Fünf Jahre Internationaler Strafgerichtshof

Fünf Jahre Internationaler Strafgerichtshof

Eine Zwischenbilanz

von Lars Büngener

In ihrer Entscheidung vom 29.01.2007 bestätigte die erste Vorverfahrenskammerdes Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) die Anklagegegen den ehemaligen kongolesischen Milizenführer Thomas Lubanga Dyilo wegen der Rekrutierung und des Kampfeinsatzes von »Kindersoldaten«. Erstmals in der Weltgeschichte wird ein permanentes internationales Strafgericht über Völkerrechtsverbrechen verhandeln – der vorläufige Höhepunkt in der Geschichte der Durchsetzung des Völkerstrafrechts. Dieser Artikel legt zunächst die Entstehungsgeschichte des IStGH dar und erläutert anschließend einige strittige Fragen bezüglich der Funktionen und Zuständigkeiten dieser jungen internationalen Organisation. Abschließend erörtert der Autor die Frage, wie das bisher Erreichte zu beurteilen ist.

Die Idee, schwere Völkerrechtsverstöße strafrechtlich zu ahnden, wurde erst im 20. Jahrhundert verwirklicht. Aus der gescheiterten Strafverfolgung der Kriegsverbrecher des Ersten Weltkriegs in den »Leipziger Prozessen«1 hatte man noch während des Zweiten Weltkriegs die Lehre gezogen, die Verfolgung von mutmaßlichen Kriegsverbrechern zunächst nicht wieder in die Hände der »Täterstaaten« zu legen. Stattdessen setzten die Alliierten internationale Strafgerichte ein – die Militärtribunale von Nürnberg und Tokio. Allerdings zeigten sich bereits während der Prozesse erhebliche Unstimmigkeiten insbesondere zwischen den USA und der Sowjetunion. Zu weiteren international besetzten Tribunalen kam es daher nicht.2

Der Weg nach Den Haag – Völkerstrafrecht im 20. Jahrhundert

Noch unter dem Eindruck der Verbrechen des Zweiten Weltkriegs und wohl auch angesichts der Kritik3 an den Tribunalen von Nürnberg und Tokio beauftragte die UN-Generalversammlung im Jahre 1947 die Völkerrechtskommission der UN (International Law Commission, ILC), die im Statut und Urteil des Nürnberger Tribunals zum Ausdruck gekommenen Grundsätze zu formulieren sowie einen Entwurf für ein Gesetz über »Straftaten gegen Frieden und Sicherheit der Menschheit« zu erarbeiten. Ein Jahr später verabschiedete die UN-Generalversammlung die Völkermordkonvention, in deren Art. 6 ein noch zu schaffendes internationales Gericht erwähnt wird. In derselben Resolution wurde wiederum die ILC beauftragt, zu prüfen, ob die Einrichtung eines internationalen Strafgerichtshofs „wünschenswert und möglich“ sei. Ein erster Entwurf für ein Statut wurde 1951, eine überarbeitete Fassung 1954 vorgelegt. Im selben Jahr legte die ILC zudem den 1947 in Auftrag gegebenen Entwurf eines Gesetzes über »Straftaten gegen Frieden und Sicherheit der Menschheit« vor. Da sich die Spannungen zwischen den Großmächten jedoch vertieft hatten und sich die Staaten insbesondere nicht auf eine Definition des Aggressionsbegriffs einigen konnten, wurde eine weitere Beschäftigung der Generalversammlung der Vereinten Nationen mit den Entwürfen vertagt. Die ILC nahm erst 1974, als eine Definition des Aggressionsbegriffs gefunden war, ihre Arbeit am materiellen Völkerstrafrecht wieder auf. Am Projekt eines permanenten internationalen Strafgerichtshofs arbeitete sie erst wieder ab 1989.

Die politischen Umwälzungen in Osteuropa ab 1989 führten zum Wegfall der politischen Blöcke des Kalten Krieges, ließen aber auch alte ethnische Konflikte aufbrechen. Die schweren Menschenrechtsverletzungen, die ab den frühen 90er Jahren in Jugoslawien begangen wurden, veranlassten den UN-Sicherheitsrat, gemäß Kap. VII der UN-Charta eine Bedrohung des Friedens und der internationalen Sicherheit festzustellen und als Gegenmaßnahme einen internationalen Strafgerichtshof einzusetzen: das Jugoslawien-Tribunal.4 Ein Gericht sollte helfen, den „Verbrechen ein Ende zu setzen“ und zur „Wiederherstellung und Wahrung des Friedens“ beitragen.5

Im Frühjahr 1994 wurde in Ruanda ein Völkermord an Angehörigen der Volksgruppe der Tutsi begangen, dem etwa eine Million Menschen zum Opfer fielen. Nach zunächst nur halbherzigem Handeln der Weltgemeinschaft wurde durch den Sicherheitsrat auch für diese Geschehnisse beschlossen, die Verantwortlichen vor ein internationales Gericht zu bringen.6

Das Rom-Statut – ein Kompromiss und seine Auswirkungen

Zur selben Zeit, beschleunigt durch die Schaffung der beiden angesprochenen ad-hoc-Tribunale, machten die Arbeiten am Projekt eines ständigen internationalen Strafgerichtshofs Fortschritte. 1994 legte die ILC der UN-Generalversammlung den Entwurf eines Statuts vor, es folgten die Expertenkonferenz von Syrakus, die Einsetzung des Preparatory Committee und schließlich die Einberufung der Bevollmächtigtenkonferenz von Rom (15.06.-17.07.1998). An dieser Konferenz nahmen nicht nur Vertreter aus 162 Staaten teil, sondern erstmals auch die Zivilgesellschaft in Gestalt von Nichtregierungsorganisationen. Mehr als 250 von ihnen waren beratend oder beobachtend an den Verhandlungen über die Endfassung des Statuts für den IStGH7 beteiligt.

Die teilnehmenden Staaten waren in zwei Lager gespalten: die »Gleichgesinnten«8, denen ein starker und unabhängiger Gerichtshof vorschwebte, und auf der anderen Seite die »Gerichtshofrestriktiven«9, die aus Sorge um ihre staatliche Souveränität einen schwächeren Gerichtshof durchsetzen wollten. Fragen des materiellen Völkerstrafrechts waren vergleichsweise weniger problematisch. Man einigte sich darauf, dass der Gerichtshof nur für die völkerrechtlichen »Kernverbrechen« zuständig sein sollte: Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und das Verbrechen der Aggression. Allerdings konnte bezüglich letzterem keine Einigung über eine Definition erzielt werden. Damit ist der IStGH zwar für das Verbrechen der Aggression zuständig, kann nach Art. 5 Abs. 210 seine Gerichtsbarkeit aber erst ausüben, wenn eine Definition gefunden ist – im Ergebnis eine erhebliche Strafbarkeitslücke.

Besonders kontrovers diskutiert wurden in Rom Fragen der Gerichtsbarkeit (Jurisdiktion) des Gerichts, der Befugnisse des Chefanklägers sowie des Verhältnisses des Gerichtshofs zum UN-Sicherheitsrat.

Während die »Gleichgesinnten« bezüglich der Jurisdiktion eine automatische Zuständigkeit unabhängig vom Tatort, der Staatsangehörigkeit des Täters oder der Opfer erreichen wollten, versuchten die »Gerichtshofrestriktiven« ein Modell durchzusetzen, bei dem jeweils die ausdrückliche Zustimmung des betroffenen Staates für ein Tätigwerden des Gerichts erforderlich sein sollte, was offensichtlich ein eher symbolisches Gericht zur Folge gehabt hätte. Ein anderer Entwurf sah eine Art permanentes ad-hoc-Tribunal vor, das ständig in Bereitschaft stehen, aber jeweils durch den UN-Sicherheitsrat aktiviert werden sollte.

Ähnlich gelagert war die Diskussion bezüglich der Rolle des Anklägers. Die »Gleichgesinnten« favorisierten einen Ankläger, der von sich aus (proprio motu) ohne Auftrag der UN oder auch nur eines Staates ermitteln können sollte; die Gegner dieser Lösung fürchteten einen dadurch »unberechenbaren« Ankläger, der Angehörige einzelner Staaten politisch motiviert mit Strafverfahren zu überziehen drohte.

In letzter Sekunde wurde ein Kompromissentwurf vorgelegt, der von 120 Staaten bei sieben Gegenstimmen und 21 Enthaltungen angenommen wurde.

Bezüglich der Jurisdiktion des Gerichts konnten sich die »Gleichgesinnten« zum Teil durchsetzen. Grundsätzlich akzeptiert jeder Staat durch seine Ratifizierung die automatische Gerichtsbarkeit des IStGH im vollen Umfang (Art. 12 Abs. 1).11 Anknüpfungspunkt ist hierbei, dass die Verbrechen auf dem Staatsgebiet eines Vertragsstaates oder durch seine Staatsangehörigen begangen worden sind (Art. 12 Abs. 2). Aber auch ein Staat der nicht Vertragsstaat ist, kann durch einseitige Erklärung fallbezogen ad hoc die Jurisdiktion des IStGH anerkennen (Art. 12 Abs. 3). Diese Variante ist bereits praktisch relevant geworden im Fall der Unterwerfungserklärung der Elfenbeinküste.

Eine Ausnahme zu diesen Regeln enthält Art. 13 lit. b) in Verbindung mit Art. 12 Abs. 2: wenn das Verfahren durch den UN-Sicherheitsrat eingeleitet wurde, ist die Gerichtsbarkeit des IStGH unabhängig vom Tatort- oder Täterstaat ohne weiteres gegeben. Der Sicherheitsrat kann dem Chefankläger12 durch Resolution nach Kapitel VII der UN-Charta relevante „Situationen“ „unterbreiten“. Hier ist das erwähnte Modell des »permanenten ad-hoc-Tribunals« in das Statut eingeflossen. Diese Art der Verfahrenseinleitung ist 2005 in der Situation der sudanesischen Provinz Darfur angewendet worden, was insofern überrascht, als die USA unter der Bush-Administration bis dahin wenige Gelegenheiten ausgelassen hatten, den Gerichtshof zu schwächen. Offenbar mussten auch sie sich dem internationalen Druck beugen und enthielten sich in der betreffenden Abstimmung, ebenso wie China, der Stimme. Fehlt jedoch eine Resolution des Sicherheitsrats, sind dem IStGH in Bezug auf Nichtvertragsstaaten die Hände gebunden.

Des Weiteren ist zu beachten, dass der Gerichtshof nur ergänzend zur nationalen Gerichtsbarkeit tätig wird – wenn diese nicht willens oder in der Lage ist, in der Sache selbst angemessen zu handeln (Art. 17, Grundsatz der Komplementarität). Anders als die ad-hoc-Tribunale der UN hat der IStGH damit keine vorrangige Zuständigkeit. Die Entscheidung, ob ein Staat „willens oder in der Lage“ zur eigenständigen Strafverfolgung ist, liegt jedoch beim Gericht selbst (sog. »Kompetenz-Kompetenz«).

In Bezug auf die Befugnisse des Chefanklägers ist in der Endfassung des Statuts klar die Handschrift der »gleichgesinnten« Staaten erkennbar. Gemäß Art. 13 lit. c) i.V.m. Art 15 ist er berechtigt, aus eigenem Antrieb (proprio motu) Ermittlungen einzuleiten, wenn dies durch eine aus drei Richtern bestehende Vorverfahrenskammer genehmigt wird (Art. 15 Abs. 3, 4). Diese Variante ist allerdings in der Praxis noch nicht angewendet worden. Genutzt wurde dagegen bereits in drei Situationen, nämlich Uganda, Zentralafrikanische Republik und Demokratische Republik Kongo, die »Staatenüberweisung« gemäß (Art. 13 lit. a) i.V.m. Art. 14), eine Art »Strafanzeige« durch einen Staat. Interessanterweise handelte es sich in den konkreten Fällen jeweils nicht um »Anzeigen« im üblichen Sinne, sondern um »Selbstanzeigen«. Die Situationen spielten sich auf dem Territorium des jeweiligen Staates ab und die mutmaßlichen Verbrechen wurden vornehmlich durch eigene Staatsangehörige begangen. Dies ist nur auf den ersten Blick überraschend: in allen diesen Ländern herrschte bzw. herrscht Bürgerkrieg. Hier zeigt sich eine Gefahr bezüglich der Glaubwürdigkeit des IStGH: sollen Staaten in der Lage sein, sich durch eine Selbstanzeige mit Hilfe des IStGH ihrer innenpolitischen Probleme zu entledigen? Der Chefankläger hat hierzu erklärt, sich durch die Unterbreitungen der jeweiligen Staaten nicht binden zu lassen, sondern die Situation als Ganzes ohne Rücksicht auf (Kriegs-) Parteizugehörigkeit der jeweils Verdächtigen zu ermitteln.13

Von den Vereinten Nationen ist der IStGH im Grundsatz unabhängig (Abs. 9 der Präambel des Statuts). Das Verhältnis zwischen beiden Organisationen wird gemäß Art. 2 durch ein besonderes Abkommen geregelt.

Allerdings haben sich die gerichtshofrestriktiven Staaten in einem wichtigen Aspekt durchsetzen können: gemäß Art. 16 kann der Sicherheitsrat durch eine Resolution nach Kapitel VII der UN-Charta jede Ermittlung und Strafverfolgung des IStGH und seines Anklägers für 12 Monate aufschieben und diesen Aufschub gegebenenfalls verlängern. Diese Vorschrift ist bereits wiederholt praktisch relevant geworden: auf Druck insbesondere der USA wurde zuletzt im Jahre 2003 eine entsprechende Resolution verabschiedet, die ein gerichtliches Einschreiten gegen Teilnehmer an von der UN autorisierten Militäroperationen verbot. Zu einer Verlängerung kam es nach 2004 allerdings nicht, da die USA im Sicherheitsrat diesbezüglich keine Mehrheit mehr fanden.

Des Weiteren kann der UN-Sicherheitsrat die Zusammenarbeit von Staaten mit dem IStGH erzwingen (Art. 87 Abs. 5, 7), wenn er selbst die Situation dem Gerichtshof unterbreitet hat. Der IStGH verfügt über keinen polizeilichen oder gar militärischen Apparat und ist daher auf die Kooperationsbereitschaft seiner Mitgliedsstaaten angewiesen. Gegenüber Nichtmitgliedsstaaten muss er auf die Hilfe des UN-Sicherheitsrates zurückgreifen – mit allen Problemen, die dieses politische Gremium mit sich bringt.

Der IStGH heute – eine Zwischenbilanz

Das Rom-Statut ist am 01.07.2002 in Kraft getreten. Ihm sind bis Ende Februar 2007 104 Staaten beigetreten. Situationen aus vier Ländern werden ermittelt; eine Hauptverhandlung wird in Kürze beginnen; in der Situation Uganda sind fünf Haftbefehle erlassen worden.14

Andererseits haben einige gewichtige Staaten – etwa die USA, Russland, China und Indien – das Rom-Statut bisher nicht ratifiziert. Eine strafbewehrte Definition der Aggression ist nach wie vor nicht gefunden. Mit Thomas Lubanga Dyilo wurde lediglich ein Angeklagter mittleren Ranges vor Gericht gestellt – mutmaßlich »große Fische« tragen zum Teil Regierungsverantwortung und sind kaum greifbar (Ex-Vizepräsident Bemba etwa, nunmehr Senator, wird mit Verbrechen gegen die Menschlichkeit in der Zentralafrikanischen Republik Verbindung gebracht).15 Ähnliches gilt für die beiden am 27.02.2007 durch den Chefankläger benannten Verdächtigen für die Situation in Darfur: es ist zu befürchten, dass China Aktionen des Sicherheitsrates, um ihre Überstellung nach Den Haag zu erzwingen, blockieren wird.

Es ist schwierig zu beurteilen, ob eine Strafverfolgung völkerrechtlicher Verbrechen effektiv zu einer globalen Friedensordnung beitragen kann. Die geschichtlichen Beispiele sind begrenzt und nur bedingt aussagekräftig. Sie beziehen sich zum einen lediglich auf bestimmte Konflikte, zum anderen saß zumindest nach dem Zweiten Weltkrieg nur die Seite der Kriegsverlierer auf der Anklagebank.

Jedoch stimmt gerade die deutsche Entwicklung hoffnungsvoll. Zunächst stand Deutschland den Kriegsverbrecherprozessen nach dem Zweiten Weltkrieg gleichgültig bis ablehnend gegenüber. Diese Haltung hat sich jedoch grundlegend geändert, und es ist nicht übertrieben zu sagen, dass Deutschland heute zu den stärksten Verfechtern einer internationalen Strafgerichtsbarkeit zählt.16 Eindrucksvoll ist in diesem Zusammenhang auch die Rolle der Zivilgesellschaft. Traditionell diente das (repressive) Strafrecht in erster Linie dem Machterhalt der jeweils Herrschenden. Hiergegen wandte sich die aufgeklärte Zivilgesellschaft in zunehmendem Maße – das Strafrecht sollte durch Prävention möglichst überflüssig gemacht werden. Nunmehr wird eine scheinbar gegenläufige Entwicklung erkennbar: die Zivilgesellschaft fordert die Kontrolle der Mächtigen durch Strafrecht.

Wie eine funktionsfähige Staatsordnung ohne Strafrecht wahrscheinlich nicht möglich ist, ist eine friedliche Weltordnung ohne strafrechtliche Sanktionsmechanismen für schwerste Völkerrechtsverbrechen wohl nicht erreichbar. Es wird dauern, bis alle Staaten ihr teilweise antiquiertes Bild von Staatssouveränität aufgeben und ihr Handeln einer internationalen Kontrolle unterwerfen.17 Jedoch hätte noch vor 20 Jahren kaum jemand damit gerechnet, dass sich die Vision eines internationalen Strafgerichts überhaupt in absehbarer Zeit verwirklichen lassen würde. Man darf daher, wenn nicht optimistisch, so doch zuversichtlich sein. Mit den Worten des ehemaligen UN-Generalsekretärs Kofi Annan: „No doubt, many of us would have liked a Court vested with even more far-reaching powers […] The establishment of the Court is still […] a giant step forward in the march towards universal human rights and the rule of law.“18

Anmerkungen

1) Es wurden lediglich sechs Personen verurteilt, deren Strafen ausnahmslos nicht vollständig vollstreckt wurden. Vgl. zu den Prozessen Hankel: Die Leipziger Prozesse (2003), und Wiggenhorn: Verliererjustiz (2005).

2) Allerdings wurden bis heute auf nationaler Ebene noch tausende weiterer Prozesse geführt.

3) Gerügt wurde und wird hier unter anderem ein Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot. Vgl. zu diesem und anderen Problemen Jung: Die Rechtsprobleme der Nürnberger Prozesse (1992).

4) Siehe zu aktuellen Verfahren http://www.un.org/icty/.

5) S/Res/808 (1993), 22.02.1993. Resolutionen des UN-Sicherheitsrats sind im Internet abrufbar unter: http://www.un.org/Docs/sc/unsc_resolutions.html.

6) Siehe zu aktuellen Verfahren http://www.ictr.org.

7) Das Statut in seiner Endfassung kann in englischer Sprache unter http://www.un.org/law/icc/statute/english/rome_statute(e).pdf eingesehen werden; die amtliche deutsche Übersetzung ist verfügbar unter http://www.auswaertiges-amt.de/diplo/de/Aussenpolitik/Voelkerrecht/IStGH/Materialien/RoemischesStatut.pdf.

8) Unter ihnen insbesondere Argentinien, Deutschland und Kanada.

9) Allen voran die USA, China und Indien, aber bis zu einem gewissen Grade auch Frankreich.

10) Artikel sind solche des Rom-Statuts.

11) Zu beachten ist, dass ein Staat gemäß Art. 124 erklären kann, für die ersten sieben Jahre nach seinem Beitritt die Jurisdiktion des IStGH für Kriegsverbrechen nicht anzuerkennen (sog. opt-out-Verfahren). Von dieser Möglichkeit hat unter anderem Frankreich Gebrauch gemacht.

12) Seit 2003 ist dies der Argentinier Luis Moreno Ocampo.

13) Vgl. zur Praxis der »Selbstanzeigen« Kreß: ‚Self-Referrals’ and ‚Waivers of Complementarity’ – Some Considerations in Law and Policy, JICJ 2 (2004), 944 ff.

14) Der aktuelle Stand der einzelnen Situationen und Verfahren sowie die zugehörigen Dokumente sind abrufbar unter http://www.icc-cpi.int/cases.html; zur Situation in der Demokratischen Republik Kongo siehe Hartmann: Internationaler Strafgerichtshof und Vereinte Nationen in der Demokratischen Republik Kongo, ZStW 2006, 799 ff.

15) Vgl. z.B. Bundeszentrale für politische Bildung, http://www.bpb.de/themen/Z0ZQBA,2,0,Wer_steht_zur_Wahl.html#art2.

16) Vgl. zur Entwicklung in Deutschland Creß: Versailles – Nürnberg – Den Haag: Deutschland und das Völkerstrafrecht, JZ 2006, 981 ff.

17) Vgl. zu den amerikanischen Bedenken gegen den IStGH etwa Wedgwood: The International Criminal Court: An American View, EJIL 10 (1999), 93 f; dagegen z. B. Ferencz: Misguided Fears About the International Criminal Court, Pace International Law Review, Spring 2003, auch verfügbar unter http://www.benferencz.org/arts/69.html.

18) Aus der Rede von Kofi Annan vom 18.07.1998 zum Abschluss der Bevollmächtigtenkonferenz in Rom. Der gesamte Redetext kann abgerufen werden unter http://www.un.org/icc/index.htm.

Lars Büngener ist Doktorand am MPI für Europäische Rechtsgeschichte in Frankfurt/M. sowie wissenschaftlicher Mitarbeiter am Forschungs- und Dokumentationszentrum Kriegsverbrecherprozesse in Marburg. Von November 2004 bis Juli 2005 war er als Law Clerk in der Trial Division des Internationalen Strafgerichtshofs tätig.

Wer wollte sagen, er habe es nicht wissen können?

Dieser Artikel befindet sich noch in Korrektur

Die Militarisierungsprogrammatik im EU-Verfassungsvertrag

Wer wollte sagen, er habe es nicht wissen können?

von Albert Fuchs

Herausgegeben in Zusammenarbeit mit der Informationsstelle Wissenschaft und Frieden (IWIF e.V.)
Texte und Kommentare zusammengestellt von Albert Fuchs

Die Militarisierungsprogrammatik im EU-Verfassungsvertrag

Vorbemerkung:

1. Gemäß Beschluss des Europäischen Rats von Laeken im Dezember 2001 hat der sog. Konvent zur Zukunft Europas zum EU-Gipfel in Thessaloniki im Juni 2003 einen Entwurf für einen »Vertrag über eine Verfassung für Europa« (EU-VerfV) vorgelegt und ihn am 18. Juli der italienischen Ratspräsidentschaft überreicht.* Dieser Entwurf ist in vier Teile gegliedert. Teil 1 definiert Ziele, Zuständigkeiten, Organe und Entscheidungsverfahren; Teil 2 enthält die »Charta der Grundrechtre der Union«; in Teil 3 geht es um die Politikbereiche und die Arbeitsweise; Teil 4 beinhaltet »Allgemeine und Schlussbestimmungen«, darunter zum Verfahren zur Änderung des Vertrags. Schließlich sind verschiedene Anhänge angefügt, denen ebenfalls Verfassungsrang zugedacht ist. Auf dem Gipfel in Brüssel im Dezember 2003 sollte über den EU-VerfV entschieden werden. Nachdem seinerzeit eine Verabschiedung i.W. an Fragen der Stimmengewichtung bei Beschlüssen mit »qualifizierter Mehrheit« gescheitert war, erreichte man auf der Regierungskonferenz am 17./18. Juni d.J. eine Einigung. Abgesehen von der Regelung der Abstimmungsmodalitäten wurde der Konventsentwurf redaktionell überarbeitet, aber auch inhaltlich verändert, nicht zuletzt im militärpolitischen Bereich. So ist i.B. ein »Protokoll über die ständige strukturierte Zusammenarbeit« hinzugekommen.* In der vom Sekretariat der Regierungskonferenz im Internet veröffentlichten »vorläufigen konsolidierten Fassung« vom 06.08.04 wurde der Text schließlich neu durchnummeriert.* Der Vertrag soll am 29. Oktober d.J. von den Staats- und Regierungschefs der 25 EU-Staaten in einer feierlichen Zeremonie in Rom unterzeichnet werden.

2. Bereits in den Vertrag von Maastricht von 1992 wurde das Ziel einer gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik aufgenommen. Durch Übernahme der »Petersberg-Aufgaben« der WEU in den Vertrag von Amsterdam von 1997 wurde dieses Ziel differenziert und präzisiert. Zwar existier(t)en innerhalb der EU erhebliche Differenzen bezüglich der zukünftigen sicherheitspolitischen Rolle der Union, dem grundsätzlichen Konsens der Staats- und Regierungschefs über die Stärkung der militärischen Macht Europas aber war das kaum abträglich. Der französisch- britische Gipfel vom Dezember 1998 in St. Malo machte den Weg frei für einen kaum noch verdeckten Militarisierungskurs. In der Abschlusserklärung dieses Treffens wurde verkündet, die Union müsse in der Lage sein, „ihre Rolle in der internationalen Arena voll und ganz wahrzunehmen“; dazu benötige sie „eine autonome Handlungskapazität, unterstützt von glaubwürdigen Streitkräften mit den Mitteln und der Bereitschaft sie zu nutzen«, um internationalen Krisen zu begegnen (zit. nach Wehr, 2004, S. 84). Mit der Ratstagung in Köln im Juni 1999 wurde diese Entwicklung durch den Beschluss, entsprechende ständige Strukturen zu schaffen, um einen entscheidenden Schritt weitergetrieben (u.a. Einrichtung eines politischen und sicherheitspolitischen Komitees, eines Militärausschusses und eines Militärstabs, Ernennung des früheren NATO-Generalsekretärs Javier Solana zum »Hohen Vertreter für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik«). Zugleich wurde ausdrücklich festgehalten, dass damit das NATO-Bündnis nicht beeinträchtigt werden solle; die NATO solle im Gegenteil ihre Mittel und Fähigkeiten der Union für deren Aktionen zur Verfügung stellen. Bereits ein halbes Jahr später, auf der Ratstagung von Helsinki im Dezember 1999, wurden die politischen Vorgaben von Köln in konkrete Ziele umgesetzt (u.a. Verpflichtung der Mitgliedstaaten, bis 2003 eine rasch verlegbare und mindestens ein Jahr durchhaltefähige »Schnelle Eingreiftruppe« in der Stärke von 15 Brigaden (rd. 60.000 Mann/Frau) aufzubauen. Eine Regelung der Zusammenarbeit mit der NATO kam nach langen Verhandlungen auf der Kopenhagener Ratstagung im Dezember 2002 zustande. Die Krönung dieses Militarisierungskurses würde seine endgültige Verankerung im Verfassungsvertrag darstellen.

3. Der EU-VerfV erfordert allerdings eine Ratifizierung durch alle Mitgliedstaaten. Für den Ratifizierungsprozess werden zwei Jahre veranschlagt; dann will man weitersehen. Damit haben FriedensaktivistInnen, -initiativen und -bewegungen auf absehbare Zeit eine letzte Chance, sich mit der militärpolitischen Seite des europäischen Integrationsprozesses kompetent und zielführend auseinander zusetzen. Die vorliegende Handreichung soll der Unterstützung einer solchen Auseinandersetzung dienen. Die einschlägigen Bestimmungen sind kaum überschaubar über alle Teile des Vertrags verstreut. Die Dramatik der militärpolitischen (Neu-) Orientierung der Union wird aber erst deutlich, wenn man versucht, diese Bestimmungen systematisch zusammenzustellen. Im Folgenden geschieht das unter den Rubriken: Integration durch Militarisierung – Mit allen militärmachtpolitischen Mitteln – Wohin soll marschiert werden? – Wer bläst den Marsch? und Wo stehen die »Noten«? Innerhalb dieser Rubriken bzw. geeigneter Unterrubriken werden die einschlägigen Artikel in ihrer Abfolge im EU-VerfV wiedergegeben – vielfach bis auf Satzniveau auseinander genommen und unter Inkaufnahme von gelegentlichen Wiederholungen zur Verdeutlichung des sachlogischen Zusammenhangs. Dabei wird die v.g. »Vorläufige konsolidierte Fassung« zugrunde gelegt.

4. Die Textwiedergabe (erste Spalte) wird im Folgenden strikt von der Kurzkommentierung (zweite Spalte) getrennt – um die Bestimmungen zunächst sich selbst »erklären« zu lassen und den Leserinnen und Lesern eine unabhängige Meinungsbildung zu erleichtern. Die Zwischenüberschriften stammen vom Bearbeiter; ebenso die in [ ] eingefügten Erläuterungen. Diese Erläuterungen basieren auf dem Kontext der jeweiligen Passage oder der entsprechenden Formulierung im Konventsentwurf. Für die Kommentierung wurden die im Literaturverzeichnis angegebenen Beiträge ausgewertet. Die »Regeln der Kunst« des Zitierens werden bei der Wiedergabe vernachlässigt, da es sich primär um eine Dienstleistung handelt.

5. Bei Einbezug des gesamten Vertragstextes mögen sich einige Akzente verschieben; i.B. dürfte im Lichte der finanz- und wirtschaftspolitischen Bestimmungen das instrumentalistische Verhältnis der (meisten) Konventsmitglieder und Staats- und Regierungschefs zum Militär- im Sinnes seines Verständnisses als Instrument einer »Politik mit anderen Mitteln« – deutlicher hervortreten. Anders gesagt: Die Militarisierung der Union würde vermutlich als letzte Konsequenz einer durchgehenden Orientierung am »Recht des Stärkeren« zu erkennen sein. Der Gesamteindruck eines gigantischen Militarisierungsprogramms würde dadurch also vermutlich eher bestärkt. Durch Einbezug der vom Europäischen Rat bereits im Dezember 2003 verabschiedeten »Europäischen Sicherheitsstrategie« sowie der im Juni d.J. gebilligten »Headline Goal 2010« würde zudem deutlicher, dass die militärpolitischen Konzeptionen des Verfassungsvertrags die außen- und sicherheitspolitische Praxis der Union mehr und mehr konkret bestimmen.* Hier kann jedoch nur darauf hingewiesen werden, dass die einschlägigen Artikel des Vertrags auch in diesen Kontexten gelesen werden sollten.

Auszüge aus dem EU-Verfassungsvertrag Bemerkungen / Fragen

Integration durch Militarisierung

Ziele und Zuständigkeiten der Union

  • Präambel: …IN DER ÜBERZEUGUNG, dass ein nach schmerzlichen Erfahrungen nunmehr geeintes Europa auf dem Weg der Zivilisation, des Fortschritts und des Wohlstands zum Wohl all seiner Bewohner auch der Schwächsten und der Ärmsten, weiter voranschreiten will, dass es ein Kontinent bleiben will, der offen ist für Kultur, Wissen und sozialen Fortschritt, dass es Demokratie und Transparenz als Grundlage seines öffentlichen Lebens stärken und auf Frieden, Gerechtigkeit und Solidarität in der Welt hinwirken will,
  • Art. I-3 (1): Ziel der Union ist es, den Frieden, ihre Werte und das Wohlergehen ihrer Völker zu fördern.
  • Art. I-3 (4): In ihren Beziehungen zur übrigen Welt schützt und fördert die Union ihre Werte und Interessen. Sie leistet einen Beitrag zu Frieden, Sicherheit, globaler nachhaltiger Entwicklung, Solidarität und gegenseitiger Achtung unter den Völkern, freiem und gerechtem Handel, Beseitigung der Armut und zum Schutz der Menschenrechte, insbesondere der Rechte des Kindes, sowie zur strikten Einhaltung und Weiterentwicklung des Völkerrechts, insbesondere zur Wahrung der Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen.
  • Art. I-3 (5): Die Union verfolgt ihre Ziele mit geeigneten Mitteln entsprechend den Zuständigkeiten, die ihr in der Verfassung übertragen sind.
  • Art. I-12 (4): Die Union ist dafür zuständig, eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik einschließlich der schrittweisen Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik zu erarbeiten und zu verwirklichen.
  • Art. I-16 (1): Die Zuständigkeit der Union in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik erstreckt sich auf alle Bereiche der Außenpolitik sowie auf sämtliche Fragen im Zusammenhang mit der Sicherheit der Union, einschließlich der schrittweisen Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik, die zu einer gemeinsamen Verteidigung führen kann.
  • Art. I-40 (1): Die Europäische Union verfolgt eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, die auf einer Entwicklung der gegenseitigen politischen Solidarität der Mitgliedstaaten, der Ermittlung der Fragen von allgemeiner Bedeutung und der Erreichung einer immer stärkeren Konvergenz des Handelns der Mitgliedstaaten beruht.
  • Art. I-41 (1): Die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist integraler Bestandteil der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Sie sichert der Union eine auf zivile und militärische Mittel gestützte Fähigkeit zu Operationen. Auf diese kann die Union bei Missionen außerhalb der Union zur Friedenssicherung, Konfliktverhütung und Stärkung der internationalen Sicherheit in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen zurückgreifen. Sie erfüllt diese Aufgaben mit Hilfe der Fähigkeiten, die von den Mitgliedstaaten bereitgestellt werden.
  • Art. I-41 (2): Die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik umfasst die schrittweise Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik der Union. Diese führt zu einer gemeinsamen Verteidigung, sobald der Europäische Rat dies einstimmig beschlossen hat. Er empfiehlt in diesem Fall den Mitgliedstaaten, einen Beschluss in diesem Sinne im Einklang mit ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften zu erlassen. Die Politik der Union nach diesem Artikel berührt nicht den besonderen Charakter der Sicherheits- und Verteidigungspolitik bestimmter Mitgliedstaaten; sie achtet die Verpflichtungen bestimmter Mitgliedstaaten, die ihre gemeinsame Verteidigung in der Nordatlantikvertrags-Organisation verwirklicht sehen, aufgrund des Nordatlantikvertrags und ist vereinbar mit der in jenem Rahmen festgelegten gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik.
  • Art. I-43 (1): Die Union und ihre Mitgliedstaaten handeln gemeinsam im Geiste der Solidarität, wenn ein Mitgliedstaat von einem Terroranschlag, einer Naturkatastrophe oder einer vom Menschen verursachten Katastrophe betroffen ist. Die Union mobilisiert alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel, einschließlich der ihr von den Mitgliedstaaten bereitgestellten militärischen Mittel, um a) terroristische Bedrohungen im Hoheitsgebiet von Mitgliedstaaten abzuwenden – die demokratischen Institutionen und die Zivilbevölkerung vor etwaigen Terroranschlägen zu schützen – im Falle eines Terroranschlags einen Mitgliedstaat auf Ersuchen seiner politischen Organe innerhalb seines Hoheitsgebiets zu unterstützen; b) im Falle einer Naturkatastrophe oder einer vom Menschen verursachten Katastrophe einen Mitgliedstaat auf Ersuchen seiner politischen Organe innerhalb seines Hoheitsgebiets zu unterstützen
  • Art. I-60 (2, S. 1, 2 u. 4): Ein Mitgliedstaat, der auszutreten beschließt, teilt dem Europäischen Rat seine Absicht mit. Auf der Grundlage der Leitlinien des Europäischen Rates handelt die Union mit diesem Staat ein Abkommen über die Einzelheiten des Austritts aus und schließt es ab, wobei der Rahmen für die künftigen Beziehungen dieses Staates zur Union berücksichtigt wird… Es wird vom Rat [„Auswärtige Angelegenheiten« oder Europäischer Rat?] im Namen der Union geschlossen; der Rat beschließt mit qualifizierter Mehrheit nach Zustimmung des Europäischen Parlaments.
  • Art. I-60 (4): Für die Zwecke der Absätze 2 und 3 [betr. die Geltung des Verfassungsvertrags für den fraglichen Mitgliedstaat in diesem Zusammenhang] nimmt das Mitglied des Europäischen Rates und des Rates, das den austretenden Mitgliedstaat vertritt, weder an den diesen Mitgliedstaat betreffenden Beratungen noch an der diesbezüglichen Beschlussfassung des Europäischen Rates oder des Rates teil. Als qualifizierte Mehrheit gilt eine Mehrheit von mindestens 72 % derjenigen Mitglieder des Rates, die die beteiligten Mitgliedstaaten vertreten, sofern die betreffenden Mitgliedstaaten zusammen mindestens 65 % der Bevölkerung der beteiligten Mitgliedstaaten ausmachen.
  • Art. III-294 (1): Die Union erarbeitet und verwirklicht im Rahmen der Grundsätze und Ziele ihres auswärtigen Handelns eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, die sich auf alle Bereiche der Außen- und Sicherheitspolitik erstreckt.
  • Art. III-294 (3): Die Union verfolgt ihre Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, indem sie a) die allgemeinen Leitlinien bestimmt, b) Europäische Beschlüsse erlässt zur Festlegung i) der von der Union durchzuführenden Aktionen, ii) der von der Union einzunehmenden Standpunkte, iii) der Einzelheiten der Durchführung der unter den Ziffern i und ii genannten Europäischen Beschlüsse, c) und die systematische Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten bei der Führung ihrer Politik ausbaut.
  • Hehre und unstrittige friedenspolitische Zielvorstellungen werden im Verfassungsvertrag im Gegensatz zu den militärpolitischen Zielsetzungen nicht annähernd vergleichbar in konkrete Verpflichtungen »übersetzt«.
  • Die Bestimmungen zur Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) bzw. zur Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) sind ein zentrales Element, wenn nicht der Kern des vorliegenden Verfassungsvertrags.
  • Außenpolitische und militärpolitische Aspekte erscheinen nach Wortlaut und Kontext der einschlägigen Klauseln nahezu deckungsgleich – entsprechend einer Erklärung J. Fischers im Deutschen Bundestag (am 11.10.01), dass Friedenspolitik in der einen Welt des 21. Jahrhunderts, anders als zu Zeiten des Kalten Krieges, internationale Ordnungspolitik bedeute und das Militärische sehr stark im Vordergrund stehe. Jedenfalls wird die EU sozusagen konstitutionell als Militärunion verankert.
  • Nach den Vorstellungen des EU-Konvents bzw. der Staats- und Regierungschefs soll die gemeinsame Militärpolitik sowohl Ausdruck wie Instrument der Integration der EU-Staaten werden. Diesbezüglich höchst aufschlussreich ist eine Passage aus einer Regierungserklärung G. Schröders vor dem Hintergrund des Kosovo-Kriegs (am 19.04.1999): „Mit seiner Intervention auf dem Balkan hat das atlantische Europa eine neue Seite in der Weltgeschichte aufgeschlagen… Das ist ein Gründungsakt, und wie stets geschieht ein solcher Akt nicht im Jubel, sondern im Schmerz..“
  • Die WEU, die nach dem EU-Vertrag noch „integraler Bestandteil der Entwicklung der Union“ sein soll (Art. 17), findet demgegenüber im Verfassungsvertrag keine Erwähnung – offensichtlich sieht man dafür aufgrund der Aufwertung der militärpolitischen Komponente im Verfassungsvertrag keinen Bedarf.
  • Es wird nicht näher ausgeführt, wie i.B. die GSVP in die Grenzen der Friedenssicherungsmechanismen der UN einzufügen sein soll. (s.u.)
  • Noch weniger ist eine konstruktive »weltinnenpolitische Perspektive« erkennbar; »Sicherheit“ und die „Interessen der Union“ stellen den (alleinigen) Orientierungshorizont dar. (s.u.)
  • Dabei werden die »Interessen der Union“ ohne Spezifikation und ohne Angabe, wer sie wie feststellt, als »harte Währung« unterstellt.
  • Gegenüber den vermutlich divergierenden Interessen der beteiligten einzelstaatlichen Akteure soll dieser Orientierungshorizont anscheinend im Wege der EU-internen Vormachtbildung zur Geltung kommen. (s.u.)
  • Trotz wiederholter Erwähnung »ziviler Mittel“ bleiben gewaltfreie Mittel und Formen der Konfliktbearbeitung im gesamten Entwurf praktisch ausgeblendet – wiederum im Gegensatz zu den militärischen, die voraussetzungslos als Option der GSVP – keineswegs nur als »letztes Mittel« – aufgeführt und differenziert geregelt werden.
  • Der Entwurf lässt kaum erkennen, ob und wie der neutrale / blockfreie Status von Mitgliedstaaten adäquat berücksichtigt werden soll.
  • Während ein Austritt aus der EU bisher eine souveräne Entscheidung der Mitgliedstaaten ist, wäre er nach Art. 60 (2) nur mehr mit Zustimmung von Europäischem Parlament und Ministerrat bzw. Europäischem Rat möglich. (Nach dem Konventsentwurf ist der Ministerrat die entscheidende Instanz, nach der »vorläufigen konsolidierten Fassung« dagegen anscheinend der Europäische Rat.)

Militärpolitische »Vorreiter«

  • Art. I-41 (6): Die Mitgliedstaaten, die anspruchsvollere Kriterien in Bezug auf die militärischen Fähigkeiten erfüllen und die im Hinblick auf Missionen mit höchsten Anforderungen untereinander festere Verpflichtungen eingegangen sind, begründen eine ständige Strukturierte Zusammenarbeit im Rahmen der Union. Diese Zusammenarbeit erfolgt nach Maßgabe von Artikel III-312. Sie berührt nicht die Bestimmungen des Artikels III-309.
  • Art. I-44 (1): Die Mitgliedstaaten, die untereinander eine Verstärkte Zusammenarbeit im Rahmen der nicht ausschließlichen Zuständigkeiten der Union begründen wollen, können in den Grenzen und nach Maßgabe dieses Artikels und der Artikel III-416 bis III-423 die Organe der Union in Anspruch nehmen und diese Zuständigkeiten unter Anwendung der einschlägigen Verfassungsbestimmungen ausüben. Eine Verstärkte Zusammenarbeit ist darauf ausgerichtet, die Verwirklichung der Ziele der Union zu fördern, ihre Interessen zu schützen und ihren Integrationsprozess zu stärken. Sie steht allen Mitgliedstaaten nach Artikel III-418 jederzeit offen.
  • Art. I-44 (2): Der Europäische Beschluss über die Ermächtigung zu einer Verstärkten Zusammenarbeit wird vom Rat [„Auswärtige Angelegenheiten“] als letztes Mittel erlassen, wenn dieser feststellt, dass die mit dieser Zusammenarbeit angestrebten Ziele von der Union in ihrer Gesamtheit nicht innerhalb eines vertretbaren Zeitraums verwirklicht werden können, und sofern an der Zusammenarbeit mindestens ein Drittel der Mitgliedstaaten beteiligt ist. Der Rat beschließt nach dem in Artikel III-419 vorgesehenen Verfahren.
  • Art. I-44 (3): Alle Mitglieder des Rates können an dessen Beratungen teilnehmen, aber nur die Mitglieder des Rates [„Auswärtige Angelegenheiten“], welche die an der Verstärkten Zusammenarbeit beteiligten Mitgliedstaaten vertreten, nehmen an der Abstimmung teil. Die Einstimmigkeit bezieht sich allein auf die Stimmen der Vertreter der an der Verstärkten Zusammenarbeit beteiligten Mitgliedstaaten. Als qualifizierte Mehrheit gilt eine Mehrheit von mindestens 55 % derjenigen Mitglieder des Rates, die die beteiligten Mitgliedstaaten vertreten, sofern die betreffenden Mitgliedstaaten zusammen mindestens 65 % der Bevölkerung der beteiligten Mitgliedstaaten ausmachen. Für eine Sperrminorität ist mindestens die Mindestzahl der Mitglieder des Rates, die zusammen mehr als 35 % der Bevölkerung der beteiligten Mitgliedstaaten vertreten, zuzüglich eines Mitglieds erforderlich; andernfalls gilt die qualifizierte Mehrheit als erreicht. Beschließt der Rat nicht auf Vorschlag der Kommission oder des Außenministers der Union, so gilt abweichend von den Unterabsätzen 3 und 4 als die erforderliche qualifizierte Mehrheit eine Mehrheit von mindestens 72 % derjenigen Mitglieder des Rates, die die beteiligten Mitgliedstaaten vertreten, sofern die betreffenden Mitgliedstaaten mindestens 65 % der Bevölkerung der beteiligten Mitgliedstaaten ausmachen.
  • Art. I-44 (4): An die im Rahmen einer Verstärkten Zusammenarbeit erlassenen Rechtsakte sind nur die an dieser Zusammenarbeit beteiligten Mitgliedstaaten gebunden. Sie gelten nicht als Besitzstand, der von beitrittswilligen Staaten angenommen werden muss.
  • Art. III-312 (1): Die Mitgliedstaaten, die sich an der ständigen Strukturierten Zusammenarbeit im Sinne des Artikels I-41 Absatz 6 beteiligen möchten und hinsichtlich der militärischen Fähigkeiten die Kriterien erfüllen und die Verpflichtungen eingehen, die in dem Protokoll über die ständige Strukturierte Zusammenarbeit enthalten sind, teilen dem Rat und dem Außenminister der Union ihre Absicht mit.
  • Art. III-312 (2): Der Rat erlässt binnen drei Monaten nach der in Absatz 1 genannten Mitteilung einen Europäischen Beschluss über die Begründung der ständigen Strukturierten Zusammenarbeit und über die Liste der daran teilnehmenden Mitgliedstaaten. Der Rat beschließt nach Anhörung des Außenministers der Union mit qualifizierter Mehrheit.
  • Art. III-312 (3): Jeder Mitgliedstaat, der sich zu einem späteren Zeitpunkt an der ständigen Strukturierten Zusammenarbeit zu beteiligen wünscht, teilt dem Rat und dem Außenminister der Union seine Absicht mit. Der Rat erlässt einen Europäischen Beschluss, in dem die Teilnahme des betreffenden Mitgliedstaats, der die Kriterien und Verpflichtungen nach den Artikeln 1 und 2 des Protokolls über die ständige Strukturierte Zusammenarbeit erfüllt beziehungsweise eingeht, bestätigt wird. Der Rat beschließt mit qualifizierter Mehrheit nach Anhörung des Außenministers der Union. Nur die Mitglieder des Rates, welche die teilnehmenden Mitgliedstaaten vertreten, beteiligen sich an der Abstimmung. Als qualifizierte Mehrheit gilt eine Mehrheit von mindestens 55 % derjenigen Mitglieder des Rates, die die beteiligten Mitgliedstaaten vertreten, sofern die betreffenden Mitgliedstaaten zusammen mindestens 65 % der Bevölkerung der beteiligten Mitgliedstaaten ausmachen. Für eine Sperrminorität ist mindestens die Mindestzahl der Mitglieder des Rates, die zusammen mehr als 35 % der Bevölkerung der beteiligten Mitgliedstaaten vertreten, zuzüglich eines Mitglieds, erforderlich; andernfalls gilt die qualifizierte Mehrheit als erreicht.
  • Art. III-312 (4): Erfüllt ein teilnehmender Mitgliedstaat die Kriterien nach den Artikeln 1 und 2 des Protokolls über die ständige Strukturierte Zusammenarbeit nicht mehr oder kann er den darin genannten Verpflichtungen nicht mehr nachkommen, so kann der Rat einen Europäischen Beschluss erlassen, durch den die Teilnahme dieses Staates ausgesetzt wird. Der Rat beschließt mit qualifizierter Mehrheit. Nur die Mitglieder des Rates, welche die teilnehmenden Mitgliedstaaten mit Ausnahme des betroffenen Mitgliedstaats vertreten, beteiligen sich an der Abstimmung. Als qualifizierte Mehrheit gilt eine Mehrheit von mindestens 55 % derjenigen Mitglieder des Rates, die die beteiligten Mitgliedstaaten vertreten, sofern die betreffenden Mitgliedstaaten zusammen mindestens 65 % der Bevölkerung der beteiligten Mitgliedstaaten ausmachen. Für eine Sperrminorität ist mindestens die Mindestzahl der Mitglieder des Rates, die zusammen mehr als 35 % der Bevölkerung der beteiligten Mitgliedstaaten vertreten, zuzüglich eines Mitglieds, erforderlich; andernfalls gilt die qualifizierte Mehrheit als erreicht.
  • Art. III-312 (5): Wünscht ein teilnehmender Mitgliedstaat, von der ständigen Strukturierten Zusammenarbeit Abstand zu nehmen, so teilt er seine Entscheidung dem Rat mit, der zur Kenntnis nimmt, dass die Teilnahme des betreffenden Mitgliedstaats beendet ist.
  • Art. III-312 (6): Mit Ausnahme der Beschlüsse nach den Absätzen 2 bis 5 erlässt der Rat die Europäischen Beschlüsse und Empfehlungen im Rahmen der ständigen Strukturierten Zusammenarbeit einstimmig. Für die Zwecke dieses Absatzes bezieht sich die Einstimmigkeit allein auf die Stimmen der Vertreter der an der Zusammenarbeit teilnehmenden Mitgliedstaaten.
  • Art. III-419 (2): Der Antrag der Mitgliedstaaten, die untereinander im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik eine Verstärkte Zusammenarbeit begründen möchten, wird an den Rat gerichtet. Der Antrag wird dem Außenminister der Union, der zur Kohärenz der beabsichtigten Verstärkten Zusammenarbeit mit der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der Union Stellung nimmt, sowie der Kommission übermittelt, die insbesondere zur Kohärenz der beabsichtigten Verstärkten Zusammenarbeit mit der Politik der Union in anderen Bereichen Stellung nimmt. Der Antrag wird ferner dem Europäischen Parlament zur Unterrichtung übermittelt. Die Ermächtigung zur Einleitung einer Verstärkten Zusammenarbeit wird mit einem Europäischen Beschluss des Rates erteilt, der einstimmig beschließt.
  • Art. III-420 (2): Jeder Mitgliedstaat, der an einer bestehenden Verstärkten Zusammenarbeit im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik teilnehmen möchte, teilt dem Rat, dem Außenminister der Union und der Kommission seine Absicht mit. Der Rat bestätigt die Teilnahme des betreffenden Mitgliedstaats nach Anhörung des Außenministers der Union und gegebenenfalls nach der Feststellung, dass die Teilnahmevoraussetzungen erfüllt sind. Der Rat kann auf Vorschlag des Außenministers der Union ferner die notwendigen Übergangsmaßnahmen zur Anwendung der im Rahmen der Verstärkten Zusammenarbeit bereits erlassenen Rechtsakte treffen. Ist der Rat jedoch der Auffassung, dass die Teilnahmevoraussetzungen nicht erfüllt sind, gibt er an, welche Schritte zur Erfüllung dieser Voraussetzungen notwendig sind, und legt eine Frist für die erneute Prüfung des Antrags auf Teilnahme fest. Für die Zwecke dieses Absatzes beschließt der Rat einstimmig nach Artikel I-44 Absatz 3.
  • Im militärpolitischen Kontext kommt die »Kerneuropa«-Idee, wie sie u.a. J. Fischer in seiner Rede an der Humboldt-Universität (2000) skizziert hat, voll zur Geltung. Damit wird eine Hierarchisierung und Zentralisierung der EU parallel zur Erweiterung betrieben: Das militärpolitische „Avantgarde-Europa“ (Fischer) wird die Führung übernehmen.
  • Im Hintergrund mag u.a. die Überlegung stehen, im Einzelfall unabhängig sowohl von neutralen Mitgliedstaaten agieren zu können als auch unabhängig von Mitgliedstaaten, die sich aufgrund ihrer Loyalität gegenüber den USA gemeinsamem Handeln verweigern könnten.
  • Es ist allerdings nicht recht klar, ob die Ausdrücke „Engere Zusammenarbeit«, »Verstärkte Zusammenarbeit“ und „Strukturierte Zusammenarbeit“ dasselbe bedeuten oder worin ggf. die Unterschiede bestehen.
  • Da nach Art. I-44 (2) „Der Europäische Beschluss über die Ermächtigung zur Einleitung einer Verstärkten Zusammenarbeit… vom Rat als letztes Mittel erlassen“ wird und nach Art. I-44 (3) „nur die Mitglieder des Rates, welche die an der Verstärkten Zusammenarbeit beteiligten Mitgliedstaaten vertreten, …an der Abstimmung teil«-nehmen sollen, muss es eine der formellen Zusammenarbeit vorausgehende Phase der informellen Zusammenarbeit geben, in der sich u.a. dieser »Kernministerrat«, der über die formelle Zusammenarbeit befinden soll, zusammenfindet; andernfalls wäre Art. I-44 (3, S. 1) schlicht zirkulär: Für die kritische Abstimmung wäre die Verstärkte Zusammenarbeit einerseits Voraussetzung, andererseits sollte sie dadurch begründet werden.
  • Wie eine solche engere Zusammenarbeit außerhalb der europäischen Gremien in der Praxis aussehen könnte, dafür haben Belgien, Deutschland, Frankreich und Luxemburg mit dem militärpolitischen »Pralinengipfel« im April 2003 in Brüssel ein Beispiel geliefert.
  • Wie auch immer: Die Machteliten der großen Nationalstaaten können auf diese Weise sicherstellen, dass sich ihre Interessen – definiert als »Interessen der Union“ – möglichst reibungsarm durchsetzen. Der »Kern« diktiert i.B. auch die Bedingungen, unter denen sich die restlichen Mitgliedstaaten am weiteren Ausbau der EU-Militärmacht beteiligen können.
  • Man muss davon ausgehen, dass die „ständige Strukturierte Zusammenarbeit im Rahmen der Union« (SSZ) zum eigentlichen Machtzentrum der EU werden wird. Interessanterweise wird u.a. mit dem – einleitend angesprochenen – »Protokoll über die ständige strukturierte Zusammenarbeit« deren Herausbildung betrieben, obwohl der Verfassungsvertrag noch nicht ratifiziert ist. Offensichtlich will man Fakten schaffen für den Fall, dass der Verfassungsvertrag den Ratifizierungsprozess nicht überstehen sollte.
  • So verpflichtet das fragliche Protokoll jeden an der SSZ teilnehmenden Mitgliedstaat recht konkret, ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des EU-VerfV u.a.
  • „…seine Verteidigungsfähigkeit durch Ausbau seiner nationalen Beiträge und gegebenenfalls durch Beteiligung an multinationalen Streitkräften, an den wichtigsten europäischen Ausrüstungsprogrammen und an der Tätigkeit der Agentur für die Bereiche Entwicklung der Verteidigungstätigkeiten, Forschung, Beschaffung und Rüstung (Europäische Verteidigungsagentur) intensiver zu entwickeln und
  • spätestens 2007 über die Fähigkeit zu verfügen, entweder als nationales Kontingent oder als Teil von multinationalen Truppenverbänden bewaffnete Einheiten bereitzustellen, die auf die in Aussicht -genommenen Missionen ausgerichtet sind, taktisch als Gefechtsverband konzipiert sind, über Unterstützung unter anderem für Transport und Logistik verfügen und fähig sind, innerhalb von 5 bis 30 Tagen Missionen nach Artikel III-309 aufzunehmen… und diese Missionen für eine Dauer von zunächst 30 Tagen, die bis auf 120 Tage ausgedehnt werden kann, aufrechtzuerhalten.“ (Art. 1 Protokoll über die SSZ).*

Pflichten der Mitgliedstaaten

  • Art. I-5 (2): Nach dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit achten und unterstützen sich die Union und die Mitgliedstaaten gegenseitig bei der Erfüllung der Aufgaben, die sich aus der Verfassung ergeben. Die Mitgliedstaaten ergreifen alle geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zur Erfüllung der Verpflichtungen, die sich aus der Verfassung oder den Handlungen der Organe der Union ergeben. Die Mitgliedstaaten unterstützen die Union bei der Erfüllung ihrer Aufgabe und unterlassen alle Maßnahmen, welche die Verwirklichung der Ziele der Union gefährden könnten.
  • Art. I-6: Die Verfassung und das von den Organen der Union in Ausübung der der Union übertragenen Zuständigkeiten gesetzte Recht haben Vorrang vor dem Recht der Mitgliedstaaten.
  • Art. I-16 (2): Die Mitgliedstaaten unterstützen die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der Union aktiv und vorbehaltlos im Geiste der Loyalität und der gegenseitigen Solidarität und achten das Handeln der Union in diesem Bereich. Sie enthalten sich jeder Handlung, die den Interessen der Union zuwiderläuft oder ihrer Wirksamkeit schaden könnte.
  • Art. I-40 (5): Die Mitgliedstaaten stimmen sich im Europäischen Rat und im Rat [Auswärtige Angelegenheiten] zu jeder außen- und sicherheitspolitischen Frage von allgemeiner Bedeutung ab, um ein gemeinsames Vorgehen festzulegen. Bevor ein Mitgliedstaat in einer Weise, die die Interessen der Union berühren könnte, auf internationaler Ebene tätig wird oder eine Verpflichtung eingeht, konsultiert er die anderen Mitgliedstaaten im Europäischen Rat oder im Rat. Die Mitgliedstaaten gewährleisten durch konvergentes Handeln, dass die Union ihre Interessen und ihre Werte auf internationaler Ebene geltend machen kann. Die Mitgliedstaaten sind untereinander solidarisch.
  • Art. I-41 (3, S. 1 bis 3): Die Mitgliedstaaten stellen der Union für die Umsetzung der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik zivile und militärische Fähigkeiten als Beitrag zur Verwirklichung der vom Rat [„Auswärtige Angelegenheiten“] festgelegten Ziele zur Verfügung. Die Mitgliedstaaten, die untereinander multinationale Streitkräfte bilden, können diese auch für die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik zur Verfügung stellen. Die Mitgliedstaaten verpflichten sich, ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern.
  • Art. I-41 (7): Im Falle eines bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats müssen die anderen Mitgliedstaaten nach Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung leisten. Dies lässt den besonderen Charakter der Sicherheits- und Verteidigungspolitik bestimmter Mitgliedstaaten unberührt. Die Verpflichtungen und die Zusammenarbeit in diesem Bereich bleiben im Einklang mit den im Rahmen der Nordatlantikvertrags-Organisation eingegangenen Verpflichtungen, die für die ihr angehörenden Staaten weiterhin das Fundament ihrer kollektiven Verteidigung und die Instanz für deren Verwirklichung ist.
  • Art. III-294 (2, S. 1 u. 2): Die Mitgliedstaaten unterstützen die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik aktiv und vorbehaltlos im Geiste der Loyalität und der gegenseitigen Solidarität. Die Mitgliedstaaten arbeiten zusammen, um ihre gegenseitige politische Solidarität zu stärken und weiterzuentwickeln. Sie enthalten sich jeder Handlung, die den Interessen der Union zuwiderläuft oder ihrer Wirksamkeit als kohärente Kraft in den internationalen Beziehungen schaden könnte…
  • Art. III-297 (2): Die Europäischen Beschlüsse nach Absatz 1 [des Ministerrats »Auswärtige Angelegenheiten« über ein operatives Vorgehen der Union] sind für die Mitgliedstaaten bei ihren Stellungnahmen und ihrem Vorgehen bindend.
  • Art. III-298 (S. 2): … Die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, dass ihre einzelstaatliche Politik mit den Standpunkten der Union in Einklang steht.
  • Art. III-305 (1, S. 1, 2 u. 4): Die Mitgliedstaaten koordinieren ihr Handeln in internationalen Organisationen und auf internationalen Konferenzen. Sie treten dort für die Standpunkte der Union ein… In den internationalen Organisationen und auf internationalen Konferenzen, bei denen nicht alle Mitgliedstaaten vertreten sind, setzen sich die dort vertretenen Mitgliedstaaten für die Standpunkte der Union ein.
  • Art. III-305 (2): Nach Artikel I-16 Absatz 2 halten die Mitgliedstaaten, die in internationalen Organisationen oder auf internationalen Konferenzen vertreten sind, die dort nicht vertretenen Mitgliedstaaten und den Außenminister der Union über alle Fragen von gemeinsamem Interesse auf dem Laufenden. Die Mitgliedstaaten, die auch Mitglieder des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen sind, stimmen sich ab und halten die übrigen Mitgliedstaaten sowie den Außenminister der Union in vollem Umfang auf dem Laufenden. Die Mitgliedstaaten, die Mitglieder des Sicherheitsrats sind, setzen sich bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben unbeschadet ihrer Verantwortung aufgrund der Charta der Vereinten Nationen für die Standpunkte und Interessen der Union ein. Wenn die Union einen Standpunkt zu einem Thema festgelegt hat, das auf der Tagesordnung des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen steht, beantragen die dort vertretenen Mitgliedstaaten, dass der Außenminister der Union aufgefordert wird, den Standpunkt der Union vorzutragen.
  • Art. III-329 (1): Wird ein Mitgliedstaat von einem Terroranschlag betroffen oder wird ein Mitgliedstaat Opfer einer Naturkatastrophe oder einer vom Menschen verursachten Katastrophe, so leisten die anderen Mitgliedstaaten ihm auf Ersuchen seiner politischen Organe Unterstützung. Zu diesem Zweck sprechen die Mitgliedstaaten sich im Rat ab.
  • Art. III-436 (1): Die Verfassung steht folgenden Bestimmungen nicht entgegen: a) Ein Mitgliedstaat ist nicht verpflichtet, Auskünfte zu erteilen, deren Preisgabe seines Erachtens seinen wesentlichen Sicherheitsinteressen widerspricht; b) jeder Mitgliedstaat kann die Maßnahmen ergreifen, die seines Erachtens für die Wahrung seiner wesentlichen Sicherheitsinteressen erforderlich sind, soweit sie die Herstellung von Waffen, Munition und Kriegsmaterial oder den Handel damit betreffen; diese Maßnahmen dürfen auf dem Binnenmarkt die Wettbewerbsbedingungen hinsichtlich der nicht eigens für militärische Zwecke bestimmten Waren nicht beeinträchtigen.
  • Trotz der Exklusivität des »Kerns« sollen alle Mitgliedstaaten »aktiv und vorbehaltlos im Geiste der Loyalität und der gegenseitigen Solidarität“ (Art. I-16 (2)) ihren »Beitrag zur Verwirklichung der vom Rat festgelegten Ziele“ (Art. I-41 (3)) leisten.
  • Rüstungspolitik gehört realpolitisch zum »normalen Geschäft« der meisten Staaten; die Dreistigkeit und reaktionäre Energie, Aufrüstungspolitik in Verfassungsrang zu erheben – und damit maximal gegenüber politischen Veränderungen abzuschotten -, haben in der bisherigen bürgerlich-demokratischen Verfassungsgeschichte nur die Mitglieder des EU-Konvents bzw. die EU-Staats- und Regierungschefs aufgebracht.
  • Während der Konventsentwurf eine Art Beistandsgarantie bzw. Beistandspflicht nur für die an der »strukturierten Zusammenarbeit“ beteiligten Mitgliedstaaten kannte, soll diese Garantie/Pflicht jetzt nach Art. I-41 (7, S. 1) anscheinend für alle Mitgliedstaaten der Union gelten. (In dem unmittelbar vorausgehenden Art. I-41 (6) ist allerdings von der »strukturierten Zusammenarbeit“ die Rede (s.o.), so dass Art. I-41 (7, S. 1) sich weiterhin nur auf die daran beteiligten Mitgliedstaaten beziehen könnte.)
  • Die fragliche Beistandsverpflichtung ist jedenfalls strenger als die des erklärten Militärbündnisses NATO, das es einem Mitgliedstaat ausdrücklich anheim stellt, im Falle eines bewaffnete Angriffs die Maßnahmen zu ergreifen, die er „für erforderlich erachtet, …“ (Art. 5 NATO-Vertrag).
  • Die salvatorischen Klauseln in Art. I-41 (7, S. 2 u. 3) und Art. III-436 (1) scheinen demgegenüber vor allem Beschwichtigungsformeln an die Adresse einzelner (kleinerer? neutraler?) Mitgliedstaaten bzw. an die Adresse der USA als Führungsmacht der NATO darzustellen.

Mit allen militärmachtpolitischen Mitteln

Aufrüstung im Verfassungsrang

  • Art. I-41 (3, S. 4): Es wird eine Agentur für die Bereiche Entwicklung der Verteidigungsfähigkeiten, Forschung, Beschaffung und Rüstung (Europäische Verteidigungsagentur) eingerichtet, deren Aufgabe es ist, den operativen Bedarf zu ermitteln und Maßnahmen zur Bedarfsdeckung zu fördern, zur Ermittlung von Maßnahmen zur Stärkung der industriellen und technologischen Grundlage des Verteidigungssektors beizutragen und diese Maßnahmen gegebenenfalls durchzuführen, sich an der Festlegung einer europäischen Politik im Bereich der Fähigkeiten und der Rüstung zu beteiligen sowie den Rat [„Auswärtige Angelegenheiten“] bei der Beurteilung der Verbesserung der militärischen Fähigkeiten zu unterstützen.
  • Art. III-311 (1): Aufgabe der nach Artikel I-41 Absatz 3 errichteten, dem Rat unterstellten Agentur für die Bereiche Entwicklung der Verteidigungsfähigkeiten, Forschung, Beschaffung und Rüstung (Europäische Verteidigungsagentur) ist es, a) bei der Ermittlung der Ziele im Bereich der militärischen Fähigkeiten der Mitgliedstaaten und der Bewertung der Erfüllung der von den Mitgliedstaaten in Bezug auf diese Fähigkeiten eingegangenen Verpflichtungen mitzuwirken; b) auf eine Harmonisierung des operativen Bedarfs sowie die Festlegung effizienter und kompatibler Beschaffungsverfahren hinzuwirken. c) multilaterale Projekte vorzuschlagen, durch die die Ziele im Bereich der militärischen Fähigkeiten erfüllt werden, und für die Koordinierung der von den Mitgliedstaaten durchgeführten Programme sowie die Verwaltung spezifischer Kooperationsprogramme zu sorgen; d) die Forschung auf dem Gebiet der Verteidigungstechnologie zu unterstützen, gemeinsame Forschungsaktivitäten sowie Studien zu technischen Lösungen, die dem künftigen operativen Bedarf gerecht werden, zu koordinieren und zu planen; e) dazu beizutragen, dass zweckdienliche Maßnahmen zur Stärkung der industriellen und technologischen Basis des Verteidigungssektors und für einen gezielteren Einsatz der Verteidigungsausgaben ermittelt werden, und diese Maßnahmen gegebenenfalls durchzuführen.
  • Art. III-311 (2): Alle Mitgliedstaaten können auf Wunsch an der Arbeit der Europäischen Verteidigungsagentur teilnehmen. Der Rat erlässt mit qualifizierter Mehrheit einen Europäischen Beschluss, in dem die Rechtsstellung, der Sitz und die Funktionsweise der Agentur festgelegt werden. Dieser Beschluss trägt dem Umfang der effektiven Beteiligung an den Tätigkeiten der Agentur Rechnung. Innerhalb der Agentur werden spezielle Gruppen gebildet, in denen Mitgliedstaaten zusammenkommen, die gemeinsame Projekte durchführen. Die Agentur versieht ihre Aufgaben erforderlichenfalls in Verbindung mit der Kommission.
  • Zur Realisierung der vg. Aufrüstungsverpflichtung soll – ebenfalls im Verfassungsrang – ein institutionelles Antriebs- und Kontrollsystem geschaffen werden: eine »Europäische Verteidigungsagentur«.
  • Aufschlussreich ist die Umbenennung dieser Institution, die im Konventsentwurf noch in aller Offenheit als „Europäisches Amt für Rüstung, Forschung und militärische Fähigkeiten“ eingeführt worden war. Vor dem Hintergrund der breiten Kritik an diesem Amt setzt man jetzt offensichtlich in der uralten Tradition von Herrschaftssprache auf die psychopolitische Wirkung von »Neusprech«. Konkret wird versucht, positive Konnotationen des Verteidigungsbegriffs zur Akzeptanzsicherung auszunutzen.
  • Insbesondere an dieser Stelle des Verfassungsvertrags tritt die enge Verzahnung von machtpolitischen und rüstungswirtschaftlichen Interessen offen zutage. Bereits in der Schlusserklärung des Kölner Gipfels von 1999 brachten die Staats- und Regierungschefs die Überzeugung zum Ausdruck, dass entschiedene „Bemühungen zur Stärkung der industriellen und technologischen Verteidigungsfähigkeit erforderlich“ seien, die „wettbewerbsfähig und dynamisch sein“ müsse, und verkündeten ihre Entschlossenheit, „…die Umstrukturierung der europäischen Verteidigungsindustrien in den betroffenen Staaten zu fördern“ und »…zusammen mit der Industrie auf eine engere und effizientere Zusammenarbeit der Rüstungsunternehmen hin(zu)arbeiten.“ Der EU-Gipfel in Thessaloniki im Juni 2003 erklärte diese Ziele – erhöht um den Anspruch, „der EU die Führerschaft bei strategischen Technologien für die zukünftigen Verteidigungs- und Sicherheitsfähigkeiten zu geben“ und ergänzt um die Bestimmung, „einen wettbewerbsfähigen europäischen Markt für Rüstungsgüter zu schaffen« – ausdrücklich zur Aufgabe der avisierten Agentur.
  • Der Europäischen Rüstungsagentur wird vielfach mit dem Argument der Kostenersparnis durch Zusammenlegung von Beschaffungsprogrammen das Wort geredet. Eine eventuelle Kostenreduzierung dürfte aber dadurch mehr als aufgehoben werden, dass diese europäische Behörde einen konzentrierten und permanenten Druck zur Erhöhung der Militärhaushalte ausüben wird.

Nuklear-Streitkräfte eingeschlossen

  • PROTOKOLL ZUR ÄNDERUNG DES EURATOM-VERTRAGS DIE HOHEN VERTRAGSPARTEIEN UNTER HINWEIS DARAUF, dass die Bestimmungen des Vertrags zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft weiterhin volle rechtliche Wirkung entfalten müssen, IN DEM WUNSCH, diesen Vertrag an die neuen im Vertrag über eine Verfassung für Europa festgelegten Vorschriften, insbesondere in den Bereichen Organe und Finanzen, anzupassen, HABEN die folgenden Bestimmungen ERLASSEN, die dem Vertrag über eine Verfassung für Europa beigefügt sind und durch die der Vertrag zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft wie folgt geändert wird: …
  • Wichtige politische und militärische EU-Repräsentanten haben seit Beginn der 1990er Jahre die Weichen in Richtung einer gesamteuropäischen Nuklearmacht gestellt – Deutschland i.B. eingeschlossen. Bei der Verlängerung des Atomwaffensperrvertrags 1995 machte die BRD bereits wesentliche Einschränkungen bzgl. der Bindung an den Vertrag, falls es europäische Atomstreitkräfte geben sollte.
  • Durch Integration der EURATOM-Vertrags in die Verfassung können diese militärischen Ambitionen weiter hinter der zivilen (»friedlichen«) Nutzung der Atomenergie versteckt werden.

Finanzierung

  • Art. III-313 (1): Die Verwaltungsausgaben, die den Organen aus der Durchführung dieses Kapitels [Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik] entstehen, gehen zulasten des Haushalts der Union.
  • Art. III-313 (2): Die operativen Ausgaben im Zusammenhang mit der Durchführung dieses Kapitels gehen ebenfalls zulasten des Haushalts der Union, mit Ausnahme der Ausgaben aufgrund von Maßnahmen mit militärischen oder verteidigungspolitischen Bezügen und von Fällen, in denen der Rat etwas anderes beschließt. In Fällen, in denen die Ausgaben nicht zulasten des Haushalts der Union gehen, gehen sie nach dem Bruttosozialprodukt-Schlüssel zulasten der Mitgliedstaaten, sofern der Rat [„Auswärtige Angelegenheiten“] nicht etwas anderes beschließt. Die Mitgliedstaaten, deren Vertreter im Rat eine förmliche Erklärung nach Artikel III-300 Absatz 1 Unterabsatz 2 abgegeben haben, sind nicht verpflichtet, zur Finanzierung von Ausgaben für Maßnahmen mit militärischen oder verteidigungspolitischen Bezügen beizutragen.
  • Art. III-313 (3, S. 1 u. 3): Der Rat erlässt einen Europäischen Beschluss zur Festlegung besonderer Verfahren, um den schnellen Zugriff auf die Haushaltsmittel der Union zu gewährleisten, die für die Sofortfinanzierung von Initiativen im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, insbesondere von Tätigkeiten zur Vorbereitung einer Mission nach Artikel I-41 Absatz 1 und Artikel III-309 bestimmt sind… Die Tätigkeiten zur Vorbereitung der in Artikel I-41 Absatz 1 und in Artikel III-309 genannten Missionen, die nicht zulasten des Haushalts der Union gehen, werden aus einem aus Beiträgen der Mitgliedstaaten gebildeten Anschubfonds finanziert…
  • Durch die Finanzbestimmungen des Art. III-313 soll augenscheinlich »interventionssicher« für die finanzielle Absicherung des ganzen Militarisierungsprogramms wie konkreter Militäraktionen gesorgt werden.
  • Während es beim Stabilitätspakt der Wirtschafts- und Währungsunion um eine Begrenzung der Verschuldung der Mitgliedstaaten geht – nicht zuletzt durch Reduzierung der Ausgaben für soziale Leistungen -, sollen die Staatsausgaben im militärischen und verteidigungspolitischen Bereich auf bestehendem Niveau gehalten bzw. erhöht werden – mit dem kleinen Unterschied, dass diese Gelder der europäischen Rüstungsindustrie zugute kommen.

Wohin soll marschiert werden?

Interventionen weltweit

  • Art. III-309 (1): Die in Artikel I-41 Absatz 1 vorgesehenen Missionen, bei deren Durchführung die Union auf zivile und militärische Mittel zurückgreifen kann, umfassen gemeinsame Abrüstungsmaßnahmen, humanitäre Aufgaben und Rettungseinsätze, Aufgaben der militärischen Beratung und Unterstützung, Aufgaben der Konfliktverhütung und der Erhaltung des Friedens sowie Kampfeinsätze im Rahmen der Krisenbewältigung einschließlich Frieden schaffender Maßnahmen und Operationen zur Stabilisierung der Lage nach Konflikten. Mit allen diesen Missionen kann zur Bekämpfung des Terrorismus beigetragen werden, unter anderem auch durch die Unterstützung für Drittländer bei der Bekämpfung des Terrorismus in ihrem Hoheitsgebiet.
  • Die Bereitschaft zu exterritorialen Militäreinsätzen wird zur verfassungsmäßigen Pflicht erhoben. Für diese Militäreinsätze soll es offensichtlich keinerlei geographische Begrenzung geben, Drittländer eingeschlossen.
  • Ziel und Zweck der »gemeinsame Abrüstungsmaßnahmen“ umfassenden „Missionen“ scheint einzig die Durchsetzung der Abrüstung anderer Akteure zu sein.
  • Nach welchen Kriterien »Krisen« durch Kampfeinsätze »bewältigt« werden sollen, bleibt im Dunkeln.
  • Die »Unterstützung für Drittländer“ unter dem Vorwand der »Bekämpfung des Terrorismus“ ermöglicht weltweite Aufstandsbekämpfung – wobei »Freiheitskämpfer« und »Terroristen« wie eh und je nach der Interessenlage differenziert werden.
  • Art. III-309 (1) i.V.m. Art. I-41 (1) steht augenscheinlich in einem fundamentalen Gegensatz zum Friedensgebot des Bonner Grundgesetzes und zu der grundgesetzlichen Beschränkung des Militärs auf Aufgaben der Verteidigung im strengen Sinn (Art. 26 und Art. 87a GG).

Einsätze im Innern

  • Art. I-41 (5): Der Rat [„Auswärtige Angelegenheiten“] kann zur Wahrung der Werte der Union und im Dienste ihrer Interessen eine Gruppe von Mitgliedstaaten mit der Durchführung einer Mission im Rahmen der Union beauftragen. Die Durchführung einer solchen Mission fällt unter Artikel III-310
  • Art. I-43 (1): Die Union und ihre Mitgliedstaaten handeln gemeinsam im Geiste der Solidarität, wenn ein Mitgliedstaat von einem Terroranschlag, einer Naturkatastrophe oder einer vom Menschen verursachten Katastrophe betroffen ist. Die Union mobilisiert alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel, einschließlich der ihr von den Mitgliedstaaten bereitgestellten militärischen Mittel, um a) terroristische Bedrohungen im Hoheitsgebiet von Mitgliedstaaten abzuwenden – die demokratischen Institutionen und die Zivilbevölkerung vor etwaigen Terroranschlägen zu schützen – im Falle eines Terroranschlags einen Mitgliedstaat auf Ersuchen seiner politischen Organe innerhalb seines Hoheitsgebiets zu unterstützen; b) im Falle einer Naturkatastrophe oder einer vom Menschen verursachten Katastrophe einen Mitgliedstaat auf Ersuchen seiner politischen Organe innerhalb seines Hoheitsgebiets zu unterstützen.
  • Minderheitenproblemen multi-ethnischer europäischer Staaten sollen künftig anscheinend (auch) mit militärischer Gewalt »geregelt« werden können; eine Vermengung von militärischem und polizeilichem Handeln ist damit vorprogrammiert.
  • Alle politischen Bewegungen, die die allerhöchsten »Werte der Union und… ihre Interessen“ in Frage stellen, erhalten einen deutlichen Wink mit dem Militärknüppel.

Wer bläst den Marsch?

Europäischer Rat und Ministerrat

  • Art. I-22 (2, S. 2): Der Präsident des Europäischen Rates nimmt in seiner Eigenschaft auf seiner Ebene, unbeschadet der Befugnisse des Außenministers der Union, die Außenvertretung der Union in Angelegenheiten der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik wahr.
  • Art. 24 (3): Als Rat »Auswärtige Angelegenheiten« gestaltet er [der Ministerrat] das auswärtige Handeln der Union entsprechend den strategischen Vorgaben des Europäischen Rates und sorgt für die Kohärenz des Handelns der Union.
  • Art. I-40 (2): Der Europäische Rat bestimmt die strategischen Interessen der Union und legt die Ziele ihrer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik fest. Der Rat [„Auswärtige Angelegenheiten“] gestaltet diese Politik im Rahmen er vom Europäischen Rat festgelegten strategischen Leitlinien in Übereinstimmung mit Teil III.
  • Art. I-40 (3): Der Europäische Rat und der Rat [„Auswärtige Angelegenheiten“] erlassen die erforderlichen Europäischen Beschlüsse.
  • Art. I-40 (5): Die Mitgliedstaaten stimmen sich im Europäischen Rat und im Rat [„Auswärtige Angelegenheiten“] zu jeder außen- und sicherheitspolitischen Frage von allgemeiner Bedeutung ab, um ein gemeinsames Vorgehen festzulegen. Bevor ein Mitgliedstaat in einer Weise, die die Interessen der Union berühren könnte, auf internationaler Ebene tätig wird oder eine Verpflichtung eingeht, konsultiert er die anderen Mitgliedstaaten im Europäischen Rat oder im Rat. Die Mitgliedstaaten gewährleisten durch konvergentes Handeln, dass die Union ihre Interessen und ihre Werte auf internationaler Ebene geltend machen kann. Die Mitgliedstaaten sind untereinander solidarisch.
  • Art. I-40 (6): Im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik erlassen der Europäische Rat und der Rat [„Auswärtige Angelegenheiten“] außer in den in Teil III genannten Fällen Europäische Beschlüsse einstimmig. Sie beschließen auf Initiative eines Mitgliedstaates, auf Vorschlag des Außenministers der Union oder auf Vorschlag des Außenministers mit Unterstützung der Kommission. Europäische Gesetze und Rahmengesetze sind ausgeschlossen.
  • Art. I-40 (7): Der Europäische Rat kann einstimmig einen Europäischen Beschluss erlassen, wonach der Rat [„Auswärtige Angelegenheiten“] in anderen als den in Teil III genannten Fällen mit qualifizierter Mehrheit beschließt.
  • Art. I-41 (4, S. 1): Europäische Beschlüsse zur Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, einschließlich der Beschlüsse über die Einleitung einer Mission nach diesem Artikel, werden vom Rat [„Auswärtige Angelegenheiten“] einstimmig auf Vorschlag des Außenministers der Union oder auf Initiative eines Mitgliedstaats erlassen.
  • Art. III-293 (1): Auf der Grundlage der in Artikel III-292 aufgeführten Grundsätze und Ziele legt der Europäische Rat die strategischen Interessen und Ziele der Union fest. Die Europäischen Beschlüsse des Europäischen Rates über die strategischen Interessen und Ziele der Union erstrecken sich auf die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik sowie auf andere Bereiche des auswärtigen Handelns der Union. Sie können die Beziehungen der Union zu einem Land oder einer Region betreffen oder aber ein bestimmtes Thema zum Gegenstand haben. Sie legen ihre Geltungsdauer und die von der Union und den Mitgliedstaaten bereitzustellenden Mittel fest. Der Europäische Rat beschließt einstimmig auf Empfehlung des Rates, die dieser nach den für den jeweiligen Bereich vorgesehenen Regelungen abgibt. Die Europäischen Beschlüsse des Europäischen Rates werden nach Maßgabe der in der Verfassung vorgesehenen Verfahren durchgeführt.
  • Art. III-294 (2, S. 3): Der Rat und der Außenminister der Union tragen für die Einhaltung dieser Grundsätze [der Zusammenarbeit bei der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik] Sorge.
  • Art. III-295 (1): Der Europäische Rat bestimmt die allgemeinen Leitlinien der Gemeinsamen Außen und Sicherheitspolitik, und zwar auch bei Fragen mit verteidigungspolitischen Bezügen. Wenn eine internationale Entwicklung es erfordert, beruft der Präsident des Europäischen Rates eine außerordentliche Tagung des Europäischen Rates ein, um die strategischen Vorgaben für die Politik der Union angesichts dieser Entwicklung festzulegen.
  • Art. III-295 (2): Der Rat [„Auswärtige Angelegenheiten“] erlässt die für die Festlegung und Durchführung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik erforderlichen Europäischen Beschlüsse auf der Grundlage der vom Europäischen Rat festgelegten allgemeinen Leitlinien und strategischen Vorgaben.
  • Art. III-296 (3, S. 3): … Die Organisation und die Arbeitsweise des Europäischen Auswärtigen Dienstes werden durch einen Europäischen Beschluss des Rates festgelegt. Der Rat beschließt auf Vorschlag des Außenministers der Union nach Anhörung des Europäischen Parlaments und nach Zustimmung der Kommission.
  • Art. III-297 (1): Verlangt eine internationale Situation ein operatives Vorgehen der Union, so erlässt der Rat [„Auswärtige Angelegenheiten“] die erforderlichen Europäischen Beschlüsse. In diesen Beschlüssen werden die Ziele, der Umfang, die der Union zur Verfügung zu stellenden Mittel sowie die Bedingungen und erforderlichenfalls der Zeitraum für die Durchführung der Aktion festgelegt. Tritt eine Änderung der Umstände mit erheblichen Auswirkungen auf eine Frage ein, die Gegenstand eines solchen Europäischen Beschlusses ist, so überprüft der Rat die Grundsätze und Ziele dieses Beschlusses und erlässt die erforderlichen Europäischen Beschlüsse.
  • Art. III-297 (2): Die Europäischen Beschlüsse nach Absatz 1 sind für die Mitgliedstaaten bei ihren Stellungnahmen und ihrem Vorgehen bindend.
  • Art. III-297 (3): Jede einzelstaatliche Stellungnahme oder Maßnahme, die im Rahmen eines Europäischen Beschlusses nach Absatz 1 geplant ist, wird von dem betreffenden Mitgliedstaat so rechtzeitig mitgeteilt, dass erforderlichenfalls eine vorherige Abstimmung im Rat stattfinden kann. Die Pflicht zur vorherigen Unterrichtung gilt nicht für Maßnahmen, die eine bloße Umsetzung dieses Beschlusses auf einzelstaatlicher Ebene darstellen.
  • Art. III-297 (4): Bei zwingender Notwendigkeit aufgrund der Entwicklung der Lage und falls die in Absatz 1 vorgesehene Überprüfung des Europäischen Beschlusses nicht stattfindet, können die Mitgliedstaaten unter Berücksichtigung der allgemeinen Ziele dieses Beschlusses die erforderlichen Sofortmaßnahmen ergreifen. Der Mitgliedstaat, der solche Maßnahmen ergreift, unterrichtet den Rat unverzüglich davon.
  • Art. III-297 (5): Ergeben sich bei der Durchführung eines Europäischen Beschlusses im Sinne dieses Artikels größere Schwierigkeiten, so befasst ein Mitgliedstaat den Rat, der darüber berät und nach angemessenen Lösungen sucht. Diese dürfen nicht im Widerspruch zu den Zielen der Aktion stehen oder ihrer Wirksamkeit schaden.
  • Art. III-298 S. 1): Der Rat [„Auswärtige Angelegenheiten“] erlässt Europäische Beschlüsse, in denen der Standpunkt der Union zu einer bestimmten Frage geographischer oder thematischer Art bestimmt wird…
  • Art. III-300 (1): Europäische Beschlüsse nach diesem Kapitel werden vom Rat [„Auswärtige Angelegenheiten“] einstimmig erlassen. Bei einer Stimmenthaltung kann jedes Mitglied des Rates zu seiner Enthaltung eine förmliche Erklärung abgeben. In diesem Fall ist es nicht verpflichtet, den Europäischen Beschluss durchzuführen, akzeptiert jedoch, dass dieser für die Union bindend ist. Im Geiste gegenseitiger Solidarität unterlässt der betreffende Mitgliedstaat alles, was dem auf diesem Beschluss beruhenden Vorgehen der Union zuwiderlaufen oder es behindern könnte, und die anderen Mitgliedstaaten respektieren seinen Standpunkt. Vertreten die Mitglieder des Rates, die bei ihrer Stimmenthaltung eine solche Erklärung abgeben, mindestens ein Drittel der Mitgliedstaaten, die mindestens ein Drittel der Unionsbevölkerung ausmachen, so wird der Beschluss nicht erlassen.
  • Art. III-300 (2): Abweichend von Absatz 1 beschließt der Rat mit qualifizierter Mehrheit, wenn er a) auf der Grundlage eines Europäischen Beschlusses des Europäischen Rates über die strategischen Interessen und Ziele der Union nach Artikel III-293 Absatz 1 Europäische Beschlüsse erlässt, mit denen eine Aktion oder ein Standpunkt der Union festgelegt wird; b) auf einen Vorschlag hin, den ihm der Außenminister der Union auf spezielles Ersuchen des Europäischen Rates unterbreitet hat, das auf dessen eigene Initiative oder auf eine Initiative des Außenministers zurückgeht, einen Europäischen Beschluss erlässt, mit dem eine Aktion oder ein Standpunkt der Union festgelegt wird; c) einen Europäischen Beschluss zur Durchführung eines Europäischen Beschlusses erlässt, mit dem eine Aktion oder ein Standpunkt der Union festgelegt wird; d) nach Artikel III-302 einen Europäischen Beschluss zur Ernennung eines Sonderbeauftragten erlässt. Erklärt ein Mitglied des Rates, dass es aus wesentlichen, von ihm darzulegenden Gründen der nationalen Politik die Absicht hat, eine Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit über einen Europäischen Beschluss abzulehnen, so erfolgt keine Abstimmung. Der Außenminister der Union bemüht sich in engem Benehmen mit dem betroffenen Mitgliedstaat um eine für diesen Mitgliedstaat annehmbare Lösung. Gelingt dies nicht, so kann der Rat mit qualifizierter Mehrheit veranlassen, dass die Frage im Hinblick auf einen einstimmigen Europäischen Beschluss an den Europäischen Rat verwiesen wird.
  • Art. III-300 (3): Nach Artikel I-40 Absatz 7 kann der Europäische Rat einstimmig einen Europäischen Beschluss erlassen, in dem vorgesehen ist, dass der Rat [„Auswärtige Angelegenheiten“] in anderen als den in Absatz 2 genannten Fällen mit qualifizierter Mehrheit beschließt.
  • Art. III-300 (4): Absätze 2 und 3 gelten nicht für Beschlüsse mit militärischen oder verteidigungspolitischen Bezügen.
  • Art. III-309 (2, S. 1): Der Rat [„Auswärtige Angelegenheiten“] erlässt die Europäischen Beschlüsse über Missionen im Sinne des Absatzes 1; in den Beschlüssen sind Ziel und Umfang der Missionen sowie die für sie geltenden allgemeinen Durchführungsbestimmungen festgelegt…
  • Art. III-310 (1): Im Rahmen der nach Artikel III-309 erlassenen Europäischen Beschlüsse kann der Rat die Durchführung einer Mission einer Gruppe von Mitgliedstaaten übertragen, die dies wünschen und über die für eine derartige Mission erforderlichen Fähigkeiten verfügen. Die betreffenden Mitgliedstaaten vereinbaren im Benehmen mit dem Außenminister der Union untereinander die Ausführung der Mission.
  • Art. III-310 (2): Die an der Durchführung der Mission teilnehmenden Mitgliedstaaten unterrichten den Rat von sich aus oder auf Antrag eines anderen Mitgliedstaats regelmäßig über den Stand der Mission. Die teilnehmenden Mitgliedstaaten befassen den Rat sofort, wenn sich aus der Durchführung der Mission schwerwiegende Konsequenzen ergeben oder das Ziel der Mission, ihr Umfang oder die für sie geltenden Regelungen, wie sie in den in Absatz 1 genannten Europäischen Beschlüssen festgelegt sind, geändert werden müssen. Der Rat erlässt in diesen Fällen die erforderlichen Europäischen Beschlüsse.
  • Art. III-313 (3): Der Rat erlässt einen Europäischen Beschluss zur Festlegung besonderer Verfahren, um den schnellen Zugriff auf die Haushaltsmittel der Union zu gewährleisten, die für die Sofortfinanzierung von Initiativen im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, insbesondere von Tätigkeiten zur Vorbereitung einer Mission nach Artikel I-41 Absatz 1 und Artikel III-309 bestimmt sind. Er beschließt nach Anhörung des Europäischen Parlaments. Die Tätigkeiten zur Vorbereitung der in Artikel I-41 Absatz 1 und in Artikel III-309 genannten Missionen, die nicht zulasten des Haushalts der Union gehen, werden aus einem aus Beiträgen der Mitgliedstaaten gebildeten Anschubfonds finanziert. Der Rat erlässt mit qualifizierter Mehrheit auf Vorschlag des Außenministers der Union die Europäischen Beschlüsse über a) die Einzelheiten für die Bildung und die Finanzierung des Anschubfonds, insbesondere die Höhe der Mittelzuweisungen für den Fonds; b) die Einzelheiten für die Verwaltung des Anschubfonds; d) die Einzelheiten für die Finanzkontrolle. Kann die geplante Mission nach Artikel I-41 Absatz 1 und Artikel III-309 nicht aus dem Haushalt der Union finanziert werden, so ermächtigt der Rat den Außenminister der Union zur Inanspruchnahme dieses Fonds. Der Außenminister der Union erstattet dem Rat Bericht über die Erfüllung dieses Mandats.
  • Art. III-329 (2): Die Einzelheiten für die Anwendung der in Artikel I-43 enthaltenen Solidaritätsklausel durch die Union werden durch einen Europäischen Beschluss festgelegt, den der Rat [„Auswärtige Angelegenheiten“] aufgrund eines gemeinsamen Vorschlags der Kommission und des Außenministers der Union erlässt. Hat dieser Beschluss Auswirkungen im Bereich der Verteidigung, so entscheidet der Rat nach Artikel III-300 Absatz 1. Das Europäische Parlament wird darüber unterrichtet. Für die Zwecke dieses Absatzes wird der Rat unbeschadet des Artikels III-344 vom Politischen und Sicherheitspolitischen Komitee, das sich hierbei auf die im Rahmen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik entwickelten Strukturen stützt, sowie vom Ausschuss nach Artikel III-261 unterstützt, die ihm gegebenenfalls gemeinsame Stellungnahmen vorlegen.
  • Art. III-329 (3): Damit die Union und ihre Mitgliedstaaten auf effiziente Weise tätig werden können, nimmt der Europäische Rat regelmäßig eine Einschätzung der Bedrohungen vor, denen die Union ausgesetzt ist.
  • Art. III-341 (1, S. 2): Die Stimmenthaltung von anwesenden oder vertretenen Mitgliedern steht dem Zustandekommen von Beschlüssen des Europäischen Rates, zu denen Einstimmigkeit erforderlich ist, nicht entgegen.
  • Die Entscheidungsgewalt in Sachen EU-Militärpolitik liegt grundsätzlich beim Europäischen Rat und beim Ministerrat »Auswärtige Angelegenheiten«; das gilt für die Grundlinien wie für konkrete Situationen und Maßnahmen. Die Mitgliedstaaten sind also i.W. Vollzugsorgane dieser Gremien..
  • Unklar bleibt, nach welchen Kriterien der Europäische Rat gemäß Art. III- 295 (1) »die allgemeinen Leitlinien der Gemeinsamen Außen und Sicherheitspolitik, und zwar auch bei Fragen mit verteidigungspolitischen Bezügen“ festlegen soll.
  • In den Art. I-41 (4) und III-293 (1) ist zudem unklar, ob die »Europäische(n) Beschlüsse zur Durchführung der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, einschließlich der Beschlüsse über die Einleitung einer Mission“ im Ministerrat einstimmig unter Einschluss oder unter Ausschluss der nicht an der „ständigen Strukturierten Zusammenarbeit“ beteiligten Mitgliedstaaten zu fällen sind. Diese Unklarheit ist um so gravierender, als der Ministerrat nach Art. I-41 (5) »eine Gruppe von Mitgliedstaaten mit der Durchführung einer Mission im Rahmen der Union betrauen“ können soll. (s.o.)
  • Selbst wenn Einstimmigkeit vorgesehen ist, kann ein EU-Land gemäß Art. III-300 (1) bzw. Art. III-341 (1, S. 2) durch »konstruktive Stimmenthaltung« den Beschluss ohne die eigene Stimme passieren lassen – um z.B. innenpolitisch das Gesicht zu wahren und sich später u.U. trotzdem an der Durchführung zu beteiligen – , ohne dass damit das Erfordernis der Einstimmigkeit verletzt wäre.
  • Der weiteren Flexibilisierung der außen- und sicherheitspolitischen Beschlussfassung dient die Anwendung des Prinzips der „qualifizierten Mehrheit«. Nach Art. III-300 (2) dürfen entsprechende Beschlüsse des Ministerrats im Prinzip in Angelegenheiten gefasst werden, zu denen der Europäische Rat zuvor bereits einstimmig Grundlagenbeschlüsse verabschiedet hat. Diese Einschränkung der möglichen Beschlussfassung mit „qualifizierter Mehrheit“ im Ministerrat kann nach Art. III-300 (3) allerdings durch einstimmigen Beschluss des Europäischen Rates wieder entschärft werden. Das gilt nach Art. III-300 (4) wiederum »nicht für Beschlüsse mit militärischen oder verteidigungspolitischen Bezügen«.

Außenminister und Komitee

  • Art. I-28 (1): Der Europäische Rat ernennt mit qualifizierter Mehrheit mit Zustimmung des Präsidenten der Kommission den Außenminister der Union. Der Europäische Rat kann die Amtszeit des Außenministers nach dem gleichen Verfahren beenden.
  • Art. I-28 (2): Der Außenminister der Union leitet die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der Union. Er trägt durch seine Vorschläge zur Festlegung dieser Politik bei und führt sie im Auftrag des Rates durch. Er handelt ebenso im Bereich der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik.
  • Art. I-28 (3): Der Außenminister der Union führt den Vorsitz im Rat »Auswärtige Angelegenheiten«.
  • Art. I-28 (4): Der Außenminister der Union ist einer der Vizepräsidenten der Kommission. Er sorgt für die Kohärenz des auswärtigen Handelns der Union. Er ist innerhalb der Kommission mit deren Zuständigkeiten im Bereich der Außenbeziehungen und mit der Koordinierung der übrigen Aspekte des auswärtigen Handelns der Union betraut…
  • Art. I-40 (4): Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik wird vom Außenminister der Union und von den Mitgliedstaaten mit einzelstaatlichen Mitteln und den Mitteln der Union durchgeführt.
  • Art. I-41 (4, S. 2): Der Außenminister der Union kann gegebenenfalls gemeinsam mit der Kommission den Rückgriff auf einzelstaatliche Mittel sowie auf Instrumente der Union vorschlagen.
  • Art. III-293 (2): Der Außenminister der Union und die Kommission können dem Rat [„Auswärtige Angelegenheiten“] gemeinsame Vorschläge vorlegen, wobei der Außenminister für den Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und die Kommission für die anderen Bereiche des auswärtigen Handelns zuständig ist.
  • Art. III-294 (2, S. 3): Der Rat und der Außenminister der Union tragen für die Einhaltung dieser Grundsätze [der Zusammenarbeit bei der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik] Sorge.
  • Art. III-296 (1): Der Außenminister der Union, der im Rat »Auswärtige Angelegenheiten« den Vorsitz führt, trägt durch seine Vorschläge zur Festlegung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik bei und stellt sicher, dass die vom Europäischen Rat und vom Rat erlassenen Europäischen Beschlüsse durchgeführt werden.
  • Art. III-296 (2): Der Außenminister vertritt die Union in den Bereichen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Er führt im Namen der Union den politischen Dialog mit Dritten und vertritt den Standpunkt der Union in internationalen Organisationen und auf internationalen Konferenzen.
  • Art. III-296 (3, S. 1 u. 2): Bei der Erfüllung seines Auftrags stützt sich der Außenminister der Union auf einen Europäischen Auswärtigen Dienst. Dieser Dienst arbeitet mit den diplomatischen Diensten der Mitgliedstaaten zusammen…
  • Art. III-299 (1): Jeder Mitgliedstaat, der Außenminister der Union oder der Außenminister mit Unterstützung der Kommission kann den Rat [„Auswärtige Angelegenheiten“] mit einer Frage der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik befassen und ihm Initiativen beziehungsweise Vorschläge unterbreiten.
  • Art. III-299 (2): In den Fällen, in denen eine rasche Entscheidung notwendig ist, beruft der Außenminister der Union von sich aus oder auf Antrag eines Mitgliedstaats innerhalb von 48 Stunden, bei absoluter Notwendigkeit in kürzerer Zeit, eine außerordentliche Tagung des Rates ein.
  • Art. III-301 (1): Hat der Europäische Rat oder der Rat [„Auswärtige Angelegenheiten“] ein gemeinsames Vorgehen der Union im Sinne des Artikels I-40 Absatz 5 festgelegt, so koordinieren der Außenminister der Union und die Minister für auswärtige Angelegenheiten der Mitgliedstaaten ihre Tätigkeiten im Rat.
  • Art. III-304 (1): Der Außenminister der Union hört und unterrichtet das Europäische Parlament nach Artikel I-40 Absatz 8 und Artikel I-41 Absatz 8. Er achtet darauf, dass die Auffassungen des Europäischen Parlaments gebührend berücksichtigt werden. Die Sonderbeauftragten können zur Unterrichtung des Europäischen Parlaments mit herangezogen werden.
  • Art. III-305 (1, S. 3): … Der Außenminister der Union trägt für die Organisation dieser Koordinierung [des Handelns der Mitgliedstaaten in internationalen Organisationen und auf internationalen Konferenzen] Sorge…
  • Art. III-307 (1): Unbeschadet des Artikels III-344 verfolgt ein Politisches und Sicherheitspolitisches Komitee die internationale Lage in den Bereichen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und trägt auf Ersuchen des Rates, des Außenministers der Union oder von sich aus durch an den Rat gerichtete Stellungnahmen zur Festlegung der Politik bei. Ferner überwacht es die Durchführung der vereinbarten Politik; dies gilt unbeschadet der Zuständigkeiten des Außenministers der Union.
  • Art. III-307 (2): Im Rahmen dieses Kapitels nimmt das Politische und Sicherheitspolitische Komitee unter der Verantwortung des Rates [„Auswärtige Angelegenheiten“] und des Außenministers der Union die politische Kontrolle und strategische Leitung von Krisenbewältigungsoperationen im Sinne des Artikels III-309 wahr. Der Rat kann das Komitee für den Zweck und die Dauer einer Krisenbewältigungsoperation, die vom Rat festgelegt werden, ermächtigen, geeignete Maßnahmen hinsichtlich der politischen Kontrolle und strategischen Leitung der Operation zu erlassen.
  • Art. III-309 (2, S. 2): … Der Außenminister der Union sorgt unter Aufsicht des Rates und in engem und ständigem Benehmen mit dem Politischen und Sicherheitspolitischen Komitee für die Koordinierung der zivilen und militärischen Aspekte dieser Missionen [gemäß Art. I-41 (1) bzw. III-309 (1)].
  • Die Schaffung des Amtes des Außenministers der Union – unterstützt von einem Europäischen Auswärtigen Dienst – gilt als ähnlich bedeutsame strukturelle Erneuerung wie die Ermöglichung der Beschlussfassung mit „qualifizierter Mehrheit“ und soll (ebenfalls) einer größeren außen- und sicherheitspolitischen Handlungsfähigkeit der Union dienen.
  • Der Außenminister als Vorsitzender des Ministerrats »Auswärtige Angelegenheiten« und einer der Vizepräsidenten der Kommission hat die Gesamtverantwortung für diesen Politikbereich.
  • Die Zuständigkeit des Außenministers sowohl für die GASP wie für die GSVP lässt wiederum die enge Verzahnung beider Politikbereiche erkennen – und damit die betriebene Militarisierung der Außenpolitik.
  • Anhörung und Unterrichtung des Europäischen Parlaments hängen von der Kooperationsbereitschaft und -fähigkeit des Außenministers ab (Art. III-304 (1)).
  • Für die militärische Kommandostruktur gibt es keine Regelung im Verfassungsvertrag. Die durch den Vertrag von Nizza im Dezember 2000 geschaffenen Institutionen Militärausschuss und Militärstab werden nicht verfassungsrechtlich verankert. Das ebenfalls in Nizza gebildete »Politische und Sicherheitspolitische Komitee« soll „die internationale Lage in den Bereichen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik“ verfolgen, „durch an den Rat gerichtete Stellungnahmen zur Festlegung der Politik“ beitragen, die „Durchführung der vereinbarten Politik“ überwachen und »die politische Kontrolle und strategische Leitung von Krisenbewältigungsoperationen im Sinne des Artikels III-309“ wahrnehmen (Art. III-307 (1 u. 2). Damit ist dieses Komitee für die außen- und sicherheitspolitische Praxis der Union als ähnliches bürokratisches Machtzentrum konzipiert wie die »Europäische Verteidigungsagentur« im Zusammenhang der Aufrüstungsprogrammatik.

Europäisches Parlament

  • Art. I-40 (8): Das Europäische Parlament wird zu den wichtigsten Aspekten und den grundlegenden Weichenstellungen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik regelmäßig gehört. Es wird über ihre Entwicklung auf dem Laufenden gehalten.
  • Art. I-41 (8): Das Europäische Parlament wird zu den wichtigsten Aspekten und den grundlegenden Weichenstellungen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik regelmäßig gehört. Es wird über ihre Entwicklung auf dem Laufenden gehalten.
  • Art. III-304 (1): Der Außenminister der Union hört und unterrichtet das Europäische Parlament nach Artikel I-40 Absatz 8 und Artikel I-41 Absatz 8. Er achtet darauf, dass die Auffassungen des Europäischen Parlaments gebührend berücksichtigt werden. Die Sonderbeauftragten können zur Unterrichtung des Europäischen Parlaments mit herangezogen werden.
  • Art. III-304 (2): Das Europäische Parlament kann Anfragen oder Empfehlungen an den Rat und den Außenminister der Union richten. Zweimal jährlich führt es eine Aussprache über die Fortschritte bei der Durchführung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, einschließlich der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik.
  • Das Europäische Parlament soll weder an den »grundlegenden Weichenstellungen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik» noch an der konkreten Beschlussfassung als Entscheidungsinstanz beteiligt sein; Anhörungs- und Informationspflicht der Exekutivorgane gegenüber dem Parlament beinhalten kein Beschlussrecht der Legislative.
  • Und selbst bei dieser minimalen demokratischen Partizipation ist das Parlament auf die Gnade des Außenministers angewiesen.
  • Im Lichte dieser Bestimmungen erscheint die Erarbeitung eines »Entsendegesetzes« für die Bundeswehr (nach SPD-Entwurf sollen nur noch bewaffnete Einsätze zustimmungspflichtig sein, Verlängerungen automatisch erfolgen) als Vorbereitung auf die sich hier abzeichnende militärpolitische Parlamentsentmächtigung.
  • Durch effektive Nichtbefassung der ParlamentarierInnen mit der Militärpolitik der Union wird auch die Öffentlichkeit davon ausgeschlossen.

Wo stehen die »Noten«?

UN und internationale Organisationen

  • Art. I-3 (4, S. 2): Sie [die Union] leistet einen Beitrag zu Frieden, Sicherheit, globaler nachhaltiger Entwicklung, Solidarität und gegenseitiger Achtung unter den Völkern, …, sowie zur strikten Einhaltung und Weiterentwicklung des Völkerrechts, insbesondere zur Wahrung der Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen.
  • Art. I-41 (1, S. 2): Auf diese [auf zivile und militärische Mittel gestützte Fähigkeit zu Operationen] kann die Union bei Missionen außerhalb der Union zur Friedenssicherung, Konfliktverhütung und Stärkung der internationalen Sicherheit in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen zurückgreifen.
  • Art. I-41 (7, S. 1): Im Falle eines bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats müssen die anderen Mitgliedstaaten nach Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung leisten.
  • Art. III-292 (1): Die Union stützt sich bei ihrem Handeln auf internationaler Ebene auf die Grundsätze, welche die Grundlage für ihre eigene Entstehung, Entwicklung und Erweiterung bildeten und denen sie durch ihr Handeln auch weltweit zu stärkerer Geltung verhelfen will: Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, die universelle Gültigkeit und Unteilbarkeit der Menschenrechte und Grundfreiheiten, die Achtung der Menschenwürde, der Grundsatz der Gleichheit und der Grundsatz der Solidarität sowie die Achtung der Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen und des Völkerrechts. Die Union strebt an, die Beziehungen zu Drittländern und zu regionalen oder weltweiten internationalen Organisationen, die die in Unterabsatz 1 aufgeführten Grundsätze teilen, auszubauen und Partnerschaften mit ihnen aufzubauen. Sie setzt sich insbesondere im Rahmen der Vereinten Nationen für multilaterale Lösungen bei gemeinsamen Problemen ein.
  • Art. III-292 (2): Die Union legt die gemeinsame Politik sowie Maßnahmen fest und führt diese durch und setzt sich für ein hohes Maß an Zusammenarbeit auf allen Gebieten der internationalen Beziehungen ein, um a) ihre Werte, ihre grundlegenden Interessen, ihre Sicherheit, ihre Unabhängigkeit und ihre Unversehrtheit zu wahren; b) Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, die Menschenrechte und die Grundsätze des Völkerrechts zu festigen und zu fördern; c) nach Maßgabe der Ziele und Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen sowie der Prinzipien der Schlussakte von Helsinki der Ziele der Charta von Paris, einschließlich derjenigen betreffend die Außengrenzen, den Frieden zu erhalten, Konflikte zu verhüten und die internationale Sicherheit zu stärken; d) die nachhaltige Entwicklung in Bezug auf Wirtschaft, Gesellschaft und Umwelt in den Entwicklungsländern zu fördern mit dem vorrangigen Ziel, die Armut zu beseitigen; e) die Integration aller Länder in die Weltwirtschaft zu fördern, unter anderem auch durch den schrittweisen Abbau von Hemmnissen des internationalen Handels; f) zur Entwicklung von internationalen Maßnahmen zur Erhaltung und Verbesserung der Qualität der Umwelt und der nachhaltigen Bewirtschaftung der weltweiten natürlichen Ressourcen beizutragen, um eine nachhaltige Entwicklung sicherzustellen; g) den Völkern, Ländern und Regionen, die von Naturkatastrophen oder von vom Menschen verursachten Katastrophen betroffen sind, zu helfen; und h) eine Weltordnung zu fördern, die auf einer verstärkten multilateralen Zusammenarbeit und einer verantwortungsvollen Weltordnungspolitik beruht.
  • Art. III-292 (3): Die Union wahrt bei der Ausarbeitung und Umsetzung ihres auswärtigen Handelns in den verschiedenen unter diesen Titel fallenden Bereichen sowie der externen Aspekte der übrigen Politikbereiche die in den Absätzen 1 und 2 genannten Grundsätze und Ziele. Die Union achtet auf die Kohärenz zwischen den einzelnen Bereichen ihres auswärtigen Handelns sowie zwischen diesen und ihren übrigen Politikbereichen. Der Rat [„Auswärtige Angelegenheiten“] und die Kommission, die vom Außenminister der Union unterstützt werden, stellen diese Kohärenz sicher und arbeiten zu diesem Zweck zusammen.
  • Art. III-305 (2, S. 3): … Die Mitgliedstaaten, die Mitglieder des Sicherheitsrats sind, setzen sich bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben unbeschadet ihrer Verantwortung aufgrund der Charta der Vereinten Nationen für die Standpunkte und Interessen der Union ein …
  • Vor dem Hintergrund verbreiteter aktueller Tendenzen, völkerrechtliche Bestimmungen zur Einschränkung militärischer Gewaltanwendung zu nivellieren oder gar völlig in Frage zu stellen, erscheint die Absicht, zur „Weiterentwicklung des Völkerrechts“ beitragen zu wollen, höchst ambivalent.
  • Der Verfassungsvertrag kennt keine eindeutige Festlegung auf eine Mandatierung von EU-Militäreinsätzen durch die UN oder ein regionales System kollektiver Sicherheit, sondern nur eine vage Orientierung an den »Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen«. Wird demnach das Gewaltverbot von Art. 2 Ziff. 4 ChVN nur allgemein und »grundsätzlich« anerkannt? Wie die »Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen« missbraucht werden können, hat jedenfalls die NATO im Kosovo-Krieg vorexerziert.
  • Im Gegensatz dazu wird das in Art. 51 ChVN verbriefte „naturgegebene Recht zur individuellen und kollektiven Selbstverteidigung“ konkret in Anspruch genommen; aufschlussreich ist die Umdeutung dieses »Völkerrechts« in eine Pflicht der EU-Mitgliedstaaten (Art. I-41 (7, S. 1).
  • Unklar ist ferner, ob im Konfliktfall »die Standpunkte und Interessen der Union“ Vorrang haben sollen vor der internationalen Verantwortung der EU-Mitgliedstaaten, die gleichzeitig Mitglieder des Sicherheitsrats sind.

NATO-Vertrag

  • Art. I-41 (2, S. 4): Die Politik der Union nach diesem Artikel berührt nicht den besonderen Charakter der Sicherheits- und Verteidigungspolitik bestimmter Mitgliedstaaten; sie achtet die Verpflichtungen bestimmter Mitgliedstaaten, die ihre gemeinsame Verteidigung in der Nordatlantikvertrags-Organisation verwirklicht sehen, aufgrund des Nordatlantikvertrages und ist vereinbar mit der in jenem Rahmen festgelegten gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik.
  • Art. I-41 (7, S. 3): Die Verpflichtungen und die Zusammenarbeit in diesem Bereich [der Sicherheits- und Verteidigungspolitik]) bleiben im Einklang mit den im Rahmen der Nordatlantikvertrags-Organisation eingegangenen Verpflichtungen, die für die ihr angehörenden Staaten weiterhin das Fundament ihrer kollektiven Verteidigung und die Instanz für deren Verwirklichung ist.
  • Mit Art. I-41 (2, S. 4) wird das völkerrechtlich hoch problematische »Strategische Konzept des [NATO-] Bündnisses«vom April 1999 implizit anerkannt. Statt die Rückführung auf die Kernaufgaben eines Verteidigungsbündnisses zu fordern, orientiert man sich an diesem Konzept.
  • Fraglich erscheint, ob die erklärte Achtung des „besonderen Charakter[s] der Sicherheits- und Verteidigungspolitik bestimmter Mitgliedstaaten“ dem neutralen Status verschiedener EU-Staaten gerecht wird.

Verfassung der Mitgliedstaaten

  • Art. I-6: Die Verfassung und das von den Organen der Union in Ausübung der der Union übertragenen Zuständigkeiten gesetzte Recht haben Vorrang vor dem Recht der Mitgliedstaaten.
  • Art. I-41 (2, S. 3): Er [der Europäische Rat] empfiehlt in diesem Fall [der Einführung einer gemeinsamen Verteidigung durch einstimmigen Beschluss des Rates] den Mitgliedstaaten, einen Beschluss in diesem Sinne im Einklang mit ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften zu erlassen.
  • Art. II-70 (2): Das Recht auf Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen wird nach den einzelstaatlichen Gesetzen anerkannt, welche die Ausübung dieses Rechts regeln.
  • Eine Ratifizierung des EU-VerfV liefe auf eine grundlegende Verfassungsänderung hinaus – im Falle der BRD i.B. betr. Art. 87a (1 u. 2) und Art. 26 (1) GG; sie müsste gemäß Art. 79 GG mit 2/3 Mehrheit von Bundestag und Bundesrat erfolgen.
  • Da EU-Recht nationales Recht bricht, wären dann die neuen Regelungen im Militärbereich den grundgesetzlichen Regelungen übergeordnet. Die Beschwörung des „Einklang[s] mit ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften“ bei »Einführung einer gemeinsamen Verteidigung“ in Art. I-41 (2, S. 3) dürfte also wieder primär eine Beschwichtigungsformel an die Adresse der Mitgliedstaaten darstellen.
  • Das Recht auf Wehr- und Kriegsdienstverweigerung steht zur Disposition des nationalen Gesetzgebers; Anerkennung und Ablehnung dieses Rechts können demnach als gleichermaßen verfassungskonform gelten – statt dass es als selbstverständlicher Bestandteil des Menschenrechts auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit verankert wird.

Kontrolle der Normbefolgung

  • Art. III-376 (S. 1): Der Gerichtshof der Europäischen Union ist nicht zuständig in Bezug auf die Artikel I-40 und I-41, in Bezug auf Titel V Kapitel II betreffend die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und in Bezug auf Artikel III-293, soweit er die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik betrifft.
  • Eine gerichtliche Überprüfung von Beschlüssen im Bereich der GASP bzw. der GSVP durch den Europäischen Gerichtshof ist per Verfassung ausgeschlossen.
  • Damit ist die Exekutive – nach dem effektiven Ausschluss des Europäischen Parlaments vom Entscheidungsprozess in diesem Politikbereich (s.o.) – faktisch keiner wirksamen demokratischen Kontrolle unterworfen.

* Quellen

Europäischer Konvent (2003): Entwurf. Vertrag über eine Verfassung für Europa. Vom europäischen Konvent im Konsensverfahren angenommen am 13. Juni und 10. Juli 2003. Dem Präsidenten des Europäischen Rates in Rom überreicht – 18. Juli 2003. Luxemburg: Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften. Verfügbar unter: http://european-convention.eu.int [12.12.03]

Europäische Kommission (2003): A secure Europe in a better world. European security strategy.Verfügbar unter: http://europa.eu.int/geninfo/whatsnew.htm [20.12.03]

Headline Goal 2010 (2004):Verfügbar unter: http://ue.eu.int/uedocs/cmsupload [31.08.04]

Konferenz der Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten (2004, 06.08.): CIG 87/04. Betr.: Vertrag über eine Verfassung für Europa. Verfügbar unter: http://europa.eu.int/futurum/eu_constitution_de.htm [11.08.04]

Protokoll über die Ständige Strukturierte Zusammenarbeit gemäß Artikel I-41 Absatz 6 und Artikel III-312 der Verfassung (2004): Verfügbar unter: http://ue.eu.int/igcpdf/de04/cg00/cg0087-ad01.de04.pdf [16.08.04]

Literatur

Bäuerle, Dietrich (2004, 20.06): Die EU ist auf dem Weg zur Militärunion. In der Verfassung sind Aufrüstung und Gewalteinsatz vorgesehen – es findet sich aber kein Wort zur Kriegsächtung. Frankfurter Rundschau, 20.06.04, S. 8.

Becker, Peter & Boos, Philipp (2004): Militarisierung oder Chance für zivile Konfliktschlichtung? Zum Entwurf für die Europäischer Verfassung. Wissenschaft und Frieden, 22 (2), 10-13.

Böge, Volker (2000): Schritt für Schritt und immer schneller. Die Militarisierung der europäischen Integration. Wissenschaft und Frieden, 18 (3), 6-10.

Dembinski, Matthias (2000): Die EU mit eigener Verteidigungsidentität – Ein Beitrag zum Frieden? In U. Ratsch, R. Mutz & B. Schoch (Hrsg.), Friedensgutachten 2000 (S. 109-118). Münster: Lit.

Duchrow, Ulrich (2004): Der Gott der EU-Verfassung. Zeitschrift Entwicklungspolitik. Heft 5-6/2004. Verfügbar unter: http://www.entwicklungspolitik.org [24.05.04].

Ehrhart, Hans-Georg (2001): Leitbild Friedensmacht? Die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik und die Herausforderung der Konfliktbearbeitung. Sicherheit und Frieden, 19, 50-56.

EU-Nachrichten (2003, 20.10.): Entwurf einer Verfassung für Europa. Konvent, Vertragsreform und die Diskussion um die Zukunft Europas. Themenheft Nr. 6.

Friedenswerkstatt Linz (Hrsg.) (2004): EU-Verfassung – Europa der Konzerne und Generäle? Die EU-Verfassung aus der Sicht von Friedens-, Anti-Atom- und globalisierungskritischer Bewegung. Linz: Herausgeber.

Hauswedell, Corinna & Wulf, Herbert (2004): Die EU als Friedensmacht? Neue Sicherheitsstrategie und Rüstungskontrolle. In C. Weller, U. Ratsch, R. Mutz, B. Schoch & C. Hauswedell (Hrsg.): Friedensgutachten 2004. Münster: Lit.

Komitee für Grundrechte und Demokratie (Hrsg.) (2004): EU-Militarisierung zerstört die »Zivilmacht Europa«. Köln: Herausgeber.

Pflüger, Tobias (2003): Eine Militärverfassung für die Europäische Union oder Auch die EU ist auf Kriegskurs. IMI-Analyse 2003/036. Verfügbar unter: http://www.imi-online.de [12.12.03].

Pflüger, Tobias (2004): EU-Verfassung gescheitert – neue Militärstrategie verabschiedet. Wissenschaft und Frieden, 22 (2), 18-20. Verfügbar unter: http://www.imi-online.de [14.08.04].

Schirmer, Gregor (2004): Militarisierung der Europäischen Union. Textanalyse der außen- und sicherheitspolitischen Bestimmungen im EU-Verfassungsentwurf. Kassel: Friedensratschlag. Verfügbar unter: http://www.uni-kassel.de/fb10/frieden [29.01.04].

Schroedter, Elisabeth (1999): Die Militarisierung der EU. ami, 29 (11). Verfügbar unter: http://userpage.fu-berlin.de/~ami/ausgaben/1999/11-99_5.htm [23.03.04].

Singe, Martin (2003): Die Militarisierung der Europäischen Union. Friedens-Forum, 16 (5-6), 31-34.

Wehr, Andreas (2004): Europa ohne Demokratie? Die europäische Verfassungsdebatte – Bilanz, Kritik und Alternativen. Köln: Papyrossa.

Prof. Dr. Albert Fuchs Mitglied des Redaktionsteams von W&F

Anti-Terrorstrategien und Schutz der Menschenrechte

Anti-Terrorstrategien und Schutz der Menschenrechte

von Wolfgang S. Heinz

Der transnationale Terrorismus wird heute bi- und multilateral bekämpft. Zwei große Handlungsbereiche sind zu unterscheiden, (1) den der Vereinten Nationen, den von ihnen entwickelten Abkommen gegen spezifische Straftaten mit dem UN-Sicherheitsrates mit seinem Anti-Terrorism Committee in der Führungsrolle und (2) die Maßnahmen der USA in der Perspektive eines Global War against Terrorismus. Zwar sind staatliche Reaktionen auf den Terroranschlag vom 11. September 2001 entsprechend der Wahrnehmung transnationaler terroristischen Bedrohung ähnlich ausgefallen, etwa wenn man an den Haushaltszuwachs für Polizei und Nachrichtendienste, an eine bessere Vernetzung untereinander und das wachsende Interesse an Islam und Islamismus denkt. In ihrer strategischen Ausrichtung sind die Reaktionen von Staaten auf terroristische Bedrohungen aber von Land zu Land durchaus unterschiedlich ausgefallen (Leeuwen 2003, Brysk/Shafir i.V.).

Für die internationale Zusammenarbeit zwischen den Staaten ist eine Übereinstimmung über den Begriff des Terrorismus’ von zentraler Bedeutung, weil bei der Kooperation zwischen Polizei Justiz, Geheimdiensten und bis hin zu Militäreinsätzen klar sein muss, gegen wen sich staatliche Maßnahmen richten.

Bis heute gibt es keine international akzeptierte Definition von Terrorismus. Vielfach ist es ein politischer Begriff, der gegen den jeweiligen Gegner und Feind gerichtet wird, besonders bei Diktaturen und autoritären, nicht-demokratischen Regierungen.

Vereinte Nationen und internationales Strafrecht

Grundlage für die Ahndung und Überwindung des Terrorismus ist im Rahmen der Vereinten Nationen die zwischenstaatliche Zusammenarbeit mit dem Ziel gemeinsamer Strafverfolgung.

Seit 1963 wurden dreizehn Abkommen von vielen Staaten akzeptiert, in denen terroristische Straftaten definiert wurden, z.B. widerrechtliche Inbesitznahme von Luftfahrzeugen (1971), Straftaten gegen völkerrechtlich geschützte Personen, einschließlich Diplomaten (1979), Geiselnahme (1980), Bekämpfung der Finanzierung des Terrorismus (1999) und Nuklearterrorismus (2005).

Ein umfassendes Abkommen gegen Terrorismus wird seit 2001 in der VN-Generalversammlung diskutiert. Jedoch ist man damit nicht weitergekommen, weil sich Meinungsunterschiede über die juristische Bewertung des Kampfes gegen ausländische Besetzung – vor allem zwischen westlichen Ländern und Mitgliedstaaten der Islamischen Konferenzorganisation (OIC) – nicht überbrückt werden konnten. Im Hintergrund steht das Beispiel palästinensischer Kampf gegen die israelische Besetzung und die Frage seiner Einordnung als Terrorismus. Eine Überwindung der Meinungsverschiedenheiten erscheint kurzfristig als wenig wahrscheinlich.

Unter Menschenrechte werden im Folgenden die völkerrechtlich verbindlichen internationalen und regionalen Abkommen verstanden, in denen Menschenrechte definiert werden. Besonders wichtig für unser Thema sind Menschenrechtsnormen, die auch nicht im Notstand oder Kriegsfall außer Kraft gesetzt werden dürfen (vgl. UN-Antifolterkonvention von 1994, UN-Zivilpakt von 1966).

Nach dem UN-Zivilpakt ist die zeitweilige Außerkraftsetzung von Rechten möglich, wenn „das Leben der Nation (des Staates) bedroht“ und der Notstand amtlich verkündet ist jedoch nur „in dem Umfang, den die Lage unbedingt erfordert“ (Zivilpakt Art. 4) (ähnlich Art. 15 der Europäischen Menschenrechtskonvention/EMRK Art. 15). Als notstandsfeste Menschenrechte gelten im UN-Zivilpakt das Verbot von Diskriminierung und Sklaverei, der Folter und bestimmte Rechte beim Gerichtsverfahren sowie das Recht auf Gedanken-, Gewissen- und Religionsfreiheit, bei der EMRK nach Art. 15 das Recht auf Leben, das Folterverbot, das Verbot der Sklaverei und Leibeigenschaft, das Rückwirkungsverbot und die Anerkennung der Rechtsperson. Von den westlichen Staaten hat bisher nur Großbritannien 2001 eine entsprechende Erklärung abgegeben, man befände sich im Ausnahmezustand.

USA: Global War on Terrorism and Operation Enduring Freedom

Die Rolle der USA ist global von zentraler Bedeutung, da ihre politisch-militärische Dominanz sowie die enormen eingesetzten Ressourcen eine Sogwirkung auf viele, besonders kleinere Länder ausübt.

Am 14. September 2001 gab der Kongress mit Resolution »Authorization for Use of Military Force« dem Präsidenten den Auftrag, den internationalen Terrorismus zu bekämpfen. Die Regierung Bush konzeptionalisierte die Bekämpfung des internationalen Terrorismus als Krieg und schloss gleichwohl die Anwendung völkerrechtlicher Rechtsnormen des Kriegsvölkerrechts, besonders der III. und IV. Genfer Konvention auf Terrorismusverdächtige in Afghanistan aus. Die USA haben nicht die Möglichkeit nach Art. 4 UN-Zivilpakt in Anspruch genommen, der UN die Einschränkung bestimmter Menschenrechts anzuzeigen, weil ein Ausnahmezustand vorläge.

Zum weiteren politischen Kontext der Präsidentschaft Bush gehörte die Überzeugung starker Kräfte in der Republikanischen Partei, die sog. Imperiale Präsidentschaft, ein in den US-Geschichte seit langem diskutierter Begriff, müsse wieder hergestellt werden. Hier wird die Präsidentschaft als Institution verstanden, der in der Außenpolitik über die Verfassung hinaus »inhärente Rechte« (Machtbefugnisse) i.S. einer effektiven Exekutive zukommen. In diesem Verständnis kam es besonders nach dem erzwungenen Rücktritt von Präsident Richard Nixon, dem Musterfall einer solchen Präsidentschaft, zum »Sündenfall«, als der Kongress unzulässig präsidentielle Macht eingeschränkt hätte. Nun sei es an der Zeit, die Institution der Präsidentschaft in ihrer wahren Bedeutung wieder herzustellen (vgl. Schlesinger 2004a, b). Dies bedeutet, eine Einflussnahme von Kongress und Justiz möglichst zu unterbinden.

Die Strategie der Regierung Bush hat vier zentrale Bestandteile, die von Regierungen anderer Länder, besonders ihren Geheimdiensten, in erheblichem, gleichwohl noch nicht völlig bekanntem Umfang unterstützt wurden und werden:

  • Identifizierung, Festnahme oder Entführung von Terrorverdächtigen und deren Verbringung an geheime Haftorte, zu denen die US-Justiz, Rechtsanwälte, Familienangehörige, Menschenrechtsorganisationen u.a. keinen Zugang haben (und auch an bekannte Haftorte mit stark eingeschränktem Zugang).
  • Eine Umdefinierung des Verständnisses von Folter: Eine regierungsinterne Diskussion über die anzuwendende Definition von Folter und anderen grausamen, unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlungen oder Strafen führte 2002 bis Ende 2005 zu einem besonderen US-amerikanischen Verständnis, das radikal und völkerrechtswidrig Folter auf Handlungen an der Grenze zum Organkollaps und Tod verkürzte (Ende Dezember 2005 hat das Justizministerium diese Interpretation offiziell zurückgenommen) (Die Dokumente finden sich in Greenberg/Dratel 2005, zur Debatte in den USA Greenberg 2006).
  • Die Entführung von Terrorverdächtigen in Drittstaaten und deren Rückführung in ihre arabischen Heimatländer (extraordinary renditions), sollte den Einsatz von Foltermethoden und damit schnelle Ergebnisse möglich machen (hierzu umfassend mit Bezug zu CIA-Flügen in Europa Grey 2006). Zwar erklärt(e) die Regierung Bush immer wieder, sie foltere nicht und lasse nicht in Drittländern foltern, dem stehen aber Hunderte von Fällen entgegen (hierzu gibt es keine Statistiken oder auch nur Teilstatistiken der US-Regierung; für eine Untersuchung dreier US-Institutionen siehe Human Rights Watch/ Human Rights First/Center for Human Rights and Global Justice 2006).
  • All diese Maßnahmen würden strikt geheimgehalten so dass eine Zuordnung zur Regierung der USA, dem Militär oder Geheimdienst CIA nicht möglich sein sollte (Woodward 2004, S.114).

Nicht behandelt werden kann hier der große Komplex Krieg in Afghanistan und Irak, Fehler der Kriegsführung und Verluste der Zivilbevölkerung, die mindestens in die Zehntausende in Afghanistan und dem Irak gehen (zur Diskussion siehe Heinz/Arendt 2004, S.73f.).

Am 6.09.2006 gestand Präsident George W. Bush öffentlich ein, dass die CIA nach dem 11.09.2001 ein System von Geheimgefängnissen aufgebaut habe, um die USA durch Gewinnung von Informationen vor weiteren Anschlägen zu schützen. Dieses System habe sich bewährt, sei einer rechtlichen Prüfung des US-Justizministeriums unterzogen und für legal befunden worden. Auch würden die USA nicht foltern. In Guantánamo hätten sich ursprünglich 770 Gefangene in Gewahrsam der USA befunden, von denen noch 455 in Haft seien. In den geheimen Gefängnissen der CIA befinde sich jetzt niemand mehr. Das System würde aber für zukünftige Aufgaben beibehalten werden (White House 2006).

Mit Blick auf die Praxis der Entführungen/Überstellungen von Terrorismusverdächtigen (extraordinary renditions) hat das State Department erklärt, dass diese Praxis der US-Regierung fortgesetzt werde (Bellinger 2006). In Deutschland hat nach einem Fernsehbericht das US-Hauptquartier in Europa in Stuttgart im Dezember 2006 bestätigt, dass es die Verbringung von Häftlingen nach Guantánamo organisiert hat (der Fall der sechs Algerier aus Bosnien-Herzegowina).

Menschenrechtsverletzungen während der Terrorismusbekämpfung

Seit 2001 ist es zu zahlreichen, zum Teil systematischen Menschenrechtsverletzungen im Rahmen der Terrorismusbekämpfung gekommen, vor allem in autoritären Staaten und Diktaturen, wo die Opposition schnell mit Terrorismus in Verbindung gebracht wurde, um sie zu schwächen. Die Themenberichterstatter der Vereinten Nationen, besonders zu Folter und Terrorismus, haben hierüber berichtet, ebenso die großen internationalen Menschenrechtsorganisationen wie amnesty international und Human Right Watch, nationale Menschenrechts-NGOs, vor allem aber kritische investigative Medien wie die Washington Post und New York Times in den USA.

Aber auch Demokratien haben zu menschenrechtlich bedenklichen oder offen menschenrechtswidrigen Maßnahmen gegriffen. Gegenwärtig lassen sich vorrangig folgende Menschenrechtsprobleme identifizieren (mit dem Schwerpunkt auf Demokratien):

  • Internierung von Terrorismusverdächtigen ohne Anklage oder Gerichtsverfahren, besonders von Ausländern (USA, vorübergehend: Großbritannien).
  • Überprüfungsverfahren für internierte Verdächtige, die nicht im Ansatz einem fairen Verfahren entsprechen (Folge: Jahrelange Haft für die Betroffenen, ohne dass ein Ende abzusehen ist, z.B. für die Gefangenen in Guantánamo).
  • Anwendung von Folter und Misshandlungen durch Militär und Geheimdienste (in vielen Staaten).
  • Entführung von Terrorismusverdächtigen in Drittstaaten und Überstellungen an Staaten, die die Folter praktizieren (USA, mit Unterstützung einiger europäischer Staaten).
  • Zulassung von Beweismitteln bei Gerichtsverfahren, die unter der Folter erpresst wurden (vorübergehend in Großbritannien).
  • Vorenthaltung von Beweismitteln, die aus Geheimdienstquellen stammen gegenüber angeklagten Terrorismusverdächtigen in Strafverfahren (Guantánamogefangene USA; vorübergehend in Großbritannien).

Schlußfolgerungen und Ausblick

Seit 2005/06 zeigen sich zunehmend unterschiedliche Bewertungen zwischen Regierungen und Justiz und auch in der Öffentlichkeit über angemessene rechtsstaatliche Methoden der Bekämpfung des Terrorismus, besonders zwischen den USA und Europa. Hohe Gerichte haben in den USA, Großbritannien und Deutschland Gesetze für verfassungswidrig erklärt, was dazu führte, dass Regierungen und Parlament neue eher rechtsstaatliche Lösungen suchen mussten.

Rechtsverletzungen bei der Terrorismusbekämpfung, besonders die Misshandlung und Folter von Gefangenen, fügen einer erfolgreichen Terrorismusbekämpfung massiven Schaden zu. Eine solche Vorgehensweise fördert Sympathie- und Solidarisierungseffekte – natürlich neben dem Schaden für die Opfer selbst. In der Sicherheitspolitik wird dies besonders nach dem Gefängnisskandal von Abu Ghraib 2004 auch ganz offen eingeräumt, sowohl in Europa als auch in den USA.

Demokratische Staaten müssen für die verschiedenen Gebiete der Zusammenarbeit – Geheimdienste, Polizei, Justiz, Militär – genau prüfen, welche Rechtsnormen gelten und wie deren Einhaltung wirkungsvoll kontrolliert werden kann, damit Maßnahmen zur Terrorismusbekämpfung nicht direkt oder indirekt zu Menschenrechtsverletzungen beitragen. Dies gilt besonders für die geheimdienstliche und militärische Zusammenarbeit.

Antiterrorismusgesetzgebung sollte kontinuierlich auf ihre Wirksamkeit, intendierte und nicht intendierte Wirkungen überprüft werden. Nur diejenigen Maßnahmen, die wirkungsvoll sind, können auch dann gerechtfertigt werden, wenn ihre Umsetzung klar abgrenzbare Nachteile im Bereich der Menschenrechte, z.B. Einschränkungen der Wahrung der Privatsphäre, nach sich zieht. Jede Anti-Terrorismus-Maßnahme steht zunächst unter diesem Rechtfertigungszwang. Sie muss, so verlangt es auch das deutsche Recht, geeignet, erforderlich und verhältnismäßigsein.

Die Evaluierung von Sicherheitsgesetzen, wie sie zum Beispiel im Terrorismusbekämpfungsgesetz vorgesehen ist, dient dazu, die Auswirkungen von Sicherheitsgesetzen auf die Menschenrechte zu überprüfen. Das Instrument der Evaluierung soll es dem Gesetzgeber ermöglichen, rechtspolitische Entscheidungen strukturell und zukunftsorientiert unter dem Aspekt der Vereinbarkeit mit den Menschenrechten und dem Rechtstaatsprinzip zu überprüfen und gegebenenfalls nachzubessern – und zwar auf der Grundlage konkreter und verlässlicher Informationen (Weinzierl 2006).

Literatur

Bellinger, John B. III (2006): U.S. Renditions of Terrorists Are Legal Vital. Letters to the Editor, in: The Wall Street Journal, 05.07.2006.

Brysk, Alison/ Shafir, Gershon (Hrsg.) (i.V.): Counter-Terror and Human Rights: International Perspectives on National Insecurity, Berkeley: University of California Press.

Greenberg, Karen J. (2006): The Torture Debate in America. Cambridge u.a.: Cambridge University Press.

Greenberg, Karen J./Dratel, Joshua L. (Hrsg.) (2005): The Torture Papers. The Road to Abu Ghraib, Cambridge u.a.: Cambridge University Press.

Grey, Stephen (2006): Das Schattenreich der CIA. Amerikas schmutziger Krieg gegen den Terror. Stuttgart: DVA.

Human Rights Watch / Human Rights First / Center for Human Rights and Global Justice (2006): By the Numbers. Findings of the Detainee Abuse and Accountability Project, April 2006, http://hrw.org/reports/2006/ct0406/.

Heinz, Wolfgang S./Arend, Jan-Michael (2004): Internationale Terrorismusbekämpfung und Menschenrechte. Entwicklungen 2003/2004, Berlin 2004. http://www.institut-fuer-menschenrechte.de/webcom/show_shop.php/_c-488/_lkm-616/_cat-4/i.html

Leeuwen, Marianne van (Hrsg.) (2003): Confronting terrorism. European experiences, threat perceptions, and policies. Den Haag: Kluwer Law International.

Schneckener, Ulrich (2006): Transnationaler Terrorismus, Frankfurt/M: Suhrkamp.

Weinzierl, Ruth (2006): Die Evaluierung von Sicherheitsgesetzen – Anregungen aus menschenrechtlicher Perspektive, Berlin: Institut für Menschenrechte.

Schlesinger, Arthur M. (2004a): The Imperial Presidency, Boston/New York: Mariner (Erstveröff. 1973). (2004b): War and the American Presidency, New York/London: W. W. Norton

White House (2006): President Discusses Creation of Military Commissions to Try Suspected Terrorists. Press Release. 06.09.2006. http://www.whitehouse.gov/news/releases/2006/09/20060906-3.html (abgerufen am 17.12.2006)

Woodward, Bob (2004): Der Angriff. Plan of attack. München: DVA.

Wolfgang S. Heinz, Dr. phil. habil. Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Institut für Menschenrechte. Privatdozent für Politische Wissenschaft an der Freien Universität Berlin. Mitglied des Europarat-Ausschusses zur Verhütung der Folter (CPT). Veröffentlichungen vor allem zu Innen- und Sicherheitspolitik in Lateinamerika und Asien, Vereinte Nationen, internationaler Menschenrechtspolitik, zum Verhältnis zwischen internationaler Terrorismusbekämpfung und Menschenrechtsschutz.

Ein »weiter so« ist ausgeschlossen

Ein »weiter so« ist ausgeschlossen

Das Nein zur EU-Verfassung in FR und den NL als Chance nutzen

von Tobias Pflüger

Nach dem Nein in Frankreich und den Niederlanden ist ein für den EU-Verfassungsvertrag positives Votum in Großbritannien nahezu ausgeschlossen. Nachdem Meinungsumfragen eine über 70prozentige Ablehnung verzeichneten, hat der englische Premierminister, Tony Blair, das Referendum vorläufig ausgesetzt, um seine politische Zukunft nicht zu gefährden. Die Wahrscheinlichkeit, dass in Dänemark, Irland, Tschechien oder Polen der EU-Verfassungsvertrag bei den dortigen Referenden eine Mehrheit bekommt wird damit immer geringer. Doch die Regierenden wollen ganz nach dem Motto »business as usual« weitermachen. So forderte Bundeskanzel Gerhard Schröder: „Der Ratifikationsprozess in den Mitgliedstaaten muss weitergehen.“ Eine Neuverhandlung des Vertrages wurde von ihm, genauso wie von EU-Präsident Barroso ausgeschlossen. Doch die Ratlosigkeit ist trotz Durchhalteparolen kaum zu übersehen.

Nach dem deutlichen Scheitern des EU-Verfassungsvertrages in Frankreich und den Niederlanden machen hilflose Erklärungsversuche die Runde. Kommissionspräsident Barroso sprach von widersprüchlichen Zielen der französischen und niederländischen Gegner des EU-Verfassungsvertrags. Ein „Bündnis von Ängsten“ habe zu der Ablehnung beigetragen. Barroso warnte vor „Schuldzuweisungen“. Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Europäischen Parlaments Elmar Brok sprach vom „Versagen der politischen Klasse.“ Den Verfassungsbefürwortern sei es nicht gelungen, den Menschen die Vorteile des Vertragsvertrags klarzumachen. Auf den ersten Blick erscheint die politische Klasse orientierungs- und ratlos: „Keiner kann jetzt genau sagen, wie es weitergeht“, meinte EU-Kommissar Günter Verheugen (SPD). Gleichzeitig beeilte er sich aber, das Abstimmungsergebnis als einen „Unfall“ zu bezeichnen, den es nun zu korrigieren gelte. Der belgische Außenminister gab seiner Hoffnung Ausdruck, dass dies „nicht das Ende des Verfassungsvertrages“ bedeute. EU-Handelskommissar Peter Mandelson dekretierte, dass „kein einzelner Mitgliedstaat ein Vetorecht habe“. Auch der spanische Ministerpräsident Zapatero will den Ratifikationsprozess einfach weitergehen lassen, als sei nichts geschehen. Europa sei die Lösung, „nicht das Problem.“ Für den EU-Beauftragten für die Außen- und Sicherheitspolitik, Javier Solana, sind „weder der Text des Verfassungsvertrages noch die Ideen, die er enthält. …tot.“ Seine Bitte, einfach weiter wie gehabt zu verfahren und nicht in eine „psychologische Starre zu verfallen“, klingt wie ein Pfeifen im Keller. Interessant ist auch die Haltung der Grünen in Deutschland. Ihr europapolitischer Sprecher entdeckte plötzlich berechtigte Kritik am Verfassungsvertrag, um im selben Atemzug die Verpflichtung zur „Verbesserung der militärischen Fähigkeiten“ im Verfassungsvertrag als Mittel zu „Abrüstung“ zu bezeichnen.

Das imperiale Projekt der EU-Strategen hat einen schweren Dämpfer erhalten, gerade deshalb suchen sie aber offensichtlich nach Möglichkeiten, soviel wie nur möglich von den Teilen des Verfassungsvertrages zu retten, mit dem die Militarisierung der EU festgeschrieben werden sollte. Obwohl noch keine endgültige Entscheidung getroffen worden ist, zeichnen sich erste Konturen und Optionen eines »Plan B« ab.

Optionen für den Plan B

Gemäß der getroffenen Vereinbarung, die auch im EU-Verfassungsvertrag in Artikel IV-443 (4) festgehalten ist, dass die EU-Staats- und Regierungschefs über das weitere Vorgehen beraten werden, sobald vier Fünftel, also 20 der EU-Staaten den Vertrag ratifiziert haben, möchte man wohl zumindest dieses Etappenziel erreichen. In der Zwischenzeit sollen schon mal Nägel mit Köpfen gemacht werden. Eine detaillierte Darstellung der möglichen Optionen wurde vom Centrum für angewandte Politikforschung (CAP) der Bertelsmannstiftung erstellt, dem wohl wichtigsten Think Tank bezüglich der Ausgestaltung des Verfassungsvertrags. Die CAP-Autoren schlagen vor, in der nun eintretenden Zwischenphase soviel wie möglich Bestimmungen irreversibel in die Praxis umzusetzen: „Die frühzeitige Implementierung bestimmter Verfassungsneuerungen wird nicht nur die Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit der EU-25 verbessern. Darüber hinaus werden politische Tatsachen geschaffen, von denen die EU-Mitgliedstaaten auch im Falle eines endgültigen Scheiterns der Verfassungsratifikation nur schwerlich abrücken können.“ Dies könnte beispielsweise den weiteren Ausbau der Europäischen Rüstungsagentur betreffen. Die eigentliche Schwierigkeit ist allerdings, dass Regelungen, die substanziell in das bestehende Mächtegleichgewicht der Union eingreifen, grundsätzlich ratifizierungspflichtig sind. Damit die diesbezüglichen Bestimmungen des Verfassungsvertrages, insbesondere die Neuregelung der Stimmengewichtung zu Gunsten der EU-Großmächte, in Kraft treten können, ist aber dessen Annahme durch sämtliche Mitgliedsstaaten, also auch den Nein-Sagern, erforderlich. Für ein Inkrafttreten des Vertrages müssten entweder die Ja-Länder eine neues Staatenbündnis auf der Grundlage des EU-Verfassungsvertrages bilden, oder aber die Nein-Sager aus der Union austreten, beziehungsweise dem Vertrag doch noch zustimmen. Eine wie auch immer geartete Koexistenz innerhalb der Europäischen Union zwischen Staaten, die auf Grundlage des Nizza-Vertrages Mitglied sind und denen, für die der EU-Verfassungsvertrag Geschäftsgrundlage ist, ist unmöglich.

Deshalb haben die Regierenden ein außerordentliches Interesse daran, dass es unter allen Umständen zur Annahme des Verfassungsvertrages kommt, und deshalb streben Europa-Ideologen, wie der Sozialdemokrat Jo Leinen bereits ein neues Referendum in Frankreich an. Für den luxemburgische EU-Ratspräsidenten, Jean-Claude Juncker, müssen sich die „Länder, die Nein gesagt haben, …mit der Abstimmungsfrage erneut auseinandersetzen.“ Als Extrembeispiel denken die CAP-Autoren sogar die Möglichkeit an, in Frankreich könne „ein zweites Referendum mit der Frage nach der Zukunft der französischen EU-Mitgliedschaft verbunden werden.“ Die EU-Ideologen lernen aus ihrem Scheitern bei der Abstimmung vor allem, dass sie in Zukunft die Propagandamaschinerie besser ölen sollten, um alle, die sich ihrem Projekt eines neoliberalen und militaristischen Europa widersetzen, auch in Zukunft als Nationalisten diffamieren zu können. Die besondere Attraktivität einer Verabschiedung des Verfassungsvertrages im Gesamtpaket liegt darin, dass es deutlich schwieriger sein wird, die ebenfalls konsensuell erforderliche Ratifizierung einzelner Aspekte zu erreichen. Man wird allerdings sehen müssen, inwieweit diese Option auch nur kurzfristig eine Zukunft hat, da es augenblicklich fraglich ist, ob überhaupt genug Länder den Vertrag ratifizieren werden.

Da ein erzwungener Austritt Frankreichs oder sogar mehrerer Länder aus der EU undenkbar ist, überlegen sich die EU-Strategen gegenwärtig eine weitere Option. Sie sähe vor, wesentliche Aspekte, insbesondere die Stimmengewichtung, aus dem Gesamtpaket auszugliedern und stattdessen über Änderungen der europäischen Verträge zu beschließen. Dies würde zwar auch eine Ratifikation durch sämtliche Einzelstaaten erfordern, zöge aber nicht zwingend Referenden nach sich, womit deren Verabschiedung wahrscheinlicher würde. Laut CAP-Studie betrifft dies „vor allem die Neuerungen der EU-Institutionen. Hierzu gehören unter anderen die Einführung eines Präsidenten des Europäischen Rates, die Etablierung des Entscheidungsverfahrens der »doppelten Mehrheit«, die Verkleinerung der Kommission, die Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen im Ministerrat und die Schaffung des Amtes eines EU-Außenministers sowie die Stärkung der Rechte des EP und der nationalen Parlamente.“ In fast allen dieser Fälle „wäre jedoch eine förmliche Änderung der europäischen Verträge erforderlich. Anstelle einer umfassenden Neuverhandlung könnten einzelne Aspekte des Verfassungsvertrages herausgegriffen (z.B. die »doppelte Mehrheit«) und im Wege einer kurzfristig einberufenen Regierungskonferenz (»Mini-Regierungskonferenz«) oder über eine Inkorporation in künftige Beitrittsverträge in Kraft gesetzt werden. Da nur einige wenige Änderungen der europäischen Verträge zu beschließen wären, könnten die meisten Mitgliedstaaten auf die Durchführung eines neuen Referendums verzichten.“

Man möchte also die Entscheidungskompetenz über die künftige Ausrichtung der Europäischen Union wieder weg von ihren BürgerInnen und hin zu den Regierungen verlagern. Allerdings dürfte sich besonders die Neuregelung der Stimmgewichtung als extrem schwierig erweisen. Insbesondere Polen, aber auch alle mittelgroßen- und kleinen EU-Länder werden hierdurch massiv benachteiligt, das war der Hauptgrund für Warschaus ursprünglich heftigen Widerstand gegen den Verfassungsvertrag. Die ausgerechnet von Deutschen gegenüber Polen ausgesprochenen Drohungen, um die Bevölkerung und die Politiker »umzustimmen«, ließen in den letzten Monaten an Schärfe nichts vermissen. CAP-Leiter Werner Weidenfeld: „Polen wird sehr schnell spüren, was es bedeutet, alleine den historischen Kurs Europas aufhalten zu wollen. Von der Finanzplanung bis zur Strukturpolitik wird der polnischen Regierung ein eisiger Wind ins Gesicht wehen – was naturgemäß die Verhandlungsbereitschaft wachsen lässt und die innenpolitische Bereitschaft zum Kompromiss fördert.“

Nachdem mit Spanien Polens letzter Verbündeter seine Position gewechselt hatte, gab das Land zwar seinen Widerstand gegenüber dem Verfassungsvertrag auf, ob solche Drohungen es aber dazu bewegen werden, eine Regelung, die ausschließlich die EU-Großmächte begünstigt, außerhalb eines umfassenden Gesamtpakets namens Verfassung zu schlucken, ist mehr als zweifelhaft.

Verfassung ist abgelehnt – jetzt auch die Militarisierung ablehnen

Zwar ist damit zu rechnen, dass Europas Militärstrategen versuchen werden, auf ein »Weiter so!« zu drängen und den Pfad einer hochgerüsteten global kriegsführenden Militärmacht EU weiter verfolgen, dieses Bestreben entbehrt aber nach dem Referendum in Frankreich jeglicher, schon vorher fraglichen Legitimation. Deutsche Konservative, wie der CDU-Außenpolitiker Karl Lamers, ziehen aus der französischen Abstimmung allerdings ganz andere Schlussfolgerungen. Für sie geht es nicht um eine Abkehr, sondern um eine Intensivierung des EU-Militarisierungskurses. Er fordert als Konsequenz aus dem französischen Referendum, die EU-Armee „könnte Katalysator einer gemeinsamen Außenpolitik und Gegenstück zu einer gemeinsamen Währung sein.“ Berlin und Paris müssten ihre „im vergangenen Jahr begonnene Initiative für eine europäische Armee wieder aufgreifen und gemeinsam mit Spanien entschlossen vorantreiben.“ Ein Projekt wie es Lamers vorschlägt, ist aber kaum auf Grundlage des gültigen Nizza-Vertrages möglich, der unmissverständlich klarstellt, verstärkte Zusammenarbeit „kann nicht Fragen mit militärischen oder verteidigungspolitischen Bezügen betreffen.“

Was aber bedeutet das Nein für die Linke?

Zum einen ist bemerkenswert, dass unisono – von den neuen sozialen Bewegungen bis hin zum DGB – das Ergebnis als Forderung nach einem sozialeren Europa interpretiert wird. Alle Umfragen in Frankreich über die Hauptmotivation des Nein bestätigen diese Sichtweise. Das bedeutet, dass jetzt der Kampf gegen Neoliberale und Europa-Ideologen um einen anderen Verfassungsvertrag begonnen werden muss. Diese Auseinandersetzung muss von links offensiv mit eigenen Eckpunkten für einen anderen Verfassungsvertrag angegangen werden. Ein kompletter Gegenentwurf macht keinen Sinn, da es über die konkreten Zuständigkeiten der verschiedenen EU-Institutionen und bzgl. detaillierter Regelungen in einem möglichen zukünftigen EU-Verfassungsvertrag in der Linken, der Friedensbewegung und der globalisierungskritischen Bewegung sehr unterschiedliche Auffassungen gibt. Die Verständigung auf Grundsätze ist hier eine gute Möglichkeit, doch Einigung zu erzielen.

Es beginnt das Ringen darum, dass die ablehnenden Voten in Frankreich und den Niederlanden nun auch inhaltlich Ernst genommen werden. Das gilt auch für das Nein zur Militarisierung der Europäischen Union. Sie verliert mit den Ergebnissen der Referenden in Frankreich und den Niederlanden ihre Grundlage. Genau die inhaltliche Kritik, die von Links am Verfassungsvertrag geübt wurde (Neoliberale Wirtschaftspolitik, Militarisierung und inhaltsleere Grundrechtscharta) muss nun vertieft werden. Die Politik der EU in diesen Bereichen muss nun auch von den sozialen Bewegungen stärker in den Blick genommen werden.

Mit der Absage an diesen EU-Verfassungsvertrag ist auch jede vertragliche Übereinkunft zur EU-Militarisierung gescheitert. Daraus folgt nicht nur, dass dieser Prozess sofort zu stoppen ist, sondern auch, dass die konkreten Schritte zur Militarisierung, die im Vorgriff auf den Verfassungsvertrag bereits umgesetzt oder eingeleitet wurden, nun zurückgenommen werden müssen. Was die Staats- und Regierungschefs unter sich auf den EU-Gipfeln vereinbart haben, muss nach dem Scheitern des EU-Verfassungsvertrages zugunsten einer zivilen EU zurückgenommen werden. Das bedeutet konkret, um nur einige Stichworte der EU-Militarisierung der letzten Jahre zu nennen:

  • Auflösung der Battle Groups und den Verzicht auf das vorgesehene Aufstellungsprogramm der Schlachtgruppen,
  • Auflösung der Rüstungsagentur,
  • Ende der militärischen Kerneuropaprogramme, d.h. keine Umsetzung der »strukturierten Zusammenarbeit«,
  • Stopp der Aufrüstungsprojekte, die die EU für die globale Kriegsführung fit machen sollen,
  • keine weitere heimliche Umsetzung einer Aufrüstungsverpflichtung,
  • Beendigung der engen Kooperation der EU mit der NATO und in diesem Zusammenhang eine Kündigung des Berlin Plus-Rahmenabkommens, dass den Rückgriff auf NATO-Kapazitäten regelt,
  • Beendigung von Militäreinsätzen der EU, die beispielsweise mit der ALTHEA-Mission in Bosnien für eine Ausweitung des Einsatzspektrums in Richtung militärische Terrorbekämpfung und Kriegen zur angeblichen »Abrüstung« Dritter für die EU-Interventionstruppen, als vorbereitende Testfelder dienen.

Ausblick

Das Scheitern des EU-Verfassungsvertrags eröffnet die Möglichkeit für eine andere Politik. Dies gilt insbesondere für den Bereich der Militär- und Außenpolitik. Die aus der Kritik am und der Ablehnung des EU-Verfassungsvertrags in Frankreich und den Niederlanden gewonnene Kraft muss in konkrete Kampagnen gegen die EU-Militarisierung umgesetzt werden.

Tobias Pflüger ist Vorstandsmitglied der Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. und Mitglied des Europaparlaments. Er ist Mitglied der Links-Fraktion (GUE/NGL), des Auswärtigen Ausschusses und des Unterausschusses Sicherheit und Verteidigung.

Atomwaffenverzicht ins deutsche Grundgesetz

Atomwaffenverzicht ins deutsche Grundgesetz

von Bernd Hahnfeld

Im März 2006 trafen sich in Hannover etwa 50 deutsche Stadtoberhäupter bzw. deren Vertreter, um über ihre Möglichkeiten zu diskutieren, Schritte zur nuklearen Abrüstung zu fördern. Die Bürgermeister, allesamt Mitglieder der Organisation Mayors for Peace, luden zum Gedankenaustausch einige Experten der zivilgesellschaftlichen Kampagne »Abrüstung wagen! atomwaffenfrei bis 2020« ein. Die Kampagne nutzte die Gelegenheit – und die Anwesenheit des Staatsministers im Auswärtigen Amt, Gernot Erler –, um einen konkreten Vorschlag in die politische Debatte einzuführen.

Die Frage nach den Atomwaffen ist nicht nur eine politische, ökonomische oder militärische Angelegenheit. Sie hat auch eine rechtliche Seite. Die Frage, die sich Politiker leider viel zu selten stellen: „Dürfen wir das überhaupt?“ ist in diesem Fall eindeutig zu beantworten: Nein, sie dürfen nicht! Sie dürfen Atomwaffen weder stationieren noch einer Stationierung zustimmen oder sie dulden; sie dürfen deutsche Soldaten den Atomwaffeneinsatz nicht üben lassen; sie dürfen nicht an Einsatzbefehlen mitwirken; auch dürfen sie deutsche Soldaten nicht an Einsätzen beteiligen. Sie dürfen noch nicht einmal im Rahmen der NATO an der Nuklearstrategie mitwirken.

Woraus ergibt sich das? Aus dem Völkerrecht und aus dem deutschen Recht. Völkerrecht ist Völkergewohnheitsrecht und Völkervertragsrecht.

Das zugrundeliegende Völkergewohnheitsrecht ist nach Art. 25 Grundgesetz (GG) vorrangiges Bundesrecht. Art. 25 GG hat folgenden Wortlaut: „Die allgemeinen Regeln des Völkerrechts sind Bestandteil des Bundesrechts. Sie gehen den Gesetzen vor und erzeugen Rechte und Pflichten unmittelbar für die Bewohner des Bundesgebietes.“ Die zugrunde liegenden völkerrechtlichen Verträge sind durch Ratifizierungen innerstaatliches Recht geworden.

Das Völkergewohnheitsrecht verbietet im humanitären Kriegsvölkerrecht zwingend die Verwendung von Waffen,

  • die nicht unterscheiden zwischen kämpfender Truppe (Kombattanten) und der Zivilbevölkerung,
  • die unnötige Grausamkeiten und Leiden verursachen und
  • die unbeteiligte und neutrale Staaten in Mitleidenschaft ziehen.

Das können die existierenden Atomwaffen nicht, auch nicht die biologischen und chemischen Massenvernichtungswaffen.

Für die Atomwaffen hat das der Internationale Gerichtshof (IGH) in Den Haag in seinem auf Ersuchen der UN-Generalversammlung erstatteten Gutachten vom 8.7.1996 unzweideutig festgestellt: „…die Androhung und der Einsatz von Atomwaffen verstößt generell/grundsätzlich gegen die Prinzipien und Regeln des humanitären Kriegs-Völkerrechts.“ Offengelassen hat der IGH lediglich die Völkerrechtswidrigkeit im Falle einer existenzgefährdenden extremen Notwehrsituation.

Aus der IGH-Entscheidung ergibt sich jedoch, dass selbst im Falle einer extremen Notwehrsituation, in der das Überleben eines Staates auf dem Spiel steht, ein etwaiger Atomwaffeneinsatz allenfalls dann völkerrechtsgemäß sein könnte, wenn er die zitierten Prinzipien und Regeln des humanitären Kriegsvölkerrechts beachten könnte:

  • die Unterscheidung zwischen Soldaten und Zivilbevölkerung,
  • keine Verursachung unnötiger Leiden und
  • keine Mitleidenschaft unbeteiligter und neutraler Staaten.

Der IGH hat in dem Gutachten erklärt, dass keiner der Staaten, die in dem Verfahren für die Rechtmäßigkeit des Atomwaffeneinsatzes eingetreten sind, Bedingungen dargelegt hat, unter denen ein Einsatz gerechtfertigt sein könnte. Wenn der Einsatz und die Drohung mit dem Einsatz rechtswidrig sind, sind auch Herstellung, Transport und Stationierung dieser Atomwaffen nicht zu rechtfertigen. Denn all das dient der Vorbereitung des Einsatzes und der Drohung damit. Hingewiesen sei noch darauf, dass die »nukleare Teilhabe« Deutschlands, d.h. die Beteiligung deutscher Soldaten und Flugzeuge an einem etwaigen Atomwaffeneinsatz, gegen den Atomwaffensperrvertrag und gegen den 2+4-Vertrag verstößt, weil damit deutsche Hoheitsträger die Verfügungsgewalt über Atomwaffen erhielten.

Was treibt unsere Politiker dazu, sich offen gegen das Recht zu stellen, indem sie die Stationierung US-amerikanischer Atomwaffen in Büchel und Ramstein dulden oder ihr sogar ausdrücklich zustimmen und indem sie deutsche Soldaten und Flugzeuge für den Atomwaffeneinsatz bereithalten?

Anknüpfend an den Wunsch der grossen Mehrheit der Deutschen und an Initiativen wie die »Mayors for Peace«, die sich für einen Atomwaffenverzicht aussprechen, stellt sich Frage: Gibt es eine Möglichkeit, die Atomwaffenfreiheit rechtlich so zu gestalten, dass ein Verstoß dagegen in Zukunft nicht mehr vorstellbar wird? Es gibt sie!

Der bisherige Verzicht Deutschlands auf Atomwaffen steht auf rechtlich schwachen Füßen. Er beruht auf drei Grundlagen:

  • der Erklärung Adenauers vom 23.10.1954 im Rahmen der Pariser Verträge, dass die Bundesrepublik sich verpflichtet, Atomwaffen, chemische und biologische Waffen auf ihrem Gebiet nicht herzustellen,
  • auf dem 1970 in Kraft getretenen Atomwaffensperrvertrag, mit dem Deutschland sich verpflichtet hat, Atomwaffen oder die Verfügungsgewalt darüber von niemanden anzunehmen, sie nicht herzustellen oder sonstwie zu erwerben, und
  • auf dem 2+4-Vertrag vom 12.9.1990, in dem Deutschland seinen Verzicht auf Herstellung und Besitz von und auf Verfügungsgewalt über atomare, biologische und chemische Waffen bekräftigt hat.

Auf schwachen rechtlichen Füßen steht der deutsche Atomwaffenverzicht deshalb, weil in allen drei Regelungen Einschränkungen oder Vorbehalte enthalten sind, die deutlich werden lassen, dass die politischen Kräfte in Deutschland sich die Option auf eigene Atomwaffen stets offengehalten haben:

  • Adenauers Erklärung aus dem Jahr 1954 betraf nur die Herstellung in Deutschland. Sie wurde zudem durch den damaligen US-Außenminister ausdrücklich unter den Vorbehalt der »clausula rebus sic stantibus« gestellt, d.h. der Verzicht sollte nur gelten, solange die zugrundeliegenden Verhältnisse sich nicht ändern.
  • Der deutsche Verzicht im Atomwaffensperrvertrag sollte unter dem Vorbehalt einer europäischen Lösung und außerdem unter einem Kriegsvorbehalt stehen, beides zwar unwirksame Einschränkungen, aber Versuche, die Wirksamkeit zu begrenzen. Zudem ist der Atomwaffensperrvertrag kündbar. Eine Kündigung hätte zur Folge, dass der Verzicht nur noch auf der – eingeschränkten – Erklärung Adenauers aus dem Jahre 1954 beruhte.
  • Im 2+4-Vertrag wird lediglich der frühere Verzicht „bekräftigt“, d.h. nur der Verzicht Adenauers und der Verzicht im Atomwaffensperrvertrag wiederholt. Deren Grenzen habe ich bereits aufgezeigt.

Wenn Deutschland ernsthaft auf eigene Massenvernichtungswaffen und auf die Teilhabe an den Massenvernichtungswaffen anderer Staaten verzichten will, so ist eine verfassungsrechtliche Regelung überfällig. Ein ausdrücklicher Verzicht im Grundgesetz hätte eine klarstellende Wirkung. Er wäre nur unter erschwerten Bedingungen abänderbar und würde vor allem deutsche Politiker unmittelbar verpflichten, ohne ihnen Schlupflöcher zu lassen. Künftig hieße es unmissverständlich: Hände weg von ABC-Waffen!

Entsprechend sind die Fraktionen des Bundestages, der Bundesrat und die Bundesregierung aufzufordern, das Grundgesetz wie folgt zu ergänzen:

Art. 26 a (Verzicht auf Massenvernichtungswaffen)

(1) Deutschland verzichtet auf Entwicklung, Herstellung und Besitz von und auf Verfügungsgewalt über atomare, biologische und chemische Waffen.

(2) Diese Waffen dürfen weder durch noch über Deutschland transportiert noch auf dem Staatsgebiet gelagert oder bereit gehalten werden.

(3) Deutschland setzt sich mit Nachdruck dafür ein, dass es zur Aufnahme von Verhandlungen der Atomwaffenstaaten und ihrer jeweiligen Verbündeten kommt, die in redlicher Absicht geführt werden und darauf gerichtet sind, wirksame Maßnahmen zur weltweiten vollständigen nuklearen Abrüstung in naher Zukunft unter strenger und wirksamer internationaler Kontrolle zu erreichen.

(4) Deutschland wird sich künftig in keiner Form an einem Einsatz atomarer, biologischer oder chemischer Waffen beteiligen, und zwar weder durch Bereitstellung von Trägersystemen oder durch sonstige Formen der Unterstützung noch durch Mitarbeit in bilateralen oder multilateralen Gremien, die sich mit dem Einsatz solcher Waffen oder dessen Vorbereitung befassen.

Abs. 1 entspricht im wesentlichen der Formulierung in Art. 3 des 2+4-Vertrages, ergänzt um den Begriff der »Entwicklung«, um sowohl Arbeiten an derartigen Waffenprogrammen als auch einen Technologietransfer in andere Staaten zu verhindern.

Die im Verzicht Adenauers und im 2+4-Vertrag enthaltenen biologischen und chemischen Waffen sind den Atomwaffen vergleichbare Massenvernichtungswaffen und deshalb in die Regelung einzubeziehen. Das Genfer Protokoll vom 17.6. 1925 über das »Verbot der Verwendung von erstickenden, giftigen und ähnlichen Gasen sowie von bakteriologischen Mitteln im Kriege« verbietet lückenlos den Einsatz chemischer und biologischer Kampfmittel jeglicher Art gegen jegliches Ziel. Die Einbeziehung von chemischen Waffen ist auch geboten im Hinblick auf das »Übereinkommen über das Verbot der Entwicklung, Herstellung, Lagerung und des Einsatzes chemischer Waffen und über die Vernichtung solcher Waffen«vom 13.1.1993.

Die Regelung des Abs.2 ist geboten, um die bundes- und völkerrechtswidrige Stationierung derartiger Massenvernichtungswaffen in Deutschland und ihren Transport verfassungsrechtlich zu erfassen, ihren Abzug einzuleiten und künftige Stationierungen zu verhindern.

Abs. 3 knüpft an die Verpflichtung aus Art. VI Atomwaffensperrvertrag an und gibt der vom IGH nochmals ausdrücklich betonten Rechtspflicht zur zügigen atomaren Abrüstung Verfassungsrang.

Mit Abs. 4 wird Deutschland verboten, sich im Rahmen von Bündnissen an der Verfügungsgewalt über und dem Einsatz von Massenvernichtungswaffen zu beteiligen. Damit wird hervorgehoben, dass Bündnisverpflichtungen niemals eine Rechtfertigung für die Drohung mit oder die Anwendung von ABC-Waffen sein können.

Deutschland stände mit einer verfassungsrechtlichen Regelung nicht allein. Der Nationalrat der Bundesrepublik Österreich hat 1999 ein Bundesverfassungsgesetz für ein atomfreies Österreich beschlossen, das hinsichtlich der Atomwaffen folgenden Wortlaut hat: „§ 1. In Österreich dürfen Atomwaffen nicht hergestellt, gelagert, transportiert, getestet oder verwendet werden. Einrichtungen für die Stationierung von Atomwaffen dürfen nicht geschaffen werden. § 5. Die Vollziehung dieses Bundesverfassungsgesetzes obliegt der Bundesregierung.“

Die Verfassungen der Staaten Brasilien, Philippinen und Palau verbieten ebenfalls Atomwaffen. Auch Neuseeland ist kraft Gesetzes atomwaffenfrei, und die Mongolei hat sich gar als einzelnes Land zur atowaffenfreien Zone erklärt. Überdies gibt es fünf multilaterale Verträge über atomwaffenfreie Zonen, die fast die komplette Südhalbkugel der Erde abdecken.1 Deutschland befände sich also mit der grundgesetzlichen Absicherung der Atomwaffenfreiheit in guter Gesellschaft.

Der US-amerikanische Verteidigungsminister Rumsfeld hat im Frühjahr 2006 in einem Interview den Weg zu einem atomwaffenfreien Deutschland aufgezeigt, indem er erklärte, es sei ausschließlich Sache der Deutschen selbst, über die weitere Stationierung von Atomwaffen in Deutschland zu entscheiden.

Anmerkungen

1) Informationen zu den atomwaffenfreien Zonen finden sich unter www.opanal.org/NWFZ/NWFZ's.htm.

Bernd Hahnfeld ist Richter im Ruhestand und Vorstandsmitglied der deutschen Sektion von IALANA (International Association of Lawyers Against Nuclear Arms). Er arbeitet mit im deutschen Trägerkreis »Atomwaffen abschaffen – bei uns anfangen!« und in der Kampagne »Abrüstung wagen! atomwaffenfrei bis 2020«.

Rechtliche Grenzen des Gehorsams

Rechtliche Grenzen des Gehorsams

Auch Soldaten dürfen Befehle verweigern

von Helga Wullweber

Nachdem der Irakkrieg am 20.03.2003 begonnen hatte, verweigerte ein Major der Bundeswehr die Weiterarbeit an einem IT-Projekt, weil er davon ausgehen musste, dass mit diesem Projekt die Beteiligung der Bundeswehr am Irak-Krieg unterstützt werde und seine Vorgesetzten das nicht ausschließen konnten.

Zur Beteiligung Deutschlands stellte das Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) am 21.06.2005 fest (Az.: 2 WD 12.04): Die Vorgesetzten waren vom Verteidigungsministerium darüber informiert worden, dass die Bundesregierung – obgleich sie erklärt hatte, ein militärisches Vorgehen gegen den Irak abzulehnen – den USA und Großbritannien vor Kriegsbeginn Überflugrechte, Nutzung der US-Einrichtungen in Deutschland und Schutz dieser Einrichtungen zugesagt hat. Hieraus resultiere, dass Deutschland »Drehscheibe« für den Einsatz der US-Streitkräfte im Irak ist.

Das BVerwG sprach den Soldaten vom Vorwurf des Dienstvergehens frei. Er habe nicht gegen die ihm nach dem Soldatengesetz obliegende Gehorsamspflicht verstoßen, weil er rational nachvollziehbar sich darauf berufen hat, dass ihn die Ausführung des militärischen Befehls in ernste Gewissensnöte gebracht hätte und ihm deshalb nicht zumutbar war.

Das BVerwG wertete die rechtlichen Bedenken des Soldaten nicht nur als eine ernsthafte und diskussionswürdige Meinung, deren Richtigkeit dahin stehen kann. Das BVerwG prüfte die Rechtslage, um Anhaltspunkte für die rationale Nachprüfbarkeit der Gewissensentscheidung des Soldaten zu erlangen. Verblüffendes Ergebnis ist, dass die verfassungs- und völkerrechtlichen Bedenken des Soldaten gegen die Unterstützungsleistungen Deutschlands für den Irak-Krieg mit den Vorgaben der vom Bundesminister der Verteidigung erlassenen Zentralen Dienstvorschrift (ZDv) 15/2 vom August 1992 übereinstimmen.

Das BVerwG zeigt, dass das Grundrecht der Freiheit des Gewissens (Art. 4 Abs. 1 GG) auch für Soldaten gilt und nicht durch das Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung (Art. Abs. 3 GG) verdrängt wird. Bereits die Grundregelung zur Gehorsamspflicht eines Soldaten im Soldatengesetz (§ 11 Abs. 1 S. 2) beziehe sich auf die Freiheit des Gewissens, indem sie dem Soldaten auferlegt, einen Befehl „gewissenhaft“ auszuführen, also nicht gewissenlos, und fordere einen mitdenkenden und insbesondere die Folgen der Befehlsausführung – gerade im Hinblick auf die Schranken des geltenden Rechts und die ethischen »Grenzmarken« des eigenen Gewissens – bedenkenden Gehorsam.

In dieser Grundregelung zur gewissenhaften, dem Gewissen verhafteten, Befehlsausübung scheint die Geschichte der Bundeswehr auf. Bei der in den Jahren 1955/56 erfolgten Aufstellung der Bundeswehr sei in den Wehrgesetzen ausdrücklich bestimmt worden, dass Soldaten die gleichen staatsbürgerlichen Rechte wie jeder andere Staatsbürger haben und die Soldaten „Staatsbürger in Uniform“ sind (§ 6 Satz 1 SG). Um jede Sonderstellung der Streitkräfte im demokratischen und sozialen Rechtsstaat des Grundgesetzes (Art. 20 Abs. 1 GG) hinsichtlich der Bindung an die Grundrechte (Art. 1 Abs. 3 GG) sowie an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 GG) zu verhindern, sei 1956 Art. 1 Abs. 3 GG dahingehend geändert worden, dass die Grundrechte außer für Gesetzgebung und Rechtssprechung für „die vollziehende Gewalt“, zu der die Streitkräfte zählen, gelten (statt wie vorher für „die Verwaltung“). Die Erteilung eines militärischen Befehls steht deshalb unter dem Vorbehalt seiner Grundrechtskonformität.

Das BVerwG betont, dass Gewissensfreiheit nicht heißt, willkürlich nach eigenem Gesetz zu leben und zu handeln. Die Berufung auf die Gewissensfreiheit, um die Unzumutbarkeit der Befolgung eines Befehls zu begründen, wird als eine von mehreren rechtlichen Grenzen des Gehorsams (neben sechs weiteren rechtlichen Konstellationen) eines Soldaten aufgeführt. Diese rechtlichen Grenzen des soldatischen Gehorsams lassen erkennen, dass ein Soldat nicht vordergründig und leichtfertig Gründe geltend machen kann, will er einen Befehl unter Berufung auf seine Gewissensfreiheit verweigern. Für den Soldaten rechtlich unverbindlich ist u.a. auch ein Befehl, dessen Ausführung die Menschenwürde verletzen würde oder der nicht zu dienstlichen Zwecken, d.h. nicht zur Erfüllung der durch das Grundgesetz (abschließend) festgelegten Aufgaben der Bundeswehr, erteilt worden ist oder dessen Erteilung oder Ausführung als Handlung zu qualifizieren ist, die geeignet ist und in der Absicht vorgenommen wird, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten (Art. 26 Abs.1 Satz 1 GG), oder dessen Erteilung oder Ausführung gegen die »allgemeinen Regeln des Völkerrechts« im Sinne des Art. 25 GG verstößt, zu denen u.a. das völkerrechtliche Gewaltverbot und die grundlegenden Regeln des humanitären Kriegsvölkerrechts gehören.

Als Gewissensentscheidung beschreibt das Bundesverwaltungsgericht jede ernste sittliche, d.h. an den Kategorien von »Gut« und »Böse« orientierte Entscheidung, die der Einzelne in einer bestimmten Lage als für sich bindend und unbedingt innerlich verpflichtend erfährt, so dass er gegen sie nicht ohne ernste Gewissensnot handeln könnte. Da der Gewissensappell »als innere Stimme« des Soldaten nur mittelbar aus entsprechenden Indizien und Signalen, die auf eine Gewissensentscheidung und Gewissensnot hinweisen, und zwar nur über das Medium der Sprache, erschlossen werden könne, prüft das BVerwG, ob eine nach außen tretende, rational mitteilbare und nach dem Kontext intersubjektiv nachvollziehbare Darlegung der Ernsthaftigkeit, Tiefe und Unabdingbarkeit (im Sinne einer absoluten Verbindlichkeit) der Gewissensentscheidung des angeklagten Soldaten positiv festgestellt werden kann.

Das BVerwG befasst sich deshalb mit der Konfliktsituation des Soldaten und stellt fest: Seine Gewissensentscheidung fand in einem Kontext statt, der von, auch für einen zum Waffeneinsatz nach wie vor bereiten Berufssoldaten, besonderen Umständen geprägt war. Hintergrund und Anlass für sein Handeln war der Krieg gegen den Irak, gegen den gravierende rechtliche Bedenken im Hinblick auf das Gewaltverbot der UN-Charta und das sonstige geltende Völkerrecht bestanden und bestehen. Diese Situation habe der Soldat weder vordergründig noch leichtfertig angenommen noch bewusst herbeigeführt.

Sodann zeigt das BVerwG anhand der ZDv 15/02, dass die völkerrechtlichen Bedenken des Soldaten gegen die von der Regierung der Bundesrepublik Deutschland zugesagten Unterstützungsleistungen, die für ihn Veranlassung zur Befehlsverweigerung waren, berechtigt waren und sind. Die Regelungen der ZDv 15/2 beinhalten in Übereinstimmung mit dem völkerrechtlichen Neutralitätsrecht (V. Haager Abkommen vom 18.10.1907, in Deutschland in Kraft seit dem 25.10.1910), dass ein Staat, der an einem bewaffneten Konflikt zwischen anderen Staaten nicht beteiligt ist, den Status eines »neutralen Staates« hat. Das Gebiet eines »neutralen Staates« ist „unverletzlich“; jede Kriegshandlung ist darauf untersagt, insbesondere „Truppen oder Munitions- oder Verpflegungskolonnen durch das Gebiet einer neutralen Macht hindurchzuführen“ oder Nachrichten vermittelnde „Anlagen“ zu nutzen. Gemäß der ZDv 15/2 darf ein »neutraler Staat«, der die Bundesrepublik Deutschland im Hinblick auf den allein von den USA und ihren Verbündeten geführten Krieg gegen den Irak ist, auf seinem Territorium „keine der Konfliktparteien unterstützen“ und keine kriegsunterstützenden Handlungen dulden. Die ZDv 15/02 bestimmt u.a. auch, dass der »neutrale Staat« zum aktiven Tätigwerden und damit zum Einschreiten verpflichtet ist, wenn Neutralitätsverletzungen begangen werden. Die Streitkräfte einer Konfliktpartei, die sich auf dem Gebiet des »neutralen Staates« befinden, sind daran zu hindern, an den Kampfhandlungen teilzunehmen, und zu „internieren“.

Der Position der Bundesregierung, sie sei zu den Unterstützungsleistungen aufgrund der NATO-Verträge (incl. des Aufenthaltsvertrages für die US-Armee) politisch verpflichtet, widerspricht das BVerwG. Von den sich aus dem völkerrechtlichen Neutralitätsrecht ergebenden völkerrechtlichen Verpflichtungen sei Deutschland nicht dadurch freigestellt, dass es Mitglied der NATO ist, der auch die kriegführenden Staaten angehören. Es gebe keine Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland, entgegen der UN-Charta und dem geltenden Völkerrecht völkerrechtswidrige Handlungen von NATO-Partnern zu unterstützen.

Für die Gewissensentscheidung des Soldaten kam es nicht darauf an, dass er die sich aus dem als Verfassungsrecht geltenden Völkerrecht ergebende Rechtslage genau kannte. Der Soldat hatte zum einen vergeblich versucht, mit Hilfe seiner Vorgesetzten Klarheit zu gewinnen, ob er eventuell von fragwürdigen Grundlagen ausging. Zum anderen bedeuten – so das BVerwG – die rechtlichen Bedenken des Soldaten nicht, dass er nur die fehlende Legalität der deutschen Unterstützungsleistungen gerügt hätte: Für den Soldaten stellte vielmehr das geltende Völkerrecht das ethische Minimum dar. Das ist eine bedeutsame Facette der Befehlsverweigerung des Soldaten, weil in Erinnerung gerufen wird, dass UN-Charta und Menschenrechtskonvention keine beliebig veränderbaren Vertragswerke sind, sondern auf »überpositiven« Maßstäben beruhen, deren Kodifizierung wegen der Erfahrungen mit dem Faschismus und nach dem Inferno des 2. Weltkrieges gelang.

Wichtig ist schließlich der Hinweis des BVerwG darauf, dass die militärischen Vorgesetzten auch außerhalb des vom Soldatengesetz vorgeschriebenen staatsbürgerlichen und völkerrechtlichen Unterrichts verpflichtet sind, einem in einem Konfliktfall an der Rechtmäßigkeit eines Befehls zweifelnden Soldaten möglichst vollständig sowohl über die konfliktrelevanten Tatsachen als auch möglichst objektiv über die maßgebliche Rechtslage zu informieren: „Diese Unterrichtung muss sich – grundrechtskonform – daran orientieren, wie ein gegebenenfalls mit der Frage befasstes rechtsstaatliches Gericht die Sache voraussichtlich beurteilen würde.“ Die Vorgesetzten müssen sich also gründlich mit dem Verfassungs- und Völkerrecht befassen, dessen Beachtung ihnen überdies die Zentrale Dienstvorschrift aufgibt.

Im ersten »Mauerschützenurteil« vom 20.1.1992 hat das Landgericht Berlin den DDR-Grenzsoldaten zur Last gelegt, ihr Gewissen nicht „rechtzeitig“ geprüft zu haben. Um Wiederholungen zu verhindern, ist die rechtzeitige Information der Soldaten zu gewährleisten und dürfen Dritte, ob Soldaten oder nicht, nicht belangt werden, wenn sie Soldaten mit rechtlichen Zweifeln an ihrem Tun konfrontieren. Der Staatsbürger in Uniform ist verpflichtet, sich ein Urteil zu bilden über das, was er tut, um sein Gewissen prüfen zu können.

Helga Wullweber, Rechtsanwältin, Fachanwältin für Arbeits- und Sozialrecht in Berlin, ist Vorstandsmitglied der deutschen Sektion der IALANA

Ziviler Ungehorsam

Ziviler Ungehorsam

Menschenrechtliches Aufbegehren im Rechtsstaat

von Arnold Köpcke-Duttler

Wie die Anerkennung einer moralischen Pflicht zum Rechtsgehorsam gehört die Feststellung der Grenzen dieser Pflicht und einer eventuellen Pflicht zu Ungehorsam und Widerstand zum Jahrtausende alten Nachdenken über das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft (Staat). Allerdings taten und tun sich »beamtete« Nachdenker – d.h. die meisten – recht schwer mit dem zweiten Teil dieses Junktims. Man befürchtet vor allem, der Rückzug auf das Gewissen könne die sogenannte Kulturleistung des staatlichen Gewaltmonopols gefährden. Auch die Erfindung des »zivilen Ungehorsams« durch H.D. Thoreau konnte diese Befürchtungen kaum beschwichtigen. Der Verfasser des vorliegenden Beitrags beleuchtet vor diesem Hintergrund die Beziehung zwischen zivilem Ungehorsam und Rechtsordnung.

Um was es beim zivilen Ungehorsam im Kern geht, kann man kaum prägnanter zum Ausdruck bringen als mit den Worten Henry David Thoreaus (1817-1862): „Wenn aber das Gesetz so beschaffen ist, dass es notwendigerweise aus dir den Arm des Unrechts an einem anderen macht, dann, sage ich, brich das Gesetz. Mach dein Leben zu einem Gegengewicht, um die Maschine aufzuhalten.“1

Die Umwandlung dieser persönlichen Gehorsamsverweigerung aus Gewissensgründen in ein Mittel des politischen Kampfes ist im Wesentlichen Mohandas K. Gandhi (1869-1948) zu verdanken. Auf Gandhi geht auch die allgemeine Verbreitung des Ausdrucks »ziviler Ungehorsam« zurück, der zuvor nur im Zusammenhang mit dem Werk und der Lehre von Thoreau verwendet wurde und ursprünglich wahrscheinlich eine improvisierte Titelei seines posthumen Verlegers war.2 Gandhi fand im Übrigen bei Thoreaus nicht seine originäre Inspiration, wohl aber die Bestätigung dessen, was er bereits (in Südafrika) praktizierte – und eine ergiebige Zitatenquelle im Rahmen seiner Kampagnen. Mit der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung und dem Protest gegen den Vietnam-Krieg erreichte der zivile Ungehorsam seine bisherige Höchstkonjunktur. Martin Luther King (1929-1968) war schon als Student durch den Text von Thoreau in einen ersten Kontakt mit der Theorie des gewaltfreien Widerstands gekommen. In der „direkten gewaltfreien Aktion“, von der er lieber sprach, um nicht den Aspekt der Gesetzesübertretung zu betonen, fand er drei zentrale Dimensionen des Lebens: Selbstfindung in der Dialektik von Selbstveränderung und Änderung der Lebensbedingungen, Dufindung in Anteilnahme und Geschwisterlichkeit und Hoffnung aus der Erkenntnis von Unfertigkeit und Unvollendetheit.3

Diese kurze Genealogie des Zivilen Ungehorsams ist im Folgenden zunächst insbesondere im Hinblick auf den Beitrag Gandhis zu ergänzen und zu vertiefen. In den beiden anschließenden Teilen des Beitrags sollen dann Fragen der Beziehung zum einfachgesetzlichen Recht und zum Verfassungsrecht thematisiert werden.

Gandhi und die Gewalt des Staates

Anregungen zu Gewaltfreiheit und Kooperationsverweigerung gegenüber der politischen Macht erhielt Gandhi auch von Lew N. Tolstois (1828-1910) christlichem Anarchismus und dessen Lehre vom Widerstehen im Nicht-Widerstehen.4 In der Nachfolge des russischen Dichters und Pädagogen heißt es auch bei Gandhi, der Staat verkörpere die Gewalt in einer konzentrierten und organisierten Form.5 Die Armee, die Polizei, die Gerichte werden als gewaltvolle Institutionen kritisiert. Zugleich proklamiert Gandhi, dass das Gewissen und das Gesetz Gottes über aller weltlichen Autorität stehen, auch über dem Urteil der Mehrheit. Die Spiritualität von »satyagraha«, der machtlosen Macht der Wahrheit und des Leidens, verband er im Wissen um die Unaufhebbarkeit der Gewalt mit einem selbstlosen Handeln und Nicht-Handeln. Ebenso wie Thoreau galt ihm die Regierung als beste, die am wenigsten regiert, vielleicht sogar nicht regiert. Diese Idee einer »aufgeklärten Anarchie« (Michael Blume) nannte Gandhi auch »ramaraj«: Herrschaft Gottes auf Erden. Dazu gehört auch, dem Gesetz den Gehorsam zu verweigern, wenn es zum Arm des Unrechts gegen einen anderen Menschen wird. Blume fasst Gandhis Hoffen und Handeln gegen alle Formen der Gewalt zusammen: Macht gehe nicht nur aus gesetzgebenden Versammlungen hervor; der Zivile Ungehorsam wird als Schatzkammer der Macht gesehen, genauer: einer machtlosen Macht.6

Politisch gesprochen geht es um aufgeklärte, gewaltfreie Herrschaftskritik, um den zivilen Ungehorsam als Menschenrecht und Menschenpflicht zugleich. Ein wahrer Demokrat sei, wer auf gewaltfreiem Weg seine Freiheit, die seines Landes und die der Menschheit verteidige. Solange der Mensch ein Mensch sei, müsse er sich hüten, das Recht auf zivilen Ungehorsam aufzugeben. Diese Form des Ungehorsams wird von jedem kriminellen Ungehorsam unterschieden. Versuche, den zivilen Ungehorsam zu unterdrücken, betrachtet Gandhi als gewaltförmiges Bestreben, die Freiheit des Gewissens einzusperren. Die Erkenntnis des »satyagrahi«, des gewissensbestimmt und gewaltfrei Ungehorsamen, dass der zivile Ungehorsam zur (heiligen) Pflicht wird, wenn der Staat selber gesetzwidrig agiert oder seine Gesetze rechtswidrig sind, ist für manche Juristen schwer zu ertragen. Gandhi zufolge kann das Recht auf zivilen Ungehorsam aber nicht aufgegeben werden ohne Verlust der Selbstachtung. Der gewaltfrei Ungehorsame verstoße öffentlich gegen ein Gesetz, dessen Befolgung er als menschliche Schmach erachte, und nehme die Strafe für diesen Bruch ruhig auf sich. Die Einsicht in ein Gesetz, nicht die Furcht vor ihm, geben Gandhi also einen Maßstab, wobei der Ungehorsam als Ausdruck der Stärke verstanden und verbunden wird mit dem Glauben an die Wirkkraft des unschuldigen Leidens. Der Zivile Ungehorsam ist gezeichnet von Mut und Tapferkeit und von strikter Disziplin: Den Horizont bildet ein konstruktives Programm gegen die Gewalt der alten Gesellschaft und des Staates, seine Stärke beruht auf der Gewaltfreiheit in Gedanken, Worten und Taten.

Eine eingehendere Diskussion, ob Gandhis Selbstdisziplin nicht mit Gewalt gegen sich selbst erfolgte und ob er mit seinem Fasten nicht Zwang ausübte, kann hier nicht geführt werden. Gandhi stellte sich jedoch diesen Fragen, wobei er die Kraft des Selbst-Leidens von einem gegen sich selbst gewandten Zwang unterschied und beide von jenem Zwang, der in der Ausübung verletzender Macht gegen eine Person liegt, die zu einem bestimmten Verhalten gedrängt wird. Wer das Ziel des Fastens als egoistisch bestimmt ansehe, solle sich weigern, diesem Motiv nachzugeben, sich der Ausübung des Zwangs enthalten.

Ziviler Ungehorsam und Rechtsnormen

Der Rechtsphilosoph Arthur Kaufmann hat mit einem Seitenblick auf Martin Luther King gemahnt, Gewaltlosigkeit und Frieden seien nicht mittels Gewalt zu haben. Jedes ungeduldige Erzwingenwollen der Gewaltlosigkeit und des Friedens bedeute eine Niederlage für die Sache.7 Skeptisch gegenüber einer Vergeistigung des Gewaltbegriffs im Strafrecht – insbesondere dann, wenn sie sich immer weiter ausdehnt –, deutet Kaufmann darauf, dass mit Gewalt zwar nicht unbedingt ein rohes, wohl aber ein aggressives Verhalten gemeint sei, durch das Leib oder Leben der angegriffenen Person beeinträchtigt oder unmittelbar geschädigt werde. Ein bloßes Dasitzen stelle keine Gewalt dar.8 Falls eine demonstrierende Gruppe, die, um sich Gehör zu verschaffen, die ganze Breite einer Fahrbahn einnehme, Gewalt ausübe, sei auch eine Fronleichnamsprozession ein Gewaltakt. Jeder Mensch werde das als unsinnig bezeichnen. Kaufmann beurteilt Sitzstreiks von Gegnern der Nachrüstung, passiven Widerstand gegen die Stationierung von Raketen nicht als gewalttätige Nötigung, nicht als Entfaltung körperlicher Kraft gegen andere Menschen. Hellsichtig weist er nach, dass die Rechtsprechung – selbstwidersprüchlich – bei Vergewaltigung nie nur auf die Wirkung beim Opfer, auf das Empfinden der Frau abgestellt habe.

Diese Kritik einer selektiven Wahrnehmung von Gewalt bedeutet freilich keine Zustimmung zu rohem Handeln und zur Leugnung der Opferperspektive; vielmehr geht es um ein neues Durchdenken des Gewaltbegriffs auf dem Feld des Strafrechts: Ein passives, nicht-aggressives Verhalten ist keine Gewalt im strafrechtlichen Sinn. In einem tiefer gehenden Sinn konnte Gandhi auch Spuren der Gewalt z.B. in einem Sitzstreik von Studenten entdecken, die andere Menschen durch ihr Verhalten zwingen, sie – wider Willen – zu verletzen oder körperlich zu bedrängen. Eine solch hohe Empfindlichkeit gegenüber subtilen Formen der Gewalt mag Gandhi besessen haben; doch für das Strafrecht als äußerliche Regelung menschlicher Freiheitssphären ist dieser Maßstab zu hoch angesetzt.

Kaufmann bezweifelt die menschliche Fähigkeit, einen Zustand völliger Gewaltlosigkeit zu erlangen; dieser sei eine unerreichbare Utopie.9 Doch die Unerreichbarkeit ist wie bei Gandhi gerade der Anreiz dafür, die Gewalt – auch die subtile – weiter zu begrenzen. Kaufmann fügt an, einen (Rechts-) Staat, in dem die Gerechtigkeit vollständig verwirklicht sei, könne es ebenfalls nicht geben. In einem Rechtsstaat sei die Anwendung von Gewalt nur in den gesetzlich vorgesehenen Fällen erlaubt: Notwehr, Nothilfe, Widerstand gegen unrechtmäßige Staatsgewalt. Der Rechtsphilosoph bekräftigt in seinem Buch »Gerechtigkeit – der vergessene Weg zum Frieden«, gegen rechtmäßige Akte von Staatsorganen sei Gewalt niemals erlaubt, auch nicht in der schillernd »ziviler Ungehorsam« genannten Form. Diesen Standpunkt vertritt er gerade deshalb, weil er den Unrechtsstaat des Nationalsozialismus erlebt hat und den Widerstand dagegen von Protestaktionen zu unterscheiden weiß. Er plädiert vor allein für gewaltfreie Methoden der Konfliktlösung im zwischenstaatlichen Bereich.

In seiner »Rechtsphilosophie« hat Kaufmann seine Ablehnung des Zivilen Ungehorsams korrigiert. Entgegen jenem Positivismus, der jedes Gesetz für geltendes Recht erachtet, zeigt er, dass positives »Recht« auch Nicht-Recht, gesetzliches Unrecht, sein kann. Unterschieden wird dann zwischen dem Widerstand, dem Recht auf Widerstand, gegen einen Unrechtsstaat und der Kritik an einzelnen ungültigen Gesetzen in einem Rechtsstaat. Im ersten Fall gehe es um den Widerstand gegen eine illegitime Obrigkeit („großer Widerstand“), im zweiten um den Widerstand im Rechtsstaat, den zivilen Ungehorsam („kleiner Widerstand“).10

Das Widerstandsrecht in einem Unrechtsstaat, den Widerstand gegen eine Tyrannis erörtere ich hier nicht.11 Ich gebe nur zu bedenken, dass die Entgegensetzung »hier Rechtsstaat, dort Unrechtsstaat« eine Simplifizierung darstellt, dass kein Rechtsstaat der Gefahr einer Perversion zum Unrechtsstaat entronnen ist, dass jede Obrigkeit Unrecht verschuldet. Bei einem Widerstandsrecht im Rechtsstaat, insbesondere beim Zivilen Ungehorsam, nimmt Kaufmann Gandhis Anspruch auf, dieser Ungehorsam habe gewaltlos zu sein; der Ungehorsame müsse die ihm zugeteilte Strafe annehmen.

Ist nun der Zivile Ungehorsam etwas Rechtswidriges, etwas Gesetzwidriges? Diese Frage bejaht Kaufmann. Mit John Rawls wird bei zivilem Ungehorsam gegenüber einer rechtmäßigen demokratischen Gewalt von einem Pflichtenkonflikt gesprochen – einem Konflikt zwischen der Pflicht, sich den von dem Gesetzgeber (der Mehrheit) beschlossenen Gesetzen zu fügen, und der Pflicht, Ungerechtigkeiten zu widerstehen. Rawls definiert den zivilen Ungehorsam als öffentliche, gewaltfreie, gewissensbestimmte, gesetzwidrige Handlung, die eine Änderung der Gesetze oder der Politik der Regierenden herbeiführen soll.12 Als Ungehorsam gegenüber dem Gesetz innerhalb der Gesetzestreue bewege er sich an deren Rand. Das Gesetz wird gebrochen gemäß dem Sinn von Gerechtigkeit. Die Treue zum Gesetz wird deutlich in dem öffentlichen und gewaltfreien Charakter der Handlung und in der Bereitschaft, die gesetzlichen Folgen auf sich zu nehmen.

Andere sehen den zivilen Ungehorsam dann als grundrechtlich gerechtfertigt an, wenn er sich gegen schwerwiegendes Unrecht richtet, gewaltlos und verhältnismäßig ist.13 Wie sein Lehrer Gustav Radbruch spricht Kaufmann klarer von einem gesetzlichen Unrecht, dem widersprochen werden soll. Auch im Rechtsstaat gebe es Akte erlaubter (und gebotener?) Auflehnung gegen Unrecht, begründet im „Widerstandsrecht der kleinen Münze.“14

Der zivile Ungehorsam sucht nach einem übergesetzlichen Recht in seinen Akten praktischer Vernunft, in seinem der Angst abgerungenen Mut, der Tapferkeit, die mit den Tugenden der Klugheit, der Gerechtigkeit und des Maßes verbunden ist. Der Zivile Ungehorsam soll menschenfreundlich sein, anders als der große, heroische und oft scheiternde Widerstand ist er beständig zu tun, damit der große Widerstand nicht nötig wird. Deutlich wird darin, dass das Widerstehen ein Grundzug des Rechts selber werden, dass der leidende Gehorsam zum Ungehorsam transzendieren kann. Das Widerstehen gehört von innen zum Recht selber. Das kann in Handlungen wie Sitzblockaden deutlich werden, die in der Strafrechtsprechung viel zu oft noch als Nötigung geahndet werden. Doch fehlt hier der Raum, Einzelheiten der Rechtsprechung näher nachzugehen.

Ziviler Ungehorsam und Verfassungsrecht

Auf der verfassungsrechtlichen Ebene wird dem zivilen Ungehorsam nur geringe Aufmerksamkeit zugewandt. Mit der sog. Notstandsverfassung wurde in das Grundgesetz ein Art. 20 Abs. 4 aufgenommen, ein positiviertes Recht auf Widerstand gegen jeden, der es unternimmt, die verfassungsmäßige Ordnung der Bundesrepublik zu beseitigen. Ein solches limitiertes Recht verdankt sich einem menschenrechtlichen Irrtum, denn das Recht auf Widerstand kann gerade nicht positiv festgelegt werden, sondern entzieht sich dieser Bestimmung. Versuchen, Art. 20 Abs. 4 des Grundgesetzes als Legalisierung des zivilen Ungehorsams zu deuten,15 halten manche Staatsrechtler entgegen, damit würde einer Reprimitivierung des Rechts und einem kulturellen Rückschritt Bahn gebrochen. Andere betonen, auf Grund der Sonderstellung des Widerstandsrechts (in der Beschränkung des Art. 20 Abs. 4) erfasse dieses gerade nicht den zivilen Ungehorsam. Einer Norm des positiven Rechts aus Gewissensgründen die Gefolgschaft zu verweigern, sei schon wegen der Inkaufnahme der Rechtsfolgen eine Bestätigung der positiven Rechtsordnung im Ganzen. Als politischer Appell zu deren punktueller Verbesserung könne solche Widerständigkeit zwar moralisch legitim, nicht aber verfassungsrechtlich legal sein. Der zivile Ungehorsam entbehre definitionsgemäß jeder Rechtfertigung durch das Recht; als symbolischer Akt könne er allenfalls eine moralische Rechtfertigung finden. Als öffentliche, gewaltlose, gewissensbestimmte Handlung schließe er den vorsätzlichen Bruch einzelner Rechtsnormen ein, ohne dass der Handelnde der Rechtsordnung als ganzer den Gehorsam versage.16

Dieser schnellen Verbannung in den Bereich der Moralität ist zu entgegnen, dass der gewaltfreie öffentliche Protest gegen ein schwerwiegendes Unrecht und die Kritik eines öffentlichen Missstandes gehalten sind von der Unabgegoltenheit und Verletzbarkeit der Menschenrechte.17 Im Wissen darum, dass das Grundgesetz kein lückenloses Schutzsystem bilden kann, begründet der Rechtsphilosoph Ralf Dreier die Rechtfertigung des zivilen Ungehorsams so. „Wer allein oder gemeinsam mit anderen öffentlich, gewaltlos und aus politisch-moralischen Gründen den Tatbestand einer Verbotsnorm erfüllt, handelt grundrechtlich gerechtfertigt, wenn er dadurch gegen schwerwiegendes Unrecht protestiert und sein Protest verhältnismäßig ist.“18 Der Protest gegen ein schwerwiegendes Unrecht und die Kritik eines öffentlichen Missstandes bekunden ein Element direkter Demokratie und die Fehlbarkeit einer repräsentativen Staatsordnung.

Der Rechtsstaat, der seine eigene Unvollkommenheit ignoriert, verkehrt sich in autoritären Legalismus. Ohne ihrerseits einem elitären Gestus zu verfallen, sollten die gewaltfrei Ungehorsamen zeigen, dass die Grundregeln eines menschlichen Zusammenlebens nicht verwirklicht sind, ihre öffentliche Verwirklichung noch aussteht. Die begrenzte Regelverletzung deutet auf die Gefahr, dass auch ein Rechtsstaat – gewissermaßen gegen sich selbst – seine Grundlagen vergessen und ignorieren und Züge einer Unrechtsordnung annehmen kann. Angesichts dieser Gefahr zeigt der skeptisch nach Zivilität Suchende, dass ein öffentlicher Raum der Bildung der Menschlichkeit nicht einfach feststeht. Im Horizont kritischer Vernunft klagt der gewaltfreie Ungehorsam die Offenheit der Demokratie ein, erinnert an die Unabgegoltenheit der politischen Idee der Demokratie als Macht der Selbstregierung. Deutlich wird im zivilen Ungehorsam, dass der Sinn für die Antastbarkeit der Menschenrechte stets wach zu halten ist angesichts der Gefahr, die Demokratie in Selbstgerechtigkeit zu einer Staatsform unter anderen erstarren zu lassen und den offenen Prozess der Demokratisierung zu verdinglichen.

Anmerkungen

1) Thoreau, H.D. (1973): Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat und andere Essays. Zürich, Diogenes, S. 18.

2) Mellon, C. (o.J.): Die Geschichte eines Begriffes von Thoreau bis in unsere Tage. In Komitee für Grundrechte und Demokratie (Hrsg.): Ziviler Ungehorsam – Traditionen, Konzepte, Erfahrungen, Perspektiven. Sensbachtal, Herausgeber, S. 47ff.

3) vgl. Schultz, H.J. (1982): Martin Luther King. In H.J. Schultz (Hrsg.): Liebhaber des Friedens. Stuttgart, Kreuz, S. 326f.

4) Tolstoi seinerseits dienten das Vorbild und die Schriften Thoreaus dazu, seine eigenen Ideen zu illustrieren; vgl. Mellon, C. (o.J.), s. Anm. 2.

5) vgl. Tolstoi, L.N. (1893): Das Reich Gottes ist inwendig in euch. Religionskritische und gesellschaftskritische Schriften. Bd. 9. München, Diederichs.

6) Blume, M. (1987): Satyagraha. Wahrheit und Gewaltfreiheit, Yoga und Widerstand bei M.K. Gandhi. Gladenbach, Hinder & Deelmann, S. 110f.

7) Kaufmann, A. (1986): Gerechtigkeit – der vergessene Weg zum Frieden. München, Piper, S. 87; Kaufmann, A. (1984) Martin Luther King – Gedanken zum Widerstandsrecht. In ders., Rechtsphilosophie im Wandel: Stationen eines Weges. Köln, Heymanns, S. 251ff.

8) Das bekannte Urteil des Landgerichts Köln vom 31.10.1968, seine Aufhebung durch den Bundesgerichtshof am 8. August 1969 und die weitere Judikatur können hier nicht zusammengefasst werden.

9) Kaufmann, A. (1984): Gesetz und Evangelium. In R. Hauser (Hrsg.): Gedächtnisschrift für Peter Noll. Zürich, Schulthess, S. 61 ff. Hier geht es um die Tugend der Epikie (Billigkeit), die das Gesetz berichtigt in Fällen, in denen es wegen seiner Allgemeinheit vor dem Anspruch der Menschlichkeit versagt.

10) Kaufmann, A. (1991): Vom Ungehorsam gegen die Obrigkeit: Aspekte des Widerstandsrechts von der antiken Tyrannis bis zum Unrechtsstaat unserer Zeit, vom leidenden Gehorsam bis zum zivilen Ungehorsam im modernen Rechtsstaat. Heidelberg, Decker und Müller.

11) s. Köpcke-Duttler, A. & Metz, G. (Hrsg.) (1988): Vom Recht des Widerstehens: neue Perspektiven zu einem alten Dilemma. Mit einem Vorw. von Arthur Kaufmann. Frankfurt/M., Haag und Herchen.

12) Rawls, J. (1979): Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt/M., Suhrkamp, S. 399 ff.

13) Dreier, R. (1983): Widerstand und ziviler Ungehorsam im Rechtsstaat. In P. Glotz (Hrsg.), Ziviler Ungehorsam im Rechtsstaat. Frankfurt/M., Suhrkamp, S. 54 ff.

14) Kaufmann, A. (1984): Das Widerstandsrecht der kleinen Münze. In W. Krawietz (Hrsg): Objektivierung des Rechtsdenkens. Gedächtnisschrift für Ilmar Tammelo. Berlin, Duncker und Humblot, S. 85ff.

15) Z.B. Dreier, R. (1991): Recht – Staat – Vernunft. Frankfurt/M., Suhrkamp, S. 39f.

16) Dolzer, R. (1992): Der Widerstandsfall. In J. Isensee & P. Kirchhof (Hrsg.): Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VII. Heidelberg, Müller, S. 469 f.

17) Köpcke-Duttler, A. (o. J.): Ziviler Ungehorsam. In Komitee für Grundrechts und Demokratie (Hrsg.): Ziviler Ungehorsam – Traditionen, Konzepte, Erfahrungen, Perspektiven Sensbachtal, Herausgeber, S. 313 ff.

18) Dreier, R. (1983): Widerstandsrecht und ziviler Ungehorsam im Rechtsstaat. In P. Glotz (Hrsg.): Ziviler Ungehorsam im Rechtsstaat. Frankfurt/M., Suhrkamp, S. 60; vgl. a. Jürgen Habermas, J. (1983): Ziviler Ungehorsam – Testfall für den demokratischen Rechtsstaat, ebd. S. 5

Prof. Dr. Arnold Köpcke-Duttler ist Rechtsanwalt und Diplom-Pädagoge.

Militarisierung oder Chance für zivile Konfliktschlichtung?

Militarisierung oder Chance für zivile Konfliktschlichtung?

Zum Entwurf für die Europäische Verfassung

von Peter Becker und Philipp Boos

Der Beitrag beschreibt die Entwicklung des sicherheitspolitischen Teils im Entwurf für die Europäische Verfassung. Die Autoren haben im Rahmen eines Projektes der IALANA, der IPPNW und der Humanistischen Union versucht, auf die Entwicklung der Verfassung Einfluss zu nehmen. Dabei ist es gelungen, einzelne aus friedenspolitischer Sicht zu begrüßende Änderungen am Entwurf der Verfassung zu erzielen. Einleitend ist aber bereits festzustellen, dass der Verfassungsentwurf auch sehr kritikwürdige Bestimmungen enthält, die den Vorwurf einer Militarisierung der Europäischen Union rechtfertigen.

Grundlage der Verfassungsentwicklung ist die »Erklärung von Laeken«.1 Die zivile Konfliktschlichtung ist in zentralen Punkten dieser Erklärung angesprochenen. Es wird gefragt, ob Europa eine führende, beispielhafte Rolle in der Weltordnung übernehmen sollte. Der Erklärung von Laeken zufolge korrespondiert das mit den Erwartungen des europäischen Bürgers, der „mehr Europa in außen-, sicherheits- und verteidigungspolitischen Fragen wünscht, mit anderen Worten: mehr und besser koordinierte Maßnahmen bei der Bekämpfung der Krisenherde in und um Europa sowie in der übrigen Welt.“

Entstehungsprozess der Europäischen Verfassung

Im März 2002 hatte der Europäische Verfassungskonvent mit der Erstellung eines Entwurfs einer Verfassung für die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union begonnen. Er setzte sich zusammen aus Mitgliedern der Parlamente und Regierungen der Mitgliedsstaaten sowie Mitgliedern des Europaparlaments.2 Mit der Einrichtung des Konvents verbunden war die Einladung an die »Vertreter der Zivilgesellschaft«, Vorschläge für die zu schaffende europäische Verfassung zu machen und sich über ein Forum direkt in die Diskussion des Verfassungskonvents einbringen.3 Aus friedenspolitischer Sicht war in der Phase vor der Installierung des Konvents eine zunehmende Militarisierung der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) zu konstatieren. Diese hat sich unter anderem in dem so genanntenen Farnborough-Abkommen etabliert, in dem eine enge Zusammenarbeit im Bereich der Rüstungsindustrie zwischen sechs großen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union vereinbart wurde.4

Im Juli 2003 wurde der endgültige Entwurf der Europäischen Verfassung vom Konventspräsidenten Giscard d´Estaing vorgestellt.5 Entgegen der ursprünglichen Absicht ist es dann aber nicht zu einer Annahme des Verfassungsentwurfs durch den Europäischen Rat6 gekommen. Die Einigung scheiterte nicht an inhaltlichen Festlegungen des Verfassungsentwurfs, sondern an Fragen der Machtverteilung. Einige Staaten wollten eine andere Regelung von Mehrheitsentscheidungen durchsetzen. Außerdem war umstritten, ob die Zahl der Kommissare der Anzahl der Mitgliedsstaaten entsprechen muss oder auch kleiner sein kann. Sofern es zu einer Einigung in den vorgenannten Fragen kommt, ist eine ansonsten unveränderte Übernahme des Entwurfstexts wahrscheinlich. Andererseits bieten Verhandlungen natürlich immer die Möglichkeit zu Veränderungen.

Bevor auf die Regelungen im Einzelnen eingegangen wird, soll zunächst die beachtliche friedenspolitische Wirkung gewürdigt werden, die unabhängig von der Bewertung ihrer inhaltlichen Regelungen mit der Schaffung der Verfassung erbracht würde. Das mit der Gründung der Europäischen Union verbundene Ziel, einen dauerhaften stabilen Frieden zwischen den Mitgliedsstaaten zu gewährleisten wird durch die Schaffung einer gemeinsamen Verfassung manifestiert und dokumentiert. Aufgrund der Einbeziehung der Beitrittskandidaten in die Verhandlungen über den Verfassungsentwurf wird diese Wirkung zusätzlich ausgedehnt. Im Einklang damit zeigen die jüngsten Eurobarometer-Befragungen auch, dass die große Mehrheit der Bürger der Union die Schaffung einer gemeinsamen Verfassung begrüßen.

Sicherheitspolitische Regelungen im Verfassungsentwurf

Aus Sicht der Friedensbewegung sind im wesentlichen die Festlegung auf den Frieden als Ziel der Union (Art. 3 Verfassungsentwurf) und die Vorschriften zur Konfliktschlichtung (Art. 40 Verfassungsentwurf) von Bedeutung. Bei der Bewertung ist zu berücksichtigen, dass die Diskussion im Verfassungskonvent zeitlich weitgehend parallel zur Vorbereitung und Durchführung des Irak-Krieges stattfand. Eine ausdrückliche Verankerung friedenspolitischer Grundsätze wurde dadurch erheblich erschwert, da jede Festlegung in diese Richtung von den am Krieg beteiligten Regierungen – vor allem Großbritannien und Spanien – als Kritik aufgefasst worden wäre.

Frieden als Ziel der Union / Verbindlichkeit des Völkerrechts

Die Ziele der Union finden sich in Art. I-3. In Abs. 1 heißt es: „Die Union hat das Ziel, den Frieden, ihre Werte und das Wohlergehen der Völker zu fördern.“ In Art. 3 Abs. 4 folgt der Auftrag, zum Frieden unter den Völkern beizutragen sowie eine ausdrückliche Anerkennung der Verbindlichkeit des Völkerrechts: „In ihren Beziehungen zur übrigen Welt schützt und fördert die Union ihre Werte und Interessen. Sie trägt bei zu Frieden, Sicherheit, nachhaltiger Entwicklung der Erde, Solidarität und gegenseitiger Achtung unter den Völkern, freiem und gerechten Handel, Beseitigung der Armut und Schutz der Menschenrechte, insbesondere der Rechte des Kindes, sowie zur strikten Einhaltung und Weiterentwicklung des Völkerrechts, insbesondere der Wahrung der Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen.“

Positiv zu bewerten ist die prominente Positionierung des »Friedens« als vorrangiges Ziel und die Anerkennung der Verbindlichkeit des Völkerrechts. Insbesondere letztere war in der ursprünglichen Entwurfsfassung nicht so eindeutig festgelegt. Möglicherweise haben auch entsprechende Appelle aus der Friedensbewegung dazu beigetragen, dass die wünschenswerte Klarstellung erfolgt ist. Mit Anerkennung der Verbindlichkeit der Grundsätze der UN-Charta ist auch der dort in Kapitel VII angelegte Vorrang der zivilen Konfliktschlichtung vor militärischen Maßnahmen anerkannt.

Zwar gehen die Festlegungen im Verfassungsentwurf nicht über das hinaus, wozu die Mitgliedsstaaten der Union aufgrund ihrer Bindung an die UN-Charta und ihre eigenen Verfassungen ohnehin verpflichtet wären. Aber die ausdrückliche Wiederholung des Friedens als Ziel – gerade wegen der Verfassungsentstehung während des Irak-Krieges – hat eine nicht zu unterschätzende deklaratorische Bedeutung. Ein weiterer Vorteil wäre die Überprüfung der Einhaltung der Verfassung durch die europäischen Gerichte, so dass es – anders als bei Verletzungen der UN-Charta – tatsächlich auch zu einer gerichtlichen Verurteilung von Verstößen kommen könnte. Diese Möglichkeit wird aber von Art. III-282 bedauerlicherweise ausdrücklich ausgeschlossen. Der Europäische Gerichtshof „ist nicht zuständig“ für die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Hier zeigt sich, dass die oft vertretene politische Forderung nach einer Stärkung des Rechts letztlich nicht Ernst gemeint ist.

Zivile Konfliktschlichtung

Die zentrale Vorschrift zum Anliegen der Friedensbewegung ist Art. I-40»Besondere Bestimmungen für Durchführung der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik«

Art. I-40, Absatz 1 lautet: „Die gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist integraler Bestandteil der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Sie sichert der Union die auf zivile und militärische Mittel gestützte Fähigkeit zu Operationen. Auf diese kann die Union bei Missionen außerhalb der Union zur Friedenssicherung, Konfliktverhütung und Stärkung der internationalen Sicherheit gemäß den Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen zurückgreifen. Sie erfüllt diese Aufgaben mit Hilfe der Fähigkeiten, die von den Mitgliedstaaten bereitgestellt werden.“

In Art. I-40, Absatz 3 S. 1 heißt es: „Die Mitgliedstaaten stellen der Union für die Umsetzung der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik zivile und militärische Fähigkeiten als Beitrag zur Verwirklichung der vom Rat festgelegten Ziele zur Verfügung.“

Damit wird erstmals in einem Verfassungstext die Existenz und Bedeutung der zivilen Konfliktschlichtung anerkannt. Das deutsche Grundgesetz kennt z. B. nur die Pflicht zur Aufstellung von Streitkräften (Art. 87a GG). Hier hatte das Projekt Europäische Verfassung in zweifacher Weise Erfolg:

Es konnte erreicht werden, dass die ursprüngliche Reihenfolge der Begriffe „auf militärische und zivile Mittel gestützte Fähigkeit zu Operationen“ und „militärische und zivile Fähigkeiten“ umgetauscht wurde (in Art. I-40 Abs. 1 und Abs. 3). Auf einen genau auf diese Umkehrung zielenden Appell hin wurden entsprechende Änderungsanträge eingereicht, die im endgültigen Text des Verfassungsentwurfs auch Berücksichtigung fanden. Das selbe gilt für den Begriff »Konfliktverhütung«, der zunächst in Abs. 1 nicht enthalten war. Es ist davon auszugehen, dass dieser nunmehr eingefügte Begriff und der Rückgriff auf die „Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen“ einen Vorrang der zivilen Konfliktschlichtung festlegt. Bestandteil der Charta im sechsten und siebten Kapitel und insbesondere in Artikel 42 ist die ausdrückliche Festlegung, dass militärische Maßnahmen nur im Falle der Unzulänglichkeit der friedlichen Maßnahmen nach Artikel 41 eingesetzt werden dürfen. Die Wiederholung der zuvor schon in Artikel I-3 des Verfassungsentwurfs verankerten Bindung an die UN-Charta im Zusammenhang mit Missionen zur Friedenssicherung hebt die Priorität der zivilen Mittel noch einmal ausdrücklich hervor.7 Die Bezugnahme auf die UN-Charta schafft kein neues materielles Recht, weil die EU-Mitgliedsstaaten natürlich bereits über ihre Mitgliedschaft in der UN an diese Vorgaben gebunden sind. Sie hat aber einen nicht zu unterschätzenden deklaratorischen Charakter.

Militärische Maßnahmen / Aufrüstungsgebot

Der Verfassungsentwurf enthält aber auch mehrere aus Sicht der Friedensbewegung zu kritisierende Regelungen. Das gilt insbesondere für Artikel I-40, Abs. 3, Satz 3 ff.: „Die Mitgliedsstaaten verpflichten sich, ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern. Es wird eine Europäische Agentur für Rüstung, Forschung und militärische Fähigkeiten eingerichtet, deren Aufgabe es ist, den operativen Bedarf zu ermitteln und Maßnahmen zur Bedarfsdeckung zu fördern, zur Ermittlung von Maßnahmen zur Stärkung der industriellen und technologischen Grundlage des Verteidigungssektors beizutragen und diese Maßnahmen gegebenenfalls durchzuführen, sich an der Festlegung einer europäischen Politik im Bereich Fähigkeiten und Rüstung zu beteiligen sowie den Rat bei der Beurteilung der Verbesserung der militärischen Fähigkeiten zu unterstützen.“

Die darin zu sehende Festlegung einer Art Pflicht (!) zur Aufrüstung muss aus Sicht der Friedensbewegung deutlich kritisiert werden. Es ist nicht bekannt, dass die Verfassung eines Mitgliedsstaates oder irgend eines Staates eine solche Pflicht enthält. Es handelt sich um eine für Verfassungen untypische, eigentlich eher in einen staatlichen Haushaltsentwurf passende Regelung. Unabhängig von der dahinter stehenden falschen Haltung zur Friedens- und Sicherheitspolitik ist angesichts der restriktiven Haushaltspolitik in den EU-Staaten zweifelhaft, ob der Pflicht tatsächlich nachgekommen wird. Von diesen Finanzierungsproblemen ist aber auch der Aufbau von zivilen Kapazitäten durch die Mitgliedstaaten betroffen. Im Konfliktfall steht zu befürchten, dass sich wegen Art. I-40 Absatz 3 Satz 1 die militärische Aufrüstung durchsetzt. Das wäre wiederum nicht mit dem vorrangig genannten Ziel des Friedens in Art. I-3 des Verfassungsentwurfs vereinbar. Insofern ist die Verfassung in diesem Punkt auch widersprüchlich.

Damit wird die zuvor zum Ausdruck gebrachte Vorrangigkeit der zivilen Konfliktschlichtung konterkariert, weil – im Gegensatz zu den zivilen Kapazitäten – eine ausdrückliche Verpflichtung zur „Verbesserung der militärischen Fähigkeiten“ statuiert wird, die durch eine im zivilen Bereich nicht vorgesehene Agentur gewährleistet werden soll. An dieser Stelle haben sich bedauerlicherweise die Befürworter einer auf das Militär ausgerichteten Politik – teilweise sicher mit der Intention zum Aufbau eines Gegengewichts zu den USA – durchgesetzt.8

Weiterhin ist zu kritisieren, dass in Art. III-210 Absatz 1 eine Vermengung zahlreicher verschiedener Missionen erfolgt: „Die in Art. I-40 vorgesehenen Missionen, bei deren Durchführung die Union auf zivile und militärische Mittel zurückgreifen kann, umfassen gemeinsame Abrüstungsmaßnahmen, humanitäre Aufgaben und Rettungseinsätze, Aufgaben der militärischen Beratung und Unterstützung, Aufgaben der Konfliktverhütung und der Erhaltung des Friedens sowie Kampfeinsätze im Rahmen der Krisenbewältigung einschließlich Frieden schaffender Maßnahmen und Operationen zur Stabilisierung der Lage nach Konflikten. Mit allen diesen Missionen kann zur Bekämpfung des Terrorismus beigetragen werden, unter anderem auch durch die Unterstützung für Drittstaaten bei der Bekämpfung des Terrorismus in ihrem Hoheitsgebiet.“ Damit wird das Anwendungsfeld für militärische Maßnahmen auf Ausgaben ausgedehnt, die nicht mit militärischen Mitteln verfolgt werden sollten. Hier wäre eine klare Trennung von zivilen und militärischen Missionen angebracht gewesen.

Schließlich ist zu bemängeln, dass in Art. III-210 Absatz 2 die Entscheidung über die Durchführung von Missionen ausschließlich dem Ministerrat übertragen wird. Insbesondere die Durchführung von militärischen Missionen sollte nicht ohne das Europäische Parlament beschlossen werden dürfen.

Fehlende Regelungen

Neben den zuvor dargestellten Regelungen fehlen im sicherheitspolitischen Teil der Verfassung wünschenswerte Festlegungen, die in anderen völkerrechtlichen Dokumenten bereits weitgehend verbindlich verankert sind und durch eine Aufnahme in den europäischen Verfassungsentwurf weiter gefördert worden wären.

Verbot von Massenvernichtungswaffen

Zunächst fehlt eine ausdrückliches Verbot des Einsatzes, Besitzes und der Herstellung von Massenvernichtungswaffen.9

Völkerrechtlich verbindliche Basis für ein Verbot von Atomwaffen ist der Atomwaffensperrvertrag10 von 1970. In diesem Vertrag haben sich die Nicht-Atomwaffenstaaten dazu verpflichtet, keine Atomwaffen herzustellen, zu erwerben oder zu besitzen. Im Gegenzug haben sich die Atomwaffenstaaten zu redlichen Bemühungen um die vollständige Abschaffung der Atomwaffen verpflichtet. Der Vertrag wurde 1995 auf unbestimmte Zeit verlängert. Im Sommer 1996 entschied der internationale Gerichtshof in einem Rechtsgutachten11 für die UN Vollversammlung einstimmig, das Art. VI des Atomwaffensperrvertrages die Kernwaffenstaaten bindend verpflichte, „Verhandlungen über die nukleare Abrüstung in allen Aspekten erfolgreich abzuschließen.“ Weiterhin hat das Gutachten die generelle Unzulässigkeit der Androhung und des Einsatzes von Atomwaffen festgestellt.12

Der Atomteststoppvertrag13 verpflichtet die Atomwaffenstaaten auf die Durchführung von Atomwaffenversuchen zu verzichten. Er ist allerdings nicht von allen erforderlichen Staaten – unter ihnen die USA – ratifiziert worden. Die Chemiewaffenkonvention und die Biowaffenkonvention enthalten völkerrechtlich verbindliche Verbote für die Herstellung, Fortentwicklung und den Besitz dieser Waffen.

Vor dem Hintergrund dieser ohnehin bestehenden völkerrechtlichen Verpflichtungen wäre es angebracht gewesen, dass der Entwurf der Europäischen Verfassung ebenfalls eine ausdrückliche Absage an Massenvernichtungswaffen enthalten hätte. Die Aufnahme eines solchen Verbotes wurde von der IALANA im Rahmen des »Projekt Europäische Verfassung« mit dem folgenden Wortlaut vorgeschlagen: „Die Union und ihre Mitglieder dürfen Massenvernichtungswaffen nicht herstellen, lagern, transportieren, testen oder verwenden.“

Die Umsetzung dieser Forderung ist aber – wahrscheinlich vor allem wegen des Status von Frankreich und Großbritannien als Atomwaffenstaaten – nicht erfolgt.

Ächtung des Krieges

Weiterhin fehlt im Verfassungsentwurf eine ausdrückliche Ächtung des Krieges. Zwar wird in Art. 3 Abs. 1, Abs. 4 des Verfassungsentwurfs der »Frieden« ausdrücklich als Ziel der Union manifestiert, woraus sich im Umkehrschluss auch eine Ächtung des Krieges ergibt. Diese hätte aber noch einmal gesondert betont werden sollen.

Vorbild für eine Ächtung des Krieges als Mittel der Politik ist die Regelung im Briand-Kellogg-Pakt, der für zahlreiche Mitgliedsstaaten der Europäischen Union ohnehin bindendes Völkerrecht darstellt. Dort heißt es in Art. 1: „Die Hohen Vertragschließenden Parteien erklären feierlich im Namen ihrer Völker, dass sie den Krieg als Mittel für die Lösung internationaler Streitfälle verurteilen und auf ihn als Werkzeug nationaler Politik in ihren gegenseitigen Beziehungen verzichten.“

Vor dem Hintergrund, dass die Diskussion des Verfassungsentwurfs parallel zu dem auch zwischen den Mitgliedsstaaten der Union höchst umstrittenen Krieg im Irak stattfand, konnte man sich möglicherweise nicht auf eine Bestätigung der ausdrücklichen Absage an den Krieg einigen. Die Kriegsbefürworter hätten das als – im Ergebnis übrigens berechtigte – Kritik an ihrer Politik zum Irak-Krieg verstanden.

Ausblick

Die im Titel gestellte Frage kann im Ergebnis mit: »Sowohl Ansatz zur Militarisierung, als auch Chance für die zivile Konfliktschlichtung« beantwortet werden. Es gilt daher nun, die Ansätze für die zivile Konfliktschlichtung im Verfassungsentwurf mit Leben zu füllen. Parallel sollte – auch wenn die Erfolgsaussichten schwierig sind – noch einmal versucht werden, den Text der Verfassung zu beeinflussen. Insbesondere sollte die »Aufrüstungspflicht« herausgenommen werden und parallel zu der Europäischen Agentur für Rüstung, Forschung und militärische Fähigkeiten eine entsprechende Agentur für zivile Konfliktschlichtungsmissionen geschaffen werden. Beides könnte durch einen von der IALANA geplanten internationalen Kongress vorbereitet werden.

Etablierung der zivilen Konfliktschlichtung

Aus Sicht der Friedensbewegung kommt es nun vor allem darauf an, die Ansätze für die zivile Konfliktschlichtung für einen weltweiten Wettbewerb um die besseren Konfliktschlichtungsmodelle fruchtbar zu machen. Die EU und die USA befinden sich bereits in einem weltweiten wirtschaftlichen Wettbewerb. Dieser wird nicht nur im internationalen Handel und in der Konkurrenz um den Zugang zu Rohstoffen, insbesondere zur Energie, ausgetragen.14 Dieser Wettbewerb findet auch in der Kriegsprävention und -vermeidung statt.15 Der Versuch, durch eine europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) die militärische Stärke der USA zu erreichen, wird jedoch wegen der mangelnden Bereitschaft und Fähigkeit zur Bereitstellung der dafür erforderlichen Haushaltsmittel scheitern.

Der Schwerpunkt sollte deshalb auf zivilen Alternativen liegen. Europa sollte wirkungsvollere zivile Mittel zur Konfliktschlichtung entwickeln, die sich in einem weltweiten Wettbewerb um die bessere Politik durchsetzen werden. Die Festschreibung des Vorrangs ziviler vor militärischer Konfliktschlichtung ist anerkannt, aber nicht ausreichend. Diese Formulierung setzt unzutreffend voraus, dass Krieg ein Mittel zur Konfliktschlichtung ist.

Die Absage an Krieg wäre unvollständig, wenn nicht gleichzeitig Alternativen aufgezeigt würden. Das naheliegende und inzwischen erfolgreich erprobte Mittel ist die zivile Konfliktschlichtung. Wenn dafür nicht ausreichende Strukturen bereit stehen, ist ein Rückfall auf militärische Mittel wahrscheinlich. Nur die Aufstellung von Streitkräften ist bisher obligatorisch, nicht aber die von zivilen Konfliktschlichtungskräften. Wir schlagen vor, dass Europa Konfliktschlichtung mit Ausrichtung auf die Etablierung rechtsstaatlicher Strukturen betreibt. Das ist billiger als militärische Intervention, führt nicht zu menschlichen Opfern und Zerstörung und schafft hochqualifizierte Arbeitsplätze.

Verbesserung des Verfassungsentwurfs

Es ist trotz des Scheiterns der Verabschiedung des Verfassungsentwurfs für die endgültige Entscheidung des zuständigen Rat der Europäischen Union im Dezember 2003 sehr wahrscheinlich, dass der Entwurf des Verfassungskonvents weitgehend unverändert angenommen wird. Die Durchsetzung von Veränderung in der Phase bis zur Ratsentscheidung würde „das gesamte Paket wieder aufschnüren“. Auch aufgrund der hochrangigen Vertretung der Regierungen im Verfassungskonvent (z. B. durch Bundesaußenminister Fischer) ist das nicht wahrscheinlich, aber immerhin möglich. Eine weitere Befassung der Friedensbewegung mit dem Thema bleibt unabhängig von den Chancen einer erfolgreichen Einflussnahme erforderlich. Ein erheblicher Mangel des bisherigen Verfassungsentwurfs ist – wie bereits zuvor betont – , dass es für die Verbesserung der Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten keine »Europäische Agentur für die Verhütung gewaltsamer Konflikte« gibt; im Gegensatz zum militärischen Bereich. Es ist notwendig, die im Verfassungsentwurf vorhandenen Ansätze zur zivilen Konfliktschlichtung mit Leben zu erfüllen und Konzepte für eine funktionierende zivile Konfliktschlichtung zu entwerfen. Ansonsten droht die Wiederholung des »Scheiterns« von zivilen Missionen, wie etwa 1998/99 im Kosovo, wo eine unterbesetzte und nicht ausreichend qualifizierte Mission als gescheitert bewertet,16 abgezogen und damit auch noch als Vorwand für den Einsatz militärischer Gewalt missbraucht wurde.

Internationaler Kongress zur zivilen Konfliktbearbeitung

Die IALANA plant deshalb in Kooperation mit zahlreichen anderen Organisationen der Friedensbewegung im Mai 2004 einen internationalen Kongress zur zivilen Konfliktprävention, zur Einrichtung eines Europäischen Amtes für die Verhütung gewaltsamer Konflikte und der Bereitstellung entsprechender Mittel in den Mitgliedstaaten zu veranstalten.17

Anmerkungen

1) Mit dieser Erklärung vom Dezember 2001 hat der Europäische Rat den Konvent beauftragt.

2) Deutschland war durch Bundesaußenminister Joschka Fischer, den SPD-Bundestagsabgeordneten Prof. Jürgen Meyer sowie Ministerpräsident Erwin Teufel als Repräsentant der Bundesländer vertreten. Für nähere Informationen siehe http://european-convention.eu.int/bienvenue.asp?lang=DE&Content=.

3) Siehe dazu http://europa.eu.int/futurum/index_de.htm.

4) Am 27. Juli 2000 in Farnborough von Deutschland, Frankreich, Italien, Vereinigtes Königreich, Schweden und Spanien getroffene Entscheidung, eine Rahmenvereinbarung (Letter of Interest) zu unterzeichnen, mit der die Umstrukturierung der Verteidigungsindustrie in Europa erleichtert werden soll.

5) Für den deutschen Text siehe: http://european-convention.eu.int/docs/Treaty/cv00850.de03.pdf.

6) Versammlung der Staatschefs der Mitgliedsstaaten.

7) Siehe aktuell zu diesem Vorrang den Beitrag von Helmut Simon; Frankfurter Rundschau vom 06. Januar 2004, S. 8.

8) Zur Kritik an dieser Entwicklung und am Verfassungsentwurf siehe auch Martin Singe, Die Militarisierung der Europäischen Union, in: Friedens-Forum 5-6/2003, S. 31-34.

9) Darunter sind atomare, biologische und chemische Waffen zu verstehen.

10) Auch bezeichnet als: Nicht-Weiterverbreitungs-Vertrag = Non-Proliferation-Treaty (NPT).

11) Abgedruckt in: IALANA (Hrsg.): Atomwaffen vor dem Internationalen Gerichtshof, S. 29 ff; 69 ff.

12) Siehe dazu D. Deiseroth: Atomwaffen vor dem Internationalen Gerichtshof – Konsequenzen für die Praxis?, in: IALANA (Hrsg.): Atomwaffen vor dem Internationalen Gerichtshof, S. 351 (352 f.).

13) Comprehensive Test Ban Treaty (CTBT).

14) Dazu lesenswert: J. Todd, Weltmacht USA – Ein Nachruf; 2002.

15) Dazu bereits P. Becker: „Aufruf zu einem Wettstreit der Konfliktschlichtungskulturen“, in: Horst-Eberhard Richter (Hrsg.): Kultur des Friedens, Gießen 2001, S. 119-124.

16) Ob die Kosovo Verification Mission (KVM) tatsächlich als Misserfolg zu bewerten ist, ist sehr umstritten, vgl. ausführlich H. Loquai: Weichenstellungen für einen Krieg, Baden-Baden 2003.

17) Weitere und aktualisierte Informationen dazu können demnächst unter www.ialana.de abgerufen werden. Wer die Ausrichtung dieses Kongresses finanziell oder logistisch unterstützen möchte, wird um Mitteilung an info@ialana.de gebeten.

Dr. Peter Becker ist Rechtsanwalt und Vorsitzender der deutschen IALANA sowie Sekretär des weltweiten IALANA-Dachverbandes. Dr. Philipp Boos ist Rechtsanwalt sowie Geschäftsführer der deutschen IALANA und des IALANA- Dachverbandes.

US-Stützpunkte in Deutschland im Irak-Krieg

US-Stützpunkte in Deutschland im Irak-Krieg

Zur geltenden Rechtslage

von Dieter Deiseroth

Auch nach der am 8.11.2002 erfolgten Verabschiedung der Irak-Resolution 1141/20021 durch den UN-Sicherheitsrat kann nicht ausgeschlossen werden, dass sich die US-Administration unter Präsident Bush, ggf. im Verbund mit dem britischen Premierminister Tony Blair, in den nächsten Wochen und Monaten zu einem nationalen militärischen Vorgehen gegen den Irak entschließt. Ein solches – letztlich auf die Herbeiführung eines Regimewechsel im Irak zielendes – unilaterales Agieren außerhalb des durch die UN-Charta begründeten kollektiven Sicherheitssystems der Vereinten Nationen hat sie bereits mehrfach für den Fall angekündigt, dass der UN-Sicherheitsrat nach ihren Maßstäben unzureichende Maßnahmen gegen das Regime von Saddam-Hussein ergreift. Die Bundesregierung lehnt einem solchen Angriffskrieg ab, aber was passiert,wenn die deutschen Stützpunkte der US-Armee in den Krieg einbezogen werden? Kann die Bundesregierung dies verwehren oder ist sie sogar auf Grund der Gesetzeslage genau dazu gezwungen?
Geht es nach US-Vizepräsident Richard Cheney, so nutzen Inspektionen wenig, sie können sogar schaden; für ihn ist ein Regierungswechsel im Irak sinnvoller. Eine Position, die von US-Präsident George W. Bush offensichtlich unterstützt wird, jedenfalls ließ er einen seiner Sprecher erklären, Cheney vertrete die Position der Regierung.2 In Deutschland ist diese US-Politik nicht nur aus dem Bereich der Zivilgesellschaft, sondern auch von Bundeskanzler Schröder3, sowie von Politikern aus anderen politischen Parteien4 mehrfach – mehr oder weniger eindeutig – öffentlich kritisiert worden.

Ein US-Krieg gegen den Irak zum Sturz des Saddam-Hussein-Regimes wäre nicht nur politisch, militärisch und ökonomisch höchst folgenreich. Er würde auch zahlreiche bedeutsame Rechtsfragen aufwerfen, die bisher erst rudimentär in der deutschen Öffentlichkeit diskutiert worden sind.5 Dabei ist davon auszugehen, dass Deutschland mit seinem Hoheitsgebiet in zumindest vierfacher Weise in einen US-Krieg gegen den Irak verwickelt werden kann:

  • Die deutsche Regierung könnte um Überflugrechte im deutschen Luftraum ersucht werden.
  • US-Militärflugzeuge könnten auf US-Militärflughäfen in Deutschland (z.B. US-Air-Base Rhein-Main) zwischenlanden und von hier aus in ihre Einsatzgebiete weiterfliegen.
  • Die US-Regierung könnte versuchen, US-Kriegsmaterial, das in Deutschland befindlichen US-Stützpunkten eingelagert ist, sowie hier stationierte Truppen auf dem Luft- oder Seeweg in das Kriegsgebiet zu verbringen.
  • In Deutschland gelegene US-Kommandoeinrichtungen (z.B. US-EUCOM in Stuttgart-Vaihingen) sowie Kommunikations- und Infrastruktursysteme könnten in die Planung und Durchführung militärischer Operationen gegen den Irak einbezogen werden.

Kein UN-Mandat für Irak-Krieg

Für einen Krieg gegen den Irak könnte sich die US-Regierung bisher auf keine sie ermächtigende Resolution des UN-Sicherheitsrates stützen.

  • Die UN-Resolution 678 vom 29. November 1990, mit der die Verbündeten Kuweits seinerzeit autorisiert wurden, „alle erforderlichen Mittel“ einzusetzen, um Kuweit von den damals eingefallenen irakischen Truppen zu befreien, kommt als Ermächtigungsgrundlage heute nicht mehr in Betracht. Der Zweck jener Ermächtigung, die Vertreibung der irakischen Aggressoren aus Kuweit, wurde bereits im Jahre 1991 erreicht. Weder die USA noch ihre Verbündeten waren damals autorisiert worden, Saddam Hussein und sein Regime mit militärischen Mitteln zu stürzen und einen Systemwechsel herbeizuführen. Deshalb verhielt sich der damalige US-Präsident George Bush sen. völkerrechtsmäßig, als er entgegen den Forderungen zahlreicher einflussreicher Stellen seinen Truppen einen »Marsch auf Bagdad« untersagte.
  • Die anschließenden UN-Resolutionen6 über den Abschluss eines Waffenstillstandes7 sowie die Einsetzung und Entsendung eines UN-Inspektionsteams (UNSCOM und seit 1999 UNMOVIC8) zum Aufspüren und Vernichten möglicher atomarer, biologischer und chemischer Waffensysteme ermächtigten ebenfalls gerade nicht zur Anwendung militärischer Gewalt gegen den Irak. Sie sahen weder vor, dass die Kooperation mit dem UN-Inspektionsteam durch militärische Mittel erzwungen werden, noch dass gar das Regime von Saddam Hussein durch Krieg gestürzt werden sollte.
  • Auch alle in der Folgezeit vom UN-Sicherheitsrat gefassten einschlägigen Resolutionen enthalten bisher keine Autorisierung eines kriegerischen Vorgehens der US-Regierung und ihrer Verbündeten gegen den Irak. Dies gilt auch für die nach wochenlangen Verhandlungen am 8.11.2002 vom UN-Sicherheitsrat einstimmig verabschiedete Resolution 1441 (2002). Diese legt zwar ein präzises inhaltliches und zeitliches Regime für die an den Irak gerichteten Forderungen sowie die Grundsätze für die Arbeit des UNMOVIC- und IAEA-Inspektorenteams fest, das spätestens 45 Tage nach Verabschiedung der UN-Resolution, mithin spätenstens am 23.12.2002 mit seiner Tätigkeit im Irak beginnen und diese weitere 60 Tage später, also bis zum 21. Februar 2003 mit einem Bericht an den UN-Sicherheitsrat abschließen muss.9 Für den Fall, dass die irakischen Stellen mit dem Inspektionsteam nicht in vollem Maße zur Implementation der Resolution kooperieren oder dieses in irgendeiner Weise behindern sollten, werden der Leiter von UNMOVIC, Hans Blix, und der Generaldirektor der IAEA, Mohamed ElBaradei, angewiesen, hierüber dem Sicherheitsrat unverzüglich zu berichten, damit dieser die entstandene Situation beraten kann, um „international peace and security“ zu sichern.10 Welche Entscheidungen der UN-Sicherheitsrat in einer solchen Situation fassen würde, wird naturgemäß offengelassen. Der Sicherheitsrat hat in seiner Resolution jedoch in Erinnerung gerufen, dass er in der Vergangenheit den Irak wiederholt gewarnt habe, dass er mit „serious consequences as a result of its continued violations of its obligations“ rechnen müsse.11 Worin diese »serious consequences« bestehen würden, hat er bislang nicht näher konkretisiert. Es kann vor dem Hintergrund der bisher bekannt gewordenen Äußerungen der Bush-Administration nicht ausgeschlossen werden, dass sich die US-Regierung in den nächsten Monaten dennoch entschließen könnte, die in der Resolution angedrohten »serious consequences« eigenständig unilateral zu definieren und zu exekutieren. Dies wäre freilich weder mit dem Wortlaut noch mit dem erkennbaren Sinngehalt der Resolution 1441 (2002), wie er gerade auch aus den Beratungen des Gremiums abgeleitet werden kann und muss, vereinbar. Schließlich hat der UN-Sicherheitsrat in der Resolution in Ziff. 14 selbst unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, dass er mit der Angelegenheit befasst bleiben werde. Er hat damit klargestellt, dass er nicht bereit ist, die Angelegenheit aus der Hand zu geben, sondern – wie in der UN-Charta vorgesehen – auch künftig selbst darüber entscheiden will, welche Konsequenzen aus einem Fehlverhalten des Irak im Zusammenhang mit der Durchsetzung der Resolutionen gezogen werden sollen.

Kein Recht zum Präventivkrieg

Für Militärschläge gegen den Irak mit dem Ziel, das Regime von Saddam Hussein zu stürzen und den Irak zum amerikanischen Einflussgebiet zu machen, könnte sich die US-Regierung nicht auf Artikel 51 der UN-Charta berufen. Art. 51 UN-Charta gewährt lediglich „im Falle eines bewaffeneten Angriffs“ das naturgegebene Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung, bis der Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen getroffen hat. Auch wenn hinsichtlich der Reichweite und der Grenzen dieses Selbstverteidigungsrechtes eine Vielzahl von Zweifelsfragen besteht, greift es jedenfalls nur „im Falle“ eines „bewaffneten Angriffs“ („armed attack“) ein. Die Anwendung von Waffengewalt muss durch den Angreifer bereits erfolgt sein, ehe militärische Verteidigungsschläge zulässig sind.

Allerdings besteht bislang keine hinreichende Klarheit darüber, von welchem Zeitpunkt ab Selbstverteidigungsmaßnahmen gegen einen »bewaffneten Angriff« ergriffen werden dürfen. Von den Regierungen einzelner Staaten, vor allem von Israel und den USA, ist wiederholt unter Berufung auf Art. 51 UN-Charta oder das Völkergewohnheitsrecht eine so genannte »präventive Selbstverteidigung« in Anspruch genommen worden. Dabei wurde und wird argumentiert, angesichts des erreichten Entwicklungsstandes und der Zerstörungskraft moderner Waffen sowie der kurzen Vorwarnzeiten sei es nicht angezeigt zu erwarten, dass Staaten zunächst ihre drohende Verwüstung bereits durch den ersten Waffeneinsatz des Gegners »abwarten« müssten, bevor sie selbst militärisch tätig würden.12Die überwiegende Auffassung in der Staatenpraxis und im völkerrechtlichen Fachschrifttum hält jedoch dennoch einen Präventivangriff bzw. eine präventive Selbstverteidigung grudsätzlich für völkerrechtlich unzulässig.13 Als etwa Israel im Jahre 1967 unter Berufung auf Art.51 UN-Charta den so genannten 6-Tage-Krieg mit einem Präventivangriff auf Ägypten begann, verzichteten die meisten Staaten damals zwar in der UN-Generalversammlung auf eine ausdrückliche Missbilligung des israelischen Präventivkrieges. Anders war es jedoch, als Israel am 7.6.1981 ein präventives Selbstverteidigungsrecht zur Begründung seiner Bombardierung des damals im Bau befindlichen irakischen Nuklearreaktors Tamuz I beanspruchte. Der UN-Sicherheitsrat verurteilte den israelischen Angriff einstimmig. Neben zahlreichen afrikanischen und asiatischen lehnten auch viele europäische Staaten ein Recht auf militärische Präventivmaßnahmen ausdrücklich ab.14 Ungeachtet dessen haben verschiedene US-Regierungen freilich in der Folgezeit immer wieder ein solches Recht für sich und andere beansprucht. Dieser offenkundige Dissenz über die völkerrechtliche Zulässigkeit eines Präventivschlages (oder gar eines »preemptive strikes«) ist rechtlich durchaus folgenreich. Denn es lässt sich jedenfalls von einer Herausbildung einer übereinstimmenden völkerrechtlichen Staatenpraxis und einer gemeinsamen Rechtsüberzeugung über das Bestehen eines »präventiven Selbstverteidigungsrechtes« und damit von entsprechendem Völkergewohnheitsrecht schlechterdings nicht sprechen. Es kommt mithin allein auf die Auslegung von Art. 51 UN-Charta an.

Selbst diejenigen Völkerrechtler, die im Wege einer ausdehnenden Interpretation ein Recht auf »präventive Selbstverteidigung« aus Art. 51 UN-Charta ableiten, begrenzen dies freilich auf den Fall, dass eine „eindeutige und gegenwärtige gravierende Gefahr“ bestehen muss und dass in dieser Zwangslage keine anderen Mittel zur Abwehr der akuten Gefahr zur Verfügung stehen. Davon kann indes gegenwärtig im Konflikt zwischen der US-Regierung und dem Saddam-Hussein-Regime keine Rede sein. Denn auch die US-Regierung kann nicht dartun, dass die irakische Regierung gleichsam unmittelbar zu einem Angriff auf die USA oder einen Verbündeten ansetzt und dass andere Mittel als ein Präventivkrieg zur Abwehr einer solchen gegenwärtigen akuten Gefahr ausscheiden.

Unabhängig davon sprechen ohnehin gewichtige Argumente gegen eine solche ausdehnende Interpretation des Art. 51 UN-Charta. Sowohl der Wortlaut („if an armed attack occurs“) als auch die Systematik und der Zweck der einschlägigen Regelungen in der UN-Charta stehen einem Recht zum Präventivkrieg (»präventive Verteidigung«) entgegen. Dabei ist davon auszugehen, dass gemäß der ausdrücklichen Regelung des Art. 2 Ziff. 4 UN-Charta »jede« Anwendung von Gewalt in den internationalen Beziehungen verboten ist. Die UN-Charta sieht nur eng begrenzte Ausnahmen von diesem strikten Gewaltverbot vor, und zwar den Einsatz militärischer Mittel primär durch den UN-Sicherheitsrat selbst oder in seinem Auftrag nach Art. 42, 43 und 53 UN-Charta. Einzelstaatliche Gewaltanwendung lässt die Charta nur ausnahmsweise zu, nämlich gemäß Art. 51 UN-Charta lediglich zur Notwehr und Nothilfe, wenn und so lange der UN-Sicherheitsrat nicht die erforderlichen Maßnahmen getroffen hat. Der Zweck der Regelung besteht ersichtlich darin, die einseitige einzelstaatliche Gewaltanwendung in den internationalen Beziehungen tunlichst zu beschränken. Würde man dessen ungeachtet ein Recht auf »präventive Selbstverteidigung« anerkennen, würde es damit letztlich dem einzelnen Staat überlassen, nach seinem Gutdünken über einen »drohenden Angriff« zu entscheiden. Die in Art. 51 UN-Charta vorgenommene Beschränkung des einzelstaatlichen Selbstverteidigungsrechtes auf den „Fall eines bewaffneten Angriffs“ wäre dann aus den Angeln gehoben. Aus dieser Regelungsstruktur und Systematik der UN-Charta wird deutlich, dass Art. 51 UN-Charta eine Ausnahme vom allgemeinen Gewaltanwendungsverbot des Art. 2 Ziff. 4 UN-Charta darstellt. Ausnahmevorschriften – und damit auch Art. 51 UN-Charta – sind einer erweiternden Auslegung nicht zugänglich.

Ein Staat, der sich über diese Beschränkungen der einzelstaatlichen Gewaltanwendung in der UN-Charta hinwegsetzt und – unter von ihm definierten Voraussetzungen und Bedingungen – ein Recht zum Präventivkrieg in Anspruch nimmt, handelt damit völkerrechtswidrig. Er begeht eine Aggression.

NATO-Vertrag verbietet Aggression

Ein NATO-Staat, der eine Aggression plant und ausführt, verstößt nicht nur gegen die UN-Charta, sondern zugleich auch gegen Art. 1 NATO-Vertrag. Darin haben sich alle NATO-Staaten verpflichtet, „in Übereinstimmung mit der Satzung der Vereinten Nationen jeden internationalen Streitfall, an dem sie beteiligt sind, auf friedlichem Wege so zu regeln, dass der internationale Friede, die Sicherheit und die Gerechtigkeit nicht gefährdet werden und sich in ihren internationalen Beziehungen jeder Gewaltandrohung oder Gewaltanwendung zu enthalten, die mit den Zielen der Vereinten Nationen nicht vereinbar sind.“ Art. 1 NATO-Vertrag war bei seinem Abschluss Ausdruck des Willens aller Vertragsstaaten, zwar einerseits die Möglichkeiten der UN-Charta zur Schaffung einer wirkungsvollen Verteidigungsorganisation (auf der Grundlage von Art. 51 UN-Charta) auszuschöpfen, andererseits jedoch strikt die Grenzen einzuhalten, die durch die UN-Charta gezogen sind. Das heisst zugleich, dass ein durch Art. 51 UN-Charta nicht gerechtfertigter »Präventivkrieg« auch niemals einen »NATO-Bündnisfall« nach Art. 5 des NATO-Vertrages darstellen oder rechtfertigen kann: Was gegen die UN-Charta verstößt, kann und darf die NATO nicht beschließen und durchführen, auch nicht auf Wunsch oder auf Druck einer verbündeten Regierung. Ein Angriffskrieg wird nicht durch die Ausrufung des NATO-Bündnisfalles zum Verteidigungskrieg.

Unterstützung eines Aggressors ist völkerrechtswidrig

Völkerrechtswidrig handelt freilich nicht nur der Aggressor, sondern auch derjenige Staat, der einem Aggressor hilft, etwa indem er auf seinem Hoheitsgebiet dessen kriegsrelevante Aktionen duldet oder gar unterstützt. Als Aggressionshandlung und damit als Verstoß gegen das völkerrechtliche Gewaltverbot ist unter anderem die „Handlung eines Staates [zu qualifizieren], die in seiner Duldung besteht, dass sein Hoheitsgebiet, das er einem anderen Staat zur Verfügung gestellt hat, von diesem anderen Staat dazu benutzt wird, eine Angriffshandlung gegen einen dritten Staat zu begehen“. Dies wird in Art. 3f der von der UN-Generalversammlung am 14.12.197315 beschlossenen Resolution ausdrücklich festgelegt. Wenn auch Resolutionen der UN-Generalversammlung grundsätzlich keine rechtliche Bindungswirkung erzeugen, kann jedoch nicht verkannt werden, dass der Verabschiedung dieser »Aggressionsdefinition« langjährige Vorarbeiten im Rahmen der UNO vorausgegangen waren, die schließlich im Jahre 1974 zu einem allgemeinen Konsens der Staatenwelt führten. Die in der Aggressionsdefinition der UN-Generalversammlung aufgeführten Regelbeispiele für das Vorliegen einer völkerrechtswidrigen Aggressionshandlung sind zwar nicht abschließend. Soweit sie in der nahezu einstimmig angenommenen Resolution jedoch aufgeführt und seitdem im Prinzip allgemein anerkannt sind, haben sie aber gleichsam völkergewohnheitsrechtlichen Charakter und sind damit von den Staaten zu beachten.

Da die Bundesrepublik Deutschland nach Art. 25 GG an die „allgemeinen Regeln des Völkerrechts“ und nach Art. 20 GG an das geltende Recht gebunden ist, stellt sich damit für jede deutsche Regierung – gleichgültig welcher parteipolitischen Couleur – die Frage, was sie unternehmen darf, ja muss, um zu verhindern, dass ihr Hoheitsgebiet in völkerrechtswidrige Aktionen verwickelt oder gar bewusst einbezogen wird. In einer solchen Situation waren deutsche Bundesregierungen bereits früher mehrfach. Schon in Zeiten des Vietnam-Krieges war immer wieder der Verdacht geäußert worden, in der Bundesrepublik gelegene US-Militäreinrichtungen würden in die Logistik völkerrechtswidriger US-Kriegsoperationen in Südostasien einbezogen. Doch erstmals im Zusammenhang mit dem israelischen Yom-Kippur-Krieg im Jahre 1973 wurde die Einbeziehung des deutschen Hoheitsgebietes in militärische Konflikte außerhalb des »NATO-Gebietes« zu einem brisanten Thema: Drei israelische Frachter wollten im Oktober 1973 in Bremerhaven Kriegsmaterial der in der Bundesrepublik stationierten US-Streitkräfte an Bord nehmen; der damalige Bundeskanzler Willy Brandt entschied zusammen mit seinem Vizekanzler und Außenminister Walter Scheel, die Verladungen sollten ohne Verzug eingestellt werden und die israelischen Schiffe die deutschen Hoheitsgewässer sofort verlassen.16 Ein weiteres Mal stellte sich die angesprochene Problematik, als der damalige US-Oberbefehlshaber in Europa General Rogers öffentlich erklärte, die am 14./15. April 1986 von der US-Luftwaffe durchgeführten Bombenangriffe auf Libyen seien von seinem Hauptquartier in Stuttgart-Vaihingen aus „vorbereitet“ und „gesteuert“ worden.17 Ein letztes Beispiel: Im Jahre 1987 erfuhr die deutsche Öffentlichkeit aus einem Bericht der vom damaligen US-Präsidenten eingesetzten Kommission zur Untersuchung der so genannten Iran-Contra-Affäre, dass die USA 500 TOW-Panzerabwehrraketen über den US-Luftwaffenstützpunkt Ramstein an den Iran geliefert hatten, und zwar ohne vorherige Unterrichtung der deutschen Bundesregierung.18

Missbräuchliche Nutzung des deutschen Luftraums und der US-Stützpunkte?

Nach allgemeinem Völkerrecht, das auch in internationalen Übereinkommen seinen Niederschlag gefunden hat (vgl. u.a. Art.1 des Chicago-Abkommens von 1944), besitzt jeder Staat im Luftraum über seinem Hoheitsgebiet „volle und ausschließliche Lufthoheit“. Sind allerdings – wie in Deutschland – ausländische Truppen stationiert, so werden Umfang und Grenzen der Bewegungsfreiheit dieser Stationierungsstreitkräfte regelmäßig in speziellen völkerrechtlichen Abkommen geregelt. Nach der Aufhebung des Besatzungsregimes erfolgte dies in Deutschland in Gestalt des so genannten Zusatzabkommens zum NATO-Truppenstatut.

In der bis 1994 geltenden Fassung dieses Zusatzabkommens (ZA-NTS 1959), das in diesem Bereich die Regelungen aus der Besatzungszeit als Vertragsrecht weitgehend fortführte, war den in Deutschland im Rahmen der NATO stationierten US-Truppen eine sehr weitgehende Bewegungsfreiheit im deutschen Luftraum eingeräumt: Eine »Truppe« war berechtigt, mit Luftfahrzeugen „die Grenzen der Bundesrepublik zu überqueren sowie sich in und über dem Bundesgebiet zu bewegen“ (Art. 57 Abs. 1 ZA-NTS 1959).

Im Zuge der Neufassung des Zusatzabkommens ist 1994 (im Folgenden: ZA-NTS 199419) diese Regelung geändert worden. Nunmehr bedürfen auch die in Deutschland stationierten US-Streitkräfte grundsätzlich jeweils einer Genehmigung durch die deutsche Bundesregierung, wenn sie mit Land-, Wasser- oder Luftfahrzeugen in die Bundesrepublik „einreisen oder sich in und über dem Bundesgebiet bewegen“ wollen (Art. 57 Abs.1 Satz 1 ZA-NTS 1994). Allerdings ist diese grundsätzliche Genehmigungspflicht im zweiten Halbsatz des Art. 57 Abs. 1 ZA-NTS 1994 teilweise wieder eingeschränkt. Die Vorschrift lautet: „Transporte und andere Bewegungen im Rahmen deutscher Rechtsvorschriften, einschließlich dieses Abkommens und anderer internationaler Übereinkünfte, denen die Bundesrepublik und einer oder mehrere der Entsendestaaten als Vertragspartei angehören, sowie damit im Zusammenhang stehender technischer Vereinbarungen und Verfahren gelten als genehmigt.“

Mit anderen Worten: Soweit dieser zweite Halbsatz eingreift, bedarf es keiner Genehmigung für die „Einreise“ und alle Bewegungen mit Luftfahrzeugen „in und über dem Bundesgebiet“. Diese Regelung ist als Ausnahme von dem im allgemeinen Völkerrecht geltenden Grundsatz der vollen Hoheitsgewalt jeden Staates über sein Territorium und seiner „vollen und ausschließlichen Lufthoheit“ über seinem Hoheitsgebiet ausgestaltet. Als Ausnahmevorschrift ist sie mithin nach allgemeinen Auslegungsgrundsätzen eng auszulegen. Sie betrifft – wie sich schon aus ihrem Wortlaut ergibt – zudem nur die Bewegungen von Luftfahrzeugen der »Truppe« (sowie ihres »zivilen Gefolges«, ihrer »Mitglieder und Angehörigen«), mithin also nicht jede »Einreise« von US-Militärflugzeugen aus den USA in die Bundesrepublik Deutschland. Was im Sinne dieser Vorschrift als »Truppe« zu verstehen ist, ist in Art. 3 des NATO-Truppenstatuts definiert: »Truppe« ist danach das zu den Land-, See- oder Luftstreitkräften gehörende Personal einer Partei (des NATO-Truppenstatuts), „wenn es sich im Zusammenhang mit seinen Dienstobliegenheiten in dem Hoheitsgebiet“ einer Vertragspartei, hier also Deutschlands, „befindet“. Es geht also bei der durch Art. 57 Abs. 1 Halbsatz 2 ZA-NTS unter bestimmten Voraussetzungen für US-Militärflugzeuge generell genehmigten „Einreise“ und Bewegungsfreiheit „in und über dem (deutschen) Bundesgebiet“ allein um die im NATO-Rahmen stationierten US-Truppenteile. Wollen dagegen anderweitig in den USA stationierte US-Truppenteile mit Luftfahrzeugen etwa auf ihrem Weg in den Nahen Osten (Irak pp) in Deutschland lediglich den deutschen Luftraum benutzen oder zwischenlanden, um aufzutanken, Material oder Waffen aufzunehmen und anschließend – ohne »NATO-Auftrag« – in ein Kriegsgebiet außerhalb des »NATO-Gebiets« weiterfliegen, bleibt es bei der grundsätzlichen Genehmigungsbedürftigkeit nach allgemeinem Völkerrecht und Art. 57 Abs. 1 S. 1 Halbs. 1 ZA-NTS 1994. Für die Inanspruchnahme der weiten Bewegungsfreiheit für US-Militärflugzeuge im deutschen Luftraum nach Art. 57 Abs. 1 S. 1 Halbs. 2 ZA-NTS 1994 ist es mithin von großer Bedeutung, ob die betreffenden US-Luftfahrzeuge zu den in Deutschland im Rahmen der NATO stationierten Truppenkontingenten gehören und ob sie Aufgaben im Rahmen und im Auftrag der NATO wahrnehmen oder aber (nationale) US-Aufgaben erfüllen. Das heisst zugleich: Es ist für die Genehmigungsfreiheit der Benutzung deutschen Luftraums durch US-Militärflugzeuge im Falle eines Krieges gegen den Irak rechtlich betrachtet von großer Bedeutung, welche Rolle die NATO in einem solchen Krieg einnimmt. Bleibt sie mit den Entscheidungen ihrer Organe, mit ihren Kommandostrukturen und Einsatzkräften außerhalb der Kriegsführung, kommt es also nicht zu einem »NATO-Krieg« gegen den Irak, dann agieren die US-Streitkräfte (ggf. mit Unterstützung durch einzelne NATO-Staaten) allein auf ihrer »nationalen Schiene«.

Entsprechendes gilt für die in Deutschland gelegenen US-Stützpunkte. In diesen Liegenschaften, die den US-Streitkräften „zur ausschließlichen Benutzung überlassen“ worden sind, dürfen diese nach Art. 53 Abs. 1 ZA-NTS „die zur Erfüllung ihrer Verteidigungspflichten erforderlichen Maßnahmen treffen“. Nach Abs. 2 der Vorschrift gilt dies „entsprechend für Maßnahmen im Luftraum über den Liegenschaften“. Ungeachtet aller sonstigen Auslegungsschwierigkeiten ergibt sich daraus für die zuständigen deutschen Stellen, d.h. vor allem für die Bundesregierung, im Konfliktfalle jedenfalls rechtlich die Befugnis zu kontrollieren, ob die Stationierungsstreitkräfte auf den überlassenen Liegenschaften (sowie im Luftraum darüber) im Einzelfall ausschließlich »Verteidigungspflichten« im Sinne des Zusatzabkommens und des NATO-Vertrages wahrnehmen oder aber andere Maßnahmen vorbereiten oder gar durchführen. Art. 53 Abs. 3 ZA-NTS soll dabei sicherstellen, dass die deutschen Behörden „die zur Wahrnehmung deutscher Belange erforderlichen Maßnahmen“ innerhalb der Liegenschaften durchführen können. Was dabei zur »Wahrnehmung deutscher Belange« erforderlich ist, ist weder in dieser Bestimmung noch in anderen Abkommen im Einzelnen definiert. Die Konkretisierung der »deutschen Belange« und die Festlegung der Mittel zu ihrer Durchsetzung20 ist damit zuvörderst Aufgabe der zuständigen deutschen Behörden und damit insbesondere der Bundesregierung, die dabei nach Art. 20 Abs. 3 GG an »Recht und Gesetz« und nach Art. 25 GG an die »allgemeinen Regeln des Völkerrechts« gebunden ist. Zur »Wahrnehmung deutscher Belange« im Sinne der genannten Regelungen gehört jedenfalls u.a. auch, dass alle erforderlichen Maßnahmen eingeleitet und vorgenommen werden, die verhindern, dass etwa vom Territorium der Bundesrepublik Deutschland aus völkerrechtswidrige Handlungen erfolgen oder unterstützt werden. Dies gilt um so mehr, als sich Deutschland im Zuge der Wiedervereinigung in Art. 2 des Zwei-plus-Vier-Vertrages verpflichtet hat, dafür zu sorgen, „dass von deutschem Boden nur Frieden ausgehen wird“.

Freilich gibt es hier beträchtliche rechtliche und faktische Grauzonen, und zwar zumindest zwei. Die eine betrifft die Frage, wie im Einzelfall unterschieden werden kann, ob die jeweiligen – aus den USA kommenden und nach Deutschland einreisenden, also den deutschen Luftraum benutzenden – Militärflugzeuge und ihr militärisches Personal zu den im Rahmen der NATO in Deutschland stationierten Truppenkontingenten gehören und damit dem Privileg des Art. 57 Abs. 1 a Halbs. 2 ZA-NTS 1995 unterfallen oder aber ob sie reine »US-nationale Aufgaben« außerhalb der NATO erfüllen und mithin für die Benutzung des deutschen Luftraums jeweils einer Genehmigung der Bundesregierung bedürfen. Eine weitere Grauzone besteht, wenn US-Militärflugzeuge, Truppen und Waffensysteme in einen US-Krieg gegen den Irak einbezogen werden, die bereits in Deutschland im Rahmen von NATO-Aufgaben auf US-Basen stationiert sind und von hier aus in das Kriegsgebiet fliegen sollen. Dabei handelt es sich einerseits zwar um (NATO-)»Truppen« im Sinne des Art. 3 NTS. Sie und ihre Waffensysteme würden andererseits freilich nicht im Rahmen der NATO »out of area« disloziert; denn sie würden nicht zu NATO-Aufgaben eingesetzt und auch nicht von NATO-Kommandobehörden und -Befehlshabern kommandiert.

Kriegsablehnung öffentlich verankern

Wie diese – sich aus den genannten völkerrechtlichen Abkommen ergebenden – rechtlichen und faktischen Grauzonen letztlich aufgelöst werden, hängt entscheidend von politischen Entscheidungsparametern ab. Dazu gehört u.a., ob es – entsprechenden politischen Willen unterstellt – der jeweiligen deutschen Regierung gelingt, etwa im Falle eines völkerrechtswidrigen US-Angriffs auf den Irak die NATO aus dem Konflikt herauszuhalten, eine Unterstützung ihrer kriegskritischen politischen Position durch andere NATO-Verbündete zu erreichen und so eine Singularisierung Deutschlands im Rahmen der NATO zu vermeiden. Ferner wäre von Bedeutung, ob die deutsche Regierung in der Lage wäre, die »Öffentlichkeit«, also die Zivilgesellschaft (innerstaatlich und innerhalb der NATO-Staaten) für ihre Position zu gewinnen oder gar zu mobilisieren. Der Ausgang eines solchen Konfliktes zwischen der gegenwärtigen US-Administration einerseits sowie der deutschen Regierung und anderer NATO-Verbündeter andererseits lässt sich nicht vorhersagen.

Würde es dagegen die deutsche Regierung im Falle eines US-Krieges gegen den Irak widerspruchslos dulden, dass die US-Militärbasen in Deutschland sowie der deutsche Luftraum von US-Militärflugzeugen und ihrem Personal im Rahmen offenkundig völkerrechtswidriger Militäreinsätze genutzt würden, so wären die Folgen sicher:

  • Zum einen würde eine deutsche Regierung mit der bewussten Duldung der Einbeziehung des deutschen Luftraums und deutschen Hoheitsgebietes in die Führung eines völkerrechtswidrigen Angriffskrieges einen fatalen »Präzedenzfall« für die Zukunft schaffen; denn eine sich herausbildende oder gar sich verfestigende Staatspraxis trägt zur authentischen Auslegung und Implementierung völkerrechtlicher Regelungen entscheidend bei.
  • Zum anderen stünde jede deutsche Regierung vor dem Abgrund des Verfassungsbruchs. Wenn sie bewusst das deutsche Hoheitsgebiet in die Führung eines völkerrechtswidrigen Krieges verwickeln und einbeziehen (lässt), kommt es zum Konflikt mit Art. 26 GG und Art. 2 des Zwei-Plus-Vier-Vertrages. Beide Normen verbieten ausdrücklich, die Führung eines Angriffskrieges »vorzubereiten«. Dieses Verbot des Angriffskrieges umfasst nach seinem Wortlaut zwar nur dessen »Vorbereitung«. Wenn ein Angriffskrieg jedoch von Verfassungs wegen bereits nicht »vorbereitet« werden darf, so darf nach dem Sinn und Zweck der Vorschrift ein solcher erst recht nicht geführt oder gefördert werden, in welcher Form auch immer. Das grundgesetzliche Verbot des Angriffskrieges, das zudem strafrechtlich bewehrt ist, ist dabei umstands- und bedingungslos normiert: Die Vorbereitung, Führung und Unterstützung eines Angriffskrieges ist in jeder Hinsicht „verfassungswidrig“ und „unter Strafe zu stellen“. Darin unterscheidet es sich von der in Art. 26 GG enthaltenen anderen Verbotsalternative, die „Handlungen“ erfasst, „die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören“. Mit anderen Worten: Ein Angriffskrieg im Sinne des Art. 26 GG ist verfassungsrechtlich und strafrechtlich auch dann verboten, wenn er vermeintlich oder tatsächlich nicht in dieser Absicht geführt wird. Denn die Verfassungsnorm geht davon aus, dass er stets verboten ist – weil er stets objektiv geeignet ist, „das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören“.

Anmerkungen

1) Der Original-Text in engl. Sprache findet sich unter www.un.org./doc

2) Vgl. Handelsblatt, 02.09.2002.

3) Rede vor dem Deutschen Bundestag am 13.9.2002

4) So warnte etwa der CSU-Landegruppenchef Michael Glos deutlich vor einem Angriff auf den Irak. Vgl. dazu u.a. www.tagesschau.de; Frankfurter Rundschau vom 8. 10.2002, S. 7

5) Der nachfolgende Text ist teilweise in der FR vom 11.9.2002, S. 14, publiziert worden.

6) Insbesondere die Resolutionen 688 (1991) vom 5.4.1991, 707 (1991) vom 15.8.1991, 715 (1991) vom 11.10.1991, 986 (1995) vom 14.4.1995 und 1284 (1999) vom 17.12.1999

7) Vgl. die Resolutionen 686 (1991) vom 2.3.1991, 687 (1991) vom 3.4.1991

8) Vgl. Resolution 1284 (1999).

9) Vgl. Ziff. 5 der Resolution 1441 (2002).

10) Vgl. Ziff. 4,11 und 12 Resolution 1284.

11) Ziff. 13 der Resolution.

12) Vgl. dazu die Nachweise u.a. bei H. Fischer, in K. Ipsen (Hrsg.): Völkerrecht, 4. Aufl.1999, Rdnr. 29.

13) Vgl. Randelzhofer, in Simma (Hrsg.): Charta der Vereinten Nationen, 1991, Art. 51 Rdnr. 9 – 14 sowie 34 mit zahlreichen Nachweisen.

14) Vgl. dazu u.a. Hailbronner: Berichte der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht (BDGV) 26 (1986), S. 82; Fischer, a.a.O., Rdnr. 30.

15) UN-Generalversammlung: GA-Resolution 3314 (XXIX), dt. Übersetzung in: Vereinte Nationen (VN) 1975, S. 120.

16) Vgl. dazu u.a. Paul Frank: Entschlüsselte Botschaft, 1985, S. 267 ff; Deiseroth: US-Basen in der Bundesrepublik, 1988, S. 44 ff.

17) Vgl. dazu u.a. Frankfurter Rundschau vom 21.4.1986; Welt am Sonntag, 20.4.1986; Tageszeitung vom 23.4.1986

18) Vgl. BT-Drucksache 11/736, S. 3: BT-Drs. 10(6772); Deiseroth: US-Basen in der Bundesrepublik, a.a.O., S. 6

19) Bundesgesetzblatt 1994, Teil II, S. 2594 ff.

20) Vgl. dazu Deiseroth: US-Basen in der Bundesrepublik, 1988, S. 44.

Dr. Dieter Deiseroth, Richter am Bundesverwaltungsgericht, ist in den Wissenschaftlichen Beiräten der VDW, der IALANA und der Humanistischen Union.

Arroganz der Macht?

Arroganz der Macht?

Die USA und der Internationale Strafgerichtshof

von Patricia Schneider

Am 12. Juli 2002 verabschiedete der UN-Sicherheitsrat auf Initiative der USA eine Resolution, die gravierend in die Befugnisse des Internationalen Strafgerichtshofs eingreift. Sie sichert u.a. US-Personal in UN- und anderen vom Sicherheitsrat genehmigten Militäreinsätzen Immunität für den Zeitraum von zunächst 12 Monaten zu. Der Vorgang und die anschließenden kontroversen Debatten illustrieren die Tatsache, dass die Justiz auf internationaler Ebene nicht nur insofern ein Politikum ist, als sie von der Politik nicht unbeeinflusst bleibt, sondern auch insofern als dieses Interesse der Politik die Relevanz der internationalen Gerichtsbarkeit belegt.
Am 1. Juli 2002 trat das Statut des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) in Kraft. Vergleichbar dem Jugoslawien-Tribunal soll der IStGH insbesondere Kriegsverbrecher bestrafen. Seine Zuständigkeit ist jedoch nicht auf einen bestimmten Schauplatz und einen begrenzten Zeitraum beschränkt. Auch die Legitimationsgrundlage ist im Gegensatz zu der der Ad-hoc-Straftribunale, die durch UN-Sicherheitsratsresolutionen eingesetzt und von Kritikern weithin als fragwürdig bewertet wurden, unstrittig: Die Unterzeichnung des Statuts des IStGH durch die überwiegende Staatenmehrheit (Stand 11.11.2002: 139 Unterzeichner, Ratifikation durch 82 Staaten – darunter alle EU-Mitgliedstaaten) demonstriert die Bereitschaft, zur weltweiten Ächtung von Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen beizutragen und dafür ein Gremium zu schaffen, das nicht mit dem Makel der Siegerjustiz behaftet ist. Was schon Ziel der Kriegsverbrecherprozesse in Nürnberg und Tokio war, soll wieder gelten: Nur die Feststellung der individuellen Verantwortlichkeit und die daraus folgenden Konsequenzen können vor Wiederholung schützen und Gerechtigkeit herstellen.

Der IStGH muss zukünftig in seiner Praxis beweisen, ob er diese in ihn gesetzten Erwartungen erfüllen kann oder aber ob seine Einrichtung lediglich symbolischen Wert hat. Im Sommer 2003 soll er seine Arbeit aufnehmen.1

Amerikanische Aversionen gegen den Internationalen Strafgerichtshof und ihre Hintergründe

Was die amerikanische Haltung zum IStGH betrifft, so hat sich diese im Laufe der Zeit fundamental geändert: Während Präsident Clinton und Außenministerin Albright im Spätsommer 1997 den USA noch eine Vorreiter-Rolle für die baldige Errichtung des IStGH zugeschrieben hatten, obsiegten zwischenzeitlich die Bedenkenträger, die auf einem strikten Modell nationaler Souveränität beharren. Die US-amerikanische Teilname an den Verhandlungen diente in den letzten Jahren nur noch dem Zweck, das Statut des IStGH zugunsten der USA aufzuweichen. Das ist gelungen: Übertriebenen, zahlreichen Sicherungsmaßnahmen (hier kann nur auf wenige eingegangen werden) gegen potenziellen politischen Missbrauch wurde Vorrang eingeräumt gegenüber einer weit gefassten und effektiven Strafverfolgung.

Die amerikanischen Ängste vor einem Souveränitätsverlust

Die USA wehren sich dagegen, dass ihre Souveränitätsrechte durch einen Vertrag eingeschränkt werden könnten, von dem sie sich inzwischen distanziert haben. Tatsächlich kann der IStGH auch Angehörige von Nichtvertragsstaaten verfolgen, wenn die Verbrechen auf dem Territorium eines Signatarstaates begangen wurden. (Der Irak ist übrigens kein Vertragsstaat, so dass bei Verbrechen auf dem Gebiet des Irak derzeit keine Strafverfolgung zu begründen wäre.) Dennoch kann das Statut nicht als unzulässiger Vertrag zu Lasten Dritter betrachtet werden, da das Gericht nur tätig wird, wenn der Herkunftsstaat untätig bleibt. Schon heute sind alle Staaten völkerrechtlich verpflichtet, die von ihren eigenen Staatsangehörigen begangenen Kriegsverbrechen zu verfolgen: Die Jurisdiktion des IStGH spiegelt geltendes Völkergewohnheitsrecht wider. Das Gericht hat also eine universelle (oder zumindest territoriale) Gerichtsbarkeit für alle Individuen. Genau deshalb nützt eine Nichtbeteiligung den USA wenig – die Strategie der Blockade, die bei Rüstungskontrollabkommen, Umweltschutzabkommen, Menschenrechtsverträgen etc. Erfolg zeigte, bleibt hier erfolglos.

Die amerikanische Furcht vor politischem Missbrauch des Gerichtshofs

Die USA kritisieren, dass – neben dem (in der Praxis selten genutzten) Institut der Staatenbeschwerde einer Vertragspartei – auch die Anklagebehörde des Gerichts (Art. 13) ein Verfahren einleiten kann und dass diese politisch missbraucht werden könnte. Da jedoch eine Vorverfahrenskammer über die Untersuchung durch den Ankläger entscheidet und ein hinreichend konkreter Verdacht bestehen muss, scheint die Missbrauchsgefahr gering. Auch garantiert nur ein faires Handeln des Gerichts eine Unterstützung der Staatenwelt. All dies bestärkt den Eindruck, dass Anklagen so voraussetzungsreich sind, dass sie gegenüber Angehörigen rechtsstaatlicher Demokratien praktisch ausgeschlossen sind.

Allerdings kann auch der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen ein Tätigwerden des Gerichts initiieren – in diesem Falle betrifft dies sogar Verbrechen, die auf dem Gebiet von Nicht-Vertragsstaaten durch Angehörige von Nicht-Vertragsstaaten verübt wurden (Art. 12).

Die behauptete Nichtübereinstimmung des IStGH-Statuts mit dem US-Rechtssystem

Darüber hinaus argumentieren die USA, die verfassungsmäßigen Rechte ihrer Bürger würden bei einem Verfahren nicht gewahrt, da am IStGH keine Geschworenen, sondern »nur« Berufsrichter Urteile fällen. So stellt sich die US-Regierung gleichsam als Opfer hin und nährt den Skeptizismus ihrer Bürger gegenüber Bürokratien, insbesondere der internationalen Institutionen. Dies schlug sich mitunter auch in Antipathien gegenüber den Vereinten Nationen nieder, die den »Euroskeptizismus« noch weit übertreffen.

Dabei hätte man annehmen können, dass die USA daran interessiert wären, den Strafgerichtshof im Kampf gegen den Terrorismus zu nutzen: Wären beispielsweise die Terroranschläge vom 11. September 2001 nach dem 1. Juli des Folgejahres geschehen, so hätte man sie als »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« vor dem IStGH verhandeln können. Die USA lehnen aber die Strafverfolgung durch ein Gericht, das sich ihrer Kontrolle entzieht, ab und wollen sich gerade auch und explizit im Kampf gegen den Terror geschützt sehen. Dessen ungeachtet kann der IStGH jedoch von den derzeitigen Mitgliedstaaten immer noch als ein wichtiges Instrument im Kampf gegen den Terrorismus eingesetzt werden.

Mangelnder Schutz für US-Soldaten?

Die USA wehren sich besonders gegen die Zuständigkeit des IStGH im Hinblick auf amerikanische Soldaten in UN-Missionen. Sie beanspruchen einen Sonderstatus mit der Begründung, dass sie die militärische Hauptverantwortung bei den »Friedenseinsätzen« trügen. Tatsächlich stellen den Großteil des Personals für die UN-Friedensmissionen jedoch andere Staaten: Von den etwa 45.000 Soldaten stammen lediglich rund 700 aus den USA. Davon getrennt zu betrachten sind allerdings NATO-Einsätze (mit und ohne UN-Mandat), an denen weitere US-Soldaten beteiligt sind.

Auch gibt es bisher keinen Anlass für die amerikanische Befürchtung, dass amerikanische Soldaten falschen Anschuldigungen eher ausgesetzt sein könnten als die Soldaten anderer Länder. Das häufig im Kanon mit den USA agierende Großbritannien sah sich beispielsweise durchaus in der Lage, das Statut zu ratifizieren.

Die Drohung der USA, bei der Verlängerung von UN-Friedensmissionen ein Veto einzulegen, falls US-Amerikanern keine Immunität vor dem IStGH zugesichert wird, kann fast schon als erpresserische Aushebelung des Vertragsrechts kritisiert werden: Im Fall der UN-Friedensmission in Bosnien-Herzegowina führte die Haltung der USA dazu, dass der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen das Mandat für die Mission zunächst nur kurzfristig, bis zum 15. Juli 2002, verlängerte und damit den Druck auf die übrigen Mitglieder des Sicherheitsrates zugunsten ihres Ansinnens verstärkte.

Der Widerstand der USA gegen die Zuständigkeit des IStGH im Hinblick auf amerikanische Soldaten in UN-Missionen ist auch deshalb unbegründet, weil der IStGH nur tätig wird, wenn der Heimatstaat der beschuldigten Person die Vorwürfe nicht selbst untersucht. Den USA wird die Möglichkeit der (straf-)rechtlichen Beurteilung des Verhaltens ihrer Soldaten in Friedensmissionen und anderen Einsätzen somit nicht grundsätzlich entzogen – weder durch ihre eigene Anerkennung des IStGH, noch durch die Ratifikation des IStGH-Statuts durch andere Staaten.

Die USA können zudem jederzeit – wie in Osttimor – ihre Soldaten und zivilen Mitarbeiter aus UN-Missionen zurückziehen, wenn sie um deren Sicherheit fürchten.

Zwar wird zuweilen vor den finanziellen Folgen gewarnt, sollten sich die USA aus UN-Friedensmissionen zurückziehen. Fakt ist aber, dass in den vergangenen Jahren die USA ihre Beiträge für Blauhelmeinsätze zumeist ohnehin schuldig geblieben und auch mit ihren regulären Beitragszahlungen an die UNO chronisch im Rückstand sind.

Der ungeklärte Straftatbestand »Aggression«

Manche Kritiker vermuten, führende US-Politiker würden blocken, da sie die Angst umtreibt, sie könnten persönlich vor dem IStGH zur Verantwortung gezogen werden. Andere gehen davon aus, dass der bisher noch nicht definierte Straftatbestand der »Aggression« zu der vehementen Ablehnung des IStGH führt. Bisher konnte man sich auf eine nähere Begriffsbestimmung noch nicht einigen, so dass dieser Straftatbestand vorerst nicht verfolgt wird und auf Drängen der USA wurde festgeschrieben, dass »Aggression« nur in Übereinstimmung mit der UN-Charta zu definieren ist. Gelänge dies eines Tages – etwa auf der Überprüfungskonferenz 2009 – , hätte die US-Administration unter Umständen tatsächlich Schwierigkeiten zu befürchten. So könnten bspw. Aktionen im Rahmen ihres »Anti-Terrorkampfes«, wie die geplanten militärischen Präemtiv- und Präventivaktionen, als bereits heute völkerrechtlich verbotene kriegerische Aggression geahndet werden. In diesem Falle ist auch kaum davon auszugehen, dass US-Behörden dieses kriminelle Delikt selbst verfolgen. Wenn die USA also den Bruch des Völkerrechts – durch eine eigenmächtige »vorausahnende« Auslegung des Selbstverteidigungsrechts – bereits einplanen, ist der Versuch, die Stärkung und Fortentwicklung des Völkerrechts mit allen Mitteln zu unterbinden, konsequent.

Die Sicherheitsratsresolution 1422 und ihre Konsequenzen

Am 12. Juli 2002 setzten sich die USA im UN-Sicherheitsrat mit ihrem Resolutionsentwurf durch: Der IStGH wird aufgefordert, für zunächst ein Jahr auf jegliche Strafverfolgung von Personen zu verzichten, die an von den Vereinten Nationen geführten oder autorisierten Friedensmissionen und sonstigen Einsätzen teilnehmen und die Staatsangehörigkeit einer Nicht-Vertragspartei des IStGH besitzen. In dieser Entscheidung wurde auf Art. 16 des IStGH-Statuts Bezug genommen, der eine Suspension der Untersuchungen erlaubt, sofern eine Gefahr für den Frieden nach Kap. VII UN-Charta besteht. Die Resolution 1422 des Weltsicherheitsrats konstruiert daher folgenden Zusammenhang: Friedensmissionen seien wichtig, um den internationalen Frieden und Sicherheit aufrechtzuerhalten; im Interesse von Frieden und Sicherheit sei es wiederum, den UN-Mitgliedstaaten ihren Beitrag für eine Mission nicht zu erschweren – und ihnen (sprich: den USA) in diesem Zusammenhang entgegen zu kommen. Im nächsten Schritt wird der Strafgerichtshof ersucht, von der Verfolgung von UN-Missions-Teilnehmern aus Nicht-Unterzeichnerstaaten des IStGH-Statuts zunächst für 12 Monate abzusehen.

Weiterhin bekundet der Sicherheitsrat die Absicht, diese Regelung von Jahr zu Jahr zu verlängern („as long as may be necessary“). Angesichts dieser Absichtserklärung erscheint es eher unwahrscheinlich, dass der Sicherheitsrat sich künftigen Verlängerungsgesuchen der USA verweigern bzw. widersetzen wird. Auch die Grundsatzfrage nach dem Verhältnis von Sicherheitsrat und IStGH wird dort wieder Thema werden und birgt das Potenzial die Jurisdiktion und Autorität des Gerichts weiter zu beschädigen.

Schließlich werden die UN-Mitgliedstaaten in der Resolution dazu aufgefordert, keine Aktionen einzuleiten, die gegen das Immunitätsersuchen oder gegen ihre internationalen Verpflichtungen verstoßen: Somit dürften Angehörige von Nicht-Unterzeichnerstaaten nicht an den IStGH ausgeliefert werden. Da bereits 82 UN-Mitglieder sein Statut ratifiziert haben, ist es aber gerade Teil ihrer Verpflichtungen, seine Normen umzusetzen, z.B. durch Auslieferung von Angeklagten. Dieser Widerspruch bleibt ungeklärt.

Summa sumarum könnte, was niemals Absicht der Verfechter des Völkerstrafrechts war, mit zweierlei Recht gegen eines Kriegsverbrechens bezichtigte Personen geurteilt werden – je nach zustimmender oder ablehnender Haltung ihres Heimatlandes gegenüber dem IStGH. Gerade eine solche politische Einflussnahme, wie sie die USA über den Umweg des Sicherheitsrats auf das Vertragswerk ausüben, sollte verhindert werden. Dieses Anliegen ist nun gescheitert.

Die USA konnten sich allerdings nur durchsetzen, indem sie Zugeständnisse machten: Sie rückten von ihrer Forderung nach pauschaler, zeitlich unbegrenzter Immunität für Bürger aller Staaten, die das IStGH-Statut nicht ratifiziert haben, wenigstens scheinbar ab. In Folge dieser ersten, weitergehenden Forderung hätte es einer gesonderten Sicherheitsratsresolution bedurft, um eine des Kriegsverbrechens bezichtigte Person verfolgen zu können. Die USA hätten, als ständiges Sicherheitsratsmitglied, mit einem Veto die Aufhebung der Immunität jederzeit verhindern können. Dem entsprechend stieß der Vorschlag auf breite Ablehnung. In dem jetzt verabschiedeten »Kompromissvorschlag« – der diesen Namen nicht wert ist – wird der Schutz nun auf 12 Monate begrenzt, aber auch diese Einschränkung bleibt durch die halbautomatische Verlängerung vermutlich bedeutungslos. Die Abänderungen des US-Vorschlags werden von Kritikern daher als rein kosmetisch eingestuft.

Es stellt sich damit die Frage, weshalb die Resolution überraschender Weise dennoch angenommen wurde. Der Vorgang kann als interessantes Lehrstück der Realpolitik und Diplomatie dienen: Frankreich formulierte zwar einen Gegenentwurf, der vor etwaigen Ermittlungen gegen Teilnehmer an UN-Missionen lediglich eine »Informationspflicht« des IStGH an den UN-Sicherheitsrat vorsah. Doch nach der Ankündigung Großbritanniens, für den US-Vorschlag zu stimmen, hatte dieser Vorschlag keine Chance mehr auf eine geschlossene Unterstützung der EU. Damit entfiel diese Alternative.

Da sich darüber hinaus weder die dänische EU-Präsidentschaft noch etwa Deutschland besonders engagierten (beide waren zu jener Zeit allerdings nicht im Sicherheitsrat vertreten), um Frankreich den Rücken zu stärken, sah Frankreich von einem Veto ab. Nach dieser Entwicklung bei den Europäern befürchteten die skeptischen oder unentschlossenen nicht-europäischen Ratsmitglieder, mit einer Neinstimme könnten sie sich isolieren und allein den Unwillen sowie etwaige Sanktionen der USA auf sich ziehen. Zusammen mit den Stimmen der Staaten Russland und China, die die USA unschwer auf ihre Seite ziehen konnten, kam es schließlich zu einem einstimmigen Abstimmungsergebnis.

Das Echo auf die Entscheidung des Sicherheitsrats fiel weltweit überwiegend kritisch aus. Das einzig Positive an der Entscheidung ist, dass die Fortsetzung von Friedensmissionen vorerst gesichert wurde. Zwar wurden bereits Überlegungen angestellt, wie sowohl die UN-Polizei-Mission als auch der SFOR-Truppeneinsatz in Bosnien-Herzegowina (welche ohnehin der Gerichtsbarkeit des Jugoslawien-Tribunals unterstehen) notfalls auch ohne UN-Mandat hätten weitergeführt werden können. Dieser Ansatz hätte jedoch ebenfalls Probleme aufgeworfen: Erstens hätte er das Problem nicht grundsätzlich gelöst, da weitere UN-Missionen zur Verlängerung anstehen; zweitens hätte dies die Vereinten Nationen weiter geschwächt und damit die US-Sicht von der Bedeutungslosigkeit der UN gestärkt, was nicht im Interesse der Staatengemeinschaft sein kann.

Die laufende Kampagne der USA gegen den Internationalen Strafgerichtshof

Auch der von den USA wiederholt erhobene Anspruch auf »vorbeugende Selbstverteidigung« – weder durch die UN-Charta noch anderweitig völkerrechtlich gedeckt – zeigt, dass sie sich weder durch internationale Organisationen noch durch Völkerrecht binden lassen wollen: Zwar sucht man die Zustimmung bzw. Unterstützung anderer Staaten oder der Vereinten Nationen bei der Durchführung unilateral gefasster Beschlüsse; sollte dem aber kein Erfolg beschieden sein, so agiert man – wie durch Wort und Tat demonstriert – auf eigene Faust, ungeachtet aller Mahnungen und Proteste von dritter Seite. Dahinter steht nicht erst seit dem 11. September 2001 das Selbstbild einer Nation, die in Form von Demokratie und Freiheit das »Gute« verbreitet und durch den Kampf gegen das »Böse« den Weltfrieden sichert. Die Einsicht allerdings, dass sich die moralische Überlegenheit, auf die sich der amerikanische Führungsanspruch gründet, auch mit dem eigenen außenpolitischen Handeln decken muss, hat sich nicht durchgesetzt.

Es besteht ein eklatanter Widerspruch zwischen der Mehrheit der europäischen Staaten und den USA was die Akzeptanz internationaler Organisationen betrifft.

Die Kampagne gegen den Internationalen Strafgerichtshof durch die USA geht weiter: Da sich die UN-SR-Resolution nur auf UN-mandatierte Einsätze bezog, wird diese Lösung dem absoluten Schutzanspruch auch bei Alleingängen der USA nicht gerecht. Das erklärte Ziel ist vermutlich, deshalb mit möglichst vielen Staaten der Welt bilaterale Abkommen zu vereinbaren, in denen die Auslieferung von US-Angehörigen an das Gericht ausgeschlossen wird. Trotz Verurteilung dieses Anliegens durch die UN wurde bereits am 26. September 2002 verkündet, dass es gelungen sei mit zwölf Staaten ein solches Abkommen zu schließen. Laut Medienberichten handelt es sich dabei um Rumänien, Israel, Ost-Timor, Afghanistan, Honduras, Usbekistan, Tadschikistan, Mauretanien, die Dominikanische Republik, Palau, die Marshall-Inseln und Mikronesien. Anfang Oktober kam Gambia als dreizehnter Staat hinzu. Es gibt jedoch auch viele Gegenbeispiele: Staaten wie die Schweiz oder Deutschland beschieden ein solches Anliegen entschieden abschlägig. Die obige »Erfolgsbilanz« zeugt dann auch nicht von einem Triumph der amerikanischen Diplomatie: Die Ländergruppe, die zum Vertragsabschluss bereit war, besteht fast ausschließlich aus bettelarmen Klein- und Mikrostaaten, die zu den USA in einem mehr oder minder eindeutigen ökonomisch-finanziellen Abhängigkeitsverhältnis stehen, das bis zu einer Art Alimentierungsstatus reichen kann.

Bukarest hat – unter Druck gesetzt wegen des Anliegens, der NATO beizutreten – mit seinem Schritt die europäische Solidarität in Sachen IStGH unterlaufen; das Beispiel machte innerhalb der EU bisher jedoch keine Schule. Am 27. September 2002 erklärte das Europaparlament in Straßburg solche Nichtauslieferungsverträge mehrheitlich für unzulässig. Am 30. September 2002 einigten sich die 15 Außenminister der Europäischen Union auf ein gemeinsames Kompromisspapier. Da sich u.a. insbesondere Großbritannien und Italien Immunitätsabkommen mit den USA nicht abgeneigt zeigten, beugten sie sich teilweise dem Druck aus Washington. Sonderabkommen seien zwar zugelassen, aber nur unter strengen Bedingungen, denen die bisherigen Abkommen nicht gerecht werden: EU-Staaten müssen die Notwendigkeit eines solchen Vertragsabschlusses detailliert begründen; Immunität kann allenfalls für entsandtes Personal zugesichert werden (d.h. nicht etwa für verantwortliche Politiker) und bei Verdacht müsse sichergestellt werden, dass die Betroffenen vor Ort angemessen belangt würden. Auch dürfen die Sonderverträge nicht wechselseitig angewandt werden wie bisher: So sicherten die USA jedem Vertragspartner zu, dessen Staatsangehörige ebenfalls nicht auszuliefern. Da es den USA aber ausdrücklich um einen umfassenden Anklageschutz für politisch Verantwortliche geht, stieß die gemeinsame EU-Haltung bei der US-Regierung auf wenig Gegenliebe. Auch scheiterte die amerikanische Regierung bei dem Versuch, auf einer NATO-Konferenz eine automatische Immunität ihrer Soldaten und Politiker zu erreichen.

Nachdem im Mai 2002 die Zeichnung des IStGH-Statuts zurückgenommen wurde (ein ungewöhnlicher Akt, den dann auch Israel vollzog), um die USA von vorvertraglichen Verpflichtungen zu entbinden (die sich dabei allerdings auch der Einflussmöglichkeiten bei der Weiterentwicklung des Statuts berauben), trat im August 2002 das »Gesetz zum Schutz der Angehörigen amerikanischer Streitkräfte« in Kraft, welches ebenfalls unter die Konfrontationspolitik der USA gegen den IStGH subsumiert werden kann. Es verpflichtet die US-Regierung und sämtliche US-Behörden, eine Zusammenarbeit mit dem Strafgerichtshof zu unterlassen und sich nur an Militäreinsätzen zu beteiligen, wenn Immunitätsabkommen vorliegen. Schließlich ermächtigt es die Administration, US-Bürger gegebenenfalls mit militärischen Mitteln zu befreien (der US-Präsident kann aber auf die Anwendung des Gesetzes vorübergehend verzichten). Angesichts der Tatsache, dass der IStGH in Den Haag residiert, empfehlen besorgte Beobachter den Niederlanden bereits, sich vorsorglich auf eine Invasion durch die Marines ihres NATO-Verbündeten einzurichten. Böse Zungen nennen das Gesetz sogar »The Hague Invasion Act«.

Europäische Positionen und Strategien

Die Alleingänge der USA haben weitreichende Folgen für das gesamte System der internationalen Beziehungen: Wie soll Europa Staaten wie China (oder auch den Ländern der sog. »Achse des Bösen«) Respekt für Multilateralismus, Menschenrechte und Völkerrecht abfordern, wenn dies nicht einmal dem größten Bündnispartner gegenüber gelingt, obwohl dieser sich selbst als Maßstab für »Zivilisation« betrachtet?

Die Versuche, den Bedenken der USA in den Formulierungen entgegenzukommen, waren zahlreich, blieben in ihrer Wirkung aber bedeutungslos; sämtliche Vorkehrungen gegen politischen Missbrauch fruchten nichts. Die ganze Kontroverse verdeutlicht vielmehr die fundamentalen Auffassungsunterschiede über die Natur internationaler Beziehungen und die Ordnung der Welt. Die Freiheit der Staaten untereinander Verträge abzuschließen wie auch die Autorität der UN wurden torpediert; doppelte Standards spielen aber Tyrannen in die Hände.

Europas Verhältnis zu den USA scheint sich in den Augen der amerikanischen politischen Klasse weniger als Partnerschaft denn als Gefolgschaft darzustellen. Europa verpasste bislang die Chance, seinen Einfluss zu nutzen, die USA vom Sinn einer Weltordnung zu überzeugen, in der der durchaus begrenzte Verzicht auf gewisse Souveränitätsrechte – wie es die Fortentwicklung des Völkerrechts z.B. durch den Internationalen Strafgerichtshof mit sich bringt – ein angemessener Preis für die Wahrung des Weltfriedens ist.

Die harte Haltung Joschka Fischers, trotz deutsch-amerikanischer Dissonanzen ein Immunitätsabkommen mit den USA nicht unterzeichnen zu wollen, ist zu begrüßen. Dennoch zeichnet sich jetzt schon ab, dass Soldaten und andere Verantwortliche aus EU-Staaten in den nächsten Jahren so wenig vor den IStGH gebracht werden, wie US-Soldaten: Der IStGH ist nur subsidiär zuständig, falls der Herkunftsstaat eines mutmaßlichen Straftäters dessen Verbrechen nicht verfolgt; so hat etwa Deutschland nicht nur die notwendige Abänderung der Regelung des Auslieferungsverbots deutscher Staatsbürger vorgenommen, sondern auch ein Völkerstrafgesetzbuch erlassen, das es deutschen Strafverfolgungsbehörden und Gerichten erlaubt, schwerwiegende Verstöße gegen das (humanitäre) Völkerrecht ohne Bezug auf Deutschland zu verfolgen. So soll nach dem Wortlaut des Völkerstrafgesetzbuchs „zweifelsfrei“ sichergestellt werden, „dass Deutschland stets in der Lage ist, in die Zuständigkeit des IStGH fallende Verbrechen selbst zu verfolgen“. Auch wurde von NATO-Staaten scharf gegen die Absicht opponiert, Verstöße von NATO-Personal durch das Jugoslawien-Straftribunal (ICTY) untersuchen zu lassen. Ebenso wurden von NATO-Staaten alle Möglichkeiten genutzt, die Rechtsprechungskompetenz des Internationalen Gerichtshofes (IGH) zu bezweifeln, als es um die Rechtmäßigkeit der Angriffe gegen Jugoslawien ging. Insofern müssen sich viele (EU-)Staaten den Vorwurf gefallen lassen, dass ihr Engagement für die Verrechtlichung der internationalen Beziehungen spürbar nachlässt, sobald die Gefahr besteht, selbst politische Handlungsfreiheit zu verlieren. Natürlich gibt es auch Gegenbeispiele. Wichtig ist jedoch diesem Trend entgegenzuwirken, um der Machtpolitik der USA, die jede Form von Kooperation verneint, die geeignet wäre, sie in die Pflicht zu nehmen, mehr entgegensetzen zu können. So lange »Europa« aber außenpolitisch nicht mit einer Stimme spricht, wird eine fundamentale Veränderung der gegenwärtigen Lage ein frommer Wunsch bleiben. Bis diese Entwicklungsstufe europäischer Politik erreicht ist, sollten sich die »aufgeklärten« Staaten Europas nicht beirren lassen, am Völkerrecht festzuhalten und seine Weiterentwicklung im Verein mit allen ebenfalls dazu bereiten Staaten der Welt zu fördern. Als Minimalprogramm hätte jedenfalls zu gelten, sich nicht aus Opportunitätsgründen zum letztendlichen eigenen Schaden an seiner Demontage zu beteiligen, sondern allen in diese Richtung zielenden Lockungen und Drohungen zu widerstehen.2

Anmerkungen

1) Für die Richterposten wurden 18 Kandidaten aus allen Weltregionen aufgestellt, darunter bislang allerdings nur eine Frau (Ende der Bewerbungsfrist: 30. November 2002). Gewählt ist, wer mindestens zwei Drittel der Stimmen erhält. Für das politisch brisante Amt des Anklägers, dessen Nominierung bereits im Konsens aller Vertragsstaaten erfolgen muss, liegen noch keine Bewerbungen vor. Weitere Infos finden sich auf dem – seit 18. September 2002 neuen – Internetauftritt des IStGH: htttp://www.icc.int

2) Der seit 1996 in Hamburg tätige Internationale Seegerichtshofs beweist, dass auch ohne die Mitgliedschaft der USA in der seine Jurisdiktion begründenden Seerechtskonvention, in der mehr als zwei Drittel der Staatengemeinschaft vertreten ist, ein internationales Gericht erfolgreich tätig sein kann: Die bisherigen Fälle wurden schnell zur Entscheidung gebracht; Urteile und vorsorgliche Maßnahmen von den betroffenen Staaten bislang immer befolgt.

Patricia Schneider ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH)