Welt im Aufruhr


Welt im Aufruhr

Krankheitssymptome der Globalisierung

von Jürgen Scheffran

Die beschleunigte Globalisierung schafft Reichtum für eine wachsende Erdbevölkerung, stößt aber an planetare Grenzen, die zu Krisensymptomen in Natur und Gesellschaft führen. Durch das absehbare Ende des fossilen Kapitalismus, Machtverschiebungen im Nord-Süd-Verhältnis und den Einfluss von sozialen Netzwerken erfährt die neoliberale Weltordnung Aufruhr und Kontrollverlust. Anzeichen für den Umbruch sind Umweltzerstörungen und Krankheiten, zwischenstaatliche Machtkämpfe und Gewaltkonflikte, Terrorismus und Massenproteste. Das Überschreiten von Kipppunkten kann katastrophale Folgen mit sich bringen, aber auch Transformationsprozesse anstoßen, die Widerstandskräfte stärken und einen Übergang vom kranken Planeten zur planetaren Gesundheit ermöglichen.

Durch die expansive Globalisierung konnten die westlich geprägten Industriestaaten eine ökonomische Dominanz entwickeln und eine hohe Anziehungskraft ausüben, die durch allgemeine Werte (Freiheit, Gleichheit, Demokratie, Wohlstand, Toleranz, Menschenrechte und Gewaltfreiheit) untermauert wird. Die Akkumulation von Reichtum durch wenige auf Kosten vieler, die daran kaum teilhaben oder die negativen Folgen tragen, steht gleichzeitig im Widerspruch zum propagierten Wertesystem und provoziert Widerstände und Konflikte (Scheffran 2015).

Eine Folge der Ausbeutung von Mensch und Natur in der Geschichte waren Krankheit und Tod. In Zeiten des Kolonialismus verbreiteten die Eroberer und Siedler in der »Neuen Welt« Seuchen, die mehr Menschen töteten als Waffengewalt. Sie schwächten dort die Gesellschaften und ermöglichten so die europäische Expansion (Zimmerer 2020a). In der Industriellen Revolution wurde das Elend der Armen von Thomas Malthus als Element der Bevölkerungsbegrenzung gerechtfertigt, um knappe Ressourcen zu schonen. Für angesehene Wissenschaftler, wie Robert Koch, war Afrika noch Anfang des 20. Jahrhunderts ein Experimentierfeld, um Erkenntnisse über die Bekämpfung von Krankheiten zu gewinnen, ohne Rücksicht auf seine menschlichen Versuchsobjekte (Zimmerer 2020b). Der Wohlstand Europas und des Westens ging auf Kosten des Rests der Welt, und in vieler Hinsicht gilt dies bis heute. Zwar trafen Krankheiten und Seuchen auch wohlhabende Schichten, doch hatten sie meist bessere Schutzmöglichkeiten als weniger wohlhabende. Dies gilt auch in der COVID-19-Pandemie, die zwar die Verwundbarkeit des Globalen Nordens demonstriert (Beispiel USA), aber die Schwächsten am stärksten trifft.

Liberale Weltordnung unter Druck

Konnten die Folgen der Expansion bislang weitgehend an die Peripherien verlagert werden, so wirken mit Erreichen ökologischer, wirtschaftlicher, sozialer und politischer Grenzen des Wachstums die Konsequenzen zunehmend auf die Zentren zurück. Dies zeigt sich an den seit der Jahrtausendwende zunehmenden Krisenerscheinungen, allen Versuchen zum Trotz, diese unter Kontrolle zu bekommen. Drei wesentliche Trends sind eine Herausforderung für die liberale Weltordnung:

1. Wurde die industrielle Revolution maßgeblich durch fossile Energieträger befeuert, so werden heute die Grenzen des fossilen Kapitalismus sichtbar. Während billiges Öl und Erdgas weitgehend aufgebraucht sind, werden zunehmend sekundäre Quellen (Offshore, Fracking, Ölsande) mit höheren Kosten und Risiken erschlossen. Aufgrund des Klimawandels steht die Atmosphäre als Kohlenstoff-Deponie nicht mehr zur Verfügung, Widerstände nehmen ebenso zu wie alternative Energieträger, die den fossilen Kapitalismus unter Druck setzen.

2. Demokratisierung und Einflussmöglichkeiten des Globalen Südens schränken dort die weitere Ausbeutung von Mensch und Ressourcen durch den Globalen Norden ein. Hinzu kommt die demographische Entwicklung, derzufolge bisherige Industriestaaten bald nur einen kleinen Teil der Weltbevölkerung ausmachen. Dies zeigt das bevölkerungsreiche China, das vom billigen Produktions­standort und Absatzmarkt zum größten Konkurrenten für den westlichen Kapitalismus avanciert und als strategischer Akteur im Nord-Süd-Verhältnis agiert. Dies macht es schwieriger, die Bevölkerung im Globalen Norden mittels Arbeitsplätzen und billigem Massenkonsum zufriedenzustellen, was sozialen Sprengstoff birgt.

3. Verbunden über soziale Netzwerke meldet sich die Zivilgesellschaft weltweit zu Wort und wird zu einem Faktor, der öffentliche Debatten und politische Entscheidungen beeinflusst. Die Demokratie wird um partizipative Elemente erweitert. Zahlreiche Bewegungen nutzen soziale Medien und Technologien für ihre Zwecke. Der Unmut bricht sich Bahn, gegen versagende Regime, Umweltzerstörung, Krieg, Rassismus und Ausbeutung, für und wider Nationalismus. Innere und äußere Konflikte schaukeln sich auf.

Hätte jeder dieser Trends das Potential zum Epochenwandel, so gilt dies umso mehr für ihre Kombination. In der Geschichte gab es ähnliche Konstel­lationen, die bestehende Ordnungen erschütterten und revolutionäre Umbrüche auslösten, nach der französischen Revolution zu Beginn des 19. Jahrhunderts oder im Ersten Weltkrieg zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Auch heute erleben wir eine Welt im Aufruhr. Wie vor hundert Jahren werden die zwanziger Jahre zeigen, ob das alte System (dafür steht Donald Trump) die Welt in eine große Katastrophe stürzt oder ob sich intelligentere Alternativen durchsetzen. Dies hängt auch davon ab, ob es zu sprunghaften Katastrophen kommt: Wirtschafts-Crash, Klimakollaps, Atomkrieg oder verheerende Pandemien.

Zwischen planetaren Grenzen und Systemkollaps

Je mehr die Menschheit planetare Belastungsgrenzen überschreitet, desto mehr ähnelt die Erde einem Patienten auf der Intensivstation. Das Gesundheitswesen bietet Parallelen, aber durchaus auch Rezepte, wie dem kranken Planeten zu helfen ist.

Krankheiten beeinträchtigen die körperliche Leistungsfähigkeit durch Funktionsstörungen von Organen, der Psyche oder des gesamten Organismus. Kranksein wird gemeinhin mit Schwäche und Gebrechen gleich gesetzt und äußert sich durch Symptome, die zu Beschwerden führen. Ein Syndrom ist ein typisches Krankheitsbild, das mehrere Symptome kombiniert. Die Diagnose beurteilt eine Krankheit aufgrund der in einer Untersuchung erhobenen Befunde. Daraus wird die Therapie abgeleitet, um Beschwerden zu lindern und Krankheiten zu heilen.

Medizinische Begriffe fanden Eingang in die Umweltforschung. Ein Beispiel ist das in den 1990er Jahren vom Wissenschaftlichen Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU 1996) entwickelte Syndromkonzept, das typische planetare Krankheitsbilder und Kausalbeziehungen bestimmt und analysiert, um Fehlentwicklungen aufzeigen und bewältigen zu können. Etwa 80 Symptome werden in neun Sphären von Natur und Gesellschaft unterteilt, um daraus 16 Syndrome abzuleiten, benannt nach einem jeweils typischen Begriff: Sahel, ökologischer Raubbau, Landflucht, Dust-Bowl, Rohstoffausbeutung, Massentourismus, militärische Umweltschäden, Aralsee, Grüne Revolution, rasches Wirtschaftswachstum, geplante oder ungeregelte Urbanisierung sowie technische Havarien, Schadstoffemissionen, Müllkippen und Altlasten. Aus der Diagnose der Syndrome ergibt sich, wie katastrophale Entwicklungen durch geeignete Therapien eingedämmt werden können.

Das Leitplanken-Konzept untersucht die Einhaltung planetarer Grenzen, etwa des Temperaturziels der Klimapolitik. Grenzen engen ein, schützen aber auch. Ihre Überwindung bietet Chancen und Freiheiten, schafft aber auch Risiken und Überraschungen. Wenn ein Fahrzeug mit voller Geschwindigkeit in eine Mauer rast, können Fahrzeug und Mauer zerstört werden, aber auch das Leben der Insassen. Wer über eine Klippe springt und sich im freien Fall der Gravitationskraft aussetzt, riskiert sein Leben. Und wer in einer Pandemie die Wohnung verlässt und auf die Schutzmaske verzichtet, schafft ein erhöhtes Infektionsrisiko und trägt zur weltweiten Ausbreitung bei. Nationale Grenzen schränken unkontrol­lierte Grenzübertritte ein; Grenzwerte für Umweltgifte sollen Körper und Umwelt schützen.

Aufgrund von Unsicherheiten in komplexen Systemen sind Grenzwerte oft nicht exakt bestimmbar, sodass Sicherheitsabstände einzuhalten sind, die Raum zum Handeln lassen. Bei Überschreiten von Kipppunkten können abrupte und irreversible Kaskaden und Dominoeffekte ebenso ausgelöst werden wie exponentielles Wachstum, Chaos und Systemkollaps. Beim exponentiellen Wachstum kann eine kleine Abweichung zu explosivem Wachstum oder Zerfall führen, wie bei der Pandemie und anderen Erkrankungen, die ab einer Schwelle zum Tode führen (z.B. Krebs oder hohes Fieber), darunter aber eine Genesung erlauben, wenn das Immunsystem die Oberhand gewinnt. Die Menschheit konnte in ihrer Geschichte bei hoher Geburtenrate ihre Sterberate soweit verringern, dass eine exponentielle Bevölkerungszunahme erfolgte. Bei Erreichen planetarer Grenzen kann ein Gleichgewicht durch Begrenzung von Zuwachs oder durch Zerfall erreicht werden. Mehr Zerfallserscheinungen könnten die Lebensbedingungen auf der Erde weiter gefährden und gesellschaftliche Kippdynamiken auslösen, wie Kriege, Revolutionen oder den Zusammenbruch politischer Regime.

Natürliche Krisensymptome

Neun planetare Belastungsgrenzen wurden ausgemacht, in den Feldern Arten­sterben, Stickstoff/Phosphor-Kreislauf, Abholzung und Landnutzung, Ozeanversauerung, Klimakrise sowie Ozonloch, Süßwasserverbrauch, atmosphärische Verschmutzung und Freisetzung neuer Stoffe (Steffen et al. 2015). Im sechsten »Global Environment Outlook« unter dem Titel »Healthy Planet, Healthy People« wird 2019 konstatiert, dass Gesundheit und Wohlstand direkt mit der Umwelt verbunden sind. Global können jährlich etwa ein Viertel aller Todesfälle und wirtschaftliche Verluste von 4,6 Bio. US$ (6,2 % der Produktion) auf beeinflussbare Umweltfaktoren und -schäden zurückgeführt werden (UNEP 2019, S. 9/588). Die durch Einhaltung der Klimaziele eingesparten Gesundheitskosten lägen noch deutlich darüber. Bei einer Bevölkerung von zehn Mrd. Menschen bis 2100 nehmen die Umweltbelastungen zu, wenn Produktions- und Konsummuster nicht radikal geändert werden.

Die meisten Todesfälle und Krankheiten gibt es durch Luftverschmutzung, etwa neun Mio. oder 16 % aller 2015 Verstorbenen (UNEP 2019, S. 10). Wachsende CO2-Emissionen und Megastädte bringen vielfältige gesundheitliche Belastungen mit sich. Noch schlechter steht es um die Biodiversität. Je nach Lebensraum sind 25-42 % der Wirbellosen-Arten bedroht, darunter viele Insekten (UNEP 2019, S. 154). Wenn nichts geschieht, ist mit hohen Schäden zu rechnen, z.B. durch invasive Arten, Zoonosen zwischen Tieren und Menschen, Verlust von Ökosystemleistungen. Die fehlende Bienen-Bestäubung beeinträchtigt die Versorgung mit Nahrungsmitteln und pflanzlichen Medikamenten. Arme sind besonders stark betroffen.

Schäden an Land und Böden gefährden die Ernährungssicherheit zusätzlich. Weltweit werden degradierte Landflächen auf 29 % geschätzt, wodurch 3,2 Mrd. Menschen betroffen sind (UNEP 2019, S. 203). Das in Flüssen, Seen und Feuchtgebieten verfügbare Süßwasser und die zugehörigen Ökosysteme nehmen weltweit stark ab; fast die Hälfte aller Feuchtgebiete ist bereits verloren. Durch Wasserverschmutzung mit Plastik, Antibiotika, Pestiziden, Schwermetallen und anderen Chemikalien sinkt die Qualität von Süßwasser; etwa 1,4 Mio. Menschen sterben jährlich daran (UNEP 2019, S. 236). Antibiotika-Resistenzen verbreiten sich über Landwirtschaft, Aquakulturen und Abwasser. Besorgniserregend ist auch der Zustand der Ökosysteme in Ozeanen und an Küsten, u.a. durch Erderwärmung, Versauerung und Überfischung, Übernutzung und Verschmutzung. Weltweit benötigen 3,1 Mrd. Menschen Fisch für ihre Proteinversorgung, viele Bestände sind bereits überfischt. Die Korallenbleiche betrifft rund 70 % aller Korallenriffe weltweit und hat vermutlich einen Kipppunkt erreicht. Jährlich gelangen rund acht Mio. Tonnen Kunststoff in die Meere (UNEP 2019).

Eine Folge der Umweltzerstörung sind soziale Instabilitäten und Konflikte. Dies gilt besonders für den Klimawandel als Stressfaktor, der das Konfliktrisiko dort steigert, wo die Lebensbedingungen schlecht und institutionelle Strukturen fragil sind (Friedensgutachten 2020, S. 7). Entsprechendes lässt sich über Ressourcenkonflikte sagen, wobei Konflikte um das Artensterben noch wenig untersucht sind (Scheffran 2018). Das Jahr 2020 brachte destabilisierende Entwicklungen mit exponentieller Kaskadendynamik, wie die Busch- und Waldbrände in Australien, mit dem Tod von mehr als einer Milliarde Tieren, und die Heuschreckenschwärme in Ostafrika und Südasien, die Ernten gefährden.

Besonders schwerwiegend ist die aus einer Zoonose entstandene COVID-19-Pandemie, die ungeahnte Ressourcen verschlingt, politische Interventionen und sozioökonomische Verwerfungen auslöst, Gewaltkonflikte und humanitäre Notlagen verschärft (Friedensgutachten 2020, S. 5).

Gesellschaftliche Krisensymptome

Durch die Beschleunigung weltumspannender Ströme von Gütern, Kapital, Finanzen, Technologie und Kommunikation geraten soziale und politische Systeme aus den Fugen. Im Raubtier-Kapitalismus bestehen nur die Stärksten, während viele Menschen durch geringe Löhne und Arbeitsplatzangebote vom Wohlstand ausgeschlossen sind. Krisen verschärfen die gesellschaftliche Spaltung und schaffen ein Heer der Unzufriedenen, das durch populistische und autokratische Strömungen und Regierungen mobilisierbar ist. Die Überwindung sozialer Ungleichheit scheitert an den ökonomischen Machtverhältnissen, die durch demokratische Strukturen nicht hinreichend kontrolliert werden. Mit der Finanzkrise 2008 begann eine Kette von Krisen, die Bruchlinien im Internationalen System offenbarte. Die außer Kontrolle geratene Globalisierung verstärkt zwischenstaatliche Machtkämpfe und Konfliktpotentiale, terroristische Gewaltstrukturen und gesellschaftliche Widerstände.

Zwischenstaatliche Machtkämpfe und Gewaltkonflikte

Beim Übergang vom bipolaren Ost-West-Konflikt über eine unipolare in eine multipolare Welt entstanden neue Machtkämpfe und Gewaltkonflikte. Hierzu gehörten bewaffnete Auseinandersetzungen im ehemaligen Jugoslawien und der zerfallenen Sowjetunion, die Kriege im Irak und in Afghanistan sowie die Gewaltereignisse und Terroranschläge in Nahost und in Nordafrika. Durch den Arabischen Frühling wurden Kaskaden ausgelöst, die im Mittelmeerraum Konflikte und Fluchtbewegungen zwischen Afrika, Asien und Europa miteinander verknüpften.

Dem Friedensgutachten 2020 zufolge dominieren Rivalitäten das Weltgeschehen und schwächen internationale Normen und Institutionen. Während die USA unter Trump mit »America First« weiter auf Hegemonie setzen und internationale Institutionen untergraben, versucht China, die internationale Ordnung zu seinen Gunsten umzugestalten und seinen weltpolitischen Einfluss auszuweiten. Mit der »Neuen Seidenstraße« zu Land und zur See entsteht ein Netzwerk von Infrastrukturen und Märkten von Ostasien bis nach Europa und Afrika. Bei Schlüsseltechnologien wird China zum wirtschaftlichen Herausforderer Europas und der USA. Militärisch bereitet sich China auf internationale Auseinandersetzungen vor, besonders im Südchinesischen Meer. Der von den USA forcierte Handelskrieg kann ebenso zum Brandbeschleuniger werden wie der Streit um Hongkong und Taiwan oder die Vorwürfe in der Corona-Krise. Russland forciert Großmachtansprüche, vom Ukraine- und Krim-Konflikt über Syrien, Libyen und Iran bis in die Arktis. In diesem Dreieckverhältnis eines neuen »Kalten Krieges« steht das durch den Brexit geschwächte Europa, das über die NATO in den Aufrüstungskurs hineingezogen wird.

Weltweit stiegen die Rüstungsausgaben 2019 auf einen neuen Höchststand von 1.600 Mrd. Euro, real fast 20 % über dem höchsten Niveau des Kalten Krieges. Die G20-Staaten sind für 82 % der weltweiten Militärausgaben verantwortlich. Während die russischen Militärausgaben von 2016 bis 2019 um mehr als 20 % zurückgingen, übersteigen die Militärausgaben der NATO die Russlands um fast das 16-fache. Die deutschen Militärausgaben stiegen 2019 um 12 % auf 47,9 Mrd. Euro. Der internationale Handel mit Großwaffen 2015-2019 wuchs gegenüber 2010-2014 um 5,5 %, deutsche Waffenexporte gar um 17 % (Friedensgutachten 2020, S. 98).

An der Spitze steht das nukleare Wettrüsten zwischen den USA und Russland, die neue Nuklearwaffen entwickeln und Rüstungskontrollabkommen beenden. Trump droht gar die Wiederaufnahme von Atomwaffentests an. Zudem schreitet die Militarisierung, ja Bewaffnung des Weltraums voran, nachdem Russland, China und die USA »Weltraumstreitkräfte« geschaffen haben und weitere Staaten, wie Indien, ebenfalls Raketen und Satelliten im All zerstören können. Auch hier ist die Rüstungskontrolle in der Sackgasse. Die Militarisierung erstreckt sich auf neue Bereiche, wie den Cyberraum, in dem eine zivil-militärische Abgrenzung schwer möglich ist. Kaum erkennbar ist die Grenze zwischen Krieg und Frieden in »hybriden Kriegen« mit Drohnen, Attacken über das Internet und auf zivile Infrastrukturen oder Fake News und Hate Speech in sozialen Medien. Die mit der Globalisierung verbreiteten Mittel und Technologien fallen auf ihre Urheber zurück.

Terrorismus und Rechtsextremismus

Internationale und transnationale Gewalt ist mit innergesellschaftlichen Gewaltdynamiken und Terrorismus verbunden. Während nach dem Arabischen Frühling die Zahl der Terroranschläge und ihrer Opfer deutlich anstiegen, nahmen jüngst die Zahlen ab. 2018 starben bei mehr als 9.600 Anschlägen weltweit 15.952 Menschen, 2017 waren es noch 17.284 (Friedensgutachten 2020, S. 142). Der weitaus größte Teil geht auf den islamistischen Terrorismus in instabilen Staaten oder Bürgerkriegsregionen zurück.

Parallel zur Rückkehr des Nationalismus hat in westlichen Demokratien Rechtsextremismus zugenommen. Über die strategische Nutzung sozialer Medien und internationale Vernetzung nehmen Rechtsextreme auf politische Entscheidungen Einfluss (Beispiel Trump-Wahl). Sie agieren gegen internationale Kooperation mit Verschwörungstheorien und Wissenschaftsfeindlichkeit. Durch rechtsterroristische Angriffe starben 2018 mindestens 26 Menschen; 2019 waren es bis zum Herbst schon 84, vor allem in Neuseeland (Friedensgutachten 2020). In Europa hat Deutschland die meisten Fälle rechtsextremer Gewalt, darunter Angriffe auf Minderheiten und Politiker*innen.

Soziale Bewegungen und Massenproteste

Das Jahr 2019 war weltweit durch Massenproteste geprägt und beendete ein Jahrzehnt zahlreicher Protestbewegungen. Schon 2011 breitete sich eine Welle von Anti-Regime-Protesten über die arabische Welt aus, ebenso von transnationalen Protesten, wie der Occupy-Bewegung. 2019 gab es in 45 Ländern 65 Fälle einer Massenmobilisierung mit mindestens 50.000 Menschen, davon 48 Proteste in Demokratien: „Beispiele sind die Massenproteste in Chile, Ecuador, Indonesien und Kolumbien, die 2018 entstandene Gelbwesten-Bewegung in Frankreich, die Proteste im Rahmen des Brexits in Großbritannien, Arbeiterproteste in Tunesien oder die Klimaproteste in zahlreichen Ländern.“ (Friedensgutachten 2020, S 74) Hinzu kamen Proteste in Russland, Sudan oder Iran. Die Protestziele betrafen grob sieben Kategorien: 21 gegen Regierungen, fünf gegen hohe Lebenshaltungskosten, fünf für Arbeitsrechte, acht für/gegen Nationalismus/Unabhängigkeit, sechs für Frauenrechte, 14 für Klimaschutz und sechs mit anderen spezifischen Zielen.

Proteste setzten sich auch im Jahr 2020 fort und kulminierten in der Massenbewegung gegen Rassismus und Diskriminierung »Black Lives Matter« in den USA, trotz oder wegen der Pandemie, die politische Aktionen auslösen, aber auch erschweren kann. Proteste gegen Probleme können ihrerseits Krisensymptome sein, wenn Betroffene und Unzufriedene sich zur Wehr setzen, so wie die Immunabwehr gegen Krankheitsursachen. Fraglich ist, ob sie zur Problemlösung beitragen oder zur Problemverschärfung.

Vom kranken Planeten zur planetaren Gesundheit

Die Krisensymptome der Globalisierung zeigen die Erschütterungen der neoliberalen Weltordnung. Eine geeignete Therapie erfordert eine Diagnose der Ursachen, wird jedoch von den Verantwortlichen kaum durchgeführt. Tabudenken bestärkt die Annahme, für die Krisen sei nicht der Westen verantwortlich, der 1989 den Sieg im Kalten Krieg errungen und damit angeblich das »Ende der Geschichte« erreicht hatte. Zu dieser Fehleinschätzung passt eine selbst zugewiesene Opferrolle, ohne die eigene Verantwortlichkeit anzuerkennen. Stattdessen werden die Symptome bekämpft – durch Abschottung, Abgrenzung und Interventionismus. Dabei ist die Rückkehr zur Kleinstaaterei ebenso wenig eine Alternative wie militärische Interventionen.

Während die Welt im Schüttelfrost gefangen scheint, wird fieberhaft nach Lösungen gesucht. Um einen Wandel zu einer nachhaltigen, friedlichen und gerechten Welt herbeizuführen, spielen Protestbewegungen eine Rolle, wie auch Wissenschaft, Technik und Medizin. Ausschlaggebend ist, ob Innovationen die Mühsal der menschlichen Existenz erleichtern und einen Ausgleich mit der Natur im gemeinsamen Haus der Erde ermöglichen.

Als Bezugsrahmen zur Bewahrung des Lebens auf der Erde können Konzepte einer Gesundheit dienen, die mehr ist als die Abwesenheit von Krankheit (so wie Frieden nicht nur die Abwesenheit von Krieg ist). Im positiven Sinne geht es um das Wohlbefinden von Menschen und die Befriedigung von Grundbedürfnissen, im Einklang mit den eigenen Möglichkeiten, Zielen und Lebensbedingungen. Ein Maßstab ist die physische, psychische und soziale Funktions- und Leistungsfähigkeit. Um eine weitere Überschreitung ökologischer Belastungsgrenzen zu vermeiden, ist eine engere Verknüpfung von Umwelt und Gesundheit hilfreich, die eine Balance von Erhaltung und Entfaltung des Lebens gegen Wachstum, Macht und Gewalt ermöglicht (Scheffran 1996).

Dabei können Konzepte einer »Viable World« helfen, den Planeten innerhalb seiner Grenzen für alle Menschen lebensfähig und lebenswert zu gestalten. Dazu gehört die Immunisierung gegen globale Erkrankungen durch vier Therapien: ökologischer Fußabdruck in planetarischen Grenzen, erneuerbare Energien für alle, sauberer Wohlstand für alle und Kohabitation der Nationalstaaten (Knies 2017).

Literatur

Friedensgutachten (2020): Im Schatten der Pandemie – letzte Chance für Europa. Friedensgutachten 2020. Herausgegeben von Bonn International Center for Conversion (BICC), Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK), Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH), Institut für Entwicklung und Frieden (INEF), Bielefeld: transcript.

Knies G. (2017): COHAB-Zusammenarbeitsmodell der Nationalstaaten. In: Weizsäcker E.U., Wijkman A. (Hrsg.): Wir sind dran – Was wir ändern müssen, wenn wir bleiben wollen. Eine neue Aufklärung für eine volle Welt. Bericht an den Club of Rome. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, S. 354 ff.

Scheffran J. (1996): Leben bewahren gegen Wachstum, Macht, Gewalt – Zur Verknüpfung von Frieden und nachhaltiger Entwicklung. W&F 3/1996, S. 5-9.

Scheffran J. (2015): Vom vernetzten Krieg zum vernetzten Frieden. FIfF-Kommunikation, Nr. 3/2015, S. 34-38.

Scheffran J. (2018): Biodiversity and Conflict. Supplementary Contribution to: IPBES, Global Assessment on Biodiversity and Ecosystem Services. March 5, 2018.

Steffen W. et al. (2015): Trajectories of the Earth System in the Anthropocene. PNAS (Proceed­ings of the National Academy of Sciences of the United States), Vol. 115, Nr. 33, S. 8252-8259.

United Nations Environment Programme/UNEP (2019): Global Environment Outlook (GEO-6) – Healthy Planet, Healthy People. Cambridge: Cambridge University Press. Deutsche Teilübersetzung durch das Umweltbundesamt.

Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen/WBGU (1996): Welt im Wandel – Herausforderungen für die deutsche Wissenschaft. Jahresgutachten 1996. Berlin: Springer.

Zimmerer J. (2020a): Viren standen am Anfang der Globalisierung. Der Tagesspiegel, 31.3.2020.

Zimmerer J. (2020b): Robert Koch – Der berühmte Forscher und die Menschenexperimente. DER SPIEGEL, 27.5.2020.

Dr. Jürgen Scheffran ist Professor für Integrative Geographie, Leiter der Forschungsgruppe Klimawandel und Sicherheit (CLISEC) an der Universität Hamburg und Mitglied der W&F-­Redaktion.

Kollaps und Transformation


Kollaps und Transformation

Die Corona-Krise und die Grenzen des Anthropozäns

von Jürgen Scheffran

Wie ein Brennglas bündelt die ­Corona-Krise die Verwundbarkeiten, Unsicherheiten und Instabilitäten der vernetzten Welt. Hier zeigen sich die Macht der Natur und die Ohnmacht der Menschen, ungeachtet der Erfolge von Wissenschaft und Technik. Auch wenn die disruptive Krise Kettenreaktionen und Konflikte mit sich bringt, ist Sicherheitspolitik keine geeignete Antwort. Wichtiger als nachträgliches Katastrophenmanagement sind vorbeugende Maßnahmen, die das Gesundheitswesen stärken und ein friedliches, solidarisches und nachhaltiges Verhältnis zwischen Menschheit und Natur schaffen, das in gesellschaftliche und ökolo­gische Kreisläufe eingebettet ist.

Die Welt im Stillstand. Straßen, Kaufhäuser und Flughäfen, Fußballstadien und Touristik­attraktionen sind verwaist, Schulen, Kindergärten und Fabriken wochenlang geschlossen. Viele Regierungen verkünden den Ausnahmezustand und Ausgangssperren, schließen Grenzen zwischen Bundesländern und zu befreundeten Staaten, zwingen Menschen, ihre Wohnung nicht zu verlassen und Abstand zu wahren. Einige reden von Krieg und mobilisieren das Militär. Das öffentliche Leben und die Volkswirtschaft werden »runtergefahren« und wieder »raufgefahren«, mit nahezu unbegrenzten staatlichen Mitteln. Über Wochen und Monate sterben weltweit zehntausende Menschen, Krankenhäuser sind überfüllt, ihr Personal am Limit. Alle Medien übertreffen sich mit Katastrophenberichten. Vor wenigen Wochen hätte dies wie ein Science-fiction-Szenarium gewirkt.

Um die Menschheit in die Knie zu zwingen, könnte es kaum einen kleineren Grund geben. Nur Nanometer groß ist der Übeltäter, ein Virus der Corona-Familie (Sars-CoV-2), das menschliche Zellen zu seiner eigenen Vermehrung umprogrammiert, so wie ein Computer-Virus die Software eines Rechners, und die Krankheit Covid-19 hervorruft. Die Menschheit ist nunmehr den Naturgesetzen einer Pandemie unterworfen, von der privaten bis zur globalen Ebene. Der Versuch, die Kontrolle zu erlangen, bringt Politik und Gesellschaft an den Rand des Kontrollverlusts bis zum gesellschaftlichen Zusammenbruch und Konflikten. Immer wieder ist das Mantra zu hören, dass danach nichts mehr sei, wie es war. Stimmt das oder beschleunigt die Corona-Krise nur, was zuvor bereits erkennbar war? Werden die Menschen in eine »neue Normalität« finden oder in ihr »altes Leben« zurückfallen?

Die Anfänge der Pandemie

Die Krise ist ohne den Anfang nicht zu verstehen. Die ersten Covid-19-Erkrankungen wurden zum Jahreswechsel 2019/2020 gemeldet, ausgehend von Wuhan in Zentralchina. Bald darauf kontaktierte ich einen Kollegen in Wuhan, mit dem ich seit fünf Jahren zusammenarbeite. Nachdem ich ihm im Januar besorgte E-Mails geschrieben hatte, schickte er mir im März besorgte E-Mails zurück, mit Empfehlungen wegen der rasanten Ausbreitung in Europa. Es war frühzeitig erkennbar, welche drakonischen Maßnahmen China ergriff, um die Ausbreitung unter Kontrolle zu halten, auf Kosten wirtschaftlicher Einbußen, die sich über globale Lieferketten weltweit auswirkten.

Im Januar schon war die globale Ausbreitung des Virus erkennbar, aufgrund von Medienberichten über Fälle in anderen Ländern durch Flugpassagiere. Angesichts der berichteten Fallzahlen ließ sich auf eine Verdopplung in wenigen Tagen schließen. Als die Eigenschaften des Corona-Virus bekannt wurden (lange Inkubationszeit, hohe Infektions- und Sterberate), war absehbar, dass sich die Seuche in der global vernetzten Welt nicht einfach eindämmen lässt und über viele Kontakt- und Transportwege rasch ausbreitet. Mitte April waren nach Daten der Johns Hopkins University weltweit von allen bestätigten und nicht mehr akuten Fällen am Ende etwa ein Fünftel gestorben, der Rest war genesen. Die Expertenangaben von unter einem Prozent Verstorbener basieren auf einer bislang vermuteten hohen Dunkelziffer nicht entdeckter Fälle. Selbst dann könnten bei einer Infektion großer Teile der Weltbevölkerung einige Millionen Menschen sterben, wobei die Folgen im Globalen Süden kaum abschätzbar und messbar wären.

Trotz der frühen Beobachtungen wurde die Epidemie in Europa und den USA noch bis Mitte Februar kaum ernst genommen, wodurch wertvolle Zeit verloren ging (etwa für die Produktion von Schutzmasken und Beatmungsgeräten). Das Pflege- und Gesundheitssystem war in den Jahrzehnten davor in vielen Ländern durch Privatisierung und Profitorientierung krank gespart worden. Die Einstellung änderte sich erst Anfang März, als die Infektionen auch in Europa und in den USA stark zunahmen und die Gesundheitssysteme zu überlasten drohten. Überstürzt wurden immer drastischere Maßnahmen ergriffen. Mit der Reduzierung zwischenmenschlicher Kontakte (social distancing) sollte die Ausbreitung abgeschwächt werden, ohne die Ausbreitung ganz einzudämmen. Der Preis war eine massive Reduzierung (Lockdown) des öffentlichen Lebens, mit der Gefahr eines gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Kollapses. Die Hoffnungen ruhten nun auf einer aus Not geborenen Allianz von Staat und Wissenschaft.

Kipppunkte und Kettenreaktionen

Corona ist nur die jüngste in einer Kette sich zuspitzender Krisen. Seit Jahren beobachten wir neue Konflikt-, Gewalt- und Fluchtdynamiken sowie nationalistische, fundamentalistische und rechtsextreme Strömungen. Dabei spielten miteinander verbundene Ereignisse eine Rolle, u.a. Arabischer Frühling, Syrienkrieg, Flüchtlingskrise, Terroranschläge, Brexit und Trump-Wahl. Da die Welt zunehmend in den Krisenmodus rutschte, war mit einer weiteren Zuspitzung in den 2020er Jahren zu rechnen. Manches erinnert an die Situation vor hundert Jahren, als sich die Destabilisierung der kolonialen Weltordnung im Ersten Weltkrieg in einer Spirale der Gewalt entlud, gefolgt von weiteren Krisen, wie der Spanischen Grippe, der Weltwirtschaftskrise und dem Aufleben des Faschismus, der zum Zweiten Weltkrieg führte (Scheffran 2014; Menzel 2020). Daraus lässt sich für die heutigen Krisen der fossilen und neoliberalen Variante des globalisierten Kapitalismus vieles lernen.

Die Corona-Krise wird zum Krisenmultiplikator und expandiert durch ihre exponentielle Wachstumsdynamik wie in einer Kettenreaktion. Wenn eine Person mehr als eine andere ansteckt (gemessen durch die Reproduktionszahl), ist die Grenze der Kritikalität überschritten, wie bei einer nuklearen Kettenreaktion, bei Krebs oder beim Bevölkerungswachstum (Scheffran 2016). Während eine Nukle­ar­explosion in Bruchteilen von Sekunden endet, sobald die kritische Dichte unterschritten ist, verläuft die Pandemie über Monate oder gar Jahre. Die globalen Infektionsketten »infizieren« überdies globale Produktions-, Konsum- und Lieferketten, die den Wohlstand unserer Gesellschaft ausmachen.

Seit die Kettenreaktion außer Kon­trolle geraten ist, versuchen Wissenschaft und Politik, sie durch Verringerung der sozialen Kontakte unter die kritische Schwelle zu drücken. Damit werden soziale Netzwerke entkoppelt und wirtschaftliche Wachstumsprozesse unterkritisch, was zu Verlusten in Produktion und Konsum führt, Existenzen gefährdet, Bindungen, Organisationen und politische Einflussmöglichkeiten beeinträchtigt. Die Politik laviert auf dem schmalen Grat zwischen Extremen. Das Überschreiten von Kipppunkten droht in sich selbst verstärkende Risikokaskaden und Dominoeffekte abzudriften, die das System in den Zusammenbruch treiben.

Die Pandemie zeigt, wie eine kleine Ursache planetare Folgen haben kann, wenn Kipppunkte überschritten werden. Dies ist das Credo der Chaostheorie, symbolisiert durch den Flügelschlag eines Schmetterlings, der einen Sturm auslösen kann. Dies gilt im Grenzbereich zur Kritikalität, in dem dann selbst der berühmte kippende Sack Reis in China kein unbedeutendes Ereignis mehr darstellt. Entscheidend ist, was die Welt zuvor in diesen kritischen Zustand getrieben hat, in dem scheinbar kleine Ereignisse einen großen Unterschied machen. Vor hundert Jahren machten der Erste Weltkrieg und die weiteren Dynamiken die Spanische Grippe zur Katastrophe mit 25 bis 50 Millionen Toten, heute ist es die ungehemmte Globalisierung.

Es gilt also die Faktoren zu verstehen, die die Welt verwundbar machen. Hierzu gehören u.a. die Zahl und Dichte von Menschen und ihren Vernetzungen, die Beschleunigung der Prozesse, das auf Ausbeutung gebaute Mensch-Natur-Verhältnis, repräsentiert durch Klimawandel, Verluste von Arten, Ökosystemen, systemrelevanten Infrastrukturen für Wasser, Nahrung, Energie, Gesundheit, etc. durch Privatisierung und Rückzug des Staates (von Weizsäcker et al. 2005). Durch die systemische Corona-Krise werden im Zeitraffer Fehler zumindest temporär sichtbar: Menschen sterben, der Staat springt ein, es wird entschleunigt, entkoppelt und de-globalisiert, um Druck aus dem System zu nehmen – wie bei einem Reaktor kurz vor der Explosion (Scheffran 2016). Um Infektionsketten zu beenden, werden Lieferketten unterbrochen und Apps zur Verfolgung von Kontaktketten entwickelt.

Die Digitalisierung gilt als eine erzwungene Reaktion der Entkörperlichung, aber sie ist selbst ambivalent und erzeugt Effekte, die zu neuen Problemen führen. In digitalen Welten können exponentielle Kettenreaktionen schneller ablaufen und die Cyberwelt zum Einsturz bringen, durch Unfälle und Systemfehler, Schadprogramme und Viren, Herrschaft über digitale Medien oder autonome KI-Systeme, die sich gegen die Menschheit richten. Dann wäre nicht mehr die Flucht in digitale Welten eine Rettung, sondern die Flucht aus ihnen. Die Frage ist nur, ob die analoge materielle Um-Welt dann noch hinreichend bewohnbar ist.

Die Rache der Natur und die Grenzen des Anthropozäns

Die Ausbreitung des Virus basiert auf dem gleichen Prinzip exponentiellen Wachstums, das die Menschheit groß gemacht hat. Schon im 18. und 19. Jahrhundert gab es eine intensive Debatte über die Grenzen des Wachstums, angestoßen durch die Industrielle Revolution. Während für Adam Smith, den Apologeten des Kapitalismus, Natur- und Ressourcengrenzen durch den Markt reguliert wurden, erwartete Thomas Malthus aufgrund des exponentiellen Wachstums der Bevölkerung und begrenzter Naturressourcen (vor allem Nahrung) Hungersnöte, Armut, Kriege und andere Katastrophen. James Anderson hoffte auf die Verbesserung der Gesellschaft durch Innovationen, und Karl Marx kritisierte die Thesen von Malthus als reaktionäre Rechtfertigung von Armut, um sich den Ansichten von Anderson anzuschließen. Wie Marx war sich auch Friedrich Engels in seiner »Dialektik der Natur« (1896) bewusst, dass Sozialutopien respektvoll mit der Natur umgehen müssen: „Schmeicheln wir uns indes nicht zu sehr mit unseren menschlichen Siegen über die Natur. Für jeden solcher Siege rächt sie sich an uns. […] Und so werden wir bei jedem Schritt daran erinnert, daß wir keineswegs die Natur beherrschen, wie ein Eroberer ein fremdes Volk beherrscht, wie jemand, der außer der Natur steht – sondern daß wir mit Fleisch und Blut und Hirn ihr angehören und mitten in ihr stehn.

Für Charles Darwin war der Mensch ein aus der Natur kommendes Lebewesen, den biologischen Gesetzen von Selektion und Wachstum unterworfen. Knapp hundert Jahre später zeigte der Club of Rome die Grenzen des Wachstums auf, und die Brundtland-Kommission formulierte Prinzipen einer nachhaltigen Entwicklung. Diese Debatten hängen unmittelbar zusammen mit den heutigen Krisenerscheinungen und Wachstumsgrenzen im Anthro­pozän, dem menschgemachten Erdzeitalter. In diesem Sinne wäre die Corona-Krise eine »Rache der Natur« für die Naturvergessenheit der Gesellschaft in einer technisch konstruierten Zivilisation. Die Ausbreitung von Pandemien steigt mit der Zerstörung von Arten und Ökosystemen, wodurch es geringere genetische Vielfalt, natürliche Anpassung und Resilienz gegenüber schädlichen (Mikro-) Organismen gibt (Krumenacker und Schwägerl 2020). Durch das Eindringen des Menschen in Naturräume und den Kontakt mit Wildtieren bestehen mehr Möglichkeiten, dass Krankheitserreger von Tieren auf Menschen überspringen. Im Corona-Fall erfolgte die erste Übertragung vermutlich von einem Wildtier auf einem Markt in Wuhan, sei es nun die Fledermaus oder das vom Aussterben bedrohte Schuppentier. Es war nur eine Frage der Zeit, bis dies geschah, und wurde in wissenschaftlichen Studien zuvor durchgespielt, so durch das Robert Koch-Institut 2013, ohne entsprechende Konsequenzen. Dauerte es bei der Pest im Mittelalter knapp drei Jahrzehnte, bis sie sich von Wuhan nach Europa ausgebreitet hatte, so schaffte Covid-19 dies in knapp zwei Monaten (Menzel 2020).

Sicherheit vs. Freiheit

Galten die Gefahren bei uns zunächst als gering, schaltete eine Allianz aus Wissenschaft und Politik unter dem Druck exponentiell wachsender Infektionszahlen ab Mitte März in den Krisenmodus und betrieb Katastrophenmanagement, um ganze Städte und Länder lahmzulegen. Ein Gesundheitsproblem wurde zum alles bestimmenden Sicherheitsproblem, in dem verschiedene Dimensionen zum Tragen kommen: menschliche, nationale, internationale und planetare Sicherheit. Angesichts dieser Versicherheitlichung war die Opferung der Grund- und Freiheitsrechte nicht weit. Kam die Autorisierung zunächst noch einstimmig durch das Parlament, erfolgten weitere Notstandsbestimmungen durch die Exekutive. In der Krise zeigen sich Dilemmata aufgrund von Sachzwängen durch spätes Handeln:

  • Soll die Gesundheit von Millionen aufs Spiel gesetzt werden oder ihre berufliche Existenz?
  • Sollen jüngere und gesündere Menschen auf Freiheiten verzichten, um das Leben älterer und schwächerer Menschen zu schützen?
  • Sollen nationale Alleingänge gewählt werden oder eine multilaterale Abstimmung?
  • Soll der Zusammenbruch des Gesundheitssystems vermieden werden auf Kosten eines Wirtschafts-Crashs oder des Abbaus demokratischer Strukturen?
  • Sollen Beschäftigte im Gesundheitswesen sich für die Allgemeinheit opfern?
  • Sollen Risikogruppen zu ihrem »Schutz« isoliert werden, unter Beschränkung ihrer Freiheitsrechte?
  • Sollen Kritiker auf Kritik am Ausnahmezustand verzichten oder zu Protesten aufrufen?
  • Wie werden Bürger- und Freiheitsrechte nach der Erfahrung der Krise gesichert?

Neben einer abstrakten Güterabwägung zwischen Gesundheit und Wirtschaft, Sicherheit und Freiheit stellt sich die Frage, wem eine Entscheidung nützt und wem sie schadet. Die Vernachlässigung von Interessen führt zu Ungerechtigkeiten, wenn eine Maßnahme Akteuren Vorteile bringt, aber anderen Nachteile, z.B. wenn nur bestimmte Geschäfte offen bleiben oder Veranstaltungen stattfinden dürfen. Es ist auch ein Unterschied, ob Beschäftigte um ihre Jobs fürchten oder Unternehmer und Aktionäre um erwartete Gewinne.

Krise, Krieg und Frieden

Verbindungen zwischen Corona und Krieg wurden vielfach hergestellt. Kanzlerin Angela Merkel verglich die Situation mit der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, sprach von einem Marshallplan nach der Krise. In den USA gab es Vergleiche mit Pearl Harbor und 9/11. Obwohl ein Virus eher eine diffuse Gefahr als ein bewusst handelnder Akteur ist, wird Sars-CoV-2 als bedrohlicher Feind der Menschheit angesehen, der mit allen Mitteln bekämpft werden muss. So wurde vom »Krieg gegen Corona« geredet, in dem alles an die »Front« geworfen werden muss, von der Wissenschaft über Geld bis zum Militär. In einigen Fällen wurden Notstandsgesetze aktiviert wie sonst nur im Krieg. Finanzminister Olaf Scholz sprach von seiner staatlichen Notfallhilfe als »Bazooka«, Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer rief die Bundeswehr zur Hilfe und US-Präsident Trump die Nationalgarde.

Die Kriegserklärungen gegen Corona gehen am Problem vorbei und blieben bislang weitgehend Rhetorik, so wie Kanonen gegen Spatzen. Krieg und Militär sind eher Teil des Problems als der Lösung, denn Rüstung verbraucht enorme Ressourcen, die für ­präventiven Gesundheits- oder Umweltschutz nicht zur Verfügung stehen und für die Beschaffung benötigter Schutzmasken, Beatmungsgeräte und Medikamente ­fehlen. Dies gilt insbesondere für die Länder im Globalen Süden.

In der Vergangenheit brachen Seuchen nach Kriegen aus und wurden dadurch verschärft. Auch heute trifft die Corona-Ausbreitung am stärksten Menschen in Kriegsgebieten, wie in Nahost und Afrika, wo die Bevölkerung ihr hilflos ausgeliefert ist, oder in Flüchtlingslagern, wie im griechisch-türkischen Grenzgebiet. Ein Nebeneffekt der Corona-Krise waren Absagen militär- und sicherheitspolitischer Aktivitäten. Dies betraf u.a. das Frühjahrsmanöver Defender-Europe 20 oder die Konferenz zur Überprüfung des nuklearen Nichtverbreitungsvertrages. Auch friedenspolitische Aktivitäten sind betroffen; die Ostermärsche fielen aufgrund der Kontaktsperren nahezu völlig aus bzw. wurden in virtuellen Foren abgehalten. Im Rahmen der Corona-Bekämpfung rief UN-Generalsekretär António Guterres zu einer weltweiten Waffenruhe auf, was der Ausgangspunkt für eine friedlichere Welt werden könnte.

Es kommt aber auch zu mehr Spannungen durch Corona. Angesichts nationaler Abschottung bleiben gemeinsame Aktionen der Europäischen Union auf der Strecke. Trump strich die Mittel für die Weltgesundheitsorganisation. Es entbrannte ein weltweiter Kampf um knappe Schutzmittel im Gesundheitswesen. In geopolitischen Machtkämpfen zwischen den USA und China wird auch die Corona-Krise instrumentalisiert, etwa durch Vorwürfe, den Virus absichtlich oder unabsichtlich freigesetzt zu haben. Viele Staaten im Globalen Süden haben wenig Resilienz, mit der Krise umzugehen, allein aufgrund der Bevölkerungsdichte und der schlechten Gesundheitsversorgung in Armenvierteln und auf dem Land.

Klima, Transformation und Solidarität

Damit die Corona-Krise nicht zur Vorlage für »normale Katastrophen« wird, sind Erfahrungen im Umgang mit komplexen System zu berücksichtigen. Hierzu gehören die Schaffung von Resilienz, Nachhaltigkeit und Solidarität, eine Entkopplung von Risikoverstärkern, der Ausbau regionaler Produktions- und Lebensweisen, die Entschleunigung der Dynamiken, die Bewahrung kritischer Infrastrukturen. Wissenschaft und Politik können Governance-Maßnahmen und Institutionen entwickeln, um die Früherkennung und Steuerungsfähigkeit gegen Herausforderungen der komplexen Welt zu stärken und Eskalation zu vermeiden. In diesem Sinne wäre die Krise eine Chance zur Transformation des Verhältnisses von Natur und Gesellschaft, die frühere Fehler vermeidet, aus der Krise lernt und weitere Katastrophen vermeidet. Dabei können auch positive Kipppunkte genutzt werden, um Problemlösungen in Gang zu setzen, im Sinne von Bewegungen wie »Fridays for Future«.

Auch wenn der Klimawandel durch die Corona-Krise zunächst in den Hintergrund gedrängt wird, können die Erfahrungen für die Klimakrise relevant sein. Diese hat einen längeren Zeithorizont, kann den Planeten tiefgreifend verändern und ebenfalls als Risikoverstärker Kettenreaktionen in Gang setzen. Dazu gehören auch Seuchen: „Schwerwiegend wäre auch die Ausbreitung der Seuchen in nördlichere Regionen der USA, was die Gesundheit oder gar das Leben von Millionen von US-Amerikanern bedrohen könnte. (Scheffran 2004, S. 187).

Zur Bekämpfung von Corona wurden Maßnahmen ergriffen, die als Nebeneffekt CO2-Emissionen senken, z.B. im Verkehr. Die Politik legte in der Corona-Krise ungeahnte Fähigkeiten im Krisenmanagement und Beschränkungen an den Tag, die in der Klimakrise verweigert wurden (z.B. Tempo 130, Flugbeschränkungen). Die jetzt eingesetzten enormen Finanzmittel fehlen später zur Bewältigung der Klimakrise. In beiden Fällen geht es um ein solidarisches Generationenverhältnis zwischen Alt und Jung, mit umgekehrten Vorzeichen (Schellnhuber 2020). Es wäre fatal, wenn die Bekämpfung von Corona auf Kosten des »Green New Deal« der EU ginge. Dabei könnten jetzt problemlos Synergien und Investitionen in die klimafreundliche und nachhaltige Transformation gehen. Anstatt in Rüstung sollten beträchtliche Mittel in Gesundheit und Umwelt fließen, auch weil eine Gefahrenvermeidung billiger und effizienter ist als die Gefahrenabwehr. Scheinbar lernen Politik und Gesellschaft erst aus Katastrophen. Nur wenn die Menschheit aus den Erfahrungen Konsequenzen zieht und Regeln für das Zusammenleben im gemeinsamen Haus der Erde findet, bieten sich Chancen für eine friedliche, solidarische und nachhaltige Welt.

Literatur

Krumenacker, T.; Schwägerl, C. (2020): „Mit der Vernichtung von Ökosystemen sind Pandemien wahrscheinlicher“ – Interview mit J. Settele und J. Spangenberg. Spektrum.de, 25.3.2020.

Menzel, U. (2020): Der Corona-Schock – Die Entzauberung der Globalisierung. Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr. 4/2020, S. 37-44.

Scheffran, J. (2004): Energiekonflikte und Klimakatastrophe – Die neue Bedrohung? PROKLA – Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft, Bd. 34, Nr. 2, S. 173-197.

Scheffran, J. (2014): Der unmögliche Krieg – Jan Bloch und die Mechanik des Ersten Weltkriegs. W&F 2/2014, S. 38-42.

Scheffran, J. (2016): Kettenreaktion außer Kontrolle – Vernetzte Technik und das Klima der Komplexität. Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr. 3/2016, S. 101-110.

Schellnhuber, H.J. (2020): „Niemand kann sich jetzt über einen positiven Klimaeffekt freuen“. Frankfurter Rundschau, 26.3.2020.

von Weizsäcker, E.U.; Young, O.R.; Finger, M.; Beisheim, M. (eds.) (2005): Limits To Privat­ization – How to Avoid Too Much of a Good Thing. A Report to the Club of Rome. London: Earthscan.

Dr. Jürgen Scheffran ist Professor für Integrative Geographie, Leiter der Forschungsgruppe Klimawandel und Sicherheit (CLISEC) an der Universität Hamburg und Mitglied der W&F-Redaktion.

Dieser Artikel wurde am 19. April fertig gestellt.

Atomwaffen, Umwelt und Klima


Atomwaffen, Umwelt und Klima

Grenzen des fossil-nuklearen Zeitalters

von Jürgen Scheffran

Rüstung, Militär und Krieg haben immer schon die natürliche Umwelt belastet. Mit dem Einsatz von Atombomben durch die USA gegen die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki im August 1945 erreichte die Vernichtung von Mensch und Natur ein neues Ausmaß. Durch die kombinierte Wirkung von Hitze, Druck und Strahlung wurden nicht nur Hunderttausende Menschen dahingerafft, sondern auch die lokale Flora und Fauna; Land, Wasser und Atmosphäre wurden für Jahre radioaktiv verseucht. Von den weltweit mehr als 60.000 Atomwaffen zum Ende des Kalten Krieges gibt es 30 Jahre später immer noch nahezu 14.000. Hinzu kommt das Nuklearmaterial aus abgerüsteten Waffen, mehr als genug, um das Leben auf der Erde auszulöschen.

Im gesamten Lebenszyklus (oder besser Todeszyklus) der Atomwaffenentwicklung entstehen radioaktive Isotope, mit Halbwertszeiten von Sekundenbruchteilen bis zu Jahrmillionen. Während schnelllebige Stoffe ihre Umweltwirkung nur kurze Zeit entfalten, müssen langlebige Stoffe dauerhaft von der Umwelt abgeschottet werden, was kaum sicher möglich ist. Dies gilt insbesondere für Plutonium-239 mit einer Halbwertszeit von 24.110 Jahren und Plutonium-244 mit 80 Mio. Jahren. Solche Zeiträume gehen über die bisherige Menschheitsgeschichte weit hinaus. Das gesamte Strahlungsinventar ist schwer abzuschätzen, könnte aber nach manchen Angaben bei mehreren Hundert Billionen radioaktiven Zerfällen pro Sekunde (Becquerel) liegen. Auch langfristige Schäden durch die Strahlen­exposition für Umwelt und Gesundheit kommender Generationen können kaum eingeschätzt werden, insbesondere hinsichtlich Krebs und genetischer Schäden.

Umweltrisiken der nuklearen Brennstoffspirale

Der Nuklearkomplex (zivil wie militärisch) hat vielfältige Umweltbelastungen im gesamten Erdsystem erzeugt und Tausende Quadratkilometer Böden, Flüsse, Seen und Ozeane sowie die Atmosphäre und Biosphäre radioaktiv kontaminiert. Nukleare Spaltprodukte gelangen über Atemluft, Wasser und Nahrung in die Körper aller Organismen und strahlen in den Körperzellen weiter. Besonders exponierte Nahrungsmittel sind Fische, Pilze und Milch. Alleine in den USA soll es durch mit Jod-131 belastete Milch zwischen 10.000 und 75.000 zusätzliche Fälle von Schilddrüsenkrebs geben.

Alle Komponenten der nuklearen Brennstoffspirale, von Uranminen über Urananreicherung, Reaktoren und Atomwaffen bis zur (End-) Lagerung, belasten Umwelt und Gesundheit. Besonders gravierend sind die Auswirkungen des Abbaus von Uranerz, der radioaktive und toxische Schlämme und Halden hinterlässt, weltweit mit einem Abraum von bislang mehr als zwei Mrd. Tonnen. Radioaktive Stoffe gelangen über Luft, Wasser und Böden in die Nahrungskette. Das Edelgas Radon erhöht das Lungenkrebsrisiko. Ein Teil des abgereicherten Urans wird vom US-Militär in panzerbrechender Munition verwendet; damit wird u.a. das Golfkriegssyndrom in Zusammenhang gebracht.

Viele Uranminen liegen in Gebieten indigener Völker, auf deren Interessen wenig Rücksicht genommen wurde und wird. Stark verschmutzte Gebiete liegen auch in Sachsen und Thüringen, von wo in DDR-Zeiten das sowjetische Atomwaffenprogramm beliefert wurde. Bis 1990 wurden in den Minen der Wismut-AG 231.000 Tonnen Uran gewonnen. Auf einer Fläche von etwa 3.700 Hektar verblieben 48 giftige und radioaktive Halden mit über 300 Mio. Kubikmetern Gesteinsresten und weitere 160 Mio. Kubikmeter Schlämme aus der Uranaufbereitung. Infolge des Uranabbaus starben hier geschätzt rund 15.000 Menschen durch Staublunge und 8.000 durch Krebs. Die Kosten der noch nicht abgeschlossenen Sanierung liegen bei mindestens acht Milliarden Euro.

Atomwaffentests und -produktion

Im nuklearen Wettrüsten des Kalten Krieges wurden mehr als 2.000 Atomwaffen getestet. Das dabei freigesetzte Plutonium und andere radioaktive Stoffe zirkulieren bis heute weltweit. Testgebiete, wie das Bikini-Atoll, wurden für indigene Völker unbewohnbar. Als Folge oberirdischer Atomwaffentests wurde bis zum Jahr 2000 mit 86.000 Missgeburten und 430.000 tödlichen Krebsfällen gerechnet; manche Studien setzen die Zahlen noch deutlich höher an. Hinzu kommen die Auswirkungen unterirdischer Tests. Zunächst wurde angenommen, dass die Wanderung von Isotopen im Boden Jahrhunderte braucht, um den Grundwasserspiegel zu erreichen. Verfügbare Daten zeigen, dass dies schneller geschieht (in Jahrzehnten) und die Radioaktivität teilweise bereits das Grundwasser erreicht hat. Dies lässt für die Zukunft wieder höhere Atomtestfolgen erwarten.

Auch Menschen, die weit entfernt von Atomwaffentest- und -produktionsgebieten leben, sind über Umweltprozesse von den Risiken betroffen. Oftmals liegen Atomwaffenanlagen in der Nähe von Gewässern und landwirtschaftlichen Nutzflächen und beeinflussen die Trinkwasser- und Nahrungsmittelversorgung. Das Nuklearmaterial diffundiert durch die Umwelt und konzentriert sich an bestimmten Orten. So sind in der Nähe des Nuklearkomplexes Sellafield in England Land- und Meeresgebiete stark radioaktiv kontaminiert. Die Meere vor Russland wurden zur Deponie für radioaktive Abfälle. An einigen Standorten von US-Waffenfabriken ist das Grundwasser belastet. In der Nähe von Test- und Produktionsgeländen ist die Sterblichkeit oftmals erhöht. Schließlich wirkt sich die freigesetzte Strahlung auch auf das genetische Erbgut von Menschen und anderen Lebewesen aus, was zu Geburtsfehlbildungen und angeborenen Krankheiten führt.

Wie die zivile ist auch die militärische Nutzung von Atomenergie fehleranfällig und riskant, wie einige Beispiele aus Russland zeigen: Bei Unfällen fielen Dutzende Atomsprengköpfe und U-Boot-Reaktoren ins Meer. Lecks und Unfälle wirken oft weit über die unmittelbare Umgebung und Generation hinaus. Beim schlimmsten Atomwaffenunfall in Tscheljabinsk-65 bei Mayak explodierte 1957 ein Tank mit hochradioaktiven Abfällen, was etwa 15.000 Quadratkilometer Land verseuchte und zur Evakuierung von über 10.000 Menschen führte. Auch flussabwärts gelegene Dörfer wurden kontaminiert. Nuklearabfälle aus Mayak im See Karatschai, dem vielleicht am stärksten verseuchten Gewässer der Erde, wurden nach allmählichem Absinken des Seespiegels als radioaktiver Staub über ein 1.800 km² großes Gebiet verteilt. Im August 2019 sollen durch die Explosion eines nuklearen Raketenantriebs auf einem russischen Militärgelände mindestens fünf Menschen getötet und Radioaktivität freigesetzt worden sein. Der Reaktorunfall von Tschernobyl war eine nationale und internationale Katastrophe, mit riesigen Kosten und Risiken.

Beseitigung und Lagerung nuklearer Altlasten

Weltweit wurden Hunderttausende Tonnen abgebrannter Kernbrennstoffe erzeugt. Viele Abfälle wurden als »niedrig strahlend« vergraben. Trotz großer Anstrengungen fehlen dauerhafte und sichere Endlager für hochradioaktive Abfälle, die in Zwischenlagern gesammelt werden, bis Wärmeleistung und Radioaktivität gesunken sind. Bisherige Konzepte der »Entsorgung« – den Atommüll im tiefen Ozean, in der Antarktis, im Weltraum oder in unterirdischen Formationen zu deponieren – sind mit Problemen behaftet. Während manche eine langfristige Isolierung und Eindämmung bevorzugen, möchten andere die Abfälle in einer abrufbaren und kontrollierten Form lagern.

Der Ost-West-Konflikt endete mit gefährlichen Hinterlassenschaften des nuklearen Wettrüstens. Die globalen Bestände hoch angereicherten Urans betrugen 2017 etwa 1.340 Tonnen und von Plutonium etwa 520 Tonnen. Zusammen reicht dies für mehr als 200.000 einfache Atomwaffen. Es ist ungewiss, ob und wann eine verantwortungsvolle Lösung für die langfristige Beseitigung von Atomwaffenmaterialien gefunden wird. Ein weiteres Problem ist die Säuberung der Umgebung von Nuklearanlagen, die mit hohen ökologischen und ökonomischen Belastungen verbunden ist. Noch viele künftige Generationen müssen diese Last tragen.

In den USA wurden mehrere Flüsse radioaktiv kontaminiert, darunter der Snake, Columbia und Savannah River. In Idaho gefährdeten Radionuklide das Grundwasser im Snake River Plain Aquifer und die Kartoffelproduktion. Milliarden Liter kontaminierte Flüssigkeiten wurden in die Umwelt abgegeben, weitere radioaktive Flüssigkeiten warten auf Endlagerung. Seit der Einstellung der Produktion von waffenfähigem Plutonium 1987 steht die Beseitigung der Abfälle aus 40 Jahren an. Das US-Energieministerium, das für den Atomwaffenkomplex zuständig ist (neun Standorte in sieben Bundesstaaten), schätzte in den 1990er Jahren die Kosten für die Bewältigung der Hinterlassenschaften auf rund 500 Mrd. US$ über einen Zeitraum von 75 Jahren. Doch allein die Sanierung des stillgelegten Nuklearkomplexes von Hanford am Columbia River, in dem 1.200 Tonnen Plutonium erzeugt wurden, dürfte diese Zahl sprengen. Hatte ein Bericht des Congressional Research Service 2018 noch mehr als 100 Mrd. US$ Gesamtkosten für Hanford veranschlagt, so nennt ein Bericht des Energieministeriums von 2019 den schockierenden Betrag von 323 bis 677 Mrd. US$.

Auch in Russland hinterließ der Kalte Krieg einen riesigen Nuklearkomplex, mit neun großen Industriekomplexen zur Urangewinnung sowie drei großen Produktionsanlagen für Waffenplutonium und zur Wiederaufbereitung von Brenn­elementen. 15 % der Fläche Russlands wurden zu ökologischen Notstandsgebiete, sieben Millionen Russ*innen leben auf radioaktiv verseuchten Böden, die nur schwer zu sanieren sind. Dringlich ist das Abwracken ausgedienter Atom-U-Boote und die Beseitigung Tausender Raketen und Bomber sowie Zehntausender Sprengköpfe. Die Beseitigung der 245 nukleargetriebenen U-Booten mit 445 Reaktoren verzögerte sich aufgrund geringer Verschrottungskapazitäten und fehlender Endlagerstätten. Mindestens 18 Atomreaktoren (sechs noch mit Brennstäben) wurden im Nordmeer versenkt, und 50 Atom-U-Boote dümpeln ungesichert vor sich hin, wobei Reaktoren und Brennstoffe an Bord blieben. In Mayak, Krasnojarsk und Tomsk lagern große Mengen flüssigen und festen Atommülls. Ein Teil des Materials aus ausgemusterten Atombomben wurde für zivile Zwecke genutzt, im Rahmen eines Sicherungsabkommens auch in den USA. 2011 genehmigte das russische Parlament trotz Umweltprotesten den Import von 2.500 Tonnen abgebrannter Brennstäbe aus dem Ausland, um mit den erhofften Einnahmen von 20 Mrd. US$ kontaminierte Gebiete zu sanieren.

Neues Wettrüsten und »nuklearer Winter«

Das Wettrüsten ist wieder in vollem Gange, zwischen den USA, Russland und China und in Krisenherden von Nordkorea über Südasien bis nach Iran. Mit den nuklearen Abschreckungsstrategien und Tausenden von einsatzfähigen Atomwaffen bleiben die Risiken eines absichtlichen oder versehentlichen Nuklearkrieges hoch – manche sagen, höher als im Kalten Krieg. Dies ist eine existentielle Bedrohung, auch für das Weltklima. In Städten entzünden Atomwaffenexplosionen große Flächenbrände, die Rauch, Ruß und Staub in höhere Atmosphärenschichten tragen und das Sonnenlicht stark abschwächen, sodass die Oberflächentemperatur abkühlt (nuklearer Winter), bis die Stoffe wieder abgesunken sind. Das Gefahrenpotential zeigt die Tambora-Vulkaneruption, die 1815 zum »Jahr ohne Sommer« machte. Die Abkühlung führte zu Störungen des indischen Monsuns und verkürzten Vegetationsperioden, zu Ernteausfällen in Großbritannien und Irland; viele Tiere starben. Es kam zu Hungersnöten und Fluchtbewegungen, zur Ausbreitung von Typhus und Cholera, Unruhen und Plünderungen.

Jüngste wissenschaftliche Studien zeigen, dass selbst ein »begrenzter« regionaler Atomkrieg das Weltklima destabilisieren könnte. Ein Szenario ist ein nuklearer Schlagabtausch zwischen Pakistan und Indien, die bis 2025 vermutlich über 400 bis 500 Atomwaffen verfügen werden. Würden beide Länder zusammen 250 Atomwaffen gegen städtische Zentren einsetzen, könnten in wenigen Tagen 50 bis 125 Millionen Menschen sterben. Durch Brände würden je nach Ausmaß 16 bis 36 Mio. Tonnen Verbrennungsrückstände freigesetzt und binnen Wochen weltweit verbreitet. Das Sonnenlicht an der Oberfläche würde um 20 bis 35 % abnehmen, wodurch die globale Oberfläche um 2 bis 5°C abkühlt und die Niederschläge um 15 bis 30 % sinken, während die Pflanzenproduktivität an Land um 15 bis 30 % und in den Ozeanen um 5 bis 15 % geringer wird. Eine Folge der bis zu zehn Jahre andauernden »Kaltzeit« wären der Zusammenbruch von Landwirtschaft, Energie- und Verteilungssystemen und katastrophale Hungersnöte, die das Leben von mehr als einer Milliarde Menschen bedrohen würden.

Nuklearrisiken und Klimawandel: die doppelte Bedrohung

Auch ohne dieses Szenario sind Atomwaffen und die globale Erwärmung essentielle Gefahren für die internationale Stabilität und globale Friedenssicherung, die sich zu einem komplexen Problemgeflecht (Nexus) verdichten können. Klimabedingte Wetterextreme sind auch Gefahren für die nukleare Sicherheit. Dies betrifft insbesondere Anlagen in Hochrisikozonen an Flüssen, Seen, Küsten und in Wäldern. So bestand im Sommer 2010 die Gefahr, dass durch Waldbrände Nuklearstandorte in Russland eingeschlossen wurden und radioaktiv kontaminierte Stoffe im Raum Tschernobyl in die Atmosphäre gelangen. Zum Glück konnten die Brände rechtzeitig eingedämmt werden. Im Hitzesommer 2018 bedrohten Waldbrände in Kalifornien militärische Nuklear- und Raketentestanlagen. Auch Stürme, Überflutungen und Erdrutsche, Meeresspiegelanstieg und Sturmfluten stellen eine Gefährdung nuklearer Anlagen dar. Ein Bericht der U.S. Nuclear Regulatory Authority von 2011 sah landesweit mehr als 30 kerntechnische Anlagen durch Überschwemmungen gefährdet. In Situationen von Klimakrisen könnten nichtstaatliche Akteure Zugang zu Atomwaffen oder spaltbarem Material erlangen.

Manche Regionen sind durch die Verbindung von Atomwaffen und Klimawandel doppelt bedroht. So wurden die Marshall-Inseln durch Atomwaffentests verwüstet und sind nun durch Meeresspiegelanstieg und Stürme wieder existentiellen Gefahren ausgesetzt. Beide Gefahren können sich verstärken, so im Falle des »Runit Dome« auf dem Eniwetok Atoll, der radioaktiven Müll von Atomwaffentests abdeckt und nun droht, vom Meerwasser überflutet zu werden. Die Republik der Marshallinseln setzt sich gegen beide Gefahren zur Wehr. Sie reichte 2014 beim Internationalen Gerichtshof Anträge gegen die neun nuklearbewaffneten Staaten ein, da diese ihre Verpflichtungen zur nuklearen Abrüstung verletzten. Zudem verkündete der Präsident im Oktober 2019 einen nationalen Klimanotstand.

Wenn es nicht gelingt, den Klima­wandel einzudämmen, können sich die Folgen zu komplexen Konflikten mit Kipp­elementen verbinden. Schon die Antizipation einer eskalierenden Klima­krise könnte reaktive technische Maßnahmen provozieren, wie den Ausbau von Atomenergie und Geoengineering (technische Eingriffe ins Klimasystem), oder militärische Reaktionen bis hin zu Raketenabwehr und nuklearer Aufrüstung. Schon Edward Teller, der Erfinder der Wasserstoffbombe, hatte solche Maßnahmen vorgeschlagen. Sie multiplizieren jedoch die Probleme und treiben die Welt erst recht in die Katastrophe.

Das nukleare Wettrüsten verbraucht immer noch enorme Ressourcen, die für Umwelt- und Klimaschutz und nachhaltige Energieversorgung fehlen. Enttäuscht wurden die Hoffnungen nach dem Kalten Krieg, dass durch Abrüstung und Rüstungskonversion eine Friedensdividende für den Umweltschutz freigesetzt würde. Unter den weltweit gestiegenen Rüstungsausgeben von 1,8 Billionen US$ im Jahr 2018 beansprucht die nukleare Aufrüstung erhebliche Mittel, die für Klimapolitik nicht nur fehlen, sondern sie untergraben. Allein in den USA wurden seit 1940 etwa 8,7 Billionen US$ (inflationsbereinigt in 2010 US$) für Atomwaffen ausgegeben; im kommenden Jahrzehnt sind Ausgaben von 348 Mrd. US$ für Atomwaffen geplant, in drei Jahrzehnten eine Billion US$. Würde dies für Klimapolitik investiert, könnte die Klimakrise besser bewältigt werden. Atomwaffen verschärfen das Klimaproblem auch direkt, u.a. durch mehr Emissionen. Trägersysteme, wie nukleare U-Boote und Schiffe, haben in ihrem Lebenszyklus einen hohen CO2-Fußabdruck. Auch wenn genaue Zahlen nicht öffentlich sind, gibt es Schätzungen, dass das Pentagon in den USA und weltweit der größte einzelne Verbraucher von Erdölprodukten und Emittent von CO2 ist und damit ganze Länder, wie Schweden, übertrifft.

Double Zero: Abrüstung und Nachhaltigkeit gehören zusammen

Gegen die Gefahren von Atomwaffen und fossilen Energiesystemen konkurrieren zwei unterschiedliche Strategien: Beseitigung der jeweiligen Ursache (fossile und nukleare Energie) oder Abwehr der Folgen. Je mehr die Beseitigung und Vermeidung der zugrundeliegenden Bedrohungen versagt, desto mehr werden Abwehrmaßnahmen forciert, die umgekehrt die Wirksamkeit von Reduzierungsmaßnahmen verringern. Zum Beispiel hat Raketenabwehr die Bemühungen zur nuklearen Rüstungskon­trolle, Nichtverbreitung und Abrüstung erschwert. Ebenso kann Geoengineering die Reduzierung der Treibhausgasemissionen untergraben.

Um die doppelte Bedrohung durch Atomwaffen und Klimawandel zu vermeiden, führt kein Weg vorbei an der Ursachenvermeidung. Um den Nexus von Wachstum, Macht und Gewalt des fossil-nuklearen Zeitalters zu durchbrechen, ist eine Stärkung von Frieden und nachhaltiger Entwicklung wesentlich. Die Atombombe vereint alle drei Problemverstärker: ungehemmtes Wachstum der Kettenreaktion, unvorstellbare Gewalt und überzogene Allmachtsphantasien. In einer friedlichen und nachhaltigen Welt gibt es keinen Platz für Atomwaffen. Ihre Abschaffung ist daher auch ein zentrales Anliegen nachhaltiger Entwicklung. Abgesehen vom Atomwaffenverbotsvertrag gab es in den letzten Jahren hier nur Rückschritte. Ein zügelloses nukleares Wettrüsten zeichnet sich ab.

Zur Risikominderung erforderlich sind Abrüstung und Konversion, Ressourceneffizienz, Emissionssenkung und erneuerbare Energien. Da Wissenschaft und Technik fossile und nukleare Technologien hervorgebracht haben, liegt hier auch eine besondere Verantwortung für ihre Abschaffung. Ein umfassender, integrativer und adaptiver Aktionsrahmen kombiniert verschiedene Schritte, die auf eine Denuklearisierung und Dekarbonisierung hinauslaufen, im Sinne einer »doppelten Null« (double zero) von Atomwaffen und CO2-Emissionen. Internationale Normen, wie der Nichtverbreitungsvertrag oder die Klimarahmenkonvention, sind weiter zu entwickeln in Richtung einer Nuklearwaffenkonvention und der Implementierung des Pariser Klimaabkommens.

Dabei können soziale und technische Innovationen im zivilen Sektor ebenso eine Rolle spielen wie das Zusammenwirken von Friedens- und Umweltbewegung, die wie die International Campaign to Abolish Nuclear Weapons (ICAN) und Fridays for Future politische und gesellschaftliche Transformationsprozesse anstoßen wollen. Ob sie bestehende Verhältnisse zum Kippen bringen können, wird sich zeigen.

Quellen und weiterführende Literatur

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Scheffran, J.; Burroughs, J.; Leidreiter, A.; van Riet, R.; Ware, A. (2016): The Climate-Nuclear Nexus – Exploring the linkages between climate change and nuclear threats. Hamburg: World Future Council.

Scheffran, J. (2019): The entwined Cold War roots of missile defense and climate geoengineering. Bulletin of the Atomic Scientists, Vol. 75, Nr.5, S. 222-228.

Toon, O.B. et al. (2019): Rapidly expanding nuclear arsenals in Pakistan and India ­portend regional and global catastrophe. Science ­Advances, Vol. 5, Nr. 10, S. 1-13.

U.S. Congressional Research Service (2018): The U.S. Nuclear Weapons Complex: Overview of Department of Energy Sites. Washington, D.C.: CRS, 6.9.2018; crs.gov.

Ware, A. (ed.) (2016): Move the Nuclear Weapons Money. International Peace Bureau, Parliamentarians for Nuclear Non-proliferation and Disarmament, World Future Council.

Werner, M. (2019): Das US-Militär – Auf Kriegsfuß mit dem Klima. Tübingen: Informationsstelle Militarisierung, IMI-Studie 2019/7.

Dr. Jürgen Scheffran ist Professor für Integrative Geographie und Leiter der Forschungsgruppe Klimawandel und Sicherheit im Klima-Exzellenzcluster ­CLICCS an der Universität Hamburg. Er ist Mitglied der W&F-Redaktion.

Frieden in Bewegung

Frieden in Bewegung

von Michael Müller

Die Rüstungsausgaben erreichen heute neue Rekordhöhen, die weit über denen von 1988 liegen, dem letzten Jahr der noch in Ost und West gespaltenen Welt. Ein neuer Nationalismus macht sich breit. Das Kriegsgerassel wird lauter; die NATO führt immer größere Manöver durch; entlang der 1.700 km langen Grenzen zwischen der EU und Weißrussland/Russland vervielfacht sich die Stationierung von Militär; die Militärübungen haben sich in kurzer Zeit verfünffacht. Und jetzt wird es bis Mai 2020 mit »Defender Europe 20« auch noch ein provokantes US-Manöver mit Unterstützung
von NATO und Bundeswehr geben. 75 Jahre nach Kriegsende ist dies ein schauerliches Signal einer geschichtsvergessenen Politik.

Deutschland ist die zentrale Drehscheibe für das Manöver. 37.000 Soldat*innen aus 16 NATO-Staaten sowie Finnland und Georgien, darunter 29.000 GIs mit schwerem Gerät, werden an die russische Grenze transportiert. Operativ zuständig sind das Heereskommando der U.S. Army in Europe in Wiesbaden und das U.S. European Command in Stuttgart. Die Datenkoordinierung erfolgt über die US-Airbase Ramstein. Ziele sind die Zurschaustellung militärischer Überlegenheit und die Erprobung einer schnellen Verlegung großer Kampfverbände Richtung Osten. Diese militärische Kraftmeierei ist das Gegenteil von
Friedenspolitik.

Der Widerspruch zwischen den wachsenden militärischen Gefahren und der immer noch zurückhaltenden öffentlichen Debatte ist eklatant. Schleichend verschiebt sich die öffentliche Meinungsbildung. Die öffentlichen und viele politische Meinungsmacher fordern, dass sich die Bundeswehr noch stärker an weltweiten Militäreinsätzen beteiligt, dies läge in der nationalen Verantwortung.

Was für ein Irrsinn abläuft, zeigt die neue Rüstungsspirale. Auf die ersten zehn der rund 200 Länder der Erde entfallen knapp 75 Prozent der Militär­ausgaben. Weit an der Spitze liegen die USA, gefolgt von China und Saudi-Arabien. Deutschland erreicht Platz acht; in den letzten fünf Jahren erhöhte die Bundesregierung den Rüstungsetat um 34 Prozent. Sollte die angekündigte Erhöhung auf zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts Wirklichkeit werden, so stiege je nach wirtschaftlicher Entwicklung unser Land auf Platz drei oder vier weltweit auf. Die Rüstungslobbyisten würden jubeln, die
öffentlichen Haus­halte ächzen.

Dieser Militarisierung wollen wir entgegentreten: Es ist Zeit für die Stärkung der Friedensbewegung und für eine neue Entspannungspolitik. Können doch die neuen Bedrohungen, insbesondere die Folgen der globalen Erderwärmung, nicht militärisch verhindert werden. Im Gegenteil: Die doppelte Gefahr eines Selbstmordes der Menschheit wird real. Da ist zum einen der schnelle Selbstmord durch die neue Hochrüstung und die aggressive Konfrontation mit Stellvertreterkriegen in vielen Regionen der Welt, zum anderen der langsame Selbstmord durch die globale Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen.
Der Klimawandel wird schon in wenigen Jahrzehnten, vielleicht sogar Jahren, kritische Werte überschreiten.

Wir brauchen eine neue Gemeinsamkeit und das ernsthafte Bemühen um Zusammenarbeit, auf staatlicher wie auf bürgerschaftlicher Ebene. Notwendig sind eine starke Friedensbewegung und neue Initiativen für eine weltweite Friedenskultur. Deshalb veranstalten die Naturfreunde Deutschlands, die in diesem Jahr 125 Jahre alt werden, eine große Friedenswanderung. Schon in den 1950er Jahren hatten die Naturfreunde und die Naturfreundejugend die Anti-Atom-Bewegung unterstützt und später die Ostermärsche mitbegründet.

Auch heute setzen wir uns für eine globale Abrüstung und Rüstungskon­trolle ein, für ein Verbot von Rüstungsexporten, für eine atomwaffenfreie Welt und eine neue Friedens- und Entspannungspolitik. Die Friedenswanderung findet statt von 30. April bis 18. Juli diesen Jahres. Unter dem Motto »Frieden in Bewegung« wandern wir in 80 Etappen für eine friedliche Zukunft durch unser Land, von der dänischen Grenze bis zum Bodensee (siehe ­frieden-in-bewegung.de).

Überall auf den rund 1.750 Kilometern wollen die Naturfreunde zusammen mit Friedens- und Umweltgruppen auf die schrecklichen historischen Folgen von Kriegstreiberei hinweisen, neue Kriegsgefahren aufzeigen und Rüstungsexporte verurteilen. Auch Rüstungsstandorte werden angelaufen.

Wir setzen uns für Frieden in Bewegung, weil das »soziale Wandern« zu unserer Geschichte gehört. Mit der Wanderung sollen das Netzwerk der Natur- und Friedensengagierten und der Wille nach einem weltweiten Frieden gestärkt werden. Und wir sagen »Nein« zu Militärmanövern wie Defender Europe 20.

Michael Müller ist Bundesvorsitzender der NaturFreunde Deutschlands.

Gemeinsam entscheiden


Gemeinsam entscheiden

Perspektiven und Risiken von Partizipation für eine sozial-ökologische Transformation

von Laima Eicke, Maja Hoffmann, Thomas Kopp

Die Lebensweise breiter Bevölkerungsschichten im Globalen Norden ist ursächlich verantwortlich für gravierende globale Probleme, wie die Zerstörung unserer Lebensgrundlagen, Krieg, Gewalt und Vertreibung. Dieser Befund ist Ergebnis des Konzeptes der »imperialen Lebensweise«. Das Konzept der »solidarischen Lebensweise« hingegen wagt den Versuch, eine derart zerstörerische Gesellschaftsorganisation zu überwinden. Doch wer entscheidet darüber, in welcher Gesellschaft wir heute leben und in welcher wir künftig leben wollen? Wer partizipiert an maßgeblichen politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen und wer nicht?

Die imperiale Lebensweise ist nach Brand und Wissen (2017) eine strukturell, kulturell und individuell tief verankerte gesellschaftliche Organisationsform, die auf der systematischen, exklusiven und unbegrenzten Ausbeutung von Natur und menschlicher Arbeitskraft im globalen Maßstab beruht. Sie beschreibt nicht einen individuell gewählten Lebensstil, sondern ist die bestimmende Lebensform breiter Gesellschaftsschichten, vor allem im Globalen Norden, zunehmend aber auch einer wachsenden Mittelschicht in sich »entwickelnden« Ländern des Globalen Südens. Stabilisiert wird sie durch einen relativ breiten gesellschaftlichen Konsens über ihre Normalität sowie durch Infrastrukturen und Institutionen, die zumindest mittelfristig ein bestimmtes Verhalten vorgeben und ein anderes verunmöglichen.

Mit Krieg und gewaltsamen Konflikten ist die imperiale Lebensweise aufs Engste verknüpft: Die Ausbeutung von Natur und Menschen mittels ungleicher Handelsverträge oder des systematischen Einsatzes von Zwangsmitteln, Gewalt und Militärinterventionen ist seit der Kolonialzeit fester Bestandteil des modernen Gesellschaftsmodells. Heute sind die Methoden nur teilweise subtiler geworden, etwa wenn die Bundeswehr am Horn von Afrika internationale Handelsrouten sichert oder wenn durch die »Strukturanpassungsprogramme« des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank ganze Volkswirtschaften umgebaut werden. Auch Konflikte, die mit den alltäglichen Praktiken der imperialen Lebensweise einhergehen, werden billigend in Kauf genommen: Rohstoffkriege im Kongo z.B. werden durch die IT-Nutzung der „transnationalen Verbraucherklasse“ (Sachs und Santarius 2005) genauso verschärft wie Landkonflikte im Amazonas durch Fleischproduktion und -konsum hierzulande (Kopp et al. 2017).

Als Gegenentwurf zu dieser imperialen Lebensweise entwerfen Ambach et al. (2019) mit dem Konzept der »solidarischen Lebensweise« eine gesellschaftliche Organisationsform, in der alle Menschen ihre Bedürfnisse verwirklichen können, ohne dabei auf Kosten anderer oder der Natur zu leben. Stattdessen steht die wechselseitige Abhängigkeit zwischen den Menschen sowie im Verhältnis zur Umwelt im Zentrum. Daraus erwachsen gemeinsame Verantwortung und Sorge füreinander, gemeinsames Entscheiden und Handeln sowie Suffizienz. Der notwendige und angestrebte Übergang von der einen, nicht-nachhaltigen Gesellschaftsform zu einer anderen, nachhaltigen Lebensweise wird häufig als »sozial-ökologische Transformation« bezeichnet.

Dieser Beitrag möchte zunächst skizzieren, welche Formen Partizipation in der imperialen Lebensweise annimmt, und in einem zweiten Schritt diskutieren, inwiefern eine Ausweitung von Partizipation hilfreich für das Ziel einer sozial-ökologischen Transformation hin zu einer künftigen solidarischen und damit friedensfördernden Lebensweise sein könnte.

Eingeschränkte Partizipation in der imperialen Lebensweise

Obwohl die imperiale Lebensweise von breiten Bevölkerungsschichten im Globalen Norden gelebt wird, handelt es sich nicht um eine Gesellschaftsform, über die demokratisch entschieden wurde. Über ihre Konstitution und künftige Entwicklung bestimmen in der Regel nur wenige Menschen (Brand und Wissen 2017, Kopp et al. 2017); die Partizipation an grundlegenden Entscheidungen ist eingeschränkt. Wir verstehen Partizipation in diesem Beitrag als Teilhabe am Gemeinwesen und Mitbestimmung an Entscheidungsprozessen zur Gestaltung des Gemeinwesens. Dies umfasst neben der formalen politischen Sphäre auch Wirtschaftsfragen, also die Grundbedingungen materieller Existenz.

Partizipation in der imperialen Lebensweise ist in erster Linie charakterisiert durch die Vorstellung, gesellschaftliche Teilhabe bedeute primär Teilhabe an materiellem Konsum. In historischer Perspektive ist das verständlich: Die Etablierung der modernen Konsum- und Wachstumsgesellschaft im Fordismus der Nachkriegszeit ermöglichte breiten Massen die Teilhabe am materiellen Wohlstand, verstanden als Zugang zu Arbeitseinkommen und Konsumgütern. Partizipation wird daher oftmals als individuelle Kaufentscheidung verstanden bzw. als die oft behauptete Möglichkeit, durch ethische Konsumentscheidungen an der Ausgestaltung globaler Handelsbedingungen mitwirken zu können. Bürger*innen werden in dieser Lesart auf ihre Rolle als Konsument*innen reduziert, die lediglich aus einem vorgegebenen, hinsichtlich des Herstellungsprozesses intransparenten Angebot auswählen können. Die Rahmenbedingungen der globalen Ökonomie, ihre Funktionsweise, Machtstrukturen und Produktionsprozesse stehen dabei nicht zur Disposition.

Die Bürger*innen einer repräsentativen Demokratie haben zwar weiterreichende Befugnisse: Es können, wenigstens indirekt, soziale und ökologische Produktionsstandards festgelegt werden. Dennoch bleibt der reale Einfluss der Bürger*innen oftmals eingeschränkt: Die maßgeblichen politischen Entscheidungsorgane werden – wenn überhaupt – nur durch sporadisch stattfindende Wahlen besetzt; wirtschaftliche Entscheidungsträger*innen werden zumeist gänzlich undemokratisch bestimmt. Auch demokratisch legitimierte Institutionen entscheiden teilweise gegen den mehrheitlichen Willen der Bevölkerung über Rahmenbedingungen, wie etwa bei den umstrittenen Freihandelsabkommen TTIP und CETA (ARD 2016). Die von Entscheidungen unmittelbar Betroffenen werden meist nicht oder nur unzureichend eingebunden, erst recht nicht, wenn man sich die globalen und die Zukunft betreffenden Auswirkungen der imperialen Lebensweise vergegenwärtigt. Erschwerend kommen Demokratiedefizite hinzu in Form der ungebremsten Einflussnahme mächtiger Lobbygruppen auf die Politik (Lange et al. 2017), bis hin zu offener Korruption, wie jüngst der »Diesel-Skandal« erneut zeigte.

Immerhin: Die eingeschränkten Partizipationsmöglichkeiten werden erfreulicherweise häufig genutzt. Allerdings werden deren Grenzen, zum Beispiel vor dem Hintergrund der Klimakatastrophe, immer deutlicher. Ethische Konsumentscheidungen erscheinen oft wirkungslos, ebenso wie zaghafte Reformen gewählter Entscheider*innen, denen aktuell wöchentliche und weltweite Großdemonstrationen einer jungen Generation mit ihrem Wunsch nach Veränderung gegenüberstehen. Es stehen wichtige Entscheidungen über Weichenstellungen für unsere Zukunft an. Damit stellt sich die Frage, wer in welcher Form an diesen Entscheidungen beteiligt ist.

Voraussetzungen für erweiterte Partizipation schaffen

Demokratie bedeutet Volksherrschaft, und das bedeutet, regelmäßig mitzubestimmen und zugleich Verantwortung für die Gesellschaft zu übernehmen. Diese Aufgabe beschränkt sich nicht darauf, alle paar Jahre ein Kreuzchen zu machen. Vielmehr ist gelebte gesellschaftliche Partizipation ein kontinuierlicher, voraussetzungsvoller Prozess. Ein wichtiger Punkt ist die Offenheit und Transparenz von Entscheidungsorganen – nur dann können aktuelle Entwicklungen mitverfolgt und eigene Ideen eingebracht werden. Doch während die Verhandlungen von Gesetzen im Bundestag öffentlich sind und online per Livestream mitverfolgt werden können, sind drei Viertel der Ausschusssitzungen, in denen die Gesetzestexte erarbeitet werden, geschlossen. Anträge, dies zu ändern, wurden zuletzt 2018 eingereicht, aber bislang abgelehnt (Bündnis 90/Die Grünen 2019).

Eine prominente Idee für mehr Mitbestimmung ist die Integration von Elementen der Direkten Demokratie, wie beispielsweise in der Schweiz. In einzelnen deutschen Bundesländern ist es erlaubt, Volksbegehren zu starten, um wichtige Anliegen auf die Agenda der Politik zu bringen. Erfolgreich wurde z.B. erst kürzlich in Bayern das Volksbegehren für Erhalt und Förderung der Artenvielfalt durchgeführt. Die Organisation Mehr Demokratie e.V. setzt sich seit 30 Jahren für bundesweite, verbindliche Volksbegehren ein.

Direkte Demokratie birgt aber auch Gefahren. Eine politische Stimmung kann innerhalb kurzer Zeit aufgeheizt werden und kippen. Parteien können dies nutzen, um problematische Interessen durchzusetzen; z.B. waren der Brexit oder das Minarettbauverbot in der Schweiz Ergebnis von nationalistischem Populismus. Umso wichtiger ist eine rechtliche Verankerung der Werkzeuge der Direkten Demokratie, damit sie mit den Prinzipien einer solidarischen Lebensweise übereinstimmen. Die »Ewigkeitsklausel«, die bestimmte Teile des Grundgesetzes schützt, ist ein Instrument hierfür.1 Darüber hinaus ist es auch Aufgabe von Bildungseinrichtungen, Menschen darauf vorzubereiten, sich kritisch eine Meinung zu bilden und verantwortungsvolle Entscheidungen zu treffen.

In der Sphäre der formalisierten Politik sind also verschiedene Formen der Partizipation möglich. Darüber hinaus werden Vorschläge diskutiert, Partizipation grundsätzlicher zu verstehen und ihren Geltungsbereich zu erweitern. Denn während wir in der politischen Sphäre beispielsweise über Möglichkeiten verfügen, relevante Informationen über staatliche Tätigkeiten in Behörden per Informationsfreiheitsgesetz zu erfragen, sind Informationen über Unternehmensaktivitäten und Lieferketten sehr begrenzt zugänglich und Entscheidungsprozesse darüber nur einer sehr begrenzten Zahl Menschen (etwa in Unternehmenszentralen) zugänglich. Zwar gibt es Unternehmensformen wie Genossenschaften oder Kooperativen, in denen betriebliche Entscheidungen, z.B. über Investitionen und Löhne, von allen Mitarbeiter*innen und Anteilseigner*innen demokratisch getroffen werden. Dennoch schließt dies nur teilweise die Menschen ein, die von diesen Entscheidungen am Ende betroffen sind. Auch ermöglicht dies keinerlei Teilhabe an Entscheidungsprozessen über die Ausrichtung des Wirtschaftssystems insgesamt. Für eine sozial-ökologische Transformation ist zudem das Beenden bestimmter Strukturen und Praxen nötig (»Exnovation«) – allerdings ist fraglich, ob sich ein Kohlekonzern selbst unter demokratischer Führung dazu durchringen kann, sämtliche Arbeiter*innen zu entlassen und den Betrieb stillzulegen.

Hier setzt das Konzept der Wirtschaftsdemokratie an. In einem grundsätzlichen Sinne verstanden, meint es Gewaltenteilung zur Kontrolle wirtschaftlicher Macht sowie das gleiche Recht aller auf Mitbestimmung und -gestaltung in ökonomischen Angelegenheiten, analog zur staatlichen Demokratie (Johanisova und Wolf 2012). Dies würde deutlich erweiterte Mitbestimmung über Zweck, Mittel und Gestaltung von u.a. Arbeit, Produktion, Konsum, Handel, Investitionen oder Geldschöpfung bedeuten – und neue Formen der Entscheidungsfindung und Gewaltenteilung auf verschiedenen Ebenen erfordern. Ansprüche an erweiterte Demokratie in diesem Sinne sind bereits Gegenstand vielfältiger Debatten und Praktiken weltweit, etwa Commons, Energiedemokratie, Landrechte, Wassersouveränität, Sorgeräte und andere Rätesysteme, Ecoswaraj, Parecon, Schulden-Audits, Transition Towns oder Ernährungssouveränität, Letztere z.B. verwirklicht im Prinzip der Solidarischen Landwirtschaft (Hoffmann 2018).

Trotz solcher Beispiele funktionierender Wirtschaftsdemokratie in Teilbereichen und begrenztem Ausmaß gibt es viele offene Fragen zu ihrer möglichen Ausweitung und Ausgestaltung vor dem Hintergrund komplexer, arbeitsteiliger Gesellschaften. Um Wirtschaftsdemokratie sinnvoll zu organisieren, bedürfte es beispielsweise einer De-Globalisierung bzw. dezentralen Regionalisierung der meisten Wirtschaftssektoren. (Globale) Solidarität und Verantwortung oder möglichst hierarchiefreie Strukturen wären hierbei keine Selbstläufer. Auch wäre Versuchen in diese Richtung der Vorwurf der Planwirtschaft und Sowjet­romantik sicher, ebenso der Ineffizienz oder der Sorge, dass nicht alle in allen Dingen mitreden können oder wollen.

Insgesamt beruht die Möglichkeit der demokratischen Teilhabe aller Menschen an politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen auf einem System, das den Menschen die Freiheit ermöglicht, sich aktiv einzubringen. Wenn Menschen Tag für Tag acht und mehr Stunden arbeiten müssen, um sich den Alltag leisten zu können, haben sie kaum mehr Zeit und Kraft, um sich politisch oder gesellschaftlich zu engagieren. Daher wären eine allgemeine Arbeitszeitverkürzung und andere sozialpolitische Maßnahmen zur Absicherung materieller Grundbedürfnisse wichtige Voraussetzungen für eine umfassende Partizipation.

Partizipation für eine sozial-ökologische Transformation

Entscheidende Bereiche, in denen über die Zukunft unserer Gesellschaft entschieden wird, bleiben in der imperialen Lebensweise also demokratischer Mitbestimmung verschlossen. Partizipation im aktuellen institutionellen Rahmen ist nicht ausreichend gewährleistet, um grundlegende Weichenstellungen zur Überwindung der imperialen Lebensweise vorzunehmen. Dabei fehlt es sowohl an effektiven institutionellen Instrumenten zur Partizipation als auch an wichtigen Voraussetzungen, um diese wahrzunehmen, wie z.B. Transparenz und eine Absicherung finanzieller und zeitlicher Ressourcen. Eine Ausweitung bestehender Formen der Partizipation wie auch ihre Ausweitung auf andere Formen und Bereiche (wie z.B. den Wirtschaftsbereich) betrachten wir jedoch als zentral für eine solidarische Lebensweise, trotz der Risiken, die das bergen kann.

Die Rolle von Partizipation als sozial-ökologische Transformationsstrategie selbst bleibt weiterhin offen. Es gibt bereits heute zahlreiche Experimentierräume der Partizipation, etwa in der Solidarischen Landwirtschaft oder in Kommunen, die Finanzentscheidungen in einem Bürger*innenhaushalt aushandeln lassen. Diese Räume können neben einem Lernprozess über Lebens­mittel­anbau oder städtische Verwaltung der Finanzen dazu beitragen, demokratische Praxen zu erlernen. Dies ist insofern sehr wichtig, als Menschen hierzulande in der Regel keinerlei Erfahrung mit Formen direkter Demokratie bzw. Partizipation haben, die über erprobte Instrumente wie Volksentscheide hinaus gehen. So können Menschen Aushandlungsprozesse verschiedener Interessen erproben, um gesellschaftliche Konfliktlösung inklusiv und mit friedlichen Mitteln zu gewährleisten.

Gleichzeitig sind Partizipation Grenzen gesetzt, und sie ist kein Allheilmittel. Oftmals beschränkt sie sich auf eine Auswahl aus vordefinierten Möglichkeiten innerhalb der Grenzen institutioneller Pfadabhängigkeiten. Und selbst wenn es gelingt, diese aufzubrechen, ist Partizipation nicht gefeit gegen Populismus und potenziell rückschrittliche Entwicklungen. Doch besonders die aktuellen Herausforderungen im Klima- und Umweltschutz machen deutlich, dass sich global weite Teile der Bevölkerung – und allen voran eine junge Generation – mit ihrem Wunsch nach einer zukunftsgerichteten, sozial-ökologischen Transformation nicht ausreichend repräsentiert sehen und mehr Mitsprache in Politik und Wirtschaft auf der Straße einfordern.

Anmerkung

1) Artikel 19(2) des Grundgesetzes lautet: „In keinem Falle darf ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden.“

Literatur

Ambach, C.; Austaller, M.; Bähr, H.; Beil, C.; Brokow-Loga, A.; Eicke, L.; Inkermann, N.; Hildebrandt, F.; Jeglitzka, E.; Kalt, T.; Kolbinger, J.; Lage, J.; Ries, F.; Ritter, J.; Rosswog, T.; Schwausch, C.; Thomas, W.; van Treeck, K.; Walch, S. (2019): Das Gute Leben für Alle! Wege in die solidarische Lebensweise. München: oekom.

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Brand, U.; Wissen, M. (2017): Imperiale Lebensweise – Zur Ausbeutung von Mensch und Natur im globalen Kapitalismus. München: oekom.

Bündnis 90/Die Grünen – Bundestagsfraktion (2019): Ausschüsse sollen öffentlich tagen. 21.1.2019; gruene-bundestag.de.

Hoffmann, M. (2018): Imperiale Lebensweise, sozial-ökologische Transformation und Wirtschaftsdemokratie. aep informationen – Feministische Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, Vol. 45, Nr. 4, S. 32-35.

Johanisova, N.; Wolf, S. (2012): Economic democracy – A path for the future? Futures, Vol. 44, Nr. 6, S. 562-570.

Kopp, T.; Becker, M.; Decker, S.; Eicker, J.; Engelmann, H.; Eradze, I.; Forster, F.; Haller, S.; Heuwieser, M.; Hoffmann, M.; Noever Castelos, C.; Podstawa, C.; Shah, A.; Siemons, A.; Wenzel, T.; Wolfinger, L. (2017): Auf Kosten anderer? Wie die imperiale Lebensweise ein gutes Leben für alle verhindert. München: oekom.

Lange, T.; Deckwirth, C.; Sawatzki, A.; Katzemich, N. (2017): Lobbyreport 2017. Köln: LobbyControl – Initiative für Transparenz und Demokratie e.V.

Sachs, W.; Santarius, T. (2005): Fair Future – begrenzte Ressourcen und globale Gerechtigkeit. München: C.H. Beck.

Maja Hoffmann ist Doktorandin in Nachhaltigkeitswissenschaft an der Wirtschaftsuniversität Wien.
Laima Eicke forscht am Institute for Advanced Sustainability Studies Potsdam zur globalen Energiewende.
Dr. Thomas Kopp ist Agrarökonom an der Universität Göttingen.

Dieser Beitrag baut auf den Erkenntnissen der Veröffentlichungen Kopp et al. (2017) und Ambach et al. (2019) auf und beinhaltet adaptierte Ausschnitte aus letzterer. Die Erstautorinnenschaft für den Text teilen sich Hoffmann und Eicke.

Rio plus 20

Rio plus 20

Abrüstung – ein »vergessenes« Thema

von Lucas Wirl und Reiner Braun

Auf der UN-Konferenz für nachhaltige Entwicklung, die im Juni 2012, 20 Jahre nach dem ersten Erdgipfel, wieder in Rio stattfand, sollten Weichen für die so genannte grüne Wirtschaft und für globale Steuerungs- und Regelungssysteme für nachhaltige Entwicklung gestellt werden. Die »NaturwissenschaftlerInnen-Initiative Verantwortung für Frieden und Zukunftsfähigkeit« (NatWiss) und die »Juristen und Juristinnen gegen atomare, biologische und chemische Waffen« (IALANA) engagierten sich zusammen mit anderen Organisationen der Zivilgesellschaft unter Koordination des »Internationalen Netzwerks von Ingenieuren und Wissenschaftlern für globale Verantwortung« (INES) auf der offiziellen UN-Konferenz sowie dem Alternativgipfel. Unser dortiges Thema wurde im Verhandlungsmarathon des ersten Erdgipfels von 1992 in der letzten Nacht von den Umwelt- und Klimafragen entkoppelt. Es stand dieses Jahr erneut nicht auf der Tagesordnung des offiziellen Gipfels, wurde aber auch von den Organisatoren des alternativen Gipfels, dem »People’s Summit«, so gut wie nicht berücksichtigt: Wir setzten uns in Rio für Frieden und Abrüstung ein.

Die großen Staaten mit ihren gigantischen Rüstungshaushalten, aber auch ein großer Teil der Schwellen- und Entwicklungsländer, wollten nicht über ihr eigenes unverantwortliches Tun reden: 1,7 Billionen US-Dollar globale Rüstungsausgaben pro Jahr und mehr als 30 Kriege, Bürgerkriege und andere gewaltförmige Auseinandersetzung, an denen die großen Aufrüster aktiv beteiligt oder mitschuldig sind. Selbst auf dem People’s Summit wurde nicht über Kriege und Rüstung geredet. Dabei sind es doch die tagtäglich stattfindenden Kriege und die für Krieg und Militär weltweit ausgegebenen 1,7 Billionen, die eine nachhaltige Entwicklung verhindern. Waffenhandel, Rüstungsexport, Kriegslogik und Militarismus sind mitschuldig an dem täglichen Sterben von Kindern, an der fehlenden Wasser- und Gesundheitsversorgung auf weiten Teilen unseres Planeten. Rüstung und Krieg bringen keine Frauenrechte, Emanzipation oder umfassende Sicherheit, sondern verhindern Kooperation und Zusammenarbeit, kreative gemeinschaftliche Konfliktlösungen und Demokratie. Ohne die Überwindung von Krieg und gigantischer Rüstung ist eine weltweite nachhaltige Entwicklung, die mehr ist als Greenwashing oder Plagiat einer großen Idee, nicht möglich.

Diese grundsätzlichen Friedensgedanken wurden von uns bei der offiziellen Konferenz, auf dem People’s Summit und auf der Demonstration in Rio vertreten und kommuniziert. Eine gerechte Welt ohne Frieden ist unmöglich, »sustainability« ohne »disarmament« ein Trugschluss – so unsere Botschaft. Mit dem Projekt »Panzer aus Brot« sollte ein Bewusstsein dafür geschaffen werden, dass das Ringen gegen extreme Armut und Hunger tatsächlich gewonnen und auch realistisch finanziert werden kann –indem ein Teil der Finanzflüsse, die für Rüstung ausgegeben werden, in andere Bahnen gelenkt werden. Ein Vergleich der Verteidigungsbudgets mit den (ebenfalls fragwürdigen) staatlichen Ausgaben für Entwicklungspolitik zeigt die schreiende Ungerechtigkeit, die den politischen Willen der Regierenden (fast) weltweit widerspiegelt und der sich auch viele Organisationen der Zivilgesellschaft nicht entgegen stellen. Die lebens- und menschenbejahende Symbolik – einen Panzer mit Brot zu behängen – war die Flankierung für den Anfang dieses Jahres verfassten internationalen Appell »Abrüstung für nachhaltige Entwicklung«, den mehr als 50 Wissenschaftsnobelpreisträger und Alternative Nobelpreisträger sowie viele Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens unterzeichnetet haben. Mit dem »Brotpanzer« und dem Appell traten internationale und brasilianische Friedensorganisationen – neben INES u.a. das Internationale Friedensbüro (IPB),die Bürgermeister für den Frieden und der World Future Council – in Rio mit der Zivilgesellschaft in Diskurs und sendeten gleichzeitig klare, unmissverständliche Botschaften an die internationale Politik und die Weltöffentlichkeit.

»Abrüstung für nachhaltige Entwicklung« wurde auf dem People’s Summit sowie dem offiziellen Gipfel in Workshops und Side Events diskutiert, ebenso überall dort, wo wir mit dem »Panzer aus Brot« hingingen. Dieser wurde im Favela Santa Marta der Öffentlichkeit vorgestellt. Auf dem Gelände des People’s Summit, vor dem UN-Konferenzgelände sowie auf der Demonstration war der Brotpanzer ein unübersehbares Mahnmal für Abrüstung und Frieden.

Am 21. Juni 2012 wurde der Rio-Appell in einer offiziellen Veranstaltung dem brasilianischen Entwicklungsminister Fernando Damata Pimentel übergeben. Mit dabei waren die Initiatoren des Rio-Appells und zahlreiche Persönlichkeiten, unter ihnen der ehemalige Hohe Repräsentant für Abrüstung der Vereinten Nationen, Sergio Duarte, sowie 25 Bürgermeister für den Frieden.

Die große Aufmerksamkeit, auf die die Aktionen stießen, macht Mut, auch nach dem Gipfel fortzufahren mit einer breiten internationalen Kampagne »Abrüstung für Entwicklung«.

Abrüstung für nachhaltige Entwicklung

2012: Rio plus 20 – Ein internationaler Appell

1992 verband die »Konferenz der Vereinten Nationen über Umwelt und Entwicklung« (der Erdgipfel) die weltweiten Herausforderungen durch Umweltbedrohungen und Entwicklung miteinander. Sie benannte diese Verbindung nach dem Brundtland-Bericht »Unsere gemeinsame Zukunft« von 1987 »nachhaltige Entwicklung«, ein Begriff, der sofort international als „die Herausforderung des Jahrzehnts“ akzeptiert wurde. Die damit verbundenen Herausforderungen Frieden und Abrüstung blieben jedoch außen vor.

Abrüstung für Entwicklung – die Herausforderung von heute

2010 beliefen sich die weltweiten Militärausgaben auf 1.630 Milliarden US-Dollar – trotz der Tatsache, dass eine Milliarde Menschen hungern, sogar noch mehr keinen Zugang zu sauberem Wasser oder ausreichender Gesundheitsversorgung und Bildung haben und selbst in der entwickelten Welt Millionen ohne Arbeit sind. Die Millennium-Entwicklungsziele können nicht realisiert werden, wenn die Welt ihren Reichtum für Militarismus vergeudet.

Die heutigen Klima- und Umweltbedingungen verschärfen dieses Ungleichgewicht noch. Eine Umweltkatastrophe folgt der nächsten, und der Rückgang der Artenvielfalt und die Zerstörung des Ökosystems verstärken sich dramatisch. Zusätzlich sorgt die aktuelle Wirtschaftskrise dafür, dass die Regierungen weltweit ihre Ausgaben für die wichtigsten Bedürfnisse der Menschheit reduzieren, und trifft so wieder einmal die Schwächsten am härtesten.

Trotzdem scheinen offenbar unbegrenzte finanzielle Ressourcen für Militärflugzeuge, Panzer, Schiffe, Bomben, Raketen, Landminen und Atomwaffen zur Verfügung zu stehen. Die technologischen Entwicklungen im Rüstungsbereich werden immer ausgeklügelter und mörderischer.

Die Umkehrung dieses Prozesses ist die Herausforderung der Gegenwart.

Die Unterzeichnenden dieses Appells fordern, dass die Regierungen der Welt dieses vernachlässigte Thema ernsthaft angehen und beim Rio-Gipfel im Juni 2012 einen globalen Abrüstungsplan beschließen. Die freiwerdenden finanziellen Mittel sollten für soziale, wirtschaftliche und ökologische Programme in allen Ländern verwendet werden. Beginnend im Jahr 2013 sollten die Militärausgaben erheblich gekürzt werden, das heißt um mindestens zehn Prozent pro Jahr. Das Ziel ist, eine Dynamik in Richtung einer nachhaltigen Entwicklung in Gang zu setzen, die mit der Gründung eines international verwalteten Fonds mit einem Kapital von mehr als 150 Milliarden US-Dollar starten könnte.

Dieser Plan für eine »Abrüstung für eine nachhaltige Entwicklung« sollte im Abschlussdokument des Rio-Gipfels bekannt gegeben werden und Schritt für Schritt unter der Leitung der Vereinten Nationen realisiert werden.

Ohne Abrüstung wird es keine angemessene Entwicklung geben, und ohne Entwicklung keine Gerechtigkeit, keine Gleichheit und keinen Frieden. Wir müssen Nachhaltigkeit eine Chance geben.

Unterzeichnet haben u.a.: Botschafter Sergio Duarte, früherer UN-Hochkommissar für Abrüstungsfragen, Brasilien; Shirin Ebadi, Friedensnobelpreisträgerin 2003, Iran; Johan Galtung, Alternativer Nobelpreisträger 1987, Norwegen; JMairead Corrigan Maguire, Friedensnobelpreisträgerin 1976, GB (Nordirland); Vandana Shiva, Alternative Nobelpreisträgerin 1993, Indien.

Weitere Unterzeichner unter www.inesglobal.com. Die Unterschriftensammlung geht auch nach dem Erdgipfel 2012 weiter.

Lucas Wirl (NatWiss) und Reiner Braun (IALANA)

Kein Frieden ohne Klimaschutz

Kein Frieden ohne Klimaschutz

von Bentje Woitschach

Klimapolitik galt viele Jahre lang als weiches Politikfeld; im Gegensatz zu harten Bereichen wie Wirtschaft und Sicherheit wurde ihr entsprechend wenig Aufmerksamkeit zuteil. Dies änderte sich spätestens 2006, als die wirtschaftliche und sicherheitspolitische Dimension von Klimapolitik verstärkt ins Blickfeld rückte. So warnte der ehemalige Chefökonom der Weltbank, Nicholas Stern, vor den massiven ökonomischen Verlusten aufgrund eines ungebremsten Klimawandels und verglich die möglichen Schäden mit den Zerstörungen der beiden Weltkriege. Der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen bezeichnete ein Jahr später die zu erwartenden klimatischen Veränderungen als Bedrohung innerstaatlicher und zwischenstaatlicher Stabilität. Auch der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen bezeichnete 2011 die Folgen langfristiger Klimaveränderungen in einer offiziellen Erklärung als Sicherheitsbedrohung. Binnen weniger Jahre wurde der Klimawandel zur zentralen Überlebensfrage der Menschheit und damit zu einem bedeutenden Thema in der sicherheitspolitischen Debatte.

Weltweit konkurrieren immer mehr Länder um knapper werdende Ressourcen. „Krieg ums Wasser“, „Klimakriege“ oder „Krieg ums Öl“ sind nur einige Publikationstitel, die uns dramatische Zukunftsszenarien ausmalen. Den Klimawandel als alleinige Ursache derartiger Konflikte auszumachen, ist sicher zu kurz gegriffen – verschärfen wird er sie jedoch allemal. In der sicherheitspolitischen Debatte gilt der Klimawandel daher vor allem als Bedrohungsmultiplikator. Insbesondere in Entwicklungsländern droht eine Verschärfung der Ernährungssituation durch Versalzung und Degradierung landwirtschaftlicher Nutzflächen. Auch zunehmend gewalttätig ausgetragene Verteilungskonflikte um Wasser sind zu erwarten. Die Energiesicherheit ist gefährdet aufgrund der Verknappung fossiler Rohstoffe. Extreme Wetterereignisse und Naturkatastrophen werden häufiger auftreten und können ganze Gesellschaften destabilisieren. Kleine Inselstaaten und küstennahe Gebiete drohen überflutet zu werden, klimabedingte Massenmigration kann die Folge sein.

Gerade in der Verkörperung des Klimaflüchtlings als Sicherheitsbedrohung – ein Bild, das in diesem Heft hinterfragt wird – zeigt sich die zunehmende Versicherheitlichung des Klimadiskurses. In zahlreiche nationale Sicherheits- und Verteidigungsstrategien hat der Klimawandel bereits Einzug gehalten. Die Gefahr, dass daraus in Zukunft auch Legitimationshilfen für militärisches Aufrüsten und Eingreifen erwachsen, liegt auf der Hand. Obendrein verschiebt die Konstruktion des Klimawandels als Sicherheitsbedrohung die politische Aufmerksamkeit auf prekäre Weise: weg von der Bekämpfung der Ursachen des Klimawandels, hin zur einseitigen Bearbeitung des Sicherheitsproblems.

Dennoch: Die enge Verknüpfung von Klima und Sicherheit birgt nicht nur Gefahren, sondern auch erhebliche Chancen für Konfliktprävention und Friedenskonsolidierung. Die Vernetzung beider Themen gilt mittlerweile als Schlüssel erfolgreicher Krisenprävention. „Umweltkooperation als Sprungbrett“ für vertrauensbildende Maßnahmen und Konfliktbearbeitung ist ein in diesem Heft verwendetes Schlagwort. Drohen künftig vermehrt Konflikte um Wasser und Land, können Klimaanpassungsmaßnahmen diesen Spannungen entgegenwirken durch Um- und Neuverteilung von knappen Wasser- und Nahrungsmittelressourcen. Initiativen zur Katastrophenvorsorge bieten die Chance, die Verwundbarkeit betroffener Gesellschaften zu reduzieren. Rivalisierende Gruppen können auf diese Weise in kooperative Maßnahmen eingebunden, krisenanfällige Gesellschaften stabilisiert werden. Auch regionale und kontinentübergreifende Energiepartnerschaften bieten – bei verantwortungsvoller Umsetzung – die Möglichkeit kooperativer Lösungsansätze für Fragen der Klima-, Ernährungs-, Wasser- und Energiesicherheit.

Nicht ohne Grund haben Al Gore und der Weltklimarat (IPCC) im Jahr 2007 den Friedensnobelpreis erhalten. Damit stellte das Nobelpreiskomitee klar: Die Bekämpfung des Klimawandels ist Voraussetzung für ein zukünftiges friedliches Zusammenleben auf dem Planeten. Die internationale Mobilisierung gegen die drohende Klimakatastrophe, für die Gore und der IPCC ausgezeichnet wurden, eröffnet Chancen zur Kooperation, zu einem weltweiten Zusammenrücken angesichts einer gemeinsamen Bedrohungslage. Eine enge Zusammenarbeit zwischen Friedensbewegten und Umweltaktivisten, zwischen Klimaschützern und Konfliktbearbeitern, die bisher noch in den Kinderschuhen steckt, ist daher ein entscheidender Schritt in die richtige Richtung. Denn der Klimawandel bedroht die Lebensgrundlagen eines Großteils der Menschheit – seine gemeinsame Bekämpfung ist daher ein friedenspolitisches Gebot.

Ihre Bentje Woitschach

Stabile Verhältnisse

Stabile Verhältnisse

Friedenspolitische Perspektiven von Anpassungspolitiken

von Dennis Tänzler und Alexander Carius

Angesichts nicht mehr zu vermeidender Klimaveränderungen ist Anpassung auch ein friedenspolitisches Gebot. Konfliktgeprägte Staaten verfügen in der Regel über nur geringe Anpassungsfähigkeiten, werden jedoch erheblich von zukünftigen Veränderungen wie einer verstärkten Knappheit bei der Wasser- und Nahrungsmittelverfügbarkeit betroffen sein. Um der Zunahme sozialer Spannungen und Konfliktpotentiale entgegenzuwirken, muss das politische Potential von Anpassungsmaßnahmen erkannt und ihre konfliktsensitive Ausgestaltung gewährleistet werden.

Der Klimawandel wird Staaten mit geringer Anpassungsfähigkeit in den kommenden Jahrzehnten voraussichtlich am stärksten betreffen. Gerade Nahrungs- und Wasserknappheit, extreme Wetterereignisse und Massenmigration können zur Destabilisierung sozialer Systeme und Institutionen beitragen, was wiederum Gewalt auslösen und Prozesse der Friedensentwicklung unterminieren dürfte.1 Die Herausforderungen des Klimawandels als Sicherheitsrisiko sind mittlerweile auch Gegenstand von Beratungen im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Unter deutschem Vorsitz wurde als Ergebnis der Sicherheitsratssitzung vom 20. Juli 2011 einstimmig eine Erklärung der Präsidentschaft angenommen, die vor den möglichen Folgen für Frieden und Sicherheit warnt.2

Die politische wie die wissenschaftliche Diskussion verdeutlicht aber auch: In der Debatte um Sicherheitsrisiken, die durch den Klimawandel erzeugt oder verstärkt werden, sind monokausale Erklärungsansätze zu vermeiden. Zukünftige Verteilungskonflikte um knapper werdende Ressourcen und Migrationsbewegungen werden kaum allein auf den Klimawandel zurückzuführen sein. Wahrscheinlicher ist, dass der Klimawandel als »Bedrohungsmultiplikator« bereits vorhandene Problemlagen, wie eine schwache Rechtsstaatlichkeit oder soziale und ökonomische Ungerechtigkeit, verstärken wird.

Gleichzeitig können vom Klimawandel betroffene Bevölkerungsgruppen Umweltkooperation als Sprungbrett nutzen, um Vertrauen aufzubauen und gemeinsam die Folgen des Klimawandels zu bewältigen. Dies ist gerade dann wichtig, wenn die sich verknappenden Ressourcen wie Wasser und Nahrungsmittel von traditionell rivalisierenden Bevölkerungsgruppen genutzt werden müssen. Gelingt hier kein kooperatives Vorgehen, drohen Bemühungen zur Friedenskonsolidierung geschwächt zu werden. Der Generalsekretär der Vereinten Nationen hat 2009 in einem Bericht zu Klimawandel und Sicherheit auf die bedrohungsmindernden Potentiale von Klimapolitik und internationaler Zusammenarbeit hingewiesen. Als möglicher Ansatz in dieser Hinsicht wird die frühzeitige Anpassung an den Klimawandel bewertet. Der vorliegende Beitrag hat zum Ziel, die möglichen Chancen und Grenzen solcher Politiken zu bewerten und notwendige Voraussetzungen herauszuarbeiten, die dazu beitragen können, dass Klimapolitik Krisen und Konflikte eindämmt.3

Internationale Anpassungsperspektiven

Der Weltklimarat (IPCC) definiert Anpassung als „die Fähigkeit eines Systems, sich an den Klimawandel anzupassen, um potentielle Schäden abzumildern, Chancen zu nutzen oder die Folgen zu bewältigen“.4 Nach vielen Verzögerungen bei der Einrichtung eines Handlungsrahmens für Anpassungsmaßnahmen konnte auf der Klimakonferenz von Kopenhagen 2009 mit dem Adaptation Fund Board ein internationales Gremium etabliert werden, das die Umsetzung von Anpassungsprojekten in Entwicklungs- und Schwellenländer flankieren soll. Ziel dieser institutionellen Verankerung ist eine verbesserte Politikberatung sowie die Initiierung eines Prozesses zur Formulierung von nationalen Anpassungsplänen mit einer mittel- und langfristigen Ausrichtung. Auch die Verdopplung der Anpassungsfinanzierung zwischen 2010 und 2011 kann als Beleg dafür dienen, dass diesem klimapolitischen Handlungsfeld mittlerweile sehr viel größere Bedeutung beigemessen wird.

Anpassungsbemühungen in konfliktanfälligen Regionen

In konfliktgeprägten Gebieten sind erste Aktivitäten zur Klimaanpassung zu verzeichnen: Bis 2011 wurden 45 »National Action Plans for Adaptation» (NAPAs) für am wenigsten entwickelte Länder beim UN-Klimasekretariat eingereicht. 21 dieser Pläne wurden in Ländern entwickelt, welchen ein hohes Destabilisierungsrisiko zugeschrieben wird.5

Der sektorale Fokus der nationalen Aktionspläne kann zu Risikoanalysen hinsichtlich besonders stark vom Klimawandel betroffener Bereiche beitragen. In Bezug auf Wasserressourcen ermöglichen die Aktionspläne zum Beispiel, die wichtigsten Prioritäten zur Verbesserung urbaner und ländlicher Wasserversorgung zu identifizieren, Wasserspeicherung zu verbessern und Wasserverschmutzung einzudämmen. Ähnliche Analysen sind für die Verbesserung von Nahrungssicherheit verfügbar, beispielsweise durch die Änderung traditioneller Bestellungsmuster oder die Diversifizierung landwirtschaftlicher Produkte. Folglich können auch so genannte fragile Staaten von internationaler Unterstützung zur Initiierung von Anpassungsprozessen profitieren. Allerdings existieren zum einen längst nicht für alle fragilen Staaten solche Initiativen. Zum anderen stellen nationale Anpassungspläne lediglich einen ersten Schritt zu einer möglichen politischen Sensibilisierung dar. Die immer noch nur langsam voranschreitende Umsetzung von Anpassungsprojekten zeigt, dass weitere Herausforderungen zu lösen sind, etwa die einer ungenügenden Finanzierung oder des Fehlens geeigneter Governance-Strukturen.

Anpassungsprozesse als Stabilisatoren?

Wie können Anpassungsmaßnahmen dazu beitragen, trotz zu erwartender widriger Ausgangsbedingungen bedrohungsmindernd zu wirken? Zunächst ist nicht zuletzt aus Politikkohärenzgründen die Integration von Anpassungsprogrammen in laufende Entwicklungsinitiativen und Armutsbekämpfungsmaßnahmen zu gewährleisten. In Ländern wie Bhutan, Ruanda und Sudan wird versucht, Anpassungsmaßnahmen in Armutsminderungsstrategien einzubetten.6 Um tatsächlich sicherzustellen, dass Anpassungsmaßnahmen kompatibel zu weiteren Politikprozessen sind, dürfte jedoch eine weitere Stärkung unterstützender Governance-Strukturen notwendig sein.

Eine strikte Abgrenzung der Anpassungsplanung in sektorale Aufgaben kann zudem zu kurz greifen, gerade in Konfliktsituationen. Notwendig ist ein integrativer Prozess, um bestehende Konfliktdynamiken sowie übergreifende soziopolitische und ökonomische Gegebenheiten zu erfassen und bei der Gestaltung von Anpassungsmaßnahmen zu berücksichtigen. Die Wasserverfügbarkeit eines Landes oder einer Region betrifft zum Beispiel eine Vielzahl von Nutzergruppen (innerstaatliche, industrielle, landwirtschaftliche), die in den Anpassungsprozess integriert werden sollten, um sicherzustellen, dass die Bedürfnisse und Perspektiven dieser Gruppen berücksichtigt werden. Ist dies nicht der Fall, können Konflikte zwischen verschiedenen Nutzergruppen die direkte Folge sein.7

Selbst in Industrienationen mit adäquaten administrativen Kapazitäten kann die Koordination verschiedener politischer Prozesse eine wesentliche Herausforderung darstellen – in konfliktgeprägten Gesellschaften ist dieses Unterfangen umso schwerer. In dieser Hinsicht kann die Institutionalisierung der Verantwortung für eine kohärente Umsetzung von Anpassungspolitiken hilfreich sein. Die »National Implementing Entities«, die gegenwärtig in verschiedenen Ländern etabliert werden, um den direkten Zugriff eines Landes auf die Gelder des Adaption Fund zu erleichtern (wie jüngst in Ruanda), könnten sich als geeignet erweisen, diese Funktion wahrzunehmen. Damit müsste jedoch eine Erweiterung der derzeitigen Kompetenzen einhergehen, um die notwendige Steuerungsleistung tatsächlich erbringen zu können.

Schließlich fehlt es Anpassungsprogrammen häufig an einer regionalen, grenzüberschreitenden Perspektive. Der auf die Staaten-Ebene ausgerichtete Fokus des UN-Klimasekretariat bietet kaum Unterstützung für die Entwicklung regionaler Anpassungsstrategien. Auf diese Weise wird die häufig grenzüberschreitende Natur von Ressourcenknappheit, vor allem der Wasserversorgung, ausgeblendet. Dies ist problematisch, da im schlimmsten Falle ein isolierter nationaler Anpassungsansatz neue Konflikte in Nachbarstaaten auslösen kann. Überdies lässt ein Anpassungsprogramm, welches die Nachbarstaaten nicht berücksichtigt, potentiell wertvolle Chancen für grenzübergreifenden Vertrauensaufbau und Kooperation ungenutzt. Ein Schritt in die richtige Richtung wäre der Aufbau von Integrationsprozessen auf regionaler Ebene, wie dies beispielsweise auf dem afrikanischen Kontinent zu beobachten ist.

Die Herausforderung der Konfliktsensitivität

Vielfach gelten Anpassungsmaßnahmen noch als eine vornehmlich technische Herausforderung und werden auf Ansätze des Technologietransfers und des Kapazitätsaufbaus reduziert. Eine solche Perspektive droht auszublenden, dass entsprechende Maßnahmen in einem sozialen Umfeld umgesetzt werden und soziale und politische Folgen nach sich ziehen. Als soziopolitische Transformation können mit der Umsetzung von Anpassungsmaßnahmen Prozesse der Um-, respektive Neuverteilung von Ressourcen innerhalb einer Gesellschaft einhergehen. Hierbei können – gerade in konfliktgeprägten Kontexten – Widerstände und Spannungen ausgelöst werden. Profiteure des Status quo werden sich gegen anpassungsorientierte Veränderungen stellen, während andere Gruppen geneigt sein könnten, die neu zur Verfügung stehenden Anpassungsmittel für andere Zwecke nutzen zu wollen.

Aber selbst auf den ersten Blick sinnvolle Maßnahmen zur Anpassung an Klimaveränderungen können nicht-intendierte Folgen haben und zum Konfliktgegenstand werden: In Kasese (Uganda) wurden zusätzliche Wasserzugangsstellen zunächst nur im Rukoki-Gebiet installiert und lösten dadurch Proteste in der Mahango-Gemeinde aus. Dieses Beispiel illustriert, dass auch für Anpassungspolitiken die Anwendung des Prinzips »do no harm«8 sinnvoll ist, um negative Folgewirkungen der eigenen Politik zu vermeiden. In dem genannten Beispiel wurden im weiteren Prozess Distriktbeamte sowie Mitglieder beider Gemeinden in die Planung, Gestaltung und Umsetzung des Projektes eingebunden.9 Überträgt man dieses Beispiel auf das Feld der Anpassung, so wird deutlich, dass sich nicht nur technische und finanzielle, sondern auch politische Fragen der Umsetzung stellen, vor allem wenn es um Maßnahmen in fragilen Staaten geht.

Um den genannten Risiken entgegenzuwirken, bedarf es der Gestaltung konfliktsensitiver Anpassungsmaßnahmen. Dazu zählt auch die systematische Erschließung von Kooperationsmöglichkeiten zwischen von Klimawandel betroffenen Gruppen bis hin zu Staaten. Mechanismen zur Konsensfindung und ein transparenter öffentlicher Dialog sind hierbei ebenso notwendig wie die Koordination verschiedener Regierungsstellen und weiterer relevanter Akteure. Durch die Berücksichtigung von Ansätzen des Krisen- und Konfliktmanagements können Anpassungsprozesse zugleich Ansätze für gute Regierungsführung befördern. Grundsätzlich lassen sich drei Anforderungen für eine konfliktsensitive Gestaltung ableiten: erstens die Berücksichtigung des Kontexts, in dem ein Projekt durchgeführt wird, zweitens die Beachtung möglicher Interaktionen zwischen den Aktivitäten und diesem spezifischen Kontext und schließlich drittens der Entwurf von Anpassungsaktivitäten in einer Art und Weise, die negative Auswirkungen zu vermeiden und positive zu maximieren sucht.

Gestaltung krisen- und konfliktsensitiver Anpassungsstrategien

Fragile Staaten sind in besonderer Weise den Risiken des Klimawandels ausgesetzt. Aber auch politisch als stabil geltende Staaten werden zukünftig mit massiven Herausforderungen konfrontiert sein, vor allem in kritischen Bereichen wie Wasser- und Nahrungsversorgung. Um der Destabilisierung von Staaten entgegenzuwirken, müssen Anpassungsmaßnahmen so umgesetzt werden, dass sie die soziale, politische und wirtschaftliche Resilienz der Bevölkerung stärken. Wie aber können die Chancen auf stabilisierende Anpassungsprozesse über die bereits genannten Elemente hinaus gesteigert werden? Die folgend aufgeführten Maßnahmen können sowohl in instabilen wie auch stabilen Staaten hilfreich sein. Allerdings sind sie besonders in konfliktträchtigen Umfeldern relevant, da der Klimawandel mit großer Wahrscheinlichkeit die zugrunde liegenden Ursachen des Konfliktes verschärfen wird.

1. Die vom Klimawandel besonders betroffenen Gesellschaftsbereiche müssen identifiziert und hinsichtlich ihrer Rolle in nationalen und auch regionalen Anpassungsstrategien abgeklärt werden. Wenn nötig, sind zusätzliche Friedens- und Konfliktbewertungen vorzunehmen, um das Risiko negativer Auswirkungen der geplanten Anpassungsmaßnahmen zu verringern.

2. Die Öffentlichkeit ist über die möglichen Auswirkungen des Klimawandels besser aufzuklären. Um die öffentliche Unterstützung für die notwendigen Maßnahmen im Bereich der Nahrungs- und Wasserversorgung sowie der Katastrophenvorsorge zu gewinnen, bedarf es einer verstärkten Zusammenarbeit zwischen Regierung und Zivilgesellschaft.

3. Anpassungsprogramme sind in bestehende Entwicklungsinitiativen und Armutsreduzierungsprogramme zu integrieren. Dies stellt zusätzliche Anforderungen an Politikkohärenz und an eine verstärkte Koordination.

4. Methoden der Konfliktsensitivität sind weiterzuentwickeln, um es der Zivilgesellschaft und Entscheidungsträgern in fragilen Staaten zu ermöglichen, konfliktsensitive Anpassungsstrategien umzusetzen. Diese Anforderung kann durch die Formulierung von Richtlinien für Geber und Umsetzungsbehörden in den Partnerländern eingeleitet werden.

5. Nationale Steuerungseinheiten können dazu beitragen, die Entwicklung der Anpassungsprogramme zu überwachen, öffentliche Behörden und externe Akteure (wie Geberorganisationen) zu koordinieren und Schlichtungsorgane einzurichten. Die gegenwärtige Ausbildung von »National Implementing Entities« ist ein wichtiger Schritt in Richtung größerer institutioneller Unterstützung von Anpassungsmaßnahmen.

6. Regionale Kooperationsansätze sind zu stärken, um den Herausforderungen der Anpassung an den Globalen Klimawandel adäquat begegnen zu können. Vorausgesetzt, dass finanzielle Mittel auf transparente und verantwortliche Art und Weise ausgegeben werden, können diese Mittel friedenskonsolidierend und stabilisierend wirken.

Anmerkungen

1) Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) (2007): Welt im Wandel: Sicherheitsrisiko Klimawandel. Berlin: Springer. Alexander Carius, DennisTänzler, Achim Maas (2008): Klimawandel und Sicherheit: Herausforderungen für die deutsche Entwicklungszusammenarbeit. Eschborn: Deutsche Gesellschaft für Technishce Zusammenarbeit (GTZ).

2) United Nations Security Council (2011): Statement by the President of the Security Council. S/PRST/2011/15, 20 July 2011. New York: United Nations.

3) Siehe auch DennisTänzler, AchimMaas, Alexander Carius (2010): Climate Change Adaptation and Peace. Wiley Interdisciplinary Reviews – Climate Change Jg. 1, Nr. 5, S.741-750.

4) Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC): Climate Change 2007: Impacts, Adaptation and Vulnerability. Contribution of Working Group II to the Fourth Assessment Report. Cambridge: Cambridge University Press, S.21.

5) Fund for Peace (2011): The Failed State Index; fundforpeace.org. Vgl. für eine ausführliche Darstellung Tänzler et al. (2010) (Fußnote 3).

6) Vgl. United Nations Development Fund Water Governance Facility (UNDP WGF) (2009): Water Adaptation in NAPAs: Freshwater in Climate Adaptation Planning and Climate Adaptation in Freshwater Planning. Stockholm: UNDP WGF.

7) Lukas Ruettinger, Antoine Morin, Annabelle Houdret, Dennis Tänzler, Clementine Burnley (2011): Water, Crisis and Climate Change Assessment Framework (WACCAF). Brussels: Initiative for Peacebuilding.

8) Mary B. Anderson (1999): Do No Harm: How Aid Can Support Peace – or War. London: Lynne Rienner.

9) Center for Conflict Resolution (CECORE, Kampala), Rwenzori Development and Research Centre (REDROC, Kasese), Saferworld (London and Kampala) and the Youth Development Organisation (YODEO, Arua) (2008): Water and Conflict. Making water delivery conflict-sensitive in Uganda.

Dennis Tänzler ist Leiter Klima- & Energiepolitik bei adelphi. Seit 2009 ist er Mitglied im Beirat Zivile Krisenprävention der Bundesregierung. Alexander Carius ist Mitbegründer und Geschäftsführer von adelphi. Er berät nationale und internationale Institutionen zu Fragen der Umwelt-, Entwicklungs- und Außenpolitik.

Konfliktpotentiale von Climate Engineering

Konfliktpotentiale von Climate Engineering

von Achim Maas

Die Klimaverhandlungen haben bisher zu keinem bindenden Abkommen zur Reduktion von Treibhausgasen geführt. Trotz Fortschritten im Einzelnen steigen global gesehen die Treibhausgasemissionen weiter an, und eine globale Erwärmung von über zwei Grad Celsius im Vergleich zur vorindustriellen Zeit scheint wahrscheinlicher zu werden. Die Konsequenzen werden aller Voraussicht nach dramatisch sein. Vor diesem Hintergrund werden zunehmend direkte Eingriffe in das Weltklima – Geo- oder Climate Engineering genannt – diskutiert.1 Im Hinblick auf eine präventive Friedenspolitik werden in diesem Beitrag mögliche Konfliktpotentiale entsprechender Maßnahmen beleuchtet.

In den vergangenen Jahren hat sich in Europa und Nordamerika eine Forschungscommunity zu Climate Engineering (CE) herausgebildet. Unter anderem fördert die Europäische Kommission zwei Projekte,2 und die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat ein Schwerpunktprogramm zu CE aufgelegt. Parallel gibt es inzwischen eine Vielzahl von Berichten, die im Auftrag von Regierungsorganisationen insbesondere in Deutschland, Großbritannien und den USA erstellt worden sind (z.B. Rickels et al. 2011; Royal Society 2009; GAO 2011). Ende 2011 fand am KlimaCampus Hamburg eine erste internationale Konferenz zu den friedens- und sicherheitspolitischen Herausforderungen von CE statt (Maas et al. 2012).

Obwohl die CE-Forschung noch weitgehend theoretischer Natur ist, lassen sich bereits jetzt eine Vielzahl von Risiken, Unsicherheiten und möglicherweise gravierenden Nebenwirkungen absehen (Rickels et al. 2011). Diese werden sich voraussichtlich global ungleich verteilt auswirken, gleichzeitig sind grundsätzliche Fragen der Kontrolle und Regulierung von CE bis dato ungeklärt.

Climate Engineering – ein Überblick

Ziel von CE-Maßnahmen ist es, die Erwärmung der Erdatmosphäre auf maximal zwei Grad Celsius zu begrenzen. Je nach Autor und verwendeter Definition lassen sich etwa 10-20 verschiedene Maßnahmen und Technologien für gezielte Eingriffe in das Klima identifizieren, manche Autoren benennen sogar bis zu 66 Maßnahmen (Isomäki 2012). Zudem gibt es eine Grauzone, in welcher sich CE-Maßnahmen schwer von Maßnahmen zur Klimaanpassung oder Emissionsminderung unterscheiden lassen.

Generell wird CE in zwei Oberkategorien unterteilt (Edenhofer et al. 2012: S.2): Erstens, Maßnahmen zur Beeinflussung des Strahlungshaushalts (Solar Radiation Management, SRM). Hierzu werden insbesondere folgende Ansätze gezählt (basierend auf Rickels et al. 2011, S.44f.):

Ausbringung von reflektierendem Material, z.B. durch die Positionierung von Spiegeln im Weltraum,

Ausbringung von reflektierenden Aerosolen, wie Schwefeldioxid, in die obere Atmosphäre zur Erzeugung künstlicher Wolken,

Aufhellung natürlicher Wolken durch Eintrag von Seesalzkristallen,

Aufhellung der Erdoberfläche, z.B. durch weiß Anstreichen großer dunkler Oberflächen wie Städte oder Gebirge oder die genetische Modifizierung von Nutzpflanzen, so dass deren Blätter Sonnenlicht stärker reflektieren (vgl. Ridgwell et al. 2009).

Bei der zweiten Kategorie von Climate Engineering handelt es sich um die Abscheidung von Treibhausgasen aus der Atmosphäre, meist mit Schwerpunkt auf CO2 und daher »Carbon Dioxide Removal« (CDR) genannt. Hierunter fallen folgende Ansätze (basierend auf Rickels et al. 2011, S.50f.):

Erhöhung der Kohlenstoffaufnahme der Ozeane, z.B. durch eine künstlich erhöhte Ventilation der Ozeane oder die Düngung und damit Erhöhung der CO2-Aufnahme von Algen,

landbasierte Filtrierung von Treibhausgasen aus der Luft mittels »künstlicher Bäume« oder großräumiger Aufforstung (letztere wird teils in Größenordnungen wie der Begrünung der Sahara oder der australischen Wüsten diskutiert, z.B. Ornstein et al. 2009).

Zentrale Unterschiede zwischen der Reflektion des Sonnenlichts und der Abscheidung von Treibhausgasen sind deren Wirkungsweisen: SRM wirkt lediglich symptomatisch, indem es einen Aspekt – globale Erwärmung – bearbeitet, aber andere Folgen des Klimawandels, wie Versauerung der Meere, nicht. Dafür kann es jedoch innerhalb weniger Jahre große Wirkung entfalten. CDR hingegen entzieht der Atmosphäre Treibhausgase und bearbeitet damit die Ursachen der Klimaveränderung; die Wirkung, wie eine globale Abkühlung, tritt jedoch erst mit Jahrzehnten Verzögerung ein (Rickels et al. 2011).

Erste Experimente wurden zwar bereits durchgeführt, wie im Falle von Ozeandüngung (Fleming 2010), allerdings ist keines der Verfahren entfernt anwendungsreif. Die meiste Forschung konzentriert sich aktuell auf Laborforschung und theoretische Modelle. Dennoch sind in diesem Bereich bereits mehrere Unternehmen aktiv und entwickeln Geschäftsmodelle besonders zu CDR-Methoden.3

Bei den Klimaverhandlungen spielt CE bisher keine Rolle. Politisch hat sich auch noch kein Staat eindeutig für oder gegen CE positioniert. Zwar existieren im Rahmen der Konvention für biologische Diversität und der Londoner Konvention zum Meeresschutz erste Regulierungsansätze, speziell hinsichtlich der Ozeandüngung (Rickels et al. 2011, S.150). Diese sind jedoch weitgehend unverbindlicher Natur, zumal wichtige Staaten, wie die USA, nicht Teil der Konvention für biologische Diversität sind. Vor dem Hintergrund der bereits laufenden Forschung wie auch der Bearbeitung des Themas im 5. Sachstandsbericht des Weltklimarats (Edenhofer et al. 2012) ist allerdings davon auszugehen, dass CE zunehmend in die öffentliche und politische Aufmerksamkeit rücken wird.

Konfliktpotentiale von CE

Solange CE mehr Idee als Realität ist, lassen sich kaum empirisch belastbare Aussagen über Konfliktpotentiale treffen. Lediglich Plausibilitätsüberlegungen und Gedankenexperimente sind möglich. Solche Überlegungen sind jedoch notwendig, wenn die möglichen Risiken der Erforschung und des möglichen Einsatzes von CE abgeschätzt werden sollen.

Im Nachfolgenden wird daher eine Reihe denkbarer Konfliktpotentiale als Folge von Climate Engineering vorgestellt. Konflikt wird hierbei breit als Interessensgegensatz zwischen staatlichen oder nicht-staatlichen Akteuren begriffen. Unterschieden werden im Folgenden vier Typen von Konfliktpotentialen: 1. CE als Konfliktgegenstand, 2. Konflikte in Folge der Anwendung von CE, 3. CE als Instrument des Konfliktaustrags und 4. CE als Instrument der Konfliktprävention.

Der Rahmen dieses Beitrags ermöglicht es hierbei nicht, auf alle Ansätze und Maßnahmen im Detail einzugehen. Stattdessen werden die jeweiligen Konfliktpotentiale exemplarisch anhand einzelner CE-Methoden erläutert.

CE als Konfliktgegenstand

Die Auswirkungen des Klimawandels sind regional verschieden. So erwärmen sich Regionen wie die Arktis und der Nahe Osten schneller als der globale Durchschnitt (Parry et al. 2007). Ebenso fallen Niederschlagsveränderungen zwischen verschiedenen Weltregionen unterschiedlich aus. Dasselbe ist von CE-Maßnahmen zu erwarten: Maßnahmen zur Reflektion des Sonnenlichts hätten unterschiedliche regionale Auswirkungen (Schmidt et al. 2012). Unter anderem wird spekuliert, dass der indische Monsun durch Veränderung des Strahlungshaushalts beeinträchtigt werden könnte, mit Folgen für die gesamte Region (Irvine et al. 2011). Bei der Bewertung von CE-Maßnahmen muss daher betrachtet werden, wie sie sich auf lokaler/regionaler Ebene auswirken und inwiefern sie anderen Klimaauswirkungen begegnen. Bei gravierenden Auswirkungen ist in Antizipation der Risiken davon auszugehen, dass eine negativ betroffene Region eine Anwendung von CE prinzipiell eher ablehnen würde.

Abgesehen von den »Nebenwirkungen« von CE werfen solche Maßnahmen die Frage nach einem angemessenen Klima auf: Welche globalen oder regionalen Klimabedingungen sollen angestrebt werden, wenn Klimaveränderungen sich ungleich einstellen? Ein interessantes Beispiel ist in diesem Zusammenhang die Arktis: Einerseits fordert die »Arctic Methane Emergency Group« eine Anwendung von CE bis 2015, um ein Auftauen des Permafrosts und somit das Entweichen des starken Klimatreibers Methan in die Atmosphäre zu verhindern (AMEG 2009). Andererseits bietet das Auftauen der Arktis auch Chancen in Form von Ressourcenexploration, neuen Schifffahrtswegen und neuen landwirtschaftlichen Anbau- und Siedlungsgebieten (vgl. Emerson/Lahn 2012). Zu bedenken ist dabei, dass regionale Klimaveränderungen nicht auf die jeweilige Region beschränkt bleiben, sondern zwangsweise transregionale Konsequenzen haben, da es sich bei keiner Region um ein geschlossenes System handelt (Irvine et al. 2011).

Die Implementierung von CE-Maßnahmen ist ebenfalls konfliktbehaftet. Bspw. würde die Abscheidung von Kohlendioxid mit technischen Mitteln in großem Maßstab umfangreicher Infrastruktur und Lagerungsstätten bedürfen. Im Falle Deutschlands hat sich das Konfliktpotential von »Carbon Capture and Storage« (CCS, Sequestrierung bzw. Abscheidung und Speicherung von CO2) in der lokalen Bevölkerung bereits gezeigt. Ozeandüngung wiederum beeinträchtigt möglicherweise marine Ökosysteme und damit potentiell die Fischerei (vgl. Rickels et al. 2011).

Inwiefern und in welcher Form die Anwendung von CE zu Konflikten führen kann, ist vom jeweiligen Kontext abhängig, insbesondere von der angewandten Methode und deren Größenordnung. Es liegt auf der Hand, dass die Pflanzung von Bäumen auf einigen hundert oder tausend Hektar innerhalb der Grenzen eines Landes zwecks CO2-Abscheidung eine andere Qualität und räumliche Ausprägung hätte, als wenn ein Land oder eine Gruppe von Ländern globales Strahlungsmanagement betreiben würde. Auch die Zeitdimension spielt eine große Rolle: Konflikte über die Anwendung von CE können aufgrund der antizipierten negativen Auswirkungen schon aufkommen, bevor ein bestimmtes Verfahren anwendungsreif ist.

Konflikte als Folge der CE-Anwendung

Inzwischen existiert eine umfangreiche Debatte darüber, inwiefern Klimaveränderungen zum Ausbruch von Gewaltkonflikten beitragen (Brauch/Scheffran 2012). Sollte dies tatsächlich der Fall sein, so gilt das natürlich auch für gezielte Klimaeingriffe: CE »neutralisiert« Klimawandel nicht, sondern setzt einer nicht intendierten eine intendierte Klimaveränderung entgegen – es wird also Feuer mit Feuer bekämpft. Realistischerweise werden noch viele Jahre bis zu einer möglichen Umsetzung von CE vergehen. Bis dahin schreitet der Klimawandel unvermindert fort. Die Anwendung von CE schafft dann neben vom Klimawandel induzierten Konflikten weitere Konfliktpotentiale. Diese ließen sich allerdings nicht trennscharf voneinander unterscheiden.

Eine zusätzliche Problematik entsteht durch das Terminationsproblem von Maßnahmen zur Reflektion des Sonnenlichts: SRM-Maßnahmen verdecken den eigentlichen Temperaturanstieg aufgrund der erhöhten Treibhausgaskonzentration, bearbeiten diesen aber nicht. Werden SRM-Maßnahmen eingestellt, würde in kürzester Zeit wieder die »normale«, durch Treibhausgas erhöhte Temperatur hergestellt, was sich abermals stark regional auswirken würde (Rickels et al. 2011).

Neben diesen Folgen wären noch die unmittelbaren Konsequenzen der Anwendung zu bedenken, z.B. bei flächenintensiven CE-Methoden. Würden bspw. riesige Landflächen für Aufforstung genutzt, wären diese Böden der landwirtschaftlichen Produktion entzogen. Vor dem Hintergrund einer weiterhin stark steigenden Weltbevölkerung könnte sich dies negativ auf die Ressourcenpreise auswirken und Nutzungskonkurrenzen hervorrufen.

CE als Instrument des Konfliktaustrags

Aus der Zeit des Kalten Krieges, als die Supermächte Forschung für die militärisch motivierte Klimakontrolle betrieben (Fleming 2010), stammt die »Convention on the Prohibition of Military or Any Other Hostile Use of Environmental Modification Techniques« (ENMOD), welche Umweltmodifikationen mit feindlicher Absicht verbietet. Dennoch ist es sinnvoll, das Risiko eines militärischen Missbrauchs von CE zu bedenken (vgl. Robock 2008).

Eine starke Verdunkelung und regionale Abkühlung aufgrund künstlicher Wolkenbildung z.B. würde sich in der betroffenen Region negativ auf die Niederschlagsmuster, auf Ökosysteme und damit die landwirtschaftliche Produktion sowie auf das menschliche Wohlbefinden auswirken. Das könnte beim militärischen Gegner längerfristig eine zersetzende, wenngleich nicht unmittelbar tödliche Wirkung haben.

Andererseits stellt sich die Frage, ob andere Maßnahmen, z.B. Wirtschaftssanktionen, nicht ähnliche Effekte erzielen könnten, zumal die Folgen von CE-Maßnahmen vermutlich kaum auf eine bestimmte Region beschränkt blieben. So würde sich eine Verdunkelung von Nordafrika/Sahara womöglich stark negativ auf den indischen Monsun auswirken (Irvine et al. 2011), also mit hohen interregionalen »Kollateralschäden« behaftet sein. Ein mittels CE ausgetragener Konflikt hätte somit ein hohes Risiko einer horizontalen Eskalation, da viele Akteure in den Konflikt hineingezogen werden könnten.

Außerdem steht die Frage der Kontrollierbarkeit sowie der Konsequenzen für das eigene Land im Raum. So ließe sich die Ausbringung von Aerosolen zwar auf eine bestimmte Region konzentrieren; nach der Ausbringung würden die Aerosole bzw. die damit erzeugten Wolken mit dem Wind aber auch in andere Regionen verbracht. Zudem ist davon auszugehen, dass die betroffenen Staaten konventionelle und/oder unkonventionelle Gegenmaßnahmen ergreifen würden. Des weiteren könnte die umfangreiche Infrastruktur, die für CE-Maßnahmen Voraussetzung ist, zum möglichen Angriffspunkt werden und damit neue Vulnerabilitäten schaffen.

CE zur Konfliktprävention und -bearbeitung

Theoretisch kann CE auch konfliktvermeidend wirken. So kann eine Begrenzung der globalen Mitteltemperatur auf zwei Grad Celsius einem unkontrollierten Anstieg vorzuziehen sein. Zwar würden, wie oben beschrieben, eventuell weitere Konfliktpotentiale geschaffen, diese aber ggf. als weniger problematisch eingestuft als ein unkontrollierter Temperaturanstieg. Dies setzt jedoch voraus, dass mögliche Konflikte über die Anwendung von CE bereits im Vorfeld gelöst werden.

Wie oben bereits erwähnt, hat der Klimawandel auch das Potential für bestimmte positive Nebeneffekte. So kann eine erhöhte CO2-Konzentration die landwirtschaftliche Produktion steigern und damit einen Beitrag zur Deckung der globalen Nahrungsmittelproduktion leisten. Eine CE-Maßnahme wie Reflektion des Sonnenlichts würde diesen wachstumsfördernden Effekt erhalten, eine zu starke, der Landwirtschaft abträgliche Erwärmung jedoch gleichzeitig vermeiden (Pongratz et al. 2012). Aufforstung zur Abmilderung des Klimawandels kann sich positiv auf degradierte Böden auswirken und Bodenerosion entgegenwirken, sofern sie konfliktsensitiv gestaltet wird. Die oben erwähnten Unternehmen arbeiten zudem auch am »Recycling« abgetrennten Kohlendioxids als neue Rohstoffquelle, z.B. für Werkstoffe.

Schließlich kann die konsensuale Nutzung von CE auch eine vertrauensbildende Maßnahme darstellen und internationale Kooperation verstärken. Dieser Effekt ließe sich möglicherweise schon in der Vorbereitungsphase erzielen, also bevor CE-Maßnahmen tatsächlich eingesetzt werden.

Zusammenfassung und Reflektion

Aus dieser Betrachtung der vier Konfliktpotentiale von Climate Engineering lassen sich folgende Thesen ableiten:

Climate Engineering wird voraussichtlich Konfliktpotentiale schaffen, diese sind jedoch sehr heterogener Natur und müssen je nach Ansatz und Methode im Einzelnen untersucht werden.

Konflikte über antizipierte negative Auswirkungen von Climate Engineering stellen eine neue, zusätzliche Konfliktdimension dar, welche CE vom nicht intendierten Klimawandel und dessen Konfliktpotentialen unterscheidet.

Eine militärische Anwendung von CE scheint aufgrund mangelnder Steuerungsfähigkeit und möglicherweise hoher Kollateralschäden vor dem Hintergrund aktueller technologischer Möglichkeiten wenig plausibel. Ein Dual-use-Potential ist jedoch nicht auszuschließen, zumal Forschung zur besseren Kontrolle von CE bereits existiert (z.B. Keith 2010).

Zivile CE-Programme wären eventuell Bedrohungen durch feindliche Akte ausgesetzt und schaffen somit eine neue Vulnerabilität.

CE kann konfliktpräventive Wirkung entfalten, dies bedarf jedoch erst der Lösung von Konflikten über antizipierte Konsequenzen – und selbst dann sind Konfliktpotentiale nicht auszuschließen.

Bisher ist der Einsatz von CE rein hypothetischer Natur. Das Potential jedoch, Konflikte schon vor dem eigentlichen Einsatz hervorzurufen, spricht für eine frühe und angemessene Befassung mit Climate Engineering aus friedenspolitischer Sicht. Speziell gilt es, das gegenwärtige internationale Institutionengefüge auf seine Fähigkeit zur Bearbeitung von CE-Konflikten hin abzuprüfen und ggf. Ansätze zur Bereitstellung des notwendigen Rahmens für eine kooperative, auf Interessensausgleich ausgerichtet multilaterale Lösung zu entwickeln.

Literatur

Arctic Methane Emergency Group (AMEG): Auswahl »Taking Action« auf Website ameg.me.

Brauch, H. und J. Scheffran (2012): Introduction: Climate Change, Human Security, and Violent Conflict in the Anthropocene. In: J. Scheffran, M. Brzoska, H. Brauch, M. Link und J. Schilling (Hg.) 2012: Climate Change, Human Security and Violent Conflict. Challenges for Societal Stability. Berlin: Springer, S.3-40.

Crutzen, P. (2006): Albedo Enhancement by Stratospheric Sulfur Injections: A Contribution to Resolve a Policy Dilemma? Climatic Change 77, S.211-219.

Edenhofer, O., R. Pichs-Madruga, Y. Sokona, C. Field, V. Barros, T. Stocker, Q. Daher, J. Minx, K. Mach, G.-K. Plattner, S. Schlömer, G. Hansen, M. Mastrandrea (Hrsg.) (2012): IPCC Expert Meeting on Geoengineering. Lima, Peru, 20-22 June 2011. Meeting Report; ipcc-wg3.de.

Emerson, C. und G. Lada (2012): Arctic Opening. Opportunity and Risk in the High North.London: Lloyd’s und Chathamhouse; chathamhouse.org.

Fleming, J. (2010:) Fixing the Sky. New York: Columbia University Press.

(U.S.) Government Accountability Office (GAO) (2011): Climate Engineering. Technical Status, Future Directions and Potential Responses. Washington: GAO.

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Anmerkungen

1) International gibt es keine verbindliche Definition für Climate Engineering, jedoch werden hierunter in der Regel großskalige technische Eingriffe in das Weltklima verstanden.

2) Dabei handelt es sich um die Projekte IMPLICC (implicc.zmaw.de) und EuTRACE (eutrace.org).

3) Beispiele hierfür sind Carbon Engineering (carbonengineering.com), Kilimanjaro Energy (kilimanjaroenergy.com) und Global Thermostat (globalthermostat.com).

Achim Maas ist Koordinator des Themenclusters »Sustainable Interactions with the Atmosphere« am Institute for Advanced Sustainability Studies in Potsdam (IASS Potsdam).

Der Globale Klima-Risiko-Index 2012

Der Globale Klima-Risiko-Index 2012

von Sven Harmeling

Zum siebten Mal hat »Germanwatch« inzwischen einen Globalen Klima-Risiko-Index (KRI) vorgelegt. Dieser untersucht sowohl für das Jahr 2010 als auch für die letzten zwanzig Jahre, welche Länder besonders stark von Wetterextremen wie Überschwemmungen und Stürmen betroffen waren. Erfasst werden auch die Todesopfer sowie die direkten ökonomischen Verluste.

Die wesentlichen Aussagen des KRI 2012 machen deutlich, dass zwischen 1991 und 2010 Bangladesch, Myanmar und Honduras am stärksten unter extremen Wetterereignissen gelitten haben. Im Jahre 2010 waren zudem Pakistan, Guatemala, Kolumbien und Russland besonders stark betroffen. Alle zehn am stärksten betroffenen Länder (1991-2010) waren Entwicklungsländer mit niedrigem oder niederem mittleren Pro-Kopf-Einkommen.

Insgesamt starben zwischen 1991 und 2010 mehr als 710.000 Menschen als direkte Folge von mehr als 14.000 extremen Wetterereignissen, und es kam in diesem Zeitraum zu Verlusten von mehr als 2,3 Billionen US$ in Kaufkraftparitäten (US$ 1,5 Billionen Verlust in absoluten Zahlen).

Methodik

Die Analyse des Klima-Risiko-Index 2012 (KRI) basiert auf Datensätzen, die durch den weltweit anerkannten Münchener Rück NatCatSERVICE erfasst wurden. Dieser erhebt für sämtliche Länder alle elementaren Verlustereignisse, die erhebliche Sach- und Personenschäden verursacht haben, und stellt diese als Gesamtsumme wetterbedingter Verluste, Anzahl der Todesfälle, versicherte Schäden und Gesamtsumme der ökonomischen Schäden dar. In der Analyse des KRI wurden nur wetterbezogene Ereignisse wie Stürme, Überflutungen sowie Temperaturextreme (Hitze- und Kältewellen) berücksichtigt.

Für die Auswertung zum KRI wurden folgende Indikatoren untersucht:

  1. Anzahl der Todesfälle,
  2. Anzahl der Todesfälle pro 100.000 Einwohner,
  3. Summe der Verluste in US$ in Kaufkraftparität (KKP),
  4. Verluste pro Einheit des Bruttoinlandsproduktes (BIP).

Die ökonomischen- und Bevölkerungsdaten der Indikatoren 2, 3 und 4 stammen primär aus den Datensätzen des Internationalen Währungsfonds (IWF). Außerdem sollte beachtet werden, dass für einige Länder, darunter kleinere Inselstaaten im Pazifik oder politisch sehr instabile Regionen wie z.B. Somalia, keine ausreichend verwertbare Datensätze vorhanden sind und daher einige Länder nicht berücksichtigt werden können.

Der KRI basiert auf den Verlustzahlen von 2010 sowie 1991-2010. Der Indexwert jedes Landes leitet sich dabei von dessen Mittelwert aus der Analyse aller vier Indikatoren und gemäß folgender Gewichtung ab:

  1. 1/6 absolute Todesfälle,
  2. 1/3 Tote im Verhältnis zur Einwohnerzahl,
  3. 1/6 absolute Verluste in US$,
  4. 1/3 Verluste im Verhältnis zum BIP in US$.

Die Identifizierung der relativen Werte des Index (Tote im Verhältnis zur Einwohnerzahl, Verluste in Prozent von BIP) ist eine wichtige Ergänzung zu den dominierenden absoluten Werten, da so eine Analyse länderspezifischer Daten über Schäden und Verluste in Bezug auf die tatsächlichen Gegebenheiten in diesen Ländern ermöglicht wird. Beispielsweise ist es offensichtlich, dass eine Milliarde US$ für ein reiches Land wie die USA nicht das Gleiche bedeutet wie für ein armes Land.

Der Indikator »absolute Verluste in US$« wird durch die Kaufkraftparität ermittelt anstelle auf der Basis nominaler Wechselkurse, da so besser zum Ausdruck kommt, wie Menschen tatsächlich durch den Verlust von einem US$ betroffen sind. Kaufkraftparitäten erlauben z.B. einen Vergleich zwischen BIP-Werten verschiedener Länder, indem Preisunterschiede verglichen werden. Vereinfacht dargestellt bedeutet dies, dass ein indischer Bauer mit einem US$ mehr Feldfrüchte kaufen kann, als es sein amerikanisches Gegenüber könnte. Daher sind die tatsächlichen Konsequenzen bei gleichem nominalen Schaden in Indien viel höher als in den USA. Für die Mehrheit der Länder müssen für die Darstellung der Schäden aus diesem Grund die US$-Werte mit einem höheren Faktor als eins multipliziert werden.

Weiterhin ergeben sich die Werte, und damit auch die Rangfolge der Länder in Bezug auf die jeweiligen Indikatoren, nicht nur wegen der absoluten Auswirkungen extremer Wetterereignisse, sondern auch aufgrund von Wirtschafts- und Bevölkerungswachstum. Die Fähigkeit von Gesellschaften, Schäden beispielsweise mittels Katastrophenvorsorge, Versicherungen oder der Verfügbarkeit von Nothilfemaßnahmen zu begegnen, nimmt im Allgemeinen mit wirtschaftlichem Wachstum zu.

Trotz der historischen Analyse ist eine deterministische Projektion der Vergangenheit auf die Zukunft nicht angebracht und die Wahrscheinlichkeit, dass vergangene Extremwettertrends sich in einer Welt des globalen Klimawandels weiterhin in ähnlicher Weise fortsetzen, unklar. Die Auswertung der Schäden und Todesopfer erlaubt keine Aussage darüber, welchen Einfluss der Klimawandel bei diesen Ereignissen bereits hatte. Zudem kann ein einzelnes Extremwetterereignis aus methodologischen Gründen nicht ausschließlich auf den anthropogenen Einfluss zurückgeführt werden. Und schließlich spiegeln die Daten lediglich die direkten Einflüsse (Verluste und Todesfälle) extremer Wetterereignisse wider und decken nicht andere Auswirkungen des Klimawandels wie Meeresspiegelanstieg oder Ozeanversauerung ab. Trotzdem lässt sich ein gewisses Bild der Verwundbarkeit der Staaten zeichnen, das andere Analysen ergänzen kann. Dies kann als Warnsignal dienen, sich mit Katastrophenvorsorge und Anpassung an den Klimawandel besser auf möglicherweise vermehrte und stärkere Extremereignisse vorzubereiten.

Ergebnisse des KRI 2012

Tabelle 1 zeigt die zehn Länder, die im vergangenen Jahrzehnt am meisten betroffen waren, mit ihrer durchschnittlich gewichteten Platzierung (KRI-Wert) sowie die spezifischen Werte in den vier analysierten Indikatoren. Für den Untersuchungszeitraum 1991-2010 wurden Bangladesch, Myanmar und Honduras als die meistbetroffenen Länder ermittelt. Ihnen folgten Nicaragua, Haiti, Vietnam und die Dominikanische Republik. Es gibt nur geringfügige Änderungen im Vergleich zu den Analysen des KRI 2011, der sich auf die Periode 1990-2009 bezieht.

Tabelle 1: KRI-Ergebnisse für die zehn am meisten betroffenen Ländern in der Periode 1991-2010

KRI 1991-2010 (1990-2009) Land KRI-Wert Zahl der Todesopfer Tote pro 100.000 Einwohner Schäden in Millionen US$ (KKP) Schäden in % von BIP Anzahl der Ereignisse (1991-2010)
1 (1) Bangladesch 8,17 7.814 5,51 2.091 1,56 251
2 (2) Myanmar 10,50 7.130 14,06 659 1,68 33
3 (3) Honduras 11,67 327 5,05 662 2,93 56
4 (4) Nicaragua 18,00 159 2,83 212 1,90 43
5 (6) Haiti 21,17 340 3,95 155 1,12 51
6 (5) Vietnam 21,50 445 0,57 1.809 1,19 40
7 (8) Dominikanische Republik 30,50 211 2,51 181 0,37 44
8 (37) Pakistan 30,67 558 0,40 1.834 0,66 144
9 (–) Nordkorea 30,83 74 0,33 1.172 3,61 33
10 (7) Philippinen 31,83 801 1,03 660 0,30 270
32 (28) Deutschland 48,50 475 0,58 2.185 0,10 473
32 (25) Schweiz 48,50 59 0,82 381 0,16 333
53 (50) Österreich 59,83 30 0,38 385 0,16 177
Quelle: Eigene Darstellung basierend auf den Datensätzen des Münchener Rück NatCatSERVICE und des Internationalen Währungsfonds (IWF).

Unter den zehn meistbetroffenen Ländern befindet sich kein Industrie- oder Annex-I-Land.1 Unter den ersten 20 findet sich nur eines, Russland, und zwar als Folge der extremen Hitzewelle in 2010. Vor allem im Verhältnis betrachtet sind die ärmeren Entwicklungsländer viel stärker betroffen. Diese Ergebnisse zeigen die besondere Verwundbarkeit der armen Länder gegenüber klimatischen Risiken – trotz der Tatsache, dass die absoluten monetären Schäden in den reicheren Ländern wesentlich höher sind. Darüber hinaus sind die meistbetroffenen Länder am wenigsten verantwortlich für den Klimawandel.

Tabelle 2 zeigt die zehn im Jahr 2010 am stärksten betroffenen Länder mit ihrer durchschnittlich gewichteten Platzierung (KRI-Wert) und den spezifischen Ergebnissen in den vier Einzelindikatoren. Pakistan, Guatemala und Kolumbien wurden im Jahr 2010 als die meistbetroffenen Länder identifiziert. Ihnen folgten Russland, Honduras und Oman.

Tabelle 2: Der Klima-Risiko-Index für das Jahr 2010: die zehn am meisten betroffenen Länder

KRI 2010 (2009) Land KRI-Wert Zahl der Todesopfer Tote pro 100.000 Einwohner Schäden in Millionen US$ (KKP) Schäden in % von BIP Human Development Index*
1 (68) Pakistan 3,50 1.891 1,10 25.316 5,42 145
2 (53) Guatemala 6,33 229 1,59 1.969 2,80 131
3 (100) Kolumbien 8,00 320 0,70 7.544 1,73 87
4 (75) Russland 11,00 56.165 39,30 5.537 0,25 66
5 (65) Honduras 14,67 139 1,73 220 0,65 121
6 (88) Oman 17,00 24 0,81 1.314 1,73 89
7 (14) Polen 17,83 151 0,40 4.745 0,66 39
8 (93) Portugal 19.67 47 0,44 1.749 0,71 41
9 (23) China 23,50 2.889 0,22 33.395 0,33 101
10 (38) Tadschikistan 24,17 27 0,35 262 1,77 127
46 (68) Deutschland 53,17 28 0,03 2351.57 0,08 9
105 (16) Österreich 85,00 3 0,04 6,81 0,00 19
118 (33) Schweiz 92,67 1 0,01 11,79 0,00 11
* United Nations Development Programme (UNDP) (2011): Human Development Report. www.hdr.undp.org.

Quelle: Eigene Darstellung basierend auf den Datensätzen des Münchener Rück NatCatSERVICE, des Internationalen Währungsfonds (IWF) und des UNDP Human Development Index.

Im Jahr 2010 waren Honduras, China und auch Guatemala mehrere Male unter den am stärksten betroffenen Ländern: Honduras vor allem auf Grund von Hurrikanen, China wegen verschiedener extremer Ereignisse, vor allem Überschwemmungen, und Guatemala aufgrund von tropischen Wirbelstürmen. Außergewöhnliche Ereignisse in Pakistan (Überschwemmungen), Kolumbien (Überschwemmungen), Russland (Hitzewelle) und Oman (Überschwemmungen) verursachten die hohe Platzierung dieser Länder. Ungewöhnlich ist, dass Polen (Überschwemmungen) und Portugal (Überschwemmungen) unter den Erstplatzierten erscheinen.

Pakistan war in den vergangenen Jahren gezwungen, sich an extreme Wetterereignisse zu gewöhnen. Im Jahr 2010 wurde es von den schlimmsten Überschwemmungen seiner Geschichte getroffen: Während der Monsunzeit kamen mehr als 1.700 Menschen in 84 von 121 Distrikten zu Tode.

Im Juli 2010 verursachte eine Hitzewelle in Russland massive Schäden durch Wald- und Torfbrände. Es war der heißeste Monat, der in Moskau jemals meteorologisch erfasst wurde. Die Hitzewelle führte laut Statistik zu mehr als 55.000 Todesfällen. „Die Moskauer Hitzewelle im vergangenen Jahr war mit hoher Wahrscheinlichkeit die Folge des Klimawandels – im Gegensatz zu dem, was einige angenommen haben. Mit einer Wahrscheinlichkeit von 80 Prozent wurde der Temperaturrekord in der Region um die russische Hauptstadt im Juli 2010 nicht durch natürliche, kurzfristige Klimaschwankungen verursacht, sondern durch eine langfristige Tendenz zur Erwärmung.“ 2

Brennpunkt Afrika

Wie Tabelle 3 zu entnehmen ist, weisen afrikanische Länder einen relativ niedrigen Platz innerhalb des KRI auf. In Afrika verursachen indirekte Auswirkungen in Form von Nahrungsmittelknappheit als Konsequenz lang anhaltender Dürreperioden die schwerwiegendsten Probleme. Sich langsam und graduell auswirkende sozio-ökologische Konsequenzen des Klimawandels (slow creeping disasters) können durch die Daten der Münchener Rück und damit auch die Methodik des KRI nicht mit ausreichender Zuverlässigkeit dargestellt werden.

Tabelle 3: Afrikanische Länder im KRI 2010

KRI Land KRI-Wert Zahl der Todesopfer Tote pro 100.000 Einwohner Schäden in Millionen US$ (KKP) Schäden in % von BIP Anzahl der Ereignisse Human Development Index*
14 Benin 26,50 53 0,55 63,66 0,46 1 167
27 Madagaskar 35,83 86 0,40 22,61 0,11 2 151
29 Uganda 37,83 307 0,90 6,71 0,02 8 161
33 Ghana 41,00 109 0,46 20,08 0,03 2 135
34 Angola 41,50 156 0,82 7,30 0,01 3 148
37 Mauretanien 43,50 21 0,66 3,70 0,06 1 159
42 Tschad 49,50 27 0,26 8,14 0,04 3 183
43 Kenia 49,67 93 0,23 14,53 0,02 3 143
47 Marokko 54,33 43 0,14 27,01 0,02 4 130
51 Togo 58,00 21 0,30 0,94 0,02 1 162
* United Nations Development Programme (UNDP) (2011): Human Development Report. www.hdr.undp.org.

Quelle: Eigene Darstellung basierend auf den Datensätzen des Münchener Rück NatCatSERVICE, des Internationalen Währungsfonds (IWF) und des UNDP Human Development Index.

Dennoch bedeuten die Ergebnisse in Tabelle 3 nicht, dass Afrika nicht betroffen wäre. Basierend auf internationalen Statistiken der Katastrophendatenbank EM-DAT zeigt Tabelle 4 die Anzahl der von klimabedingten Katastrophen Betroffenen in Afrika im Jahr 2010. Insgesamt waren nahezu 37 Mio. Personen in Afrika von unterschiedlichen Wetterereignissen und ihren spezifischen Auswirkungen betroffen.

Tabelle 4: Anzahl der von wetterbedingten Katastrophen betroffenen Menschen in Afrika in 2010

Land Dürre Flut Sturm Buschfeuer Gesamt
Angola 189.781 189.781
Benin 831.000 831.000
Burkina Faso 133.362 133.362
Burundi 180.000 1.990 1.500 183.490
Kamerun 3.095 3.095
Zentralafr. Rep. 1.585 1.585
Tschad 2.400.000 144.579 2.544.579
Côte d‘Ivoire 6.425 6.425
Dschibuti 165.264 165.264
Ägypten 3.500 40 3.540
Äthiopien 6.200.000 80.700 6.280.700
Gabun 1.765 1.765
Gambia 38.961 38.961
Ghana 17.174 17.174
Guinea 48.026 48.026
Guinea Bissau 56.792 56.792
Kenia 3.754.585 211.164 3.965.749
Liberia 15.486 15.486
Madagaskar 720.000 192.132 912.132
Malawi 21.290 21.290
Mali 600.000 8.750 632.000
Mauretanien 300.000 8.750 308.750
Marokko 77.009 77.009
Mosambik 460.000 17.000 477.000
Namibia 110.000 110.000
Niger 7.900.000 233.226 8.133.226
Nigeria 1.500.200 1.500.200
Ruanda
Senegal 102.516 102.516
Sierra Leone 234 234
Somalia 4.000.000 16.200 4.016.200
Südafrika 6.000 6.000
Sudan 4.300.000 26.362 4.326.362
Togo 111.550 111.550
Uganda
DR Kongo/Zaire 70.500 2.770 73.270
Sambia 1.200 1.200
Simbabwe 1.680.000 820 1.680.820
Total 32.659.849 4.112.477 201.437 2.770 36.976.533
Quelle: Eigene Darstellung basierend auf der internationalen OFDA/CRED Disaster Database EM-DAT.

Aufgrund der hohen Betroffenheit vieler afrikanischer Staaten gegenüber graduellen Auswirkungen des Klimawandels wie Dürren, Verwüstung und Wasser- bzw. Nahrungsmittelknappheit sowie einer erhöhten Variabilität von Wetterextremen wie Stürmen und Überflutungen bedeutet dies, dass vorbeugende Maßnahmen zur Anpassung an diese klimabedingten Veränderungen von höchster Priorität sein müssen. Die begrenzten Widerstands- und Bewältigungsstrategien afrikanischer Länder gegenüber den Folgen des Klimawandels sowie ihr geringer Beitrag zum Klimawandel machen die Unterstützung afrikanischer Länder daher zu einer ethischen Verpflichtung für die internationale Gemeinschaft, insbesondere für die entwickelten Länder.

Operationalisierung der Schäden und Verluste

Bisher sind die Klimaschutzversprechungen der Regierungen weltweit vollkommen unzureichend, um den globalen Emissionstrend umzukehren und einen gefährlichen Klimawandel zu vermeiden. Die Ergebnisse des KRI können als Warnsignal verstanden werden, sich durch entsprechende Vor- und Nachsorgeprogramme auf möglicherweise vermehrte und stärkere Extremereignisse einzustellen. Durch die Analyse vergangener Extremwetterereignisse und deren Auswirkung auf die Weltgemeinschaft können wichtige Erkenntnisse gewonnen werden, um aus früheren Versäumnissen und deren unmittelbaren Konsequenzen zu lernen und sich auf die Zukunft vorzubereiten.

Die Analyse macht dabei vor allem eines deutlich: Bei der Bewältigung der bevorstehenden Konsequenzen des Klimawandels sitzen wir alle im selben Boot: arme und reiche Menschen und Gesellschaften – allerdings auf verschiedenen Decks des Schiffes. Im Sinne des Verursacherprinzips stehen daher die Hauptverursacher des Klimawandels in der Verantwortung: Sie müssen die Menschen in Entwicklungsländern stärker bei ihren Bemühungen unterstützen, die Folgen des Klimawandels zu bewältigen.

Ein erster wichtiger Schritt in diese Richtung wurde 2010 in Mexiko unternommen. Beim UN-Klimagipfel in Cancún einigten sich die Parteien der Klimarahmenkonvention (United Nations Framework Convention on Climate Change, UNFCCC) darauf, ein Arbeitsprogramm zum Umgang mit und Ausgleich von klimawandelbedingten Schäden und Verlusten in Entwicklungsländern zu etablieren.3 Gemeinsam mit anderen Aspekten, wie z.B. der Übernahme von Richtlinien und Modalitäten für nationale Anpassungspläne oder der Vereinbarung über die nächste Phase des im Jahr 2006 beschlossenen Nairobi-Arbeitsprogramms zu Auswirkungen, Anpassung und Vulnerabilität, sind Forschritte im Bereich des Arbeitsprogramms zum Umgang mit klimawandelbedingten Schäden und Verlusten ein entscheidender Beitrag zum Anpassungspaket.

Aus zwei Gründen ist die Kenntnisnahme klimawandelbedingter Schäden und Verluste von besonderer Bedeutung:

1. Aufgrund der bisherigen und zukünftig erwarteten Treibhausgasemissionen sind die voraussichtlich in den nächsten 20 Jahren auftretenden Auswirkungen des Klimawandels abzuschätzen. Demzufolge müssen neben der Vermeidung klimaschädlicher Emissionen sowie der Anpassung an nicht mehr vermeidbare Klimafolgen auch konkrete Maßnahmen entwickelt werden, um klimawandelbedingten Schäden und Verlusten durch Extremwetterereignisse wirksam entgegenzutreten.

2. Der aktuell fehlende Ehrgeiz zur Emissionsminderung führt die Welt auf einen Pfad hin zu einem Anstieg der Durchschnittstemperatur von 4-5° C. Folglich bleibt die Minderung klimaschädlicher Emissionen auf lange Sicht ein kritisches Ziel, zumal durchaus die Gefahr eines sich selbst verstärkenden Klimawandels und entsprechender drastischer Auswirkungen (Meeresspiegelanstieg, Verwüstung, Gletscherschmelze etc.) besteht.

Aus diesen Gründen ist es höchste Zeit für die internationale Staatengemeinschaft, nicht nur ihre Minderungsziele zur Vermeidung eines gefährlichen Klimawandels deutlich zu erhöhen, sondern sich gleichzeitig auch mit den Konsequenzen klimawandelbedingter Schäden und Verluste auseinanderzusetzen und verbindliche Maßnahmen zu deren Bewältigung zu entwickeln.

Ein Jahr nach der 17. Vertragsstaatenkonferenz zur Klimarahmenkonvention (COP17) in Durban ist es daher für die COP18 in Doha/Katar im November/Dezember 2012 entscheidend, dass endlich konkrete Maßnahmen beschlossen werden, um gemäß der Vorgaben der UNFCCC klimawandelbedingten Schäden und Verlusten in Zukunft besser begegnen zu können.

Anmerkungen

1) Annex (Anhang) I der Klimarahmenkonvention listet 41 Industrie- und Schwellenländer auf (die meisten davon OECD-Staaten oder Staaten Mittel- und Osteuropas), die sich in Artikel 2 der Konvention das Ziel gesetzt haben, einen gefährlichen Klimawandel zu vermeiden.

2) Siehe Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (pik-potsdam.de) sowie Rahmstorf, S. und Coumou, D. (2011): Increase of extreme events in a warming world. Proceedings of the National Academy of Sciences (early edition), doi:10.1073/pnas.1101766108,

3) Decision 1/CP.16, paragraph 26.

Sven Harmeling ist Autor des Globalen Klima-Risiko-Index bei Germanwatch. Der Beitrag wurde mit Unterstützung von Boris Schinke, Charlotte Haberstroh und Sönke Kreft verfasst. Die Erstellung des KRI wird vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung gefördert.