohnwagen-Touristen: Die gesamte Union gibt ihre Identität als internationale Hüterin der Menschenrechte preis, wenn Flüchtlinge zunehmend als reines »Sicherheitsproblem« definiert und behandelt werden.

Die wahren Dramen spielen sich freilich ein paar tausend Kilometer weiter südlich ab: Dort sind seit Jahresbeginn unter den Augen europäischer Grenzwächter und diverser Marineeinheiten bereits mehr als 1.800 Menschen bei dem Versuch, nach Europa zu gelangen, ertrunken oder verdurstet; die Dunkelziffer dürfte weit höher liegen. Es häufen sich Berichte von Überlebenden, die schildern, wie große Schiffe (darunter auch solche der NATO-Kriegsmarine) ohne Halt an ihnen vorüberfuhren, während unter den Verzweifelten das Sterben schon begonnen hatte. Die Unseligen werden zum Tode auf See verurteilt, weil sich Europa für unzuständig und überfordert erklärt. In einzelnen Fällen, wie wir sie seit Jahren mit »borderline europe – Menschenrechte ohne Grenzen« dokumentieren konnten, schoben Küstenwacht-Einheiten Flüchtlingsboote wochenlang hin und her, bis am Ende von über 80 Bootsinsassen nur noch fünf am Leben waren.

Angesichts der revolutionären Ereignisse jenseits des Mittelmeeres verstärkt die EU die Abschottung, wo doch entschlossene humanitäre Hilfe nötig wäre. Die Regierungschefs einigten sich in Rekordzeit auf eine Verstärkung der Grenzsicherungsagentur FRONTEX. Rund 400 Millionen Euro sagte die zunehmend klamme EU allein Tunesien als „Unterstützung für den Staatsaufbau“ zu. Gemeint ist damit vor allem die Stärkung des Sicherheitsapparates, von dem effiziente Maßnahmen erwartet werden, um die Weiterreise unerwünschter MigrantInnen in Richtung Europa zu unterbinden. Waffensysteme und Schiffe zum entsprechenden Einsatz sind bereits nach Tunis unterwegs. Wie das wirtschaftlich geschwächte Tunesien aber mit der Last zehntausender Libyen-Flüchtlinge im eigenen Land fertig werden soll, das bleibt unklar.

Wo die EU politisch wie moralisch auf der ganzen Linie versagt, ist es der 1949 gegründete Europarat, der die Staaten des »Kontinents der Menschenrechte« an ihren historischen Auftrag erinnert: „Ihr Schweigen und ihre Passivität sind schwer zu akzeptieren“, kritisierte der Menschenrechtsbeauftragte der Länderorganisation. Anstatt den Flüchtlingen zu helfen, versuche Europa vor allem, sie von seinen Grenzen fernzuhalten. Damit habe man die Flucht noch gefährlicher gemacht und den Schleppern einen Grund gegeben, ihre Tarife zu erhöhen.

Wohl wahr. Es steht allerdings zu befürchten, dass genau dies auch beabsichtigt ist. „BürgerInnen Europas, empört Euch!“ (©: Stéphane Hessel)

Elias Bierdel ist Menschenrechtsaktivist (borderline-europe.de), Buchautor (»Ende einer Rettungsfahrt«) und seit 2010 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am ÖSFK/Friedensburg Schlaining.

Krieg oder Frieden im Mittleren und Nahen Osten

Krieg oder Frieden im Mittleren und Nahen Osten

Eine Kritik an Harald Müllers Studie zum Iran-Atomstreit

von Mohssen Massarrat

Harald Müller, geschäftsführendes Vorstandsmitglied der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung, hat in einem »Standpunkt« der HSFK unter dem Titel »Krieg in Sicht?« Position bezogen zum iranischen Nuklearprogramm und dem Sicherheitsdilemma Israels.1 Müller kritisiert, dass die Regierung Obama merkwürdig verhalten auf die Drohkulisse des Iran reagiere, und legt dar, warum in der gegenwärtigen Situation ein militärischer Schlag Israels gegen den Irak wahrscheinlicher und aus seiner Sicht auch verständlicher werde. Mohssen Massarrat verurteilt nicht nur diese »Kriegsrechtfertigung«, er befasst sich auch kritisch mit der Analyse des Konfliktherdes durch Harald Müller und schlägt eigene Alternativen zu dessen Lösung vor.

Im Mittleren und Nahen Osten stehen die Zeichen wieder auf Sturm, Fidel Castro warnte gar eindringlich vor einem Atomkrieg, der in dieser Region losgetreten werden könnte. Norman Birnbaum, linker Soziologie-Professor der Georgetown University und Kennedy-Berater, beklagt bitter das Desinteresse der amerikanischen Öffentlichkeit für die Krieggefahr in fernen Regionen und sieht die Israel-Lobby in Washington am Werk, um den Weg für einen israelischen Angriff auf den Iran zu ebnen.2 Deshalb und auch wegen fehlender Fantasie der US-Regierung, den Afghanistan-Krieg mit Hilfe der Nachbarstaaten Indien, Pakistan und Iran zu beenden, wendet sich Birnbaum beinahe verzweifelt an die „europäischen Freunde“, die „vielleicht helfen könnten, eine kriegskritische Haltung auch in der US-amerikanischen Öffentlichkeit zu verankern“, um dann allerdings nüchtern hinzuzufügen, dass „ für eine solche Herkulesaufgabe Freunde von Format nötig wären, die wir aber nicht haben. Denn Cameron, Merkel, Sarkozy haben sich längst in den Marsch der Lemminge eingereiht, der uns an den Rand des Abgrunds führen wird.“

Ich stimme dem Kriegsgegner aus Washington uneingeschränkt zu.3 Tatsächlich verharrt Europas politische Klasse geistig immer noch in den sicherheitspolitischen Denkkategorien der Kalten-Kriegs-Ära, und davon scheinen auch Friedens- und Konfliktforscher nicht ausgenommen. Manchen fällt beispielsweise im aktuellen Atomkonflikt des Westens mit Iran nichts weiter ein, als auf den sicherheitspolitischen Geist vergangener Epochen zu blicken, der die Welt den Zielen Frieden und Stabilität keinen Millimeter näher gebracht hat. Die Rede ist hier konkret von einer Studie des Direktors der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung, Harald Müller, über »Das iranische Nuklearprogramm und das Sicherheitsdilemma Israels«.4 Schon der Titel der Studie verrät den einseitigen Blick auf das Problem, der – wie die Studie insgesamt – die Realität von Israels Atomwaffenarsenal als dem eigentlichen historischen Hintergrund und das Sicherheitsdilemma, das sich daraus für alle Nachbarstaaten ergibt, regelrecht auf den Kopf stellt.

Bedrohungsanalyse

Die Bedrohung komme, so Harald Müller gleich in der Einleitung seiner Studie, eindeutig aus dem Iran, während Israels Führung in einem Dilemma stecke, „das sich immer mehr zuspitzt, je weiter der Ausbau iranischer Anreicherungsanlagen voranschreitet“ und, so Müller weiter, „dieses Sicherheitsdilemma [macht] einen militärischen Schlag [Israels] wahrscheinlich und verständlich“ (S.1f.).5 In seinem Text findet man tatsächlich einen roten Faden, der, wenn man ihm folgt, einen Militärschlag Israels verständlich macht. Müller beginnt seine Analyse mit einem „Sachstandsbericht“ über Irans Nuklearprogramm, in dem er eine lange Liste der tatsächlichen oder vermeintlichen iranischen Vergehen (Lügen, Verheimlichungen und sonstige Verstöße) gegen den nuklearen Nichtverbreitungsvertrag (NVV)) zusammenstellt (S.2f.).

Selbst wenn man das Sündenregister Irans für bare Münze nähme, das Müller auflistet, bliebe die Frage offen, warum Müller – wie übrigens auch westliche Regierungen und sämtliche etablierte Medien – nur ein einziges Land kennt, das gegen den NVV verstößt. Bekanntlich waren es Länder wie Israel, Indien und Pakistan, die mit ihrem Atomwaffenarsenal – sogar mit heimlicher Beteiligung bzw. Billigung der Atomwaffenmächte – die Weiterverbreitung von Nuklearwaffen eingeleitet haben. Diese Länder legen auf das Völkerrecht und auf eine internationale Kooperation in Atomwaffenfragen offensichtlich keinen Wert und sind deshalb dem NVV auch nie beigetreten.6 Müller vergisst ebenfalls die Erwähnung, dass sämtliche fünf »offiziellen», d.h. vom NVV anerkannten, Atomwaffenstaaten den NVV in einem existentiellen Punkt verletzen, indem sie ihrer Verpflichtung nicht nachkommen, „in redlicher Absicht Verhandlungen zu führen über wirksame Maßnahmen zur Beendigung des nuklearen Wettrüstens in naher Zukunft und zur nuklearen Abrüstung sowie über einen Vertrag zur allgemeinen und vollständigen Abrüstung unter strenger und internationaler Kontrolle“ (Artikel 6 NVV). Mir ist nicht bekannt, dass die Atomstaaten wegen ihrer groben und auch folgenreichen Missachtung des Völkerrechts je so massiv die Gemüter berührt hätten, wie die vermeintlichen Verstöße des Iran gegen den NVV. Dabei ist m. E. diese Missachtung der Atomwaffenstaaten selbst eine wesentliche Ursache dafür, dass Staaten wie der Iran sich legitimiert fühlen, den NVV ebenfalls nicht ernst zu nehmen bzw. ihn für ihre Zwecke zu instrumentalisieren.

Doch ist es nicht allein die Missachtung des NVV, die Iran zur Last gelegt wird. Dieses Land habe nach Müller auch einen gefährlichen Präsidenten, dessen Ideologie des Mahdismus, „eine millenarisch-messianisch-apokalyptische Version des Schiismus“, u. a. das Ziel der „Zerstörung Israels als Fremdkörper im »Heiligen Land des Islam«“ verfolge (S.3f.). Viele Iraner, auch ich als iranischstämmiger Bürger der Bundesrepublik Deutschland, teilen durchaus Müllers Sorge, was Mahmud Ahmadinedschad tatsächlich im Schilde führt und was er der Mehrheit der Iraner, die er gar nicht repräsentiert, noch alles zumuten wird. Insofern trifft Müller hier tatsächlich einen wunden Punkt. Dennoch ist es höchst irreführend, die unterstellte iranische Bedrohung selektiv auf Ahmadinedschads Gesinnung abzustellen:

Erstens reichen die Planungen des iranischen Atomprogramms – übrigens mit amerikanischer und deutscher Hilfe – bis in die 1960er Jahre,7 also in einen Zeitraum zurück, in dem Ahmadinedschad noch ein Kind war und der Schah regierte. Zweitens ist Ahmadinedschads Spielraum in Fragen von Krieg und Frieden, zumal im Konflikt mit einer Atommacht wie Israel, gerade jetzt nach der Wahlfälschung und nachdem er beträchtlich an Ansehen und Macht innerhalb des Systems verloren hat, erheblich eingeschränkt. Das weiß Harald Müller auch; so hebt er an einer anderen Stelle seiner Studie hervor, wie vorsichtig die politische Führung der Islamischen Republik mit Israels Gaza-Krieg umgegangen ist. Er selbst weist darauf hin: Der iranische „Sicherheitsberater Jalili verlangte während eines kurzfristigen Besuches im Libanon von der Hisbollah, gegenüber Israel stillzuhalten, Revolutionsführer Khamenei untersagte es, iranische Freiwillige als Selbstmordattentäter Richtung Palästina ausreisen zu lassen“ (S.10).

Abgesehen von Widersprüchen in Müllers Expertise, die man zwischen den Schlussfolgerungen und den von ihm selbst angegebenen Fakten an mehreren Stellen feststellt, und ungeachtet seiner Behauptung einer akuten iranischen Bedrohung, fragt man sich, weshalb Müller den Bedrohungen, die für den gesamten Mittleren und Nahen Osten von einer gefährlichen Entwicklung in Israel ausgeht, keine einzige Silbe widmet. Israel wird inzwischen von Männern wie Netanyahu, einem notorischen Gegner des Nahostfriedens sowie der Zweistaatenlösung, und noch schlimmer von Avigdor Liebermann regiert, der offen für die Vertreibung israelischer Araber plädiert. Müller blendet in seiner Bedrohungsanalyse auch die unüberhörbaren Drohungen von Israels Regierungen mit Militärschlägen gegen den Iran aus und suggeriert mit der Bemerkung, „es kann keine Rede davon sein, dass die Mehrheit der Israelis und ihre Regierung auf einen militärischen Konflikt mit dem Iran aus sind“ (S.9), das Bild eines friedfertigen Israels. Dass aber „die Iraner – ausweislich der Umfrage – mit großer Mehrheit für eine politische Versöhnung mit den vermeintlichen Feinden“ sind, wie Müller selbst an einer anderen Stelle feststellt (S.8), hindert ihn nicht daran, Iran Kriegswilligkeit zu unterstellen.

Müller scheint auch in der historischen Entwicklung der feindseligen Beziehungen zwischen Israel und Iran die Reihenfolge zu verwechseln. Schon das Politikkonzept des israelischen Ministerpräsidenten Rabin seit 1992 beinhaltete eine Dämonisierung des Iran, wie »Le Monde diplomatique« in der nüchternen Geschichtsanalyse »Wie der Iran zum Feind wurde« herausarbeitete. „Jossi Alpher, einer der engsten Berater Rabins, erklärte vier Tage nach dem Wahlsieg Bill Clintons im November 1992 laut New York Times: ,Der Iran muss als Feind Nummer eins identifiziert werden’. Seither beschuldigen Israel und seine Verbündeten in Washington den Iran immer wieder, nach Nuklearwaffen zu streben. Schon im Oktober 1993 warnte Rabins Außenminister Schimon Peres die internationale Gemeinschaft, der Iran werde bis 1999 im Besitz einer Atombombe sein“ 8 Israels Haltung gegenüber dem Iran begann also lange vor dem Amtsantritt Ahmadinedschads und setzte sich auch während der moderaten iranischen Präsidentschaft Khatamis fort.

Bei einer halbwegs objektiven Betrachtung sind Ahmadinedschad und seine aggressive Haltung gegenüber Israel eher das Produkt von dessen feindseliger Politik und der Haltung der USA gegenüber Iran, vor allem nach der Machtübernahme durch die Neokonservativen im Weißen Haus. Dass Ahmadinedschads Wahl im Iran Israels Politik sogar gelegen kam, ist durchaus kein Geheimnis. Kein anderer wäre geeigneter als Ahmadineschad, ganz im Sinne von Israels Feindbildkonstruktion so leicht als »neuer Hitler« stigmatisiert zu werden. Müller ignoriert die innenpolitische Legitimationsfunktion von Feindbildproduktionen gerade auch in Israel (aber nicht nur dort) und knüpft an dem Bedürfnis israelischer Regierungen nach der Konstruktion von neuen Hitlern an, indem er die fundamentalistische Ideologie Ahmadinedschads aufbauscht und ihm zahlreiche antisemitische Äußerungen zuschreibt, um dann zu resümieren: „Vieles klingt wie ein Echo aus dem ‚Stürmer’ der NSDAP.“ (S.5).

„Das Ganze“, so Müller, stelle sich für Israel als „immenses Dilemma“ (S.9) dar, obwohl weder Iran noch ein anders arabisch-islamisches Land über Atomwaffen verfügt. Die unbestreitbare Bedrohung von 200-300 israelischen Atombomben und Trägersystemen einschließlich U-Booten, der sich alle Staaten der Region ausgesetzt fühlen, lässt Müller aber außen vor. Es sei denkbar, so Müller, dass Iran in Zukunft Israel provozieren könne, „in der vermeintlich sicheren Erwartung, dass Israel mit Rücksicht auf das iranische Atomwaffenpotential von Vergeltung absehen würde“, was jedoch ein „extrem risikoreiches Kalkül“ wäre (S.8). Was Müller hypothetisch Iran unterstellt, wenn dieser im Besitz von Atomwaffen wäre, praktiziert Israel schon längst. Ohne Vergeltungsschläge befürchten zu müssen erlaubt sich Israel nahezu alles, was es wahrscheinlich ohne Atomwaffen nicht wagen würde: Israel hält Palästina entgegen allen UN-Resolutionen weiterhin besetzt, veranstaltet gegen die Nachbarn – mal gegen Libanon, mal in Gaza – Angriffskriege, bombardiert auf Verdacht palästinensische Häuser, tötet Zivilbevölkerung, kapert ein Schiff in internationalen Gewässern, das mit humanitärer Absicht die Blockade von Gaza durchbrechen will, und erschießt dabei etliche Aktivisten. Indem Müller mögliche Absichten des Iran, was dieser alles mit seinen Atomwaffen machen wolle, in den Vordergrund stellt, argumentiert er nach der Methode »haltet den Dieb«. So gesehen, richtet sich Müllers Kritik nicht grundsätzlich gegen Atomwaffen im Mittleren und Nahen Osten, sondern lediglich gegen solche, die Israels Atomwaffenmonopol aushebeln würden.

Müller blendet in seiner Bedrohungsanalyse auch die alltäglichen Demütigungen systematisch aus, die Israel als nuklear bewaffnete Besatzungsmacht den Arabern und Moslems zumutet. Dies ist aber ein Grund dafür, dass es arabisch-islamischen Populisten immer wieder mit antiisraelischen Ressentiments gelingt, Massen für ihre Zwecke zu instrumentalisieren und die Auffassung im Bewusstsein vieler Menschen zu verankern, dass man nur mit einer nuklearen Gegenmacht Israels Aggression Grenzen setzen kann.

Gute Atombomben, böse Atombomben

Israels Atompotential schaffe, nach Müller, kein Sicherheitsdilemma für die anderen Staaten, auch nicht für Iran, sehr wohl aber würden iranische Atombomben, so sie kommen sollten, für Israel ein Sicherheitsdilemma hervorrufen. Im Übrigen benötige Israel sein Atomarsenal nur zu seiner Verteidigung, während die Führung der Islamischen Republik, deren Rationalität äußerst fraglich sei (S.8), Israel vernichten wolle. Es ist offensichtlich: Hier dominiert weiterhin der Geist des Kalten Krieges. Auch damals bedrohten in der Wahrnehmung vieler die sowjetischen Atomarsenale den Westen, aber nicht umgekehrt. Die Unterscheidung zwischen den guten und den bösen Atombomben brachte damals die Welt an den Rand eines Atomkrieges. Und sie wird auch im Mittleren und Nahen Osten keinem Land, weder Israel noch Iran noch anderen Staaten, mehr Sicherheit verschaffen, sondern ausschließlich dazu beitragen, die gesamte Region in den Abgrund zu führen.

Die Idee des Gleichgewichts des Schreckens produzierte schon immer und produziert auch heute wieder Sackgassen, die in Wettrüsten und Krieg einmünden. Israels Nuklearstrategie eine Rationalität und der iranischen eine Irrationalität zuzuweisen, blockiert die Sicht für friedenspolitische Alternativen, die es durchaus gibt. Beide Seiten handeln im Denkgebäude der »realistischen« Theorie der »balance of power« durchaus rational. Irrational ist aber die Theorie selbst, die sich alle Konfliktparteien im Atomstreit mit Iran – so wie auch Harald Müller in seinem »Standpunkt« – zu eigen gemacht und den Konflikt deshalb bisher nur weiter verschärft haben. Indem man Israels Atomarsenal nicht thematisiert, wohl aber die Gefahr einer Atommacht Iran an die Wand malt, verfolgt man offensichtlich das Ziel, den eigenen nuklear gestützten Machtvorsprung im Mittleren und Nahen Osten beizubehalten. Der Westen und Israel ignorieren so beharrlich auch das Sicherheitsdilemma, das Israels Atomarsenal in der Region schon längst hervorgerufen hat.

Will man nicht einen neuen »gerechten« Krieg rechtfertigen, sondern den Iran-Atomkonflikt wirklich friedlich lösen, dann muss man sich zunächst die Sicherheitslage aller Staaten in der Region nüchtern und vorurteilsfrei vor Augen führen:

Pakistan ist eine Atommacht und verfügt somit über ein eigenes Abschreckungspotential, vor allem als Antwort auf indische Atomwaffen. Die Türkei ist Mitglied der NATO und steht dadurch unter deren nuklearem Schutzschirm. Alle bedeutenden arabischen Staaten im Mittleren und Nahen Osten sind, mit Ausnahme Syriens, militärische Verbündete der USA; die US-Armee verfügt in manchen dieser Staaten über Militärbasen. Israel verfügt nicht nur über eigene Atomwaffen, sondern ist darüber hinaus wegen beträchtlicher gemeinsamer Interessen der einzige natürliche Verbündete der USA in der Region9 und dürfte daher im Konfliktfall mit Iran oder einem anderen Staat der Region auch mit dem vollen Schutz der NATO rechnen können.

Wie steht es aber mit Iran? Dieses Land steht, im Unterschied zu allen Staaten der Region, nach der sicherheitspolitischen Logik der realistischen Schule de facto schutzlos da. Mehr noch: Der Iran ist von den Atomwaffenstaaten Russland, Indien, Pakistan und Israel umringt. Hinzu kommt die militärische Einkreisung durch die USA mit ihrer Präsens im Irak von der westlichen Seite, im Indischen Ozean von der südlichen, in Afghanistan von der östlichen und in den zentralasiatischen Staaten von der nördlichen Seite des Iran. Kann man vor dem Hintergrund dieser unbestreitbaren Bedrohungssituation mit einem Mindestmaß an Objektivität – selbst unter Berücksichtigung des Problems Ahmadineschad – allen Ernstes über die »iranische Bedrohung« und »Israels Sicherheitsdilemma« reden und die Realität so krass auf den Kopf stellen? Harald Müller zieht gegen jede Regel der Friedensforschung ausschließlich die Sicherheitsprobleme Israels in Betracht, lässt das Sicherheitsdilemma Irans aber außer Acht.

Müller liefert mit seinem »Standpunkt« nicht nur die Legitimierung der von den USA und der EU bisher vorgebrachten einseitigen Forderung an den Iran zum Verzicht auf eigene Urananreicherung, er geht sogar deutlich darüber hinaus und diskreditiert die im Westen leise vertretenen Überlegungen, „mit der Politik der begrenzten Sanktionen zu brechen und stattdessen eine umfassende Entspannungspolitik zu betreiben“ (S.2), als Appeasement und warnt genauso wie die israelische Regierung den Westen vor Hoffnungen, die sich, so Müller, „am Ende als so falsch herausstellen wie Chamberlains Hoffnung von 1938, mit Hitler könne man vernünftige Regelungen treffen“ (S 10f). Nein, Israelis können sich diesen historischen Fehler nach Müller nicht erlauben und müssen mit ihrer „existentiellen Bedrohung […] jetzt und hier fertig werden“ (S.10). Müller ist sich über die Folgen eines israelischen Militärschlages zwar im Klaren und verweist auch auf manche technische und logistische Schwierigkeiten einer militärischen Operation, „dennoch scheint die Mission israelischen Experten grundsätzlich für durchführbar“ (S.9).

„Ein israelischer Angriff auf die Infrastruktur des iranischen Nuklearprogramms ist riskant und wird schwerwiegende negative Folgen haben. Die politischen Führer Israels können“, so Müllers Resümee, „ – in voller Erwartung dieser negativen Folgen – zu dem Schluss kommen, dass er dennoch die einzige Option ist, die ihnen bleibt, um ihr Land und Volk vor einem nuklearen Holocaust zu schützen. Wenn es zu einer Militäroperation Israels kommt, werde ich diese Folgen fürchten und die Opfer auf beiden Seiten beklagen. Aber ich hoffe, dass der Westen und mein eigenes Land dann nicht Israel die Schuld zuschieben. Ahmadinejad und die Extremisten, die ihn umgeben, fordern die Tragödie heraus.“ (S.12)

Bisher hat nur Israels Propaganda dem Iran die Vorbereitung eines »nuklearen Holocaust« unterstellt. Demnach soll die Führung der Islamischen Republik, entgegen jedweder Logik und Rationalität, das Risiko auf sich nehmen, nicht nur Israels Nachbarstaaten, sondern auch Iran selbst und das eigene Volk vernichten zu wollen. Die nukleare Abschreckungsmaxime, dass derjenige, der als erster Atomwaffen gegen einen Atomstaat einsetzt, als zweiter vernichtet wird, ist jedoch eine Binsenwahrheit. Ungeachtet dessen, ob Müller an seine Schimäre glaubt oder nicht, steht nur soviel fest: Er liefert mit seiner Expertise einen Beitrag zur Kriegslegitimation und nicht zur Kriegsverhinderung. Damit beschädigt er seinen Ruf als Friedensforscher.

Die große Mehrheit der Iraner will, wie Müller richtig feststellt, mit den USA, aber auch mit Israel, Frieden schließen. Warum unterstützt sie aber die Nuklearpolitik der Regierung? Sicherlich nicht nur deshalb, weil die Bevölkerung durch die Regierungspropaganda manipuliert wird, wie Müller meint (S.6), sondern vor allem deshalb, weil sie dem Westen wegen seiner doppelbödigen und diskriminierenden Haltung misstraut und sich auch von ihm bedroht fühlt.

Gibt es Alternativen?

Die Antwort auf diese Frage, um es vorwegzunehmen, ist eindeutig Ja, und sie kann nicht darin bestehen, dass der Iran ein eigenes Atomarsenal als Gegengewicht zu Israels Atomwaffen aufbaut und damit die »balance of power« oder ein Gleichgewicht des Schreckens im Mittleren und Nahen Osten herstellt. So erhielte das nukleare Wettrüsten und die Vernichtung von menschlichen, finanziellen und ökologischen Potentialen beträchtlichen Ausmaßes neuen Auftrieb, ohne in der Region die Rahmenbedingungen für mehr Sicherheit im Geringsten zu verbessern. Die alles bestimmende Voraussetzung für die Perspektive eines dauerhaften Friedens ist der Wille und die Bereitschaft aller Staaten zur Kooperation. Diese Bereitschaft fällt freilich nicht vom Himmel und kann auch nicht über Nacht, sondern vielmehr nur in einem Lernprozess entstehen, der allerdings sofort beginnen müsste und auch könnte. Ich skizziere im Folgenden Schritte, die diesen Prozess einleiten könnten.

Erstens müsste die internationale Gemeinschaft Israel davon überzeugen, dem NVV beizutreten, wie Barack Obama dies nach seiner Wahl zunächst gefordert hatte und dann unter dem Druck der Israel-Lobby vorerst nicht weiter verfolgt hat. Zur Überzeugungsarbeit gehört eine offene Debatte in der westlichen Öffentlichkeit über die existenzielle Gefährdung Israels und darüber, dass bis auf weiteres die USA und die NATO Israels Sicherheit garantieren. Sicherheit durch eigene Atomwaffen – diese Strategie hat sich für Israel als Trugschluss erwiesen. Israels Bevölkerung lebt weiterhin in ständiger Angst vor der Feindschaft seiner Nachbarstaaten. Durch eigene Atomwaffen fühlen sich Israels Regierungen obendrein in der trügerischen Annahme bestärkt, Israel könne Palästina auf Dauer besetzt halten. Zur Überzeugungsarbeit gehört weiter die Aufklärung darüber, dass Israel seine geostrategische Funktion als Flugzeugträger der USA längst eingebüßt hat. Die USA selbst sind gegenwärtig dabei, sich mit ihrer neuen Rolle als einer Supermacht unter vielen Supermächten abzufinden und zu begreifen, dass nicht länger ihre Hegemonialmacht, sondern die Konkurrenz unter den großen Energieverbrauchern der Welt (China, USA, Indien, EU, Brasilien etc.) das Geschehen auf den internationalen Ölmärkten bestimmt.10

Zweitens müsste die internationale Gemeinschaft auch den Iran auffordern, bis zu einer regionalen Konferenz für eine massenvernichtungsfreie Zone im Mittleren und Nahen Osten, die nach einem Beschluss der Überprüfungskonferenz des Nichtverbreitungsvertrages vom Mai 2010 im Jahr 2012 beginnen soll, freiwillig auf die Urananreicherung zu verzichten. Im Gegenzug sollten sich UN, USA und EU bereit erklären, alle gegen Iran verhängten Sanktionen unverzüglich aufzuheben. Keine iranische Regierung könnte sich dieser qualitativ neuen – weil nicht mehr einseitigen – Forderung verschließen. Die oppositionelle Reformbewegung würde sich diese neue Forderung der Weltgemeinschaft auf jeden Fall zu eigen machen.

Drittens müsste die bei der NVV-Überprüfungskonferenz beschlossene Konferenz für eine massenvernichtungsfreie Zone im Nahen Oste auf ein möglichst zeitnahes Datum vorverlegt werden. Diese Konferenz, an der alle Staaten der Region, insbesondere Iran und Israel, mitwirken sollten, könnte den geeigneten Rahmen bilden, um sowohl den endgültigen Verzicht Irans auf eine eigene Urananreicherung wie auch die Schritte zur Abrüstung israelischer Atomwaffen zu regeln.

Es muss allerdings damit gerechnet werden, dass zunächst extremistische Kräfte in allen Konfliktparteien der Region alle möglichen Vorwände einbringen, um den Beginn eines solchen Prozesses zu vereiteln. Denn gerade ein Prozess, der Kooperation, Abrüstung und vielleicht auch gemeinsame Sicherheit im Mittleren und Nahen Osten zum Gegenstand hätte, würde diesen extremistischen Kräften den Boden entziehen, der ihnen den Nährstoff liefert, weitere Feindbilder zu konstruieren und fundamentalistischen Ideologien, Aufrüstung und Kriegsdrohungen zu legitimieren. Umso größer würde umgekehrt der Handlungsspielraum moderater gesellschaftlicher Gruppen werden, gelänge es, diesen Prozess tatsächlich in Gang zu setzen. Damit hätten reformorientierte politische Strömungen in allen Staaten des Mittleren und Nahen Ostens und nicht zuletzt in Israel und im Iran eine ernsthafte Chance, gesellschaftliche Mehrheiten für eine Perspektive der Abrüstung, der ökonomischen Kooperation und des friedlichen Zusammenlebens aller Staaten in der Region zu gewinnen. Auch die Besatzungspolitik und der Nahost-Konflikt könnten dabei – wenn man so will –, als Nebenprodukt einer neuen Perspektive für die gesamte Region ein Ende finden. Eine ökonomische Kooperation und eine Politik der gemeinsamen Sicherheit mit allen islamischen Nachbarstaaten wäre die beste Garantie für die Sicherheit und Existenz des Staates Israel. Die EU liefert uns ein lebendiges Beispiel für ökonomische und sicherheitspolitische Vorteile von regionaler Kooperation. Tief verwurzelte Feindschaften und zwei Weltkriege gerieten inzwischen in Vergessenheit. Staaten, die noch nicht Mitglied der EU sind, drängen unablässig darauf, den Anschluss an dieses Erfolgsmodell nicht zu verpassen.

Anmerkungen

1) Müller, Harald (2010): Krieg in Sicht? Das iranische Nuklearprogramm und das Sicherheitsdilemma Israels. In: HSFK Standpunkte, Nr.2/2010; http://hsfk.de.

2) Birnbaum, Norman (2010): The war must go on, in: tageszeitung, 31. Juli/1. August 2010.

3) Siehe dazu auch meine europakritischen Stellungnahmen, darunter: Massarrat, Mohssen (2006): Der Iran und Europas Versagen. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 5/2006.

4) Müller, Harald (2010), op.cit.

5) Die im Text angeführten Seitenangaben beziehen sich alle auf Harald Müllers »Standpunkt«, ebenda.

6) Israel torpediert sogar demonstrativ die von der NVV-Überprüfungskonferenz im Mai 2010 beschlossene nukleare Abrüstung im Mittleren und Nahen Osten, die ab 2012 im Rahmen einer Konferenz vorbereitet werden soll. IAEO-Chef Yukiya Amano, der deshalb nach Israel gereist war, „traf auf verschlossene Türen“; Frankfurter Rundschau vom 27. August 2010.

7) Rudolf, Peter/Lohmann, Sascha (2010): Amerikanische Iran-Politik unter Barack Obama. SWP-Studie. August 2010, S.14.

8) Crooke, Alastair (2009): Wie der Iran zum Feind wurde. Koordinaten der israelischen Außenpolitik von Ben Gurion bis Peres. In: Le Monde diplomatique, Februar 2009.

9) Ausführlicher dazu siehe Massarrat, Mohssen (2006): Kapitalismus. Machtungleichheit. Nachhaltigkeit. Hamburg, S.124 f.

10) Ausführlicher dazu: Massarrat, Mohssen (2009): Rätsel Ölpreis. In: Blätter für deutsche und internationale Politik 10/2008.

Prof. Dr. Mohssen Massarrat ist Prof. i.R. für Wirtschaft und Politik an der Universität Osnabrück mit Arbeitsschwerpunkten im Bereich Politische Ökonomie, Internationale Beziehungen, Friedens- und Konfliktforschung, Mittlerer und Naher Osten.

Zur Situation nach dem Gazakrieg

Zur Situation nach dem Gazakrieg

Stimmen zur Diskussion

von Daniel Bar-Tal und Amr Hamzawy

Der jüngste Gazakrieg hat die Gewaltspirale im israelisch-palästinensischen Konflikt erneut gesteigert; die Aussichten auf eine friedliche Konfliktbearbeitung scheinen weiter entfernt denn je. Als Beitrag zur Diskussion druckt W&F die folgenden beiden Beiträge ab: Der offene Brief des israelischen Sozialpsychologen Daniel Bar-Tal basiert auf einem Brief des Autors nach dem Ende des jüngsten Gazakriegs u.a. an Kollegen vom Forum Friedenspsychologie. Bar-Tal verbindet den Ausdruck persönlicher Betroffenheit und eines fast verzweifelten Friedensengagements mit einer scharfsichtigen Auseinandersetzung mit der fatalen Entwicklung. Der Beitrag von Amr Hamzawy, einem Forscher am Carnegie Endowment for International Peace, erschien Mitte Februar in der wöchentlichen Online-Ausgabe der ägyptischen Zeitung Al-Ahram. Darin befasst sich der Politikwissenschaftler mit der Mitverantwortung der Hamas für die Konflikteskalation. Die Zwischenüberschriften wurden jeweils von der Redaktion eingefügt.

Offener Brief – aus Vernunft und Gefühl

von Daniel Bar-Tal

Liebe Freunde, dies ist wahrscheinlich die schwierigste Zeit in meinem politischen Leben als Jude im Staate Israel. Das Kriegsgeschehen in Gaza hat die Grundfesten meiner Hoffnung auf eine friedliche Lösung des Konflikts zwischen Israelis und Palästinensern in naher Zukunft schwer getroffen. Das Gefühl von Verzweiflung wird verstärkt durch die Ergebnisse der jüngsten Wahlen, bei denen die Mehrheit der jüdischen Gesellschaft in Israel für rechte Parteien gestimmt hat, die sich dem Gedanken widersetzen, das Land zwischen beiden Nationen aufzuteilen.

Auch wird mein Glaube an die menschliche Natur erschüttert, wenn ich sehe, mit welcher Leichtigkeit sich Menschen zum Kriegführen zusammenschließen, blindem Patriotismus aufsitzen, Rachebedürfnisse zum Ausdruck bringen, den Gegner delegitimieren und Abgestumpftheit für menschliches Leben entwickeln, Verantwortung verweigern, Selbstgerechtigkeit und moralische Selbstermächtigung zur Schau tragen. Das alles im Gegensatz zu den großen Schwierigkeiten, Menschen für den Frieden zu mobilisieren. Wir sehen immer wieder, dass es Jahre dauert und viel Anstrengung erfordert, Leute vom Frieden zu überzeugen, während sie außerordentlich rasch von der Notwendigkeit eines Krieges zu überzeugen sind und es noch viel schwieriger ist, moralischen Überlegungen Geltung zu verschaffen.

Ich habe mich wochenlang mit der Frage gequält, ob ich einen offenen Brief schreiben sollte. Ich konnte mich nicht zum Schreiben aufraffen, fühlte mich hilflos. Nur das Gefühl, verantwortlich dafür zu sein, dass eine Gegenstimme gegen die offiziell vertretene und von den meisten israelischen Juden mit getragene Sicht der Dinge erhoben wird, brachte mich dazu, diesen Brief zu schreiben. Man sollte wissen, dass es nur eine kleine Minderheit unter uns Juden in Israel gibt, die überhaupt moralische Probleme sehen und die sich diesem Krieg widersetzt haben. Doch mehr von uns haben für Parteien gestimmt, die den israelisch-palästinensischen Konflikt friedlich lösen möchten.

Was zu sagen bleibt

Was soll man sagen, wenn man weiß, dass etwa 1.300 Palästinenser umkamen – zumindest die Hälfte davon unschuldige Zivilisten, Kinder, Frauen und alte Leute –, dass mehr als 4.000 Personen verletzt wurden, Tausende Wohnungen zerstört sind und Zigtausende Menschen obdachlos? Und dass auf israelischer Seite 13 Personen getötet wurden, darunter drei Zivilisten, Hunderte verwundet wurden und Tausende vor den Hunderten Raketen flüchten mussten, die auf Israel niedergingen?

Ich könnte die Argumente der israelischen Regierung wiederholen: Dass über die Jahre viele Hundert Raketen auf israelisches Gebiet um Gaza abgefeuert wurden, auch auf dicht bevölkerte Siedlungen. Dass keine Regierung es hinnehmen kann, dass ihre Bürger verletzt und geschädigt werden. Dass „Israel nach acht Jahren der Zurückhaltung beschlossen hat, etwas gegen die Terrorattacken aus dem Gaza-Streifen zu unternehmen“ und dass „Israels Zurückhaltung von der Hamas und von Vertretern der Iran-geführten vertikalen Achse des Extremismus als Schwäche missverstanden wurde …“. Dass „Israel in gegenseitigem Einvernehmen erreicht hatte, dem Frieden eine entscheidende Chance zu geben, als es im Juni 2008 dem von Ägypten vermittelten Waffenstillstandsabkommen zustimmte, dessen Bedingungen jedoch wiederholt von der Hamas verletzt wurden.“ Schließlich ist es doch nur natürlich, dass Leute, die Soldaten in einen Krieg schicken, diesen Krieg verteidigen und rationalisieren – ein sehr menschliches Verhaltensmuster.

Allerdings ist das nur die halbe Wahrheit. Selbst wenn man den komplexen Hintergrund außer Betracht lässt, erklären diese Argumente der Israelis nicht das ganze Ausmaß ziviler Verluste und Zerstörungen auf palästinensischer Seite. Brutalität und Umfang der israelischen Maßnahmen lassen tiefere, in dunklen Bereichen des Menschen wurzelnde Ursachen erkennen. Darin kommt der Wunsch zum Ausdruck, das Versagensgefühl während des Zweiten Libanonkriegs im Sommer 2006 auszutilgen. Sie spiegeln ein tief sitzendes kollektives Opferbewussteins wider angesichts des anhaltenden Raketenbeschusses auf zivile Niederlassungen im Süden durch den militärischen Flügel der Hamas – und dieses Opferbewusstsein führte zu einem Bedürfnis nach Rache und Vergeltung für den zugefügten Schaden und nach Vorbeugung gegen weiteren Beschuss. Hinzu kommt die fortgesetzte Entmenschlichung der Hamas und ihrer Unterstützer als homogene terroristische Größe. Und schließlich liegt die Überzeugung zugrunde, dass Israel sich 2005 aus dem Gaza-Streifen zurückgezogen hat, um die Palästinenser ihr Leben leben zu lassen, während diese sich daran machten, israelische Zivilisten durch Raketenbeschuss zu terrorisieren.

Doch die Wirklichkeit ist viel komplexer als die vom politischen und militärischen Establishment fortgesponnene Geschichte, die das öffentliche Bewusstsein der israelischen Juden so erfolgreich in Beschlag genommen hat. Es ist schon eine Ironie, da eins der Kriegsziele darin bestand, das Bewusstsein der Palästinenser zu »formen«, so dass sie den Schaden erkennen würden, den die Hamas ihrer eigenen Sache und ihrem Leben zufügte. Dieses Ziel wurde nicht erreicht. Ganz im Gegenteil, der Krieg hat den wechselseitigen Hass und das Misstrauen zwischen beiden Völkern intensiviert, die Falken-Mentalität auf beiden Seiten bestärkt und den Friedensprozess letztendlich noch mehr beschädigt. Es ist zudem kaum möglich, irgendeinen politischen Nutzen für Israel als Ergebnis dieses Krieges zu erkennen. Wir stehen – nach furchtbaren Verlusten und Zerstörungen – an den gleichen Frontlinien, an denen wir vor dem Krieg standen.

Situationsanalyse

Die psychologische Analyse der Situation belegt die selektive, voreingenommene und verzerrte Informationsübermittlung und -verbreitung durch die israelischen Medien, die auf palästinensischer Seite wahrscheinlich nicht anders abläuft. Das besagt nicht, dass es keine Gegeninformation in Israel gibt; doch nur sehr wenige interessieren sich dafür, was wirklich geschieht. Die meisten israelischen Juden wissen daher nicht, was Israel in den Jahrzehnten der Besetzung Gazas angerichtet hat. Sie wissen nicht, dass die Hamas ursprünglich von israelischen Behörden gegründet wurde als Alternative zur PLO. Sie wissen auch nicht, dass die Hamas eine religiös-fundamentalistische Bewegung ist, die auch Wohlfahrts-, Gesundheits- und Erziehungs-Dienstleistungen für die Palästinenser erbringt. Die meisten Israelis haben vergessen, dass die Hamas auf demokratische Weise (auf Drängen der US-Regierung) dazu gewählt wurde, die Führung der Palästinenser-Regierung zu übernehmen – angesichts der Korruption der Fatah und vor allem, weil die fruchtlosen Verhandlungen mit Israel zu keiner politischen Konfliktlösung führten. Die meisten israelischen Juden erinnern sich auch nicht, dass die Politik des »Kein Partner auf palästinensischer Seite« des früheren Premier Ariel Sharon zum einseitigen, mit der Palästinenser-Regierung nicht ausgehandelten Abzug aus Gaza geführt hat – zwecks Delegitimierung der Palästinenserbehörde und im Versuch, die Kontrolle über die Westbank aufrechtzuerhalten. Um die jetzige Situation zu verstehen, muss man wissen, dass dieser Abzug Gaza nicht befreit hat; vielmehr hat Israel eine Belagerung über Gaza verhängt und das Land in ein großes Gefängnis verwandelt. Israel kontrolliert den Zugang zu Gaza und alle Lebensbereiche in dem Gebiet. Man wollte die Unterstützung für die Hamas durch eine Belagerung schwächen, die Leben nur auf niedrigstem Niveau erlaubt und Gaza in eine ökonomische Katastrophe geführt hat. Fast jeder israelische Jude weiß, dass die Hamas auch nach dem Abzug immer wieder Raketen auf ziviles israelisches Siedlungsgebiet abgefeuert hat, aber nur wenige wissen, dass von 2005 bis 2008 Hunderte Palästinenser von den israelischen Streitkräften getötet wurden. Wenige wissen auch, dass die Tunnels in der Hauptsache gebaut wurden, um zivile Güter einzuschmuggeln, die nicht anders nach Gaza geschafft werden konnten – und keineswegs nur Waffen, wie die meisten glauben. Sehr wenige wissen, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen israelischer und palästinensischer Gewalt. Man hält letztere für irrational, fanatisch und unmoralisch, während israelische Gewalt als defensiv, moralisch und gerechtfertigt gilt.

Wenig israelische Juden erkennen an, dass Israel zwei Jahre lang wenigstens zwei Strategien zur Verfügung standen, um eine weitere Eskalation zu verhindern: Man konnte, was durchaus möglich ist, mit der Hamas reden und einen Waffenstillstand für eine längere Zeit aushandeln. Oder man konnte – z.B. indem man die Lebensbedingungen der Palästinenser erleichterte durch Aufhebung vieler Kontrollpunkte und durch Räumung illegaler Siedlungen entsprechend den Zusagen, die man den Vereinigten Staaten gemacht hatte – entschieden im Sinne des Friedens gegenüber Präsident Mahmud Abbas und der Palästinenserbehörde handeln, um den Palästinensern zu zeigen, dass der Friedensprozess greifbar Früchte trägt, zu Wohlstand und Sicherheit führt.

Selbst wenn wir uns nur auf die Zeit unmittelbar vor dem Krieg beziehen, wissen die meisten israelischen Juden nicht, dass es durchaus möglich war, eine Fortsetzung des Waffenstillstands auszuhandeln. Sie haben vergessen, dass Israel den Waffenstillstand am 4. November 2008 durch Töten von 6 Palästinensern gebrochen hat. Die Hamas – als fundamentalistische religiöse Organisation, die auch Terror praktiziert – ist nicht mein Geschmack. Sie ist aber auch eine soziale Bewegung mit breiter Unterstützung in der palästinensischen Gesellschaft, da sie eine Alternative bietet für die gedemütigte nationale Identität der Palästinenser. Diese Bewegung ist zudem keineswegs homogen und es ist möglich, unterschiedliche Stimmen herauszuhören, auch solche, die Verhandlungen mit Israel und die Zwei-Staaten-Lösung befürworten.

Konfliktkultur und Verantwortung

Alle diese Versäumnisse sind nicht wirklich überraschend in Anbetracht der Tatsache, dass beide Parteien tief verstrickt sind in eine Kultur des Konflikts. Man versucht ganz systematisch, das Meinungsklima der jeweiligen Gesellschaft zu prägen, indem man die eigene Gesellschaft als moralisch, friedliebend und gemäßigt hinstellt und die konkurrierende als unmoralisch, unversöhnlich, gewalttätig, irrational oder extrem. Hinzu kommt, dass jede Seite sich selbst als Opfer dieses Konflikts betrachtet. Dieser Prozess läuft seit Jahrzehnten ab. Nur während der wenigen Jahre von Yitzhak Rabin sah es so aus, als ob der Friedensprozess Schwung bekommen könnte. Aber seit 2000, als der damalige Premier Ehud Barak sich zur »Kein-Partner«-Politik entschloss, siecht er dahin.

Gewiss, die Palästinenser haben ihren Anteil am Scheitern des Oslo-Prozesses, aber die ungeheuere Machtasymmetrie lädt der israelischen Seite die Hauptverantwortung auf für die Fortdauer des Konflikts. Israel hält fast alle Karten zur Lösung in den Händen: Es hat das Land in Besitz genommen, verfügt über Ost-Jerusalem, kontrolliert das Leben der Palästinenser, kontrolliert die Ressourcen der Westbank, weitet die jüdischen Siedlungen immer tiefer in die Westbank aus, praktiziert nach eigenem Gutdünken Präventions- und Straf-Gewalt und genießt – zumindest bis jetzt – die fast bedingungslose Unterstützung der Supermacht.

Die Konturen einer möglichen Regelung des Konflikts sind mehr oder weniger klar. Wenn es dazu kommt, dann in Übereinstimmung mit den unter Clinton erarbeiteten Kriterien, entsprechend der Vereinbarung von Taba, gemäß der Genfer Initiative und gemäß der Arabischen Friedensinitiative. Israel wird sich zu den Grenzen von 1967 zurückziehen müssen, mit dem einen oder anderen Landtausch, um die bevölkerungsreichsten jüdischen Siedlungen jenseits der Grünen Linie halten zu können. Jerusalem wird geteilt werden. Die meisten jüdischen Siedlungen innerhalb der besetzten Gebiete sind aufzugeben. Das Flüchtlingsproblem muss auf dem Vertragsweg gelöst werden, durch Kompensation und Wiederansiedlung, vor allem innerhalb des zukünftigen palästinensischen Staates.

Der scheidende Ministerpräsident Ehud Olmert hat diese Grundsätze der israelischen Öffentlichkeit dargelegt, allerdings hat er keinerlei konkrete Maßnahmen zu ihrer Umsetzung eingeleitet. Obwohl man in der israelischen Öffentlichkeit die Notwendigkeit einer Zwei-Staaten-Lösung sieht – aus Sorge wegen der demografischen Entwicklung – widersetzt man sich den besagten Prinzipien: Die meisten israelischen Juden erheben Einwände gegen die Teilung Jerusalems, gegen einen Rückzug auf die Grenzen von 1967 und gegen die Auflösung der meisten jüdischen Siedlungen in der Westbank. Ich muss zugeben: Ich kann mir keine israelische Regierung vorstellen, die etwa 60.000 jüdische Siedler aus der Westbank evakuieren würde. Seit dem Verfall des Friedenslagers im Jahr 2000 treibt die israelische jüdische Öffentlichkeit ununterbrochen in eine aggressiv-nationalistische Bewusstseinlage. Der jüngste Krieg hat dem Friedenslager einen weiteren Schlag versetzt, wie die Wahlergebnisse belegen.

Hoffen auf ein Wunder?

Diese Wahlergebnisse geben einmal mehr Aufschluss über die Situation des Friedenslagers. Die große Mehrheit der israelischen Juden glaubt, dass der Konflikt nicht zu lösen ist und wir demnach mit dem Schwert leben müssen. Die Schuld daran sieht man offensichtlich auf palästinensischer Seite.

Meine Hoffnungslosigkeit speist sich aus der enormen Kluft zwischen den kollektiven Überzeugungen der israelischen Juden und der Wirklichkeit. Die große Mehrheit glaubt, dass die israelischen Juden sehr human sind, dass die israelische Armee die moralischste Armee weltweit ist und die israelische Demokratie eine der stärksten Demokratien. Unter diesen Bedingungen ist kaum anzunehmen, dass typische israelische Juden sich dafür einsetzen werden, die Situation zu verändern. Sie üben sich stattdessen in Verleugnung, Projektion, Rationalisierung und so fort. Wie viele Juden in Israel wollen wirklich wissen, dass – gleich um die Straßenecke – Israel die kollektive Misshandlung eines Volkes im Rahmen einer lang anhaltenden Besatzung praktiziert? Wie viele wollen wirklich etwas wissen über die institutionalisierte Diskriminierung, die im Staat Israel gegen arabische Bürger dieses Staates praktiziert wird? So ist nicht verwunderlich, dass wir viel lieber über unsere eigene Opferrolle reden und vor allem über den Holocaust und über die zwei tausend Jahre Misshandlung durch die »Goyim« zu Zeiten der Diaspora, und dass wir jede Kritik an der Politik Israels als Ausdruck von Antisemitismus anklagen. Wie Mitglieder anderer Nationen sind israelische Juden hoch sensibel gegenüber Menschenrechtsverletzungen in anderen und durch andere Gesellschaften und verehren die, die sie zur Sprache bringen, haben aber große Schwierigkeiten, selbst in den Spiegel zu schauen und sich mit den eigenen Untaten auseinanderzusetzen. Das ist sicher charakteristisch für viele Nationen, aber zum Ende des 20sten und am Beginn des 21sten Jahrhunderts ist kaum eine zweite Nation zu finden, die sich für aufgeklärt hält und doch über mehr als 40 Jahre eine Besatzung aufrechterhält.

Der Rest wird in den Geschichtsbüchern stehen… Indes ist es wichtig, sich daran zu erinnern, dass dieser Krieg nicht unvermittelt ausbrach, sondern im Voraus geplant wurde – auch was Ausmaß, Art der Waffen usw. betrifft. Die Ergebnisse sind tragisch für beide Nationen. Wurden damit doch beiden Seiten eindeutige Belege dafür geliefert, dass die andere Seite böse und unmoralisch ist und man eine friedliche Lösung des Konflikts nicht erreichen kann. Demnach unterstützen israelische Juden wie Palästinenser kompromisslose politische Kräfte. Zur Zeit können hier und da einige von uns nur die Tragödie abschätzen, die Ereignisse erklären und entweder für ein Wunder beten, dass Kräfte von außen ins Spiel kommen und uns vor unseren schlimmsten Trieben bewahren, oder aber sich jenen anschließen, die sich um beide Gesellschaften große Sorge machen und den überaus schwierigen Kampf um eine friedliche und gedeihliche Zukunft fortsetzen. Ich wähle die zweite Alternative.

Ihr Daniel Bar-Tal

Daniel Bar-Tal ist Branco Weiss Professor of Research in Child Development and Education an der School of Education, Tel Aviv University; er war Präsident der International Society of Political Psychology und von 2001 bis 2005 Mit-Herausgeber des Palestine-Israel Journal.

Übersetzung: Albert Fuchs

Abweichende Meinungen zum Schweigen bringen

von Amr Hamzawy

Immer wenn sich eine arabische Stimme zu Wort meldet, die eine kritische Bewertung der taktischen Entscheidungen und des Vorgehens der Hamas sowie eine Untersuchung des Ausmaßes ihrer Verantwortung für den Tod und die Zerstörung einfordert, die während der israelischen Offensive auf Gaza niedergingen, wird diese erstickt durch Schreie der Entrüstung seitens der Produzenten der Erzählungen von Widerstand und Verweigerung und verdrängt durch ein Sperrfeuer von Andeutungen bezüglich Loyalität und Motiven. So unterschiedlich diese Antworten in der Tonlage, die von ruhig und besonnen bis hin zu hysterisch reicht, und in der inhaltlichen Substanz sind, die simplifizierende und richtig-gegen-falsch und gut-gegen-schlecht verabsolutierende Argumente sowie komplexere Diskurse umfasst, die auf sorgfältig ausgesuchte Belegstellen gestützt sind, um zu zeigen, dass die Hamas immer recht hat, so teilen sie doch drei grundsätzliche Meinungen, die zerlegt werden müssen, um zu verstehen wie sie hinsichtlich des Widerstandsnarrativs funktionieren und um in der Lage zu sein, sich mit ihren Produzenten an einer logische Debatte zu beteiligen.

Dogmatische Lesarten

Die erste bedingt die Delegitimierung jeden Argwohns, dass die Strategie und die Praxis der Hamas zu einer Dynamik beigetragen haben könnte, die zu dem Ansturm führte, der solch massive Zerstörung gebracht hat. Diese Einstellung gründet sich auf der unmissverständlichen Beharrlichkeit, nach der Israel als brutale Besatzungsmacht alleinverantwortlich ist. Diese Vorannahme hat zwei wichtige Folgen. Die erste entlastet die Hamas von jedem Verdacht, dass sie Tel Aviv einen Vorwand zur Kriegführung geliefert hat, nachdem sich die islamistische Bewegung geweigert hat, die Waffenruhe zu verlängern, und ein Sperrfeuer an Raketen nach Südisrael feuerte. Die Zionisten wären um Rechtfertigungen für ihre Aggressionsakte nie verlegen gewesen, lautet das Argument. Und es wird hinzugefügt, dass dieser Krieg bereits seit langem am Reißbrett vorbereitet worden sei und zu seinen Zielen gehört habe, die Hamas zu demontieren, weil diese ein Hindernis für jedes Siedlungsprojekt sei, dass die Rechte der Palästinenser schädige, die Abschreckungskraft Israels wiederzubeleben, die durch den Krieg im Libanon im Sommer 2006 unterminiert worden sei, und das öffentliche Ansehen der Kadima-Arbeiterpartei-Koalition im Vorfeld der Knessetwahlen zu fördern. Die logische Aussage ist, dass die Hamas recht daran getan hat, den Waffenstillstand angesichts seiner Verletzungen durch Israel und der grausamen und unerbittlichen Wirtschaftsblockade gegen die Bevölkerung in Gaza zu beenden.

Es geht mir nicht um Rechtfertigungen für Israels grausamen Krieg in Gaza. Ich habe keine Zweifel, dass die oben genannten Rechtfertigungen größtenteils stichhaltig sind. Dennoch verdeutlichen sie das Problem eines geschlossenen Paradigmas, das jedes eigenständige Element in der Interpretation politischer Ereignisse ausschließt und eine monolitische und tatsächliche a posteriori Lesart aufnötigt, die engstirnig gegenüber kontrafaktischen Belegen und gegenwärtigen Realitäten ist, die ein anderes Licht auf die Ereignisse, wie sie sich darstellen, werfen könnten. Der Krieg in Gaza, so diktiert es das Paradigma, war ein Beispiel für die Art der lange vorbereiteten Pläne, die Israel immer bereit hat, und jede behauptete Beziehung zwischen diesem Plan und dem Ende der Waffenruhe oder Tel Avivs Wahrnehmung einer Sicherheitsbedrohung durch Raketen auf Städte in Israels Süden ist nicht mehr als ein Vorwand. Die Zustimmung der Olmert-Regierung zum Waffenstillstand im Jahr 2008 war demnach lediglich ein taktischer Schritt zur Vorbereitung des Krieges, während sie auf einen geeigneten Moment zum Start des Angriffs wartete, der durch das politische Vakuum aufgrund des Übergangs einer abtretenden und einer neu kommenden Administration in den USA gegeben war. Dass Olmert einer Waffenruhe zustimmte, wird zum Beispiel nicht als Auftakt zu einem pragmatischen Versuch gelesen, zu einer minimalen Übereinkunft mit einer anstrengenden Widerstandsbewegung über ein Stück Land zu kommen, das Israel weder halten kann noch will. Dieser Sichtweise zufolge hätte der Krieg gegen die Hamas ohnehin stattgefunden und alle taktischen Wahlmöglichkeiten und Aktionen – die Wertung ihrer eigenen Interessen im Rahmen der Rivalität mit der Fatah und ihr Streben nach Machtkonsolidierung im Gaza-Streifen – spielten keine Rolle. So bleibt die Hamas über jeden Verdacht erhaben.

Lesart des Verrats

Die zweite Aussage, die die umfassende Entlastung der Hamas seitens der Produzenten des Widerstands-Narrativs unterstützt, verlangt, dass jeder außerhalb ihres Kreises jeden rationalen Gedanken und Argumentationsweise ablegt, wenn es um den Weg in den Krieg und seine tragischen Rückwirkungen geht. Sie machen sich über jede Kritik an der Hamas lustig, derzufolge diese nichts für eine Abwendung eines Krieges getan hat, von dem ihre Anführer wussten, dass Zivilisten einen enormen Preis würden zahlen müssen. Um solche Kritik abzuwehren, argumentieren sie, dass sie versäumt anzuerkennen, dass der Krieg unausweichlich war angesichts der Legitimtät der Widerstandsaktion gegen die Besatzer – und zwar jenseits möglicher Konsequenzen. Letzteres stellt eine radikale Abweichung von der politischen Rhetorik der Hizbollah dar, die die Planung, die Organisation, das Training und die Beschaffung von Waffen betont, um einen „bewussten, intelligenten Widerstand“ zu entwickeln. Jeder, der es wagt anzumerken, dass die Machtübernahme in Gaza, die Trennung von der Westbank und die Ausschaltung der Palestinänsischen Autonomiebehörde für ein starkes Desaster hinsichtlich der Führung des palästinensischen Kampfes um nationale Befreiung gesorgt hat, das ideale Bedingungen für Israel hervorgebracht hat, um den Westen davon zu überzeugen, dass Gaza nun ein Gebiet von Abtrünningen und Gesetzlosen ist, wird mit einem Hagel Spott begrüßt und – nicht selten – mit dem Bericht in »Vanity Fair« über die Dahlan-Verschwörung in Verbindung gebracht sowie der Geschichte wie Hamas seiner eigenen Ausschaltung dadurch zuvorkam, dass sie ihre Widersacher zuerst ausschaltete.

Und jeder, der es wagte anzumerken, dass Hamas die möglichen Verluste der Zivilbevölkerung und die materiellen Schäden nicht einkalkuliert hat oder darauf verwieß, dass die Rhetorik der Bewegung wärend des Krieges dies zum Ausdruck brachte und den Menschen in Gaza keine andere Wahl ließ als als das »Widerständige Volk« in einen Topf geworfen zu werden, wird als Kollaborateur und Entschuldiger Israels gezeichnet, den Scharfrichter mit dem Opfer verwechselnd, nur weil derjenige nahegelegt hat, dass Hamas in gewisser Weise für Tod und Zerstörung in Gaza verantwortlich war.

Zum Schweigen bringen

Die dritte Position ist möglicherweise die heimtückischste. Seine Vertreter ziehen sich den Mantel der Rationalität an, wenn sie jede Kritik an Hamas damit verurteilen, dass diese Kritik eine schädliche Abweichung vom religiösen und nationalen Konsens sei und im besten Falle als intellektuelle Spielerei zu bewerten sei, die auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben sei. Die Gefahr dieser Sichtweise ist, dass sie totalitäre Implikationen hat, indem sie jede Verwendung des Intellekts und jede freie Äußerung von Überzeugungen verbietet soweit es die Hamas und ihre Aktivitäten betrifft. Die Araber haben die Auswirkungen dieser Art des Schweigens lange erlitten. Nach dem Ausstellen eines Zertifikats, das Hamas von jeder Verantwortung für den Krieg in Gaza freispricht und die rationale Untersuchung der Handlungsmöglichkeiten und Aktivitäten der Bewegung suspendiert, insistieren die Produzenten der Widerstands-Erzählung auf einem anderen Typ von Ausnahme – die Freiheit der Gedanken und das Recht zur Differenzierung unterminierend.

Dr. Amr Hamzawy ist als Politikwissenschaftler an Universitäten in Kairo und Berlin tätig gewesen. Sein Interesse gilt der Dynamik politischer Partizipation in der arabischen Welt und der Rolle der islamistischen Bewegungen in der arabischen Politik. Er schreibt regelmäßig in den Tageszeitungen Al-Hayat und Al-Masry al Youm.
Übersetzung. Fabian Virchow