Klimawandel und Konflikt

Klimawandel und Konflikt

Soziostrukturelle und sozialpsychologische Effekte

von Immo Fritsche, J. Christopher Cohrs und Thomas Kessler

Der globale Klimawandel ist schon längst auch ein sicherheitspolitisches Thema – spätestens seit US-amerikanische Think Tanks den globalen Klimawandel als eine treibende Kraft zukünftiger globaler und lokaler Konflikte identifiziert haben (Nordas und Gleditsch 2007). Obgleich intuitiv plausibel, beschränkt sich die empirische Grundlage dieser Befürchtungen bislang auf vergleichsweise wenige sozialwissenschaftliche Studien zu den soziostrukturellen Folgen des Klimawandels (Ressourcenknappheit, Migration). Im gegenwärtigen Artikel werden diese Studien zunächst kurz zusammengefasst, anschließend wird der soziostrukturellen eine sozialpsychologische Perspektive hinzugefügt.

Nachdem die These zunehmender gewalthaltiger Konflikte als Folge des Klimawandels zu Beginn der vergangenen Dekade durch Prognosen aus Politik, Medien und Think Tanks popularisiert wurde, nahmen die Sozialwissenschaften in den nachfolgenden Jahren systematische Untersuchungen auf (Gleditsch 2012; Nordas und Gleditsch 2007).

Sozial- und politikwissenschaftliche Klimafolgenforschung

Es wird argumentiert, dass lokale Auswirkungen des Klimawandels Gewaltkonflikte auf unterschiedlichen Wegen schüren können (z.B. Schubert et al. 2008). Zum einen sollten verknappte Ressourcen, wie Wasser, fruchtbares Land oder Nahrungsmittel, zu Verteilungskonflikten innerhalb oder auch zwischen Staaten führen. Zweitens könnte die lokale Verknappung natürlicher Ressourcen zur Folge haben, dass die Betroffenen ihre Heimat verlassen (müssen) und in den Zielländern oder -regionen dieser Klimaflüchtlinge Migrationskonflikte entstehen. Drittens könnten durch die wirtschaftlichen Folgen des Klimawandels hervorgerufene Krisen politische Eliten veranlassen, bestimmte gesellschaftliche Gruppen zu Sündenböcken zu machen und mithilfe nationalistischer Ideologie und Politik von den wahren Problemen abzulenken. Die Wahrscheinlichkeit gewalthafter inner- und zwischenstaatlicher Konflikte würde dann ansteigen (siehe auch Staub 1999 zu den Auswirkungen »schwieriger Lebensbedingungen«).

Klimatische Effekte auf gewalthaltige Konflikte

Die empirische Evidenz für Effekte des Klimawandels auf Konflikte ist bislang vergleichsweise dünn (Gleditsch 2012). Auf Grundlage historischer Daten und aktueller Klimaprojektionen prognostizieren Burke et al. (2009) für die Länder des südlichen Afrika bis 2030 aufgrund des zu erwartenden Anstiegs der Jahresdurchschnittstemperaturen einen Anstieg bewaffneter Konflikte um 54% und als Folge 393.000 zusätzliche Kriegstote (ähnliche Ergebnisse finden sich auch bei Hendrix und Glaser 2007; für Gegenpositionen siehe Buhaug 2010; Sutton et al. 2010; Burke et al. 2010). Hsiang et al. (2011) untersuchten bürgerkriegsähnliche Konflikte in Staaten, die durch den Wechsel zwischen den Klimaphänomenen El Niño und La Niña beeinflusst sind. Zeiten erhöhter Hitze und Trockenheit (El Niño-Jahre) gingen mit einer erhöhten Zahl von Konflikten einher. Anhand US-amerikanischer Kriminalstatistiken von 1950 bis 2008 zeigten Anderson und DeLisi (2011) überdies auf, dass Gewaltverbrechen in Jahren mit hohen Mitteltemperaturen (sowie in heißen vs. kühleren Sommern) zunahmen. Die Wirkung möglicher weiterer Erklärungsvariablen (z.B. Armut, soziale Ungleichheit, Inhaftierungsquote) wurde statistisch kontrolliert.

Naturräumliche und soziostrukturelle Prozesse

Die Frage, aus welchen Gründen Klimawandel das Auftreten von Konflikten beeinflussen kann, wird in der sozial- und politikwissenschaftlichen Forschung durch die Untersuchung naturräumlicher und soziostruktureller Faktoren beantwortet. So finden sich Hinweise darauf, dass weltweit die Degeneration von Böden und die lokale Verknappung von Trinkwasser mit einer erhöhten Neigung zu bewaffneten innerstaatlichen Konflikten einhergehen (Raleigh und Urdal 2007). Für afrikanische Staaten zeigt sich, dass auch Zeiten extremer Niederschlagsereignisse (extrem geringe oder extrem hohe Niederschlagsmengen) die Konfliktwahrscheinlichkeit erhöhen (Hendrix und Salehyan 2012; Raleigh und Kniveton 2012).

In diesen Forschungsarbeiten wird angenommen, dass naturräumliche Veränderungen wie Bodendegeneration, Wasserknappheit oder Extremwetterereignisse dadurch Konflikte erhöhen, dass sie die soziostrukturellen Rahmenbedingungen (Ressourcenknappheit, Wanderungsbewegungen) von Gesellschaften beeinflussen. Tatsächlich finden Raleigh und Urdal (2007), dass sich eine erhöhte Bevölkerungsdichte, wie sie beispielsweise durch Wanderung aus zunehmend unfruchtbaren Gebieten in andere Regionen (Reuveny 2007) entstehen kann, in einer erhöhten Anzahl innerstaatlicher Konflikte widerspiegelt. Gleichzeitig stieg die Anzahl von Konflikten aufgrund von Wasserknappheit in Regionen mit hohem Bevölkerungswachstum stärker als in jenen mit geringem Bevölkerungswachstum. Insgesamt herrscht in der sozial- und politikwissenschaftlichen Forschung derzeit jedoch noch weitgehende Unklarheit über die spezifischen Prozesse, die Klimawandeleffekte auf Konflikte erklären können (Gleditsch 2012; Sutton et al. 2010).

Sozialpsychologische Einflüsse

Während die Debatte über soziostrukturelle Vermittlervariablen der Klimafolgen noch anhält, lassen sich spezifische sozialpsychologische Prozesse identifizieren, die Effekte des Klimawandels auf individuelle und kollektive Konfliktneigungen erklären können. Wir nehmen an, dass diese Prozesse sowohl eigenständig als auch im Zusammenspiel mit soziostrukturellen Veränderungen die möglichen Effekte des Klimawandels auf Konflikte verschärfen.

Hitze-Effekte

Im ersten Ansatz geht es um die aggressionsfördernde Wirkung von Hitze. Ausgangspunkt sind sozialpsychologische Laborexperimente. Personen, die unangenehm hohen Temperaturen ausgesetzt wurden, neigten – im Gegensatz zu Personen, die unter angenehmen Temperaturen teilnahmen – zu stärkerem Ärger, stärkerer Wahrnehmung von Feindseligkeit sowie einer erhöhten Vergeltungsbereitschaft gegenüber Provokateuren (Anderson et al. 2000). Diese Effekte lassen sich in ein allgemeines Aggressionsmodell (DeWall et al 2011) einordnen, wonach die Neigung, anderen Personen (z.B. in Konfliktsituationen) Schaden zuzufügen, nach jedweder Art aversiver Stimulation ansteigt. Auf diesem Wege erklären Anderson und DeLisi (2011) auch ihren oben erwähnten Befund, dass höhere Jahresdurchschnittstemperaturen unabhängig vom Einfluss soziodemografischer Erklärungsvariablen die Zahl der Gewaltverbrechen erhöhen können. Gleichzeitig ist denkbar, dass die aggressionsfördernde Wirkung von Hitze zu einer schnelleren Eskalation ursprünglich soziostrukturell bedingter Konflikte führen kann. Wettstreit um Ressourcen könnte unter diesen Bedingungen vermehrt in feindseligen Auseinandersetzungen enden.

Autoritäre Reaktionen auf Bedrohung

Ein globaler Klimawandel kann sich nicht nur in unangenehm hohen Temperaturen äußern, sondern bei Menschen auch komplexe Bedrohungswahrnehmungen auslösen. So lassen die Prognosen des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC, 2007) befürchten, dass der globale Klimawandel die Lebensgrundlagen und die Lebensumwelt vieler Menschen in hohem Maße verändern wird (z.B. Verknappung natürlicher Ressourcen, vermehrte Naturkatastrophen, Unbewohnbarkeit heutiger Küstenregionen, Aussterben von Tier- und Pflanzenarten, Verbreitung neuer Krankheiten). Allein die Vergegenwärtigung dieser komplexen möglichen Folgen kann Gefühle von Sicherheit und Kontrolle in Menschen erschüttern und daher allgemeine Bedrohungswahrnehmungen hervorrufen.

Eine Möglichkeit, wie Menschen mit einer Bedrohung ihrer Sicherheit oder Kontrolle umgehen, ist kollektives Verhalten und die Identifikation mit einer bestimmten Gruppe. In Laborexperimenten zeigt sich, dass Personen, die an persönlichen Kontrollmangel und Unsicherheit erinnert werden, nachfolgend verstärkt ethnozentrisch urteilen (z.B. werden Mitglieder der eigenen Gruppe positiver bewertet als jene fremder Gruppen, »ingroup bias«) und eine höhere Bereitschaft zeigen, im Sinne ihrer eigenen Gruppe zu handeln (Fritsche et al. 2011). Gleiches gilt für experimentelle Studien zu den Folgen alltagsweltlicher Bedrohungen, wie Terrorismus (Fritsche und Fischer 2009) oder Kriminalitätsfurcht (Duckitt und Fisher 2003), die autoritäre Einstellungen erhöhen. Autoritarismus – also konventionelles Denken, Unterordnung unter Gruppennormen sowie aggressive Reaktionen auf soziale Abweichung – kann hierbei als Einstellungssyndrom verstanden werden, das dem Erhalt sozialer Gruppen dient, da autoritäres Denken und Handeln den Zusammenhalt zwischen Gruppenmitgliedern fördert (Kessler und Cohrs 2008).

Eine Serie von drei experimentellen Studien in Deutschland und Großbritannien demonstriert die Übertragbarkeit dieser Befunde auf die Erklärung klimawandelinduzierter Konflikte (Fritsche et al. 2012). Wir erinnerten die Hälfte der jeweiligen Versuchspersonen an bedrohliche Auswirkungen des Klimawandels in ihrem eigenen Land (z.B. Überflutungen, ausbleibender Schnee, Artensterben, gesundheitliche Risiken durch neue Krankheitsüberträger). Die andere Hälfte wurde an regionale geografische Fakten erinnert, die nicht mit dem Klimawandel in Zusammenhang standen. In der Klimawandel-Variante des Experiments stimmten die Teilnehmenden allgemeinen autoritären Aussagen in stärkerem Maße zu als die Personen in der Geo-Fakten-Variante (z.B. „Um Recht und Ordnung zu bewahren, sollte man härter gegen Außenseiter und Unruhestifter vorgehen“). Der gleiche Effekt zeigte sich bezüglich der Bewertung unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen: Personen, die an den Klimawandel erinnert wurden, werteten systembedrohende oder als solche wahrgenommene Gruppen wie Drogenabhängige, Gewaltkriminelle oder Prostituierte ab und systemstützende Gruppen wie Polizisten, Richter oder Lehrer auf.

Die Wahrnehmung eines bedrohlichen Klimawandels hat also das Potenzial, allgemeine wie auch spezifische autoritäre Einstellungen zu erhöhen. Die Ergebnisse der Studien weisen ebenfalls darauf hin, dass diese Effekte automatisch und unbewusst ablaufen: Zum einen steht die Abwertung systembedrohender Gruppen in keinem sachlogischen Zusammenhang mit der Bedrohung durch den Klimawandel. Zum anderen waren die Effekte nur zu beobachten, wenn die Teilnehmenden zwischen der Erinnerung an die Bedrohung durch den Klimawandel und der Erfassung autoritärer Tendenzen zwei längere Ablenkungsaufgaben bearbeitet hatten. Diese Aufgaben sollten bewusstes Nachdenken über den Klimawandel unterbinden.

Das Zusammenspiel psychologischer und soziostruktureller Effekte

Diese unbewussten Effekte auf Intoleranz und Konformismus können Konflikte zwischen und innerhalb von Gruppen hervorrufen oder verstärken. In Kombination mit soziostrukturellen Veränderungen, wie einem Bevölkerungswachstum infolge von Migration, können sie ebenfalls als heimlicher Katalysator von Konflikten wirken. In Ressourcenkonflikten kann nicht tolerierte Andersartigkeit einer »fremden« Bevölkerungsgruppe dazu führen, dass diese als antagonistische Gruppe identifiziert und nachfolgend zum Objekt von Vorurteilen und Diskriminierung wird (Esses et al. 2001). So könnte ein Konflikt zwischen einheimischen Bauern und internationalen Landwirtschaftskonzernen um knapper werdende Anbaugebiete zu Abwertung und Ausgrenzung objektiv unbeteiligter Minderheiten führen. Dabei ist Toleranz zwischen kulturell unterschiedlichen Gruppen eine Grundvoraussetzung für gelungene Migration. Ist die Toleranz durch Bedrohungseffekte hingegen reduziert, könnte dies den Boden für Konflikt und Diskriminierung bereiten.

Es ist wahrscheinlich, dass ein globaler Klimawandel sowohl über soziostrukturelle als auch über sozialpsychologische Prozesse die Zahl und Intensität von Intergruppenkonflikten erhöht.

Was kann getan werden, um diesen Tendenzen entgegenzuwirken? Neben einem effektiven und gerechten Management soziostruktureller Härten wie Ressourcenknappheit oder Migrationsbewegungen sollte insbesondere die Bewusstheit für die subtilen sozialpsychologischen Prozesse und deren Auswirkungen auf die Verschärfung soziostruktureller Konflikte steigen. Interventionen zur Reduktion aggressiven Alltagsverhaltens (z.B. gewaltfreie Erziehung) sind ebenso angezeigt wie die Entwicklung und Förderung gesellschaftlicher Normen von Toleranz und Gewaltfreiheit. Neuere Studien zeigen nämlich, dass Menschen sich unter Bedrohung in verstärktem Maß an den wahrgenommenen Normen und Regeln ihrer eigenen Gruppe orientieren (z.B. Jonas et al. 2008). Beispielsweise führte die Erinnerung an gesellschaftliche Pazifismusnormen bei den Teilnehmenden der hier beschriebenen Studien dazu, dass Bedrohung die Unterstützung militärischer Gewalt gegen antagonistische Gruppen reduzierte.

Literatur

Hinweis: PNAS = Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America

Anderson, C. A., Anderson, K. B., Dorr, N., DeNeve K. M. und Flanagan, M. (2000): Temperature and aggression. Advances in Experimental Social Psychology, 32, 63-133.

Anderson, C. A. und DeLisi, M. (2011): Implications of global climate change for violence in developed and developing countries. In: J. Forgas, A. Kruglanski und K. Williams (eds.): The psychology of social conflict and aggression. New York: Psychology Press, 249-265.

Buhaug, H. (2010): Climate not to blame for African civil wars. PNAS, 107, 16477-16482.

Burke, M. B., Miguel, E., Satyanath, S., Dykema, J. A. und Lobell, D. B. (2009): Warming increases the risk of civil war in Africa. PNAS, 106, 20670-20674.

Burke, M. B., Miguel, E., Satyanath, S., Dykema, J. A. und Lobell, D. B. (2010): Reply to Sutton et al.: Relationship between temperature and conflict is robust. PNAS, 107, E103-E103.

DeWall, C. N., Anderson, C. A. und Bushman, B. J. (2011): The general aggression model: Theoretical extensions to violence. Psychology of Violence, 1, 245-258.

Duckitt, J. und Fisher, K. (2003): The impact of social threat on world view and ideological attitudes. Political Psychology, 24, 199-222.

Esses, V. M., Dovidio, J. F., Jackson, L. M. und Armstrong, T. L. (2001): The immigration dilemma: The role of perceived group competition, ethnic prejudice, and national identity. Journal of Social Issues, 57, 389-412.

Fritsche, I., Cohrs, J. C., Kessler, T. und Bauer, J. (2012): Global warming is breeding social conflict: The subtle impact of climate change threat on authoritarian tendencies. Journal of Environmental Psychology, 32, 1-10.

Fritsche, I. und Fischer, P. (2009): Terroristische Bedrohung und soziale Intoleranz. In A. Beelmann und K. J. Jonas (Hrsg.), Diskriminierung und Toleranz: Psychologische Grundlagen und Anwendungsperspektiven. Weinheim: Beltz, S.303-318.

Fritsche, I., Jonas, E. und Kessler, T. (2011): Collective reactions to threat: Implications for intergroup conflict and solving societal crises. Social Issues and Policy Review, 5, 101-136.

Gleditsch, N. P. (2012): Wither the weather? Climate change and conflict. Journal of Peace Research, 49, 3-9.

Hendrix, C. S. und Glaser, S. M. (2007): Trends and triggers: Climate, climate change and civil conflict in Sub-Saharan Africa. Political Geography, 26, 695-715.

Hendrix, C. S. und Salehyan, I. (2012): Climate change, rainfall, and social conflict in Africa. Journal of Peace Research, 49, 35-50.

Hsiang, S. M., Meng, K. C. und Cane, M. A. (2011): Civil conflicts are associated with the global climate. Nature, 476, 438-441.

Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) (2007): Climate Change 2007: Impacts, Adaptation and Vulnerability. Contribution of Working Group II to the Fourth Assessment Report of the IPCC. Geneva, Switzerland: IPCC.

Jonas, E., Martens, A., Niesta Kayser, D., Fritsche, I., Sullivan, D. und Greenberg, J. (2008): Focus theory of normative conduct and terror management theory: The interactive impact of mortality salience and norm salience on social judgment. Journal of Personality and Social Psychology, 95, 1239-1251.

Kessler, T. und Cohrs, J. C. (2008): The evolution of authoritarian processes: Fostering cooperation in large-scale groups. Group Dynamics: Theory, Research, and Practice, 12, 73-84.

Nordas, R. und Gleditsch, N. P. (2007): Climate change and conflict. Political Geography, 26, 627-638.

Raleigh, C. und Kniveton, D. (2012): Come rain or shine: An analysis of conflict and climate variability in East Africa. Journal of Peace Research, 49, 51-64.

Raleigh, C. und Urdal, H. (2007): Climate change, environmental degradation and armed conflict. Political Geography, 26, 674-694.

Reuveny, R. (2007): Climate change-induced migration and violent conflict. Political Geography, 26, 656-673.

Schubert, R., Schellnhuber, H. J., Buchmann, N., Epiney, A., Grießhammer, R., Kulessa, M., et al. (2008): Climate change as a security risk. London and Sterling, VA: Earthscan.

Staub, E. (1999): The Roots of Evil: Social Conditions, Culture, Personality, and Basic Human Needs. Personality and Social Psychology Review, 3, 179-192.

Sutton, A., Dohn, J., Loyd, K., Tredennick, A., Bucini, G., Solórzano, A., Prihodko, L. und Hanan, N. P. (2010): Does warming increase the risk of civil war in Africa? PNAS, 107, E102.

Immo Fritsche ist Professor für Sozialpsychologie an der Universität Leipzig. Dr. Christopher Cohrs ist Dozent der Sozialpsychologie an der Queen’s University Belfast und Forscher im dortigen Centre for Research in Political Psychology sowie assoziierter Herausgeber der Fachzeitschrift »Peace und Conflict: Journal of Peace Psychology«. Thomas Kessler ist Professor für Sozialpsychologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena.

Massenmigration und Klimakriege?

Massenmigration und Klimakriege?

Klimawandel als Sicherheitsbedrohung

von Michael Brzoska und Angela Oels

In diesem Beitrag legen die AutorInnen dar, welche politische Konstellation dazu beitrug, dass der Klimawandel zwischen 2003 und 2007 zunehmend als Sicherheitsthema problematisiert wurde. Sie zeigen am Beispiel der Migrations-, der Entwicklungs- und der Sicherheitspolitik, dass sich eine Prioritätenverschiebung von der Bekämpfung des Klimawandels (Mitigation) zur Bekämpfung der Klimafolgen (Adaptation und Katastrophenschutz) andeutet. Das Interesse des Militärs an den möglichen Folgen des Klimawandels ist groß. Konkrete Aktivitäten sind, mit einigen Ausnahmen, allerdings bisher kaum zu verzeichnen. In dieser Hinsicht spielen die in der Öffentlichkeit immer wieder vorgetragenen diskursiven Konstruktionen von Massenmigration und Klimakriegen in den sicherheitspolitischen Reaktionen auf den klimabezogenen Sicherheitsdiskurs zumindest aktuell keine Rolle.

Die Konstruktion des Klimawandels als Sicherheitsbedrohung gab es schon Ende der 1980er Jahre, sie entwickelte sich jedoch erst zwischen 2003 und 2007 zu einem dominanten Diskursstrang in der internationalen klimapolitischen Debatte. Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre wurde der Klimawandel von Wissenschaft und Politik vor allem als Emissionsproblem konstruiert, dem mit Emissionsreduktionen (Mitigation) beizukommen sei. In der Klimarahmenkonvention von 1992 wurde daher eine Stabilisierung der Treibhausgaskonzentration in der Atmosphäre auf einem Niveau vereinbart, das gefährliche Klimaveränderungen ausschließt (Artikel 2), ohne jedoch zu konkretisieren, was für ein Niveau dies sein könnte.

Im Bericht des Klimarates (Intergovernmental Panel on Climate Change, IPCC) von 2001 wurde erstmals anerkannt, dass ein gewisses Maß an globaler Erwärmung nicht mehr zu verhindern sei und dass daher Maßnahmen zur Anpassung an den unvermeidbaren Klimawandel in Vorbereitung gebracht werden sollten (Adaptation). Obwohl es den Industrieländern tatsächlich gelungen ist, ihre Emissionen auf dem Niveau von 1990 zu stabilisieren (erstmals in 2008; siehe IEA 2010, S.7), steigen die globalen Treibhausgasemissionen ungebrochen an. Die Selbstverpflichtungen der Industrie- und Schwellenländer werden mit etwa 50%iger Wahrscheinlichkeit zu einem Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur von mehr als drei Grad Celsius bis 2100 führen, mit geringerer Wahrscheinlichkeit kommt es sogar zu einer Erwärmung um fünf bis sieben Grad (Rogelj et al. 2010).

Trotz der zunehmend gesicherten und in IPCC-Berichten festgehaltenen wissenschaftlichen Erkenntnisse über den Klimawandel wurden (und werden) in einer Reihe von Ländern öffentlichkeitswirksam von Industrievertretern, aber auch von einer Minderheit von Wissenschaftlern, dessen wahrscheinliches Ausmaß und zu erwartende Wirkungen in Frage gestellt. In den USA wurde diese Sicht auf den Klimawandel unter Präsident George W. Bush Regierungspolitik.

Parallel, und teilweise in Reaktion auf diese Diskussion, entwickelten andere Wissenschaftler Szenarien zukünftiger Auswirkungen des Klimawandels, die zum Teil weit über den IPCC-Mainstream hinausgingen. Ein typisches Beispiel dafür sind die »tipping points«: Klimaforscher warnen, dass bei starkem Temperaturanstieg „Umkipppunkte“ erreicht werden können, an denen es zu plötzlichen, drastischen und irreversiblen Veränderungen im Klimasystem kommen könnte, wie z.B. dem Zusammenbruch des Golfstroms oder dem Absterben der Regenwälder. Die potentiell katastrophalen Folgen eines Temperaturanstiegs von mehr als zwei Grad bieten reichlich Stoff für eine Konstruktion des Klimawandels als Sicherheitsbedrohung.

In dieser Situation eines zunehmenden Auseinanderklaffens zwischen geringer politischer Bereitschaft in einigen Staaten, selbst die eher vorsichtigen Schlussfolgerungen des IPCC ernst zu nehmen, und einer zunehmend dramatischeren Beschreibung der Risiken des Klimawandels durch ausgewiesene Wissenschaftler kam es zu massiven Versuchen der »Versicherheitlichung« des Diskurses über den Klimawandel. Akteure waren neben Wissenschaftlern vor allem Vertreter aus Politik und Sicherheitsapparaten. Klimawandel wurde nun als das größte Sicherheitsproblem des 21. Jahrhunderts angesehen, zu dessen Vermeidung auch außergewöhnliche Maßnahmen zu ergreifen seien. Exemplarisch für diese Sicht etwa steht die Rede von US-Vizepräsident Al Gore bei der Verleihung des Friedensnobelpreises an ihn und das IPCC im Jahre 2007:

„Wir, die menschliche Gattung, sind mit einem planetarischen Notfall konfrontiert – einer Bedrohung des Überlebens unserer Zivilisation, die an unheilvollem und zerstörerischem Potential zunimmt […] Wir müssen rasch unsere Zivilisation mobilisieren, und zwar mit der Dringlichkeit und Entschlossenheit, die wir früher nur bei der Mobilisierung für einen Krieg aufgebracht haben.“

Zwei Elemente waren von besonderer Bedeutung für die Wirkmächtigkeit des »Versicherheitlichungs«-Diskurses. Zum einen beteiligten sich, wiederum insbesondere in den USA, eine größere Zahl hochrangiger ehemaliger und sogar einige aktive Militärs an diesem Diskurs. So wurden etwa in einem Bericht der CNA Corporation, die der US-amerikanischen Marine nahe steht, eine steigende Kriegsgefahr und Bedrohung der nationalen Sicherheit der USA durch den Klimawandel prognostiziert (CNA 2007). Damit stärkten diese Vertreter aus dem Sicherheitsapparat die Glaubwürdigkeit des Diskurses über Klimawandel als Sicherheitsproblem.

Zum anderen wurde von den Protagonisten der »Versicherheitlichung« das in der Umweltpolitik bewährte Vorsorge-Prinzip in den Vordergrund gerückt: Wenn massive Folgen für Frieden und Sicherheit nicht auszuschließen seien, müsse Politik darauf ausgerichtet sein, dafür Sorge zu tragen, dass diese Folgen gar nicht erst auftreten könnten. Denn auch Militärs sind grundsätzlich Vertreter eines Vorsorgeprinzips, und zwar in der Form des »worst case«-Denkens, nach dem Planung sich an der schlechtesten aller Möglichkeiten auszurichten hat.

Protagonisten des Klima-Sicherheitsdiskurses argumentierten zweigleisig: Zum einen verlangten sie, dass die Politik alles in ihrer Möglichkeit stehende tun solle, um das Zwei-Grad-Ziel zu erreichen. Andererseits argumentierten sie, dass die Politik sich auf eine drei bis vier oder gar fünf bis sieben Grad wärmere Welt einstellen und dafür politisch planen müsse. Beispiele für geforderte Maßnahmen sind ein umfassendes Monitoring möglicher Tipping Points im Klimasystem und Pläne für Geo-Engineering als »crash mitigation« (Mabey et al. 2011).

Beispiel Migration

Eine zentrale Figur des Klima-Sicherheits-Diskurses ist der »Klimaflüchtling« bzw. der »klimawandel-induzierte Migrant«. Im Angesicht des unvermeidbaren Klimawandels drohen angeblich „Millionen von Klimaflüchtlingen“ die Industrieländer zu „überfluten“ (Kolmanskoog 2008). Dies könnte schlimmstenfalls zu Konflikten zwischen den Migranten und der aufnehmenden Gemeinschaft führen oder gar zu »Klimakriegen«. Schon Anfang der 1990er Jahre warnten Autoren wie Thomas Homer-Dixon (1994) vor Millionen von Umweltflüchtlingen, die als Folge der Degradierung und daraus resultierenden Verknappung von natürlichen Ressourcen auftreten könnten.

Eine im politischen Diskurs weit verbreitete Schätzung mit einer Zahl von 250 Millionen Menschen, die bis 2050 allein vom Klimawandel vertrieben werden könnten, stammt von Norman Myers (Myers/Kent 1995; Christian Aid 2007). Die der Schätzung zugrunde liegende Methodik ist jedoch zu Recht in die Kritik geraten. Zum einen wird dabei vor allem die Umweltveränderung selbst als Auslöser der Flucht in den Blick genommen, während die in der komplexen sozialen, politischen und ökonomischen Ausgangssituation liegenden Fluchtursachen nur unzureichend berücksichtigt werden. Zum zweiten beruhen ihre Zahlenschätzungen auf recht kruden Extrapolationen. Inzwischen gelten daher die viel zitierten Zahlen von Myers und Kent als wissenschaftlich nicht haltbar (Jakobeit/Methmann 2012).

Noch gewichtiger: Wurde in früheren wissenschaftlichen Arbeiten klimabedingte Migration als Bedrohung der Sicherheit betrachtet, da sie zu Konflikten zwischen den Migranten und der aufnehmenden Gemeinschaft führen könnte, wird Migration heute in der Forschung auch als Chance für die Betroffenen gesehen. Die Forschung zu Migration betont seit langem, dass Mobilität eine wichtige Anpassungsmaßnahme an veränderte Umweltbedingungen darstellt, dies gilt auch für den Klimawandel (Foresight 2011).

Aber trotz fehlender wissenschaftlicher Grundlagen wird in vielen politischen Dokumenten davon ausgegangen, dass der Klimawandel zu einem Anstieg der Migrationsbewegungen führen wird. So hält der Bericht des UN-Generalsekretärs über »Climate Change and its Possible Security Implications«von 2009 fest: „Es wird erwartet, dass das Ausmaß von Migration und Vertreibung sowohl innerhalb eines Landes als auch grenzüberschreitend durch den Klimawandel ansteigen wird, ebenso wie der Anteil der als »unfreiwillig« anzusehenden Bevölkerungsbewegungen.“ (UNGA 2009, S.15) Im Jahr 2009 – im Vorfeld der Klimakonferenz von Kopenhagen – setzte Bangladesch das Thema Klimaflucht auf die politische Agenda der internationalen Klimaverhandlungen. Das in Cancún 2010 verabschiedete »Adaptation Framework« erkennt erstmals politischen Handlungsbedarf im Feld der klimabedingten Migration, bleibt aber vage und unverbindlich, und der darauf bezogene Paragraph 14(f) der Cancún-Beschlüsse wurde bislang nicht mit Leben gefüllt. Langfristig allerdings könnte er dazu führen, dass für die Anpassung an den Klimawandel vorgesehene Gelder beispielsweise für geplante Umsiedlungen verwendet werden.

Aufwind für die Katastrophenvorsorge

In der Entwicklungszusammenarbeit hat der Klima-Sicherheitsdiskurs dazu geführt, dass der Klimawandel als zentrales Hindernis für menschliche Entwicklung betrachtet wird (Methmann 2011). Sowohl der World Development Report der Weltbank von 2010 als auch der Human Development Report 2007/2008 des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP) waren dem Klimawandel gewidmet. Das UNDP argumentiert in seinem Bericht: „Der Klimawandel ist das zentrale Thema unserer Generation in Bezug auf menschliche Entwicklung […] Der Klimawandel droht menschliche Freiheiten zu untergraben und Wahlmöglichkeiten einzuschränken.“ (UNDP 2007, S.1) Die Weltbank beklagt: „Für diese [Entwicklungs-] Länder droht der Klimawandel die Verwundbarkeit zu erhöhen, schwer erkämpften Fortschritt zunichte zu machen und die Aussicht auf Entwicklung in erheblichem Maße zu untergraben.“ (The World Bank 2010, S. iii) Diese »Klimatisierung« des entwicklungspolitischen Diskurses hat eine neue Form des Risikomanagements durch Kontingenz hervorgebracht (Oels 2011). Anstelle von technischen Anpassungsmaßnahmen an den Klimawandel treten nun vermehrt Maßnahmen, die die allgemeine Resilienz gegenüber Klimavariabilität erhöhen. Unter Resilienz wird „die Fähigkeit eines Systems und seiner Bestandteile, die Auswirkungen eines gefährlichen Ereignisses zeitnah und effizient zu antizipieren, zu absorbieren, aufzunehmen oder sich davon wieder zu erholen“ verstanden (IPCC 2012, S.3). Die Betroffenen werden aufgefordert, ihre eigene Vulnerabilität zu reduzieren, indem sie in partizipativen Prozessen „flexible, resiliente Gemeinschaften“ bilden (World Bank 2010, S.88).

Der Klima-Sicherheitsdiskurs hat vor allem dem Feld des Katastrophenschutzes neue Aufmerksamkeit eingebracht. Auf Initiative der norwegischen Regierung und der Internationalen Strategie für Katastrophenfürsorge der Vereinten Nationen (UNISDR) hat der Klimarat im März 2012 das Sondergutachten »Managing the Risks of Extreme Events and Disasters to Advance Climate Change Adaptation« vorgelegt. In der Zusammenfassung für politische Entscheidungsträger beklagt der Klimarat, dass die „internationale Finanzausstattung für Katastrophenschutz relativ gering ausfällt im Vergleich zur Höhe der Ausgaben für internationale humanitäre Einsätze“ (IPCC 2012, S.15). Der Klimarat empfiehlt so genannte »low regrets options«, die nicht nur dem Katastrophenschutz dienen, sondern zugleich Armut abbauen, eine nachhaltige Entwicklung befördern, und Resilienz gegenüber allen möglichen Arten von Katastrophen herstellen. Allerdings sieht der Klimarat auch Grenzen der Anpassungsfähigkeit, wo Tipping Points erreicht werden (IPCC 2012, S.18). Wegen der großen Unsicherheiten darüber, welcher Art die zukünftigen Katastrophen sein könnten, empfiehlt der Klimarat einen sich wiederholenden Prozess des Risikomanagements (IPCC 2012, S.15). Der Klimarat hebt auch die Bedeutung der Entwicklungszusammenarbeit für Investitionen in den Katastrophenschutz hervor (IPCC 2012, S.8).

Sicherheitsakteure und der Klimasicherheitsdiskurs

In den Jahren 2007 und 2011 war der Klimawandel auch auf der Agenda des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen. 2011 wurde auf Drängen Deutschlands eine Erklärung des Sicherheitsrat-Präsidenten verabschiedet, in der der Klimawandel erstmals als Sicherheitsbedrohung anerkannt wird, insbesondere für die Existenz der kleinen Inselstaaten, aber auch was die Ernährungssicherheit angeht (UNSC 2011). Damit war der Klimawandel im Herzen des Sicherheitsestablishments angekommen.

Schon vorher wurde in Sicherheitsapparaten über Klimawandel nachgedacht. An erster Stelle stehen dabei die USA seit dem Wechsel zur Regierung Obama. Größere zweistellige Millionenbeträge sind in den USA in den letzten Jahren für die Forschung über die Folgen des Klimawandels zur Verfügung gestellt werden. Dieser intensiven Forschungstätigkeit steht ein vergleichsweise geringeres Maß an konkreten Aktionen und Planungen gegenüber. Der Bereich, in dem sich in den US-Streitkräften am meisten tut, ist die Einsparung von Treibhausgasen. Alle Teilstreitkräfte haben inzwischen konkrete Pläne für die Reduktion von Treibhausgasen durch Einführung energiesparender und –effizienter Technologien. Biokraftstoffe werden in großem Maßstab getestet, selbst für Kriegsschiffe und Kampfflugzeuge. Allerdings hat der Klimawandel als Begründungsmuster für diese Aktivitäten an Bedeutung verloren. Wichtiger sind gegenwärtig zwei andere Argumente. Zum einen fallen in Afghanistan in keinem Bereich so viele amerikanische Soldaten wie bei der Treibstofflogistik. Gerade Feldkommandeure drängen deshalb auf die Einführung energieeffizienterer Fahrzeuge. Zum anderen ist Energiesicherheit zu einem großen Thema der US-amerikanischen Streitkräfte geworden. Die Einsparung von Treibstoffen gilt als wichtiger Pfad für eine Verminderung der Abhängigkeit von ausländischen Ressourcen, nicht zuletzt der Streitkräfte selbst (Brzoska 2012a).

Auch in den Sicherheitsapparaten vieler anderer Staaten werden die möglichen Folgen des Klimawandels diskutiert. Das lässt sich etwa daran belegen, dass der Klimawandel in der weit überwiegenden Zahl der in den letzten Jahren veröffentlichten staatlichen Dokumente zu nationalen Sicherheitsstrategien und Verteidigungsplanung Erwähnung findet (Brzoska 2012b).

Dabei wird aber auch deutlich, dass das Verständnis über die Sicherheitsprobleme, die durch den Klimawandel hervorgerufen werden können, sehr unterschiedlich ist. Grob lassen sich drei Konzepte unterscheiden.

Im ersten wird Klimawandel vor allem als Problem »menschlicher Sicherheit« gemessen, als zusätzliche Belastung von Menschen und Gemeinschaften in bereits jetzt sehr schwierigen wirtschaftlichen Situationen. In Staaten, die von diesem Konzept ausgehen, werden in den genannten Dokumenten nur in einem Bereich neue Aufgaben für Streitkräfte gesehen: dem Katastrophenschutz.

Im zweiten Konzept wird davon ausgegangen, dass neben diesem Risiko in Zukunft noch ein zweites von Bedeutung sein wird: eine zunehmende Zahl von bewaffneten Konflikten in vom Klimawandel besonders betroffenen Regionen. Konflikte werden vor allem über knapper werdende Ressourcen wie Wasser und Land erwartet. Für die Streitkräfte der betroffenen Länder ergeben sich daraus unmittelbar gute Begründungen für eine Aufstockung ihrer Fähigkeiten, aber auch in einigen weiter entfernten Ländern werden hier zukünftige Aufgaben etwa im Bereich der militärischen Interventionen gesehen. Die Zahl der Staaten, in denen diese Argumentation auf offizieller Ebene vorgetragen wird, ist allerdings gering, neben den USA ist hier etwa Großbritannien zu nennen.

Schließlich gibt es noch einige Staaten, in denen Klimawandel in offiziellen Dokumenten als tatsächliche oder potentielle Bedrohung der nationalen Sicherheit bezeichnet wird. Dazu gehören vor allem kleine Inselstaaten, aber auch Bangladesh, also Länder, in denen der Verlust großer produktiver Landgebiete bis hin zum Verlust der Existenz droht. Darüber hinaus sind es vor allem die USA, in denen die Verbindung zwischen Klimawandel und nationaler Sicherheit gezogen wird – gegenwärtig, wie bereits beschrieben aber nur als potentielle Risiken, die weiterer genauerer Untersuchung bedürften.

Fazit

Die Konstruktion des Klimawandels als Sicherheitsbedrohung erfolgte zu einem Zeitpunkt, an dem der klimaskeptische Diskurs die Politik der USA lähmte und damit Fortschritte in der internationalen Klimapolitik verhinderte. Es bildete sich eine ungewöhnliche Allianz aus Umweltschützern und Militärs, die vor den Sicherheitsrisiken des Klimawandels warnten. Insbesondere wurde dabei das Risiko von Millionen von Klimaflüchtlingen und damit einhergehenden bewaffneten Konflikten beschworen.

Wie wir gezeigt haben, sind zumindest die Schätzungen der Zahl möglicher Klimaflüchtlinge wissenschaftlich nicht haltbar. Darüber hinaus sehen neuere Studien Migration als eine Erfolg versprechende Anpassungsstrategie an die Folgen des Klimawandels. In der Entwicklungspolitik sind neben Anpassungsprojekten vor allem Maßnahmen der Katastrophenvorsorge im Aufwind, weil auf diese Weise die Resilienz gefährdeter Regionen gegenüber den Klimafolgen hergestellt werden soll.

Im Sicherheitssektor konnten wir zeigen, dass der Klimawandel sich in die meisten nationalen Sicherheitsstrategien eingenistet hat, jedoch meist als Problem menschlicher oder internationaler Sicherheit, nur in einigen Staaten als Problem nationaler Sicherheit. Selbst in diesen wird der Einsatz traditioneller Instrumente der Sicherheitspolitik, wie militärische Interventionen in Krisengebieten, zwar diskutiert, aber konkrete Planungen sind bisher ausgeblieben.

Wie wir gezeigt haben, hat die Konstruktion des Klimawandels als Sicherheitsbedrohung die politische Aufmerksamkeit auf die Mitigation der Sicherheitsrisiken verschoben – auf Kosten der Mitigation der Ursachen. Dabei droht aus dem Blick zu geraten, dass jede Investition in Emissionsreduktionen sich vielfach auszahlt und die Sicherheitsrisiken deutlich reduzieren könnte.

Literatur

Brzoska, M. (2012a): Climate change as a driver of security policy. In: Jürgen Scheffran, Michael Brzoska, Hans Günter Brauch, Peter Michael Link, Janpeter Schilling (eds.): Climate Change, Human Security and Violent Conflict – Challenges for Societal Stability. Heidelberg: Springer.

Brzoska, M. (2012b): Climate Change and the military in China, Russia, the United Kingdom and the United States. Bulletin of the Atomic Scientists (68) 2, S.43-54.

Christian Aid (2007): Human Tide: The Real Migration Crisis. London: Christian Aid.

CNA Corporation (2007): National Security and the Threat of Climate Change. Alexandria, VA.: CNA Corporation.

Foresight (2011): Migration and Global Environmental Change: Future Challenges and Opportunities. Executive Summary. London: Foresight Programme, UK Government Office for Science.

Gore, Al (2007): Nobel Lecture. 10 December 2007. Oslo: Nobel Media; nobelprize.org.

Homer-Dixon, T. (1994): Environmental scarcities and violent conflict: evidence from cases. International Security 19 (1), S.5-40.

Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) (2012): Managing the Risks of Extreme Events and Disasters to Advance Climate Change Adaptation (SREX). Geneva: IPCC Secretariat.

Jakobeit, C. and Methmann, C. (2012): »Klimaflüchtlinge« als drohende Katastrophe? Eine Kritik herrschender Zahlenspiele. In: Brzoska, M.; Kalinowski, M.; Matthies, V. und Meyer, B. (Hrsg.): Klimawandel und Konflikte: Versicherheitlichung versus präventive Friedenspolitik? Baden-Baden: Nomos, S.157-172.

Kolmannskoog, V. O. (2008): Future floods of refugees: A comment on climate change, conflict and forced migration. Oslo: Norwegian Refugee Council.

Mabey, N., Gulledge, J., Finel, B. and Silverthorne, K. (2011): Degrees of Risk: Defining a risk management framework for climate security. London: Third Generation Environmentalism Inc. (E3).

Methmann, C. P. (2011): A New Climate for Development: From governing global warming to governing through global warming. Conference paper presented to a workshop at Lund University entitled »Governing the Global Climate Polity: Rationality, Practice and Power«, June 19-21, 2011.

Myers, Norman and Kent, Jennifer (1995): Environmental Exodus. An Emergent Crisis in the Global Arena. Washington: Climate Institute.

Oels, A.(2011): Rendering Climate Change Governable by Risk: From probability to contingency. GEOFORUM, themed issue on »Natures of Risk«, forthcoming

Rogelj, J., Nabel, J., Chen, C., Hare, W., Markmann, K., Meinshausen, M., Schaeffer, M., Macey, K. and Höhne, N. (2010): Copenhagen Accord pledges are paltry. Nature 464, S.26-1128.

United Nations Development Programme (2008): Human Development Report 2007/2008. Fighting Climate Change: Human Solidarity in a Divided World. New York: United Nations.

United Nations General Assembly (UNGA) (2009): Climate change and its possible security implications. Report of the Secretary-General. A/64/350. New York: United Nations.

United Nations Security Council (UNSC) (2011): Minutes 6587th meeting, Wednesday, 20 July 2011, S/PV.6587 (Resumption 1). New York: United Nations.

World Bank (2010): Development and Climate Change. World Development Report 2010. Washington: World Bank.

Dr. Angela Oels hat von 2009-2012 im Rahmen des Klimaexzellenzclusters CLISAP der Universität Hamburg ein Forschungsprojekt über die diskursive Konstruktion des Klimawandels als Sicherheitsbedrohung durchgeführt und vertritt derzeit die Juniorprofessur Global Governance am Institut für Politikwissenschaft der Universität Hamburg. Michael Brzoska ist wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg und Professor an der Universität Hamburg sowie Principal Investigator am Klimaexzellenzcluster CLISAP, in dessem Rahmen er sich mit der Wahrnehmung des Klimawandels durch Akteure des Sicherheitssektors beschäftigt.

Eine unbequeme Vagheit

Eine unbequeme Vagheit

UN-Studie zu Klimawandel und Migration

von Marie Mualem Sultan

Fragen nach den Sicherheitsimplikationen des anthropogenen Klimawandels bilden ein Querschnittthema der internationalen Umweltpolitik. Im Mittelpunkt stehen mögliche Zusammenhänge von Flucht, Migration und Gewaltkonflikten. Gerade weil diese Debatte ebenso brisant wie berechtigt ist, verbietet sich jede oberflächliche Zuspitzung in quantitativen Szenarien oder monokausalen Argumentationen, die lineare Ursache-Wirkungs-Muster nahe legen. Der nachstehende Beitrag zeigt, dass ausgerechnet das Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP) für einen solchen Umgang mit dem Problemkomplex kritisiert werden muss.

Die unter Federführung des UNEP durchgeführte und 2011 auf der internationalen Klimakonferenz in Durban präsentierte Studie » Livelihood Security. Climate Change, Migration and Conflict in the Sahel« über die Beziehung zwischen Klimawandel, bedrohten Lebensgrundlagen, Migration und Konflikten in der Sahelzone (UNEP 2011) ist methodisch völlig unzureichend. Als besonders schwerwiegend erweist sich die weitreichende Abstraktion von jeder sozioökonomischen, politischen und kulturellen Heterogenität im Untersuchungsgebiet. Unter dem Primat der Klimavariabilität lenken die politischen Handlungsempfehlungen dadurch von der Problematik globaler Macht-Asymmetrien und neokolonialer Ressourcenallokation ab. Mit anderen Worten: Die Sahel-Studie schüttet das Kind mit dem Bade aus.

Um diese Kritik zu fundieren, gliedert sich der Artikel wie folgt: Der erste Teil stellt Methode und Inhalt der Sahel-Studie vor. Der zweite Teil problematisiert argumentative Schwachstellen und die Rhetorik der Studie im Hinblick auf die darin enthaltenen Weltbilder. Ein Exkurs über den strategischen Einsatz von Mythen leitet über zu den abschließenden Diskussionsthesen hinsichtlich der Leerstellen der UN-Studie.

Inhalt und Methode der Sahel-Studie

Die Untersuchung versteht sich als Beitrag zur Grundlagenforschung über die durch den Klimawandel verursachten Gefährdungen und Bewältigungsstrategien von „auf natürliche Ressourcen angewiesenen“ (UNEP 2011, S.13) Subsistenzgemeinschaften und Kleinbauern in 17 westafrikanischen Subsahara-Staaten. Den regionalen Fokus begründet die Studie mit den Prognosen des Weltklimarats (IPCC). Demnach werden die Staaten der Sahelzone besonders von den negativen Umweltveränderungen durch den Klimawandel betroffen sein (ebd. S.4). Außerdem sei die Region seit Jahrzehnten mit kumulativen Herausforderungen konfrontiert, zuvorderst ein „beträchtliches Bevölkerungswachstum (im Durchschnitt drei Prozent jährlich)“ (ebd. S.5), wobei 80 Prozent der Bevölkerung „für ihre Existenzsicherung direkt auf natürliche Ressourcen angewiesen“ (ebd. S.5) seien. Auf der Grundlage des Bruttoinlandsprodukts pro Kopf konstatiert die Sahel-Studie außerdem „strukturelle Armut“ (ebd. S.17). Hinzu kommen „Ernährungsunsicherheit und chronische Instabilität“ (ebd. S.7). Die Ergebnisse der Studie sollen probate Handlungsempfehlungen liefern für „gegenüber Konflikt und Migration sensibilisierte Anpassungsprogramme, Investitionen und politische Maßnahmen in der Region“ (ebd. S.13).

Zu diesem Zweck wurde eine historische Trendanalyse (1970-2006/2009) zur Klimavariabilität beim Zentrum für Geoinformatik der Universität Salzburg (Z_GIS) in Auftrag gegeben. In einer digitalen Kartographie wurden hierbei 19 regionale Brennpunkte (hotspots) erhöhter Klimavariabilität identifiziert. Die Z-GIS-Analyse berücksichtigte vier Indikatoren: Niederschlag und Temperatur sowie das Auftreten von Dürren und Überschwemmungen. Zusätzlich wurden Hochrechnungen über den Anstieg des Meeresspiegels berücksichtigt. Um die „Beziehung zwischen Klimawandel, Migration und Konflikt“ (ebd. S.13) zu untersuchen, wurde jede Karte mit zwei „zusätzlichen Ebenen“ (ebd.) versehen, die für denselben Zeitraum analoge Daten und Koordinaten zur Bevölkerungsentwicklung und zum Auftreten von Konflikten liefern sollen.

Die Brennpunkte befinden sich demnach in Mauretanien, Niger, Burkina Faso, Ghana, Togo, Benin, Nigeria und Tschad (ebd. S.52). Hinsichtlich der Daten zu Bevölkerungsentwicklung und Konfliktkonstellationen stellt die Studie fest: „In zahlreichen Gebieten, die als hotspots identifiziert wurden, ist die Bevölkerung gewachsen […]. Die Daten über Konflikte zeigen, dass Regionen mit umfangreichem Konfliktgeschehen, insbesondere Tschad und Niger, von klimatischen Veränderungen betroffen sind“ (ebd. S.53). Auf die quantitative Analyse folgt eine kurze Auseinandersetzung mit dem Forschungsstand über klimabezogene Konflikte und Migrationsmuster in der Sahelzone, wobei die positiven und negativen Effekte von Migration vor dem Hintergrund ihrer mutmaßlichen Bedeutung für die politische Stabilität und die wirtschaftliche Entwicklung abgewogen werden (ebd. S.54-64).

Die Sahel-Studie betont auf dieser Basis einerseits den weiteren Forschungsbedarf und andererseits die Validität ihrer Ausgangshypothesen. In der »Executive Summary« übernimmt die Studie das Bild von der Sahelzone als „ground zero“ (ebd. S.7) des Klimawandels. Es wird nachdrücklich für Investitionen in die Modernisierung und wirtschaftliche Entwicklung der Region geworben. Es gelte Arbeitsplätze zu schaffen und die Umgestaltung nach dem Vorbild einer „green economy“ (ebd. S.74) voranzutreiben. Unabhängig vom Inhalt stellt sich hier aber die Frage: Genügt der Schlüsselindikator Klimavariabilität überhaupt zur Beurteilung der Handlungserfordernisse in einer geographisch wie kulturell und sozioökonomisch extrem heterogenen Region aus 17 souveränen Staaten mit einer Gesamtfläche von 7,4 Millionen Quadratkilometern? Zum Vergleich: Die Gesamtfläche der 27 Staaten in der Europäischen Union beträgt 4,3 Millionen Quadratkilometer.

Jedenfalls bleibt die Auszeichnung als wissenschaftliche Studie in den Reaktionen auf die Veröffentlichung der Sahel-Studie bis dato unwidersprochen. Erstaunlich sind dabei Beurteilungen wie in dieser Titelzeile einer Meldung der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen (DGVN): „UN-Studie belegt den Zusammenhang von Klimawandel, bedrohten Lebensgrundlagen und Migration“ (Kürschner-Pelkmann 2011). Diese Einschätzung übersteigt selbst die in der Sahel-Studie angegebene Zielsetzung. Solche Diskrepanzen sind unter anderem deshalb möglich, weil die normativen Grundlagen, auf denen die Studie aufbaut, eine große Wirkungsmacht und Eigendynamik zu entfalten vermögen. Sobald diese Denkmaßstäbe umgekehrt kritisch analysiert werden, verschwindet der Neuigkeitswert der Sahel-Studie in einem wahrheitsfunktionalen Zirkelschluss. Prämissen und Konklusion stehen dann nicht in einem Verhältnis zueinander, sondern sind identisch. Anders ausgedrückt: Wer das Weltbild der Studie schlüssig findet, beurteilt auch die Argumentation als schlüssig. Wer aber Nachfragen zur Auswahl der Prämissen hat, findet erst gar keine Argumentation. Eine wichtige Variable zum Verständnis dieses Weltbildes ist eine Auffassung, nach der naturwissenschaftliche Messmethoden objektive Wahrheitsinstanzen darstellen.

Denksysteme und Mythen

Offenbar wird noch immer unterschätzt, wie subjektiv Zahlen sein können. Oder konkret in Bezug auf die Sahel-Studie: Die Erfolgsbedingung einer Manipulation durch Karten ist die Vernachlässigung der Tatsache, dass geographische Repräsentationen immer auch Machtverhältnisse und Deutungshoheiten widerspiegeln. Die »pars pro toto«-Idee von der Verlässlichkeit und Objektivität allgemeiner Gesetzmäßigkeiten unterminiert auch die als Ergänzung zum quantitativen Messverfahren gedachte Auseinandersetzung der Sahel-Studie mit dem Forschungsstand. Nach einer induktiven Wahrscheinlichkeitslogik werden hier Überlegungen zur »push/pull«-Dynamik angestellt. Die Kernfrage lautet: Wie lässt sich der Einfluss physisch-materieller Umweltfaktoren auf das menschliche Verhalten gegenüber soziokulturellen Aspekten vergleichend gewichten? Der Gedankengang ist nachvollziehbar. Dennoch beruht die Untersuchung unverändert auf dem Alleinstellungsmerkmal Klimavariabilität. Soziokulturelle Kontexte bilden entgegen dem Anschein keinen Bestandteil der Argumentation.

Dass die acht sowohl thematisch als auch im Hinblick auf ihren Informationsgehalt heterogenen lokalen „Fallbeispiele“ in kurzen Textboxen stehen, unterstreicht unfreiwillig die Schwierigkeit, sie in einen sinnvollen Bezug zum Fließtext oder zu den GIS-Karten zu stellen. Letztlich bleibt die deterministische Rhetorik das einzige konsequente Motiv der Sahel-Studie. Dessen sind sich die Urheber bewusst. Aus diesem Grund wird der Duktus der Studie hin und wieder wie folgt relativiert: „Es soll in keiner Weise behauptet werden, der Klimawandel wirke als einziger oder isolierter Faktor auf Migration und Konflikt. Ebenso wenig besteht die Absicht darin, einen direkten Kausalzusammenhang zwischen diesen drei Problemen aufzuzeigen. Klimawandel, Migration und Konflikt sind vielmehr über komplexe Einflussfaktoren miteinander verkettet, zum Beispiel ökonomische, soziale und politische Aspekte“ (ebd. S.8). Leider legen solche Versicherungen indirekt nahe, die reduktionistische Herangehensweise sei irgendwo doch legitim. Die Botschaft lautet schließlich überspitzt formuliert: Das Untersuchungsdesign ist nicht so gemeint, wie es wirkt und daher auch nicht so unverhältnismäßig, wie es scheint.

Diese Irritation lenkt die Aufmerksamkeit auf den strategischen Einsatz von Mythen. Wichtig ist die Vorbemerkung, dass der Begriff Mythos in der hier intendierten wissenschaftstheoretischen Verwendung keine Aussage zum Wahrheitswert beinhaltet. Im Mittelpunkt steht die Funktion von Mythen, die zunächst allgemein Sinn stiftende Integrationselemente von Gesellschaften darstellen. Das entscheidende Merkmal des Mythos ist aber in der Tat eine axiomatische Anziehungskraft, die ihn anfällig für ideologischen Missbrauch macht und gleichzeitig zuverlässig gegen rationale Argumente imprägniert. Mythen können Diskurse vollständig und dabei unbemerkt einnehmen – sie werden zu unhinterfragten und wirkungsmächtigen Autoritäten. In diesem Sinne erscheint auch das in der Sahel-Studie transportierte bipolare Weltbild beinahe mythisch: Auf der einen Seite die »modernen Industrienationen« und im krassen Gegensatz dazu ein ebenso einheitlich gedachter Block »vormoderner Entwicklungsländer«. Diese Fiktion trägt erheblich dazu bei, dass der Studie ein Erkenntniswert zugebilligt wird, obwohl die multidimensionalen soziokulturellen, politischen und ökonomischen Kontexte im Untersuchungsgebiet nicht berücksichtigt wurden.

Dieser binäre Unterton, nach dem die westliche Sahelzone weitgehend als geographische Entität erscheint, kann unter den Bedingungen einer staatszentrierten internationalen Politik überdies als Provokation gewertet werden. Das dürfte der Grund sein, warum sich Herausgeber und Trägerorganisationen im Impressum von jeder Lesart distanzieren, die die territoriale Integrität der Einzelstaaten im Untersuchungsgebiet untergräbt – obwohl sie es de facto tut.

Abschließend soll jedoch ein im »klassischen« Sinne anerkannter Mythos aus der Sahel-Studie beleuchtet werden, und zwar die in neo-malthusianischer Manier als apokalyptische Bedrohung für jede staatliche Ordnung modellierte Sorge vor »Überbevölkerung«.

Was ist »Überbevölkerung«?

Es wurde gezeigt, dass die Sahel-Studie schon zur Begründung ihres konzeptionellen Rahmens auf ein problematisches Bevölkerungswachstum verweist. Der „demographische Druck“ (ebd. S.12) gilt als wichtiger nicht klimatischer Stressfaktor neben sozialen, politischen und ökonomischen Faktoren. Aber was ist demographischer Druck jenseits dieser Kenngrößen? Besitzt der Begriff als absolute Größe überhaupt eine Substanz, die der Analyse zugänglich wäre? Wie viele Menschen sind zuviel? Wer ist in der Lage das zu entscheiden? Und was wären valide Bezugsgrößen eines relativen demographischen Drucks? Geht es um die Gesamtfläche des fruchtbaren Ackerlands, um die Auslastung des Arbeitsmarktes oder vielleicht um eine bestimmte Bevölkerungsstruktur (z.B. »youth bulge« oder Überalterung)? Die Begründungen in der Sahel-Studie sind unzureichend und bleiben es auch unter Zuhilfenahme der zitierten Quellen. Der Wirtschaftswissenschaftler Kiros Abeselom untersuchte 1995 in einem anderen Kontext die strategische Funktion vom »Mythos der Überbevölkerung« in der internationalen Entwicklungspolitik und kommt zu dem Schluss, dass es sich um ein „Mittel zur Wahrung der bestehenden gesellschaftlichen Strukturen“ handelt (Abeselom 1995). Leider legen die Leerstellen in der Sahel-Studie eine ähnliche Funktion nahe.

Ist der Klimawandel das einzige Problem?

Die Sahel-Studie zeigt, wie wichtig eine Neugewichtung der Debatte ist, die die Gefahr geopolitischer und imperialer Machtstrategien mitdenkt. Nicht nur in der Sahel-Studie bildet der Klimawandel die einzige öffentlichkeitswirksam präsentierte globale Variable. Macht-Asymmetrien in der neoliberalen Globalisierung finden in der hegemonialen Debatte zu wenig Beachtung, obwohl entwicklungspolitische Fragestellungen jenseits von diesem Kontext nicht sinnvoll bearbeitet werden können (Delgado Wise et al. 2010). Simon Dalby verweist zu Recht auf die Pflicht, die selbstverständlichen Kategorien, Prämissen und Kosmologien in Diskursen zu hinterfragen (Dalby 2007). In der hegemonialen Debatte über Klimawandel, Migration und Konflikt besteht diesbezüglich ein immenser Nachholbedarf in Wissenschaft und Politik.

Besonders dringend erscheint die Auseinandersetzung mit neokolonialen Enteignungsprozessen, um hier abschließend lediglich ein Beispiel für die problematische Wirkung imperialer Strategien zu benennen. Dass dieser Punkt in der Sahel-Studie fehlt, ist völlig unverständlich, da offenbar jedes Land im Untersuchungsgebiet von ambivalenten Investitionen in seine Landwirtschaft betroffen ist und zahlreiche Widerstandsbewegungen und Organisationen auf die Problematik von »land grabbing« (Agrar-Kolonialismus) durch transnationale Unternehmen wie auch Staaten aufmerksam machen. „Unsichere Besitzverhältnisse“ (UNEP 2011, S.72) werden in der Sahel-Studie nur angedeutet und dabei als lokale Konflikte zwischen Viehhirten und Kleinbauern konzipiert. Dass ökologische Knappheit auch im Zusammenhang mit Addax Zuckerrohr-Biosprit, Michelins Kautschukplantagen oder für den Export produzierenden Reisplantagen im Niger-Delta entstehen könnte, bleibt ausgeblendet (Hoering 2007; GRAIN 2012). Dabei gehören Ernährungssicherheit und Ernährungssouveränität ebenso zusammen, wie das Recht auf Migration und das Recht auf Heimat.

Literatur

Abeselom, Kiros (1995): Der Mythos der Überbevölkerung als Mittel zur Wahrung der bestehenden gesellschaftlichen Strukturen. Die theoretischen Grundlagen der UNO-Bevölkerungspolitik: malthusianische und neo-malthusianische Wurzeln. Bonn: Pahl-Rugenstein.

Dalby, Simon (2007): Anthropocene Geopolitics: Globalisation, Empire, Environment and Critique. In: Geography Compass, 1. Jg., Heft 1, S.103-118.

Delgado Wise, Raúl et al. (2010): Reframing the debate on migration, development and human rights: fundamental elements. Red International de Migración y Desarrollo/ International Network on Migration and Development .

GRAIN (Hrsg.) (2012): The Great Food Robbery: How Corporations Control Food, Grab Land and Destroy the Climate. Cape Town: Pambazuka Press.

Hoering, Uwe (2007): Agrar-Kolonialismus in Afrika. Eine andere Landwirtschaft ist möglich. Hamburg: VSA-Verlag.

Kürschner-Pelkmann, Frank: Sahel-Zone: Flucht vor den Folgen des Klimawandels. UN-Studie belegt den Zusammenhang von Klimawandel, bedrohten Lebensgrundlagen und Migration. 2011. Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen (DGVN).

United Nations Environmental Programme (UNEP) (Hrsg.): Livelihood Security. Climate Change, Migration and Conflict in the Sahel. 2011.

Marie Mualem Sultan ist Politikwissenschaftlerin am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen (KWI) im Forschungsbereich Klimakultur. Im Rahmen ihrer Doktorarbeit an der Philipps-Universität Marburg untersucht sie Dispositive der Umweltmigrationsforschung aus sozial-ökologischer und wissenschaftstheoretischer Perspektive.

Klimapolitik und Versicherheitlichung

Klimapolitik und Versicherheitlichung

von Jörn Richert

Das Thema Klimasicherheit hat in den letzten Jahren stark an Bedeutung gewonnen, besonders in westlichen Industrieländern. Bedeutet dies eine Militarisierung der Klimapolitik? Der Artikel argumentiert, dass sei nicht der Fall, die Versicherheitlichung des Klimawandels müsse stattdessen im Kontext eines breiteren politischen Diskurses verstanden werden.

Vor 20 Jahren, auf dem Weltgipfel 1992 in Rio de Janeiro, wurde die Klimarahmenkonvention ins Leben gerufen. In Artikel 2 dieser Konvention wurde das Ziel definiert, „die Stabilisierung der Treibhausgaskonzentrationen in der Atmosphäre auf einem Niveau zu erreichen, auf dem eine gefährliche anthropogene Störung des Klimasystems verhindert wird“. Derselbe Artikel fordert weiter, dass die dafür notwendigen Bemühungen „innerhalb eines Zeitraums erreicht werden, der ausreicht, damit sich die Ökosysteme auf natürliche Weise den Klimaänderungen anpassen können, die Nahrungsmittelerzeugung nicht bedroht wird und die wirtschaftliche Entwicklung auf nachhaltige Weise fortgeführt werden kann“ (UNFCCC 1992, Artikel 2). Der Klimawandel wurde also vorwiegend als Umweltproblem und Entwicklungshemmnis betrachtet.

In den letzten Jahren hat sich die Wahrnehmung des Klimawandels jedoch stark geändert. Immer häufiger ist vom »Sicherheitsrisiko Klimawandel« die Rede. Treibende Kraft bei dieser Versicherheitlichung, das heißt der Konstruktion des Klimawandels als Sicherheitsbedrohung, war Großbritannien. Dort errechnete der Ökonom Nicholas Stern 2006 für die britische Regierung, dass ein ungebremster Klimawandel in Zukunft einen jährlichen Schaden von 5-20% der globalen Wirtschaftsleistung anrichten würde (Stern 2006). Im Oktober desselben Jahres bezeichnete die damalige britische Außenministerin Margaret Beckett die Klimasicherheit als eine der höchsten europäischen Prioritäten. Anfang 2007 gelang es den Briten, das Thema Klimasicherheit auf die Agenda des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen zu setzen. Auch außerhalb Großbritanniens erschienen 2007 Studien wie der Bericht »National Security and the Threat of Climate Change« (CNA 2007), in dem eine Reihe ehemaliger US-Generäle den Klimawandel als »Bedrohungsmultiplikator« bezeichneten, und das ausführliche Gutachten »Sicherheitsrisiko Klimawandel« des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU 2007).

Eines ist all diesen Berichten gemein: Sie entstanden in westlichen Industriestaaten. Bedeutet dies, dass sich diese Staaten vom Verständnis des Klimawandels als Entwicklungsthema verabschiedet haben? Setzen sie nun auf die Schließung der Grenzen und militärische Intervention und nicht mehr auf Treibhausgasreduktionen und die Unterstützung für stärker betroffene Entwicklungsländer? Dieser Artikel argumentiert, dass dies nicht der Fall ist. Er zeigt, wie die Versicherheitlichung des Klimawandels eher zu einer Erweiterung des Sicherheitsverständnisses, nicht aber zu einer Militarisierung der Klimapolitik geführt hat. Die Klimasicherheit wurde darüber hinaus zu einem wichtigen Argument für mehr Klimaschutz. Wie sich in der Zwischenzeit gezeigt hat, war dieser Impuls jedoch nicht stark genug, um die internationale Klimapolitik nachhaltig in erfolgreiche Bahnen zu lenken. Die Debatte um den Klimawandel hat sich seit den Jahren 2007 bis 2009 merklich abgekühlt. Der Artikel wirft abschließend einen Blick auf ein Jahr, in dem sich dies wieder ändern könnte: 2014.

Klimasicherheit als Herausforderung für die Sicherheitspolitik

Wie Michael Brzoska (2009) gezeigt hat, teilen viele der seit 2007 erschienenen Studien zur Klimasicherheit die generelle Bedrohungsdiagnose: Extremwetterereignisse werden noch extremer, Wasser und Nahrungsmittel werden knapper, die Weltwirtschaft leidet, und schwache Staaten sind besonders gefährdet. Hieraus könnten sich eine Reihe weiterer Herausforderungen entwickeln: Die Umweltmigration könnte zunehmen, der Terrorismus könnte von einer Ausweitung prekärer Lebensverhältnisse profitieren. Der Klimawandel wird daher als Bedrohungsmultiplikator bezeichnet. Brzoska stellt jedoch auch fest, dass die aus dieser Diagnose abgeleiteten Handlungsleitlinien stark voneinander abweichen. Wo der WBGU zur Energiewende aufruft und internationale Kooperation in den Vordergrund stellt, sorgen sich die erwähnten US-Generäle um das Fortbestehen wassernaher US-Militärstützpunkte. Die Lage ist also diffus, und es ist kein klarer Trend in Richtung einer rein militärpolitischen Behandlung des Themas Klimawandel zu erkennen. Dies spiegelt sich auch in den Initiativen wider, die auf beiden Seiten des Atlantiks auf den anfänglichen Bedrohungsdiskurs folgten.

In den Vereinigten Staaten spielte der Klimawandel in der sicherheitspolitischen Planung der Regierung Bush bis 2007 keine Rolle. Erst nach dem Aufkommen des Klimasicherheitsdiskurses beschloss der US-Kongress 2008, dass sich dies ändern sollte. Bereits in der nationalen Verteidigungsstrategie desselben Jahres wurde der Klimawandel als ein Bestandteil eines komplexen Herausforderungsgeflechts – weiterhin bestehend aus z.B. demographischen Trends, Ressourcenknappheit und wirtschaftlichen Kräfteverschiebungen – behandelt.

Der zwei Jahre später vom US-Verteidigungsministerium erstellte »Quadrennial Defense Review Report« (DoD 2010) ging anschließend konkreter auf das Thema ein. Er beschäftigte sich zuvorderst damit, wie der Klimawandel die Bedingungen zukünftiger Einsätze verändern könnte und weist auf Kooperationsinitiativen mit anderen Streitkräften hin, die das Verteidigungsministerium in Zusammenarbeit mit anderen US-Behörden etabliert habe, um ausländische Partner auf friedlichem Wege auf die Herausforderung Klimawandel einzustellen. Weiterhin wird eine genauere Untersuchung der Gefährdung von Einsatzfähigkeit und Militärbasen des US-Militärs gefordert. Auch hier hebt das Verteidigungsministerium die Bedeutung internationaler Anpassungsmaßnahmen hervor und betont die Möglichkeit von Projekten zur Förderung erneuerbarer Energien und der Energieeffizienz auf eigenen Basen. Hinsichtlich der Arktisfrage fordert es den Beitritt der USA zum Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen. Anstelle der Vorbereitung auf »Klimakriege« ist also eine eher reaktive und politisch differenzierte Position zu beobachten.

Auch die Europäische Union diskutierte das Thema Klimasicherheit ab 2007 verstärkt. Nach Aufforderung des Europäischen Rates legten Javier Solana, zu diesem Zeitpunkt Hoher Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, und die damalige Kommissarin für Außenbeziehungen, Benita Ferrero-Waldner, 2008 ein Papier vor, in dem sie die sicherheitspolitische Relevanz des Klimawandels unterstrichen. Auch Solana und Ferrero-Waldner griffen dabei auf den Begriff »Bedrohungsmultiplikator« zurück.

Noch stärker als in den USA wurde betont, dass die Bekämpfung des Klimawandels einen ganzheitlichen und vor allem globalen Politikansatz erfordert: Erstens sollen die Fähigkeiten verbessert werden, Desaster und Konflikte zu vermeiden und auf sie zu reagieren. Gefordert werden ein Ausbau von Forschungs-, Analyse- und Monitoring-Fähigkeiten, eine Verbesserung des Krisenmanagements und weitere regionalspezifische Studien zu den Auswirkungen des Klimawandels. Zweitens solle die EU ihre globale Führungsrolle in der Klimapolitik ausbauen und die internationale Debatte in den Bereichen Klimasicherheit, Umweltmigration sowie Monitoring und Vorbeugung vorantreiben. Drittens solle das Thema Klimasicherheit in den Beziehungen zu Drittstaaten und in Regionalstrategien mehr Bedeutung erlangen. Auch eine europäische Arktispolitik wurde angedacht. Wie schon in den USA wurde in Europa auf die Stärkung des UN-Seerechtsübereinkommens verwiesen.

Der Europäische Rat begrüßte den Bericht, und in der Folgezeit wurde eine Vielzahl von Einzelmaßnahmen in den genannten Bereichen durchgeführt (Rat 2009). Gemein ist den meisten dieser Maßnahmen, dass sie auf eine Stärkung des Dialogs über Klimasicherheit in bestehenden Kooperationen und auf eine stärkere Vernetzung von relevanten Institutionen und Akteuren, zum Beispiel der Vielzahl von UN-Institutionen, hinwirken.

Sowohl für die USA als auch für die EU gilt folgendes: Statt die Klimapolitik zu militarisieren, wurde das Sicherheitsverständnis ausgedehnt und entwicklungspolitischen Maßnahmen eine bedeutende Rolle zugesprochen. Zwar haben sowohl die USA als auch die EU das Thema ernsthaft als sicherheitspolitische Herausforderung diskutiert. Die daraus entstandenen Initiativen deuten jedoch keineswegs darauf hin, dass die klimapolitische Agenda nun verstärkt von Sicherheitsplanern und Militärs vereinnahmt würde. Eher scheint es diesen um die Sicherstellung der eigenen Handlungsfähigkeit und die diplomatische Unterstützung stärker betroffener Akteure zu gehen. Dabei sind auch kulturelle Unterschiede zu erkennen: In der EU spielen Entwicklungsaspekte eine bedeutende Rolle, in den USA sorgt man sich hingegen stärker um die Einsatzfähigkeit der eigenen Streitkräfte. Andererseits wird besonders in den Vereinigten Staaten erkannt, dass auch die Streitkräfte selbst zum Umwelt- und Klimaschutz beitragen können. Die Versicherheitlichung des Klimawandels – zumindest im traditionellen Sinne – ist also kaum zu belegen. Der nächste Abschnitt wird zeigen, dass Klimasicherheit vielmehr als klimapolitisches Argument anzusehen ist.

Klimasicherheit und Klimapolitik

Eine Großzahl von Studien zur Klimasicherheit erschien in den Jahren 2006 und besonders 2007. Dies bedeutet nicht, dass der Klimawandel in dieser Zeit plötzlich wesentlich gefährlicher geworden wäre. Das Klimasystem ist komplex und verändert sich, zumindest in den meisten Fällen, aus menschlicher Perspektive betrachtet sehr langsam. Was sich zwischen 2005 und 2007 änderte war also nicht so sehr das Klima an sich, sondern vielmehr die Wahrnehmung der potenziellen Folgen des Klimawandels. Die Gründe für diesen Wahrnehmungswandel sind nicht nur in der Natur, sondern vorwiegend im sozialen Raum zu suchen.

Zwei Tatsachen erklären dabei, warum es gerade 2007 zu einer Versicherheitlichung gekommen ist: Erstens war das Erscheinen vieler Studien zum Thema Klimawandel und Sicherheit auf die Veröffentlichung des vierten Sachstandsberichtes des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) abgestimmt. Erst in Kombination mit den aktuellen klimawissenschaftlichen Fakten dieses Berichtes erlangte der Klimasicherheitsdiskurs genügend Glaubwürdigkeit, um weitreichende Aufmerksamkeit zu erlangen. Zweitens war 2007 ein sehr bedeutendes Jahr für die Klimapolitik: Die Parteien der Klimarahmenkonvention trafen sich im Dezember auf Bali, um den Fortgang des internationalen Klimaschutzes nach dem Auslaufen des Kyoto-Protokolls 2012 zu diskutieren.

Besonders vor dem Hintergrund des zweiten Punkts wird die tatsächliche Bedeutung von Klimasicherheit klar: Großbritannien, Deutschland und die EU versuchten, sich 2007 als treibende Kraft in den internationalen Klimaverhandlungen zu etablieren. Die Versicherheitlichung des Klimawandels trug dabei sowohl innerhalb der EU als auch global dazu bei, der Klimapolitik zu neuem Schwung zu verhelfen (Geden 2011). Und auch in den USA spielte der Klimasicherheitsdiskurs eine wichtige Rolle im Klimaschutz (Richert 2011): Die Versicherheitlichung des Klimawandels vermochte es, der Klimapolitik zur bis dahin größten Aufmerksamkeit unter der Bush-Administration zu verhelfen. Bush hatte in den Jahren seit seinem Amtsantritt jegliche effektive Klimapolitik verweigert, und auch in der Gesellschaft und dem Kongress war das Thema nicht sehr beliebt. Erst als sich nun sogar Militärs mit dem Klimawandel auseinandersetzen, stieg das Interesse vieler Senatoren und Repräsentanten. Diese Dynamik setzte sich in den ersten Jahren der Obama-Administration fort. Sowohl in den USA als auch in der EU stellte Klimasicherheit damit ein wichtiges klimapolitisches Argument dar.

Klimasicherheit: Endgültig gescheitert oder Neuauflage?

Trotz des zeitweisen Aufsehens, das die Verbindung von Klimawandel und Sicherheit erregt hat, blieb die politische Bilanz aus der Zeit nach 2007 eher enttäuschend. Zwar gelang es der EU, weitreichende Klimaschutzmaßnahmen zu verabschieden. In den USA und auch in der internationalen Klimapolitik waren die Erfolge jedoch wesentlich geringer. Auf der UN-Klimakonferenz von Bali 2007 einigten sich die Mitglieder der Klimarahmenkonvention lediglich darauf, in den folgenden zwei Jahren ernsthaft an einer Kyoto-Nachfolgeregelung zu arbeiten. Die Klimakonferenz von Kopenhagen 2009, auf der eine entsprechende Regelung verabschiedet werden sollte, konnte jedoch die hohen Erwartungen nicht erfüllen – insbesondere, weil es in den USA trotz Unterstützung durch Präsident Obama und teils dramatischen Verhandlungen im US-Senat nicht gelungen war, bis zum Treffen in Kopenhagen ein Klimagesetz zu verabschieden. Dies wäre für die USA die Grundlage gewesen, um auch auf internationaler Ebene substanzielle und einhaltbare Versprechungen machen zu können.

Die Bereitschaft der Vereinigten Staaten, sich einer effektiven Klimapolitik zu verschreiben, bleibt weiterhin eine der wichtigsten Voraussetzungen für eine erfolgreiche internationale Klimapolitik. Besonders die großen Schwellenländer wie Indien und China blicken gen Westen und erwarten von den Industrieländern ein Vorangehen in Sachen Klimaschutz.

Ist aber der Versuch, ein solches Vorangehen durch die Versicherheitlichung des Klimawandels zu befördern, endgültig gescheitert? Nicht unbedingt. Aus der obigen Diskussion lässt sich ein Zukunftsszenario spinnen, das zumindest begrenzte Hoffnung für die Klimapolitik macht: Sollten die USA auch nach der Präsidentschaftswahl im November diesen Jahres noch einen demokratischen Präsidenten haben, könnte sich 2014 ein neues Möglichkeitsfenster für die US- und damit auch für die weltweite Klimapolitik öffnen: Ab September 2013 und über das Jahr 2014 verteilt werden sukzessive die Teilberichte des fünften Sachstandsberichtes des IPCC veröffentlicht werden. Gleichzeitig werden im November 2014 bei den »midterm elections« in den USA alle Sitze des Repräsentantenhauses und ein Drittel der Sitze im Senat neu vergeben. Sollte der Klimawandel 2014 im Zusammenhang mit dem neuen IPCC-Bericht eine ähnliche Prominenz erhalten wie bei der Veröffentlichung des Berichts von 2007, so könnte dies das Wahlergebnis der »midterm elections« zugunsten der Demokraten beeinflussen und gemäßigte Republikaner dazu bringen, an der Klimagesetzgebung mitzuwirken. Schon 2007 bis 2009 hatten republikanische Senatoren wie John McCain und später Lindsey Graham die Klimagesetzgebung unterstützt. 2014 ergäbe sich somit unter Umständen die Chance, dass die USA endlich ein ernsthaftes Klimagesetz verabschieden und somit ihrer Verantwortung für den globalen Klimaschutz gerecht werden.

Literatur

Brzoska, Michael: The Securitization of Climate Change and the Power of Conceptions of Security. Sicherheit und Frieden, 2009-3, S.137-145.

Center for Naval Analysis (CNA) (2007): National Security and the Threat of Climate Change. Alexandria: CNA.

Department of Defense (DoD) (2010): Quadrennial Defense Review Report. Washington D.C.: DoD.

Geden, Oliver (2011): Klimasicherheit als Politikansatz der Europäischen Union. In: Angenendt, Steffen; Dröge, Susanne; Richert, Jörn (Hrsg.): Klimawandel und Sicherheit. Herausforderungen, Reaktionen und Handlungsmöglichkeiten. Baden-Baden: Nomos, S.212-221.

Rat der Europäischen Union (2009): Joint progress report and follow-up recommendations on climate change and international security (CCIS) to the Council. Brüssel.

Richert, Jörn (2011): Klimawandel, Bedrohungsdiskurs und Sicherheitspolitik in den USA. In: Angenendt, Steffen; Dröge, Susanne; Richert, Richert (Hrsg.): Klimawandel und Sicherheit. Herausforderungen, Reaktionen und Handlungsmöglichkeiten. Baden-Baden: Nomos, S.222-237.

Solana, Javier und Ferrero-Waldner, Benita (2008): Climate Change and International Security. Paper from the High Representative and the European Commission to the European Council, Brüssel.

Stern, Nicholas (2006): The Economics of Climate Change – The Stern Review. Cambridge: Cambridge University Press.

UNFCCC (1992): United Nations Framework Convention on Climate Change. unfccc.int.

Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) (2007): Welt im Wandel: Sicherheitsrisiko Klimawandel. Berlin/Heidelberg: Springer.

Jörn Richert ist Doktorand an der Bielefeld Graduate School in History and Sociology (BGHS), Universität Bielefeld.

Rio +/- 20

Rio +/- 20

von Jürgen Nieth

„Ambitionierte Umweltziele“, so die EU-Verhandlungsführerin, Ida Auken, sollten in Rio vorgestellt, beraten und beschlossen werden. Vertreter aus über 190 Staaten waren deshalb zum »Nachhaltigkeitsgipfel« der Vereinten Nationen angereist, darunter über 100 Staats- und Regierungschefs. Dazu kamen tausende Journalisten und abertausende Umwelt- und Menschenrechtsaktivisten, Insgesamt hatten sich fast fünfzigtausend Menschen versammelt, dreimal so viele wie zum »Erdgipfel von Rio« 1992. Sie alle wurden brüskiert.

Mitsprache nicht erwünscht

Noch vor Beginn des eigentlichen Gipfels trat der brasilianische Außenminister im Plenum vor die Delegierten und erklärte, „der von seiner Regierung vorgelegte Kompromisstext für die Abschlusserklärung sei hiermit verabschiedet“. Auf die Einwände eines Vertreters der Entwicklungsländer, „dass die geplante Aufwertung des UN-Umweltprogramms in Nairobi arg schwach ausfalle“, antwortete US-Chefdiplomat Todd Stern, „wenn das geändert würde, werde Washington alles platzen lassen“ (Berliner Zeitung, 21.06.12, S.7). Das Ergebnis stand damit fest, bevor die Beratungen begonnen hatten. Ein Ergebnis, mit dem nicht nur die Nichtregierungsorganisationen, sondern auch fast alle deutschsprachigen Medien scharf ins Gericht gehen.

Blutleer und visionslos

So schreibt die FAZ (25.06.12, S.29): „Brasiliens Regierung hatte vor dem dreitägigen Ministersegment des UN-Gipfels einen umweltpolitischen Kahlschlag veranstaltet. Jede konkrete und deshalb auch politisch brisante Forderung nach mehr sozialer Gerechtigkeit, Frauenrechten, Natur- und Klimaschutz, auf 160 Seiten notiert, wurde eliminiert. Worthülsen blieben.“ Die »tageszeitung« (23.06.12, S.3) titelt: „Der Gipfel der Unverbindlichkeit“ und hält fest: „Wenn überhaupt, wird frühestens 2014 ein Nachhaltigkeitsfonds für die Länder des Südens eingerichtet. Bis zu einem Schutz der Meere außerhalb der Hoheitsgewässer wird es noch länger dauern. Auch ein Entwaldungsstopp für Tropenwälder bis 2020 wurde gestrichen. Was »nachhaltige Landwirtschaft« sein soll bleibt diffus, dem Siegeszug der Gentechnik im globalen Süden wird nichts entgegengesetzt.“ Ähnlich die Berliner Zeitung (21.06.12, S.7): „Alles, was Kontroversen hätte auslösen können, flog raus. 30 Milliarden Dollar jährlich für nachhaltige Entwicklung in den armen Ländern? Raus. Klare Ziele für die Kappung der gigantischen, weltweit pro Jahr 600 Milliarden schweren Subventionen für Kohle, Öl und Gas? Raus. Die Unep als mächtige, gut finanzierte UN-Organisation? Raus. Strikte Schutzpläne für die überfischten Weltmeere? Raus.“ Die Zeitung geht auf die Reaktion der NGOs ein und schreibt, die „Umweltschützer waren […] geschockt. Der Chef von Greenpeace international, der Südafrikaner Kumi Naidoo, kommentierte: »Das ist nicht Rio plus 20, sondern Rio minus 20«. BUND-Chef Hubert Weiger sagte: »Ein schlechteres Ergebnis wäre gar nicht möglich gewesen.«“ Auch die Neue Zürcher Zeitung (23.06.12, S.3) hält fest: „Die meisten Nichtregierungsorganisationen bezeichnen das Dokument als blutleer, visionslos oder gar desaströs.“

Kampf um Deutungshoheit

Andreas Mihm schreibt in der FAZ (22.06.12., S.1): „Der Preis für den Verzicht auf einen vielleicht produktiven Streit in den UN ist hoch: Die Abschlusserklärung ist eine […] Ansammlung von Leerformeln, Floskeln, bestenfalls vagen Absichtserklärungen und Bekräftigungen längst beschlossener Vorhaben […] Darauf lässt sich kaum »die Zukunft, die wir wollen« aufbauen, wie dieses Dokument des Versagens überschrieben ist.“

Ganz anders sahen das einige Regierungsvertreter und Funktionäre. UN-Generalsekretär Ban Ki-moon, der das Abschlussdokument bei Vorlage noch als „wenig ambitioniert“ bezeichnet hatte, sah in ihm einen Tag später eine „»solide Basis« – ohne dass sich irgendetwas am Text verändert hatte […] Das Abschlussdokument sei »alles andere als armselig«, sagte Bundesumweltminister Peter Altmeier (CDU), der deutsche Entwicklungshilfeminister Dirk Niebel (FDP) wollte gar »wichtige Wegmarken« erkannt haben. Holger Lösch vom Bundesverband der deutschen Industrie sah »gute Ansätze« zum verstärkten »Greening« der Welt.“ (taz, 23.06.12, S.3)

Die Folgen des Klimawandels stellte keiner in Frage. Das blieb Dirk Maxeiner und Michael Hirsch in Springers »Die Welt« (25.05.12) vorbehalten. „Untergangspropheten ziehen durch die Lande. Der Club of Rome warnt vor Dürren, Überschwemmungen und Bürgerkriegen als Folge globaler Erwärmungen. WWF und das Worldwatch Institute sehen dramatische Auswirkungen des Klimawandels voraus. Mit neuen Erkenntnissen aus der Klimaforschung können alle drei Berichte nicht aufwarten […] Es geht wohl eher darum, vor dem großen Erdgipfel in Rio ein bisschen Stimmung zu verbreiten.“

Öffentlicher Druck – Voraussetzung für Veränderung

„Die Zivilgesellschaft, auf dem Erdgipfel vor 20 Jahren von den Vereinten Nationen erstmals als Teil ihrer Staatenkonferenz akzeptiert, wurde brüskiert und hielt still“, schreibt die FAZ (25.06.12., S.29). Doch es gab sie, die Aktionen der NGOs, die in Rio nicht still hielten, sie fanden allerdings in den deutschen Medien kaum ein Echo. Eine der Ausnahmen ist das »Neue Deutschland« (23.06.12, S.8), das ausführlich über einen Appell von über 50 Nobelpreisträgern berichtet, der „Abrüstung für eine nachhaltige Entwicklung“ fordert, und festhält, dass „trotz eines medienwirksamen Panzers aus Brot vor dem Kongresszentrum »Riocentro« […] der Appell […] bei den UN-Delegierten ungehört“ blieb (siehe Bericht und Appell auf S.56/57 in dieser Ausgabe von W&F).

„Der UN-Umwelt-Prozess wird weiterlaufen. Es gibt keine Alternative […]“ schreibt die Frankfurter Rundschau (22.06.12., S.11). Doch dafür hält sie drei Punkte für unerlässlich: „Erstens muss der Druck auf die Politiker […] deutlich erhöht werden. Die Zivilgesellschaft wird dieses Anliegen zu ihrer zentralen Aufgabe machen müssen. Die Entscheidung zum Atomausstieg in Deutschland hat gezeigt, dass man damit durchaus erfolgreich sein kann. Zweitens müssen Vorreiterländer im Norden modellhaft zeigen, dass die Energiewende funktioniert […] Und drittens müssen diese Vorreiterländer bilaterale Allianzen mit Entwicklungsländern eingehen, um die grüne Wirtschaft in gemeinsamen Projekten voranzubringen.“

Jürgen Nieth

Artenvielfalt gefährdet

Artenvielfalt gefährdet

Wie der Mensch die Meere und seine Zukunft vermüllt

von Stefanie Werner

Rund 6,4 Millionen Tonnen anthropogene Abfälle gelangen jedes Jahr in die Ozeane. So genannte charismatische Megaspezies wie Wale, Robben und Seevögel verheddern und strangulieren sich in Abfällen, fressen diese und können dadurch mit gefülltem Magen verhungern oder an inneren Verletzungen sterben. Besonders gefährlich sind Kunststoffabfälle, die durch Brandung und Wellengang zu Mikroteilchen zerrieben werden, wobei giftige und hormonwirksame Additive in die Umwelt gelangen. Zudem akkumulieren an Mikropartikeln organische Schadstoffe aus der Meeresumwelt. Diese Mikroteilchen werden wiederum durch Meereslebewesen aufgenommen und können damit potenziell über die Nahrungskette auch den Menschen erreichen.

Die Verseuchung der Meere

Während diese Zeilen geschrieben werden, schiest Gas aus einem 4.000 Meter unter dem Meeresboden gelegenen Bohrloch des Energiekonzerns Total in der Nordsee. Es ist noch kein Jahr her, da gingen die Bilder von der Explosion der Bohrplattform »Deepwater Horizon« und der folgenden Ölkatastrophe im Golf von Mexiko um die Welt. Die immer tiefer in den Meeresboden und immer weiter nach Norden vordringende und damit immer riskantere Energiegewinnung führt offensichtlich zwangsläufig zu solch schweren Unfällen: Kollateralschäden für die Energiekonzerne, die damals wie heute nicht einmal einen »Notfallplan« haben, tatsächlich aber eine Schädigung der Natur, die oft noch nach Jahrzehnten messbar ist.

Aus den Schlagzeilen und weitgehend auch aus dem Bewusstsein der Öffentlichkeit verschwunden ist die atomare Schädigung der Weltmeere: Angefangen von den Atomwaffenversuchen über die Versenkung atomaren Mülls im Meer bis hin zu Unfällen von Atom-U-Booten, beispielsweise der 1989 gesunkenen russischen »Komsomolets«.

Noch nicht in den Schlagzeilen ist die »ganz normale« Vermüllung des Meeres und ihre Folgen. Diesem Thema widmet sich Stefanie Werner im nebenstehenden Artikel. Aber auch zu den anderen Themen lohnt sich ein Blick in W&F (www.wissenschaft-und-frieden.de). Zum Beispiel:

Lars Pohlmeier / Jürgen Scheffran: Tahiti Mon Amour – Die Folgen der A-Waffen-Tests im Südpazifik (W&F 1-1997, S.53-55).

Ulrike Kronfeld Goharani: Die ökologische Zeitbombe. Der AtomMüll der Nordmeerflotte (W&F 2-2000, S.46-50).

Jürgen Nieth: Schatzkammer Arktis? (W&F 2-2009, S.26-30).

jn

Weltweit sind Meeres- und Küstenhabitate mit Abfällen kontaminiert, ein Problem, das globale und generationenübergreifende Dimensionen erreicht hat. Als marine Abfälle werden alle langlebigen, gefertigten oder verarbeiteten beständigen Materialien bezeichnet, die durch Wegwerfen oder als herrenloses Gut in die Meeresumwelt gelangen. Das schließt den Transport dieser Materialien in die Meere über Flüsse, Einleitungen und Winde mit ein. Von den Polen bis zum Äquator, von den Spülsäumen der Küsten über Ästuarien,1 ubiquitär verteilt auf der Meeresoberfläche bis in die Tiefsee, selbst in entlegensten und teilweise unbewohnten Regionen wie einigen pazifischen Archipelen finden sich mittlerweile die Überreste unserer Wegwerfgesellschaft. Strände in der Region des Nordostatlantiks weisen durchschnittlich eine Belastung von 712 Müllteilen pro 100 Meter Küstenlinie auf, bis zu 1.200 Teile pro 100 Meter Strandabschnitt konnten im baltischen Raum nachgewiesen werden.2

Zweidrittel der an deutschen Küstenabschnitten der Nordsee gefundenen Müllteile bestehen aus Plastik und/oder Styropor, an mediterranen Küsten sind es sogar über 80%. Schätzungen zufolge zirkulieren 250 Millionen Plastikteile im Mittelmeer.3 Kunststoffe, Metall und Glas haben sehr lange Abbauzeiten und stellen daher eine weit größere Gefahr für die Umwelt dar als beispielsweise Papier, Holz, Gummi oder Textilien.

Herrenlos, lautlos

Nimmt der Mitteleuropäer die Abfallbelastung in Urlaubsregionen lediglich als ästhetische Störung wahr, bedeutet sie für betroffene Meereslebewesen hingegen eine ernste Bedrohung ihrer Gesundheit und oft sogar ihres Überlebens. Für mindestens 43% aller Walarten, alle Spezies von Meeresschildkröten, circa 36% der Seevögel und viele Fischarten ist dokumentiert, dass sie Müll oral aufnehmen und verschlucken können. Eine Analyse der Ergebnisse von 371 Sektionen von Lederschildkröten seit 1968 zeigte beispielsweise, dass über ein Drittel der Tiere Plastikmüll gefressen hatte.4 Da Quallen zu ihren bevorzugten Futtertieren gehören, findet oft eine Verwechselung mit Plastiktüten statt. Sobald ein Tier Plastik gefressen hat, machen tausende kleine Dornen entlang seiner Zunge und Speiseröhre ein Hochwürgen der Kunststoffe unmöglich. Die Folgen können eine teilweise oder auch vollständige Blockierung des Magen-Darm-Trakts mit dem Ergebnis einer deutlichen Verringerung der Verdauungsenzyme, erheblichem Mehraufwand im Energiehaushalt der Tiere, mit Auswirkungen auf die Fortpflanzung bis hin zum Hungertod sein. Studien über den in der Nordsee beheimateten Eissturmvogel, einem kleinen Verwandten des Albatrosses, zeigten, dass in 97% der untersuchten Mägen Plastikmüll gefunden wurde. Im Mittel wurden 25,8 Plastikmüllpartikel pro Magen mit einem Gewicht von 0,39 Gramm beobachtet.5

Untersuchungen beispielsweise an Meeressäugern zeigen weiterhin, dass Kunststoffpartikel über die Nahrungskette aufgenommen werden können, indem belasteter Fisch gefressen wird. In allen 19 untersuchten Faecesproben (Kotuntersuchungen) von Seehunden und Kegelrobben im niedersächsischen Wattenmeer wurde aktuell Mikroplastik gefunden. Neben den hier regelmäßig vorkommenden granulären Partikeln und Fasern traten auch Folienfragmente in großer Zahl auf. Die vorkommenden Plastikmengen sind hochvariabel und schwanken zwischen wenigen Milligramm bis zu einigen Gramm pro Faeces. Robben fressen Heringe, jedoch wurden in juvenilen Heringen aus dem Jadebusen keine Fragmente nachgewiesen. Das lässt vermuten, dass die Robben sich ihr Futter in der küstennahen Nordsee suchen und dass damit die Fische dieser Gebiete deutlich höher belastet sind als die Jungfische im Wattenmeer.6

Ein Zehntel des Gesamtmüllaufkommens in den Weltmeeren – das entspricht rund 640.000 Tonnen – besteht aus herrenloser, im Wasser treibender oder auf den Grund gesunkener Fischereiausrüstung, die entweder verloren gegangen ist oder aktiv in der Meeresumwelt belassen wurde, weil beispielsweise die Ladekapazitäten bereits ausgeschöpft waren. Das trifft besonders auf passiv fischendes, billig zu erwerbendes Fischereigerät wie Stellnetze zu. Diese so genannten Geisternetze fischen in der Wassersäule und im Tiefenwasser unkontrolliert und auf unbestimmte Zeit weiter. Laut der »US Marine Mammal Commission« sind 136 marine Arten bekannt, die sich regelmäßig in weggeworfenen oder verloren gegangenen Netzen, Tauen, Angelleinen oder anderem Plastikmaterial wie etwa Six-Pack-Verpackungen oder Plastikbeutel verheddern und strangulieren. Dazu gehören sechs der sieben Meeresschildkrötenarten, 51 der 312 Arten von Seevögeln und 32 Spezies mariner Säugetiere.7

Geisternetze sind ein besonderes Problem für Schweinswale im Schwarzen Meer. Allein im Monat April 2002 wurden 35 tote Schweinswale in der Ausschließlichen Wirtschaftszone Rumäniens als Beifang in 30,2 Kilometern herrenlosen Stell- und Schleppnetzen identifiziert. Auch der Rückgang der Tiefseehaie im Nordostatlantik konnte direkt mit dem aus der Tiefseefischerei resultierenden Netzverlust in Zusammenhang gebracht werden. Geschätzte 25.080 Netze mit einer Gesamtlänge von 1.254 Kilometer gehen hier jährlich verloren.8

Beobachtungsreihen an toten und lebend gefundenen verletzten Basstölpeln auf Helgoland zeigten, dass 29% der gefundenen Tiere sich in Netzresten oder anderem Plastikmaterial verheddert beziehungsweise stranguliert hatten. Eine Studie auf der britischen Insel Grassholm, wo schätzungsweise 4.000 Basstölpelpaare brüten, konnte im Durchschnitt 470 Gramm Plastik in jedem Nest nachweisen, was einer totalen Masse von 18,5 Tonnen in der gesamten Kolonie entspricht. Während der Jahre 1996-1997 und 2005-2010 wurden 535 verhedderte und strangulierte Individuen gefunden, der Hauptteil davon waren Nestlinge.9

Grenzenlos, zeitlos

1992 verlor ein Containerschiff im Pazifischen Ozean vor der Küste Chinas 30.000 gelbe Plastikquietschenten. Jahre später wurden sie zuhauf an der Küste Großbritanniens angespült. Das zeigt zum einen den grenzübergreifenden Charakter von Meeresmüll: In der Regel stammt nur ein Teil der Funde aus der Region selbst. Bei einer Strandsäuberung auf der Insel Texel im April 2005 konnten nur 42% der gefundenen Abfälle den Niederlanden zugeordnet werden, der Rest stammte von anderen Nordseeanrainern wie Deutschland oder Großbritannien. Aber auch China, Russland oder Spanien waren unter den Herkunftsländern, die mittels Barcodes ermittelt werden konnten. An der Westküste Schwedens, im Norden Bohusläns, befindet sich ein Akkumulationsgebiet, für dessen Reinigung jährlich circa 1.125.000 Euro ausgegeben werden. Die durch die vorhandenen Abfälle verursachten Kosten für den Fischereisektor – beispielsweise für die Reinigung und Reparatur der Netze – belaufen sich auf circa 800.000 Euro. Analysen ergaben, dass 80% der Müllfunde nicht aus Schweden stammten.

Zum anderen deutet der intakte Zustand der angeschwemmten Quietschenten auf einen fatalen Sachverhalt hin: Plastik ist faktisch nicht abbaubar. Bis zu 600 Jahre braucht ein Nylonnetz, bis es sich zersetzt hat; bis zu 450 Jahre benötigen eine Kunststoffflasche oder eine Wegwerfwindel. Was in den 1950er Jahren mit dem neuen, unendlich formbaren Wunderwerkstoff so verheißungsvoll begann, hat sich für unsere Natur als regelrechter Fluch entpuppt. Eine Anreicherung von Kunststoffen wird weltweit an Stränden, in Meeresstrudeln und Sedimenten beobachtet.

Die Beständigkeit des Plastiks wird durch Faktoren wie Temperatur des Wassers, der Menge der UV-B Strahlung sowie biotische Prozesse in der Umwelt beeinflusst. Die physikalische, biologische und chemische Degradation führt zu immer kleineren Plastikteilen, die sich in der Meeresumwelt anreichern. Zu Mikroplastik werden Plastikpartikel gezählt, die kleiner als fünf Millimeter sind. Bei der Herkunft muss unterschieden werden zwischen Mikroplastikfragmenten, die aus größeren Teilen durch Degradation entstehen, und denen, die beispielsweise in Reinigungsmitteln und Hygieneartikeln verwendet und direkt in die marine Umwelt eingetragen werden. Plastik ist biologisch inert und kaum einer Mineralisation unterworfen, so dass Mikroplastikpartikel zwar kontinuierlich kleiner und häufiger, aber nicht vollständig abgebaut werden.

Die Wirkungen von Mikroplastik sind noch weitgehend unerforscht. Basierend auf Analysen von Muscheln liegen erste Hinweise vor, dass Kunststoffpartikel in das Kreislaufsystem übergehen und eine erhöhte Immunabwehr auf molekularer Ebene hervorrufen.10 Je nach Größe des Mikroplastiks sind besonders Filtrierer11 und Organismen an der Basis der Nahrungskette gefährdet. Die zugrunde liegenden Mechanismen müssen entschlüsselt werden, um herauszufinden, ob in der Nahrungskette eine Anreicherung stattfindet und ob Mikroplastik letztendlich in den an der Spitze des Nahrungsnetzes stehenden Räubern und im Menschen gefunden werden kann.

Mikroplastik kann weiterhin die Rolle eines Transportvektors für nicht-einheimische Organismen in entlegene Gebiete übernehmen. Jedoch ist noch nicht bekannt, in welchem Ausmaß dies zur Veränderung der Artenzusammensetzung beiträgt und wie endemische Arten und ihre Ökosysteme dadurch beeinflusst werden. Da Kunststoffe außerdem Additive wie Weichmacher enthalten oder Schadstoffe aus dem Meerwasser binden, können physikalische Effekte noch durch chemisch-toxische Effekte verstärkt werden. In Seevögeln wurde eine positive Korrelation zwischen der Schadstoffkonzentration und der Kunststoffbelastung beobachtet.12

Machtlos?

Die Herkunft der Abfälle variiert. Man nimmt an, dass 80% des eingetragenen Mülls im Mittelmeer vom Land stammt und über Flüsse und Abwässer oder durch Wind ins Meer gelangt. Der Großteil des Nordseemülls kommt hingegen vom Meer selbst, höchstwahrscheinlich von der Schifffahrt und insbesondere der Fischerei. Obwohl die Verklappung von Kunststoffabfällen seit dem Inkrafttreten des Internationalen Übereinkommens zur Verhütung der Meeresverschmutzung durch Schiffe seit 1983 verboten ist, deuten Funde immer wieder darauf, dass diese Praxis nach wie vor illegal stattfindet.

Anlass zur Hoffnung ist für den Fall gegeben, dass eine stringente Umsetzung der 2008 verabschiedeten Meeresstrategie-Rahmenrichtlinie (MSRL-RL 2008/56/EG) durch die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union erfolgt. Diese sind dadurch verpflichtet, bis 2020 einen guten Umweltzustand ihrer Meeresgewässer zu erreichen beziehungsweise zu bewahren. Dieser angestrebte gute Zustand muss anhand von elf Deskriptoren in Anhang I der Richtlinie definiert werden.

Deskriptor 10 besagt, dass die Eigenschaften und Mengen der Abfälle im Meer ab dem Jahr 2020 keine schädlichen Auswirkungen mehr auf die Küsten- und Meeresumwelt haben dürfen. Die Europäische Kommission hat eine Expertengruppe (Technical Subgroup on Marine Litter/TSG ML) etabliert, die Ende 2011 technische Empfehlungen für eine geeignete Langzeitüberwachung der Abfälle in den verschiedenen Meereskompartimenten und der biologischen Auswirkungen vorgelegt hat, um den Grad der Verschmutzung und der Gefährdung marinen Lebens zu erfassen und zu quantifizieren.13 Durch eine Anfangsbewertung des Ist-Zustands ihrer Meeresregionen, welche die Mitgliedsstaaten bis Mitte 2012 zu leisten haben, werden die Quellen und Wege, auf denen der Müll in die europäischen Meere gelangt, nach derzeitigem Wissensstand beschrieben. Weiterführende nationale und europäische Forschungsprojekte sollen eine genauere Evaluierung der Quellen leisten.

Nun gilt es, sich national ambitionierte Umweltziele für die Erreichung des guten Umweltzustands zu setzen. Die TSG ML empfiehlt die Erreichung des Nulleintrags problematischer Substanzen sowie eine signifikante Reduktion der vorhandenen Mengen um 50% bis 2020. Durch die Nordseeschutzkonferenzen wurden in der Vergangenheit die Notwendigkeit von 50%igen Reduktionen der Nährstoffeinträge und 50-70%igen Reduktionen von Schadstoffen durch Flusseinträge für den Zeitraum 1985-1995 definiert. Diese Zielsetzungen wurden im Anschluss durch die Regionalen Meeresschutzübereinkommen für die Ostsee (HELCOM) und den Nordostlantik (OSPAR) übernommen. Ein ähnliches Vorgehen empfiehlt sich nun für das Problemfeld der marinen Abfälle.

Dass Reduktionen in diesen Größenordnungen möglich sind, zeigt folgendes Beispiel: Mitte der 1980er Jahre befanden sich in den Mägen der entlang der niederländischen Küste gefundenen Eissturmvögel 6,8 plus/minus 1,1 Industriepellets.14 Da die Verluste der Pellets auch hohe ökonomische Kosten verursachten, wurden Maßnahmen innerhalb der Produktion und des Transports ergriffen, die nahezu eine Halbierung der Funde in den Vogelmägen auf 3,6 plus/minus 0,5 Pellets Mitte der 1990er Jahre erbrachten. Ähnliche Reduktionen in der Belastung mit Plastikpellets konnten auch bei Seevögeln im Pazifik und Südatlantik nachgewiesen werden.15

Entscheidend ist der Umsetzungsschritt der Meeresstrategie-Rahmenrichtlinie, der für das Jahr 2016 ansteht. Zu diesem Zeitpunkt sollen die Mitgliedstaaten ein adäquates Programm von geeigneten Maßnahmen zur Eindämmung der marinen Müllbelastung entwickelt und implementiert haben. Diese Maßnahmen müssen darauf abzielen, dass kein weiterer Müll in die Meeresumwelt eingetragen wird (z.B. durch die stärkere Nutzung von Recycling-, Dosier- und Nachfüllsystemen), dass die Meereskompartimente von bestehenden Abfallbelastungen gereinigt werden (z.B. durch die Expansion der »Fishing for Litter«-Initiative), dass bestehende Rechtsinstrumente angepasst werden (bspw. durch die Nutzung des Revisionsprozesses der EU-Richtlinie für Hafenauffanganlagen zur einheitlichen, unkomplizierten und kostenfreien Abnahme von Schiffsmüll in den Häfen) und dass Vollzugsmaßnahmen (wie verschärfte Kontrollen bestehender Reglements auf See) effektiver greifen.

Spätestens zu diesem Zeitpunkt müssen auch unbequeme Themen angegangen werden. Dazu gehört beispielsweise die dringende Notwendigkeit, Kunststoffe als Wertstoffe zu etablieren, um achtloser Entsorgung vorzubeugen. Auch das Stichwort Produktverantwortung muss angemessen adressiert werden. Die Verwertungsraten variieren im europäischen Maßstab erheblich. Werden in Deutschland beispielsweise 80% der Abfälle einer Wiederverwertung zugeführt, sind es in Rumänien oder Bulgarien nur 20%. Trotzdem erfolgt der Produktvertrieb durch hoch entwickelte Ökonomien in Regionen, wo kein adäquates Abfallmanagement besteht. Produzenten müssen die Verantwortung für den gesamten Lebenszyklus ihrer Waren übernehmen.

Anmerkungen

1) Ästuarien sind Flussmündungen ins Meer mit regelmäßigem Brackwasser-, in der Nordsee auch Tideneinfluss, mit den angrenzenden Ufer- und Überschwemmungsbereichen.

2) Vgl. OSPAR (2010): Quality Status Report. OSPAR Commission, London, S.176. HELCOM (2007): Assessment of the Marine Litter Problem in the Baltic Sea Region and Priorities for Response. Baltic Marine Environment Protection Commission, S.21.

3) Vgl. OSPAR (2007): OSPAR Pilot Project on Monitoring Marine Beach Litter – Monitoring of Marine Litter in the OSPAR Region. OSPAR Publication Number 386/2007, London. Vgl. Collignon, Amadine et al. (2012): Neustonic Microplastics and Zooplankton in the Western Mediterranean Sea. Marine Pollution Bulletin (in Druck). Vgl. ICC-Kampagne (2006): Daten aus der »International Coastal Cleanup«-Kampagne aus den Jahren 2002-2006.

4) Vgl. Mrosovsky, Nicholas/Ryan, Geraldine D./James, Michael C. (2009): Letherback Turtles: The Menace of Plastic. Marine Pollution Bulletin Nr. 58, S.287 Vgl. Katsanevakis, Stelios (2008): Marine Debris, a Growing Problem – Sources, Distribution, Composition, and Impacts. In: Hofer, Tobias N. (Hrsg.) (2008): Marine Pollution: New Research. Nova Science Publishers, New York, S.53-100.

5) Vgl. Guse, Nils et al. (2012): OSPAR Fulmar Litter EcoQO – Masse von Plastikmüllteilen in Eissturmvogelmägen. Endbericht für das Bundesamt für Naturschutz, Bonn.

6) Vgl. Prof. Dr. Gerd Liebezeit, ICBM-Terramare, Universität Oldenburg, persönliche Mitteilung.

7) Vgl. Ten Brink et al. (2009): Guidelines on the Use of Market-based Instruments to Address the Problem of Marine Litter. Institute for European Environmental Policy (IEEP), Brussels, Belgium, and Sheavly Consultants, Virginia Beach, Virginia.

8) Vgl. Brown, James/Macfayden, Graeme (2007): Ghost Fishing in European Waters: Impacts and Management Responses. In: Marine Policy Nr. 31, S.488-504. Vgl. Black Sea Commission (2009): Marine Litter in the Black Sea Region. Istanbul.

9) Vgl. Votiera, S.C. et al. (2010): The Use of Plastic Debris as Nesting Material by a Colonial Seabird and Associated Entanglement Mortality. Marine Pollution Bulletin Nr. 62, S.168-172. Vgl.Schrey et al. (1987): Recording of oil victims on the German North Sea coast, including research for the establishments of the cause. Results of research: Burdening of the German bight by ship’s refuse.. Berlin: Umweltbundesamt, Texte 30/87.

10) Vgl. Teuten Emma L. et al. (2007): Potential for Plastics to Transport Hydrophobic Contaminants. In: Environmental Science and Technology, Jg. 41, Nr. 22, S.7759-7764.

11) Als Filtrierer werden Tiere bezeichnet, die ihre Nahrung (Detritus, Plankton) aus dem Wasser herausfiltern.

12) Vgl. SETAC (2010): Proceedings of the 20th SETAC Europe meeting, Sevilla.

13) Vgl. JRC Scientific and Technical Reports (2011): Marine Litter. Technical Recommendations for the Implementation of MSFD Requirements. Luxemburg.

14) Industriepellets sind primäre Kunststoffpartikel, die als Ausgangsmaterial zur weiteren Verarbeitung hergestellt werden.

15) Vgl. Ryan, Peter G. et al. (2009): Monitoring the Abundance of Plastic Debris in the Marine Environment. In: Philosophical Transactions in the Royal Society of London B: Biological Sciences, Jg. 364, Nr. 1526, S.1999-2012.

Stefanie Werner ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Umweltbundesamt mit einem inhaltlichen Schwerpunkt auf der Umsetzung der Meeresstrategie-Rahmenrichtlinie (MSRL) und den Themenfeldern Einträge von Unterwasserlärm und von Abfällen in die Meere.

25 Jahre nach Tschernobyl: Fukushima mahnt

25 Jahre nach Tschernobyl: Fukushima mahnt

von Wolfgang Liebert

Am 11. März erzitterte nicht nur die Erde vor der japanischen Küste. Die Folgen von Erdbeben und Tsunami erschüttern auch unser technizistisches Weltbild und den Rest-Glauben an die nukleare Energieoption. Die Bilder haben sich schon jetzt ins Unterbewusstsein der Menschen tief eingebrannt: Wesentliche Anlagenteile der Kernreaktoren von Fukushima fliegen nacheinander in die Luft. Von amerikanischen und japanischen Wissenschaftlern und Ingenieuren ersonnene und weltweit propagierte Zukunftstechnologie explodiert vor aller Augen und löst eine Technikkatastrophe aus.

Die Schnellabschaltung der Reaktoren gelang noch, aber alle Kühlmechanismen versagten rasch. Die lang anhaltende nukleare Nachwärme wird nicht ausreichend abgeführt, um den GAU zu vermeiden. Auch Wochen nach der vielfachen Reaktorhavarie ist die Kühlung der Reaktorkerne und der Brennstoff-Abklingbecken, in denen die tödliche Gefahr lauert, nicht ausreichend gesichert. Es droht der Super-GAU in bedrohlicher Nähe zu Tokio.

Die möglichen Folgen sind im Prinzip seit der Tschernobyl-Katastrophe vom 26. April 1986 schmerzlich bekannt: eine weiträumige und lange anhaltende radioaktive Verseuchung mit entsprechenden riesigen Sperrzonen von praktisch nicht mehr bewohnbaren Landstrichen insbesondere in Weißrussland und der Ukraine, aber auch Belastungen für weite Bereiche Europas. Nicht nur kurzfristig wirksame Radioaktivität (insbesondere durch Radio-Jod), sondern auch der Ferntransport und die Langzeitwirkung von Radioisotopen mit größeren Halbwertszeiten von zum Beispiel etwa 30 Jahren (wie Cäsium-137 und Strontium-90) bestimmen bis heute und in die weitere Zukunft die radioaktive Last für Mensch und Natur – angereichert über die Nahrungskette.

Das Interesse der sowjetischen Behörden, Schadens- und Opferbilanzen vorzulegen, war 1986 nicht gegeben. Die Sowjetunion selbst zerfiel wenige Jahre nach dem Unfall. Wie viele Zehntausende der so genannten Liquidatoren, die die Aufräum- und Sicherungsarbeiten in den Tagen und Monaten nach dem Unfall leisten mussten, unwissend ihre Gesundheit und ihr Leben auf Befehl von oben aufs Spiel setzen mussten, wie viele Krebsfälle und massive Gesundheitsschäden in der Bevölkerung bereits auftraten, weiß die Welt bis heute nicht. Auch die Internationale Atomenergieorganisation (IAEO) und in ihrem Gefolge die Weltgesundheitsorganisation (WHO) haben sich noch nicht dazu durchringen können, eine ehrliche Folgenbilanz vorzulegen. Der Rolle der IAEO als UN-Watchdog gegen die Weiterverbreitung von Kernwaffen steht anscheinend noch immer eine schönfärbende Promotorenrolle für die weltweite Kernenergienutzung gegenüber.

Droht nun die gleiche Entwicklung in Japan? Oder wird es noch schlimmer ausgehen? Die etablierten westlichen Nuklearexperten machten es sich vor 25 Jahren leicht mit dem stets wiederholten Hinweis, der betroffene sowjet-russische RBMK-Reaktortyp sei ein sicherheitstechnisch unausgereiftes Design – einer Feststellung, der gewiss zuzustimmen ist. Aber dies wurde verbunden mit der Behauptung, die westlichen Reaktoren seien unvergleichlich sicherer und ein entsprechendes Unfallszenario sei undenkbar. Dieses Argumentationsmuster ist mit Fukushima endgültig zerplatzt.

Fukushima hat nun den unwiderleglichen Beweis geliefert, dass die Spaltreaktortechnologie unbeherrschbar ist – überall in der Welt. Wenn man den probabilistischen Sicherheitsanalysen Glauben schenkt, so wäre gemäß der Deutschen Reaktorsicherheitsstudie von 1989 die Wahrscheinlichkeit für einen GAU (unter Annahme des Betriebs von knapp 440 Reaktoren weltweit) etwa einmal in hundert Jahren abzuleiten. Eine Kernschmelze würde danach noch zehnmal seltener auftreten. Solche Analysen sind spätestens jetzt Makulatur. Common-Mode-Störfälle, die sich jenseits des Anlagendesigns und der wahrscheinlichkeitstheoretischen Sicherheitsanalyse bewegen, in Fukushima aber durch extreme äußere Ereignisse ausgelöst wurden, durften mitsamt ihren massiven Folgen im Bewusstsein der »Nuclear Community« nicht ernsthaft vorkommen. Und doch ist jetzt das angeblich Undenkbare eingetreten. Das grundsätzliche Szenario war aber im Prinzip längst bekannt und gerade im Erdbeben gefährdeten Japan durchaus antizipierbar. Allerdings konnte niemand – auch nicht die mahnenden nuklearkritischen Experten – vorhersagen, wann genau dies eintreten würde. Und nun schmilzt der Restglaube an die nukleare Sicherheit in Fukushima dahin.

Was wird man daraus für Lehren ziehen? Können neue Sicherheitsanalysen zu Verbesserungen der Sicherheit existierender Anlagen führen? Die meisten heute weltweit am Netz befindlichen Reaktoren, deren Design in den 1960er und 1970er Jahren weitgehend festgelegt wurde, können nicht ohne weiteres auf den heutigen »Stand von Wissenschaft und Technik« gebracht werden. Wenn immerhin verbesserte Sicherheit gegen anlagenexterne Schadensereignisse wie Naturkatastrophen, Flugzeugabstürze, Krieg oder Terrorangriffe angestrebt werden soll, sind äußerst kostspielige Um- und Neubauten nötig. Eine trügerische Sicherheit, denn auch dann können die Sicherheitshüllen durchbrochen werden. Eine vollständige Sicherheit gegen die naturgesetzlich weiter auftretende Nachzerfallswärme – vom Reaktor bis zum Endlager – wird es überhaupt nicht geben können. Das radioaktive Katastrophenpotential ist in den Brennelementen stets aktiv. Die absolut notwendigen Kühlungsmechanismen bleiben stets verletzlich. Keine Spaltreaktortechnologie kann absolut sicher gemacht und ihr Katastrophenpotential kann nicht zu Null gesetzt werden.

Bei der Kerntechnologie gilt es mehr zu berücksichtigen als die Anlagensicherheit. Die Erfahrung mit deutschen Atommülllagern in Morsleben und Asse haben gezeigt, wie aussichtslos heute eine sichere Endlagerung der über hunderttausende Jahre von der Umwelt abzuschließenden Nuklearabfälle erscheint. Dennoch wird man notgedrungen weiter nach akzeptablen Lösungen suchen müssen für das, was nicht mehr vermeidbar ist. Mindestens die Politik aber hat bislang (siehe das Gorleben- und das Asse-Desaster) versagt.

Das offensichtliche zivil-militärische Dual-use-Potential der heute in knapp 60 Ländern der Welt genutzten Nukleartechnologie ist ein weiteres und unübersehbares Warnsignal. Die militärische Wurzel aus den 1940er Jahren prägt die Nukleartechnologie bis heute. Die gleichen Technologien – Urananreicherung, Reaktorkonzepte, Plutoniumabtrennung – wurden zunächst für die ersten Waffenprogramme entwickelt und dann in der Folge für die heutigen nuklearen Energieprogramme genutzt. Kein Wunder also, dass das militärische Potential dieser ambivalenten Technologie virulent bleibt. Man darf die These wagen, dass die Begehrlichkeit hinsichtlich nuklearer Technologie auch heute nicht nur mit dem Zugriff auf so genannte Spitzentechnologie zu tun hat, sondern immer wieder auch mit der Absicht, eine Atomwaffenoption zu eröffnen oder latent aufrecht zu erhalten. Viele Staaten haben sich unter dem zivilen Deckmantel zu Kernwaffenstaaten aufgeschwungen oder sie sind zu »virtuellen Kernwaffenstaaten« geworden, die vorhandene nukleartechnische Möglichkeiten jederzeit für die Bombe nutzen könnten.

Wir haben offenbar zugelassen, dass der falsche technologische Pfad beschritten wurde – und dies ist nicht erst seit der Fukushima-Katastrophe deutlich. Muss nicht von einem Versagen weiter Teile von Wissenschaft, Industrie und Politik gesprochen werden, die Jahrzehnte lang eine Alternativlosigkeits-Propaganda betrieben haben?

Wir müssen wieder erlernen, dass wir die Wahl haben. In der modernen Welt, die zunehmend durch naturwissenschaftlich-technische Entdeckungen und Entwicklungen und ihre ökonomische Industrialisierung dominiert wurde, ist etwas grundsätzlich fehl gegangen. Not tut die Rückbesinnung auf eine verantwortliche Gestaltung von Wissenschaft und Technik – nötigenfalls bedeutet das auch die Begrenzung oder den Verzicht der Nutzung. Wir müssen nicht jeden technologisch möglichen Pfad blind befolgen, im technizistischen Glauben an das angeblich stets und quasi naturgesetzlich kommende Bessere.

Welche Lehren zieht die Politik? Noch sieht es lediglich nach Taktieren aus, in der Hoffnung, alles werde schnell vergessen, wenn das Allerschlimmste doch noch ausbleibt. Dabei wurde in Deutschland 2001 mit Müh und Not ein Konsens zwischen dem Kartell der Atomstromkonzerne und der Bundesregierung ausgehandelt, der – im für viele durchaus fragwürdigen Abwägen zwischen Sicherheits- und Profitinteressen – einen schrittweisen Verzicht auf Plutoniumabtrennung und Reaktorbetrieb erreichte. Ohne Not und ohne vorausgehende Sicherheitsüberprüfung der 17 Meiler hat die gegenwärtige Bundesregierung letzten Oktober eine zusätzliche Laufzeitverlängerung durchgedrückt. Die Atomstromer werden satte Zusatzgewinne einfahren, die Kleineren, die neu erstarkten Stadtwerke und die lebendig gewachsene Solarenergiebranche, werden das Nachsehen haben. Verantwortungslosigkeit und Interessenpolitik für die Starken hatten sich erst einmal durchgesetzt.

Knapp eine Woche nach dem japanischen Erdbeben setzte die Kanzlerin ein dreimonatiges Moratorium für die acht ältesten Reaktoren in Deutschland durch. Diese Zeit reicht eigentlich nicht für eine eingehende Sicherheitsüberprüfung, es sei denn, man wolle nun endlich den »Stand von Wissenschaft und Technik« zur Richtschnur machen und kurzfristig exekutieren. Dann dürfte vermutlich keiner der Reaktoren noch eine Chance auf Weiterbetrieb haben. Aber davon ist bislang nicht die Rede. Die Widersprüche dieser Politik sind so eklatant, dass die Bundesregierung bereits jetzt ihre Glaubwürdigkeit aufs Spiel gesetzt hat.

Die tatsächlichen Herausforderungen sind demgegenüber groß: Es wird weitere Fälle nuklearer Proliferation geben, und es werden weitere nukleare Katastrophen eintreten, wenn nicht endlich radikale Schritte zur Kehrtwende in Wissenschaft, Politik und Gesellschaft vollzogen werden, auch im globalen Maßstab.

Der Pakt mit dem Teufel, den Führungseliten in unserem Namen (und angeblich für uns) geschlossen haben und der von ihren bereitwilligen Gefolgsleuten in Wissenschaft und Wirtschaft umgesetzt wurde, muss endlich aufgelöst werden. Deutschland, und am besten ganz Europa, sollte mit gutem Beispiel voran gehen und zeigen, dass Alternativen praktisch möglich sind. Der Ausstieg aus der Atomtechnologie erleichtert überdies einen effektiven und unumkehrbaren Weg in die kernwaffenfreie Welt. Er wird dem Umbau des Energiesystems auf der Basis solarer, klimafreundlichen Technologien Auftrieb geben. Fukushima kann nicht nur als Fanal, sondern auch als Signal wirken, das den tief greifenden und bewusst vollzogenen Wandel in unserem unreflektierten, wahnhaften Umgang mit Wissenschaft und Technik einläutet.

Wolfgang Liebert ist Koordinator der Interdisziplinären Arbeitsgruppe Naturwissenschaft, Technik und Sicherheit (IANUS) der Technischen Universität Darmstadt.

Climate Change, Social Stress and Violent Conflict

Climate Change, Social Stress and Violent Conflict

19.-20. November 2009 – Universität Hamburg

von Janpeter Schilling, Michael Link und Jürgen Scheffran

»Kampf um Wasser, Gewalt durch Hunger, Klimakriege« – in den Medien wird zunehmend ein Zusammenhang zwischen Klimawandel und gewalttätigen Konflikten hergestellt. Seitens der Wissenschaft besteht hier jedoch noch erheblicher Forschungsbedarf. Wie stark bedroht der Klimawandel die gesellschaftliche Stabilität? Wo sind die Risiken am größten? Welche Schlüsse lassen sich daraus für die Politik ableiten?

Um diese Fragen zu diskutieren, kamen im November 2009 mehr als 50 Experten aus 25 Nationen zur Konferenz »Climate Change, Social Stress and Violent Conflict« am KlimaCampus der Universität in Hamburg zusammen. Die konfliktrelevanten Auswirkungen des Klimawandels wurden dabei aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet und mit geeigneten methodischen Zugängen analysiert.

Migration als mögliche Reaktion auf sich verschärfende Umweltbedingungen wurde in verschiedenen Kontexten untersucht, wobei bisherige Schätzungen über die Zahl von Klimaflüchtlingen keine hinreichende wissenschaftliche Grundlage haben, wie Cord Jakobeit und Chris Methmann zeigten. Koko Warner und Lars Wirkus von der United Nations Universität in Bonn betonten die Wichtigkeit von funktionierenden lokalen Institutionen im Umgang mit Migration in Afrika. Den Ergebnissen von Úrsula Oswald Spring (National University of Mexico) zufolge verschärfen in Mexiko insbesondere Dürren den bestehenden „Krieg niedriger Intensität“ (ebd.), der an der Grenze zu den USA geführt wird. Beide Studien weisen auf die generelle Schwierigkeit hin, den Einfluss des Klimawandels auf das Entstehen von Konflikten von sozioökonomischen Faktoren zu unterscheiden.

Offensichtlicher beeinflussen veränderte Umweltbedingungen dagegen das soziale Gefüge im Norden Kenias. Hier zeigte Beth Njeri Njiru (Kenyatta University), wie die Kombination aus langen Dürreperioden und Starkregenereignissen zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Viehzüchtern und Bauern um knapper werdendes Land führen kann. Paul Mukwaya (Makerere University Uganda) untersuchte Möglichkeiten zur Stärkung verwundbarer Bevölkerungsgruppen in wachsenden Städten am Beispiel des Katastrophenmanagements in Kampala. In Bangladesh bedrohen Überflutungen, tropische Zyklone und der ansteigende Meeresspiegel die Lebensgrundlage von mehreren Millionen Menschen. Befragungen in Slumgebieten von Dhaka, durchgeführt von Sujan Saha (Norwegian University of Science and Technology), deuten darauf hin, dass Überflutungen den sozialen Stress für die arme Bevölkerung deutlich erhöhen und zu Auseinandersetzungen mit Schusswaffengebrauch beitragen. Weitere Fallstudien beschäftigten sich unter anderen mit dem Einfluss des Faktors Wasser auf den Israel-Palästina Konflikt (Clemens Messerschmid) und den Mittelmeerraum (Hans-Günter Brauch), mit der Rolle von Naturschutzgebieten als Rückzugsraum für bewaffnete Kräfte in Kolumbien (Guillermo Andrés Ospina) und mit Ressourcenkonflikten um Öl und Gas im Niger-Delta (Felix Olorunfemi).

Neben den genannten qualitativen Studien wurde eine Reihe von quantitativen Zugängen präsentiert. Mit Hilfe von Klimadaten und dem Aufbau einer globalen Konfliktdatenbank versuchen Halvard Buhaug (International Peace Research Institute Oslo) und Ole Magnus Theisen (Norwegian University of Science and Technology), die Zusammenhänge zwischen Klimawandel und Konflikten zu erfassen. Josh Busby und Todd Smith von der University of Texas demonstrierten, wie es mit Geographischen Informationssystemen gelingen kann, besonders anfällige Regionen (»Hot Spots«) in Afrika zu identifizieren. Demzufolge sind vor allem Staaten in der Sahelzone sowie der Norden und Süden der Demokratischen Republik Kongo durch eine Faktorenkombination aus Ressourcenausstattung, Regierungsstruktur und Bevölkerungsdichte in ihrer Stabilität bedroht. Wo und in welchen Kontexten soziale Instabilitäten weltweit auftreten, wird in einem umfassenden Projekt an der Universität von Illinois erfasst (Peter Nardulli), das Ereignisse wie Demonstrationen, Attentate und Unruhen in Medienberichten auswertet.

Genutzt werden solche Daten beispielsweise von Forschungsgruppen wie CLISEC (Climate Change and Security) in Hamburg, die den Themenkomplex Klimawandel und Sicherheit mit integrierten Ansätzen untersuchen. Instrumente wie agentenbasierte Modellierung und die Analyse sozialer Netzwerke werden hier dazu genutzt, die Reaktion von Akteuren und Gesellschaften auf veränderte Umweltbedingungen zu untersuchen.

Bei der theoretischen Betrachtung des Konferenzthemas wurden verschiedene Aspekte hervorgehoben. Während Anastasios Karafoulidis (National and Kapodistrian University of Athens) die Akteure und Wirkungsmechanismen der öffentlichen Debatte ins Auge fasst, bemerkt Julia Trombetta (Delft University of Technology), dass sich das ursprüngliche Interesse an klimainduzierten Konflikten zu einer Diskussion um Ressourcenknappheit entwickelt hat. In diesem Zusammenhang wird auch die Debatte um eine Versicherheitlichung (»Securitization«) des Klimawandels geführt, also die Interpretation des Klimawandels als sicherheitspolitisches Problem, was die Gefahr in sich birgt, dass die vom Klimawandel Betroffenen als Bedrohung angesehen werden könnten, wie Angela Oels und Delf Rothe (Hamburg) bemerkten. Avinash Godbole (Institute for Defense Studies and Analyses, Neu-Dehli) argumentiert, dass diese Sicht nicht zielführend ist, da dem Klimawandel nur mit regionaler und multilateraler Kooperation begegnet werden kann.

Dies wurde auch während der öffentlichen Diskussionsrunde deutlich, die Friedenswissenschaftler sowie Vertreter der Politik und der Bundeswehr zusammen brachte. Die Frage nach der Stabilität von Gesellschaften wurde kontrovers diskutiert. Einig waren sich die Diskussionsteilnehmer jedoch darüber, dass das Militär für die Bewältigung des Klimawandels ungeeignet ist. Wichtiger ist es hingegen, international vermittelnde Institutionen wie die Vereinten Nationen zu reformieren und zu stärken, wie Botschafter Bo Kjellén (Stockholm Environment Institute) feststellt. Alexander Carius (Adelphi Research Berlin) stellt mit Blick auf Kooperationsmöglichkeiten der internationalen Politik im Energie- und Wassersektor fest, dass der Klimawandel sich von einem Konflikt verschärfenden »threat multiplier« zum stabilisierenden »peace catalyst« entwickeln kann, wenn die sich bietenden Chancen entsprechend genutzt würden. Verschiedene Strategien diskutierte Oli Brown vom International Institute of Sustainable Development in seinem Beitrag. Frank Biermann (Vrije Universität Amsterdam) forderte eine „global adaptation governance“, die es erlaubt, schneller und effektiver auf die Herausforderungen des Klimawandels zu reagieren.

Mit ihrem breitgefächerten Spektrum an Themen, Perspektiven und Methoden trug die Konferenz der Komplexität des Themas Rechnung. Unabhängig von den unterschiedlichen Kontexten, weisen die präsentierten Fallbeispiele zwei Gemeinsamkeiten auf. Zum einen stellt es sich als grundlegend schwierig heraus, den Einfluss des Klimawandels von sozioökonomischen Faktoren zu unterschieden. Zum anderen war der Klimawandel in keinem der Fälle der einzige Grund für soziale Instabilität oder gewaltsame Konflikte. Vielmehr hat er als verschärfende Kraft gewirkt, welches die Auffassung vom »threat multiplier« stärkt.

Weiter hat die Konferenz gezeigt, dass insbesondere bei der Validierung des Zusammenhangs von Klimawandel und Konflikten noch erheblicher Forschungsbedarf besteht (Michael Brzoska). Hier sind vielversprechende Ansätze zu erkennen. Die theoretische Auseinandersetzung mit der Thematik hat für Veränderungen in der Diskussion sensibilisiert und verdeutlicht wie diese politisch instrumentalisiert werden können. Es gilt zu verhindern, dass der Klimawandel als Rechtfertigung von militärischen Einsätzen herangezogen wird. Stattdessen müssen alle Staaten mit Hinblick auf zukünftige Klimaverhandlungen kooperative Lösungen forcieren, die unter anderem im Bereiche der Energieversorgung möglich sind. Wie wichtig Austausch und Kooperation über Grenzen hinweg beim Thema Klimawandel sind, hat die Konferenz gezeigt. Die Beiträge sind dokumentiert auf der Website http://clisec.zmaw.de und werden in Buchform veröffentlicht.

Janpeter Schilling, Michael Link und Jürgen Scheffran

Konflikt und Kooperation bei der Wassernutzung in Mittelasien

Konflikt und Kooperation bei der Wassernutzung in Mittelasien

von Kai Wegerich

In Mittelasien sind Mensch, Natur und Wirtschaft auf das Wasser zweier Flusssysteme angewiesen: des Syr Darja im Norden und des Amu Darja im Süden. Beide Ströme sind in hohem Maße zur Stromgewinnung und landwirtschaftlichen Bewässerung erschlossen. Die Nutzung des Wassers birgt erhebliches Potential sowohl für Konflikte als auch für Kooperationen zwischen den einzelnen Anrainerstaaten: Am Oberlauf wollen sie die Wasserkraft zur Stromerzeugung nutzen, am Unterlauf sehen sie die Bewässerung ihrer Felder in Gefahr.

Der Syr Darja und der Amu Darja und fast sämtliche ihrer Zubringer fließen durch das Hoheitsgebiet oder entlang der Grenzen von fünf Staaten (vgl. Abb.): Kirgistan (Oberlauf des Syr Darja), Tadschikistan (Oberlauf des Amu Darja), Kasachstan (Unterlauf des Syr Darja), Turkmenistan (Unterlauf des Amu Darja) und Usbekistan (Unterlauf des Amu Darja und Mittellauf des Syr Darja). Bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion spielten bei der Wasserbewirtschaftung administrative Grenzverläufe und die gerechte Verteilung des Wassers unter den Republiken keine große Rolle. Von Interesse waren vielmehr die hydrologischen Gegebenheiten.

So bot das Aralseebecken die Möglichkeit, an den Flussoberläufen Projekte zur Flussregulierung und Stromerzeugung zu planen und zum Teil auch umzusetzen, die an den Unterläufen eine Ausweitung der bewässerten Landwirtschaft zuließen. Ein Beispiel für diese Aufteilung ist der Toktogul-Staudamm am Naryn in Kirgistan: 75% des Wasserabflusses wurden für die Bewässerung der Unteranrainer während der Wachstumsperiode im Sommer zugewiesen. Als Folge musste Kirgistan im Winter, wenn sein Energiebedarf besonders hoch ist, Energie aus flussabwärts gelegenen Republiken importieren.

Noch zu sowjetischen Zeiten wurden im Aralseebecken weitere Staudammprojekte konzipiert, um sowohl im Winter die Gewinnung von Hydroenergie als auch im Sommer die Wasserversorgung für die Landwirtschaft sicherzustellen. Der Bau des Rogun-Staudamms am Wachsch in Tadschikistan und der Staudämme Kambarata 1 und 2 am Naryn in Kirgistan kam durch die Auflösung der Sowjetunion allerdings ins Stocken. Und während die Großprojekte an den Flussoberläufen von den Republiken an den Unterläufen zuvor nicht als Bedrohung wahrgenommen wurden, hat sich dies mit der staatlichen Unabhängigkeit der früheren Sowjetrepubliken inzwischen geändert.

Im April 2009 kamen daher die Präsidenten der fünf mittelasiatischen Staaten im kasachischen Almaty zusammen, um die Wasserproblematik zu beraten. Im Vorfeld kristallisierten sich zwei Fronten heraus: auf der einen Seite Kirgistan und Tadschikistan, die an den Oberläufen der Flüsse weitere Staudämme bauen wollten, und auf der anderen Seite die Unteranrainer Kasachstan, Turkmenistan und Usbekistan, die sich dagegen wehrten. Am Ende des Treffens konnten sich die fünf Länder nicht auf eine gemeinsame Wasserbewirtschaftung, die allen Seiten gerecht wird, einigen (siehe Karte Seite ).

Geographie im Aralseebecken und Wassernutzung in der Sowjetunion

Der Amu Darja ist 2.450 km lang und hat ein Einzugsgebiet von 309.000 km2. Er entsteht aus dem Pjandsch, der am Vakjdjir-Pass von Gletscherbächen gespeist wird und auf weiten Strecken die Grenzen zwischen Afghanistan und Tadschikistan bildet, und dem Wachsch, der im Gebirge von Kirgistan entspringt, durch Tadschikistan läuft und kurz vor der Grenze zu Usbekistan auf den Pjandsch stößt. Der Syr Darja entsteht durch den Zusammenfluss von Naryn und Kara Darja, die im Tianshan-Gebirge von Kirgistan entspringen und im Ferghana-Tal zusammenfließen. Mit 3.019 km ist der Syr Darja der längste Fluss in Mittelasien; sein Einzugsgebiet beträgt 219.000 km2. Amu Darja und Syr Darja lenken die Fließwasservorräte des gesamten Beckens oder zumindest das, was davon übrig bleibt, in den Aralsee.

Ein Vergleich des Wassereinzugs der beiden Flüsse mit der zur Bewässerung verwendeten Wassermenge zeigt, wie ungleich der Wasserverbrauch für landwirtschaftliche Zwecke zwischen den einzelnen Staaten verteilt ist (vgl. Tab. 1). Wird das Aralseebecken unter Hintanstellung der heutigen Staatsgrenzen als geographische Einheit betrachtet, bietet es sich an, am Oberlauf Staubecken zu bauen, die am Unterlauf die Ausweitung der bewässerten Flächen erlauben. Diese Möglichkeit wurde in der Vergangenheit am Syr Darja stärker genutzt als am Amu Darja. Einige der Staudammprojekte erstrecken sich auch über Republikgrenzen hinweg.

Tabelle 1: Wassereinzug von Syr Darja und Amu Darja
(jährlicher Durchschnitt in km³) und bewässerte Fläche (in ha)
Syr Darja Amu Darja
km³ ha km³ ha
Kasachstan 2,4 786.000
Kirgistan 27,6 410.000 1,6 65.000
Tadschikistan 1 271.000 49,6 467.000
Turkmenistan 1,5 1.700.000
Usbekistan 6,2 1.883.000 5,1 2.250.000
Afghanistan 21,6 385.000
Gesamt 37,2 3.350.000 79,3 4.317.000

Am Syr Darja sind drei Speicherseen von besonderem Interesse (vgl. Tab. 2). Der Toktogul-Stausee bietet Kirgistan die Möglichkeit, die Wassermenge des Naryn und damit des Syr Darja aktiv zu regulieren. Der Andischan-Stausee liegt im Grenzgebiet von Usbekistan und Kirgistan. Der Kairakkum-Stausee wurde in Tadschikistan an einer strategischen Stelle am Ausgang des Ferghana-Tals gebaut, von wo aus Usbekistan und über den Dustlik-Kanal auch ein kleineres Gebiet der kasachischen Provinz Ontüstik (Südkasachstan) mit Wasser versorgt werden, bevor der Syr Darja zum Tschardara-Stausee in Kasachstan weiter fließt. Da die Oberanrainer in sowjetischen Zeiten Energie aus den anderen Republiken geliefert bekamen, dienten die Stauwerke am Syr Darja damals vorwiegend zur Flussregulierung für die landwirtschaftliche Bewässerung. Die Gewinnung von Wasserkraft war eher ein Nebeneffekt.

Tabelle 2: Stauseen am Syr Darja
Syr Darja-Becken
Stausee Land Fluss Gesamtspeicher-
volumen (km³)
Nutzbares Speicher-
volumen (km³)
Toktogul Kirgistan Naryn 19,4 14
Andischan Usbekistan/Kirgistan Kara Darja 1,9 1,8
Kairakkum Tadschikistan Syr Darja 4 2,6
Tscharwak Usbekistan Tschirtschik 2 1,6
Tschardara Kasachstan Syr Darja 5,7 4,7

Im Amu Darja-Becken befindet sich der wichtigste Wasserspeicher für die landwirtschaftliche Bewässerung, der Tujamujun-See am Unterlauf des Flusses (vgl. Tab. 3). Auch er liegt in einem Grenzgebiet, nämlich dem von Usbekistan und Turkmenistan. Der Nurek-Stausee am Wachsch, dem kleineren der Zubringer, hat nur ein relativ kleines nutzbares Speichervolumen und war ursprünglich vor allem zur Gewinnung von Wasserkraft für die Nachbarstaaten gedacht. Da sich der Bau von Übertragungsleitungen aber als sehr teuer erwies, wird ein Teil der Hydroenergie nun doch direkt im Süden von Tadschikistan genutzt, wo ein Aluminiumwerk entstand.

Tabelle 3: Stauseen am Amu Darja
(* Sangtuda 1 ging erst
2009 in Betrieb)
Amu Darja-Becken
Stausee Land Fluss Gesamtspeicher-
volumen (km³)
Nutzbares Speicher-
volumen (km³)
Nurek Tadschikistan Wachsch 10,5 4,5
Baipasa Tadschikistan Wachsch 0,12 0,08
Sangtuda 1* Tadschikistan Wachsch 0,25 0,12
Tujamujun Usbekistan/ Turkmenistan Amu Darja 7,8 5,4

In Mittelasien verfügen die Länder am Oberlauf über erhebliche Wasserkraftpotentiale, während die Anrainerstaaten an den unteren Flussläufen wertvolle Bodenschätze wie Kohle, Gas oder Öl besitzen. Innerhalb der Sowjetunion waren die Länder wirtschaftlich sowohl im Agrarsektor als auch in der Energieerzeugung und -versorgung eng miteinander verflochten. Während die Oberanrainer im Sommer ihre überschüssige Energie in das mittelasiatische Übertragungsnetz einspeisten, wurden sie im Winter von den Unteranrainern mit fossilen Brennstoffen beliefert. So lieferte Tadschikistan 1990, d.h. im letzten Jahr vor der Unabhängigkeit, 2.668 GWh an seine mittelasiatischen Nachbarrepubliken und importierte selbst 3.927 GWh; Kirgistan exportierte 3.080 GWh und importierte im Gegenzug 601 GWh (Weltbank 2004). Auch bei der Nahrungsmittelversorgung wurde von den mittelasiatischen Sowjetrepubliken keine Autarkie erwartet.

Auflösung der Sowjetunion und Unabhängigkeit der mittelasiatischen Staaten

Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Privatisierung der Industrie stiegen die Preise für Rohstoffe wie Kohle, Erdgas und Öl auf Weltmarktniveau, während der Energiepreis künstlich niedrig gehalten wurde. Da sich Kirgistan im Winter den Import der fossilen Brennstoffe für Heizung und Energieerzeugung nicht mehr leisten konnte, brachte es dem Land nur Nachteile, die Kapazitäten des Toktogul-Stausees am Syr Darja für die Bewässerung der Unteranrainer vorzuhalten. Also reduzierte Kirgistan in den Jahren 1991-2000 die durchschnittliche Abflussmenge des Toktogul-Sees im Sommer von 75% (8,1 km³) auf durchschnittlich 45% (6,1 km³). Diese Zahlen dürfen allerdings nicht überbewertet werden, da vor 1990 gelegentlich erhebliche Wassermengen abgelassen wurden, um ein Überlaufen des Stausees zu verhindern. Für Bewässerungszwecke wurden damals etwa 6,5 km³ benötigt.

Auch der Kairakkum-Stausee im Norden Tadschikistans wurde in der Sowjetunion zur Kontrolle der Bewässerung genutzt. Dieses Wasserkraftwerk (125 MW) bildet jedoch die einzige Stromquelle im Norden Tadschikistans. Nach der Unabhängigkeit wurde das Nutzungsregime des Stausees auf eine Maximierung der Stromerzeugung ausgerichtet, was für die Unteranrainer des Syr Darja Probleme schafft. Das Stauvolumen des flussabwärts gelegenen Tschardara-Stausees reicht nämlich nicht aus, um im Winter die zusätzlichen Wassermassen aus dem Toktogul-See beziehungsweise Kairakkum-See aufzunehmen. Obendrein ist der ungehinderte Abfluss des überschüssigen Wassers aus dem Tschardara-Stausee Richtung Aralsee blockiert, weil dann der Unterlauf zufriert. Das Hochwasser des Tschardara-Stausees wurde nach Usbekistan abgeleitet und führte zu Überschwemmungen in der Arnasai-Senke.

Um die Wasser- und Wasserkraftnutzung im Syr Darja-Becken besser zu regeln, schlossen die Regierungen von Kasachstan, Kirgistan und Usbekistan im März 1998 ein zwischenstaatliches Abkommen. Darin sagten die Unteranrainer des Flusses zu, Kirgistan im Sommer Hydroenergie abzukaufen und das Land im Gegenzug im Winter mit anderen Brennstoffen zu beliefern. Wie viel Energie die Unteranrainer aufkauften – und damit auch, wie viel Wasser sie erhielten – sollte jährlich ausgehandelt werden. Im Juni 1998 wurden auch Tadschikistan und der Kairakkum-Stausee in das Abkommen eingebunden.

Eigentlich profitieren Usbekistan und Kasachstan doppelt von diesem Abkommen: Zum einen könnte Usbekistan den billigen Strom während der Wachstumsperiode in Usbekistan für die Pumpbewässerung verwenden, und Usbekistan wie Kasachstan könnten fossile Brennstoffe einsparen und für gutes Geld exportieren. Zum zweiten hätten sie genug Wasser für die Landwirtschaft. Leider sahen die beiden Länder den Zusatznutzen der billigen Stromversorgung nicht und versuchten, sich in der Stromversorgung von Kirgistan unabhängig zu machen. Um ihre Abhängigkeit vom Abfluss des Toktogul-Stausees zu reduzieren, suchten Usbekistan und Kasachstan nach Möglichkeiten, die anderen Zuflüsse des Syr Darja besser auszunutzen. Der Naryn ist zwar der größte Zufluss des Syr Darja (14,5 km³), jedoch ermöglichen kleinere Zuflüsse im Grenzland des Ferghana-Tals (Gesamtabfluss 11,7 km³), beispielsweise der Kara Darja (3,9 km³) oder der Tschirtschik (7,9 km³), Usbekistan einen weitgehenden Verzicht auf Wasser vom Toktogul-Stausee. Dadurch hängt die Menge Hydroenergie, die Kirgistan im Sommer exportieren kann, nun davon ab, wie viel Wasser die anderen Zuflüsse führen. Im Jahresdurchschnitt konnte Kirgistan seit 1998 noch 1.910 GWh exportieren und musste 300 GWh importieren.

Bilaterale Abkommen existieren momentan u.a. zwischen Kasachstan und Kirgistan sowie zwischen Usbekistan und Tadschikistan. Das Abkommen zwischen Kasachstan und Kirgistan regelt den Betrieb des Toktogul-Stausees. Allerdings scheint am Unterlauf des Syr Darja in Kasachstan zu wenig Wasser aus Kirgistan anzukommen. Ryabtsew (2008: 2) führt dies darauf zurück, dass das für Kasachstan bestimmte Wasser „teilweise in Usbekistan und Tadschikistan abgezweigt wird“, also von den Ländern am mittleren Flusslauf. Ein weiteres Abkommen zwischen Usbekistan und Tadschikistan bezüglich des Kairakkum-Stausees sieht wechselseitige Energielieferungen der beiden Partnerländer vor.

Datenerhebungen der Verwaltungseinheit, die für die Wasserzuweisungen an die Anrainerstaaten im Syr Darja-Becken zuständig ist, bestätigen, dass die Wasserzufuhr für Usbekistan im Vergleich zu anderen Anrainern in den meisten Jahren zuverlässiger funktioniert (vgl. Tab. 4). Im mittleren und unteren Amu Darja-Becken liegt die Infrastruktur für die usbekische Wasserversorgung in Turkmenistan. Daher hatte für die Sicherheit von Usbekistan eine zuverlässige Regelung mit Turkmenistan höchste Priorität. Die beiden Staaten einigten sich schon 1996 auf folgenden Modus: Usbekistan bezahlt jährlich 11,4 Millionen US$ als Pacht für die Pumpstationen der Wasserkanäle Richtung Buchara und Karschi sowie für die anteilige Wasserspeicherfläche im Tujamujun-Stausee. Über das Nutzungsregime des Nurek-Stausees in Tadschikistan gibt es keine Verträge mit den Unteranrainern, obwohl der Wasserstand in diesem See während der Winter- und Frühlingsmonate konstant sinkt und im Mai seinen niedrigsten Stand erreicht. 2002 exportierte Tadschikistan lediglich 266 GWh, musste aber 1.058 GWh importieren (World Bank, 2004). Auch zwischen den Provinzen ist das Wasser innerhalb von Usbekistan und Turkmenistan ungleich verteilt (vgl. Tab. 5). Dies ist aber eine innenpolitische Frage und wirkt sich auf den Betrieb des Nurek- oder Tujamujun-Stausees nicht aus.

Tabelle 4: Prozentuale Abweichungen von den
Wasserzuweisungen im Syr Darja-Becken
2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008
Syr Darja (bis zum Tschardara-Stausee) 96 108 86 90 99 106 98 109 78
Kirgistan 125 105 74 52 64 56 56 81 65
Tadschikistan 107 120 91 93 93 90 89 99 66
Usbekistan 97 107 87 91 99 112 98 113 75
Kasachstan 60 81 61 72 86 90 95 99 85
Tabelle 5: Prozentuale Abweichungen von den
Wasserzuweisungen
im mittleren und unteren Amu Darja-Becken
Land Provinz/Region Flussabschnitt 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008
Turkmenistan Karakum-Kanal Mitte unterhalb der Messstation Kerki 79 79 95 95 88 95 92 102 82
Usbekistan Karschi-Kanal 91 117 101 88 97 91 98 112 96
Usbekistan Amu-Buchara-Kanal 86 119 116 102 105 97 117 115 98
Turkmenistan Lebap 82 105 121 100 103 98 101 111 99
Usbekistan Chorezm unterhalb von Tujamujun 64 52 115 100 101 100 102 98 52
Turkmenistan Taschaus 45 54 127 95 103 102 104 102 48
Usbekistan Karakalpakstan 43 37 113 101 90 97 94 95 41

Der aktuelle Konflikt

Auch wenn Kirgistan und Tadschikistan sich um Energieautarkie bemühten, konnten sie doch ihre Spitzenlasten im Winter nicht abdecken. Da sie über ein erhebliches Potential zur Erzeugung von Wasserkraft verfügen, ist es nicht verwunderlich, dass beide Länder alte sowjetische Pläne zum Bau weiterer Wasserkraftwerke aus der Schublade zogen. Dabei geht es um Kambarata 1 und 2 am Naryn sowie Rogun am Wachsch. Bei dem Treffen der fünf Staatspräsidenten im April 2009 waren sowohl Kambarata 1 als auch Rogun umstritten.

Der Protest von Usbekistan und Kasachstan gegen Kambarata 1 scheint zunächst nicht nachvollziehbar zu sein, da etwas weiter flussabwärts der Toktogul-Stausee ohnehin schon den Naryn reguliert. Würde Kirgistan allerdings gleichzeitig Kambarata 1 und den Toktogul-Stausee ablassen, könnte die Überschwemmungsgefahr in der Arnasai-Senke weiter steigen. Tadschikistan wiederum könnte den Pegel des Wachsch vollkommen kontrollieren, sollte der Rogun-Staudamm tatsächlich in voller Höhe (335 m) gebaut werden. Den Unteranrainern scheinen die ersten beiden Baustufen des Stauwerks (auf 225 m bzw. 285 m) keine Sorgen zu machen. Der Wasserablass im Winter könnte auch bei geringerer Dammhöhe so minimiert werden, dass im Sommer mehr Wasser für die Landwirtschaft zur Verfügung stünde. Die entscheidende Frage ist also, ob sich die Ober- und Unteranrainer der beiden Flüsse gegenseitig vertrauen und ob sie miteinander kooperieren.

Russland sagte kürzlich zu, den Bau und auch die Betriebsverantwortung von Kambarata 1 zu übernehmen. In Kirgistan scheint die politische Opposition gegen eine Kontrolle nationaler Infrastruktur durch Russland zu sein. Für die Unteranlieger des Syr Darja könnte dieses Arrangement jedoch eine Garantie für den bedrohungsfreien Betrieb der Staustufen darstellen. Russland sagte außerdem zu, den Rogun-Staudamm zu finanzieren, konnte sich mit Tadschikistan aber weder darauf einigen, bis zu welcher Dammhöhe gebaut werden soll, noch darüber, bei wem nach Fertigstellung des Damms die Entscheidungshoheit in Nutzungsfragen liegen soll. Momentan baut Tadschikistan den Staudamm daher aus eigener Kraft.

Beim Vergleich des Kostenaufwands der einzelnen Projekte mit den gültigen subventionierten Strompreisen fällt auf, dass sich beim momentanen Preisniveau kaum eines der Projekte wirtschaftlich rechnet (vgl. Tab. 6). In den Ländern rings um Mittelasien schwankt der Preis zwischen 3 und 5,6 US-Cent pro kWh (Angaben für Russland und Pakistan). Der durchschnittliche Preis liegt bei 3,5 US-Cent. Daraus ergibt sich, dass am Wachsch Rogun wirtschaftlich betrieben werden könnte und am Naryn höchstens Kambarata 2. Sollte allerdings Kambarata 1 nicht in Betrieb gehen, würden sich die Leistung und somit auch die Wirtschaftlichkeit von Kambarata 2 verringern. Überdies würde Kambarata 2 die Energiesicherheit von Kirgistan im Winter nicht ohne die erste Staustufe sichern können. Momentan ist das ganze Übertragungsnetz auf die usbekische Hauptstadt Taschkent ausgerichtet. Übertragungsleitungen in die mittelasiatischen Länder stecken noch in der Bau- oder sogar Planungsphase. Die Fokussierung des Versorgungsnetzes auf Taschkent könnte sich als Hindernis erweisen, wenn Strom von Tadschikistan Richtung Norden (sogar in die eigenen nördlichen Landesteile) oder von Kirgistan Richtung Süden geleitet werden soll, da die Leitungsgebühren wahrscheinlich aus politischen Gründen steigen würden.

Tabelle 6: Geplante Stauprojekte im Amu Darja- und
Syr-Darja-Becken
(Kapazitäten und Kosten)
Staudamm Land Fluss Gesamt-
speicher­
volumen
(km3)
Nutzbares Speicher-
volumen (km3)
Wasserkraft-
potential
Kosten/kWh (in US-Cent) Durchschnitts-
preis 2003 pro kWh (in US-Cent)
Kambarata 1 Kirgistan Naryn 5,4 3,4 5.200 GWh 7,17 1,4
Kambarata 2 Kirgistan Naryn minimal minimal 1.200 GWh 3,72
Rogun Tadschikistan Wachsch   13.100 GWh 2,46 – 2,83 0,5
  1. Baustufe 2,8 1,9
2. Baustufe 6,8 4,0
3. Baustufe 13,3 10,3

Schlussfolgerungen

Auch wenn sich bei dem Präsidententreffen in Almaty zwei Fronten zu formieren schienen, wird bei genauerer Betrachtung klar, dass dies nur oberflächlich gilt. Dies ist insbesondere bezüglich des Syr Darja-Beckens der Fall, wo der Mittelanrainer Usbekistan und der Unteranrainer Kasachstan jeweils mit unterschiedlichen Oberanrainern Abkommen schlossen. In dieser Konstellation hat Kasachstan die schlechtesten Chancen, ausreichend Wasser abzubekommen. Im Amu Darja-Becken haben sich zwar Turkmenistan und Usbekistan über das Nutzungsregime geeinigt, jedoch beschwert sich Usbekistan unter der Hand häufig, dass Turkmenistan zu viel Wasser abzweigt. Die Unteranrainer sind sich also in beiden Flussbecken nicht einig. Die Oberanrainer eint zwar der Wunsch, jeweils große Stauwerke zu bauen, jedoch unterscheiden sich ihre Interessen und Positionen abhängig von der Geschichte der bereits existierenden Stauwerke, den bestehenden Speichervolumina (und damit der Fähigkeit, den Unterlauf zu regulieren), der Relevanz der Zuflüsse für das jeweilige Flussbecken und der wirtschaftlichen Machbarkeit der geplanten Projekte.

Wie erläutert bringen die unterschiedlichen Nutzungsregime der projektierten Stauwerkkaskaden jeweils bestimmte Vor- oder Nachteile für die Unter- bzw. Oberanrainer der Flussbecken mit sich:

Ein maximaler Wasserabfluss im Winter ist für die Unteranrainer nachteilig.

Ein maximaler Wasserabfluss im Sommer ist für die Unteranrainer vorteilhaft, für die Oberanrainer aber nachteilig.

Ein gestufter Wasserabfluss – im Winter aus dem Stausee am Oberlauf und im Sommer aus dem Stausee am Unterlauf – hat kaum wirtschaftliche Auswirkungen auf die Unteranrainer, wird von diesen aus politischen Gründen jedoch als Nachteil empfunden, da diese Lösung die Unabhängigkeit und Machtposition der Staaten am Oberlauf stärkt.

Seit der Unabhängigkeit waren die fünf mittelasiatischen Staaten vor allem auf Autarkie bedacht und haben sich deshalb vom integrativen sowjetischen Ansatz verabschiedet, der für einen Nachteilsausgleich zwischen den Nachbarrepubliken sorgte. Eine Beteiligung von außen, z.B. von Russland, könnte in dieser Situation zur Stabilisierung beitragen. Könnte sich Tadschikistan dazu durchringen, den Rogun-Staudamm zusammen mit einem anderen Partner zu bauen, wäre dies ebenfalls ein positives Signal. Dabei sollte allerdings auch kritisch hinterfragt werden, welchen Vorteil sich Russland davon verspricht, im Syr Darja-Becken ein Staudammprojekt mitzufinanzieren, das zumindest vorläufig nicht wirtschaftlich zu betreiben ist.

Literatur

Forschungsstelle Osteuropa (2008): Zentralasienanalysen 08/2008. http://www.laender-analysen.de/zentralasien/pdf/ZentralasienAnalysen08.pdf.

Ryabtsev, A.D. (2008): Threats to Water Security in the Republic of Kazakhstan in the Transboundary Context and Possible Ways to Eliminate Them. http://www.icwc-aral.uz/workshop_march08/pdf/ryabtsev_en.pdf.

World Bank (2004): Central Asia. Regional Electricity Export Potential Study. http://siteresources.worldbank.org/INTUZBEKISTAN/Resources/REEPS_Main_Report_Final_English.pdf.

Dr. Kai Wegerich ist Assistant Professor in der Irrigation and Water Engineering Group der Wageningen University in den Niederlanden.

Biopiraten im Kreuzfeuer

Biopiraten im Kreuzfeuer

Die Nutzung genetischer Ressourcen als globales Konfliktfeld

von Michael Frein

Biopiraterie – diesen Vorwurf können sich Unternehmen einhandeln, die genetische Ressourcen nutzen, ohne die Regeln der UN-Konvention über die biologische Vielfalt (CBD) zu beachten. Dabei geht es um Umweltschutz, aber eben auch um Interessen der Industrie, der Industrie- und Entwicklungsländer, der Forschung und der indigenen Völker. Wie so oft: Den Schlüssel zur Konfliktlösung halten die Industrieländer in den Händen.

Bereits in den frühen Tagen der Debatte traten die Konflikte zwischen Nord und Süd, zwischen Industrie- und Entwicklungsländern, deutlich zu Tage. Im Anschluss an den 1987 von der UN-Kommission für nachhaltige Entwicklung präsentierten Bericht »Our Common Future« (Hauff 1987) machten sich die Staaten daran, die neueren Erkenntnisse der Debatte um eine nachhaltige Entwicklung in völkerrechtlich verbindliches Recht zu gießen. Dabei hatten die Industrieländer Umweltabkommen im Sinn, die Entwicklungsländer Unterentwicklung und globale soziale Gerechtigkeit. Schlussendlich reflektieren die Ergebnisse der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung, die 1992 in Rio de Janeiro stattfand, beide Anliegen. Die Erklärung von Rio und die Agenda 21 betonen, dass Umwelt und Entwicklung zwei Seiten einer Medaille darstellen.

Dieses Verständnis liegt auch der Konvention über die biologische Vielfalt (Convention on Biological Diversity – CBD) zugrunde, die neben der Klimarahmenkonvention das einzige völkerrechtlich verbindliche Ergebnis der Rio-Konferenz darstellt. Der Verhandlungsbeginn spiegelt noch das Interesse der Industrieländer am Schutz des tropischen Regenwaldes wider. Die Entwicklungsländer, so die Vorstellung im Norden, sollten verbindliche Verpflichtungen zum Schutz ihrer Primärwälder eingehen. Dieser Ansatz wurde im Verlauf der Verhandlungen gleich mehrfach erweitert: Zunächst wurde der Geltungsbereich des neuen Abkommens auf die gesamte biologische Vielfalt ausgeweitet, sodann sollte es nicht nur um Schutz und Erhaltung gehen, sondern auch um die nachhaltige Nutzung der biologischen Vielfalt (vgl. Friedland, Prall 2004; Plieninger, Bens 2008) und schließlich um die gerechte Aufteilung der Vorteile, die aus der Nutzung entstehen.

Insbesondere die letztgenannte Erweiterung ist Ergebnis des Drängens der Entwicklungsländer, die der Ausbeutung ihrer genetischen Ressourcen durch die Unternehmen des Nordens Einhalt gebieten wollten. Der Hintergrund ist, dass die biologische Vielfalt der Länder des Südens die Grundlage für viele Medikamente, aber auch andere Produkte wie Kosmetika und Nahrungsergänzungsmittel, enthält, die in Unternehmen des Nordens produziert und vermarktet werden (Holm-Müller/Täuber 2008).

Worum es geht

Dabei hatten die Entwicklungsländer Fälle von Biopiraterie wie den Neembaum im Auge. Auf dem indischen Subkontinent beheimatet, wird er dort seit Jahrhunderten genutzt – das Holz ist resistent gegen Termitenfraß, die Zweige dienen als Zahnbürste mit integriertem Schutz vor Bakterien, die Blätter ergeben Tierfutter mit Wirkung gegen Würmer, aus den Samen werden Seife, Lampenöl und Mittel gegen Insekten- und Pilzbefall gewonnen. Für die letztgenannte Wirkung gab das Europäische Patentamt 1994 einem Antrag des Agro-Unternehmens W.R. Grace und des US-Landwirtschaftsministeriums statt. Mehr als 200 Organisationen aus 35 Ländern konnten mit Hilfe alter Schriften nachweisen, dass es sich dabei nicht um eine neue Erfindung handelte, sondern um ein längst bekanntes Produkt aus der traditionellen indischen Landwirtschaft. Im Jahr 2000 widerrief das EPA seine Patenterteilung; aufgrund des Widerspruchs der Schutzrechteinhaber konnte das Patent jedoch erst im März 2005 endgültig für nichtig erklärt werden. Im Laufe des über zehn Jahre währenden Streites blieben die Rechte des Patentinhabers unberührt. Zudem wurde der Widerruf des Patentes nicht mit einer Verletzung der Regeln der Konvention über die biologische Vielfalt begründet, sondern erfolgte auf Basis des Patentrechts (Frein/Meyer 2008).

Von einem anderen Beispiel, bei dem ebenfalls traditionelles Wissen eine bedeutende Rolle spielt, berichtet die südafrikanische NGO »African Center for Biosafety«. Die Geschichte beginnt im Jahre 1897, als die ärztliche Diagnose für Charles Henry Stevens auf Tuberkulose lautete, zu jener Zeit auch in seiner Heimat Birmingham eine lebensbedrohende Angelegenheit. Sein Arzt riet ihm, des besseren Klimas wegen zu einer Reise nach Südafrika. Dort traf Stevens auf den traditionellen Heiler Mike Kijitse, der ihm aus den gestoßenen Wurzeln einer kleinen Blume einen Trank zubereitete. Das Ergebnis war verblüffend: Nach etwa drei Monaten fühlte sich der Patient wieder vollständig gesund. Stevens erprobte den Zaubertrank noch in Südafrika erfolgreich an weiteren Tuberkulose-Patienten. Zurück in England erklärte sein Arzt ihn für geheilt. Über die Geschichte mit dem Sud aus den Wurzeln der Kapland-Pelargonie, einer ausschließlich in Südafrika und Lesotho vorkommenden Geranienart, schüttelte der Mediziner jedoch den Kopf.

Dennoch: In den 1930er Jahren erreichte der Ruf von den erstaunlichen Fähigkeiten der Kapland-Pelargonie die Berliner Charité. Auch hier verliefen die Tests so erfolgreich, dass ein Unternehmen aus Regensburg, 1923 von dem Apotheker Johannes Sonntag als JSO-Werk gegründet, einen Pelargonienextrakt als Medikament auf den Markt brachte. Heute heißt das Unternehmen ISO-Arzneimittel und gehört zur Dr.Willmar-Schwabe-Unternehmensgruppe aus Ettlingen bei Karlsruhe, das Medikament auf der Basis der Kapland-Pelargonie wird unter dem Markennamen UMCKALOABO vertrieben, mit einem jährlichen Umsatz von ca. 50 Millionen Euro (Koyama/Mayet 2006, African Center for Biosafety 2008).

Die stoffliche Basis für UMCKALOABO bildet die Kapland-Pelargonie. Genau so unverzichtbar ist allerdings das traditionelle Wissen über ihre Nutzung, das über Mike Kijiste, Charles Henry Stevens und die Berliner Charité nach Deutschland gekommen ist. Dazu heißt es auf der Internetseite www.umckaloabo.de, mit der für UMCKALOABO geworben wird: „Wirksame Hilfe kommt erstaunlicherweise nicht aus den Forschungslabors der Chemieriesen, sondern aus der Savanne Südafrikas. Aus dem Wurzelsud der Kapland-Pelargonie, der aus der Volksmedizin der Zulus schon vor über hundert Jahren seinen Weg in die europäische Medizin fand, entwickelten deutsche Pflanzenforscher das Medikament UMCKALOABO.“

Nun mag strittig sein, wie weit man in der Geschichte zurück gehen soll, um von Biopiraterie sprechen zu können. Im Falle der Kapland-Pelargonie geht es allerdings auch um aktuelle Patentanmeldungen (Koyama/Mayet 2006) und weitere Umstände, die den Vorwurf der Biopiraterie begründen können. Wie dem auch sein mag: Solche und ähnliche Biopiraterie-Fälle (vgl. Frein/Meyer 2008) hatten die Entwicklungsländer im Sinn, als sie bei den Verhandlungen zur Konvention über die biologische Vielfalt nach einer gerechten Aufteilung der Vorteile aus deren Nutzung verlangten. Die Industrieländer waren von diesem Ansinnen wenig begeistert, sahen jedoch letztlich keine andere Möglichkeit als zuzustimmen, wenn sie ihr ursprüngliches Ziel, den Schutz und die Erhaltung, durchsetzen wollten. Das ist der übergreifende politische Deal, der zur Konvention über die biologische Vielfalt führte, die im Dezember 1993 in Kraft trat.

Was ist eine genetische Ressource?

Damit hat die CBD drei – gleichberechtigte – Ziele: Die Erhaltung der biologischen Vielfalt, ihre nachhaltige Nutzung und die gerechte Aufteilung der Gewinne, die aus der Nutzung entstehen. Mit Blick auf das letztgenannte Ziel regelt die Konvention die Nutzung genetischer Ressourcen. Aber was ist eine genetische Ressource? Der Konvention zufolge handelt es sich dabei um genetisches Material von tatsächlichem oder potentiellem Wert, wobei genetisches Material wiederum jedes Material pflanzlichen, tierischen, mikrobiellen oder sonstigen Ursprungs ist, das »funktionale Erbeinheiten«, also Gene, enthält.

Was nicht einfach klingt, ist tatsächlich auch Gegenstand einer erbitterten Debatte. Während Industrie und Industrieländer die These vertreten, dass damit nichts anderes als Gene gemeint sein können, beharren Entwicklungsländer und Nichtregierungsorganisationen darauf, dass diese Definition die biochemischen Extrakte und Wirkstoffe einer Pflanze einschließt. Diese Debatte ist keinesfalls akademisch, dahinter stecken handfeste politische Interessen. Denn tatsächlich spielen pflanzliche Gene für die Herstellung von Kosmetika oder Medikamenten kaum eine Rolle, im Unterschied zu biochemischen Substanzen. Bezöge sich ein internationales Abkommen aber ausschließlich auf Gene, so bliebe deren Nutzung davon unberührt (Meyer 2009).

Gemeinsames Erbe der Menschheit versus staatliche Souveränität

Denn nur mit Blick auf die Gene wären die Nutzer an die CBD-Regeln gehalten. Dort wurde erst einmal festgelegt, dass die biologischen Vielfalt nicht länger ein gemeinsames Erbe der Menschheit darstelle, sondern der Souveränität eines jeden Staates unterstehe, auf deren Gebiet sie vorkomme. Vorbei sind damit die Zeiten, in denen es völkerrechtlich unbedenklich war, in der Fremde Pflanzen zu sammeln, um sie im heimischen Labor mit welchem Interesse auch immer zu untersuchen. Der Zugang ist nun erst einmal versperrt, die CBD knüpft ihn an die vorherige informierte Zustimmung des Bereitstellers. Mit anderen Worten: Ein Unternehmen oder ein Forschungsinstitut muss bei einem ausländischen Staat um Erlaubnis fragen, ob es eine Pflanze nutzen darf. Bei dieser Anfrage muss es auch über Zweck und Art der beabsichtigten Nutzung informieren. Im gleichen Zuge ist dann über einen gerechten Vorteilsausgleich zu verhandeln, der in einer finanziellen Beteiligung, aber auch in Form von Technologietransfer oder in anderer Weise erfolgen kann. Wenn dies alles unterbleibt, sprechen zunehmend nicht länger nur NGOs und indigene Völker von Biopiraterie.

Bei den Bereitstellern einer genetischen Ressource handelt es sich, bei einer UN-Konvention kaum überraschend, um Staaten. Jedoch ist die Nutzung einer Pflanze meist eng mit traditionellem Wissen gekoppelt. Ohne Mike Kijitse gäbe es wohl kein Umckaloabo. Die Träger dieses traditionellen Wissens, meist Angehörige indigener Völker, erkennen den Staat nicht als legitimen Akteur an, wenn es um die Entscheidung über die Nutzung ihrer genetischen Ressourcen geht. Sie kritisieren die CBD, weil sie sie bei der Entscheidung über den Zugang außen vor lässt und in der Frage der Vorteilsaufteilung lediglich vage von der Förderung traditionellen Wissens und Folklore im Rahmen der nationalen Gesetzgebung die Rede ist (Harry, Kanehe 2004). Vertreter indigener Völker verweisen stattdessen auf ihre Rechte an ihrem Land, und, davon abgeleitet, an ihren genetischen Ressourcen (Victoria Tauli Corpuz 2004). Rückenstärkung erhalten sie dabei auch von internationalen Vereinbarungen, so etwa dem ILO-Abkommen über „eingeborene und in Stämmen lebende Völker in unabhängigen Ländern“ von 1989 und jüngst der UN-Erklärung über die Rechte indigener Völker aus dem Jahre 2007.

Der gordische Knoten: Industrie, Industrieländer, Forscher, Entwicklungsländer, indigene Völker, NGOs

Die Lage ist mithin von einem Gewirr unterschiedlicher Interessen gekennzeichnet. Die Regierungen der Industrieländer versuchen, die Belastungen für ihre Industrien möglichst gering zu halten. Die USA sind gar nicht erst Mitglied der Konvention geworden. Andere trachten danach, entweder den freien Zugang zu den genetischen Ressourcen der Entwicklungsländer zu erhalten (Japan, Kanada) oder die Kosten möglichst gering zu halten (EU). Dies soll erreicht werden etwa durch den Verweis auf existierende freiwillige Lösungen oder die Verweigerung, die Instrumente des dritten Konventionsziels verbindlich in nationales Recht umzusetzen. Entsprechend verzögern die Industrieländer seit 2004 laufende Verhandlungen für ein neues internationales Regime zu Zugang und gerechtem Vorteilsausgleich, die aus Sicht der Entwicklungsländer genau dies bewirken sollen, und versuchen, wie etwa die EU, eine Art Recht auf Zugang festzuschreiben. Und schließlich gehört in diese Reihe, zentrale Begriffe wie den der genetischen Ressourcen so zu definieren, dass er den eigenen Interessen dient, im vorliegenden Falle die ökonomisch interessanten Fälle aus dem Geltungsbereich des Regimes ausgrenzt. Die Industrie unterstützt und forciert diese Position, weite Teile des wissenschaftlichen Betriebs im Grunde ebenfalls, wenn das Prinzip der vorherigen informierten Zustimmung als Angriff auf die Freiheit der Forschung interpretiert wird. Ob dies aus taktischen Gründen geschieht oder eher naiv die dahinter liegenden ökonomischen und politischen Interessen einfach ausgeblendet werden, bleibt vielfach unklar.

Die Regierungen der Entwicklungsländer streben ein internationales Regime an, das sie in ihren Interessen unterstützt. Dabei führen sie in der Verhandlungsarena gegenüber den Industrieländern die Rechte ihrer indigenen Bevölkerung ins Feld. Gleichzeitig können sie sich jedoch nicht von dem Verdacht befreien, diesen Anspruch nach innen nicht einzulösen. Gegenüber den Industrieländern machen sie – nicht unbedingt immer offen, aber immer offensichtlicher – Fortschritte bei der Erhaltung der biologischen Vielfalt abhängig von Fortschritten bei der Frage der gerechten Vorteilsaufteilung.

Indigene Völker wiederum sehen sich gleich mehreren Fronten gegenüber: Der Industrie, die ihre genetischen Ressourcen und ihr traditionelles Wissen ohne ihre Zustimmung ausbeutet, werfen sie Biopiraterie vor, ebenso den Regierungen der Industrieländer, die diese Praxis rechtlich absichern. Gegenüber ihren eigenen Regierungen lautet der Vorwurf auf Nichtanerkennung ihrer Rechte, vor allem des Rechts auf ihr Land. Nichtregierungsorganisationen verlangen wie indigene Völker ein Verbot von Patenten auf Leben, sie warnen vor einer Kommodifizierung der Natur (BUKO-Kampagne gegen Biopiraterie 2005) beziehungsweise fordern, die Rechte indigener Völker anzuerkennen und sie im Verfahren zur vorherigen informierten Zustimmung als entscheidende Instanz zu etablieren (Frein 2008).

Die Lösung: Der Reisepass für genetische Ressourcen?

In diesem Rahmen fokussieren die Diskussionen auf einen Herkunftsnachweis beziehungsweise ein Zertifikat, das genetische Ressourcen auf ihren Reisen um den Globus wie einen Pass begleiten soll. Der Experten-Vorschlag sieht für jede genetische Ressource ein Zertifikat vor, das deren Herkunft offen legt sowie das Vorliegen einer vorherigen informierten Zustimmung und einer Vereinbarung zum gerechten Vorteilsausgleich bescheinigt. Darüber hinaus wird unter anderem vorgeschlagen, dass das Zertifikat Einschränkungen für den Nutzer sowie Bedingungen der Weitergabe an Dritte festhält. Mit Blick auf traditionelles Wissen wird die gesonderte vorherige informierte Zustimmung der Träger dieses Wissens vorgeschlagen.

Die Kollisionen mit dem Patentrecht sind offensichtlich. Denn eine Bedingung zur vorherigen informierten Zustimmung könnte darin liegen, dass der Nutzer auf Patentierung verzichtet. In Anbetracht der tiefen Abneigung indigener Völker in Bezug auf Patente auf Leben ist dieses Szenario nicht unwahrscheinlich. In der Folge müsste das Patentrecht auf globaler wie auf nationaler Ebene angepasst werden. Die Staaten könnten durch das Patentrecht nicht länger verpflichtet werden, grundsätzlich Patente auf Leben zu erteilen und zu schützen, da ihnen das Zertifikat für die Nutzung genetischer Ressourcen dies im Einzelfall verbieten würde. Was für die Frage der Patentierung gilt, trifft im Grund auch auf andere Nutzungsformen zu. Ohne eine im Zertifikat festgehaltene Zustimmung dürften weder Forschung noch Kommerzialisierung erlaubt werden. Verantwortlich für die Befolgung dieser Vorgaben wären die Industriestaaten, die entsprechende Vergehen aktiv verfolgen und sanktionieren müssten.

In der Debatte wird zunehmend deutlich, dass es aus der Sicht indigener Völker, aber zunehmend auch von Regierungen des Südens, nicht in erster Linie darum geht, dass möglichst viel Geld von Nord nach Süd fließt. Es geht um die Frage der Souveränität. Insbesondere für indigene Völker hat die Anerkennung ihrer Rechte Priorität. Auf dieser Basis könnte dann über Zugang und gerechten Vorteilsausgleich diskutiert werden.

Mit einem Abkommen, das sich auf den Naturschutz beschränkt, hat die Konvention damit wenig gemein. Was in den Rio-Verhandlungen als komplexer Prozess einer nachhaltigen Entwicklung versprach, ökologische und soziale Fragen miteinander zu verbinden, harrt fast 20 Jahre später immer noch der Umsetzung. Und, wie so oft, scheint der Schlüssel darin zu liegen, dass die Industrieländer in zwei Bereichen Abstriche machen müssen: Bei ihren ökonomischen Vorteilen, mehr aber noch bei ihrer Entscheidungsmacht. Dass dies schwer fällt, ist hinlänglich bekannt. Dass dies zunehmend unausweichlich ist, allerdings auch.

Literatur

African Center for Biosafety (2008): Knowledge not for sale. Umckaloabo and the Pelargonium Patent Challenges. Johannesburg: African Center for Biosafety.

BUKO-Kampagne gegen Biopiraterie (2005): Grüne Beute. Biopiraterie und Widerstand. Frankfurt: Trotzdem Verlag.

Frein, Michael (2008): Shampoo auf Bäumen. Über biologische Vielfalt und globale Gerechtigkeit. Bonn: Evangelischer Entwicklungsdienst (EED).

Frein, Michael/Meyer, Hartmut (2008): Die Biopiraten. Milliardengeschäfte der Pharma-Industrie mit dem Bauplan der Natur. Berlin: Econ.

Friedland, Julia/Prall, Ursula (2004): Schutz der Biodiversität: Erhaltung nachhaltige Nutzung in der Konvention über die biologische Vielfalt, Zeitschrift für Umweltrecht 16 (4), 193-202.

Harry, Debra/Kanehe, Le’a Malia (2005): The BS in Access and Benefit Sharing (ABS): Critical Questions for Indigenous Peoples, in: Beth Burrows (Hrsg.): The Catch: Perspectives in Benefit Sharing. Washington, S.81-120.

Hauff, Volker (Hrsg.) (1987): Unsere gemeinsame Zukunft. Der Brundtland-Bericht der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung. Greven: Eggelkamp.

Holm-Müller, Karin/Täuber, Sabine (2008): Zugang und Vorteilsausgleich in der CBD, Aus Politik und Zeitgeschichte 58 (3), 24-30.

Koyama, Misaki M./Mayet, Mariam (2006): Bioprospecting, Biopiracy and Indigenous Knowledge. Two case studies from the Eastern Cape, South Africa. Johannesburg: African Center for Biosafety.

Meyer, Hartmut (2009): Was ist eine genetische Ressource? http://www.eed.de/biodiv [Download 9. März 2009].

Plieninger, Tobias/Bens, Oliver: Biologische Vielfalt und globale Schutzgebietsnetze, Aus Politik und Zeitgeschichte 58 (3), 16-23.

Tauli Corpuz, Victoria (2004): Das Recht indigener Völker auf ihr kulturelles Erbe. Biologische Vielfalt, traditionelles Wissen und das Konzept des geistigen Eigentums. Bonn: Forum Umwelt und Entwicklung.

Michael Frein ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Referent für Welthandel und internationale Umweltpolitik beim Evangelischen Entwicklungsdienst (EED) in Bonn. Er ist außerdem Sprecher des Forums Umwelt und Entwicklung (www.forumue.de) und hat an den wichtigsten Verhandlungen der CBD in den letzten Jahren teilgenommen.