Die schleichende Privatisierung des Meeres

Die schleichende Privatisierung des Meeres

Private Sicherheitsdienste zum Schutz deutscher Handelsschiffe?

von Viviane Flügge

Aufgrund der schwierigen Lage in Somalia und der leer gefischten somalischen Gewässer hat in den letzten Jahren die Seepiraterie am Horn von Afrika deutlich zugenommen. Diesem Problem wurde bislang vorwiegend durch militärische Einsätze zur Pirateriebekämpfung begegnet, an denen auch die Bundeswehr beteiligt ist. Nun hat die Bundesregierung die Forderung des Verbands Deutscher Reeder nach mehr staatlichem Schutz zurückgewiesen und die Reeder aufgefordert, auf bewaffnete private Sicherheitsdienste zurückzugreifen.1 In der öffentlichen Diskussion wurde bislang vernachlässigt, dass es sich bei der privaten Piraterieabwehr um die schleichende Privatisierung eines Bereichs handelt, in dem die Grenzen polizeilicher und militärischer Aufgaben verschwimmen. Dabei werden die privaten Notrechte instrumentalisiert, wodurch sich diese Privatisierungsform verfassungsrechtlich nur schwer begrenzen lässt, obwohl es zu einem weitgehenden staatlichen Kontrollverlust kommt.

Es wird geschätzt, dass in Deutschland insgesamt 3.600 private Sicherheitsdienste in verschiedenen Bereichen tätig sind, wobei diese teilweise sogar polizeiliche Aufgaben wahrnehmen.2 Was den Einsatz Privater im militärischen Bereich betrifft, war – anders als in den USA und in Großbritannien – Deutschland bislang zurückhaltend, und es hieß von Seiten der Bundesregierung, ein solcher sei verfassungswidrig und keinesfalls geplant.3 Tatsächlich beschränkt sich die zunehmende Privatisierung von Aufgaben der Bundeswehr bislang hauptsächlich auf den Bereich der Verwaltung.4

Seit der Steigerung der Piratenangriffe auf Handelsschiffe in den vergangenen Jahren – im Jahr 2011 waren es 445 im Vergleich zu 263 im Jahr 2007 – nimmt faktisch bereits etwa jede achte deutsche Reederei private Sicherheitsdienste in Anspruch.5 Staatlicher Schutz von Handelsschiffen ist nach Ansicht der Bundesregierung nicht möglich, da die Bundeswehr nicht zuständig und die Bundespolizei überfordert sei. Stattdessen soll der rechtliche Rahmen für den Einsatz privater Sicherheitsdienste angepasst werden.

Seepiraterie und die Befugnisse gegen Piratenschiffe werden auf völkerrechtlicher Ebene durch das von Deutschland ratifizierte Seerechtsübereinkommen geregelt. An Bord der Schiffe gilt die Rechtsordnung des Flaggenstaates, das deutsche Recht ist also auf Schiffen mit deutscher Flagge auch für ausländische Sicherheitsunternehmen anwendbar.6 Die deutsche Regulierung von Sicherheitsdiensten beschränkt sich bislang maßgeblich auf die Zulassung der Gewerbeausübung (§34a Gewerbeordnung) und das Führen von Waffen (§§28 ff. Waffengesetz). Gemäß dieser Normen ist der Einsatz bewaffneter privater Sicherheitskräfte auf deutschen Schiffen nicht verboten.7 Ergänzend soll aber ein Zertifizierungssystem entwickelt werden, um einen hohen Ausbildungsstandard der Sicherheitskräfte sicherzustellen, wobei bislang der Verbindlichkeitsgrad einer solchen Regulierung nicht feststeht.

Internationalisierung innerer Sicherheit

Die neue Aufgeschlossenheit der Bundesregierung gegenüber dem Einsatz privater Sicherheitsdienste zur Piraterieabwehr ist überraschend, weil sie im Widerspruch zur bisherigen Ablehnung der privaten Übernahme militärischer Aufgaben steht.

Nach deutschem Recht handelt es sich beim Schutz von Handelsschiffen grundsätzlich um eine exterritoriale Ausübung innerer Sicherheitsgewährleistung, da Piraterie als Kriminalität und nicht etwa als militärischer Angriff zu werten ist. Es findet kein Angriff auf die Bundesrepublik als Staat statt, sondern ausschließlich auf private Rechtsgüter auf Hoher See. Hierfür ist nach §6 Bundespolizeigesetz in Verbindung mit dem Seeaufgabengesetz die Bundespolizei zuständig.

Dennoch ist seit dem Bundestagsbeschluss vom 19.12.2008 die Bundeswehr im Rahmen der EU-Operation Atalanta zur Piraterieabwehr am Horn von Afrika im Einsatz. Ziel dieser Operation ist neben dem Schutz von UN-Hilfslieferungen auch der von Handelsschiffen. Die verfassungsrechtliche Grundlage für die Teilnahme an der Operation Atalanta wird in Art. 24 Abs. 2 Grundgesetz gesehen, wonach sich der Bund einem System kollektiver Sicherheit anschließen kann.8 Diese Norm ermächtigt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch zur Ausübung der typischerweise im Rahmen dieses Systems anfallenden Tätigkeiten.9 Durch die Internationalisierung der Sicherheitsgewährleistung erfüllen die Streitkräfte somit auch polizeiliche Aufgabenbereiche wie die Piraterieabwehr, was für sich genommen bereits problematisch ist, da es dem verfassungsrechtlichen Trennungsgebot von Polizei und Militär widerspricht.10

Schleichende Privatisierung der Piratenabwehr

Umso problematischer wird es, wenn der vermengte Aufgabenbereich zusätzlich privatisiert wird. Zwar wird suggeriert, beim Schutz von Handelsschiffen handele es sich von vornherein um eine private Angelegenheit,11 dennoch obliegt die Gefahrenabwehr gerade auch zum Schutz privater Güter grundsätzlich dem Staat, der hierfür auch das Gewaltmonopol hat.

Der Schutz von Handelsschiffen durch Sicherheitsunternehmen lässt sich aber nicht ohne weiteres als gängige Privatisierung bezeichnen. In der rechtswissenschaftlichen Diskussion werden verschiedene Privatisierungstypen unterschieden, die sich alle dadurch auszeichnen, dass eine explizite Übertragung staatlicher Aufgaben an Private erfolgt, sei es z.B. durch Gründung von Eigengesellschaften, Beleihungen Privater mit hoheitlichen Rechten oder durch Öffentlich-Private Partnerschaften.12 Eine ausdrückliche Aufgabenübertragung findet jedoch im Bereich der Piraterieabwehr nicht statt. Stattdessen ist das Phänomen als staatlicher Rückzug oder als Verzicht auf die Wahrnehmung von Gefahrenabwehr zu beschreiben, wodurch Sicherheitslücken entstehen, die Private selbst zu füllen haben. Dieses Phänomen ist in Bezug auf polizeiliche Aufgaben als schleichende, kalte oder auch mittelbare Privatisierung bezeichnet worden.13 Durch sein Unterlassen nötigt der Staat hierbei Private, die sich offensichtlich selbst nicht wirksam schützen können, zum Rückgriff auf bewaffnete Sicherheitsunternehmen.

Das Einfallstor der Jedermannrechte

Das, was die schleichende Privatisierung möglich, aber auch bedenklich macht, ist, dass die private Sicherheitstätigkeit nicht auf der Grundlage übertragener hoheitlicher Rechte erfolgt, sondern unter Bezugnahme auf die jedermann zustehenden Notrechte der Eigentümer und des Sicherheitspersonals. Diese Rechte stellen eine zulässige Ausnahme zum Gewaltmonopol des Staates dar. Nur für den Fall, dass obrigkeitliche Hilfe bei (drohenden) Angriffen nicht rechtzeitig zu erlangen ist, soll Privaten das Recht auf Notwehr, Notstand oder vorläufige Festnahme zustehen. Diese Notrechte stellen systematisch keine Eingriffsermächtigungen dar, sondern Rechtfertigungs- und Entschuldigungsnormen, was bedeutet, dass bei Vorliegen ihrer Voraussetzungen eine Bestrafung oder zivilrechtliche Haftung ausnahmsweise ausscheidet. Anders als staatliche Eingriffe unterliegen private Nothandlungen nur eingeschränkt dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, da Private weniger Abwehrmöglichkeiten haben und ihnen nicht zugemutet werden soll zu prüfen, ob das angegriffene und das durch die Verteidigung verletzte Rechtsgut im angemessenen Verhältnis stehen. Es genügt vielmehr, wenn für die private Abwehrmaßnahme kein milderes Mittel bei gleicher Effektivität zur Verfügung steht.14

Wenn sich der Staat aber seiner Aufgaben mit dem Hinweis entledigt, dass Private von ihren Notrechten Gebrauch machen sollen, dann werden diese instrumentalisiert und erhalten den Charakter von Eingriffsbefugnissen, was weder ihrer systematischen Funktion noch ihrem Ausnahmecharakter gerecht wird. Dass hierbei auch noch der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz umgangen wird, wird umso brisanter dadurch, dass die Piratenabwehr nicht durch hilflose Einzelne erfolgt, sondern durch professionelle, bewaffnete und auf den Angriff vorbereitete private Sicherheitskräfte.

Diese Bezugnahme auf die Notrechte beim Einsatz der Sicherheitsdienste führt dazu, dass sich die private Piraterieabwehr verfassungsrechtlich nur schwer begrenzen lässt. So werden zwar einigen Normen des Grundgesetzes Privatisierungsschranken entnommen, die jedenfalls ein Verbot der Privatisierung der Kernsubstanz exklusiver Staatsaufgaben enthalten sollen. Ihre Reichweite bleibt jedoch selbst in Bezug auf ausdrückliche Aufgabenauslagerungen vage und sehr umstritten.15 Umso problematischer wird die Erfassung einer schleichenden Privatisierung. Denn die private Piraterieabwehr soll ja ihrer Logik nach eben kein Verstoß gegen das Gewaltmonopol des Staates sein, weil die Notrechte gerade zulässige Durchbrechungen des Gewaltmonopols darstellen.16 Möglicherweise ist ein Verstoß aber in der oben beschriebenen staatlichen Instrumentalisierung der Notrechte zu sehen.

Auch die Privatisierungsschranke des Art. 33 Abs. 4 Grundgesetz, nach welchem hoheitsrechtliche Befugnisse in der Regel von Angehörigen des öffentlichen Dienstes auszuüben sind, lässt sich hier nur schwer in Anschlag bringen, weil die private Tätigkeit gerade nicht auf der Grundlage hoheitsrechtlicher Befugnisse erfolgt. Möglich wäre es aber, in dieser Norm auch eine Verpflichtung des Staates zu sehen, sich nicht seiner Aufgaben zu entäußern. Ferner wirft die schleichende Privatisierung insbesondere auch Fragen der grundrechtlichen Schutzpflicht des Staates auf. Denn aus der staatlichen Pflicht, den Schutz seiner Bürgerinnen und Bürger zu gewährleisten, könnte auch das Verbot folgen, sich vollständig aus einem Bereich zurückzuziehen. Problematisch ist hierbei aber, dass eine extraterritoriale Geltung der Schutzpflicht umstritten ist und dem Staat ein weiter Gestaltungsspielraum zugestanden wird, der auch die Zulassung privater Tätigkeit beinhalten kann.

Gefahren schleichender Privatisierung

Privatisierungen staatlicher Sicherheitsaufgaben bringen stets die Gefahr mit sich, dass es zu einem Verlust demokratischer Legitimation und Kontrolle kommt und dass rechtsstaatliche Grundsätze nicht ausreichend berücksichtigt werden. Insbesondere stellt sich regelmäßig die Frage der Grund- und Menschenrechtsbindung der privaten Sicherheitsakteure. Anders als der Staat unterliegen die privaten Sicherheitsunternehmen in erster Linie den Prinzipien des Marktes, was auch zu einem Interesse am Fortbestand der Piraterie führen kann.17 Es ist auch eine Eskalation der Gewalt und eine Art Wettrüsten zwischen den Piraten und den Sicherheitsdiensten zu befürchten.

Noch mehr als bei der Privatisierung durch explizite Aufgabenübertragung gehen bei der schleichenden Privatisierung jedoch die Möglichkeiten der staatlichen Einflussnahme und Überwachung der privaten Tätigkeit verloren. Sie beschränken sich maßgeblich auf die Kontrolle der Gewerbezulassung. Die besondere Gefahr der schleichenden Privatisierung liegt aber darin, dass sich hier sogar der Prozess der Abgabe von Staatsverantwortung an Private jeglicher Kontrolle entzieht, was umso brisanter wird, wenn davon faktisch auch militärische Bereiche betroffen sind.

Es zeigt sich, dass in der Diskussion um die private Piraterieabwehr trotz der Gefahren, die eine schleichende Privatisierung mit sich bringt, weder der militärische noch der Privatisierungsaspekt ausreichend berücksichtigt werden. Dennoch ist festzuhalten, dass jedwede Piraterieabwehr, sei es durch Polizei, Militär oder private Sicherheitskräfte, nur die Symptome eines Problems bekämpft, dessen Ursachen – die große Armut im so genannten »failed state« Somalia und die durch u.a. europäische Fangflotten leer gefischten Gewässer18 – auch mit dem Verhalten westlicher Akteure zusammenhängen.

Anmerkungen

1) Vgl. Hawxwell, A (2011): Schutz vor Piraten durch private Sicherheitsdienste. Wissenschaftlicher Dienst Deutscher Bundestag, S.5. Pfeiffer, H (2011): Regelung für Söldner auf hoher See. taz vom 21.07.2011.

2) Vgl. Schulte, M. (1995): Gefahrenabwehr durch private Sicherheitskräfte im Lichte des staatlichen Gewaltmonopols. Deutsches Verwaltungsblatt 1995, S.130ff.

3) Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage [Bündnis 90/DIE GRÜNEN] »Rolle von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern privater Unternehmen bei Einsätzen der Bundeswehr im Ausland«. Bundestagsdrucksache 17/6101 vom 08.06.2011, S.3.

4) Gramm, C. (2004): Privatisierung bei der Bundeswehr. Unterrichtsblätter für die Bundeswehrverwaltung 2004, S.81ff.

5) Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage [SPD] »Maßnahmen im Kampf gegen Piraterie«. Bundestagsdrucksache 17/6715 vom 01.08.2011, S.1 Blecker, T./Will, T. (2010): Der Einsatz privater Sicherheitsdienste zum Schutz vor Piraterie und maritimem Terrorismus – Die ökonomisch-logistische Sicht. In: Stober, R. (Hrsg.) (2010): Der Schutz vor Piraterie und maritimem Terrorismus zwischen internationaler, nationaler und unternehmerischer Verantwortung. Köln: Heymann. S.53 (67).

6) Von der gesamten deutschen Handelsflotte mit 3.786 Schiffen fahren nur 542 unter deutscher Flagge.

7) König, D./Salomon, T.R (2011): Private Sicherheitsdienste im Einsatz gegen Piraten. Rechtswissenschaft 2011, S.303 (319). Arbeitsgruppe der IMK [Ständige Konferenz der Innenminister und –senatoren der Länder]: Bekämpfung der Seepiraterie. Rechtliche und tatsächliche Möglichkeiten zum Schutz deutscher Handelsschiffe [Kurztitel: Abschlussbericht der IMK-AG »Pirateriebekämpfung«]. 29. November 2011, S.27.

8) Paulus, A./Comnick, M. (2010): Rolle von Bundesmarine und Bundespolizei. In: Mair, S. (Hrsg.) (2010): Piraterie und maritime Sicherheit. Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik. SWP-Studie S18, S.79 (85).

9) Kutscha, M., (2012): Einladung ohne Grenzen. Wissenschaft & Frieden 2012-1, S.22.

10) Vgl. Fischer-Lescano, A./Kreck, L. (2009): Piraterie und Menschenrechte. Bremen: Zentrum für europäische Rechtspolitik/ZERO. Diskussionspapier 3/2009, S.33f.

11) Vgl. Interview mit dem maritimen Koordinator der Bundesregierung Hans-Joachim Otto: Mehr Schutz für Schiffe unter deutscher Flagge. Wirtschaftswoche vom 22.01.2011.

12) Rebler, A. (2011): Verkehrsüberwachung durch Private. Straßenverkehrsrecht 2011, S.1 (2f.). Portugall, G. (2007): Die Bundswehr und das Privatisierungsmodell der ÖPP. In Richter, G. (Hrsg.) (2007): Die ökonomische Modernisierung der Bundeswehr. Wiesbaden: Grin Verlag, S.141 (144).

13) Braun, F. (2009): Die Finanzierung polizeilicher Aufgabenwahrnehmung im Lichte eines gewandelten Polizeiverständnisses. S.63. Kirchhof, G. (2007): Rechtsfolgen der Privatisierung. Archiv des öffentlichen Rechts 2007, S.215 (225).

14) Hoffmann-Riem, W. (1977): Übergang der Polizeigewalt auf Private. Zeitschrift für Rechtspolitik 1977, S.277 (281f.). Krölls, A. (1999): Privatisierung der öffentlichen Sicherheit in Fußgängerzonen. Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 1999, S.233 (235).

15) Weiner, B. (2001):Privatisierung von staatlichen Sicherheitsaufgaben. Frankfurt a.M.: Peter Lang Verlag. S.91f. (102).

16) D. König/T.R. Salomon (2011), op.cit., Fn. 7, S.322f.

17) Vgl. Eick, V.(2011): Freibrief zum Entern?, analyse & kritik, 49/2011, S.564 ff.

18) Maihold, G./Petretto, K. (2008): Gefahrenabwehr auf See. Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik. SWP-Aktuell 56/2008, S.4. Mari, F./Heinrich, W.: Von Fischen, Fischern und Piraten. Wissenschaft & Frieden 2009-2, S 11.

Viviane Flügge ist Volljuristin und arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Sonderforschungsbereich »Staatlichkeit im Wandel« und am Zentrum für Europäische Rechtspolitik der Universität Bremen. Ihr Themenschwerpunkt ist die Privatisierung und Internationalisierung äußerer Sicherheitspolitik in Deutschland.

Gehören Killerroboter vor ein Kriegsgericht?

Gehören Killerroboter vor ein Kriegsgericht?

von Hans-Jörg Kreowski

Seit einigen Jahren kann man in vielen Printmedien hin und wieder von Drohnen lesen, die im Grenzgebiet von Afghanistan und Pakistan eingesetzt worden sind, um führende Mitglieder von Al Kaida und den Taliban aufzuspüren und mit Raketen anzugreifen. Dabei sind inzwischen Hunderte Menschen getötet worden, darunter viele Frauen und Kinder. Vorläufig werden die Einsatzbefehle noch aus der US-Kommandozentrale in der Wüste von Nevada gegeben. Aber es wird durchaus daran gedacht, solche Drohnen zukünftig autonom über den Waffeneinsatz und damit über die Tötung aller Personen im Zielbereich entscheiden zu lassen. Da dabei sicherlich nicht nur kämpfende Soldaten den Tod finden werden, nach dem geltenden Kriegsrecht aber Zivilpersonen von Kriegshandlungen verschont werden sollen, könnte man fragen, ob dann Killerroboter vor ein Kriegsgericht gehören.

Nach der »Unmanned Systems Roadmap 2007-2032« und der »Unmanned Systems Integrated Roadmap 2011-2036« plant das Department of Defense der USA, in den nächsten Jahrzehnten einen erheblichen Teil der Waffensysteme in der Luft, auf dem Land und zu Wasser auf unbemannte Vehikel umzustellen. Diese Geräte sollen ihre Aufgaben zu einem großen Teil autonom erfüllen. Und da sie keineswegs nur der Erkundung, Bewachung und Aufklärung dienen, sondern viele davon auch bewaffnet sind, handelt es sich um ein Programm für die Entwicklung und Verwendung von Killerrobotern. Aber solche Waffensysteme sind keine reine Zukunftsmusik, sondern seit einigen Jahren mit wachsender Tendenz bereits im Einsatz im Irak, Afghanistan, im Grenzgebiet von Pakistan und jüngst auch in Libyen. Zu den bekanntesten unbemannten Fluggeräten (Drohnen) gehören der Predator und der Reaper. Der Predator war ursprünglich für die Aufklärung gedacht, ist inzwischen aber mit zwei Hellfire-Raketen ausgestattet. Der Reaper war von Anfang an mit acht Hellfire-Raketen bewaffnet. Das bekannteste bewaffnete unbemannte Landfahrzeug ist das Talon Sword, ein kleines Kettenfahrzeug, das mit verschiedenen Waffen wie Maschinengewehr oder Granatwerfer bestückt werden kann. Auf dem Wasser schwimmt beispielsweise der Protector, unter Wasser der Swordfish. Aber nicht nur die USA, sondern auch viele andere Länder der Welt haben, kaufen, entwickeln und bauen inzwischen unbemannte Militärsysteme. Dazu gehört auch Deutschland, beispielsweise mit den unbemannten Fluggeräten Aladin, Luna, Mikado und KZO.

Kriegsvölkerrecht

Das Kriegsvölkerrecht hat zwei Seiten. Die eine betrifft alle rechtlichen Aspekte im Zusammenhang mit der Frage, welche Rolle Krieg und Frieden beim Zusammenleben der Völker spielen sollen (ius ad bellum). Hierzu gehört zum Beispiel die Aussage in der Präambel der UN-Charta, mit der sich die Mitgliedsstaaten verpflichten, die zukünftigen Generationen von der Geißel des Krieges zu befreien, oder wie es im Artikel 2 heißt:

„ […] Alle Mitglieder legen ihre internationalen Streitigkeiten durch friedliche Mittel so bei, dass der Weltfriede, die internationale Sicherheit und die Gerechtigkeit nicht gefährdet werden. Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt.“

Die zweite Seite tangiert alle rechtlichen Regeln, die im Krieg gelten sollen (ius in bello). Die Haager Landkriegsordnung und die Genfer Konventionen sind bekannte Beispiele für völkerrechtlich verbindliche Vereinbarungen in diesem Zusammenhang. Zu denRegeln gehört, Opfer von Kriegen, Wehrlose und Unbeteiligte zu schützen, wobei insbesondere der Angriff auf Zivilpersonen verboten ist. Außerdem sollen kulturelle Güter geschont werden. Wer diese Regeln missachtet, kann als Kriegsverbrecher vor nationalen oder internationalen Gerichten angeklagt und verurteilt werden. Solche Prozesse hat es seit den Nürnberger Prozessen vereinzelt immer wieder gegeben. Gleichzeitig muss konstatiert werden, dass in allen Kriegen der letzten Jahrzehnte viele Kriegsverbrechen begangen worden sind, ohne dass sie einen Richter gefunden hätten. Als typische Beispiele, die hundertfach in den letzten Jahren passiert sind, kann man hier die Drohneneinsätze im Krieg gegen Al Kaida und die Taliban nennen, bei denen weit mehr Zivilpersonen, insbesondere Frauen und Kinder, getötet worden sind als feindliche Kämpfer. Typische Nachrichten, die in den letzten Jahren um die Welt gingen, belegen die Bedeutung und Problematik der fliegenden Killerroboter:

Chef der pakistanischen Taliban von Drohne getötet.

CIA lässt Todes-Drohnen nicht mehr von Blackwater bestücken.

30 Menschen von amerikanischen Drohnen getötet.

Einsatz von Drohnen statt neuer Truppen.

US-Drohne zerstört Haus mit sechs Taliban – 28 Tote insgesamt.

Und diese Liste der Meldungen ließe sich beliebig verlängern. Die meisten dieser Drohneneinsätze sind, soweit ich das sehe und verstehe, vom Kriegsvölkerrecht nicht gedeckt.

Es ist erklärte Absicht der Militärplaner und -entwickler, die Autonomie von Killerrobotern weiter voranzutreiben. In naher Zukunft werden bewaffnete Drohnen nicht erst schießen, wenn sie einen entsprechenden Befehl aus der Einsatzzentrale erhalten, sondern selbst darüber entscheiden. Die Entscheidung über Leben und Tod soll damit Maschinen überlassen werden. Killerroboter sollen selbsttätig töten, sobald sie einen generellen Einsatzbefehl erhalten. Daraus ergeben sich eine Reihe drängender Fragen:

Darf die Entscheidung über Leben und Tod Maschinen überlassen werden?

Können Maschinen das Kriegsvölkerrecht kennen und respektieren?

Können sie zwischen gegnerischen Kampftruppen einerseits und Unbeteiligten und Wehrlosen andererseits unterscheiden?

Können sie kulturelle Güter schonen?

Können sie in diesem Sinne ethisch korrekt funktionieren?

Maschinenethik und künstliches Gewissen!?

Es gibt viele Fachleute im Umfeld der Killerrobotik, die diese Fragen bejahen. Stellvertretend sei hier die Auffassung von Ronald C. Arkin vom Georgia Institute of Technology wiedergegeben. Er führt in seinem Buch »Governing Lethal Behavior in Autonomous Robots« (2009) aus, dass Maschinenethik nicht nur möglich, sondern wünschenswert sei. Als Gründe führt er an, dass Roboter im Gegensatz zu menschlichen Kriegern nie in Panik geraten und dass sie Befehle beurteilen und ohne Rücksicht auf die Konsequenzen gegebenenfalls auch verweigern können.

Ein solcher Glaube in die nahezu unbegrenzte technische Machbarkeit ist bei den Ingenieurswissenschaften, dem Militär und der Politik weit verbreitet. Ein Grund dafür ist insbesondere auch, dass mit Versprechungen dieser Art gigantische Fördermittel locker gemacht werden können. Die Erbauer von Killerrobotern und ihre Auftraggeber machen da keine Ausnahme – eher im Gegenteil.

Ich dagegen bin überzeugt, dass die Vorstellung von Maschinen, die selbständig ethisch handeln können, völlig illusionär ist und dass ein künstliches Gewissen vor allem künstlich ist und mit Gewissen nichts zu tun hat. Insbesondere denke ich, dass alle Fragen am Ende des vorigen Abschnitts mit einem klaren und uneingeschränkten nein beantwortet werden müssen. Das möchte ich im Folgenden aus meinem wissenschaftlichen Verständnis von den Möglichkeiten und Grenzen der Informatik begründen.

Alles eine Frage der Modellierung und Programmierung

Wenn davon die Rede ist, dass Maschinen Entscheidungen treffen, dann ist damit gemeint, dass in die Maschinen Computer eingebettet sind, auf denen Programme laufen, die die so genannten Entscheidungen berechnen. Und alle solche Programme werden von Menschen erdacht, modelliert und entwickelt und berechnen, abgesehen von technischen Fehlfunktionen, nichts anderes als das Programmierte.

Nach der Turingschen These aus dem Jahr 1936 kann alles Berechenbare – egal mit welchem Programm auf welchem Computer – auch mit einer Turing-Maschine berechnet werden, die eine Art Buchhalter formalisiert. Wenn die These stimmt (und bisher spricht eigentlich nichts dagegen, aber vieles dafür), dann hat das einige interessante Konsequenzen:

Es gibt Probleme, die nicht berechenbar sind, für deren Lösung es also gar kein Programm gibt.

Es gibt Programme mit unbekanntem Verhalten.

Es gibt Programme, die zu viel Zeit und/oder Speicherplatz brauchen, die also länger brauchen, als ein Mensch warten kann, und für deren Datenhaltung die Atome im Universum nicht reichen.

Es gibt Programme, die unzuverlässig sind.

Es gibt berechenbare Probleme ohne bekannte Lösung, für die also kein Programm verfügbar ist.

Ob ein Problem von einem Programm exakt gelöst wird, ist fast nie bewiesen und im allgemeinen auch nicht beweisbar.

Was heißt das für ein Programmsystem, das »ethisches Verhalten« von Maschinen realisieren soll? Die obige Liste von Schwierigkeiten beim Umgang mit Berechenbarkeit lässt sich auf dieses spezielle Programmierungsproblem übertragen:

Es könnte nicht berechenbar sein.

Es könnte völlig undurchschaubar programmiert sein.

Es könnte zu viel Zeit oder/und Speicherplatz brauchen.

Es könnte unzuverlässig sein.

Es könnte berechenbar sein, aber niemand weiß wie.

Es könnte unbewiesen sein und bleiben, dass es richtig funktioniert.

Ich wäre nicht verblüfft, wenn sich ethisches Verhalten als unberechenbar erwiese, so dass sich eine maschinelle Realisierung auf den berechenbaren Teil beschränken müsste. Aber auch diese »berechenbare Ethik« ist in ihren Inhalten, Möglichkeiten, Gesetzmäßigkeiten und Charakteristika völlig unklar, und an einer operationalisierbaren Modellierung fehlt es gänzlich. Beispielsweise liegen die normativen Bestimmungen des Kriegsvölkerrechts nur in natürlicher Sprache vor. Es gibt für sie keine eindeutigen Interpretationen, und sie stellen in keiner Weise präzise Handlungsanweisungen dar. Wie soll daraus ein ausführbares Programm werden, das tut, was es soll? Das ist hoffnungslos.

Killerroboter, unbemannte Vehikel und autonome Waffen sind nach diesen Überlegungen nicht in der Lage, nach ethischen Prinzipien zu funktionieren und das Kriegsvölkerrecht zu beachten. Es ist deshalb unverantwortlich und gefährlich, solche Systeme zu entwickeln und einzusetzen. Die Entwickler und Einsatzleiter machen sich zu potentiellen Mördern. Wie Landminen werden autonome Tötungsmaschinen keinen Unterschied machen können zwischen kämpfenden Soldaten und Zivilpersonen. Als Waffen, deren Einsatz praktisch unweigerlich im Widerspruch zum Kriegsvölkerrecht steht und ein Kriegsverbrechen darstellt, gehören sie wie biologische und chemische Waffen verboten. Spätestens an dieser Stelle erweist sich die Titelfrage als rhetorisch. Denn es sind nicht die autonomen Killerroboter, die die Kriegsverbrechen begehen werden, sondern wie auch jetzt schon beim Raketeneinsatz mit Drohnen die Befehlshaber, die solche Waffen einsetzen. Die Entwickler und Programmierer können aber ebenfalls nicht freigesprochen werden, denn sie werden wissen, was sie tun.

Künstliche oder echte Torheit

Wenn man postuliert, dass Maschinen mit ethischem Verhalten gebaut werden könnten und dass ein künstliches Gewissen programmierbar sei, und wenn man dann – wie in der Killerrobotik geplant ist – damit beginnt, solche Vorstellungen zu realisieren, gerät man aus meiner Sicht in ähnliche Kalamitäten wie die Künstliche Intelligenz (oder in noch schlimmere). Führende Vertreter des Fachgebiets wie McCarthy, Minsky, Kurzweil und Moravec behaupten und propagieren seit den 1950er Jahren, dass künftig Maschinen entworfen und gebaut werden können, die intelligent sein und besser denken werden als Menschen. Das ist glücklicherweise keine Mehrheitsmeinung in der Künstlichen Intelligenz. In dem Fachgebiet sind in den letzten Jahrzehnten sehr beachtliche Erkenntnisse gewonnen und viele bemerkenswerte Resultate erzielt worden. Aber alles, was hervorgebracht wurde, ist nach meinem Verständnis vergleichbar mit dem, was an wissenschaftlichen Fortschritten in der Informatik insgesamt erreicht wurde. Soweit es um »kognitive« Fähigkeiten geht, die von Maschinen und ihren Programmsystemen erbracht werden, handelt es sich um äußerst eng begrenzte Phänomene, die mit der Intelligenz von Lebewesen wenig bis gar nichts zu tun haben. Es sind – zugegebenermaßen teils sehr eindrucksvolle – technische Imitationen von Einzelleistungen, die bei Mensch und Tier Intelligenz erfordern. Aber wenn eine Maschine bellt, ist sie noch lange kein Hund.

Intelligenz, Denkvermögen, Gefühle, Moral, ethisches Verhalten und Gewissen sind vor allem auch deshalb nicht im Handumdrehen oder in wenigen Jahren als Programmsysteme realisierbar, wenn überhaupt je, weil niemand wirklich weiß, worum es sich dabei tatsächlich handelt und wie diese kognitiven Fähigkeiten vollständig, korrekt und algorithmisch machbar charakterisiert werden können. Auf kurzfristige Lösungen zu hoffen, ist aus meiner Sicht reine Torheit.

Hans-Jörg Kreowski ist Leiter der Forschungsgruppe Theoretische Informatik an der Universität Bremen. Er ist Gründungsmitglied des Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung (FifF) e.V. und war von 2003 bis 2009 dessen Vorsitzender. Dieser Artikel wurde für Heft 4-2011 der Zeitschrift »FifF-Kommunikation« geschrieben. W&F dankt für die Nachdruckrechte.

»Wenn du Frieden willst, pflege die Gerechtigkeit«

»Wenn du Frieden willst, pflege die Gerechtigkeit«

Frieden und Gerechtigkeit nach gewaltsamen Konflikten und Diktaturen

von Susanne Buckley-Zistel

„Si vis pacem, cole iustitiam“ (wenn du Frieden willst, pflege die Gerechtigkeit). Frieden und Gerechtigkeit wurden schon vor geraumer Zeit auf das Engste miteinander verknüpft, so in dieser Inschrift des Haager Friedenspalastes. Auch Benjamin B. Ferencz, einer der Ankläger der Nürnberger Prozesse, wies auf den Zusammenhang hin: „There can be no peace without justice, no justice without law and no meaningful law without a Court to decide what is just and lawful under any given circumstance.“1 Doch wie passen Frieden und Gerechtigkeit nach gewaltsamen Konflikten oder Diktaturen zusammen? Welche Möglichkeiten und Grenzen sind diesem Zusammenspiel gesetzt? Dies soll im vorliegenden Artikel anhand der Diskussion des Konzepts »Transitional Justice« erörtert werden.

Transitional Justice beruht auf der Prämisse, dass das Vermächtnis eines gewaltsamen Konflikts oder einer repressiven Diktatur, in denen massiv Menschrechte missachtet wurden, aufgearbeitet werden muss, da nur der Blick zurück auf Unrecht und Vergehen ein friedvolles Zusammenleben in der Zukunft ermögliche. Dies drückt sich bereits im Begriff selbst aus: Analog zum einführenden Zitat verknüpft Ferencz die »transition« von Gewalt zu friedlicher Koexistenz mit »justice«, dem Streben nach Recht und Gerechtigkeit im Anschluss an eine gewaltvolle Vergangenheit. Doch welche »justice« ist erforderlich? Und wohin soll die »transition« führen?

Generell gilt festzuhalten, dass Transitional Justice eine Reihe eng miteinander verknüpfter Ziele verfolgt. Neben dem Streben nach Gerechtigkeit durch das Aufdecken der Wahrheit über Verbrechen sowie der Identifizierung und dem zur Rechenschaft ziehen der Verantwortlichen sollen die Würde der Opfer wiederhergestellt und Aussöhnung sowie friedliche Koexistenz ermutigt werden. Diese Schwerpunkte finden in unterschiedlichen Maßnahmen Entsprechung: Strafgerichtsprozesse, Wahrheits- und Versöhnungskommissionen, symbolische und materielle Reparationen sowie institutionelle Reformen. Durch die Kombination von Maßnahmen oder durch einzelne Instrumente versuchen unterschiedliche Akteure wie Regierungen, Vertreter der Zivilgesellschaft oder die internationale Gemeinschaft Prozesse anzustoßen, die zur Aufarbeitung einer gewaltvollen Vergangenheit beitragen können. In Deutschland mag dies aufgrund unserer Geschichte keine neue Errungenschaft sein – und in der Tat werden die Nürnberger Prozesse (1945-49) oft als Grundstein für dieses Begehren bezeichnet. Auf dem internationalen Parkett hat der politische Freiraum nach Ende des Kalten Kriegs die Verbreitung eines liberalen Gedankenguts und somit auch von normativen Konzepten wie Transitional Justice gefördert.

Welche »justice«?

Doch von welcher Form von »justice« sprechen wir? Der englische Begriff findet im Deutschen zwei Entsprechungen: Recht und Gerechtigkeit. Im Konzept der Transitional Justice kommen beide Dimensionen zum Tragen. Zum einen verfolgt es aufgrund seines Ursprungs aus dem Bereich der Menschenrechte einen stark legalistisch geprägten Ansatz, der sich in der Einrichtung zahlreicher Tribunale wie den Ad-hoc-Gerichtshöfen für Ruanda und das ehemalige Jugoslawien, dem Sondergerichtshof für Sierra Leone sowie dem Internationalen Strafgerichtshof niederschlägt.2 Zum anderen wird Gerechtigkeit breiter verstanden und bezieht Prozesse der Wiederherstellung sozialer Beziehungen mit ein. Stellvertretend hierfür stehen u.a. Wahrheits- und Versöhnungskommissionen, in denen Zeugen durch individuelle Aussagen zur Enthüllung vergangenen Unrechts beitragen. Beide Ansätze sollen im Folgenden auf ihre friedensfördernde Wirkung untersucht werden.

Ausgleichende Gerechtigkeit

Das Ziel der justiziellen Aufarbeitung von Menschenrechtsvergehen ist der Ausgleich einer Tat durch eine Strafe, weswegen sie auch als ausgleichende Gerechtigkeit bezeichnet wird. Neben der Bestrafung der Täter und Täterinnen verfolgt sie das Ziel, den Wunsch nach Vergeltung zu reduzieren, vor zukünftigen Gewalttaten abzuschrecken und erlittenes Leid anzuerkennen. Die Gerichte befassen sich mit Einzelpersonen, d.h. sie folgen einer individualisierten Vorstellung von Schuld und ziehen somit eine formal klare Linie zwischen Opfern und Tätern, selbst wenn dies manchmal kaum möglich ist. Sind erst einmal »Altlasten« aus dem Weg geräumt, so die Annahme, steht einem friedlichen Zusammenleben nichts mehr entgegen.

In Nachkriegsgesellschaften, die entlang politischer, ethnischer oder religiöser Linien gespalten sind, haben Tribunale jedoch nicht immer einen positiven Effekt auf das friedliche Miteinander. Die Anklage eines Kriegsherren oder Gewaltanstifters wird von der betroffenen Konfliktpartei häufig als Provokation wahrgenommen, und Verurteilte werden als Märtyrer gefeiert. Anschuldigungen von Siegerjustiz, Rechtsbeugung und Parteilichkeit sind nicht selten und wirken in den offenen Wunden einer Gesellschaft wie Salz.

Als Beispiel mag hier der Internationale Strafgerichtshof für Ruanda dienen, der seit 1994 von Tansania aus die Haupttäter und -täterinnen des ruandischen Völkermords an den Tutsi strafrechtlich verfolgt. Der Genozid wurde von der zweiten Bevölkerungsgruppe des Landes, den Hutu, ausgeführt, und so stehen nur Täter der Hutu-Gruppe vor Gericht. Doch selbst wenn der Völkermord von einer klaren, einseitigen Richtung der Gewalt gezeichnet war, fanden in den Jahren des Bürgerkriegs zuvor und in der Zeit kurz danach Gräueltaten statt, durch die auch eine große Zahl Hutu ihr Leben verloren.3 Zwar waren die Verluste bei weitem geringer und entsprachen nicht der eindimensionalen Gewaltform eines Völkermords, doch argumentieren viele Hutu, dass zur Schaffung von Gerechtigkeit – von Transitional Justice – alle Vergehen geahndet werden müssen. Dass ein internationales Tribunal der Vereinten Nationen dem nicht nachkommt, stößt sowohl bei vielen Hutu als auch bei zahlreichen internationalen Menschenrechtsaktivisten auf Missmut und verstetigt die Konfliktlinien.4

Allerdings sind die Auswirkungen eines in weiter Ferne agierenden internationalen Tribunals auf ein friedliches Miteinander gering im Vergleich zu Prozessen im Land selbst, die im alltäglichen Leben stärker wahrgenommen werden und so die Beziehungen zwischen den Konfliktparteien unmittelbar beeinflussen. Im Kontext Ruandas sind vor allem die Gacaca-Tribunale zu nennen, die auf lokaler Ebene für die Ahndung von Gewaltverbrechen während des Völkermords zuständig sind.5 Dennoch werden auch hier nur die Genozidvergehen an den Tutsi verfolgt, und die Tötung von Hutu vor und nach dem Völkermord wird ausgeblendet. Implizit wird durch dieses einseitige Schaffen von Gerechtigkeit suggeriert, dass nicht der Akt des Tötens als solcher ausschlaggebend für ein Verfahren ist, sondern die ethnische Zugehörigkeit des Opfers, d.h. der Tutsi, und dass das Auslöschen von Hutu-Leben nicht strafbar – und folglich weniger bedeutend – ist. Die dadurch entstehende einseitige Betrachtung von Schuld und Leid erzeugt Ressentiments unter denen, die ebenfalls nahestehende Personen verloren haben, deren Tod aber durch die Tribunale weder anerkannt noch vergolten wird, und steht so einem nationalen Aussöhnungsprozess im Wege.

Weitere Beispiele für den »unfriedlichen« Charakter von ausgleichender Gerechtigkeit nach gewaltsamen Konflikten oder Diktaturen ließen sich an dieser Stelle unschwer aufführen. So drängt sich die Frage auf, ob die im Rahmen von Transitional Justice den Gerichtshöfen zugeschriebene Aufgabe diese nicht überfrachtet. Denn obgleich das Ahnden von Unrecht ein Schritt hin zu einem vertrauensvollen Miteinander sein mag, da es mit der Vergangenheit aufräumt, sind doch die Prozesse konfliktiv und geprägt vom Misstrauen der Konfliktparteien, die die Vorgänge aus ihrer jeweiligen Perspektive interpretieren. Auch sind die Verfahren selbst oft parteiisch und nicht neutral. In diesem Fall spiegeln sie einen zutiefst politischen Prozess wieder, der gesellschaftliche Verhältnisse neu justiert und somit von Machtbestreben und Eigeninteressen durchsetzt ist. Des Weiteren ist die konfrontative Situation von Prozessen – klare Zuweisung von Schuld und Unschuld, keine Erklärungsmöglichkeiten außerhalb der im Verfahren abgerufenen Aussagen und wenig Raum für die Geschädigten – den komplexen Gegebenheiten von Konflikten nicht gewachsen.

Wiederherstellende Gerechtigkeit

Doch gibt es Alterativen zur ausgleichenden Gerechtigkeit, wie sie in Gerichtsverfahren praktiziert wird? Auf internationaler Ebene muss dies klar verneint werden. Hier hat sich seit den Nürnberger Prozessen und einer generell zunehmenden Verrechtlichung der internationalen Beziehungen die Ansicht verfestigt, dass Menschenrechtsverletzungen strafrechtlich geahndet werden müssen.

National oder lokal hingegen gibt es durchaus alternative Möglichkeiten, die auch genutzt werden. Diese beruhen nicht auf der Annahme, dass das Ziel von Gerechtigkeit der Ausgleich zwischen Schuld und Strafe sei, sondern dass Gerechtigkeit dazu diene, gesellschaftliche Beziehungen wieder herzustellen. Sie werden daher grob unter dem Begriff der wiederherstellenden Gerechtigkeit zusammengefasst und können die Form von Wahrheits- und Versöhnungskommissionen oder anderen Disputlösungsmechanismen annehmen. In gespaltenen Gesellschaften haben sie den Vorteil, dass sie ein vielfältigeres Bild von Schuld und Verantwortung zeichnen, als es den Gerichtshöfen möglich ist. Durch kommunikative Prozesse werden die Vergehen der Vergangenheit in einen sozialen und politischen Kontext eingebettet und Empfehlungen für ein friedliches Miteinander in der Zukunft erarbeitet. Auch diesem Ansatz sind jedoch Grenzen gesetzt: Wiederherstellende Gerechtigkeit ist sicher kein Allheilmittel, doch kann es immerhin als Alternative betrachtet werden.

Wahrheitskommissionen sind offizielle, zeitlich begrenzte Einrichtungen, die durch biographische Narrative die Verbrechen während eines gewaltsamen Konflikts oder Regimes enthüllen und dokumentieren. Durch die Vielzahl von individuellen Zeugenaussagen offenbaren sie Repressionsmuster wie die Verfolgung von politisch, ethnisch oder rassisch abgegrenzten Gruppen und belegen somit, dass Verbrechen stattgefunden haben und welcher Art diese waren. Mit Blick auf den Frieden ist es wichtig, die ersten, bedeutenderen Wahrheitskommissionen in Lateinamerika in den 1980er Jahren von jüngeren Einrichtungen abzugrenzen. Während erstere das Anliegen verfolgten, in einem Kontext von Amnestiegesetzen und einer Kultur der Straflosigkeit öffentlich anzuprangern, hegen letztere den Anspruch, zur nationalen Aussöhnung und somit zum Frieden beizutragen. Prominentestes Beispiel hierfür ist die südafrikanische Wahrheits- und Versöhnungskommission, die dem Leitsatz „revealing is healing“ (enthüllen heißt heilen) folgte und den Tätern bei vollständigem Bekenntnis Straffreiheit gewähren konnte.

Wahrheitskommissionen bestehen aus zwei distinktiven Elementen: dem Prozess und dem Produkt.6 Während der Prozess die Untersuchung durch umfangreiche Einbeziehung der Betroffenen und durch öffentliche Darbietungen legitimiert, gleicht das Produkt in Form eines Abschlussberichts mit Empfehlungen dem Versuch eines Schlusspunktes. In diesem Sinne sind Wahrheits- und Versöhnungskommissionen deshalb sowohl ein Instrument des Erinnerns als auch des Vergessens.7 Wird die Wahrheit durch die Kommission zu Tage gebracht, wird sie archiviert, so dass sie zunächst einmal vergessen werden kann. Sie ist ja aufgehoben und daher immer wieder zugänglich. Dadurch muss eine gespaltene Nation sich nicht fortwährend mit der Vergangenheit auseinandersetzten; sie kann sie zur Ruhe legen, das hässliche Kapitel schließen und zu einer neuen Einheit zusammenwachsen. In diesem Sinne können Wahrheitskommissionen Frieden fördern. Die Umsetzung der Empfehlungen hängt jedoch stark von dem politischen Klima – und den materiellen Bedingungen – der Nachkriegsgesellschaft oder auch vom Handlungswillen der neuen Regierung ab, der nicht immer gegeben ist.

Transition wohin?

Der Blick auf Gerechtigkeit wirft auch die Frage auf, welche Art von Vergehen in Transitional-Justice-Prozessen geahndet werden sollen und wie sich dies auf das zukünftige Zusammenleben auswirkt. So beziehen sich Gerichtsverfahren, aber auch die meisten Wahrheits- und Versöhnungskommissionen, auf die Missachtung von politischen und bürgerlichen Rechten. Doch was ist mit Vergehen wie Diskriminierung, Marginalisierung und Exklusion – in anderen Worten: mit struktureller Gewalt? War denn die Apartheid in Südafrika nicht auch für die Menschen schädigend, die nicht direkt Opfer von Folter und Morden, sondern von mangelnder Gesundheitsversorgung, Arbeitslosigkeit oder Zwangsumsiedlung wurden? In der Menschenrechtsdebatte wird dies unter dem Begriff der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte zusammengefasst und beeinflusst inzwischen auch Diskussionen im Feld der Transitional Justice.8

Dies wirft die Frage auf, wohin die Reise denn gehen soll. Wenn es das Ziel von Transitional Justice ist, einen Übergang zu einem friedlichen, gewaltfreien Zusammenleben zu fördern, müssen dann nicht auch die strukturellen Konfliktursachen bearbeitet und möglichst transformiert werden?9 Hier stoßen Formen der ausgleichenden Gerechtigkeit durch strafrechtliche Verfahren schnell an ihre Grenze, da sie durch die ihnen inhärente Individualisierung von Schuld soziale und politische Zusammenhänge aussparen und so nicht zu einer breiteren Transformation einer Gesellschaft beitragen können. Verfahren der wiederherstellenden Gerechtigkeit hingegen sind durchaus geeignet, strukturelle Konfliktursachen offenzulegen und durch ihre Empfehlungen, z. B. im Rahmen des abschließenden Berichts einer Wahrheits- und Versöhnungskommission, Transformationsprozesse anzustoßen.

Nichtdestotrotz bleibt die Wechselwirkung von Gerechtigkeit und Friede – von Transitional Justice und Frieden – fraglich. Es ist daher wichtig, das Konzept trotz seiner aktuellen Popularität nicht mit zu vielen Erwartungen zu überfrachten. Denn alle Bemühungen und Maßnahmen bleiben in die politischen Strukturen einer Nachkriegsgesellschaft eingebettet, die die Interpretation der Maßnahmen bestimmen und ihre Durchführbarkeit und Empfehlungen auf positive sowie negative Weise bedingen. Gerechtigkeit um des »lieben Friedens willen« zu pflegen, mag zunächst wie ein einfaches Gebot erscheinen, bei näherer Betrachtung ist es jedoch höchst ambivalent und prekär.

Anmerkungen

1) „Es kann keinen Frieden geben ohne Gerechtigkeit, keine Gerechtigkeit ohne Gesetz und kein wirksames Gesetz ohne ein Gericht, das entscheidet, was unter den gegebenen Umständen gerecht und rechtmäßig ist.“ untreaty.un.org/cod/icc/general/overview.htm.

2) Zu Letzterem siehe den Beitrag von Michael Haid in diesem Heft. [die Redaktion]

3) Es fehlt an Raum, um die Dynamiken des ruandischen Völkermords, des ihm vorhergehenden Bürgerkriegs und der unmittelbaren Nachwehen zu erklären. Für eine genauere Beschreibung siehe Rene Lemarchand (2006): Genocide, Memory and Ethnic Reconciliation in Rwanda. In: Stefaan Marysse, Filip Reyntjens, Stef Vandeginste (Hrsg.) (2007): L’Afrique des Grands Lacs. Annuaire 2006-2007. Paris: L’Harmattan, S.21-30.

4) Luc Reydams (2005): The ICTR Ten Years On: Back to the Nuremberg Paradigm? In: Journal of International Criminal Justice 3 (4), S.977-988.

5) Gerd Hankel (2011): Die Gacaca-Justiz in Ruanda – ein kritischer Rückblick. In: Susanne Buckley-Zistel, Thomas Kater (Hrsg.) (2011): Nach Krieg, Gewalt und Repression. Vom schwierigen Umgang mit der Vergangenheit. Baden-Baden: Nomos, S.167-183.

6) Michael Humphrey (2003): From Victim to Victimhood: Truth Commissions and Trials as Rituals of Political Transition and Individual Healing In: Australian Journal of Anthropology 14 (2), S.171-187.

7) Jacques Derrida (2001): On Cosmopolitism and Forgiveness. London: Routledge.

8) Siehe Pablo de Greiff, Roger Duthie (2009): Transitional Justice and Development: Making Connections. New York: Social Science Research Council.

9) Siehe Wendy Lambourne (2009): Transitional Justice and Peacebuilding after Mass Violence. In: International Journal of Transitional Justice 3 (1), S.28-48.

Susanne Buckley-Zistel ist Professorin für Friedens- und Konfliktforschung am Zentrum für Konfliktforschung, Philipps Universität Marburg, wo sie ein DFG-Forschungsprojekt zum Thema Vergangenheitsarbeit leitet.

Frieden durch Recht?

Frieden durch Recht?

Die Bedeutung von Facts und Fakes

von Peter Becker

Nach der UN-Charta ist militärische Gewalt nur rechtmäßig, wenn der Sicherheitsrat sie erlaubt oder wenn das Selbstverteidigungsrecht in Anspruch genommen wird. Aber es wird auch behauptet, eine »humanitäre Intervention« wie im Fall Jugoslawien sei rechtmäßige Gewaltausübung. Die Antwort auf die Frage, ob Gewalt rechtmäßig ist, hängt immer von den »Kriegsgründen« ab, vom Sachverhalt. Auf diesem Feld wird viel gelogen – „im Krieg stirbt die Wahrheit zuerst“. Der Autor beleuchtet die Fakten, mit denen einige Kriege seit 1999 gerechtfertigt wurden, und plädiert für die Etablierung eines Factfinding-Instruments der Zivilgesellschaft.

Die deutsche IALANA1 vertritt die Rechtsauffassung, dass der Bürger aus dem Grundgesetz das Recht ableiten kann, von der Regierung die Unterlassung einer rechtswidrigen Kriegsführung oder der Unterstützung fremder Kriegsführung von deutschem Boden zu verlangen. Die Grundlage eines solchen Anspruchs ist Art. 25(1) Grundgesetz (GG): „Die allgemeinen Regeln des Völkerrechtes sind Bestandteil des Bundesrechtes.“ Ein Kernpunkt dieser allgemeinen Regeln ist das Gewaltverbot in Art. 2(4) der UN-Charta: „Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt.“ Diese allgemeinen Regeln „gehen den Gesetzen vor und erzeugen Rechte und Pflichten unmittelbar für den Bewohner des Bundesgebiets“, heißt es in Art. 25(2) GG. Diese Vorschrift gehört zum Altbestand des Grundgesetzes. Das Mitglied des Parlamentarischen Rates Carlo Schmid hatte sich für diese Bestimmung mit dem Argument eingesetzt, es sei nach den Erfahrungen des Dritten Reiches erforderlich, dass der einzelne Bürger das Recht habe, sich gegen eine rechtswidrige Kriegsführung zu wehren.2 Die herrschende Meinung in der Staatsrechtswissenschaft geht dahin, dass die Vorschrift dem Bürger in der Tat eine Klagebefugnis gegen die Bundesregierung gibt.

Aber wann ist das Gewaltverbot verletzt? Wer verübt rechtswidrige Gewalt? Wann liegt die – legale – Inanspruchnahme des Selbstverteidigungsrechts nach Art. 51 der UN-Charta vor?3 Die UN-Charta sieht nur zwei Möglichkeiten vor, einen rechtmäßigen Krieg zu führen: mit Ermächtigung des Sicherheitsrats (Art. 42) oder unter Inanspruchnahme des Selbstverteidigungsrechts (Art. 51). Sie müßten in jedem Antrag der Bundesregierung an den Bundestag, mit dem dessen Zustimmung zu einer »Friedensmission« unter Bundeswehrbeteiligung reklamiert wird, und in jedem Beschluß des Bundestags abgehandelt werden. Genauso wichtig: Wie ist die Faktenlage? Die letztere Frage soll im Folgenden anhand einiger Kriege der letzten Jahre beleuchtet werden.

Der Irakkrieg: Streben nach »regime change«

Eine relativ klare Faktenlage besteht beim Irakkrieg 2003. Der damalige US-Präsident George W. Bush strebte ein Mandat des Sicherheitsrats an – vergeblich. Die Kriegsgründe waren vorgetäuscht: Der Irak hatte auf sein Atomwaffenprogramm längst verzichtet; die Dokumente, mit denen US-Außenminister Powell versuchte, die Zustimmung des Sicherheitsrats zu erreichen, waren gefälscht. Der Krieg hatte ein trauriges Ergebnis: Hunderttausende starben, und bis heute wehren sich die Iraker gegen die Usurpatoren mit Selbstmordattentaten.4 Es ging auch nicht um die Etablierung einer Demokratie, „es ging um Öl“, so der ehemalige Chef der US-Notenbank Alan Greenspan in seinem 2007 erschienenen Buch »The age of turbulence: adventures in a new world«. Der Krieg war nach dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 21.6.2005 im Verfahren des Majors Pfaff völkerrechtswidrig, wie auf 33 Seiten des Urteilsumdrucks aufgezeigt wird.5

Der eigentliche Grund für den Krieg war das Streben nach einem »regime change«, aus strategischen Gründen und um leichter an das irakische Öl heranzukommen.

Der Krieg gegen Jugoslawien: »regime change«

Der Krieg gegen Jugoslawien 1999 diente angeblich dem Schutz der albanischen Kosovaren vor Völkermord und Massenvertreibungen. Die aber gab eine genaue Untersuchung der Fakten nicht her, die der deutsche Brigadegeneral Heinz Loquai als Berichterstatter der OSZE 2003 in einem Buch nachzeichnete.6 Der »Hufeisenplan« des damaligen deutschen Verteidigungsministers Scharping: eine Fälschung. Das »Massaker von Raèak«: eine Inszenierung der albanischen Rebellengruppe UÇK. Der Bundestag wusste, worauf er sich einließ. Der grüne Staatssekretär Ludger Volmer hatte in der Debatte auf das fehlende Mandat des Sicherheitsrats hingewiesen. Bundeskanzler Gerhard Schröder und Außenminister Josef Fischer rechtfertigten den Krieg unter Berufung auf die »responsibility to protect« als »humanitäre Intervention«.7 Aber: Die humanitäre Intervention ist eine Selbstmandatierung von Militärbündnissen, die das Gewaltverbot der Charta verletzt.8

Der ehemalige Bundestagsabgeordnete Willy Wimmer (CDU), der als Vizepräsident der Parlamentarischen Versammlung der OSZE gut informiert war, machte denn auch ganz andere Gründe für den Krieg aus, nämlich das amerikanische Streben nach einem Regimewechsel und den Bau einer Luftwaffenbasis, Camp Bondsteel.9 Als Ergebnis entstand ein selbst ernannter Staat, mit einem Präsidenten, den ein Ermittler des Europarats für einen korrupten Organhändler hält, ein Staat so groß wie Hessen, dem der serbisch besiedelte Norden nicht angehören will. Die EU bemüht sich seit zehn Jahren mit Rechtsstaatsmissionen um die Etablierung einer Demokratie – Tendenz kritisch.

Auch hier war also der eigentliche Anlass des Krieges der Wunsch nach einem »regime change«.

Der Krieg gegen Afghanistan

Die USA stützten ihre Invasion in Afghanistan nach »9/11« auf das Selbstverteidigungsrecht der UN-Charta. Aber es gibt „turmhohe Zweifel an der offiziellen Version zum Hergang von 9/11“, kommentierte Franziska Augstein in der Süddeutschen Zeitung.10 Die „turmhohen Zweifel“ bezogen sich darauf, dass die USA den Anschlag vorab nicht gekannt und sich daran in keiner Weise beteiligt hätten.

Die Faktenlage zu 9/11 ist nach wie vor höchst umstritten. Die amerikanische Regierung hat – allerdings erst unter dem Druck der Opfer – die 9/11-Kommission eingesetzt, die in ihrem über 540 Seiten starken Bericht11 zu dem Ergebnis kam, die Anschläge seien wegen einer Serie von Fehlern unterschiedlicher staatlicher Stellen nicht verhindert worden.12 Die best belegten Gegenargumente hat Paul Schreyer13 zusammengetragen. Die – für diesen Aufsatz interessanteste – Veröffentlichung stammt von Marcus Klöckner,14 der die »Wahrheitsbewegung« der USA beschreibt, ihren Kampf um eine neue unabhängige Untersuchung, und das »Deutungsmonopol« der Medien, die die Kritiker als »Verschwörungstheoretiker« abtun. Allerdings ist auch die offizielle Darstellung eine Verschwörungstheorie.15 Im September fand in Toronto eine Konferenz statt, die sich an der Vorgehensweise bei einer forensischen Untersuchung orientierte und demnächst einen ausführlichen Bericht vorlegen wird.16

Die Inanspruchnahme des Selbstverteidigungsrechts erfordert spezifische Fakten und ist nur unter engen Grenzen zulässig, insbesondere nur „bis der Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen getroffen hat“ (Art. 51(1) UN-Charta). Diese Maßnahmen legte der Sicherheitsrat nach 9/11 in mehreren Resolutionen fest. Damit konnten sich die USA nicht mehr auf das Selbstverteidigungsrecht berufen; seither wird der »Krieg gegen den Terror« mit seiner Operation Enduring Freedom (OEF) in Afghanistan ohne völkerrechtlich tragfähige Ermächtigung geführt.

Die Bundeswehr musste sich nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 3. Juli 200717 – einem Verfahren, mit dem die Fraktion Die LINKE im Bundestag die Verletzung des NATO-Vertrags durch das Mandat für die International Security Assistance Force (ISAF) gerügt hatte – aus OEF zurückziehen. Das Bundesverfassungsgericht hatte aufschlussreich formuliert, dass sich OEF auf das Selbstverteidigungsrecht „berufe“. Der darin zum Ausdruck gekommene Zweifel äußerte sich in dem Gebot, die Beteiligungen an OEF und ISAF müssten sauber voneinander getrennt werden; nur ISAF beruhe auf einem Mandat des Sicherheitsrates. Ergebnis: wohl sechs Jahre völkerrechtswidrige Beteiligung an OEF.

Mit 9/11 und den Folgen befasst sich insbesondere Bernd Greiner.18 Sein Fazit: 9/11 hat 2003 dem Konzept des »preemptive strike« in der neuen Sicherheitsstrategie der USA den Weg bereitet; dieses Konzept erfuhr mit der Irak-Invasion seinen ersten Anwendungsfall. Daraus ergibt sich: 9/11 führte nicht nur zum »regime change« in Afghanistan, sondern wurde auch genutzt für die Schaffung eines Instruments zur weltweiten Intervention.

Vorbereitung eines »regime change« im Iran

Und schließlich kann auch der jüngste Bericht der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEO) zum iranischen Atomprogramm als Auftakt zu einem »regime change« verstanden werden.19 Kern der Botschaft ist, dass der Iran (weiter) an einem Atomwaffenprogramm arbeite. Dem müsse vorgebeugt werden. Eine entsprechende Resolution des UN-Sicherheitsrates scheitert derzeit allerdings am Widerstand von Russland und China.

Der Christian Science Monitor, eine amerikanische Wochenzeitung, machte am 9.11.2011 darauf aufmerksam, dass sich der Iran-Bericht vor allem auf ein Informationspaket von mehr als tausend Seiten stützt, das der IAEO bereits im Jahr 2005 von einem US-Geheimdienst übergeben wurde. Die Informationen sollen aus einem Laptop stammen, den der Geheimdienst ein Jahr zuvor erhalten haben will. Bereits damals stieß die Glaubwürdigkeit der Dokumente auf Skepsis. Heute kommentiert Robert Kelley, ein US-amerikanischer Atomingenieur und ehemaliger IAEO-Inspektor, das Material sei „sehr dünn“. Er gehörte zu den Ersten, die 2005 die Daten sichteten. „Das sind fast alles alte Informationen; es ist ziemlich erschütternd, wie wenig Neues sie gebracht haben.“ Die IAEO hatte die Laptop-Informationen durch Daten aus zehn Mitgliedstaaten, aus Interviews auf drei Kontinenten und aus eigenen Nachforschungen im Iran, in Libyen, Pakistan und Russland ergänzt. Jedoch gibt die IAEO zu, dass sich die meisten ihrer veröffentlichten Hinweise auf atomwaffenbezogene Arbeiten im Iran beziehen, die – nach übereinstimmender Einschätzung aller US-Geheimdienste – im Jahr 2003 eingestellt worden waren. Der Iran „scheint nicht vom gleichen Drang nach der Entwicklung von Atomwaffen besessen zu sein wie Nordkorea. Belege dafür lassen sich in dem IAEO-Bericht ebenfalls nicht finden“, sagte Shannon Kile, Chef des Atomwaffenprojekts von SIPRI, dem internationalen Friedensforschungsinstitut in Stockholm.20

Der Grund für den Tenor des jüngsten Iran-Berichts könnte in dem Führungswechsel bei der IAEO von dem Ägypter Mohamed ElBaradei zu dem Japaner Yukiya Amano liegen, der im Juli 2009 stattfand. Amano sagte nach den vom »Guardian« am 2.12.2010 veröffentlichten WikiLeaks-Depeschen dem US-Botschafter Glyn Davis am 16.9.2009 zu, dass er „bei allen wichtigen strategischen Entscheidungen fest an der Seite der USA stehe“, auch bei solchen, die den Iran betreffen. Nach Einschätzung von Journalisten wurde Amano im Sommer dieses Jahres von den USA unter Druck gesetzt, endlich einen schärferen IAEO-Bericht vorzulegen, der belegen soll, dass der Iran auch heute noch mit der Entwicklung von Atomwaffen beschäftigt sei. Solche Beweise allerdings liefert der Bericht nicht.

Das wirft einige Fragen auf, die ElBaradei schon im Frühjahr 2011 in einem SPIEGEL-Interview21 benannte. Er habe sich seinerzeit zugetraut, den Atomkonflikt zwischen Iran und der Weltgemeinschaft zu lösen. 2003 seien die Iraner bereit gewesen, aber die Regierung von US-Präsident George W. Bush habe nicht gewollt. Als Präsident Obama seine Hand ausstreckte, konnten die Iraner sie aufgrund innenpolitischer Machtkämpfe nicht ergreifen. Der SPIEGEL bemerkt dann, ElBaradei habe in seinen Memoiren beschrieben, wie er bei seinen Vermittlungsversuchen getäuscht wurde. ElBaradei antwortete: „Ich halte mich streng an die Fakten, und dazu gehört eben auch, dass Amerikaner und Europäer uns wichtige Papiere und Informationen vorenthielten. Denen ging es nicht um einen Kompromiss mit der Regierung in Teheran, sondern um einen Regimewechsel. Dafür war ihnen so ziemlich jedes Mittel recht.“ Auf die Bemerkung des SPIEGEL, dass die „armen Iraner […] völlig unschuldig“ waren, sagte ElBaradei, „nein, auch die haben getrickst. Aber der Westen hat nie versucht zu verstehen, dass es Iran vor allem um Anerkennung, um eine Behandlung auf Augenhöhe ging.“ 22

Das wirft verschiedene Fragen auf: Gehören zu den von Mohamed ElBaradei genannten „jeglichen Mitteln“ für einen Regimewechsel in Iran auch

der Einsatz des Computervirus Stuxnet, der in der iranischen Anreicherungsanlage Natanz schwere Schäden hinterlassen hat,

die Ermordung einiger ranghoher iranischer Atomwissenschaftler,

die Explosion auf einem Raketenstützpunkt der Revolutionären Garden Irans unweit von Teheran, bei der am 12.11.2011 mit General Hasan Moghaddam – neben 16 weiteren Angehörigen der Revolutionären Garden – eine Schlüsselperson des iranischen Raketenprogramms getötet wurde? Das Raketen-Testgelände sei dem Erdboden gleich gemacht worden, heißt es in der New York Times am 5.12.2011.

Am 2. Dezember 2011 drang von Afghanistan aus eine Drohne in den iranischen Luftraum ein, die abstürzte (oder nach iranischen Angaben abgeschossen wurde). Die Mission soll die Aufgabe gehabt haben, iranische Militärbewegungen auszuspähen. Die Inszenierungen haben ihre Wirkung: „Erster deutscher Politiker spricht von Militärschlag“, war vor kurzem in einer Tageszeitung zu lesen.23

Diese Indizien für einen geplanten »regime change« gewinnen vollständige Aussagekraft erst, wenn die Faktenlage zu den anderen Kriegen der letzten Jahre mit in den Blick genommen wird. Es kommt daher darauf an, diese Fakten in einer geordneten Form und mit entsprechender Bewertung zusammenzustellen.

Fact-Finding durch eine Konferenz der Zivilgesellschaft

Ein entscheidendes Manko der Friedensbewegung, aber auch der Bürger, die Kriege – und die deutsche Beteiligung daran – verhindern wollen, liegt aber just in der Beschaffung der Fakten. Es dauert häufig Jahre, bis die Datenlage einigermaßen abgesichert ist. Eine Schwäche der Bewegung liegt auch im Wettbewerb um die »beste Version«. Das spricht dafür, dass die Friedensbewegung ein neues Instrument zur Beschaffung einer verlässlichen Datenbasis bereitstellen muss. Man braucht ein schnelles Verfahren nach Art des Russell-Tribunals, aber ohne dessen verkürzte Herangehensweise. Die Zivilgesellschaft muss vielmehr vorgehen, wie das auch in einem Strafprozess geschieht: Sie muss – wie oben am Beispiel der Toronto-Konferenz geschildert – versuchen, Befürworter und Kritiker einer »Friedensmission« aus der Bundesregierung, aus dem Bundestag, aus der Friedensbewegung und aus den Friedensforschungsinstituten zusammenzubringen, um dann einen »Richterspruch« herbeizuführen.

Eine Schwierigkeit könnte darin liegen, dass die Befürworter und Kritiker nicht gerne an einem Prozess mit unbestimmtem Ausgang teilnehmen wollen. Deswegen müsste ein Medium der Zivilgesellschaft mit hohem Ansehen – das es sich vielleicht erst im Lauf der Zeit erarbeitet – geschaffen werden, um eine solche Tatsachenbasis herbeizuführen. Dabei könnten die deutschen Friedensforschungsinstitute, die ohnehin in ihrem jährlichen Friedensgutachten zusammenarbeiten, entscheidende Beiträge liefern. Ein erstes Beispiel könnte der IAEO-Bericht zum iranischen Atomprogramm mit seiner strategischen Funktion zur Herbeiführung eines – mit den Worten ElBaradeis – »regime change« sein. Wer ergreift die Initiative?

Anmerkungen

1) International Association of Lawyers Against Nuclear Arms.

2) Parlamentarischer Rat, Hauptausschuss, 5. Sitzung am 18.11.1948, S.66. Vgl. auch 12. Sitzung des Ausschusses für Grundsatzfragen, 15.10.1948. In: Eberhard Pikart und Wolfram Werner (1993): Der Parlamentarische Rat 1948-1949, Band 5/I. Boppart am Rhein: Boldt. S.313 ff., S.321. Eingehend: Peter Becker: Rechtsschutz gegen verfassungswidrige Kriegführung. In: Peter Becker, Reiner Braun, Dieter Deiseroth (Hrsg.) (2010): Frieden durch Recht? Berlin: Berliner Wissenschaftsverlag (BWV), S.223-231.

3) Art. 51 der UN-Charta lautet: „Diese Charta beeinträchtigt im Falle eines bewaffneten Angriffs gegen ein Mitglied der Vereinten Nationen keineswegs das naturgegebene Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung, bis der Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen getroffen hat. Maßnahmen, die ein Mitglied in Ausübung dieses Selbstverteidigungsrechts trifft, sind dem Sicherheitsrat sofort anzuzeigen; sie berühren in keiner Weise dessen auf dieser Charta beruhende Befugnis und Pflicht, jederzeit die Maßnahmen zu treffen, die er zur Wahrung oder Wiederherstellung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit für erforderlich hält.“

4) Die letzten im Irak stationierten US-Kampftruppen wurden zwar am 18. Dezember 2011 aus dem Irak abgezogen, die USA bleiben aber im Land präsent. Die nach US-Angaben größte US-Botschaft der Welt in Bagdad soll künftig 17.000 Diplomaten, Zivilisten und Sicherheitsmitarbeiter beherbergen. Interessant wäre zum Vergleich, über wieviele Mitarbeiter die Regierung des Irak verfügt. Wer regiert den Irak wirklich?

5) Neue Juristische Wochenschrift (NJW) 2006, S.77. Das Urteil betraf den Fall eines Majors der Bundeswehr, der sich unter Berufung auf sein Grundrecht der Gewissensfreiheit geweigert hatte, an logistischen Maßnahmen zur Unterstützung des Irakkrieges der USA teilzunehmen. Vgl. auch: Dietrich Murswiek (2003): Die amerikanische Präventivkriegsstrategie und das Völkerrecht. In: NJW, 2003, S.1014 ff.

6) Heinz Loquai (2003): Weichenstellungen für einen Krieg. Internationales Krisenmanagement und die OSZE im Kosovo-Konflikt. Baden-Baden: Nomos. Dazu auch: Peter Becker, a.a.O., S.233 ff. Die deutsche IALANA hat zahlreiche Auskünfte des Auswärtigen Amtes für verwaltungsgerichtliche Asylverfahren vorgelegt, aus denen sich ergibt, dass keine humanitäre Katastrophe vorlag; vgl. Becker, a.a.O., S.235 mit weiteren Nachweisen.

7) Vgl. dazu: Norman Paech (2010): Responsibility to protect. In: Becker/Braun/Deiseroth, a.a.O., S.175.

8) Dieter Deiseroth: »Humanitäre Intervention« und Völkerrecht. In: NJW 1999, S.3084 ff, mit zahlreichen weiteren Nachweisen. Reinhard Merkel (Hrsg.) (2000): Der Kosovo-Krieg und das Völkerrecht. Berlin: Suhrkamp. Bruno Simma (2000): Die NATO, die UN und militärische Gewaltanwendung – Rechtliche Aspekte. In: Reinhard Merkel (Hrsg.), a.a.O., S.9 ff.

9) Vgl. dazu ein Interview mit Willy Wimmer: »Die Amerikaner empfinden sich als Nachfolger Roms«. Strategische Konfliktmuster auf dem Balkan. Blätter für Deutsche und Internationale Politik 9/2001, S.1054.

10) Franziska Augstein: Turmhohe Zweifel an der offiziellen Version. Süddeutsche Zeitung, 25.7.2011.

11) www.9-11commission.gov.

12) Vgl. dazu die kritische Untersuchung: Mathias Bröckers/Christian C. Walther (2011): 9/11 – Zehn Jahre danach. Der Einsturz eines Lügengebäudes. Frankfurt am Main: Westend. Ferner: Andreas von Bülow (2011), Die CIA und der 11. September. Internationaler Terror und die Rolle der Geheimdienste. Neue Erkenntnisse 10 Jahre danach. München: Piper.

13) Paul Schreyer (2011): Inside 9/11. Neue Fakten und Hintergründe zehn Jahre danach. Werder (Havel): Kai Homilius Verlag.

14) Marcus B. Klöckner (2011): 9/11 – Der Kampf um die Wahrheit. Hannover: Heise.

15) Siehe dazu Albert Fuchs: Zu 9/11 – nur politisch-mediale Konstruktionen? In: W&F Dossier 68, »9/11 und die Folgen«, November 2011.

16) The Toronto Hearings. The International Hearings on the Events of September 11, 2001; torontohearings.org.

17) BVerfGE 118, S.224, S.266 ff. (2007).

18) Bernd Greiner (2011): 9/11: Der Tag, die Angst, die Folgen. München: CH Beck.

19) Implementation of the NPT Safeguards Agreement and relevant provisions of Security Council resolutions in the Islamic Republic of Iran. Report by the IAEA Director General for the IAEA Board of Governors, 8 November 2011, IAEA document GOV/2011/65.

20) Vgl. Scott Peterson: Iran nuclear report – why it may not be a game-changer after all. In: Christian Science Monitor, 9.11.2011.

21) Erschienen bei Spiegel Online am 19.4.2011.

22) Siehe dazu ausführlich: Mohamed ElBaradei (2011): Wächter der Apokalypse. Im Kampf für eine Welt ohne Atomwaffen. Frankfurt: Campus.

23) Philipp Missfelder (CDU) plädiert „für mehr Härte im Streit mit dem Iran“. Berliner Zeitung vom 2.12.2011.

Peter Becker ist Rechtsanwalt und Co-Präsident der Internationalen IALANA (International Association of Lawyers Against Nuclear Arms).

Trennung von Recht und Politik?

Der Internationale Strafgerichtshof:

Trennung von Recht und Politik?

von Michael Haid

Auf einer Staatenkonferenz wurde am 17. Juli 1998 das Römische Statut1 verabschiedet, das am 1. Juli 2002 in Kraft trat und auf dessen Basis im niederländischen Den Haag der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) eingerichtet wurde. In der deutschen Rechtswissenschaft wird der IStGH mehrheitlich als eine grundsätzlich positive Weiterentwicklung des internationalen Strafrechts angesehen.2 Der folgende Beitrag stellt dieser positiven Bewertung die Probleme und Grenzen der beiden Rechtsinstitute gegenüber.

Das Römische Statut und der IStGH gelten als der Beginn einer dritten Dimension in der Entwicklung des internationalen Strafrechts nach den Kriegsverbrecherprozessen in Nürnberg und Tokio nach 1945 und den Strafgerichtshöfen (International Criminal Tribunals) für Jugoslawien (ICTY) und Ruanda (ICTR) seit 1993 bzw. 1994. Aus Sicht von Carla del Ponte, ehemalige Chefanklägerin des ICTY und des ICTR, geben bei der Entscheidung, eine Strafverfolgung einzuleiten, allein juristische Fragen den Ausschlag, die Politik würde und dürfe dabei keine Rolle spielen.3 Für den IStGH wäre dies zwar wünschenswert, die beobachtbare Praxis sieht allerdings anders aus. So heißt es etwa in einer Analyse der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP): „Wo bzw. wann Völkerstrafrecht angewandt wird, bleibt dabei auch eine Frage von politischen Interessen. Mächtige Staaten sind prinzipiell nach wie vor wenig daran interessiert, eine unabhängige internationale Strafgerichtsbarkeit nachdrücklich zu unterstützen. Deshalb werden schwerste Verbrechen noch immer nicht überall mit der gleichen Konsequenz verfolgt.“ 4

Nachrangigkeit statt Weltrechtsprinzip

Die internationale Strafgerichtsbarkeit soll es ermöglichen, die Täter von besonders schweren, völkerrechtlich relevanten Verbrechen zu verfolgen. Dabei handelt es sich um internationale Normen, „die unmittelbar die Strafbarkeit natürlicher Personen wegen einer Verletzung international geschützter Rechtsgüter begründen“.5 Bislang war es – abgesehen von den oben erwähnten zeitlich und geographisch eingegrenzten Ausnahmen – beinahe unmöglich, Tatverdächtige von Völkermorden oder von Kriegsverbrechen strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen. Die in der Regel von Regierungen und Militärbefehlshabern angeordneten oder geduldeten Straftaten werden selten im eigenen Staat angeklagt. Und die Strafverfolgungsbehörden anderer Staaten werden wegen Verbrechen, die außerhalb des eigenen Staatsgebiets stattfanden, unter Verweis auf die Souveränität des Staates, in dem das Verbrechen geschah, im Normalfall nicht oder nur eingeschränkt aktiv (Territorialitätsprinzip). Zudem genießen Tatverdächtige aufgrund ihrer Regierungszugehörigkeit häufig Immunität vor Strafverfolgung im Ausland.6

Die Auseinandersetzungen und verschiedenen Interessenlagen im Vorfeld und während der vierwöchigen Konferenz zum IStGH in Rom im Juni und Juli 1998 waren komplex und können hier nicht im Detail wiedergegeben werden. Nach dem letztlich gefundenen Kompromiss im Römischen Statut ist der Gerichtshof nach der Präambel und nach Art. 1 nachrangig zuständig, d.h. er „ergänzt die innerstaatliche Strafgerichtsbarkeit“ (Subsidiaritätsprinzip). Dies gilt allerdings nur, wenn das Verbrechen auf dem Hoheitsgebiet eines Vertragsstaates verübt wurde oder der Tatverdächtige die Staatsangehörigkeit eines Vertragsstaates besitzt (Art. 12 Abs. 2). Das Weltrechtsprinzip, das idealerweise eine Gerichtsbarkeit universell begründen würde, genauso wie das passive Personalitätsprinzip, das eine Gerichtsbarkeit schon dann begründet, wenn die Tatopfer (und nicht allein die Täter) Staatsangehörige eines Vertragsstaates sind, konnten aus Gründen der politischen Interessenlage nicht durchgesetzt werden.7

Zentral für das Völkerstrafrecht sind folgende Neuerungen, die das Römische Statut enthält: Es normiert erstmalig eine individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit (Art. 25 Abs. 2) für militärische Befehlshaber und andere Vorgesetzte (Art. 28) ohne Rücksicht auf ihre amtliche Eigenschaft (Art. 27 Abs. 1) und unter Ausschluss möglicher Immunitäten (Art. 27 Abs. 2).

Wie bereits erwähnt, erstreckt sich der Geltungsbereich der Gerichtsbarkeit grundsätzlich nur auf solche Staaten, die dem Statut beigetreten sind und es ratifiziert oder die Gerichtsbarkeit des IStGH für einen bestimmten Anklagepunkt anerkannt haben . Zum 1. Januar 2012 hat der 119. Staat das Statut ratifiziert. Damit verdoppelte sich die Anzahl seiner Mitglieder innerhalb weniger als einem Jahrzehnt. 32 weitere Staaten haben das Statut unterschrieben, aber noch nicht ratifiziert (darunter Russland, Ägypten und der Iran). Davon haben drei Staaten (USA, Israel und der Sudan) – rechtlich zwar zulässig, aber äußerst ungewöhnlich – ihre Unterschriften wieder zurückgezogen. 43 andere Länder (darunter China, Indien, Irak, Indonesien, Saudi-Arabien oder die Türkei) wollen ihr politisches Handeln lieber nicht einer internationalen Strafgerichtsbarkeit aussetzen und lehnen einen Beitritt ab.8

Kooperationsabhängigkeit

Der Gerichtshof wurde als eine ständige Einrichtung gegründet (Präambel, Art. 1) und besitzt Völkerrechtspersönlichkeit (Art. 4 Abs. 1). Er ist also kein Organ der Vereinten Nationen oder nicht von ihnen abhängig, wie es die Ad-hoc-Strafgerichtshöfe für Jugoslawien oder Ruanda sind. Der Gerichtshof kann internationale Verträge, etwa mit den Vereinten Nationen, der Europäischen Union oder Interpol abschließen. Sein politisches Organ ist die Versammlung der Vertragsstaaten, die aber gegenüber der Anklagebehörde und der Richterschaft nicht weisungsbefugt ist; diese sind in ihren Entscheidungen unabhängig.

Wie die bisherige Praxis der Anklagebehörde zeigt, konzentriert sie sich auf nur wenige hauptverantwortliche Täter. Davon verspricht sich ihr Chefankläger, Luis Moreno-Ocampo, ein abschreckendes Signal für andere potentielle Täter.9 Ob diese Vorgehensweise tatsächlich die erhoffte Wirkung zeitigt, wird sich empirisch schwerlich überprüfen lassen und ist umstritten.10

Diese Festlegung sind wohl eine Konzession an die politischen Realitäten, denn der IStGH verfügt über keine eigenen Ermittlungskompetenzen oder gar Zwangsmittel zur Durchsetzung von Untersuchungen in den betroffenen Ländern. Er ist dabei immer auf die Unterstützung und Kooperationswilligkeit der jeweiligen Staaten angewiesen.11 Diese Tatsache dürfte bei der Entscheidung, ob und gegen wen die Anklagebehörde tätig wird, erheblich mitbestimmend sein.

Ohnehin reicht die Kapazität des IStGH aus personellen und finanziellen Gründen zur Behandlung von mehr als den aktuellen Verfahren – gegen insgesamt 26 Personen – bereits heute kaum aus. Zusätzliche Überweisungen würden das Gericht schnell überfordern.12 Offiziell ist es für Vorkommnisse in deutlich mehr als der Hälfte aller Staaten zuständig, seine Kapazitäten sind mit 18 Richtern und etwas mehr als 500 Angestellten jedoch eher begrenzt.

Vielmehr wird erwartet, dass die Vertragsstaaten das im Statut formulierte Völkerstrafrecht in ihre nationale Strafrechtsordnung übernehmen; eigene wie fremde Staatsangehörige, denen Verbrechen nach diesem Statut vorgeworfen werden, sollen sich dann vor den nationalen Gerichten verantworten. Bis Mai 2010 hatten 56 Staaten das Völkerstrafrecht in ihre nationale Rechtsordnung integriert und 48 weitere hatten Entwürfe dazu vorgelegt.13 Allerdings ist zu erwarten, dass diese Idealvorstellung in der Praxis nur eingeschränkt Anwendung finden wird; vor allem in Fällen, in denen die Anwendung des Völkerstrafrechts mit politischen Interessen kollidieren würde. So führte Deutschland das Völkerstrafgesetzbuch bereits am 30. Juni 2002 ein; das erste Verfahren wurde gegen zwei Ruander Anfang Mai 2011 vor dem OLG Stuttgart eröffnet. Ein ebensolches Engagement wurde hingegen bei den Verantwortlichen des Luftschlags von Kundus oder den Vorwürfen im Zusammenhang mit Abu Ghraib vermisst.

Die „schwersten Verbrechen“

Der Gerichtshof kann seine Gerichtsbarkeit nur für Taten ausüben, die nach dem 1. Juli 2002 begangen wurden (Art. 11 Abs. 1, Art. 24 Abs. 1) und nur für folgende, abschließend aufgeführte Tatbestände, die als „schwerste Verbrechen“ bezeichnet werden: Völkermord (Art. 6), Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Art. 7), Kriegsverbrechen (Art. 8) und das Verbrechen der Aggression (Art. 5 Abs. 1d und Abs. 2). Über die Übergangsklausel kann durch eine entsprechende Erklärung eines Vertragsstaates die Zuständigkeit des IStGH für Kriegsverbrechen um sieben Jahre nach Vertragsbeitritt hinausgeschoben werden (Art. 124). Diese Klausel schränkt die Verfolgbarkeit dieses Tatbestandes enorm ein.

Für den Tatbestand der Aggression konnte in Rom keine Einigung erzielt werden, schließlich stand in dieser Frage die Machtposition der fünf ständigen UN-Sicherheitsratsmitglieder auf dem Spiel. Denn wenn der IStGH über das Recht zum Krieg urteilen kann, verlieren sie ihr Monopol, darüber zu entscheiden, ob ein Krieg rechtmäßig ist oder nicht. Erst auf der ersten Überprüfungskonferenz des Statuts in Kampala (Uganda) im Juni 2010 konnte eine Definition gefunden werden, die im Wesentlichen auf eine rechtsunverbindliche Definition einer Resolution der UN-Generalversammlung von 197414 zurückgeht und sich durch eine nahezu vollständige Konturlosigkeit auszeichnet. Dies dürfte den Grund für die letztendliche Einigung darstellen, denn allzu scharfe rechtliche Konturen des Aggressionsbegriffs könnten die militärischen Handlungsspielräume von interventionsfreudigen UN-Sicherheitsratsmitgliedern spürbar einengen.15

Vielleicht illustriert der Erklärungsversuch des Kölner Völkerrechtlers Claus Kreß, deutsches Delegationsmitglied bei der Überprüfungskonferenz in Kampala, am besten, welche Spielräume für Interpretationen in der Definition stecken können. Nach seiner Aussage sollen nur „klar völkerrechtswidrige schwere staatliche Gewaltakte“ unter den Tatbestand der Aggression fallen. Den NATO-Krieg gegen Jugoslawien 1999 und den US-Angriff auf den Irak 2003 allerdings nimmt er von diesem Tatbestand aus.16

Die Sonderrolle des UN-Sicherheitsrats

Die Zuständigkeit des IStGH kann nur in vier Fällen begründet werden: Ein Vertragsstaat kann für sein eigenes Gebiet eine Situation an das Gericht überweisen (Art. 13(a) in Verbindung mit Art. 14 Abs. 1; Art. 12 Abs. 1). Dies geschah in drei von sieben Fällen, in denen der IStGH bislang förmlich Untersuchungen aufgenommen hat (DR Kongo, Uganda, Republik Zentralafrika). Weiterhin kann ein Nicht-Vertragsstaat ad hoc die Zuständigkeit des Gerichts anerkennen (Art. 12 Abs. 3). Schließlich kann die Anklagebehörde nach Art. 13(c) in Verbindung mit Art. 15 Abs. 1 selbst tätig werden (Kenia, Elfenbeinküste). Diese Möglichkeit wurde geschaffen, um Untersuchungen nicht allein den Interessen der Vertragsstaaten oder des UN-Sicherheitsrats zu überlassen. Allerdings wird die Anklagebehörde immer nur dann tätig werden, wenn der Tatortstaat seine (selten zu erwartende) Kooperationswilligkeit signalisiert, denn „ohne die Kooperation des Tatortstaates [ist] das Statut nicht einmal das Papier wert, auf dem es geschrieben steht“.17

Schließlich kann der UN-Sicherheitsrat nach Art. 13(b) auf Grundlage von Kapitel VII der UN-Charta eine Situation an den IStGH überweisen (Sudan/Darfur, Libyen). Ob die betreffenden Staaten den Vertrag unterzeichnet haben, ist dann nicht von Belang. Allerdings besitzt der UN-Sicherheitsrat die Möglichkeit, die Strafverfolgung nach eigenem Ermessen für einen Zeitraum von zwölf Monaten auszusetzen und diese Aussetzung unbegrenzt oft zu erneuern (Art. 16). Dadurch wird es möglich, die Überweisung bzw. Aussetzung der Strafverfolgung als politisches Druckmittel einzusetzen. Diese Sonderrolle des UN-Sicherheitsrats stellt einen Eingriff in die inneren Angelegenheiten und damit in das Souveränitätsrecht der Nicht-Vertragsstaaten dar.

Auffällig ist, dass sämtliche Überweisungen für afrikanische Länder vorgenommen wurden. Insbesondere wird es als kontrovers angesehen, dass in diesen konfliktgeladenen Regionen Haftbefehle für die amtierenden Staatsführer Libyens und des Sudans erwirkt wurden. Als Reaktion beschloss die Afrikanische Union, die Haftbefehle nicht zu befolgen. Speziell die widersprüchliche Rolle des UN-Sicherheitsrats in Libyen lässt erkennen, dass die Überweisung an den IStGH getätigt wurde, um den Krieg der NATO mit zu legitimieren. Folgende Aussage des Göttinger Strafrechtsprofessors Kai Ambos legt die Einflussnahme politischer Interessen auf die internationale Strafgerichtsbarkeit offen: „Wir sind derzeit Zeugen eines einzigartigen Schauspiels diplomatischer Doppelzüngigkeit aus völkerstrafrechtlichen Zeiten. Die gleichen ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats, die […] die Situation in Libyen an den […] IStGH überwiesen, führen nun […] offenbar Geheimverhandlungen mit dem Diktator. Ihm sollen ein gesichtswahrender Abgang und Immunität vor Strafverfolgung ermöglicht werden. Allein die Tatsache solcher Verhandlungen untergräbt die Autorität des IStGH – ja die der ganzen internationalen Strafjustiz – und macht den Gerichtshof zum Spielball von (westlichen) Großmachtinteressen. So scheinen all diejenigen Recht zu behalten, welche die normativ klare Trennung von Recht (IStGH) und Politik (UN-Sicherheitsrat) schon immer nur für eine Schimäre gehalten haben.“ 18

Abschließend ist zur Klarstellung hervorzuheben, dass das Römische Statut keinesfalls eine quasi polizeiliche Ermächtigung für gewaltsames Eingreifen in fremde Hoheitsgebiete bietet, um dort per Haftbefehl Gesuchte festzunehmen oder gar um unter dem Stichwort der »responsibility to protect« eine Militärintervention zu legitimieren. Die Präambel des Statuts ist in dieser Frage unmissverständlich: „in Bekräftigung […] des Grundsatzes, dass alle Staaten jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Charta der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt zu unterlassen haben, in diesem Zusammenhang nachdrücklich darauf hinweisend, dass dieses Statut nicht so auszulegen ist, als ermächtige es einen Vertragsstaat, in einen bewaffneten Konflikt oder in die inneren Angelegenheiten eines anderen Staates einzugreifen […]“.

Anmerkungen

1) Alle in diesem Betrag genannten Artikel beziehen sich auf das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs; un.org/depts/german/internatrecht/roemstat1.html.

2) Vgl. z.B. Gerd Seidel und Carsten Stahn: Das Statut des Weltstrafgerichtshofs. Ein Überblick über Entstehung, Inhalt und Bedeutung. JURA, 21. Jahrgang (1999) Heft 1, S.14 ff.

3) »Wir müssen Justiz und Politik trennen«. Kriegsverbrechen vor Gericht: Carla Del Ponte zieht Bilanz. Interview in: Internationale Politik, März/April 2011, S.84 f.

4) Kirsten Janssen-Holldiek: Verhaften oder verhandeln. Der Internationale Strafgerichtshof und seine Auswirkungen auf die politischen Handlungsoptionen am Beispiel Libyen. Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik e.V., DGAPanalyse Nr. 4, Oktober 2011, S.1.

5) Bardo Fassbender: Der Internationale Strafgerichtshof: Auf dem Weg zu einem »Weltinnenrecht«? Aus Politik und Zeitgeschichte (ApuZ), B 27-28, Juli 2002.

6) Ulrich Fastenrath: Der internationale Strafgerichtshof. JuS – Juristische Schulung, 39. Jahrgang (1999), Heft 7, S.632.

7) Ulrich Fastenrath, a.a.O., S.634.

8) en.wikipedia.org/wiki/International_Criminal _Court.

9) Chefankläger Luis Moreno Ocampo im Interview: »Wir verändern gerade die Welt«. FR Online, 17. Februar 2011.

10) Abschreckungswirkung von Den Haag für Despoten gering. Detlev Mehlis im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann. Deutschlandradio, 24. August 2011.

11) David Kaye: Who’s Afraid of the International Criminal Court? Foreign Affairs, May/June 2011.

12) Ruanda-Verbrechen vor deutschen Richtern – Prozessauftakt in Stuttgart gegen Ignace Murwanashyaka. Gespräch mit Kai Ambos. Deutschlandradio, 4. Mai 2011.

13) Kai Ambos: Internationales Strafrecht. München: CH Beck, 3. Aufl., 2011, §6 Rn. 36.

14) Definition of Aggression. Resolution der UN-Generalversammlung 3314 (XXIX), 14. Dezember 1974.

15) Kirsten Schmalenbach: Das Verbrechen der Aggression vor dem Internationalen Strafgerichtshof: Ein politischer Erfolg mit rechtlichen Untiefen. JuristenZeitung, 65. Jg., 2010, S.745.

16) Thomas Darnstädt: Eine andere Welt. Interview mit Claus Kreß. Der Spiegel, 25/2010, S.110.

17) Kai Ambos: Weltgericht mit Schwächen. AI-Journal, Juli 2005.

18) Kai Ambos: Geben und Nehmen. FAZ Online, 10. August 2011. Ein weiteres Problem, auf das an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden kann, ist der Konflikt zwischen einer Opfervermeidung einerseits und einer Strafverfolgung andererseits. So habe die Ausstellung des Haftbefehls in Libyen bei Gaddafi, mangels einer abnehmenden Chance, frei vor Strafverfolgung ins Exil gehen zu können, seine Bereitschaft gestärkt, den Krieg mit der NATO unter Inkaufnahme weiterer (vermeidbarer) Opfer fortzuführen. George Friedman: Libya and the Problem with The Hague. Stratfor Geopolitical Weekly, July 11, 2011. Vgl. auch Kirsten Janssen-Holdiek, a.a.O.

Michael Haid ist Politikwissenschaftler und studiert z.Z. an der Universität Tübingen Jura.

Ruinenfeld der Machtpolitik

Ruinenfeld der Machtpolitik

IGH-Gutachten zum Kosovo als Startschuss für neue Sezessionskriege

von Martin Hantke

Insbesondere seit der einseitigen Unabhängigkeitserklärung des Kosovo im Februar 2008 ist der Status der Provinz hochgradig umstritten. Durch die offene Verknüpfung einer EU-Beitrittsperspektive mit der Anerkennung des Kosovo sieht sich die serbische Regierung einem extremen Druck ausgesetzt, ihre Position zu ändern und die Abspaltung als rechtskonform anzuerkennen. Auch die Mehrheit der UN-Mitglieder, darunter fünf EU-Staaten, erkennt die Unabhängigkeit des Kosovo nicht an. Vor diesem Hintergrund hatte die UN-Generalversammlung im Oktober 2008 auf Betreiben Serbiens in Resolution 63/31 den Internationalen Gerichtshof (IGH) mit der Klärung der folgenden Frage beauftragt: „Steht die einseitige Unabhängigkeitserklärung der vorläufigen Selbstverwaltungsinstitutionen Kosovos im Einklang mit dem Völkerrecht?“

Am 22. Juli 2010 veröffentlichte der Internationale Gerichtshof sein Gutachten zum Kosovo,2 das von der Mehrzahl der NATO-Staaten, so auch von der deutschen Bundesregierung, als Bestätigung ihrer Anerkennungspolitik gewertet wurde: „Gericht bestätigt Unabhängigkeit des Kosovo“, so die Bundesregierung. „Der Internationale Gerichtshof hat die Trennung des Kosovo von Serbien als rechtens anerkannt.“ 3 Diese Interpretation des Gutachtens spiegelte sich auch in der überwiegenden Mehrzahl der damaligen Medienberichte wieder: „Weg frei für den Kosovo!“ (Die Presse); „Kosovo ist unabhängig“ (Frankfurter Rundschau); „Abspaltung im Einklang mit dem Völkerrecht“ (Baseler Zeitung); „Kosovo’s independence was legal“ (Business Week); „Unabhängigkeit des Kosovo bestätigt“ (Die Welt); „Den Haag nennt Unabhängigkeit des Kosovos rechtens“ (Die Zeit).

Wie im Folgenden gezeigt werden soll, werden mit solchen Interpretationen die Kernaussagen des Gutachtens jedoch massiv verfälscht. Der Beitrag konzentriert sich also weniger auf die juristische Bewertung als vielmehr auf die politische Vereinnahmung und Umdeutung des Gutachtens. Diese dient nicht nur zur Legitimierung der Sezessionspolitik auf dem Balkan, sondern im schlimmsten Fall wurde hierdurch sogar ein Präzedenzfall geschaffen, mit dem sich die Teilung weiterer Länder rechtfertigen lässt.

Kein Plazet für die Zerschlagung Jugoslawiens

Die von der Generalversammlung vorgelegte Frage beantworteten die IGH-Richter mit einer Mehrheit von zehn zu vier Stimmen folgendermaßen: „Der Gerichtshof ist zu dem Schluss gekommen, dass die Annahme der Unabhängigkeitserklärung vom 17. Februar 2008 weder das Völkerrecht noch die Resolution 1244 (1999) des UN-Sicherheitsrats […] verletzt hat […].“ 4 Damit scheint die Lage auf den ersten Blick in der Tat eindeutig. Allerdings bestätigten die Richter gleichzeitig, dass die im Anschluss an den NATO-Angriffskrieg gegen Jugoslawien verabschiedete Resolution 12445 des UN-Sicherheitsrates vom Juni 1999 ebenfalls weiter Gültigkeit besitzt.6 Zwingend gilt also auch weiterhin die in der Resolution enthaltene „Bekräftigung des Bekenntnisses aller Mitgliedstaaten zur Souveränität und territorialen Unversehrtheit der Bundesrepublik Jugoslawien und der anderen Staaten der Region“.

Damit besagt das IGH-Gutachten, dass auch die auf Basis von Resolution 1244 ins Leben gerufenen Institutionen und die unter deren »Obhut« liegenden Organe die territoriale Integrität Jugoslawiens (bzw. seines Rechtsnachfolgers Serbiens) respektieren müssen. Dies gilt insbesondere für die durch Resolution 1244 ins Leben gerufene United Nations Interim Administration Mission in Kosovo (UNMIK), der die Verwaltung des Kosovo übertragen wurde und die bindende Verordnungen (regulations) erlassen konnte, denen faktisch Gesetzescharakter zukam. Mit Verordnung 2001/09 erließ die UNMIK eine Übergangsverfassung für den Kosovo, auf deren Grundlage »Provisorische Institutionen der Selbstverwaltung« (PISG) sowie die »Kosovarische Versammlung«, also quasi ein Parlament, geschaffen wurden. Allerdings blieb der UN-Sondergesandte als Chef der UNMIK weiterhin die »letzte Autorität« im Kosovo, der auch die kosovarischen Institutionen unterstanden.

Somit waren auch die kosovarischen Behörden eigentlich zwingend zur Einhaltung der Resolution 1244 verpflichtet: „Die Provisorischen Institutionen der Selbstverwaltung wurden von der Provisorischen Verfassung ins Leben gerufen, die wiederum der übergeordneten Autorität des Sondergesandten des UN-Generalsekretärs unterworfen war. […] Wäre der Internationale Gerichtshof zu dem Ergebnis gelangt, dass es die Provisorischen Institutionen der Selbstverwaltung waren, die die Unabhängigkeit erklärt haben, wäre es unmöglich gewesen, zu einem anderen Ergebnis zu gelangen, als dass die PISG ihre Kompetenzen im Rahmen der Provisorischen Verfassung übertreten und damit auch internationales Recht verletzt hätten.“ 7

Dennoch waren es Abgeordnete der Kosovarischen Versammlung, die mit 109 Stimmen (elf serbisch stämmige Abgeordnete boykottierten die Abstimmung) mehrheitlich für die Unabhängigkeit votiert hatten. Wie konnte der IGH vor diesem Hintergrund zu dem Ergebnis gelangen, die einseitige Unabhängigkeitserklärung durch die Provisorischen Institutionen der Selbstverwaltung des Kosovo stelle keine Verletzung des Völkerrechts oder der Resolution 1244 dar? Die Antwort lautet: Indem die IGH-Richter die Auffassung vertraten, die Mitglieder des kosovarischen Parlaments hätten die Unabhängigkeitserklärung nicht in dieser Funktion angefertigt, sondern vielmehr „in ihrer Funktion als Repräsentanten der Bevölkerung des Kosovo, außerhalb des Rahmens der Übergangsverwaltung“.8

Gegen diese Wertung protestierte unter anderem der IGH-Richter Peter Tomka in seiner abweichenden Erklärung und wies darauf hin, es gebe eine Vielzahl von Quellen, die unmissverständlich belegen würden, dass die Unterzeichner der kosovarischen Unabhängigkeitserklärung als Mitglieder des kosovarischen Parlaments einzustufen seien. Er zitierte hierfür etwa die damalige Erklärung des Präsidenten der Kosovarischen Versammlung: „Ich gebe hiermit bekannt, dass mit »Ja-Stimmen« aller anwesenden Mitglieder die Mitglieder der Kosovarischen Versammlung heute, am 17. Februar 2008, ihren Willen und den Willen der Bevölkerung des Kosovo für einen demokratischen, unabhängigen und souveränen Staat zum Ausdruck gebracht haben.“ 9

Zusammenfassend wird im Gutachten also folgende Position vertreten: „Laut IGH gibt es keine Norm des internationalen Rechts, die einer Gruppe verbietet, die Unabhängigkeit zu erklären, was etwas anderes sei, als die Unabhängigkeit in Kraft zu setzen. […] Die Autoren der Unabhängigkeitserklärung seien Repräsentanten der kosovarischen Bevölkerung und nicht der PISG, die unter Verantwortung eines UN-Organs agiert. Somit liegt auch keine Verletzung von Resolution 1244 oder der Übergangsverfassung vor.“ 10 Selbst mit diesem juristischen Kniff lässt sich aber nicht die Schlussfolgerung ziehen, der IGH habe die Sezession des Kosovo von Serbien bzw. die Anerkennung der einseitigen Unabhängigkeitserklärung für völkerrechtskonform erklärt: „Was nicht geklärt wurde: Ist das Kosovo ein unabhängiger Staat geworden? […] Dabei lagen hier die wesentlichen Probleme des Falls. […] Darauf geht der IGH nicht ein.“ 11

Richterliche Arbeitsverweigerung

Allen Beteiligten war klar, dass die Resolution der Generalversammlung vom IGH Stellungnahmen zu einer Reihe hochgradig umstrittener Fragen erwartete:12 Inwieweit ist die Annahme bzw. Verabschiedung (im Gegensatz zur bloßen Ausrufung) der Unabhängigkeitserklärung durch die Kosovarische Versammlung mit geltendem Recht vereinbar? Ist mit der Annahme der Unabhängigkeitserklärung ein neuer Staat entstanden? Kann somit die Anerkennung des Kosovo durch zahlreiche Staaten als völkerrechtskonform gelten?

Doch ausgerechnet für diese Kernfragen erklärten sich die IGH-Richter mehrheitlich für nicht zuständig. In Absatz 51 des Gutachtens heißt es, „die Frage der Generalversammlung ist eindeutig formuliert; […] sie fragt, nach der Meinung des Gerichtshofes, ob die Unabhängigkeitserklärung dem internationalen Recht entspricht. Sie fragt nicht nach den rechtlichen Konsequenzen dieser Erklärung. Insbesondere fragt sie nicht danach, ob der Kosovo damit zum selbständigen Staat geworden ist. Noch fragt sie nach Bestandskraft und Rechtwirksamkeit der Anerkennung des Kosovo durch jene Staaten, die den Kosovo anerkannt haben.“ Weiter heißt es dann in Absatz 56: „Die Generalversammlung hat gefragt, ob die Unabhängigkeitserklärung dem internationalen Recht entspricht. […] Für die Beantwortung der gestellten Frage ist es nicht notwendig, dass der Gerichtshof zur Frage Position bezieht, ob dem Kosovo ein positiver Rechtsanspruch gewährt wurde, seine Unabhängigkeit zu erklären, und erst recht nicht, ob das Völkerrecht Entitäten innerhalb eines Staates generell den Rechtsanspruch gewährt, sich von diesem zu lösen. Tatsächlich ist es ja durchaus möglich, dass eine bestimmte Handlung – wie eine einseitige Unabhängigkeitserklärung – nicht gegen internationales Recht verstößt, selbst wenn sie nicht notwendigerweise in Ausübung eines durch internationales Recht gewährten Rechtsanspruches erfolgt. Der Gerichtshof wurde zu seiner Meinung zum ersten Punkt befragt, nicht zum zweiten.“

Durch die Fokussierung auf den Akt der Ausrufung, anstatt auf die manifesten Folgen dieser Handlung in all ihren Facetten, drückten sich die IGH-Richter also um entscheidende Aspekte, was in der abweichenden Stellungnahme des Richters Abdul Koroma scharf kritisiert wurde. Er betonte, dass der IGH zwar das Recht habe, die Frage zu „reformulieren und zu interpretieren“, er aber „nicht frei darin ist, die ihm gestellte Frage durch seine eigene Frage zu substituieren und dann einfach auf diese zu antworten“.13 Koroma erinnerte zudem daran, dass „das internationale Recht einer ethnischen, sprachlichen oder religiösen Gruppe keinen Rechtsanspruch gewährt, sich ohne das Einvernehmen des Staates, zu dem sie gehört, von diesem abzuspalten, indem sie einfach erklärt, dies sei ihr Wille“. Er verwies zudem auf die Gefahr, dass hier ein sehr gefährlicher Präzedenzfall geschaffen worden sein könnte, der es jeder ethnischen, sprachlichen oder religiösen Gruppe außerhalb des Kontexts der Entkolonisierung erlaube, ihre Unabhängigkeit zu erklären.

Eine neue Ära der Sezessionskriege?

Der Fall Kosovo ist u.a. deshalb so brisant, weil hier zum ersten Mal seit 1945 Grenzen in Europa gewaltsam und einseitig verändert wurden. Damit wurde einer der Grundsätze der UN-Charta (Artikel 2 Absatz 4) in gravierender Weise verletzt: „Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtet oder sonst mit den Zielen der vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt.“

Die Instrumentalisierung von Minderheiten vor Beginn des Zweiten Weltkriegs war einer der Gründe dafür, dass die UN-Charta einer derartigen Praxis einen Riegel vorschieben sollte. 1945 waren die Zerschlagung der Tschechoslowakei und der vorgeschobene Kriegsgrund (Verfolgung deutscher Minderheiten in Polen) noch in frischer Erinnerung. Der NATO-Angriffskrieg gegen Jugoslawien und die nachträglichen Versuche zur Verrechtlichung der Abspaltung des Kosovo durch die Umdeutung des IGH-Gutachtens sind somit schwere Schläge gegen die UN-Charta und das Völkerrecht. Aus der Asservatenkammer des Imperialismus, so scheint es, werden die klassischen Instrumente des »Teile und Herrsche« wieder hervorgeholt. Auf Konferenzen im Herzen Europas wie in Rambouillet oder auf dem Petersberg wird über das Schicksal ganzer Völker entschieden; dort zieht man die neuen Grenzen ohne Lineal, sondern unter Berücksichtigung von Rohstoffreserven und Marktzugängen.

Wie gefährlich dieses fahrlässige Spiel mit dem Feuer ist, zeigt sich schon daran, dass es im Jahr 2010 fast 100 Konflikte gab, in denen Sezessions- und Anerkennungsfragen eine entscheidende Rolle spielten.14 Vor diesem Hintergrund pochen die NATO-Staaten darauf, im Alleingang entscheiden zu können, wer das »Recht« auf eine Sezession erhält. So werden die Sezessionsansprüche der Serben und Kroaten in Bosnien, der Serben in Kroatien, der Armenier in Nagorni-Karabach sowie der Südosseten und Abchasen in Georgien schlicht für illegitim erklärt. Andererseits wird die Aufteilung anderer Länder mittlerweile in bis dato kaum gekannter Offenheit eingefordert. Als nächster Kandidat für eine westlich orchestrierte Abspaltung kam nach dem Kosovo der Südsudan an die Reihe, der sich am 9. Januar 2011 für die Sezession vom Norden aussprach. Dabei soll es sich aber, zumindest nach den Vorstellungen von Charles Tannock, ehemaliger Koordinator der konservativen EVP-Fraktion im Auswärtigen Ausschuss des Europäischen Parlaments, lediglich um den ersten Akt bei der Neuziehung afrikanischer Grenzen handeln: „Ein unabhängiger Südsudan würde den Westen zwingen, sich mit der etablierten Orthodoxie bezüglich Afrikas auseinanderzusetzen, besonders mit der Überzeugung, dass Länder wie Somalia und Nigeria als Ganzes stabiler seien, als sie es nach Aufteilung in zwei oder mehr Teilstaaten wären.“ 15

Auch wenn versucht wurde, den Kosovo zur einzigartigen und einmaligen Ausnahme, zum Fall sui generis zu erklären, wurde hier dennoch ein Präzedenzfall geschaffen, der für weitere Sezessionen als Vorbild taugt – zumindest dann, wenn sie den geopolitischen oder geostrategischen Interessen der NATO-Staaten dienen. Dies scheint auch die Auffassung der die Bundesregierung beratenden Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) zu sein: „Die internationale Anerkennung separatistischer Gebiete ist dann sinnvoll, wenn dies dem deutschen und europäischen Interesse am Aufbau effektiver Staaten dient. Das Völkerrecht ist dabei keine Hürde, solange eine effektive Staatsqualität besteht.“ 16

Anmerkungen

1) 63. Tagung der UN-Generalversammlung: Antrag auf ein Gutachten des Internationalen Gerichtshofs zu der Frage, ob die einseitige Unabhängigkeitserklärung Kosovos im Einklang mit dem Völkerrecht steht. Resolution 63/3 vom 8.10.2008; un.org/Depts/german/gv-63/band1/ar63003.pdf.

2) International Court of Justice. Advisory Opinion of 22 July 2010 – Accordance with International Law of the Unilateral Declaration of Independence in Eespect of Kosovo (Request for Advisory Opinion); icj-cij.org/docket/files/141/15987.pdf.

3) Gericht bestätigt Unabhängigkeit Kosovo. Pressemitteilung der Bundesregierung vom 23.07.2010.

4) International Court of Justice 2010, Absatz 122.

5) UN-Sicherheitsrat: Resolution 1244 (1999) vom 10 June 1999; un.org/Depts/german/sr/sr_99/sr1244.pdf.

6) Vgl. zur Gültigkeit von Resolution 1244 im IGH-Gutachten: Michael Bothe: Kosovo – So What? The Holding of the International Court of Justice is not the Last Word on Kosovo’s Independence. In: German Law Journal, Nr. 11/2010, S.837-840, S.840.

7) Robert Muharremi: A Note on the ICJ Advisory Opinion on Kosovo. In: German Law Journal, Nr. 11/2010, S.867-880, S.872f.

8) International Court of Justice 2010, Absatz 109.

9) Transcript of the Special Plenary Session of the Assembly of Kosovo on the Declaration of Independence held on 17 February 2008. In: Written Contribution of the Republic of Kosovo, 17 April 2009, Ann. 2, pp. 238-245. Zitiert bei Declaration of Vice-President Tomka; icj-cij.org/docket/files/141/15989.pdf.

10) Muharremi 2010, S.880.

11) Przemyslaw Nick Roguski: Was der IGH wirklich entschied. Legal Tribune Online, 23.07.2010.

12) Vgl. zur Intention von Resolution 63/3: Robert Howse /Ruti Teitel: Delphic Dictum: How Has the ICJ Contributed to the Global Rule of Law by its Ruling on Kosovo? In: German Law Journal, Nr. 11/2010, S.841-846, S.841.

13) Dissenting Opinion of Judge Koroma;www.icj-cij.org/docket/files/141/15991.pdf.

14) Conflict Barometer 2010: hiik.de/de/konfliktbarometer/pdf/ConflictBarometer_2010.pdf.

15) Charles Tannock: Independence or War, Project Syndicate, 03.01.2011; project-syndicate.org/commentary/tannock24/English.

16) Dennis M. Tull: Separatismus in Afrika – Die Sezession des Südsudan wird nicht Schule machen. SWP-Aktuell 6 (2011).

Martin Hantke ist Diplom-Politologe und Beirat der Informationsstelle Militarisierung (IMI) in Tübingen.

Einladung ohne Grenzen

Einladung ohne Grenzen

Das Bundesverfassungsgericht zu Bundeswehreinsätzen

von Martin Kutscha

Richter oder Richterin am Bundesverfassungsgericht zu werden gilt als Krönung einer juristischen Karriere. Immerhin genießt das Bundesverfassungsgericht ein Ansehen in der Bevölkerung wie kaum eine andere zentrale politische Institution. Eine Ursache dafür dürfte sein, dass sich das höchste deutsche Gericht erfolgreich mit dem „Nimbus des scheinbar Unpolitischen“1 zu umgeben weiß. Auch hat das Bundesverfassungsgericht etwa im Bereich der Inneren Sicherheit der Staatsgewalt deutliche Grenzen gesetzt und die Grundrechte zum Schutz der Privatsphäre gestärkt. Die beiden bekannten Entscheidungen aus den letzten Jahren zur Online-Durchsuchung sowie zur Vorratsdatenspeicherung spiegeln freilich auch die Suche nach einem »vertretbaren« Kompromiss zwischen konsequentem Grundrechtsschutz und staatlichen Ausforschungsbedürfnissen wider.2 Demgegenüber ist die Rechtsprechung zu den Auslandseinsätzen der Bundeswehr alles andere als ein Ruhmesblatt.

Verbrämt durch einige beschwichtigende Klauseln hat das Bundesverfassungsgericht der Regierungsmehrheit eine nahezu unbegrenzte Einladung zu Streitkräfteeinsätzen rund um die Welt verschafft. Die limitierende Wirkung der insoweit eigentlich eindeutigen Verfassungsnorm des Art. 87a Grundgesetz blieb dabei auf der Strecke. Die Weichen hierfür wurden schon in der Grundsatzentscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Juli 1994 gestellt.

Freie Bahn der Bundeswehr!

Nach dem Zusammenbruch des Warschauer Pakt-Systems und der Erlangung der vollen Souveränität der Bundesrepublik durch den Zwei-plus-vier-Vertrag von 1990 entdeckten die damalige Kohl-Regierung und führende Militärs die „neue Verantwortung Deutschlands in der Welt“ und meinten, sie durch die Entsendung von Bundeswehreinheiten an verschiedene Schauplätze »out of area« wahrnehmen zu müssen. So beteiligten sich Marine- und Luftwaffeneinheiten der Bundeswehr 1992 bis 1996 an der Überwachung des Waffenembargos gegenüber Jugoslawien, und deutsche Soldaten gehörten zu den Besatzungen von AWACS-Flugzeugen der NATO, die 1993 bis 1995 die Einhaltung des Flugverbots über Bosnien kontrollierten. Nicht zuletzt ist hier auch der Somalia-Einsatz der Bundeswehr 1993/1994 zu nennen.

Die damals in der Opposition befindliche SPD beharrte zu Recht darauf, dass für eine solche Erweiterung des Einsatzspektrums der deutschen Streitkräfte eine Verfassungsänderung notwendig sei. Im August 1992 stellte die SPD-Bundestagsfraktion beim Bundesverfassungsgericht Anträge auf Feststellung, dass die Bundesregierung durch ihre Zustimmung zu den Bundeswehreinsätzen im Mittelmeer, in den AWACS-Flugzeugen sowie in Somalia verfassungsmäßige Rechte des Parlaments verletzt habe. In der Antragsschrift zum Adria-Verfahren wurde zutreffend argumentiert, dass Art. 87a Abs. 2 des Grundgesetzes die Grundlage für jeglichen Einsatz der deutschen Streitkräfte sei. Dieser lautet: „Außer zur Verteidigung dürfen die Streitkräfte nur eingesetzt werden, soweit dieses Grundgesetz es ausdrücklich zulässt.“ Solche »ausdrücklichen Zulassungen« finden sich nur in Gestalt der Absätze 3 und 4 dieses Artikels, ferner in Art. 35 Abs. 2 und 3 Grundgesetz. Diese Regelungen beziehen sich auf Ausnahmezustände wie den Verteidigungs- oder Spannungsfall sowie Naturkatastrophen und besonders schwere Unglücksfälle, bei denen die Bundeswehr im Inneren eingesetzt werden darf.

Über die Bedeutung des Art. 87a Grundgesetz für Auslandseinsätze der Bundeswehr gab es bei der Beratung über den SPD-Antrag im Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts keine Einigkeit. Schließlich fand man eine »elegante« Lösung des Problems, indem diese Norm einfach ignoriert und statt dessen auf Art. 24 Abs. 2 Grundgesetz verwiesen wurde. Danach kann sich der Bund „zur Wahrung des Friedens einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit einordnen“ und die damit verbundenen Beschränkungen seiner Hoheitsrechte hinnehmen. „Die schon im ursprünglichen Text des Grundgesetzes zugelassene Mitgliedschaft in einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit und die damit mögliche Teilnahme deutscher Streitkräfte an Einsätzen im Rahmen eines solchen Systems sollten“, so das Gericht, durch den später geschaffenen Art. 87a „nicht eingeschränkt werden“.3 Dabei wurde geflissentlich verschwiegen, dass die Einordnung in ein solches System keineswegs mit der Bereitstellung von Militär für die Vereinten Nationen oder für die NATO verbunden sein muss. Zum Zeitpunkt der Schaffung des Art. 24 im Jahre 1949 gab es schließlich noch keine Bundeswehr, und es ist höchst fraglich, ob der Gesetzgeber mit der Verfassungsänderung von 1968 eine Umgehung der strikten Festlegung auf die »Verteidigung« in Art. 87a über die völkerrechtliche Ermächtigung des Art. 24 Abs. 2 zulassen wollte.

Möglicherweise als Ausdruck des Unbehagens wegen der Umgehung des Art. 87a Grundgesetz kreierte das Gericht immerhin einen Parlamentsvorbehalt für Bundeswehreinsätze: „Das Grundgesetz verpflichtet die Bundesregierung, für einen Einsatz bewaffneter Streitkräfte die – grundsätzlich vorherige – konstitutive Zustimmung des Deutschen Bundestages einzuholen“.4 Diesen – in der Verfassung nicht ausdrücklich normierten – Parlamentsvorbehalt hat das Bundesverfassungsgericht in späteren Entscheidungen bekräftigt, so in seinem Urteil zum AWACS-Einsatz im Luftraum über der Türkei vom 7. Mai 2008 sowie im Urteil vom 30. Juni 2009 zum Lissabon-Vertrag.5 Allerdings sind Zweifel angebracht, ob das Parlament als »Friedenswächter« gegenüber der Regierung überhaupt geeignet ist: Nur die Opposition hat ein Interesse an Kontrolle und Kritik der Regierung, während die Parlamentsmehrheit im Regelfall bestrebt sein wird, das Handeln der jeweiligen Regierung zu stützen und damit die Chancen ihrer Wiederwahl zu verbessern.6 Der Mehrheit der Bundestagsabgeordneten, ja häufig sogar eine informelle Große Koalition, hat denn auch jedem der inzwischen über 50 Anträge der Bundesregierung, bewaffnete Streitkräftekontingente im Ausland einzusetzen, ihre Zustimmung erteilt.

Immerhin statuierte das Bundesverfassungsgericht in seinem Grundsatzurteil 1994 eine Beschränkung, deren besondere Brisanz sich erst an der Schwelle zum 21. Jahrhundert erweisen sollte: Es legitimierte nur Bundeswehreinsätze, die „im Rahmen und nach den Regeln“ der Systeme kollektiver Sicherheit, also konkret den Vorgaben des NATO-Vertrages sowie der UN-Charta, stattfinden.7 „Im Rahmen und nach den Regeln“ der völkerrechtlichen Grundlagen von Vereinten Nationen und NATO bewegte sich die Bombardierung Jugoslawiens durch NATO-Streitkräfte unter Beteiligung der deutschen Bundeswehr im März 1999 nämlich keineswegs. Weder lag ein Fall der Selbstverteidigung nach Art. 51 der UN-Charta vor noch handelten die beteiligten NATO-Staaten auf der Grundlage einer Ermächtigung durch den UN-Sicherheitsrat – damit handelte es sich um eine Verletzung des Gewaltverbots. Darauf wiesen Völkerrechtler eindringlich hin,8 fanden dabei aber nur Unterstützung durch die Friedensbewegung und im parlamentarischen Raum durch die PDS, während die anderen im Bundestag vertretenen Parteien den Militäreinsatz billigten und mit der (im Völkerrecht mit guten Gründen überwiegend abgelehnten)9 Legitimationsformel der »humanitären Intervention« zu rechtfertigen versuchten. Die PDS-Bundestagsfraktion stellte daraufhin beim Bundesverfassungsgericht den Antrag auf Feststellung, dass die Beteiligung der Bundeswehr gegen die Bestimmungen des Grundgesetzes verstoße und der Bundestag dadurch in seinen Rechten und Pflichten verletzt sei. Mit Beschluss vom 25. März 1999 verwarf das Bundesverfassungsgericht den Antrag als unzulässig.10 Es verwies darauf, dass der Bundestag in seiner Sitzung am 16. Oktober 1998 die Zustimmung zur Beteiligung der Bundeswehr an dem Kriegseinsatz gegen Jugoslawien ja schon vorab erteilt hatte, verfassungsmäßige Rechte des Parlaments in diesem Fall also nicht verletzt worden seien.

Schon wenige Monate später, im Herbst 1999, unternahm die PDS-Bundestagsfraktion einen neuen Anlauf beim Bundesverfassungsgericht. Beantragt wurde diesmal die Feststellung, dass die Bundesregierung mit ihrer Zustimmung zum neuen »Strategischen Konzept« der NATO (in dessen Konsequenz schließlich auch der Angriff auf Jugoslawien lag) das Zustimmungsrecht des Bundestages gemäß Art. 59 Abs. 2 Grundgesetz verletzt habe.

Am 22. November 2001 – sicher nicht unbeeinflusst von der politischen Stimmungslage nach den Terroranschlägen vom 11. September – wies dann der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts den Antrag als unbegründet zurück.11 Die Bundesregierung habe mit ihrer Zustimmung zum neuen Strategischen Konzept der NATO nicht das Mitwirkungsrecht des Bundestages aus Art. 59 Abs. 2 Grundgesetz verletzt. Die bloße „Fortentwicklung“ des NATO-Systems, die keine Vertragsänderung darstelle, bedürfe keiner gesonderten Zustimmung des Bundestages. Aus dem Inhalt des 1999 beschlossenen neuen Strategischen Konzepts der NATO, so hieß es weiter, gehe nicht hervor, dass das nordatlantische Bündnis seine Bindung an die Ziele der Vereinten Nationen und die Beachtung ihrer Satzung aufgeben will.12

Immerhin wird die reichlich wohlwollende Interpretation des NATO-Beschlusses durch das Gericht ergänzt durch eine deutliche Ermahnung an die Grenzen, die das Grundgesetz der Beteiligung Deutschlands an internationalen Bündnissystemen setzt: „Schon die tatbestandliche Formulierung des Art. 24 Abs. 2 Grundgesetz schließt aber auch aus, dass die Bundesrepublik Deutschland sich in ein gegenseitiges kollektives System militärischer Sicherheit einordnet, welches nicht der Wahrung des Friedens dient. Auch die Umwandlung eines ursprünglich den Anforderungen des Art. 24 Abs. 2 Grundgesetz entsprechenden Systems in eines, das nicht mehr der Wahrung des Friedens dient oder sogar Angriffskriege vorbereitet, ist verfassungsrechtlich untersagt und kann deshalb nicht vom Inhalt des auf der Grundlage des nach Art. 59 Abs. 2 Satz 1, Art. 24 Abs. 2 Grundgesetz ergangenen Zustimmungsgesetzes zum NATO-Vertrag gedeckt sein“.13

Aber wo genau endet die »Wahrung des Friedens« und beginnt eine Militärpolitik von NATO-Mitgliedern, deren Ziel stattdessen in der Durchsetzung von politischen und ökonomischen Interessen rund um den Erdball besteht? Auch die »Verteidigungspolitischen Richtlinien« des Bundesministers der Verteidigung vom 27. Mai 2011 lassen schließlich die kaum verhüllte Intention erkennen, die deutschen Streitkräfte künftig auch zur Sicherung wirtschaftlicher Interessen einzusetzen. Nach diesen Richtlinien gehört zu den »deutschen Sicherheitsinteressen« auch, „einen freien und ungehinderten Welthandel sowie den freien Zugang zur Hohen See und zu natürlichen Ressourcen zu ermöglichen“. Soll danach die Bundeswehr gegen einen Staat eingesetzt werden dürfen, der z.B. Bergwerke als wichtige Rohstofflieferanten sozialisiert oder seine einheimischen Produzenten durch hohe Einfuhrzölle vor dem angeblich freien Weltmarkt schützt?

Tornados vor dem Bundesverfassungsgericht

Auch stellt sich die Frage nach der verfassungs- und völkerrechtlichen Beurteilung des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan. Immerhin spricht einiges für die Vermutung, dass es »vor Ort« keineswegs eine klare Trennung gibt zwischen der von den USA angeführten Operation Enduring Freedom und dem vom UN-Sicherheitsrat mandatierten ISAF-Einsatz, an dem Deutschland beteiligt ist. In seinem »Tornado-Urteil« vom 3. Juli 2007 mochte das Bundesverfassungsgericht diese Bedenken nicht teilen.

Die Verletzung des Völkerrechts durch einzelne militärische Einsätze der NATO, so das Gericht, könne zwar ein Indikator dafür sein, dass sich die NATO von ihrer friedenswahrenden Ausrichtung strukturell entfernt. Die Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht im Organstreitverfahren eröffne allerdings keine allgemeine Prüfung der Völkerrechtskonformität von militärischen Einsätzen der NATO.14 Angesichts dieses Verzichts auf eine verfassungsrichterliche Kontrolle der Einsatzpraxis erstaunt das Ergebnis im Hinblick auf die NATO umso mehr: An „Anhaltspunkten für eine strukturelle Entfernung der NATO von ihrer friedenswahrenden Ausrichtung fehlt es. Die angegriffenen Maßnahmen lassen keinen Wandel der NATO hin zu einem Bündnis erkennen, das dem Frieden nicht mehr dient und an dem sich die Bundesrepublik Deutschland von Verfassungswegen daher nicht mehr beteiligen dürfte.“ 15

Man würde den Mitgliedern des Gerichts sicher Unrecht tun, wenn man eine solche Einschätzung der NATO-Militäreinsätze als Ausdruck professionell bedingter Naivität wertet. Das Ergebnis dürfte eher dem Bestreben des Gerichts geschuldet sein, bei Entscheidungen von so grundsätzlicher Bedeutung wie dem Engagement in der NATO der Regierung nicht in den Arm zu fallen. Immerhin wird niemand Richter oder Richterin am Bundesverfassungsgericht, der nicht das Vertrauen der beiden großen Bundestagsparteien genießt – dafür sorgt der Wahlmodus.16 Insgesamt ist jedenfalls die Einschätzung zutreffend, dass die Entscheidungen des höchsten deutschen Gerichts „stets um die reale gesellschaftliche und politische Macht oszillieren“.17

Mit Recht zieht der Lübecker Politikwissenschaftler Robert Chr. van Ooyen denn auch ein ernüchterndes Fazit der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr: Das Gericht gäbe der Regierung „so weit wie möglich »Carte blanche«, indem es die Verfassung durch dynamische Grenzverschiebungen Stück für Stück flexibilisiert hat: vom verfassungspolitischen Grundkonsens einer Ablehnung zur Grundentscheidung der Zulässigkeit der »Out-of-Area-Einsätze«, von der engen, klassischen »kollektiven Sicherheit« (UN) zum weiten Begriff unter Einschluss insbesondere der NATO, vom bloßen Auftrag kollektiver Selbstverteidigung der NATO zum erweiterten Sicherheitsbegriff des neuen Strategiekonzepts, schließlich, als aktuell letzter Schritt in der Tornado-Entscheidung, vom räumlich begrenzten euro-atlantischen Bezug der Sicherheit zur globalisierten Sicherheit. Damit sind Auslandseinsätze der Bundeswehr in räumlicher und inhaltlicher Hinsicht (»Frieden«) mit einfacher Parlamentszustimmung nahezu unbegrenzt möglich.“ 18

Die – angesichts bitterer Erfahrungen mit dem deutschen Militarismus recht eindeutigen – Grenzziehungen unserer Verfassung für den Streitkräfteeinsatz, so wäre hinzuzufügen, haben sich durch diese Rechtsprechung nahezu völlig verwischt. An ihre Stelle ist eine sprichwörtlich grenzenlose Einladung getreten, die nur noch vom politischen Wohlwollen der Parlamentsmehrheit abhängt.

Anmerkungen

1) So Kloepfer, M. (2003): Vom Zustand des Verfassungsrechts. Juristenzeitung 10/2003, S.481 (482).

2) Vgl. im Einzelnen Kutscha, M. (2009): Zähmung der Big Brothers? Blätter für deutsche und internationale Politik 10/2009, S.75 ff.

3) Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE) Bd. 90, S.286 (357).

4) BVerfGE 90, S.286 (Leitsatz 3a).

5) BVerfGE 121, S.135 u. BVerfGE 123, S.267.

6) Dazu im Einzelnen Kutscha, M. (2009): Das Parlament als Friedenswächter? Wissenschaft und Frieden 4/2009, S.51 ff.

7) BVerfGE 90, S.286 (Leitsatz 1) und S.345.

8) Vgl. z.B. Paech, N./Stuby, G. (2001): Völkerrecht und Machtpolitik in den internationalen Beziehungen. Hamburg: VSA, S.557 f. Vgl. auch die unterschiedlichen Positionen in: Lutz, D.S. (Hrsg.) (2000): Der Kosovo-Krieg. Baden-Baden: Nomos.

9) Vgl. z.B. Deiseroth, D. (1999): »Humanitäre Intervention« und Völkerrecht. Neue Juristische Wochenschrift 42/1999, S.3084 ff.

10) BVerfGE 100, S.266.

11) BVerfGE 104, S.151.

12) BVerfGE 104, S.151 (211).

13) BVerfGE 104, S.151 (213).

14) BVerfGE 118, S.244 (271).

15) BVerfGE 118, S.244 (272).

16) Nach den §§6 u. 7 Bundesverfassungsgerichtsgesetz werden die Verfassungsrichter und -richterinnen mit Zweidrittelmehrheit von einem Wahlausschuss des Bundestages sowie vom Bundesrat gewählt.

17) So Preuß, U.K. (1987): Politik aus dem Geiste des Konsenses. Zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Merkur 1/1987, S.1 (12).

18) Van Ooyen, R.C. (2008): Das Bundesverfassungsgericht als außenpolitischer Akteur: von der »Out-of-Area-Entscheidung« zum »Tornado-Einsatz«. Recht und Politik 2/2008, S.75 (83).

Dr. Martin Kutscha ist Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin und Vorstandsmitglied der deutschen Sektion der International Association of Lawyers Against Nuclear Arms (IALANA).

Frieden durch Recht?

Frieden durch Recht?

von Jürgen Nieth

Die Bilder, die diese Ausgabe illustrieren, zeigen Kriegsszenen: den Kampf Mann gegen Mann, das Gemetzel, Folter und Verbrechen an der Zivilbevölkerung vor über 200 Jahren. Seitdem hat sich mit der Weiterentwicklung der Waffen das Bild des Krieges ständig verändert, und das Verhältnis der Menschen zum Krieg unterliegt ebenfalls einem stetigen Wandel.

Vor dem Ersten und Zweiten Weltkrieg konnte (nicht nur) in Deutschland eine erschreckende Kriegsbegeisterung erzeugt werden. Seit Vietnam und dem russischen Afghanistankrieg aber sind hohe Verluste in den Reihen des eigenen Militärs kaum noch zu vermitteln. Von Irak über Afghanistan bis Libyen – die Angreifenden nutzen heute ihre technologische Überlegenheit, um die eigenen Verluste zu minimieren, und sie versuchen alles, um dem Krieg den Mantel eines chirurgischen Eingriffs überzustülpen. Dazu gehört, dass die Toten der anderen Seite selten erwähnt und die eigenen Gräueltaten als Kollateralschäden verniedlicht werden.

Etwa zur gleichen Zeit als Goya das Bild zur Argumentation gegen den Krieg nutzte, schärfte Immanuel Kant in seinen Schriften die Argumente für den Frieden. Lothar Brock (S.9) verweist in dieser W&F-Ausgabe darauf, dass Kant dabei die Vertreter des klassischen Völkerrechts als „leidige Tröster“ verspottete, deren Lehren zur Rechtfertigung eines Kriegsangriffs herangezogen würden, aber nie zur Unterlassung eines Krieges führten.

Wie in der Kriegsführung hat sich auch im Völkerrecht vieles geändert. Bis 1945 reichte dem Völkerrecht die »Kriegserklärung«. Die Frage, ob es ein gerechter oder ungerechter Krieg war, beantworteten die Sieger dann im Nachhinein. Die UN-Charta von 1945 leitete eine neue Epoche ein: Sie verbietet den Krieg. Das Gewaltverbot in Artikel 2(4) lässt nur zwei Ausnahmen zu: Erstens nach Ermächtigung des Sicherheitsrates, wenn dieser eine Angriffshandlung oder eine Bedrohung des Friedens feststellt, zweitens zur Selbstverteidigung, bis der Sicherheitsrat die erforderlichen Maßnahmen ergreift.

Die Deklaration der internationalen Menschenrechte, die Einrichtung eines Internationalen Gerichtshofes und eines Internationalen Strafgerichtshofes waren weitere wichtige Schritte in Richtung einer Friedensordnung. Aber heißt das schon, dass das Recht heute den Frieden sichert? Der Praxistest zeigt leider ein anderes Bild.

Die UN-Charta wird missachtet, UN-Beschlüsse werden zwecks Kriegsführung uminterpretiert (Peter Becker, S.13). Dafür drei Beispiele:

Für den Jugoslawienkrieg gab es kein UN-Mandat, Deutschland beteiligte sich trotzdem daran.

Der UN-Beschluss zu Afghanistan mandatierte nur den Kampf gegen die Taliban. Diese waren schnell besiegt, der Krieg dauert aber bereits über zehn Jahre.

Für Libyen wurde vom UN-Sicherheitsrat eine Flugverbotszone beschlossen. Nach drei Tagen hatte Gaddafi nichts mehr, was fliegen konnte. NATO-Mitglieder aber bombten weiter, über 20.000 Einsätze bis zum nicht-mandatierten »regime change«.

Beschlüsse des Internationalen Gerichtshofes (IGH) werden ignoriert:

In einem Rechtsgutachten hat der IGH 1986 festgestellt, dass „die Bedrohung durch oder Anwendung von Atomwaffen generell im Widerspruch“ zum internationalen Recht stehe. Aber immer noch sind tausende Atombomben einsatzbereit.

Gleichfalls 1986 verurteilte der IGH die USA, an Nicaragua Schadenersatz zu zahlen wegen der vorausgegangenen Finanzierung der Contras und der Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines Staates. Bis heute haben die USA nichts bezahlt.

Der Bau der israelischen Sperrmauer auf palästinensischem Boden ist laut IGH illegal, dennoch gehen die Arbeiten daran weiter.

Auch die Anti-Folter-Konvention der UN wird in vielen Ländern missachtet. Unsere Titelseite zeigt die berüchtigte Folterhölle des US-Militärs, Camp X-Ray der Guantanamo Bay Naval Base.

Fast zwei Drittel der UN-Mitglieder haben das Statut des Internationalen Strafgerichtshofes (IStG) ratifiziert, 32 weitere haben immerhin ihre Unterschrift hinterlegt. Die übrigen Länder entziehen sich dem Geltungsbereich des IStG (Michael Haid, S.15).

Der Weg vom Kriegs- zum von Allen geachteten Friedensrecht ist lang und steinig. Sicher, der klassische Eroberungskrieg lässt sich heute nicht mehr propagieren. Zur Rechtfertigung von Kriegen muss gelogen, müssen Beweise gefälscht werden (siehe Jugoslawien und Irak), fürs Massenbewusstsein braucht man die »humanitäre Intervention« als trojanisches Pferd.

Damit Völkerrecht zum Friedensrecht wird, muss es für alle bindend sein, auch für die Großmächte, ihre Politiker und Militärs. Friedensrecht heißt ebenso, Recht darf nicht zur Rechtfertigung eines Krieges missbraucht werden. Auch die so genannte humanitäre Intervention führt mit großer Sicherheit in eine humanitäre Katastrophe.

Es bleibt dabei: Kriege müssen verhindert werden.

Ihr Jürgen Nieth

Vom Kriegs- zum Friedensrecht?

Vom Kriegs- zum Friedensrecht?

Verhindert oder legitimiert das Recht die Anwendung von Gewalt?

von Lothar Brock

Von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis kurz nach dem Zweiten Weltkrieg vollzog sich eine große Transformation des Völkerrechts: die Transformation vom Kriegs- zum Friedensrecht. Kern dieser Entwicklung war die sukzessive Einschränkung des von den Staaten zuvor in Anspruch genommenen Rechts auf die Anwendung von Gewalt nach eigenem Ermessen (liberum ius ad bellum). Seit Oktober 1945 spricht die Charta der Vereinten Nationen ein allgemeines Gewaltverbot aus, das durch die Institutionalisierung der kollektiven Friedenssicherung flankiert wird und außer friedenssichernden Maßnahmen der UN nur eine Ausnahme vorsieht: die Selbstverteidigung. Dennoch ist es seither immer wieder zur nicht vom Sicherheitsrat autorisierten Anwendung von Gewalt oder ihrer Androhung gekommen, und zwar in einem Umfang, dass dadurch das allgemeine Erscheinungsbild der internationalen Beziehungen geprägt wird. Daraus ergeben sich zwei Fragen: Ist die Transformation des Völkerrechts in ihren Anfängen stecken geblieben? Oder könnte es sogar sein, dass das Friedensvölkerrecht neue Möglichkeiten zur Legitimation einseitiger Gewalt bietet (Brock 2010)?

Bekanntlich hat Immanuel Kant die Vertreter des klassischen Völkerrechts (Hugo Grotius, Samuel von Pufendorf, Emer de Vattel u.a.m.) als „leidige Tröster“ verspottet, deren Lehren immer treuherzig zur Rechtfertigung eines Kriegsangriffs herangezogen würden, aber nie zur Unterlassung eines Krieges führten. Dieser Spott richtet sich gegen die schrankenlose Ausweitung von Gründen, die für die Rechtfertigung von Kriegen in Anspruch genommen wurden. Kant ging es darum, diese Rechtfertigungspraxis offenzulegen als eine, die sich aus der Logik des Naturzustandes ergibt (Niesen/Eberl 2011, S.151).

Die zwischenzeitliche Neuorientierung des Völkerrechts, die mit der Aufgabe seiner neutralen Haltung gegenüber dem von den Staaten beanspruchten »ius ad bellum« begann (Bothe 2010, S.646) und in das allgemeine Gewaltverbot der UN-Charta mündete, kann als Versuch interpretiert werden, in zumindest teilweisem Einklang mit Kants Agenda (wenn auch nicht unbedingt mit seiner Argumentation) der von Kant gegeißelten schrankenlosen Rechtfertigungspraxis Einhalt zu gebieten. Diese Neuorientierung liest sich wie eine Fortschrittserzählung, die aber an immer neue Kriegserfahrungen anknüpft und sich damit selbst zu dementieren scheint. Inwieweit das tatsächlich der Fall ist, soll weiter unten erörtert werden. Hier soll zunächst auf den zentralen Aspekt des Völkerrechts als Friedensrecht eingegangen werden: das UN-System der kollektiven Friedenssicherung.

Den Wendepunkt in der Entwicklung des Völkerrechts vom Kriegs- zum Friedensrecht markieren die beiden Haager Friedenskonferenzen von 1899 und 1907. Zwar trugen diese Konferenzen ihrerseits zur Ausdifferenzierung des »ius in bello« bei (Haager Recht). In Wechselwirkung mit der ersten internationalen Friedensbewegung, die sich in Europa und den USA formierte, stießen sie aber eine weit darüber hinaus reichende Entwicklung an, die im Völkerbund, dem Briand-Kellog-Pakt und schließlich in der Charta der Vereinten Nationen konkrete Gestalt annahm. Das Ergebnis, wie es sich in der UN-Charta darstellt, ist beachtlich. Die Mitglieder der Vereinten Nationen verpflichten sich, „in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt“ zu unterlassen (Art. 2, Ziff. 4). Da man die Anwendung von Gewalt aber nicht ersatzlos aus dem Repertoire zulässigen Verhaltens streichen kann, wurden die einschlägigen Ideen und Konzepte der Haager Friedenskonferenzen und des Völkerbunds aufgegriffen und zu einem System der friedlichen Streitbeilegung und der kollektiven Friedenssicherung ausgebaut (Kapitel VI und VII UN-Charta).

Das Recht auf Selbstverteidigung nach Art. 51 UN Charta wird diesem System zu- bzw. untergeordnet. Zwar spricht Art. 51 vom „naturgegebenen Recht“ auf Selbstverteidigung, er knüpft die Wahrnehmung dieses Rechts aber an strikte Bedingungen (Vorliegen eines bewaffneten Angriffs; Verteidigung nur bis zu dem Zeitpunkt, an dem der Sicherheitsrat mit geeigneten Maßnahmen tätig wird). Aus seiner Stellung im System der Charta folgt, dass es sich bei Art. 51 nicht um eine Bestimmung handelt, die ein Gegengewicht zur kollektiven Friedenssicherung schaffen soll, vielmehr soll deren Funktionsfähigkeit durch die Zulässigkeit der vorläufigen Gegenwehr eines Angegriffenen erhöht werden. Ähnlich wie die Notwehr (und Nothilfe) auf innerstaatlicher Ebene das Rechtssystem des Staates nicht unterminiert, sondern zur Geltung bringt, soll Art. 51 das System der kollektiven Friedenssicherung nicht unterlaufen, sondern in akuten Notsituationen stützen. Insofern kann man davon ausgehen, dass die UN-Charta keine Schlupflöcher für die eigenmächtige Anwendung von Gewalt lässt (O’Connell 2011, S.73).

Die Friedensregelungen der Charta sind durch entsprechende Resolutionen des Sicherheitsrates und der Generalversammlung bekräftigt und durch die Beschlüsse des Reformgipfels der Vereinten Nationen von 2005 erneut bestätigt worden. Der Internationale Gerichtshof (IGH, engl. International Court of Justice, ICJ) vertritt zudem die Einschätzung, dass eine restriktive Interpretation des Rechts auf Selbstverteidigung zum Völkergewohnheitsrecht zu zählen sei (Nicaragua vs. United States of America, ICJ Reports 1986, Ziffern 230-246). In diesem Sinne kann die Kernnorm des UN-Systems der kollektiven Friedenssicherung, das allgemeine Gewaltverbot, als unmittelbar geltendes Recht betrachtet werden (ius cogens), das alle Staaten bindet, und zwar unabhängig davon, ob sie Mitglied der Vereinten Nationen sind bzw. den Briand-Kellog-Pakt ratifiziert haben (Geltung »erga omnes«). Die IGH-Entscheidung verweist zugleich darauf, dass der Umgang mit dieser Norm der gerichtlichen Überprüfung unterliegt. Das erfolgt zwar weitgehend ohne Sanktionsmöglichkeiten, mit den Kriegsverbrechertribunalen von Nürnberg (1945-49) und Tokio (1946-48) sowie der Einrichtung von Sondertribunalen zu den Konflikten auf dem Balkan (seit 1993) und schließlich der Einrichtung des Internationalen Strafgerichtshofes (2003) formiert sich aber ein internationales Strafrecht, das einzelne Personen für ihr Verhalten in kollektiven Auseinandersetzungen zur Verantwortung ziehen kann.

Das Recht als Ressource zur Rechtfertigung von Gewalt

Die Ausdifferenzierung des Völkerrechts erhöht jedoch seine Interpretationsbedürftigkeit. Das zeigt der schillernde Umgang mit dem Interventionsverbot in Theorie und Praxis.

Das Interventionsverbot gehört zu den Kern-Normen der UN-Charta (Art. 2, Ziff. 7). Es leitete seinen Stellenwert zunächst aus den post-kolonialen Auseinandersetzungen zwischen Nord und Süd sowie aus dem Ost-West-Konflikt ab. Im Nord-Süd-Zusammenhang konnte ihm eine emanzipatorische, im Ost-West-Verhältnis eine friedenssichernde Funktion zugeschrieben werden. Indes verbarg sich hinter dem emanzipatorischen Anspruch in vielen Fällen die Neigung, Befreiung und Selbstbestimmung möglichst kostengünstig in ein System der Selbstbereicherung zu überführen. Und im Rahmen des Ost-West-Konflikts diente es der Legitimation einer Interventionspraxis, die die jeweiligen hegemonialen Räume gegeneinander abschirmte. Zwar hatten die USA bei Gründung der Organisation Amerikanischer Staaten einer besonders weitreichenden Form des Interventionsverbots zugestimmt. Aber gerade das bot ihnen die Möglichkeit, ihr Eingreifen in die innergesellschaftlichen Auseinandersetzungen in Lateinamerika und der Karibik als Abwehr der Einmischung des internationalen Kommunismus zu konzipieren. Ähnlich verhielt es sich mit der hegemonialen Politik der Sowjetunion im »sozialistischen Weltsystem«, in dem Eingriffe der Sowjetunion als Abwehr westlicher Einmischung und Diversion gerechtfertigt wurden (Breschnew-Doktrin).

Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts wurde diese paradoxe Form einer auf das Interventionsverbot gestützten Interventionspolitik gegenstandslos. Stattdessen trat das Spannungsverhältnis zwischen der fortschreitenden Ausdifferenzierung der Menschenrechte und dem Souveränitätsanspruch der Staaten in den Vordergrund der Interventionsdebatte, und zwar in Gestalt der »humanitären Intervention«. Über »humanitäre Intervention« war (anknüpfend an die historische Debatte des späten 19. Jahrhunderts) auch in den 1970er und 1980er Jahren schon viel gestritten worden. Dieser Streit gewann jedoch nach dem Ende des Ost-West-Konflikts eine neue Dynamik. In den vorausgegangenen Debatten ging es vor allem um Ausnahmen vom Gewaltverbot oder dessen Neuinterpretation als ein Verbot, das sich nicht gegen den (notfalls gewaltsamen) Schutz von Menschenrechten richte (Téson 1988). Teilweise daran anknüpfend und zugleich darüber hinausgehend traten in den 1990er Jahren drei andere Ansätze zur Rechtfertigung unilateraler Gewalt zum Schutz der Menschenrechte in den Vordergrund: die Wiederbelebung der Lehre vom gerechten Krieg (bellum iustum), die Förderung einer »good international citizenship« und die Neudefinition von Souveränität als Verantwortung.

1. Die Wiederbelegung der Lehre vom gerechten Krieg sollte Kriterien für die Zulässigkeit kollektiver Gewaltanwendung auf internationaler Ebene bieten. Sie war nicht darauf gerichtet, den Sicherheitsrat als einzig rechtmäßige Entscheidungsinstanz auszuweisen. Im Gegenteil, der Sinn der Wiederbelebung der (historisch überholten) Lehre lag gerade darin, gewaltsames Handeln als Ersatzvornahme für ausbleibende Maßnahmen des Sicherheitsrates zu würdigen (Mayer 1999).

2. Die zentrale Annahme der »good international citizenship« war, dass sich auf Weltebene eine normativ integrierte »internationale Gesellschaft« herausgebildet habe bzw. herausbilde, in der einzelne Staaten oder Staatengruppen als Sachwalter der für die »internationale Gesellschaft« konstitutiven materiellen Normen fungieren könnten. Diese »solidaristische« Linie der »Englischen Schule« schloss von daher ebenfalls die Zulässigkeit eigenständiger militärischer Gewalt zum Schutz von Menschen in Konflikten nicht prinzipiell aus (Wheeler 2000).

3. Das wichtigste Projekt von fortdauernder Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die Neudefinition von Souveränität als Verantwortung. Ein wichtiger Anstoß dazu kam vom damaligen UN-Generalsekretär Boutros Boutros-Ghali und seinem sudanesischen Berater Francis Deng. Seine Brisanz erlangte dieses normative Projekt dadurch, dass es auch für eine interventionistische Politik genutzt werden konnte, die sich nun nicht mehr auf Ausnahmen von der Regel der Nichtintervention berufen musste oder auf Zielkonflikte in der UN-Charta, sondern sich geradezu als Garantie einzelstaatlicher Souveränität (gegen deren Aushöhlung von innen) inszenieren konnte.

Offenbar treten in Zusammenhang mit dem Schutz der Menschenrechte weder das Gewalt- noch das Interventionsverbot als unüberwindliche Schranken der Gewaltanwendung in Erscheinung. Die einschlägigen Bestimmungen der UN-Charta sind folglich doch nicht ganz so wasserdicht, wie weiter oben behauptet wurde. Daran ändert auch die Schutzverantwortung nichts (s.u.). Aber die Möglichkeit, Interventions- und Gewaltverbot bei der Anwendung von Gewalt zu umschiffen, ist nur die eine Seite der Problematik. Ihre Verquickung mit der anderen wird im Folgenden angesprochen.

Zur Verschränkung von Gewaltlegitimation und Gewaltkritik

In dem oben erwähnten Zusammenhang schreibt Kant: „Bei der Bösartigkeit der menschlichen Natur, die sich im freien Verhältnis der Völker unverhohlen blicken lässt, […] ist es doch zu verwundern, dass das Wort Recht aus der Kriegspolitik noch nicht als pedantisch ganz hat verwiesen werden können“ (Kant 1795/2011, S.26). Der Grund hierfür liegt auf der Hand: Jeder politische Akteur steht unter Rechtfertigungsdruck (auch wenn er aufgrund seiner Macht irrtümlich glaubt, sich über alle Standards hinwegsetzen zu können). Das Völkerrecht bietet in diesem Sinne eine Arena für die allgegenwärtigen Rechtsfertigungspraktiken der internationalen Politik: Jeder Versuch, die Bedingungen zulässiger Gewalt zu definieren, um damit den willkürlichen Gewaltgebrauch einzuschränken, kann als normative Ressource zur Rechtfertigung von Gewalt genutzt werden und auf diesem Wege zur Ausweitung des Gewaltgebrauchs beitragen, weil jede Regel bei Ihrer Anwendung interpretationsbedürftig ist und darüber hinaus die Möglichkeit eröffnet, Ausnahmen von der Regel geltend zu machen.

Aber jede Nutzung des Rechts als Ressource der Rechtfertigung stellt immer auch eine Affirmation des Rechts dar (Fischer-Lescano/Liste 2005). Damit festigt die Rechtfertigungspraxis die Möglichkeiten ihrer Kritik (oder öffentlichkeitswirksamen Skandalisierung), die dann wiederum auf das politische Handeln zurückwirkt. Dabei dreht sich nicht alles notwendigerweise im Kreise, vielmehr handelt es sich um einen Kampf um das Recht, der genauso von bornierten Interessen wie von normativen Agenden befeuert wird, wobei sich beide wechselseitig durchdringen. Diese wechselseitige Durchdringung zeigt sich nirgends so deutlich wie im Kampf um die Einschränkung militärischer Handlungsfreiheit der Staaten. Hier geht es zum einen um funktionale Zusammenhänge (sowohl Einschränkung wie Aufrechterhaltung von Handlungsfreiheit als Eigeninteresse), zum andern um normative Dynamiken (Selbstbindung an das Recht und Recht als Fremdbestimmung).

Unter diesen Gesichtspunkten ist das Völkerrecht selbst Teil der Schlachten, die es regulieren und (zugunsten einer Zivilisierung der internationalen Beziehungen) transzendieren soll. Das zeigt sich an den weiterhin nicht abgeschlossenen Bemühungen, das Spannungsverhältnis zwischen Menschenrechtsschutz und Interventionsverbot mit Hilfe des Konzepts der Schutzverantwortung aufzulösen. Die von Kanada einberufene International Commission on Intervention and State Sovereignty sucht eine Lösung darin, dieses Spannungsverhältnis kleinzuarbeiten. Zum einen entwirft sie in ihrem Bericht von 2001 eine Stufenleiter von Zuständigkeiten (UN-Sicherheitsrat, UN-Generalversammlung, Regionalorganisationen), die den Einzelstaat bestenfalls als vierte Instanz und damit die unilaterale Intervention als unwahrscheinlichsten Fall erscheinen lässt. Zum andern wurde das Problem der militärischen Intervention durch die Ausdifferenzierung der Schutzverantwortung in die »responsibility to prevent«, »to react« und »to rebuild« relativiert (ICISS 2001).

Die Lösung des UN-Weltgipfels von 2005 bestand darin, die Schutzverantwortung (im Wege der erschöpfenden Aufzählung) auf vier Tatbestände zu begrenzen (Schutz vor Völkermord, ethnischen Säuberungen, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit) und die Interventionsproblematik durch drei Spezifizierungen der Schutzverantwortung zu entschärfen: Zum einen liegt die Schutzverantwortung bei jeder Regierung. Zum zweiten hat die internationale Gemeinschaft in erster Linie die Pflicht, die betroffenen Regierungen bei der Wahrnehmung ihrer Verantwortung zu unterstützen. Zum dritten handelt die internationale Gemeinschaft in Gestalt des UN-Sicherheitsrates, wenn die betroffene Regierung ihrer Verantwortung nicht nachkommen kann oder will. Aber auch diese Regelung rief noch Misstrauen bei den potentiell betroffenen Staaten hervor – offenbar zu Recht; denn es bestand immer noch die Möglichkeit, die Beschlüsse von 2005 als eine Bekräftigung der Schutzverantwortung zu lesen, die vermeintlich umso mehr die Zulässigkeit unilateralen Handelns für den Fall bestätigte, dass der Sicherheitsrat sich als nicht handlungsfähig erweise (Bannon 2006).

Aber selbst wenn sich handlungsfähige Staaten in Zukunft strikt an Entscheidungen des Sicherheitsrates hielten, bliebe das Problem, dass der Sicherheitsrat über keine eigenen Eingreifkapazitäten verfügt, es also bei der seit dem zweiten Golfkrieg 1990/91 geübten Praxis der Autorisierung der Einzelstaaten bliebe mit der möglichen Folge, dass sich Maßnahmen der kollektiven Friedenssicherung in Kriege der Einzelstaaten verwandeln. Das hat sich erneut bei der Libyen-Intervention gezeigt. Eine andere, tiefergehende Streitfrage betrifft das Verhältnis von Souveränität und Schutzverantwortung. Wie bereits angedeutet wird von einigen Befürwortern der humanitären Intervention argumentiert, die Souveränität eines Staates läge bei seinem Volk, folglich schütze eine humanitäre Intervention mit dem Volk zugleich die Souveränität (Reisman 2000). Dagegen steht das Argument, dass jeder von außen erfolgte Eingriff in das Verhältnis Staat-Gesellschaft gerade die Volkssouveränität in Frage stellt. Selbstbestimmung, so wird hier argumentiert, geht in Fremdbestimmung über, wenn sie zum Objekt externer Interessen gemacht wird (Cunliffe 2011, Maus 2008).

Folgerungen

Verhindert oder legitimiert das Recht also die Einhegung von Gewalt? In erster Linie bietet das Recht einen Referenzrahmen für den Kampf um die Rechtfertigung von Gewalt. Es dient dabei sowohl als Ressource für deren Legitimation als auch für ihre Kritik. Dabei gilt, dass jede Anwendung von Gewalt rechtfertigungsbedürftig ist – also derjenige, der Gewalt anwendet, unter stärkerem Rechtfertigungsdruck steht als derjenige, der auf Gewalt verzichtet. Diese Ausgestaltung der „Rechtfertigungsverhältnisse“ (Forst 2011) hat sich auf internationaler Ebene als Übergang vom Kriegs- zum Friedensrecht vollzogen, wird durch die Charta der Vereinten Nationen festgeschrieben und durch die internationale Rechtsprechung bestätigt. Insofern wird die Fortschrittserzählung des Völkerrechts durch die Praxis der Gewaltanwendung nicht dementiert und wäre die dem Text vorangestellte Frage dahingehend zu beantworten, dass die politischen Kosten für einzelstaatliche Gewaltanwendung steigen.

Im Kontext der neuen Kriegsdiskurse ist nun aber die Frage aufgekommen, ob nicht eine erneute Transformation des Völkerrechts ansteht: vom Friedensrecht zur Durchsetzung gesellschaftlicher Ansprüche (entitlements). Die »Subjektivierung« von Teilen des Völkerrechts, d.h. die Aufwertung des Individuums und seiner Lebensgemeinschaften als Subjekte des Völkerrechts (Fischer-Lescano/Hanschmann 2010), deutet in diese Richtung. Der UN-Sicherheitsrat baut in diesem Sinne den Schutz von Menschen schon routinemäßig in die von ihm beschlossenen Friedensmissionen ein. Aber er zögert, von der Bedrohung des internationalen Friedens (Art. 39 UN-Charta) zum Schutz von Menschen in Konflikten als Begründung von Zwangsmaßnahmen überzugehen. Dieses Zögern sollte man nicht unbedingt als Schwäche des UN-Systems auslegen, es liegt in der Erfahrung mit der bisherigen Praxis der Gewaltanwendung begründet – aber eben auch darin, dass die Staaten das Völkerrecht nutzen, um eine »heimliche Agenda« fortzuschreiben: nämlich den Schutz ihrer militärischen Handlungsfreiheit (Bothe 2010a, 69).

Zitierte Literatur

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Lothar Brock ist Gastprofessor an der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) in Frankfurt und arbeitet im Programmbereich »Herrschaft und gesellschaftlicher Frieden«.

»Unser Krieg« am Hindukusch

»Unser Krieg« am Hindukusch

Afghanistan und Völkerrecht

von Norman Paech

Nach dem Massaker von Kundus flammte die juristische Diskussion wieder auf. Auch wenn es dabei in erster Linie um das Strafrecht ging, so stellte der Vorfall erneut die Legitimation des Einsatzes der Bundeswehr in Frage. Der Autor geht ein auf die völkerrechtlichen Grundlagen des Afghanistankrieges, die Legitimation von OEF und ISAF. Er stellt die Frage nach der Grenze im humanitären Völkerrecht: Kollateralschäden oder Kriegsverbrechen.

Die Auseinandersetzungen um den Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan wurden nur selten mit juristischen Argumenten geführt. Das hat bei der Friedensbewegung seine Gründe in den Niederlagen, die sie sich holte, als sie das Bundesverfassungsgericht gegen die Auslandseinsätze der Bundeswehr zu Hilfe rief. Da war zunächst das bekannte »out-of-area« Urteil von 1994,1 mit dem das Bundesverfassungsgericht in einer denkbar knappen 4 zu 4-Entscheidung die Grenzen der Landesverteidigung geöffnet und der Bundeswehr faktisch die Welt als Einsatzgebiet erschlossen hatte. Damit war das alte Konzept des Grundgesetzes von der Bundeswehr als ausschließlicher Verteidigungsarmee überholt und aufgegeben worden.

Die PDS hatte im Jahr 2000 noch einmal versucht, diese Umwandlung des NATO-Bündnisses von einem Verteidigungs- zu einem weltweiten Interventionsinstrument, welches die Staats- und Regierungschefs im April 1999 noch während der Bombardierung Jugoslawiens in Washington beschlossen hatten, mittels des Bundesverfassungsgerichts in das Parlament zurückzuholen. Doch vergebens, das Gericht räumte in außen- und sicherheitspolitischen Fragen der Exekutive einen weiten parlamentsfreien Entscheidungsspielraum ein und akzeptierte auch diese »kalte« Umwandlung der NATO ohne Vertragsänderung.2 Noch einmal wandte sich 2007 die Linksfraktion im Bundestag an das Bundesverfassungsgericht, als die Bundeswehr in Afghanistan durch Tornado-Aufklärungsflugzeuge verstärkt wurde, ohne dass wiederum der Bundestag beteiligt wurde. Aber auch dieser Versuch scheiterte, das Gericht akzeptierte ein weiteres Mal die Entscheidung der Regierung.3

Mit diesen Entscheidungen war faktisch das Grundgesetz durch Regierungsbeschluss und Richterspruch in einem wesentlichen Teil verändert worden. Aus der Bundeswehr zur Verteidigung des deutschen Territoriums, wie es das Grundgesetz in Art. 87 a und 115 a bestimmt hatte, war eine Interventionsarmee mit internationalem Kampfauftrag geworden. Ein Widerstand gegen diese Entwicklung mit juristischen Mitteln hatte damit keine Aussicht auf Erfolg mehr.

Jüngst jedoch flammte die juristische Diskussion wieder auf, als es um die Verantwortlichkeit für den Tod zahlreicher Zivilisten bei dem von Oberst Klein befohlenen Angriff auf zwei Tanklastzüge ging, die in einer Furt des Kundus-Flusses festgefahren waren. Die dabei auftauchenden juristischen Probleme sind allerdings ganz anderer Natur, da sie das Strafrecht und die strafprozessrechtliche Zuständigkeit deutscher Gerichte betrifft. Der Vorfall, der zu Recht als Massaker bezeichnet wurde, stellte jedoch die Legitimation des Einsatzes der Bundeswehr erneut in Frage. Allmählich verlangen Zweidrittel der Deutschen den Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan, eine Forderung, die durch immer neue Meldungen vom Tod deutscher Soldaten verstärkt wird. Gleichzeitig belegt der semantische Rückzug – unter Verlust eines Ministers – vom »Stabilisierungseinsatz« zum »Krieg« nicht nur steigende Einsicht in die Realitäten am Hindukusch, sondern auch die zunehmende Schwäche der Position der Regierung trotz aller Durchhalte- und Siegparolen an den Särgen der Soldaten. Wenn allerdings der Führer der sozialdemokratischen Opposition Gabriel statt dringender Überlegungen über einen Abzug der Bundeswehr nur ein neues Bundestagsmandat verlangt, zeigt er wenig Einsicht in die völkerrechtliche Tragweite dessen, was seinerzeit seine Partei in der Regierung selbst mit beschlossen hat.

Es ist also Zeit noch einmal auf die rechtlichen Fragen dieses Krieges zurückzukommen, und zwar auf drei Ebenen: Zunächst geht es um die völkerrechtlichen Grundlagen des Militäreinsatzes im Rahmen der International Security Assistance Force (ISAF) und der Operation Enduring Freedom (OEF), um die Frage, ob die USA und ihre Alliierten überhaupt militärisch in Afghanistan eingreifen durften, das sog. jus ad bellum. Sodann geht es um die Rechte, Pflichten und Bindungen, die sich aus dem humanitären Völkerrecht für die Soldaten ergeben, das sog. jus in bello, und schließlich um die Verantwortlichkeit für die Verstöße gegen nationales und internationales Strafrecht.

Verteidigung und Stabilisierung? Zur völkerrechtlichen Legitimation von OEF und ISAF

Lassen wir einmal die immer noch nicht geklärten Umstände der terroristischen Anschläge vom 11. September 2001 und die nicht verstummenden Zweifel an der Urheberschaft beiseite, so qualifizierte sie der UNO-Sicherheitsrat doch in seiner ersten Resolution 1368 vom folgenden Tag als „Bedrohung für den internationalen Frieden und die internationale Sicherheit“. Diese Feststellung hätte gem. Art. 39 UNO Charta die Möglichkeit eröffnet, Zwangsmaßnahmen gem. Art. 42 UNO Charta zu verfügen. Dieses hatten die USA gewünscht, der Sicherheitsrat konnte sich jedoch weder so früh nach dem Anschlag noch in seiner späteren Resolution 1373 vom 28. September 2001 zu einem solchen Schritt entschließen. Er wies lediglich allgemein und abstrakt auf das Recht zur Selbstverteidigung hin und rief die Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus mit politischen, wirtschaftlichen, polizeilichen und gesetzgeberischen Maßnahmen auf. Am 12. September 2001 hatte der NATO-Rat schon beschlossen, die Terroranschläge als Angriffe auf alle Bündnispartner im Sinne der Beistandsverpflichtung des Artikels 5 des Nordatlantikvertrages zu betrachten. Am 4. Oktober 2001 bekräftigte er dann die Beistandsverpflichtung aus Artikel 5.

Die Schnelligkeit, mit der die US-Regierung die Täter als bis dahin in der Öffentlichkeit noch völlig unbekannte Al Qaida und ihren Operationsort Afghanistan identifizieren konnte, verblüffte zumindest. Später stellt sich heraus, dass die Attentäter aus den arabischen Staaten, vor allem Saudi-Arabien, und Hamburg stammten. Dennoch sprangen Bundesregierung und Bundestag sofort auf den Zug der »kollektiven Selbstverteidigung« auf, und beschlossen die Beteiligung der Bundeswehr mit 3.900 Soldaten an der OEF auf der Grundlage des Art. 51 UNO Charta und des Artikels 24 Abs. 2 GG am 7. und 16. November. Der damalige Verteidigungsminister Struck sollte das dann damit begründen, dass die deutschen Sicherheitsinteressen auch am Hindukusch verteidigt würden. Hält man sich allerdings an den Wortlaut des Art. 51 UNO Charta, so bestanden schon damals, noch z. Zt. der Herrschaft der Taliban, Zweifel, ob es sich bei einem einmaligen Anschlag einer Terrorgruppe um einen Angriff Afghanistans handelte. Man nahm die Afghanen einfach dafür in Haftung, dass sie Al Qaida offenbar einen Unterschlupf gewährt hatten. Das mehrfache Angebot der Taliban, den Führer von Al Qaida, Osama Bin Laden, auszuliefern, hatte man schon vor dem Anschlag abgelehnt, und wies es offenbar auch nach dem Anschlag zurück.4

Konnte man diese Zweifel in der Empörung über den Terror unmittelbar nach dem Anschlag noch beiseite schieben, so lässt sich eine solche Verteidigungslegitimation jedoch nicht über Jahre hin begründen. Art. 51 UNO Charta lässt Maßnahmen der individuellen und kollektiven Selbstverteidigung nur solange zu, „bis der Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen getroffen hat.“ Dies war aber schon im Dezember 2001 mit der Einrichtung der ISAF der Fall.

Selbstverteidigung setzt einen unmittelbaren Angriff auf das eigene Territorium oder das eines Bündnispartners voraus. Mit der Beseitigung der Talibanherrschaft im Herbst 2001 und der Vertreibung Osama bin Ladens und der Al Qaida aus den Grenzgebirgen Afghanistans war der »Verteidigungsauftrag« der Militärintervention aber erfüllt. Es drohte keine unmittelbare und gegenwärtige Gefahr mehr für das Territorium der USA, geschweigen denn für Deutschland. Zwar war damit der internationale Terrorismus noch nicht aus der Welt, aber seine diffuse Drohung lieferte keine Legitimation mehr für die Fortsetzung eines eskalierenden »Verteidigungskrieges« in Afghanistan über mehrere Jahre hinaus bis heute.

Die Bundeswehr hat sich aus dem Antiterrorkampf im Rahmen der OEF in Afghanistan schließlich zurückgezogen, da die Bundesregierung 2008 den Auftrag nicht erneuert hat. Für sie besteht der zweifelhafte Auftrag nur noch am Horn von Afrika und im Mittelmeer fort. Die USA, die die UNO und das Völkerrecht bei ihren Kriegen im Mittleren Osten ohnehin als lästig und überflüssig betrachten, haben hingegen vor kurzem die Selbständigkeit der beiden Kampfeinsätze ISAF und OEF, die schon seit längerem nur noch auf dem Papier bestand, auch formal aufgehoben. Wenn auch der Sicherheitsrat in seinen ISAF-Mandaten immer die notwendige Koordination mit der OEF betont hat, so hat er die Trennung niemals aufgehoben, da er die OEF nicht mit einem Mandat nach Art. 42 UNO Charta ausgestattet hat. Zu erinnern ist an die Feststellung des Bundesverfassungsgerichts in seinem Tornado-Urteil von 2007, dass der militärische Einsatz der NATO „insgesamt als Verstoß gegen das Völkerrecht erscheinen“ könne, „wenn die Operation Enduring Freedom in Afghanistan für sich genommen gegen das Völkerrecht verstieße und dies auf ISAF übergreifen könnte.“5

Die ISAF ist eineinhalb Monate nach Beginn der militärischen Operationen der USA am 21. Dezember 2001 vom UN-Sicherheitsrat mit der Resolution 1383 eingerichtet worden. Diese und alle in jährlichem Rhythmus folgenden Resolutionen6 basieren auf den Artikeln 39 und 42 des VII. Kapitels der UNO Charta. Wie der Name des Kommandos besagt, sollte es sich von Anfang an um internationale Sicherheitsunterstützungskräfte zum Schutz der afghanischen Souveränität, der zunächst provisorischen und später gewählten Regierung sowie der in Afghanistan operierenden internationalen Hilfsorganisationen handeln. Dazu war sie allerdings mit einem Mandat ausgerüstet, dass den Truppen der USA und ihren schließlich 43 angeschlossenen Koalitionsstaaten, „alle zur Erfüllung ihrer Aufgaben notwendigen Mittel“, d.h. alle notwendigen militärischen Mittel erlaubte.

Damit verfügt auch die Bundeswehr über die freie Auswahl des Kriegsgeräts, welches sie für notwendig erachtet, sei es Nachtsichtgeräte oder Panzerhaubitzen und Kampfhubschrauber. Die jüngst entfachte Diskussion über die Notwendigkeit eines neuen Bundestagsmandats, wenn jetzt schweres Kampfgerät eingesetzt werden müsse, folgt eher politischem Kalkül als juristischen Gründen. Denn die Bundestagsmandate haben sich immer eng auf die UNO-Mandate mit ihrem unbegrenzten Mitteleinsatz bezogen. Weder die UNO noch der Deutsche Bundestag haben auf die stetige Kriegseskalation und Ausdehnung des Einsatzes auf Pakistan reagiert, indem sie etwa die sukzessive Aufrüstung eingeschränkt hätten.

Auch die berechtigte Kritik an der mangelnden demokratischen Legitimation des Petersberger Abkommens vom 5. Dezember 2001, auf dem nicht nur die Einrichtung der Übergangsregierung mit ihrem zweifelhaften Personal, sondern auch das Mandat der militärischen Absicherung beruhte,7 vermag die völkerrechtliche Legitimation der UNO-Resolutionen kaum ernstlich in Frage zu stellen.8 Faktisch beschränkt sich die Souveränität Afghanistans auf die eines Protektorats unter US-amerikanischer Oberhoheit und die Rolle der Regierung Karsai auf die eines Satrapen unter fremder Vasallität. Auch die Wahlen von 2009, auf deren Gewinn sich Karsai jetzt stützen kann, waren ähnlich wie die vorangegangenen Wahlen zur Verfassungsversammlung von Manipulationen und Fälschungen, Drohungen und Erpressungen sowie Stimmenkauf geprägt, die das Prädikat demokratisch nur als weitere Fälschung entlarven.

Das schließt nicht aus, dass es immer wieder zu erheblichen Differenzen zwischen Herr und Vasall kommen kann, wie in der jüngsten Kritik Karsais an der Politik der USA erkennbar.9 Diese Kritik hat zwar Irritationen in US-amerikanischen Regierungskreisen erzeugt, aber nichts grundsätzlich an der totalen Abhängigkeit von den USA geändert, die nicht nur das militärische, sondern auch das politische und ökonomische Geschehen am Hindukusch diktieren.

Rechtlich beseitigt dieser Zustand allerdings nicht die Legitimation der Mandate, solange nicht der UN-Sicherheitsrat aus den ihm ohne Zweifel bekannten Defiziten Konsequenzen zieht. Die schon lange beobachtete Vermischung von Stabilisierungseinsatz (ISAF) und Antiterrorkampf (OEF) stellt jedoch auch ein rechtliches Problem für die ISAF-Mandate dar. US-Militärs haben selbst eingeräumt, dass sich Al-Qaida Kämpfer aus Afghanistan nach Pakistan, Jemen, Somalia und in andere arabische Staaten zurückgezogen hätten. Der »Verteidigungsauftrag« ist also »erfüllt«, bzw. der Feind im Land abhanden gekommen, es sei denn, man überträgt den Antiterrorkampf auf die Taliban, die immer schon als Terroristen behandelt worden sind. Dies ist in der Tat das Konzept, welches hinter der Integration der OEF in ISAF steht, von dem UNO-Mandat jedoch nicht getragen wird. Auch auf diese Veränderung des Kriegsschauplatzes hat der UN-Sicherheitsrat bisher nicht reagiert – ein Zeichen dafür, wie das Kräfteverhältnis im Sicherheitsrat in dieser Frage verteilt ist.

Kollateralschaden oder Kriegsverbrechen? Zu den Grenzen des humanitären Völkerrechts

Entscheidende völkerrechtliche Bedenken ergeben sich gegen den militärischen Einsatz allerdings gerade aus den Dimensionen, die dieser Krieg im Laufe der Jahre angenommen und zu welchen Opfern er inzwischen geführt hat. Dabei spielt der lange semantische Tanz der Bundesregierung um den Kriegsbegriff juristisch keine Rolle, da er im Völkerrecht nicht vorkommt. Hier kommt es nur darauf an, dass es sich nicht lediglich um örtliche Tumulte und Aufstandsbekämpfung, sondern um einen bewaffneten Konflikt handelt, der bereits über die Grenzen Afghanistans hinaus nach Pakistan internationale Dimensionen angenommen hat. Die Bundesregierung geht dennoch von einem nicht internationalen bewaffneten Konflikt i.S. des gemeinsamen Art. 3 der Genfer Konventionen und des Zweiten Zusatzprotokolls zu den Genfer Konventionen von 1977 aus. Nach diesen Vorschriften ist ein bewaffneter Konflikt nur dann international, wenn er zwischen zwei oder mehreren Völkerrechtssubjekten, d.h. Staaten, ausgefochten wird. Das war zweifellos der Fall in den ersten drei Monaten, als die Taliban noch die Regierung in Afghanistan bildeten und von den USA direkt bekämpft wurden. Mit ihrer Vertreibung aus der Regierung und Ersetzung durch eine neue Regierung unter Karsai wurden sie zu Aufständischen und verloren den Status eines Völkerrechtssubjektes. Trotz seiner Ausdehnung auf Pakistan und der Beteiligung internationaler Kämpfer aus Tschetschenien, Saudi-Arabien und anderen Länder auf der Seite der Taliban und von 44 Staaten auf der Seite der Regierung Karsai findet auf diesen Konflikt nunmehr das für nicht-internationale bewaffnete Konflikte geltende humanitäre Völkerrecht Anwendung.10 Dieses in den Genfer Konventionen von 1949 und den beiden Zusatzprotokollen von 1977 kodifizierte Recht ist sehr viel vollständiger und präziser als es die immer wieder zu hörende Klage über die Rechtsunsicherheit, mit der die deutschen Soldaten ihre Aufgaben am Hindukusch zu versehen hätten, vorspiegelt. Dabei erlauben die Regeln des bewaffneten Konfliktes den Soldaten Maßnahmen gegen den Feind, z.B. in Bezug auf gezielte Tötungen und zivile Kollateralschäden, die ihnen in Friedenszeiten versagt sind. Die Klage orientiert sich offensichtlich an dem rechtlichen Freiraum, den sich das US-Militär oft ohne Rücksicht auf diese Regeln bei ihren Operationen nimmt.

Die Unterschiede in den völkerrechtlichen Standards zwischen internationalen und nicht-internationalen Konflikten sind zunehmend geringer geworden, da Gewohnheitsrecht und die zahlreichen Menschenrechtsverträge die Bedingungen, unter denen die Konfliktparteien gegeneinander militärisch vorgehen dürfen, weitgehend angeglichen haben. In beiden Konflikten hat der Schutz der Zivilbevölkerung absoluten Vorrang. Während im internationalen Konflikt die Angehörigen der Streitkräfte den Status von Kombattanten haben, „d.h. sie sind berechtigt, unmittelbar an Streitigkeiten teilzunehmen“ (Art. 43 Abs. 1 Zusatzprotokoll I), gibt es den Kombattantenstatus in den nicht-internationalen bewaffneten Konflikten nicht. Allerdings dürfen alle jene, die sich in organisierten bewaffneten Gruppen dauerhaft oder auch als einzelne Zivilisten zeitweise an den Kämpfen beteiligen, militärisch jederzeit angegriffen werden. Organisierte Kämpfer erlangen ihren zivilen Status und den damit verbundenen Schutz erst dann wieder, wenn sie sich von den Kampfschauplätzen und -organisationen erkennbar entfernt haben. Zivilisten hingegen, die sich nur gelegentlich an den Kämpfen beteiligen, erlangen den Zivilschutz dadurch wieder, dass sie ihre Kampfhandlungen beendigen. Das ist bei einem Guerillakampf, wie er in Afghanistan vom Widerstand geführt wird, nicht immer leicht zu entscheiden. Welchen Status hat ein Bauer, der tagsüber sein Land bestellt und nachts zu den Waffen greift? Ist er auch tagsüber legitimes Ziel militärischer Angriffe? Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz hat dazu in einem neueren Gutachten11 gesagt, dass eine dauerhafte Beteiligung an bewaffneten Auseinandersetzungen den Zivilschutz aufhebt und die Person als militärisches Ziel freigibt. Allerdings hat es eine wichtige Einschränkung hinzugefügt. Eine gezielte Tötung ist dann unzulässig, wenn eine Festnahme der Person ohne größere Gefahr möglich ist. So schwierig diese Entscheidungen in einem Gelände wie Afghanistan auch zu treffen sein mögen, im Zweifel muss eine Person als Zivilist behandelt werden und genießt entsprechenden Schutz.

Diese Einschränkung, die allerdings nicht in gleicher Weise verbindlich ist wie die Genfer Regeln, hätte auch für den Angriffsbefehl auf die beiden Tanklastzüge bei Kundus gegolten. Die große Anzahl nicht bewaffneter Personen am Tatort hätte auf jeden Fall größere Vorsicht und eine eindeutigere Warnung geboten, wie sie offensichtlich auch von den Piloten der US Air Force vorgeschlagen worden war. Denn auch bei internationalen bewaffneten Konflikten gilt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zwischen zivilen Opfern und dem unmittelbaren militärischen Vorteil. Auf jeden Fall sind unterschiedslose Angriffe verboten, die faktisch keine Rücksicht auf die zivilen Opfer nehmen. Alle Informationen sprechen dafür, dass sowohl dem deutschen wie dem US-amerikanischen Militär die große Anzahl ziviler Personen bei den Tanklastzügen bekannt war, deren Tod deshalb nicht als bloßer Kollateralschaden in Kauf genommen werden durfte.12 Zudem war die militärische Gefahr, die von den beiden Tanklastzügen ausging, sowie der militärische Vorteil durch die Vernichtung der Laster offensichtlich gering. Denn sie befanden sich auf dem Weg nach Chardara in entgegengesetzter Richtung des deutschen Camps und waren in der Furt des Flusses steckengeblieben.

Anmerkungen

1) Urteil v. 12. Juli 1994, BVerfGE 90, 286 ff.

2) Urteil v. 22. November 2001, BVerfGE 104, 151 ff.

3) Urteil vom 3. Juli 2007, AZ BvE 2/07, BVerfGE 118, 244 ff.

4) Vgl. Spiegel Online, 14. 10. 2001; The Guardian, 11.11. 2003.

5) Vgl. BVerfGE 118, 244 (275).

6) Vgl. die vorerst letzte Resolution 1809 vom 8.10.2009.

7) Vgl. Matin Baraki: Afghanistan nach den Taliban. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, 48/2004, S.24 ff.

8) Vgl. Diether Deiseroth: Jenseits des Rechts. Deutschlands »Kampfeinsatz« am Hindukusch. In: Blätter für deutsche und internationale Politik 12/2009, S.45 ff.

9) So hat Karsai jüngst auf einem Essen mit afghanischen Journalisten im Präsidentenpalast den USA vorgeworfen, nur deswegen in Afghanistan zu sein, um das Land und die Region zu beherrschen, und dass sie deswegen ein Übereinkommen mit den Taliban verhindern. Er, Karsai, sei der einzige, der dagegen aufstehen könne. Vgl. New York Times v. 31. 3. 2010.

10) So auch Stefan Oeter, Anna Gebhardt: Welches Recht gilt in welchem Konflikt? In: Kompass Soldat und Kirche 3/10, S.4 ff.; Christian Schaller: Rechtssicherheit im Auslandseinsatz, SWP Aktuell 67, Dezember 2009, S.2 ff.

11) ICRC, Interpretive guidance on the notion of direct participation in hostilities under international humanitarian law, Genf, Mai 2009.

12) Jüngste Untersuchungen, die von den deutschen Journalisten Marcel Mettelsiefen und Christoph Reuter vor Ort durchgeführt wurden, haben genauere Daten ergeben, die aktuell in einer Ausstellung in Potsdam und demnächst in einer Publikation im Verlag Rogner & Bernhardt unter dem Titel »Kunduz, 4. September 2009« präsentiert werden. Dort heißt es u.a.: „Die Frage, wer starb, ließ sich klären: 91 Menschen, alle männlich, vom Kind bis zum Greis. Fast alle waren zur Furt gekommen, um Treibstoff in ihre mitgebrachten Behältnisse abzufüllen und nach Hause zu tragen. Unmöglich zu klären hingegen bleibt, wer von den Toten Talib oder Zivilist war. Dies schon deshalb, weil eine solche Unterscheidbarkeit eine Fiktion ist. Der Bezirk Chardara wird von den Taliban kontrolliert, es gibt Sympathisanten, Opportunisten, Menschen, die aus Angst zu Mitläufern wurden, zig Wesen aus der Zwischenwelt der Grautöne, die in der deutschen Debatte kaum jemand wahrnimmt. Afghanische Polizei und afghanischer Geheimdienst in Kunduz behaupten, mindestens die Hälfte der Toten seien Aufständische gewesen. Der Gouverneur hält sowieso alle in Chardara für Taliban und ist der Meinung, der Bezirk sollte viel häufiger bombardiert werden. Die Angehörigen wiederum beteuern, nur Zivilisten seien durch die Bomben gestorben.“

Prof. em. Dr. Norman Paech lehrte Öfffentliches Recht an der Hamburger Universität für Wirtschaft und Politik (HWP). Von 2005 bis 2009 war er als Parteiloser für »Die Linke« Abgeordneter im Deutschen Bundestag.