Präfigurative Friedenspsychologie

Präfigurative Friedenspsychologie

Eine Agenda für die Klimakrise

von Frank Eckerle1

Welche Rolle spielt die Friedenspsychologie bei der Bewältigung von gesellschaftlichen Konflikten zur Anpassung an den Klimawandel? Ausgehend von Ulrich Wagners Beitrag (2023) schlage ich vor, dass Friedenspsychologie sich den politischen Widerstand zu eigen macht. Darauf aufbauend skizziere ich Bausteine einer präfigurativen (d.h. die gewünschten Verhältnisse vorwegnehmenden) Friedenspsychologie, welche sich vom wissenschaftlichen Mainstream ab- und den drängendsten gesellschaftlichen Problemen zuwendet.

Der Klimawandel schreitet rasant voran. Die Temperaturen der Ozeane brachen im August 2023 alle Rekorde und wurden bereits im Januar 2024 nochmal überboten (Goar 2024). Im April 2024 wurden nun zum elften Mal in Folge alle Hitzerekorde gerissen, die seit Aufzeichnungsbeginn gemessen wurden (NOAA 2024). Dabei ist die Hitze nicht das einzige Problem. Sechs von neun planetaren Grenzen wurden im Jahr 2023 überschritten, dazu zählen z.B. der Frischwasserverbrauch, die Menge menschengemachter Neueinträge ins Ökosystem, wie Mikroplastik oder radio­aktiver Müll, sowie die Geschwindigkeit des Artensterbens (Richardson et al. 2023). Hauptsächlich verantwortlich für diesen Überschuss sind die reicheren Länder der Erde (O’Neill et al. 2018).

Trotz der vielen großen Klima- und Umweltproteste der letzten Jahre und der gesteigerten öffentlichen und politischen Aufmerksamkeit für das Thema, scheint das Problem des Überschreitens planetarer Grenzen jedoch nicht kleiner, sondern größer zu werden (z.B. wurde vor 15 Jahren noch nicht zu viel Frischwasser genutzt). Dabei sind das Wissen über den menschengemachten Klimawandel und die Gefahren, die sich dadurch für unsere Gesellschaften ergeben, alles andere als neu (Dixson-Declève et al. 2022). Die Ursachen für diese Krisen sind in kapitalistischen und neo-kolonialen Produktionsverhältnissen angelegt, sodass der Versuch, die imperiale Lebensweise grün anzustreichen, wenig vielversprechend scheint (Lang et al. 2024). Anders ausgedrückt: Solange keine grundsätzliche Transformation stattfindet, wird es nicht ausreichen, einfach Kohle und Öl durch Kobalt und Lithium zu ersetzen.

Denn der sogenannte »grüne Extraktivismus« bedroht die Umwelt durch die Intensivierung des Abbaus von Lithium und Kobalt – und zwar nicht nur im Kongo und in Chile, sondern auch in Europa, z.B. Serbien (Baletic 2024) und Finnland (Vidal 2014), sowie in den letzten vom Menschen unberührten Regionen des Ozeans (Crane et al. 2024). Es gibt auch bereits erste Beispiele aus Europa, die zeigen, wie bei der Erschließung neuer Minen die Sorgen der Betroffenen umgangen und diese unterschwellig beeinflusst werden (Dunlap und Riquito 2023).

Ein weiteres Problem besteht darin, dass durch die Umstellung auf regenerativ erzeugten Strom der Energiehunger der Städte nicht mehr in der direkten Umgebung gestillt werden kann. Am wachsenden Widerstand gegen Windkraftanlagen und andere grüne Transformationsprojekte auf dem Land, können wir bereits das Konfliktpotenzial erahnen, welches daraus entsteht. Dies führt die Umwelt- und Sozialpsychologie in ein moralisches Dilemma: Soll sie dabei helfen, die Widerstände auf dem Weg zum grünen Wachstum aus dem Weg zu räumen? Oder muss sie selbst zum Teil des Widerstands gegen ein »Weiter-so« werden, indem sie das Prinzip des unbegrenzten Wachstums hinterfragt?

Gibt es richtige Psychologie im Falschen?

Dieses Dilemma hebt hervor, dass es wichtig ist zu hinterfragen, welche Ziele Wissenschaft verfolgt bzw. verfolgen sollte. Wagner schrieb hierzu in W&F, dass „[d]ie Angemessenheit von Zielen […] sich in der Regel nicht empirisch ermitteln [lässt], sie folgen vielmehr aus ethisch-moralischen Überlegungen und demokratischen politischen Entscheidungen“ (ebd. 2023, S. 34). Ich stimme mit dieser Perspektive größtenteils überein, da auch eine Technokratie (also eine Regierungsform, die vornehmlich auf Basis vermeintlich neutraler wissenschaftlicher Erkenntnisse handelt) keine befreite Gesellschaftsform wäre. Allerdings erhebe ich zwei zentrale Einwände, oder besser: Ergänzungen.

Zunächst ist der Anspruch, etwas „empirisch zu ermitteln“, für die Psychologie nicht trivial. Dies geht über die auch von Wagner (ebd., S. 32) angesprochene Replikationskrise (das Problem, dass sich viele klassische Forschungsergebnisse in neuen, besser ausgerüsteten Studien nicht wiederfinden lassen) in der Psychologie hinaus. Denn es herrscht alles andere als Einstimmigkeit darüber, was aus dieser Krise zu lernen sei. Auf der einen Seite stehen diejenigen, die die fehlende Replikationsfähigkeit zentraler psychologischer Befunde zum Anlass nehmen, um die wissenschaftliche Qualität der in der Psychologie verbreiteten Methoden zu kritisieren und eine noch größere Rigorosität (oder Strenge) im Forschungs- und Publikationsprozess zu fordern (z.B. Shrout und Rodgers 2018). In dieser Position wird der Wetteinsatz darauf also verdoppelt, dass man sich nah genug an objektive Wahrheiten annähern können wird, indem die Standards der vorhandenen Forschungsmethoden verbessert werden.

Auf der anderen Seite stehen die Autor*innen der Position, die eine Verdrängung und weitere Abwertung von ohnehin schon marginalisierten Methoden des Erkenntnisgewinns fürchten, wenn nur noch »westlich« definierte wissenschaftliche Standards in der psychologischen Forschung als »Wissenschaft« qualifizieren (Abo-Zena et al. 2022). In einer verwandten Position wird für eine erkenntnistheoretische Neuorientierung geworben, welche zum Beispiel stärker in den Vordergrund rückt, dass psychologisches Wissen und psychologische Prozesse immer in Interaktion mit der Umwelt (ent-)stehen (für mehr Details, siehe Power et al. 2023). Anders ausgedrückt: Durch die Verbreitung neuer Erkenntnisse wirkt psychologische Wissenschaft auf die Gesellschaft ein und verändert somit ihren eigenen Untersuchungsgegenstand (Gergen 1973). Die gescheiterten Versuche, Ergebnisse früherer Forschung zu replizieren, könnten also auch darauf zurückgehen, dass sich die Spielregeln verändert haben und Menschen heute anders »ticken« als damals. Dass diese Diskussionen aktuell verstärkt geführt werden, ist ein wichtiges Zeichen für die »Gesundheit« psychologischer Forschung.

Darüber hinaus ist meiner Meinung nach die Frage nach der »Angemessenheit von Zielen« nicht nur ethisch-moralischen Überlegungen und politischen Entscheidungsprozessen zu überlassen, sondern sie spielt auch ganz konkret in Forschung und Praxis eine wichtige Rolle. Für die Umweltpsychologie läuft dies auf das Hinterfragen des ihr zugrundeliegenden Menschenbilds hinaus (Prilleltensky 1997): Sind Menschen von Natur aus nicht in der Lage, sich an die komplexen Anforderungen der Klimakrise anzupassen und müssen daher, sozusagen von oben herab, zu »angemessenem« Verhalten verleitet werden (wie z.B. beim Konzept des »Nudging« [Anstupsens])? Oder sind diese Handlungsbarrieren am Ende weniger in der menschlichen Psyche zu finden, als im neoliberal gefärbten Blick des Forschungsfeldes, welches dazu tendiert, strukturelle Rahmenbedingungen bei der Analyse individuellen Verhaltens auszublenden? Die Antwort auf diese Frage hat konkrete Auswirkungen darauf, welche Art von Forschung man betreibt.

Unter Beachtung dieser beiden Ergänzungen, möchte ich in Antwort auf Wagners (2023) Frage, wie Friedenspsychologie aussehen soll, vorschlagen: Friedenspsychologie muss den Mut aufbringen, in die von ihr untersuchten Menschen zu vertrauen. Wenn wir anerkennen, dass menschliche Gesellschaften sich ständig neu erfinden, um sich an ihre Umgebung anzupassen (siehe Graeber und Wengrow 2021), dann sollte nicht die Steuerung menschlichen Verhaltens, sondern die Befreiung menschlicher Gesellschaften das Ziel sein. Diese zentrale Idee der Befreiungspsychologie (Martín-Baró 1996) fußt auf der Erkenntnis, dass die Förderung gleichberechtigten Zugangs und gerechter Teilhabe Grundbedingungen für menschliches Wohlbefinden sind (Prilleltensky 2012). Diese emanzipatorische Idee können wir nutzen, um präfigurative Proteste zu verstehen, die in der Psychologie bisher kaum Beachtung finden, und das Potenzial von Präfiguration im Kontext der Friedenspsychologie analysieren.

Präfiguration verstehen

Präfiguration, im Sinne der Sozial- und Politikwissenschaften, bezeichnet die Vorwegnahme erstrebenswerter gesellschaftlicher Verhältnisse im Hier und Jetzt. Diese Vorwegnahme ist zwar einerseits zum Scheitern verurteilt, da der gewünschte zukünftige Zustand ja in Wirklichkeit noch nicht eingetreten ist und darum viele Kräfte dem Vorhaben entgegenwirken werden. Andererseits ist das Scheitern selbst zentraler Teil des freudigen Experimentierens mit Alternativen (Malherbe 2023). Man könnte Präfiguration also als eine Art gesellschaftliche Alchemie bezeichnen: Sie wird niemals Gold erfinden und doch ist sie unsere beste Chance, durch neugierige Neukombination des Bekannten neue Potenziale zu entdecken.

Beispiele für präfigurative Aktionen gibt es zuhauf. Sie sind oft dezentral organisiert, wie die »Transition Towns«-Bewegung, welche lokale Gruppen unterstützt, die sich vor Ort für eine Verbesserung der Lebensqualität in den Städten einsetzen. Oft bewegen sich präfigurative Aktionen am Rande des Gesetzes und fordern damit gesellschaftliche Normen heraus, wie zum Beispiel die Besetzung des Hambacher Forsts durch die Gruppe »Ende Gelände«. Gewalt ist aber ausgeschlossen, denn Präfiguration, verstanden als direkte politische Aktion, hat immer eine konstruktive Komponente. Es geht also nicht (nur) um das (Zer-)Stören von Bestehendem, sondern vor allem um das Praktizieren von Neuem. Dies unterscheidet sie z.B. von den Aktionen der »Letzten Generation« aber auch vom Ökofaschismus, gerade weil letztere Bewegungen nicht fortschrittlich, sondern regressiv sind, da sie bereits Gelerntes verraten und es wider besseren Wissens noch einmal probieren (siehe Jaeggi 2023).

Wie können solche gesellschaftlichen Experimente jedoch jemals etwas verändern? Präfiguration ist tatsächlich nur ein (aber ein wichtiges) Puzzlestück im politischen Prozess, neben institutionalisierter Politik und indirekteren Formen des Protests, wie z.B. Kundgebungen (Schiller-Merkens 2022). Soziale Systeme sind dazu da, Stabilität zu wahren, und daher von Natur aus widerstandsfähig gegen ein Aufbegehren nach sozialen Veränderungen. Dementsprechend tritt Veränderung infolge von Protesten nur dann ein, wenn diese das System ausreichend stören und so „aufbrechen“ (Leach et al. 2024). Ein wichtiger Abwehrmechanismus sozialer Systeme gegen Veränderung ist die in ihnen herrschende und von ihnen vorausgesetzte normative Annahme, dass der Ist-Zustand alternativlos oder wenigstens das geringste Übel sei.

Präfiguration kann genau hier ansetzen. Denn durch die »freche« Praktizierung von Alternativen können diese einen Kontrapunkt zur wahrgenommenen Alternativlosigkeit des Ist-Zustands setzen, ein neuer Zustand des „nicht nicht aber noch nicht“ (Swain 2019). Zusammengefasst kann Präfiguration also dabei helfen, neue Gesellschaftsideen zu entwickeln, diese durch das Ausprobieren zu veranschaulichen und letztendlich die Gefahr reduzieren, dass das gefährliche Dehnen des Ist-Zustands als alternativlos gegenüber dem Rückgriff auf bereits gescheiterte Experimente erscheint.

Grundpfeiler einer präfigu­rativen Friedenspsychologie

Aus dem Obigen ergeben sich drei Grundpfeiler einer Agenda für präfigurative Friedenspsychologie:

  • Erstens sollte die Institution der Friedenspsychologie den Mut haben, präfigurative Zwischenräume vorzubereiten. Hier kommt Herausgeber*innen von Journals ganz besondere Verantwortung zu. Denn sie können den Platz für Forschungsansätze und -methoden schaffen, die nicht dem Mainstream entsprechen. Nicht-kommerzielle Open-Access-Journals sowie frei verfügbare und partizipative Wissensdatenbanken (z.B. Wikipedia, archive.org) sind ebenfalls langlebige präfigurative Projekte mit starker wissenschaftlicher Anbindung. Darüber hinaus kommt dem Professorium eine besondere Macht und damit Verantwortung zu, Gelegenheiten für studentische Präfiguration zu schaffen und zu schützen.
  • Zweitens sollte präfigurative Friedenspsychologie sich neugierig der Findung von Lösungsideen für akute gesellschaftliche Probleme zuwenden. Dies heißt auch, sich ein wenig von Popper’schen Traditionen des Falsifizierens zu lösen und stattdessen aktiv am politischen Prozess mitzuwirken. Ein aktuelles Beispiel solchen Forschens kommt von Nick Malherbe (2023), der Debatten über die Rolle des Staates in prekären anar­chistischen Gemeinschaftsprojekten in Süd­afrika untersucht hat. Darüber hinaus kann auch die öffentliche politische Positionierung wissenschaftlichen Personals dabei helfen, gemeinschaftliche Werte zu schützen. Die jüngste Affäre um die Listenführung über kritische Wissenschaftler*innen beim BMBF zeigt eindrucksvoll, dass das Unterzeichnen offener Briefe durchaus emanzipatorisches Potenzial hat.
  • Drittens kann präfigurative Friedenspsychologie auf kreative Weise gesellschaftliche Utopien (mit-)entwickeln und testen. Diese können im öffentlichen Raum durch partizipative Forschung ethnografisch erforscht oder auch im Labor unter kontrollierten Bedingungen geprüft werden. Wichtig dabei ist die bewusste Unterscheidung zwischen dem Ziel der Verhaltenssteuerung und dem Ziel der Verhaltensbefreiung. Präfigurative Friedenspsychologie könnte also zum Beispiel untersuchen, welche Rahmenbedingungen kreatives und experimentierfreudiges politisches Verhalten fördern, sowie die Gruppenprozesse analysieren, die zu diesen Phasen der Selbstermächtigung führen. Beispiele aus aktueller Forschung sind Untersuchungen zur Auswirkung der kognitiven Verfügbarkeit „grüner Utopien“ (Daysh et al. 2024) und zu den mobilisierenden Effekten kollektiver Wirksamkeitserwartungen und positiver Emotionen (Landmann und Naumann 2024).

Das Stärken dieser Grundpfeiler wird naturgemäß auf viel institutionalisierten Gegenwind stoßen. Insbesondere junge Wissenschaftler*innen brauchen Publikationen und Zitationen für ihre wissenschaftliche Karriere. Sie müssen daher besonders überlegen, inwiefern sie mit ihren Forschungsideen den Mainstream herausfordern wollen, und haben wenig Zeit für Experimente. Sie profitieren darum enorm von Unterstützung aus professoralen Rängen, sowie von intensiver Vernetzung. Aber auch außerhalb der universitären Strukturen gibt es Möglichkeiten für Friedenspsycholog*innen sich einzusetzen, zum Beispiel in sogenannten »Solidarity Academies« (etwa: Solidarische Akademien). Dies sind akademische Gegenräume, die sich z.B. im Rahmen des Protests gegen die Gewalt gegen Kurd*innen und deren Repression an Universitäten gründeten und ihnen akademisches Leben und Lernen ermöglichen. Auch zahlreiche indigene Universitäten, wie zum Beispiel »Ixil University« in Guatemala oder »Te Wānanga o Aotearoa« in Neuseeland/Aotearoa, ermöglichen emanzipatorische Bildung in Gegenbewegung zu kolonialer Hegemonie. Von diesen Beispielen kann man viel über die Wirkmacht von Kollektiven lernen, die sich nicht versuchen, in den Staat einzufügen, und stattdessen identifizierte Leerstellen eigenmächtig füllen.

Fazit

Wie soll Friedenspsychologie aussehen? In diesem Beitrag habe ich einige Beobachtungen und Argumente zum Wert einer präfigurativen Friedenspsychologie zusammengestellt, wobei ich mich insbesondere auf die Anwendungsbereiche der Sozial- und Umweltpsychologie konzentriert habe. Nun ist alles vorbereitet für den Versuch einer knappen persönlichen Antwort: Friedenspsychologie muss unbequem und hoffnungsvoll sein. Sie darf sich nicht scheuen, eine politische Ausrichtung zu haben, da diese sowieso unvermeidbar ist. Und sie sollte den zentralen Wert der partizipativen Parität für die gesellschaftliche Befreiung immer im Blick behalten. Diese Form »aktivistischer Wissenschaft« wird sicher kontrovers aufgenommen werden. Aber dies ist genau der Knackpunkt: Friedenspsycholog*innen müssen nicht unbedingt friedliche Psycholog*innen sein.2 Stattdessen sollten sie sich trauen, den Widerstand in Widerstandsfähigkeit groß zu schreiben.

Anmerkungen

1) Ich danke Tijana Karić, Ulrich Wagner, J. Christopher Cohrs, Helen Landmann, David Scheuing und Stefanie Hechler für ihre hilfreichen Kommentare und Anregungen zu einer frühen Version dieses Beitrags.

2) Diese rhetorische Zuspitzung verdanke ich Tijana Karić.

Literatur

Abo-Zena, M. M.; Jones, K.; Mattis, J. (2022): Dismantling the master’s house: Decolonizing “Rigor” in psychological scholarship. Journal of Social Issues 78(2), S. 298-319.

Baletic, K. (2024): Chinese mining giant expands in Serbia despite pollution fears. BalkanInsight, 11.4.2024.

Crane, R.; Laing, C.; Littler, K.; Moore, K.; Roberts, C.; Thompson, K.; Vogt, D.; Scourse, J. (2024): Deep-sea mining poses an unjustifiable environmental risk. Nature Sustainability, DOI: 10.1038/s41893-024-01326-6.

Daysh, S.; Thomas, E. F.; Lizzio-Wilson, M.; Bird, L.; Wenzel, M. (2024): “The future will be green, or not at all”: How positive (utopian) and negative (dystopian) thoughts about the future shape collective climate action. Global Environmental Psychology 2, e11153.

Dixson-Declève, S.; Gaffney, O.; Ghosh, J.; Randers, J.; Rockström, J.; Stoknes, P. E. (2022): Earth for all: Ein Survivalguide für unseren Planeten. Der neue Bericht an den Club of Rome, 50 Jahre nach ‘Die Grenzen des Wachstums’. München: oekom.

Dunlap, A.; Riquito, M. (2023): Social warfare for lithium extraction? Open-pit lithium mining, counterinsurgency tactics and enforcing green extractivism in northern Portugal. Energy Research & Social Science 95, 102912.

Gergen, K. J. (1973): Social psychology as history. Journal of Personality and Social Psychology 26(2), S. 309-320.

Goar, M. (2024): Ocean temperatures reach impressive and worrying record levels. Le Monde, 1.2.2024.

Graeber, D.; Wengrow, D. (2021): The dawn of everything: A new history of humanity. New York: Farrar, Straus and Giroux.

Jaeggi, R. (2023): Fortschritt und Regression. Berlin: Suhrkamp.

Landmann, H.; Naumann, J. (2024): Being positively moved by climate protest predicts peaceful collective action. Global Environmental Psychology 2, e11113.

Lang, M.; Manahan, M. A.; Bringel, B. (Hrsg.) (2024): The geopolitics of green colonialism: Global justice and ecosocial transitions. London: Pluto Press.

Leach, C. W.; Ferguson, S. T.; Teixeira, C. P. (2024): Protest now: A systems view of 21st century movements. Group Processes & Intergroup Relations, 13684302241245660.

Malherbe, N. (2023): Returning community psychology to the insights of anarchism: Fragments and prefiguration. Journal of Social and Political Psychology 11(1), S. 212-228.

Martín-Baró, I. (1996): Writings for a liberation psychology. Cambridge: Harvard University Press.

NOAA (2024): April 2024 was Earth’s warmest on record. National Oceanic and Atmospheric Administration, Pressemitteilung, 14.5.2024.

O’Neill, D. W.; Fanning, A. L.; Lamb, W. F.; Steinberger, J. K. (2018): A good life for all within planetary boundaries. Nature Sustainability 1(2), S. 88-95.

Power, S. A., Zittoun, T., Akkerman, S., Wagoner, B., Cabra, M., Cornish, F., Hawlina, H., Heasman, B., Mahendran, K., Psaltis, C., Rajala, A., Veale, A., & Gillespie, A. (2023): Social Psychology of and for world-making. Personality and Social Psychology Review 27(4), S. 378-392.

Prilleltensky, I. (1997): Values, assumptions, and practices: Assessing the moral implications of psychological discourse and action. American Psychologist 52(5), S. 517-535.

Prilleltensky, I. (2012): Wellness as fairness. American Journal of Community Psychology 49(1-2), S. 1-21.

Richardson, K., et al. (2023): Earth beyond six of nine planetary boundaries. Science Advances 9(37), eadh2458.

Schiller-Merkens, S. (2022): Social transformation through prefiguration? A multi-political approach of prefiguring alternative infrastructures. Historical Social Research / Historische Sozialforschung 47(4), S. 66-90.

Shrout, P. E.; Rodgers, J. L. (2018): Psychology, science, and knowledge construction: Broadening perspectives from the replication crisis. Annual Review of Psychology 69, S. 487-510.

Swain, D. (2019): Not not but not yet: Present and future in prefigurative politics. Political Studies 67(1), S. 47-62.

Vidal, J. (2014): Mining threatens to eat up northern Europe’s last wilderness. The Guardian, 3.9.2014.

Wagner, U. (2023): Wir brauchen Friedenspsychologie! Aber wie soll die aussehen? W&F 4/2023, S. 32-34.

Frank Eckerle ist promovierter Sozialpsychologe. In seiner Promotion (angeleitet von J. Christopher Cohrs und Maja Kutlaca) beschäftigte er sich mit dem Thema, inwiefern Moralität Menschen mit sozialen Privilegien zu politischer Solidarität motivieren kann. Diese schloss er 2023 an der Philipps-Universität Marburg ab. Seit Juni 2024 arbeitet er als PostDoc an der Universität Klagenfurt.

Beitragsreihe Forum Friedenspsychologie

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Dieser Text ist Teil einer fünfteiligen Serie »Friedenspsychologie in unfriedlichen Zeiten« des FFP, die mit Stefanie Hechler und Thomas Kessler in Ausgabe 2/2024 begonnen hat. Die Autor*innen der Reihe präsentieren in ihren Texten ihre je eigenen Visionen und Impulse für die Friedenspsychologie.

Die Reihe soll auch in 2025 fortgesetzt werden. Bei Interesse bitte mit dem Forum Friedenspsychologie in Kontakt treten: forum@friedenspsychologie.de

Mehr zum FFP: friedenspsychologie.de

Lernen von den »Guardias«

Lernen von den »Guardias«

Integrale Sicherheit als Antwort auf multiple Gewaltphänomene in Kolumbien1

von María Cárdenas

Am Beispiel der »Guardias« und im Kontext des kolumbianischen Friedenskonsolidierungsprozesses soll dieser Beitrag Aufschluss darüber geben, wie Indigene, Afrokolumbianische und kleinbäuerliche Gemeinden inmitten von allgegenwärtiger Gewalt durch integrale Sicherheitssysteme kollektiven Selbstschutz praktizieren, um das (Über-)Leben ihrer Gemeinden und Ontologien zu sichern. Angesichts multipler planetarer Krisen bietet ihre Praxis wichtige Denkanstöße für die notwendige Überwindung des hegemonialen Verständnisses von (militarisierter) Sicherheit.

Die »Guardia Indígena«, die »Guardia Cimarrona« und die »Guardia Campesina« (kurz »Guardias«) sind heute die international bekanntesten gemeindebasierten und integralen Sicherheitssysteme in Kolumbien. Seit der Jahrtausendwende wurden sie von ihren Gemeinden gestärkt, um ihr territorio und ihre Bevölkerung vor bewaffneten Akteuren und ihrer gewaltsamen Vereinnahmung für extraktive Ökonomien zu schützen. So stellen sie sich illegalen Ökonomien ebenso in den Weg wie legalen und illegalen bewaffneten Akteuren und sind zum Teil beteiligt an der »Liberación de la Madre Tierra« – also an Initiativen, die die »Mutter Erde« aus z.B. Monokulturprojekten befreien wollen.2 Angesichts der Allgegenwärtigkeit der Gewalt stellen die Guardias seither gleichsam den bestmöglichen Schutz vor militärischer Gewalt dar, als auch eine unbewaffnete Alternative zu ihr. Gleichwohl wird ihre Arbeit häufig aus einer eurozentrischen Perspektive auf ein anthropozentrisches Verständnis von Sicherheit reduziert. Auch aus einer solchen Perspektive können die Guardias zwar Aufschlüsse über Alternativen zu militarisierter Sicherheit geben. Die ontologischen Konflikte, die der Gewalt gegen diese Gemeinden zugrundeliegen, werden hierdurch jedoch vernachlässigt. Ebenso wird das Potential unsichtbar, das integralen Sicherheitssystemen zur Überwindung jener multiplen (Un-)Sicherheitskrisen innewohnt, die durch die Moderne/Kolonialität hervorgerufen wurden (Escobar 2020).

Der Beitrag baut auf meiner ethnographischen Forschung mit Indigenen und Afrokolumbianischen Friedensaktivist:innen seit 2017 (u.a. Cárdenas 2023), sowie einer vom Deutsch Kolumbianischen Friedensinstitut (CAPAZ) unterstützten explorativen Studie von 20193 auf. Ziel ist es, mit Blick auf das Sicherheitsverständnis Indigener, Afrokolumbianischer und kleinbäuerlicher Gemeinden das hegemoniale Verständnis von Sicherheit neu zu betrachten. Der Beitrag ist auch ein Angebot, die hegemonialen Formen oder Versuche der Gewährleistung von Sicherheit zu reflektieren. Zu diesem Zweck werde ich im Folgenden die Arbeit der Guardias im Cauca näher in den Blick nehmen.

Hintergrund: Bewaffnete Gewalt und Morde im Cauca

Unsicherheit und Gewalt haben die südwestliche Region Cauca seit Jahrzehnten geprägt. Fast acht Jahre nach der Unterzeichnung des Friedensabkommens hat die Frage der Sicherheit in dieser Region allerdings nicht an Bedeutung verloren, denn sowohl die Anzahl bewaffneter Akteure als auch die Gewalt gegen soziale und ethnische Organisationen und Aktivist:innen haben weiter zugenommen. Zwischen dem Tag der Unterzeichnung des Friedensabkommens 2016 bis zum 3.7.2024 wurden laut INDEPAZ in Kolumbien 1.621 soziale Führungspersönlichkeiten (líderes) ermordet (INDEPAZ 2024). Allein im Cauca waren es 324 ermordete soziale Aktivist:innen, von denen mehr als ein Drittel Indigene waren (128), gefolgt von Kleinbäuer:innen (79), und Afrokolumbianischen Aktivist:innen (32).4 Die unverhältnismäßige Gewalt gegen ländliche und insbesondere Indigene Führungspersonen ist vor allem auf ihren Widerstand gegen Wirtschaftsakteure und lokale Eliten zurückzuführen, die nach der Demobilisierung der FARC-EP um die ökonomische und sozio-politische Kontrolle der Region konkurrieren und eine Ausweitung der legalen und illegalen Wirtschaftsweisen in diesem Departement anstreben (Albarracín et al. 2022).

Teil integraler Sicherheitssysteme

Indigene, Afrokolumbianische und kleinbäuerliche Guardias können als integrale gemeinschaftliche Sicherheitssysteme verstanden werden, die temporär, semi-permanent oder permanent sein können und aus einem unbezahlten, unbewaffneten Dienst bestehen, den meist alle Mitglieder der Gemeinschaft mindestens einmal verrichten. Das Leitmotto der Guardias „Todos somos guardia“ („Wir alle sind Guardias“) bedeutet sowohl, dass die Arbeit der Guardia bzw. die damit verbundene Verantwortung nicht ausgelagert werden kann, als auch, dass jede:r – von den Älteren bis zu den Kindern – ein wichtiger Teil ist, um zum Schutz des territorio und dessen Gemeinschaft beizutragen. Hierdurch ist die Gruppe zumindest bei den semi-permanenten und temporären Guardias meist relativ heterogen, was Gender, Alter und familiäre Situation anbelangt.5 Die Gemeindemitglieder, die als Guardia dienen, tragen im Dienst zumeist den traditionellen bastón de mando – einen mit Bändern der Organisationsfarben verzierten Holzstab. Häufig tragen sie dazu auch ein Halstuch und eine Weste, auf denen das Logo der Organisation, der ihre Gemeinde angehört, sichtbar ist.

Da die Guardias Teil der politischen Autonomie der Gemeinden und dieser untergeordnet sind, werden sie auf Gemeindeebene organisiert. Ihre Organisation hängt also von ihrem jeweiligen gobierno propio ab (ihren autochthonen Formen politischer Selbstorganisation), sowie von dem sozio-ökologischen und politischen Kontext, in den sie eingebettet sind. Nicht nur angesichts der besonderen Gewaltbetroffenheit der Cauca-Region kann die Arbeit der dort ansässigen Guardias also nicht auf andere Kontexte übertragen werden.

Die Guardias sind zudem nur ein Element der gemeindebasierten Schutzmechanismen im heutigen Kolumbien, zu denen auch die planes de vida (Lebenspläne), medicina ancestral (traditionelle Medizin) und spiritueller Schutz (durch z.B. Taitas oder Thê’ Walas), sowie institutionalisierte Dialogforen zählen. Der Bekanntheitsgrad der Guardias hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass sie aus einem eurozentrischen Sicherheitsverständnis leichter zu greifen sind als z.B. die Wirkung von Thê’ Walas. Dies hat es einzelnen Guardias im Cauca ermöglicht, Zuwendungen von staatlichen und internationalen Stellen zu erhalten – eine Entwicklung, die manche Gemeinden aufgrund der damit (vermeintlich verbundenen oder wachsenden) Nähe zum eurozentrischen Sicherheitsverständnis bzw. ihrer Reduktion hierauf mit Sorge betrachten.

Der hier entwickelte Blick auf die Guardias im Cauca soll daher keinesfalls zu einer Generalisierung der Guardias und Reduktion ihrer Komplexität, Heterogenität und kontextspezifischen Ausprägung beitragen, denn diese hat in Kolumbien auch zu einer Dichotomie von Romantisierung vs. Kriminalisierung geführt. Ziel ist vielmehr, zu erörtern, welche Alternativen die Guardias in Kolumbien zu einer militärischen oder militarisierten Durchsetzung von Sicherheit eröffnen – auch in einem Kontext allgegenwärtiger Gewalt – und was wir von ihnen für das Verständnis von Sicherheit und seine Erreichung lernen können.

Der integrale Schutz des »Territorio«

Die Aufgabe der Guardias ist es, Sicherheit und Harmonie in einer integralen Weise zu fördern, die sich nicht auf physische Sicherheit oder den negativen Frieden beschränkt (Galtung 1972), sondern auf das abzielt, was häufig als »die Kontrolle des Territoriums« (control territorial) bezeichnet wird. Als territorio lässt sich zunächst vereinfacht das Leben und die Beziehungen der Lebewesen untereinander in einem gewissen Raum bezeichnen. Dieser Raum sollte jedoch nicht auf ein eurozentrisches, zweidimensionales Verständnis im Sinne einer Karte reduziert werden, sondern ist zum einen multidimensional und dynamisch, und beinhaltet zum anderen auch die vertikale, spirituelle und historische Dimension. Zudem ist es eng mit dem menschlichen Körper verschränkt.

Die Kontrolle des territorio beinhaltet also zwar auch das, was im eurozentrischen Sicherheitsverständnis als die Kontrolle über ein gewisses Stück Land verstanden wird: zu wissen, wer sich auf dem spezifischen Gelände aufhält, was diese Menschen tun und wieso. Im Kontext allgegenwärtiger Gewalt ist es wichtig, die Routen von bewaffneten Akteuren zu kennen, wann sie unberechtigterweise das Gelände durchqueren, und welche Beziehungen sie mit anderen Akteuren halten. Dies ermöglicht nicht nur eine sehr gute Kenntnis der Akteure der Region und ihrer Interessen (und trägt dadurch zum friedens- und sicherheitsrelevanten Wissensarchiv dieser Gemeinden bei), sondern es hat oft unmittelbar praktischen Nutzen. Beispielsweise wenn die Kenntnisse hierüber es diesen Gemeinden ermöglichen, zwangsrekrutierte Minderjährige wieder aus den Fängen von bewaffneten Akteure zu holen, illegalen Bergbau zu identifizieren, oder gar Bagger-Lader der Polizei zu übergeben.6 Juan Carabalí von der Nationalen Schutzeinheit (UNP)7 stellt klar:

„Man stellt sich die Guardias oft so vor, dass sie bewaffnet sind, aber das stimmt nicht. Der Guardia ist derjenige, der hinausgeht, um zu verhandeln, um einen Dia­log zu führen, um die Menschen, die [von bewaffneten Akteuren] getötet werden sollen, wegzubringen, um sie aus den Händen von bewaffneten Gruppen zu holen, die sie töten wollen. Ja, die afrokolumbianischen Gemeinschaften tun das die ganze Zeit, und die indigenen Gemeinschaften, die ganze Zeit.“ (Juan Carabalí, UNP, 23.4.2019).

Sicherheit wird hier also Carabalí zufolge nicht über Gewalt (oder die Androhung dieser) hergestellt, sondern über den Mut, ins Gespräch zu kommen und sich der Gewalt entgegenzustellen, sowie über die Autorität, mit der die Guardia ihr territorio verteidigt.

Die Arbeit der Guardias kann jedoch nicht auf den Umgang mit Gewaltkonfrontationen und ihre Verhandlungskapazitäten reduziert werden. Aufgrund des eingangs genannten Verständnisses von territorio besteht territoriale Kon­trolle auch darin, auf den Zustand bzw. die Gesundheit des Territoriums, der Pflanzen und der Tiere zu achten sowie auf den Zustand von Straßen, Zäunen und Brücken (Forschungsmemo vom 16.2.2019). Daher beinhaltet die territoriale Kontrolle neben dem Schutz der Natur auch die »Minga« – also die Gemeindearbeit (z.B. Renovierungs- und Reparaturarbeiten, Unterstützung bei der Ernte, die Reparatur eines Hauses, eines Zauns, eines Brunnens oder einer Brücke). Ebenso beinhaltet die Arbeit der Guardia zum Teil auch die Mediation bei Nachbarschafts- oder familiären Konflikten, sowie bei Streitigkeiten innerhalb der Gemeinschaft und mit den Nachbargemeinden (wobei dies je nach Gemeinde auch von anderen Ämtern und Rollen übernommen wird). Die Guardias erfüllen daher vielerorts auch Funktionen, um die Autonomie und Widerstandsfähigkeit der Gemeinde gegen die Kolonialität und ihre Gewalt zu stärken. Es handelt sich bei der Guardia damit also um einen Teil autonomer und integraler Sicherheitssysteme, in dem sich Menschen die Aufgabe teilen, das Pluriversum zu schützen – nach außen (bzgl. bewaffneter Akteure und Nachbargemeinden), nach innen (Gemeindekohäsion), als auch horizontal und vertikal (bzgl. des Schutzes des Territoriums bzw. der Natur, der Ahnen und des spirituellen Raums vor z.B. Extraktivismus) – oft auch mit ihrem eigenen Leben.

Dies macht auf einen weiteren Aspekt der Territorialkontrolle aufmerksam, der über ein eurozentrisches Sicherheitsverständnis hinausgeht. Es geht nämlich nicht nur um den Schutz einer bestimmten Gruppe von Menschen und gegebenenfalls ihres Besitzes, sondern auch um den Schutz der Natur in ihrem eigenen Recht8, sowie um den Schutz der Beziehungen und des Gleichgewichts zwischen Menschen, nicht-menschlichen Lebewesen und dem spirituellen Raum. Bei diesem nicht-westlichen Verständnis von »Sicherheit« geht es also auch um die Beziehungen zwischen Menschen und dem was wir unter Natur verstehen (also Flora und Fauna), ebenso wie um die spirituellen und emotionalen Beziehungen, die das Territorium beinhaltet, und um die Gesetze bzw. Regeln, denen diese folgen.

In wissenschaftlichen Debatten, insbesondere des »ontological turn« oder der »political ontology«, erhalten diese relationalen Möglichkeiten, die Welt in ihrer Pluriversalität zu verstehen, zunehmend an Bedeutung (vgl. FitzGerald 2021). Vor diesem Hintergrund lässt sich control territorial nicht nur als Teil von territorialen Kämpfen verstehen, sondern vielmehr sind territoriale Kämpfe, bzw. der Versuch das Territorium zu schützen, im Sinne von Arturo Escobar (2020) immer auch ontologische Kämpfe. Es geht bei den Guardias also um den Schutz des Pluriversums vor seiner Vernichtung durch ontologische Zerstörung, die die Monokulturen (hier nicht auf den Anbau beschränkt) der Moderne/Kolonialität nach sich ziehen. Die eingangs genannten vielfachen Morde in Kolumbien an Indigenen, Afrokolumbianischen oder kleinbäuerlichen Aktivist:innen weisen daher nicht nur auf die nekropolitische Dimension hin, die rassialisiertes Leben der kapitalistischen Logik unterwirft (Ruette-Orihuela et al. 2023), sondern auch auf die ontologische Dimension der Gewalt, da die Ermordeten als zentrale Akteure in der Aufrechterhaltung des widerständigen Wissens und in der Organisation des ontologischen Widerstands verstanden werden müssen.

Auswirkungen des Friedensabkommens seit 2016

Die Nationale Schutzeinheit UNP hat eingeräumt, dass sie auf der ländlichen Ebene sehr schwach ist. Vor allem bei Indigenen und Afrokolumbianischen Gemeinschaften sind die Sicherheitsmaßnahmen oft nicht in der Lage, Morde zu verhindern.9 Darüber hinaus gab es Fälle von Leibwächtern der UNP-Vertragspartner, denen paramilitärische Verbindungen nachgewiesen werden konnten.10 Vor diesem Hintergrund und mit dem Ziel, den rechtlichen Rahmen der autonomen Sicherheitsmechanismen auszuweiten – und damit auch ihre Möglichkeiten, Sicherheit integral zu stärken11 –, wurde das Recht auf autonome Sicherheitssysteme als Teil des ethnischen Kapitels auch in das kolumbianische Friedensabkommen von 2016 aufgenommen (vgl. Cárdenas 2019). Es garantiert unter anderem, dass „bei der Gestaltung und Umsetzung des Sicherheits- und Schutzprogramms für Gemeinschaften und Organisationen in den Gebieten eine ethnische und kulturelle Perspektive einbezogen wird. Die Stärkung der eigenen Sicherheitssysteme der ethnischen Völker, die national und international anerkannt sind, […] wird garantiert“.

Dies hatte weitreichende Folgen, von denen ich hier nur zwei nennen werde: Zum einen die politische und rechtliche Anerkennung der Afrokolumbianischen und Indigenen Guardias und damit die Anerkennung alternativer Konzeptualisierungen von Sicherheit. Das ist ein wichtiger politischer Erfolg für Indigene, aber auch Afrokolumbianische Gemeinden. Dieses nicht-anthropozentrische, integrale Verständnis von Sicherheit wurde zuletzt durch die erfolgreiche Initiative Afrokolumbianischer Gemeinschaften aus dem Nord-Cauca auch in einem Urteil der kolumbianischen Übergangsjustiz JEP erneuert: Dort wurde der Fluss Cauca als Opfer des bewaffneten Konflikts anerkannt und ihm das Recht auf Wiedergutmachung und Nicht-Wiederholung zugestanden. Es lässt sich also als Folge des ethnischen Kapitels ein Einfließen von nicht-eurozentrischen Ontologien in die kolumbianische Rechtsprechung feststellen.

Zum anderen wurden die Guardias in ihrer finanziellen, strukturellen und ideellen Form durch Sicherheitsinstitutionen wie die Nationale Schutzeinheit UNP gestärkt. 2019 arbeitete UNP mit 78 Kollektiven im ganzen Land zusammen, von denen die meisten Indigene und Schwarze Gemeinschaften waren, und individuell mit etwa 800 Indigenen und etwa 500 Afrokolumbianischen Aktivist:innen, die Personenschutz benötigten (Stand Februar 2019, Interview mit der UNP vom 23.4.2019). Die Maßnahmen umfassen materiellen (Westen, Walkie-Talkies usw.) und immateriellen Schutz (Ausbildung in ethnischen Rechten, in Menschenrechten und im humanitären Völkerrecht, usw.), aber auch spirituellen Schutz (zur Harmonisierung des Territoriums z.B.; ebd.). Diese Dynamik hat sicherlich zur größeren Sichtbarkeit der Guardias beigetragen.

Wenngleich im Cauca die »Guardia Indígena« besonders stark ist, hat in den letzten Jahren auch die Zahl der Afrokolumbianischen Gemeinderäte mit eigenen Guardias zugenommen hat. Laut Victor Hugo Moreno Mina (ACONC) gab es 2019 neunzehn Afrokolumbianische Guardias in den 43 Gemeinderäten im Cauca (Interview mit Victor Hugo Moreno Mina, 22.2.2019). Nach einem von der internationalen Zusammenarbeit finanzierten Workshop für interethnische Guardias im Jahr 2018 wurde in Cauca auch die interethnische Guardia gegründet, die sich aus Indigenen, Afrokolumbianischen und bäuerlichen Gruppen zusammensetzt, um voneinander zu lernen, sich gegenseitig zu stärken und z.B. bei der Überführung illegaler und bewaffneter Akteure zu kooperieren. Angesichts der Allgegenwärtigkeit von Gewalt durch zahlreiche legale und illegale bewaffnete Akteure und illegale Ökonomien im Cauca sowie der Nachlässigkeit bzw. Schwäche des Staates, dieser entgegenzutreten, erweisen sich die Guardias auch weiterhin als unverzichtbares Sicherheitssystem, aber auch als Symbol für den autonomen und integralen Aufbau von Frieden nach dem Friedensabkommen.

»Todos somos guardia« – wir alle sind »Guardia«

Dies hat Edgar Alberto Velasco Tumiña (Autoridades Indígenas del Sur Occidente – AISO) zufolge dazu geführt, dass „[die indigene Guardia] in vielen Teilen der Welt ein Beispiel für den Widerstand gegen den Krieg [ist]. [W]ir haben gelernt, unsere Angst zu verlieren, unsere Angst vor dem Krieg, vor den Streitkräften, und wir widersetzen uns den Landbesitzern, den multinationalen Konzernen und der Regierung selbst“.

Das Narrativ der Guardia als Verteidigerin des Territoriums und als Friedensstifterin hat verstärkt seit dem Abschluss des Friedensabkommens Bündnisse mit einer Vielzahl von Akteuren ermöglicht, die sich außerhalb ihrer Gemeinden und/oder ihres territorio befinden: mit der internationalen Zusammenarbeit, der Studierendenbewegung, den Umweltschutzbewegungen oder der städtischen Linken. In jüngerer Zeit ist die Schaffung der inter­ethnischen Guardia (bestehend aus »Guardia Indígena«, »Guardia Campesina« und »Guardia Cimarrona«) selbst ein Versuch, über territorios hinweg zusammenzuarbeiten und ethnische oder rassistische Gräben zu überbrücken.

Ein Beispiel für den symbolischen Stellenwert, den die Guardias über ihre Territorien hinaus erlangt haben, war ihre zentrale Rolle beim Nationalstreik von 2021, in dem sie sich mit der meist urbanen Bevölkerung solidarisierten und diese beim Schutz vor repressiver Gewalt durch staatliche Sicherheitsbehörden und Bürgerwehren unterstützten.12 Ihre wachsende Popularität und ihre Kooperation mit Akteuren aus dem urbanen Raum hat sie jedoch auch angreifbarer für Kriminalisierung und Diffamierung gemacht13.

Zusammen mit dem Anstieg von sich diversifizierenden und miteinander konkurrierenden Gewaltakteuren im Cauca, die die Gewaltsituation gegen ländliche Gemeinden verschärfen, hat sich die Arbeit der Guardias daher erschwert: In den ersten sechs Monaten des Jahres 2024 wurden bereits 89 soziale Aktivist:innen ermordet, viele davon wegen ihres Widerstands gegen den legalen und illegalen Extraktivismus. Eine der Guardias, die in diesem Zusammenhang ihr Leben verlor, war die Älteste und Nasa-Gouverneurin Carmelita Ascue Yule aus dem Cauca. Sie wurde am 16. März 2024 ermordet, als sie versuchte, Minderjährige aus ihrer Gemeinde vor der Zwangsrekrutierung durch eine Dissidentengruppe der FARC zu schützen.

Anmerkungen

1) Ausschnitte des vorliegenden Texts wurden bereits als Forumsbeitrag in Iberoamericana veröffentlicht, siehe Cárdenas 2020. Vielen Dank an David Scheuing und Astrid Juckenack für ihre Anmerkungen.

2) Siehe auch die Webpage der Bewegung unter liberaciondelamadretierra.org/de/.

3) Die Studie hatte den den Titel »Strengthening autonomy or the state? Die unterschiedliche Anerkennung der Guardias im Friedensabkommen und ihre Zusammenarbeit im Territorium im Rahmen des Post-Abkommens«.

4) Ibid. Im Vergleich hierzu macht die Indigene Bevölkerung laut der Volkszählung von 2018 lediglich rund 4.4 % und die Afrokolumbianische rund 9.34 % der Gesamtbevölkerung aus (vgl. DANE 2019, DANE 2023).

5) Frauen werden also nicht in die Sicherheit »integriert« (wie es aus einer euro- und androzentrischen Perspektive z.B. beim Militär der Fall ist), sondern als integraler Bestandteil der Gemeinschaft sind sie auch integraler Bestandteil ihres Schutzes (der nicht militärisch ist).

6) So erklärte Victor Hugo Moreno Mina (Asociación de Consejos Comunitarios del Norte del Cauca – ACONC) bei einem von mir begleiteten Vortrag an der Nationalen Polizeiakademie, dass die Guardia wiederholt den illegalen Bergbau in ihren Gebieten gestoppt und schwere Maschinen und Delinquenten der Polizei übergeben habe (Memo vom 01.11.2018).

7) Die UNP untersteht dem Innenministerium und ist für die Koordinierung und Durchführung des Schutzes von Personen oder Gruppen zuständig, deren Leben aufgrund ihrer Arbeit bedroht ist.

8) Dank der sozialen Kämpfe von Indigenen und Afrolateinamerikanischen Gemeinden wurden in Lateinamerika viele Teile der Natur (Flüsse, Berge etc.) als Rechtssubjekte anerkannt.

9) So Pablo Elías, Direktor der UNP, in CIEDH 2020, S. 5.

10) Siehe Comisión Colombiana de Juristas (2018).

11) Der rechtliche Rahmen der Guardia hängt vom allgemeinen rechtlichen Rahmen der Gemeinschaften ab: Für die Indigene und Afrokolumbianische Bevölkerung beruhen die ethnischen Rechte in Kolumbien auf dem Übereinkommen 169 der Internationalen Arbeitsorganisation, das von Kolumbien durch das Gesetz 21 von 1991 gebilligt und in der Verfassung von 1991 sowie im Gesetz 70 von 1993 festgeschrieben wurde. Folglich hat die Guardia Campesina keinen rechtlichen Rahmen, während die Guardia Indígena (seit 2001) und die Guardia Cimarrona (seit 2013) ihren lokalen Behörden, entweder dem Cabildo oder dem Gemeinderat, unterstellt sind.

12) Im Rahmen des Nationalstreiks wurden über 80 Demonstrierende v.a. von staatlichen Sicherheitskräften ermordet (vgl. Prieto 2022). Zum Nationalstreik in Kolumbien von 2021 und seiner Gewalt, siehe Cortés und Cárdenas 2021.

13) Beispielsweise »verwechselte« Ex-Präsident Álvaro Uribe in einem Tweet während des stark polarisierten Klimas des Nationalstreiks von 2021 die Guardia der indigenen Organisation CRIC mit der ELN-Guerilla, siehe: El Espectador 2021.

Literatur

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Cárdenas, M. (2020): Ampliación de derechos étnicos en el marco de la construcción de paz en Colombia. Paradojas del fortalecimiento de las guardias en el Cauca contemporáneo y post-acuerdo. Foro de debate – “Etnicidades en disputa: nuevos caminos, nuevos desafíos”. Iberoamericana 20(75), S. 221-227.

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Cortés, G.; Cárdenas, M. (2021): Die Zivilbevölkerung in Kolumbien darf uns nicht egal sein. Blogbeitrag Wissenschaft & Frieden, 18.5.2021.

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El Espectador (2021): Álvaro Uribe trina contra el CRIC, borra el mensaje y culpa a sus ayudantes. El Espectador, 5.5.2021.

Escobar, A, (2020): Thinking-feeling with the earth: Territorial struggles and the ontological dimension of the epistemologies of the south. In: De Sousa Santos, B.; Meneses, M. P. (Hrsg.): Knowledges born in the struggle: Constructing the epistemologies of the Global South. New York: Routledge, S. 41-57.

FitzGerald, G. (2021): Pluriversal peacebuilding: Peace beyond epistemic and ontological violence. E-International Relations, 27.11.2021.

Galtung, J. (1972): Gewalt, Frieden und Friedensforschung. In: Senghaas, D. (Hrsg.): Kritische Friedensforschung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 55-104.

INDEPAZ (2024): Visor de asesinato a personas lideres sociales y defensores de derechos humanos en Colombia. Datenbank, URL: indepaz.org.co/visor-de-asesinato-a-personas, abgerufen am 3.7.2024.

Prieto, L. V. (2022): Paro Nacional 2021: ¿En qué quedó?. Blogbeitrag Fundación Paz & Reconciliación (PARES), 28.4.2022.

Ruette-Orihuela, K. et al. (2023): Necropolitics, peacebuilding and racialized violence: The elimination of indigenous leaders in Colombia. Political Geography 105, 102934.

María Cárdenas ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Dozentin an der Goethe-Universität Frankfurt. Ihre Forschung befasst sich mit dekolonialen Perspektiven, »Critical Race und Ethnic Studies« sowie der Frage, wie pluriversaler Frieden aufgebaut bzw. pluriversales Peacebuilding operationalisiert werden kann.

Ökozid

Ökozid

Zwischen Klimaklagen und Verbrechen gegen den Frieden

von Jürgen Scheffran

Die natürlichen Lebensgrundlagen der Menschheit werden durch Klimawandel und Umweltzerstörung bedroht, die friedensgefährdende Ökozide mit sich bringen können. Seit fünf Jahrzehnten gibt es Bestrebungen, schwerwiegende Umweltverbrechen im Rahmen des Völkerrechts zu regulieren. Im Kontext der jüngsten Debatte über Klimaklagen und die Rechte der Natur eröffnen sich neue Perspektiven, um auf verschiedenen Ebenen des internationalen Systems mit rechtlichen Mitteln Umweltschutz und Friedenssicherung zusammenzubringen.

Anfang 2021 reichten die im Amazonas-Regenwald lebenden indigenen Völker der Kayapo und der Surui beim Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag eine Klage gegen den brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro ein. Sie werfen ihm Menschenrechtsverletzungen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit infolge brutaler Umweltzerstörung vor, insbesondere die Ausbeutung natürlicher Ressourcen und die gewaltsame Vertreibung der Bevölkerung durch die Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen (Mihetsch 2021). Mit Bolsonaros Amtsantritt 2019 löste er staatliche Umwelt-Institutionen auf, drohte Umweltaktivist*innen, bezeichnete Wissenschaftler*innen der Lüge und verfolgte indigene Völker. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts verschwanden etwa 20 Prozent der Fläche des Amazonas-Regenwaldes, um Tropenholz, Bodenschätze, Soja und Fleisch zu gewinnen, auch für den Export nach Europa. Verstärkt durch die globale Klimakrise droht das Ökosystem des Regenwaldes zu kippen, ein Ökozid, der die Menschheit gefährdet. Doch wer ist für einen solchen Ökozid zu belangen?

Wurzeln der Ökozid-Debatte

Auslöser der Debatte über Ökozide war die Beobachtung, dass menschliche Aktivitäten im Anthropozän eine Ausbeutung natürlicher Ressourcen und massive Umweltzerstörungen zur Folgen haben. Die Globalisierung beschleunigt diese Prozesse, die menschliche Existenzgrundlagen untergraben können. Mögliche Auswirkungen sind Gewaltkonflikte und Vertreibung bis hin zum Genozid (Völkermord) oder Ethnozid (Verlust der kulturellen Identität) eines Volkes (vgl. Zimmerer 2014). Ohne geeignete Anpassungs- und Ausweichmöglichkeiten sind schleichende Ökozide durch langfristige ökologische Trends möglich, die sich zu komplexen Krisen verbinden können (vgl. auch den Begriff der »slow violence«, Nixon 2011).

Der Begriff Ökozid wurde 1970 auf der »Conference on War and National Responsibility« in Washington D.C. verwendet, wo der Botaniker und Bioethiker Arthur Galston eine internationale Vereinbarung zum Verbot von Ökoziden vorschlug (Zierler 2011). Anlass war der Einsatz von Agent Orange durch die USA im Vietnam-Krieg, um großflächig Wälder zu entlauben, mit massiven Schäden für Flora, Fauna und Mensch (Gray 1996, Watts 2019). Auf der Stockholmer UN-Konferenz über die menschliche Umwelt von 1972 nannte der schwedische Ministerpräsident Olof Palme den Vietnamkrieg einen Ökozid. Auch Indira Gandhi aus Indien und Tang Ke, der Leiter der chinesischen Delegation, kritisierten die Folgen des Krieges für Mensch und Umwelt und setzten sich dafür ein, den Ökozid als internationales Verbrechen einzustufen. Der Völkerrechtler Richard A. Falk entwarf 1973 eine Konvention gegen das Verbrechen des Ökozids, ein Protokoll gegen Umweltkrieg und eine Petition, nach der jede „Regierung, Organisation, Gruppe oder Einzelperson, die einen Ökozid verübt, plant, unterstützt oder befürwortet, für ein internationales Verbrechen schweren Ausmaßes verantwortlich ist, gegen die Gesetze der Menschlichkeit und das ökologische Gebot“ (Falk 1973, S. 26).

Eine Folge solcher Aktivitäten ist die ENMOD-Konvention von 1977, die militärische oder sonstige feindselige Nutzungen umweltverändernder Techniken verbietet. Sie erfasst vorsätzliche Umweltzerstörungen im Krieg, die weitreichend, langanhaltend oder schwerwiegend“ sind. Dem Abkommen gehören 78 Staaten an, darunter alle Atomwaffenbesitzer außer Frankreich und Israel. Im gleichen Jahr bekräftigte das Zusatzprotokoll zu den Genfer Konventionen den Schutz der natürlichen Umwelt vor Kampfhandlungen, die schwere Verluste unter der Zivilbevölkerung verursachen. Während damit die Umweltveränderung im Krieg geregelt ist, gibt es bislang kein internationales Recht zur Regulierung des Ökozids in Friedenszeiten.

1978 begannen im Rahmen der Völkerrechtskommission (International Law Commission, ILC) Diskussionen über internationale Verbrechen gegen Frieden und Sicherheit. Einige Staaten setzten sich dafür ein, auch den Schutz und die Erhaltung der menschlichen Umwelt einzubeziehen. Ökozid als Verbrechen wurde in den 1980er Jahre weiter thematisiert, unter anderem im Whitaker-Bericht (Whitaker 1985), der vorschlug, Ökozid als Genozid oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu verbieten. Beispiele für schädliche, oft irreparable Veränderungen der Umwelt sind nukleare Explosionen, chemische Waffen, schwere Verschmutzung, saurer Regen oder die Zerstörung des Regenwaldes, die die Existenz ganzer Bevölkerungen bedrohen, vorsätzlich oder durch kriminelle Fahrlässigkeit. 1991 nannte die ILC als eines der 12 Verbrechen gegen Frieden und Sicherheit der Menschheit die vorsätzliche und schwere Schädigung der Umwelt (Artikel 26). Der Vorschlag wurde im Rahmen der Aushandlung des Römischen Statuts zur Gründung des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) diskutiert. Im finalen Statut wurde Ökozid aber nicht explizit erwähnt, außer im Rahmen von Kriegsverbrechen. 2016 hat der IStGH dann aber anerkannt, Straftaten durch Umweltzerstörung größere Aufmerksamkeit zu widmen.

Entsprechende Klagen werden im internationalen Rahmen zunehmend relevant. So liegt seit einigen Jahren beim IStGH eine Beschwerde gegen Kambodscha vor, wo Hunderttausende von ihrem Land vertrieben wurden, das an wohlhabende Geschäftsleute verpachtet wurde (Embree 2015). Betroffen sind ethnische Minderheiten in bewaldeten Gebieten des tropischen Regenwaldes, der rund ein Drittel seiner Fläche verlor. Die kumulativen Menschenrechtsverletzungen über viele Jahre werden als Verbrechen gegen die Menschlichkeit angesehen.

Rolle der Zivilgesellschaft

Die internationale Ökozid-Debatte wurde erheblich durch die Zivilgesellschaft beeinflusst. Neben dem Vorschlag von Gray (1996) zum Ökozid-Verbot spielte ein Entwurf der Umweltanwältin Polly Higgins von 2010 eine Rolle, das Römische Statut um den Straftatbestand des Ökozids als fünftes internationales Verbrechen gegen den Frieden zu erweitern (neben Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Verbrechen der Aggression). Ökozid wird hier definiert als „die weitreichende Schädigung, Zerstörung oder der Verlust von Ökosystemen eines bestimmten Territoriums, sei es durch menschliches Handeln oder durch andere Ursachen, in einem solchen Ausmaß, dass die friedliche Nutzung durch die Bewohner dieses Territoriums stark beeinträchtigt wird“ (Higgins et al. 2013, S. 257), wobei auch natürliche Ursachen in Betracht gezogen werden. Ein darauf basierender Gesetzesvorschlag wurde in einem Scheinprozess vor dem Obersten Gerichtshof Großbritanniens getestet und auf verschiedenen Konferenzen im Umfeld des Erdgipfels »Rio +20« von 2012 vorgestellt. Unterstützt wurde dies 2019 auf der 18. Sitzung zum Römischen Statut von Vanuatu und den Malediven, die die Zeit reif sahen für eine Kriminalisierung des Ökozids. Ein von der »Stop Ecocide Foundation« einberufenes internationales Gremium legte im Juni 2021 einen entsprechenden Gesetzesvorschlag vor. Derlei Impulse aus der Zivilgesellschaft führten zu Reaktionen und diplomatischen Initiativen der Regierungen von Frankreich und Belgien wie auch im Europäischen Parlament, um Ökozid als internationales Verbrechen im Römischen Statut anzuerkennen.

Umweltverbrechen und Rechte der Natur

Während die Anerkennung des Begriffs Ökozid im internationalen Recht zur Diskussion steht, sind damit verbundene Verbrechen in einem Dutzend Staaten (alles Nachfolgestaaten der Sowjetunion, bis auf Ecuador und Vietnam) bereits strafrechtlich relevant, entsprechend dem früheren Wortlaut von Artikel 26 des ILC-Entwurfs. So heißt es im russischen Strafgesetzbuch: „Die massive Zerstörung des Tier- oder Pflanzenreichs, die Vergiftung der Atmosphäre oder der Wasserressourcen sowie die Begehung anderer Handlungen, die eine ökologische Katastrophe verursachen können, werden bestraft.“

Als erstes Land machte Ecuador 2007/8 die Natur zu einem Subjekt mit starken verfassungsmäßigen Rechten und Garantien (vgl. Triml-Chifflard 2021). Vorsätzliche Umweltschädigungen, ob in Kriegs- oder Friedenszeiten, werden als Straftat eingestuft, ohne den Begriff Ökozid explizit zu verwenden. So hat das Verfassungsgericht Ecuadors am 07.12.2021 in einem langem Rechtsstreit mit dem nationalen Bergbauunternehmen Enami Pläne zum Kupfer- und Goldabbau im Nebelwald in Los Cedros gestoppt, einem der biologisch vielfältigsten Lebensräume der Erde (Rechte der Natur 2021). Dies ist Teil einer Entwicklung, die Rechte der Natur zu stärken (Adloff und Busse 2021).

Klimaklagen und höchstes Völkerrecht

Die Debatte über Ökozide gewinnt an Bedeutung durch die Klimakrise, die den Kontext für Klimaklagen eröffnet. So gelang es der Umweltorganisation Urgenda 2015, den Niederländischen Staat gemäß Europäischer Menschenrechtskonvention erfolgreich vor dem Den Haager Gericht zu verklagen, die CO2-Emissionen um mindestens 25 % von 1990 bis Ende 2020 zu senken. Weitere Klimaklagen sind im Gange, darunter des peruanischen Bauern Saúl Luciano Lliuya 2015 gegen den Stromkonzern RWE, weil dessen CO2-Emissionen durch die globale Erwärmung seine Existenzgrundlagen gefährden (Steppat 2022). Zwar wies das Landgericht die Klage 2016 ab, weil es keine lineare Verursachungskette zwischen der Quelle der Treibhausgase und dem Schaden gebe, doch war eine Berufung beim Oberlandesgericht Hamm erfolgreich, das die Beweisaufnahme eröffnete.

Wie bei anderen Schadensersatzprozessen (etwa gegen die Tabak- und Chemieindustrie), sind Klimafolgen durch Betroffene gegenüber dem Verursacher einklagbar, sofern ein stichhaltiger Nachweis vor Gericht gelingt. Mit Fortschritten in der Attributionsforschung wird die kausale Zuordnung der CO2-Emissionen zu Klima-Schadensereignissen möglich, eine Voraussetzung für Schadensersatzklagen (Richter 2020; Stuart-Smith 2021).

Eine neue Ebene erreichte das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 24. März 2021, demzufolge das Klimaschutzgesetz der Bundesregierung von 2019 insofern mit Grundrechten unvereinbar sei, als hinreichende Maßgaben für die weitere Emissionsreduktion ab 2031 fehlen. Die Schutzpflicht nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 des Grundgesetzes „umfasst auch die Verpflichtung, Leben und Gesundheit vor den Gefahren des Klimawandels, etwa vor klimabedingten Extremwetterereignissen wie Hitzewellen, Wald- und Flächenbränden, Wirbelstürmen, Starkregen, Überschwemmungen, Lawinenabgängen oder Erdrutschen, zu schützen“, was eine Schutzverpflichtung für künftige Generationen begründen kann (BVfG 2021).

Angesichts der planetaren Risiken des Klimawandels wird diskutiert, den Klimaschutz zum zwingenden Völkerrecht (ius cogens) zu machen, das über völkerrechtlichen Verträgen (ius dispositivum) steht (Alt 2022; NatWiss 2022). Neben den Vorschlägen, Ökozid als Verbrechen gegen den Frieden einzuführen und Klimaschutz zum obersten Völkerrecht zu erheben, wird angeregt, einen Internationalen Umweltgerichtshof für den Schutz der Umwelt einzurichten (Riddell und Davies 2020).

Wieweit solche Vorschläge sich durchsetzen, hängt von der politischen Unterstützung ab, insbesondere durch die Zivilgesellschaft. Mit wachsenden Protesten gegen Umweltzerstörung, Artensterben und Ressourcenausbeutung wird der Ruf lauter, damit verbundene Verbrechen und ihre Täter*innen zu verurteilen. Die Frage ist jedoch, wer wen zur Rechenschaft ziehen kann, wenn alle zu CO2-Emissionen beitragen und zugleich davon betroffen sind, allerdings in sehr ungleichem Ausmaß. Werden Umweltstraftaten vor allem in ärmeren Ländern des Globalen Südens verfolgt, während die reicheren Länder im Norden sich aufgrund ihrer Macht vor Verfolgung schützen können, verschärft dies Ungerechtigkeiten. Fairer wäre es, wenn die reichen Hauptverursacher für die Vermeidung und Kompensation von Schäden zahlen – mit und ohne Klageweg.

Dabei darf die Frage von Krieg und Frieden nicht übersehen werden. Zum einen hat der Klimawandel das Potential, höchste Rechtsprinzipien zu verletzen und Gewaltkonflikte zu verstärken. Zum andern können auch Rüstung und Krieg Ökozide hervorbringen, allen voran Atomwaffen (Scheffran 2020). Ein Atomkrieg und besonders der Nukleare Winter gehören zu den schlimmsten Formen des Ökozids, die das Leben auf der Erde aufs Spiel setzen. Die komplexen Zusammenhänge aus nuklearen und klimabedingten Risiken (Scheffran et al. 2016) werden deutlich bei Inselstaaten wie den Marschall-Inseln, die durch Nuklearrüstung und Klimawandel doppelt bedroht sind und gegen beide Bedrohungen vor dem Internationalen Gerichtshof vorgehen.

Literatur

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Alt, F. (2022): Wird Klimaschutz oberstes Völkerrecht? Sonnenseite, 8.1.2022.

BVfG (2021): Verfassungsbeschwerden gegen das Klimaschutzgesetz teilweise erfolgreich. Bundesverfassungsgericht, Pressemitteilung 31/2021, 29.4.2021.

Rechte der Natur (2021): Ecuador: Verfassungsgericht setzt die Rechte der Natur im Fall Los Cedros durch. Rechte der Natur, online, 03.12.2021.

Embree, J. (2015): Criminalizing land-grabbing: Arguing for ICC involvement in the Cambodian land concession crisis. Florida Journal of International Law 27(3).

Falk, R. A. (1973): Environmental warfare and ecocide. Facts, appraisal, and proposals. Bulletin of Peace Proposals, Vol. 1.

Gray, M. A. (1996): The international crime of ecocide. California Western International Law Journal, Vol. 26, No.2, 215.

Higgins, P.; Short, D.; South, N. (2013): Protecting the planet: a proposal for a law of ecocide. Crime Law and Social Change, Vol. 59, No. 2.

Mihetsch, C. (2021): Kommt Bolsonaro wegen Ökozid vor Gericht? Klimareporter 11.01.2021.

NatWiss (2022): Klima, Frieden, Recht: Klimaschutz als oberstes Völkerrecht? Naturwissenschaftler-Initiative, online-Veranstaltung, 14.1.2022.

Nixon, R. (2011): Slow violence and the environmentalism of the poor. Harvard: Harvard University Press.

Richter, W. (2020): Klima-Ermittler: Beweise für Schadensersatz-Klagen. Technology Review, 07/2020: S. 76-81.

Riddell, T.; Davies, K. (2020): Mit Recht gegen den Klimakrieg. W&F 2020-4, S. 34-37.

Scheffran, J.; Burroughs, J.; Leidreiter, A.; van Riet, R.; Ware, A. (2016): The climate-uclear nexus. Hamburg: World Future Council.

Scheffran, J. (2020): Atomwaffen, Umwelt und Klima – Grenzen des fossil-nuklearen Zeitalters. W&F 2020-1, S. 13-16.

Steppat, T. (2022): Retten deutsche Gerichte das Klima? Frankfurter Allgemeine Zeitung 8.1.2022.

Stuart-Smith, R.F. et al. (2021): Increased outburst flood hazard from Lake Palcacocha due to human-induced glacier retreat. Nature Geoscience. Vol. 14, S. 85-90

Triml-Chifflard, D. (2021): Te Awa Tupua – Der Ahne Fluss. Die Revolution der neuen Rechtssubjekte. W&F 2/2021, S. 12-16.

Watts, J. (2019): Make environmental damage a war crime, say scientists. The Guardian, 24.7.2019.

Whitaker, B.C.G. (1985): UN Special Rapporteur on Prevention and Punishment of the Crime of Genocide. E/CN.4/Sub.2/1985/1 4. UN, 2.7.1985.

Zierler, D. (2011): The invention of ecocide. University of Georgia Press.

Zimmerer, J. (Hrsg.) (2014): Climate change, environmental violence and genocide. International Journal of Human Rights (special issue), Vol. 18, No.2.

Jürgen Scheffran ist Geographie-Professor für »Klimawandel und Sicherheit« im Klimacluster CLICCS an der Universität Hamburg und Redaktionsmitglied von W&F.

Neuer Blick auf Ruanda


Neuer Blick auf Ruanda

Die Bedeutung der Umwelt für Gewalt und Frieden

von Lisa Reggentin

Umwelt- und Klimaschutz zählen zu den größten Herausforderungen der Gegenwart. Dabei geht es um weit mehr als die Sicherung unserer Lebensgrundlagen. Es geht auch um Krieg und Frieden, denn immer mehr bewaffnete Konflikte sind heute untrennbar mit der Umwelt verbunden. Dabei trägt vor allem die weltweit ungleiche Verteilung natürlicher Ressourcen zum Ausbruch von Konflikten bei. Doch nicht nur Umwelt und Gewalt sind ursächlich miteinander verknüpft. Auch der Frieden selbst hängt stärker mit der Umwelt zusammen, als es bisher thematisiert wird. Dieser Verknüpfung von Umwelt, Gewalt und Frieden geht der Artikel mit dem konkreten Fokus auf Ruanda nach.

Ruanda ist ein Staat, an dem sich die engen Korrelationen zwischen Umwelt, Konflikt und Frieden gleich auf mehreren Ebenen nachvollziehen lassen. Der Genozid von 1994 wird bis heute weitestgehend mit der ethnischen Polarisierung durch die Kolonialmächte erklärt. Selten wird jedoch beleuchtet, welch bedeutende Rolle der sozio-ökologischen Not innerhalb der ruandischen Bevölkerung für den Ausbruch des Völkermordes zugesprochen werden muss. Die Ursachen für diese Not liegen in der Landknappheit, die durch Umweltzerstörung noch zusätzlich verstärkt wurde und zu Hunger und Existenzängsten unter einem Großteil der Gesellschaft geführt hatte. So hat auch der »Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen« (WBGU) den Gewaltausbruch in Ruanda zwischen 1990 und 1994 in seiner »Weltkarte von Umweltkonflikten« als nationalen Konflikt um die Ressource »Land« eingestuft (Carius, Tänzler & Winterstein 2007, S. 26).

Ressourcenmangel schürt Gewaltkonflikte

Im Mittelpunkt dieser Wechselwirkungen steht der Mangel an Land – als Wohnraum, Agrarfläche, Wald – und damit verbundenen Ressourcen wie Holz und Ernteerträgen. Denn Landressourcen bildeten in Ruanda seit jeher die Lebensgrundlage der Bevölkerung, die auch bis heute maßgeblich von der Landwirtschaft abhängig ist. Landbesitz sicherte die Ernährung, Einkommen und Existenzen. Doch aufgrund der geringen Landesfläche bei einer überdurchschnittlichen Bevölkerungsdichte hatte sich in Ruanda eine Landknappheit entwickelt, die bereits zu vorkolonialer Zeit Konkurrenzen zwischen besitzenden und nicht-besitzenden Gruppen auslöste. Konflikte um Land sind in Ruanda also kein neues Phänomen.

Durch den dramatischen Bevölkerungszuwachs zwischen 1962 und 1993 von rund drei auf sechs Millionen Menschen, nahmen auch Versorgungsengpässe und Armut rapide zu (vgl. Moodley, Gahima und Munien 2010). In der Folge kam es zu einer umfassenden Umwandlung natürlicher Lebensräume in Siedlungen und Agrarflächen, was mit einer erheblichen Überanspruchung von Ressourcen und Ökosystemen einherging. Die dadurch bedingten Ernteverluste trugen dazu bei, dass bis zum Jahr 1994 rund 85 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze lebte. Das betraf vor allem die Bauern, „die untereinander einen erbitterten Kampf um Land führten – der in Neid, Hass und Feindschaft resultierte“ (Dießenbacher 1994, S. 147). Auf diese Weise wurde der bereits bestehende ethnische Konflikt in der Bevölkerung zusätzlich verschärft, weil sich mit dem Elend auch die Anfälligkeit für Manipulationen erhöhte. Doch „das eigentliche Ziel des Genozides war die Entvölkerung der landwirtschaftlichen Nutzfläche zur eigenen Existenzsicherung“ (Dießenbacher 1994, S. 147). Nichtsdestotrotz kann die Landknappheit nicht als bestimmende Ursache für den Ausbruch des Völkermordes betrachtet werden. Aber sie gehört zweifelsohne zu den Faktoren, die die Bereitschaft für eine Beteiligung am Genozid begünstigt haben (vgl. Homer-Dixon und Percival 1996, S. 289).

Lehren aus Fehlern der Vergangenheit

Paradoxerweise ging auch der Genozid selbst mit vielfältigen negativen Effekten auf die Umwelt und Landressourcen einher. Nach Angaben von Forschenden der Michigan State University war nach dem Völkermord die Hälfte der gesamten Landesfläche von Umweltzerstörung betroffen – vor allem durch Entwaldung, Bodenerosion und einer grundsätzlichen Schwächung von Ökosystemen (vgl. Clay 1995). Dadurch verschlechterte sich nicht nur die Grundversorgung der Bevölkerung, auch Konflikte um Eigentumsrechte entbrannten neu. Um diese Missstände zu beheben, leitete die neue Regierung unter Paul Kagame im Jahr 2004 eine Landreform ein, die allen Bürger*innen Ruandas, unabhängig der Ethnie, gleiches Recht auf Zugang zu Land ermöglichen sollte. Denn bis zum Jahr 2004 waren noch 90 Prozent des Ackerlandes gewohnheitsrechtlich vergeben worden, während verschriftlichte Landrechte nur für eine kleine Anzahl von Personen und Gemeinden galten. Deshalb strebte die Regierung eine Liberalisierung und Privatisierung des Marktes durch eingetragene Landtitel an, die in Verbindung mit einer konzertierten Konsolidierung fragmentierter Grundstücke zur Produktivitätssteigerung beitragen sollte. Den gewünschten Erfolg brachten die Maßnahmen allerdings nicht, weil sie mit neuen Benachteiligungen einhergingen. Denn von nun an musste Landbesitz offiziell über Grundbucheinträge registriert werden. Diese Registrierung war aber erst ab einer definierten Mindestfläche möglich, die die meisten Grundstücke nicht erfüllten. Zudem konnten sich viele Ruander*innen die Kosten für die Registrierung gar nicht erst leisten. In beiden Fällen drohten Enteignungen und Zwangsumsiedlungen. Aufgrund der steigenden Nachfrage und der weiter wachsenden Bevölkerung musste der dringend benötigte Wohnraum nun auch auf existenzsichernden Agrarflächen gebaut werden, wodurch sich die Versorgung mit Ernteerträgen erneut verschlechterte.

Allerdings nahm die ruandische Regierung die Entwicklungen nach 1994 zum Anlass, bedeutende Veränderungen im Umweltschutz einzuleiten. Mit der Verabschiedung des ersten Umweltgesetzes und der Gründung einer Umweltschutzbehörde wurde der Erhalt der Umwelt in Ruanda ab 2004 erstmals auf institutioneller Ebene manifestiert, was sich schnell in sichtbaren Fortschritten niederschlug. Dazu zählen Maßnahmen der Wiederaufforstung und Unterschutzstellung; der Wiederansiedlung ausgestorbener oder bedrohter Arten, sowie zur Förderung regenerativer Energien, umweltfreundlicher Mobilitätsangebote und von Recycling-Kreisläufen. Heute gilt Ruanda sogar als Vorreiter Afrikas im Umweltschutz (GIZ 2020).

»Environmental Peacebuilding«: Umweltschutz als Friedensförderung

Auch im Hinblick auf die Stabilisierung im Land konnte Ruanda in verhältnismäßig kurzer Zeit große Fortschritte erzielen. Neben der Umsetzung ambitionierter Umweltschutzziele wächst die Wirtschaft seit Jahren um sieben bis acht Prozent, der »Human Development Index« konnte deutlich gesteigert werden und auch in den Bereichen Armutsbekämpfung, Bildungsförderung und Geschlechtergleichstellung hat Ruanda massiv aufgeholt. Dabei gilt es mittlerweile als sehr wahrscheinlich, dass sich die Förderung dieser nachhaltigen Entwicklung – und insbesondere des Umweltschutzes – auch positiv auf den Frieden ausgewirkt haben dürfte. Befürworter*innen dieser These kommen vor allem aus der noch jungen Forschungsrichtung des »Environmental Peacebuilding«, in der Verbindungen zwischen dem Umweltschutz und dem Erfolg von Friedenssicherung untersucht werden. Dahinter steht die Annahme, dass Umweltschutz dazu beitragen kann, gesellschaftliche Lebensbedingungen zu verbessern, indem die Verfügbarkeit von essentiellen Ressourcen gesichert und damit verbundene Benachteiligungen vermieden werden. Spätestens mit der Gründung der »Environmental Peacebuilding Association« im Jahr 2018 hat sich dieses neue Forschungsgebiet auch auf institutioneller Ebene etabliert. Die weltweite Vereinigung versteht sich als multidisziplinäres Forum für den Wissensaustausch zu Umwelt-, Konflikt- und Friedensfragen. Dabei wird das Management natürlicher Ressourcen in der Konfliktverhütung und -lösung untersucht, um sicherheitsfördernde Entwicklungsziele zu begünstigen (vgl. Environmental Peacebuilding Association o.J.).

Positiver Umwelteinfluss auf den Frieden

Auch in Ruanda dürfte der Umweltschutz einen wesentlichen Beitrag zur Stabilisierung nach 1994 geleistet haben. Bedeutende Fortschritte, die im Rahmen der Friedenskonsolidierung in Ruanda erzielt wurden, beziehen sich im Wesentlichen auf die folgenden vier Handlungsbereiche:

Schutz der Umwelt und natürlicher Ressourcen

Durch die Etablierung gesetzlicher Rahmenbedingungen und neuer Verwaltungsinstitutionen konnte eine umfassende Renaturierung und Wiederherstellung geschwächter Ökosysteme und Ressourcen erzielt werden, wodurch sich die Grundversorgung der Gesellschaft mit Nahrung, Wasser und Holz langfristig erheblich verbessern wird. Eine weitere zentrale Säule des Umweltschutzes ist die Förderung eines naturverträglichen Tourismus, der nicht nur den Schutz der lokalen Biodiversität begünstigt, sondern auch Wirtschaftswachstum und Beschäftigungsmöglichkeiten generiert hat (siehe Handlungsfeld 4). Friedensfördernde Effekte gehen auch deshalb mit dem Umweltschutz einher, weil das frühzeitige Vorbeugen negativer Umweltveränderungen zugleich das Risiko für neue Konkurrenz und Spannungen gesenkt hat. Darüber hinaus kann die Verbesserung des Umweltzustandes den hohen Nutzungsdruck auf natürliche Ressourcen durch Armut und Überbevölkerung in Zukunft besser abzufedern helfen. Nicht zuletzt kann die Förderung von umweltverträglichen Praktiken – etwa in der Landwirtschaft – als Sicherheitsnetz für die ärmere Bevölkerungsschicht wirken. Durch geförderte Schulungsprogramme für nachhaltigen Anbau, den Zugang zu klimaresistenten Pflanzen und finanzielle Unterstützung konnten selbst Kleinbäuer*innen ihre Erträge und damit auch ihre Existenzgrundlage langfristig verbessern, wodurch sich ein mögliches Risiko für erneute Gewaltkonflikte verringert hat.

Förderung von Umweltkooperationen

Auch die von der Regierung eingeleiteten Umweltkooperationen, bei denen der Schutz der Umwelt als Gemeinschaftsaufgabe zur Versöhnung und Annäherung beitragen soll, zeigen in der ruandischen Gesellschaft positive Effekte für die Friedenssicherung – und auch darüber hinaus. Ein Beispiel dafür ist das sogenannte »Umuganda« – eine verpflichtende Aufräumaktion, zu der sich alle Ruander*innen einmal im Monat treffen, um gemeinsam Müll zu sammeln, öffentliche Gärten anzulegen, oder Bäume zu pflanzen. Auch das Programm »Work for Public Interest (TIG)« soll die Schaffung einer gesunden Umwelt mit dem Prozess der Vergebung verknüpfen. Dabei leisten verurteilte Völkermord-Täter*innen als Alternative zur Inhaftierung gemeinnützige Arbeit im Umweltbereich, was zugleich als Symbol der Wiedergutmachung und Versöhnung gelten soll.

Auf zwischenstaatlicher Ebene wurde mit der Unterzeichnung der »Erklärung von Goma« durch Ruanda, Uganda und DR Kongo auch eine überregionale Zusammenarbeit für den Schutz der Berggorillas durch gemeinsame Patrouillen und Sicherheitssysteme gestartet. Damit ist das gemeinsame Interesse am Erhalt der bedrohten Wildtiere zur gemeinschaftlichen Aufgabe im Drei-Länder-Eck geworden, was mit zu einer Entspannung der Beziehungen zwischen den drei Nachbarstaaten beigetragen hat.

Maßnahmen für ein nachhaltiges Landmanagement

Der anhaltend hohe Bevölkerungsdruck hat auch das Bewusstsein für die Notwendigkeit nachhaltiger Strategien im Umgang mit der Landknappheit geschärft. Insbesondere das Management knapper Ressourcen hat sich mittlerweile in verschiedenen nationalen Entwicklungsstrategien niedergeschlagen. Dabei führen vor allem Maßnahmen für eine nachhaltige Bewirtschaftung von Agrarflächen und einen schonenden Umgang mit Landressourcen bereits zu großen Verbesserungen in der Landnutzung. Um eine zusätzliche Entlastung zu erreichen, wurde die Nachfrage nach existenzsichernden Gütern zu einem großen Teil auch über erhöhte Importe gedeckt. Allein im Jahr 2015 beliefen sich die Importe nach Ruanda auf das Dreifache der Exporte. Darüber hinaus hat die ruandische Regierung eine Etablierung von Ballungsräumen eingeleitet, um der kleinteiligen Fragmentierung von Grundstücken ein Ende zu setzen und die knappe Fläche effektiv zu nutzen. Zusätzliche Bestrebungen beziehen sich auf Strategien zur nachhaltigen Urbanisierung, die Fortschritt und Wirtschaftswachstum fördert und dabei zugleich Ressourcen schont, regenerative Energien fördert und Klimaresilienz begünstigt.

Förderung des Wirtschaftswachstums

Nicht zuletzt hat auch die Förderung der ökonomischen Entwicklung dazu beigetragen, den gesellschaftlichen Wohlstand zu erhöhen, Armut zu verringern und notwendige finanzielle Kapazitäten zur Reaktion auf umweltbedingte Herausforderungen und friedensfördernde Maßnahmen bereitzustellen. Die Basis dafür bildete die »Rwanda Vision 2020«, die das Land innerhalb einer Generation von einem der am wenigsten entwickelten Länder zu einem Land mit mittlerem Einkommen machen sollte. Die Vision konzentrierte sich auf die Ziele des Wirtschaftswachstums und der Armutsbekämpfung durch eine vollständige Modernisierung. Im Fokus stand dabei die Schaffung einer neuen Wissensgesellschaft innerhalb eines internationalen Dienstleistungszentrums, durch die Ruanda von ausländischer Entwicklungshilfe unabhängig werden sollte. Begünstigt werden sollten diese Ziele durch einen starken, effizienten Staat, getragen von einer marktorientierten Landwirtschaft, einer wettbewerbsfähigen Privatwirtschaft und moderner Infrastruktur. Der darauf einsetzende Aufschwung ist zwar zu einem großen Teil auf internationale Aufbauhilfe zurückzuführen, deren Erfolg wurde aber maßgeblich durch die effiziente Arbeit der ruandischen Verwaltung unterstützt.

Die positiven Effekte der Umweltschutzbemühungen der Regierung zeigen sich unter anderem in der verbesserten Ressourcenverfügbarkeit (vgl. Handlungsfeld 1), die sich wiederum positiv auf die Existenzsicherung ausgewirkt und neue Erwerbs- sowie Exportmöglichkeiten geschaffen haben. Diese wirtschaftliche Entspannung hat zur Entschärfung sozialer Konflikte im Land beigetragen und somit einen Anteil an der Sicherung des Friedens.

Ein Garant für den Frieden kann der Umweltschutz allein trotzdem nicht sein. Denn erfolgreiche Friedenskonsolidierung sollte stets das größere Bild im Blick behalten. Aus diesem Grund gilt es für Ruanda nun, die weiterhin bestehenden sozialen Benachteiligungen und Einschränkungen der Menschenrechte in Angriff zu nehmen und wirksame Lösungen für gesellschaftliche Herausforderungen zu finden. Denn die Bekämpfung von Armut und Hunger bei einer stetig wachsenden Bevölkerung gehören nach wie vor zu den größten Herausforderungen des Landes. Der Umgang mit der Umwelt kann in all diesen Bereichen maßgeblich zu Erfolg oder Misserfolg beitragen. Letztendlich birgt aber eine nachhaltige Entwicklung – und zwar in allen drei Dimensionen – das größte Potenzial, um langfristig Defizite bei der Grundversorgung zu beheben, Lebensbedingungen zu verbessern und damit auch das Konfliktpotenzial zu senken. Eine nicht nachhaltige Entwicklung kann sich hingegen auf all diese Bereiche negativ auswirken.

Die Plausibilität des »Environmental Peacebuilding«

Umweltkonflikte sind heute überall auf der Welt gegenwärtig. Die Lehren aus Ruanda können deshalb auch für andere Regionen und Konflikte von großem Nutzen sein. Denn ressourcenbezogene Konfliktpotenziale werden sich angesichts der Klimawandels in Zukunft noch weiter verschärfen. Bereits heute sind Menschen weltweit durch die Folgen der Erderwärmung gezwungen, ihre Heimat zu verlassen. Schon im Jahr 2014 sprach die Umweltorganisation Greenpeace von mehr als 20 Mio. Menschen auf der Flucht vor den Auswirkungen der Klimaerwärmung (Greenpeace 2014). Bis 2050 könnten es laut Welthungerhilfe bereits über 140 Mio. Menschen sein (Welthungerhilfe 2020). Deshalb wird die Art und Weise, wie wir heute mit der Umwelt umgehen, maßgeblich darüber entscheiden, wie stark uns die Auswirkungen des Klimawandels in Zukunft treffen werden.

Ruanda und der Rest der Welt

Die hier zusammengefassten Erkenntnisse über die umweltbedingten Ursachen und Auswirkungen des Völkermordes sollten deshalb wirksam genutzt werden, um derartige Konfliktrisiken auch in anderen Regionen der Welt frühzeitig zu identifizieren. Ebenso wie das friedensfördernde Potenzial des Umwelt-, Klima- und Ressourcenschutzes. Der Fall Ruanda steht deshalb exemplarisch für eine Vielzahl konkreter Wechselwirkungen zwischen Umwelt, Konflikt und Frieden und verdeutlicht die großen Auswirkungen der Einflussnahme auf die Umwelt – als Risikofaktor und als Chance für den Frieden.

Die potenziell friedensfördernde Wirkung des Umweltschutzes ungenutzt zu lassen, wäre deshalb für jedes Land, jede Region und jeden Konflikt eine vergebene Chance. Wenn nicht nur der Umweltschutz, sondern auch das gesellschaftliche Allgemeinwohl in unseren Antworten auf den Klimawandel und klimabezogene Konflikte Beachtung finden, hat der Frieden eine reelle Chance. Diesen Zusammenhang zu betonen und mit fundierten Forschungsergebnissen zu unterfüttern, wird eine zentrale Aufgabe des Forschungsfeldes »Environmental Peacebuilding« sein.

Literatur

Carius, A.; Tänzler, D.; Winterstein, J. (2007): Weltkarte von Umweltkonflikten: Ansätze zur Typologisierung. Berlin: Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen.

Clay, D., et al. (1995): Promoting food security in Rwanda through sustainable agricultural productivity. Meeting the challenges of population pressure, land degradation, and poverty. MSU International Development Papers No. 17, Michigan State University.

Dießenbacher, H. (1994): Söhne ohne Land. Der Spiegel, 21/1994. Hamburg, S. 147.

Environmental Peacebuilding Association (o.J.): Environmental peacebuilding. environmentalpeacebuilding.org/about/

GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (2020): Ruanda. Die GIZ vor Ort. Webpage, 31.12.2020.

Greenpeace (2014): 200 Millionen Klimaflüchtlinge bis 2040. Pressemitteilung, 14.10.2014.

Homer-Dixon, T.; Percival, V. (1996): Environmental scarcity and violent conflict. The case of Rwanda. Journal of Environment and Development 5(3), S. 270–291.

Moodley, V.; Gahima, A.; Munien, S. (2010): Environmental causes and impacts of the genocide in Rwanda. Case studies of the towns of Butare and Cyangugu. Südafrika: Accord.

Welthungerhilfe (2020): Klimaflüchtlinge. Was hat Klimawandel mit Flucht zu tun? Themenseite.

Lisa Reggentin hat in Lüneburg Umweltwissenschaften studiert und absolvierte in Graz das Masterstudium »Global Studies«. Heute lebt sie in Innsbruck und arbeitet für den Umweltverband WWF Österreich.

Te Awa Tupua – Der Ahne Fluss


Te Awa Tupua – Der Ahne Fluss

Die Revolution der neuen Rechtssubjekte

von Daniela Triml-Chifflard

Bisher deklarierte das moderne Rechtssystem die Natur vor allem als Eigentum, als Objekt, das an seiner Nützlichkeit für den Menschen bemessen und gehandelt wird. Diese Konzeption basiert auf der westlichen Auffassung von Natur, die Menschen als von dieser getrennt und über ihr stehend ansieht. In einigen Staaten verändert sich allerdings in den letzten Jahren das rechtliche Verhältnis zur Natur – nicht zuletzt ein Erfolg vieler indigener Bewegungen. Dieser Artikel nähert sich der Anerkennung der Rechte der Natur am Beispiel des Whanganui-Flusses in Aotearoa (Neuseeland) und wirft einen Blick auf die möglichen globalen Chancen solcher Gesetzgebung für Umweltrecht, kulturelle Menschenrechte und ein verändertes Subjektverständnis im Recht.

Am 15. März 2017 nahmen mehr als 400 Whanganui Maori an der dritten Lesung des »Te Awa Tupua«-Gesetzesentwurfs (wörtlich: »Fluss als Ahne«) im Repräsentantenhaus in Wellington, Aotearoa (Neuseeland), teil. Die Maori wollten den historischen Moment persönlich miterleben, in dem der Whanganui-Fluss nach mehr als 140 Jahren andauerndernder Rechtsstreitigkeiten mit der britischen Krone offiziell als ihr Ahne anerkannt werden würde. Kurz nach Mittag erhielt der Gesetzes­entwurf, nach fünf Jahren intensiver Diskussionen im Parlament, endlich die langersehnte königliche Zustimmung.

Mit seiner parlamentarischen Verabschiedung wurde das »Te Awa Tupua«-Gesetz der erste rechtliche Rahmen der Welt, der einen Wasserlauf als „ein unteilbares und lebendiges Ganzes“ mit all „seinen physischen und metaphysischen Elementen“ und „intrinsischem Wert“ anerkannte und ihn als Persönlichkeit mit allen „Rechten, Befugnissen, Pflichten und Verbindlichkeiten einer juristischen Person“ ausstattete (Te Awa Tupua Act 2017).

Ein neues Naturverständnis im Recht

Vor diesem revolutionären Beispiel neuer Rechtssetzung in Aotearoa (Neuseeland) waren die eigenständigen Rechte der Natur weltweit kaum irgendwo umfassender in einen rechtlichen Rahmen eingebunden. Aufsehen erregte davor deren gesetzliche Verankerung in der Verfassung von Ecuador im Jahr 2008 und in der »Allgemeinen Erklärung der Rechte von Mutter Erde« (»Universal Declaration of the Rights of Mother Earth«), verabschiedet von der Konferenz indigener Gruppen zum Klimawandel im Jahr 2010 in Cochabamba, Bolivien (vgl. Earth Law Center 2021; siehe Tabelle).

In der ecuadorianischen Verfassung heißt es seither in Kapitel 7, Artikel 71: „Die Natur oder Pachamama, in der sich das Leben reproduziert und existiert, hat das Recht, zu existieren, zu bestehen, ihre Lebenszyklen, ihre Struktur, ihre Funktionen und ihre Prozesse in der Evolution zu erhalten und zu regenerieren. Jede Person, jedes Volk, jede Gemeinschaft oder Nationalität kann die Anerkennung der Rechte der Natur vor den öffentlichen Organen einfordern.“ Es war dieser Verfassungsartikel, der 2011 die Rechtsgrundlage für die erste erfolgreiche Klage gegen die Provinzregierung von Loja, Ecuador, für die Wiedergutmachung wegen der Beschädigung des Vilcabamba-Flusses lieferte (Earth Law Center 2021).

Umweltaktivist*innen weltweit und Organisationen wie »Nature’s Rights« und das »Earth Law Center« begrüßen die rechtliche Verankerung dieser Rechte der Natur und ihrer Wandlung von einem nutzbaren Objekt für Menschen zu einem Subjekt mit Eigenwert und Recht auf Leben. Diese revolutionären Gesetzesänderungen ermöglichen es nun Umweltorganisationen, Gemeinschaften sowie einzelnen Privatpersonen, das »Recht auf Leben« der Natur vor Gericht einzufordern.

Die durch Kolonialismus und Imperialismus geprägte, weltweit dominante Interpretation von Natur als vom Menschen dominierter Ressource kontrastiert stark zu vielen indigenen Weltverständnissen, die oftmals Menschen als Teil der Natur ansehen, die Natur als belebte Einheit wahrnehmen und sie als Teil der sozialen Gesellschaft definieren. Derartige indigene Verständnisse von Natur sind auch die Grundlage für die neuen Gesetzesentwürfe. Denn auch wenn Umweltschützer*innen und Organisationen wie »Nature’s Rights« und das »Earth Law Center« darin die Verwirklichung ihrer Forderungen sehen, den Eigenwert der Natur anzuerkennen und ihr das Recht zuzusprechen, „zu existieren, zu gedeihen und sich zu entwickeln“, so sind diese Gesetze nicht allein kreiert worden, um der Natur mehr Rechte zu verleihen, sondern vor allem um die Menschenrechte indigener Gruppen besser durchsetzen bzw. aufrechterhalten zu können.

Rolle der internationalen Menschenrechte

Seit dem »Übereinkommen über eingeborene und in Stämmen lebende Völker in unabhängigen Ländern« der Internationalen Arbeitsorganisation von 1989 (ILO-Übereinkommen 169), das von Regierungen weltweit forderte, die besondere Beziehung der indigenen Völker zu ihrem Land und ihren Territorien zu respektieren und die traditionellen Rechte auf Eigentum und Besitz von Land durch die betroffenen Völker anzuerkennen, sind Regierungen angehalten, sich den völkerrechtlichen Normen der Selbstverwaltung von Minderheiten und Indigenen anzupassen.

Es lässt sich beobachten, dass durch die Verpflichtung, indigene soziale und kulturelle Rechte und die damit verbundenen religiösen und spirituellen Werte und Praktiken, die für die jeweilige indigene Identität wesentlich sind, anzuerkennen und zu schützen, weltweit schrittweise konstitutionelle Neuordnungen zur gesetzlichen Gleichstellung indigener Gruppen mit anderen Bevölkerungsgruppen unternommen werden. Beschleunigt wurde dieses Bestreben durch die im Jahr 2007 von den Vereinten Nationen verabschiedete »Deklaration der Rechte indigener Völker« (UNDRIP), die für ein Überleben indigener Gruppen in Nationalstaaten entsprechende sozioökonomische, politische und kulturelle Zielsetzungen formulierte.

Te Awa Tupua – Ein Fluss als Ahne

Auch in Aotearoa (Neuseeland) tragen das ILO-Übereinkommen und die UNDRIP zu einer Transformation der Beziehungen zwischen der neuseeländischen Regierung und der Maori-Minderheit bei. Sie beeinflussen stark, wie seitdem mit den Anspruchsforderungen der indigenen Maori vor staatlichen Gerichten umgegangen wird. Seit diesen Abkommen ist die neuseeländische Regierung sichtbar bestrebt, die besondere Beziehung der Maori zu ihrem Land und ihren Territorien zu respektieren und die traditionellen Eigentumsrechte und den Besitz von Land anzuerkennen. Doch es bedurfte auch der Formierung einer organisierten Maori-­Protestbewegung und kontinuierlicher Prozessführung durch Maori, um der Forderung nach Anerkennung Nachdruck zu verleihen. Als Reaktion auf die mannigfaltigen Proteste richtete die Regierung von Aotearoa (Neuseeland) das sogenannte »Waitangi-Tribunal« ein, das den Weg für die revolutionäre »Te Awa Tupua«-Gesetzgebung und die Verankerung einer indigenen Kosmologie im modernen Staatsrecht ebnete. Der historische Moment der Implementation dieses Gesetzes markierte auch das Ende des am längsten andauernden Rechtsstreits in der Geschichte Aotearoas (Neuseelands). Rechtsstreitigkeiten, die auf die Unterzeichnung des Vertrags von Waitangi im Jahr 1840 folgten.

Der Vertrag von Waitangi: Konzeptionelle Missverständnisse

Der Vertrag von Waitangi ist ein Abkommen, das zwischen der Kolonialmacht Großbritannien und den Maori-Chiefs geschlossen wurde, um die steigende Zahl europäischer Siedler*innen in Aotearoa (Neuseeland) und die indigene Maori-Bevölkerung unter einer Regierung zu vereinen. Die darin festgehaltenen Versprechen der britischen Krone wurden von dem Missionar Henry Williams und seinem Sohn Edward ins Maori übersetzt. Nur etwa 40 Maori-Häuptlinge unterzeichneten die englische Version am 6. Februar 1840. Bis September desselben Jahres unterzeichneten weitere 500 Maori-Häuptlinge »Te Tiriti«, die Maori-Version des Vertrags, die im ganzen Land verschickt wurde.1 Kurz nach der Unterzeichnung des Vertrages begannen Streitigkeiten über seinen Inhalt und die Eigentumsrechte an Land. Diese Streitigkeiten, die bis heute andauern, beruhten nicht nur auf der falschen Übersetzung der englischen Originalfassung ins Maori, sondern auch auf konzeptionellen Missverständnissen, da die Vorstellungen der Briten von Land und Besitz nicht mit den Vorstellungen der Maori übereinstimmten und umgekehrt (vgl. Ministry for Culture and ­Heritage 2017). Um 1840 war das britische Konzept des privaten Landbesitzes ein fremdes Konzept für die Maori, die ihren Anspruch auf Land durch gewohnheitsmäßige Nutzungen geltend machten. Land und andere natürliche Ressourcen konnten nicht besessen, sondern nur kontrolliert werden. Diese Autorität über Land, seine natürliche Umwelt und das Recht seiner Nutzung werden nach Ordnung der Maori bis heute durch Abstammung vererbt. Das System der gemeinschaftlichen Zusammenarbeit bei der Kultivierung und der gemeinsamen Nutzung der natürlichen Ressourcen hemmt jeden Trend zum Individualismus und zum individuellen Besitz von Land, wie im westlichen Verständnis von Natur.

Entwicklungen der Verankerung autonomer Rechte der Natur weltweit

Jahr

Staat/Gremium

Gesetz bzw. Entscheidung

2008

Ecuador

Ecuadorianische Verfassung Kapitel 7, Artikel 71: „Die Natur oder Pachamama (…) hat das Recht, zu existieren, zu bestehen, ihre Lebenszyklen, ihre Struktur, ihre Funktionen und ihre Prozesse in der Evolution zu erhalten und zu regenerieren. Jede Person, jedes Volk, jede Gemeinschaft oder Nationalität kann die Anerkennung der Rechte der Natur vor den öffentlichen Organen einfordern.“

2010

Bolivien

Bolivianische Verfassung Gesetz der Rechte von Mutter Erde No.71 Artikel 3:

„Mutter Erde ist das dynamische lebende System, das aus der unteilbaren Gemeinschaft aller Lebenssysteme und Lebewesen besteht, die miteinander in Beziehung stehen, voneinander abhängig sind und sich gegenseitig ergänzen und ein gemeinsames Schicksal teilen.“

2010

Konferenz indigener Gruppen

»Allgemeine Erklärung der Rechte von Mutter Erde«, Cochabamba, Bolivien anerkennt »Mutter Erde« als Lebewesen, das unveräußerliche Rechte besitzt.

2014

Aotearoa (Neuseeland)

»Te Urewera Act« – Der Te Urewera Nationalpark wird als juristische Persönlichkeit anerkannt.

2016

Kolumbien

Verfassungsgericht verleiht dem »Atrato-Fluss« den Status einer juristischen Person mit Rechten auf Schutz, Erhaltung, Pflege und Erneuerung.

2017

Aotearoa (Neuseeland)

»Te Awa Tupua Act« – Der Whanganui Fluss wird als Lebewesen mit intrinsischem Eigenwert (all seine physikalischen und metaphysischen Elemente) anerkannt und als juristische Persönlichkeit ­tituliert.

2018

Kolumbien

Der kolumbianische Teil des amazonischen Regenwaldes wird als juristische Persönlichkeit anerkannt.

März 2017
bis
Juli 2017

Indien

Das Oberste Gericht von Uttarakhand spricht den Flüssen »Ganga« und »Yamuna« sowie den Gletschern von »Gangotri« und »Yamunotri« im Himalaya den Status von juristischen Personen für ihr Überleben, ihre Sicherheit, ihren Erhalt und ihr Wiederaufleben zu. Auf Einspruch der Regierung setzt der Oberste Gerichtshof im Juli 2017 die Verfügungen des High Court of Uttarakhand im Ganges- und Yamuna-Fall jedoch wieder aus.

2019

El Salvador

Anerkennung der staatlichen Wälder als lebende Entitäten.

2019

Bangladesch

»High Court Division Declaration in Writ Petition Nr.13989«: Der »Turag-Fluss« und alle Flüsse Bangladeschs werden als lebende Entitäten anerkannt.

Kulturelles Menschenrecht auf Te Ao Maori (Die Maori Welt)

Die Maori verstehen sich als Hüter*innen ihres Landes, das sie von ihren Vorfahren vererbt bekommen haben. Dieses Land wird wiederum von ihnen für zukünftige Generationen geschützt. Abstammung und Verwandtschaft definieren so die traditionellen Nutzungsrechte am Territorium. Dabei bezieht sich Verwandtschaft gemäß der Kosmologie der Maori nicht nur auf Familienbande zwischen lebenden Menschen, sondern auf ein breiteres Netz von Beziehungen zwischen Menschen, Land, Wasser, Flora, Fauna und die spirituelle Welt der Götter, da diese durch eine gemeinsame Lebensessenz miteinander verbunden sind. Dieses Verständnis geht auf den Ursprungsmythos der Maori zurück, die sich, ebenso wie alle natürlichen Elemente (Wind, Regen, Vögel, Wälder, Flüsse, Pflanzen…), als direkte Nachkommen von Ranginui (dem Himmels-Vater) und Papatuanuku (der Erd-Mutter) verstehen. Aufgrund dieser gemeinsamen Abstammung sind alle diese Elemente miteinander verwandtschaftlich verbunden und haben auf sich gegenseitig mit Respekt zu achten.

Speziell die Menschen einer Maori Gruppe, ihre »rangatira« (Häuptling/Stammesoberster), ihre »tipuna« (Ahnen) und ihr Land teilen alle das »hau« (den Wind des Lebens) der gemeinsamen Vorfahren. In Maori sprechen die Menschen von sich selbst als ahau (ich selbst), und rangatira sprechen von einem Vorfahren in der ersten Person, weil sie das »kanohi ora«, sein »lebendiges Gesicht« sind. Entsprechend werden sie auch als Elemente einer gemeinsamen Identität verstanden. So erwähnen die Maori, wenn sie nach ihrer Identität gefragt werden, nicht sich selbst, sondern beziehen sich auf ihren geschätzten Vorfahren, ihren Berg, ihren Fluss und andere natürliche Orientierungspunkte.

Maori der Gruppe Te Atihaunui-a-Paparangi (auch Atihaunui oder Ngati Hau genannt), die entlang des Whanganui-Flusses wohnen, sind eine relativ homogene Abstammungsgruppe. Sie sind durch den Whanganui-Fluss, der durch ihr Ahnenterritorium fließt, miteinander verbunden. Sie sehen den Fluss als ihren gemeinsamen Vorfahren, mit dem sie gemeinsames hau teilen und nennen ihn »tipuna awa« (Ahne Fluss).

Entsprechend ihres Verständnisses gemeinsamer Identität zitieren Whanganui-Maori den Spruch „Ko au te Awa, ko te Awa ko au“ („Ich bin der Fluß und der Fluß bin ich“), wenn sie nach ihrer Herkunft gefragt werden (Salmond 2017, Waitangi Tribunal 1999). Seit Ankunft der europäischen Siedler*innen wurde dieses alternative Weltverständnis von der Kolonialmacht in der steten Aneignung von traditionell genutztem Maori-Territorium fortlaufend ignoriert und trotz unzähliger gerichtlicher Einsprüche nicht angehört und beachtet. Auf diesem Weg wurden den Maori nicht nur Land und Ressourcen entzogen, sondern auch ein wichtiger Teil ihrer Identität entrissen. Mit der Implementierung der »Te Awa Tupua«-Gesetz­gebung wurde der Whanganui River nun endlich als „eine spirituelle und physische Einheit, die sowohl das Leben und die natürlichen Ressourcen innerhalb des Whanganui-Flusses als auch die Gesundheit und das Wohlergehen der Maori-­Gemeinschaften am Fluss unterstützt und aufrechterhält“, anerkannt (Te Awa Tupua Act 2017). Dadurch wurde nach 140 Jahren kontinuierlicher Unterdrückung die Maori-Kosmologie erstmals rechtlich verankert und zu einem anerkannten Teil neuseeländischer Realität, geleitet von der Überzeugung, Gerechtigkeit für (post)koloniale Ungleichheiten und damit einhergehendes Leid zu üben, um Maori für erlittene Diskriminierungen zu entschädigen.

Das Waitangi-Tribunal

Doch diese Gesetzgebung wäre nicht ohne den unermüdlichen landesweiten Protest der Maori zustande gekommen. Die kontinuierlichen Landenteignungen aktivierten großen Widerstand aufseiten der Maori. Neben zahlreichen Klagen vor Gericht wurde die steigende Unzufriedenheit auch in der Formierung einer aktiven Maori-Protestbewegung zum Ausdruck gebracht. Der bemerkenswerteste Protest war der große »Maori hikoi« (Landmarsch) von 5.000 Maori von Te Hapua nach Wellington im Jahr 1975. Die Demonstrant*innen überreichten Premierminister Bill Rowling eine Petition mit 60.000 Unterschriften, um gegen die fortlaufende Landenteignung der Maori zu protestieren. Dieser Marsch lenkte landesweit die Aufmerksamkeit auf den Vertrag von Waitangi und damit einhergehende Klagen von Maori. Als Reaktion darauf richtete die neuseeländische Regierung noch am 10. Oktober des gleichen Jahres das »Waitangi-Tribunal« unter dem »Treaty of Waitangi Act Nr. 114« ein.

Das Waitangi-Tribunal ist eine Untersuchungskommission, die von Maori vorgebrachte Verletzungen des Vertrages von Waitangi durch die Britische Krone prüft und auf Basis ihrer Ergebnisse Empfehlungen an das neuseeländische Parlament ausspricht, wie mit den einzelnen Fällen zu verfahren ist. Die Errichtung des Tribunals war die erste institutionelle Veränderung nach mehr als 130 Jahren andauernder Proteste der Maori gegen die Verletzungen des Vertrages von Waitangi. Damit gestand die neuseeländische Regierung offiziell ein, dass der Vertrag von Waitangi in englischer Sprache von der Maori-Version abweicht und stellte mit dem Tribunal ein juristisches Verfahren bereit, durch das Maori Ansprüche an die Krone geltend machen konnten.

Zu Beginn löste das Tribunal die langjährigen Maori-Forderungen relativ ineffektiv und nicht zufriedenstellend ein, aufgrund seiner beschränkten Zuständigkeit auf Klagen, die nach dem 10. Juli 1975 eingereicht wurden. Dadurch hielt die Diskriminierung der Maori-Bevölkerung an. Als Reaktion auf anhaltende Proteste wurden 1985 die Befugnisse des Tribunals auf ausstehende Klagen ausgeweitet, die bis zum Jahr 1840 zurückreichende Vertragsbrüche anzeigten. Bis heute wurden mehr als 2.000 Klagen vor das Waitangi-Tribunal gebracht. Einer davon war der am 14. Oktober 1990 eingereichte Whanganui River Claim der Whanganui Maori.

Nach Prüfung der Klage veröffentlichte das Waitangi-Tribunal 1999 seine Untersuchungsergebnisse im Whanganui River Report (WAI 167): Es entschied zu Gunsten der Whanganui Maori und deklarierte den Whanganui-Fluss als ein unteilbares und metaphysisches Ganzes, das für die Whanganui Maori eine besondere Bedeutung als Ahne habe. Die Whanganui Maori besitzen demnach weiterhin die Verwaltungshoheit über den Whanganui Fluss und haben diese Interessen nie verkauft. Eingriffe in den Fluss durch die Krone, ohne Konsultation oder Entschädigung der Whanganui Maori, stehen nach den Ergebnissen des Tribunals im Widerspruch zu den Prinzipien des Vertrages von Waitangi und müssen adäquat entschädigt werden.

Auf Basis dieses Urteils erarbeitete das neuseeländische Parlament gemeinsam mit den Whanganui Maori in konflikt­reichen Verhandlungen, die sich über einen Zeitraum von 13 Jahren erstreckten, das revolutionäre »Te Awa Tupua«-Gesetz (Hayward und Wheen 2004; Keane 2012).

Ein revolutionäres Umweltrecht

Die Maori-Umweltjuristen James Morris und Jacinta Ruru waren die ersten, die vorschlugen, neuseeländische Flüsse als juristische Personen anzuerkennen. Sie bezogen sich in ihrer Argumentation auf Christopher Stones rechtliche Konzeption für natürliche Entitäten. Stone, Professor am University of Southern California Law Center, hatte bereits 1972 seinen revolutionären, aber auch heftig diskutierten Aufsatz »Should trees have standing? Law, Morality and the Environment« (Stone 2010 [1972]) veröffentlicht. Seine Überlegungen basierten auf der Beobachtung, dass die juristischen Begriffe des Eigentums und der juristischen Person im modernen Staatsrecht im Laufe der Geschichte ständig verändert und angepasst wurden. Für Stone gab es eine kontinuierliche Entwicklung in der Überlegung, welche Dinge als »besitzbar« anerkannt wurden (z. B. Land, bewegliche Sachen, Ideen, andere Personen wie Sklav*innen), wer als besitzfähig galt (z. B. Individuen, verheiratete Frauen) und welche Befugnisse und Privilegien dieses Eigentum beinhaltete. In seiner Überlegung dazu, welche undenkbaren Entitäten in Zukunft zu juristischen Personen werden könnten, schlug Stone das Konzept der juristischen Persönlichkeit für natürliche Objekte vor.

Während Bryant (1975, S. 319) Stones Buch als „philosophisch gut durchdachter Vorschlag für neue rechtliche, ökonomische, politische und soziale Ansätze für die Probleme der Harmonisierung einer industrialisierten Gesellschaft mit einer sich rapide verschlechternden Umwelt“ bezeichnete und Huffman (1974) meinte, „Das vorgeschlagene System ist wahrscheinlich praktikabel und hätte den positiven Effekt, uns zu zwingen, die tatsächliche Schädigung der Umwelt zu betrachten. Es ist klar, dass Stone den ersten großen Schritt gemacht hat: Er hat das Undenkbare vorgeschlagen“, kritisierte Elder (1984) den Vorschlag mit der Begründung, „Menschen und Pflanzen sind nicht in der gleichen Kategorie, die notwendig wäre, um eine solche Schlussfolgerung zu rechtfertigen. Selbst wenn das Gras und die Pflanzen Wasser ‘brauchen‘, in dem Sinne, dass sie ohne Wasser sterben werden, warum folgt daraus, dass wir die Pflicht haben, sie zu gießen? Haben sie irgendeine moralische Wichtigkeit?“, und Keeler (1975) meinte sogar, es sei „sehr schwierig, die Konsequenzen dieser These zu bedenken, ohne in Parodie zu verfallen.“

Trotz dieser Kontroversen wurde der Aufsatz schon kurz nach seinem Erscheinen von Umweltschützer*innen aufgegriffen, um ihre Bewegung und ihr politisches Engagement zu untermauern. Auch Morris und Ruru argumentierten, dass das Konzept der Rechtspersönlichkeit perfekt mit der Rolle der Flüsse im relationalen Universum der Maori Kosmologie übereinstimmt. „Sicher, Stones Idee ist radikal. Was er vorschlug, war ein neuartiger Ansatz zum besseren Schutz der Umwelt und der Ressourcen, die den Menschen erhalten. In gewisser Weise beabsichtigt seine Idee, die Lücke zwischen natürlichen Ressourcen und Menschen zu schließen und ihre Nähe zueinander zu betonen, die zwischen uns herrschen sollte. Aus der Perspektive der Maori (und vielleicht auch anderer indigener Gruppen) ist die Idee weniger radikal, da sie mit einer Weltanschauung übereinstimmt, in der es eine genealogische Verbindung zwischen allen Lebewesen gibt, einschließlich Flüssen und Menschen.“ (Morris und Ruru 2010, S. 58)

Soziale Gerechtigkeit in postkolonialen Nationalstaaten

Das tägliche Leben der Maori in Aotearoa (Neuseeland) ist in vielerlei Hinsicht noch immer von (post)kolonialen Strukturen und ungleichen Machtverhältnissen durchdrungen. Doch in dem Bestreben, Gerechtigkeit für vergangenes Unrecht zu erreichen, konnten (post)koloniale Rechtsstrukturen aufgebrochen und ein neues, gerechteres Recht entwickelt werden. Solche Veränderungen im Recht und in der politischen Praxis sind unerlässlich, um eine echte Gleichstellung zu erreichen und Machtverhältnisse dauerhaft verschieben zu können. Das Recht hat daher das Potenzial, in postkolonialen Staaten soziale Gerechtigkeit herzustellen und als »Brücke zwischen den Welten« zu dienen, um unterschiedliche Kosmologien und die damit verbundenen spezifischen Werte und Praktiken im nationalen staatlichen Recht zu vereinen (vgl. Geddis und Ruru 2019). Seit der Implementierung des »Te Awa Tupua Acts« in Aotearoa (Neuseeland) haben weitere Staaten wie Kolumbien, El Salvador oder die USA das Potential dieses juristischen Konzepts erkannt und angewandt (vgl. Earth Law Center 2021; vgl. Tabelle).

Die neuen Rechtssubjekte und ihre Transformation der Beziehungen

Eine Welt, in der indigene Konzepte und Praktiken zu einer anerkannten und realen Alternative zu den modernistischen Annahmen des Seins werden, könnte davon sogar transformiert werden: Gesetzesneuerungen wie der »Te Awa Tupua Act« werden die Art und Weise verändern, wie natürliche Entitäten in Zukunft konzipiert und wie mit ihnen interagiert werden wird. Indem sie als Lebewesen definiert werden, sind sie nicht mehr instrumentelle Dinge zum Nutzen der Menschen, sondern Personen, mit denen eine ständige Beziehung besteht (vgl. Geddis und Ruru 2019, S. 270f). Dieses neue Verständnis von belebter, dem Menschen nahestehender Natur kann in letzter Konsequenz auch zu einer nachhaltigeren Lebensweise führen, von der alle Lebewesen auf diesem Planeten profitieren.

Mit einem solchen Verständnis ist auch eine Diskussion darüber obsolet, ob dieses Recht eher den Eigenwert der Natur anerkennt oder die kulturellen Rechte der Menschen durchsetzt. Denn diese Diskussion basiert wiederum auf der modernen Trennung von Natur und Kultur und einer darauf begründeten Unterscheidung zwischen Umweltrecht und Menschenrecht. Sobald der Mensch als Teil seiner Umwelt verstanden wird, können die neuen Gesetze als ein gemeinsames planetares Recht für alle Lebewesen verstanden werden, in dem das Recht auf Leben für alle Entitäten des ganzen Planeten gesichert ist.

Anmerkung

1) Während einige Häuptlinge sich weigerten, den Vertrag zu unterzeichnen, hatten andere nicht die Möglichkeit, ihn zu unterzeichnen.

Literatur

Bryant P. (1975): Should trees have standing? Toward legal rights for natural objects by ­Christopher D. Stone (review). Western ­American Literature 9 (4), S. 319-320.

Earth Law Center (o.J.): Timeline. earthlawcenter.org

Elder, P. P. (1984): Legal rights for nature. The wrong answer to the right(s) question. Osgoode Hall Law Journal 22(2), S. 285-296.

Geddis, A.; Ruru, J. (2019): Places as persons: creating a new framework for Maori-Crown relations. In: Varuhas, J.; Stark, S.W. (Hsg.): The frontiers of public law. Oxford: Hart Publishing, S. 255–274.

Hayward, J.; Wheen, N. R. (2004): The Waitangi Tribunal. Te Roopu Whakamana i te Tiriti o Waitangi. Wellington: Bridget Williams Books.

Huffman, J. (1974): Trees as a minority. Environmental Law 5 (1), S. 199-202.

International Labour Organisation (ILO) (1989): Indigenous and Tribal Peoples Convention. No. 169.

Keane, B. (2012): Nga ropu tautohetohe – Maori protest movements. Te Ara – the Encyclopedia of New Zealand. Homepage.

Keeler, D. (1975): Should trees have standing? In: Reason, November 1975.

Ministry for Culture and Heritage New Zealand (2017): The Treaty in brief. Homepage.

Morris, J.; Ruru. J. (2010): Giving voice to rivers: legal personality as a vehicle for recognising indigenous peoples’ relationships to water? Australian Indigenous Law Review 14(2), S. 49-62.

New Zealand Government (2017): Te Awa Tupua (Whanganui River Claims Settlement) Act. Wellington.

Salmond, A. (2017): Tears of Rangi. Experiments across worlds. University of Auckland: Auckland University Press.

Stone, Ch. (2010 [1972]): Should trees have standing? Law, Morality and the Environment. 3. Edition. New York: Oxford University Press.

Waitangi Tribunal (1999): The Whanganui River Report. Wai167. Wellington: GP Publications.

Daniela Triml-Chifflard ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin am Fach Sozial-und Kulturanthropologie der Philipps-Universität Marburg. Sie arbeitet im Bereich der Umweltanthropologie zu sozialen Klimawandelfolgen und zur Politischen Ontologie des Wassers.

Mut zur Komplexität


Mut zur Komplexität

BSV-Studientag »Konflikte und Nachhaltige Entwicklung«, online, 30. Oktober 2020

von Krischan Oberle

„Der Zusammenhang zwischen Hunger und bewaffneten Konflikten ist ein Teufelskreis : Krieg und Konflikte können zu Ernährungsunsicherheit und Hunger führen ; Hunger und Ernährungsunsicherheit können latente Konflikte aufflammen lassen und Gewaltanwendung auslösen.“1

Mit diesem Zitat aus der Begründung zur Verleihung des diesjährigen Friedensnobelpreises an das Welternährungsprogramm eröffnete Jakim Essen (Schulministerium NRW) den Studientag und gab damit einen Ausblick auf die zentralen Fragen der Veranstaltung : Wie müssen nachhaltige Entwicklung, Klima und Frieden zusammengedacht werden ? Was hat der Klima­notstand mit weltweiten und regionalen Kon?ikten zu tun ?

Die verschiedenen Inputs und Workshops des Studientages machten dabei immer wieder deutlich, welche komplexen Zusammenhänge zwischen gesellschafts-, wirtschafts- und umweltpolitischen Feldern bestehen.

Im Zentrum des Auftaktbeitrages von Prof. Jürgen Scheffran (Forschungsgruppe Klimawandel und Sicherheit, Hamburg) stand die These, dass es keinen Frieden ohne eine intakte Natur, aber ebenso keine intakte Natur ohne Frieden geben könne. Prof. Scheffran betonte, dass die heutige Zeit durch eine Anhäufung von Krisen gekennzeichnet sei : Ressourcenmangel, ökonomische Stagnation, atomare Risiken, Pandemien, der Kollaps von Ökosystemen. Die massiv gestiegene Anzahl bewaffneter Konflikte und globale Rüstungsausgaben von fast zwei Billionen US$ seien Indikatoren für diese Krisenhaftigkeit des „von Menschen geprägten Erdzeitalters“.

Der Klimawandel führe zu Risiken für menschliche Sicherheit, sozialer Instabilität und Konflikten. Letztlich komme es laut Prof. Scheffran darauf an, Entscheidungspunkte zu nutzen, um Zukunftspfade hin zu mehr Sicherheit und nachhaltiger Entwicklung zu beschreiten. Strategien gegen den Klimawandel, für die Erhaltung von Ökosystemen sowie für die Prävention von gewaltförmigen Konflikten seien auf allen Ebenen der Wirkungskette möglich. Dabei betonte Prof. Scheffran die folgenden elementaren Bausteine für einen nachhaltigen Frieden :

  • Erhaltung von Natur(ressourcen) und menschlicher Existenz
  • Entfaltung von Fähigkeiten und Entwicklungschancen insbesondere für benachteiligte Personen und Weltregionen
  • Gestaltung einer lebensfähigen und lebenswerten Welt

Prof. Scheffran schloss mit der Beobachtung, dass sich die Welt an einem Scheideweg befinde und eine doppelte Transformation dringend notwendig sei : einerseits im Bereich »Frieden und Sicherheit« und andererseits bei der »nachhaltigen Entwicklung«.

Der Beitrag von Dr. Martina Fischer (Brot für die Welt) fokussierte den Zusammenhang zwischen dem menschengemachten Klimawandel und der Eskalation von Konflikten. Sie erläuterte diesen Zusammenhang am Beispiel von Syrien. Es sei unumstritten, dass Faktoren wie Dürren, Bevölkerungs- und Migrationsdruck einen Einfluss auf die Konfliktdynamik hätten, eine direkte kausalen Verknüpfung könne aber wissenschaftlich nicht nachgewiesen werden. Es sei jedoch zu befürchten, dass die Zuspitzung »Klimawandel führt zu Krieg«, die „politische[…] Lobbyarbeit für eine bessere Klimapolitik eher beeinträchtigt“, wenn Belege nicht eindeutig angeführt werden könnten, so Dr. Fischer.

Aus ihrer Sicht seien nachhaltige Entwicklung, Klimaschutz und Friedenspolitik zusammenzudenken, da Naturkatastrophen und Extremwetterlagen Lebensgrundlagen zerstörten und Konfliktdynamiken negativ beeinflussen könnten. Daher sei ein Umsteuern in allen Bereichen notwendig. Insbesondere seien zivile Formen der Konfliktbearbeitung zu fördern, um Alternativen zu militärischer Terrorbekämpfung und Migrationsabwehr aufzuzeigen.

Der Zivilgesellschaft komme bei diesen Aufgaben eine besondere Rolle zu : Politikgestaltung müsse kritisch begleitet, Partnerinnen im Globalen Süden bei Anpassungen unterstützt werden.

Der letzte Beitrag des Tages unter dem Titel »Who cares ? Wer kümmert sich um die Welt ?« von Nadine Kaufmann (Konzeptwerk neue Ökonomie, Leipzig) stellte Konflikte um Sorgearbeit in den größeren Kontext von nachhaltiger Entwicklung. Ihr Beitrag betonte den Umstand, dass die gegenwärtige Wirtschaftsweise die Transformation zu einer Post-Wachstumsgesellschaft behindere. Care- oder Sorgearbeit wird hier als eine Form der Arbeit verstanden, mit der sich Menschen a) um sich selbst, b) um andere und c) um die Natur kümmern.

Wie bei einem Eisberg sei in der kapitalistisch-patriarchalen Gesellschaft allerdings nur ein kleiner Teil der Ökonomie sichtbar, in Form von Kapital und Lohnarbeit. Ein großer Teil von Sorgearbeit, Subsistenz, informeller Arbeit, aber besonders auch die Beiträge der Natur sowie in neokolonialen Räumen geleistete Arbeit werde nicht wertgeschätzt, weder ideell noch monetär. Sie werde nur in Bruchteilen und schlecht bezahlt und zu einem sehr großen Teil von Frauen* übernommen. Während ansässigen Frauen durch die Verlagerung von Sorgearbeiten an migrantische Frauen, insbesondere in der Pflege, emanzipatorische Räume ermöglicht würden, entstünden so zeitgleich Versorgungslücken in ökonomisch benachteiligten Weltregionen, die dort wiederum Entwicklungsprozesse erschwerten.

Interaktiv ermöglichte der Beitrag im Anschluss die gemeinsame Identifikation von Chancen für nachhaltige Entwicklung mit den Teilnehmenden. Chancen bestünden demnach in der Überwindung des Wachstumszwangs, einer Umgestaltung der Wirtschaft, wie bspw. die Konversion der Rüstungsindustrie, in Investitionen in entwicklungsrelevante Bereiche und die Abschaffung von Abhängigkeitsstrukturen wie bspw. Fürsorgeketten in der Pflege. Es gehe also um nichts weniger, als eine systemweite Veränderung.

Die Teilnehmenden diskutierten zum Abschluss des Studientages die Bedeutung der in den Beiträgen wiederkehrenden »Komplexität« für Friedensbildung. Es wurde deutlich, dass Friedensbildung weit über die Thematisierung von Krieg und Gewalt hinaus gedacht werden müsse, indem sie zudem Themen wie Klimapolitik, Umweltschutz oder Geschlechterverhältnisse aus einer konfliktsensiblen Per­spektive vermittele. Frieden und Konflikt seien Querschnittsthemen für die Bildung zu nachhaltiger Entwicklung. Allerdings müssten dabei gute Abwägungen zwischen gebotener Komplexität und hilfreicher Vereinfachung getroffen werden, um die Bildungsarbeiter*innen und Teilnehmenden eines Workshops zu »nachhaltiger Entwicklung« nicht konstant zu überfordern.

Der hier entwickelte »Mut zur Komplexität« wird in der Friedensbildung notwendig sein, denn „wir bilden die zukünftige Generation aus, die darüber entscheidet, wie unsere Welt mit den folgenreichen Zusammenhängen von Klimawandel, Armut, nachhaltiger Entwicklung umgeht“, wie es Herr Essen zu Beginn des Studientages formulierte.

Der Studientag wurde vom Netzwerk Friedensbildung NRW ausgerichtet und finanziell von der Stiftung Umwelt und Entwicklung im Rahmen des Projekts »Share Peace« beim Bund für Soziale Verteidigung e.V. (BSV) unterstützt. Eine umfassende Dokumentation des Studientags ist beim BSV erschienen.

Anmerkung

1) Norwegisches Nobelpreiskommittee (2020): Ankündigung des Friedensnobelpreises für 2020. www.nobelprize.org/prizes

Krischan Oberle

Geopolitik der Energiewende


Geopolitik der Energiewende

Infrastrukturen für den nachhaltigen Frieden

von Jürgen Scheffran

Geopolitische Konflikte im fossil-­nuklearen Zeitalter haben das vergangene Jahrhundert bestimmt und prägen auch das 21. Jahrhundert. Mit dem Ende des fossilen Kapitalismus nehmen Krisen zu. Die Alternative »Krieg um Öl« oder »Frieden durch Sonne« betrifft neben dem Wandel der Energieversorgung auch einen Systemwandel. Erneuerbare Energien gelten als konfliktärmer, sind jedoch nicht konfliktfrei. Eine sozial-ökologische Transformation geht einher mit Infrastrukturen einer nachhaltigen Friedenssicherung und schafft kooperative Strukturen auf allen Ebenen.

Energie ist wesentlich für Entwicklung und Wohlstand, kann aber auch Risiken verursachen. Physikalische Kräfte können in politische Macht umgewandelt werden. Energiemangel wird als Sicherheitsbedrohung wahrgenommen. Konflikte erwachsen aus dem Missbrauch von Energie und ihrer ungerechten Verteilung. Gewaltkonflikte erschweren den Zugang zu Energieressourcen, während das Energiesystem selbst Ziel oder Mittel von Angriffen und Widerstand sein kann. Die Komponenten des fossil-nuklearen Energiesystems haben immer wieder internationale Konflikte provoziert. Im 19. Jahrhundert waren Kohle und Dampfkraft Macht- und Konflikttreiber, im 20. Jahrhundert Öl und Erdgas, zunehmend auch die Kernenergie. Auch im 21. Jahrhundert ist Energie eine Voraussetzung für die Durchsetzung nationaler Interessen, aber auch für Kooperation.

Die Transformation von fossilen zu erneuerbaren und kohlenstoffarmen Energieformen kann die globalen Machtverhältnisse verändern. Geopolitische Konfliktlinien verschieben sich mit wachsendem Energiebedarf, abnehmenden Brennstoffreserven und ungleicher Verteilung, zunehmenden Umweltschäden und Klimawandel sowie Nord-Süd-Differenzen. Komplexe Konfliktkonstellationen zeigen sich in jüngsten Streitigkeiten. So wurde die Gaspipeline zwischen Europa und Russland zum Spielball im Fall Nawalny. Territorialkonflikte im Südchinesischen Meer, zwischen Türkei und Griechenland im östlichen Mittelmeer oder in der Arktis haben auch mit vermuteten Gas- und Ölvorräten zu tun. Der Bedarf an strategischen Materialien für die Energiewende schafft neue Konfliktmuster.

Produktionsketten und Handelsströme

Länder mit fossilen Brennstoffen verfügen über erhebliche Macht und Gewinne, die in die sozioökonomische Entwicklung, aber auch in militärische Fähigkeiten investiert werden. Mit der Energiewende und Dekarbonisierung verlieren sie an geopolitischem Einfluss und geraten in die Defensive. Damit verbunden sind steigende Preise fossiler Brennstoffe und sinkende Einnahmen. Verstärkt durch schwache Regierungsführung kann dies zu einem Machtvakuum führen, mit sozialen Unruhen, Rechtspopulismus, Machtkämpfen und Gewalt, die sich über Landesgrenzen ausbreiten. Der Zerfall der Sowjetunion dient hier als Beispiel.

Einige ölexportierende Länder verfolgen das Ziel, von den Ölrenten weniger abhängig zu werden und ihre Wirtschaft zu diversifizieren. Der rasche Anstieg erneuerbarer Energien transformiert die geopolitische Landkarte. Zunehmend werden sie vom Wettlauf um technologische Innovation und Dominanz erfasst. Die meisten Länder verfügen über ein tragfähiges Potenzial erneuerbarer Energien, um von fossilen Brennstoffen unabhängig zu werden, Energiesicherheit und eine bessere Handelsbilanz zu schaffen. Eine Transformation bietet für diese Länder strategische Vorteile, macht sie weniger anfällig gegen Versorgungsengpässe und Preisschwankungen, politische Instabilität, Terroranschläge und bewaffnete Konflikte. Eine vollständig erneuerbare Stromversorgung ist technisch machbar, wenn verschiedene Quellen zur Verfügung stehen und die Variabilität der Stromerzeugung im Netz durch einen Energiemix abgefedert wird.

Globale Verschiebungen

Nachdem die USA über Jahrzehnte von Öl und Gas aus konfliktreichen Regionen abhingen, konnten sie durch Fracking und Schiefergas einen großen Teil ihres Energiebedarfs selbst decken und wurden zum Nettoexporteur von Erdgas, zunehmend auch von Erdöl. Auch wenn die Regierung Trump weiter auf fossile Energien setzt, arbeiten Teile der USA an der Energiewende und nutzen dabei technologische Fähigkeiten der US-Industrie.

Die Europäische Union kann die Abhängigkeit durch fossile Brennstoffe mit erneuerbaren Energien mindern und ihre technologischen Fähigkeiten nutzen. Deutschland wurde zum Vorreiter der Energiewende und ist in Europa bei Patenten für erneuerbare Energien führend. Island entwickelte sich mit dem Ausbau erneuerbarer Energien von einem der ärmsten Länder Europas zu einem Land mit hohem Lebensstandard, das seine Elektrizität aus Wasserkraft und Erdwärme gewinnt. Ähnliche Vorteile eröffnen sich in Japan. Große Herausforderungen bedeutet die Energiewende für Russland, den weltweit größten Gas- und zweitgrößten Ölexporteur. Öl- und Gaseinnahmen sind mit rund 40 % ein wichtiger Bestandteil des Staatshaushalts. Obwohl Russland zunehmend in erneuerbare Energien investiert, liegt es bei den Patenten weit zurück.

China verfügt zwar über große Kohleressourcen, ist aber von Gas- und Ölimporten abhängig. Da eine Energiewende der eigenen Energiesicherheit dient, fördert die Regierung seit Jahren Innovationen in erneuerbare Energietechnologien. Mit mehr als 45 % der weltweiten Investitionen war China 2017 der weltweit größte Produzent, Exporteur und Installateur von Sonnenkollektoren, Windturbinen, Batterien und Elektrofahrzeugen. Zudem hat es eine Vorreiterrolle bei Technologien, wie Silizium-Photovoltaik-Modulen oder Lithium-Ionen-Batterien, und ist führend bei den Patenten für erneuerbare Energien. Das Infrastrukturprojekt einer »neuen Seidenstraße« stärkt Chinas geostrategische Position.

Nordafrika und Nahost

Die MENA-Region (Middle East, North Africa) ist reich an fossilen Brennstoffressourcen, die eine wichtige Einkommensquelle bilden, ist damit aber auch besonders verwundbar gegen Einnahmenverluste, die sich negativ auf Wirtschaftswachstum und Staatseinnahmen auswirken. Die Abhängigkeit hat zu gewaltsamen Konflikten beigetragen, die Ressourcen absorbieren, die Demokratie untergraben und Umweltschäden verursachen. Ein Teil der Einnahmen wurde verwendet, um den Zugang zu Wasser und Nahrungsmittelimporten zu sichern. Um bei Erschöpfung fossiler Reserven damit verbundene Instabilitäten zu vermeiden, ist die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen zu verringern, die den für die Region bedrohlichen Klimawandel fördern. Die wachsende Energienachfrage lässt sich nicht mit Kernenergie befriedigen, auch wegen ihrer militärischen Sicherheitsrisiken in dieser konfliktträchtigen Region.

Der MENA-Raum verfügt über hohe Potenziale an Sonnenenergie und Windkraft. Mit dem Desertec-Konzept entstand die Vision einer Energiezusammenarbeit zwischen Europa und MENA, die erneuerbare Energiesysteme rund um das Mittelmeer über ein Stromnetz verbindet, um verschiedene Ziele zugleich zu erreichen (Energiesicherheit, Klimaschutz, Entwicklung, Arbeitsplätze, Versorgung mit Wasser und Nahrung). Aufgrund der Destabilisierung durch den Arabischen Frühling konnte das Konzept nicht realisiert werden. Einzelne Staaten planen jedoch, die erneuerbaren Potentiale stärker zu nutzen. Marokko will bis 2030 etwa die Hälfte des Stroms aus erneuerbaren Quellen liefern und zum Nettoexporteur von Elektrizität werden.

Perspektiven für den Globalen Süden

Auch andere Entwicklungsländer können von der Nutzung erneuerbarer Energie profitieren, um ihre Ölabhängigkeit zu senken, den Klimawandel zurückzudrängen und die Resilienz zu stärken. Die eingesparten Importkosten lassen sich in neue Technologien investieren. Indien gehört zu den am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften und könnte China bald als weltgrößten Wachstumsmarkt im Energiebereich überholen. Geplant ist ein massiver Ausbau erneuerbarer Energien.

Auch in vielen Ländern Subsahara-­Afrikas lassen sich durch die eigenständige Erzeugung erneuerbarer Energien Arbeitsplätze schaffen und Entwicklung vorantreiben. Probleme ergeben sich für Ölproduzenten, wie Nigeria und Angola, die bei einer Energiewende große Einnahmeverluste fürchten. Ob es gelingt, das fossile Entwicklungsmodell zu überspringen, hängt auch davon ab, ob Staaten der Verlockung schnellen Reichtums durch neu entdeckte fossile Ressourcen folgen.

Die gilt auch für den Ölboom in einigen Staaten Lateinamerikas, die sich durch den Fall Venezuelas nicht abschrecken lassen. Viele haben große Ressourcen erneuerbarer Energien. Am bekanntesten ist das brasilianische Ethanolprogramm, das nach dem Ölschock 1973 eingeführt wurde, um die Energieautarkie zu stärken. Heute ist Brasilien der zweitgrößte Produzent und größte Exporteur von Ethanol. Kleine Inselstaaten, die durch den Klimawandel besonders bedroht sind, versuchen mit ihren erneuerbaren Energiequellen den Großteil ihres heimischen Energiebedarfs zu decken.

Konfliktpotentiale der Energiewende

Eine nachhaltige Energiewende vermeidet die für fossil-nukleare Energiesysteme typischen Konflikte. Beispiele sind Liefer­embargos des OPEC-Kartells im Gefolge des arabisch-israelischen Konflikts, Machtkämpfe um Pipelines oder Kriege um Öl am Persischen Golf. Mit einer Energiewende könnte auf militärische Operationen, Stützpunkte und Streitkräfte zur Sicherung fossiler Ressourcen verzichtet werden. Teile des Militärs versuchen, erneuerbare Ressourcen in ihre Planungen einzubeziehen.

Erneuerbare Energieträger und ihre Infrastrukturen sind jedoch nicht konfliktfrei. Sie benötigen wichtige natürliche Ressourcen (Land, Wasser, Nahrungspflanzen, Mineralien), deren konkurrierende Nutzungen Spannungen hervorrufen. Umweltauswirkungen führen zu meist lokalen Protesten und Widerständen in der Bevölkerung, gegen Stromnetze, Staudämme, Bioenergie, große Windkraft- und Solaranlagen.

Die Verbreitung erneuerbarer Energien erhöht die Elektrifizierung und stimuliert den Stromhandel, was regionale Kooperation und den Ausgleich zwischen Energiequellen fördert; Verbundnetze gibt es auf praktisch allen Kontinenten. Die Möglichkeit, Stromnetze kontrollieren, abschalten oder zerstören zu können, mag als Bedrohung angesehen werden, eignet sich aber nur bedingt als Druckmittel, solange Staaten auf verschiedene Weise Strom beziehen können. Regulierungen können die Risiken minimieren.

Kritische Materialien und Cyber-Sicherheit in Energienetzen

Es spricht einiges dafür, dass durch die Energiewende geopolitische Instrumente an Bedeutung verlieren, aber nicht verschwinden. Auch wenn ein „Embargo gegen die Sonne“ (Jimmy Carter) nicht möglich ist, könnten neue Abhängigkeiten und Verwundbarkeiten entstehen. Sonnenkollektoren, Windturbinen, Elektrofahrzeuge und Energiespeicher benötigen für ihre Herstellung nicht-­erneuerbare Mineralien und Metalle, wie Kobalt, Lithium, Gallium und Seltene Erden. Davon finden sich große Reserven in Lateinamerika und Afrika, in China, Süd- und Südostasien sowie am Meeresboden. Oft handelt es sich um fragile oder autoritäre Staaten. Mehr als 60 % des weltweiten Kobaltvorrats stammen aus der Demokratischen Republik Kongo. In Kolumbien beuteten bewaffnete Gruppen illegale Rohstoffvorkommen aus. Strategien zur Kontrolle von Konfliktmineralien zielen auf eine Verbesserung der Transparenz entlang globaler Lieferketten.

Länder mit reichen Vorkommen kritischer Materialien könnten ihre Macht nutzen. Als der größte Produzent China 2008 die Lieferung von Seltenen Erden einschränkte, gerieten die Märkte in Panik, und die Preise stiegen stark an. Obwohl sie weltweit reichlich vorkommen, sind Abbau und Produktion der Materialien teuer, umweltschädlich und mit Preisschwankungen verbunden, was andere Länder bislang abgehalten hat. Zudem gibt es Alternativen, wenn auch zu höheren Kosten. Zunehmend wird darauf gesetzt, kritische Mineralien in einer Kreislaufwirtschaft zu recyceln und wiederzuverwenden, was einer Kartellbildung entgegenwirkt.

Für die globale Machtprojektion entscheidend ist die Kontrolle der Netzinfra­struktur, die physische Vermögenswerte ebenso umfasst wie virtuelle Verbindungen, die sich mit der Digitalisierung des Energiesektors vervielfachen. Dies schafft Risiken für Sicherheit und Datenschutz, durch kriminelle Gruppen, Terrorist*inn en oder auswärtige Geheimdienste, die Versorgungs- und Stromnetze manipulieren. Oft zitiert wird der Cyberangriff auf das Stromnetz der Westukraine im Dezember 2015, wodurch mehr als 230.000 Menschen bis zu sechs Stunden im Dunkeln blieben. Konsequenzen sollen mit »Smart Grids« minimiert oder durch Gegenmaßnahmen und Regeln eingedämmt werden. Zukünftige Energiepfade sind systematisch anhand geeigneter Kriterien zu bewerten und zu vergleichen

Neue Allianzen in Energielandschaften

Erneuerbare Energien ermöglichen Allianzen aus Staaten, transnationalen und substaatlichen Akteuren (Bürger*innen, Städte und Unternehmen). In der neuen Energiediplomatie geht es um Partnerschaften in nachhaltigen Energielandschaften, mit Verbindungen zwischen Stadt und Land, globalen Netzen und regionalen Märkten. Um den üblichen Konzentrations- und Akkumulationsprozessen im Kapitalismus entgegenzuwirken, braucht es einen Systemwandel mit der partizipativ-demokratischen Kontrolle von Machtstrukturen. Chancen bestehen durch die Verbindung von dezentralen Energiesystemen und interkontinentalen Verteilungsnetzen, die die Zusammenarbeit zwischen Industrie- und Entwicklungsländern fördern. Daran können alle als »Prosumer« (Produzenten und Konsumenten) mitwirken, die ein Dach oder etwas Land besitzen, um Energie zu produzieren, für den Eigenverbrauch oder für das Netz.

In einer solchen »Viable World« werden die Menschen im Sinne von »Power to the People« befähigt, die sozial-ökologische Transformation mit anderen zusammen in die eigenen Hände zu nehmen. Wenn Konflikte durch die Kohabitation der Nationalstaaten im gemeinsamen Haus der Erde bewältigt werden, kann die globale Energietransformation eine nachhaltige Friedensdividende erzeugen.

Literatur

Alt, F. (2002): Krieg um Öl oder Frieden durch die Sonne. Riemann-Verlag.

Bazilian, M. et al. (2019): Model and manage the changing geopolitics of energy. Nature, Vol. 569, S. 29-31.

Economist (2020): 21st century power – How ­clean energy will remake geopolitics. The Econo­mist, 19.9.2020, S. 19-25.

Hafner, M.; Tagliapietra, S. (2020): The Geopol­itics of the Global Energy Transition. Cham: Springer.

IANUS (1996): Energiekonflikte – Kann die Menschheit das Energieproblem friedlich lösen? W&F-Dossier 22.

IRENA (2019): A New World – The Geopolitics of the Energy Transformation. International Renewable Energy Agency.

Link, P.M.; Scheffran, J. (2017): Impacts of the German Energy Transition on Coastal Communities in Schleswig-Holstein, Germany. Regions Magazine, Vol. 307, Nr. 1, S. 9-12.

O’Sullivan, M.; Overland, I.; Sandalow, D. (2017): The Geopolitics of Renewable Energy. Working Paper, Harvard Kennedy School.

Scheffran, J.; Cannaday, T. (2013): Resistance Against Climate Change Policies. In: Maas, A. et al. (eds.): Global Environmental Change – New Drivers for Resistance, Crime and Terror­ism? Baden-Baden: Nomos.

Scheffran, J.; Froese, R. (2016): Enabling environments for sustainable energy transitions. In: Brauch, H.G. (ed.): Handbook on Sustainabil­ity Transition and Sustainable Peace. Cham: ­Springer, S. 721-756.

Scheffran, J.; Schürmann, E. (2020): Viable ­World – Zusammenleben im Gemeinsamen Haus der Erde. Blickpunkt Zukunft, Vol. 40, Nr. 69, S. 2-8.

Tänzler, D.; Oberthür, S.; Wright, E. (2020): The Geopolitics of Decarbonization – Reshaping European foreign relations. Berlin: adelphi.

Vakulchuk, R.; Overland, I.; Scholten, D. (2020): Renewable energy and geopolitics – A review. Renewable and Sustainable Energy Reviews, Vol. 122, 109547.

Dr. Jürgen Scheffran ist Professor für Integrative Geographie, Leiter der Forschungsgruppe Klimawandel und Sicherheit (CLISEC) an der Universität Hamburg und Mitglied der W&F-Redaktion.

Umwelt und Frieden


Umwelt und Frieden

Eine unauflösliche Beziehung

von Alexander Lurz

Nur im Frieden ist der Schutz der Lebensgrundlagen garantiert, und nur intakte Lebensgrundlagen garantieren den Frieden. Frieden bedeutet, miteinander in Freiheit, Sicherheit und Vielfalt in einer gesunden Umwelt leben zu können. Im Krieg wird die Umwelt geschädigt oder zerstört, und eine geschädigte oder zerstörte Umwelt belastet oder beendet einen Friedenszustand. Diese Einsicht bestimmte schon in der Gründungsphase die Arbeit von Greenpeace – und nicht nur den Organisationsnamen. Bis heute gehören »green« und »peace« zusammen.

Im September 1971 stach ein Fischkutter in See. Sein Ziel war Amchitka, eine Insel vor der Küste Alaskas und damals Atomtestgelände der USA. Die Insel erreichten die Aktivist*innen der Umwelt- und Friedensbewegung aufgrund des schlechten Wetters und der US-Küstenwache zwar nie. Ihr Ziel jedoch erreichten sie: den geplanten Atomtest zu verhindern. Ihre Protestfahrt bewirkte eine derartige öffentliche Reaktion, dass die US-Regierung einknickte und den Test absagte. Die Aktivist*innen an Bord waren die ersten Greenpeacer*innen. Schon in dieser ersten Greenpeace-Aktion kam beides zusammen: der Schutz der Umwelt und der Einsatz für den Frieden.

Zerstörung von Lebensgrundlagen

Auf mindestens drei Ebenen spielt sich die Zerstörung von Lebensgrundlagen durch oder in der Folge von kriegerischen Handlungen für die Bevölkerung vor Ort ab: Erstens unmittelbar durch die Zerstörung notwendiger Lebensressourcen, zweitens mittelbar durch die weitere Verschärfung eines Konflikts aufgrund eines sich daraus ergebenden Ressourcenmangels und drittens durch einen ressourcenbelastenden Wiederaufbau der im Krieg zerstörten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Infrastruktur.

Beispiel Kuwait/Irak-Krieg

Als die internationale Koalition unter Führung der USA 1991 die Besetzung Kuwaits durch Irak beendete, sprengten die irakischen Truppen auf ihrem Rückzug die kuwaitischen Erdölanlagen und setzten so insgesamt 732 Ölquellen in Brand. Zwischen 300.000 und 700.000 Tonnen Öl verbrannten täglich. Die Rauchentwicklung hatte einen Temperaturabfall in der Region um zehn Grad Celsius zur Folge. Die geringere Sonneneinstrahlung führte zu einem verminderten Pflanzenwachstum an Land und im Wasser in der Region. Der Qualm selbst enthielt mehrere tausend Tonnen Schwefeldioxid, Stickstoffoxide, Kohlenmonoxid und Schwermetalle, wie Cadmium, Blei, Vanadium und Chrom, die teils krebserregend oder erbgutschädigend sind. »Schwarzer Regen« ging u.a. in der Türkei, im Iran, im Kaukasus und im Oman nieder. Im Niederschlag fanden sich auch Kohlenwasserstoffe, Salpetersäure, Schwermetalle und Dioxine. In Kuwait bedeckte der Ruß eine Fläche von rund 935 km2 (Arkin et al. 1991. S. 62-72).

Beispiel Syrienkrieg

Während das Beispiel Kuwait exempla­risch für einen einzelnen drastischen Akt der Umweltzerstörung steht, wird an Beispielen aus dem Syrienkrieg deutlich, wie verschiedenartig Krieg Lebensgrundlagen in Mitleidenschaft zieht bzw. zerstört. Der Zusammenbruch öffentlicher Versorgungsleistungen in einem Krieg wird gemeinhin nicht unmittelbar unter dem Stichwort Umweltschäden betrachtet: In Syrien kollabierte in Städten wie Homs, Aleppo oder Hama das Abfall­entsorgungssystem. In der Folge wurde der Müll in den Deponien nicht mehr abgedeckt, sondern teils einfach verbrannt, und Gefahrstoffe wurden nicht mehr gesondert und sicher entsorgt. Dass dieses Folgen für die Umwelt wie für die Bewohner*innen in den betroffenen Gebieten hat, ist zwar unter Kriegsbedingungen schwerlich abschätzbar, ist aber evident.

Eine direkte Umweltgefahr geht auch vom Schutt aus, der bei der kriegsbedingten Zerstörung oder Beschädigung von Gebäuden entsteht. Die bei Explosionen pulverisierten Baumaterialien enthalten giftige Stoffe, wie Asbest oder polychlorierte Biphenyle (Pax 2015, S. 39). Um eine Vorstellung von der Dimension dieses Problems zu bekommen: Die Weltbank schätzte in ihrer 2017 erschienen Studie »The Toll of War – The Economic and Social Consequences of the Conflict in Syria«, dass bereits zu diesem Zeitpunkt sieben Prozent des Wohnungsbestands in dem Bürgerkriegsland zerstört und weitere 20 Prozent beschädigt waren. Millionen Tonnen in Teilen giftigen Schutts finden sich also in dem Land.

Kontaminationen von Boden und Wasser ergeben sich im Krieg auch durch Angriffe auf Industrieanlagen, die zu den ersten strategisch relevanten Zielen zählen. Giftstoffe können bei Beschädigung und Zerstörung der Produktionsanlagen unterschiedlichster Industriezweige entstehen. Neben naheliegenden, wie der Chemieindustrie, betrifft dies beispielsweise die Textilindustrie und selbst solche wie die Lebensmittelindustrie. Industrieanlagen zählten auch im syrischen Bürgerkrieg zu den Angriffszielen. Die al-Sheikh-Najjar-Industriezone bei Aleppo, die ehemals größte im gesamten Nahen und Mittleren Osten, wurde massiv umkämpft. Wie die niederländische Organisation Pax dokumentiert, waren bei Kriegsausbruch über 1.250 Industrie­anlagen in Betrieb (Zwijnenburg und te Pas 2015, S. 27). Berichte von vor Ort und Satellitenaufnahmen dokumentierten großflächige Zerstörungen; nach Angaben der syrischen Staatsmedien waren Ende 2014, rund ein halbes Jahr nach der Rückeroberung, gerade einmal 300 Anlagen wieder im Betrieb (ebenda, S. 26-28).

Auch die Ölfelder, Transportsysteme sowie Raffinerien waren und sind Ziele im syrischen Bürgerkrieg. So flog die Anti-IS-Koalition allein von Juni bis August 2017 über 1.300 Angriffe auf Ölanlagen im Herrschaftsbereich des Islamischen Staats in Syrien (Zwijnenburg 2018) und verursachte damit das Auslaufen von Rohöl sowie die Freisetzung von giftigen Bestandteilen des Öls durch Explosionen und Brand. Welches Ausmaß Angriffe und Zerstörungen haben, zeigt das Recherche-Kollektiv Bellingcat auf seiner Homepage (ebenda).

Beispiel Öltanker vor der Küste Jemens

Ein dritter, bislang nur potenziell verheerender Fall als letztes Beispiel: Vor der Hafenstadt Hodeidah an der Westküste Jemens liegt der Öltanker »FSO Safer«. In seinen Tanks befinden sich 1,15 Millionen Barrel Erdöl. Aufgrund fehlender Wartungsarbeiten an dem Tanker infolge des jemenitischen Bürgerkriegs droht die Freisetzung des Erdöls durch eine Explosion, ein Feuer oder ein Leck und damit eine Ölkatastrophe enormen Ausmaßes im Roten Meer. Die Rohölmenge an Bord der »FSO Safer« übertrifft, dies zur Veranschaulichung, die bei der Exxon-Valdez-Katastrophe im März 1989 an der Küste Alaskas ausgelaufene Menge um das Vierfache. Die Vereinten Nationen warnen, das Ökosystem des Roten Meeres, auf das rund 30 Millionen Menschen angewiesen sind, würde bei einem Unglück mit der »FSO Safer« verheerend geschädigt werden. Zudem würde in einem solchen Szenario mit hoher Wahrscheinlichkeit der Hafen von Hodeidah blockiert sein, der zur Versorgung eines großen Teils der Bevölkerung Jemens strategisch wichtig ist (United Nations 2020a und 2020b; Greenpeace 2020).

Das » Übereinkommen über das Verbot der militärischen oder einer sonstigen feindseligen Nutzung umweltverändernder Techniken« der Vereinten Nationen aus dem Jahr 1977 untersagt verändernde Eingriffe in die Natur zu militärischen Zwecken. Insbesondere das Beispiel Syrien unterstreicht, dass dieses Verbot nicht ausreicht. Ein Reformprozess auf UN-Ebene hat begonnen, ist jedoch nicht abgeschlossen.

Ohne intakte Umwelt kein Frieden

Während die Umwelt zum Opfer des Krieges werden kann, kann umgekehrt ein Friedenszustand durch Umweltzerstörung gefährdet oder gar beendet werden. Als Beispiel soll hier allein die womöglich größte Herausforderung in der Geschichte der internationalen Staatengemeinschaft genannt werden: die Klimakrise.

Mittlerweile hat sich unter Wissenschaftler*innen, Politiker*innen und darüber hinaus ein Konsens herausgebildet, wonach die Erderhitzung als »Bedrohungsmultiplikator« zu betrachten ist (vgl. z.B. IISS 2019, S. 37-46). Von einem »Bedrohungsmultiplikator« spricht auch das Auswärtige Amt (2020). Die Auswirkungen des Klimawandels können ohnehin instabile Regionen weiter erschüttern und noch scheinbar stabile Regionen destabilisieren. Der Zugang zu knapper werdenden Ressourcen, wie fruchtbarem Land oder Wasser, wird häufig zum Treiber von Konflikten. Ebenso kann durch die Klimakrise erzwungene Migration destabilisierende Effekte auf Staaten wie Regionen haben.

Das Bewusstsein für die vorhandene Bedrohung des Friedens infolge der Klimakrise wächst. Sichtbarer Ausdruck dafür ist, dass die Bundesregierung dieses Thema offensiv vorantreiben will. So veranstaltete das Auswärtige Amt 2020 die »Climate and Security Conference« in Berlin, und die Bundesregierung setzte Klima und Sicherheit für ihre Zeit als nicht-ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrates auf die Agenda der Weltorganisation.

Die Antwort auf die epochale Bedrohung für Frieden und Stabilität weltweit kann nur eine doppelte sein: Es müssen seitens der internationalen Staatengemeinschaft alle Anstrengungen unternommen werden, die Erderhitzung zu begrenzen. Zudem ist es zwingend notwendig, neue Mittel und Wege zu finden, sich abzeichnende (Klima-) Konflikte zu verhindern. Dabei reicht es eben nicht aus, Mehr vom Gleichen zu tun, also beispielsweise die Gelder für Entwicklungszusammenarbeit für besonders betroffene Entwicklungsländer zu erhöhen. Es bedarf einer wirksamen Stützung durch gerechte und faire Handelsbeziehungen, die es solchen Staaten erlauben, sich mit größeren Mitteln und eigenständig vorzubereiten. Es bedarf ebenso einer präventiven Mäßigung seitens der Staaten, deren Interessen rund um den Globus reichen und die durch Waffenlieferungen und Militärinterventionen Instabilität ­schaffen.

Was tut Greenpeace?

Umwelt und Frieden lassen sich nicht getrennt denken. Greenpeace Deutschland – Kolleg*innen in anderen Länderbüros arbeiteten teils kontinuierlich daran weiter – hat sich seit Mitte des letzten Jahrzehnts punktuell zum Thema Frieden medienwirksam geäußert. Seit dem vergangenen Jahr gibt es nun auch eine stetige Friedensarbeit in Deutschland – getragen vom Wunsch der Ehrenamtlichen, der Förder*innen und den Hauptamtlichen bei Greenpeace Deutschland, hier wieder mit aller Kraft aktiv zu werden. Das Kampagnenteam arbeitet derzeit zu deutschen Waffenexporten, Atomwaffen und Klima und Konflikt. Studien, wie zur geplanten Beschaffung von F-18-Kampflugzeugen als neuem Atomwaffenträgersystem der Bundeswehr oder zur (verheerenden) Bilanz der deutschen Waffenexportpolitik der vergangenen 30 Jahre, sowie Artikel zur UN-Resolution 1325 »Frauen, Frieden und Sicherheit« und über bisherige Greenpeace-Aktionen bei Rheinmetall, vor dem Wirtschafts- und dem Verteidigungsministerium finden sich online unter greenpeace.de/frieden.

Literatur

Arkin, W.M.; Durrant, D.; Chreni, M. (1991): : On Impact – Modern Warfare and the Environment. Greenpeace.

Auswärtiges Amt (2020): Climate change as a secur­ity risk – Berlin Climate and Security Conference 2020; berlin-climate-security-conference.de.

Averting an oil spill from the FSO SAFER tanker in Yemen. Offener Brief von Jennifer Morgan, Geschäftsführerin Greenpeace International, an UN-Generalsekretär António Guterres, 11.8.2020.

International Institute for Strategic Studies/IISS (2019): Armed Conflict Survey 2019 – The Security Implications of Climate Change.

United Nations (2020a): Without Access to Stricken Oil Tanker off Yemen, Under-Secretary-General, Briefing Security Council, Warns of Environmental, Economic, Humanitarian Catastrophe. Press release SC/14254, 15.7.20.

United Nations (2020b): Guterres ‘deeply concerned’ over environmental threat posed by stricken oil tanker off Yemen coast. UN News, 14.8.2020.

Zwijnenburg, W. (2018): Nefarious Negligence – Post-Conflict Oil Pollution in Eastern Syria. Bellingcat, 9.4.2018.

Zwijnenburg, W.; te Pas, K. (2015): Amidst the debris … – A desktop study on the environmental and public health impact of Syria’s conflict. Utrecht: Pax.

Alexander Lurz ist Greenpeace-Campaigner Peace and Disarmament.
An diesem Text arbeiteten Tabea Schüssler und Antje Rudolph mit.

Biodiversitätskonflikte


Biodiversitätskonflikte

Eine sozial-ökologische Perspektive

von Thomas Fickel, Robert Lütkemeier, Diana Hummel

Am Umgang mit Biodiversität entzünden sich weltweit Konflikte, die bisher nicht umfassend erforscht und systematisiert wurden, da die Zusammenhänge zwischen Biodiversitätsverlust und gesellschaftlichen Konflikten vielfältig sind (Fickel und Hummel 2019; Scheffran 2018). Der jüngste Bericht des Intergovernmental Panel on Biodiversity and Ecosystem Services (IPBES 2019) prognostiziert, dass der Verlust der globalen biologischen Vielfalt in den kommenden Jahrzehnten dramatisch ansteigen wird. Somit werden gesellschaftliche Konflikte infolge der Degradation oder des Zusammenbruchs von Ökosystemen wohl weiter zunehmen. Die Bewältigung von Biodiversitätskonflikten muss daher sowohl die nachhaltige Lösung von Umweltproblemen als auch die Deeskalation und Bearbeitung von Konflikten zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Akteur*innen einschließen.

Ein wesentliches Merkmal von Konflikten im Bereich der Biodiversität ist die Überlagerung von widerstreitenden Interessen und Einflussmöglichkeiten der beteiligten Parteien, ungleichen Zugängen zu Ressourcen und erheblichen Wertedifferenzen. Biodiversitätskonflikte zeichnet überdies aus, dass sie von fehlendem, unsicherem oder strittigem Wissen über ökologische und sozial-ökologische Prozesse geprägt sind. Dies betrifft die lokalen ebenso wie die globalen Zusammenhänge von gesellschaftlichem Handeln und Biodiversität. Die Bearbeitung und Lösungssuche braucht jedoch dieses Wissen, um zu guten und nachhaltigen Lösungen zu gelangen.

Wir wollen in diesem Artikel zeigen, wie eine konfliktsensible sozial-ökologische und transdisziplinäre Forschung einen Beitrag zum besseren Verständnis von Konflikten um Biodiversität und zu deren Bearbeitung leisten kann. Sozial-ökologische Forschung fokussiert explizit auf die vielfältigen Beziehungen zwischen Natur und Gesellschaft und deren krisenhafte Entwicklungen. Der transdisziplinäre Forschungsansatz ermöglicht es, neben wissenschaftlichem Wissen unterschiedlicher Disziplinen auch das Praxiswissen der relevanten Akteur*innen zusammenzubringen. Durch diesen integrierten, problemorientierten Zugang kann die Forschung ein verbessertes Wissen über die umstrittenen lokalen gesellschaftlichen Naturverhältnisse bereitstellen und so zur Vermittlung in Biodiversitätskonflikten beitragen. Zur Erläuterung werden wir zuerst die Besonderheit des Konfliktfeldes Biodiversität darstellen und anschließend sozial-ökologische Forschung an zwei Fallbeispielen – Konflikte im Kontext des Insektenschutzes in Deutschland und um Wildtiermanagement in Namibia – veranschaulichen.

Konflikte im Feld Biodiversität

Der Begriff Biodiversität bezeichnet keinen eindeutig abgrenzbaren oder direkt greifbaren Gegenstand, sondern umfasst eine Vielzahl von Perspektiven auf die Vielfältigkeit natürlicher Lebensformen und Interaktionen. Weit verbreitet ist die der Artenvielfalt als Vorkommen unterschiedlichster Arten von Lebewesen auf der Erde. Darüber hinaus beschreibt der Begriff die Vielfalt von Genpools innerhalb und zwischen Arten und die Vielfalt unterschiedlicher Ökosysteme auf der Welt, von Regenwäldern bis zu Wüsten. Ein zentrales Thema der Forschung ist die Frage nach der Bedeutung von Biodiversität für menschliche Gesellschaften, auf die verschiedene wissenschaftliche Disziplinen unterschiedliche Antworten geben.

Aus ökologischer Perspektive wird der Wert von Biodiversität als stabilisierender Faktor für Ökosysteme bemessen. Mikroorganismen im Boden z.B. zersetzen organisches Material, und Raubtiere verhindern ein Anwachsen von Beutetier-Populationen. Das komplexe Zusammenspiel unterschiedlichster Tiere und Pflanzen in einem Ökosystem trägt zu dessen Stabilität bei. Sehr bekannt ist die Forschung zu Ökosystemleistungen, die zum Ziel hat, die Bedeutung einer intakten Natur für das menschliche Wohlergehen offenzulegen (MEA 2005). Ein Teil der Forschung versucht, den Nutzen von biologischer Vielfalt in monetäre Werte zu fassen (TEEB 2010). Ein prominentes Beispiel ist die Berechnung des wirtschaftlichen Nutzens der globalen Bestäubung durch Insekten für die Landwirtschaft, der für das Jahr 2015 auf 235-577 Mrd. US$ beziffert wurde (IPBES 2016). Auch der ökonomische Wert von touristischer Wildtierjagd lässt sich so abschätzen. Kulturell ausgerichtete Perspektiven betonen hingegen den symbolischen Charakter von Biodiversität, z.B. ihre Ästhetik oder ihren Erholungswert. In aktuellen Debatten im Rahmen des IPBES-Prozesses wird auch aus nicht-westlichen Perspektiven die Bedeutung von Biodiversität für die eigene Identität, das »gute Leben« und den sozialen Zusammenhalt mit einbezogen (Christie et al. 2019).

Die gesellschaftliche (und individuelle) Bewertung von Biodiversität ist regional und kulturell sehr spezifisch. Mensch-Wildtier-Interaktionen in Namibia sind schwer mit denen in Deutschland zu vergleichen. Und sogar innerhalb Deutschlands unterscheiden sich die Wechselwirkungen zwischen gesellschaftlichem Handeln und Biodiversität erheblich, beispielsweise hinsichtlich der Nutzungspraktiken in Schutzgebieten (wie Beweidung, Einsatz von Pestiziden, Umweltbildung). Ökologische und natürliche Funktionsweisen sind untrennbar mit kulturellen Bezugnahmen verbunden (Schramm et al. 2020). Die Soziale Ökologie bezeichnet diese dynamischen Beziehungen zwischen Individuen, Gesellschaft und Natur als gesellschaftliche Naturverhältnisse.

Konflikte im Feld Biodiversität entstehen in der Praxis oft, wenn Ziele des Biodiversitätsschutzes mit anderen Zielen kollidieren, die kurz- oder langfristig zur Degradation oder Zerstörung der Biodiversität führen, oder wenn bestehende lokale Beziehungen zu Biodiversität gefährdet sind. In der englischsprachigen Debatte wird dies als „conservation conflict“ (Redpath et al. 2015) bezeichnet und zeigt sich in unserer Forschung u.a. im Spannungsfeld von Schutz vs. Nutzung von Elefanten bzw. Wildtieren der namibischen Savanne oder beim Schutz von Insektenbiodiversität in deutschen Naturschutzgebieten. Darüber hinaus deuten sich Konflikte an, in denen der Umbau von Ökosystemen (z.B. Forstumbau in Bezug auf Klimawandelanpassung) zu Konflikten führt.

Sozial-ökologische Dimensionen von Biodiversitätskonflikten

Die Betrachtung der unterschiedlichen Bewertungen von Biodiversität ist wichtig, da sie den sozial-ökologischen Charakter dieser Konflikte belegen, was Auswirkungen auf die Konfliktanalyse und -bearbeitung haben kann. Diese müssen im Sinne von Nachhaltigkeit 1. die sozialen/politischen Dimensionen von Konflikten (Interessen, Eskalationsgrad, Diskurse etc.), 2. die Stabilität bzw. den Funktionserhalt von Ökosystemen sowie 3. unterschiedliche gesellschaftliche Bezugnahmen auf und Wechselwirkungen mit Biodiversität berücksichtigen. Um dieses charakteristische Zusammenwirken von »Natur« und »Gesellschaft« für die Konfliktanalyse und Lösungsfindung besser handhabbar zu machen, ist eine systemische Zugangsweise erforderlich.

Zum besseren Verständnis der sozial-­ökologischen Wechselwirkungen in Bezug auf Biodiversität wurde am ISOE – Institut für sozial-ökologische Forschung (Frankfurt a.M.) ein Modell sozial-ökologischer Systeme (SES) erarbeitet (Mehring et al. 2017). Es bietet einen analytischen Rahmen und eine Heuristik für die Erforschung von Biodiversitätskonflikten und ermöglicht es, die drei oben genannten Bereiche angemessen zusammen zu betrachten und sowohl disziplinäres wissenschaftliches Wissen als auch lebensweltliches Praxiswissen zu integrieren. Im Zentrum des SES stehen die Wechselbeziehungen zwischen gesellschaftlichen Akteur*innen und Ökosystemfunktionen, die genuin sozial-­ökologische Strukturen und Prozesse hervorbringen. Intendiertes Management (z.B. der Einsatz von Pestiziden) ebenso wie dessen unbeabsichtigte Folgen beeinflussen die Ökosystemfunktionen. Zugleich stellen Ökosystemfunktionen Ökosystemleistungen (z.B. Bestäubung) bereit – oder auch negative Effekte (Disservices), die schädlich für die Akteur*innen sein können (z.B. Zerstörung von Zäunen durch Wildtiere). Die sozial-ökologischen Dynamiken werden durch vier Gestaltungsdimensionen beeinflusst: Wissen (wissenschaftliches und praktisches Wissen, z.B. wildtierbiologische Kenntnisse), Institutionen (formelle und informelle Handlungsregeln, z.B. staatliche Verordnungen), Technologien (z.B. Landmaschinen oder Zäune) und Praktiken (Verhaltensmuster bezüglich der Nutzung von Biodiversität und Ökosystemleistungen, wie Wiesenmahd oder Jagd).

Aus der sozial-ökologischen Perspektive lassen sich Konflikte um Biodiversität nur angemessen verstehen und bearbeiten, wenn die soziale und die ökologische Seite in der Konfliktbearbeitung nicht additiv bearbeitet, sondern die Wechselwirkungen der gesellschaftlichen Naturverhältnisse beleuchtet werden.

Transdisziplinäre Forschung unterstützt Konfliktbearbeitung

Doch wie kann dies gelingen? Um die Mehrdimensionalität von Biodiversitätskonflikten zu untersuchen und zugleich die Anliegen und Bedürfnisse der Betroffenen in den Mittelpunkt zu stellen, ist ein transdisziplinärer Forschungsansatz erforderlich, der es erlaubt, sozialwissenschaftliches mit naturwissenschaftlichem Wissen zu verknüpfen. Doch auch das lokale Praxiswissen der beteiligten Konfliktparteien ist mit in den Forschungsprozess einzubeziehen (Jahn et al. 2012). Die Konfliktbeteiligten vertreten nicht nur als »Stakeholder« unterschiedliche Interessen, sondern verfügen zugleich als »Knowledgeholder« über unterschiedliches Wissen, das zu berücksichtigen ist.

Wir möchten anhand von zwei Biodiversitätskonflikten und damit verbundenen Forschungsprojekten Wege aufzeigen, wie transdisziplinäre sozial-ökologische Forschung den Konfliktbearbeitungsprozess unterstützen kann.

Konflikte im Bereich Insektenschutz in Deutschland

Am Projekt DINA (Diversität von Insekten in Naturschutz-Arealen) lässt sich illustrieren, wie ein transdisziplinärer Forschungsprozess dazu beitragen kann, unterschiedliche Bezugnahmen auf Biodiversität offenzulegen und durch Wissensintegration eine gemeinsame Diskussionsgrundlage zu schaffen. Das Projekt beschäftigt sich mit dem Insektenrückgang in Deutschland. Zugespitzt haben sich damit verbundene Konflikte spätestens seit der öffentlichen Diskussion der »Krefeld-Studie« (Hallmann et al. 2017), die nachwies, dass in deutschen Naturschutzgebieten in den letzten 30 Jahren mehr als 70 % der Biomasse von Insekten verschwunden sind. Die gesellschaftlichen Reaktionen auf diesen Befund waren enorm und gegensätzlich (Fickel et al. 2020). Ein Beispiel ist die bayerische Petition »Rettet die Bienen«, die mit mehr als einer Million Unterschriften Rekorde brach und die Landespolitik zur Überarbeitung des Naturschutzgesetzes drängte. Auf der anderen Seite führten Landwirt*innen deutschlandweit Proteste durch und blockierten deutsche Innenstädte mit großen Landmaschinen. In den Forderungen dieser Bewegungen wurden Insektenschutz, geplante Verbote von Pestiziden, ökonomische Zwänge sowie Anerkennungsdefizite hinsichtlich landwirtschaftlicher Leistungen in der Nahrungsmittelproduktion betont. Zusätzlich wird bei diesem Konflikt wissenschaftliches Wissen unterschiedlich bewertet und die Aussagekraft dieses Wissens für lokale Kontexte in Frage gestellt.

Zur Erarbeitung von Lösungen bieten sich Dialogrunden auf lokaler Ebene an, in denen gemeinsam wissenschaftliche Ergebnisse diskutiert, lokale Bedingungen analysiert und Lösungsmöglichkeiten gesucht werden. Im Rahmen des DINA-Projekts werden in drei Naturschutzgebieten in Deutschland Dialogformate zum Thema »Insektenmanagement« mit Landwirt*innen, Behördenmitarbeiter*innen und Naturschützer*innen erprobt. Dabei werden die verschiedenen Interessen betrachtet, aber auch die sozial-ökologischen Zusammenhänge, wie das praktizierte Biodiversitätsmanagement, oder der Einfluss von landwirtschaftlichen Praktiken, eingesetzter Technik oder Förderrichtlinien auf die Insektenbiodiversität in den jeweiligen Schutzgebieten mit einbezogen. Die naturwissenschaftlichen Ergebnisse aus dem Projekt werden in die Diskussion eingebracht und diskutiert, um zusammen mit den Akteur*innen eine gemeinsame Wissensbasis zu den lokalen Bedingungen zu schaffen. Der Forschungsprozess selbst erlaubt also nicht nur, die widerstreitenden Interessen offenzulegen, sondern die Beteiligten als »Knowledgeholder« zu adressieren, die sozial-ökologisches Systemwissen haben. Unter Einbezug erfahrener Mediator*innen wird im Prozess Zuhören ermöglicht und somit ein besseres wechselseitiges Verstehen gefördert. Als Ergebnis werden unter Berücksichtigung der Dimensionen Intuitionen, Technologie, Wissen und Praktiken dann Lösungen gesucht, die für alle Parteien umsetzbar sind und im besten Fall Vorteile bringen.

Konflikte um Wildtiermanagement in Namibia

Unser zweites Beispiel zur Veranschaulichung von Biodiversitätskonflikten befasst sich mit der Koexistenz von Menschen und Wildtieren in Namibia. Es zeigt, wie transdisziplinäre Forschung das Wissen unterschiedlicher Akteur*innen über sozial-ökologische Wechselwirkungen nutzen kann, um damit eine Konfliktbearbeitung zu unterstützen.

Im namibisch-deutschen Forschungsverbund ORYCS (Wildtier-Managementstrategien in Namibia, orycs.org) schauen sich die beteiligten Forscher*innen u.a. die unterschiedlichen Perspektiven von Akteur*innen auf Wildtiere der namibischen Savanne an, mit einem speziellen Fokus auf Elefanten. Der Schutz von Biodiversität im Allgemeinen und von Wildtieren im Speziellen ist ein hohes politisches Ziel in Namibia. Die Erfolge der Politik, die insbesondere auf ein Nutzungsrecht an Wildtieren setzt (z.B. Tourismus, Jagd, Fleischproduktion) und damit Anreize zu ihrem Schutz erzeugt, zeigen sich nicht zuletzt in steigenden Populationszahlen. Diese positive Entwicklung führt allerdings auch zu Spannungen zwischen Naturschutz, Landwirtschaft und Tourismus. Während der Naturschutz die steigenden Populationszahlen begrüßt und sie als Zeichen intakter Ökosysteme und einer resilienten Umwelt gegenüber den Folgen des Klimawandels einstuft, sehen insbesondere Landwirt*innen die Situation kritisch. Großlandwirt*innen, die vorrangig Viehwirtschaft betreiben, verspüren deutliche Nachteile, wie häufigere Schäden an Zäunen und Wasserstellen; Kleinlandwirt*innen, die keinen eigenen Grundbesitz haben und sich für ihre Viehwirtschaft die Allmende teilen, klagen über gefährliche Begegnungen zwischen Mensch und Tier. Der Tourismussektor fördert unterdessen wildtierbasierte Managementformen, wie Foto-Safaris. Alle Akteur*innengruppen schieben sich gegenseitig die Schuld für die Zunahme von Konfliktsituationen zwischen Menschen und Elefanten sowie weiteren Wildtierarten, wie Löwen und Hyänen, zu.

Unsere empirischen Forschungsarbeiten deuten darauf hin, dass diese Biodiversitätskonflikte in unterschiedlichen ökonomischen Interessen und moralischen Vorstellungen sowie persönlichen Beziehungen und historisch bedingter sozialer Ungleichheit begründet liegen. Während die traditionelle Viehwirtschaft aufgrund zunehmender Dürren finanzielle Einbußen hinnehmen musste, hat der Tourismus sowohl auf privaten Farmen als auch im Nationalpark großen Erfolg. Beide Strategien schließen sich in unmittelbarer Nachbarschaft jedoch aus, da Wildtiere und ihr Verhalten von den einen als Ökosystemleistung, von den anderen hingegen als etwas Negatives wahrgenommen werden. Parallel schwelen Wertekonflikte im Hinblick auf die Zulässigkeit der Jagd von Wildtieren. Im Hintergrund dieser Diskussionen spielt außerdem die Kolonialgeschichte des Landes eine wichtige Rolle, um gegenseitige Schuldzuweisungen zwischen weißen und schwarzen Landwirt*innen verstehen zu können.

Es zeigt sich, wie eng die Dimensionen Institutionen, Wissen, Technologien und Praktiken eines sozial-ökologischen Systems zusammenwirken und die Konfliktdynamik prägen. Zur transdisziplinären Bearbeitung dieses komplexen Biodiversitätskonfliktes bietet sich ein breiter partizipativer Ansatz an, um für eine ganze Region ein Konzept zur Förderung der Koexistenz zwischen Wildtieren und Menschen zu entwickeln. Individuelle Lösungen, z.B. der Bau von Schutzzäunen oder das Anlegen künstlicher Wasserstellen, verlagern das Problem eher. Für eine langfristige Lösung bedarf es einer verstärkten gegenseitigen Akzeptanz der Bedürfnisse aller Interessengruppen. Das Projekt unterstützt dies inhaltlich durch die Generierung neuen Wissens, u.a. über das Wanderverhalten der Tiere oder potentielle Managementstrategien, sowie durch die Einbindung der Akteur­*innen in den Forschungsprozess zur Vergemeinschaftung des Wissens.

Ausblick

Biodiversitätskonflikte umfassen einen für die Konfliktanalyse und -bearbeitung relevanten sozial-ökologischen Bereich. Die Soziale Ökologie beansprucht mit ihrem transdisziplinären Ansatz, mit einer vertieften und gemeinsam erarbeiteten Wissensbasis Ansatzpunkte für einen nachhaltigeren Umgang mit Biodiversität und zugleich Wege zur Deeskalation von Konflikten aufzuzeigen. Hier steht die Forschung bislang noch am Anfang. Der analytische Rahmen zur Erforschung von Biodiversitätskonflikten wird am ISOE derzeit in der empirischen Forschung für verschiedene thematische Problemstellungen angewendet und erprobt. Erst auf Basis dieser empirischen Ergebnisse werden sich allgemeinere Aussagen über die Voraussetzungen für Konflikttransformationen im Konfliktfeld Biodiversität treffen lassen.

Für die sozial-ökologische Forschung stellt sich die Aufgabe, die umfangreichen Erkenntnisse aus der Friedens- und Konfliktforschung in stärkerem Maße aufzunehmen und vermehrt den Austausch zu suchen und anzubieten. Um die prognostizierten Herausforderungen und sozial-ökologischen Konflikte im Anthropozän zu bewältigen, ist eine bessere Vernetzung und Anschlussfähigkeit der verschiedenen wissenschaftlichen Gemeinschaften – Umwelt- und Nachhaltigkeitsforschung, sozial-ökologische Forschung und Friedens- und Konfliktforschung – dringlicher denn je.

Literatur

Christie, M.; Martín-López, B.; Church, A.; Siwicka, E.; Szymonczyk, P.; Mena Sauterel, J. (2019): Understanding the diversity of values of »Nature’s contributions to people« – insights from the IPBES Assessment of Europe and Central Asia. In: Sustainability Science, Vol. 14, Nr. 5, S. 1267-1282.

Fickel, Th.; Hummel, D. (2019): Sozial-ökologische Analyse von Biodiversitätskonflikten – Ein Forschungskonzept. Frankfurt a.M.: ISOE, Materialien Soziale Ökologie 55.

Fickel, Th.; Lux, A.; Schneider, F.D. (2020): Insektenschutz in agrarischen Kulturlandschaften Deutschlands – Eine Diskursfeldanalyse. Frankfurt a.M.: ISOE, Materialien Soziale Ökologie 59.

Hallmann, C.A.; Sorg, M.; Jongejans, E.; Siepel, H.; Hofland, N.; Schwan, H.; Stenmans, W.; Müller, A.; Sumser, H.; Hörren, T.; Goulson, D.; de Kroon, H. (2017): More than 75 percent decline over 27 years in total flying insect biomass in protected areas. PloS one, Vol. 12, Nr. 10, e0185809.

Intergovernmental Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services/IPBES (2016): The Assessment Report on Pollinators, Pollination and Food Production. Summary for policy makers. Bonn.

IPBES (2019): Global assessment report on biodiversity and ecosystem services of the Intergovern­mental Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services. Brondizio, E.S.; Settele, J.; Díaz, S.; Ngo, H.T. (eds.). Bonn: IPBES secretariat.

Jahn, Th.; Bergmann, M.; Keil, K. (2012): Transdisciplinarity – Between mainstreaming and marginalization. Ecological Economics Nr. 79, S. 1-10.

Mehring, M.; Bernard B. et al. (2017): Halting biodiversity loss – How social-ecological biodiversity research makes a difference. International Journal of Biodiversity Science, Ecosystem Services & Management, Vol. 13, Nr. 1, S. 172-180.

Millennium Ecosystem Assessment/MEA (2005): Ecosystems and human well-being. Synthesis. A report of the Millennium Ecosystem Assessment. Washington, D.C.: Island Press.

Redpath, S.M.; Gutiérrez, R.J.; Wood, K.A.; Young, J. (eds.) (2015): Conflicts in Conserva­tion – Navigating towards solutions. Cambridge: Cambridge University Press.

Schramm, E.; Hummel, D.; Mehring, M. (2020): Die Soziale Ökologie und ihr Beitrag zu einer Gestaltung des Naturschutzes. Natur und Landschaft, 95. Jg.; Heft 9/10, S. 397-406.

Scheffran, J. (2018): Biodiversity and Conflict. Supplementary Contribution to IPBES Global Assessment on Biodiversity and Ecosystem Services.

The Economics of Ecosystems and Biodiversity/TEEB (2010): Mainstreaming the Economics of Nature – A synthesis of the approach, conclusions and recommendations of TEEB; teebweb.org.

Thomas Fickel, Politikwissenschaftler (M.A.), ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Forschungsschwerpunktes Biodiversität und Bevölkerung am ISOE – Institut für sozial-­ökologische Forschung, in Frankfurt a.M.
PD Dr. Diana Hummel, Politikwissenschaftlerin, ist Mitglied der Institutsleitung des ISOE und wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsschwerpunkt Biodiversität und Bevölkerung.
Dr. Robert Lütkemeier, Geograph, ist Ko-Leiter der Nachwuchsforschungsgruppe »regulate« und wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsschwerpunkt Wasserressourcen und Landnutzung am ISOE.

Welthunger nach Rohstoffen


Welthunger nach Rohstoffen

Soziale und umweltpolitische Konflikte um Ressourcen in der Tiefsee

von Ulrike Kronfeld-Goharani

In den vergangenen Jahrzehnten ist der weltweite Bedarf an Rohstoffen rasant gewachsen. Computer, Flachbildschirme, Hybridfahrzeuge, Windkraft- und Solaranlagen – alle brauchen große Mengen an Metallen.1 Die mineralischen Rohstoffe werden heute fast ausschließlich in Bergwerken unter Tage oder im Tagebau gewonnen. Zwar kann der Vorrat der Reserven an Land die derzeitige Nachfrage decken, aber steigende Rohstoffpreise und ein schwieriger werdender Abbau in schwer zugänglichen Regionen oder in politisch instabilen Staaten haben die mineralischen Rohstoffe der Tiefsee verstärkt in den Fokus gerückt. Für Staaten – im Folgenden solche im Südpazifik –, die Landnutzungskonflikten aus dem Weg gehen oder sich eine größere Unabhängigkeit von Exportnationen verschaffen wollen, erscheint die Tiefsee als willkommene Möglichkeit. Allerdings birgt der Tiefseebergbau auch ein erhebliches Konfliktpotential.

In der Tiefsee sind drei verschiedene Typen von Rohstofflagerstätten von Interesse: Manganknollen, Kobaltkrusten und Massivsulfide. Die kartoffelförmigen Manganknollen setzen sich aus verschiedenen Metallen zusammen, u.a. Mangan, Eisen, Kobalt und Kupfer, und sind unterhalb von 4.000 Metern auf dem Meeresboden verstreut zu finden.

Bei den Kobaltkrusten handelt es sich um Ablagerungen von Mangan, Eisen, Kobalt, Kupfer, Nickel, Platin und Spurenmetallen auf vulkanischen Substraten, die in 1.000-3.000 Metern Tiefe an den Flanken submariner Vulkane auftreten. Sie sind wegen ihres relativ hohen Kobaltgehaltes attraktiv. Manganknollen und Kobaltkrusten wachsen nur wenige Millimeter pro eine Million Jahre und zählen somit zu den nicht erneuerbaren Ressourcen (World Ocean Review 2014, S. 68, 74).

Massivsulfide sind erkaltete Schwefelverbindungen, die sich in 500-4.000 Metern Tiefe in der Umgebung von heißen, mineralienreichen Tiefseequellen abgelagert haben und wegen ihres hohen Wertstoffgehalts an Kupfer, Gold, Silber und Zink von Bedeutung sind.

Bisher kein kommerzieller Tiefseebergbau

Noch findet kommerzieller Tiefseeberg­bau nicht statt, zum einen, weil die Produktion an Land den Bedarf noch decken kann, zum anderen, weil der Abbau in der Tiefsee extrem teuer, technisch kompliziert und bisher unwirtschaftlich ist. So müssen für den Bergbau in Wassertiefen bis zu 4.000 Metern spezielle Fördertechniken entwickelt werden. Als besonders schwierig gilt der Abbau von Mineralien an den schroffen und steilen Flanken von unterseeischen Vulkanen. Dennoch haben viele Staaten, vorwiegend reiche Industrieländer, Erkundungslizenzen erworben. Besonders gefragt ist das pazifische Manganknollengebiet der Clarion-Clipperton-Zone zwischen Hawaii und Mexiko im Zentralpazifik. Geschätzt wird, dass hier rund fünf Milliarden Tonnen Mangan vorkommen, das Zehnfache von dem, was heute auf dem Land wirtschaftlich abbaubar ist (World Ocean Review 2014, S. 93).

Ist also ein Goldrausch in der Tiefsee zu befürchten? Wer könnte sich daran beteiligen? Wie sind die Nutzung der Unterwasserwelt und die Vergabe von Bergbaulizenzen geregelt?

Die Internationale Meeresbodenbehörde

Völkerrechtlich macht es einen Unterschied, ob der Meeresbergbau in den Hoheitsgewässern eines Staates stattfindet oder auf dem Meeresboden im Bereich der Hohen See, die gemäß Art. 136 Seerechtsübereinkommen (SRÜ) als gemeinsames Erbe der Menschheit gilt. Zuständig für die Vergabe von Erkundungslizenzen auf der Hohen See ist die Internationale Meeresbodenbehörde (IMB), eine eigenständige internationale Organisation, die 1994 mit Inkrafttreten des SRÜ in Kingston, Jamaica, eingerichtet wurde.

Das SRÜ, bisher von 168 Staaten und der Europäischen Union ratifiziert, regelt nahezu alle Belange des Seevölkerrechts, u.a. die Einteilung in fünf Meereszonen: die Hoheitszone (Küstenmeer) von zwölf Seemeilen, die Ausschließliche Wirtschaftszone (AWZ) bis zu 200 Seemeilen mit eingeschränkter Hoheitsbefugnis, den Kontinentalschelf (Festlandsockel) bis zu 350 Seemeilen, den Bereich der Hohen See sowie den Meeresboden und dessen Untergrund unter der Hohen See, der in offiziellen Dokumenten als »das Gebiet« bezeichnet wird.

Die Aufgabe der IMB ist es, den Tiefseebergbau zu regulieren und den Schutz der Umwelt zu gewährleisten. Die Behörde verfügt über das alleinige Recht, Schürflizenzen zur Erkundung des Meeresbodens und dessen Untergrunds in internationalen Gewässern zu vergeben. Antragsberechtigt sind sowohl staatliche als auch private Unternehmen. Gegen eine Gebühr von 500.000 US$ und unter Vorlage eines Arbeitsplans können sie ein 150.000 Quadratkilometer großes Gebiet am Meeresboden auswählen und das Erkundungsrecht für 15 Jahre beantragen, mit einer Option auf fünf Jahre Verlängerung. Voraussetzung ist, dass die Lizenzanträge von ihrem Heimatstaat, der das SRÜ ratifiziert haben muss, genehmigt sind.

Bisher wurden 29 Erkundungslizenzen vergeben: zwölf Antragsteller kommen aus Asien, zwölf aus Europa,2 vier von pazifischen Inselstaaten und einer aus Südamerika. Der Lizenznehmer hat das Vorrecht auf einen späteren Abbau (Rühlemann et. al 2019, S. 228). Anträge können abgelehnt werden, wenn schwere Schäden für die Umwelt zu befürchten oder Zonen für andere Nutzungen vergeben sind. Ferner verpflichten sich die Lizenznehmer, die Hälfte des gesamten Gebietes, das sie auf eigene Kosten erkunden, als Ausgleichsleistung für benachteiligte Staaten im Sinne des gemeinsamen Erbes der Menschheit spätestens nach acht Jahren wieder an die IMB zurückzugeben. Die IMB kann diese vorerkundeten Gebiete an Antragsteller aus Entwicklungsländern vergeben oder an Unternehmen, die zum Nutzen dieser tätig sind.

In den vergangenen Jahren geriet die Arbeit der IMB zunehmend ins Kreuzfeuer der Kritik. Vorgeworfen wurde ihr u.a. mangelnde Transparenz, das Fehlen einer unabhängigen Kontrolle und die Eile, mit der Vorschriften unter zu geringer Beachtung des Vorsorgeprinzips und ohne öffentliche Debatte durchgesetzt würden (Chin und Hari 2020, S. 11).

Tiefseebergbau in den Aus­schließlichen Wirtschaftszonen

In den AWZ verfügen allein die Küstenländer über die Nutzungsrechte. Während die Meeresbodenbehörde eine unkontrollierte Ausbeutung des Meeresbodens auf der Hohen See verhindert, können Staaten in ihren AWZ eigene Lizenzen vergeben. Beispielsweise erhielt 2011 das kanadische Unternehmen Nautilus Minerals eine Bergbaulizenz von der Regierung in Papua-Neuguinea für ein in der Bismarcksee gelegenes Gebiet. Das als »Solwara 1« bezeichnete Gebiet ist nicht nur reich an Schwarzen Rauchern3 mit Metallsulfidvorkommen, sondern liegt auch im so genannten Korallendreieck,4 einer der artenreichsten Meeresregionen der Welt. Rund 130 Millionen Menschen sind hier in ihrer Existenz von Meeresressourcen und gesunden Ökosystemen abhängig (Lass 2018).

Am »Solwara 1«-Projekt entzündete sich ein Konflikt zwischen der Regierung von Papua-Neuguinea und der Zivilgesellschaft, die umfassende wissenschaftliche Informationen über die Auswirkungen des Tiefseebergbaus vor ihrer Haustür einforderte. 2017 leiteten Küstengemeinden ein Gerichtsverfahren gegen die Regierung ein, um Einblick in die Dokumente der Lizenzierung zu bekommen. Als das Projekt 2019 aufgrund der Insolvenz von Nautilus Minerals eingestellt wurde, noch bevor es operationell geworden war, blieb die Regierung von Papua-Neuguinea auf einem Schuldenberg von 125 Mio. US$ aus bereits getätigten Investitionen sitzen. Der Premierminister musste das Projekt zum „Totalausfall“ erklären (Chin und Hara 2020, S. 44).

Dennoch erhoffen sich Regierungen, die in ihren AWZ Lizenzen für den Tiefseebergbau vergeben, dadurch nationalen Wohlstand und Fortschritte in der Entwicklung ihrer Staaten. Die Cookinseln, Kiribati, Neuseeland, Palau und Tuvalu besitzen Manganknollenvorkommen in ihren AWZ und haben Bergbaulizenzen ausgegeben.

Am Beispiel der Cookinseln lässt sich die schwierige Abwägung zwischen Abbauinteressen und Umweltschutz gut illustrieren. Die Cookinseln und Nauru kooperieren mit dem Unternehmen DeepGreen Metals. Die Regierung der Cookinseln hat dazu 2013 eine eigene Tiefseebergbaubehörde gegründet und 2015 Prospektions- und Explorationsvorschriften entwickelt. Umweltschützer*innen befürchten jedoch negative Auswirkungen für den 2017 gegründeten »Marae Moana«-Meerespark, der sich über die gesamte AWZ der Cookinseln erstreckt und den Schutz und die Erhaltung der Artenvielfalt und des kulturellen Erbes der Meeresumwelt zum Ziel hat (Marae Moana o.J.).

Ohne Umweltschäden geht es nicht

Aus den Erfahrungen an Land ist bekannt, dass Bergbau nicht ohne Beeinträchtigung der Umwelt möglich ist. Neben Lärm, Abraum und zerstörtem Meeresboden treten in der Tiefsee weitere meeresspezifische Faktoren hinzu: Als problematisch wird die mögliche Trübung des Seewassers angesehen, die durch den Einsatz von Bergbaumaschinen am Meeresboden entstehen könnte, wenn Bodensedimente aufgewirbelt werden. Der Teil der Sedimente, der in die Wassersäule gelangt, könnte durch Meeresströmungen im Bodenbereich über größere Distanzen verdriften. Noch ist unklar, welche Auswirkungen die Trübung des Meerwassers auf Tiefseelebewesen hat, z.B. eine Einschränkung der Biolumineszenz, von der angenommen wird, dass sie zur Kommunikation eingesetzt wird. Erste Forschungsergebnisse weisen darauf hin, dass Tiefseeorganismen wenig anpassungsfähig sind und sehr lange Zeiträume benötigen, um sich von schädlichen Umweltauswirkungen zu erholen (Miller et al. 2018, Sharma 2015). Auch andere Prozesse in der Tiefsee laufen aufgrund kleiner Sedimentationsraten und sehr geringer Strömungsgeschwindigkeiten nur langsam ab, sodass Spuren am Meeresboden viele Jahre erkennbar bleiben. So zeigten Untersuchungen der Umweltstudie DISCOL zu den Folgen des Manganknollenabbaus vor der Küste Perus (1988-1997),5 dass sich die Schleppkarrenspuren der ersten Erkundungsfahrten in den 1980er Jahren am Meeresboden auch nach zwei und vier Jahren kaum verändert hatten. Eine weitere Überprüfung 2015 ergab, dass im Untersuchungsgebiet eine Wiederbesiedelung stattgefunden hatte, aber bestimmte Arten fehlten (Schriever 2017).

In der Umgebung von Schwarzen Rauchern wurde eine große Vielfalt von Lebensformen entdeckt. Zum Teil handelt es sich um Arten, die nur in bestimmten Meeresgebieten vorkommen. Der Abbau von Kobaltkrusten oder Sulfidschlämmen, der im Gegensatz zum Einsammeln von Manganknollen am Meeresboden nur mit schwerem Gerät durchführbar wäre, würde diese einzigartige Lebenswelt nachhaltig schädigen. Umweltschützer*innen befürchten, dass unter Umständen auch heute noch unbekannte Arten verschwinden könnten.

Proteste gegen den Tiefseebergbau

Nicht nur in Papua-Neuguinea, auch in anderen Pazifikstaaten haben Tiefseebergbauvorhaben bereits zu lokalen, nationalen und regionalen Konflikten geführt. Auf nationaler Ebene sind Konflikte zwischen Ressourcenmanagement, Gemeinden, traditionellen Depotbanken, Regierungen und Berg­bau­unter­neh­men entstanden. Anlass waren wahrgenommene Ungleichheiten in Bezug auf Eigentum, Zugang und Nutzen sowie Zweifel an der Legitimität von Tiefseebergbau-Operationen. Andere Konflikte beruhen auf unzureichenden wissenschaftlichen Informationen über die Auswirkungen des Tiefseebergbaus und damit verbundenen Risiken für die Meeresumwelt, die Gesundheit der Bevölkerung und den Lebensunterhalt, insbesondere für die Kleinfischerei. Im Inselstaat Tonga wurde Kritik geübt, dass die Entscheidungsfindung für den Tiefseebergbau durch Machtungleichgewichte zwischen Regierungsbeamten sowie internationalen Unternehmen und der lokalen Ebene bestimmt gewesen sei. Auch würde die Kultur der Bewohner*innen der Pazifikinseln, die von einer tiefen spirituellen Verbindung zum Meer geprägt sei, zu wenig berücksichtigt (Chin und Hari 2020, S. 3).

Des Weiteren spielt eine Rolle, dass beim Bergbau im Pazifikraum Konflikte um Leistungen, Entschädigungen und Umweltzerstörungen eine lange Tradition haben und sogar in bewaffnete Auseinandersetzungen münden können. Dafür steht insbesondere der Bürgerkrieg auf Bougainville (Nördliche Solomonen, Papua-Neuguinea) von 1988-1998, der sich aus den politischen und sozialen Konsequenzen der Ausbeutung der weltgrößten Kupfermine entwickelte. Ein Beispiel aus jüngerer Zeit sind die Proteste von Landbesitzer*innen gegen den Mangel an Vorteilen aus dem »EXXonMobil Liquefied Natural Gas«-Projekt im Hochland von Papua-Neuguinea (Chin und Hari 2020, S. 43).

Nach dem Desaster mit Nautilus Minerals wurde von der Zivilgesellschaft in Papua-Neuguinea ein Stopp der Bergbauprojekte gefordert. Auch in Neuseeland haben sich verschiedene Organisationen gegen den Tiefseeberg­bau zusammengeschlossen. Auf den Cookinseln haben Umweltverbände unabhängige Studien in Auftrag gegeben, Informationsveranstaltungen durchgeführt und Materialien zusammengestellt, um über die Risiken des Tiefseebergbaus zu informieren. 2013 verabschiedete die Zehnte Generalversammlung der Pazifischen Kirchenkonferenz einen Beschluss, dass Tiefseebergbau im Pazifik gestoppt werden soll. Der Präsident von Fidschi und die Premierminister von Vanuatu und Papua-Neuguinea teilten solche Bedenken und forderten ein zehnjähriges Moratorium für den Abbau von Tiefseerohstoffen in pazifischen Gewässern. Die Cookinseln, Nauru und Tonga halten dagegen an ihrem Vorhaben fest, metallische Rohstoffe in ihren AWZ abzubauen (Chin und Hari 2020, S. 43).

Fazit

Trotz des immensen Erkenntnisgewinns in den vergangenen Jahrzehnten ist die Tiefsee noch immer vergleichsweise wenig erforscht. Die bisherigen wissenschaftlichen Erkenntnisse deuten darauf hin, dass mit dem Tiefseebergbau erhebliche Risiken für die Meeresumwelt mit weitreichenden, schwerwiegenden, über Generationen andauernden und irreversiblen Schäden verbunden sein könnten. Schwer einzuschätzen sind auch die kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen.

Für die Pazifikstaaten sind die Aussichten auf soziale und wirtschaftliche Gewinne durch den Tiefseebergbau mit ungewissen Risiken behaftet, wie das gescheiterte »Solwara 1«-Unternehmen gezeigt hat.

Noch findet weltweit kein kommerzieller Tiefseebergbau statt. Ob er kommen wird, hängt von den Vorräten an Land und den Metallpreisen auf dem Weltmarkt ab. Als Verbraucher*innen zahlreicher hochwertiger Elektronikprodukte sind wir mitverantwortlich für die hohe Nachfrage nach mineralischen Rohstoffen. Eine Begrenzung des Ressourcenverbrauchs durch ein verändertes Konsumverhalten und eine bessere Wiederverwertung wichtiger Mineralien könnten dazu beitragen, die Erschließung neuer Vorkommen in der Tiefsee zu bremsen und ökologische Schäden durch den Abbau von Rohstoffen am Meeresboden zu verringern.

Anmerkungen

1) Allein ein Mobiltelefon enthält ca. 30 verschiedene Metalle, u.a. Kobalt und Seltene Erden. In einer einzigen Windkraftturbine sind 1.000 Kilogramm Seltene Erden verbaut.

2) Deutschland ist seit 2006 Besitzer zweier »Claims« in der Clarion-Clipperton-Zone, die zusammen etwa zweimal so groß wie Bayern sind.

3) Als »Schwarze Raucher« werden Hydrothermalquellen bezeichnet, aus denen Wasser mit bis zu 380 Grad Celsius austritt. Das Wasser enthält bestimmte Schwefelverbindungen, die es dunkel färben.

4) Das Korallendreieck umfasst ein Meeresgebiet von den Inseln der Salomonen im Osten über die Nordküste Neuguineas bis zu den Kleinen Sundainseln im Westen und vorbei an der Ostküste Borneos bis zu den Philippinen im Norden.

5) Von 1988 bis 1996 förderte das Bundesministerium für Bildung und Forschung die Forschungsprojekte DISCOL (DISturbance and reCOLonization experiment of a manganese nodule area of the southeastern Pacific) und TUSCH (Tiefseeforschung und Forschungsverbund Tiefsee-Umweltschutz).

Literatur

Chin, A.; Hari, K. (2020): Predicting the impacts of mining of deep sea polymetallic nodules in the Pacific Ocean – A review of scientific litera­ture. o.O.: Deep Sea Mining Campaign and MiningWatch Canada.

Lass, M. (2018): Tiefseebergbau – Die Gier der Menschheit hat den Meeresgrund erreicht. Utopia.de, 27.7.2018.

Miller, K.A.; Thompson, K.F.; Johnston, P.; Santillo, D. (2018): An Overview of Seabed Mining Including the Current State of Development, Environmental Impacts, and Knowledge Gaps. Frontiers in Marine Science, Vol 4, Article 418.

Marae Moana (o.J.): What is Marae Moana? Rarotonga, Cook Islands: Office of the Prime Minister; maraemoana.gov.ck.

Ru¨hlemann, C.; Kuhn, Th.; Vink, A. (2019): Marine Rohstoffe. Tiefseebergbau – Ökologische und sozioökonomische Auswirkungen. In: Frech, S. (Hrsg.): Bürger und Staat – Ozeane und Meere. Stuttgart: Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg, S. 226-236.

Schriever, G. (2017): Tiefseebergbau – Risiken und Gefahren für die Umwelt? Projekthomepage Wissenschaftsjahr 2016-2017. Berlin: Bundesministerium für Bildung und Forschung.

Sharma, R. (2015): Environmental issues of deep-sea mining. Procedia Earth and Planetary ­Science, Vol. 11, S. 204-211.

World Ocean Review (2014): Rohstoffe aus dem Meer – Chancen und Risiken. Hamburg: maribus.

Ulrike Kronfeld-Goharani ist promovierte Ozeanografin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sozialwissenschaften der Universität Kiel. Sie ist Mitglied des Zentrums für Interdisziplinäre Meereswissenschaften an der Universität Kiel.