Atomwaffen vor dem Internationalen Gerichtshof

Atomwaffen vor dem Internationalen Gerichtshof

von Xanthe Hall

Der Internationale Gerichtshof (IGH) in Den Haag hörte Anfang November die Erklärungen diverser Staaten zu der Frage, ob der Einsatz von Atomwaffen oder seine Androhung völkerrechtswidrig seien. Diese Frage ist durch die Anregung einer Koalition von Friedensorganisationen mit dem Namen »Projekt Weltgerichtshof« vor den Gerichtshof gebracht worden. Das Projekt läuft seit drei Jahren und gewann die Unterstützung der blockfreien Länder sowie aller Staaten des Pazifik.

Nach der Charta der Vereinten Nationen sind die Generalversammlung, der Sicherheitsrat und unter bestimmten Bedingungen (Ermächtigung der Generalversammlung) auch alle anderen Organe der UN berechtigt, ein beratendes Rechtsgutachten vom IGH zu erbeten. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und die Vereinten Nationen (UN) haben dem Gerichtshof zwei Fragen zur Klärung angetragen. Die WHO fragt, ob der Einsatz von Atomwaffen „im Hinblick der Auswirkungen auf Umwelt und Gesundheit“ völkerrechtswidrig sei. Dieses wird durch die UN-Frage ergänzt, die nicht nur den Einsatz, sondern auch die Androhung des Atomwaffeneinsatzes rechtlich geprüft haben möchte.

Das Projekt Weltgerichthof – World Court Project

Das Projekt wurde in Mai 1992 öffentlich gestartet von den Internationen Ärzten für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW), der Internationalen Vereinigung von Juristen gegen Kernwaffen (IALANA) und dem Internationalen Friedensbüro (IPB).1 Die Idee, den Einsatz von Atomwaffen von dem Internationalen Gerichtshof völkerrechtlich prüfen zu lassen, ist aber viel älter. Sie wurde 1987 erstmals in Neuseeland vorgestellt, von dem pensionierten Richter Harold Evans, dem »Vater des Projekts«. Er schrieb einen offenen Brief an die Premierminister Neuseelands und Australiens, in dem er sie bat, eine Aktion zu initiieren, die zu einem Gutachten des Gerichtshofes bezüglich des Rechtsstatus von Atomwaffen führen sollte. Nicht weniger wichtig waren Kate Dewes (The New Zealand/Aotearoa Foundation for Peace Studies) und Richard Falk (internationale Völkerrechtler), die mit Harold Evans 1986 die erste Diskussion über diese Idee führten.

Nach langer Lobby-Arbeit der IPPNW verabschiedete am 14. Mai 1993 die 46. Weltgesundheitsversammlung (das höchste Organ der WHO) in Genf eine historische Resolution, die sich wahrscheinlich als Meilenstein in der Geschichte der Abrüstung erweisen wird. Sie enthält die Anweisung an die Weltgesundheitsorganisation, beim Internationalen Gerichtshof ein Gutachten darüber anzufordern, welcher rechtliche Status dem Einsatz nuklearer Waffen zukommt. Die Resolution wurde von 22 Staaten eingebracht und in einer Geheimabstimmung mit 73 Stimmen, bei 40 Gegenstimmen und 10 Enthaltungen verabschiedet.

Mit einem Schreiben vom 27. August 1993 ersuchte der Generalsekretär der WHO, Dr. Hiroshi Nakajima, den Internationalen Gerichtshof in offizieller Form um ein Rechtsgutachten in folgender Frage: „Wäre der Einsatz von Atomwaffen durch einen Staat in einem Krieg oder einem anderen bewaffneten Konflikt im Hinblick auf die Auswirkungen auf Gesundheit und Umwelt ein Verstoß gegen die Verpflichtungen dieses Staates gemäß Völkerrecht und der Satzung der WHO?“ 2

Die IALANA konzentrierte ihre Bemühungen auf die Generalversammlung der UN. Im Herbst 1994 wurde eine von den Ländern der blockfreien Staaten befürwortete Resolution ebenfalls mit 78 zu 43, bei 38 Enthaltungen, verabschiedet, in der um ein Gutachten vom Gerichtshof ersucht wird. Die Frage der UN unterscheidet sich von der WHO-Frage insofern, als sie auch die Androhung des Einsatzes von Atomwaffen in Frage stellt: „Kann die Androhung des Einsatzes oder der Einsatz von Atomwaffen unter bestimmten Umständen völkerrecht legal sein?“ 3

Die Koalition der drei Organisationen IPPNW, IALANA und IPB suchte andere unterstützende Organisationen aus allen Ländern der Welt für das Projekt. Das Projekt hat heute über 500 unterstützende Organisationen. In Großbritannien, Kanada und Neuseeland wurden Bürgerinitiativen mit dem Namen World Court Project gegründet. Aus Großbritannien kam die Idee (von der Organisation International Law and Peace), eine „Erklärung des öffentlichen Gewissens“ abzugeben. Diese Idee beruht auf der Haager Konvention von 1899 und 1907. In der Präambel der Konvention ist die sogenannte de Martens-Klausel enthalten, die festlegt, daß in Fällen, die in der Konvention nicht geregelt sind, „nach den Gesetzen der Menschlichkeit und dem Diktat des öffentlichen Gewissens“ entschieden wird.4 Hauptsächlich durch die Arbeit von George Farebrother (World Court UK) wurden zusammen mit den anderen unterstützenden Organisationen über drei Millionen „Erklärungen des öffentlichen Gewissens“ unterschrieben. Die gesammelten Erklärungen wurden zusammen mit über 100 Millionen Unterschriften des Hiroshima-Appelles gegen Atomwaffen dem Internationalen Gerichtshof überreicht.

Die Stellungnahmen der Staaten

Der Internationale Gerichtshof entschied, die zwei Fragen zusammen zu behandeln. Daß 44 Staaten schriftliche Stellungnahmen beim Gerichtshof einreichten, zeigt, wie stark Friedensaktivisten sich engagierten. Die japanische Regierung mußte unter dem Druck des 18 Millionen starken Vereins der Konsumenten seine Stellungnahme in letzter Minute ändern. Japan wollte den Einsatz von Atomwaffen unter unvorhersehbaren Bedingungen für legal erklären. Durch Druck von unten wurde aber eine Korrektur erzwungen; Japan sprach sich für die Illegalität von Atomwaffen aus. In Deutschland wurden eine kleine Anfrage und zwei Anträge im Bundestag gestellt. In vielen anderen Ländern der Welt wurden die schriftlichen Stellungnahmen öffentlich debattiert. In Schweden verwarf das Parlament sogar die Entscheidung des Außenministeriums.

Bis September 1994 wurden dem IGH 35 Stellungnahmen zu der WHO-Frage eingereicht. 23 davon sprachen sich mehr oder weniger für die Ächtung der Atomwaffen aus, 9 für Nichtbefassung oder sogar für die Legalität von Atomwaffen. Bis Juni 1995 reichten 27 Staaten Stellungnahmen zur UN-Frage ein, 18 davon für Illegalität, 1 Staat war unentschieden, und 8 sprachen sich für Nichtbefassung oder Legalität von Atomwaffen aus. Deutschland gehörte zu dem Nichtbefassungslager.

Die mündlichen Verhandlungen liefen vom 30. Oktober bis zum 15. November 1995. 25 Staaten wollten ursprünglich aussagen. In letzter Minute aber sprangen drei der blockfreien Staaten ab: Kolumbien, Guyana und Nauru. Die drei Staaten gehörten zuvor zu den stärksten Unterstützern des Projekts. Bislang wurde keine Erklärung für diesen überraschenden Rückzieher abgegeben. Es ist zu vermuten, daß ähnlicher Druck wie bei der Konferenz über den Atomwaffensperrvertrag im Mai dieses Jahres ausgeübt worden ist.

Die Verhandlung begann mit der Aussage der WHO. Im Vordergrund der Stellungnahme stand die Begründung, warum die WHO meint, überhaupt berechtigt zu sein, eine solche Frage beim Gerichtshof klären zu lassen. Die Kompetenz der WHO in dieser Frage wurde u.a. von allen Atomwaffenstaaten verneint. Die WHO begründete ihre Berechtigung zur Fragestellung, indem sie die Arbeit der WHO im Bereich der Prävention eines Atomkriegs schilderte. Diese Kompetenz bestritt u.a. Deutschland sowohl in seiner schriftlichen Stellungnahme als auch in der mündlichen Verhandlung. Dr. Hartmut Hillgenberg, Direktor der Rechtsabteilung des Auswärtigen Amtes, erklärte, die Fragen nach der Legalität des Einsatzes von Atomwaffen seien deshalb unzulässig, weil sie politisch und nicht juristisch zu beantworten seien. Eine Ächtung der Atomwaffen, so argumentierte er, würde ihre Abrüstung ver- und die Atomteststopp-Verhandlungen im kommenden Jahr behindern. Er erklärte dem IGH zudem, daß Atomwaffen erfolgreich Freiheit und Frieden erhielten.5

Interessant ist die neue »Friedenskonkurrenz« zwischen Australien und Neuseeland. Bis zur Wiederaufnahme der französischen Atomtests verhielten sich beide Staaten reserviert gegenüber dem Projekt Weltgerichtshof. Australien plädierte in seiner schriftlichen Stellungnahme auf Nichtbefassung, weil eine »negative« (d.h. Atomwaffen sind legal) Aussage des Gerichtshofes die Entwicklung des Völkerrechtes zu Atomwaffen verhindern würde. Überraschenderweise plädierte der australische Außenminister aber vor dem Gerichtshof nicht nur für die Illegalität des Einsatzes und seiner Androhung, sondern auch für die Illegalität des Erwerbs, der Entwicklung, des Besitzes und der Tests von Atomwaffen. Er berichtete, daß die australische Regierung eine internationale Gruppe von namhaften Fachleuten mit Visionen und Ideen zusammenbringen wird, um Vorschläge für Wege in eine atomwaffenfreie Welt zusammenzutragen. Trotzdem blieb Australien bei seinem Appell auf Nichtbefassung.

Neuseeland spielte seinen Trumpf eine Woche später aus; es war eine Aussage ohne wenn und aber: Atomwaffen sind völkerrechtswidrig und müssen vom Gerichtshof geächtet werden. Der Justizminister schloß mit den Worten: „Ein Urteil der Illegalität würde ein beeindruckender Schritt in Richtung Abschaffung der Atomwaffen sein.“

Die japanische Regierung präsentierte als Zeugen die Bürgermeister von Hiroshima und Nagasaki. Dies war u.a. dem enormen Druck japanischer Bürgerinitiativen geschuldet. In einem parallel zur Verhandlung stattfindenden NGO-Seminar zum Projekt Weltgerichtshof wurde berichtet, daß die zwei Bürgermeister von der Regierung klare Anweisungen erhalten hatten, zwar im Endeffekt für die Illegalität zu plädieren, das Wort Illegalität aber nicht zu erwähnen. Diese Anweisung wurde von den Bürgermeistern nicht befolgt; daraufhin distanzierte sich die japanische Regierung von den Ausführungen. Die Richter waren sichtbar bewegt von japanischen Schilderungen, die die Auswirkungen der Atombombenabwürfe auf die Bevölkerung der zwei Städte beschrieben.

Die Marshall-Inseln entsandten ein Atomwaffenopfer. Lijon Eknilang berichtete über die Auswirkung der amerikanischen Atomtests auf dem Bikini-Atoll: „Ich hatte sieben Fehl- und Stillgeburten. Insgesamt gibt es auf der Insel acht Frauen, die Säuglinge geboren haben, die wie Geleeklümpchen aussahen. Manchmal tragen wir so etwas acht, neun Monate aus. Sie haben keine Beine, keine Arme, keinen Kopf, nichts. Andere Kinder wurden geboren, die diese Welt und ihre Eltern niemals erkennen werden. Sie liegen nur mit krummen Armen und Beinen da und werden nie sprechen.“

Von 23 Staaten sprachen sich vor dem Gerichtshof 14 für die Illegalität von Atomwaffen aus. Frankreich, USA, Großbritannien und Rußland lehnten jegliche Einmischung in dieser Frage ab. Die UN solle die Finger von Abrüstungsfragen lassen, so Frankreichs Juristen; dies sei Aufgabe des Sicherheitsrates. Deutschland und Italien spielten die Lakaien der Atomwaffenmächte, und China hielt sich ganz aus dem Prozeß heraus.

Schlußfolgerungen

Die Wiederaufnahme der französischen Atomtests hat das öffentliche Interesse an Atomwaffenfragen aufgefrischt; trotzdem liest man in der Presse kaum über die Verhandlungen des Gerichtshofes. Ist die Mehrheit der Deutschen gegen Atomtests, aber nicht gegen Atomwaffen? Für die Deutschen ist m.E. längst klar, daß alle Atomwaffen zu ächten und abzuschaffen sind. Sie sind deswegen empört über Chiracs Atomtests, weil sie belegen, daß die Atomwaffenmächte die atomare Abrüstung nicht ernst nehmen. Sie nutzen sogar die unbefristete Verlängerung des Atomwaffensperrvertrags aus, um ihren Besitz (und daher den Einsatz) von Atomwaffen vor dem Gericht zu legimitieren.

Die wichtigste Stütze der Atommächte ist die deutsche Regierung. Wie bereits oben erwähnt, erklärte der deutsche Vertreter, daß die Ächtung der Atomwaffen Abrüstung verhindern würde und betonte die positive Rolle der Atomwaffen, die erfolgreich Frieden und Freiheit erhielten. Was sogar der IGH-Richter Schwebel in Frage stellte, entspricht der Verdrehung der Tatsachen, denn der deutsche Vertreter verschwieg damit, daß die Atomwaffen in den letzten 50 Jahren weder die Kriege in Bosnien, Ruanda, Somalia, Tschechenien, Afghanistan, Vietnam noch all die anderen Kriege auf der Welt verhindert haben. Aus diesem Grund ist die Haltung der deutschen Bundesregierung äußerst unbefriedigend. Viele glauben, daß Deutschland wegen seines Verzichts auf Atomwaffen diese prinzipiell ablehnen würde. Doch die deutsche Regierung spricht sich nicht prinzipiell gegen Atomwaffen aus, sondern ist lediglich politisch und völkerrechtlich durch ihre Geschichte in ihren Handlungsmöglichkeiten eingeschränkt. Präsident Chirac bietet bereits die Mitverfügung an. Spätestens wenn Europa ein Bundesstaat wird, ist Deutschlands Verzicht fraglich, weil Europa ein Atomwaffenstaat werden wird. Für diese Mitverfügung hält die Bundesregierung sich alle Türen offen.

Mehrfach wurde vor Gericht gewürdigt, daß es dem Engagement vieler Friedensorganisationen zu verdanken sei, daß der IGH die Legalität von Atomwaffen überprüfe. Wie der Justizminister von Neuseeland bekräftigte, wäre eine Verurteilung ein wichtiger Schritt in Richtung Abschaffung der Atomwaffen. Es bleibt aber offen, wie der Gerichtshof entscheiden wird. Ein Urteil ist erst Anfang 1996 zu erwarten. Selbst wenn entschieden würde, daß Atomwaffen nicht »inhuman« seien und nicht völkerrechtswidrig mehr Zivilisten als Soldaten treffen, werden viele Menschen weiterhin die Frage stellen: Warum sind chemische und biologische Waffen völkerrechtswidrig, atomare Waffen aber nicht?

Anmerkungen

1) Grief, Nicholas, Völkerrecht gegen Kernwaffen, IALANA, IPPNW und IPB, Marburg 1993. Zurück

2) WHA 46.40, Health and Environment Effects of Nuclear Weapons, Genf, 14. Mai 1993. Zurück

3) UN Resolution 49/75 K, Request for an Advisory Opinion from the International Court of Justice on the Legality of the Threat or Use of Nuclear Weapons, New York, 15. Dezember 1994. Zurück

4) Eine dem Wortlaut ähnliche Klausel enthalten die Genfer Konventionen von 1949 und das Erste Zusatzprotokoll zu den Genfer Konventionen aus dem Jahr 1977. Die Klausel ist auch vom IGH in seiner Entscheidung zum Nicaragua-Fall anerkannt worden. (ICJ Reports 1986, Nicaragua vs. Unites States, Abs. 218; Urteil betreffend militärische und paramilitärische Aktivitäten gegen Nicaragua.) Zurück

5) Oral Statement of the Federal Republic of Germany at the Public Sitting of the International Court of Justice, November 2 1995. Zurück

Xanthe Hall ist Leiterin der Anti-Atom-Kampagne der Deutschen Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW).

Frankreich verletzt Euratom-Vertrag

Frankreich verletzt Euratom-Vertrag

Gutachten der IALANA zu den französischen Atomtests

von IALANA

Frankreich hat mit seinem Atomtest gegen den EURATOM-Vertrag verstoßen. Ohne vorherige Zustimmung der Brüsseler EU-Kommission durfte und darf Frankreich seine geplanten Atomwaffenversuche auf dem Mururoa-Atoll nicht durchführen. Zu diesem Ergebnis kommt das im folgenden abgedruckte Gutachten der »International Association Of Lawyers Against Nuclear Arms« (IALANA) vom 22.8.1995. Während der EU-Kommissions-Präsident Santers mittlerweile immerhin bestätigt hat, daß der EURATOM-Vertrag auf die französischen Atomtests anwendbar ist, verhält sich die Kommission aber immer noch auffällig still. IALANA fordert den EU-Kommissionspräsidenten Santer auf, nicht weiter untätig den Atomtests zuzusehen, sondern gegen Frankreich ein Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 141 des EURATOM-Vertrages einzuleiten, Klage gegen Frankreich vor dem Europäischen Gerichtshof zu erheben und zugleich eine einstweilige Anordnung des Gerichts zu beantragen.

Sehr geehrter Herr Präsident,

die Mitteilung des französischen Präsidenten Jacques Chirac vom 13. Juni 1995, daß er die Wiederaufnahme einer Serie von acht Atomwaffenversuchen auf dem Mururoa-Atoll für die Zeit von September 1995 bis Mai 1996 angeordnet habe, hat in der ganzen Welt große Proteste hervorgerufen, die an Intensität von Woche zu Woche zunehmen. Wie wir Pressemitteilungen entnommen haben, hat sich zwischenzeitlich auch der Umweltausschuß des Europäischen Parlaments an die Kommission der Europäischen Union mit der Bitte um Prüfung der Frage gewandt, ob die französischen Atomwaffenversuche mit dem Recht der Europäischen Union vereinbar sind.

Wir, die deutsche Sektion der IALANA (International Association Of Lawyers Against Nuclear Arms), möchten hiermit das Anliegen des Umweltausschusses des Europäischen Parlaments nachdrücklich unterstützen und die EU-Kommission auffordern, gegenüber dem EU-Mitgliedsstaat Frankreich nachhaltig auf die Einhaltung der Bestimmungen des EURATOM-Vertrages (im folgenden: EAGV) zu drängen. Konkret möchten wir Sie auffordern,

  1. gegen den EURATOM-Mitgliedsstaat Frankreich ein Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 141 Abs. 1 EAGV einzuleiten,
  2. nach fruchtlosem Ablauf der Dreimonatsfrist nach Art. 141 Abs. 2 EAGV gegen den Mitgliedsstaat Frankreich den Europäischen Gerichtshof (im folgenden: EUGH) anzurufen,
  3. gegen den Mitgliedsstaat Frankreich beim EUGH gemäß Art. 158 EAGV in Verbindung mit Art. 53 der Verfahrensordnung des EUGH eine einstweilige Anordnung zu beantragen.

Begründung:

I. Vertragswidriges Verhalten des Mitgliedsstaates Frankreich

Bekanntlich haben die Atomwaffen-Staaten USA, Sowjetunion, Großbritannien, Frankreich und China seit 1945 mehr als 2.000 Atomwaffen-Tests durchgeführt, darunter mehr als 500 in der Atmosphäre. Ob solche militärischen Atomwaffen-Versuche mit dem geltenden Völkerrecht vereinbar sind, ist in der Völkerrechtsgemeinschaft umstritten.

Möglicherweise werden die von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) im Jahre 1993 und von der UN-Generalversammlung im Jahre 1994 beim Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag eingeleiteten Gutachten-Verfahren, in denen es um die Frage der Völkerrechtswidrigkeit des Einsatzes und der Androhung des Einsatzes von Atomwaffen geht und zu denen der IGH ab 30. Oktober 1995 in Den Haag mündliche Anhörungen durchführen wird, zu einer Klärung beitragen können.

Allerdings gehört es schon jetzt unbestrittenermaßen zu den allgemein anerkannten Regeln des Völkerrechts, daß jeder Staat verpflichtet ist, jede Nutzung seines Hoheitsgebietes zu vermeiden, die einen Schaden im Gebiet eines anderen Staates verursacht (vgl. u. a. Internationaler Gerichtshof (IGH), Urteil vom 09. April 1949, ICJ Rep. 1949, S. 4 ff., 22).

Unabhängig von der Frage, ob die Durchführung von Atomwaffenversuchen mit den allgemeinen Vorschriften des Völkerrechts vereinbar ist, stellt sich jedoch für den EU-Mitgliedsstaat Frankreich die zusätzliche Frage einer Vereinbarkeit seines Handelns mit dem Rechtssystem der Europäischen Union, speziell mit dem EURATOM-Vertrag.

1. Der EURATOM-Vertrag ist auf die französischen Versuche auf dem Mururoa-Atoll anwendbar

1.1 Das Mururoa-Atoll gehört zum räumlichen Geltungsbereich des EURATOM-Vertrags

Das Mururoa-Atoll ist Teil des französischen Übersee-Territoriums Polynesien. Die Vorschriften des EURATOM-Vertrages finden nach seinem Art. 198 Abs. 1 nicht nur „auf die europäischen Hoheitsgebiete“ der EURATOM-Mitgliedsstaaten, sondern auch „auf die ihnen unterstehenden außereuropäischen Hoheitsgebiete“ Anwendung, soweit im EURATOM-Vertrag „nichts anderes bestimmt ist“. Weder in Art. 198 EAGV noch in anderen Vorschriften des EURATOM-Vertrages werden die Frankreich „unterstehenden außereuropäischen Hoheitsgebiete“ in Polynesien (einschließlich des Mururoa-Atolls) aus dem räumlichen Anwendungsbereich des EURATOM-Vertrages herausgenommen. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem EG-Vertrag, da nach Art. 232 Abs. 2 EG-Vertrag der EG-Vertrag die Vorschriften des Vertrags zur Gründung der »Europäischen Atomgemeinschaft« (= EAGV) nicht beeinträchtigt. Die Regelungen des EAGV sind mit anderen Worten Spezialvorschriften zum EG-Vertrag und gehen diesem in ihrem sachlichen und räumlichen Regelungsbereich vor.

1.2 Die militärische Nutzung der Atomenergie ist vom sachlichen Anwendungsbereich des EURATOM-Vertrages nicht ausgenommen

Eine Vorschrift, die die militärische Nutzung der Atomenergie generell aus dem sachlichen Anwendungsbereich des EAGV ausdrückiich ausnimmt, ist im EAGV nicht enthalten.

Lediglich für einzelne Fragen enthält der EAGV Sonderregelungen für den Bereich der militärischen Nutzung der Atomenergie (Art. 24 Abs. 1 EAGV und Art. 84 Abs. 3 EAGV). Art. 24 Abs. 1 EAGV ordnet lediglich den Geheimschutz für Kenntnisse an, die von der EURATOM-Gemeinschaft im Rahmen ihrer Forschungsarbeit erworben wurden und deren Preisgabe den Verteidigungsinteressen eines Mitgliedsstaates schaden könnte. Art. 84 Abs. 3 EAGV regelt, daß sich „die Überwachung“, d.h. die speziellen Überwachungsmaßnahmen nach Kapitel VII EAGV, nicht auf Stoffe erstrecken, „die für die Zwecke der Verteidigung bestimmt sind, soweit sie sich im Vorgang der Einfügung in Sondergeräte für diese Zwecke befinden oder soweit sie nach Abschluß dieser Einfügung gemäß einem Operationsplan in eine militärische Anlage eingesetzt oder dort gelagert werden“. Andere EURATOM-Zuständigkeiten nach anderen Vorschriften des EAGV werden von Art. 84 Abs. 3 EAGV nicht erfaßt. Die Existenz dieser bereichspezifischen Sonderregelung des Art. 84 Abs. 3 EAGV macht mithin gerade deutlich, daß die Anwendbarkeit des EURATOM-Vertrages außerhalb des von ihr erfaßten Regelungsbereiches unberührt bleibt: Die militärische Nutzung der Atomenergie wird von den Regelungen des EURATOM-Vertrages nur insoweit ausgenommen, wie der Regelungsbereich der genannten Aufnahmevorschrift reicht.

Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem Beschluß des EUGH vom 14. November 1978 (Rs 1/78, Sammlung 1979, S. 2151 ff.). In dieser Entscheidung des EUGH ging es um die Frage, ob das „Abkommen über den Objektschutz von Kernmaterial, kerntechnischen Anlagen und Nukleartransporten“ mit dem EURATOM-Vertrag vereinbar ist. Der EUGH hat in jenem Verfahren lediglich entschieden, daß „die für die militärischen Zwecke bestimmten Materialien und Anlagen“ von den Überwachungsmaßnahmen sowohl des genannten Abkommens (in Übereinstimmung mit dessen Art. 2) als auch des EURATOM-Vertrages ausgeschlossen sind. Eine darüber hinausgehende allgemeine Schlußfolgerung, militärische Nuklearversuche innerhalb oder außerhalb von Anlagen eines EURATOM-Mitgliedsstaates seien nicht nur von den speziellen Überwachungsmaßnahmen der §§ 77 bis 85 EAGV und der besondere Überwachungsmaßnahmen voraussetzenden Regelung des Art. 86 EAGV (betr. das Eigentumsrecht von EURATOM an spaltbaren Stoffen), sondern generell und radikal vom Anwendungsbereich des EAGV ausgenommen, läßt sich daraus nicht ziehen.

Namentlich werden die Regelungen des EURATOM-Vertrages über den Gesundheitsschutz nicht von der Sonderregelung des § 84 Abs. 3 EAGV erfaßt.

So gelten namentlich die Vorschriften des EURATOM-Vertrages über den Gesundheitsschutz (Art. 30 bis 39 EAGV) für alle Bereiche der Atomenergie-Nutzung im EURATOM-Bereich, insbesondere auch für Nuklear-Versuche; militärspezifische Ausnahmeregelungen hinsichtlich dieser dem Gesundheitsschutz dienenden Vorschriften lassen sich dem EURATOM-Vertrag nicht entnehmen.

2. Die französischen Atomwaffen-Versuche verstoßen gegen Art. 34 EAGV

Nach Art. 34 EAGV ist jeder Mitgliedsstaat, in dessen Hoheitsgebiet „besonders gefährliche Versuche“ stattfinden sollen, verpflichtet, zusätzliche Vorkehrungen für den Gesundheitsschutz zu treffen; er hat hierzu vorher die „Stellungnahme“ der Kommission einzuholen (Abs. 1). Besteht die Möglichkeit, daß sich die Auswirkungen der Versuche auf die Hoheitsgebiete anderer Mitgliedsstaaten erstrecken, so ist die „Zustimmung“ der Kommission erforderlich (Abs. 2).

2.1 Besonders gefährliche Versuche

Art. 34 EAGV findet sowohl auf zivile als auch auf militärische „besonders gefährliche Versuche“ Anwendung (so u.a. auch Grunwald, Europarecht, 1 986, S. 31 5 ff., 336 mit weiteren Nachweisen). Eine Ausnahme für letztere läßt sich dem EURATOM-Vertrag nicht entnehmen. Auch der damalige Staatssekretär im französischen Außenministerium, Maurice Faure, hat im Rahmen der Debatten zur Ratifzierung des EURATOM-Vertrages in der Französischen Nationalversammlung am 21. Juni 1957 dies zum Ausdruck gebracht: „Les dispositions de l'article 34 s'appliquent à toutes les expériences particuliérement dangereuses, civites ou militaires.“ Eine entsprechende Aussage findet sich im Bericht des Ausschusses für Familie, Bevölkerung und öffentliche Gesundheit der Französischen Nationalversammlung zur Gesetzesvorlage Nr. 4676 („Die Bestimmungen des Art. 34 finden auf sämtliche besonders gefährliche Versuche Anwendung, zivile wie militärische.“).

Dementsprechend hat Frankreich auch Anfang der 60er Jahre seine militärischen Zwecken dienenden Nuklear-Tests in der Sahara der EURATOM-Kommission nach Art. 34 Abs. 1 EAGV vorab förmlich zur Kenntnis gebracht, d.h. „notifiziert“ (vgl. EURATOM, 3. Gesamtbericht über die Tätigkeit der Gemeinschaft, 1960, S. 101 f.; 4. Gesamtbericht, 1961, S. 113).

Von dieser Rechtsauffassung von der Anwendbarkeit des Art. 34 EAGS ist dann auch die EURATOM-Kommission bei ihrer Stellungnahme vom Februar 1960 ausgegangen (allerdings hat sie damals hinsichtlich der französischen Versuche in der Sahara Auswirkungen für andere EURATOM-Staaten nach ihrem damaligen Kenntnisstand verneint).

Ebenso wie bei den zwischenzeitlich verbotenen oberirdischen Nuklear-Tests handelt es sich auch bei den bis 1991 durchgeführten und bei den für die Zeit von September 1995 bis Mai 1996 angekündigten Atombomben-Versuchen auf dem Mururoa-Atoll im Süd-Pazifik um „besonders gefährliche Versuche“ im Sinne des Artikels 34 EAGV.

Zu den bisher durchgeführten Versuchen gibt es drei offiziöse, d.h., unter Beteiligung der französischen Behörden durchgeführte Untersuchungen: Den Bericht von Haroun Tazieff von 1982, den Bericht der Atkinson-Kommission von 1984 und den Bericht von Cousteau von 1988.

Bereits der Bericht von Haroun Tazieff, des damaligen Präsidenten des französischen »Commissariat à l'etude et à la prévention des risques naturels majeurs«, räumte ein, daß auf längere Sicht nach den vorliegenden Meßdaten das Risiko der Ausbreitung radioaktiver Materialien nicht ausgeschlossen werden kann.

Im Bericht von Jacques-Yves Cousteau werden zahlreiche Risse und Erdrutsche im Korallensockel des Mururoa-Atolls und eine beschleunigte Alterung seiner Kalkschichten, auf der die Korallenablagerungen ruhen, konstatiert; der Cousteau-Bericht wirft deshalb die Frage auf, „si l'onde de choc d'une explosion ne modifie pas le confinement des produits radioactifs des précédents tirs en entraînant une fissuration des réservoirs vitrifiés“.

Im Abschlußbericht von Hugh Atkinson werden schließlich die von den französischen Behörden verlautbarten Angaben, daß mehr als 99<0> <>% der bei den Nuklear-Tests entstehenden Radioaktivität durch die versiegelten Ummantelungen der Versuchsanlage von der Außenwelt ferngehalten würden, ausdrücklich bestritten (vgl. dazu auch Le Monde vom 21. Juni 1995).

Dabei ist zu berücksichtigen, daß die genannten drei Forschungsgruppen von den französischen Behörden nur wenige Tage eingeräumt bekamen, um vor Ort zu recherchieren.

Zwischenzeitlich liegen zahlreiche weitere – ohne Zeitdruck zustande gekommene – Untersuchungen und Veröffentlichungen von Wissenschaftlern und Umweltorganisationen vor, die die Schlußfolgerung nahelegen, daß bereits mit den bisher, d.h. bis 1991 durchgeführten unterirdischen Atom-Tests zumindest langfristig gravierende Gefahren für Öko-Systeme und sogar für Menschen verbunden sind. Wir verweisen u.a. auf den Bericht von A. C. McEwan in Goldblat/Cox (Hg.), Nuclear Weapons Tests: Prohibition or Limitation?, Oxford 1988, S. 75 ff.

2.2 Möglichkeit von Auswirkungen auf das Hoheitsgebiet eines anderen EURATOM-Mitgliedsstaates

Im Sinne des Art. 34 Abs. 2 EAGV besteht zumindest die Möglichkeit, daß sich die Auswirkungen der französischen Nuklearversuche auf die Hoheitsgebiete anderer EURATOM-Mitgliedsstaaten erstrecken.

Im Einwirkungsbereich der französischen Nuklear-Versuche auf dem Mururoa-Atoll liegt u.a. die zum Hoheitsgebiet des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Nordirland gehörende Pitcairn-Insel (vgl. dazu u.a. Meyers Enzyklopädisches Lexikon, Band XVIII, 1976, S. 728; Encyclopaedia Britannica, Band IX, S. 474). Die (bewohnte) Pitcairn-Insel ist gemäß Art. 198 Abs. 3 c EAGV nicht vom Anwendungsbereich des EURATOM-Vertrages ausgenommen (sie ist im Anhang IV des EWG-Vertrages ausdrücklich als zum Vertragsgebiet gehörend aufgeführt).

Spätestens seit dem Reaktorunfall von Tschernobyl und seinen schrecklichen Folgen ist weltweit bekannt, daß – ungeachtet der vor der Tschernobyl-Katastrophe ergangenen gegenteiligen Verlautbarungen namhafter Angehöriger der »nuclear community« in Wissenschaft, Wirtschaft und Politik – Nuklearexplosionen großräumige Auswirkungen in einem Umfeld von mehr als 1.000 km haben können.

Die zum Hoheitsgebiet des EURATOM-Mitgliedsstaates Großbritannien zählende (bewohnte) Pitcairn-Insel liegt ca. 800 bis 1.000 km vom Mururoa-Atoll entfernt.

Die Atomwaffen-Versuche im Pazifik haben deshalb in den letzten Jahren vielfältige Besorgnisse ausgelöst, die bisher nicht durch hinreichende wissenschaftliche Studien ausgeräumt werden konnten. Im Gegenteil: Es gibt zahlreiche Untersuchungen und Stellungnahmen, die die Möglichkeit einer Kontamination des Meerwassers und der Atmosphäre nicht nur nicht ausschließen, sondern sogar für relativ wahrscheinlich halten. Stellvertretend möchten wir insoweit anführen:

  • Norman Buske, Caesium-134 at Mururoa – Review of the Calypso Water Sample, Davenport (SEARCH Technical Services), 1990
  • Bengt Danielsson, Poisoned Pacific: The Legacy of French Nuclear Testing, in: Bulletin of the Atomic Scientists, March 1 990, S. 22 ff.
  • McEwan, Environmental effects of underground nuclear explosions, in: Jozef Goldblat/David Cox, Nuclear Weapon Tests: Prohibitions or Limitations?, Oxford 1988, S. 75
  • Tilman Ruff, Fish Poisoning in the Pacific: A Link with Military Activities, Canberra (Australian National University), 1989

Nach den uns zugänglichen Informationen bestätigt selbst der von der Cousteau-Kommission im Jahre 1987 an der Küste von Mururoa gedrehte Unterwasserfilm „die Existenz von spektakulären Rissen und Brüchen, von Erdrutschen unter Wasser und von einem Absinken des Atolls“ (vgl. Das Greenpeace-Handbuch des Atomzeitalters, 1989, S. 329 f.).

Naturgemäß vermögen wir die Validität der bisher vorliegenden wissenschaftlichen Untersuchungen und Studien nicht abschließend zu beurteilen, zumal die französischen Behörden in ihrer lnformationspolitik und in ihrer Bereitschaft, unabhängigen Wissenschaftlern ungehinderten und zeitlich nicht begrenzten Zugang zum Testgebiet zu gewähren, bislang sehr restriktiv waren. Gerade deshalb kommt der dem Gesundheitsschutz dienenden Vorschrift des Art. 34 EAGV eine besondere Bedeutung bei. Sie soll gerade sicherstellen, daß die EURATOM-Kommission, also die von Ihnen, sehr geehrter Herr Präsident, präsidierte Behörde, die notwendigen Informationen von Frankreich anfordert, in einer sorgfältigen eigenen Stellungnahme bewertet und schließlich die Entscheidung nach Art. 34 Abs. 2 EAGV trifft, ob sie dem Nuklearversuch des betreffenden EURATOM-Mitgliedsstaates zustimmt oder nicht. Für ihre Entscheidung muß die Kommission dann die politische und rechtliche Verantwortung übernehmen; ggf. kann sie wegen Pflichtverletzung vor dem EUGH verklagt werden.

3. Schlußfolgerung

Nach den uns vorliegenden Informationen hat der EURATOM-Mitgliedsstaat Frankreich weder vor Durchführung der Atombomben-Versuche auf dem Mururoa-Atoll bis zum Jahre 1991 noch vor dem Start der jetzt für die Zeit von September 1995 bis Mai 1996 angekündigten Nuklear-Tests die von Art. 34 Abs. 1 EAGV vorgeschriebene „Stellungnahme der Kommission“ (der Europäischen Union) eingeholt.

Da, wie dargelegt, zumindest die Möglichkeit besteht, daß sich die Auswirkungen der Versuche u.a. auf die lediglich ca. 1.000 km entfernt liegende bewohnte Pitcairn-Insel und damit auf das Hoheitsgebiet des EURATOM-Mitgliedsstaates Großbritannien und Nordirland erstrecken, war bereits hinsichtlich der bis 1991 durchgeführten und ist auch jetzt hinsichtlich der für die Zeit von September 1995 bis Mai 1996 angekündigten französischen Nuklear-Tests auf dem Mururoa-Atoll die vorherige „Zustimmung der Kommission“, d.h., sehr verehrter Herr Präsident, die Zustimmung Ihrer Behörde, erforderlich.

Die Weigerung des EURATOM-Mitgliedsstaats Frankreich, vor Durchführung der Nuklear-Tests die Vertragspflichten aus Art. 34 EAGV zu erfüllen, stellt mithin ein vertragswidriges Verhalten im Sinne des Art. 141 EAGV dar, das die eingangs von uns geforderten Konsequenzen dringend erfordert.

Deshalb möchten wir Sie und die von Ihnen präsidierte EU-Kommission dringend auffordern, Ihre Amtspflichten nach dem EURATOM-Vertrag wahrzunehmen und ein Vertragsverletzungsverfahren gegen den EURATOM-Mitgliedsstaat Frankreich unverzüglich einzuleiten sowie unter Beachtung der einschlägigen Verfahrensvorschriften den Europäischen Gerichtshof anzurufen und eine einstweilige Anordnung gegen Frankreich zu beantragen.

II.

Gestatten Sie uns abschließend noch eine Frage zur Handhabung der Art. 35 und 36 des EURATOM-Vertrages durch die EU-Kommission.

Nach Art. 35 EAGV hat jeder EURATOM-Mitgliedsstaat die notwendigen Einrichtungen zur ständigen Überwachung des Gehalts der Luft, des Wassers und des Bodens an Radioaktivität sowie zur Überwachung der Einhaltung der von EURATOM festgelegten Grundnormen zu schaffen (Abs. 1). Die EU/EURATOM-Kommission hat Zugang zu diesen Überwachungseinrichtungen; sie kann ihre Arbeitsweise und Wirksamkeit nachprüfen (Abs. 2).

Nach Art. 36 sind die Auskünfte über die in Art. 35 EAGV genannten Überwachungsmaßnahmen der EU/EURATOM-Kommission von den zuständigen Behörden (des Mitgliedsstaates) regelmäßig zu übermitteln, damit die Kommission ständig über den Gehalt an Radioaktivität unterrichtet ist, dem die Bevölkerung ausgesetzt ist.

Wir möchten Sie deshalb ergänzend fragen: Hat der EURATOM-Mitgliedsstaat Frankreich hinsichtlich der Nuklear-Tests in seinem Hoheitsgebiet Französisch-Polynesien im Pazifik zumindest seine Überwachungs- und Auskunftspflichten nach Art. 35 und 36 EAGV erfüllt?

Hat, sehr geehrter Herr Präsident, Ihre Behörde, die EU/EURATOM-Kommission, ihrerseits ihre Prüfungspflichten nach Art. 35 und Art. 36 EAGV hinsichtlich der bis zum Jahr 1991 durchgeführten französischen Nuklear-Tests erfüllt? Mit weichem konkreten Ergebnis?

Wir wären Ihnen, sehr geehrter Herr Präsident, sehr dankbar, wenn Sie uns Ihre geschätzte Antwort möglichst bald zukommen lassen könnten.

Mit freundlichen Grüßen
Dr. Peter Becker (Vorsitzender)
Dr. Deiseroth (stellv. Vorsitzender)

IALANA, Juristinnen und Juristen gegen atomare biologische und chemische Waffen, Sektion Bundesrepublik Deutschland der International Association Of Lawyers Against Nuclear Arms (Postfach 1169, 35001 Marburg).

Anything goes

Anything goes

Das Bundesverfassungsgerichtsurteil vom 12.7.1994.

von Caroline Thomas und Randolph Nikutta

Ein Kommentar

Es steht fest, daß „militärische Einsätze der Bw außerhalb des NATO-Bereiches grundsätzlich nicht in Frage kommen, es sei denn, es läge ein Konflikt zugrunde, der sich gleichzeitig als ein völkerrechtswidriger Angriff auf die Bundesrepublik Deutschland darstellt.“ Bundessicherheitsratsbeschluß von 1981, der von der CDU-Regierung 1982 bekräftigt wurde.

Jetzt sind »wir Deutschen« der Geschichte wieder ein weiteres Stück entrückt, ein weiteres Kapitel Nachkriegsgeschichte wurde beendet: »Im Namen des Volkes« darf deutsches Militär Frieden schaffen bzw. Krieg führen. Das BVG stellte die militärpolitische Souveränität her, auf die die herrschende Politik seit Ende der 80er Jahre konsequent hingearbeitet hat.

40 Jahre amtliche Verfassungsauslegung und politische Praxis und 250 Jahre völkerrechtliche Entwicklung wurden mit einem Strich (bzw. auf 142 Seiten) schlicht und ergreifend vom Tisch gewischt.

Das Gericht legte fest:

  1. Die Beteiligung der Bundeswehr an den Einsätzen in Somalia und im ehemaligen Jugoslawien verstoßen nicht gegen das deutsche Grundgesetz.
  2. Diese Einsätze hätten aber einer konstitutiven Zustimmung des Bundestages bedurft; die Regierung hat diese nicht eingeholt und somit gegen das Grundgesetz verstoßen.

Das alles hat niemanden verwundert, das war zu erwarten. Die Begründung überraschte jedoch.

Deutschland darf sich mit bewaffneten Streitkräften sowohl an sog. Blauhelmeinsätzen als auch an Kampfeinsätzen der UN, der NATO und der WEU außerhalb des NATO-Bündnisgebietes beteiligen. Art. 24 GG erlaubt „die Übernahme der mit der Zugehörigkeit zu einem solchen System (System kollektiver Sicherheit) typischerweise verbundenen Aufgaben.“ 1 Nicht nur die UNO und die KSZE, sondern auch die NATO und die WEU sind Systeme kollektiver Sicherheit im Sinne Art. 24.2 GG.

So eindeutig das Urteil auf den ersten Blick schien, ist die Auslegung trotzdem wieder Auslöser für einen Parteienstreit geworden. Die SPD interpretiert das Urteil etwas restriktiver als die Regierungskoalition. Ihrer Auffassung nach darf die Bundeswehr sich zwar an NATO- und WEU-Einsätzen beteiligen, aber nur, wenn diese einen Sicherheitsratsbeschluß der UN umsetzen oder ausführen2.

Da die NATO aber als System kollektiver Sicherheit (um)definiert wurde, ist diese Interpretation des Urteils u.E. nicht zutreffend und die Unterscheidung in der Praxis weitestgehend unerheblich, da jeder Militäreinsatz von Staaten, also auch der NATO- und WEU-Staaten, der sich nicht auf das individuelle oder kollektive Selbstverteidigungsrecht beruft, völkerrechtlich vorher von der UN legitimiert werden muß.

Warum die Aufregung?

Fünf Aspekte sind an dem Urteil aus Karlsruhe besonders bemerkenswert:

1.) Das Bundesverfassungsgericht stellt amtlich fest, daß es zwischen kollektiver Sicherheit und kollektiver Verteidigung keine prinzipiellen Differenzen gebe. Völkerrechtliches Allgemeingut ist bislang, daß sich diese sehr wohl von ihrer Konzeption her (Wirkung nach innen und außen) unterscheiden. Ob das deutsche Bundesverfassungsgericht wohl auch die Warschauer Vertragsorganisation als System kollektiver Sicherheit definiert hätte?

Die über den innenpolitischen Kontext hinausgehenden bündnispolitischen und völkerrechtlichen Folgen dieser Einebnung sind bedenklich. Zum einen unterstützt das Bundesverfassungsgericht damit indirekt die Bundesregierung und andere NATO-Regierungen, die die NATO und die WEU durch eine informelle Funktionserweiterung zu weltweit agierenden Bündnissen umgestalten möchten.

Zum anderen fällt das Verfassungsgericht mit seiner Zuweisung des Attributs kollektive Sicherheit an NATO und WEU in das Völkerrecht der Feudalzeit zurück, wie der Politologe Czempiel zutreffend anmerkt. Krieg und Frieden stellten zu dieser Zeit zwei legale Handlungsweisen dar. Militärallianzen waren und sind noch ein klassisches Instrument von Gewalt- und Machtpolitik im internationalen System. Der Völkerbund und danach die UN mit ihrem umfassenden Gewaltverbot und Gewaltmonopol sind angesichts der Erfahrungen von zwei verheerenden Weltkriegen in Abgrenzung zu herkömmlichen Militärallianzen geschaffen worden, um diese Gewaltinstrumente letztlich abzuschaffen. Das Verfassungsgericht negiert somit mit seinem Urteil einen bedeutsamen historischen Fortschritt in den internationalen Beziehungen, für den immerhin gut 250 Jahre gebraucht wurden.3

Warum nimmt das BVG diese historisch rückschrittliche Eigenschaftszuschreibung vor und verweist z.B. für Europa nicht auf die KSZE als ein adäquates System kollektiver Sicherheit? Das Verfassungsgericht stützt seine Ermächtigung für Bundeswehreinsätze, auf Artikel 24 Abs. 2. GG, der es der Bundesrepublik erlaubt, sich zur Wahrung des Friedens einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit einzuordnen. Außer zur Verteidigung ist das die einzige Ausnahme, die das Grundgesetz für den Einsatz deutscher Streitkräfte zuläßt.

Soll es der Bundeswehr nun also verfassungsrechtlich möglich sein, sich neben Aktionen unter unmittelbarer Leitung der UN auch an »peace-keeping«- und »peace-enforcing«-Aktionen im Kontext der NATO oder WEU zu beteiligen, dann blieb nur der völkerrechtlich bedenkliche Kunstgriff, den die Karlsruher Verfassungsrichter gewählt haben. Es blieb nur die Möglichkeit, NATO und WEU entsprechend Artikel 24.2 zu etikettieren. Sowohl aus historischen Gründen als auch für die Zukunft sind die NATO und die WEU die wichtigsten internationalen Handlungszusammenhänge für die Bundesrepublik, um ihre militärpolitische Gestaltungsmacht zum Tragen kommen zu lassen. Dem Verfassungsrichter war offenbar daran gelegen, der Exekutive keine signifikanten militärpolitischen Handlungsbeschränkungen aufzuerlegen.

2.) Hervorhebenswert ist an dem Urteil auch die Verwischung der Grenzen zwischen friedensichernden und -schaffenden Operationen. Die Verfassungsrichter sehen hier fließende Übergänge. Mit dieser Auffassung fördern sie eine Militarisierung der Institution der UN-Blauhelme, deren Einsatz an sehr streng gefaßte Kriterien gebunden ist. Das Verfassungsgericht eignet sich die Sichtweise der Exekutive, insbesondere die der militärischen Führung, an und ermuntert die Regierung geradezu, diese höchst fragwürdige Verwischung durch eigenes militärisches Handeln als völkerrechtliche Praxis zu etablieren.

Die Verwischung zwischen den beiden Einsatzformen in der Praxis soll hier nicht geleugnet werden, im Gegenteil. Diese politisch bewußt herbeigeführte fehlende Trennung aber völkerrechtlich festzuschreiben würde den Erfolg der »traditionellen Blauhelm-Einsätze« endgültig zunichte machen und eine friedenspolitisch wünschenswerte Stärkung gerade der zivilen Komponenten der Blauhelmeinsätze nicht mehr ermöglichen.

3.) Höchst bemerkenswert ist das Minderheitenvotum von vier Verfassungsrichtern bezüglich der schleichenden Aufgabenerweiterung von NATO und WEU. Sie gelangten zu der Auffassung, daß der seit 1990 beobachtbare Umgestaltungsprozeß und die damit einhergehende Aneignung grundsätzlich neuer Aufgaben im militärischen Bereich in beiden Bündnissen eine faktische Vertragsänderung darstelle, die dem Parlament zur Abstimmung hätte vorgelegt werden müssen. Es ist zu hoffen, daß sich die Bundesregierung durch diese Pattentscheidung in Zukunft davon abhalten läßt, in noch dreisterer Art und Weise den NATO-Vertrag umzuinterpretieren.

4.) Fördernd auf die Demokratisierung von Außenpolitik wirkt das Urteil dahingehend, daß die Entscheidungsbefugnis des Parlamentes über Auslandseinsätze der Bundeswehr festgeschrieben wird. Die traditionelle Ansicht der Exekutive, sie allein entscheide über den Einsatz der Streitkräfte, wird hier relativiert. Zur Konkretisierung fordert das Verfassungsgericht Exekutive und Legislative explizit dazu auf, sich auf konkrete Verfahren zur Mitentscheidung des Parlaments zu verständigen. Durch das Erfordernis der Zustimmung des Bundestages wird eine öffentliche Debatte bezüglich der jeweiligen Einsätze dann unumstößlich.

Diesen positiven Aspekt des Urteils sollte man allerdings nicht überbewerten, da das Gericht der Regierung große Schlupflöcher gelassen hat. Sowohl wenn die sog. Bündnisfähigkeit berührt ist als auch wenn „Gefahr im Verzuge“ ist, könne die Bundesregierung „vorläufig“ den Einsatz von Streitkräften ohne parlamentarische Zustimmung beschließen.

5.) Abschließend ist an dem Urteil noch hervorzuheben, daß es ein elementares und prägendes Segment der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland kommentarlos entsorgt. Bis 1990 lief die herrschende Verfassungsinterpretation und -praxis sämtlicher Bundesregierungen darauf hinaus, daß ein »out-of-area«-Einsatz der Bundeswehr mit dem Grundgesetz unvereinbar sei (siehe Eingangszitat des Bundessicherheitsratsbeschlußes). Das Verfassungsgericht stellt fest, daß die geübte militärische Restriktion und die dafür angeführte verfassungsrechtliche Begründung nie bestanden hätten. War die bisherige Praxis von Exekutive und Legislative lediglich ein Irrtum4?

Reaktionen

Neben diesen genannten bemerkenswerten Aspekten des Urteils selber gaben auch die Reaktion der Öffentlichkeit und der Parteien zu Irritation Anlaß. Während die deutsche Öffentlichkeit im großen und ganzen fast überhaupt nicht reagierte – der große Aufschrei aber auch der Jubelschrei blieb aus – begrüßten die CDU, FDP und die SPD einhellig das Urteil. Während die internationale Presse von einem „turning point in the country`s history“ 5 sprach, wird in der Bundesrepublik drei Monate nach dem Urteil längst wieder zur Tagesordnung übergegangen. Das Kalkül der Regierung ging auf. „Der Bundesregierung ist das Kunststück gelungen, via Karlsruhe eine Verfassungsänderung ohne verfassungsändernde Mehrheit durchzusetzen.“ 6

Nach der einhelligen Begrüßung des Urteils, sowohl seitens der Kläger als auch der Beklagten, folgte die Erleichterung darüber, daß nun endlich die Debatte um Einsatzmöglichkeiten der Bundeswehr beendet sei. Müßte nicht jetzt endlich die politische Debatte erst wirklich beginnen? Ersetzt die BVG-Entscheidung eben doch die politische Entscheidung?

Was folgt?

„Jetzt sind wir grundsätzlich frei,“ war der Kommentar von Klaus Kinkel7. Drei Tage nach der Verkündung des Urteils beschloß die Bundesregierung bereits, ihre neuen Freiheiten zu nutzen. Sie legten einen Antrag für den Bundestag vor, der auf der 150.000,- DM teuren Sondersitzung den ersten (auch von den Regierungsparteien so definierten) Kampfeinsatz bundesdeutscher Soldaten nach dem zweiten Weltkrieg beschließen sollte. CDU, FDP und SPD beschlossen einige Tage nach der Verkündung des Urteils die »Rules of Engagement«, also die Einsatzgrundlagen für die beteiligten Bundeswehrsoldaten bei dem Einsatz im ehemaligen Jugoslawien zu erweitern. Ab sofort sollten die Bundeswehrsoldaten genau wie die anderen Beteiligten auch, Blockadebrecher in der Adria mit militärischer Gewalt aufhalten dürfen, und die in den AWACS-Maschinen fliegenden deutschen Soldaten sollen in Zukunft bei der Durchsetzung des Flugverbotes in ihrer Handlungsfreiheit nicht mehr eingeschränkt sein und auch außerhalb des NATO-Vertragsgebietes ihre Flüge durchführen. Ein Kampfeinsatz unter Beteiligung der Bundeswehr im ehemaligen Jugoslawien.

Den Programmaussagen der SPD wiederspricht dieser wenige Tage nach dem Urteilsspruch in großer Eintracht zwischen den drei Alt-Parteien verabschiedete Antrag. Kampfeinsätze sollen nach Meinung der SPD-Mehrheit von der Partei nicht mitgetragen werden. In Gegensatz hierzu stellt sich allerdings auch der Bundesgeschäftsführer Verheugen8: „Ich glaube, daß praktische Auswirkungen dieses Urteils in völliger Übereinstimmung stehen mit dem, was die SPD politisch will.“

Aber in Zukunft wird es sicherlich nicht mehr nur um Kampfeinsätze a la »Jugoslawien« gehen. Wem die Aussagen bezüglich des Schutzes des freien Welthandels, der auch von deutschem Militär aufrechtzuerhalten sei, in den Verteidigungspolitischen Richtlinien vom November 1992 noch nicht deutlich genug waren, wird durch die Reaktion auf das BVG-Urteil eines besseren belehrt. So vermerkte nicht ein Hardliner wie Stoltenberg oder Rühe, sondern der Liberale Kinkel in einem SZ-Gespräch: „Vor der Entsendung von Truppen werde in jedem Einzelfall »sauber zu prüfen« sein, »ob besondere deutsche Interessen vorliegen«. Auch wirtschaftliche Interessen könnten dabei »eine Rolle spielen““ 9. Einsatzkriterium werden also deutsche (auch wirtschaftliche) Interessen sein und nicht – wie der deutschen Öffentlichkeit immer vermittelt wird – der Grad der Menschenrechtsverletzungen bzw. die Not der Menschen.

Die Bundesrepublik wird sich allerdings allein aus finanziellen Überlegungen heraus – hier sind deutsche Interessen berührt – auch in Zukunft nicht so ausgiebig militärisch engagieren, wie manchem vielleicht vorschwebt. Für 1995 bspw. sind ganze 90 Mio. DM im Verteidigungshaushalt für »out-of-Area«-Einsätze veranschlagt.10 Der Somaliaeinsatz hat ca. 350-500 Mio. DM gekostet. Allerdings sind auch diese Ausgaben erst im Nachtragshaushalt bewilligt worden.

Ein Trost bleibt: Der Bundeswehreinsatz nach innen ist auch nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichtes immer noch verboten. Ob diese Interpretation allerdings auch morgen und übermorgen noch gilt, bleibt natürlich in Frage gestellt. Schäuble, der im Zusammenhang mit den Streiks in Bischofferode darüber spekulierte, ob nicht auch ein innenpolitischer Einsatz der Bundeswehr möglich sei, wird wahrscheinlich den Verfassungsrichtern von morgen einen neuen Kunstgriff abtrotzen.

Caroline Thomas und Randolph Nikuta

Projekt Weltgerichtshof

Projekt Weltgerichtshof

von IPPNW

Am 14. Mai 1993 verabschiedete die 46. Weltgesundheitsversammlung (das höchste Organ der Weltgesundheitsorganisation (WHO)) im Palais des Nations in Genf eine historische Resolution, die sich wahrscheinlich als Meilenstein in der Geschichte des Ringens um Abrüstung erweisen wird. Sie enthält die Anweisung an die Weltgesundheitsorganisation, beim Internationalen Gerichtshof ein Gutachten darüber anzufordern, welcher rechtliche Status dem Einsatz nuklearer Waffen zukommt. Die (geheime) Abstimmung fiel so aus: 73 Stimmen dafür, 40 Stimmen dagegen, 10 Enthaltungen.

Mit Schreiben vom 27. August hat der Generalsekretär der Weltgesundheitsorganisation, Dr. Hiroshi Nakajima, den Internationalen Gerichtshof in Den Haag (»Weltgerichtshof«) in offizieller Form um ein Rechtsgutachten in folgender Frage ersucht: „Wäre der Einsatz von Atomwaffen durch einen Staat in einem Krieg oder einem anderen bewaffneten Konflikt im Hinblick auf die Auswirkungen auf Gesundheit und Umwelt ein Verstoß gegen die Verpflichtungen dieses Staates gemäß Völkerrecht und der Satzung der WHO?“

Befürworter der Resolution (viele atomwaffenfreie Staaten, angeführt von Sambia und Simbabwe, zusammen mit den Internationalen Ärzten für die Verhütung des Atomkriegs) argumentierten, die Gefahr des Einsatzes von Atomwaffen sei in einer Welt, in der sich das Atomwaffenpotential mit großer Geschwindigkeit ausbreitet, nach wie vor als allerdringlichstes Gesundheitsproblem zu behandeln

Auf politischer und juristischer Ebene stellt ein konkreter Entscheid des Gerichtshofs einen entscheidenden Schritt dar, die von Atomwaffenstaaten vorgebrachten Rechtfertigungen zu entkräften. So trägt er dazu bei, den Prozeß atomarer Entwaffnung, der in den USA und der GUS bereits im Gange ist, zu beschleunigen, und schreckt »Schwellenländer« wirksam davon ab, die atomare Aufstockung ihrer Waffenarsenale zu erwägen. Vor allem erlegt er allen Regierungen unterschiedlos eine Norm auf – ein grundlegend wichtiger Beitrag zum Erfolg der Konferenz zur Verlängerung des Nicht-Verbreitungs-Vertrags im Jahr 1995.

Die Resolution ist das Ergebnis vieler Jahre rechtswissenschaftlicher Arbeit durch Juristen, die aufzeigt, daß der Einsatz von Atomwaffen einen Verstoß gegen die Prinzipien des Kriegsvölkerrechts, welches Nichtkämpfende im Krieg schützen soll, darstellen würde. Sie gründet sich auch auf die Arbeit aller Organisationen heilender Berufe, besonders auf die berühmten WHO-Studien über die Auswirkungen nuklearer Angriffe, die zeigen, daß vorbeugende Verhütung die einzig zuverlässige Form des Schutzes ist.

Am 3. September gab der Weltgerichtshof eine Pressemitteilung heraus, in der er das Ersuchen bekanntgab. IPPNW erhielt die Meldung, daß der Internationale Gerichtshof am Dienstag, den 14. September alle Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen davon in Kenntnis setzen wird, daß ihnen eine Frist von sechs Monaten eingeräumt wird, um ihre juristische Argumentation vorzubringen, ob der Einsatz von Atomwaffen gemäß internationalem Völkerrecht gesetzlich oder ungesetzlich ist.

Chronik des Projekts

Mai 1992: Das Projekt Weltgerichtshof wird in Genf von den Organisationen Internationales Friedensbüro (IPB), Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs (IPPNW) und Internationale Vereinigung von Juristen gegen Kernwaffen (IALANA) gestartet.

9. Mai 1992: Der Resolutionsentwurf A45/A »Auswirkungen von Kernwaffen auf Gesundheit und Umwelt« (»Health and Environmental Effects of Nuclear Weapons«) wird als zusätzlicher Tagesordnungspunkt für die 45. Weltgesundheitsversammlung (WHA) der WHO von 14 Ländern eingebracht. Er fordert beim Internationalen Gerichtshof (ICJ) in Den Haag ein Gutachten über den rechtlichen Status des Einsatzes von Atomwaffen an. Jedoch wird in einem Unterausschuß mit 6 Gegenstimmen, 3 Stimmen dafür und 16 Enthaltungen die Behandlung des Entwurfs im Plenum abgelehnt.

November 1992: Die ständigen UN-Vertreter Panamas und Kenias in Genf beantragen beim Vorstand der WHO, die Resolution auf die Tagesordnung der 46. Weltgesundheitsversammlung zu setzen.

14. Mai 1993: Die 46. Weltgesundheitsorganisation nimmt die Resolution 46.40 »Auswirkungen von Atomwaffen auf Gesundheit und Umwelt«, unterstützt durch 22 Länder, an. Es gibt 73 Stimmen dafür, 40 dagegen und 10 Enthaltungen.

27. August 1993: WHO fordert beim Internationalen Gerichtshof (ICJ) ein Rechtsgutachten an.

September 1993: ICJ reagiert, indem er alle Mitgliedsstaaten der WHO auffordert, innerhalb der nächsten 6 Monate Stellungnahmen zum rechtlichen Status des Einsatzes von Kernwaffen vorzulegen.

14. Oktober 1993: Den Vereinten Nationen (UN) in New York werden Erklärungen des öffentlichen Gewissens vorgelegt: allein aus Japan 42,9 Mio. Unterschriften (Hiroshima- und Nagasaki-Appell) sowie 110.000 weitere, einschließlich 11.000 Unterschriften anerkannter Rechtsanwälte und Richter (MacBride-Appell).

28. Oktober 1993: Die 110 Mitgliedsländer der blockfreien Staaten werden informiert, daß Indonesien bei der UN-Generalversammlung die Resolution A/C.1/48/L.25 »Allgemeine und umfassende Abrüstung« einbringen wird, die ein Gutachten nicht nur über den rechtlichen Status des Einsatzes, sondern auch der Androhung des Einsatzes von Kernwaffen gemäß Völkerrecht anfordert.

4. November 1993: Es wird berichtet, daß die blockfreien Staaten die Resolution möglicherweise nicht einbringen werden, da USA, England und Frankreich massiven Druck ausüben und unter anderem damit drohen, Handels- und Hilfslieferungen zurückzuziehen, falls die Resolution vorgelegt wird.

5. November 1993: Die blockfreien Staaten bringen die Resolution A/C.1/48/L.25 »Allgemeine und vollständige Abrüstung« ein.

19. November 1993: Die blockfreien Staaten ziehen die Resolution A/C.1/48/L.25 »Allgemeine und vollständige Abrüstung« zurück mit der Verlautbarung, dies habe man getan, „um die Anstoßkraft und den Fortschritt zu erhalten, die durch diese Initiativen (USA/GUS-Verhandlungen und die Abrüstungskonferenz) erzeugt wurden … und im Geiste von Zusammenarbeit und Kompromißbereitschaft … .“

November 1993: Es wird behauptet, das US State Department plane möglicherweise, gegen das Einbringen der WHA-Resolution Einspruch einzulegen. Von Seiten der USA würde bei einigen WHO-Projekten von neuem geprüft, ob sie eine Förderung erhalten.

17.-26. Januar 1994: Vorstandssitzung der WHO. IPPNW wird von Dr. Johan Thor (Schweden) und Dr. Hege Raastad (Norwegen) vertreten.

2.-12. Mai 1994: 47. Weltgesundheitsversammlung (WHA)

10. Juni 1994: Stichtag für alle Mitgliedsstaaten die WHO-Stellungnahmen zum rechtlichen Status des Einsatzes von Kernwaffen bei dem Internationalen Gerichtshof vorzulegen.

Friedenserhaltende Operationen

Friedenserhaltende Operationen

Rechtliche und politische Grundlagen von Blauhelm-Einsätzen in Norwegen und Japan

von Wolfgang Biermann

Seit 1987 wird in der Bundesrepublik diskutiert, ob und wenn ja in welcher Form die BRD sich an Operationen der UN beteiligen soll. Insbesondere seit der Vereinigung wird der Ruf nach der Verantwortung, dem das neue Deutschland gerecht werden muß, immer lauter. Unter der Chiffre »Verantwortung« verbergen sich jedoch ganz unterschiedliche politische Motivationen und es resultieren ganz verschiedene Forderungen daraus. An dem einen Ende des Spektrums wird jegliche Beteiligung der Bundeswehr an UN-Einsätzen abgelehnt und dem Einsatz deutscher Soldaten eine zivile Komponente zur Unterstützung der UN entgegengesetzt. Die entgegengesetzte Position fordert eine Beteiligung der Bundeswehr an multilateralen Kampfeinsätzen, da die BRD heute die Sicherung des Weltfriedens nicht mehr ausschließlich anderen Staaten überlassen könne.
Eine Mittelposition befürwortet eine Beteiligung der Bundeswehr an Peace-Keeping Operationen (sog. Blauhelm-Missionen), will aber die Beteiligung an Kampfeinsätzen (sog. Friedensschaffende Maßnahmen nach Kap. VII der UN-Charta) nicht zulassen. Im Folgenden beschreibt Wolfgang Biermann am Beispiel von Japan und Norwegen, wie ein solcher »Kompromiß« umgesetzt werden kann. Norwegen ist neben Österreich und den anderen skandinavischen Staaten der wichtigste Ansprechpartner der UN für Peace-Keeping Operationen. Norwegische Soldaten beteiligen sich seit fast 30 Jahren an Blauhelm-Missionen (Die Beteiligung von norwegischen Soldaten ist allerdings nicht prinzipiell auf Peace-Keeping Operationen begrenzt.) In Japan hingegen wurde im letzten Jahr nach langer Diskussion und mit knapper Mehrheit das sog. »International Peace Coooperation Law« verabschiedet, welches eine – unter sehr restriktiv festgelegten Kriterien – Beteiligung japanischer Soldaten an UN-Peace-Keeping Operationen erlaubt. Die ersten japanischen Soldaten sind bereits an der Kambodscha-Mission der UN beteiligt. (C. Thomas)

Japan

Die Diskussion um sog. »out-of-Area«-Einsätze in Japan und in der Bundesrepublik weisen einige Parallelen auf. So gibt es nicht nur historische Gemeinsamkeiten zwischen dem japanischen und deutschen Militarismus, sondern auch die Debatte wird bzw. wurde in den letzten Jahren mit einer ähnlichen Rollenverteilung zwischen Regierung und Öffentlichkeit und ähnlichen Argumenten wie in der Bundesrepublik geführt. Die japanische Nachkriegsverfassung ist jedoch noch weitaus restriktiver als das deutsche Grundgesetz. Art. 9 der Verfassung legt fest, daß das japanische Volk auf immer auf das souveräne Recht einer Nation, Krieg zu führen, sowie die Androhung von Gewalt als Mittel zur Lösung internationaler Streitigkeiten verzichtet. Dementsprechend wird das Verfassungsziel formuliert, keine Land-, See- oder Luftstreitkräfte zu unterhalten (Dies wurde allerdings nicht eingehalten).

Das Peace-Keeping-Gesetz

Am 15. Juni 1992 verabschiedete das japanische Parlament ein „International Peace Cooperation Law“, welches unter sehr eingeschränkten Bedingungen japanischen Soldaten die Teilnahme an UN-Blauhelmaktionen erlaubt. Dieses Gesetz war mit den Stimmen der konservativ-liberalen Regierungspartei und der buddhistischen Partei, gegen den anhaltenden Widerstand der sozialdemokratischen und sozialistischen Opposition, verabschiedet worden.

Das Gesetz erlaubt die Teilnahme an friedenserhaltenden Maßnahmen und humanitären Operationen der Vereinten Nationen bzw. ihrer Unterorganisationen, die im einzelnen aufgeführt sind (z. B. UNHCR, UNEP, UNDP, UNICEF, WHO usw.).

In dem fast 60 Seiten umfassenden Gesetzeswerk wird bis ins einzelne festgelegt, an welcher Art von Operationen die japanischen Streitkräfte teilnehmen können; von der Beobachtung von Waffenstillständen bis zum Einsammeln von Waffen unter der Kontrolle der Vereinten Nationen, Hilfe beim Austausch von Kriegsgefangenen, Überwachung von Wahlen, Anleitung beim Aufbau von Polizei und anderen Verwaltungen sowie zahlreichen andere humanitäre Maßnahmen. Die japanischen Teilnehmer dürfen nur leichte Waffen zur Selbstverteidigung tragen.

In einer besonderen Festlegung verlangt das Gesetz ein erneutes Gesetzgebungsverfahren für die o. g. stärker militärisch geprägten friedenserhaltenden Maßnahmen (z. B. Beobachtung von Waffenstillständen, Stationierung in Pufferzonen, Einsammeln von Waffen usw.).

Jede Beteiligung Japans an Peace-Keeping Operations (PKO) setzt die Zustimmung der Konfliktparteien bzw. des Stationierungslandes, das Zustandkommen eines Waffenstillstandes, die Abwesenheit an „jeglicher Parteilichkeit gegenüber einer der Parteien in einem bewaffneten Konflikt“ usw. (Art. III (1)) voraus.

Die Beteiligung an UN-Aktionen muß sofort beendet werden, wenn die genannten Bedingungen nicht erfüllt sind (Art. VIII 1. (6), Art. VI (13)).

Zusammenfassend kann festgehalten werden, daß das japanische Blauhelmgesetz restriktiver ist, als beispielsweise der SPD-Gesetzesentwurf für eine Grundgesetzänderung.

Auf der Basis der geschilderten Einschränkungen und Voraussetzungen ist die japanische Regierung dem Gesetz zufolge jedoch frei, ohne parlamentarische Entscheidung Soldaten zur Beteiligung an UN-Aktionen zu entsenden. Voraussetzung dafür ist, daß die japanische Regierung einen Vertrag mit der UN („International Peace Cooperation Asignment“) oder einer ihrer humanitären Hilfsorganisationen abgeschlossen hat.

Eine Verfassungsänderung wird in Japan zwar diskutiert, erscheint aber aussichtslos. Das restriktive Blauhelmgesetz wird mehrheitlich als vereinbar mit dem am Anfang zitierten Art. 9 der japanischen Verfassung angesehen.

Der japanische Außenminister will langfristig Japan auch für »enforcement«, also für sog. Kampfeinsätze nach Kap. VII der UN-Charta öffnen. Wie stark aber die historisch bedingte Zurückhaltung in der japanischen Elite ausgeprägt ist, zeigt die Äußerung des japanischen Ministerpräsidenten Meyazawa in einem Journalistengespräch während seiner Asienreise am 17. Januar. Er war wiederholt gefragt worden, ob Japan nicht auch an friedeserzwingenden Aktionen der Vereinten Nationen teilnehmen wolle. Unter Bezug auf den Zweiten Weltkrieg meinte Meyazawa dazu: „Unter welcher Flagge auch immer, solche Aktivitäten sind mit Sicherheit als Anwendung von Gewalt zu betrachten. Da sehe ich das Problem.“

Norwegen

Anfangs muß festgehalten werden, daß Norwegen hier stellvertretend für alle anderen skandinavischen Staaten angesehen werden kann.

Die norwegische Regierung hat im Herbst 1985 sich auf folgende Definition von Peace-Keeping Operations geeinigt.

„Um die Tendenz zur Fehlinterpretation des Wortes »Friedenserhaltung« und um Mißverständnisse über die Rolle und Verantwortlichkeiten derer zu vermeiden, die den friedenserhaltenden Dienst ausführen, wird »Friedenserhaltung« im Kontext von UN-Operationen wie folgt definiert: „Die Verhinderung, Eindämmung, Abbau und Beendigung von Feindseligkeiten zwischen oder innerhalb von Staaten mit Hilfe der friedlichen Intervention einer dritten Partei, die international organisiert und geführt wird und multinationale Verbände von Soldaten, Polizisten und Zivilangehörigen einsetzt, um den Frieden wiederherzustellen und zu erhalten.“

Diese Definition ist auch von den anderen skandinavischen, Staaten offiziell angenommen worden.

Im Gegensatz zu Norwegen, wird in der deutschen Diskussion über Peace-Keeping Operationen der zivile und rein polizeiliche Anteil häufig außer acht gelassen. Darüberhinaus wird bei dem militärischen Anteil oft übersehen, daß auch das Konzept des traditionellem Peace-Keeping zwei Formen von Verteidigung also Waffengewalt einschließt: Selbstverteidigung (Self-defence) und Auftragsverteidigung (Mission Defence), allerdings unter striktester Anwendung des Prinzips der Neutralität im Konflikt und des niedrigst möglichen Niveaus von Gewaltanwendung im Notfall (z.B. möglichst Vermeidung von Tötung bei der Verwendung von Schußwaffen, vergleichbar den Regeln im Polizeirecht). Der restriktive Waffengebrauch dient dem Ziel der De-Eskalation. Ein weiteres typisches Merkmal der »rules of engagement« bei Peace-Keeping ist die offene, demonstrative Präsenz der UN-Soldaten – im Unterschied zu üblichen Tarnung bei militärischen Kampfeinsätzen.

Rechtslage

Die norwegische Verfassung (vom 17. Mai 18141) erlaubt grundsätzlich keine Out-of-Area-Operationen unter dem Kommando anderer Staaten. Die übereinstimmende Verfassungsinterpretation aller Parteien des norwegischen Parlaments (Stortinget) besagt, daß diese Vorschrift erstens für Verteidigungsoperationen unter NATO-Kommando und zweitens für die Teilnahme an friedenserhaltenden Maßnahmen unter UN-Kommando nicht zutrifft.

Eine rechtliche Grundlage für die Beteiligung Norwegens an PKO der UN gibt es seit 1963 durch den Parlamentsbeschluß Nr. 61 zur Aufstellung einer kurzfristig einsetzbaren Bereitschaftstruppe von 1.300 Mann. Sie ist speziell für UN-Einsätze ausgebildet, aus der Kommandostruktur der norwegischen Streitkräfte ausgegliedert und beim Verlassen norwegischen Territoriums ausschließlich der UN unterstellt.

Inzwischen ist die Standby-Truppe der norwegischen Armee, die für diese UN-Einsätze zur Verfügung steht, auf 2.000 Mann erhöht worden. Bei einer gesamten Präsenzstärke von 18.000 Soldaten ist das prozentual ein sehr hoher Anteil.

Parlamentarische Verfahren

Die Entscheidung zur Teilnahme an UN-Aktionen erfolgt wenig legalistisch. Nach der Verfassung entscheidet der König (die Regierung) über die Entsendung militärischen Personals. Für UN-Peace-Keeping hat sich ein Konsultationsverfahren eingebürgert, für andere militärische Einsätze ist ein Parlamentsbeschluß üblich.

Nach einer Anfrage des UN-Generalsekretärs beim norwegischen Außenministerium kann die norwegische Regierung nach Rücksprache mit dem Verteidigungsausschuß und dem außenpolitischen Ausschuß des Stortinget die UN-Truppe bereitstellen. Die politische Einflußnahme des Parlamentsplenums erfolgt durch die jährliche Festlegung der Haushaltsmittel für konkrete UN-Einsätze. Die laufenden Kosten für die Ausbildung und Bereitstellung der Truppe sind in einem festen Posten des Verteidigungshaushalts vorgesehen.

Bei UN-Einsätzen bekommt Norwegen etwa ein Drittel der Personalkosten von der UN zurückerstattet.

Trotz des reinen Konsultationsrechte des Parlamentes führt die Regierung Blauhelmeinsätze nur auf der Basis eines prinzipiellen Konsenses mit den Mitgliedern des Außen- und Verteidigungsausschusses durch.

Struktur der UN-Bereitschaftstruppen

Norwegen unterscheidet zwischen drei Kategorien von Blauhelmeinheiten:

1. Die militärischen Friedenstruppen, Beobachtergruppen sowie Militärpolizisten, die – nach Abschluß des Grundwehrdienstes – aus den Streitkräften rekrutiert werden. Ihre Ausbildung und Rekrutierung erfolgt unter Leitung einer eigens für die UN ausgegliederten Kommandostruktur des Landesverteidigungskommmandos.

2. Zivile Polizeieinheiten für UN-Einsätze; sie werden unter Leitung der norwegischen Polizei rekrutiert und speziell für UN-Zwecke ausgebildet.

3. Humanitäre und Katastrophenschutzeinheiten, die von einer ständig einsetzbaren »zivilen Bereitschaftsruppe« des NOREPS (Norwegian Emergency Preparedness System) ausgebildet werden.

Die norwegische Regierung hat inzwischen eine »Sondereinheit Umwelt« gebildet, die dem neueingerichteten »United Nations Center For Urgent Environmental Assistance« zur Verfügung gestellt wird. Norwegen hat als erstes Land einen konkreten Vertrag mit dem UNCUEA über die Bereitstellung von Soforthilfe im Umweltbereich abgeschlossen.

Alle drei Typen von UN-Bereitschaftstruppen werden vom Außenministerium in direkter Zusammenarbeit mit der UN koordiniert und zusammengestellt.

Ausbildung, Rekrutierung und Koordination

Die norwegischen UN-Bereitschaftstruppen rekrutieren sich zu 78 % aus Reservisten und zu 22 % aus Berufssoldaten, überwiegend Offizieren. Der Anteil von Frauen beträgt etwa 5 %.

Aufgrund des bei UN-Einsätzen üblichen Rotationsprinzips (Wechsel nach 6 Monaten Einsatz) muß die 2.000-Mann-starke ständige UN-Einsatztruppe über ein ausreichend ausgebildetes Reservistenpotential verfügen. Sie werden halbjährlich zu mehrwöchigen Ausbildungskursen einberufen und müssen sich für mindestens zwei Jahre verpflichten, innerhalb von 48 Stunden (Offiziere) bzw. 7 Tagen (Mannschaften) einsatzbereit zu sein. Sie erhalten dafür eine monatliche Aufwandsentschädigung. Beim Einsatz erhalten sie ein zweites steuerfreies Monatsgehalt.

Der militärische Teil wird seit 1964 gemeinsam von Norwegen, Dänemark, Schweden und Finnland als »Nordic UN Stand-by Force« koordiniert und ausgebildet. In den skandinavischen Verteidigungsministerien gibt es jeweils Beauftragte für finanzielle und politische Angelegenheiten. Den Führungen der Streitkräfte sind jeweils Büros oder Abteilungen zugeordnet, die ihre Arbeit untereinander koordinieren.

Halbjährlich treffen sich die Verteidigungsminister der vier Länder zur Abstimmung der Peace-Keeping-Missionen. Die Abstimmung der Ausbildungsprogramme wie auch die Koordination des Einsatzes skandinavischer Soldaten bei UN-Friedenstruppen wird über das gemeinsame »Skandinavische Komitee für militärische Angelegenheiten der UN« (NORSAFN) koordiniert.

Alle vier skandinavischen Staaten legen großen Wert auf strengste Selektion und Ausbildung des Personals für UN-Einsätze. Sämtliche Bewerber werden psychologisch, gesundheitlich, in bezug auf Ausbildung und Qualifikation untersucht. Von vornherein werden Bewerber ausgeschlossen, die nationalistische, rassistische oder religiöse Vorurteile haben.

Die Grundausbildung für UN-Offiziere beträgt 13 Wochen, für einen Berufssoldaten fünf Wochen. Die Offiziersausbildung wird arbeitsteilig von den vier skandinavischen Ländern gemeinsam durchgeführt. So wird das Stabsoffizierstraining in Schweden (UNSOC), die Logistikausbildung in Norwegen (UNLOC), die Militärpolizeiausbildung in Dänemark (UNIMILPOC) und die militärischen Beobachter in Finnland (UNMOC) ausgebildet.

Ausbildungsziel von Peace-Keeping-Soldaten wird folgendermaßen beschrieben: „UN-Soldaten können sich nicht auf ihre Feuerkraft verlassen, sondern sie müssen andere überzeugen, ihre Waffen nicht einzusetzen. In gewisser Weise sind sie ihren Gegnern überlegen, weil sie gewohnt sind, friedliche Lösungen und praktikable Kompromisse im Konfliktfall zu suchen. Der Schwerpunkt der Ausbildung liegt in der Fähigkeit, vor Ort und manchmal allein Probleme zu lösen und komplizierte Situationen zu beherrschen. Diese Problemlösungsfähigkeit der Offiziere wird in den geplanten Einsatzgebieten bis zum äußersten auf die Probe gestellt.“ Eines der Kriterien für die Entscheidung über den Einsatz an Lehrgangsteilnehmern und Teilnehmerinnen liegt in der Beurteilung der auszubildenden UN-Soldaten, „wie sie und ihre Untergebenen unter äußerstem Druck reagieren.“ (Zitate aus den Trainingsrichtlinien der norwegischen Streitkräfte)

Weiterentwicklung von Peace-Keeping

In dem jüngsten Weißbuch der norwegischen Regierung wird darauf hingewiesen, daß die norwegischen Peace-Keeping-Streitkräfte auf die neuen Formen von PKO vorbereitet werden sollen.

Die weitere Spezialisierung in der Ausbildung der norwegischen Peace-Keeping-Soldaten erfolgt in Absprache mit dem UN-Sekretariat für Peace-Keeping Operations (Golding-Office). Danach wurde Norwegen gebeten, die Unterstützungs- und Nachschubkomponente von Peace-Keeping Operationen stärker zu entwickeln. Hier liege ein besonderer Bedarf für zukünftige UN-Missionen.

Darüber hinaus bereitet sich Norwegen auch auf Einsätze im Rahmen der KSZE und möglicherweise auch für die NATO vor, soweit die NATO PKOs im Auftrag der UN durchführt.

Zur Verbesserung der Ausbildung und Rekrutierung will Norwegen eine »Informations- und Datenbank für Peace-Keeping« aufbauen, um kurzfristig der UN das richtige militärische und zivile Personal für PKO zur Verfügung zu stellen.

Norwegens Verhältnis zu militärischen Zwangsmaßnahmen der UN

Die UN-Bereitschaftstruppen sind und bleiben grundsätzlich spezialisiert auf das Spektrum von friedenserhaltenden UN-Maßnahmen, was in den individuellen Rekrutierungsverträgen festgelegt ist. Die UN-Bereitschaftstruppen werden nicht für Kampfeinsätze eingesetzt.

Grundsätzlich fühlt sich Norwegen zwar auch an UN-Beschlüsse über Zwangsmaßnahmen gebunden, behält sich aber in jedem Einzelfall die eigene Entscheidung über das »Ob« und »Wie« der Beteiligung vor. Für die Beteiligung an UN-Zwangsmaßnahmen wird nur freiwilliges Personal (mit individuellen Verträgen) aus den regulären Streitkräften zur Verfügung gestellt. Die Beteiligung an Zwangsmaßnahmen setzt eine parlamentarische Mehrheitsentscheidung voraus.

Auch in Zukunft will Norwegen sich bei Kampfeinsätzen aber auf Versorgungs-, Kommunikations- und Sanitätseinheiten beschränken. Dies ist Konsens zwischen den die norwegische Minderheitsregierung unterstützenden Parteien.

Vergleich der Militärausgaben und der Veranlagung für UN-Peace-Keeping, ausgewählte Staaten, 1991
Staaten Militärausgaben Peacekeeping
Veranlagung Verhältnis
Tschechoslowakei 723 3.2 223:1
Japan 32,100 55.9 574:1
Mexiko 662 .9 717:1
Bundesrepublik 39,900 46.0 868:1
Frankreich 41,400 37.8 1,096:1
Nigeria 234 .2 1,191:1
Großbritannien 42,300 29.4 1,441:1
Welt 921,500 491.0 1,877:1
USA 304,500 151.0 2,016:1
China 12,000 4.8 2,520:1
Brasilien 4,900 1.4 3,441:1
Russland 224,100 60.3 3,714:1
Indien 7,200 .4 19,816:1
Israel 4,500 .2 21,82:1
Pakistan 2,800 .059 47,522:1
Syrien 4,500 .039 114,562:1
Äthiopien 896 .005 182,485:1
Quelle: Renner, Michael: Critical Juncture. The Future of Peacekeeping, Worldwatch Paper, May 1993, S.50 (Übersetzung C. Thomas) (Mill.
US-Dollar)

Anmerkungen

1) Historisch bezieht sich die norwegische Verfassungsbestimmung auf das Verbot der Beteiligung an Söldnerheeren im letzten Jahrhundert. Zurück

Wolfgang Biermann, SPD, ist Redakteur der Zeitschrift »Frieden und Abrüstung. Informationen und Dokumente aus der internationalen Friedensdiskussion«

BRD – was nun?

BRD – was nun?

Wir dürfen die Chance einer demokratischen Erneuerung der BRD nicht ein weiteres Mal vertun

von Gernot Böhme

Es wird wohl nur wenige geben, die gleich mir in den letzten Wochen das Bedürfnis spürten, Peter Brückners Buch von 1978 wieder aufzuschlagen: „Versuch, uns und anderen die Bundesrepublik zu erklären“. Die Bundesrepublik ist heute kein erklärungsbedürftiges Phänomen, vielmehr mit allem, was zu ihr gehört, das Allerselbstverständlichste von der Welt: DM, soziale Marktwirtschaft, Grundgesetz, mit Regierung und Regierten. Das »Modell Deutschland«, seinerseits vergeblich zum Wahlslogan erhoben, hat als Modell Bundesrepublik realgeschichtliche Bedeutung erlangt. Die Frage, „Was ist des Deutschen Vaterland?“, ist durch die „Abstimmung mit den Füßen“ entschieden worden und damit endgültig der politisch-romantischen Sphäre entrissen. „BRD, keine Frage!“ – das war es doch, was uns von drüben entgegenschallte, und die Politiker sonnten sich im Licht dieser einfachen Affirmation. Vielleicht war es die Verwunderung über diese neuen Selbstverständlichkeiten, die mich noch einmal zu dem genannten, wohl gänzlich überholten, jedenfalls vergessenen Buch von Peter Brückner greifen ließ. Was war es doch, was es seinerzeit nötig machte, uns und anderen die Bundesrepublik zu erklären?

Brückner stellte damals, 1978, fest, daß es kein Bedürfnis nach Wiedervereinigung gebe und man in der BRD nicht unter der Teilung Deutschlands leide. „Die westdeutsche Bevölkerung hat die Teilung Deutschlands schon wenige Jahren nach Kriegsende erst hingenommen, dann vergessen – oder begrüßt; jedenfalls in ihrer Mehrheit.“ (S. 16) Seine Erklärung für diesen – für ihn – bemerkenswerten Befund liegt in der These, daß die Bundesrepublik die DDR als das Andere ihrer selbst brauche: Sie habe ihr Selbstverständnis durch Abgrenzung, durch Antikommunismus gewonnen, die Integration ihrer Bevölkerung durch Externalisierung innerer Konflikte erreicht, Kritik durch Unterstellung von Außensteuerung immunisieren können. Der Klassenfeind war draußen (das galt für beide deutsche Staaten), und wem die inneren Verhältnisse nicht paßten, der konnte ja »nach drüben« gehen.

1978, eine trübe Zeit, in der sich dem psychoanalytisch geschulten politischen Beobachter solche skeptischen Gedanken nahelegen mochten. Aber, wenn auch nur je an diesen Gedanken etwas daran war: Was nun, BRD? Droht nun eine Identitätskrise, wenn erst das Andere fehlt, von dem sich unterscheidend man selbst etwas Bestimmtes war? Werden uns nun unsere inneren Konflikte heimsuchen, wenn wir sie nicht mehr als äußere austragen können? Was werden wir mit der Kritik an uns anfangen, wenn wir sie nicht mehr als Einflüsterungen des bösen Bruders abtun können? Mir scheint, daß die Hektik des Wiedervereinigungsbetriebs auch dazu dient, solche zweifelnden Fragen zu überspielen und daß man so gebannt auf die Probleme der DDR blickt, weil man Fragen in bezug auf uns selbst nicht aufkommen lassen will.

Taktlosigkeit

Es hatte sich im Umgang mit der DDR und seinen Bürgern vor den revolutionären Ereignissen des Herbst '89 eine gewisse taktvolle Umgangsform herausgebildet. Das galt für Begegnungen aller Art, von solchen auf Regierungsebene bis ins Private hinein. Die SPD war in der Kunst dieses Umgangs besonders weit fortgeschritten. Er blieb stets prekär, weil die westlichen Partner ihre radikale Kritik bis Ablehnung dessen, was sie sahen und hörten, geflissentlich hintanhielten und die östlichen Partner durch deklamatorische und verschwommene Redeweisen die Brüchigkeit ihres Selbstbewußtseins erkennen ließen. Bei aller Verzerrung der wechselseitigen Kommunikation war aber in dem Takt, der dabei angewendet wurde, eine gewisse Achtung und Anerkennung des Anderen in seiner Andersheit impliziert.

Von dieser Anerkennung des Andersseins ist nun, nachdem man kein Blatt mehr vor den Mund zu nehmen braucht, nichts mehr geblieben. Wo immer man ist und wer immer man ist, man kann von dem politischen Bankrott des Sozialismus und der jahrzehntelangen sozialistischen Mißwirtschaft reden. Nachdem das Honecker-Regime weggefegt wurde, verschwand auch der Schleier der Andersheit. Von der DDR blieb nichts als eine Bevölkerung mit Gebiet, der oder dem es eine neue Ordnung zu geben gilt, die unsere. Wo immer sich noch Andersheit zeigen sollte, in Produktionsformen, Lebensformen oder gar in der psychischen Binnenstruktur der Menschen, es handelt sich um bloße Relikte, eine traurige Hinterlassenschaft eines Regimes, über das die Geschichte bereits gerichtet hat. Was darunter ist, ist ja eigentlich so wie wir, deutsch, das heißt bundesrepublikanisch. Erfurt und Leipzig, verkündete Bundeskanzler Kohl auf einer Wahlreise in die DDR, werden auch bald blühende Städte sein, so wie andere Städte in der Bundesrepublik. Sollten diese Umarmungen wirklich ohne Verletzungen vor sich gehen können?

Fraglose Wiedervereinigung

Die Wiedervereinigung haben die Bürger der DDR zunächst durch Abstimmung mit den Füßen und dann durch die Wahl am 18. März entschieden. Von seiten der Bürger der BRD war keine große Begeisterung zu spüren, von Demonstrationen für die Wiedervereinigung in der westdeutschen Bevölkerung konnte gar kann keine Rede sein. Nicht anders als 1978 gab es auch 1989 kein Bedürfnis nach Wiedervereinigung in der westdeutschen Bevölkerung. Im Gegenteil hatte man endlich so viel Abstand von der Reichsidee gewonnen, um historisch die Lehre zu akzeptieren, daß den Deutschen, uns, die Mehrstaatlichkeit besser bekommt.

Die Bürger der Bundesrepublik wurden nicht gefragt, ob sie eine Wiedervereinigung wünschten. Sie brauchten auch nicht gefragt zu werden, denn Wiedervereinigung ist ja ein Verfassungsauftrag. Eine Politik, die auf die Einheit Deutschlands zielt, ist damit legitim, selbst wenn die polls ihr gegenüberstehen. Und hat sich nicht auch die Nachrüstungspolitik, die zwei Drittel der Bundesbürger ablehnten, schließlich als richtig erwiesen? Wie dem auch sei – ihre Dynamik bezieht die Vereinigungspolitik jedenfalls nicht aus dem Willen der Bevölkerung der BRD. Vielmehr wird das Tempo der Wiedervereinigung durch Kapitalinteressen bestimmt. Der Run der Konzerne und Banken in der DDR war noch allen Politikern voraus. Und das ist ja auch verständlich: Der Nachholbedarf der DDR-Bürger wird auf Jahrzehnte einen blühenden Absatzmarkt garantieren. Der notwendige Aufbau von Infrastruktur, Wohnraum und Produktionsanlagen verspricht für die westlichen Überkapazitäten Auslastung auf lange Sicht. Das überschießende westliche Kapital findet neue Verwertungsmöglichkeiten, und vorübergehend jedenfalls kann man die ehemalige DDR als Billiglohnland mit Qualitätsgarantie vor der Haustür nutzen. Alles in allem: Ein neues Wirtschaftswunder ist in Sicht.

Zudem wird der Trend ins Biedermeier, der sich gerade bei uns anbahnte, abgefangen. Noch vor kurzem war hier zu hören, das wir aufhörten, eine Arbeitsgesellschaft zu sein: 35 Stunden-Woche zunächst, dann noch weniger, Verkürzung der Lebensarbeitszeit, gesichertes Grundeinkommen: das sind Themen, die nun „in so bewegten Zeiten“ nicht mehr anstehen. Der Antrieb, den der ostdeutsche spüren wird, nun endlich gutes Geld für gute Arbeit zu verdienen, wird auch der Arbeitsmoral des westdeutschen Kumpels wieder auf die Sprünge helfen. Und natürlich werden „wir alle“ auf lange Sicht davon profitieren. Nun wird man jetzt, solange die Verhältnisse in der BRD und auf dem Territorium der DDR so ungleichgewichtig sind, dem Bundesbürger nicht zumuten, dafür allzuviel zahlen zu müssen. Schon einmal ist eine Regierung im Appell oder vielleicht sogar durch den Appell für eine große gemeinsame solidarische Anstrengung gescheitert, nämlich die Helmut Schmidts. Päckchen nach drüben ja, auch Hilfsaktionen über die zuständigen karitativen Organisationen, – aber Steuererhöhungen, Lastenausgleich? Nein. Warum auch? Die Kosten sollten doch von denen getragen werden, die langfristig davon auch die großen Gewinne haben werden, also von der sogenannten freien Wirtschaft. Aber kann es dabei bleiben? Wenn erst die 12 Millionen Wählerstimmen aus dem Osten sich über eine gesamtdeutsche Wahl auswirken – was dann?

Eine erweiterte BRD?

Was wird bei einer Wiedervereinigung herauskommen? Eine erweiterte BRD? Man mache sich doch nichts vor. Ob ein vereintes Deutschland durch Zusammenschluß oder Anschluß zustande kommt, in jedem Fall wird noch über Jahrzehnte ein bedenkliches West-Ost-Gefälle herrschen, ein Mangel an innerem Gleichgewicht. Nicht so sehr außenpolitische Ambitionen, die unseren Nachbarn Sorge zu bereiten scheinen, sind das Beunruhigende dieser Lage, sondern die innere Instabilität. Die Bundesrepublik im Bewußtsein ihres wirtschaftlichen Erfolges und der Zuverlässigkeit ihrer parlamentarischen Demokratie glaubt sich dieser Lage gewachsen. Nur die Überstürztheit der Vereinigungsbewegung macht deutlich, daß man die Größe der Probleme, die man sich einhandelt, ahnt. Vielleicht ist ja wirklich derartiges nur durch einen Sprung ins kalte Wasser zu lösen. Das erklärt auch die Entschiedenheit, mit der man an der gegebenen Ordnung der Bundesrepublik festhalten will: wenigstens einen verläßlichen Faktor soll es in diesem Strudel geben.

Wirtschaftlich lohnt sich die Sache, das ist keine Frage. Aber was handelt man sich politisch ein? Man handelt sich ein West-Ost-Gefälle im Lebensstandard, in Infrastruktur und Umweltbedingungen, im Arbeitsmarkt ein, das sich politisch auswirken muß. Man handelt sich ferner die Aufgabe einer Vergangenheitsbewältigung ein, die durchaus mit der des Faschismus vergleichbar ist. Wie im Faschismus das ganze deutsche Volk, so war auch das Volk in der DDR zutiefst in das totalitäre Regime verstrickt. Es ist eine Illusion, zu glauben, man würde diese Vergangenheit durch Abservieren einer kleinen Führungsschicht los. Die Affären mit Stasi-Akten sind nur ein äußeres Symptom einer Krankheit, die erst langsam heilen wird. Subalternes Verhalten, gegenseitiges Mißtrauen, deklamatorische Öffentlichkeit und privates Sich-Durchwursteln sind nach 56 Jahren leben in einem totalitären System ubiquitär. Und das wird nicht nur ein regionales Problem der Länder des ehemaligen DDR-Territoriums sein, sondern die Gefahr einer Zweiklassenstruktur der deutschen Bevölkerung enthalten.

Man handelt sich ferner ein, daß man nun unausweichlich und eindeutig Erbe des Dritten Reiches wird. Das Teilstaatenbewußtsein machte es immer noch möglich, sich nicht als dasselbe Deutschland zu empfinden, das 33 bis 45 so ungeheuerliche Verbrechen auf sich geladen hat, zumal es noch immer möglich war, ideologisch oder auch territorial die Verbrechen beim anderen Teilstaat zu verorten. Insbesondere die DDR als „antifaschistischer und sozialistischer“ Staat war in dieser Strategie der Exterritorialisierung des schlechten Gewissens geübt. Heute soll die Sprachregelung »Vereinigung« statt »Wiedervereinigung« die Identitätsvorstellung abhalten: Es sei eben nicht das alte Reich, das jetzt wiedervereinigt wird. Und doch ist es dieses Verheilen von Wunden, die uns der deutsche Zusammenbruch 1945 geschlagen hat, was problematisch ist. Solange noch nicht über alles Gras gewachsen war, konnte man in Deutschland noch mit dem Gefühl leben, für die Greuel des Faschismus auch gebüßt zu haben. Die Bedeutung dieser Struktur zur Ermöglichung des Weiterlebens hat die Biographieforschung inzwischen an sehr vielen Nachkriegsbiographien aufgewiesen. Was aber, wenn „die deutsche Geschichte – nun doch einfach – weitergeht“?

Man ist sich in Deutschland, man ist sich auch in der sonst so selbstbewußten Bundesregierung dieses Weges keineswegs sicher. Deutschland – in beiden Teilen und im ganzen – ist seit Jahrzehnten der Souveränität entwöhnt. Die jeweils relative Prosperität im Anschluß an die Siegermächte in Ost und West und die Entlastung von Weltpolitik, die durch diesen Anschluß gegeben war, ermöglichte auch ein bequemes Dasein. Nun wird Gesamtdeutschland durch seine Lage und durch seine vereinigte wirtschaftliche Kraft ein gewaltiger Machtfaktor in Europa sein und mit Europa von weltpolitischer Verantwortung. Ist man auf eine solche Rolle in irgendeiner Weise politisch vorbereitet? Gibt es irgendwelche weitreichenden Konzepte und Strategien für eine ökologische Erdpolitik, für eine langfristige Überwindung des Nord-Süd-Gefälles, für eine Durchsetzung der Menschenrechte weltweit und eine Weltfriedenspolitik? Nein. Die Bundesrepublik wie die DDR haben bisher ihre Politik des persönlichen und regionalen Nutzens mit Erfolg als weltpolitisches Wohlverhalten drapieren können. Aber was nun? Nun und demnächst haben wir es mit der Unsicherheit eines groß, aber nicht mündiggewordenen Kindes zu tun. Schon jetzt hört man aus Bonner Äußerungen auf der einen Seite hegemoniale Ansprüche in Europa heraus, auf der anderen Seite wird der Verbleib eines Gesamtdeutschlands in der NATO und die Anwesenheit von Fremdtruppen auf seinem Gebiet als Sicherheitsgarantie – als Sicherheit vor den Deutschen – angeboten, als ob man seiner eigenen Friedfertigkeit nicht mehr traute.

Die Verbesserung der Bundesrepublik

Das Scheitern des Sozialismus ist hier, wenn nicht mit Siegesfeiern, so doch mit einer hemmungslosen Selbstaffirmation begangen worden. Der Blick auf die strauchelnde DDR hat vergessen lassen, daß je in der Bundesrepublik etwas schiefgelaufen ist, daß es Perioden gibt, deren wir uns zu schämen haben, daß die Bundesrepublik selbst verbesserungswürdig ist. Um die Perspektive wieder zurechtzurücken, wäre es heute nötig, daran zu erinnern. Nennen wir wenigstens ein paar Stichworte: Da wäre vor allem an den deutschen Herbst zu erinnern, an die kollektive Neurose fast der ganzen Bevölkerung und an die Ad hoc-Einschränkungen der Rechte von angeklagten Gefangenen und Verteidigern. Da wäre an die beschämende Praxis der Berufsverbote zu erinnern, an die staatlich verhängten Nachteile, die Bürgern aus der Ausübung ihrer Rechte durch Mitarbeit in zugelassenen Parteien und Organisationen erfuhren. Da ist vor allem an das seit Jahrzehnten schwelende Ausländerproblem zu erinnern, der sogenannten »ausländischen Mitbürger«. Auch in der zweiten und dritten Generation wird ihnen nicht das deutsche Staatsbürgerrecht gewährt, d.h. es gibt hier Menschen, die Deutsch sprechen, deren Heimat dieses Land ist und denen noch immer die staatsbürgerlichen Rechte verweigert werden. Da ist auf die Formierung unseres Staates zum Sicherheitsstaat zu verweisen, die das Betreiben von an sich unverantwortlichen und inhumanen Technologien ermöglichen soll. Da ist auch hier – sicherlich auf einem anderen technologischen Niveau als in der DDR – die sträfliche Verschleppung und Vertuschung von Umweltproblemen zu nennen. Und schließlich ist auf die Tatsache hinzuweisen, daß dieser unser, einer der reichsten Staaten der Welt, es nicht fertiggebracht hat, das Wohnungsproblem zu lösen, eine pädagogisch verantwortbare Ausstattung der Schulen und Universitäten zu ermöglichen und ein sozial und medizinisch ausreichendes Gesundheitssystem aufzubauen. Allerdings – die Bundesrepublik ist verbesserungswürdig, und der Zeitpunkt der Wiedervereinigung wäre die große Chance auch für die Bundesrepublik zu einem Neuanfang.

Nutzen wir diese Chance!

Der Bürger der Bundesrepublik hat von der Wiedervereinigung sonst nichts Großes zu hoffen. Im Gegenteil wird voraussichtlich von ihm ein »Solidarbeitrag« erwartet. Selbst wenn dieser nicht über Steuererhöhungen finanziert wird, sondern über künftige Spielräume der öffentlichen Haushalte, wird jeder einzelne, werden besonders die sozial Schwächeren das spüren. Denn dann werden auch weiterhin jene Vorhaben auf die lange Bank geschoben, deren Realisierung wegen mangelnder Spielräume der öffentlichen Haushalte unterblieb: Schaffung von ausreichend Wohnraum, angemessene Ausstattung des Bildungssektors, Sicherung einer humanen Altenpflege, Lösung des Arbeitslosenproblems, Gewährung einer Grundrente. Wenn also finanziell auch in Zukunft für ihn »nichts drin« ist, dann soll man den Bürger der BRD wenigstens nicht um die Chance betrügen, seine politischen Verhältnisse einer gründlichen Revision zu unterziehen und sie zu verbessern, wo es geht. Man betrüge ihn nicht um die Chance durch eine Wiedervereinigung auf dem Wege des Anschlusses an die BRD mit Hilfe des Artikels 23 GG!

Mehr Demokratie!

„Mehr Demokratie wagen!“ war einmal der Slogan, mit dem Willy Brandt als Kanzler Hoffnungen geweckt hatte. Was ist aus diesem Aufbruch geworden? Damals hatte man entdeckt, daß die demokratischen Möglichkeiten des Einzelnen im wesentlichen auf den periodischen Gang zur Wahlurne eingeschränkt waren. Nach 1945 hatte man das demokratische System quasi über unverändert autokratisch funktionierende Institutionen gestülpt. Dann in den 70er Jahren hatte man vorübergehend »verstanden«, daß nach dem Führer- oder sagen wir nach dem Chef-Prinzip funktionierende Institutionen nicht modern, und das heißt effizient sind. Inzwischen ist der Demokratisierungsprozeß unserer Gesellschaft längst steckengeblieben, ja sogar rückläufig. Hier wäre ein neuer Impuls zu setzen. Er könnte gesetzt werden durch Einführung eines Volksbegehrens und eines Volksentscheides in grundsätzlichen Fragen. Daß diese Möglichkeit fehlt, wurde deutlich im Fall Startbahn West, bei der Nachrüstung und bei der Kernenergiepolitik. Die Achtung für das Volk, die man bis hinauf zum Bundespräsidenten beim Anblick der revolutionären Bewegung in der DDR zum Ausdruck brachte, könnte hier Gestalt gewinnen. Statt dessen sieht man, daß schon jetzt die radikal-demokratischen Kräfte, die in der DDR diese Revolution ermöglicht haben, durch die Verwaltungsdemokratie der Bonner Parteien ins Abseits gedrängt werden.

Mit einem Anteil von fast 10 % Ausländern ohne politische Bürgerrechte nähert sich die Bundesrepublik einer Privilegiendemokratie. Den hier aufgestauten Problemen könnte anläßlich einer so grundsätzlichen Umstellung, wie es die Wiedervereinigung ist, durch einen einmaligen Schritt Abhilfe geschafft werden. Allen Ausländern der zweiten und dritten Generation und allen anderen, die bereits zehn Jahre in der Bundesrepublik leben, wäre die deutsche Staatsbürgerschaft zu verleihen. Die Möglichkeit doppelter Staatsbürgerschaft wäre einzuführen. Das Wahlrecht wäre allen in Deutschland arbeitenden Ausländern und deren Familienangehörigen mindestens auf kommunaler Ebene einzuräumen.

Es gibt noch andere Probleme, die sich aufgestaut haben und deren man vergeblich durch immer erneute Gesetze und Verordnungen Herr zu werden trachtet. So das Umweltproblem. Gerade das Hinzutreten des Territoriums der DDR macht deutlich, daß es hier nicht mehr um Naturschutz geht und daß man der Probleme nicht mehr durch Verbote Herr wird. Die Natur erneut und ständig in einer Weise zu reproduzieren, daß sie zur menschlichen Lebensgrundlage dienen kann, ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Zu ihr ist zuallererst der Staat, ebenso wie zur Bewahrung der äußeren und inneren Sicherheit und der Garantie sozialer Rechte seiner Bürger, zu verpflichten. D.h. also „die Reproduktion von Natur als menschlicher Lebensgrundlage“ sollte in die Verfassung als Staatsziel aufgenommen werden.

An der Angabe solcher gesamtgesellschaftlicher Ziele mangelt es überhaupt im Grundgesetz. Der Staat ist deshalb, abgesehen von Militär und Polizei, in Gefahr, zu einem bloßen Verwaltungsapparat zu degenerieren. Man könnte deshalb die soziale Grundsicherung seiner Bürger durchaus auch als Staatsziel bezeichnen. Jedenfalls sind die sozialen Grundrechte gegenüber dem Grundgesetz zu erweitern, etwa um das Recht auf Wohnung.

Andere Grundrechte müssen modifiziert werden. So ist beispielsweise das Grundrecht der Forschungsfreiheit in unglücklicher Weise mit dem Grundrecht auf Meinungs- und Redefreiheit verbunden worden. Das geht auf die Tradition des Vormärz zurück. Angesichts einer Wissenschaft, die sich zur kollektiven Produktiv- und Destruktivkraft entwickelt hat, kann man aber die Forschungsfreiheit nicht mehr als individuelles Recht formulieren. Die Wissenschaft muß überhaupt ausdrücklicher an die Bewahrung menschlicher Würde und die Reproduktion von Natur als menschlicher Lebensgrundlage gebunden werden.

Ferner ist daran zu erinnern, daß das Grundgesetz heute ja keineswegs einfach das Grundgesetz von 1949 ist, sondern vielmehr eines, das durch die Notstands- und Verteidigungsgesetzgebung wesentlich formiert wurde, und darin die Spuren des Kalten Krieges trägt. Will man diesen Bestand unrevidiert in eine friedliche Zukunft hinübertragen?

Schließlich muß man sich angesichts der Periode der Berufsverbote und der Ad hoc-Verbiegung des Strafrechts und der Strafprozeßordnung fragen, ob die Freiheitsrechte der Bürger im Grundgesetz wirklich schon hinreichend gesichert sind. Und es hatte sich ja auch bei uns im Zuge des Kalten Krieges ein überdimensionales System von Staatssicherheitsdiensten entwickelt, vor deren Tätigkeit die Bürgerrechte den Einzelnen nicht hinreichend schützen. Es wäre grotesk, nach Auflösung der Stasi im Westen die entsprechenden Systeme nicht abzubauen. Jedenfalls sollten wir uns nicht die Möglichkeit entgehen lassen, unsere Erfahrungen mit der Verfassungswirklichkeit in die Debatte um eine gesamtdeutsche Verfassung einzubringen.

Wenn es zu dieser Debatte kommt! Danach sieht es vorläufig nicht aus. Denn die Bundesrepublik – mit allem was dazugehört: DM, Marktwirtschaft Grundgesetz – scheint heute das Selbstverständlichste von der Welt. Kein erklärungsbedürftiges Phänomen mehr, geschweige denn ein Problemfall.

Dr. Gernot Böhme ist Professor für Philosophie an der Technischen Hochschule Darmstadt.

Eine britische Sicht

Eine britische Sicht

Die Europäische Verfassung – der so genannte »Reformvertrag«

von Rae Street

Im Oktober 2007 haben sich die Staats- und Regierungschefs der EU beim Gipfel in Lissabon auf den endgültigen Vertragstext des EU-Reformvertrages verständigt. In der Substanz ist dieser gegenüber dem EU-Verfassungsvertrag nahezu unverändert.

Die Bestimmungen der Verfassung bezüglich der Implementierung einer »gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik« sind nun in den »Reformvertrag« aufgenommen worden und es scheint kein Zweifel am Willen zu bestehen, die EU als Militärmacht zu stärken. Die EU-Politik wird mit der NATO kompatibel sein, die sich noch immer zu strategischen Ansätzen wie »nukleare Mindestabschreckung« und »Ersteinsatz von Atomwaffen« bekennt. Militarismus kommt auch bereits in der 2004 gegründeten Europäischen Verteidigungsagentur zum Ausdruck: immer mehr Geld für Rüstung und die Erforschung von High-Tech-Waffen, ganz zu schweigen von der Förderung der Rüstungsverkäufe.

Viele von uns, die sich darum sorgen, mehr Frieden und Stabilität in die Welt zu bringen, suchen nach Wegen, um ein ent-militarisiertes Europa zu erreichen; ein atomwaffenfreies Europa, ein Europa ohne fremdes Militär und ohne so genannte »Raketenabwehr-Basen« und Nuklearwaffenstützpunkte und eine Reduzierung der Aufwendungen für Rüstung. Bedauerlicherweise ist nicht zu erkennen, dass der Reformvertrag in diesem Sinne Ergebnisse verspricht.

Während der letzten Jahrzehnte haben wir beobachten können, wie die EU zu einer eigenständigen Militärmacht gemacht wurde. Für viele derjenigen, die für Frieden und soziale Gerechtigkeit eintreten, war dies eine Zeit voller Schwierigkeiten und Enttäuschungen. Schließlich gab es nach dem Zweiten Weltkrieg einmal einen großen Traum, als die ursprünglichen Gründer der EU und die durch den Krieg erschütterten Menschen Europas die Schaffung von Institutionen erhofften, durch die die Kriegsursachen beseitigt würden. Es stimmt, dass wir durch das starke Bekenntnis des Europarates zu den Menschenrechten ermutigt wurden und dass heute beispielsweise die Todesstrafe überall in seinen Mitgliedsstaaten abgeschafft ist. Gegenwärtig führt der Europarat entsprechende Kampagnen in Japan und den USA durch, in den einzigen Staaten mit Beobachterstatus beim Europarat, in denen die Todesstrafe noch in Kraft ist. Dies ist ein gutes Beispiel für eine europäische Kooperation gegen eine barbarische Form der Bestrafung.

Allerdings verhält sich die Sache hinsichtlich der EU selbst anders. Ich bin seit dreißig Jahren in der englischen Kampagne für nukleare Abrüstung (CND) aktiv, die international für ihr Friedenssymbol bekannt ist. In den letzten Jahren ist die Opposition der CND und anderer Gruppen für Frieden und soziale Gerechtigkeit, von Gewerkschaftsgruppen und vielen politischen Initiativen – die Opposition der extremen Rechten in Großbritannien lasse ich hier außen vor, da sie ganz anderen Motiven entspringt – gegen die Außen- und Verteidigungspolitik der EU gewachsen.

Die Verträge von Maastricht und Amsterdam führten zur Herausbildung eines europäischen Superstaates mit einer gemeinsamen Verteidigungspolitik und Armee. Es sei daran erinnert, dass im Maastricht-Vertrag von 1992 eine »gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik« vereinbart wurde, die – so hieß es unter Titel V – „sämtliche Fragen [umfasst], welche die Sicherheit der Europäischen Union betreffen, wozu auf längere Sicht auch die Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik gehört, die zu gegebener Zeit zu einer gemeinsamen Verteidigung führen könnte.“ Anlässlich des Gipfeltreffens in Amsterdam im Juli 1997 hatten die Außenminister der EU bereits detaillierter ausgearbeitet, wie die EU in Verbindung mit der WEU (Westeuropäische Union) bei der Entwicklung der gemeinsamen Verteidigung kooperieren könnte. Außerdem, und dies war besonders betrüblich für die CND, wurde die WEU mit ihren Atomwaffen zu einem „integralen Teil der Entwicklung der EU“ erklärt. Zugleich wurde von Seiten der Minister erklärt, dass die WEU einen aktiven Beitrag im Rahmen der Verteidigungsplanung der EU spielen solle. Zwar hat die WEU inzwischen als eigenständige Organisation aufgehört zu existieren, aber eine eindeutige Politik bezüglich der Nuklearwaffen gibt es bisher nicht.

Mit dem Vertrag von Amsterdam 1999 wurde vereinbart, dass die EU auf der Grundlage von Mehrheitsentscheidungen im Ministerrat eine eigenständige Außenpolitik verfolgt. Beim Gipfel in Köln (2000) erklärte der Europäische Rat, dass die „EU eine umfassende Rolle auf der internationalen Bühne spielen wird. Zu diesem Zweck beabsichtigen wir, der Europäischen Union die notwendigen Mittel und Fähigkeiten zu geben, um den Verantwortlichkeiten für eine gemeinsame Europäische Politik der Verteidigung und Sicherheit entsprechen zu können… Wir sind überzeugt, dass der Rat die Möglichkeit haben sollte, entsprechend der ganzen Bandbreite von Aufgaben der Konfliktprävention und des Konfliktmanagements… den »Petersberg-Aufgaben« zu entscheiden“. Die »Petersberg-Aufgaben« waren ursprünglich als humanitäre und Notfall-Aufgaben, Friedenserhaltung und als Aufgaben für Kampfeinheiten für das Krisenmanagement, einschließlich Friedenserzwingung, definiert worden. Dies kann erstrebenswert sein, es war jedoch immer und wird auch in Zukunft insofern gefährlich bleiben als die Frage auftaucht, wer darüber entscheidet, was als »humanitär« gilt und wo eine Intervention stattfinden soll.

Dies galt beispielsweise für den Beginn der Aufstellung einer Europäischen Armee, besser bekannt als »Schnelle Eingreiftruppe« (European Rapid Reaction, ERR). Die ERR und die »Europäischen Kampfgruppen« wurden beim europäischen Ministertreffen in Helsinki 1999 ins Leben gerufen. Obwohl sie zahlenmäßig klein sind, ihr Auftrag begrenzt sein wird und sie von UN Generalsekretär Kofi Annan positiv bewertet wurden, so legen sie doch die Grundlage für eine stärkere Militärmacht; zudem gibt es keine demokratische Kontrolle über ihre Entsendung.

Zeitgleich hat der Europäische Rat auch deutlich gemacht, dass er „entschlossen ist, die Restrukturierung der Europäischen Verteidigungsindustrien der beteiligten Staaten zu pflegen“ und dass „er sich um weiteren Fortschritt in der Abstimmung der militärischen Bedarfe und der Planung und Beschaffung von Waffen bemühen wird“. Kann eine solche »Pflege« als Hilfe für das Wachstum der europäischen Rüstungsindustrien verstanden werden? Kann die Lobbytätigkeit dieser Industrie gegenüber der EU als ein treibender Faktor für eine europäische Militärmacht angesehen werden? Es hat immer Stimmen gegeben, die – insbesondere unter Verweis auf die Knappheit der Ressourcen – von der Notwendigkeit gesprochen haben, dass Europa für den Schutz seiner Interessen das Militär benötigt. Die Europäische Verteidigungsagentur wurde im Juli 2004 vom Ministerrat ins Leben gerufen – ohne Gedanken an ein demokratisches Mandat. Aber sie hat Eingang in die Verfassung gefunden. Ihre Aufgabe war die „Verbesserung der Verteidigungsmöglichkeiten“. Das mag sein; aber zugleich wurde ein Markt geschaffen mit einem Budget von Euro 30 Milliarden im Jahr. Es gibt eine Abteilung für Forschung und Technologie: im Ergebnis ein Paradies für die europäischen Waffenhersteller und -händler.

EU und NATO

Selbstverständlich gibt es auch zwischen den militärisch ausgerichteten Regierungen Spannungen, wenn es um die Gestaltung der EU-Militärpolitik geht. Die Regierung Großbritanniens mit ihrer engen Beziehung zur US-Administration würde gerne die NATO in den Vordergrund rücken; die französische Regierung möchte im allgemeinen eine europäische Verteidigung, die unabhängig von den USA ist. Dennoch hat die Regierung Großbritanniens nie jemals die Frage aufgeworfen, die »Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik« zu verlassen – wie es etwa Dänemark getan hat. Großbritannien mit seinen großen Rüstungsunternehmen wollte auf jeden Fall wie jeder andere Staat auch an diesem »Markt« teilhaben. Der Militärisch-Industrielle-Komplex mag der Gewinner sein, wer aber sind die Verlierer? Dies ist die Mehrheit der BürgerInnen Europas, besonders jedoch die Unterprivilegierten, die massive Kürzungen bei den Sozialleistungen hinnehmen mussten. Großbritannien, das Land mit dem größten Verteidigungs-(d.h. Militär)-Budget in Europa (gegenwärtig über $ 66 Milliarden) hat eine zunehmende Einkommenslücke zwischen den Reichen und den Armen, die größte seit den 1920er Jahren, wie einige schätzen.

Betrachten wir die Verfassung, wie sie dem Europäischen Rat 2003 vorgelegt wurde. Dort heißt es in Artikel 41 schwarz auf weiß, dass „die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik eine zunehmende Gestaltung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik der EU umfassen soll. Dies führt zu einer gemeinsamen Verteidigung, sofern der Europäische Rat dies übereinstimmend beschließt“. Dies wären jedoch keine echten demokratischen Entscheidungen. Die Entscheidungen würden vom Ministerrat getroffen, der einstimmig auf der Grundlage einer Entschließung der Außenminister der EU oder eines Mitgliedsstaates handeln würde. Die gewählten RepräsentantInnen, die Mitglieder des Europäischen Parlaments, wären an die Seitenlinie verbannt. Im Kern der EU besteht ein Defizit an Demokratie.

Dennoch sind es häufig die Überlegungen und Entschließungen des Parlaments sowie des Europarates, die KriegsgegnerInnen Anlass zur Hoffnung geben. Es ist beispielsweise das Europäische Parlament, das die Mitgliedsstaaten bereits dreimal zu einem Moratorium hinsichtlich des Einsatzes von Uranmunition aufgefordert hat – letztlich mit dem Ziel der Verbannung dieser Waffe. Da es jedoch über wenig realen Einfluss verfügt, wurde dieses Ansinnen von Großbritannien, das neben den USA das erste Land war, das diese Waffen im Kampf eingesetzt hat und auch noch im Golfkrieg 2003 verwendet hat, vollständig ignoriert. Punkt 8 des Artikels besagt: „Das Europäische Parlament soll regelmäßig über die wesentlichen Aspekte und grundlegenden Weichenstellungen der Gemeinsamen Sicherheits- und Außenpolitik konsultiert und über die Fortschritte informiert werden.“ Es hätte auch hinzugefügt werden können: „… aber weder der Ministerrat noch die Mitgliedsstaaten müssen den Resolutionen des Parlaments irgendeine Beachtung schenken“.

Die NATO musste Erwähnung finden und so hält die Verfassung fest, dass die »Verpflichtungen« gewisser Mitgliedsstaaten, die „ihre gemeinsame Verteidigung gemäß des Nordatlantikvertrages in der NATO realisiert sehen, mit der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik abgestimmt realisiert werden sollen.“ Das ist eine nichts sagende Formulierung. Es gibt keine Erwähnung der EU-Position zu Nuklearwaffen, während die NATO-Politik seit der »Strategic Review« von 1999 in der »nuklearen Mindestabschreckung« unverändert einen Grundbaustein „zur Sicherung des Friedens“ sieht. Großbritannien und Frankreich sind beides Atomwaffenstaaten. Und tatsächlich ist das große TRIDENT-Atomwaffen-U-Bootsystem, von dem Großbritannien über vier verfügt, in die NATO »integriert«. Diese hält an einer Politik des »Ersteinsatzes« von Atomwaffen fest. Jedes NATO-Mitglied ist zur Sicherstellung der »Interoperationalität« verpflichtet, so dass alle NATO-Mitgliedsstaaten de facto Nuklearwaffenstaaten sind. Die NATO verfügt über sechs nuklear bestückte Basen in Europa – von Lakenheath im Osten Englands bis hinunter nach Incirlik in der Türkei.

Dies ist der Grund, warum viele BeobachterInnen der Ansicht sind, die NATO verletze Geist und Buchstaben des Atomwaffensperrvertrages. Zudem hat die NATO niemals verlauten lassen, sie wolle mit der nuklearen Abrüstung fortfahren oder gar ihre Politik ändern. Sie fährt angesichts der Dominanz durch die USA mit einer Politik fort, die zum Faktor von Unruhe und Instabilität nicht nur in Europa, sondern in der gesamten Welt wird. Die NATO hat sich nun bis an die Grenze zu Russland ausgedehnt und bereits seit langem aufgegeben, nicht »out-of-area« zu intervenieren.

Diejenigen unter uns, die gegen die NATO und deren Nuklearpolitik sind, fragen sich, was diese Politik für die EU und deren Politik bedeutet. Warum findet all dies in der Verfassung keine Erwähnung? Meinen diejenigen, die das Papier verfasst haben, tatsächlich »Kompatibilität«?

Der Reformvertrag in Großbritannien

Nachdem die Verfassung sowohl in den Niederlanden als auch in Frankreich deutlich abgelehnt worden war, begannen die Minister der EU-Mitgliedsstaaten damit, die Verfassung doch noch durch die Hintertür zu verabschieden. Sie traten nun mit dem »Reformvertrag« auf. Das ist die Verfassung unter einem anderen Namen. Im Bereich der Außenpolitik gibt es tatsächlich wenig Änderungen, außer dass es nun einen Sprecher für die Außenpolitik geben soll: den »Hohen Vertreter für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik«.

Wie wurde dies in Großbritannien aufgenommen? Die Labour-Partei hat in ihrem letzten Programm versprochen, dass es ein Referendum über die Europäische Verfassung geben werde. Nun weist der neue Premierminister Gordon Brown dies zurück. Beständig hat er diese Idee in Radio- und Fernsehinterviews zurückgewiesen. Er und seine Regierung seien, so sagt er, damit zufrieden, dass es im »Reformvertrag« keine Einschränkung der Souveränität Großbritanniens gebe. Allerdings hat gerade dieses Thema im September große Medienbeachtung gefunden. Zu denjenigen, die sich überraschend für eine Volksabstimmung ausgesprochen haben, gehörte die deutschstämmige Labour-Abgeordnete Gisela Stuart, die in dem Steuerungskomitee mitwirkte, das den Verfassungsentwurf produziert hat. Sie wird damit zitiert, dass „der Premierminister gesagt hat, er möchte den Leuten zuhören und sie in die Entscheidungen einbeziehen. Er spricht von der »Erneuerung der Demokratie«… Er kann dies unter Beweis stellen, indem er der Bevölkerung im Rahmen eines Referendums das letzte Wort über den Vertrag gibt“. Auch Gewerkschaften, insbesondere die GMB (Gas Workers and General Union) und die Gewerkschaft des öffentlichen Dienstes UNISON mit ihren 1,6 Millionen Mitgliedern fordern eine Abstimmung. Eine der besonders aktiven Gruppen, die zunehmend Gehör findet, ist die Organisation »Trade Unions Against the EU Constitution«. Weitere Gruppen sind enstanden, um eine Kampagne für ein Referendum zu beginnen, darunter die rechten Medien mit der Kampagne der Zeitung »Daily Telegraph«.

Andere Tageszeitungen, insbesondere der »Guardian« möchten eine Verabschiedung des Reformvertrages. Merkwürdigerweise enthielt die Argumentation des Chefkolumnisten des »Guardian« am 7. September einen Gedanken, der die Gegner des Vertrages alarmiert, weil er die Sicherheit nicht erhöht, sondern gefährdet. Ihm zufolge gehöre zu den gemeinsamen Anliegen der Europäer „der wieder auflebende russische Nationalismus, die Sicherheit der Energieversorgung, die Klimakrise, Immigration, die Bevölkerung mit Migrationshintergrund“. Dies wird von der gewerkschaftlichen Opposition und von vielen anderen SozialistInnen als ein direkter Aufruf zu einem »Euro-Militarismus« im Rahmen von Ressourcen-Kriegen angesehen.

So ist es denn, dass wir im globalen Norden – wieder einmal – nicht ein Europa des Friedens und der sozialen Gerechtigkeit schaffen, worin die Hoffnung so vieler der Nachkriegsgeneration bestand, sondern ein Europa, das seine Stellung als reiche Region der Welt festigen möchte. Dies erweckt den Anschein eines Europa, das sich nicht in erster Linie für Frieden und soziale Gerechtigkeit einsetzt, sondern eines, das sich darum bemüht, die Kontrolle der Energieversorgung zu sichern, eine bedrohliche Militärmacht mit fortgeschrittener Waffentechnologie zu schaffen und dabei die Notwendigkeit der nuklearen Abrüstung zu missachten sowie die Waffenindustrie zu fördern.

Es wird interessant sein zu sehen, wohin das alles führt. Gewiss, was auch immer passieren wird, wir von den Bewegungen für Frieden und soziale Gerechtigkeit werden unsere Kampagnen für ein weniger militarisiertes und nuklear-freies Europa fortsetzen.

Rae Street ist Vizepräsidentin und Sprecherin der Campaign for Nuclear Disarmament (CND) in Großbritannien

Gericht und Krieg

Gericht und Krieg

Das Bundesverfassungsgericht verspielt seine Glaubwürdigkeit

von Bernd Hahnfeld

Das höchste deutsche Gericht verweigert mit dem Urteil vom 3.07.2007 (2 BvE 2/07), der Entscheidung über die Tornado-Einsätze in Afghanistan, die im Antrag mit Recht geforderte verfassungsrechtliche Prüfung. Die Bundestagsfraktion der PDS/Die Linke hatte beantragt festzustellen, dass die Bundesregierung gegen das Grundgesetz verstößt, indem sie ohne Zustimmungsgesetz der Fortentwicklung des NATO-Vertrages zustimmt und sich durch die Entsendung von Tornado-Flugzeugen am erweiterten ISAF-Mandat beteiligt. In einer beispiellosen Wurstigkeit bügelt das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) die Anträge ab, ohne die zugrunde liegenden Rechtsfragen ernsthaft zu erörtern.

Das neue Urteil ist die fatale Fortentwicklung der Adria-Entscheidung von 1994, mit der das BVerfG den Beschluss der Bundesregierung zum Adria-Einsatz der Bundeswehr verfassungsrechtlich gebilligt hatte. Dieses Ergebnis war nur möglich, indem das BVerfG sich über die bis dahin weithin anerkannte verfassungs- und völkerrechtliche Unterscheidung von Verteidigungsbündnissen und Militärpakten einerseits und von gegenseitigen kollektiven Sicherheitssystemen andererseits hinweggesetzt und systemwidrig die NATO als ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit anerkannt hatte. Nur über die sich daraus ergebende Anwendung von Art. 24 Abs. 2 GG war die Teilnahme an der NATO-Militäraktion zu rechtfertigen.

Nach Art. 24 Abs. 2 GG kann sich der Bund zur Wahrung des Friedens einem System der gegenseitigen kollektiven Sicherheit einordnen. Ein solches System ist zweifelsfrei die UN. Die NATO hingegen galt bis zur Adria-Entscheidung des BVerfG als reines Verteidigungsbündnis. Im Gegensatz zu einem Verteidigungsbündnis sichern Systeme der gegenseitigen kollektiven Sicherheit die Mitglieder vor Aggressionen von außerhalb und innerhalb des Systems, verpflichten zur friedlichen Streitbeilegung und stellen dafür die entsprechenden Organe und Wege bereit, so etwa den Internationalen Gerichtshof in Den Haag. Der NATO fehlen solche Einrichtungen. Dem BVerfG reichte jedoch die Gewissheit, dass sich die NATO dem Frieden verpflichtet fühlt.

Das neue Urteil knüpft auch an der Entscheidung des BVerfG vom 22.11. 2001 an. In dieser hat das BVerfG das »neue Strategische Konzept« der NATO vom 23./23. April 1999 nicht als Änderung des NATO-Vertrages, sondern nur als dessen Fortentwicklung und Konkretisierung bewertet, obwohl die Staats- und Regierungschefs der NATO-Staaten die Aufgaben der NATO um „nicht unter Artikel 5 fallende Krisenreaktionseinsätze“ auch außerhalb des euro-atlantischen Raumes erweitert haben. Das BVerfG hat solche Krisenreaktionseinsätze als verfassungsrechtlich unbedenklich angesehen, wenn das Friedensgebot des Grundgesetzes, die strikte Bindung an die UN-Charta und die Anerkennung der primären Verantwortung des UN-Sicherheitsrates beachtet werden.

Als verfassungswidrig hat das BVerfG die Fortentwicklung des NATO-Systems unter Verstoß gegen das ursprüngliche Zustimmungsgesetz oder die Fortentwicklung jenseits der von der Bundesregierung erteilten Ermächtigung bezeichnet, ohne jedoch diese Tatbestände näher zu konkretisieren.

Mit der nunmehr verkündeten Entscheidung zum Tornado-Einsatz hat das BVerfG die Bundesregierung bei Militäreinsätzen nahezu von allen verfassungsrechtlichen Beschränkungen freigestellt. Der Wortlaut und Geist des NATO-Vertrages, das Gewaltverbot der UN-Charta, das Friedensgebot des Grundgesetzes und das Primat des UN-Sicherheitsrates werden souverän übergangen, die gerichtliche Aufklärungspflicht wird missachtet. Solange die NATO behauptet, der Einsatz diene dem Frieden, gilt er als verfassungskonform. Der Verquickung von ISAF und Operation Enduring Freedom (OEF) aufgrund gemeinsamer Kommandostrukturen und Einsatzgebiete geht das BVerfG gar nicht nach. Die notwendige Beweisaufnahme zur Frage der Völkerrechtswidrigkeit der Taliban-Jagd im Rahmen der OEF und zur Beteiligung der ISAF-Einheiten an den nicht durch Notwehr gerechtfertigten Militär-Aktionen der USA hat das Gericht unterlassen. Lediglich der Generalinspekteur, General Wolfgang Schneiderhahn, ist als Zeuge vernommen worden.

Jedem Amtsrichter würde so ein Urteil vom Rechtsmittelgericht um die Ohren gehauen werden. Entweder würde er sein Handwerkszeug nicht beherrschen oder er hätte es bewusst nicht angewendet. Das BVerfG erfüllt den selbst formulierten Auftrag nicht, wenn es einerseits behauptet, nur wenn das NATO-Bündnis seine friedenssichernde Ausrichtung aufgebe, würde es sich von seinem Gründungsauftrag entfernen, andererseits aber vermeidet, die Verquickung der ISAF mit der nicht friedenssichernden OEF aufzuklären. Das BVerfG hat entschieden, der Organklage der Bundestagsfraktion der PDS/Die Linke nicht stattzugeben; es hat diese Entscheidung nicht nachvollziehbar begründet.

Bernd Hahnfeld, Richter i.R., ist stellvertretender Vorsitzender der Deutschen Sektion der International Association of Lawyers Against Nuclear Arms (IALANA) und für diese im Vorstand der Zeitschrift Wissenschaft & Frieden.

Konfliktverhütung durch Krieg?

Konfliktverhütung durch Krieg?

Verfassungsfragen an das neue Bundeswehr-Weißbuch

von Martin Kutscha

Anders als der Entwurf vom April d.v.J. fand das im Oktober von der Bundesregierung vorgelegte »Weißbuch 2006 zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr«1 in der breiteren Medienöffentlichkeit nur mäßige Aufmerksamkeit. Die eine oder andere Entschärfung des Entwurfs im Zuge der Ressortabstimmung hatte jedoch vor allem kosmetischen Charakter; an der »ganzen Richtung« hat sich nichts geändert. Die bleibt nicht zuletzt mit gravierenden verfassungsrechtlichen Problemen behaftet.

Häufig wird die Kurzatmigkeit der Politik beklagt. Statt langfristige Gestaltungskonzepte zu verfolgen, sind die meisten Politiker vor allem damit beschäftigt, durch Agenda-Setting und geschickte Selbstdarstellung ihre Erfolgsaussichten bei der nächsten Wahl zu optimieren. Angesichts einer solchen von kurzfristigen Effekten lebenden Praxis ist es grundsätzlich zu begrüßen, dass in einem umfangreichen Grundsatzpapier Zukunftslinien für die deutsche Sicherheitspolitik entwickelt werden. Das neue Weißbuch hat dennoch viele Erwartungen enttäuscht: Auf brennende Gegenwartsfragen rund um die Verwendungen der Bundeswehr gibt es keine eindeutige Antwort, sondern verbleibt im Nebulösen.2 Ausgangspunkt der Darstellung sind auch nicht etwa die präzisen Vorgaben unserer Verfassung für Einsätze der deutschen Streitkräfte als Teil der vollziehenden Gewalt des Bundes, sondern vage definierte „Werte, Interessen und Ziele deutscher Sicherheitspolitik“, zu denen u. a. der „freie und ungehinderte Welthandel als Grundlage unseres Wohlstands“ gerechnet wird (S.28). Angesichts solcher Blindstellen im neuen Weißbuch, aber auch angesichts einer verbreiteten Gewöhnung an Einsätze der Bundeswehr rund um die Welt erscheint es umso notwendiger, an die Inhalte und Hintergründe der einschlägigen Aussagen des Grundgesetzes zu erinnern.

Abschied von der Friedensstaatlichkeit?

Nicht nur im ersten, feierlich-pathetisch klingenden Satz des Grundgesetzes „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ spiegelt sich die entschiedene Absage an die Praktiken des überwundenen Naziregimes. Darüber hinaus wird ein – eigentlich – unmissverständliches Verdikt gegen Krieg und Gewaltanwendung gegenüber anderen Völkern ausgesprochen: Art. 26 Abs. 1 verbietet jegliche Störung des friedlichen Zusammenlebens der Völker und erklärt schon die Vorbereitung eines Angriffskrieges für verfassungswidrig.3 Es muss erstaunen, dass eine so grundlegende Verfassungsnorm nirgendwo im neuen Weißbuch erwähnt, geschweige denn abgedruckt wird, selbst nicht im Abschnitt 3.3 „Verfassungsrechtliche Vorgaben“. Eine makabre Erklärung hierfür wäre, dass seitens der Verfasser des Weißbuchs die Auffassung vertreten wird, diese Verfassungsnorm inkriminiere nur die Vorbereitung des Angriffskrieges, nicht aber den Angriffskrieg selbst. In der Tat wird der den Art. 26 GG ausfüllende Straftatbestand des § 80 StGB vom Generalbundesanwalt ganz in diesem Sinne verstanden: In seinem Antwortschreiben vom 26. Januar 2006 auf die Strafanzeige einer Friedensorganisation gegen den früheren Bundeskanzler Schröder u. a. wegen der Tätigkeit deutscher Agenten im Irak behauptete der Generalbundesanwalt, nach diesem Tatbestand sei nur die Vorbereitung eines Angriffskriegs, nicht aber der Angriffskrieg selbst strafbar.4 Nun nennt § 80 StGB tatsächlich nicht das Führen des Angriffskrieges selbst, und Analogieschlüsse sind im Strafrecht wegen der strikten Geltung der Regel »nulla poena sine lege« untersagt5. Aber in diesem Fall ist völlig eindeutig, dass auch das Führen des Angriffskrieges selbst vom verfassungsrechtlichen Verdikt und von der Strafbarkeit umfasst sein sollte. In der Begründung des zuständigen Bundestagsausschusses für diese Strafbestimmung heißt es: „§ 80 umfasst nicht nur, wie der Wortlaut etwa annehmen lassen könnte, den Fall der Vorbereitung eines Angriffskrieges, sondern erst recht den der Auslösung eines solchen Krieges.“6

Als weitere in diesem Zusammenhang bedeutsame Verfassungsnorm ist Art. 25 GG zu nennen, der den „allgemeinen Regeln des Völkerrechts“ Vorrang vor den Gesetzen der Bundesrepublik verleiht. Zu diesen „allgemeinen Regeln“ gehört nach einhelliger Meinung auch das in Art. 2 Ziffer 4 der UNO-Satzung verankerte Gewaltverbot.7 Damit im Einklang beschränkt Art. 87 a GG den Handlungsrahmen der deutschen Streitkräfte auf die Verteidigung sowie auf Einsätze aufgrund besonderer Zulassung durch das Grundgesetz selbst.8 Was der Verfassungsbegriff der Verteidigung bedeutet, ist in der Rechtswissenschaft allerdings umstritten: Aus entstehungsgeschichtlicher Sicht spricht vieles für die Auffassung, dass sich dieser Begriff auf den in Art. 115 a GG definierten »Verteidigungsfall« bezieht, mithin einen Angriff auf das Bundesgebiet mit Waffengewalt zur Voraussetzung hat.9 Dem gegenüber gehen andere Autoren von einem völkerrechtlichen Verteidigungsbegriff aus, der auch z. B. militärische Hilfeleistungen bei einem Angriff auf Bündnispartner im Rahmen des NATO-Vertrages umfasst.10 Ein Einsatz der Bundeswehr „zur Verfolgung, Durchsetzung und Sicherung ökonomischer oder politischer Interessen“ wäre dagegen nicht vom Verteidigungsbegriff gedeckt, wie das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 21. Juni 2005 richtig feststellte.11

Zwar heißt es im neuen Weißbuch: „Die Verteidigung Deutschlands gegen eine militärische Bedrohung von außen ist und bleibt die verfassungsrechtliche Kernfunktion der Bundeswehr“ (S.75). Wenige Seiten später lesen wir dann aber: „Die herkömmliche Landesverteidigung gegen einen konventionellen Angriff als strukturbestimmende Aufgabe der Bundeswehr entspricht nicht länger den aktuellen sicherheitspolitischen Erfordernissen“ (S.93). Danach ist es nur konsequent, wenn bei der Aufzählung der Aufgaben der Bundeswehr an erster Stelle nicht etwa die Verteidigung, sondern „internationale Konfliktverhütung und Krisenbewältigung einschließlich des Kampfes gegen den internationalen Terrorismus“ genannt wird (S.13 und 72). Unter den Begriff der Verteidigung, wie ihn Art. 87 a GG verwendet, lässt sich diese Aufgabe jedenfalls kaum subsumieren.

Sicherlich gehört es zu den Zielen einer verantwortungsbewussten Außenpolitik, zur Lösung von international sich auswirkenden Konflikten beizutragen und dabei auch deren Ursachen in den Blick zu nehmen. Zu fragen bleibt aber, warum denn gerade eine Kampftruppe das optimale Instrument sein soll, um auf die sozialen, ethnischen bzw. politischen Wurzeln solcher Konflikte in anderen Ländern einzuwirken. Zivile Instrumentarien wie z. B. sozial orientierte Hilfsprogramme dürften hierbei weitaus erfolgsversprechender sein. Entgegen dem von Regierung und manchen Medien gepflegten Image ist die Bundeswehr kein Verband von Sozialarbeitern, die auf den Krisenschauplätzen der Welt im Einklang mit den jeweiligen sozialen und kulturellen Prägungen der Bevölkerung behutsam und hingebungsvoll ihr Aufbauwerk verrichten. Der just bei der Präsentation des Weißbuchs enthüllte Fall der Leichenschändungen in Afghanistan dürfte nur die Spitze des Eisbergs darstellen; die verrohende Wirkung der Beteiligung an Kriegseinsätzen lässt sich kaum bestreiten.

Das Scheitern einer vorrangig auf militärische Intervention setzenden Politik zeigt sich vor allem im Irak: Die Besetzung dieses Landes hat hier zwar zur Entmachtung eines Diktators geführt, jedoch keineswegs ein blühendes Land und eine funktionierende demokratische Ordnung hergestellt. Stattdessen herrschen im Irak Massenelend und Bürgerkrieg, das Land ist zu einer Brutstätte von Gewalt und Terrorismus geworden. Die Lage in Afghanistan entwickelt sich offenbar in die gleiche Richtung. Der von der US-Regierung propagierte »Krieg gegen den Terror« hat mithin, wie die 16 US-Geheimdienste in einer Ende September 2006 bekannt gewordenen Stellungnahme einräumten, im Ergebnis zu einer Verstärkung der terroristischen Bedrohung geführt.12

Einordnung in internationale Friedenssysteme

Breiten Raum nimmt im Weißbuch die Darstellung der Entwicklung internationaler Organisationen ein, vom NATO-Bündnissystem bis zu den Vereinten Nationen. Die inzwischen zahlreich gewordenen Einsätze der Bundeswehr auf Schauplätzen im Ausland finden schließlich auch durchweg im Rahmen solcher Vertragssysteme statt. Betrachten wir die insoweit bestehende Verfassungslage.

Das Grundgesetz hat den Bund in Art. 24 Abs. 2 ermächtigt, sich „zur Wahrung des Friedens einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit“ einzuordnen. In seinem Grundsatzurteil vom 12. Juli 1994 erblickte das Bundesverfassungsgericht in dieser Bestimmung die Ermächtigung zu Bundeswehreinsätzen im Ausland, die „im Rahmen und nach den Regeln“ solcher Systeme stattfinden.13 Ignoriert wurde dabei, dass Art. 24 GG die von Art. 87 a Abs. 2 GG verlangte ausdrückliche Zulassung von Bundeswehreinsätzen gerade nicht enthält und deshalb als Ermächtigungsgrundlage hierfür recht fragwürdig ist. Auch stieß es bei Völkerrechtlern auf Befremden, dass das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil nicht nur die UNO als ein solches „System gegenseitiger kollektiver Sicherheit“ betrachtete, sondern auch die NATO, ein klassisches Militärbündnis, das den potentiellen Gegner eben nicht mit einbezieht.14

Immerhin hat das höchste deutsche Gericht einige Jahre später noch einmal ausdrücklich an die Zweckbestimmung der nach Art. 24 Abs. 2 GG zulässigen Einordnung Deutschlands erinnert, nämlich die Wahrung des Friedens. Die tatbestandliche Formulierung dieser Norm schließe es aus, so heißt es in seinem Urteil vom 22. November 2001, „dass die Bundesrepublik Deutschland sich in ein gegenseitiges kollektives System militärischer Sicherheit einordnet, welches nicht der Wahrung des Friedens dient. Auch die Umwandlung eines ursprünglich den Anforderungen des Art. 24 Abs. 2 GG entsprechenden Systems in eines, das nicht mehr der Wahrung des Friedens dient oder sogar Angriffskriege vorbereitet, ist verfassungsrechtlich untersagt.“15 Dies mochte das Gericht im Hinblick auf die NATO jedenfalls im Jahre 2001 nicht annehmen.

Klare Aussagen zu den aktuellen Konzepten »präventiver« Kriege, wie sie vor allem in den USA propagiert werden, sucht man im Weißbuch von 2006 vergebens. Von einer scheinbar neutralen Warte aus wird statt dessen die völkerrechtliche Lehre von der »Responsibility to Protect« geschildert, die sich im Gefolge des Kosovo-Krieges von 1999 herausgebildet habe und nach der militärische Zwangsmaßnahmen auch zur Abwendung humanitärer Katastrophen, zur Bekämpfung terroristischer Bedrohungen und zum Schutz der Menschenrechte geboten sein könnten (S.57/58). Auch wenn dies nicht ausdrücklich formuliert wird, scheinen die Verfasser des Weißbuchs diese Auffassung wohl als begrüßenswerten Fortschritt des Völkerrechts zu betrachten.

Nun ist es zwar richtig, dass die im Völkerrecht inzwischen weitgehend anerkannte Verantwortung der Staatengemeinschaft für den weltweiten Menschenrechtsschutz (»Responsibility to Protect«) eine Beschränkung des Prinzips der Souveränität der Staaten impliziert, wenn die UNO auf massive Menschenrechtsverletzungen mit jeweils abgestuften Sanktionen reagiert.16 Die Anerkennung eines Rechts auf militärische Intervention ohne ausdrückliche Ermächtigung durch den Sicherheitsrat würde allerdings nichts anderes als eine Einladung an mächtige und kriegsbereite Staaten bedeuten, unter Berufung auf wirkliche oder vermeintliche Verletzungen von Menschenrechten nach ihrem Belieben andere Staaten anzugreifen.17 Dies wäre ein verhängnisvoller Schritt zurück zur alten, auf Augustinus und Thomas von Aquin zurückgehenden Lehre vom »bellum iustum«, zur Vorstellung vom »gerechten Krieg«, und damit die Preisgabe einer der wichtigsten Errungenschaften des modernen Völkerrechts, des universellen Grundsatzes des Gewaltverzichts zwischen den Staaten. Die in Art. 24 Abs. 2 GG vorgeschriebene Zweckbestimmung für die Einordnung Deutschlands in internationale Systeme würde damit jedenfalls eklatant missachtet.

Terrorbekämpfung durch Bundeswehreinsätze im Inneren?

Im Zuge der Notstandsgesetzgebung von 1968 sind die Voraussetzungen für Inlandseinsätze der deutschen Streitkräfte im Grundgesetz präzise geregelt worden. Danach sind solche Einsätze nur im Verteidigungs- oder im Spannungsfall oder zur Abwehr drohender Gefahren für den Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung des Bundes oder eines Landes (Art. 87 a Abs. 2 und 3 GG), ferner im Falle von Naturkatastrophen oder besonders schweren Unglücksfällen gemäß Art. 35 Abs. 2 und 3 GG zulässig. So konnten auf der Grundlage des Art. 35 Abs. 2 GG Bundeswehrsoldaten z. B. als Helfer bei Hochwasserkatastrophen an der Oder und der Elbe eingesetzt werden.

In seinem Urteil vom 15. Februar 2006 zum Luftsicherheitsgesetz hat das Bundesverfassungsgericht weitere Restriktionen für Inlandseinsätze der Streitkräfte statuiert. Danach dürfen diese bei der Bekämpfung von Naturkatastrophen oder besonders schweren Unglücksfällen nicht mit „spezifisch militärischen Waffen“ eingesetzt werden. Weil die Streitkräfte in diesen Fällen nur Unterstützungsleistungen für die überforderten Polizeien der Länder erbringen würden, seien sie auf die Wahrnehmung polizeilicher Aufgaben und Befugnisse beschränkt.18 Der Abschuss von »terrorverdächtigen« Flugzeugen fällt nicht darunter und ist deshalb nach Auffassung des Gerichts weder mit den genannten kompetenzrechtlichen Bestimmungen des Grundgesetzes noch mit dem Recht auf Leben in Verbindung mit der Menschenwürdegarantie vereinbar. Der Staat dürfe die unschuldigen Passagiere nicht als bloße Objekte seiner Rettungsaktion zum Schutze anderer Menschen benutzen und auf diese Weise verdinglichen und entrechtlichen. Damit würde „den als Opfern selbst schutzbedürftigen Flugzeuginsassen der Wert abgesprochen, der dem Menschen um seiner selbst willen zukommt.“19

Der »Rettungsabschuss« von Zivilflugzeugen wurde nun von den Regierungspolitikern nicht etwa ad acta gelegt. Um ihn in Zukunft trotz des Urteils aus Karlsruhe zu ermöglichen, wird eine Verfassungsänderung gefordert. Wie es im Weißbuch heißt, „sieht die Bundesregierung die Notwendigkeit einer Erweiterung des verfassungsrechtlichen Rahmens für den Einsatz der Streitkräfte. Infolge der neuartigen Qualität des internationalen Terrorismus sowie des gewachsenen und territorial weitgehend unbeschränkten Gewaltpotentials nichtstaatlicher Akteure sind heute auch in Deutschland Angriffe vorstellbar, die aufgrund ihrer Art, Zielsetzung sowie ihrer Auswirkungen den bestehenden tatsächlichen und rechtlichen Rahmen der klassischen Gefahrenabwehr überschreiten“ (S.76).

Uneinigkeit herrscht zwischen den Regierungsparteien bislang noch über den Inhalt der beabsichtigten Verfassungsänderung. Der innenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Wiefelspütz, hat eine Ergänzung des Art. 35 GG vorgeschlagen, nach der die Streitkräfte unter bestimmten Voraussetzungen im Inneren „auch militärische Mittel zur Gefahrenabwehr“ einsetzen dürfen.20 Dagegen plädierte Bundesinnenminister Schäuble für eine Änderung des Art. 87 a GG, die Bundeswehreinsätze außer zur Verteidigung auch zur „unmittelbaren Abwehr eines sonstigen Angriffs auf die Grundlagen des Gemeinwesens“ gestatten soll.21

In einem entscheidenden Punkt ist sich Schäuble mit dem Sozialdemokraten Wiefelspütz indessen einig: Bei einer Flugzeugentführung durch Terroristen wie am 11. September 2001 in den USA dürften die Streitkräfte die Maschine abschießen, weil es sich um einen kriegerischen Akt handele.22 In diesem Fall käme das Kriegsvölkerrecht zur Anwendung, das auch die Tötung unschuldiger Passagiere eines als Angriffswaffe missbrauchten Verkehrsflugzeugs als Kollateralschaden nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsprinzips zulasse.23

Nun mag es zwar der Logik des Krieges entsprechen, Menschenleben insbesondere von Soldaten als bloße Rechenposten zu behandeln. Entgegen den Behauptungen von Schäuble und Wiefelspütz lässt sich der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aber keineswegs entnehmen, dass das Verbot einer staatlichen Abwägung »Leben gegen Leben« sowie die in Art. 1 Abs. 1 GG verbürgte Unverletzlichkeit der Menschenwürde nur in Friedenszeiten gelten sollen. Im Übrigen handelt es sich bei einem Terroranschlag mithilfe eines entführten Verkehrsflugzeugs um einen Akt schwerster Kriminalität, aber keineswegs um einen kriegerischen Angriff auf das Bundesgebiet.24

Der Verwischung der Grenze zwischen terroristischer Kriminalität und Kriegszustand hat verheerende Konsequenzen für die rechtsstaatliche Ordnung und die Geltung der Grundrechte in Deutschland: Jenseits der detaillierten Verfassungsregeln für den Verteidigungsfall (Art. 115 a ff. GG) werden unter der Flagge des »Krieges gegen den Terror« Elemente des Ausnahmezustandes zum Leben erweckt. Carl Schmitt lässt grüßen: „Die Entscheidung macht sich frei von jeder normativen Gebundenheit und wird im eigentlichen Sinne absolut.“25 Alles, was zur Terrorabwehr als notwendig erscheint, gilt dann auch als legitim – bis hin zur Opferung unschuldiger Menschen. Die Grundrechte werden zu Gnadenakten des Staates degradiert, die dieser nach Belieben erteilen und wieder kassieren kann. Eine Regierung, so die treffende Kritik von Burkhard Hirsch, „die nach ihrem Ermessen das Kriegsrecht ausrufen kann, erhebt sich über die Verfassung und macht aus den Bürgern Untertanen.“26

Anmerkungen

1) Bundesministerium der Verteidigung (2006): Weißbuch 2006 zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr, Berlin. Die Seitenangaben im folgenden Text beziehen sich auf diese gedruckte Ausgabe. Das Weißbuch ist im Internet verfügbar unter: http://www.weissbuch2006.de.

2) Dazu auch Uesseler, R. (2006): Weißbuch 2006: Interessenpolitik weißgewaschen. Blätter für deutsche und internationale Politik, H. 12/06, S.1423 ff.

3) Dazu im Einzelnen Schiedermair, S. (2005): Der internationale Frieden und das Grundgesetz, Baden-Baden, Nomos-Verlag, S.100 ff.

4) Nach Finckh, U. (2007): Sind Angriffskriege nicht strafbar? In T. Müller-Heidelberg u.a. (Hrsg.), Grundrechte-Report 2007. Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland, Frankfurt/M., Fischer-Verlag.

5) Vgl. Art. 103 Abs. 2 GG.

6) Bundestagsdrucksache V/2860, S.2.

7) Vgl. nur Bundesverfassungsgericht (BVerfG): Urt. v. 22. 11. 2001, 2 BvE 6/99. Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen (BVerfGE) 104, S.151 (213); Bundesverwaltungsgericht (BVerwG): Urt. v. 21. 06. 2005, 2 WD 12/04. Neue Juristische Wochenschrift, H. 1-2/06, S.77 (82 u. 93).

8) Geregelt in den Art. 87 a Abs. 3 u. 4, 35 Abs. 2 u. 3 GG; dazu näher im dritten Abschnitt.

9) So z.B. Arndt, C. (1992): Bundeswehreinsatz für die UNO. Die Öffentliche Verwaltung, H. 14/92, S.618; Deiseroth, D. (1993): Die Beteiligung Deutschlands am kollektiven Sicherheitssystem der Vereinten Nationen aus verfassungsrechtlicher Sicht. Neue Justiz, 47, S.145 (149); ausführlich dazu Kutscha, M. (2004): „Verteidigung“ – vom Wandel eines Verfassungsbegriffs. Kritische Justiz, 37, S.228 (232 f.).

10) So z. B. Baldus, M. (2005): Art. 87 a, Rdnr. 43. In H. v. Mangoldt, F. Klein & C. Starck (Hrsg.), Grundgesetz (Bd. 3, 5. Aufl.). München: Vahlen; Heun, W. (2000): Art. 87 a, Rdnr. 17. In H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar (Bd. 3). Tübingen: Mohr.

11) BVerwG: wie in Anm. 7.

12) Vgl. FR vom 28. 09. 06.

13) BVerfG: Urt. v. 12. 7. 1994, 2 BvE 3/92. BVerfGE 90, S.286, u.a.

14) Vgl. im Einzelnen Kutscha, M. (2004): Militäreinsätze vor dem Bundesverfassungsgericht. In H. Kramer & W. Wette (Hrsg.): Recht ist, was den Waffen nützt. Justiz und Pazifismus im 20. Jahrhundert, Berlin, Aufbau-Verlag, S.321 (325 ff.).

15) BVerfG: wie in Anm. 7.

16) Vgl. dazu z. B. Brzoska, M. (2006): Friedensmissionen: Erfolg und Scheitern. Blätter für deutsche und internationale Politik, H. 12/06, S.1491 (1494 f.).

17) Vgl. dazu im Einzelnen Paech, N. (2007): Völkerrechtliches Souveränitätsprinzip vs. Menschenrechte, in diesem Heft; Neu, A. (2006): Verteidigung grenzenlos. Blätter für deutsche und internationale Politik, H. 7/06, S.788 ff.

18) BVerfG: Urt. v. 15. 02. 2006, 1 BvR 357/05. Neue Juristische Wochenschrift, 59, S.751 (755 f.).

19) BVerfG: wie in Anm. 18, S.758.

20) Wiefelspütz, D. (2007): Vorschlag zur Neufassung des Art. 35 GG. Zeitschrift für Rechtspolitik, 40, S.17 (19).

21) Nach FR vom 03.01.07.

22) FR vom 04. 05. 06 u. vom 03.01.07.

23) Wiefelspütz, D. (2006): Der kriegerische terroristische Luftzwischenfall und die Landesverteidigung. Recht und Politik , 42, S.71ff.

24) Vgl. auch die Kritik von Hirsch, B. (2007): Schäubles Quasi-Krieg. Blätter für deutsche und internationale Politik, H. 2/07, S.133 (135); ausführlich: Kutscha, M. (2006): Terrorbekämpfung jenseits der Grundrechte? Recht und Politik , 42, S.202 ff.

25) Schmitt, C. (1934): Politische Theologie (2. Aufl.), München, Duncker & Humblot, S.19.

26) Hirsch, B.: wie in Anm. 24, S.134.

Prof. Dr. Martin Kutscha lehrt Staats- und Verwaltungsrecht an der Fachhochschule für Verwaltung und Rechtspflege Berlin

Fünf Jahre Internationaler Strafgerichtshof

Fünf Jahre Internationaler Strafgerichtshof

von Olaf Miemiec

Die Geschichte des Ringens um die Verankerung von Menschenrechten ist lang. Eine »kurze Geschichte« ist da vor allem eine gekürzte Geschichte. Ausblenden muss ich vor allem den höchst interessanten Transformationsprozess der christlichen Doktrin von der Gleichheit aller Christen vor Gott zur menschenrechtlichen Gleichheit. Für das westeuropäische Verständnis der Menschenrechte sind zwei historische Ereignisse zentral: die Reformation und die Aufklärung.

Die Reformation hat das Faktum religiöser Pluralität innerhalb eines Gemeinwesens nach sich gezogen, was letztendlich in der Verabschiedung von Staatsreligionen münden musste. Hegel hat diesen Gedanken klar formuliert: „Damit ferner der Staat als die sich wissende, sittliche Wirklichkeit des Geistes zum Dasein komme, ist seine Unterscheidung von der Form der Autorität und des Glaubens notwendig; diese Unterscheidung tritt aber nur hervor, insofern die kirchliche Seite in sich selbst zur Trennung kommt; nur so, über den besonderen Kirchen, hat der Staat die Allgemeinheit des Gedankens, das Prinzip seiner Form gewonnen und bringt sie zur Existenz“ (G.W.F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 270, in: Werke Bd.7, Frankfurt/M. 1986, S.428). Wenn die Religionsfreiheit der (historische) Kern der Glaubens- und Meinungsfreiheit ist, scheint also letztere mit dem Schlüsselereignis der Reformation verknüpft zu sein. Auch Marx sieht – in deutlicher Bezugnahme auf Hegel – den Zusammenhang von Reformation und der Herausbildung des „politischen“ (lies: modernen) Staats.

In der Aufklärung hingegen – ich beziehe mich hier vor allem auf Hobbes, Locke und Kant – spielt die Frage eine zentrale Rolle, was denn eigentlich Rechte seien. Die ziemlich einhellige Antwort lautet, dass (subjektive) Rechte Ansprüche innerhalb einer gerechten, d.h. als legitim anerkannten Verteilungsordnung darstellen, deren Durchsetzbarkeit durch politische Herrschaft stabilisiert wird. So schreibt etwa Kant: „Wenn es rechtlich möglich sein muss, einen äußeren Gegenstand als das Seine zu haben: so muss es auch dem Subjekt erlaubt sein, jeden anderen, mit dem es zum Streit um Mein und Dein über ein solches Objekt kommt, zu nötigen, mit ihm zusammen in eine bürgerliche Verfassung zu treten“ (Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, Werkausgabe Bd. VIII, Frankfurt/M. 1977, S.366).

Der empfindliche Punkt ist nun aber, dass einerseits der Staat erst als Bedingung für das Recht im Sinne einer gerechten Ordnung erscheint, andererseits aber staatliche Machtausübung keineswegs an der Stelle halt macht, die für die Erhaltung des Rechts funktional notwendig ist. Sie kann diese Schwelle sogar so weit überschreiten, dass die Grundlagen einer gerechten Ordnung untergraben werden können. Die liberale Reaktion auf diesen blinden Fleck hobbesianischer Staatsrechtfertigung ist ein politisches Programm zur Bändigung des Leviathan. In der Differenz zwischen einer nur faktischen und einer gerechten Ordnung erscheint die Idee der Menschenrechte. Sie artikulieren die normativen Anforderungen an die rechtlich-politische Struktur eines Gemeinwesens, die erfüllt sein müssen, um die Struktur als »gerecht« bezeichnen zu können.

Hierher gehören zunächst die bürgerlichen Rechte. Drei fundamentale Gleichheiten sind hier relevant. Zunächst lässt sich in der Aufklärungsperspektive die Gesellschaft als Zusammenhang auffassen, in der sich die Individuen wechselseitig als Rechtspersonen anerkennen. Dem entspricht die Gleichheit aller vor dem Gesetz. Dann lässt sich die Gesellschaft als ein Zusammenhang auffassen, dessen Individuen sich wechselseitig als Wesen anerkennen, die zu vernünftigen Begründungen ihres Handelns fähig sind. Das ist die wechselseitige Anerkennung als moralische Person. Dem entsprechen die bürgerlichen Freiheitsrechte. Schließlich anerkennen sich die Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft auch an als gleiche Bürger der res publica. Dem entsprechen die politischen Partizipationsrechte.

Für die Theoretiker der Volkssouveränität sind vor allem die Partizipationsrechte von zentraler Bedeutung, insbesondere auch für das Projekt der Zähmung des Leviathans. Denn sie gehen von der Annahme aus, dass, da ein einzelner sich kein Unrecht antut, ein Unrecht auch dann nicht zustande kommt, wenn alle Bürger des Gemeinwesens im Ergebnis eines vernünftigen Willensbildungsprozess Recht setzen. Natürlich gibt es einen Unterschied zwischen dem volonté générale und dem volonté de tous. Deswegen heißt Volkssouveränität auch nicht, nach Umfragen zu regieren; vielmehr heißt Volkssouveränität, dass es gerechte Verfahren geben muss, innerhalb derer ein politischer Wille generiert werden kann. Im Begriff des gerechten Verfahrens lässt sich der Kern der gerechten Ordnung identifizieren.

Der liberale Theoretiker John Rawls spricht davon, dass gleiche Rechte für alle nur dann einen Wert haben, wenn sie einen gleichen Wert für alle haben. Sicher, Rechtsgleichheit ist als solche schon ein Wert, aber sie hat einen Zweck, der unerfüllt bleibt, wenn sie nur darin besteht, dass alle das gleiche Recht haben, unter Brücken zu schlafen, wie Anatole France es mit bitterer Ironie formulierte. Die Verwirklichung einer sozial gerechten Gesellschaft ist das Ziel einer jeden Gesellschaft, in der gleiche Rechte nicht zynisch verstanden werden. Damit geht die Idee des demokratischen Verfassungsstaats über in die Idee des demokratischen Sozialstaats.

Abschließend noch eine Bemerkung zur Universalität der Menschenrechte: Menschenrechte können vom Staat nicht gewährt werden, denn sie sind Normen, anhand derer wir die Gerechtigkeit der Grundordnung einer Gesellschaft bemessen. Damit aber stehen sie nicht nur jenseits der faktischen Rechtsordnung, sondern jenseits aller Rechtsordnungen. Das gilt zeitlich und räumlich.

Dr. phil. Olaf Miemiec ist Referent für Menschenrechtspolitik in der Linksfraktion im Bundestag