Globales Unrecht, lokal ahnden?


Globales Unrecht, lokal ahnden?

Analyse und Kritik der Verfahren unter dem Völkerstrafgesetzbuch

von Alexander Benz

Gegen Ende des letzten Jahrtausends erreichte die Staatengemeinschaft mit der Einrichtung der Sondergerichtshöfe für das ehemalige Jugoslawien und Ruanda wichtige Meilensteine auf dem Weg zur weltweiten Ahndung von Völkerrechtsverbrechen. Dieser Weg gipfelte im Römischen Statut (Rom-Statut) und der Errichtung des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH). Seitdem hat sich das Stimmungsbild in der Staatengemeinschaft merklich geändert. Vielen scheint die Errichtung eines solchen Gerichtshofes heute nicht mehr möglich. Im Folgenden soll daher anhand der Analyse deutscher Verfahren unter dem Völkerstrafgesetzbuch (VStGB) der Frage nachgegangen werden, ob nationale Strafverfahren in Zukunft internationale Tribunale entlasten können.

Die grundlegende Idee einer Völkerstrafrechtsordnung ist, schwerste Menschenrechtsverletzungen nicht ungesühnt bleiben zu lassen. Damit auch Verbrechen mächtiger Regimemitglieder geahndet werden, die sich häufig mit politischen Mitteln der Strafverfolgung entziehen können, bedarf es eines Systems trans- und internationaler Strafrechtspflege (vgl. ECCHR 2016, S. 9f.). Dabei ist die Grundannahme, dass die juristische Aufarbeitung in den Staaten der Tatbegehung prinzipiell am besten dazu beitragen kann, dieses Ziel zu erreichen. Daran hat sich auch mit Schaffung des IStGH in Den Haag nichts geändert (vgl. ECCHR 2016, S. 17f.). Zwar hat er Gerichtsbarkeit über die „schwersten Verbrechen, welche die internationale Gemeinschaft als Ganzes berühren“ (vgl. Abs. 4 Präambel Rom-Statut). Diese sind: Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und das Verbrechen der Aggression. Dabei wird aber der innerstaatlichen Gerichtsbarkeit grundsätzlich der Vorrang eingeräumt (Art. 17 Rom-Statut). Dem Grundsatz der Komplementarität folgend dient Strafverfolgung durch den IStGH lediglich ihrer Ergänzung, wenn nationale Rechtssysteme nicht fähig oder willens sind, ein faires Strafverfahren durchzuführen. Neben internationalen Tribunalen sind also zunächst die Nationalstaaten dazu angehalten, die oben genannten Verbrechen zu ahnden, sofern ihnen dies möglich ist.

Die deutsche Strafgerichtsbarkeit ist eines der nationalen Gerichtssysteme weltweit, welches nicht nur willens, sondern auch tatsächlich dazu in der Lage ist, solche Prozesse zu führen. Es ist somit ein wichtiger Bestandteil des eben beschriebenen Systems. Flankierend zum Rom-Statut wurde 2002 das deutsche VStGB geschaffen. Diesem kommt dabei eine Bedeutung zu, die weit über die Bundesrepublik hinausreicht: Auf seiner Basis können besonders schwere Menschenrechtsverletzungen weltweit, welche die Schwelle zu Völkerrechtsverbrechen überschreiten, von deutschen Behörden verfolgt werden (vgl. § 1 VStGB) und in Deutschland zur Anklage kommen.

2011: Der »FDLR-Prozess«

Das erste Verfahren auf Basis des VStGB fand ab dem 11. Mai 2011 vor dem Oberlandesgericht (OLG) Stuttgart statt. Hier erging am 28. September 2015 das erstinstanzliche Urteil. Der Prozess gegen zwei ruandische Anführer der im Osten der Demokratischen Republik Kongo aktiven Rebellengruppe »Forces démocratiques de libération du Rwanda« (FDLR) wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Rädelsführerschaft in einer terroristischen Vereinigung war mit 320 Verhandlungstagen der längste Prozess, der bis dahin jemals vor dem OLG Stuttgart stattgefunden hatte (vgl. ECCHR 2016, S. 9). Im Urteilsspruch wurde der Angeklagte Ignace Murwanashyaka unter anderem wegen Beihilfe zu fünf Kriegsverbrechen gemäß § 8 VStGB i.V.m. § 27 StGB in Tateinheit mit Rädelsführerschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung (§ 129b Abs. 1 StGB i.V.m. § 129a Abs. 1, 4 StGB) zu einer Freiheitsstrafe von 13 Jahren verurteilt. Der zweite Angeklagte Straton Musoni wurde am Ende nur wegen Rädelsführerschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung zu einer Freiheitsstrafe von acht Jahren verurteilt.

Probleme des Verfahrens

Die Durchführung dieses Prozesses bereitete dem OLG Stuttgart durchaus Probleme: So wurde dem Gericht vorgeworfen, die Öffentlichkeit nur unzureichend informiert zu haben, insbesondere da keine Informationen in den für das Verfahren relevanten Sprachen zur Verfügung gestellt wurden (vgl. ECCHR 2016, S. 129f.). Kritisiert wurden daneben der teilweise unzureichende Zeug*innenschutz im Verfahren (ECCHR 2016, S. 135) sowie die fehlende bzw. erschwerte Opferbeteiligung (ECCHR 2016, S. 134ff.). In den nachfolgenden Jahren kam es aufgrund dieser Erfahrungen immer wieder zu Reformforderungen im Hinblick auf Völkerstrafprozesse in Deutschland.1

2020: Das »Al-Khatib-Verfahren«

Auf diesen Prozess folgten mehrere Verfahren nach dem VStGB in Deutschland (bspw. Aria Ladjedvardi, § 8 Abs. 1 Nr. 9 VStGB, OLG Frankfurt, Urteil vom 12.07.2016 und aktuell Jennifer W., § 8 Abs. 1 Nr. 1 VStGB u.a., OLG München seit dem 09.04.2019). Ob bei deren Durchführung Lösungsansätze zu den in Stuttgart aufgetretenen Problemen entwickelt werden konnten, ist fraglich. Beispielhaft kann dies ein aktuelles Verfahren zeigen: Jüngst sorgte das sogenannte »Al-Khatib-Verfahren« vor dem OLG Koblenz für grenzüberschreitendes Interesse. Dieser Prozess begann am 23. April 2020 und ist weltweit der erste Prozess gegen ehemalige Mitarbeiter*innen des syrischen Geheimdienstes (vgl. OLG Koblenz 2020). Im Laufe des vergangenen Jahres gewährte er Einblicke in die staatlich organisierte Folter Syriens. Die Anklage gegen die zwei Geheimdienstmitarbeiter lautet im Fall von Anwar R. auf Kriegsverbrechen nach §§ 7 Abs. 1 Nr. 1, Nr. 5, Nr. 9 VStGB, 25 StGB, bzw. im Fall von Eyad A. auf Teilnahme an diesen Verbrechen (§§ 7 Abs. 1 Nr. 5, Nr. 9 VStGB, 27 StGB). Daneben stehen für Anwar R. Vorwürfe von Mord, Vergewaltigung und schwerer sexueller Nötigung im Raum.

Der Fall »Branch 251«

Die Verbrechen sollen hauptsächlich in und um »Branch 251« begangen worden sein, ein Gefängnis unter direkter Kontrolle des syrischen Geheimdienstes. Hierin liegt ein großer Unterschied zu anderen Verfahren nach dem VStGB: Statt Angehörigen nichtstaatlicher bewaffneter Gruppen den Prozess zu machen, stehen nun ehemalige Angestellte der syrischen Regierung vor Gericht. Eine Vorlage syrischer Fälle von Völkerrechtsverbrechen beim IStGH auf Basis einer Überweisung durch den UN-Sicherheitsrat ist aufgrund der Blockade durch die Vetostimmen von Russland und China nicht möglich.2 Ein internationales Sondertribunal für Syrien existiert daneben (noch) nicht.

Vor diesem Hintergrund kommt dem Verfahren in Koblenz eine wichtige Bedeutung zu: Ein solcher Prozess bietet die Möglichkeit, schon in einem sehr frühen Stadium Beweise zu sichern und so als Teil von »Transitional Justice« das Geschehen vor Ort noch während der Fortsetzung des zugrundeliegenden Gewaltkonfliktes einer ersten Aufarbeitung zu unterziehen – wenngleich diese zwangsläufig auf den Verfahrensgegenstand beschränkt bleibt. Darüber hinaus sendet das Verfahren bereits in der Gegenwart eine wichtige Botschaft an alle noch aktiv am Konflikt beteiligten Parteien: Die Verpflichtungen des humanitären Völkerrechts sind weder reine Symbolik noch bloße Empfehlungen; ihre Verletzung wird tatsächlich geahndet (vgl. Bock und Wagner 2020, S. 3148). Das »Al-­Khatib-Verfahren« bietet dabei neben dem individuellen Nachweis einzelner Taten der Angeklagten zudem die Chance, erstmals die systematische staatliche Folter in einer Gefängniseinrichtung wie »Branch 251« und die dahinterstehenden organisatorischen Strukturen aufzuzeigen. Wichtiges Beweismittel sind in diesem Kontext die sogenannten »Caesar Files«. Diese Dateien beinhalten Fotos von Toten, die in Krankenhäusern in Damaskus aufgenommen wurden. Ohne sie wäre es in Koblenz wohl nicht zu einer Anklage gekommen (vgl. Ritscher 2018, S. 543f.). Begleitet von detaillierten forensischen und technischen Analysen, beleuchten sie das Ausmaß der staatlich koordinierten Folter und systematischer Tötung in Syrien (vgl. Ritscher 2019, S. 600). Der Umgang mit dem Material kann dabei zugleich aufzeigen, wie solche digitalen Beweise in zukünftigen Prozessen um internationale Verbrechen eingesetzt werden können.

Wiederkehrende Probleme

Trotz des oben beschriebenen Unterschieds, vor allem im Hinblick auf die Angeklagten, ergeben sich im Prozess vor dem OLG Koblenz ähnliche Schwierigkeiten wie im Prozess vor dem OLG Stuttgart und anderen Prozessen nach dem VStGB in Deutschland. Immer wieder ist die Distanz zum Tatort ein zentrales Problem, welches sich auf die Möglichkeiten der Beweiserhebung auswirkt. Die »Caesar Files« können hier keine vollständige Abhilfe schaffen. Ähnlich wie im Stuttgarter Verfahren treffen in Koblenz erneut ein zuvor mit solchen Verfahren nicht befasster Senat und die Vertreter­*innen des mittlerweile deutlich besser ausgestatteten Generalbundesanwalts aufeinander. Letzterer wurde in Deutschland in den vergangenen Jahren personell und finanziell verstärkt (vgl. Ritscher 2018, S. 543). Zusammen mit weniger erprobten Anwält*innen kann dies zu einem deutlichen Ungleichgewicht zwischen den Prozessparteien führen. Daneben entstehen aufgrund kultureller und sprachlicher Unterschiede weitere Spannungsfelder. So gibt es im Verfahren vor dem OLG Koblenz immer wieder Probleme mit der Übersetzung, welche sich nachteilig auf den Verlauf des Prozesses auswirken und Verständnisprobleme festigen können (vgl. SJAC und ICWC 2021, Abschnitt 6 »Evidentiary Challenges«).

Immer wieder äußern Zeug*innen zudem erhebliche Bedenken hinsichtlich ihrer Sicherheit und der ihrer Angehörigen. Letztere leben oftmals noch in Syrien, für ihre Sicherheit kann vonseiten der deutschen Behörden keinerlei Garantie übernommen werden. Da (ehemalige) Unterstützer*innen der beiden Angeklagten nach wie vor in Machtpositionen sind, wird hier eine besondere Gefährdungslage deutlich. Der Senat des OLG Koblenz nutzt die beschränkten Mittel des Zeug*innenschutzes soweit möglich aus. Nichtsdestotrotz kann den Zeug*innen kein vollständiges Gefühl von Sicherheit vermittelt werden, was im Prozess immer wieder deutlich wird. Zeug*innen berichteten während ihrer Vernehmungen mehrfach davon, dass sie sich trotz einer Anonymisierung und weiterer Maßnahmen nicht sicher fühlten (vgl. SJAC 2020a). Teilweise werden Aussagen, die sie vor dem Prozess bei den Ermittlungsbehörden getroffen haben, nicht mehr bestätigt oder widerrufen (vgl. SJAC 2020a). In einigen Fällen kam es (versehentlich) zur Offenlegung ihrer Identität (vgl. SJAC 2020b). Diese Probleme sind dabei in Prozessen nach dem VStGB keine neue Entwicklung (s.o.).

Bedingt durch die Covid-19 Pandemie stand der Senat daneben vor ganz neuen Herausforderungen: Das bereits eröffnete Hauptverfahren, welches von Anfang an große mediale Aufmerksamkeit erregte, musste kurzfristig so ausgestaltet werden, dass alle Beteiligten und auch die Zuschauer*innen vor einer Infektion mit Covid-19 geschützt wurden. Das Gericht wechselte zur Wahrung des Mindestabstandes die Räumlichkeiten und beschränkte die Zahl der zugelassenen Zuschauer*innen. Diese und weitere Hygienemaßnahmen waren notwendig und sinnvoll, führten auf der anderen Seite aber zu einer Zugangserschwernis für die allgemeine Öffentlichkeit und insbesondere für die syrische Gemeinschaft.

So bildeten sich täglich Warteschlangen vor dem Gericht und teilweise war es etwa für Betroffene bzw. Angehörige von Opfern unmöglich, dem Verfahren beizuwohnen. Daneben führten die Regelungen im Zuschauerraum dazu, dass Vertreter*innen arabischer Medien zunächst keine (sonst übliche) Flüsterdolmetscher*in hinzuziehen konnten. Ohne Zugriff auf die offizielle Übersetzungstonspur des Verfahrens verwehrte ihnen dies de facto die Möglichkeit, dem Verfahren effektiv folgen zu können. Um dem entgegenzuwirken beantragten die Betroffenen Zugang zum Signal der Übersetzungsanlage. Dieser Antrag wurde durch die Vorsitzende Richterin abgelehnt. Sie verwies dabei auf die fehlende technische Ausstattung, den erhöhten Aufwand der dann täglich notwendigen Desinfektion sowie die fehlende Möglichkeit, unerlaubte Aufnahmen bei einem solchen System gänzlich auszuschließen (BVerfG 2020, S. 3166). Hiergegen erhoben die Betroffenen eine Verfassungsbeschwerde.

Über diese ist zwar zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Artikels noch nicht entschieden, in einer einstweiligen Anordnung des Bundesverfassungsgerichts wurde dem Senat aber schon vorab aufgegeben, „geeignete Regelungen zu treffen, die es akkreditierten Medienvertretern mit besonderem Bezug zum syrischen Konflikt ermöglicht, das deutschsprachige Prozessgeschehen mithilfe eigener Vorkehrungen oder unter kostenpflichtiger Nutzung des gerichtlich für die Verfahrensbeteiligten bereitgestellten Übersetzungssystems oder auf andere Weise in arabischer Sprache zu verfolgen“ (BVerfG 2020, S. 3166). Das Bundesverfassungsgericht bejahte zur Begründung dieser Sichtweise das hohe grenzüberschreitende Interesse am Verfahren und berief sich explizit auf das »Universalitätsprinzip«, welches dem „besonderen, die internationale Gemeinschaft als Ganze berührenden Charakter der infrage stehenden Straftaten“ geschuldet sei (BVerfG 2020, S. 3166). Diese vorläufige Entscheidung ist zu begrüßen, lässt aber außer Acht, dass auch weitere Gruppen Interesse am Zugang zur Übersetzung haben (NGOs, Betroffene, u.a.) (Bock und Wagner 2020, S. 3148).

Zudem wird den Medienvertreter*innen hiermit eine Kostenpflicht auferlegt, welche diese zusätzlich zu den Kosten ihrer Anreise und ihres Aufenthaltes in Deutschland zu tragen haben. Wenn einerseits das Universalitätsprinzip betont wird, sollte gleichzeitig auch anerkannt werden, dass die internationale Kommunikation über das Verfahren von entscheidender Bedeutung ist. Jede Erschwernis dieser Kommunikation kann die internationale Signalwirkung eines solchen Verfahrens herabsetzen. Die oben genannte Rolle als Element des »Transitional Justice«-Prozesses wird ein solches Verfahren nur erfüllen können, wenn es der betroffenen Gesellschaft möglichst umfassend zugänglich ist. Dies gilt insbesondere dann, wenn es keine offizielle Gerichtsberichterstattung oder etwa Livestreams gibt, wie es bei internationalen Tribunalen der Fall ist. Weder das Gericht in Koblenz noch der Generalbundesanwalt haben während der Verhandlung Informationen in englischer oder arabischer Sprache zur Verfügung gestellt. Hier scheint die oben ausgeführte Kritik am »FDLR-Prozess« kaum für ein Umdenken gesorgt zu haben.

Nach etwas weniger als einem Jahr der Hauptverhandlung erging im Verfahren vor dem OLG Koblenz im Februar 2021 das erstinstanzliche Urteil gegen einen der beiden Angeklagten, nachdem sein Verfahren zuvor abgetrennt worden war. Das Gericht bestätigte die Vorwürfe gegen Eyad A. und verurteilte ihn zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten (OLG Koblenz 2021). Ob die Anklage gegen den weiter vor Gericht stehenden Anwar R. Bestand hat, wird sich zeigen müssen.

Ergebnis

Die vorrangig nationalstaatliche Durchführung von Verfahren wegen Völkerrechtsverbrechen ist seitens der Staatengemeinschaft zunächst vorgesehen (vgl. Art. 17 Rom-Statut). Finden sich Staaten, die dies übernehmen, so gibt deren nationales Recht den Verfahrensablauf vor. Die in Deutschland gegebenen Rahmenbedingungen scheinen hier grundsätzlich dazu geeignet zu sein, Täter*innen auf Basis des Weltrechtsprinzips einer ihrer Taten entsprechenden Bestrafung zuzuführen.

Allerdings kommt es zu wiederkehrenden Problemen innerhalb der Verfahren: nicht gewährter Zugang, fehlende Übersetzung und Mehrsprachigkeit, unzureichender Zeug*innenschutz, problematische Zeug*innenvernehmungen und Beweiserhebung auf Distanz. Diese scheinen zu großen Teilen im nationalen Recht bzw. dessen Umsetzung angelegt zu sein. Die nationale Durchführung von Strafprozessen mit internationalen Bezügen ist vor diesem Hintergrund weiterhin nur eine Ergänzung internationaler Strafgerichte (etwa des IStGH). Diese Prozesse müssen sich dabei an internationalen Maßstäben messen lassen können. Sie können – wie im Fall von Syrien – gerade dann gewinnbringend sein, wenn inter­nationale Prozesse nicht möglich sind.

Anmerkungen

1) Siehe etwa den Antrag der Bundestagsfraktion der Bündnis 90 / Die Grünen: „Keine Straflosigkeit bei Kriegsverbrechen – Völkerstrafprozesse in Deutschland voranbringen“, BT-Drucksache 18/6341 vom 14.10.2015.

2) Eine entsprechende Resolution (Security Council Draft Resolution S/2014/348) scheiterte am 22.05.2014 vor dem UN-Sicherheitsrat.

Literatur

Bock, S.; Wagner, M. (2020): Nationale Strafverfolgung von Völkerrechtsverbrechen – in kleinen Schritten weitergedacht. Neue Juristische Wochenschrift, 2020, S. 3146-3148.

Bundesverfassungsgericht (2020): Beschluss vom 18.8.2020 – 1 BvR 1918/20, Eilantrag auf Zulassung von Übersetzungshilfsmitteln im „Syrien-Folterprozess“. Neue Juristische Wochenschrift, 2020, S. 3166-3168.

European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR, 2016): Weltrecht in Deutschland? Der Kongo-Kriegsverbrecherprozess: Erstes Verfahren nach dem Völkerstrafgesetzbuch.

Oberlandesgericht Koblenz (2020): Anklage gegen zwei mutmaßliche Mitarbeiter des syrischen Geheimdienstes wegen der Begehung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit u.a. zugelassen. Pressemitteilung, 10.03.2020.

Oberlandesgericht Koblenz (2021): Urteil gegen einen mutmaßlichen Mitarbeiter des syrischen Geheimdienstes wegen Beihilfe zu einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Pressemitteilung, 24.02.2021.

Ritscher, C. (2018): Aktuelle Entwicklungen in der Strafverfolgung des Generalbundesanwalts auf dem Gebiet des Völkerstrafrechts. Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik, 2018, 12, S. 543-545.

Ritscher C. (2019): Aktuelle Entwicklungen in der Strafverfolgung des Generalbundesanwalts auf dem Gebiet des Völkerstrafrechts. Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik, 2019, 12, S. 599-601.

Syria Justice and Accountability Center (SJAC, 2020a): Trial of Anwar Raslan and Eyad Al Gharib – Trial Monitoring Report 5, June 24 & 25, 2020.

Syria Justice and Accountability Center (SJAC, 2020b): Trial of Anwar Raslan and Eyad Al Gharib – Trial Monitoring Report 15, October 6, 7 & 8, 2020.

Syria Justice and Accountability Center; International Research and Documentation Centre for War Crimes Trials (SJAC und ICWC, 2021): Scratching the Surface: One Year into the Koblenz Trial, 22.04.2021.

Dipl. jur. Alexander Benz ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Internationalen Forschungs– und Dokumentationszentrum Kriegsverbrecherprozesse (ICWC) in Marburg. Aktuell promoviert er zur Frage der Reformbedürftigkeit der deutschen Strafprozessordnung im Hinblick auf völkerstrafrechtliche Verfahren. Das ICWC kooperiert mit dem Syria Justice and Accountability Center (SJAC) bei der Verfahrensbeobachtung vor dem OLG Koblenz.

Zivilgesellschaft im Völkerrecht


Zivilgesellschaft im Völkerrecht

Wenn die Anklage von »unten« kommt

von Andreas Schüller

Soziale Bewegungen haben sich immer wieder das Recht zu eigen gemacht und dafür genutzt, Veränderungen zu erkämpfen. Zwar spiegelt das Recht allzu häufig vergangene oder bestenfalls bereits erkämpfte gesellschaftliche Verhältnisse wider. Dennoch liegt in der Schaffung neuen Rechts sowie in der Auslegung und Anwendung des bestehenden Rechts auf im Wandel begriffene gesellschaftliche Verhältnisse ein Potential, das gesellschaftliche Akteur*innen für ihre Anliegen nutzbar machen können. Dies gilt auch oder gerade für das Völkerrecht, in dem es an einer alleinigen höchstrichterlichen Instanz mangelt und das durch eine Vielfalt von gerichtlichen Entscheidungen, staatlicher Praxis und wissenschaftlichen Ausführungen stetiger Veränderung unterliegt.

Zivilgesellschaftliche Akteur*innen sind sehr vielfältig und verfolgen in ihrer Diversität ihre Ziele mit den unterschiedlichsten Methoden und Herangehensweisen. Dies gilt ebenso für die Art, in der sie Recht mobilisieren. Soziale Bewegungen, die ihre Veränderungskraft vor allem durch die Mobilisierung von Mitstreiter*innen in Protesten im öffentlichen Raum erlangen, nutzen das Recht oftmals, um einzelnen Forderungen durch gerichtliche Entscheidungen Nachdruck zu verleihen (so beispielsweise die Eilentscheidungen zur Rodung des Hambacher Forsts zugunsten der dort aktiven Protestierenden).

Nichtregierungsorganisationen dagegen setzen zum einen auf rechtliche Interventionen, um Denkmuster aufzubrechen und mit voller Wucht Ungerechtigkeiten sichtbar zu machen (wie etwa die Strafanzeige des ECCHR beim Internationalen Strafgerichtshof gegen mehrere europäische Rüstungskonzerne wegen Kriegsverbrechen im Jemen). Zum anderen führen sie strategische Prozesse, um einzelne Veränderungen in der Rechtsprechung herbeizuführen, die dann wiederum zu politischen und gesellschaftlichen Veränderungen beitragen sollen.

Gesellschaftliche Akteur*innen arbeiten also ebenso mit am Recht und mit dem Recht, sei es durch ihre Kampagnenarbeit, um neue völkerrechtliche Verträge zu schaffen (z.B. die Schaffung des Atomwaffenverbotsvertrages durch ICAN), sei es durch Klagen, Beschwerden und Strafanzeigen. Mit letzteren sollen staatliche und internationale Gerichte, Ausschüsse und Staatsanwaltschaften dazu angehalten werden, sich mit bestimmten Sachverhalten zu befassen, diese aufzuarbeiten und Entscheidungen herbeizuführen. Über diese konkreten juristischen Mittel hinaus dienen zudem Veranstaltungen (wie wissenschaftliche Symposien) dazu, konkrete Rechtsfragen diskutieren und weiterentwickeln zu lassen.

Mobilisierungsmöglichkeiten des Völkerrechts

Das Völkerrecht diente im 16./17. Jahrhundert als Recht zwischen Staaten, um etwa Handelsbeziehungen zu regeln oder um in den Folgejahrhunderten ganze Völker zu Zeiten des Kolonialismus vom Recht auszuschließen und auszubeuten. Nach den zwei Weltkriegen kam dann die Aufgabe hinzu, Frieden und Sicherheit zwischen Staaten zu gewährleisten. In den letzten Jahrzehnten hat das Völkerrecht jedoch Öffnungen erfahren, die gesellschaftliche Akteur*innen gezielt nutzen können. Dazu haben Nichtregierungsorganisationen beigetragen, die durch Kampagnen auf die Schaffung neuer völkerrechtlicher Abkommen hingewirkt haben.

Vor etwa 150 Jahren begann die Rotkreuzbewegung, Staaten dazu zu bewegen, sich Regeln auf dem Schlachtfeld zum Schutz Verwundeter zu geben. Ergebnis dieser Arbeit war die erste Genfer Konvention (1864). Das darin ausgedrückte Bestreben wurde von erfolggekrönten zivilgesellschaftlichen Initiativen zum Verbot der Folter oder bestimmter Waffen (wie Landminen) fortgesetzt, bis hin zum Einsatz für einen ständigen internationalen Strafgerichtshof (IStGH) in den 1990er Jahren. Zuletzt lässt sich diese Arbeit der gezielten Schaffung internationalen Rechts bei Initiativen zu menschenrechtlichen Verpflichtungen transnationaler Unternehmen sowie Initiativen zur Kriminalisierung des Ökozids beobachten. Es sind also immer wieder gesellschaftliche Akteur*innen, die neue Themen auf die Agenda bringen und im besten Falle Staaten dazu bewegen, neue völkerrechtliche Regeln zu verhandeln und zu schaffen.

Dabei findet sich das Völkerrecht mittlerweile nicht nur in zwischenstaatlichen Abkommen wieder, sondern häufig auch in staatlichen Umsetzungsgesetzen. So ist das deutsche Völkerstrafgesetzbuch, durch das nach dem Weltrechts­prinzip Völkermord, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit von der deutschen Justiz strafrechtlich verfolgt werden können, ein nationales Gesetz. Die völkerrechtlichen Bezüge, insbesondere zum »Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs« sind jedoch unübersehbar. Auch die dem deutschen Grundgesetz immanente Völkerrechtsfreundlichkeit in den Artikeln 25 und 59 GG (vgl. BVerfG 2004, Rn. 93) bindet deutsche Gerichte jeder Instanz an das Völkerrecht und eröffnet Möglichkeiten, Völkerrechtsverletzungen einzuklagen, sofern ein Bezug zu Deutschland besteht.

Es gibt daher eine Vielzahl von Foren, vor die völkerrechtliche Streitigkeiten gebracht werden können. Von nationalen zu internationalen Gerichten, von Verwaltungs- zu Strafgerichten und Staatsanwaltschaften bis hin zu UN-Ausschüssen, Sonderberichterstatter*innen und anderen internationalen Mechanismen.

All dieser völkerrechtlichen Rechtsetzung und nationalen Implementierung bedarf es jedoch auch, um Völkerrecht zivilgesellschaftlich überhaupt nutzbar und gerichtlich durchsetzbar zu machen. Denn nur dann können gesellschaftliche Akteur*innen das Recht für sich beanspruchen und in ihre Arbeit aufnehmen, um gesellschaftlichen Wandel zu erreichen. In einer globalisierten Welt gibt es kaum mehr Bereiche, in denen es keine internationalen, grenzüberschreitenden Bezüge gibt. Doch das Recht ist nicht immer für die Regelung wirklich transnationaler Sachverhalte gemacht. Lücken, die den transnationalen Zugang zum Recht erschweren, sind oftmals von Staaten in den Vertragsverhandlungsprozessen bewusst offengelassen worden (wie weiter unten zum Römischen Statut näher ausgeführt). Einzelne Zusatzprotokolle, die den Zugang zu Rechtsdurchsetzungsmechanismen vorsehen, ratifizieren Staaten nicht (wie Zusatzprotokolle zum UN-Zivilpakt und zum UN-Sozialpakt) oder sie erklären Vorbehalte gemäß Art. 2 Abs. 1 lit. d des Wiener Vertragsrechtsübereinkommens zu völkerrechtlichen Verträgen, der die Rechtswirksamkeit einzelner Vorschriften aussetzt.

Dennoch gibt es Möglichkeiten für zivilgesellschaftliche Akteur*innen, über eine internationale Vernetzung und Zusammenarbeit, das Recht transnational nutzbar zu machen. So konnten etwa pakistanische Textilarbeiter*innen Zugang zu Gerichten am Hauptstandort eines Unternehmens in Deutschland bekommen, wie im »KiK-Fall« des ECCHR vor dem Landgericht Dortmund, um dort auf Entschädigung für den Tod ihrer Angehörigen durch den Fabrikbrand an einer der Produktionsstätten zu klagen (vgl. ECCHR Fallbeschreibung 2020).

Fälle von Rechtsmobilisierung von unten

Der KiK-Fall ist ein gutes Beispiel dafür, wie Betroffene in einer globalisierten Welt ihre Stimme erheben und durch eine Klage am Hauptstandort des Unternehmens – oft weit entfernt von den eigentlichen Produktionsstätten – die Geschäftspraktiken sichtbar machen können. Diese Klage im spezifischen hat der Politik zudem drastisch vor Augen geführt, wie schutzlos diejenigen am Anfang der Lieferkette sind und dass die Unternehmensverantwortung rechtlich verbindlich geregelt werden muss, um fairere Bedingungen in der gesamten Lieferkette zu schaffen. Die momentan stattfindende Beratung eines entsprechenden Gesetzes in Deutschland, nach dem Unternehmen rechtlich verbindlich ihre Tätigkeiten und die ihrer Zulieferer auf die Einhaltung von Menschenrechten hin überprüfen müssten, verdeutlicht die teils konträren Positionen von Zivilgesellschaft und Wirtschaft. Vor allem macht sie den Widerstand sichtbar, den Teile der Wirtschaft und wirtschaftsnahe Verbände gegen rechtlich verbindliche Regelungen zu Haftung und Klagemöglichkeiten hegen.

Ein anderes Beispiel betrifft den globalen Einsatz bewaffneter Drohnen durch die USA, der ohne ein weitgespanntes Netz von Datenströmen, Analysezentren und Drohnenstartplätzen nicht möglich wäre. Von Drohnenangriffen Betroffene wie Familie Bin Ali Jaber aus Hadramaut im Jemen klagten nicht nur in den USA, sondern auch in Deutschland (aktuell vor dem Bundesverfassungsgericht, vgl. ECCHR 2021), da ohne Fernmeldepräsenzpunkte sowie das Analysezentrum der US-Streitkräfte in Ramstein Drohneneinsätze im Jemen nicht möglich wären (vgl. BVerwG 2020). Dadurch, dass deutsche Behörden über das Grundgesetz an das Völkerrecht gebunden sind, kann gegen völkerrechtswidrige Handlungen vor deutschen Verwaltungsgerichten geklagt werden. Diese Klagemöglichkeit können auch Kläger*innen aus dem Ausland beanspruchen, die primär einer rechtswidrigen Handlung eines dritten Staates, hier der USA, ausgesetzt sind, aber eben unter Mitwirkung deutscher Behörden. Letztere müssen sich vorhalten lassen, völkerrechtswidrige Praktiken Verbündeter mitzutragen und es nicht zu schaffen, innerhalb des Bündnisses für die Respektierung und Stärkung des Völkerrechts wirksam einzutreten. Die USA wiederum schaffen es zwar, solche Fälle aus dem eigenen Rechtssystem herauszuhalten (mit der Begründung, dies gefährde die nationale Sicherheit), sehen sich aber mit Gerichtsentscheidungen aus anderen Ländern konfrontiert, die ihre Handlungen als völkerrechtswidrig einstufen.

Solche Entscheidungen können es Staaten erleichtern, auf zwischenstaatlicher Ebene eine rechtliche Position gegen einen mächtigen Staat zu beziehen, da gerade in den zwischenstaatlichen Beziehungen und den UN-Gremien um die Einhaltung des Völkerrechts gerungen wird. Aus einem strategischen Blickwinkel gesehen geht es in diesen Fällen aber auch um die Klärung, ob und inwiefern Gerichte exekutives Handeln überprüfen müssen. In außenpolitischen Entscheidungen können Gerichte insgesamt nur sehr zurückhaltend prüfen. Wenn es aber um Eingriffe in höchste Rechtsgüter wie Leib und Leben geht, muss eine Überprüfbarkeit gewährleistet sein und der außenpolitische Entscheidungsspielraum der Exekutive entsprechend gerichtlich eingeengt werden.

Ähnliches, wenn auch gänzlich anders gelagert, betrifft die Strafanzeigen nach dem Weltrechtsprinzip, wonach die deutsche Justiz Völkerstraftaten wie Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit weltweit verfolgen kann. Hintergrund für dieses Prinzip ist die Feststellung, dass diese Taten die Weltgemeinschaft als Ganzes betreffen, wie in völkerrechtlichen Abkommen wie dem Römischen Statut festgehalten. Die deutsche Justiz führt hier stellvertretend für eine internationale Justiz die Verfahren. Dies ist nur bei einem sehr eingeschränkten Kreis von Straftaten möglich; nicht jede Menschenrechts- oder Völkerrechtsverletzung kann so vor deutschen Gerichten strafrechtlich verfolgt werden.

Was aber möglich ist, zeigen die Verfahren zu Folter und sexualisierter Gewalt in Syrien, wie etwa das »Al-Khatib Verfahren« vor dem OLG Koblenz (vgl. ibid. 2021). Überlebende von Folter und sexualisierter Gewalt haben Anzeigen erstattet und ihre Zeugenaussagen beim Bundeskriminalamt getätigt sowie später im Prozess ausgesagt. Zusammen mit weiteren Beweismitteln, wie etwa den Fotos eines ehemaligen syrischen Militärfotografen, der unter dem Pseudo­nym »Caesar« bekannt ist, hat dies im Februar 2021 zu einer ersten Verurteilung eines ehemaligen Mitarbeiters des syrischen Regimes geführt. Vor allem aber hat es auch viel Licht auf die Verbrechen des Assad-Regimes geworfen. Weitere Urteile und Verfahren sind zu erwarten, nicht nur in Deutschland, da sich syrische Überlebende zusammen mit syrischen Nichtregierungsorganisationen, Rechtsanwält*innen und europäischen Partnern (wie dem ECCHR) an Strafverfolgungsbehörden in vielen Ländern gewandt haben, um Verfahren nach dem Weltrechtsprinzip zu initiieren. Diese Strafverfahren sind von höchster Bedeutung für die mittel- und langfristige Zukunft Syriens, da auch jetzt schon staatliche Verbrechen aufgearbeitet werden. Diese Aufarbeitung kann dann in der Zukunft eine wichtige Rolle für die innergesellschaftliche Aushandlung in Syrien spielen, in der Bestimmung von schwerstem Unrecht und dem Umgang damit.

Herausforderungen und Begrenzungen der Völkerrechtsmobilisierung

Gesellschaftliche Akteur*innen handeln in dem rechtlichen Rahmen, der ihnen vorgegeben ist. Wie oben beschrieben, gibt es zwar Möglichkeiten, die Schaffung von völkerrechtlichen Abkommen zu beeinflussen, letztlich verhandeln, verabschieden und ratifizieren jedoch Staaten diese Abkommen. Darin arbeiten Staaten immer wieder Klauseln ein, die es ihnen ermöglichen, sich der Bindung völkerrechtlicher Abkommen zu entziehen – wie im Folgenden anhand des Römischen Statuts ausgeführt werden wird. Hierin zeigt sich der Kompromiss­charakter, der jeder multilateralen Entscheidung zu Grunde liegt und es häufig erschwert, das Recht gegen Staaten zu erkämpfen und durchzusetzen.

Als Beispiel hierfür kann das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs dienen. An mehreren Stellen ist die Handschrift von Staaten sichtbar, die in der Absicht handelten, die Wirkung des Statuts und die Handlungsmöglichkeiten des IStGH einzuschränken. Der Gerichtshof ist in Folge dessen nicht dem Weltrechtsprinzip unterworfen, obwohl gerade für die Straftaten des Statuts (Völkermord, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit) die Staatengemeinschaft unabhängig von Tatort und Herkunft der Täter*innen zu Gericht sitzen sollte. Die Zuständigkeit des IStGH beschränkt sich auf das Staatsgebiet der Mitgliedsstaaten sowie deren Staatsangehörige. Dem UN-Sicherheitsrat ist es zudem erlaubt, bestimmte Situationen gesondert zu überweisen. Letzterer steht bekanntlich unter Vetovorbehalt der fünf Ständigen Mitglieder. Art. 16 des Römischen Statuts ermöglicht es dem Sicherheitsrat darüber hinaus, Ermittlungen des Strafgerichtshofs für ein Jahr auszusetzen. Diese Resolution kann beliebig oft erneuert werden.

Als drittes Einfallstor in das Statut dient das sogenannte »Komplementaritätsprinzip«, nach dem der IStGH nur zuständig ist, wenn Staaten nicht in der Lage oder willens sind, die Ermittlungen selbst zu führen. Was es dabei heißt »nicht willens zu sein« hat Ende 2020 eine Entscheidung der Anklagebehörde des IStGH in Bezug auf Kriegsverbrechen britischer Streitkräfte im Irak gezeigt (IStGH 2020). Obwohl es in Großbritannien keine einzige strafrechtliche Verurteilung einer Täter*in oder einer*eines Vorgesetzten gegeben hat, befand die Anklagebehörde des IStGH, dass Großbritannien seine Soldat*innen nicht absichtlich vor internationaler Strafverfolgung schütze und stellte das Vorverfahren ein. An dieser Stelle scheiterte die Zivilgesellschaft, die zwar über Jahre Druck auf britische Behörden und die IStGH-Anklagebehörde aufbauen konnte, letztlich aber diese internationale Behörde nicht dazu bewegen konnte, einen couragierten und rechtlich durchaus möglichen Schritt nach vorne zu machen.

Dieses Beispiel verdeutlicht die Begrenzungen der zivilgesellschaftlichen Mobilisierung des Völkerrechts. Zum einen ist es von großer Bedeutung, rechtliche Verfahren anzustoßen und Fälle vor Gerichte und Behörden zu bringen, um diese zur Beschäftigung mit den Sachverhalten zu zwingen. Auf der anderen Seite müssen dem aber auch Richter*innen und Staatsanwält*innen gegenüberstehen, die das Völkerrecht entsprechend auszulegen und anzuwenden bereit sind. Da viele solcher transnationalen Verfahren neue Rechtsfragen betreffen, die höchstrichterlich bislang nicht entschieden sind, sind meistens mehrere juristische Argumentationen vertretbar, so dass es durchaus Spielräume gibt, die gesellschaftliche Akteur*innen ausschöpfen können.

Globales Netz

Letztlich spielen der Zeitgeist und gesellschaftliche Veränderungen auch in rechtliche Entscheidungen hinein. Neue Entwicklungen technischer oder gesellschaftlicher Natur können über die Zeit durch rechtliche Spielräume bei der Auslegung einzelner Normen unter bestehendes Recht subsumiert werden. Für eben diese Veränderungen ist die (strategische) Mobilisierung des Rechts durch gesellschaftliche Akteur*innen unabdingbar. Diese sollten das Recht als Vehikel in ihrem Aktivismus mitdenken und nutzen, allerdings nicht als einziges Mittel und nicht losgelöst von anderweitiger Arbeit an Kampagnen, Protest oder Kunst. In einer zu starken Fokussierung auf die Mobilisierung des Rechts liegt auch immer die Gefahr, dass Ressourcen zu einseitig eingesetzt werden. Da juristische Verfahren immer auch Verzögerungen und Rückschläge erfahren können, müssen sie parallel durch andere (Aktions-)Formate begleitet werden. Nur so kann eine Kontextualisierung der dem Rechtsstreit immanenten gesellschaft­lichen und sozialen Probleme gelingen.

Die globale Vernetzung heutiger Gesellschaften kann dazu wirkungsvoll genutzt werden: Gerade das Völkerrecht kann rechtliche Entwicklungen beeinflussen, durch Entscheidungen auf internationaler Ebene oder in einem Drittstaat mit entsprechender rechtlicher Zuständigkeit, die zivil­gesellschaftliche Akteur*innen in ihrem jeweiligen Umfeld oder Land bislang nicht erreichen konnten. Um dieses Potential zu nutzen, ist eine globale Vernetzung von zivilgesellschaftlichen Akteur*innen enorm wichtig, damit rechtliche Interventionen an einem Ort Wirkungen an einem ganz anderen Ort erzielen und entfalten können. Darin liegt die große Chance der Mobilisierung des (Völker-)Rechts von unten.

Literatur

Bundesverfassungsgericht (BVerfG) (26. Oktober 2004), Beschluss Zweiter Senat, Aktenzeichen 2 BvR 955/00 und 2 BvR 1038/01.

Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) (2020): Urteil zu US-Drohneneinsätzen. Aktenzeichen 6 C 7.19. Pressemitteilung 68/2020.

European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) (2020): Fallbeschreibung Fabrikbrand in Pakistan: Billige Textilproduktion, lebensgefährliche Arbeit. ECCHR.eu

ECCHR (2021): Ramstein vor Gericht: Deutschlands Rolle bei US-Drohnenangriffen im Jemen. ECCHR.eu

Oberlandesgericht Koblenz (2021). Verfahren zu syrischer Staatsfolter. Aktenzeichen 1 StE 3/21.

Internationaler Strafgerichtshof (IStGH) (2020). Abschlussbericht zu Vorermittlungen in der Situation UK/Irak.

Andreas Schüller ist Rechtsanwalt und Programmdirektor für Völkerstraftaten und rechtliche Verantwortung beim European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) in Berlin.

Covid-19 vor dem IStGH


Covid-19 vor dem IStGH

Zivilgesellschaftliche Ermittlungsersuchen zur brasilianischen Gesundheitspolitik

von Tobias Römer

Zivilgesellschaftliche Akteur*innen nutzen nicht selten das Mittel der strategischen Prozessführung. Dabei werden gezielt juristische Verfahren eingeleitet, deren Wirkung über den eigentlichen Prozess hinausgeht. Jüngstes Beispiel im Völkerstrafrecht ist der Versuch brasilianischer Organisationen, Ermittlungen des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) gegen den Präsidenten des Landes aufgrund seiner Covid-19 Politik zu erreichen. Der folgende Artikel bemüht sich um eine rechtliche Verortung einiger mit den Vorwürfen verbundener Problematiken. Sie offenbaren das Potential strategischer Prozessführung für die Weiterentwicklung des Völkerstrafrechts sowie das Risiko für die Initiator*innen.

Während die meisten Staaten weitreichende Maßnahmen zur Eindämmung der Covid-19 Pandemie ergreifen, spielt die brasilianische Regierung die Gefahr bis heute herunter und spricht sich öffentlich gegen Schutzmaßnahmen aus. Nachdem die nationalen Behörden die Einleitung von Strafverfahren gegen Jair Bolsonaro ablehnten, erreichten mehrere als »Klageschriften« bezeichnete Schreiben die Chefanklägerin des IStGH. Darin heißt es, sie solle eigeninitiativ Ermittlungen aufnehmen, weil die brasilianische Justiz nicht willens oder in der Lage sei, ein entsprechendes Verfahren durchzuführen. Die Gesundheitspolitik Bolsonaros habe zu einer unkontrollierten Ausbreitung des Virus sowie zu zahlreichen Todesfällen geführt und stelle ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit dar. Die bekanntesten Schreiben stammen von der »Brazilian Association of Jurists for Democracy« (ABJD 2020) sowie einem Zusammenschluss verschiedener Gewerkschaften (UNI Global Union et al. 2020).

Formale Verfahrens­voraussetzungen

Gemäß Art. 15 Abs. 1 des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGHSt) kann die Ankläger*in eigeninitiativ, auf Grundlage von Informationen über Verbrechen, die unter die Gerichtsbarkeit des IStGH fallen, Ermittlungen einleiten. Jedermann ist zur Übermittlung der Informationen berechtigt, wodurch auch solche Verbrechen vor Gericht gelangen können, deren Aufklärung nicht im staatlichen Interesse liegt. Die Ermittlungen hängen jedoch von einer richterlichen Genehmigung ab (Art. 15 Abs. 3 IStGHSt). Hierfür muss die Ankläger*in darlegen, dass ein hinreichender Verdacht für das Vorliegen von Verbrechen innerhalb der Zuständigkeit des Gerichts besteht (IStGH 2020, Rn. 34).

Brasilien ist Mitglied des Statuts, weswegen der IStGH potentiell Gerichtsbarkeit ausüben kann. Bolsonaros Immunität als Staatsoberhaupt steht dem nicht im Weg (Art. 27 Abs. 2 IStGHSt). Allerdings übt der IStGH seine Gerichtsbarkeit gegenüber allen Verantwortlichen völkerrechtlicher Verbrechen einer Situation aus und nicht bloß gegenüber vorbezeichneten Einzelpersonen (vgl. dazu Rastan 2008, S. 442). Die Bezeichnung der Informationsübermittlung durch die Gewerkschaften und den Verband der Jurist*innen als »Klageschrift« ist daher irreführend.

Ein Verfahren ist nur zulässig, wenn die Sache ausreichend schwer ist und der zur Verfolgung zuständige Staat kein Verfahren führt oder nicht willens oder in der Lage dazu ist (vgl. Stegmiller 2011, S. 279). Will ein Staat dem Vorwurf entgehen, nicht willens oder in der Lage zur Strafverfolgung zu sein, muss er selbst tätig werden. Das Übermitteln von Informationen über mutmaßliche Verbrechen an den IStGH kann auf diese Weise internationalen und innenpolitischen Druck für die betroffene Regierung erzeugen.

Nichtergreifen von Schutz­maßnahmen als Verbrechen gegen die Menschlichkeit?

Im Fall von Brasilien stellt sich die spannende Frage, ob das Verhalten der Regierung überhaupt als mögliches Verbrechen gegen die Menschlichkeit einzuordnen ist. Andernfalls kann die Chefanklägerin mangels Zuständigkeit kein Verfahren einleiten. Art. 7 Abs. 1 IStGHSt erfordert, dass eine oder mehrere dort genannte Handlungen im Rahmen eines „ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung“ begangen wurden. Ein solcher Angriff kann zwar außerhalb eines bewaffneten Konflikts geführt werden (vgl. JStGH 1999, Rn. 251). Er setzt aber voraus, dass mehrere der im ersten Absatz genannten Einzeltaten vorliegen (vgl. IStGH 2014, Rn. 23). In Kurzform sind dies: »vorsätzliche Tötung«, »Ausrottung«, »Versklavung«, »Vertreibung oder zwangsweise Überführung der Bevölkerung«, »Freiheitsentzug«, »Folter«, »sexuelle Gewalt von besonderer Schwere«, »Verfolgung«, »zwangsweises Verschwindenlassen«, »das Verbrechen der Apartheid« und »andere unmenschliche Handlungen«.

Die in den Schreiben gegen Bolsonaro erhobenen Vorwürfe beziehen sich auf die Tatbestände »vorsätzliche Tötungen«, »Ausrottung« und »andere unmenschliche Handlungen«. Ob das Nichtergreifen von Schutzmaßnahmen hierunter fällt, ist auf den ersten Blick nicht eindeutig. Nähere Informationen liefern die bei der Auslegung und Anwendung der Tatbestände heranzuziehenden »Verbrechenselemente« (Art. 9 IStGHSt). Demnach ist der Begriff des Tötens weit zu verstehen und meint „jedes Hervorrufen des Todes“ (Fn. 7 der Verbrechenselemente). Dabei kommt es aber darauf an, dass der Tod gerade durch das Verhalten der Täter*in hervorgerufen wurde und nicht etwa durch das Pandemieverhalten der Menschen selbst (vgl. Ackermann 2020). Ausrottung umfasst darüber hinaus das vorsätzliche Auferlegen von Lebensbedingungen, die darauf abzielen, einen Teil der Bevölkerung zu vernichten, etwa durch das Vorenthalten des Zugangs zu Medikamenten. Ob es sich tatsächlich nachweisen lässt, dass die brasilianische Gesundheitspolitik darauf abzielt, einen Teil der Bevölkerung zu vernichten, scheint zweifelhaft.

Strategische Prozessführung

  • Strategische Prozessführung ist ein Mittel zivilgesellschaftlicher Akteur*innen, um über die jeweilige gerichtliche Einzelklage hinaus nachhaltige politische, wirtschaftliche oder soziale Veränderungen anzustoßen und das Recht fortzubilden (vgl. ECCHR o.J.).
  • In Klagekollektiven organisierte Individuen kontrollieren im Idealfall mittels Gerichtsverfahren staatliches, wirtschaftliches und politisches Handeln (vgl. Hahn und v. Fromberg 2020, S. 14).
  • Unter den Begriff fallen antidiskriminierungsrechtliche Prozesse, Schadensersatzklagen gegen Unternehmen, aber auch Verfahren, die sich mit Gesetzen oder Regierungshandeln befassen (vgl. Hahn 2019, S. 8f.).
  • Besonders öffentlichkeitswirksam ist das Initiieren von Strafprozessen zur Aufklärung und Verurteilung von Menschenrechtsverletzungen (vgl. auch Schüller in dieser Ausgabe, S. 23ff.).

Die vergleichsweise unbestimmten »anderen unmenschlichen Handlungen« erfassen Handlungen ähnlicher Art, mit denen vorsätzlich große Leiden oder schwere Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit oder der geistigen oder körperlichen Gesundheit verursacht werden. Dies schließt Menschenrechtsverletzungen ein, die eine zu den übrigen Einzeltaten vergleichbare Schwere aufweisen (vgl. IStGH 2008, Rn. 269). Denkbar erscheint ein Verstoß gegen die in Art. 12 Abs. 2c des »Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte« (1975) genannte Verpflichtung zur Pandemiekontrolle (vgl. Ackermann 2020). Gleichzeitig ist der Tatbestand aufgrund seiner Unbestimmtheit jedoch eng auszulegen, um eine unkritische Ausweitung des strafbaren Bereichs zu unterbinden (IStGH 2012, Rn. 269). Mit Blick auf die genannten Einzeltaten ist eine juristische Beurteilung nicht eindeutig, sodass ein gerichtliches Verfahren zur Klärung dieser Frage durchaus zu einer Weiterentwicklung des Völkerstrafrechts beitragen könnte.

Besonders problematisch ist die Frage, ob das sogenannte »Politikelement« des Art. 7 Abs. 2a IStGHSt erfüllt ist. Demnach muss der Angriff gegen die Zivilbevölkerung „in Ausführung oder zur Unterstützung der Politik eines Staats oder einer Organisation [erfolgen], die einen solchen Angriff zum Ziel hat“. Ausnahmsweise kann das vorsätzliche Unterlassen von Maßnahmen, das bewusst darauf abzielt, einen Angriff zu fördern, eine derartige Politik darstellen (Fn. 6 der Verbrechenselemente). Solange der Angriff allerdings nicht das Ziel seiner Politik ist, hat ein Staat weite Einschätzungsprärogativen. Er ist grundsätzlich nicht verpflichtet, eine Gefahr, die er nicht als solche erkennt, mit Mitteln zu bekämpfen, von deren Wirkung er nicht überzeugt ist.

Ähnlich gestaltet sich die Frage des Vorsatzes. Art. 30 Abs. 2 IStGHSt verlangt, dass die Täter*in ihr Verhalten setzen und die Folgen des Verhaltens herbeiführen will, oder ihr zumindest bewusst ist, dass die Folgen „im gewöhnlichen Verlauf der Ereignisse“ eintreten werden. Das Ergebnis eines unkontrollierten Verlaufs einer erst seit wenigen Monaten bekannten Pandemie lässt sich erahnen. Erahnen stellt aber noch kein Bewusstsein über den gewöhnlichen Verlauf der Ereignisse dar. Daher ist zu bezweifeln, ob der Bolsonaro unterstellte Vorsatz überhaupt ernsthaft in Betracht kommt.

Ergebnis

Bei einigen Merkmalen des Art. 7 Abs. 1 IStGHSt ist bislang unklar, ob das Nichtergreifen von Schutzmaßnahmen gegen eine Pandemie hierunter fallen kann. Dass sich die Chefanklägerin ohne Informationen aus der Zivilgesellschaft vermutlich nicht mit dieser Konstellation befassen würde, zeugt von der potentiellen Relevanz strategischer Prozessführung für die Weiterentwicklung des Völkerstrafrechts. Die Situation in Brasilien offenbart jedoch enge Grenzen. Sind die Voraussetzungen eines für alle Begehungsvarianten erforderlichen Merkmals, wie beispielsweise das Politikelement, ersichtlich nicht erfüllt, kann die Chefanklägerin auch dann keinen hinreichenden Verdacht bilden, wenn die Rechtslage an anderen Punkten unklar ist.1 Es ist auch immer zu beachten: Bleibt strategische Prozessführung erfolglos, kann sie das Gegenteil der gewünschten Wirkung entfalten. So könnte Bolsonaros Position gestärkt werden, indem er die Ablehnung der Ermittlungen als rechtliche Legitimation seiner Politik heranzieht. Dass dem nicht unbedingt so ist, zeigen andere Versuche aus der brasilianischen Zivilgesellschaft zur Einleitung eines Strafverfahrens, bei denen es vor allem um Umweltpolitik und die Behandlung indigener Gruppen geht (vgl. Grisafi 2020, S. 46ff.).

Anmerkung

1) Ermittlungen auf Grundlage der Informationen von ABJD wurden laut Medienberichten bereits abgelehnt (vgl. UOL 2020).

Literatur

Ackermann, T. (2020): Covid-19 at the International Criminal Court – Brazil’s health policy as a crime against humanity? Völkerrechtsblog, 14.08.2020.

Brazilian Association of Jurists for Democracy (ABJD) (2020): Bolsonaro denounced for a crime against humanity before the International Criminal Court. 03.04.2020.

European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) (o.J.): Glossar: Strategische Prozessführung. ecchr.eu.

Grisafi, L. (2020): Prosecuting international environmental crimes committed against ­indigenous peoples in Brazil. Columbia Human Rights Law Review Online, 5, S. 26-59.

Hahn, L. (2019): Strategische Prozessführung – Ein Beitrag zur Begriffserklärung. Zeitschrift für Rechtssoziologie, 39(1), S. 5-32.

Hahn L.; von Fromberg, M. (2020): Kollektive als „Watchdogs“: Zu Chancen strategischer Prozessführung für den Rechtsstaat. Zeitschrift für Politikwissenschaft, 16.11.2020.

Internationaler Strafgerichtshof, Prosecutor v. Katanga and Chui, ICC-01/04/01/07, Confirmation of Charges, 30.09.2008.

Internationaler Strafgerichtshof, Prosecutor v. Muthara et al., ICC-01/09-02/11, Confirmation of Charges, 23.01.2012.

Internationaler Strafgerichtshof, Prosecutor v. Ntaganda, ICC-01/04-02/06, Confirmation of Charges, 09.06.2014.

Internationaler Strafgerichtshof, Situation in the Islamic Republic of Afghanistan, ICC-02/17 OA4, Judgement on the Authorization of an Investigation, 05.03.2020.

Internationaler Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (JIStGH), Prosecutor v. Tadic, IT-94-1-A, Judgement, 15.07.1999.

Rastan, R. (2008): What is a ‘case’ for the purpose of the Rome Statute? Criminal Law Forum, 19(3-4), S. 435-448.

Stegmiller, I. (2011): The pre-investigation stage of the ICC – criteria for situation selection. Berlin: Duncker & Humblot.

UNI Global Union et al. (2020): Criminal complaint against Jair Messias Bolsonaro. 27.07.2020.

UOL (2020): Denúncias contra Bolsonaro são suspensas no Tribunal Penal Internacional. uol.com.br, 15.09.2020.

Tobias Römer promoviert am Institut für Kriminalwissenschaften in Marburg zu den Rechtsgrundlagen einer »Completion Strategy for Situations« am IStGH (Prof. Dr. Bock). Er ist MA Student der Friedens- und Konfliktforschung.

Hunger, Folter, Apartheid


Hunger, Folter, Apartheid

Die völkerstrafrechtliche Herausforderung struktureller Gewalt

von Felix Boor

Das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs enthält mit den vier Straftatbeständen des Kriegsverbrechens, des Völkermords, des Verbrechens gegen die Menschlichkeit und des Angriffskriegs gleich mehrere Begehungsformen, die systematisch verübte staatliche Gewalt erfassen können. Dabei reicht das Spektrum vom Apartheid-Regime über systematische Folterungen, dem Aushungern ganzer Städte bis hin zur Vernichtung ganzer Gruppen im Rahmen eines Völkermords. Der Artikel erkundet die Möglichkeiten der Ahndung dieser schwersten Verbrechen.

Strukturelle Gewalt, im Sinne einer systematisch und von einer Vielzahl von Täter*innen durchgeführten Gewalt, ist im Rahmen des Völkerstrafrechts am ehesten innerhalb des Tatbestandes des »Verbrechens gegen die Menschlichkeit« (Art. 7 Römisches Statut) zu verorten. Die Strafrechtswissenschaft hat dabei Schwierigkeiten, Formen der abstrakteren Gewalt zu erfassen, da das Strafrecht stets darauf ausgerichtet ist, die individuelle Schuld natürlicher Personen zu ermitteln, die mit ihrer Einzeltat einen Tatbeitrag zu einem der vier »Kernverbrechen« geleistet haben. Aus strafrechtlicher Sicht steht also die Ermittlung des individuellen Tatbeitrags und der Vorwerfbarkeit im Vordergrund, obschon es gerade im US-amerikanischen Raum Ansätze gibt, beispielsweise Unternehmen und damit juristische Personen selbst strafrechtlich zu verfolgen.1

Dabei zielt das Völkerstrafrecht, wie es insbesondere durch den Internationalen Strafgerichtshof betrieben wird, grundsätzlich zunächst darauf ab, die Haupttäter*innen einer notwendigerweise großen Täter*innengruppe einer Strafe zuzuführen. Die sogenannten völkerrechtlichen Kernverbrechen des »Völkermords« (Genozid), des »Verbrechens gegen die Menschlichkeit« oder des »Angriffskriegs« sind letztlich nur im Zusammenwirken mit einer Vielzahl anderer Täter*innen begehbar, die aber von einem gemeinsamen Vorsatz getragen werden. Nur die Verwirklichung des vierten völkerrechtlichen Tatbestands des »Kriegsverbrechens« ist auch in Allein­täter*innenschaft möglich.

Indem es sich bei den Angeklagten vor den internationalen Strafgerichten regelmäßig um Staats- und Regierungschef*innen, hohe Regierungsmitglieder oder oft auch um Armee- und Milizenführer*innen handelt, lässt sich gemäß aktueller Auslegung völkerrechtlicher Straftheorien auch systematisch begangene und in diesem Sinne »strukturelle Gewalt« im Rahmen individueller Verantwortlichkeit verorten.

Systematischer Rassismus: Apartheid und ihre Ahndung

Apartheid-Regime werden häufig als typisches Beispiel für strukturelle Gewalt herangezogen. Bereits seit den 1960er Jahren haben sowohl der Sicherheitsrat als auch die Generalversammlung der Vereinten Nationen die Apartheid-Regime in Südafrika und dem damaligen Süd-Rhodesien (heutiges Simbabwe) verurteilt. Der UN-Sicherheitsrat verurteilte 1965 in seinen Resolutionen 216 und 217 die Fortsetzung des „illegalen rassistischen Minderheitsregimes ausdrücklich als eine „Bedrohung des Weltfriedens“, die er zunächst mit einem Waffenembargo sanktionierte. 1970 kam ein vollständiges Handels­embargo hinzu. Das Ergebnis dieser Bemühungen war nicht nur die internationale Ächtung dieser schwersten Form rassistischer Diskriminierung, sondern vor allem auch das »Internationale Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form der Rassendiskriminierung«, das 1965 verabschiedet wurde.

Wenig überraschend ist daher auch der Tatbestand des »Verbrechens der Apartheid« in Art. 7 Abs. 1 lit. j) Römisches Statut eingeflossen und zwar als mögliche Begehungsart eines »Verbrechens gegen die Menschlichkeit«, das dort wiederum als „ausgedehnter oder systematischer Angriff gegen die Zivilbevölkerung“ legaldefiniert wird. Belangt werden können für solche Verbrechen grundsätzlich alle natürlichen Personen, die einen Tatbeitrag geleistet haben, also die (vermeintlichen) Organisator*innen wie auch grundsätzlich alle weiteren tatrelevanten Personen.

Da vom Römischen Statut nur Straftaten erfasst werden können, die nach dem 1. Juli 2002 begangen worden sind, sind bisher keine Fälle zur Apartheid vor den internationalen Strafgerichten verhandelt worden. Daher kann nur vermutet werden, dass für die Begehung einer Straftat als Tathandlung ein aktiver Beitrag zur Errichtung oder Aufrechterhaltung eines solchen Systems der diskriminierenden Rassentrennung, also beispielsweise ein erheblicher politischer Anstoß, gesetzt werden müsste. Dabei wird man für ein vorwerfbares Verhalten eine entsprechende bedeutsame politische Position im System feststellen müssen, da zumindest eine gewisse Tatherrschaft vorhanden sein muss. Problematisch ist insbesondere eine Strafbarkeit der sogenannten »Mitläufer*innen«. Da ein solches staatliches System regelmäßig die ganze Gesellschaft erfasst, ist der Tatbeitrag anderer Einzelpersonen nur sehr schwer und regelmäßig nicht zweifelsfrei auszumachen. Die Einzeltat verblasst angesichts des gesamtstaatlichen Unrechtssystems.

Das Aushungern ganzer Städte als Waffe

Im syrischen Bürgerkrieg wurden im Oktober 2016 zeitweise 17 Städte gleichzeitig von unterschiedlichen Konfliktparteien belagert. Die eingeschlossenen Zivilpersonen dienten dabei oftmals als politisches Druckmittel, um die Interessen der Belagernden durchzusetzen. Betroffen waren zwischen 750.000 und 1,2 Mio. Menschen.2 Viele der Eingeschlossenen litten nicht nur an Unterernährung, sondern starben aufgrund fehlender medizinischer Behandlung oder der Stromunterbrechungen, die lebenserhaltende Geräte, Wärme u.a. ausfallen ließen. Die Sterblichkeitsrate von Säuglingen war besonders hoch, da die Mütter aufgrund ihrer eigenen Unterernährung nicht ausreichend stillen konnten. Die Lage der Betroffenen wurde weltweit publik durch Videotagebücher, die sich über das Internet verbreiteten und in denen vom verzweifelten Verzehr von Haustieren, aber auch von nicht nahrhaften Objekten wie Baumwurzeln, Gräsern und Erde berichtet wurde (»siege meals«).

Auch wenn das geltende humanitäre Völkerrecht kein generelles Belagerungsverbot kennt und sogar explizit die Seeblockade als zulässig erachtet, muss dennoch seitens der Parteien sichergestellt werden, dass solche kriegerischen Maßnahmen nicht gegen die Zivilbevölkerung gerichtet sind. Aus Art. 49 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 54 Abs. 1 des Ersten Zusatzprotokolls zu den Genfer Konventionen (ZP I) von 1977 ergibt sich unmittelbar, dass mittels einer Seeblockade die Zivilbevölkerung weder ausgehungert, noch von lebenswichtigen Gütern ausgeschlossen werden darf. Die Blockade darf nur dazu dienen, die feindlichen Streitkräfte von kriegswichtigem Nachschub zu trennen. Nach Art. 14 Genfer Konvention IV (1949) sind in solchen Fällen die Belagernden verpflichtet, den Eingeschlossenen Zugang zu humanitärer Hilfe zu gewähren. Art. 54 ZP I schließlich enthält ein umfassendes Verbot des Aushungerns von Zivilist*innen als Mittel der Kriegsführung.

Das beinhaltet auch das Verbot, Lebensmittelquellen bzw. -lager zu entziehen. Geschützt werden auch landwirtschaftliche Flächen, Ernte- und Viehbestände, Trinkwasserversorgungsanlagen und -vorräte sowie Bewässerungsanlagen, sofern diese Versorgungseinrichtungen nicht ausdrücklich militärischen Zwecken gewidmet sind. Eine weitere Ausnahme betrifft die weiterhin zulässige »Politik der verbrannten Erde«, im Zuge derer eigenes Territorium verwüstet wird, um den vorrückenden feindlichen Streitkräften den Nachschub zu erschweren (vgl. Art. 54 Abs. 5 ZP I).

Wie so häufig wird eine Bürgerkriegssituation, wie sie beispielsweise in Syrien 2016 gegeben war, von den genannten Vorschriften nicht erfasst. Die Regelungen des gemeinsamen Art. 3 der Genfer Konventionen (sog. »Mini-Konvention«) und des Zweiten Zusatzprotokolls (ZP II) für die nicht-­internationalen bewaffneten Konflikte bleiben weit hinter dem Schutzstandard der Genfer Konventionen zurück. Dem Tadic-Urteil des ICTY3 folgend, gibt es jedoch inzwischen eine starke Strömung in der Rechtswissenschaft, Regelungen aus dem Recht der zwischenstaatlichen Konflikte aufgrund ihrer völkergewohnheitsrechtlichen Geltung auf die nicht-internationalen Konflikte anzuwenden.4 Insbesondere das »Internationale Komitee des Roten Kreuzes« hat dazu eine – von staatlicher Seite oftmals abgelehnte – Völkergewohnheitsrechtsstudie veröffentlicht, die viele Regelungen des ZP I als Völkergewohnheitsrecht identifiziert hat (vgl. Henckarts und Doswald-Beck 2005, zur Ablehnung: Fleck 2009, Heintschel v. Heinegg 2018, § 61 Rn. 32). Die Regelungslücken im Bereich des nicht-internationalen bewaffneten Konflikts sollen dabei über den Nachweis der von einer Rechtsüberzeugung getragenen Staatenpraxis mit Völkergewohnheitsrecht aufgefüllt werden.

Im Römischen Statut konnten daher auch nur Straftatbestände gegen das Aushungern kodifiziert werden, die zumindest den Bereich der Kriegsverbrechen für den zwischenstaatlichen bewaffneten Konflikt (Art. 8 Abs. 2 lit. b) xxv) Römisches Statut) erfassen. Nicht ganz von der Hand zu weisen wäre allerdings die Möglichkeit, sofern der Vorsatz nachweisbar wäre, dass eine spezifische Gruppe zerstört werden sollte, das Aushungern als versuchten Völkermord anzusehen, gemäß Art. 6 lit. b) Römisches Statut (Verursachung eines körperlichen oder seelischen schweren Schadens). Ebenso kann von einem ausgedehnten und systematischen Angriff auf die Zivilbevölkerung im Sinne eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit gemäß Art. 7 Abs. 1 lit. k) Römisches Statut ausgegangen werden, denn dieser Tatbestand erfasst „unmenschliche Handlungen ähnlicher Art, mit denen vorsätzlich große Leiden oder eine schwere Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit oder der geistigen oder körperlichen Gesundheit verursacht werden“.

Täter*innen müssen generell auch fürchten, in einem der Mitgliedstaaten des IStGH strafrechtlich zur Verantwortung gezogen zu werden. In der Präambel des Römischen Statuts ist die Verpflichtung der Mitgliedstaaten vorgesehen, die vier Kernverbrechen in ihren nationalen Rechtsordnungen unter Strafe zu stellen und unabhängig vom Ort der Begehung von den eigenen Strafverfolgungsbehörden verfolgen zu lassen (sogenanntes »Weltrechtsprinzip«). So sieht beispielsweise § 11 Abs. 1 Nr. 5 des deutschen Völkerstrafgesetzbuchs (VStGB) eine Strafbarkeit des Kriegsverbrechens des Aushungerns sowohl für den zwischenstaatlichen Konflikt wie auch für Bürgerkriegssituationen vor, geht also über die entsprechenden Vorschriften des Römischen Statuts sogar hinaus. Neben der internationalen Strafgerichtsbarkeit, die letztlich nur die natio­nale Strafgerichtsbarkeit des Tatstaates komplementiert, treten also im letzten Schritt die Strafgerichte in den Mitgliedstaaten des Römischen Statuts hinzu.

Systematische Folter in syrischen Gefängnissen

Auch die Folter wird vom Völkerstrafrecht erfasst. Im Bürgerkriegssituationen ist diese über den gemeinsamen Art. 3 Genfer Konventionen verboten und fällt gemäß Art. 8 Abs. 2 lit. c) i) Römisches Statut unter die verfolgbaren Kriegsverbrechen. Unabhängig von der Konflikt­situation kann unter der Voraussetzung eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs auf die Zivilbevölkerung Folter gemäß Art. 7 Abs. 1 lit. f) Römisches Statut ebenso den Tatbestand eines »Verbrechens gegen die Menschlichkeit« erfüllen.

Das deutsche VStGB sieht eine Strafbarkeit als Kriegsverbrechen in § 8 Abs. 1 S. 3 für den internationalen wie nicht-internationalen bewaffneten Konflikt vor. Darüber hinaus erfüllt die systematische Folter von Zivilpersonen in einer Gewahrsamssituation gemäß § 7 Abs. 1 Nr. 5 VStGB die Tatbestandsvoraussetzungen eines »Verbrechens gegen die Menschlichkeit«.

Ein Beispiel für die Verfolgung solcher Verbrechen durch Deutschland als Mitgliedstaat des Römischen Statuts ist die jüngst erfolgte Verurteilung eines ehemaligen Mitarbeiters des syrischen Geheimdienstes durch das Oberlandesgericht Koblenz. Nach Angaben von Amnesty International wurde in den Jahren 2011 bis 2016 in den Gefängnissen des syrischen Geheimdienstes systematisch misshandelt, gefoltert und vergewaltigt. Der Bericht spricht von mindestens 17.723 Personen, die dabei bis 2016 ums Leben gekommen sind (vgl. Amnesty International 2016). Das Oberlandesgericht Koblenz sah es als erwiesen an, dass der Beschuldigte Eyad A. 2011 an einem Transport von 30 Gefangenen beteiligt gewesen war, die bereits auf dem Weg zu einem syrischen Geheimdienstgefängnis körperlich misshandelt wurden. Das Oberlandesgericht verurteilte ihn am 24. Februar 2021 unter anderem wegen eines »Verbrechens gegen die Menschlichkeit« zu einer Freiheitsstrafe von viereinhalb Jahren. Für einen weiteren Beschuldigten, dem die Staatsanwaltschaft noch schwerwiegendere Taten vorwirft, wird ein Urteil im Laufe dieses Jahres erwartet (vgl. Benz in dieser Ausgabe, S. 33ff.).

In diesem Zusammenhang muss betont werden, dass die Einzeltat der schweren Körperverletzung im Ausland ohne weitere Anknüpfung an die deutsche Rechtsordnung nicht von den deutschen Strafverfolgungsbehörden verfolgbar gewesen wäre. Das »Weltrechtsprinzip« kommt erst dadurch zur Anwendung, dass die Tat Bestandteil eines täterübergreifenden systematisch begangenen »Verbrechens gegen die Menschlichkeit« war.

Am Anfang einer langen Entwicklung?

Die genannten Beispiele sollen vor allem vor Augen führen, dass eine Strafbarkeit immer schwieriger wird, je abstrakter sich der individuelle Tatbeitrag innerhalb der Gesamtstraftat darstellt. Am deutlichsten tritt das zutage, wenn das »Verbrechen der Apartheid« mit dem der Folter verglichen wird. Beide Straftaten sind im Rahmen eines »Verbrechens gegen die Menschlichkeit«, also struktureller Gewalt in Form eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung, international verfolgbar. Während aber bei der Folter eine klare individuelle Tathandlung vorhanden ist, ist im Falle der Apartheid die Einzeltat nur schwer mit einem Gesamtvorsatz zu verbinden und oftmals nur über politische Erklärungen herauszufiltern.

Eine Strafbarkeit durch ein bestimmtes Verhalten wird dann besonders schwierig sein, wenn eine ganze Gesellschaft die rassistische Diskriminierung unterstützt oder sich mit ihr abgefunden hat. In diesem Zusammenhang ist es zwar begrüßenswert, dass der Tatbestand überhaupt Eingang in das Römische Statut gefunden hat, aber die Tatbestandsvoraussetzungen sind dabei noch nicht ausreichend herausgearbeitet worden. Der im Gefängnis folternde Polizist im Apartheid-Regime wird sicher eher und viel leichter wegen der Folter international zur Rechenschaft gezogen werden können als aufgrund des Verbrechens der Apartheid, obschon er augenscheinlich einen Teil eines solchen Systems darstellt. Andererseits könnte eine Beihilfehandlung zur Apartheid schon darin liegen, dass man eine politische Partei in diesem System unterstützt, als Lehrer*in an einer Schule mit Rassentrennung arbeitet oder einfach nur als Beamt*in ein Rad im Getriebe eines solchen System darstellt. Es fehlt daher gerade in solchen Bereichen der klassischen »strukturellen Gewalt« an der erforderlichen Tatbestandsschärfe, die den Nachweis von Schuld im Sinne einer persönlichen Vorwerfbarkeit nicht unerheblich erschwert.

Anmerkungen

1) Siehe U.S. Supreme Court, New York Central & Hudson River Railroad v. United States, 212 U.S. 481 (1909); Egan v. United States, 137 F.2d 369 (8th Cir. 1943).

2) Siehe dazu insbesondere den Bericht des stellvertretenden UN-Untergeneralsekretärs für humanitäre Angelegenheiten S. O’Brien am 29.10.2016 in der Sitzung des UN-Sicherheitsrats.

3) ICTY, Chamber of Appeals, Decision on the Defense Motion for Interlocutory Appeal on Jurisdiction, 02.10.1995, Rn. 71ff.

4) Zur rechtswissenschaftlichen Debatte siehe zusammenfassend Boor 2016.

Literatur

Amnesty International (2016): It breaks the human. Torture, disease and death in Syria‘s prisons. MDE 24/4508/201. London.

Boor, F. (2016): Menschenrechte im nicht-inter­nationalen bewaffneten Konflikt: Ist die Isayeva-Rechtsprechung des EGMR situationsgerecht? Humanitäres Völkerrecht – Informationsschriften 29(1), S. 29-35.

Fleck, D. (2009): Die IKRK-Gewohnheitsrechtsstudie: polarisierend oder konsensbildend? Humanitäres Völkerrecht – Informationsschriften 22(3), S. 120-124.

Henckarts, J.-M.; Doswald-Beck, L. (Hrsg.) (2005): Customary International Humanitarian Law. Cambridge: CUP.

Heintschel von Heinegg, W. (2018): § 16 Recht des bewaffneten Konflikts. In: Ipsen, K. (Hrsg.), Völkerrecht. 7. Auflage. München: C.H.Beck.

Felix Boor, Dr. iur., arbeitet als Akademischer Rat a.Z. an der Universität Hamburg, ist korrespondierendes Mitglied des Instituts für Friedenssicherungsrecht und Humanitäres Völkerrecht der Ruhr-Universität Bochum und zurzeit Vertretungsprofessor für Öffentliches Recht an der Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr, Hamburg.

Bürgerschaftslose Flüchtlinge


Bürgerschaftslose Flüchtlinge

von Catherine Götze

Die Kernthese der »Responsibility to Protect« besagt, dass Staaten, die zusammengebrochen sind, souveränitätslos sind, daher müsse die internationale Gemeinschaft die souveräne Aufgabe des Schutzes der Bevölkerung übernehmen. Diese Doktrin, argumentiert die Autorin, unterliegt einer imperialen Logik, die sich auch auf das internationale Flüchtlingsregime auswirkt und dazu führt, dass Flüchtlinge gleich in zweifacher Weise in einen »bürgerschaftslosen« Status versetzt werden.

Die Friedensordnung der Vereinten Nationen (VN) folgt einer imperialen Logik. Diese zeigt sich vor allem in den hierarchisch-asymmetrischen Beziehungen, die durch die VN zwischen der Peripherie und einigen Kernstaaten etabliert werden. Die Resolutionen des VN-Sicherheitsrates, die auf der »Responsibility to Protect« (RtoP, deutsch: Schutzverantwortung) beruhen und Mitgliedstaaten zu »humanitären Interventionen« autorisieren, stellen jedes Mal eine Ausnahme des allgemeinen Kriegs- und Einmischungsverbots der VN-Charta dar. Jede dieser Missionen ist als solche Ausnahme kodifiziert und somit entsteht jedes Mal eine exklusive und ganz eigene Beziehung zwischen den Kernstaaten der VN-Weltordnung (den ständigen Mitgliedern des Sicherheitsrats) und der Peripherie.

Solche sternförmigen sonderrechtlichen Beziehungen zwischen einem imperialen Kern und vielen Peripherien haben Nexon und Wright im Anschluss an Charles Tilly »heterogene Rechtlichkeit« genannt und als Kernmerkmal imperialer Logik hervorgehoben (Nexon and Wright 2007, S. 258-9). Nexon und Wright argumentieren, dass diese heterogene Rechtlichkeit imperiale Beziehungen institutionalisiert. Dies bedeutet unter anderem, dass politische Kräfte im Kern des Reiches die lokale Politik, Gesellschaft und Wirtschaft stärker beeinflussen können als lokale politische Kräfte und dass der Kern einen größeren Nutzen aus der Beziehung zieht als die Peripherie. Es bedeutet auch, dass lokale Bedürfnisse, soziale Konstellationen, Debatten, politische Kräfte, Konflikte, Kulturen und Vorstellungen denen des Kernes absolut untergeordnet sind.

Eine Folge dieser asymmetrischen Beziehungen und Domination ist, dass die imperiale Logik der konstitutiven Abgrenzung und Erniedrigung eines paradigmatischen »Anderen« dient (im englischsprachigen Raum wird dies als »othering« bezeichnet). Zum einen bietet die Erniedrigung eine essentielle Rechtfertigung, warum diese Menschen extern von einem imperialen Kern beherrscht werden müssten: Sie müssen eben erst erzogen, modernisiert und für das eigenständige Regieren fit gemacht werden (Duffield 2007). Zum anderen absorbiert die Verfremdung eventuelle politische Konflikte über alternative Formen politischer Organisation.

Die RtoP spiegelt solche imperiale Lesarten der Konflikte vor Ort wider. Lokale Konflikte werden in diesem Deutungsmuster nicht als politische Konflikte über Herrschaft und Struktur der Polis verstanden (Autesserre 2010), sondern entweder als unsinnige Zerstörungen, die aus »traditionellen« Konflikten entstehen (z.B. ethnischer Art), oder als Konflikte über knappe Ressourcen. Globale Zusammenhänge werden dabei systematisch ausgeblendet; die Konflikte und ihre Dynamik werden als ausschließlich endogen und als das Werk einiger weniger verstanden. Weiterhin werden den Gesellschaften oft binäre Konfliktmuster zugeschrieben, in denen nicht nur soziale Gruppen als einheitliche Blöcke verstanden werden, sondern auch eine klare Trennung zwischen Kombattanten und Zivilbevölkerung unterstellt wird. Die zusätzliche interpretative Verschiebung von Gewaltakten aus dem Bereich der politischen Auseinandersetzung in den privaten und individualisierten Bereich der Kriminalität durch die Institutionalisierung des internationalen Strafrechtes verstärkt dieses Deutungsmuster noch weiter. Demnach gäbe es »dort« keine eigenständigen, handelnden, strategisch und sozial interagierenden Akteure, also politischen Akteure, sondern nur binär Opfer und Täter. Dies impliziert, dass weder Staat noch Bevölkerung in diesen Ländern souverän seien, da sich die Beziehung zwischen Bürgern und Staat, die demokratische, industrialisierte Staaten europäischer Tradition kennzeichnet (Marktwirtschaft, Sozialstaat, Wahlen, Zivilgesellschaft etc.), nicht entfaltet habe.

Flüchtlinge sind nicht staatenlos, aber souveränitätslos

Eine Folge der imperialen Logik der RtoP und »humanitärer Interventionen« ist, dass Flüchtlinge weder als Welt- noch als Staatsbürger, sondern als schutzbedürftige Menschen definiert werden, die keiner politischen Gemeinschaft angehören und dementsprechend bürgerrechtlos sind. Obwohl Flüchtlinge formal nicht staatenlos sind, sind sie doch »souveränitätslos«, und so hat sich ihr Status nicht wesentlich geändert, seit Hannah Arendt feststellte, dass Staatenlose (Flüchtlinge, Vertriebene, Asylsuchende, Exilierte etc.) mit dem Verlust ihrer politischen Gemeinschaft aus der Menschheit vertrieben werden (Arendt 1958, S. 377).

In ihrem Buch »Die Ursprünge des Totalitarismus« untersuchte Arendt das Paradox, dass in der Zwischenkriegszeit und auch kurz nach dem Zweiten Weltkrieg die Menschen, die aufgrund von Vertreibung ihrer Staatsbürgerrechte beraubt und auf den reinen Status des Menschen reduziert worden waren, eben keine Menschenrechte genossen, sofern diese mehr bedeuten sollen als das Recht auf das nackte Überleben (Arendt 1958). Sowohl in der französischen Revolution als auch im zeitgenössischen Verständnis, darauf verweist Giorgio Agamben mit Hinblick auf Arendts Thesen, bedeuten Menschenrechte Bürgerrechte. Aber Flüchtlinge sind keine Bürger, da sie nicht Teil einer Rechtsgemeinschaft sind, denn diese ist ja in der Logik der RtoP nicht (mehr) vorhanden (Agamben 2017). Wenn der Staat als unsouverän beschrieben wird, dann sind auch dessen Staatsbürger unsouverän. Wenn der Staat eben genau als einer Rechtsgemeinschaft und Rechtlichkeit verlustig beschrieben wird, dann sind auch dessen Staatsbürger ohne Rechte. Als Vertriebene sind sie ferner ohne Beruf, ohne Schaffen, ohne Wirken und damit ihrer »vita activa« beraubt; sie nehmen nicht mehr in relevanter Weise am öffentlichen Leben teil und sind somit von der politischen Gemeinschaft ausgeschlossen. Wie Hannah Arendt bemerkt, besteht das Paradox darin, dass diese Menschen ihre Menschenrechte genau dann verlieren, wenn sie nur noch Mensch und nichts anderes mehr sind.

Die Deutungsmuster der RtoP, wonach Kriege im Globalen Süden, u.a. in Syrien, die Folge von Staatszerfall und –zerstörung sind, haben hier (vielleicht unwillkürlich) die Figur des unsouveränen Wesens früherer kolonialer Zeit, das nur Mensch ist, aber nie Bürger*in, reproduziert. In kolonialen Zeiten waren koloniale Subjekte auf der Grundlage zweier teilweise komplementärer Argumentationen von der Staatsbürgerschaft der Metropolen ausgeschlossen. Zum einen wurden sie als Untertanen lokaler Herrscher definiert, zum anderen als dem Standard der Zivilisation nicht Genüge leistend; somit wurden sie a priori aus dem Kreis der Bürger ausgeschlossen. Der Standard der Zivilisation war flexibel ausleg- und den Umständen anpassbar und wurde von den jeweiligen Kolonialherren in den verschiedenen Kolonien und gegenüber den verschiedenen sozialen Gruppen in den Kolonien unterschiedlich definiert (Burbank and Cooper 2010). Es wurden jedoch immer einige grundlegende soziale Merkmale zugrunde gelegt: ethnische Zugehörigkeit (d.h. Abstammung), Geschlecht, Bildung und Beruf sowie Besitz. Diese Kriterien erlaubten eine Stratifizierung des Zugangs kolonialer Bevölkerungen zu Bürgerschaftsrechten. Dementsprechend richteten die Kolonialländer Sonderinstitutionen ein, in denen indigene Bevölkerungen die Qualifikation zur Bürgerschaft erwerben konnten, z.B. segregierte Armeeeinheiten, Schulen und Universitäten. Die so eingerichteten Hierarchien der Qualifizierung für die Staatsbürgerschaft der kolonisierenden Staaten waren komplex, aber klar nach rassistischen Merkmalen geordnet. Während auf der einen Seite weißen Siedlern der Zugang zur Staatsbürgerschaft des Mutterlandes erleichtert wurde, auch wenn diese nicht dessen Nationalität teilten, wurden indigene Bevölkerungen dauerhaft von Bürgerschaftsrechten ausgeschlossen.

Das heutige Staatsbürgerrecht, die RtoP und das Flüchtlingsrecht tragen immer noch deutliche Züge dieser heterogenen Rechtlichkeit. Die RtoP formuliert keinen positiven Rechtsanspruch der Bevölkerung gegenüber einem oder mehreren Staaten oder den VN, sondern nur einen Appell an die VN-Mitgliedstaaten, die Schutzbedürftigkeit dieser Bevölkerungen temporär anzuerkennen. Die RtoP setzt somit keine neue bürgerschaftliche Option an die Stelle der nun verwirkten Bürgerschaft von Bevölkerungen, deren Staat als gescheitert gilt.

Die RtoP geht somit nicht über die Schutzansprüche, die das bestehende Flüchtlingsvölkerrecht schon seit jeher formuliert, hinaus. Dies eröffnet einen weiten Spielraum für Kernstaaten, heterogene Rechtsregime in Bezug auf Flüchtlinge zu etablieren.

Die Genfer Flüchtlingskonvention erlaubt es Unterzeichnerstaaten, den geographischen und zeitlichen Raum zu bestimmen, der einen Flüchtlingsstatus begründet, und demgemäß zwischen Migranten und Flüchtlingen zu unterscheiden. Sie schreibt außerdem fest, dass Flüchtlinge allerlei Pflichten gegenüber ihrem Gastgeberland haben und bei Vergehen die gleichen rechtlichen Konsequenzen zu tragen haben wie reguläre Staatsbürger des Landes. Die Gastländer hingegen können nicht rechtlich belangt werden, wenn sie ihren Pflichten, z.B. der Fürsorgepflicht, gegenüber Flüchtlingen nicht nachkommen.

Was genau Staaten zu tun haben, um Flüchtlinge zu schützen, ist in der Genfer Flüchtlingskonvention ebenfalls nicht klar ausformuliert, und die Verbindlichkeit der Rechtshinweise des Hohen Kommissars für Flüchtlinge der Verteinten Nationen (UNHCR) ist stark umstritten und wurde von Verfassungsgerichten wiederholt verneint (Hathaway 2005, S. 123ff). Der einzige klar formulierte Rechtsanspruch des Flüchtlingsvölkerrechts ist, dass alle Menschen ein Anrecht auf Überleben haben und Flüchtlinge nicht diskriminiert werden dürfen, wenn sie diesen Anspruch erheben (Hathaway 2005, S. 236).

Ob überhaupt und welches Gastgeberland die Gefahr für das Leben eines Menschen und somit den Flüchtling als Flüchtling anerkennt, ist ebenso wenig universell und einklagbar festgelegt wie die Art und Weise, in der dem Anrecht des Flüchtlings Rechnung getragen wird. Das Gerangel und Geschiebe innerhalb der Europäischen Union, in welchem Land Flüchtlinge als Flüchtlinge registriert werden, wer wie für das Überleben der Flüchtlinge zu sorgen habe und was Lebensgefahr denn genau bedeute, ob denn die Menschen in Griechenland, Serbien oder der Türkei überhaupt Flüchtlinge seien, zeigt den großen Spielraum auf, den Gastgeberstaaten in der Auslegung des Rechts auf Überleben haben (siehe dazu auch »Flüchtlingsverantwortung – Europäische Asylpolitik in der Krise« von Anna Lübbe in dieser W&F-Ausgabe). Und auch wenn Flüchtlinge nicht wegen ihres Geschlechtes, ihrer Religion, ihrer ethnischen oder nationalen Herkunft, ihrer politischen Einstellung etc. diskriminiert werden dürfen, dürfen Gastgeberstaaten doch differenzierte Regelungen einführen, wie sie Flüchtlinge empfangen und wie Flüchtlinge in ihrem Land aufgenommen werden (Hathaway 2005, S. 129).

Die RtoP will dieser heterogenen Rechtlichkeit des Flüchtlingsvölkerrechts, das de facto eine asymmetrische Hierarchisierung von Bürgerrechten und Bürgerlichkeit etabliert, nichts entgegen setzen, da sie eben nicht den Menschen in Konflikten neue Rechte erteilt, sondern nur die Schutzpflicht der Staaten bei Menschenrechtsverletzungen postuliert.

Schlussfolgerungen

Die VN haben mit der RtoP als Vehikel für ihre Friedenspolitik folglich genau die imperiale Logik reproduziert, die das Verhältnis zwischen souveränen Staaten europäischer Tradition und anderen Formen politischer Gemeinschaften schon in Kolonialzeiten bestimmte. Gerade in der Neuformulierung traditionell europäischer Vorstellungen von Volkssouveränität, wonach ein Staat nur dann souverän ist, wenn er der Bevölkerung dient, hat die RtoP anderen, alternativen Formen politischer Gemeinschaften sowie den politischen Kämpfen und Debatten, die mit solchen Alternativen einhergehen, jegliche Legitimität entzogen. Der der RtoP unterliegende Diskurs des Staatsversagens reproduziert koloniale Deutungsmuster der Unreife nicht-europäischer Bevölkerungen und ihrer Unfähigkeit zur Selbstregierung (Grovogui and Ebrary INC. 1996). Dies hat u.a. zur Folge, dass die VN mit ihrer Friedenspolitik durch Sicherheitsratsresolutionen beständig eine global heterogene Rechtlichkeit reproduzieren, in der immer wieder neue Sondersituationen identifiziert werden, für die der Sicherheitsrat beständig neue Sondermaßnahmen, wie militärische Einsätze oder Übergangsadministrationen, beschließen muss. Das dominante Friedensprinzip ist damit zwangsläufig die Vermeidung oder Schlichtung von Konflikten zwischen den Sicherheitsratsmitgliedern und deren Verbündeten. Die Konflikte vor Ort haben oft nur peripher mit jenen Konflikten zu tun. Eben deshalb ist das Kern­anliegen der RtoP, der Zivilbevölkerung einen besonderen Schutz zu gewähren, in Syrien gescheitert.

Die Leidtragenden dieser imperialen Logik sind die lokalen Bevölkerungen, die ihrer politischen Persönlichkeit beraubt werden, wenn sie einzig als Opfer von Gewalt wahrgenommen werden. Flüchtlinge stellen eine besondere Kategorie dar, da sie in zweifacher Weise ihrer Souveränität beraubt werden: Zum einen werden ihnen durch den Opferstatus ihre bürgerschaftlichen Partizipationsmöglichkeiten im eigenen Land abgesprochen, zum anderen sind sie in einem asymmetrischen Macht- und Rechtsverhältnis zu ihrem potentiellen Gastgeberland befangen, das Bürgerschaftlichkeit legal und praktisch verunmöglicht.

Literatur

Agamben, G. (2017): We Refugees. Symposium – A Quarterly Journal in Modern Literatures. 49(2), S. 114-119.

Arendt, H. (1958): The Origins of Totalitarianism. London: George Allen & Unwin.

Autesserre, S. (2010): The trouble with the Congo – Local violence and the failure of international peacebuilding. Cambridge and New York: Cambridge University Press.

Burbank, J. and Cooper, F. (2010): Empires in world history – Power and the politics of difference. Princeton, N.J.: Princeton University Press.

Duffield, M. (2007): Development, Security and Unending War – Governing the World of ­Peoples. London: Polity.

Grovogui, S.N’Z. and Ebrary INC. (1996): Sovereigns, quasi sovereigns, and Africans – Race and self-determination in international law. Minneapolis, Minn.: University of Minnesota Press, Borderlines, vol. 3.

Hathaway, J.C. (2005): The rights of refugees under international law. Cambridge and New York: Cambridge University Press.

Nexon, D.H. and Wright, T. (2007): What’s at ­Stake in the American Empire Debate. American Political Science Review, 101(2), S. 253-271.

Dr. Catherine Götze ist Senior Lecturer in International Relations an der University of Tasmania (Australien). 2017 erschien ihr Buch »The Distinction of Peace – A Social Analysis of Peacebuilding« (University of Michigan Press).

Schatten des Neokolonialismus

Schatten des Neokolonialismus

Der Internationale Strafgerichtshof

von Norman Paech

Die Einrichtung des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) galt als großer Erfolg, und inzwischen sind ihm 122 Staaten beigetreten. Entgegen den ursprünglichen Absichten hat sich darauf aber keine universelle Justiz entwickelt, die internationale Verbrechen unabhängig von der Staatsbürgerschaft des Straftäters verfolgt. Ein Grund dafür ist die Weigerung mancher Länder, eine internationale Gerichtsbarkeit zuzulassen, und deren Versuch, ihre eigenen Staatsbürger vor Strafverfolgung zu schützen. Bei allen Schwächen ist der IStGH aber ein Schritt auf dem Weg zu einer universellen Gerechtigkeit.

Es hat gut 50 Jahre gedauert, bis die Pläne der Vereinten Nationen verwirklicht wurden, aus den Nürnberger Kriegstribunalen eine internationale Strafgerichtsbarkeit mit einem eigenen Strafrecht und einem unabhängigen Gericht zu entwickeln. Im Juli 1998 verabschiedeten 120 Staaten in Rom das Statut zur Gründung des IStGH.1 Vier Jahre später, am 1. Juli 2002, trat das Statut in Kraft, nachdem die 60. Ratifikationsurkunde hinterlegt worden war. Zwar war schon 1993 ein internationaler Gerichtshof für das ehemalige Jugoslawien und 1994 ein weiterer für Ruanda geschaffen worden. Diese Gerichte waren jedoch nicht das Ergebnis eines völkerrechtlichen Vertrages, sondern durch Beschluss des UN-Sicherheitsrats auf der Grundlage von Kapitel VII UN-Charta gegründet worden. Sie sollten als Maßnahme zur Wiederherstellung und Wahrung des internationalen Friedens abschreckend wirken. Nach Erfüllung ihrer Aufgabe sollen beide Gerichtshöfe wieder aufgelöst werden. Sie sind also dem Geist und der Konstruktion der Nürnberger Tribunale stärker verbunden als der Internationale Strafgerichtshof, der 2003 seine Arbeit in Den Haag aufnahm.

Das Echo der Welt war überaus positiv, der IStGH wurde als bedeutender Erfolg des Völkerrechts gefeiert, inzwischen sind 122 Staaten beigetreten. Das ändert aber nichts an den Vorbehalten der Staaten, die schon dem Römischen Statut widersprachen und das Gericht in seiner jetzigen Form ablehnen, unter ihnen insbesondere die USA. Obwohl die Rhetorik der US-Regierung von der schroffen Bekämpfung unter Präsident Bush bis zu einer vorsichtigen Unterstützung unter Präsident Obama einen deutlichen Wandel erfahren hat, bestehen die Vorbehalte weiter und stehen einem vertraglichen Beitritt der USA nach wie vor entgegen. Im Kern lehnt die politische Klasse der USA, egal ob Republikaner oder Demokraten, eine verpflichtende internationale Strafgerichtsbarkeit für sich und die US-Bürgerinnen und -Bürger ab. Was für Afrikaner, Asiaten oder Lateinamerikaner begrüßt wird, soll selbst nicht gelten. Die USA haben bis heute das emphatische Bekenntnis ihres Chefanklägers Jackson im Nürnberger Prozess, welches seine Legitimierung in den Augen der Weltöffentlichkeit doch gerade begründen sollte, nicht akzeptiert: „Wir dürfen niemals vergessen, dass nach dem gleichen Maß, mit dem wir die Angeklagten heute messen, auch wir morgen von der Geschichte gemessen werden. Diesen Angeklagten einen vergifteten Becher reichen, bedeutet, ihn an unsere eigenen Lippen zu bringen.“ 2

Sonderstatus für die USA

Der anhaltende Widerstand und der lange Zeit verbissene Kampf gegen die internationale Strafgerichtsbarkeit wandte sich vor allem gegen die Befugnis des Gerichtshofes, Ermittlungen auch gegen Angehörige eines Nichtvertragsstaates richten zu können, wenn diese an einem Verbrechen beteiligt waren. Artikel 12 des Römischen Statuts erweitert die allgemeine Kompetenz seiner Gerichtsbarkeit über Angehörige von Vertragsstaaten in Absatz 2(a) auch auf Angehörige von Nichtvertragsstaaten, wenn diese an dem Verbrechen beteiligt waren. Die bloße Weigerung, dem Vertrag beizutreten, garantiert also keine Immunität für die eigenen Staatsangehörigen. Die USA ergriffen deshalb eine Reihe zusätzlicher3 Maßnahmen, um ihre Staatsbürger vor einer internationalen Strafverfolgung zu schützen.

Zunächst setzten sie im UN-Sicherheitsrat unter der Androhung, sich aus allen UN-Friedensmissionen zurückzuziehen, eine Resolution4 durch, die die Strafverfolgung gegen Angehörige von Nichtvertragsstaaten wegen Taten verhindert, die im Rahmen von UN-mandatierten militärischen Friedensmissionen begangen werden. Da eine solche Resolution nicht verbindlich ist, schlossen die USA »Bilateral Immunity Agreements« (BIA) mit inzwischen über 100 Staaten, in denen diese sich verpflichteten, keine US-Bürger an den IStGH auszuliefern. Sie halfen ihrem Anliegen mit dem Hinweis nach, dass sie andernfalls die militärische Zusammenarbeit und Waffenlieferung einstellen würden. Dieser Druck war schon deshalb notwendig, weil ein derartiger Vertrag mit Staaten, die dem Römischen Statut beigetreten sind, ihrer Pflicht zur Unterstützung des IStGH bei der Festnahme und Überstellung gesuchter Personen gemäß Art. 59 Römisches Statut widerspricht und daher kaum Gültigkeit beanspruchen kann. Es kann also nicht ausgeschlossen werden, dass der IStGH dennoch auf die eine oder andere Weise eines US-Bürgers habhaft wird, gegen den der Gerichtshof ermittelt.

Für diesen Fall unterzeichnete Präsident George W. Bush am 3. August 2002 den »American Servicemembers Protection Act«, der es den USA erlauben würde, einen amerikanischen Staatsangehörigen, der in die »Fänge« des IStGH in Den Haag geraten ist, unter Einsatz von Gewalt zu befreien. Dies ist ein besonders dreister – und daher nichtiger – Vorstoß gegen das Gewaltverbot des Art. 2 Z. 4 UN-Charta und gegen das Gebot der Achtung der territorialen Integrität der Staaten gemäß Art. 2 Z. 7 UN-Charta.

Das Vorgehen der USA ist erstaunlich, da der IStGH nur komplementär tätig wird und der nationalen Gerichtsbarkeit den Vortritt lässt. Art. 17(a) Römisches Statut bestimmt, dass der Gerichtshof nicht tätig wird, „wenn in der Sache von einem Staat, der Gerichtsbarkeit darüber hat, Ermittlungen oder eine Strafverfolgung durchgeführt werden, es sei denn, der Staat ist nicht willens oder in der Lage, die Ermittlungen oder die Strafverfolgung durchzuführen“. Die USA hätten also die Möglichkeit, durch eigene gerichtliche Ermittlungen wegen schwerer Völkerrechtsverbrechen den IStGH zu umgehen. Doch das Selbstverständnis der USA als globale Ordnungsmacht verträgt sich offensichtlich mit keiner gerichtlichen Kontrolle, weder international noch national.5

Vorwurf des Neokolonialismus

Bereits der Sonderstatus hinsichtlich der Immunität, den sich die USA bei anderen Staaten ohne Rücksicht auf Gleichberechtigung und Reziprozität der Abkommen verschafften, hatte wachsendes Misstrauen gegen die Internationale Gerichtsbarkeit zur Folge. Die Zweifel an der Fairness und Unparteilichkeit der IStGH-Aktivitäten wurden durch die Tatsache verstärkt, dass sich der Gerichtshof in den zehn Jahren seiner Existenz fast ausschließlich mit Kriegsverbrechen in Afrika und der Verfolgung afrikanischer Täter beschäftigte.

Das Fass lief über, als der IStGH im September 2013 ein Strafverfahren gegen den kenianischen Präsidenten Uhuru Kenyatta eröffnete, nachdem er schon 2009 einen Haftbefehl gegen den amtierenden Staatspräsidenten von Sudan, Omar Hassan Ahmad al-Bashir, erlassen und in der Zwischenzeit einen Haftbefehl gegen den später ermordeten libyschen Präsidenten Muammar al-Gaddafi erwirkt hatte. Auf dem Sondergipfel der Afrikanischen Union im Oktober 2013 wurde scharfe Kritik laut „gegen die neoimperialistischen Versuche des Westens, die Souveränität afrikanischer Staaten zu untergraben“ 6. Kenyatta selbst bezichtigte den Gerichtshof des Rassismus, und die Afrikanische Union warf ihm vor, ein „Instrument des Neokolonialismus“ zu sein. Das Parlament in Nairobi forderte die Exekutive auf, aus dem Römischen Statut auszutreten, und der Senat unterstützte diese Forderung im September 2013. Bisher ist es nicht dazu gekommen, und zahlreiche Persönlichkeiten, ein Zusammenschluss verschiedener Gruppen unter dem Slogan »Kenyans for ICC« sowie die Kirchen werben für den Verbleib Kenias im Römischen Statut.

Was aber ist dran an dem Vorwurf des Neokolonialismus, den die atlantischen Staaten als antiwestliche und panafrikanische Rhetorik sowie Diffamierung des IStGH zurückweisen?7

Eindeutig afrikanische Bilanz

Derzeit stehen 24 Afrikaner auf der Anklageliste des IStGH.8 Sie kommen aus der Demokratischen Republik Kongo, der Elfenbeinküste,9 Kenia, Libyen, Mali, Sudan, Uganda und der Zentralafrikanischen Republik. Zwei Verfahren sind bereits abgeschlossen: Im März 2012 wurde Thomas Lubanga Dyilo wegen Rekrutierung und Einsatz von Kindersoldaten zu 14 Jahren Haft verurteilt.10 Im Dezember 2012 wurde im zweiten Verfahren Mathieu Ngudjolo Chui aus Mangel an Beweisen freigesprochen.11 Ein weiteres Verfahren gegen den ehemaligen Vizepräsidenten der Demokratischen Republik Kongo, Jean-Pierre Bemba, steht vor den Plädoyers. Gegen den Anführer der Miliz »Nationalkongress für die Verteidigung des Volkes« und berüchtigten Kommandeur der M23-Miliz im Ostkongo, Bosco Ntaganda, wurde wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Februar 2014 das Verfahren eröffnet. Drei weitere Verfahren, unter ihnen das Verfahren gegen Uhuru Muigai Kenyatta und seinen Vizepräsidenten William Samoei Ruto, sind in Vorbereitung.

Die Bilanz sieht also eindeutig afrikanisch aus, der Internationale Strafgerichtshof hat sich faktisch in einen Afrikanischen Strafgerichtshof verwandelt. Dieser Eindruck ändert sich auch nicht dadurch, dass neben zehn afrikanischen auch fünf außerafrikanische Länder unter Beobachtung stehen: Kolumbien, Afghanistan, Georgien, Honduras und Nordkorea.12

Bei drei Ländern – Venezuela, Irak und Palästina – hat die Beobachtung nicht zu weiteren Ermittlungen geführt. Die Entscheidung im Falle Palästina, bei dem es um den israelischen Angriff zur Jahreswende 2008/2009 auf Gaza, »Operation Cast Lead«, ging, wurde vom IStGH mit der fehlenden Anerkennung der Palestine Authority als Staat durch die Vereinten Nationen oder die Staaten des IStGH begründet.13. Die Situation im Irak betraf Kriegsverbrechen, die durch britische Soldaten begangen worden sein sollen und von Opfervertretern und Nichtregierungsorganisationen an den IStGH herangetragen worden waren. Der damalige Chefankläger, Luis Moreno-Ocampo, begründete 2006 seine Entscheidung, keine weiteren Ermittlungen einleiten zu wollen, damit, nach damaligem Kenntnisstand sei nicht davon auszugehen, dass die Vorwürfe schwerwiegend („gravity threshold“) genug seien, um weitere Ermittlungen aufzunehmen. Bei einer geänderten Fakten- oder Beweislage müsse allerdings die Entscheidung erneut überprüft werden. Nun haben acht Jahre später zwei juristische Organisationen, das European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR, Berlin) und die Public Interest Lawyers (PIL, Birmingham), gemäß Art. 8 Römisches Statut erneut Strafanzeige wegen derselben Kriegsverbrechen eingereicht. Sie haben die Folter- und Missbrauchsvorwürfe von über 600 ehemaligen irakischen Gefangenen gesammelt, analysiert und 85 repräsentative Einzelfälle in ihrer Anzeige zusammengefasst. Sie sollen nun jeden Zweifel beseitigen, dass die Taten den in Art. 8 Römisches Statut geforderten „gravity threshold“ erfüllen. Sollte dies zu Ermittlungen führen, wäre es das erste Mal, dass sich der Gerichtshof ernsthaft mit den Verbrechen eines NATO-Staates auseinandersetzen müsste.

Hier liegt der Kern des Problems für den IStGH, für seine mangelnde Glaubwürdigkeit und sein schwindendes Ansehen. Seine neue Chefanklägerin Fatou Bensouda aus Gambia hält die Kritik für „unfair“ und „Propaganda“ gegen den Gerichtshof. Sie verweist darauf, dass der afrikanische Kontinent selbst um die Interventionen des IStGH gebeten habe. 34 Staaten sind dem Römischen Statut beigetreten, die meisten Untersuchungen wurden von ihnen selbst beantragt. „Ich denke, dass der IStGH und die Afrikanische Union (AU) dieselben Werte haben.“ 14 Und wer wäre besser legitimiert, dem Vorwurf des Neokolonialismus zu begegnen, als eine Vertreterin Afrikas, die selbst seit zehn Jahren (von 2004-2012 als Stellvertretende Anklägerin am IStGH) die Verfahren vorangetrieben hat?

Keine universelle Justiz für internationale Verbrechen

Doch trifft diese Verteidigung nicht den Kern der Kritik, die sich nur selten auf die Berechtigung bezieht, einzelne Fälle zu untersuchen und anzuklagen. Im Fokus der Kritik stehen zumeist diejenigen, die eben nicht verfolgt werden. So hat eine Expertenkommission der Vereinten Nationen15 kritisiert, dass nicht diejenigen verfolgt würden, die die größte Verantwortung für die Verbrechen im Kongo tragen.16 Gegen die Anklagebehörde wurden gerade im Falle des Kongo zahlreiche Vorwürfe wegen unzureichender Ermittlungen erhoben. So auch im Falle Ugandas, wo sich die Ermittlungen nur auf die Verbrechen der Lord’s Resistance Army (LRA) erstreckten und die ugandische Armee nicht einbezogen wurde. Das Vorgehen der Ankläger gegen den Präsidenten von Sudan, al-Bashir, zog weltweite Kritik auf sich, da der Haftbefehl die weitaus wichtigere friedliche Lösung des Konfliktes behindere und die Ermittlungen sich nicht auf hauptverantwortliche Regierungsmitglieder und hochrangige Militärs erstreckten. Die Kritik bezog sich also auf das von der Anklagebehörde vertretene Prinzip der fokussierten Ermittlungen, die sich auf zentrale, zumeist hochrangige Täter konzentrierten. Die Chefanklägerin hat daher das alte Prinzip nun durch ein neues Prinzip der tiefgehenden, offenen Ermittlungen ersetzt, welche mit Tätern auf mittlerer Ebene beginnen und sukzessive auf die höheren Hierarchien ausgeweitet werden. Ob dieser Ansatz dem Vorwurf der Selektivität entgehen kann, wird die zukünftige Praxis entscheiden.

Tatsache bleibt, dass es trotz eines auf universelle Gültigkeit ausgelegten Völkerstrafrechts und eines ebenso weit konzipierten Gerichtshofes immer noch keine wirklich universelle Justiz für internationale Verbrechen und keine Gleichheit aller Täterinnen und Täter vor dem Gesetz gibt. Diese Kritik macht sich nicht so sehr an der Praxis der Anklagebehörde und der Richter fest, sondern an der gesamten Verfassung des Gerichtssystems, zu dem der UN-Sicherheitsrat ebenso gehört wie die Staaten, die dem IStGH zwar nicht beigetreten sind, ihn aber dennoch, wie die USA, stark beeinflussen.

Diese Kritik am Gerichtshof geht fehl, wenn wir aus dem Auge verlieren, dass es die alten Macht- und Souveränitätsvorbehalte der postkolonialen Interventionsmächte sind, die die Spielräume der Anklage so sehr beschnitten haben. Sie schützen ihr Personal nicht nur vor der internationalen, sondern auch vor der nationalen Gerichtsbarkeit,17 wie unlängst die Einstellung des ersten Verfahrens nach dem Völkerstrafgesetzbuch gegen einen deutschen Staatsangehörigen, Oberst Klein, wegen der Bombardierung eines Tanklastwagenzuges am Kunduz-Fluss in Afghanistan zeigte. Zwar hat das Oberlandesgericht Frankfurt am 18. Februar 2014 den früheren Bürgermeister von Kiziguro in Ruanda, Onesphore Rwabukombe, wegen Beihilfe zum Völkermord an der Tutsi-Bevölkerung in Ruanda zu 14 Jahren Haft verurteilt, das Strafverfahren gegen den ehemaligen Verteidigungsminister Donald Rumsfeld und andere US-Politiker und –Militärs wegen der systematischen Folterungen in den Gefängnissen von Abu Ghraib/Irak und Guantánamo/Kuba ist jedoch eingestellt worden. Die Verfahren gegen die Hutu-Führer Ignace Murwanasyaka und Straton Musoni wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen vor dem Oberlandesericht Stuttgart dauern an, Urteile werden noch 2014 erwartet. Doch gibt es keine Verfahren gegen die Verantwortlichen der Verbrechen im Gefängnis von Bagram/Afghanistan, der unverhältnismäßig zahlreichen zivilen Opfer bei Bombenangriffen in Afghanistan und Irak oder bei den gezielten Tötungen durch Drohnen. Und schließlich ist nicht der IStGH dafür zu kritisieren, dass die israelischen Verantwortlichen des Gaza-Krieges von 2008/2009 nicht zur strafrechtlichen Verantwortung gezogen werden können, sondern die Staaten, die ein Strafverfahren politisch verhindern, in erster Linie die USA und Israel selbst.

Angesichts dieses offensichtlichen Ungleichgewichts der gerichtlichen Verfolgung von Kriegs- und Menschlichkeitsverbrechen ist es verständlich, wenn insbesondere Afrikaner vom Fluch des Neokolonialismus sprechen und einen eigenen Strafgerichtshof für Afrika vorschlagen. Auch der Hinweis darauf, dass 34 afrikanische Staaten sich der Rechtsprechung des IStGH freiwillig und in voller Kenntnis seiner Strafgewalt unterworfen und die Mehrzahl der »Situationen« selbst vor den Gerichtshof gebracht hätten, spricht für die Ernsthaftigkeit der afrikanischen Staaten im Umgang mit dem Gerichtshof und ihren Wunsch nach universeller Gerechtigkeit. Darin ein Einverständnis mit der Selektivität der Strafgerichtsbarkeit zu unterstellen, geht an der Realität vorbei. Es wird allerdings noch viel Zeit vergehen, ehe Staaten wie die USA sich von ihrer Arroganz der Siegerjustiz trennen und die Selbstverpflichtung des Chefanklägers Jackson im Nürnberger Prozess für sich akzeptieren.

So wie die Russell-Tribunale eine wichtige Kraft auf dem Weg zu einer Internationalen Strafgerichtsbarkeit waren, kommt heute den zahlreichen sozialen Bewegungen und Nichtregierungsorganisationen eine zentrale Bedeutung zu, den Weg für eine universelle Gerechtigkeit weiter zu ebnen.

Anmerkungen

1) Sieben Staaten (Volksrepublik China, Irak, Israel, Jemen, Katar, Libyen und USA) stimmten dagegen, 21 Staaten enthielten sich der Stimme.

2) Anklagerede vom 21. November 1945. In: Internationaler Militär-Gerichtshof Nürnberg (1947): Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof Nürnberg, 14. November 1945-1. Oktober 1946. Amtlicher Wortlaut in deutscher Sprache. Nürnberg: Verlag der Friedrich Kornschen Buchhandlung, Bd. 1, S.118.

3) Die USA haben z.B. bei ihren Kriegseinsätzen in Irak und Afghanistan die Immunität ihrer Staatsangehörigen durch bilaterale Abkommen mit den jeweiligen Regierungen vertraglich gesichert. Grundsätzlich hat jeder Staat das Recht, Ausländer, die auf seinem Staatsgebiet Straftaten begehen, vor den eigenen Gerichten nach dem eigenen Recht zur Verantwortung zu ziehen. Die Strafrechtsordnungen mancher Staaten, wie z.B. das deutsche Völkerstrafgesetzbuch vom 26. Juni 2002, eröffnen sogar die Möglichkeit, ausländische Täter wegen schwerer Kriegsverbrechen, die keinen Bezug zu dem Gerichtsstaat haben, gerichtlich zu verfolgen.

4) UN-Sicherheitsrat: Resolution 1422 vom 12. Juli 2002.

5) Gerd Hankel: Internationale Strafgerichtsbarkeit. Mittelweg 36, 3-2003, S.77ff.

6) Karsten Dümmel, Daniela Dietmayr: Kenia und der Internationale Strafgerichtshof. Konrad Adenauer Stiftung, Länderbericht Kenia vom 4. November 2013.

7) Margit Hellwig-Bötte: Der Internationale Strafgerichtshof als Zankapfel politischer Interessen. SWP-Aktuell 73, Dezember 2013. Kai Ambos: Kritik am afrikanischen Fokus. E+Z (Entwicklung und Zusammenarbeit), 12-2013, S.465.

8) Wolfgang Kaleck (2012): Mit zweierlei Maß – Der Westen und das Völkerstrafrecht. Berlin: Verlag Klaus Wagenbach, S.95ff.

9) Die Elfenbeinküste ist nicht Vertragsstaat, sie hat aber gemäß Art. 12 Abs. 3 Römisches Statut die Jurisdiktion des IStGH anerkannt.

10) IStGH vom 14. März 2012, Nr. ICC-01/04-01/06. Gegen das Urteil wurde Berufung eingelegt.

11) IStGH vom 18. Dezember 2012, ICC-01/04-02/12-3. Gegen den Freispruch ist Berufung anhängig.

12) Es handelt sich um den Beschuss von Yeonpyeong Island am 23. November 2010 durch Nordkorea, der zum Tod bzw. zur Verletzung zahlreicher südkoreanischer Armeeangehöriger und Zivilisten führte, sowie das Versenken des südkoreanischen Kriegsschiffes »Cheonan« durch einen angeblich von einem nordkoreanischen Unterseeboot abgefeuerten Torpedo am 26. März 2010, wobei 46 Personen getötet wurden.

13) Entscheidung des IStGH vom 3. April 2012: »It [International Criminal Court/ICC] cannot consider allegations of crimes committed during the conflict unless the relevant UN bodies or ICC states parties determine that the Palestinian Authority is a state.“

14) Fatou Bensouda, op.cit, hier S.18.

15) United Nations Panel of Experts on the Illegal Exploitation of Natural Resources and Other Forms of Wealth of the DRC.

16) Wolfgang Kaleck, op.cit., hier S.98.

17) Wolfgang Kaleck, op.cit., hier S.107ff.

Prof. em. Dr. Norman Paech lehrte Öffentliches Recht an der Hamburger Hochschule für Wirtschaft und Politik (HWP). Die ungekürzte Fassung dieses Textes ist unter norman-paech.de einzusehen.

Friedensmissionen und Menschenrechte

Friedensmissionen und Menschenrechte

von Norman Paech

Den nachfolgenden Text verfasste Norman Paech für die öffentliche Anhörung »UN-mandatierte Friedensmissionen und Menschenrechte« des Ausschusses »Menschenrechte und humanitäre Hilfe« des Deutschen Bundestages, die am 24. Oktober 2012 stattfand. W&F dokumentiert die Stellungnahme gekürzt um Abschnitt 5, der sich mit dem Schutz der Zivilbevölkerung und der »responsibility to protect« u.a. am Beispiel Libyen befasst. Die ungekürzte Stellungnahme ist auf der Website des Ausschusses unter bundestag.de nachzulesen.

1.

UN-Friedensmissionen (peacekeeping operations) werden seit Jahrzehnten als eines der wichtigsten Instrumente zur internationalen Friedenssicherung eingesetzt. Obwohl ohne ausdrückliche rechtliche Grundlage in der UN-Charta und trotz weitreichender Kritik an ihrer mangelnden Effizienz und wegen fehlender Erfolge hat sich ihre Zahl und ihr Umfang kontinuierlich erhöht. In den vergangenen Jahren waren bis zu 18 Missionen gleichzeitig im Einsatz; das gesamte zivile und militärische Personal ist auf über 120.000 Personen angewachsen, der Haushalt hat die Marke von sieben Mrd. US-Dollar überschritten. Zudem haben sich ihre Funktion, ihre Zielsetzung, ihre Aufgaben und ihre Zusammensetzung stark verändert.

Seit ihrer Existenz hat die UNO 64 solcher Missionen durchgeführt, von denen etwa eine Hälfte Beobachtermissionen, die andere Friedenssicherungsmissionen waren.1 Beide Arten werden sowohl von zivilem wie militärischem Personal ausgeführt. Diese grobe Zweiteilung verwischt allerdings die Vielfalt der Funktionen, die diese Missionen im Laufe ihrer Entwicklung ausgeübt haben. Sie reichen von der reinen Beobachtung über die Bildung von Pufferzonen zwischen den Konfliktparteien bis zum aktiven Eingreifen in die Konflikte. Durch zwei grundlegende Prinzipien unterscheiden sie sich von Zwangsmaßnahmen des Art. 42 UN-Charta:

a. Der betroffene Staat muss sein Einverständnis zur Stationierung der Truppen auf seinem Territorium erteilen; weder Sicherheitsrat noch Generalversammlung können diese Zustimmung erzwingen. Nimmt das Gastland seine Zustimmung zurück, wie 1967 Ägypten, so müssen die Truppen das Land verlassen. Unabhängig davon hat der Sicherheitsrat die alleinige Entscheidung über Dauer, Art und Zusammensetzung der Mission. Dabei hat sich die Regel herausgebildet, Friedenstruppen nur noch für einen begrenzten Zeitraum einzusetzen und, wenn notwendig, um jeweils ein halbes oder ganzes Jahr zu verlängern.

b. Ferner dürfen die Truppen nur zur Selbstverteidigung von ihren Waffen Gebrauch machen. Das umfasst auch den Widerstand gegen gewaltsame Versuche, die Mission in ihren Aufgaben zu behindern.

Die Truppen werden bevorzugt aus neutralen und blockfreien Staaten rekrutiert. Bisher haben 41 Staaten so genannte »standby arrangements« über den schnellen Einsatz ihrer Truppen in Krisensituationen abgeschlossen. Sie werden unter dem Oberkommando der UNO zu einem Hilfsorgan zusammengefasst, welches in dem Gastland weitgehend die Immunitätsrechte und Privilegien der UNO besitzt. Alle diese Grundsätze wurden von der Generalversammlung in einer Konvention zusammengefasst.2

Die Diskussion über die rechtliche Grundlage dieses außerhalb der Charta entwickelten Friedensinstrumentariums hält bis heute an. Häufig wird auf Art. 40 UN-Charta verwiesen, der dem Sicherheitsrat vorläufige Maßnahmen erlaubt, um einer Verschärfung eines Konflikts vorzubeugen. Andere stützen sich auf Art. 36, der bei einer Streitigkeit, die den Weltfrieden gefährdet, dem Sicherheitsrat generell die Möglichkeit gibt, „geeignete Verfahren oder Methoden für deren Bereinigung [zu] empfehlen“. Die Befugnis der Generalversammlung zur Einsetzung von Friedenstruppen ist demgegenüber umstritten, da die Meinung vertreten werden kann, dass auch derartige Maßnahmen dem Sicherheitsrat vorbehalten seien (Art. 11 Abs. 2 UN-Charta). Der Internationale Gerichtshof hat sich anlässlich seines Rechtsgutachtens im Jahr 1962 über die Frage, ob es sich bei den Kosten für die Friedenstruppen der UNEF I am Suez-Kanal und der ONUC im Kongo um »Ausgaben der Organisation« im Sinne. des Art. 17 Abs. 2 UN-Charta handelt, einerseits auf die Art. 11 und 14 bezogen, die die Generalversammlung ermächtigen, „Maßnahmen zur friedlichen Bereinigung jeder Situation [zu] empfehlen“. Andererseits hat er mit der so genannten »implied powers«-Regel argumentiert, nach der die Organisation im Rahmen ihres Aufgabenbereiches alle Mittel einsetzen kann, die ihr zwar nicht ausdrücklich in der Satzung zuerkannt worden sind, die aber zur Erreichung des Zweckes und der Ziele der Organisation notwendig und geeignet und vertraglich nicht ausgeschlossen sind. Nach dem Suez-Kanal-Einsatz 1956 hat die Generalversammlung niemals wieder derartige Operationen beschlossen. Diese Funktion ist seitdem vom Sicherheitsrat übernommen worden. Doch ist der Fall nicht ausgeschlossen, dass bei einer Veto-Blockierung des Sicherheitsrats wiederum die Generalversammlung auf der Basis der »Uniting for Peace«-Resolution von 1951 mit der Frage befasst wird.

Nur wenige Missionen – zumeist ältere, wie die auf Zypern stationierte Mission – entsprechen noch dem klassischen Konzept der Blauhelme. Für sie sind zwei weitere, seinerzeit vom damaligen Generalsekretär Dag Hammarskjöld formulierte Prinzipien bestimmend:

1. Weder die ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats noch eine unmittelbar am Konflikt interessierte Partei sollte Personal für die Mission stellen.

2. Die UN-Truppen sollen sich absolut neutral gegenüber den am Konflikt beteiligten Parteien verhalten.

2.

Seit den 1990er Jahren wurden die Missionen zunehmend mit einem so genannten robusten Mandat ausgestattet, welches ihnen den Einsatz von militärischer Gewalt auch über die Selbstverteidigung hinaus gestattet. Dadurch verschwimmt die ursprünglich strenge Abgrenzung gegenüber den militärischen Zwangsmaßnahmen gem. Art. 42 des 7. Kapitels der UN-Charta. Einige sind so genannte Hybridmissionen, die mit Truppen der Europäischen Union oder der Afrikanischen Union kooperieren. Die Gründe für diesen erweiterten Einsatz lagen zum einen darin, dass die Truppen immer früher in einem Konflikt eingreifen sollten, wenn die Auseinandersetzungen und Kämpfe noch fortdauerten. Sie sollten nicht mehr nur noch für Sicherheit sorgen und die Gegner auf Distanz halten, sondern die Kämpfe aktiv unterbinden. Der Auftrag wandelte sich von der Friedenssicherung (peacekeeping) zur Friedenserzwingung (peace enforcement) – was nach Auffassung des Department of Peacekeeping Operations (DPKO) und des Department of Field Support (DFS) eigentlich nicht zur Aufgabe der UN-Missionen gehört.

Damit zusammen hing zum anderen die Erweiterung der allgemeinen Zielsetzung, die sich nicht mehr auf die Herstellung von Sicherheit beschränkte, sondern tief in die staatlichen Strukturen der betroffenen Länder eingriff. Der Begriff »peacekeeping« wurde durch den Begriff »peacebuilding« ergänzt, wenn nicht sogar abgelöst, wie in dem UN-Dokument »United Nations Peacekeeping Operations: Principles and Guidelines« vom 8. Januar 2008, welches eine eigene Definition entwickelte:

„Peacebuilding beinhaltet eine Reihe Maßnahmen, die darauf abzielen, durch Stärkung nationaler Kapazitäten für das Konfliktmanagement auf allen Ebenen das Risiko zu reduzieren, dass [eine Situation] in einen Konflikt ab- oder zurückgleitet, und die Grundlage für nachhaltigen Frieden und Entwicklung zu legen. Peacebuilding ist ein komplexer, langfristiger Prozess, um die notwenigen Bedigungen für einen nachhaltigen Frieden zu schaffen. Dazu werden die tief verwurzelten strukturellen Ursachen für einen gewalttätigen Konflikt umfassend angegangen. Peacebuilding-Maßnahmen setzen bei den Kernthemen an, die die Funktionsfähigkeit einer Gesellschaft und eines Staates bewirken, und versuchen, die Fähigkeit des Staates zu verbessern, seine Kernfunktionen effektiv und legitim auszuüben.“ 3

Damit stehen die Missionen vor sehr umfassenden und hochkomplexen Aufgaben der Konfliktbearbeitung. Zu den alten Aufgaben der Verbesserung und Stabilisierung der allgemeinen Sicherheitslage durch Entwaffnung und Einsammeln der Waffen, Überwachung von Waffenembargos, Schutz des UN-Personals, bedrohter Zivilisten und des Personals humanitärer Hilfsorganisationen, sind allmählich Aufgaben der Reintegration ehemaliger Kämpfer, der Aufbau neuer Sicherheitsstrukturen, die Stabilisierung oder sogar der Aufbau einer staatlichen Autorität und Institutionen der Rechtsstaatlichkeit, die Vorbereitung und Durchführung von Wahlen hinzugekommen. Im einzelnen sind sogar die Beobachtung potentiell extremistischer lokaler Massenmedien (Elfenbeinküste), der Personenschutz für Regierungseliten (DR Kongo) und die HIV/AIDS-Aufklärung in die Mandate aufgenommen worden.

3.

Diese Ausweitung des Aufgabenspektrums ist wohl einer der Hauptgründe für die allgemeine Kritik an der Überforderung der Friedensmissionen. Wenn eine vom DPKO in Auftrag gegebene Studie von 20094 zu dem Ergebnis kommt, dass die UN-Friedensmissionen am Rande des Scheiterns stehen und ein Ausweg nicht in Sicht ist, so liegt das nicht nur an den zahlreichen Mängeln der materiellen und finanziellen Ausstattung der Missionen, ihrer oft verspäteten Entsendung an die Konfliktherde (so genannte Entsendelücke), unscharfer Mandatierung, schlechter Kommunikation oder nicht adäquat ausgebildeter Soldaten. Diese Mängel ließen sich ausbessern und beheben. Vor allem liegt es an der Neuausrichtung der Aufgaben auf Ziele (Demokratisierung, Rechtsstaatlichkeit, »good governance« etc.), die mit der ursprünglichen Konstruktion und den Mitteln der Friedensmissionen nicht zu erreichen sind.

Die Aufrüstung der Blauhelme zu einem robusten Peacekeeping ist ein weiterer zentraler Punkt der Kritik. Obwohl der Brahimi-Report5 die Notwendigkeit robusten, d.h. militärischen Eingreifens der Missionen betont hat, sind damit ihre Erfolgschancen seitdem nicht gestiegen.6 Unbestritten ist, dass die Missionen sich und ihr Mandat (z.B. Entwaffnung, Waffenembargo, Zivilschutz) mit militärischen Mitteln verteidigen können. Unklar ist jedoch, wie weit der Einsatz militärischer Gewalt gehen darf. Die Standardformulierung des UN-Sicherheitsrats, die die Missionen ermächtigt, „alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, im Rahmen ihrer Möglichkeiten und in Gegenden, in denen ihre militärischen Einheiten präsent sind“, lässt keine Grenze der Gewaltanwendung erkennen. Sie eröffnet die Gefahr, dass die UN-Soldaten in einen regelrechten Krieg hineingezogen werden und dort ihre Neutralität verlieren. Zudem wird das Gewaltverbot des Art. 2 Z. 4 der UN-Charta relativiert.

Vergessen ist offensichtlich das mahnende Beispiel des Kongo-Einsatzes in den Jahren 1960/61. Die United Nations Operation in the Congo (ONUC) hatte sich derart weit in die Kämpfe der rivalisierenden Kräfte eingelassen, dass sie in ihnen aufgerieben zu werden drohte. Um das Auseinanderfallen des Kongo zu verhindern, hatte sie ihre Neutralität aufgegeben, und der UN-Sicherheitsrat entschloss sich im Februar 1961, den Einsatz von Gewalt nicht nur zur Selbstverteidigung zuzulassen, sondern auch, „um den Ausbruch eines Bürgerkrieges zu vermeiden“. In ihren militärischen Aktionen gegen die Regierung Tschombe erlitt die UN-Mission eine Reihe von Niederlagen und wurde zu Waffenstillstandsverhandlungen gezwungen. Wenn es der ONUC dennoch schließlich gelang, die Sezession Katangas zu verhindern, so nur um den Preis der vollständigen Besetzung Katangas und der Verletzung ihrer eigenen Prinzipien. Der Kongo-Staat befand sich faktisch unter dem Protektorat der UNO.

Mit dem robusten Mandat verlieren die meisten Missionen ein weiteres Element ihrer ursprünglichen Berechtigung, welches als eine der entscheidenden Erfolgsbedingungen angesehen wird: die vorherige Zustimmung der Konfliktbeteiligten. Dies ist besonders dann der Fall, wenn nicht-staatliche Akteure die Hauptkonfliktparteien bilden. Das Eingreifen ohne oder gegen das Einverständnis der Konfliktparteien verschärft und verlängert jedoch die Kampfeinsätze, macht die UNO selbst zur militärischen Konfliktpartei und erschwert die Beendigung eines Krieges erheblich. Selbst wenn er »beendet« ist, geschieht das zu Lasten einer Kriegspartei, oft durch den Sturz eines Regimes und zu Lasten der staatlichen Souveränität und territorialen Integrität. Es besteht zumeist keine Sicherheit, dass der Konflikt nicht weiterschwelt und zu gegebener Zeit wieder ausbricht. Sollte das Mandat die Stabilisierung staatlicher Autorität, die Förderung von »good governance« und die Unterstützung rechtsstaatlicher Institutionen umfassen, führt der militärische Einsatz unweigerlich zu protektoratsähnlichen Verhältnissen, denn bei der Kombination militärischer und ziviler Instrumente gibt es immer eine Dominanz der militärischen Komponente.

Die RAND Corporation hat in einer Studie von 20057 El Salvador, Mozambique, Namibia, Ost-Slawonien und Ost-Timor zu den erfolgreichen UN-Missionen gerechnet. Hier kam es auch später nicht mehr zu bewaffneten Konflikten. In einer anderen Studie8 listen die Autoren jene Felder auf, auf denen UN-Missionen erfolgreich agieren konnten: Hilfe beim Abschluss von Friedensabkommen, Demobilisierung, Entwaffnung und Reintegration von Kombattanten, Flüchtlingsrückkehr, Supervision von Übergangsverwaltungen und Durchführung von Wahlen. Das sind alles Aufgaben, für die offensichtlich ein robustes Mandat nicht notwendig ist. Die militärische Durchsetzung von Frieden wird nur sehr begrenzt als erfolgreich gewertet.

4.

Seit Anfang der 1990er Jahre bekommen die Menschenrechte eine immer stärkere Bedeutung in der Resolutionspraxis des UN-Sicherheitsrats. Er verabschiedet Resolutionen zur Rolle der Frauen in bewaffneten Konflikten, zur Situation und zum Schutz der Kinder sowie zum Schutz der Zivilbevölkerung in bewaffneten Konflikten. Im Rahmen der UN-Friedensmissionen dringt er auf eine Null-Toleranz-Haltung gegenüber sexueller Gewalt.9 Das ist durchaus nach innen gesprochen. Denn aus dem Umfeld von UN-Missionen werden schwere Vorwürfe von Menschenrechtsverletzungen laut: Menschenhandel, Kinderprostitution, Prostitution, Drogenhandel und –missbrauch sowie Waffenhandel. Das sind keine Einzelfälle. Die Vorwürfe treffen die Missionen in Bosnien-Herzegowina, Kosovo, Mazedonien, Elfenbeinküste, Äthiopien, Eritrea, Burundi, Somalia, Haiti und Kongo und haben schon zum Abzug einiger Truppenkontingente geführt. Vor allem steht die ISAF in Afghanistan wegen der zahlreichen zivilen Opfer und der menschenrechtswidrigen Haftbedingungen in Bagram unter nachhaltiger Kritik.10 Seit 2005 diskutiert die UN-Generalversammlung verstärkt über das Problem sexueller Vergehen bei UN-Operationen und hat eine Expertenkommission eingerichtet. Seit 2009 liegt ihr eine »Draft Convention on the Criminal Responsibility of United Nations Officials and Experts on Mission« vor.

Unter diesen Umständen bekommt ein Mandat zum Menschenrechtsschutz zweifelhafte Bedeutung. Eine Studie des Deutschen Instituts für Menschenrechte weist zudem zutreffend darauf hin, dass die Friedensmissionen sowohl historisch als auch systematisch keine Instrumente des Menschenrechtsschutzes, sondern der Sicherheitspolitik sind.11 Dennoch hat der Schutz der Menschenrechte immer stärkeren Eingang in die Politik der Friedenssicherung gefunden, wie z.B. bei der ONUSAL (El Salvador 1991), MINUGUA (Guatemala 1993), MICIVIH (Haiti 1993) und UNAMID (Darfur 2007).

Insbesondere die Diskussionen um die Notwendigkeit humanitärer Interventionen und das Konzept der »responsibility to protect« haben den Druck auf den Sicherheitsrat erhöht, zum Schutz der Zivilbevölkerung militärisch zu intervenieren. Dies gilt sowohl für die originären »Zwangsmaßnahmen« nach Art. 39/42 UN-Charta wie auch für die Peacekeeping-Operationen mit einem robusten Mandat.

Dabei ist klar, dass die Friedensmissionen und ihre Truppen selbst an das Völkerrecht und seine menschenrechtlichen Vorschriften gebunden sind. Die Bundesregierung hat im März 2005 zur extraterritorialen Anwendung des Zivilpaktes von 1967 erklärt:

„1. Deutschland gewährleistet gemäß Artikel 2 Abs. 1 die Paktrechte allen in seinem Gebiet befindlichen und seiner Herrschaftsgewalt unterstehenden Personen.

2. Deutschland sichert bei Einsätzen seiner Polizei- oder Streitkräfte im Ausland, insbesondere im Rahmen von Friedensmissionen, allen Personen, soweit sie seiner Herrschaftsgewalt unterstehen, die Gewährung der im Pakt anerkannten Rechte zu.

3. Die internationalen Aufgaben und Verpflichtungen aus der Charta der Vereinten Nationen bleiben unberührt.

4. Bei der Ausbildung im internationalen Einsatz sieht Deutschland eine speziell auf diese ausgerichtete Belehrung über die im Pakt verankerten einschlägigen Rechte vor.“

Aus der Tatsache, dass diese Erklärung die Paktrechte zwar gewährleistet, aber ihre Geltung nicht ausdrücklich anerkennt, folgert der Leiter der Rechtsabteilung des Bundesministeriums der Verteidigung,12 dass damit Einschränkungen der Geltung formuliert worden seien. Da im Rahmen robuster Mandate in Zukunft die Einhaltung bestimmter Verfahrensgarantien nicht immer möglich sei, müssten Einschränkungen der Menschenrechte für solche Auslandseinsätze hingenommen werden, bei denen Verstöße gegen einzelne Regelungen der Menschenrechtspakte vorprogrammiert seien. Hier ist offensichtlich der Maßstab verrutscht: Nicht die Menschenrechte müssen sich dem Mandat unterordnen, sondern das Mandat und seine Operationen den Menschenrechten!

Für deutsches UN-Personal ist die Bindung an die Grundrechte des Grundgesetzes auch außerhalb der Bundesrepublik selbstverständlich. Die mit dem Einsatzland oftmals vereinbarten Stationierungsübereinkommen (Status-of- Forces-Agreement, SOFA) gewähren dem UN-Personal zwar i. d. R. Immunität vor der Strafgerichtsbarkeit des Einsatzlandes, befreien es jedoch nicht von den Menschenrechtsverpflichtungen. Die disziplinarische oder Strafverfolgung wird aber ausdrücklich dem Entsendestaat überantwortet – die UNO selbst hat keine Befugnis zur Strafverfolgung seines Personals. Da für das System der Friedensmissionen anders als für internationale bewaffnete Konflikte keine speziellen völkerrechtlichen Regeln bestehen, müssten die Sicherheitsrat-Resolutionen die rechtlichen Grundlagen für den eindeutigen Rahmen und die Grenzen des Mandats sowie die völker- und menschenrechtlichen Verpflichtungen und Verantwortlichkeiten definieren, die der Deutsche Bundestag jeweils um die Verpflichtungen und Verantwortlichkeiten aus dem nationalen Recht zu ergänzen hat.

[5. …]

6.

Da es ein international zertifiziertes Verfahren zur Evaluation von Friedensmissionen nicht gibt, gibt es auch keine eindeutige Einschätzung konkreter Missionen, es sei denn, sie enden so wie in Somalia 1994 mit dem Rückzug der US-Truppen oder im Juli 2008 an der äthiopisch-eritreischen Grenze. So wird z.B. die seit 1991 bestehende Anwesenheit der MINURSO in Westsahara insofern als Erfolg gewertet, als sie weitgehend die kriegerischen Aktivitäten zwischen den Marokkanern und den Sahraoui eindämmen konnte. Ihr Ziel, ein Referendum über den Status der Westsahara zu organisieren, konnte sie allerdings nicht erreichen. Dies werten die Marokkaner als Erfolg, die Sahraoui aber als Fehlschlag und Niederlage. Erfolgreich sind offensichtlich solche Missionen, die die Zustimmung der Konfliktparteien erhalten haben und wo die militärischen Auseinandersetzungen weitgehend abgeebbt sind. Dazu zählen etwa die UNGOMIP (seit 1949 an der indisch-pakistanischen Grenze), die UNFICYP (seit 1964 auf Zypern), die UNOCI (seit 2004 in der Elfenbeinküste) oder die Ost-Timor-Mission (seit 2006).

Insofern sind die Hoffnungen, die in die Evaluation der Missionen als neutrales und objektives Verfahren zur Einschätzung von Erfolg und Misserfolg gesetzt werden, eher zurückhaltend zu betrachten. Zur individuellen Identifizierung von Mängeln und Schwächen einzelner Missionen können sie zweifellos nützliche Hinweise geben. Zu einer generellen Bewertung des Nutzens von Friedensmissionen taugen sie kaum. Das liegt nicht nur an den jeweils vollkommen unterschiedlichen Feldvoraussetzungen und Konfliktkonstellationen in den Einsatzländern, sondern auch an den unterschiedlichen Interessen der entscheidenden Missionskoalitionen. Das wird deutlich an der Einrichtung robuster Mandate.

Trotz der Empfehlung der Brahimi-Kommission lässt sich die militärische Kapazität der robusten Mission nicht als ein Element für den Erfolg feststellen. Im Gegenteil, sie droht den Konflikt zu verlängern und zu eskalieren, wofür die UNAMID in Darfur und die MONUC im Kongo nur Einzelbeispiele sind. Erfolgversprechend ist nach wie vor die Beschränkung auf die ursprünglichen Aufgaben des klassischen Peacekeeping, die sich mit der Unterstützung von Friedensabkommen, der Demobilisierung und Entwaffnung, der Flüchtlingsrückkehr, der Überwachung von Wahlen und dem Monitoring begnügen. Im »Friedensgutachten 2009« der fünf führenden deutschen Friedensforschungsinstitute wird daher auch die Empfehlung ausgesprochen, dass sich die UN-Friedensmissionen „auf die Rettung von Menschenleben, die Beendigung von Kampfhandlungen und die unmittelbare Nachkriegsstabilisierung konzentrieren und beim Wiederaufbau lokaler Nachkriegsstabilisierung mithelfen [sollen]“. Letztlich hängt der Erfolg einer Mission jedoch von dem politischen Willen der UN-Mitgliedstaaten und vor allem der fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats ab.

Anmerkungen

1) Davon existieren heute noch elf Beobachtermissionen (Political and Peacebuilding Missions) und 18 Friedenssicherungsmissionen (Peacekeeping Operations).

2) UN-Generalversammlug Res. 49/59 vom 17. Februar 1995: Convention on the Safety of United Nations and Associated Personel. Die erforderlichen 22 Ratifikationen sind bis jetzt noch nicht erfolgt.

3) Herausgegeben vom »Department of Peacekeeping Operations« und dem »Department of Field Support« der Vereinten Nationen, New York. Übersetzung des Zitats durch die Redakteurin.

4) Center on International Cooperation: Annual Review of Global Peace Operations 2009. Boulder, 2009, S.7 f.

5) Report of the Panel on United Nations Peace Operations (Brahimi Report). A/55/305-S/2000/809, New York, 21. August 2000.

6) Vgl. D. M. Tull (2010): Die Peacekeeping-Krise der Vereinten Nationen. SWP Studie 1, Berlin, S.18.

7) J. Dobbins, S. G. Jones, K. Crane, A. Rathmell, B. Steele, R. Teltschik, A. Timilsina (2005): The UN’s Role in Nation-building. From the Congo to Iraq. RAND Corporation,.

8) M. W. Doyle, N. Sambanis: Peacekeeping Operations. In: Th. Weiss, S. Daws (eds.) (2007): The Oxford Handbook on the United Nations. Oxford, S.323 ff. Zit. nach A. Heinemann-Grüder (2009): Mit UN-Einsätzen zum Frieden? In: Friedensgutachten 2009. Berlin, S.174 ff.

9) Resolutionen 1325 vom 25. Dezember 2000, 1539 vom 23. April 2004, 1738 vom 23. Dezember 2006.

10) J. Boehme (2008): Human Rights and Gender Components of UN and EU Peace Operations. Berlin: Deutsches Institut für Menschenrechte. Auch: IPPNW (2012): Body Count – Opferzahlen nach 10 Jahren. Berlin, S.50 ff.

11) W. S. Heinz, J. Ruszkowska (2010): UN-Friedensoperationen und Menschenrechte. Berlin: Deutsches Institut für Menschenrechte, S.5.

12) D. Weingärtner (2006): Menschenrechtsbindung bei Out-of Area-Einsätzen der Bundeswehr. In: N. Weiß (Hrsg.): Menschenrechtsbindung bei Auslandseinsätzen deutscher Streitkräfte. Expertengespräch, Berlin 2006, S.12. Vgl. a. W. S. Heinz, J., Ruskowska, op.cit., S.22.

Prof. em. Dr. Norman Paech lehrte Öfffentliches Recht an der Hamburger Universität für Wirtschaft und Politik (HWP). Von 2005 bis 2009 war er als Parteiloser für »Die Linke« Abgeordneter im Deutschen Bundestag.

»Internationale Schutzverantwortung«

»Internationale Schutzverantwortung«

Zivilisatorischer Fortschritt oder gefährliche Chimäre?

von Alexander S. Neu

Die überwunden geglaubte Legitimationsfigur des »gerechten Krieges« (iustum bellum) erfreut sich in Form der »Internationalen Schutzverantwortung« einer Renaissance. Sollte sie den Status einer Rechtsnorm erlangen, würde die Schutzverantwortung das bislang geltende Völkerrecht substantiell verändern. Befürworter sehen in ihr eine zivilisatorische Weiterentwicklung des Völkerrechts. Skeptiker wenden ein, die Schutzverantwortung öffne militärischen Interventionen des Westens völkerrechtlich die Tür. Ist nun das Konstrukt der »Schutzverantwortung« tatsächlich etwas Neues, das die internationale Rechtsstaatlichkeit fortentwickelt, oder ist es lediglich alter Wein in neuen Schläuchen, der die Interessen- und Machtpolitik der Großmächte ethisch kaschiert?

Der UN-Sicherheitsrat ermächtigte am 17. März 2011 hinsichtlich des nicht-internationalen bewaffneten Konflikts in Libyen „die Mitgliedstaaten, […] alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, […] um von Angriffen bedrohte Zivilpersonen und von der Zivilbevölkerung bewohnte Gebiete […] zu schützen“.1 Westliche Politiker behaupteten und westliche Medien »berichteten«, Gaddafi bombardiere sein Volk, und schufen so ein Meinungsklima für einen »Regime Change«.

Ähnlich funktionieren die gegenwärtigen Stellungnahmen westlicher Politiker und Medien im Falle des nicht-internationalen bewaffneten Konflikts in Syrien.2 So erklärte am 7. Juni 2012 die Hohe Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, Catherine Ashton: „Ich verurteile die brutale Gewalt und Tötung Dutzender Zivilisten vom gestrigen Tage auf’s Schärfste […]. Die syrische Regierung hat die Verantwortung, ihre Bevölkerung zu schützen.“ 3

Die UN-Sicherheitsratsresolution zu Libyen wird wohl als die erste in die Geschichte eingehen, die die nach dem NATO-Angriffskrieg gegen Jugoslawien vom Westen federführend konzipierte »Internationale Schutzverantwortung« (Responsibility to Protect, RtP) in die Praxis umsetzte.

»Internationale Schutzverantwortung«

Angesichts des rechtswidrigen Angriffskrieges der NATO gegenüber Jugoslawien 1999 zum Schutz der angeblich dem Völkermord ausgesetzten Kosovo-Albaner (Scharping/Fischer)4 wurde auf Betreiben des damaligen UN-Generalsekretärs Kofi Annan im Jahre 2000 eine internationale Kommission (ICISS5) zu Fragen von Intervention und staatlicher Souveränität einberufen. Ihre Aufgabe war, die Grundlagen und Voraussetzungen für »Humanitäre Interventionen« konzeptionell so zu entwickeln, dass der Eindruck machtpolitischer Willkür vermieden wird. Folglich wird seitens ihrer Befürworter zwischen der missbrauchsensiblen »klassischen« Humanitären Intervention und der »Responsibility to Protect« unterschieden. Wäre das Vorhaben erfolgreich, die RtP zur Rechtsnorm aufzuwerten, so würde das umfassende Gewaltverbot (Art. 2 Abs. 4 UN-Charta) neben den beiden bisher kodifizierten Ausnahmen (Art. 42 und 51 UN-Charta)6 durch eine weitere Ausnahme eingeengt.

RtP: Wandel des Souveränitätsbegriffs

Die Souveränität ist zu unterscheiden in eine äußere und innere. Unter äußerer Souveränität wird die Unabhängigkeit eines Staates gegenüber Drittstaaten verstanden. Die äußere Souveränität ist also ein Abwehr- und Selbstbestimmungsrecht gegen Einmischung in die inneren Angelegenheiten, was insbesondere für kleine und ehemalige Kolonialstaaten von zentraler Bedeutung ist. Unter innerer Souveränität ist die Staatsgewalt, also das Rechtsetzungs-, Rechtumsetzungs- und Gewaltmonopol des Staates zu verstehen.

Kernelement der von der ICISS konzipierten RtP ist, die beiden Ebenen in ein konditioniertes Verhältnis zueinander zu setzen und daraus resultierend einen Verständniswandel des Begriffs »Souveränität« zu begründen. Die RtP bindet die äußere Souveränität an die Art und Weise, wie die innere Souveränität umgesetzt wird. Äußere Souveränität soll demgemäß nicht mehr klar als Abwehrrecht gegen äußere Einmischung verstanden, sondern massiv eingeschränkt werden, indem eine spezifische Verantwortung des Staates, seine Bevölkerung vor gravierenden Menschenrechtsverletzungen zu schützen, postuliert wird.7 Unter gravierenden Menschenrechtsverletzungen werden Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnische Säuberung und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verstanden.8

Sei ein Staat nicht fähig oder nicht willens, diese Schutzverantwortung wahrzunehmen, müsse die so genannte internationale Gemeinschaft die Verantwortung übernehmen. Hierbei werden drei Interventionsstufen benannt:9

Responsibility to prevent, d.h. die Verpflichtung, die Bedrohung einer großen Zahl von Menschenleben durch gravierende Menschenrechtsverletzungen im Vorfeld zu verhindern. Genannt werden politische, rechtliche, diplomatische, ökonomische, aber auch bereits militärische Mittel.

Responsibility to react, d.h. die Verpflichtung, gravierende Menschenrechtsverletzungen durch Intervention zu beenden. Genannt werden auch hier vorgelagerte Mittel wie Sanktionen, ggf. aber auch eine direkte militärische Intervention.

Responsibility to rebuild, d.h. Wiederaufbau nach einem militärischen Eingreifen. Hierzu zählen »state building«, Entwaffnung, Versöhnungsmaßnahmen.

Die Dreigliedrigkeit des Konstrukts RtP suggeriert, eine militärische Intervention sei nur eine von drei Optionen und nicht die bedeutsamste, was sich bei genauerer Betrachtung als Trugbild entpuppt. Ebenso täuscht der Eindruck, es gehe bei dem Wiederaufbau um klassische infrastrukturelle Aufbauhilfe.

Fehlt bei den Präventions- und Reaktionsstufen die klare Trennschärfe bezüglich der genannten (einschließlich militärischen) Maßnahmen, so wird mit Blick auf die Wiederaufbaustufe u.a. eine Revitalisierung des UN-Treuhandsystems gefordert. Das Treuhandsystem der Vereinten Nationen diente ursprünglich der Entkolonialisierung. Hingegen liefe die Zielsetzung, Staaten, die als »failing states« kategorisiert werden, nun diesem Treuhandsystem zu unterstellen, auf eine Entmündigung der entsprechenden Gesellschaften und auf die zumindest temporäre Souveränitätszerschlagung – kurzum: auf ein Re-Kolonisierungsprojekt – hinaus. Hinsichtlich der militärischen Intervention wird auf Kriterien rekurriert, die einen objektiven Entscheidungsprozess suggerieren sollen:10

iusta causa: massenhafter Verlust von Menschenleben oder ethnische Säuberungen seien ein gerechter Grund;

recta intentio: die militärische Intervention müsse getragen werden von einer redlichen Absicht, d.h. einer interessenfreien Politik;

ultima ratio: die Gewaltanwendung könne nur das letzte Mittel in einer Reihe von Maßnahmen sein;

iustus finis: die Gewaltanwendung müsse verhältnismäßig (proportionalitas) und Erfolg versprechend sein;

legitima auctoritas: die Genehmigung einer militärischen Intervention müsse (zunächst) dem UN-Sicherheitsrat vorbehalten sein.

Die genannten Entscheidungskriterien sind nicht neu. Sie entstammen der seit der Antike immer wieder aufkeimenden Diskussion um die Legitimationsfigur des »gerechten Krieges« (bellum iustum). Sie erwiesen sich in der Praxis als wenig tauglich, da eine Gewichtung der Kriterien ebensowenig geklärt ist wie die Frage, ob sämtliche Kriterien erfüllt sein müssen. Auch ist es nicht möglich, die tatsächliche Absicht jenseits von Lippenbekenntnissen zweifelsfrei zu prüfen oder den Erfolg eines Einsatzes zu prognostizieren.

Es verdichtet sich der Eindruck, dass das RtP-Konstrukt der ICISS im Wesentlichen dazu dient, die tatsächlich intendierten militärischen Interventionen als Ultima-ratio-Handlungen mit einem zivilen Deckmäntelchen zu verkaufen.

Resolutionen der UN-Generalversammlung

Einen ersten relevanten Niederschlag fand die RtP im September 2005 in der Resolution der UN-Generalversammlung über das Ergebnis des Weltgipfel, in der die Generalversammlung das RtP-Konstrukt, wonach die Staaten die Verantwortung für den Schutz ihrer Bürger hätten, in seiner Grundsubstanz beschloss.11 Ebenso wurde eine (nicht weiter detaillierte) substituierende internationale Verantwortung festgestellt. Darüber hinausgehende Ausführungen oder ein Verweis auf Übernahme des ICISS-Berichts seitens der Generalversammlung unterblieben. Mit dem Hinweis, die Generalversammlung unterstreiche die Notwendigkeit zur weiteren Debatte, wurde dem Interesse an der Fortsetzung des Klärungsprozesses Ausdruck verliehen.

Diese Diskussion nutzte der UN-Generalsekretär, erarbeitete seinen eigenen »Bericht des Generalsekretärs«12 und stellte diesen im Juli 2009 in einer eigens zu diesem Thema einberufenen außerordentlichen UN-Generalversammlung vor. Aus den unterschiedlichen Positionen in der Debatte wurde deutlich, dass es weder zum ICISS-Bericht noch zum Berichts des Generalsekretärs eine einheitliche Position gab – und damit auch nicht zum RtP-Konstrukt als eine neu zu schaffende Norm. Auch wenn pro RtP-Lobbyisten ein eindeutiges Ergebnis herbeiinterpretierten,13 ist eine Mehrheitsmeinung aus zwei Gründen nicht eindeutig erkennbar: Erstens wurde nicht abgestimmt und zweitens nahmen weniger als die Hälfte der 192 Mitgliedsstaaten an der Versammlung teil. Der damals amtierende Präsident der UN-Generalversammlung, Miguel d‘Escoto Brockmann, bilanzierte die Debatte wie folgt: „Nach der Diskussion heute Morgen bleibt die Frage offen, ob die Zeit für eine eigenständige RtP-Norm schon gekommen ist oder ob wir, wie die meisten der Diskussionsteilnehmer heute Morgen empfanden, zuerst eine gerechtere und gleichberechtigtere Weltordnung brauchen, auch in ökonomischer und sozialer Hinsicht, und einen Sicherheitsrat, der nicht ein unterschiedliches Völkerrechssystem schafft, in dem sie nach Gusto entscheiden, wer starken Schutz erhält und wer nicht.“14

Auf der ordentlichen Generalversammlung im September 2009 wurde eine Resolution zu dem »Bericht des Generalsekretärs« diskutiert. Hier setzten sich die Kritiker der RtP durch. Es wurde zunächst die Unantastbarkeit der Prinzipien der UN-Charta unterstrichen, um anschließend lediglich zu erklären, man nehme den Bericht sowie die vorangegangene Debatte zur Kenntnis und beschließe, das Thema RtP weiter zu diskutieren.15

Die Idee der Schutzverantwortung selbst stieß nicht auf Ablehnung. Es wurde jedoch kritisiert, es gebe zahlreiche offene Fragen zu den Kompetenzen und zur Umsetzung, insbesondere, wenn es um militärische Zwangsmaßnahmen gehe, bei denen ein erhebliches Missbrauchspotential – auch durch den UN-Sicherheitsrat – bestünde. Aufgrund von Missbrauchsfällen in der Vergangenheit müsse zunächst das UNO-System reformiert und demokratisiert werden, bevor den Vereinten Nationen eine so weitreichende Befugnis zugewiesen werden könne.16

Der Rückschlag für die RtP-Befürworter ist mit den begründeten Ängsten vor allem der nicht-westlichen Länder verbunden, das Konstrukt könnte in seiner unausgereiften Form die Qualität einer Völkerrechtsnorm erhalten und sodann von den Großmächten als Interventionslegitimation missbraucht werden.

Die Formulierungen in den Resolutionen der UN-Generalversammlung sowohl 2005 als auch 2009, wonach die Generalversammlung mit dem Thema befasst bleibe, bergen zwei relevante Entscheidungen: erstens, dass die Diskussion zur RtP noch nicht abgeschlossen ist und somit weder eine generelle noch eine inhaltlich-konzeptionelle Entscheidung gefallen ist, und zweitens, dass die Generalversammlung sich das Thema weiterhin vorbehält, was als Warnung an andere Gremien – auch an den UN-Sicherheitsrat – zu verstehen ist, sich des Themas eigenmächtig anzunehmen. Ort der Diskussion soll die Generalversammlung bleiben, um eine höchstmögliche Transparenz der Diskussion zu sichern und eine breite Entscheidungsbasis zu garantieren, was angesichts der weitreichenden Bedeutung der RtP-Idee nachvollziehbar ist.

Der UN-Sicherheitsrat allerdings sah dies anders und schaffte Fakten, als er in mehreren Resolutionen die Feststellungen zur RtP in der Resolution der UN-Generalversammlung aus dem Jahre 2005 „bekräftigte“, um so die RtP »aufzuwerten«.17 Auf diese Weise wurde der UN-Generalversammlung faktisch die Federführung für das Thema entzogen und ihr letztlich die Position des UN-Sicherheitsrates diktiert.

RtP – Praxistest

Was der UN-Sicherheitsrat unter RtP in der Praxis versteht, verdeutlichte sich im Jahre 2011: Der Sicherheitsrat verabschiedete unter Bezugnahme auf die RtP zwei Resolutionen,18 die eindeutig Partei nahmen und die Komplexität des Konflikts im libyschen Bürgerkrieg auf Opfer und Täter reduzierte. Die Resolutionen richteten sich gegen die Regierung und präjudizierten den Regime Change. Die NATO-Staaten, die auf die Resolutionen gedrängt hatten, stellten sich bereitwillig zur Verfügung, um die Resolution und den von ihnen intendierten Regime Change umzusetzen.

Ähnliches ist derzeit mit Blick auf Syrien zu beobachten. Der Westen spricht von dem Erfordernis eines Regime Change und unterstützt auf vielfältige Weise die bewaffneten Aufständischen, auch unter Verweis auf die RtP. Diese Praxis hat nichts mit der Verhinderung von massiven Menschenrechtsverletzungen zu tun, sondern ist eine Parteinahme in einem Bürgerkrieg mit dem Ziel, ein für den Westen angenehmes Regime zu etablieren.

Fazit

Ungeachtet gegenteiliger Behauptungen der RtP-Lobbyisten bleibt festzustellen, dass die RtP bis dato nicht zu einer Rechtsnorm entwickelt werden konnte oder auch nur eine sich entwickelnde Rechtsnorm ist.

Weder bieten die Diskussionen und Deklarationen der UN-Generalversammlung eine hinreichende Grundlage für diese Behauptungen, da das Ziel der Normwerdung des RtP-Konstruktes angesichts ungeklärter Fragen nicht auf der Tagesordnung der Generalversammlung steht. Noch begründet die Politik der vollendeten Tatsachen westlicher UN-Sicherheitsratsmitglieder eine tatsächliche Normwerdung der RtP. Die Politik der vollendeten Tatsachen und damit der Versuch, die RtP über die Rechtsquelle des Völkergewohnheitsrechtes zu etablieren, scheitert bereits an der mangelnden einheitlichen Rechtsüberzeugung. In den Augen vieler nicht-westlicher Staaten sind eine Reihe von Fragen ungelöst und gemeinsame abschließende Entscheidungen auf demokratischem Wege via UN-Generalversammlung bisher nicht getroffen.

Hinzu kommt: Der Praxistest Libyen oder auch der RtP-Versuch gegenüber Syrien offenbaren, dass einige Großmächte unter dem Deckmantel der RtP ihre eigene Interessen und nicht eine interessenunabhängige Menschenrechtspolitik verfolgen. Auf diese Weise wird der rechtsethische und zivilisatorische Gedanke, der Schutz vor Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnischer Säuberung und Verbrechen gegen die Menschlichkeit müsse immer und überall gleichermaßen gültig sein und eine Verpflichtung für alle Staaten darstellen, von seinen westlichen Befürwortern massiv und nachhaltig desavouiert.

Man mag einwerfen, es sei zynisch, auf eine Reform und Demokratisierung der Vereinten Nationen zu warten, während Menschen massakriert werden. Oft wird mit dem Genozid in Ruanda 1994 argumentiert. Aber Ruanda wäre auch mit RtP geschehen. Ein Eingreifen ist nicht an der fehlenden »Rechtsnorm« RtP gescheitert, sondern am Unwillen der UN-Sicherheitsratsmitglieder, wirklich aktiv zu werden. Die Verfolgung französischer Interessen in Ruanda war wichtiger – das Resultat ist bekannt. Umgekehrt wird deutlich, dass trotz oder zutreffender gesagt aufgrund der westlichen RtP-Praxis nicht Menschenleben geschützt, sondern Einzelinteressen verfolgt werden und die dabei verursachten Opferzahlen von geringerem Interesse sind, was einen doppelten Zynismus darstellt.

Die Forderungen aus den Reihen der UN-Generalversammlung nach einer Reform und Demokratisierung des UN-Systems, einschließlich des Sicherheitsrates, als Voraussetzung eines zu verändernden Souveränitätsverständnisses im Sinne der RtP sind geradezu essentiell, um die Missbrauchsmöglichkeiten der RtP – oder wie immer man ähnlich gelagerte ethische Konzepte auch bezeichnen mag – einzudämmen. Bis dahin muss gelten: Es darf nicht eine zweifelhafte RtP befördert und praktiziert werden, sondern das Interventions- und Gewaltverbot ist von allen Staaten zu respektieren. Der größte Schutz vor Menschenrechtsverletzungen ist die Achtung der zwischenstaatlichen Friedenspflicht.

Anmerkungen

1) UN-Sicherheitsrat: Die Situation in Libyen. Resolution 1973 (2011) vom 17. März 2011. Deutsche Übersetzungen zahlreicher UN-Dokumente finden sich unter un.org/depts/german.

2) Hier stellvertretend: Handelsblatt vom 07.02.2012: Russland lässt sich für Tyrannen-Hilfe bejubeln.

3) European Union: Statement by the EU High Representative Catherine Ashton on violence in Syria. Presseerklärung vom 7. Juni 2012, A 255/12.

4) Bundeministerium der Verteidigung: Weißbuch zur Sicherheit Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr. 2006, S.57 f.

5) International Commission on Intervention and State Sovereignty. Der Bericht der ICISS, »The Responsibility to Protect« wurde im Dezember 2001 vom International Development Research Centre in Ottawa/Kanada veröffentlicht. Unter den zwölf Kommissionsmitgliedern kommen sechs aus dem Westen, davon vier aus NATO-Staaten, allen voran der ehemalige Generalinspekteur Klaus Naumann als Vorsitzender des NATO-Militärausschusses.

6) Artikel 41 besagt, dass der Sicherheitsrat bei einer Bedrohung oder einem Bruch des Friedens ein militärisches Eingreifen beschließen kann. Artikel 51 spricht einem Staat das Recht auf Selbstverteidigung im Falle eines bewaffneten Angriffes.

7) ICISS, op.cit., S.12 ff.

8) UN-Generalversammlung: Ergebnisse des Weltgipfels. Resolution A/RES/60/1 (2005) vom 16. September 2005, Punkte 138/139.

9) ICISS, op.cit., S.23 ff, 29, 39.

10) ICISS, op.cit., S. XII / 32 ff.

11) UN-Generalversammlung: Ergebnisse des Weltgipfels, op.cit.; Kapitel »Verantwortung für den Schutz der Bevölkerung vor Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnischer Säuberung und Verbrechen gegen die Menschlichkeit«. Ziffer 138: „Jeder einzelne Staat hat die Verantwortung für den Schutz seiner Bevölkerung vor Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnischer Säuberung und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. […] Ziffer 193: „Die internationale Gemeinschaft hat durch die Vereinten Nationen auch die Pflicht, geeignete diplomatische, humanitäre und andere friedliche Mittel nach den Kapiteln VI und VIII der Charta einzusetzen, um beim Schutz der Bevölkerung vor Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnischer Säuberung und Verbrechen gegen die Menschlichkeit behilflich zu sein. In diesem Zusammenhang sind wir bereit, im Einzelfall und in Zusammenarbeit mit den zuständigen Regionalorganisationen rechtzeitig und entschieden kollektive Maßnahmen über den Sicherheitsrat im Einklang mit der Charta, namentlich Kapitel VII, zu ergreifen, falls friedliche Mittel sich als unzureichend erweisen und die nationalen Behörden offenkundig dabei versagen, ihre Bevölkerung vor Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnischer Säuberung und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu schützen. […]“

12) UN-Generalversammlung: Umsetzung der Schutzverantwortung – Bericht des Generalsekretärs. Dokument A/63/677 vom 12. Januar 2009;

13) International Coalition for the Responsibility to Protect: General Assembly Debate on the Responsibility to Protect concludes with calls for implementation of the norm. Media Release, 29 July 2009.

14) Statement by H. E. Miguel d‘Escoto Brockmann, President of the United Nations General Assembly, at the Opening of the 97th Session of the General Assembly on Agenda Items 44 and 107: Integrated and coordinated implementation of and follow up to the outcomes of the major United Nations conferences and summits in the economic, social and related fields. New York, 23 July 2009.

15) UN-Generalvollversammlung: Die Schutzverantwortung. Resolution A/RES/63/308 vom 12. September 2009.

16) Redebeiträge der Mitgliedsstaaten auf der UN-Generalversammlung, 105th plenary meeting, 14. Sept. 2009, A/63/PV.105, sowie Resolution A/RES/63/308, op.cit.

17) UN-Sicherheitsrat: Resolutionen 1674 (2006) 28. April 2006, 1738 (2006) vom 23. Dezember 2006 und 1894 (2009) vom 11. November 2009, Titel jeweils »Schutz von Zivilpersonen in bewaffneten Konflikten«.

18) UN-Sicherheitsrat: Resolutionen 1970 (2011) vom 26. Februar 2011 und 1973 (2011) vom 17. März 2011, jeweils mit dem Titel »Die Situation in Libyen«.

Dr. Alexander S. Neu ist Politikwissenschaftler und Co-Sprecher der Bundesarbeitsgemeinschaft Frieden und Internationale Politik der Partei DIE LINKE.

Bundeswehreinsatz im Inneren

Bundeswehreinsatz im Inneren

von Bundesverfassungsgericht

Im Jahr 2005 wurde unter dem Eindruck der Flugzeugtattentate vom 11. September 2001 und eines Luftzwischenfalls in Frankfurt a.M. das »Luftsicherheitsgesetz« verabschiedet. Das Gesetz sah „[z]ur Verhinderung des Eintritts eines besonders schweren Unglücksfalles“ (§14(1)) auch den Einsatz der Bundeswehr vor, „wenn nach den Umständen davon auszugehen ist, dass das Luftfahrzeug gegen das Leben von Menschen eingesetzt werden soll, und [die unmittelbare Einwirkung von Waffengewalt] das einzige Mittel zur Abwehr dieser gegenwärtigen Gefahr ist“ (§14(3)). Einen entsprechenden Einsatz sollte der Bundesverteidigungsminister oder ein ihn vertretendes Mitglied der Bundesregierung anordnen können. Gegen dieses Gesetz legten etliche Bürger Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht ein, dessen Erster Senat 2006 entschied, das Gesetz verstoße gegen die Menschenwürde (Art. 1 GG) und sei daher verfassungswidrig. Dagegen wiederum klagten Bayern und Hessen. Mit der Klage der beiden Länder wurde der Zweite Senat des BverfG befasst, der die Rechtmäßigkeit positiv beurteilen wollte und damit im Gegensatz zur Einschätzung des Ersten Senates stand. Daher musste das Plenum aller 16 Verfassungsrichter zusammentreten. Dieses fasste am 3. Juli 2012 den Beschluss, dass die Bundeswehr in Ausnahmefällen auch bei Einsätzen im Inneren zu Waffengewalt greifen darf. Nachfolgend dokumentieren wir den Plenarbeschluss des Gerichts sowie das gänzlich abweichende Minderheitenvotum von Bundesverfassungsrichter Gaier. [R.H.]

Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 3. Juli 2012 zum »Luftsicherheitsgesetz« lautet wie folgt:1

„1. Die Gesetzgebungszuständigkeit für die §§13 bis 15 des Luftsicherheitsgesetzes (LuftSiG) in der Fassung des Artikels 1 des Gesetzes zur Neuregelung von Luftsicherheitsaufgaben vom 11. Januar 2005 […] ergibt sich aus Artikel 73 Nummer 6 des Grundgesetzes in der bis zum Inkrafttreten des Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes […] vom 28. August 2006 […] geltenden Fassung.

2. Artikel 35 Absatz 2 Satz 2 und Absatz 3 des Grundgesetzes schließen eine Verwendung spezifisch militärischer Waffen bei einem Einsatz der Streitkräfte nach diesen Vorschriften nicht grundsätzlich aus, lassen sie aber nur unter engen Voraussetzungen zu, die sicherstellen, dass nicht die strikten Begrenzungen unterlaufen werden, die einem bewaffneten Einsatz der Streitkräfte im Inneren durch Artikel 87a Absatz 4 GG gesetzt sind.

3. Der Einsatz der Streitkräfte nach Artikel 35 Absatz 3 Satz 1 des Grundgesetzes ist, auch in Eilfällen, allein aufgrund eines Beschlusses der Bundesregierung als Kollegialorgan zulässig.“

Abweichenden Meinung des Richters Gaier2

„Die Entscheidung des Plenums trage ich zur ersten und dritten Vorlagefrage mit, der Beantwortung der zweiten Vorlagefrage stimme ich hingegen nicht zu.

Das Bundesverfassungsgericht wird gerne als Ersatzgesetzgeber bezeichnet; mit der nun getroffenen Entscheidung des Plenums läuft das Gericht Gefahr, künftig mit der Rollenzuschreibung als verfassungsändernder Ersatzgesetzgeber konfrontiert zu werden. Denn mit seiner Antwort auf die zweite Vorlagefrage schenkt das Plenum den Vorgaben des eigenen Gerichts zur Verfassungsinterpretation keine ausreichende Beachtung. Es wird weder der Wortlaut der einschlägigen Verfassungsnormen unter Berücksichtigung der Entstehungsgeschichte hinreichend gewürdigt […], noch erfolgt eine systematische Auslegung mit Blick auf die Einheit der Verfassung […] als „vornehmstes Interpretationsprinzip“ […]. Im Ergebnis hat die Auslegung der Regelungen zum Katastrophennotstand, die der Plenarbeschluss bei seiner Antwort auf die zweite Vorlagefrage zugrunde legt, die Wirkungen einer Verfassungsänderung. Deshalb folge ich dem Plenarbeschluss insoweit nicht.

I.

Das Grundgesetz ist auch eine Absage an den deutschen Militarismus, der Ursache für die unvorstellbaren Schrecken und das millionenfache Sterben in zwei Weltkriegen war. 1949 ist die Bundesrepublik Deutschland als Staat ohne Armee entstanden; schon die Einfügung der Wehrverfassung in das Grundgesetz im Jahr 1956 wird zu Recht „eine Wende in der Entwicklung der Bundesrepublik“ genannt […]. Dabei wurde durch Art. 143 GG in der Fassung von 1956 klargestellt, dass im Zuge der »Wiederbewaffnung« eine Befugnis zum Einsatz der Streitkräfte im Inneren selbst in Fällen des Notstandes nicht gegeben war […]. Nach diesem ersten folgte 1968 ein zweiter Schritt im Zuge der Implementierung der Notstandsverfassung in das Grundgesetz. Nun wurde der Einsatz der Streitkräfte auch im Inland zugelassen, allerdings nur in wenigen eng begrenzten Fällen, die zudem in der Verfassung ausdrücklich geregelt sein müssen (Art. 87a Abs. 2 GG). Dies sind der regionale und der überregionale Katastrophennotstand (Art. 35 Abs. 2 und 3 GG), der äußere Notstand (Art. 87a Abs. 3 GG) und der Staatsnotstand als qualifizierter Fall des inneren Notstandes (Art. 87a Abs. 4 GG). Dabei ist mit der Zulässigkeit des Einsatzes der Streitkräfte im Inneren noch keine Aussage über die Mittel getroffen, die hierbei zum Einsatz gelangen können. Vielmehr bleibt – wie vom Ersten Senat im Urteil vom 15. Februar 2006 […] erkannt – ein Einsatz spezifisch militärischer Waffen in Fällen des Katastrophennotstandes auch dann ausgeschlossen, wenn gemäß Art. 35 Abs. 2 Satz 2 oder Abs. 3 Satz 1 GG die Streitkräfte herangezogen werden dürfen. Bei beiden Verfassungsänderungen hat der Gesetzgeber also nicht aus dem Blick verloren, dass der Einsatz von Streitkräften im Inneren mit besonderen Gefahren für Demokratie und Freiheit verbunden ist und daher ebenso strikter wie klarer Begrenzung bedarf.

Auch und gerade seitdem nach der Notstandsgesetzgebung der Einsatz des Militärs im Inneren nicht mehr schlechthin unzulässig ist, bleibt strenge Restriktion geboten. Es ist sicherzustellen, dass die Streitkräfte niemals als innenpolitisches Machtinstrument eingesetzt werden. Abgesehen von dem extremen Ausnahmefall des Staatsnotstandes, in dem nur zur Bekämpfung organisierter und militärisch bewaffneter Aufständischer als letztes Mittel auch Kampfeinsätze der Streitkräfte im Inland zulässig sind (Art. 87a Abs. 4 GG), ist die Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit Aufgabe allein der Polizei. Ihre Funktion ist die der Gefahrenabwehr und nur über hierfür geeignete und erforderliche Waffen darf die Polizei verfügen; hingegen sind Kampfeinsätze der Streitkräfte auf die Vernichtung des Gegners gerichtet, was spezifisch militärische Bewaffnung notwendig macht. Beide Aufgaben sind strikt zu trennen. Hiermit zieht unsere Verfassung aus historischen Erfahrungen die gebotenen Konsequenzen und macht den grundsätzlichen Ausschluss der Streitkräfte von bewaffneten Einsätzen im Inland zu einem fundamentalen Prinzip des Staatswesens. Mit anderen Worten: Die Trennung von Militär und Polizei gehört zum genetischen Code dieses Landes […].

Wer hieran etwas ändern will, muss sich nicht nur der öffentlichen politischen Debatte stellen, sondern auch die zu einer Verfassungsänderung erforderlichen parlamentarischen Mehrheiten […] für sich gewinnen. Im Anschluss an das Urteil des Ersten Senats war demgemäß eine Änderung des Grundgesetzes beabsichtigt, um den am 11. September 2001 deutlich gewordenen Gefahren des internationalen Terrorismus effektiv begegnen zu können. Das Vorhaben scheiterte, weil sich – trotz der damaligen »großen« Regierungskoalition – für die von der Bundesregierung beabsichtigte Zulassung „militärischer Mittel“ generell in „besonders schweren Unglücksfällen“ im Bundestag nicht die erforderliche Mehrheit fand und allenfalls eine Begrenzung militärischer Kampfeinsätze zur Abwehr von Angriffen aus der Luft oder von See aus hätte erreicht werden können […] Der Plenarbeschluss gibt nun das, was für die Bundesregierung vor drei Jahren gegen einen der Koalitionspartner » und auch gegen die Stimmverhältnisse im Bundesrat – nicht durchsetzbar war. Selbst wenn man es unerträglich empfindet, dass die Streitkräfte hiernach bei terroristischen Angriffen untätig in der Rolle des Zuschauers verharren müssen, ist es nicht Aufgabe und nicht Befugnis des Bundesverfassungsgerichts korrigierend einzuschreiten.

II.

Nach meiner Ansicht schließt das Grundgesetz in seiner gegenwärtigen Fassung den Kampfeinsatz der Streitkräfte mit spezifisch militärischen Waffen sowohl in Fällen des regionalen (Art. 35 Abs. 2 Satz 2 GG) wie in Fällen des überregionalen (Art. 35 Abs. 3 Satz 1 GG) Katastrophennotstandes aus; insoweit ist also an der Auffassung des Ersten Senats im Urteil vom 15. Februar 2006 […] festzuhalten. [—]

1. Der Plenarbeschluss will zwar davon ausgehen, dass sich aus den Gesetzgebungsmaterialien „insgesamt kein klares Bild“ für einen bestimmten Willen des verfassungsändernden Gesetzgebers ergebe. Bei vollständiger Ausschöpfung der verfügbaren Quellen und bei Würdigung der dort dokumentierten Erklärungen im Zusammenhang vermag ich diese Einschätzung allerdings nicht zu teilen.

a) Unklarheiten können, anders als der Plenarbeschluss ausführt, nicht aus dem Protokoll über die gemeinsame Informationssitzung des Rechtsausschusses und des Innenausschusses des Bundestages am 30. November 1967 […] hergeleitet werden. [—] Im Bericht des Rechtsausschusses heißt es unmissverständlich […]:

„Der Hauptunterschied zur Regierungsvorlage liegt darin, dass die Schwelle für den Einsatz der Streitkräfte als bewaffnete Macht angehoben worden ist. Der Rechtsausschuss schlägt vor, den bewaffneten Einsatz der Bundeswehr nur dann zuzulassen, wenn dies zur Bekämpfung von Gruppen militärisch bewaffneter Aufständischer erforderlich ist […].“

Entgegen der Ansicht des Plenums, das die Bedeutung dieser Äußerung ins Ungewisse stellt („… muss nicht dahin verstanden werden …“), wird damit ein bewaffneter Einsatz auch in den Fällen des Katastrophennotstandes ausgeschlossen; denn diese Passage findet sich unter der Überschrift »Innerer Notstand« in dem Abschnitt des Berichts, der sich eingehend dazu verhält, dass die zuvor in der Regierungsvorlage zusammenfassend geregelten „Fälle des Inneren Notstandes“ nunmehr nach ihrem „sachlichen Inhalt“ getrennt in eigenen Vorschriften normiert werden sollen. [—]

b) Dies wird – entgegen der Ansicht des Plenums – durch weitere Quellen bestätigt. Ein anderes Verständnis trifft nicht die historischen Gegebenheiten im Umfeld der Verfassungsänderung des Jahres 1968. Das Plenum lässt völlig außer Acht, dass zur Zeit der Notstandsgesetzgebung eine weitergehende Zulassung des Einsatzes militärisch bewaffneter Einheiten der Streitkräfte im Inneren politisch nicht durchsetzbar gewesen wäre. Seit dem Bundestag im Jahre 1960 ein erster Entwurf vorgelegt worden war, kam es über Jahre hinweg zu grundlegenden politischen Diskussionen in der »angesichts der Erfahrungen mit der deutschen Geschichte« sensibilisierten Öffentlichkeit, die sich im Zuge der abschließenden Beratungen noch erheblich verschärften […]. So richtete sich der vor allem von den Gewerkschaften getragene Widerstand gegen die Notstandsverfassung in Sonderheit gegen die zutreffend erkannte Gefahr eines Einsatzes der Streitkräfte als innenpolitisches Machtinstrument gegen die Bevölkerung namentlich bei Arbeitskämpfen […]. [—]

2. [—] Gerade wegen der starken öffentlichen Kritik, die sich an dem Streitkräfteeinsatz im Fall des inneren Notstandes entzündet hatte, wandte sich der Rechtsausschuss gegen eine zusammenfassende Regelung, wie sie in dem vorangegangenen Regierungsentwurf vorgeschlagen worden war. Die Trennung der – als unproblematisch angesehenen – Regelung des Katastrophennotstandes einerseits von der des inneren Notstandes andererseits erfolgte, um die entstandene Debatte zu entpolitisieren und den Verdacht auszuräumen, dass mit dem Katastrophennotstand auch der innere Notstand bekämpft werden solle […]. Dies belegt einmal mehr, dass diese beiden Fälle des Streitkräfteeinsatzes im Inneren völlig unterschiedliche, sich nicht überschneidende Anwendungsbereiche haben und deshalb nicht durch die Zulassung spezifisch militärischer Bewaffnung auch in Fällen des Katastrophennotstandes vermengt werden dürfen. [—]

III.

Dem geschilderten Ergebnis einer historischen und systematischen Auslegung des Grundgesetzes entspricht die Rechtsauffassung des Ersten Senats im Urteil vom 15. Februar 2006, wonach „auch im Fall des überregionalen Katastrophennotstands ein Einsatz der Streitkräfte mit typisch militärischen Waffen von Verfassungs wegen nicht erlaubt ist“ […]. Ihm ließe sich aber auch noch dadurch Rechnung tragen, dass die im Plenarbeschluss dargestellte „Sperrwirkung“ des Art. 87a Abs. 4 GG als unüberwindliche Schranke des Einsatzes militärischer Waffen im Inland strikt eingehalten wird. Damit wäre der Einsatz militärspezifischer Waffen in Katastrophenfällen namentlich gegen Sachen – wie etwa bei dem gängigen Beispiel des Bombardierens von Deichen zur Herbeiführung einer kontrollierten Überflutung – zu rechtfertigen. Das Plenum will diesen Weg zwar beschreiten und bringt dies scheinbar auch im Beschlusstenor mit der Antwort auf die zweite Vorlagefrage zum Ausdruck. Allerdings erfährt der Tenor durch die anschließenden Gründe des Beschlusses eine entscheidende Ausdehnung, die als tragende Begründung letztlich für das Verständnis und die Wirkungen der Entscheidung des Plenums maßgeblich ist […]. Damit macht das Plenum den Ansatz einer „strikten Begrenzung“ durch Art. 87a Abs. 4 GG selbst zur Makulatur; denn der „Sperrwirkung“ wird nur „grundsätzlich“ Geltung beigelegt, was es ermöglicht, Inlandseinsätze der Streitkräfte mit militärischer Bewaffnung auch dann zuzulassen, wenn es gilt, einem „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in Kürze“ eintretenden „katastrophalenSchaden“ entgegenzuwirken, der auch durch absichtliches Handeln verursacht sein kann.

1. Vieles spricht dafür, dass die Vorstellungen des verfassungsändernden Gesetzgebers bei Regelung des Katastrophennotstandes in Art. 35 Abs. 2 und 3 GG neben Naturkatastrophen – wie der Hamburger Sturmflut 1962 – nur auf besonders schwere Unglücksfälle im Sinne schicksalhafter, zufälliger Verläufe gerichtet waren (vgl. etwa die Beispiele […] »Explosionsunglück« oder »Kollission von Öltankern in Küstennähe«). Der Erste Senat hat den Begriff des Unglücksfalls jedoch auch für solche Schadensereignisse geöffnet, die „von Dritten absichtlich herbeigeführt werden“ […]. Erst damit konnte es zu Überschneidungen mit der Regelung des (inneren) Staatsnotstandes in Art. 87a Abs. 4 GG kommen, der unter engen Voraussetzungen einen Waffeneinsatz der Streitkräfte nur gegen organisierte und militärisch bewaffnete Aufständische erlaubt.

Will man daher mit dem Ersten Senat den Einsatz militärischer Waffen in den Fällen des Art. 35 Abs. 2 und 3 GG nicht schon generell untersagen, so ist zur Wahrung der in der Verfassung angelegten strikten Trennung zwischen Katastrophennotstand einerseits und innerem Notstand andererseits ein geeignetes Kriterium zu finden, das Umgehungen der streng restriktiven Regelung für Kampfeinsätze in Art. 87a Abs. 4 GG zwingend und effektiv vermeidet. Dazu ist es notwendig, den Zweck der verfassungsrechtlichen Trennung beider Einsätze ernst zu nehmen. Es ging darum, den Katastrophenschutz durch Unterstützung der Streitkräfte zu verbessern, gleichzeitig aber die damit faktisch auch eröffnete Möglichkeit zu verschließen, das Militär als innenpolitisches Machtinstrument zu nutzen […]. Selbst wenn Gewalttätigkeiten oder Unruhen drohen sollten, die in ihren Folgen das Ausmaß besonders schwerer Unglücksfälle erreichen, dürfen bewaffnete Streitkräfte im Inneren nicht etwa dazu eingesetzt werden, um allein schon durch ihre Präsenz die Bevölkerung etwa bei Demonstrationen einzuschüchtern. Um dieses Ziel zu erreichen, muss Art. 87a Abs. 4 GG eine Sperrwirkung beigelegt werden, die es verhindert, dass bewaffnete Streitkräfte gegen Menschen zum Einsatz kommen, die vorsätzlich die öffentliche Sicherheit gefährden, selbst wenn sie sich absichtlich und in aggressiver Weise gegen den Staat wenden und sich hierbei strafbar machen sollten. Die Bekämpfung solcher Gefährdungen ist selbstverständlich zulässig und geboten, aber sie ist nach dem geltenden Verfassungsrecht in Deutschland eine ausschließlich polizeiliche, nicht jedoch eine militärische Aufgabe. Dies bestätigt die Verfassung selbst durch Art. 91 GG. Denn sogar wenn es zu einer Gefahr für den Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung des Bundes oder eines Landes kommt, sieht Art. 91 GG für diesen Fall des inneren Notstandes nur den Einsatz von Polizeikräften anderer Länder oder der Bundespolizei vor, nicht aber den Einsatz der Streitkräfte. Deren Heranziehung macht Art. 87a Abs. 4 GG schon für den bloßen Objektschutz vielmehr von weiteren Voraussetzungen abhängig, wobei der Einsatz von Waffen in jedem Fall nur gegen organisierte und militärisch bewaffnete Aufständische zulässig ist […]. Mit den Waffen des Militärs dürfen also nur Personengruppen bekämpft werden, die selbst militärisch bewaffnet sind, sich gegen den Staat erhoben haben und über ein System der Einsatzleitung verfügen […].

2. Der Plenarbeschluss geht darüber hinaus. Er ist zwar von der redlichen und anerkennenswerten Absicht getragen, den bewaffneten Einsatz der Streitkräfte im Inneren restriktiv zu halten, setzt sich aber über die selbst erkannte Sperrwirkung hinweg und kann daher mit den von ihm entwickelten Kriterien eine Umgehung der engen Voraussetzungen des inneren Notstandes nach Art. 87a Abs. 4 GG durch die weniger strengen Voraussetzungen des Katastrophennotstandes nicht verhindern. Durch den Versuch der weiteren Einhegung des Art. 35 Abs. 2 und 3 GG durch das Erfordernis eines zwar nicht das „Vorfeld“ eines Unglücksfalls erfassenden, gleichwohl aber „unmittelbar bevorstehenden“ Schadenseintritts „von katastrophischen Dimensionen“ wird die Rechtsanwendung zwar um neue Begrifflichkeiten bereichert, nicht aber um die nötige Klarheit und Berechenbarkeit. Es handelt sich um gänzlich unbestimmte, gerichtlich kaum effektiv kontrollierbare Kategorien, die in der täglichen Anwendungspraxis viel Spielraum für subjektive Einschätzungen, persönliche Bewertungspräferenzen und unsichere, wenn nicht gar voreilige Prognosen lassen. Jedenfalls bei Inlandseinsätzen militärisch bewaffneter Streitkräfte ist das nicht hinnehmbar. Im Schatten eines Arsenals militärischer Waffen kann freie Meinungsäußerung schwerlich gedeihen. Wie ist beispielsweise zu verhindern, dass im Zusammenhang mit regierungskritischen Großdemonstrationen – wie etwa im Juni 2007 aus Anlass des »G8-Gipfels« in Heiligendamm – schon wegen befürchteter Aggressivität einzelner teilnehmender Gruppen „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in Kürze“ eintretende massive Gewalttätigkeiten mit „katastrophalen Schadensfolgen“ angenommen werden und deswegen bewaffnete Einheiten der Bundeswehr aufziehen? Der bloße Hinweis des Plenums, dass Gefahren, die „aus oder von einer demonstrierenden Menschenmenge drohen“, nicht genügen sollen, kann in diesen Fällen die selbst definierten Einsatzvoraussetzungen kaum wirksam suspendieren.

3. Dass die vom Plenarbeschluss entwickelte Lösung einer überzeugenden dogmatischen Grundlage entbehrt, kommt hinzu. Wie es angesichts der auch im Plenarbeschluss anerkannten Sperrwirkung zulässig sein kann, diese gleichwohl -und sei es auch nur in besonders qualifizierten Unglücksfällen – bei Seite zu schieben und den Einsatz bewaffneter Streitkräfte auch dann zuzulassen, wenn die Voraussetzungen des Art. 87a Abs. 4 GG nicht vorliegen, erschließt sich nicht und wird in der Entscheidung nicht begründet. Eine Begründung lässt sich auch schwerlich finden; denn wenn – bildlich gesprochen – das Öffnen einer Tür verboten ist, dann kann es nicht erlaubt sein, sie auch nur einen Spalt weit zu öffnen.

IV.

Letztlich wirft der Plenarbeschluss auch die Frage auf, was durch den nun erweiterten Einsatz bewaffneter Streitkräfte im Inneren an Vorteilen für den Schutz der Bevölkerung namentlich vor terroristischen Angriffen erreicht werden kann. Die Antwort lautet: wenig bis nichts.

1. Angesichts des beim Zweiten Senat anhängigen Normenkontrollverfahrens wird darüber zu befinden sein, welche Vorschriften des Luftsicherheitsgesetzes zur Abwehr besonders schwerer Unglücksfälle durch den Einsatz bewaffneter Einheiten der Streitkräfte verfassungsrechtlichen Bestand haben können. Auf der Grundlage des Plenarbeschlusses mag es de lege lata [nach geltendem Recht] zulässig sein, dass Kampfflugzeuge unter den Voraussetzungen des § 14 Abs. 1 LuftSiG „Luftfahrzeuge abdrängen, zur Landung zwingen, den Einsatz von Waffengewalt androhen oder Warnschüsse abgeben“. Die erfolgreiche Gefahrenabwehr durch solche Maßnahmen wird allerdings insbesondere in »Renegade«-Fällen deshalb wenig wahrscheinlich sein, weil Konsequenzen in Form eines Abschusses unzulässig sind, nachdem die – eine „unmittelbare Einwirkung mit Waffengewalt“ gestattende – Vorschrift des § 14 Abs. 3 LuftSiG durch das Urteil des Ersten Senats für verfassungswidrig und nichtig erklärt worden ist […]. Hingegen kann der deutsche Gesetzgeber den Abschuss solcher Flugzeuge nicht erlauben, in denen sich – wie bei den terroristischen Angriffen am 11. September 2001 – Passagiere und Besatzungsmitglieder befinden, die selbst Opfer der Luftpiraten geworden sind. Insoweit hat auch der Plenarbeschluss nichts daran geändert, dass die den Umständen nach wahrscheinliche Tötung dieser Menschen mit dem Grundrecht auf Leben (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) in Verbindung mit der Garantie der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) unvereinbar ist. Es kommt hinzu, dass – auch nach der Auffassung des Plenums – ohne Verfassungsänderung allein die Bundesregierung nach Maßgabe des Art. 35 Abs. 3 Satz 1 GG über den Einsatz militärischer Waffen gegen Luftfahrzeuge befinden kann, was angesichts des vergleichsweise kleinen deutschen Luftraums kaum jemals rechtzeitig zu einer Maßnahme nach § 14 Abs. 1 LuftSiG oder – nach gesetzlicher Neuregelung – zu einem eingeschränkt zulässigen Abschuss eines Luftfahrzeugs führen wird. Soll danach der Rahmen, den das materielle Verfassungsrecht für eine effektive Abwehr von Gefahren aus dem Luftraum lässt, genutzt werden, so ist trotz der erweiterten Zulässigkeit von Kampfeinsätzen nach der Entscheidung des Plenums eine Verfassungsänderung gleichwohl unvermeidlich.

2. Es lässt sich nicht leugnen und ist positiv zu bewerten, dass die Antwort des Plenums deutlich hinter dem aus der Vorlagefrage ersichtlichen Anliegen des Zweiten Senats zurückbleibt, das auf eine Umgestaltung der Regelungen des Katastrophennotstandes hin zu einer subsidiären allgemeinen Gefahrenabwehr mit militärischen Waffen zielte. Gleichwohl hat das Plenum aber zugunsten eines geringen, praktisch kaum realisierbaren Gewinns an Sicherheit die Zulässigkeit des Einsatzes der Streitkräfte im Inneren mit Hilfe derart unbestimmter Rechtsbegriffe erweitert, dass militärische Einsätze zu innenpolitischen Zwecken nicht ausgeschlossen werden können. Für einen kaum messbaren Nutzen wurden fundamentale Grundsätze aufgegeben. Daher wäre es ein fataler Fehler, sich angesichts der Entscheidung des Plenums damit zu trösten, dass der Berg gekreißt, aber nur eine Maus geboren hat.

Anmerkungen

1) Die Auslassungszeichen im Plenarbeschluss kennzeichnen Verweise auf juristische Literatur bzw. eine Auflistung von 25 Grundgesetzartikeln, die hier der besseren Lesbarkeit wegen nicht mit abgedruckt werden. Das Urteil vom 3. Juli 2012 steht einschließlich der ausführlichen Begründung des Gerichts und der abweichenden Meinung des Richters Gaier unter bverfg.de/entscheidungen online.

2) Auch hier wurden zur besseren Lesbarkeit Verweise z.B. auf Urteile oder juristische Literatur gestrichen und durch Auslassungszeichen markiert. Kürzungen im Text sind durch [—] gekennzeichnet.

Bundesverfassungsgericht – Minderheitenvotum

Welche Art der Piraterie?

Welche Art der Piraterie?

von Anke Schwarzer

In Hamburg stehen zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik mutmaßliche Piraten vor Gericht. Die Angeklagten aus Somalia sollen am 5. April 2010 auf Hoher See das deutsche Containerschiff »Taipan« überfallen haben. Der Prozess wirft zahlreiche rechtspolitische Fragen auf und mutet angesichts der ungleichen globalen Macht- und Eigentumsverhältnisse wohlfeil an.

Der Prozess vor dem Hamburger Landgericht gegen zehn Angeklagte aus Somalia bringt eine entfernte Welt und ein großes Thema in einen deutschen Gerichtssaal. Er polarisiert das Publikum, denn hier geht es um weit mehr als um den konkreten Tatvorwurf. Der Prozess gegen zehn Menschen, die aus einer der ärmsten Regionen der Erde kommen, in einer der reichsten Städte der Erde, ist auch aufgeladen mit Fragen rund um die Themen Gerechtigkeit, europäische Dominanz, Menschenrechte, globale Macht- und Wirtschaftsverhältnisse sowie Sicherheit der Schifffahrtswege und körperliche Unversehrtheit auf den Meeren.

Was war geschehen? Im April 2010 hatte eine Kommandoeinheit der niederländischen Streitkräfte mehrere Seeleute der »MV Taipan« befreit, die am Horn von Afrika gekapert worden war. Die 15 Seeleute aus Deutschland, der Ukraine und Sri Lanka hatten sich in einem Schutzraum verschanzt und einen Notruf abgegeben. Seit Herbst 2010 stehen die zehn mutmaßlichen Piraten wegen des Vorwurfs des erpresserischen Menschenraubs und Angriffs auf den Seeverkehr vor dem Hamburger Landgericht. Ihnen drohen bis zu 15 Jahre Haft. Die Staatsanwaltschaft fordert zwischen vier und elfeinhalb Jahren Freiheitsstrafe.

Die Angeklagten, darunter auch Jugendliche und ein nach eigenen Angaben und Dokumenten zur Tatzeit strafunmündiger 13-Jähriger, sitzen bereits fast zwei Jahre in Untersuchungshaft. Das Urteil soll im Mai gesprochen werden.

Fischraub und der Tsunami

Im sich lange hinziehenden Prozess haben die meisten Angeklagten eine Tatbeteiligung gestanden und sich beim Kapitän der »Taipan« entschuldigt; andere machten von ihrem Schweigerecht Gebrauch. Viele haben ihre Lebensverhältnisse in Somalia geschildert. Sie waren als Fischer tätig, berichteten von den großen Fangflotten, die das Meer leer räumen, und vom Tsunami, der 2004 viele Boote, Generatoren und Kühlcontainer zerstört hat. Fast alle gaben an, aus finanzieller Not oder aus Angst um ihr eigenes Leben oder das ihrer Familie gehandelt zu haben. Einer der Angeklagten belastete vor kurzem die anderen schwer, informierte das Gericht über den Ablauf des Überfalls und bezichtigte diejenigen Mitangeklagten der Lüge, die ausgesagt hatten, sie seien zur Piraterie gezwungen worden. Soweit bekannt, sind alle Angeklagten völlig mittellos oder gar verschuldet. Viele haben keine Schule besucht, können weder lesen noch schreiben. Einige waren bei ihrer Festnahme unterernährt.

Strafverfolgung zur Abschreckung

Der Gerichtsprozess ist in zweierlei Hinsicht zu kritisieren: Zum einen lässt sich fragen, inwieweit er nach ethisch-politischen und rechtsstaatlichen Aspekten legitim ist. Und zum anderen – da er nun geführt wird – muss die Art und Weise, wie er vonstattengeht, unter die Lupe genommen werden.

Recht und Rechtsetzung folgen meist dem Interesse derjenigen, die über die Mittel verfügen, die als Recht gesetzten Standpunkte gegenüber den schwächeren Interessen und Rechtsauffassungen durchzusetzen: So gibt es weder somalische Kriegsschiffe im Einsatz gegen die Fischtrawler aus Frankreich, Spanien, Pakistan, Japan, Taiwan, Korea oder anderen Ländern1 noch gegen die europäischen Giftmüllverklapper vor Somalias Küste.2 Und die dort kreuzenden Marinen Russlands, Chinas, der USA, des Iran und der EU interessieren sich lediglich für die Bekämpfung der einen Form der Seeräuberei – der Schiffspiraterie.

In Somalia könne man kaum überleben, sagte die Anwältin Gabriele Heinecke zu Beginn des Prozesses. Möglicherweise gebe es einen „völkerrechtlichen Notstand“: „Was mache ich, wenn mir niemand hilft und gleichzeitig die Fischkonserven an mir vorbeifahren?“ Die Anklage der Staatsanwaltschaft sei nüchtern gehalten, so die Anwältin, aber sie erfasse nicht den Vorgang. „Was maßen wir uns an? Das ist nicht in einem deutschen Gerichtssaal zu verhandeln“, sagt Heinecke. „Wo ist der Sinn dieses Prozesses und wen will man eigentlich beeindrucken?“

Eine Antwort findet sich auf der Webseite des Auswärtigen Amtes: Die Strafverfolgung mutmaßlicher Piraten sei ein „wichtiger, abschreckender Bestandteil des Vorgehens gegen Piraterie“, so das Auswärtige Amt mit Blick auf »Atalanta«, der ersten gemeinsamen Marinemission in der Geschichte der Europäischen Union (EU).3

Kurzer Prozess?

Verteidigungsminister Thomas de Maizière ließ es sich nicht nehmen, den Umgang der deutschen Justiz mit Piraterie in der Presse zu kritisieren und auch das laufende Verfahren zu kommentieren: „Es wäre ja schon mal schön, wenn das Gericht in Hamburg nicht 14 Monate braucht bis zum Plädoyer des Staatsanwalts.“ 4

Inwieweit eine Abschreckung oder gar Prävention durch das Militär und die Justiz überhaupt möglich ist, lässt sich bezweifeln. Heinecke etwa sagte, es könne angesichts der Existenz bedrohenden Situation in Somalia kein Zweifel daran bestehen, dass „dieses Strafverfahren – und seien die Strafen noch so drakonisch – nicht geeignet ist, Piraterie zu bekämpfen“.

Letzten Endes bleibt es die individuelle Entscheidung eines jeden Menschen, wie er oder sie in großer Not handelt und sich dafür verantwortet. Nicht unerwähnt soll bleiben, dass die Piraten Seeleute – meist aus armen Ländern wie Sri Lanka, Georgien und Bangladesh – mit Waffen angreifen, wochen- und monatelang festhalten, manche sogar verletzten und töten. Die Sorge der Seeleute um die eigene körperliche Unversehrtheit ist groß. Noch gewichtiger scheint allerdings die Sorge der Reeder um ihren Profit zu sein.

Nichtsdestotrotz lassen die imperialen Machtverhältnisse die strafrechtliche Verfolgung der Männer aus Somalia wohlfeil erscheinen. Sie sitzen auf der Anklagebank in einer der reichsten Städte der Welt wegen Piraterie, die für sie eine Strategie des Überlebens gewesen sei oder zu der sie mit Gewalt gezwungen worden seien. Derweil werden die Verantwortlichen für Raubfischerei und Verklappung von Giftmüll vor Somalias Küste nicht einmal angeklagt. Nach der UN-Seerechtskonvention sind alle drei Aktivitäten verboten – verfolgt wird aber nur die Schiffspiraterie.

Resozialisierung – nur in welche Gesellschaft hinein?

Neben dieser grundlegenden Schieflage, was die strafrechtliche und auch militärische Ahndung von Straftaten auf See anbelangt, führten mehrere Pflichtverteidiger auch weitere strukturelle Verfahrenshindernisse und rechtspolitische Probleme an: Ralf Ritter wies darauf hin, dass die Legitimität einer Strafe auf einem Gegenseitigkeitsverhältnis beruhe: „Bestraft werden darf, wer die Rechtsordnung verletzt, auf deren Schutz er selber Anspruch gehabt hat.“ Dieses Gegenseitigkeitsverhältnis fehle aber bei den somalischen Angeklagten. „Nichts hat sie mit Deutschland und seinem Recht verbunden. Sie hatten keinen Anspruch auf Schutz durch unser Recht, unsere Gerichte, keinen Anspruch auf Daseinssicherung“, so Ritter weiter.

Ein Antrag seines Kollegen Tim Burkert verweist zudem auf die Unzumutbarkeit des Prozesses für seinen Angeklagten angesichts der existenziellen Not in Somalia. „Es gehört zur Menschenwürde, dass nicht nur die materielle Existenz, sondern auch die moralische und emotionale Existenz bei jeder staatlichen Handlung berücksichtigt wird.“ Die Angeklagten müssten aus der Haft hilflos mit ansehen, wie ihre Angehörigen in Somalia mit dem Tode ringen. Nur weil Solidaritätsgruppen Geld für Telefonate spendeten, könnten sie immerhin versuchen, Verwandte zu erreichen.5

Eine existenzielle Notlage kenne das deutsche Strafrecht aufgrund der gesellschaftlichen Verhältnisse nicht. Burkert betont jedoch, dass es Verfahren gegeben habe, in denen die Verurteilungen auf übergesetzliche Rechtsprinzipien gestützt worden seien, etwa im Mauerschützenprozess oder in Verfahren gegen NS-Täter, die sich auf nationalsozialistisches Recht bezogen haben. Es finde sich aber keine Rechtssprechung zum umgekehrten Fall, „nämlich der Frage, wann gesetzliches Unrecht aus übergesetzlichen Gesichtpunkten heraus nicht gesühnt werden darf“, so Burkert. Sein Antrag wurde allerdings abgelehnt. Diese Aspekte könnten allenfalls beim Strafmaß berücksichtigt werden, so das Gericht.

Die Anwälte brachten noch verschiedene weitere Verfahrenshindernisse vor. Bereits am ersten Verhandlungstag fragte Claus-Philipp Napp in einer gemeinsamen Erklärung der 20 Pflichtverteidiger, ob es angesichts der wichtigsten Strafziele der deutschen Justiz überhaupt angebracht sei, dass sich die Hamburger Justiz mit Vorgängen im Indischen Ozean befasse. „Eine Resozialisierung der Angeklagten in der Bundesrepublik dürfte nicht gewünscht sein; eine Resozialisierung der Angeklagten für ihr Heimatland ist nicht möglich“, so Napp.

Der Anwalt Oliver Wallasch forderte die Kammer auf, das Verfahren einzustellen, weil die Angeklagten nicht innerhalb von 48 Stunden einem Ermittlungsrichter vorgeführt worden seien, nachdem sie von niederländischen Marinesoldaten der »Tromp« festgenommen worden waren – das verstoße nicht nur gegen nationales niederländisches und deutsches Recht, sondern auch gegen das Völkerrecht. Es gelte der Grundsatz der Unverzüglichkeit. Außerdem müsse der Gefangene sofort einen Rechtsbeistand hinzuziehen können, Vertraute müssten informiert werden. Auch der Grund der Festnahme müsse unverzüglich genannt werden. Würden diese Grundsätze wie im Falle seines Mandanten nicht eingehalten, dann handele es sich um Freiheitsberaubung im Amt, so Wallasch.

Wallasch ging nicht nur auf die Strafprozessordnung und das Grundgesetz ein, sondern zog auch völkerrechtliche Abkommen heran, etwa das Seerechtsübereinkommen und die Resolutionen des UN-Sicherheitsrats zur Bekämpfung der Piraterie. Hier seien stets zwischenstaatliche Belange berührt, die Souveränitätsrechte seien zu beachten. Eine Einschränkung von individuellen Grundrechten, wie sie die Angeklagten erlitten hätten, sei aber nicht vorgesehen, so der Anwalt. Auch der EU-Ratsbeschluss zur Operation »Atalanta« schweige zu den Individualrechten, auch hier seien insbesondere zwischenstaatliche Belange betroffen. „Eine Ermächtigungsgrundlage für Festnahmen ergibt sich auch hier nicht“, sagte Wallasch.

»Wie ein Stück Fleisch«

Trotz dieser angeführten Grundproblematiken hält das Gericht am Verfahren fest. Aber auch in der Art und Weise, wie der Prozess geführt wird, zeigt sich, dass sich an verschiedenen Punkten imperiale Verhältnisse in einer Benachteiligung und Herabwürdigung der somalischen Angeklagten durchpausen. Insbesondere den Jugendlichen, die aus Somalia nach Hamburg verfrachtet wurden, gereicht ihre Herkunft immer wieder zum Nachteil. Laut der Jugendgerichtshilfe ist eine Straffälligkeit der Angeklagten in Hamburg, unter weniger lebensbedrohenden Umständen als in Somalia, sehr unwahrscheinlich. Dennoch hat es das Gericht mehrmals abgelehnt, sie aus der unverhältnismäßig langen Untersuchungshaft zu entlassen, mit der pauschalen Begründung, sie hätten hier keine Familie und könnten mit Hilfe der somalischen Diaspora in Europa untertauchen. Ein Vorwurf, der einem deutschen Jugendlichen, der sich ja nach dieser Lesart des Gerichts im eigenen Land unter zahlreichen potentiellen »Fluchthelfern« befände, nicht gemacht werden würde.

In einer Begründung war gar die Rede davon, dass es dem Jugendlichen im Vergleich zu seinem Leben in Freiheit in Somalia nicht wesentlich schlechter gehe. In Somalia habe er nicht immer zwei Mahlzeiten am Tag einnehmen können, während er in der Jugenduntersuchungshaftanstalt durchgehend verpflegt und ärztlich betreut werde. Auch hier wirkt sich die bloße Herkunft zum Nachteil aus, zumal es bei diesem Antrag lediglich darum ging, die im Vergleich zu anderen Jugendlichen lange Untersuchungshaft zu beenden, eine Jugendwohnung zu beziehen und weiter an dem Prozess teilzunehmen – und eben nicht darum, nach Somalia zu reisen.

Ein weiteres Beispiel ist die Begründung der Staatsanwältin, warum die Jugendlichen nach Jugendrecht besonders lange Freiheitsstrafen, zwischen vier und fünfeinhalb Jahren, erhalten sollen: Bei ihnen seien noch „Entwicklungskräfte“ wirksam und eine „Nachreife“ möglich, es gebe aber ein „erhebliches Erziehungsdefizit“ der jungen Männer wegen des Mangels an Bildung und ihrer schweren Kindheit in Somalia. Um „erzieherische Wirkung“ entfalten zu können, müsse die Strafe daher erheblich sein, so die Staatsanwältin.

Wie geht man mit der Tatsache um, dass mögliche Entlastungszeugen aus Somalia und Indien keinen Pass haben, keine Adresse im deutschen Sinne mit Straßenname und Hausnummer – und dann laut Gericht „unauffindbar“ seien? Wie ist dann zu bewerten, dass den Zeugen der niederländischen Marine bei der Vernehmung gestattet wurde, einen juristischen Berater neben sich sitzen zu haben? Was macht man, wenn sich die Deutsche Botschaft in Nairobi nach Angaben des Gerichts nicht in der Lage sieht, eine Vernehmung von Zeugen per Video in den Gerichtssaal nach Hamburg zu übertragen? Und wie kann ein Gericht pauschal Dokumente aus Somalia nicht anerkennen? Letzteres führte etwa dazu, dass die Jugendlichen zweifelhaften Altersschätzungen unterzogen wurden.6 Dabei seien sie „wie ein Stück Fleisch“ behandelt worden, so der Verteidiger Thomas Jung.

Welche Wissensbestände, welche Beweise werden anerkannt und welche nicht? Ist eine Adresse mit Straße und Hausnummer mehr wert und glaubwürdiger als eine anschauliche Orts- und Wegbeschreibung? Es geht darum, inwieweit eine Wahrheitsfindung über verschiedene Kontinente, Sprachen, Rechtskulturen und Staatsformen hinweg und angesichts von zerrütteten gewaltförmigen Verhältnissen in Somalia überhaupt möglich ist – und inwieweit sie vom Gericht gewissenhaft betrieben wird. Die Kammer hat bislang fast alle Anträge der Verteidigung, darunter auf Einstellung des Verfahrens, auf Haftverschonung oder -entlassung für die Jugendlichen und zur Ladung von Zeugen, abgelehnt.

So mancher Verteidiger sieht den Prozess zur Posse verkommen, mehrere Befangenheitsanträge blieben aber erfolglos. „Unsere Anträge werden alle mit vielen Worten abgebügelt. Es entsteht der Eindruck, dass kein Bemühen des Gerichts vorhanden ist und dass es bei belastenden Dingen einen größeren Eifer an den Tag legt als bei entlastenden“, so der Rechtsanwalt Rainer Pohlen im Dezember letzten Jahres. Auch für Wallasch stellte sich zu diesem Zeitpunkt die Frage, ob die Kammer „ergebnisoffen“ vorgehe. Der Verteidiger Ritter sieht die Verteidigung behindert, „da die Justiz sich aufgrund der fehlenden staatlichen Strukturen in Somalia nicht in der Lage sieht, dort Zeugen zu laden, die Entlastendes über die Angeklagten aussagen könnten.“

Prozessuale und grundlegende Legitimitätslücken

Immer stärker steht in Frage, ob der Prozess der komplexen Gemengelage gerecht werden kann. Dahingehende Befürchtungen von Kritikern und einigen Verteidigern zu Beginn des Prozesses bestätigen sich immer mehr. Auch wächst die Sorge, der Prozess solle in der Stadt der Reeder und angesichts des teuren Bundeswehreinsatzes an der Küste Somalias sowie der Diskussion, ob weitere derartige Prozesse in Deutschland geführt werden sollen, ein Exempel statuieren. Nach dem bisherigen Verlauf hat dieser Prozess sicherlich auch den Effekt, die rechtlich umstrittenen Militäreinsätze jenseits der Grenzen der Bundesrepublik Deutschland in fernen Weltregionen, etwa um Schiffsrouten für Deutschlands große Handelsflotte zu sichern, weiter zu legitimieren und zu normalisieren.

Sollte es weitere Prozesse gegen mutmaßliche Piraten in Deutschland geben, dürfte so mancher nach den gemachten Erfahrungen schneller ablaufen und damit auch de Maizières Wunsch nach kurzen Prozessen entgegen kommen. Nach Angaben der Staatsanwaltschaft Hamburg sind seit 2009 über 120 Ermittlungsverfahren gegen mutmaßliche Piraten eröffnet worden. Ob es zur Anklage kommt, sei aber noch offen, so der Oberstaatsanwalt Wilhelm Möllers. Die prozessualen wie auch die grundlegende Probleme, so Verteidiger Ritter, stellten aber nicht nur die Legitimität des laufenden »Piratenverfahrens« in Frage, sondern auch die aller zukünftigen.

Anmerkungen

1) Die High Seas Task Force (HSTF) schätzt den Wert der Fänge aus illegaler, unregulierter und undokumentierter (IUU) Fischerei auf jährlich weltweit 4-9 Milliarden US-Dollar, wobei ein erheblicher Teil auf Somalia entfalle. Laut der UN-Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation FAO handelt es sich jährlich um Fische in einem Wert von etwa 94 Millionen US-Dollar, gefangen von 700 Schiffen aus aller Welt. Eine 2009 veröffentlichte Studie der singapurischen »Rajaratnam School of International Studies« besagt, dass vor der Küste Somalias jedes Jahr Fisch für 90 bis 300 Millionen Dollar illegal gefangen wird. Die wenigen somalische Stellen, die in internationalen Gremien gegen die IUU-Fischerei vorgingen, stießen allerorten auf taube Ohren. Vgl. Schofield, Clive (2008): Plundered Waters. Somalia’s Maritime Resource Insecurity. In: Timothy Doyle & Melissa Risely (Hrsg.) (2008): Crucible for survival: environmental security and justice in the Indian Ocean region. Piscataway/New Jersey: Rutgers University Press.

2) Vgl. Greenpeace (2010): The toxic ships. The Italian hub, the Mediterranean area and Africa.

3) An dem Krieg gegen Piraten vor Somalias Küste beteiligt sich Deutschland seit 2008 mit mehreren hundert Soldaten, Scharfschützen der Marineschutzkräfte, dem Versorgungsschiff »Rhön«, Fregatten sowie Hubschraubern und Überwachungsflugzeugen.

4) De Maizière besorgt über Entwicklung in Iran. Spiegel Online, 30.1.2012.

5) Blog »Reclaim the Sea«; reclaim-the-seas.blogspot.com.

6) Medizinische Untersuchungen zur Altersfeststellung sind unter Ärzten und Wissenschaftlern mehr als umstritten – auch, ob eine »wissenschaftliche Altersfeststellung« mit technischen oder klinischen Methoden aufgrund erheblicher Standardabweichungen und für Jugendliche aus allen Weltregionen überhaupt ausreichend exakt möglich ist. Der 110. Deutsche Ärztetag 2007 in Münster hatte sogar jegliche Beteiligung von Ärzten an der Feststellung des Alters mit aller Entschiedenheit abgelehnt, da es sich dabei weder um eine Maßnahme zur Verhinderung noch um die Therapie einer Erkrankung handele. In einem Urteil des Verwaltungsgerichts Düsseldorf vom Juni 2007 heißt es: „Bei Ungewissheit über den Tag der Geburt gebietet es aber das gesetzliche Prinzip eines umfassenden Schutzes Minderjähriger, von dem späteren Zeitpunkt auszugehen.“

Anke Schwarzer ist Diplom-Soziologin und arbeitet als Journalistin. Sie besucht und beobachtet regelmäßig den Prozess gegen die zehn Angeklagten aus Somalia, der seit November 2010 vor dem Landgericht Hamburg geführt wird.