Altruismus oder Neokolonialismus?

Altruismus oder Neokolonialismus?

Umfang und Grenzen der belgischen Restitution von kongolesischem Kulturerbe

von Gracia Lwanzo Kasongo

Die Rückgabe (»Restitution«) kulturellen Erbes ist derzeit Gegenstand intensiver Debatten in den ehemaligen Kolonialstaaten. Die belgische Position gilt dabei als vorbildlich, da sie auf einem ganzheitlichen Ansatz beruht, der darauf abzielt, die kolonialen Sammlungen des Königlichen Museums für Zentralafrika in Frage zu stellen und alle unrechtmäßig erworbenen Güter zurückzugeben. Doch die Positionen, die in den Restitutionsdebatten weltweit und insbesondere in Europa eingenommen werden, scheinen immer noch eine Reihe von Fragen aufzuwerfen. Der vorliegende Artikel geht diesen Fragen nach.

Die Rückgabe des kulturellen Erbes ist derzeit Gegenstand intensiver Debatten in den ehemaligen Kolonialstaaten. Die belgische Position gilt als vorbildlich, da sie auf einem ganzheitlichen Ansatz beruht, der darauf abzielt, die kolonialen Sammlungen des Königlichen Museums für Zentralafrika (RMCA) in Frage zu stellen und alle auf unrechtmäßige Weise erworbenen Güter zurückzugeben. Die belgische Position wirft jedoch noch immer eine Reihe von Fragen auf. Um dies in einen zeithistorischen Kontext zu setzen: Die Black-Lives-Matters-Bewegung geht sogar so weit, die postkolonialen Beziehungen in Frage zu stellen, insbesondere in Bezug auf die strukturellen Konstruktionen von Ungleichheit und systemischem Rassismus, die von den ehemaligen Kolonialstaaten übernommen wurden. In Belgien war die Bewegung der Nachfahren afrikanischstämmiger Belgier*innen der Ausgangspunkt für die Politik der letzten fünf Jahre. Zu den dabei getroffenen Entscheidungen der Politik gehört die Einrichtung einer Sonderkommission, die die koloniale Vergangenheit beleuchten, die Beziehung zwischen dieser Vergangenheit und dem aktuellen Rassismus analysieren und die heikle Frage der Rückgabe aufwerfen soll (Rapport des Expertes 2021, S. 562).

Bis zu einem gewissen Grad konnte Belgien durch seine Restitutionspolitik sein Image von dem einer ehemaligen Kolonialmacht zu dem eines wesentlichen Partners beim Aufbau eines kongolesischen Kulturerbes durch das aktuelle Projekt der »Wiederherstellung« wandeln. Wie Paul Gilroy zeigt, verwenden ehemalige Kolonialstaaten das Konzept des Multikulturalismus, um angeblich Ungleichheiten zu bekämpfen, während es in Wirklichkeit darum geht, einen bestimmten Machtwillen zu bekräftigen. Diese Macht schwindet allmählich und verwandelt sich nun in eine gewisse Melancholie über die vergangene Herrschaft; sie drückt sich aus in einer subtilen Art und Weise, die Dinge zu beeinflussen, und damit Kontinuität in gegenwärtigen Bereichen der Zusammenarbeit herzustellen. In Fällen der Rückgabe ist es interessant zu beobachten, wie sich dieser Rollenwechsel innerhalb der politischen Strukturen und den bilateralen Verhandlungen zwischen den ehemals kolonisierten und kolonisierenden Ländern vollzieht.

Wie in diesem Beitrag analysiert werden soll, muss der belgische Ansatz immer noch hinterfragt werden: im Hinblick auf die Machtasymmetrien, die in den heutigen politischen Beziehungen und Verhandlungen über Artefakte aufrechterhalten werden; im Hinblick auf die ideologische Abkürzung zur Wiedergutmachung (»Reparation«), die er impliziert; im Hinblick auf seine neokolonialen Tendenzen.

Restitution: eine paradigmatische Abkürzung

Wenn es um Restitution geht, gibt es eine Reihe prominenter Fälle: die deutsche Debatte, die französische Debatte, die kanadische Debatte – und die belgische. Im Folgenden wird ein eher typischer Ansatz für »Restitution als Reparation« vorgestellt, wie er von den Franzosen verfolgt wird. Wir werden auf den Fall Frankreichs eingehen, weil er erstens das öffentliche Interesse an dieser Debatte in den Medien geweckt hat, obwohl die Debatte schon lange vorher existierte, und zweitens, weil der Sarr-Savoy-Bericht von 2018 ein Muss in der aktuellen Restitutionsdiskussion zu sein scheint und den belgischen Bericht von 2021 über ethische Grundsätze für die Verwaltung und Rückgabe von Kolonialsammlungen in Belgien inspiriert hat.

Im Oktober 2021 gab Frankreich 26 Werke an Benin zurück, darunter den Thron von König Ghézo, die sich als Schlüsselstücke für die Darstellung der Geschichte Benins erwiesen. Die Werke wurden einst dem Trocadero-Museum von General Alfred Amédée Dodds gestiftet, der an den Strafexpeditionen von 1892 teilgenommen hatte (Sarr und Savoy 2018, S. 45). Die Rückgabezeremonie wurde jedoch von einem Gefühl der Ungerechtigkeit überschattet, da der Präsident Benins, Patrice Talon, der Meinung war, dass 26 Werke erst der Anfang seien. Es gibt so viele Werke, die an Benin zurückgegeben werden müssen, wie der Gott Gou, ein Werk, das als emblematisch für den Gott der Metalle und der Schmiede gilt, sowie die Fa-Tafel, ein mythisches Werk der Wahrsagerei des berühmten Wahrsagers Guédégbé (Nyidiiku 2021).

Die Tatsache, dass Frankreich auswählte, welche dieser Werke zurückgegeben werden sollten, während sich der Antrag auch auf andere Werke bezog, beweist eine gewisse Asymmetrie in den Beziehungen zwischen ehemaligen Kolonisatoren und ehemaligen Kolonisierten. Die Tatsache, dass Frankreich ein »Ausnahmegesetz«1 erlassen hat, das eine offene und allgemeine Debatte über die unter kolonialen Bedingungen erworbenen oder gestohlenen Werke einschränkt, wirft die Frage nach den gegenwärtigen Beziehungen zwischen den ehemaligen Kolonialländern und den ehemaligen Kolonisierten auf, die immer noch kühl und halbherzig zu sein scheinen. Ein weiteres beredtes Beispiel für diese Konditionalität und Selektivität ist die Rückgabe des Schwertes von Omar El Hadj an den Senegal, die am 17. November 2019 in Dakar stattfand. In einem Dokumentarfilm von Nora Philippe (2021) über die Rückgabe von Kulturgütern stellt sie fest, dass diese Rückgabe an die Bedingung geknüpft war, dass Senegal den französischen Ansatz der Migrationspolitik übernimmt, zusätzlich zu Vereinbarungen über Waffenkäufe.

Die oben genannten Fälle zeigen die quasi neokoloniale Vorherrschaft, die selbst in Fragen der Dekolonisierung fortbesteht. Eve Tuck und K Wayne Yang haben auch auf die Gefahr hingewiesen, dass die Dekolonisierung auf eine Metapher reduziert wird. Die Tatsache, dass die Institutionen, die mit der Herausforderung der Entkolonialisierung konfrontiert sind, in der Lage sind, sich den Rückgabekampf anzueignen und dies auch bereitwillig tun, schmälert die Handlungsfähigkeit der Menschen ganz erheblich, die doch die Sache tragen und den Rückgabeprozess anführen sollten, weil sie den Wesenskern des langen Kampfes um die Rückgabe kennen. Diese Aneignung ermöglicht eine Veränderung des wahrgenommenen Status der Kolonialstaaten vom kolonialen Täter über den Unschuldigen zum Helden (Tuck und Yang 2012; Rosoux 2009). Kolonialstaaten ergreifen die Gelegenheit, Restitution zu einer Abkürzung zur Reparation zu machen, einem Akt, der das alte Image abwäscht, um die Gegenwart zu rehabilitieren und den ehemaligen Kolonialstaat als Partner bei der Rekonstruktion der afrikanischen Geschichte erscheinen lässt.

Nkinsi Nkonde: Ein bezeichnen­der Fall von Asymmetrie

Die Verhandlungen über die Rückgabe des kongolesischen Kulturerbes durch Belgien sind an sich nicht neu; sie waren möglich, als Ne kuko bereits 1878 bei den belgischen Kolonialbehörden die Rückgabe des Nkinsi Nkonde beantragte, eines Attributs der Macht, das ihm vom Offizier Alexandre Delcommune des sogenannten »Kongo-Freistaates« gestohlen worden war. Dieser Antrag, obwohl er nur ein Objekt und nicht eine ganze Sammlung betraf, ist ein aufschlussreicher Fall. Die Statue von Nkinsi Nkonde war Gegenstand von drei Rückgabeforderungen. Zunächst von Ne kuko selbst, dann 1973 von Mobutu vor der UNO und 2016 von Thronfolger Alphonse Kapita. Alle diese Anträge wurden abgelehnt (Couttenier 2018). Es wird immer noch im RMCA aufbewahrt, dem sogenannten »Afrikamuseum«. Diese Haltung zeigt, dass die Frage der Restitution nicht nur seit langem eine der Ungleichbehandlung ist, sondern auch die Relevanz der jeweiligen Sprecherposition der darin aktiven Akteure verdeutlicht.

In der Tat besteht derzeit die Tendenz, die Rückgabe auf den »Macron-Effekt« zu beschränken, der wohl am eindrücklichsten in dessen Rede 2017 an der Universität von Ouagadougou, Burkina Faso, zum Ausdruck kam (Elysée 2017). Als ob dies der Ausgangspunkt der Debatte über die Restitution des afrikanischen Kulturerbes wäre, obwohl es eine dichte Geschichte von viel älteren Forderungen gibt. Dieses Narrativ bedarf der Rekontextualisierung, die auch die Erzählungen der Akteure aus dem Süden einbezieht, die an der Entstehung dieser heutigen Debatte beteiligt waren, um die Frage der Restitution in umfassender Weise zu behandeln. Interessant ist auch die Feststellung, dass die rechtliche Struktur der Restitutionsfragen, selbst auf internationaler Ebene, von diesen kolonialen Konventionen der Selektivität und Konditionalität dominiert zu sein scheint, die den Verhandlungsansatz bis heute nicht erleichtern (Spitra 2020, S. 329ff.).

Historische und aktuelle Antworten Belgiens

In den 1950er Jahren wurden diese Eigenschaften der Selektivität und Konditionalität sogar als Rechtfertigung für die kolonialistische Haltung ausgegeben, die Sarah Van Beurden als »kulturelle Bevormundung« bezeichnet. Die Konservierung und Erhaltung der Kunst wurde als notwendige Reaktion auf die »Barbarei« der Kongolesen verstanden und übertrug sich so das Vorrecht für den Schutz des kongolesischen Erbes (Van Beurden 2015a). Dieses Verständnis wurde dadurch legitimiert, dass alte Praktiken der kulturellen Zyklizität als Akte der Zerstörung dargestellt wurden. Bestimmte Kulturgüter folgen traditionell Zyklen der Existenz, in denen sie manchmal zerstört werden. Dabei haben die westliche Kulturanthropologie, Museologie und Kulturpolitik die kulturellen Praktiken rund um diese Artefakte oft geflissentlich ignoriert und sie nur anhand ihres materiellen »Wertes« bemessen. Dieser »Wert« bedurfte dann des Schutzes vor Zerstörung und legitimierte daher die Verweigerung von Restitution (siehe für viele: Singleton 2020, S. 187, 194; Strother 2020).

Diese Haltung beeinflusste die Zeit unmittelbar nach der Unabhängigkeit in den 1960er Jahren, in der die ehemaligen Kolonisierten die Rückgabe von geraubten Kulturgütern als Symbol der Entkolonialisierung und als starken Ausdruck der Selbstbestimmung betrachteten (Van Beurden 2015a). Die Rückgabe von Kulturgütern an den Kongo wurde bei den Unabhängigkeitsverhandlungen mit Belgien 1960 am zweiten Runden Tisch thematisiert, bei dem es auch um die Rückgabe des Landguts Tervuren (auf dem das RMCA untergebracht ist) und eine Entschädigungssumme für den Bau des Bogens zum fünfzigjährigen Bestehen ging. Die DR Kongo vertrat die Auffassung, dass das RMCA mit Geldern aus der DR Kongo gebaut wurde. Die Vertreter*innen der DR Kongo wollten daher dieses Grundstück als Entschädigung übertragen bekommen. Die Debatte an diesem Tisch drehte sich eigentlich vor allem um die wirtschaftlichen Dimensionen des postkolonialen Staates: die Begleichung der Schulden, die Aufteilung des kolonialen Portfolios und damit die Beteiligung an den großen Unternehmen; die Belgier sprachen sogar an, dass sie eine Entschädigung für die »Verluste« gelten machen würden, die sie durch die Unabhängigkeit »erleiden« müssten.

In den Verhandlungen wurde die Rückgabe des kongolesischen Kulturerbes daher bereits 1960 offiziell angesprochen (Lejeune 1969, S. 558; Kikassa 1989). Die Antwort Belgiens auf dieses Ersuchen lautete jedoch, Kongo habe kein Anrecht auf das RMCA, da es sich bei diesem Museum nicht um Rechte und Pflichten handele, die aus dem früheren »Freistaat Kongo« erwuchsen. Das zweite Argument der Belgier war, dass sie auch zur Entwicklung der Kolonie beigetragen hatten (z.B. durch Ausstattung des Kongo mit Infrastruktur). Daher hielten sie die Forderung nach einer materiellen Entschädigung für unbegründet. Um die Forderung zu entschärfen und die Parteien davon abzubringen, erklärte Außenminister Harmel, dass das Museum von Tervuren gemeinsam von Belgien und dem Kongo betrieben werden würde.2 Doch auch dieses Versprechen wurde nicht eingehalten. Stattdessen kam es zu einer Zusammenarbeit im Rahmen einer Konvention3, hinter der sich ein reales Herrschaftsverhältnis und eine im Wesentlichen asymmetrische Beziehung zwischen dem Kongo und Belgien verbargen (Van Beurden 2015b, S. 12).

In den Jahren nach dem Aufstieg des Mobutu-Regimes fanden 1976 und 1982 zwei weitere Restitutionen statt. Belgien hat nur 114 Objekte an das neue IMNZ (Institut des Nationalmuseums von Zaïre) unter der Regierung Mobutu zurückgegeben.4 Damals wählte Belgien für diese Restitution das Wort »Schenkung«, was mit dem Narrativ der gewünschten Zusammenarbeit in der postkolonialen Ära zusammenpasste und Belgien das Recht einräumte selbst zu entscheiden, welche Güter zurückgegeben werden sollten und welche nicht. Diese Formulierung passte perfekt zu dem Bild, das es vermitteln wollte: das eines wohlwollenden, pater­nalistischen Ex-Kolonisators (Racine 2020).

Es stellte sich zudem heraus, dass die meisten der zurückgegebenen Stücke aus der Kolonialzeit von schlechter Qualität waren. Unter den an Präsident Mobutu übergebenen Gütern befand sich nur ein einziger Qualitätsartikel (Mumbembele 2021). Hier ist bereits die Umkehrung der oben beschriebenen Situation zu beobachten, die aus einer Situation der Zusammenarbeit bei der Restitution eine einseitige Rückgabe mit einer paternalistischen Haltung (»Spenden«) macht. In diesem Verständnis wird der Kongo zum Kind, dem geholfen werden soll, dieses »störrische Kind«, das die Unabhängigkeit wollte, ohne für die Bestimmung und Durchführung seiner Kulturpolitik ausreichend selbst verantwortlich sein zu können.

Der aktuelle belgische Ansatz: eine neokolonialistische Struktur?

In Belgien wird im politischen Diskurs der aktuellen Regierung derzeit die Idee eines bilateralen Abkommens entworfen. Das historische Bild dazu ist das des Premierministers Sama Lukonde, dem sein belgischer Amtskollege Alexander De Croo in Begleitung des Staatssekretärs für wirtschaftlichen Aufschwung Thomas Dermine die Inventurliste des im RMCA beherbergten Kulturerbes überreichte. In einem kürzlich mit Dermine geführten Interview schätzte er, dass der Gesetzes­entwurf über die Rückgabe die Etappe des Staatsrats durchlaufen und schließlich Ende April 2022 den Parlamentarier*innen zur Debatte vorgelegt werden könnte (Bouffioux 2022).

Bei der Durchsicht dieses Entwurfs eines möglichen Kooperationsabkommens wird deutlich, dass der Geltungsbereich der Verhandlungen nicht nur lediglich auf die Objekte des RMCA beschränkt ist, sondern aktiv und bewusst das Museum von Namur und das Museum L von Louvain la Neuve ausschließt, die ebenfalls koloniale Objekte besitzen, um nur einige zu nennen. In einem Artikel von Clementine Deliss (2020, S. 185) wird diese Idee der »Restitution durch begrenzte Vereinbarung« als ein parteiischer Ausdruck betrachtet, der die entscheidenden existenziellen Fragen umgeht, die im postkolonialen Kontext auf dem Spiel stehen. Dazu gehören die symbolische Gewalt, der systemische Rassismus und die gegenwärtig eklatanten Ungleichheiten in einer zunehmend globalisierten Welt, in der die Wut über diese systemische Gewalt überall wächst.

Ein bedeutender Fortschritt ist jedoch im belgischen Ansatz zu erkennen, auch wenn er gewisse Einschränkungen aufweist. Im Gegensatz zum französischen Ansatz sieht er die Rückgabe von Gegenständen aus den kolonialen Sammlungen des RMCA vor, wenn sich durch Provenienzforschung herausstellt, dass es sich um Raubgut handelt. Es werden Provenienzstudien durchgeführt, um die Legitimität oder Illegitimität des Besitzes der Werke zu belegen, damit ihre Rückgabe diskutiert werden kann. Doch auch die Definition der »Legitimität des Besitzes« ist umstritten, da die Kolonialzeit als »Zwangszeit« eingestuft wird und die Definition dessen, was legitim war und was nicht, weiterhin von der belgischen Politik festgelegt wird. Die Restitution wird also nicht die Güter betreffen, die als rechtmäßig erworben gelten.

Der belgische Ansatz für die Rückgabe scheint dabei immer noch von der gleichen Semantik geprägt zu sein wie während der Zusammenarbeit nach der Unabhängigkeit, als die Rückgabe von Werken an Mobutu als »Geschenk« betrachtet wurde. Zudem nimmt Belgien im aktuellen Rahmen den Inhalt der Restitution vorweg, indem es die effektive Rückgabe auf unrechtmäßig erworbene Güter beschränkt. Studien haben gezeigt, dass diese unrechtmäßig erworbenen Güter nur 1 % der gesamten Sammlung ausmachen. Darüber hinaus scheint die Strategie der Regierung darauf abzuzielen, den Akt der Rückgabe hauptsächlich symbolisch zu gestalten, d.h. das Eigentumsrecht an die Kongolesen zu übertragen und eine virtuelle Rückgabe der Sammlungen durchzuführen, ohne dass notwendigerweise der materielle Akt folgt oder die Güter an die Kongolesen übergeben werden (News Belgium 2021; Lwanzo Kasongo 2021). Diese eher symbolische Art der Rückgabe wird noch dadurch verstärkt, dass die Sammlung des RMCA von der belgischen Regierung aus dem öffentlichen in den privaten Bereich überführt werden kann, bis die Provenienzstudien abgeschlossen sind.

Auch wenn man sich einer Sprache der Zusammenarbeit bedient, bleibt der alte Ansatz der »Restitution als Geschenk« in dem aktuellen Ansatz erhalten, der behauptet, „die Wiederherstellung des kongolesischen Kulturerbes zu unterstützen“. Er stellt den Kongo immer noch als das Kind dar, dem geholfen oder das unterstützt werden muss, und Belgien als den guten Samariter. Dies weckt Erinnerungen an die Zusammenarbeit in den Jahren nach der Unabhängigkeit. Die Aufrechterhaltung dieses, wenn auch subtilen, Herrschaftsmodus erlaubt es nicht, die Restitution als einen gesellschaftlichen Transformationsprozess in seiner Globalität und Komplexität zu betrachten.

Anmerkungen

1) Ministerrat, Gesetzesdekret, 31. März 2022.

2) A.P., Senat, 1965-1966, Sitzung vom 26. Mai 1966.

3) Die Grundlage für diese Vereinbarung bildet das Abkommen von 1968, das die belgisch-kongolesischen Beziehungen grundlegend strukturierte. Die Vereinbarung sah vor, dass das RMCA eine Art wissenschaftlichen Markt erhielt und im Gegenzug sein Fachwissen dem IMNZ (Institut des Nationalmuseums von Zaïre) zur Verfügung stellte, das nach diesem Abkommen gegründet werden sollte.

4) Das IMNZ ist eine Einrichtung, die 1970 von Belgien und dem Kongo im Rahmen der gegenseitigen Zusammenarbeit geschaffen wurde. Die Einrichtung wurde in ihrer Anfangszeit von Lucien Cahen geleitet, der auch Direktor der RMCA war.

Literatur

Bouffioux, M. (2022): Restitution au Congo: Thomas Dermine détaille un «dispositif ambitieux». Paris Match, 7.3.2022.

Couttenier, M. (2018): EO.0.0.7943. BMGN – Low Countries Historical Review 133(2), S. 91-104.

Deliss, C. (2020): Forme rapide de restitution. Multitudes 2020/1, Nr. 78, S. 185-189.

Elysée (2017): Emmanuel Macron’s speech at the University of Ouagadougou. Elysee.fr, 28 November 2017.

Kikassa, F. (1989): Le contentieux belgo-congolais de 1960 à 1966. Zaïre-Afrique 29(237), S. 371-395.

Lejeune, Ch. (1969): Le contentieux financier Belgo-Congolais. Revue Belge de Droit International 5(2), S. 535-564.

Lwanzo Kasongo, G. (2021): Is Immaterial Restitution Enough? A Belgian Approach to the Human Right of Access to Cultural Heritage. Völkerrechtsblog, 3.11.2021.

Mumbembele, P. (2021): Provenance research: What is at stake for ethnographic collections? Video. AfricaMuseum YouTube channel.

News Belgien (2021): Approche pour la restitution des objets dans le cadre du passé colonial. 28.01.2022.

Nyidiiku, K. (2021): Restitution des œuvres: le Bénin entre fierté, frustration et espoir. Le Point, 13.11.2021.

Philippe, N. (2021): Restituer? L‘Afrique en quête de ses chefs d‘œuvres. Arte-Dokumentarfilm.

Racine, A. (2020): Histoire de la restitution d‘œuvres traditionnelles au Zaïre. Afrique, en regards (Open Edition Hypothèses), 27.7.2020.

Rapport des Experts (2021): Commission spéciale chargée d‘examiner l‘état indépendant du Congo et le passé colonial de la Belgique au Congo, au Rwanda et au Burundi, ses conséquences et les suites qu‘il convient d‘y réserver, Belgian House of Representatives (dekamer.be), DOC 55 1462/002, 26.10.2021.

Rosoux, V. (2009): Passé colonial et politique étrangère de la Belgique. Studia diplomatica, LXII, S. 133-155.

Slit Sarr, F. ; Savoy, B. (2018): Rapport sur la restitution du patrimoine culturel africain. Vers une nouvelle éthique relationnelle. Frankreich : Ministère de la culture.

Singleton, M. (2020): Quand „restitution“ égale „destitution“. Journal des antropologues 164-165, S. 185-203.

Spitra, S. M. (2020): Civilisation, protection, restitution: A critical history of international cultural heritage law in the 19th and 20th century. Journal of the History of International Law 22(2-3), pp. 329-354.

Tuck, E. ;Yang, K. W. (2012): Decolonization is not a metaphor. Decolonization: Indigeneity, Education & Society 1(1), S. 1-40.

Van Beurden, S. (2015a): Authentically African. Arts and the transnational politics of Congolese culture. Athens: Ohio University Press.

Van Beurden, S. (2015b): Restitution or cooperation? Competing visions of post-colonial cultural development in Africa. Global Cooperation Research Papers 12. Duisburg: Käte Hamburger Kolleg.

Gracia Lwanzo Kasongo ist Doktorandin an der UCLouvain. Ihr Forschungsinteresse gilt der postkolonialen Versöhnung und der Verhandlung der Restitution in den kongolesisch-belgischen Beziehungen.

Aus dem Englischen übersetzt von ­David Scheuing.

Religionen als Friedensressource


Religionen als Friedensressource

Es kommt darauf an

von Michael A. Schmiedel

Der folgende Essay erzählt in einem kurzen Durchlauf durch die Religionsgeschichte, welche Ressourcen Religionen für ein friedliches Miteinander der Menschen bereithalten. Dabei wird herausgestellt, dass es letztlich auf uns Menschen und unsere Interpretationen unserer Religionen ankommt, wie sehr diese Ressourcen genutzt werden können und welche Reichweite sie haben. Je nach Interpretation helfen Religionen, den Egoismus zu überwinden und Friedfertigkeit und Gewaltlosigkeit zu fördern oder ganz im Gegenteil Fanatismus und Grausamkeiten hervorzubringen.

Nicht selten hört man den Satz: Ohne Religionen wäre die Welt friedlicher. Wer so spricht, verweist auf die vielen Religionskriege und die Verfolgung Andersgläubiger durch religiöse Fanatiker, wobei der Fanatismus oft für untrennbar von Religion erklärt wird. Wer einer Religion anhänge, die mit bestimmten Lehrinhalten, Verhaltensregeln und religiösen Praktiken verbunden sei, der könne ja gar nicht anders, als alles als falsch, irrig oder böse anzusehen, was dem nicht entspricht. Wer anders glaube, der glaube falsch, und wer nicht glaube, sei in den Augen vieler Gläubiger gar kein richtiger Mensch.

Ja, tatsächlich fällt es nicht schwer, in der Religionsgeschichte Belege für diese Behauptungen zu finden, und auch die Gegenwart ist voll von Gotteskrieger*innen, Fundamentalist*innen und religiösen Terrorist*innen. Nachrichten von Geistlichen, die sich sexueller Übergriffe auf Schutzbefohlene schuldig machten, ergänzen das negative Bild von Religion als einer unfriedlichen, letztlich menschenverachtenden Art, die Welt zu betrachten und zu erklären. Also wäre die Welt ohne Religion friedlicher? „Ich glaube nicht“, sagt Perry Schmidt-Leukel im ARD-Beitrag »Woran glaubt Deutschland«, „denn dann gäbe es ja immer noch uns“.1

Worauf Schmidt-Leukel da hinweist, ist das Faktum, dass das Unfriedliche, das auch in Religionen zu Tage tritt, seine Wurzeln in uns hat, in uns Menschen oder in der menschlichen Natur. Diese Natur bricht sich Bahn und sucht Wege, sich auszuleben, ob mit oder ohne Religion. Wir Menschen sind also nicht böse, weil wir gläubig sind, sondern Religionen enthalten Böses, weil sie menschlich sind. Nun wird aber jeder Mensch einwenden, dass wir Menschen doch nicht nur böse seien, und ja, das Wörtchen »nur« habe ich ja gar nicht verwendet, sondern schlage stattdessen das Wort »auch« vor. Wir Menschen sind gut und auch böse, und so enthalten auch unsere Religionen Gutes und auch Böses. Woher wir Menschen diese beiden Seiten unseres Charakters haben, sei dahingestellt. Man kann es mit Gott und Teufel oder mit natürlichen, evolutionär entwickelten Anlagen erklären oder andere Mythen bemühen – Fakt ist, wir sind fähig zu Gewalt und Grausamkeit, aber auch zu Friedfertigkeit und selbstloser Liebe.

Und so spiegelt es sich auch in den Religionen wider, ganz ungeachtet ihrer in den Augen der Gläubigen göttlichen, transzendenten, übernatürlichen Herkunft. Die Religionen mögen verstärken, was in uns ist, aber sie erschaffen es nicht. Wer zu Gewalt und Grausamkeit neigt, findet ihm*ihr genehme Rechtfertigungen in seiner Religion, und wer zu Friedfertigkeit und selbstloser Liebe neigt, ebenso. Und in beiden Fällen gibt diese Rechtfertigung dem schon vorhandenen Trieb eine Sanktion, eine Heiligung, die diese menschlichen Triebe mit einer Aura des Heiligen umgibt und sie über jede Kritik und jeden Zweifel erhaben macht.

Ein Gang durch die Religionsgeschichte

Nun möchte ich aber eine These wagen: Die Sanktionierung von Friedfertigkeit und selbstloser Liebe in den Religionen ist ursprünglicher als die von Gewalt und Grausamkeit. Diese These möchte ich gar nicht theologisch belegen, sondern anthropologisch und ein wenig philosophisch. Auch ohne die religiöse Annahme einer transzendenten Herkunft religiöser Lehren kann man davon ausgehen, dass Menschen, wann auch immer unsere Vorfahren damit anfingen, religiöse Ideen nicht entwickelt haben, um sich oder anderen zu schaden. Die ältesten als religiös zu interpretierenden Artefakte sind Gräberfunde aus dem Mittelpaläolithikum vor 34.000 bis 200.000 Jahren. Grabbeigaben zeugen davon, dass die Menschen an ein wie auch immer vorgestelltes Leben nach dem Tode glaubten. Wem man etwas zum jenseitigen Gebrauch mitgibt, dem will man aber nichts Böses. Durch die Grabbeigaben bezeugten die Hinterbliebenen dem Verstorbenen Liebe oder zumindest Respekt, also eine ihm Wohlwollen zollende Einstellung. Religion hatte, was ihre Ethik anging, also ihren Sitz im Miteinander von Menschen, das idealerweise so zu gestalten war, dass sie gut miteinander auskamen, auch über den Tod hinaus.

Die Menschengruppen, um die es damals ging, waren indes kaum größer als 50 bis 100 Individuen. Solidarität war zunächst innerhalb dieser kleinen Gemeinschaften zu pflegen, denn man war zum Überleben aufeinander angewiesen. Die Beisetzung von Verstorbenen und die Verehrung von Ahnen flocht eine Verbindung über die aktuell Lebenden hinaus und schuf eine Verpflichtung auch den Ahnen gegenüber, denen man das Leben letztlich verdankte. Das Verhältnis zu anderen Menschengruppen war sicher anders, sie waren Fremde, Andere, mit denen man aber auch möglichst friedlich lebte, zumindest so lange, wie es für die eigene Gruppe von Vorteil war. Oft waren sie aber auch Konkurrent*innen um Lebensressourcen, wie Wasser, Nahrung, Siedlungsplätze. In Krisensituationen schlug der Stress dann auch in Gewalt über, so wie auch innerhalb der Gruppe Streit ein Normalfall war, wie man es ja auch an Primaten beobachten kann. Wie religiöse Vorstellungen in solchen Konfliktsituationen zum Tragen kamen, ist mangels schriftlicher Überlieferungen nicht bekannt.

Die Verschriftlichungen, die in der zweiten Hälfte des ersten vorchristlichen Jahrtausends einsetzten, geben uns eine Vorstellung vom religiösen Leben dieser Jahrhunderte. Zugleich sind die ab dieser Zeit entstandenen religiösen Schriften zumindest teilweise noch heute Heilige Schriften für die Gläubigen der Religionen, die sich damals formierten. In diesen Schriften finden wir nun unter anderem auch religiös sanktionierte ethische Gebote, die Vergehen erwähnen, die vorkamen, obwohl sie verboten waren. Wären sie nicht vorgekommen, hätte man sie nicht zu verbieten brauchen, aber auch nach dem Verbot gab es immer wieder Übertretungen. Solche Taten waren zum Beispiel das Lästern der obersten heiligen Instanz, also der Götter, des einen Gottes, des Buddha oder der Ahnen, das ungerechtfertigte Töten von Menschen, das Stehlen, das Lügen oder sexuelle Handlungen außerhalb sanktionierter Rahmenbedingungen.

Religionen waren bis zur Mitte des ersten vorchristlichen Jahrtausends unlösbar mit ethnischen und/oder politischen Gesellschaften verbunden. Doch diese Gesellschaften hatten sich inzwischen vergrößert, Städte und Flächenstaaten waren entstanden und mit ihnen auch die Gruppe von Menschen, denen die Solidarität gelten sollte. Könige konzentrierten religiöse Verehrung manchmal auf sich oder ihr Amt, was für die von ihnen regierten Gesellschaften Stabilität und Frieden garantieren sollte. Andere Städte und Staaten galten noch nicht als dazugehörig, sondern als Konkurrenten oder gar Feinde, bestenfalls als Bündnispartner gegen gemeinsame Feinde. Aber der Handel verband sie auch miteinander, und befriedete Handelswege nützten allen Beteiligten.

Mit dem Buddhismus und dem Jainismus kamen die ersten bis heute existierenden, vom Ansatz her internationalen, also ethnisch und politisch nicht gebundenen Religionen in die Menschheit. Religionswissenschaftlich spricht man hier von Universalreligionen im Gegensatz zu den bis dato alleine üblichen Volksreligionen. Und doch waren auch sie nicht völlig unabhängig von den Staaten, auf deren Territorium sie existierten. Die Könige von Magadha und Kosala hatten den religiösen Orden zwar intern eine eigene Gerichtsbarkeit zugesprochen, doch durften diese keine Männer als Mönche aufnehmen, die vom staatlichen Gesetz verfolgt wurden. Die vom Buddha, aber sicher nicht nur von ihm, gelehrte Ethik indes galt gleichermaßen für Fremde wie für Landsleute, ja, er empfahl, überhaupt kein lebendes Wesen zu schädigen, also auch keine Tiere oder Geister, deren Existenz selbstverständlich vorausgesetzt wurde; andernfalls habe man mit negativen karmischen Folgen, etwa mit einer ungünstigen Wiedergeburt zu rechnen. Man solle nicht nehmen, was einem nicht freiwillig gegeben wurde, keinen Sex mit Abhängigen praktizieren, weder lügen noch unsinnigen Klatsch von sich geben und keine berauschenden Getränke zu sich nehmen. Diese fünf Verhaltensrichtlinien, die fünf Silas, bilden bis heute die Basis buddhistischer Ethik, egal in welchem Land die Buddhist*innen leben, wenn auch die Interpretationen dieser Regeln unterschiedlich ausfallen können, je nach buddhistischer Schulzugehörigkeit. Für Mönche und Nonnen wurden noch ausgefeiltere Ordensregeln, der Vinaya, entworfen.

Der zur gleichen Zeit aus der brahmanischen oder vedischen Religion entstandene Hinduismus beziehungsweise die Hindu-Religionen, als die man sie wegen ihrer Vielfalt heute lieber bezeichnet, erschufen mit dem Varnash­rama-System aus vier oder fünf Kasten und vier Lebensstadien für die männlichen Angehörigen der drei obersten Kasten ein vergleichsweise starres gesellschaftliches System, das für jede Kaste (Varna) und jedes Lebensstadium (Ashrama) eigene Verhaltensregeln vorsah. Gewalt wurde hinduistisch nie völlig abgelehnt, aber in eine Art Monopol der Kshatriyas, der Kriegerkaste, kanalisiert. Und doch entwickelte ein Kshatriya-Angehöriger, der unter dem Namen Mahatma Gandhi berühmt wurde, aus der eigentlich keineswegs pazifistischen Bhagavad Gita heraus eine Hochschätzung des Ahimsa-, also Nicht-verletzen-Prinzips, das ihn zu seinem passiven Widerstand gegen die britische Kolonialverwaltung motivierte. Man sieht an diesem Beispiel sehr deutlich, dass es viel mehr auf die Interpretation Heiliger Schriften ankommt als auf diese selber, denn Anhänger der religio-nationalistischen Hindutva-Bewegung, aus der sich auch die derzeitige indische Regierung rekrutiert, interpretieren die »Gita« ganz anders. Für sie ist sie eine Schrift der Hindus gegen andere, in Indien fremde Religionen.

In China erwuchsen ebenfalls um die Mitte des ersten vorchristlichen Jahrtausends aus der traditionellen, sehr an natürlichen und landwirtschaftlichen Rhythmen orientierten Religion der Konfuzianismus und der Daoismus. Immer wieder in Konkurrenz zueinander und zum aus Indien importierten Buddhismus, aber oft auch einander ergänzend, geradezu komplementär, motivierten sie die Chinesen zu einer Lebensweise, die an natur-spirituellen und traditionellen Gegebenheiten orientiert war. Die Menschen versuchten, sich den Gesetzen der Natur, so wie sie sie verstanden, anzupassen, damit sie mit ihr in Harmonie leben konnten. Und ständig hielten sie die Verbindung zu den Ahnen, die ein Teil des Kollektivs blieben. Noch heute werden ihnen Gebrauchsgegenstände und spezielle Geldscheine aus Papier geopfert, indem man diese verbrennt. Die Achtung vor dem Alter, vor Eltern und Vorgesetzen ist vor allem konfuzianisch eine Basis der Ethik.

Ebenso in dieser Zeit warnten Propheten des Volkes Israel, seinem Gott treu zu bleiben und sich nicht in den Gebräuchen anderer Völker zu verlieren. Die Thora wurde im und nach dem Babylonischen Exil verschriftlicht und auf die Zeit Mose zurückprojiziert, um eine ungebrochene Tradition zu betonen. Die Ethik der zehn Gebote war zunächst eine innerethnische, die das ethnospezifische Verhältnis zwischen Gott und Israel und unter den Israeliten regeln sollte. Keinen fremden Gott anzubeten, den Namen (des eigenen) Gottes zu ehren, den Schabbat als wöchentlichen Ruhetag zu halten, Vater und Mutter zu ehren, keine anderen Menschen – also zunächst vor allem Israeliten – zu ermorden, zu bestehlen, zu belügen, die eigene und die Ehe der anderen sowie das Eigentum anderer Leute zu achten bilden die Basis dieser Ethik, die dann schon in der Thora, aber auch im Talmud ausgebaut, kommentiert, interpretiert und vielfach diskutiert wurde und bis heute wird. Dass Menschen die göttlichen Gebote unterschiedlich verstehen und man im Diskurs miteinander dem Gemeinten näher kommt, als wenn man für sich alleine darüber brütet, ist eine Einsicht, die die Juden zu einer theologischen Streitkultur entwickelten, die in der gesamten Religionswelt der Menschheit ihresgleichen sucht. Auch diese anfänglich reine Volksreligion brachte Denker hervor, die die Grenzen sprengten und menschheitlich dachten, zum Beispiel indem sie dem mosaischen Bund Gottes mit dem Volk Israel den abrahamischen Bund mit allen semitischen Völkern und den noahischen mit allen Menschen vorschalteten. Und doch blieb das Judentum eine Religion der Geburtszugehörigkeit, von Ausnahmen der Konversion von anderen Religionen ins Judentum abgesehen.

Aus dem Judentum erwuchs das Christentum und bestimmte im Folgenden unsere Zeitrechnung. Die im Judentum postulierte Liebe des Menschen zu Gott und zum Mitmenschen, dem »Nächsten«, wurde bei Jesus von Nazareth zum Mittelpunkt der Ethik. In der Annahme, bis zum Jüngsten Tag sei es nicht mehr lange, richteten die Anhänger*innen Jesu und die ersten Christ*innen ihr Leben auf das für sie Wesentliche aus, nämlich die Vorbereitung auf das Endgericht und das ewige Leben. Grenzen der ethnischen Zugehörigkeit wurden dabei unwichtig. Allein wichtig wurde der Glaube und eine an ihm orientierte Lebensweise. Doch im Laufe der Jahrhunderte wurde vor allem das westliche Christentum eine der Welt sehr zugewandte Religion, die in Form von Mönch- und Nonnentum, von Mission und Caritas Landschaften für die Menschen umformte, diese auf die nächste Welt vorbereitete, ihnen aber auch im Diesseits seelische und körperliche Fürsorge zukommen ließ. Calvins Prädestinationslehre lehrte eine Vorherbestimmung aller Menschen für Himmel oder Hölle, die nicht durch Werke verdient werden könne, vielmehr das Ergebnis reiner Gnade Gottes, aber am wirtschaftlichen Wohlstand erkennbar sei. Sie ermunterte die Gläubigen zu harter ökonomischer Arbeit, führte also durch die Hintertür die eigentlich abgelehnte Werkgerechtigkeit doch wieder ein und beförderte dadurch das Entstehen des Kapitalismus. Das östliche Christentum dagegen legte seinen spirituellen Schwerpunkt auf eine Vergeistigung des Menschen durch Kontemplation und Sakramente.

Im 7. Jahrhundert christlicher Zeitrechnung verband der Islam abrahamitisches Erbe und arabisches Stammesdenken zu einem kompromisslosen Monotheismus, der einen Gott lehrte, der vom Menschen absolute Hingabe erforderte und dem Diesseits nur die Rolle der Vorbereitung auf das Jenseits zubilligte. Solidaritätsverpflichtungen galten zunächst anderen Gläubigen der eigenen und verwandter Religionen gegenüber, waren aber von Anfang an unabhängig von der ethnischen Zugehörigkeit. Die Selbsterziehung zu einem guten, Gott gehorsamen Menschen spielte als große Anstrengung, als großer Dschihad, eine zentrale Rolle. Völlig pazifistisch war der Islam aber genauso wenig wie das Judentum oder der Hinduismus, sondern Verteidigung des Lebens, der Familie und des Glaubens waren als kleiner Dschihad erlaubt und mitunter auch Pflicht.

Allgemeine Erkenntnisse

Die religiöse Kreativität der Menschen hörte mit diesen Religionen keineswegs auf, sondern formte diese immer wieder um und ließ auch noch viele neue entstehen, auf die ich hier aus Platzgründen nicht näher eingehen kann. Stattdessen will ich noch ein paar allgemeine Worte versuchen.

Bei allen Unterschieden zwischen den Religionen lassen sich in Bezug auf unsere Fragestellung, welche Friedensressourcen sie uns Menschen bieten, aber auch ein paar Gemeinsamkeiten nennen:

Erstens wird überall der Mensch in größere Zusammenhänge gestellt, denen er nur gerecht werden kann, wenn er sein Ego relativiert, also in Beziehung zu eben diesen größeren Kontexten stellt. Egal ob die Existenz einer ewigen Seele gelehrt wird oder nicht, ob der Hauptfokus auf dem Diesseits oder dem Jenseits liegt, ob ein Gott oder mehrere Gottheiten geglaubt werden oder das Konzept »Gott« keine heilsrelevante Größe darstellt, immer geht es darum, das Ich einzubetten in und auszurichten auf Wichtigeres und Egoismus und Egozentrismus zu überwinden. Überall finden wir spirituelle Übungswege, die dem Gläubigen dabei helfen, ihm aber auch einiges abverlangen. Der friedliche oder gar fürsorgliche Umgang mit anderen Menschen, die Ethik, die Sittlichkeit ist immer ein wichtiger Teil dieses Weges.

Zweitens hängt sehr viel oder gar alles davon ab, wie der oder die einzelne Gläubige die Lehren der eigenen Religion interpretiert. Dazu gehört auch die Frage, wer der Nächste, wer Freund, wer Feind ist, ob die Verpflichtung zu Solidarität, Nächstenliebe, Menschenliebe, Mitgefühl an den Grenzen der eigenen ethnischen oder religiösen Gemeinschaft aufhört oder über sie hinausgeht, ob Andersgläubige auch Gläubige oder Ungläubige sind, ob man die eigene Religion mit Gewalt verbreiten darf oder nicht oder ob man sie vielleicht gar nicht verbreiten darf und so weiter. In allen Religionen gab und gibt es viele einander widersprechende Interpretationen. Hier sind die Intelligenz, die Vernunft, auch die emotionale Intelligenz und das Verantwortungsbewusstsein und -gefühl aller Gläubigen und Praktizierenden in den und außerhalb der Religionsgemeinschaften gefragt. Dazu muss natürlich auch jeder für sich klären, wie autonom er beim Finden der richtigen Interpretation sein darf oder wieviel er unhinterfragt übernehmen muss, wobei man das »darf« und das »muss« hier auch austauschen kann. Was einer als Freiheit empfindet, zum Beispiel wählen zu dürfen, empfindet ein anderer als Zwang, zum Beispiel wählen zu müssen. Auch Gehorsam gegenüber Autoritäten empfindet mancher als Zwang, ein anderer aber als Freiheit von der Last der eigenen Verantwortung.

Die vielen zu beobachtenden Gewaltakte im Namen einer Religion kann man so gesehen einerseits als eine Verweigerung ansehen, das eigene Ich in größere Zusammenhänge zu setzen und den Egoismus zu überwinden, andererseits aber findet gerade dies doch statt, aber es werden andere Schlüsse daraus gezogen. Nicht wenige religiös motivierte Gewalttäter*innen opfern sich dabei auch selber, was ja normalerweise das Gegenteil von Egoismus ist. Es sei denn, man projiziert die eigene egoistische Gier nach Glück und Heil so ins Jenseits, dass man meint, grade dieses durch Gewaltakte erreichen zu können. Die hier wichtige Unterscheidung kann man von außen aber niemandem abnehmen, da ist innerreligiöse theologische Arbeit vonnöten, aber auch wirtschaftliche und politische Akteure sind gefragt, für eine friedliche Interpretation günstige Rahmenbedingungen zu schaffen. Wer sich wirtschaftlich und politisch wohl fühlt, neigt selten zu Gewalt, auch nicht zu religiös motivierter.

Ich beende diesen Essay mit einem Gedanken von Boethius, der sich im ostgotisch besetzen Italien des 6. Jahrhunderts mit Hilfe der Philosophie mit seinem Schicksal versöhnte, unschuldig eingesperrt zu sein. Seinen Groll auf die Bösen, denen es doch scheinbar so gut gehe, überwand er mit dem Gedanken, dass doch eigentlich jeder das Gute wolle. Das sei der sehnlichste Wunsch aller Menschen. Wer nun aber Böses tue, um das Gute zu erreichen, erreiche das Gegenteil, nämlich das Böse. Und so erreiche ein solcher Mensch sein eigenes Ziel nicht, auch wenn es ihm vordergründig gut gehe. Boethius gehe es nun vordergründig schlecht im Gefängnis, aber sein Ziel, das Gute, habe er erreicht, also gehe es ihm doch richtig gut. Das ist ein Beispiel, wie es auch in vielen Religionen gelehrt wird, sein eigenes kleines Ich in größere Zusammenhänge zu stellen und so den eigenen Glauben zu einer Ressource des Friedens zu machen.

Anmerkung

1) Interview in dem Film »Was glaubt Deutschland? (1): Die Gewalt, der Frieden und die Religionen« von Bernd Seidl und Claus Ha­nischdörfer, erstmals ausgestrahlt im Ersten am 13.6.2017, zur Verfügung in der ARD-Mediathek bis zum 12.06.2018. Die zitierte Stelle kommt in der Minute 43.

Literatur

Die folgende Liste zeigt eine Auswahl der im Hintergrund meines Denkens für diesen Essay mitschwingenden Literatur:

Antes, P. (2006): Grundriss der Religionsgeschichte – Von der Prähistorie bis zur Gegenwart. Stuttgart: Kohlhammer, Theologische Wissenschaft 17.

Berger, P.L. und Luckmann, T. (2010): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Frankfurt a.M.: S. Fischer, 23. Aufl. (1. Aufl. 1969).

Bischof, F.X.; Bremer, T.; Collet, G.; Fürst, A. (2012): Einführung in die Geschichte des Christentums. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.

Boethius (2010): Trost der Philosophie. Hrsg. von Marie Luise Gothein, aus dem Lateinischen von Eberhard Gothein. Köln: Anaconda.

Bowker, J. (Hrsg.) (1999): Das Oxford-Lexikon der Weltreligionen. Für die deutschsprachige Ausgabe übersetzt und bearbeitet von Karl-Heinz Golzio. Düsseldorf: Patmos.

Clart, P. (2009): Die Religionen Chinas. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht/UTB, Studium Religionen.

Deutsche Vereinigung für Religionswissenschaft (Hrsg.) (2003): Zeitschrift für Religionswissenschaft Nr. 11, Religion und Gewalt: Diagonal-Verlag, Marburg. Mit Beiträgen von Kollmar-Paulenz, K.; Prohl, I.; Bretfeld, S.; Schlieter, J.; Deeg, M.; Kleine, C.

Eliade, M. (1992/93): Geschichte der religiösen Ideen. 4 Bände. Freiburg, Basel, Wien: Herder (1. Auflage 1978-1983).

Freiberger, O.; Kleine, C. (2011): Buddhismus – Handbuch und kritische Einführung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Hasenfratz, P. (1990): Die antike Welt und das Christentum. Menschen, Mächte, Gottheiten im römischen Weltreich. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.

Hick, J. (2002): Gott und seine vielen Namen. Frankfurt a.M.: Lembeck (2. Auflage).

Jaspers, K. (1949): Vom Ursprung und Ziel der Geschichte. München: Piper.

Küng, H.(1990): Projekt Weltethos. München: Pieper.

Meier, J. (2007): Judentum. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Mensching, G. (1959): Die Religion – Erscheinungsformen, Strukturtypen und Lebensgesetze. Stuttgart: Kurt E. Schwab.

Michaels, A. (1998): Der Hinduismus. München: Beck.

Müller-Karpe, H. (1998): Grundzüge früher Menschheitsgeschichte – Anfänge bis 3. Jahrtausend v. Chr. 5 Bde. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.

Schimmel, A. (2010). Der Islam – Eine Einführung. Stuttgart: Reclam.

Tworuschka, M. und U. (2007): Die Welt der Religionen. Reihe in 6 Bänden. Gütersloh, München: Wissen Media Verlag.

von Foerster, H.; von Glasersfeld, E.; Hejl, P.M.; Schmidt, S.J.; Watzlawick, P. (2003): Einführung in den Konstruktivismus. München: Pieper, 7. Aufl.

Dr. Michael A. Schmiedel ist Religionswissenschaftler und tätig als Lehrkraft für besondere Aufgaben in der Abt. ev. Theologie der Universität Bielefeld. Er ist ehrenamtlich tätig u.a. bei Religions for Peace, beim Bonner Institut für Migrationsforschung und interkulturelles Lernen und im Interreligiösen Friedensnetzwerk Bonn und Region sowie als Musikjournalist für die Zeitschrift «Folker«.

Jugendrevolte oder radikalisierter Islam?


Jugendrevolte oder radikalisierter Islam?

Zur Attraktivität des Salafismus

von Götz Nordbruch

„Die Islamwissenschaft als Kampfsport“ – so umschreibt Leyla Dakhli die heftige Kontroverse, die unter französischen Islam- und Nahostwissenschaftlern über die Ursachen der dschihadistischen Anschläge in Europa entbrannt ist (Dakhli 2016). Die Vehemenz der Debatte macht die Schwierigkeit deutlich, die Faszination radikaler islamischer Strömungen unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu erklären und Ansätze zu formulieren, um ihr politisch und pädagogisch zu begegnen. Die in dieser Diskussion ausgetauschten Argumente sind gerade auch für den deutschen Kontext interessant.

In der Debatte um die Ursachen der dschihadistischen Anschläge in Europa geht es im Kern um die Frage nach den religiösen und sozialen Hintergründen religiös begründeter Gewalt und deren Bezüge zur hiesigen Gesellschaft. Oliver Roy, eine der profiliertesten Stimmen in der Diskussion, beschreibt die Faszination für dschihadistische Strömungen als Ausdruck einer „Islamisierung der Radikalität“ und wendet sich damit ausdrücklich gegen eine Suche nach den Ursachen in der Religion (Roy 2015). Die Radikalität selbst sei nicht neu, äußere sich aber in der jüngeren Vergangenheit in religiösem Gewand. Das Phänomen der europäischen Dschihadisten lässt sich aus seiner Sicht vor allem als Jugendrevolte verstehen, in der insbesondere Jugendliche der zweiten Einwanderergeneration einen Konflikt mit den Eltern und der Gesellschaft austragen. Der Bezug zum Islam ist danach oberflächlich und komme ohne tiefere Kenntnis der religiösen Traditionen und Glaubenslehren aus. So sieht Roy in den europäischen Anhängern des so genannten Islamischen Staates oder der Nusra-Front Parallelen zu terroristischen Strömungen, wie der Roten Armee Fraktion der 1970er und 1980er Jahre, die in ähnlicher Weise von innergesellschaftlichen Generationskonflikten geprägt gewesen seien.

Tatsächlich findet sich unter den europäischen Dschihadisten eine große Zahl junger Erwachsener, die in ihrer Kindheit und Jugend nicht religiös sozialisiert wurden und sich erst in der Begegnung mit entsprechenden Szenen für die Religion interessierten. Auffallend ist bei vielen das Fehlen grundlegender Kenntnisse der islamischen Traditionen und Praktiken. Die Hinwendung zu radikalen Strömungen erscheint vor diesem Hintergrund weniger als Folge einer schrittweisen Radikalisierung religiöser Überzeugungen denn als Ausdruck eines ebenso abrupten wie radikalen Neuanfanges.

Dennoch betont Gilles Kepel, wie Roy einer der prominentesten französischen Nahostwissenschaftler, in der aktuellen Debatte die historischen und ideologischen Bezüge des Dschihadismus zu früheren islamistischen Organisationen, die seit den 1920er Jahren im Nahen Osten entstanden und seit den 1990er Jahren zunehmend dschihadistische Formen angenommen haben. Die Popularität des Salafismus, die Kepel insbesondere in den Banlieues der französischen Großstädte ausmacht, speist sich aus seiner Sicht nicht aus einem generationellen Konflikt, sondern steht für einen „kulturellen Bruch“ mit der Gesellschaft, der ausdrücklich auch den ideologischen Vorstellungen und theologischen Traditionslinien dieser Strömung geschuldet sei (Kepel 2015). So lasse sich die Faszination literalistischer und gewaltbereiter Islamvorstellungen ohne eine Auseinandersetzung mit theologischen Konzepten wie dem »Dschihad« und der Geschichte des Islamismus nicht erklären. Damit rücken die Einflüsse diverser islamistischer Strömungen in der muslimischen Welt in den Fokus – sowie die Frage nach religiösen Praktiken und Überzeugungen, die eine Gewaltbereitschaft befördern könnten.

Die Argumente, die von Roy und Kepel vorgetragen werden, stehen nur in einem scheinbaren Widerspruch. Die Breite des salafistischen Spektrums und die Vielfalt der darin vertretenen Biographien illustrieren die Vielschichtigkeit individueller, sozialer, religiöser und politischer Faktoren, die eine Hinwendung zur salafistischen Ideologie befördern können (u.a. Frindte et al. 2016).

Salafismus in Deutschland

Die salafistische Szene in Deutschland ist keineswegs einheitlich. Von einzelnen Predigern, die die salafistische Ideologie im Jahr 2004 erstmals in einer breiteren Öffentlichkeit propagierten, hat sich die Szene innerhalb weniger Jahre zu einem bundesweiten Phänomen mit Dutzenden Leitfiguren entwickelt.

Dabei lassen sich im Wesentlichen drei Strömungen ausmachen, die sich bei allen ideologischen Gemeinsamkeiten in wichtigen Fragen unterscheiden (u.a. Abou Taam et al. 2016). Gemeinsam ist ihnen die Orientierung an einer idealisierten Frühzeit des Islam, also daran, wie der Islam nach ihrem Verständnis vom Propheten Muhammed und seinen Anhängern gelebt wurde. Dies spiegelt sich u.a. in einem literalistischen Zugang zu den religiösen Quellen, d.h. des Korans und der Erzählungen aus dem Leben Muhammeds, deren Aussagen wortgetreu und ohne historische Kontextualisierung auf die heutige Zeit übertragen werden. Im Mittelpunkt stehen nicht religiöse Prinzipien und Werte, die von vielen islamischen Theologen ins Zentrum der Theologie gestellt werden, sondern verbindliche Normen und Rituale, die unabhängig von Ort und Zeit Geltung beanspruchen. Damit verbindet sich der Anspruch auf eine absolute Wahrheit, an der sich das Leben von Muslimen zu messen habe. Innerreligiöse Vielfalt, wie sie die islamische Theologie über Jahrhunderte geprägt hat, erscheint in dieser Sicht als Anomalie und als Abweichung von einer vermeintlich eindeutigen und verbindlichen Lehre.

Gleichwohl unterscheiden sich Anhänger des Salafismus in den Konsequenzen, die sie aus diesem Anspruch auf absolute Wahrheit ableiten. So orientiert sich ein kleiner Teil der salafistischen Szene zwar im persönlichen Alltag an entsprechenden Lehren und Praktiken, verbindet damit allerdings keinen politischen und gesellschaftlichen Anspruch an andere (»puristische Strömung«). Als persönliche Entscheidung für eine bestimmte Lebensweise, die sich nicht aktiv gegen andere oder die gesellschaftliche Ordnung richtet, ist ein solches Religionsverständnis von der Religionsfreiheit gedeckt und wird auch von den Verfassungsschutzämtern nicht als verfassungsfeindlich eingestuft.

Im Gegensatz dazu steht die »politisch-missionarische Strömung«, die mit Predigern wie Pierre Vogel, Ibrahim Abou Nagie und Hassan Dabbagh in der breiteren Öffentlichkeit auftritt. Charakteristisch ist der missionarische Eifer, mit dem diese Prediger die eigenen Glaubensvorstellungen vertreten und Muslime wie Nichtmuslime zur Übernahme der salafistischen Lehre drängen. Dabei betonen sie die Pflicht eines jeden Muslims zur »Dawa« (Mission) und zur Verbreitung des Islam als letzter und damit alleingültiger Offenbarung. Im Mittelpunkt steht die Warnung der »Kuffar« (Ungläubigen) vor den Konsequenzen, die mit einer Verweigerung der »wahren Religion« verbunden sind. Im gesellschaftlichen Alltag münden diese Sichtweisen nicht selten in die denunziatorische Abwertung von Andersgläubigen sowie in sozialen Druck und Nötigungen, mit denen eine Orientierung an einer vermeintlich richtigen islamischen Lebensweise erzwungen wird.

Gewaltbefürwortende Aussagen und direkte Aufforderungen zur Gewalt sind in diesem Spektrum der salafistischen Szene in der Regel nicht nachzuweisen. Dennoch lassen sich am Beispiel der »Lies-Kampagne«, bei der auf öffentlichen Plätzen Koran-Exemplare verteilt werden, Bezüge zur gewaltbereiten dschihadistischen Strömung des Salafismus aufzeigen. So waren zahlreiche Personen, die sich in den vergangenen Jahren dschihadistischen Organisationen anschlossen, zuvor im Umfeld der Kampagne aktiv. Die rigide Weltsicht und die explizite Abwertung von »Ungläubigen« – von nicht-salafistischen Muslimen ebenso wie von Christen, Juden oder Jesiden –, die für Prediger dieser Strömung charakteristisch sind, bilden für einzelne Jugendliche und junge Erwachsene den Ausgangspunkt für eine weitere Radikalisierung, die die Bereitschaft beinhaltet, zur Durchsetzung eigener Vorstellungen Gewalt einzusetzen.

Trotz des Verbots einzelner Gruppierungen, wie Millatu Ibrahim (2012) oder Tauhid Germany (2015), wegen ihres Kampfes gegen die verfassungsmäßige Ordnung“ und des Aufrufs zu einem gewaltsamen Dschihad hat sich in Deutschland eine dritte Strömung ausgebildet, die die salafistische Ideologie mit einer Aufforderung zur Gewalt gegen Andersgläubige verbindet (»dschihadistischer Salafismus«). Auffallend ist hier vor allem ein häufig jugendkulturell geprägtes Auftreten, das Protest und Militanz mit jugendtypischer Kleidung und professioneller Mediennutzung verbindet (»Pop-Dschihad«).

Salafistische Ansprachen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen

In den vergangenen Jahren ließ sich ein zunehmender Einfluss salafistischer Propaganda auf Jugendliche erkennen. Das Internet und soziale Netzwerke sind wichtige Foren, in denen sich Jugendliche und junge Erwachsene über religiöse und gesellschaftliche Themen austauschen und ihr Selbstverständnis in der Gesellschaft entwickeln – und diese werden von salafistischen Akteuren gezielt genutzt. Die große Aufmerksamkeit für salafistische Angebote bei Jugendlichen ist allerdings nicht zwangsläufig gleichbedeutend mit Zustimmung oder Faszination; nicht selten entspringt der demonstrative Verweis auf salafistische Symbole und Inhalte lediglich dem Wunsch nach Aufmerksamkeit und Provokation. Gleichwohl spiegelt das unter Jugendlichen verbreitete Wissen über salafistische Akteure die Attraktivität und Sichtbarkeit entsprechender Angebote, die nicht zuletzt durch die Niedrigschwelligkeit und die lebensweltnahen Ansprachen befördert werden. So erreichen Facebook-Seiten einzelner salafistischer Prediger und Initiativen mittlerweile bis zu 170.000 Fans.

Angesichts der gezielten Ansprachen, die jugendtypische Themen (Was ist der Sinn des Lebens?“) mit gesellschaftskritischen Fragen (zum Beispiel zu internationalen Ungerechtigkeiten und Kriegen, zu Rassismus, zur gesellschaftlichen Macht der Banken, aber auch zu Individualismus und materialistischem Denken) verbinden, fühlen sich auch Jugendliche und junge Erwachsene angesprochen, die mit dem religiösen Weltbild des Salafismus zunächst nicht vertraut sind. Religiöse Botschaften stehen dabei vielfach nicht im Vordergrund, sondern werden erst als Erklärung oder Lösung für alltägliche Fragen und Konflikte, die für Jugendliche unabhängig von Religion und Herkunft relevant sind, eingebracht.

Charakteristisch für Ansprachen aus diesem Spektrum ist das Angebot einfacher und eindeutiger Antworten auf religiöse Fragen aus dem jugendlichen Alltag. So werden gezielt Themen aufgegriffen, mit denen Jugendliche konfrontiert sind, für die es allerdings ansonsten an Ansprechpartnern fehlt (Darf ich an der Weihnachtsfeier in der Schule teilnehmen?“, Ist Augenbrauenzupfen haram?“). Anders als in sonstigen islamischen Strömungen geht es salafistischen Predigern nicht um eine Auseinandersetzung mit den vielfältigen islamischen Traditionen und ein Abwägen von Interessen und Kontexten, sondern um vermeintlich überhistorische Wahrheiten, die sich bereits aus den islamischen Quellen ableiten ließen. Angesichts der Herausforderungen, die für Jugendliche und junge Erwachsene mit der Suche nach einer eigenen Meinung und den Freiheiten einer eigenverantwortlichen Lebensgestaltung verbunden sind, verspricht die salafistische Lehre Halt und Orientierung.

Dies betrifft vor allem jene Fragen, die mit ethischen Wertungen und Entscheidungen verbunden sind. So entbinden die eindeutigen Rollenzuschreibungen für Männer und Frauen, die von Salafisten vertreten werden, von den Konflikten, denen sich Jugendliche angesichts der Debatte um wandelnde Rollenbilder und Familienformen gegenüber sehen. Die Entscheidung für Minirock oder Niqab, für Karriere oder Familie, die sich auch muslimisch sozialisierten Frauen stellt, wird hier mit Verweis auf vermeintlich eindeutige religiöse Quellen beantwortet. Die Aufgabe der Frau bestehe danach darin, dem Mann und der Familie zu dienen und sich für die Religion im Alltag auch gegen eigene Wünsche und Interessen zu opfern.

Besondere Bedeutung kommt in salafistischen Ansprachen der Instrumentalisierung von Diskriminierungs- und Entfremdungserfahrungen zu, die in den vergangenen Jahren verstärkt zu beobachten ist. Ausgangspunkt ist dabei ein unter jungen Muslimen weit verbreitetes Gefühl, mit Erfahrungen von Diskriminierung und Rassismus zum Beispiel im schulischen Rahmen kaum Gehör zu finden („Unsere Lehrer reden immer über den Nationalsozialismus, aber über Islamfeindlichkeit will niemand mit uns reden!“). Von salafistischen Akteuren werden entsprechende Erfahrungen bewusst angesprochen und als Beleg für einen globalen Konflikt zwischen Muslimen und Nichtmuslimen gedeutet. Erfahrungen mit Ausgrenzung und Fremdsein sind aus dieser Sicht nicht Anlass, um sich für eigene Rechte und Interessen einzusetzen; vielmehr geht es um den Rückzug und das Einschwören auf die Gemeinschaft der Muslime, die allein in der Lage wäre, die Interessen der Muslime zu verteidigen.

Die Attraktivität salafistischer Ansprachen gründet darüber hinaus in konkreten Gemeinschaftsangeboten, die an den Erfahrungen und Bedürfnissen vieler Jugendlicher anknüpfen. So beschränken sich Islam-Seminare und andere Veranstaltungen aus diesem Spektrum nicht auf religiöse Unterweisungen und Rituale, sondern verbinden religiöse Aspekte mit Freizeit- und Erlebnisangeboten (Fußballspiel, Angebote für Kinder und Austausch über persönliche Erlebnisse und Probleme), gemeinsamem Essen und gemeinsamem Engagement für den Glauben und die Gemeinschaft (z.B. mit Spendenkampagnen, Ständen in der Fußgängerzone etc.). Mit der direkten Ansprache in Wasserpfeifen-Cafés, Spielhallen oder auf öffentlichen Plätzen erreichen salafistische Initiativen daher vor allem Jugendliche, denen andere Möglichkeiten der Freizeitgestaltung verschlossen bleiben. Veranstaltungen salafistischer Gruppierungen sind bewusst niedrigschwellig; sie stehen allen »Brüdern« und »Schwestern« unabhängig von Status, Herkunft oder eventueller »Sünden« der Vergangenheit offen und bedienen damit das Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Identität.

In der dschihadistischen Propagan­da, die sich gezielt an Jugendliche und junge Erwachsene in Deutschland wendet, spielt zudem die Kritik an der westlichen Politik im Nahen Osten und in anderen Regionen mit muslimischen Bevölkerungsgruppen eine zentrale Rolle. Anders als Bilder und Videos, die in sozialen Medien die Tötung von »Ungläubigen« verherrlichen, zielen Berichte über das »Leid der Umma«, der weltweiten Gemeinschaft der Muslime, auf ein größeres muslimisches Publikum. Sie instrumentalisieren den weit verbreiteten Unmut und Ohnmachtsgefühle angesichts globaler Ungerechtigkeiten und regionaler und internationaler Konflikte. Die emotionalisierende Wirkung entsprechender Darstellungen zeigt sich insbesondere im Zusammenhang mit den Kriegen in Syrien und Irak in einer Zunahme von Spannungen zwischen sunnitischen und schiitischen Muslimen, aber auch zwischen sunnitischen Muslimen und anderen Religionsgemeinschaften, wie den Jesiden.

Die Vielschichtigkeit der Ansprachen, mit denen sich salafistische Akteure an Jugendliche und junge Erwachsene wenden, spiegelt sich in der Vielzahl der Ansätze, die in den vergangenen Jahren in der Präventionsarbeit entwickelt wurden. Sie beschränken sich nicht auf Schule, politische Bildung und Jugendarbeit, sondern richten sich auch an muslimische Gemeinden und Vereine, die über die Förderung innerislamischer Debatten ein Bewusstsein für unterschiedliche Zugänge zu religiösen Traditionen stärken können. Angesichts der Bedeutung von Entfremdungs- und Marginalisierungserfahrungen in salafistischen Diskursen wird allerdings die Notwendigkeit gesamtgesellschaftlicher Antworten auf die Faszination des Salafismus deutlich. Prävention beschränkt sich insofern nicht auf eine Dekonstruktion und Kritik salafistischer Narrative, sondern beinhaltet die Schaffung realer Alternativen, die attraktiver sind als salafistische Versprechen.

Literatur

Abou Taam, M.; Dantschke, C.; Kreutz, M.; Sarhan, A. (2016): Kontinuierlicher Wandel – Organisation und Anwerbungspraxis der salafistischen Bewegung. Frankfurt: Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, HSFK-Report Nr. 2/2016.

Dakhli, L. (2016): Islamwissenschaften als Kampfsport. ufuq.de, 24. Juni 2016.

Frindte, W.; Ben Slama, B.; Dietrich, N.; Pisoiu, D.; Uhlmann, M.; Kausch, M. (2016): Wege in die Gewalt – Motivationen und Karrieren salafistischer Jihadisten. Frankfurt: Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, HSFK-Report Nr. 3/2016.

Kepel, G. (2015): Interview: Quel avenir pour l’islam? Sciences Humaines, Nr. 4, Nov./Dez 2015 – Jan. 2016.

Roy, O. (2015): Le djihadisme est une ­révolte générationnelle et nihiliste. Le Monde, 24.11.2015.

Dr. Götz Nordbruch ist Islam- und Sozialwissenschaftler, Mitbegründer und Co-Geschäftsführer des Vereins ufuq.de. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählen Jugendkulturen zwischen Islam, Islamfeindlichkeit und Islamismus, Mediennutzung von jungen Muslim*innen und Migrant*innen sowie Prävention von islamistischen Einstellungen in schulischer und außerschulischer Bildungsarbeit.

Kampf und Frieden im Islam

Kampf und Frieden im Islam

von Elhakam Sukhni

In der öffentlichen Diskussion über den Islam wird häufig unterstellt, gläubige Muslime seien generell aufgefordert, einen als »Heiligen Krieg« interpretierten Dschihad zu führen. Das ist eine fatale Fehlinterpretation des Dschihad-Konzepts, die sich auch darauf auswirkt, wie das Verhältnis dieser Religion zu Gewalt bzw. Krieg und Frieden wahrgenommen wird. Der Autor zeigt auf, dass sich im Koran und in den Aussprüchen des Propheten Muhammad zahlreiche Bezüge zu einem Friedensgebot finden, und belegt dies mit Zitaten aus islamischen Textquellen.

Dschihad« zählt zu den wohl am wenigsten verstandenen Konzepten der islamischen Religion. Die Fehldarstellung beginnt bereits bei der häufig verwendeten Übersetzung von Dschihad als »Heiliger Krieg«. Dabei wird ein Ausdruck aus der christlichen Tradition, der insbesondere die Kreuzzüge bezeichnete und bereits im Alten Testament (Joel 4:9) Erwähnung findet, auf den Islam übertragen. Hingegen findet sich in keinem der klassischen Texte und Hauptquellen der islamischen Tradition ein Ausdruck wie »Heiliger Krieg« (etwa »harb muqaddas«). Dschihad steht nicht primär für den bewaffneten Kampf, und Krieg wird keineswegs Heiligkeit zugesprochen, sondern höchstens eine zu vermeidende Notwendigkeit.

»Dschihad« bedeutet wörtlich »Anstrengung« oder »Eifer« um das Wohlgefallen Gottes und kommt in der islamischen Theologie als kleiner und als großer Dschihad vor. Diese Aufteilung geht auf eine Überlieferung zurück, wonach der Prophet Muhammad nach einer militärischen Auseinandersetzung seinen Gefährten erklärte, dass sie nun vom kleinen Dschihad in den großen Dschihad zurückkehren würden. Der kleine Dschihad war also die zurückliegende Schlacht, während die alltägliche Anstrengung im Kampf gegen die eigenen Triebe und Schwächen sowie zur Bewältigung der allgemeinen Lebensumstände, wie Arbeit, Familienleben und Einhaltung der religiösen Pflichten, als großer Dschihad bezeichnet wird. Dem Argument, bei dieser Überlieferung handele es sich um einen nicht authentischen Hadith (Ausspruch des Propheten), entgegnen muslimische Theologen, das Konzept von kleinem und großem, also wichtigerem Dschihad werde im Koran selbst formuliert.

In Sure 25 Vers 52 heißt es: „So gehorche nicht den Leugnern der Offenbarung [kuffar], sondern eifere mit ihm [dem Koran] in großem Eifer [dschihadan kabiran] gegen sie.“ Hier wird also nicht zum bewaffneten Kampf aufgerufen, sondern zum großem Dschihad, der mit dem Wort geführt wird. Bestätigt wird dieser Vers durch einen weiteren Ausspruch des Propheten: „Die höchste Anstrengung [Dschihad] ist das gerechte Wort gegenüber einem ungerechten Herrscher.“ (Vgl. an-Nawawi 1999) Und einer weiteren Aussage nach heißt es: „Der beste Dschihad ist der Dschihad gegen dein Ego und deine Begierden um des Willen Gottes wegen.“ (Vgl. as-Sanani 2011)

Regeln für den kleinen Dschihad

Der kleine Dschihad, also der bewaffnete Kampf, wiederum unterliegt strikten Regeln. Die drei wichtigsten Vorgaben lauten (vgl. Dagli 2013, S. 57):

  1. Das Töten von Zivilisten (also Nichtkombattanten), insbesondere Greisen, Frauen und Kindern, ist verboten.
  2. Die Religion anderer Menschen kann niemals Grund für einen Krieg gegen sie sein.
  3. Gewalt ist nur im Fall der Selbstverteidigung oder zum Schutz unschuldiger Dritter erlaubt.

Vor jedem Kriegseinsatz wies der Prophet Muhammad seine Kämpfer an, nicht zu plündern, den Feind nicht zu verstümmeln sowie Frauen und Kinder zu verschonen. Als er nach einer Schlacht eine getötete Frau liegen sah, sagte Muhammad: „Sie war keine Kämpferin!“, und wies seine Leute erneut an, keine Kinder, Frauen und andere Unbeteiligte zu töten. Der Prophetengefährte und erste Kalif Abu Bakr verbot darüber hinaus laut einer bekannten Überlieferung das unnötige Zerstören von Bäumen und das Töten von Tieren im Krieg (Dakake 2013, S. 108-109).

Die meisten muslimischen Gelehrten sind der Ansicht, Krieg dürfe nur zu Verteidigungszwecken geführt werden und Angriffskriege fänden keine Rechtfertigung, besonders in Zeiten internationaler Völkerrechtsabkommen. Ausschlaggebend hierfür ist die Koranstelle 22:39-40, welche besagt: „Die Erlaubnis [sich zu verteidigen] ist denen gegeben, die bekämpft werden, weil ihnen Unrecht geschah — und Allah hat wahrlich die Macht, ihnen zu helfen. / Jenen, die schuldlos aus ihren Häusern vertrieben wurden, nur weil sie sagten: »Unser Herr ist Allah [Gott].« Und wenn Gott nicht die einen Menschen durch die anderen zurückgehalten hätte, so wären gewiss Klausen, Kirchen, Synagogen und Moscheen, in denen der Name Gottes oft genannt wird, niedergerissen worden. Und Gott wird sicher dem beistehen, der Ihm beisteht.“

Wenn Frieden eingekehrt ist, die Muslime befreit sind und der Islam wieder praktiziert werden kann, muss gemäß Koranvers 2:193 auch der Kampf beendet werden: „Und kämpft gegen sie, bis es keine Verfolgung mehr gibt und die Religion wieder Allahs ist. Wenn sie jedoch aufhören, dann darf es kein feindseliges Vorgehen geben außer gegen die Ungerechten.“

Wenn von anderen Menschen keine Aggression und kein Unrecht ausgeht, sollte gemäß der koranischen Ausführung in Sure 60:8-9 auch von Muslimen keine Aggression ausgehen: „Allah verbietet euch nicht, gegen jene, die euch nicht des Glaubens wegen bekämpft haben und euch nicht aus euren Häusern vertrieben haben, gütig zu sein und redlich mit ihnen zu verfahren; wahrlich, Allah liebt die Gerechten. / Doch Allah verbietet euch, mit denen, die euch des Glaubens wegen bekämpft haben und euch aus euren Häusern vertrieben und [anderen] geholfen haben, euch zu vertreiben, Freundschaft zu schließen. Und wer mit ihnen Freundschaft schließt – das sind die Missetäter.“

Terrororganisationen wie al-Qaida behaupten, die Muslime stünden im ständigen Verteidigungskrieg gegen die imperialistischen westlichen »Kreuzzügler« und begründen ihre weltweiten Anschläge mit der Koranstelle „Und tötet sie, wo immer Ihr sie findet!“. Wie so oft wird hier ein Vers aus dem Zusammenhang gerissen, um extremistische Positionen durchzusetzen. Die entscheidende Textstelle im Koran lautet nämlich so: „Und kämpft auf dem Weg Allahs gegen diejenigen, die gegen euch kämpfen, doch übertretet nicht. Wahrlich, Allah liebt nicht diejenigen, die übertreten. / Und tötet sie, wo immer ihr sie findet, und vertreibt sie, von wo sie euch vertrieben haben; denn Chaos ist schlimmer als Totschlag.“ (2:190-1)

Deutlich wird hier, dass der Kampf als Reaktion auf einen Angriff oder auf Vertreibung legitimiert wird, jedoch mit der Einschränkung, nicht zu „übertreten“. Der angesehene klassische Koranexeget at-Tabari (gest. 923) interpretiert diese Koranverse außerdem in ihrem historischen Kontext und bezieht die Stelle „vertreibt sie, von wo sie euch vertrieben haben“ auf die Muslime zu Muhammads Zeiten, welche von den verfeindeten Mekkanern in die Flucht nach Medina genötigt wurden. Darüber hinaus definiert at-Tabari das „nicht Übertreten“ entsprechend der bereits erwähnten Prinzipien im Dschihad, zu denen insbesondere das Verbot des Tötens Unschuldiger zählt (vgl. Dakake 2013, S. 107-108). Weder al-Qaida noch der von ihr abgespaltene »Islamische Staat« halten sich an das islamische Kriegsrecht, sondern nehmen bewusst den Tod von Zivilisten und Unbeteiligten in Kauf.

Frieden als Grundprinzip der islamischen Theologie

Die Grundlage aller Ethikreligionen ist der Erhalt des Friedens, für dessen Schutz im Notfall Gewalt angewendet werden kann. Auch der Islam ist nicht per se eine pazifistische Religion, erlaubt aber die Anwendung von Gewalt nur als letztes Mittel. So geht das Konzept von Frieden (salaam) entsprechend der islamischen Quellen immer mit dem Konzept von Sicherheit (silm) einher – zwei Begriffe, die vom gleichen Wortstamm (s-l-m) abgeleitet werden wie der Begriff Islam.

Mithilfe der Religion des Islam (wörtlich Hingebung) soll also Salaam (Frieden) zwischen den Menschen bestmöglichen Silm (Sicherheit) garantieren. So beinhaltet auch der islamische Friedensgruß »as-salaamu alaikum« (der Frieden sei mit euch) den Wunsch, eine andere Person möge in Frieden und Sicherheit leben (Crow 2013, S. 256). »Der Frieden« (al-Salam) ist außerdem einer der 99 Namen und damit eine der Eigenschaften Gottes und wird als Synonym für »Allah« zu einem göttlichen Prinzip erhoben. Frieden ist immer zu bevorzugen, und so fordert Allah im Koran dazu auf, vom Krieg abzulassen, wenn der Gegner Frieden anbietet: „Und wenn sie jedoch zum Frieden geneigt sind, so sei auch du ihm geneigt und vertraue auf Allah. Wahrlich, Er ist der Allhörende, der Allwissende.“ (8:61)

Der Koran schreibt den Muslimen überdies einen friedlichen Umgang mit Andersgläubigen vor, insbesondere mit den »Völkern der Schrift« (Ahl al-kitab), namentlich Juden und Christen, mit welchen Muslime auch Ehen schließen und das von ihnen geschächtete Fleisch verzehren können (Koran 5:5). Grundsätzlich gilt für den Umgang mit allen Menschen das Prinzip, mit ihnen „gütig zu sein und redlich mit ihnen zu verfahren“, wie es Vers 60:8 vorschreibt.

Das islamische Friedenspotential ergibt sich nicht zuletzt aus der religiösen Pflicht zur Vertragseinhaltung. Auf diesem Wege regelt die islamische Rechtswissenschaft Beziehungen zu anderen Staaten und Nationen, und die entsprechende Begrifflichkeit lässt sich durchaus dem modernen Völkerrecht zuordnen (Rohe 2011, S. 147). Grundlage für das islamische Völkerrecht sind insbesondere Friedensabkommen und Waffenstillstandsvereinbarungen sowie Bündnisse, wie sie bereits der Prophet Muhammad vorlebte.

Exemplarisch steht dafür der Friedensvertrag von Hudaybiyya aus dem Jahre 628. Muhammad beschloss, mit den Muslimen von Medina in die bis dato verfeindete Stadt Mekka zu reisen, um an der Kaaba das Pilgerritual zu verrichten. Die Mekkaner verweigerten den Muslimen jedoch den Zugang zur Stadt. Die beiden Seiten lösten das Problem mit einem Friedensvertrag, in dem ein zehnjähriger Waffenstillstand vereinbart wurde. Der Vertrag sah vor, dass die Muslime ihre Pilgerfahrt auf das nächste Jahr verschieben. Sollten während dieser Zeit oder darüber hinaus Mekkaner zu den Muslimen überlaufen, verpflichtete sich Muhammad, diese flüchtigen Personen wieder auszuliefern. Im umgekehrten Fall jedoch, sollte ein Muslim nach Mekka fliehen, müsse dieser nicht wieder zurück geschickt werden. Diesen von Muhammad unterzeichneten Vertrag werteten seine eigenen Anhänger als Niederlage, und er sorgte bei vielen Muslimen für Unverständnis, sollten doch neue Anhänger des Islam dem Feind ausgeliefert werden. Der Prophet setzte jedoch auf Diplomatie.

Diese flexible und offene Verhandlungsbereitschaft Muhammads dient vielen Muslimen als Vorbild und liefert bis heute in zahlreichen alltäglichen Fragen die Grundlage zur Erhaltung oder Schaffung von Frieden.

Literatur

Crow, C.D. (2013): The Concept of Peace/Secur­ity (Salm) in Islam. In: bin Muhammad 2013, S. 250-268.

Dagli, C. (2013) : Jihad and the Islamic Law of War. In: bin Muhammad 2013, S. 56-98.

Dakake, D. (2013): The Myth of A Militant Islam. In: bin Muhammad 2013, S. 99-131.

bin Muhammad, G. (ed.) (2013): War and Peace in Islam – The Use and Abuse of Jihad. Cambridge: The Islamic Texts Society.

an-Nawawi, I. (1999): Riyad us-salihin – Gärten der Tugendhaften. München: Dar-u-Salam, Band I, S. 99.

Rohe, M. (2011): Das islamische Recht – Geschichte und Gegenwart. München: C.H. Beck.

as-Sanani, M. 2011): At-tanwir scharh al-jami as-saghir. Band II, S. 549, Riad.

Elhakam Sukhni ist Islamwissenschaftler und Völkerrechtler und beschäftigt sich in seiner Doktorarbeit mit den ideologischen Grundlagen dschihadistischer Gruppierungen. Er lehrte u.a. an den Universitäten Osnabrück, Köln und Krems. Zurzeit arbeitet er für die Stadt Wuppertal in der Extremismus-Prävention und Deradikalisierung.

Islamischer Feminismus


Islamischer Feminismus

Ein Widerspruch in sich?

von Ambar Ahmad

Außerhalb des westlichen Kulturkreises wird Feminismus noch weitgehend als fremdländisches Konzept wahrgenommen, das heimischen Normen und Traditionen widerspricht. Feminismus, vor allem der westliche Feminismus, wird mit der kolonialen Einmischung durch den Westen assoziiert und daher rasch als korrumpierender Angriff auf die eigene kulturelle Authenzität gewertet. Fragen nach Gendergerechtigkeit wurden bislang eher im Kontext der je spezifischen Situation der Frauen formuliert als unter Bezugnahme auf die Standards, die der westliche Feminismus bereits gesetzt hat. Religion spielt in dieser Diskussion zwangsläufig eine wesentliche Rolle. Daraus ergeben sich auch Fragen nach der Machbarkeit und Wünschbarkeit eines islamischen Feminismus.

Wenn über »islamischen Feminismus« geredet wird, muss zuerst die Bedeutung der beiden Wörter geklärt werden, aus denen sich der Begriff zusammensetzt: Islam und Feminismus.

Islam wird oft als monolithisches Gebilde betrachtet, das wird der Religion aber nicht gerecht. Die konfessionellen Unterschiede im Glauben und in der Religionsausübung, vor allem zwischen Schiiten und Sunniten, sind vielschichtig und müssen berücksichtigt werden. Zudem wurde und wird der Islam sowohl historisch als auch geographisch rund um den Erdball in ganz unterschiedlichen kulturellen Umfeldern praktiziert.

Beim Feminismus wird weithin akzeptiert, dass es nicht den einen Feminismus, sondern viele Ausprägungen gibt. Alle feministischen Positionen teilen aber einige relevante Punkte: Sie stimmen überein, dass wir in einer Welt leben, in der aufgrund des organisierten Patriarchats für Männer und Frauen unterschiedliche Lebensrealitäten herrschen. Außerdem wird das Patriarchat nicht als zwangsläufige und unabwendbare Gegebenheit der Natur, sondern als soziales Konstrukt wahrgenommen. Feminist*innen aller Couleur gilt das Patriarchat als ungerecht und unhaltbar, und sie sind entschlossen, es zu zerschlagen und eine aus ihrer Sicht gendergerechte Gesellschaft durchzusetzen. Jenseits dieser Übereinstimmungen gibt es eine große Bandbreite feministischer Positionen, insbesondere zu den Gründen für das Aufkommen des Patriarchats und zu Strategien, dieses zu überwinden.

Angesichts der Vielfalt an Feminismen ist es nicht schwierig, einen islamischen Feminismus als weitere Variante einzuführen. Allerdings stoßen organisierte Religionsformen im Feminismus gemeinhin auf Ablehnung, woraus sich einige grundsätzliche Fragen ergeben: Sind Islam und Feminismus miteinander vereinbar oder schließen sie sich gegenseitig aus? Was hat Vorrang, der Islam oder der Feminismus? Kann islamischer Feminismus zu Gendergerechtigkeit führen?

In unterschiedlichen Regionen der muslimischen Welt wurde bereits intensiv zum islamischen Feminismus gearbeitet. Viele der Debatten beziehen sich auf die Erfahrungen im Iran, der sich aus mehreren Gründen als Studienobjekt anbietet. Zum einen ist Iran ein schiitischer Staat, und für die Schia ist das Konzept des »Idschtihad« zentral. Idschtihad bezeichnet eine Neuinterpretation der religiösen Gesetze im zeitgenössischen sozioökonomischen und politischen Kontext unter Wahrung der grundlegenden Prinzipien des Islam; aus dieser Neuinterpretation können sich Räume für soziale Veränderungen eröffnen. Zum zweiten besteht im Iran eine erhebliche Diskrepanz zwischen der Rolle, die der Staat für Frauen vorsieht, und ihrem tatsächlichen Leben. Iranische Frauen treten im öffentlichen Raum selbstbewusst und wahrnehmbar auf und setzen damit einen deutlichen Kontrapunkt zu den Erfahrungen von Frauen, die in einem anderen selbst erklärten islamischen Regime leben – dem der Taliban.

Islamischer Feminismus lässt sich vielleicht am besten verstehen, indem man sich anschaut, wie islamische Feminist*innen vorgehen.

Strategien islamischer Feminist*innen

Die erste Strategie ist die Neuinterpretation der heiligen Texte. Für islamische Feminist*innen ergeben sich die Probleme der Frauen aus den männlich dominierten Interpretationen der islamischen Prinzipien, , nicht aus den tatsächlichen Geboten der Religion. Daher glauben sie, dass eine frauenzentrierte Lektüre der heiligen Texte eine kraftvolle Quelle für Gendergerechtigkeit sein kann.

Folglich haben sich in den letzten Jahren islamische Feminist*innen den religiösen Texten und Traditionen zugewandt, um sie kritisch zu lesen, aus frauenfreundlicher Warte neu zu interpretieren und die traditionellen, frauenfeindlichen Interpretationen zu dekonstruieren. Sie befassen sich mit den »Asbab an-nuzul«, die den konkreten Anlass für die Offenbarung eines bestimmten Verses oder einer Sure des Koran erläutern, sie kontextualisieren die Hadith, in denen die Belehrungen, Handlungen und Sprüche des Propheten überliefert sind, und sie arbeiten die frauenfreundlichen Aspekte der Religion heraus, um die patriarchalen Interpretationen der Geistlichen zu kontern.

Im Zentrum des islamischen Feminismus steht »Idschtihad«, da es dieses Konzept erlaubt, die heiligen Texte neu zu interpretieren und die konkrete Anwendung unter Wahrung ihres Geistes den aktuellen Bedürfnissen anzupassen. Ein Beispiel für dieses Vorgehen ist die These des iranischen Philosophen Abdulkarim Soroush, es gebe einen Unterschied zwischen »essentiellen« und »zufälligen« Elementen des Islam. Bei Ersteren handele es sich um Elemente, ohne die der Islam nicht Islam wäre, also beständige und unwandelbare Glaubensgrundsätze. Die Letzteren seien sozial und historisch kontingent und daher wandelbar. Die Gegenwart unterscheidet sich erheblich vom Arabien des siebten Jahrhunderts, folglich ist es legitim, viele Prinzipien, vor allem solche, die die Beziehungen zwischen Männern und Frauen regeln, anzupassen

So argumentieren Feminist*innen z.B., die Sure, die Männer eine Stufe über Frauen stelle, betone ausdrücklich, dass Männer für den Unterhalt der Frauen zuständig seien. Das möge früher so gewesen sein, als die Rolle der Frau auf die Mutterschaft reduziert und die Frau daher abhängig war. Heute hingegen verfügten Frauen nicht nur über eine größere reproduktive Selbstbestimmung, sondern sie seien oft auch wirtschaftlich unabhängig, so dass die Aussage neu interpretiert werden dürfe.

In ihren Analysen greifen islamische Feminist*innen außerdem auf die konzeptuellen Ansätze des Postmodernismus zurück, besonders auf die Charakterisierung von Sprache als Medium institutioneller Kontrolle. Diese Ausein­andersetzung mit Sprache ist für die Neuinterpretation von Texten zentral. Die Annahme, Sprache sei wertegeladen, führt zum Versuch, die Neuinterpretation der Texte auch auf die linguistische Konstruktion der arabischen Sprache auszuweiten.

Eine andere Strategie verfolgen bekannte arabische Autorinnen, wie Fatima Mernissi (Marokko) und Assia Djebar (Algerien). Sie holen eine vergessene Geschichte wieder ans Tageslicht, an der Frauen ihren Anteil hatten. Sie studierten das Leben von Frauen in den prägenden Entstehungsjahren des Islam und kamen zum Schluss, dass die vorwiegend männlichen Erzähltraditionen Frauen unsichtbar gemacht hätten. Frauen seien zur Lebzeit des Propheten aber präsente und aktive Mitglieder der Gemeinschaft gewesen. Sie hätten problemlos eine Moschee betreten und ihre Fragen und Anliegen direkt an den Propheten des Islam richten können; dies deute auf ihren unmittelbaren Zugang zur Autorität hin. Vor allem Mernissi konstatiert, dass die Botschaft des Islam eine Botschaft der radikalen Gleichheit sei. Dies sei der privilegierten männlichen Elite zuwider gewesen, die Änderungen im öffentlichen Raum zwar widerstrebend akzeptiere, nicht jedoch im privaten Bereich. Aus diesem Grund hätten sich die Ideale nach dem Tode des Propheten verflüchtigt. Unter Berufung auf einen »authentischen« Islam kritisieren die Feminist*innen die heutige Marginalisierung von Frauen im sozialen Raum, in der Religion und im Gemeinwesen.

Vor allem die erzwungene Marginalisierung in vorwiegend männlich definierten Räumen der Religion zurückzuweisen ist ein wichtiger Aspekt, um mehr Gendergerechtigkeit zu erlangen. Frauen versuchen, ihre eigenen Räume zu schaffen, zu ihren Bedingungen. In Tamil Nadu, dem südlichsten Bundesstaat von Indien, gründete die Muslim Women’s Jamaat (Gemeinschaft muslimischer Frauen) in Pudukkottai trotz scharfer Proteste eine Moschee nur für Frauen. Das Einrichten von »Women Only«Räumen mag zunächst als Fortschreibung der Segregation erscheinen und wird entsprechend kritisiert. Befürworter*innen glauben aber, dass nur so ein Rahmen geschaffen werden kann, in dem Frauen ohne Einmischung der Theologen über Religion diskutieren können.

Islamische Feminist*innen fordern mit Nachdruck die Rechte ein, die Frauen innerhalb der Strukturen des Islam zustehen, aufgrund kultureller Ehr- und Schamnormen aber aus dem Blickfeld geraten sind.. So ist z.B. der Nikah, der islamische Ehevertrag, ein von zwei Parteien freiwillig geschlossener Kontrakt. Beide Seiten haben das Recht, bestimmte Konditionen festzulegen, die nach Vertragsabschluss bindend sind. Vereinbarungen zum Umgang mit der im Islam zulässigen Polygamie, zum Sorgerecht für Kinder im Falle einer Scheidung und andere wichtige Aspekte ermöglichen den Frauen eine erhebliche Kontrolle über ihr Leben. Leider hindern kulturelle Normen, wie Scham, die potentiellen Bräute oft daran, die Themen offen anzusprechen, die auf ihr Eheleben erheblichen Einfluss haben.

Ebenso weisen Feminist*innen darauf hin, dass Frauen, die unter Verweis auf das göttliche Gebot, dem Ehemann zu dienen und zu gehorchen, trotz Missbrauchs in der Ehe verbleiben, nur davon profitieren können, wenn sie den Islam besser verstehen und darauf beharren, dass ihre im Islam verbrieften, von den Männern aber als unerheblich abgetanen Rechte eingehalten werden.

Bei alledem will sich der islamische Feminismus keineswegs abkapseln. Ganz gezielt wurden Konzepte säkularer Feminist*innen aufgegriffen, Kontakte zu ihnen hergestellt und das Gespräch mit Muslimas rund um den Globus gesucht. Die international renommierte Historikerin und Gendertheoretikerin Afsaneh Najmabadi belegte, dass islamische Frauenzeitschriften im Iran regelmäßig Texte säkularer Feminist*innen zu einer breiten Themenpalette abdrucken, so zu Religion, Kultur, Recht und Erziehung. Klassische Aufsätze von Autorinnen wie Mary Wollstonecraft, Virginia Woolf, Charlotte Perkins Gilman, Evelyn Reed, Nadine Gordimer und Alison Jaggar sowie zeitgenössische feministische Texte werden ebenfalls gedruckt.

Ein besonderes gelungenes Beispiel für Synergien zwischen säkularen und islamischen Feminist*innen ist die weltweite Bewegung »Musawah – For Equality in the Familiy« (Musawah ist das arabische Wort für Gleichheit), die 2009 von zwölf Frauen aus so unterschiedlichen Ländern wie Ägypten, Gambia, Türkei und Pakistan gegründet wurde. »Musawah« geht von dem Kerngedanken aus, dass Männer im Islam nicht per se Vorrang genießen und dass das Patriarchat das Ergebnis einer männerdominierten Auslegung von Religion ist. »Musawah« befähigt Frauen, die Auslegungen, Normen und Gesetze, die ihr Leben beeinflussen, zu verstehen und mitzugestalten und sich dann in ihren jeweiligen Ländern für Gesetzesreformen stark zu machen.

Reaktionen auf
islamischen Feminismus

All diese Bemühungen, mithilfe eines islamischen Feminismus einen frauenfreundlichen Islam wieder zu erwecken, werden einerseits positiv aufgenommen, andererseits misstrauisch beäugt.

Unterstützung kommt aus zwei unterschiedlichen Lagern. Da gibt es zum einen die »Islam Only«-Position. Die Vertreter*innen dieser Position gehen davon aus, dass ein feministischer Impuls, der den Traditionen und gesellschaftlichen Normen nicht-westlicher muslimischer Gesellschaften gerecht werden soll, nur im Rahmen des Islam entwickelt werden kann. Sie mahnen eine Rückkehr zum »authentischen« Islam an und sind davon überzeugt, zur Erlangung von Gendergerechtigkeit sei sonst nichts nötig oder wünschenswert. Für sie ist das Konstrukt eines säkularen westlichen Feminismus fremd, ungeeignet und rundum abzulehnen.

Zu den anderen Befürworter*innen gehören säkular orientierte Feminist*innen, aus deren Sicht ein islamischer Feminismus eine wertvolle Ergänzung des Repertoires bietet, um sich mit dem tief verwurzelten Patriarchat auseinanderzusetzen. Sie gehen davon aus, dass eine feministische Praxis nur dann für bereitere Kreise in muslimischen Ländern attraktiv sein kann, wenn sie auf dem Islam basiert, und dass es folglich zur Auseinandersetzung mit dem Islam und zur Neuinterpretation der Textquellen keine Alternative gibt. Einfach das Konzept universaler Menschenrechte zu vertreten und auf die Erfolge von Frauen im Westen zu verweisen, würde bei Muslimas nicht auf Resonanz stoßen, sondern als fremd und elitär empfunden.

Für diese Argumente gibt es konkrete Gründe, und auch der gezielte Einsatz religiöser Sprache hat einige Vorteile. Unabhängig davon identifizieren sich aber viele Frauen einfach mit dem Islam und fühlen sich durch ihre islamische Identität nicht daran gehindert, sich für eine egalitäre und gendergerechte Gesellschaft einzusetzen. Islamische Feminist*innen lehnen es ab, die Genderfrage als Entweder-oder zu behandeln – entweder Feminist*in oder Muslim*a.

Durch die Auseinandersetzung mit theologischen Fragen und die Neuinterpretation der Texte haben sich die islamischen Feminist*innen viel Wissen über die Quellen angeeignet, aus denen patri­archale Politik häufig abgeleitet wird. So sind sie in der Lage, das religiöse Pa­tri­archat aus einer Position der Stärke in Frage zu stellen.

Viele säkulare Feminist*innen, die ihre islamischen Schwestern in ihrer Arbeit unterstützen, sind davon überzeugt, dass sich widerständige und reformerische Kräfte sukzessive entwickeln und an pragmatischen, alltäglichen Dingen schärfen, die nicht sauber in säkular oder theokratisch zu trennen sind. Die feministische Wissenschaftlerin Valentine Moghadam verweist darauf, wie wichtig im Iran die Texte und öffentlichen Äußerungen islamischer Feminist*innen sind. Ihnen und den Frauepublikationen sei es zuzuschreiben, dass sich das diskursive Universum verbreitert hätte und die juristischen Kenntnisse und das Genderbewusstsein der Leser*innen gewachsen seien.

Jenseits dieser beiden Unterstützergruppen stoßen islamische Feminist*innen hingegen auf erhebliche Vorbehalte, und zwar nicht nur vonseiten des religiösen Establishments, sondern auch säkularer Feminist*innen. Während die Geistlichkeit die Einmischung in den Islam-Diskurs für unstatthaft und töricht hält, können für viele säkulare Feminist*innen, darunter Haideh Moghissi, Frauenrechte nur aus säkularen, interkulturellen und universellen Prämissen erwachsen, die nicht durch die spezifischen sozio-religiösen Kontexte einer Gesellschaft unterminiert werden dürfen. Sie halten die Aktivitäten und Ziele des islamischen Feminismus für zu eng gefasst und kompromittiert und das ganze Projekt bestenfalls für unzureichend und suspekt, schlimmstenfalls für falsch und gefährlich. Die wohlmeinenden islamischen Feminist*innen würden im Laufe der Zeit selbst erkennen, wie mangelhaft und begrenzt ihr Ansatz sei, und dann müssten sie sich doch mit der Frage auseinandersetzen, was für sie Priorität hat: Islam oder Feminismus? Welches Konzept muss sich dem anderen unterordnen?

Diese säkularen Feminist*innen behaupten, islamischer Feminismus sei polarisierend und würde dem Anliegen schaden, in der universellen Sprache der Menschenrechte für Frauenrechte zu streiten. Erst das Beharren der islamischen Feminist*innen, Lösungen für die Probleme der Frauen im Rahmen der islamischen Normen zu finden, diskreditiere die säkularen Feminist*innen als fremd, verwestlicht und anti-islamisch.

Moghissi lenkt die Aufmerksamkeit zurück auf die Frage, was im islamischen Feminismus eigentlich mit Islam und Feminismus gemeint sei. Im weitesten Sinne sei Feminismus die Weigerung, sein Leben den männlich zentrierten Diktaten religiöser und nicht-religiöser Institutionen unterzuordnen. In seinem Zentrum stehe die Überzeugung, dass der biologische Unterschied zwischen Männern und Frauen nicht zu ungleichen Lebenschancen und Rechtsstellungen für Frauen und Männern oder zur Privilegierung der einen vor den anderen führen dürfe. Wenn Islam bedeute, sich auf den Koran und die Scharia zu verlassen, dann stellt sich laut Moghissi die Frage nach dem Umgang mit den koranischen Prinzipien, die für Männer und Frauen unterschiedliche Rollen und Pflichten definieren. Moghissi konstatiert sogar, dass eine feministische Muslima zwar Gleichberechtigung für Frauen fordern und gleichzeitig gläubig sein könne, dazu müsse sie aber die Scharia, das islamische Rechtssystem, hinter sich lassen. Andernfalls müssten die Begriffe »Feminismus« und »Scharia« neu definiert werden.

Schlussfolgerungen

Ungeachtet aller Argumente für oder gegen einen islamischen Feminismus ist unbestritten, dass das Konzept den Diskurs über Gendergerechtigkeit in muslimischen Gesellschaften in mehrfacher Hinsicht verändert hat.

Zuvor war es für die Autoritäten in muslimischen Gesellschaften relativ einfach, feministische Fragen abzutun, weil Feminismus fremd, westlich, anti-islamisch und korrupt sei. Die kenntnisreichen Interventionen islamischer Feminist*innen haben dies nun unmöglich gemacht. Ihre sprachlich und strategisch klug formulierten Fragestellungen haben Legitimität und breite Rezeption erlangt – ein wichtiger Schritt, um das Patriarchat herauszufordern. Zugleich findet eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den Anliegen der Frauen statt; es reicht nicht mehr aus, darauf zu verweisen, der Islam habe alle diese Fragen im 7. Jahrhundert doch bereits beantwortet. Teile des religiösen Establishment reagieren auf diesen Bewusstseinswandel und akzeptieren, dass auf heutige Anliegen neue und zeitgemäße Antworten fällig sind.

In muslimischen Ländern rund um den Globus konnten islamische Feminist*innen den religiösen und staatlichen Autoritäten Zugeständnisse und Gesetzesreformen zur Verbesserung der Lage der Frauen abringen, von der Anhebung des Heiratsalters für Frauen und frauenfreundlichere Ehe- und Scheidungsgesetze bis zum Recht der Frauen auf ein Studium und einen Beruf. Islamische und säkulare Feminist*innen haben daran gemeinsam mitgewirkt.

Durch den Diskurs um islamischen Feminismus hat sich eine Sprache entwickelt, auf die junge Frauen bei ihrer Auseinandersetzung mit den partriarachalen Normen, die in den Familien und der Gesellschaft kulturell verankert sind, zurückgreifen können. Nun können sie darauf verweisen, dass diese Normen nichts mit dem Islam zu tun haben, sondern mit Traditionen, und können sich wieder auf ihre lange außer Blick geratenen Rechte berufen.

Kann islamischer Feminismus also Gendergerechtigkeit fördern?

Feminismen jeglicher Prägung sind eine anhaltende, mühsame und langwierige Aufgabe, Gender-Ungerechtigkeiten zu hinterfragen und zu zerstören, die sich in allen Gesellschaften unterschiedlich manifestierten. Wir hinterfragen nicht, ob säkularer Feminismus die Gendergerechtigkeit voranbringt, sondern gehen davon aus, dass die Reise mit all ihren Wechselfällen den Aufwand wert ist, selbst wenn das Ziel noch in weiter Ferne liegt. Genauso sollten wir beim islamischen Feminismus nicht in Frage stellen, ob er für die Sache nützlich ist, sondern vielmehr, ob die derzeit gewählten Strategien vielversprechend sind.

Ich würde diese Frage mit Ja beantworten.

Literatur

Abu-Lughod, L. (1998): Feminism and Islamism in Egypt. In: Abu-Lughod, L.: Remaking Women – Feminism and Modernity in the Middle East. Princeton: Princeton University Press.

Afary, J. (1997): The War against Feminism in the Name of the Al­mighty – Making Sense of Gender and Muslim Fundamentalism. New Left Review, Nr. 224, S. 105-107.

Ahmadi, F. (2006): Islamic Feminism in Iran – Feminism in a new Islamic context. Journal of Feminist Studies in Religion, Vol. 22, Nr. 2, S. 33-53.

Barlow, R.; Akbarzadeh, S. (2008): Prospects for Feminism in the Islamic Republic of Iran. Human Rights Quarterly Vol. 30, Nr. 1, S. 21-40.

Hashim, I. (1999): Reconciling Islam and Feminism. Gender and Development, Vol. 7, Nr. 1, S. 7-14.

Kandiyoti, D. (1988): Bargaining with Patriarchy. Gender and Society, Vol. 2, Nr. 3, S. 274-290.

Mahmood, S. (2005): Politics of Piety – The Islam­ic Revival and the Feminist Subject. Princeton: Princeton University Press.

Majid, A. (1998): The Politics of Feminism in Islam. Signs, Vol. 23, Nr. 2, S. 321-361.

Mayer, A.E. (1998): Comment on Majid’s »The Politics of Feminism in Islam«. Signs, Vol. 23, Nr. 2, S. 369-377.

Moghadam, V.M. (2002): Islamic Feminism and Its Discontents – Toward a Resolution of the Debate. Signs, Vol. 27, Nr. 4, S. 1135-1171.

Moghissi, H.. (1999): Feminism and Islamic Fundamentalism – The Limits of Postmodern ­Analysis. Oxford: Oxford University Press.

Mohanty, C.T. (1988): Under Western Eyes – Feminist Scholarship and Colonial Discourses. Feminist Review, No. 30, S. 65-88.

Mojab, S. (2001): Theorising the Politics of Islamic Feminism. Feminist Review, Nr. 69, S. 124-146.

Ambar Ahmad lehrt Politikwissenschaft an der University of Delhi. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören politische Theorie, Religion, feministische Politik und insbesondere das Zusammenspiel von Religion und Politik.

Der vorliegende Text ist eine leicht gekürzte Übersetzung der gleichnamigen Analyse, die 2015 von der Friedrich-Ebert-Stiftung in Indien herausgegeben wurde.
Aus dem Englischen übersetzt von ­Regina Hagen.

Die diskursive Macht des IS


Die diskursive Macht des IS

von Axel Heck

Aus den Nachrichten kaum mehr wegzudenken: gewaltbeladene Aktionen des »Islamischen Staates«. Gleichzeitig wachsen die Vorbehalte gegenüber MuslimInnen in der Bevölkerung. Wie der IS die neuen Medien nutzt, um bestimmte Narrative zu etablieren, die wiederum Vorbehalte gegenüber MuslimInnen stärken, wird im folgenden Artikel dargelegt.

Im Jahr 2010 verkündete der deutsche Bundespräsident Christian Wulff: „Das Christentum gehört zweifelsfrei zu Deutschland. Das Judentum gehört zweifelsfrei zu Deutschland. Das ist unsere christlich-jüdische Tradition. Aber der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland.“ (Wulff 2010, S. 6) Andererseits tritt seit 2014 in einigen deutschen Städten mit den »Patriotischen Europäern gegen die Islamisierung des Abendlandes« (PEGIDA) eine Bewegung in Erscheinung, für die Islamfeindlichkeit die Motivation für ihre Aktivitäten ist. Und die Alternative für Deutschland (AfD) formuliert in ihrem jüngst beschlossenen Bundesparteiprogramm explizit: „Der Islam gehört nicht zu Deutschland.“ (AfD 2016, S. 49) Umfragen belegen, dass in Deutschland die Vorbehalte gegenüber MuslimInnen und »dem Islam« in den letzten Jahren deutlich gestiegen sind (Bertelsmann Stiftung 2015, S. 7-8).

Deutungskampf um den Islam

Islamistischer Terrorismus ist spätestens seit den Anschlägen in New York und Washington (2001), Madrid (2004) und London (2005) als Phänomen in den westlichen Gesellschaften präsent (Frindte et al 2011, S. 16-17; Benz 2012, S. 21-22). Islamophobie aber wird erst seit wenigen Jahren regelmäßig und straff organisiert in aller Öffentlichkeit propagiert. Ein Blick auf aktuelle Umfragen zeigt, dass Islamophobie keineswegs nur am »rechten Rand« der Gesellschaft angesiedelt ist, sondern Vorurteile und stereotype Zuschreibungen bis weit in die bürgerliche Mitte hinein verbreitet und geteilt werden (Bertelsmann Stiftung 2015, S. 9-10; Decker et al. 2014, S. 48-51, 62). Es wird zwar immer wieder betont, die übergroße Mehrheit der MuslimInnen in Deutschland und anderen europäischen Staaten seien »unbescholtene BürgerInnen« und hätten weder mit Anschlägen zu tun noch hegten sie Sympathien für den Terror des Islamischen Staats (IS); dennoch scheinen MuslimInnen unter einen diffusen Generalverdacht gestellt zu werden, der aus einer diskursiven Gleichsetzung von »Islam« und »Terrorismus« hervorgeht (Brassel-Ochmann 2015, S. 58, 81; Mazyeck 2014; Körting et al 2015, S. 16-17, 47).

Dabei wird immer deutlicher, dass »der Islam« längst Gegenstand eines diskursiven Deutungskampfes ist, in dem unterschiedliche muslimische wie nicht-muslimische Kräfte darum ringen, ihre jeweiligen Vorstellungen zu etablieren (Kliche et al. 1997; Karis 2013; Kalwa 2013; Wehrstein 2013; Kliche 1998). Und der IS, der vor allem die Eigenlogik der so genannten neuen Medien nutzt, um an diesem Deutungskampf zu partizipieren (Weimann und Jost 2015), hat sich zu einem der wichtigsten Diskurs­akteure entwickelt. Da hilft es wenig, wenn z.B. der Islamwissenschaftler und Buchautor Navid Kermani explizit erklärt: „Alle maßgeblichen theologischen Autoritäten der islamischen Welt haben den Anspruch des IS verworfen, für den Islam zu sprechen, und im Detail herausgearbeitet, inwiefern dessen Praxis und Ideologie dem Koran und den Grundlehren der islamischen Theologie widersprechen.“ (Kermani 2015b, S. 10)

Das Narrativ des IS

Bislang wurde die von der IS-»Propaganda« ausgehende Gefahr meistens vor dem Hintergrund des Radikalisierungspotentials thematisiert. (Lister 2014, S. 24; Atwan 2015, S. 14). Einige Studien gehen dabei auf Versuche des IS ein, die Tötung von Geißeln als »Bestrafung« für Gewalttaten des Westens gegen muslimische Glaubensbrüder in aller Welt zu legitimieren und hierdurch weitere Unterstützung zu gewinnen (z.B. Zech und Kelly 2015). Eine weitere, bislang unterschätze Gefahr besteht darin, dass der IS mit seinen medial verbreiteten Botschaften die vorherrschenden Vorstellungen beeinflusst, was unter »Islam« zu verstehen ist. Überdies sollen die Botschaften von Hass und Gewalt, die im Namen des IS um die Welt geschickt werden, nicht nur Angst und Schrecken verbreiten, sondern in westlichen Ländern auch antiislamische und rassistische Vorurteile gegenüber MuslimInnen schüren und so den gesellschaftlichen Zusammenhalt und das friedliche Zusammenleben verschiedener Religionsgemeinschaften und Kulturen unterminieren. Diese Ziele werden in den Ausgaben des IS-Magazins »Dabiq« ganz offen verkündet.

Dazu bietet der IS ein Islamverständnis an, wonach der Islam eine „Religion des Schwerts und nicht des Friedens“ sei (Dabiq 2015, S. 20) und sich somit fundamental von den Vorstellungen solcher islamischer Gelehrter unterscheidet, die darauf verweisen, der Islam sei eine Religion der Freiheit und Gerechtigkeit, des Friedens und der Kultur (Kermani 2015a). Navid Kermani schilderte in seiner Rede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels seine Lesart des Islam: „Als Philologe hatte ich vor allem mit den Schriften der Mystiker, der Philosophen und der Rhetoriker und ebenso der Theologen zu tun. Und ich, nein: Wir Studenten konnten und können nur staunen über die Originalität, die geistige Weite, die ästhetische Kraft und auch humane Größe, die uns […] begegnen, die weltlich sind, ja weltlich und erotisch und übrigens auch feministisch und zugleich auf jeder Seite durchdrungen vom Geist und den Versen des Korans. […] Nichts, absolut nichts findet sich innerhalb der religiösen Kultur des modernen Islams, das auch nur annähernd vergleichbar wäre, eine ähnliche Faszination ausübte, von ebensolcher Tiefe wäre wie die Schriften, auf die ich in meinem Studium stieß. Und da spreche ich noch gar nicht von der islamischen Architektur, der islamischen Kunst, der islamischen Musikwissenschaft – es gibt sie nicht mehr.“

Kermani kam zum Schluss, das „Problem des Islams [sei] weniger die Tradition als vielmehr der fast schon vollständige Bruch mit dieser Tradition, der Verlust des kulturellen Gedächtnisses“, was er als „zivilisatorische Amnesie“ bezeichnet (Kermani 2015b, S. 11). Dieser Tradition setzt der IS ein radikales und menschenverachtendes Narrativ entgegen, das historisch-traditionell aufgeklärte DenkerInnen des Islam kurzerhand zu »Abtrünnigen« und »Feinden« erklärt. Die politischen und gesellschaftlichen Folgen dieser durch den IS propagierten diskursiven Gleichsetzung von »Terror« und »Islam« sind nahezu unabsehbar.

Neue Medien für die politische Kommunikationsstrategie

Die politische Kommunikationsstrategie des IS scheint gezielt die Bilder terroristischer Gewalt mit einer totalitären Ideologie und einem universellen Herrschaftsanspruch zu verknüpfen und setzt im Kampf um Aufmerksamkeit und Klicks insbesondere auf die »neuen« Medien (Twitter, YouTube und das IS-eigene Magazin Dabiq). Akil Awan spricht von einer symbiotischen Beziehung“, die den IS mit diesen Medien verbinde (Awan 2014).

Mit seiner »Ikonographie des Schreckens« bedient der IS einerseits bereits in Teilen der Gesellschaft verankerte rassistisch-islamophobe Vorurteilsstrukturen. Andererseits ist das IS-Narrativ aufgrund seiner auf Gewalt und Brutalität basierender medialen Wirkmächtigkeit durchaus in der Lage, konkurrierende Konzepte eines friedlichen, offenen, toleranten und demokratischen Islam in den Hintergrund zu drängen. Dabei ist es der Aufmerksamkeitsökonomie neuer (und teilweise auch klassischer) Medien geschuldet, dass die Botschaft der Gewalt rasch Verbreitung findet, während die Botschaft eines friedlichen Islam in den Medien gar nicht erst ankommt. In einer Mediengesellschaft, in der Klickzahlen, Re-tweets und User-likes als »harte Währung« zählen, hat das Wort Navid Kermanis einen ungleich schwereren Stand als das neueste Hinrichtungsvideo des IS.

Soziale Ausgrenzung und Stigmatisierung der muslimischen Minderheiten in westlichen Gesellschaften werden als performative Effekte solcher Videobotschaften bewusst in Kauf genommen und aktiv gefördert. Als Arena zur Austragung des Deutungskampfes wählt der IS nicht nur den inner-islamischen Diskurs, sondern ebenso die nicht-muslimisch geprägte Öffentlichkeit. Die Videobotschaften des IS, die in regelmäßigen Abständen gezielt den Weg in westliche Medien finden, zeigen fast ausnahmslos Darstellungen von Gewalt und Zerstörung unvorstellbaren Ausmaßes. Einige dieser Videos haben geradezu ikonische Bedeutung gewonnen, etwa die Enthauptung des US-Amerikaners James Foley, die Verbrennung des jordanischen Kampfpiloten Moaz al-Kasasbeh bei lebendigem Leibe oder die Zerstörung der antiken Stadt Palmyra.

Neben den Machtphantasien und Gewaltdarstellungen zeichnet sich die Kommunikationsstrategie des IS durch das Legitimationsnarrativ aus, demzufolge die Herrschaft des IS auf dem Glauben der Menschen an dessen Rechtmäßigkeit basiere. Die Legitimität wird durch Verweis auf eine legale und traditionale Ordnung sowie die charismatischen Führereigenschaften des »Kalifen« Abu Bakr al Baghdadi erzeugt (Heck 2016). Auch das Video über die Verbrennung Moaz al-Kasasbehs ist in ein Legitimationsnarrativ eingebettet, wonach der IS Verbrechen vergelte, die al-Kasasbeh und andere Kampfpiloten mit der Bombardierung von Städten begangen hätten. In ähnlicher Weise wird die Enthauptung James Foleys inszeniert, der als Repräsentant eines westlichen Eroberungsfeldzuges »bestraft« werde. Selbst wenn solche Versuche der Legitimation von Gewalt im Namen der Religion von islamischen Gelehrten zurückgewiesen werden, entfalten sie in einem nicht-muslimisch geprägten Diskurs Wirkung. Denn einerseits sind die Verweise auf Verbrechen des »Westens und seiner Verbündeter« oftmals nicht falsch, andererseits sind die brutal inszenierten Hinrichtungen grausam, zutiefst menschenverachtend und nicht legitimierbar. Dennoch »erzwingen« diese Botschaften unsere Aufmerksamkeit, da wir Teil der Mediengesellschaft sind und uns ihnen kaum entziehen können. Da das einmal Wahrgenommene nicht ohne Weiteres wieder vergessen werden kann, entfalten diese Botschaften ihre performativen Effekte, indem sie zu einem Teil unserer Vorstellungswelt werden – ob wir wollen oder nicht.

Fazit

»Der Islam« erfährt durch die »Ikonographie des Schreckens« des Islamischen Staates eine narrative Aufladung, in der bereits abgespeicherte rassistische und islamophobe Vorurteilsstrukturen in westlichen Gesellschaften mit fanatisch-religiös motivierter Gewaltbereitschaft und universalen Herrschaftsansprüchen verkoppelt werden. Der IS entwickelt ein Narrativ, wonach sich sein totaler Herrschaftsanspruch nicht nur auf die Region des Nahen Ostens beschränkt, sondern die »westliche Kultur« der »Ungläubigen« in Europa und Nordamerika vernichtet werden soll. Indem der IS mit der Brutalität seiner Botschaften die Aufmerksamkeitsökonomie neuer Medien gezielt nutzt, gelingt es ihm, die identitäre Konstruktion eines radikal-islamischen »Selbst« auch in einem nicht-muslimischen Diskurs zu verankern und aufgeklärt-traditionelle Konzeptionen des friedlichen und kulturell so reichen Islam zu marginalisieren. Die durch den IS angeheizte Islamophobie führt zu einer immer stärkeren Ausgrenzung von MuslimInnen und bereitet so den Nährboden für weitere Radikalisierung und Gewaltbereitschaft.

Literatur

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Atwan, A.B. (2015): Islamic State – The Digital Caliphate. Oakland: University of California Press.

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Dr. Axel Heck ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Governance in Mehrebenensystemen der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg.

Demokratie und Islamismus in Indonesien


Demokratie und Islamismus in Indonesien

von Andreas Ufen

Über viele Jahre herrschte in der Diskussion über Indonesien das Bild eines exotischen Islam vor, der vom vorherrschenden Glauben abwich und durch eine eigenartige Toleranz gekennzeichnet war. Insbesondere die Arbeiten des Ethnologen Clifford Geertz prägten dieses Bild (Geertz 1960). Das hat sich seit den 1970er Jahren langsam und seit den 1990er Jahren, vor allem nach dem Sturz des diktatorisch regierenden Staatspräsidenten Haji Mohamed Suharto 1998 und der dann einsetzenden Demokratisierung, deutlich geändert. Die veränderte Wahrnehmung ist zum einen auf die zunehmende, auf islamistische Strömungen fokussierte und zuweilen einseitige Berichterstattung zurückzuführen, zum anderen auf fragwürdige Erscheinungen eines politisierten Islam in vielen Ländern mit starker muslimischer Bevölkerung.

Muslime in Indonesien sind weniger konservativ oder gar reaktionär als Muslime etwa in Saudi-Arabien oder im Iran. Das gilt immer noch, trotz einer merklichen Islamisierung seit den 1970er Jahren. In der Literatur werden für diese moderatere Ausrichtung des indonesischen Islam verschiedene Faktoren benannt: Es gibt eine lange nicht-muslimische Tradition sowie eine Tendenz, unterschiedliche Glaubensströmungen miteinander zu verbinden. In der Region herrschten über viele Jahrhunderte Königreiche, die hinduistisch und buddhistisch legitimiert waren. Die Islamisierung seit dem 12. oder 13. Jahrhundert verlief ungleichmäßig, langsam und führte häufig, besonders auf der bevölkerungsreichsten Insel Java, zu einer Überlagerung mit älteren religiösen Deutungsmustern. Javanische Könige waren Sultane, aber starke hindu-buddhistische Einflüsse sind bis heute in Städten, wie Yogyakarta oder Solo, deutlich sichtbar. Indonesien hat außerdem aufgrund kolonialer niederländischer Einflüsse starke religiöse Minderheiten; in manchen Gebieten gibt es sogar christliche oder hinduistische Mehrheiten.

Die »Fünf Säulen« als Staatsdoktrin

In Indonesien setzten sich schon bei der Gestaltung der Unabhängigkeit ab 1945 Kräfte durch, die nicht an der Schaffung eines wie immer gearteten »Islamstaates« interessiert waren, da sie sich an »westlichen« Modellen von Demokratie orientierten. Diese Gruppe, deren prominentester Vertreter der erste Präsident Indonesiens, Sukarno, war, musste allerdings auf konservative Kräfte, die verschiedenen islamischen Parteien und Organisationen angehörten, Rücksicht nehmen. Diese Islamisten wollten in die erste Verfassung des Landes einen Passus aufnehmen, der es den Muslimen zur Pflicht gemacht hätte, gemäß der Scharia zu leben. Auch wenn nicht ganz klar wurde, was mit dem Passus gemeint war, wurde er von vielen Muslimen als Einführung des islamischen Strafrechtes interpretiert. Da außerdem Angehörige religiöser Minderheiten fürchten mussten, dass die Aufnahme des Passus in die Verfassung der Beginn einer weitreichenden Islamisierung sein könnte, einigte man sich letztlich darauf, auf diesen Halbsatz zu verzichten. Etwa zur gleichen Zeit entwickelte Sukarno die so genannte »Pancasila« (Fünf Säulen). Dieses Sanskritwort bezeichnet bis heute die zentrale Staatsdoktrin (oder Staatsphilosophie), die als eine Art »Zivilreligion« fungiert. Neben dem sunnitischen Islam erkennt die »Pancasila»« fünf weitere, und nur diese, Religionen als gleichberechtigt an: Protestantismus, Katholizismus, Buddhismus, Hinduismus und seit 2007 auch den Konfuzianismus.

Indonesien ist heute eine präsidentielle Demokratie mit einem mäßig polarisierten, aber stark fragmentierten Parteiensystem. Fast alle Parteien orientieren sich in die politische Mitte. Selbst die islamistische Partai Keadilan Sejahtera (PKS, Gerechtigkeits- und Wohlfahrtspartei), die bei den Parlamentswahlen 2014 6,8 % der Stimmen erhielt, öffnet sich tendenziell größeren Wählergruppen. Bei der Bildung von Koalitionen spielen religiöse Fragen ohnehin eine untergeordnete Rolle.

Die größten, tendenziell eher säkularen Parteien berufen sich auf die »Pancasila« als Wertegrundlage. Alle Regierungen seit 1998, seit dem Sturz Suhartos, waren in religiösen Fragen eher undogmatisch. Das gilt für den lange in Deutschland ausgebildeten und später im deutschen Konzern MBB aufgestiegenen B.J. Habibie (1998-99), für Abdurrahman Wahid (1999-2001), der als ausgesprochen liberaler, islamischer Intellektueller galt, sowie für dessen Nachfolgerin Megawati Sukarnoputri (2001-2004), die als Tochter Sukarnos und als Vorsitzende einer Partei, die traditionell viele Christen und Hinduisten in ihren Reihen hat, als unorthodox gilt. Susilo Bambang Yudhoyono, Präsident von 2004-2014, ist ebenfalls kein religiöser Eiferer, auch wenn er am ehesten bereit war, islamistische Gruppierungen gewähren zu lassen. Der jetzige, äußerst populäre Präsident Joko Widodo (häufig einfach Jokowi genannt), präsentiert sich zwar öffentlich als orthodoxer Muslim, ist aber ein volksnaher Pragmatiker, der Politik und Religion weitgehend voneinander trennt.

Umfragen zeigen, dass die große Mehrheit der Muslime die Demokratisierung unterstützt. Die beiden größten muslimischen Massenorganisationen, Nahdatul Ulama und Muhammadiyah, mit jeweils mehreren Dutzend Millionen Mitgliedern,1 erwiesen sich zumeist als moderate, zum Teil sogar als ausgesprochen fortschrittliche Kräfte. Auch die politischen Parteien, die sich auf den Islam berufen, sind grundsätzlich prodemokratisch orientiert – allenfalls die Haltung der PKS ist nicht so eindeutig.

Historische Ausformungen religiös motivierter Gewalt

Gewalt und Krieg spielten immer eine große Rolle in der indonesischen Geschichte. Nach der Unterdrückung durch die Niederlande (von ca. 1600 bis 1942) etablierte Japan für dreieinhalb Jahre ein brutales Besatzungsregime. Nach der Kriegsniederlage Japans im August 1945 entstand kurzzeitig ein Machtvakuum. Es schloss sich ein Unabhängigkeitskrieg gegen die Niederlande an, der mit innergesellschaftlichen, sozialen Umbrüchen verbunden war. Mit der Errichtung einer stark zentralistisch ausgerichteten parlamentarischen Demokratie entwickelten sich Mitte der 1950er Jahre Spannungen zwischen der Zen­tralregierung und einigen Provinzregierungen. Auf den so genannten Außeninseln, also jenseits der Hauptinsel Java, fühlte man sich vor allem wirtschaftlich benachteiligt. Zum Teil wurden diese gegen Jakarta gerichteten Bewegungen von Islamisten geführt. In den 1950er und frühen 1960er Jahren kämpfte das indonesische Militär die militante Darul-Islam-Bewegung nieder.

Das Militär, das schon Ende der 1950er Jahre in der »Gelenkten Demokratie« seinen Einfluss deutlich verstärken konnte, übernahm 1965/66 unter Führung von General Suharto vollends die Macht, errichtete die »Neue Ordnung« und vernichtete die mächtige Kommunistische Partei (PKI). Paramilitärische Todesschwadrone, unter ihnen Mitglieder christlicher, besonders aber muslimischer Gruppierungen, verübten mit Unterstützung der Militärs ein Massaker an (z.T. vermeintlichen) Kommunisten, das mehrere Hunderttausend Menschenleben forderte. Die inter-religiösen Auseinandersetzungen intensivierten sich schon in den letzten Jahren der »Neuen Ordnung«, als sich ein Zusammenbruch des autoritären Regimes immer mehr abzeichnete. Von 1995-1997 kam es vor allem in Klein- und Mittelstädten zu religiös motivierten Unruhen, bei denen Kirchen, Tempel, Amts- und Firmengebäude geplündert, zerstört, und häufig niedergebrannt wurden.

1998-2001 forderten Bürgerkriege auf den Inseln Kalimantan (Borneo) und Sulawesi sowie auf der Inselgruppe Molukken mehrere Tausend Tote. In dieser Phase der radikalen politischen Transition musste die Machtverteilung auf allen administrativen Ebenen neu ausgehandelt werden, neue Akteure traten auf den Plan, und die staatlichen Sicherheitskräfte waren häufig überfordert. Wie schnell selbst das jahrzehntelange friedliche Zusammenleben von religiösen Gemeinschaften beendet werden kann, zeigte sich schon wenige Monate nach dem Ende der »Neuen Ordnung« in den Molukken-Provinzen, vor allem auf der Insel Ambon, wo Muslime und Christen in einem blutigen, entlang religiöser Konfliktlinien geführten Bürgerkrieg, der sich geografisch immer weiter ausdehnte, gegeneinander kämpften.

Diese Art der Gewalt, die eine Zeitlang den Archipel zu zerreißen drohte, wurde von jener der Vigilanten abgelöst.2 Am bekanntesten ist die Front Pembela Islam (FPI, Front der Verteidiger des Islam), die sich gegen eine Verwestlichung richtet, die sie mit Dekadenz und Morallosigkeit gleichsetzt. Neben der FPI gibt es zahllose weitere solche Gruppierungen. Es scheint eine Art stillschweigender Übereinkunft zwischen islamistischen Politikern, Bürokraten, Polizisten, religiösen Führern und Vigilanten zu geben, die Islamisierung mit den Mitteln beschränkter Gewalt zu forcieren. Veranstaltungen, bei denen es um die Rechte religiöser Minderheiten oder Homosexueller geht oder bei denen die Massaker an Kommunisten Mitte der 1960er Jahre zur Sprache gebracht werden sollen, werden häufig durch gewaltbereite Gruppen gesprengt oder aus Sicherheitsgründen von den Behörden untersagt.

Die oben genannte islamistische Koalition ist auch dafür verantwortlich, dass sich die Lage religiöser Minderheiten, insbesondere von Schiiten und Mitgliedern der Ahmadiyah-Gemeinde, in den letzten Jahren erkennbar verschlechtert hat (Human Rights Watch 2013; Ufen 2016b). Die Einengung der Spielräume für alle, die vom Mainstream abweichen, zeigt sich auch darin, dass das lange unbeachtete Blasphemie-Gesetz seit Kurzem viel häufiger angewandt wird oder dass 2008 das indonesische Parlament ein höchst umstrittenes Pornografiegesetz verabschiedete, das Gefängnisstrafen für »unzüchtige« Darstellungen und Handlungen festschreibt und damit die Kunst-, Presse- und Meinungsfreiheit deutlich einschränkt.

Mit der von der Zentralregierung betriebenen Dezentralisierung erhielten zudem lokale Behörden die Möglichkeit, religiös fundierte Verordnungen zu erlassen, also etwa unter Verweis auf die Scharia Alkohol, Glücksspiel oder »unislamische« Verhaltensweisen und Kleidungsformen zu verbieten. Besonders augenfällig ist diese Entwicklung in der Provinz Aceh. Dort führte die Gerakan Aceh Merdeka (Bewegung Freies Aceh, GAM) jahrzehntelang einen Bürgerkrieg gegen den indonesischen Zentralstaat, wobei sich nationalistische und islamistische Legitimierungsmuster ergänzten. Erst im Jahre 2005 kam es zu einem Friedensschluss zwischen dem indonesischen Militär und der GAM. Die Provinz Aceh erhielt im Zuge einer Sonderautonomie gewisse Privilegien. Ein Scharia-Gericht verurteilt nun überführte Delinquenten zu Prügelstrafen, die öffentlich vollstreckt werden. Eine Scharia-Polizei sucht nach Personen, die Alkohol trinken, homosexuell sind oder sich heimlich mit Angehörigen des anderen Geschlechts treffen (Simanjuntak 2015).

Für Islamisten befindet sich Aceh auf dem richtigen Weg. Nach der Logik gewaltbereiter Gruppen kann Indonesien aber nur dann grundlegend verändert werden, wenn es durch Terrorakte destabilisiert wird. Im Oktober 2002 starben bei Anschlägen auf Bali mehr als 200 Menschen. Danach kam es zu weiteren Bombenanschlägen, bei denen zunächst überwiegend »westliche« Ziele, also Diskotheken, Luxushotels und Botschaftsgebäude, dann zunehmend die indonesischen Sicherheitskräfte ins Visier der Terroristen gerieten. Ursprünglich war vor allem die Jemaah Islamiyah (JI, Islamische Gemeinschaft) für den Terror verantwortlich, mittlerweile ist die Szenerie unübersichtlich geworden. Der jüngste Anschlag vom Januar 2016 geht auf das Konto des »Islamischen Staates« (IS) – oder genauer gesagt auf Indonesier, die sich auf den IS berufen (Ufen 2016a). Mehrere Hundert Indonesier kämpfen für den IS in Syrien, das sind aber immer noch weniger als z.B. aus Deutschland. Das Szenario einer IS-Herrschaft in Südostasien ist unwahrscheinlich, auch weil diese Terroristen über keinen nennenswerten Rückhalt in der Bevölkerung verfügen.

Widerstreitende Deutungsmuster

Will man der Öffentlichkeit ein dramatisches Bild der jüngsten Entwicklungen in Indonesien präsentieren, braucht man nur die Terroranschläge, repressiven Gesetze und Verordnungen und die Unterdrückung von Minderheiten aufzulisten. Die große Mehrheit der indonesischen Muslime ist aber weiterhin moderat oder orthodox-konservativ, nicht radikal. Trotzdem ist die Radikalisierung eines Teils der Gesellschaft höchst beunruhigend, zumal ein reaktionärer Islam in der Lage ist, bis weit in die gesellschaftliche Mitte hinein zu wirken.

Warum gerade seit der Demokratisierung die reaktionären Kräfte stärker werden, ist nicht einfach zu erklären. Zum einen eröffnen sich durch Presse-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit neue Spielräume. In der »Neuen Ordnung« konnten Islamisten leichter daran gehindert werden, sich effektiv zu organisieren. Zum anderen sind große Bevölkerungsteile aufgrund der neuen politischen Freiheiten, die zeitlich mit erheblichen ökonomischen Umwälzungen einhergehen, stark verunsichert. Bei den letzten Präsidentschaftswahlen hätte deshalb mit dem ehemaligen Schwiegersohn Suhartos, dem höchst umstrittenen Ex-General Prabowo, fast ein unberechenbarer Rechtspopulist gewonnen, noch dazu unterstützt von einigen islamistischen Gruppierungen.

Vielleicht greifen herkömmliche Erklärungen in die Leere und lassen sich radikale Strömungen der Religion viel einfacher, nämlich polit-ökonomisch, erklären, was mit Blick auf Indonesien und das Nachbarland Malaysia erstaunlicherweise selten getan wird.3 Dann könnte man beispielsweise feststellen, dass viele illiberale, von der Scharia »in­spirierte« Lokalverordnungen von eher säkular orientierten Parteien durchgesetzt worden sind, entweder aus wahltaktischen Gründen oder um sich z.B. mit der Einführung einer Almosensteuer neue Finanzierungsquellen zu erschließen (Bühler 2016). Auch die radikalen Vigilantengruppen haben häufig handfeste wirtschaftliche Motive.

Inzwischen hat sich ein riesiger, auch internationaler Markt entwickelt, der u.a. halal Produkte, Bank- und Versicherungsgeschäfte, die Organisation der Wallfahrt nach Mekka, einen islamischen Buchhandel sowie muslimische Laienprediger und Motivationstrainer umfasst (Fealy 2008). Diese genuin ökonomische Dimension wird in Analysen meistens vernachlässigt.

Anmerkungen

1) Allerdings wird diese Mitgliedschaft sehr locker definiert und scheint häufig eher eine Art Anhängerschaft zu bezeichnen.

2) Zu der Abfolge verschiedener Gewaltformen und ihren strukturellen Ursachen siehe Sidel 2006.

3) Ein solcher Ansatz wird vertreten von Hadiz 2016.

Literatur

Bühler, M. (2016): The Politics of Shari’a Law – Islamist Activists and the State in Democratizing Indonesia. Cambridge: Cambridge University Press.

Fealy, G. (2008): Consuming Islam – commodified religion and aspirational pietism in contemporary Indonesia. In: Fealy, G.; White, S. (eds.): Expressing Islam – Religious Life and Politics in Indonesia. Singapur: ISEAS, S. 15-39.

Geertz, C. (1960): The Religion of Java. Glencoe, IL.: Free Press.

Hadiz, V. (2016): Islamic Populism in Indonesia and the Middle East. Cambridge: Cambridge University Press.

Human Rights Watch (2013): In Religion’s Name – Abuses against Religious Minorities in Indonesia. New York.

Sidel, J.T. (2006): Riots, Pogroms, Jihad – Religious Violence in Indonesia. Ithaca, NY: Cornell University Press.

Simanjuntak, H. (2015): »Qanun Jinayat« becomes official for all people in Aceh. The Jakarta Post, 23.10.2015.

Ufen, A. (2016a): Ein Land in Alarmbereitschaft. ZEIT ONLINE, 17.1.2016.

Ufen, A. (2016b): Undermining Religious Minority Rights in Indonesia and Malaysia – Fragile Coalitions, Wavering Executive Chiefs and Rogue Groups as Proxies. In: Bünte, M.; Dressel, B. (eds.): Politics and Constitutions in Southeast Asia. Abingdon: Routledge, i.E.

PD Dr. Andreas Ufen ist Senior Research Fellow am Leibniz Institut für Globale und Regionale Studien (GIGA) in Hamburg und beschäftigt sich u.a. mit Transitionsprozessen, Islam und Politik; sein regionaler Schwerpunkt liegt auf Indonesien, Ost-Timor und Malaysia.

Islam – der einzige Weg


Islam – der einzige Weg

Die politische und geopolitische Kultur der Islamischen Republik Iran

von Ali Fathollah-Nejad

In der Islamischen Republik Iran dominiert eine politische und geopolitische Kultur, die von der politische Elite fast ausnahmslos geteilt wird. Der Fokus liegt auf der Betonung der islamischen Identität Irans, die in das Postulat einer »iranisch-islamischen Zivilisation« mündet. Eine Strategie, das »iranisch-islamische Modell« als alleingültiges für Iran zu positionieren, ist die Herleitung dieses Modells aus der Geschichte und seine Überhöhung bei gleichzeitiger Abwertung anderer Konzepte, wie dem Sozialismus und dem Liberalismus.

Die geopolitischen Radien einerseits des iranischen Nationalismus bzw. der iranischen Zivilisation und andererseits des Schiitentums überschneiden sich in erheblichem Maße. Man könnte daher von einem »iranisch-islamischen« geopolitischen Ring sprechen. Diese Sichtweise teilen ganz unterschiedliche Spektren der politischen Elite der Islamischen Republik Iran, vom Staatsoberhaupt Ajatollah Ali Khamenei bis hin zur Grünen Bewegung.

Im November 2010 wurde in Teheran die erste Tagung für »strategisches Denken« abgehalten; seither finden jährlich solche Veranstaltungen statt. An der Tagung nahmen Philosophen, Akademiker und Theologen teil. Khamenei, der der Tagung vorsaß, rief bei dieser Gelegenheit dazu auf, ein islamisch-iranisches Modell für Fortschritt“ zu entwickeln, das als Masterplan“ für den künftigen Weg des Landes in den Bereichen „Intellekt, Wissenschaft, Lebensweise und Spiritualität“ dienen könne.

Der Aspekt »islamisch« bedinge, dass sämtliche Ziele, Werte oder Methoden des Modells der islamischen Lehre entsprechen. „Unsere Gesellschaft und unsere Regierung sind islamisch. Wir sind stolz, dass wir auf der Basis islamischer Quellen unser eigenes Fortschrittsmodell erarbeiten konnten“, erklärte Khamenei. Der Aspekt »iranisch« verlange, dass das Modell die historischen, geographischen, kulturellen, ökonomischen und sozialen Bedingungen Irans berücksichtige. „Der Begriff weist auch auf den Ursprung des Modells hin. Es geht um nichts weniger als das Bemühen der Denker des Landes Iran, einen Plan für die Zukunft des Landes aufzustellen“, sagte Khamenei.

Die Grüne Bewegung wiederum beschreibt in ihrem Manifest, der »Grünen Charta«, die im Sommer 2010 von ihrem prominentesten Anführer Mir Hossein Mussawi vorgelegt wurde, ihre eigene Identität sowie die der Nation als „iranisch-islamisch“. Die Charta ist ein Hinweis darauf, dass über eine iranisch-islamische Identität Konsens zu herrschen scheint: „Das Geheimnis für das Überleben der iranisch-islamischen Zivilisation liegt in der Koexistenz und Konvergenz nationaler und religiöser Werte in der Geschichte unseres Landes. In diesem Sinne betont die Grüne Bewegung den Schutz und die Stärkung der hohen Werte der iranischen Kultur und unseres Schatzes an nationalen Traditionen und Gepflogenheiten, und setzt sich zum Ziel, den Menschen diese besonderen nationalen und religiösen Traditionen, die uns unsere Identität geben, bewusst zu machen.“

Die Grüne Bewegung war zwar recht vielfältig, blendet aber die sozialistisch geprägten Aspekte der politischen Kultur Irans weitgehend aus und ist daher weit vom ehedem existierenden Kosmopolitismus in Iran entfernt. Vielmehr knüpft sie an die enge Verknüpfung von »iranisch« mit »islamisch« an, die zunächst vom reformistischen Präsidenten Mohammad Khatami heraufbeschwört wurde, als er die Begriffe »Iraniyat« und » Islamiyat « benutzte. Diese zwei Begriffe bilden im Dreiklang mit dem „Dialog der Zivilisationen“ und der „islamischen Demokratie“ die Pfeiler eines „islamistisch-iranischen gegenstaatlichen Diskurses“.1 Die beiden Pfeiler »Dialog der Kulturen« und »islamische Demokratie« werden von den konservativeren Teilen der politischen Elite in Iran allerdings klar abgelehnt.

Eine weitere Variante der Identität wurde von Abdulkarim Soroush, einem prominenten »religiös-intellektuellen« Philosophen, ins Spiel gebracht. Er ergänzte den iranisch-islamischen Stammbaum um eine westliche Komponente: „Wir iranischen Muslime sind die Erben und Träger von gleich drei Kulturen. Solange wir unsere Verbindung mit den Elementen in unserem dreifachen kulturellen Erbe und unserer kulturellen Geographie ignorieren, bliebt uns konstruktives soziales und kulturelles Handeln versagt. […] Die drei Kulturen, die unser gemeinsames Erbe ausmachen, sind nationalen, religiösen und westlichen Ursprungs.“2

Mit diesem Argument aus der Reformära der 1990er Jahre, als westliche polit-philosophische Literatur in Iran hohe Popularität erlangte, wollte er die „Aneignung und Anpassung“ westlicher Ideen legitimieren. Das Argument erhält im Disput zwischen den Reformisten und den Hardlinern, die gegenüber allem Westlichen besonders skeptisch sind, eine besondere Brisanz. Auf einer allgemeineren Ebene ist aber festzustellen, dass auch dieses Argument vor allem auf die Religion rekurriert, welche gleichbedeutend sei mit der Zivilisation in Iran; der »islamische Iran« und der »christliche Westen« seien „schließlich Schwesterzivilisationen, und die Islamische Republik sei (zumindest in der Theorie) die Verkörperung dieses Ideals“.3 Hier bietet sich ein Verweis auf die Kritik der »islamischen Kommunikationstheorie« des Medien- und Kommunikationswissenschaftlers Gholam Khiabany an, dass hier „Zivilisationen in religiösen Begriffen gerahmt und erklärt werden und Religion als Grundlage der Zivilisation gilt“.4 Der ehemalige iranische Staatspräsident Khatami griff in seinem Konzept des »Dialogs der Zivilisationen«, der eine »kulturelle Kluft« zwischen zwei „intellektuell Ebenbürtigen“ überbrücken will, Soroushs Überlegungen auf. Allerdings gibt es laut Soroush in dieser Triade eine eindeutige Hierarchie: „Islamische Kultur […] ist qualitativ und quantitativ die dominante Kultur Irans.“ 5

In noch einer weiteren Variante werden der »religiöse Intellektualismus«, der Liberalismus und der Sozialismus als »andersartig« beschrieben. In ihrem in der Islamischen Republik erschienenen persischsprachigen Artikel »Analyse und Topologie des politischen Denkens in der zeitgenössischen Geschichte Irans« diskutieren Gholamreza Khajesarvi und Javad Ghorbani »religiösen Intellektualismus«, Liberalismus und Sozialismus als (oft überlappende) Stränge des politischen Denkens im zeitgenössischen Iran, die ihnen zufolge in der Öffentlichkeit immer noch erheblichen Anklang finden. Allerdings verwerfen sie alle drei als »Ideologien« mit einer totalisierenden, theoriefreien und offen politischen Tendenz, die keine brauchbaren Lösungen für die Probleme liefern könnten, vor denen die iranische Gesellschaft stehe, da sie als Ideologien ein »begrenztes Haltbarkeitsdatum« hätten. Die Vertreter dieser Ideologien hätten sich mehr mit politischen Kommentaren und Kritik hervorgetan denn mit Aussagen, die aus »wissenschaftlicher Forschung« hergeleitet seien und Lösungen für gesellschaftliche Probleme liefern könnten. Folglich seien sie längerfristig „nicht tauglich, die theoretischen Bedürfnisse der Gesellschaft zu erfüllen“.

Natürlich sollte erwähnt werden, dass die Islamische Republik Iran zur Bewahrung der Hegemonie des islamistischen Narrativs über andere Narrative eine Geschichts- und Erinnerungspolitik pflegt, die auch das Erbe des monarchischen »Ancien Régime« abwertet. Dazu wird der Nationalismus im Vergleich zu den universalen Bestrebungen des Islamismus als reaktionäre politische Ideologie stigmatisiert. Das hilft dabei, die Hegemonie dieses diskursiven Rahmens in Iran zu zementieren. Ist eine solche islamisch-iranische Doppelidentität erst einmal definiert und als vermeintlich unangefochten in die Welt gesetzt, bleibt allerdings noch das Problem des »Othering« und der Ausgrenzung anderer iranischer Identitäten (z.B. anderer Religionen oder Atheisten) und politischer Kulturen (vor allem der sozialistischen).

Die Konstruktion der politischen Kultur des Staates und ihre Folgen

Die Überhöhung der islamischen bzw. der iranisch-islamischen Identität ist besonders effektiv, wenn sie mit der Ablehnung oder Abwertung – dem »Othering« – anderer politischer Kulturen einhergeht. In seinen Reden während der 2000er Jahre befasste sich Staatsoberhaupt Khamenei in seinem Bemühen, die vorherrschende politische Kultur des Staats zu definieren, immer aufs Neue mit den verschiedenen polit-ideologischen Formationen. Dies zeigt, wie dringlich für ihn die Befassung mit und die Klärung der Frage nach der politischen Kultur ist, die vom Staat gebilligt wird, um diese dann über die verschiedenen Fraktionen hinweg in der politischen Elite der Islamischen Republik Iran als Konsens zu etablieren.

Im Versuch, Islam(ismus) als einzig legitime politische Kultur des Staates zu positionieren, werden in einem diskursiven Prozess einige Elemente rivalisierender politischer Kulturen für die dominante islamistische Kultur vereinnahmt, andere abgelehnt. Konkret gehören zu diesem Prozess folgende Elemente:

a. Sozialismus und Liberalismus (Letzterer als Euphemismus für Säkularismus, einschließlich dem säkularen Nationalismus) werden als exogene Phänomene und ihre Befürworter mehr oder weniger als Anhänger einer von außen induzierten Idee und als Agenten im Dienste einer bösartigen ausländischen politischen Agenda dargestellt.

b. Sozialismus und Liberalismus werden als gescheitert charakterisiert, was dabei hilft, ihre Legitimität in Iran zu unterminieren.

c. Der Islam wird als einziger einheimischer und authentischer Pfad präsentiert, der positive Elemente dieser rivalisierenden politischen Kulturen integrieren und dabei ihre vermeintlich negativen Aspekte außen vor lassen könnte.

Das führt, wie Khameneis Reden zeigen, dazu, dass der Islam sich (wie der Sozialismus) der Arbeiter und gleichzeitig (wie der Liberalismus) des Kapitals annimmt, allerdings mit eindeutiger Priorität zugunsten des Kapitals. Mit anderen Worten: Der Islam(ismus) übernimmt die Rhetorik des Sozialismus, verfolgt aber das Wirtschaftsmodell des (Neo-) Liberalismus.

Der Triumph des Islam(ismus)

Khameini zufolge haben Sozialismus und Liberalismus den Test der Geschichte nicht bestanden. Das Scheitern des Sozialismus habe sich insbesondere im Zerbrechen des Ostblocks erwiesen (damit greift Khameini ironischerweise eine Thesen des Liberalismus auf), das Scheitern des Liberalismus sei jüngeren Datums. Nach der globalen Finanzkrise von 2008, die vor allem den Westen traf, wurde Khamenei mit den Worten zitiert, dass die „wachsenden ökonomischen Probleme im Westen und in Europa in der Natur des Kapitalismus begründet sind, nämlich in der Herrschaft des Kapitals“. Für Khamenei ist das ein wichtiger Grund für den Niedergang des Westens, der das aus seiner Sicht fehlgeleitete Modell einer »liberalen Wirtschaft« verfolgt habe. Dann erklärte er triumphierend: „Aber sie [der Westen] werden es nicht richtig hinkriegen. Dieser Weg ist der Weg des Untergangs. Sie werden untergehen.“

Mit dem vermeintlichen Scheitern des Sozialismus und des Liberalismus wird der Islam als die alleinige authentische und brauchbare Lösung präsentiert. Anlässlich der »Arabischen Aufstände« – oder, wie Khamenei die Revolten interpretierte und in Iran als offizielle Lesart einführte, der „Welle des islamischen Erwachens“ – wertete er erneut den Sozialismus und den Liberalismus ab, bevor der den Islam(ismus) glorifizierte: „Mit der Ablehnung importierter und kontroverser Ideologien, wie Sozialismus und Marxismus, und der Enthüllung des wirklichen Charakters der liberalen westlichen Demokratie, die auf Heuchelei und Betrug basiert, ist offenkundig geworden, dass der Islam nach Gerechtigkeit und Freiheit strebt. Der Islam ist nun der größte Wunsch von bekannten Persönlichkeiten, Gelehrten und denen, die Gerechtigkeit und Freiheit suchen. Viele junge Menschen und befreite Völker in islamischen Ländern wenden sich dem politischen, kulturellen und sozialen Dschihad zu und setzen sich für islamische Gerechtigkeit ein. Sie verstärken die Entschlossenheit, gegen die Hegemonie der arroganten Mächte aufzustehen.“

Auch in diesem Zitat wird der Islam anderen Ideologien gegenübergestellt und als alleinige Lösung dargestellt. Mehr noch: Durch die Betonung, „dass der Islam nach Gerechtigkeit und Freiheit strebt“, impliziert Khamenei zugleich, dass sich der Islam die positiven Kernwerte der anderen beiden Ideologien zu eigen gemacht habe: die Gerechtigkeit (vom Sozialismus) und die Freiheit (vom Liberalismus).

Khamenei wertet also sowohl den Liberalismus als auch den Sozialismus als exogene, importierte Ideologien ab. Indem er die dominante politische Kultur der Islamischen Republik Iran diesen beiden Ideologien gegenüberstellt, spiegelt er indirekt den wichtigsten Leitspruch der Islamischen Republik: „Weder Osten noch Westen, sondern nur die Islamische Republik“.

Khamenei ist sich der Relevanz sozialistisch geprägter Konzepte durchaus bewusst, nicht zuletzt im Hinblick auf die Wohlstandsverteilung; seine Äußerungen bleiben aber oft vage, warum der Sozialismus eigentlich so verabscheuungswürdig sei. Damit befasste er sich in einer anderen Rede, in der er die wichtige Rolle von Arbeitern beim Sieg der Revolution von 1979 betont – nur um anschließend sofort den Aktivismus von Arbeitern (damit bezog er sich wohl auf Streiks und sozialistisch inspirierte Arbeiterorganisationen) unmittelbar nach der Revolution zu verurteilen. Dann rühmt Khamenei »religiöse Arbeiter« dafür, dass sie dem Aktivismus anderer Arbeiter entgegengetreten seien, die eine ausländische (d.h. von der Sowjetunion vorgegebenen) politische Agenda verfolgt und damit de facto gegen die »Islamische Revolution« agiert hätten.

In seiner Rede zum »Tag der Arbeit« 2013 konkretisierte Khamenei den Rahmen, in dem Iran die Wirtschaftspolitik und die Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit verortet. Er wies darauf hin, dass Iran ökonomisch und politisch einen »Quantensprung« vollziehen müsste und im Gegensatz zum Liberalismus und Sozialismus in der Wirtschaft einen Mittelweg beschreite, „eine moderate, menschenfreundliche und gerechtigkeitsorientierte Einstellung in sämtlichen Bereichen, auch in diesem [ökonomischen] Bereich. Diese Einstellung würdigt die Rechte sowohl der einen als auch der anderen Seite [gemeint sind die Kapital- und die Arbeiterseite]. Sie will, dass die beiden Seiten füreinander ein Gefühl der Brüderlichkeit hegen, nicht der Feindschaft. Sie will, dass sich jedermann seiner göttlichen Verantwortung bewusst ist […].“

Mit anderen Worten, Khamenei behauptet, dass der Islam das Kapital genauso respektiere wie die Arbeit, und warnt indirekt vor einem »feindlichen« Verhältnis zwischen den Partien, was durchaus als Hinweis auf Streik als Mittel der Arbeiter interpretiert werden kann. In der gleichen Rede konstatiert er: „Gott trägt uns auf, Arbeitsplätze aufzubauen. Gott trägt uns auf, den Arbeiter zu respektieren. Gott trägt uns auf, ihn mit Wohlfahrt und sicheren Arbeitsplätzen zu versorgen. Gott trägt uns auch auf, die Sicherheit des Kapitals zu gewährleisten.“ Auch wenn er hier das Kapital und die Arbeit auf eine Stufe stellt, hat er häufig genug seine Ablehnung sozialistischer Konzepte kundgetan, um klarzustellen, dass ihm das Kapital wichtiger ist als die Arbeiter. Entsprechend unterstützt Khamenei in der Wirtschaftspolitik die Privatisierung. „Solange die Grundsätze von Artikel 44 der Verfassung im vorgegebenen Rahmen umgesetzt werden, ergänzen sie definitiv [eine] gerechtigkeitsbasierte Ökonomie.“

Schlussbemerkung

Die häufige Auseinandersetzung des Staatsoberhauptes Khamenei mit dem Sozialismus und seine stets damit verbundene Ablehnung dieser Ideologie zeigt, welch hohe Attraktivität er den sozialistischen Ideen und Prinzipien im heutigen Iran immer noch zugesteht. Durch das »Othering« dieser Ideen als exogen und fremd und die Ablehnung sozialistischer Konzepte und Aktivitäten will er verhindern, dass Ideen, die die polit-ökonomische Struktur des faktisch kapitalistischen Staates Iran zugunsten der Arbeiterschaft gefährden könnten, Raum greifen. Der »iranisch-islamische« Weg des Landes wird demgemäß als alternativlos dargestellt.

Anmerkungen

1) Holliday, S.J. (2011): Defining Iran – Politics of Resistance. Farnham and Burlington: Ashgate.

2) Soroush, A. (2000): The Three Cultures. In: Reason, Freedom and Democracy in Islam – Essential Writings of Abdolkarim Soroush, translated, edited, and with a Critical Introduction by Sadri M.. and Sadri A. Oxford: Oxford University Press.

3) Ansari, A.M. (2006): Civilizational Identity and Foreign Policy – The Case of Iran. In: Shaffer, B. (ed.): The Limits of Culture – Islam and Foreign Policy. Cambridge, MA und London: MIT Press.

4) Khiabany, G. (2006): Religion and Media in Iran – The Imperative of the Market and the Straightjacket of Islamism. London: University of Westminster, Westminster Papers in Communication and Culture, Vol. 3, No. 2.

5) Zitiert in Ansari 2006, op.cit.

Dr. Ali Fathollah-Nejad ist Associate Fellow im Programm Naher Osten und Nordafrika der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) und Lehrbeauftragter an der Arbeitsstelle Politik des Maghreb, Mashreq und Golf der FU Berlin. Er promovierte 2015 an der School of Oriental and African Studies (SOAS) der University of London; fathollah-nejad.eu.

Dieser Text ist ein für W&F bearbeiteter und gekürzter Auszug aus seiner Dissertation »A Critical Geopolitics of Iran’s International Relations in a Changing Word Order«, der hier mit nur wenigen Literaturverweisen wiedergegeben wird.
Übersetzung aus dem Englischen von Regina Hagen.

Moderate Islamisten


Moderate Islamisten

Zwischen Arabischem Frühling und »Islamischem Staat«

von Stephan Rosiny

In vielen arabischen Ländern ist die Situation heute schlechter als vor Beginn des »Arabischen Frühlings« in 2011. Paradigmatisch hierfür sind der Wahlsieg der ägyptischen Muslimbruderschaft 2012 und ihr Sturz durch das Militär 2013 sowie die militärische Expansion des »Islamischen Staats«. In einigen Ländern deuten Regime und Oppositionelle ihre gegenseitige Feindschaft heute als Ausdruck einer sunnitisch-schiitischen, also einer konfessionellen Spaltung. Es bleibt abzuwarten, welche mittel- und langfristigen Auswirkungen das abgebrochene Experiment einer moderat-islamistischen Regierung in Ägypten, die Eskalation konfessioneller Gegensätze und das apokalyptische Projekt des »Kalifat-Staats« für moderate Islamisten haben werden.

Der Nahe Osten und Nordafrika sind von strukturellen Konflikten geprägt, und die Region steht vor schwierigen Herausforderungen. Jahrzehnte autoritärer Herrschaft, ökonomischer Krisen und zahlreicher Kriege brachten korrupte Regime, institutionell unterentwickelte Staaten, Wohlstandsgefälle und tief gespaltene Gesellschaften hervor. Anfang 2011 erlebte die arabische Welt eine einmalige Abfolge lokaler Protestbewegungen, die sich gegen diese Zustände wandten und in westlichen Medien bald als »Arabischer Frühling« bezeichnet wurden. Sie beeinflussten und bestärkten sich wechselseitig in ihrer Symbolsprache und in ihren Forderungen.1 Die autoritären Herrscher von Tunesien, Ägypten, Libyen und Jemen wurden durch Massenproteste und Aufstände gestürzt, im Falle Libyens mit ausländischer militärischer Unterstützung. In weiteren Ländern rüttelten Protestbewegungen an der Herrschaft republikanischer und monarchischer Autokraten. Die Monarchen von Marokko, Jordanien, Kuwait und Oman konnten den Unmut durch moderate Reformen abfangen. In Bahrain und Saudi-Arabien schlugen die Könige die Proteste hingegen gewaltsam nieder. Lediglich in Katar und in den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) kam es zu keinen nennenswerten Demonstrationen.2

Islamismus im »Arabischen Frühling«

Die Protestbewegungen blieben anfangs weitgehend führerlos und ohne dominante Ideologie. Dies half ihnen bei der Mobilisierung breiter Bevölkerungsschichten und schützte sie vor staatlicher Repression, da etwaige Anführer nicht wie bei früheren Protesten einfach verhaftet werden konnten. Das Fehlen von Führungspersönlichkeiten erwies sich im Verlauf der Proteste aber als Schwäche, denn die mangelnde Kohärenz der unterschiedlich motivierten Oppositionsgruppen führte, je länger sich die Proteste hinzogen, zu Fragmentierung und Konkurrenz. Es fehlte ein Programm zur Durchsetzung der Forderungen und zur Neugestaltung der politischen Ordnung.

Dieser Mangel an Alternativen erklärt, warum in vielen Ländern zunächst vor allem moderate Islamisten profitierten. Sie konnten ein umfassendes Angebot an Identitätsstiftung, partizipativen Institutionen und Ideen für eine gerechtere Gesellschaft machen. Viele westliche Beobachter waren überrascht, dass islamistische Akteure eine so breite Zustimmung erhielten und sich gegen liberale, jugendlich-revolutionäre Oppositionskräfte durchsetzen konnten. Denn diese hatten das bunte, urbane Spek­trum der Proteste dominiert, das Anfang des Jahres 2011 live im Fernsehen zu beobachten war, etwa auf dem zentralen ­Tahrir-Platz in Kairo.

Gemäßigte Islamisten propagieren ein inklusives Gesellschaftsmodell, das eine breite soziale Basis anspricht: Jugendliche, Erwachsene und Alte, Arme und Reiche, Frauen und Männer, »Bildungsferne« und Intellektuelle gleichermaßen. Sie wollen regionale Entwicklungsgefälle und die Fragmentierung in Ethnien und Stämme überwinden. Uneigennützigkeit und jenseitige Belohnung stehen dabei gegenüber kurzfristigem Profitdenken im Vordergrund. Korruption gilt ihnen nicht nur als ökonomische Straftat, sondern als moralische Verfehlung. Islamisten in Jordanien, Palästina, Ägypten und vielen anderen Ländern unterhalten Einrichtungen der karitativen Versorgung, Gesundheitsfürsorge, Bildung und der Wirtschaftsförderung mit Vermarktungshilfen und Kleinkreditprojekten. Sie schaffen Arbeitsplätze auch in vom Staat vernachlässigten Regionen. So greifen sie die unerfüllten Forderungen der früheren nationalistischen Bewegungen nach Stärke, Unabhängigkeit, Wohlfahrt, Gerechtigkeit und Einheit auf und präsentieren sie in islamischem Gewand.

Islamisten sind keine homogene Bewegung, sondern treten konfessionell und ideologisch je nach Region in unterschiedlichen Strömungen auf. Erfolgreich waren Massenproteste unter Beteiligung moderater Islamisten in den homogen sunnitischen Republiken Nordafrikas; nicht jedoch in den konservativen Golfmonarchien und den konfessionell heterogenen ostarabischen Ländern. Dort spielte der konfessionelle Sunna-Schia-Gegensatz bei der Eskalation von Demagogie und Gewalt eine dominante Rolle. Moderate sunnitische und schiitische Islamisten protestierten zwar gegen die Machthaber der jeweils anderen Konfession, hielten sich aber mit Kritik an Autokraten ihrer eigenen Konfession zurück. Im Machtvakuum zerfallender Staatlichkeit breiteten sich zusätzlich salafistische und dschihadistische Gewaltakteure, wie al-Qaida und der »Islamische Staat«, aus.3

Von der Hoffnung zur Resignation

Die Protestierenden des »Arabischen Frühlings« waren sich in ihren allgemeinen Forderungen einig: Sturz autoritärer Herrscher, Würde und Brot, Freiheit und Gerechtigkeit, Kampf gegen Korruption und Klientelismus. Die Ursachen der Unzufriedenheit lassen sich grob drei Themenfeldern zuordnen:

  • Die Suche nach einer kollektiven Identität geht weiter. Die republikanischen Regime dieser Region legitimierten ihre Herrschaft mit dem Antiimperialismus der postkolonialen Phase und einer Mischung aus panarabischem und einzelstaatlichem Nationalismus. Dem lagen Versprechen von Einheit, politischer Unabhängigkeit, technologischem Fortschritt und wirtschaftlicher Entwicklung zugrunde. Doch die Realität sah anders aus: Die Herrscher hielten an einzelstaatlichen Egoismen fest, ihre Länder blieben im Vergleich zu anderen Weltregionen politisch, wirtschaftlich und technologisch rückständig. Westliche Vorstellungen von Sozialismus, Demokratie und Neoliberalismus boten ebenfalls keine Verheißung, denn viele der verhassten Autokraten nannten sich »sozialistisch«, der US-geführte Irakkrieg von 2003 war im Namen der Demokratisierung der Region geführt worden und neoliberale Strukturanpassungen hatten zum Rückzug der Staaten aus Versorgungsfunktionen und zur Verarmung geführt.
  • Es mangelt nahöstlichen Staaten an Möglichkeiten der gesellschaftlichen Partizipation, das heißt der Beteiligung an politischen Entscheidungsprozessen und am Chancenzugang. Scheindemokratien mit Wahlfälschungen, Parteienverboten, Repressionen und Menschenrechtsverletzungen schränken die politische Freiheit massiv ein. Sie sind aber nur ein Aspekt eines fundamentalen Partizipationsdefizits, das ökonomische, soziale und kulturelle Diskriminierung umfasst. Machthaber vergeben Arbeitsplätze und Dienstleistungen als Gunstbeweise über »Beziehungen« und nicht aufgrund von Wissen, Können oder Bedürftigkeit. Der neoliberale Rückzug des Staates aus der sozialen Versorgung führte zu einer weiteren Umverteilung von unten nach oben. Die Menschen suchen deshalb bei nichtstaatlichen Akteuren Schutz, so in religiösen Netzwerken.
  • Schließlich fehlt nahöstlichen Gesellschaften eine kollektive Vision, eine Vorstellung von einer besseren Zukunft. Nationalistische und sozialistische Regime gaben zwar vor, wirtschaftlichen und technologischen Fortschritt, nationale Unabhängigkeit und die arabische Einheit zu betreiben. Aber faktisch waren sie untereinander zerstritten und abhängig von ausländischer, meist westlicher, wirtschaftlicher und militärischer Hilfe.

Im »Arabischen Frühling« spielten diese drei Faktoren eine wichtige Rolle, was sich in der Symbolik und den Forderungen zeigte. Protestierende trugen als Zeichen ihrer gemeinsamen Identität die Nationalflaggen und malten sich deren Farben ins Gesicht. Sie forderten politische Partizipation und ökonomische Teilhabe als garantierte Rechte statt wie bisher als Wohltätigkeitsakte des Obrigkeitsstaats. Schließlich formulierten sie als Ziel ein Leben in Würde, Freiheit und Gerechtigkeit.

Mehr als fünf Jahre nach Beginn der Proteste ist die Hoffnung auf einen grundlegenden Wandel der Resignation gewichen. Der Wunsch nach breiter politischer Partizipation und wirtschaftlichem Aufschwung war groß – und wurde von den neuen oder reformierten Regimen weitgehend enttäuscht. Die meisten autoritären Regime haben ihre Macht konsolidiert. In einigen Ländern eskalierten konfessionelle Gegensätze und mündeten in Gewalt. Schließlich nutzte die dschihadistische Miliz des »Islamischen Staats« das Machtvakuum im Irak, in Syrien und in Libyen, um ein Terrorregime und den Kern eines »globalen Kalifats« zu errichten.

Aufstieg und Sturz der Muslimbruderschaft in Ägypten

In Tunesien, Marokko und Ägypten gewannen bei ersten freien Wahlen moderate islamistische Parteien. In Libyen, Algerien und Jemen erzielten sie gute Wahlergebnisse. Neben ihnen konnten sich fundamentalistische Salafisten als unerwartete zweite Kraft im islamistischen Spektrum etablieren.

In Ägypten gewann die moderate Muslimbruderschaft bei den Parlamentswahlen, die vom 28.11.2011 bis zum 10.1.2012 durchgeführt wurden. Die Muslimbruderschaft war bereits 1928 als erste islamistische Bewegung gegründet worden und bildet den Archetyp sunnitisch-islamistischer Bewegungen über den Nahen Osten hinaus. Im Juni 2012 gewann ihr Parteivorsitzender, Muhammad Mursi, auch die ersten Präsidentschaftswahlen. Erstmals in der Geschichte der arabischen Welt waren Islamisten durch offene und freie Wahlen an die Macht gelangt, ohne dass sie wie 1992 in Algerien sofort weggeputscht oder wie die Hamas-Regierung 2006 mit internationalem Boykott belegt worden waren.

Es gelang der Muslimbruderschaft indes nicht, die hohen in sie gesetzten Erwartungen bezüglich einer schnellen Verbesserung der wirtschaftlichen Lage und einer integrativen Regierungsführung zu erfüllen. Die strukturellen Schwächen der ägyptischen Wirtschaft ähneln denen anderer nahöstlicher Ökonomien: eine hohe Staatsverschuldung, ein aufgeblähter Staatssektor, in dem regimetreue Studienabgänger versorgt werden müssen, hohe Jugendarbeitslosigkeit und eine krisenanfällige Abhängigkeit von meist nur einem dominanten Wirtschaftssektor. Die Muslimbruderschaft konnte diese Mängel nicht beheben. Vielmehr verschlechterte sich die wirtschaftliche Lage, u.a. weil der für Ägypten existentiell wichtige Tourismus aufgrund der politischen Unruhen einbrach.

Die Muslimbruderschaft verlegte sich deshalb auf ihren Machtausbau und auf Symbolpolitik, indem sie die Islamisierung der Gesellschaft und der Außenpolitik betrieb. Sie brachte dadurch sowohl Säkulare, denen sie zu religiös war, als auch Salafisten, denen sie zu gemäßigt islamisch war, gegen sich auf. Als das Militär unter dem später unter fragwürdigen Umständen zum Staatspräsidenten gewählten General Abdel Fattah Sisi im Juli 2013 mit Unterstützung Saudi-Arabiens und der VAE putschte, konnte es sich auf die Zustimmung der Bevölkerung oder zumindest deren stillschweigende Duldung stützen. Bei dem gewaltsamen Sturz wurden mehr als 1.400 Menschen getötet, größtenteils Mitglieder der Muslimbruderschaft. In den Jahren seither verurteilten Gerichte über eintausend Anhänger der Bewegung, inklusive des entmachteten Präsidenten Mursi, zum Tode. In Ägypten, Saudi-Arabien und den VAE wurde die Muslimbruderschaft verboten.

Konfessionalisierung und Gewalteskalation

Im ostarabischen Raum bilden heute Repressionen seitens der Regime, in Gewalt umschlagende Proteste und konfessionelle Gegensätze eine gefährliche Mischung. In Syrien, Irak und Jemen entwickelten sich die im Frühjahr 2011 friedlich begonnenen Proteste zu internationalisierten Bürgerkriegen mit konfessionalistischen Stereotypen. Schiiten überwogen bei den Protesten gegen die sunnitischen Regime von Bahrain und Saudi-Arabien, Sunniten bei den Protesten und dann bewaffneten Aufständen gegen die schiitisch dominierte Staatsmacht in Syrien und Irak.

Die konfessionelle Polarisierung spiegelt sich auch in der Unterstützung der Rebellionen beziehungsweise der bedrängten Regime durch Regionalmächte wider. Sunnitische Golfmonarchien und die Türkei unterstützen einerseits sunnitische Rebellen in Syrien, andererseits sunnitische Regenten in Bahrain. Im Jemen intervenierten sie, um einen bewaffneten Aufstand schiitischer Zaiditen niederzuschlagen. Iran wiederum begrüßte die Proteste gegen das sunnitische Establishment in Nord­afrika, Bahrain und Jemen, während es in Syrien und Irak die schiitisch dominierten Herrscher beschützt.

Der regionale Machtkampf vertiefte das Sunna-Schia-Schisma: Iran gilt als schiitische Führungsmacht, Saudi-Arabien, VAE, Katar und Türkei stellen sich als sunnitische Schutzmächte vor einem mutmaßlichen schiitisch-persischen Expansionismus dar. Ihr Feindbild ähnelt dem salafistischer Dschihadisten, die Schiiten als »Verweigerer« (rafida) beschimpfen und bekämpfen, weil sie die Herrschaft der drei ersten – nach sunnitischer Lehre »rechtgeleiteten« – Kalifen Abu Bakr (632-634) , Umar (634-644) und Uthman (644-656) ablehnen. Der Konfessionalismus beschleunigte in den heterogenen Gesellschaften in Syrien, Irak und im Jemen die Gewaltspirale und den Staatszerfall. Das ist allerdings nicht der einzige innerislamische Gegensatz, der derzeit in der Region ausgetragen wird, denn die sunnitischen Mächte sind ihrerseits intern über ihre Unterstützung (Katar und Türkei) beziehungsweise Bekämpfung (Saudi-Arabien und VAE) der Muslimbruderschaft gespalten. Diese innersunnitische Konkurrenz tritt derzeit im gemeinsamen Kampf gegen das syrische Regime von Baschar al-Assad und angesichts der Bedrohung durch den »Islamischen Staat« in den Hintergrund, bleibt aber virulent.

Dschihadismus und der »Islamische Staat« (IS)

Der »Arabische Frühling« schwächte zunächst den globalen Dschihadismus, weil dessen Postulat widerlegt schien, wonach ein Sturz der Regime nur gewaltsam möglich sei. Die gescheiterten Reformprozesse bescherten jedoch einem zweiten dschihadistischen Narrativ erneut Zulauf, das besagt, Demokratie sei ein unislamisches Instrument des Westens zur Spaltung und Beherrschung der Muslime. Militante Dschihadisten haben sich mittlerweile überall dort festgesetzt, wo die Gewalt zwischen Staat und Opposition eskalierte und das staatliche Machtmonopol zerfiel, so in Syrien, Jemen, Libyen, im Irak und neuerdings in Teilen Ägyptens.

Am erfolgreichsten war dabei bislang der »Islamische Staat«. Mit der Ausrufung eines »Kalifats« am 29. Juni 2014 proklamierte Abu Bakr al-Baghdadi, die Einheit aller Muslime wiedererlangen zu wollen. Er forderte alle Muslime weltweit zur »hidschra« auf, das heißt zur Auswanderung aus dem von »Ungläubigen« beherrschten Territorium in den »Islamischen Staat«. Mit seiner apokalyptischen Vision einer nahenden Endschlacht zwischen Gläubigen und Ungläubigen und professionellem Medieneinsatz gelang es dem IS, rund dreißigtausend ausländische Kämpfer zu mobilisieren und ein regionales Netzwerk an terroristischen Zellen zu errichten.

Der kometenhafte Aufstieg des IS belegt, welchen Einfluss eschatologisch visionäre Bewegungen in Zeiten massiver Verunsicherung gewinnen können. Aus dem erfolgreichsten Transformationsland des »Arabischen Frühlings«, Tunesien, kommen (nach Saudi-Arabien) heute die meisten Kämpfer zum IS. Seine todesmutigen Dschihad-Kämpfer haben ein beachtliches Territorium in Syrien und im Irak erobert. Professionell aufgearbeitete Propagandavideos zeigen einen vermeintlich idealen Staat, in dem Gottes Gesetz anstatt korrupter menschlicher Regeln gelten soll. In Wirklichkeit herrscht dort ein Terrorregime, das die Bevölkerung mit brutaler Gewalt gängelt. Der IS verbreitet mit seinen Hinrichtungsmethoden und Terroranschlägen weit über die Region hinaus Angst und Schrecken. Massaker an Minderheiten, Angriffe auf die Staatlichkeit des Irak und Syriens sowie Drohungen gegen die Nachbarstaaten Jordanien, Israel, Libanon und Saudi-Arabien wurden mit einer erneuten westlichen Militärintervention beantwortet und haben die Muslime zusätzlich tief verunsichert und gespalten.

Herausforderungen für die moderaten Islamisten

Die von großen Erwartungen getragenen Protestbewegungen des »Arabischen Frühlings« wurden mittlerweile durch großflächige Krisen- und Kriegsherde zunichte gemacht. In der gesamten Region bilden politische Machtkämpfe und religiös-ideologische Polarisierung ein gefährliches Amalgam. Moderate Islamisten hatten einst ihre Stärke im Vergleich zu anderen Oppositionsgruppen daraus gezogen, dass sie eine authentische Identität anboten, Forderungen nach Partizipation glaubwürdig vertraten und die Vision einer besseren Welt vermittelten. Diese drei Themenfelder haben sich inzwischen zu den größten Herausforderungen nicht nur für Islamisten, sondern für die gesamte Region entwickelt.

  • Identität: Viele regionale Akteure, keinesfalls nur Islamisten, bestimmen ihre Zugehörigkeit mittlerweile primär über die Konfession. Der Sunna-Schia-Gegensatz dominiert die politische Allianzbildung und verschärft die regionalen machtpolitischen Gegensätze. Wird sich der als Stellvertreterkrieg in Syrien, Irak, Jemen und anderen Ländern stattfindende innerislamische Bürgerkrieg zu einem regionalen Krieg zwischen sunnitisch und schiitisch dominierten Staaten ausweiten? Oder gelingt es moderaten islamistischen Vertretern der sunnitischen und schiitischen Gemeinschaften, an ökumenische Initiativen und überkonfessionelle politische Allianzen anzuknüpfen, die es in der Vergangenheit bereits gab?
  • Partizipation: Der gewaltsame Sturz des gewählten ägyptischen Präsidenten Mursi war ein schwerer Rückschlag für moderate sunnitische Islamisten. Für sie stellt sich die Herausforderung politischer Partizipation und der Implementierung eines gesellschaftspolitischen Reformprojekts in der Gegenwart neu. Werden sie sich nach dieser desillusionierenden Erfahrung künftig noch auf das Experiment kompetitiver freier Wahlen einlassen? Werden sie integrativere politische Modelle der Machtteilung entwickeln, mit denen sie breiteren Rückhalt in der Bevölkerung finden und den Brückenschlag zu Säkularen und Mitgliedern anderer Religionsgemeinschaften schaffen? Oder werden radikale Islamisten an Zulauf gewinnen, die einen gewaltsamen Regimesturz als einzige Option propagieren?
  • Vision: Reform-islamistische Parteien griffen die nicht eingelösten Versprechen und Forderungen des Nationalismus nach Unabhängigkeit, Gerechtigkeit, Partizipation, Entwicklung und Würde auf und präsentierten sie in einem »authentisch islamischen« Gewand. Allerdings scheiterten sie bislang dort, wo sie mitregieren, daran, diese Vision durchzusetzen. Auch aus der Enttäuschung über das erneute Scheitern zog der IS seine Legitimität. Mit seiner Brutalität und Intoleranz gegen andere Religionen hat er das Image des Islam aber schwer beschädigt. Wird es sunnitischen Islamisten des Mainstream gelingen, sich glaubwürdig von diesem Missbrauch ihrer Religion zu distanzieren? Können sie dem als Kalifat bezeichneten Terrorstaat eine positive, tolerante und integrative gesellschaftspolitische Vision entgegenstellen?

Viele der Protestbewegungen im Nahen Osten lassen sich mit dem unerfüllten Verlangen nach Identität, Partizipation und einer Vision erklären. Sollten moderate Islamisten keine Antworten auf diese drei Herausforderungen finden, werden sie weiter an Zulauf verlieren. Es wäre zu hoffen, dass sie (und andere politische Akteure) eine tolerante, pluralistische Identität statt ethnisch-konfessionellem Chauvinismus, inklusive Regierungen der Machtteilung statt Alleinherrschaft und realistische Perspektiven statt unerfüllbarer Visionen entwickeln könnten. Werden die drei genannten Herausforderungen nicht gemeistert, werden die Gesellschaften insgesamt verlieren: Immer mehr junge Menschen, insbesondere besser ausgebildete, werden ihren Heimatländern den Rücken kehren und auswandern. Sie entziehen damit der Region motivierte Fachkräfte, die für einen wirtschaftlichen Aufschwung dringend benötigt werden.

Die restaurierten autoritären Regime sind nicht in der Lage, die Gräben ihrer ideologisch und konfessionell gespaltenen Gesellschaften, die sie häufig selbst mit geschaffen haben, zu überbrücken. Eine Alternative könnten Modelle der Konsensdemokratie sein, in denen die verschiedenen Gruppen – inklusive moderater Islamisten – garantierte Anteile an der Macht erhalten, in großen Koalitionen zusammen regieren und sich auf Kompromisse einigen müssen. Grundlegende Gesellschaftsreformen können nur von integrativen Regierungen erarbeitet und durchgesetzt werden.

Gelingen diese Reformen nicht, werden die Zurückgebliebenen, die sich ausgeschlossen fühlen von der globalen Moderne, anfällig bleiben für die Heilsversprechen radikaler Prediger.

Anmerkungen

1) Rosiny, S. (2011): Ein Jahr »Arabischer Frühling« – Auslöser, Dynamiken und Perspektiven. GIGA Focus Nahost Bd. 12.

2) Bank, A.; Richter, T.; Sunik, A.: Durable, Yet Different – Monarchies in the Arab Spring. Journal of Arabian Studies 4(2), Juli 2014, S. 163-79.

3) Ausführlich beschreibe ich die unterschiedlichen Richtungen des Islamismus im Arabischen Frühling in: Rosiny, S. (2012): Islamismus und die Krise der autoritären arabischen Regime. GIGA Focus Nahost Bd. 2.
Zum »Islamischen Staat« siehe Rosiny, S. (2014): »Des Kalifen neue Kleider« – Der Islamische Staat in Irak und Syrien. GIGA Focus Nahost Bd. 6.

Dr. Stephan Rosiny studierte Politikwissenschaften, Neuere Geschichte und Philosophie in Frankfurt a.M. und promovierte 1997 zu »Islamismus bei den Schiiten im Libanon – Religion im Übergang zwischen Tradition und Moderne«. Er ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am GIGA Institut für Nahost Studien und Redakteur der Publikationsreihe »GIGA Focus Nahost«.

Was wissen wir über den »Islamischen Staat«?


Was wissen wir über den »Islamischen Staat«?

von Dietrich Jung und Klaus Schlichte

Das Wissen über den »Islamischen Staat« (IS) ist noch begrenzt und eher fragmentarisch. Wohl wächst das Datenmaterial zum IS beständig, doch eine theoriegeleitete sozialwissenschaftliche Auswertung dieser zunehmenden Informationsdichte steht noch aus. Dazu trägt nicht nur die oft unüberschaubare Kriegssituation in Syrien und im Irak bei, sondern auch die Nachlässigkeit der deutschen Sozialwissenschaften, die die Beschäftigung mit anderen Weltgegenden als Europa und Nordamerika in ihre Randgebiete verdrängt haben. Diese Gemengelage steht der Reflektion darüber im Wege, mit welchem Gegner es die internationale Allianz gegen den IS eigentlich zu tun hat. Politik als Vorrang des Kurzfristigen erfordert die schnelle Verfertigung eines Feindbildes, sowohl in der politischen Rede wie in der medialen Berichterstattung. Die Reduzierung des IS auf eine Terrororganisation, so unsere These, greift aber bei Weitem zu kurz.1

Das Ziel dieses Beitrags ist es, einige vorläufige Aussagen über die Organisationsform, die Genese und die Dynamik des IS auf sozialwissenschaftlicher Grundlage zu treffen. Unsere Überlegungen beruhen neben der Presseberichterstattung auf wissenschaftlichen Publikationen über den IS und auf Analogien zu Befunden über andere bewaffnete Gruppen.2 Die Grundannahme ist dabei, dass die Effekte der kriegerischen Gewalt die sozialen und politischen Dynamiken bestimmen, die innerhalb des IS und um ihn herum wirken. Aus der politischen Soziologie bewaffneter Gruppen lassen sich deshalb in Analogieschlüssen Hypothesen darüber ableiten, welche Mechanismen im Innern des IS wirken.

Hierarchie oder Netzwerk?

Probleme einfacher Analogieschlüsse finden sich in der gesamten Diskussion über den IS. Im strategischen Denken, vor allem dem militärischer Sicherheitskreise, scheint die Tendenz zu überwiegen, sich die Organisation des Gegners als Spiegelung des Selbstbilds vorzustellen. Dies war auch nach den Anschlägen vom 11. September 2001 beobachtbar, als die sicherheitspolitische Diskussion sich das lose Netzwerk um den mobilen Inspirator von al-Qaida, Osama bin Laden, so vorstellte wie ein multinationales Unternehmen mit Hierarchien, Hauptsitz und Filialen. Fast fünfzehn Jahre später, mit der Verbreitung des »network-centric warfare« als strategische Anpassung auch westlicher Militärapparate, geschieht dasselbe: Auch der IS wird als globales »Netzwerk« charakterisiert, ohne dass exakt nachvollziehbar wäre, aus welchen Teilen dieses Netz besteht und was diese organisatorisch verbindet. Schon die Erfahrungen in Afghanistan seit 2001 haben gezeigt, wie volatil die Konstellationen und Bündnisse sind, die dort vereinfacht als »Taliban« bezeichnet wurden und werden.3 Ähnliches gilt auch für den Irak, wo im Oktober 2006 nach dem Tod von Abu Musab az-Zarqawi, dem jordanischen Inspirator des IS, der Islamische Staat im Irak (ISI) gegründet wurde. Dieser repräsentierte zunächst ein loses Bündnis dschihadistischer Gruppierungen, sunnitischer Stämme und ehemaligem Baath-Personal, das sich nach dem so genannten sunnitischen Aufstand gegen die Besatzung (2004-2006) um den Kern von al-Qaida im Irak formiert hatte.

Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive erscheint es sinnvoll, drei Bilder des IS zu unterscheiden: erstens die hierarchische Organisation, die der IS offenbar in den von ihm kontrollierten Gebieten in Syrien und im Irak ist; zweitens das symbolische Bezugssystem des Islamischen Staats, sein ideologisches Fundament, das er für unterschiedliche Gruppen militanter Islamisten in geografisch weit voneinander entfernt liegenden Kontexten repräsentiert; und drittens das mediale Artefakt der »globalen terroristischen Organisation des IS«, das von westlichen Medien und der Propagandamaschine des IS gemeinsam konstruiert wird.4

Das erste Bild: Nach allem, was an gesichertem und öffentlichem Wissen über den IS vorliegt, ist dieser im Kern eine hierarchische Organisation, und zwar dort, wo er territorial regiert. In Syrien und im Irak verfügt er über eine administrative, politische und ökonomische Infrastruktur, die pyramidal aufgebaut ist. Hier verwaltet der IS die von ihm kontrollierten Territorien wie ein effektiver Protostaat. Hier übt er mit einem rigiden Sicherheits- und Justizapparat territoriale Kontrolle über Millionen von Menschen aus und stützt sich auf eine relative diversifizierte Kriegs­ökonomie, welche auch die Besteuerung der verwalteten Gebiete umfasst.5

Das zweite Bild: Ein Netzwerk ist der IS hauptsächlich insofern, als das Signum »IS« als symbolische Referenz für eine Reihe anderer bewaffneter Akteure in innerstaatlichen Kriegen dient. Mit der Ausrufung eines islamischen Kalifats artikulierte der IS einen Führungsanspruch in der militanten panislamischen Bewegung, die seit den 1980er Jahren eine immer stärkere Rolle in den Konflikten in der muslimischen Welt spielt. Dabei handelt es sich um eine von inneren Konflikten und Konkurrenzkämpfen geprägte Bewegung, deren dschihadistische Gruppen sich alle in einem Kampf zur Verteidigung des Islam verstehen.6 Die Verbindungen dieser Gruppen mit dem IS sind aber höchst unterschiedlich, und sein Führungsanspruch wird nicht nur von al-Qaida bestritten. Was die internationalen Unterstützer des IS anbelangt, so stehen diese nicht notwendigerweise in einer strikten Befehl-Gehorsam-Beziehung zur Führung des IS. Während der IS in Libyen und auf dem ägyptischen Sinai wohl über regionale Branchen verfügt, scheint er für dschihadistische Gruppen, wie z.B. Boko Haram in Nigeria, wohl nicht mehr als eine symbolische Referenz zu sein.7 Auch bei den Verbindungen zwischen militanten Islamisten im Westen und dem IS handelte es sich zumindest bis zum Sommer 2015 in der Mehrzahl um diskursive Bezüge und indirekte Formen der Unterstützung. Direkte Bezüge zwischen in Europa und den USA operierenden Dschihadisten und dem organisatorischen Kern des IS waren dagegen selten.8 Inwieweit dieser Befund auch noch nach den Anschlägen von Paris (2015) und Brüssel (2016) gültig ist, werden die laufenden Ermittlungen zeigen.

Das dritte Bild: Die Vorstellung eines global agierenden IS als eine hierarchisch strukturierte Organisation ist eher der Effekt einer homogenisierenden internationalen Berichterstattung. Zusammen mit der medialen Strategie des IS bindet diese politische Dynamiken diskursiv zusammen, obwohl empirische Belege für diese Zusammenhänge häufig fehlen. Der globale Diskurs über den IS spielt somit eine zentrale Rolle in dessen Kon­struktion als ein veritabler transnationaler Akteur.

Als Beleg für die Transnationalität des IS gelten oftmals die nachgewiesenen Wanderungen von IS-Kämpfern unterschiedlicher Nationalität zwischen unterschiedlichen Kriegen. Doch diese Wanderung von Gewaltexpertise ist weder historisch neuartig noch belegt sie irgendeine Form von übergreifender organisatorischer Gliederung. Was die nichtstaatlichen Akteure von heute mit denen früherer Zeiten teilen, ist, dass viele von ihnen ihre militärische Schulung in staatlichen Gewaltapparaten erhielten. Seit 2010 sind die militärischen Kommandostrukturen des IS fast ausschließlich in der Hand von Irakern mit einem professionellen militärischen Hintergrund im vormaligen Baath-System.9 Nach Schätzungen vom Frühjahr 2015 befehligten diese ca. 30.000 Milizionäre, von denen wiederum ungefähr die Hälfte »ausländische Kämpfer« waren, die aus über 80 verschiedenen Ländern rekrutiert wurden.10 Die lange Geschichte der Wanderung von gewalterfahrenen Akteuren stellt zwar gleichsam einen personellen Zusammenhang zwischen verschiedenen lokalen Konfliktarenen her, sie ist aber damit noch keineswegs die Manifestation einer transnationalen Organisationsform.11

Wahrscheinlicher als eine zentral gesteuerte, transnationale Organisation ist das Gegenteil: die Übermacht des Lokalen. Denn überall müssen sich Gewaltakteure langfristig in lokale Gefüge einordnen. Diese lokale Umgebung hat ihre eigenen Strukturelemente, so stark diese sich dann auch unter den Bedingungen des Krieges modifizieren. Und so sehr die Fremden mit ihren Gewalthandlungen die Kriegsdynamik beeinflussen, so sehr sind sie auch denjenigen politischen Konstellationen unterworfen, die überall auf der Welt aus der lokalen politischen Geschichte hervorgegangen sind.

Die Genese des IS

Für alle bewaffneten Gruppen gilt, dass die Strukturen und politischen Praktiken ihres Kontextes sich auch in ihrem Innern wiederfinden. Im Fall des IS sind dies wahrscheinlich Fragmente des Baath-Regimes, Loyalitäten, die auf Freundschaften und Familienbanden beruhen, über die dschihadistische Ideologie vermittelte Vergemeinschaftungen und im Krieg entstandene personale Beziehungen, die teilweise ihren Ausgangspunkt in der Ankunft von Abu Musab az-Zarqawi im Dezember 1989 in Afghanistan haben.12 Im Irak war die Veränderung der innerstaatlichen Machtbalance zum Vorteil der schiitischen Bevölkerung ein wesentlicher Faktor. Diese Veränderung spiegelt sich in der radikalen anti-schiitischen Ideologie des IS und seiner Unterstützung durch Teile der sunnitischen Bevölkerung des Irak wider.

Nicht untypisch spielen in der Formierungsphase dschihadistischer Gruppen die Gefängnisse eine Bündnis stiftende Rolle: In der Zeit des Irakkrieges entstand hier das Band zwischen den meist als »sunnitisch« charakterisierten Fragmenten des Sicherheitsapparates Saddam Husseins und der radikal-islamistischen Gruppe az-Zarqawis.13 Auch einige der mit dem IS konkurrierenden dschihadistischen Widerstandsgruppen in Syrien, wie z.B. Ahrar al-Sham, Liwa al-Islam oder Suqur al-Sham, wurden von ehemaligen Insassen des Sednaya-Gefängnisses bei Damaskus gegründet, in welchem das Assad-Regime die islamistische Opposition weggesperrt hatte.14 Der „Kult des Geheimnisses und der Gewalt“,15 der diese Gruppen offenbar durchzieht, dürfte im Gefängnis geformt und gefestigt worden sein. Für die Politik der Gruppe wird dann aber der komplexe Zusammenhang von Legitimität und Gewalt wirksam: der »Schatten der Gewalt«.

Der Schatten der Gewalt

Neben der Frage, wie eine bewaffnete Gruppe ihren eigenen Mitgliedern gegenüber Gewalt legitimiert, stellt sich für sie das Problem, die Gewalt auch gegenüber denen zu rechtfertigen, über die sie Herrschaft erlangen will. Das Verhältnis von Gewalt und Legitimität ist aber paradox: Legitimierende Effekte der Gewalt stehen delegitimierenden gegenüber. Legitimierend wirkt die Herstellung von Ordnung, delegitimierend wirkt die Verletzung lokaler Moralität, an der jeder Herrschaftsanspruch zunächst eine Grenze findet. Viele bewaffnete Gruppen sind an dieser Herausforderung gescheitert; andere, darunter die Hizbullah im Libanon oder die Jamaat al-Islamiyya in Ägypten, mussten die Erfahrung machen, dass ihre drakonischen Strafregime ihre Legitimität bedrohten, und milderten sie daher ab.16 Das enorm rigide normative Regime des IS über die Lokalbevölkerung, das vor allem von fremden Kriegern mit brutaler Härte implementiert wird, kann dieser Problematik auf Dauer nicht entgehen.17

Die Heterogenität von unterschiedlichen Herkünften, lokalen Loyalitäten und politischen Orientierungen, die im Innern des IS wie in jeder anderen bewaffneten Gruppe zu vermuten ist, schafft ein weiteres Problem für die Kohäsion des Verbandes. Hier spielt insbesondere der Einsatz ausländischer Kämpfer eine Rolle. Während diese im militärischen Kalkül und der expansiven Strategie des IS eine entscheidende Funktion haben, ist ihr Verhältnis zur Lokalbevölkerung prekär. Insbesondere die Beschlagnahmung von Wohneigentum und anderen Gütern durch Milizionäre des IS kann sich für dessen Herrschaftsanspruch langfristig als destabilisierend auswirken. In jeder bewaffneten Gruppe sind unterschiedliche Legitimitätsquellen wirksam, die auch in Widerspruch zueinander geraten können. Vor allem wenn familiale und kommunitäre Loyalitäten dem Gewalthandeln entgegenstehen, werden Anpassungen des Gewalthandelns an traditionale Geltungen nötig, wenn stabile Herrschaftsbeziehungen entstehen sollen.18 Die charismatischen Ideen eines reinen religiösen Lebens oder der politischen Revolution können die Geltung dieser Traditionen nicht einfach ignorieren.

Legitimierende Wirkung hat auch die von der Gegenseite erfahrene Gewalt. Die Bombardierungen und Drohnenangriffe sorgen für Unterstützung, weil diese Gewaltpraxis trotz allen militärtechnischen Fortschritts zivile Opfer fordert. Der Schutz vor Gefahr, das Ressentiment und die Stereotypisierung eines »gemeinsamen Gegners« sind Hauptmotive, die bewaffneten Gruppen neue Mitglieder zuführen und die Tolerierung durch die sie umgebende Bevölkerung ermöglichen. Die Mischung aus Gewaltkult und religiöser Heilslehre, die den Wesenskern der dschihadistischen Variante der panislamischen Ideologie des IS bildet, gewinnt mit jedem militärischen Schlag gegen den IS an Plausibilität, auch außerhalb der Kriegsgebiete in Syrien und Irak.19

Das Problem der Transformation

Nur die Kombination legitimatorischer Ressourcen erlaubt die Stabilisierung der Machtbeziehungen in bewaffneten Gruppen. Im Fall so heterogener Gruppen wie des IS ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass die Legitimationsquellen und die Dynamiken der Gruppe früher oder später zu Gewalt innerhalb des Verbandes führen. Dieser innere Widerspruch wird durch die Trennung von Jabhat al-Nusra vom IS und die Konkurrenz unter einer Vielzahl von islamistischen Gruppierungen im syrischen Bürgerkrieg bestätigt, wo die Zahl relativ unabhängiger bewaffneter Gruppen im Frühjahr 2015 auf bis zu 1.500 geschätzt wurde.20

Während sich die im syrischen Bürgerkrieg aktiven dschihadistischen Milizen ideologisch nahe stehen, unterscheiden sie sich deutlich in ihrer Strategie und ihren Rekrutierungsformen. Dem Anspruch des IS, ein transnationales Kalifat zu repräsentieren, stehen so die Interessen lokaler syrischer Islamisten entgegen, denen es um die Errichtung eines islamischen Regimes innerhalb der Grenzen des syrischen Nationalstaates geht. Kriegscharisma allein reicht ebenso wenig wie »Beute« dafür aus, diese Unterschiede zu überbrücken. Diese Ressourcen erlauben kurzfristige Bindungen, aber sie setzen das Problem der Verstetigung des Charismas nicht außer Kraft.

»Erfolgreiche« bewaffnete Gruppen, also solche, die heute Staaten regieren, wie in Ruanda, Uganda, Eritrea, Zimbabwe, Kosovo, Äthiopien oder Ost-Timor, konnten auf weitere Quellen der Legitimität zurückgreifen und diese miteinander verknüpfen. Traditionale Legitimität, wie die Abstammung der Kader aus den führenden Familien, größere Verwandtschaftszusammenhänge und das kulturelle Kapital eines nicht-militärischen Habitus, der reguläre Politik, die Gabe der Rede und politische Klugheit vereint, zählen dazu. Denn die eigentliche Herausforderung einer bewaffneten Gruppe ist die Transformation der Gewalt als Aktionsmacht in reguläre Politik, in Verwaltung und politische Institutionen, in denen Widersprüche prozessierbar werden. Ob der IS tatsächlich über solche Organisationsressourcen verfügt oder sie im Kontext seiner eigenen ideologischen Prämissen überhaupt entwickeln kann, ist fraglich.

Wohl ist es aber plausibel anzunehmen, dass eine wichtige Legitimationsressource des IS in der Ordnungsfunktion besteht, die die Gruppe in dem von ihr beherrschten Gebiet ausübt: Die Unterdrückung lokaler krimineller Banden, die Wiedererrichtung einer funktionierenden lokalen Verwaltung und regulierte Preise für Grundnahrungsmittel werden lokal wenigstens teilweise dem IS zugeschrieben.21 Ob die Anerkennung des IS über diese pragmatischen Motive hinausgeht, ist gegenwärtig schwer abzuschätzen; seine extreme dschihadistische Ideologie wird von einer überwältigenden Mehrheit der Muslime auch im syrischen Kriegsgebiet wohl nicht geteilt.

Im Unterschied zu den oben genannten »erfolgreichen« Gruppen ist ihm zudem etwas verwehrt, was für diese eine weitere Erfolgsbedingung war: internationale Nichtbeachtung oder Sympathie bei wenigstens einigen Großmächten.

Wie mit dem IS umgehen?

Auf die Frage, wie mit einem stark von Gewalterfahrungen geprägten Raum so umgegangen werden kann, dass nicht die Fortsetzung der Dynamiken von Gewalt und Legitimität, sondern eine Delegitimierung der Gewalt wahrscheinlicher wird, hat weder die Diplomatie noch das militärische Denken eine Antwort gefunden. Dieses Dilemma wird an der Strategie der westlichen Regierungen seit Afghanistan deutlich. Die Delegation der Gewalt an Oppositionsgruppen in den kriegsbetroffenen Staaten ist hierfür kein Patentrezept. Weitere militärische Expertise und neue Ressourcen zu liefern, macht weitere Eskalationen wahrscheinlich; auch mit der Verselbständigung der Auftragnehmer ist zu rechnen – wie in Syrien zu sehen ist.22

Es greift zu kurz, den IS als bloße »Terrororganisation« zu charakterisieren; er darf auch nicht auf seine Gewaltstrategie reduziert werden. Daher müssen militärisch dominierte Gegenstrategien kritisch geprüft werden. Es wird möglich sein, mit Gewaltmitteln die Expansion des IS zu stoppen und ihn zurückzudrängen. Die damit einhergehenden Fragmentierungen können jedoch, auch hierfür steht Syrien, zur weiteren Diffusion der Gewalt beitragen. Und die in Betracht zu ziehende lokale Legitimität des IS ist damit nicht zu erschüttern.

Das Augenmerk wäre daher stattdessen darauf zu richten, wie eine politische Transformation des Krieges erreicht werden kann. Dabei geht es um den Aufbau von Institutionen, in denen die politischen Gegensätze prozessiert werden können. Im Irak etwa gilt es, den militärischen Kampf gegen den IS mit einer Stärkung der bestehenden politischen Institutionen zu verbinden. Zentral ist hierbei die Einbindung der sunnitisch-arabischen Bevölkerung. In Syrien stellt sich hingegen der Aufbau politischer Institutionen anders dar. Weder die Reste des Assad-Regimes noch die proto-staatlichen Institutionen, die sich während des Krieges in den kurdischen und den vom IS kontrollierten Gebieten herausgebildet haben, scheinen als Fundamente für einen staatlichen Wiederaufbau zu taugen. Hier kann die Lösung nur in einer Zusammenarbeit zwischen internationalen Akteuren, Staaten und Nichtregierungsorganisationen mit lokalen Formen der Verwaltung liegen. Diese erfordert aber zunächst eine Beendigung des Kriegszustandes.

Dies zu erreichen, solange die beteiligten Akteure keine ernsthafte Verhandlungslösung wollen, bleibt immens schwierig. Mit Blick auf den IS scheint die Anwendung militärischer Gewalt unabweisbar, womit sich das klassische Dilemma wiederholt, dass mit Gewalt zugleich neue Gewalt erzeugt wird. Zu bedenken ist dabei nicht zuletzt, dass diese Gewalt die symbolische Rolle des IS als ideologischer Repräsentant eines »Islam im Widerstand« noch verstärken kann. Letztlich führt kein Weg daran vorbei, dass die muslimische Welt selbst den Vertretern radikaler dschihadistischer Ideologien jegliche politische Legitimität entzieht. Kluge Politik wäre es daher, diesen schwierigen Prozess vorsichtig zu befördern.

Anmerkungen

1) Dieser Aufsatz beruht zu Teilen auf Schlichte, K.: Mutmaßungen über den IS. Soziopolis, 19.1.2016; tinyurl.com/zmyfe25.

2) Vgl. Weiss M.; Hassan, H. (2015): ISIS – Inside the Army of Terror. New York: Regan Arts.
Stern, J.; Berger, J.M. (2015): Isis – The State of Terror. New York: Ecco.
Lister, C.R. (2015): The Syrian Jihad – Al-Qaida, the Islamic State and the Evolution of an Insurgency. Oxford: C Hurst & Co Publishers.
Said, B.T. (2015): Islamischer Staat – IS-Miliz, al-Qaida und die deutschenBrigaden. München: C.H. Beck.

3) Vgl. Giustozzi, A. (2007): Koran, Kalashnikov, and Laptop – The Neo-Taliban Insurgency in Afghanistan. New York: C Hurst & Co.

4) Ingram, H.J. (2014): Three Traits of the Islamic State’s Information Warfare. RUSI Journal, 159(6), S. 4-11.

5) Charles R. Lister (2014): Profiling the Islamic State. Brookings Doha Centre Analysis Paper13/2014.
Al-Tamimi, A. (2015): The Evolution in Islamic State Administration – The Documentary Evidence. Perspectives on Terrorism 9(4), S. 117-129.

6) Hegghammer, T. (2010/11): The Rise of Muslim Foreign Fighters – Islam and the Globalization of Jihad. International Security 35(3), S. 53-94.

7) Die bestenfalls untergeordnete Rolle des IS in anderen Kontexten als im Irak und Syrien wird in Fallanalysen deutlich, vgl. z.B. zur Genese der Al-Shabaab-Milizen in Somalia Marchal, R. (2009): A Tentative Assessment of the Somali Harakat Al-Shabaab. Journal of Eastern African Studies 3(3), S. 381-404; oder zu Boko Haram Loimeier, R. (2009): Boko Haram – The development of a militant religious movement in Nigeria. AfrikaSpektrum, 48(2), S. 137-155.

8) Hegghammer, T.; Nesser, P. (2015): Assessing the Islamic State’s Commitment to Attacking the West. Perspectives on Terrorism 9(4), S. 14-30.

9) Lister, C.R. (2014): Assessing Syria’s Jihad. Survival 56(6), S.  87-112.

10) Jung, D. (2016): The Search for Meaning in War – Foreign Fighters in Comparative Perspective. IAI Working Papers 16/2016.

11) Diese Angaben beruhen auf einem Sample von achtzig bewaffneten Gruppen; vgl. Schlichte, K. (2009): In the Shadow of Violence – The politics of armed groups. Frankfurt a.M. und Chicago, Ill.: campus, S. 35f.

12) Weaver, M.A. (2006): The Short, Violent Life of Abu Musab al-Zarqawi – How a video-store clerk and small-time crook reinvented himself as America’s nemesis in Iraq. The Atlantic, July/August.

13) Weiss und Hassan 2015, a.a.O., S. 9.

14) Lister 2014, a.a.O. , S. 87.

15) Autorenkollektiv Noria (2015): Qui est l’Etat Islamique? noira-research.com, 9. Dezember.

16) Vgl. Malthaner, S. (2011): Mobilizing the Faithful – Militant Islamist Groups and their Constituencies. Frankfurt a.M.: campus.

17) Lister 2015, a.a.O., S. 274.

18) Vgl. hierzu Malthaner 2011, a.a.O. sowie Rzehak, L. (2005): Die Taliban im Land der Mittagssonne – Geschichten aus der afghanischen Provinz. Erinnerungen und Notizen von Abdurrahman Pahwal. Wiesbaden: Reichert.

19) Vgl. Weber, M. ([1922] 1985): Wirtschaft und Gesellschaft – Grundriß der verstehenden Soziologie., Tübingen: Mohr , 5. Aufl., S. 671ff.

20) Lister 2015, a.a.O., S. 3.

21) Vgl. Malik, S. (2015): The Isis papers – behind »death cult« image lies a methodical bureaucracy. The Guardian, 7. Dezember.

22) Lawson, F. (2016): Syria’s Civil War and the Reconfiguration of Regional Politics. In: Beck, M.; Jung, D.; Seeberg, P. (eds.): The Levant in Turmoil – Syria, Palestine, and the Transformation of Middle Eastern Politics. London und New York: Palgrave Macmillan, S. 13-38.

Dietrich Jung leitet das »Center for Contemporary Middle East Studies« an der University of Southern Denmark.
Klaus Schlichte lehrt am Institut für Interkulturelle und Internationale Studien an der Universität Bremen.

Der Artikel ist eine gekürzte und leicht bearbeitete Fassung des Beitrags »Im Schatten des Krieges« der beiden Autoren im »Friedensgutachten 2016« (LIT-Verlag). W&F dankt den Autoren und dem Verlag für die Abdruckrechte.