Stimmen aus der arabischen Öffentlichkeit

War on Terror:

Stimmen aus der arabischen Öffentlichkeit

von Carmen Becker

Die arabische Medienlandschaft ist genauso verwirrend und vielfältig, wie die in anderen Ländern. Dementsprechend unterschiedlich sind auch die arabischsprachigen Angebote zum »war on terror« im Internet, in den audio-visuellen und den Printmedien. Die Autorin beschränkt sich bei ihrer Darstellung des Umgangs mit dem Kampf gegen den Terrorismus in der arabischen Öffentlichkeit auf die arabischen Nachrichtensender, allen voran al-Jazeera als beliebtester Sender mit den insgesamt höchsten Einschaltquoten. Diese Sender bilden den Kern einer politisierten arabischen Öffentlichkeit, in der Argumente ausgetauscht und um Definitionen sowie Interpretationen gerungen wird. Um die Darstellung des Themas »war on terror« und die Diskussionen um dieses Thema in der arabischen politischen Öffentlichkeit besser einordnen zu können, befasst sie sich zunächst mit dem Selbstverständnis dieser Öffentlichkeit. Anschließend geht sie auf die Wortwahl der Berichterstattung über Terrorismus ein und wirft einen Blick in die diskursiven Felder, die in den Fernsehdebatten zum Thema dominieren.

Das Selbstverständnis arabischer Zuschauer und auch vieler Produzenten arabischsprachiger Satellitenprogramme – jenseits des Unterhaltungssegements – wird in einer Aussage im Hizbullah-Sender al-Manar1 deutlich: Die USA bekämpfen jedes freie Medium, das nicht ihre Politik in der Region propagiert. Al-Manar vertritt die arabische Straße und ist ein Echo der Sorgen arabischer Bürger. Das stört die Amerikaner und die zionistische Lobby.“2

Die Mehrheit der arabischen Bevölkerung ist überzeugt, dass sie al-Jazeera und Co brauchen um ihrer Stimme Gehör zu verschaffen und dem »amerikanischen bzw. westlichen Projekt« etwas entgegen zusetzen. Auch diejenigen, die wenig für Verschwörungstheorien übrig haben, konzidieren, dass eine unabhängige arabische Stimme als Alternative sowohl zu den westlichen als auch zu den arabischen staatlich zensierten Medien unbedingt geboten ist.

Arabische Gegenöffentlichkeit zur westlichen Dominanz?

Das Misstrauen gegenüber westlichen Medien, obwohl diese fleißig konsumiert werden, ist groß. Sie werden in weiten Kreisen der arabischen Öffentlichkeit als Instrument der Öffentlichkeitsarbeit – oder weniger taktvoll als Propagandainstrument – des »Westens« wahrgenommen. Dieser Subtext untermalt sämtliche Diskussionen in der arabischen politischen Öffentlichkeit und ist die gängigste Schablone, vor deren Hintergrund internationale und regionale Ereignisse wahrgenommen werden, auch der »war on terror«.

Dabei schien sich mit dem Aufkommen der transnationalen arabischen Satellitensender Anfang der 1990er Jahre zunächst aus der Sicht des so genannten Westens ein neuer Verbündeter für Demokratisierung aufzutun. Man versprach sich dadurch eine Befreiung von Regierungskontrolle, ein Aufbrechen staatlicher Medienmonopole und in der Folge einen Demokratisierungsschub in den arabischen Gesellschaften. 1996 trat al-Jazeera als erster arabischsprachiger reiner Nachrichtensender mit der berühmten Prämisse auf die Bühne: „Die Meinung und die andere Meinung“. Al-Jazeera beanspruchte für sich, professionell auf Arabisch und mit einem arabischen Blick aus der Region sowie über außerregionale Ereignisse zu berichten und dabei alle Meinungen zu Wort kommen zu lassen. Der Sender transformierte die arabische Medienlandschaft durch seinen dezidiert politischen Fokus im Gegensatz zu den herrschenden Entertainmentsendern und trat zu einer Zeit auf, als die staatliche Kontrolle über die meisten nationalen Medien wieder zunahm. Mittlerweile sind zahlreiche Nachrichtensender bzw. Sender mit gemischten Unterhaltungs- und Nachrichtenanteilen entstanden. Al-Jazeera hat inzwischen scharfe Konkurrenz von al-Arabiya bekommen und auch das religiöse Segment erfreut sich großer Beliebtheit. Zu letzterem zählen neben dem bereits eingangs erwähnten Nachrichtensender al-Manar mit Standort in Beirut, auch Sender wie Iqraa3 aus Ägypten.

Die Entwicklung des arabischen Satellitenfernsehens zog eine Restrukturierung des kommunikativen Raums nach sich. Stil und Struktur der öffentlichen Diskussionen veränderten sich rapide. Es ist fast unmöglich, den Talkshows im arabischen Fernsehen zu entkommen. Die Debatten sind offen, überwiegend nicht aufgezeichnet, enthalten die unterschiedlichsten Positionen und sind im Verlauf nicht vorhersagbar. Es ist für Teilnehmer (oder Moderatoren) an Talkshows, Live-Interviews und Fernsehdebatten unmöglich, Kontrolle auszuüben. Gleichzeitig finden sich die Kommunikationsformen in einem neuen Verhältnis zur politischen Organisation sowie Artikulation wieder. Die arabischen Zuschauer erfahren oft zum ersten Mal, was politische Partizipation in Form von Meinungsäußerung bedeuten kann. Nicht umsonst sind gerade Talkshows mit der Möglichkeit, ungefiltert über Telefon seine Meinung zu äußern oder über bestimmte Fragen abzustimmen, besonders beliebt.

Allgegenwärtig – vor allem auf al-Jazeera – sind die »polarization entrepreneurs«, diejenigen, die jede Talkshow mit diametral entgegengesetzten Meinungen versorgen. Nicht zufällig heißt die beliebteste Diskussionssendung auf al-Jazeera »Entgegengesetzte Richtung«. Hier findet der Kampf zwischen zwei unversöhnlichen Lagern statt, der sich aus der Sicht der Teilnehmer oft zum Kampf zwischen Gut und Böse entwickelt, z. B. bei Themen wie »Die Araber und der Besitz von Atomwaffen«, »Die Krise in Libanon« und »Amerika und die Klassifizierung der Araber in Moderate und Extremisten«. Solche Sendungen stellen nicht nur den ständigen Nachschub an extremen Ansichten sicher, sie bieten auch einen gewissen Unterhaltungswert.

Transnationale arabische Medien erreichen Gemeinschaften, die durch Migration und Vertreibung in alle Winde zerstreut wurden, und können sie über Grenzen hinweg vereinen. Soziale und nationale Identitäten (Stadt und Land; Tunesier, Ägypter oder Kuwaiti etc.) verlieren an Bedeutung gegenüber dem Gefühl, an einem gemeinsamen politischen Projekt teilzunehmen und zu arbeiten. Wie dieses Projekt genau aussieht, ist umstritten, aber es ist arabisch und beschäftigt sich mit »arabischen« Problemen. In den arabischen Ländern und Diasporagemeinden betrachten sich die Zuschauer als Teilnehmer an einer permanenten politischen Debatte.

Die transnationale arabische Öffentlichkeit ist somit keine kosmopolitische Öffentlichkeit. Sie ermutigt sogar die Politik der Identitäten, da sie sich bewusst auf eine bereits existierende transnationale politische Gemeinschaft – die Araber – bezieht. Teilnehmer an Debatten sprechen die arabische politische Öffentlichkeit eben als arabische Öffentlichkeit an.

Dies zieht im Umkehrschluss nach sich, dass man sich als Gegenöffentlichkeit zur westlichen Hegemonie versteht. Bis zu den Ereignissen des 11. September wurden die Debatten in der arabischen Öffentlichkeit so geführt, als ob der so genannte Westen weder teilnimmt noch zuhört. Erst nach dem 11. September interagierte die »westliche« Öffentlichkeit mit dem arabischen Counterpart. Jedoch entwickelte sich daraus kein Dialog, sondern vielmehr eine Beziehung basierend auf Dominanz und Widerstand. Der Krieg gegen den Terror traf auch arabische Satellitensender und führte zum tiefgreifenden Vertrauensbruch zwischen dem Großteil der arabischen Medien und allen voran der US-Regierung. Nicht zuletzt angebliche US-Pläne zur Bombardierung des Sitzes von al-Jazeera in Katar vertieften den Bruch. Die arabischen Medien sahen und sehen sich immer noch den Vorwürfen ausgesetzt, Hass gegen die USA und dem »Westen« zu verbreiten, Terroristen sowie Islamisten eine Plattform zu bieten und für den Antiamerikanismus, der die arabische Welt nach 9/11 überschwemmte, verantwortlich zu sein. Vor allem al-Jazeera hält dagegen: Man müsse die Stimmung auf der Straße einfangen und wiedergeben. Alles, was politisch relevant sei, müsse zu Wort kommen, ob es den USA passe oder nicht. Der Antiamerikanismus ist in den letzten Jahren auch außerhalb der arabischsprachigen Region (auch in Europa!) gestiegen. Die Schuld einseitig arabischsprachigen Medien zuzuschreiben, würde die Existenz des Phänomens in anderen Sprachregionen nicht erklären. Allein aus diesem Grund können al-Jazeera und Co. kaum als Verursacher von Antiamerikanismus, als Verantwortliche für steigenden Hass und Extremismus, ausgemacht werden.

War on Terror vor Ort

Vor dem geschilderten Hintergrund debattiert eine Vielzahl unterschiedlicher Akteure in der politischen arabischen Öffentlichkeit über den »war on terror«. Die Betroffenheit der Diskussionsteilnehmer als Araber oder Muslim sowie die gewaltsamen Veränderungen, die sich aus dem »Krieg gegen den Terrorismus« in ihrem Lebensumfeld ergeben, sind naturgemäß der Ausgangspunkt dieser Diskussionen. Im Unterschied zu den Menschen außerhalb der Region, hat der »Krieg gegen den Terrorismus« die regionalen Herrschaftsstrukturen im Nahen und Mittleren Osten nachhaltig verändert (Irak, Afghanistan, Aufstieg Irans zur Regionalmacht), lokale Konflikte überlagert (israelisch-palästinensischer Konflikt, Libanon) und die Einteilung politischer Akteure, sowohl innerhalb der politischen Systeme als auch auf der internationalen Bühne, neu konfiguriert (Extremisten vs. Moderate, Terroristen vs. Staat, Achse des Bösen etc.). Aufgrund dieser Betroffenheit der Diskutanten erscheinen die Diskussionen oft emotional, überhitzt und extrem.

Vier diskursive Zusammenhänge dominieren die Diskussionen um Terrorismus und Terrorismusbekämpfung in der arabischen Öffentlichkeit:

  • Arabische Medien berichten ausführlich über die neue Gesetzgebung im Rahmen der Terrorimusbekämpfung in Europa und den USA. Im Mittelpunkt der Berichterstattung steht der Umgang mit den jeweiligen muslimischen Minderheiten. Besonders dann, wenn Bürgerrechte zu Gunsten von Sicherheitserwägungen eingeschränkt werden und in der westlichen Öffentlichkeit wieder einmal ein »Generalverdacht« gegenüber Muslimen geschürt wird, ist die mediale Aufmerksamkeit sehr hoch. Während einer Folge der Sendung »Mehr als eine Meinung« auf al-Jazeera bedauerte ein islamischer Flüchtling in Großbritannien diese Entwicklung: „Das britische Rechtswesen war die Wirbelsäule Großbritanniens und hat das System und den Erfolg der Väter und Großväter des Vereinigten Königreichs getragen. Dafür haben wir die Briten respektiert und ihre Gesetze studiert. Es tut mir um die Entwicklung in Großbritannien leid.?
  • Sowohl arabische Regime als auch der »Westen« werden zunehmend als Kräfte wahrgenommen, die Terrorismusbekämpfung als Vorwand nutzen, um Demokratieförderung und Reformen auszusetzen. Demokratisierung, so die weit verbreitete Wahrnehmung, werde vom Westen nur dann verfolgt, wenn es den eigenen Interessen diene. Ist dem nicht der Fall, lasse der Westen hehre Ziele wie Demokratie und Menschenrechte im Namen des Kampfes gegen angebliche Terroristen fallen. Als Beispiel wird prominent die Blockade der von Hamas gebildeten Regierung oder auch aktuell das Gerichtsverfahren gegen Sadam Hussain angeführt. Ebenso müssen sich arabische Regime den Vorwurf gefallen lassen, unter dem Deckmantel der Terrorismusbekämpfung Repressionen gegen Opposition und Zivilgesellschaft zu verschärfen, vor allem wenn sie islamistischer Prägung sind und eine Herausforderung für die eigene Herrschaft darstellen. Auch hier wird Terrorismusbekämpfung von weiten Teilen der politischen arabischen Öffentlichkeit als Instrument zur Festigung von autoritärer Herrschaft und Unterdrückung von Opposition interpretiert.
  • Die Beziehung zwischen Islam und Terrorismus hat ebenfalls ihren Platz in den öffentlichen politischen Diskussionen. Terrorismus wird allgemein verurteilt. Jedoch ist die große Frage, was eigentlich Terrorismus ist, der Punkt, an dem sich auch in der arabischen Öffentlichkeit die Geister scheiden. Sind palästinensische Selbstmordattentäter, Hizbullahkämpfer und irakische Rebellen Terroristen oder Widerstandskämpfer gegen Besatzung und ausländische Bedrohungen? Während in den westlichen Öffentlichkeiten das Wort »Islamist« überwiegend als eine Bezeichnung für einen Terroristen muslimischen Glaubens verstanden wird – oft verdeutlicht durch Adjektive wie extremistisch oder radikal, so wird in der arabischen Öffentlichkeit weiter differenziert und zunehmend nach den Wurzeln von Terrorismus, z.B. sozio-ökonomische und psychologische Faktoren oder äußere Einflüsse wie Imperialismus, gefragt.
  • Der »Krieg gegen den Terror« hat sich unbemerkt aber mit aller Wucht in lokale Konflikte in der Region übertragen oder ist, wie im Irak, selbst zum Auslöser eines neuen Krisenherdes geworden. Anders als das nicht-arabische Publikum ist die arabische Öffentlichkeit direkt im täglichen Leben vom »Krieg gegen den Terror« betroffen bzw. fühlt sich als »Araber« oder »Muslim« als Teil der betroffenen Gemeinschaft. In lokalen gewalttätigen Auseinandersetzungen, wie dem israelisch-palästinensischen Konflikt, oder in Irak, wird die Legitmität des eigenen Handelns aus der jeweils als terroristisch oder illigitim wahrgenommenen Gewalt der Gegenseite abgeleitet. Die israelische Politik – mit den gezielten Tötungen, der Zerstörung von Häusern und der Enteignung von Ländereien – wird in weiten Teilen der arabischen Öffentlichkeit als Staatsterrorismus bezeichnet. Hamas oder auch Hizbullah gelten demgegenüber überwiegend als gewählte politische Akteure. Selbst ihre arabischen politischen Gegner begegnen ihnen zumindest in der Öffentlichkeit nicht mit dem Terrorismusvorwurf. Dass sie in der Matrix des »war on terror« im »Westen« auf der Seite terroristischer Kräfte verbucht werden, stößt in der arabischen Öffentlichkeit auf Unverständnis.

Ausgestrahlte Videos mit Botschaften von Terroristen, mit verängstigten, flehenden Geiseln und Aufnahmen von Morden an unschuldigen Zivilisten haben heftige Reaktionen im »Westen« ausgelöst. Der Vorwurf wendet sich vor allem an al-Jazeera. Der Sender strahlt trotzdem weiterhin Videos von al-Qa’ida und anderen jihadistischen Gruppen aus, wenn auch selektiver als zuvor; Tötungen und Leichen, die auf solchen Videos zu sehen sind, werden nicht gezeigt. Al-Jazeera zufolge wird sogar die große Mehrheit der Videos, die beim Sender ankommen, nicht gesendet. In der arabischen Öffentlichkeit wird die Veröffentlichung der Videos im Gegensatz zu den westlichen Öffentlichkeiten kaum kontrovers diskutiert. Al-Qa’ida beeinflusst aus arabischer Sicht die Geschicke der Region. Daher haben z.B. Videonachrichten vom zweiten Mann al-Qa’idas, Aiman al-Zawahiri, einen eigenen Nachrichtenwert. Während der Inhalt der Nachrichten durchaus sehr kontrovers diskutiert und kritisch kommentiert wird, befürwortet nur eine Minderheit ein Verbot der Ausstrahlung solcher Nachrichten.

Von Rebellen, Märtyrern oder Terroristen

Die Wortwahl entscheidet in den Medien über die Legitimität einer politischen Aktion, auch wenn dazu der Einsatz von Gewalt gehört. In der Berichterstattung über den israelisch-palästinensischen Konflikt bezeichnet al-Jazeera fast ausnahmslos alle getöteten Palästinenser, sowohl Kämpfer als auch Zivilisten, als »Märtyrer« (arab. shahid). Entsprechende Nachrichten werden in der Regel mit „x Palästinenser starben heute den Märtyrertod (arab. ustushhida)“ eingeleitet. Der Begriff wird ebenso, wenn auch weniger konsequent, für palästinensische Selbstmordattentäter verwendet. Der Ausdruck »den Märtyrertod erleiden« bleibt auf al-Jazeera im irakischen oder afghanischen Kontext Zivilisten vorbehalten. Kämpfer werden als Kämpfer oder Rebellen, seltener als Mitglieder des Widerstands bezeichnet.

Der größte Konkurrent al-Jazeeras, der Nachrichtensender al-Arabiya, versucht, Begriffe wie Märtyrer und Terrorist weitgehend zu vermeiden. Al-Arabiya definiert sich im Kampf um Marktanteile als moderate Alternative zu al-Jazeera, die mehr als der Konkurrent der Objektivität verpflichtet sei. Viele leiten daraus eine größere Nähe zum »Westen« ab. So benutzt al-Arabiya z.B. oft ohne Hinterfragung den Begriff Terrorismus. Demgegenüber hört man auf al-Jazeera grundsätzlich nur „der so genannte Terrorismus“ oder „so genannte Terroristen“.

Für das westliche Publikum erscheinen Diskussionsrunden absurd, in denen Islamisten und Nicht-Islamisten über Themen wie Reform, Demokratie und Terrorismus streiten. Was soll ein Islamist, der per se als potenzieller Terrorist gilt, zu Demokratie und Terrorismus schon zu sagen haben? Ein Beispiel aus der Diskussionssendung »Offener Dialog« auf al-Jazeera vom Februar 2005 zeigt exemplarisch und in fast idealtypischer Weise, wie auch in der arabischen Öffentlichkeit Akteure dem Zwang ausgesetzt sind, sich als wahre Muslime darzustellen und sich gleichzeitig von Gewalt und Terrorismus abzugrenzen. An der Diskussion nahmen Abdullah al-Nibari, ehemaliger Abgeordneter im kuwaitischen Parlament, und Abd al-Mun’im Abu Fatuh, Mitglied des Leitungsbüros der ägyptischen Muslimbrüder, teil.

Im Laufe der Diskussion argumentierte al-Nibari, dass der moderate politische Islam, also auch die Muslimbrüder, zwar nicht mit den radikalen islamischen Fundamentalisten gleichgesetzt werden könne, er habe aber indirekt den Nährboden für den islamischen Fundamentalismus bereitet. In einigen Staaten wie Ägypten und Kuwait seien quasi Bündnisse zwischen moderaten Islamisten und den Regierungen entstanden. Die moderaten Islamisten erhielten Zugang zu Parlamenten und priviligierten Positionen in der Verwaltung. Diese Bündnisse erleichterten dadurch die Verbreitung islamisch-politischen Gedankenguts, vor dessen Hintergrund fundamentalistische Bewegungen – als Abspaltungen von den moderaten Bewegungen – ihre radikalen Agenden entwickelten.

Abu Fatuh entgegnete, dass Korruption und der Mangel an Freiheit sowie Demokratie die wahren Gründe für Gewalt sind. Die wachsende Armut führe angesichts einer sich selbst bereichernden privilegierten Schicht zu Gewalt. Laizisten sähten das Gerücht, dass die Muslimbrüder fundamentalistische Strömungen hervor gebracht hätten. Extremismus und Fundamentalismus seien aber keine religiösen Prinzipien. Die Muslimbrüder seien ein durch die Bevölkerung legitimierter Teil der politischen Szene in vielen arabischen Ländern. Auf Irak bezogen betonen beide, dass „Köpfe abschlagen, Zivilisten nieder metzeln und lebensnotwendige wirtschaftliche Organisationen zu zerschlagen kein Widerstand ist.“ Wenn diese Aktionen auf das amerikanische Militär beschränkt wären, dann könne man dies Widerstand nennen.

Obwohl das Thema der Sendung explizit der Kampf gegen den Terrorismus war, tat sich während der Diskussion ein wahres Bouquet an Themen auf: Reformen, Demokratie, Islam, Korruption, Armut, Widerstand gegen Besatzungen, Gewalt, Laizismus und die Rolle der Religion in der Öffentlichkeit.

Jede Diskussion zum »war on terror« zieht, wie die von mir skizzierten vier diskursiven Felder zeigen, eine Fülle von grundlegenden Fragen des Zusammenlebens, des Allgemeinwohls und des zu erstrebenden politischen Systems nach sich. Dies ist ein Indiz, dass sich die arabische Öffentlichkeit in einem tiefgreifenden Prozess des Wandels in allen Lebensbereichen wähnt, wovon der Krieg gegen den Terrorismus ein zentraler Teilaspekt ist. Da alle bereits durchlebten Experimente wie etwa Panarabismus, Monarchien und sozialistische Republiken als gescheitert gelten, dominieren Fragen nach der erstrebenswerten politischen, sozialen und wirtschaftlichen Verfasstheit der Gemeinwesen und die Abrechnung mit der gegenwärtigen Lage auch die Diskussionen über Terrorismus und den »war on terror«.

Anmerkungen

1) Al-Manar: Libanesischer Satellitensender der Hizbullah, der in Europa durch die Diskussion um eine Fernsehserie auf der Grundlage des antisemitischen Buchs »Die Protokolle der Weisen von Zion« bekannt wurde.

2) Aussage eines Teilnehmers an der Sendung »Kulissen« auf al-Jazeera im April 2006 zum Thema »Verbot von al-Manar«.

3) Iqraa bedeutet übersetzt „Lies!“ oder „Rezitiere!“. „Iqraa“ ist Aufforderung Gottes an den Propheten Muhammad, der damit aufgefordert wird, die göttliche Offenbarung zu verbreiten. Neben religiösen Programmen mit Koranauslegungen sowie Lebensberatung dominieren vor allem Familiensendungen und Dokumentationen das Programm des Senders.

Carmen Becker ist Politologin mit Schwerpunkt auf dem arabischsprachigen Raum. Bis vor kurzem war sie im Auswärtigen Amt für die Analyse arabischsprachiger Medien zuständig.

Friedensperspektiven für den Nahen Osten

Friedensperspektiven für den Nahen Osten

von Heidemarie Wieczorek-Zeul

Für den Nahen Osten gilt die Erfahrung, die wir in der Entwicklungszusammenarbeit immer wieder machen: Ohne Frieden gibt es keine Entwicklung; aber ohne Entwicklung gibt es auch keinen Frieden.

Wer wirklich Frieden für die Region will, muss die Probleme an ihren Wurzeln angehen. Die Probleme des Nahen Ostens können nicht durch Krieg gelöst werden, sondern nur im Rahmen eines politischen Prozesses. Das Existenzrecht Israels muss dauerhaft gesichert, der Libanon wiederaufgebaut, der faktisch brachliegende Aufbau in den Palästinensischen Gebieten muss mit neuem Schwung wieder in Gang gesetzt und ein eigenständiger Staat der Palästinenser endlich verwirklicht werden. Das alles sind wichtige Bausteine für ein politisches Gesamtkonzept, zu dessen Umsetzung die ersten Schritte bei der internationalen Konferenz für humanitäre Hilfe und Wiederaufbau im Libanon und in den palästinensischen Gebieten eingeleitet worden sind.

In Stockholm hat die internationale Gebergemeinschaft für den Wiederaufbau des Libanon fast eine Milliarde US-Dollar zugesagt, für die Palästinensischen Gebiete rund 450 Millionen US-Dollar. Deutschland wird die Menschen im Libanon in diesem Jahr mit weiteren 22 Millionen Euro beim Wiederaufbau unterstützen und sich auch langfristig engagieren. Der Wiederaufbau im Libanon ist ein erster wichtiger Schritt , die zentrale Frage aber lautet: Was muss geschehen, damit solche Gewalt in Zukunft verhindert werden kann? Wie können wir die strukturellen Konfliktursachen beseitigen?

Auch wenn sich die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf den Krieg im Libanon konzentriert hat, die eigentliche Konfliktkonstellation ist komplexer. Es gibt mindestens drei Konfliktebenen: Den Kernkonflikt zwischen Israel und Palästina, regionale Folgekonflikte zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn und die globale Dimension, die u.a. durch die Rolle des Iran mitbestimmt wird.

Der Konflikt zwischen Israel und Palästina ist der gordische Knoten. Ohne zwei souveräne, einander anerkennende Staaten, Israel und Palästina, wird es keinen dauerhaften Frieden in der Region geben. Der auf die ganze Region ausstrahlende Teufelskreis von Gewalt und Gegengewalt im Konflikt zwischen Israel und Palästina muss aufgebrochen werden. Dazu brauchen wir:

  • Erstens, einen politischen Dialog, der die beiden Seiten nicht in Gute und Böse einteilt, sondern – wie es der israelische Schriftsteller Amos Oz einmal gesagt hat – sie als Beteiligte eines Konflikts sieht, indem jede Seite Rechte für sich reklamieren kann. Es muss ein Konzept entwickelt werden, das konkrete Aussagen zu den Konfliktpunkten macht: Grenzen, Jerusalem, Flüchtlinge, Status der Palästinenser in Israel u.a., ein Konzept das an der palästinensischen und israelischen Basis als Ausgleich der Interessen empfunden wird. Mein Vorschlag hierfür – weitsichtig noch von Willy Brandt Anfang der 1990er Jahre ins Gespräch gebracht und im 11-Punkte-Papier der SPD für den Nahen Osten aufgegriffen – ist die Schaffung eines »Mechanismus« nach dem Vorbild der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE).

Die europäische Erfahrung zeigt, dass es möglich ist Hass und Gewalt zu überwinden. Warum sollte das, was in Europa gelungen ist – wenn auch unter völlig anderen Bedingungen – nicht auch im Nahen Osten möglich sein? Auch dort will die große Mehrheit der Menschen Frieden.

In einer Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit im Nahen Osten könnten Fragen der Sicherheitspolitik, der wirtschaftlichen Zusammenarbeit und des menschlichen Zusammenlebens besprochen und dauerhaft geregelt werden.

  • Zweitens brauchen wir mehr Einsicht darin, dass Sicherheit eng mit erfolgreicher Entwicklung zusammenhängt. Ohne politische, wirtschaftliche und soziale Entwicklung kann es keinen dauerhaften Frieden im Nahen Osten geben. Die gesamte Region hat gewaltige strukturelle Probleme. In allen arabischen Ländern gibt es eine sehr junge Bevölkerung, die nach Bildung und Arbeitsplätzen, nach Zukunftschancen in Frieden verlangt und gleichzeitig eine sehr hohe Jugendarbeitslosigkeit, die mit Perspektivlosigkeit einhergeht. Es gibt Knappheit an Wasser und fruchtbarem Land. Die Situation verlangt gute Regierungsführung, Demokratie, Pluralismus und eine Verwirklichung der Menschen- und Frauenrechte. Die Wirtschaft braucht Dynamik, die nur im regionalen Kontext gelingen kann. Wenn die Menschen an politischer und wirtschaftlicher Entwicklung partizipieren und für sich Perspektiven entwickeln können, tragen sie Reformprozesse mit, lassen sie sich nicht so schnell radikalisieren und instrumentalisieren.

Wir brauchen deshalb eine vorwärts gerichtete Einbindung des Nahen Ostens in die Weltwirtschaft. Hier sind alle gefordert:

  • Europa mit einer Nachbarschaftspolitik und Assoziierungsabkommen;
  • die arabischen Staaten, indem sie ihre Öleinnahmen in die Entwicklung ihrer Länder und ihrer Region investieren,
  • Israel mit einen Beitrag zur nachhaltigen Überwindung der Gegensätze.

Zusätzlich braucht der Friedensprozess in Nahen Osten eine gestärkte Rolle der Vereinten Nationen. Die UN ist die Garantin für die Stärkung des Rechts, das an die Stelle des Rechts des Stärkeren treten muss. Nur die Vereinten Nationen haben auch die Legitimation, Gewalt mit militärischen Mitteln zu unterbinden.

Und schließlich: Globale Friedenspolitik, wie wir sie im Rahmen der Entwicklungspolitik betreiben, beinhaltet, dass wir nicht alle Konflikte der Welt durch die Antiterrorbrille wahrnehmen. Das wird den Menschen in Konfliktregionen nicht gerecht. Demokratie lässt sich nicht durch Krieg verbreiten, sondern nur durch Kooperation und Dialog.

Heidemarie Wieczorek-Zeul ist SPD-MdB und Bundesentwicklungsministerin

Öl, Geopolitik und der kommende Krieg gegen den Iran

Öl, Geopolitik und der kommende Krieg gegen den Iran

von Michael Klare

Während sich die Vereinigten Staaten auf einen Angriff gegen den Iran vorbereiten ist eines sicher: Die Bush-Administration wird Öl niemals als Grund für diesen Krieg benennen. Wie im Falle des Irak werden Massenvernichtungsmittel als wesentliche Legitimation für den US-amerikanischen Angriff angeführt werden. „Wir werden den (iranischen) Bau von Atomwaffen nicht tolerieren“, so formulierte es Präsident Bush in einer viel zitierten Rede Mitte 2003. Zu einem Zeitpunkt, an dem feststeht, dass der Irak keine unerlaubten Waffen besaß und damit der Hauptgrund der US-Regierung für die Invasion nicht mehr existent ist, sollte die Behauptung der Bush-Regierung, dass ein Angriff auf den Iran aufgrund dessen vermeintlichen Nuklearpotentials gerechtfertigt sein würde, zu umfassender Skepsis auffordern. Wichtiger noch, jede seriöse Einschätzung sollte den Blick auf die strategische Bedeutung des Irans für die Vereinigten Staaten, auf dessen Rolle für das globale Energiegleichgewicht richten.

Bevor dies weiter ausgeführt wird, möchte ich festhalten, dass ich nicht behaupte, Öl sei die einzige Triebfeder hinter der offensichtlichen Entschlossenheit der Bush-Administration die iranischen Militärkapazitäten zu zerstören. Zweifellos gibt es zahlreiche Sicherheitsexperten in Washington, die wirklich über das iranische Nuklearprogramm beunruhigt sind, ebenso wie es viele gab, die sich tatsächlich um die irakischen Kapazitäten Sorgen gemacht haben. Das respektiere ich. Aber kein Krieg wird durch einen einzelnen Faktor ausgelöst und öffentliche Verlautbarungen machen deutlich, dass viele Aspekte, einschließlich Öl, eine Rolle bei der Entscheidung der Regierung gespielt haben, im Irak einzumarschieren. Ebenso ist es vernünftig anzunehmen, dass viele Faktoren – wiederum einschließlich Öl – hinsichtlich der Entscheidungsfindung für einen möglichen Angriff auf den Iran zusammen wirken

Wie viel Gewicht dem Faktor Öl bei der Entscheidungsfindung der Bush-Administration zukommt, ist etwas, was wir zu diesem Zeitpunkt nicht mit absoluter Sicherheit sagen können. Berücksichtigt man jedoch die Bedeutung, die Energie in den Karrieren und Überlegungen verschiedener hochrangiger Offizieller dieser Regierung gespielt hat, wäre es in Anbetracht der immensen Ressourcen des Iran irrwitzig, den Faktor Öl nicht mit einzukalkulieren; allerdings kann man sicher sein, dass die mediale Berichtererstattung und Lageanalyse in Amerika im Großen und Ganzen an den Ursachen vorbeigehen wird, so wie es schon bei den Vorbereitungen zum Einmarsch in den Irak der Fall war.

Eine weitere Anmerkung: Spricht man über die Bedeutung des Öls für das amerikanische strategische Denken hinsichtlich des Irans, ist es wichtig, über die Frage des iranischen Potenzials zur Befriedigung des künftigen Energiebedarfs unseres Landes hinauszugehen. Da der Iran eine strategische Position an der nördlichen Seite des Persischen Golfes besetzt, ist er in der Lage, die Ölfelder Saudi Arabiens, Kuwaits, Iraks und der Vereinigten Arabischen Emirate zu bedrohen, die zusammengenommen über mehr als die Hälfte der bekannten Weltölvorkommen verfügen. Der Iran liegt auch an der Straße von Hormuz, der engen Wasserstraße, durch die täglich 40% der Weltölexporte gehen. Zudem entwickelt sich der Iran zu einem wesentlichen Öl- und Gasversorger Chinas, Indiens und Japans, was Teheran zusätzlichen Einfluss verschafft. Diese geopolitische Dimension bestimmt unzweifelhaft ebenso die strategischen Überlegungen der US-Administration, wie die Absicht, von dem iranischen Potenzial erhebliche Ölmengen in die USA zu exportieren.

Auf dieser Grundlage will ich mit einer Einschätzung des künftigen iranischen Energiepotenzials fortfahren. Laut der jüngsten Einschätzung des Oil and Gas Journals, verfügt der Iran über die zweitgrößten noch nicht angezapften Petroleumreserven in der Welt, geschätzte 125,8 Mrd. Barrel. Nur Saudi Arabien mit schätzungsweise 260 Mrd. Barrel besitzt mehr; Irak, der dritte in der Liste, hat etwa 115 Mrd. Barrel. Mit soviel Öl – etwa ein Zehntel der weltweiten Energievorräte – wird dem Iran sicherlich eine Schlüsselrolle in der globalen Energiegleichung zukommen, egal was sonst noch passiert.

Es ist nicht allein die schiere Größe der Vorkommen, die im Falle des Iran von Bedeutung ist; nicht weniger wichtig sind seine zukünftigen Produktionskapazitäten. Zwar verfügt Saudi Arabien über höhere Reserven, aber es produziert derzeit nahe an seinem Fördermaximum (um die 10 Millionen Barrel am Tag). Während man aber annimmt, dass die weltweite Nachfrage, angetrieben von dem signifikant steigenden Verbrauch der USA, Chinas und Indiens, um 50 % ansteigt, wird Saudia Arabien wahrscheinlich nicht in der Lage sein, seine Fördermenge in den nächsten 20 Jahren deutlich zu erhöhen. Auf der anderen Seite besitzt der Iran ein beträchtliches Zuwachspotential: Er produziert zur Zeit über 4 Millionen Barrel am Tag, aber man geht davon aus, dass er in der Lage ist, seine Fördermenge um ungefähr weitere 3 Millionen Barrel täglich zu steigern. Nur wenige andere Länder, wenn überhaupt, besitzen dieses Potenzial, darum wird Irans Bedeutung als Produzent in den nächsten Jahren zwangsläufig weiter zunehmen.

Und der Iran besitzt nicht nur Öl im Überfluss, sondern auch Erdgas. Laut dem Oil and Gas Journal besitzt der Iran geschätzte 940 Billionen Kubikfuß Erdgas, das sind ungefähr 16% der gesamten Weltreserven (nur Russland hat mit 1.680 Billionen Kubikfuß einen größeren Vorrat). Da etwa 6.000 Kubikfuß Gas dem Energiegehalt von einem Barrel Öl entsprechen, stellen Irans Gasreserven das Äquivalent zu 155 Milliarden Barrel Öl dar. Dies wiederum bedeutet, das sich seine Reserven zusammengenommen auf ungefähr 270 Milliarden Barrel Öl belaufen, nur geringfügig weniger als Saudi-Arabiens gesamte Vorräte. Zur Zeit fördert der Iran nur einen kleinen Teil seiner Gasreserven, ungefähr 2,7 Billionen Kubikfuß im Jahr. Das heißt, der Iran ist eines der wenigen Länder, die in der Zukunft imstande sein werden, erheblich größere Mengen Erdgas zu liefern.

All dies bedeutet, dass dem Iran eine entscheidende Rolle im zukünftigen Energiegleichgewicht der Welt zukommen wird. Dies ist besonders zutreffend, weil die weltweite Erdgasnachfrage schneller wächst als die nach jeder anderen Energiequelle, einschließlich Öl. Während die Welt im Augenblick mehr Öl als Gas verbraucht, werden die lieferbaren Petroleummengen voraussichtlich in nicht allzu ferner Zukunft schrumpfen, da die weltweite Förderung an ihre maximal aufrechterhaltbare Menge stößt – vielleicht schon 2010 – und ab dann ein schrittweiser, aber nicht umkehrbarer Rückgang beginnt. Die Erdgasförderung wird ihren Höhepunkt wahrscheinlich erst in einigen Jahrzehnten überschreiten und deshalb vermutlich viel des fehlenden Angebots abdecken können. Erdgas wird auch in vielen Anwendungsbereichen für attraktiver als Öl gehalten, besonders weil bei seinem Verbrauch (Verbrennung) weniger CO2 (das erheblich zum Treibhauseffekt beiträgt) freigesetzt wird.

Zweifellos würden die großen US-Energiegesellschaften heute liebend gern mit dem Iran zusammenarbeiten, um die riesigen Öl- und Gasvorkommen abzubauen. Jedoch werden sie zum gegenwärtigen Zeitpunkt durch die präsidiale Verfügung (EO)12959, von Präsident Clinton 1995 unterzeichnet und von Präsident Bush im März 2004 erneuert, davon abgehalten. Die USA haben auch ausländischen Firmen, welche mit dem Iran Geschäfte machen, Strafen angedroht (unter dem Iran-Lybia-Sanctions-Act 1996), aber dies hat viele große Firmen nicht davon abgehalten, Zugang zu Irans Reserven zu suchen. China, das riesige zusätzliche Mengen an Gas und Öl benötigt, um seine boomende Wirtschaft weiter voranzutreiben, richtet sein Augenmerk verstärkt auf den Iran. Laut dem US-Energieministerium lieferte der Iran 2003 14% der chinesischen Ölimporte und wird vermutlich zukünftig noch größere Mengen liefern. China wird wahrscheinlich auch bei seinen Flüssiggasimporten auf den Iran angewiesen sein. Im Oktober 2004 unterzeichnete der Iran einen Vertrag über 100 Milliarden US-$ und einer Laufzeit von 25 Jahren mit Sinopec, einer großen chinesischen Energiefirma. Hier geht es um den gemeinsamen Abbau eines der größten Gasfelder des Iran und die Lieferung von Flüssiggas nach China. Wenn dieser Vertrag Wirklichkeit wird, handelt es sich um eine der größten chinesischen Auslandsinvestitionen und eine wichtige strategische Verbindung dieser beiden Länder.

Indien ist ebenfalls sehr daran interessiert, Öl und Gas aus dem Iran zu erhalten. Im Januar 2005 unterzeichnete die Gas Authority of India Ltd. (GAIL) einen 30 Jahres-Vertrag mit der National Iranian Gas Export Corp. über den Transfer von jährlich 7,5 Millionen Tonnen Flüssiggas nach Indien. Dieser schätzungsweise 50 Milliarden US-$ schwere Handel sieht auch eine indische Beteiligung an dem Abbau der iranischen Gasfelder vor. Bemerkenswerterweise führen indische und pakistanische Amtsträger Gespräche über den Bau einer 3 Milliarden US-$ teuren Flüssiggaspipeline vom Iran über Pakistan nach Indien – ein außergewöhnlicher Schritt für zwei langjährige Feinde. Falls die Pipeline fertig gestellt würde, könnte sie beide Länder mit einer beträchtlichen Menge Gas versorgen und Pakistan jährlich 200-250 Millionen US-$ an Transitgebühren einbringen. „Die Gaspipeline verspricht Gewinn für alle Beteiligten, für den Iran, Indien und Pakistan“, erklärte der pakistanische Premierminister Shaukat Aziz im Januar 2005.

Trotz der offensichtlichen Anziehungskraft des Pipelineprojekts als Impuls für die Aussöhnung zwischen Indien und Pakistan – Atommächte, die seit 1947 drei Kriege um Kaschmir führten und die in der Debatte über den zukünftigen Status dieses Gebietes an einem toten Punkt angelangt sind – wurde das Pipeline-Projekt von Außenministerin Condoleezza Rice während einer Indienreise missbilligt. „Wir haben der indischen Regierung unsere Sorge über die Gaspipelinekooperation zwischen dem Iran und Indien mitgeteilt“, sagte sie am 16.März 2005 nach einem Treffen mit dem indischen Außenminister Natwar Singh in Neu-Delhi. Tatsächlich hat die US-Regierung sich als unwillig erwiesen, irgendein Projekt zu unterstützen, welches dem Iran einen ökonomischen Vorteil verspricht. Dies hat Indien jedoch nicht davon abgehalten, mit dem Pipeline-Projekt fortzufahren.

Auch Japan tanzt in den Augen Washingtons aus der Reihe, was die energiepolitischen Beziehungen zum Iran angeht. Anfang 2003 erwarb ein Konsortium dreier japanischer Gesellschaften einen 20prozentigen Anteil an der Entwicklung des Soroush-Nowruz Offshore-Feldes im Persischen Golf. Es wird angenommen, dass dieses Feld etwa 1 Milliarde Barrel Öl enthält. Ein Jahr später erteilte die iranische Offshore Oil Company einen 1,26 Milliarden US-$ Auftrag zur Gewinnung von Gas und Flüssiggas aus dem Soroush-Nowruz und anderen Offshore-Feldern an die japanische JGC Corporation.

Berücksichtigt man die iranische Rolle für das globale Energiegleichgewicht hat die Bush-Administration deshalb zwei strategische Ziele: Der Wunsch, die iranischen Öl- und Gasfelder für die Ausbeutung durch amerikanische Firmen zu öffnen und die Sorge über Teherans wachsende Verbindungen zu Amerikas Rivalen auf dem globalen Energiemarkt. Nach geltendem US-Recht kann das erste dieser Ziele nur erreicht werden, wenn der Präsident EO 12959 aufhebt, was aber wahrscheinlich so lange nicht geschehen wird, wie der Iran von anti-amerikanischen Mullahs kontrolliert wird und es ablehnt, seine Urananreicherungsaktivitäten, verbunden mit der möglichen Verwendung zum Bau einer Bombe aufzugeben. Gleichzeitig lässt das Verbot von US-Investitionen in die iranische Energieproduktion Teheran keine andere Wahl als den Kontakt mit anderen Verbraucherländern zu suchen. Aus Sicht der Bush-Administration gibt es nur einen schnellen Weg um diese unangenehme Konstellation zu verändern: ein Regimewechsel im Iran – den Ersatz der derzeitigen Führungsriege durch eine neue, die deutlich freundlicher gegenüber den amerikanischen strategischen Interessen ist.

Dass die US-Regierung anstrebt, einen Regimewechsel im Iran herbeizuführen, steht außer Frage. Allein schon die Tatsache, dass der Iran zusammen mit Saddams Irak und Kim Jong Ils Nordkorea in der Ansprache des Präsidenten zur Lage der Nation im Jahr 2002 in die »Achse des Bösen« aufgenommen wurde, war ein unmissverständlicher Indikator hierfür. Bush ließ seine Bestrebungen nochmals im Juni 2003 zu einem Zeitpunkt öffentlich werden, an dem es zu studentischen regierungsfeindlichen Protesten in Teheran kam. „Dies ist der Beginn, dass Menschen sich für einen freien Iran aussprechen, was ich begrüße“, erklärte er damals. Die iranischen Volksmudschaheddin (oder Mujahedin – e Khalq, MEK), eine gegen die Regierung gerichtete Miliz, die Terroranschläge im Iran verübte und die ihre Basis nun im Irak hat, steht auf der Liste der Terrororganisationen des US-Außenministeriums. Im Jahr 2003 berichtete die Washington Post, dass einige hochrangige Regierungsoffizielle die MEK gerne für einen Stellvertreterkrieg gegen den Iran benutzen würden, ähnlich, wie die Nordallianz gegen die Taliban in Afghanistan eingesetzt wurde. Das ist aber offensichtlich nicht gelungen.

Die iranische Führung ist sich sehr wohl darüber im Klaren, dass sie von der Bush-Administration ernsthaft bedroht wird und wird zweifellos alle Schritte unternehmen, um einen US-Angriff zu verhindern. In diesem Kontext ist Öl wiederum ein zentraler Faktor sowohl in Teherans als auch in Washingtons Überlegungen. Um amerikanische Angriffspläne zu durchkreuzen, droht der Iran damit, in diesem Fall die Straße von Hormuz zu schließen und den Öltransport per Schiff durch den Persischen Golf zu behindern. „Ein Angriff auf den Iran ist gleichbedeutend mit der Gefährdung Saudi Arabiens, Kuwaits und, um es kurz zu machen, des gesamten Öls des Mittleren Ostens“, sagte Mohsen Rezai, Sekretär des Wächterrats, am 1. Mai 2005.

Solche Drohungen werden vom US-Verteidigungsministerium sehr ernst genommen. „Wir sind der Ansicht, dass der Iran in kürzester Zeit die Straße von Hormuz schließen kann, dabei wird er eine mehrschichtige Strategie anwenden, die vorwiegend auf Marine-, Luft- und einige Bodenkräfte setzt“, gab Vizeadmiral Lowell E. Jacoby bei einer Anhörung vor dem Geheimdienstkomitee des Senats am 16. Februar 2005 an.

Die Vorbereitung des Angriffs auf den Iran hat ohne Zweifel höchste Priorität für die obersten Pentagonbeamten. Im Januar 2005 berichtete der Enthüllungsjournalist Seymour Hersh im New Yorker, dass das Verteidigungsministerium geheime Kommandounternehmen zur Aufklärung im Iran unternimmt, vermutlich um versteckte iranische Nuklear- und Raketenanlagen aufzuspüren, die in künftigen Angriffen ausgeschaltet werden könnten. „Mir wurde verschiedentlich mitgeteilt, dass der Iran das nächste strategische Ziel ist“, sagte Hersh bezüglich seiner Interviews mit hohen Militärs. Kurz danach enthüllte die Washington Post, dass das Pentagon Aufklärungsdrohnen über dem Iran einsetzt, um die Position von Waffenlagern zu lokalisieren und die iranische Luftverteidigung zu testen. Die Washington-Post schrieb: „Luftspionage [dieser Art] ist üblich für militärische Vorbereitungen auf einen Luftangriff.“ Es gab Berichte über Gespräche zwischen amerikanischen und israelischen Offiziellen über mögliche israelische Schläge gegen iranische Waffenlager- und Produktionsstätten, vermutlich mit einer verdeckten Unterstützung der USA.

Bei Washingtons Sorge über die iranischen Bestrebungen an Massenvernichtungsmittel und ballistische Raketen zu gelangen, steht die Sicherheit Saudi Arabeins, Kuwaits, des Iraks und anderer Öl produzierender Golfstaaten sowie Israels, tatsächlich stärker im Mittelpunkt als die Angst vor einem direkten iranischen Angriff auf die Vereinigten Staaten. „Teheran verfügt über das einzige Militär in der Region, das seine Nachbarn und die Sicherheit des Golf gefährden kann“, erklärte Jacoby in seiner Februar-Anhörung. „Sein expandierendes ballistisches Raketenarsenal stellt eine potenzielle Gefahr für die Staaten der Region dar.“ Es ist diese regionale Bedrohung, die die amerikanischen Führer vorrangig zu eliminieren suchen.

Gerade in diesem Kontext wird deutlich, dass die amerikanischen Angriffspläne auf den Iran grundlegend von der Sorge um die Sicherheit der US-Energieversorgung bestimmt werden, ebenso wie es bei der US-Invasion im Irak 2003 der Fall war. In der aufschlussreichsten Aussage über die Motive des Weißen Hauses, einen Krieg gegen den Irak zu beginnen, beschrieb Vizepräsident Dick Cheney (in einer Rede vor Kriegsveteranen im August 2002) die vom Irak ausgehende Gefahr folgendermaßen: „Sollten alle Bestrebungen [an Massenvernichtungsmittel zu gelangen] realisiert werden, wären die Auswirkungen für den Mittleren Osten und die Vereinigten Staaten gigantisch … Bewaffnet mit einem Arsenal dieser Waffen des Terrors und auf 10 Prozent der Weltölreserven sitzend, kann von Saddam Hussein angenommen werden, dass er die Vorherrschaft über den gesamten Mittleren Osten sowie die Kontrolle eines großen Teils der Weltölversorgung anstreben [und] direkt Amerikas Freunde in der ganzen Region bedrohen wird.“ Alles, was man tun muss, ist das Wort »iranische Mullahs« für Saddam Hussein einzusetzen und man erhält eine perfekte Erklärung für die Gründe der Bush-Administration, einen Krieg gegen den Iran zu führen.

Während man sich öffentlich auf die iranischen Massenvernichtungswaffen konzentriert, denken Schlüsselfiguren der Regierung sicher an die geopolitische Rolle, die der Iran in der globalen Energiegleichung spielt und an seine Möglichkeiten die Ölströme zu behindern. Wie im Falle des Irak ist das Weiße Haus entschlossen, diese Gefahr ein für allemal zu eliminieren. Auch wenn Öl vielleicht nicht der einzige Grund der US-Regierung für einen Krieg gegen den Iran ist, so ist es doch ein zentraler Faktor der strategischen Überlegungen, die einen Krieg wahrscheinlich machen.

Michael Klare ist Professor am Hampshire College und Autor des Buches »Blood and Oil: The Dangers and Consequences of America’s Growing Dependency on Imported Oil«, Metropolitan Books. Übersetzung: Brigitte Keinath

Psychologische Friedensbarrieren im Nahost-Konflikt

Psychologische Friedensbarrieren im Nahost-Konflikt

Ansätze zu ihrer Überwindung

von Daniel Bar-Tal

Wer die Entwicklung im Nahost-Konflikt seit dem Tod von Arafat mit einiger Aufmerksamkeit verfolg hat, mag den vorliegenden Beitrag zunächst für eher von historischem Interesse halten. In der Tat hat der Autor ihn vor Beginn der jüngsten Phase dieses Konflikts verfasst. Er arbeitet allerdings eine zentrale Voraussetzung eines genuinen Friedensprozesses heraus: ein grundlegend reformiertes »psychologisches Repertoire«, eine an Koexistenz orientierte kollektive Mentalität. Da diese Voraussetzung noch kaum erfüllt sein dürfte, behält der Beitrag seine Aktualität für den Nahost-Konflikt. Darüber hinaus liefert Bar-Tals Analyse interessante Orientierungshypothesen für manche ähnliche Konfliktkonstellation.

Eine Analyse der Beziehungen zwischen jüdischen Israelis und Palästinensern im Kontext der Al Aksa-Intifada offenbart ein schwieriges Paradox. Einerseits ist die Mehrheit in beiden Gesellschaften bereit zu weit reichenden Kompromissen zur friedlichen Lösung des Konflikts. Andererseits schreibt die Mehrheit in beiden Gesellschaften dem Gegner in stereotyper Weise extrem negative Züge zu und verharrt in umfassender Furcht und einem tiefem Misstrauen, das jeder Verhandlungslösung entgegensteht. Hinzu kommt, dass die Mehrheit in beiden Gesellschaften Gewalthandlungen gegen den Gegner unterstützt (vgl. Kull et al., 2002). Das besagt, dass psychologische Faktoren in der gegenwärtigen Phase des israelisch-palästinensischen Konflikts eine zentrale Rolle spielen. Aufgrund dieser psychologischen Barrieren, die von diversen politischen Kräften bewusst ausgenutzt werden, erscheint der Konflikt den Mitgliedern beider Gesellschaften in naher Zukunft schier unlösbar.

Im vorliegenden Beitrag skizziere ich zunächst den Hintergrund des israelisch-palästinensischen Konflikts. Unter Konzentration auf die israelisch-jüdische Gesellschaft analysiere ich sodann die psychologischen Barrieren für Verhandlungen mit dem Ziel einer friedlichen Lösung. Schließlich möchte ich einige psychologische Vorschläge unterbreiten, um aus der Sackgasse herauszukommen. Vorangeschickt sei noch, dass es starke Belege für die Annahme gibt, dass auf palästinensischer Seite ganz ähnliche Faktoren mit ähnlichen Auswirkungen eine Rolle spielen.

Hintergrund des Konflikts

Der israelisch-palästinensische Konflikt entstand vor etwa 100 Jahren aus dem Anspruch zweier nationaler Bewegungen – der palästinensischen Nationalisten und der jüdischen Zionisten – auf das gleiche Heimatland und führte wiederholt zu heftigen Auseinandersetzungen um den Anspruch auf Selbstbestimmung, Eigenstaatlichkeit und einen gerechten Interessenausgleich. Erst 1993 unterzeichneten Israel und die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) ein Abkommen, in dem die PLO Israels Existenzrecht anerkannte und Israel die PLO als Vertretung des palästinensischen Volkes für Friedensverhandlungen akzeptierte. Darüber hinaus wurde eine Prinzipienerklärung verabschiedet, die verschiedene Stadien eines Friedensprozesses spezifizierte. Eine fünfjährige Übergangsperiode sollte dem schrittweisen Abbau von Hass und Feindseligkeit und dem Aufbau von Vertrauen dienen und beide Nationen zu friedlicher Koexistenz befähigen. Am Ende sollte eine nachhaltige, auch die Kernprobleme einschließende Konfliktlösung stehen.

Nach sieben Jahren, im Juli 2000, trafen sich hochrangige Delegationen beider Parteien in Camp David, USA, um mit Unterstützung eines US-amerikanischen Teams unter Leitung von Präsident Bill Clinton den israelisch-palästinensischen Konflikt abschließend zu regeln. Man erzielte jedoch keine Einigung; das Gipfeltreffen scheiterte. Um die vor diesem Hintergrund entstandene Mentalität richtig zu verstehen, muss man über das äußere Geschehen hinaus die Information in Rechnung stellen, die der jüdisch-israelischen Öffentlichkeit von den zuständigen Instanzen geboten wurde. Von der großen Mehrheit als zutreffend akzeptiert, bildete sie den Interpretationsrahmen und übte damit entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung der fraglichen Mentalität aus. So legte im Falle des Gipfels von Camp David der israelische Premier Ehud Barak zunächst die Erwartung nahe, die Zeit für bedeutsame Entscheidungen im Verhandlungsprozess mit den Palästinensern sei gekommen. Das schloss die Bereitschaft zu historischen Kompromissen ein und bedeutete insofern einen Test auf echten Friedenswillen. Als die Verhandlungen scheiterten, lancierte Barak die gewichtige Information, er selbst habe durch großzügige und weit reichende Angebote in Camp David alles für das Gelingen getan, während Arafat diese Angebote weder akzeptiert noch Gegenangebote gemacht habe. Folglich lag die Verantwortung für das Scheitern eindeutig bei den Palästinensern. In der Folgezeit setzten nahezu alle politischen, sozialen und religiösen Führungspersönlichkeiten des Landes und die Massenmedien diese Version immer wieder in Umlauf. Das daraus resultierende Meinungsbild beinhaltete u.a., dass Arafat und die palästinensische Führung nicht an einer friedlichen Konfliktlösung interessiert sind (Pressman, 2003; Wolfsfeld, 2004).

Am 28. September 2000 brach in Reaktion auf den umstrittenen Besuch des damaligen Oppositionsführers Ariel Sharon auf dem Tempelberg der gewaltsame Konflikt aus, mit Demonstrationen, Steine werfen und Schießereien der Palästinenser. Darauf reagierten israelische Sicherheitskräfte wiederum mit Gewalt. Innerhalb eines Monats wurden 130 Palästinenser und 12 Israelis getötet. Zu Beginn dieser Gewalttätigkeiten lancierte die israelische Regierung, die Al Aksa-Intifada sei von Arafat und der Palästinenserbehörde bestens vorbereitet gewesen. Obwohl viele Sicherheitskräfte die Entwicklung zunächst anders interpretiert hatten, setzte sich die regierungsamtliche Version sehr bald durch und wurde von den Massenmedien immer wieder verbreitet. Als die Gewalt andauerte, behaupteten Regierung und Militär und ein Großteil der Medien fortwährend, das Ziel der Palästinenser sei die Zerstörung Israels, Israel befinde sich also in einem Krieg um sein Überleben (Dor, 2004; Wolfsfeld, 2004).

Nachdem Ariel Sharon am 06.02.2001 mit überwältigender Mehrheit zum israelischen Ministerpräsidenten gewählt wurde, steigerten die Palästinenser ihre Attacken vor allem durch landesweite Selbstmordattentäter auf öffentlichen Plätzen. Die israelischen Sicherheitskräfte verübten Gewalt gegen die Palästinenser-Behörde, ermordeten Terrorverdächtige, legten der Bevölkerung schwere Beeinträchtigungen auf und fielen immer wieder in Palästinensisches Territorium ein – bis hin zur fast vollständigen Wiederbesetzung der West-Bank im April und Mai 2002 (Reporters without borders, 2003). Bis zum 14. April 2004 (dem Jahrestag der Unabhängigkeit des Staates Israel) forderte die Gewalt 2.720 Todesopfer und 25.000 Verletzte auf palästinensischer Seite sowie 943 Todesopfer und 6.300 Verletzte auf israelischer Seite. Vermittlungsversuche seitens der USA und Europas blieben ergebnislos.

Bevor ich mich auf die psychologischen Reaktionen der jüdisch-israelischen Gesellschaft auf dieses bedrohliche Umfeld konzentriere, sind zwei Vorbemerkungen angebracht. Erstens: Der 1993 initiierte Friedensprozess wurde nicht einheitlich gesehen. Ein bedeutsames Segment der Gesellschaft widersetzte sich ihm ununterbrochen, war nicht zu Kompromissen bereit, brachte den Palästinensern kein Vertrauen entgegen und betrachtete die Situation weiterhin als konfliktgeladen und gefährlich. Dennoch kam es im Herbst 2000 zu einem bedeutsamen Meinungsumschwung (vgl. Arian, 2002, 2003). Zweitens: Das spezifische Repertoire, das die Beziehung zu den Palästinensern im Kontext der Al Aksa-Intifada kennzeichnet, basiert auf einem Konfliktethos und einem kollektiven Gedächtnis, die die jüdisch-israelische Gesellschaft seit Jahrzehnten des schwer zu bearbeitenden Konflikts beherrschen. Die einschlägigen Erzählungen sind bestimmt von kollektiven Vorstellungen von der Gerechtigkeit der eigenen Ziele, der Illegitimität der Sache der Araber und Palästinenser, dem positiven Wert des eigenen sozialen Selbst und von der eigenen Opferrolle. Diese kollektiven Vorstellungen werden von den meisten Mitgliedern der Gesellschaft geteilt, tauchen in öffentlichen Debatten und den Massenmedien auf, kommen in Erzeugnissen des Kulturbetriebs zum Ausdruck und geistern durch die Schulbücher. Während des Friedensprozesses der 1990er Jahr traten sie etwas zurück, kamen mit dem jüngsten Zyklus des gewaltbestimmten Konflikts aber wieder an die Oberfläche (Bar-Tal, 2000).

Psychologische Barrieren

Die Analyse der psychologischen Barrieren erschließt drei Hauptreaktionsweisen: Furcht, Delegitimierung der Palästinenser und Selbstwahrnehmung als Opfer.

Furcht

Eins der größten Hindernisse für eine Erneuerung des Friedensprozesses ist die weit verbreitete Furcht. Furcht bereitet auf die Bewältigung einer Stresssituation vor (Lazarus & Folkman, 1984). Furcht kann aber auch zur Erstarrung kollektiver Überzeugungssysteme führen. Furcht verhindert eine rationale und kreative Situationsanalyse, bedingt großes Misstrauen und eine Delegitimierung des Gegners, führt zu einer Zunahme von Ethnozentrismus und Intoleranz gegen Fremdgruppen (Feldman & Stenner, 1997; Marcus et al., 1995). Und schließlich ist kollektive Furchtorientierung eine der Hauptursachen von Gewaltanwendung im Sinne eines gewohnheitsmäßigen Verhaltens; neue Handlungsweisen, die den Zirkel der Gewalt durchbrechen könnten, werden nicht erprobt (Brubaker & Laitin, 1998).

Die erwähnte Gewalt seitens der Palästinenser, verstanden als Versuch, den jüdischen Staat zu zerstören, führte zu weit verbreiteter Furcht. Mit zunehmender Gewalt wuchs die Furcht der Israelis und beeinflusste alle Aspekte des Lebens (Klar et al., 2002). So gaben bspw. im Frühjahr 2002 92% der jüdischen Israelis die Befürchtung zu Protokoll, sie selbst oder ein Mitglied ihrer Familie könnten Opfer eines Terroranschlags werden, während diese Rate im Februar 2000 noch bei 79% lag und 1999 nur bei 58% (Arian, 2002).

Delegitimierung

Die Wahrnehmung von Gewalt und Bedrohung weckt ein Bedürfnis nach Erklärung und Rechtfertigung des eigenen Handelns und nach Differenzierung zwischen Eigengruppe und gegnerischer Gruppe. Delegitimierung erfüllt genau diese Funktionen. Sie beinhaltet die Zuordnung einer Gruppe zu extrem negativen sozialen Kategorien – z.B. Primitive, Mörder, Terroristen, Aggressoren usw. Diese Kategorien schließen die betreffende Gruppe aus dem Kreis menschlicher Gruppen, die im Rahmen angemessener Normen und Werte agieren, aus (Bar-Tal, 1989, 1990; Kelman, 1973).

Delegitimierung operiert mit einem rigiden und stabilen Kategoriensystem, das sich während eines Konflikts kaum ändert und ihn höchstwahrscheinlich überdauert. Das ergibt sich aus der Tendenz, die gegnerische Gewalt und den anhaltenden Konflikt auf interne Dispositionen der Fremdgruppe zurückzuführen (Pettigrew, 1979). Delegitimierung macht zudem die delegitimierte Gruppe zu einer homogenen Einheit, erlaubt weder eine Individualisierung noch eine Differenzierung von Untergruppen. Die einschlussweise Zuschreibung von Schädigungsabsichten gegenüber einem selbst führt automatisch zu negativen Emotionen und zur Bereitschaft, Gewalt gegen die delegitimierte Gruppe anzuwenden, um sie für ihre Gewaltanwendung zu bestrafen und von weiterer Aggression abzuschrecken.

Während der Al Aksa-Intifada setzte die Delegitimierung zunächst bei der Führung der Palästinenser an. Schon bald nach Ausbruch der Gewalttätigkeiten wurde Arafat als für einen Friedensprozess nicht geeigneter Partner hingestellt, kurz darauf als Terrorist, als persönlich verantwortlich für jede Terrorattacke jeder beliebigen palästinensischen Gruppe. Nach dem 11. September 2001 verglich man ihn mit Bin Laden und Saddam Hussein. Schließlich wurde er für »irrelevant« erklärt; der formelle Kontakt wurde abgebrochen. Die Palästinensische Autonomiebehörde wurde von der israelischen Regierung als »terroristische Einheit« (terrorist entity) betitelt. Die Öffentlichkeit vollzog das alles mit. So glaubten im Oktober 2000 71% der jüdischen Israelis, Arafat verhalte sich wie ein Terrorist (im Vergleich zu 41%, die das zwei Jahre vorher glaubten). Im Dezember 2001 waren 67% der Ansicht, die Palästinenserbehörde sei eine »terroristische Einheit« (Peace Index, Oktober 2000; Maariv, Dezember 7, 2001). Aus Bevölkerungsumfragen vor und nach Beginn der Intifada bzw. der Regierungspropaganda dazu geht eine entsprechende Zunahme der negativen Stereotypisierung der Palästinenser hervor (Arian, 2002; Peace Index, Nov. 2000, May 2001).

Selbstwahrnehmung als Opfer

Gruppenleben im Kontext von Bedrohung, Furcht und Gewalterfahrung ist wesentlich gekennzeichnet durch das weit verbreitete Gefühl, Opfer zu sein. Dieser Eindruck entsteht, weil die Eigengruppe die Gewalttätigkeit der anderen fokussiert und ihnen die Verantwortung dafür und für den anhaltenden Konflikt zuschreibt, eigene Gewalttätigkeit dagegen als Reaktion auf die erlittene Schädigung begreift. Diese Sichtweise ist besonders ausgeprägt, wenn die gegnerische Gewalt Zivilisten und insbesondere Kinder und Frauen trifft. Die Selbstwahrnehmung als Opfer resultiert auch aus dem kollektiven Selbstbild einer friedliebenden Gesellschaft und der skizzierten Delegitimierung des gegnerischen Kollektivs.

Kollektive Selbstwahrnehmung als Opfer erregt Ärger und Rachebedürfnis, wird somit oft Anlass zu Gewalttätigkeiten, die man als Reaktionen auf die Aggression der andern darstellt. Sie führt ferner zur Zentrierung auf sich selbst und das eigene Schicksal. Man realisiert dagegen nicht, dass auch eigenes Verhalten die gegnerische Gruppe bedrohen und eine Ursache für die Gewaltzyklen sein kann. Eingesponnen in schicksalhafte eigene Verluste, kann man sich auch kaum in Vertreter der Gegenseite einfühlen und sich von ihrem Leiden und ihren Bedürfnissen und Wünschen nicht berühren lassen (Mack, 1990).

Der Gefühl, Opfer zu sein, begann damit, dass man die Palästinenser als Urheber von Gewalt wahrnahm, obwohl doch Ehud Barak vermeintlich die denkbar großzügigsten Vorschläge zur Beendigung des Konflikts gemacht hatte. Im November 2000 warfen 80% der jüdischen Israelis den Palästinensern den Ausbruch der Gewalt vor (Peace Index, November 2000), und 2002 hielten 84% die Palästinenser für allein oder für überwiegend verantwortlich für die Verschlechterung der Beziehungen – während nur 5% die Israelis für alleinverantwortlich hielten (Arian, 2002). Ebenso glaubten im August 2002 92% der jüdischen Israelis, die Palästinenser würden ihre Verpflichtungen gemäß dem Osloer Abkommen nicht erfüllen; 66% waren dagegen überzeugt, Israel würde seinen nachkommen (Peace Index, Aug. 2002). Das Gefühl, Opfer zu sein, wurde durch die dauernden Terrorattacken nachhaltig bestärkt. Mit der Zeit wurde jeder Angriff gegen jüdische Israelis, auch gegen Soldaten, als Terror interpretiert. Dagegen war die große Mehrheit an dem beträchtlichen Leid der Palästinenser nicht interessiert und unterstützte gar die Militäraktionen, die natürlich zu zivilen Opfern führen mussten. So befürworten bspw. 62% die Tötung von Terrorverdächtigen durch das Militär, auch bei hoher Wahrscheinlichkeit einer Schädigung der Zivilbevölkerung (Peace Index, July 2002).

Die beschriebene psychische Ausstattung der in einen kaum zu bearbeitenden gewaltsamen Konflikt verwickelten Gesellschaft hat schwerwiegende Auswirkungen. Es sind im Wesentlichen die Wahl einer Führung, die auf rigorose Auseinandersetzung mit dem Gegner setzt, die weitgehende Unterstützung einer entsprechenden Konfrontationspolitik und schließlich eine Unversöhnlichkeit, aus der sich nahezu logisch ergibt, dass der Konflikt gewaltbestimmt bleibt und nicht friedlich gelöst werden kann.

Deeskalationsschritte

Nach der skizzierten Analyse tragen psychologische Faktoren wesentlich dazu bei, dass die Beziehungen zwischen Israelis und Palästinensern in eine Sackgasse gerieten. Während die Grundzüge einer möglichen Lösung den Angehörigen beider Gesellschaften mehr oder weniger klar sind und diese Lösung auch von einer relevanten Mehrheit weitgehend mitgetragen wird, verhindert das beschriebene Syndrom eine Umsetzung und erlaubt es einer radikalen Führung und lösungsunwilligen Teilen der Gesellschaft, den Konfliktverlauf zu diktieren.

Die politische Psychologie kennt diverse spezifische Maßnahmen zur Behebung der Auswirkungen psychologischer Friedenshindernisse. Im Weiteren möchte ich jedoch in allgemeinen Begriffen den psychologischen Zustand beschreiben, den beide Gesellschaften unabhängig von formellen Verhandlungen zu erreichen versuchen sollten: den der friedlichen Koexistenz. Koexistenz stellt nach meiner Auffassung eine wesentliche gesellschaftliche Voraussetzung für einen genuinen Friedensprozess dar. Sie beinhaltet die grundlegende Anerkennung des Rechts der anderen Gruppe auf eine Existenz in Frieden mit allen Unterschieden und die Akzeptierung der anderen Gruppe als legitimen und gleichwertigen Partner, mit dem Streitfälle gewaltfrei geregelt werden müssen. Dieser Zustand ist erreicht, wenn die Mehrheit diese Ansicht teilt. Folgende Hauptkomponenten gehören zu diesem Zustand (vgl. Bar-Tal, 2004).

  • Legitimierung erlaubt es, den Gegner als jemand zu betrachten, der im Rahmen der internationalen Normen agiert und mit dem man den Konflikt beilegen kann und positive Beziehungen aufnehmen möchte. Der anderen Gesellschaft werden die gleichen Rechte auf ein Leben in Frieden zuerkannt wie der eigenen und auch das Recht, Streitpunkte und Beschwerden vorzubringen, die dann gewaltfrei beigelegt werden müssen. Legitimierung beinhaltet weiter die Akzeptierung der gewählten Führung der gegnerischen Gruppe als rechtmäßigen Partner im Friedensprozess und liefert insofern die Grundlage für Vertrauen als wesentliche Voraussetzung von Konfliktlösung und den Aufbau friedlicher Beziehungen.
  • Gleichstellung (equalization) macht den Gegner zu einem ebenbürtigen Partner. Das erfordert eine Anerkennung des Prinzips der Statusgleichheit, das in Verhandlungen zur Geltung kommen muss und auch in den Gruppeninteraktionen jeder Art und Ebene. Es besagt zunächst, dass Führung und Bevölkerung Angehörige der anderen Gesellschaft vor allem ohne Überlegenheitsanspruch als Gleiche ansehen und behandeln. Ferner gehört dazu, keine besonderen sozio-strukturellen Bedingungen für die Aufnahme von Verhandlungen zu stellen, da das auf Paternalisierung und Ungleichbehandlung hinauslaufen würde.
  • Differenzierung ermöglicht eine neue Wahrnehmung des Gegners, der bisher als homogene feindliche Einheit galt. Die Gegenseite wird als aus Gliederungen mit je eigenen Ansichten und Ideologien zusammengesetzt gesehen, die sich auch in ihren Meinungen zum Konflikt und zu dessen Lösung unterscheiden können. Zumindest ist zwischen Befürwortern und Gegnern des Friedensprozesses zu unterscheiden; entsprechend unterschiedliche Beziehungen können aufgebaut werden. Vor allem kann man Untergliederungen erkennen, die im Hinblick auf den Aufbau friedlicher Beziehungen ähnliche Werte und Überzeugungen vertreten wie man selbst.
  • Personalisierung ermöglicht darüber hinaus, die Gegner als Individuen wahrzunehmen, mit vertrauten Merkmalen, Ansichten, Bedürfnissen und Zielen. Das bedeutet eine Realisierung von Unterschieden innerhalb eines Individuums, zwischen Gruppenmitgliedern und zwischen sozialen Rollen. Jede Form der Individualisierung entschärft Generalisierungen und ermöglicht es, Ähnlichkeiten mit einem selbst und sogar Gemeinsamkeiten wahrzunehmen.
  • Abbau negativer und Aufbau positiver Affekte: Auf emotionaler Ebene müssen einerseits kollektive Furcht und kollektiver Hass abgebaut und andererseits kollektive Hoffnung, Vertrauen und wechselseitige Anerkennung aufgebaut werden. Kollektive Hoffnung entsteht, wenn ein konkretes positives Ziel erwartet wird. Sie schließt die kognitiven Komponenten der Vergegenwärtigung und Erwartung ein und das Wohlgefühl im Hinblick auf die erwarteten Ereignisse oder Ergebnisse (Kelman, 2004; Staats & Stassen, 1985). Die Entwicklung einer hoffnungsvollen kollektiven Orientierung beinhaltet die Bildung neuer Ziele wie ein Leben in friedlicher Koexistenz und Kooperation mit dem Feind von gestern. In Verbindung mit kollektiver Anerkennung des ehemaligen Gegners schließt das Vertrauen ein und die Absicht, positive Beziehungen zu entwickeln.

Die beschriebenen Aspekte von Koexistenz schaffen ein positives gesellschaftliches Klima, das es möglich macht, eine friedliche Konfliktlösung zu erreichen. Klar aber muss sein, dass damit der Dauerkonflikt selbst noch nicht behoben ist. Dazu sind Verhandlungen unabdingbar, die zu einer wechselseitig akzeptablen Übereinkunft führen. Andererseits müssen die psychologischen Barrieren auch für die Aufnahme von Verhandlungen beseitigt werden. Nicht zuletzt aber hat ein Friedensprozess zur Voraussetzung, dass jede Form von Gewalt eingestellt wird oder zumindest wesentlich zurückgeht. Ein Ende der Gewalt ist seinerseits aber auch eine fundamentale Voraussetzung für eine Veränderung der beschriebenen friedenshinderlichen Mentalität. Allerdings ist es offensichtlich leichter, staatlich getragene Gewalt zu stoppen als von nichtstaatlichen Organisationen und einzelnen getragene, wie sie meist von palästinensischer Seite ausgeht. Doch darf diese Art von Gewalt keine Vetomacht gegen die Fortsetzung des Friedensprozesses haben. Aggression und Feindseligkeit hören nicht schlagartig auf, sondern dauern Jahre an, nehmen aber ab, in Abhängigkeit von der Befriedigung der Grundbedürfnisse der Bevölkerung. Es stellt eine besondere Herausforderung für Politiker und Medien dar, den Friedensprozess in Gang zu halten, auch wenn der Konflikt noch gewaltdurchsetzt ist.

Resümee und Ausblick

Koexistenz im erläuterten Sinn beinhaltet nicht primär Aktivitäten wie Waffenstillstand, Aufnahme von Verhandlungen und die Beilegung konkreter Streitfälle. Es geht vielmehr um eine Mentalitätsänderung auf gesellschaftlicher Ebene, eine Umgestaltung der psychischen Ausstattung eines Kollektivs. Von großer Bedeutung dafür sind gut geplante und ausgeführte Maßnahmen.

Die avisierte Veränderung hängt zum einen von den Absichten, der Entschlossenheit, der Mobilisierung und der Kraft der Friedensfreunde ab, von Führungspersonen, politischen Parteien, Nicht-Regierungsorganisationen und einzelnen. Nach Jahren des Misstrauens, des Hasses und der Feindseligkeit braucht man geschickt bekannt gemachte Versöhnungshandlungen, auch verbaler und symbolischer Art, offizieller wie inoffizieller Natur, von beiden Seiten, so dass eine Atmosphäre eines positiven Wechselbezugs entsteht und eventuell ein neues Klima des Friedens. Die engagierten Individuen, Gruppen und Organisationen müssen auch Skeptiker und Gegner in ihren eigenen Reihen bzw. in ihrer eigenen Gesellschaft von der Wichtigkeit gewaltfreier Konfliktlösung überzeugen.

Um ein Klima der Koexistenz zu etablieren, müssen sodann gesellschaftliche Institutionen dazu veranlasst werden, die neue Botschaft zu verbreiten. Gemeint sind im Besonderen die Massenmedien und das Erziehungswesen. Die Massenmedien können ein sehr wirkmächtiges Instrument sein, um einen Friedensprozess voranzubringen. Die andere wichtige Institution zur Restrukturierung der psychologischen Zurüstung einer Gesellschaft ist das Erziehungswesen. Das läuft i.d.R. auf den Einbezug des Schulwesens für Zwecke der Friedenserziehung hinaus. Friedenserziehung sucht das Weltbild der Schüler und Schülerinnen – ihre Werte, Überzeugungen, Einstellungen, Fertigkeiten und Verhaltensweisen – in einer Weise zu formen, die dem Friedensprozess entspricht und sie darauf vorbereitet, in einer Phase des Friedens zu leben.

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Dr. Daniel Bar-Tal ist Professor für Psychologie an der School of Education, Tel-Aviv University, und Direktor des Walter Lebach Research Institute for Jewish-Arab Coexistence through Education. Er arbeitet seit den frühen 1980er Jahren zu Fragen der Politischen Psychologie, i.B. der Konflikt- und Friedenspsychologie. Der Beitrag basiert auf einem Vortrag des Autors im Rahmen der 17. Tagung des Forums Friedenspsychologie vom 18.-22. Juni 2004 in Marburg. Eine ungekürzte Version erscheint im April in »conflict & communication online, Vol. 4, No. 1« (www.cco.regener-online.de). Übersetzung und Bearbeitung: Albert Fuchs.

Das Rüstungspotenzial im Nahen und Mittleren Osten

Das Rüstungspotenzial im Nahen und Mittleren Osten

von Christian Mölling und Götz Neuneck

Ein neuer Krieg im Nahen Osten erscheint wahrscheinlich. Viel Aufmerksamkeit widmen Zeitungen und Kommentare dem vermuteten Rüstungspotenzial des Irak, das aufgrund der in Kraft befindlichen Sanktionen sicher nicht mehr die militärische Stärke besitzt, die sich Diktator Saddam Hussein vor dem zweiten Golfkrieg 1991 u.a. auch mit westlicher Unterstützung zugelegt hatte. Aber was ist mit den Nachbarn des Irak? Kann ein Krieg mittels der militärischen Überlegenheit der USA auf eine spezifische Region beschränkt werden? Wie steht es mit der Anwesenheit von Massenvernichtungswaffen in der Region? Diese Fragen sind Variablen einer hochkomplexen Gleichung, deren Antworten mit über Krieg und Frieden in einer gewaltträchtigen und mit Waffen angereicherten Region entscheiden können.
Der ehemalige US-Verteidigungsminister William S. Cohen bezeichnete 1997 die Bedrohung im Mittleren Osten als eine „chronische Krankheit“. In dieser Region gab es zwischen 1948 und 1982 fünf große israelisch-arabische Kriege. Am Arabisch-Persischen Golf fanden zwei Golfkriege statt: 1981 bis 1988 zwischen dem Irak und Iran und 1991 – nach der Besetzung Kuwaits – zwischen einer westlichen Allianz, angeführt von den USA, und dem Irak. Ein erneuter Waffengang dürfte weitreichende Auswirkungen auf die Region haben. Eine politische Ordnung für die Zeit nach einem neuen Irakfeldzug ist hingegen nicht in Sicht. Eine Verschärfung der Konfrontation insbesondere zwischen Israel und den Palästinensern wäre wahrscheinlich. Beide Konfliktszenarien, Irak und Israel-Palästina könnten weitere Staaten in schwere Auseinandersetzungen verwickeln. Die Präsenz der US-Truppen am Golf entscheidet dabei mit über die innere Stabilität der arabischen Staaten und die Sicherheit Israels.

Die folgende, im Schwerpunkt quantitative Beschreibung der militärischen Verhältnisse soll das enorme Gewaltpotenzial aufzeigen, das in der Region angehäuft ist. Bei der Summierung von Militärarsenalen und geheimen Programmen ist allerdings Vorsicht geboten. Viele Angaben zu den jeweiligen Streitkräften sind Schätzungen oder entstammen Geheimdienstquellen, die nicht als objektiv angesehen werden können. Zudem genügt für ein umfassendes Bild nicht allein die Feststellung der jeweiligen Kapazitäten. Das strategische Umfeld sowie politische, ökonomische und geografische Faktoren sind weitere wichtige Indikatoren. Auch ist heute nicht nur die Quantität von Waffensystemen ausschlaggebend, sondern auch deren Qualität und Einsetzbarkeit im Rahmen der jeweiligen Militärstrategie und der dahinterstehenden politischen Ziele.

Sicher ist, dass der Grad der Militarisierung in der Region extrem hoch ist, wenn man Faktoren wie die Zahl der Soldaten, die Rüstungsausgaben oder die Waffenarsenale als Indikatoren verwendet. Die Zahl der Soldaten in der Gesamtregion1 beträgt laut IISS ohne Reserven und paramilitärische Verbände ca. 2,9 Millionen. Dies entspricht einem Verhältnis von einem Soldaten auf 109 Einwohner. Noch höher ist die Dichte in der Kernregion des Nahen Ostens: Dort kommt ein Soldat auf 99 Einwohner.2

Die Militärausgaben in der Region sind in den letzten 10 Jahren (1992-2001) von 52,3 Mrd. US$ auf 72,4 Mrd. US$ gestiegen – dies entspricht einer Steigerung um 20,1 Mrd oder 38%. Ein Ende dieses Trends ist nicht in Sicht: Israel hat seinen Verteidigungsetat für 2002 um 983 Mio. US$ auf über 10 Mrd. US$ erhöht.3 Die damit verbundene Aufrüstung dürfte von den arabischen Nachbarn nicht unbeantwortet bleiben.Betrachtet man das letzte Jahrzehnt, so ist der Nahe Osten nach Ostasien die schwerstbewaffneste Krisenregion der Welt.4 Die Militarisierung der Region ist bei der Anzahl schwerer Waffen leicht rückläufig – was u.a. daran liegt, dass das Waffenembargo dem zuvor schwer bewaffneten Irak verbietet, neue schwere Waffen zu erwerben. Zudem veralten vorhandene Systeme und sind zunehmend unzuverlässig. Über 6% des BSP werden in der Region in Rüstung investiert. Führend sind hier Saudi-Arabien (11,6%), Israel (8,0%) und Jordanien (9,5%). Die Militärausgaben als Anteil am nationalen BSP sind heute leicht rückläufig, was wohl auf die Überrüstung nach dem 2. Golfkrieg und die schlechte wirtschaftliche Lage einiger Länder zurückzuführen ist.5 Bis heute stellen die großen Arsenale eine erhebliche Belastung für die Haushalte der betroffenen Staaten dar. Ein Krieg um den Irak könnte weitere Belastungen, Rüstungsimporte und Neuanschaffungen nach sich ziehen. Bei einer Neuordnung der Region könnte der Rüstungswettlauf wieder angeheizt werden.Der Nahe Osten ist und bleibt zudem der »größte Waffenmarkt der Welt«. Insbesondere nach den Kriegen 1967 und 1973 gab es Aufrüstungswellen, die erheblich von der Sowjetunion (Irak und Syrien bis Ende der 80er Jahre), den USA sowie Frankreich und Großbritannien unterstützt wurden. Teilweise wechselten die Hauptlieferanten. Bis zum Nahostkrieg 1973 wurde Ägypten von der Sowjetunion, dann von den USA beliefert. Syrien erhält seine Waffen bis heute von den Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Jordanien, Kuwait und Saudi-Arabien werden heute von den USA beliefert. Israel wurde bis 1967 mit französischen Waffen versorgt, danach im wesentlichen durch die USA finanziell sowie durch Waffenlieferungen unterstützt.6Der Sechs-Tage-Krieg von 1967 war für Israel der Anlass, eine eigene Rüstungsindustrie aufzubauen. Der israelische Staat besitzt als Einziger in der Region eine eigenständige Rüstungsindustrie. Wenngleich rüstungstechnisch von den USA abhängig, besitzt die Atommacht eine eigene Waffenproduktion (insbes. Panzer, Raketen, Flugzeuge, unbemannte Flugkörper, Elektronik, Militärfahrzeuge und Kleinwaffen). Israel produziert jedoch nicht nur für den eigenen Markt, sondern gehört zu dem Dutzend der größten Waffenlieferanten. Für Israel ist der Waffenexport und die militärtechnische Zusammenarbeit (u.a. mit der Türkei, und China) ein beträchtlicher Wirtschaftsfaktor. Rund ein Viertel der israelischen Exporte bestehen aus Waffen und anderen Rüstungsgütern. Im Jahre 2000 verkaufte man Rüstungstechnologie im Wert von 3,5 Mrd. US$, das sind 2,2% des weltweiten Gesamtumsatzes.7 Doch weder Israel noch die arabischen Staaten sind rüstungstechnisch unabhängig. Alle Staaten des Nahen Ostens importieren den Großteil ihrer Waffen.Auch die Rüstungseinfuhren geben die fortschreitende Hochrüstung der Region wieder. Seit dem Ende des Ost-West-Konfliktes flossen ca. ein Viertel aller Waffentransfers in den Nahen Osten. Alle Staaten im Nahen Osten befinden sich im oberen Drittel der Importeursstatistik. An der Spitze der Importeure, und dabei unter den drei weltweit größten Waffenkäufern liegt Saudi Arabien, das 2001 für ca. 4,8 Mrd. US$ importierte, gefolgt von der Türkei. Der Schwerpunkt der Importprodukte liegt bei schweren Panzern, gepanzerten Fahrzeugen und Panzerabwehrwaffen, mobiler Luftabwehr, Kampfhubschraubern und Kampfflugzeugen. Das wichtigste Rüstungsziel ist die allgemeine Modernisierung der vorhandenen Rüstungen. Das Gesamtvolumen der Importe in die Region betrug 2001 2,1 Mrd. US$. Diese Zahl übersteigt die Rüstungseinfuhren nach Südasien (2,0 Mrd.). Zum Vergleich: Europa führte für 3,9 Mrd. US$ Waffen ein.8

Konventionelle Streitkräfte der wichtigsten Staaten im Nahen Osten

Hier sollen kurz die schweren Landwaffen und die Luftstreitkräfte vorgestellt werden, die bei großen Militäraktionen ausschlaggebend sind.9

Irak

Entgegen der öffentlichen Meinung ist der Irak nachhaltig geschwächt. Die Sanktionen und Embargos haben ein Wiedererstarken verhindert. Die Republikanischen Garden stellen nur einen Macht(erhaltungs)faktor nach innen dar. Bei anderen Teilen der 400.000 Mann starken Armee liegt die Kampfeffektivität nur bei ca. 50%. Das Material ist weitgehend veraltet und es fehlen Ersatzteile. Die Luftwaffe kann laut IISS deswegen nur ca. 55% ihrer knapp 350 Maschinen nutzen. Die Artillerie umfasst ca. 2.200 Geschütze und 200 Raketenwerfer. Die Zahl von 2.600 Panzer erscheint zwar beeindruckend, doch sind diese veraltet (u.a: T-55). Insgesamt stellt der Irak keine konventionelle Gefahr wie noch 1991 dar.10

Syrien

Die syrische Armee (319.000 Mann) leidet, wie viele andere Armeen in der Region, unter einer schweren Modernisierungskrise. Quantitativ der israelischen Armee ebenbürtig, sind ihre Waffensysteme (3.700 Artilleriegeschütze; ca. 500 Raketenwerfer, 4.700 Panzer) veraltet. Eine moderne Luftabwehr ist ebenso wenig anzutreffen, wie eine funktionstüchtige Luftwaffe (ca. 600 Kampfjets).11

Isarel

Die israelische Armee (160.000 Mann) Armee ist ohne Frage die modernste der Region. Dies bezieht sich insbesondere auf den Großteil der 3.700 Panzer und auf die Luftwaffe. Auch die 2.800 Artilleriesysteme, 400 Raketenwerfer und 1.300 Startgeräte für die Panzerabwehr werden als relativ modern angesehen. Israel strebt nach der Verbesserung seiner Marine und seiner Aufklärungsfähigkeiten sowie nach der Schaffung des »battlefield management«. Ebenso genießt in Tel Aviv das »Arrow«-Abwehrsystem gegen Scud-Raketen hohe Priorität. Insgesamt will man dafür ca. 1,3 Mrd. US$ ausgeben. Außerdem besteht der Wunsch, die Marine stärker in die Kriegführung zu integrieren.12

Saudi Arabien

Die mit 124.000 Mann nicht sehr große Armee des Königreiches Saudi Arabien wird ebenfalls als sehr modern angesehen: 315 moderne »Abrams«-Panzer summieren den Bestand auf gut 1.000 solcher Fahrzeuge. Die Artillerie ist mit ca. 300 Geschützen und 60 Raketenwerfern eher von untergeordneter Bedeutung. Die Luftwaffe besteht aus 600 Maschinen unterschiedlichen Alters.

Iran

Im Iran wird auf der Basis des positiven ökonomischen Wachstums langfristig eine Modernisierung der Armee angestrebt. Insbesondere sollen Luftabwehrsysteme, Kampfflugzeuge und Panzer aus Russland erworben werden. Derzeit verfügt der Iran über ca. 1.500 Panzer mittleren Alters, eine große Anzahl von Artillerie (2.300), 900 Raketenwerfer, kaum Panzerabwehrraketen sowie eine veraltete Luftabwehr und eine größtenteils veraltete Luftwaffe. 520.000 Soldaten stehen unter Waffen. Jedoch ist die Wartung und damit die Einsatzfähigkeit nicht immer gewährleistet.

Ägypten

Ägypten modernisiert seine Streitkräfte (443.000 Mann) – insbesondere die Panzerstreitmacht – mit starker Unterstützung der USA (z.B. »Abrams«, »Apache«).13 Die Armee verfügt über ca. 3.900 Panzer (T-55, Abrams), die Zahl der Geschütze ist dagegen gering.

Kleinere Golfstaaten

Die kleineren Golfstaaten14 fallen zahlenmäßig nicht ins Gewicht – nimmt man all diese Staaten zusammen, so erreichen die quantitativen Kapazitäten kaum die der arabischen Ringstaaten15 oder Israels. Auch für die Zukunft sind hier keine entscheidenden Veränderungen zu erwarten. Ausnahme bilden die Vereinigten Arabischen Emirate, die u.a. 390 Panzer und ca. 140 Kampfflugzeuge bestellt und z.T. schon erhalten haben. Kuwait hat eine beträchtliche Zahl von Panzerabwehrraketen (728) bestellt.16

In Reaktion auf diese individuelle Schwäche haben sich die kleinen Golfstaaten mit Saudi Arabien zum Golf-Kooperationsrat (GCC) zusammengeschlossen. Ziel ist u.a. der Aufbau einer gemeinsamen Verteidigungspolitik. In der Hauptsache konzentriert man sich hier auf die Errichtung eines »supreme defence council«, einer schnellen Einsatztruppe von bis zu 20.000 Mann und den Aufbau gemeinsamer C317– Fähigkeiten.18

USA

Bereits in »Friedenszeiten« stellen die US-Kräfte ein beträchtliches militärisches Potenzial in der Region dar. Die Zahl der US-Truppen in der Region beläuft sich auf ca. 20.000, die sich hauptsächlich auf Basen in der Golfregion und der Türkei aufhalten. Sie stieg nach Schätzungen von »Global Security« im November auf ca. 48.000 Mann. Enthalten sind hier um die 400 Flugzeuge sowie auch zwei Flugzeugträgerkampfverbände. Die Bodentruppen sind ein Mix aus Spezialeinheiten und Expeditionstruppen. Eine genaue Zahl so wie qualitative Bewertung ist jedoch aufgrund der vielen unsicheren Informationen schwer möglich.19

Vergleich Israel – arabische Nachbarstaaten

Der wahrscheinlichste innerregionale Konflikt wäre der Israels gegen seine Nachbarstaaten. Zwar gibt es offene Feindseligkeit zwischen Israel und anderen arabischen Staaten – doch eine direkte militärische Bedrohung stellen diese Staaten z.Z. nicht dar. Denn auch wenn bei den wichtigsten Vergleichszahlen, diese zu Gunsten einer Allianz der arabischen Staaten stehen, kann Israel auf qualitativen Ausgleich setzen. Rechnet man z.B. die Truppenstärken der arabischen Ringstaaten zusammen, so kommt man auf ein Verhältnis von ca. 1:5 zu Ungunsten Israels. Bei den wichtigsten Waffensystemen sieht es ähnlich aus (Panzer: 1: 2.6; Artillerie 1: 2,8; Flugzeuge: 1: 2.7; Helikopter. 1: 1,6).20 Die Qualität der israelischen Armee wird aber als sehr hoch eingeschätzt. Sie ist sehr gut ausgebildet, verfügt über erstklassige Ausrüstung und steht permanent im Kampfeinsatz. Außerdem hat sich Israel die Entwicklungen der »Revolution in Military Affairs« weitaus extensiver zu Nutze gemacht, als seine Nachbarn. So verfügt die Armee als einzige in der Region über ein integriertes System, das von der Datensammlung bis zur Zielbekämpfung und dem Führen der Einheiten auf dem Schlachtfeld alle wichtigen Elemente vereint – inklusive präziserer Waffen. Darüber hinaus stehen neue Hightechwaffen auf der Bestellliste.21

Diese Fähigkeiten sind nicht nur auf den Import solcher Systeme zurückzuführen. Israel gibt als einziger Staat der Region einen signifikanten Teil seiner Militärausgaben für militärische F&E aus: Im Jahr 2000 ca. 10% ( USA: 13%, BRD: 4,3%).22 Hinzu kommt, dass man auf eine hohe Zahl an Reservisten zurückgreifen kann, die im Gegensatz zu den Reserven der arabischen Staaten als hochwertige Verstärkung gelten. So kann in Kriegszeiten von einer realistischen Relation von ca. 1: 1,3 angegangen werden.23 Die israelische Armee hat in allen Kriegen gezeigt, dass Qualität die quantitative Überlegenheit des Gegners kompensieren kann. Hinzu kommt die permanente Professionalisierung der Armee durch die andauernden Kampfhandlungen und die Vernetzung der Funktionseinheiten der Armee. Mit all diesem kann kein anderer Staat in der Region aufwarten. Trotzdem deuten die stationierten Truppen einiger arabischer Länder darauf hin, dass diverse auch gerade kleinere Militäraktionen möglich sind. Opfer wird in der dicht besiedelten Region stets die Zivilbevölkerung sein.

Massenvernichtungswaffen

Im Mittleren Osten gibt es zahlreichen Aussagen zufolge diverse Staaten, die Programme zur Herstellung von Massenvernichtungswaffen (MVW) betreiben bzw. bereits über einsatzfähige Arsenale verfügen. C-Waffen wurden vom Iran (1984-1988) und dem Irak (1983 und 1978-1988) bereits eingesetzt. Wie in Syrien, Ägypten und Libyen ist das Vorhandensein von C-Waffen-Arsenalen in diesen Ländern in Form von Artilleriemunition, Raketensprengköpfen und an Bord von Flugzeugen sehr wahrscheinlich. Darüber hinaus gibt es auch Anschuldigungen, Ägypten (1963-1967) und Libyen (1987) hätten ebenfalls C-Waffen eingesetzt. Israel besitzt sicher die Fähigkeit, die Produktion von B- und C-Waffen in kurzer Zeit aufzunehmen.

Ein einsatzfähiges israelisches Nukleararsenal gilt als gesichert. Die jeweilige Regierung hat weder die Existenz eines Nuklearwaffenprogramms noch sein Potenzial an Raketen bestätigt. Anderen Staaten wie z.B. dem Iran wird die Entwicklung einer eigenen Nuklearwaffe nachgesagt. Der Irak besaß ein Crash-Programm zur Entwicklung von Nuklearwaffen, das während des 2. Golf-Krieges und aufgrund der UNSCOM-Mission weitgehend zerstört bzw. eliminiert wurde.

Einige Staaten der Region verfügen schließlich über importierte, umgebaute oder selbstproduzierte Kurz- und Mittelstreckenraketen, die in der Lage sind, B- und C-Waffen zu transportieren.

Iran und Irak haben im Krieg Raketen extensiv gegeneinander eingesetzt. Iran, der als möglicher militärischer Antagonist für Israel angesehen wird, aber auch einige Nachbarstaaten, wie Syrien, Ägypten, Saudi-Arabien und Libyen, besitzen ballistische Raketen kurzer Reichweite. Diese fußen im wesentlichen auf der sowjetischen Scud-Technologie.

Israel

Israel ist die führende Raketenmacht in der Region und besitzt eine eigenständige technologische Basis, um Boden-Boden-Raketen von mittlerer Reichweite zu produzieren, sowie auch dislozierte Systeme, die nuklear bestückt werden können. Die israelische Rüstungsindustrie besitzt weitreichende Kenntnisse über den Bau von Marschflugkörpern und Drohnen und kann solche Systeme mit Reichweiten von 200 bis 400 km produzieren. Die Jericho-Rakete gibt Israel die Möglichkeit, Ziele in allen Nachbarländern sowie im Iran und in Teilen der Türkei, Griechenlands und Libyens zu treffen. Auf der anderen Seite ist Israel von Ländern umringt, die über ballistische Raketen mit geringer Reichweite verfügen oder von denen angenommen wird, dass sie Mittelstreckenraketen entwickeln. Das Raketenabwehrprogramm »Arrow« sowie die amerikanische »Patriot« soll einigen Bevölkerungszentren zusätzlichen Schutz gegen Scud-Raketenangriffe gewähren.

Irak

Während der UNSCOM-Inspektionen, die die UN-Resolution 687 von 1991 dem Irak auferlegte, wurde klar, in welchem Umfang das Land an verschiedenen nuklearen, sowie B- und C-Waffen bzw. dazugehörigen Trägersystemen gearbeitet hat. Wie schon der Golfkrieg von 1991 gezeigt hatte, verfügte der Irak über eine umfangreiche Raketenstreitmacht kleiner Reichweite (300-600km), hauptsächlich aus sowjetischen Importen. Es war gelungen, die Reichweite der importierten Scuds auf 600 km zu steigern sowie Raketenkomponenten selbständig zu entwickeln. Es wird nicht ausgeschlossen, dass der Irak auch heute noch Komponenten für Mittelstreckenraketen (Al-Hussein) eingelagert hat, da die Vernichtung der Raketen nicht vollständig nachgewiesen werden konnte. Die IAEO hat das irakische Crash-Programm (seit 1991) zur Entwicklung einer Nuklearwaffe weitgehend aufgedeckt und die dazugehörigen Anlagen und Materialien zerstört. Erst 1995 wurde durch die Flucht eines Schwiegersohnes von Saddam Hussein die Größe des B-Waffenprogramms bekannt.24 Der Verbleib einiger importierter Nährstofflösungen und nicht zerstörter Anthrax-Kampfstoffe ist z.Z. noch nicht geklärt und Gegenstand der geplanten UN-Inspektionen.

Der Irak hatte bis zum Beginn des 2. Golfkrieges die C-Kampfstoffe Senfgas, Sarin, Tabun und VX hergestellt, insgesamt ca. 3.850 Tonnen. Die irakischen Streitkräfte hatten ca. 2.900 Tonnen C-Waffenkampfstoffe beim Krieg (1981 – 1988) gegen den Iran eingesetzt. Spezielle Raketensprengköpfe und Artilleriegranaten zum Verteilen dieser Substanzen wurden entwickelt und getestet. Im Rahmen der UN-Inspektionen wurden große Teile dieser Bestände und Herstellungsanlagen unter Aufsicht zerstört, so dass nach UN-Angaben der Irak heute keine C-Waffen mehr herstellt. Der Verbleib von Vorproduktionen, insbesondere des sehr gefährlichen C-Kampfstoffs VX ist z.Z. noch nicht vollständig geklärt. Zwischen 1981 und 1985 war der Irak einer der größten Importeure von militärischer Ausrüstung.

Iran

Abgesehen von Israel und dem Irak, rückt verstärkt der Iran in das Zentrum rüstungspolitischer Diskussionen. US-amerikanische und israelische Experten und Politiker warnen vor einem »aggressiven Programm« zur Herstellung von Massenvernichtungswaffen sowie von ballistischen Raketen mit einer Reichweite bis zu 2.000 km. Kooperationsbeziehungen im zivilen Nuklearbereich mit China und Russland geben der Spekulation Auftrieb, der Iran könne als Land mit reichen Ölvorkommen auch auf eine Nuklearoption abzielen. Seit 1992 besteht ein russisch-iranischer Vertrag über den Bau zweier Atomkraftwerke. Während die russische Atomindustrie auf den Export ihrer Nukleartechnologie setzt, protestieren die USA immer wieder gegen die Kooperation, da sie dadurch einen Schub in den iranischen Nuklearambitionen befürchten.

Ein weiterer Anlass zur Sorge waren 1997 israelische Berichte über die eigenständige Entwicklung einer ballistischen Rakete (Shihab-3) mit einer Reichweite von 1.300 km, u.a. mit russischer und nordkoreanischer Hilfe. Weiterhin besitzt der Iran zwei Versionen von Scud-Raketen mit 300 bzw. 500 km Reichweite. Es wird auch angenommen, dass der Iran seit 1986 in der Lage ist, Giftgas zu produzieren und mindestens zwei Produktionsstätten errichtet hat. Mit der Produktion von Nervengas soll ca. 1994 begonnen worden sein. Im B-Waffenbereich werden dem Iran Forschungsaktivitäten und die Fähigkeit nachgesagt, im Bedarfsfall Anthrax und Botulin herstellen zu können. Die Bedrohungsanalyse der US-Geheimdienste NIE 2001 verweist darauf, dass der Iran mit Hilfe Nordkoreas auch Langstreckenraketen entwickelt. Die Ähnlichkeiten der Shihab-3- und der Nodong-Rakete scheinen dies zu bestätigen. Auch die teilweise zivilen Startplattformen Shihab-4, -5, -6 weisen einige bemerkenswerte Übereinstimmungen mit entsprechenden nordkoreanischen Raketenprojekten auf.

Ägypten

Ägypten besitzt neben Israel das am weitesten entwickelte industrielle Potential in der Region und produziert einige konventionelle Waffen selbst. Sowohl in den 50er (mit deutscher Hilfe) als auch in den 80er Jahren (mit Unterstützung durch Argentinien, Irak) wurde versucht, eigenständig ballistische Raketen (bis 1.000 km Reichweite) herzustellen. Die Streitkräfte verfügen über importierte Raketen (Frog-7, Scud-B) und über Antischiffsflugkörper aus China (HY-2 Silkworm). Produktionskapazitäten und begrenzte Bestände von Senf- und Nervengas werden vermutet. Im B-Waffenbereich und bei den Nuklearwaffen werden kleinere Forschungsaktivitäten angenommen.

Syrien

Die syrischen Raketenpotentiale und die militärische Ausrüstung waren lange Zeit abhängig von den Lieferungen aus der Sowjetunion. Syrien investierte viel Geld in seine Raketenprogramme und vernachlässigte seine Luftwaffe. Das sowjetische Regime hat Syrien mit Frog-7, Scud-B und SS-21 Raketen beliefert. Berichte sprechen davon, dass Syrien von Nordkorea auch eine begrenzte Zahl von Scud-Raketen mit größerer Reichweite erhalten hat. Syrien kann möglicherweise Nervengas selbst herstellen, was eine schwere Bedrohung für Israel darstellen würde. Syrien allerdings bestreitet die Entwicklung von C-Waffen. Es gibt auch Quellen, die annehmen, dass an B- Waffen im eingeschränkten Maße geforscht wird.

Saudi-Arabien

Saudi-Arabien ist besonders durch den Ankauf von chinesischen Mittelstreckenraketen hervorgetreten. 1988 erwarb die saudische Regierung eine unbekannte Anzahl von modifizierten CSS-2 von China. Die CSS-2 ist ein chinesischer Nuklearwaffenträger mit einer maximalen Reichweite von 3.500 km. Die CSS-2 könnte in der Lage sein, Städte mit einem konventionellen Sprengkopf anzugreifen. Mit der Rakete ist es der Ölmonarchie möglich, direkte Nachbarn sowie Teile von Iran und Türkei zu bedrohen. Der Staat ist Mitglied des nuklearen Nichtverbreitungsvertrages (NVV) und hat mehrmals bekannt gegeben, keine nuklearen oder chemischen Sprengköpfe auf seinen Raketen zu installieren. König Fahd erklärte, dass Saudi-Arabien die CSS-2 lediglich zur Selbstverteidigung, nicht jedoch für einen Erstschlag verwenden wird. Israel hat sich stets darüber beunruhigt gezeigt, dass die CSS-2 mit chemischen Sprengköpfen ausgerüstet sein könnte.

Schlussbetrachtung

Im Kontrast zu den im Nahen und Mittleren Osten vorhandenen Militärpotenzialen, sind in der Region Ansätze zur Rüstungskontrolle bisher nicht zu erkennen. Sowohl der am 11. April 1996 in Kairo unterzeichnete Vertrag von Pelindaba, der eine Nuklearwaffenfreie Zone (NWFZ) in Afrika errichtet, als auch weitere multilaterale Abkommen wie der NVV oder das Chemiewaffen-Übereinkommen (CWÜ) geben Möglichkeiten, erste Rüstungskontrollmaßnahmen zu etablieren. Eine Lösung in Bezug auf die angehäuften Raketenarsenale auf der Basis von ersten Vertrauensbildenden Maßnahmen ist ebenfalls überfällig.

Die Resolution 687 von 1991, die die Abrüstung des Irak beinhaltet, enthält auch die Aussage, dass die Schritte zur Überwachung und Zerstörung der MVW im Irak im Hinblick auf die „Errichtung einer Zone, die frei von Massenvernichtungswaffen und allen dafür vorgesehene Trägerraketen“ getroffen worden ist und dass das Ziel eines weltweiten Verbots von C-Waffen angestrebt wird. Hervorhebenswerte Anstrengungen, dies zu erreichen, hat es in den vergangenen Jahren nicht gegeben. Im Gegenteil, insbesondere die USA als de facto regionale Ordnungsmacht hat sich aus dem aktiven Rüstungskontrollprozess zurückgezogen. Sie exportiert lieber Waffen in die Region, als Stabilität, stimuliert die Nachfrage durch neue Kriege und setzt auf klassische Allianzpolitik. Auf globaler Ebene wurde ein Rüstungskontrollvertrag gekündigt, weitere treten erst gar nicht in Kraft. Für die Region existieren von keiner Seite aus ernsthafte Initiativen zur Regulierung des vorhanden Militärpotentials, geschweige denn zur Abrüstung. Lösungen werden wohl auf absehbare Zeit mit der Waffe nicht mit der Diplomatie gesucht werden.

Anmerkungen

1) Diese umfasst die Regionen Maghreb, Mashrek, Persisch-Arabischer Golf.

2) Details siehe: Margret Johannsen (2002): Rüstung und Rüstungskontrolle im Nahen Osten, in: Uta Klein/Dietrich Thränhardt (Hrsg.): Gewaltspirale ohne Ende? Konfliktstrukturen und Friedenschancen im Nahen Osten, Schwallbach/Ts., 190-229. Weltweit beträgt die Relation 1: 269 und für die europäische NATO-Region 1: 195, ebenda, S. 191.

3) SIPRI: http://projects.sipri.se/milex/mex_wnr_table.html (11.11.02); SIPRI Yearbook 2002 (2002): Armaments, Disarmament, and International Security, Oxford: 234, 266 . Berechnungsgrundlage: konstante US$ (1998); BICC (2002) Conversion Survey 2002 Global Disarmament, Demilitarization and Demobilization, Baden-Baden: 41.

4) Ebenda. Detaillierte Angaben dazu: Cordesman 2001: The Arab-Israeli Military Balance in 2001 A Graphic Analysis. Download: www.csis.org (11.11.02).

5) SIPRI 2002: 286 (eigene Berechnung). Weltweit sind dies 2,6 Prozent (SIPRI 2002: 231) und im europäischen NATO-Bereich 2,1 Prozent, IISS (2002): The Military Balance 2002-2003: 231. BICC 2002: 41.

6) Siehe Margret Johannsen 2002: 200.

7) SIPRI 2002: 356, 407. Vergleichsgrundlage: „konstante“ US$ (1990); Margret Johannsen 2002: 200.

8) SIPRI 2002: 376, 407; IISS 2002: 341.

9) Ein systematischer und tiefgehenderer Vergleich bietet Cordesman 2001.

10) IISS 2002: 103 ff. Die Flugstunden der Piloten liegen nicht über 120 h/ Jahr; BICC 2002: 41.

11) BICC 2002: 42; IISS 2002: 118.

12) SIPRI 2002: 413; IISS 2002: 96 ff., 283; BICC 2002: 41.

13) Cordesman 2001; IISS 2002: 278; SIPRI 2002: 422 f.

14) Bahrain, Katar, Kuwait, Oman, Vereinigte Arabische Emirate.

15) Syrien, Libanon, Jordanien, Ägypten.

16) IISS: 2002: 283 ff.

17) Command, Control, Communication.

18) IISS 2002: 98 f.

19) Ebenda: 23, 97; Siehe aktuell: GlobalSecurity.org: US-Forces Order of Battle – 11. November: www.globalsecurity.org/military/ops/iraq_orbat_021111.htm (13.11.02); Nicht hinzu gezählt wurden Truppen in unmittelbarer Nähe wie die 6. US-Flotte und europäische Verbände.

20) Berechnungen: Johannsen 2002: 194, auf der Grundlage von Cordesmann 2000: The Arab-Israeli Military Balance in 2000. Download: www.csis.org (15.11.02); BICC 2002: 40 ff.

21) Eine ausführliche Bewertung bei: Cordesman 2001.SIPRI 2002: 432; IISS 2002: 284.

22) BICC 2002: 46 – Die eigentliche Zahl könnte deutlich höher liegen, da das Nuklearwaffenprogramm hier wahrscheinlich nicht enthalten ist.

23) Johannsen 2002: 192 ff.

24) Ca. 50 – 100 Beschäftigte hatten sieben B-Waffentypen hergestellt und getestet. Anthrax, Botulin und Aflatoxin wurden in großen Mengen produziert und in Bomben, Granaten und Sprühbehältern abgefüllt. Feldtests wurden durchgeführt. 1995 gab der Irak erstmalig zu, B-Waffen in größeren Mengen hergestellt, diese aber 1990 vernichtet zu haben.

Christian Mölling ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hamburger Institut für Friedens- und Sicherheitspolitik (IFSH)
Dr. Götz Neuneck ist Leiter des Arbeitsbereiches »Abrüstung und Rüstungskontrolle« am IFSH

Welche Weltordnung wollen wir?

Welche Weltordnung wollen wir?

von Paul Schäfer

Der französische Historiker Emmanuel Todd hat in den siebziger Jahren den Niedergang des »sowjetischen Imperiums« vorausgesagt. Nun hat er einen Nachruf auf die Weltmacht USA verfasst. Gegenwärtig könne studiert werden, „wie zuverlässig negative Gegenreaktionen erfolgen, wenn ein strategischer Akteur ein Ziel ansteuert, das zu groß für ihn geworden ist.“

Und tatsächlich, was als Machtvollkommenheit erscheint, gleicht einer Flucht nach vorne – ohne große Erfolgsaussicht:

Der Nahe und Mittlere Osten droht immer mehr außer Kontrolle zu geraten, nun soll eine usurpatorische Neuordnung den Weg zu einer regionalen Stabilisierung bringen. Der Weg dazu kann nur über eine gerechte Lösung des Palästina-Problems, über die Förderung nachhaltiger Entwicklung und über die Unterstützung eines demokratischen Emanzipationsprozesses von innen her, führen. All dies soll eine Besatzungsmacht leisten, die bisher eine eher gegenteilige Politik verfolgt hat und die mit weiteren Kriegen droht?

Der Krieg soll aus dem krisenhaften Zustand der Weltökonomie herausführen. Von der Verbilligung des Erdöls erhofft man sich einen neuen Wachstumsschub – vor allem in den USA selbst. Doch an den strukturellen Merkmalen der Krise, die durch eine sozial polarisierende Globalisierung und innergesellschaftlichen Sozialabbau, beständig verschärft wird, ändert sich nichts. Die Kosten des Krieges und seiner Folgen tragen eher dazu bei, die Lage zu verschlechtern.

Die mittels neuer entsetzlicher Zerstörungswaffen dem Irak zugedachte »Schocktherapie«, gilt auch der übrigen Welt. Diese Abschreckungslogik wird nicht dazu führen, dass alle anderen Nationen die Waffen strecken. Sie wird im Gegenteil das Streben, sich mit modernen Waffen mehr Selbständigkeit zu erkämpfen, verstärken. Von der Zunahme terroristischer und fundamentalistischer Gewalt gar nicht zu reden.

Die Mobilisierung für den Krieg soll die Dominanz der westlichen Führungsmacht befestigen; und hat doch bereits zur weiteren Erosion ihrer Stellung beigetragen. Die UNO scheint desavouiert, aber noch nie nahmen so viele Menschen an den Beratungen in New York Anteil und konnten die Blamage der Kriegstreiber verfolgen. Und wer hätte noch vor einiger Zeit eine »Achse Paris-Berlin-Moskau-Peking« für möglich gehalten, oder dass sich ein kleines Land wie Belgien innerhalb der NATO derart renitent zeigen würde?

Dass die USA selbstherrlich in den Krieg gegen den Irak ziehen und diesen Krieg gewinnen können, zeigt ihre Stärke. Dass sie nahezu isoliert sind und ihre »Koalition der Willigen« nur durch Bestechung, Erpressung und Manipulation zusammenfügen konnten, zeigt ihre Schwäche.

Der im geostrategischen Denken geübte Zbigniew Brzezinski hat formuliert, dass es gegenwärtig nicht um den Irak gehe, sondern um die globale Rolle der USA im 21. Jahrhundert. Die »eine Weltmacht« möchte die »günstige Gelegenheit« nach ElevenNine nützen, um diese Position auf Dauer zu halten. Doch den moralischen Kredit, den sie nach dem Terroranschlag geltend machen konnte, hat sie schon aufgebraucht. Nur einmal in ihrer jüngeren Geschichte – in der Endphase des Vietnam-Krieges nämlich – standen die USA in der Weltöffentlichkeit derart isoliert da. Es ist ein Krieg, der die Weltordnung definieren soll und dies auch tut. »Weltordnung« ist vor allem eine historisch spezifische Machtkonstellation. Es zeigt sich, welche Dominanz die USA noch auszuüben in der Lage sind, aber auch, welche »gegenhegemonialen« Kräfte auf den Plan treten – die zur Veränderung dieser Machtkonstellation beitragen werden. Die Auseinandersetzung um das »US-Empire« wird in diesem Jahrzehnt zur Schlüsselfrage – und sie wird geführt werden müssen, nicht zuletzt in Amerika selbst.

Für uns muss es um eine Weltordnung gehen, die strikt auf dem Gewaltverbot des geltenden Völkerrechts und gestärkten Vereinten Nationen gründet, eine Weltordnung, die den »sustained war« hinter sich lässt und stattdessen auf »sustained development«, also auf Gerechtigkeit, setzt.

Machtfragen ist der Titel dieses Hefts. Als wir die Ausgabe planten und fertigstellten, hofften wir noch auf eine Vermeidung des Krieges und hatten keine Vorstellung von dem Ausmaß Verwerfungen, das die Irak-Krise hervorrufen wird. Nahezu alle Fragen der künftigen Weltordnung sind auf dem Prüfstand. Was wird aus den Vereinten Nationen? Was aus der NATO? Wird es in absehbarer Zeit eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU geben, die Europa zu einem wirklichen Machtfaktor werden lässt? Wie wird die arabisch-muslimische Welt auf die Besetzung des Irak reagieren? Das vorliegende Heft kann nur einen Einstieg in diese Debatte darstellen. Friedensforschung und Friedensbewegung sind durch die neue Lage herausgefordert.

Paul Schäfer

Thema Naher Osten

Thema Naher Osten

Literatur- und Internetempfehlungen

von Claudia Haydt

Literatur

Gudrun Krämer: Geschichte Palästinas, Verlag C.H. Beck, München, 2002. Ohne die üblichen religiösen und ideologischen Mythen präsentiert Krämer (Professorin für Islamwissenschaft) eine Sozialgeschichte Palästinas von 1750 bis zur Staatsgründung Israels im Jahre 1948. Sie beschreibt im ersten Teil ihres Buches die häufig vernachlässigte Zeit vor dem Eintreffen der ersten jüdischen Einwanderer, die politische, soziale und ökonomische Entwicklung der Region, osmanische Verwaltungs- und Wirtschaftsreformen im 19. Jahrhundert und die daraus resultierenden sozialpolitischen Dynamiken. Der zweite Teil widmet sich den Auswirkungen der jüdischen Besiedlungen auf die arabische Bevölkerung und der britischen Orientpolitik.

Meron Benvenisti: Sacred Landscape: The Buried History of the Holy land Since 1948, University of California Press, Berkeley u.a., 2000 (Original Hebräisch) Benvenisti, der unter Teddy Kollek stellvertretender Bürgermeister von Jerusalem war, dokumentiert detailreich und anschaulich den Umgang des israelischen Staates mit der palästinensischen Kulturlandschaft. Er beschreibt wie im Laufe der Jahre weite Teile des palästinensischen Erbes ausgelöscht wurden, indem so gut wie alle arabischen Landschaftsnamen durch hebräische ersetzt wurden, Dörfer, Heilige Orte, Moscheen, Friedhöfe, Olivenhaine, Weinberge zerstört und dem Erdboden gleichgemacht wurden. Dadurch verschwand das, was in Hunderten und Tausenden von Jahren als Ergebnis menschlicher Geschichte entstanden ist. Das Bedürfnis vieler jüdischer Einwanderer nach eigener Identität vollzieht er dabei genauso nach, wie das dadurch entstandene Unrecht und die Trauer der palästinensischen Bevölkerung über den Verlust ihrer Heimat und ihrer Geschichte.

Uta Klein / Dietrich Thränhardt (Hrsg.): Gewaltspirale ohne Ende? Konfliktstrukturen und Friedenschancen im Nahen Osten, Wochenschau Verlag, Schwalbach/Ts., 2002. Die Autoren beleuchten die verschiedenen Konfliktfelder (Wasser, Flüchtlinge, Rüstung) ebenso wie die gesellschaftliche Situation – Demokratie, Religion, Kultur, Selbstverständnis – in Israel und Palästina. Es finden sich darüber hinaus spannende Beiträge zu Einfluss und Interessen von USA und Europa im Nahen Osten.

Illan Pappé (Hrsg.): The Israel/Palestine Question, Routledge, London und New York, 1999. Illan Pappé versammelt in diesem Band israelische »Neue Historiker« und arabische Wissenschaftler, die in teilweise kontroversen Beiträgen – und doch gemeinsam – versuchen Geschichte jenseits von ideologischen Scheuklappen neu zu schreiben. Es geht u.a. um die Aufarbeitung des Krieges von 1948 und um die Frage der Ursachen des palästinensischen Flüchtlingsdramas.

Karin Joggerst: Getrennte Welten –Getrennte Geschichte(n)? Zur politischen Bedeutung der Erinnerungskultur im israelisch-palästinensischen Konflikt, Lit-Verlag, Münster-Hamburg-London, 2002, ISBN 3-8258-5968-1, 144 S., € 15,90. Im israelisch-palästinensischen Konflikt spielt die kollektive Erinnerung an die eigene Vergangenheit sowie der Umgang mit der Geschichte »des Anderen« eine zentrale Rolle für die Gegenwart. In diesem Buch geht die Verfasserin der Frage nach, welche politische Bedeutung der Erinnerungskultur im Konflikt und dessen möglicher Überwindung zukommt. Im Anhang sind Interviews mit Benny Morris, Ilan Pappe, Tom Segev, Moshe Zimmermann und Moshe Zuckermann.

Sumaya Farhat-Naser: Verwurzelt im Land der Olivenbäume – eine Palästinenserin im Streit für den Frieden, Lenos Verlag, Basel, 2002. Farhat-Nasser macht die erdrückende Lebenssituation der Palästinenser im »Gefängnis der Besatzung« deutlich, sie zeigt die palästinensische Frauenfriedensarbeit und dokumentiert die gelegentlich schwierige Suche nach gegenseitigem Verständnis mit israelischen Partnern.

Felicia Langer, Quo vadis Israel? Die neue Intifada der Palästinenser, Lamuv Verlag, Göttingen, 2001, 173 S., ISBN 3-88864-334-1, € 15,00. Langer beschreibt aufgrund welcher politischer Fehler der Friedensprozess scheiterte und welche Erfahrungen alltäglicher Demütigungen und Rechtsverletzungen die Menschen in Palästina machen.

Internet

Grundlageninformation

Vereinte Nationen: www.un.org/Depts/dpa/qpal/index.html Übersicht über UN-Resolutionen, UN-Initiativen und Geschichte des Konflikts

Palestinian Academic Society for the Study of International Affairs (PASSIA): www.passia.org/ Detaillierte Hintergrundinformationen, sowie eine unfangreiche Kartensammlung (1878 bis heute).

Friedenspolitischer Ratschlag: www.uni-kassel.de/fb10/frieden/regionen/Israel/ Umfangreiche Sammlung deutscher Texte und Übersetzungen: Analysen, Dokumente und Berichte zum Nah-Ost-Konflikt.

Foundation for Middle East Peace (FMEP), Washington: www.fmep.org/ Gut aufbereitetes Informationsmaterial zum Nahen und Mittleren Osten. Der Schwerpunkt liegt auf Informationen zur israelischen Siedlungspolitik.

Friedensinitiativen und -gruppen

Gush Shalom (Friedensblock): www.gush-shalom.org Die Homepage von Gush Shalom bietet aktuelle Informationen über die Aktivitäten der israelischen Friedensbewegung, Texte von Uri Avnery sowie zahlreiche Grundlagendokumente über die politische Situation in Israel. Darunter ein detaillierter Bericht von Human Rights Watch zu den Vorkommnissen in Jennin (http://www.gush-shalom.org/archives/human_rights_watch_jenin.html) und ein ganz konkreter Vorschlag für einen möglichen Friedensvertrag zwischen Israel und Palästina (http://www.gush-shalom.org/archives/altpeace.html). Einige Texte von Gush Shalom sind in deutscher Übersetzung auf www.hagalil.de zu finden.

Bat Shalom: www.batshalom.org/ Die israelische feministische Friedensorganisation bildet zusammen mit der palästinensischen Friedenorganisation »Jerusalem Center for Women« den »Jerusalem Link«. Die gemeinsamen Programme und politischen Aktionen sind auf der Homepage dokumentiert.

Not in My Name: www.nimn.org/ NIMN ist eine US-amerikanische jüdische Friedensgruppe, die die israelische Regierungspolitik scharf kritisiert. Auf der Homepage finden sich u.a. Informationen zur Zusammenarbeit zwischen USA und Israel.

Perspektiven

Israel Palestine Center for Research and Information (IPCRI): www.ipcri.org 1988 wurde das ehrgeizige Projekt eines gemeinsamen israelisch-palästinensischen »Politik Think-Tank« gegründet. IPCRI bemüht sich um praktisch umsetzbare Lösungen für die wichtigen Fragen des Israelisch-Palästinensischen Konfliktes (Grenzen, Status von Jerusalem, Siedlungen, Wasserverteilung, Umweltschutz, Sicherheit …) und arbeitet darüber hinaus an zahlreichen Friedenpädagogischen Projekten. Viele Lösungsvorschläge sind auf der Web-Site dokumentiert.

Menschenrechtsorganisationen

B’Tselem; Israelische Menschenrechtsorganisation: www.btselem.org/ Schwerpunkt: Dokumentation der Opfer von Gewalt, Verstoß gegen die Menschenrechte von Gefangenen in Israel und Palästina, Siedlungspolitik.

Amnesty International: www.amnesty.de AI dokumentiert eindrücklich die Menschenrechtsituation in Israel und den besetzten Gebieten. Die internationale Seite von AI ist noch ausführlicher: http://web.amnesty.org/ai.nsf/countries/israel/occupied+territories

Addameer: http://www.addameer.org/ Addameer ist eine palästinensische Gefangenenhilfs- und Menschenrechtsorganisation

Palestinian Human Rights Monitoring Group: www.phrmg.org/ Überparteiliche Gruppe, die Menschenrechtsverletzungen gegen Palästinenser dokumentiert – egal ob durch palästinensische oder israelische Seite verübt.

Adva-Center: www.adva.org Gut aufbereitetes Material zum Thema soziale Gerechtigkeit und soziale Missstände in Israel, viele Berichte zum Download.

Rabbis for Human Rights: www.rhr.israel.net/overview.shtml RHR begründet aus jüdischer Tradition die Verpflichtung zu Frieden und zur Einhaltung von Menschenrechten.

Die kritische Begleitung des Prozesses gegen Marwan Bargouthi hat sich diese Seite zur Aufgabe gemacht: www.pal-plc.org

Medizinische Situation

The Union of Palestinian Medical Relief Committees: www.upmrc.org/ Die UPMRC ist eine der wichtigsten palästinensischen NGOs, Ziel: basisorientierte und dezentrale Gesundheitsversorgung, die mit großer Professionalität und unter hohem persönlichen Risiko auch unter Besatzungsbedingungen aufrechterhalten wird. Einer ihrer führenden Köpfe, Mustafa Barghouthi, ist ein wichtiger Exponent für die Option des gewaltfreien Widerstands gegen die israelische Besatzung. Auf der Homepage finden sich aktuelle Berichte über die Gesundheitssituation sowie über die politischen Rahmenbedingungen.

Palästinensischer Roter Halbmond: www.palestinercs.org/ Die stets aktuelle Seite des palästinensischen Roten Halbmondes macht die menschliche Tragik von Besatzung und Absperrungen eindrücklich sichtbar.

Medien

Ha’aretz: www.haaretzdaily.com/ Internetausgabe der liberalen israelischen Tageszeitung Ha’aretz (ist nicht immer identisch mit der Printausgabe) und Nachrichten-Ticker mit eigenen Berichten.

Indi-Media: www.indymedia.org.il/imc/israel/webcast/index.php3?language=en Die englische Übersetzung der israelischen Indi-Media Seite.

Washington Report on Middle East Affairs: www.wrmea.com/ Internetpräsenz des ca. monatlich erscheinenden Journals mit politischen Analysen und Stellungnahmen. Hier versammeln sich kritische ehemalige US-amerikanische Diplomaten und Politiker mit dem Bemühen „ausgewogene Informationen“ über die US-Beziehungen zu den Staaten des Mittleren Ostens zu liefern.

Electronic Intifada: http://electronicintifada.net Die »Electronic Intifada« ist ein ambitioniertes Gegeninformationsprojekt, das eigenständige Recherche mit kritischer Medienanalyse verbindet.

Verweigerer

Mut zur Verweigerung: www.seruv.org.il/defaulteng.asp Die Verweigerer aus Gewissensgründer haben mit Ihrem Offenen Brief Bewegung in die Diskussion um Menschenrechtsverletzungen durch das Militär gebracht. Auf dieser Seite kann aktuell verfolgt werden, wie viele Reservisten sich dem Aufruf angeschlossen haben.

Internat. Solidaritätsnetz für Verweigerer in Israel: www.couragetorefuse.org

Yesh-Gvul (Es gibt eine Grenze): www.yesh-gvul.org/english.html Die traditionsreiche Verweigererorganisation wurde 1982 nach der Invasion der israelischen Armee in den Libanon gegründet.

Sonstiges

Ta’ayush (Koexistenz): http://taayush.tripod.com Ta’ayush verbindet politische Aktionen mit konkreter Hilfe (Lieferung von Nahrungsmitteln oder Medikamenten in die West Bank).

University of Texas: www.lib.utexas.edu/maps/gazastrip.html Karten-Sammlung der University of Texas – West Bank und Gaza, Siedlungen.

Bob Mays Homepage: www.bobmay.info/index.htm Der Methodist Bob May macht auf seiner Homepage das Alltagsleben der Menschen in Bethlehem in eindrücklicher Weise sichtbar.

Die Liste hat lediglich Empfehlungscharakter und erhebt keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit.

Im Visier: Ölquellen und Öltransportrouten

Im Visier: Ölquellen und Öltransportrouten

von Mohssen Massarrat

Der Krieg der Vereinigten Staaten gegen die Taliban in Afghanistan ist das jüngste Glied einer Kette der inzwischen über ein halbes Jahrhundert andauernden Geschichte anglo-amerikanischer Interventionen im Nahen und Mittleren Osten und nun auch in Zentralasien. Ereignisreiche Turbulenzen wie die Niederschlagung der Demokratiebewegung im Iran Anfang der fünfziger Jahre, die Schah-Diktatur als regionale Supermacht, die islamische Revolution im Iran, das Phänomen Saddam Hussein, der islamische Fundamentalismus, die Taliban und Bin Laden – sie alle sind ohne diese Interventionsgeschichte nicht zu verstehen. Dies gilt auch für den Terroranschlag auf das World Trade Center und das Pentagon am 11. September. Die Kette der Interventionen und der im Nahen und Mittleren Osten seit fünf Jahrzehnten andauernden Gewalteskalation schließt sich nun global.
Hatten die Vereinigten Staaten mit dem Luftkrieg gegen die Taliban in Afghanistan es in erster Linie darauf abgesehen, die strategischen Öl- und Gastransportrouten zum Indischen Ozean frei zu bomben? Jedenfalls wurde bisher weder das eigentliche Kriegsziel, die Al-Qaida zu zerschlagen und Bin Laden zu fassen, erreicht. Das bisher einzig vorzeigbare Resultat des amerikanischen Bombenkrieges in Afghanistan ist, dass die Kämpfer der Nordallianz ihre hartnäckigen Widersacher, die Taliban, losgeworden sind. Mit den War Lords, den Bürgerkriegsparteien und der eigenen inneren Zerrissenheit steht Afghanistan wieder dort, wo Anfang der neunziger Jahre die Taliban mit Hilfe Pakistans, Saudi-Arabiens und der USA starteten. Selbst die wenigen positiven Nebeneffekte des Krieges, bezogen auf mehr Freiheit für Frauen und für individuelle Bedürfnisse, stehen damit erneut zur Disposition. Diese offenkundige Blamage hindert die USA jedoch nicht daran, die »Achse des Bösen« ausfindig zu machen, den im letzten Golfkrieg durchaus nicht irrtümlich zurückgelassenen Feind Saddam Hussein erneut ins Visier zu nehmen und gebetsmühlenartig und inzwischen ritualisiert die neue Bedrohung mit Massenvernichtungsmitteln aus Bagdad ins Bild zu setzen.

Welche Ziele verfolgen eigentlich die Vereinigten Staaten mit ihrem Engagement im Mittleren Osten und Zentralasien? Geht es um den Kampf gegen den Terrorismus, um die Befreiung des Iraks von Saddam Hussein, um einen dauerhaften Frieden im Nahen Osten und um den Kampf für eine demokratische Entwicklung in dieser Region? Oder geht es in erster Linie um die Verfolgung geopolitischer Ziele in einer Region mit den größten fossilen Energieressourcen der Welt und um die Festigung der eigenen Hegemonialpolitik gegenüber Russland, China und den westlichen Verbündeten Japan und Europa?

Die geopolitische Doppelstrategie der USA

Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte im Mittleren Osten eine hoffnungsvolle gesellschaftliche Umwälzung und Demokratisierung eingesetzt. Zum ersten Mal in der Geschichte dieser Region hat 1951 im Iran ein frei gewähltes Parlament und mit Mossadegh eine demokratisch gewählte Regierung für die gesamte Region eine neue Ära eingeläutet. Im Anschluss an die Entwicklung im Iran wurden im Irak und in Ägypten die herrschenden Monarchien gestürzt, das postdiktatorische, postkoloniale Zeitalter schien angebrochen zu sein.

Doch es kam alles anders. Die Persische-Golf-Region war zu diesem Zeitpunkt längst in den geostrategischen Würgegriff der alten Supermacht Großbritannien und der neuen Supermacht USA geraten. Hinzu kam die Kalte-Krieg-Ära, die das politische Koordinatensystem für die künftige Entwicklung dieser Region determinierte. Geostrategische Ölinteressen der USA und Eindämmung des sowjetischen Einflusses auf den Mittleren Osten und den Persischen Golf wurden fortan zum einzigen Maßstab für die künftige Beziehung des Westens zu dieser Region und zur Richtschnur der Unterscheidung zwischen Gut und Böse.

Die Welt besitzen

Bereits europäische Kolonialmächte hatten zu Beginn des letzten Jahrhunderts die strategische Bedeutung des Öls erkannt. „Derjenige, der das Erdöl besitzt, wird die Welt besitzen,“ prophezeite um das Jahr 1920 der französische Industrielle und Senator Henri Berenger. Die neue Supermacht Amerika zögerte nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges nicht, dieser Erkenntnis zu folgen und sie zur Richtschnur des eigenen außenpolitischen Handelns zu machen. George Forest Kennan, ein einflussreicher US-Außenpolitiker, ordnete in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts der Kontrolle über die Ölquellen des Mittleren Ostens die Rolle einer „Vetomacht über die Alliierten, über Europa und Japan“ zu. So wundert es auch kaum, dass das State Department das Mittelost-Öl als „gewaltige strategische Reserve, als den größten materiellen Preis der Weltgeschichte“ einstufte (Chomsky, 1992: 33). Die Vetooption der USA bestand in einer aus zwei Komponenten – einer energiepolitischen und einer geopolitischen – bestehenden Doppelstrategie.

Die Doppelstrategie

Dabei sollte zum einen alles unternommen werden, um sich selbst und den eigenen Verbündeten eine störungsfreie Ölversorgung zu niedrigen Preisen (Wirtschaftswachstum durch Billigöl) sicherzustellen. Es geht hierbei um beträchtliche Summen, beispielsweise werden bei einem Ölpreisunterschied von lediglich 10 US-Dollar je Barrel Öl von der OECD-Wirtschaft jährlich über 350 Mrd. US-Dollar an Energieausgaben eingespart (Ausführlicher dazu Massarrat, 2000: 134). Zum anderen sollte aus der Not der Abhängigkeit der militärischen Verbündeten (Westeuropa und Japan) vom Öl des Mittleren Ostens eine Tugend gemacht und die militärische Führungsrolle nicht nur durch die Einbindung in die Nato, sondern auch indirekt durch die »Ölwaffe« untermauert werden. Die Blockkonfrontation zwischen den USA und der Sowjetunion überdeckte jahrzehntelang diese US-Doppelstrategie. US-Geostrategen bedienten sich gern des Szenarios der sowjetischen Bedrohung, die darin bestanden haben soll, durch den Zugriff auf die mittelöstlichen Ölquellen westliche Staaten zu erpressen. Unabhängig davon, ob es sich dabei um eine reale Bedrohung handelte oder nicht, lieferte dieses Szenario den Vereinigten Staaten die Rechtfertigung, sich unter dem Vorwand der Abwendung sowjetischer Bedrohung durch die Einrichtung von Militärstützpunkten und Schaffung von Interventionskapazitäten im Mittleren Osten als Garant westlicher Ölversorgung unabkömmlich zu machen und auch die militärischen Verbündeten und gleichzeitig ökonomischen Rivalen in der Weltwirtschaft, Westeuropa und Japan, im Bedarfsfall zu disziplinieren oder gar zu erpressen (Ausführlicher Massarrat, 1981).

Diese Doppelstrategie der Vereinigten Staaten in ihrer Beziehung zu Japan und Europa hat über Jahrzehnte – so in der Anti-Irak Allianz 1990 und auch jetzt in der Antiterror-Allianz sowie im Krieg gegen Afghanistan – bis heute ihre Gültigkeit beibehalten und sie wirft ein neues Licht auf das peinlich vasallenhafte Verhalten der Europäer in Krisensituationen wie 1990 und jetzt. Alle US-Präsidenten, Präsidentenberater sowie Außen- und Verteidigungsminister haben ganz besonders darauf geachtet, die Grundlagen dieser Doppelstrategie nicht zu gefährden und sie allen revolutionären Umwälzungen im Mittleren Osten zum Trotz räumlich auszubauen und außenpolitisch sowie militärisch weiterzuentwickeln und flexibel anzupassen. Die sogenannte Carter-Doktrin, wonach „der Versuch einer auswärtigen Macht, die Kontrolle des Persischen Golfes zu übernehmen, als Angriff auf die vitalen Interessen der USA betrachtet und mit allen Mitteln einschließlich militärischer Gewalt zurückgewiesen wird“ (Carters Erklärung »State of the Union« vom 23. Januar 1980), die unmissverständliche Feststellung des ehemaligen Energieministers James Schlesinger von 1989 auf der Weltenergiekonferenz in Montreal: „Welche Großmacht auch immer die Kontrolle über die Energieressourcen in der Golfregion erringt, sie wird dadurch in großem Ausmaß auch die Entwicklung der Welt beherrschen. Ein dritter Weltkrieg, sollte er stattfinden, würde wahrscheinlich um die Energiequellen in der Golfregion geführt werden“ (zitiert nach Michael Müller, TAZ, 13.08.1991) und die durch die Klarheit über den Anspruch der USA auf die Ölvorräte der Persischen-Golf-Region unübertroffene Aussage des US-Präsidenten Bush sen. von 1990 „Unsere Wirtschaft, unsere Lebensart, unsere Freiheit und die Freiheit befreundeter Länder auf der ganzen Welt, alles würde leiden, wenn die Kontrolle über die großen Ölreserven der Welt in die Hände Saddam Husseins fielen“ (Yergin, 1991: 950), belegen das nach wie vor überragende geostrategische Interesse der USA an den Ölquellen des Mittleren Ostens. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wird die Rolle des potenziellen Aggressors im Bedrohungsszenario der US-Doppelstrategie den »Schurkenstaaten« zugeschrieben. Ursprünglich spielten diese Rolle die fundamentalistischen Ajatollahs im Iran und gegenwärtig hat Saddam Hussein diese Rolle inne, die er in der „unheiligen Allianz“ mit den USA offenbar auch gern spielt, um so die innenpolitische Legitimation für seine Herrschaft zu festigen.

Diversifizierung der Energiequellen und Transportrouten

Die traumatischen Auswirkungen der Ölpreissprünge von 1973/74 und 1979 (ausführlicher Massarrat 1980) veranlassten die Vereinigten Staaten, Rohstoffquellen und Transportrouten zu diversifizieren und Verknappungs-(»Strangulierungs-«)Situationen soweit wie möglich zu vermeiden. Diversifizierung entwickelte sich so zu einem substanziellen Element zur Absicherung und Fortentwicklung der US-energie- und geopolitischen Doppelstrategie. Die massiven Aktivitäten der US-Konzerne und der Regierungen in Ost- und Westafrika zur Erschließung neuer Energiequellen in den letzten zwei Jahrzehnten gehen in diese Richtung (Massarrat, 2000: 122f und Kronenberger, 1999). Eine gewichtigere Alternative zu den insgesamt dürftigen Ölquellen Afrikas bildet allerdings die Kaspische-Meer-Region, in der sich die zweitgrößten Ölquellen nach der Persischen-Golf-Region und die wichtigsten Gasquellen der Welt befinden. Diese neue energie- und geopolitische Option fiel nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Unabhängigkeit der zentralasiatischen Republiken in den neunziger Jahren den Vereinigten Staaten als Geschenk des Himmels quasi in den Schoß. Fortan pilgerten multinationale Ölkonzerne scharenweise in die neue Ölregion und machten in Kasachstan, Usbekistan, Turkmenistan und Aserbaidschan ihre Aufwartung. Die US-Konzerne betreiben dort intensive Lobbyarbeit und rekrutieren einflussreiche Berater, darunter Richard Cheney, ehemaliger Verteidigungsminister unter Bush sen. und der heutige Vizepräsident von Bush jun., sowie Zbigniew Brzezinski, der frühere Sicherheitsberater von Präsident Carter. Mit von der Partie sind auch die Ölkonzerne Amaco, Unocol, Texaco und Exxon Mobil, die alle bereits mehrere Milliarden US-Dollar für die Öl- und Gasproduktionsanlagen bzw. Pipelineprojekte investiert haben. Gleichzeitig unterzeichneten die Vereinigten Staaten unter dem Vorwand eines »humanitären« Einsatzes 1996 mit Usbekistan und danach mit Kasachstan und Kirgisistan das »Central Asia Bataillons-Abkommen« (vgl. Abramovici, 2002) und schufen damit die Grundlage für Militärübungen und darüber hinaus auch langfristig angelegte Militärstützpunkte. In diese Reihe der Einbindung neuer, zentralasiatischer Republiken in die eigene geopolitische Diversifizierungspolitik und Doppelstrategie gehörte es auch, den Kaukasusrepubliken Georgien, Kasachstan, Aserbaidschan und den zentralasiatischen Staaten Usbekistan, Turkmenistan und Tadschikistan auf dem Nato-Gipfel von 1999 den Status von »Nato-Partnerschaftsländern« zuzuerkennen (Massarrat, 2000: 172.). Die Einbindung Zentralasiens in „Amerikas Strategie der Weltherrschaft auf dem Eurasischen Schachbrett“, so Brzezinski in seinem Buch »Die einzige Weltmacht«, gewinnt mit Hinblick auf die Volksrepublik China als aufsteigende regionale Supermacht und geopolitischer Rivale der USA in Ostasien eine zusätzliche strategische Bedeutung. Was bisher für Europa und Japan in der energie- und geopolitischen Doppelstrategie der USA galt, gilt in Zukunft auch – angesichts ihrer zu erwartenden Abhängigkeit von Öl- und Gasimporten – für die Volksrepublik China.

Zu der Diversifizierung von Öl- und Gasquellen kommt auch die Diversifizierung von Transportrouten hinzu: (a) die russische Route von Kasachstan durch Russland zum russischen Schwarzmeerhafen Novorossijsk, (b) die Mittelmeerroute westlich vom Kaspischen Meer durch Aserbaidschan, Armenien, Georgien durch die Türkei oder über den Iran durch die Türkei zum türkischen Mittelmeerhafen Ceyhan und schließlich (c) die Afghanistanroute östlich vom Kaspischen Meer über Turkmenistan, Afghanistan und Pakistan zum Persischen Golf und Indischen Ozean. Nahezu alle Kriege und Konflikte der letzten Jahre im Kaukasus-türkischen Raum (armenisch-aserbaidschanische, tschetschenisch-russische, georgische, kurdisch-türkische) und in Zentralasien, vor allem die Kriege innerhalb und gegen Afghanistan, haben direkt oder indirekt mit dem Wettkampf zwischen den USA und Russland zu tun, den Zugriff zu den Energiequellen und Transportrouten in der Region für sich zu entscheiden.

Die Schlüsselrolle des Afghanistan-Pipelineprojektes

Durch die Diversifikation der Energiequellen und -routen soll die Abhängigkeit der USA von einer einzigen Quelle reduziert und der eigene Handlungsspielraum zur Umsetzung der Doppelstrategie maximiert werden. Die Energiequellen im Kaspischen Meer könnten sich allerdings nur dann als eine ernsthafte Alternative zu den Energiequellen der Persischen-Golf-Region etablieren, wenn außer den beiden möglichen, von Russland bzw. Iran abhängigen Routenoptionen eine direkt unter amerikanischer Kontrolle stehende weitere Öl- und Gastransportroute erschlossen würde. So kommt dem Afghanistan-Pipelineprojekt eine Schlüsselrolle zu. Denn nur die Afghanistan-Route ermöglicht es den USA, den Einfluss Russlands oder Irans zurückzudrängen und eine mögliche geopolitische Koalition dieser Staaten, die Amerikas Vorherrschaft beeinträchtigen könnten, von vornherein aussichtslos zu machen. Die Idee einer derart beschaffenen Diversifizierung geht auf den jetzigen Berater des in Zentralasien aktiven US-Ölkonzerns Amaco und einstigen Förderer der afghanischen Volksmudjahedin bei der Vertreibung der sowjetischen Armee aus Afghanistan, Zbigniew Brzezinski, zurück, der mehr als jeder andere US-Geopolitiker die Bedeutung Eurasiens in »Amerikas Strategie der Vorherrschaft« hervorgehoben hat. So plädiert er dafür, „den derzeit herrschenden Pluralismus (!) auf der Landkarte Eurasiens zu festigen und fortzuschreiben. Dies erfordert ein hohes Maß an Taktieren und Manipulieren, damit keine gegnerische Koalition zustande kommt, die schließlich Amerikas Vorrangstellung in Frage stellen könnte, ganz abgesehen davon, dass dies einem einzelnen Staat so schnell nicht gelänge“ (Brzezinski, 2001: 282f).

Folgt man der Feststellung der herausragenden Rolle des Afghanistan-Pipelineprojektes in der US-energie- und geopolitischen Doppelstrategie, so erscheint die Afghanistan-Politik der USA seit 1995 in einem neuen Licht. Es ging dabei in erster Linie um die Realisierung eben dieses Projektes, koste es was es wolle und mit wem auch immer. So wurde im März und Oktober 1995 die turkmenische und pakistanische Zustimmung für das Projekt eingeholt. Die Taliban, „eine Schöpfung des pakistanischen Geheimdienstes“, waren schon zu Beginn des Jahres 1995 aufgetaucht. Sie wurden „vermutlich vom CIA und Saudi-Arabien finanziert“ (Ausführlicher Abramovici, 2002). Im September 1996 eroberten die Taliban Kabul. Michael Bearden (Vertreter des CIA in Afghanistan während des Krieges gegen die Sowjetunion und heute halb-offizieller Sprecher des CIA) gibt die damalige Stimmung der Amerikaner so wieder: „Diese Typen (die Taliban) waren nicht einmal die schlimmsten, etwas hitzige junge Leute, aber das war immer noch besser als der Bürgerkrieg. Sie kontrollierten das gesamte Gebiet zwischen Pakistan und den Erdgasfeldern Turkmenistans. Vielleicht war das doch eine ganz gute Idee, dachten wir, wenn wir eine Erdölpipeline durch Afghanistan bauen und das Gas und die Rohstoffe auf den neuen Markt befördern können. Alle wären zufrieden.“ (Pieces conviction, Fance 3, 18. Oktober 2001, zitiert nach Abramovici 2002)

Die US-Geostrategen und -Außenpolitiker hat also weder der Steinzeit-Fundamentalismus der Taliban noch die Perspektivlosigkeit ihrer Politik für die afghanische Bevölkerung im geringsten interessiert. Ihnen ging es offenbar allein um politische »Stabilität« in Afghanistan und die Sicherheitsgarantie für das Afghanistan-Pipelineprojekt. In Afghanistan wiederholt Bush jun. was Bush sen. 1991 im Irak-Konflikt vormachte. Beide waren und sind, wie keine anderen US-Präsidenten zuvor, sehr eng mit der US-Ölindustrie verbunden und von den Spenden der Ölkonzerne in ihren Wahlkämpfen abhängig. George W. Bush ernannte in sein engstes Beraterteam Leute, die zur Führungsriege der US-Ölkonzerne gehörten, darunter der Vizepräsident Dick Cheney und die Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice. Es war durchaus kein Zufall, dass George W. Bush kurz nach der Amtsübernahme ankündigte, die fossile Energienutzung stärker als bisher in den Vordergrund der Energiepolitik stellen zu wollen, und dass er im März 2001 demzufolge die Klimavereinbarungen im Protokoll von Kioto aufkündigte. Dem Öl und der Geopolitik wurde so ein neuer Auftrieb erteilt. Umso dringlicher wurde für die neue US-Regierung das Afghanistan-Pipelineprojekt. Ganz in diesem Sinne hat sie die laufenden Verhandlungen mit den Taliban, wie inzwischen »Le Monde diplomatique« vom Januar 2002 ausführlich recherchierte, intensiviert und sogar bis Ende Juli 2001 (sechs Wochen vor der Katastrophe in New York und Washington) fortgesetzt. Dabei stand die Auslieferung von Osama Bin Laden keineswegs im Vordergrund. Ganz im Gegenteil waren „die Amerikaner damals so sehr vom Zustandekommen der Verhandlungen (mit den Taliban) überzeugt, dass das FBI seine Untersuchung über eine mögliche Beteiligung Bin Ladens … am Anschlag auf den amerikanischen Zerstörer USS Cole … auf Veranlassung des State Departments einstellen muss.“ (Abramovici, 2002) Nach Berichten der beiden französischen Geheimdienstexperten Brisard und Dasquie trat der für Bin Laden zuständige FBI-Abteilungsleiter, John O‘Neill, im August 2001 aus Protest gegen diese Behinderungen zurück (Bröckers, 2001a).

Tatsächlich hätte Osama Bin Laden, wie der damalige sudanesische Verteidigungsminister, General Erwa, der Washington Post mitteilte, bereits 1996, als er sich im Sudan aufhielt, ausgeliefert werden können. Doch Washington lehnte das Auslieferungsangebot Sudans mit Rücksicht auf mögliche Unruhen in Saudi-Arabien und mögliche Destabilisierung des saudischen Königshauses ab. Laut Washington Post vom 02. Oktober 2001 gab es damals innerhalb der US-Administration eine intensive Diskussion darüber, „ob die Vereinigten Staaten Bin Laden verfolgen und anklagen oder ihn wie einen Mitstreiter in einem Untergrundkrieg behandeln sollten.“ Ganz offensichtlich hat man sich dafür entschieden „to treat him like a combattant in an ,underground war‘.“ (Bröckers, 2001: 4) Diese Behauptung mag unsere Phantasie über die taktischen Spielchen der Geostrategen überschreiten, man kann sie allerdings auch nicht ganz von der Hand weisen, zumal bisher unwidersprochen ist, dass auch Saddam Hussein durch die amerikanische Seite nicht daran gehindert wurde, Kuwait militärisch zu besetzen. Zu diesem Ergebnis kamen Pierre Salinger (Chefkorrespondent der amerikanischen Fernsehanstalt ABC für Europa und den Nahen Osten) und Eric Laurent (freier Journalist) in ihrem 1991 veröffentlichten Buch (Salinger/Laurent, 1991).

Ob diese »unheiligen Allianzen« zwischen Washington und Saddam Hussein bzw. zwischen Washington und Osama Bin Laden durch den CIA geplant und gezielt Schritt für Schritt umgesetzt wurden, bleibt eine Spekulation. Fakt ist allerdings, dass ohne die Besetzung Kuwaits durch Saddam Hussein die direkte militärische Präsenz in Darham und Riad (Saudi-Arabien) und in Kuwait City, d.h. in unmittelbarer Reichweite der größten Erdöl-Lagerstätten der Welt, genauso unwahrscheinlich gewesen wäre wie die Errichtung neuer US-Militärstützpunkte in Zentralasien (Usbekistan, Kirgisistan) und entlang der Öl- und Gastransportrouten der Quellen in der Kaspischen-Meer-Region ohne Osama Bin Laden und den 11. September. Die Kommandos, die das World Trade Center zerstörten, wurden jedenfalls erst Mitte August aktiviert, nachdem sich Ende Juli 2001 ziemlich klar herauskristallisiert hatte, dass die Taliban nicht bereit sind, sich den US-Bedingungen zur Realisierung des Pipelineprojektes zu unterwerfen und nachdem die US-Verhandlungsführer den Taliban nach Aussage des an den Verhandlungen beteiligten ehemaligen pakistanischen Außenministers, Niaz Naik, mit Militäraktionen gedroht hatten (Abramovici 2002 und Bröckers 2001a). Diese Militäraktion hat als Folge des 11. Septembers tatsächlich stattgefunden und die Transportroute für die kaspischen Energiereserven Richtung Indischer Ozean ist nun frei.

Die USA sind nun im Begriff, entlang der neuen Öl- und Gastransportrouten Militärstützpunkte zu errichten, um ihren globalen Anspruch auf die Vorherrschaft mittels Kontrolle der Ölquellen gegenüber Europa, Japan und nunmehr auch der VR China zu untermauern. Dass die hier dargestellte Doppelstrategie der USA mittels Öl- und Geopolitik die strukturelle Abhängigkeit von fossilen Energieimporten voraussetzt, erklärt, weshalb Russland auf Grund seiner eigenen umfangreichen Energieressourcen jenseits der Reichweite dieser energie- und geopolitischen Doppelstrategie liegt und dass es den USA in erster Linie darum geht, Russlands geopolitische Optionen in Zentralasien auf null zu reduzieren.

Zu der Diversifizierungsstrategie der USA gehört außer der Diversifizierung der Ölquellen und Transportrouten auch eine Diversifizierung von Militärstützpunkten und strukturellen Fähigkeiten für den Nachschub von Kriegsmaterial und -personal im gesamten eurasischen Raum. Vor diesem Hintergrund erscheint auch das US-Engagement auf dem Balkan, insbesondere im Kosovokonflikt, und die Errichtung einer Militärbasis, des Camp Bondsteel in der Nähe von Pristina als einem der größten US-Militärstützpunkte außerhalb der Nato, in einem neuen Licht (vgl. Massarrat 2000a).

Diese Ausführungen wären unvollständig, blieben zwei Ironien des Afghanistan-Krieges unerwähnt. Erstens die Tatsache, dass ausgerechnet jemand wie Osama Bin Laden, der die amerikanische Ölpolitik als Grund für seinen antiamerikanischen Hass anführte und damit auch die Terroranschläge gegen die USA rechtfertigte1, selbst zum Verbündeten der USA umfunktioniert wird, um die bisherige US-Öl- und Geopolitik im Mittleren Osten und Zentralasien zu festigen und auszubauen. Und zweitens die bittere Wahrheit, dass ausgerechnet die rot-grüne Bundesregierung, die bei den internationalen Klimaverhandlungen zur Reduzierung des fossilen Energieverbrauchs für sich eine Vorreiterrolle reklamiert, mit ihrer „uneingeschränkten Solidarität“ im Afghanistan-Konflikt dazu beigetragen hat, dass die Vereinigten Staaten ungehindert ihre Politik der forcierten Nutzung fossiler Energien durchsetzen und damit alle Ergebnisse des Klimaprotokolls von Kioto von Grund auf zunichte machen können. So schließt sich wieder der Teufelskreis der US-energie- und geopolitischen Doppelstrategie.

Der Teufelskreis von Rüstungswettlauf, Krieg und Fundamentalismus

Was die politische Klasse Amerikas bei der Verfolgung ökonomischer und geostrategischer Ziele von den Menschen im Orient jenseits aller ideologischen Phrasen über Demokratie, westliche Werte und Menschenrechte wirklich hält, sagte unumwunden der ehemalige US-Energieminister James Schlesinger auf dem 15. Kongress des Weltenergiebeirates 1992 in Madrid: „Das, was das amerikanische Volk aus dem Golfkrieg gelernt hat, ist, dass es wesentlich leichter und wesentlich lustiger ist, den Leuten im Vorderen Orient in den Hintern zu treten, als Opfer zu bringen und die Abhängigkeit Amerikas im Hinblick auf das importierte Öl zu begrenzen.“ (Sarkis 1993) Die US-Politik im Mittleren und Nahen Osten seit der Mitte des letzten Jahrhunderts und nun auch in Zentralasien entspricht auf der ganzen Linie jedenfalls ziemlich genau der »Wertschätzung«, die Schlesinger den Menschen im Vorderen Orient beimisst.

Über ein halbes Jahrhundert erlebten die Menschen im Mittleren und Nahen Osten eine politisch-militärische Kooperation des Westens und der Sowjet Union mit diktatorischen Regimen; sie erlebten Militärinterventionen, Waffenimporte, Kriege, Zerstörungen und menschliches Leid. Es gibt kein einziges Beispiel dafür, dass Ansätze von Demokratie von außen in der Region gefördert wurden, dass die Werte westlicher Industriestaaten, wie Pluralismus, Meinungsfreiheit und Schutz der Menschenrechte, glaubhaft als Richtschnur ihrer Beziehungen zu den Staaten im Mittleren und Nahen Osten gedient hätten. Wie sollten die islamischen Bevölkerungen dieser Region die positiven politischen Errungenschaften des Westens wahrnehmen und sich diese auch zu Eigen machen, wenn sie durch eigene Erfahrungen und Erlebnisse mit den westlichen Staaten nicht mit diesen positiven Werten, sondern mit purer westlicher Interessenpolitik, mit Waffengewalt und geopolitischen Schikanen konfrontiert wurden? Dadurch wurde die Demokratisierung in der Region um Jahrzehnte zurückgeworfen und den Völkern im Nahen und Mittleren Osten beträchtlicher Schaden zugefügt, den kurzfristigen amerikanischen und westlichen Interessen jedoch nicht geschadet, ganz im Gegenteil. Es gibt einen eindeutigen Zusammenhang zwischen den nationalistisch-fundamentalistischen Regimen, den beiden Golfkriegen, den gigantischen Rüstungsexporten in die Persische-Golf-Region in den letzten 30 Jahren und den sinkenden Ölpreisen. Letztere gelten bekanntlich als wichtigster Stabilitätsfaktor für die florierenden Volkswirtschaften kapitalistischer Industrieländer.

Nun hat sich durch den Terroranschlag auf das World Trade Center und auf das Pentagon das Konzept einer Destabilisierungsstrategie mit »kalkulierbarem Risiko« als Bumerang erwiesen. Die auf eigenen kurzfristigen ökonomischen und geostrategischen Interessen basierende Politik der USA und des Westens wird durch den globalisierten Terrorismus eingeholt. Wie die drohende Klimakatastrophe als Reaktion der Natur auf ein nur kurzsichtig ausgerichtetes ökonomisches Handeln der reichen Eliten in den Industrie- und Entwicklungsländern gesehen werden muss, ist der globalisierte Terrorismus die politische Reaktion auf die Art und Weise der Aufrechterhaltung und Absicherung des Systems. Insofern tragen alle westlichen Staaten, allen voran die USA selbst, eine beträchtliche Mitverantwortung für die Katastrophe in New York und Washington und für Tausende Opfer unter den Trümmern des World Trade Centers.

Literatur

Abramovici, Pierre (2002): Dubiose Kontakte Washington und Taliban, in: Le Monde diplomatique vom Januar 2002.

Altmeyer, Martin (2001): Renaissance zweier Welten. Der Terror und die narzisstische Kränkung, in: Frankfurter Rundschau vom 19.09.01.

Bröckers, Mathias (2001): Pack schlägt sich, Pack verträgt sich. Die Bush – Bin Laden – Connection, in: Telepolis vom 20.11.01 (wysiwyg://http://www.heise.de).

Bröckers, Mathias (2001a): In Memorian John O‘Neill – der kaltgestellte Jäger Bin Ladens starb im World Trade Center, in: Telepolis vom 24.11.01 (wysiwyg://http://www.heise.de).

Brzezinski, Zbigniew (2001): Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft, Frankfurt a.M.

Chomsky, Noam/ Beinin, Joel u.a. (1992): Die neue Weltordnung und der Golfkrieg, Grafenau.

Massarrat, Mohssen (1980): Weltenergieproduktion und Neuordnung der Weltwirtschaft, Frankfurt a.M./New York.

Massarrat, Mohssen (1981): Instabilität der Weltlage und Kriegsgefahr, in: Sozialistisches Büro (Hrsg.): Sozialistische Politik und Kriegsgefahr, Offenbach, S. 13-37.

Massarrat, Mohssen (1988): Der Gottesstaat auf dem Kriegsschauplatz, in: Peripherie,.

Massarrat, Mohssen (1991): Der Golfkrieg: Historische, politische, ökonomische und kulturelle Hintergründe, in: Stein, Georg (Hrsg.): Nachgedanken zum Golfkrieg, Heidelberg.

Massarrat, Mohssen (1999): Islamischer Orient und christlicher Okzident: Gegenseitige Feindbilder und Perspektiven einer Kultur des Friedens, in: Osnabrücker Jahrbuch Frieden und Wissenschaft, 6/1999.

Massarrat, Mohssen (1999a): Die unheilige Allianz mit dem irakischen Diktator, in: Wissenschaft und Frieden, Nr. 1/99.

Massarrat, Mohssen (2000): Das Dilemma der ökologischen Steuerreform. Plädoyer für eine nachhaltige Klimapolitik durch Mengenregulierung und neue politische Allianzen, 2., stark erweiterte Auflage, Marburg.

Massarrat, Mohssen (2000a): Der Nato-Krieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien. Lehren für eine pazifistische Perspektive und eine europäische Friedenspolitik, in: Osnabrücker Jahrbuch Frieden und Wissenschaft VII/2000.

Pitzke, Marc (2001): Die Woche vom 19. Oktober 2001.

Salinger, Pierre/ Laurent, Eric (1991): Krieg am Golf. Das Geheimdossier. Die Katastrophe hätte verhindert werden können, München.

Yergin, Daniel (1991): Der Preis. Die Jagd nach Öl, Geld und Macht, Frankfurt/Main.

Anmerkungen

1) „Amerika stiehlt uns das Öl. Sie behaupten es wäre wichtig für sie. Amerika ist der größte Terrorist aller Zeiten. Nichts wird Amerika davon abhalten so weiterzumachen, außer man zahlt es ihnen mit gleicher Münze heim.“ Notiert aus einem nach dem 11. September über diverse Sender ausgestrahlten Interview ohne Zeitangabe.

Prof. Dr. Mohssen Massarrat lehrt im Fachbereich Sozialwissenschaften an der Universität Osnabrück

Zur Nahostdimension des Terrorismus Bin Ladens

Zur Nahostdimension des Terrorismus Bin Ladens

von Petra Weyland

Anders als der Begriff »Orient«, den wir im Allgemeinen mit romantischen Sehnsüchten besetzen, assoziiert das Wort »Naher Osten« in der deutschen Öffentlichkeit vielfach Gewalt. Wir denken an den endlosen Bürgerkrieg im Libanon, an Flugzeugentführungen durch palästinensische Freischärler, an Katyusha-Beschuss von Siedlungen im Norden Israels oder auch an die jüngste Welle von Selbstmordattentaten islamistischer Extremisten. Und so entsteht sehr schnell der Eindruck, der Terrorismus des Arabers und Muslims Bin Laden und al-Qaidas gehöre zur selben Kategorie wie die militanten Aktionen der schiitisch-libanesischen Hizbullah oder palästinensischer Organisationen in den besetzten Gebieten. Irrationale Gewalt und Terrorismus sind für uns »irgendwie« im Nahen Osten zuhause, scheinen »irgendwie« arabische oder islamische Ursachen zu haben. Allenfalls mit der gelegentlichen Anführung der Redewendung „Was des einen Terrorismus ist, ist des anderen Befreiungskampf“ sind wir bereit wahrzunehmen, dass es neben unserer Perspektive noch eine andere, für uns allerdings inakzeptable Position gibt.
Die Einschätzung, dass extreme, illegale Gewaltausübung ursächlich mit dem Islam oder dem Arabertum verbunden ist, dass es sich bei dem Terrorismus eines Bin Laden oder der Gewalt der afghanischen Taliban um ein und dasselbe Phänomen handelt wie in Palästina/Israel oder im Libanon, ist jedoch falsch. Sie berücksichtigt nicht die unterschiedlichen regionalen, soziopolitischen und kulturellen Problemlagen. Erst die Mechanismen der Globalisierung machen es möglich, dass Bin Laden, al-Qaida und die Taliban heute weltweite Bedeutung gewinnen und ihre spezifischen Formen des Terrors entwickeln können.

Die Krisen im Nahen Osten und besonders in Palästina/Israel haben hiermit zunächst sehr wenig zu tun. Allerdings kommt gerade der Palästinafrage eine wichtige symbolische Bedeutung zu und genau die ermöglicht es, diesen spezifischen Konflikt in den – je nach Blickwinkel – »islamistischen Befreiungskampf« oder den »islamistischen Terrorismus« einzuordnen. Wenn es das zentrale Ziel ist, den Terrorismus auszutrocknen, dann müssen wir die unterschiedlichen Ursachen und Hintergründe des Terrors untersuchen, dann dürfen wir nicht die Augen vor den Entstehungszusammenhängen dieser Entwicklungen verschließen. Das hat nichts mit der Rechtfertigung von Terror zu tun und auch nichts mit Antiamerikanismus oder Sympathiebekundungen für die Terroristen.

Bin Laden und Al Qaida

Tatsächlich verfügen wir über wenig abgesicherte Informationen über Bin Laden1 und Al Qaida. Zu wenig für eine gesicherte Einschätzung bezüglich deren Motivation und Machtbasis. Leider ist das jedoch für die öffentliche Diskussion kaum von Bedeutung. Die hier vorherrschende Betrachtungsweise lässt sich eher als Dämonisierung beschreiben. So wird es möglich, Bin Laden, al-Qaida und die Taliban herausgelöst aus ihren realen soziopolitischen und kulturellen Bezügen zu betrachten und als das Böse schlechthin darzustellen.

Zu beobachten ist dabei, dass die Öffentlichkeit in Bezug auf Saudi-Arabien, die Heimat Bin Ladens, ähnlich ignorant ist, wie dies in den siebziger Jahren bezüglich des Irans unter dem Schah der Fall war. Wir registrieren zwar, dass Saudi-Arabien ein sehr autokratisch regiertes Land ist, dabei interessiert hier aber hauptsächlich, dass dieser Staat sich trotz seiner islamischen Verfassung und trotz seiner autokratischen Herrschaft westlichen Interessen gegenüber konform verhält. Wie im Fall des Iran nehmen wir kaum wahr, dass es in diesem Land enorme gesellschaftliche und politische Spannungen gibt. Tatsächlich existiert in Saudi-Arabien seit langem ein oppositionelles geistiges Klima, eine innergesellschaftliche Opposition, die sich gegen den autokratischen, repressiven Führungsstil der Machteliten richtet, die den offensichtlichen Widerspruch aufgreift zwischen einem islamisch legitimierten Anspruch als Herrscher und Hüter der heiligen Stätten von Mekka und Medina und einer realen Herrschaftspraxis, die nicht dem islamischen Gesetz, der Scharia, entspricht. Hinsichtlich dieser Opposition sei nur daran erinnert, dass militante Islamisten schon 1979 die große Moschee in Mekka besetzten. Dass sich Opposition in einem so traditionalen Land wie Saudi-Arabien kaum anders als religiös artikulieren kann, ist dabei kaum verwunderlich.2

Bin Ladens Entwicklung zum Terroristen muss vor diesem gesellschaftlichen Hintergrund gesehen werden. Es ist anzunehmen, dass Bin Laden als junger Erwachsener von diesem islamisch-islamistischen oppositionellen Milieu zumindest Kenntnis hatte. So gesehen ist er kein Einzelgänger, der vom Bösen besessen ist. Sondern er erscheint uns als ein Vertreter jenes oppositionellen Teils einer ganzen Generation heranwachsender Saudis, eine jener Personen, die sich auf ihrem Lebensweg und den damit verbundenen einschneidenden Erfahrungen von einem wohlhabenden Spender für islamische karitative Zwecke allmählich zum Extremisten wandeln. Ein ausreichend gefestigtes Weltbild vorausgesetzt, ist es durchaus plausibel, dass er, anders als viele reiche Saudis, sein Erbe nicht in die Partizipation am Jetset der Golfaraber investiert, sondern es der »internationalen islamistischen Solidarität« mit Afghanistan widmet. Und auch als jemand, der schließlich sogar bereit ist in diesem Land aktiv am Kampf für die gemeinsame islamische Sache teilzunehmen, ist er kein Einzelfall. Damals entschlossen sich viele junge Araber dazu, in Afghanistan am Kampf gegen die sowjetischen Besatzer teilzunehmen.3

Es ist anzunehmen, dass die Erfahrung der Waffenbrüderschaft mit Glaubenskämpfern aus anderen muslimischen Gesellschaften, ihre Berichte und Diskussionen über soziale, politische und kulturelle Missstände in ihren Heimatländern, schließlich zur Etablierung von Netzwerken führte, in die Bin Laden integriert war. Erfahrungen, die dazu führten, dass er die saudische Frage in einem umfassenderen, panarabisch-muslimischen, schließlich sogar »antiimperialistischen« Kontext stellte. Hinzu kam, dass ihn – angesichts seiner afghanischen Erlebnisse – die politischen Verhältnisse, die er nach seiner Rückkehr in die Heimat vorfand, abstießen. Das saudische Regime hatte sich in seinen Augen inzwischen völlig delegitimiert. War Bin Laden gerade aus einem erfolgreichen Jihad zurückgekehrt, so musste er nun feststellen, dass die Königsfamilie nicht zuletzt mit dem Ziel der eigenen Herrschaftssicherung den USA eine massive, permanente militärische Präsenz in Saudi Arabien ermöglicht hatte.

Bin Laden nahm den Kampf auf mit dem Ziel der Beendigung der US-Präsenz in Saudi-Arabien. Insofern war sein Ziel sehr konkret – es ging ihm nicht primär darum, »den Westen«, »die westlichen Werte« oder »die Zivilisation« zu bekämpfen. Jedoch weitete sich sein Kampf von diesem sehr konkreten Ziel, die amerikanische Präsenz auf der arabischen Halbinsel zu beenden, schließlich tatsächlich auf Angriffe auf amerikanische Einrichtungen überall in der islamischen Welt aus. Seine Rückkehr nach Afghanistan, seine Integration in ein internationales islamistisches gewaltbereites Netzwerk bewirken einerseits, dass er diesen islamistischen Kräften nun als finanzkräftiger Unterstützer für deren Sache zur Verfügung steht, andererseits aber auch, dass Bin Laden diese Kanäle für sein eigenes Anliegen, US-Institutionen anzugreifen, nutzen kann.

Die Globalisierung und der Terror

Zu dieser Entwicklung haben auch unterschiedliche Aspekte der Globalisierung beigetragen. Elektronische Kommunikation, die mediale Verbreitung von Bildern, Symbolen und Definitionen des »Kampfes der Kulturen«, die Proliferation von Kleinwaffen, Drogenhandel und globale Kapitalströme nahmen im vergangenen Jahrzehnt enorm zu. Damit globalisierten sich die Möglichkeiten für den islamistischen Terror von Bin Laden und al-Qaida. Mögen die Ursprünge dieses Terrors und die anfängliche Motivation der späteren Terroristen auch noch so lokal begrenzt gewesen sein, heute ist diese Form des Terrorismus eine der vielen Facetten der Globalisierung. Genauso wie frühere Formen des Islamismus nie traditional, »vormodern« oder »halbmodern« waren, sondern nur regionalspezifische Ausprägungen einer allumfassenden Moderne, so ist auch Bin Ladens Terrorismus ein weiteres Gesicht der Globalisierung. Und es ist zu befürchten, dass sich gerade nach den monströsen Anschlägen vom 11.9. und den Maßnahmen der weltweiten Antiterrorallianz die Gewaltspirale weiter drehen wird. Denn das Ausmaß und die Dauer der Luftschläge, die steigende Anzahl der zivilen Opfer, die Schwierigkeiten, die Kriegsziele zügig zu erreichen – also Bin Laden und Al Qaida zu zerstören und das Taliban Regime mit den ergriffenen Maßnahmen zu Fall zu bringen, die Tatsache, daß auch Bewegungen, die mit militanten Mitteln gegen eine Besatzungsmacht im eigenen Land kämpf(t)en – also Hizbullah und Hamas –, auf die Liste der zu bekämpfenden Terrororganisationen gesetzt wurden, die Offensichtlichkeit, dass auch jetzt die USA nicht bereit sind, dem israelischen Vorgehen in den besetzten palästinensischen Gebieten energisch entgegenzutreten – all das wird weltweit medial verbreitet und damit vor allem in der islamischen Welt öffentlich diskutiert und kritisiert. Das führt mehr oder weniger automatisch zu einer Abfolge von Reaktionen und Gegenreaktionen. Hinzu kommt, dass beide Kriegsparteien über CNN bzw. über al-Jazira um die Durchsetzung ihrer jeweiligen Definition des Krieges in der öffentlichen Meinung kämpfen und damit dazu beitragen, dass trotz aller andersartigen US-amerikanischen Beteuerungen dieser Krieg als ein Kampf der Kulturen präsentiert wird. Für die USA ist Bin Laden der Böse schlechthin, während Bin Laden in den USA eine moderne Form der Kreuzritter sieht, die wieder einmal ausgezogen sind, die muslimische Welt zu zerstören. Mit dieser Einschätzung versucht er in dem jetzt entbrannten Krieg eine möglichst große Zahl von Muslimen aus allen Ländern zu motivieren, sich seinem Jihad anzuschließen.4 Angesichts der Spirale der Gewalt, die nach dem 11.9. in Gang gesetzt wurde, ist es nur allzu gut nachvollziehbar, dass er angesichts seiner militärischen Unterlegenheit kaum eine andere Strategie verfolgen kann, als sich als islamische Ikone im Kampf gegen die modernen Kreuzritter zu stilisieren, was ihm aufgrund seines offensichtlich vorhandenen Charismas in manchen Kreisen5 tatsächlich auch gelingen mag.

Andere Interessenlage in Nahost

Mit dem Nahen Osten und den dortigen Konflikten, besonders mit der Dauerkrise um Palästina/Israel, hat dieser Teil des internationalen islamistischen Terrorismus wenig zu tun. Weder haben sich die Menschen im Nahen Osten in Scharen nach Afghanistan begeben, noch kämpfen sie vor Ort für die Sache Bin Ladens. Und auch Bin Laden ist nie im Nahen Osten aktiv geworden. Zwar teilt eine überwiegende Mehrheit der arabischen, und so auch der nahöstlichen und besonders der palästinensischen Bevölkerung, die antiamerikanische Einstellung Bin Ladens, ohne dabei jedoch dessen Terror oder gar die Anschläge vom 11.9. gut zu heißen. Diese antiamerikanische Haltung beruht auf einer Jahrzehnte alten, durchaus sehr realen Erfahrung, die besagt, dass die USA nur an der Durchsetzung ihrer eigenen Interessen interessiert sind. Die Menschen registrieren, dass die USA, obwohl sie vorgeben die größten Verfechter von Demokratie und Menschenrechten zu sein, durchaus mit sehr unterschiedlichen, interessengeleiteten Maßstäben an die Umsetzung von UN-Resolutionen gehen; dass sie (zumindest seit dem Junikrieg von 1967) auf Kosten der Palästinenser eine sehr einseitige pro-israelische Politik verfolgen; dass viele korrupte arabische Regime sich nur mit amerikanischer Unterstützung an der Macht halten konnten. Diese US-Politik war für die Menschen vor Ort oft mit großem Leid verbunden, z.B. für die irakische Zivilbevölkerung, die seit Jahren unter dem Embargo leidet, oder für die Menschen in Gaza und der Westbank, die nach wie vor keinen Frieden haben.

Weite Teile der arabischen Bevölkerung erkennen, dass es aufgrund der enormen amerikanischen Machtfülle nicht möglich ist, eigene Interessen erfolgreich durchzusetzen. Sie verstehen dies als Arroganz der Supermacht und das führt bei vielen schließlich zu einem Gefühl der absoluten Machtlosigkeit, der Erniedrigung und Demütigung, zu einem grundsätzlichen Misstrauen, zu Abneigung und Hass. Trotzdem sind die USA für große Teile der nahöstlichen Bevölkerung aufgrund wachsender Armut und politisch-sozialer Perspektivlosigkeit das »Gelobte Land«, in das man ausreisen möchte. Auch hört man in der arabischen Öffentlichkeit immer wieder, dass angesichts der Machtlosigkeit Europas kein anderer Weg bleibe, als die USA als Partner bei Konfliktlösungen zu akzeptieren.

In eben diesem Sinnzusammenhang ist Palästina von zentraler Bedeutung. Am Palästinaproblem zeigt sich am deutlichsten die sehr einseitige, allein an nationalen Interessen ausgerichtete Nahostpolitik der USA.6 In der arabischen Öffentlichkeit ist es Konsens, dass die US-Unterstützung für Israel bisher verhindert hat, dass die Palästinenser ihre politischen Rechte erhalten, und dass die soziale Lage der Palästinenser sich deswegen seit Jahren – und besonders seit Beginn dessen, was als »Friedensprozess von Oslo« bezeichnet wurde – kontinuierlich verschlechtert. Palästina ist seit vielen Jahrzehnten überall in der arabischen Welt, und sogar in Teilen der übrigen muslimischen Welt, das zentrale Symbol für die Verweigerung des Selbstbestimmungsrechts und für den Kampf eines Volkes gegen eine übermächtige, von den USA unterstützte, als kolonialistisch betrachtete staatliche Macht. Hinzu kommt, dass sich die arabische und muslimische Bevölkerung in hohem Maße mit diesem Symbol identifiziert. Diese Identifikation existiert seit Jahrzehnten ungebrochen, auch wenn dies kaum einmal praktische Relevanz bekommen hat.

Historisch gesehen haben diese Solidarität und Identifikation ihre Wurzeln in der Zeit der arabischen Einheit und des Panarabismus der fünfziger und sechziger Jahre, also in der Zeit der Bildung junger Nationalstaaten arabisch-sozialistischer Prägung während der Phase der Entkolonialisierung. Der große, charismatische Führer der arabischen Einheit war der ägyptische Staatschef Gamal Abd an-Nasr, aber es gab auch wichtige, länderübergreifende panarabische Organisationen, wie die »Bewegung der arabischen Nationalisten«. Von ihnen erwarteten die arabischen Massen lange Zeit auch die Befreiung Palästinas. Arabische Intellektuelle und politische Aktivisten führten lange theoretische Debatten über den Zusammenhang von Panarabismus und der Befreiung Palästinas. Zwar ist diese panarabische Phase mit dem Tod Nasrs zu Ende gegangen, aber auch heute noch sieht ein beachtlicher Teil der arabischen Bevölkerung in der arabischen Einheit eine zentrale Voraussetzung für die Befreiung Palästinas.

Hinzu kommt, dass die Solidarisierung der arabischen Massen mit der Palästinafrage alle arabischen Regimes immer auch zu einer zumindest rhetorischen Solidarität mit den Palästinensern gezwungen hat. Jede offene politische oder ökonomische Annäherung dieser Staaten an Israel musste unweigerlich zu deren Delegitimierung in den Augen der arabischen Bevölkerung beitragen, musste die Kluft zwischen arabischer Zivilbevölkerung und autokratischen Machthabern vergrößern. Nicht zuletzt deswegen liegt der Bush-Regierung derzeit so viel daran, den »low intensity war« in Palästina/Israel nicht weiter eskalieren zu lassen. Von diesem innerarabischen, eher säkularen Diskurs waren islamische und islamistische Zirkel durchaus nicht ausgeschlossen, sie entwickelten ihre eigenen Varianten. Und mit dem Niedergang der panarabischen Bewegung und ihrer eher arabisch-sozialistischen Ausrichtung übernahmen islamistisch geprägte Ideologien und Bewegungen dieses Erbe – was sich nach der iranischen Revolution noch verstärkte. So wurde auch das vormals eher säkular besetzte Symbol Palästina allmählich »islamisiert«. Weil Jerusalem nicht nur als zukünftige Hauptstadt eines palästinensischen Staates gedacht war, sondern – nach Mekka und Medina – auch die drittwichtigste Stadt des Islam ist, ließ sich der Kampf um die Befreiung Palästinas von je her auch islamisch begründen. So kam der Palästinafrage immer schon eine wichtige Bedeutung am Sinnhorizont aller Muslime und der Islamisten zu.

Diesem Trend der Islamisierung des Symbols Palästina konnten sich in den letzten Jahren nicht einmal die palästinensische Autonomiebehörde und die palästinensischen politischen Bewegungen entziehen. Sie hätten andernfalls riskiert, im allgemeinen Zuge der Islamisierung der Massen als säkulare, außerdem ziemlich erfolglose politische Kräfte ihren Rückhalt in der Bevölkerung noch weiter zu verlieren. Dies hat dazu geführt, dass der Kampf gegen die Besatzungsmacht, der lange Jahre von säkularen Kräften dominiert wurde, sich zunehmend islamisierte, ohne dass sich damit jedoch Ziele und Inhalte des Widerstands wesentlich änderten.

Vor diesem historischen Hintergrund wird verständlich, warum das Symbol Palästina zwingendermaßen auch in der Argumentation Bin Ladens auftauchen musste. Hinzu kommt, dass die aktuellen Entwicklungen in der Intifada für die Plausibilität dieses Symbols täglich neue Beispiele liefern, die rund um die Uhr auf allen Fernsehkanälen vor allem in der arabischen Welt zu sehen sind.

Ein Beispiel für die Wirkung der Medien ist das Sterben des zwölfjährigen palästinensischen Jungen Muhammad ad-Durra durch die Kugeln israelischer Soldaten im Herbst letzten Jahres. Dieser viele Male im Fernsehen übertragene Tod hat sich so sehr beim arabischen Fernsehpublikum eingeprägt, dass al-Qaida das Sterben dieses Kindes sogar ein Jahr danach noch zum Symbol für das Leiden und Sterben der afghanischen Zivilbevölkerung durch amerikanische Bomben machen kann. Dieses Symbol, diese Zusammenhänge werden von jedem im Nahen Osten und in Palästina verstanden. Und so wird es verständlich, dass al-Qaida sich dieses Ereignisses bedient, um zwischen dem eigenen Kampf und dem der Palästinenser eine Verbindung zu konstruieren. Es ist diese große symbolische Bedeutung des Palästinakonflikts, die es dem islamistischen Terroristen Bin Laden und al-Qaida ermöglicht, bei beachtlichen Teilen der Araber und Muslime zumindest ein gewisses Verständnis zu erwecken.

Auswirkungen des Terrors auf die Nahostfrage

Bleibt zu fragen, welche Auswirkungen die Attentate in New York und Washington und der anglo-amerikanische Krieg in Afghanistan auf die Entwicklung der Krise in Palästina/Israel haben werden. Nach über einem Jahr Intifada ist zu konstatieren, dass vor dem 11.9. ein Ende des Konflikts in weitere Ferne denn je gerückt war. Die auf beiden Seiten ständig eskalierende Gewalt, eine immer größere Zahl an Opfern, der vom israelischen Ministerpräsident Sharon durchaus angestrebte Zerfall der palästinensischen Autonomiebehörde, deren Unfähigkeit und Korruption sind nur einige Gründe dafür, dass heute die ökonomische, politische und soziale Situation weiter Teile der palästinensischen Gesellschaft bedeutend schlechter als je zuvor und kaum noch zu ertragen ist. Vor dem 11.9. zeichnete sich weder in der israelischen und der amerikanischen, noch in der palästinensischen Politik eine Trendwende zum Besseren ab.

Die vage Hoffnung besteht, dass mit dem 11.9. und den Folgeereignissen eine weitere Eskalation vielleicht doch noch aufgehalten wird. Zwar setzte Scharon in den ersten Tagen nach den Attentaten, und besonders nach der Ermordung des israelischen Tourismusministers Zeevis, darauf, Arafat als einen zweiten Bin Laden darzustellen, gegen den das israelische Militär dann zwingend vorgehen müsse. Diese Gleichsetzung Arafats mit Bin Laden wurde aber von der Weltöffentlichkeit und auch von den USA nicht mitgetragen. Trotzdem ist es offensichtlich, dass die israelische Regierung die Situation, in der die Welt ihre volle Aufmerksamkeit auf die Entwicklung in Afghanistan richtete, für eine weitere deutliche Steigerung der Gewalt gegen die Palästinenser nutzte.

Die Bush-Regierung, die seit ihrer Etablierung keinerlei Aktivitäten im palästinensisch-israelischen Krisenmanagement entwickelt hatte, sieht sich nun allerdings gezwungen einzugreifen. Aufgrund innenpolitischer Mechanismen in den USA und aufgrund der amerikanischen strategischen und ökonomischen Interessen in der Golfregion haben sie über viele Jahrzehnte die bedingungslose Unterstützung Israels nicht in Frage gestellt. Die gewaltigen innenpolitischen Erschütterungen nach dem 11.9. und der Wille, die gemeinsame Front gegen den islamistischen Terror nicht zu gefährden, könnten jetzt erstmals zumindest ansatzweise zu einer neuen Politik gegenüber Israel führen. In der Tat haben die Amerikaner in den letzten Tagen immer wieder interveniert, um die Israelis zu einer Mäßigung ihres Krieges gegen die Bevölkerung der palästinensischen Gebiete zu bewegen. Dies ist ihnen sehr bedingt auch gelungen. Andererseits ist hier offensichtlich eine noch viel deutlichere amerikanische Politik gegenüber Palästina und Israel gefragt, um tatsächlich eine Trendwende einzuleiten. Dass die USA jetzt die Etablierung eines palästinensischen Staates befürworten, sollte jedenfalls nicht zu allzu großer Hoffnung führen. Denn nach allem, was sich in den letzten Jahren abgezeichnet hat, käme dieser Staat eher einem völkerrechtlich legitimierten Bantustan gleich als einem tatsächlich souveränen Staat. Trotz aller derzeitiger Rhetorik – größere Skepsis bleibt angebracht, was die Aussichten auf eine gerechte Beilegung dieses Konfliktes aufgrund einer neuerdings geänderten amerikanischen Haltung betrifft.

Anmerkungen

1) Siehe hierzu vor allem: Rashid, Ahmed: Taliban, Afghanistans Gotteskrieger und der Dschihad, München 2001, Droemer.

2) Siehe zur innersaudischen Opposition: Okruhlik, Gwenn: »Understanding Political Dissent in Saudi Arabia«, MERIP Press Information, Note 73, October 24, 2001, www.merip.org

3) Siehe hierzu Rashid, 2001, Kapitel 10. In diesem Kapitel beschäftigt sich Rashid außerdem mit der massiven US-amerikanischen Unterstützung für diesen Widerstand gegen die Sowjetunion. Übrigens verweist auch Huntington schon in seinem Buch »Kampf der Kulturen« darauf, dass der erfolgreiche Kampf der Mujahidin gegen die SU erheblich durch diese amerikanische Unterstützung gefördert wurde. Letztlich haben die USA also zum »Erfolg« Bin Ladens selber maßgeblich beigetragen, – eine äußerst riskante Politik, die auch in anderen Fällen (so z.B. bezüglich Saddam Husseins oder jetzt der afghanischen Nordallianz) praktiziert wurde und wird.

4) so heißt es in Bin Ladens Fernsehansprache vom 3.11.u.a.: „God says: »Never will the Jews or the Christians be satisfied with thee unless thou follow their form of religion.« It is a question of faith, not a war against terrorism, as Bush and Blair try to depict it. (…) After the US politicians spoke and after the US newspapers and television channels became full of clear crusading hatred in this campaign that aims at mobilizing the West against Islam and Musims, Bush left no room for doubts (…) that this war is a crusader war. (…) What terrorism are they speaking about at a time when the Islamic nation has been slaughtered for tens of years without hearing their voices and without seeing any action by them? But when the victim starts to take revenge for those innocent children in Palestine, Iraq, southern Sudan, Somalia, Kashmir and the Philippines, the rulers’ ulema (Islamic leaders) and the hypocrites come to defend the clear blasphemy.“ (Auszug aus dem von al-Gezira ins Englische transkribierten Text auf der BBC-homepage vom 3.11.2001, Korrekturen W&F).

5) Ich denke hier zum Beispiel an jugendliche Palästinenser im Gazastreifen, die nach jahrelangem Leben in einer Art überdimensionalem Gefängnis und enttäuschten Hoffnungen, nach über einem Jahr Intifada, also Demütigung, Verarmung, militärischer Gewalt, absoluter Perspektivlosigkeit, Korruption der eigenen Führung, natürlich in Bin Laden das zentrale Symbol für Widerstand sehen.

6) Es gibt jedoch auch Einschätzungen, die von einer nur begrenzten Macht der USA ausgehen, ihre Ziele im Nahen Osten durchzusetzen. Siehe hierzu z.B. Berg, Manfred: »Freunde und andere Feinde. Wie die USA seit einem halben Jahrhundert versuchen, in der islamischen Welt Realpolitik zu machen«, in: DIE ZEIT vom 4.10.2001.

Dr. Petra Weyland ist Islamwissenschaftlerin und Nahostexpertin. Sie lehrt am Fachbereich Sozialwissenschaften der Führungsakademie der Bundeswehr.

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Chancen und Probleme

von Gülistan Gürbey

Obwohl die Türkei durch die Festnahme und Aburteilung Abdullah Öcalans einen entscheidenden strategischen Sieg errungen hat, scheint die türkische Staatselite diese Position der Stärke nicht für eine politische Neuorientierung und für Zugeständnisse an die KurdInnen zu nutzen. Ein kurzer Blick auf die innenpolitischen Kräfteverhältnisse zeigt, dass die Türkei auch heute noch zwischen dem unbeirrbaren Festhalten am ideologischen Dogma und den nur halbherzig gewollten Liberalisierungsversuchen schwankt. Eine Lockerung der zum Dogma erhobenen ideologischen Grundlagen des Staates konnte bisher nicht erreicht werden. Dies umfasst vor allem die offizielle Doktrin von der unteilbaren Einheit der türkischen Nation und ihres Staates, die eine institutionelle Anerkennung der kurdischen nationalen und kulturellen Identität nach wie vor verbietet.

Wie in der Vergangenheit bedeutet der ethnische und kulturelle Homogenisierungsanspruch für die KurdInnen auch heute noch eine umfassend und kontinuierlich umgesetzte Politik der zwangsweisen Assimilierung, d.h. Türkisierung. Tabuisierung, Verbot, politische und rechtliche Verfolgung, Vertreibung mit militärisch-staatlichen Repressionsmitteln waren und sind noch immer die Grundlagen dieser Politik.1 Dies ging und geht zugleich einher mit einer Verhinderung der Legalisierung von historisch gewachsenen kurdischen Autonomiebestrebungen. Höhepunkte dabei bilden vor allem die Verbote der prokurdischen Parteien HEP/DEP2 (und möglicherweise auch HADEP) und die Verhaftung und Verurteilung von legitimierten kurdischen Abgeordneten zu langjährigen Haftstrafen.

Der kurdische Widerstand gegen türkische Vormacht und ihre Politik ist nicht erst mit der PKK3 entstanden. Er reicht bis in die späten Phasen des Osmanischen Reiches hinein. In nicht weniger als 27 größeren und kleineren Aufständen prallten bis Ende der dreißiger Jahre der neue türkische Nationalismus und das erwachende kurdische Nationalbewusstsein aufeinander. Zur dauerhaften Unterbindung der Unruhen verfolgte der Staat ein umfassendes Programm der zwangsweisen Assimilierung der KurdInnen. Die forcierte Etablierung des türkischen Nationalverständnisses und die rücksichtslose Durchsetzung der Doktrin vom türkischen Einheitsstaat haben wesentlich zur Reifung der kurdisch-nationalen Identität im Widerstand gegen diese Politik beigetragen.

Ansatzpunkte für eine Annäherung der Kontrahenten

Grundlegende Interessendivergenzen kennzeichnen das Selbstverständnis der Konfliktparteien und ihre Grundeinstellungen zum Minderheitenschutz.4 Die Regierung der Türkei lehnt grundsätzlich Minderheitenschutz oder Autonomieregelungen ab, da sie den Konflikt als eine Bedrohung für die nationale und territoriale Integrität des Staates perzipiert. Lediglich tendenziell ist eine Bereitschaft hinsichtlich einer Lockerung im kulturellen Bereich und einer Kompetenzerweiterung lokaler Verwaltungen festzumachen. Diese ansatzweise Liberalisierung der Kurdenpolitik, die inzwischen von verschiedenen Regierungen und politischen Entscheidungsträgern (mit Ausnahme der rechtsextremen Nationalistischen Aktionspartei und des Militärs) vorsichtig zum Ausdruck gebracht wurde, hat seinen Ursprung in erster Linie in der späten Phase der Özalschen Ära. Die Ablehnung von Autonomieregelungen oder von Minderheitenschutz wird durch die Angst vor Sezession begründet.

Im Selbstverständnis der kurdischen AkteurInnen in der Türkei sind zwei maßgebliche Lager auszumachen: Die traditionell-konservativen Stämme lehnen zwar Sezession und Autonomieregelungen grundlegend ab, da sie dadurch eine deutliche Schwächung ihrer lokalen Machtposition befürchten. Der Gewährung von kulturellen Rechten stehen sie jedoch nicht entgegen. Die national-kurdischen Organisationen und Parteien (PKK, PSK5, DEP/HADEP) betrachten den Konflikt als eine nationale Frage, da die KurdInnen – bisher in einem zusammenhängenden Gebiet lebend – entgegen ihrem Willen auf verschiedene Nationalstaaten aufgeteilt wurden. Die Grenzziehung habe sie zu künstlichen Minderheiten gemacht, wobei der Konflikt selbst nicht als eine Minderheitenfrage betrachtet werden könne. Entsprechend dieser Sichtweise wird die Lösung in der Gewährung des Selbstbestimmungsrechts der Völker gesehen, wobei dieses nicht als einseitiger Anspruch auf die Gründung eines kurdischen Nationalstaates verstanden wird. Die Errichtung eines kurdischen Nationalstaates wird wegen der politischen Interessen- und Machtkonstellation in der Region als unrealistisch bewertet, so dass die Forderungen auf die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechtes innerhalb bestehender Staatsgrenzen konzentriert werden. Damit bildet die Forderung nach Autonomie den politischen Konsens zwischen den national-kurdischen Kräften, der auch die PKK einschließt. Die Form der Autonomie wird im einzelnen nicht konkretisiert. Die Ausführungen reichen von kulturellen Rechten über territoriale Autonomie bis hin zu konföderativen Modellen. Konkrete Forderungen betreffen dagegen die Einleitung sofortiger Schritte unter Einschluss der Gewährung von kultureller Autonomie, die den Krieg beenden, den Friedensprozess einleiten und die Atmosphäre für eine freie und offene Diskussion über eine weitergehende politische Autonomie schaffen sollen.

Trotz Interessendivergenzen gibt es dennoch »Schnittpunkte«, die mit externer Unterstützung der internationalen Organisationen und der BündnispartnerInnen möglicherweise eine Annäherung zwischen den Konfliktparteien bewirken können. Anknüpfungspunkte sind dabei auf der türkischen Seite die Bereitschaft zu Liberalisierungstendenzen im kulturellen Bereich und in der lokalen Verwaltungsebene und auf gesellschaftlicher Ebene die Forderungen nach Beendigung des Krieges, nach Demokratisierung und Umsetzung von kulturellen Rechten für die KurdInnen. Auf kurdischer Seite bestehen konkrete Forderungen, die eine sofortige Beendigung des Krieges und eine kulturelle Autonomie beinhalten. An diesen Schnittpunkt anknüpfend kommt es primär auf den Staat an, durch konkrete Maßnahmen den Weg für eine politische Lösung zu ebnen. Voraussetzung für die beidseitige militärische Deeskalation ist nach wie vor ein beidseitiger Gewaltverzicht und Waffenstillstand. Eine kombinierte Kurdenpolitik mit Bestandteilen einer Demilitarisierung der kurdischen Region (Aufhebung des Ausnahmezustandes und aller anderen militärisch-polizeilichen Maßnahmen inklusive der Ermöglichung der Rücksiedlung ehemaliger BewohnerInnen und einer Generalamnestie), einer umfassenden Garantie der demokratischen Menschen- und Bürgerrechte sowie kulturelle Autonomie wären die ersten Schritte zu einer dauerhaften politischen Regelung. Diese Maßnahmen tangieren weder die staatliche Integrität noch die nationale Einheit des Landes. Sie würden lediglich die bestehende kurdische Parallelkultur legalisieren und ihre Entwicklung fördern; zugleich bedeuten sie für die KurdInnen noch keinen Zugewinn an politischer Autonomie.

Externe Einwirkungsmöglichkeiten: Grundlagen des modernen Minderheitenschutzes

Grundlegendes Ziel des modernen Minderheitenschutzes6 ist der Schutz der Existenz und der Identität von Minderheiten. Nach wie vor überwiegt der individual-menschenrechtliche Ansatz: Es werden nicht die Gruppenrechte von Minderheiten geregelt, sondern die Individualrechte von Angehörigen der Minderheiten zur Pflege ihrer Kultur, zur Ausübung ihrer Religion und Nutzung ihrer Sprache. Der Minderheitenschutz weist trotz Fortentwicklung Defizite auf. So ist es z.B. noch nicht gelungen, sich auf eine völkerrechtlich verbindliche Definition des Minderheitenbegriffs zu einigen. Trotz dieses definitorischen Mangels erachten die internationalen Rechtsinstrumente die ethnischen, kulturellen, sprachlichen und religiösen Merkmale, in denen sich die Minderheit von der Bevölkerungsmehrheit unterscheidet, als schützenswerte Güter. Dieser Umstand führt dazu, dass es jedem Staat selbst überlassen bleibt, welche seiner StaatsbürgerInnen er als Minderheit ansieht. Dies hat zur Folge, dass einige Staaten, vom Konzept eines einheitlichen Staatsvolkes ohne Ansehen der Ethnizität ausgehend, die Existenz von Minderheiten abstreiten, so z. B. die Türkei. Schließlich ist zu betonen, dass es keine Patentlösung für Minderheitenregelungen gibt. Es kommt darauf an, jeweils eine Einzelfalllösung zu finden.

Auf der Ebene der UNO ist das Selbstbestimmungsrecht (SBR) der Völker in der UN-Charta und in UN-Menschenrechtsdeklarationen verankert: Das Volk hat das Recht, seinen Status selbst zu bestimmen. Es muss bei der Wahrnehmung des SBR auf die Staatengemeinschaft Rücksicht nehmen. Es darf weder das Recht auf Eigenstaatlichkeit seitens des Volkes noch die territoriale Integrität durch die Staatengemeinschaft verabsolutiert werden. Art. 27 des »Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte« von 19667 geht auf die Minderheitenproblematik ein. Er formuliert zwar keine weitreichenden Gruppenrechte, enthält aber völkervertragsrechtliche Verpflichtungen für die Staaten auf diesem Gebiet. Die Staaten sind nur verpflichtet, die Wahrnehmung von Sprach-, Religions- und Kulturrechten für Minderheitenangehörige zu gewährleisten. Art. 27 schreibt den Staaten jedoch keinen Weg vor, wie die Minderheitenrechte zu gewährleisten sind. Einige Staaten entgehen den Verpflichtungen aus Art. 27, in dem sie die Existenz von Minderheiten auf ihrem Staatsgebiet einfach leugnen, z. B. Türkei, Frankreich. Die UN-Minderheitendeklaration von 1992 fordert die Staaten auf, günstige Bedingungen zu schaffen, um Minderheiten die Entwicklung ihrer Kultur, Sprache, Religion zu ermöglichen. Mit der Deklaration wird die Notwendigkeit von Fördermaßnahmen für Minderheiten grundsätzlich akzeptiert. Dennoch fehlt der Deklaration eine Rechtsverbindlichkeit und eine konkretere Ausgestaltung.

Auch europäische Initiativen im Rahmen des Europarats, der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit (OSZE) und der Europäischen Union (EU) widmen sich der Fortentwicklung des modernen Minderheitenschutzes. Das »Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten« des Europarates (Februar 1998 in Kraft getreten) verpflichtet die Staaten, die darin festgelegten Grundsätze in nationales Recht zu übernehmen und Maßnahmen zu ergreifen, die dem Schutz der Freiheitsrechte der Angehörigen von Minderheiten dienen: dem Schutz der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, der Meinungs-, Glaubens- und Gewissensfreiheit. Den Vertragsstaaten wird auferlegt, die Bedingungen zur Erhaltung und Pflege der Identität der Minderheiten zu fördern. Dazu gehören Bestimmungen für die Bereiche Sprache, Erziehung und Unterricht. Auch hierbei überlässt das Rahmenübereinkommen den Vertragsstaaten, seinen Anwendungsbereich festzulegen. Die fehlende Minderheitendefinition lässt den Staaten freie Hand, selbst zu bestimmen, welche Gruppe als Minderheit angesehen wird. Sie haben somit einen weiten Spielraum bei der Durchführung des Vertrages. Neben dem Rahmenübereinkommen befasst sich die »Europäische Charta für Regional- oder Minderheitensprachen«, die im März 1998 in Kraft getreten ist, mit dem Minderheitenschutz. Die Türkei und Frankreich haben sie bisher nicht unterschrieben. Andererseits stellte der »Ausschuss für die Einhaltung der Verpflichtungen und Zusagen der Mitgliedsländer des Europarats« in seinem Türkei-Bericht im Januar 1999 fest, der wesentliche Punkt sei, dass die türkischen BürgerInnen kurdischer Herkunft über die Möglichkeit und die materiellen Mittel verfügen sollten, ihr eigene Sprache und ihre kulturellen Gepflogenheiten unter den Bedingungen und Voraussetzungen zu praktizieren und zu wahren, die in den oben genannten zwei wichtigen Konventionen des Europarats klar und angemessen definiert wurden. Auch die EU-Kommission verweist in ihrem Türkei-Bericht 1999 auf diesen Punkt.

Das Kopenhagener Dokument der OSZE vom 29. Juni 1990 stellt die Minderheitenproblematik in ihren wesentlichen Dimensionen dar und fordert für Minderheiten Diskriminierungsschutz und Minderheitenrecht. Das Dokument bedeutet die Herausbildung von gemeinsamen europäischen Standards des Minderheitenschutzes. Gefordert wird u. a. die Sicherung der Minderheitensprachen, die Bildung eigener Bildungs-, Kultur- und Religionseinrichtungen, Prinzip der Selbstverwaltung und Autonomie sowie spezifisches Vertretungsrecht im Parlament. Die Teilnehmerstaaten werden dazu verpflichtet, die Minderheitenrechte zu schützen, dem Prinzip der Gleichheit und Nichtdiskriminierung zu folgen, geeignete lokale und autonome Verwaltungen einzurichten, die den spezifischen historischen und territorialen Gegebenheiten der Minderheiten Rechnung tragen. Gleichzeitig wird jedoch im Kopenhagener Dokument betont, dass sich diese Rechte lediglich auf staatsloyale Aktivitäten beziehen und keinen Widerspruch zum Prinzip der territorialen Integrität der Staaten darstellen. Die »Charta von Paris für ein neues Europa« der OSZE erwähnt das Recht nationaler Minderheiten, ihre Identität ohne jede Diskriminierung frei zu bekennen und weiterzuentwickeln. Im minderheitenrechtlich als Durchbruch anzusehenden Kopenhagener Dokument wird die Autonomie als Möglichkeit zum Minderheitenschutz herausgestellt. Die OSZE-Staaten räumen in ihrer Gesamtheit der Autonomie nicht den Status ein, der es Minderheiten gestatten würde, von einem Rechtsanspruch auf Autonomie auszugehen. Es heißt darin, dass die Teilnehmerstaaten die Bemühungen zur Kenntnis nehmen, die ethnische, kulturelle, sprachliche und religiöse Identität bestimmter nationaler Minderheiten zu schützen und Bedingungen für ihre Förderung zu schaffen, indem sie als eine der Möglichkeiten zur Erreichung dieser Ziele geeignete lokale oder autonome Verwaltungen einrichten, die den spezifischen historischen und territorialen Gegebenheiten dieser Minderheiten Rechnung tragen und im Einklang mit der Politik des betreffenden Staates stehen. Bedeutsam ist aber, dass die Möglichkeit ausdrücklich betont wird, obwohl ein Konsens über die Angemessenheit derartiger Lösungen nicht besteht.

Der »Hohe Kommissar für Nationale Minderheiten« (HKNM) der OSZE hat die Hauptaufgabe der Konfliktverhütung. Er soll zum frühest möglichen Zeitpunkt Spannungen erkennen und zu ihrer Eindämmung beitragen und Frühwarnung an die OSZE-Gremien aussprechen. Das HKNM-Mandat ist begrenzt: Erstens durch Bezug auf nur solche Situationen, die die Sicherheit zwischen den Staaten gefährden, Situationen innerhalb der Staaten sind also nicht erfasst. Folglich werden Minderheiten ohne Titularnation vom Mandat nicht berücksichtigt; dies betrifft auch die KurdInnen oder die KorsInnen in Frankreich (Ausnahme: Roma und Sinti); Zweitens ist dem HKNM eine Befassung mit Situationen ausdrücklich untersagt, bei denen Akte von Terrorismus vorliegen (dies betraf bisher auch die KurdInnen). Der HKNM kann sich nur mit Minderheiten auseinandersetzen, die von den einzelnen Staaten als solche anerkannt werden.

Resümierend kann festgehalten werden, dass es bereits eine Reihe von Instrumenten zum Minderheitenschutz gibt, welche die Selbstbestimmung innerhalb eines Staates wahrzunehmen gestatten; eine rechtliche Absicherung von Minderheitenrechten gibt es aber bisher nicht. Verträge und politische Vereinbarungen bedürfen bei ihrer Umsetzung immer der Kooperationsbereitschaft der Staaten; die Durchsetzungsmechanismen sind schwach ausgebildet. Die Umsetzung von Rechtsnormen hängt vom politischen Willen der Staaten ab.

Aufgrund des Spannungsverhältnisses zwischen den völkerrechtlichen Prinzipien der nationalstaatlichen Souveränität und der territorialen Integrität, dem Selbstbestimmungsrecht der Völker und den Geboten des Minderheitenschutzes, die in den Vereinbarungen zum Schutze von Minderheiten im Rahmen der UNO, der OSZE und des Europarates enthalten sind und die normalerweise Regelungen unterhalb der Sezession sind, konnte sich die Türkei bisher von der Bindewirkung dieser Bestimmungen weitgehend befreien, obwohl sie sich als Mitglied dieser Organisationen einem gemeinsamen Werte- und Handlungssystem unterworfen und sich zu dessen Schutz und Realisierung verpflichtet hat. Die Türkei vertritt in ihrem Vorbehalt die klassische türkische Auffassung, dass es rechtlich keine Minderheiten außerhalb der Regelungen des Lausanner Vertrages (JüdInnen, ArmenierInnen, GriechInnen) gebe.

Beitrag der EU, der OSZE und UNO zur friedlichen Konfliktbeilegung

Ansatzpunkte im Rahmen der UNO, der NATO, der OSZE, der EU und des Europarates für ein konstruktives Einwirken in Richtung auf eine deutliche Umorientierung der türkischen Kurdenpolitik sind bisher nicht konsequent aktiviert worden. Ohne ein konzertiertes und kontinuierliches externes Einwirken, das es bisher in dieser Form nicht gegeben hat, bestehen aber kaum Erfolgsaussichten auf einen Wandel in der türkischen Kurdenpolitik und auf eine friedliche Konfliktbeilegung. Vor dem Hintergrund des türkischen Sieges über die PKK einerseits und der Beendigung des bewaffneten Kampfes und der Friedensbemühungen durch die PKK andererseits sind konsequent gebündelte Friedensinitiativen durch das Zusammenwirken externer AkteurInnen notwendiger denn je.

Ein wichtiger Hebel für die Einflussnahme und konstruktive Hilfestellung liegt gegenwärtig in der Frage des EU-Beitritts der Türkei. Nur durch eine an Bedingungen gekoppelte attraktive Beitrittsperspektive und Annäherungsstrategie der Türkei an die EU kann die EU Einfluss auf die türkischen Entscheidungsträger nehmen und friedensfördernd wirken. Dabei ist es aus verschiedenen Gründen notwendig, dass die EU über den Ad-hoc-Umgang mit der Kurdenfrage hinauskommt und ein umfassenderes Konzept dafür entwickelt, wie europäische Politik mit dem Problem umgehen soll. Nur eine europäische Strategie, die eine EU-Beitrittsperspektive für die Türkei klar und eindeutig formuliert und diese gleichzeitig an die Bereitschaft zur friedlichen Konfliktbeilegung und die Einleitung von konkreten Schritten zur Umsetzung von Menschenrechten und Minderheitenschutz konditioniert, ist erfolgversprechend.8 Dies setzt aber voraus, dass der Beitrittsprozess anhand eines detaillierten »road map« festgelegt wird, der die Kriterien, Pflichten und Aufgaben für beide Seiten definiert und zugleich Fortschritte im Beitrittsprozess an deren Erfüllung knüpft.

Ausschlaggebend ist dabei vor allem, dass die EU die Erfüllung der Kopenhagener Kriterien durch Ankara inhaltlich definiert und konkretisiert und zeitliche Umsetzungsfristen vorgibt. Zur Erarbeitung und Koordinierung einer umfassenden Kurdenpolitik sollte die EU in Analogie zur »Balkan-Kontaktgruppe« eine ständige »KurdInnen Kontaktgruppe« einrichten und einen ständigen Gedankenaustausch mit Washington pflegen. Dabei ist angesichts des besonderen US-türkischen Verhältnisses vor allem ein koordiniertes Zusammenwirken mit den USA von zentraler Bedeutung, um ein einheitliches Auftreten gegenüber Ankara zu gewährleisten und damit einen nachhaltigen Druck ausüben zu können.

Auch die OSZE und die UNO sollten sich stärker als bisher für eine Vermittlung und Vertrauensbildung bereitstellen, z. B. durch die Entsendung von UN-BeobachterInnen, ständigen Fact-Finding Missionen und OSZE-Langzeitmissionen in die Region, durch die Ernennung einer/eines OSZE-Beauftragten für friedliche Konfliktbeilegung, durch intensive Dialogaufnahme und Förderung zivilgesellschaftlicher und demokratischer Kräfte.

Resümee

Eine institutionelle Anerkennung der kurdischen Identität und Kultur ist conditio sine qua non auf dem Wege zur friedlichen Beilegung des Kurdenkonfliktes. Zu einer flexibleren Kurdenpolitik gehört es vor allem, politische und rechtliche Schritte einzuleiten, die Wege für eine politische Repräsentation und Integration der KurdInnen öffnen, die Bedingungen für eine freie und offene Auseinandersetzung schaffen und auf mindestens sechs Ebenen eine kulturelle Autonomie aufzubauen, nämlich auf der Ebene der Sprache, der Präsenz im Medien- und Kulturbereich, im Bildungs- und Erziehungswesen, der Vereinigungsfreiheit, der politischen Repräsentation und der Selbstverwaltung. Die Gewährung von Rechten in diesen Bereichen würde weder die nationalstaatlichen Grenzen noch die unitäre Staatsstruktur tangieren, sondern lediglich die bestehende kurdische Parallelkultur legalisieren und an den gemeinsamen Schnittmengen zwischen den Haltungen der KurdInnen und Teilen der türkischen Politik und Gesellschaft über Vorstellungen von Regelungen im kulturellen Bereich und in der lokalen Verwaltung anknüpfen.

Mit der Entführung und Verurteilung des »Staatsfeindes Nr. 1« hat die Türkei zwar einen strategischen Sieg über die PKK erlangt, der Kurdenkonflikt existiert aber weiterhin und bedarf einer dringenden politischen Verregelung. Auch eine nachhaltige Schwächung bzw. Ausschaltung der PKK und der Verzicht der Organisation auf Gewalt würden keinen endgültigen Sieg des Staates bedeuten, solange ein Politikwechsel in der Kurdenfrage sich nicht vollzieht. Die kurdische Bevölkerungsgruppe ist zu groß, die internationale Wiederbelebung ethno-nationaler Politik zu umfassend und die Internationalisierung des Kurdenkonfliktes zu weit fortgeschritten, als dass der türkische Staat sich gegen kurdisch-nationale politische Strömungen isolieren und immunisieren könnte. Damit bliebe der Türkei der latente Unruheherd und ein andauerndes Element potenzieller Stabilitätsgefährdung weiterhin erhalten.

Anmerkungen

1) Ausführlicher dazu siehe Gülistan Gürbey: Wandel in der Kurdenpolitik? Die Türkei zwischen Dogma und Liberalisierung, in: Internationale Politik, Bonn, Nr. 1, Januar 1998, S. 39-44.

2) HEP: Arbeiterpartei des Volkes; DEP: Partei der Demokratie. HADEP: Demokratiepartei des Volkes.

3) PKK: Arbeiterpartei Kurdistans.

4) Näheres dazu vgl. Gülistan Gürbey: Autonomie- Option zur friedlichen Beilegung des Kurdenkonfliktes in der Türkei, Frankfurt am Main, Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, HSFK-Report 5/1997.

5) PSK: Sozialistische Partei Kurdistans.

6) Vgl. Hans-Joachim Heintze (Hg.): Moderner Minderheitenschutz. Rechtliche oder politische Absicherung?, Bonn 1998; derselbe: Selbstbestimmungsrecht der Völker – Herausforderung der Staatenwelt. Zerfällt die internationale Gemeinschaft in Hunderte von Staaten?, Bonn 1997.

7) Vgl. Bundeszentrale für politische Bildung: Menschenrechte. Dokumente und Deklarationen, Bonn 1991, S. 45-75.

8) Gülistan Gürbey: Die »Europäisierung« des Kurdenkonflikts. Eine Chance für den Frieden?, in: Internationale Politik, Bonn, Nr. 2-3, Februar/März 1999, S. 101-102; dieselbe: Die Europäisierung des Kurdenkonflikts, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Bonn, Heft 4/1999, S. 404-407.

Dr. Gülistan Gürbey lehrt an der Freien Universität Berlin am FB Politik- und Sozialwissenschaften