Konfliktpotentiale von Climate Engineering

Konfliktpotentiale von Climate Engineering

von Achim Maas

Die Klimaverhandlungen haben bisher zu keinem bindenden Abkommen zur Reduktion von Treibhausgasen geführt. Trotz Fortschritten im Einzelnen steigen global gesehen die Treibhausgasemissionen weiter an, und eine globale Erwärmung von über zwei Grad Celsius im Vergleich zur vorindustriellen Zeit scheint wahrscheinlicher zu werden. Die Konsequenzen werden aller Voraussicht nach dramatisch sein. Vor diesem Hintergrund werden zunehmend direkte Eingriffe in das Weltklima – Geo- oder Climate Engineering genannt – diskutiert.1 Im Hinblick auf eine präventive Friedenspolitik werden in diesem Beitrag mögliche Konfliktpotentiale entsprechender Maßnahmen beleuchtet.

In den vergangenen Jahren hat sich in Europa und Nordamerika eine Forschungscommunity zu Climate Engineering (CE) herausgebildet. Unter anderem fördert die Europäische Kommission zwei Projekte,2 und die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat ein Schwerpunktprogramm zu CE aufgelegt. Parallel gibt es inzwischen eine Vielzahl von Berichten, die im Auftrag von Regierungsorganisationen insbesondere in Deutschland, Großbritannien und den USA erstellt worden sind (z.B. Rickels et al. 2011; Royal Society 2009; GAO 2011). Ende 2011 fand am KlimaCampus Hamburg eine erste internationale Konferenz zu den friedens- und sicherheitspolitischen Herausforderungen von CE statt (Maas et al. 2012).

Obwohl die CE-Forschung noch weitgehend theoretischer Natur ist, lassen sich bereits jetzt eine Vielzahl von Risiken, Unsicherheiten und möglicherweise gravierenden Nebenwirkungen absehen (Rickels et al. 2011). Diese werden sich voraussichtlich global ungleich verteilt auswirken, gleichzeitig sind grundsätzliche Fragen der Kontrolle und Regulierung von CE bis dato ungeklärt.

Climate Engineering – ein Überblick

Ziel von CE-Maßnahmen ist es, die Erwärmung der Erdatmosphäre auf maximal zwei Grad Celsius zu begrenzen. Je nach Autor und verwendeter Definition lassen sich etwa 10-20 verschiedene Maßnahmen und Technologien für gezielte Eingriffe in das Klima identifizieren, manche Autoren benennen sogar bis zu 66 Maßnahmen (Isomäki 2012). Zudem gibt es eine Grauzone, in welcher sich CE-Maßnahmen schwer von Maßnahmen zur Klimaanpassung oder Emissionsminderung unterscheiden lassen.

Generell wird CE in zwei Oberkategorien unterteilt (Edenhofer et al. 2012: S.2): Erstens, Maßnahmen zur Beeinflussung des Strahlungshaushalts (Solar Radiation Management, SRM). Hierzu werden insbesondere folgende Ansätze gezählt (basierend auf Rickels et al. 2011, S.44f.):

Ausbringung von reflektierendem Material, z.B. durch die Positionierung von Spiegeln im Weltraum,

Ausbringung von reflektierenden Aerosolen, wie Schwefeldioxid, in die obere Atmosphäre zur Erzeugung künstlicher Wolken,

Aufhellung natürlicher Wolken durch Eintrag von Seesalzkristallen,

Aufhellung der Erdoberfläche, z.B. durch weiß Anstreichen großer dunkler Oberflächen wie Städte oder Gebirge oder die genetische Modifizierung von Nutzpflanzen, so dass deren Blätter Sonnenlicht stärker reflektieren (vgl. Ridgwell et al. 2009).

Bei der zweiten Kategorie von Climate Engineering handelt es sich um die Abscheidung von Treibhausgasen aus der Atmosphäre, meist mit Schwerpunkt auf CO2 und daher »Carbon Dioxide Removal« (CDR) genannt. Hierunter fallen folgende Ansätze (basierend auf Rickels et al. 2011, S.50f.):

Erhöhung der Kohlenstoffaufnahme der Ozeane, z.B. durch eine künstlich erhöhte Ventilation der Ozeane oder die Düngung und damit Erhöhung der CO2-Aufnahme von Algen,

landbasierte Filtrierung von Treibhausgasen aus der Luft mittels »künstlicher Bäume« oder großräumiger Aufforstung (letztere wird teils in Größenordnungen wie der Begrünung der Sahara oder der australischen Wüsten diskutiert, z.B. Ornstein et al. 2009).

Zentrale Unterschiede zwischen der Reflektion des Sonnenlichts und der Abscheidung von Treibhausgasen sind deren Wirkungsweisen: SRM wirkt lediglich symptomatisch, indem es einen Aspekt – globale Erwärmung – bearbeitet, aber andere Folgen des Klimawandels, wie Versauerung der Meere, nicht. Dafür kann es jedoch innerhalb weniger Jahre große Wirkung entfalten. CDR hingegen entzieht der Atmosphäre Treibhausgase und bearbeitet damit die Ursachen der Klimaveränderung; die Wirkung, wie eine globale Abkühlung, tritt jedoch erst mit Jahrzehnten Verzögerung ein (Rickels et al. 2011).

Erste Experimente wurden zwar bereits durchgeführt, wie im Falle von Ozeandüngung (Fleming 2010), allerdings ist keines der Verfahren entfernt anwendungsreif. Die meiste Forschung konzentriert sich aktuell auf Laborforschung und theoretische Modelle. Dennoch sind in diesem Bereich bereits mehrere Unternehmen aktiv und entwickeln Geschäftsmodelle besonders zu CDR-Methoden.3

Bei den Klimaverhandlungen spielt CE bisher keine Rolle. Politisch hat sich auch noch kein Staat eindeutig für oder gegen CE positioniert. Zwar existieren im Rahmen der Konvention für biologische Diversität und der Londoner Konvention zum Meeresschutz erste Regulierungsansätze, speziell hinsichtlich der Ozeandüngung (Rickels et al. 2011, S.150). Diese sind jedoch weitgehend unverbindlicher Natur, zumal wichtige Staaten, wie die USA, nicht Teil der Konvention für biologische Diversität sind. Vor dem Hintergrund der bereits laufenden Forschung wie auch der Bearbeitung des Themas im 5. Sachstandsbericht des Weltklimarats (Edenhofer et al. 2012) ist allerdings davon auszugehen, dass CE zunehmend in die öffentliche und politische Aufmerksamkeit rücken wird.

Konfliktpotentiale von CE

Solange CE mehr Idee als Realität ist, lassen sich kaum empirisch belastbare Aussagen über Konfliktpotentiale treffen. Lediglich Plausibilitätsüberlegungen und Gedankenexperimente sind möglich. Solche Überlegungen sind jedoch notwendig, wenn die möglichen Risiken der Erforschung und des möglichen Einsatzes von CE abgeschätzt werden sollen.

Im Nachfolgenden wird daher eine Reihe denkbarer Konfliktpotentiale als Folge von Climate Engineering vorgestellt. Konflikt wird hierbei breit als Interessensgegensatz zwischen staatlichen oder nicht-staatlichen Akteuren begriffen. Unterschieden werden im Folgenden vier Typen von Konfliktpotentialen: 1. CE als Konfliktgegenstand, 2. Konflikte in Folge der Anwendung von CE, 3. CE als Instrument des Konfliktaustrags und 4. CE als Instrument der Konfliktprävention.

Der Rahmen dieses Beitrags ermöglicht es hierbei nicht, auf alle Ansätze und Maßnahmen im Detail einzugehen. Stattdessen werden die jeweiligen Konfliktpotentiale exemplarisch anhand einzelner CE-Methoden erläutert.

CE als Konfliktgegenstand

Die Auswirkungen des Klimawandels sind regional verschieden. So erwärmen sich Regionen wie die Arktis und der Nahe Osten schneller als der globale Durchschnitt (Parry et al. 2007). Ebenso fallen Niederschlagsveränderungen zwischen verschiedenen Weltregionen unterschiedlich aus. Dasselbe ist von CE-Maßnahmen zu erwarten: Maßnahmen zur Reflektion des Sonnenlichts hätten unterschiedliche regionale Auswirkungen (Schmidt et al. 2012). Unter anderem wird spekuliert, dass der indische Monsun durch Veränderung des Strahlungshaushalts beeinträchtigt werden könnte, mit Folgen für die gesamte Region (Irvine et al. 2011). Bei der Bewertung von CE-Maßnahmen muss daher betrachtet werden, wie sie sich auf lokaler/regionaler Ebene auswirken und inwiefern sie anderen Klimaauswirkungen begegnen. Bei gravierenden Auswirkungen ist in Antizipation der Risiken davon auszugehen, dass eine negativ betroffene Region eine Anwendung von CE prinzipiell eher ablehnen würde.

Abgesehen von den »Nebenwirkungen« von CE werfen solche Maßnahmen die Frage nach einem angemessenen Klima auf: Welche globalen oder regionalen Klimabedingungen sollen angestrebt werden, wenn Klimaveränderungen sich ungleich einstellen? Ein interessantes Beispiel ist in diesem Zusammenhang die Arktis: Einerseits fordert die »Arctic Methane Emergency Group« eine Anwendung von CE bis 2015, um ein Auftauen des Permafrosts und somit das Entweichen des starken Klimatreibers Methan in die Atmosphäre zu verhindern (AMEG 2009). Andererseits bietet das Auftauen der Arktis auch Chancen in Form von Ressourcenexploration, neuen Schifffahrtswegen und neuen landwirtschaftlichen Anbau- und Siedlungsgebieten (vgl. Emerson/Lahn 2012). Zu bedenken ist dabei, dass regionale Klimaveränderungen nicht auf die jeweilige Region beschränkt bleiben, sondern zwangsweise transregionale Konsequenzen haben, da es sich bei keiner Region um ein geschlossenes System handelt (Irvine et al. 2011).

Die Implementierung von CE-Maßnahmen ist ebenfalls konfliktbehaftet. Bspw. würde die Abscheidung von Kohlendioxid mit technischen Mitteln in großem Maßstab umfangreicher Infrastruktur und Lagerungsstätten bedürfen. Im Falle Deutschlands hat sich das Konfliktpotential von »Carbon Capture and Storage« (CCS, Sequestrierung bzw. Abscheidung und Speicherung von CO2) in der lokalen Bevölkerung bereits gezeigt. Ozeandüngung wiederum beeinträchtigt möglicherweise marine Ökosysteme und damit potentiell die Fischerei (vgl. Rickels et al. 2011).

Inwiefern und in welcher Form die Anwendung von CE zu Konflikten führen kann, ist vom jeweiligen Kontext abhängig, insbesondere von der angewandten Methode und deren Größenordnung. Es liegt auf der Hand, dass die Pflanzung von Bäumen auf einigen hundert oder tausend Hektar innerhalb der Grenzen eines Landes zwecks CO2-Abscheidung eine andere Qualität und räumliche Ausprägung hätte, als wenn ein Land oder eine Gruppe von Ländern globales Strahlungsmanagement betreiben würde. Auch die Zeitdimension spielt eine große Rolle: Konflikte über die Anwendung von CE können aufgrund der antizipierten negativen Auswirkungen schon aufkommen, bevor ein bestimmtes Verfahren anwendungsreif ist.

Konflikte als Folge der CE-Anwendung

Inzwischen existiert eine umfangreiche Debatte darüber, inwiefern Klimaveränderungen zum Ausbruch von Gewaltkonflikten beitragen (Brauch/Scheffran 2012). Sollte dies tatsächlich der Fall sein, so gilt das natürlich auch für gezielte Klimaeingriffe: CE »neutralisiert« Klimawandel nicht, sondern setzt einer nicht intendierten eine intendierte Klimaveränderung entgegen – es wird also Feuer mit Feuer bekämpft. Realistischerweise werden noch viele Jahre bis zu einer möglichen Umsetzung von CE vergehen. Bis dahin schreitet der Klimawandel unvermindert fort. Die Anwendung von CE schafft dann neben vom Klimawandel induzierten Konflikten weitere Konfliktpotentiale. Diese ließen sich allerdings nicht trennscharf voneinander unterscheiden.

Eine zusätzliche Problematik entsteht durch das Terminationsproblem von Maßnahmen zur Reflektion des Sonnenlichts: SRM-Maßnahmen verdecken den eigentlichen Temperaturanstieg aufgrund der erhöhten Treibhausgaskonzentration, bearbeiten diesen aber nicht. Werden SRM-Maßnahmen eingestellt, würde in kürzester Zeit wieder die »normale«, durch Treibhausgas erhöhte Temperatur hergestellt, was sich abermals stark regional auswirken würde (Rickels et al. 2011).

Neben diesen Folgen wären noch die unmittelbaren Konsequenzen der Anwendung zu bedenken, z.B. bei flächenintensiven CE-Methoden. Würden bspw. riesige Landflächen für Aufforstung genutzt, wären diese Böden der landwirtschaftlichen Produktion entzogen. Vor dem Hintergrund einer weiterhin stark steigenden Weltbevölkerung könnte sich dies negativ auf die Ressourcenpreise auswirken und Nutzungskonkurrenzen hervorrufen.

CE als Instrument des Konfliktaustrags

Aus der Zeit des Kalten Krieges, als die Supermächte Forschung für die militärisch motivierte Klimakontrolle betrieben (Fleming 2010), stammt die »Convention on the Prohibition of Military or Any Other Hostile Use of Environmental Modification Techniques« (ENMOD), welche Umweltmodifikationen mit feindlicher Absicht verbietet. Dennoch ist es sinnvoll, das Risiko eines militärischen Missbrauchs von CE zu bedenken (vgl. Robock 2008).

Eine starke Verdunkelung und regionale Abkühlung aufgrund künstlicher Wolkenbildung z.B. würde sich in der betroffenen Region negativ auf die Niederschlagsmuster, auf Ökosysteme und damit die landwirtschaftliche Produktion sowie auf das menschliche Wohlbefinden auswirken. Das könnte beim militärischen Gegner längerfristig eine zersetzende, wenngleich nicht unmittelbar tödliche Wirkung haben.

Andererseits stellt sich die Frage, ob andere Maßnahmen, z.B. Wirtschaftssanktionen, nicht ähnliche Effekte erzielen könnten, zumal die Folgen von CE-Maßnahmen vermutlich kaum auf eine bestimmte Region beschränkt blieben. So würde sich eine Verdunkelung von Nordafrika/Sahara womöglich stark negativ auf den indischen Monsun auswirken (Irvine et al. 2011), also mit hohen interregionalen »Kollateralschäden« behaftet sein. Ein mittels CE ausgetragener Konflikt hätte somit ein hohes Risiko einer horizontalen Eskalation, da viele Akteure in den Konflikt hineingezogen werden könnten.

Außerdem steht die Frage der Kontrollierbarkeit sowie der Konsequenzen für das eigene Land im Raum. So ließe sich die Ausbringung von Aerosolen zwar auf eine bestimmte Region konzentrieren; nach der Ausbringung würden die Aerosole bzw. die damit erzeugten Wolken mit dem Wind aber auch in andere Regionen verbracht. Zudem ist davon auszugehen, dass die betroffenen Staaten konventionelle und/oder unkonventionelle Gegenmaßnahmen ergreifen würden. Des weiteren könnte die umfangreiche Infrastruktur, die für CE-Maßnahmen Voraussetzung ist, zum möglichen Angriffspunkt werden und damit neue Vulnerabilitäten schaffen.

CE zur Konfliktprävention und -bearbeitung

Theoretisch kann CE auch konfliktvermeidend wirken. So kann eine Begrenzung der globalen Mitteltemperatur auf zwei Grad Celsius einem unkontrollierten Anstieg vorzuziehen sein. Zwar würden, wie oben beschrieben, eventuell weitere Konfliktpotentiale geschaffen, diese aber ggf. als weniger problematisch eingestuft als ein unkontrollierter Temperaturanstieg. Dies setzt jedoch voraus, dass mögliche Konflikte über die Anwendung von CE bereits im Vorfeld gelöst werden.

Wie oben bereits erwähnt, hat der Klimawandel auch das Potential für bestimmte positive Nebeneffekte. So kann eine erhöhte CO2-Konzentration die landwirtschaftliche Produktion steigern und damit einen Beitrag zur Deckung der globalen Nahrungsmittelproduktion leisten. Eine CE-Maßnahme wie Reflektion des Sonnenlichts würde diesen wachstumsfördernden Effekt erhalten, eine zu starke, der Landwirtschaft abträgliche Erwärmung jedoch gleichzeitig vermeiden (Pongratz et al. 2012). Aufforstung zur Abmilderung des Klimawandels kann sich positiv auf degradierte Böden auswirken und Bodenerosion entgegenwirken, sofern sie konfliktsensitiv gestaltet wird. Die oben erwähnten Unternehmen arbeiten zudem auch am »Recycling« abgetrennten Kohlendioxids als neue Rohstoffquelle, z.B. für Werkstoffe.

Schließlich kann die konsensuale Nutzung von CE auch eine vertrauensbildende Maßnahme darstellen und internationale Kooperation verstärken. Dieser Effekt ließe sich möglicherweise schon in der Vorbereitungsphase erzielen, also bevor CE-Maßnahmen tatsächlich eingesetzt werden.

Zusammenfassung und Reflektion

Aus dieser Betrachtung der vier Konfliktpotentiale von Climate Engineering lassen sich folgende Thesen ableiten:

Climate Engineering wird voraussichtlich Konfliktpotentiale schaffen, diese sind jedoch sehr heterogener Natur und müssen je nach Ansatz und Methode im Einzelnen untersucht werden.

Konflikte über antizipierte negative Auswirkungen von Climate Engineering stellen eine neue, zusätzliche Konfliktdimension dar, welche CE vom nicht intendierten Klimawandel und dessen Konfliktpotentialen unterscheidet.

Eine militärische Anwendung von CE scheint aufgrund mangelnder Steuerungsfähigkeit und möglicherweise hoher Kollateralschäden vor dem Hintergrund aktueller technologischer Möglichkeiten wenig plausibel. Ein Dual-use-Potential ist jedoch nicht auszuschließen, zumal Forschung zur besseren Kontrolle von CE bereits existiert (z.B. Keith 2010).

Zivile CE-Programme wären eventuell Bedrohungen durch feindliche Akte ausgesetzt und schaffen somit eine neue Vulnerabilität.

CE kann konfliktpräventive Wirkung entfalten, dies bedarf jedoch erst der Lösung von Konflikten über antizipierte Konsequenzen – und selbst dann sind Konfliktpotentiale nicht auszuschließen.

Bisher ist der Einsatz von CE rein hypothetischer Natur. Das Potential jedoch, Konflikte schon vor dem eigentlichen Einsatz hervorzurufen, spricht für eine frühe und angemessene Befassung mit Climate Engineering aus friedenspolitischer Sicht. Speziell gilt es, das gegenwärtige internationale Institutionengefüge auf seine Fähigkeit zur Bearbeitung von CE-Konflikten hin abzuprüfen und ggf. Ansätze zur Bereitstellung des notwendigen Rahmens für eine kooperative, auf Interessensausgleich ausgerichtet multilaterale Lösung zu entwickeln.

Literatur

Arctic Methane Emergency Group (AMEG): Auswahl »Taking Action« auf Website ameg.me.

Brauch, H. und J. Scheffran (2012): Introduction: Climate Change, Human Security, and Violent Conflict in the Anthropocene. In: J. Scheffran, M. Brzoska, H. Brauch, M. Link und J. Schilling (Hg.) 2012: Climate Change, Human Security and Violent Conflict. Challenges for Societal Stability. Berlin: Springer, S.3-40.

Crutzen, P. (2006): Albedo Enhancement by Stratospheric Sulfur Injections: A Contribution to Resolve a Policy Dilemma? Climatic Change 77, S.211-219.

Edenhofer, O., R. Pichs-Madruga, Y. Sokona, C. Field, V. Barros, T. Stocker, Q. Daher, J. Minx, K. Mach, G.-K. Plattner, S. Schlömer, G. Hansen, M. Mastrandrea (Hrsg.) (2012): IPCC Expert Meeting on Geoengineering. Lima, Peru, 20-22 June 2011. Meeting Report; ipcc-wg3.de.

Emerson, C. und G. Lada (2012): Arctic Opening. Opportunity and Risk in the High North.London: Lloyd’s und Chathamhouse; chathamhouse.org.

Fleming, J. (2010:) Fixing the Sky. New York: Columbia University Press.

(U.S.) Government Accountability Office (GAO) (2011): Climate Engineering. Technical Status, Future Directions and Potential Responses. Washington: GAO.

Keith, D. (2010): Photophoretic levitation of engineered aerosols for geoengineering. Proceedins of the National Academy of Sciences 107, S.16428-16431.

Irvine, P., A. Ridgwell, D. Lunt (2011): Climatic effects of surface albedo geoengineering. Journal of Geophysical Research 116, doi:10.1029/2011JD016281.

Isomäki, R. (2012): 66 Ways to Absorb Carbon and Improve the Earths Reflectivity. Helsinki: Into.

Maas, A., M. Brzoska, M. Link, G. Neuneck, J. Scheffran (2012): Direkte Eingriffe ins Klima. Eine friedenspolitische Herausforderung? Tagung am KlimaCampus Hamburg. Wissenschaft & Frieden 2012-1, S.44-45.

Ornstein L., I. Aleinov, D. Rind (2009): Irrigated Afforestation of the Sahara and the Australian Outback to End Global Warming. Climatic Change 97, S.409-437.

Parry, M., O. Canziani, J. Palutikof, P. van der Linden und C.E. Hanson (Hrsg.) (2007): Contributions of Working Group II tothe Fourth Assessment Report of the Intergovernmental Panel on Climate Change. New York: Columbia University Press.

Pongratz, J., D. Lobell, L. Cao und K. Caldeira (2012): Crop yields in a geoengineering climate. Nature Climate Change, DOI: 10.1038/NCLIMATE1373

Rickels, W., G. Klepper, J. Dovern, G. Betz, N. Brachatzek, S. Cacean, K. Güssow, J. Heintzenberg, S. Hiller, C. Hoose, T. Leisner, A. Oschlies, U. Platt, A. Proelß, O. Renn, S. Schäfer, M. Zürn (2011): Gezielte Eingriffe in das Klima? Eine Bestandsaufnahme der Debatte zu Climate Engineering. Sondierungsstudie für das Bundesministerium für Bildung und Forschung. Kiel: Kiel Earth Institute.

Ridgwell, A., J. Singarayer, A. Hetherington, P. Valdes (2009): Tackling Regional Climate Change by Leaf Albedo Bio-Geoengineering. Current Biology 19, S.146-150.

Robock, A. (2008): 20 Reasons Why Geoengineering May Be a Bad Idea. Bulletin of the Atomic Scientist 64, S.14-18.

Royal Society (2009): Geoengineering the Climate: Science, Governance and Uncertainty. London: Royal Society.

Schmidt, H., K. Alterskjaer, D. Bou Karam, O. Boucher, A. Jones, J. Kristjansson, U. Niemeier, M. Schulz, A. Aaheim, F. Benduhn, M. Lawrence und C. Timmreck (2012): Solar irradiance reduction to counteract radiative forcing from a quadrupling of CO2: Climate responses simulated by four earth system models. Earth System Dynamics 3, S.63-78.

Anmerkungen

1) International gibt es keine verbindliche Definition für Climate Engineering, jedoch werden hierunter in der Regel großskalige technische Eingriffe in das Weltklima verstanden.

2) Dabei handelt es sich um die Projekte IMPLICC (implicc.zmaw.de) und EuTRACE (eutrace.org).

3) Beispiele hierfür sind Carbon Engineering (carbonengineering.com), Kilimanjaro Energy (kilimanjaroenergy.com) und Global Thermostat (globalthermostat.com).

Achim Maas ist Koordinator des Themenclusters »Sustainable Interactions with the Atmosphere« am Institute for Advanced Sustainability Studies in Potsdam (IASS Potsdam).

Der Globale Klima-Risiko-Index 2012

Der Globale Klima-Risiko-Index 2012

von Sven Harmeling

Zum siebten Mal hat »Germanwatch« inzwischen einen Globalen Klima-Risiko-Index (KRI) vorgelegt. Dieser untersucht sowohl für das Jahr 2010 als auch für die letzten zwanzig Jahre, welche Länder besonders stark von Wetterextremen wie Überschwemmungen und Stürmen betroffen waren. Erfasst werden auch die Todesopfer sowie die direkten ökonomischen Verluste.

Die wesentlichen Aussagen des KRI 2012 machen deutlich, dass zwischen 1991 und 2010 Bangladesch, Myanmar und Honduras am stärksten unter extremen Wetterereignissen gelitten haben. Im Jahre 2010 waren zudem Pakistan, Guatemala, Kolumbien und Russland besonders stark betroffen. Alle zehn am stärksten betroffenen Länder (1991-2010) waren Entwicklungsländer mit niedrigem oder niederem mittleren Pro-Kopf-Einkommen.

Insgesamt starben zwischen 1991 und 2010 mehr als 710.000 Menschen als direkte Folge von mehr als 14.000 extremen Wetterereignissen, und es kam in diesem Zeitraum zu Verlusten von mehr als 2,3 Billionen US$ in Kaufkraftparitäten (US$ 1,5 Billionen Verlust in absoluten Zahlen).

Methodik

Die Analyse des Klima-Risiko-Index 2012 (KRI) basiert auf Datensätzen, die durch den weltweit anerkannten Münchener Rück NatCatSERVICE erfasst wurden. Dieser erhebt für sämtliche Länder alle elementaren Verlustereignisse, die erhebliche Sach- und Personenschäden verursacht haben, und stellt diese als Gesamtsumme wetterbedingter Verluste, Anzahl der Todesfälle, versicherte Schäden und Gesamtsumme der ökonomischen Schäden dar. In der Analyse des KRI wurden nur wetterbezogene Ereignisse wie Stürme, Überflutungen sowie Temperaturextreme (Hitze- und Kältewellen) berücksichtigt.

Für die Auswertung zum KRI wurden folgende Indikatoren untersucht:

  1. Anzahl der Todesfälle,
  2. Anzahl der Todesfälle pro 100.000 Einwohner,
  3. Summe der Verluste in US$ in Kaufkraftparität (KKP),
  4. Verluste pro Einheit des Bruttoinlandsproduktes (BIP).

Die ökonomischen- und Bevölkerungsdaten der Indikatoren 2, 3 und 4 stammen primär aus den Datensätzen des Internationalen Währungsfonds (IWF). Außerdem sollte beachtet werden, dass für einige Länder, darunter kleinere Inselstaaten im Pazifik oder politisch sehr instabile Regionen wie z.B. Somalia, keine ausreichend verwertbare Datensätze vorhanden sind und daher einige Länder nicht berücksichtigt werden können.

Der KRI basiert auf den Verlustzahlen von 2010 sowie 1991-2010. Der Indexwert jedes Landes leitet sich dabei von dessen Mittelwert aus der Analyse aller vier Indikatoren und gemäß folgender Gewichtung ab:

  1. 1/6 absolute Todesfälle,
  2. 1/3 Tote im Verhältnis zur Einwohnerzahl,
  3. 1/6 absolute Verluste in US$,
  4. 1/3 Verluste im Verhältnis zum BIP in US$.

Die Identifizierung der relativen Werte des Index (Tote im Verhältnis zur Einwohnerzahl, Verluste in Prozent von BIP) ist eine wichtige Ergänzung zu den dominierenden absoluten Werten, da so eine Analyse länderspezifischer Daten über Schäden und Verluste in Bezug auf die tatsächlichen Gegebenheiten in diesen Ländern ermöglicht wird. Beispielsweise ist es offensichtlich, dass eine Milliarde US$ für ein reiches Land wie die USA nicht das Gleiche bedeutet wie für ein armes Land.

Der Indikator »absolute Verluste in US$« wird durch die Kaufkraftparität ermittelt anstelle auf der Basis nominaler Wechselkurse, da so besser zum Ausdruck kommt, wie Menschen tatsächlich durch den Verlust von einem US$ betroffen sind. Kaufkraftparitäten erlauben z.B. einen Vergleich zwischen BIP-Werten verschiedener Länder, indem Preisunterschiede verglichen werden. Vereinfacht dargestellt bedeutet dies, dass ein indischer Bauer mit einem US$ mehr Feldfrüchte kaufen kann, als es sein amerikanisches Gegenüber könnte. Daher sind die tatsächlichen Konsequenzen bei gleichem nominalen Schaden in Indien viel höher als in den USA. Für die Mehrheit der Länder müssen für die Darstellung der Schäden aus diesem Grund die US$-Werte mit einem höheren Faktor als eins multipliziert werden.

Weiterhin ergeben sich die Werte, und damit auch die Rangfolge der Länder in Bezug auf die jeweiligen Indikatoren, nicht nur wegen der absoluten Auswirkungen extremer Wetterereignisse, sondern auch aufgrund von Wirtschafts- und Bevölkerungswachstum. Die Fähigkeit von Gesellschaften, Schäden beispielsweise mittels Katastrophenvorsorge, Versicherungen oder der Verfügbarkeit von Nothilfemaßnahmen zu begegnen, nimmt im Allgemeinen mit wirtschaftlichem Wachstum zu.

Trotz der historischen Analyse ist eine deterministische Projektion der Vergangenheit auf die Zukunft nicht angebracht und die Wahrscheinlichkeit, dass vergangene Extremwettertrends sich in einer Welt des globalen Klimawandels weiterhin in ähnlicher Weise fortsetzen, unklar. Die Auswertung der Schäden und Todesopfer erlaubt keine Aussage darüber, welchen Einfluss der Klimawandel bei diesen Ereignissen bereits hatte. Zudem kann ein einzelnes Extremwetterereignis aus methodologischen Gründen nicht ausschließlich auf den anthropogenen Einfluss zurückgeführt werden. Und schließlich spiegeln die Daten lediglich die direkten Einflüsse (Verluste und Todesfälle) extremer Wetterereignisse wider und decken nicht andere Auswirkungen des Klimawandels wie Meeresspiegelanstieg oder Ozeanversauerung ab. Trotzdem lässt sich ein gewisses Bild der Verwundbarkeit der Staaten zeichnen, das andere Analysen ergänzen kann. Dies kann als Warnsignal dienen, sich mit Katastrophenvorsorge und Anpassung an den Klimawandel besser auf möglicherweise vermehrte und stärkere Extremereignisse vorzubereiten.

Ergebnisse des KRI 2012

Tabelle 1 zeigt die zehn Länder, die im vergangenen Jahrzehnt am meisten betroffen waren, mit ihrer durchschnittlich gewichteten Platzierung (KRI-Wert) sowie die spezifischen Werte in den vier analysierten Indikatoren. Für den Untersuchungszeitraum 1991-2010 wurden Bangladesch, Myanmar und Honduras als die meistbetroffenen Länder ermittelt. Ihnen folgten Nicaragua, Haiti, Vietnam und die Dominikanische Republik. Es gibt nur geringfügige Änderungen im Vergleich zu den Analysen des KRI 2011, der sich auf die Periode 1990-2009 bezieht.

Tabelle 1: KRI-Ergebnisse für die zehn am meisten betroffenen Ländern in der Periode 1991-2010

KRI 1991-2010 (1990-2009) Land KRI-Wert Zahl der Todesopfer Tote pro 100.000 Einwohner Schäden in Millionen US$ (KKP) Schäden in % von BIP Anzahl der Ereignisse (1991-2010)
1 (1) Bangladesch 8,17 7.814 5,51 2.091 1,56 251
2 (2) Myanmar 10,50 7.130 14,06 659 1,68 33
3 (3) Honduras 11,67 327 5,05 662 2,93 56
4 (4) Nicaragua 18,00 159 2,83 212 1,90 43
5 (6) Haiti 21,17 340 3,95 155 1,12 51
6 (5) Vietnam 21,50 445 0,57 1.809 1,19 40
7 (8) Dominikanische Republik 30,50 211 2,51 181 0,37 44
8 (37) Pakistan 30,67 558 0,40 1.834 0,66 144
9 (–) Nordkorea 30,83 74 0,33 1.172 3,61 33
10 (7) Philippinen 31,83 801 1,03 660 0,30 270
32 (28) Deutschland 48,50 475 0,58 2.185 0,10 473
32 (25) Schweiz 48,50 59 0,82 381 0,16 333
53 (50) Österreich 59,83 30 0,38 385 0,16 177
Quelle: Eigene Darstellung basierend auf den Datensätzen des Münchener Rück NatCatSERVICE und des Internationalen Währungsfonds (IWF).

Unter den zehn meistbetroffenen Ländern befindet sich kein Industrie- oder Annex-I-Land.1 Unter den ersten 20 findet sich nur eines, Russland, und zwar als Folge der extremen Hitzewelle in 2010. Vor allem im Verhältnis betrachtet sind die ärmeren Entwicklungsländer viel stärker betroffen. Diese Ergebnisse zeigen die besondere Verwundbarkeit der armen Länder gegenüber klimatischen Risiken – trotz der Tatsache, dass die absoluten monetären Schäden in den reicheren Ländern wesentlich höher sind. Darüber hinaus sind die meistbetroffenen Länder am wenigsten verantwortlich für den Klimawandel.

Tabelle 2 zeigt die zehn im Jahr 2010 am stärksten betroffenen Länder mit ihrer durchschnittlich gewichteten Platzierung (KRI-Wert) und den spezifischen Ergebnissen in den vier Einzelindikatoren. Pakistan, Guatemala und Kolumbien wurden im Jahr 2010 als die meistbetroffenen Länder identifiziert. Ihnen folgten Russland, Honduras und Oman.

Tabelle 2: Der Klima-Risiko-Index für das Jahr 2010: die zehn am meisten betroffenen Länder

KRI 2010 (2009) Land KRI-Wert Zahl der Todesopfer Tote pro 100.000 Einwohner Schäden in Millionen US$ (KKP) Schäden in % von BIP Human Development Index*
1 (68) Pakistan 3,50 1.891 1,10 25.316 5,42 145
2 (53) Guatemala 6,33 229 1,59 1.969 2,80 131
3 (100) Kolumbien 8,00 320 0,70 7.544 1,73 87
4 (75) Russland 11,00 56.165 39,30 5.537 0,25 66
5 (65) Honduras 14,67 139 1,73 220 0,65 121
6 (88) Oman 17,00 24 0,81 1.314 1,73 89
7 (14) Polen 17,83 151 0,40 4.745 0,66 39
8 (93) Portugal 19.67 47 0,44 1.749 0,71 41
9 (23) China 23,50 2.889 0,22 33.395 0,33 101
10 (38) Tadschikistan 24,17 27 0,35 262 1,77 127
46 (68) Deutschland 53,17 28 0,03 2351.57 0,08 9
105 (16) Österreich 85,00 3 0,04 6,81 0,00 19
118 (33) Schweiz 92,67 1 0,01 11,79 0,00 11
* United Nations Development Programme (UNDP) (2011): Human Development Report. www.hdr.undp.org.

Quelle: Eigene Darstellung basierend auf den Datensätzen des Münchener Rück NatCatSERVICE, des Internationalen Währungsfonds (IWF) und des UNDP Human Development Index.

Im Jahr 2010 waren Honduras, China und auch Guatemala mehrere Male unter den am stärksten betroffenen Ländern: Honduras vor allem auf Grund von Hurrikanen, China wegen verschiedener extremer Ereignisse, vor allem Überschwemmungen, und Guatemala aufgrund von tropischen Wirbelstürmen. Außergewöhnliche Ereignisse in Pakistan (Überschwemmungen), Kolumbien (Überschwemmungen), Russland (Hitzewelle) und Oman (Überschwemmungen) verursachten die hohe Platzierung dieser Länder. Ungewöhnlich ist, dass Polen (Überschwemmungen) und Portugal (Überschwemmungen) unter den Erstplatzierten erscheinen.

Pakistan war in den vergangenen Jahren gezwungen, sich an extreme Wetterereignisse zu gewöhnen. Im Jahr 2010 wurde es von den schlimmsten Überschwemmungen seiner Geschichte getroffen: Während der Monsunzeit kamen mehr als 1.700 Menschen in 84 von 121 Distrikten zu Tode.

Im Juli 2010 verursachte eine Hitzewelle in Russland massive Schäden durch Wald- und Torfbrände. Es war der heißeste Monat, der in Moskau jemals meteorologisch erfasst wurde. Die Hitzewelle führte laut Statistik zu mehr als 55.000 Todesfällen. „Die Moskauer Hitzewelle im vergangenen Jahr war mit hoher Wahrscheinlichkeit die Folge des Klimawandels – im Gegensatz zu dem, was einige angenommen haben. Mit einer Wahrscheinlichkeit von 80 Prozent wurde der Temperaturrekord in der Region um die russische Hauptstadt im Juli 2010 nicht durch natürliche, kurzfristige Klimaschwankungen verursacht, sondern durch eine langfristige Tendenz zur Erwärmung.“ 2

Brennpunkt Afrika

Wie Tabelle 3 zu entnehmen ist, weisen afrikanische Länder einen relativ niedrigen Platz innerhalb des KRI auf. In Afrika verursachen indirekte Auswirkungen in Form von Nahrungsmittelknappheit als Konsequenz lang anhaltender Dürreperioden die schwerwiegendsten Probleme. Sich langsam und graduell auswirkende sozio-ökologische Konsequenzen des Klimawandels (slow creeping disasters) können durch die Daten der Münchener Rück und damit auch die Methodik des KRI nicht mit ausreichender Zuverlässigkeit dargestellt werden.

Tabelle 3: Afrikanische Länder im KRI 2010

KRI Land KRI-Wert Zahl der Todesopfer Tote pro 100.000 Einwohner Schäden in Millionen US$ (KKP) Schäden in % von BIP Anzahl der Ereignisse Human Development Index*
14 Benin 26,50 53 0,55 63,66 0,46 1 167
27 Madagaskar 35,83 86 0,40 22,61 0,11 2 151
29 Uganda 37,83 307 0,90 6,71 0,02 8 161
33 Ghana 41,00 109 0,46 20,08 0,03 2 135
34 Angola 41,50 156 0,82 7,30 0,01 3 148
37 Mauretanien 43,50 21 0,66 3,70 0,06 1 159
42 Tschad 49,50 27 0,26 8,14 0,04 3 183
43 Kenia 49,67 93 0,23 14,53 0,02 3 143
47 Marokko 54,33 43 0,14 27,01 0,02 4 130
51 Togo 58,00 21 0,30 0,94 0,02 1 162
* United Nations Development Programme (UNDP) (2011): Human Development Report. www.hdr.undp.org.

Quelle: Eigene Darstellung basierend auf den Datensätzen des Münchener Rück NatCatSERVICE, des Internationalen Währungsfonds (IWF) und des UNDP Human Development Index.

Dennoch bedeuten die Ergebnisse in Tabelle 3 nicht, dass Afrika nicht betroffen wäre. Basierend auf internationalen Statistiken der Katastrophendatenbank EM-DAT zeigt Tabelle 4 die Anzahl der von klimabedingten Katastrophen Betroffenen in Afrika im Jahr 2010. Insgesamt waren nahezu 37 Mio. Personen in Afrika von unterschiedlichen Wetterereignissen und ihren spezifischen Auswirkungen betroffen.

Tabelle 4: Anzahl der von wetterbedingten Katastrophen betroffenen Menschen in Afrika in 2010

Land Dürre Flut Sturm Buschfeuer Gesamt
Angola 189.781 189.781
Benin 831.000 831.000
Burkina Faso 133.362 133.362
Burundi 180.000 1.990 1.500 183.490
Kamerun 3.095 3.095
Zentralafr. Rep. 1.585 1.585
Tschad 2.400.000 144.579 2.544.579
Côte d‘Ivoire 6.425 6.425
Dschibuti 165.264 165.264
Ägypten 3.500 40 3.540
Äthiopien 6.200.000 80.700 6.280.700
Gabun 1.765 1.765
Gambia 38.961 38.961
Ghana 17.174 17.174
Guinea 48.026 48.026
Guinea Bissau 56.792 56.792
Kenia 3.754.585 211.164 3.965.749
Liberia 15.486 15.486
Madagaskar 720.000 192.132 912.132
Malawi 21.290 21.290
Mali 600.000 8.750 632.000
Mauretanien 300.000 8.750 308.750
Marokko 77.009 77.009
Mosambik 460.000 17.000 477.000
Namibia 110.000 110.000
Niger 7.900.000 233.226 8.133.226
Nigeria 1.500.200 1.500.200
Ruanda
Senegal 102.516 102.516
Sierra Leone 234 234
Somalia 4.000.000 16.200 4.016.200
Südafrika 6.000 6.000
Sudan 4.300.000 26.362 4.326.362
Togo 111.550 111.550
Uganda
DR Kongo/Zaire 70.500 2.770 73.270
Sambia 1.200 1.200
Simbabwe 1.680.000 820 1.680.820
Total 32.659.849 4.112.477 201.437 2.770 36.976.533
Quelle: Eigene Darstellung basierend auf der internationalen OFDA/CRED Disaster Database EM-DAT.

Aufgrund der hohen Betroffenheit vieler afrikanischer Staaten gegenüber graduellen Auswirkungen des Klimawandels wie Dürren, Verwüstung und Wasser- bzw. Nahrungsmittelknappheit sowie einer erhöhten Variabilität von Wetterextremen wie Stürmen und Überflutungen bedeutet dies, dass vorbeugende Maßnahmen zur Anpassung an diese klimabedingten Veränderungen von höchster Priorität sein müssen. Die begrenzten Widerstands- und Bewältigungsstrategien afrikanischer Länder gegenüber den Folgen des Klimawandels sowie ihr geringer Beitrag zum Klimawandel machen die Unterstützung afrikanischer Länder daher zu einer ethischen Verpflichtung für die internationale Gemeinschaft, insbesondere für die entwickelten Länder.

Operationalisierung der Schäden und Verluste

Bisher sind die Klimaschutzversprechungen der Regierungen weltweit vollkommen unzureichend, um den globalen Emissionstrend umzukehren und einen gefährlichen Klimawandel zu vermeiden. Die Ergebnisse des KRI können als Warnsignal verstanden werden, sich durch entsprechende Vor- und Nachsorgeprogramme auf möglicherweise vermehrte und stärkere Extremereignisse einzustellen. Durch die Analyse vergangener Extremwetterereignisse und deren Auswirkung auf die Weltgemeinschaft können wichtige Erkenntnisse gewonnen werden, um aus früheren Versäumnissen und deren unmittelbaren Konsequenzen zu lernen und sich auf die Zukunft vorzubereiten.

Die Analyse macht dabei vor allem eines deutlich: Bei der Bewältigung der bevorstehenden Konsequenzen des Klimawandels sitzen wir alle im selben Boot: arme und reiche Menschen und Gesellschaften – allerdings auf verschiedenen Decks des Schiffes. Im Sinne des Verursacherprinzips stehen daher die Hauptverursacher des Klimawandels in der Verantwortung: Sie müssen die Menschen in Entwicklungsländern stärker bei ihren Bemühungen unterstützen, die Folgen des Klimawandels zu bewältigen.

Ein erster wichtiger Schritt in diese Richtung wurde 2010 in Mexiko unternommen. Beim UN-Klimagipfel in Cancún einigten sich die Parteien der Klimarahmenkonvention (United Nations Framework Convention on Climate Change, UNFCCC) darauf, ein Arbeitsprogramm zum Umgang mit und Ausgleich von klimawandelbedingten Schäden und Verlusten in Entwicklungsländern zu etablieren.3 Gemeinsam mit anderen Aspekten, wie z.B. der Übernahme von Richtlinien und Modalitäten für nationale Anpassungspläne oder der Vereinbarung über die nächste Phase des im Jahr 2006 beschlossenen Nairobi-Arbeitsprogramms zu Auswirkungen, Anpassung und Vulnerabilität, sind Forschritte im Bereich des Arbeitsprogramms zum Umgang mit klimawandelbedingten Schäden und Verlusten ein entscheidender Beitrag zum Anpassungspaket.

Aus zwei Gründen ist die Kenntnisnahme klimawandelbedingter Schäden und Verluste von besonderer Bedeutung:

1. Aufgrund der bisherigen und zukünftig erwarteten Treibhausgasemissionen sind die voraussichtlich in den nächsten 20 Jahren auftretenden Auswirkungen des Klimawandels abzuschätzen. Demzufolge müssen neben der Vermeidung klimaschädlicher Emissionen sowie der Anpassung an nicht mehr vermeidbare Klimafolgen auch konkrete Maßnahmen entwickelt werden, um klimawandelbedingten Schäden und Verlusten durch Extremwetterereignisse wirksam entgegenzutreten.

2. Der aktuell fehlende Ehrgeiz zur Emissionsminderung führt die Welt auf einen Pfad hin zu einem Anstieg der Durchschnittstemperatur von 4-5° C. Folglich bleibt die Minderung klimaschädlicher Emissionen auf lange Sicht ein kritisches Ziel, zumal durchaus die Gefahr eines sich selbst verstärkenden Klimawandels und entsprechender drastischer Auswirkungen (Meeresspiegelanstieg, Verwüstung, Gletscherschmelze etc.) besteht.

Aus diesen Gründen ist es höchste Zeit für die internationale Staatengemeinschaft, nicht nur ihre Minderungsziele zur Vermeidung eines gefährlichen Klimawandels deutlich zu erhöhen, sondern sich gleichzeitig auch mit den Konsequenzen klimawandelbedingter Schäden und Verluste auseinanderzusetzen und verbindliche Maßnahmen zu deren Bewältigung zu entwickeln.

Ein Jahr nach der 17. Vertragsstaatenkonferenz zur Klimarahmenkonvention (COP17) in Durban ist es daher für die COP18 in Doha/Katar im November/Dezember 2012 entscheidend, dass endlich konkrete Maßnahmen beschlossen werden, um gemäß der Vorgaben der UNFCCC klimawandelbedingten Schäden und Verlusten in Zukunft besser begegnen zu können.

Anmerkungen

1) Annex (Anhang) I der Klimarahmenkonvention listet 41 Industrie- und Schwellenländer auf (die meisten davon OECD-Staaten oder Staaten Mittel- und Osteuropas), die sich in Artikel 2 der Konvention das Ziel gesetzt haben, einen gefährlichen Klimawandel zu vermeiden.

2) Siehe Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (pik-potsdam.de) sowie Rahmstorf, S. und Coumou, D. (2011): Increase of extreme events in a warming world. Proceedings of the National Academy of Sciences (early edition), doi:10.1073/pnas.1101766108,

3) Decision 1/CP.16, paragraph 26.

Sven Harmeling ist Autor des Globalen Klima-Risiko-Index bei Germanwatch. Der Beitrag wurde mit Unterstützung von Boris Schinke, Charlotte Haberstroh und Sönke Kreft verfasst. Die Erstellung des KRI wird vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung gefördert.

Klimawandel und Konflikt

Klimawandel und Konflikt

Soziostrukturelle und sozialpsychologische Effekte

von Immo Fritsche, J. Christopher Cohrs und Thomas Kessler

Der globale Klimawandel ist schon längst auch ein sicherheitspolitisches Thema – spätestens seit US-amerikanische Think Tanks den globalen Klimawandel als eine treibende Kraft zukünftiger globaler und lokaler Konflikte identifiziert haben (Nordas und Gleditsch 2007). Obgleich intuitiv plausibel, beschränkt sich die empirische Grundlage dieser Befürchtungen bislang auf vergleichsweise wenige sozialwissenschaftliche Studien zu den soziostrukturellen Folgen des Klimawandels (Ressourcenknappheit, Migration). Im gegenwärtigen Artikel werden diese Studien zunächst kurz zusammengefasst, anschließend wird der soziostrukturellen eine sozialpsychologische Perspektive hinzugefügt.

Nachdem die These zunehmender gewalthaltiger Konflikte als Folge des Klimawandels zu Beginn der vergangenen Dekade durch Prognosen aus Politik, Medien und Think Tanks popularisiert wurde, nahmen die Sozialwissenschaften in den nachfolgenden Jahren systematische Untersuchungen auf (Gleditsch 2012; Nordas und Gleditsch 2007).

Sozial- und politikwissenschaftliche Klimafolgenforschung

Es wird argumentiert, dass lokale Auswirkungen des Klimawandels Gewaltkonflikte auf unterschiedlichen Wegen schüren können (z.B. Schubert et al. 2008). Zum einen sollten verknappte Ressourcen, wie Wasser, fruchtbares Land oder Nahrungsmittel, zu Verteilungskonflikten innerhalb oder auch zwischen Staaten führen. Zweitens könnte die lokale Verknappung natürlicher Ressourcen zur Folge haben, dass die Betroffenen ihre Heimat verlassen (müssen) und in den Zielländern oder -regionen dieser Klimaflüchtlinge Migrationskonflikte entstehen. Drittens könnten durch die wirtschaftlichen Folgen des Klimawandels hervorgerufene Krisen politische Eliten veranlassen, bestimmte gesellschaftliche Gruppen zu Sündenböcken zu machen und mithilfe nationalistischer Ideologie und Politik von den wahren Problemen abzulenken. Die Wahrscheinlichkeit gewalthafter inner- und zwischenstaatlicher Konflikte würde dann ansteigen (siehe auch Staub 1999 zu den Auswirkungen »schwieriger Lebensbedingungen«).

Klimatische Effekte auf gewalthaltige Konflikte

Die empirische Evidenz für Effekte des Klimawandels auf Konflikte ist bislang vergleichsweise dünn (Gleditsch 2012). Auf Grundlage historischer Daten und aktueller Klimaprojektionen prognostizieren Burke et al. (2009) für die Länder des südlichen Afrika bis 2030 aufgrund des zu erwartenden Anstiegs der Jahresdurchschnittstemperaturen einen Anstieg bewaffneter Konflikte um 54% und als Folge 393.000 zusätzliche Kriegstote (ähnliche Ergebnisse finden sich auch bei Hendrix und Glaser 2007; für Gegenpositionen siehe Buhaug 2010; Sutton et al. 2010; Burke et al. 2010). Hsiang et al. (2011) untersuchten bürgerkriegsähnliche Konflikte in Staaten, die durch den Wechsel zwischen den Klimaphänomenen El Niño und La Niña beeinflusst sind. Zeiten erhöhter Hitze und Trockenheit (El Niño-Jahre) gingen mit einer erhöhten Zahl von Konflikten einher. Anhand US-amerikanischer Kriminalstatistiken von 1950 bis 2008 zeigten Anderson und DeLisi (2011) überdies auf, dass Gewaltverbrechen in Jahren mit hohen Mitteltemperaturen (sowie in heißen vs. kühleren Sommern) zunahmen. Die Wirkung möglicher weiterer Erklärungsvariablen (z.B. Armut, soziale Ungleichheit, Inhaftierungsquote) wurde statistisch kontrolliert.

Naturräumliche und soziostrukturelle Prozesse

Die Frage, aus welchen Gründen Klimawandel das Auftreten von Konflikten beeinflussen kann, wird in der sozial- und politikwissenschaftlichen Forschung durch die Untersuchung naturräumlicher und soziostruktureller Faktoren beantwortet. So finden sich Hinweise darauf, dass weltweit die Degeneration von Böden und die lokale Verknappung von Trinkwasser mit einer erhöhten Neigung zu bewaffneten innerstaatlichen Konflikten einhergehen (Raleigh und Urdal 2007). Für afrikanische Staaten zeigt sich, dass auch Zeiten extremer Niederschlagsereignisse (extrem geringe oder extrem hohe Niederschlagsmengen) die Konfliktwahrscheinlichkeit erhöhen (Hendrix und Salehyan 2012; Raleigh und Kniveton 2012).

In diesen Forschungsarbeiten wird angenommen, dass naturräumliche Veränderungen wie Bodendegeneration, Wasserknappheit oder Extremwetterereignisse dadurch Konflikte erhöhen, dass sie die soziostrukturellen Rahmenbedingungen (Ressourcenknappheit, Wanderungsbewegungen) von Gesellschaften beeinflussen. Tatsächlich finden Raleigh und Urdal (2007), dass sich eine erhöhte Bevölkerungsdichte, wie sie beispielsweise durch Wanderung aus zunehmend unfruchtbaren Gebieten in andere Regionen (Reuveny 2007) entstehen kann, in einer erhöhten Anzahl innerstaatlicher Konflikte widerspiegelt. Gleichzeitig stieg die Anzahl von Konflikten aufgrund von Wasserknappheit in Regionen mit hohem Bevölkerungswachstum stärker als in jenen mit geringem Bevölkerungswachstum. Insgesamt herrscht in der sozial- und politikwissenschaftlichen Forschung derzeit jedoch noch weitgehende Unklarheit über die spezifischen Prozesse, die Klimawandeleffekte auf Konflikte erklären können (Gleditsch 2012; Sutton et al. 2010).

Sozialpsychologische Einflüsse

Während die Debatte über soziostrukturelle Vermittlervariablen der Klimafolgen noch anhält, lassen sich spezifische sozialpsychologische Prozesse identifizieren, die Effekte des Klimawandels auf individuelle und kollektive Konfliktneigungen erklären können. Wir nehmen an, dass diese Prozesse sowohl eigenständig als auch im Zusammenspiel mit soziostrukturellen Veränderungen die möglichen Effekte des Klimawandels auf Konflikte verschärfen.

Hitze-Effekte

Im ersten Ansatz geht es um die aggressionsfördernde Wirkung von Hitze. Ausgangspunkt sind sozialpsychologische Laborexperimente. Personen, die unangenehm hohen Temperaturen ausgesetzt wurden, neigten – im Gegensatz zu Personen, die unter angenehmen Temperaturen teilnahmen – zu stärkerem Ärger, stärkerer Wahrnehmung von Feindseligkeit sowie einer erhöhten Vergeltungsbereitschaft gegenüber Provokateuren (Anderson et al. 2000). Diese Effekte lassen sich in ein allgemeines Aggressionsmodell (DeWall et al 2011) einordnen, wonach die Neigung, anderen Personen (z.B. in Konfliktsituationen) Schaden zuzufügen, nach jedweder Art aversiver Stimulation ansteigt. Auf diesem Wege erklären Anderson und DeLisi (2011) auch ihren oben erwähnten Befund, dass höhere Jahresdurchschnittstemperaturen unabhängig vom Einfluss soziodemografischer Erklärungsvariablen die Zahl der Gewaltverbrechen erhöhen können. Gleichzeitig ist denkbar, dass die aggressionsfördernde Wirkung von Hitze zu einer schnelleren Eskalation ursprünglich soziostrukturell bedingter Konflikte führen kann. Wettstreit um Ressourcen könnte unter diesen Bedingungen vermehrt in feindseligen Auseinandersetzungen enden.

Autoritäre Reaktionen auf Bedrohung

Ein globaler Klimawandel kann sich nicht nur in unangenehm hohen Temperaturen äußern, sondern bei Menschen auch komplexe Bedrohungswahrnehmungen auslösen. So lassen die Prognosen des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC, 2007) befürchten, dass der globale Klimawandel die Lebensgrundlagen und die Lebensumwelt vieler Menschen in hohem Maße verändern wird (z.B. Verknappung natürlicher Ressourcen, vermehrte Naturkatastrophen, Unbewohnbarkeit heutiger Küstenregionen, Aussterben von Tier- und Pflanzenarten, Verbreitung neuer Krankheiten). Allein die Vergegenwärtigung dieser komplexen möglichen Folgen kann Gefühle von Sicherheit und Kontrolle in Menschen erschüttern und daher allgemeine Bedrohungswahrnehmungen hervorrufen.

Eine Möglichkeit, wie Menschen mit einer Bedrohung ihrer Sicherheit oder Kontrolle umgehen, ist kollektives Verhalten und die Identifikation mit einer bestimmten Gruppe. In Laborexperimenten zeigt sich, dass Personen, die an persönlichen Kontrollmangel und Unsicherheit erinnert werden, nachfolgend verstärkt ethnozentrisch urteilen (z.B. werden Mitglieder der eigenen Gruppe positiver bewertet als jene fremder Gruppen, »ingroup bias«) und eine höhere Bereitschaft zeigen, im Sinne ihrer eigenen Gruppe zu handeln (Fritsche et al. 2011). Gleiches gilt für experimentelle Studien zu den Folgen alltagsweltlicher Bedrohungen, wie Terrorismus (Fritsche und Fischer 2009) oder Kriminalitätsfurcht (Duckitt und Fisher 2003), die autoritäre Einstellungen erhöhen. Autoritarismus – also konventionelles Denken, Unterordnung unter Gruppennormen sowie aggressive Reaktionen auf soziale Abweichung – kann hierbei als Einstellungssyndrom verstanden werden, das dem Erhalt sozialer Gruppen dient, da autoritäres Denken und Handeln den Zusammenhalt zwischen Gruppenmitgliedern fördert (Kessler und Cohrs 2008).

Eine Serie von drei experimentellen Studien in Deutschland und Großbritannien demonstriert die Übertragbarkeit dieser Befunde auf die Erklärung klimawandelinduzierter Konflikte (Fritsche et al. 2012). Wir erinnerten die Hälfte der jeweiligen Versuchspersonen an bedrohliche Auswirkungen des Klimawandels in ihrem eigenen Land (z.B. Überflutungen, ausbleibender Schnee, Artensterben, gesundheitliche Risiken durch neue Krankheitsüberträger). Die andere Hälfte wurde an regionale geografische Fakten erinnert, die nicht mit dem Klimawandel in Zusammenhang standen. In der Klimawandel-Variante des Experiments stimmten die Teilnehmenden allgemeinen autoritären Aussagen in stärkerem Maße zu als die Personen in der Geo-Fakten-Variante (z.B. „Um Recht und Ordnung zu bewahren, sollte man härter gegen Außenseiter und Unruhestifter vorgehen“). Der gleiche Effekt zeigte sich bezüglich der Bewertung unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen: Personen, die an den Klimawandel erinnert wurden, werteten systembedrohende oder als solche wahrgenommene Gruppen wie Drogenabhängige, Gewaltkriminelle oder Prostituierte ab und systemstützende Gruppen wie Polizisten, Richter oder Lehrer auf.

Die Wahrnehmung eines bedrohlichen Klimawandels hat also das Potenzial, allgemeine wie auch spezifische autoritäre Einstellungen zu erhöhen. Die Ergebnisse der Studien weisen ebenfalls darauf hin, dass diese Effekte automatisch und unbewusst ablaufen: Zum einen steht die Abwertung systembedrohender Gruppen in keinem sachlogischen Zusammenhang mit der Bedrohung durch den Klimawandel. Zum anderen waren die Effekte nur zu beobachten, wenn die Teilnehmenden zwischen der Erinnerung an die Bedrohung durch den Klimawandel und der Erfassung autoritärer Tendenzen zwei längere Ablenkungsaufgaben bearbeitet hatten. Diese Aufgaben sollten bewusstes Nachdenken über den Klimawandel unterbinden.

Das Zusammenspiel psychologischer und soziostruktureller Effekte

Diese unbewussten Effekte auf Intoleranz und Konformismus können Konflikte zwischen und innerhalb von Gruppen hervorrufen oder verstärken. In Kombination mit soziostrukturellen Veränderungen, wie einem Bevölkerungswachstum infolge von Migration, können sie ebenfalls als heimlicher Katalysator von Konflikten wirken. In Ressourcenkonflikten kann nicht tolerierte Andersartigkeit einer »fremden« Bevölkerungsgruppe dazu führen, dass diese als antagonistische Gruppe identifiziert und nachfolgend zum Objekt von Vorurteilen und Diskriminierung wird (Esses et al. 2001). So könnte ein Konflikt zwischen einheimischen Bauern und internationalen Landwirtschaftskonzernen um knapper werdende Anbaugebiete zu Abwertung und Ausgrenzung objektiv unbeteiligter Minderheiten führen. Dabei ist Toleranz zwischen kulturell unterschiedlichen Gruppen eine Grundvoraussetzung für gelungene Migration. Ist die Toleranz durch Bedrohungseffekte hingegen reduziert, könnte dies den Boden für Konflikt und Diskriminierung bereiten.

Es ist wahrscheinlich, dass ein globaler Klimawandel sowohl über soziostrukturelle als auch über sozialpsychologische Prozesse die Zahl und Intensität von Intergruppenkonflikten erhöht.

Was kann getan werden, um diesen Tendenzen entgegenzuwirken? Neben einem effektiven und gerechten Management soziostruktureller Härten wie Ressourcenknappheit oder Migrationsbewegungen sollte insbesondere die Bewusstheit für die subtilen sozialpsychologischen Prozesse und deren Auswirkungen auf die Verschärfung soziostruktureller Konflikte steigen. Interventionen zur Reduktion aggressiven Alltagsverhaltens (z.B. gewaltfreie Erziehung) sind ebenso angezeigt wie die Entwicklung und Förderung gesellschaftlicher Normen von Toleranz und Gewaltfreiheit. Neuere Studien zeigen nämlich, dass Menschen sich unter Bedrohung in verstärktem Maß an den wahrgenommenen Normen und Regeln ihrer eigenen Gruppe orientieren (z.B. Jonas et al. 2008). Beispielsweise führte die Erinnerung an gesellschaftliche Pazifismusnormen bei den Teilnehmenden der hier beschriebenen Studien dazu, dass Bedrohung die Unterstützung militärischer Gewalt gegen antagonistische Gruppen reduzierte.

Literatur

Hinweis: PNAS = Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America

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Immo Fritsche ist Professor für Sozialpsychologie an der Universität Leipzig. Dr. Christopher Cohrs ist Dozent der Sozialpsychologie an der Queen’s University Belfast und Forscher im dortigen Centre for Research in Political Psychology sowie assoziierter Herausgeber der Fachzeitschrift »Peace und Conflict: Journal of Peace Psychology«. Thomas Kessler ist Professor für Sozialpsychologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena.

Massenmigration und Klimakriege?

Massenmigration und Klimakriege?

Klimawandel als Sicherheitsbedrohung

von Michael Brzoska und Angela Oels

In diesem Beitrag legen die AutorInnen dar, welche politische Konstellation dazu beitrug, dass der Klimawandel zwischen 2003 und 2007 zunehmend als Sicherheitsthema problematisiert wurde. Sie zeigen am Beispiel der Migrations-, der Entwicklungs- und der Sicherheitspolitik, dass sich eine Prioritätenverschiebung von der Bekämpfung des Klimawandels (Mitigation) zur Bekämpfung der Klimafolgen (Adaptation und Katastrophenschutz) andeutet. Das Interesse des Militärs an den möglichen Folgen des Klimawandels ist groß. Konkrete Aktivitäten sind, mit einigen Ausnahmen, allerdings bisher kaum zu verzeichnen. In dieser Hinsicht spielen die in der Öffentlichkeit immer wieder vorgetragenen diskursiven Konstruktionen von Massenmigration und Klimakriegen in den sicherheitspolitischen Reaktionen auf den klimabezogenen Sicherheitsdiskurs zumindest aktuell keine Rolle.

Die Konstruktion des Klimawandels als Sicherheitsbedrohung gab es schon Ende der 1980er Jahre, sie entwickelte sich jedoch erst zwischen 2003 und 2007 zu einem dominanten Diskursstrang in der internationalen klimapolitischen Debatte. Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre wurde der Klimawandel von Wissenschaft und Politik vor allem als Emissionsproblem konstruiert, dem mit Emissionsreduktionen (Mitigation) beizukommen sei. In der Klimarahmenkonvention von 1992 wurde daher eine Stabilisierung der Treibhausgaskonzentration in der Atmosphäre auf einem Niveau vereinbart, das gefährliche Klimaveränderungen ausschließt (Artikel 2), ohne jedoch zu konkretisieren, was für ein Niveau dies sein könnte.

Im Bericht des Klimarates (Intergovernmental Panel on Climate Change, IPCC) von 2001 wurde erstmals anerkannt, dass ein gewisses Maß an globaler Erwärmung nicht mehr zu verhindern sei und dass daher Maßnahmen zur Anpassung an den unvermeidbaren Klimawandel in Vorbereitung gebracht werden sollten (Adaptation). Obwohl es den Industrieländern tatsächlich gelungen ist, ihre Emissionen auf dem Niveau von 1990 zu stabilisieren (erstmals in 2008; siehe IEA 2010, S.7), steigen die globalen Treibhausgasemissionen ungebrochen an. Die Selbstverpflichtungen der Industrie- und Schwellenländer werden mit etwa 50%iger Wahrscheinlichkeit zu einem Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur von mehr als drei Grad Celsius bis 2100 führen, mit geringerer Wahrscheinlichkeit kommt es sogar zu einer Erwärmung um fünf bis sieben Grad (Rogelj et al. 2010).

Trotz der zunehmend gesicherten und in IPCC-Berichten festgehaltenen wissenschaftlichen Erkenntnisse über den Klimawandel wurden (und werden) in einer Reihe von Ländern öffentlichkeitswirksam von Industrievertretern, aber auch von einer Minderheit von Wissenschaftlern, dessen wahrscheinliches Ausmaß und zu erwartende Wirkungen in Frage gestellt. In den USA wurde diese Sicht auf den Klimawandel unter Präsident George W. Bush Regierungspolitik.

Parallel, und teilweise in Reaktion auf diese Diskussion, entwickelten andere Wissenschaftler Szenarien zukünftiger Auswirkungen des Klimawandels, die zum Teil weit über den IPCC-Mainstream hinausgingen. Ein typisches Beispiel dafür sind die »tipping points«: Klimaforscher warnen, dass bei starkem Temperaturanstieg „Umkipppunkte“ erreicht werden können, an denen es zu plötzlichen, drastischen und irreversiblen Veränderungen im Klimasystem kommen könnte, wie z.B. dem Zusammenbruch des Golfstroms oder dem Absterben der Regenwälder. Die potentiell katastrophalen Folgen eines Temperaturanstiegs von mehr als zwei Grad bieten reichlich Stoff für eine Konstruktion des Klimawandels als Sicherheitsbedrohung.

In dieser Situation eines zunehmenden Auseinanderklaffens zwischen geringer politischer Bereitschaft in einigen Staaten, selbst die eher vorsichtigen Schlussfolgerungen des IPCC ernst zu nehmen, und einer zunehmend dramatischeren Beschreibung der Risiken des Klimawandels durch ausgewiesene Wissenschaftler kam es zu massiven Versuchen der »Versicherheitlichung« des Diskurses über den Klimawandel. Akteure waren neben Wissenschaftlern vor allem Vertreter aus Politik und Sicherheitsapparaten. Klimawandel wurde nun als das größte Sicherheitsproblem des 21. Jahrhunderts angesehen, zu dessen Vermeidung auch außergewöhnliche Maßnahmen zu ergreifen seien. Exemplarisch für diese Sicht etwa steht die Rede von US-Vizepräsident Al Gore bei der Verleihung des Friedensnobelpreises an ihn und das IPCC im Jahre 2007:

„Wir, die menschliche Gattung, sind mit einem planetarischen Notfall konfrontiert – einer Bedrohung des Überlebens unserer Zivilisation, die an unheilvollem und zerstörerischem Potential zunimmt […] Wir müssen rasch unsere Zivilisation mobilisieren, und zwar mit der Dringlichkeit und Entschlossenheit, die wir früher nur bei der Mobilisierung für einen Krieg aufgebracht haben.“

Zwei Elemente waren von besonderer Bedeutung für die Wirkmächtigkeit des »Versicherheitlichungs«-Diskurses. Zum einen beteiligten sich, wiederum insbesondere in den USA, eine größere Zahl hochrangiger ehemaliger und sogar einige aktive Militärs an diesem Diskurs. So wurden etwa in einem Bericht der CNA Corporation, die der US-amerikanischen Marine nahe steht, eine steigende Kriegsgefahr und Bedrohung der nationalen Sicherheit der USA durch den Klimawandel prognostiziert (CNA 2007). Damit stärkten diese Vertreter aus dem Sicherheitsapparat die Glaubwürdigkeit des Diskurses über Klimawandel als Sicherheitsproblem.

Zum anderen wurde von den Protagonisten der »Versicherheitlichung« das in der Umweltpolitik bewährte Vorsorge-Prinzip in den Vordergrund gerückt: Wenn massive Folgen für Frieden und Sicherheit nicht auszuschließen seien, müsse Politik darauf ausgerichtet sein, dafür Sorge zu tragen, dass diese Folgen gar nicht erst auftreten könnten. Denn auch Militärs sind grundsätzlich Vertreter eines Vorsorgeprinzips, und zwar in der Form des »worst case«-Denkens, nach dem Planung sich an der schlechtesten aller Möglichkeiten auszurichten hat.

Protagonisten des Klima-Sicherheitsdiskurses argumentierten zweigleisig: Zum einen verlangten sie, dass die Politik alles in ihrer Möglichkeit stehende tun solle, um das Zwei-Grad-Ziel zu erreichen. Andererseits argumentierten sie, dass die Politik sich auf eine drei bis vier oder gar fünf bis sieben Grad wärmere Welt einstellen und dafür politisch planen müsse. Beispiele für geforderte Maßnahmen sind ein umfassendes Monitoring möglicher Tipping Points im Klimasystem und Pläne für Geo-Engineering als »crash mitigation« (Mabey et al. 2011).

Beispiel Migration

Eine zentrale Figur des Klima-Sicherheits-Diskurses ist der »Klimaflüchtling« bzw. der »klimawandel-induzierte Migrant«. Im Angesicht des unvermeidbaren Klimawandels drohen angeblich „Millionen von Klimaflüchtlingen“ die Industrieländer zu „überfluten“ (Kolmanskoog 2008). Dies könnte schlimmstenfalls zu Konflikten zwischen den Migranten und der aufnehmenden Gemeinschaft führen oder gar zu »Klimakriegen«. Schon Anfang der 1990er Jahre warnten Autoren wie Thomas Homer-Dixon (1994) vor Millionen von Umweltflüchtlingen, die als Folge der Degradierung und daraus resultierenden Verknappung von natürlichen Ressourcen auftreten könnten.

Eine im politischen Diskurs weit verbreitete Schätzung mit einer Zahl von 250 Millionen Menschen, die bis 2050 allein vom Klimawandel vertrieben werden könnten, stammt von Norman Myers (Myers/Kent 1995; Christian Aid 2007). Die der Schätzung zugrunde liegende Methodik ist jedoch zu Recht in die Kritik geraten. Zum einen wird dabei vor allem die Umweltveränderung selbst als Auslöser der Flucht in den Blick genommen, während die in der komplexen sozialen, politischen und ökonomischen Ausgangssituation liegenden Fluchtursachen nur unzureichend berücksichtigt werden. Zum zweiten beruhen ihre Zahlenschätzungen auf recht kruden Extrapolationen. Inzwischen gelten daher die viel zitierten Zahlen von Myers und Kent als wissenschaftlich nicht haltbar (Jakobeit/Methmann 2012).

Noch gewichtiger: Wurde in früheren wissenschaftlichen Arbeiten klimabedingte Migration als Bedrohung der Sicherheit betrachtet, da sie zu Konflikten zwischen den Migranten und der aufnehmenden Gemeinschaft führen könnte, wird Migration heute in der Forschung auch als Chance für die Betroffenen gesehen. Die Forschung zu Migration betont seit langem, dass Mobilität eine wichtige Anpassungsmaßnahme an veränderte Umweltbedingungen darstellt, dies gilt auch für den Klimawandel (Foresight 2011).

Aber trotz fehlender wissenschaftlicher Grundlagen wird in vielen politischen Dokumenten davon ausgegangen, dass der Klimawandel zu einem Anstieg der Migrationsbewegungen führen wird. So hält der Bericht des UN-Generalsekretärs über »Climate Change and its Possible Security Implications«von 2009 fest: „Es wird erwartet, dass das Ausmaß von Migration und Vertreibung sowohl innerhalb eines Landes als auch grenzüberschreitend durch den Klimawandel ansteigen wird, ebenso wie der Anteil der als »unfreiwillig« anzusehenden Bevölkerungsbewegungen.“ (UNGA 2009, S.15) Im Jahr 2009 – im Vorfeld der Klimakonferenz von Kopenhagen – setzte Bangladesch das Thema Klimaflucht auf die politische Agenda der internationalen Klimaverhandlungen. Das in Cancún 2010 verabschiedete »Adaptation Framework« erkennt erstmals politischen Handlungsbedarf im Feld der klimabedingten Migration, bleibt aber vage und unverbindlich, und der darauf bezogene Paragraph 14(f) der Cancún-Beschlüsse wurde bislang nicht mit Leben gefüllt. Langfristig allerdings könnte er dazu führen, dass für die Anpassung an den Klimawandel vorgesehene Gelder beispielsweise für geplante Umsiedlungen verwendet werden.

Aufwind für die Katastrophenvorsorge

In der Entwicklungszusammenarbeit hat der Klima-Sicherheitsdiskurs dazu geführt, dass der Klimawandel als zentrales Hindernis für menschliche Entwicklung betrachtet wird (Methmann 2011). Sowohl der World Development Report der Weltbank von 2010 als auch der Human Development Report 2007/2008 des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP) waren dem Klimawandel gewidmet. Das UNDP argumentiert in seinem Bericht: „Der Klimawandel ist das zentrale Thema unserer Generation in Bezug auf menschliche Entwicklung […] Der Klimawandel droht menschliche Freiheiten zu untergraben und Wahlmöglichkeiten einzuschränken.“ (UNDP 2007, S.1) Die Weltbank beklagt: „Für diese [Entwicklungs-] Länder droht der Klimawandel die Verwundbarkeit zu erhöhen, schwer erkämpften Fortschritt zunichte zu machen und die Aussicht auf Entwicklung in erheblichem Maße zu untergraben.“ (The World Bank 2010, S. iii) Diese »Klimatisierung« des entwicklungspolitischen Diskurses hat eine neue Form des Risikomanagements durch Kontingenz hervorgebracht (Oels 2011). Anstelle von technischen Anpassungsmaßnahmen an den Klimawandel treten nun vermehrt Maßnahmen, die die allgemeine Resilienz gegenüber Klimavariabilität erhöhen. Unter Resilienz wird „die Fähigkeit eines Systems und seiner Bestandteile, die Auswirkungen eines gefährlichen Ereignisses zeitnah und effizient zu antizipieren, zu absorbieren, aufzunehmen oder sich davon wieder zu erholen“ verstanden (IPCC 2012, S.3). Die Betroffenen werden aufgefordert, ihre eigene Vulnerabilität zu reduzieren, indem sie in partizipativen Prozessen „flexible, resiliente Gemeinschaften“ bilden (World Bank 2010, S.88).

Der Klima-Sicherheitsdiskurs hat vor allem dem Feld des Katastrophenschutzes neue Aufmerksamkeit eingebracht. Auf Initiative der norwegischen Regierung und der Internationalen Strategie für Katastrophenfürsorge der Vereinten Nationen (UNISDR) hat der Klimarat im März 2012 das Sondergutachten »Managing the Risks of Extreme Events and Disasters to Advance Climate Change Adaptation« vorgelegt. In der Zusammenfassung für politische Entscheidungsträger beklagt der Klimarat, dass die „internationale Finanzausstattung für Katastrophenschutz relativ gering ausfällt im Vergleich zur Höhe der Ausgaben für internationale humanitäre Einsätze“ (IPCC 2012, S.15). Der Klimarat empfiehlt so genannte »low regrets options«, die nicht nur dem Katastrophenschutz dienen, sondern zugleich Armut abbauen, eine nachhaltige Entwicklung befördern, und Resilienz gegenüber allen möglichen Arten von Katastrophen herstellen. Allerdings sieht der Klimarat auch Grenzen der Anpassungsfähigkeit, wo Tipping Points erreicht werden (IPCC 2012, S.18). Wegen der großen Unsicherheiten darüber, welcher Art die zukünftigen Katastrophen sein könnten, empfiehlt der Klimarat einen sich wiederholenden Prozess des Risikomanagements (IPCC 2012, S.15). Der Klimarat hebt auch die Bedeutung der Entwicklungszusammenarbeit für Investitionen in den Katastrophenschutz hervor (IPCC 2012, S.8).

Sicherheitsakteure und der Klimasicherheitsdiskurs

In den Jahren 2007 und 2011 war der Klimawandel auch auf der Agenda des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen. 2011 wurde auf Drängen Deutschlands eine Erklärung des Sicherheitsrat-Präsidenten verabschiedet, in der der Klimawandel erstmals als Sicherheitsbedrohung anerkannt wird, insbesondere für die Existenz der kleinen Inselstaaten, aber auch was die Ernährungssicherheit angeht (UNSC 2011). Damit war der Klimawandel im Herzen des Sicherheitsestablishments angekommen.

Schon vorher wurde in Sicherheitsapparaten über Klimawandel nachgedacht. An erster Stelle stehen dabei die USA seit dem Wechsel zur Regierung Obama. Größere zweistellige Millionenbeträge sind in den USA in den letzten Jahren für die Forschung über die Folgen des Klimawandels zur Verfügung gestellt werden. Dieser intensiven Forschungstätigkeit steht ein vergleichsweise geringeres Maß an konkreten Aktionen und Planungen gegenüber. Der Bereich, in dem sich in den US-Streitkräften am meisten tut, ist die Einsparung von Treibhausgasen. Alle Teilstreitkräfte haben inzwischen konkrete Pläne für die Reduktion von Treibhausgasen durch Einführung energiesparender und –effizienter Technologien. Biokraftstoffe werden in großem Maßstab getestet, selbst für Kriegsschiffe und Kampfflugzeuge. Allerdings hat der Klimawandel als Begründungsmuster für diese Aktivitäten an Bedeutung verloren. Wichtiger sind gegenwärtig zwei andere Argumente. Zum einen fallen in Afghanistan in keinem Bereich so viele amerikanische Soldaten wie bei der Treibstofflogistik. Gerade Feldkommandeure drängen deshalb auf die Einführung energieeffizienterer Fahrzeuge. Zum anderen ist Energiesicherheit zu einem großen Thema der US-amerikanischen Streitkräfte geworden. Die Einsparung von Treibstoffen gilt als wichtiger Pfad für eine Verminderung der Abhängigkeit von ausländischen Ressourcen, nicht zuletzt der Streitkräfte selbst (Brzoska 2012a).

Auch in den Sicherheitsapparaten vieler anderer Staaten werden die möglichen Folgen des Klimawandels diskutiert. Das lässt sich etwa daran belegen, dass der Klimawandel in der weit überwiegenden Zahl der in den letzten Jahren veröffentlichten staatlichen Dokumente zu nationalen Sicherheitsstrategien und Verteidigungsplanung Erwähnung findet (Brzoska 2012b).

Dabei wird aber auch deutlich, dass das Verständnis über die Sicherheitsprobleme, die durch den Klimawandel hervorgerufen werden können, sehr unterschiedlich ist. Grob lassen sich drei Konzepte unterscheiden.

Im ersten wird Klimawandel vor allem als Problem »menschlicher Sicherheit« gemessen, als zusätzliche Belastung von Menschen und Gemeinschaften in bereits jetzt sehr schwierigen wirtschaftlichen Situationen. In Staaten, die von diesem Konzept ausgehen, werden in den genannten Dokumenten nur in einem Bereich neue Aufgaben für Streitkräfte gesehen: dem Katastrophenschutz.

Im zweiten Konzept wird davon ausgegangen, dass neben diesem Risiko in Zukunft noch ein zweites von Bedeutung sein wird: eine zunehmende Zahl von bewaffneten Konflikten in vom Klimawandel besonders betroffenen Regionen. Konflikte werden vor allem über knapper werdende Ressourcen wie Wasser und Land erwartet. Für die Streitkräfte der betroffenen Länder ergeben sich daraus unmittelbar gute Begründungen für eine Aufstockung ihrer Fähigkeiten, aber auch in einigen weiter entfernten Ländern werden hier zukünftige Aufgaben etwa im Bereich der militärischen Interventionen gesehen. Die Zahl der Staaten, in denen diese Argumentation auf offizieller Ebene vorgetragen wird, ist allerdings gering, neben den USA ist hier etwa Großbritannien zu nennen.

Schließlich gibt es noch einige Staaten, in denen Klimawandel in offiziellen Dokumenten als tatsächliche oder potentielle Bedrohung der nationalen Sicherheit bezeichnet wird. Dazu gehören vor allem kleine Inselstaaten, aber auch Bangladesh, also Länder, in denen der Verlust großer produktiver Landgebiete bis hin zum Verlust der Existenz droht. Darüber hinaus sind es vor allem die USA, in denen die Verbindung zwischen Klimawandel und nationaler Sicherheit gezogen wird – gegenwärtig, wie bereits beschrieben aber nur als potentielle Risiken, die weiterer genauerer Untersuchung bedürften.

Fazit

Die Konstruktion des Klimawandels als Sicherheitsbedrohung erfolgte zu einem Zeitpunkt, an dem der klimaskeptische Diskurs die Politik der USA lähmte und damit Fortschritte in der internationalen Klimapolitik verhinderte. Es bildete sich eine ungewöhnliche Allianz aus Umweltschützern und Militärs, die vor den Sicherheitsrisiken des Klimawandels warnten. Insbesondere wurde dabei das Risiko von Millionen von Klimaflüchtlingen und damit einhergehenden bewaffneten Konflikten beschworen.

Wie wir gezeigt haben, sind zumindest die Schätzungen der Zahl möglicher Klimaflüchtlinge wissenschaftlich nicht haltbar. Darüber hinaus sehen neuere Studien Migration als eine Erfolg versprechende Anpassungsstrategie an die Folgen des Klimawandels. In der Entwicklungspolitik sind neben Anpassungsprojekten vor allem Maßnahmen der Katastrophenvorsorge im Aufwind, weil auf diese Weise die Resilienz gefährdeter Regionen gegenüber den Klimafolgen hergestellt werden soll.

Im Sicherheitssektor konnten wir zeigen, dass der Klimawandel sich in die meisten nationalen Sicherheitsstrategien eingenistet hat, jedoch meist als Problem menschlicher oder internationaler Sicherheit, nur in einigen Staaten als Problem nationaler Sicherheit. Selbst in diesen wird der Einsatz traditioneller Instrumente der Sicherheitspolitik, wie militärische Interventionen in Krisengebieten, zwar diskutiert, aber konkrete Planungen sind bisher ausgeblieben.

Wie wir gezeigt haben, hat die Konstruktion des Klimawandels als Sicherheitsbedrohung die politische Aufmerksamkeit auf die Mitigation der Sicherheitsrisiken verschoben – auf Kosten der Mitigation der Ursachen. Dabei droht aus dem Blick zu geraten, dass jede Investition in Emissionsreduktionen sich vielfach auszahlt und die Sicherheitsrisiken deutlich reduzieren könnte.

Literatur

Brzoska, M. (2012a): Climate change as a driver of security policy. In: Jürgen Scheffran, Michael Brzoska, Hans Günter Brauch, Peter Michael Link, Janpeter Schilling (eds.): Climate Change, Human Security and Violent Conflict – Challenges for Societal Stability. Heidelberg: Springer.

Brzoska, M. (2012b): Climate Change and the military in China, Russia, the United Kingdom and the United States. Bulletin of the Atomic Scientists (68) 2, S.43-54.

Christian Aid (2007): Human Tide: The Real Migration Crisis. London: Christian Aid.

CNA Corporation (2007): National Security and the Threat of Climate Change. Alexandria, VA.: CNA Corporation.

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Gore, Al (2007): Nobel Lecture. 10 December 2007. Oslo: Nobel Media; nobelprize.org.

Homer-Dixon, T. (1994): Environmental scarcities and violent conflict: evidence from cases. International Security 19 (1), S.5-40.

Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) (2012): Managing the Risks of Extreme Events and Disasters to Advance Climate Change Adaptation (SREX). Geneva: IPCC Secretariat.

Jakobeit, C. and Methmann, C. (2012): »Klimaflüchtlinge« als drohende Katastrophe? Eine Kritik herrschender Zahlenspiele. In: Brzoska, M.; Kalinowski, M.; Matthies, V. und Meyer, B. (Hrsg.): Klimawandel und Konflikte: Versicherheitlichung versus präventive Friedenspolitik? Baden-Baden: Nomos, S.157-172.

Kolmannskoog, V. O. (2008): Future floods of refugees: A comment on climate change, conflict and forced migration. Oslo: Norwegian Refugee Council.

Mabey, N., Gulledge, J., Finel, B. and Silverthorne, K. (2011): Degrees of Risk: Defining a risk management framework for climate security. London: Third Generation Environmentalism Inc. (E3).

Methmann, C. P. (2011): A New Climate for Development: From governing global warming to governing through global warming. Conference paper presented to a workshop at Lund University entitled »Governing the Global Climate Polity: Rationality, Practice and Power«, June 19-21, 2011.

Myers, Norman and Kent, Jennifer (1995): Environmental Exodus. An Emergent Crisis in the Global Arena. Washington: Climate Institute.

Oels, A.(2011): Rendering Climate Change Governable by Risk: From probability to contingency. GEOFORUM, themed issue on »Natures of Risk«, forthcoming

Rogelj, J., Nabel, J., Chen, C., Hare, W., Markmann, K., Meinshausen, M., Schaeffer, M., Macey, K. and Höhne, N. (2010): Copenhagen Accord pledges are paltry. Nature 464, S.26-1128.

United Nations Development Programme (2008): Human Development Report 2007/2008. Fighting Climate Change: Human Solidarity in a Divided World. New York: United Nations.

United Nations General Assembly (UNGA) (2009): Climate change and its possible security implications. Report of the Secretary-General. A/64/350. New York: United Nations.

United Nations Security Council (UNSC) (2011): Minutes 6587th meeting, Wednesday, 20 July 2011, S/PV.6587 (Resumption 1). New York: United Nations.

World Bank (2010): Development and Climate Change. World Development Report 2010. Washington: World Bank.

Dr. Angela Oels hat von 2009-2012 im Rahmen des Klimaexzellenzclusters CLISAP der Universität Hamburg ein Forschungsprojekt über die diskursive Konstruktion des Klimawandels als Sicherheitsbedrohung durchgeführt und vertritt derzeit die Juniorprofessur Global Governance am Institut für Politikwissenschaft der Universität Hamburg. Michael Brzoska ist wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg und Professor an der Universität Hamburg sowie Principal Investigator am Klimaexzellenzcluster CLISAP, in dessem Rahmen er sich mit der Wahrnehmung des Klimawandels durch Akteure des Sicherheitssektors beschäftigt.

Eine unbequeme Vagheit

Eine unbequeme Vagheit

UN-Studie zu Klimawandel und Migration

von Marie Mualem Sultan

Fragen nach den Sicherheitsimplikationen des anthropogenen Klimawandels bilden ein Querschnittthema der internationalen Umweltpolitik. Im Mittelpunkt stehen mögliche Zusammenhänge von Flucht, Migration und Gewaltkonflikten. Gerade weil diese Debatte ebenso brisant wie berechtigt ist, verbietet sich jede oberflächliche Zuspitzung in quantitativen Szenarien oder monokausalen Argumentationen, die lineare Ursache-Wirkungs-Muster nahe legen. Der nachstehende Beitrag zeigt, dass ausgerechnet das Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP) für einen solchen Umgang mit dem Problemkomplex kritisiert werden muss.

Die unter Federführung des UNEP durchgeführte und 2011 auf der internationalen Klimakonferenz in Durban präsentierte Studie » Livelihood Security. Climate Change, Migration and Conflict in the Sahel« über die Beziehung zwischen Klimawandel, bedrohten Lebensgrundlagen, Migration und Konflikten in der Sahelzone (UNEP 2011) ist methodisch völlig unzureichend. Als besonders schwerwiegend erweist sich die weitreichende Abstraktion von jeder sozioökonomischen, politischen und kulturellen Heterogenität im Untersuchungsgebiet. Unter dem Primat der Klimavariabilität lenken die politischen Handlungsempfehlungen dadurch von der Problematik globaler Macht-Asymmetrien und neokolonialer Ressourcenallokation ab. Mit anderen Worten: Die Sahel-Studie schüttet das Kind mit dem Bade aus.

Um diese Kritik zu fundieren, gliedert sich der Artikel wie folgt: Der erste Teil stellt Methode und Inhalt der Sahel-Studie vor. Der zweite Teil problematisiert argumentative Schwachstellen und die Rhetorik der Studie im Hinblick auf die darin enthaltenen Weltbilder. Ein Exkurs über den strategischen Einsatz von Mythen leitet über zu den abschließenden Diskussionsthesen hinsichtlich der Leerstellen der UN-Studie.

Inhalt und Methode der Sahel-Studie

Die Untersuchung versteht sich als Beitrag zur Grundlagenforschung über die durch den Klimawandel verursachten Gefährdungen und Bewältigungsstrategien von „auf natürliche Ressourcen angewiesenen“ (UNEP 2011, S.13) Subsistenzgemeinschaften und Kleinbauern in 17 westafrikanischen Subsahara-Staaten. Den regionalen Fokus begründet die Studie mit den Prognosen des Weltklimarats (IPCC). Demnach werden die Staaten der Sahelzone besonders von den negativen Umweltveränderungen durch den Klimawandel betroffen sein (ebd. S.4). Außerdem sei die Region seit Jahrzehnten mit kumulativen Herausforderungen konfrontiert, zuvorderst ein „beträchtliches Bevölkerungswachstum (im Durchschnitt drei Prozent jährlich)“ (ebd. S.5), wobei 80 Prozent der Bevölkerung „für ihre Existenzsicherung direkt auf natürliche Ressourcen angewiesen“ (ebd. S.5) seien. Auf der Grundlage des Bruttoinlandsprodukts pro Kopf konstatiert die Sahel-Studie außerdem „strukturelle Armut“ (ebd. S.17). Hinzu kommen „Ernährungsunsicherheit und chronische Instabilität“ (ebd. S.7). Die Ergebnisse der Studie sollen probate Handlungsempfehlungen liefern für „gegenüber Konflikt und Migration sensibilisierte Anpassungsprogramme, Investitionen und politische Maßnahmen in der Region“ (ebd. S.13).

Zu diesem Zweck wurde eine historische Trendanalyse (1970-2006/2009) zur Klimavariabilität beim Zentrum für Geoinformatik der Universität Salzburg (Z_GIS) in Auftrag gegeben. In einer digitalen Kartographie wurden hierbei 19 regionale Brennpunkte (hotspots) erhöhter Klimavariabilität identifiziert. Die Z-GIS-Analyse berücksichtigte vier Indikatoren: Niederschlag und Temperatur sowie das Auftreten von Dürren und Überschwemmungen. Zusätzlich wurden Hochrechnungen über den Anstieg des Meeresspiegels berücksichtigt. Um die „Beziehung zwischen Klimawandel, Migration und Konflikt“ (ebd. S.13) zu untersuchen, wurde jede Karte mit zwei „zusätzlichen Ebenen“ (ebd.) versehen, die für denselben Zeitraum analoge Daten und Koordinaten zur Bevölkerungsentwicklung und zum Auftreten von Konflikten liefern sollen.

Die Brennpunkte befinden sich demnach in Mauretanien, Niger, Burkina Faso, Ghana, Togo, Benin, Nigeria und Tschad (ebd. S.52). Hinsichtlich der Daten zu Bevölkerungsentwicklung und Konfliktkonstellationen stellt die Studie fest: „In zahlreichen Gebieten, die als hotspots identifiziert wurden, ist die Bevölkerung gewachsen […]. Die Daten über Konflikte zeigen, dass Regionen mit umfangreichem Konfliktgeschehen, insbesondere Tschad und Niger, von klimatischen Veränderungen betroffen sind“ (ebd. S.53). Auf die quantitative Analyse folgt eine kurze Auseinandersetzung mit dem Forschungsstand über klimabezogene Konflikte und Migrationsmuster in der Sahelzone, wobei die positiven und negativen Effekte von Migration vor dem Hintergrund ihrer mutmaßlichen Bedeutung für die politische Stabilität und die wirtschaftliche Entwicklung abgewogen werden (ebd. S.54-64).

Die Sahel-Studie betont auf dieser Basis einerseits den weiteren Forschungsbedarf und andererseits die Validität ihrer Ausgangshypothesen. In der »Executive Summary« übernimmt die Studie das Bild von der Sahelzone als „ground zero“ (ebd. S.7) des Klimawandels. Es wird nachdrücklich für Investitionen in die Modernisierung und wirtschaftliche Entwicklung der Region geworben. Es gelte Arbeitsplätze zu schaffen und die Umgestaltung nach dem Vorbild einer „green economy“ (ebd. S.74) voranzutreiben. Unabhängig vom Inhalt stellt sich hier aber die Frage: Genügt der Schlüsselindikator Klimavariabilität überhaupt zur Beurteilung der Handlungserfordernisse in einer geographisch wie kulturell und sozioökonomisch extrem heterogenen Region aus 17 souveränen Staaten mit einer Gesamtfläche von 7,4 Millionen Quadratkilometern? Zum Vergleich: Die Gesamtfläche der 27 Staaten in der Europäischen Union beträgt 4,3 Millionen Quadratkilometer.

Jedenfalls bleibt die Auszeichnung als wissenschaftliche Studie in den Reaktionen auf die Veröffentlichung der Sahel-Studie bis dato unwidersprochen. Erstaunlich sind dabei Beurteilungen wie in dieser Titelzeile einer Meldung der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen (DGVN): „UN-Studie belegt den Zusammenhang von Klimawandel, bedrohten Lebensgrundlagen und Migration“ (Kürschner-Pelkmann 2011). Diese Einschätzung übersteigt selbst die in der Sahel-Studie angegebene Zielsetzung. Solche Diskrepanzen sind unter anderem deshalb möglich, weil die normativen Grundlagen, auf denen die Studie aufbaut, eine große Wirkungsmacht und Eigendynamik zu entfalten vermögen. Sobald diese Denkmaßstäbe umgekehrt kritisch analysiert werden, verschwindet der Neuigkeitswert der Sahel-Studie in einem wahrheitsfunktionalen Zirkelschluss. Prämissen und Konklusion stehen dann nicht in einem Verhältnis zueinander, sondern sind identisch. Anders ausgedrückt: Wer das Weltbild der Studie schlüssig findet, beurteilt auch die Argumentation als schlüssig. Wer aber Nachfragen zur Auswahl der Prämissen hat, findet erst gar keine Argumentation. Eine wichtige Variable zum Verständnis dieses Weltbildes ist eine Auffassung, nach der naturwissenschaftliche Messmethoden objektive Wahrheitsinstanzen darstellen.

Denksysteme und Mythen

Offenbar wird noch immer unterschätzt, wie subjektiv Zahlen sein können. Oder konkret in Bezug auf die Sahel-Studie: Die Erfolgsbedingung einer Manipulation durch Karten ist die Vernachlässigung der Tatsache, dass geographische Repräsentationen immer auch Machtverhältnisse und Deutungshoheiten widerspiegeln. Die »pars pro toto«-Idee von der Verlässlichkeit und Objektivität allgemeiner Gesetzmäßigkeiten unterminiert auch die als Ergänzung zum quantitativen Messverfahren gedachte Auseinandersetzung der Sahel-Studie mit dem Forschungsstand. Nach einer induktiven Wahrscheinlichkeitslogik werden hier Überlegungen zur »push/pull«-Dynamik angestellt. Die Kernfrage lautet: Wie lässt sich der Einfluss physisch-materieller Umweltfaktoren auf das menschliche Verhalten gegenüber soziokulturellen Aspekten vergleichend gewichten? Der Gedankengang ist nachvollziehbar. Dennoch beruht die Untersuchung unverändert auf dem Alleinstellungsmerkmal Klimavariabilität. Soziokulturelle Kontexte bilden entgegen dem Anschein keinen Bestandteil der Argumentation.

Dass die acht sowohl thematisch als auch im Hinblick auf ihren Informationsgehalt heterogenen lokalen „Fallbeispiele“ in kurzen Textboxen stehen, unterstreicht unfreiwillig die Schwierigkeit, sie in einen sinnvollen Bezug zum Fließtext oder zu den GIS-Karten zu stellen. Letztlich bleibt die deterministische Rhetorik das einzige konsequente Motiv der Sahel-Studie. Dessen sind sich die Urheber bewusst. Aus diesem Grund wird der Duktus der Studie hin und wieder wie folgt relativiert: „Es soll in keiner Weise behauptet werden, der Klimawandel wirke als einziger oder isolierter Faktor auf Migration und Konflikt. Ebenso wenig besteht die Absicht darin, einen direkten Kausalzusammenhang zwischen diesen drei Problemen aufzuzeigen. Klimawandel, Migration und Konflikt sind vielmehr über komplexe Einflussfaktoren miteinander verkettet, zum Beispiel ökonomische, soziale und politische Aspekte“ (ebd. S.8). Leider legen solche Versicherungen indirekt nahe, die reduktionistische Herangehensweise sei irgendwo doch legitim. Die Botschaft lautet schließlich überspitzt formuliert: Das Untersuchungsdesign ist nicht so gemeint, wie es wirkt und daher auch nicht so unverhältnismäßig, wie es scheint.

Diese Irritation lenkt die Aufmerksamkeit auf den strategischen Einsatz von Mythen. Wichtig ist die Vorbemerkung, dass der Begriff Mythos in der hier intendierten wissenschaftstheoretischen Verwendung keine Aussage zum Wahrheitswert beinhaltet. Im Mittelpunkt steht die Funktion von Mythen, die zunächst allgemein Sinn stiftende Integrationselemente von Gesellschaften darstellen. Das entscheidende Merkmal des Mythos ist aber in der Tat eine axiomatische Anziehungskraft, die ihn anfällig für ideologischen Missbrauch macht und gleichzeitig zuverlässig gegen rationale Argumente imprägniert. Mythen können Diskurse vollständig und dabei unbemerkt einnehmen – sie werden zu unhinterfragten und wirkungsmächtigen Autoritäten. In diesem Sinne erscheint auch das in der Sahel-Studie transportierte bipolare Weltbild beinahe mythisch: Auf der einen Seite die »modernen Industrienationen« und im krassen Gegensatz dazu ein ebenso einheitlich gedachter Block »vormoderner Entwicklungsländer«. Diese Fiktion trägt erheblich dazu bei, dass der Studie ein Erkenntniswert zugebilligt wird, obwohl die multidimensionalen soziokulturellen, politischen und ökonomischen Kontexte im Untersuchungsgebiet nicht berücksichtigt wurden.

Dieser binäre Unterton, nach dem die westliche Sahelzone weitgehend als geographische Entität erscheint, kann unter den Bedingungen einer staatszentrierten internationalen Politik überdies als Provokation gewertet werden. Das dürfte der Grund sein, warum sich Herausgeber und Trägerorganisationen im Impressum von jeder Lesart distanzieren, die die territoriale Integrität der Einzelstaaten im Untersuchungsgebiet untergräbt – obwohl sie es de facto tut.

Abschließend soll jedoch ein im »klassischen« Sinne anerkannter Mythos aus der Sahel-Studie beleuchtet werden, und zwar die in neo-malthusianischer Manier als apokalyptische Bedrohung für jede staatliche Ordnung modellierte Sorge vor »Überbevölkerung«.

Was ist »Überbevölkerung«?

Es wurde gezeigt, dass die Sahel-Studie schon zur Begründung ihres konzeptionellen Rahmens auf ein problematisches Bevölkerungswachstum verweist. Der „demographische Druck“ (ebd. S.12) gilt als wichtiger nicht klimatischer Stressfaktor neben sozialen, politischen und ökonomischen Faktoren. Aber was ist demographischer Druck jenseits dieser Kenngrößen? Besitzt der Begriff als absolute Größe überhaupt eine Substanz, die der Analyse zugänglich wäre? Wie viele Menschen sind zuviel? Wer ist in der Lage das zu entscheiden? Und was wären valide Bezugsgrößen eines relativen demographischen Drucks? Geht es um die Gesamtfläche des fruchtbaren Ackerlands, um die Auslastung des Arbeitsmarktes oder vielleicht um eine bestimmte Bevölkerungsstruktur (z.B. »youth bulge« oder Überalterung)? Die Begründungen in der Sahel-Studie sind unzureichend und bleiben es auch unter Zuhilfenahme der zitierten Quellen. Der Wirtschaftswissenschaftler Kiros Abeselom untersuchte 1995 in einem anderen Kontext die strategische Funktion vom »Mythos der Überbevölkerung« in der internationalen Entwicklungspolitik und kommt zu dem Schluss, dass es sich um ein „Mittel zur Wahrung der bestehenden gesellschaftlichen Strukturen“ handelt (Abeselom 1995). Leider legen die Leerstellen in der Sahel-Studie eine ähnliche Funktion nahe.

Ist der Klimawandel das einzige Problem?

Die Sahel-Studie zeigt, wie wichtig eine Neugewichtung der Debatte ist, die die Gefahr geopolitischer und imperialer Machtstrategien mitdenkt. Nicht nur in der Sahel-Studie bildet der Klimawandel die einzige öffentlichkeitswirksam präsentierte globale Variable. Macht-Asymmetrien in der neoliberalen Globalisierung finden in der hegemonialen Debatte zu wenig Beachtung, obwohl entwicklungspolitische Fragestellungen jenseits von diesem Kontext nicht sinnvoll bearbeitet werden können (Delgado Wise et al. 2010). Simon Dalby verweist zu Recht auf die Pflicht, die selbstverständlichen Kategorien, Prämissen und Kosmologien in Diskursen zu hinterfragen (Dalby 2007). In der hegemonialen Debatte über Klimawandel, Migration und Konflikt besteht diesbezüglich ein immenser Nachholbedarf in Wissenschaft und Politik.

Besonders dringend erscheint die Auseinandersetzung mit neokolonialen Enteignungsprozessen, um hier abschließend lediglich ein Beispiel für die problematische Wirkung imperialer Strategien zu benennen. Dass dieser Punkt in der Sahel-Studie fehlt, ist völlig unverständlich, da offenbar jedes Land im Untersuchungsgebiet von ambivalenten Investitionen in seine Landwirtschaft betroffen ist und zahlreiche Widerstandsbewegungen und Organisationen auf die Problematik von »land grabbing« (Agrar-Kolonialismus) durch transnationale Unternehmen wie auch Staaten aufmerksam machen. „Unsichere Besitzverhältnisse“ (UNEP 2011, S.72) werden in der Sahel-Studie nur angedeutet und dabei als lokale Konflikte zwischen Viehhirten und Kleinbauern konzipiert. Dass ökologische Knappheit auch im Zusammenhang mit Addax Zuckerrohr-Biosprit, Michelins Kautschukplantagen oder für den Export produzierenden Reisplantagen im Niger-Delta entstehen könnte, bleibt ausgeblendet (Hoering 2007; GRAIN 2012). Dabei gehören Ernährungssicherheit und Ernährungssouveränität ebenso zusammen, wie das Recht auf Migration und das Recht auf Heimat.

Literatur

Abeselom, Kiros (1995): Der Mythos der Überbevölkerung als Mittel zur Wahrung der bestehenden gesellschaftlichen Strukturen. Die theoretischen Grundlagen der UNO-Bevölkerungspolitik: malthusianische und neo-malthusianische Wurzeln. Bonn: Pahl-Rugenstein.

Dalby, Simon (2007): Anthropocene Geopolitics: Globalisation, Empire, Environment and Critique. In: Geography Compass, 1. Jg., Heft 1, S.103-118.

Delgado Wise, Raúl et al. (2010): Reframing the debate on migration, development and human rights: fundamental elements. Red International de Migración y Desarrollo/ International Network on Migration and Development .

GRAIN (Hrsg.) (2012): The Great Food Robbery: How Corporations Control Food, Grab Land and Destroy the Climate. Cape Town: Pambazuka Press.

Hoering, Uwe (2007): Agrar-Kolonialismus in Afrika. Eine andere Landwirtschaft ist möglich. Hamburg: VSA-Verlag.

Kürschner-Pelkmann, Frank: Sahel-Zone: Flucht vor den Folgen des Klimawandels. UN-Studie belegt den Zusammenhang von Klimawandel, bedrohten Lebensgrundlagen und Migration. 2011. Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen (DGVN).

United Nations Environmental Programme (UNEP) (Hrsg.): Livelihood Security. Climate Change, Migration and Conflict in the Sahel. 2011.

Marie Mualem Sultan ist Politikwissenschaftlerin am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen (KWI) im Forschungsbereich Klimakultur. Im Rahmen ihrer Doktorarbeit an der Philipps-Universität Marburg untersucht sie Dispositive der Umweltmigrationsforschung aus sozial-ökologischer und wissenschaftstheoretischer Perspektive.

Klimapolitik und Versicherheitlichung

Klimapolitik und Versicherheitlichung

von Jörn Richert

Das Thema Klimasicherheit hat in den letzten Jahren stark an Bedeutung gewonnen, besonders in westlichen Industrieländern. Bedeutet dies eine Militarisierung der Klimapolitik? Der Artikel argumentiert, dass sei nicht der Fall, die Versicherheitlichung des Klimawandels müsse stattdessen im Kontext eines breiteren politischen Diskurses verstanden werden.

Vor 20 Jahren, auf dem Weltgipfel 1992 in Rio de Janeiro, wurde die Klimarahmenkonvention ins Leben gerufen. In Artikel 2 dieser Konvention wurde das Ziel definiert, „die Stabilisierung der Treibhausgaskonzentrationen in der Atmosphäre auf einem Niveau zu erreichen, auf dem eine gefährliche anthropogene Störung des Klimasystems verhindert wird“. Derselbe Artikel fordert weiter, dass die dafür notwendigen Bemühungen „innerhalb eines Zeitraums erreicht werden, der ausreicht, damit sich die Ökosysteme auf natürliche Weise den Klimaänderungen anpassen können, die Nahrungsmittelerzeugung nicht bedroht wird und die wirtschaftliche Entwicklung auf nachhaltige Weise fortgeführt werden kann“ (UNFCCC 1992, Artikel 2). Der Klimawandel wurde also vorwiegend als Umweltproblem und Entwicklungshemmnis betrachtet.

In den letzten Jahren hat sich die Wahrnehmung des Klimawandels jedoch stark geändert. Immer häufiger ist vom »Sicherheitsrisiko Klimawandel« die Rede. Treibende Kraft bei dieser Versicherheitlichung, das heißt der Konstruktion des Klimawandels als Sicherheitsbedrohung, war Großbritannien. Dort errechnete der Ökonom Nicholas Stern 2006 für die britische Regierung, dass ein ungebremster Klimawandel in Zukunft einen jährlichen Schaden von 5-20% der globalen Wirtschaftsleistung anrichten würde (Stern 2006). Im Oktober desselben Jahres bezeichnete die damalige britische Außenministerin Margaret Beckett die Klimasicherheit als eine der höchsten europäischen Prioritäten. Anfang 2007 gelang es den Briten, das Thema Klimasicherheit auf die Agenda des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen zu setzen. Auch außerhalb Großbritanniens erschienen 2007 Studien wie der Bericht »National Security and the Threat of Climate Change« (CNA 2007), in dem eine Reihe ehemaliger US-Generäle den Klimawandel als »Bedrohungsmultiplikator« bezeichneten, und das ausführliche Gutachten »Sicherheitsrisiko Klimawandel« des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU 2007).

Eines ist all diesen Berichten gemein: Sie entstanden in westlichen Industriestaaten. Bedeutet dies, dass sich diese Staaten vom Verständnis des Klimawandels als Entwicklungsthema verabschiedet haben? Setzen sie nun auf die Schließung der Grenzen und militärische Intervention und nicht mehr auf Treibhausgasreduktionen und die Unterstützung für stärker betroffene Entwicklungsländer? Dieser Artikel argumentiert, dass dies nicht der Fall ist. Er zeigt, wie die Versicherheitlichung des Klimawandels eher zu einer Erweiterung des Sicherheitsverständnisses, nicht aber zu einer Militarisierung der Klimapolitik geführt hat. Die Klimasicherheit wurde darüber hinaus zu einem wichtigen Argument für mehr Klimaschutz. Wie sich in der Zwischenzeit gezeigt hat, war dieser Impuls jedoch nicht stark genug, um die internationale Klimapolitik nachhaltig in erfolgreiche Bahnen zu lenken. Die Debatte um den Klimawandel hat sich seit den Jahren 2007 bis 2009 merklich abgekühlt. Der Artikel wirft abschließend einen Blick auf ein Jahr, in dem sich dies wieder ändern könnte: 2014.

Klimasicherheit als Herausforderung für die Sicherheitspolitik

Wie Michael Brzoska (2009) gezeigt hat, teilen viele der seit 2007 erschienenen Studien zur Klimasicherheit die generelle Bedrohungsdiagnose: Extremwetterereignisse werden noch extremer, Wasser und Nahrungsmittel werden knapper, die Weltwirtschaft leidet, und schwache Staaten sind besonders gefährdet. Hieraus könnten sich eine Reihe weiterer Herausforderungen entwickeln: Die Umweltmigration könnte zunehmen, der Terrorismus könnte von einer Ausweitung prekärer Lebensverhältnisse profitieren. Der Klimawandel wird daher als Bedrohungsmultiplikator bezeichnet. Brzoska stellt jedoch auch fest, dass die aus dieser Diagnose abgeleiteten Handlungsleitlinien stark voneinander abweichen. Wo der WBGU zur Energiewende aufruft und internationale Kooperation in den Vordergrund stellt, sorgen sich die erwähnten US-Generäle um das Fortbestehen wassernaher US-Militärstützpunkte. Die Lage ist also diffus, und es ist kein klarer Trend in Richtung einer rein militärpolitischen Behandlung des Themas Klimawandel zu erkennen. Dies spiegelt sich auch in den Initiativen wider, die auf beiden Seiten des Atlantiks auf den anfänglichen Bedrohungsdiskurs folgten.

In den Vereinigten Staaten spielte der Klimawandel in der sicherheitspolitischen Planung der Regierung Bush bis 2007 keine Rolle. Erst nach dem Aufkommen des Klimasicherheitsdiskurses beschloss der US-Kongress 2008, dass sich dies ändern sollte. Bereits in der nationalen Verteidigungsstrategie desselben Jahres wurde der Klimawandel als ein Bestandteil eines komplexen Herausforderungsgeflechts – weiterhin bestehend aus z.B. demographischen Trends, Ressourcenknappheit und wirtschaftlichen Kräfteverschiebungen – behandelt.

Der zwei Jahre später vom US-Verteidigungsministerium erstellte »Quadrennial Defense Review Report« (DoD 2010) ging anschließend konkreter auf das Thema ein. Er beschäftigte sich zuvorderst damit, wie der Klimawandel die Bedingungen zukünftiger Einsätze verändern könnte und weist auf Kooperationsinitiativen mit anderen Streitkräften hin, die das Verteidigungsministerium in Zusammenarbeit mit anderen US-Behörden etabliert habe, um ausländische Partner auf friedlichem Wege auf die Herausforderung Klimawandel einzustellen. Weiterhin wird eine genauere Untersuchung der Gefährdung von Einsatzfähigkeit und Militärbasen des US-Militärs gefordert. Auch hier hebt das Verteidigungsministerium die Bedeutung internationaler Anpassungsmaßnahmen hervor und betont die Möglichkeit von Projekten zur Förderung erneuerbarer Energien und der Energieeffizienz auf eigenen Basen. Hinsichtlich der Arktisfrage fordert es den Beitritt der USA zum Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen. Anstelle der Vorbereitung auf »Klimakriege« ist also eine eher reaktive und politisch differenzierte Position zu beobachten.

Auch die Europäische Union diskutierte das Thema Klimasicherheit ab 2007 verstärkt. Nach Aufforderung des Europäischen Rates legten Javier Solana, zu diesem Zeitpunkt Hoher Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, und die damalige Kommissarin für Außenbeziehungen, Benita Ferrero-Waldner, 2008 ein Papier vor, in dem sie die sicherheitspolitische Relevanz des Klimawandels unterstrichen. Auch Solana und Ferrero-Waldner griffen dabei auf den Begriff »Bedrohungsmultiplikator« zurück.

Noch stärker als in den USA wurde betont, dass die Bekämpfung des Klimawandels einen ganzheitlichen und vor allem globalen Politikansatz erfordert: Erstens sollen die Fähigkeiten verbessert werden, Desaster und Konflikte zu vermeiden und auf sie zu reagieren. Gefordert werden ein Ausbau von Forschungs-, Analyse- und Monitoring-Fähigkeiten, eine Verbesserung des Krisenmanagements und weitere regionalspezifische Studien zu den Auswirkungen des Klimawandels. Zweitens solle die EU ihre globale Führungsrolle in der Klimapolitik ausbauen und die internationale Debatte in den Bereichen Klimasicherheit, Umweltmigration sowie Monitoring und Vorbeugung vorantreiben. Drittens solle das Thema Klimasicherheit in den Beziehungen zu Drittstaaten und in Regionalstrategien mehr Bedeutung erlangen. Auch eine europäische Arktispolitik wurde angedacht. Wie schon in den USA wurde in Europa auf die Stärkung des UN-Seerechtsübereinkommens verwiesen.

Der Europäische Rat begrüßte den Bericht, und in der Folgezeit wurde eine Vielzahl von Einzelmaßnahmen in den genannten Bereichen durchgeführt (Rat 2009). Gemein ist den meisten dieser Maßnahmen, dass sie auf eine Stärkung des Dialogs über Klimasicherheit in bestehenden Kooperationen und auf eine stärkere Vernetzung von relevanten Institutionen und Akteuren, zum Beispiel der Vielzahl von UN-Institutionen, hinwirken.

Sowohl für die USA als auch für die EU gilt folgendes: Statt die Klimapolitik zu militarisieren, wurde das Sicherheitsverständnis ausgedehnt und entwicklungspolitischen Maßnahmen eine bedeutende Rolle zugesprochen. Zwar haben sowohl die USA als auch die EU das Thema ernsthaft als sicherheitspolitische Herausforderung diskutiert. Die daraus entstandenen Initiativen deuten jedoch keineswegs darauf hin, dass die klimapolitische Agenda nun verstärkt von Sicherheitsplanern und Militärs vereinnahmt würde. Eher scheint es diesen um die Sicherstellung der eigenen Handlungsfähigkeit und die diplomatische Unterstützung stärker betroffener Akteure zu gehen. Dabei sind auch kulturelle Unterschiede zu erkennen: In der EU spielen Entwicklungsaspekte eine bedeutende Rolle, in den USA sorgt man sich hingegen stärker um die Einsatzfähigkeit der eigenen Streitkräfte. Andererseits wird besonders in den Vereinigten Staaten erkannt, dass auch die Streitkräfte selbst zum Umwelt- und Klimaschutz beitragen können. Die Versicherheitlichung des Klimawandels – zumindest im traditionellen Sinne – ist also kaum zu belegen. Der nächste Abschnitt wird zeigen, dass Klimasicherheit vielmehr als klimapolitisches Argument anzusehen ist.

Klimasicherheit und Klimapolitik

Eine Großzahl von Studien zur Klimasicherheit erschien in den Jahren 2006 und besonders 2007. Dies bedeutet nicht, dass der Klimawandel in dieser Zeit plötzlich wesentlich gefährlicher geworden wäre. Das Klimasystem ist komplex und verändert sich, zumindest in den meisten Fällen, aus menschlicher Perspektive betrachtet sehr langsam. Was sich zwischen 2005 und 2007 änderte war also nicht so sehr das Klima an sich, sondern vielmehr die Wahrnehmung der potenziellen Folgen des Klimawandels. Die Gründe für diesen Wahrnehmungswandel sind nicht nur in der Natur, sondern vorwiegend im sozialen Raum zu suchen.

Zwei Tatsachen erklären dabei, warum es gerade 2007 zu einer Versicherheitlichung gekommen ist: Erstens war das Erscheinen vieler Studien zum Thema Klimawandel und Sicherheit auf die Veröffentlichung des vierten Sachstandsberichtes des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) abgestimmt. Erst in Kombination mit den aktuellen klimawissenschaftlichen Fakten dieses Berichtes erlangte der Klimasicherheitsdiskurs genügend Glaubwürdigkeit, um weitreichende Aufmerksamkeit zu erlangen. Zweitens war 2007 ein sehr bedeutendes Jahr für die Klimapolitik: Die Parteien der Klimarahmenkonvention trafen sich im Dezember auf Bali, um den Fortgang des internationalen Klimaschutzes nach dem Auslaufen des Kyoto-Protokolls 2012 zu diskutieren.

Besonders vor dem Hintergrund des zweiten Punkts wird die tatsächliche Bedeutung von Klimasicherheit klar: Großbritannien, Deutschland und die EU versuchten, sich 2007 als treibende Kraft in den internationalen Klimaverhandlungen zu etablieren. Die Versicherheitlichung des Klimawandels trug dabei sowohl innerhalb der EU als auch global dazu bei, der Klimapolitik zu neuem Schwung zu verhelfen (Geden 2011). Und auch in den USA spielte der Klimasicherheitsdiskurs eine wichtige Rolle im Klimaschutz (Richert 2011): Die Versicherheitlichung des Klimawandels vermochte es, der Klimapolitik zur bis dahin größten Aufmerksamkeit unter der Bush-Administration zu verhelfen. Bush hatte in den Jahren seit seinem Amtsantritt jegliche effektive Klimapolitik verweigert, und auch in der Gesellschaft und dem Kongress war das Thema nicht sehr beliebt. Erst als sich nun sogar Militärs mit dem Klimawandel auseinandersetzen, stieg das Interesse vieler Senatoren und Repräsentanten. Diese Dynamik setzte sich in den ersten Jahren der Obama-Administration fort. Sowohl in den USA als auch in der EU stellte Klimasicherheit damit ein wichtiges klimapolitisches Argument dar.

Klimasicherheit: Endgültig gescheitert oder Neuauflage?

Trotz des zeitweisen Aufsehens, das die Verbindung von Klimawandel und Sicherheit erregt hat, blieb die politische Bilanz aus der Zeit nach 2007 eher enttäuschend. Zwar gelang es der EU, weitreichende Klimaschutzmaßnahmen zu verabschieden. In den USA und auch in der internationalen Klimapolitik waren die Erfolge jedoch wesentlich geringer. Auf der UN-Klimakonferenz von Bali 2007 einigten sich die Mitglieder der Klimarahmenkonvention lediglich darauf, in den folgenden zwei Jahren ernsthaft an einer Kyoto-Nachfolgeregelung zu arbeiten. Die Klimakonferenz von Kopenhagen 2009, auf der eine entsprechende Regelung verabschiedet werden sollte, konnte jedoch die hohen Erwartungen nicht erfüllen – insbesondere, weil es in den USA trotz Unterstützung durch Präsident Obama und teils dramatischen Verhandlungen im US-Senat nicht gelungen war, bis zum Treffen in Kopenhagen ein Klimagesetz zu verabschieden. Dies wäre für die USA die Grundlage gewesen, um auch auf internationaler Ebene substanzielle und einhaltbare Versprechungen machen zu können.

Die Bereitschaft der Vereinigten Staaten, sich einer effektiven Klimapolitik zu verschreiben, bleibt weiterhin eine der wichtigsten Voraussetzungen für eine erfolgreiche internationale Klimapolitik. Besonders die großen Schwellenländer wie Indien und China blicken gen Westen und erwarten von den Industrieländern ein Vorangehen in Sachen Klimaschutz.

Ist aber der Versuch, ein solches Vorangehen durch die Versicherheitlichung des Klimawandels zu befördern, endgültig gescheitert? Nicht unbedingt. Aus der obigen Diskussion lässt sich ein Zukunftsszenario spinnen, das zumindest begrenzte Hoffnung für die Klimapolitik macht: Sollten die USA auch nach der Präsidentschaftswahl im November diesen Jahres noch einen demokratischen Präsidenten haben, könnte sich 2014 ein neues Möglichkeitsfenster für die US- und damit auch für die weltweite Klimapolitik öffnen: Ab September 2013 und über das Jahr 2014 verteilt werden sukzessive die Teilberichte des fünften Sachstandsberichtes des IPCC veröffentlicht werden. Gleichzeitig werden im November 2014 bei den »midterm elections« in den USA alle Sitze des Repräsentantenhauses und ein Drittel der Sitze im Senat neu vergeben. Sollte der Klimawandel 2014 im Zusammenhang mit dem neuen IPCC-Bericht eine ähnliche Prominenz erhalten wie bei der Veröffentlichung des Berichts von 2007, so könnte dies das Wahlergebnis der »midterm elections« zugunsten der Demokraten beeinflussen und gemäßigte Republikaner dazu bringen, an der Klimagesetzgebung mitzuwirken. Schon 2007 bis 2009 hatten republikanische Senatoren wie John McCain und später Lindsey Graham die Klimagesetzgebung unterstützt. 2014 ergäbe sich somit unter Umständen die Chance, dass die USA endlich ein ernsthaftes Klimagesetz verabschieden und somit ihrer Verantwortung für den globalen Klimaschutz gerecht werden.

Literatur

Brzoska, Michael: The Securitization of Climate Change and the Power of Conceptions of Security. Sicherheit und Frieden, 2009-3, S.137-145.

Center for Naval Analysis (CNA) (2007): National Security and the Threat of Climate Change. Alexandria: CNA.

Department of Defense (DoD) (2010): Quadrennial Defense Review Report. Washington D.C.: DoD.

Geden, Oliver (2011): Klimasicherheit als Politikansatz der Europäischen Union. In: Angenendt, Steffen; Dröge, Susanne; Richert, Jörn (Hrsg.): Klimawandel und Sicherheit. Herausforderungen, Reaktionen und Handlungsmöglichkeiten. Baden-Baden: Nomos, S.212-221.

Rat der Europäischen Union (2009): Joint progress report and follow-up recommendations on climate change and international security (CCIS) to the Council. Brüssel.

Richert, Jörn (2011): Klimawandel, Bedrohungsdiskurs und Sicherheitspolitik in den USA. In: Angenendt, Steffen; Dröge, Susanne; Richert, Richert (Hrsg.): Klimawandel und Sicherheit. Herausforderungen, Reaktionen und Handlungsmöglichkeiten. Baden-Baden: Nomos, S.222-237.

Solana, Javier und Ferrero-Waldner, Benita (2008): Climate Change and International Security. Paper from the High Representative and the European Commission to the European Council, Brüssel.

Stern, Nicholas (2006): The Economics of Climate Change – The Stern Review. Cambridge: Cambridge University Press.

UNFCCC (1992): United Nations Framework Convention on Climate Change. unfccc.int.

Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) (2007): Welt im Wandel: Sicherheitsrisiko Klimawandel. Berlin/Heidelberg: Springer.

Jörn Richert ist Doktorand an der Bielefeld Graduate School in History and Sociology (BGHS), Universität Bielefeld.

Rio +/- 20

Rio +/- 20

von Jürgen Nieth

„Ambitionierte Umweltziele“, so die EU-Verhandlungsführerin, Ida Auken, sollten in Rio vorgestellt, beraten und beschlossen werden. Vertreter aus über 190 Staaten waren deshalb zum »Nachhaltigkeitsgipfel« der Vereinten Nationen angereist, darunter über 100 Staats- und Regierungschefs. Dazu kamen tausende Journalisten und abertausende Umwelt- und Menschenrechtsaktivisten, Insgesamt hatten sich fast fünfzigtausend Menschen versammelt, dreimal so viele wie zum »Erdgipfel von Rio« 1992. Sie alle wurden brüskiert.

Mitsprache nicht erwünscht

Noch vor Beginn des eigentlichen Gipfels trat der brasilianische Außenminister im Plenum vor die Delegierten und erklärte, „der von seiner Regierung vorgelegte Kompromisstext für die Abschlusserklärung sei hiermit verabschiedet“. Auf die Einwände eines Vertreters der Entwicklungsländer, „dass die geplante Aufwertung des UN-Umweltprogramms in Nairobi arg schwach ausfalle“, antwortete US-Chefdiplomat Todd Stern, „wenn das geändert würde, werde Washington alles platzen lassen“ (Berliner Zeitung, 21.06.12, S.7). Das Ergebnis stand damit fest, bevor die Beratungen begonnen hatten. Ein Ergebnis, mit dem nicht nur die Nichtregierungsorganisationen, sondern auch fast alle deutschsprachigen Medien scharf ins Gericht gehen.

Blutleer und visionslos

So schreibt die FAZ (25.06.12, S.29): „Brasiliens Regierung hatte vor dem dreitägigen Ministersegment des UN-Gipfels einen umweltpolitischen Kahlschlag veranstaltet. Jede konkrete und deshalb auch politisch brisante Forderung nach mehr sozialer Gerechtigkeit, Frauenrechten, Natur- und Klimaschutz, auf 160 Seiten notiert, wurde eliminiert. Worthülsen blieben.“ Die »tageszeitung« (23.06.12, S.3) titelt: „Der Gipfel der Unverbindlichkeit“ und hält fest: „Wenn überhaupt, wird frühestens 2014 ein Nachhaltigkeitsfonds für die Länder des Südens eingerichtet. Bis zu einem Schutz der Meere außerhalb der Hoheitsgewässer wird es noch länger dauern. Auch ein Entwaldungsstopp für Tropenwälder bis 2020 wurde gestrichen. Was »nachhaltige Landwirtschaft« sein soll bleibt diffus, dem Siegeszug der Gentechnik im globalen Süden wird nichts entgegengesetzt.“ Ähnlich die Berliner Zeitung (21.06.12, S.7): „Alles, was Kontroversen hätte auslösen können, flog raus. 30 Milliarden Dollar jährlich für nachhaltige Entwicklung in den armen Ländern? Raus. Klare Ziele für die Kappung der gigantischen, weltweit pro Jahr 600 Milliarden schweren Subventionen für Kohle, Öl und Gas? Raus. Die Unep als mächtige, gut finanzierte UN-Organisation? Raus. Strikte Schutzpläne für die überfischten Weltmeere? Raus.“ Die Zeitung geht auf die Reaktion der NGOs ein und schreibt, die „Umweltschützer waren […] geschockt. Der Chef von Greenpeace international, der Südafrikaner Kumi Naidoo, kommentierte: »Das ist nicht Rio plus 20, sondern Rio minus 20«. BUND-Chef Hubert Weiger sagte: »Ein schlechteres Ergebnis wäre gar nicht möglich gewesen.«“ Auch die Neue Zürcher Zeitung (23.06.12, S.3) hält fest: „Die meisten Nichtregierungsorganisationen bezeichnen das Dokument als blutleer, visionslos oder gar desaströs.“

Kampf um Deutungshoheit

Andreas Mihm schreibt in der FAZ (22.06.12., S.1): „Der Preis für den Verzicht auf einen vielleicht produktiven Streit in den UN ist hoch: Die Abschlusserklärung ist eine […] Ansammlung von Leerformeln, Floskeln, bestenfalls vagen Absichtserklärungen und Bekräftigungen längst beschlossener Vorhaben […] Darauf lässt sich kaum »die Zukunft, die wir wollen« aufbauen, wie dieses Dokument des Versagens überschrieben ist.“

Ganz anders sahen das einige Regierungsvertreter und Funktionäre. UN-Generalsekretär Ban Ki-moon, der das Abschlussdokument bei Vorlage noch als „wenig ambitioniert“ bezeichnet hatte, sah in ihm einen Tag später eine „»solide Basis« – ohne dass sich irgendetwas am Text verändert hatte […] Das Abschlussdokument sei »alles andere als armselig«, sagte Bundesumweltminister Peter Altmeier (CDU), der deutsche Entwicklungshilfeminister Dirk Niebel (FDP) wollte gar »wichtige Wegmarken« erkannt haben. Holger Lösch vom Bundesverband der deutschen Industrie sah »gute Ansätze« zum verstärkten »Greening« der Welt.“ (taz, 23.06.12, S.3)

Die Folgen des Klimawandels stellte keiner in Frage. Das blieb Dirk Maxeiner und Michael Hirsch in Springers »Die Welt« (25.05.12) vorbehalten. „Untergangspropheten ziehen durch die Lande. Der Club of Rome warnt vor Dürren, Überschwemmungen und Bürgerkriegen als Folge globaler Erwärmungen. WWF und das Worldwatch Institute sehen dramatische Auswirkungen des Klimawandels voraus. Mit neuen Erkenntnissen aus der Klimaforschung können alle drei Berichte nicht aufwarten […] Es geht wohl eher darum, vor dem großen Erdgipfel in Rio ein bisschen Stimmung zu verbreiten.“

Öffentlicher Druck – Voraussetzung für Veränderung

„Die Zivilgesellschaft, auf dem Erdgipfel vor 20 Jahren von den Vereinten Nationen erstmals als Teil ihrer Staatenkonferenz akzeptiert, wurde brüskiert und hielt still“, schreibt die FAZ (25.06.12., S.29). Doch es gab sie, die Aktionen der NGOs, die in Rio nicht still hielten, sie fanden allerdings in den deutschen Medien kaum ein Echo. Eine der Ausnahmen ist das »Neue Deutschland« (23.06.12, S.8), das ausführlich über einen Appell von über 50 Nobelpreisträgern berichtet, der „Abrüstung für eine nachhaltige Entwicklung“ fordert, und festhält, dass „trotz eines medienwirksamen Panzers aus Brot vor dem Kongresszentrum »Riocentro« […] der Appell […] bei den UN-Delegierten ungehört“ blieb (siehe Bericht und Appell auf S.56/57 in dieser Ausgabe von W&F).

„Der UN-Umwelt-Prozess wird weiterlaufen. Es gibt keine Alternative […]“ schreibt die Frankfurter Rundschau (22.06.12., S.11). Doch dafür hält sie drei Punkte für unerlässlich: „Erstens muss der Druck auf die Politiker […] deutlich erhöht werden. Die Zivilgesellschaft wird dieses Anliegen zu ihrer zentralen Aufgabe machen müssen. Die Entscheidung zum Atomausstieg in Deutschland hat gezeigt, dass man damit durchaus erfolgreich sein kann. Zweitens müssen Vorreiterländer im Norden modellhaft zeigen, dass die Energiewende funktioniert […] Und drittens müssen diese Vorreiterländer bilaterale Allianzen mit Entwicklungsländern eingehen, um die grüne Wirtschaft in gemeinsamen Projekten voranzubringen.“

Jürgen Nieth

Artenvielfalt gefährdet

Artenvielfalt gefährdet

Wie der Mensch die Meere und seine Zukunft vermüllt

von Stefanie Werner

Rund 6,4 Millionen Tonnen anthropogene Abfälle gelangen jedes Jahr in die Ozeane. So genannte charismatische Megaspezies wie Wale, Robben und Seevögel verheddern und strangulieren sich in Abfällen, fressen diese und können dadurch mit gefülltem Magen verhungern oder an inneren Verletzungen sterben. Besonders gefährlich sind Kunststoffabfälle, die durch Brandung und Wellengang zu Mikroteilchen zerrieben werden, wobei giftige und hormonwirksame Additive in die Umwelt gelangen. Zudem akkumulieren an Mikropartikeln organische Schadstoffe aus der Meeresumwelt. Diese Mikroteilchen werden wiederum durch Meereslebewesen aufgenommen und können damit potenziell über die Nahrungskette auch den Menschen erreichen.

Die Verseuchung der Meere

Während diese Zeilen geschrieben werden, schiest Gas aus einem 4.000 Meter unter dem Meeresboden gelegenen Bohrloch des Energiekonzerns Total in der Nordsee. Es ist noch kein Jahr her, da gingen die Bilder von der Explosion der Bohrplattform »Deepwater Horizon« und der folgenden Ölkatastrophe im Golf von Mexiko um die Welt. Die immer tiefer in den Meeresboden und immer weiter nach Norden vordringende und damit immer riskantere Energiegewinnung führt offensichtlich zwangsläufig zu solch schweren Unfällen: Kollateralschäden für die Energiekonzerne, die damals wie heute nicht einmal einen »Notfallplan« haben, tatsächlich aber eine Schädigung der Natur, die oft noch nach Jahrzehnten messbar ist.

Aus den Schlagzeilen und weitgehend auch aus dem Bewusstsein der Öffentlichkeit verschwunden ist die atomare Schädigung der Weltmeere: Angefangen von den Atomwaffenversuchen über die Versenkung atomaren Mülls im Meer bis hin zu Unfällen von Atom-U-Booten, beispielsweise der 1989 gesunkenen russischen »Komsomolets«.

Noch nicht in den Schlagzeilen ist die »ganz normale« Vermüllung des Meeres und ihre Folgen. Diesem Thema widmet sich Stefanie Werner im nebenstehenden Artikel. Aber auch zu den anderen Themen lohnt sich ein Blick in W&F (www.wissenschaft-und-frieden.de). Zum Beispiel:

Lars Pohlmeier / Jürgen Scheffran: Tahiti Mon Amour – Die Folgen der A-Waffen-Tests im Südpazifik (W&F 1-1997, S.53-55).

Ulrike Kronfeld Goharani: Die ökologische Zeitbombe. Der AtomMüll der Nordmeerflotte (W&F 2-2000, S.46-50).

Jürgen Nieth: Schatzkammer Arktis? (W&F 2-2009, S.26-30).

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Weltweit sind Meeres- und Küstenhabitate mit Abfällen kontaminiert, ein Problem, das globale und generationenübergreifende Dimensionen erreicht hat. Als marine Abfälle werden alle langlebigen, gefertigten oder verarbeiteten beständigen Materialien bezeichnet, die durch Wegwerfen oder als herrenloses Gut in die Meeresumwelt gelangen. Das schließt den Transport dieser Materialien in die Meere über Flüsse, Einleitungen und Winde mit ein. Von den Polen bis zum Äquator, von den Spülsäumen der Küsten über Ästuarien,1 ubiquitär verteilt auf der Meeresoberfläche bis in die Tiefsee, selbst in entlegensten und teilweise unbewohnten Regionen wie einigen pazifischen Archipelen finden sich mittlerweile die Überreste unserer Wegwerfgesellschaft. Strände in der Region des Nordostatlantiks weisen durchschnittlich eine Belastung von 712 Müllteilen pro 100 Meter Küstenlinie auf, bis zu 1.200 Teile pro 100 Meter Strandabschnitt konnten im baltischen Raum nachgewiesen werden.2

Zweidrittel der an deutschen Küstenabschnitten der Nordsee gefundenen Müllteile bestehen aus Plastik und/oder Styropor, an mediterranen Küsten sind es sogar über 80%. Schätzungen zufolge zirkulieren 250 Millionen Plastikteile im Mittelmeer.3 Kunststoffe, Metall und Glas haben sehr lange Abbauzeiten und stellen daher eine weit größere Gefahr für die Umwelt dar als beispielsweise Papier, Holz, Gummi oder Textilien.

Herrenlos, lautlos

Nimmt der Mitteleuropäer die Abfallbelastung in Urlaubsregionen lediglich als ästhetische Störung wahr, bedeutet sie für betroffene Meereslebewesen hingegen eine ernste Bedrohung ihrer Gesundheit und oft sogar ihres Überlebens. Für mindestens 43% aller Walarten, alle Spezies von Meeresschildkröten, circa 36% der Seevögel und viele Fischarten ist dokumentiert, dass sie Müll oral aufnehmen und verschlucken können. Eine Analyse der Ergebnisse von 371 Sektionen von Lederschildkröten seit 1968 zeigte beispielsweise, dass über ein Drittel der Tiere Plastikmüll gefressen hatte.4 Da Quallen zu ihren bevorzugten Futtertieren gehören, findet oft eine Verwechselung mit Plastiktüten statt. Sobald ein Tier Plastik gefressen hat, machen tausende kleine Dornen entlang seiner Zunge und Speiseröhre ein Hochwürgen der Kunststoffe unmöglich. Die Folgen können eine teilweise oder auch vollständige Blockierung des Magen-Darm-Trakts mit dem Ergebnis einer deutlichen Verringerung der Verdauungsenzyme, erheblichem Mehraufwand im Energiehaushalt der Tiere, mit Auswirkungen auf die Fortpflanzung bis hin zum Hungertod sein. Studien über den in der Nordsee beheimateten Eissturmvogel, einem kleinen Verwandten des Albatrosses, zeigten, dass in 97% der untersuchten Mägen Plastikmüll gefunden wurde. Im Mittel wurden 25,8 Plastikmüllpartikel pro Magen mit einem Gewicht von 0,39 Gramm beobachtet.5

Untersuchungen beispielsweise an Meeressäugern zeigen weiterhin, dass Kunststoffpartikel über die Nahrungskette aufgenommen werden können, indem belasteter Fisch gefressen wird. In allen 19 untersuchten Faecesproben (Kotuntersuchungen) von Seehunden und Kegelrobben im niedersächsischen Wattenmeer wurde aktuell Mikroplastik gefunden. Neben den hier regelmäßig vorkommenden granulären Partikeln und Fasern traten auch Folienfragmente in großer Zahl auf. Die vorkommenden Plastikmengen sind hochvariabel und schwanken zwischen wenigen Milligramm bis zu einigen Gramm pro Faeces. Robben fressen Heringe, jedoch wurden in juvenilen Heringen aus dem Jadebusen keine Fragmente nachgewiesen. Das lässt vermuten, dass die Robben sich ihr Futter in der küstennahen Nordsee suchen und dass damit die Fische dieser Gebiete deutlich höher belastet sind als die Jungfische im Wattenmeer.6

Ein Zehntel des Gesamtmüllaufkommens in den Weltmeeren – das entspricht rund 640.000 Tonnen – besteht aus herrenloser, im Wasser treibender oder auf den Grund gesunkener Fischereiausrüstung, die entweder verloren gegangen ist oder aktiv in der Meeresumwelt belassen wurde, weil beispielsweise die Ladekapazitäten bereits ausgeschöpft waren. Das trifft besonders auf passiv fischendes, billig zu erwerbendes Fischereigerät wie Stellnetze zu. Diese so genannten Geisternetze fischen in der Wassersäule und im Tiefenwasser unkontrolliert und auf unbestimmte Zeit weiter. Laut der »US Marine Mammal Commission« sind 136 marine Arten bekannt, die sich regelmäßig in weggeworfenen oder verloren gegangenen Netzen, Tauen, Angelleinen oder anderem Plastikmaterial wie etwa Six-Pack-Verpackungen oder Plastikbeutel verheddern und strangulieren. Dazu gehören sechs der sieben Meeresschildkrötenarten, 51 der 312 Arten von Seevögeln und 32 Spezies mariner Säugetiere.7

Geisternetze sind ein besonderes Problem für Schweinswale im Schwarzen Meer. Allein im Monat April 2002 wurden 35 tote Schweinswale in der Ausschließlichen Wirtschaftszone Rumäniens als Beifang in 30,2 Kilometern herrenlosen Stell- und Schleppnetzen identifiziert. Auch der Rückgang der Tiefseehaie im Nordostatlantik konnte direkt mit dem aus der Tiefseefischerei resultierenden Netzverlust in Zusammenhang gebracht werden. Geschätzte 25.080 Netze mit einer Gesamtlänge von 1.254 Kilometer gehen hier jährlich verloren.8

Beobachtungsreihen an toten und lebend gefundenen verletzten Basstölpeln auf Helgoland zeigten, dass 29% der gefundenen Tiere sich in Netzresten oder anderem Plastikmaterial verheddert beziehungsweise stranguliert hatten. Eine Studie auf der britischen Insel Grassholm, wo schätzungsweise 4.000 Basstölpelpaare brüten, konnte im Durchschnitt 470 Gramm Plastik in jedem Nest nachweisen, was einer totalen Masse von 18,5 Tonnen in der gesamten Kolonie entspricht. Während der Jahre 1996-1997 und 2005-2010 wurden 535 verhedderte und strangulierte Individuen gefunden, der Hauptteil davon waren Nestlinge.9

Grenzenlos, zeitlos

1992 verlor ein Containerschiff im Pazifischen Ozean vor der Küste Chinas 30.000 gelbe Plastikquietschenten. Jahre später wurden sie zuhauf an der Küste Großbritanniens angespült. Das zeigt zum einen den grenzübergreifenden Charakter von Meeresmüll: In der Regel stammt nur ein Teil der Funde aus der Region selbst. Bei einer Strandsäuberung auf der Insel Texel im April 2005 konnten nur 42% der gefundenen Abfälle den Niederlanden zugeordnet werden, der Rest stammte von anderen Nordseeanrainern wie Deutschland oder Großbritannien. Aber auch China, Russland oder Spanien waren unter den Herkunftsländern, die mittels Barcodes ermittelt werden konnten. An der Westküste Schwedens, im Norden Bohusläns, befindet sich ein Akkumulationsgebiet, für dessen Reinigung jährlich circa 1.125.000 Euro ausgegeben werden. Die durch die vorhandenen Abfälle verursachten Kosten für den Fischereisektor – beispielsweise für die Reinigung und Reparatur der Netze – belaufen sich auf circa 800.000 Euro. Analysen ergaben, dass 80% der Müllfunde nicht aus Schweden stammten.

Zum anderen deutet der intakte Zustand der angeschwemmten Quietschenten auf einen fatalen Sachverhalt hin: Plastik ist faktisch nicht abbaubar. Bis zu 600 Jahre braucht ein Nylonnetz, bis es sich zersetzt hat; bis zu 450 Jahre benötigen eine Kunststoffflasche oder eine Wegwerfwindel. Was in den 1950er Jahren mit dem neuen, unendlich formbaren Wunderwerkstoff so verheißungsvoll begann, hat sich für unsere Natur als regelrechter Fluch entpuppt. Eine Anreicherung von Kunststoffen wird weltweit an Stränden, in Meeresstrudeln und Sedimenten beobachtet.

Die Beständigkeit des Plastiks wird durch Faktoren wie Temperatur des Wassers, der Menge der UV-B Strahlung sowie biotische Prozesse in der Umwelt beeinflusst. Die physikalische, biologische und chemische Degradation führt zu immer kleineren Plastikteilen, die sich in der Meeresumwelt anreichern. Zu Mikroplastik werden Plastikpartikel gezählt, die kleiner als fünf Millimeter sind. Bei der Herkunft muss unterschieden werden zwischen Mikroplastikfragmenten, die aus größeren Teilen durch Degradation entstehen, und denen, die beispielsweise in Reinigungsmitteln und Hygieneartikeln verwendet und direkt in die marine Umwelt eingetragen werden. Plastik ist biologisch inert und kaum einer Mineralisation unterworfen, so dass Mikroplastikpartikel zwar kontinuierlich kleiner und häufiger, aber nicht vollständig abgebaut werden.

Die Wirkungen von Mikroplastik sind noch weitgehend unerforscht. Basierend auf Analysen von Muscheln liegen erste Hinweise vor, dass Kunststoffpartikel in das Kreislaufsystem übergehen und eine erhöhte Immunabwehr auf molekularer Ebene hervorrufen.10 Je nach Größe des Mikroplastiks sind besonders Filtrierer11 und Organismen an der Basis der Nahrungskette gefährdet. Die zugrunde liegenden Mechanismen müssen entschlüsselt werden, um herauszufinden, ob in der Nahrungskette eine Anreicherung stattfindet und ob Mikroplastik letztendlich in den an der Spitze des Nahrungsnetzes stehenden Räubern und im Menschen gefunden werden kann.

Mikroplastik kann weiterhin die Rolle eines Transportvektors für nicht-einheimische Organismen in entlegene Gebiete übernehmen. Jedoch ist noch nicht bekannt, in welchem Ausmaß dies zur Veränderung der Artenzusammensetzung beiträgt und wie endemische Arten und ihre Ökosysteme dadurch beeinflusst werden. Da Kunststoffe außerdem Additive wie Weichmacher enthalten oder Schadstoffe aus dem Meerwasser binden, können physikalische Effekte noch durch chemisch-toxische Effekte verstärkt werden. In Seevögeln wurde eine positive Korrelation zwischen der Schadstoffkonzentration und der Kunststoffbelastung beobachtet.12

Machtlos?

Die Herkunft der Abfälle variiert. Man nimmt an, dass 80% des eingetragenen Mülls im Mittelmeer vom Land stammt und über Flüsse und Abwässer oder durch Wind ins Meer gelangt. Der Großteil des Nordseemülls kommt hingegen vom Meer selbst, höchstwahrscheinlich von der Schifffahrt und insbesondere der Fischerei. Obwohl die Verklappung von Kunststoffabfällen seit dem Inkrafttreten des Internationalen Übereinkommens zur Verhütung der Meeresverschmutzung durch Schiffe seit 1983 verboten ist, deuten Funde immer wieder darauf, dass diese Praxis nach wie vor illegal stattfindet.

Anlass zur Hoffnung ist für den Fall gegeben, dass eine stringente Umsetzung der 2008 verabschiedeten Meeresstrategie-Rahmenrichtlinie (MSRL-RL 2008/56/EG) durch die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union erfolgt. Diese sind dadurch verpflichtet, bis 2020 einen guten Umweltzustand ihrer Meeresgewässer zu erreichen beziehungsweise zu bewahren. Dieser angestrebte gute Zustand muss anhand von elf Deskriptoren in Anhang I der Richtlinie definiert werden.

Deskriptor 10 besagt, dass die Eigenschaften und Mengen der Abfälle im Meer ab dem Jahr 2020 keine schädlichen Auswirkungen mehr auf die Küsten- und Meeresumwelt haben dürfen. Die Europäische Kommission hat eine Expertengruppe (Technical Subgroup on Marine Litter/TSG ML) etabliert, die Ende 2011 technische Empfehlungen für eine geeignete Langzeitüberwachung der Abfälle in den verschiedenen Meereskompartimenten und der biologischen Auswirkungen vorgelegt hat, um den Grad der Verschmutzung und der Gefährdung marinen Lebens zu erfassen und zu quantifizieren.13 Durch eine Anfangsbewertung des Ist-Zustands ihrer Meeresregionen, welche die Mitgliedsstaaten bis Mitte 2012 zu leisten haben, werden die Quellen und Wege, auf denen der Müll in die europäischen Meere gelangt, nach derzeitigem Wissensstand beschrieben. Weiterführende nationale und europäische Forschungsprojekte sollen eine genauere Evaluierung der Quellen leisten.

Nun gilt es, sich national ambitionierte Umweltziele für die Erreichung des guten Umweltzustands zu setzen. Die TSG ML empfiehlt die Erreichung des Nulleintrags problematischer Substanzen sowie eine signifikante Reduktion der vorhandenen Mengen um 50% bis 2020. Durch die Nordseeschutzkonferenzen wurden in der Vergangenheit die Notwendigkeit von 50%igen Reduktionen der Nährstoffeinträge und 50-70%igen Reduktionen von Schadstoffen durch Flusseinträge für den Zeitraum 1985-1995 definiert. Diese Zielsetzungen wurden im Anschluss durch die Regionalen Meeresschutzübereinkommen für die Ostsee (HELCOM) und den Nordostlantik (OSPAR) übernommen. Ein ähnliches Vorgehen empfiehlt sich nun für das Problemfeld der marinen Abfälle.

Dass Reduktionen in diesen Größenordnungen möglich sind, zeigt folgendes Beispiel: Mitte der 1980er Jahre befanden sich in den Mägen der entlang der niederländischen Küste gefundenen Eissturmvögel 6,8 plus/minus 1,1 Industriepellets.14 Da die Verluste der Pellets auch hohe ökonomische Kosten verursachten, wurden Maßnahmen innerhalb der Produktion und des Transports ergriffen, die nahezu eine Halbierung der Funde in den Vogelmägen auf 3,6 plus/minus 0,5 Pellets Mitte der 1990er Jahre erbrachten. Ähnliche Reduktionen in der Belastung mit Plastikpellets konnten auch bei Seevögeln im Pazifik und Südatlantik nachgewiesen werden.15

Entscheidend ist der Umsetzungsschritt der Meeresstrategie-Rahmenrichtlinie, der für das Jahr 2016 ansteht. Zu diesem Zeitpunkt sollen die Mitgliedstaaten ein adäquates Programm von geeigneten Maßnahmen zur Eindämmung der marinen Müllbelastung entwickelt und implementiert haben. Diese Maßnahmen müssen darauf abzielen, dass kein weiterer Müll in die Meeresumwelt eingetragen wird (z.B. durch die stärkere Nutzung von Recycling-, Dosier- und Nachfüllsystemen), dass die Meereskompartimente von bestehenden Abfallbelastungen gereinigt werden (z.B. durch die Expansion der »Fishing for Litter«-Initiative), dass bestehende Rechtsinstrumente angepasst werden (bspw. durch die Nutzung des Revisionsprozesses der EU-Richtlinie für Hafenauffanganlagen zur einheitlichen, unkomplizierten und kostenfreien Abnahme von Schiffsmüll in den Häfen) und dass Vollzugsmaßnahmen (wie verschärfte Kontrollen bestehender Reglements auf See) effektiver greifen.

Spätestens zu diesem Zeitpunkt müssen auch unbequeme Themen angegangen werden. Dazu gehört beispielsweise die dringende Notwendigkeit, Kunststoffe als Wertstoffe zu etablieren, um achtloser Entsorgung vorzubeugen. Auch das Stichwort Produktverantwortung muss angemessen adressiert werden. Die Verwertungsraten variieren im europäischen Maßstab erheblich. Werden in Deutschland beispielsweise 80% der Abfälle einer Wiederverwertung zugeführt, sind es in Rumänien oder Bulgarien nur 20%. Trotzdem erfolgt der Produktvertrieb durch hoch entwickelte Ökonomien in Regionen, wo kein adäquates Abfallmanagement besteht. Produzenten müssen die Verantwortung für den gesamten Lebenszyklus ihrer Waren übernehmen.

Anmerkungen

1) Ästuarien sind Flussmündungen ins Meer mit regelmäßigem Brackwasser-, in der Nordsee auch Tideneinfluss, mit den angrenzenden Ufer- und Überschwemmungsbereichen.

2) Vgl. OSPAR (2010): Quality Status Report. OSPAR Commission, London, S.176. HELCOM (2007): Assessment of the Marine Litter Problem in the Baltic Sea Region and Priorities for Response. Baltic Marine Environment Protection Commission, S.21.

3) Vgl. OSPAR (2007): OSPAR Pilot Project on Monitoring Marine Beach Litter – Monitoring of Marine Litter in the OSPAR Region. OSPAR Publication Number 386/2007, London. Vgl. Collignon, Amadine et al. (2012): Neustonic Microplastics and Zooplankton in the Western Mediterranean Sea. Marine Pollution Bulletin (in Druck). Vgl. ICC-Kampagne (2006): Daten aus der »International Coastal Cleanup«-Kampagne aus den Jahren 2002-2006.

4) Vgl. Mrosovsky, Nicholas/Ryan, Geraldine D./James, Michael C. (2009): Letherback Turtles: The Menace of Plastic. Marine Pollution Bulletin Nr. 58, S.287 Vgl. Katsanevakis, Stelios (2008): Marine Debris, a Growing Problem – Sources, Distribution, Composition, and Impacts. In: Hofer, Tobias N. (Hrsg.) (2008): Marine Pollution: New Research. Nova Science Publishers, New York, S.53-100.

5) Vgl. Guse, Nils et al. (2012): OSPAR Fulmar Litter EcoQO – Masse von Plastikmüllteilen in Eissturmvogelmägen. Endbericht für das Bundesamt für Naturschutz, Bonn.

6) Vgl. Prof. Dr. Gerd Liebezeit, ICBM-Terramare, Universität Oldenburg, persönliche Mitteilung.

7) Vgl. Ten Brink et al. (2009): Guidelines on the Use of Market-based Instruments to Address the Problem of Marine Litter. Institute for European Environmental Policy (IEEP), Brussels, Belgium, and Sheavly Consultants, Virginia Beach, Virginia.

8) Vgl. Brown, James/Macfayden, Graeme (2007): Ghost Fishing in European Waters: Impacts and Management Responses. In: Marine Policy Nr. 31, S.488-504. Vgl. Black Sea Commission (2009): Marine Litter in the Black Sea Region. Istanbul.

9) Vgl. Votiera, S.C. et al. (2010): The Use of Plastic Debris as Nesting Material by a Colonial Seabird and Associated Entanglement Mortality. Marine Pollution Bulletin Nr. 62, S.168-172. Vgl.Schrey et al. (1987): Recording of oil victims on the German North Sea coast, including research for the establishments of the cause. Results of research: Burdening of the German bight by ship’s refuse.. Berlin: Umweltbundesamt, Texte 30/87.

10) Vgl. Teuten Emma L. et al. (2007): Potential for Plastics to Transport Hydrophobic Contaminants. In: Environmental Science and Technology, Jg. 41, Nr. 22, S.7759-7764.

11) Als Filtrierer werden Tiere bezeichnet, die ihre Nahrung (Detritus, Plankton) aus dem Wasser herausfiltern.

12) Vgl. SETAC (2010): Proceedings of the 20th SETAC Europe meeting, Sevilla.

13) Vgl. JRC Scientific and Technical Reports (2011): Marine Litter. Technical Recommendations for the Implementation of MSFD Requirements. Luxemburg.

14) Industriepellets sind primäre Kunststoffpartikel, die als Ausgangsmaterial zur weiteren Verarbeitung hergestellt werden.

15) Vgl. Ryan, Peter G. et al. (2009): Monitoring the Abundance of Plastic Debris in the Marine Environment. In: Philosophical Transactions in the Royal Society of London B: Biological Sciences, Jg. 364, Nr. 1526, S.1999-2012.

Stefanie Werner ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Umweltbundesamt mit einem inhaltlichen Schwerpunkt auf der Umsetzung der Meeresstrategie-Rahmenrichtlinie (MSRL) und den Themenfeldern Einträge von Unterwasserlärm und von Abfällen in die Meere.

25 Jahre nach Tschernobyl: Fukushima mahnt

25 Jahre nach Tschernobyl: Fukushima mahnt

von Wolfgang Liebert

Am 11. März erzitterte nicht nur die Erde vor der japanischen Küste. Die Folgen von Erdbeben und Tsunami erschüttern auch unser technizistisches Weltbild und den Rest-Glauben an die nukleare Energieoption. Die Bilder haben sich schon jetzt ins Unterbewusstsein der Menschen tief eingebrannt: Wesentliche Anlagenteile der Kernreaktoren von Fukushima fliegen nacheinander in die Luft. Von amerikanischen und japanischen Wissenschaftlern und Ingenieuren ersonnene und weltweit propagierte Zukunftstechnologie explodiert vor aller Augen und löst eine Technikkatastrophe aus.

Die Schnellabschaltung der Reaktoren gelang noch, aber alle Kühlmechanismen versagten rasch. Die lang anhaltende nukleare Nachwärme wird nicht ausreichend abgeführt, um den GAU zu vermeiden. Auch Wochen nach der vielfachen Reaktorhavarie ist die Kühlung der Reaktorkerne und der Brennstoff-Abklingbecken, in denen die tödliche Gefahr lauert, nicht ausreichend gesichert. Es droht der Super-GAU in bedrohlicher Nähe zu Tokio.

Die möglichen Folgen sind im Prinzip seit der Tschernobyl-Katastrophe vom 26. April 1986 schmerzlich bekannt: eine weiträumige und lange anhaltende radioaktive Verseuchung mit entsprechenden riesigen Sperrzonen von praktisch nicht mehr bewohnbaren Landstrichen insbesondere in Weißrussland und der Ukraine, aber auch Belastungen für weite Bereiche Europas. Nicht nur kurzfristig wirksame Radioaktivität (insbesondere durch Radio-Jod), sondern auch der Ferntransport und die Langzeitwirkung von Radioisotopen mit größeren Halbwertszeiten von zum Beispiel etwa 30 Jahren (wie Cäsium-137 und Strontium-90) bestimmen bis heute und in die weitere Zukunft die radioaktive Last für Mensch und Natur – angereichert über die Nahrungskette.

Das Interesse der sowjetischen Behörden, Schadens- und Opferbilanzen vorzulegen, war 1986 nicht gegeben. Die Sowjetunion selbst zerfiel wenige Jahre nach dem Unfall. Wie viele Zehntausende der so genannten Liquidatoren, die die Aufräum- und Sicherungsarbeiten in den Tagen und Monaten nach dem Unfall leisten mussten, unwissend ihre Gesundheit und ihr Leben auf Befehl von oben aufs Spiel setzen mussten, wie viele Krebsfälle und massive Gesundheitsschäden in der Bevölkerung bereits auftraten, weiß die Welt bis heute nicht. Auch die Internationale Atomenergieorganisation (IAEO) und in ihrem Gefolge die Weltgesundheitsorganisation (WHO) haben sich noch nicht dazu durchringen können, eine ehrliche Folgenbilanz vorzulegen. Der Rolle der IAEO als UN-Watchdog gegen die Weiterverbreitung von Kernwaffen steht anscheinend noch immer eine schönfärbende Promotorenrolle für die weltweite Kernenergienutzung gegenüber.

Droht nun die gleiche Entwicklung in Japan? Oder wird es noch schlimmer ausgehen? Die etablierten westlichen Nuklearexperten machten es sich vor 25 Jahren leicht mit dem stets wiederholten Hinweis, der betroffene sowjet-russische RBMK-Reaktortyp sei ein sicherheitstechnisch unausgereiftes Design – einer Feststellung, der gewiss zuzustimmen ist. Aber dies wurde verbunden mit der Behauptung, die westlichen Reaktoren seien unvergleichlich sicherer und ein entsprechendes Unfallszenario sei undenkbar. Dieses Argumentationsmuster ist mit Fukushima endgültig zerplatzt.

Fukushima hat nun den unwiderleglichen Beweis geliefert, dass die Spaltreaktortechnologie unbeherrschbar ist – überall in der Welt. Wenn man den probabilistischen Sicherheitsanalysen Glauben schenkt, so wäre gemäß der Deutschen Reaktorsicherheitsstudie von 1989 die Wahrscheinlichkeit für einen GAU (unter Annahme des Betriebs von knapp 440 Reaktoren weltweit) etwa einmal in hundert Jahren abzuleiten. Eine Kernschmelze würde danach noch zehnmal seltener auftreten. Solche Analysen sind spätestens jetzt Makulatur. Common-Mode-Störfälle, die sich jenseits des Anlagendesigns und der wahrscheinlichkeitstheoretischen Sicherheitsanalyse bewegen, in Fukushima aber durch extreme äußere Ereignisse ausgelöst wurden, durften mitsamt ihren massiven Folgen im Bewusstsein der »Nuclear Community« nicht ernsthaft vorkommen. Und doch ist jetzt das angeblich Undenkbare eingetreten. Das grundsätzliche Szenario war aber im Prinzip längst bekannt und gerade im Erdbeben gefährdeten Japan durchaus antizipierbar. Allerdings konnte niemand – auch nicht die mahnenden nuklearkritischen Experten – vorhersagen, wann genau dies eintreten würde. Und nun schmilzt der Restglaube an die nukleare Sicherheit in Fukushima dahin.

Was wird man daraus für Lehren ziehen? Können neue Sicherheitsanalysen zu Verbesserungen der Sicherheit existierender Anlagen führen? Die meisten heute weltweit am Netz befindlichen Reaktoren, deren Design in den 1960er und 1970er Jahren weitgehend festgelegt wurde, können nicht ohne weiteres auf den heutigen »Stand von Wissenschaft und Technik« gebracht werden. Wenn immerhin verbesserte Sicherheit gegen anlagenexterne Schadensereignisse wie Naturkatastrophen, Flugzeugabstürze, Krieg oder Terrorangriffe angestrebt werden soll, sind äußerst kostspielige Um- und Neubauten nötig. Eine trügerische Sicherheit, denn auch dann können die Sicherheitshüllen durchbrochen werden. Eine vollständige Sicherheit gegen die naturgesetzlich weiter auftretende Nachzerfallswärme – vom Reaktor bis zum Endlager – wird es überhaupt nicht geben können. Das radioaktive Katastrophenpotential ist in den Brennelementen stets aktiv. Die absolut notwendigen Kühlungsmechanismen bleiben stets verletzlich. Keine Spaltreaktortechnologie kann absolut sicher gemacht und ihr Katastrophenpotential kann nicht zu Null gesetzt werden.

Bei der Kerntechnologie gilt es mehr zu berücksichtigen als die Anlagensicherheit. Die Erfahrung mit deutschen Atommülllagern in Morsleben und Asse haben gezeigt, wie aussichtslos heute eine sichere Endlagerung der über hunderttausende Jahre von der Umwelt abzuschließenden Nuklearabfälle erscheint. Dennoch wird man notgedrungen weiter nach akzeptablen Lösungen suchen müssen für das, was nicht mehr vermeidbar ist. Mindestens die Politik aber hat bislang (siehe das Gorleben- und das Asse-Desaster) versagt.

Das offensichtliche zivil-militärische Dual-use-Potential der heute in knapp 60 Ländern der Welt genutzten Nukleartechnologie ist ein weiteres und unübersehbares Warnsignal. Die militärische Wurzel aus den 1940er Jahren prägt die Nukleartechnologie bis heute. Die gleichen Technologien – Urananreicherung, Reaktorkonzepte, Plutoniumabtrennung – wurden zunächst für die ersten Waffenprogramme entwickelt und dann in der Folge für die heutigen nuklearen Energieprogramme genutzt. Kein Wunder also, dass das militärische Potential dieser ambivalenten Technologie virulent bleibt. Man darf die These wagen, dass die Begehrlichkeit hinsichtlich nuklearer Technologie auch heute nicht nur mit dem Zugriff auf so genannte Spitzentechnologie zu tun hat, sondern immer wieder auch mit der Absicht, eine Atomwaffenoption zu eröffnen oder latent aufrecht zu erhalten. Viele Staaten haben sich unter dem zivilen Deckmantel zu Kernwaffenstaaten aufgeschwungen oder sie sind zu »virtuellen Kernwaffenstaaten« geworden, die vorhandene nukleartechnische Möglichkeiten jederzeit für die Bombe nutzen könnten.

Wir haben offenbar zugelassen, dass der falsche technologische Pfad beschritten wurde – und dies ist nicht erst seit der Fukushima-Katastrophe deutlich. Muss nicht von einem Versagen weiter Teile von Wissenschaft, Industrie und Politik gesprochen werden, die Jahrzehnte lang eine Alternativlosigkeits-Propaganda betrieben haben?

Wir müssen wieder erlernen, dass wir die Wahl haben. In der modernen Welt, die zunehmend durch naturwissenschaftlich-technische Entdeckungen und Entwicklungen und ihre ökonomische Industrialisierung dominiert wurde, ist etwas grundsätzlich fehl gegangen. Not tut die Rückbesinnung auf eine verantwortliche Gestaltung von Wissenschaft und Technik – nötigenfalls bedeutet das auch die Begrenzung oder den Verzicht der Nutzung. Wir müssen nicht jeden technologisch möglichen Pfad blind befolgen, im technizistischen Glauben an das angeblich stets und quasi naturgesetzlich kommende Bessere.

Welche Lehren zieht die Politik? Noch sieht es lediglich nach Taktieren aus, in der Hoffnung, alles werde schnell vergessen, wenn das Allerschlimmste doch noch ausbleibt. Dabei wurde in Deutschland 2001 mit Müh und Not ein Konsens zwischen dem Kartell der Atomstromkonzerne und der Bundesregierung ausgehandelt, der – im für viele durchaus fragwürdigen Abwägen zwischen Sicherheits- und Profitinteressen – einen schrittweisen Verzicht auf Plutoniumabtrennung und Reaktorbetrieb erreichte. Ohne Not und ohne vorausgehende Sicherheitsüberprüfung der 17 Meiler hat die gegenwärtige Bundesregierung letzten Oktober eine zusätzliche Laufzeitverlängerung durchgedrückt. Die Atomstromer werden satte Zusatzgewinne einfahren, die Kleineren, die neu erstarkten Stadtwerke und die lebendig gewachsene Solarenergiebranche, werden das Nachsehen haben. Verantwortungslosigkeit und Interessenpolitik für die Starken hatten sich erst einmal durchgesetzt.

Knapp eine Woche nach dem japanischen Erdbeben setzte die Kanzlerin ein dreimonatiges Moratorium für die acht ältesten Reaktoren in Deutschland durch. Diese Zeit reicht eigentlich nicht für eine eingehende Sicherheitsüberprüfung, es sei denn, man wolle nun endlich den »Stand von Wissenschaft und Technik« zur Richtschnur machen und kurzfristig exekutieren. Dann dürfte vermutlich keiner der Reaktoren noch eine Chance auf Weiterbetrieb haben. Aber davon ist bislang nicht die Rede. Die Widersprüche dieser Politik sind so eklatant, dass die Bundesregierung bereits jetzt ihre Glaubwürdigkeit aufs Spiel gesetzt hat.

Die tatsächlichen Herausforderungen sind demgegenüber groß: Es wird weitere Fälle nuklearer Proliferation geben, und es werden weitere nukleare Katastrophen eintreten, wenn nicht endlich radikale Schritte zur Kehrtwende in Wissenschaft, Politik und Gesellschaft vollzogen werden, auch im globalen Maßstab.

Der Pakt mit dem Teufel, den Führungseliten in unserem Namen (und angeblich für uns) geschlossen haben und der von ihren bereitwilligen Gefolgsleuten in Wissenschaft und Wirtschaft umgesetzt wurde, muss endlich aufgelöst werden. Deutschland, und am besten ganz Europa, sollte mit gutem Beispiel voran gehen und zeigen, dass Alternativen praktisch möglich sind. Der Ausstieg aus der Atomtechnologie erleichtert überdies einen effektiven und unumkehrbaren Weg in die kernwaffenfreie Welt. Er wird dem Umbau des Energiesystems auf der Basis solarer, klimafreundlichen Technologien Auftrieb geben. Fukushima kann nicht nur als Fanal, sondern auch als Signal wirken, das den tief greifenden und bewusst vollzogenen Wandel in unserem unreflektierten, wahnhaften Umgang mit Wissenschaft und Technik einläutet.

Wolfgang Liebert ist Koordinator der Interdisziplinären Arbeitsgruppe Naturwissenschaft, Technik und Sicherheit (IANUS) der Technischen Universität Darmstadt.

Climate Change, Social Stress and Violent Conflict

Climate Change, Social Stress and Violent Conflict

19.-20. November 2009 – Universität Hamburg

von Janpeter Schilling, Michael Link und Jürgen Scheffran

»Kampf um Wasser, Gewalt durch Hunger, Klimakriege« – in den Medien wird zunehmend ein Zusammenhang zwischen Klimawandel und gewalttätigen Konflikten hergestellt. Seitens der Wissenschaft besteht hier jedoch noch erheblicher Forschungsbedarf. Wie stark bedroht der Klimawandel die gesellschaftliche Stabilität? Wo sind die Risiken am größten? Welche Schlüsse lassen sich daraus für die Politik ableiten?

Um diese Fragen zu diskutieren, kamen im November 2009 mehr als 50 Experten aus 25 Nationen zur Konferenz »Climate Change, Social Stress and Violent Conflict« am KlimaCampus der Universität in Hamburg zusammen. Die konfliktrelevanten Auswirkungen des Klimawandels wurden dabei aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet und mit geeigneten methodischen Zugängen analysiert.

Migration als mögliche Reaktion auf sich verschärfende Umweltbedingungen wurde in verschiedenen Kontexten untersucht, wobei bisherige Schätzungen über die Zahl von Klimaflüchtlingen keine hinreichende wissenschaftliche Grundlage haben, wie Cord Jakobeit und Chris Methmann zeigten. Koko Warner und Lars Wirkus von der United Nations Universität in Bonn betonten die Wichtigkeit von funktionierenden lokalen Institutionen im Umgang mit Migration in Afrika. Den Ergebnissen von Úrsula Oswald Spring (National University of Mexico) zufolge verschärfen in Mexiko insbesondere Dürren den bestehenden „Krieg niedriger Intensität“ (ebd.), der an der Grenze zu den USA geführt wird. Beide Studien weisen auf die generelle Schwierigkeit hin, den Einfluss des Klimawandels auf das Entstehen von Konflikten von sozioökonomischen Faktoren zu unterscheiden.

Offensichtlicher beeinflussen veränderte Umweltbedingungen dagegen das soziale Gefüge im Norden Kenias. Hier zeigte Beth Njeri Njiru (Kenyatta University), wie die Kombination aus langen Dürreperioden und Starkregenereignissen zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Viehzüchtern und Bauern um knapper werdendes Land führen kann. Paul Mukwaya (Makerere University Uganda) untersuchte Möglichkeiten zur Stärkung verwundbarer Bevölkerungsgruppen in wachsenden Städten am Beispiel des Katastrophenmanagements in Kampala. In Bangladesh bedrohen Überflutungen, tropische Zyklone und der ansteigende Meeresspiegel die Lebensgrundlage von mehreren Millionen Menschen. Befragungen in Slumgebieten von Dhaka, durchgeführt von Sujan Saha (Norwegian University of Science and Technology), deuten darauf hin, dass Überflutungen den sozialen Stress für die arme Bevölkerung deutlich erhöhen und zu Auseinandersetzungen mit Schusswaffengebrauch beitragen. Weitere Fallstudien beschäftigten sich unter anderen mit dem Einfluss des Faktors Wasser auf den Israel-Palästina Konflikt (Clemens Messerschmid) und den Mittelmeerraum (Hans-Günter Brauch), mit der Rolle von Naturschutzgebieten als Rückzugsraum für bewaffnete Kräfte in Kolumbien (Guillermo Andrés Ospina) und mit Ressourcenkonflikten um Öl und Gas im Niger-Delta (Felix Olorunfemi).

Neben den genannten qualitativen Studien wurde eine Reihe von quantitativen Zugängen präsentiert. Mit Hilfe von Klimadaten und dem Aufbau einer globalen Konfliktdatenbank versuchen Halvard Buhaug (International Peace Research Institute Oslo) und Ole Magnus Theisen (Norwegian University of Science and Technology), die Zusammenhänge zwischen Klimawandel und Konflikten zu erfassen. Josh Busby und Todd Smith von der University of Texas demonstrierten, wie es mit Geographischen Informationssystemen gelingen kann, besonders anfällige Regionen (»Hot Spots«) in Afrika zu identifizieren. Demzufolge sind vor allem Staaten in der Sahelzone sowie der Norden und Süden der Demokratischen Republik Kongo durch eine Faktorenkombination aus Ressourcenausstattung, Regierungsstruktur und Bevölkerungsdichte in ihrer Stabilität bedroht. Wo und in welchen Kontexten soziale Instabilitäten weltweit auftreten, wird in einem umfassenden Projekt an der Universität von Illinois erfasst (Peter Nardulli), das Ereignisse wie Demonstrationen, Attentate und Unruhen in Medienberichten auswertet.

Genutzt werden solche Daten beispielsweise von Forschungsgruppen wie CLISEC (Climate Change and Security) in Hamburg, die den Themenkomplex Klimawandel und Sicherheit mit integrierten Ansätzen untersuchen. Instrumente wie agentenbasierte Modellierung und die Analyse sozialer Netzwerke werden hier dazu genutzt, die Reaktion von Akteuren und Gesellschaften auf veränderte Umweltbedingungen zu untersuchen.

Bei der theoretischen Betrachtung des Konferenzthemas wurden verschiedene Aspekte hervorgehoben. Während Anastasios Karafoulidis (National and Kapodistrian University of Athens) die Akteure und Wirkungsmechanismen der öffentlichen Debatte ins Auge fasst, bemerkt Julia Trombetta (Delft University of Technology), dass sich das ursprüngliche Interesse an klimainduzierten Konflikten zu einer Diskussion um Ressourcenknappheit entwickelt hat. In diesem Zusammenhang wird auch die Debatte um eine Versicherheitlichung (»Securitization«) des Klimawandels geführt, also die Interpretation des Klimawandels als sicherheitspolitisches Problem, was die Gefahr in sich birgt, dass die vom Klimawandel Betroffenen als Bedrohung angesehen werden könnten, wie Angela Oels und Delf Rothe (Hamburg) bemerkten. Avinash Godbole (Institute for Defense Studies and Analyses, Neu-Dehli) argumentiert, dass diese Sicht nicht zielführend ist, da dem Klimawandel nur mit regionaler und multilateraler Kooperation begegnet werden kann.

Dies wurde auch während der öffentlichen Diskussionsrunde deutlich, die Friedenswissenschaftler sowie Vertreter der Politik und der Bundeswehr zusammen brachte. Die Frage nach der Stabilität von Gesellschaften wurde kontrovers diskutiert. Einig waren sich die Diskussionsteilnehmer jedoch darüber, dass das Militär für die Bewältigung des Klimawandels ungeeignet ist. Wichtiger ist es hingegen, international vermittelnde Institutionen wie die Vereinten Nationen zu reformieren und zu stärken, wie Botschafter Bo Kjellén (Stockholm Environment Institute) feststellt. Alexander Carius (Adelphi Research Berlin) stellt mit Blick auf Kooperationsmöglichkeiten der internationalen Politik im Energie- und Wassersektor fest, dass der Klimawandel sich von einem Konflikt verschärfenden »threat multiplier« zum stabilisierenden »peace catalyst« entwickeln kann, wenn die sich bietenden Chancen entsprechend genutzt würden. Verschiedene Strategien diskutierte Oli Brown vom International Institute of Sustainable Development in seinem Beitrag. Frank Biermann (Vrije Universität Amsterdam) forderte eine „global adaptation governance“, die es erlaubt, schneller und effektiver auf die Herausforderungen des Klimawandels zu reagieren.

Mit ihrem breitgefächerten Spektrum an Themen, Perspektiven und Methoden trug die Konferenz der Komplexität des Themas Rechnung. Unabhängig von den unterschiedlichen Kontexten, weisen die präsentierten Fallbeispiele zwei Gemeinsamkeiten auf. Zum einen stellt es sich als grundlegend schwierig heraus, den Einfluss des Klimawandels von sozioökonomischen Faktoren zu unterschieden. Zum anderen war der Klimawandel in keinem der Fälle der einzige Grund für soziale Instabilität oder gewaltsame Konflikte. Vielmehr hat er als verschärfende Kraft gewirkt, welches die Auffassung vom »threat multiplier« stärkt.

Weiter hat die Konferenz gezeigt, dass insbesondere bei der Validierung des Zusammenhangs von Klimawandel und Konflikten noch erheblicher Forschungsbedarf besteht (Michael Brzoska). Hier sind vielversprechende Ansätze zu erkennen. Die theoretische Auseinandersetzung mit der Thematik hat für Veränderungen in der Diskussion sensibilisiert und verdeutlicht wie diese politisch instrumentalisiert werden können. Es gilt zu verhindern, dass der Klimawandel als Rechtfertigung von militärischen Einsätzen herangezogen wird. Stattdessen müssen alle Staaten mit Hinblick auf zukünftige Klimaverhandlungen kooperative Lösungen forcieren, die unter anderem im Bereiche der Energieversorgung möglich sind. Wie wichtig Austausch und Kooperation über Grenzen hinweg beim Thema Klimawandel sind, hat die Konferenz gezeigt. Die Beiträge sind dokumentiert auf der Website http://clisec.zmaw.de und werden in Buchform veröffentlicht.

Janpeter Schilling, Michael Link und Jürgen Scheffran