Das islamische Völkerrechtsdenken

Das islamische Völkerrechtsdenken

Kann es einen Beitrag zu einer Friedensvölkerrechtsordnung leisten?

von Rüdiger Lohlker

Islamisches Völkerrecht wird häufig nur als Kriegsrecht wahrgenommen. Eine genaue Betrachtung des völkerrechtlichen Denkens und der Praxis legt aber nahe, dass aus dem islamischen Völkerrecht auch friedensvölkerrechtliche Vorstellungen entwickelt werden können.

Das islamische Völkerrecht wird von nichtmuslimischer Seite zumeist als Kriegsrecht mit seinen unterschiedlichen Aspekten wahrgenommen. Der Kernbegriff ist der Dschihad, dessen Struktur an dieser Stelle nicht untersucht werden kann. Stattdessen werden einige Konzepte des islamischen internationalen Rechtes der »siyar« betrachtet. Diese Konzepte werden in Hinblick darauf diskutiert, ob sie geeignet sind, zu einer Friedensvölkerrechtsordnung beizutragen.1 Es handelt sich hier lediglich um Reflexionen zu diesem Thema, nicht jedoch um den Versuch einer theoretischen Grundlegung, die nicht Aufgabe der Islamwissenschaft ist, oder gar eine Rekonstruktion des Ursprungs dieses Rechtes (kritisch hierzu vgl. Agamben 2009). Es wird dabei hauptsächlich auf sunnitische Vorstellungen zurückgegriffen. Anderes muslimisches Rechtsdenken kann an dieser Stelle nicht berücksichtigt werden.

Für die folgenden Überlegungen ist grundlegend, dass unter islamischem Recht nicht nur das gelehrte Recht verstanden wird. Auch andere Rechtsbereiche, wie Abkommen muslimischer mit nichtmuslimischen Herrschern, fallen hier hinein. Damit ist der Gegenstand unserer Betrachtungen islamisches Völkerrechtsdenken, also ein Nachdenken über „jenen Komplex von Normen, die aufgrund beiderseitiger Anerkennung für die Beziehungen zwischen der islamischen Gemeinde und ihren nichtmuslimischen Partnern in Frage kommen“ (Kruse 1979, S.7). Die Beziehungen zwischen islamischen Staaten, die wir in Anlehnung an Kruse als „muslimisches Völkerrecht“ bezeichnen können (1979, S.4; vgl. Krüger 1978, S.34ff.), sind nicht Gegenstand unserer Überlegungen.

Dschihad

Trotz des gerade gemachten Einwandes ist ein kurzer Blick auf das Konzept des Dschihads notwendig (vgl. Kelsay/Johnson 1991). Wenn wir davon ausgehen, dass in der Gegenwart eine recht weitgehende Übereinstimmung unter MuslimInnen dahingehend besteht, dass von Dschihad nur gesprochen werden kann, wenn ein Angriff auf die muslimische Gemeinschaft stattfindet (siehe historisch z. B. Butterworth 1990), ist eine absolute Verpflichtung zum Dschihad nicht mehr aufrecht zu erhalten (so z. B. Royal Aal al-Bayt Institute 2007).

Dies gilt auch, wenn wir die militante Umdeutung des Dschihadkonzeptes, angefangen durch 'Abdallah 'Azzam, betrachten (Lohlker 2009; Khadduri 1962, S.51ff.). Dschihad wird in diesem Prozess von einem semantisch mehrdeutigen Begriff, der grundsätzlich eine unspezifische Anstrengung bezeichnet, zu einem nur noch militärischen Konzept, das eine ständige gewaltsame Verteidigung (auch präventiver Art) gegen einen imaginierten Generalangriff des Westens gegen den Islam beinhaltet. Diese gewaltsame Deutung wird jedoch nur von extremistischer Seite vorgenommen.

Wird dagegen ein solcher Verteidigungszwang nicht angenommen, wird der Dschihad obsolet und eine wesentliche Rahmenbedingung des »siyar«-Rechtsdenkens als Kriegsrecht entfällt. Wenn wir davon ausgehen, dass das islamische Recht grundsätzlich ein dynamisches System ist, widerspricht dieser Interpretation auch nicht, dass ältere gelehrte Autoren diese Auffassung nicht teilen (so Krüger 1978, S.118f.).

Dar al-Islam/Dar al-Harb

Betrachten wir die neuere Diskussion um die muslimische Präsenz in nichtmuslimischen Mehrheitsgesellschaften, werden wir mehrere Entwicklungen feststellen: Es findet erstens eine von jeglichem rechtlichen Diskurs unbelastete praktische Anerkennung des Miteinanderlebens statt. Daneben tritt der für unsere Diskussion interessantere Versuch, eine neue rechtstheoretische bzw. rechtsmethodische Fundierung der Rechts- und Moralvorstellungen2 von MuslimInnen in nichtmuslimischen Mehrheitsgesellschaften zu entwickeln. Dazu dient insbesondere die Diskussion um die »maqasid«, die Zielsetzungen des islamischen Rechtes, und die Debatte um die »masalih«, den Nutzen der muslimischen Gemeinschaft (z. B. Ramadan 2009). Diese theoretischen Konzepte ermöglichen im Verständnis ihrer Befürworter eine flexible Reaktion auf die Herausforderungen der Gegenwart. Dabei schwankt das Verständnis zwischen moderaten Konservativen und Liberalen. Ein zum Teil eher traditionalistisch geprägtes Konzept ist »Fiqh al-Aqalliyyat«, das Recht der Minderheiten (Abou El Fadl 1997; vgl. Rohe 2009, S.386f.). Es geht von der Notwendigkeit aus, dass sich das islamische Recht unter den Bedingungen nichtmuslimischer Mehrheitsgesellschaften auf die neuen Rahmenbedingungen einstellen muss und an anderen Orten formulierte Regeln nicht ohne weiteres übernommen werden können. Ein »Recht der Minderheiten« muss demnach als äußerst flexibles Instrument gestaltet werden. Damit wird die Entwicklung eines dynamischen Systems ethischer Normen möglich, das sich in den Rahmen säkularer Rechtsstaaten einpasst.

Sogar dieses traditionalistische Konzept geht also davon aus, dass eine Normalität und auch eine unproblematische Normierung des Umganges von MuslimInnen und NichtmuslimInnen möglich sind. Damit wird die Unterscheidung zwischen dem »Haus des Islams« und dem »Haus des Krieges« obsolet (vgl. Kruse 1979, S.57ff.). Dies wird in aller Eindeutigkeit in der »Erklärung der Leiter islamischer Zentren und Imame in Europa« im österreichischen Graz 2003 formuliert: „Die mittelalterliche Einteilung in eine Welt der Gegensätze von »Dar al-Islam« (Haus des Islam) und »Dar al-Harb« (Haus des Krieges) ist abzulehnen“ (Erklärung 2003). Beachten wir diese Verschiebungen, so wird auch der Bezugsrahmen des islamischen Völkerrechts, der eine Binarität muslimisch/nichtmuslimisch unterstellt, verändert und neue Ansätze werden denkbar.

Als Alternativmodell wird häufig von einer Dreiteilung in »Dar al-Islam«, »Dar al-Harb« und »Dar as-Sulh« ausgegangen. Letzteres, das »Gebiet der friedlichen Übereinkunft«, wird heute zunehmend als Raum verstanden, in dem MuslimInnen unbehelligt ihre Religion ausüben können. In älteren gelehrten Diskursen wurde es eher als Gebiet aufgefasst, das zwar nicht erobert worden war, aber der islamischen Hoheitsgewalt unterstand. Pohl nennt dies den Sonderfall der „friedlichen Eroberung“ (1988, S.75). Die gegenwärtige Auffassung des »Gebietes der friedlichen Übereinkunft« kann als Reflex des ursprünglichen Konzeptes von »sulh« im islamischen Recht gesehen werden. Ursprünglich zielte dieses Konzept auf einen Vergleich, verstanden als Fallenlassen einer Forderung, bzw. auf einen gegenseitigen Ausgleich (Lehmann 1970). Welche rechtlichen Konzeptionen gibt es nun, um einen solchen Ausgleich zu erzielen?

Zwischen Waffenstillstand und Frieden

Die Sekundärliteratur erweckt den Eindruck, es gebe einen genau definierten Bestand an Regeln für völkerrechtliche Fragen im islamischen Recht. Ein genauerer Blick zeigt aber, dass der tatsächliche Gebrauch der Begriffe mitnichten so klar ist (Panaite 2000, S.237ff.; Köhler 1991, S.396f.). Verträge wie »muwada‘a« oder »hudna« können so als Verträge verstanden werden, die von einem temporären Waffenstillstand in einen dauerhaften Frieden überleiten (Panaite 2000, S.37). Das Konzept geht auf die Frühzeit der islamischen Gemeinschaft zurück (Pohl 1988, S.81; Salem 1984, S.168ff.). »Hudna« und »muwada‘a« können für unsere Zwecke austauschbar benutzt werden.

Eine »muwada‘a«, ein Sicherheitsvertrag, ist im Verständnis eines der wichtigsten Autoren zu diesem Thema nur als Unterbrechung der Kriegshandlungen denkbar, wenn die Muslime nicht in der Lage sind, die Oberhand über die Nichtmuslime zu gewinnen (Shaibani 1997, S.3). Für die »muwada‘a« werden also „als Voraussetzungen des so nicht generell zu verbietenden, aber auch nicht schlechthin zuzulassenden Friedens die militärische Überlegenheit der Ungläubigen und das Vorhandensein einer Notwendigkeit […], die den Vertrag besonders erforderlich macht“ (Pohl 1988, S.81), vorausgesetzt. Damit kann die »muwada‘a« als Kampf im übertragenen Sinne in das System der »siyar« eingebunden werden. Ändern sich die Kräfteverhältnisse, ist der Vertrag aufzukündigen.

Die »muwada‘a« beinhaltet eine gewisse Anerkennung des nichtislamischen Gegenparts; für den Gültigkeitsbereich des Vertrages wird damit der rechtliche Mangelzustand des Kriegsgebietes, in dem es eigentlich keinen Vertragspartner gibt, geheilt. Damit stellt die »muwada‘a« „ein Instrument für gleichberechtigende interinstitutionelle Beziehungen dar. Zur Vermeidung eines potentiellen Bruches in der Doktrin der »siyar« durch die Institutionalisierung eines Rechtsmittels, das die Pflicht zum Heiligen Krieg dauerhaft hemmt, wird die zwingende zeitliche Befristung der Übereinkunft von besonderer Bedeutung“ (Pohl 1988, S.81). Diese zeitliche Befristung ist jedoch gar nicht so zwingend, wie es aufgrund von Quellen der hanafitischen Schule des sunnitischen islamischen Rechtes erscheinen mag. Ein Blick in die Literatur der in Nordwestafrika und im islamischen Spanien vorherrschenden malikitischen Schule zeigt, dass die Pflicht zur Befristung dort tendenziell aufgehoben wird und der freien Aushandlung des Herrschers überlassen bleibt (Lohlker 2006, S.36ff.). Damit dürfte der systematische Befund der zwingenden Befristung im gesamten Bereich des älteren sunnitischen islamischen Rechtes nicht gegeben gewesen sein.

Im Osmanischen Reich (ca. von 1299 bis 1922) wurde auf das Konzept der »muwada‘a« zurückgegriffen, um Verträge mit europäischen Mächten zu legitimieren. Voraussetzung ist einschlägigen Fatwas folgend das Bestehen eines entsprechenden Interesses der Muslime und einer entsprechenden Notwendigkeit. Die so geschlossenen Verträge sind dann zu halten (Krüger 1978, S.121). Dieser Vertragstypus löst sich im osmanischen Verständnis nicht vom Primat des Dschihads und ist eher ein Eingeständnis, diesen im Moment nicht erfolgreich führen zu können (Krüger 1978, S.120ff.).

Zur Geschichte

Nun sollte nicht von einem zeitgenössischen Bruch mit diesem älteren islamischen Rechtsdiskurs ausgegangen werden. Historisch lassen sich etliche andere Beispiele einer Auffassung des Verhältnisses zu NichtmuslimInnen feststellen, die nicht von einer absoluten Suprematie der muslimischen Seite ausgehen. Selbst für die Frühzeit der islamischen Gemeinde können wir Beispiele für relativ lange fortdauernde, vertraglich gesicherte friedliche Beziehungen zu Nichtmuslimen feststellen.

Wie bereits Kruse festgestellt hat, ist die rechtspraktische Umsetzung des islamischen Völkerrechts „nur von historischen Quellen her zu erschließen“ (1979, S.4). Wenn wir nun einen wichtigen Ort konfliktträchtiger Begegnung betrachten, nämlich »al-Andalus«, den muslimischen Teil der Iberischen Halbinsel, sowie seine christlichen Widersacher, erscheint das Bild noch weniger eindeutig. Der Fall, um den es hier geht, ist das letzte muslimische Reich auf iberischem Boden: das Reich der Nasriden von Granada (von 1232 bis 1492). Wenn wir die überlieferte Korrespondenz und die Verträge des Nasridenreiches mit der christlichen Seite, dem Königreich Aragón, betrachten (siehe im Detail Lohlker 2006), fällt zuerst der »zivile« Stil der Dokumente auf, der sich von dem anderer muslimischer Reiche unterscheidet. Bedeutsamer sind aber zwei Elemente, die sich in verschiedenen Verträgen und anderen Teilen der Korrespondenz wiederfinden. Der Herrscher von Granada spricht den christlichen Herrscher als gleichrangigen Partner an, was für die Verfasser von Kanzleihandbüchern im arabischen Osten undenkbar war. Außerdem wird die unbegrenzte Fortdauer des sicherheitsvertraglichen Verhältnisses in den Verträgen greifbar. Eine Beschränkung ergibt sich nur mit dem Regierungsende bzw. dem Tod der vertragsschließenden Parteien, was mit Blick auf die damalige Zeit als Normalität zu bewerten ist. Damit wird das Instrumentarium der »siyar« in der rechtlichen Anwendung zum Mittel eines – relativ – dauerhaften Friedenszustandes.

Auch für das Osmanische Reich können wir Entwicklungen im Rechtsverhältnis zu nichtmuslimischen Vertragspartnern feststellen. Die Entwicklung vom Konzept des »ahdname«, hauptsächlich eine vertragliche Übereinkunft zwischen zwei Staaten, die eine gewisse Ähnlichkeit mit der »muwada‘a« hat, und der »muwada‘a« zu den Kapitulationen3 des 18. und 19. Jahrhunderts (Theunissen 1998) kann nicht nur als Verfallsgeschichte der osmanischen bzw. muslimischen Macht gesehen werden. Auch eine Interpretation als Adaptierung an veränderte internationale Problemlagen ist denkbar. Dies zwingt uns natürlich, von einer Betrachtung abzugehen, die nur an der theoretischen Entwicklung des Rechtes interessiert ist.

Grundsätzlich können wir davon ausgehen, dass das Recht der »siyar« sich bis in die Gegenwart immer wieder transformiert hat. Shaheen Sardar Ali hat festgestellt, dass das zeitgenössische »siyar«-Recht enormen Modifikationen unterlegen ist, die grundsätzlich darauf verweisen, dass muslimische Staaten die Möglichkeit haben, Recht aus ihrem Verständnis der Scharia zu formulieren. Die staatlich begründete muslimische Jurisdiktion habe das »siyar«-Recht den Realitäten der Koexistenz in einer sich mehr und mehr globalisierenden Welt geöffnet und die Idee der Universalität des »siyar«-Rechtes obsolet gemacht (Ali 2007, S.93).

Weitere Ansätze zu einer Anerkennung nichtmuslimischer Ansprüche sind denkbar. In »ar-Radd 'ala siyar al-Auza‘i«, einem recht frühen »siyar«-Werk, findet sich so der Hinweis, dass von einem Muslim erworbene Rechte an Boden und mobilem Eigentum im »Dar al-Harb« (Haus des Krieges) in bestimmtem Umfang anerkannt werden können (Abu Yusuf Ya‘qub o. J., S.107f.). Dies deutet systematisch auf die Anerkennung von Rechtsgeschäften in nichtmuslimischem Gebiet hin und kann auch in Richtung einer Anerkennung nichtmuslimischer Ansprüche weiter gedacht werden. Andere Konzepte des islamischen Völkerrechts könnten in ähnlicher Weise betrachtet werden.

Wenn wir den kurzen Durchgang durch das islamische sunnitische Völkerrechtsdenken resümieren, stellen wir fest, dass die Konzepte des älteren gelehrten Rechtsdiskurses auf den ersten Blick nicht geeignet erscheinen, eine Quelle für eine Friedensvölkerrechtsordnung zu bilden. Gehen wir aber über diesen gelehrten Diskurs hinaus, stellen wir fest, dass es Ansätze gab, die zunächst rechtspraktisch sind, aber auch einen entsprechenden rechtstheoretischen Hintergrund haben und auf eine andere als die gerade formulierte starre Auffassung hindeuten. Berücksichtigen wir dann den zu konstatierenden – gewiss erst beginnenden – Paradigmenwandel in der heutigen sunnitischen islamischen Rechtsdiskussion hin zu einer zunehmenden Flexibilisierung, so wird ein muslimischer Beitrag zu einer Friedensvölkerrechtsordnung möglich. Dafür können auch die hier reflektierten Konzepte nutzbar gemacht werden.

Literatur

Abou El Fadl (1994): Islamic Law and Muslim Minorities: The Juristic Discourse on Muslim Minorities from the Second/Eighth to the Eleventh/Seventeenth Centuries, Islamic Law and Society 1, S.141-187.

Abu Yusuf Ya‘qub b. Ibrahim al-Ansari (o.J.): ar-Radd 'ala siyar al-Auza‘i, hrsg. von Abu 'l-Wafa‘ al-Afgani, Beirut.

Agamben, Giorgio (2009): Signatura rerum. Zur Methode, Frankfurt a. M.

Ali, Shaheen Sardar (2007): The Twain Doth Meet! A preliminary Exploration of the Theory and Practice of As-Siyar and International Law in the Contemporary World, in: J. Rehman & S. Breau (Hrsg.): Religion, Human Rights and International Law, Leiden, S.81-113.

Bouzenita, Anke Iman (2007): The Siyar an Islamic Law of Nations?, Asian Journal of Social Science 35, S.19-46.

Butterworth, Charles E. (1990): Al-Fârâbî‘s Statecraft: War and the Well-Ordered Regime, in: James Turner Johnson & John Kelsay (Hrsg.): Cross, Crescnt, and Sword. The Justification and Limitation of War in Western and Islamic Tradition, New York u.a., S.79-100.

Erklärung (2003): Erklärung der Leiter islamischer Zentren und Imame in Europa, URL: http://www.derislam.at/haber.php?sid=44&mode= flat&order=1 (Zugriff 10. 01. 2010).

Kelsay, John & Johnson, James Turner (Hrsg.) (1991): Just War and Jihad. Historical and Theoretical Perspectives on War and Peace in Western and Islamic Traditions, New York u.a.

Khadduri, Majid (1962): War and Peace in the Law of Islam, Baltimore.

Köhler, Michael (1991): Allianzen und Verträge zwischen fränkischen und islamischen Herrschern im Vorderen Orient. Eine Studie über das zwischenstaatliche Zusammenleben vom 12. bis ins 13. Jahrhundert, Berlin/New York.

Krüger, Hilmar (1978): Fetwa und Siyar. Zur internationalrechtlichen Gutachtenpraxis der osmanischen Seyh ül-Islâm vom 17. bis 19. Jahrhundert unter besonderer Berücksichtigung des »Behcet ül-Fetâvâ«, Köln.

Kruse, Hans (1979): Islamische Völkerrechtslehre, Bochum.

Lehmann, Friedrich-Wilhelm (1970): Das Rechtsinstituts des Vergleiches as-sulh im islamischen Recht nach al-Kâsânî, Diss.phil., Bonn.

Lohlker, Rüdiger (2009): Dschihadismus. Materialien, Wien.

Lohlker, Rüdiger (2006): Islamisches Völkerrecht. Studien am Beispiel Granada, Bremen.

Panaite, Viorel (2000): The Ottoman Law of War and Peace, New York.

Pohl, Dietrich F. R. (1988): Islam und Friedensvölkerrechtsordnung, Wien/New York.

Ramadan, Tariq (2009): Radikale Reform. Die Botschaft des Islam für die moderne Gesellschaft, München.

Rohe, Mathias (2009): Das islamische Recht. Geschichte und Gegenwart, München.

Royal Aal al-Bayt Institute of Islamic Thought (2007): Jihad and the Islamic Law of War, Amman.

Shaibani, Muhammad b. al-Hasan al- (1997): Sharh kitab as-siyar al-kabir, hrsg. von Muhammad H.M.I. Ash-Shafi‘i, Beirut.

Salem, Isam Kamel (1984): Islam und Völkerrecht. Das Völkerrecht in der islamischen Weltanschauung, Berlin.

Theunissen, Hans (1998): Ottoman-Venetian Diplomatics: The ‘Ahd-names, Electronic Journal of Oriental Studies 1. 2, S.1-698.

Anmerkungen

1) An anderer Stelle wird durchaus gegen diese Möglichkeit argumentiert (Bouzenita 2007).

2) Es sollte hier erwähnt werden, dass der Begriff der »Scharia« über den des reinen Rechts hinausgeht und heute häufig eher in Richtung eines allgemeinen ethischen Systems verstanden wird. »Fiqh« bezeichnet eher das von Gelehrten formulierte Recht im eigentlichen Sinne und schließt auch die ritualrechtlichen Regeln ein. Daneben gibt es traditionell die weiten Bereiche des Gewohnheitsrechtes, des Rechtsbrauchs und des herrscherlich formulierten Rechtes.

3) Als »Kapitulationen« bezeichnet werden die in »in capitualae« (daher der Name), d.h. Kapitel, gegliederten ungleichen Abkommen des Osmanischen Reiches mit europäischen Reichen, die zu einem Sonderrecht für Europäer und unter deren Schutz stehenden Personen im Osmanischen Reich führten.

Prof. Dr. Rüdiger Lohlker ist Professor für Orientalistik an der Philologisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien.

Nukleare Teilhabe

Nukleare Teilhabe

Rechtliche und politische Knackpunkte

von Peter Becker

Die Stationierung von US-Atomwaffen auf dem Gebiet der Bundesrepublik ist ein Politikum. Zwar hat die Koalition aus CDU/CSU und FDP angekündigt, über deren Abzug verhandeln zu wollen, aber ein Ergebnis wird von der Entwicklung eines strategischen Konzepts der NATO abhängig gemacht. Dabei verstößt die „nukleare Teilhabe“ eindeutig gegen internationales Recht.

Deutschland propagiert eine nationale »nukleare Teilhabe«, mit der ein Mitentscheidungsrecht über den Einsatz von Atomwaffen reklamiert wird, wenn dies deutsche Interessen gebieten.1 Für einen konkreten Anwendungsfall stehen die am deutschen Fliegerhorst Büchel in Rheinland-Pfalz wohl noch stationierten amerikanischen 20 Atombomben bereit. Im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP wurde nunmehr vereinbart, Deutschland wolle sich im Zuge der Ausarbeitung eines strategischen Konzeptes der NATO im Bündnis sowie gegenüber den amerikanischen Verbündeten dafür einsetzen, dass die in Deutschland verbliebenen Atomwaffen abgezogen werden.2 Wie ist die Rechtslage, was sind die Konsequenzen?

Worum geht es?

Die Bundesregierung hat mit den »Konzeptionellen Leitlinien zur Weiterentwicklung der Bundeswehr« vom 12.07. 1994 festgelegt, dass die Bundeswehr Flugzeugstaffeln für die »nukleare Teilhabe« vorhält. Diese wurde auch noch im Weißbuch 2006 bekräftigt. Die Bundeswehr nimmt auch an der nuklearen Planungsgruppe der NATO teil. Konkret würde die nukleare Teilhabe ausgeübt werden durch die Piloten des Jagdbombergeschwaders 33 in Büchel, wo Tornado-Kampfjets stationiert sind.

Zwar stand die nukleare Teilhabe von Anfang an und bis heute unter dem Vorbehalt, dass die Codes zum Scharfmachen der Waffen bis zum Einsatz in den Händen der US-Militärs verbleiben, das auch in Büchel präsent ist.3 Aber Beladung der Jets, Transport und Abwurf lägen in deutscher Hand.

In einer Neufassung der »Druckschrift Einsatz Nr. 03 Humanitäres Völkerrecht in bewaffneten Konflikten« des Bundesverteidigungsministeriums heißt es nun wie folgt (S.5): „Insbesondere der Einsatz folgender Kampfmittel ist deutschen Soldaten bzw. Soldatinnen in bewaffneten Konflikten verboten: Antipersonenminen, atomare Waffen, biologische Waffen und chemische Waffen“. Daraus ergibt sich, dass diese Dienstvorschrift, Bestandteil der Zentralen Dienstvorschrift 15/2, die direkte nukleare Teilhabe verbietet. Allerdings spricht die Dienstvorschrift nur vom „Einsatz … in bewaffneten Konflikten“. Was gilt vorher? Der Koalitionsvertrag macht die Geltendmachung der Forderung nach dem Abzug der Atomwaffen in Büchel ferner von der Beschlusslage nach Überarbeitung der NATO-Strategie abhängig. Die Konsequenzen sind also bei weitem nicht so klar, wie sie auf den ersten Blick scheinen. Ferner: Was ist mit der nuklearen Teilhabe im Übrigen?

Die Rechtslage

a) Grundsätze

Der Einsatz von Atomwaffen fällt zunächst grundsätzlich unter die Bedingungen der UN-Charta für die Ausübung von Gewalt. Maßgeblich ist das Gewaltverbot des Art. 2 Nr. 4 der Charta, das als »allgemeine Regel des Völkerrechts« nach Art. 25 GG als Bestandteil des Bundesrechts gilt. Gewalt darf daher nur ausgeübt werden, wenn der Sicherheitsrat zugestimmt hat (Art. 39, 42 der Charta) oder wenn eine Selbstverteidigungslage nach Art. 51 vorliegt. Dort heißt es auch, dass das Selbstverteidigungsrecht nur besteht „bis der Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen getroffen hat.“

Speziell für den Einsatz von Atomwaffen gelten die Grundsätze des IGH-Gutachtens vom 08.07.19964, das festgestellt hat, „dass die Bedrohung durch oder Anwendung durch Atomwaffen grundsätzlich (‚generally') im Widerspruch zu den in einem bewaffneten Konflikt verbindlichen Regeln des internationalen Rechts und insbesondere den Prinzipien und Regeln des humanitären Kriegsvölkerrechts stehen würde.“

Nach den Prinzipien des humanitären Kriegsvölkerrechts wäre der Atomwaffeneinsatz allenfalls völkerrechtsgemäß, wenn er

zwischen Soldaten und Zivilbevölkerung unterscheiden könnte,

keine unnötigen Leiden verursachte und

das Gebiet unbeteiligter und neutraler Staaten nicht in Mitleidenschaft zöge.

Es ist evident, dass der Einsatz von Atombomben, auch der in Büchel stationierten, diese Prinzipien nicht einhalten kann. Deren Einsatz wäre daher völkerrechtswidrig.

Eine Ausnahme hat der IGH ferner nur für den Fall einer extremen Notwehrsituation gesehen (Leitsatz E5), in dem die Existenz des Staates auf dem Spiel steht. Diesen Fall hat der IGH nicht vertieft, weil er voraussetzen würde, dass „saubere Atomwaffen“ zum Einsatz kommen, die das humanitäre Völkerrecht zu beachten erlauben.6 Zudem müssten sich die Nuklearstrategien von Atomwaffenstaaten und ihren Verbündeten zukünftig allein an einer solchen Selbstverteidigungslage ausrichten7, was nicht erkennbar ist. Vielmehr geht die strategische Beschlusslage der USA und der NATO dahin, dass der Einsatz von Atomwaffen auch außerhalb extremer Notwehrlagen zulässig sein soll, wie zu zeigen sein wird. Er wäre damit völkerrechtswidrig.

b) Die US-Sicherheitsstrategie

Die US-Sicherheitsstrategie umfasst das Recht zum Erstschlag.8 Aber: Das Gewaltverbot der UN-Charta gilt auch für die USA. Ohne Ermächtigung des Sicherheitsrates darf militärische Gewalt also nur im Falle eines bewaffneten Angriffs auf die USA ausgeübt werden. Selbstverteidigung ist nach Art. 51 UN-Charta gegen einen bewaffneten Angriff nur erlaubt, solange nicht der Sicherheitsrat die erforderlichen Maßnahmen zur Wahrung des Friedens getroffen hat. Voraussetzung ist eine Selbstverteidigungslage: Es muss ein Angriff seitens eines anderen Staates gegeben sein; gleichzusetzen ist ein Angriff, für den ein anderer Staat völkerrechtlich verantwortlich ist. Dieser Angriff muss im Zeitpunkt der Selbstverteidigung noch andauern.

Die Selbstverteidigung setzt also eine Angriffslage voraus, die evident sein muss. Eine Bedrohungslage reicht nicht aus. Deshalb besteht Einigkeit unter den Völkerrechtlern, dass die präventive Selbstverteidigung auf Fälle offensichtlich unmittelbar bevorstehender und anders nicht abwehrbarer Angriffe begrenzt ist.9

In der nationalen Sicherheitsstrategie der USA vom September 2002 (NSS 2002), die der Präsident der USA am 01. Juni 2002 verkündet hat, ist vorgesehen, dass die USA zur antizipatorischen Selbstverteidigung (»Preemptive Action«) ermächtigt sind. Dabei handelt es sich nicht um antizipatorische Selbstverteidigung in der Situation eines unmittelbaren Angriffs. Es reicht vielmehr die Möglichkeit, dass es irgendwann einmal zu einem Angriff kommen könnte, beispielsweise dann, wenn der potentielle Angreifer nach Auffassung der USA ein »Schurkenstaat« ist und den Besitz von Massenvernichtungsmitteln anstrebt.10 In der neueren Nationalen Sicherheitsstrategie vom März 2006 ist dieser Grundsatz nicht aufgegeben; vielmehr wird betont, dass die USA notfalls Präventivkriege führen werden.11 Daraus ergibt sich, dass die USA sich selbst als zum Erstschlag ermächtigt sehen, ohne dass eine Selbstverteidigungslage im Sinne der UN-Charta gegeben ist.

c) US- und NATO-Erstschlagsdoktrin unter Einschluss von Atomwaffen

Die USA haben in der »Nuclear Posture Review« 2001 und 2005 bekräftigt, dass die Erstschlagsdoktrin auch Atomwaffen einschließt. Dieser Grundsatz gilt auch für die NATO: Er wurde festgehalten in ihrem strategischen Konzept von 1999 anlässlich des NATO-Gipfels zur Feier des fünfzigjährigen Bestehens der NATO, durch einen Beschluss der Regierungschefs. Dieser nukleare Erstschlag verstößt aber nicht nur gegen das Gewaltverbot der UN-Charta, sondern auch gegen die Grundsätze des IGH-Gutachtens. Außerdem ist hinzuweisen auf das Abkommen zur Verhütung von Atomkriegen vom 22.06.1973, noch geschlossen zwischen der Sowjetunion und den USA. Dort haben die Vertragspartner vereinbart, die Gefahr eines Atomkriegs und der Anwendung von Atomwaffen zu beseitigen und sich insbesondere der Androhung und der Anwendung von Gewalt gegenüber der anderen Vertragspartei, gegenüber deren Verbündeten und gegenüber sonstigen Ländern zu enthalten. Ihre Verhaltenspflichten haben sie auf ihre Beziehungen zu Ländern ausgedehnt, die nicht Vertragsparteien des Abkommens sind, soweit sich daraus das Risiko eines Atomkriegs ergibt. Hier könnte man an den Iran denken. Das Abkommen ist weiter wirksam.

d) Verstoß gegen den Nichtverbreitungsvertrag

Die USA verstößt durch die Überlassung der Atombomben in Büchel auch gegen Art. I des Nichtverbreitungs-Vertrages, der die Atomwaffenstaaten verpflichtet, „Kernwaffen oder sonstige Kernsprengkörper oder die Verfügungsgewalt darüber an niemanden mittelbar oder unmittelbar weiterzugeben.“ 12

Art. II sieht für Deutschland als Nicht-Kernwaffenstaat die korrespondierende Verpflichtung vor, keine Atomwaffen anzunehmen. Also trifft dieses Verbot des NV-Vertrages auf das Verhältnis der USA und Deutschland zu. Die Atombomben dürfen nicht deutscher Hoheit unterstellt werden.

e) US-Präsident als Ausüber deutscher Hoheitsgewalt

Der US-Präsident hat sich den Einsatz amerikanischer Atomwaffen persönlich vorbehalten. Er nähme damit rechtlich deutsche Hoheitsgewalt wahr, weil die Atomwaffen von deutschem Hoheitsgebiet aus eingesetzt würden. Die Frage ist, ob der US-Präsident nach Art. 24 Abs. 1 GG als »zwischenstaatliche Einrichtung« mit einer solchen Rechtsausübung betraut werden kann. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Frage für das Entscheidungsrecht des US-Präsidenten über den Einsatz der (seinerzeit) auf dem Boden der BRD stationierten Pershing II und Cruise Missiles bejaht.13 Im Fachschrifttum ist diese Entscheidung ganz überwiegend auf Kritik gestoßen14, denn der US-Präsident handelt dabei als Staatsorgan der USA. Die Entscheidung wäre aber, würde der Einsatz von Deutschland aus erfolgen, der NATO zuzurechnen. Ein Entscheidungsrecht des US-Präsidenten wäre nur dann zulässig, wenn der NATO insoweit ein umfassendes Aufsichts- und Kontrollrecht zustände. Daran fehlt es. Also liefert auch die für Deutschland in Anspruch genommene Rechtskonstruktion zum Einsatz der US-Atombomben keine verfassungsmäßige Rechtsgrundlage.

Die Rechtsfolgen für Deutschland, Rechtsschutz

Wenn der Einsatz von Atombomben durch die USA oder die NATO rechtswidrig ist, dann gilt dies auch für Deutschland, weil eine rechtswidrige Kriegsführung von deutschem Boden aus gegen die deutsche Verfassung und gegen den NATO-Vertrag, der in Art. 1 das Gewaltverbot der UN-Charta bekräftigt, gegen den 2+4-Vertrag sowie gegen den NV-Vertrag verstößt. Rechtswidrig ist auch die »nukleare Teilhabe« im Übrigen, also die konzeptionelle und logistische Tätigkeit im Bundesverteidigungsministerium, in der Bundeswehr und innerhalb der nuklearen Planungsgruppe der NATO, soweit es um den Einsatz von Atomwaffen geht.

Da die Bundesrepublik permanent gegen diese rechtlichen Vorgaben verstößt, stellt sich die Frage nach dem Rechtsschutz. Dazu ist aufmerksam zu machen auf das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts zur Erweiterung des Flughafens Leipzig/Halle15 und den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts zum Flugplatz Ramstein16. In beiden Entscheidungen hat das Bundesverwaltungsgericht klargestellt, dass für die Zulassung von Flugbewegungen ausländischen Militärs von deutschem Boden aus über Art. 25 GG das Gewaltverbot der UN-Charta gilt. Wörtlich heißt es: „Luftfahrzeugen, die an einem gegen das völkergewohnheitsrechtliche Gewaltverbot verstoßenden militärischen Einsatz bestimmend mitwirken, darf die Benutzung des deutschen Luftraums nicht gestattet werden.“

Bis vor kurzem waren in Ramstein noch US-Atombomben stationiert. Ob sie tatsächlich abgezogen sind, ist offen. Die Bundeswehr darf jedenfalls die Bücheler Atombomben nicht »einsetzen« und US-Militär die Androhung des Einsatzes und den Einsatz nicht gestatten.

Diese rechtliche Vorgabe gilt nicht nur für den Staat. Vielmehr hat auch der Bürger ein individuelles Klagerecht, um ein entsprechendes Verhalten zu erzwingen. Schon nach dem Wortlaut des Art. 25 GG erzeugen „die allgemeinen Regeln des Völkerrechts … Rechte und Pflichten unmittelbar für die Bewohner des Bundesgebietes“. Der Parlamentarische Rat, der das Grundgesetz geschrieben hat, hat das mit den Worten von Carlo Schmid wie folgt klargestellt:

„Die einzige wirksame Waffe des ganz Machtlosen ist das Recht, das Völkerrecht. Die Verrechtlichung eines Teiles des Bereichs des Politischen kann die einzige Chance in der Hand des Machtlosen sein, die Macht des Übermächtigen in ihre Grenzen zu zwingen.“ 17

Daraus ergibt sich ein individuelles Klagerecht, das sowohl auf Basis des Art. 25 als auch des Art. 26 GG gilt, der das Verbot des Angriffskrieges regelt. Der Bürger könnte also einem geplanten Einsatz von Atomwaffen entgegentreten und er kann auch auf die Beendigung der nuklearen Teilhabe klagen. An einem Verfahren wird gearbeitet.

Anmerkungen

1) Bundesministerium der Verteidigung (2006): Weißbuch für die deutsche Sicherheitspolitik, S.32.

2) Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP, S.112.

3) Diese Konstruktion wirft besondere verfassungsrechtliche Probleme auf; siehe dazu unten »e) US-Präsident als Ausüber deutscher Hoheitsgewalt«.

4) Abgedruckt in: IALANA (Hrsg.), Atomwaffen und Völkerrecht, Das Gutachten des Internationalen Gerichtshofs vom 08.07.1996, 1997, S.29 ff.

5) Ebd., S.66.

6) Bedjaoui, in: Bedjaoui/Bennoune/Deiseroth/Shafer, Völkerrechtliche Pflicht zur nuklearen Abrüstung?, IALANA 2009, 29, 42 ff.

7) Deiseroth, in: Bedjaoui u.a., a.a.O. (Fußn. 60), 13.

8) Murswiek, Dietrich (2003): Die amerikanische Präventivkriegsstrategie und das Völkerrecht, Neue Juristische Wochenschrift 2003, 1014, s. Fußnote 50.

9) Murswiek, ebd., 1017 mit zahlreichen Nachweisen; Kurth, Michael E. (2003): Der 3. Golfkrieg aus völkerrechtlicher Sicht, Zeitschrift für Rechtspolitik 2003, 195 ff.

10) NSS (2002), S.15.

11) NSS (2006), S.18.

12) Dazu Deiseroth, Dieter in: Umbach, Dieter C. & Clemens, Thomas (Hrsg.) (2002): Grundgesetz, Mitarbeiterkommentar und Handbuch, Art. 24, Zwischenstaatliche Einrichtungen, Rz 36 m. w. N., insbesondere in Fußnote 91.

13) BVerfGE 68, 1, 89 ff.

14) Deiseroth, a.a.O. (Fußnote 11), Rz 35, insb. Fußnoten 84 f. m. w. N.

15) Urteil vom 24.07.2008, BVerwG 4 A 3001.07.

16) Beschluss vom 20.01.2009, BVerwG 4 B 45/08.

17) Zitat Carlo Schmid, 12. Sitzung des Ausschusses für Grundsatzfragen, 15.10.1948, in: Pikart, Eberhard & Werner, Wolfram (1993): Der Parlamentarische Rat 1948-1949, Bd. 5/I, S.313 ff., 321; vgl. dazu das Gutachten von Andreas Fischer-Lescano (2008): Militärbasen und militärisch genutzte Flughäfen in Deutschland, Rechtsgutachten im Auftrag der Fraktion DIE LINKE im Bundestag, S.16 ff.; ders. 2007): Subjektivierung öffentlich-rechtlicher Sekundärregeln, die Individualrechte auf Entschädigung und effektiven Rechtsschutz bei Verletzungen des Völkerrechts, Archiv des Völkerrechts (AöR), Bd. 45 (2007), S.299-381; vgl. schließlich die Veröffentlichung des Verfassers, Rechtsschutz gegen verfassungswidrige Kriegsführung, vorgesehen für das Buch der IALANA zur IALANA-Konferenz vom 25./26. Juni 2009 in Berlin. Dort wird insbesondere die im verfassungsrechtlichen Schrifttum herrschende Auffassung näher dargestellt, aus der sich ergibt, dass der Bürger aus Art. 25 Satz 2 GG ein individuelles Klagerecht auch bei Verletzung des völkerrechtlichen Gewaltverbots hat.

Dr. Peter Becker ist Rechtsanwalt und Vorsitzender der Deutschen IALANA (International Association of Lawyers Against Nuclear Arms)

Konferenz der IALANA »Frieden durch Recht?«

Konferenz der IALANA »Frieden durch Recht?«

Berlin 26./27. Juni 2009

von Barbara Dietrich

IALANA (International Association of Lawyers against Nuclear Arms) wurde im Jahr 1988 international, in Deutschland 1989 gegründet mit dem Ziel der weltweiten Ächtung aller Massenvernichtungsmittel, der Stärkung des (Völker)Rechts und der friedlichen Lösung internationaler Konflikte. Im Jahr 2009 wurde das internationale mit dem deutschen Büro der IALANA zusammengelegt und wird nunmehr von diesem mit verwaltet.

In der Einleitung zur diesjährigen Konferenz räumte Peter Becker, Vorsitzender der IALANA ein, dass Recht zwar keinen Frieden schaffen könne, wohl aber das Recht für den Frieden unverzichtbar sei, da es – seine Beachtung vorausgesetzt – dazu beitragen könne, Frieden zu erhalten und das Leid der Zivilbevölkerung in Kriegszeiten zu reduzieren. Demgegenüber wurde von einigen Referenten auf die Erosion völkerrechtlicher Normen hingewiesen, die mit der hegemonialen Neuordnung der Welt seitens der USA – insbesondere nach dem 9.11.2001 – einhergegangen sei. So seien etwa die Kriege gegen Jugoslawien, Afghanistan und Irak jenseits der friedenssichernden Normen der UN-Charta geführt worden. Die Art und Weise dieser Kriegsführung, die ohne Rücksichtnahme auf die Zivilbevölkerung erfolgt sei, verstieß gegen das humanitäre Kriegsvölkerrecht der Genfer Konventionen und der Zusatzprotokolle, was ebenso hinsichtlich des Umgangs mit den Kriegsgefangenen in Abu Ghraib und Guantanamo gelte. Eine gravierende Verletzung der UN-Charta und des Atomwaffensperrvertrages (NVV)1 von 1968 impliziere auch die Neufassung der NATO-Strategie 1999, in der die Drohung mit Atomwaffen und deren Ersteinsatz aufrechterhalten werde.2 Peter Weiss, Vizepräsident der IALANA und der Fédération internationale des ligues des droits de l’Homme wies darauf hin, dass bereits im Jahr 1996 der Internationale Gerichtshof (IGH) in einem Gutachtenverfahren nach Art. 96 UN-Charta entschieden hatte, dass die Androhung und der Gebrauch von Atomwaffen generell völkerrechtswidrig seien. Der IGH bestätigte zugleich, dass die Vertragsstaaten gem. Art. VI NVV verpflichtet seien, „Verhandlungen im guten Glauben aufzunehmen und abzuschließen, die zu atomarer Abrüstung in allen ihren Aspekten unter strikter und effektiver Kontrolle führen“. Hermann Scheer (SPD MdB) erinnerte daran, dass die Nichtatomstaaten die Aufnahme des Art. VI zur Bedingung für das Zustandekommen des NVV gemacht hatten. Er konstatierte, dass die Vertragsatomstaaten ihn seit 40 Jahren brechen, indem sie ihrer Verpflichtung zur atomaren Abrüstung nicht Folge leisten, gleichzeitig aber, so ergänzte Gregor Gysi (MdB Die Linke), anderen Staaten den Besitz von Atomwaffen untersagten. Daraus resultiere die Gefahr, dass z.B. Iran die Mitgliedschaft in NVV kündigen und legal Atomwaffen entwickeln könne. Es müsse unbedingt internationaler Druck aufgebaut werden, so Scheer, damit der NVV umgesetzt wird, andernfalls die Zahl der Atomstaaten unweigerlich zunehmen werde, eine Gefahr, auf die der Vizepräsident des IGH, Christopher Weeramantry in einer im Jahr 2005 publizierten Studie bereits nachdrücklich hingewiesen hätte.

Die deutsche Regierung habe im April 2008 zugestimmt, sich künftig der Gerichtsbarkeit des IGH zu unterwerfen, allerdings mit dem – bemerkenswerten – Vorbehalt, dass der Einsatz deutscher Streitkräfte im Ausland und die Nutzung deutschen Hoheitsgebietes für militärische Zwecke von der Jurisdiktion des IGH ausgenommen sein sollten, so Peter Becker. Die zitierte Entscheidung des IHG sei für die BRD relevant, weil noch immer US-Atomwaffen z.B. in Büchel / Rhld.-Pfalz gelagert seien, die gegebenenfalls von deutschen Piloten transportiert und mit deutschen Tornados zum Einsatzort geflogen würden. Diese »nukleare Teilhabe« verstoße sowohl gegen das Gewaltverbot der UN-Charta als auch gegen das Grundgesetz (Art. 2 IV UN-Charta, 25, 26 GG).

Willi Wimmer (MdB CDU) wies mit bemerkenswerter Offenheit darauf hin, dass der Bundestag bezüglich einer kritischen verfassungsrechtlichen Prüfung der NATO-Strategie 1999 inkompetent sei, ebenso wie die einschlägigen Ausschüsse (Verteidigung, Auswärtiges), deren Besetzung »schmal« sei und fluktuiere; beiden Gremien mangele es an „intellektueller Qualität“. Um die nukleare Abrüstung einer Umsetzung näher zu bringen, wird von IALANA und anderen NGOs angestrebt, nochmals über die UN-Generalversammlung ein Gutachtenverfahren vor dem IGH zu initiieren (Projekt »Back to the Court«) mit dem Ziel, für die Aufnahme effektiver Verhandlungen über die nukleare Abrüstung einen verbindlichen Zeitrahmen festlegen zu lassen.

Das Friedensgebot der UN-Charta und des GG waren Thema des Vortrages von Dieter Deiseroth, Richter am Bundesverwaltungsgericht. Zunächst verwies der Referent auf einige Schwachstellen der UN Charta im Kontext des Gewaltverbotes und des Selbstverteidigungsrechts (Art. 2 IV und 51) und stellte dann die einzelnen friedensrechtlichen Regelungen im GG (Präambel, Art. 26, 9 II, 25 und 20 I und III, 24, 23) en détail vor. Die zentralen Elemente dieser Bestimmungen seien im Verlauf von 60 Jahren nicht annähernd konkretisiert worden, so Deiseroth unter Verweis auf das gleichlautende Resumee des Richters am Bundesverfassungsgericht a.D. Helmut Simon.3 Insbesondere sei Art. 26 I i.V.m. § 80 StGB –Verbot des Angriffskrieges – bisher leergelaufen.

Der Referent warnte vor einer Aushöhlung des Demokratiegebotes in Art. 20 GG: außen- bzw. sicherheitspolitische Entscheidungen würden zunehmend häufig von der Exekutive statt von der Legislative getroffen, eine Entwicklung, der die einschlägige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sogar noch Vorschub leiste. Willi Wimmer sprach das gleiche Grundproblem an, als er dem BVerfG eine „dramatische Verantwortung für deutsche Friedenspolitik“ bescheinigte, die ihm eigentlich nicht zukomme .

Deiseroth forderte eine strikte Bindung der Exekutive an die Ge- und Verbote des GG in der Sicherheits- und Außenpolitik als Kern demokratischer Rechtsstaatlichkeit; diese Bindung dürfe nicht unter Hinweis auf Bündnistreue oder außenpolitische Handlungsfähigkeit oder Staatsraison außer Kraft gesetzt oder relativiert werden.

In der Podiumsdiskussion zum Thema »Ausnahmen vom Gewaltverbot?« stellte HJ Heintze, Dozent an der Ruhruniversität Bochum das Konzept »Responsibility to Protect« vor, das –von internationalen Experten als Reaktion auf die humanitären Krisen, z.B. in Rwanda und auf dem Balkan, entwickelt – die Internationale Gemeinschaft legitimieren soll, gegebenenfalls auch militärisch einzugreifen, wenn ein Staat seine Bürger nicht ausreichend vor Völkermord, ethnischer Säuberung oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu schützen imstande oder willens ist.4

Der Völkerrechtler Prof. Norman Paech (MdB Die Linke) wandte sich entschieden dagegen, das Gewaltverbot der UN-Charta (Art. 2 IV) aufzuweichen und Ausnahmen davon über das Recht der Selbstverteidigung (Art. 51 UNCh) hinaus zuzulassen. Eine gewaltsame »humanitäre Intervention« ohne UN-Mandat erlaube die Charta ebenso wenig wie eine vorbeugende Verteidigung (preemptive strike) im Falle der Bedrohung mit Massenvernichtungswaffen oder Terror. Auch ein Terroranschlag könne nicht ohne weiteres ein Recht auf Selbstverteidigung auslösen.5 In Situationen, in denen der Sicherheitsrat nicht handlungsfähig sei, so Paech weiter, könne z.B. die UN Generalversammlung mit 2/3 Mehrheit Maßnahmen – auch militärischer Art – beschließen, so sehe es die Resolution der Generalversammlung 377 »Uniting for peace« aus dem Jahre 1950 vor, aus der mittlerweile – mehrmals angewandt – Völkergewohnheitsrecht geworden sei.

In der abschließenden Plenumsdiskussion wurden Vorschläge zusammengetragen zur Frage, wie das Friedensgebot des GG aktiviert, in Wissenschaft und Praxis integriert und für einen größeren Adressatenkreis zugänglich und umsetzbar gemacht werden könnte. Die Vorschläge aus dem Kreis der etwa 180 Teilnehmer/innen reichten vom Hinwirken auf eine friedensrelevante Neufassung des § 80 StGB über die Einfügung eines Rechtsmoduls in friedenswissenschaftliche Studiengänge, Einbezug friedensrechtlicher Aspekte in das Programm des Kasseler Friedensratschlags bis hin zur Forderung nach verfassungsrechtlicher Überprüfung der Wehrpflicht.

IALANA selbst hat mit anderen internationalen Organisationen eine Nuklearwaffenkonvention erarbeitet, in der die Atommächte verpflichtet werden, ihre nuklearen Arsenale, Sprengköpfe und Transportsysteme international kontrolliert innerhalb einer festgesetzten Frist zu zerstören. Schritte bis hin zu diesem Ziel werden in der Konvention genau festgelegt und gleichzeitig die Produktion jedweden nuklearen Materials verboten.6

Die Konvention soll für alle Vertragsunterzeichner bindend sein und wurde vom UN-Generalsekretär Ban bereits allen UN Mitgliedstaaten zur Stellungnahme zugeleitet.

Darüber hinaus plant IALANA, ein Netzwerk aus Juristen/innen, Wissenschaftlern/innen, Friedensbewegung und -forschung und Zivilgesellschaft zum Thema »Frieden durch Recht« zu etablieren und für verschiedene Studiengänge Rechtsmodule gleichen Inhalts bzw. interdisziplinäre Kooperationsmodelle zu entwickeln. Ein friedensrechtliches Kompendium mit den einschlägigen völkerrechtlichen und nationalen Rechtsquellen soll als Arbeitsgrundlage für Rechtsanwender/innen erstellt werden.

Der Kongress war konzentriert, inhaltsreich und wegweisend. Wünschenswert wäre es allerdings gewesen, wenn die Ergebnisse der workshops in konzentrierter Kurzfassung dem Plenum vorgestellt worden wären, wird doch z.B. die Frage nach der strafrechtlichen Verfolgung von hochrangigen politisch bzw. militärisch Verantwortlichen wegen ihrer Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht (Thema Workshop 2) in friedenspolitischen Diskussionen immer wieder gestellt, so dass eine Beantwortung dieser Frage von berufener Seite für alle Teilnehmer/innen des Kongresses nützlich gewesen wäre.

Anmerkungen

1) Vertrag über die Nichtverbreitung von Atomwaffen vom 1. 7.1968, BGBl 1974 II, S.786.

2) NATO Press Kommuniqué 24.04.1999: Das Strategische Konzept des Bündnisses, Ziff. 62.

3) Vgl. Helmut Simon: Die Friedensverpflichtung im Grundgesetz, in: Rechtsprechungs- report Nr.1 (hrsg von MARI und IALANA), Marburg o.J., S.50 ff.

4) Dt. Bundestag, Wiss. Dienste, Responsibility to Protect (Schutzverantwortung).

5) Vgl. Norman Paech (2004): Epochenwechsel im Völkerrecht? Über die Auswirkungen der letzten Kriege auf das UNO-Friedenssystem, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zu »Das Parlament« Nr. 43/2004.

6) Vgl. INESAP: Modellentwurf für eine Nuklearwaffenkonvention, Dezember 2008

Barbara Dietrich

Das Parlament als Friedenswächter?

Das Parlament als Friedenswächter?

Anmerkungen zum Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts

von Martin Kutscha

Am 30. Juni 2009 verkündete das Bundesverfassungsgericht das Urteil im Zusammenhang mit den – u.a. von der Bundestagsfraktion »Die Linke« – eingereichten Verfassungsbeschwerden gegen das Zustimmungsgesetz zum Lissabon-Vertrag. Hinsichtlich zukünftiger militärischer Interventionen der EU sieht das Gericht im Deutschen Bundestag das zentrales Gremium um sicherzustellen, dass diese in Übereinstimmung mit dem Grundgesetz erfolgen – eine idealistische Sichtweise.

Ursprünglich als reine Wirtschaftsorganisation gegründet, etabliert sich die EG/EU inzwischen mehr und mehr auch als Militärmacht. Schon im Vertrag von Amsterdam aus dem Jahre 1997 wurde die „schrittweise Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik“ gefordert (Art. 17 Abs. 1 EU-Vertrag). Ab 1998 wurden dann durch Beschlüsse des Rates Schritt für Schritt verschiedene Untergremien und Einrichtungen geschaffen, die sich mit der Entwicklung und Koordinierung der militärischen Komponente befassen.1 2001 erhielt die Europäische Union einen eigenen Militärstab, und bereits im Jahre 2003 fanden die ersten Militäreinsätze unter dem Signum der EU statt, nämlich »Concordia« in Mazedonien und »Artemis« im Kongo.2

Zur Legitimation solcher Einsätze auch für die Zukunft sollen entsprechende Bestimmungen im 2007 ausgehandelten Vertrag von Lissabon, der an die Stelle des gescheiterten Verfassungsvertrages treten soll, dienen: Zwar bekennt sich die Union in Art. 3 Abs. 1 des neuen EU-Vertrages u. a. zur Förderung des Friedens. Art. 42 Abs. 1 dieses Vertrages enthält jedoch eine Ermächtigung zu „Missionen außerhalb der Union zur Friedenssicherung, Konfliktverhütung und Stärkung der internationalen Sicherheit in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen. Sie erfüllt diese Aufgaben mit Hilfe der Fähigkeiten, die von den Mitgliedstaaten bereitgestellt werden“. Noch deutlicher spricht dann Art. 43 Abs. 1 des Vertrages von „Kampfeinsätzen im Rahmen der Krisenbewältigung einschließlich Frieden schaffender Maßnahmen und Operationen zur Stabilisierung der Lage nach Konflikten. Mit allen diesen Missionen kann zur Bekämpfung des Terrorismus beigetragen werden, unter anderem auch durch die Unterstützung für Drittländer bei der Bekämpfung des Terrorismus in ihrem Hoheitsgebiet“.

Die friedenspolitische Brisanz dieser Ermächtigungen folgt aus der Konturlosigkeit solcher Begriffe wie »Krisenbewältigung« oder »Terrorismus« – Krisen und Terrorismus kann es schließlich auf den verschiedensten Schauplätzen rund um die Welt und aus ganz unterschiedlichen Ursachen geben. Richtig schreibt ein Kritiker des Vertrages: „Der Begriff des Terrorismus ist ungeklärt und unklar. Mit der Annahme des Terrorismus lässt sich daher jeder Einmarsch in ein Drittland und die Besetzung eines Drittlandes rechtfertigen. Damit misst sich die Union ein Recht zum Kriege (ius ad bellum) zu, das sie zu Angriffskriegen ermächtigt, welche mit den oben genannten Zwecken nicht gerechtfertigt werden können. Das Gewaltverbot ist ein Grundpfeiler des modernen Völkerrechts (Art. 2 Abs. 1 UNO-Charta). Es verbietet Interventionen, auch die humanitäre Intervention. Der Weltfrieden rechtfertigt den Einsatz militärischer Gewalt auch nur, wenn dies der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen beschließt (Art. 42 UNO-Charta)“.3

Nicht weniger bedenklich ist die Bestimmung in Art. 42 Abs. 3 des Vertrages: „Die Mitgliedstaaten verpflichten sich, ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern“. Damit enthält der Vertrag von Lissabon eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur militärischen Aufrüstung, die alle Abrüstungsschritte der Vergangenheit ad absurdum führt.

Die hier dargestellten problematischen Bestimmungen des Vertrags von Lissabon zur künftigen Militärpolitik der EU sowie die Festschreibung der „offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ veranlasste die Bundestagsfraktion der Partei »Die Linke«, gegen das deutsche Zustimmungsgesetz ein Organstreitverfahren beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe anhängig zu machen. Gerügt wurde von der Fraktion u. a., dass mit einer Beteiligung Deutschlands an Militäreinsätzen der EU, zu denen der Vertrag von Lissabon ermächtige, die in Art. 26 des Grundgesetzes normierte Verpflichtung zur Friedensstaatlichkeit missachtet werde. Mit Recht wurde in der Antragsschrift auch daran erinnert, dass die deutschen Streitkräfte nach Art. 87a Abs. 2 des Grundgesetzes grundsätzlich auf die Aufgabe der Verteidigung beschränkt sind. Soweit Soldaten der Bundeswehr im Rahmen eines internationalen „Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit“ gemäß Art. 24 Abs. 2 des Grundgesetzes eingesetzt werden, müssen die verfassungsmäßig vorgeschriebene Zweckbestimmung dieser Systeme, nämlich die „Wahrung des Friedens“ , sowie die verbindlichen Regeln dieses System, also insbesondere das prinzipielle Gewaltverbot der UNO-Charta, strikt eingehalten werden.4 Durch die militärpolitischen Ermächtigungsnormen des Vertrags von Lissabon, so die Kritik der Bundestagsfraktion, würde die Geltung dieser verpflichtenden Vorgaben des deutschen Grundgesetzes in gravierender Weise in Frage gestellt.

Nachdem auch von anderer Seite Verfassungsbeschwerden gegen das Zustimmungsgesetz zum Lissabon-Vertrag erhoben worden waren, verkündete das Bundesverfassungsgericht sein Urteil schließlich am 30. Juni 20095: Das Zustimmungsgesetz selbst sei mit dem Grundgesetz vereinbar, allerdings müsse das die Mitwirkungsrechte von Bundestag und Bundesrat in EU-Angelegenheiten regelnde Begleitgesetz geändert werden, da es den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Mitwirkung dieser deutschen Verfassungsorgane nicht genüge.

Ermahnungen aus Karlsruhe

In seinem Kern versucht das umfangreiche Urteil des höchsten deutschen Gerichts, den Vertrag von Lissabon durch die Brille des deutschen Grundgesetzes zu lesen und zu interpretieren. Recht deutlich werden die Demokratiedefizite des Entscheidungssystems der EU benannt, die auch nicht durch eine partielle Stärkung der Rechte des europäischen Parlaments wettgemacht würden. Im Gegensatz zu den vollmundigen Beteuerungen vieler Politiker konstatiert das Gericht nüchtern: „Der Vertrag von Lissabon führt nicht auf eine neue Entwicklungsstufe der Demokratie“.6 In Anbetracht dieser Situation verspricht sich das Bundesverfassungsgericht Abhilfe durch eine Stärkung der Mitwirkungsrechte der nationalstaatlichen Parlamente7 sowie durch das Kontrollrecht der Verfassungsgerichtsbarkeit, um den „unantastbaren Kerngehalt der Verfassungsidentität des Grundgesetzes“8 vor einer Preisgabe bei weiteren Integrationsschritten der EU bewahren zu können.

Nicht ohne ein gewisses Pathos erinnert das Gericht an die Aussagen unserer Verfassung zur Friedenswahrung: „Die Präambel des Grundgesetzes betont nach den Erfahrungen verheerender Kriege, gerade auch unter europäischen Völkern, nicht nur die sittliche Grundlage verantworteter Selbstbestimmung, sondern auch den Willen, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen….Das Grundgesetz will die Mitwirkung Deutschlands an internationalen Organisationen, eine zwischen den Staaten hergestellte Ordnung des wechselseitigen friedlichen Interessenausgleichs und ein organisiertes Miteinander in Europa….Es bricht mit allen Formen des politischen Machiavellismus und einer rigiden Souveränitätsvorstellung, die noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Recht zur Kriegsführung – auch als Angriffskrieg – für ein selbstverständliches Recht des souveränen Staates hielt“.9 Diesen historisch wohlbegründeten Feststellungen des Bundesverfassungsgerichts kann nur zugestimmt werden.

Im Hinblick auf die oben dargestellten Ermächtigungen im Lissabon-Vertrag zu militärischen »Missionen« einschließlich von „Kampfeinsätzen im Rahmen der Krisenbewältigung“ legt das Gericht dann allerdings eine erstaunliche Lesart zu Grunde: „Der Wortlaut des Vertrags von Lissabon verpflichtet die Mitgliedstaaten nicht, nationale Streitkräfte für militärische Einsätze der Europäischen Union bereitzustellen“.10 Aber sollen die militärischen »Missionen« der Union nach Art. 42 Abs. 1 des EU-Vertrages nicht gerade „mit Hilfe der Fähigkeiten, die von den Mitgliedstaaten bereitgestellt werden“, durchgeführt werden? Und was bedeutet die in Abs. 3 desselben Artikels enthaltene Verpflichtung der Mitgliedstaaten, „ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern“? Es ist zwar richtig, dass schon wegen des im Bereich der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik geltenden Einstimmigkeitsprinzips kein Mitgliedstaat gegen seinen Willen zu einer Beteiligung an einer militärischen Operation der EU verpflichtet werden könnte11; aber kann es als erwiesen gelten, dass der im Rat anwesende Regierungsvertreter Deutschlands bei Abstimmungen dem Friedensgebot des Grundgesetzes immer strikte Beachtung zollt? Die Beteiligung Deutschlands an der Bombardierung Jugoslawiens im Jahre 1999 ohne ein Mandat des UNO-Sicherheitsrates12 gibt insoweit wenig Anlass zu Optimismus hinsichtlich der Verfassungstreue der verantwortlichen Politiker.

Das Bundesverfassungsgericht setzt seine Hoffnungen indessen auf den Bundestag, der jedem Einsatz bewaffneter Streitkräfte seine Zustimmung erteilen muss. Dieser Parlamentsvorbehalt für solche Militäreinsätze ist nicht explizit im Grundgesetz verankert, sondern zuerst im Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Juli 1994 zu den Bundeswehreinsätzen in der Adria, in Somalia sowie in AWACS-Flugzeugen statuiert worden.13 Die verfassungsrechtliche Problematik von Bundeswehreinsätzen im Ausland wurde damit, so die berechtigte Kritik, auf eine bloße Kompetenzfrage reduziert.14 Die Bundeswehr ist danach ein »Parlamentsheer«, wie das Bundesverfassungsgericht inzwischen in mehreren Entscheidungen betont hat.15 Nach dem Urteil zum Vertrag von Lissabon soll sich daran auch nichts ändern, wenn Bundeswehreinsätze im Rahmen von militärischen »Missionen« der EU stattfinden. Dieser verfassungsrechtlichen Bindung soll sich die Bundesregierung auch bei ihrer Mitwirkung an Entscheidungen der EU-Organe nicht entziehen können: Der deutsche Vertreter im Rat sei „von Verfassungs wegen verpflichtet, jeder Beschlussvorlage die Zustimmung zu verweigern, die den wehrverfassungsrechtlichen Parlamentsvorbehalt des Grundgesetzes verletzen oder umgehen würde“.16

Ein parteiischer Wächter

Es bleibt aber zu fragen, ob sich der vom Bundesverfassungsgericht statuierte Parlamentsvorbehalt überhaupt als Korrektiv für die Militärpolitik der Regierung eignet. Schließlich hat der Deutsche Bundestag bisher zu jedem der inzwischen über 50 Anträge der Bundesregierung, bewaffnete Bundeswehreinheiten auf bestimmten Schauplätzen im Ausland einzusetzen, sein Placet erteilt.17 Abgeordnete der Regierungsparteien, die vor der jeweiligen Abstimmung ihr Unbehagen artikuliert hatten, wurden durch politischen Druck – bis hin zur Verknüpfung mit der Vertrauensfrage durch Bundeskanzler Gerhard Schröder – zur Zustimmung bewegt.

Das von einem tiefen Vertrauen in die bremsende und kontrollierende Kraft des nationalstaatlichen Parlaments durchdrungene (und deutlich die Handschrift des berichterstattenden Richters Udo Di Fabio verratende) Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Vertrag von Lissabon geht offenbar von einer lehrbuchgemäßen Idealvorstellung des Verhältnisses zwischen Legislative und Exekutive aus. Danach verabschiedet die Legislative nicht nur die für die »vollziehende Gewalt« verbindlichen Gesetze, sondern kontrolliert auch das Handeln der Exekutive. Mit der Realität des heutigen Parlamentarismus hat dieses Idealbild allerdings wenig gemein: Politischer Gegenspieler der Regierung als Spitze der Exekutive ist nämlich nicht das Parlament, sondern nur dessen oppositionelle Minderheit. Nur diese hat ein politisches Interesse, wirksame Kontrolle auszuüben, um Fehlentscheidungen im Bereich der Exekutive aufzudecken und anzuprangern. Das wusste auch das Bundesverfassungsgericht früher schon besser als im Urteil zum Lissabon-Vertrag: Im heutigen parlamentarischen Regierungssystem, so heißt es z. B. in einem Beschluss des Gerichts vom 2. August 1978, überwache „in erster Linie nicht die Mehrheit die Regierung, sondern diese Aufgabe wird vorwiegend von der Opposition – und damit in der Regel von einer Minderheit – wahrgenommen“.18 Wer hierfür nach anschaulichen Beispielen sucht, schaue sich nur das Verhalten von Abgeordneten der verschiedenen Fraktionen in den Untersuchungsausschüssen des Bundestages an.

Die Mehrheit des Parlaments wird regelmäßig bestrebt sein, die Regierung zu stützen, und gibt deshalb einen recht parteiischen Wächter für deren Handeln ab. Abgesehen von Ausnahmesituationen wird sie sowohl die Gesetzesvorlagen aus der Regierung (von denen manche inzwischen ja sogar von wirtschaftsnahen Anwaltskanzleien ausgearbeitet werden19) unterstützen als auch den von der Regierung gewünschten Auslandseinsätzen der Bundeswehr ihre Zustimmung erteilen. Die parlamentarische Minderheit hingegen kann den zustimmenden Beschluss mit ihren Stimmen nicht verhindern, sondern nur versuchen, die Öffentlichkeit zu mobilisieren.

Der Parlamentsvorbehalt bietet jedenfalls keine Sicherheit dafür, dass die deutschen Streitkräfte strikt nach Maßgabe der Vorgaben des Grundgesetzes und der UNO-Charta verwendet werden. Es wäre deshalb überzeugender gewesen, wenn das Bundesverfassungsgericht die fragwürdigen militärpolitischen Bestimmungen des Vertrags von Lissabon genauer unter die Lupe dieser verfassungs- und völkerrechtlichen Beschränkungen genommen hätte. Aber angesichts einer ganz großen Koalition, die jegliche Kritik am Lissabon-Vertrag als »Europafeindlichkeit« verteufelt, hätte es dazu schon sehr viel Mut bedurft.

Anmerkungen

1) Vgl. nur Oppermann, T. (2005): Europarecht, 3. Aufl. S.723 ff. (§ 33 III); kritisch Pflüger, T. (2005): Keine Rede von einer Zivilmacht EU, FR v. 9. 4. 2005.

2) Vgl. Wagner, J. (2009): Außenpolitik, in: Gillen, G./v. Rossum, W. (Hg.), Schwarzbuch Deutschland, S.77 (81).

3) Schachtschneider, K. A. (2008): Verfassungsrechtliche Argumente gegen den Vertrag von Lissabon. Leviathan 3/2008, S.317 (335).

4) Vgl. im Einzelnen Kutscha, M. (2007): Konfliktverhütung durch Krieg? Verfassungsfragen an das neue Bundeswehr-Weißbuch, Wissenschaft & Frieden 2/2007, S.27 (28).

5) Der Text des Urteils findet sich unter www.bverfg.de/entscheidungen.html sowie in der Neuen Juristischen Wochenschrift 31/2009, S.2267-2295.

6) BVerfG a. a. O., Absatznummer (Abs. Nr.) 295.

7) Kritisch zu diesem »Parlamentspatriotismus« Fischer-Lescano, A. (2009): Bundesverfassungsgericht: Zurück zum Nationalstaat, Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2009, S.15 (16).

8) BVerfG a. a. O, Leitsatz 4.

9) BVerfG a. a. O., Abs. Nr. 222/223.

10) BVerfG a. a. O. Abs. Nr. 384.

11) So BVerfG a. a. O., Abs. Nr. 391.

12) Dazu z. B. Bald, D. (2005): Die Bundeswehr, S.162 ff.

13) Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen Bd. 90, S.286 (Leitsatz 3a u. S.381 ff.); ausführlich dazu Kutscha, M. (2004): Militäreinsätze vor dem Bundesverfassungsgericht, in: Kramer, H./Wette, W. (Hg.), Recht ist, was den Waffen nützt, S.321 (328 f.).

14) V. Ooyen, R. Chr. (2008): Das Bundesverfassungsgericht als außenpolitischer Akteur: von der »Out-of-Area-Entscheidung« zum »Tornado-Einsatz«, Recht und Politik 2/2008, S.75 (78).

15) So z. B. im Urteil vom 7. 5. 2008, Neue Juristische Wochenschrift 28/2008, S.2018.

16) BVerfG, Urteil v. 30. 6. 2009 a. a. O., Abs. Nr. 388.

17) Vgl. Voss, K. U. (2007): Rechtsstaat ad hoc? – Anwendung von Gesetzesvorbehalt und Parlamentsvorbehalt bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr, Zeitschrift für Rechtspolitik 3/2007, S.78 (81).

18) Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen Bd. 49, S.70 (86).

19) Vgl. z. B. Berliner Zeitung v. 13. 8. 2009: »Minister machen Anwälte reich«.

Prof. Dr. Martin Kutscha lehrt Staats- und Verwaltungsrecht an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin.

Fundamentale Differenz

Fundamentale Differenz

Ist die NATO ein Verteidigungsbündnis oder ein »System gegenseitiger kollektiver Sicherheit«?

von Dieter Deiseroth

Galt die NATO jahrzehntelang unbestritten als Militärbündnis, so finden sich in jüngerer Zeit sowohl in der öffentlichen wie in der juristischen Diskussion zunehmend Positionen, die der NATO – ähnlich wie den Vereinten Nationen – den Charakter eines Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit zuschreiben wollen. Wie der folgende Beitrag zeigt, handelt es sich dabei um eine rechtshistorisch unhaltbare und politisch bedenkliche Interpretation.

Die Sicht des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG)

Abweichend von seiner früheren Rechtsprechung1 hat das BVerfG erstmals in seiner so genannten Out-of-Area-Entscheidung vom 12.7.1994 die Auffassung vertreten, die NATO sei nicht nur ein Verteidigungsbündnis, sondern auch ein »System gegenseitiger kollektiver Sicherheit« im Sinne von Art. 24 Abs. 2 Grundgesetz (GG).2 Diese Verfassungsnorm hat folgenden Wortlaut: „Der Bund kann sich zur Wahrung des Friedens einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit einordnen; er wird hierbei in die Beschränkungen seiner Hoheitsrechte einwilligen, die eine friedliche und dauerhafte Ordnung in Europa und zwischen den Völkern der Welt herbeiführen und sichern.“ Im Fachschrifttum ist diese Rechtsprechung, die sich auch in zahlreichen späteren Entscheidungen des BVerfG – ohne weitere Begründung – fortgesetzt hat, zwar auf Widerspruch gestoßen. Im »mainstream« ist sie jedoch sowohl politisch als auch im Fachschrifttum überwiegend zustimmend rezipiert worden, entsprach und entspricht sie doch augenscheinlich der aktuellen vermeintlichen »Staatsräson«. Erleichtert wurde die von ihr erfahrene relativ hohe Akzeptanz dadurch, dass sie zugleich ein wichtiges »Trostpflaster« mit großer Befriedungsfunktion (Jutta Limbach) bereit hielt: den künftigen – im Text des GG so gar nicht vorgesehenen – konstitutiven Parlamentsvorbehalt für jeden militärischen Einsatz der Bundeswehr.

Wegen der weittragenden Folgen dieser nach dem Ende des Kalten Krieges erfolgten revolutionären konzeptionellen Umorientierung der verfassungsrechtlichen Grundlagen deutscher Außen- und Sicherheitspolitik sollen in diesem Beitrag ihre Fundamente und tragenden Pfeiler noch einmal näher in den Blick genommen werden.

Begründungsstruktur

Was sind die zentralen Gründe, die das BVerfG für die verfassungsrechtliche Gleichsetzung eines Verteidigungsbündnisses (»System kollektiver Verteidigung«) wie der NATO mit den in Art. 24 Abs. 2 GG normierten »Systemen kollektiver Sicherheit« heranzieht?

Nach Auffassung des BVerfG ist es „unerheblich“, ob das von Art. 24 Abs. 2 GG gemeinte »System gegenseitiger kollektiver Sicherheit« „ausschließlich oder vornehmlich unter den Mitgliedsstaaten Frieden garantieren oder bei Angriffen von außen zum kollektiven Beistand verpflichten soll“. Entscheidend sei vielmehr, dass zum Einen das System „durch ein friedenssicherndes Regelwerk und den Aufbau einer eigenen Organisation für jedes Mitglied einen Status völkerrechtlicher Gebundenheit“ begründet und dass zum anderen dieser Status der völkerrechtlichen Gebundenheit „wechselseitig zur Wahrung des Friedens verpflichtet“ und „Sicherheit gewährt“. Beides sei bei der NATO der Fall.

Meine These ist: Diese Argumentation des BVerfG geht an Normstruktur und Norminhalt des Art. 24 Abs. 2 GG vorbei und legitimiert so eine von dieser Verfassungsnorm abweichende sicherheitspolitische Grundkonzeption.

Entstehungsgeschichte

Erhellend für die Problemidentifizierung ist zunächst die Entstehungsgeschichte der maßgeblichen GG-Norm. Carlo Schmid, der geistige und politische Vater des Art. 24 Abs. 2 GG, hat dazu 1948/49 bei der Ausarbeitung des GG in den Debatten des Parlamentarischen Rates ausgeführt3: „Der Begriff der ‚kollektiven Sicherheit’ ist ein Terminus technicus, unter welchem etwas ganz Bestimmtes verstanden wird. … Unter ‚kollektiver Sicherheit’ ist etwas ganz Präzises zu verstehen, eine Institution aus dem großen Gebiet des Kriegsverhütungsrechts, das in den modernen Lehrbüchern als besonderer Abschnitt des Systems des positiven Völkerrechts behandelt zu werden pflegt. … ‚Kollektive Sicherheit’ ist ein genau so klar umrissener Terminus wie im bürgerlichen Recht der Ausdruck ‚ungerechtfertigte Bereicherung’.“4 Trotz verschiedener Abänderungsanträge blieb es auf der Basis dieser Argumentation Carlo Schmids (SPD), dem als Vorsitzendem des Hauptausschusses gerade in völkerrechtlichen Fragen vor allem aufgrund seiner herausragenden einschlägigen Vorbildung und Erfahrung eine große Sachautorität von seinen Abgeordneten-Kollegen zugebilligt wurde, bei dieser Textfassung des Art. 24 Abs. 2 GG. Sie ist bis heute unverändert im GG verankert.

Zu konstatieren ist allerdings, dass weder Carlo Schmid noch andere Abgeordnete des Parlamentarischen Rates eine präzise Definition des von ihnen als „festen juristischen Begriff“ bzw. als „Terminus technicus“ bezeichneten »System(s) gegenseitiger kollektiver Sicherheit« gegeben hatten. Das sollte sich in der Folgezeit als schwerer Fehler erweisen. Sicher ist aber zugleich, dass in den Debatten des Parlamentarischen Rates zu Art. 24 Abs. 2 GG kein eigenständiger verfassungsrechtlicher Begriff der »kollektiven Sicherheit« geprägt wurde, sondern dass man die vorgefundene einschlägige Begrifflichkeit aus dem Völkerrecht der Verfassungsgebung zugrunde legte.

Kollektive Sicherheit im Völkerrecht

Das BVerfG hat in seiner bereits erwähnten Entscheidung von 1994 behauptet, auch im Völkerrecht sei der Begriff der »kollektiven Sicherheit« – entgegen der geäußerten Auffassung des Abg. Schmid – keineswegs eindeutig.5 Es hat sich zum Beleg dafür auf den damaligen Bonner und späteren Berliner Völkerrechtslehrer Christian Tomuschat berufen.

Tomuschat hatte in seiner im Jahre 1985 im »Bonner Kommentar« publizierten Erläuterung des Art. 24 Abs. 2 GG ausgeführt, anders als Carlo Schmid und andere Abgeordnete im Parlamentarischen Rat behauptet hätten, hätten „während der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen erhebliche Zweifel (bestanden), wie der Begriff der kollektiven Sicherheit sachgerecht zu definieren sei.“6 „Auch in späterer Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg“ habe „sich das Begriffsverständnis nicht zu konturenscharfer Eindeutigkeit entwickelt.“7 „Angesichts dieser Unsicherheiten bei der Grenzziehung“ – schlussfolgerte Tomuschat – „muss es als fraglich bezeichnet werden, ob der Verfassungsgeber sich im Jahre 1949 bewusst zu einem engen Verständnis der kollektiven Sicherheit im idealistischen Sinne der gemeinsamen Verteidigung vorrangig gegen Angriffe aus den eigenen Reihen bekannt hat“. Es treffe deshalb – so Tomuschat – „nicht zu, wenn (u.a. von Däubler, Rojahn, Walz und Knut Ipsen) behauptet“ werde, „aus der Entstehungsgeschichte lasse sich eindeutig entnehmen, dass jedes Paktsystem, welches sich primär gegen einen Angreifer von außen richte, aus dem Anwendungsbereich des Art. 24 Abs. 2 GG herausfalle“. Als gemeinsamer Nenner ergebe sich – so Tomuschat – „lediglich ein Minimalkonsens dahin, dass Bündnisse mit aggressiver Zielsetzung und auch solche, die von vornherein auf einen klar definierten Gegner ausgerichtet sind, nicht die Qualifikation als System der kollektiven Sicherheit verdienen“.

Tomuschats Darstellung in der Zweitbearbeitung des »Bonner Kommentars« von 1985 – übrigens im Gegensatz zu der Erstbearbeitung (des Art. 24 Abs. 2 GG) durch Eberhard Menzel aus dem Jahre 1951 – verkürzt und simplifiziert die Entwicklung des völkerrechtlichen Begriffs der »kollektiven Sicherheit« und ist deshalb im Ergebnis ebenso wie die ihr folgende Auffassung des BVerfG nicht überzeugend. Das liegt insbesondere daran, dass sie nur unzureichend den historischen Hintergrund und die fundamentale Neuorientierung des Friedenssicherungsrechts nach dem I. Weltkrieg in die Analyse einbezieht.

Erstmals wurde die politische Konzeption der »kollektiven Sicherheit« nach der Katastrophe des I. Weltkrieges in der 14 Punkte-Erklärung des damaligen US-Präsidenten Woodrow Wilson entwickelt. Sie setzte sich auf der Grundlage einer Analyse der Vorgeschichte und Ursachen dieser Weltkatastrophe, die ca. 15 Millionen Menschen das Leben gekostet hatte, dezidiert von den bisherigen Militärallianzen ab. Für sie war der I. Weltkrieg das Ergebnis einer Machtpolitik rivalisierender verbündeter Staaten, aufgrund derer die Großmächte in Europa – das Vereinigte Königreich, Frankreich, Russland, Deutschland sowie Österreich-Ungarn – jeden Machtzugewinn des anderen als Bedrohung auffassten, der sie ihrerseits mit weiteren eigenen Machtanstrengungen und immer neuen Auf- und Nachrüstungen begegneten, die wiederum als Bedrohung aufgefasst wurden. Diese Spirale wechselseitiger Bedrohung(en) mündete schließlich im Krieg.

US-Präsident Woodrow Wilson, selbst Politikwissenschaftler, zog daraus die Schlussfolgerung, dass die Politik des »Gleichgewichts der Mächte« im Ergebnis ganz wesentlich für die Katastrophe mitverantwortlich war. Sie musste in seinen Augen durch den neuen Ansatz einer spezifischen Friedenspolitik ersetzt werden. Die Konzeption Wilsons setzte der alten Machtpolitik der Staaten die Vorstellung einer Gemeinschaft der Völker entgegen, die zum einen den Krieg als Mittel der Politik ächtet und zum zweiten den Frieden durch ein System kollektiver Sicherheit gewährleistet.

Wilsons Konzeption gründete sich ideengeschichtlich8 u.a. auf Rousseau, Kant, Bentham und Mill. Politisch stützte sie sich auf Vorarbeiten eines von der britischen Regierung durch Lord Balfour eingesetzten Sachverständigenausschusses (»Phillimorebericht«)9 sowie auf Vorschläge verschiedener US-amerikanischer und britischer Nichtregierungsorganisationen (u.a. League to Enforce Peace; League of Nations Society).10 Kernidee war, dass das Prinzip der auf die nationale Souveränität gestützten Machtkonkurrenz der Staaten durch das Prinzip der kollektiven Sicherheit überlagert und möglichst ersetzt werden sollte. Präsident Wilson wies dementsprechend immer wieder in aller Deutlichkeit auf den konzeptionellen Widerspruch hin, der zwischen einem System kollektiver Sicherheit einerseits und Militärbündnissen andererseits besteht. Schon unter Punkt 3 der Erklärung von Woodrow Wilson vom 27.9.1918 hieß es insoweit unmissverständlich: „Es kann in der allseitigen und gemeinschaftlichen Familie des Völkerbundes keine Bündnisse oder Allianzen oder gesonderte Verpflichtungen und Abmachungen geben.“11

Das Konzept der »kollektiven Sicherheit« fand in der Völkerrechtspraxis zunächst seinen Niederschlag in der Satzung des Völkerbundes. Allerdings geschah dies nur sehr rudimentär. Das lag vor allem an den starken Widerständen, mit denen Wilson zu kämpfen hatte und die u.a. im US-Kongress dazu führten, dass er keine Mehrheit für die Ratifizierung der ausgehandelten Verträge fand. Das Wilson’sche Konzept wurde dennoch fortentwickelt und konkretisiert und zwar vor allem durch Vorschläge des französischen Außenministers Aristide Briand, die u.a. im Briand-Kellogg-Pakt über die Kriegsächtung von 1928 sowie in seinem dem Völkerbund 1930 vorgelegten großen Friedensplan Ausdruck fanden.12 Eine Zwischenbilanz dieses neuen Politikansatzes »kollektiver Sicherheit« wurde im Frühjahr 1933 auf einer internationalen Tagung des dem Völkerbund unterstehenden »Institut International de Coopération Intellectuelle« gezogen, dem Vorläufer der UNESCO. Dazu trugen maßgeblich auch Expertisen zahlreicher wohlbekannter Völkerrechtler der Zwischenkriegszeit bei, insbesondere des englischen Gelehrten McNair13, des Genfer Völkerrechtlers Maurice Bourquin14 und des österr. Völkerrechtlers Alfred Verdross15, worauf sich insbesondere Carlo Schmid im Parlamentarischen Rat ausdrücklich bezog. Bourquin stellte in seinem »Rapport Final« als Generalberichterstatter der vorerwähnten Völkerbundstagung zusammenfassend fest, der Begriff der »kollektiven Sicherheit« impliziere eine Konzeption, die sich grundlegend von der Sicherheit unterscheide, die in militärischen Allianzen angestrebt werde. Verschieden sei zunächst die Zielsetzung; denn es gehe nicht um die Sicherheit einzelner Staaten, sondern um die Sicherheit aller. Der Krieg werde dementsprechend als gemeinsame Gefahr für alle aufgefasst, der die Interessen der gesamten Gemeinschaft berühre. Kollektiv sei auch die Methode. Kollektive Sicherheit betreffe nicht mehr allein das Verhältnis zwischen den Streitkräften eines Staates (und dessen Verbündeten) und denjenigen seines eventuellen Gegners. Vielmehr gehe es um die Etablierung einer internationalen Zusammenarbeit der Staaten im weitesten Sinne des Wortes, auch wenn in einem solchen System nicht alle Staaten die gleiche Rolle spielten, sondern sich je nach ihrer spezifischen Situation mit verschiedenen Beiträgen bei der Gewährleistung kollektiver Sicherheit engagierten.16

Carlo Schmid nahm dies nach dem II. Weltkrieg auf und reformulierte dieses Konzept 1948/49 in folgenden Worten: „Diese Vorstellung (eines internationalen Systems kollektiver Sicherheit) ist zum ersten Male aufgekommen zu der Zeit, als Briand französischer Außenminister war; eine sehr einfache Sache – nichts anderes als die Anwendung des Genossenschafts- und Versicherungsgedankens auf das politische Leben: Staaten schließen sich zusammen zu einem System gegenseitiger Verpflichtungen zu dem Zweck, dass, wenn einer von ihnen angegriffen ist, alle anderen diesen Angriff von ihm gemeinsam abwehren, und ein System, das gleichzeitig die Möglichkeit bietet, dass die Differenzen, die unter ihnen selber aufkommen könnten, auf friedlichem Wege in vernünftiger und kalkulierbarer Weise geschlichtet werden können. Damit aber wird das, was man bislang nationale Politik genannt hat, unter das kollektive Interesse gebeugt.“ Auch viele andere Völkerrechtler wie der Schweizer Rudolf Bindschedler17 sowie bedeutende Völkerrechtler aus allen Rechtskreisen dieser Welt, wie u.a. H. Kulski, Quincey Wright, C. de Vischer, M.A. Navarro, J.L.O. Kunz, L. Oppenheim und H. Lauterpacht, C. Rousseau, Manfred Lachs, Hans Kelsen, F. van Langenhove, Skubiszewski, Knut Ipsen, Otto Kimminich, Ulrich Beyerlin und Horst Fischer haben auf diesem Fundament bis heute – im Kern übereinstimmend – immer wieder darauf hingewiesen: „Kollektive Sicherheit und Bündnisse widersprechen sich grundsätzlich.“18

Fundamentale Differenz

Was sind nun diese fundamentalen Unterschiede zwischen einem »System kollektiver Verteidigung« (Verteidigungsbündnis) und einem »System kollektiver Sicherheit«, worin bestehen sie konkret?

(1) Keine Differenz zwischen ihnen besteht darin, dass ihre Mitgliedsstaaten dem völkerrechtlichen Gewaltverbot unterliegen. Dies ergibt sich unmittelbar aus Art. 2 Nr. 4 der UN-Charta und ist heute im Grundsatz19 unbestritten. Die NATO hat dies für sich in Art. 1 NATO-Vertrag ausdrücklich klargestellt.

(2) Der wichtigste Unterschied zwischen einem »System kollektiver Verteidigung« (Verteidigungsbündnis) und einem »System kollektiver Sicherheit« ist, dass sie auf zwei entgegen gesetzten Grundkonzeptionen von Sicherheitspolitik beruhen. Das Grundkonzept von Verteidigungsbündnissen basiert auf Sicherheit durch eigene Stärke und die Stärke der eigenen Verbündeten. Es ist »partikulär-egoistisch«. Die Grundkonzeption kollektiver Sicherheit basiert hingegen auf der Sicherheit aller potenziellen Gegner durch die Reziprozität innerhalb einer internationalen Rechtsordnung. Es verankert die eigene Sicherheit also gerade nicht in der relativen Schwäche und Unterlegenheit des potenziellen Gegners, sondern in der gemeinsamen Sicherheit. Dem liegt die Vorstellung zugrunde, dass die eigene Sicherheit zugleich auf der Sicherheit des potenziellen Gegners beruht. Das NATO-Bündnis (auf der Grundlage des NATO-Vertrages) gründet demgegenüber auf der Konzeption, dass die Abwehr einer Aggression von außen gegen ein Bündnismitglied – wie für ein Defensiv-Bündnis typisch – durch Selbstschutz (»Faustrecht«) des angegriffenen Staates und seiner Verbündeten erfolgt.

(3) Ein Verteidigungsbündnis ist – anders als ein »System kollektiver Sicherheit« – nicht auf prinzipielle Universalität im Sinne des Einschlusses möglichst aller potenziellen Aggressoren angelegt. Allerdings heißt dies keineswegs, dass ein System kollektiver Sicherheit nur auf globaler Ebene unter Einbeziehung aller Staaten bestehen kann. Es kann auch regionale Systeme kollektiver Sicherheit geben, sofern sie nur innerhalb der gesamten Region prinzipiell für alle betroffenen Staaten und damit für alle potenziellen Aggressoren der Region offen sind. Im Parlamentarischen Rat ist dies klar erkannt worden, in dem – innerhalb des globalen UN-Rahmens – ausdrücklich von einer künftigen Europäischen Union als Beispiel für ein regionales System kollektiver Sicherheit die Rede war.

Dieser fundamentale Unterschied zeigt sich sehr deutlich etwa bei der NATO. Sie steht eben, anders als die UNO, nicht jedem Beitrittswilligen offen, der die im NATO-Vertrag verankerten Ziele anerkennt. In der Zeit ihrer Gründung und während des Kalten Krieges war sie nach ihrem erklärten und unbezweifelten Selbstverständnis gegen eine potenzielle Aggression der Sowjetunion und deren Verbündeten gerichtet. Dementsprechend haben die NATO und ihre Mitgliedsstaaten in den Jahren 1954/55 auch das Begehren der früheren Sowjetunion auf Mitgliedschaft im NATO-Bündnis als unvereinbar mit dessen Zielrichtung abgelehnt. Nicht anders wurde auch mit dem Aufnahmegesuch Russlands im Zusammenhang mit den NATO-Osterweiterungen der letzten Jahre umgegangen, die durchweg darauf abzielten, die eigene Sicherheit gegen Russland und nicht gemeinsam mit Russland zu definieren und zu gestalten.

(4) Viertens – und dies ist ein weiterer gravierender Unterschied zu einem kollektiven Sicherheitssystem – enthält ein Verteidigungsbündnis für den Fall eines von einem eigenen Mitgliedsstaat begangenen Aggressionsaktes keine verbindlichen internen Konfliktregelungsmechanismen. Das ist auch beim NATO-Vertrag so. Eine NATO-interne Verpflichtung der übrigen NATO-Partner, einem NATO-Verbündeten, der gegen das Gewaltverbot verstößt, mit kollektiven NATO-Zwangsmaßnahmen entgegen zu treten, sieht er gerade nicht vor. Für die NATO-Staaten zeigte sich dies z.B. während des Vietnam-Krieges, bei den völkerrechtswidrigen US-Militäraktionen gegen Guatemala, Grenada, Panama und zahlreiche andere Staaten, zuletzt im Jahre 2003 beim US-Krieg gegen Irak. Dieses konzeptionelle und institutionelle Defizit der NATO ist typisch für ein »System kollektiver Verteidigung« (Verteidigungsbündnis), das ja gerade zur Verteidigung gegen einen potenziellen externen Aggressor, nicht aber zur Wahrung der Sicherheit gegen verbündete Mitglieder geschlossen wird.

(5) Ein Verteidigungsbündnis etabliert auch – ganz anders als ein »System kollektiver Sicherheit« – keine den Mitgliedsstaaten übergeordnete zwischenstaatliche oder supranationale Gewalt einer organisierten und rechtlich geordneten Macht nach dem Modell der Vereinten Nationen. Der Völkerrechtler Albrecht Randelzhofer hat dieses Charakteristikum einmal in die zutreffenden Worte gefasst: „Ein kollektives Sanktionssystem setzt daher ein internationales System von hoher Unparteilichkeit und Mobilität voraus. Jeder Staat muss jederzeit bereit sein, jeden Staat gegen jeden Angreifer zu verteidigen. Das Bewusstsein der allgemeinen Verbundenheit mit allen Staaten muss größer sein als die Verbundenheit mit engeren Gruppen von Staaten. Bündnisse sind unvereinbar mit diesem Grundgedanken eines kollektiven Sicherheitssystems, da sie notwendigerweise bewirken, dass anstelle der allgemeinen Verbundenheit das Denken und Empfinden in Gruppierungen herrscht. Man ist bereit, sich und verbündete Staaten gegen bestimmte andere zu verteidigen, nicht aber einen Staat, gegen den sich das Bündnis richtet, gegen den auch noch so offensichtlich unrechtmäßigen Angriff durch den verbündeten Staat.“20

Keine Revision durch die Grundgesetz-Änderungen von 1956 und 1968

An dieser fundamentalen Unterscheidung zwischen den in Art. 24 Abs. 2 GG in Bezug genommenen völkerrechtlichen »System(en) gegenseitiger kollektiver Sicherheit« einerseits und einem Verteidigungsbündnis nach Art. 51 UN-Charta anderseits, die im Parlamentarischen Rat von niemandem in Zweifel gezogen wurde, wurde weder im Zusammenhang mit der 1956 erfolgten Einfügung der »Wehrverfassung« noch mit der Inkorporierung der »Notstandsverfassung« im Jahre 1968 etwas geändert.

Es wurden zwar im Vorfeld der Grundgesetzänderung von 1956 – letztlich wohl wegen des anfänglich starken Widerstandes der Oppositionsparteien gegen die deutsche Wiederbewaffnung und des Fehlens einer für eine Grundgesetzänderung notwendigen Zweidrittelmehrheit im Parlament – vielfältige Versuche unternommen, Art. 24 Abs. 2 GG so zu interpretieren, dass eine Verfassungsänderung umgangen werden konnte. Stellvertretend dafür sei auf die vielfältigen Expertisen der völkerrechtlichen Berater der von Adenauer geführten Bundesregierung, vor allem die Beiträge des Freiburger Völkerrechtlers Wilhelm Grewe, hingewiesen.

Die von Grewe und anderen Anfang der 1950er Jahre gesehene Notwendigkeit, Art. 24 Abs. 2 GG heranzuziehen, um die deutsche Wiederbewaffnung im Rahmen eines Militärbündnisses (EVG oder NATO) ohne Verfassungsänderung realisieren zu können, entfiel nach der im Jahre 1956 erfolgten Einfügung des Art. 87a GG a.F. in das GG. Dadurch war nunmehr eine hinreichende Basis für die Aufstellung der Bundeswehr und die Eingliederung in das NATO-Verteidigungsbündnis geschaffen. Art. 24 Abs. 2 GG war damit aus der Diskussion.

Revision ohne Verfassungsrevision?

Das änderte sich erst Mitte der 1980er Jahre, als zunehmend die Forderung erhoben wurde, Deutschland müsse sich entsprechend seinen wirtschaftlichen und politischen Potenzen »out of area« stärker engagieren, vor allem auch militärisch. Jetzt wurden die Stimmen immer zahlreicher, die dafür plädierten, die NATO als »System kollektiver Sicherheit« im Sinne des Art. 24 Abs. 2 GG zu qualifizieren, um an Stelle der sehr engen Ermächtigungsgrundlage des Art. 87a GG („zur Verteidigung“) eine andere oder jedenfalls zusätzliche verfassungsrechtliche Basis für Militäreinsätze der Bundeswehr zu finden.

Nach dem Ende des Kalten Krieges, als es darum ging, für die NATO ohne Änderung des NATO-Vertrages und für die Bundeswehr ohne Änderung des Grundgesetzes ein »erweitertes Aufgabenspektrum« zu schaffen und zu legitimieren, brachen die Dämme. Nun mehrten sich die Veröffentlichungen – mit und ohne Gutachtenauftrag aus öffentlichen Kassen –, die im Interesse der neuen »Staatsräson« die Fesseln des Art. 87a GG zu sprengen suchten. Das geschah dann dadurch, dass Art. 24 Abs. 2 GG – unter Missachtung der Entscheidung des Verfassungsgebers und der systematisch-konzeptionellen Unterschiedlichkeit eines Verteidigungsbündnisses gegenüber einem »System kollektiver Sicherheit« – uminterpretiert wurde. Auch wenn das BVerfG diesem Weg gefolgt ist, sind die Auseinandersetzungen darüber nicht zu Ende.

Auch zukünftig muss deshalb bei jedem militärischen Außeneinsatz der Bundeswehr, der nicht nach Art. 87a GG „zur Verteidigung“21 Deutschlands oder eines seiner Bündnispartner erfolgt, die Frage gestellt und beantwortet werden, ob die deutschen Streitkräfte dabei tatsächlich im Rahmen eines »Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit« im Sinne des Art. 24 Abs. 2 GG tätig werden. Das ist bei Einsätzen im Rahmen eines formellen Mandats der UNO in aller Regel der Fall, sofern die Regeln der UN-Charta eingehalten werden.22 Problematisch wird es jedoch immer dann, wenn ein Einsatz der Bundeswehr ohne formelles UN-Mandat erfolgen soll – etwa im Rahmen einer »Selbstmandatierung« durch die NATO wie im »Kosovo-Krieg« 1999 oder bei der Mitwirkung an und Unterstützung von völkerrechtswidrigen Kriegshandlungen durch NATO-Bündnispartner wie im Irak-Krieg 2003.

Das in Art. 24 Abs. 2 GG verankerte Konzept einer »kollektiven Sicherheit« hat darüber hinaus noch eine wichtige Leitfunktion. Dies ist ein wertvoller »ungehobener Schatz«. Die so genannte Palme-Kommission, an der 19 bedeutende Politiker aus Ost und West, Nord und Süd, darunter Egon Bahr, mitgewirkt haben, hat dies noch in der Hochphase des Kalten Krieges in die weisen Worte gefasst: „In der heutigen Zeit kann Sicherheit nicht einseitig erlangt werden. Wir leben in einer Welt, deren ökonomische, politische, kulturelle und vor allem militärische Strukturen in zunehmendem Maße voneinander abhängig sind. Die Sicherheit der eigenen Nation lässt sich nicht auf Kosten anderer Nationen erkaufen.“23

Im nuklearen Zeitalter der gegenseitig gesicherten Zerstörung ist Sicherheit nicht mehr vor dem Gegner, sondern nur noch mit ihm zu erreichen.

Anmerkungen

1) Im sog. Pershing-Urteil vom 18.12.1984 (BVerfGE 68, 1, 95 f) hatte das BVerfG diese Frage ausdrücklich unbeantwortet gelassen.

2) BVerfGE 90, 286 (347ff, 349ff).

3) Er wandte sich damit gegen einen Antrag des SPD-Abg. Menzel, mit dem die Ersetzung des im Entwurf der Vorschrift (»Herrenchiemsee-Entwurf«) vorgesehenen Begriffs »gegenseitige kollektive Sicherheit« durch »gemeinsame Sicherheit« wegen der „politischen Belastung, die dieses Wort (»kollektive Sicherheit«) – ob zu Recht oder zu Unrecht, mag dahingestellt bleiben – in den letzten Jahren in der europäischen Politik bekommen hat“, verlangt wurde.

4) vgl. 6. Sitzung des Hauptausschusses vom 19.11.1948, Sten. Prot. S.71; JöR n.F. 1 (1951), S.227.

5) BVerfGE 90, 286 (347).

6) Tomuschat in: Bonner Kommentar (BK), Zweitbearbeitung 1985, Art. 24 Rn. 126.

7) ebd., Rn. 132.

8) Dem lag die Vorstellung zugrunde, dass es nicht die Völker sind, die Kriege verursachen, sondern lediglich Staaten, die sich über den Friedenswillen der Völker hinwegsetzen. Deshalb betrachtete diese Wilson’sche Konzeption neben der Gründung des Völkerbundes vor allem die Demokratisierung der Staaten als zentrale Friedensbedingung.

9) Vgl. dazu u.a. F.S. Northhedge (1986): The League of Nations, S.25 ff; Zangl/Zürn (2003): Frieden und Krieg, S.29 ff.

10) Vgl. Woodrow Wilson (1923): Memoiren und Dokumente über den Vertrag zu Versailles anno MCMXIX, Hrsg. von R. St. Baker (autorisierte deutsche Übersetzung von Curt Thesing), Bd. I, Leipzig, S.85 ff, 177 ff.

11) vgl. Deiseroth, Art. 24 GG, in: Umbach/Clemens (2001): GG, Art. 24 Rn. 191 ff.

12) vgl. P. Barandon (1948): Die Vereinten Nationen und der Völkerbund in ihrem rechtsgeschichtlichen Zusammenhang, S.124, 185 ff.

13) „On the one hand, war in breach of the Covenant is made illegal; on the other, force which is collectivized and placed at the service of the international community is made legal“, vgl. McNair (1936): Collective Security, in: The British Yearbook of International Law 17, S.150 >155, 158, 161>.

14) M. Bourquin (1934): Le Problème de la Sécurité internationale. In: Recueil des Cours de l´Académie de Droit Internationale 49 (1934 III)

15) Verdross (1937): Völkerrecht, 1. Aufl., S.24, 157, 345.

16) M. Bourquin (1936): La Sécurité Collective, S.458.

17) vgl. zu den Einzelnachweisen u.a. Deiseroth, GG, Art. 24 Abs. 2,Rn. 194 ff; ders., Die Friedenswarte, 2000, Heft 1, S.101ff.

18) Rudolf Bindschedler in: W.Schätzel/H.-J.Schlochauer (Hrsg.), Festschrift für Wehberg, 1956, S.67 f. m.w.N.

19) zu den Schwächen des Gewaltverbots vgl. u.a. Deiseroth, Vom Recht des Stärkeren zur Stärke des Rechts, in: Colneric u.a. (Hrsg.) (1994): Gewalt in Deutschland, Gewalt aus Deutschland, S.127 (136ff) m.w.N.

20) vgl. Randelzhofer in: Heilbronner/Ress/Stein (Hrsg.) (1989): Staat und Völkerrechtsordnung. Festschrift für K. Doehring, S.745 (762).

21) Was nach dem Grundgesetz unter einem Fall der »Verteidigung« zu verstehen ist, lässt sich zum einen der Regelung über den »Verteidigungsfall« in Art. 115a GG, insbesondere aus ihrem Wortlaut („Bundesgebiet (wird) mit Waffengewalt angegriffen“ oder „ein solcher Angriff (droht) unmittelbar“) und zum anderen ihrer Entstehungsgeschichte entnehmen. Da der Normtext des Art. 87a Abs. 1 und 2 GG von »Verteidigung« und damit – anders als eine im Gesetzgebungsverfahren zunächst vorgeschlagene Fassung – nicht von »Landesverteidigung« spricht und da zudem der verfassungsändernde Gesetzgeber bei Verabschiedung der Regelung im Jahr 1968 auch einen Einsatz im Rahmen eines NATO-Bündnisfalles unbestritten als verfassungsrechtlich zulässig ansah, ist davon auszugehen, dass »Verteidigung« alles das (abschließend) umfasst, was nach dem geltenden Völkerrecht zum individuellen und kollektiven Selbstverteidigungsrecht nach Art. 51 der UN-Charta zu rechnen ist, der die Bundesrepublik Deutschland 1973 wirksam beigetreten ist. Art. 51 UN-Charta gewährt nach seinem Wortlaut allein „im Falle eines bewaffneten Angriffs“ („if an armed attack occurs“) dem Angegriffenen das naturgegebene Recht („inherent right“) zur individuellen und zur kollektiven Selbstverteidigung; dies allerdings nur zeitlich begrenzt, nämlich bis der UN-Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen getroffen hat.

22) Auf das Sonderproblem eines Bundeswehreinsatzes im Rahmen der EU kann hier nicht näher eingegangen werden; dessen verfassungsrechtliche Zulässigkeit hängt vor allem von der Einhaltung der Voraussetzungen des sog. Europa-Artikels 23 GG in Verbindung mit den Regelungen des EU-Vertrages ab.

23) Der Palme-Bericht. Bericht der Unabhängigen Kommission für Abrüstung und Sicherheit. Dt. Ausgabe 1982. Mit Vorwort von Egon Bahr. Berlin 1982; vgl. ferner Egon Bahr in: Festschrift für C.F. von Weizsäcker zum 70. Geburtstag, München/Wien 1982, S.195 ff.

Dr. Dieter Deiseroth ist seit 2001 Richter am Bundesverwaltungsgericht; er hat zahlreiche Veröffentlichungen zum Verfassungs-, Verwaltungs- und Völkerrecht sowie zur Rechtsgeschichte verfasst.

LEX Yugoslavia

LEX Yugoslavia

Die Weiterentwicklung des Völkerrechts hin zu Beliebigkeit

von Alexander Neu

Der Degenerierungsprozess des UNO-Völkerrechts lässt sich an keinem Beispiel so gut illustrieren wie dem Umgang des Westens mit dem Staat Jugoslawien bzw. Serbien. Im Folgenden soll die Problematik der Hierarchieverkehrung der beiden Völkerrechtsnormen, der staatlichen Souveränität und des externen Selbstbestimmungsrechts, anhand der jugoslawischen Tragödie – hier begrenzt auf das Kosovo-Problem1 – nachgezeichnet und deren Konsequenzen für das Völkerrecht skizziert werden.

Am 17. Februar 2008 proklamierte das Parlament der serbischen Provinz Kosovo unilateral die Unabhängigkeit von Serbien. Mit der illegalen Unabhängigkeitserklärung und der Unterstützung durch eine US-geführte Koalition der Anerkennungswilligen wurde auf dem Territorium des souveränen Staates Serbien gegen dessen dezidierten Willen schließlich ein nahezu ethnisch homogenisiertes weiteres Staatsgebilde auf der Grundlage terroristischer Gewaltanwendung (UCK) herbeigezwungen und in Folge dessen der Staat Serbien geteilt. Serbien sah und sieht sich außer Stande, diesem illegalen Schritt durch Ausübung seiner Hoheitsgewalt zwecks Verteidigung seiner territorialen Integrität und Souveränität entgegenzutreten, da die US-geführte NATO auf diesem Gebiet Serbiens seit 1999 militärisch präsent ist. Zwar verfügt die NATO über ein Mandat des UNO-Sicherheitsrates in Form der UNO-Sicherheitsratsresolution (1244) zur Stabilisierung der Sicherheitslage – jedoch nicht zur militärischen Absicherung einer illegalen Sezession2. Darüber hinaus sind nicht allein die Existenz einer UNO-Sicherheitsresolution, sondern auch die Hintergründe ihres Zustandekommens und ihre Rechtskonformität mit der UNO-Charta bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer Resolution von Bedeutung.

Die Sicherheitsratsresolution 1244 dient(e) – neben der Beendigung des völkerrechtswidrigen Angriffskriegs der NATO gegen die damalige BR Jugoslawien und der Beendigung der durch den NATO-Angriffskrieg erst beginnenden massenhaften Flucht und Vertreibung von Zivilisten – dazu, der NATO-Aggression nachträglich den Anschein von Legalität zu verleihen. Hierzu wurde die NATO zynischerweise nach Beendigung ihres Luftkrieges vom Aggressor zur offiziellen und »unparteiischen Friedenskraft« (K-FOR) in diesem Teil Serbiens durch den UNO-Sicherheitsrat geadelt, woraus die NATO wiederum eine Scheinlegalität für ihre vorangegangene Aggression ableitete. Die Alternative zu der UNO-Sicherheitsratsresolution, die ein UNO-NATO-Protektorat etablierte, wäre indes ein reines NATO-Protektorat gewesen. Genau diesen Entwicklungsweg aber wollten Russland, China und Serbien verhindern, in dem sie die UNO in der Rolle als internationalen Verantwortungsträger zur Lösung des Konflikts sehen wollten, um eine von der NATO forcierte Sezession zu verhindern.

Auch stellt sich die Frage, ob die UNO als System gegenseitiger kollektiver Sicherheit und somit als intergouvernementale Organisation zwecks Regelung zwischenstaatlicher Aspekte überhaupt das Recht hat, sich in dieser besonderen Qualität in die inneren Angelegenheiten eines souveränen Mitgliedsstaates einzumischen – hier ein UNO-NATO-Protektorat zu errichten? Die UNO-Charta (Art. 2 Abs. 7) jedenfalls räumt dieses Recht nicht ein und von einem gewohnheitsrechtlichen Prozess kann auch keine Rede sein. Dennoch befürworteten, wie bereits ausgeführt, Serbien, Russland und China diese Option, da sie das geringere Übel darstellte. So konnten Russland und China zumindest auf diese Weise in der UNO-Sicherheitsratsresolution 1244 unzweideutig die territoriale Integrität und Souveränität Serbiens verbindlich festschreiben, in dem das „Bekenntnis aller Mitgliedstaaten zur Souveränität und territorialen Unversehrtheit der Bundesrepublik Jugoslawien“ bekräftigt wurde. Das Kosovo selbst sollte „substantielle Autonomie innerhalb der Bundesrepublik Jugoslawien genießen, […]“.

Völkerrechtlicher Nihilismus

Deutschland und der größte Teil des Westens, jedoch lange nicht die viel zitierte »Internationale Gemeinschaft«, anerkannten die illegale Unabhängigkeitserklärung diplomatisch und verstoßen damit ihrerseits gegen verbindliche internationale Rechtsnormen (UNO-Charta – insbesondere Art. 2 Abs. 1, 2 & 4), UNO Beschlüsse (UNO-Sicherheitsratsresolution 1244 & UNO-Generalversammlungsresolution 2625/XXV) sowie internationale Prinzipien (Helsinki Schlussakte).

Das Nichteingreifen, dass heißt die nicht vollzogene Null-und-Nichtigkeitserklärung dieser illegalen Proklamation, seitens der UNO-Mission im Kosovo (UNMIK) sowie der K-FOR, lässt keinen anderen Schluss zu, als dass die im Rahmen der Resolution beauftragen Institutionen (UNMIK und K-FOR) ihren Auftrag nicht erfüllen wollen. Dieser Unwille darf nicht überraschen, denn faktisch hat die UNMIK seit Beginn ihrer Mission die strukturell-administrativen Voraussetzungen für die Unabhängigkeit des Kosovo geschaffen: Die Ablösung und das Verbot jugoslawischer bzw. serbischer hoheitlicher Staatssymbole sowie die Einführung kosovarischer hoheitlicher Symbole wie KFZ-Kennzeichen, die Ersetzung der Landeswährung durch die DM bzw. den Euro, eine Grenzabfertigung mit Zollerhebung und eigenen KFZ-Versicherungskarten zwischen der serbischen Provinz und Serbien sowie darüber hinaus sogar neue nichtjugoslawische bzw. nichtserbische Identitätsdokumente mit ausschließlicher Gültigkeit schaffen unterschiedliche Rechtsräume und Verwaltungsstrukturen. Dies jedoch widerspricht dem Verständnis einer einheitlichen Rechtsordnung als konstitutivem Element eines souveränen Territorialstaates. Die seit der Unabhängigkeitserklärung gemachten Aktivitäten und Entscheidungen der UNMIK und der K-FOR laufen in ihrer immanenten Logik auf die Übertragung der UNMIK-Kompetenzen an die Kosovo-Behörden und der militärischen Absicherung der Unabhängigkeit hinaus.3 Der hierdurch stattfindende massive Bruch des Völkerrechts seitens der Kosovo-Albaner als auch seitens der UNMIK und der K-FOR entziehen der UNO-Resolution 1244 in wesentlichen Teilen die Geschäftsgrundlage.

Interessant ist hierbei das völkerrechtsnegierende Gebahren der UNO selbst: Die UNMIK nimmt ihr eigenes Mandat, definiert in der UNO-Sicherheitsratsresolution 1244, nicht nur nicht ernst, sondern unterläuft dieses sogar aktiv. Das auf den ersten Blick seltsam anmutende Verhalten ist mit der personellen Zusammensetzung der UNMIK-Verwaltung zu erklären. Die entscheidenden Schlüsselpositionen sind in den Händen westlicher bzw. prowestlicher Vertreter, die zwar den UNO-Hut tragen, faktisch jedoch die Interessen ihrer Entsendestaaten verfolgen. So wurde der Posten des UNMIK-Chefs immer an einen zuverlässigen Westeuropäer und der Stellvertreterposten an einen US-Amerikaner herangetragen.

Der UNO-Sicherheitsrat wiederum, der die Selbstverständlichkeit der uneingeschränkten Implementierung der eigenen Resolution ebenso selbstverständlich mit Nachdruck gegenüber der UNMIK einfordern müsste, wird hierbei durch die drei westlichen Sicherheitsratsmitglieder – Frankreich, Großbritannien und den USA – blockiert. Hierdurch wird die Sicherheitsratsresolution 1244 von einem Teil des Sicherheitsrates, obschon von ihm verabschiedet, nur noch im Bereich der NATO-dominierten Sicherheitspräsenz und der Rechte der Kosovo-Albaner, nicht mehr aber, was die souveränen Rechte Serbiens betrifft, unterstützt. Dies praktizierten die drei westlichen UNO-Sicherheitsratsmitglieder zwar auch schon vor der Unabhängigkeitserklärung, jedoch versuchten sie bis 2007 zumindest mit Lippenbekenntnissen ihre Resolutionstreue zu suggerieren, also die staatliche Souveränität Serbiens nicht offen in Frage zu stellen.

Auch der von allen Seiten unter erheblichen Druck geratene UNO-Generalsekretär Ban Ki Moon und somit unmittelbarer Vorgesetzter des UNMIK-Chefs Joachim Rücker taucht buchstäblich ab und weigert sich, entsprechende Maßnahmen zur Respektierung der UNO-Sicherheitsratsresolution anzuweisen.

Obschon die UNMIK und ihre Zentrale in New York sich in völkerrechtlich höchst fragwürdiger Weise weitestgehend aus dem Fenster gelehnt haben, um den Wünschen der westlichen Unterstützung für die Kosovo-albanischen Sezessionisten entgegenzukommen, soll und will die UNMIK abgelöst werden und die UNO ihre Kompetenzen über Kosovo gegen den Willen Russlands einbüßen.

Denn die zuvor von Russland und China im UNO-Sicherheitsrat deutlich formulierte Ablehnung des so genannten Ahtisaari-Plans, der die Unabhängigkeit vermeintlich völkerrechtskonform und die Eigenstaatlichkeit des Kosovo in wesentlichen Details festlegen sollte, demonstriert, dass Russland und China der ordnungspolitischen Selbstgerechtigkeit des Westens immer noch qua Institution UNO Steine in den Weg legen können.

Gemäß der Devise, wenn möglich mit, wenn nötig ohne die UNO versucht der Westen, seine machtordnungspolitischen Vorstellungen auf dem Balkan nun jenseits der UNO und somit jenseits der russischen und chinesischen Veto-Möglichkeit zum wiederholten Male zu lösen: Das Kosovo wird auf völkerrechtswidrige Weise kurzerhand zu einer exklusiven euro-atlantischen Angelegenheit erklärt. Hierzu installiert man gegenwärtig die so genannte Europäische Rechtsstaatsmission »EULEX«, die die UNMIK sukzessive ablösen soll. Auch wurde eine so genannte Steuerungsgruppe eingerichtet, die die Umsetzung des gerade nicht vom UNO-Sicherheitsrates legitimierten Ahtisaari-Plans überwachen und befördern soll.

Ausnahmen und Präzedenzfälle

Diese vom Westen in Kooperation mit den Sezessionisten abgestimmte Zerschlagung des zunächst jugoslawischen, dann serbischen Staates wird als unausweichlicher und alternativloser Akt des Selbstbestimmungsrechts erklärt. Zugleich wird der Fall Kosovo als sui generis deklariert, woraus sich ein Ausnahmefall ableiten soll, was im Umkehrschluss bedeutet, dass er keine Präzedenzfallwirkung entfalten könne. Dieses sui-generis-Konstrukt ignoriert bewusst den Umstand, dass jeder Fall eines Versuchs der Erlangung des externen Selbstbestimmungsrechts einer Volksgruppe eine Einzigartigkeit hinsichtlich der historischen, kulturellen, politischen und ethnischen Motive darstellt. Gerade aus diesem Grunde existieren Rechtsnormen, die ungeachtet dieser individuellen Spezifika eine übergeordnete und allgemeingültige Regelung festlegen, um machtpolitische Willkür und Chaos zu verhindern. Die Entscheidung, ob es sich nun um einen Fall sui generis handelt oder ob sich vielmehr daraus ein Präzedenzfall entfalten könnte, ist folglich keine rechtliche, sondern eine machtpolitische, die zwischen dem Westen und die um die staatliche Unabhängigkeit kämpfenden Akteure, wie den Kurden, den Abchasen, den Südosseten, den Armeniern, den Serben in Bosnien-Hercegovina oder im Kosovo, den Basken, den Korsen oder den Palästinensern etc., ausgefochten werden wird.

Selbstbestimmungsrecht und Selbstbestimmungsrecht

Der Begriff bzw. die Rechtsnorm des Selbstbestimmungsrechts muss auf zwei Ebenen, der rechtlichen und der machtpolitischen, geklärt werden: Im Völkerrecht wird zwischen internem Selbstbestimmungsrecht (Autonomie innerhalb eines Gesamtstaates, sprich: föderale Staatsstrukturen) und externem Selbstbestimmungsrecht (vollständige Sezession hin zur Eigenstaatlichkeit) unterschieden. Das interne Selbstbestimmungsrecht stellt einen Kompromiss zwischen Eigenstaatlichkeit und der Notwendigkeit internationaler Stabilität in Form einer territorialen Besitzstandsgarantie für Staaten dar, in der nationale/kulturelle Eigenständigkeiten gepflegt werden können. Nur wenn das interne Selbstbestimmungsrecht vorenthalten und dies durch massive Menschenrechtsverletzungen und Unterdrückung flankiert wird, kann das interne Selbstbestimmungsrecht ausnahmsweise zu einer Art Notwehr- und Sezessionsrecht mutieren, d.h. die Gestalt des externen Selbstbestimmungsrechts annehmen. Hieraus ergibt sich automatisch die Frage, wer und unter welchen konkreten Bedingungen diese abstrakt rechtliche Formulierung in konkrete politische Handlungsentscheidungen umsetzen bzw. umgesetzt werden darf. Die Völkerrechtsliteratur liefert hierzu keine eindeutigen Hinweise. Dieses Rechtsvakuum führt somit auf die zweite, die machtpolitische Ebene der internationalen Politik, die wiederum am Fall Jugoslawien illustriert werden soll: Der jugoslawische Staat war in ausgesprochen hohem Maße föderalisiert – manche behaupten sogar überföderalisiert. Selbst die serbische Provinz Kosovo verfügte bis 1989/90 über ein hohes Maß an Autonomierechten innerhalb Serbiens und Jugoslawiens. Dies genügte jedoch den sich Ende der 1980er/Anfang der 1990er Jahre im Aufwind befindlichen nationalistisch-sezessionistischen und prowestlichen Kräften nicht. Sie wollten nichts weniger als die Unabhängigkeit ihrer jeweiligen jugoslawischen Teilrepublik bzw. der serbischen Provinz Kosovo und deren Integration in die euro-atlantischen Strukturen. Die pro-jugoslawistischen Kräfte standen im ganzen Land und in Europa zunehmend auf verlorenem Posten. Unterstützung erhielten hingegen die nationalistisch-sezessionistischen Kräfte als so genannte Demokraten und Freiheitskämpfer durch den Westen, zuvörderst von Deutschland und später auch seitens der USA – bis hin zur militärischen Aggression 1999. Der US-dominierte Westen begleitete die Atomisierung Jugoslawiens aus ideologischen und geostrategischen Gründen: Jugoslawien war kein westlicher Staat oder Verbündeter. Es handelte sich um einen sozialistischen Staat mit dem Anspruch eines »Dritten Weges« zwischen Ost und West und nahm in der Gruppe der Blockfreien Staaten eine führende Rolle ein. Damit entzog sich Jugoslawien der östlichen wie der westlichen Macht- und Einflusssphäre und konnte auf diese Weise seine staatliche Souveränität auch faktisch praktizieren. Hinzu kam, dass Jugoslawien eine geographische Schlüsselposition in Südosteuropa besaß und trotz aller ökonomischen Schwierigkeiten im Vergleich zu den Anrainerstaaten eine wirtschaftliche und militärische Regionalmacht in Südosteuropa darstellte.

Der euro-atlantische Block konnte den Atomisierungsprozess Jugoslawiens und schließlich Serbiens ohne große internationale Widerstände mitforcieren, da es keine potenten Gegenkräfte gab und gibt, die ihn daran hindern konnten/können, internationale Rechtsnormen nach Gutdünken zu missbrauchen. Weder verfügte Jugoslawien bzw. verfügt Serbien über ausreichende Widerstandskräfte, noch existiert derweil eine bipolare, geschweige denn einer multipolare Weltordnung, die den euro-atlantischen Club »überzeugen« könnte, getroffene Vereinbarungen, Prinzipien und Rechtsnormen verbindlich zu respektieren. Und erst recht existiert keine effektiv übergeordnete globale Autoritäts- und Durchsetzungsinstanz, die alle Staaten zwingen könnte, sich einer Art internationaler Rechtsstaatlichkeit zu unterwerfen. Die UNO soll zwar dieses Gremium als Träger des globalen Gewaltmonopols darstellen, wird aber durch die Mitgliedsstaaten lediglich zu einem nominalen Träger des Gewaltmonopols reduziert. Die derzeitige Funktion der UNO erschöpft sich unter den seit Ende des Kalten Krieges gegebenen globalen Machtverhältnissen darin, als Instrument des Westens dessen ordnungspolitischen und geostrategischen Vorstellungen ein völkerrechtlich konformes Deckmäntelchen zu geben. Dies zeigt sich nicht allein im Falle Jugoslawiens bzw. Serbiens – ein Blick nach Afghanistan und in den Irak indiziert ihre weitere Indienststellung. Die UNO nimmt hierdurch substanziellen, vielleicht sogar irreparablen Schaden, da der stattfindende Substanzverlust des Multilateralismus bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung formaler multilateraler Mechanismen die Rückkehr zum anarchischen Staatensystem auf besonders perfide Weise bedeutet.

Diese Selbstermächtigung des US-geführten euro-atlantischen Clubs wird über die Jugoslawien bzw. Kosovo-Frage hinaus das Völkerrecht nachhaltig verändern.

Die westlichen Hegemonialmächte entscheiden auf absehbare Zeit darüber, wer als Sezessionist/Terrorist dämonisiert oder als Freiheitskämpfer heroisiert und gegebenenfalls unterstützt wird. Das bedeutet für die Zukunft, dass die völkerrechtlichen Normen von staatlicher Souveränität und externem Selbstbestimmungsrecht mit der Schaffung des LEX Yugoslavia als Präzedenzfall von eben jenen Hegemonialmächten flexibel praktiziert werden: Den Kurden der Türkei wird das externe Selbstbestimmungsrecht auch künftig verweigert, während den Kurden des Irak dieses faktisch zugestanden wird. Denn die Türkei ist ein treuer Verbündeter des Westens und sie ist militärisch eine Mittelmacht. Daher wird sie nicht daran gehindert, ihre Hoheitsgewalt, d.h. die Niederschlagung gewaltsamen und politischen Widerstandes auf ihrem Staatsgebiet auszuüben – bisweilen sogar jenseits ihres Staatsgebietes. Die Türkei kann sich das leisten, solange sie prowestlich orientiert bleibt. Was die Kurden der Türkei, die bosnischen Serben oder die Serben des Kosovo von den Kosovo-Albanern und den irakischen Kurden unterscheidet, ist schlichtweg, dass sie politisch auf der falschen Seite stehen. Das Völkerrecht wird ihnen nicht helfen können, da es angesichts der internationalen Machtkonfiguration evidenterweise Weise impotent ist. Helfen kann ihnen nur ihr selbstbestimmungsrechtliches Durchhaltevermögen in Verbindung mit sich international wandelnden Kräfteverhältnissen. Umgekehrt kann der Westen mit LEX Yugoslavia allen multinationalen Staaten, die sich dem Westen gegenüber nicht wohl verhalten, die Instrumente zeigen: Latent oder manifest ethnische Spannungen in diesen Staaten bei Bedarf zu befördern.

Anmerkungen

1) Die Aufarbeitung der völker- und verfassungsrechtlichen Problematik des gesamtjugoslawischen Sezessionsprozesses ist zu finden in: Alexander S. Neu (2005): Die Zukunft des Kosovo, in: Osteuropa 9/2005.

2) Gegen diese neue, mandatsfremde Funktion klagt die Bundestagsfraktion DIE LINKE vor dem Bundesverfassungsgericht.

3)KFOR-Mandat bleibt mit Abzug der UN-Mission aus Kosovo unverändert – Appathurai“, http://de.rian.ru/safety/20080514/107368003.html

Dr. Alexander Neu ist Politologe, Referent für Sicherheitspolitik der Bundestagsfraktion »Die Linke« und freier Journalist. Seit 2006 in der W&F Redaktion.

Verdeckte Kriegsbeteiligung?

Verdeckte Kriegsbeteiligung?

von Jürgen Nieth

„Deutschland beteiligt sich nicht an diesem Krieg,“ sagte
Bundeskanzler Schröder am Abend des US-Angriffs auf den Irak. Eine Position,
die die Bundesregierung auch in den Monaten vor dem Krieg immer wieder betont
hatte und die sicher nicht unwesentlich zu ihrem knappen Sieg bei der
vorhergehenden Bundestagswahl beigetragen hatte. Schon damals gab es zahlreiche
Hinweise auf eine Doppelbödigkeit dieser Politik. So hat W&F (2-2003) u.a.
darauf hingewiesen, dass „über die Fluglätze Frankfurt, Ramstein und
Spangdahlen… Kriegsmaterial und Soldaten an den Golf verlegt“
wurden; dass
deutsche Häfen und Bahnhöfe… Zwischenstation (waren) für die Reise in den
Krieg;“
dass „die europäische Kommandozentrale der US-Armee in Stuttgart
(den) Nachschub für die Kriegführung“
koordinierte; dass deutsche Soldaten
den Schutz von US-Einrichtungen übernahmen und ihre Präsens in anderen
Konfliktregionen verstärkt wurde, um US-Soldaten für den Irakkrieg
freizustellen.

»Rot-Grün im Zwielicht«

Was über die deutsche Unterstützung für die US-Kriegsführung
bisher schon bekannt war, verstieß nicht nur nach dem Verständnis der
Friedensbewegung gegen Grundgesetz und Völkerrecht. In der FR (14.01.06)
schreibt Stephan Hebel: „Wer sich fragt, was vom Verhalten Deutschlands im
Irak-Krieg zu halten sei, kann beim Bundesverwaltungsgericht längst fündig
werden. Im Juni vergangenen Jahres stellte es fest: Gegen die Überflugrechte,
die den US-Streitkräften während des Angriffs 2003 gewährt wurden, gegen die
Bewachung amerikanischer Kasernen durch Bundeswehr-Soldaten und andere
Hilfsdienste bestünden ‘gravierende völkerrechtliche Bedenken’.“

Jetzt gibt es neue Details, die vermuten lassen, dass die
deutsche Unterstützung für den US-Angriffskrieg noch viel umfassender war.

BND-Agenten im Irak-Einsatz

Nach Berichten des ARD-Magazins Panorama (12.01.06) hatte
der BND während des Irakkriegs zwei Spezialisten in Bagdad stationiert, deren
Informationen an den US-Militärgeheimdienst (DIA) weitergegeben wurden. Ein
ehemaliger Pentagon-Mitarbeiter teilte »Panorama« mit, die Deutschen hätten die
US-Militärs direkt unterstützt. So soll ein BND-Agent am 07.04.03 „Informationen
über den möglichen Aufenthaltsort einer Wagenkolonne Saddam Husseins an die
Amerikaner weitergegeben haben. Diese hätten Minuten später mehrere Gebäude
bombardiert, bis zu 19 Zivilisten seien dabei ums Leben gekommen.“
(FR
13.01.06)

»Wachsweiche Dementis«

Laut Spiegel (3-2006, S. 23) dementiert BND-Chef Ernst
Uhrlau diese direkte Kriegsbeteiligung: „Die beiden Deutschen hätten nur so
genannte Non-Targets identifiziert, Gebäude also, die US-Bomberpiloten hätten
verschonen sollen.“
Dazu Bettina Gaus in der TAZ vom 13.01.06: „Natürlich
bestreitet der Bundesnachrichtendienst (BND), den USA während des Irakkrieges
bei der Auswahl von Bombenzielen behilflich gewesen zu sein. Geheimdienste
räumen niemals mehr ein als zwingend nötig. Aber die Dementis klingen
wachsweich, während die Medienberichte präzise und detailreich sind und in den
Teilen bereits bestätigt wurden, die sich schwerlich leugnen lassen.“

Fälle in der Grauzone

Die Zusammenarbeit der Geheimdienste rund um den Irakkrieg
beschränkte sich nicht auf BND-Informationen aus Bagdad. Es gibt mindestens
vier weitere Fälle, die der Aufklärung bedürfen. Da ist zum einen der vom BND
angeworbene »Curveball«, ein junger Iraker, dessen zusammen gelogene Angaben
über eine angebliche irakische Bio-Waffen-Produktion Colin Powell zur
Kriegsbegründung vor der UNO nutzte. „Diese Rede war es, die Amerikas
Bevölkerung auf die Seite der Kriegsplaner zog“
(Spiegel 3-2006, S. 30).
Dazu gehören aber auch die geheimen CIA-Flüge über deutsche Flughäfen, die Entführung
des in Ulm wohnhaften Libanesen Khaled el-Masri und die Verhöre des BND in
Guantanamo und anderen Foltergefängnissen.

Opposition fordert Untersuchungsausschuss

Nach Linkspartei und Grünen hat sich auch die FDP für die
Einsetzung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses ausgesprochen. Zum
Zeitpunkt des Redaktionsschlusses von W&F (19.01.06) steht noch nicht fest,
ob die erforderlichen 153 Abgeordneten den Antrag unterschreiben. Bei der FDP
gab es einige Enthaltungen und Ex-Außenminister Joschka Fischer hat bereits
mitgeteilt, dass er „gegen den Ausschuss stimmen“ werde (SZ 18.01.06).
Fischer sieht die Angelegenheit lieber im Parlamentarischen Kontrollgremium
(PKG), dort ist Geheimhaltung angesagt. Wie umfassend da aber in der
Vergangenheit informiert wurde, dazu der Grüne Christian Ströbele auf die
Frage, was er über die BND-Arbeit im Irak wusste: „Offenbar viel zu wenig.
Was jetzt… bekannt wurde, ist unglaublich und entsetzlich. Ich fürchte, dass
die Berichte im Kern richtig sind… (Als Mitglied des PKG) war ich jedenfalls
nicht ausreichend informiert.“
(taz 13.01.2006)

Begrenzte Möglichkeiten

„Mit der Entscheidung, einen Untersuchungsausschuss
einzurichten, zückt die Opposition ihr Buschmesser, um von Heimlichkeiten
überwucherte Tatsachen freizuschlagen.“ (FAZ 18.01.2006)
Peter Carstens
weist in seinem Artikel in der FAZ aber auch darauf hin, dass die Möglichkeiten
dieses Untersuchungsausschusses sehr begrenzt sind: „Die große Koalition
wird dort mit mindestens zehn Abgeordneten vertreten sein, die
Oppositionsparteien nach klassischer Berechnung mit jeweils einem. Entsprechend
wird die Zeit für Fragen an Zeugen und Sachverständige verteilt sein. Auf jede
Stunde Redezeit für die Opposition kämen drei Stunden für die große Koalition…
Es darf bezweifelt werden, dass diese Geheimdienstmitarbeiter (aus Bagdad)
demnächst in öffentlicher Sitzung eines Untersuchungsausschusses aussagen
werden.“

„Seit 1949 hat der Bundestag 35 Untersuchungsausschüsse
eingesetzt. Immer wieder ging es auch um Nachrichtendienste, Agenten und die
Geheimnisse des dunklen Gewerbes,“
schreibt Hans Leyendecker in der SZ
(18.01.06). Und er zitiert einen der Profis auf diesem Gebiet, nach dem das
Verdienst eines Ausschusses oft darin bestehe, „dass die Skizze eines durch
die Medien ans Licht gekommenen Skandals mit Details ausgefüllt wird.“

„Hochrangige Regierungsbeamte und Pentagon-Generäle
dankten den Deutschen nach dem Krieg immer wieder, weil sie die deutsche
Kriegshilfe als so bedeutend ansahen,“
heißt es im Spiegel (3-2006, S. 24).
Ein paar weitere »Details« dazu sind gefragt.

Quo Vadis EU

Quo Vadis EU

von Jürgen Nieth

Am 29. Mai haben die Franzosen in einem Referendum Nein zur
EU-Verfassung gesagt und am 1. Juni die Niederländer. Meinungsumfragen hatten
diese Ergebnisse längst vorausgesagt, überraschen konnte eigentlich nur die
große Zahl der Neinsager. Schon vorher wäre also Zeit gewesen, sich über die
Gründe und über das »wie weiter?« Gedanken zu machen. Stattdessen reduziert
sich die erste Reaktion der Europapolitiker auf ein »weiter so« (siehe Artikel
von Tobias Pflüger: Ein »weiter so« ist ausgeschlossen!, in dieser Ausgabe).
In den deutschen Medien geht es in den ersten Berichten vor allem um die Gründe
für dieses Nein: War es der Zorn auf die eigene Regierung, oder dominierten
»Zukunftsängste«? Nur wenige JournalistInnen gehen auf den Inhalt des
Verfassungsvertrages ein, der hier zur Abstimmung stand und auf die inhaltliche
Kritik, die zur Ablehnung führte.

»Volksbeschimpfungen«

„Zunächst einmal allerdings ist zu sagen, dass die
Franzosen nicht alle Tassen im Schrank haben. Sollen sie ihre Regierung
abwählen, wenn das auf der Tagesordnung steht
! Am Sonntag stand es nicht
auf der Tagesordnung. Am Sonntag ging es um einen Verfassungsvertrag, in dem es
keinen einzigen Punkt gibt, der die Franzosen auf die Barrikaden bringen
könnte. Auf die Barrikaden gegangen sind sie wegen Chirac und der Zumutung
seiner Reformpolitik, wegen eines möglicherweise drohendne Türkei-Beitritts…
und so weiter und so fort.“ (Eckhard Fuhr, Die Welt, 01.06.2005)

„In Frankreich sind 40 Prozent der Wähler antieuropäisch
und antidemokratisch eingestellt. Fabius besorgt den Rest… Der Erfolg des Neins
in Frankreich und das demagogische Abdriften der Sozialisten auf dem Kontinent
zeugt von einem allgemeinen geistig-moralischen Niedergang.“
(André
Glucksmann, Die Welt, 01.06.2005)

Die Regierung trägt Hauptschuld

„Nun hat der Zorn des Volkes, nach einer überzeugenden demokratischen
Debatte und mit einer unglaublich hohen Wahlbeteiligung sein Ventil gefunden.
Die europäische Idee bleibt auf der Strecke und büßt für die Unfähigkeit des
Präsidenten und der politischen Klasse Frankreichs, Antworten zu geben auf die
drängenden Fragen der Menschen.“
(Hans-Helmut Kohl, Frankfurter Rundschau,
30.05.2005)

„Was wollen die Franzosen? Was sie nicht wollen,
haben sei am Sonntag sich und Europa gezeigt. Sie haben eine Verfassung
abgelehnt, aber ihre Regierenden gemeint… Sie haben mehrheitlich ihr Nein in
die Welt gerufen, denn das Nein gegenüber den Mächtigen hat in Frankreich einen
guten Ruf.“ (Gerd Kröncke, Süddeutsche Zeitung, 01.06.2005)

Angst vor der Zukunft

„Die Niederländer haben sich Jahrhunderte lang als
offenes und kosmopolitisches Volk betrachtet. Wie berechtigt dieses Bild war,
ist weniger bedeutsam als seine pure Existenz… Diese Sicht wird seit einiger
Zeit drastisch revidiert. In vielerlei Hinsicht sind die Niederländer längst
dabei, Fenster und Türen gut zu schließen
; die Zugluft ist ihnen lästig
geworden… Es besteht eine besorgniserregende Kluft zwischen dem politischen
Establishment und der Wählerschaft, und diese Kluft heizt das Misstrauen weiter
an, bei europäischen Fragen ganz besonders.“ (Michael Zeemann in der FAZ 03.06.2005)

„Das Volk ist nicht so blöd, wie seine gewählten
Vertreter gelegentlich meinen… die frühere Begeisterung für Europa (wird) von
immer mehr Ängsten überlagert. Vor allem dort, wo schwächelnde Konjunktur und
Arbeitslosigkeit den Alltag beherrschen. Bei Einführung des Euro war den
Menschen ein europäisches Wirtschaftswunder versprochen worden. Es hat nicht
stattgefunden. Warum sollten die Niederländer nun den neuen Verheißungen
glauben
?“ (Jörg Beckmann, Frankfurter Rundschau, 02.06.2005)

Votum für ein sozialeres Europa

„Es war ein historischer Fehler der regierenden
europäischen Linken dieser EU-Verfassung auf der Spitzenebene zuzustimmen. Doch
noch fataler wäre es, das Monopol der Kritik am Marktliberalismus den
Nationalisten und Rechtsextremen zu überlassen. Die französische Linke hat in
den vergangenen Monaten bewiesen, dass das auch anders geht. Damit hat sie die
EU einen großen Sprung voran gebracht.“
(Dorothea Hahn in der taz,
31.05.2005)

„Mit seinem deutlichen Nein zum europäischen
Verfassungsvertrag hat das rebellische Frankreich seiner Tradition als
»politischer Nation par ecellence« alle Ehre gemacht. Es hat den alten
Kontinent wachgerüttelt, den Völkern neue Hoffnung gegeben und die Eliten
verstört. Es knüpft an seinen »historischen« Auftrag an und beweist durch den
Mut seiner Bürger, dass es sehr wohl möglich ist, sich angeblichen
wirtschaftlichen und politischen Sachzwängen zu entziehen. Dieses Nein stoppt
den ultraliberalen Anlauf, überall in der Welt… ein einheitliches
Wirtschaftsmodell durchzusetzen… Diese Votum war nicht nationalistisch
motiviert, sondern mehrheitlich ein proeuropäisches Votum“
(Ignacio
Ramonet, Le Monde diplomatique, Juni 2005)

Wie weiter nach dem Nein?

„Die dritte mögliche Antwort auf die Frage »Was nun
wäre die für Europa kurzfristig ungünstigste, langfristig aber vielleicht
tragfähigste: Nach mehreren verlorenen Referenden würde die EU zunächst
in Stagnation verfallen, weil die EU der 25 oder mehr Mitgliedstaaten auf dem
Status quo des Nizzaer Vertrags nicht gut funktionieren kann. Einziger
Lichtblick dieses Worst-Case-Szenarios: Alle EU-Staaten, auch solche,
die keine Referenden kennen, müssten in einen radikal neuen, offenen und für
die Wünsche und Ängste der Menschen empfänglichen Dialog mit ihren Bürgern
eintreten, um wieder Akzeptanz für dieses friedens- und wohlstandssichernde,
dieses unverzichtbare Europa zu schaffen. So betrachtet, könnte das
französische Non ein Weckruf für Europa sein!“ (Gisela
Müller-Brandeck-Bocquet, Süddeutsche Zeitung, 02.06.2005)

„Es wäre fatal, die EU-Regierungschefs machten jetzt
einfach weiter wie bisher…Mehr denn je, wird man sich an eine Europäische Union
gewöhnen müssen, in der sich Staaten mit sehr unterschiedlicher Geschwindigkeit
fortbewegen, mal allein, mal in kleinen Gruppen… Das Europa der 25 wird
zwangsläufig ein Bund offener Staaten sein – und eine Gemeinschaft der Bürger,
auf die ihre Eliten größere Rück­sicht nehmen müssen. Für diese Weichenstellung
braucht man einsichtige, tatkräftige Staatschefs. Schröder, Chirac, Blair und
Berlusconi fehlt dafür die Kraft.“
(Martin Klingst, Die Zeit, 02.06.2005)

Die informationelle Aufrüstung der Sicherheitsbehörden

Die informationelle Aufrüstung der Sicherheitsbehörden

von Martin Kutscha

Wer abends mit der Berliner S-Bahn durch die Stadtteile vor allem des Ostens fährt, wird sich vielleicht über die gähnende Leere in den Abteilen wundern. Viele Menschen haben Angst, in den Zügen oder den wenig anheimelnden S-Bahnhöfen Opfer eines Verbrechens zu werden. Sie bleiben deshalb nach Anbruch der Dunkelheit lieber zu Hause, sofern sie nicht über ein eigenes Auto verfügen.

Empirisch betrachtet, ist die Wahrscheinlichkeit, in den öffentlichen Verkehrsmitteln Opfer einer Straftat zu werden (also nicht einer bloßen Belästigung durch »Anmache«, Betteln usw.), allerdings recht gering. Kriminologen wissen, daß die Kriminalitätsfurcht der Bevölkerung keineswegs der jeweiligen realen Kriminalitätsbelastung adäquat ist. Das verbreitete Gefühl der Unsicherheit und die Kriminalitätsangst bestimmter Bevölkerungsschichten läßt sich gleichwohl gut für Wahlkämpfe und politische Kampagnen im Zeichen der »Inneren Sicherheit« ausnutzen (Klingst/ Pfeiffer 1995). In der Geschichte der Bundesrepublik können solche Sicherheitskonzepte schon auf eine längere Tradition zurückblicken (Kutscha/ Paech 1981). Gewandelt haben sich nur die vorherrschenden Feindbilder: kommunistische Bedrohung in den Fünfzigern, Terrorismus der RAF in den siebziger Jahren, »organisierte Kriminalität« heute. Der Staat läßt vor dem verängstigten Publikum die Muskeln spielen: Die Verabschiedung immer neuer »Verbrechensbekämpfungsgesetze« symbolisiert Tatkraft und Entschlossenheit der Regierenden – die sozialen Ursachen, z. B. der Jugendkriminalität, können dadurch allerdings nicht beseitigt werden (Gössner 1995: 22). „Der Staat kann die Versprechen, auf die er sich einläßt, nicht einlösen. Doch er nutzt die Erwartungen, um sich neue Befugnisse zu verschaffen“, so beschreibt Bundesverfassungsrichter Hassemer den Mechanismus »populistischer« Sicherheitspolitik (Hassemer 1998).

»Innere Sicherheit« als Standortfaktor

Kaum jemand nimmt den Widerspruch wahr: Auf der einen Seite wird von den Bonner Regierungsparteien, aber auch von großen Teilen der Opposition der »schlanke Staat« postuliert. „Weniger Staat – mehr bürgerliche Freiheit“, lautet die Devise (Sachverständigenrat 1997: 15). Auf der anderen Seite werden auf Bundes- und Landesebene die Eingriffsrechte von Polizei und anderen Sicherheitsbehörden erweitert. Mit »Deregulierung« und »Liberalisierung« sind offenbar nur die wirtschaftlichen Tätigkeiten des Staates, d. h. vor allem gewinnträchtige Bereiche wie die Telekommunikation gemeint, nicht aber die Stellung des Bürgers gegenüber Polizei, Geheimdiensten, Sozialamt oder Ausländerbehörde.

Der Lauschangriff ist dabei nur die berühmte Spitze des Eisbergs. Diese zeigt immerhin, daß die Sicherheitsprotagonisten im »Kampf gegen das organisierte Verbrechen« bereit sind, selbst das letzte Refugium bürgerlicher Privatheit, die Wohnung, staatlicher Ausforschung zu öffnen und damit einen Schritt in Richtung auf den totalitären Überwachungsstaat zu gehen. Die eilfertige Versicherung, die Maßnahme würde ja nur »Gangsterwohnungen« treffen, ignoriert das Problem: Vermittels des strafprozessualen Instruments des Lauschangriffs soll ja erst aufgeklärt werden, ob es sich bei bestimmten Personen um »Gangster« handelt oder nicht. „Ob die Belauschten Täter sind oder gute Bürger, das weiß man erst hinterher, bestenfalls“ (Hirsch 1997: 135). Zwangsläufig wird diese Maßnahme deshalb auch viele Unschuldige treffen, worauf Datenschützer immer wieder hinweisen (z. B. Bundesbeauftragter für den Datenschutz 1993: 47).

Im Windschatten der Debatte um den Lauschangriff sind in den letzten Jahren, von der Öffentlichkeit kaum bemerkt, sowohl durch Bundes- als auch durch Landesgesetze neue Befugnisse für die Sicherheitsbehörden geschaffen worden. Dabei geht es allerdings nur zum kleineren Teil um den Einsatz physischer Gewalt, z. B. durch die Polizei. Schließlich gehören gesetzliche Ermächtigungen zum Einsatz gewaltförmiger Mittel – vom Schlagstock bis zur Schußwaffe – seit langem zum klassischen Arsenal der polizeirechtlichen Bestimmungen über die Anwendung »unmittelbaren Zwanges«. Für massive Polizeieinsätze wie z. B. bei den Castor-Transporten sind deshalb keine Gesetzesnovellierungen notwendig, wobei freilich die Frage nach der Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bei diesen Einsätzen immer gestellt werden muß.

»Modernisiert« wurde das Polizeirecht z. B. durch die Einführung der »Schleierfahndung«, d. h. der ereignis- und verdachtsunabhängigen Personenkontrollen in mehreren Bundesländern – eine Abkehr vom klassischen polizeirechtlichen Prinzip, daß sich polizeiliche Maßnahmen grundsätzlich nur gegen »Störer« bzw. Tatverdächtige richten dürfen. Der ehemalige Polizeipräsident Lisken weist darauf hin, daß diese Fahndungsmethode „aus dem Arsenal des permanenten Ausnahmezustandes“ stammt (Lisken 1998: 24).

Neu ist auch die 1996 in das niedersächsische Gefahrenabwehrgesetz eingefügte Ermächtigung zur Erteilung von Aufenthaltsverboten für bestimmte örtliche Bereiche (Seifert 1996; Bündnis 90/ DIE GRÜNEN Niedersachsen 1996). Die Schaffung dieser Rechtsnorm wurde zwar mit den Hannoveraner Chaostagen legitimiert, sie fügt sich indes ein in den Trend auch der anderen Bundesländer, vermittels polizeirechtlicher Maßnahmen die Innenstadtbereiche von unerwünschten Personen wie Drogenabhängigen, Obdachlosen, Punks, Betrunkenen usw. zu »säubern« (Lesting 1997). Durch ein angenehmes Ambiente, gereinigt von »störenden Elementen«, soll die Konsum- und Investitionsneigung zahlungskräftiger »Wirtschaftsbürger« positiv beeinflußt werden. »Innere Sicherheit«, um ästhetische Gesichtspunkte bereichert, ist damit zum Standortfaktor avanciert.

Der Schwerpunkt der einschlägigen Gesetzesnovellen der letzten Jahre liegt allerdings nicht bei der Erweiterung gewaltförmiger Eingriffsbefugnisse, sondern bei der Aufrüstung der Sicherheitsbehörden mit informationellen Kompetenzen. Damit ist der Staat nicht mehr nur auf die klassischen „brachialen Mittel“ angewiesen, sondern verfügt nun auch „über die sanften, heimlichen Methoden der technischen Ausforschung – Telefonüberwachung, Rasterfahndung, Großrechner für ganz Europa“ (Hassemer 1998).

Neue Kommunikationstechniken – neue Überwachungsbefugnisse

Eine Zeitungsmeldung zur Jahreswende 97/98 dürfte aufmerksamen Handy-Besitzern Unbehagen bereitet haben: „Die Wege der Schweizer Handy-Nutzer werden lückenlos registriert“, meldete die FR am 29. 12. 97. Die Schweizer Telefongesellschaft Swisscom hatte die Standortmeldungen der Mobiltelefone zu Bewegungsbildern kombiniert und zum Teil auch der Polizei übermittelt.

Und bei uns? Um zu erfahren, in welchem Maße deutsche Sicherheitsbehörden auf Daten von Handy-Besitzern oder Netzbetreibergesellschaften zugreifen dürfen, muß sich selbst der Jurist den Weg durch ein unüberschaubares Normendickicht bahnen, von der Strafprozeßordnung, dem Außenwirtschaftsgesetz und dem Gesetz zu Art. 10 Grundgesetz (vulgo: »Abhörgesetz«) bis zum Telekommunikationsgesetz von 1996. Fündig wird man indes erst in der Fernmeldeverkehrsüberwachungsverordnung von 1995, deren 3 alle Betreiber von Telefonnetzen verpflichtet, bei einer staatlichen Überwachungsanordnung die Überwachung und Aufzeichnung des gesamten Fernmeldeverkehrs der betreffenden Personen zu ermöglichen. Dazu gehört nicht nur das Abhören und Aufzeichnen des Gesprächs selbst, sondern auch die Meldung der sog. Funkzellen, über die Handy-Gespräche übertragen werden (Wuermeling/ Felixberger 1997: 558). Wegen der geringen Größe dieser Funkzellen vor allem in den Städten lassen sich so mit Hilfe der Aktiv-Meldungen der Handies komplette Bewegungsbilder ihrer Benutzer erstellen – genauso wie in der Schweiz.

Vor dieser Nutzbarmachung neuer elektronischer Kommunikationsmittel für die Interessen der Sicherheitsbehörden warnt auch der Berliner Datenschutzbeauftragte eindringlich: „Die Entwicklung moderner Informations- und Telekommunikationstechniken führt dazu, daß das Kommunikationsverhalten der Bürger in bisher nicht für möglich gehaltenem Ausmaß registriert wird. Die Nutzung der neuen Medien hinterläßt zahllose personenbezogene Datenspuren. Nicht nur Daten über Inhalt und Umfang der Kommunikation sind auswertbar vorhanden, sondern auch Bewegungsprofile aufgrund von Aktiv-Meldungen von Mobiltelefonen können erstellt werden. Die Telekommunikationsnetze verändern dadurch ihre Struktur und Funktion: Sie können von Kommunikationsnetzen der Bürger zu Überwachungsnetzen der Sicherheitsbehörden werden“ (Berliner Datenschutzbeauftragter 1996: 54).

Um den Sicherheitsbehörden noch weitere Informationsquellen aus der Handy-Benutzung zu erschließen, legt das Telekommunikationsgesetz (TKG) von 1996 erstaunliche Kreativität an den Tag: Die privaten Betreiber der Telekommunikationsdienste sind danach verpflichtet, elektronische Kundendateien zu führen. Aus diesen darf die neuerrichtete Regulierungsbehörde einzelne Daten oder Datensätze jederzeit im automatisierten Verfahren abrufen, und zwar ohne daß dies den Betreibern bekannt wird. Die abgerufenen Datenbestände werden von der Regulierungsbehörde wiederum an Polizeien, Staatsanwaltschaften, Verfassungsschutzbehörden, BND und MAD auf deren Ersuchen übermittelt (90 TKG). – Der Vorteil dieses zweistufigen Verfahrens für die Sicherheitsbehörden liegt auf der Hand: Sie können sich jederzeit im online-Betrieb aus den Kundendateien bedienen, ohne daß das Telekommunikationsunternehmen oder gar der Kunde selbst etwas davon erfahren – eine praktische Methode, für Ermittlungs- und Ausforschungszwecke staatlicher Behörden auch private Unternehmen in die Pflicht zu nehmen (Wuermeling/ Felixberger 1997: 561).

Die Nutzung der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien für staatliche Ausforschung ist allerdings nicht in allen Bereichen so perfekt geregelt wie im Telekommunikationsgesetz. So fehlt derzeit noch eine Rechtsgrundlage für den Zugriff der Sicherheitsbehörden auf den Inhalt von Mailboxen. Gleichwohl hält der Bundesgerichtshof in einer Entscheidung vom 31. Juli 1995 auch den Abruf der in Mailboxen gespeicherten Daten durch Ermittlungsbehörden für zulässig. Er beruft sich dabei, technisch nicht gerade überzeugend, auf die strafprozessuale Ermächtigung zur Überwachung des Fernmeldeverkehrs. Diese Norm der Strafprozeßordnung, so die Begründung, „soll den Zugriff auch auf solche Formen der Nachrichtenübermittlung ermöglichen, die bei Erlaß bzw. Änderung des Gesetzes noch nicht bekannt waren oder sich erst künftig aus der fortschreitenden technischen Entwicklung ergeben“ (BGH, Neue Juristische Wochenschrift 1997, S. 1935). – Vereinfacht ausgedrückt: Was technisch möglich ist, muß dem Staat auch erlaubt sein. Damit allerdings verlieren die gesetzlichen Befugnisregelungen jede eingriffsbegrenzende Wirkung. Kein Bürger kann mehr darauf vertrauen, daß rechtsstaatliche Gesetze den Ausforschungsmaßnahmen der Sicherheitsbehörden effektive Schranken setzen.

Grundrechtliche Barrieren ?

Beim Lauschangriff als Mittel der Strafverfolgung besteht immerhin Einigkeit, daß es sich hierbei um einen schwerwiegenden Eingriff in das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung handelt. Dies gilt unabhängig davon, ob, wie im Fall des Atomwissenschaftlers Traube 1976, heimlich »Abhörwanzen« innerhalb der Wohnung installiert werden oder ob die Gespräche in der Wohnung von außen abgehört werden (z. B. durch ein hochentwickeltes Lasergerät, das die Schwingungen der Fensterscheiben erfaßt und entsprechend auswertet ). Auch im letzteren Fall wird die vertrauliche Kommunikation in der Wohnung vom Staat überwacht und damit in die grundrechtlich besonders geschützte Privatsphäre eingedrungen (Kutscha 1994: 88).

Wegen der besonderen Intensität dieses Eingriffs in die Privatsphäre läßt sich durchaus die Meinung vertreten, daß die vom Bundestag inzwischen beschlossene Ergänzung des Art. 13 Grundgesetz mit der Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 unvereinbar ist (Asbrock 1997; Gössner 1997). Nach dieser Bestimmung darf „in keinem Falle“ ein Grundrecht „in seinem Wesensgehalt angetastet werden“. Was aber bleibt noch von der Unverletzlichkeit der Wohnung, wenn niemand mehr sicher sein kann, ob nicht gerade das in seiner Wohnung oder in seinen Praxisräumen stattfindende Gespräch vom Staat heimlich belauscht wird? Für die Überwachung reichen schließlich schon berufliche Kontakte zu einer anderen Person, die in den Bannkreis des Verdachts geraten ist, ob nun zu Recht oder zu Unrecht.

Beim Abhören von Telefongesprächen und bei der Erfassung der näheren Umstände solcher Kommunikation geht es um die Reichweite eines anderen speziellen Grundrechts, nämlich des Fernmeldegeheimnisses (Bizer 1995). Selbst aber, wo auf den ersten Blick die Privatsphäre gar nicht berührt zu sein scheint (wie z. B. bei der Übermittlung von Bürgerdaten vom Sozialamt an Polizei oder Ausländerbehörde) soll prinzipiell grundrechtlicher Schutz gewährleistet sein. Eine solche Datenübermittlung zwischen verschiedenen Behörden greift nämlich in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung ein. Das Bundesverfassungsgericht hat dieses Recht erstmals in seinem bahnbrechenden Urteil zur Volkszählung 1983 anerkannt. Ausgangspunkt für das Gericht waren die neuen Gefahrenpotentiale der elektronischen Datenverarbeitung: Einzelangaben über persönliche Verhältnisse sind technisch gesehen unbegrenzt speicher- und abrufbar und können „mit anderen Datensammlungen zu einem teilweise oder weitgehend vollständigen Persönlichkeitsbild zusammengefügt werden“ (Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen Bd. 65, S. 42). Damit unterscheidet sich die moderne EDV grundlegend von der klassischen Aktenführung, die durch zwei Eigenschaften gekennzeichnet ist: Chaos und Vergessen (Hassemer 1997: 25).

Im Hinblick auf die Gefahr des »gläsernen Bürgers« wendet sich das Bundesverfassungsgericht auch gegen die verbreitete Vorstellung, viele der irgendwo gespeicherten Daten seien doch völlig »harmlos«: Wegen der vielfältigen Verarbeitungs- und Verknüpfungsmöglichkeiten „kann ein für sich gesehen belangloses Datum einen neuen Stellenwert bekommen; insoweit gibt es unter den Bedingungen der automatischen Datenverarbeitung kein »belangloses« Datum mehr“.

Die Quintessenz hieraus ist ein besonderer grundrechtlicher Schutz gegen unbegrenzte Erhebung und Verarbeitung personenbezogener Daten, nämlich das Recht des Einzelnen, „grundsätzlich selbst über die Verwendung und Preisgabe seiner persönlichen Daten zu bestimmen“.

Dem hehren Anspruch folgt die Ernüchterung auf dem Fuße. Auch das Bundesverfassungsgericht weiß, daß staatliche Behörden wie Polizei oder Finanzämter Daten auch gegen den Willen der Betroffenen verarbeiten müssen. Aber, und damit sind wir beim harten Kern des Volkszählungsurteils, für diese Grundrechtsbeschränkungen bedarf es jeweils einer „gesetzlichen Grundlage, aus der sich die Voraussetzungen und der Umfang der Beschränkungen klar und für den Bürger erkennbar ergeben und die damit dem rechtsstaatlichen Gebot der Normenklarheit entspricht“ (A. a. O.,S. 44).

Damit hat das Bundesverfassungsgericht ein gewaltiges Arbeitsprogramm für die Gesetzgeber des Bundes und der Länder statuiert. Sie mußten bereichsspezifische Regelungen für die Datenerhebung und -verarbeitung der unterschiedlichen Verwaltungszweige schaffen. Diese Aufgabe wurde allerdings in einer recht widersprüchlichen Weise gelöst: Zum einen ist die Vielzahl der inzwischen geschaffenen informationellen Befugnisnormen selbst für die Anwender kaum noch überschaubar. Zum anderen orientieren sich die neuen Bestimmungen durchweg an den Wünschen der »Praxis«, also z. B. der Sicherheitsbehörden, und bewirken dadurch im Ergebnis kaum eine Beschränkung informationellen staatlichen Handelns. „Statt die Verarbeitung einzugrenzen und ihre Transparenz sicherzustellen“, so der bekannte Datenschutzrechtler Simitis, „schreiben sie die Erwartungen der verarbeitenden Stellen fest und verfallen im übrigen zunehmend in eine Sprache, die den Betroffenen die Möglichkeit nimmt zu erkennen, was mit ihren Daten geschehen soll“ (Simitis 1994: 127).

Charakteristisch für die Datenverarbeitungsregelungen ist der inflationäre Gebrauch von Generalklauseln. Häufig besteht die einzige Voraussetzung für die Zulässigkeit einer Datenübermittlung in der »Erforderlichkeit« für die »Aufgabenerfüllung« der jeweiligen Behörde. So können sich die verschiedenen Sicherheitsbehörden z. B. aus den Kundendateien von privaten Telekommunikationsunternehmen jederzeit bedienen, „soweit dies zur Erfüllung ihrer gesetzlichen Aufgaben erforderlich ist“ ( 90 Abs. 3 TKG). Die beim (oben schon beschriebenen) automatisierten Abrufverfahren dazwischengeschaltete Regulierungsbehörde hat im Normalfall kein Recht, die Zulässigkeit dieser Datenübermittlung zu überprüfen ( 90 Abs. 4 TKG). Das Telekommunikationsgesetz hat die Sicherheitsbehörden mithin zur informationellen Selbstbedienung ermächtigt.

Datenaustausch ohne Grenzen ?

Beim soeben beschriebenen Beispiel handelt es sich um eine eindeutige Zweckentfremdung personenbezogener Daten: Wer ein Handy erwirbt und dabei einen Vertrag mit der Netzbetreiberfirma abschließt, offenbart dabei seinen Namen und seine Adresse zur Vertragsabwicklung, nicht aber im Bewußtsein, daß diese Daten jederzeit für den Abruf durch Polizei oder Geheimdienste bereitstehen.

Ein weiteres Beispiel für informationelle Zweckentfremdung bietet das Zentrale Verkehrsinformationssystem (ZEVIS) in Flensburg. Ursprünglich für verkehrsrechtliche Zwecke installiert, erfüllt das ZEVIS seit 1987 für die Sicherheitsbehörden die Funktion eines Ersatz-Bundesadreßregisters für den größten Teil der erwachsenen Bundesbevölkerung (Fuckner 1988). Überdies kann die Polizei per »Halterabfrage« beim ZEVIS heimlich die Identität z. B. von Teilnehmern an einer Protestversammlung ermitteln, indem sie sich z. B. der Kennzeichen der in der Nähe des Versammlungsortes geparkten Fahrzeuge bedient (Lisken/ Denninger 1996: Rdn. F 194).

Der vom Bundesverfassungsgericht geforderte Schutz gegen Zweckentfremdung personenbezogener Daten und das Prinzip »informationeller Gewaltenteilung« werden damit in ihr Gegenteil verkehrt. „Die Kooperationen der Geheimdienste mit der Polizei, der Polizei mit der Ausländerverwaltung, der Ausländer- und Asylverwaltung mit den Sozialbehörden, der Sozialbehörden mit Gesundheits-, Kraftfahrzeug-, Melde- und Wohnungsbehörden sind nicht die Ausnahme, sondern die Regel“ – so das ernüchternde Fazit eines Datenschützers (Weichert 1997: 36).

Durch die Internationalisierung der Datenverarbeitung werden engagierte Datenschutzbeauftragte noch mehr in die Rolle des Hasen gedrängt, der beim Wettrennen mit dem Igel trotz größter Anstrengung immer zu spät kommt. Was bisher über das »Schengener Informationssystem« sowie über die Datensammlungen von Europol bekannt wurde, erweckt wenig Vertrauen (Bieber 1994; Weichert 1995). Immerhin sollen nach einem Regelungsentwurf für Europol auch persönliche Daten über „Art und Weise des Lebens, der rassischen Herkunft, der politischen und religiösen Überzeugungen sowie der sexuellen Gewohnheiten“ gespeichert und übermittelt werden (nach Lisken/ Mokros 1997: 161). Überdies sollen die Europol-Beamten Immunität gegenüber Strafverfolgung genießen; auch ansonsten ist eine wirksame rechtliche Kontrolle der Aktivitäten von Europol nicht vorgesehen (Ostendorf 1997).

Unterschiedliches Datenschutzbewußtsein

Engagiert im Widerstand gegen die Einführung des Lauschangriffs haben sich neben den Datenschützern und Bürgerrechtsgruppen vor allem solche Verbände, die hochqualifizierte und z. T. problembewußte Berufsgruppen vertreten, wie Juristen, Journalisten und Ärzte. Im übrigen ist bisher das »Datenschutzbewußtsein« in der Bevölkerung nur schwach ausgeprägt. Die Anerkennung und Verteidigung von Freiheitsrechten hat in Deutschland ohnehin keine lange und gefestigte Tradition. Gerade unter den gegenwärtigen sozialen Bedingungen kann die Einschränkung von Freiheitsrechten unter dem Schlachtruf »Mehr Innere Sicherheit !« mit breiter Akzeptanz rechnen. „Phasen der Orientierungsschwierigkeiten“, so Bundesverfassungsrichter Grimm, „schaffen fast immer ein erhöhtes Bedürfnis nach Sicherheit…Wer es versteht, die wirklichen oder vermeintlichen Gefahren nur bedrohlich genug erscheinen zu lassen, schafft damit Bereitwilligkeit zum Tausch von Freiheit gegen Sicherheit“ (Grimm 1997).

Ziel informationeller Ausforschung sind indes nicht nur »Gangster« bzw. Verdächtige, sondern auch die rechtstreuen Bürger. Durch die Nutzung moderner Informations- und Kommunikationstechniken fällt eine große Menge personenbezogener Daten auch im privaten Sektor an: über Kreditwürdigkeit, über Krankheiten, über das Reiseverhalten, über Kaufinteressen, über sexuelle Orientierung, über Mediennutzung usw. Diese irgendwo erfaßten Daten können in technischer Hinsicht jederzeit zusammengeführt, vernetzt oder abgeglichen werden. Auf sie richtet sich nicht nur das besondere Interesse kommerzieller Anbieter (Versandhandel, directmailing), sondern auch der Sicherheitsbehörden. Selbst im Cyberspace ist auf die Abwesenheit des Staates kein Verlaß mehr (Hassemer 1997: 26). Damit aber besteht die Chance für die Entwicklung eines größeren Datenschutzbewußtseins. Anlaß zur Besorgnis besteht schließlich nicht nur für den »citoyen«, der politische Freiheitsräume in der Gesellschaft gesichert sehen will, sondern auch für den »bourgeois«,der per Internet seinen Geschäften, vielleicht aber auch seinen abweichenden Neigungen nachgeht und dabei ins Fadenkreuz staatlicher Sicherheitswächter gerät.

Literatur

Asbrock, Bernd (1997): Lauschangriff ante portas, in: Betrifft JUSTIZ Nr. 52, S. 179.

Berliner Datenschutzbeauftragter (1996): Jahresbericht 1996, Berlin.

Bieber, Roland (1994): Die Abkommen von Schengen über den Abbau der Grenzkontrollen, in: Neue Juristische Wochenschrift 1994, S. 294.

Bizer, Johann (1995): Schutz der Vertraulichkeit in der Telekommunikation, in: Kritische Justiz 1995, S. 450.

Bündnis 90/ DIE GRÜNEN im Landtag Niedersachsen (1996): Vom Mißbrauch des Polizeirechts, Hannover.

Bundesbeauftragter für den Datenschutz (1993): 14. Tätigkeitsbericht, BT-Drs. 12/4805.

Fuckner, Gerhard (1988): Das Zentrale Verkehrsinformationssystem, in: Computer und Recht 1988, S. 411.

Gössner, Rolf, Hrsg. (1995): Mythos Sicherheit. Der hilflose Schrei nach dem starken Staat, Baden-Baden.

Gössner, Rolf (1997): Großer (Lausch-) Angriff auf die Verfassung, in: Geheim 4/97, S. 11.

Grimm, Dieter (1997): Hütet die Grundrechte ! in: Die Zeit v. 18. 4. 1997.

Hassemer, Winfried (1997): Information, Kontrolle und Privatheit, in: Neue Kriminalpolitik 4/1997, S. 24.

Hassemer, Winfried (1998): Der Staat wird zum Vater, Interview im »Spiegel« 1/1998, S. 52.

Hirsch, Burkhard (1997): Vor der Wanze sind alle gleich, in: Müller-Heidelberg u. a., S. 134.

Klingst, Martin/ Pfeiffer, Christian (1995): Tatort Deutschland, in: Gössner (1995), S. 27.

Kutscha, Martin (1994): Der Lauschangriff im Polizeirecht der Länder, in: Neue Juristische Wochenschrift 1994, S. 85.

Kutscha, Martin/ Paech, Norman, Hrsg. (1981): Im Staat der »Inneren Sicherheit«, Frankfurt a. M.

Lesting, Wolfgang (1997): Polizeirecht und offene Drogenszene, in: Kritische Justiz 1997, S. 214.

Lisken, Hans (1998): Verdachts- und ereignisunabhängige Personenkontrollen zur Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität? in: Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 1998, S. 22.

Lisken, Hans/ Denninger, Erhard, Hrsg. (1996): Handbuch des Polizeirechts, 2. Aufl. München.

Lisken, Hans/ Mokros, Reinhard (1997): Zustimmungsverfahren zur Europol-Konvention im deutschen Bundestag, in: POLIZEI-heute 1997, S. 160.

Müller-Heidelberg, Till u. a., Hrsg. (1997): Grundrechtereport, Reinbek.

Ostendorf, Heribert (1997): Europol – ohne Rechtskontrolle ? in: Neue Juristische Wochenschrift 1997, S. 3418.

Sachverständigenrat »Schlanker Staat« (1997): Abschlußbericht, Bd. 1, Bonn.

Seifert, Jürgen (1996): Chaos-Tage: Modell Hannover. Aufenthaltsverbote als Instrument zur Durchsetzung von Versammlungsverboten ? in: Kritische Justiz 1996, S. 356.

Simitis, Spiros (1994): Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Volkszählung – 10 Jahre danach, in: Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft 1994, S. 121.

Weichert, Thilo (1995): EUROPOL-Konvention und Datenschutz, in: Datenschutz und Datensicherheit 1995, S. 450.

Weichert, Thilo (1997): Gefangen im Netz der Datenbanken, in: Müller-Heidelberg u. a., S. 34.

Wuermeling, Ulrich/ Felixberger, Stefan (1997): Staatliche Überwachung der Telekommunikation, in: Computer und Recht 1997, S. 555.

Dr. Martin Kutscha ist Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Fachhochschule für Verwaltung und Rechtspflege Berlin.

50 Jahre internationale Strafgerichtsbarkeit

50 Jahre internationale Strafgerichtsbarkeit

von Nürnberg über Den Haag zu einem Ständigen Internationalen Strafgerichtshof

von Bernhard Graefrath

Im Dezember 1996, 50 Jahre nach der Verkündung des Nürnberger Urteils, hat die Generalversammlung der Vereinten Nationen beschlossen, 1998 eine Staatenkonferenz einzuberufen, die das Statut für einen Ständigen Internationalen Strafgerichtshof (StIStGH) beraten und verabschieden soll.1 An dem Entwurf dieses Statuts wurde in der UNO seit 50 Jahre gearbeitet. Die Arbeiten begannen mit der Kodifizierung der Nürnberger Prinzipien 1948, wurden dann aber zeitweilig unterbrochen, bis man sich auf eine Definition der Aggression verständigen konnte. Insbesondere seit 1992 sind die Beratungen über ein Statut für einen StIStGH in der Völkerrechtskommission wieder intensiv betrieben worden. Beschleunigt durch die Einsetzung von ad hoc Gerichten durch den Sicherheitsrat für das ehemalige Jugoslawien2 und Ruanda3 haben sie nun zu einem Ergebnis geführt, von dem angenommen wird, daß es als Grundlage für eine Einigung auf einer Staatenkonferenz dienen kann.

Häufig wird Unverständnis, Enttäuschung und Kritik geäußert, daß ein halbes Jahrhundert nach Nürnberg noch immer kein StIStGH eingerichtet worden ist. Um jedoch zu ermessen, wie gewaltig der Schritt war, der in der Entwicklung des Völkerrechts durch Nürnberg gemacht wurde und welch Stellenwert in diesem Prozeß dem vorliegenden Entwurf für einen StIStGH zukommt, muß kurz an die Rechtslage vor Nürnberg erinnert werden.

Bis zum ersten Weltkrieg war eine strafrechtliche Verantwortlichkeit von Personen im Völkerrecht im Grunde unbekannt. Völkerrecht war als Recht zwischen den Staaten nur mit diesen als Subjekten befaßt. Nur Staaten konnten völkerrechtliche Regeln schaffen und verletzen. Das Völkerrecht kannte daher im Prinzip nur eine Verantwortlichkeit von Staaten für Völkerrechtsverletzungen. Personen, die in ihrer Eigenschaft als Repräsentanten des Staates gehandelt hatten, konnten zwar eine völkerrechtliche Verantwortlichkeit des Staates begründen, persönlich aber nicht haftbar gemacht werden.

Zur Zeit des I. Weltkrieges war weder die koloniale Unterdrückung eines Volkes noch das Führen eines Krieges eine Völkerrechtsverletzung. Das Recht zum Kriege wurde geradezu als Kriterium der Souveränität eines Staates betrachtet.4 Der Krieg galt in der herrschenden Lehre als notwendig, als sittliches Ideal und von „Gottes Weltordnung gewollt.“ 5 Zwar kannte man bereits Kriegsverbrechen, Verletzungen der Regeln, die während eines Krieges zwischen den Staaten zu beachten waren, aber die strafrechtliche Verfolgung solcher Verletzungen oblag ausschließlich dem Landesrecht.

Allerdings gab es in der Völkerrechtsliteratur, besonders der französischen, bereits Bemühungen, die für den Krieg Verantwortlichen strafrechtlich zu belangen. Was von diesen Bemühungen nach zähen Verhandlungen 1919 Eingang in den Versailler-Vertrag fand, spiegelt den politischen Charakter der Strafforderungen deutlich wider. Der deutsche Kaiser sollte nach Artikel 227 des Versailler-Vertrages „wegen schwerster Verletzung des internationalen Sittengesetzes und der Heiligkeit der Verträge unter öffentliche Anklage“ gestellt werden. Es sollte ein Gerichtshof, bestehend aus fünf Richtern (USA, UK, Frankreich, Italien und Japan), eingesetzt werden, der „urteilt auf der Grundlage der erhabensten Grundsätze der internationalen Politik.“ Auch das Auslieferungsersuchen an Holland vom 16. Januar 1920 betont ausdrücklich, daß es sich „um einen Akt der internationalen Politik handelt, der vom Weltgewissen inspiriert“ ist. Die holländische Regierung fand nicht, daß sich aus dem Weltgewissen rechtliche Verpflichtungen ergeben und brauchte keine acht Tage, das Auslieferungsersuchen abzulehnen, weil es eben politischer Natur und rechtlich unbegründet war. Damit war dieses Kapitel internationaler Strafgerichtsbarkeit beendet.6

Alle Versuche, im Rahmen des Völkerbundes einen internationalen Gerichtshof mit Strafkompetenz zu schaffen, blieben in den Ansätzen stecken. Kein Staat war an einem solchen Strafgericht interessiert. Immerhin versuchte der Völkerbund, den Krieg einzudämmen und zu ächten. 1928 kam es zum Briand-Kellogg-Pakt, der den Krieg als Mittel der nationalen Politik verbot, jedoch keine Sanktionen für die Verletzung des Verbotes vorsah. Auf diesem Hintergrund ist der Nürnberger-Prozeß am Ende des zweiten Weltkrieges zu sehen, in dem zum ersten Mal die verantwortlichen Personen aufgrund des Völkerrechts für die Planung und Führung eines Angriffskrieges und damit verbundener Kriegs- und Menschlichkeitsverbrechen strafrechtlich zur Verantwortung gezogen wurden.

Nürnberg war ein Wendepunkt

Sowohl die Organisation der Vereinten Nationen als auch das Nürnberger Tribunal beruhten auf den Ergebnissen des Sieges der Alliierten im Kampf gegen den deutschen Faschismus, der Ächtung des Völkermordes und der Aggression, des menschenverachtenden Terrors nach innen und der imperialistischen Eroberungspolitik nach außen. Daraus erwuchsen die entscheidenden Rechtssätze des Völkerrechts unserer Zeit, die in Nürnberg als geltendes Völkerrecht angewandt wurden. Obgleich 1945 in der UN-Charta verankert, gelang es der Generalversammlung erst 1970 in der Resolution 2625 (XXV) die grundlegenden Prinzipien des gegenwärtigen Völkerrechts, das Prinzip der souveränen Gleichheit der Staaten, das Gewalt- und Interventionsverbot, das Prinzip der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker, die Pflicht zur friedlichen Streitbeilegung, zur friedlichen Zusammenarbeit und zur Erfüllung der Verträge nach Treu und Glauben zusammenfassend zu formulieren.7 Um ihre Einhaltung und Durchsetzung wird noch immer gerungen.

Das Nürnberger Tribunal wurde aufgrund des Abkommens zwischen den USA, Großbritannien, Frankreich und der Sowjetunion über die Verfolgung und Bestrafung der Hauptkriegsverbrecher der Europäischen Achse vom 8. August 1945 errichtet, ihm schlossen sich in der Folgezeit 19 andere Staaten an. Es diente der Strafverfolgung der Hauptkriegsverbrecher in Europa.8 Ein entsprechender Gerichtshof für den Fernen Osten wurde durch General McArthur in Tokyo eingesetzt.9 Im Nürnberger-Prozeß standen 22 Naziführer und Generäle vor Gericht. Das Gericht hatte keine Schwierigkeiten, der Angeklagten habhaft zu werden10 und die notwendigen Beweismittel zu sichern. Angeklagt wurde wegen Verbrechens gegen den Frieden, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Tatbestände, die im Artikel 6 des Statuts des Tribunals definiert worden waren.

Bald nach dem Urteil, das am 1. 10. 1946 erging, bekräftigte die Generalversammlung der Vereinten Nationen in ihrer Resolution 95 (I), vom 11.12. 1946 die dem Statut und Urteil zugrunde liegenden Rechtsgrundsätze und beauftragte die Völkerrechtskommission, diese Grundsätze für eine allgemeine Kodifizierung zu formulieren. Schon 1950 legte die Völkerrechtskommission einen entsprechenden Text vor, 11 der seitdem sowohl für die Arbeiten am Kodex für Verbrechen gegen den Frieden und die Sicherheit der Menschheit12 als auch am Statut für einen StIStGH eine entscheidende Rolle gespielt hat.13 Jedoch war es bisher nicht möglich, einen solchen Kodex oder ein Statut für einen StIStGH zu verabschieden.

Die Nürnberger Grundsätze, die von der Völkerrechtskommission in Form von sieben Prinzipien dargestellt wurden, lassen sich in drei Hauptpunkten zusammenfassen:

  • Personen können für internationale Verbrechen aufgrund des Völkerrechts strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden.
  • Weder Landesrecht noch die Immunität von Staatenvertretern oder Handeln auf Befehl können eine strafrechtliche Verantwortlichkeit für internationale Verbrechen hindern.
  • Als internationale Verbrechen sind nach Völkerrecht strafbar: das Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Damit waren für eine internationale Gesellschaft, die sich aus gleichberechtigten souveränen Staaten zusammensetzt, elementare Grundwerte für eine Friedensordnung abgesteckt. Der unmittelbare Zugriff auf die verantwortlichen Einzelpersonen markierte eine grundlegende Veränderung im Völkerrecht. Es war ein kompliziertes Geflecht von staatlicher Souveränität, völkerrechtlicher Verantwortlichkeit und individueller strafrechtlicher Verantwortlichkeit bei internationalen Verbrechen geschaffen worden. In Nürnberg wurden nicht nur einzelne kriminelle Handlungen bestraft, sondern bloßgelegt, daß diese Verbrechen nach innen und außen Systemcharakter hatten, planmäßig mit Hilfe des Staates begangen wurden und sich gegen das friedliche Zusammenleben gleichberechtigter Völker richteten. In Zukunft Verbrechen zu verhindern bzw. zu ahnden, die sich gegen das friedliche Zusammenleben gleichberechtigter Völker richten, war der normative Auftrag der Nürnberger Prinzipien.

<>Koordinierung nationaler und internationaler Strafgerichtsbarkeit<>

Die internationale Strafgerichtsbarkeit hat dort ihre Berechtigung und Notwendigkeit, wo Rechtsgüter der internationalen Gemeinschaft zu schützen sind und dies durch die nationale Gerichtsbarkeit nicht oder nicht wirksam gewährleistet werden kann. Das gilt vor allem bei Straftaten, die in der Regel vom Staat selbst angeordnet, gefördert oder geduldet werden, die mit Hilfe der Machtmittel des Staates begangen werden. Grundlage der Koordinierung von nationaler und internationaler Strafgerichtsbarkeit in den Nürnberger Prinzipien ist deshalb die Definition derjenigen internationalen Verbrechen, die dem Völkerstrafrecht zugeordnet werden. Zwar wird der Schutzwall der staatlichen Souveränität durchbrochen und die internationale strafrechtliche Verantwortlichkeit des einzelnen Individuums hergestellt, aber eben nur für bestimmte Verbrechen. Es wird ein sorgfältig ausgewogenes Gleichgewicht hergestellt, indem einerseits ausgeschlossen wird, daß staatliche Souveränität, Gesetzeshoheit oder Immunität zur Deckung von internationalen Verbrechen geltend gemacht werden können, andererseits die strafrechtliche Verantwortlichkeit aber nicht auf Völkerrechtsverletzungen im allgemeinen, sondern nur auf bestimmte, sehr sorgfältig definierte und begrenzte internationale Verbrechen erstreckt wird.

Diese Rechtslage wurde kürzlich in einem Gutachten des Interamerikanischen Gerichtshofes für Menschenrechte eindeutig dargestellt: „Der Erlaß eines Gesetzes, das offensichtlich Verpflichtungen verletzt, die ein Staat bei der Ratifikation oder dem Beitritt zur (Menschenrechts)Konvention eingegangen ist, stellt eine Verletzung dieses Vertrages dar und begründet die völkerrechtliche Verantwortlichkeit des betreffenden Staates… eine individuelle Verantwortlichkeit kann gegenwärtig nur für Verletzungen geltend gemacht werden, die in internationalen Dokumenten als Verbrechen nach Völkerrecht definiert werden: wie das Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Völkermord… Die Durchsetzung eines Gesetzes, das offensichtlich die (Menschenrechts) Konvention verletzt, durch Beauftrage oder Beamte des Staates führt zur völkerrechtlichen Verantwortlichkeit des Staates. (Nur) wenn diese Durchsetzung ein internationales Verbrechen darstellt, begründet sie zugleich auch die internationale (strafrechtliche) Verantwortlichkeit des Beauftragten oder Beamten, der es ausführt.“ 14

Es ist außerordentlich aufschlußreich, daß alle Versuche der Völkerrechtskommission und internationaler Organisationen, die Anzahl der internationalen Verbrechen zu erweitern, gescheitert sind. So fanden sich z.B. noch 1991 in dem Entwurf zum Kodex für Verbrechen gegen den Frieden und die Sicherheit der Menschheit Verbrechen wie die Drohung mit Aggression, Intervention, Apartheid, gewaltsame Aufrechterhaltung von Kolonialherrschaft, Söldnertum, Terrorismus, Drogenhandel, schwere Menschenrechtsverletzungen und schwere Umweltschädigungen.15 In zweiter Lesung sind diese Tatbestände aufgrund der Einwände vieler Staaten, insbesondere aber unter dem Einfluß der USA, alle wieder gestrichen worden. Nur mühselig gelang es, die Nürnberger Prinzipien mit ihren Tatbeständen, Verbrechen der Aggression, Verbrechen gegen die Menschlichkeit einschließlich Völkermord und Kriegsverbrechen im wesentlichen aufrecht zu erhalten. Hinzu genommen wurden nur Verbrechen gegen UN-Personal.16

Das zeigt sehr deutlich, wie stark nach wie vor der Widerstand vieler Staaten gegen eine Ausweitung internationaler Straftatbestände ist, eben weil damit die Durchbrechung des Souveränitätsgrundsatzes verbunden wird. Das gleiche Bild ergibt sich notwendig bei den Bestrebungen um die Errichtung eines StIStGH, denn es stellen sich die gleichen Probleme, die Abgrenzung bzw. Komplementierung von nationaler und internationaler Strafgerichtsbarkeit, die Bestimmung der Grenzen staatlicher Souveränität.

Das gilt jedenfalls für den eigentlich interessanten und wichtigen Bereich der Fälle, in denen ein StIStGH auch ohne Zustimmung oder gegen den Willen des betroffenen Staates anklagen und verhandeln kann. Natürlich können Staaten jederzeit vereinbaren, die Strafverfolgung bestimmter Straftaten einem internationalen Gericht zu übertragen. Das kann aus mancherlei Gründen zweckmäßig erscheinen, z.B. um Rachejustiz zu verhindern, einheitliche Strafmaßstäbe herauszubilden, einen fairen Prozeß zu garantieren etc. Das aber würde kaum den mit der Schaffung eines StIStGH verbundenen Aufwand rechtfertigen. Wirklich notwendig wird der StIStGH für die internationale Staatengemeinschaft erst da, wo die nationale Strafgerichtsbarkeit keine adäquate Strafverfolgung mehr gewährleistet. Das hat die Einsetzung der ad hoc Tribunale für Jugoslawien und Ruanda deutlich gemacht.

Den Haag – Wegbereiter oder Umweg

Die Problematik fängt mit der Einsetzung des Gerichts an. Die ad hoc Gerichte sind durch Beschluß des Sicherheitsrates, gestützt auf Kapitel VII der Charta, mit verbindlicher Wirkung gegenüber allen Staaten geschaffen worden. Der Sicherheitsrat hat die Jurisdiktion der Gerichte im einzelnen zeitlich und sachlich begrenzt definiert und angeordnet. In Bezug auf die in den Statuten definierten Straftaten, die sich im Unterschied zu Nürnberg auf Völkermord, Kriegs- und Menschlichkeitsverbrechen beschränken, das Verbrechen gegen den Frieden deutlich ausklammern, greift die Jurisdiktion dieser Gerichte nicht nur in die Gerichtshoheit der Gebiete des ehemaligen Jugoslawiens und Ruandas sondern auch in die Gerichtshoheit aller Staaten ein. In jedem Staat können diese ad hoc Gerichte Ermittlungen durchführen, ihre Haftbefehle und sonstigen Anordnungen sind in allen Staaten der Welt durchzuführen, ihre Auslieferungsersuchen gehen jedem Auslieferungsvertrag vor. Sie können selbst die Auslieferung von Staatsbürgern des ersuchten Landes verlangen und in schwebende Verfahren eingreifen. Selbst ein vor einem nationalen Gericht abgeschlossenes Verfahren können sie wiederaufnehmen, wenn sie der Meinung sind, daß es aus irgendeinem Grunde nicht ordnungsgemäß durchgeführt worden ist. Diese schwerwiegenden Kompetenzen, die weit über Nürnberg hinausgehen, unterstreichen den Ausnahmecharakter dieser Sondergerichte. Eine so weitreichende internationale Gerichtsbarkeit für Den Haag konnte im Sicherheitsrat nur beschlossen werden, weil sie auf zeitlich und räumlich eng beschränkte Straftaten begrenzt war und man sicher sein konnte, daß sich keinerlei Anklagen oder Beschuldigungen gegen Mitglieder des Sicherheitsrates richten konnten.

Zweifellos hat bei der Schaffung der Charta und der Definition der Kompetenzen des Sicherheitsrates nie jemand auch nur im entferntesten daran gedacht, daß der Sicherheitsrat einmal im Rahmen von Sanktionen ad hoc Strafgerichte mit so weitreichenden Vollmachten in Form von Hilfsorganen des Sicherheitsrates einsetzen könnte. Er hat es getan, obgleich die UNO keinerlei Personalhoheit hat und kein Staat ihr eine solche Kompetenz übertragen hat. Die Staaten haben es – angesichts der Greueltaten über die berichtet wurde – als eine mögliche Maßnahme zur Friedenssicherung hingenommen. Welche Wirksamkeit und Bedeutung diese Gerichte haben werden, ist noch nicht abzusehen. Bislang beschäftigen sie sich mit einzelnen Greueltaten. Ob sie je zu denjenigen vorstoßen werden, die die Verbrechen im ehemaligen Jugoslawien und Ruanda ausgelöst oder ermöglicht haben, scheint in hohem Maße fraglich. Trotzdem sind ihre Statuten nicht ohne Einfluß auf den Entwurf für einen StIStGH geblieben.

Die übergroße Mehrheit der Staaten ist gegen die Einsetzung von ad hoc Gerichten oder die Schaffung eines StIStGH durch Beschluß des Sicherheitsrates. Sie besteht darauf, daß ein StIStGH, da eine Ergänzung der Charta zur Zeit nicht realisierbar erscheint, nur durch einen völkerrechtlichen Vertrag geschaffen werden kann.17 Auf diese Weise wollen die Staaten sichern, daß nicht nur das Statut und die Einsetzung des StIStGH, sondern auch der Umfang seiner Jurisdiktion und sein Tätigwerden von ihrer Zustimmung abhängt.

Der Entwurf geht davon aus, daß mit der Zustimmung zum Statut nicht automatisch der Umfang der Jurisdiktion des StIStGH bestimmt ist. Dazu bedarf es einer besonderen Erklärung der Staaten, in der sie festlegen, für welche Verbrechen sie die Zuständigkeit des StIStGH akzeptieren wollen. Lediglich für Völkermord sollte der Gerichtshof bereits aufgrund der Beschwerde eines Staates tätig werden können.18 In allen anderen Fällen, also auch bei Aggression, Kriegs- und Menschlichkeitsverbrechen sollte ebenso wie bei Verbrechen, die in internationalen Verträgen definiert sind, wie Geiselnahme, Luftpiraterie, Verbrechen gegen Diplomaten, Folter19 mindestens die Zustimmung des Staates erforderlich sein, in dem sich der Beschuldigte befindet, sowie des Staates, auf dessen Territorium die Straftat begangen wurde. Hinzu käme noch die Zustimmung des Staates, der gegebenenfalls ein Auslieferungsersuchen gestellt hat. Schon dieser Zustimmungsmechanismus ist kompliziert. Viele Staaten, darunter auch die USA, fordern aber, daß außerdem jedenfalls der Staat, gegen den das Verbrechen gerichtet war oder der Opfer des Verbrechens geworden ist und gegebenenfalls auch der Staat, dessen Nationalität der Beschuldigte hat, zustimmen müssen. Weiterhin fordern die USA, daß jedenfalls bei Kriegsverbrechen immer das zuständige nationale Gericht Vorrang vor einem internationalen Gericht haben sollte.20 Damit soll sichergestellt werden, daß die Jurisdiktion des StIStGH nicht an die Stelle der nationalen Gerichtsbarkeit tritt, sondern nur ergänzend zu ihr tätig werden kann. Darüber hinaus bestreiten die USA nach wie vor, daß das Verbrechen der Aggression als individuelles strafrechtliches Verbrechen genügend definiert ist. Dahinter steckt im Grunde natürlich die Scheu zu akzeptieren, daß z.B. ein amerikanischer Präsident für militärische Aktionen wie die gegen Vietnam, Laos, Grenada oder Panama vor einen StIStGH gestellt werden könnte. Überhaupt sind die USA im Prinzip dagegen, daß jeder Staat den StIStGH wegen Kriegsverbrechen anrufen kann. Sie würden dieses Recht am liebsten nur dem Sicherheitsrat zugestehen, weil dann die Zuständigkeit des StIStGH für Kriegsverbrechen nie gegen das Veto eines ständigen Mitglieds des Sicherheitsrates begründet werden könnte.

Das Veto bleibt ein ernstes Hindernis

In Anlehnung an die Entstehungsgeschichte der ad hoc Gerichte räumt der Entwurf des Statuts für einen StIStGH dem Sicherheitsrat eine sehr fragwürdige Sonderstellung ein. Erstens kann der Sicherheitsrat, wenn der StIStGH einmal geschaffen ist, sich jederzeit dieses Gerichts bedienen und ihm eine Jurisdiktion für bestimmte Situationen oder Angelegenheiten erteilen. Er brauchte dann keine ad hoc Gerichte mehr zu schaffen, sondern könnte das gleiche über die Begründung einer ad hoc Jurisdiktion für einen bereits existierenden StIStGH erreichen und zwar selbst für Staaten, die das Statut des StIStGH nicht ratifiziert haben. Diese Variante hätte den Vorteil, daß man jedenfalls für Situationen, in denen das für notwendig gehalten wird, eine internationale Strafgerichtsbarkeit hätte, ohne von der Zustimmung des in die Verbrechen verwickelten Staates abhängig zu sein. Das Problem liegt darin, daß eine solche Entscheidung vom Sicherheitsrat im Rahmen eines Verfahrens gefällt wird, in dem jedem ständigen Mitglied ein Veto zusteht. D. h. niemals könnte durch den Sicherheitsrat eine Zuständigkeit des StIStGH begründet werden, wenn ein ständiges Mitglied sein Veto einlegt.

Die Idee, dem Sicherheitsrat für bestimmte internationale Verbrechen die Möglichkeit zu geben, eine Zuständigkeit des StIStGH ohne Zustimmung der unmittelbar betroffenen Staaten zu begründen, ist an sich gut. Sie wird sich jedoch nur dann als nützlich erweisen und eine Chance haben, durchgesetzt zu werden, wenn eine solche Entscheidung nicht dem Vetorecht unterliegt, sondern im Sicherheitsrat mit einfacher Mehrheit gefällt werden kann. Das wäre wirklich ein Fortschritt und würde den StIStGH von vornherein in eine starke Position im System der kollektiven Friedenssicherung versetzen. Leider sieht es z. Zt. nicht so aus, als gäbe es für eine solche Lösung gute Aussichten.

Der Entwurf sieht außerdem vor, daß eine Anklage vor dem StIStGH wegen des Verbrechens der Aggression nicht erhoben werden kann, solange der Sicherheitsrat nicht das Vorliegen einer Aggression festgestellt hat. Zusätzlich wurde auf Druck der USA sogar eine Regel aufgenommen, die dem StIStGH untersagt, Ermittlungen ohne Zustimmung des Sicherheitsrates aufzunehmen, solange eine Angelegenheit im Rahmen des Kapitels VII beim Sicherheitsrat anhängig ist. Zu Recht haben viele Staaten gegen eine solche Regelung Bedenken geäußert, weil damit der StIStGH in eine unmittelbare Abhängigkeit von der politischen Entscheidung eines Organs der UN kommt, noch dazu eine Entscheidung, die dem Veto unterliegt. D. h., eine solche Entscheidung wäre niemals gegen ein ständiges Mitglied des Sicherheitsrates denkbar. Der StIStGH käme damit in die gleiche mißliche Lage, in der die vom Sicherheitsrat eingesetzten ad hoc Gerichte sind. Sie sind Gerichte, die der Sicherheitsrat gegen andere eingerichtet hat, die er nie akzeptieren würde, wenn sie auch gegenüber den ständigen Mitgliedern des Sicherheitsrates eine Zuständigkeit hätten. Die Aussichten, daß eine Mehrheit der Staaten, sich freiwillig unter eine Strafjustiz begibt, die auf einer institutionalisierten Ungleichheit und Diskriminierung von Mitgliedstaaten der UNO aufbaut, ist gering.

Auch im Zusammenhang mit Fragen wann eine Auslieferung an den StIStGH erfolgen muß und wann der StIStGH an ein Urteil eines nationalen Gerichts gebunden ist, entstehen ähnliche Probleme der Abgrenzung von nationaler und internationaler Gerichtsbarkeit. Sie sind im Entwurf zugunsten des StIStGH geregelt. Diese Regelung, die sich an entsprechende Bestimmungen im Statut für das Jugoslawien-Tribunal anlehnt, findet aber noch keineswegs die Zustimmung aller ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates oder der Mehrheit der Staaten. Sie würde sehr weitreichende Eingriffe in die nationale Strafgerichtsbarkeit zur Folge haben.

Bislang war nur von prinzipiellen Fragen der Abgrenzung die Rede. Hinzu kommen aber viele praktische Fragen, die nicht weniger schwierig sind. Hierzu gehören die Voraussetzungen für die Aufnahme von Ermittlungsverfahren, die Kompetenzen der internationalen Staatsanwaltschaft, die Finanzierung des StIStGH, das Verfahren, insbesondere das Beweisrecht etc. In all diesen Fragen gibt es noch große Divergenzen zwischen den Staaten. Klar ist jedenfalls, daß ein Statut für einen StIStGH keine Chancen auf Annahme hat, wenn nicht zugleich die Verfahrens- und Beweisregeln wenigstens in ihren Grundzügen vorliegen. Das Beispiel der ad hoc Gerichte, die die Vollmacht hatten, ihre Verfahrens- und Beweisregeln selbst auszuarbeiten und zu beschließen, wird auf den StIStGH nicht übertragbar sein.

Bemerkenswert an der jüngsten Entwicklung ist, daß man sich plötzlich wieder auf Nürnberg beruft. Das war über mehr als 35 Jahre nicht üblich. Vielfach und vielerorts – nicht zuletzt in der Bundesrepublik – war Nürnberg durchaus als Siegerjustiz verpönt, die gegen das Rückwirkungsverbot für Strafgesetze verstoße.21 Freilich ist die Berufung auf Nürnberg noch sehr selektiv. Sie klammert das Verbrechen gegen den Frieden aus und versucht, die individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit nur für einige internationale Verbrechen zu instrumentalisieren. Noch gibt es starke Kräfte, die zu verhindern suchen, daß ein internationales Strafgericht prinzipiell die Chance erhält, die Nürnberg hatte und auch wahrgenommen hat, nämlich in einem Strafprozeß gegen die Hauptschuldigen des Krieges, nicht nur einzelne Verbrechen abzuurteilen, sondern den kriminellen Charakter des Systems bloßzulegen, mit dessen Hilfe allein diese Verbrechen möglich waren und damit ein Stück staatlicher Verantwortlichkeit zu realisieren.

Trotz all der offenen Fragen ist es ein großer Fortschritt, an den vor fünf Jahren noch niemand geglaubt hätte, daß zum ersten Mal der Entwurf für einen StIStGH einer Staatenkonferenz vorgelegt wird, noch dazu ein Entwurf, der in vielen wichtigen Fragen auf den Nürnberger Prinzipien aufbaut. Es geht darum, einen Ständigen Internationalen Strafgerichtshof zu schaffen, der zu einem wichtigen Element der internationalen Sicherheit werden könnte und nicht für die politischen Zwecke eines Staates oder einer Staatengruppe manipuliert werden kann.

Literatur

Bassiouni, M. Cherif (1992): Crimes Against Humanity, in International Law, Dordrecht/Boston/London.

Hankel, Gerd /Gerhard Stuby (1995): Strafgerichte gegen Menschheitsverbrechen, Hamburg.

Heintschel v. Heinegg, Wolff (1996): Zur Zulässigkeit der Errichtung des Jugoslawien-Strafgerichtshofes durch Resolution 827 (1993), in: 9 Humanitäres Völkerrecht, S. 75.

Jescheck, Hans-Heinrich (1952): Die Verantwortlichkeit der Staatsorgane nach Völkerstrafrecht, Bonn.

Taylor, T. (1992): The Anatomy of the Nuremberg Trials, New York.

Triffterer, Otto (1994): Möglichkeiten und Grenzen des internationalen Tribunals zur Verfolgung der Humanitätsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien, ÖJZ, S. 825.

Anmerkungen

1) Resolution der Generalversammlung 51/207 vom 17.12.1996. Zurück

2) Resolution des Sicherheitsrates 827 vom 25. Mai 1993, dt. Text des Statuts in: G. Hankel/G. Stuby, Strafgerichte gegen Menschheitsverbrechen, Hamburg 1995, S. 525. Zurück

3) Resolution des Sicherheitsrates 955 vom 8. November 1994. Zurück

4) Daran erinnern heute Aussprüche von Politikern, die den Besitz von Kernwaffen als Kriterium der Souveränität bezeichnen. Zurück

5) Lüder in Holtzendorffs Handbuch des Völkerrechts, Hamburg 1889, S. 198 f.; vgl. Liszt-Fleischmann, Das Völkerrecht, Berlin 1925, S. 466. Zurück

6) Vgl. zu dieser Periode H-H. Jescheck, Die Verantwortlichkeit der Staatsorgane nach Völkerrecht, Bonn 1952, S. 29 ff. Zurück

7) Deutscher Text der Deklaration über die Prinzipien des Völkerrechts betreffend die freundschaftlichen Beziehungen und die Zusammenarbeit zwischen den Staaten in Übereinstimmung mit der Charta der Vereinten Nationen, in: Völkerrecht, Dokumente Teil 3 Berlin 1980, S.709. Zurück

8) Vgl. die Dokumentation in: Internationaler Militärgerichtshof in Nürnberg, Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher, Nürnberg 1947, Bd. I S. 7 ff. Andere Kriegs- und Menschlichkeitsverbrechen wurden aufgrund des Kontrollratsgesetzes Nr. 10 und landesrechtlicher Strafbestimmungen verfolgt. Zurück

9) Während in Nürnberg nur die USA, Großbritannien, Frankreich und die Sowjetunion die Richter stellten, gehörten in Tokyo auch Richter aus Australien, China, Kanada, den Niederlanden, Neuseeland und den Philippinen dem Gericht an. Zurück

10) Wenn man von Martin Bormann absieht, der in Abwesenheit verurteilt wurde. Vgl. das Nürnberger Urteil in: Internationaler Militärgerichtshof in Nürnberg, Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. I, Nürnberg 1947, S. 189. Zurück

11) Vgl. Principles of International Law Recognized in the Charter of the Nürnberg Tribunal and in the Judgment of the Tribunal, in: The Work of the International Law Commission, New York 1988, S. 140. Zurück

12) Report of the International Law Commission 48th Session 1996, in Official Records of the General Assembly, A/51/10, Chapter II. Zurück

13) Report of the International Law Commission 46th Session 1994, in Official Records of the General Assembly, A/49/10, Chapter II, B I,5. Auch bei der Ausarbeitung des Statuts für das Jugoslawientribunal waren die Nürnberger Prinzipien eine wesentliche Grundlage, vgl. den Bericht des Generalsekretärs in: S/25704 vom 3. Mai 1993. Zurück

14) Inter-American Court of Human Rights: Advisory Opinion on International Responsibility for the Promulgation and Enforcement of Laws in Violation of the American Convention on Human Rights, in: 34 International Legal Materials (1995) 1188 (1201). Zurück

15) Vgl. den Text in: Report of the International Law Commission 43rd Session, Official Documents of the General Assembly A/46/10, Chapter IV. Zurück

16) Vgl. Anm. 12. Zurück

17) Seine enge Beziehung zu den Vereinten Nationen sollte durch besondere Vereinbarungen oder Regeln gesichert werden. Zurück

18) Dabei beruft man sich darauf, daß bereits in der Völkermord-Konvention die Möglichkeit eines Internationalen Strafgerichtshofes ins Auge gefaßt wird. Ein wenig überzeugendes Argument, das auch von vielen Staaten in Zweifel gezogen wird. Zurück

19) Vgl. A/49/10, S. 66 ff., die Artikel 20, 21, 22 sowie die Liste der in Betracht kommenden Verträge im annex II, S. 147. Zurück

20) Vgl. die ausführlichen Stellungnahmen der USA in: A/CN. 4/458/Add. 7 vom 24. Juni 1994 S. 20 und A/AC. 244/1 Add. 2 vom 31. März 1955, S. 7. Zurück

21) Aus diesem Grunde hat die Bundesrepublik einen Vorbehalt gegen Artikel 7, Abs. 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention geltend gemacht, der die Verurteilung von Personen für Handlungen nicht ausschließt, die im Zeitpunkt ihrer Begehung zwar nicht nach Landesrecht, wohl aber nach den allgemeinen von den zivilisierten Völkern anerkannten Rechtsgrundsätzen strafbar waren. Es wurde erklärt, daß diese Regelung mit Art. 103 Abs. 2 des GG unvereinbar sei.(Bulletin 1952,S. 1022) In seinem Beschluß vom 26. Oktober 1996 hat das BVerfG die Beschwerde über eine Verletzung des Rückwirkungsverbotes des ehemaligen DDR-Verteidigungsministers u. A. zurückgewiesen. Darin wird die Aufhebung des Rückwirkungsverbotes gerechtfertigt, wenn die Handlungen gegen allgemein anerkannte Menschenrechte in schwerwiegender Weise verstoßen. Damit geht das BVerfG weit über das hinaus, was aufgrund des Artikels 7, Abs. 2 der Menschenrechtskonvention gerechtfertigt werden könnte, ohne den Vorbehalt der Bundesrepublik zu Artikel 7 Absatz 2 auch nur zu erwähnen. Diese Rechtsprechung verstößt sowohl gegen Artikel 7, wie auch gegen Artikel 15 Abs. 1 des Paktes über politische und Bürgerrechte der UN. Zurück

Prof. em. Dr. Bernhard Graefrath lehrte Völkerrecht an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er war von 1986 bis 1991 Mitglied der UN-Völkerrechtskommission.