Noch knistert es unter der Oberfläche

Noch knistert es unter der Oberfläche

(Über-) Lebensbedingungen palästinensischer Flüchtlinge im Libanon

von Monika Kaddur

Der Wiederaufbau im Libanon kommt langsam in Gang. Für die palästinensischen Flüchtlinge jedoch sind die Folgen vielfach negative. Arbeits-, Wohn-, Gesundheits- und Bildungsbedingungen in den Lagern verschlechtern sich und die internationale Hilfe – politisch und materiell – geht zurück. Doch:

Gewalt provoziert Gewalt
Jeden Tag ums Überleben kämpfen zu müssen,
ist erlebte Gewalt.
Aus der Vergangenheit und für die Zukunft
nicht zu wissen, wo man seine Kinder bettet,
ist erfahrene Gewalt.

Der Libanon – 16 Jahre geschüttelt vom Bürgerkrieg (1975 – 1991), tagtäglich Gewalt und Greueltaten im ganzen Land. Mit dem Abkommen von Ta'if vom 30. September 1989 findet auch der Konfessionalismus1 ein Ende, und es kommt 1991 zum definitven Friedensschluß. Die massive Anbindung an Syrien und die weitere Stationierung syrischer Truppen ist der Preis für den Frieden.2 In der Folgezeit kommen langsam wieder staatliche Strukturen (Einleitung eines Wiederaufbauprogramms, Wiederaufnahme des Justizwesens, Aufbau einer einheitlichen Armee etc.) in Gang. Die Wiederaufbaumaßnahmen, die sich besonders stark auf die Hauptstadt Beirut konzentrieren, sind inzwischen zu einem wahren Bauboom mutiert, der maßgeblich von einem finanziell potenten Bauherrn, dem jetzigen Ministerpräsidenten Rafiq al-Hariri, vorangetrieben wird, der 1982 nach dem Rückzug der Israelis aus Beirut in den Libanon zurückkehrte und das Unternehmen »Ogé Lubnan« gründete, um seinerzeit bereits Wiederaufbauarbeiten durchzuführen. Mit seiner öffentlichkeitswirksam vorbereiteten Rückkehr als seriöser und reicher Geschäftsmann aus Saudi Arbabien begann damals auch seine politische Karriere.

Von all diesen Maßnahmen sind die palästinensischen Flüchtlinge, von denen über 350.000 im Libanon leben, nur im negativen Sinne betroffen. Denn sie müssen befürchten, im Zuge der Sanierungsarbeiten der Hauptstadt abermals obdachlos zu werden. Der Bestand der drei Beiruter Flüchtlingslager Burj al Barajnah, Mar Elias und Shatila sowie anderer Stadtviertel ist seit dem Beginn der Wiederaufbauarbeiten von Großbauprojekten wie »Beirut 2000«, dem geplanten Bau einer Autobahn durch das Flüchtlingslager Burj al Barajnah, der Erweiterung des Flughafens und des Sportstadions vom kompletten oder teilweisen Abriß bedroht.

Im Falle der Umsiedlung von libanesischen Familien gewähren staatliche Stellen eine Entschädigung zwischen 5.000 – 8.000 US$; palästinensische Flüchtlinge hingegen erhalten keinen finanziellen Ausgleich (Heilig-Kreuz-Gemeinde 1998).

Der Versuch der palästinensischen Flüchtlinge, sich gegen diese Maßnahmen zu wehren, fand weder im Land noch auf internationaler Ebene Unterstützung – ungehört verhallten ihre Proteste. Mit ihnen werden in der Hauptstadt zahlreiche durch den Krieg verarmte libanesische Familien und Kriegswitwen mit Kindern im schulfähigen Alter zu Obdachlosen. Schutz suchten die ersten Betroffenen bisher in den noch verbliebenen Ruinen Beiruts, ohne Fenster, ohne Tür, ohne Strom, ohne Wasser – so »vegetieren« sie notdürftig vor sich hin und versuchen, dennoch irgendwie ihr Überleben zu organisieren.

Position der libanesischen Regierung

Der libanenesische Staat betrachtet die palästinensischen Flüchtlinge in der Regel (Ausnahme: eine geringe Anzahl von Einbürgerungen) als Ausländer mit einem vorübergehenden Aufenthaltsstatus. Er enthält ihnen die wesentlichen Bürgerrechte auf Arbeit, Leistungen aus dem Erziehungs- und Gesundheitswesen sowie der Sozialversicherung vor. Die Regierung hat mehrfach nach Beendigung des Bürgerkriegs verdeutlicht, daß sie die Palästinenser nicht dauerhaft im Libanon ansiedeln will und ihre Umverteilung auf andere Länder in der Region anstrebt. Ihre Position, jedwede Verbesserung der Lebenssituation für die Flüchtlinge in den Lagern zu verweigern und damit den Auswanderungsdruck zu erhöhen, entspricht nur ihrem Veto gegen das definitive Niederlassungsrecht.

Internationale Ebene

Mit der Konferenz von Madrid im Oktober 1991, basierend auf den Resolutionen 242 und 338 des UN-Sicherheitsrats, begann der Friedensprozeß im Nahen Osten. Ohne Berücksichtigung blieb die Resolution 194 (III) der UN-Generalversammlung, die den Palästina-Flüchtlingen das Recht auf Rückkehr und/oder Entschädigung zusichert. Als Teil der multilateralen Verhandlungen wurde in Madrid auch das »Multilateral Refugee Committee« (MRC) gegründet. Kanada übernahm den Vorsitz in dem 35 Mitglieder umfassenden Gremium, dem u. a. die PLO, Jordanien, Israel, Ägypten, die USA und die Europäische Union sowie Japan angehören. Der Libanon und Syrien verweigerten ihre Teilnahme, da in den bilateralen Verhandlungen mit Israel bisher keine wesentlichen Fortschritte erzielt wurden. Auf der ersten Sitzung des MRC im Januar 1992 wurde die Refugee Working Group (RWG) gegründet, die in den drei Bereichen »Definition und Lösung des Flüchtlingsproblems« (Beschaffung von Informationen, Erhebung von Studien und Analysen), »Kontakt zu Flüchtlingsgemeinschaften und Administrationen« (Schaffung einer Vertrauensbasis unter den Beteiligten) und »Verbesserung der Lebensbedingungen palästinensischer Flüchtlinge und Vertriebener« (Projektfinanzierung) tätig ist. Die RWG bezifferte die Zahl der kriegsvertriebenen palästinensischen Familien im Libanon mit 6.000 und empfahl seinerzeit als dringendste Maßnahme die Bildung eines speziellen Wiederaufbaufonds. Die libanesische Regierung blockierte dieses Projekt und ließ nur minimalste Wiederaufbauarbeiten zu. Weitere RWG-Projekte konzentrierten sich auf die Gebiete Gaza, Westbank und Jordanien. Von den danach in Angriff genommenen 142 Projekten entfielen bis Mitte 1996 nur 12 Vorhaben auf den Libanon. Auch die UNRWA (United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East) läßt inzwischen den größten Teil ihres Budgets in die Autonomiegebiete fließen.

Im Osloer Friedensabkommen vom September 1993 wird die Klärung der Flüchtlingsfrage ebenfalls in die ferne Zukunft verschoben. Dies wird durch die große Gemeinschaft der palästinensischen Flüchtlinge im Libanon massiv mißbilligt. Sie fühlen sich auch von der Führung der PLO bzw. der Palästinensischen Autonomiegebiete, Yassir Arafat, im Stich gelassen.

Anzahl der palästinensischen Flüchtlinge im Libanon

Offizielle Angaben zu Ein- oder Abwanderung palästinensischer Flüchtlinge existieren im Libanon nicht. Palästinensischen Quellen zufolge befinden sich mindestens 400.000 Palästinenserflüchtlinge im Libanon, von denen in den vergangenen 10 Jahren mehr als 75.000 nach Europa und Übersee abgewandert seien. Die UNRWA beziffert die Zahl der bei ihr registrierten palästinensischen Flüchtlinge mit 356.000 Personen. Dabei handelt es sich in der Regel um die 1948 geflohenen bzw. vertriebenen Palästinenser. Nicht eingetragen sind bei der UNRWA die Palästinenserflüchtlinge, die 1967 nach dem 6-Tage-Krieg geflüchtet sind, als Israel den Gaza-Streifen und die Westbank besetzt hat, und auch jene sind nicht registriert, deren Residenzrechte in Jerusalem, Gaza und der Westbank durch die israelische Militärverwaltung ohne Rückkehrmöglichkeit entzogen wurden (schätzungsweise 100.000 Personen). Ebenfalls nicht von UNRWA erfaßt sind die nach dem 2. Golfkrieg in den Libanon gekommenen Palästinenser. Die drei letztgenannten Flüchtlingsgruppen haben somit keinen Anspruch auf Unterstützungsleistungen der UNO-Hilfsorganisation.

Nur eine geringe Zahl der seit 1948 im Libanon lebenden Palästinenser hat die Einbürgerung erhalten. Mehrheitlich handelte es sich dabei um christliche Palästinenser oder um solche mit Kapital. Dennoch scheint die Mehrheit der palästinensischen Flüchtlinge im Libanon einer Einbürgerung positiv gegenüberzustehen. Die Fraktion der absoluten Gegner einer Einbürgerung ist relativ klein (Heilig-Kreuz-Gemeinde 1998).

Überleben in den Flüchtlingslagern

Die Flüchtlingslager werden heutzutage nicht mehr im Alleinvertretungsanspruch einer oder mehrerer Palästinenserorganisationen kontrolliert. Die zahlreichen politischen Organisationen der Palästinenser aus den Zeiten des Bürgerkriegs sind inzwischen in der Mehrheit zu kleinen und Kleinstgrüppchen zusammengeschmolzen, die kaum noch über eine nennbare Zahl von Anhängern verfügen.

Im Gegensatz zur Bürgerkriegsphase gibt es jetzt Lagerkomitees, in die jede im Lager vertretene palästinensische Organisation ihre Vertreter entsendet und die die organisatorischen und administrativen Alltagsaufgaben für die Lagerbevölkerung übernehmen. Die Repräsentanten der Lagerkomitees stellen sozusagen die »politische Außenvertretung« der Lagerbewohner dar, die z. B. Regierungsverantwortliche trifft, Behördenangelegenheiten regelt und in Krisenzeiten Appelle und Proteste lanciert (Ev. Gemeinde Beirut 1997).

Die verschiedenen palästinensischen Hilfsorganisationen, die in den Lagern tätig sind, haben ebenfalls ein Koordinationskomitee gebildet. Sie arbeiten vorwiegend im Bereich medizinische Versorgung, Vorschulerziehung und Kindergartenbetreuung. Die Versorgung mit Lebensmitteln durch UNRWA geschieht in unregelmäßigen Abständen und enthält nur sehr spärliche und teilweise einseitige Rationen. Die speziell nur für Palästinaflüchtlinge zuständige UNO-Hilfsorganisation UNRWA hat seit 1988 ihre Unterstützungszahlungen für palästinensische Flüchtlinge im Libanon ständig gekürzt. Beispielsweise wurden Basisrationen für Härtefälle reduziert, Zusatznahrung für Kinder und schwangere Frauen gestrichen, Lernmittelfreiheit und Ausbildungsstipendien abgesenkt. Hilfsleistungen für eine Krankenhausbehandlung unterliegen seit kurzem drastischen Kürzungen (Palestinians in Lebanon, 1994).

Seit 1991 – als die internationale Gemeinschaft glaubte, das Palästinenserproblem gelöst zu haben – ist ein stetiger Rückgang der Zuwendungen für die Palästina-Flüchtlinge im Libanon zu verzeichnen. Angesichts der alarmierenden Situation, in der sich die Palästinenser im Libanon befinden, appellierte der dänische UNRWA-Kommissar Peter Hansen im Juli vergangenen Jahres in Genf an die internationale Staatengemeinschaft, für die 356.000 palästinensischen Flüchtlinge im Libanon, die sich am Rande der Verzweiflung befinden und in der Tat zur Zeit einen wahren Alptraum durchleben, zusätzliche 11 Mio. US$ für die Jahre 1997 und 1998 zur Verfügung zu stellen (6,9 Mio. US$ im Krankenhauswesen, 2,7 Mio. US$ zur Deckung des dringendsten Bedarfs im Bildungs- und Erziehungsbereich, 1,4 Mio. US$ Nothilfe für völlig Mittellose). Da im Libanon die meisten Palästinenser sozial und ökonomisch ausgegrenzt sind, benötigen sie dringend die Unterstützung von UNRWA (Le Monde 13./14.07.97/ NZZ 11.07.97). Hansen ruft dazu auf, die Palästinenser im Libanon im Rahmen des Friedensprozesses nicht zu vergessen und sagt „Au tournant crucial du processus de paix, il est important d'assurer aux Palestiniens du Liban que la communauté internationale, par le soutien qu'elle porte à l'UNRWA, ne les a pas abandonnés“(Le Monde 13./14.07.97).

Das Verhindern des tatsächlichen Ausbruchs von Hunger geschieht gegenwärtig nur im Zusammenwirken von UNRWA, den palästinensischen NGOs (Non-Governmental Organizations), die nur über sehr begrenzte finanzielle Mittel verfügen und dem Sozialangebot der Schiitenorganisation Hizb Allah (Partei Gottes) (Heilig-Kreuz-Gemeinde 1998).

Verbot des Wiederaufbaus zerstörter Häuser

Es besteht schon seit Anfang der 80er Jahre die Planung, die Palästinenserlager in Beirut abzureißen. Auch ist die Idee, die Palästinenserlager aus dem Südlibanon in den äußersten Norden des Landes nach Aakkar zu verlegen, nicht neu. Anlaß zu diesen Überlegungen gaben seinerzeit die immer wieder aufflammenden bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Israel und einzelnen palästinensischen Gruppen im Süden des Landes.

Das Faktum, daß zerstörte Häuser in den palästinensischen Flüchtlingslagern nicht wieder aufgebaut werden dürfen und den Palästinensern auch nicht das Bauen außerhalb der Flüchtlingslager gestattet ist, sowie die Tatsache, daß durch die völlige Neuorganisation der städtischen Infrastruktur nunmehr das Verbleiben der Palästinenserlager in Beirut konkret gefährdet ist, geben vielen Palästinensern erneut berechtigten Anlaß zu der Befürchtung, daß die bestehenden Lager im Libanon sukzessive aufgelöst werden sollen. Aber auch in den anderen Flüchtlingslagern (Region Tyros: al Rashidiyya, Burj al Shemali, al Bass – Region Saida: Ain al Hilweh, Miyah Miyah – Region Tripoli: Nahr al Bared, al Baddawi – Region Baalbek: Wavell) ist die Situation nicht viel anders. Zum Beispiel ist es für die Lagerbewohner im Lager Rashidiyya (Tyros) verboten, Baumaterialien zum Zwecke des Wiederaufbaus von Häusern ins Lager zu bringen und in Ain Al Hilweh (Saida)) wurde der UNRWA im Sommer 1995 von der libanesischen Regierung untersagt, eine Schule zu bauen. Die libanesischen Behörden kontrollieren ständig, ob es Wiederaufbaumaßnahmen an den Lagergrenzen gibt. Nur kleinere Reparaturarbeiten sind erlaubt und vereinzelt werden auch Aufstockungsmaßnahmen bis zum zweiten Stockwerk gestattet (Ev. Gemeinde Beirut 1997).

Durch das Bauverbot ist es UNRWA teilweise auch nicht möglich, zerstörte Trinkwasseranlagen oder die Stromversorgung ordnungsgemäß wiederherzustellen. Hinzu kommt, daß die UNO-Hilfsorganisation aus chronischem Geldmangel für ihre Zuständigkeitsbereiche der Trinkwasserversorgung und Müllbeseitigung nur noch mangelhaft oder sporadisch aufkommt.

Arbeitsmarktsituation und Arbeitslosigkeit

Von Beginn ihres Aufenthaltes an wurde den Palästinensern die Tätigkeit in einer relativ großen Anzahl von Berufen (52) im Libanon gesetzlich nicht gestattet. Diese gesetzliche Regelung wurde am 18. Dezember 1995 erneut durch das Dekret 621/1 (Berufliche Tätigkeiten nur für Libanesen) festgeschrieben (Report 1996). So ist es z. B. palästinensischen Ärzten, Ingenieuren, Rechtsanwälten und Apothekern nicht erlaubt, ihren Beruf auszuüben. Zusätzlich benötigen die Palästinenser eine Arbeitserlaubnis, die nur sehr schwer von den libanesischen Behörden zu erlangen ist.

Über die Hälfte aller palästinensischen Flüchtlinge im Libanon ist arbeitslos. Nur 30% der erwerbsfähigen Flüchtlinge sind berufstätig. Sie arbeiten überwiegend im Baugewerbe und in der Landwirtschaft. Von den 200.000 arbeitsfähigen palästinensischen Flüchtlingen waren 1994 nur 250 Personen im Besitz einer Arbeitserlaubnis. Zum Vergleich die Zahl der 1994 offiziell erteilten Arbeitserlaubnisse (AE) an andere ausländische Arbeitnehmer (Report 1996):

Obwohl Palästinenser, die einer genehmigten Berufstätigkeit nachgehen, ebenso wie libanesische Bürger Sozialversicherungsbeiträge zahlen müssen, können sie im Falle von Arbeitslosigkeit oder im Rentenalter davon nicht profitieren, denn derartige Leistungen werden ihnen vom libanesischen Staat nicht gewährt.

Ein weiterer Faktor für die Armut der Palästinenser im Libanon sind die Folgewirkungen nach dem zweiten Golfkrieg (Yassir Arafat ergriff damals Partei für den Irak), als viele palästinensische Arbeitskräfte und Geschäftsleute in den Golfstaaten – voran in Kuwait – ihren Aufenthaltsstatus, ihren Arbeitsplatz und/oder ihr Eigentum verloren. Die dort Tätigen unterstützten ihre Familien im Libanon mit bedeutenden Geldbeträgen und das Versiegen dieser Einkommensquellen bedeutete für ihre Angehörigen im Libanon einen massiven finanziellen Einbruch.

Durch die Massenabschiebungen aus Libyen im Herbst 1995 wurden zusätzlich viele palästinensische Flüchtlingsfamilien im Libanon ins ökonomische Chaos gestoßen. Häufig verlor damit der einzige im Ausland arbeitende Ernährer einer palästinensischen Flüchtlingsfamilie im Libanon seine Erwerbsmöglichkeit. Auch mit der Einstellung von PLO-Zahlungen gehen Einkommensverluste, Arbeitslosigkeit und Verarmung der Palästinenser einher; dies bedeutet Arbeitsplatzverlust, Wegfall von Kriegsentschädigungen, Stipendien und kostengünstigen Dienstleistungen. Die PLO wendete große Beträge für Unterstützungszahlungen an palästinensische Flüchtlingsfamilien im Libanon auf. Nach dem Ende des 2. Golfkriegs begann sie ihre Zahlungen im Libanon zu reduzieren, dies setzte sich nach der Madrider Konferenz im Herbst 1991 fort und gegenwärtig ist das finanzielle Engagement der PLO im Libanon gleich Null.

Die einzige Zuflucht der Lagerbevölkerung ist UNRWA mit ebenfalls immer geringeren Hilfsleistungen seit dem zweiten Golfkrieg. Die Geldmittel der UNRWA-Programmfinanzierung für Palästinenser fließen in den letzten Jahren vorwiegend nach Gaza, Jordanien, West Bank, Syrien und der Libanon bildet mit einem ganz geringfügigen Etat das Schlußlicht der Zuwendungen.

Die UNRWA bedeutete für die Palästinenser im Libanon bisher auch Lohn und Brot, weil sie der größte Arbeitgeber für die Menschen in den Flüchtlingslagern war. Palästinenser, die derzeit noch bei der UNRWA angestellt sind, sind nur noch im Besitz befristeter Arbeitsverträge bis zum Jahr 1999.

Schul- und Ausbildungskrise

Für die palästinensischen Flüchtlinge scheint bei einer steigenden Analphabetenrate langsam der Niedergang des Bildungssystems eingeleitet zu sein. Sie haben keinen Zugang zum staatlichen Erziehungs- und Bildungssystem. In den 12 Flüchtlingslagern werden 94% der Kinder in speziellen UNRWA-Schulen unterrichtet. UNRWA unterhält im Libanon 76 Schulen, davon sind 41 Grundschulen und 35 Vorbereitungsschulen.

Das einzige professionelle technische Ausbildungsinstitut (Vocational and Technical Center Siblin) kann bei weitem nicht den Bedarf der Jugendlichen nach berufsbildenden Lehrgängen decken. Im Jahr 1994/95 schlossen 664 Studenten einen Lehrgang am Institut ab.

Auch UNRWA hat im Ausbildungsbereich Kürzungen vorgenommen. Zu den negativen Auswirkungen gehören der Unterricht im Doppelschichtsystem, Klassengrößen zwischen 40 und 50 Schülern und zu wenig Lehrkräfte. Viele Kinder verlassen die Schule bereits vor Beendigung des Lernprogramms ohne irgendeinen Abschluß. Vorwiegend aus finanziellen Gründen (Kinder fungieren als Zusatzverdiener für ihre Familien, Geld für Schulkleidung kann nicht aufgebracht werden), wegen familiärer Probleme oder der Züchtigung durch Lehrkräfte besucht jedes zweite palästinensische Kind im Libanon keine Schule mehr. Die Vergabe von UNRWA-Stipendien an palästinensische Studenten im Libanon unterscheidet sich erheblich von der Zuteilung in anderen Aufnahmeländern. Stipendienvergabe 1994/95: Libanon (54), West Bank (150), Syrien (208), Gaza (220) und Jordanien (231) (Report 1996). Zwei Drittel des UNRWA-Etats für das Bildungswesen werden für Löhne und Gehälter ausgegeben.

Krise im Gesundheitswesen

Die Flüchtlinge im Libanon haben keinen Zugang zum öffentlichen Gesundheitswesen und sind deshalb bei der medizinischen Grundversorgung auf die Unterstützung durch Hilfsorganisationen angewiesen. Für geistig behinderte Kinder gibt es zum Beispiel keine Unterstützung. UNRWA hat ab 1991 seine Unterstützungsleistungen im Gesundheitsbereich wegen Finanzmangels reduziert. Seit Herbst 1997 verfügt die UNO-Organisation nur noch über ein paar Dutzend Krankenhausbetten in der 3. Klasse und kann nicht mehr als 2/3 der Kosten eines Krankenhausbettes bezahlen, für den Rest sowie für die Arztkosten müssen die Flüchtlinge selbst aufkommen. Für die 356.000 UNRWA-registrierten Palästinenser entfällt damit ein Bett auf 4.945 Personen. Die Flüchtlinge können beim Lagerkomitee einen geringfügigen Zuschuß beantragen – doch meist kommt dennoch die Krankenhausbehandlung wegen Geldnot auf Seiten der Flüchtlinge nicht zustande. Die Reduzierung der Krankenhausbetten hat in den palästinensischen Flüchtlingslagern zu Protesten geführt.

Der Palästinensische Rote Halbmond hat gleichfalls seine Aufwendungen für das Gesundheitswesen im Libanon auf ein Minimum herabgeschraubt und fast ein Drittel seiner ehemals 350 Angestellten entlassen (Al Nahar 24.02.96). Dies produziert tagtäglich neue Tragödien in palästinensischen Familien, da die Behandlungskosten in dem überwiegend privat strukturierten libanesischen Gesundheitssystem exorbitant sind. Die Gebühren für eine einfache Operation bei einem Chirurgen variieren von 1.000 – 2.000 US$ bis hin zu 8.000 US$ für die Herzchirurgie.

Bewegungsfreiheit für palästinensische Flüchtlinge

Das Gesetz 1188 Abschnitt 22 vom 28. Juli 1962 sieht für die Palästinenser nach Erhalt eines Reisepasses Bewegungsfreiheit zwischen dem Libanon und dem Ausland vor und gewährt ihnen das Recht der Verlängerung ihres Reisepasses bei Aufenthalt im Ausland (Report 1996).

In den vergangenen 10 Jahren wurde es für Palästinenser immer schwieriger, Reisedokumente von den libanesischen Behörden zu erhalten. Auch die Erneuerung im Ausland wurde immer häufiger abgelehnt mit der Folge, daß die Betroffenen nicht mehr in den Libanon zurückkehren konnten. Seit 1994 streicht die libanesische Regierung Palästinenser aus dem Register der Aufenthaltsberechtigten, die im Ausland einen zweiten Paß erhalten haben. Schätzungen zufolge haben auf diese Weise etwa 25.000 Palästinenser ihr Aufenthaltsrecht im Libanon verloren.

Die Massenabschiebungen von Palästinensern (ca. 30.000 – davon 10.000 aus dem Libanon) aus Libyen Anfang September 1995 wurden von der libanesischen Regierung mit Abschottungsmaßnahmen und dem Erlaß des Dekrets 478 vom 22. 09. 95 beantwortet. Nunmehr müssen palästinensische Flüchtlinge, die seit 1948 im Libanon leben, für die Aus- und Wiedereinreise ins Land ein Visum beantragen; gleiches gilt für die Einreise von Palästinensern, die sich im Ausland aufhalten.

Gewalt provoziert Gewalt

Trotz der katastrophalen Lebensbedingungen ist die Situation derzeit in den palästinensischen Flüchtlingslagern noch relativ ruhig. Die Stimmung ist gegenwärtig eher mit Begriffen wie Frustation, Depression, Apathie und einem »stillen Zorn« zu charakterisieren. Hinzu kommt eine Zunahme des Drogenkonsums bei Jugendlichen und eine ansteigende Kriminalitätsrate. Und es knistert unter der Oberfläche, jedwede größere, bedrohlichere oder negativere Veränderung bzw. Restriktion seitens des libanesischen Staates oder der UNO-Hilfsorganisation könnte eine Explosion auslösen. UNRWA beabsichtigte beispielsweise Ende 1997, ein Schulgeld von 100 US $ einzuführen. Diese Ankündigung führte sofort zu einem Aufschrei und zu Protestaktionen der palästinensischen Flüchtlinge.

Die Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit und die ansteigende Verarmung einer ganzen Volksgruppe im ökonomischen, bildungspolitischen und residenzrechtlichen Bereich und jeglicher Mangel an Lebensperspektive sowie die kommentarlose Hinnahme dieses »modernen Pauperismus« durch die internationale Gemeinschaft können den Nährboden für eine Radikalisierung bilden und Männer, Frauen und besonders Jugendliche empfänglicher für lautstarke Töne und Aktionen extremer Gruppierungen machen.

In unseren Breitengraden wird dabei meist auf die syrien- und iran-orientierte Schiitenorganisation Hizb Allah Bezug genommen, die vom Westen als extremistische islamistische Gruppe bezeichnet wird, aber bei vielen Palästinensern und Libanesen landesweit als Speerspitze des Nationalen Widerstands gegen die israelische Besatzung gilt und die als einzige Miliz nach Beendigung des Bürgerkriegs durch die libanesische Regierung nicht entwaffnet wurde (SZ 17.09.97). Die Mitglieder der Hizb Allah betrachten sich selbst als islamische Befreiungskämpfer. Hinzu kommt, daß sich die Schiitenorganisation in den letzten Jahren zunehmend im sozialpolitischen Bereich engagiert und dort ansetzt, wo das Versagen des Staates deutlich zu erkennen ist. Hizb Allah ist in der Waisen- und Witwenbetreuung tätig, bietet kostenlos oder zu einem geringen Obolus medizinische Versorgung an, besitzt eigene Krankenhäuser und Schulen und nimmt Kämpfer in ihre Miliz auf, die dadurch ein Einkommen haben (FR 13.10.97).

Erwähnt sei in diesem Zusammenhang nur die 17-tägige israelische Offensive (Operation »Früchte des Zorns«) vom April 1996, bei der israelische Artillerie-, Luft- und Seestreitkräfte kontinuierlich Gebiete im Südlibanon beschossen und mehr als 300.000 Menschen gezwungen waren, ihre Häuser zu verlassen und die Hunderte von Toten und Verletzten (z. B. Beschießung eines UN-Gebäudes, in dem geflüchtete Menschen Schutz gesucht hatten) forderte (ai 1997). Insbesondere nach dieser letzten großen Fluchtwelle hat Hizb Allah im Südlibanon vielen Menschen Unterstützung beim Wiederaufbau ihrer zerstörten Häuser gewährt.

Die Situation, daß täglich israelische Tiefflieger zwecks Einschüchterung der Zivilbevölkerung inner- und außerhalb der palästinensischen Flüchtlingslager südlibanesisches Territorium überfliegen, hält an (Heilig-Kreuz-Gemeinde 1998).

Die Gruppe der palästinensischen Frauen und Männer, die in der Hizb Allah organisiert sind, ist relativ klein. Sie bildet allerdings eine eigene Palästinenserfraktion in der Organisation.

Es bleiben Fragen

Was passiert, wenn tatsächlich die Situation des Hungers – des Verhungerns – eintritt?

Was geschieht, wenn Ende 1999 die UNRWA-Verträge für die Ländereien ablaufen, auf denen die palästinensischen Flüchtlingslager angesiedelt sind – Vertreibung?

Angesichts des zuvor beschriebenen Szenarios spricht die Tatsache, daß die deutsche Bundesregierung vorhat, Tausende von palästinensischen und anderen Flüchtlingen aus dem Libanon, die bereits seit Jahren in Deutschland leben, im Rahmen eines Rückübernahmeabkommens dorthin abzuschieben, jeder Moral, jedem Verantwortungsbewußtsein und jedem menschlichen Handeln Hohn (Appell 1997).

Literatur

ai / amnesty international (1992): Gutachten an das Schleswig Holsteinische Verwaltungsgericht vom 09.12.92.

ai / amnesty international (1997): Jahresbericht (Libanon).

ai / amnesty international Report (1997): Lebanon Human Rights Developments and Violations, October 1997, London.

Appell gegen die Abschiebung palästinensischer und anderer Flüchtlinge aus Deutschland in den Libanon (1997): Unterzeichner: Pro Asyl, FFM, INAMO, Internationale Liga für Menschenrechte, Komitee für Grundrechte und Demokratie, medico international.

Ev. Gemeinde Beirut (1997): Augenzeugenbericht einer Mitarbeiterin

Heilig-Kreuz-Gemeinde Berlin (1998): Augenzeugenbericht einer Mitarbeiterin – Januar 1998

Ofteringer, Ronald (Hrsg.) (1997): Palästinensische Flüchtlinge und der Friedensprozeß – Palästinenser um Libanon, INAMO-Buch.

Palestinians in Lebanon: Harsh Present, Uncertain Future – Lecture of Rosemary Sayigh, December 1994. Tokyo.

Report (1996): Coordination Forum of the NGO's Working among the Palestinian Community.

Scheffler, Thomas (1996): Abschied vom Konfessionalismus? Die Parlamentswahlen im Libanon. INAMO-Heft 8.

Sirhan, Bassem (1996): Education and the Palestinians in Lebanon. Centre for Lebanese Studies. Oxford.

Anmerkungen

1) Öffentliche Ämter wurden nach einem regional differenzierten Konfessionsproporz vergeben. Der Konfessionalismus wurde auch als eine der Hauptursachen für den Bürgerkrieg verantwortlich gemacht. Um nach der Abschaffung des Konfessionalismus den parlamentarischen Proporz zwischen Christen und Muslimen herstellen zu können, werden die Abgeordnetensitze im Parlament von 99 auf 108 erhöht. Zurück

2) Abschluß des »Treaty of Brotherhood, Cooperation and Coordination« zwischen dem Libanon und Syrien im Mai 1991, in dem die Zusammenarbeit in Fragen der Außen-, Militär-, Sicherheits- und Wirtschaftspolitik vorgesehen ist. Weitere Unterabkommen, wie z. B. das Sicherheits- und Verteidigungsabkommen vom 01. 09. 91, zementieren diesen Zustand. Zusätzlich bleiben auf libanesischem Territorium 35.000 syrische Soldaten stationiert. Zurück

Monika Kaddur arbeitet seit Jahren in der Nahost- und Menschenrechtsbewegung. Sie war bis Ende 1997 Assistentin für politische Flüchtlinge bei amnesty international und ist Libanon-Gutachterin bei ai.

Die Macht der Milizen

Die Macht der Milizen

Der Bürgerkrieg im Libanon zwischen 1975 und 1990

von Frank Wullkopf

Der Libanon ist in den beiden vergangenen Jahrzehnten zu einem bevorzugten Schauplatz von militärischen Auseinandersetzungen zwischen regionalen und externen Akteuren geworden. Insbesondere die libanesische Zivilbevölkerung mußte im Verlauf des sich über einen Zeitraum von mehr als 15 Jahre erstreckenden Bürgerkrieges einen hohen Blutzoll entrichten. Die Bilanz des libanesischen Bürgerkrieges spricht eine deutliche Sprache: 170.000 Tote, 300.000 Verwundete und 800.000 Vertriebene sind für den Zeitraum von 1975 -1990 zu beklagen (Schulze 1997: 190).

Angesichts der sprunghaften Zunahme von kriegerischen Konflikten und fortschreitenden Fragmentierungsprozessen auf dem Balkan und auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion ist eine Analyse der inneren und äußeren Ursachen der libanesischen Malaise heute von besonderem Interesse. Bei einem von Experten der Stiftung Wissenschaft und Politik in Ebenhausen vorgenommenen Vergleich zwischen den Konflikten im Libanon und in Bosnien-Herzegowina wurde die Analogie von Erscheinungsformen militärischer Gewalt besonders evident herausgearbeitet (Calic/Perthes 1994). So war im Verlauf des Konfliktes in Bosnien-Herzegowina ebenso wie im Verlauf des libanesischen Bürgerkrieges das Phänomen der gezielten Vertreibung von ethnischen Volksgruppen sowie eine zunehmende Milizionierung zu beobachten.

Die Bedeutung der ethnisch-konfessionellen Gemeinschaften

Vom 16. bis ins 19. Jahrhundert hinein ist die Geschichte des Libanons – als autonomes Fürstentum des osmanischen Reiches – eng mit der Syriens verbunden. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts baute Frankreich seinen Einfluß im Libanon aus.

Als der Libanon 1943 in die Unabhängigkeit entlassen wurde, entwickelten christliche und moslemische Politiker des Landes gemeinsam den sogenannten »Libanesischen Nationalpakt«. Diese Vereinbarung sah die Verteilung von öffentlichen Ämtern und Verwaltungsposten nach einem Konfessionsproporz vor, wobei das Kräfteverhältnis nach dem Ergebnis einer Volkszählung aus dem Jahr 1932 bestimmt wurde. Von den insgesamt drei Millionen Libanesen gehörten zu jenem Zeitpunkt 51,2<0> <>% der Bevölkerung christlichen Glaubensgemeinschaften an, 48,8<0> <>% der Bevölkerung bekannten sich hingegen zum Islam (Steinbach 1979: 179). Auf dieser Basis wurde für die libanesische Abgeordnetenkammer ein Verhältnis von 6 Christen zu 5 Muslimen bestimmt. Die Formel 6:5 bestimmte von 1943 an die Machtstruktur im Libanon und fand auch bei der Verteilung führender Positionen in der Staatsverwaltung und in der Armee Anwendung.

Eine wesentliche Bestimmung des libanesischen Nationalpaktes implizierte die Zuordnung der drei höchsten Staatsämter zu den drei größten religiösen Gemeinschaften des Landes. Demnach mußte der Staatspräsident des Landes ein christlicher Maronit, der Ministerpräsident ein sunnitischer Moslem und der Parlamentspräsident ein schiitischer Moslem sein. Die Parlamentarier waren sowohl Repräsentanten des gesamten libanesischen Volkes als auch Mitglieder derjenigen religiösen Gemeinschaft ihres Wahlbezirkes, die sie zu vertreten hatten. Parteien spielten in der libanesischen Politik nur eine untergeordnete Rolle, vielmehr bestimmten konfessionelle, persönliche bzw. lokale Interessen den parlamentarischen Alltag in der Ersten Libanesischen Republik.

Neben der konfessionellen Identität spielt das Loyalitätsverhältnis des Einzelnen zur Familie und zum »Clan« eine wichtige Rolle im libanesischen Gesellschaftssystem. Hinzu kommt, daß die bestimmenden Figuren im politischen System des Levantestaates bis heute die Feudalherren, die zu'ama, sind, die früher als »Lehnsherren« mit uneingeschränkter Machtfülle herrschten. Auf diese Weise ergibt sich ein Netz familiärer und traditioneller Bindungen, die die Loyalität des einzelnen Libanesen beeinflussen und wenig Raum für das Entstehen eines übergeordneten nationalen Zusammengehörigkeitsgefühles lassen.

Das Profil der Konfliktparteien

Anfang der siebziger Jahre führte eine schwere Rezession zu einer Verelendung breiter Volksmassen. Mit der wirtschaftlichen Krise verschärften sich gleichzeitig auch die sozialen Gegensätze, die aus historischen Gründen und infolge der französischen Kolonialpolitik in Form konfessioneller Antagonismen in Erscheinung traten. In dieser schwierigen Situation bot die Mitgliedschaft in einer der zahlreichen Milizen der diversen Konfessionsgruppen für viele unterprivilegierte libanesische Jugendliche die Möglichkeit, eine gewisse soziale Sicherheit zu erlangen und dabei gleichzeitig das eigene Selbstwertgefühl zu steigern. Insbesondere die libanesischen Schiiten, die Anfang der siebziger Jahre die zahlenmäßig größte Konfessionsgemeinschaft im Land bildeten, sahen sich in ihrer Würde durch eine zunehmende Marginalisierung seitens der christlichen Maroniten verletzt.1

In ihrer Wahrnerhmung war die ökonomische und politische Benachteiligung ihrer Volksgruppe nicht länger hinnehmbar. Deshalb gründeten 1969 engagierte schiitische Persönlichkeiten den »Höheren Schiitisch-Islamischen Rat«. Der militärische Zweig dieser Bewegung trägt seit 1975 den Namen Amal. Die Amal-Miliz, vorwiegend im Südlibanon und in Beirut beheimatet, tritt in erster Linie für umfassende politische Reformen im Libanon ein, wobei eine Verbesserung der ökonomischen und sozialen Situation der vornehmlich im Südlibanon lebenden Schiiten angestrebt wird.

1983 spaltete sich das schiitische Lager, nachdem der politische Führer der Amal-Miliz, Nabih Berris, sich bereit zu einem Dialog mit den christlichen Kräften des Landes erklärt hatte. Diejenigen Schiiten, die ohne Einschränkung Ayatollah Khomeni als ihr geistliches Oberhaupt anerkannten und sich mit seinen fundamentalistischen Ideen identifizierten, bildeten die Hizbollah. Diese Gruppierung propagiert bis zum heutigen Tag die Errichtung eines islamischen Staates nach iranischem Vorbild und lehnt hierbei Konzessionen gegenüber den anderen ethnisch-konfessionellen Gruppen des Libanon kategorisch ab.

Unter den christlich-maronitischen Gruppierungen des Libanon nimmt die Falange-Partei des Gemayel-Clans eine herausragende Stellung ein. Die Falange wurde im November 1936 von Pierre Gemayel gegründet, der mit Hilfe dieser maronitischen Sammlungsbewegung den Aktivitäten der panarabisch bzw. prosyrisch orientierten Moslems begegnen wollte und für einen westlich orientierten Staat eintrat. Nach schweren Kämpfen zwischen diversen christlichen Milizen um die Vorherrschaft in Ostbeirut und im Mont Liban etablierten sich 1978 die Forces Libanaises (FL), die aus der Falange hervorgegangen waren, als stärkste Miliz auf Seite der Maroniten . Als Verteidiger des Status quo waren die Forces Libanaises daran interessiert, die Hegemonie der christlichen Maroniten im Libanon mit allen Mitteln zu erhalten.

Ihre besondere Aufmerksamkeit galt insbesondere der palästinensischen Präsenz im Libanon – bedingt durch den ersten israelisch-arabischen Krieg von 1948/49 hatten ca. 150.000 Palästinenser die Flucht in den Libanon angetreten.2 Die libanesische Regierung verteilte die palästinensischen Flüchtlinge über das gesamte Land, es entstanden 17 Lager, in denen die Menschen notdürftig untergebracht wurden. Der großen Mehrheit der heimatvertriebenen Palästinenser gelang es im Laufe der Jahrzehnte nicht, ihre unbefriedigende Lage zu verbessern. Der Aufstieg der palästinensischen Befreiungsorganisation PLO und die Aufnahme des bewaffneten Kampfes gegen Israel von libanesischem und jordanischem Territorium aus, stellten den libanesischen Staat vor größte Probleme. Es gelang der libanesischen Administration nicht, die Kontrolle über die palästinensischen Flüchtlingslager zu erlangen, die zu politischen und militärischen Zentren der PLO – Organisationen wurden. Das verstärkte sich nach der Vertreibung der PLO im September 1970 aus Jordanien. Die Tatsache, daß die Regierung unfähig war, ihre Bürger wirksam vor den Folgen der israelisch – palästinensischen Auseinandersetzungen zu schützen, destabilisierte die erste Libanesische Republik weiter.

Unterstützung erhielten die Palästinenser hingegen von verschiedenen sunnitischen Milizen und der Progressiven Sozialistischen Partei Libanons ( PSP ), die die politische Interessenvertretung des drusischen Bevölkerungsanteils darstellt. Die PSP stellt seit 1969 die Sammelbewegung derjenigen politischen Gruppen dar, deren gemeinsames Ziel die Überwindung der maronitischen Hegemonie im Libanon ist. Die Tatsache, daß die Palästinenserfrage sich verschärfte zu einer Auseinandersetzung zwischen dem islamischen Lager, welches die PLO für seine eigenen politischen Zwecke zu instrumentalisieren versuchte, und den christlich-maronitischen Kräften, die die Beendigung der palästinensischen Präsenz in der Zedernrepublik mit Waffengewalt anstrebten, ebnete den Weg für die Intervention externer Akteure.

Externe Akteure und ihre Interessen

Seit Mitte der siebziger Jahre ist der Libanon permanenten Interventionen seiner beiden mächtigen Nachbarstaaten Israel und Syrien ausgesetzt. Hinsichtlich der Bürgerkriegsursachen neigt ein großer Teil der libanesischen Bevölkerung dazu, die Einflußnahme Syriens und Israels als entscheidende Faktoren anzusehen. Ein anderer Teil betrachtet demgegenüber die inneren Faktoren, wie das anachronistische konfessionelle System und die sozio-ökonomische Krise, als entscheidend. Während die Maroniten in erster Linie externe Einflüsse wie die syrischen Hegemonieansprüche und die palästinensische Präsenz im Libanon als wesentliche Kriegsursache betrachten, verweist die moslemische Seite auf die evidenten Strukturmängel des libanesischen Proporzsystems. Volker Perthes hat in seiner Studie zur Situation des Libanon nach Beendigung des Bürgerkrieges darauf hingewiesen, daß sich in der wissenschaftlichen Diskussion unterschiedliche Ursachenanalyse der beteiligten Parteien widerspiegelt (Perthes 1994: 9).

Um die Politik der syrischen Regierung gegenüber dem Libanon zu verstehen, ist ein Blick in die Geschichte sinnvoll. Bevor der französische Kolonialismus das Großreich Syrien zerstückelte, umfaßte dieses die Westküste des Mittelmeeres bis hinab an den Sinai, das Hinterland der Küstengebirge und der Jordansenke einschließlich von Transjordanien und Palästina. Mit der territorialen Zerstückelung hat sich auch nach Erlangung der vollen Souveränität im Jahr 1946 keine syrische Administration abgefunden. Deshalb kann der syrische Einmarsch in den Libanon am 1. Juni 1976 auch durchaus als ein Wiederaufleben der syrischen Ansprüche auf das Territorium des levantinischen Staates interpretiert werden. Doch auch ein anderes Motiv beeinflußte die Entscheidung des syrischen Staatspräsidenten Hafez al-Assad zur Intervention in dem Nachbarstaat: Der seit 1975 geführte libanesische Bürgerkrieg implizierte in den Augen Assads die Gefahr eines israelischen Präventivschlages. Außerdem ging es den Syrern darum, den Einfluß der PLO auf die libanesische Innenpolitik zurückzudrängen. Der libanesische Bürgerkrieg hatte eine Situation geschaffen, die es der Regierung in Damaskus erlaubte, als Friedensstifter aufzutreten und die letzte verbliebene Operationsbasis der Palästinenser unter ihre Kontrolle zu bekommen. Bis zum heutigen Tag sind 40.000 syrische Soldaten im Libanon stationiert, die ca. 70 Prozent der Gesamtfläche des libanesischen Staates kontrollieren. Nur im Südlibanon ließ die syrische Armee den PLO-Kämpfern freie Hand bei deren Militäroperationen gegen Israel.

Als sich im Frühjahr 1978 die Anschläge der PLO auf nordisraelisches Territorium häuften, startete die israelische Armee die »Operation Litani«, in deren Verlauf die israselischen Streitkräfte den gesamten Südlibanon (mit Ausnahme der Stadt Tyrus) besetzten und dabei systematisch die militärische Infrastruktur der PLO-Verbände zerstörten. An dieser bis dahin größten Militäraktion im Libanon nahmen 25.000 israelische Soldaten teil. Um die israelische Besetzung des Südlibanon zu beenden, schalteten sich die Vereinten Nationen ein. In der Resolution Nr. 425 des Weltsicherheitsrates vom 19. März 1978, der sich in diesem Fall auch die USA anschloß, wurde der Rückzug der israelischen Truppen gefordert. Außerdem wurde die Stationierung einer UN-Friedenstruppe (UNIFIL ) in dem von Israel zu räumendem Gebiet beschlossen. Mit dem israelischen Rückzug sollte die 7.000 Soldaten umfassende Peacekeeping-Einheit bis zur libanesischen Südgrenze nachrücken und dort eine permanent kontrollierte Zone einrichten, um die Infiltration von palästinensischen Freischärlern nach Israel zu unterbinden.

Im Juni 1978 zogen sich die israelischen Soldaten aus dem Südlibanon zurück, die Likud-Regierung in Jerusalem faßte jedoch den Entschluß, eine eigene Sicherheitszone nördlich der internationalen Grenze einzurichten und deren Kontrolle nicht der UNIFIL, sondern der südlibanesischen Miliz von Major Haddad anzuvertrauen, der eng mit ihnen kooperierte (List 1988: 180).

Auch die israelische Invasion in den Libanon im Juni 1982 führte nicht zu mehr Stabilität an der Nordgrenze, sie wirkte vielmehr konfliktverschärfend. Die Konzeption der israelischen Regierung, im Libanon ein kooperationsbereites Regime der christlichen Falange-Partei zu installieren, erwies sich als unzulänglich und scheiterte am energischen Widerstand syrischer und moslemisch-libanesischer Kräfte. Auch nach dem Abzug aus dem Libanon im Jahr 1985 hielt Israel an der Sicherheitszone im Südlibanon fest und kontrolliert dieses Gebiet bis zum heutigen Tag mit Hilfe von General Lahad, dem Nachfolger des 1984 verstorbenen Haddads, und dessen Südlibanesischer Armee ( SLA ). Die sogenannte Sicherheitszone entlang der israelisch-libanesischen Grenze ist zwischen acht und zehn Kilometer breit, innerhalb der Zone leben ca. 150.000 Menschen, die vornehmlich der schiitischen Bevölkerungsgruppe angehören. An die Stelle der vertriebenen PLO-Kämpfer rückten die schiitischen Milizen Hizbollah und Amal, die seit 1984 den Kampf gegen die israelische Besatzungsmacht führen.

Die Macht der Milizen

Während des libanesischen Bürgerkrieges kam es zu einer sukzessiven Mobilisierung der Konfessionsgemeinschaften: Die Mobilisierung der Christen erfolgte 1975/76, die der Drusen 1982, die der Schiiten ab 1983 (Hanf 1990: 698).3 Mit der Kriegsdauer »professionalisierten« sich die Milizen. Anfang der 80er Jahre kontrollierten die diversen Milizen ganze Landes- und Stadtteile, richteten autonome Verwaltungsapparate ein und sicherten sich Finanzquellen (z.B. durch die Zollerhebung in Häfen, die sie zuvor unter ihre Kontrolle gebracht hatten).

Empirische Untersuchungen haben nachgewiesen, daß innerhalb der Milizen eine ausgeprägte Gruppenidentifikation und ein starkes Solidaritätsgefühl vorherrschte. Durch die Projizierung von Feindbildern gelang es den Milizführern und militanten Politikern über einen Zeitraum von 15 Jahren immer wieder, begrenzte Spannungen zwischen den Konfliktparteien aufrechtzuerhalten. Somit wurde der Krieg zu einem sich selbst verlängernden und perpetuierenden Phänomen (Hanf 1990:699).

Verschiedene Konfliktphasen

Der Verlauf des libanesischen Bürgerkrieges läßt sich in sieben verschiedene Konfliktphasen unterteilen :

1. April 1975 – 1976: Ausbruch des Bürgerkrieges, Zerfall der Libanesischen Armee. Kämpfe zwischen christlichen Milizen und palästinensischen sowie drusisch-sunnitischen Verbänden.

2. 1976: Syrische Intervention in den Libanon, um eine vollkommene Niederlage der Maroniten abzuwenden.

3. 1978/1980-1981: Kämpfe zwischen den syrischen Einheiten und den mittlerweile mit Israel kooperierenden christlichen Milizen.

4. 1978 – 1981: Nach der israelischen Invasion in den Libanon im März 1978 kommt es im Zeitraum von drei Jahren zu israelisch-palästinensischen Auseinandersetzungen, die in erster Linie im Südlibanon ausgetragen werden.

5. 1982 – 1985: Zweite israelische Invasion in den Libanon, Belagerung West-Beiruts. Nach dem Abzug der PLO aus Beirut wird eine multinationale Streitmacht (MNF) unter der Federführung der USA disloziert, die nach diversen Bombenanschlägen der schiitischen Hizbollah-Miliz zurückgezogen wird. Angriffe von Amal und Hizbollah im Südlibanon gegen die israelischen Truppen und die SLA. 1985 erfolgt der endgültige Rückzug der israelischen Armee.

6. 1985-1988: Heftige Kämpfe zwischen Amal und in das Land zurückgekehrten PLO-Einheiten.

7. 1988-1990: Nachdem am 22.9.1988 die Amtszeit von Präsident Amin Gemayel ausgelaufen war, können sich die Streitparteien auf keinen gemeinsamen Nachfolger einigen. Während die christlichen Milizen zu einem großen Teil den General Aoun als rechtmäßigen Nachfolger anerkennen, unterstützen die moslemischen Verbände den amtierenden Ministerpräsidenten Salim al-Hoss. Als Aoun im März 1989 zu einem nationalen Befreiungskrieg gegen die syrische Besatzungsmacht aufruft, ist sein Schicksal besiegelt. Nach der Vertreibung Aouns durch die Syrer wird im Dezember 1990 ein Kabinett der Nationalen Einheit gebildet. Der Maronit Elias Hrawi wird zum neuen libanesischen Präsidenten gewählt. Wiedervereinigung von West- und Ostbeirut.

Ein im Herbst 1989 in der saudiarabischen Stadt Taif abgeschlossenes Abkommen beendete formell den Bürgerkrieg im Libanon. Alle politischen und militärischen Institutionen des Landes stehen seitdem vollständig unter syrischem Einfluß.

Alle libanesischen Milizen wurden mit Ausnahme der Hizbollah im Südlibanon entwaffnet. Syrien sieht in der schiitischen Miliz ein geeignetes Druckmittel, um Israel zu größeren Konzessionen im Hinblick auf eine potentielle Rückgabe der Golanhöhen zu bewegen. Die israelischen Militäroperationen im Juli 1993 und April 1996 haben deutlich gemacht, daß der Südlibanon vom nahöstlichen Friedensprozeß vorerst ausgeklammert bleibt. Es sieht so aus, als ob ein israelisch-syrischer Friedensschluß die Voraussetzung wäre für einen Friedensprozeß im Libanon, dafür, daß diese leidgeprüfte Region endlich zur Ruhe kommt..

Literatur

Calic, Marie-Janine / Perthes, Volker 1994: Konflikte im Libanon und in Bosnien-Herzegowina. Ein Strukturvergleich. Unveröffentlichtes Informationspapier. Ebenhausen.

Denney, Julie / Wegner, Martha 1990: Lebanon's Fifteen – Year War 1975-1990. In Middle East Report – January-February.

Hanf, Theodor 1990: Koexistenz im Krieg. Staatszerfall und Entstehen einer Nation im Libanon. Baden-Baden.

List, Harald 1988: Antoine Lahad. In: Orient 29.

Perthes, Volker 1994: Der Libanon nach dem Bürgerkrieg. Baden-Baden.

Schulze, Kirsten E. 1997: Rolle und Perspektiven des Libanon in der Region. In: Wege aus dem Labyrinth ? Friedenssuche in Nahost. Baden-Baden.

Steinbach, Udo ( Hrsg. ) 1979: Politisches Lexikon Nahost. München.

Anmerkungen

1) Die Bevölkerungsstruktur Mitte der neunziger Jahre gestaltet sich laut Fischer Weltalmanach folgendermaßen: 60 Prozent Muslime (32 % Schiiten, 21 % Sunniten, 7 % Drusen) und 40 Prozent Christen (25 % Maroniten, 7 % Griech.-Orth., 5 % Griech.-Kath., 4 % Armenier u.a.). Zurück

2) Zur Zeit leben ca. 340.000 Palästinenser im Libanon. Die Regierung in Beirut möchte sie aus dem Land haben und verweigert ihnen deshalb nicht nur die Staatsbürgerschaft, sondern auch das Recht zu arbeiten. Zurück

3) In bezug auf die Mannschaftsstärke der Milizen werden in der Literatur unterschiedliche Zahlen genannt. Neuere Forschungsergebnisse kommen zu folgenden Ergebnissen: Amal (6.500), Hizbollah (3.500 ), PSP (5.000 ), Forces Libanaises (6.000 ), SLA (2.500 ), PLO seit der Rückkehr 1985 (10.000 ). (Vgl. Denney/Wegner 1990). Zurück

Frank Wullkopf ist Politologe. Er promoviert derzeit an der UNI Hannover zum Thema: Die UNIFIL-Friedensmission im Libanon.

Editorial

Editorial

von Paul Schäfer

Daß auf der Bühne internationaler Diplomatie viel Schönes deklariert wird, ist bekannt. Auch der türkische Staatspräsident setzt seine Unterschrift unter ein Dokument, in dem der Grundsatz der territorialen Integrität der Staaten hochgehalten wird. Derweil bombardieren zehntausende türkischer Soldaten Ziele im Nordirak. Mit Hilfe von Nato-Waffen und mit wohlwollender Unterstützung der USA und der Bundesrepublik.

Daß in einer auf vordergründige Symbolik getrimmten Öffentlichkeit den schönen Deklarationen geglaubt wird, ist ebenfalls nichts Neues. Folgt man den beteiligten politischen Akteuren und ihren treuherzigen Kommentatoren, so ist mit dem geschichtsträchtigen Datum 27. Mai 1997 eine neue Ära angebrochen. Mit der Grundakte zwischen NATO und Rußland sei das Gerüst einer euro-atlantischen Sicherheitsarchitektur des 21. Jahrhunderts errichtet worden, hören wir. Nur Nörg-ler von vorgestern können jetzt noch Haare in der Suppe der Nato-Osterweiterung finden.

Betrachten wir die Sache nüchtern: Der Vertrag war und ist zur Schadensbegrenzung gedacht. Der durch die selektive NATO-Ausdehnung drohende Rückfall in frühere Konfrontationen sollte verhindert werden. Der Schaden aber bleibt. Er liegt in der NATO selbst. Die NATO bleibt eine Militärallianz, die an der Aufrechterhaltung ihres Militärpotentials interessiert ist und die Krisen durch militärische »Machtprojektion« beikommen will. Dies geht auf Kosten der universellen und vornehmlich zivil ausgerichteten Institutionen wie UNO oder OSZE. Die Osterweiterung des Bündnisses muß im Zusammenhang dieses Prozesses gesehen werden, der das internationale System nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation nachhaltig verändert hat.

Wer die NATO-Mitglieder a priori als »die Guten« im weltpolitischen Spiel ansieht, mag diese Wendung der Ereignisse am Ende dieses Jahrzehnts begrüßen. Doch was, wenn die Mitglieder dieser Allianz, die sich nun die Verteidigung »westlicher Interessen« auf die Fahne geschrieben hat, maßgeblich die Konflikte produzieren, zu deren Lösung sie vorgeblich bereit stehen? Welche Sicherheit brächte eine sich möglicherweise herausbildende »nördliche Konstellation«, zu der perspektivisch ja auch Rußland gehören könnte (!), die mit aller Macht ihre Interessen gegenüber den Emporkömmlingen und Habenichtsen des Südens verteidigen will? Würde die Festigung eines solchen Blocks, der den Rest der Welt politisch und wirtschaftlich dominierte, nicht nur die Bedingungen verschärfen, die heute die vielen Kriege, Bürgerkriege und Gewaltakte hervorbringen? Steht nicht die mitgelieferte Suggestion, die gestärkte NATO hätte die Mittel und Instrumente, um Krisenentwicklungen in den Griff zu bekommen, im Widerspruch zu den tatsächlichen Gestaltungsmöglichkeiten? Und zwar von Afghanistan bis Zypern?

Sieht man sich die Grundakte NATO-Rußland im Detail an, so erkennt man schnell, daß hier Wasser als Wein verkauft werden soll.

Die Nato bestätigt, keine Kernwaffen in Osteuropa stationieren zu wollen. War dies je beabsichtigt? Zugleich bekräftigt sie, daß sie ihre Nuklearpolitik in keinem Punkt verändern will – heute nicht und auch nicht in Zukunft. Also auch nicht die Doktrin des Ersteinsatzes von Kernwaffen! Rußland hat seit kurzem diesbezüglich gleichgezogen. Die spektakuläre Ankündigung Jelzins, die Zielprogramme der Atomraketen ausbauen zu wollen, ist als Stabilisierungsmaßnahme zu begrüßen, kann uns aber vor diesem Hintergrund nicht beruhigen.

  • Substantielle Abrüstung ist – auch wenn ein anderer Eindruck erweckt wird – nicht zu erwarten. Der in Aussicht gestellte neue Vertrag über konventionelle Streitkräfte, wohlweislich KSE-Anpassungsübereinkommen genannt, soll die Obergrenzen bei Großwaffensystemen lediglich an die Ist-Bestände annähern. Gleichzeitig läuft der Prozeß der offensiven Umstrukturierung (Schnelle Eingreiftruppen) und rüstungstechnologischen Runderneuerung in Ost und West ungebrochen weiter.
  • Die NATO verzichtet auf die dauerhafte Stationierung von Truppenkontingenten in den neuen Mitgliedsstaaten. Im völlig veränderten »Sicherheitsumfeld« ist der Bedarf nach Aufmarschkapazitäten gegen das ohnehin arg geschwächte Rußland nur gering. Unter dem Stichwort »angemessene Infrastruktur« geht es vorrangig um den Ausbau der logistischen Möglichkeiten zur weltweiten Militärintervention.

Es gibt noch genug Gründe, den Jubelorgien zum Trotz, die NATO-Osterweiterung abzulehnen. Auch wenn die Entscheidung nicht mehr aufzuhalten ist: Die Suche nach einer zivil ausgerichteten europäischen Sicherheitsarchitektur bleibt weiterhin notwendig.

Ihr Paul Schäfer

Kurdistan

Kurdistan

Brennpunkt im Hinterhof

von Angelika Beer

Das Interesse der westlichen Regierungen an Kurdistan ist – zumindest vordergründig – erloschen. Die Darstellung der Gesamtsituation des in 5 Teile getrennten Kurdistans scheint den Politikern und öffentlichen Medien zu kompliziert oder zu unbequem. Hin und wieder schleicht sich die eine oder andere aus dem Zusammenhang gerissene Schlagzeile in die Tagespolitik. Der Brennpunkt Kurdistan ist von der Bildfläche verschwunden.

Die Bilder fliehender und ermordeter Kurden wurden mit denen des Grauens aus dem jugoslawischen Bürgerkrieg ausgetauscht. Es ist aber an der Zeit, dem Brennpunkt Kurdistan vermehrt Aufmerksamkeit zu widmen und nicht abzuwarten, bis alt bekannte Bilder erneut über die Fernsehschirme in die deutschen Wohnzimmer gebracht werden.

Rückblick zur Entwicklung in Südkurdistan (Nordirak)

Südkurdistan ist ein zerstörtes Land. Der erste Golfkrieg Iraks gegen Iran, der zweite Golfkrieg der »Anti-Saddam-Allianz« zur Befreiung Kuwaits sowie die Anfal-Offensive Saddams gegen die Kurden im eigenen Land haben jede Struktur vernichtet. Mit der Begründung, die Integrität Iraks zu bewahren, war dem irakischen Baath-Regime jedes Mittel Recht, um die kurdischen Autonomiebestrebungen zu zerschlagen.

Die Zahl der Opfer der Anfal-Offensive, die mit dem Giftgaseinsatz 1988 im kurdischen Halabjah ihren Höhepunkt fand, beziffert die Kurdistan-Front auf etwa 183.000 Menschen; ca. 4.500 kurdische Dörfer wurden dem Erdboden gleichgemacht, die Bevölkerung zwangsumgesiedelt.

Obwohl diese Tatsachen, wenn auch damals nicht in ihrem vollen tragischen Ausmaß, bekannt waren, wurde der Irak von den westlichen Staaten bis unter die Zähne aufgerüstet, um ihn als Stabilitätsmacht am Golf gegen Iran aufzubauen.

Erst die Intervention Iraks in Kuwait 1990 sorgte für den vorläufigen Wechsel der Sympathien vor allem der US-Administration. Als Kuwait durch die Aktion »Desert Storm« »befreit« und Saddams Truppen geschlagen waren, gewährten die Bodentruppen der »Anti-Saddam-Allianz« das Zusammenziehen und die Verlegung der Repbulikanischen Garden Saddams in den Nordirak. Bilder des versuchten Völkermordes an den Kurden schreckten die Öffentlichkeit auf. Massenflucht von 1,5 Mio. Menschen in Richtung der benachbarten Grenzen der Türkei und Irans. Die Alliierten errichteten die sogenannte Schutzzone nördlich des 36. Breitengrades. Die Aktion »Provide Comfort« lief an. Zuviel um zu sterben, zu wenig, um zu leben. 1,5 Millionen Kurden kehrten in ihre Heimat zurück.

Rückblick zur Entwicklung in Nord-West Kurdistan (Südost-Türkei)

Militärputsch 1980: die Bundesregierung Deutschland stoppt vorübergehend die militärische Ausrüstung der türkischen Armee.

Wenig später wird die Regierung Özals als Rückkehr zur Demokratie des NATO-Partners mit der Wiederaufnahme von Rüstungsschenkungen belohnt. Ebenfalls mit der Begründung, die Integrität der Türkei zu wahren, wurde das Wort Kurde aus dem türkischen Wortschatz verbannt. Der Verstoß gegen die Leugnung der Existenz des kurdischen Volkes wurde hart bestraft. Nicht nur die Repressionen und Unterdrückung des kurdischen Volkes nahm zu, sondern auch der Widerstand der »Bergtürken« dagegen. Während NATO und Türkei sich auf die Strategie der Anti-Terrorismus-Bekämpfung einigten und bundesdeutsche GSG 9 Spezialisten für das notwendige know how in der Türkei sorgten, rief die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) 1984 zum bewaffneten Widerstand gegen das Unterdrückerregime auf.

Özal ging zum offenen Staatsterror gegen die kurdische Bevölkerung über, unterstützt von den Alliierten. 1989 teilte die türkische Regierung dem Europarat mit, daß die Geltung der Menschenrechte der Vereinten Nationen für die kurdischen Provinzen aufgehoben sei. Diese Derogation der Menschenrechte gilt bis zum heutigen Tag.

Die Türkei nutzte ihre militärstrategisch wichtige Rolle für die West-Alliierten während des 2. Golfkrieges geschickt aus; die türkischen Angriffe auf die KurdInnen wurden – im Schatten des Golfkrieges – immer massiver.

Bei den Wahlen 1991 verlor Özal die Regierungsmehrheit, die nun von der SHP und ANAP gestellt wird (Inönü und Demirel). Özal ist nach wie vor Regierungspräsident.

Silopi dient den amerikanischen und französischen Militärs bis heute noch als militärischer Stützpunkt, von dem aus sie als sogenannte »Schutztruppe« die »Kontrollflüge« über irakisch Kurdistan durchführen, um das UNO- Flugverbot für irakische Militärmaschinen nördlich des 36. Breitengrades zu kontrollieren.

Zwei Jahre nach dem Golfkrieg: Krieg in türkisch Kurdistan

Es herrscht Krieg mitten in Europa, und keiner sieht hin. Die Demokartieversprechungen der neuen Regierung in Ankara sind längst in kurdischem Blut, in Folter und Mord ertrunken. Bei den von der Armee und Spezialeinheiten angerichteten Massakern an der Zivilbevölkerung anläßlich des kurdischen Neujahrstages Newroz am 21. März 1992 hat es mehr als 100 Todesopfer gegeben. Über 160 Menschen fielen Mordanschlägen durch Todesschwadronen zum Opfer, die dem Verantwortung der staatlichen Repressionsorgane zuzuordnen sind.

Darunter befinden sich dreizehn Journalisten, die es wagten, trotz Zensur und Morddrohungen über die Kontraguerilla zu berichten. Jüngstes Opfer ist der Journalist Namik Taranci von »Gerecek«, der nach seinem Bericht über die Todesschwadrone am 20.11.92 beim Verlassen seiner Wohnung ermordet wurde.

Die kurdische Geschichte wiederholt sich. „30.000 Kurdinnen und Kurden mußten fliehen.“ Diese Meldung vom August '92 erfolgt nach der militärischen Strafaktion des Nationalen Sicherheitsrates der Türkei gegen die kurdische Stadt Sirnak. Es mutet wie eine Ironie der Geschichte an, daß der Flüchtlingstreck diesmal in entgegengesetzter Richtung, nach Südkurdistan (Nordirak) zog. Dies Ergebnis der türkischen Politik der verbrannten Erde. Sie hat ihre Bereitschaft erwiesen jene Methoden anzuwenden, die denen des irakischen Regimes in nichts nachstehen und nach der UN-Konvention zur Verhütung und Bestrafung des Völkermords die Züge eines Genozids tragen.

Wie schon im März bei der Niederschlagung des kurdischen Volksaufstands in Cizre durch den Einsatz deutscher Waffen, beweisen auch heute die Bilder der Zerstörung: es sind Waffen, die von der Bundesregierung finanziert wurden, es sind Panzerfahrzeuge, die kostenlos aus Beständen der ehemligen NVA übergeben wurden, es ist Munition aus den Beständen der NATO.

Irakisch Kurdistan: Befreiungskampf in irakisch Kurdistan

Der Norden Iraks steht (über die Schutzzone nördlich des 36. Breitengrads hinaus) unter kurdischer Kontrolle. Der Aufstand der KurdInnen im Mai 1991 besiegte die Söldner Saddams auch in den größeren Städten Südkurdistans. Lediglich die Region Kirkuk, bekannt als ständiger Konfliktherd wegen seiner Ölvorkommen, steht unter Zentralverwaltung Bagdads. Mit der Massenflucht der KurdInnen zur iranischen und türkischen Grenze im Frühjar 1991 begannen Nichtregierungsorganisationen (NGOs) sowie internationale Hilfsorganisationen unter UN-Mandat, mit medizinischen Notprogrammen für die von der Massenflucht geschwächten Menschen. Ernährungs- und Trinkwasserprogramme, Winterprogramme und schließlich Wiederaufbauprogramme die unter kurdischer Aufsicht erfolgten, führten zu einer Stabilisierung, die weit davon entfernt ist, langfristige Sicherheit zu bieten. Im Mai 1992 wurde die erste freie Wahl zu einem eigenen Parlament durch die Kurdistan Front abgehalten.

Der Wiederaufbau Kurdistans wird nicht nur durch das Einfuhrverbot aufgrund des UNO Embargos gegen Irak erschwert. Seit der Wahl zum Nationalparlament, das laut Beschluß der Kurdistan-Front ausdrücklich die Integrität des Staates Irak nicht in Frage stellt, hat Saddam ein absolutes Embargo gegen die kurdisch autonome Region verhängt. So wird der Wiederaufbau Kurdistans durch ein doppeltes Embargo behindert.

Eine Lockerung des UN Embargos zumindest für den kurdischen Norden Iraks steht bis heute aus. Die Wirksamkeit dieses Embargos, um Saddam Hussein nun doch noch zu stürzen, ist höchst fragwürdig. Mehrere Berichte von Menschenrechtsinitiativen und Friedensgruppen weisen darauf hin, daß die Notleidenden nicht in den Reihen des Baath-Regimes zu suchen sind, sondern die Todesrate der an Seuchen und Hunger sterbenden unter der Zivilbevölkerung Iraks stark steigt. So wird die natürliche Opposition gegen Saddam, die Bevölkerung, geschwächt, nicht aber Saddam selbst.

Die Hoffnung der Kurden, mit der Wahl internationale Anerkennung und Unterstützung zu gewinnen, erwies sich als trügerisch. Die Idee einer Versorgungsluftbrücke, über die auch wirtschaftlicher Handel ermöglicht werden sollte, stieß auf Ablehnung bei den »Schutzmächten«.

Die US-Administration und die anderen westlichen Regierungen machen den kurdischen Führern klar, daß der von ihnen beschrittene eigenständige Weg Kurdistans nicht unterstützt wird und stellen handfeste Bedingungen. „Wie wir schon oft gesagt haben,“ hieß es in einer Erklärung des State-Departments anläßlich der Wahlen in Kurdistan, „wir sind nicht bereit, die Entstehung einer unabhängigen Entität im Nordirak zu unterstützen.“ Das entspricht der Sprache des NATO-Partners Türkei, der den einzigen Zugang ins irakische Kurdistan erpresserisch kontrolliert und die irakischen Kurden zwingen will, gegen die von ihrem Territorium aus operierende Guerilla der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) vorzugehen.

Der Bruderkrieg unter den Kurden

Der sogenannte Bruderkrieg ist das Ergebnis entstandener, neuer Abhängigkeitsszenarien, zu denen sich der neugewählten Regierung Südkurdistans keine Alternativen bieten.

Südkurdistan ist dem »good will« der Türkei und der ehemaligen Kriegsallianz vollständig ausgeliefert. Nur mit der weiteren Erlaubnis, Transporte und Hilfslieferungen über den Grenzübergang Habur/Zakho einzuführen kann die Bevölkerung den kommenden Winter überleben.

Seit dem 1. Oktober führt die türkische Armee einen Feldzug gegen Kurdistan: Unter dem Vorwand, dem Terrorismus ein Ende zu bereiten und deshalb die bewaffneten Einheiten der PKK vernichten zu müssen, stehen türkische und deutsche Panzer auf irakischem Territorium. Sie vernichten, was nach dem 2. Golfkrieg mühsam wieder aufgebaut wurde, z.T. aus dem Topf Humanitärer Hilfe des Auswärtigen Amtes. Die Flugzeuge der USA und Frankreichs, die vom türkischen Silopi aus die kurdische Schutzzone vor Angriffen Saddams bewachen sollen, sehen dem Feldzug des NATO-Partners zu und unterstützen ihn darüber hinaus mit Informationen über die Standorte der vermutlichen Lager der PKK im Nordirak. Der Sprecher des US-Außenministeriums, Boucher, hat unverblümt Position bezogen: „Wir unterstützen die türkische Regierung bei ihrem Kampf gegen den Terror.“

Das Kesseltreiben gegen den kurdischen Widerstand ist der Türkei nur aufgrund ihrer regionalen Machtstellung im Mittleren Osten möglich. Durch den Bau des gigantischen Staudammprojektes GAP hat sie sich zur Hüterin über die Wasserversorgung im Nahen Ostens gemacht. Die Drohung gegen Syrien, den Wasserhahn zuzudrehen, falls Syrien nicht dem Wunsch der Türkei nachkäme, die Beka Ebene für das dortige Ausbildungslager der PKK zu schließen, zeigte Wirkung. Die Drohung gegenüber der irakischen Kuristan Front, die Grenze für Hilfstransporte zu schließen, wenn die irakischen Kurden nicht selbst dafür sorgen, daß die PKK die Grenzregion verlassen muß, ebenfalls.

Eine fast perfekte Inszenierung des »Bruderkrieges«; die Kurden sind wieder einmal Spielball der Mächtigen. Der Widerstand und berechtigte Befreiungskampf gegen die Unterdrückung der jeweiligen Herrschenden wird durch den »Bruderkrieg« nicht gebrochen werden, dennoch verliert er an Überzeugung und Perspektive, die alle 5 Teile Kurdistans nach wie vor vereint: ein befreites Kurdistan.

Die Interessen der USA und Deutschlands am Status Quo

Der Wahlkampf in den USA ist vorbei; Bush muß gehen – Saddam ist noch immer an der Macht; in Kuwait regieren die gleichen Ölscheichs wie zuvor.

Der Nachfolger Bush's, Clinton, hat bereits verkündet, die amerikanische Außenpoltik ohne gravierende Änderungen weiterführen zu wollen, womit der »Demokrat« unkritisiert verkündet, die Neue Weltordnung weiterhin mit militärischen Mitteln verteidigen zu wollen. Es wird auch unter dieser neuen Weltordnung, wo es so scheint, als sei nationale Unabhängigkeit leichter zu verwirklichen, für die Kurden und andere Emanzipationsbewegungen im Nahen Osten kein Platz sein.

Die US Administration und ihre Verbündeten werden für das Ziel der Aufrechterhaltung des regionalen Staus Qou weiter über Leichen gehen – auch über kurdische.

Der Kampf um kurdische Selbstbestimmung im Irak bedroht die Herrschaftsinteressen des Westens ebenso wie der Befreiungskampf der PKK gegen die Unterdrückung der Türkei oder der Kampf der iranischen Kurden. Die Ermordung iranischer Kurden – wie die von Dr. Ghassemlou in Östereich sowie seines Nachfolgers vor wenigen Wochen in Berlin – die sich für eine Selbstbestimmung Kurdistans einsetzten zeigt den Willen, ein Wiederauferstehen von Mahabat (dem einzigen Kurdischen Staat der 1946 im Iran für nur ein Jahr bstand) auch von iranischer Seite konsequent entgegenzumorden.

Deutschland spielt hierbei eine besonders perfide Rolle. Nur wenn sich die Öffentliche Meinung gegen die Praxis der Waffenbüderschaft mit der Türkei wendet, wird zur Beruhigung der Rüstungsexport kurzfristig ausgesetzt.

Obwohl vielen von uns die Bilder des Kurden, der in Sirnak mit einem aus Deutschen NVA Beständen stammenden Panzer zu Tode geschleift wurde, klar vor Augen stehen und amnesty international den Vorwurf der Beihilfe zum Mord am kurdischen Volk gegen die Bundesregierung erhebt, ist von einem Rüstungsexportstop keine Rede. Die deutsche Außenpolitik hat sich der Interessenslage angepaßt. Außenminister Kinkel besucht China, während 31 Oppositionelle hingerichtet werden; Verteidigungsminister Rühe besucht Ankara und regelt die bevorstehende Lieferung von 46 Phantom-Aufklärungsflugzeugen der deutschen Luftwaffe, die zur Zeit in Baden Würtemberg und im Schleswig-Holsteinischen Leck stationiert sind. Der Mord am kurdischen Volk wird fortgesetzt.

Perspektive

Schon morgen kann für Kurdistan Wirklichkeit werden, was in Somalia bereits Realität ist: die Landwirtschaft und Umwelt ist durch Kriege zerstört. Waffen werden leichter zu haben sein als Brot. In dieser ausweglosen Situation werden die zur Niederschlagung von Befreiungsbewegungen und in blutigen Stellvertreterkriegen gelieferten Waffen, die massenweise im Land geblieben sind und die früher vielleicht einmal die Perspektive boten, sich von der Unterdrückung zu befreien, gegeneinander eingesetzt. Ein Kampf um die zu knappen Resourcen. Die Abschaffung der Armut erfolgt dann in einem Krieg, in dem man sich die Armen gegenseitig umbringen läßt. Die sogenannten Schutztruppen der »Anti-Saddam-Allianz« und Konstrukteure der Neuen Weltordnung werden zu zufriedenen Zuschauern, ohne selbst Hand anzulegen.

Brennpunkt Kurdistan – er darf nicht weiter ignoriert werden.

Angelika Beer ist Mitarbeiterin bei Medico International und Bundesvorstandsmitglied der GRÜNEN.

Rüstung und Rüstungskontrolle im Nahen Osten

Rüstung und Rüstungskontrolle im Nahen Osten

Die Region ein Jahr nach dem Golfkrieg

von Burkhardt J. Huck

Die Region Naher Osten wird auch in Zukunft ein Brennpunkt in der Welt bleiben. Die Kombination aus hochgerüstetem Pulverfaß und immensem Erdölvorkommen, von dem auch in absehbarer Zukunft die westlichen Industriestaaten noch abhängig sein werden, macht diese Region so gefährlich. Solange die USA weiterhin in großem Ausmaße Waffen in diese Region exportieren – in dem Zeitraum von September 1990 bis November 1991 im Wert von 19 Milliarden DM – und solange die Industriestaaten keine qualitativen Abrüstungsschritte einleiten, wird sich an diesem Zustand nicht so schnell etwas ändern.

Im Bereich der Sicherheitspolitik wird die Region Naher Osten von den meisten Experten wie folgt abgegrenzt: Sie umfasst die Anrainerstaaten des persischen Golfes, also den Iran, die Staaten auf der arabischen Halbinsel einschließlich Jemen und Jordanien sowie die Anrainerstaaten des Mittelmeers, Syrien, Israel, Libanon und Ägypten. Diese Staaten weisen nicht nur große Unterschiede in den Zahlen für Fläche, Bevölkerung und Wirtschaftskraft, sondern auch in Hinblick auf militärisches Potential und Verteidigungsausgaben auf. Einer der Unterschiede, der in den nächsten Jahren für die Sicherheitspolitik zunehmende Bedeutung haben könnte, ist der zwischen insgesamt landwirtschaftlich nutzbarer und nur durch Bewässerung nutzbarer Fläche. Die Abhängigkeit der Versorgung mit Wasser aus den Flüssen Nil, Euphrat und Tigris sowie Jordan wird durch die Staudammprojekte in den Quellregionen zunehmend zur Ursache von zwischenstaatlichen Konflikten.

Das gilt auch für die hohe Abhängigkeit der Wirtschaft fast aller Staaten auf der arabischen Halbinsel von ausländischen Arbeitskräften, die mit Ausnahme von Oman über 50% liegt. 75% der in diesen Staaten beschäftigten Arbeitskräfte stammen aus Palästina, Jordanien, Jemen und Ägypten, 25% aus Indien und Pakistan. Die Politik Kuwaits gegenüber den Palästinensern oder Saudi-Arabiens gegenüber den Jemeniten hat zur Rückwanderung von einigen hunderttausend Arbeitnehmern nach Jordanien oder Jemen geführt. Dazu kommt, daß in den Ländern, in denen die Wirtschaft in teilweise extremen Maß staatlich gelenkt bzw. abhängig ist, Wirtschaftsreformen bereits initiiert wurden bzw. unumgänglich sind. Das wird mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit in den betroffenen Volkswirtschaften noch zu gravierenden Verwerfungen führen.

Wenden wir uns der regionalen Sicherheitsstruktur zu, insbeondere den Daten des militärischen Kräftevergleichs.. Eine Addition der Zahlen in den einzelnen Rubriken ergeben für die Region Summen, wie sie sich in etwa für die Staaten des inzwischen aufgelösten Warschauer Paktes in der Zentralregion Europas ergeben. Die DDR, CSSR und Polen, und die auf ihrem Gebiet stationierten sowjetischen Streitkräfte, hatten nach den Reduzierungen von 1989 etwa genauso viele Panzer und Kampfflugzeuge in ihren Arsenalen, wie die 14 Staaten der Region mit der fast zehnmal so großen Fläche und der zweieinhalbfachen Bevölkerungszahl.

Im Vergleich zur gesamten mit Waffen und Soldaten vollgepackten Zentralregion Europas mit etwas mehr als 870.000 dichtbesiedelten und industrialisierten Quadratkilometern erscheint die Region auf den ersten Blick fast als normal. Das gilt auch für die entsprechenden Vergleichszahlen nach den politischen Umbrüchen in Europa. Abgesehen davon, daß der Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa nicht so bald von den Nachfolgestaaten der Sowjetunion ratifiziert und vor allem implementiert werden wird, läßt sich schon jetzt feststellen, daß auch dann Europa die am meisten überrüstete Region bleiben wird.

Solange Europa derart überrüstet ist, muß man sich nicht wundern, wenn diese Rüstung auch Regionen dominiert, die mit der militärischen Macht europäischer Staaten ungenehme Erfahrungen sammeln mussten; Insbesondere, wenn diese Staaten ihre Streitkräfte und Bewaffnungsstrukturen zunehmend für Einsätze außerhalb ihrer Region umstrukturieren.

Das Öl als bestimmender Faktor

Damit sind wir ins Sanktuum der Sicherheitspolitik gelangt. Dieses Sanktuum heißt Bedrohungsvorstellung. Eine Bedrohungsvorstellung, die die ganze Region eint, wie etwa in den letzten 40 Jahren Westeuropa gegenüber dem Ostblock, gibt es in der Region nicht. Das galt selbst nicht während der langen Kampfjahre gegen Israel.

Die Bedrohungsvorstellung wird vielmehr von den Konfliktpotentialen beherrscht, die von Staat zu Staat sehr unterschiedlich sind. Natürlich ist der Palästinakonflikt einer der zentralen Konflikte. Doch selbst wenn er zur Zufriedenheit der Betroffenen gelöst wäre, würde die Region weiterhin ein Pulverfaß bleiben. Das nicht nur wegen des Konfliktpotentials zwischen den Staaten von bevölkerungsreichen Habenichtsen und wohlhabenden Ölförderländern oder zwischen sunnitischen, schiitischen oder laizistischen Staaten, sondern vor allem wegen des kostbarsten Gutes, das die Region zu bieten hat, wegen des Öls.

Das Öl ist der dominante und langfristig stabilste Faktor, der die Strukturen der regionalen Sicherheit und das Ausmaß von Rüstung und Rüstungskontrolle bestimmt. Der Konflikt um Palästina scheint, einigen Optimismus vorausgesetzt, in absehbarer Zeit lösbar. Unlösbar scheinen dagegen künftige Konflikte um den Ölreichtum der Region. Der Anteil der nachgewiesenen Ölreserven der Region gegenüber den entsprechenden globalen Reserven liegt bei etwa 65%, der an den geschätzten zusätzlichen globalen Ölreserven bei etwa 50%1 (Siehe hierzu Tabelle 2).

Die Sicherheit der Ölzufuhr aus der Region wird mit großer Wahrscheinlichkeit auch noch in dieser Dekade über das wirtschaftliche Wohlergehen der westlichen Industrieländer entscheiden. Um es nochmal in Erinnerung zu rufen: Das Öl aus der Region deckt den Bedarf der EG-Staaten zu 65%, den Japans zu 85% und den der USA zu 10%. Dabei ist vor allem mit einer Steigerung des Anteils für die USA zu rechnen, der quantitativ etwa ein Drittel der EG-Menge beträgt. Die USA stellt etwa 6% der Weltbevölkerung, ist aber mit 30% am Weltenergieverbrauch beteiligt. Allein der Transportsektor der USA verbraucht 107% der jährlichen Ölproduktion der USA2. Denn vor allem dieser Sektor ist für die extreme Nachfrage nach Öl verantwortlich. Ähnliche Zahlen, lassen sich bestimmt auch für Europa ermitteln und trotz aller Bemühungen um die Senkung des Kraftstoffverbrauchs, wird etwa für die USA wegen sinkender heimischer Produktion mit einer dramatischen Steigerung der Nachfrage gerechnet. In der Studie „Oil and Gas Reserve Disclosure“ aus dem Jahr 1991 wird festgestellt, daß die Ölproduktion der USA seit 1986 um 1,8 Mio. Barrel pro Tag oder insgesamt um 16% gefallen ist. Mit einem weiteren Rückgang von 1 Mio. Barrel pro Tag in den Jahren bis 1996 wird gerechnet.3

Der Import von 1 Mio. Barrel pro Tag kostet die USA jährlich etwa 7 Mrd. Dollar. In Anbetracht der Tatsache, daß auch die Produktion der Sowjetunion 1991 um ca. 500.000 Barrel pro Tag im Jahr 1991 gefallen ist, die Nachfrage in Japan um 5% und in Südostasien um 6-10% gestiegen ist, sind Annahmen, daß der Preis in den nächsten Jahren auf 35-40 Dollar pro Barrel ansteigen kann, nicht unrealistisch. Das würde im Falle der USA jährliche Ausgaben von 120 bis 150 Mrd. Dollar alleine für Ölimporte bedeuten.

Die Feststellung von James Schlesinger in einer Stellungnahme während eines Hearings des Repräsentantenhauses über langfristige Sicherheit der Energieversorgung sei hier zitiert, weil sie den politischen Stellenwert gesicherter Ölzufuhren für die westlichen Industrieländer kennzeichnet. Diese Stellungnahme stammt aus dem Jahr 19874:

„Zum Schluß möchte ich kurz auf die gegenwärtigen Aktionen der Verinigten Staaten im Persischen Golf kommen. Es ist mir nicht ganz klar, was die USA dort im Golf tun und weshalb sie dort in einem solchen Ausmaß präsent sind. Aber eins ist klar, daß es etwas zu tun hat mit unserem Interesse an einer gesicherten Ölversorgung. Die USA haben etwa 40 Schiffe und 25.000 Soldaten in den Persischen Golf geschickt, um den Pressionen des Ayatollah Khomeini Paroli zu bieten. Wären die USA vorbereitet so heftig zu reagieren, wenn der Ölmarkt knapp wäre, die USA zugleich zu 55 oder 60% von ausländischer Ölzufuhr abhängig wäre und militärische Aktionen im Persischen Golf aller Wahrscheinlichkeit zu einem starken, wenn auch kurzfristigen Anstieg der Ölpreise führen würde? Der Preis für Benzin an der Tankstelle ist einer der politisch sensivsten Bereiche im amerikanischen Leben. Wäre die Regierung vorbereitet auf einen starken Anstieg der Benzinpreise? Wäre sie das in einem Wahljahr?“

Präsident Bush hat aus diesen Fragen James Schlesingers gelernt. Der Krieg gegen den Irak um Kuwait hat nur zu einem vorübergehenden Anstieg der Ölpreise geführt. Die Präsenz und die Verflechtung der USA mit den Staaten der arabischen Halbinsel sowie mit Israel und Äypten scheinen mehr oder weniger stabil und gesichert. Der Irak ist geschwächt und hat einen großen Teil seines Angriffpotentials verloren. Der wichtigste Verbündete der USA, das Königreich Saudi-Arabien und die Emirate der arabischen Halbinsel scheinen innenpolitisch stabil. Die Gefahr sowjetischer Bedrohung ist verschwunden wie die sozialistischen Regime in Äthiopien und Jemen. Selbst die iranische Führung gibt sich moderater als je zuvor. Israel verhandelt zum ersten Mal über die Zukunft Palästinas.

Das Bestreben nach einer regionalen Sicherheitsstruktur

Was also ist der Grund für die massive Aufrüstung der am Krieg gegen den Irak beteiligten Staaten der Region vor allem durch die USA? Da gibt es die o.g. gewichtigen Motive der USA, die über eine vorübergehende Sicherstellung der Kapazitäten der heimischen Rüstungsindustrie hinausgehen. Aber möglicherweise ebenso gewichtig sind die Motive der Nachfrager, also der arabischen Kunden insbesondere der Monarchien auf der arabischen Halbinsel. Hinter ihren Bemühungen, ihr militärisches Potential auf den modernsten technischen Stand zu bringen, ist natürlich auch das Bestreben zu erkennen, eine eigenständige regionale Sicherheitsstruktur aufzubauen, die eine militärische Präsenz ausländischer Mächte überflüssig macht. Die Bemühungen der Staaten des Golf Cooperation Council (GGC), Ägyptens und Syriens, „eine neue arabische Ordnung aufzubauen, um gemeinsame arabische Aktionen zu unterstützen“ sind allerdings seit der Deklaration von Damaskus vom 6. März letzten Jahres noch nicht weit gediehen. Seit der Gründung des Rats der sechs arabischen Golfmonarchien ist es dem GCC noch nicht einmal gelungen sich zu einer gemeinsamen Industrie- und Verkehrspolitik durchzuringen. Der von Sultan Quabas von Oman angeregte Aufbau einer schnellen Einsatztruppe, die einen Umfang von 100.000 Mann haben und unter gemeinsamen Oberkommando stehen soll, ist im Sande stecken geblieben. Der Aufbau einer arabischen Abschreckungsstreitmacht, an dem nach der Deklaration von Damaskus auch syrische und ägyptische Truppen beteiligt sein sollten, ist ebenso gescheitert. Laut dem stellvertretenden Generalsekretär des GCC hat man sich inzwischen darauf geeinigt, „daß auch der Abschluß zweiseitiger Sicherheitsübereinkommen mit nichtregionalen Mächten möglich sei“, was also heißt, daß die Golfländer ihre Sicherheit am besten bei den westlichen Alliierten, bei den USA, Großbritannien und Frankreich aufgehoben wissen.5

Mit Blick auf die Geschichte könnte man also sagen, im Nahen Osten nichts Neues. Seit der Auflösung des osmanischen Reiches nach dem ersten Weltkrieg wird die Region von eben diesen Mächten dominiert. Das ging soweit, daß die erste arabische Legion 1923 unter dem britischen General Gubb Pascha aufgestellt wurde und etwa 1930 im britisch-irakischen Vertrag die Einrichtung von britischen Luftwaffenbasen auf dem Gebiet des Irak zum Schutz der Ölregion um Mosul vereinbart wurde. Die Ölfördergesellschaften sind zwar inzwischen verstaatlicht, aber die Staaten mit der größten Nachfrage dominieren noch immer die regionale Sicherheitsstruktur.

Wie gesagt werden daran auch die arabischen Bemühungen um eine eigenständige Sicherheitspolitik wenig ändern können, solange die westlichen Industriestaaten derartig abhängig von den Ölzufuhren aus dieser Region sind und die politische Zukunft der arabischen Monarchien von den Lieferungen an eben diese zugleich größten Kunden abhängt.

Solange isolationistische Strömungen in den USA nicht dazu führen, daß die militärische Präsenz in der Region unter dem Central Command, das für mögliche Einsätze von Ägypten bis Pakistan zuständig ist und sich auf Basen in den Golfstaaten, Ägypten und die im Indischen Ozean zur Drehscheibe ausgebaute Insel Diego Garcia stützen kann, reduziert oder gar aufgegeben wird, wird sich an der regionalen Sicherheitsstruktur wohl wenig ändern. Es sei denn, daß der islamische Fundamentalismus erstarkt und sowohl die von der Baath-Partei getragenen Regime oder gar die Monarchien erschüttert. Doch selbst dann wären die wirtschaftlichen Abhängigkeiten so stark, daß man die Kunden nicht vollständig verprellen kann.

Rüstungskontrolle

Das sind einige der Rahmenbedingungen, vor denen die gegenwärtige Rüstungskontrollpolitik gesehen werden muß. Doch trotz dieser für die westeuropäischen Mächte und die USA berechenbar scheinenden regionalen Sicherheitsstruktur sind doch Bedenken angebracht gegen eine Politik, die Stabilität durch Aufrüstung und Rüstungsmodernisierung und letztlich durch Abschreckung zu erreichen sucht. Das gilt unabhängig von dem möglichen Sonderfall des Irak unter Saddam Hussein. Es ist und bleibt ein Skandal, daß um angebliche Sicherheit zu erreichen Verteidigungsaufwendungen akzeptiert werden, die in prozentualem Verhältnis zum Bruttosozialprodukt stehen, wie die in der früheren und nun halbtotgerüsteten Sowjetunion. Die Staaten der Region wenden im Durchschnitt 12% des BSP für ihre Verteidigung auf. Für das Königreich Saudi-Arabien beläuft sich dieses Verhältnis auf über 22% mit weiter steigende Tendenz. Zum Vergleich sei diese Zahl für die Bundesrepublik genannt: sie beträgt 2,2%.

Die bisherigen Pläne der Hegemonialmächte, insbesondere der Plan des US-Präsidenten Bush zur Rüstungskontrolle in der Region sind bisher über wohlklingende Absichtserklärungen nicht hinausgekommen. Die von Bush am 29.5.91 vorgeschlagene Regime6, auf das sich die wichtigsten Lieferanten von konventionellen Waffen, die Mitglieder des UN-Sicherheitsrates Frankreich, Großbritannien, Rußland, China und die USA einigen sollen, ist genauso halbherzig wie die übrige Rüstungskontrollpolitik dieser Staaten. Das Regime zielt zwar auf mehr Verantwortung der Lieferländer, verstärkte Exportkontrollen, gegenseitige Information über geplante Lieferungen u.ä. mehr und soll sogar destabilisierende Waffenlieferungen verhindern. Das Regime sieht aber keinerlei Höchstgrenzen vor, noch wurden bisher im konventionellen Bereich Kriterien für Waffensysteme genannt, die destabilisierend sind. Der dramatische Anstieg der Rüstungsexporte der USA in die Region von 7 Mrd. Dollar im Finanzjahr 1989 auf 13,2 Mrd. Dollar von August 1990 bis Juni 1991 bis hin zu dem für 1992 geplanten Umfang der Lieferungen von sage und schreibe 25 Mrd. Dollar widersprechen allen Ankündigungen des Präsidenten.

Wenn man sich die in der Tabelle 3 aufgelisteten Lieferungen von Waffensystemen durch die USA genauer ansieht, so findet man nur Systeme vom Feinsten. Destabilisierend scheinen demnach nur ABC-Waffen zu sein und mögliche Trägersysteme. Immerhin zielt die Initiative auf ein Einfrieren der Beschaffung, Produktion und des Testens von Boden-Boden-Flugkörpern durch Staaten der Region mit dem letztlichen Ziel der Eliminierung solcher Waffen.

Wie gesagt von Boden-Boden-Flugkörpern, nicht aber von fliegenden Trägern gestartete Luft-Boden-Flugkörpern wie etwa Marschflugkörpern, Abstandswaffen u.ä. Am Ausgang der Auseinandersetzungen um die Lieferung von 72 F-15 E, also der Bomberversion des ursprünglich als Jagdflugzeug konzipierten F-15 an Saudi-Arabien, wird sich zeigen, wie ernst es den USA mit der Verhinderung destablisierender Waffenexporte ist. In Verbindung mit dem bereits proliferierten System für Kommando und Kontrolle der Luftabwehrsysteme einschließlich der Patriotsysteme würde eine solche Lieferung die offensiven Fähigkeiten Saudi-Arabiens deutlich steigern. Das gilt auch für moderne Luft-Luft-Flugkörper oder Mehrfach-Raketenwerfer-Systeme mit ihren verheerenden Flächenfeuer, die zudem nukleare wie chemische Ladungen verschießen können. Auch im Bereich der Kampfflugzeuge scheinen keine Beschränkungen vorgesehen, obwohl hinlänglich bekannt ist, daß die Zuladung von Kampfflugzeugen ständig wächst und solche Systeme in Verbindung mit moderner intelligenter Munition und entsprechenden elektronischen Aufklärungs-, Kommunikations- und Führungssystemen wesentlich effektiver sind als jede modernisierte Kurzstreckenrakete vom Typ SCUD.

Schließlich zielt die Initiative auf eine ABC-waffenfreie Zone in der Region. Dieses Ziel läßt sich jedoch nur erreichen, wenn die einzige Nuklearmacht in der Region, Israel, sich an dieser Zone beteiligt. Die Aussichten dafür sind bisher sehr gering.

Selbst wenn die Bemühungen um die Kontrolle des konventionellen Waffenhandels dazu führen sollten, daß ein internationales Register bei der UNO eingerichtet wird, ist noch überhaupt nicht abzusehen, was es außer Kontrolle, sprich verbesserter Information über Tatsachen garantieren soll. Es ist zur Zeit kaum vorstellbar, daß ein Lieferland einen lukrativen Rüstungsauftrag ausschlägt und selbst wenn sich die fünf Mitglieder des Sicherheitsrates und auch andere potentielle Lieferländer außerhalb der Region zu Restriktionen verpflichten sollten, ist damit nicht ausgeschlossen, daß die Staaten der Region keine Anstrengung scheuen, eine eigene Rüstungsindustrie aufzubauen. Ägypten und Israel sind bisher die beiden Staaten der Region mit der am weitesten entwickelten Rüstungsindustrie. Israel kann sich in einigen Bereichen mit den Marktführern messen. Die Realisierung der industriepolitischen Pläne der Golfstaaten dürfte auch diese Länder langfristig in die Lage versetzen, sich auf ausgewählte Bereiche zu konzentrieren. Das Beispiel Südafrikas, das wegen und trotz des Embargos der Vereinten Nationen, beachtliche rüstungsindustrielle Kapazitäten aufgebaut hat, sei hier als mahnendes Beispiel genannt.

Solange die Industrieländer ihre Rüstung durch den massiven Einsatz von Hochtechnologie immer weiter verfeinern und sich nicht selbst auf ein Einfrieren der rüstungstechnologischen Entwicklung einigen, werden sie andere Staaten wohl kaum von Nutzen und Gewinn freiwilliger Enthaltsamkeit überzeugen können.

Tabelle 3: US-Waffenexporte in den Mittleren Osten
Staat Datum Kosten Waffensystem
Bahrain 27.9.90 $37 Mio. 27 M-60A3 Kampfpanzer 50 AN/PVS-5 Nachtsichtgeräte
Total $37 Mio.
Ägypten 19.9.90 N/A 212 M-151A2 LKW
15.10.90 $281 Mio. 136.000 Stück 120mm M-1A1 Panzermunition
15.10.90 $70 Mio. 40 M-88A1 Bergungspanzer mit Ausrüstung, 40 M2 Maschinengewehre (50
Kaliber); 80 AN/PVS-5 Nachtsichtgeräte
1.3.91 $1,6 Mrd. 46 F-16C u. D Flugzeuge; 8 Ersatztriebwerke, 100.000 St. 20mm Munition;
240 Mk-84 u. 1000 »gravity« Bomben; 20 GBU-10, 28 GBU-12 »glide« Bomben; 80 AGM-65D u.
G. Maverick Luft-Boden-Raketen; 160 CBU-87; 80 Mk-20 Clusterbomben zur Bekämpfung von
Panzern und Weichzielen
19.7.91 $146 Mio. »Phase III«-Zusatzkomponenten für 12 Hawk Luft-Abwehrraketen
16.9.91 §70 Mio. Logistische Unterstützung für Luftabwehr
Total $2,17 Mrd.
Israel 29.9.90 $117 Mio. 2 Patriot-Raketenbatterien; 10 Patriot Raketenabschußgestelle, 64
Patriot-Raketen
11.9.90 $67,3 Mio. 15 gebrauchte F-15A u.B Kampfflugzeuge
10.90 $13,6 Mio. 10 CH-53A Transporthubschrauber
22.3.91 $105 Mio. 1 Patriot-Raketenbatterie; 8 Patriot-Raketenabschußgestelle; 57
Patriot-Raketen
31.5.91 $65 Mio.* 10 gebrauchte F-15A u.B Kampfflugzeuge
$100 Mio.* Vorausgelagerte Ausrüstung für Israel, im Notfall von den USA zu
gebrauchen
Total $676,9 Mio.
Kuwait 17.9.91 $350 Mio. Aufstockung u. Erweiterung von Ali al Salem und Ahmed al Jabar
Flugzeugbasen
Total $350 Mio.
Marokko 19.7.91 $250 Mio.* 20 gebrauchte F-16A/B Falcon Jagd/Kampfflugzeuge, plus 24 Triebwerke,
AN/DSM-79 Prüfeinrichtungen für Chaparral Raketen mit Ersatzteilen, Militär-LKWs
Total $250 Mio.
Oman 19.7.91 $150 Mio. 119 V-300 gepanzerte Führungsfahrzeuge
Total $150 Mio.
Saudi Arabien 31.8.90 $2 Mrd. 24 F-15C u. D. Kampfflugzeuge mit AIM-91 Sidewinder und AIM-7F Sparrow
Luft-Luftraketen
31.8.90 $206 Mio. 150 M-60A3 Kampfpanzer
31.8.90 $13 Mio. 15.000 St. M-833 105mm Panzerabwehrmunition mit abgereichertem Uran für
M-60A3
31.8.90 $12 Mio. 50 Startgeräte für Stinger Boden-Luftraketen; 20 Stinger-Raketen
27.9.90 $33 Mio. 150 TOW2 Startgeräte für gelenkte panzer-brechende Raketen, 150 TOW2
Nachtsichtgeräte
27.9.90 $307 Mio. Programm für technische und logistische Dienstleistungen für Betrieb und
Erhalt der Royal Saudi Naval Forces
27.9.90 $300 Mio. 12 AH-64 Apache Kampfhubschrauber; 155 Hellfire Raketen, 24
Abschußvorrichtungen
27.9.90 $1,8 Mrd. 10.000 taktische Radfahrzeuge
27.9.90 $984 Mio. 6 PatriotRaketenbatterien; 48 Patriot-Raketen-abschußgestelle; 384
Patriot-Raketen
27.9.90 $121 Mio. 8 UH-60 Medevac Hubschrauber u. Ersatztriebwerke
27.9.90 $64 Mio. 9 Mehrfachraketenwerfersysteme (MLRS), 2880 MLRS Raketen
27.9.90 $3,14 Mrd. 150 M-1A2 Kampfpanzer; 200 M-2 Bradley Schützenpanzer, 1750 TOWIIA
Panzerabwehr-raketen, 207 M-113 gepanzerte Truppentransport-fahrzeuge, 50 M-508
Schwerlasttransporter; 9 M-557A2 gepanzerte Leitstände; 17 M-88A1 Bergungsfahrzeuge; 43
M-578 Bergungsfahrzeuge
27.9.90 $750 Mio.* 7 KC-130H Tankflugzeuge, 10 C-130H Transportflugzeuge
22.3.91 $158 Mio. Dienstleistungen des U.S. Army Corps of Engineers für Saudi Arabia`s Army
Ordnance Corps
22.3.91 $300 Mio. Ersatzteile u. Dienstleistungen für die Saudische Luftwaffe
22.3.91 $461 Mio. Ersatzteile für die Operation »Desert Storm«
10.7.91 $123 Mio. 2300 hochbewegliche Radfahrzeuge
14.7.91 $350 Mio. »Contractor Support« für E-3 AWACS Überwachungs-flugzeuge für
Gefechtsfeldführung, KE-3 Tankflugzeuge
24.7.91 $365 Mio. 2000 MK-84 Bomben; 2100 CBU-87 Clusterbomben zur Bekämpfung Panzern und
Weichzielen; 770 AIM-7M Sparrow Luft-Luft-Raketen mittlerer Reichweite, lasergestützte
Bomben
5.12.91 $3,3 Mrd. 12 Patriot-Raketenbatterien; 1 Ausbildungseinheit, 1»maintenance float
fire unit«; 758 Patriot-Raketen; 14AN-MPQ-53 Radareinrichtungen; 14 Kontrollstationen; 75
Abschußstationen
Total $14,8 Mrd.
Vereinigte 14.3.91 $54,9 Mio. 2 C-130H Transportflugzeuge
Arabische 11.6.91 $682 Mio. 20 AH-64 Apache Kampfhubschrauber mit 620 Hellfire Raketen, Hydra-70
Luft-Boden-Raketen, Triebwerke u. Logistik
Emirate
Total $737 Mio.
Gesamtkosten der Waffenexporte in den Mittleren Osten: 19 Mrd. Dollar; * geschätzte Kosten
Quelle: Arms Control Today, März 1992 (Übersetzung: C. Thomas)
Tabelle 2: Verteilung der Weltölreserven in Milliarden Barrel
Rang Land Produktion 1990 Bestätigte Reserven Zusätzl. Reserven Gesamte Reserven
1 Saudi-Arabien 2.33 260.0 42 302.0
2 ehem. UdSSR 4.20 57.0 124 181.0
3 Irak 76 100.0 45 145.0
4 Iran 1.14 63.0 52 115.0
5 VAE 75 56.2 49 105.2
6 Kuwait 50 97.0 4 101.0
7 USA 2.45 26.0 71 97.0
8 Venezuela 77 59.0 38 97.0
9 Mexiko 96 27.4 62 89.4
10 China 1.01 24.0 48 72.0
11 Kanada 55 5.8 33 38.8
12 Libyen 50 22.8 8 30.0
20 Ägypten 32 4.5 5 9.5
22 Oman 24 4.3 2 6.6
25 Jemen 7 4.0 2 6.0
26 Katar 14 2.6 2 4.6

Anmerkungen

1) Vgl. Jospeh P. Riva: Persian Gulf Oil: Its Critical Importance to World Oil Supplies. – Washington/D.C. : Congressional Research Service, 1991. – S. 5. Die dazugehörige Tabelle basiert auf Tab. 1, S.3 ebda. Zurück

2) Garry Regan: Testimony on Current Energy Issues. – In: Long Term Energy Security. Hearings before the Subcommittee on Economic Stabilization. / Committee on Banking, Finance and Urban Affairs / House of Representatives, 101th Congress – Washington/D.C. : GPO, 1989, S. 592 Zurück

3) Vgl. Charles A. Zraket: Impact of New Technologies on Industrial Economies and Military Systems. – In: Facing the Future: American Strategy in the 1990s. – Lanham : Aspen Strategy Group, 1991. S. 89ff. Zurück

4) James R. Schlesinger: Oil and National Security: An American Dilemma. – In: Long Term Energy Security, S. 223 Zurück

5) Vgl. Klaus-Dieter Frankenberger: Der Golf-Kooperationsrat ist von seinen Zielen weit entfernt. – In: FAZ, 22. 11. 1991 Zurück

6) George Bush: Middle East Arms Control Initiative. – In: U.S. Policy Informations and Texts, May 29, 1991. S. 41-43 Zurück

Burkhardt J. Huck ist wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Ebenhausen.

Kriegsgebiet Naher Osten

Kriegsgebiet Naher Osten

Fragmentarische Bemerkungen zu Situation und Perspektive1

von Till Bastian

Von den über 200 Kriegen, die zwischen dem Ende des Zweiten Weltkrieges und dem Jahr 1989 geführt worden sind, haben 45, also ein überproportional hoher Anteil, die Krisenregion des Nahen Ostens erschüttert – und am 2.8.1990 hat mit der irakischen Invasion in Kuwait Krieg Nr. 46 begonnen… Dieser Nahe Osten ist „heute insgesamt eine hoffnungslose Region, in der eine Ordnungsstruktur fehlt und die aus konfliktträchtigen, fragmentierten Subregionen besteht, in denen der latente oder offene Krieg schon epidemische Formen angenommen hat“ – so schreibt ein aus Damaskus stammender Autor, dessen sehr lesenswerte Studie auch insofern für den gegenwärtigen Stand der Politik- und Konfliktwissenschaft typisch ist, als daß sie ökologische Probleme nicht einmal ansatzweise in die Erörterung einbezieht 2.

I. Konfliktanalyse

In der Nahost-Region überschneiden sich verschiedene Krisendimensionen und Konfliktpotentiale in kaum noch überschaubarer Weise: Der politische Gegensatz zwischen Israel und seinen Nachbarstaaten; der religiöse Gegensatz zwischen Judentum, Christentum und Islam; der innerislamische Gegensatz zwischen Sunniten und Schiiten; der ethnische Gegensatz zwischen Persern, Arabern und anderen; der politische Gegensatz zwischen Feudalherrschaften, parlamentarischen Demokratien mit kapitalistischer Wirtschaftsstruktur und autoritärem Staatssozialismus; der wirtschaftliche Gegensatz zwischen solchen Ländern, die viel und solchen, die kein oder wenig Erdölvorräte besitzen – das sind nur einige der wichtigsten Bruchkanten.

Die irakische Invasion in Kuwait vom 2.8.1990 kann zwar noch als klassischer interstaatlicher Konflikt um den Besitz von Rohstoffen betrachtet werden3, der vom irakischen Diktator Saddam Hussein in ähnlich kühler und menschenverachtender Weise kalkuliert worden sein mag wie rund 200 Jahre zuvor die schlesischen Kriege von Preußens Friedrich II.4 und infolgedessen zum Konflikt zwischen dem Irak und einer internationalen Allianz eskalierte – es kann aber kein Zweifel daran bestehen, daß die ökologischen Zukunftsprobleme die Kriegsgefahr noch einmal drastisch verschärfen werden. Denn im Nahen Osten gilt:

die Wasserführung der großen Flüsse macht einige Länder zu Wassermonopolisten auf Kosten der anderen: so ist z.B. ein Konflikt um das Euphrat-Wasser vorprogrammiert, seit die türkische Regierung mit ihrem »südostanatolischen Bewässerungsprojekt« den Bau von drei Euphrat-Dämmen eingeleitet hat (zwei davon sind bereits in Betrieb, der dritte, der »Atatürk-Staudamm«, wird demnächst vollendet). Die Präsidenten beider Länder, Yildirim Akbulut und Saddam Hussein, hatten Anfang Mai 1990 bei einem Treffen in Bagdad das Euphrat-Problem erörtert – allerdings ohne Ergebnis (die Türkei hatte den Fluß im Januar 1990 gegen irakischen Einspruch zwecks partieller Füllung ihres Atatürk-Stausees einen Monat lang aufgestaut5);

  • der Meeresspiegelanstieg wird auf der 3,5 Millionen Quadratkilometer großen arabischen Halbinsel, von der nur schmale Randzonen bewohnt und bewirtschaftet werden können, gravierende ökologische Probleme zeitigen;
  • ebenso sind ökologische Probleme am Schatt el Arab, der gemeinsamen Mündung von Euphrat und Tigris in den persischen Golf, zu erwarten (der Schatt el Arab ist schon jetzt durch Versandung und durch Schiffswracks aus dem irakisch-iranischen Krieg schwer ramponiert, was für den Irak einen zweiten wichtigen Invasionsgrund dargestellt haben dürfte);
  • die fast ausschließlich auf die Monokultur der Erdölförderung zugeschnittene Wirtschaft vieler Nah-Ost-Staaten hat zum Niedergang aller anderen Erwerbszweige geführt6 – sie kann in dieser Form in jedem Fall nur noch einen absehbaren Zeitraum aufrechterhalten werden. Welches Regime sich mit welchen Mitteln auch immer den Löwenanteil der Ölvorräte sichern mag: es ändert dies nichts an deren Begrenztheit.

Die genannten Probleme dürften aber in jedem Fall die Bereitschaft verstärken, sich – wo der politische Niedergang der Region schon eingetreten ist und der ökologische bereits an die Türe klopft – kurzfristig auf Kosten anderer noch möglichst große Vorteile zu verschaffen: ein sozialdarwinistischer Expansionsdrang, der besonders bei der diktatorischen Führung des Iraks nicht gering entwickelt zu sein scheint.

Gerade in Anbetracht der neuen, ökologischen Dimension des Problems und ihrer zu erwartenden Eigendynamik könnte sich als zutreffend erweisen, was ein nachdenklicher Journalist schon vor drei Jahren über die Kriege des Nahen Ostens geschrieben hat: „Nicht auszuschließen ist, daß sie in den kommenden Jahren gar zu einem einzigen großen Kriegsherd verschmelzen, der sich von der iranischen Grenze bis zum Mittelmeer erstreckt“.7

II. Vom Regionalkonflikt zum Atomkrieg?

Als im Frühling 1990 der Verkauf von vierzig (!) Atombombenzündern an den Irak im letzten Moment platzte8, als kurz darauf auch noch Materialien für eine irakische Superkanone9 beschlagnahmt wurden10, kam vielleicht manchen von der Entspannung und vom raschen Wandel in Osteuropa faszinierten Mitmenschen schlagartig wieder in den Sinn, wie viele Atomwaffen es auf unserem Planeten noch gibt und daß ihre Zahl trotz Abrüstungsabkommen der Supermächte vielleicht sogar noch wachsen könnte – und zwar gerade in den Wetterwinkeln des Weltgeschehens. Die Eskalation am persischen Golf seit dem 2. August 1990 dürfte diese Befürchtungen weiter gesteigert haben – und das mit Recht.

Rascher noch als die Zahl der Atomsprengköpfe wächst freilich die Zahl der Trägersysteme – Raketen, die gegebenenfalls auch mit chemischen Kampfstoffen, der »Atombombe des kleinen Mannes« bestückt werden könnten – wozu der Irak erwiesenermaßen schon heute in der Lage ist. Derzeit werden 26 Länder geschätzt, die entweder schon über entsprechende ballistische Raketen verfügen oder aber in ihrer Entwicklung weit vorangeschritten sind. Bald wird es in einigen Ländern auch Atomsprengköpfe für diese Raketen geben, denn der »Non-Proliferation-Treaty« von 1968 hat seine Aufgabe nur bedingt erfüllt11: Gerne wird verdrängt, daß es heute bereits acht Atomwaffenbesitzer gibt – nicht nur die Supermächte USA und UdSSR, nicht nur Großbritannien, Frankreich, China und Indien, sondern auch Israel und Südafrika. Kandidaten für die Atomwaffenfähigkeit sind gewiß Pakistan, hochwahrscheinlich Brasilien12 und Argentinien, in absehbarer Zeit vermutlich eben auch der Irak. Was den letzteren anbetrifft, so wurde auf der am 20.8.1990 in Genf eröffneten vierten und letzten Überprüfungskonferenz zum NPT geschätzt, daß er binnen fünf Jahren über einsatzbereite Atomwaffen verfügen wird.

Die aus hochkarätigen Militärpolitikern zusammengesetzte sogenannte Ikle-Wohlfstetter-Kommission13, die im Januar 1988 einen Bericht zur strategischen Lage nach dem INF-Abkommen vorlegte, schätzte die Zahl der Atommächte im Jahr 2030 auf vierzig! Dies käme einer Verfünffachung der Atomwaffenbesitzer in rund 50 Jahren gleich und würde – sollte es wirklich so kommen – bedeuten, daß, rund gerechnet, von vier souveränen Staaten auf unserer Erde jeweils einer über atomare Massenvernichtungsmittel verfügen könnte! Der Atomwaffensperrvertrag selbst läuft 1995 aus; seine Verlängerung ist durchaus fraglich. Immer wieder haben vor allem Politiker aus der »Dritten Welt« darauf verwiesen, daß die Supermächte der in Artikel VI des Vertrages festgeschriebenen Verpflichtung zu ernsthafter und umfassender Abrüstung nicht nachgekommen sind14p>. Gerade im Nahen Osten zeigen sich die fatalen Folgen dieser Politik – und der zum Teil auf abenteuerlichen Wegen erfolgten Dennoch-Weiterverbreitung der militärischen Atomtechnologie14 – in verheerender Weise.

III. Verwicklung und Reaktion des Westens

Die technologische Verstrickung der europäischen Nationen, der USA und der Sowjetunion in die Militarisierung des Nahen Ostens gilt es zu bedenken, wenn heute so viel von internationalen Sanktionen und Aktionen gegen den Irak, von möglicher deutscher Beteiligung an UN-Friedenstruppen usw. die Rede ist.

Was nun diese Sanktionen selber betrifft: sie mögen sinnvoll und notwendig sein, heute gegen den Irak und künftig in vergleichbaren Fällen – doch frei von Scheinheiligkeit ist dieses Vorgehen nicht. Der Angriff Saddam Husseins gegen den Iran war nicht minder völkerrechtswidrig als seine Annektierung Kuwaits, und doch erfreute er sich allgemeiner Duldung (und er wurde zeitweise, z.B. bei der Rückeroberung der Halbinsel Fau im April 1988 sogar von US-Militärberatern unterstützt). Gegen das irakische Giftgas, an dessen Herstellung deutsche und andere Firmen nicht schlecht verdienten, hat sich kein Sturm der Empörung erhoben, als damit »nur« iranische Soldaten und kurdische Frauen und Kinder vergast worden sind….Gegen diese Sanktionen ist also vor allem einzuwenden, daß sie viel zu spät erfolgen, nämlich erst dann, als durch Husseins Maßlosigkeit die westliche Ölversorgung gefährdet wurde. Noch ein zweiter Umstand ist zu bedenken: Daß im Zuge der Ost-West-Entspannung eine neue, noch vor drei Jahren schier undenkbare Einigkeit im UN-Sicherheitsrat möglich wurde, ist ein großer Schritt voran im Engagement für den Weltfrieden; Einfluß und Bedeutung der Vereinten Nationen, die schon in Angola, Namibia und Afghanistan sowie beim Waffenstillstand im irakisch-iranischen Krieg eine sehr positive Rolle gespielt haben, werden sich künftig hoffentlich weiter erhöhen. Daß die USA allerdings, aus welchen Motiven auch immer, sofort auf eine militärische Option gesetzt und die Initiative des Handelns monopolisiert haben, die UNO vor vollendete Tatsachen stellend und alle diplomatischen Usancen mit der »normativen Kraft des Faktischen« blockierend, dann wird dieser erfreuliche Fortschritt (absichtlich?) wieder aufs Spiel gesetzt. Die Frontlinie »Panarabische Solidarität gegen imperialistische Einmischung der USA und anderer westlicher Mächte« wird dadurch erst recht zementiert. Insofern ist – über die Tagespolitik hinaus – einer konservativen französischen Zeitung zuzustimmen, die unterstrichen hat: „Der Westen ermißt nicht immer den Haß, den ihm die Völker entgegenbringen, die durch seinen Wohlstand, seine hochmütige Vergangenheit, seine herrschsüchtige Gegenwart, seine Unterstützung für feudale und korrumpierte Regime gedemütigt und gekränkt sind…Saddam Hussein könnte sehr wohl, wie Khomeini gestern oder Nasser vorgestern, der charismatische Führer werden, der den elektrisierten Massen in ihren Augen ihre Würde zurückgibt.“ 15

Bleibt zu ergänzen: und wenn nicht Saddam Hussein, dann ein anderer – internationale Militärstrafaktionen werden den populistischen Druck auf Dauer eher erhöhen und sich eventuell schon rasch als Pyrrhussieg erweisen.

IV. Der Niedergang der USA

Das Engagement der USA am persischen Golf ist vielleicht der letzte Versuch der USA, sich in der Rolle des »Weltpolizisten« dazustellen – Spötter haben angemerkt, daß eher vom »Weltsöldner« die Rede sein müßte, denn, wie US-Senator Sam Nunn pointiert formulierte, könnte es zum ersten Mal soweit kommen, daß ein Krieg der USA mit japanischen Krediten bezahlt werden muß. Die Gründe für das US-Engagement sind gewiß vielschichtig; psychologische Faktoren (etwa die Angst des George Bush, in die Lage Jimmy Carters zu geraten) spielen gewiß in individueller wie kollektiver Hinsicht keine geringe Rolle16. Daß sich hier eine Weltmacht im Niedergang in eine Situation manövriert, in der letzten Endes nur noch eine Option auf militärisches Handeln offenbleibt, stimmt für die Zukunft pessimistisch und legt den Grundstein für einen lange anhaltenden, virulenten USA-Islam-Gegensatz.

Was die ökonomische Potenz anbetrifft, sind die fünfzig »Vereinigten Staaten« nämlich schon lange alles andere als eine Supermacht. Der Versuch, die Sowjetunion »niederzurüsten«, hat dazu geführt, daß das ehemalige Gläubigerland USA heute mit den höchsten Auslandsschulden der ganzen Welt zu kämpfen hat17. Das US-Haushaltsdefizit; das nach dem Gramm-Rudman-Gesetz zum Beginn des Fiskaljahres 1991 (am 1.10.1990) auf 64 Milliarden Dollar hätte sinken sollen, ist nach einer Schätzung vom Juli 1990 auf fast 170 Milliarden Dollar gestiegen18. Das Engagement am Golf droht diesen Fehlbetrag auf 250 bis 300 Milliarden emporzutreiben. Der von der Regierung zwecks Erleichterung des Schuldendrucks bereitwillig in Kauf genommene ständig sinkende Dollarkurs – der im Juni 1990 noch den bisher niedrigsten Stand vom 31. 12. 1987 unterschritt – kann das unerwartet schwache Wirtschaftswachstum nicht ausgleichen (das US-Wirtschaftswachstum im ersten Quartal 1990 betrug, umgerechnet auf das gesamte Kalenderjahr, nur 1,3% – die Regierung hatte ursprünglich für ihre Haushaltsplanung bis 1992 eine jährliche Wachstumsrate von 2,6 bis 3% zugrunde gelegt, ihre Prognose aber schon auf 2,2% zurückstufen müssen, was von vielen Fachleuten immer noch als übertrieben optimistisch eingeschätzt wird). Der letzte große Versuch, der entgegen allen Legenden in weiten Bereichen international nicht mehr konkurrenzfähigen US-Industrie in Form des gewaltig dimensionierten SDI-Projekts19 eine militärisch fundierte »Anschubfinanzierung« zukommen zu lassen, darf als gescheitert gelten. Das Übergewicht der Rüstungsindustrie20 hat nicht nur schwerste ökologische Schäden in den USA selber hinterlassen21, sondern auch die Wettbewerbsfähigkeit der nicht-militärischen Branchen geschmälert, was die wirtschaftlichen Aussichten für die Zukunft verdüstert22. „Bis 1980 waren Handelsdefizite bei Industriegütern in den USA unbekannt. Heute dagegen beschränken sich die Importe nicht mehr auf Produkte mit geringem technischen und hohem Arbeitsaufwand, sondern sie nehmen sogar dort zu, wo die USA traditionell stark war: Automobile23, Gebrauchselektronik, Metallwerkzeugmaschinen, Stahl und Halbleiter. 1984 mußten die USA zum ersten Mal in ihrer Geschichte ein Defizit im Handel mit elektronischen Geräten hinnehmen.“ 24

Wirtschaftlich werden die USA die Welt in keinem Fall derart übermäßig dominieren können, wie sie dies militärpolitisch vermocht haben25 – im Gegenteil. „Amerikas Vormachtsstellung wird gefährdet durch ein drohendes Ungleichgewicht zwischen Mitteln und Zielen, zwischen politisch-militärischen Verpflichtungen und wirtschaftlichen Ressourcen. Genau diese imperiale Überdehnung leitete in der Vergangenheit den Abstieg so großer Mächte wie Spanien und Großbritannien ein“, gibt der Historiker Paul Kennedy zu bedenken.26

V. Fundamentalismus und Friedensgefährdung

Wird unter »Fundamentalismus« das »kompromißlose Festhalten« an bestimmten Prinzipien oder Überzeugungen verstanden27, so sind die Menschen in den reichen Industrienationen samt den von ihnen ins Amt gewählten Politiker Fundamentalisten der eigenen privilegierten Lebensform, an der sie auch unter der Drohung ökologischer und kriegerischer Weltzerstörung kompromißlos festhalten wollen. Es könnte allerdings durchaus sein, daß ihnen bald ein Fundamentalismus eigener Art entgegenschlägt. Hiermit ist nicht in erster Linie auf den Islam abgezielt; allerdings vermute ich, daß diese in manchen Spielarten außerordentlich militante Religionsgemeinschaft, in deren Grundlagentexten der »heilige Krieg« ausdrücklich kodifiziert ist, schon bald mit den Ländern der »atlantischen Wertegemeinschaft« (unter deren Fittichen sich immer mehr ehemals kommunistische Länder Osteuropas versammeln) in einen Gegensatz geraten wird, der sich dann rasch mit jenen aggressiven Energien aufladen könnte, die seit dem Sieg der marktwirtschaftlichen Kräfte im Osten und seit dem Verlust überkommener Feindbilder eines fokussierenden Anknüpfungspunktes entbehren.

Konflikte mit dem islamischen Fundamentalismus sind vor allem in den Randgebieten der zerbrechenden Sowjetunion28 zu erwarten, aber auch in Afrika – nicht nur an der Grenzzone zwischen Nord- und Schwarzafrika29, sondern auch in Ländern wie Algerien, wo die Islamische Heilsfront (Front islamique du salut, FIS) des Scheich Abbasi Madani bei den landesweiten Regionalwahlen im Juni 1990 835 von 1539 Kommunalratssitzen eroberte30. Diese Entwicklung wird sich nicht nur auf Länder in der Nachbarschaft und in der näheren Umgebung auswirken (Marokko, Tunesien, aber auch Ägypten usw.); sie zieht auch in altbekannter Weise den Drang zu Schutz-, Abwehr und Abschreckungsmaßnahmen nach sich31. Dies wird um so mehr der Fall sein, als – um bei der Situation der Maghreb-Staaten und bei der dortigen fundamentalistischen Tendenz zu bleiben – 1990 die Zahl der an der Südküste des Mittelmeeres lebenden Menschen die der Nordküstenanwohner wieder übersteigt – erstmalig seit der Zerstörung Karthagos (146 v. Zw.). Das demographische Übergewicht der Mittelmeer-Südanrainer wird am Ende des Jahrtausends ca. 70 Millionen Menschen betragen32. Die Gefahr eines »verteidigungspolitischen Fundamentalismus« der reichen Länder des Nordens als Reaktion auf eine Radikalisierung des Südens ist hier wie andernorts nicht gering.

Zeiten wachsender Not und Verelendung und offenkundiger Ausweglosigkeit für Millionen Menschen in einer immer ungerechteren Welt sind ein idealer Nährboden für Schwarmgeister, Eiferer, Fanatiker und Terroristen. Wer sich allerdings bloß vordergründig über deren Worte und Taten empört, ohne sich Rechenschaft darüber anzulegen, inwieweit er selber die Entstehung eines solchen gewaltschwangeren Klimas herbeigeführt oder zumindest geduldet hat – der setzt sich vor der Geschichte doppelt ins Unrecht.

VI. Fazit

Die zersplittert-unübersichtliche, von vielfältigen Interessengegensätzen geprägte Lage im »Nahen Osten« wird zugespitzt durch eine neue, kriegsträchtige Situation: die Konfrontation zwischen den sich an einstige Weltmacht und Größe klammernden USA, die um ihre Rohstoffe fürchtet, und einer autoritär-sozialistischen Diktatur, die unter dem Banner panarabischer, pan-islamischer Solidarität zum Heiligen Krieg aufruft. Diese Situation läßt der Vernunft wenig Chancen und gibt den Blick frei in eine düstere Zukunft. In jedem Fall zeigt sich, wie voreilig es gewesen ist, das Ende des »Kalten Krieges« zwischen Ost und West mit dem Ausbrechen des Weltfriedens zu verwechseln33.

Anmerkungen

1) Eine Definition der schillernden Redewendung vom »Nahen Osten« wird hier nicht versucht, auf die Fachliteratur sei verwiesen.  Am aktuellsten: Bassam Tibi, Konfliktregion Naher Osten, München 1989; vgl. auch die dort angegebene Literatur Zurück

2) Tibi 1989, S.199 Zurück

3) Die Erdölreserven des Irak werden 1990 auf rund 13.400 Millionen Tonnen geschätzt (und 'werden bei gleichbleibender Fördermenge in spätestens 90 Jahren verbraucht sein); mit der Annektierung Kuwaits oder mit der Installation eines gefügigen Marionettenregimes dortselbst jedoch kommen Erdölreserven vom selben Umfang (ca. 13.000 Millionen Tonnen) unter irakische Kontrolle, womit das eigene Ölpotential im Handstreich verdoppelt und auf rund 20n der Weltbestände angewachsen wäre. Die Situation könnte sich dadurch noch weiter verändern und dies ist gewiß beabsichtigt – wenn der Irak das benachbarte, militärisch schwache Saudi-Arabien so unter Druck setzt, daß er es zu partieller Kooperation zwingen kann. Damit entstünde ein Ölkartell, das mächtiger ist als es die OPEC je war – denn beide Länder verfügen gemeinsam über fast die Hälfte der weltweiten Ölreserve (nämlich über 61 Milliarden Tonnen bei weltweiten Rohölreserven von ca. 136 Millarden Tonnen. Alle Zahlen aus der Süddeutschen Zeitung vom 3.e.1990, die sich auf Angaben des Mineralölwirtschaftsverbandes in Hamburg stützt). Zurück

4) Die Auslandsschulden des Irak beliefen sich Anfang 1990 auf rund 50 Milliarden Dollar; durch den Preisverfall des Rohöls sank jedoch der Exporterlös des Irak (der zu 95% dem Ölverkauf entstammt) von 26 Milliarden Dollar 1980 auf 10 Milliarden 1987 (dem stand ein Anstieg des Importvolumens von 14 auf 21 Milliarden Dollar im selben Zeitraum gegenüber). Für ein Land, das rund die Hälfte seines Bruttosozialproduktes für Rüstungszwecke investiert und mit 1 Million Mann fast 12% seiner männlichen Bevölkerung unter Waffen hält und in den letzten zehn Jahren Waffen für über 80 Milliarden Dollar gekauft hat, ist es in dieser Lage nahezu »folgerichtig«; sich, wenn ein Preisanstieg und eine Fördermengenbeschränkung für Erdöl nicht durchzusetzen sind, mit militärischen Mitteln die Verfügungsgewalt über einen möglichst großen Anteil der Ölvorräte in der näheren Umgebung zu sichern. Zurück

5) „Keine Einigung über das Euphrat-Wasser“, Süddeutsche Zeitung, 8.5.1990 Zurück

6) Der Irak beispielsweise ist vor der Zeit des Ölbooms ein Agrarstaat gewesen. Die landwirtschaftliche Anbaufläche beträgt rund 10 Millionen Hektar, davon etwas mehr als die Hälfte Ackerland, auf dem Reis, Gerste und Weizen angebaut wird. Dessenungeachtet mußten 1986 2,5 Millionen Tonnen Weizen importiert werden. Die Bedeutung des einst wichtigsten Exportgutes, der Dattel, ist permanent gesunken; die Erntemenge betrug 1986 nur noch 100.000 Tonnen (1983: 400.000 Tonnen). Zurück

7) A. Hottinger, „Dreißigjähriger Krieg der Araber?“ Neue Zürcher Zeitung, 24.11. 1987 Zurück

8) Ghr. Bertram, Die Gefahren rücken näher, DIE ZEIT, 6.4. 1990 Zurück

9) Obwohl technisch nicht völlig korrekt, erweist sich dieser Name als zutreffend, denn das Wort Kanone – mit dem man seit dem 16. Jahrhundert die Flachfeuergeschütze (zum Unterschied von Mörsern und Haubitzen) bezeichnet, stammt aus dem italienischen und bedeutet »großes Rohr«. Das vom Irak bestellte »große Rohr« (mit Stahlwänden von 30cm Dicke, einem Kaliber von einem Meter und einer Rohrlänge von 156m( diente als Raketenabschußvorrichtung, wobei die verfeuerten Raketen mit beliebigen Sprengköpfen bestückt werden können. Die Einzelheiten der Konstruktion gehen auf Pläne des kanadischen Ingenieurs Gerald Bull zurück; der am 23. März 1990 in Brüssel ermordet wurde (wofür wohl mit Recht der israelische Geheimdienst Mossad verantwortlich gemacht wird). Zurück

10) „Irakische Superkanone: Stopp in letzter Minute“, Die Zeit, 4.5.1990. Über die Verwicklung bundesdeutscher Firmen in das »Unternehmen Babylon«, d.h. den Superkanonenbau siehe auch Der Spiegel, Nr. 28%1990 Zurück

11) Christoph Bertram liegt in seinem Zeit-Artikel – Anm. 8 – meiner Ansicht nach nur bedingt richtig, wenn er schreibt: „Der Nicht-Verbreitungsvertrag hat sich, vom Ergebnis her gesehen, erstaunlich bewährt“. Ist es schon ein Erfolg, wenn es hätte noch schlimmer kommen können? Bertram läßt hier z.B. die gerade mit deutscher Hilfe zustande gekommene Atomwaffenfähigkeit Brasiliens unerwähnt. Zurück

12) Brasilien; wie erwähnt, mit bundesdeutscher Hilfe. Anfang 1990 sind die im Vorjahr wegen heftiger internationaler Proteste stornierten Atomgeschäfte mit Brasilien wieder aufgenommen worden, als Bundeswirtschaftsminister Haussmann die den Firmen Steag (Essen) und Interatom (Bergisch Gladbach) erteilten Exportgenehmigungen für eine Urananreicherungsanlage nach dem Trenndüsenverfahren verlängert hatte. Vgl. Der Spiegel; Nr. 9%1990 Zurück

13) Commission On Integrated Long-Term Strategy, Discriminate Deterrence, Washington D.C. 1988 Zurück

14)Schon fünf Jahre zuvor; im Atomteststopp-Vertrag vom 5.8.1963, hatten die Außenminister Rusk (USA), Home (UK) und Gromyko schriftlich festgehalten, daß sie „es als ihr Hauptziel verkünden, schnellstmöglich ein Abkommen über eine allgemeine und vollständige Abrüstung unter strikter internationaler Kontrolle im Einklang mit den Zielsetzungen der Vereinten Nationen zu erreichen, das dem Wettrüsten ein Ende machen und den Reiz zur Produktion und zur Erprobung aller Arten von Waffen, einschließlich Kernwaffen; beseitigen würde“. Nicht ganz zu Unrecht weisen besonders Politiker aus der »Dritten Welt« beim Thema Abrüstung gerne darauf hin, daß die genannten drei Atommächte seit 1963 (und nochmals seit 1968) praktisch in Permanenz vertragsbrüchig sind. Zurück

15) Ein hervorragender Überblick hierzu bei A. Roßnagel, Nuklearterrorismus und Schwarzmarkt, in: UNIVERSITAS 5/1988 Zurück

16) Le Figaro,14.8.1990 Zurück

17) Vgl. hierzu die Ausführungen von P. Kennedy, Anm.27 Zurück

18) Zu den innenpolitischen Auswirkungen der Reagan-Ära vgl. Phillips 1990 Zurück

19) „US-Haushaltsdefizit steigt weiter“, Süddeutsche Zeitung, 19.7.1990 Zurück

20) Vom Pressesprecher des UdSSR-Außenministeriums, G. Gerassimow, bei einer Pressekonferenz in Washington zutreffend als „Save the Defence Industrie“ buchstabiert Zurück

21) 1985 flossen die öffentlichen Gelder für Forschung und Entwicklung in den USA zu 70% in Rüstungsprojekte (Zum Vergleich: in der BRD zu rund 13%; in Japan zu unter 5%); 25 bis 30 Prozent aller Wissenschaftler und Ingenieure arbeiteten im weitesten Sinne für die Rüstungsforschung – auch dieser Prozentsatz liegt in der BRD oder Japan deutlich niedriger. Zahlenangaben nach Zur Lage der Welt 1989, S.224 Zurück

22) Vgl. R. Alvarez u. A. Makhijani, Das versteckte Vermächtnis des Rüstungswettlaufs, in: Ärzte gegen Atomkrieg, Nr.32, Juni 1990 Zurück

23) „Trübe Konjunkturaussichten für die USA. Ein Drittel des Landes befindet sich bereits in einer Rezession“ Süddeutsche Zeitung, 3.8.1990 Zurück

24) Die Erträge (Nettogewinne) der führenden US-Automobilhersteller, der General Motors Corporation und der Ford Motor Company; sind in der ersten Jahreshälfte 1990 drastisch gesunken, und zwar um 46% bei GM und um 58% bei Ford. Der Gewinn im Inlandsgeschäft sank bei Ford von 459 Millionen $ im ersten Halbjahr 1989 auf 365 Millionen im selben Zeitraum 1990; der Gewinn im Überseeverkauf schrumpfte sogar von 775 Millionen $ auf 173 Millionen (Vgl. „US-Autokonzerne im Kriechgang“, Süddeutsche Zeitung, 31.7.1990)! Interessanterweise war am selben Tag in der Zeitung zu lesen, daß der Automobilkonzern Toyota für das am 30.6.1990 endende Geschäftsjahr einen Rekordgewinn von über 700 Milliarden Yen erwartet (gegenüber 570 Mrd. Yen Reingewinn im Vorjahr). Zurück

25) Worldwatch-Institute, Zur Lage der Welt 1989/90, Frankfurt a.M. 1989, S.227 Zurück

26) „Die Welt wird sich in den neunziger Jahren, mehr als zuvor, mit wirtschaftlichen Entwicklungen befassen. Die Vereinigten Staaten sehen sich dem verstärkten Wettbewerb mit dem vereinten Europa, mit Japan, sowie den an Bedeutung gewinnenden Mächten in Asien gegenüber. Unser Wohlstand zu Hause wie unsere Position in der Welt hängen davon ab, wie wir in diesem Wettbewerb dastehen werden“ schreibt der Direktor des Institutes für Internationale Wirtschaft in Washington, Fred Bergsten („Umsteuern in der Steuerpolitik“, Die Zeit, 27.7.1990) – zu den Chancen der USA in diesem Wettbewerb schweigt er allerdings vorsichtig. Zurück

27) „Gezahlt wird später“. Der Historiker Paul Kennedy über die Gefahren des US-Engagements am Golf. DER SPIEGEL, Nr. 36/1990 Zurück

28) So die neue Brockhaus-Enzyklopädie, Bd. 8, Mannheim 1989 Zurück

29) „In der Sowjetunion breitet sich der Islam aus“, Süddeutsche Zeitung, 14.7.1990. Die Zahl der sowjetischen Moslems wird laut dieser Quelle – die sich auf Angaben der Iswestija stützt – auf 70 Millionen Menschen geschätzt. Allein in der Kaukasus-Republik Dagestan seien 1990 137 Moscheen geöffnet – gegenüber 17 Gebetsstätten im Vorjahr. Zurück

30) Dort hat der islamische Einfluß zu einem der längsten, blutigsten – und von der Weltöffentlichkeit am wenigsten beachteten – Bürgerkriege Afrikas, zum Dauerkonflikt im Süd-Sudan, durchaus entscheidend beigetragen. Zurück

31) Es steht zu erwarten, daß diese Entwicklung die Auswanderung aus Algerien anwachsen läßt und damit auch dem Rechtsextremismus in Frankreich neuen Auftrieb verschafft, aber auch weit über diese Kreise hinaus Ängste und Abschottungwünsche schürt: „Das Wort des früheren algerischen Präsidenten Boumedienne, die besitzlosen Massen des Südens würden dereinst in ihrer Not den reichen Norden einfach besetzen, wrird für viele Franzosen bereits zur Vision nordafrikanischer Boat People, die noch in den neunziger Jahren auf die Küste der Provence zutreiben werden“ („ (Ein Raum voller Konflikte“, Süddeutsche Zeitung, 25.7.1990). Zurück

32) Präsident Mitterrand hat am französischen Nationalfeiertag, dem 14. Juli 1990, bekannt gegeben, daß Frankreich nicht auf den Bau der Hades-Kurzstreckenrakete verzichten wolle. Angesichts der Ost-West-Entspannung mag es als sonderbar erscheinen, daß Frankreich zwecks »Abschreckung« nicht auf eine Rakete verzichten will, die mit ihrer Reichweite vom 480 Kilometern nicht weiter als bis Hannover, Kassel oder Erfurt fliegen kann; um im »Ernstfall« diese Städte zu vernichten. Der französische Verteidigungsminister Chevenement hat freilich im Juli 1990 deutlich gemacht, daß nicht allein die Angst vor einer Destabilisierung im Osten Grund für das französische Beharren auf seiner Nuklearstreitmacht sei. In der Süddeutschen Zeitung vom 17.7.1990 heißt es: „Schauen wir nach Süden “, sagt Chevenement. „Die ungeheuren demographischen, wirtschaftlichen, kulturellen, politischen Ungleichgewichte, die sich am Horizont zusammenballen, müssen einem einfach auffallen“. Als Verteidigungsminister könne er die Risiken der Ausbreitung von Raketen, chemischen und atomaren Waffen im Nahen Osten nicht übersehen. Auch der Gaullistenführer Chirac wies am Wochenende auf „die demographische Explosion und die Entwicklung des Fundamentalismus im Süden Europas “ hin. In dieser Situation dürfe Frankreich „den erstrangigen Trumpf “ seiner Atomstreitmacht – so der Minister – nicht wegwerfen.“ Zurück

33) Süddeutsche Zeitung; 25.7.1990 Zurück

34) Vgl. T. Bastian, Naturzerstörung: Die Quelle der künftigen Kriege, Heidesheim 1990 Zurück

Dr. Till Bastian, Arzt und Schriftsteller, lebt in Isny/Allgäu.

Gratwanderung Golfkrise

Gratwanderung Golfkrise

von Wolfram Brönner

Manche knüpften an das Ausklingen des Kalten Krieges, der Ost-West-Konfrontation, die Hoffnung, nun sei die Ära einer neuen Weltfriedensordnung, einer konfliktfreien Welt angebrochen. Drei Monate Golfkrise genügten, um diese Vision als allzu illusionär erscheinen zu lassen. Stattdessen signalisiert sie eine Verschiebung der Konfliktlinie gen Süden, die Gefahr umsichgreifender Nord-Süd-Konfliktszenarien, falls sich die Weltmächte nicht auf politisch-diplomatische Hebel und die Überfälligkeit weltwirtschaftlicher Umgestaltungen im Sinne der ausgeplünderten, unterprivilegierten Völker der Dritten Welt besinnen. Insofern könnte sich der Entscheid der Bush-Administration für einen Angriffskrieg gegen den Irak rasch als Auftakt für eine Serie von Verteilungs- und Interventionskriegen auf dem Trikontinent, als Einstieg in eine Weltkonfliktordnung erweisen.

Ende Oktober d.J. meldeten Beobachter des Washingtoner Krisenmanagements, ein US-Angriff auf Bagdad werde nunmehr wahrscheinlicher. Gründe, die dafür sprächen: Der »Wüstenherbst«, sprich die kühlere Jahreszeit im Mittleren und Nahen Osten begünstigen Militäraktionen. Der Hauptkontrahent USA habe nun seine mit dem Aufmarsch am Persischen Golf, der »Operation Wüstenschild«, geplanten Kontingente an Truppen und Kriegsgerät komplett vor Ort. Und: Die Einheitsfront gegen den Diktator Saddam Hussein außer- und innerhalb der USA drohe abzubröckeln. Ist der vorausgesagte Golfkrieg unvermeidlich, ein politischer Ausweg ohne Chance? Und sind die Risiken eines sog. »Überraschungsschlages« nicht viel zu hoch?

Die Vorkriegslage

Und dies ist die Vorkriegslage: Der seit dem Vietnamkrieg größte westliche Truppenaufmarsch, der mit der irakischen Kuwaitinvasion vom 2.August d.J. am Persischen Golf einsetzte, und ein UN-Wirtschaftsembargo sollen den Irak zum Rückzug aus dem besetzten Ölemirat zwingen. Nach wie vor verpuffen alle Versuche, zwischen den Hauptkontrahenten Washington und Bagdad einen politischen Dialog zustande zu bringen. Ein Inferno in der Ölregion kann jederzeit losbrechen. Und schon jetzt sind die Warnsignale dieser Golfkrise alarmierend genug.

Ein erstes Warnsignal ist das Wiedererstehen eines griffigen Feindbildes, des »Hitler« oder »Irren von Bagdad«, womit erst sich eine Vorkriegsstimmung richtig anheizen läßt. Da mit dem Ausklingen des Kalten Krieges das Feindbild des »Russen« aus der Mode gekommen ist, bedurfte es eines neuen vom Kaliber des Diktators Saddam Hussein. Ausgerechnet jene, die selbst so manche Invasion, zuletzt im Dezember 1989 in Panama, auf dem Kerbholz haben, berufen sich nun beim Kreuzzug gegen Bagdad auf die Verteidigung des Völkerrechts.

Andererseits hat Präsident Saddam Hussein durch die Annexion Kuwaits Ende August und die Geiselnahme tausender westlicher ZivilistInnen dieses Schreckensbild selbst kräftig mitgeformt. Da gibt es nichts zu beschönigen. Und dennoch gilt es mit Nachdruck, die westliche Doppelmoral zu kritisieren. Ausgerechnet sie, die heute den »Berserker Hussein« mit allen Mitteln loswerden wollen, hatten bei dessen gleichem Delikt im Jahr 1980 gegen den Iran Khomeinis keinen Finger gerührt. Ebensowenig waren ihnen der Giftgaseinsatz Bagdads gegen die Kurdenbewegung (Halabja 1988, 5000 Tote) oder seine brutale Zerschlagung der eigenen Opposition irgendwelche Strafmaßnahmen wert. Im Gegenteil, das Hussein-Regime wurde kräftig mit aufgerüstet (darunter sogar mit C- und B-Waffen) und in der Endphase des Krieges gegen den Iran einseitig militärisch unterstützt.

Anstößig ist ferner, wie sehr mit zweierlei Maß im Fall der Besetzung Kuwaits hier und Palästinas da von der Weltmacht Nr.1 gemessen wird. Im Falle der israelischen Okkupation der palästinensischen Westbank und Gazas blockiert Washington durch seine Vetopolitik in der UNO und die maßgebliche wirtschaftlich-militärische Stützung Israels seit Jahren die von der konzessionswilligen Palästinensischen Befreiungsorganisation(PLO) geforderte Zweistaatenlösung. Den Dialog mit der PLO brach die Bush-Administration jüngst ab – hier spielt sie auf Zeit. Ganz anders agiert sie in der Kuwaitfrage. Dort erhebt sie, wie Anfang Oktober d.J. Präsident Bush vor der UN-Vollversammlung, die bedingungslose, unverzügliche Räumung Kuwaits durch die Besatzungsmacht zur unverrückbaren Vorbedingung für die Aufnahme eines Dialogs mit dem Irak. Und zeitgleich droht sie Bagdad einen »Vernichtungsschlag« bzw. »Erstschlag« durch die westliche Interventionsstreitmacht für den Fall an, daß dieser nicht kapituliere.

Die Gefahr eines überregionalen Infernos

Hier rückt ein zweites Warnsignal ins Bild. Dem oberflächlich hinsehenden Otto Normalverbraucher wird angesichts steigender Benzin- und Heizölpreise, angesichts des Gespenstes einer Wirtschaftsrezession suggeriert, für seine Probleme gäbe es eine simple Ursache, folglich einen ebenso simplen, vielversprechenden Ausweg. Der Verursacher und Sündenbock heiße Saddam Hussein. Sei erst einmal der Diktator mittels eines „chirurgischen Eingriffs“ (H. Kissinger) aus der Welt, so löse sich das Krisenszenario am Persischen Golf wie von selbst auf.

In Wahrheit droht im Fall eines westlichen Angriffskrieges eher das Gegenteil: Angesichts der relativen Stärke und Gegenschlagsfähigkeit der Militärmacht Irak ist ein überregionales Kriegsinferno, und zwar unter Einsatz von chemischen, biologischen und selbst atomaren Waffen, höchstwahrscheinlich. Der Irak verfügt neben der stärksten und kampferprobtesten Armee (1 Mio zuzüglich zahlenmäßig größerer Volksmiliz) über einen ansehnlichen Raketenpark unterschiedlichster Reichweite, vermag daher – wie schon im »Städtekrieg« gegen den Iran demonstriert – relativ zielgenau einen Großteil der Ölanlagen Saudi-Arabiens, des weltgrößten Ölexporteurs, und Israel zu erreichen.

Die US-Streitmacht hat alleine rund 400-450 Atomwaffen, eine ähnliche Zahl von Cruise Missiles, 700 Kampfflugzeuge, über 50 Kriegsschiffe und Truppen in einer Stärke von 500.000 Mann vor Ort. Verantwortliche des Pentagon lassen durchblicken, daß bei einem irakischen C-Waffen-Gegenschlag die Akzeptanz eines sofortigen A-Waffen-Einsatzes ausreichend hoch liegen dürfte. Außerdem wäre auch dem – derzeit in der Gesamtregion einzig – atomwaffenfähigen Israel im Ernstfall ein solcher Coup gegen Bagdad zuzutrauen. Saddam Husseins taktische Vernüpfung von Kuwait- und Palästinafrage in der Absicht, die arabischen Massen für seine Zwecke zu mobilisieren, hat die Explosivität der gegenwärtigen Krisenlage noch erhöht.

Schon von daher wird deutlich, daß es die von den Kreuzzugsverfechtern verheißene simple Lösung überhaupt nicht gibt, ja diese höchste Risiken eines Flächenbrandes mit unwägbaren Zerstörungen und Folgewirkungen in sich birgt. Die Verschleierung der Komplexität der Konfliktursachen dient einesteils dem kurzsichtigen Zweck, die westliche Öffentlichkeit zum Abenteurertum zu verleiten. Andernteils ist sie dazu geeignet, die nackte westliche Interessenpolitik zu vernebeln, die sich hinter diesem Aufmarsch und der in Washington insgeheim weiter favorisierten Kriegsoption verbergen.

Die Ursachen des Konflikts

Worin sind die eigentlichen Ursachen des Konflikts auszumachen? Zuerst ist die von der Kolonialmacht Großbritannien hinterlassene vakante irakisch-kuwaitische Grenzziehung zu nennen, die 1961, im Jahr der Unabhängigkeit des Emirats, schon einmal zu einer prekären Konfliktlage samt britischem Militäraufgebot geführt hatte. Hinzu trat nun der Zank um das grenzübergreifende Ölfeld von Rumaila und um die von den Golfmonarchien (Saudi-Aarabien, Kuwait, Vereinigte Emirate usw.) innerhalb des Ölexportkartells OPEC verfolgte Überproduktionspolitik, die auf ein Niedrighalten des Rohölpreises – ganz im Sinne der Ölmultis und Westmächte – bedacht war. Demgegenüber forderten gerade die durch ihren achtjährigen Krieg wirtschaftlich ruinierten und hoch verschuldeten Regimes in Bagdad und Teheran zur Jahresmitte energisch eine Förderdrosselung und Preisanhebung auf über 20 $ pro Barrel Rohöl.

Der mit geschätzten 80-150 Mrd $ im Ausland verschuldete Irak sah in seiner Einverleibung des reichen Emirats in erster Linie einen Ausweg aus der wirtschaftlichen Klemme, wenngleich er sich mit den internationalen massiven Gegenreaktionen (Stopp der Öleinnahmen, Sperrung der ausländischen Geldanlagen Kuwaits usw.) offensichtlich verkalkulierte. Die vom Hussein-Regime angepeilten Vorteile der Aneignung der Reichtümer der Königsfamilie der Sabahs, nämlich sich mit einer Schuldensumme von ca. 30 Mrd $ die größten Gläubiger vom Halse zu schaffen und mit der Übernahme der kuwaitischen Ölanlagen weitere rund 9% der Weltölreserven unter Kontrolle zu bringen, zahlen sich indessen nicht aus. Bagdad ist nun zwar mit 20% der Weltölreserven und einem Rohöl-Produktionsanteil von 7,4% zur hinter Saudi-Arabien (25% der Reserven, 8,3% der Förderung) potentiell stärksten Ölexportmacht aufgestiegen, bleibt jedoch dank des UN-Boykotts auf diesem Reichtum sitzen. An die ca. 150 Mrd $ Kapitaleinlagen der kuwaitischen Ölscheichs in westlichen Banken und Konzernen gibt es auch kein Herankommen. Stattdessen schlägt die enorme Abhängigkeit des Zweistromlandes von Nahrungsmittelimporten (Getreide 88%, Reis 80%) auf die Versorgungslage durch, die kritisch zu werden beginnt.

Die Militarisierung

des Nahen Ostens

Eine andere implizite Konfliktursache liegt in der Überrüstung des Irak begründet, die sich in dem horrenden Anteil der Militärausgaben von 31,7% des Bruttoinlandprodukts (Kuwait 7,2%, Iran 5%, Saudi-Arabien 22,7%) ausdrückt. Daß sich die Golfregion zur höchstmilitarisierten Zone in der Dritten Welt ausstaffieren konnte, ja zum Einsatzgebiet von chemischen und in Kürze biologischen Waffen (Ende 1990 soll Bagdad laut CIA-Erkenntnissen soweit sein!), möglicherweise gar von Atomwaffen werden kann, geht in hohem Maße auf das Konto des Westens bzw. der Großmächte.

Sicherung der Rohstoffe

Hinzu tritt die weiterhin hohe Abhängigkeit der Westmächte vom Golföl (voran Japan mit 64% und Frankreich mit 35% des Ölbedarfs) und die außerordentliche geostrategische Konzentration der USA auf diese ihres Erachtens „lebenswichtige Interessensphäre“ (laut Carter-Doktrin von 1980) des Westens. Damit ist zuvörderst die Kontrolle über die dort angehäuften 66% der Ölreserven der Welt zu verstehen. Mit dem hochkarätigen militärischen Schutz der Schnellen Eingreiftruppe (Gesamtstärke derzeit rund 400.000) für ihre treuesten Sachwalter, die Sauds, die Sabahs usw., sichern sich die Metropolen zudem die – vom Ausnahmefall abgesehen – künstliche Aufrechterhaltung der OPEC-Niedrigpreispolitik. Und sie bauen darauf, mittels ihrer eigenen ausgedehnten Militärpräsenz in der Ölregion auch künftig einen Damm gegen den antiimperialistisch akzentuierten arabischen Nationalismus und islamischen Fundamentalismus errichten zu können. Im September d.J. hat US-Außenminister Baker als eine vordringliche Konsequenz aus der Golfkrise die Schaffung eines neuen Sicherheitsbündnisses unter US-Dominanz im Mittleren Osten, und zwar nach dem Modell der NATO, angekündigt. Doch mit dieser militaristischen Version des Zugriffs auf das Golföl verleiht Washington nur dem antiinterventionistischen Aufbegehren der betroffenen Völker neuen Auftrieb, was durch die potentielle Einbeziehung Israels in eine übergreifende nah- und mittelöstliche Konfliktkonstellation noch zusätzlich an Sprengkraft gewinnt.

Schon jetzt zeichnet sich ab, welch hohe politische Kosten die Regierung Bush riskiert, sollte sie an der Vorrangigkeit ihrer militärischen Option gegen den Irak festhalten und sich nicht ernsthaft auf einen Dialog mit dem Kontrahenten über eine friedliche Lösung der Geiselnahme und Kuwaitfrage einlassen. Selbst eine Reihe von gegenwärtigen Mitstreitern, darunter Syrien und Frankreich, haben für den Fall von US-Offensivschlägen ihr Ausscheren aus der gemeinsamen Front angekündigt.

Vor einer neuen Ölkrise?

Zum anderen hat der zwischenzeitliche Anstieg des Rohölpreises auf über 40 $ pro Barrel den Beginn einer neuen Ölkrise und insbesondere einer Wirtschaftsrezession der USA angezeigt. Diese hat wegen ihres extremen Handels- und Haushaltsdefizits hier mit den empfindlichsten konjunkturellen Einbrüchen unter den drei westlichen Zentren zu rechnen. Und sie hat verglichen mit Westeuropa und Japan seit den 70er Jahren die wenigsten Anstrengungen unternommen, den Ölanteil am heimischen Primärenergieverbrauch abzusenken. Am schlimmsten betroffen vom Ölpreisboom sind wohl die ohnehin tief in einer Schulden- und Entwicklungskrise steckenden »Habenichtse« der Dritten Welt und die auf den Weltmarkt drängenden Staaten Osteuropas.

Mehr noch, sollte es tatsächlich zum Waffengang in der Krisenregion Mittlerer und Naher Osten kommen, so wäre ein Hochschnellen des Ölpreises auf astronomische 200 bis 400 $ pro Barrel denkbar, damit würde auch der Keim für künftig serienweise Verteilungskriege a la Kuwait-Invasion vorprogrammiert sein.

Insofern setzt die aktuelle Golfkrise auch ein großes Warnsignal dafür, daß die Westmächte bei einem Festhalten an ihrer neokolonialistischen Diktatpolitik gegenüber den Rohstofflieferanten des Südens, an ihrer Unnachgiebigkeit gegenüber deren Forderungen einer gerechten Weltwirtschaftsordnung oder einer Wiederaufnahme des seit 1981 blockierten Nord-Süd-Dialogs am eigenen Ast sägen. Dies kann nur zur vertieften wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Zerrüttung großer Teile der ausgebeuteten Dritten Welt, zur Anhäufung zusätzlichen Konfliktstoffs führen. Und die aktuelle westliche Golfkrisenpolitik weist genau in die entgegengesetzte Richtung einer alternativen, langfristig erfolgverheißenderen Entwicklungs- und Krisenstrategie. Denn sie treibt die Tendenz einer Militarisierung auf die Spitze, anstatt sich endlich auf einen vorrangigen wirtschaftlich-sozialen Interessenausgleich und auf eine weltweit anzulegende ökologische Vorsorge in ihrer Dritte-Welt-Politik zu verlegen.

So droht die Chance des Endes der Ost-West-Konfrontation und der Aufwertung der Rolle der UNO in der Weltpolitik vertan, ja durch eine tendenzielle Zuspitzung von Nord-Süd-Konfliktszenarien abgelöst zu werden. Die Golfkrise zeigt an, wie weitgehend durch eine skrupellose Rüstungsexportpraxis der Großmächte und infolge des Machtschwundes der »Supermächte« USA und UdSSR die Ambitionen regionaler Vormächte wie des Irak, Indiens usw. außer Kontrolle geraten können. Nicht eine Politik des Abstrafens bzw. der Vernichtung, sondern eine konsequente Nichtweiterverbreitungspraxis von A- und C-Waffen, ein Rüstungsexportstopp, eine Politik des Dialogs unter Gleichberechtigten kann hier nur die Alternative lauten.

Die Rolle Deutschlands

Dem vereinigten Deutschland stünde bei der Realisierung einer solchen Abkehr von der überholten Nord-Süd-Politik eine vorwärtstreibende Rolle gut an. Als fünftgrößtem Rüstungsexporteur, größter Handelsnation und einer der drei führenden Weltwirtschaftsmächte trägt sie ein hohes Maß an Mitverantwortung an der Verelendung, Militarisierung und am ökologischen Niedergang der Dritten bzw Einen Welt. Umkehr hieße, eine alternative, nämlich umwelt-, sozialverträglichere und friedensfördernde Nord-Süd-Politik einzuschlagen und international mit anzubahnen.

In der Golfkrise aber demonstriert Bonn bislang eher Unverantwortliches. Die »Operation Wüstenschild« wird durch reichliche logistische, Material- und Finanzhilfe (vorerst einmal 3,3 Mrd DM) unterstützt. Sieben Schiffe der Bundesmarine bezogen ersatzweise (noch!) im östlichen Mittelmeer Stellung. Und Kanzler Kohl sicherte Washington die baldige Beseitigung der grundrechtlichen Hemmschwellen für ein Nachrücken.von Bundeswehreinheiten ins Golfkrisenzentrum, d.h. außerhalb des NATO-Geltungsbereichs, zu. Eine westeuropäische Interventionsstreitmacht unter deutscher Mitregie für künftige Einsätze in der Dritten Welt ist im Werden.

Dies aber ist als ebenso friedensgefährdend zurückzuweisen, wie die dubiose Waffenexportpolitik deutscher »Todeskrämer«, ihre mit langjähriger Bonner Duldung völkerrechtswidrig betriebenen Weiterverbreitungspraktiken in Sachen chemischer, atomarer und biologischer Militärtechnologien.

Eine deutsche Initiative zur Anbahnung einer friedlichen Beilegung der Golfkrise blieb erwartungsgemäß aus. Frankreich und die Sowjetunion haben hierzu immerhin seit Beginn der UN-Vollversammlung erste Ansätze für eine gegenseitige Annäherung Bagdads und Washingtons beigetragen. Mitterrands Vorschlag stellte die Aufnahme von Verhandlungen mit dem Irak in Aussicht, sobald dieser seine Absicht(!) zum Abzug aus Kuwait und zur Beendigung der Geiselnahme bekunde. Damit wurde für Bagdad und Washington eine Brücke geschlagen, um in Richtung einer Kompromißformel einzuschwenken – die Alternative dazu heißt Kriegsinferno in der Ölregion, dessen Auswirkungen auch die westlichen Zentren nicht verschonen werden.

Noch ist es nicht zu spät. Werden die skizzierten Warnsignale gerade in den NATO-Staaten endlich ernstgenommen, so ist ein nichtkriegerischer Ausweg aus der Golfkrise möglich. Die Friedenskräfte stehen gerade hier in der Verantwortung, durch eine breite Mobilisierung gegen die militärische Option, gegen den Einstieg »ihrer« jeweiligen Regierungen in eine Kriegsabenteuer, für eine politische Verhandlungslösung den Druck auf die Washingtoner Verantwortlichen zu erhöhen.

Wolfram Brönner ist Mitglied der Redaktion Dritte Welt in Marburg.

Raketen im Golf – Ist der Geist schon aus der Flasche?

Raketen im Golf – Ist der Geist schon aus der Flasche?

Informationen zur Trägerwaffenfähigkeit einzelner Staaten im Nahen und Mittleren Osten

von Götz Neuneck • Jürgen Scheffran

Am 2. August 1990 überfielen und besetzten irakische Truppen den Nachbarstaat Kuwait. Die überwältigende Zahl aller Staaten verurteilte dies als völkerrechtswidrigen Akt der Gewalt. Die Reaktionen reichten von der Wirtschaftsblockade Iraks bis hin zur Entsendung von Truppen in die Golf-Region. Der Weltöffentlichkeit wurde auf dramatische Weise bewußt, daß mit dem Ende des Kalten Krieges die Gefahr eines heißen Krieges im Zusammenhang mit dem Nord-Süd-Konflikt nicht gebannt ist. Seit Jahren wurde in vielen Ländern der Dritten Welt, besonders im Nahen und Mittleren Osten, durch eine qualitative wie quantitative Hochrüstung ein enormes Zerstörungspotential angehäuft, meist unter direkter Beteiligung der entwickelten Industrienationen.

Langstreckenraketen mit nuklearer Nutzlast sind seit den 50er und 60er Jahren ein wesentlicher Bestandteil der Arsenale der USA, der Sowjetunion, Frankreichs, Großbritannien und Chinas. Nach dem Vorbild dieser Staaten versucht eine wachsende Zahl von Staaten, nicht nur in den Besitz von nuklearen, chemischen und konventionellen Waffen zu kommen, sondern auch die entsprechenden Trägersysteme dafür zu importieren bzw. selbst zu produzieren. Insbesondere die Sowjetunion hatte ihren Verbündeten Kurzstreckensysteme wie die FROG 7, SS 21 und Scud-B zur Verfügung gestellt. Aber auch die USA und insbesondere private Firmen in Europa halfen einigen Ländern beim Aufbau ihrer Raketenstreitkräfte kräftig mit. Das SIPRI-Jahrbuch 1990 zählt insgesamt 26 Staaten auf, die neben den 5 großen Nuklearmächten über Trägerraketen mit einer Reichweite zwischen 50 und 2200 km verfügen. Nach Aussagen des CIA-Direktors W. Webster können bis zum Jahr 2000 etwa 15 Länder sogar eigene ballistische Raketen produzieren, die in der Lage sind, ABC-Sprengköpfe zu transportieren (Jane's Defense Weekly, 22.4.89, S. 696).

Zum Aufbau eigener Raketenstreitkräfte ist erhebliches Wissen auf dem Gebiet der Raketen-Technik, der Produktion von Treibstoffen, von elektronischer Ausstattung (Lenksysteme, Zielansteuerung) etc. notwendig. Von Anfang an bemühten sich einige Länder, nicht mehr von den Lieferungen der Großmächte abhängig zu sein, sondern auch eigene Produktionsanlagen und Entwicklungslabors zur Eigenproduktion oder zum Export zu errichten. Teilweise wurden vorhandene sowjetische Systeme von Ländern der Dritten Welt (Irak, Süd-Korea, Iran) verbessert und eigenständig produziert. Teilweise bemühen sich einige Staaten der Dritten Welt aber auch, gemeinsam eigene Raketen zu entwickeln. Als Beispiel ist hier das Condor II-Programm zu nennen, bei dem Argentinien, Ägypten, und Irak bis 1988/1989 versuchten, eine Mittelstreckenrakete mit einer Reichweite von etwa 1000 km zu entwickeln, mit tatkräftiger Unterstützung u.a. westdeutscher und italienischer Ingenieure.

Ballistische Raketen im Nahen und Mittleren Osten
Rakete Reichweite (in km) Nutzlast (in kg) Zielgenauigkeit (CEP in Meter) Herkunftsland
Ägypten
FROG-7 70 450 500-700 Sowjetunion
Saqur 80 80 200 NA Franz. Lizenz
Scud-B 300 1000 1000 Sowjetunion
Iran
Oghab 40 300 NA Iran/China
Shahin 2 100-130 NA NA Iran/China
Iran-130 130 NA NA Iran/China
Scud-B 300 1000 1000 Syrien / Libyen / Nord-Korea
Irak
FROG-7 70 450 300-700 Sowjetunion
Fahd 240-480 450 NA Irak
Scud-B 300 1000 1000 Sowjetunion
Al Hussein 600 135-250 1500-3000 Irak
Condor 2 800-1000 450 600 Irak/Argent.
Al Abbas 900 500 3000-5000 Irak
Tammuz-1 2000 NA NA Irak
Israel
Lance 130 200 400 USA
Jericho I 640 250 NA Israel
Jericho II 500-1500 450-700 NA Israel
Jericho IIB 1500-1900 750 NA Israel
Kuwait
FROG-7 70 450 500-700 Sowjetunion
Libyen
FROG-7 70 450 500-700 Sowjetunion
Scud-B 300 1000 NA Sowjetunion
Otrag 500-720 NA NA BRD-Lizenz
Al Fatih 500-720 NA NA BRD-Lizenz
Saudi Arabien
CSS-2 2500-3000 2000 2500 China
Syrien
FROG-7 70 450 500-700 Sowjetunion
SS-21 120 250 300 Sowjetunion
Scud-B 300 1000 1000 Sowjetunion
Nordjemen
SS-21 120 250 300 Sowjetunion
Südjemen
FROG-7 70 450 500-700 Sowjetunion
SS-21 120 250 300 Sowjetunion
Scud-B 190 1000 1000 Sowjetunion
NA: nicht angebbar
(Quelle: Arms Control Today, Mai 1990, S. 31; ergänzt um Nolan 1990.)
Anmerkungen: Die Angaben über neu produzierte oder modifizierte Systeme sinderheblich ungenauer als die sowjetischen Daten. Eine Reihe von Systemen sind nicht
aufgelistet, z.B. die Weltraumraketen Israels und des Irak „Shavit“ und „Al
Abid“; ebenso die Mehrfach-Raketenwerfer wie die brasilianische „Astross
SS-60“ des Irak und Saudi-Arabiens; ebenso die Artillerie-Rakete der MAR Serien
Israels. Es handelt sich in allen Fällen um einstufige Raketen mit Ausnahme von
„Condor II“ sowie die Jericho-Serien mit je zwei Stufen. Alle Raketen sind
stationiert, bis auf Shahin-2, Fahd, Condor II, Al Abbas, Tammuz-1, Jericho IIB, Otrag und
Al Fath, die sich noch in der Entwicklung befinden.

Einsatz von Raketen im Krieg Irak–Iran

In der Krisenregion im Mittleren Osten sind Wissen, Produktion und Besitz von Kurz-bzw. Mittelstreckenraketen inzwischen weit verbreitet. Den ersten traurigen Höhepunkt bildete der massive Einsatz von Kurz- bzw. Mittelstreckenraketen (“Krieg der Städte“) im Golfkrieg zwischen Iran und Irak. Der Iran feuerte zwischen 1985 und 1988 etwa 455 ballistische Raketen auf den Irak, während der Irak den Iran zwischen 1980 und 1988 mit 428 ballistischen Raketen beschoß, was einige tausend Menschen das Leben kostete und mehr als zehntausend verwundete. Im April 1990 drohte Saddam Hussein mit dem Einsatz chemischer Waffen gegen Israel, und nach dem Massaker am Tempelberg drohte er in einer im Radio verlesenen Botschaft an, eine Rakete mit dem Namen „El Hijara“ (Stein) gegen Israel einzusetzen, „wenn die Zeit der Abrechnung kommt.“ (Süddeutsche Zeitung vom 10.10.1990). Der irakische Regierungssprecher Nassif Dschassem schließlich kündigte am 20. September 1990 im Falle eines Angriffs die Zerstörung aller Ölfelder an (FAZ vom 21.9.90). Zur gleichen Zeit wurde auch die Verwicklung westlicher, v.a. auch bundesdeutscher Firmen, in Exportskandale bekannt, die Irak die entsprechenden Mittel dazu lieferten.

Im folgenden wird ein kurzer Überblick über den Stand der Raketentechnik der am Golfkonflikt beteiligten Parteien bzw. Anrainerstaaten gegeben (siehe die Tabelle), ohne Berücksichtigung anderer Trägersysteme (Raketenartillerie, Flugzeuge, Cruise Missiles). Nähere Informationen über diese und die anderen 18 Staaten, die im Besitz von Trägerraketen sind, findet man im Literaturverzeichnis. Einige Angaben sind mit Unsicherheiten behaftet, die Reichweiten hängen stark von der Nutzlastmasse ab.

Irak

Seit Jahren besitzt der Irak eine große Anzahl ballistischer Raketen, die zunächst aus der Sowjetunion importiert wurden. Die irakische Raketenstreitkraft besteht hauptsächlich aus sowjetischen FROG 7 (70 km Reichweite) und Scud-B-Raketen (300 km Reichweite). Laut IISS-Military Balance 1989-90 verfügt der Irak nach dem Krieg mit Iran, in dem modifizierte Scud-B-Raketen gegen Teheran eingesetzt wurden, noch über 30 FROG-7 und 36 Scud-B Startgeräte. SIPRI gibt 20 Startgeräte mit mehr als 360 Raketen an. Nach jüngsten Informationen soll der Irak sich in diesem Jahr 50 weitere Scud-Raketenwerfer angeschafft haben (Süddeutsche Zeitung vom 20./21.11.1990).

Seit Ende des Golfkrieges im August 1988 vergrößerte der Irak sein Raketenprogramm ständig. Die neu gegründete irakische Kriegsindustrieorganisation, die während des irakisch-iranischen Krieges unter der Leitung von Hussein Kamil, eines Schwiegersohns von Sadam Husseins stand, baute Mitte der 80er Jahre eine Raketenfabrik in der Nähe von Bagdad, sowie eine Forschungs- und Entwicklungsanlage in der Nähe von Mosul auf. Ca. 3 Mrd. Dollar wurden investiert, um diese Fabriken mit westlicher Technologie auszustatten. Die Schweizer Firma Consen koordinierte Teile der Arbeit und bezog österreichische und westdeutsche Konstruktionsfirmen mit ein. Große Teile der Ausrüstung stammen aus der Bundesrepublik und den USA. Ein Teil wurde von italienischen und anderen Banken finanziert.

Im August 1987 konnte der Irak seine Fortentwicklung der Scud-B, die sogenannte Al-Hussein-Rakete testen. Um die Reichweite der Rakete auf etwa 600 km erhöhen zu können, wurde der Rumpf der Rakete verlängert und die Nutzlast von 800 kg auf etwa 190 kg verringert (s.Abbildung). Da die Al-Hussein das Navigationssystem der sowjetischen Scud-B unverändert übernommen hat, dürfte die Treffergenauigkeit lediglich im Bereich von 2-3 km liegen (bei derartigen Raketen ist die Zielgenauigkeit etwa der dreihundertste Teil der Reichweite). Die Nutzlast von etwa 200 kg bedeutet, daß die Al-Hussein zumindest für Uranbomben nicht atomwaffentauglich ist. Für leichtere Atomwaffen, die Plutonium als Spaltstoff und Beryllium als Neutronenreflektor verwenden können, steht die Tauglichkeit zumindest in Frage. 1988 testete der Irak eine weiter modifizierte Al-Hussein-Rakete, die sogenannte Al-Abbas, die eine Reichweite von etwa 900 km haben soll.

Da die Weiterentwicklung der Scud-B-Linie wegen ihrer geringen Zielgenauigkeit und Reichweite nur begrenzt möglich ist, bemühte sich der Irak um die Beteiligung an multinationalen Raketenprogrammen der Dritten Welt. Neben dem bereits genannten Condor-Programm verfolgt Irak das Projekt 395, zunächst mit Unterstützung westeuropäischer Organisationen und Firmen, später alleine. Hierbei handelt es sich offenbar um die Entwicklung der zweistufigen Tammuz-I-Rakete mit einer Reichweite von 2000 km, die wahrscheinlich auf dem Condor-II-Programm basiert. Da der Irak eine Rakete dieser Reichweite weder innerhalb der eigenen Landesgrenzen noch über einem Ozean testen kann, verhandelt er mit Mauretanien über die Bereitstellung einer Startanlage auf deren Gebiet. Anfang 1989 richtete der Irak eine Fabrik zur Produktion von Festtreibstoffen ein sowie eine Fabrik zur Produktion von Einzelkomponenten und einen Raketenteststand. Es ist zu vermuten, daß die Tammuz-Rakete auch Kernwaffen tragen können wird. Am 5. Dezember 1989 gelang es dem Irak sogar, mit Hilfe der als dreistufig angenommenen, 48 Tonnen schweren und 25 m hohen Al-Abed Rakete drei Objekte kurzzeitig in einen erdnahen Orbit zu schicken.

Iran

Der Iran, der anfänglich Scud-Raketen von Nord-Korea, Libyen und Syrien geliefert bekam, verfügt nun über die Eigenproduktion ihrer Iran-130 (130 km Reichweite). Wie der Irak hat der Iran größtes Interesse daran, chemische Sprengköpfe zu entwickeln. Es wird vermutet, daß chemische Sprengköpfe bereits gegen irakische Streitkräfte eingesetzt worden sind. Desweiteren verfügt der Iran über 100 SCUD-B, die während des Golfkrieges von Libyen, Nordkorea und Syrien geliefert wurden.

Israel

Israel besitzt die entwickeltste Militärindustrie im Nahen und Mittleren Osten. Die israelischen Raketenstreitkräfte verfügen über 12 Lance-Raketengestelle mit insgesamt ca. 60 Raketen, die von den USA geliefert wurden. Ihre Reichweite beträgt etwa 130 km. Sie verfügt über einen hochexplosiven Sprengkopf mit einer Treffergenauigkeit von 150 bis 400 m. Ende der 60er Jahre begann Israel mit französischer Unterstützung, die Jericho-Raketen-Systeme zu entwickeln. Die Jericho I trägt eine Nutzlast von 250 kg über eine Distanz von 500 km ins Ziel. Mit der Treffergenauigkeit von vielleicht 1000 m ist es möglich, militärische Ziele mittels eines nuklearen Sprengkopfes auszuschalten. Die zweistufige Version Jericho II hat ein verbessertes Navigationssystem und eine Reichweite von bis zu 1500 km. Von beiden Systemen sind wahrscheinlich je 50 Flugkörper stationiert. Die sich in der Entwicklung befindliche Jericho-IIB soll eine Reichweite von 1900 km haben und soll in der Lage sein, sämtliche arabischen Hauptstädte sowie Teheran und sowjetisches Territorium zu treffen. Der Abschuß des Ofec I-Satelliten am 19. September 1988 in eine Umlaufbahn mittels einer selbstproduzierten Shavit-Rakete zeigt die Fähigkeit der Israelis, größere Nutzlasten auch über längere Distanzen zu transportieren. Es wird angenommen, daß Israel über 200 nukleare Sprengsätze, sowie chemische Waffen verfügt.

Syrien

Syrien verfügt über 24 FROG-7 Startgeräte (96 Raketen). Es wird vermutet, daß die syrische Armee einen chemischen Sprengkopf (VX Nervengas) für diese Rakete entwickelt. Von der Scud-B besitzt Syrien 18 Startgestelle mit 54 Raketen. Mit dieser Rakete ist es möglich, zivile und militärische Ziele in Nord-Israel zu erreichen. Wesentlich treffgenauer (100-300 m) sind die 36 SS 21-Raketen (12 Startgestelle), die die Sowjetunion geliefert hat. Hiermit ist es möglich, auch militärische Ziele anzugreifen. Syrische Politiker haben versucht, Mittelstreckenraketen von der Sowjetunion (SS 23, 500 km Reichweite) und von China (M-9, 600 km Reichweite) zu bekommen, bisher wahrscheinlich ohne Erfolg.

Saudi-Arabien

Im März 1988 hat Saudi-Arabien den Kauf von 20-50 chinesischen DF-3-Raketen bekanntgegeben. Die zweistufige Rakete kann eine Nutzlast von 2 Tonnen über eine Distanz von 2500-3000 km transportieren. Aufgrund ihrer geringen Treffergenauigkeit ist es möglich, zivile Ziele in der Sowjetunion, in Israel und im Iran zu treffen. Wahrscheinlich dienen die Raketen mehr als Symbol saudischer Macht als der Bedrohung konkreter militärischer Ziele. Saudi-Arabien ist bereit, den Vertrag zur Nichtverbreitung von Nuklearwaffen beizutreten und tritt für eine „No-First-Use“-Politik ein.

Ägypten

Wie Israel und der Irak besitzt auch „Agypten einen ausgedehnten militärisch-industriellen Komplex. In ägyptischen Diensten stehen FROG 7-Raketen sowie 100 Scud-B-Raketen. Ägypten entwickelt die 600km-reichweitige Scud 100. Es wird berichtet, daß zusammen mit Argentinien an einer Feststoff-Rakete Badr-2000 mit einer Reichweite von 900 km gearbeitet wird.

Libyen

Die libyschen Raketenarsenale bestehen aus FROG (48 Startgeräte, 144 Raketen) sowie aus Scud-B (80 Raketengestelle, 240 Raketen). Mit intensiver deutscher Hilfe sollen zwei Systeme entwickelt werden: Otrag (500 km Reichweite) und Ittisalt (700 km Reichweite). Weiterhin wurde versucht, von China DF-3-Raketen zu kaufen bzw. eine ballistische Rakete von privaten Firmen in West-Deutschland.

Folgen und Kontrollmöglichkeiten

Da einige Lieferländer selbst über gewaltige Raketenstreitkräfte verfügen, sollten sie es vermeiden, das Feindbild einer mit Atomraketen hochgerüsteten und für die nördlichen Industriestaaten bedrohlichen Dritten Welt zu zeichnen. In erster Linie ist die Raketenproliferation im Mittleren Osten ein Problem für die dort lebenden Menschen, zum einen wegen der hohen Kosten der Aufrüstung, mehr aber noch durch das gewachsene gegenseitige Bedrohungspotential. Eine Situation, in der alle verfeindeten Staaten möglicherweise ihre Hauptstädte in Minutenschnelle atomar und chemisch vernichten können, ist noch weit komplexer und instabiler als die vorwiegend bipolare Struktur des Ost-West-Konflikts. Mit wachsender Reichweite und Leistungsfähigkeit der Trägersysteme würde diese Bedrohung zu einem globalen Problem.

Relativ spät, im Jahre 1987, vereinbarten sieben westliche Industrienationen Exportbarrieren zur Eindämmung von Trägertechnologien. Nach mehrjährigen Geheimverhandlungen einigten sich Großbritannien, Kanada, Frankreich, die Bundesrepublik, Italien, Japan und die Vereinigten Staaten auf ein informelles Abkommen, das »Missile Technology Control Regime« (MTCR). Spanien wurde 1989 Mitglied, und Schweden führte ähnliche Regelungen ein. Der »Missile-Technology-Control-Act« von 1989 verbietet es der US-Regierung bei Firmen einzukaufen, die das Kontrollregime verletzt haben. In den letzten Jahren wurden einige Fälle öffentlich bekannt, die klare Verstöße gegen das Kontrollregime bilden.

Das MTCR-Abkommen unterscheidet zwei Kategorien von Raketentechnologie. Die für den Export untersagte Kategorie I umfaßt vollständige Raketensysteme, die fähig sind, wenigstens eine 500-Kilogramm-Nutzlast über eine Reichweite von mehr als 300 Kilometern zum Einsatz zu bringen, sowie zugehörige Produktionsanlagen und vollständige Untersysteme. Zur genehmigungspflichtigen Kategorie II gehört eine nur schwer überschaubare und kontrollierbare Vielzahl von Raketentechnologien, u.a. Antriebstechnologien und Werkstoffe, Unterstützungs- und Testeinrichtungen sowie verschiedenste elektronische Komponenten.

Das MTCR-Abkommen wurde von verschiedener Seite kritisiert, u.a. weil hiermit die »Raketen-Habenichtse« durch die raketenbesitzenden Länder diskriminiert werden und der Versuch, eine Barriere gegen die Ausbreitung der Raketentechnologie zu errichten, ohnehin zu spät komme. Tatsächlich hat nach Verabschiedung des MTCR die Zahl der Raketenschwellenländer erheblich zugenommen. Ist der Geist schon aus der Flasche?

Ein weiterer kritischer Punkt ist die Beschränkung auf Raketen, während Flugzeuge nicht erfaßt sind. Tatsächlich besitzen die Hauptakteure im Golf langreichweitige Flugzeuge, die Kernwaffen tragen können. Der Irak etwa besitzt die sowjetischen Bomber Tu-16 Badger und Tu-22 Blinder mit einer Reichweite von 3100 km bzw. 2400 km, sowie die sowjetischen Kampfflugzeuge MiG-23BN Flogger, Su-7 und Su-20 Fitter und die französische Mirage F-1C. Israel dagegen verfügt über die Kampfflugzeuge F-4, F-15 und F-16 der USA, Saudi-Arabien ebenfalls.

Es erscheint widersinnig, wenn die hochentwickelten Industriestaaten den Export von Raketentechnik mit Strafen belegen, während mit Flugzeugen das große Geschäft gemacht wird (Rubin 1990). Daß auch Artilleriegeschütze geeignet sein können, um chemische oder atomare Sprengköpfe über große Entfernungen zu verschießen, haben die Vorgänge um die Ermordung des Artillerie-Experten Gerald Bull und das von ihm geplante „Projekt Babylon“ zum Bau einer irakischen Superkanone gezeigt (Bonsignore 1990).

Von dem MTCR-Abkommen sollte nicht mehr erwartet werden als es selbst verspricht: die Ausbreitung einiger Raketentechnologien zu verlangsamen, um Zeit für politische Lösungen zu geben. Zwar konnte dies in einigen Fällen erreicht werden, doch langfristig müssen weitere bzw. andere Maßnahmen ergriffen werden. Dazu gehört die Einigung auf vertrauensbildende Maßnahmen, um die Gefahr eines Raketenkrieges zu verringern. Weiterhin ist es wichtig, möglichst viele Staaten in ein kooperatives und nicht-diskriminierendes Transfer- und Kontrollregime einzubeziehen, das das Interesse der Staaten der Dritten Welt an einer angemessenen technologischen Entwicklung mit Abrüstungsschritten der Großmächte verbindet. Hier könnte im regionalen Rahmen begonnen werden, etwa im Mittleren Osten.

Sollten politische Lösungsversuche scheitern, besteht die große Gefahr, daß militärische Wege beschritten werden. Dies zeigt die aufkommende Diskussion in den USA, bei einem Versagen der Kontrollmaßnahmen ein bestimmtes Maß an Kernwaffen beizubehalten und sich gegenüber der Raketenbedrohung aus der Dritten Welt auf einen waffentechnischen Schutzwall à la SDI zu verlassen. So US-Verteidigungsminister D. Cheney zur Rolle von SDI: „Es bietet die beste Hoffnung, die USA und unsere Freunde und Verbündeten gegen die sich ausbreitende Bedrohung durch ballistische Raketen in der Dritten Welt zu schützen“ (Defense Daily, 19.6.1990; siehe dazu auch den jüngsten Bericht der SDI-Organisation an den US-Kongreß sowie die aktuelle Diskussion in Isaacs 1990). Sollte sich diese Position durchsetzen, könnte sich eine fatale Kopplung zwischen der vertikalen Rüstungsproliferation der Großmächte und der horizontalen Proliferation einiger Dritt-Welt-Staaten herausbilden. Dann würden die alten Feindbilder des Ost-West-Konflikts durch die neuen Feindbilder eines militarisierten Nord-Süd-Konflikts ersetzt. Abrüstung und Rüstungskontrolle in der Dritten Welt sind nur durchzusetzen, wenn die erste und zweite Welt eigene drastische Abrüstungsmaßnahmen in ihren eigenen Regionen und Arsenalen durchsetzen. Die Beendigung des Kalten Krieges gibt ihnen die Möglichkeit dazu.

Übersichtsliteratur:

„Arms Control Reporter“ 1989, 1990 über Raketenproliferation
E. Bonsignore, „Programme Babylon“ and „Operation Bertha“: Fact or Fiction?, „Military Technology“, 6/90, S. 62-65
W.S. Carus, J.S. Bermudez, Iraq's Al-Husayn Missile Programme, „Jane's Soviet Intelligence Review“, May 1990, S. 204-209; June 1990, S. 242-248; July 1990, S. 329
J. Isaacs, Iraq and the golden tongues, „Bulletin of the Atomic Scientists“, October 1990, S. 3
A. Karp, Ballistic Missile Proliferation, SIPRI Yearbook 1990, Oxford University Press, New York 1990, S. 369-391 (siehe auch die vorhergehenden SIPRI-Jahrbücher)
W. Liebert, G. Neuneck, M. Kalinowski, Hintergrundinformationen zur Frage der Nuklearwaffenfähigkeit des Irak, Darmstadt: IANUS, 1. September 1990; s. auch: „Frankfurter Rundschau“, 1. Oktober 1990
M. Navias, Ballistic Missile Proliferation in the Third World, London: Adelphi Papers, Nr. 252, Summer 1990
J. E. Nolan, Albert D. Wheelon, Ballistische Raketen: Verbreitung ohne Grenzen?, Spektrum der Wissenschaft“, Oktober 1990, S. 132-144
R. Rudert, K. Schichl, S. Seeger, Atomraketen als Entwicklungshilfe, Marburg 1985
R. Schmidt, U.S. Export Control Policy and the Missile Technology Control Regime, Santa Monica, CA: RAND, P-7615-RGS, January 1990
R. D. Shuey, u.a., Missile Proliferation Survey of Emerging Missile Forces, Washington, DC: Congressional Research Service, October 3, 1988; Revised February 9, 1989
US Congress, Missile Proliferation: The Need for Controls (Missile Technology Control Regime), Hearing, Committee on Foreign Affairs, House of Representatives, July 12, October 30, 1989, Washington, DC: Government Printing Office, 1990

Götz Neuneck ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg; Dr. Jürgen Scheffran ist Physiker an der TH-Darmstadt

Libyenkrise: Signal des Neoglobalismus

Libyenkrise: Signal des Neoglobalismus

von Wolfram Brönner

Der Luftangriff der Weltmacht Nr. 1 auf das unliebsame Ölland Libyen stand unter dem offiziellen Vorzeichen der „Terrorismusbekämpfung“. Auf dem Wirtschaftsgipfel der sieben Westmächte Anfang Mai in Tokio ließ sich die Reagan-Administration Diese Finte bescheinigen. Laut Abschlußerklärung von Tokio wollen sie künftig den sog. Unterstützerstaaten das „internationalen Terrorismus“, voran dem namentlich genannten Libyen, mit vereinten „Gegenmaßnahmen“ begegnen.

Immerhin hatten sich einige NATO-Verbündete, darunter die Mittelmeeranrainer Griechenland, Italien und Frankreich, vom US-Luftangriff des 15. April 1986 auf Tripolis und Bengasi distanziert. Das Zurückweichen vor den Einschwörungsversuchen Washingtons in Tokio kann daher nur ermunternd für die Angriffsplaner das Pentagon wirken, den Konfliktkurs gegen ihren aktuellen Buhmann Muhammar al Ghaddafi und andere „Terrorstaaten“ weiterzufahren.

Die bevorzugten nächsten Angriffsziele haben Präsident Reagan und sein Außenminister Shultz inzwischen unverhohlen abgesteckt. Ronald Reagan beschuldigte Ende April d. J. Nicaraguas regierende Sandinisten, sie versuchten, „vor unserer Haustür ein Libyen zu errichten“ und böten wie dieses „eine Zuflucht für allerlei internationale Terroristen“. Falls es ähnliche „Beweise“ gegen Syrien oder den Iran gäbe, würde man auch gegen diese losschlagen: „ich denke, wir könnten es wieder tun.“ In Washington werden einstweilen die Vorbereitungen für „einen zweiten Schlag“ gegen Libyen getroffen und offen debattiert. Und George Shultz scheute sich nicht, dabei den Einsatz von Cruise Missiles anzukündigen.

Angesichts dieser Sachlage die Wiederholungsdrohungen Washingtons als bloßes Wortgeklingel abzutun, wäre lebensgefährlich. Nach der US-Invasion Grenadas (Oktober 1983), nach der US-Intervention im Libanon 1982-84 und nach dem Übergang zum Luftkrieg gegen Libyen darf die Entschlossenheit der Reagan-Administration zum Gewalteinsatz schon gar nicht mehr unterschätzt werden, mit ihr auch nicht die damit einhergehende Gefahr einer regionalen bis weltweiten Kriegseskalation.

Rollback des Kommunismus

Welches Konzept steht dahinter? Wenn es nach den Vorstellungen der konservativen Regierung Reagan geht, war der Angriff auf Libyen das Signal, der Auftakt für ein weltweit zugeschnittenes Roll Back des revolutionären Lagers, welches von antiimperialistischen Regimes der sog. Dritten Welt über Befreiungsbewegungen bis hin zum „Reich des Bösen“, der Sowjetunion reicht: „Während seiner (Reagans) ersten Amtszeit“, so Präsidentenberater Patrick Buchanan, „wurde kein Quadratzentimeter westlichen Bodens an den Kommunismus verloren. Am Ende seiner zweiten Amtszeit soll man sagen können, daß verlorenes Territorium wiedergewonnen wurde“. Und die New York Times ordnet den Angriff auf Libyen so ins Konzept einer antirevolutionären Reaganschen Gegenoffensive ein:

„Washington hat endlich begonnen, die Truman-Doktrin der Eindämmung durch die Verpflichtung zu ergänzen, eine aktivere Politik der Verteidigung gegen den Prozeß der sowjetischen Expansion zu betreiben. In diesem Kontext ist die Bombardierung Libyens von noch nicht einschätzbarer psychologischer und politischer Bedeutung. Der Westen kann nicht länger hoffen, daß die sowjetische Politik durch natürliche Ursachen allein aufgeweicht wird.“

Mit Hilfe der Primitivformel, alle Befreiungsprozesse seien sowjetischen Ursprungs, greift die Reagan-Administration auf das antiquierte Modell des massiven militärischen Interventionismus zurück, das eingangs der 70er Jahre angesichts des Desasters im US-Vietnamkrieg (1964-1973) ad acta gelegt worden war. Sicher hatte es auch in der Entspannungsära, so 1975/76 im Angolakrieg, einen verdeckten, indirekten US-Interventionismus gegeben, aber generell hatte man die Militärpräsenz, die CIA-Aktivitäten u.a. gedrosselt. Mit dem Rückfall in den globalen Konfrontationskurs, der bereits unter Präsident Carter 1979/80 einsetzte, war im Januar 1980 die militärische Gewaltandrohung in der „vitalen Interessensphäre“ Persischer Golf einhergegangen – parallel zum Brüsseler Stationierungsbeschluß (Pershing II, Cruise Missiles) vom Dezember 1979. Damals auch begann man mit dem Aufbau der Schnellen Eingreiftruppe, deren rund 300.000 Mann atomar teilbewaffnet und teils in der Zielregion Naher und Mittlerer Osten stationiert worden sind.

Ausbau der Militärpräsenz

Die Reagan-Administration trieb zunächst den Ausbau der eigenen Militärpräsenz (Stützpunkte, Flugzeugträger, Truppen, neue atomare Raketen usw.) gerade in den Erstschlagsregionen Europa, Naher und Mittlerer Osten und Westpazifik sowie in der Krisenregion Mittelamerika/Karibik systematisch voran. Für die Ölregion wurde Anfang 1983 ein Zentralkommando Südwestasien gegründet. Die BRD-Regierung hatte man 1982 im „War-Host-Nation-Support“ (WHNS)-Abkommen darauf verpflichtet, im Fall „von Krise oder Krieg“ die blitzartige Verlegung von US-Interventionstruppen in einer Stärke von nahezu 100.000 Mann von Westeuropa in den Nahen und Mittleren Osten abzusichern und Beihilfe zu leisten.

Unterstützung der Contras

1985/86 ging die Regierung Reagans daran, die gegen antiimperialistische, voran sozialistisch orientierte Regimes des Dritten Welt agierenden konterrevolutionären Gruppierungen („Contras“) zu koordinieren und verstärkt zu unterstützen. Mit dem Ziel, die Revolutionsregimes Angolas, Nicaraguas oder Afghanistans zu beseitigen, ist die US-Bereitstellung selbst modernster Raketen („Stinger“!) und anderer Waffen an die Contras verknüpft.

Im Fall Angolas hob man das 1975 vom Senat verhängte Clark-Amendment, ein Verbot der CIA-Waffenhilfe für die von Südafrika gemanagten Banditengruppen UNITA und FNLA, demonstrativ auf. Savimbis UNITA wurde 1985 eine US-Hilfe von 30 Mio. Dollar zugesagt, für die nicaraguanische Contra sucht Reagan – bislang ohne Erfolg – eine neuerliche Hilfe von 100 Mio. Dollar im Kongreß durchzubringen. Parallel wurde die generelle Reaktivierung der überseeischen CIA-Aktivitäten und die Verdoppelung von interventionistischen US-Spezialeinheiten (auf jetzt 20.000) betrieben.

Neointerventionismus

Mit Hilfe der Contras, von hochgerüsteten willfährigen Regimes (Honduras, Südafrika, Pakistan, Israel u.a.) und nötigenfalls dem Einsatz von US-Streitkräften sollen unbotmäßige Revolutionsregimes destabilisiert, sturmreif gemacht und schließlich abgeräumt werden. Die weltweite Anlage dieses Neointerventionismus trugen ihm die Titulierung Neoglobalismus ein. Er ist eine Mixtur von staatlich Befördertem Terrorismus und eigenem Militärinterventionismus, eingesetzt zur sozialen Revanche gerade in den geostrategisch wichtigsten Regionen Asiens, Afrikas und Lateinamerikas, um verlorenes Terrain zurückzuerobern, die Befreiungskräfte der Dritten Welt einzuschüchtern und den dort gewachsenen Einfluß des sozialistischen Lagers zurückzudrängen.

Daß sich Reagans „Freiheitskämpfer“, die Contras, geradeso wie die Stellvertreterregimes Südafrikas, Israels, El Salvadors usw. vorzugsweise terroristischer Mittel bedienen, ist in den Vereinten Nationen längst aktenkundig. Von der UNO umgekehrt als legitim anerkannt ist der Widerstandskampf etwa der Befreiungsbewegungen Südafrikas (ANC), Namibias (SWAPO), Palästinas (PLO) oder El Salvadors (FMLN/FDR). Doch eben diese werden von der Reagan-Administration als „terroristische Vereinigungen“ tituliert.

Folgerichtig stempelt man das Contraopfer Nicaragua zum „Terrorstaat“, da es die salvadorianischen Befreiungsfronten FMLN/FDR unterstütze. Und Libyen und Syrien stilisiert man zum „Hort des Terrorismus“ hoch, weil sie die PLO oder dem gegen israelische Besatzer kämpfenden libanesischen Widerstand beistehen.

Hier wird die Grenze zwischen legitimen Befreiungsbewegungen und einzelnen palästinensisch-libanesischen Splittergruppen, die individuelle Terrorakte u. a. in Westeuropa verüben, bewußt verwischt, um auf diese Weise dem Neointerventionismus der US-Staatsterroristen das Mäntelchen der „Terrorismus-Bekämpfung“ umhängen und um Interventionskriege fortan als „antiterroristisch“ besser rechtfertigen können.

Libyen als geeigneter Vorwand

Weshalb wählte man dann ausgerechnet Libyen, um die vorgeschützte „lange Schlacht gegen den Terrorismus“ (R. Reagan) zu eröffnen? Einesteils eignet sich Ghaddafis nationaldemokratisches Regime (siehe AIB-Hintergrundheft zu Libyen) wegen der irrationalen Momente seiner Außenpolitik, z.B. Tschad Gebietsansprüche, Stützung Idi Amins, Androhung von Gegenattacken auf Italien, Spanien usw. am besten für das Aufziehen eines Feindbildes.

Kriegerische Akte gegen Libyen lassen sich am ehesten als Gegenwehr, als „Selbstverteidigung“ gegen einen Vorposten des internationalen Terrorismus ausgeben. So dürftig Reagans „Beweise“ für eine libysche Beteiligung bei den neueren Bombenanschlägen in Westeuropa auch sein mögen, aufgrund gelegentlicher großsprecherischer Drohungen aus Tripolis mit dem Einsatz terroristischer Methoden und wegen behördlich inszenierter bzw. gutgeheißener Attentate auf libysche Opponenten im Ausland, ließen sie sich als einigermaßen glaubhaft verkaufen.

Unter dem Vorzeichen der „Terrorismusbekämpfung“ wird es den Westmächten bzw. NATO-Alliierten wiederum einfacher gemacht, den militärischen Interventionskurs Washingtons mitzutragen oder wenigstens hinzunehmen. Begünstigend für das Drängen auf Interventionsbeteiligung gegenüber den NATO-Verbündeten mußte ferner der Fakt wirken, daß Libyen als Mittelmeeranrainer innerhalb des offiziellen Zuständigkeitsbereichs der Allianz liegt. Ghaddafis Androhungen von Gegenschlägen gegen südeuropäische NATO-Mächte im Ernstfall konnte da nur vorschob leisten. Schließlich fiel, verglichen mit dem anderen arabischen Angriffsziel Syrien, risikomindernd die größere räumliche Distanz von der UdSSR und das Nichtvorhandensein eines Beistandsvertrages mit ihr ins Gewicht. Ferner bietet das Schüren von Konfliktherden im Mittelmeenraum dem Pentagon Gelegenheit, diesen und das angrenzende

Südwestasien als militärisches Aufmarschgebiet im globalen Kriegsplan weiter zu präparieren. Hier sind in Reichweite des obersten Angriffsziels Sowjetunion atomwaffenbestückte Cruise Missiles, strategische Bomber, mobile Eingreiftruppen u. a. stationiert, ist die Grenzlinie zu einer urplötzlichen globalen Kriegseskalation fließend.

USA schlagen Entspannungsangebote aus

Eben wegen dieses hohen Risikos unterbreitete Ende März d. J. die sowjetische Führung ihren bislang weitgehendsten Vorschlag zur Entmilitarisierung des Mittelmeerraumes (siehe AIB 6/1986), drängte sie Ghaddafi zum Verzicht auf konflikteskalierende Gegenangriffe auf NATO-Ziele.

Die Reagan-Administration hingegen schlug dieses Verhandlungsangebot ebenso wie jenes Ghaddafis in Sachen Libyen in den Wind. Sie tat dies geradeso bei den vorausgegangenen radikalen Abrüstungsinitiativen Gorbatschows oder den Demilitarisierungsofferten Nicaraguas, Angolas usw.

Washingtons routinemäßiges Ausschlagen von Entspannungsangeboten macht nur einen Sinn: Das Anheizen von Regionalkonflikten und Androhen von „Zweitschlägen“ gegen Libyen, Nicaragua oder Syrien (hier stellvertretend durch Israel) kann lediglich die globale Konfrontation verfestigen. Sie wiederum vermehrt nur den Unterordnungsdruck der USA auf die europäischen NATO-Alliierten. Und mit ihm wächst die Gefahr, daß gerade Bonn als US-Sonderverbündeter (WHNS-Abkommen, Air Land Battle, Stationierer von Pershing II, Cruise Missiles, SDI-Geheimabkommen) in Reagans Kriegsabenteuer mit hineingezogen wird.

Dies erhärtet die Tatsache, daß der US-Libyenangriff durch den NATO-Oberkommandierenden Rogers von Stuttgart aus geleitet und hier stationierte Pershings dabei startklar gemacht wurden.

Wachsamkeit geboten

Äußerste Wachsamkeit, breitestmöglicher Massendruck gegen weitere US-Interventionsakte und jede bundesdeutsche Beteiligung sind daher angezeigt. Bonn muß zur WHNS-Aufkündigung, zur Eskalationsabsage, zum Einsatz zugunsten politischer Verhandlungslösungen gebracht werden.

Die rund 80.000 bundesdeutschen Spontandemonstranten gegen den US-Überfall auf Libyen haben hier Mitte April d. J. ein positives Zeichen gesetzt. Dem Reaganschen Neoglobalismus kann nur mit einem globalen Weltverständnis der Friedens und Befreiungskräfte, mit ihrem vereinten Widerstand, der Weg versperrt werden.

Wolfram Brönner ist Chefredakteur der Zeitschrift „AIB – Das 3. Welt-Magazin“.

Verraten, vergessen, verlassen Palästinensische Flüchtlinge im Libanon

Verraten, vergessen, verlassen Palästinensische Flüchtlinge im Libanon

von Barbara Dietrich

Herausgegeben in Zusammenarbeit mit der Informationsstelle Wissenschaft und Frieden (IWIF) e.V.

„Ein Lager ist ein schmerzlicher Mikrokosmos einer wesentlich größeren Realität. Es ist ein abscheuliches Geschwür, wo der eingesperrte Mensch nach und nach seine Würde und Kampfbereitschaft verliert, um so mehr, da er als Entwurzelter auch keine Identität mehr besitzt. Der Palästinenser, und vor allem der junge, der dazu verdammt ist, in diesen ungesunden Ghettos dahinzuvegetieren, kann auf niemanden hoffen, außer auf seine eigene zerstörerische Energie und den Einsatz seiner eigenen Gewalt, für die allein er die Gesetze und Praktiken schaffen wird.“
Rachid Boudjedra, Das Palästina Tagebuch (Paris 1972), Mainz 1991, S. 68 f.

Der Krieg im Kosovo ist kaum zu Ende und die »akute Bedrohung« der europäischen Staaten durch die »Flüchtlingsströme«der Kosovo-AlbanerInnen abgeklungen, schon sind die Flüchtlinge selber – immerhin sind es etwa 1 Million Menschen, die aus diesem Teil Jugoslawiens vertrieben wurden oder geflohen sind (60, S. 7) – aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit verschwunden. Ähnlich erging es den KurdInnen, die während des Golfkrieges um die Jahreswende 1991/92 aus dem Irak in die Türkei flohen oder zu fliehen versuchten und zeitweilig von türkischen Soldaten mit Gewehren davon abgehalten wurden. Die Beispiele für dieses äußerst kurzfristige öffentliche Interesse an Flüchtlingen ließen sich beliebig ergänzen: Den ZeitungsleserInnen begegnen Flüchtlinge dann wieder in kleineren Meldungen, z. B. über den UNHCR, die Flüchtlingsorganisation der Vereinten Nationen, in denen es um materielle Hilfeleistungen für oder um Rückführung von Flüchtlingen geht und darum wer beides finanziert. Oder wenn es um die Aufnahme von Flüchtlingen geht: um das „Feilschen um Zahlen, Kontingente, Lastenverteilung und Einreisemodalitäten“ (61, S. 44).

Eine schon seit Jahrzehnten vergessene Gruppe von Flüchtlingen sind die PalästinenserInnen im Libanon. Der nachfolgende Bericht entstand nach einer Studienreise in dieses Land im Oktober 1998. Thematischer Schwerpunkt der Reise waren die Lebensbedingungen der dort in Lagern lebenden palästinensischen Flüchtlinge.

Ursache für die Flucht von PalästinenserInnen aus ihrem eigenen Land war die Ausrufung des Staates Israel am 14. 5. 1948 auf der Grundlage des UN-Teilungsplanes, der die Errichtung eines arabischen und eines jüdischen Staates auf palästinensischem Territorium und eine Internationalisierung Jerusalems vorsah (53, S. 21 ff.). Damals lebten in Palästina etwa 1,365 Mio. AraberInnen und ca. 710.000 JüdInnen (13, S. 23), dennoch wurde das Territorium den AraberInnen nur zu 45 %, den JüdInnen dagegen zu 55 % zugesprochen. Das den JüdInnen zugeteilte Gebiet enthielt zudem die fruchtbarsten Gebiete des palästinensischen Territoriums, wiewohl die Landwirtschaft wichtigste Existenzgrundlage der arabischen Bevölkerung war (12, S. 2).

Der als Folge dieser Entscheidung zwischen Israel und den arabischen Staaten ausgetragene Krieg dauerte mehr als ein Jahr und hatte zum Ergebnis, dass Israel mehr als 75 % der Gesamtfläche Palästinas sowie Westjerusalem unter seine Kontrolle brachte (13, S. 24). Etwa 150.000 PalästinenserInnen blieben in Israel (3; 12, S. 2), etwa 750.000 PalästinenserInnen wurden aus den von Israelis besetzten Gebieten vertrieben oder flohen aus Angst um ihr Leben und suchten Zuflucht in Ghaza, im Westjordanland, in den arabischen Nachbarstaaten sowie im Libanon (12, S. 2; 44, S. 153 f.; 31, S. 5).

Neuere Forschungen haben – im Gegensatz zu früher offiziell verbreiteten Darstellungen – ergeben, dass es sich hier um eine gezielte Vertreibungspolitik seitens Israels handelte, die bereits vor der Staatsgründung begonnen hatte und im April 1948 mit dem Angriff auf das arabische Dorf Deir Yassin bei Jerusalem einen vorläufigen Höhepunkt erreichte (2, S. 36 f.; 13, S. 25; 16).

Auch in späteren Kriegen in dieser Region kam es immer wieder zu Fluchtbewegungen der PalästinenserInnen – im Verlaufe des 6-Tage-Krieges im Jahre 1967 waren es zum Beispiel etwa
500 000 Menschen (31, S.4), sodass Ende des Jahres 1996

  • 1.300.000 PalästinenserInnen in Jordanien,
  • 352.700 im Libanon,
  • 347.400 in Syrien,
  • 247.800 in Saudi Arabien,
  • 71.000 in Ägypten, Kuweit und Jemen (12, S. 3; 11),

insgesamt also etwa 2,4 Mio PalästinenserInnen außerhalb ihres eigenen Landes leben mussten. Von ihnen waren etwa 850.000 in Flüchtlingslagern untergebracht, die übrigen lebten verstreut in Städten und Dörfern (31, S. 5).

Rechtsstatus der PalästinenserInnen im Nahen Osten

Keines der arabischen Aufnahmeländer hat die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) aus dem Jahre 1951 unterzeichnet, so der Stand am 23.7.1996 (43). Dies bedeutet, dass die palästinensischen Flüchtlinge, die in diesen Ländern leben, sich nicht auf den Schutz nach diesem Abkommen berufen können (4, S. 162). Sollte der eine oder andere dieser Staaten die Unterzeichnung der GFK vornehmen, würde auch in diesem Fall der Schutz der GFK gegenüber palästinensischen Flüchtlingen unter Umständen nicht zur Geltung kommen: Artikel 1 D der GFK besagt nämlich, dass sie keine Anwendung findet auf Personen, welche zum Zeitpunkt ihres Zustandekommens (28.7.1951) bereits den Schutz einer UN-Organisation genießen. Dies trifft für die palästinensischen Flüchtlinge in Syrien, Jordanien und auch im Libanon zu, sie unterstehen UNRWA (United Nations Relief and Works Agency for Palestinian Refugees in the Near East), der bereits im Jahre 1949 eigens zum Schutz der palästinensischen Flüchtlinge ins Leben gerufenen UN-Organisation (51, S. 23 ff.). Hält sich ein palästinensicher Flüchtling allerdings in einem Land außerhalb der Operationsgebiete von UNRWA auf, so kann er sich auf die GFK berufen, sofern bzw. nachdem das Land seines Aufenthaltes der GFK beigetreten ist (26, Kap. IV B Ziff. 142 f.; 14, S. 73).

Ein weiteres Problem der palästinensischen Flüchtlinge liegt darin, dass sie Staatenlose sind. Palästina war bis zum Jahre 1948 britisches Mandatsgebiet. Die PalästinenserInnen besaßen folglich den Status als Mandatszugehörige, doch begründete weder dieser, noch die Zugehörigkeit zur palästinensischen Nation eine Staatsangehörigkeit im völkerrechtlichen Sinne (4, S. 162). In den arabischen Aufnahmeländern sind die PalästinenserInnen nicht in den Genuss der jeweiligen Staatsangehörigkeit gekommen, außer in Jordanien, dessen Regierung ihnen seit 1952 das Recht die jordanische Staatsangehörigkeit zu erwerben zuerkannt hatte (14, S. 120).

Vor diesem Hintergrund ist die Forderung der palästinensischen Flüchtlinge nach Rückkehr in das ehemalige Mandatsgebiet Palästina, so wie es in der Resolution Nr. 194 (III) der UN-Vollversammlung vom 11.12.1948 vorgesehen ist (53, S. 24), von besonderer Brisanz und in unmittelbarem Zusammenhang zu sehen mit der nunmehr anvisierten Gründung eines Staates Palästina, welche die Schaffung einer palästinensischen Staatsangehörigkeit für die dort lebenden PalästinenserInnen – und damit eine wesentliche Status-Verbesserung – implizieren würde (33; 4, S. 162).

Palästinensische Flüchtlinge
im Libanon

Aufenthaltsrechtlicher Status

Was den Rechtsstatus der palästinensischen Flüchtlinge im Libanon angeht, so sind die Flüchtlinge in diesem Land – über das bisher Gesagte hinaus – massiven rechtlichen Diskriminierungen bis hin zur Verweigerung der bürgerlichen Freiheitsrechte ausgesetzt.

Bezogen auf das Aufenthaltsrecht hat sich der Status der palästinensischen Flüchtlinge im Libanon in den letzten Jahren erheblich verschlechtert. Zwar wird ihnen grundsätzlich ein Recht auf Aufenthalt zugestanden, vorausgesetzt sie sind bei UNRWA registriert. Ab dem Jahr 1962 erhielten sie auch das Recht auf freie Ausreise aus dem und Einreise in den Libanon, wenn sie entsprechende Reisedokumente vorweisen konnten (9, S. 5).

Diese Situation änderte sich jedoch schlagartig, als die libysche Regierung im September 1995 die Ausweisung aller dort lebenden PalästinenserInnen – also auch der etwa 10.000 palästinensischen Flüchtlinge aus dem Libanon – verfügte: Durch Beschluss des libanesischen Innenministers Nr. 478 vom 23. 9. 1995 wurde festgeschrieben, dass PalästinenserInnen mit Wohnsitz im Libanon das Land nur mit Ausreiseerlaubnis verlassen dürften; vor allem aber mussten sich PalästinenserInnen, die sich außer Landes befinden, bei den libanesischen diplomatischen Vertretungen ihres jeweiligen Aufenthaltslandes ein Visum für die Einreise in den Libanon beschaffen, wobei dies nicht für LibanesInnen galt, die in Syrien lebten (14, S. 146 f.). Gleichzeitig wurden die diplomatischen Vertretungen im Ausland seitens der libanesischen Regierung angewiesen, PalästinenserInnen kein derartiges Einreisevisum auszustellen (14, S. 37 f.).

Die Massenausweisung der PalästinenserInnen aus Libyen bot eine willkommene Gelegenheit, diese schon lange vorher konzipierte Maßnahme umzusetzen. Begründet wurde die neue Regelung damit, dass der Libanon eine solch große Anzahl von Flüchtlingen nicht aufnehmen könne, dass man den Aufenthalt von nicht registrierten Flüchtlingen verhindern und – nicht zuletzt – deren endgültige Niederlassung im Libanon unterbinden wolle. In diesem Zusammenhang fiel denn auch der entlarvende Satz des damaligen Regierungsmitglieds, Nicolas Fattusch, demzufolge der Libanon „keine Halde für Menschenmüll“ werden dürfe (14, S. 40 ff.).

Seit Einführung der Maßnahme vom September 1995 unterlag also vor allem die Einreise und damit die Gewährung eines Aufenthaltsrechts für palästinensische Flüchtlinge der willkürlichen Entscheidungsgewalt der libanesischen Regierung. Es liegt auf der Hand, dass diese Restriktionen und ebensolche in anderen Bereichen jeglicher Zuwanderung einen Riegel vorschieben bzw. den Auswanderungsdruck auf die palästinensischen Flüchtlinge intensivieren sollten (14, S. 23 ff.).

Für die Regierung des Libanon schien es ohne Belang, dass sie mit dem Beschluss Nr. 478 gegen das Protokoll von Casablanca verstieß, in dem sich die Staaten der Arabischen Liga einschließlich Libanon im Jahre 1965 verpflichtet hatten, die PalästinenserInnen bezüglich Reisefreiheit und Aufenthaltsrecht ebenso zu behandeln wie die Bürger des jeweiligen eigenen Landes (9, S. 5; 14, S. 73).

Neuen Informationen zufolge soll die Maßnahme vom September 1995 inzwischen wieder aufgehoben worden sein (0).

Unterbringung

Die vielen Benachteiligungen, welche Flüchtlinge im Libanon erfahren müssen, wurden uns deutlich während der Besuche, die wir in den Flüchtlingslagern Burj Al-Shimali bei Tyros, Bourj Al-Barajneh und= Shatila machten.

Mehr als die Hälfte der palästinensischen Flüchtlinge im Libanon leben in den 12 über das Land verstreuten Lagern (14, S.13). Diese sind inzwischen völlig überfüllt: Das Lager Burj Al-Shimali z.B. war anfangs, d.h. nach 1948, für 5.000 Personen vorgesehen. Heute leben dort ca. 20.000 Menschen. Vergleichbar ist die Entwicklung auch in den anderen Lagern (10, S. 9).

Die Überfüllung ist zum einen dem natürlichen Bevölkerungszuwachs geschuldet, zum anderen der Tatsache, dass andere Lager – es waren nach 1948 insgesamt mindestens 14 gewesen (9, S. 5; 1, S. 20) – während des 15 Jahre dauernden Bürgerkrieges im Libanon (1975–1990) oder in Folge israelischer Angriffe teilweise oder ganz zerstört wurden. So wurde im Jahr 1976 im Lager Tell Al-Za'ter in der Nähe von Beirut von rechten Milizen ein Massaker angerichtet und es schließlich völlig zerstört; die Lager Shatila und Sabra wurden durch christliche Milizen nach dem Einmarsch der israelischen Armee in den Libanon im Jahr 1982 mit Billigung der israelischen Militärführung nach einem Massaker ebenfalls zerstört (14, S. 7, 129; 9, S. 5). Das Lager Shatila ist seit seiner Gründung insgesamt viermal zerstört und wieder aufgebaut worden (0).

Viele Flüchtlinge wurden infolge der Angriffe obdachlos und waren gezwungen andernorts, vor allem in anderen Lagern, Unterschlupf zu suchen. Der libanesische Staat begegnete dem mit äußerster Härte. Durch Verwaltungsanordnung wurden verboten:

  • die flächenmäßige Erweiterung der bestehenden Lager,
  • die mehrstöckige Bebauung,
  • die nachträgliche Aufstockung von Gebäuden.

Außerdem ist der Wiederaufbau der zerstörten Lager untersagt, ebenso wie die Errichtung neuer Lager oder das Bauen außerhalb der Lager. Auch die Trinkwasser- und Stromversorgung sowie die Kanalisation wurden in den zerstörten Lagern nicht wieder hergestellt (9, S. 6; 14, S. 23 f.).

Dass in diesen Lagern viel zu viele Menschen auf engstem Raum zusammengepfercht leben wird schon offensichtlich, wenn man an Ort und Stelle nur herumgeht. Dieser Eindruck bestätigte und intensivierte sich durch Besuche bei verschiedenen Familien: Hier wohnen z.B. acht Personen in zwei Räumen oder fünf Personen in einem Raum, sieben Personen haben eineinhalb Räume zur Verfügung usw.

Darüber hinaus hinterlässt aber auch der Gesamtzustand der Lager einen erschütternden Eindruck, vor allem, wenn man bedenkt, dass viele Menschen hier bereits seit 50 Jahren ihr Leben zubringen müssen. Die Behausungen selbst – aus Brettern oder Steinen zusammengestellt – sind äußerst notdürftig. Der jeweilige Innenraum ist dunkel, klein – gemessen an der Zahl der Personen, die darin leben müssen – und es sind nur ein paar Sitzgelegenheiten vorhanden: Kissen oder Tücher auf dem Boden oder einige Stühle aus Plastik, übereinander gestapelt. Anstelle von Betten sieht man Matten auf den Betonböden liegen. Die Wellbleche, mit denen die Wohnräume überdeckt sind, sind undicht, sodass es hinein regnen kann. Die jeweilige »Küche« ist ein winziger Raum, darin einige wenige Geräte und Töpfe.

Jede Familie hat in ihrer Unterkunft eine Sickergrube; Wasserversorgung gibt es hingegen in den Unterkünften meist nicht. Um die Wasserzapfhähne draußen sieht man vielmehr oftmals kleinere Menschenansammlungen stehen und warten: 20 bis 30 Familien müssen sich einen Zapfhahn teilen. Die Wasserzufuhr wird außerdem zeitweilig abgeschaltet. Überall auf den Wegen die durch die Lager führen sieht man – trotz strahlenden Sonnenscheins und sehr warmer Temperaturen – Pfützen, die nicht weg trocknen: die Wasserleitungen, die an den Häuserwänden entlang laufen, sind undicht, Brauchwasser und Trinkwasser mischen sich. Wo man hinsieht liegen kleinere Müllhaufen oder gar Müllhalden in den engen Gassen oder auf Plätzen.

Im Lager Burj Al-Shimali gibt es nur zwei befestigte Straßen für die durch das Lager fahrenden Busse, ansonsten sind die Wege unbefestigt, die Gassen eng und dunkel. Auch dieses Lager wurde im Jahre 1982 durch die Israelis bombardiert: Vom Meer aus schossen sie direkt und gezielt auf einzelne Unterkünfte, sodass schließlich 150 Personen getötet und 15 vermisst wurden. Ein vor fünf Jahren bei UNRWA eingebrachter Antrag, wegen der gesundheitlichen Gefahren für die BewohnerInnen Mittel für die Sanierung dieses Lagers zur Verfügung zu stellen, blieb ohne Resonanz (0).

Im Lager Shatila leben heute neben palästinensischen Flüchtlingen zu 50 % auch LibanesInnen, KurdInnen und SyrerInnen, die wegen ihrer extremen Armut keine andere Unterkunft finden können(0).

Das Projekt »Beirut 2 000«, ein gigantisches Großprojekt zum Wiederaufbau, zur Sanierung und Modernisierung der Innenstadt von Beirut unter Federführung des bis Ende 1998 amtierenden Ministerpräsidenten und Milliardärs Rafik Hariri, ist mitten im Gang und das mit Priorität geförderte und mittlerweile restaurierte Bankenviertel ein gelungenes Vorzeigeobjekt (41; 22, S. 16). Im Verlaufe der Realisierung dieses Konzepts sollen die vier um Beirut angesiedelten Flüchtlingslager, u.a. auch Shatila und Bourj Al-Barajneh, aufgelöst werden, weil durch das jeweilige Lagergebiet eine breite Autotrasse gelegt werden soll. Die dort lebenden Flüchtlinge sollen eventuell in den Norden und in die Bekaa-Ebene umgesiedelt werden – in das Gebiet also, das am weitesten von Palästina entfernt liegt und von dem nicht klar ist, ob dort ein Existenzminimum überhaupt gewährleistet sein wird (9, S. 11; 0)

Arbeitsmöglichkeiten, Einkommen, Armut

Die palästinensischen Flüchtlinge unterliegen im Libanon äußerst restriktiven Regulierungen im Hinblick auf Möglichkeiten einer Arbeitsaufnahme. In ungefähr 65 – insbesondere akademischen – Berufen ist ihnen seit 1982 eine Beschäftigung untersagt. Durch ein Dekret der libanesischen Regierung vom Dezember 1995 wurde dieses gesetzliche Berufsverbot nochmals bestätigt und festgeschrieben, dass bestimmte Berufe nur von LibanesInnen ausgeübt werden dürfen (9, S. 5; 14, S. 24). Es sind dies u.a. Berufe im Bereich Management und Buchführung, Informatik, Handel, Geldwechsel sowie die meisten Handwerksberufe, juristische, medizinische, pharmazeutische Berufe, ArchitektIn und IngenieurIn (10, S. 50, 54).

Für die Ausübung aller übrigen Berufe – dazu zählen Berufe in der Landwirtschaft, im Baugewerbe, im Textil- und Reinigungsgewerbe, in der Gastronomie und der Krankenpflege – bedürfen palästinensische Flüchtlinge einer Arbeitserlaubnis, die allerdings nur sehr selten erteilt wird: Im Jahr 1994 waren es gerade eben 100 (14, S. 24) und auch im Jahr 1995 nur 354 Arbeitsgenehmigungen (14, S. 24; 10, S. 54). Demgegenüber hat die Regierung des Libanon inzwischen ArbeiterInnen aus anderen Ländern (Sri Lanka, Ägypten, Indien, Philippinen), vor allem aber über 1 Mio. syrische Arbeitskräfte, ins Land geholt bzw. gelassen: diese sind überwiegend im Baugewerbe – das zuvor insbesondere den palästinensischen Flüchtlingen vorbehalten war – und im hauswirtschaftlichen Bereich beschäftigt (29, S. 666; 22, S.16; 9, S. 5). Hier ist die Praxis der Erteilung von Arbeitsgenehmigungen weitaus liberaler: Im Jahr 1995 erhielten mehr als 1.000 SyrerInnen, etwa 11.600 ÄgypterInnen und 14.253 Sri LankerInnen eine solche (10, S. 54).

Im Lager Burj Al-Shimali gibt es nur zwei befestigte Straßen für die durch das Lager fahrenden Busse, ansonsten sind die Wege unbefestigt, die Gassen eng und dunkel. Auch dieses Lager wurde im Jahre 1982 durch die Israelis bombardiert: Vom Meer aus schossen sie direkt und gezielt auf einzelne Unterkünfte, sodass schließlich 150 Personen getötet und 15 vermisst wurden. Ein vor fünf Jahren bei UNRWA eingebrachter Antrag, wegen der gesundheitlichen Gefahren für die BewohnerInnen Mittel für die Sanierung dieses Lagers zur Verfügung zu stellen, blieb ohne Resonanz (0).

Im Lager Shatila leben heute neben palästinensischen Flüchtlingen zu 50 % auch LibanesInnen, KurdInnen und SyrerInnen, die wegen ihrer extremen Armut keine andere Unterkunft finden können(0).

Das Projekt »Beirut 2 000«, ein gigantisches Großprojekt zum Wiederaufbau, zur Sanierung und Modernisierung der Innenstadt von Beirut unter Federführung des bis Ende 1998 amtierenden Ministerpräsidenten und Milliardärs Rafik Hariri, ist mitten im Gang und das mit Priorität geförderte und mittlerweile restaurierte Bankenviertel ein gelungenes Vorzeigeobjekt (41; 22, S. 16). Im Verlaufe der Realisierung dieses Konzepts sollen die vier um Beirut angesiedelten Flüchtlingslager, u.a. auch Shatila und Bourj Al-Barajneh, aufgelöst werden, weil durch das jeweilige Lagergebiet eine breite Autotrasse gelegt werden soll. Die dort lebenden Flüchtlinge sollen eventuell in den Norden und in die Bekaa-Ebene umgesiedelt werden – in das Gebiet also, das am weitesten von Palästina entfernt liegt und von dem nicht klar ist, ob dort ein Existenzminimum überhaupt gewährleistet sein wird (9, S. 11; 0)

Gesundheit

Im Flüchtlingslager Burj Al-Shimali wurden uns Einzelheiten zur gesundheitlichen Situation und Versorgung der Flüchtlinge berichtet. Mehr als die Hälfte der 20.000 in diesem Lager lebenden Menschen sind nach Einschätzung des Sozialarbeiters, der uns begleitete, krank. Die am häufigsten vorkommenden Krankheiten sind Diabetes, zu hoher Blutdruck und Herzkrankheiten. 55 Personen leiden an Thalassämia, einer erblichen Krankheit, bei der sich die weißen Blutkörperchen zu stark vermehren. Aus finanziellen Gründen bleiben chronisch kranke Flüchtlinge in der Regel ohne ärztliche Therapie (14, S. 29); dies gilt insbesondere für PatientInnen mit der zuletzt genannten – unter Umständen lebensverkürzenden – Krankheit, deren Therapie sich über ein Jahr hinziehen und pro Behandlung 100 US$ kosten würde (0). Eingeschränkt werden Behandlungsmöglichkeiten durch das Alter. Für PatientInnen über 60 Jahre wird von UNRWA keine Behandlung mehr finanziert (0; 9, S. 8).

Im Lager Burj Al-Shimali gibt es eine Klinik, in der libanesische und palästinensische ÄrztInnen arbeiten. Innerhalb der Flüchtlingslager besitzt das Berufsverbot – wie gesagt – keine Geltung. Die ÄrztInnen behandeln im Schnitt 200 PatientInnen pro Tag; in diesem Lager kommen auf einen Arzt ca. 17.000 PatientInnen, so wurde uns im Gespräch berichtet. Verglichen mit der gesetzlichen Regelung, wonach auf eine Ärztin/einen Arzt etwa 6.000 PatientInnen kommen sollen, ist dies eine Verdreifachung (0). Die Behandlung durch ÄrztInnen und ZahnärztInnen ist für die Flüchtlinge kostenlos, die Kosten werden von UNRWA übernommen (0). Im Falle eines Krankenhausaufenthaltes übernimmt UNWRA 2/3 der Kosten für ein Krankenhausbett; Arzthonorar, Untersuchungs- und Behandlungskosten müssen die PatientInnen selbst bezahlen (10, S.51).

Der krasse Unterschied zwischen diesem Niveau der Gesundheitsversorgung und dem im Libanon allgemein in qualitativer wie in quantitativer Hinsicht gültigen, wird deutlich an der Einschätzung des Auswärtigen Amtes der deutschen Bundesregierung, wonach der Libanon „ – bei leichten regionalen Unterschieden – ein Land mit einem recht hohen Niveau medizinischer Versorgung“ ist. Mehr als dezent erscheint hingegen der anschließende Hinweis, „Palästinensische Flüchtlinge werden von den Gesundheitsdiensten der UNWRA im Rahmen deren Möglichkeiten versorgt“ (58, S. 11 f.).

Bemerkenswert erscheint die Tatsache, dass Hizb Allah (Partei Gottes), die im Jahre 1982 nach der Invasion Israels im Libanon gegründete schiitische Organisation (1, S. 20; 35, S. 89), in Beirut seit 1988 ein Krankenhaus mit inzwischen 130 Betten unterhält: Hier, im Stadtrandgebiet von Beirut, wird therapiert, operiert, es werden Kinder zur Welt gebracht und alle können die dort angebotenen Möglichkeiten kostenlos in Anspruch nehmen (0). Diese Art außerstaatlicher Sozialpolitik erscheint charakteristisch für die Hizb Allah, die z.B. im Lager Bourj Al-Barajneh und in verschiedenen Vororten Beiruts auch Wassertanks installiert hat und diese täglich mehrmals mit Trinkwasser auffüllt (0; 10, S. 21). Im Gespräch mit dem Parlamentsabgeordneten und Vorsitzenden des Rates der Hizb Allah, Hajj Mohamad Raad, wurde deutlich, dass sich die Organisation inzwischen als politische Partei organisiert hat – sie ist seit den Wahlen im Jahre 1996 wieder mit 7 Abgeordneten im Parlament vertreten (15, S. 6) – die einerseits den bewaffneten Widerstand gegen die Besetzung des Südlibanon durch die israelische Armee an- und fortführt, andererseits ihre politischen und parlamentarischen Aktivitäten auf sozialpolitische Bereiche – medizinische und soziale Grundversorgung, Schulbildung und Ausbildung – konzentriert (0; 35, S. 89; 15, S. 6).

Schule, Ausbildung

In allen von uns besuchten Flüchtlingslagern gibt es Hauptschulen, die von UNRWA betrieben werden. Die Klassengröße liegt bei 40 bis 45 SchülerInnen. Das libanesische Gesetz sieht dagegen eine maximale Klassengröße von 25 SchülerInnen vor (0). Insgesamt unterhält UNRWA im Libanon 75 Schulen der Grund- und Mittelstufe (9, S. 12). Zwei Gymnasien stehen für 650 SchülerInnen zur Verfügung (0).

Immer wieder, so berichtete uns die Sozialarbeiterin mit der wir im Lager Bourj Al-Barajneh sprachen, sei es notwendig Zusammenkünfte für Mütter von Kindern oder Jugendlichen zu organisieren um das Thema »Schulbesuch statt Kinderarbeit« zu besprechen. Diesbezügliche Angaben von UNRWA zeigten für die Jahre 1993/94, dass 56% der palästinensischen Kinder und Jugendlichen zwischen sechs und neunzehn Jahren nicht in die Schule gingen. Bei den bis 17-Jährigen waren es knapp über 70%, bei den 18- bis 19-Jährigen sogar 93% (9, S. 12).

Die Analphabetenrate unter den palästinensischen Flüchtlingen im Libanon betrug in den Jahren 1994/95 bei Männern 8%, bei Frauen im Alter von 16 bis 60 Jahren 19% (9, S. 12); sie ist im Steigen begriffen (0; 14, S. 30).

Demokratische Partizipation

Das Recht auf Meinungsfreiheit, auf gewerkschaftliche Betätigung und Vereinigungsfreiheit, das Recht auf politische Betätigung und Schutz vor staatlicher Willkür und auch der Erwerb von Eigentum sind den palästinensischen Flüchtlingen im Libanon verwehrt (14, S. 148 ff.). Hier ist allerdings anzumerken, dass die Missachtung von Grundrechten auch gegenüber libanesischen Staatsbürgern zum politischen Alltag gehört (47; 40, S. 369 ff.; 11, S. 462 f.).

Der Erwerb der libanesischen Staatsangehörigkeit wird v.a. von Seiten christlicher Politiker zu verhindern versucht, wiewohl ein Gesetz aus dem Jahre 1925 vorsieht, dass eingebürgert werden kann, wer seit fünf Jahren legal im Libanon ansässig ist (30, S. 236).

Dass dies vorerst so bleiben wird, hängt u.a. mit dem Konfessionsproporz zusammen, der im Libanon bereits im 19. Jahrhundert etabliert und durch die Verfassung aus dem Jahre 1926 und den (ungeschriebenen) Nationalpakt von 1943 bestätigt wurde (35, S.86; 30, S. 246). Inhalt dieses Proporzes ist die Regelung, dass Regierungsämter und Ämter des öffentlichen Dienstes im Verhältnis 6 : 5 an ChristInnen und MuslimInnen zu vergeben sind (35, S. 86 f.).

Im Nationalpakt kam man überein, diesen Proporz auch in Bezug auf die Besetzung der Parlamentssitze anzuwenden (30, S. 246). In dem nach Beendigung des Bürgerkrieges im Jahre 1989 geschlossenen Abkommen von Ta'if wurde der Konfessionsproporz schließlich dahingehend revidiert, dass die Parlamentssitze nunmehr im Verhältnis 50 : 50, also paritätisch von ChristInnen und MuslimInnen zu besetzen seien (14, S. 130).

Auch in dieser reformierten Fassung ist der Konfessionsproporz jedoch historisch überholt und undemokratisch, beruht er doch dem Grunde nach noch immer auf der Volkszählung aus dem Jahre 1932. Damals waren 51,2 % der Bevölkerung im Libanon christlichen und 48,2 % muslimischen Glaubens (19, S. 17; 1, S. 19). Inzwischen hat die muslimische Bevölkerung überproportional zugenommen (35, S. 87), sodass das Verhältnis bereits im Jahre 1986 mit 60–73 % MuslimInnen und 26-39 % ChristInnen angegeben wurde (8, S. 471; 11, S. 461; 30, S. 236f.). Würde nunmehr den palästinensischen Flüchtlingen, die muslimischen Glaubens – überwiegend sunnitischer Prägung – sind, die libanesische Staatsbürgerschaft zuerkannt, so käme der Konfessionsproporz in eine noch weitaus größere Schieflage und wäre politisch sicherlich nicht mehr aufrechtzuerhalten (14, S. 63; 15, S.11).

Allerdings ist hier anzumerken, dass auch die palästinensischen Flüchtlinge selbst die libanesische Staatsbürgerschaft nicht anstreben bzw. an einer dauerhaften Ansiedlung im Libanon kein Interesse haben. Dies wurde uns in unseren Gesprächen mehrfach erklärt und gilt jedenfalls noch derzeit. Zur Begründung verwiesen die GesprächsteilnehmerInnen darauf, dass die wenigen eingebürgerten (christlichen) PalästinenserInnen auch keine Wohnung und keine Arbeit besäßen. Zudem sehen die Flüchtlinge darin eine Aufgabe ihrer Rückkehroption bzw. einen Verzicht auf ihren Flüchtlingsstatus und des damit implizierten Rückkehr- und/oder Entschädigungsanspruchs sowie eine Aufgabe ihrer nationalen Identität (0; 14, S. 63).

Welche wesentliche Rolle die Pflege und Bewahrung der nationalen Identität als PalästinenserInnen für die Flüchtlinge in den Lagern spielt, wurde u.a. daran deutlich, dass überall in den von uns besuchten Räumen entsprechende Symbole (Nationalfahnen, Landkarten von Palästina, Verwendung der Nationalfarben in Handarbeiten und als Wandbemalung) verwendet wurden und dass uns am Ende jeden Gesprächs Jugendliche traditionelle Tänze in traditioneller Kleidung vorführten und uns den jeweiligen Herkunftsort dieser Tänze in Palästina nannten und genau beschrieben.

Beit Atfal Assumoud

Im Lager Mar-Elias sprachen wir mit dem Geschäftsführer der Stiftung Beit Atfal Assumoud – Haus der standhaften Kinder. Am Eingang des Lagers fällt eine mehrere Meter hohe und breite Müllhalde auf, in der Erwachsene und Kinder nach Brauchbarem herumsuchen – vor allem nach Kleidung, wie uns gesagt wurde.

Der Gesprächspartner stellt uns die Stiftung vor, die im Jahre 1976, kurz nach Beginn des Bürgerkrieges, als Haus für Waisenkinder gegründet wurde. Anlass war ein Massaker im Flüchtlingslager Tell Al-Za'ter, das die christlichen Phalangisten mit Rückendeckung der syrischen Regierung angerichtet hatten und bei dem 4.000 Menschen getötet und viele Kinder zu Waisen wurden. Für sie wurde die Organisation ins Leben gerufen. Heute werden von den MitarbeiterInnen der Stiftung 1.300 Kinder und Jugendliche in 770 Familien betreut. 600 Kinder besuchen die acht Kindergärten, die von Beit Atfal Assumoud in den verschiedenen Lagern eingerichtet wurden weil UNRWA keine solchen betreibt (9, S. 12). Außerdem gibt es elf von der Stiftung etablierte Sozialzentren in den verschiedenen Lagern. Darüber hinaus werden Angebote für Frauen und junge Mädchen gemacht: Alphabetisierungskurse, Ausbildung im Nähen, im Kunsthandwerk. Für männliche Jugendliche gibt es u.a. Arbeitsmöglichkeiten im Bauhandwerk sowie sprachliche, sportliche und kulturelle Angebote; Büchereien und Feriencamps stehen allen zur Verfügung.

Trotz all dieser Bemühungen nimmt die Aggressivität unter den Jugendlichen in den Flüchtlingslagern nach der Einschätzung unseres Gesprächspartners zu. Man erinnert sich dabei an die eingangs zitierte Vorwarnung von Rachid Boudjedra, die er bereits vor mehr als 25 Jahren notierte.

Die Arbeit von Beit Atfal Assumoud wird mit Hilfe von Spenden einzelner Personen aus dem In- und Ausland sowie kirchlicher und gemeinnütziger Organisationen finanziert. Unser Gesprächspartner verweist mehrfach und mit großem Nachdruck darauf, dass UNRWA ursprünglich als eine Organisation konzipiert war, die den palästinensischen Flüchtlingen gleichermaßen Hilfe und Unterstützung gewähren sollte, dass deren Präsenz und materielle Hilfeleistungen für die Flüchtlinge im Libanon aber in den letzten Jahren erheblich zurückgegangen sei (0; 38).

Die Rolle der United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East (UNRWA)

UNRWA wurde am 8.12.1949 auf der Grundlage der Resolution Nr. 302 der UN-Vollversammlung gegründet um „die fortgesetzte Unterstützung der Palästinaflüchtlinge“ bis zur politischen Lösung des Palästinaproblems zu gewährleisten. Dabei sollte Hilfe bei der „Vermeidung von Hunger und Elend“ geleistet und „friedliche und stabile Verhältnisse“ gefördert werden (51; 17, S. 208; 2, S. 37). Die wichtigsten GeldgeberInnen sind derzeit die USA, die EU und Japan, wobei die Höhe der Geldbeträge dem Ermessen der Geberländer anheimgestellt ist (2, S. 38; 31, S. 6).

Die Registrierung als Flüchtling durch das UNRWA ist für die PalästinenserInnen von existenzieller Bedeutung, berechtigt sie doch zum Empfang von Leistungen. Ein Palästinaflüchtling, so wurde von der UNO im Jahre 1950 definiert, „ist eine Person, deren gewöhnlicher Wohnort mindestens zwei Jahre vor dem Konflikt von 1948 Palästina gewesen ist, die infolge dieses Konflikts ihre Unterkunft sowie ihren Lebensunterhalt verlor und 1948 in eines der Länder flüchtete, in denen das UNRWA Hilfe leistet. Flüchtlinge im Rahmen dieser Definition und deren direkte Nachkommen haben ein Anrecht auf die Unterstützung des Hilfswerks, wenn sie

  • vom UNRWA erfasst wurden,
  • in Gebieten leben, in denen das UNRWA aktiv ist,
  • bedürftig sind“ (31, S. 5).

Die Registrierung durch UNRWA ist aber auch die einschlägige Rechtsgrundlage für das Recht auf Rückkehr und/oder zukünftige Entschädigungsansprüche (14, S. 75, 80; 2, S. 38): Bei der Gründung von UNRWA war man davon ausgegangen, dass die Palästinafrage alsbald politisch gelöst sein werde, sodass die palästinensischen Flüchtlinge wieder in ihr Heimatland zurückkehren könnten oder aber in dem jeweiligen arabischen Land verbleiben würden. Demgemäß hatte die UN-Generalversammlung die Losung »Repatriierung oder Entschädigung« ausgegeben (53, S. 24; 31, S. 5).

Entgegen der Resolution Nr. 194 (III). der UN-Vollversammlung aus dem Jahre 1948 (53) und Nr. 237 des UN-Sicherheitsrates vom 14. 6. 1967 (52) verweigert Israel den palästinensischen Flüchtlingen die Rückkehr und leugnet damit zugleich die Verantwortung für ihre Vertreibung (44, S. 154; 13, S. 28). Gleichermaßen lehnten die meisten arabischen Aufnahmeländer eine dauerhafte Ansiedlung der Palästinaflüchtlinge ab (2, S. 37; 14, S. 24f., 63). Dem entspricht, dass das Mandat von UNRWA jeweils auf drei Jahre befristet wird und kontinuierlich verlängert werden muss: Das derzeitige Mandat reicht bis zum 30. Juni 1999 (31, S. 5; 10, S. 55).

Heute sind etwa 3,3 Mio. palästinensische Flüchtlinge bei UNRWA registriert, davon etwas mehr als 350.000 (knapp 11%) im Libanon, von denen wiederum 194.000 in Lagern leben (17, S. 213; 9, S. 4; 15, S. 10; 58, S.4). Zusätzlich gibt es im Libanon noch 100.000 bis 150.000 palästinensische Flüchtlinge, die nicht bei UNRWA registriert sind (21, S. 198).

Zunächst lag das Schwergewicht der Arbeit von UNRWA auf der Entwicklung von Siedlungsprogrammen und Programmen zur Arbeitsbeschaffung mit dem Ziel der Integration der palästinensischen Flüchtlinge in die jeweiligen Aufnahmeländer. Da dies wegen der geschilderten Vorbehalte auf beiden Seiten ohne Erfolg blieb (4, S. 162), verlagerte UNRWA ihren Arbeitsschwerpunkt nunmehr auf die materielle Versorgung der Flüchtlinge, auf Soziales, Gesundheit, einschließlich Versorgung mit sanitärer Infrastruktur, auf Bildung und Ausbildung (21, S. 201; 2, S. 37). So betrieb UNRWA im Haushaltsjahr 1990/91 insgesamt 632 Grund- und Hauptschulen mit 10.902 LehrerInnen und 365.625 SchülerInnen, 104 Gesundheitszentren, in denen sechs Mio. PatientInnen behandelt wurden. Es gab damals noch acht Berufsschulen mit 5.146 Studienplätzen und Hochschulstipendien für 641 Flüchtlinge (31, S. 5).

Die Tatsache, dass für die palästinensischen Flüchtlinge im Libanon ein fast vollständiges Arbeitsverbot besteht und dass sich die PLO im Jahr 1982 aus dem Libanon zurückziehen musste (37, S. 472) und seit 1991 ihre Unterstützungsleistungen erheblich reduziert hat, führt dazu, dass UNRWA eine um so wichtigere Rolle bei der Sicherung der Existenzbedingungen für die Flüchtlinge in den libanesischen Lagern spielt (14, S. 16, 19, 57; 2, S. 36). Nicht zuletzt ist UNRWA mit insgesamt 22.000 Arbeitsplätzen, davon 2.500 Beschäftigten in den libanesischen Flüchtlingslagern, der wichtigste Arbeitgeber für PalästinenserInnen im Libanon. (17, S. 213; 10, S. 55).

Allerdings entspricht dieser gewachsenen Bedeutung keine Heraufsetzung des Budgets: Vielmehr befand sich UNRWA im Jahr 1997 in der schwersten Finanzkrise seit ihrer Gründung. Das Haushaltsdefizit in Höhe von 20 Mio. US$ war deshalb für den Generalkommissar von UNRWA Anlass, die Aufrechterhaltung des bisherigen Leistungsniveaus grundlegend in Zweifel zu ziehen (17, S. 213).

Diese Entwicklung schlägt sich unmittelbar zum Nachteil der palästinensischen Flüchtlinge nieder: So musste die Unterstützung pro Flüchtling von 120$ (1992) auf 90$ (1997) im Jahr reduziert werden (2, S. 39). Die Zahl der zu betreuenden Flüchtlinge hatte in den vorangegangenen Jahren zu-, die Geldspenden der Geberländer dagegen abgenommen oder sie waren gleich geblieben, ohne dass UNRWA Möglichkeiten hatte, dieses durch anderweitige Geldein- oder aufnahmen zu kompensieren (17, S. 213).

Die palästinensischen Flüchtlinge im Libanon sind von diesen finanziellen Restriktionen überproportional betroffen, konzentriert sich doch die Geldverteilung sowohl für allgemeine als auch für besondere Hilfsprogramme seitens UNRWA schon seit längerem auf die palästinensischen Autonomieregionen, insbesondere auf Ghaza (14, S. 83; 9, S. 7; 17, S. 209 f.; 2, S. 38).

Dies steht im Zusammenhang mit der im Jahre 1991 begonnenen Diskussion, der zufolge sich UNRWA nach der Lösung des palästinensischen Flüchtlingsproblems in Ghaza und der Westbank (!) „auflösen und seine Einrichtungen, Strukturen und Dienste an die entstehenden palästinensischen Institutionen übergeben“ soll (31, S. 10). Im Juni 1994 kündigte der Generalsekretär der Vereinten Nationen öffentlich an, der Sitz des UNRWA werde von Wien nach Ghaza verlegt und verwies zur Begründung darauf, dass die Probleme der palästinensischen Flüchtlinge dort am größten seien und UNRWA den Friedensprozess unmittelbar am Ort des Geschehens am wirksamsten unterstützen könne. Diese Entscheidung wurde im Juli 1996 realisiert und eine enge Kooperation zwischen UNRWA und der palästinensischen Autonomiebehörde entwickelt (17, S. 210 f.; 9, S.7): Vorstufe der anvisierten Übergabe ?!

Zu Recht wird darauf hingewiesen, dass die Verlegung der UNRWA-Zentrale nach Ghaza zugleich eine „bewusste Marginalisierung der Flüchtlingsfrage bedeute“. Indem der Autonomieregion absoluter Vorrang – nicht nur hinsichtlich der Zuteilung der finanziellen Ressourcen – eingeräumt wird, werden die externen Flüchtlinge im Libanon und in Syrien (nicht dagegen in Jordanien) benachteiligt und in den Hintergrund gedrängt (9, S. 7).

Für die palästinensischen Flüchtlinge im Libanon sind diese Veränderungen deshalb besonders belastend, weil UNRWA die einzige Organisation ist, die sich noch um sie kümmert (17, S. 213). Es „macht sich Verzweiflung unter den Flüchtlingen breit und wirkt in hohem Maße politisch destabilisierend“, so beschrieb der Generalkommissar von UNRWA, Peter Hansen, im Jahre 1997 die Lage vor Ort (17, S. 213; 48, S.1). Er selber hatte im August 1997 angesichts des hohen Haushaltsdefizits drastische Sparmaßnahmen im Bereich der Gesundheitsversorgung und Schulausbildung angekündigt – z. B. sollten SchülerInnen, die UNRWA-Schulen besuchten, ein Schulgeld in Höhe von 14 US$ pro Jahr bezahlen, eine für die Betroffenen hohe und nicht bezahlbare Summe. Gegen diese Forderung hatte sich allenthalben massiver Protest erhoben (2, S. 35f.).

Die Marginalisierung der palästinensischen Flüchtlinge, die 1948 Palästina verlassen mussten, ist aber auch Kennzeichen der seit 1993 zwischen Israel und den PalästinenserInnen geschlossenen Friedensverträge. In Art. 5 der »Prinzipienerklärung über Vereinbarungen zur übergangsweisen Selbstverwaltung« vom 19.9.1993 (Gaza-Jericho-Abkommen, auch Oslo I genannt; 45, S. 1255; 44, S. 171) ist geregelt, dass Verhandlungen über einen dauerhaften Status zwischen Israel und PalästinenserInnen sobald wie möglich, spätestens aber mit dem Beginn des 3. Jahres der insgesamt fünf Jahre währenden Übergangsperiode beginnen müssen, und dass sie unter anderem das Thema Flüchtlinge zum Beratungsgegenstand haben werden (18, S. 1281ff.; 44, S. 172). Diese sogenannten Endstatusverhandlungen (61) wurden zwar im Mai 1996 termingerecht eröffnet, mehr geschah allerdings in Anbetracht der damals neu gewählten Regierung Netanyahu nicht (14, S.106; 20, S.198). Die palästinensischen Flüchtlinge aus der Zeit um 1948 werden auch in den nachfolgenden Abkommen vom 29.4.1994 (Paris-Abkommen) und vom 28.9.1995 (Taba-Abkommen, auch Oslo II genannt; 45, S. 1257) nicht erwähnt (14, S. 107f.).

Anders dagegen wurde mit den 1967 während des Sechs-Tage-Krieges aus Ghaza und der Westbank vertriebenen PalästinenserInnen verfahren: Für sie ist gemäß Art. 12 der Prinzipienerklärung ein Komitee vorgesehen, das über die Modalitäten ihrer Zulassung in die Autonomiegebiete entscheiden wird. Dieses Komitee wurde unter Beteiligung palästinensischer VertreterInnen, Israels, Ägyptens und Jordaniens gegründet und hat im März 1995 mit seiner Arbeit begonnen (14, S. 74).

Sicherheitszone

Ein letzter Besuch führte uns in den Südteil des Landes, in ein kleines Dorf – En Nmairiyé – in der Nähe der Stadt Nabatiye und nur einige Kilometer von der »Sicherheitszone« entfernt. Trotz der sehr schönen Berglandschaft spürte man hier mehr noch als andernorts die Anspannung der Menschen, die angesichts der in dieser Region ständig stattfindenden Kampfhandlungen in dauernder Gefährdung leben. Wir sprachen mit einer jungen palästinen sischen Flüchtlingsfamilie, die aus der BRD zurückgekehrt war und nun in diesem Ort zusammen mit ihren Eltern ihr Auskommen suchte. Im Verlaufe unseres Gespräches hörten wir immer wieder Schüsse.

Die Sicherheitszone, ca. 850 qkm groß und ca. 9% des libanesischen Territoriums umfassend, ist ein etwa 15 km breiter Gürtel im Süden Libanons, im Grenzgebiet zu Israel und Syrien, dessen Besetzung durch Israel im Jahre 1978 erfolgte (22, S. 17; 1, S. 21). Innerhalb dieses Gebietes leben etwa 150.000 Menschen, überwiegend SchiitInnen (1, S. 21), aber auch ChristInnen (34, S. 52). Israel hat dort etwa 1.000 Soldaten ständig stationiert und unterhält außerdem eine Söldnermiliz, die südlibanesische Armee (SLA) mit einer Stärke von 3.000 bis 4.000 Mann (58, S. 5). Die SLA ist damit beauftragt, im Bereich der Sicherheitszone jegliche Kooperation mit der Hizb Allah zu verhindern, Einreise in die und Ausreise aus der Sicherheitszone zu kontrollieren und Infiltrationsversuchen in dieses Gebiet entgegenzuwirken. Die militärischen Operationen – vor allem Angriffe gegen die Hizb Allah innerhalb der Sicherheitszone und auf palästinensische Guerillastellungen nördlich davon – liegen in der Verantwortung der israelischen Militärs; die SLA hat dabei lediglich unterstützende Obliegenheiten (24, S. Lib 001.024.001).

Die Hizb Allah wiederum ist eine nach der israelischen Invasion im Jahr 1982 entstandene, von Syrien und dem Iran unterstützte Miliz mit einer Stärke von 3.000 bis 5.000 Mann (58, S.6), die als einzige der vielen Milizen im Libanon nicht entwaffnet worden ist, weil sie ihre Aufgabe, gegen die israelische Besatzung im Südlibanon zu kämpfen, weiterhin erfüllen und aus syrischer Sicht als Druckmittel gegenüber Israel im Hinblick auf die Rückgabe der von Israel besetzten Golan-Höhen eingesetzt werden sollte (35, S. 88 f.; 11, S. 463; 1, S. 22).

Nicht nur die Sicherheitszone, sondern der Südlibanon insgesamt ist eine Region in der permanent bewaffnete Kämpfe stattfinden. In Waffenstillstandsverhandlungen zwischen Libanon, Syrien und Israel wurde mehrmals vereinbart, dass ausschließlich militärische Ziele angegriffen werden dürfen, doch werden diese Vereinbarungen »unfriedlicher Koexistenz« (34, S. 51) nicht eingehalten, vielmehr immer wieder von beiden Seiten gezielt durchbrochen, sodass Menschen innerhalb und außerhalb der Sicherheitszone getötet werden oder fliehen müssen (11, S. 463; 20, S. 403 ff.; 34, S. 51).

Ein Beispiel für die großen Gefahren, in denen die Bevölkerung dort lebt, ist die Offensive der Israelis gegen die Hizb Allah im April 1996 während der israelische Artillerie-, See- und Luftstreitkräfte Gebiete im Südlibanon unter Beschuss nahmen. 300.000 bis 400.000 Personen mussten fliehen, über 150 ZivilistInnen verloren ihr Leben. Allein bei dem Angriff auf das kleine Dorf Qana, bei dem auf einen dort stationierten Hangar der UNIFIL-Truppen (UN Interim Forces in Lebanon) geschossen wurde, kamen mehr als 100 ZivilistInnen ums Leben und wurden etwa 100 Personen verletzt. Zusätzlich starben sechs Menschen, die in einem Krankenwagen aus der Gefahrenzone heraus transportiert werden sollten und währenddessen von einem Hubschrauber aus unter Raketenbeschuss genommen wurden (39, S. 341,346; 34, S. 52; 20, S. 403 f.).

Wir haben den eigens aus diesem Anlass eingerichteten Friedhof, der zugleich Mahnmal ist, in Qana besucht. Am Ortseingang hängt quer über der Straße ein Spruchband mit der Aufschrift: „Our victims blood is our voice to the world“.

Auch die Resolution Nr. 425 des UNO-Sicherheitsrates aus dem Jahr 1978 (56, S. 69), in der Israel zum sofortigen und bedingungslosen Rückzug seines Militärs aus dem Libanon aufgefordert worden war, ist folgenlos geblieben. Erst nach Jahren, im April 1998, bot die israelische Regierung an, ihre Truppen aus dem Südlibanon zurückzuziehen. Damit verband sie folgende Bedingungen: Frieden und Sicherheit müssten durch Auflösung der libanesischen Widerstandsbewegung –vor allem der Hizb Allah – garantiert werden, die libanesische Armee müsse die Kontrolle über die bisher von der Hizb Allah beherrschten Gebiete übernehmen und die Milizionäre der SLA amnestiert werden. Die Regierung des Libanon hat dieses Ansinnen in Absprache mit Syrien, der Patronatsmacht des Libanon, abgelehnt und damit begründet, dass in der UNO-Resolution von 1978 ein Abzug Israels ohne Bedingungen verlangt werde (27; 28).

Ein weiterer Vorschlag des damaligen Ministers für Infrastruktur im Kabinett Netanyahu, Ariel Sharon ( der als ehemaliger Verteidigungsminister Israels Verantwortung trägt für das Massaker im Jahre 1982; 27) vom November 1998, die israelischen Truppen einseitig aus dem Libanon abzuziehen, wurde von Netanyahu stante pede abgelehnt (32; 33).

Für die Bevölkerung in und um die Sicherheitszone bedeutet dies, dass sie auch weiterhin ständig Angst um Leib und Leben haben muss (23, S. 28; 32; 33; 36; 25). Dies hat sich auch in jüngster Zeit wieder gezeigt, als von beiden Seiten Waffen eingesetzt wurden und es Tote und Verletzte gab (FR 2. 3. und 3. 3. 1999). Das Versprechen, das der seit Mitte 1999 amtierende israelische Premierminister Ehud Barak (Arbeitspartei) während des Wahlkampfes abgab und während der Regierungsbildung bekräftigte, die Truppen aus dem Süden Libanons innerhalb eines Jahres abzuziehen, könnte Hoffnung aufkommen lassen, doch wird eine diesbezügliche Vereinbarung mit der Regierung des Libanon nur mit Zustimmung Syriens und unter Einbeziehung der Golanhöhen zustande kommen können (59, S.796; 58, S. 1). Barak hat für den Fall, dass diese Vereinbarung nicht zustande kommen sollte, allerdings einen einseitigen Abzug der israelischen Truppen aus Südlibanon in Aussicht gestellt (63).

Der massive Einfluss Syriens auf die Politik im Libanon, so sei hier zum besseren Verständnis hinzugefügt, gründet sich auf das bereits erwähnte Abkommen von Ta'if aus dem Jahre 1989, das zur Beendigung des Bürgerkrieges im Libanon geschlossen wurde, und auf das Sicherheitsabkommen zwischen Syrien und Libanon aus dem Jahr 1991, in dem eine weitreichende Kooperation libanesischer und syrischer Armee- und Sicherheitskräfte festgelegt wurde. Syrien erhielt das Recht, 35.000 Soldaten im Libanon zu stationieren, die zusammen mit einer größeren Anzahl syrischer Geheimdienst- und Sicherheitskräfte für die Wiederherstellung von Ordnung und Sicherheit nach Ende des Bürgerkrieges im Libanon zu sorgen hatten (58, S. 7). Im Bereich der Sicherheits- und Regionalpolitik bestimmt somit Syrien die Politik im Libanon, im wirtschaftlichen Bereich hat die Regierung Libanons dagegen freie Hand im eigenen Land (14, S. 131).

Perspektiven

Hält man sich die gegenwärtige Lage der palästinensischen Flüchtlinge im Libanon und in den anderen Ländern vor Augen und überlegt die potenziellen politischen Perspektiven, so scheinen die Aussichten zu einer befriedigenden Lösung zu kommen nicht eben gut, denn das Desinteresse und die Abwehr gegenüber den palästinensischen Flüchtlingen besteht auf Seiten aller in dieses Problem involvierten Regierungen: Es ist einerseits offenkundig, dass die meisten Aufnahmeländer die Flüchtlinge nicht dauerhaft bei sich aufnehmen und integrieren wollen. Es ist andererseits offenkundig, dass Israel die Rückkehr einer so großen Zahl von Flüchtlingen in ihre Heimatgebiete bisher vehement abgelehnt hat, weil darin eine Gefahr für die nationale Sicherheit und auch eine individuelle Bedrohung gesehen wird. Eine gleiche Sichtweise hat Israel im Hinblick auf eine Reintegration der palästinensischen Flüchtlinge in die Autonomiegebiete.

Diese Option ist aber auch deswegen unrealistisch weil das den PalästinenserInnen zugesprochene Gebiet insgesamt nicht ausreicht um die Flüchtlinge aus der Diaspora aufzunehmen; insbesondere Ghaza ist bereits jetzt vollständig überfüllt. Aber auch im Westjordanland sind die palästinensischen Flüchtlinge als zusätzliche KonkurrentInnen um Land, Arbeitsplätze, Wohnungen und Hilfeleistungen nicht willkommen.

Nicht zuletzt ist auch das Interesse der PLO selbst an den Flüchtlingen inzwischen gering, dies wird z.B. anhand der bereits erwähnten Vertragsbestimmungen deutlich. Interesse an den ExilpalästinenserInnen seitens der PLO besteht wohl allenfalls dann, wenn es sich bei den Flüchtlingen um finanzkräftige Investoren oder um qualifizierte Intellektuelle handelt; die aber sind unter den rückkehrwilligen Flüchtlingen nicht eben häufig bzw. zeigen keine Neigung zurückzukehren (14, S. 61 f.; 49, S. 197 f.).

Was die neue Regierung Israels angeht, so erscheint bemerkenswert, dass Barak im Vorfeld seiner ersten Begegnung mit Yassir Arafat angekündigt hat, er wolle seinen Gesprächspartner dafür gewinnen, die Endstatus-Verhandlungen, bei denen es u.a. um die Ansprüche der palästinensischen Flüchtlinge aus den Kriegen von 1967 und 1948 geht, sofort in die laufenden Friedensverhandlungen einzubeziehen (62). Kurze Zeit später kündigte Barak an, er wolle die Vereinbarungen über den Endstatus bis Ende des Jahres 2000 abgeschlossen haben (63). Es ist nunmehr denkbar, dass der Problemkomplex »palästinensische Flüchtlinge« in absehbarer Zeit Verhandlungsgegenstand zwischen Israel und Arafat – unter Einschluss anderer beteiligter Regierungen – werden könnte. Im Vorgriff auf den Inhalt dieser Verhandlungen äußerte Barak allerdings bereits Zweifel im Hinblick auf eine potenzielle Rückkehr von palästinensischen Flüchtlingen nach Israel. Er sagte dazu, es sei „besser, wenn man für sie dort, wo sie jetzt leben, eine Lösung finden“ könnte (64). Damit bestätigt er die zuvor dargestellte Grundposition Israels – jedenfalls hinsichtlich der Ablehnung der Rückkehroption.

Exkurs: Palästinensische Flüchtlinge aus dem Libanon in der BRD

Nach Angaben im Ausländerzentralregister leben in der BRD 26.147 abgelehnte AsylbewerberInnen libanesischer Staatsangehörigkeit (Stand 31.7.1997; 55, S. 10 f.). Unklar ist, wie viele von ihnen palästinensische Flüchtlinge sind, da im Ausländerzentralregister die Staatsangehörigkeit, nicht aber die Volkszugehörigkeit erfasst wird (48, S.4).

PalästinenserInnen, die keine Staatsangehörigkeit besitzen, werden im Register unter der Kategorie »ungeklärt« erfasst: hierunter waren am 31.12.1996 47.439 Personen registriert. Schätzungen zufolge sollen 3/4 dieser Personen palästinensische Flüchtlinge aus dem Libanon sein, darunter etwa 9.600 Ausreisepflichtige (57, S. 6; 48, S. 3).

Wiewohl die Bundesregierung die Lebensbedingungen der palästinensischen Flüchtlinge im Libanon vor allem im Hinblick auf Arbeitslosigkeit, Gesundheitsversorgung, Unterkunft und Ausbildung als schlecht beurteilt (54, S. 3), reicht dieser Umstand allein nach allgemeiner Ansicht nicht aus, um einen Flüchtlingsstatus oder einen Daueraufenthalt zu begründen – so die Position der Bundesregierung im September 1997 (55, S. 12).

Auch die Gerichte erkennen palästinensische Flüchtlinge aus dem Libanon nicht als asylberechtigt an. Eine Durchsicht der Rechtsprechung in Asylangelegenheiten der Jahre 1994 bis 1998 in der BRD (5; 6; 7) zeigt, dass weder die Zugehörigkeit zum Volk der PalästinenserInnen als Asylgrund gewertet, noch eine Gruppenverfolgung angenommen wird (5, S. 218).

Das Bundesverwaltungsgericht stellte schon am 24.10.1995 – also kurz nach dem bereits erwähnten Dekret Nr. 478 des libanesischen Innenministeriums (s.o. S.5) – fest, dass die Einreiseverweigerung der libanesischen Regierung gegenüber PalästinenserInnen keine asylrelevante politische Verfolgung darstelle, sondern aus bevölkerungspolitischen, sozialen und sicherheitspolitischen Überlegungen eingeführt worden sei (6, S. 260).

Auch in anderen Verfahren im Jahre 1995 kamen die Gerichte zum Ergebnis, dass PalästinenserInnen im Libanon keinen asylrelevanten Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt sind (6, S. 260 f.), wobei allerdings Fragen der Glaubwürdigkeit im Vordergrund der Urteile standen.

Einen anderen Ausgang nahm das Asylverfahren eines Palästinensers aus dem Libanon durch Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 5.8.1998. Der Antragsteller hatte im Libanon Flugblätter verteilt, in denen er zum Boykott der Wahlen von 1992 aufgerufen und seine Befürchtung geäußert hatte, dass infolge des Wahlausgangs Syrien und Iran zukünftig übermäßig starken Einfluss im Libanon haben werden. Er wurde deswegen verhaftet und gefoltert. Dem Strafverfahren, das mit einer Strafe bis zu 10 Jahren Haft hätte enden können, entzog er sich durch Flucht.

Das Bundesverfassungsgericht entschied, dass die aktive Umsetzung der eigenen politischen Meinung im Schutzbereich des Art. 16 a GG liege und darauf gegründete staatliche Verfolgung als politische Verfolgung anzusehen sei – jedenfalls dann, wenn der Antragsteller im Vergleich zu anderen Tätern eine härtere Behandlung, z. B. Folter erlitten habe oder wenn die Folter wegen der politischen Überzeugung in schärferer Form angewendet worden sei (50).

In diesem Zusammenhang erscheint es notwendig, darauf hinzuweisen, dass Menschenrechtsverletzungen im Libanon gegenüber politischen GegnerInnen durchaus an der Tagesordnung sind. Darunter fallen z.B. willkürliche Verhaftungen, Anwendung von Folter gegenüber politischen und kriminellen Gefangenen und Gerichtsverfahren unter unfairen Bedingungen. Insbesondere aber verdient die Tatsache Beachtung, dass im März 1994 durch Gesetz die Anwendbarkeit der Todesstrafe erweitert worden ist und seitdem 12 Todesurteile vollstreckt wurden (39; 40; 47, Kap. IV bis VIII).

Schließlich soll noch auf ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts aus dem Jahre 1993 hingewiesen werden, in dem es um die Einbürgerung eines palästinensischen Kindes ging, das im Jahr 1982 in der BRD geboren wurde, nachdem seine Eltern – PalästinenserInnen aus dem Libanon – 1981 als Asylsuchende in die BRD eingereist waren. Nachdem das Asylgesuch rechtskräftig abgelehnt worden war, wurde der Familie mit Rücksicht auf den damals herrschenden Bürgerkrieg eine Duldung erteilt; später erhielt das Kind eine befristete Aufenthaltsbefugnis. Im Jahre 1987 beantragten die Eltern des Kindes seine Einbürgerung.

Das Bundesverwaltungsgericht entschied, dass das Kind Anspruch auf die Einbürgerung habe. Grundsätzlich sei es für Staatenlose, insbesondere für Staatenlose wie die PalästinenserInnen, welche die Bindung an ihre Volksgruppe nicht aufgeben wollen, nicht erforderlich, dass sie sich – wie es die Einbürgerungsrichtlinien normalerweise verlangten – in die deutschen Lebensverhältnisse eingeordnet haben müssten; Voraussetzung der Einbürgerung Staatenloser sei vielmehr allein deren dauerhafter Aufenthalt, d.h., dass sie auf unabsehbare Zeit in der BRD leben. Dies sei im Hinblick auf das Kind anzunehmen angesichts des (zum Zeitpunkt der Entscheidung) herrschenden Bürgerkrieges im Libanon, dessen Ende nicht abzusehen sei. Aus diesem Grunde sei auch keine Abschiebung möglich, denn es fehlten entsprechende Reisedokumente und der Rückreiseweg sei versperrt. Ausschlaggebend sei vielmehr allein, dass das Kind sich seit 5 Jahren rechtmäßig in der BRD aufgehalten habe (42).

Anmerkungen

Literatur

0) Information durch Gespräch.

1) Frank Wullkopf, Die Macht der Milizen. Der Bürgerkrieg im Libanon zwischen 1975 und 1990, in: Wissenschaft und Frieden, Heft 3/1997, S. 19 ff.

2) Ronald Ofteringer, Palästinensische Flüchtlinge in Aufruhr, in: Komitee für Grundrech- te und Demokratie, Jahrbuch '97/98,
Köln 1998, S. 35 ff.

3) Hans-Christian Rößler, In palästinensischen Flüchtlingslagern wächst die Ver-zweiflung. Die dritte Generation wartet auf eine Rückkehr, in: FAZ 11.4.1998.

4) Hermann Weber/Takkenberg, Lex, The Status of Palestinian Refugees in International Law, in: Vereinte Nationen, Heft 4/1998, S. 162.

5) Zentrale Dokumentationsstelle der Freien Wohlfahrtspflege für Flüchtlinge e. V. (ZDWF), Rechtsprechungsübersicht 1994, Schriftenreihe Nr. 60, Siegburg 1995, S. 218 ff.

6) ZDWF, Rechtsprechungsübersicht 1995, Schriftenreihe Nr. 64, Siegburg 1996, S. 260 ff.

7) ZDWF, Rechtsprechungsübersicht 1998, Schriftenreihe Nr. 73, Teil 2, Siegburg 1998, S. 332 ff.

8) Stichwort Libanon, in: Dieter Nohlen (Hrsg.), Lexikon Dritte Welt, Reinbek 1998, S.470 ff.

9) PDS im Bundestag, Palästinensische Flüchtlinge im Libanon, Bonn 1997.

10) Said Arnaout und Manfred Budzinsky, Gespräche im Libanon. Ein Überblick über die aktuelle Lage, Besuche bei Familien, Ansichten »vor Ort«, Perspektiven, epd-Dokumentation Nr. 5/1999 vom 25. Januar 1999.

11) Fischer Weltalmanach. Zahlen, Daten. Fakten '98, Frankfurt/M. 1997.

12) Bertold Meyer, Der nahöstliche Frieden – verbaut oder noch zu retten?, in: HSFK – Standpunkte Nr. 6 / Oktober 1998.

13) Ludwig Watzal, Friedensfeinde. Der Konflikt zwischen Israel und Palästina in Geschichte und Gegenwart, Berlin 1998.

14) Ronald Ofteringer (Hsg.), Palästinensische Flüchtlinge und der Friedensprozess. PalästinenserInnen im Libanon, Frankfurt/M., 1997.

15) Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Situation im Libanon, Bonn, September 1997.

16) Wolfgang Köhler, Ein glänzender Eroberungsakt. In der arabischen Welt ist die Erinnerung an das Massaker von Deir Jassin wach geblieben, in: FAZ 29.4.1998.

17) Peter Hansen, Wechsel nach Gaza als neue Herausforderung. Das UNRWA und der Friedensprozess im Nahen Osten, in: Vereinte Nationen, Heft 6 /1997, S. 208 ff.

18) Dokumente zum Friedensprozess im Nahen Osten, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 10/1993, S. 1280 ff.

19) Wolfgang Günter Lerch, Der Bürgerkrieg im Libanon. Ein Minderheitenkonflikt im Nahen Osten, 1991, S. 6 ff.

20) Fischer Weltalmanach. Zahlen, Daten, Fakten 1997, Frankfurt/M., 1996.

21) Peter J. Opitz, Das Weltflüchtlingsproblem, München 1988, S. 196 ff.

22) Thomas Scheffler, Libanon 1996, Wirtschaft und politische Rahmendaten, in: Beiruter Blätter (Hrsg. Deutsches Orient Institut, Beirut), 1997, S. 13 ff.

23) Hisbollah attackiert Israels Verbündete, in: FR 11.9.1998.

24) Libanon, Stichwort in: ZDWF (Hsg.), Handbuch der Fluchtländer, Stand 4. Erg. Lieferg.

25) Netanyahu droht Libanon mit Vergeltung, in: Süddeutsche Zeitung 1./2.1.1999.

26) Amt des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge, Handbuch über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft, Genf 1979, Kap. IV B.

27) Wolfgang Köhler, Misstrauen mit guten Gründen, in: FAZ 7.4.1998.

28) Netanyahu erwägt Rückzug, in: FR 28.11.1998.

29) Theodor Hanf, Libanon Konflikt, in: Udo Steinbach et al. (Hsg.), Der Nahe und der Mittlere Osten, Band 1, Opladen 1988, S. 663 ff.

30) Michael Kuderna, Libanon, in: Udo Steinbach et al., Der Nahe und der Mittlere Osten, Band 2, Opladen 1988, S. 235 ff.

31) Alexandra Senfft, Zwischen Intifada und Besatzung. Gegenwärtige Aufgaben und Probleme des UNRWA, in: Vereinte Nationen, Heft 1/1992, S. 4 ff.

32) Scharon plädiert für Truppenabzug aus Libanon , in: FR 30.11.1998.

33) Abzug aus Libanon abgelehnt, in: FR 1.12.1998.

34) Michael Gaebel, Die »Früchte des Zorns« und das Begräbnis zu Qana, in: Beiruter Blätter (Hrsg. Orient Institut, Beirut), 1997, S. 51f.

35) Andreas Rieck, Der Libanon: Ein Prüfstein muslimisch-christlicher Koexistenz, in: Gerbot Rotter (Hrsg.), Die Welten des Islam: Neunundzwanzig Vorschläge, das Unvertraute zu verstehen, Frankfurt/M., 1993, S. 85 ff.

36) Hisbollah feuert auf israelische Grenzstädte, in: FR 24.12.1998.

37) Syrien, Stichwort in: Dieter Nohlen (Hg.), Lexikon Dritte Welt, Reinbek 1998, S. 714 ff.

38) Flüchtlingskinder im Libanon e.V., Faltblatt, herausgegeben von dem Gemeinnützigen Verein zur Unterstützung palästinensischer Flüchtlingskinder im Libanon, o.O., o. J.

39) Libanon (Republik), in: amnesty international, Jahresbericht 1997, Frankfurt/M., 1997, S. 341 ff.

40) Libanon (Republik), in: amnesty international, Jahresbericht 1998, Frankfurt/M. 1998, S. 368 ff.

41) Elias Khoury, Im Krieg sind die Grenzen zwischen den Dingen zerstört, in: FR, 21. 12. 1996.

42) Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 23.2.1993, AZ IC 45.90, in: Informationsbrief Ausländerrecht 1993, S. 268 ff.

43) UNHCR, States Parties (Including Reservations and Declarations) to the 1951 Convention, 23.7.1996.

44) Mohsen Massarat (Hrsg.), Mittlerer und Naher Osten, Münster 1996.

45) Norman Paech, Das verlorene Territorium des palästinensischen Staates, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 10/1996, S. 1252 ff.

46) Rachid Boudjedra, Das Palästina Tagebuch, Paris 1972, Mainz 1991.

47) amnesty international, Lebanon. Human Rights Developments and Violations, London o. J. (1997 oder 1998).

48) Deutscher Bundestag, 13. Wahlperiode, Drucksache 13/8770 vom 14.10.1997: Antwort der Bundesregierung. Verhandlungen mit dem Libanon über die Rücknahme und die Abschiebung von Flüchtlingen und Hilfe für die palästinensischen Flüchtlinge.

49) Klaus Timm, Nahostverhandlungen: Hürden und Optionen, in: Vereinte Nationen, Heft 6/1997, S. 193 ff.

50) Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 5.8.1998, AZ 2 BvR 153/96.

51) The General Assembly, Resolution Nr. 302 (IV). Assistance to Palestine refugees, 8 December 1949, in: United Nations, Official Records of the Fourth Session of the General Assembly, Resolutions 20 September – 10 December 1949, New York o.J., S.23 f.

52) Security Council, Resolution 237 (1967) of 14 June 1967, in: Resolutions and Decisions of the Security Council 1967, United Nations, New York 1968, S. 5.

53) The General Assembly, Resolution Nr. 194 (III). Palestine – Progress Report of the Unites Nations Mediator, 11 December 1948, in: United Nations, Official Records of the Third Session of the General Assembly, Part 1, 21 September – 12 December 1948, Paris o.J., S. 21 ff.

54) Deutscher Bundestag, 13. Wahlperiode, Drucksache 13/8192 vom 10. 7.1997, Antwort der Bundesregierung – Rückführungsabkommen der Bundesrepublik Deutschland mit dem Libanon.

55) Deutscher Bundestag, 13. Wahlperiode, Drucksache 13/8470 vom 5. 9.1997, Antwort der Bundesregierung – Verhandlungen und Abkommen über die Rückübernahme von Flüchtlingen.

56) Sicherheitsrat, Resolution 425 (1978) vom 19. März 1978 – Aufstellung einer Interimstruppe für den Südlibanon, in: Vereinte Nationen 2/1978, S. 69.

57) Deutscher Bundestag, 13. Wahlperiode, Drucksache 13/8409 vom 22. 8. 1997 – Schriftliche Fragen mit den in der Woche vom 18. August 1997 eingegangenen Antworten der Bundesregierung.

58) Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Situation im Libanon, Stand September 1998, Bonn 1998.

59) Margret Johannsen, Israel: Licht am Ende des Tunnels?, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 7/1999, S. 794 ff.

60) Jürgen Nieth, Humanität oder Macht?, in: Wissenschaft und Frieden, Heft 2/1999, S.7 ff.

61) Heiko Kauffmann, Helfen statt bomben, in: Wissenschaft und Frieden, Heft 2/1999, S. 43 f.

62) Gespräche zwischen Barak und Arafat über Friedensprozess im Nahen Osten, in: FAZ 12.7.1999.

63) Arafat zeigt sich »äußerst optimistisch«, in: FAZ 19.7.1999.

64) Barak strebt gundlegende Einigung binnen 15 Monaten an, in: FAZ 20.7.1999.

Prof. Dr. Barbara Dietrich lehrt am Fachbereich Sozialwesen der Fachhochschule Wiesbaden; ihre Arbeitsschwerpunkte sind Migrationspolitik und Friedensforschung.